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German Pages 234 Year 2023
Beiträge zum Internationalen und Europäischen Strafrecht Studies in International and European Criminal Law and Procedure Band / Volume 54
Shame Sanctions – eine (il)legitime Strafform? Bestandsaufnahme und umfassende kritische Würdigung
Von
Egzona Hyseni
Duncker & Humblot · Berlin
EGZONA HYSENI
Shame Sanctions – eine (il)legitime Strafform?
Beiträge zum Internationalen und Europäischen Strafrecht Studies in International and European Criminal Law and Procedure Herausgegeben von / Edited by Prof. Dr. Dr. h.c. Kai Ambos, Richter am Kosovo Sondertribunal Berater (amicus curiae) Sondergerichtsbarkeit für den Frieden, Bogotá, Kolumbien
Band / Volume 54
Shame Sanctions – eine (il)legitime Strafform? Bestandsaufnahme und umfassende kritische Würdigung
Von
Egzona Hyseni
Duncker & Humblot · Berlin
Unter Beteiligung des Göttinger Vereins zur Förderung der Strafrechtswissenschaft und Kriminologie sowie ihrer praktischen Anwendung e. V.
Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg hat diese Arbeit im Jahre 2022 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten
© 2023 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p GmbH, Rimpar Druck: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany
ISSN 1867-5271 ISBN 978-3-428-18846-8 (Print) ISBN 978-3-428-58846-6 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2022/2023 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg als Dissertation angenommen. Ihre Fertigstellung erfolgte im Juli 2022. Ein besonderer Dank gilt meinem Doktorvater Herrn Professor Dr. Dr. h.c. mult. Michael Pawlik, LL.M. (Cantab.) für die Inspiration zu dem Thema, seine engagierte Betreuung und die konstruktiven Einwände. An die Zeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin an seinem Lehrstuhl werde ich mich immer gern zurückerinnern. Außerdem möchte ich mich bei Herrn Professor Dr. Dr. h.c. Walter Perron für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens bedanken. Bei Herrn Professor em. Dr. Dr. h.c. mult. Wolfgang Frisch möchte ich mich für seine Unterstützung, insbesondere bei der Bewerbung um ein Promotionsstipendium, aber auch für seine hilfreichen Hinweise zu meinem Thema bedanken. Mein Dank gilt außerdem Herrn Professor Dr. Dr. h.c. Kai Ambos für die Aufnahme der Arbeit in die von ihm herausgegebene Schriftenreihe „Beiträge zum Internationalen und Europäischen Strafrecht“. Für die großzügige finanzielle und ideelle Förderung während meines Studiums und der Promotion danke ich der Heinrich-Böll-Stiftung. Bei Frau Dr. Juli Zeh bedanke ich mich für die intellektuell anregenden Diskussionen, die wertvollen Gedanken zu meinem Thema und für den mentalen Beistand während der Promotionszeit. Für die schöne gemeinsame Lehrstuhlzeit danke ich all meinen ehemaligen Arbeitskolleginnen und -kollegen am Institut für Strafrecht und Strafprozessrecht, Abt. 1. Ein großer Dank gebührt außerdem meinen Freundinnen und Freunden, die während meiner Promotionszeit immer ein offenes Ohr für mich hatten. Besonders hervorheben möchte ich Frau Carla Fernandez Kessler, Frau Dr. Sonja Bühler, LL.M. (Edinburgh) und Herrn Gagandeep Matta, mit denen ich mich in zahlreichen Mittagsund Kaffeepausen über mein Promotionsvorhaben austauschen, aber, wann immer notwendig, auch gut davon ablenken konnte. Meine Eltern haben mir meinen Bildungsweg mit ihrer Flucht nach Deutschland erst ermöglicht. Ich danke Ihnen dafür, dass sie immer an mich und meine Fähigkeiten geglaubt haben. Meiner Mutter möchte ich darüber hinaus für die unzähligen Stunden danken, die sie meiner Förderung gewidmet hat. Meiner Schwester Diellëza danke ich für ihre bedingungslose Liebe und Unterstützung auf
6
Vorwort
meinem Lebensweg. Meinem Ehemann Fabian Knapps-Hyseni danke ich für seinen kontinuierlichen Rückhalt in allen Lebenslagen. Freiburg im Breisgau, März 2023
Egzona Hyseni
Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 I. II.
Ziel der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Methodische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
Teil 1 Das Aufkommen der Shame Sanctions in den USA
15
A. Was sind Shame Sanctions? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 I.
Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
II. Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 III. Kategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 1. Stigmatisierende Öffentlichkeit („Stigmatizing Publicity“) . . . . . . . . . . . . . . . 19 2. Reine Stigmatisierung („Literal Stigmatization“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 3. Strafe durch Selbsterniedrigung („Self-debasement Penalties“) . . . . . . . . . . . . 21 4. Reuestrafen („Contrition penalties“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 IV. Abgrenzung zu anderen Maßnahmen bzw. Sanktionsformen . . . . . . . . . . . . . . . . 22 B. Rechtliche Rahmenbedingungen der Shame Sanctions . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 I.
Grundlegendes zum amerikanischen Strafrecht und Strafverfahren . . . . . . . . . . . 23 1. Zugehörigkeit zur Rechtstradition des „Common Law“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 2. Der Einfluss des Föderalismus auf das amerikanische Rechtssystem . . . . . . . 25 3. Systematisierung des Strafrechts – Der Model Penal Code . . . . . . . . . . . . . . . 27 4. Deliktskategorien im amerikanischen Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 5. Sanktionsarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 6. Strafzumessung/Festsetzung der Strafe und des Strafmaßes . . . . . . . . . . . . . . . 33 7. Sentencing Guidelines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 8. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
II. Verortung der Shame Sanctions innerhalb des amerikanischen Sanktionssystems 38 III. Anwendungsbereich der Shame Sanctions . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 IV. Richter als Urheber der Shame Sanctions . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 V. Fall Gementera – Shame Sanction auf Bundesebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 VI. Relevanz der Shame Sanctions innerhalb des Sanktionssystems . . . . . . . . . . . . . 44 VII. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44
8
Inhaltsverzeichnis
C. Erklärungsansätze für das Aufkommen der Shame Sanctions . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 I.
Untersuchung der historischen Erscheinungsformen von Beschämungsstrafen
45
1. Ehren- und Schandstrafen in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 a) Der Pranger als Ehrenstrafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 b) Schandstrafen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 c) Öffentlichkeit der Strafvollstreckung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 2. Pranger in Kolonialamerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 3. Abschaffung der Ehren- und Schandstrafen und die „Geburt des Gefängnisses“ 55 a) Zivilisierung der Gesellschaft und der Strafjustiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 b) „Geburt des Gefängnisses“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 c) Rückkehr der Ehren- und Schandstrafen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 4. Shame Sanctions und die Ehren- und Schandstrafen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 5. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 II.
Kriminalpolitischer Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 2. Entwicklung der amerikanischen Kriminalpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 3. Shame Sanctions als Symptom der kriminalpolitischen Entwicklung? . . . . . . 71
III. Shame Sanctions als Visualisierung der Bestrafung für die Öffentlichkeit . . . . . . 72 1. Rolle der Öffentlichkeit in der Strafrechtspflege im Wandel der Zeit . . . . . . . 72 2. Shame Sanctions als Folge direktdemokratischer Legitimation der Richter . . 75 IV. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
Teil 2 Betrachtung der gegenwärtigen Diskussion zu den Shame Sanctions
83
A. Verfassungsrechtliche Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 I.
Verfassungsrechtlicher Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 1. Die Zusatzartikel der „Bill of Rights“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 a) VIII. Zusatzartikel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 b) I. Zusatzartikel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 c) V. Zusatzartikel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 d) XIV. Zusatzartikel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88
II.
2. Checks and Balances . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 Shame Sanctions aus verfassungsrechtlicher Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 1. Verfassungsrechtliche Problematik aus Perspektive der Rechtsprechung . . . . . 89 a) State Courts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 b) Federal Courts – Fall Gementera . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 aa) Verletzung des 18. U.S.C. § 3583 (d) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92
Inhaltsverzeichnis
9
bb) Verletzung des VIII. Zusatzartikels – Shame Sanctions als „cruel and unusual punishment“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 2. Verfassungsrechtliche Problematik aus Sicht der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . 95 a) Vereinbarkeit der Shame Sanctions mit dem VIII. Zusatzartikel . . . . . . . . . 95 b) Vereinbarkeit der Shame Sanctions mit dem I. Zusatzartikel . . . . . . . . . . . . 100 c) Vereinbarkeit der Shame Sanctions mit dem V. Zusatzartikel . . . . . . . . . . . 101 d) Vereinbarkeit der Shame Sanctions mit dem XIV. Zusatzartikel . . . . . . . . . 102 e) Vereinbarkeit der Shame Sanctions mit dem Prinzip der „Checks and Balances“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 B. Moral- und politikphilosophische Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 I. Wirkungsbezogene Bedenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 II.
Prinzipielle Bedenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 1. Verletzung der Würde des Delinquenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 2. Verletzung des staatlichen Strafmonopols . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 3. Shame Sanctions als „politisch fragwürdige Praxis“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
Teil 3 Vorschlag für einen dritten Diskussionsstrang – Shame Sanctions im Lichte der Straftheorie
130
A. Theoretischer Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 I. Begriff der Strafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 II.
Funktion der Straftheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132
III. Historische Entwicklung der straftheoretischen Diskussion in den USA ab der Nachkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 1. Utilitarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 a) Deterrence – Individual und General . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 b) Incapacitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 c) Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 d) Niedergang des Rehabilitationsideals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 2. Retribution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 3. Restorative Justice . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 4. Inclusive Theory of Punishment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 5. Neuorientierung in der amerikanischen Straftheorie: Expressive Straftheorien – Strafe als Botschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 a) Unterteilung nach Adressat und Inhalt der Kommunikation . . . . . . . . . . . . 163 b) Philosophische Grundlagen expressiver Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165
10
Inhaltsverzeichnis c) Legitimation der Missbilligung einerseits, Legitimation der Übelszufügung andererseits . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 aa) Retributive expressive Straftheorien – Missbilligung als angemessene Reaktion auf Fehlverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 (1) Nominalistisch-akzessorische expressive Theorie . . . . . . . . . . . . . . 168 (2) Realistisch-akzessorische expressive Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 (3) Nicht-akzessorische expressive Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 (a) Von Hirsch – Censure and Proportionality . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 (b) Duff – Repentance, Reform and Reconciliation . . . . . . . . . . . . 173 bb) Utilitaristische expressive Straftheorie – Missbilligung als Mittel zum Zweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 (1) Abschreckungswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 (2) Gewissensbildende Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 (3) Stärkung des Kollektivbewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 6. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 IV. Potentielle Faktoren für den Erfolg expressiver Straftheorien . . . . . . . . . . . . . . . 181
B. Shame Sanctions im Lichte der Straftheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 I.
Normative Begründung für Shame Sanctions . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 1. Shame Sanctions als Ausdruck von Missbilligung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 2. Verortung der normativen Begründung für Shame Sanctions in ,klassisches‘ straftheoretisches Spektrum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 a) Shame Sanctions als Mittel zur Abschreckung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 b) Shame Sanctions als Mittel zur Incapacitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 3. Einordnung der Shame Sanctions in historische Entwicklung der straftheoretischen Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189
II.
4. Kritik an der normativen Begründung für Shame Sanctions . . . . . . . . . . . . . . . 190 Bewertung der Shame Sanctions aus Sicht anderer expressiver Straftheorien . . . 192 1. Bewertung der Shame Sanctions aus Sicht utilitaristisch-expressiver Ansätze 192 a) Shame Sanctions zur Abschreckung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 b) Shame Sanctions zur Wiedereingliederung in die Gesellschaft . . . . . . . . . . 193 2. Bewertung der Shame Sanctions aus Sicht retributiv-expressiver Ansätze . . . 196 a) Shame Sanctions zur Einsicht und Buße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 b) Shame Sanctions als Tadel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 c) Shame Sanction zur Normbestätigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199
III. Modifikation der Shame Sanctions? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232
Einleitung Ein junger Mann steht vor einer Postfiliale in San Francisco, USA. 8 Stunden muss er dort gut sichtbar ein Schild tragen, auf dem steht: „Ich habe Post gestohlen – dies ist meine Strafe“.1 Er wurde von einem amerikanischen Richter zu einer sogenannten „Shame Sanction“ verurteilt, einer Sanktionsform, die in den USA seit den 1980er Jahren2 verhängt wird und die den bestraften Delinquenten öffentlich degradieren soll. Der zu einer Shame Sanction verurteilte Straftäter muss beispielsweise ein bedrucktes Schild oder T-Shirt tragen oder eine Zeitungsanzeige schalten und damit seine Person und seine Tat der Öffentlichkeit preisgeben.3 Shame Sanctions werden von ihren Befürwortern als geeignete Alternative zur Freiheitsstrafe präsentiert.4 Insbesondere in den USA ergibt sich die Notwendigkeit von Alternativen zur Freiheitstrafe in erster Linie aus der hohen finanziellen Belastung durch die überfüllten Gefängnisse.5 Shame Sanctions sind ihren Befürwortern6 zufolge im Vergleich zu anderen Alternativen die einzige, die es von der Wirksamkeit, aber auch von der gesellschaftlichen Akzeptanz mit der Freiheitsstrafe aufnehmen kann – weil sie, wie auch die Gefängnisstrafe, eine moralische Missbilligung der Tat angemessen zum Ausdruck bringen würden;7 im Gegensatz dazu drücke etwa die Geldstrafe aus, dass die Begehung der Tat durch die Zahlung einer
1
N.N., Postdieb am Pranger 27. 02. 2003, https://www.spiegel.de/panorama/us-justiz-post dieb-am-pranger-a-237956.html [zugegriffen am 1. 7. 2022]; im Original stand auf dem Schild: „I stole mail; this is my punishment“, siehe United States v. Gementera, 379 F.3d 596, 598 (9th Cir. 2004). 2 Kahan, What Do Alternative Sanctions Mean?, University of Chicago Law Review 63 (1996), S. 591, 631. 3 Kahan, What Do Alternative Sanctions Mean?, University of Chicago Law Review 63 (1996), S. 591, 632; Morrison, Is public shaming fair punishment? 24. 05. 2014, https://www. latimes.com/opinion/op-ed/la-oe-0525-morrison-sentencing-shame-judges-20140525-column. html [zugegriffen am 10. 6. 2022]. 4 Als größter Befürworter galt lange Dan Kahan, Professor an der Yale Law School. Kahan, What Do Alternative Sanctions Mean?, University of Chicago Law Review 63 (1996), S. 591. 5 2021 saßen 629 pro 100.000 Einwohner der USA in Haft. Damit haben die USA die höchste Inhaftiertenrate weltweit. Siehe Fair/Walmsley, World Prison Population List 01. 12. 2021, https://www.prisonstudies.org/sites/default/files/resources/downloads/world_prison_popu lation_list_13th_edition.pdf [zugegriffen am 9. 6. 2022]. 6 Kahan, What Do Alternative Sanctions Mean?, University of Chicago Law Review 63 (1996), S. 591. 7 Kahan, What Do Alternative Sanctions Mean?, University of Chicago Law Review 63 (1996), S. 591, 635.
12
Einleitung
Geldsumme ,erkauft‘ werden könne.8 Außerdem sollen Shame Sanctions durch den Aspekt der Öffentlichkeit besonders dazu geeignet sein, sowohl den bestraften Täter als auch die Allgemeinheit vor der Begehung von (weiteren) Straftaten abzuschrecken.9 Daneben sollen Shame Sanctions durch die öffentliche Vollstreckung, aber auch durch ihren tadelnden Charakter das Vertrauen in die Rechtsordnung stärken, was wiederum dazu führt, dass sich die Bürger selbst an das Recht, das ihre Werte verkörpert und verteidigt, halten.10 Somit werden Shame Sanctions auch mithilfe straftheoretischer Erwägungen begründet. Intuitiv reagiert insbesondere jemand, der sich in der deutschen Strafrechtswissenschaft und -praxis bewegt, auf die Shame Sanctions jedoch stark ablehnend, weil sie demütigend wirken – wenn sie in einer hochzivilisierten Gesellschaft wie den USA dennoch eingesetzt werden, überrascht das.
I. Ziel der Arbeit Die Arbeit verfolgt zwei Ziele: Zum einen sollen die maßgeblichen Faktoren für das Aufkommen der Shame Sanctions in den USA herausgearbeitet werden, zum anderen soll der intuitiven Ablehnung der Shame Sanctions auf den Grund gegangen werden. Die Abschaffung der Ehren- und Schandstrafen im 18. Jahrhundert11 und die Hinwendung zum professionalisierten Strafvollzug hinter Gefängnismauern12 galt, zumindest zum damaligen Zeitpunkt, als Ausdruck eines zivilisierten und humanen Strafstils, der mit der Zivilisierung der Gesellschaft einherging.13 Dies wirft die Frage auf: Widerlegt die Rückkehr der Shame Sanctions die Annahme, die gesellschaftliche Zivilisierung14 führe zu einer ebenso irreversiblen Zivilisierung der Strafe?15 Oder sind Shame Sanctions ein Symptom für die Veränderung gesellschaftlicher
8 Kahan, What Do Alternative Sanctions Mean?, University of Chicago Law Review 63 (1996), S. 591, 621, 635. 9 Eine abschreckende Wirkung der Shame Sanctions ist jedoch empirisch nicht belegt. Siehe Kahan, What Do Alternative Sanctions Mean?, University of Chicago Law Review 63 (1996), S. 591, 638 ff. 10 Kahan, What Do Alternative Sanctions Mean?, University of Chicago Law Review 63 (1996), S. 591, 639 f. 11 Friedman, Crime and punishment in American history (1993), S. 74; Hentig, Die Strafe. Frühformen und kulturgeschichtliche Zusammenhänge (1954), S. 423. 12 Friedman, Crime and punishment in American history (1993), S. 75. 13 Kritisch dazu Foucault, Überwachen und Strafen: die Geburt des Gefängnisses (1976). 14 Zu diesem Prozess: Elias, Über den Prozeß der Zivilisation (2013). 15 So Kubiciel, Shame Sanctions – Ehrenstrafen im Lichte der Straftheorie, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 118 (2006), S. 44, 45.
Einleitung
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Wertvorstellungen?16 Ein zivilisiertes Strafrecht sollte sowohl seine Zwecke als auch seine Mittel regelmäßig auf ihre Legitimität überprüfen und bei Bedarf anpassen dürfen und auch müssen.17 Die Erkenntnisse, die in dieser Arbeit über die amerikanische Gesellschaft gewonnen werden, sind auch für die deutsche Gesellschaft relevant. Sowohl dort als auch hier wächst die Bedeutung von Bildern, was spätestens bei einem Blick auf soziale Medien deutlich wird. Es gibt nur wenig, was dem neugierigen Blick der Öffentlichkeit verborgen bleibt. Daraus entstehen Herausforderungen für die Strafpolitik, da „ein Strafensystem […] nicht auf Dauer wesentlich subtiler sein [kann] als der Gefühls- und Überzeugungshaushalt der Bevölkerung, an die es sich richtet“.18 Das Phänomen der Shame Sanctions hält damit auch uns als deutschen Lesern den Spiegel vor und zeigt auf, in welche Richtung sich das Strafrecht entwickeln kann, wenn wir nicht genau aufpassen. Aus diesen Gründen sollten wir den aktuellen rechtspolitischen Entwicklungen jenseits des Atlantiks besonders aufmerksam und kritisch gegenüberstehen. Zu einer Schärfung dieses Blicks soll die vorliegende Dissertation beitragen.
II. Methodische Überlegungen Die Arbeit ist in drei Teile gegliedert. Im ersten Teil werden die Faktoren untersucht, die zum Aufkommen der Shame Sanctions in den USA beigetragen haben. Zu diesem Zweck erfolgt zunächst eine Verortung der Shame Sanctions im amerikanischen Strafrecht. Dazu werden Fallbeispiele angeführt und Kategorien der Shame Sanctions betrachtet. Zum besseren Verständnis der rechtlichen Verortung der Shame Sanctions erfolgt auch eine grobe Darstellung des amerikanischen Strafrechts und Sanktionssystems. In einem nächsten Schritt wird auf die historischen Vorläufer, die europäischen und kolonialamerikanischen Ehren- und Schandstrafen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit und auf die besondere kriminalpolitische Situation in den USA seit den 1960er Jahren und den damit einhergehenden „punitive turn“19 eingegangen. In einem letzten Schritt werden richterliche Ambitionen hinsichtlich der eigenen politischen Karriere als weiterer möglicher Faktor für das Aufkommen der Shame Sanctions in den Blick genommen. Die Shame Sanctions stoßen zwar auch auf Zustimmung, viel häufiger jedoch sind sie Kritik ausgesetzt. Aus diesem Grund soll im zweiten Teil die gegenwärtige Diskussion zu den Shame Sanctions analysiert werden. Diese lässt sich in zwei 16 Dazu Pawlik, Strafrecht: Seht, dieses Schwein!, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. 11. 2004. 17 So auch Kubiciel, Shame Sanctions – Ehrenstrafen im Lichte der Straftheorie, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 118 (2006), S. 44, 45. 18 Pawlik, Strafrecht: Seht, dieses Schwein!, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. 11. 2004. 19 Garland, The Culture of High Crime Societies, The British Journal of Criminology 40 (2000), S. 347, 350.
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Einleitung
Hauptstränge einteilen: in einen verfassungsrechtlichen und in einen moralphilosophischen Diskussionsstrang. Für beide Stränge soll der Fokus vor allem auf der US-amerikanischen Diskussion liegen. Im dritten Teil der Arbeit wird, neben den bereits betrachteten beiden Diskussionssträngen, ein dritter, bislang wenig beachteter Diskussionsstrang vorgeschlagen: die Betrachtung der Shame Sanctions im Lichte der Straftheorie. Nahezu einstimmig20 wird sowohl von Befürwortern als auch von Gegnern der Shame Sanctions angeführt, diese seien mit allen gängigen Straftheorien vereinbar. Daher sollen diese normativen Begründungen für Shame Sanctions einem genauen Blick unterzogen werden. Zu diesem Zweck wird zunächst ein kurzer Abriss über die historische Entwicklung der straftheoretischen Diskussion in den USA gegeben, um in einem nächsten Schritt auf die konkreten straftheoretischen Begründungen für Shame Sanctions einzugehen. Diese Begründungen für Shame Sanctions sollen kritisch betrachtet werden. Darüber hinaus sollen die Shame Sanctions vor dem Hintergrund anderer Straftheorien bewertet werden.
20 Massaro, Shame, Culture, and American Criminal Law, Michigan Law Review 89 (1991), S. 1880, 1890 ff.; Whitman, What is wrong with inflicting shame sanctions?, The Yale Law Journal 107 (1998), S. 1055, 1062; Kahan, What Do Alternative Sanctions Mean?, University of Chicago Law Review 63 (1996), S. 591, 638 – 644, 644 – 646, 649.
Teil 1
Das Aufkommen der Shame Sanctions in den USA A. Was sind Shame Sanctions? I. Definition Eine Definition der Shame Sanctions findet sich erstmals in der 7. Auflage des Black’s Law Dictionary, dem für die USA maßgeblichen Rechtswörterbuch. Danach ist eine Shame Sanction eine „[…] strafrechtliche Sanktion, die darauf abzielt, einen verurteilten Straftäter zu stigmatisieren und bloßzustellen. Sie dient häufig auch dazu, die Öffentlichkeit über die Verurteilung des Täters zu informieren. Eine Shame Sanction stellt regelmäßig auch einen Zusammenhang zwischen der Person des Täters und der von ihm begangenen Tat her. Ein Beispiel für eine Shame Sanction ist die Verpflichtung, ein Schild auf dem Grundstück anzubringen, auf dem steht: ,Verurteilter Kinderschänder lebt hier.‘[…]“ 1
Die Stigmatisierung des Täters soll durch die Veröffentlichung seiner Identität und Tat bezweckt werden. Damit diese Stigmatisierung eintreten kann, ist die aktive Mitwirkung von Privatpersonen erforderlich.2 Diese besteht zum Beispiel darin, sich vom Verurteilten sowohl privat als auch beruflich zu distanzieren.3 John Braithwaite führte die Unterscheidung zwischen reintegrativem und desintegrativem Shaming ein.4 Während reintegrative Shame Sanctions die Wiedereingliederung des Täters in die Gesellschaft zum Ziel haben und dafür nach der Sanktion ein reintegratives Ritual, z. B. in Form eines Handschlags oder der Unterzeichnung einer Wiederaufnahmevereinbarung vollziehen, zielen desintegrative Shame Sanctions auf die Ausgrenzung des Täters durch Stigmatisierung und De1 „A criminal sanction designed to stigmatize or disgrace a convicted offender and often to alert the public about the offender’s conviction. A shame sanction usually publicly associates the offender with the crime that he or she committed. An example is being required to post a sign in one’s yard stating, ,Convicted Child Molester Lives Here.‘ […]“ siehe Garner (Hrsg.), Black’s law dictionary (2001), S. 1342. 2 Harel, Why Only The State Might Inflict Criminal Sanctions: The Case Against Privately Inflicted Sanctions, Legal Theory 14 (2008), S. 113, 131. 3 Harel, Why Only The State Might Inflict Criminal Sanctions: The Case Against Privately Inflicted Sanctions, Legal Theory 14 (2008), S. 113, 131. 4 Braithwaite, Crime, shame and reintegration (1989), S. 55.
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Teil 1: Das Aufkommen der Shame Sanctions in den USA
mütigung ab.5 Daher werden letztere auch als „Degradation Punishments“6 oder „Humiliating Punishments“7 bezeichnet. Hinsichtlich des Shamings selbst unterscheidet sich das reintegrative jedoch nicht maßgeblich vom desintegrativen Shaming; es fehlt lediglich das wiedereingliedernde Ritual nach dem Shaming.8 Die desintegrativen Maßnahmen können wiederum in Gefahrenabwehrmaßnahmen oder originär strafrechtliche Sanktionen unterteilt werden. Eine den Shame Sanctions ähnlich desintegrative Handlungsform der staatlichen Behörden, die allerdings noch im Ermittlungsverfahren stattfindet, ist der sogenannte „Perp Walk“9. Dabei wird der Angeklagte, meist in Handschellen und manchmal in Anstaltskleidung, gut sichtbar von Polizisten auf dem Weg von der Polizeistation oder von der Strafvollzugsanstalt zum Gericht geführt, während Medienvertreter diesen Perp Walk mithilfe von Fotos und Videos dokumentieren.10 Perp Walks stellen jedoch keine formelle Ermittlungsmaßnahme dar, es besteht keine Pflicht, sie durchzuführen; ihre Durchführung liegt vielmehr im Ermessen der Strafverfolgungsbehören und dient vor allem dazu, den Erfolg der Ermittler in der Öffentlichkeit zu demonstrieren.11 Somit stellen die Perp Walks keine strafrechtliche Sanktion dar, sie ähneln den Shame Sanctions dennoch zu einem gewissen Grad, weshalb sie an dieser Stelle Erwähnung finden. Ein Beispiel für eine Shame Sanction, die zu den Gefahrenabwehrmaßnahmen gezählt werden kann, sind die „Sex Offender Registration und Notification Laws“, kurz SORNLs, besser bekannt unter dem Namen „Megan’s Laws“12. Die SORNL verpflichten verurteilte Sexualstraftäter, die nach ihrer Inhaftierung in die Gesell5
Braithwaite, Crime, shame and reintegration (1989), S. 55. Kahan, What Do Alternative Sanctions Mean?, University of Chicago Law Review 63 (1996), S. 591, 636. 7 Richard Posner sieht den Begriff „Shaming Penalties“ als Falschbezeichnung und favorisiert den Begriff des „Humiliating Punishment“. Grund dafür ist, dass Scham dann entsteht, wenn Taten eines Individuums durch die zugehörige Gruppe aufgedeckt werden. Das zusätzliche Tragen von Schildern oder Kostümen hingegen legt den Fokus auf die Demütigung. Dazu R. A. Posner, Social Norms, Social Meaning, and Economic Analysis of Law: A Comment, The Journal of Legal Studies 27 (1998), S. 553, 557. 8 Münster, Das Konzept des reintegrative shaming von John Braithwaite (2006), S. 139. 9 Von engl. Perpetrator, Täter. 10 Habermann, For Shame: A Brief History of the Perp Walk 02. 12. 2018, https://www.ny times.com/2018/12/02/us/perp-walk.html [zugegriffen am 8. 6. 2022]. 11 Beam, Walk the Walk, Who decides whether a suspect like Dominique Strauss-Kahn takes a „perp walk“? 18. 05. 2011, https://slate.com/news-and-politics/2011/05/dominiquestrauss-kahn-perp-walk-who-decides-whether-a-suspect-takes-a-perp-walk.html [zugegriffen am 8. 6. 2022]. 12 Anlass für dieses Gesetz war der Fall Megan Kanka: Das damals siebenjährige Mädchen wurde 1994 Opfer einer Vergewaltigung und eines Mordes. Der Täter lebte gegenüber von Megan Kankas Elternhaus und war ein bereits verurteilter Straftäter. Teichman, Sex, Shame, and the Law: An Economic Perspective on Megan’s Laws, Harvard Journal on Legislation 2005, S. 3, 24. 6
A. Was sind Shame Sanctions?
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schaft zurückkehren, dazu, sich als Sexualstraftäter registrieren zu lassen;13 damit sind persönliche Daten wie der Name, der Wohnort, teilweise sogar Fotos des ehemals Inhaftierten öffentlich einsehbar.14 Diese Maßnahmen sind aufgrund ihres präventiven Charakters nicht primär dem Strafrecht, sondern vielmehr dem Polizeirecht zuzuordnen.15 Allerdings ist anzumerken, dass nicht immer eine eindeutige Abgrenzung zwischen repressiver und präventiver Shame Sanction möglich ist und die Grenzen teilweise fließend sind. Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit sind jedoch zumindest vorwiegend solche Shame Sanctions, die als originär strafrechtliche, richterlich verhängte Sanktionen einzuordnen sind.
II. Beispiele Weitere Beispiele für Shame Sanctions verdeutlichen die Charakteristika dieser Sanktionsform: 1. In Seattle wurde eine Frau dazu verurteilt, öffentlich ein T-Shirt zu tragen, auf dem steht: „Ich bin eine verurteilte Kinderschänderin.“ („I am a convicted child molester“).16 2. In Painesville, Ohio, wurden drei Männer, die die Dienste von Prostituierten in Anspruch genommen hatten, von einem Richter dazu verurteilt, in Hähnchenkostümen vor dem Painesviller Gericht zu stehen.17 Die Kostüme waren eine Anlehnung an die sogenannte „Chicken Ranch“, ein Bordell in Nevada.18 Die Männer mussten dazu ein Schild tragen, auf dem stand: „Keine Hühnerfarm [Anm. d. Verf. – damit ist ein Bordell gemeint] in Painesville.“ („No Chicken Ranch in Painesville“)19
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Teichman, Sex, Shame, and the Law: An Economic Perspective on Megan’s Laws, Harvard Journal on Legislation 2005, S. 3, 26. 14 Teichman, Sex, Shame, and the Law: An Economic Perspective on Megan’s Laws, Harvard Journal on Legislation 2005, S. 3, 26. 15 So auch Kubiciel, Shame Sanctions – Ehrenstrafen im Lichte der Straftheorie, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 118 (2006), S. 44, 48. 16 Kahan, What Do Alternative Sanctions Mean?, University of Chicago Law Review 63 (1996), S. 591, 632. 17 Martin, Men who solicited sex ordered to wear chicken suits 27. 07. 2007, https://www. chron.com/news/bizarre/article/Men-who-solicited-sex-ordered-to-wear-chicken-1555834.php [zugegriffen am 8. 6. 2022]. 18 Martin, Men who solicited sex ordered to wear chicken suits 27. 07. 2007, https://www. chron.com/news/bizarre/article/Men-who-solicited-sex-ordered-to-wear-chicken-1555834.php [zugegriffen am 8. 6. 2022]. 19 Martin, Men who solicited sex ordered to wear chicken suits 27. 07. 2007, https://www. chron.com/news/bizarre/article/Men-who-solicited-sex-ordered-to-wear-chicken-1555834.php [zugegriffen am 8. 6. 2022].
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Teil 1: Das Aufkommen der Shame Sanctions in den USA
3. Derselbe Richter hatte einen Mann, der einen Polizisten als „Schwein“ („pig“) bezeichnet hatte, dazu verurteilt, mit einem über 150-Kilo schweren Schwein an der Straße zu stehen und währenddessen ein Schild hochzuhalten, auf dem stand: „Das [Schwein] ist kein Polizeibeamter.“ („This is not a police officer“)20 4. In Hoboken, New Jersey wurden Geschäftsfrauen und -männer, die dort regelmäßig auf die Straße urinierten, dazu verurteilt, diese Straßen gut sichtbar mit einer Zahnbürste zu säubern.21 Außerdem mussten sie Zeitungsanzeigen schalten, in denen sie ihre Taten öffentlich zugaben.22 5. In Phoenix wurden Fotos von Delinquenten, die wegen Trunkenheit am Steuer verurteilt worden waren, auf Billboards abgebildet.23 Auf der Website StopDUIAZ.com waren weitere Delinquenten mit Fotos und deren genauen Taten uneingeschränkt einsehbar.24 6. In Cleveland wurde eine Frau, die wiederholt einen Schulbus über den Gehweg überholt hatte, dazu verurteilt, an einer Kreuzung ein großes Schild zu tragen, auf dem steht „Nur ein Idiot würde auf dem Gehweg fahren, um den Schulbus zu überholen“.25 („Only an idiot would drive on the sidewalk to avoid a school bus“) 7. In Illinois wurde 1995 ein Mann wegen schwerer Körperverletzung (aggravated battery) unter anderem dazu verurteilt, ein Warnschild auf seinem Grundstück aufzustellen, auf dem steht: „Warnung! Hier lebt ein gewalttätiger Verbrecher. Betreten auf eigene Gefahr!“ („Warning! AViolent Felon lives here. Enter at your own Risk!“)26 8. In Texas musste ein Ehepaar, das aus einem Fonds für Geschädigte von Straftaten Geld gestohlen hatte, unter anderem sechs Jahre lang jedes Wochenende vor einem Einkaufszentrum ein Schild tragen, auf dem steht: „Ich bin ein Dieb. Ich habe 250.000 $ aus dem Harris County Geschädigten-Fonds gestohlen. […]“27 20 N.N., Man Gets Creative Sentence For Calling Officer ,Pig‘ 08. 02. 2002, https://www.cle veland19.com/story/654387/man-gets-creative-sentence-for-calling-officer-pig/ [zugegriffen am 8. 6. 2022]. 21 Kahan/E. A. Posner, Shaming White-Collar Criminals: A Proposal for Reform of the Federal Sentencing Guidelines, Journal of Law and Economics 42 (1999), S. 365, 365. 22 Kahan/E. A. Posner, Shaming White-Collar Criminals: A Proposal for Reform of the Federal Sentencing Guidelines, Journal of Law and Economics 42 (1999), S. 365, 365. 23 Steinhauer, A Starring Role for Drivers Who Drink 10. 12. 2007, https://www.nytimes. com/2007/12/10/us/10drunk.html [zugegriffen am 8. 6. 2022]. 24 Steinhauer, A Starring Role for Drivers Who Drink 10. 12. 2007, https://www.nytimes. com/2007/12/10/us/10drunk.html [zugegriffen am 8. 6. 2022]. 25 Associated Press, Ohio woman who drove on sidewalk to avoid school bus holds ,idiot‘ sign under court order 23. 11. 2015, https://www.foxnews.com/us/ohio-woman-who-drove-onsidewalk-to-avoid-school-bus-holds-idiot-sign-under-court-order [zugegriffen am 8. 6. 2022]. 26 People v. Meyer (1976), 43 Ill. App.3d 109, 356 N.E.2d 1303. 27 N.N., County employee gets humiliating sentence 10. 07. 2010, https://abc13.com/archi ve/7544819/ [zugegriffen am 8. 6. 2022].
A. Was sind Shame Sanctions?
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III. Kategorien Klarere Konturen erhält der Begriff der Shame Sanctions, neben den angeführten Beispielen, auch durch eine Unterteilung der Shame Sanctions in unterschiedliche Gruppen und Erscheinungsformen. Toni Massaro, Aaron Book und Dan Kahan haben solche Kategorisierungen vorgenommen.28 Massaro hat sich in ihrem zweiten Aufsatz zu Shame Sanctions29 der Unterteilung Kahans angeschlossen; auch sonst stimmen die Unterteilungen der drei im Kern überein, so dass im Folgenden nur die detaillierteste von Kahan dargestellt werden soll. 1. Stigmatisierende Öffentlichkeit („Stigmatizing Publicity“)30 Die Stigmatizing Publicity dient dazu, die Stigmatisierung und Demütigung, die der Täter bereits durch die strafrechtliche Verurteilung erfahren hat, durch die Kommunikation der Tat an die Öffentlichkeit noch weiter zu verstärken.31 Dabei erfolgt die Veröffentlichung der Tat und der Identität des Täters wie in folgendem Beispiel: Eine Metzgerei in Philadelphia hatte verdorbenes Fleisch verkauft, der Richter sprach eine Geldstrafe in Höhe von 10.000 Dollar aus.32 Außerdem verurteilte er den Metzgereibetrieb dazu, die Tat in einer Zeitungsanzeige zu ,gestehen‘ – diese Anzeige war drei Wochen lang täglich in der Lokalzeitung zu lesen.33 In einem anderen Fall verurteilte ein Richter in Florida eine Frau dazu, eine Zeitungsanzeige zu schalten, in der sie ihre Tat, nämlich, dass sie in Anwesenheit ihrer Kinder Drogen gekauft habe, veröffentlichen soll.34 Auch Freier, sogenannte „Johns“, die die 28
Massaro, Shame, Culture, and American Criminal Law, Michigan Law Review 89 (1991), S. 1880, 1886 ff.; Book, Shame on you: An analysis of modern shame punishment as an alternative to incarceration, William & Mary Law Review 40 (1999), S. 653, 661; Kahan, What Do Alternative Sanctions Mean?, University of Chicago Law Review 63 (1996), S. 591, 631 ff. 29 Massaro, The Meanings of Shame: Implications for Legal Reform, Psychology, Public Policy, and Law 3 (1997), S. 645, 690. 30 Anders übersetzt von Jüngel, Shame sanctions – Wiedergeburt der Schandstrafe? (2011), S. 78 als „öffentliche Ächtung“. Die Übersetzung und Umwandlung des Begriffs „stigmatizing“ zum Substantiv und des Begriffs „publicity“ als die Ächtung beschreibendes Adjektiv lässt allerdings außer Acht, dass kennzeichnend für diese Art der Shame Sanctions zunächst der Akt des Öffentlich-Machens ist und daraus die Stigmatisierung folgt. Es geht hier also weniger um eine öffentliche Ächtung als um die Zugänglichmachung der verübten Tat für die Öffentlichkeit, aus der die Stigmatisierung des Täters dann folgt. 31 Kahan, What Do Alternative Sanctions Mean?, University of Chicago Law Review 63 (1996), S. 591, 632. 32 Martinez, Judges using shame to take a bit out of crime, The Arizona Republic vom 15. 12. 1996. 33 Martinez, Judges using shame to take a bit out of crime, The Arizona Republic vom 15. 12. 1996. 34 Nesmith, Creative deterrent or cruel humiliation, The Atlanta Constitution vom 15. 12. 1996.
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Teil 1: Das Aufkommen der Shame Sanctions in den USA
Dienste von Prostituierten in Anspruch nehmen, müssen damit rechnen, ihren Namen oder sogar ihr Foto in der Zeitung oder im Fernsehen zu sehen.35 In Pennsylvania ist die Stigmatizing Publicity für sogenannte „Johns“ sogar gesetzlich angeordnet.36 Danach muss das Gericht bei wiederholtem Verstoß gegen das Verbot der Inanspruchnahme der Dienste einer Prostituierten das Urteil in einer Tageszeitung des Gerichtsbezirks veröffentlichen; die Kosten für die Zeitungsanzeige trägt der Verurteilte.37 Diese Form der Shame Sanction bietet dem Richter vergleichsweise wenig Ermessensspielraum.38 Ihm bleibt hauptsächlich die Entscheidung über die Frage des Formats und des Orts der Veröffentlichung.39 2. Reine Stigmatisierung („Literal Stigmatization“) Die Literal Stigmatization identifiziert den Täter als solchen für die Öffentlichkeit und markiert ihn oder sein Eigentum dafür mit einem Symbol, das dazu dient, ihn lächerlich zu machen bzw. ihn zu verspotten.40 Dazu kann ein mit einer Beschreibung der Tat bedrucktes T-Shirt dienen, das der Täter zu tragen hat, oder ein Schild, das auf dem Grundstück des Täters angebracht wird.41 Auch im Dunkeln leuchtende, auf dem Heck des Fahrzeugs des Täters angebrachte Aufkleber mit der Aufschrift „Verurteilt wegen Trunkenheit am Steuer“ („Convicted DUI“) oder knallbunte Armbänder mit der gleichen Aufschrift fallen in diese Kategorie.42 Ein Richter in Florida begnügte sich nicht damit, dass die Öffentlichkeit von der Tat des Verurteilten nur erfuhr, er verurteilte den Täter dazu, einen Aufkleber an seinem Auto anzubringen, der die Leser des Aufklebers sogar zur 35 In Miami, Florida wurden verurteilte Freier auf Billboards abgebildet. Siehe Whitman, What is wrong with inflicting shame sanctions?, The Yale Law Journal 107 (1998), S. 1055, 1066; Persons, Sex in the Sunlight: The Effectiveness, Efficiency, Constitutionality, and Advisability of Publishing Names and Pictures of Prostitutes’ Patrons, Vanderbilt Law Review 49 (1996), S. 1525, 1536 f. 36 Title 18 Pennsylvania Criminal Code, § 5902 e2. Siehe auch Persons, Sex in the Sunlight: The Effectiveness, Efficiency, Constitutionality, and Advisability of Publishing Names and Pictures of Prostitutes’ Patrons, Vanderbilt Law Review 49 (1996), S. 1525, 1536. 37 Title 18 Pennsylvania Criminal Code, § 5902 e2. 38 Kahan/E. A. Posner, Shaming White-Collar Criminals: A Proposal for Reform of the Federal Sentencing Guidelines, Journal of Law and Economics 42 (1999), S. 365, 386. 39 Kahan/E. A. Posner, Shaming White-Collar Criminals: A Proposal for Reform of the Federal Sentencing Guidelines, Journal of Law and Economics 42 (1999), S. 365, 386. 40 Kahan, What Do Alternative Sanctions Mean?, University of Chicago Law Review 63 (1996), S. 591, 632. 41 Kahan, What Do Alternative Sanctions Mean?, University of Chicago Law Review 63 (1996), S. 591, 632. 42 Vgl. Massaro, Shame, Culture, and American Criminal Law, Michigan Law Review 89 (1991), S. 1880, 1886 f.
A. Was sind Shame Sanctions?
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aktiven Mitwirkung aufforderte.43 Dort stand: „Wie ist mein Fahrstil?“ („How is my driving?“) „Der Richter will es wissen!“ („The Judge wants to know!“)44 gefolgt von einer gebührenfreien Telefonnummer, unter der Autofahrer den Richter über den Fahrstil des Verurteilten informieren konnten. 3. Strafe durch Selbsterniedrigung („Self-debasement Penalties“) Die Self-debasement Penalties sind dadurch gekennzeichnet, dass der Täter in einer Art Ritual selbst in die Öffentlichkeit treten muss,45 z. B. wenn er vor einem Gericht stehen und ein Schild halten muss, auf dem seine Taten bekanntgegeben werden. Damit sind die Self-debasement Penalties schwer von der Gruppe der Literal Stigmatization abzugrenzen. Kennzeichnend ist hier, dass die Demütigung zwar erst durch die Wechselwirkung mit der Öffentlichkeit erfolgt, das ,Medium‘ der Schande aber der Delinquent selbst ist. Er muss aktiv in die Öffentlichkeit treten und sich damit selbst der Demütigung preisgeben. Typische Self-debasement Penalties sind die Shame Sanctions, bei denen der Delinquent ein Schild oder ein T-Shirt tragen muss. Im Vergleich zur Literal Stigmatization haben Richter bei der Verhängung der Self-debasement Penalties einen deutlich weiteren Ermessenspielraum, da sie darüber entscheiden können, wo und wie der Täter seine Strafe ableisten muss, ob und welche besondere Kleidung er tragen muss, ob er ein Schild tragen muss und falls dies der Fall ist, welche Aufschrift dieses Schild tragen soll und wie oft und wie lange der Delinquent das Schild und an welcher Stelle er es zu tragen hat.46 4. Reuestrafen („Contrition penalties“) Die Contrition Penalties zielen auf die Reue des Täters ab. Contrition Penalties gibt es in zwei Erscheinungsformen: In der ersten Form soll der Täter seine Verurteilung z. B. in einer Zeitung veröffentlichen und dabei seine Taten gestehen und sich für diese entschuldigen.47 Diese Form der Strafe kombiniert Aspekte der Stigmatizing Publicity mit Elementen der 43
Associated Press, Bumper Stickers for DUI Offenders 24. 09. 2003, https://www.dui. com/bumper-stickers-for-dui-offenders/ [zugegriffen am 8. 6. 2022]. 44 Associated Press, Bumper Stickers for DUI Offenders 24. 09. 2003, https://www.dui. com/bumper-stickers-for-dui-offenders/ [zugegriffen am 8. 6. 2022]. 45 Kahan, What Do Alternative Sanctions Mean?, University of Chicago Law Review 63 (1996), S. 591, 633. 46 Kahan/E. A. Posner, Shaming White-Collar Criminals: A Proposal for Reform of the Federal Sentencing Guidelines, Journal of Law and Economics 42 (1999), S. 365, 386. 47 Kahan, What Do Alternative Sanctions Mean?, University of Chicago Law Review 63 (1996), S. 591, 634.
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Teil 1: Das Aufkommen der Shame Sanctions in den USA
Self-debasement Penalties.48 Der Aspekt der Stigmatizing Publicity besteht in der Pflicht zur Veröffentlichung der Tat und dadurch, dass diese Veröffentlichung durch den Straftäter selbst erfolgen muss, enthält diese Form der Strafe ebenfalls ein Element der Self-debasement Penalties. Da der Delinquent sich allerdings nicht nur selbst der Öffentlichkeit preisgeben, sondern sich darüber hinaus vor dieser Öffentlichkeit entschuldigen muss, bildet diese Form der Shame Sanctions mit den Contrition Penalties eine eigene Gruppe von Shame Sanctions. Ob das Opfer diese Entschuldigung annimmt, ist für diese Gruppe der Contrition Penalties weitgehend irrelevant.49 Die zweite Form der Contrition Penalties besteht dagegen in einem Entschuldigungsritual.50 In Maryland etwa mussten jugendliche Straftäter auf Händen und Knien bei ihren Opfern um Entschuldigung bitten, um aus dem Jugendarrest entlassen zu werden.51 Bei dieser Form der Contrition Penalties kommt es vor allem darauf an, ob der Geschädigte die Entschuldigung des Täters als glaubwürdig und aufrichtig anerkennt und diese annimmt.52
IV. Abgrenzung zu anderen Maßnahmen bzw. Sanktionsformen Shame Sanctions werden häufig unter dem Begriff „Creative Punishments“53 mit anderen Maßnahmen bzw. Sanktionsformen zusammengefasst. Für eine präzise Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Shame Sanctions müssen diese jedoch von anderen Maßnahmen abgegrenzt werden. So werden Shame Sanctions häufig mit „Guilt Sanctions“ vermischt. Guilt Sanctions setzen nicht auf die Stigmatisierung des Täters durch die Öffentlichkeit, sondern vielmehr auf eine Spiegelung der Straftat und bezwecken dadurch eine Einsicht des Täters in das von ihm begangene Unrecht.54 Ein Beispiel für eine solche Sanktion ist der Fall eines Wohnungseinbrechers, der dazu verurteilt wurde, den Einbruch in seine eigene Wohnung durch die Opfer 48
Kahan, What Do Alternative Sanctions Mean?, University of Chicago Law Review 63 (1996), S. 591, 634. 49 Kahan, What Do Alternative Sanctions Mean?, University of Chicago Law Review 63 (1996), S. 591, 634. 50 Kahan, What Do Alternative Sanctions Mean?, University of Chicago Law Review 63 (1996), S. 591, 634. 51 Wingert, The Return Of Shame 02. 05. 1995, https://www.newsweek.com/return-shame-1 85216 [zugegriffen am 8. 6. 2022]. 52 Wingert, The Return Of Shame 02. 05. 1995, https://www.newsweek.com/return-shame-1 85216 [zugegriffen am 8. 6. 2022]. 53 ABC News, Meet the Judge Who Went Viral for his Creative Punishments 31. 08. 2015, https://youtu.be/pZSTu98-Cus [zugegriffen am 8. 6. 2022]. Das Video hat über 30 Millionen Aufrufe (Stand Juni 2022). 54 Garvey, Can Shaming Punishments Educate?, University of Chicago Law Review 65 (1998), S. 733, 784.
B. Rechtliche Rahmenbedingungen der Shame Sanctions
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seiner Taten zu erdulden.55 Jene durften dabei Gegenstände ihrer Wahl aus der Wohnung des Täters entwenden.56 Ein anderes Beispiel ist der Fall eines Vermieters, der wegen des desolaten Zustands seiner Häuser zu Hausarrest in einem dieser von Ratten wimmelnden Häuser verurteilt wurde, wo die anderen Mieter ihn bereits mit dem Schild „Welcome, you Reptile“ erwarteten.57 Die Unterscheidung zwischen diesen Sanktionsformen geht auf die Unterscheidung zwischen Scham und Schuld zurück. Scham wird in der Psychologie als soziale oder interpersonale Emotion bezeichnet.58 Deshalb stellt sie sich meist in Anwesenheit Dritter ein.59 Sie kann jedoch auch bereits durch die bloße Vorstellung über andere Menschen und deren potentielle Reaktion ausgelöst werden.60 Im Gegensatz dazu benötigt der Betroffene für die Empfindung von Schuld kein reales oder imaginiertes Publikum.61 Aus diesem Grund werden die Guilt Sanctions nicht in der Öffentlichkeit vollstreckt. Die Guilt Sanctions sind kein Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit.
B. Rechtliche Rahmenbedingungen der Shame Sanctions I. Grundlegendes zum amerikanischen Strafrecht und Strafverfahren Für eine Untersuchung der Faktoren für das Aufkommen der Shame Sanctions ist ein grundlegendes Verständnis des amerikanischen Rechtssystems unentbehrlich. Ein solches Verständnis kann bei einem deutschen Leser nicht vorausgesetzt werden, da sich das amerikanische Rechtssystem vom deutschen stark unterscheidet. Daher soll im Folgenden ein Überblick über die wichtigsten Charakteristika des amerikanischen Rechtssystems gegeben werden.
55 Garvey, Can Shaming Punishments Educate?, University of Chicago Law Review 65 (1998), S. 733, 784. 56 Garvey, Can Shaming Punishments Educate?, University of Chicago Law Review 65 (1998), S. 733, 784. 57 Garvey, Can Shaming Punishments Educate?, University of Chicago Law Review 65 (1998), S. 733, 784. 58 Frevert, Die Politik der Demütigung (2017), S. 10. 59 Deonna/Rodogno/Teroni, In defense of shame: the faces of an emotion (2012), S. 7. 60 Deonna/Rodogno/Teroni, In defense of shame: the faces of an emotion (2012), S. 24 f.; Garvey, Can Shaming Punishments Educate?, University of Chicago Law Review 65 (1998), S. 733, 765 f. 61 Garvey, Can Shaming Punishments Educate?, University of Chicago Law Review 65 (1998), S. 733, 766.
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1. Zugehörigkeit zur Rechtstradition des „Common Law“ Ein Grund für die ,Fremdartigkeit‘ des amerikanischen Rechts aus deutscher Sicht ist die ursprüngliche Zugehörigkeit zur Rechtsfamilie des englischen „common law“.62 Das deutsche Recht ist dagegen zur Rechtstradition des kontinentaleuropäischen „civil law“ zu zählen, das auf dem römischen Recht beruht.63 Noch bedeutsamer als die unterschiedliche Herkunft der Rechtstraditionen ist ihr sich bis heute auswirkender unterschiedlicher Stil, das Rollenverständnis ihrer Akteure, ihr Umgang mit Quellen, ihre Art des Prozessierens sowie die ihnen zugrundeliegenden Wertvorstellungen.64 Während die Hauptakteure des kontinentaleuropäischen Rechts seit jeher der Gesetzgeber und Akademiker sind, die über viele Jahrhunderte umfassende Theorien und abstrakte Regeln entwickelt haben,65 ist das common law „weder ein Kind akademischer Theorie noch Ausdruck gesetzgeberischen Willens, sondern Ergebnis gerichtlicher Praxis“66. Damit ist einer der wichtigsten Akteure im amerikanischen Recht vor allem der Richter selbst.67 Durch seine im common law ausgeprägte Rolle als Fortentwickler und Schöpfer des Rechts („Lawmaker“) und Stellung als Gegengewicht zur Macht der Exekutive und des Parlamentes („Checks and Balances“)68 verfügt er im Vergleich zum kontinentaleuropäischen Richter über eine viel stärkere Stellung.69 Dies zeigt sich auch daran, dass Richter Urteile in der Ich-Form schreiben oder bei mit mehreren Richtern besetzten Gerichten im veröffentlichten Urteil die jeweiligen voneinander abweichenden Meinungen der Richter mit Nennung deren Namens wiedergegeben werden.70 Im Gegensatz zur in Deutschland üblichen anonymen Mehrheit des Gerichts, steht im amerikanischen Recht damit die persönliche Auffassung des betreffenden Richters im Vordergrund.71 62
Reimann, Die Fremdheit des amerikanischen Rechts – Versuch einer historischen Erklärung (2003), in: Konflikt der Rechtskulturen?, S. 23, 25. 63 Reimann, Die Fremdheit des amerikanischen Rechts – Versuch einer historischen Erklärung (2003), in: Konflikt der Rechtskulturen?, S. 23, 24. 64 Reimann, Die Fremdheit des amerikanischen Rechts – Versuch einer historischen Erklärung (2003), in: Konflikt der Rechtskulturen?, S. 23, 25. 65 Dubber, Einführung in das US-amerikanische Strafrecht (2005), S. 1. 66 Reimann, Die Fremdheit des amerikanischen Rechts – Versuch einer historischen Erklärung (2003), in: Konflikt der Rechtskulturen?, S. 23, 26. 67 Schmid, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten: eine Einführung (1993), S. 45. 68 Schmid, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten: eine Einführung (1993), S. 45; Billis, Die Rolle des Richters im adversatorischen und im inquisitorischen Beweisverfahren: modelltheoretische Ansätze, englisches und deutsches Beweisführungssystem, internationalrechtliche Dimensionen (2015), S. 42. 69 Schmid, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten: eine Einführung (1993), S. 45. 70 Reimann, Die Fremdheit des amerikanischen Rechts – Versuch einer historischen Erklärung (2003), in: Konflikt der Rechtskulturen?, S. 23, 26. 71 Schmid, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten: eine Einführung (1993), S. 46.
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Auch der eigentliche Prozess vor Gericht ist im amerikanischen Recht von großer Bedeutung: er dient nicht nur der Durchsetzung materieller Normen, sondern ist „zentraler Schauplatz des Geschehens und […] Quelle des Rechts“72. Es geht folglich zentral um die gerichtliche Entscheidung konkreter Streitigkeiten und nicht darum, ein abstraktes Gesetz auszulegen und auf einen Fall anzuwenden, wie dies im kontinentaleuropäischen Rechtskreis im Vordergrund steht.73 2. Der Einfluss des Föderalismus auf das amerikanische Rechtssystem Das amerikanische Recht ist zwar wesentlich vom englischen Common Law geprägt, jedoch hat es sich im Laufe der Zeit eigenständig weiterentwickelt und stark vom englischen Vorbild emanzipiert.74 Entscheidend für diese Entwicklung ist vor allem die föderale Struktur der USA. Sowohl der Bund als auch die einzelnen Bundesstaaten genießen politische Souveranität.75 Diese wirkt sich auch auf das Recht aus: Die Gesamtheit des amerikanischen Rechts besteht aus den Einzelrechtssystemen der Einzelstaaten und dem Rechtssystem des Bundes, weshalb nicht von einem amerikanischen Rechtssystem, sondern genau genommen von 52 Rechtssystemen, darunter jenem der 50 Bundesstaaten, des District of Columbia und dem des Bundes, die Rede sein kann.76 Die Gesetzgebungskompetenz liegt sowohl beim Bund als auch bei den einzelnen Bundestaaten.77 Soweit die Gesetzgebungsbefugnis für eine Materie nicht in der Bundesverfassung dem Bund übertragen ist, bleibt sie den Einzelstaaten vorbehalten.78 Für das Strafrecht liegt die Gesetzgebungsbefugnis grundsätzlich bei den einzelnen Staaten.79 Diese grundsätzlich unbeschränkte Kompetenz der Einzelstaaten wird im amerikanischen Verfassungsrecht als Polizeimacht bezeichnet („police power“80).81 Auch der Bund hat in bestimmten Bereichen des Strafrechts 72
Reimann, Die Fremdheit des amerikanischen Rechts – Versuch einer historischen Erklärung (2003), in: Konflikt der Rechtskulturen?, S. 23, 25. 73 Reimann, Die Fremdheit des amerikanischen Rechts – Versuch einer historischen Erklärung (2003), in: Konflikt der Rechtskulturen?, S. 23, 26. 74 Reimann, Die Fremdheit des amerikanischen Rechts – Versuch einer historischen Erklärung (2003), in: Konflikt der Rechtskulturen?, S. 23, 27. 75 Reinbacher, Das Strafrechtssystem der USA: eine Untersuchung zur Strafgewalt im föderativen Staat (2010), S. 47. 76 Reinbacher, Das Strafrechtssystem der USA: eine Untersuchung zur Strafgewalt im föderativen Staat (2010), S. 23. 77 Reinbacher, Das Strafrechtssystem der USA: eine Untersuchung zur Strafgewalt im föderativen Staat (2010), S. 50. 78 Hay, US-amerikanisches Recht: ein Studienbuch (2015), S. 6. 79 Reinbacher, Das Strafrechtssystem der USA: eine Untersuchung zur Strafgewalt im föderativen Staat (2010), S. 123. 80 Der Begriff „police power“ ist nicht mit dem deutschen Begriff des Polizeirechts zu verwechseln und soll zum ersten Mal von Chief Justice Marshall in der Entscheidung
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eine Gesetzgebungskompetenz, innerhalb derer er auch bereits strafrechtliche Regelungen erlassen hat. Die meisten Strafvorschriften des Bundes finden sich im 18. Titel des Bundesgesetzbuches, dem 18 United States Code, der die Überschrift „Crimes and Criminal Procedure“ trägt. Die ausdrückliche Regelungskompetenz des Bundes kann sich dabei direkt aus der Bundesverfassung ergeben. Dies ist der Fall bei der Münzfälschung, in Art. I § 8 cl. 6, bei Straftaten gegen das Völkerrecht und auf hoher See, in Art. I § 8 cl. 10 und beim Hochverrat, dessen Strafbarkeit in Art. III § 3 cl. 2 geregelt ist.82; der Bund kann seine Kompetenz auch aus anderen Zuständigkeiten ableiten, wie etwa bei den Steuerangelegenheiten.83 Die Zuständigkeit hierfür ist in Art. I § 8 cl. 1 der Bundesverfassung geregelt, in Verbindung mit der „necessary and proper clause“, Art. I § 8 cl. 18 lässt sich daraus die Gesetzgebungskompetenz für das Strafrecht herleiten.84 Diese Klausel, die den Bundesgesetzgeber dazu ermächtigt, alle Regelungen zu erlassen, die notwendig und angemessen sind, um die jeweiligen Gesetzgebungskompetenzen zu realisieren, führte im Laufe der Zeit dazu, dass sich das Bundesstrafrecht immer weiter ausgebreitet hat und mittlerweile auch quantitativ kaum noch hinter den Regelungen der jeweiligen Einzelstaaten zurückbleibt.85 Innerhalb der Bundesstaaten werden auf jeder Ebene strafrechtliche Regelungen erlassen:86 Auch die Bezirke (counties), Städte (cities), Kleinstädte (towns) und Dörfer (villages) haben in den Einzelstaaten im Hinblick auf geringere Vergehen eine Rechtssetzungskompetenz, sofern es dabei zu keiner Kollision mit dem Recht des jeweiligen Staates kommt.87 Die jeweiligen Strafgesetzgebungskompetenzen und deren Wahrnehmung führen zu einer unüberschaubaren Vielzahl an strafrechtlichen Normen, verteilt über das Recht des Bundes, der Einzelstaaten und der einzelstaatlichen Unterebenen.
U.S. Supreme Court, 25 U.S. 419, 443 (1827) benutzt worden sein. Siehe Reinbacher, Das Strafrechtssystem der USA: eine Untersuchung zur Strafgewalt im föderativen Staat (2010), S. 50 in Fn. 71; siehe auch Baker, JR., Nationalizing Criminal Law: Does Organized Crime Make It Necessary or Proper, Rutgers L.J. 16 (1984), S. 495, 509; Dubber, The police power: patriarchy and the foundations of American government (2005), S. 81 ff. 81 Reinbacher, Das Strafrechtssystem der USA: eine Untersuchung zur Strafgewalt im föderativen Staat (2010), S. 50. 82 Reinbacher, Das Strafrechtssystem der USA: eine Untersuchung zur Strafgewalt im föderativen Staat (2010), S. 88. 83 Reinbacher, Das Strafrechtssystem der USA: eine Untersuchung zur Strafgewalt im föderativen Staat (2010), S. 88. 84 Reinbacher, Das Strafrechtssystem der USA: eine Untersuchung zur Strafgewalt im föderativen Staat (2010), S. 88. 85 Reinbacher, Das Strafrechtssystem der USA: eine Untersuchung zur Strafgewalt im föderativen Staat (2010), S. 54. 86 Dubber, Einführung in das US-amerikanische Strafrecht (2005), S. 3. 87 Reinbacher, Das Strafrechtssystem der USA: eine Untersuchung zur Strafgewalt im föderativen Staat (2010), S. 141; Logan, The Shadow Criminal Law of Municipal Governance, Ohio State Journal 2001, S. 1409, 1424; Dubber, Einführung in das US-amerikanische Strafrecht (2005), S. 3.
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Im Laufe der Zeit hat der Bund seine Strafverfolgungspraxis jedoch in viele Bereiche ausgedehnt, die ursprünglich den Bundesstaaten vorbehalten waren.88 Dies ist insbesondere im Bereich der Drogenkriminalität der Fall; zwischen 1980 und 1993 hatte sich die Anzahl der registrierten Drogendelikte um 300 Prozent erhöht; aber nicht wegen eines erhöhten Konsums, sondern wegen der stärkeren Strafverfolgung.89 Durch die Erweiterung der Strafverfolgungspraxis des Bundes sind einige Deliktsgruppen nun gleichzeitig vom Bund und von dem jeweiligen Bundesstaat verfolgbar;90 es herrscht eine parallele Jurisdiktion.91 Die genaue Vorgehensweise bei der Ermittlung der Strafverfolgungszuständigkeit ist für diese Arbeit nicht von zentraler Bedeutung, weshalb darauf nicht näher eingegangen wird. Die vorangegangene Darstellung zeigt auf, dass das amerikanische Recht aufgrund der föderalen Struktur und der daraus resultierenden jeweiligen Kompetenzen sowohl in vertikaler als auch in horizontaler Sicht schwer zu fassen ist – und das nicht nur für deutsche Juristen. Dies liegt einerseits an der Vielzahl von Normen, die über das Recht des Bundes, der 50 Bundesstaaten und des District of Columbia verteilt und neben dem Kernstrafrecht auch im Nebenstrafrecht zu finden sind.92 3. Systematisierung des Strafrechts – Der Model Penal Code Einen wesentlichen Beitrag zur übersichtlicheren und systematischeren Gestaltung des Strafrechts leisteten die Mitglieder des American Law Institutes, einer Vereinigung renommierter amerikanischer Anwälte, Richter und Professoren, als sie im Jahr 1962 nach langjähriger Ausarbeitung den sogenannten „Model Penal Code“, ein Musterstrafgesetzbuch, veröffentlichten.93 Der Model Penal Code stellt so etwas wie den „gemeinsamen Nenner“94 des amerikanischen Strafrechts dar.95 Ein großer Teil des heutigen materiellen Strafrechts der USA ist entweder direkt oder indirekt aus dem Model Penal Code entstanden.96 Jeder Einzelstaat, 40 davon auf Grundlage des Model Penal Code aus dem Jahre 1962, hat sein eigenes strafrechtliches System in einem eigenen Strafgesetzbuch kodifiziert.97 Der MPC bildet außerdem die 88 Reinbacher, Das Strafrechtssystem der USA: eine Untersuchung zur Strafgewalt föderativen Staat (2010), S. 166. 89 Kadish, Comment: The Folly of Overfederalization 46 (1995), S. 1247, 1251. 90 Reinbacher, Das Strafrechtssystem der USA: eine Untersuchung zur Strafgewalt föderativen Staat (2010), S. 166. 91 Reinbacher, Das Strafrechtssystem der USA: eine Untersuchung zur Strafgewalt föderativen Staat (2010), S. 167. 92 Dubber, Einführung in das US-amerikanische Strafrecht (2005), S. 2. 93 Dubber, Einführung in das US-amerikanische Strafrecht (2005), S. 1. 94 Dubber, Einführung in das US-amerikanische Strafrecht (2005), S. 16. 95 Dubber, Einführung in das US-amerikanische Strafrecht (2005), S. 16. 96 Dubber, Einführung in das US-amerikanische Strafrecht (2005), S. 16. 97 Reinbacher, Das Strafrechtssystem der USA: eine Untersuchung zur Strafgewalt föderativen Staat (2010), S. 123.
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Grundlage der Interpretation bereits bestehender Vorschriften,98 da die Vorschriften des MPC sehr ausführlich formuliert sind, eine Vielzahl von Definitionen enthalten und viele der bis dahin nur überlieferten Ansichten des Common Law wiedergeben.99 Der Model Penal Code ist damit nicht nur ein Gesetzbuch, sondern auch eine Zusammenfassung der wichtigsten Grundsätze des amerikanischen Strafrechts,100 weshalb er auch den Lehrveranstaltungen der Mehrzahl der juristischen Fakultäten zu Grunde gelegt wird.101 Obwohl der Model Penal Code eine Schlüsselstellung im amerikanischen Strafrecht innehat, sind jedoch auch in ihm bei Weitem nicht alle Normen des amerikanischen Strafrechts zu finden.102 Wie einige Bundesstaaten, darunter Kalifornien, hat auch der Bundesgesetzgeber bislang darauf verzichtet, das ,Bundesstrafrecht‘, namentlich den 18. Titel des U.S.C., nach dem Vorbild des MPC zu gestalten.103 Der Model Penal Code hat den im Common Law üblichen weiten richterlichen Handlungsspielraum bei der Definition neuer Straftatbestände eingeschränkt.104 Bis zur Veröffentlichung des Model Penal Codes waren Richter dazu berechtigt, jedes Verhalten, das gegen „öffentlichen Frieden, Anstand, Moral, und Ökonomie“ verstieß, zu bestrafen.105 § 1.05 (1) MPC legte fest: „Kein Verhalten ist ein Delikt, es sei denn, es stellt eine Straftat oder eine Übertretung gemäß diesem Gesetz oder einem anderen Gesetz dieses Staates dar.“ Da sich einige Einzelstaaten für ihre eigenen Kodifikationen am MPC orientiert und damit vom Common Law entfernt haben, ist der Einfluss der bundesstaatlichen Richter bei der Definition strafbaren Verhaltens schwächer geworden. In § 1.02 (2) des MPC werden die mit der Strafe verfolgten Zwecke erläutert. Dabei ist der Grund für die Bestrafung unter anderem die Prävention von Straftaten, die Resozialisierung von Straftätern und die Abschreckung von Tätern. Dem MPC liegt also eine utilitaristische, präventionsorientierte Straftheorie zugrunde, die, wie sich im Verlauf der Arbeit ausführlich zeigen wird, mit dem aktuellen straftheoretischen Zeitgeist der USA nicht mehr übereinstimmt.106 Die Vergeltungstheorie 98 Reinbacher, Das Strafrechtssystem der USA: eine Untersuchung zur Strafgewalt im föderativen Staat (2010), S. 125. 99 Reinbacher, Das Strafrechtssystem der USA: eine Untersuchung zur Strafgewalt im föderativen Staat (2010), S. 125. 100 Dubber, Penal Panopticon: The Idea of a Modern Model Penal Code, Buff. Crim. L. Rev. 4 (2000), S. 53, 60. 101 Reinbacher, Das Strafrechtssystem der USA: eine Untersuchung zur Strafgewalt im föderativen Staat (2010), S. 126. 102 Dubber, Einführung in das US-amerikanische Strafrecht (2005), S. 2. 103 Dubber, Einführung in das US-amerikanische Strafrecht (2005), S. 17. 104 Robinson/Dubber, The American Model Penal Code: A Brief Overview, Faculty Scholarship 131 (2007), S. 319, 332. 105 Dubber, Einführung in das US-amerikanische Strafrecht (2005), S. 8. 106 Robinson/Dubber, The American Model Penal Code: A Brief Overview, Faculty Scholarship 131 (2007), S. 319, 328, 341.
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wurde von den Verfassern des MPC als „irrational und anachronistisch“107 kritisiert. Diese Diskrepanz führte in den letzten Jahren auch vermehrt zu Kritik an der aktuellen Fassung des MPC und zu dem Wunsch nach dessen Reform.108 Dennoch betonen auch die Kritiker der aktuellen Fassung des MPC dessen herausragende Bedeutung für die Entwicklung des amerikanischen Strafrechts.109 Im Falle einer Reform soll daher auf das beeindruckende Fundament des MPC aus den 1960er Jahren gebaut werden.110 Gleichzeitig soll der ,neue‘ MPC neuere Entwicklungen im Strafrecht berücksichtigen, wozu dem amerikanischen Strafrechtswissenschaftler Markus Dubber zufolge auch die Shame Sanctions gehören dürften.111 Noch ist im MPC allerdings keine Regelung zum Shaming enthalten. Die Bestrebungen zur Reform des MPC setzten im Jahre 2001 ein 15 Jahre langes Projekt in Gang, das „Model Penal Code Sentencing Project“, in dem vor allem der Sanktionenteil des MPCs überarbeitet und insbesondere der retributive Gedanke stärker aufgenommen werden sollte.112 Im Jahre 2017 präsentierte das American Law Institute den finalen Entwurf des Model Penal Codes Sentencing, in dem die Shame Sanctions allerdings keine Erwähnung finden.113 4. Deliktskategorien im amerikanischen Strafrecht Ähnlich zur Unterscheidung im deutschen Strafrecht zwischen Ordnungswidrigkeiten, Vergehen und Verbrechen gibt es auch im amerikanischen Strafrecht eine Unterteilung der Straftaten in unterschiedliche Gruppen. Um im weiteren Verlauf zu untersuchen, für welche Delikte Shame Sanctions verhängt werden (können), soll zunächst geklärt werden, nach welchen Kriterien und in welche Gruppen Straftaten im amerikanischen Strafrecht unterteilt werden.
107 Dubber, Penal Panopticon: The Idea of a Modern Model Penal Code, Buff. Crim. L. Rev. 4 (2000), S. 53, 53. 108 Robinson/Dubber, The American Model Penal Code: A Brief Overview, Faculty Scholarship 131 (2007), S. 319, 328, 341. 109 Robinson/Dubber, The American Model Penal Code: A Brief Overview, Faculty Scholarship 131 (2007), S. 319, 340 f. 110 Robinson/Dubber, The American Model Penal Code: A Brief Overview, Faculty Scholarship 131 (2007), S. 319, 341. 111 Dubber, Penal Panopticon: The Idea of a Modern Model Penal Code, Buff. Crim. L. Rev. 4 (2000), S. 53, 58. 112 The American Law Institute, Model Penal Code: Sentencing Approved 24. 05. 2017, https://www.ali.org/news/articles/model-penal-code-sentencing-approved/#:~:text=The%2 0Sentencing%20project%20provides%20guidance,incarceration%2C%20community%20super vision%2C%20and%20economic [zugegriffen am 8. 6. 2022]. 113 Dies ergibt sich aus dem finalen Entwurf des Model Penal Codes, siehe The American Law Institute, Model Penal Code: Sentencing 10. 04. 2017, https://robinainstitute.umn.edu/ sites/robinainstitute.umn.edu/files/2022-02/mpcs_proposed_final_draft.pdf [zugegriffen am 8. 6. 2022].
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Bereits im Common Law gab es die Unterscheidung zwischen felonies und misdemeanors. Als felonies galten all diejenigen Delikte, auf die zwingend die Todesstrafe folgt. Misdemeanors waren dann alle weniger schwerwiegenden Delikte.114 Auch heute werden Straftaten sowohl im Strafrecht des Bundes als auch im Strafrecht der Einzelstaaten in drei große Gruppen unterteilt: Die zwei Hauptgruppen sind auch hier die felonies und die misdemeanors. Alle Delikte, deren Begehung die Todesstrafe oder eine Gefängnisstrafe von mindestens einem Jahr im Gefängnis eines Bundesstaates („state prison“) nach sich zieht, werden als felonies bezeichnet.115 Misdemeanors sind Straftaten, für die die Höchststrafe eine Geldstrafe und/oder die Inhaftierung in einem lokalen Gefängnis („jail“) ist, in dem eher kurze Strafen abgesessen werden.116 Um das Strafmaß im Einzelfall exakter zu bestimmen, werden die felonies und die misdemeanors in unterschiedliche Schweregrade eingeteilt, so gibt es z. B. den Mord ersten Grades („first degree murder“’).117 Außerdem gibt es noch die Gruppe der violations oder infractions, diese stellen kleinere Übertretungen dar, die keine Freiheitsstrafe nach sich ziehen.118 Sie entsprechen am ehesten den deutschen Ordnungswidrigkeiten.119 Im Bundesstrafrecht gibt es außerdem die Gruppe der petty offenses, worunter misdemeanors und infractions fallen, für die eine Geldstrafe von nicht mehr als 5.000 Dollar für Einzelpersonen und 10.000 Dollar für Unternehmen bzw. Organisationen vorgesehen ist.120 Auch der MPC enthält Regelungen zur Klassifizierung von Delikten; im § 1.04. (1) des MPC wird zwischen felonies, misdemeanors und petty misdemeanors unterschieden.121 § 6.01. MPC legt ebenfalls drei Schweregrade der felonies fest. Dabei ist im jeweiligen Felony-Straftatbestand der Schweregrad aufgeführt; sofern kein solcher angegeben ist, handelt es sich um ein felony dritten Grades.122 Als misdemeanors gelten im MPC diejenigen Delikte, für die eine Freiheitsstrafe von
114
Schmid, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten: eine Einführung (1993), S. 174. 115 Schmid, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten: eine Einführung (1993), S. 174. 116 Schmid, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten: eine Einführung (1993), S. 174. 117 Für das Bundesstrafrecht Unterteilung in 18 U.S. Code § 3559. 118 Dubber, Einführung in das US-amerikanische Strafrecht (2005), S. 6. 119 N.N., County employee gets humiliating sentence 10. 07. 2010, https://abc13.com/archi ve/7544819/ [zugegriffen am 8. 6. 2022]. 120 18 U.S. Code § 19. „Petty offense defined: As used in this title, the term ,petty offense‘ means a Class B misdemeanor, a Class C misdemeanor, or an infraction, for which the maximum fine is no greater than the amount set forth for such an offense in section 3571(b)(6) or (7) in the case of an individual or section 3571(c)(6) or (7) in the case of an organization.“ 121 Schmid, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten: eine Einführung (1993), S. 175. 122 § 6.01. (1)
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höchstens einem Jahr vorgesehen ist, als petty misdemeanors Delikte mit einer vorgesehenen Freiheitsstrafe mit einer Höchstdauer von 30 Tagen.123 5. Sanktionsarten Der Richter bzw. die jury hat, sofern der Angeklagte schuldig gesprochen wurde, die Wahl zwischen unterschiedlichen Sanktionsformen: der Todesstrafe, der Freiheitsstrafe und der Geldstrafe.124 Die sowohl national als auch international umstrittenste strafrechtliche Sanktion des amerikanischen Strafrechts ist die Todesstrafe: sie ist heute (Stand 2021) in 27 amerikanischen Bundesstaaten und auf Bundesebene anwendbar.125 Die Todesstrafe kann in den jeweiligen Staaten und auf Bundesebene vorwiegend für felonies ersten Grades verhängt werden.126 In einigen Staaten, in denen die Todesstrafe formell nicht abgeschafft ist, ist sie durch ein Moratorium des Gouverneurs ausgesetzt, so in Oregon seit 2011, in Pennsylvania seit 2015 und seit 2019 auch in Kalifornien.127 Die Bedeutung der Geldstrafen, aber auch deren Akzeptanz durch die Bevölkerung ist in den USA deutlich geringer als in Deutschland, weshalb sie auch weniger häufig verhängt werden; sie werden vorwiegend für white collar crimes (Delikte des Wirtschaftsrechts) oder als Zusatz zu einer Freiheitsstrafe eingesetzt.128 Von weitaus größerer praktischer Relevanz als die Todes- und die Geldstrafe ist allerdings die Freiheitsstrafe („imprisonment“).129 Dabei wird zwischen zeitlich bestimmten („determinate“) und unbestimmten („indeterminate“) Freiheitsstrafen unterschieden.130 Bei den zeitlich bestimmten Freiheitsstrafen legt der Richter von
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§ 6.01. und § 6.08. MPC Schmid, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten: eine Einführung (1993), S. 175 f. 125 Death Penalty Information Center, States with and without the death penalty – 2021, https://deathpenaltyinfo.org/state-and-federal-info/state-by-state [zugegriffen am 8. 6. 2022]; Death Penalty Information Center, Federal Death Penalty, https://deathpenaltyinfo.org/stateand-federal-info/federal-death-penalty [zugegriffen am 8. 6. 2022]. 126 Schmid, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten: eine Einführung (1993), S. 174. 127 Death Penalty Information Center, States with and without the death penalty – 2021, https://deathpenaltyinfo.org/state-and-federal-info/state-by-state [zugegriffen am 8. 6. 2022]. 128 Kahan, What Do Alternative Sanctions Mean?, University of Chicago Law Review 63 (1996), S. 591, 591. 129 Schmid, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten: eine Einführung (1993), S. 175. 130 Köstler-Loewe, Strafrecht US-Style: „Three Strikes and You’re Out!“: Baseball, Rückfall und Kriminalpolitik? (2008), S. 69 f. 124
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vornherein eine feste Zeitspanne fest, die der Verurteilte in Haft verbringen muss.131 Bei der unbestimmten Freiheitsstrafe wird die Mindest- und die Höchstdauer festgelegt, die der Verurteilte inhaftiert wird, z. B. „15 bis 25 Jahre“ oder „20 Jahre bis lebenslang“.132 Die konkrete Dauer wird dann von einer eigens dafür eingerichteten und vom Gericht unabhängigen Kommission festgelegt, dem Parole Board, das dann über die vorzeitige Entlassung, die Parole, entscheidet.133 Es gibt für den Richter auch die Möglichkeit, life without parole zu verhängen, also eine lebenslange Haftstrafe ohne die Möglichkeit einer vorzeitigen Entlassung.134 Auf Bundesebene ist die Möglichkeit der Parole seit dem Sentencing Reform Act135 im Jahre 1984 abgeschafft; seitdem gibt es das System der Supervised Release. Der Unterschied zwischen der Parole und der Supervised Release besteht darin, dass die Parole bereits beginnt, bevor die gesamte Zeit der Freiheitsstrafe verbüßt ist, sie stellt also eine Haftaussetzung dar. Der Zeitraum der Parole erstreckt sich dann über den Zeitraum der ursprünglich verhängten Haftstrafe.136 Der Zeitraum der Supervised Release dagegen beginnt erst nach der Verbüßung der gesamten Freiheitsstrafe und dient dazu, den ehemals Inhaftierten bei seinen ersten Schritten in Freiheit zu begleiten und zu überwachen.137 Die Supervised Release kann mit bestimmten Bedingungen verbunden sein, die, falls sie verletzt werden, zu einer erneuten Inhaftierung führen.138 Eine weitere Form der strafrechtlichen Verurteilung ist die Probation. Im Gegensatz zur Supervised Release handelt es sich bei der Probation um eine Form der bedingten Verurteilung; das bedeutet, dass der Angeklagte zwar der Straftat schuldig gesprochen wird, jedoch keine konkrete Strafe oder ein konkretes Strafmaß aus-
131 Schmid, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten: eine Einführung (1993), S. 176. 132 Schmid, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten: eine Einführung (1993), S. 176. 133 Köstler-Loewe, Strafrecht US-Style: „Three Strikes and You’re Out!“: Baseball, Rückfall und Kriminalpolitik? (2008), S. 70. 134 Dies geschieht beispielsweise bei den sogenannten „Three-Strikes“-Gesetzen, die sich gegen Rückfalltäter richten. Köstler-Loewe, Strafrecht US-Style: „Three Strikes and You’re Out!“: Baseball, Rückfall und Kriminalpolitik? (2008), 16, 214. 135 Der Sentencing Reform Act war ein Bundesgesetz, das die Vereinheitlichung von Urteilen auf Bundesebene bezwecken sollte. Auf diesem Gesetz beruhte unter anderem die Einberufung der Sentencing Commission. Fischer, Die Normierung der Strafzwecke nach Vorbild der U.S. Sentencing guidelines – eine Chance für das deutsche (Steuer-)Strafrecht? Zugleich eine Einführung in das US-amerikanische Steuerstrafrecht (1999), S. 119 f. 136 Scott-Hayward, Shadow Sentencing: The Imposition of Federal Supervised Release, Berkeley Journal of Criminal Law 2013, S. 180, 188. 137 Schmid, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten: eine Einführung (1993), S. 177. 138 Siehe 18 U.S. Code § 3583 (d).
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gesprochen, sondern der Angeklagte auf Probation gestellt wird.139 Bei der Probation können, wie bei der Supervised Release, bestimmte Bedingungen und Weisungen für die zukünftige Lebensgestaltung auferlegt werden;140 als eine solche Bedingung könnte eine Shame Sanction verhängt werden. Die Einhaltung der Bedingungen und Auflagen wird unter Umständen von einem Probation Officer überwacht.141 Bei der Auferlegung der Bedingungen hat der Richter einen weiten Ermessensspielraum, sofern die Bedingungen einen Zusammenhang mit den hinter dem Konzept der Probation stehenden Zwecken aufweisen.142 Darüber hinaus gibt es in manchen Bundesstaaten auch die Einschränkung, dass die Bedingung auch einen Bezug zur Straftat aufweisen muss.143 Wenn der Delinquent die Bedingungen für die Probation nicht einhält, kann entweder die Dauer der Probation verlängert oder die Strafe ausgesprochen werden, die ursprünglich möglich gewesen wäre, wie z. B. eine Freiheitsstrafe.144 Lange Zeit galt die Probation im Vergleich zur Freiheitsstrafe als „Akt der Gnade“ („Act of Grace“), mittlerweile wird auch die Probation aufgrund der Schwere der mit ihr verbundenen Bedingungen als Strafe anerkannt.145 6. Strafzumessung/Festsetzung der Strafe und des Strafmaßes Shame Sanctions sind als Sanktionsform nicht gesetzlich festgeschrieben, aber werden dennoch von Richtern verhängt. Daher sollen an dieser Stelle einerseits die Zuständigkeiten der Gerichte und andererseits die für die Strafzumessung bzw. Wahl der Sanktionsart wesentlichen Aspekte in Kürze dargestellt werden. 139 Schmid, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten: eine Einführung (1993), S. 176. 140 Schmid, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten: eine Einführung (1993), S. 176. 141 Weigend, Entwicklungen und Tendenzen der Kriminalpolitik in den USA, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 90 (1978), 1083 – 1127, 1114; Schmid, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten: eine Einführung (1993), S. 176. 142 Siehe 18 U.S. Code § 3563 (b), „Conditions of probation“: „[…] to the extent that such conditions are reasonably related to the factors set forth in section 3553 (a) (1) and (a) (2)[…]; 18 U.S. Code § 3553, (a) (1): „The court, in determining the particular sentence to be imposed, shall consider the nature and circumstances of the offense and the history and characteristics of the defendant.“ (a) (2): „the need for the sentence imposed to reflect the seriousness of the offense, to promote respect for the law, and to provide just punishment for the offense; to afford adequate deterrence to criminal conduct; to protect the public from further crimes of the defendant; and to provide the defendant with needed educational or vocational training, medical care, or other correctional treatment in the most effective manner;“ Branham, The law and policy of sentencing and corrections in a nutshell (2017), S. 124. 143 Branham, The law and policy of sentencing and corrections in a nutshell (2017), S. 124. 144 Schmid, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten: eine Einführung (1993), S. 176. 145 Phaedra Athena O’Hara Kelly, The Ideology of Shame: An Analysis of First Amendment and Eighth Amendment Challenges to Scarlet-Letter Probation Conditions, North Carolina Law Review 77 (1999), S. 785, 843 ff.
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Teil 1: Das Aufkommen der Shame Sanctions in den USA
Die Bundesgerichtsbarkeit besteht aus drei Instanzen. Auf unterster Stufe stehen die U.S. District Courts.146 Davon gibt es 94 über die USA verteilt.147 Im Rahmen der U.S. District Courts entscheidet meist ein Einzelrichter als erste Instanz über verletzte Normen der Bundesgesetzgebung.148 Auf zweiter Stufe stehen die U.S. Court of Appeals, auch Circuit Courts genannt.149 In den USA gibt es 11 solcher Circuit Courts für 13 Circuits.150 Die Kammern der Circuit Courts bestehen grundsätzlich aus drei Richtern.151 Die Circuit Courts dienen vor allem als Berufungsinstanz für Entscheidungen der District Courts.152 Auf oberster Stufe im Gerichtsaufbau steht der Supreme Court; er ist mit 9 Richtern besetzt.153 Der Supreme Court dient fast ausschließlich als Berufungsgericht für die unteren Gerichte und ist unter anderem für Entscheidungen, die das Bundesstrafrecht und die Verfassung betreffen, zuständig.154 Auch die Gerichtsbarkeit der Einzelstaaten ist dreistufig aufgeteilt.155 Auf unterster Stufe stehen hier die lower courts, von denen es verschiedene Ausgestaltungen und Namen gibt.156 Als Beispiel seien die municipal courts, die juvenile courts und die traffic courts genannt.157 In bestimmten ländlichen Gegenden ist es üblich, dass es als unterste Instanz einen justice of peace gibt, der juristischer Laie ist und in seinem Privathaus praktiziert.158 Als ordentliche Instanz dienen die lower courts vor allem bei infractions, violations und misdemeanors, die in der Regel mit einer Geldstrafe 146 Schmid, (1993), S. 46. 147 Schmid, (1993), S. 46. 148 Schmid, (1993), S. 46. 149 Schmid, (1993), S. 46. 150 Schmid, (1993), S. 46. 151 Schmid, (1993), S. 46. 152 Schmid, (1993), S. 47. 153 Schmid, (1993), S. 47. 154 Schmid, (1993), S. 47. 155 Schmid, (1993), S. 47. 156 Schmid, (1993), S. 47. 157 Schmid, (1993), S. 47. 158 Schmid, (1993), S. 47.
Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten: eine Einführung Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten: eine Einführung Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten: eine Einführung Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten: eine Einführung Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten: eine Einführung Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten: eine Einführung Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten: eine Einführung Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten: eine Einführung Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten: eine Einführung Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten: eine Einführung Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten: eine Einführung Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten: eine Einführung Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten: eine Einführung
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oder einer Freiheitsstrafe bis zu 6 Monaten bestraft werden können.159 Auf zweiter Ebene stehen die superior courts, die höheren Gerichte. Sie dienen als ordentliche Instanz für schwerere Delikte, vor allem für felonies und als Berufungsinstanz für Entscheidungen der lower courts.160 Auf dieser Ebene kommt es häufiger zu Geschworenenverfahren, den trial cases.161 Auch bei den meisten Einzelstaaten existiert eine weitere Instanz, entsprechend zum Supreme Court des Bundes. Diese heißen ebenfalls supreme courts, appellate courts oder courts of appeals.162 Die Bundesrichter, unabhängig von der Stufe, werden vom amerikanischen Präsidenten auf Lebenszeit ernannt.163 Die Richter der Einzelstaaten werden entweder vom Gouverneur ernannt,164 vom Staatsparlament oder, auf den unteren Stufen besonders üblich, direkt vom Volk für eine bestimmte Amtszeit gewählt.165 Es gibt auch eine modifizierte Form der Volkswahl, das sogenannte Missouri-System; der Richter wird vom Gouverneur ernannt, nachdem er von einer Kommission zur Ernennung vorgeschlagen wurde.166 Später entscheidet dann die Bevölkerung durch Wahl, ob der Richter im Amt bleiben soll oder nicht.167 Die Entscheidung über die Strafzumessung wird sowohl bei den Bundesgerichten als auch bei den Gerichten der Einzelstaaten grundsätzlich entweder von einem Einzelrichter oder von einer trial jury168 getroffen. Das Recht auf ein Verfahren vor 159 Schmid, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten: eine Einführung (1993), S. 47. 160 Schmid, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten: eine Einführung (1993), S. 47. 161 Schmid, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten: eine Einführung (1993), S. 47. 162 Schmid, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten: eine Einführung (1993), S. 48. 163 Schmid, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten: eine Einführung (1993), S. 45. 164 Schmid, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten: eine Einführung (1993), S. 45. 165 Schmid, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten: eine Einführung (1993), S. 45. 166 Schmid, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten: eine Einführung (1993), S. 45 f. 167 Schmid, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten: eine Einführung (1993), S. 45 f. 168 Neben der trial jury, die auch petit jury genannt wird, gibt es auch eine grand jury. Wie der Name schon sagt, besteht die grand jury aus mehr Mitgliedern als die trial jury, traditionell aus 23. Die grand jury entscheidet im Gegensatz zur trial jury nicht über die Frage der Schuld und ist auch nicht in der Gerichtsverhandlung anwesend, sondern trägt im Vorfeld zur Entscheidung der Staatsanwaltschaft bei, ob gegen den Beschuldigten überhaupt Anklage erhoben werden soll. Dabei geht es vor allem darum, die Beweise, die gegen den Beschuldigten vorliegen, auf ihre Tragfähigkeit zu untersuchen. Dabei dürfen die Mitglieder der grand jury ebenfalls Zeugen vernehmen oder andere Beweise einsehen, dies alles geschieht jedoch abseits der Öffentlichkeit. Der 5. Zusatzartikel zur Verfassung sichert bei schweren Delikten das
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einer jury ist verfassungsrechtlich verankert und ergibt sich aus U.S. Const. Art. III § 2 cl. 3 und dem VI. Amendment zur amerikanischen Verfassung. Die Mitglieder der jury werden über mehrere Etappen aus der Bevölkerung ausgewählt.169 Das Recht auf ein Verfahren vor einer jury ist lediglich bei Bagatelldelikten und beim ausdrücklichen Verzicht des Angeklagten darauf ausgeschlossen.170 Dies wird von Strafverteidigern empfohlen, wenn es sich um besonders verwerfliche Taten handelt, wie etwa Kindesmissbrauch, bei dem die jury häufig in besonderer Weise emotional vorbelastet ist und bei einer gewissen Beweislage dazu tendiert, die Schuld des Angeklagten anzunehmen.171 Die trial jury entscheidet mindestens über die Schuld des Angeklagten.172 Im amerikanischen Strafverfahren ist, im Gegensatz zum deutschen, die Schuldfeststellung von der Strafzumessungsentscheidung getrennt.173 Über die Frage der Strafzumessung entscheidet auf Bundesebene der Richter, auf Ebene der Bundesstaaten entweder der Richter oder ebenfalls die jury. Jedenfalls war dies jahrhundertelang der Fall; seit Beginn der 1990er Jahre entscheidet in manchen Staaten die jury auch über die Frage der Strafzumessung.174 7. Sentencing Guidelines Man kann nicht über das amerikanische Sanktionssystem sprechen, ohne die sogenannten „Sentencing Guidelines“ zu erwähnen. Sentencing Guidelines sind Strafzumessungsbestimmungen, die den richterlichen Ermessensspielraum einschränken und einer Vereinheitlichung der Strafzumessung dienen sollen. 175 Dabei Recht auf eine Entscheidung durch eine Grand Jury, der 14. Zusatzartikel zur Verfassung spricht dagegen nicht von einer Grand Jury, weswegen die Einzelstaaten die Grand Jury auch abschaffen können. Zur Zeit gibt es in etwa der Hälfte der Bundesstaaten Grand Juries. Siehe dazu American Bar Association, FAQs about the Grand Jury System 24. 03. 2010, https://web. archive.org/web/20110424124519/http://www.abanow.org/2010/03/faqs-about-the-grand-jurysystem/ [zugegriffen am 8. 6. 2022]. 169 Schmid, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten: eine Einführung (1993), S. 66. 170 Schmid, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten: eine Einführung (1993), S. 51. 171 Beispielhaft dazu Webseiten von Strafverteidigern, die die Vor- und Nachteile von „bench trial“ und „jury trial“ aufzählen: Skinner, Bench Trial Or Jury Trial: Pros & Cons 08. 04. 2021, https://www.skinnerlawfirm.net/blog/bench-trial-or-jury-trial-pros-cons/ [zugegriffen am 8. 6. 2022]; Keller, Bench Trial v. Jury Trial – What’s the Difference? 17. 05. 2021, https://www.kellerfirm.com/bench-trial-v-jury-trial–whats-the-difference [zugegriffen am 8. 6. 2022]. 172 Schmid, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten: eine Einführung (1993), S. 79. 173 Schmid, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten: eine Einführung (1993), S. 79. 174 Schmid, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten: eine Einführung (1993), S. 79. 175 Tonry, Sentencing fragments (2016), S. 70.
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werden die Strafrahmen für Delikte je nach deren Schwere und der strafrechtlichen Vergangenheit des Angeklagten festgelegt.176 Auf Bundesebene waren es die Federal Sentencing Guidelines, die 1987 im Rahmen des Sentencing Reform Acts von der eigens dafür vom Kongress gegründeten Sentencing Comission erlassen wurden und bis zum Jahr 2005 rechtsverbindlich waren. 177 Am 13. Januar 2005 entschied der U.S. Supreme Court, dass die Federal Sentencing Guidelines nicht mehr rechtsverbindlich sind, sondern nur noch als Empfehlung („advisory“) für die Bundesgerichte dienen sollen.178 Auch auf bundesstaatlicher Ebene gab bzw. gibt es solche Sentencing Guidelines.179 Heute gibt es in 21 Bundesstaaten Sentencing Guidelines.180 Im Gegensatz zu den Federal Sentencing Guidelines sind die Sentencing Guidelines einiger Bundesstaaten sogar rechtsverbindlich.181 8. Zusammenfassung Dieser grobe Überblick zeigt, dass das amerikanische Strafrechtssystem komplex ist und selbstverständlich nicht im Rahmen dieser Arbeit vollständig abgebildet werden kann. Dies liegt vor allem am föderalen System, das sowohl das materielle Strafrecht, aber auch die Gesetzgebungs- und Strafverfolgungszuständigkeiten beeinflusst und komplexer gestaltet. Für die Einordnung der Shame Sanctions als Sanktionsform und deren kritische Bewertung ist ein vollumfängliches Verständnis des amerikanischen Strafrechts jedoch auch gar nicht notwendig; ein Überblick über die wichtigsten Charakteristika ist für diesen Zweck ausreichend. Besonders auffällig ist die besondere Rolle der Richter im amerikanischen Strafrecht. Diese handeln im Rahmen juristischer Entscheidungsfindung stärker als Individuen und prägen diese durchaus durch ihren persönlichen ,Stempel‘: So werden Urteile in der Ich-Form abgefasst bzw. die einzelnen Meinungen der Richter einer größeren Kammer namentlich hervorgehoben.182 Dabei verschafft die Wahl durch das Volk den Richtern einerseits eine stärkere Legitimation, gleichzeitig erhöht jene auch die Gefahr besonders „öffentlichkeitswirksamer“183 Urteile. Diese Gefahr könnte sich in den Shame Sanctions realisiert haben. 176 Schmid, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten: eine Einführung (1993), S. 176. 177 United States v. Booker, 543 U.S. 220 (2005). 178 United States v. Booker, 543 U.S. 220 (2005). 179 Tonry, Sentencing fragments (2016), S. 64. 180 Kauder/Ostrom, State Sentencing Guidelines 07.2008, https://www.ncsc.org/__data/as sets/pdf_file/0022/25474/state_sentencing_guidelines.pdf [zugegriffen am 8. 6. 2022]. 181 Z. B. in North Carolina, siehe: Kauder/Ostrom, State Sentencing Guidelines 07.2008, https://www.ncsc.org/__data/assets/pdf_file/0022/25474/state_sentencing_guidelines.pdf [zugegriffen am 8. 6. 2022]. 182 Siehe beispielsweise United States v. Gementera, 379 F.3d 596 (9th Cir. 2004). 183 Dazu mehr unter Teil 1, C. II. 2.
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II. Verortung der Shame Sanctions innerhalb des amerikanischen Sanktionssystems Innerhalb des Sanktionssystems des Bundes und der Bundesstaaten sind Shame Sanctions nicht eindeutig zu verorten, da weder die Sanktion selbst noch ihr Verhältnis zu anderen Sanktionsformen explizit gesetzlich geregelt oder durch höchstrichterliche Rechtsprechung ausgestaltet ist.184 Shame Sanctions werden meist als einzige oder eine von mehreren Bedingungen bzw. Auflagen zur Probation oder Supervised Release verhängt, weshalb sie auch als Shaming Conditions185 bezeichnet werden. Der Einsatz der Shame Sanctions in Form einer Bedingung ist darauf zurückzuführen, dass der richterliche Ermessensspielraum bei der Auferlegung der Bedingungen zur Probation oder zur Supervised Release recht weit ist. Obwohl die Sentencing Guidelines den Ermessensspielraum der Richter eigentlich einschränken sollten, ist dieser hinsichtlich der Verhängung von Auflagen im Bereich der Probation bzw. Supervised Release immer noch weit. Dabei müssen Richter sowohl auf der Bundesebene als auch auf Ebene der Bundesstaaten lediglich beachten, dass die Bedingungen „in einem angemessenen Verhältnis“ zu der „Art und den Umständen der Tat sowie dem persönlichen Hintergrund und den Eigenschaften des Angeklagten“ stehen müssen.186 Diese nicht allzu engen Grenzen dienen als Einfallstor für die Verhängung von Shame Sanctions.
III. Anwendungsbereich der Shame Sanctions Der Anwendungsbereich der Shame Sanctions beschränkt sich, wie bereits die angeführten Fallbeispiele zeigen, grundsätzlich eher auf Bagatelldelikte, allerdings nicht ausschließlich, wie die letzten zwei Beispiele unter Teil 1, A. II. zeigen, wobei in diesen Fällen die Shame Sanction auch mit einer Freiheitsstrafe kombiniert wird, 184 Ausnahme: In Pennsylvania ist eine Form einer Shame Sanctions gesetzlich geregelt, nämlich im Fall, dass jemand wiederholt wegen der Inanspruchnahme der Dienste einer Prostituierten verurteilt wird, soll das Gericht das Urteil in einer Zeitung veröffentlichen, s. Title 18, § 5902 e.2 Pennsylvania Criminal Code. 185 N.N., Criminal Law – Federal Sentencing Guidelines – Ninth Circuit Holds That Shaming Punishment Does Not Violate The Sentencing Reform Act – United States v. Gementera, 379 F.3d 596 (9th Cir. 2004), Harvard Law Review 118 (2004), S. 825, 825. 186 Siehe 18 U.S. Code § 3563 (b), „Conditions of probation“: „[…] to the extent that such conditions are reasonably related to the factors set forth in section 3553 (a) (1) and (a) (2) […]“; 18 U.S. Code § 3553, (a) (1): „The court, in determining the particular sentence to be imposed, shall consider the nature and circumstances of the offense and the history and characteristics of the defendant.“ (a) (2): „the need for the sentence imposed to reflect the seriousness of the offense, to promote respect for the law, and to provide just punishment for the offense; to afford adequate deterrence to criminal conduct; to protect the public from further crimes of the defendant; and to provide the defendant with needed educational or vocational training, medical care, or other correctional treatment in the most effective manner;“ Branham, The law and policy of sentencing and corrections in a nutshell (2017), S. 124.
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oder zumindest nicht die Hauptsanktion darstellt.187 Die Gruppe der Delikte, für deren Begehung Shame Sanctions typischerweise verhängt werden, ist schwierig ein- und abgrenzbar, gerade weil Shame Sanctions nicht gesetzlich verankert sind. Mit der Zeit haben sich dennoch typische Delikts- und Tätergruppen herausgebildet, für die Shame Sanctions verhängt werden,188 darunter Sexualdelikte und geringfügige bis mittelschwere Delikte wie z. B. Verkehrsdelikte, Beleidigungs- und Aussagedelikte.189 Neben der Gruppe der geringfügigen und mittelschweren Delikte wurden Shame Sanctions auch verstärkt gegen Ersttäter und Täter aus dem Wirtschaftsleben eingesetzt.190 Ob eine Shame Sanction verhängt wird, hängt damit von einigen individuellen Faktoren auf Täterseite ab. Zwei besonders wichtige Faktoren sind das durch ihn begangene Delikt und die Art und Weise der Tatbegehung. Auch seine Eigenschaften, sein Auftreten und seine persönliche und eventuell kriminelle Vergangenheit können bei der Entscheidung darüber, ob eine Shame Sanction vom Richter überhaupt in Erwägung gezogen wird, eine Rolle spielen. Doch auch Faktoren auf der Seite des Richters spielen eine Rolle bei der Frage, ob Shame Sanctions verhängt werden.
IV. Richter als Urheber der Shame Sanctions Wird eine Strafform üblicherweise von der Legislative im entsprechenden Gesetz verankert und von der Judikative umgesetzt, waren es bei den Shame Sanctions Richter, die die Shame Sanctions eigenständig ins Strafarsenal des amerikanischen Strafrechts gebracht haben. Dies resultiert aus ihrer Strafzumessungskompetenz. Ihr Ermessensspielraum, eigenständige Sanktionsarten zu ,erfinden‘, bietet sich ihnen jedoch nicht immer, sondern vor allem im Rahmen der Auflagen zur Probation bzw. Supervised Release. 187
Kahan, What Do Alternative Sanctions Mean?, University of Chicago Law Review 63 (1996), S. 591, 641. 188 Shame Sanctions wurden auch schon für schwerwiegende Delikte verhängt: Michael Giacona aus Texas, der unter Alkoholeinfluss am Steuer seines Fahrzeugs saß, eine rote Ampel überfahren und dadurch einen anderen Mann getötet hatte, wurde von einem texanischen Richter zu einem Jahr Haft verurteilt. Als zusätzliche Auflage zu einer „Shock Probation“, also einer kurzen Haftstrafe, musste Giacona an vier aufeinanderfolgenden Samstagen mit einem Schild mit der Aufschrift „Ich habe Aaron Coy Pennywell getötet während ich betrunken am Steuer saß“ 8 Stunden am Unfallort stehen. Harrigan, Texas drunk driver ordered to wear ,I killed Aaron Coy Pennywell‘ sign 23. 04. 2012, https://www.syracuse.com/ news/2012/04/michael_giacona_drunk_driving_aaron_coy_pennywell.html [zugegriffen am 8. 6. 2022]. 189 Aufzählung bei Kahan, What Do Alternative Sanctions Mean?, University of Chicago Law Review 63 (1996), S. 591. 190 Whitman, What is wrong with inflicting shame sanctions?, The Yale Law Journal 107 (1998), S. 1055, 1064.
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Teil 1: Das Aufkommen der Shame Sanctions in den USA
Nicht alle Richter nutzen diesen Ermessensspielraum, um Shame Sanctions zu verhängen. Bereits durch die Hauptzuständigkeit der Bundesstaaten für das Strafrecht und das Sanktionsrecht erfolgt die Verhängung von Shame Sanctions nicht ausschließlich, aber vorwiegend durch bundesstaatliche Richter. Die meisten Shame Sanctions werden sogar von einigen wenigen Richtern der untersten Ebene der Bundesstaaten verhängt; von den Richtern, die durch Volkswahl ins Amt kommen, was vermuten lässt, dass möglichst öffentlichkeitswirksame Strafen eine Wiederwahl jener Richter begünstigen oder ihnen sogar politische Karrieren ermöglichen sollen.191 Besonders gut lässt sich dies an konkreten Beispielen verdeutlichen: Die mittlerweile ehemaligen Richter Michael Cicconetti aus Ohio und Ted Poe aus Texas haben für ,ihre‘ Shame Sanctions mediale Bekanntheit erlangt. Ted Poe war so berühmt für die Verhängung von Shame Sanctions, dass er von den Medien sogar den Spitznamen „King of Shame“192 bekam. Aufgrund dessen war er Thema einiger Zeitungsartikel und sogar zu Gast in der erfolgreichsten amerikanischen Talkshow „The Oprah Winfrey Show“.193 Anlass seines Besuchs war der Fall eines Mannes, der mit seinem Fahrzeug betrunken ein anderes Auto gerammt und zwei der Insassen dadurch getötet hatte.194 In der Sendung sprach Poe mit der Moderatorin Oprah Winfrey, dem verurteilten Fahrer und der Witwe des Getöteten über die Strafe. Poe hatte den Mann zwar zunächst zu einer Freiheitsstrafe von 10 Jahren verurteilt, nach 6 Monaten hatte er jedoch seine Freilassung angeordnet und den Verurteilten auf Shock Probation gestellt. Auch die Shock Probation ist eine rechtliche Maßnahme, die im Ermessen des Richters liegt.195 Danach wird der Angeklagte nach einem kurzen Aufenthalt im Gefängnis freigelassen und auf Probation gestellt, sofern die Zeit der Inhaftierung einen bleibenden Eindruck beim Täter hinterlassen hat bzw. ihn ,geschockt‘ hat.196 Im konkreten Fall war die Probation mit mehreren Bedingungen verbunden, unter anderem musste sich der Verurteilte die restliche Zeit der Probation, also fast 10 Jahre lang, einmal im Monat mit einem Schild vor Highschools und Bars stellen, auf dem stand: „Ich bin betrunken Auto gefahren und habe dabei zwei Menschen getötet.“197 Diese und viele andere Shame Sanctions brachten Poe Ruhm
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Dazu mehr unter Teil 1, C. III. 2. McMurry, For shame: paying for crime without serving time, but with a dose of humility 01. 05. 1997, https://www.thefreelibrary.com/For+shame%3A+paying+for+crime+without+ serving+time%2C+but+with+a+dose+of…-a019410793 [zugegriffen am 08.06.202]. 193 Fenske, After Oprah 07. 10. 2004, https://web.archive.org/web/20180811110427/https:// www.houstonpress.com/news/after-oprah-6553789 [zugegriffen am 8. 6. 2022]. 194 Fenske, After Oprah 07. 10. 2004, https://web.archive.org/web/20180811110427/https:// www.houstonpress.com/news/after-oprah-6553789 [zugegriffen am 8. 6. 2022]. 195 Garner (Hrsg.), Black’s law dictionary (2001), S. 978. 196 Garner (Hrsg.), Black’s law dictionary (2001), S. 978. 197 Fenske, After Oprah 07. 10. 2004, https://web.archive.org/web/20180811110427/https:// www.houstonpress.com/news/after-oprah-6553789 [zugegriffen am 8. 6. 2022]. 192
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weit über die Grenzen Texas’ hinaus.198 2004 wurde er aus dem Richteramt in den amerikanischen Kongress gewählt und repräsentierte dort bis Anfang 2019 den Bundesstaat Texas.199 Ebenso berühmt für seine Shame Sanctions ist der Richter Michael Cicconetti aus Painesville im Bundesstaat Ohio. Die Shame Sanctions, die er verhängt hat, waren ebenfalls bereits Thema in amerikanischen TV-Shows und Nachrichtensendungen.200 Cicconetti überlässt den Angeklagten häufig die Wahl zwischen einer Shame Sanction und einer Geld- oder Freiheitsstrafe, wobei die Angeklagten sich in vielen Fällen für die Shame Sanction entscheiden und sich meist sogar sehr erleichtert über diese Möglichkeit zeigen.201 Manche von ihnen würden ihn noch Jahre nach ihrer Verurteilung auf der Straße grüßen oder ihn manchmal sogar nach einem gemeinsamen Mittagessen fragen.202 Im Gegensatz zu Poe strebte Cicconetti zwar laut eigener Aussage nie ein politisches Amt an,203 allerdings wurde er 2005 zum Präsident der American Judges Association (AJA) gewählt.204 Außerdem erhalte er viele Anfragen für die Teilnahme an bzw. sogar Moderation von TV-Shows.205 Cicconetti hat sogar einen eigenen Wikipedia-Eintrag, in dem Beispiele der von ihm verhängten ,kreativen Strafen‘, darunter auch Shame Sanctions, aufgeführt werden.206 198 Etwa in Los Angeles, siehe: Shatzkin, Judges Are Resorting to Shame in Sentencing Criminals 26. 04. 1998, https://www.latimes.com/archives/la-xpm-1998-apr-26-mn-43159-sto ry.html [zugegriffen am 8. 6. 2022]. 199 Eintrag über Ted Poe auf der Webseite des US-amerikanischen Kongresses, https:// www.congress.gov/member/ted-poe/P000592?searchResultViewType=expanded [zugegriffen am 25. 05. 2022]. 200 ABC News, Meet the Judge Who Went Viral for his Creative Punishments 31. 08. 2015, https://youtu.be/pZSTu98-Cus [zugegriffen am 8. 6. 2022]. 201 Hannan, Creative Justice 24. 06. 2017, https://clevelandmagazine.com/in-the-cle/theread/articles/creative-justice [zugegriffen am 8. 6. 2022]. 202 2002 hatte Cicconetti einen Mann, der einen Polizisten als „Schwein“ beleidigt hatte, dazu verurteilt, mit einem Schwein und einem Schild mit der Aufschrift „This is not a police officer“ auf der Straße zu stehen. Dieser Mann würde ihn noch Jahre nach der Verurteilung zum Mittagessen einladen: „He even calls me and wants to go to lunch, and I have. That’s what makes the job worthwhile. People coming in 10 years later saying they turned their lives around.“ Read, Most Influential: Judge Michael Cicconetti’s alternative sentences leave impression (with video) 31. 12. 2012, https://www.news-herald.com/2012/12/31/most-influentialjudge-michael-cicconettis-alternative-sentences-leave-impression-with-video/ [zugegriffen am 8. 6. 2022]. 203 […] „Doch habe er ,absolut keine Karriereambitionen‘“, versichert Cicconetti: „Bis ich in den Ruhestand gehe, will ich Amtsrichter in Painesville bleiben.“ Siehe Gelinsky, Zurück an den Pranger, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30. 12. 2005. 204 Auf der Webseite der American Judges Association wurde sogar auf Cicconettis Strafen verwiesen, Überschrift der Pressemitteilung: „President Cicconetti makes national news with innovative sentencing“, https://amjudges.org/news/archives.html [zugegriffen am 23. 05. 2022]. 205 Hannan, Creative Justice 24. 06. 2017, https://clevelandmagazine.com/in-the-cle/theread/articles/creative-justice [zugegriffen am 8. 6. 2022]. 206 https://en.wikipedia.org/wiki/Michael_Cicconetti [zugegriffen am 25. 05. 2022].
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Durch die mediale Berichterstattung über einzelne Shame Sanctions wurden laut eigener Aussage auch andere Richter inspiriert, wie etwa die Richterin Pinkey Carr, die eine Frau, die einen stehenden Bus über den Gehweg überholt hatte, dazu verurteilt hatte, mit einem Schild am ,Tatort‘ zu stehen, auf dem stand: „Nur ein Idiot würde auf den Gehweg fahren, um einen Schulbus zu überholen.“207
V. Fall Gementera – Shame Sanction auf Bundesebene Eine der jüngsten und bekanntesten Shame Sanctions wurde im Fall Gementera diskutiert. Shawn Gementera wurde wegen des Diebstahls von Post aus Briefkästen von einem Richter eines untersten Bundesgerichts dazu verurteilt, nach der Verbüßung einer zweimonatigen Haftstrafe als Bedingung zur Supervised Release 100 Stunden lang ein Schild vor einer Postfiliale zu tragen, auf dem steht: „Ich habe Post gestohlen, dies ist meine Strafe.“208 („I stole mail. This is my punishment.“) Später hatte der Richter in Absprache mit den Prozessbeteiligten den zeitlichen Umfang der Shame Sanction von 100 auf 8 Stunden reduziert.209 Die Besonderheit dieses Falls liegt darin, dass er, anders als die meisten Fälle der Shame Sanctions, auf Bundesebene spielt. Urheber der Sanktion war in diesem Fall ein Richter eines District Courts. Der Verurteilte legte Berufung gegen die SignCondition ein. Er rügte einerseits den Verstoß der Shaming-Bedingung gegen die zulässigen Strafzwecke nach dem Sentencing Reform Act, andererseits eine nach dem VIII. Amendment zur US-amerikanischen Verfassung unzulässige „grausame und unübliche Bestrafung“.210 Das Berufungsgericht, der 9. Circuit Court, entschied, dass die Gementera auferlegte Bedingung nicht unangemessen sei, sondern einem der im U.S.-Code festgehaltenen Strafzwecke, namentlich der Resozialisierung („Rehabiliation“) diene, da Gementera in seiner trotz seines jungen Alters bereits längeren kriminellen Vergangenheit bislang auf keine anderen strafrechtlichen Maßnahmen hin eine Besserung seines Verhaltens gezeigt habe.211 Das Gericht bezog sich dabei auf die Normen 18 U.S. Code § 3583 (d) (1) und (2) U.S. Code, der wiederum auf § 3553 (a) (1), (2) (B), (C), (D) verweist. Danach müssen auferlegte Bedingungen neben der Berücksichtigung der Strafzwecke „in einem angemessenen
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Turley, Cleveland Judge Orders Woman To Wear Sign Calling Herself An „Idiot“ In Latest Shaming Punishment 07. 11. 2012, https://jonathanturley.org/2012/11/07/clevelandjudge-orders-woman-to-wear-sign-calling-herself-an-idiot-in-latest-shaming-punishment/ [zugegriffen am 8. 6. 2022]; Donaldson, Cleveland woman holding ,idiot‘ sign only the latest oddball sentences from Northeast Ohio judges (gallery) 19. 11. 2012, https://www.cleveland. com/metro/2012/11/cleveland_woman_holding_idiot.html [zugegriffen am 8. 6. 2022]. 208 United States v. Gementera, 379 F.3d 596 (9th Cir. 2004). 209 United States v. Gementera, 379 F.3d 596 (9th Cir. 2004). 210 United States v. Gementera, 379 F.3d 596 (9th Cir. 2004). 211 United States v. Gementera, 379 F.3d 596 (9th Cir. 2004).
B. Rechtliche Rahmenbedingungen der Shame Sanctions
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Verhältnis“ zu der „Art und den Umständen der Tat sowie dem persönlichen Hintergrund und den Eigenschaften des Angeklagten“ stehen […]“.212 Dem Gericht zufolge stehe die Shame Sanction auch mit der begangenen Tat in Zusammenhang, da die Anonymität einer solchen Tat wie dem Briefdiebstahl durch die öffentliche Zurschaustellung des Täters aufgehoben und der Täter mit den Opfern seiner Tat konfrontiert werde.213 Außerdem betonte das Gericht, dass während des Vollzuges der Shame Sanction zu keinem Zeitpunkt eine Gefahr für Gementera bestanden habe, da er das Schild weder in einer als besonders gefährlich oder kriminell geltenden Umgebung noch in der Nacht habe tragen müssen.214 Auch einen Verstoß gegen das VIII. Amendment sah das Berufungsgericht als nicht erwiesen an, da die Sanktion nicht gegen den Maßstab gesellschaftlichen Anstands („Standards of Decency“) verstoße.215 Aus diesen Gründen erhielt das Berufungsgericht im Fall Gementera die Shame Sanction in Form einer Bedingung zur Supervised Release aufrecht. Das Gericht betonte jedoch, dass die Entscheidung keine allgemeingültige Aussage über die Zulässigkeit von Shame Sanctions oder deren Vereinbarkeit mit der Verfassung ableite lasse; es betonte darüber hinaus, dass unter anderen Umständen möglicherweise eine Verletzung von Gementeras Rechten in Betracht gekommen wäre.216 Der Supreme Court nahm den Fall nicht zur Entscheidung an, weswegen bis heute keine höchstinstanzliche Entscheidung zu einer Shame Sanction vorliegt.217 Sofern es zu mehreren Urteilen von Berufungsgerichten kommt, könnte es in Zukunft doch noch zu einer Beurteilung durch den Supreme Court kommen.218 Wie der Fall Gementera zeigt, müssen Richter bei der Verhängung von Shame Sanctions die im jeweiligen Bundesstaat oder auf Bundesebene geltenden Ein212
Siehe 18 U.S. Code § 3563 (b), „Conditions of probation“: „[…] to the extent that such conditions are reasonably related to the factors set forth in section 3553 (a) (1) and (a) (2) […]; 18 U.S. Code § 3553, (a) (1): „The court, in determining the particular sentence to be imposed, shall consider the nature and circumstances of the offense and the history and characteristics of the defendant.“ (a) (2): „the need for the sentence imposed to reflect the seriousness of the offense, to promote respect for the law, and to provide just punishment for the offense; to afford adequate deterrence to criminal conduct; to protect the public from further crimes of the defendant; and to provide the defendant with needed educational or vocational training, medical care, or other correctional treatment in the most effective manner;“ Branham, The law and policy of sentencing and corrections in a nutshell (2017), S. 124. 213 United States v. Gementera, 379 F.3d 596 (9th Cir. 2004). 214 Branham, The law and policy of sentencing and corrections in a nutshell (2017), S. 194. 215 Branham, The law and policy of sentencing and corrections in a nutshell (2017), S. 194 Auf die Frage nach der Vereinbarkeit der Shame Sanctions mit dem VIII. Amendment wird in Teil 2 der Arbeit eingegangen. 216 Branham, The law and policy of sentencing and corrections in a nutshell (2017), S. 194. 217 Huschka, Sorry for the jackass sentence, University of Kansas Law Review 54 (2006), S. 803, 821. 218 Huschka, Sorry for the jackass sentence, University of Kansas Law Review 54 (2006), S. 803, 821.
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Teil 1: Das Aufkommen der Shame Sanctions in den USA
schränkungen für Bedingungen zur Probation und verfassungsrechtliche Grenzen wie etwa das VIII. Amendment zur US-amerikanischen Verfassung, das das Verbot der grausamen und unüblichen Strafe („cruel and unusual punishment“) statuiert, beachten. Zwar wurde die Schild-Bedingung im Fall Gementera vom Circuit Court aufrechterhalten, jedoch ist jeder Einzelfall für sich zu betrachten. So gab es bereits Shame Sanctions, die von den nächstinstanzlichen Gerichten wieder aufgehoben wurden.219 Auf den Fall Gementera und auf die verfassungsrechtlichen Grenzen der Verhängung von Shame Sanctions wird im zweiten Teil der Arbeit näher eingegangen.
VI. Relevanz der Shame Sanctions innerhalb des Sanktionssystems Verglichen mit anderen Sanktionen wie der Freiheitsstrafe oder der Geldstrafe, die in den USA einen deutlich niedrigeren Stellenwert als in Deutschland hat, werden Shame Sanctions so selten verhängt, dass ihr Einsatz nicht einmal quantitativ erfasst wird. Trotz ihrer Seltenheit sind Shame Sanctions wissenschaftlicher und praktischer Diskussionsgegenstand – weil sie die Frage aufwerfen, wie staatliche Strafe beschaffen sein sollte. Darüber hinaus ist ihre Bedeutung spätestens mit dem Gementera-Urteil deutlich gestiegen, da damit eine Shame Sanction auf Bundesebene verhängt und von der nächsten Instanz des Bundes aufrechterhalten wurde.
VII. Zwischenergebnis Als nicht gesetzlich festgeschriebene Sanktion werden Shame Sanctions meist als Auflage zur Probation oder Supervised Release für Ersttäter bzw. Täter von Bagatelldelikten verhängt, da dort der Ermessensspielraum für Richter vergleichsweise weit ist. Dies geschieht sowohl auf Bundesebene als auch Ebene der Bundesstaaten, wobei letzteres, aufgrund der Hauptzuständigkeit der Einzelstaaten für das Strafrecht, weitaus häufiger der Fall ist. Größere Bekanntheit erlangten die Shame Sanctions mit dem Fall Gementera, der auf Bundesebene spielt und bislang der einzige Fall ist, der von einem Circuit Court, der letzten Instanz vor dem USamerikanischen Supreme Court, geprüft wurde. Die Sign-Condition, die Gementera vom Gericht auferlegt wurde, hat der Prüfung durch das Gericht standgehalten. Durch ,kreative Strafen‘ erlangen einige Richter sogar weit über ihren Bezirk bzw. Bundesstaat hinaus Berühmtheit. Wie sich am Fall Gementera deutlich zeigt, ist die Verhängung von Shame Sanctions zwar möglich, wird jedoch durch das Verfassungsrecht und die im U.S.-Code festgelegten Strafzwecke eingeschränkt. Diese Einschränkungen werden im zweiten Teil dieser Arbeit genauer untersucht. Vorher 219
People v. Letterlough, 86 N.Y.2d 259 (1995).
C. Erklärungsansätze für das Aufkommen der Shame Sanctions
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sollen jedoch potentielle Erklärungsansätze für das Aufkommen der Shame Sanctions herausgearbeitet werden.
C. Erklärungsansätze für das Aufkommen der Shame Sanctions In den vorigen Kapiteln ist die Stellung der Shame Sanctions innerhalb des amerikanischen Sanktionssystems deutlich geworden. Deren Entstehung ist unmittelbar auf richterliche Entscheidungen zurückzuführen. Dadurch ist jedoch noch nicht die Frage beantwortet, welche Faktoren dazu geführt haben, dass Shame Sanctions von diesen Richtern als Sanktionsform überhaupt in Erwägung gezogen werden. Dieser Frage soll im folgenden Kapitel nachgegangen werden.
I. Untersuchung der historischen Erscheinungsformen von Beschämungsstrafen Shame Sanctions werden sowohl in der medialen Darstellung als auch in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung häufig pauschal mit „dem Pranger“220, mit „mittelalterlichen europäischen“ oder „kolonialamerikanischen Strafformen“ verglichen, es wird sogar von einer „Rückkehr der Scham“221 gesprochen – so werden diese Strafformen als historische Vorläufer der Shame Sanctions angesehen. Unter dem Begriff „historische Vorläufer“ werden in Bezug auf Shame Sanctions die Ehren- und Schandstrafen gefasst, die ungefähr ab dem 13. Jahrhundert in Europa, ab dem 17. Jahrhundert aber auch durch englische Kolonisten in Kolonialamerika aufgekommen sind. Somit handelt es sich bei den zu untersuchenden historischen Vorläufern um Sanktionen, die ab dem späten Mittelalter, jedoch bis in die frühe Neuzeit hinein verhängt wurden und im Zuge der Aufklärung, im Laufe des 18., spätestens jedoch im 19. Jahrhundert abgeschafft und durch die Freiheitsstrafe ersetzt wurden. Diese historischen Strafformen könnten als eine Art ,Modell‘ dienen, um das Aufkommen der Shame Sanctions und die begünstigenden gesellschaftlichen Faktoren besser zu verstehen. Deshalb soll in diesem Kapitel untersucht werden, inwiefern und worin eine solche Verbindung zwischen Shame Sanctions und den historischen Ehren- und Schandstrafen besteht. Insbesondere die hinter diesen stehenden Zwecke, aber auch die gesellschaftlichen Voraussetzungen und die Bedeutung der Öffentlichkeit für die Gesellschaften, in denen Ehren- und Schandstrafen als 220
Etzioni, Happiness is the wrong metric (2018). Wingert, The Return Of Shame 02. 05. 1995, https://www.newsweek.com/returnshame-185216 [zugegriffen am 8. 6. 2022]. 221
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Teil 1: Das Aufkommen der Shame Sanctions in den USA
Sanktionen eingesetzt wurden, sollen einer genaueren Betrachtung unterzogen werden. Darüber hinaus werden auch die Gründe für die Abschaffung der Ehren- und Schandstrafen untersucht, da jene auch gegen Shame Sanctions sprechen könnten. 1. Ehren- und Schandstrafen in Europa222 Öffentlich vollzogene Strafen im weiteren Sinne gab es bereits im römischen und im germanischen Recht.223 Im römischen Recht waren Ehrenstrafen jedoch mehr Begleiterscheinungen der Todes- und Leibesstrafen.224 Reine Ehrenstrafen, bei denen die öffentliche Ausstellung das eigentliche Strafmittel darstellt, gab es nicht.225 Auch im germanischen und darunter insbesondere im fränkischen Recht gab es Lebens- und Leibesstrafen, die die Verächtlichkeit der Tat ausdrücken und den Täter der Schande preisgeben sollten.226 Ob es selbstständige Ehrenstrafen im fränkischen Recht gab, ist nicht belegt.227 Als selbstständige Sanktionsform kamen die Ehren- und Schandstrafen zu Beginn des 13. Jahrhunderts in Deutschland und anderen europäischen Ländern, unter anderem im heutigen Frankreich, England, Italien, Portugal, Schweden, Norwegen, Niederlande228 auf. Sie gehörten neben den Todes- und den Leibesstrafen zu den drei großen Gruppen von Strafen.229 Obwohl sie neben den Todes- und Leibesstrafen vergleichsweise harmlos klingen, waren sie durchaus schwere Strafen,230 was nur vor dem Hintergrund der großen Bedeutung der Ehre231 zu dieser Zeit zu begreifen ist.232
222 Gegenstand dieses Kapitels sind zwar die Ehren- und Schandstrafen in Europa, es sei allerdings angemerkt, dass diese Sanktionsform keinen europäischen Sonderweg darstellt; öffentliche Strafen, die der Demütigung des Delinquenten dienten, gab es etwa auch in China, ohne dass diesbezüglich eine europäische Einflussnahme stattgefunden hätte. Jedoch sollen aufgrund der nahen Verbindung zwischen Europa und den USA vorrangig die europäischen und kolonialamerikanischen Ehren- und Schandstrafen behandelt werden. Siehe z. B. Pledge et al. (Hrsg.), Roter Nachrichtensoldat (2004), 47 – 48, 104, 107. 223 Fuchs, Die Ehrenstrafen der Vergangenheit und Gegenwart (1929), S. 25 ff. 224 Bader-Weiß/Bader, Der Pranger: ein Strafwerkzeug und Rechtswahrzeichen des Mittelalters (1935), S. 1. 225 Bader-Weiß/Bader, Der Pranger: ein Strafwerkzeug und Rechtswahrzeichen des Mittelalters (1935), S. 1. 226 Fuchs, Die Ehrenstrafen der Vergangenheit und Gegenwart (1929), S. 35. 227 Fuchs, Die Ehrenstrafen der Vergangenheit und Gegenwart (1929), S. 37; Bader-Weiß/ Bader, Der Pranger: ein Strafwerkzeug und Rechtswahrzeichen des Mittelalters (1935), S. 1. 228 Dies ist nur eine Auswahl, siehe mehr Bader-Weiß/Bader, Der Pranger: ein Strafwerkzeug und Rechtswahrzeichen des Mittelalters (1935), S. 38 ff. 229 Bader-Weiß/Bader, Der Pranger: ein Strafwerkzeug und Rechtswahrzeichen des Mittelalters (1935), S. 82. 230 Schild, Alte Gerichtsbarkeit (1985), S. 212. 231 Die innere Ehre dagegen meint den inneren Wert, die Würde des Menschen, auf der seine Selbstachtung beruht.
C. Erklärungsansätze für das Aufkommen der Shame Sanctions
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Die Ehre eines Menschen bestimmte über seinen sozialen Status und damit auch über seine finanzielle Existenz,233 da eine makellose Ehre unter anderem Voraussetzung dafür war, städtische Ämter zu bekleiden oder in Zünfte einzutreten.234 Die Ehrenstrafe konnte, wie der Name schon sagt, diese Ehre verletzen und sogar formal zur Rechts- und Ehrlosigkeit des Delinquenten führen.235 Die exakte Bedeutung und korrekte Einordnung der Begriffe „Rechtlosigkeit“ und „Ehrlosigkeit“ ist äußerst umstritten236: Die Ehrlosigkeit konnte die Unfähigkeit zu allen Stellungen, die ein besonderes Vertrauen erforderten, bedeuten, etwa öffentliche Ämter, Vormundschaften oder Lehnverhältnisse.237 Außerdem konnte sie zum Entzug bestimmter Standesrechte wie z. B. den Zunft- oder Gilderechten führen.238 Rechtlosigkeit konnte den Verlust der Gerichtsfähigkeit nach sich ziehen;239 eine einheitliche abstrakte Definition für die Begriffe der Recht- und Ehrlosigkeit gibt es allerdings nicht – eine solche ist für die vorliegende Arbeit jedoch auch nicht von Bedeutung, da in jedem Fall deutlich wird, dass Ehrenstrafen formalrechtliche Konsequenzen nach sich zogen. Damit führte die Ehrenstrafe für den Verurteilten praktisch dazu, dass er nur noch einen ,unehrlichen‘ Beruf ergreifen, nur in bestimmten Gegenden wohnhaft sein konnte und auch hinsichtlich der Wahl einer potentiellen Ehepartnerin eingeschränkt war; ,unehrliche‘ Personen konnten nur ,unehrliche‘ Personen heiraten.240 Doch die Ehrenstrafe berührte nicht nur die Ehre des Bestraften, sondern auch die seiner ganzen Familie und Verwandtschaft,241 was sie umso schwerwiegender machte. Aufgrund dieser negativen sozialen Folgen war die Verhängung der Ehrenstrafen in deutschsprachigen Gebieten ausschließlich der hohen Gerichtsbarkeit vorbehal-
232 Bader-Weiß/Bader, Der Pranger: ein Strafwerkzeug und Rechtswahrzeichen des Mittelalters (1935), S. 82. 233 Dülmen, Der ehrlose Mensch: Unehrlichkeit und soziale Ausgrenzung in der frühen Neuzeit (1999), S. 1. 234 Dülmen, Der ehrlose Mensch: Unehrlichkeit und soziale Ausgrenzung in der frühen Neuzeit (1999), S. 1. 235 Quanter, Die Schand- und Ehrenstrafen in der deutschen Rechtspflege (1970), S. 7. 236 Zum jeweils unterschiedlichen Verständnis der Begriffe siehe: E. Kühne, Die Ehrenstrafen insbesondere auch rechtsvergleichend und rechtsgeschichtlich dargestellt, S. 4 f.; Holzer, Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte (1914), S. 4 f.; Marezoll, Über die bürgerliche Ehre, ihre gänzliche Entziehung und theilweise Schmälerung (1824), S. 295 – 302, 341 ff. 237 Schröder, Lehrbuch der deutschen Rechtsgeschichte (1907), S. 780. 238 Marezoll, Über die bürgerliche Ehre, ihre gänzliche Entziehung und theilweise Schmälerung (1824), S. 374 ff. 239 Marezoll, Über die bürgerliche Ehre, ihre gänzliche Entziehung und theilweise Schmälerung (1824), S. 296. 240 Dülmen, Der ehrlose Mensch: Unehrlichkeit und soziale Ausgrenzung in der frühen Neuzeit (1999), S. 67. 241 Dülmen, Der ehrlose Mensch: Unehrlichkeit und soziale Ausgrenzung in der frühen Neuzeit (1999), S. 67.
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ten.242 Die hohe Gerichtsbarkeit, auch Hals- oder Blutgerichtsbarkeit genannt, war zuständig für die Aburteilung schwerwiegender Taten, die eine Körper- oder sogar die Todesstrafe nach sich ziehen konnten.243 Sie oblag meist den Landesherrn.244 Die niedere Gerichtsbarkeit war für die Aburteilung weniger schwerwiegender Straftaten zuständig und durfte keine Todesstrafe verhängen.245 Sie lag bei kleinen, teilweise selbstständigen Gerichten, wie etwa den Hofgerichten des Grundherrn oder den Dorf- oder Stadtgerichten.246 Die hohe Gerichtsbarkeit war mit der Verhängung von Ehrenstrafen jedoch zurückhaltend, da sie bezweifelte, dass diese bei einer übermäßigen Anwendung noch die gewünschte abschreckende Wirkung zeigten.247 a) Der Pranger als Ehrenstrafe Als Ehrenstrafen galt etwa der schimpfliche Aufzug, das Eselsreiten und, die bedeutendste Ehrenstrafe, der Pranger.248 Beim schimpflichen Aufzug musste der Verurteilte in einer bestimmten Tracht mit einem besonderen Gegenstand eine Strecke zurücklegen.249 Beim Eselsreiten musste der Delinquent verkehrt herum, manchmal vollständig entkleidet, in der Öffentlichkeit auf einem Esel reiten.250 Der Pranger war ursprünglich ein Folterinstrument und wurde erst ab dem 13. Jahrhundert als Strafinstrument eingesetzt.251 Es gab ihn in vielfältigen Ausfertigungen: vom einfachen Schandpfahl aus Holz bis hin zur kunstvoll hergestellten Schandbühne.252 Er stand im Gegensatz zum Galgen, der meist vor den Mauern der
242 Bader-Weiß/Bader, Der Pranger: ein Strafwerkzeug und Rechtswahrzeichen des Mittelalters (1935), S. 94 ff. 243 Schild, Alte Gerichtsbarkeit (1985), S. 126. 244 Schild, Alte Gerichtsbarkeit (1985), S. 126. 245 Schild, Alte Gerichtsbarkeit (1985), S. 128. 246 Schild, Alte Gerichtsbarkeit (1985), S. 128. 247 Dülmen, Der ehrlose Mensch: Unehrlichkeit und soziale Ausgrenzung in der frühen Neuzeit (1999), S. 75. 248 Bader-Weiß/Bader, Der Pranger: ein Strafwerkzeug und Rechtswahrzeichen des Mittelalters (1935), S. 3. 249 Fröhling, Der moderne Pranger: von den Ehrenstrafen des Mittelalters bis zur Prangerwirkung der medialen Berichterstattung im heutigen Strafverfahren (2014), S. 42. 250 Fröhling, Der moderne Pranger: von den Ehrenstrafen des Mittelalters bis zur Prangerwirkung der medialen Berichterstattung im heutigen Strafverfahren (2014), S. 42. 251 Fröhling, Der moderne Pranger: von den Ehrenstrafen des Mittelalters bis zur Prangerwirkung der medialen Berichterstattung im heutigen Strafverfahren (2014), S. 48. 252 Dülmen, Der ehrlose Mensch: Unehrlichkeit und soziale Ausgrenzung in der frühen Neuzeit (1999), S. 71.
C. Erklärungsansätze für das Aufkommen der Shame Sanctions
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Stadt angebracht war,253 an öffentlich zugänglichen und lebhaften Orten wie beispielsweise auf dem Marktplatz, dem Rathausplatz oder Kirchenvorplatz, damit eine möglichst große Öffentlichkeit erreicht werden konnte.254 Er galt als wichtiges Symbol der hohen Gerichtsbarkeit, auf das die Stadt stolz war.255 Um den am Pranger stehenden Missetäter für möglichst viele Zuschauer sichtbar zu machen, wurde dieser manchmal noch zusätzlich auf ein Podest gestellt.256 Nicht nur der Ausstellungsort sollte möglichst zentral sein, auch durch die Auswahl des Tages, an dem der Delinquent ausgestellt wurde, sollten möglichst viele Menschen erreicht werden, wofür sich etwa ein Markttag besonders gut eignete.257 Zum Teil wurde auch durch das Läuten einer am Pranger hängenden Glocke oder durch Trommeln auf die bevorstehende Ausstellung des Verbrechers aufmerksam gemacht.258 Die genaue Ausgestaltung der Prangerstrafe richtete sich danach, ob jene als Haupt- oder Nebenstrafe verhängt wurde.259 Bei der Verhängung der Prangerstrafe als Hauptstrafe war das Prangerstehen einziger Inhalt des Urteils.260 Dafür wurde der Delinquent am Pranger befestigt.261 Häufiger jedoch wurde der Pranger als Nebenstrafe in Verbindung mit anderen Strafen, insbesondere mit Leibesstrafen verhängt, die wiederum die Hauptstrafe darstellten.262 Vor allem die Auspeitschung oder Verstümmelung wurden am Pranger vollzogen.263 Darüber hinaus konnte das Prangerstehen beliebig mit anderen Elementen verbunden werden; so konnte dem Delinquenten auch eine Schandtafel umgehängt werden, auf der die Straftat in Bild und Schrift zu sehen war.264 Die Dauer der öffentlichen Ausstellung am Pranger 253 Schwerthoff, Verordnete Schande? Spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Ehrenstrafen zwischen Rechtsakt und sozialer Sanktion, in: Blauert (Hrsg.), Mit den Waffen der Justiz (1993), S. 158. 254 Bader-Weiß/Bader, Der Pranger: ein Strafwerkzeug und Rechtswahrzeichen des Mittelalters (1935), S. 71. 255 Dülmen, Theater des Schreckens: Gerichtspraxis und Strafrituale in der frühen Neuzeit (1985), S. 71 f. 256 Schild, Alte Gerichtsbarkeit (1985), S. 214. 257 Dülmen, Der ehrlose Mensch: Unehrlichkeit und soziale Ausgrenzung in der frühen Neuzeit (1999), S. 71. 258 Schild, Alte Gerichtsbarkeit (1985), S. 42; Fuchs, Die Ehrenstrafen der Vergangenheit und Gegenwart (1929), S. 42. 259 Bader-Weiß/Bader, Der Pranger: ein Strafwerkzeug und Rechtswahrzeichen des Mittelalters (1935), S. 83. 260 Bader-Weiß/Bader, Der Pranger: ein Strafwerkzeug und Rechtswahrzeichen des Mittelalters (1935), S. 83. 261 Bader-Weiß/Bader, Der Pranger: ein Strafwerkzeug und Rechtswahrzeichen des Mittelalters (1935), S. 83. 262 Bader-Weiß/Bader, Der Pranger: ein Strafwerkzeug und Rechtswahrzeichen des Mittelalters (1935), S. 83. 263 Bader-Weiß/Bader, Der Pranger: ein Strafwerkzeug und Rechtswahrzeichen des Mittelalters (1935), S. 83. 264 Dülmen, Der ehrlose Mensch: Unehrlichkeit und soziale Ausgrenzung in der frühen Neuzeit (1999), S. 82.
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konnte mehrere Stunden am Stück bis hin zum regelmäßigen Prangerstehen an bestimmten Tagen betragen.265 Im schlimmsten Fall musste der Verurteilte sein Leben lang an bestimmten Tagen am Pranger stehen.266 Verantwortlich für den Vollzug der Prangerstrafe war entweder der Büttel oder der Scharfrichter.267 Der Büttel war eine gerichtliche Hilfsperson, die unterschiedlichste Aufgaben von Vorladungen zum Gericht über Festnahmen bis hin zum Vollzug von Leib- und Lebensstrafen ausführte.268 Der Scharfrichter vollzog die Prangerstrafe, wenn zusätzlich zu dieser eine körperliche Strafe verhängt wurde und anschließend ein Stadtverweis erfolgte.269 Die Prangerstrafe wurde nicht für jedes Delikt, sondern vorwiegend für Delikte verhängt, die auf eine ehrlose Gesinnung des Täters schließen ließen.270 Darunter wurden Delikte wie die Eigentumsdelikte, insbesondere der Diebstahl, gefasst, außerdem galten der Betrug und die Fälschungsdelikte als unehrliche und mit Ehrenstrafen zu bestrafende Delikte.271 Auch Beleidigungs-, Verleumdungs- oder Anschuldigungsdelikte wurden mit dem Pranger bestraft.272 Sittlichkeitsdelikte wie der Ehebruch konnten ebenfalls die Prangerstrafe nach sich ziehen.273 Dagegen waren offen begangene Taten wie der Totschlag oder der Raub keine unehrlichen Delikte und zogen damit grundsätzlich keine Prangerstrafe nach sich.274 Die unehrlichen Delikte wurden mit der Ausstellung am Pranger bestraft, da es dem Täter bei dieser Tat gerade auf die heimliche Begehung ankam, was als besonders hinterhältig galt – genau deshalb sollte diese Tat der Öffentlichkeit und deren Spott preisgegeben werden.275 Die Beleidigungs- und Verleumdungsdelikte wurden mit dem Pranger bestraft, da der Täter durch ihre Begehung die Ehre eines Mitmenschen 265
Andrews, Bygone punishments (1899), S. 149. Andrews, Bygone punishments (1899), S. 149. 267 Fröhling, Der moderne Pranger: von den Ehrenstrafen des Mittelalters bis zur Prangerwirkung der medialen Berichterstattung im heutigen Strafverfahren (2014), S. 53. 268 Fröhling, Der moderne Pranger: von den Ehrenstrafen des Mittelalters bis zur Prangerwirkung der medialen Berichterstattung im heutigen Strafverfahren (2014), S. 53. 269 Dülmen, Der ehrlose Mensch: Unehrlichkeit und soziale Ausgrenzung in der frühen Neuzeit (1999), S. 81. 270 Dülmen, Der ehrlose Mensch: Unehrlichkeit und soziale Ausgrenzung in der frühen Neuzeit (1999), S. 73; Bader-Weiß/Bader, Der Pranger: ein Strafwerkzeug und Rechtswahrzeichen des Mittelalters (1935), S. 102. 271 Bader-Weiß/Bader, Der Pranger: ein Strafwerkzeug und Rechtswahrzeichen des Mittelalters (1935), S. 102. 272 Bader-Weiß/Bader, Der Pranger: ein Strafwerkzeug und Rechtswahrzeichen des Mittelalters (1935), S. 102. 273 Bader-Weiß/Bader, Der Pranger: ein Strafwerkzeug und Rechtswahrzeichen des Mittelalters (1935), S. 103. 274 Bader-Weiß/Bader, Der Pranger: ein Strafwerkzeug und Rechtswahrzeichen des Mittelalters (1935), S. 102. 275 Dülmen, Der ehrlose Mensch: Unehrlichkeit und soziale Ausgrenzung in der frühen Neuzeit (1999), S. 81. 266
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verletzte und dafür mit der Verletzung seiner eigenen Ehre bestraft werden sollte.276 Die Ehrenstrafe wurde teilweise auch gnadenhalber statt der Todesstrafe verhängt.277 Durch die Rahmenbedingungen der Prangerstrafe wurden Übergriffe auf den Delinquenten provoziert, zumindest jedoch als nicht allzu unangenehme Folge in Kauf genommen.278 Die an den Pranger gestellten Delinquenten wurden von den Zuschauern mit Kot und Steinen beworfen, körperlich angegriffen und dadurch teilweise schwer verletzt.279 Die Übergriffe der Menschenmenge führten in manchen Fällen sogar zum Tode der Verurteilten.280 Nicht immer reagierte die Menge negativ und aggressiv auf den ausgestellten Delinquenten: Der Schriftsteller Daniel Defoe, Autor des berühmten Romans „Robinson Crusoe“ hatte im Jahre 1702 ein politisch-satirisches Pamphlet veröffentlicht, weswegen er neben einer Geld- und Gefängnisstrafe außerdem zu einer dreitägigen Prangerstrafe verurteilt wurde.281 Diese lief jedoch nicht so ab, wie sich das Gericht dies vorgestellt hatte: Anhänger Defoes verkauften, während Defoe am Pranger stand, dessen Schrift, die Gegenstand des Urteils war und darüber hinaus ein eigens für diesen Anlass geschriebenes Gedicht mit dem Titel „Hymn to the pillory“ (Hymne an den Pranger) und schafften es damit, die Gunst des anwesenden Volkes für Defoe zu gewinnen.282 Die Menge feierte ihn, statt ihn zu beschimpfen und bewarf ihn mit Blumen, statt, wie sonst häufig üblich, mit Steinen.283 b) Schandstrafen Im Gegensatz zu den Ehrenstrafen waren die potentiellen Ausgestaltungen der Schandstrafe vielfältiger. Zu ihnen zählte jede öffentliche Demütigung, die aufgrund eines Richterspruches erfolgte und im Gegensatz zur Ehrenstrafe nicht die formale Ehrlosigkeit oder Ehrminderung nach sich zog.284 Bei den Schandstrafen ging es im 276
Dülmen, Der ehrlose Mensch: Unehrlichkeit und soziale Ausgrenzung in der frühen Neuzeit (1999), S. 3. 277 Dülmen, Theater des Schreckens: Gerichtspraxis und Strafrituale in der frühen Neuzeit (1985), S. 67. 278 Hentig, Die Strafe. Frühformen und kulturgeschichtliche Zusammenhänge (1954), S. 420; Andrews, Bygone punishments (1899), S. 150. 279 Bader-Weiß/Bader, Der Pranger: ein Strafwerkzeug und Rechtswahrzeichen des Mittelalters (1935), S. 82. 280 Hentig, The Pillory: A Medieval Punishment, Rocky Mntn. L. Rev. 11 (1938), S. 186, 197; Andrews, Bygone punishments (1899), S. 156. 281 Nash/Kilday, Cultures of shame: exploring crime and morality in Britain, 1600 – 1900 (2010), S. 81. 282 Nash/Kilday, Cultures of shame: exploring crime and morality in Britain, 1600 – 1900 (2010), S. 81. 283 Nash/Kilday, Cultures of shame: exploring crime and morality in Britain, 1600 – 1900 (2010), S. 81 ff. 284 Quanter, Die Schand- und Ehrenstrafen in der deutschen Rechtspflege (1970), S. 179.
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Vergleich zu den Ehrenstrafen vorrangig darum, den Delinquenten für einen bestimmten Zeitraum vor seinen Mitmenschen zu demütigen und bloßzustellen, nicht darum, ihm formal dauerhaft Rechte, seine Ehre oder seinen sozialen Status zu entziehen.285 Nach der Abbüßung der Schandstrafe war es im Gegensatz zur Ehrenstrafe grundsätzlich nicht mehr erlaubt, den Verurteilten weiter zu verspotten oder in irgendeiner Form wegen seiner Tat oder der Art seiner Strafe zu hänseln.286 Inwiefern dies auch tatsächlich befolgt wurde, ist fraglich.287 Aufgrund ihrer geringeren Härte im Vergleich zu den Ehrenstrafen konnten die Schandstrafen auch von der niederen Gerichtsbarkeit verhängt werden.288 c) Öffentlichkeit der Strafvollstreckung Sowohl die Ehren- als auch die Schandstrafen setzen die Mitwirkung, zumindest jedoch die Wahrnehmung durch die Öffentlichkeit voraus. Die Öffentlichkeit der Bestrafung war für das Mittelalter und die frühe Neuzeit jedoch nicht ungewöhnlich – damals war das gesamte Strafverfahren öffentlich, weil es unmittelbare Bedeutung für das Leben der Menschen hatte.289 Ein öffentliches Strafverfahren war für die weitgehend analphabetische Gesellschaft die einzige Möglichkeit, von den rechtlichen Inhalten zu erfahren, so wie sie auch die christlichen Ge- und Verbote von der Kanzel gepredigt bekam.290 Die Öffentlichkeit hatte also eine wichtige Vermittlungsfunktion. Das Recht war zu dieser Zeit keine abstrakte Ordnung,291 sondern vielmehr die konkrete Lebensgrundlage aller Menschen, weshalb sich auch alle am Rechtsleben beteiligten.292 Die Teilnahme der Öffentlichkeit am Strafprozess und an öffentlichen Strafvollstreckungen war daher ein wichtiges Recht, das das Volk auch rege wahrnahm.293 Selbst Kinder nahmen an öffentlichen Hinrichtungen teil.294 Dagegen erweckte der Vollzug einer im Geheimen vollstreckten Strafe den Eindruck, dass der Delinquent privilegiert sei und die Strafe nicht mit großer Strenge vollzogen wurde.295
285
Quanter, Die Schand- und Ehrenstrafen in der deutschen Rechtspflege (1970), S. 7. Dülmen, Der ehrlose Mensch: Unehrlichkeit und soziale Ausgrenzung in der frühen Neuzeit (1999), S. 73. 287 Dülmen, Der ehrlose Mensch: Unehrlichkeit und soziale Ausgrenzung in der frühen Neuzeit (1999), S. 73. 288 Quanter, Die Schand- und Ehrenstrafen in der deutschen Rechtspflege (1970), S. 184. 289 Schild, Alte Gerichtsbarkeit (1985), S. 41. 290 Schild, Alte Gerichtsbarkeit (1985), S. 41. 291 Schild, Alte Gerichtsbarkeit (1985), S. 41. 292 Schild, Alte Gerichtsbarkeit (1985), S. 41. 293 Foucault, Überwachen und Strafen: die Geburt des Gefängnisses (1976), S. 76. 294 Schild, Alte Gerichtsbarkeit (1985), S. 41. 295 Foucault, Überwachen und Strafen: die Geburt des Gefängnisses (1976), S. 76. 286
C. Erklärungsansätze für das Aufkommen der Shame Sanctions
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2. Pranger in Kolonialamerika In der amerikanischen Diskussion um Shame Sanctions werden diese auch mit den öffentlichen Strafen aus der Kolonialzeit verglichen. Tatsächlich waren öffentliche Strafen in den religiösen Koloniegemeinschaften eine wichtige Form der Strafe.296 Die englischen Kolonisten, vorwiegend Puritaner und Quäker, brachten die in Europa gebräuchlichen Ehren- und Schandstrafen Ende des 16., Anfang des 17. Jahrhunderts in ihre nordamerikanischen Kolonien.297 Ein fiktives, aber an die damalige Realität angelehntes Beispiel ist in Nathaniel Hawthornes historischem Roman „Der scharlachrote Buchstabe“ zu lesen.298 Darin wird eine junge Frau Ende des 17. Jahrhunderts im puritanischen Massachusetts des Ehebruchs bezichtigt und deswegen gezwungen, als Zeichen ihrer Sündhaftigkeit jahrelang ein scharlachrotes „A“ für „Adultery“ (englisch für „Ehebruch“) auf der Brust zu tragen.299 Scham als soziales Gefühl war in den sehr kleinen Gemeinschaften, in denen jeder jeden kannte, von großer Bedeutung.300 Daher spielte sie auch bei der Bestrafung eine wichtige Rolle.301 Die genaue Art der Bestrafung hing vom begangenen Delikt ab: Für geringere Vergehen kam der Delinquent mit einer Verwarnung oder einer kleineren Geldstrafe davon, für schwerere Delikte wurde er mit dem Pranger oder dem Stock und einer höheren Geldstrafe bestraft.302 Dabei konnte die Bestrafung auch ,nur‘ aus dem Stehen am Pranger bestehen, bei dem der Täter ein Schild hochhalten musste, auf dem seine Straftat der Öffentlichkeit präsentiert wurde.303 Üblich war auch die öffentliche Auspeitschung; sie wurde besonders häufig gegen Sklaven und Diener verhängt.304 Neben diesen Formen der Bestrafung gab es auch die „Ermahnung“ („admonition“), die von einem Richter oder einem Pfarrer in einem persönlichen Gespräch mit dem Täter vorgenommen wurde.305 Ziel war es, diesen dazu zu bringen, seine Tat zu bereuen und Besserung zu geloben.306 Ein Täter, der in dieser Form ermahnt wurde, musste danach ein öffentliches Geständnis über seine 296
Friedman, Crime and punishment in American history (1993), S. 37. A. J. Hirsch, The rise of the penitentiary: prisons and punishment in (1992), S. 3. 298 A. J. Hirsch, The rise of the penitentiary: prisons and punishment in (1992), S. 33. 299 Hawthorne, Der scharlachrote Buchstabe: eine Phantasie (2014). 300 Friedman, Crime and punishment in American history (1993), S. 37. 301 Friedman, Crime and punishment in American history (1993), S. 37. 302 Friedman, Crime and punishment in American history (1993), S. 37. 303 A. J. Hirsch, The rise of the penitentiary: prisons and punishment in (1992), S. 34. 304 Friedman, Crime and punishment in American history (1993), S. 37. 305 A. J. Hirsch, The rise of the penitentiary: prisons and punishment in (1992), S. 4. 306 A. J. Hirsch, The rise of the penitentiary: prisons and punishment in (1992), S. 4. 297
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Taten ablegen.307 Danach erfolgte noch einmal eine förmliche, öffentliche Ermahnung vor Gericht und eine Urteilsverkündung.308 Aufgrund des öffentlichen Geständnisses bzw. auch der Kundgabe von Reue, wurde die Strafe teilweise ausgesetzt oder zumindest gemildert.309 Diese Strafmilderung bzw. -aussetzung sollte die Vergebung der Gemeinschaft symbolisieren.310 Die öffentliche Bestrafung war ein beliebtes Mittel, um einerseits die Gemeinschaft vor der Begehung ähnlicher Straftaten wirksam abzuschrecken311 und andererseits Scham beim Täter auszulösen und dadurch sein künftiges Verhalten zu beeinflussen.312 Vor den Augen der Menschen bestraft zu werden, mit denen der Täter danach weiter in einer Gemeinschaft leben musste, war eine für ihn besonders schmerzhafte, aber dadurch auch nachhaltig wirksame Erfahrung.313 Schlussendlich sollte er nach dieser Erfahrung wieder in die Gemeinschaft aufgenommen werden.314 Dabei war es nicht nur, wie bei den europäischen Schandstrafen, so, dass der Delinquent nach einer gewissen Dauer der Schande nicht mehr verspottet werden durfte; die Wiederaufnahme in die Gemeinschaft sollte vielmehr durch aktives Handeln erfolgen. Um diese Wiederaufnahme in die Gemeinschaft zu erreichen, wurden die Mitglieder der Gemeinschaft in den Bestrafungsakt eingebunden.315 Zu diesem Zweck baten Pfarrer ihre Gemeindemitglieder an diesen öffentlichen ,Zeremonien‘ teilzunehmen, damit jene den Täter tadeln und ermahnen konnten, um ihn wieder auf den rechten Weg zu bringen.316 Durch die Teilnahme an der Bestrafungszeremonie von Personen, die der Täter kannte und respektierte, sollte die Empfindung von Scham und Reue noch verstärkt werden.317 Die notwendige Vor307
A. J. Hirsch, (1992), S. 5. 308 A. J. Hirsch, (1992), S. 4. 309 A. J. Hirsch, (1992), S. 4. 310 A. J. Hirsch, (1992), S. 4. 311 A. J. Hirsch, (1992), S. 34. 312 A. J. Hirsch, (1992), S. 34. 313 A. J. Hirsch, (1992), S. 34. 314 A. J. Hirsch, (1992), S. 33. 315 A. J. Hirsch, (1992), S. 34. 316 A. J. Hirsch, (1992), S. 34. 317 A. J. Hirsch, (1992), S. 34.
The rise of the penitentiary: prisons and punishment in early America The rise of the penitentiary: prisons and punishment in early America The rise of the penitentiary: prisons and punishment in early America The rise of the penitentiary: prisons and punishment in early America The rise of the penitentiary: prisons and punishment in early America The rise of the penitentiary: prisons and punishment in early America The rise of the penitentiary: prisons and punishment in early America The rise of the penitentiary: prisons and punishment in early America The rise of the penitentiary: prisons and punishment in early America The rise of the penitentiary: prisons and punishment in early America The rise of the penitentiary: prisons and punishment in early America
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aussetzung dafür war allerdings, dass Personen aus dem näheren Umfeld des Täters, wie etwa dessen Nachbarn, überhaupt dazu bereit waren, sich in solche Angelegenheiten einzubringen.318 Auch in Kolonialamerika gab es neben den reintegrativen Strafen solche, die den Delinquenten für immer aus der Gemeinschaft ausstoßen sollten:319 Die Brandmarkung und die Verstümmelung dienten, ähnlich zur Ausstellung am Pranger dazu, den Täter der Gemeinschaft gegenüber erkennbar zu machen.320 Jedoch war diese Form der Markierung nicht nur temporärer Art, sondern dauerte ein Leben lang an.321 Die Mitglieder der Gemeinschaft sollten dadurch dauerhaft vor dem Täter gewarnt sein, damit er ihnen keinen Schaden mehr zufügen konnte.322 Somit wurde jener für nicht besserungsfähig und damit auch für nicht resozialisierbar erklärt. Aus diesem Grund wurden manche Täter auch endgültig aus der Gemeinschaft ausgestoßen und für immer verbannt.323 In seltenen Fällen wurden Straftäter sogar mit dem Tode am Galgen bestraft.324 3. Abschaffung der Ehren- und Schandstrafen und die „Geburt des Gefängnisses“325 Die Kritik an der öffentlichen Bestrafung in Europa und den USA nahm mit der Aufklärung ab der Mitte des 18. Jahrhunderts stark zu und führte Anfang des 19. Jahrhunderts schließlich zu deren Abschaffung.326 Im deutschen Sprachgebiet wurde der Pranger in den Jahren der Märzrevolution 1848/1849327 abgeschafft.328 318 A. J. Hirsch, The rise of the penitentiary: prisons and punishment in early America (1992), S. 34. 319 A. J. Hirsch, From Pillory to Penitentiary: The Rise of Criminal Incarceration in Early Massachusetts, Michigan Law Review 80 (1982), S. 1179, 1228. 320 A. J. Hirsch, From Pillory to Penitentiary: The Rise of Criminal Incarceration in Early Massachusetts, Michigan Law Review 80 (1982), S. 1179, 1228. 321 A. J. Hirsch, From Pillory to Penitentiary: The Rise of Criminal Incarceration in Early Massachusetts, Michigan Law Review 80 (1982), S. 1179, 1228. 322 A. J. Hirsch, From Pillory to Penitentiary: The Rise of Criminal Incarceration in Early Massachusetts, Michigan Law Review 80 (1982), S. 1179, 1228. 323 A. J. Hirsch, From Pillory to Penitentiary: The Rise of Criminal Incarceration in Early Massachusetts, Michigan Law Review 80 (1982), S. 1179, 1228; Friedman, Crime and punishment in American history (1993), S. 40. 324 A. J. Hirsch, From Pillory to Penitentiary: The Rise of Criminal Incarceration in Early Massachusetts, Michigan Law Review 80 (1982), S. 1179, 1228. 325 Die Formulierung findet sich im Titel von Foucault, Überwachen und Strafen: die Geburt des Gefängnisses (1976). 326 Frevert, Die Politik der Demütigung (2017), S. 79; Foucault, Überwachen und Strafen: die Geburt des Gefängnisses (1976), S. 93. 327 Pötschke (Hrsg.), Stadtrecht, Roland und Pranger: zur Rechtsgeschichte von Halberstadt, Goslar, Bremen und Städten der Mark Brandenburg (2002), S. 317; Hentig, Die Strafe. Frühformen und kulturgeschichtliche Zusammenhänge (1954), S. 423.
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1785 wurde das Strafrecht im puritanischen Massachusetts dahingehend verändert, dass es Richtern erlaubte, alternativ zu den öffentlichen Strafen wie dem Pranger lange Freiheitsstrafen zu verhängen.329 In Massachusetts wurden die öffentlichen Strafen wie das Auspeitschen, Brandmarken, der Stock und der Pranger zwischen den Jahren 1804 und 1805 abgeschafft – gleichzeitig wurde das bundesstaatliche Gefängnis in Massachusetts geöffnet und in Betrieb genommen.330 In fast allen amerikanischen Bundesstaaten wurde der Pranger bis zum Jahr 1839 abgeschafft331, lediglich der Bundesstaat Delaware führte die Prangerstrafe weiter.332 1905 fand die Prangerstrafe auch in Delaware ihr Ende.333 a) Zivilisierung der Gesellschaft und der Strafjustiz Als Grund für die Abschaffung der Ehren- und Schandstrafen und der Hinwendung zur Gefängnisstrafe wird häufig angeführt, dass die Ehren- und Schandstrafen, insbesondere in Verbindung mit Leibesstrafen, als erniedrigend und unmenschlich wahrgenommen wurden.334 Das Gefängnis als Strafe galt im Vergleich dazu als humaner.335 Diese Zuschreibungen zeigen, dass die Akzeptanz bzw. Nichtakzeptanz von Strafpraktiken wandelbar ist. Dieser Wandel lässt sich auf sich im Laufe der Zeit verändernde Strafsensibilitäten zurückzuführen.336 Der Begriff „Strafsensibilität“ meint in diesem Fall nicht die Strafempfindlichkeit des zu bestrafenden oder bereits bestraften Individuums, sondern vielmehr die gesellschaftlichen und kulturellen Empfindlichkeiten, die sich historisch verändern.337 Je nachdem, wie diese Strafsensibilitäten gerade ausgeprägt sind, sind bestimmte Strafpraktiken gesellschaftlich anerkannt, während andere hingegen als undenkbar gelten. Der amerikanische Soziologe David Garland beschreibt diesen Zusammenhang wie folgt: 328 Pötschke (Hrsg.), Stadtrecht, Roland und Pranger: zur Rechtsgeschichte von Halberstadt, Goslar, Bremen und Städten der Mark Brandenburg (2002), S. 317; Hentig, Die Strafe. Frühformen und kulturgeschichtliche Zusammenhänge (1954), S. 423. 329 A. J. Hirsch, From Pillory to Penitentiary: The Rise of Criminal Incarceration in Early Massachusetts, Michigan Law Review 80 (1982), S. 1179, 1191. 330 Friedman, Crime and punishment in American history (1993), S. 74. 331 Act of Feb. 28, 1839, ch. 36, § 5, 5 Stat. 321, 322 („[T]he punishment of whipping and the punishment of standing in the pillory, so far as they now are provided for by the laws of the United States, be, and the same are hereby, abolished.“) zitiert nach Huschka, Sorry for the jackass sentence, University of Kansas Law Review 54 (2006), S. 803, 823, Fn. 162. 332 Friedman, Crime and punishment in American history (1993), S. 75. 333 Stearns, Shame (2017), S. 64. 334 Whitman, What is wrong with inflicting shame sanctions?, The Yale Law Journal 107 (1998), S. 1055, 1073. 335 Kritisch dazu Foucault, Überwachen und Strafen: die Geburt des Gefängnisses (1976), S. 129. 336 Jung, Sanktionensysteme und Menschenrechte (1992), S. 31; Garland, Punishment and modern society: a study in social theory (1990), S. 195 ff. 337 Jung, Sanktionensysteme und Menschenrechte (1992), S. 31.
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„Our sense of what constitutes a conscionable, tolerable, or ,civilized‘ form of punishment is very much determined by those cultural patterns, as is our sense of what is intolerable or, as we say, ,inhumane‘. Thus culture determines the contours and outer limits of penality […].“338
Die Abschaffung der Ehren- und Schandstrafen und die Einführung der Gefängnisstrafe als Hauptsanktion des Strafrechts waren also durch veränderte Strafsensibilitäten beeinflusst. Diese Veränderung war insbesondere vom „Prozess der Zivilisation“339 beeinflusst, der einen großen Einfluss auf die westeuropäische Gesellschaft insgesamt, aber auch auf die gesellschaftlichen Vorstellungen über Strafpraktiken hatte.340 Der Untersuchung dieses Prozesses hat sich der Soziologe Norbert Elias in einem seiner Werke intensiv gewidmet. Ihm zufolge führte die Ausdifferenzierung der Gesellschaft und die wechselseitigen Abhängigkeiten zwischen den Mitgliedern der Gesellschaft dazu, dass die Selbstkontrolle der Individuen immer stärker ausgeprägt wurde.341 In diesem Zusammenhang sind auch Scham- und Peinlichkeitsschwellen immer weiter vorgerückt, sodass bestimmte Vorgänge, die bis dahin in der Öffentlichkeit abgelaufen waren, nun hinter die Kulissen geschoben wurden.342 Bezugnehmend auf Norbert Elias geht David Garland auf die Bedeutung der sich verändernden Strafsensibilitäten für den Umgang mit dem Delinquenten ein.343 Je weiter der Zivilisationsprozess vorangeschritten war, als desto unerträglicher wurden die Ehren- und Schandstrafen empfunden – dies lag insbesondere an ihrem stigmatisierenden und entwürdigenden Charakter, die dem „Diskretionsideal“ der zivilisierten Gesellschaft widersprachen.344 Dieses Diskretionsideal ist das Gegenteil der Sensationslust; danach bleiben bestimmte, vor allem negative Bereiche des Lebens, zugunsten des davon Betroffenen ganz bewusst von der Gesellschaft ungesehen, um dieses Leid nicht noch zu vergrößern – wozu eben auch die Vollstreckung der Strafe zählt, selbst wenn sie ein verdientes Leid darstellt.345 Im Zeitalter der Aufklärung galt selbst der übelste Straftäter, wie jeder Mensch, als Individuum mit unveräußerlichen Rechten; seine menschliche Würde durfte und konnte ihm auch
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Garland, Punishment and modern society: a study in social theory (1990), S. 195 f. Elias, Über den Prozeß der Zivilisation (2013), S. 312. 340 Jung, Sanktionensysteme und Menschenrechte (1992), S. 33. 341 Elias, Über den Prozeß der Zivilisation (2013), S. 317. 342 Elias, Über den Prozeß der Zivilisation (2013), S. 399. 343 Garland, Punishment and modern society: a study in social theory (1990), S. 234 ff.; Tonry, Thinking about crime: sense and sensibility in American penal culture (2004), S. 73. 344 Münster, Das Konzept des reintegrative shaming von John Braithwaite (2006), S. 134. 345 Pawlik fasst diesen Aspekt folgendermaßen zusammen: „Mit der Ablehnung von shame sanctions wird ein Verständnis von Zivilisiertheit verteidigt, dem zufolge der wohlerzogene Mensch den Blick abwendet, wenn einem anderen ein, sei es auch verdientes, Leid zugefügt wird.“ Pawlik, Strafrecht: Seht, dieses Schwein!, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. 11. 2004. 339
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durch die Strafe nicht weggenommen werden.346 Die Menschenwürde galt damit fortan als Grenze der legitimen Strafgewalt.347 Dazu äußerte sich der niederländische Historiker Peter Spierenburg wie folgt: „By the end of the eighteenth century some of the audience could feel the pain of delinquents on the scaffold […] The death and suffering of fellow human beings were increasingly perceived as fellow human beings.“348
Die Abschaffung dieser drastischen, öffentlichen Strafpraktiken war also eine Auswirkung der Zivilisation der Gesellschaft. Das Strafen wurde nicht lediglich aus dem öffentlichen Blick verbannt, sondern auch die Formen der Strafe änderten sich. Für Max Weber war ein Symptom der Zivilisierung auch die Rationalisierung:349 dies bedeutete auch, dass der Staat als „moderner Anstaltsstaat“350 seinen Bürgern gegenüber rational handelte.351 Damit waren irrationale, emotionalisierende Strafen wie die Ehren- und Schandstrafen nicht mehr passend.352 Peter Spierenburg sieht neben der gesellschaftlichen Entwicklung auch die Stabilisierung der Macht der staatlichen Strafjustiz als einen der wesentlichen Gründe für das Verschwinden der Strafvollstreckung aus der Öffentlichkeit; aus diesem Grund musste die Macht der Obrigkeit nicht mehr auf drastische Weise demonstriert werden, sondern war von der Gesellschaft bereits ausreichend verinnerlicht worden.353 Neben dem Zivilisierungsprozess gab es auch andere große gesellschaftliche Veränderungen – die, vor allem im religiösen Kolonialamerika intimen Gemeinschaften wurden im Laufe des 18. Jahrhunderts immer größer und dadurch zwangsläufig anonymer.354 Diese zunehmende soziale Anonymität schwächte die abschreckenden, aber auch die reintegrativen Effekte der öffentlichen Bestrafung nach und nach ab.355 Doch ging man nicht nur davon aus, dass die Ehren- und Schandstrafen aufgrund dieser Anonymität unwirksam waren, sondern sogar, dass 346
Foucault, Überwachen und Strafen: die Geburt des Gefängnisses (1976), S. 94. Foucault, Überwachen und Strafen: die Geburt des Gefängnisses (1976), S. 94. 348 Spierenburg, The spectacle of suffering: Executions and the evolution of repression (1984), S. 184 f. 349 Weichlein, Max Weber, der moderne Staat und die Nation (2007), in: Max Webers Staatssoziologie, S. 103, 105 f. 350 Weichlein, Max Weber, der moderne Staat und die Nation (2007), in: Max Webers Staatssoziologie, S. 103, 105. 351 Weichlein, Max Weber, der moderne Staat und die Nation (2007), in: Max Webers Staatssoziologie, S. 103, 103. 352 Zur Rationalisierung und Zivilisierung von Strafe siehe: Garland, Punishment and modern society: a study in social theory (1990), S. 180 ff., 234 ff. 353 Spierenburg, The spectacle of suffering: Executions and the evolution of repression (1984), S. 203 ff. 354 A. J. Hirsch, From Pillory to Penitentiary: The Rise of Criminal Incarceration in Early Massachusetts, Michigan Law Review 80 (1982), S. 1179, 1232. 355 A. J. Hirsch, From Pillory to Penitentiary: The Rise of Criminal Incarceration in Early Massachusetts, Michigan Law Review 80 (1982), S. 1179, 1232. 347
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sie kontraproduktiv wirkten, zur Verrohung und Brutalisierung der Bevölkerung beitrugen und damit Straftaten nicht verhindern, sondern vielmehr begünstigen würden.356 b) „Geburt des Gefängnisses“357 Eine ,humanere‘ Art des Strafens war den Kritikern der Ehren- und Schandstrafen zufolge die Freiheitsstrafe in Form der Gefängnisstrafe; sie wurde damit und ist bis heute die bevorzugte Form der Strafe. Gefängnisse an sich waren natürlich keine neue Erfindung; bereits seit der Antike gab es sie bereits, jedoch dienten diese ursprünglich nicht der Strafvollstreckung,358 sondern etwa als Mittel der privaten Sanktion – so wurde z. B. ein zahlungsunfähiger Schuldner von seinem Gläubiger in den Kerker gesperrt, bis er die geschuldete Summe aufbringen konnte.359 Der Rechtspflege dienten Gefängnisse dazu, den Delinquenten bis zur Gerichtsverhandlung und zur Vollstreckung der eigentlichen Strafe einzusperren; das Gefängnis war also statt einer Strafe eine frühe Form der Untersuchungshaft.360 Eingesperrt wurde der Delinquent dabei in einem Verlies im Rathaus, im Turm der Stadtmauern oder im Haus des Scharfrichters;361 somit waren frühere Gefängnisse bei Weitem nicht mit den großen Anstalten vergleichbar, die heute dem Vollzug der Freiheitsstrafe dienen. Ende des 16., Anfang des 17. Jahrhunderts wurde der Entzug der körperlichen Bewegungsfreiheit mit Zwangsarbeit verbunden.362 Dies resultierte in der Ausbeutung der Gefangenen als Arbeitskraft durch private Unternehmer, die die Haftanstalten gepachtet hatten.363 Anfang des 19. Jahrhunderts entwickelten die Quäker nach dem Vorbild des „Panoptikums“ des englischen Juristen und Philosophen Jeremy Bentham das pennsylvanische, weltweit nachgebaute Anstaltsmodell: ein großer sternförmiger Flügelbau mit Einzelzellen auf zwei Etagen – in der Mitte befand sich ein Überwachungsturm.364 Urteile wurden nun vorwiegend abseits der Öffentlichkeit und hinter hohen Mauern vollstreckt, die Haftanstalten waren der Mittelpunkt der Strafe.365 Zwischen der Rechtspflege und dem Delinquenten wurden
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Münster, Das Konzept des reintegrative shaming von John Braithwaite (2006), S. 134. Foucault, Überwachen und Strafen: die Geburt des Gefängnisses (1976). 358 Schild, Alte Gerichtsbarkeit (1985), S. 210. 359 Schild, Alte Gerichtsbarkeit (1985), S. 210. 360 Schild, Alte Gerichtsbarkeit (1985), S. 210. 361 Schild, Alte Gerichtsbarkeit (1985), S. 210. 362 Schild, Alte Gerichtsbarkeit (1985), S. 210. 363 Schild, Alte Gerichtsbarkeit (1985), S. 210. 364 Fennel, Gefängnisarchitektur und Strafvollzugsgesetz (2006), S. 18 ff. 365 Friedman, Crime and punishment in American history (1993), S. 75. 357
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Verwaltungsapparate geschaltet, der Prozess des Strafens wurde rationalisiert und professionalisiert.366 c) Rückkehr der Ehren- und Schandstrafen Mit der Etablierung der Freiheitsstrafe und dem Gefängnis als deren Vollzugsort war die Geschichte der Ehren- und Schandstrafen jedoch noch nicht zu Ende. Im Nationalsozialismus gab es Bestrebungen, die Ehrenstrafen wieder in das strafrechtliche System zu integrieren.367 Hochrangige nationalsozialistische Juristen wie Georg Dahm und Roland Freisler beabsichtigten, in einem nationalsozialistischen Strafgesetzbuch statusmindernde Ehrenstrafen einzuführen, Dahm wollte die Ehrenstrafen in Form der Ächtung sogar zur Hauptstrafe des StGB machen.368 Die Ächtung bedeutete den gesellschaftlichen und politischen Ehrentod des Verbrechers.369 Wer zur Ächtung verurteilt wurde, verlor seine Reichszugehörigkeit und die Ämterfähigkeit, die Parteizugehörigkeit und sogar die Ehe konnte als Folge der Ächtung gelöst werden.370 Staatssekretär Roland Freisler forderte im Jahre 1934 sogar die Wiedereinführung des Prangers; der Delinquent sollte zeitweise öffentlich zur Schau gestellt werden.371 Er empfahl als eine weitere Form des Prangers die öffentliche Bekanntmachung aller Strafurteile in Zeitungen sowie durch „Anschlag an der Litfaßsäule verbunden mit einer Veröffentlichung des Bildes des Täters“.372 Auch die Bekanntgabe der Tat und des Täters im Rundfunk schlug er vor.373 Unter anderem war es damit für den zuständigen Richter möglich, gemäß § 37 des damals geltenden Strafgesetzbuches die öffentliche Bekanntmachung des Urteils anzuordnen.374 Diese Entwicklungen scheinen der Theorie der Zivilisation von Norbert Elias zu widersprechen. Jedoch geht Elias nicht davon aus, dass der Prozess der Zivilisation plangerichtet bzw. unumkehrbar sei – vielmehr könne es durchaus einen sogenannten 366
Garland, Punishment and modern society: a study in social theory (1990), S. 183. Frevert, Die Politik der Demütigung (2017), S. 61. 368 Dahm, Die Erneuerung der Ehrenstrafe (1934), in: Deutsche Juristen-Zeitung, S. 822, 832. 369 Kubink, Strafen und ihre Alternativen im zeitlichen Wandel (2002), S. 266. 370 Kubink, Strafen und ihre Alternativen im zeitlichen Wandel (2002), S. 266. 371 Freisler (Hrsg.), Denkschrift des Zentralausschusses der Strafrechtsabteilung der Akademie für Deutsches Recht über die Grundzüge eines allgemeinen deutschen Strafrechts (1934), S. 113. 372 Freisler (Hrsg.), Denkschrift des Zentralausschusses der Strafrechtsabteilung der Akademie für Deutsches Recht über die Grundzüge eines allgemeinen deutschen Strafrechts (1934), S. 114. 373 Freisler (Hrsg.), Denkschrift des Zentralausschusses der Strafrechtsabteilung der Akademie für Deutsches Recht über die Grundzüge eines allgemeinen deutschen Strafrechts (1934), S. 114. 374 Gruchmann, Justiz im Dritten Reich 1933 – 1940: Anpassung und Unterwerfung in der Ära Gürtner (2002), S. 777. 367
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„Entzivilisierungsschub“375 geben, wie er explizit die Zeit des Nationalsozialismus beschreibt.376 Innerhalb dieser Entzivilisierungsschübe werde die Selbstkontrolle durch eine Fremdkontrolle ersetzt und die Peinlichkeits- und Schamschwellen würden stark herabsinken.377 4. Shame Sanctions und die Ehren- und Schandstrafen Die Shame Sanctions sind in den 1980er Jahren aufgekommen,378 die Ehren- und Schandstrafen hatten ihre Hochzeit etwa im 15. Jahrhundert – diese beiden Sanktionsformen trennen also fast 500 Jahre. Dazwischen hat sich die Welt stark verändert: Souveräne und stabile Staaten haben sich herausgebildet, Gesellschaften haben sich verändert, weg von intimen Gemeinschaften hin zu Gesellschaften mit einem starken Fokus auf das Individuum, sodass bereits aufgrund der unterschiedlichen gesellschaftlichen Situationen ein Vergleich zwischen diesen beiden Sanktionsformen schwierig, ja sogar unmöglich scheint. Aber bereits aufgrund der äußerlichen Ähnlichkeiten drängt er sich unweigerlich auf, sodass häufig von der „Wiederkehr der Scham“379 oder der „Rückkehr des Prangers“380 die Rede ist. Aus diesem Grund war ein genauerer Blick auf die Ehren- und Schandstrafen in Europa und Kolonialamerika notwendig, um einen solchen Vergleich theoretisch fundiert und nicht nur intuitiv vorzunehmen. Nach der Darstellung der europäischen und kolonialamerikanischen Ehren- und Schandstrafen lässt sich sagen, dass die größte Gemeinsamkeit mit den Shame Sanctions in der Öffentlichkeit der Vollstreckung besteht. Bei beiden Sanktionsformen wird die Strafe in der Öffentlichkeit vollzogen, weil beide Sanktionsformen darauf angewiesen sind, dass die umstehenden Personen bei der Bestrafung anwesend sind. Bei den Ehren- und Schandstrafen fand teilweise sogar eine Mitwirkung physischer Natur statt; ausgestellte Delinquenten wurde attackiert, mit Kot beworfen, bespuckt. Durch die Angriffe wurden manche von ihnen schwer verletzt und kamen in besonders schlimmen Fällen sogar zu Tode.381 Bei den Shame Sanctions ist 375
Elias, Studien über die Deutschen (1992), S. 23. Elias, Studien über die Deutschen (1992), S. 23. 377 „Entzivilisierung bedeutet dann eine Veränderung in entgegengesetzter Richtung, eine Verringerung der Reichweite des Mitgefühls.“ Elias, Figuration. sozialer Prozeß und Zivilisation: Grundbegriffe der Soziologie (2006), in: Aufsätze und andere Schriften III, S. 100, 116 f. 378 Kahan, What Do Alternative Sanctions Mean?, University of Chicago Law Review 63 (1996), S. 591, 631. 379 Beispielhaft dazu: Deardorff, Shame Returns As Punishment 12. 04. 2000, https://www. chicagotribune.com/news/ct-xpm-2000-04-12-0004120235-story.html [zugegriffen am 8. 6. 2022]. 380 Etzioni, Back to the Pillory?, The American Scholar 68 (1999), S. 43. 381 Hentig, The Pillory: A Medieval Punishment, Rocky Mntn. L. Rev. 11 (1938), S. 186, 197; Andrews, Bygone punishments (1899), S. 156. 376
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Teil 1: Das Aufkommen der Shame Sanctions in den USA
die gewünschte Mitwirkung der Zuschauer subtiler: der Täter soll durch die Offenbarung seiner Identität und seiner Tat an die Öffentlichkeit stigmatisiert, gemieden und aus der Gemeinschaft ausgeschlossen werden. Physische Angriffe sind jedoch unerwünscht bzw. sollen durch die Anwesenheit von Sicherheitspersonal verhindert werden.382 In jedem Fall ist die Öffentlichkeit der größte gemeinsame Nenner zwischen diesen beiden Sanktionsformen. Doch während die Öffentlichkeit im Mittelalter und in der frühen Neuzeit eine wichtige Vermittlungsfunktion hatte, in einer Gesellschaft, in der die meisten Menschen Analphabeten waren, fällt diese Funktion der Öffentlichkeit heute weg. Eine öffentliche Strafvollstreckung ist heute nicht mehr notwendig, um das Recht zu vermitteln, das zeigt die Existenz der Gefängnisse, in denen über zwei Jahrhunderte lang die Strafvollstreckung abseits des öffentlichen Blicks und Zugriffs erfolgte. Doch damals wie heute diente die Ausstellung eines Täters und dessen öffentliche Bestrafung auch der Abschreckung anderer potentieller Rechtsbrecher. Diese könnte heute jedoch, auch aufgrund des technischen Fortschritts, auch anders erfolgen: z. B. über Meldungen über das Internet, Radio- oder Fernsehbeiträge. Eine weitere Gemeinsamkeit liegt in den Delikten, deren Begehung mit den Ehren- und Schandstrafen bzw. Shame Sanctions bestraft werden: Es sind meist sogenannte „moral offenses“, die besonders verpönt sind und deren Begehung aus diesem Grund meist verheimlicht werden soll. Gerade deshalb sollen sie im Rahmen der Bestrafung in die Öffentlichkeit gebracht werden und den Delinquenten damit dem Hohn und Spott seiner Mitmenschen ausliefern. Doch auch Bagatelldelikte wurden mit Ehren- und Schandstrafen und werden mit Shame Sanctions bestraft, während für besonders schwere Delikte eher die Todesstrafe bzw. heute vor allem die Gefängnisstrafe vorgesehen ist. Wie auch die Ehren- und Schandstrafen teilweise ,gnadenhalber‘ statt einer Leibes- bzw. Lebensstrafe verhängt wurden, werden auch die Shame Sanctions als weniger eingriffsintensive Alternative zur Freiheitsstrafe dargestellt. Im Gegensatz zu den Ehrenstrafen ziehen die Shame Sanctions heute zumindest keine formalrechtlichen Konsequenzen wie eine Ehr- oder Rechtlosigkeit nach sich. Dahingehend ähneln die Shame Sanctions damit eher den Schandstrafen, die nur für eine bestimmte Dauer eine Verspottung des Delinquenten erlaubten und ebenso wenig formalrechtliche Konsequenzen nach sich zogen. In beiden Fällen ist jedoch der weitere Verlauf der tatsächlich erfolgenden Stigmatisierung kaum kontrollierbar. Die gesellschaftliche Ausgangslage ist bei den Shame Sanctions eine völlig andere als bei den Ehren- und Schandstrafen. Heute sind Gesellschaften anonymer, der Großteil der Bevölkerung kann lesen und schreiben und seit mehreren Jahrhunderten ist das Gefängnis in der ganzen westlichen Welt die Hauptsanktion für Straftaten. Die bereits erwähnten Strafsensibilitäten haben sich in einer zivilisierten Hinsicht entwickelt, sodass „der wohlerzogene Mensch den Blick abwendet, wenn einem an382 Solches Sicherheitspersonal stand im Fall Gementera bereit. United States v. Gementera, 379 F.3d 596 (9th Cir. 2004).
C. Erklärungsansätze für das Aufkommen der Shame Sanctions
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deren ein Leid zugefügt wird“383. Im amerikanischen Verfassungsrecht spielen im Rahmen des VIII. Amendment zur Verfassung, dem Verbot „grausamer und unüblicher Bestrafung“ die sogenannten „standards of decency“384 eine wichtige Rolle, die den gesellschaftlichen Anstand zum Maßstab für die Strafzumessung machen. Damit ist der aktuelle gesellschaftliche Zustand von wesentlicher Bedeutung für die Einordnung einer Strafe als „grausam und unüblich“. Die gegen die Ehren- und Schandstrafen gerichtete Kritik fokussierte sich jedoch vorrangig auf die am Pranger vollzogenen grausamen Leibesstrafen, die den Menschen „wie ein Tier“ behandelten,385 und weniger auf die bloße Ausstellung des Delinquenten (am Pranger) ohne jegliche körperliche Einwirkung.386 Aus diesem Grund lässt sich die Kritik an den Ehren- und Schandstrafen nicht unmittelbar auf die Shame Sanctions übertragen, da diese keinerlei körperlichen Aspekte aufweisen;387 die veränderten Strafsensibilitäten, die zur Abschaffung der Ehren- und Schandstrafen könnten jedoch beim Aufkommen der Shame Sanctions ebenfalls eine Rolle gespielt haben. 5. Zwischenergebnis Die Betrachtung der historischen Erscheinungsformen der Beschämungsstrafen hat aufgezeigt, dass man aus den Gründen, die weitestgehend illiterale Gesellschaften hatten, Beschämung auszuüben, nichts für die Bewertung der Shame Sanctions ableiten kann. Es hat sich außerdem gezeigt, dass Strafen, die den Einzelnen bewusst jeder Ehre beraubten, ein typisches Zeichen der Diktaturen im 20. Jahrhundert waren. Das Aufkommen der Shame Sanctions lässt sich damit vor dem Hintergrund der Betrachtung der historischen Erscheinungsformen der Beschämungsstrafen nicht nur nicht erklären, vielmehr galt das Aufkommen der Shame Sanctions Ende des 20. Jahrhunderts als äußerst unwahrscheinlich. Aus diesem
383
2004. 384
Pawlik, Strafrecht: Seht, dieses Schwein!, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. 11.
„The prohibition against cruel and unusual punishments also recognizes the ,evolving standards of decency‘ that mark the progress of a maturing society.“ Siehe Penry v. Lynaugh, 492 U.S. 302 (1989); der Supreme Court entwickelte diese Interpretation des VIII. Amendment in Weems v. United States und nannte sie in Trop v. Dulles „evolving standards of decency“. Zur Vereinbarkeit der Shame Sanctions mit dem im VIII. Amendment statuierten Verbot der grausamen und unüblichen Bestrafung siehe Teil 2, A. II. 1. b) bb), III. 1. 385 Friedman, Crime and punishment in American history (1993), S. 74; Whitman, What is wrong with inflicting shame sanctions?, The Yale Law Journal 107 (1998), S. 1055, 1061. 386 Whitman, What is wrong with inflicting shame sanctions?, The Yale Law Journal 107 (1998), S. 1055, 1060 f. 387 Dass die Shame Sanctions nicht auf körperliche Bestrafung in der Öffentlichkeit oder auf physische Angriffe der Zuschauer setzen, sagt jedoch noch nichts über deren Legitimität aus; dennoch geht es ihnen um offene Stigmatisierung und Demütigung, weswegen sie zumindest keine typisch zivilisierte Form der Strafe darstellen.
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Grund soll im Folgenden die (kriminal-)politische Entwicklung in den USA als potentieller Erklärungsansatz betrachtet werden.
II. Kriminalpolitischer Hintergrund 1. Einführung Shame Sanctions wurden und werden von ihren Befürwortern als geeignete Alternative für die Freiheitsstrafe dargestellt. Dass es einer solchen Alternative tatsächlich dringend bedarf, wird deutlich, wenn man die Situation des amerikanischen Strafvollzugs seit etwa 40 Jahren betrachtet; zwar bilden die USA lediglich 4,32 % der Weltbevölkerung388 ab, ihr Anteil an der weltweiten Gefangenenzahl beträgt jedoch fast 20 %.389 Die Anzahl der in bundesstaatlichen und Bundesgefängnissen inhaftierten Personen betrug im Jahr 2021 2.068.800.390 Pro 100.000 Einwohner sitzen in den USA damit 629 Menschen im Gefängnis.391 Zum Vergleich: In Deutschland entfallen auf 100.000 Einwohner 70 Inhaftierte.392 Die hohe Gefangenenrate ist für den amerikanischen Staat eine schwere finanzielle Belastung – die immateriellen Folgen für den Inhaftierten und die Gesellschaft nicht berücksichtigt. Die durchschnittlichen jährlichen Kosten für einen Gefangenen betrugen im Jahr 2020 39.158 US-Dollar, am Tag kostet ein Gefangener 120.59 US-Dollar.393 Jährlich kostet der Strafvollzug den Staat damit etwa 81 Milliarden US-Dollar.394 388 IMF, Anteile der 20 Länder mit der größten Bevölkerung an der Weltbevölkerung im Jahr 2021 04.2021, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/381888/umfrage/anteile-der-la ender-mit-der-groessten-bevoelkerung-an-der-weltbevoelkerung/ [zugegriffen am 8. 6. 2022]. 389 Fair/Walmsley, World Prison Population List 01. 12. 2021, https://www.prisonstudies. org/sites/default/files/resources/downloads/world_prison_population_list_13th_edition.pdf [zugegriffen am 9. 6. 2022]. 390 Fair/Walmsley, World Prison Population List 01. 12. 2021, https://www.prisonstudies. org/sites/default/files/resources/downloads/world_prison_population_list_13th_edition.pdf [zugegriffen am 9. 6. 2022]. 391 Fair/Walmsley, World Prison Population List 01. 12. 2021, https://www.prisonstudies. org/sites/default/files/resources/downloads/world_prison_population_list_13th_edition.pdf [zugegriffen am 9. 6. 2022]. 392 Fair/Walmsley, World Prison Population List 01. 12. 2021, https://www.prisonstudies. org/sites/default/files/resources/downloads/world_prison_population_list_13th_edition.pdf [zugegriffen am 9. 6. 2022]. 393 Bureau of Prisons, Annual Determination of Average Cost of Incarceration Fee (COIF) 01. 09. 2021, https://www.federalregister.gov/documents/2021/09/01/2021-18800/annual-deter mination-of-average-cost-of-incarceration-fee-coif [zugegriffen am 9. 6. 2022]. 394 Besonders bemerkenswert ist, dass nahezu ein Viertel der inhaftierten Personen in amerikanischen Gefängnissen nicht rechtskräftig verurteilt ist, sondern in Untersuchungshaft sitzt und viele Inhaftierte nicht freigelassen werden, weil sie sich die festgelegte Kaution nicht leisten können. Siehe Prison Policy Initiative, Pretrial Detention, https://www.prisonpolicy. org/research/pretrial_detention/#:~:text=More%20than%20400%2C000%20people%20in,%22 hold%22%20on%20their%20release [zugegriffen am 9. 6. 2022].
C. Erklärungsansätze für das Aufkommen der Shame Sanctions
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Ein Grund für die hohen Gefangenenzahlen ist auch ein Anstieg der Kriminalitätsrate zwischen den 1960er und den 1990er Jahren.395; doch damals stieg auch in den anderen westlichen Ländern die Kriminalitätsrate stark an.396 Seit den 1990er Jahren ist die Kriminalitätsrate wieder rückläufig, die Gefangenenzahlen sinken jedoch erst seit wenigen Jahren sehr langsam.397 Ein weiterer Grund für die hohen Gefangenenzahlen ist die seit 40 Jahren bis heute herrschende „get-tough-on-crime“Haltung.398 Noch in der Mitte des 20. Jahrhunderts beherrschte jedoch die Idee der Resozialisierung die kriminalpolitische Diskussion und die Realität des Strafvollzuges.399 Der Wandel, der in den 1970er Jahren in der amerikanischen Kriminalpolitik einsetzte, ist zumindest in dieser Intensität weltweit einzigartig. Möglicherweise bildete genau dieser Wandel den Nährboden für die Entstehung der Shame Sanctions. Daher soll an dieser Stelle ein Überblick über die Veränderungen in der amerikanischen Kriminalpolitik im Laufe des 20. Jahrhunderts gegeben werden. 2. Entwicklung der amerikanischen Kriminalpolitik Als sich die Freiheitsstrafe Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts in den USA zur Hauptsanktion des Strafrechts entwickelt hatte, war der richterliche Ermessensspielraum zur Bestimmung der angemessenen Dauer der Freiheitsstrafe im individuellen Fall eingeschränkt; sogenannte „determined sentences“, also zeitlich bestimmte Freiheitsstrafen mussten verhängt werden.400 Die vorgegebene Dauer der Freiheitsstrafe für die jeweiligen Straftaten war gesetzlich vorgegeben.401 Die eigentliche Aufgabe der Gerichte lag darin, den ordnungsgemäßen Ablauf des Verfahrens zu überwachen und bei der Schuldfeststellung die für die Tat gesetzlich vorgesehene Strafe zu verhängen.402 Der Grund für den derart eingeschränkten Ermessensspielraum der Gerichte lag in der historisch verwurzelten Ablehnung eines zu mächtigen Staates und im starken Misstrauen der Bevölkerung gegenüber der Obrigkeit, das sich auch in der später zur Verfassung hinzugefügten „Bill of Rights“, 395
Tonry (Hrsg.), Sentencing reform in overcrowded times: a comparative perspective (1997), S. viii. 396 Tonry (Hrsg.), Sentencing reform in overcrowded times: a comparative perspective (1997), S. viii. 397 Fair/Walmsley, World Prison Population List 01. 12. 2021, https://www.prisonstudies. org/sites/default/files/resources/downloads/world_prison_population_list_13th_edition.pdf [zugegriffen am 9. 6. 2022]. 398 Köstler-Loewe, Strafrecht US-Style: „Three Strikes and You’re Out!“: Baseball, Rückfall und Kriminalpolitik? (2008), S. 60. 399 Friedman, Crime and punishment in American history (1993), S. 305. 400 Köstler-Loewe, Strafrecht US-Style: „Three Strikes and You’re Out!“: Baseball, Rückfall und Kriminalpolitik? (2008), S. 66. 401 Köstler-Loewe, Strafrecht US-Style: „Three Strikes and You’re Out!“: Baseball, Rückfall und Kriminalpolitik? (2008), S. 66. 402 Köstler-Loewe, Strafrecht US-Style: „Three Strikes and You’re Out!“: Baseball, Rückfall und Kriminalpolitik? (2008), S. 66.
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dem amerikanischen Grundrechtekatalog, zeigt, in dem auch das Prinzip der „Checks and Balances“ festgehalten ist, das die gegenseitige Kontrolle der Judikative, Legislative und Exekutive betont.403 Dieser kleine richterliche Ermessensspielraum zur Verhängung von zeitlich individuell-angemessenen Freiheitsstrafen stand im Widerspruch zum Behandlungsund Resozialisierungsgedanken, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im amerikanischen Strafvollzug einen hohen Stellenwert hatte.404 Deshalb wurden die determined sentences bis Anfang des 20. Jahrhunderts in nahezu allen Bundesstaaten durch indetermined sentences ersetzt.405 Dabei sprach der Richter keine von vornherein zeitlich bemessene Haftstrafe aus, sondern lediglich eine Zeitspanne, die die Mindest- und die Höchstdauer der Freiheitsstrafe festlegte.406 Das Ziel hinter den indetermined sentences war es, die Resozialisierungschancen des inhaftierten Straftäters regelmäßig zu überprüfen und bei einer positiven Prognose seine Haftentlassung anzuordnen.407 So konnte ein besonders einsichtiger, resozialisierter Täter schon früh entlassen werden, ein Täter jedoch, der nicht einsichtig bzw. reumütig war und damit nicht bereit war, in die Gesellschaft entlassen zu werden, blieb hinter Gittern. Über den Zeitpunkt der Entlassung aus der Strafanstalt hatte das Parole Board zu entscheiden.408 Der Umgang mit Kriminalität war zu diesem Zeitpunkt ein Thema, womit sich Experten beschäftigten; Politiker zeigten, ganz im Gegensatz zu heute, kaum Interesse an diesem Thema.409 Dies änderte sich im Jahre 1929, als Präsident Herbert Hoover in seiner Amtseinführungsrede Kriminalität zum Problem erklärte.410 Aus diesem Grund führte er die „Wickersham Commission“ ein, eine Bundeskommission für Rechtsbeobachtung und -durchsetzung.411 Diese arbeitete intensiv zu unterschiedlichen kriminalpolitischen Themen und veröffentlichte allein im Jahr 1931 14 Untersuchungsberichte; darunter zu den Ursachen für Kriminalität, zum Verhalten der Polizei und den Strafinstitutionen.412 Das Urteil, das die Kommission über 403
Köstler-Loewe, Strafrecht US-Style: „Three Strikes and You’re Out!“: Rückfall und Kriminalpolitik? (2008), S. 66 f. 404 Köstler-Loewe, Strafrecht US-Style: „Three Strikes and You’re Out!“: Rückfall und Kriminalpolitik? (2008), S. 68. 405 Köstler-Loewe, Strafrecht US-Style: „Three Strikes and You’re Out!“: Rückfall und Kriminalpolitik? (2008), S. 70. 406 Köstler-Loewe, Strafrecht US-Style: „Three Strikes and You’re Out!“: Rückfall und Kriminalpolitik? (2008), S. 71. 407 Köstler-Loewe, Strafrecht US-Style: „Three Strikes and You’re Out!“: Rückfall und Kriminalpolitik? (2008), S. 70. 408 Köstler-Loewe, Strafrecht US-Style: „Three Strikes and You’re Out!“: Rückfall und Kriminalpolitik? (2008), S. 70. 409 Friedman, Crime and punishment in American history (1993), S. 273. 410 Friedman, Crime and punishment in American history (1993), S. 273. 411 Friedman, Crime and punishment in American history (1993), S. 273. 412 Friedman, Crime and punishment in American history (1993), S. 273.
Baseball, Baseball, Baseball, Baseball, Baseball, Baseball,
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die Lage der Strafjustiz fällte, war vernichtend: sie sei brutal, ineffizient und korrupt.413 Auf die Ergebnisse der Kommission folgten jedoch keine politischen Taten – im Gegenteil – mit den Jahren geriet die Kritik der Kommission am aktuellen Strafsystem vielmehr in Vergessenheit.414 Erst nach dem zweiten Weltkrieg kam das Thema der Kriminalität und Strafjustiz wieder zurück auf die politische Agenda.415 Die 1950er und 60er Jahre bildeten dabei den Höhepunkt einer Bewegung zur Humanisierung des Straf- und Sanktionsrechts,416 die stark auf die Resozialisierung von Straftätern setzte.417 Selbst die Todesstrafe geriet zu dieser Zeit stark in die Kritik.418 Im Urteil Furman vs. Georgia im Jahre 1972 entschied der Supreme Court, dass die Todesstrafe unter anderem „eine grausame und unübliche Strafe“ darstellt und damit gegen das VIII. Amendment zur amerikanischen Verfassung verstößt.419 Dabei ging es dem Supreme Court insbesondere darum, dass es keine ausreichend einheitlichen und eindeutigen Kriterien gab, die die Gefahr der willkürlichen Verhängung der Todesstrafe minimieren konnten.420 Der Supreme Court sprach aus diesem Grund ein bundesweites Vollstreckungsmoratorium für die Todesstrafe aus.421 Zwischen 1967 und 1976 fand deshalb in den USA keine einzige von staatlicher Seite vollzogene Hinrichtung statt.422 Bis zum Beginn der 1970er Jahre dominierte dieser „progressive Optimismus“423 in der Kriminalpolitik. Jedoch begann das Resozialisierungsideal bereits in den 1960er Jahren allmählich zu wanken und fand in den 1970er Jahren sein Ende.424 Der Resozialisierung als Strafzweck wurde ein schwacher bzw. sogar nicht vorhandener Effekt vorgeworfen. Dies resultierte in der Schlussfolgerung: „Nothing works“425. So vollzog die amerikanische Kriminalpolitik in den 1970er Jahren eine drastische
413
Friedman, Crime and punishment in American history (1993), S. 273. Friedman, Crime and punishment in American history (1993), S. 273. 415 Friedman, Crime and punishment in American history (1993), S. 274. 416 Friedman, Crime and punishment in American history (1993), S. 305. 417 Köstler-Loewe, Strafrecht US-Style: „Three Strikes and You’re Out!“: Baseball, Rückfall und Kriminalpolitik? (2008), S. 61. 418 Friedman, Crime and punishment in American history (1993), S. 316 ff. 419 Furman v. Georgia, 408 U.S. 238 (1972). 420 Furman v. Georgia, 408 U.S. 238 (1972). 421 Lain, Deciding Death, Duke Law Journal 57 (2007), S. 1, 13. 422 Friedman, Crime and punishment in American history (1993), S. 316. 423 Köstler-Loewe, Strafrecht US-Style: „Three Strikes and You’re Out!“: Baseball, Rückfall und Kriminalpolitik? (2008), S. 61. 424 Köstler-Loewe, Strafrecht US-Style: „Three Strikes and You’re Out!“: Baseball, Rückfall und Kriminalpolitik? (2008), S. 61. 425 Martinson, What Works?-Questions and Answers About Prison Reform, The Public Interest vom 1974, 48. 414
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Wende weg vom Resozialisierungsideal hin zu einem retributiven Modell.426 Strafe diente nun nicht mehr der Resozialisierung und damit einem in der Zukunft liegenden sozialen Zweck, sondern sollte vor allem schuldangemessen sein; der Täter solle bekommen, „was er verdient.“427 Der Tonfall in der Auseinandersetzung um strafpolitische Themen wurde ab den 1970er Jahren rauer.428 Der amerikanische Kriminologe und Soziologe David Garland bezeichnet diese Zeit auch als „punitive Wende“ („punitive turn“).429 Ein beispielhaftes ,Symptom‘ dieser härteren Kriminalpolitik sind die sogenannten „Three-Strikes-Laws“430, denen zufolge nach der dritten begangenen Straftat eine deutlich längere Freiheitsstrafe, 25 Jahre oder länger, für den Delinquenten folgt, wenn die ersten beiden Straftaten felonies waren.431 Gründe für die Veränderungen in der Kriminalpolitik und den Niedergang des Resozialisierungsideals waren soziale und politische Turbulenzen, die nachhaltigen Einfluss auf die amerikanische Gesellschaft hatten und das Vertrauen in die Rechtsordnung und in den amerikanischen Staat erschütterten:432 Ein einschneidendes Erlebnis für die amerikanische Bevölkerung war die Ermordung des amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy im Jahre 1963.433 Auch die Ermordung des Bürgerrechtsaktivisten Martin Luther King und kurz darauf die des demokratischen Präsidentschaftskandidaten, dem Bruder von John F. Kennedy, Robert Kennedy, im Jahr 1968 erschütterte das Land zutiefst.434 Die Bürgerrechtsbewegung („Civil Rights Movement“), der Vietnamkrieg, der Einmarsch in Kambodscha und die damit verbundenen Studentenunruhen und teilweise gewalttätigen Demonstrationen führten zu einer Bürgerkriegsatmosphäre, die wiederum harte Reaktionen des Staates
426 Kubiciel, Shame Sanctions – Ehrenstrafen im Lichte der Straftheorie, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 118 (2006), S. 44, 49. 427 Köstler-Loewe, Strafrecht US-Style: „Three Strikes and You’re Out!“: Baseball, Rückfall und Kriminalpolitik? (2008), S. 65. 428 Garland, Kultur der Kontrolle (2008), S. 52. 429 Garland, The Culture of High Crime Societies, The British Journal of Criminology 40 (2000), S. 347, 350. 430 Die Wendung „Three strikes and you’re out“ stammt aus dem amerikanischen Baseball. Die „Three-Strikes-Laws“ gab es sowohl auf Ebene des Bundes als auch auf Ebene der Bundesstaaten, z. B. Kalifornien. 431 Tonry, Rethinking Unthinkable Punishment Policies in America, UCLA Law Review 46 (1999), S. 1751, 1753; Köstler-Loewe, Strafrecht US-Style: „Three Strikes and You’re Out!“: Baseball, Rückfall und Kriminalpolitik? (2008). 432 Köstler-Loewe, Strafrecht US-Style: „Three Strikes and You’re Out!“: Baseball, Rückfall und Kriminalpolitik? (2008), S. 61. 433 Köstler-Loewe, Strafrecht US-Style: „Three Strikes and You’re Out!“: Baseball, Rückfall und Kriminalpolitik? (2008), S. 61. 434 Köstler-Loewe, Strafrecht US-Style: „Three Strikes and You’re Out!“: Baseball, Rückfall und Kriminalpolitik? (2008), S. 61.
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nach sich zog.435 Auch die Veränderung der Geschlechterrollen ausgehend von der Frauenrechtsbewegung und der Eintritt von Frauen auf den Arbeitsmarkt führten zu großer Unsicherheit bei der amerikanischen Bevölkerung.436 Ein weiteres gesellschaftlich bedeutendes Thema war die seit den 1960er Jahren verstärkte Einwanderung aus nicht-europäischen Ländern wie Mexiko, die wirtschaftliche Restrukturierung und nicht zuletzt die „Watergate-Affäre“ im Jahr 1972 und der darauffolgende ,freiwillige‘ Rücktritt von Richard Nixon, der die USA in eine bis dahin noch nicht dagewesene Vertrauenskrise stürzte.437 Das Sicherheitsgefühl der amerikanischen Bevölkerung und ihr Vertrauen in die Rechtsordnung hatte durch all diese Ereignisse stark gelitten. Das Thema Kriminalität rückte in den Vordergrund; die Angst, Opfer einer Straftat zu werden, war groß und führte zu einer nicht enden wollenden „moralischen Panik“438.439 Mit dem stärker werdenden Interesse der Wähler an der amerikanischen Kriminalpolitik wollten die Politiker kein Risiko einzugehen, als zu lasch im Kampf gegen Kriminalität („Soft On Crime“) zu gelten.440 Somit setzten Politiker im Wahlkampf auf eine besonders harte Kriminalpolitik („Safest Bet“).441 Der Präsidentschaftskandidat der Republikaner, Barry Goldwater, setzte 1964 im Wahlkampf gegen Präsident Johnson stark auf das Thema „Law and Order“;442 er sprach von „Gewalt auf den Straßen“443, „der wachsenden Bedrohung durch Kriminalität für die persönliche Sicherheit, für das Leben, den Körper und das Eigentum“.444 Zwar verlor Goldwater die Präsidentschaftswahl, jedoch begriff damit auch Johnson die Relevanz des Themas der Kriminalität unter seiner Wählerschaft, sodass er sich nach seinem Wahlsieg ebenfalls des Themas „Law and Order“ annahm, der Kriminalität den 435
Tonry, Rethinking Unthinkable Punishment Policies in America, UCLA Law Review 46 (1999), S. 1751, 1786; Köstler-Loewe, Strafrecht US-Style: „Three Strikes and You’re Out!“: Baseball, Rückfall und Kriminalpolitik? (2008), S. 61 f. 436 Tonry, Rethinking Unthinkable Punishment Policies in America, UCLA Law Review 46 (1999), S. 1751, 1786; Köstler-Loewe, Strafrecht US-Style: „Three Strikes and You’re Out!“: Baseball, Rückfall und Kriminalpolitik? (2008), S. 61 f. 437 Tonry, Rethinking Unthinkable Punishment Policies in America, UCLA Law Review 46 (1999), S. 1751, 1786; Köstler-Loewe, Strafrecht US-Style: „Three Strikes and You’re Out!“: Baseball, Rückfall und Kriminalpolitik? (2008), S. 61 f. 438 Cohen, Folk devils and moral panics (2004), S. 9 ff. 439 „During the period 1985 – 95, there was an almost unending series of moral panics about crime problems.“, Tonry, Rethinking Unthinkable Punishment Policies in America, UCLA Law Review 46 (1999), S. 1751, 1787. 440 Tonry, Rethinking Unthinkable Punishment Policies in America, UCLA Law Review 46 (1999), S. 1751, 1787; Tonry, Sentencing fragments (2016), S. 252. 441 H. Joachim Schneider, Kriminalpolitik an der Schwelle zum 21. Jahrhundert: eine vergleichende Analyse zur Inneren Sicherheit ; erweiterter Vortrag, gehalten vor der Juristischen Gesellschaft zu Berlin am 17. September 1997 (1998), S. 11. 442 Friedman, Crime and punishment in American history (1993), S. 274. 443 Friedman, Crime and punishment in American history (1993), S. 274. 444 Friedman, Crime and punishment in American history (1993), S. 274.
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Kampf ansagte und im Jahr 1968 die aus Experten bestehende National Commission on the Causes and Prevention of Violence gründete.445 Richard Nixon, der Johnson im Jahr 1969 als Präsident nachfolgte, nahm neben der Kriminalität verstärkt den Drogenkonsum in den Blick.446 Im Jahr 1971 verkündete er den „War on Drugs“447, den Krieg gegen die Drogen; dabei ging es ihm insbesondere um Marihuana und Heroin.448 Mit der Bezeichnung „War on Drugs“ lehnte er sich an den Begriff „War on Poverty“449 an, den Johnson während seiner Amtszeit durch zahlreiche Sozialreformen geprägt hatte. Ronald Reagan intensivierte diesen „War on Drugs“ Anfang der 1980er Jahre mithilfe zahlreicher Maßnahmen;450 im Jahr 1986 wurde der AntiDrug Abuse Act eingeführt, durch den Mindeststrafen für bestimmte Drogendelikte festgesetzt wurden.451 So lag die Mindeststrafe für den Besitz von 5 Gramm ,Crack‘ bei fünf Jahren Haft.452 Dieselbe Mindeststrafe drohte dagegen erst beim Besitz von 500 Gramm Kokain.453 Da Crack vor allem von Afroamerikanern konsumiert wurde und Kokain als Droge der weißen, reichen Bevölkerungsgruppe galt, war der „War on Drugs“ der Kritik ausgesetzt, rassistisch motiviert zu sein.454 Dieser War on Drugs zeigte schnell starke Auswirkungen auf die Gefängnispopulation: Im Jahre 1980 war jeder 15., der in einer bundesstaatlichen Justizvollzugsanstalt inhaftiert wurde, wegen eines Drogendelikts inhaftiert worden.455 Im Jahre 1990 war dies bereits jeder 3. – damit war innerhalb eines Jahrzehnts die Anzahl der wegen eines Drogendelikts inhaftierten Delinquenten um das 11-fache angestiegen.456 Die Gefängnisse waren stark überbelegt und die Kosten für die Unter- und Erhaltung stiegen immens.457 Dies führte dazu, dass die Leitung und Organisation der Gefängnisse in den USA auf private Unternehmen übertragen wurde.458
445
Friedman, Crime and punishment in American history (1993), S. 274. Musto, The American disease: origins of narcotic control (1987), S. 256. 447 Musto, The American disease: origins of narcotic control (1987), S. 248. 448 Musto, The American disease: origins of narcotic control (1987), S. 248. 449 Friedman, Crime and punishment in American history (1993), S. 274. 450 Musto, The American disease: origins of narcotic control (1987), S. 273. 451 Musto, The American disease: origins of narcotic control (1987), S. 273 f. 452 Musto, The American disease: origins of narcotic control (1987), S. 274. 453 Musto, The American disease: origins of narcotic control (1987), S. 274. 454 Musto, The American disease: origins of narcotic control (1987), S. 274. 455 Gillard, Prisoners in 1992 05.1993, https://bjs.ojp.gov/content/pub/pdf/p92.pdf [zugegriffen am 9. 6. 2022]. 456 Gillard, Prisoners in 1992 05.1993, https://bjs.ojp.gov/content/pub/pdf/p92.pdf [zugegriffen am 9. 6. 2022]. 457 Pfaff, Sentencing law and policy (2016), S. 649. 458 The Sentencing Project, Prison Privatization and the Use of Incarceration 01.2002, https://inthepublicinterest.org/wp-content/uploads/2015/03/PrisonPrivatization_TheSentencing Project2004.pdf [zugegriffen am 9. 6. 2022]. 446
C. Erklärungsansätze für das Aufkommen der Shame Sanctions
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In den 1970er Jahren wuchs außerdem die Bedeutung von Opferrechten, sowohl in der öffentlichen Wahrnehmung als auch im Strafprozess.459 Ausgangspunkt hierfür war die Kritik, dass sich die Resozialisierungsmaßnahmen nur auf den Täter konzentrieren würden, jedoch nicht auf die durch die Tat vom Täter geschädigten Opfer.460 Dabei wurden Opfer und deren Geschichten gezielt dazu genutzt, um die Stimmung in der Öffentlichkeit zu Gunsten einer härteren Kriminalpolitik zu beeinflussen, was schlussendlich auch gelang.461 Den Täter zu resozialisieren bedeutete nun plötzlich, nicht genug Aufmerksamkeit auf das von der Tat geschädigte Opfer zu richten. Der Blick der Kriminalpolitik richtete sich also zunehmend weg vom Täter und verstärkt hin zur Tat und deren Konsequenzen für das Opfer.462 Zwischenzeitlich, nämlich zwischen 1972 und 1976, hatten einige Bundesstaaten ihre Gesetze zur Verhängung der Todesstrafe angepasst, weshalb der Supreme Court im Urteil Gregg vs. Georgia463 im Jahre 1976 das Vollstreckungsmoratorium für die Todesstrafe wieder aufhob und diese, solange bestimmte Kriterien zur Einschränkung des richterlichen Ermessensspielraums erfüllt waren, für verfassungsmäßig erklärte, was bis heute gilt.464
3. Shame Sanctions als Symptom der kriminalpolitischen Entwicklung? Shame Sanctions sind in den 1980er Jahren als Sanktionsform aufgekommen – also genau zu jener Zeit, als die „punitive Wende“ Einzug in die amerikanische Kriminalpolitik hielt. Dieses zeitliche Zusammentreffen könnte darauf hindeuten, dass die Shame Sanctions ein Symptom ebenjener Entwicklung sind. Jedenfalls als Symptom für eine härtere Kriminalpolitik im Sinne der „Law and Order“-Bewegung gewertet werden die immer längeren Freiheitsstrafen. Nun sollen die Shame Sanctions aber ja gerade eine Alternative für die Freiheitsstrafe darstellen. Wenn sie nun als Symptom der punitiven Wende gälten, wären sie keine Alternative, sondern würden lediglich eine Erweiterung des Strafarsenals und der immer stärker werdenden sozialen Kontrolle durch das Strafrecht darstellen. Diese Entwicklung wird auch als „widening-the-net“465-effect bezeichnet. Der Ausdruck „widening the net“466 wurde von Stanley Cohen geprägt, der damit das Phänomen beschreibt, dass die soziale Kontrolle mittels neuer Programme bzw. Sanktionen erweitert wird und 459
Friedman, Crime and punishment in American history (1993), S. 308 f. Friedman, Crime and punishment in American history (1993), S. 308. 461 Friedman, Crime and punishment in American history (1993), S. 308. 462 Friedman, Crime and punishment in American history (1993), S. 305 f. 463 Gregg vs. Georgia, 428 US 153 (1976). 464 Friedman, Crime and punishment in American history (1993), S. 318. 465 Cohen, The punitive city: Notes on the dispersal of social control, Contemporary Crises 3 (1979), S. 339, 347. 466 Cohen, The punitive city: Notes on the dispersal of social control, Contemporary Crises 3 (1979), S. 339, 347. 460
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Teil 1: Das Aufkommen der Shame Sanctions in den USA
dadurch die Kosten für das Strafjustizsystem steigen, obwohl diese neuen Formen der Bestrafung als weniger kostenintensive Alternativen für bestehende Strafen eingeführt werden.467 Schlussendlich werden diese neueren Sanktionsformen allerdings nicht als Alternativen eingesetzt. Dass Shame Sanctions einen widening-the-netEffekt bewirken, ist denkbar, vor allem, wenn man die Adressaten dieser Sanktionsform betrachtet: Es sind zumeist Ersttäter, die Bagatelldelikte begangen haben. Wenn sie nicht für die genannte Täter- bzw. Tatgruppe verhängt werden, werden sie als zusätzliche Auflage nach der Verbüßung einer Freiheitsstrafe verhängt. In beiden Fällen stellt die Shame Sanction de facto keine Alternative für die Freiheitsstrafe dar, auch wenn sie augenscheinlich als solche dient. Nun könnte die Tatsache, dass Shame Sanctions gesetzlich nicht normiert sind, dagegensprechen, diese als Konsequenz einer härteren Kriminalpolitik anzusehen. Doch lässt sich nicht leugnen, dass die „punitive Wende“ auch Gerichte beeinflussen kann, vor allem, wenn diese mit Richtern besetzt sind, die durch Volkswahl ins Amt kommen und die, um ihre Chancen auf eine Wiederwahl zu steigern, zu besonders symbolischen und harten Maßnahmen greifen. Und diese Entscheidung kann wiederum davon beeinflusst sein, was (kriminal-)politisch und gesellschaftlich zur Zeit en vogue ist – also von Strafsensibilitäten. Shame Sanctions sind also nicht rein zufällig ausgerechnet in den 1970er Jahren entstanden – sie trafen auf den Nährboden der „Law-and-Ordner“-Bewegung, die auf die Angst der Bevölkerung vor Kriminalität und, um den Wahlerfolg zu sichern, auf besonders harte und symbolische Strafen setzte. Dazu gehören sicherlich besonders lange Freiheitsstrafen, wie sie im Rahmen der „Three-Strikes“-Regelungen verhängt werden. Dass durch Shame Sanctions dem Tadel, der zentrales Merkmal des retributiven Tatproportionalitätsprinzips ist, besonderer Ausdruck verliehen wird, spricht ebenfalls gegen das zufällige Aufkommen der Shame Sanctions;468 auf diesen Aspekt wird im straftheoretischen Kapitel gesondert eingegangen.
III. Shame Sanctions als Visualisierung der Bestrafung für die Öffentlichkeit 1. Rolle der Öffentlichkeit in der Strafrechtspflege im Wandel der Zeit Wie im historischen Kapitel bereits erörtert,469 war bis zur Aufklärung das gesamte Strafverfahren, den Bestrafungsakt eingeschlossen, öffentlich.470 Die öffent467
Cohen, Visions of social control: crime, punishment and classification (1987), S. 44 ff. Kubiciel, Shame Sanctions – Ehrenstrafen im Lichte der Straftheorie, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 118 (2006), S. 44, 50; anders dazu, jedoch ohne Begründung Jüngel, Shame sanctions – Wiedergeburt der Schandstrafe? (2011), S. 76. 469 Siehe dazu Teil 1, C. I. 1. c). 470 Schild, Alte Gerichtsbarkeit (1985), S. 41. 468
C. Erklärungsansätze für das Aufkommen der Shame Sanctions
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liche visuelle Kommunikation war in dieser Zeit überhaupt, aber auch im Recht, von überragender Bedeutung, da der Großteil der Bevölkerung weder lesen noch schreiben konnte.471 Die öffentliche Bestrafung diente demnach dazu, allen Bürgern den abstrakten Begriff des Rechts auf visuellem Wege zu vermitteln.472 Wurde eine Bestrafung hinter verschlossenen Türen vollzogen, was äußerst selten der Fall war, konnte dies darüber hinaus den Eindruck erwecken, der Delinquent werde zu milde oder sogar überhaupt nicht bestraft.473 Die Aufklärung brachte ein neues Verständnis des Verhältnisses des einzelnen Bürgers zum Staat hervor,474 damit einhergehend erfolgte die Humanisierung und Rationalisierung des Strafens475, gesellschaftliche Strafsensibilitäten hatten sich in zivilisierter Hinsicht entwickelt.476 So verschwand die öffentliche Bestrafung Mitte des 19. Jahrhunderts aus dem staatlichen Strafinstrumentarium, sowohl in Europa als auch in den Vereinigten Staaten. Mit der Aufklärung war die Öffentlichkeit in der Rechtspflege jedoch nicht bedeutungslos geworden – lediglich ihr Anwendungsbereich und ihre Funktion hatten sich verändert. War vor der Aufklärung noch die Vermittlung des Rechts an die Bevölkerung die Funktion der Öffentlichkeit, sollte danach die Öffentlichkeit der Hauptverhandlung die Kontrolle der Gerichte durch die Bevölkerung und die Stabilisierung des gesellschaftlichen Vertrauens in die Judikative bezwecken.477 Im deutschen Strafverfahrensrecht ist der Öffentlichkeitsgrundsatz in § 169 GVG festgeschrieben. Danach ist „die Verhandlung vor dem erkennenden Gericht einschließlich der Verkündung der Urteile und Beschlüsse […] öffentlich“. Öffentlich bedeutet in diesem Zusammenhang, dass jeder die Möglichkeit hat, sich ohne besondere Schwierigkeiten von Ort, Datum und Uhrzeit einer mündlichen Verhandlung Kenntnis zu verschaffen, sowie, dass Zutritt zum Gerichtssaal gewährt wird.478 Der Öffentlichkeitsgrundsatz wäre also auch gewahrt, wenn keine andere Person als die Prozessbeteiligten an der Verhandlung teilnehmen, sofern der Zugang zu dieser anderen Personen grundsätzlich möglich gewesen wäre. Unter bestimmten Voraussetzungen, wie etwa einem besonders schutzwürdigen Interesse des Angeklagten oder Zeugen, kann die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden.479 Neben der deutschen einfachgesetzlichen Regelung ist der Öffentlichkeitsgrundsatz auch in Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK festgehalten, der allerdings im deutschen Recht ebenfalls den 471
Schild, Alte Gerichtsbarkeit (1985), S. 41. Pielow, Öffentliches Strafverfahren – Öffentliche Strafen (2018), S. 20. 473 Dülmen, Theater des Schreckens: Gerichtspraxis und Strafrituale in der frühen Neuzeit (1985), S. 145 f. 474 Witzler, Die personale Öffentlichkeit im Strafverfahren (1993), S. 27. 475 Garland, Punishment and modern society: a study in social theory (1990), S. 180 ff., 234 ff. 476 Siehe Teil 1, C. I. 3. a). 477 Witzler, Die personale Öffentlichkeit im Strafverfahren (1993), S. 29. 478 Wick, Demokratische Legitimation von Strafverfahren (2018), S. 18. 479 Siehe § 171b GVG zum Ausschluss der Öffentlichkeit im deutschen Strafverfahren. 472
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Teil 1: Das Aufkommen der Shame Sanctions in den USA
Rang eines einfachen Bundesgesetzes hat.480 In den USA ist der Öffentlichkeitsgrundsatz im VI. Amendment zur Verfassung sogar verfassungsrechtlich verankert, was seine überragende Bedeutung aufzeigt. Danach hat ein vor einem Strafgericht Angeklagter das Recht auf ein öffentliches Verfahren.481 Allerdings entspringt aus der Regelung kein direkter Anspruch der Bevölkerung auf Teilnahme an der Verhandlung – betont wird vielmehr das Recht des Angeklagten auf ein faires Verfahren.482 Doch nach dem richterlichen Urteilsspruch endet die Sichtbarkeit des Delinquenten für die Gesellschaft.483 Bis zur Entwicklung der Shame Sanctions gab es, zumindest in westlichen Ländern, lange Zeit keine öffentliche Bestrafung.484 Dass dies der Fall war, könnte auch daran liegen, dass die Gesellschaft lange kein Interesse an einer öffentlichen Bestrafung hatte.485 Ein Grund für dieses Desinteresse der Bevölkerung an einer öffentlichen Strafvollstreckung könnte eine von staatlicher Seite gezielt „uninteressante“486 Ausgestaltung des Strafverfahrens und der Strafvollstreckung sein, die die Bevölkerung nicht mehr anspricht.487 Andererseits könnte es an den sich nachhaltig veränderten, bereits erwähnten Strafsensibilitäten der Gesellschaft liegen, die nicht am Leid des bestraften Straftäters teilnehmen möchte.488 Der letztere Aspekt wirkt im Hinblick darauf, dass die Hauptverhandlung ebenfalls öffentlich ist und damit das Leid des Angeklagten zur Schau stellt, widersprüchlich.489 Neben dem Aspekt der Kontrolle und der Vertrauensstabilisierung wird dem Öffentlichkeitsgrundsatz im Strafprozess auch die Funktion der Befriedigung der Sensations- und Informationslust der Bevölkerung zugeschrieben.490 Die Öffentlichkeit der Hauptverhandlung und die Öffentlichkeit der Strafe unterscheiden sich jedoch hinsichtlich ihrer Bedeutung voneinander: Die erfolgreiche Durchführung einer Hauptverhandlung hängt nicht von der tatsächlichen Anwesenheit eines Publikums ab (sofern der Zugang für ein solches eben möglich gewesen wäre).491 Die 480
Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention (2021), Rn. 8. „In all criminal prosecutions, the accused shall enjoy the right to a speedy and public trial.“ Siehe VI. Amendment der US-amerikanischen Verfassung. 482 Wick, Demokratische Legitimation von Strafverfahren (2018), S. 243. 483 „Der Anspruch der Öffentlichkeit auf ein Dabeisein endet mit dem Urteil“, Prantl, Tag der offenen Zelle 01. 04. 2014, https://www.sueddeutsche.de/panorama/oeffentliches-interessean-hoeness-strafvollzug-tag-der-offenen-zelle-1.1927274 [zugegriffen am 9. 6. 2022]. 484 Im Nationalsozialismus wurde allerdings die Wiedereinführung des Prangers erwogen. Siehe dazu Teil 1, C. I. 3. c). 485 Hamm, Grosse Strafprozesse und die Macht der Medien (1997), S. 12. 486 Hamm, Grosse Strafprozesse und die Macht der Medien (1997), S. 12. 487 Hamm, Grosse Strafprozesse und die Macht der Medien (1997), S. 12. 488 Siehe Teil 1, C. I. 3. a). 489 Pawlik, Strafrecht: Seht, dieses Schwein!, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. 11. 2004. 490 Pielow, Öffentliches Strafverfahren – Öffentliche Strafen (2018), S. 44. 491 Pawlik, Strafrecht: Seht, dieses Schwein!, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. 11. 2004. 481
C. Erklärungsansätze für das Aufkommen der Shame Sanctions
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Öffentlichkeit der Hauptverhandlung soll die Transparenz des Verfahrens wahren und die Kontrolle durch die Bevölkerung ermöglichen. Bei der öffentlichen Strafvollstreckung, namentlich bei den Shame Sanctions, ist für eine erfolgreiche Durchführung jedoch nicht ausreichend, dass einem potentiellen Publikum die Gelegenheit zur Wahrnehmung des Bestrafungsakts gegeben wird, die Präsenz eine solchen Publikums ist zwingende Voraussetzung für deren erfolgreiche Durchführung: ohne jenes ist die Demütigung und Stigmatisierung des Einzelnen, aber auch die Abschreckung der anderen nicht möglich. Die Öffentlichkeit ist in diesem Fall also nicht nur Zeugin wie bei der Hauptverhandlung, sondern Mitexekutorin der Strafe.492 2. Shame Sanctions als Folge direktdemokratischer Legitimation der Richter Shame Sanctions legen also den Blick auf den Delinquenten und dessen Bestrafung frei: die Bevölkerung bekommt den Täter zu Gesicht, sie erfährt von der von ihm begangenen Tat und sie sieht, wie er bestraft wird. Um die Wahrscheinlichkeit von Zuschauern zu erhöhen, werden die Shame Sanctions auch unterhaltsam ,verpackt‘, etwa indem der Delinquent ein Kostüm tragen muss.493 Im Gegensatz zum Mittelalter kann der Großteil der westlichen Bevölkerung heute sowohl lesen als auch schreiben. Sowohl über Printmedien als auch über das Internet sind Informationen über Strafurteile abrufbar. Shame Sanctions sind damit nicht zur Rechtsvermittlung notwendig. Weshalb ist dann die öffentliche Bestrafung plötzlich wieder ,en vogue‘? Eine wesentliche Rolle für das Aufkommen der Shame Sanctions spielen die Richter, die sie verhängen. Schließlich sind Shame Sanctions gesetzlich nicht vorgesehen, sondern sind eine Art richterliche ,Erfindung‘.494 Möglich ist dieses Vorgehen, weil Richtern im Rahmen der Erteilung von Auflagen zur Probation und zur Supervised Release ein besonders weiter Ermessensspielraum zusteht.495 Vorwiegend handelt es sich dabei um Richter der unteren Gerichte der Bundesstaaten, die unmittelbar vom Volk gewählt werden. Diese Richter haben ein genuines Eigeninteresse an ihrer Wiederwahl. Ob es zu einer Wiederwahl kommt, hängt maßgeblich davon ab, was die Bevölkerung von dem jeweiligen Richter hält. Nun stellt sich die Frage, weshalb ein Richter zum Zweck seiner Wiederwahl oder anderweitigen politischen Karriere ausgerechnet auf die öffentliche Bestrafung in Gestalt der Shame 492
2004.
Pawlik, Strafrecht: Seht, dieses Schwein!, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. 11.
493 Siehe der Fall aus Teil 1, A. II., in dem Richter Cicconetti Männer dazu verurteilte, sich in einem Hähnchenkostüm der Öffentlichkeit zu präsentieren. Siehe: Martin, Men who solicited sex ordered to wear chicken suits 27. 07. 2007, https://www.chron.com/news/bizarre/arti cle/Men-who-solicited-sex-ordered-to-wear-chicken-1555834.php [zugegriffen am 8. 6. 2022]. 494 Siehe Teil 1, B. IV. 495 Siehe Teil 1, B. II.
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Teil 1: Das Aufkommen der Shame Sanctions in den USA
Sanctions zurückgreifen sollte? Die Antwort könnte im sogenannten „Iconic Turn“496 liegen. Dieser bezeichnet eine Wiederkehr der Bilder.497 Danach ist die Relevanz von Bildern, von visueller Kommunikation, im Vergleich zur Schrift in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts deutlich gestiegen. Aber was ist unter einem „Bild“ überhaupt zu verstehen? Der Bildbegriff ist äußerst unscharf. Grundsätzlich sind Bilder eine besondere Klasse von Zeichen, deren Inhalt immer von der menschlichen Wahrnehmung abhängig ist.498 Ein Bild kann dabei sowohl statisch, als auch bewegt sein.499 Der Grund, weshalb Bilder eingesetzt werden, sind ihre Effekte: Im Gegensatz zu Texten können Bilder starke Emotionen auslösen; bei bewegten Bildern fallen diese Effekte noch stärker aus.500 Dies ist unter anderem evolutionsbiologisch begründet, wonach die schnelle und heftige emotionale Reaktion auf visuelle Reize überlebenswichtig sein konnte.501 Diese Wirkung hängt auch mit der Art der Rezeption visueller Reize zusammen: Im Gegensatz zur Wahrnehmung von Texten, die attentiv erfolgt, können Bilder daneben auch in einem prä-attentiven Prozess wahrgenommen werden. Attentive Wahrnehmungsprozesse dauern länger und werden vom Bewusstsein gesteuert.502 Prä-attentive Prozesse geschehen in Sekundenbruchteilen unter Umgehung des Bewusstseins;503 damit sind Bilder also zumindest auch auf den ersten Blick fassbar.504 Neben Bildern spielen im Rahmen des „Iconic Turn“ auch Inszenierungen und Rituale eine bedeutende Rolle. Inszenierungen dienen dazu, die Wirkungen visueller Kommunikation zu beeinflussen oder sie gezielt zu erzeugen.505 Unter anderem durch den Gebrauch von Symbolen und durch regelmäßige Wiederholungen lassen sich Inszenierungen zu Ritualen verdichten,506 die noch wirkungsvoller als jene werden.507 Das Recht setzt seit Jahrtausenden Rituale, unter anderem zur Konfliktlösung, ein.508 Das Mittelalter gilt als die Hochzeit der Rechtsrituale.509 Das dramatischste Rechtsritual war die öffentliche Hinrichtung.510 Doch auch das mo496 Gottfried Böhm gebrauchte den Begriff „iconic turn“ in Anlehnung an den 1967 von Richard Rorty eingeführten Begriff „linguistic turn“. 497 Boehm (Hrsg.), Was ist ein Bild? (1994), S. 11 498 Boehme-Neßler, Unscharfes Recht (2008), S. 230. 499 Boehme-Neßler, Unscharfes Recht (2008), S. 225. 500 Boehme-Neßler, Unscharfes Recht (2008), S. 255. 501 Boehme-Neßler, Unscharfes Recht (2008), S. 253, Fn. 236. 502 Boehme-Neßler, Unscharfes Recht (2008), S. 235. 503 Boehme-Neßler, Unscharfes Recht (2008), S. 236. 504 Boehme-Neßler, Unscharfes Recht (2008), S. 235 f. 505 Boehme-Neßler, Unscharfes Recht (2008), 313, 315. 506 Boehme-Neßler, Unscharfes Recht (2008), S. 328 507 Boehme-Neßler, Unscharfes Recht (2008), S. 328. 508 Boehme-Neßler, Unscharfes Recht (2008), S. 333. 509 Boehme-Neßler, Unscharfes Recht (2008), S. 333. 510 Boehme-Neßler, Unscharfes Recht (2008), S. 333; siehe dazu Teil 1, C. I. 1. c).
C. Erklärungsansätze für das Aufkommen der Shame Sanctions
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derne Recht hat eine rituelle Dimension, wie sich z. B. am Mündlichkeitsgrundsatz im Rahmen der Hauptverhandlung zeigt.511 Die Wiederkehr der Bilder und die Zunahme der Bedeutung visueller Kommunikation hat ihren Ursprung auch in der Verbreitung und Entwicklung der Massenmedien.512 Das Fernsehen als Massenmedium hat die Gesellschaft verändert: diese ist zunehmend durch visuelle Kommunikation geprägt. Seitdem das Internet und damit auch soziale Medien ihren Weg in nahezu jeden Lebensbereich gefunden haben, hat sich diese Entwicklung um ein Vielfaches verstärkt.513 Es lässt sich gar eine „Bilderflut“514 beobachten – Grund dafür ist unter anderem die ökonomische Logik der Massenmedien.515 Der Druck, hohe Auflagen zu verkaufen oder Einschaltquoten zu erzielen, führt dazu, dass immer mehr, aber auch immer drastischere Bilder eingesetzt werden.516 Jene Drastik wird auch dadurch erreicht, dass Lebensbereiche, die bis dahin persönlicher und intimer Natur waren, nun in der Medienöffentlichkeit gezeigt werden.517 Dadurch hat sich auch die Norm dessen, was gezeigt werden kann bzw. was von den Zuschauern gesehen werden will, verschoben.518 Darüber hinaus ruft die starke Vernetzung und Komplexität der Welt die Bedürfnisse nach einer schnelleren und vereinfachenden Kommunikation hervor.519 Bilder, die im Gegensatz zu Texten auf den ersten Blick verständlich sind, scheinen diese Bedürfnisse zu befriedigen.520 Bilder bieten, zumindest scheinbar, eine „einfache und schnelle Orientierung in einer hochkomplexen, undurchschaubaren
511
Boehme-Neßler, Unscharfes Recht (2008), S. 334. Boehme-Neßler, BilderRecht: Die Macht der Bilder und die Ohnmacht des Rechts. Wie die Dominanz der Bilder im Alltag das Recht verändert (2010), S. 55. 513 Boehme-Neßler, Inszeniertes Recht? Überlegungen zur (notwendigen) Renaissance von Ritualen im Recht der modernen Mediengesellschaft, Rechtstheorie 2011, S. 167, 168. 514 Boehme-Neßler, Unscharfes Recht (2008), S. 227. 515 Boehme-Neßler, BilderRecht: Die Macht der Bilder und die Ohnmacht des Rechts. Wie die Dominanz der Bilder im Alltag das Recht verändert (2010), S. 169. 516 Boehme-Neßler, Inszeniertes Recht? Überlegungen zur (notwendigen) Renaissance von Ritualen im Recht der modernen Mediengesellschaft, Rechtstheorie 2011, S. 167, 169. 517 Beispielhaft „Reality-TV“ v. a. Big Brother, Dschungelcamp, Hochzeiten, Geburten, Schönheits-Operationen etc. 518 Weiß, Vom gewandelten Sinn für das Private (2002), in: Privatheit im öffentlichen Raum, S. 27, 82; Koenen/Michalski, Blick über die Grenzen: Transkulturelle Perspektiven auf eine globale Entwicklung (2002), in: Privatheit im öffentlichen Raum, S. 89, 142 ff.; Weiß, Schluss: Entgrenzte Schaustellung – öffentlich verfügbares Selbst? (2002), in: Privatheit im öffentlichen Raum, S. 523, 523; Hermanns et al., Werkstattbericht: Interdisziplinärer Diskurs über den Wandel der Privatheit und die Rolle der Medien (2002), in: Privatheit im öffentlichen Raum, S. 549, 560 ff. 519 Boehme-Neßler, Inszeniertes Recht? Überlegungen zur (notwendigen) Renaissance von Ritualen im Recht der modernen Mediengesellschaft, Rechtstheorie 2011, S. 167, 169. 520 Boehme-Neßler, Inszeniertes Recht? Überlegungen zur (notwendigen) Renaissance von Ritualen im Recht der modernen Mediengesellschaft, Rechtstheorie 2011, S. 167, 169. 512
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Welt.“521 Die Logik eines Bildes ist deshalb mittlerweile fast untrennbar mit der Logik der Massenmedien verbunden und führt zu großen Veränderungen in allen Bereichen der Gesellschaft.522 So sind die individuellen Kommunikationsfähigkeiten und -gewohnheiten der Menschen zunehmend visuell geprägt;523 bei den kommenden Generationen, die fast ausschließlich diese Form der medialen Kommunikation kennen, wird dies vermutlich noch deutlich stärker der Fall sein. Inwieweit das Unterhaltungsparadigma und die Visualisierungs- und Inszenierungstendenzen auf das Recht Einfluss nehmen, ist kaum untersucht.524 Damit diese Tendenzen einen messbaren Einfluss auf das Sanktionssystem haben könnten, müsste überhaupt eine wechselseitige Beziehung zwischen Entwicklungen in der Bevölkerung und der Kriminal- und Sanktionspolitik bestehen. Dieser Einfluss von sogenannten „Strafbedürfnissen“525 der Bevölkerung auf die Gesetzgebung und Strafzumessung ist jedoch kaum nachweisbar, da jene gesellschaftlichen Strafbedürfnisse sehr schwierig zu erfassen und zu messen sind. So beeinflusst die Frage, die im Rahmen eines Interviews gestellt wird, auch die Antwort, die der Interviewte gibt.526 So wurden bei eher abstrakt gestellten Fragen hinsichtlich zu verhängender Sanktionen meist härtere Sanktionsvorstellungen als bei fallbezogenen Fragen gemessen, auf die differenziertere Antworten folgten.527 Intensiv erforscht ist dagegen die Beziehung zwischen gesellschaftlichen Visualisierungstendenzen und der Politik.528 Politische Akteure stehen in einer geradezu symbiotischen Verbindung mit den Massenmedien, da die politische Macht nicht nur durch Sachkompetenz, sondern auch durch Darstellungskompetenz ent521 Boehme-Neßler, Inszeniertes Recht? Überlegungen zur (notwendigen) Renaissance von Ritualen im Recht der modernen Mediengesellschaft, Rechtstheorie 2011, S. 167, 169. 522 Boehme-Neßler, BilderRecht: Die Macht der Bilder und die Ohnmacht des Rechts. Wie die Dominanz der Bilder im Alltag das Recht verändert (2010), S. 237. 523 Boehme-Neßler, BilderRecht: Die Macht der Bilder und die Ohnmacht des Rechts. Wie die Dominanz der Bilder im Alltag das Recht verändert (2010), S. 127. 524 Boehme-Neßler, Unscharfes Recht (2008), S. 354. 525 Bereits der Begriff des „Strafbedürfnisses“ ist nicht ganz korrekt, da es das eine öffentliche Strafbedürfnis nicht gibt. Dabei ist vielmehr ein „Ausschnitt aus den zahlreichen Empfindungen, Impulsen, Stimmungen, Einstellungen, Überlegungen, Situationswahrnehmungen und -deutungen […] [gemeint], die die Gesellschaftsmitglieder mit Blick auf individual- oder sozialschädliche, norm- oder erwartungswidrige Aktivitäten und die darauf bezogenen Reaktionen entwickeln.“ Kölbel/Singelnstein, Strafrechtliche Sanktion und gesellschaftliche Erwartung – zu den Problemen und Gefahren eines publikumsorientierten Strafrechts, Neue Zeitschrift für Strafrecht 2020, S. 333, 334. 526 Kölbel/Singelnstein, Strafrechtliche Sanktion und gesellschaftliche Erwartung – zu den Problemen und Gefahren eines publikumsorientierten Strafrechts, Neue Zeitschrift für Strafrecht 2020, S. 333, 335. 527 Kölbel/Singelnstein, Strafrechtliche Sanktion und gesellschaftliche Erwartung – zu den Problemen und Gefahren eines publikumsorientierten Strafrechts, Neue Zeitschrift für Strafrecht 2020, S. 333, 335. 528 Boehme-Neßler, Unscharfes Recht (2008), S. 354.
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steht.529 Medienpräsenz ist in der Politik unentbehrlich, um Macht zu erwerben oder zu stabilisieren.530 Politische Akteure, die im Fernsehen oder auch in den sozialen Medien nicht präsent sind, werden weniger wahrgenommen und dadurch auch von weniger Menschen gewählt.531 Das Unterhaltungsparadigma hat daher erwiesenermaßen großen Einfluss auf die politische Darstellung.532 Besonders bemerkenswert ist, dass sogar die politischen Inhalte unter Unterhaltungsgesichtspunkten festgelegt bzw. aufbereitet werden; so wird Politik auf ihre Wirkung beim Zuschauer und damit beim Wähler ausgerichtet.533 Dadurch besteht die Gefahr einer Placebo-Politik: danach wird politisches Handeln für die Öffentlichkeit zwar inszeniert, findet aber in der Realität nicht statt.534 Grund für diese Entwicklung sind die hohen Erwartungen an die Politik, die im Rahmen der begrenzten politischen Handlungsmöglichkeiten nicht erfüllt werden können. Um die Wähler trotzdem zufriedenzustellen und zur Wiederwahl zu bewegen, wird dann ein solches erwartungsgemäßes politisches Handeln vorgespiegelt.535 Auch das Recht, insbesondere das Straf- und Sanktionenrecht, ist mit solch hohen Erwartungen seitens der Bevölkerung konfrontiert, die es in der Realität nicht in diesem Ausmaß erfüllen kann. So wird es etwa niemals möglich sein, den nachvollziehbaren Wunsch, die Kriminalität vollständig zu eliminieren, zu erfüllen. Daher besteht vor allem für den Gesetzgeber die Gefahr der Schaffung symbolischen bzw. Placebo-Rechts. Die Hauptakteure der Judikative, die Richter, waren von dieser Entwicklung bislang weitgehend verschont, da ihr Ermessensspielraum hinsichtlich der Strafzumessung durch das Gesetz begrenzt ist. Der entscheidende Unterschied zwischen einem Politiker und einem Richter ist jedoch, dass letzterer, zumindest in Deutschland, nicht auf unmittelbare demokratische Legitimation durch die Bevölkerung angewiesen ist und damit nicht um seine Wiederwahl durch die Bevölkerung fürchten muss.536 Daher sind Richter in Deutschland weniger auf mediale Publizität angewiesen als Politiker.537 Somit ist ihre Tätigkeit, also vor allem die Urteilsfindung, nicht zwingend durch die Logik der Bilder und der Massenmedien geprägt.
529
Boehme-Neßler, Unscharfes Recht (2008), S. 354. Boehme-Neßler, Unscharfes Recht (2008), S. 355. 531 Boehme-Neßler, Unscharfes Recht (2008), S. 355. 532 Boehme-Neßler, Unscharfes Recht (2008), S. 355. 533 Boehme-Neßler, Unscharfes Recht (2008), S. 357. 534 Boehme-Neßler, BilderRecht: Die Macht der Bilder und die Ohnmacht des Rechts. Wie die Dominanz der Bilder im Alltag das Recht verändert (2010), S. 189. 535 Boehme-Neßler, BilderRecht: Die Macht der Bilder und die Ohnmacht des Rechts. Wie die Dominanz der Bilder im Alltag das Recht verändert (2010), S. 189. 536 Boehme-Neßler, Unscharfes Recht (2008), S. 362. 537 Boehme-Neßler, Unscharfes Recht (2008), S. 362 Der Gesetzgeber ist natürlich unmittelbar demokratisch legitimiert, weshalb das Recht als solches nicht politisch unabhängig ist. Außerdem kann Recht ohne zumindest gesellschaftliche Billigung auf Dauer keine Wirkung entfalten. 530
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Teil 1: Das Aufkommen der Shame Sanctions in den USA
Etwas anderes gilt dagegen für die USA und die Richter, die direktdemokratisch gewählt werden. Diese sind zwingend auf die Legitimation und damit auf die Bestätigung ihrer Macht angewiesen. Damit ist allein dadurch in den USA die Gefahr eines symbolischen bzw. sogar eines Placebo-Urteils deutlich höher als in Deutschland, um in den Medien vertreten zu sein. Da die meisten Strafen in der heutigen Zeit hinter verschlossenen Türen vollzogen werden, dienen die Shame Sanctions dazu, der Öffentlichkeit eindrücklich zu kommunizieren, dass der Staat (in Gestalt des einzelnen Richters) straft. Dabei bleiben solche Bilder, die starke Emotionen auslösen, besonders gut in Erinnerung, weswegen die Shame Sanctions eine geeignete und effektive Methode sind, um zumindest den Eindruck zu erwecken, das Problem der Kriminalität werde von der Justiz im Allgemeinen, aber auch im Besonderen von dem jeweiligen Richter in Angriff genommen. Dabei ist die Vollstreckung der Strafe bei den Shame Sanctions auch eine Inszenierung der Bestrafung – es wird ein Bild produziert, das eine hochemotionale Wirkung beim Zuschauer erzeugen soll – diese soll wiederum das Mittel zum Erreichen der Strafzwecke sein und, nicht weniger wichtig, zur Wiederwahl des Richters führen. Nur, dass es sich dabei nicht um ein Theaterstück handelt, sondern um die Realität – mit einem ,echten‘ Bestraften, der die Konsequenzen dieser Strafe tragen muss. Der „Iconic Turn“ und die zunehmenden Visualisierungs- und Inszenierungstendenzen sind somit weitere Faktoren, die im Zusammenspiel mit anderen Entwicklungen das Aufkommen der Shame Sanctions begünstigt bzw. erst ermöglicht haben. Dabei sind die Shame Sanctions nicht als logische Konsequenz aus Visualisierungstendenzen entstanden, sondern sind möglicherweise aus Sicht der Richter aufgrund der vermuteten Visualisierungstendenzen ein gutes Mittel, um mediale Aufmerksamkeit zu erregen. Somit nutzen jene Richter die Logik der Bilder zu ihrem eigenen Vorteil. Dafür sprechen vor allem zwei Gründe: Nahezu alle Richter, die Shame Sanctions verhängt haben, sind unmittelbar durch die Bevölkerung in ihr Amt gewählt worden und strebten entweder ein politisches Amt oder zumindest ihre Wiederwahl als Richter an.538 Ihr Interesse, medial vertreten zu sein, lässt sich auch an den vielen Interviews in Fernsehsendern und Zeitungen ablesen.539 Für die Einordnung der Shame Sanctions als symbolische bzw. Placebo-Strafen spricht die geringe quantitative Relevanz der Shame Sanctions innerhalb des Sanktionssystems. Wären diese aus Sicht der Richter die geeignete Lösung für die kriminalpolitischen Probleme, würden sie sie vermutlich deutlich häufiger einsetzen. Und wenn der Gesetzgeber von den Shame Sanctions überzeugt wäre, würde er sie gesetzlich als Sanktions-
538 Das eindrücklichste Beispiel ist der „King of Shame“, Ted Poe, der später in den Kongress gewählt wurde. 539 Beispielhaft dazu: ABC News, Meet the Judge Who Went Viral for his Creative Punishments 31. 08. 2015, https://youtu.be/pZSTu98-Cus [zugegriffen am 8. 6. 2022]; WKYC Channel 3, Judge Michael Cicconetti gives ,creative‘ sentence to man who spray painted caboose 11. 07. 2019, https://www.youtube.com/watch?v=6YmzQuFE3V0 [zugegriffen am 9. 6. 2022].
C. Erklärungsansätze für das Aufkommen der Shame Sanctions
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möglichkeit verankern.540 In ihrer jetzigen Anwendung führen die Shame Sanctions statt zu einer Entlastung der Gefängnisse vielmehr zu einer Erweiterung des Sanktionssystems und damit zum widening-the-net-Effekt. Eine höhere wissenschaftliche und praktische Relevanz kommt den Shame Sanctions spätestens seit dem Fall Gementera zu, der vor der zweiten Bundesinstanz zugunsten der konkret verhängten Shame Sanction entschieden wurde. Weshalb und inwiefern Shame Sanctions aufgrund ihrer Visualisierung der Strafe für die Öffentlichkeit und der dahinterstehenden Beweggründe als kritisch anzusehen sind, wird im zweiten und dritten Teil der Arbeit untersucht.
IV. Zwischenergebnis Eine Gemeinsamkeit der Shame Sanctions und der historischen Erscheinungsformen der Beschämung liegt in deren Zweck: dieser besteht für beide Strafformen in der Degradierung bzw. Entehrung des Delinquenten. Bei den Ehrenstrafen des Hochund Spätmittelalters war diese Degradierung bzw. Entehrung sogar formaler Natur – wer seine Ehre verloren hatte, durfte nur noch in bestimmten sozialen Kreisen verkehren, nur noch bestimmte Berufe ausüben oder in bestimmten Gegenden wohnen. Bei den Shame Sanctions soll die Herabsetzung des Delinquenten im Status zwar nicht formal erfolgen, aber dennoch soll der Täter degradiert werden, statt in einer formalen eher in einer tatsächlichen Art und Weise, nämlich durch dessen Stigmatisierung. Dabei setzen sowohl Shame Sanctions als auch die Ehren- und Schandstrafen auf die Öffentlichkeit der Strafvollstreckung. Jedoch spielt die Öffentlichkeit bei diesen beiden Erscheinungsformen der Beschämung eine jeweils völlig andere Rolle: Während die Öffentlichkeit im Fall der Ehren- und Schandstrafen des Mittelalters vor allem der Rechtsvermittlung für die weitgehend analphabetische Bevölkerung diente, dient die Öffentlichkeit der Shame Sanctions vor allem den Interessen der Richter, die Shame Sanctions verhängen. Das zeigt sich auch daran, wie Shame Sanctions ihren Weg ins amerikanische Strafsystem gefunden haben: Ermöglicht wurde ihr Aufkommen erst durch den weiten richterlichen Ermessensspielraum im Rahmen der Entscheidung über Auflagen und Bedingungen zur Probation und Supervised Release. In kriminalpolitischer Hinsicht begünstigte das Ende des Resozialisierungsideals und die danach folgende Law-and-OrderPolitik („punitive turn“) besonders harte und drastische Strafen, worunter auch die Shame Sanctions fallen. Neben der Härte der Strafen war ein Charakteristikum der Law-Ordner-Politik auch die verstärkte Kriminalisierung von bestimmten Verhaltensweisen wie Drogenkonsum, wodurch das Netz der sozialen Kontrolle immer weiter gespannt wurde, was neben der Kriminalisierung von Verhalten auch durch die Erweiterung des Sanktionensystems erfolgte („widening-the-net“-Effekt). Die 540 Huschka, Sorry for the jackass sentence, University of Kansas Law Review 54 (2006), S. 803, 825 f. Huschka betont, dass das Schweigen des Gesetzgebers im Hinblick auf die Verhängung von Shame Sanctions nicht als Zustimmung gedeutet werden darf.
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Teil 1: Das Aufkommen der Shame Sanctions in den USA
Richter, die Shame Sanctions verhängen, tun dies vor allem aufgrund persönlicher politischer Ambitionen, sei es nun ihre Wiederwahl als Richter oder eine anderweitige politische Karriere. Dabei machen sich die Richter vor allem die Entwicklung des sogenannten „Iconic Turn“ und die damit verbundenen Visualisierungstendenzen zu Nutze: Durch den jahrzehntelangen Einfluss der Massenmedien seit Mitte des 20. Jahrhunderts, insbesondere des Fernsehens, seit dem Ende des 20. Jahrhunderts auch des Internets und der sozialen Medien, sind die Kommunikationsfähigkeiten der Gesellschaft visuell geprägt. Gleichzeitig hat sich die Norm dessen, was in der Gesellschaft öffentlich gezeigt werden darf, durch den Einsatz besonders drastischer Bilder in den Massenmedien verschoben bzw. erweitert. Damit sind Visualisierungstendenzen insbesondere in Kombination mit der Legimitation der Richter der unteren Gerichte der Bundesstaaten durch Volkswahl ein wesentlicher Faktor für die Entstehung der Shame Sanctions. Durch den politischen Charakter des Richteramts auf bundesstaatlicher Ebene sind die Richter auf mediale Aufmerksamkeit angewiesen und daher auch eher geneigt, öffentlich sichtbare Strafen zu verhängen, um eine starke Außenwirkung erzielen.
Teil 2
Betrachtung der gegenwärtigen Diskussion zu den Shame Sanctions Nachdem im ersten Teil der Arbeit die Faktoren für das Aufkommen der Shame Sanctions beleuchtet wurden, soll nun der Blick auf die Kritik an den Shame Sanctions gerichtet werden. Denn obwohl diese im US-amerikanischen Strafsystem in quantitativer Hinsicht keine große Rolle spielen, sind sie dennoch ein vieldiskutiertes Phänomen.1 Für eine umfassende kritische Betrachtung der Shame Sanctions soll deshalb zunächst die gegenwärtige Diskussion zu den Shame Sanctions betrachtet werden. Ein besonderes Augenmerk soll dabei auf der US-amerikanischen Diskussion liegen. Die gegenwärtige Diskussion lässt sich in zwei Hauptstränge einteilen: in einen verfassungsrechtlichen und einen moral- bzw. politikphilosophischen.
A. Verfassungsrechtliche Diskussion I. Verfassungsrechtlicher Hintergrund In der amerikanischen verfassungsrechtlichen Diskussion zu den Shame Sanctions – sowohl in der Rechtsprechung als auch in der Literatur – konzentriert sich die Kritik vor allem auf eine potentielle Verletzung der sogenannten „Amendments“, den in der Bill of Rights enthaltenen Zusatzartikeln zur amerikanischen Verfassung. Die Bill of Rights wurde im Jahr 1789 beschlossen und besteht aus 10 solcher Amendments.2 Speziell im Zusammenhang mit den Shame Sanctions wird deren 1 Siehe beispielhaft: Massaro, The Meanings of Shame: Implications for Legal Reform, Psychology, Public Policy, and Law 3 (1997), S. 645; Massaro, Shame, Culture, and American Criminal Law, Michigan Law Review 89 (1991), S. 1880; Whitman, What is wrong with inflicting shame sanctions?, The Yale Law Journal 107 (1998), S. 1055; Book, Shame on you: An analysis of modern shame punishment as an alternative to incarceration, William & Mary Law Review 40 (1999), S. 653; Huschka, Sorry for the jackass sentence, University of Kansas Law Review 54 (2006), S. 803; Spatz, Shame’s Revival: An Unconstitutional Regression, The University of Pennsylvania Journal of Constitutional Law 2002, S. 827; Brooks, Shame On You, Shame On Me? Nussbaum on Shame Punishment, Journal of Applied Philosophy 25 (2008), S. 322. 2 U.S. Diplomatic Mission to Germany, „The Bill of Rights“, https://usa.usembassy.de/ etexts/gov/bill_of_rights.pdf [zugegriffen am 24. 05. 2022].
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Teil 2: Betrachtung gegenwärtiger Diskussion zu den Shame Sanctions
Vereinbarkeit mit dem I., dem V., dem VIII. und dem XIV. Zusatzartikel diskutiert. Außerdem wird die Vereinbarkeit der Shame Sanctions mit dem amerikanischen Verfassungsprinzip der „Checks and Balances“ diskutiert. Zum besseren Verständnis der verfassungsrechtlichen Diskussion soll zunächst der Inhalt der im Zusammenhang mit Shame Sanctions diskutierten Zusatzartikel und des Verfassungsprinzips der „Checks and Balances“ abstrakt dargestellt werden. In einem nächsten Schritt soll auf die konkrete verfassungsrechtliche Diskussion zu den Shame Sanctions eingegangen werden – dabei soll einerseits die Perspektive der Rechtsprechung der Bundesstaaten und des Bundes, und andererseits die Perspektive der Literatur berücksichtigt werden. 1. Die Zusatzartikel der „Bill of Rights“ a) VIII. Zusatzartikel Das Eighth Amendment, der VIII. Zusatzartikel zur amerikanischen Verfassung stellt, neben dem IV., dem V., dem VI. und dem VII. Zusatzartikel, ein justizbezogenes Grundrecht dar.3 Er verbietet unter anderem die „grausame und unübliche Strafe“. Eine eindeutige Definition dafür, wann eine Strafe als grausam und unüblich einzuordnen ist, gibt es nicht. Als erster Anhaltspunkt dafür, dass eine Strafe grausam und unüblich ist, soll ein Blick auf den Zeitpunkt der Verabschiedung der Bill of Rights, Ende des 18. Jahrhunderts, dienen:4 danach sei eine Strafe, die zum damaligen Zeitpunkt als grausam und unüblich eingeordnet worden wäre, dies auch heute noch.5 In den meisten Fällen hilft dieses Prüfungskriterium jedoch nicht weiter, da viele der Strafen, die zur Zeit der Verabschiedung der Bill of Rights verhängt wurden, sich grundlegend von den heute verhängten Strafen unterscheiden. Deshalb hat der Supreme Court in den letzten Jahrzehnten Kriterien herausgearbeitet, die dazu dienen sollen, Strafen auf die Vereinbarkeit mit dem VIII. Zusatzartikel hin zu überprüfen. Einer der beiden wichtigsten Fälle in diesem Zusammenhang ist der Fall Trop v. Dulles aus dem Jahr 1958.6 Darin entschied der Supreme Court, dass die Entziehung der US-amerikanischen Staatsbürgerschaft eines in den USA geborenen Deserteurs eine grausame und unübliche Strafe darstellt.7 In diesem Fall formulierte der Supreme Court außerdem Kriterien zur Überprüfung der Vereinbarkeit einer Strafe mit dem VIII. Zusatzartikel. Demnach sei das Eighth Amendment ein Schutz, um sicherzustellen, dass die Strafgewalt „innerhalb der Grenzen der zivilisierten Stan3
Beaucamp, Einführung in das Verfassungsrecht der USA (2021), Rn. 227. Huschka, Sorry for the jackass sentence, University of Kansas Law Review 54 (2006), S. 803, 822. 5 Huschka, Sorry for the jackass sentence, University of Kansas Law Review 54 (2006), S. 803, 822. 6 Trop v. Dulles, 356 U.S. 86 (1958). 7 Trop v. Dulles, 356 U.S. 86 (1958). 4
A. Verfassungsrechtliche Diskussion
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dards“8 ausgeübt werde.9 Es komme damit nicht nur darauf an, ob die Strafe zur Zeit der Verabschiedung der Bill of Rights akzeptabel gewesen sei10 ; vielmehr müsse das Eighth Amendment „seine Bedeutung aus den sich entwickelnden Standards des Anstands ziehen, die den Fortschritt einer reifenden Gesellschaft kennzeichnen.“11 Für die Beantwortung der Frage, inwiefern sich die gesellschaftlichen Standards so entwickelt haben, dass eine bestimmte Strafe nicht (mehr) akzeptabel ist, werden „objektive Beweise“12 heranzogen: gemeint sind gesetzgeberische Entscheidungen, die internationale Praxis und Geschworenenurteile, die als Hinweise auf gesellschaftliche Ansichten und Überzeugungen verstanden werden.13 Der eindeutigste und zuverlässigste objektive Beweis für diese sogenannten „standards of decency“ seien gesetzgeberische Entscheidungen.14 Neben der Vereinbarkeit der in Frage stehenden Strafform mit der Bill of Rights und den sich entwickelnden „standards of decency“ kommt es für die Verfassungsmäßigkeit nach dem VIII. Zusatzartikel auch darauf an, inwiefern die Strafe einem legitimen Strafzweck dient.15 Besondere praktische Bedeutung kam dem VIII. Zusatzartikel bislang vor allem hinsichtlich der Frage nach der Vereinbarkeit der Todesstrafe mit der amerikanischen Verfassung zu.16 Eine der wichtigsten Entscheidungen des Supreme Courts in diesem Zusammenhang ist der Fall Furman v. Georgia17 aus dem Jahre 1972.18 Furman wurde zum Tode verurteilt, nachdem er, laut eigener Angabe versehentlich, bei einem Wohnungseinbruch den Wohnungseigentümer erschossen hatte.19 Da der Schuss während der Begehung eines Verbrechens (felony) gefallen war, wurde Furmans Tat als Mord eingestuft, wofür gesetzlich die Todesstrafe vorgesehen war.20 Einer der 8
Trop v. Dulles, 356 U.S. 86, 100 (1958). Huschka, Sorry for the jackass sentence, University of Kansas Law Review 54 (2006), S. 803, 824. 10 Huschka, Sorry for the jackass sentence, University of Kansas Law Review 54 (2006), S. 803, 824. 11 „[…] must draw its meaning from the evolving standards of decency that mark the progress of a maturing society.“ Trop v. Dulles, 356 U.S. 86, 101 (1958). 12 Huschka, Sorry for the jackass sentence, University of Kansas Law Review 54 (2006), S. 803, 824. 13 Huschka, Sorry for the jackass sentence, University of Kansas Law Review 54 (2006), S. 803, 824. 14 Huschka, Sorry for the jackass sentence, University of Kansas Law Review 54 (2006), S. 803, 824. 15 Huschka, Sorry for the jackass sentence, University of Kansas Law Review 54 (2006), S. 803, 829. 16 Friedman, Crime and punishment in American history (1993), S. 317. 17 Furman v. Georgia, 408 U.S. 238 (1972). 18 Friedman, Crime and punishment in American history (1993), S. 316 f. 19 Furman v. Georgia, 408 U.S. 238 (1972) 252. 20 Dies entsprach der sogenannten „Felony-Murder“-Rule, zu dieser siehe Seibold, The Felony-Murder Rule: In Search of A Viable Doctrine, The Catholic Lawyer 23 (1978), S. 133, 9
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Teil 2: Betrachtung gegenwärtiger Diskussion zu den Shame Sanctions
Richter im Furman-Fall, William Brennan, stellte vier Grundprinzipien auf, mithilfe derer festgestellt werden können soll, ob eine Strafe grausam und unüblich ist: Der „wesentliche Grundatz“21 sei, dass „die Strafe nicht durch ihre Schwere die Menschenwürde verletzen darf“.22 Darüber hinaus sei eine Strafe als grausam und unüblich einzuordnen, wenn sie offensichtlich in vollkommen willkürlicher Weise verhängt wird, eindeutig und vollständig von der Gesellschaft abgelehnt wird und wenn sie offenkundig unnötig ist.23 Im Fall Furman v. Georgia entschied der Supreme Court mit einer knappen Mehrheit, dass die Todesstrafe, so, wie sie zu diesem Zeitpunkt verhängt wurde, den VIII. Zusatzartikel verletze,24 was zu einem DeFacto-Moratorium der Todesstrafe in den USA führte.25 Die bis zu diesem Zeitpunkt verhängten, aber noch nicht vollstreckten Todesstrafen wurden in lebenslange Haftstrafen umgewandelt.26 Während einige der Richter im Fall Furman der Ansicht waren, die Todesstrafe an sich sei grausam und unüblich und in dieser sogar eine „Leugnung der Menschlichkeit der hingerichteten Person“27 und eine „einzigartige Verletzung der Menschenwürde“28 sahen, entschied die Mehrheit der Richter, dass lediglich die bisherigen Regelungen und Voraussetzungen zur Verhängung der Todesstrafe zu starr und willkürlich seien und die Todesstrafe so, wie sie zu diesem Zeitpunkt verhängt wurde, unter anderem den VIII. Zusatzartikel und damit die amerikanische Verfassung verletze.29 Die Mehrheit der Richter im Furman-Fall betonte sogar, dass die Todesstrafe nicht grundsätzlich verfassungswidrig sei, da die Verfassung diese Art der Bestrafung sogar explizit nenne.30 Dem Supreme Court zufolge spreche auch „das Gewissen der Gesellschaft“31 nicht gegen die Verhängung der Todesstrafe.32 Letztere sei schließlich nicht – wie etwa das Verbrennen auf dem Scheiterhaufen – eine Form der Strafe, die jeder als „Verstoß gegen alle zivilisierten Standards“33 empfinden würde.34 Auf Grundlage dieser Entscheidung wurde den Gesetzgebern der Bundesstaaten die Möglichkeit eröffnet, die Gesetze nach den Vorstellungen des Supreme Courts zu 133; Reinbacher, Das Strafrechtssystem der USA: eine Untersuchung zur Strafgewalt im föderativen Staat (2010), S. 136 f. 21 Furman v. Georgia, 408 U.S. 238, 281 (1972). 22 Furman v. Georgia, 408 U.S. 238, 281 (1972). 23 Furman v. Georgia, 408 U.S. 238, 281 (1972). 24 Friedman, Crime and punishment in American history (1993), S. 316 f. 25 Friedman, Crime and punishment in American history (1993), S. 316. 26 Lain, Deciding Death, Duke Law Journal 57 (2007), S. 1, 13. 27 Dieser Ansicht war Justice Brennan: Furman v. Georgia, 408 U.S. 238, 290 (1972). 28 Brennan in Furman v. Georgia, 408 U.S. 238, 291 (1972). 29 Friedman, Crime and punishment in American history (1993), S. 317. 30 Furman v. Georgia, 408 U.S. 238, 385 (1972). 31 Furman v. Georgia, 408 U.S. 238, 385 (1972). 32 Furman v. Georgia, 408 U.S. 238, 385 (1972). 33 Furman v. Georgia, 408 U.S. 238, 385 (1972). 34 Furman v. Georgia, 408 U.S. 238, 385 (1972).
A. Verfassungsrechtliche Diskussion
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überarbeiten, um eine verfassungsmäßige Ausgestaltung der Verhängung der Todesstrafe zu ermöglichen. So arbeiteten die Bundesstaten nach der Entscheidung an neuen Gesetzen zur Todesstrafe.35 Nachdem einige Bundesstaaten die Regelungen hinsichtlich der Verhängung der Todesstrafe, vor allem die Voraussetzungen, verändert und angepasst hatten, wurde in der Entscheidung Gregg v. Georgia36 im Jahre 1976 die Todesstrafe vom Supreme Court unter bestimmten Voraussetzungen für verfassungsmäßig erklärt und das Moratorium aufgehoben.37 b) I. Zusatzartikel Der erste Zusatzartikel schützt die Meinungs- und Pressefreiheit38 und ist in den USA von überragender Bedeutung.39 So wird er sogar als „Rockstar der Verfassung“40 bezeichnet.41 Die Relevanz des ersten Zusatzartikels zeigt sich auch daran, welche Rolle er in der juristischen Lehre einnimmt: zum First Amendment werden eigene Lehrveranstaltungen gehalten und ganze Lehrbücher geschrieben.42 Nicht nur das Tätigen von Äußerungen ist vom First Amendment geschützt, auch die negative Meinungsfreiheit, also das Recht sich nicht zu äußern bzw. nicht von staatlicher Seite zu einer Äußerung gezwungen zu werden, ist vom Schutzbereich umfasst.43 Letzteres wird auch „compelled speech“ genannt.44 Ein berühmtes Beispiel einer „compelled speech“ ist der Fall West Virginia State Board of Education v. Barnette aus dem Jahr 1943.45 In diesem Fall entschied der Supreme Court, dass es das First Amendment verletze, wenn Schüler, die den Zeugen Jehovas angehören, dazu gezwungen werden, sich zu erheben, vor der Flagge zu salutieren und den Treueschwur, den sogenannten „Pledge of Alliance“, aufzusagen.46
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Friedman, Crime and punishment in American history (1993), S. 317. Gregg v. Georgia, 428 U.S. 153 (1976). 37 Friedman, Crime and punishment in American history (1993), S. 318. 38 Beaucamp, Einführung in das Verfassungsrecht der USA (2021), Rn. 272. 39 Beaucamp, Einführung in das Verfassungsrecht der USA (2021), Rn. 272. 40 Beaucamp, Einführung in das Verfassungsrecht der USA (2021), Rn. 272. 41 Beaucamp, Einführung in das Verfassungsrecht der USA (2021), Rn. 272. 42 Beaucamp, Einführung in das Verfassungsrecht der USA (2021), Rn. 272. 43 Beaucamp, Einführung in das Verfassungsrecht der USA (2021), Rn. 277. 44 Phaedra Athena O’Hara Kelly, The Ideology of Shame: An Analysis of First Amendment and Eighth Amendment Challenges to Scarlet-Letter Probation Conditions, North Carolina Law Review 77 (1999), S. 785, 786. 45 West Virginia State Board of Education v. Barnette, 319 U.S. 624 (1943). 46 West Virginia State Board of Education v. Barnette, 319 U.S. 624 (1943). 36
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Teil 2: Betrachtung gegenwärtiger Diskussion zu den Shame Sanctions
c) V. Zusatzartikel Im 5. Zusatzartikel sind ebenfalls einige Justizgrundrechte geregelt:47 unter anderem das Recht, sich nicht selbst zu beschuldigen und der ne-bis-in-idem-Grundsatz. d) XIV. Zusatzartikel Der 14. Zusatzartikel garantiert unter anderem allen Bürgern die Gleichheit vor dem Gesetz. Der in diesem Zusatzartikel geregelte Gleichheitssatz gilt eigentlich für die Bundesstaaten, wird jedoch über den fünften Zusatzartikel auch auf den Gesamtstaat angewendet.48 Für die Prüfung des vom XIV. Zusatzartikel geschützten Gleichheitsrechts hat der Supreme Court folgenden dreistufigen Ansatz entwickelt: eine sehr strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung (sogenannte „strict scrutiny“), eine mittel-strenge Prüfungsstufe („intermediate scrutiny“) und eine reine Willkürkontrolle („rational basis test“).49 Die strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung kommt dann zum Einsatz, „wenn die Gründe für die Ungleichbehandlung verdächtig erscheinen“ („suspect classifications“), z. B. die Ungleichbehandlung aufgrund von „Race“.50 Die mittel-strenge Prüfungsstufe kommt zur Anwendung, wenn die Ungleichbehandlung etwa an das Geschlecht anknüpft.51 Liegt keine den eben genannten Kategorien entsprechende Ungleichbehandlung vor, führt der Supreme Court lediglich eine Willkürkontrolle durch, bei der er überprüft, ob es einen vernünftigen und legitimen Grund für die Ungleichbehandlung gibt und ob die Unterscheidung diesen Gesetzeszweck fördert („rational basis test“).52 2. Checks and Balances Bei den „Checks and Balances“, frei übersetzt „Kontrolle und Gegenkontrolle“ , handelt es sich um ein wesentliches Verfassungsprinzip der USA, das eine Machtbalance zwischen den unterschiedlichen Gewalten der Exekutive (Präsident), der Legislative (Kongress, bestehend aus Senat und Repräsentantenhaus), und der Judikative (Supreme Court) (horizontale Gewaltenteilung), aber auch im Verhältnis zwischen den Einzelstaaten und dem Gesamtstaat (vertikale Gewaltenteilung), herstellen und sichern soll.53 Dies soll durch gegenseitige Kontroll- und Gegen47
Beaucamp, Einführung in das Verfassungsrecht der USA (2021), Rn. 227. Beaucamp, Einführung in das Verfassungsrecht der USA (2021), Rn. 373. 49 Beaucamp, Einführung in das Verfassungsrecht der USA (2021), Rn. 379. 50 Beaucamp, Einführung in das Verfassungsrecht der USA (2021), Rn. 380. 51 Beaucamp, Einführung in das Verfassungsrecht der USA (2021), Rn. 381. 52 Beaucamp, Einführung in das Verfassungsrecht der USA (2021), Rn. 383. 53 Beaucamp, Einführung in das Verfassungsrecht der USA (2021), Rn. 219; Brugger, Demokratie, Freiheit, Gleichheit (2002), S. 32. 48
A. Verfassungsrechtliche Diskussion
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kontrollmöglichkeiten erreicht werden.54 So hat etwa der Präsident ein Vetorecht gegen bestimmte Akte der Legislative.55 Der Kongress kann gegen den Präsidenten bzw. die Richter des Supreme Courts ein Impeachmentverfahren anstrengen und diese somit des Amtes entheben, sollten sie sich rechswidrig verhalten.56 Der Supreme Court kann Gesetze für verfassungswidrig erklären.57
II. Shame Sanctions aus verfassungsrechtlicher Perspektive Nachdem auf die verfassungsrechtlichen Grundlagen, insbesondere auf die im Rahmen der Shame Sanctions potentiell betroffenen „Amendments“ und auf das Verfassungsprinzip der „Checks and Balances“, eingegangen wurde, soll im Folgenden die konkrete verfassungsrechtliche Diskussion zu den Shame Sanctions betrachtet werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass verfassungsrechtliche Probleme im Zusammenhang mit den Shame Sanctions sowohl von der Literatur als auch von der Rechtsprechung thematisiert werden. Die Diskussion in der Rechtsprechung wird unterteilt in Entscheidungen der state courts und Entscheidung der federal courts. 1. Verfassungsrechtliche Problematik aus Perspektive der Rechtsprechung a) State Courts Der bereits in Teil 1 erwähnte Fall Gementera v. United States war nicht der erste Fall einer Shame Sanction, der auf seine Rechtmäßigkeit hin überprüft wurde. Bereits Jahrzehnte vorher wurde die Rechtmäßigkeit von Shame Sanctions von den Rechtsmittelgerichten der Einzelstaaten überprüft.58 Im Folgenden sollen beispielhaft zwei Fälle dargestellt werden. Einer dieser Fälle ist Ballenger v. State.59 In diesem Fall wurde der Angeklagte dazu verurteilt, ein fluoreszierendes pinkes Armband mit der Aufschrift „DUI Convict“ zu tragen.60 Der Verurteilte legte Rechtsmittel ein mit der Begründung, die Auflage stelle eine vom VIII. Zusatzartikel verbotene grausame und unübliche 54
Beaucamp, Einführung in das Verfassungsrecht der USA (2021), Rn. 219. Beaucamp, Einführung in das Verfassungsrecht der USA (2021), Rn. 219. 56 Beaucamp, Einführung in das Verfassungsrecht der USA (2021), Rn. 219. 57 Beaucamp, Einführung in das Verfassungsrecht der USA (2021), Rn. 219. 58 Phaedra Athena O’Hara Kelly, The Ideology of Shame: An Analysis of First Amendment and Eighth Amendment Challenges to Scarlet-Letter Probation Conditions, North Carolina Law Review 77 (1999), S. 785, 787. 59 Ballenger v. State, 210 Ga. App. 627, 436 S. E.2d 793 (1993). 60 Ballenger v. State, 210 Ga. App. 627, 436 S. E.2d 793, 794 (1993). 55
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Teil 2: Betrachtung gegenwärtiger Diskussion zu den Shame Sanctions
Bestrafung dar.61 Seine Begründung für die Verletzung des VIII. Zusatzartikels bezog sich darauf, dass die Auflage gesetzlich nicht festgeschrieben sei und es im Bundesstaat Georgia nicht einmal eine Generalklausel gebe, die es Richtern erlaube, eigene Auflagen zu ,erfinden‘.62 Die zweite bundesstaatliche Instanz, der Georgia Court of Appeals, lehnte Ballengers Rechtsmittel als unbegründet ab.63 In der Begründung wies das Gericht darauf hin, dass der richterliche Ermessensspielraum, sich eigene Auflagen auszudenken, sich aus dem case law ergebe.64 Bei der ,Erfindung‘ neuer Auflagen sei jedoch der Zweck der Probation zu berücksichtigen – namentlich die Rehabilitation und der Schutz der Gesellschaft.65 Es sei im Fall Ballenger nicht ausgeschlossen, dass diese Zwecke mit dem „DUI“-Armband erreicht werden können.66 Der dissenting jugde widersprach der Mehrheit des Gerichts, weil er in der gegen Ballenger verhängten Auflage, das Armband zu tragen, eine Demütigung sah.67 Ihm zufolge sei es die Aufgabe des Gesetzgebers, Strafen gesetzlich festzulegen.68 Es könne nicht sein, dass Richter durch die Hintertür demütigende Strafen als vermeintlich rehabilitierende Maßnahmen einführen.69 Im Fall People v. Hackler aus dem Jahre 1993 wurde der Angeklagte wegen Diebstahls dazu verurteilt, jedes Mal, wenn er aus dem Haus geht, ein T-Shirt zu tragen, auf dem vorne „My record plus two six-packs equals four years“ und hinten „I am on felony probation for theft“ steht.70 Gegen die gegen ihn verhängte Auflage legte er Rechtsmittel ein.71 Dabei kritisierte er, dass die Auflage zu vage und zu weit gefasst sei und außerdem nicht in einem angemessenen Zusammenhang zum Strafzweck der Rehabilitation stehe.72 Das Rechtsmittelgericht merkte zwar an, dass dem Richter bei der Verhängung von Auflagen ein weiter Ermessensspielraum zustehe, solange die Auflage in Zusammenhang mit dem Strafzweck der „Rehabilitation“ stehe.73 Dieser weite Ermessensspielraum werde jedoch vom Strafgesetz und der Verfassung begrenzt.74 In diesem Fall sei das von der kalifornischen Verfassung geschützte Recht auf Privatsphäre betroffen, weswegen die Auflage sehr eng gefasst
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Ballenger v. State, 210 Ga. App. 627, 436 S. E.2d 793, 794 (1993). Ballenger v. State, 210 Ga. App. 627, 436 S. E.2d 793, 794 (1993). 63 Ballenger v. State, 210 Ga. App. 627, 436 S. E.2d 793, 794 (1993). 64 Ballenger v. State, 210 Ga. App. 627, 436 S. E.2d 793, 794 (1993). 65 Ballenger v. State, 210 Ga. App. 627, 436 S. E.2d 793, 794 (1993). 66 Ballenger v. State, 210 Ga. App. 627, 436 S. E.2d 793, 794 – 795 (1993). 67 Ballenger v. State, 210 Ga. App. 627, 436 S. E.2d 793, 795 – 796 (1993). 68 Ballenger v. State, 210 Ga. App. 627, 436 S. E.2d 793, 795 – 796 (1993). 69 Ballenger v. State, 210 Ga. App. 627, 436 S. E.2d 793, 795 – 796 (1993). 70 People v. Hackler, 16 Cal. Rptr. 2d 681 (Ct. App. 1993). 71 People v. Hackler, 16 Cal. Rptr. 2d 681, 683 (Ct. App. 1993). 72 People v. Hackler, 16 Cal. Rptr. 2d 681, 683 (Ct. App. 1993). 73 People v. Hackler, 16 Cal. Rptr. 2d 681, 686 (Ct. App. 1993). 74 People v. Hackler, 16 Cal. Rptr. 2d 681, 686 (Ct. App. 1993). 62
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werden müsste.75 Die Richter sahen in der gegen Hackler verhängten Auflage eine „Rückkehr zur Zeit des Prangers“76 und eine Demütigung.77 Dazu kam in Hacklers Fall, dass es durch die T-Shirt-Auflage und der daraus resultierenden stigmatisierenden Wirkung für ihn schwieriger werde dürfte, die andere gegen ihn verhängte Auflage zu erfüllen, nämlich eine Anstellung zu finden.78 b) Federal Courts – Fall Gementera Der Fall Gementera unterscheidet sich von den bereits betrachteten Entscheidungen, weil die Shame Sanction gegen Gementera von einem District Court, also einem Bundesgericht erhängt wurde. Dies hat den Hintergrund, dass Gementeras Straftat, der Diebstahl von Briefen, im Bundesstrafrecht geregelt ist.79 Shawn Gementera wurde 2002 von einem District Court wegen Postdiebstahls zu einer Freiheitsstrafe von zwei Monaten und einer Supervised Release80 von drei Jahren verurteilt.81 Als Auflage zur Supervised Release wurde Gementera dazu verurteilt, insgesamt 100 Stunden vor einer Postfiliale zu stehen und ein sogenanntes „Sandwich Board“ zu halten, auf dem in Großbuchstaben geschrieben steht: „Ich habe Post gestohlen. Dies ist meine Strafe.“82 Gementera beschwerte sich über die gegen ihn verhängte Auflage, woraufhin das Gericht die Anzahl der Stunden, die Gementera vor der Postfiliale stehen sollte, von 100 auf 8 reduzierte und darüber hinaus noch folgende drei Auflagen erteilte:83 Gementera sollte Postkunden beim Besuch des Schalters für verlorengegangene Post beobachten, Entschuldigungsbriefe an die identifizierbaren Opfer seiner Straftat schreiben und Vorträge an lokalen Schulen halten.84 Gementera legte Rechtsmittel gegen das Urteil des District Court ein, worüber dann in der nächsten Instanz der Ninth Circuit Court zu entscheiden hatte. Gementeras Rechtsmittel richtete sich gegen die Auflage zur Supervised Release, das Schild zu tragen.85 Ihm zufolge liege darin einerseits eine Verletzung des Sentencing Reform Acts, 18 U.S.C. § 3583 (d) und andererseits eine Verletzung des Eighth Amendments, dem VIII. Zusatzartikel zur Bill of Rights.86 75
People v. Hackler, 16 Cal. Rptr. 2d 681, 686 (Ct. App. 1993). People v. Hackler, 16 Cal. Rptr. 2d 681, 686 (Ct. App. 1993). 77 People v. Hackler, 16 Cal. Rptr. 2d 681, 686 (Ct. App. 1993). 78 People v. Hackler, 16 Cal. Rptr. 2d 681, 686 – 687 (Ct. App. 1993). 79 United States v. Gementera, 379 F.3d 596 (9th Cir. 2004). Siehe 18 U.S.C. § 1708. 80 Zum Begriff der Supervised Release siehe Teil 1, B. I. 5. 81 United States v. Gementera, 379 F.3d 596 (9th Cir. 2004). 82 United States v. Gementera, 379 F.3d 596, 598 (9th Cir. 2004). 83 United States v. Gementera, 379 F.3d 596, 599 (9th Cir. 2004). 84 United States v. Gementera, 379 F.3d 596, 599 (9th Cir. 2004). 85 United States v. Gementera, 379 F.3d 596, 599 (9th Cir. 2004). 86 United States v. Gementera, 379 F.3d 596, 600 (9th Cir. 2004). 76
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aa) Verletzung des 18. U.S.C. § 3583 (d) Zunächst soll auf die von Gementera gerügte Verletzung des 18 U.S.C. § 3583 (d) eingegangen werden. Dieser regelt die Voraussetzungen für die Verhängung von Auflagen zur Supervised Release. Gementera begründete die Verletzung des 18 U.S.C. § 3583 (d) in zwei Schritten. Einerseits rügte er, dass der Richter bei der mündlichen Verkündung des Urteils – als die Auflage gegen Gementera noch darin bestand, das Schild für eine Gesamtdauer von 100 Stunden tragen zu müssen – explizit davon sprach, dass der Zweck der Auflage die „Demütigung“ des Delinquenten sei.87 Gemäß 18 U.S.C. § 3583 (d) ist die „Demütigung“ als zulässiger Zweck der Supervised Release jedoch gar nicht aufgeführt. Erst später, als der Richter die Dauer der Schild-Auflage von 100 auf 8 Stunden reduzierte, führte er als primären Zweck die Rehabilitation und daneben auch die Abschreckung von Gementera an; die Demütigung stehe nicht im Vordergrund.88 Gementera rügte hierbei, dass, selbst wenn man davon ausginge, dass die Rehabilitation der Hauptzweck der gegen ihn verhängten Shame Sanction sei, diese in keinem sinnvollen Zusammenhang zum Zweck der „Rehabilitation“ stehe. Dies begründete er damit, dass solche Shaming-Auflagen nicht rehabilitativ wirken könnten, weil diese den Täter aus der Gesellschaft ausschließen oder andere psychische Schäden verursachen würden.89 Die Mehrheit der Richter des Ninth Circuit Courts entschied in diesem Punkt gegen Gementera.90 Zwar war der Ninth Circuit Court der Meinung, dass die SchildBedingung „crude“91 sei und, isoliert betrachtet, das Risiko sozialer Exklusion und Stigmatisierung berge;92 betrachte man die Auflage allerdings in Verbindung mit den anderen verhängten Auflagen, wie beispielsweise dem Schreiben von Entschuldigungsbriefen, sei es durchaus denkbar, dass insgesamt die soziale Wiedereingliederung des Delinquenten gefördert werde.93 Genau diese Argumentation kritisierte Richter Judge Hawkins, der von der Meinung der Mehrheit des Gerichts abwich: Die Schild-Auflage diene ausschließ87
„He needs to understand the disapproval that society has for this kind of conduct, and that’s the idea behind the humiliation. And it should be humiliation of having to stand and be labeled in front of people coming and going from a post office as somebody who has stolen the mail.“ United States v. Gementera, 379 F.3d 596, 601 (9th Cir. 2004). 88 „,Ultimately, the objective here is, one, to deter criminal conduct, and, number two, to rehabilitate the offender so that after he has paid his punishment, he does not reoffend, and a public expiation of having offended is, or at least it should be, rehabilitating in its effect.‘ Although, in general, criminal punishment ,is or at least should be humiliating,‘ the court emphasized that ,humiliation is not the point.‘“ United States v. Gementera, 379 F.3d 596, 601 (9th Cir. 2004). 89 United States v. Gementera, 379 F.3d 596, 602 (9th Cir. 2004). 90 United States v. Gementera, 379 F.3d 596, 607 (9th Cir. 2004). 91 United States v. Gementera, 379 F.3d 596, 606 (9th Cir. 2004). 92 United States v. Gementera, 379 F.3d 596, 606 (9th Cir. 2004). 93 United States v. Gementera, 379 F.3d 596, 606 (9th Cir. 2004).
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lich dazu, Gementera zu demütigen.94 Und Demütigung sei nun einmal kein zulässiger Zweck im Rahmen des Sentencing Reform Acts.95 Dabei entfalle der demütigende Charakter der Auflage nicht schon deshalb, weil diese im Zusammenspiel mit anderen Auflagen betrachtet werde, zumal sich dem Richter auch nicht erschließe, woraus es sich ergebe, dass die Maßnahmen in Verbindung miteinander gesehen werden sollen bzw. überhaupt können – dafür gebe es weder Anhaltspunkte im Gesetz selbst noch in höchstgerichtlichen Entscheidungen.96 Da Hawkins zufolge die Schild-Auflage gegen 18 U.S.C. § 3583 (d) verstoße, sei diese folgerichtig für unzulässig zu erklären.97 Gementeras Beschwerde hinsichtlich einer Verletzung des 18 U.S.C. § 3583 (d) war jedoch erfolglos.98 bb) Verletzung des VIII. Zusatzartikels – Shame Sanctions als „cruel and unusual punishment“ Neben einem Verstoß gegen 18 U.S.C. § 3583 (d) rügte Gementera auch eine Verletzung des VIII. Zusatzartikels.99 Die Auflage sei nicht mit modernen Standards verhältnismäßiger, rationaler Strafe zu vereinbaren, da sie dazu diene, ihn zu demütigen.100 Gementera rügte auch, dass er durch die Auflage in seiner Menschenwürde verletzt werde.101 Die Mehrheit des Ninth Circuit Court schloss sich Gementera in diesem Punkt ebenso wenig an wie hinsichtlich der Verletzung des Sentencing Reform Acts. Unüblich sei die Auflage schon deshalb nicht, weil solche Auflagen schon mehrfach von bundesstaatlichen Gerichten verhängt worden seien.102 Gementera habe – über eine bloße Behauptung hinaus – keinerlei Beweis dafür erbracht, dass die Shame Sanction die heutigen „standards of decency“ verletze.103 Da der Ninth Circuit Court die Shame Sanction, die gegen Gementera verhängt wurde, für vereinbar mit dem Sentencing Reform Act, 18. U.S.C. § 3583 (d) erklärt hat, könnte man davon ausgehen, dass es aus Sicht des Gerichts nur folgerichtig wäre, eine Verletzung des VIII. Zusatzartikels abzulehnen. Allerdings gibt das Gericht ja zu, dass die SchildAuflage „crude“ und stigmatisierend sei, weswegen an dieser Stelle eine ausführlichere Begründung notwendig gewesen wäre, um einen Verstoß gegen den VIII. Zusatzartikel überzeugend abzulehnen. So entsteht der Eindruck, dass sich das 94
United States v. Gementera, 379 F.3d 596, 610 (9th Cir. 2004). United States v. Gementera, 379 F.3d 596, 610 – 611 (9th Cir. 2004). 96 United States v. Gementera, 379 F.3d 596, 612 (9th Cir. 2004). 97 United States v. Gementera, 379 F.3d 596, 612 (9th Cir. 2004). 98 United States v. Gementera, 379 F.3d 596, 607 (9th Cir. 2004). 99 United States v. Gementera, 379 F.3d 596, 607 (9th Cir. 2004). 100 United States v. Gementera, 379 F.3d 596 (9th Cir. 2004). 101 United States v. Gementera, 379 F.3d 596 (9th Cir. 2004). 102 United States v. Gementera, 379 F.3d 596, 608 (9th Cir. 2004). 103 United States v. Gementera, 379 F.3d 596, 608 (9th Cir. 2004). 95
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Teil 2: Betrachtung gegenwärtiger Diskussion zu den Shame Sanctions
Gericht in dieser Entscheidung nicht zu weit aus dem Fenster lehnen und dem Supreme Court die Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit der Shame Sanctions überlassen wollte. Der von der Mehrheitsmeinung abweichende Richter Hawkins äußerte sich nicht explizit zur Vereinbarkeit der Shame Sanctions mit dem VIII. Zusatzartikel. Ihm zufolge sei jedoch ein wichtiger Maßstab für eine zivilisierte Gesellschaft, inwiefern staatliche Institutionen ihre Macht, etwas zu tun, auch tatsächlich ausnutzten.104 Bei diesem Test fällt die hier in Frage stehende Schild-Auflage seiner Meinung nach durch.105 Shaming ziele auf die Degradierung und die Entmenschlichung des Beschämten ab.106 Diese Art der Machtausübung zu billigen, berge das Risiko, dass das Rechtssystem als solches nicht mehr respektiert wird.107 Anhand von Hawkins’ Aussagen lässt sich zumindest vermuten, dass er der Ansicht ist, dass die gegen Gementera verhängte Shame Sanction den VIII. Zusatzartikel verletzt. Nichtsdestotrotz hat sich die Mehrheit des Ninth Circuit Court auch in diesem Punkt Gementeras Beschwerde nicht angeschlossen und damit die gegen ihn verhängte Auflage aufrechterhalten. Auf die vom Amicus Curiae108 gerügten Verletzungen des I., des V. und des XIV. Zusatzartikels ist das Gericht nicht eingegangen.109
104
United States v. Gementera, 379 F.3d 596, 612 (9th Cir. 2004). United States v. Gementera, 379 F.3d 596, 612 (9th Cir. 2004). 106 United States v. Gementera, 379 F.3d 596, 612 (9th Cir. 2004); „When one shames another person, the goal is to degrade the object of shame, to place him lower in the chain of being, to dehumanize him. To affirm the imposition of such punishments recalls a time in our history when pillories and stocks were the order of the day. To sanction such use of power runs the very great risk that by doing so we instill ,a sense of disrespect for the criminal justice system‘ itself.“ Ballenger v. State, 210 Ga. App. 627, 436 S. E.2d 793, 796 (1993) (Blackburn, J. dissenting). 107 United States v. Gementera, 379 F.3d 596, 612 (9th Cir. 2004). 108 Ein „Amicus Curiae“ – übersetzt „ein Freund des Gerichts“ – ist „eine[…] Person oder eine […] Personenmehrheit, der es in einem anhängigen Rechtsstreit, in dem sie nicht als Partei beteiligt ist, gestattet wird, in den Formen des Verfahrens durch schriftliche oder mündliche Stellungnahme ihre Ansicht zu Fragen des Rechtsstreits mitzuteilen, sei es auf Ersuchen des Gerichts oder auf eigene Initiative.“ Das können z. B. Experten des jeweiligen Fachgebiets sein, das mit der Entscheidung in Verbindung steht oder aber Einzelpersonen oder Personengruppen, die ihrer Ansicht nach von der Entscheidung betroffen sind, wie z. B. Nichtregierungsorganisationen. Auch Vertreter von Verfassungsorganen, Behörden des Bundes und der Bundesstaaten oder sogar ausländische Regierungen können als amici curiae auftreten. Siehe U. Kühne, Amicus curiae (2015), S. 2. 109 Amicus Curiae Brief of the Federal Public Defender in the Northern District of California, 2003 WL 23273930, at 23, U.S. v. Gementera, 379 F.3d 596 (9th Cir. 2004) (No. 03 – 10103). 105
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2. Verfassungsrechtliche Problematik aus Sicht der Literatur a) Vereinbarkeit der Shame Sanctions mit dem VIII. Zusatzartikel Im Vergleich zur Rechtsprechung wird in der Literatur die Frage nach der Vereinbarkeit der Shame Sanctions mit den Zusatzartikeln zur Verfassung, insbesondere dem VIII. Zusatzartikel, deutlich ausführlicher diskutiert. Im Fokus der Diskussion um eine mögliche Verletzung des VIII. Zusatzartikels durch die Shame Sanctions steht dabei insbesondere die Frage, inwiefern die Shame Sanctions mit den „standards of decency“ vereinbar sind. Dabei wird insbesondere der Aspekt der „objektiven Beweise“ diskutiert. Ryan Huschka merkt hinsichtlich der Vereinbarkeit der Shame Sanctions mit den „standards of decency“ an, dass zu berücksichtigen sei, dass Shaming in der Vergangenheit zwar bereits praktiziert, aber eben auch wieder abgeschafft wurde.110 Ihm zufolge müssten nun „objektive Beweise“ dafür angeführt werden, dass Shaming heutzutage wieder akzeptiert sei.111 Allerdings sind, wie Whitman zutreffend anmerkt112 und wie sich auch in Teil 1 der Arbeit gezeigt hat, die historischen Formen des Shamings und die heutigen Shame Sanctions nicht ohne Weiteres vergleichbar: während das Shaming in Kolonialamerika bzw. im Europa des Hoch- und Spätmittelalters überwiegend mit körperlicher Gewalt verbunden war, ist dies bei den heutigen Shame Sanctions nicht der Fall.113 Die größte Gemeinsamkeit zwischen den historischen Formen des Shamings und den Shame Sanctions ist, dass beide in der Öffentlichkeit stattfinden bzw. stattgefunden haben. Allerdings unterscheiden sich diesbezüglich, wie bereits in Teil 1 dargelegt, die Hintergründe – während beim historischen Shaming die Öffentlichkeit auch der Rechtsvermittlung diente, ist dies bei den heutigen Shame Sanctions nicht mehr notwendig.114 Auch wenn zwischen den heutigen Shame Sanctions und den historischen Formen des Shamings wesentliche Unterschiede bestehen, ist es nichtsdestotrotz wichtig, Hinweise darauf zu finden, dass die „standards of decency“ sich in der Hinsicht verändert haben, dass Shame Sanctions eine akzeptable Form der Bestrafung geworden sind. Dabei geht es weniger darum, zu beweisen, dass Shame Sanctions wieder eine akzeptable Form der Bestrafung geworden sind, sondern ob sie überhaupt den „standards of decency“ entsprechen. Huschka beginnt zunächst mit zwei potentiellen Argumenten für eine Entwicklung der „standards of decency“ hin zu den Shame Sanctions, die er jedoch direkt 110 Huschka, Sorry for the jackass sentence, University of Kansas Law Review 54 (2006), S. 803, 825. 111 Huschka, Sorry for the jackass sentence, University of Kansas Law Review 54 (2006), S. 803, 825. 112 Whitman, What is wrong with inflicting shame sanctions?, The Yale Law Journal 107 (1998), S. 1055, 1061. 113 Whitman, What is wrong with inflicting shame sanctions?, The Yale Law Journal 107 (1998), S. 1055, 1061. 114 Siehe dazu Teil 1, C. I. 1. c), III. 1.
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widerlegt. So könnte die Untätigkeit des Kongresses, die Shame Sanctions gesetzlich zu verbieten, als stillschweigendes Einverständnis des Gesetzgebers in die ShamingPraxis der Richter interpretiert werden.115 Hätte der Kongress als Gesetzgeber Einwände gegen die Shame Sanctions gehabt, hätte er ihre Anwendung schließlich längst untersagen können.116 Huschka lehnt das Untätigkeitsargument mit Hinweis auf eine Entscheidung des Supreme Courts in einem anderen Fall ab, in dem dieser die Untätigkeit des Kongresses als Argument für die Akzeptanz einer bestimmten Praxis eindeutig abwies.117 Die Untätigkeit des Kongresses sei kein überzeugendes Argument, weil es für jene vielfache Gründe geben könne.118 Im konkreten Fall könnte es etwa sein, dass der Gesetzgeber noch auf eine Entscheidung des Supreme Courts über die Verfassungsmäßigkeit der Shame Sanctions wartet.119 Genauso gut könnte auch das umgekehrte Argument hervorgebracht werden: wäre der Kongress für eine Implementierung der Shame Sanctions, hätte er diese längst gesetzlich normieren und so ihre kontinuierliche Anwendung sicherstellen können.120 Die Untätigkeit des Kongresses ist also kein überzeugender objektiver Beweis für eine Übereinstimmung der Shame Sanctions mit den „standards of decency“. Als anderer objektiver Beweis könnten theoretisch die Generalklauseln zu den Auflagen der Probation bzw. der Supervised Release gesehen werden.121 Dies ist deshalb in Betracht zu ziehen, weil die Richter, die Shame Sanctions verhängen, die Legitimation dafür meist aus genau diesen Normen ziehen, in denen beispielsweise geregelt ist, dass die Auflage „reasonably related“122 zur Straftat, also in einem vernünftigem Zusammenhang zur Straftat stehen muss.123 Diesem Gedanken erteilt Huschka jedoch gleich eine Absage: Ein solch allgemein gehaltenes Gesetz könne keinesfalls als explizite gesetzgeberische Entscheidung zu Shame Sanctions verstanden werden.124 Auch in diesem Punkt ist Huschka zuzustimmen: eine Gene115 Huschka, Sorry for the jackass sentence, University of Kansas Law Review 54 (2006), S. 803, 825 f. 116 Huschka, Sorry for the jackass sentence, University of Kansas Law Review 54 (2006), S. 803, 825. 117 U.S. v. Craft, 535 U.S. 274, 287 (2002). 118 U.S. v. Craft, 535 U.S. 274, 287 (2002). 119 Huschka, Sorry for the jackass sentence, University of Kansas Law Review 54 (2006), S. 803, 825 f. 120 Huschka, Sorry for the jackass sentence, University of Kansas Law Review 54 (2006), S. 803, 826. 121 Huschka, Sorry for the jackass sentence, University of Kansas Law Review 54 (2006), S. 803, 826. 122 So etwa die Voraussetzung der Bestimmung von Auflagen in 18 U.S.C. § 3583 – U.S. Code – Unannotated Title 18. Crimes and Criminal Procedure § 3583. Inclusion of a term of supervised release after imprisonment. 123 Huschka, Sorry for the jackass sentence, University of Kansas Law Review 54 (2006), S. 803, 826. 124 Huschka, Sorry for the jackass sentence, University of Kansas Law Review 54 (2006), S. 803, 826.
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ralklausel kann nicht als bewusste gesetzgeberische Entscheidung spezifisch für Shame Sanctions angesehen werden. Somit gibt es keine gesetzgeberische Entscheidung, die darauf hindeutet, dass Shame Sanctions den „standards of decency“ entsprechen. Außerdem weist Huschka noch auf die internationale Praxis als Argument gegen eine Vereinbarkeit der Shame Sanctions mit den „standards of decency“ hin.125 Die Länder, in denen Shaming praktiziert würde, wie etwa Afghanistan unter den Taliban, seien gerade nicht die Länder, mit denen sich die USA als moderner Rechtsstaat identifizieren soll bzw. will.126 In europäischen Ländern, mit denen sich die USA viel eher vergleichen (sollten), insbesondere in Deutschland oder Frankreich, werde öffentliches Shaming dagegen abgelehnt.127 Darüber hinaus sei auch in den internationalen Vereinbarungen zur Strafe das Verbot unmenschlicher und erniedrigender Strafe festgeschrieben, wenn dieses auch nicht bindend sei.128 Es könne Huschka zufolge nicht im Interesse der USA sein, die sich selbst als Vorbild für die humane Behandlung von Individuen und Vorreiter für Bürgerrechte sehen, dem Vorbild von Staaten zu folgen, die ihre Bürger öffentlicher Demütigung aussetzen.129 Huschka macht dem amerikanischem Rechtssystem sogar den Vorwurf, sich durch die Implementierung bzw. Duldung von Shame Sanctions selbst lächerlich zu machen.130 Damit spricht Huschka zufolge auch die internationale Praxis gegen eine Übereinstimmung der Shame Sanctions mit den „standards of decency“. Phaedra O’Hara Kelly ist im Gegensatz zu Huschka der Ansicht, dass die Shame Sanctions durchaus den „standards of decency“ entsprechen.131 Sie macht das nicht an einem konkreten sogenannten „objektiven Beweis“ wie einer gesetzgeberischen Entscheidung oder der internationalen Praxis fest, sondern an der Akzeptanz in der
125
Huschka, Sorry for the jackass sentence, University of Kansas Law Review 54 (2006), S. 803, 827. 126 Huschka, Sorry for the jackass sentence, University of Kansas Law Review 54 (2006), S. 803, 827. 127 Huschka, Sorry for the jackass sentence, University of Kansas Law Review 54 (2006), S. 803, 828. 128 Huschka, Sorry for the jackass sentence, University of Kansas Law Review 54 (2006), S. 803, 828; „Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.“, siehe dazu beispielsweise Artikel 5 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. 129 Huschka, Sorry for the jackass sentence, University of Kansas Law Review 54 (2006), S. 803, 828. 130 Huschka, Sorry for the jackass sentence, University of Kansas Law Review 54 (2006), S. 803, 828 f. 131 Phaedra Athena O’Hara Kelly, The Ideology of Shame: An Analysis of First Amendment and Eighth Amendment Challenges to Scarlet-Letter Probation Conditions, North Carolina Law Review 77 (1999), S. 785, 824.
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Teil 2: Betrachtung gegenwärtiger Diskussion zu den Shame Sanctions
Gesellschaft.132 Kelly selbst führt jedoch kein konkretes Argument dafür an, das belegt, dass Shame Sanctions auf gesellschaftliche Akzeptanz stoßen. Aus heutiger Sicht könnte man die Ansicht vertreten, dass Shaming durchaus Teil der Gesellschaft ist: Dies zeigt sich spätestens seit der Erfindung des Internets und der sozialen Medien an den sogenannten „Shitstorms“,133 bei denen Menschen online ,angeprangert‘ werden.134 Allerdings ist es problematisch, vom Sein auf das Sollen zu schließen. Dass es in bestimmten gesellschaftlichen Bereichen Shaming-Tendenzen gibt, kann nicht bedeuten, dass Shame Sanctions als Strafe implementiert werden sollten. Vielmehr geht es darum, zu überprüfen, inwiefern Shame Sanctions aus einer normativen Perspektive akzeptabel sind. Neben der Übereinstimmung der Shame Sanctions mit den „standards of decency“ kommt es für die Vereinbarkeit der Shame Sanctions mit dem VIII. Zusatzartikel auch darauf an, inwiefern diese einem legitimen Strafzweck dienen.135 Wie bereits kurz in Teil 1 aufgezeigt,136 dienen die Shame Sanctions zumindest abstrakt dem Strafzweck der Abschreckung. Huschka führt aber zutreffend an, dass die Vereinbarkeit einer Strafformen mit einem der Strafzwecke nicht bereits zu deren Vereinbarkeit mit dem VIII. Zusatzartikel führen kann.137 So dient auch die Folter der Abschreckung, ist jedoch trotzdem als Strafe nicht zulässig, da sie die Würde des Menschen verletzt.138 Die Vereinbarkeit mit einem der Strafzwecke ist demnach noch kein hinreichender Beweis für die Vereinbarkeit einer Strafform mit dem VIII. Zusatzartikel.139 Mark Spatz und Ryan Huschka sehen in den Shame Sanctions eine Verletzung der Würde des Delinquenten.140 Eine solche ist an dieser Stelle insofern von Relevanz, 132 Phaedra Athena O’Hara Kelly, The Ideology of Shame: An Analysis of First Amendment and Eighth Amendment Challenges to Scarlet-Letter Probation Conditions, North Carolina Law Review 77 (1999), S. 785, 824. 133 Der Duden definiert den Shitstorm als „Sturm der Entrüstung in einem Kommunikationsmedium des Internets, der zum Teil mit beleidigenden Äußerungen einhergeht“. Siehe https://www.duden.de/rechtschreibung/Shitstorm [zugegriffen am 10. 06. 2022]. 134 Zur Prangerwirkung im Internet siehe Fröhling, Der moderne Pranger: von den Ehrenstrafen des Mittelalters bis zur Prangerwirkung der medialen Berichterstattung im heutigen Strafverfahren (2014). 135 Huschka, Sorry for the jackass sentence, University of Kansas Law Review 54 (2006), S. 803, 829. 136 Siehe Teil 1, C. I. 4., III. 1. 137 Huschka, Sorry for the jackass sentence, University of Kansas Law Review 54 (2006), S. 803, 830. 138 Huschka, Sorry for the jackass sentence, University of Kansas Law Review 54 (2006), S. 803, 830. 139 Huschka, Sorry for the jackass sentence, University of Kansas Law Review 54 (2006), S. 803, 830. 140 Huschka zieht sogar den Vergleich zur Folter als Würdeverletzung, wenn er auch die Shame Sanction als weniger extreme Verletzung der Menschenwürde bezeichnet. Huschka, Sorry for the jackass sentence, University of Kansas Law Review 54 (2006), S. 803, 830;
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weil der Supreme Court bereits mehrfach betont hat, dass dem Verbot der „grausamen und unüblichen Strafe“ aus dem VIII. Zusatzartikel kein geringerer Gedanke zu Grunde liegt als die Würde des Menschen.141 Eine genaue Begründung für die Annahme einer Würdeverletzung oder eine Auseinandersetzung mit dem Begriff der Würde liefern Spatz und Huschka allerdings nicht. Darüber hinaus kommt es dem Brennan-Test142 zufolge für die Vereinbarkeit einer Strafform mit dem VIII. Zusatzartikel auch darauf an, ob diese in „offensichtlich vollkommen willkürlicher Weise“143 verhängt wurde.144 Genau diesen Punkt sieht Spatz bei den Shame Sanctions erfüllt.145 Die Kritik bezieht sich auf zwei Aspekte: einerseits sei es problematisch, dass Richter bei ähnlich gelagerten Fällen in einem Fall eine Shame Sanction verhängen würden und im anderen eine Geld- oder Freiheitsstrafe.146 Andererseits sind die Shame Sanctions untereinander kaum vergleichbar, weil die Richter sie für den jeweiligen Delinquenten „maßschneidern“.147 Wohnt die mangelnde Vergleichbarkeit bereits der Strafform als solcher inne, könne sich dem Brennan-Test entsprechend bereits daraus die Unvereinbarkeit mit dem VIII. Zusatzartikel ergeben.148 Zwar könnte dieser mangelnden Vergleichbarkeit grundsätzlich mit verbindlichen Richtlinien begegnet werden, im Falle der Shame Sanctions stellt sich dies aber als besonders schwierig dar, weil der Inhalt der Shame Sanctions abhängig von vielen externen Faktoren ist – für all diese Faktoren verbindliche Richtlinien zu schaffen, scheint kaum möglich zu sein.149 Problematisch sei in dieser Hinsicht auch, dass die Berücksichtigung individueller Faktoren im Ergebnis dazu führen könnte, dass Delinquenten, die ein hohes gesellschaftliches
Spatz, Shame’s Revival: An Unconstitutional Regression, The University of Pennsylvania Journal of Constitutional Law 2002, S. 827, 828 f. 141 Trop v. Dulles, 356 U.S. 86, 100 (1958). 142 Furman v. Georgia, 408 U.S. 238, 281 (1972). 143 Furman v. Georgia, 408 U.S. 238, 281 (1972). 144 Spatz, Shame’s Revival: An Unconstitutional Regression, The University of Pennsylvania Journal of Constitutional Law 2002, S. 827, 847 f. Aus Spatz’ Sicht erfüllen die Shame Sanctions keine der von Brennan aufgestellten Bedingungen. Spatz, Shame’s Revival: An Unconstitutional Regression, The University of Pennsylvania Journal of Constitutional Law 2002, S. 827, 848. 145 Spatz, Shame’s Revival: An Unconstitutional Regression, The University of Pennsylvania Journal of Constitutional Law 2002, S. 827, 847. 146 Spatz, Shame’s Revival: An Unconstitutional Regression, The University of Pennsylvania Journal of Constitutional Law 2002, S. 827, 847. 147 Spatz, Shame’s Revival: An Unconstitutional Regression, The University of Pennsylvania Journal of Constitutional Law 2002, S. 827, 847. 148 Furman v. Georgia, 408 U.S. 238, 281 (1972). 149 Spatz, Shame’s Revival: An Unconstitutional Regression, The University of Pennsylvania Journal of Constitutional Law 2002, S. 827, 847; Massaro, Shame, Culture, and American Criminal Law, Michigan Law Review 89 (1991), S. 1880, 1941.
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Ansehen genießen, mildere Strafen erhielten als Delinquenten mit einem niedrigen gesellschaftlichen Status.150 Im Gegensatz zur Rechtsprechung, die sich kaum bis überhaupt nicht mit der Vereinbarkeit der Shame Sanctions mit dem VIII. Zusatzartikel beschäftigt, besteht in der Literatur weitgehend Einigkeit dahingehend, dass Shame Sanctions nicht mit dem VIII. Zusatzartikel vereinbar sind. Ein überzeugendes Argument für diese Annahme wird jedoch nicht präsentiert. Eine von Huschka und Spatz behauptete Würdeverletzung durch die Shame Sanctions wird nicht näher ausgeführt. Auf diesen Punkt soll im weiteren Verlauf der Arbeit eingegangen werden. b) Vereinbarkeit der Shame Sanctions mit dem I. Zusatzartikel Neben einer potentiellen Verletzung des VIII. Zusatzartikels wird in der Literatur auch eine Verletzung des I. Zusatzartikels durch die Shame Sanctions diskutiert. Bemerkenswert ist, dass sich der Ninth Circuit Court zur Frage der Vereinbarkeit der Shame Sanctions mit dem I. Zusatzartikel überhaupt nicht geäußert hat, weil Gementera lediglich die Verletzung des VIII. Zusatzartikels gerügt hat; die Rüge hinsichtlich des I. Zusatzartikels wurde ausschließlich vom Amicus Curiae erhoben.151 Zu diesem Punkt äußert sich in der Literaturdiskussion Phaedra O’Hara Kelly.152 In Frage kommt ihrer Ansicht nach hier eine Verletzung des I. Zusatzartikels in Gestalt der sogenannten „compelled speech“, also der erzwungenen Rede. Indem der Delinquent mit der Shame Sanction dazu verurteilt wird, in der Öffentlichkeit eine bestimmte Botschaft zu vermitteln, könnte der Fall einer sogenannten „compelled speech“ vorliegen und damit eine Verletzung der negativen Redefreiheit, die ebenfalls vom Schutzbereich des I. Zusatzartikels umfasst ist.153 Dass der Staat den Delinquenten dazu zwingt, eine bestimmte Aussage zu tätigen, ist Kelly zufolge im Rahmen der Shame Sanction eindeutig der Fall. Die Frage, die sich stellt, ist jedoch, ob die Verfassung diesen Zwang gestattet.154 Kelly zufolge ist 150 Massaro, Shame, Culture, and American Criminal Law, Michigan Law Review 89 (1991), S. 1880, 1941. 151 Amicus Curiae Brief of the Federal Public Defender in the Northern District of California, 2003 WL 23273930, at 23, U.S. v. Gementera, 379 F.3d 596 (9th Cir. 2004) (No. 03 – 10103). 152 Phaedra Athena O’Hara Kelly, The Ideology of Shame: An Analysis of First Amendment and Eighth Amendment Challenges to Scarlet-Letter Probation Conditions, North Carolina Law Review 77 (1999), S. 785, 826 ff. 153 Phaedra Athena O’Hara Kelly, The Ideology of Shame: An Analysis of First Amendment and Eighth Amendment Challenges to Scarlet-Letter Probation Conditions, North Carolina Law Review 77 (1999), S. 785, 826. 154 Phaedra Athena O’Hara Kelly, The Ideology of Shame: An Analysis of First Amendment and Eighth Amendment Challenges to Scarlet-Letter Probation Conditions, North Carolina Law Review 77 (1999), S. 785, 837.
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für die Beantwortung dieser Frage zwischen einer Überzeugung und einer Tatsache zu unterscheiden:155 die Verurteilung ist eine Tatsache, weshalb die bloße Bekanntgabe der Verurteilung an sich keinen Verstoß gegen den I. Zusatzartikel darstellt.156 Anders dagegen verhält es sich, wenn der Delinquent dazu verurteilt wird, eine bestimmte Überzeugung zum Ausdruck zu bringen, wie etwa: „Ich bin ein Idiot“.157 In einem solchen Fall wäre es den Richtern wohl möglich, den Delinquenten zu einer Shame Sanction zu verurteilen, die der Öffentlichkeit lediglich die Tat preisgibt, aber jegliche Wertung des Verhaltens unterlässt, sodass eine Verletzung des I. Zusatzartikels dann vermieden werden könnte.158 c) Vereinbarkeit der Shame Sanctions mit dem V. Zusatzartikel Der Amicus Curiae rügte im Fall Gementera außerdem eine Verletzung des V. Zusatzartikels.159 Hintergrund ist, dass neben dem Bund auch der Bundesstaat Kalifornien berechtigt wäre, Gementera strafrechtlich zu verfolgen.160 Gementera stünde damit vor dem Dilemma, sich entweder mit seiner Shame Sanction selbst zu beschuldigen oder sich zu weigern, die Shame Sanction zu vollziehen und stattdessen den Widerruf seiner Supervised Release zu riskieren.161 Eine Auflage, die den Delinquenten in eine solche Situation bringe, könne niemals in einem angemessenen Verhältnis zu den Zielen der Supervised Release stehen.162 155 Phaedra Athena O’Hara Kelly, The Ideology of Shame: An Analysis of First Amendment and Eighth Amendment Challenges to Scarlet-Letter Probation Conditions, North Carolina Law Review 77 (1999), S. 785, 862. 156 Phaedra Athena O’Hara Kelly, The Ideology of Shame: An Analysis of First Amendment and Eighth Amendment Challenges to Scarlet-Letter Probation Conditions, North Carolina Law Review 77 (1999), S. 785, 858 ff. 157 Phaedra Athena O’Hara Kelly, The Ideology of Shame: An Analysis of First Amendment and Eighth Amendment Challenges to Scarlet-Letter Probation Conditions, North Carolina Law Review 77 (1999), S. 785, 858 ff. 158 Phaedra Athena O’Hara Kelly, The Ideology of Shame: An Analysis of First Amendment and Eighth Amendment Challenges to Scarlet-Letter Probation Conditions, North Carolina Law Review 77 (1999), S. 785, 862. 159 Amicus Curiae Brief of the Federal Public Defender in the Northern District of California, 2003 WL 23273930, at 23, U.S. v. Gementera, 379 F.3d 596 (9th Cir. 2004) (No. 03 – 10103). 160 Amicus Curiae Brief of the Federal Public Defender in the Northern District of California, 2003 WL 23273930, at 23, U.S. v. Gementera, 379 F.3d 596 (9th Cir. 2004) (No. 03 – 10103). 161 Amicus Curiae Brief of the Federal Public Defender in the Northern District of California, 2003 WL 23273930, at 23, U.S. v. Gementera, 379 F.3d 596 (9th Cir. 2004) (No. 03 – 10103). 162 Amicus Curiae Brief of the Federal Public Defender in the Northern District of California, 2003 WL 23273930, at 23, U.S. v. Gementera, 379 F.3d 596 (9th Cir. 2004) (No. 03 – 10103).
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Paul Ziel weist darauf hin, dass die Vereinbarkeit der Shame Sanction mit dem V. Zusatzartikel erst mit dem Fall Gementera an Bedeutung gewonnen habe, da dieser auf Ebene des Bundes spiele.163 Seiner Ansicht nach wäre eine Verletzung des V. Zusatzartikels anzunehmen, wenn sich der Bundesstaat Kalifornien dazu entschieden hätte, Gementera ebenfalls strafrechtlich zu verfolgen.164 d) Vereinbarkeit der Shame Sanctions mit dem XIV. Zusatzartikel Neben einer Verletzung des VIII., des I. und des V. Zusatzartikels rügte der Amicus Curiae noch eine Verletzung des XIV. Zusatzartikels mit der Begründung, dass das Gericht, das die Shame Sanction gegen Gementera verhängt hat, nicht hinreichend begründet habe, weshalb gerade in diesem Fall die Verhängung einer Shame Sanction angemessen sei.165 Allerdings ist dazu zu sagen, dass das Gericht durchaus begründet hat, weshalb es sich dazu entschieden hat, eine Shame Sanction zu verhängen: Gementera sollte mit den Folgen und ansonsten anonym gebliebenen Opfern seiner Tat konfrontiert werden.166 Da hier weder eine Diskriminierung wegen Gementeras „Race“ oder des Geschlechts ersichtlich ist, reicht ein vernünftiger und legitimer Grund für die Ungleichbehandlung aus. e) Vereinbarkeit der Shame Sanctions mit dem Prinzip der „Checks and Balances“ Im Fazit seines Beitrags „Eighteenth Century Public Humiliation Penalties in Twenty-First Century America: The „Shameful“ Return of ,Scarlet Letter‘ Punishments in U.S. v. Gementera“ kritisiert Paul Ziel im Nebensatz, dass die Shame Sanctions das Verfassungsprinzip der „Checks and Balances“ verletzen.167 Ziel kritisiert, dass, indem Richter die Shame Sanctions eigenmächtig ins amerikanische Strafrechtssystem implementiert haben, keine inhaltliche Debatte über diese geführt
163 Ziel, Eighteenth Century Public Humiliation Penalties in Twenty-First Century America: The „Shameful“ Return of „Scarlet Letter“ Punishments in U.S. v. Gementera, Brigham Young University Journal of Public Law 19 (2005), S. 499, 519. 164 Ziel, Eighteenth Century Public Humiliation Penalties in Twenty-First Century America: The „Shameful“ Return of „Scarlet Letter“ Punishments in U.S. v. Gementera, Brigham Young University Journal of Public Law 19 (2005), S. 499, 519. 165 Amicus Curiae Brief of the Federal Public Defender in the Northern District of California, 2003 WL 23273930, at 23, U.S. v. Gementera, 379 F.3d 596 (9th Cir. 2004) (No. 0310103). 166 United States v. Gementera, 379 F.3d 596 (9th Cir. 2004). 167 Ziel, Eighteenth Century Public Humiliation Penalties in Twenty-First Century America: The „Shameful“ Return of „Scarlet Letter“ Punishments in U.S. v. Gementera, Brigham Young University Journal of Public Law 19 (2005), S. 499, 522.
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wurde, die seiner Meinung nach in diesem Fall aber dringend notwendig wäre.168 Eine solche offene Debatte könne jedoch nur im Kongress innerhalb des Gesetzgebungsverfahrens geführt werden.169 Damit vermischt Ziel jedoch zwei unterschiedliche Aspekte: Die Richter, die Shame Sanctions verhängen, ziehen die Ermächtigung dafür aus den Regelungen zur Erteilung von Auflagen zur Supervised Release bzw. Probation. Damit sind sie grundsätzlich zur Erteilung von Auflagen und Weisungen ermächtigt. Ziels Argument setzt voraus, dass es für die Verhängung von Shame Sanctions einer speziellen gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage bedarf. Wenn dies der Fall wäre, wäre der Kongress als Gesetzgeber für die Verabschiedung eines solchen Gesetzes zuständig, dem dann eine Diskussion innerhalb der jeweiligen Ausschüsse vorausginge.170 Inwiefern hier ein Gesetzesvorbehalt vorliegt, wird von Ziel nicht näher spezifiziert. Im Urteil Ballenger v. state merkte der von der Mehrheitsmeinung abweichende Richter an, dass die Festlegung von Strafen Sache des Gesetzgebers sei, nicht des Gerichts.171 Dazu ist jedoch anzumerken, dass es im Bundesstaat Georgia, wo der Fall Ballenger spielte, nicht einmal eine Generalklausel gab, die es den Richtern explizit ermöglichte, ,erfundene‘ Auflagen zu verhängen.172 Außerdem gibt es in den USA, im Gegensatz zu Deutschland, keine Wesentlichkeitstheorie.173 Legislative Kompetenzen können daher auch delegiert werden. Deshalb kann nicht bereits aus der Tatsache, dass es keine gesetzliche Grundlage gibt, die Shame Sanctions explizit normiert, geschlossen werden, dass ein Verstoß gegen das Prinzip der „Checks and Balances“ vorliegt. Allerdings merkt Ziel an, dass, ganz unabhängig davon, ob die Legislative oder die Judikative die Shame Sanctions ins Strafensystem implementiert hätte, diese so oder so abzulehnen seien.174 D. h., selbst wenn, wie Ziel es fordert, die seiner Meinung nach zuständige der drei Gewalten Shame Sanctions ins Strafensystem eingeführt hätte, seiner Ansicht nach Shame Sanctions als verfassungswidrig abzulehnen wären.175 Damit ist eine Verletzung des Verfassungsprinzips der „Checks and Balances“ selbst Ziel
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Ziel, Eighteenth Century Public Humiliation Penalties in Twenty-First Century America: The „Shameful“ Return of „Scarlet Letter“ Punishments in U.S. v. Gementera, Brigham Young University Journal of Public Law 19 (2005), S. 499, 522. 169 Ziel, Eighteenth Century Public Humiliation Penalties in Twenty-First Century America: The „Shameful“ Return of „Scarlet Letter“ Punishments in U.S. v. Gementera, Brigham Young University Journal of Public Law 19 (2005), S. 499, 522. 170 Beaucamp, Einführung in das Verfassungsrecht der USA (2021), Rn. 177. 171 Ballenger v. State, 210 Ga. App. 627, 436 S. E.2d 793, 795 – 796 (1993). 172 Ballenger v. State, 210 Ga. App. 627, 436 S. E.2d 793, 794 (1993). 173 Beaucamp, Einführung in das Verfassungsrecht der USA (2021), Rn. 424. 174 Ziel, Eighteenth Century Public Humiliation Penalties in Twenty-First Century America: The „Shameful“ Return of „Scarlet Letter“ Punishments in U.S. v. Gementera, Brigham Young University Journal of Public Law 19 (2005), S. 499, 522. 175 Ziel, Eighteenth Century Public Humiliation Penalties in Twenty-First Century America: The „Shameful“ Return of „Scarlet Letter“ Punishments in U.S. v. Gementera, Brigham Young University Journal of Public Law 19 (2005), S. 499, 522.
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zufolge kein schlagkräftiges verfassungsrechtliches Gegenargument gegen Shame Sanctions.
III. Zusammenfassung Gerade weil es bislang keine Entscheidung des Supreme Court zur Verfassungsmäßigkeit der Shame Sanctions gibt, wird diese Frage in der amerikanischen Rechtsprechung und Literatur lebhaft diskutiert. Spätestens mit dem Fall Gementera im Jahr 2004 ist die Relevanz der Shame Sanctions innerhalb des amerikanischen Strafsystems deutlich gestiegen. Grund dafür ist, dass der Fall Gementera der erste Fall einer Shame Sanction war, der auf Bundesebene und nicht mehr auf Ebene der bundesstaatlichen Jurisdiktion spielte. Der größte verfassungsrechtliche Diskussionspunkt ist die Vereinbarkeit der Shame Sanctions mit dem VIII. Amendment, dem Verbot grausamer und unmenschlicher Strafe. Während die Gerichte in dieser Hinsicht sehr zurückhaltend mit eindeutigen Schlussfolgerungen sind, besteht in der Literatur weitgehend Einigkeit dahingehend, dass Shame Sanctions nicht mit dem Verbot aus dem VIII. Amendment vereinbar und aus diesem Grund verfassungswidrig sind. Diesen Schluss ziehen die Verfasser insbesondere mithilfe einer negativen Begründung: Seit der Abschaffung des Shamings im 19. Jahrhundert hätten sich die gesellschaftlichen Umstände nicht in einer Art und Weise geändert, dass Shame Sanctions plötzlich wieder akzeptabel seien. Außerdem wird eine Würdeverletzung des Delinquenten gerügt, die jedoch nicht konkret begründet wird. Hinsichtlich der Vereinbarkeit der Shame Sanctions mit anderen justizbezogenen Grundrechten aus der Bill of Rights herrscht in der Rechtsprechung ebenfalls Zurückhaltung, in der Literatur wird neben der Vereinbarkeit mit dem VIII. Zusatzartikel noch die Vereinbarkeit mit dem I. Amendment diskutiert, dem Recht auf freie Rede bzw. in negativer Hinsicht, dem Recht, sich nicht äußern zu müssen. Inwiefern eine Verletzung dieses Grundrechts durch die Shame Sanctions vorliegt, ist jedoch umstritten. Die verfassungsrechtliche Diskussion zu den Shame Sanctions zeigt anschaulich, wie schwierig es ist, die intuitive Ablehnung der Shame Sanctions überzeugend zu begründen. Im nächsten Schritt soll auf weitere Kritik an den Shame Sanctions, insbesondere aus moralphilosophischer Perspektive, eingegangen werden.
B. Moral- und politikphilosophische Diskussion Die Kritik, die gegen Shame Sanctions vorgebracht wird, lässt sich in zwei Kategorien einteilen: in die Kategorie der wirkungsbezogenen Bedenken einerseits und die der prinzipiellen Bedenken andererseits. Mit wirkungsbezogenen Bedenken sind
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solche Bedenken gemeint, die sich auf das Eintreten von unerwünschten oder das Nicht-Eintreten von erwünschten Wirkungen beziehen. Mit prinzipiellen Bedenken sind Bedenken gegen die Strafform als solche gemeint, die, selbst wenn die erwünschte Wirkung eintreten würde, zu dem Schluss führen, dass Shame Sanctions als inakzeptable, illegitime Strafform abzulehnen sind. Das bedeutet, dass wirkungsbezogene Bedenken erst dann relevant werden, sofern und sobald die prinzipiellen Bedenken entkräftet werden können. So betrachtet, wäre es folgerichtig, zuerst die prinzipiellen Bedenken zu diskutieren und, falls diese tatsächlich bestätigt werden sollten, die wirkungsbezogenen Bedenken gar nicht mehr anzusprechen. Um ein umfassendes Bild der Kritik an Shame Sanctions zu zeichnen, ist es allerdings wichtig, zuerst auf die wirkungsbezogenen Bedenken einzugehen und sodann die prinzipiellen in den Blick zu nehmen, um ausführlich zu überprüfen, ob und inwiefern Shame Sanctions eine legitime Strafform darstellen.
I. Wirkungsbezogene Bedenken Den Shame Sanctions wird mangelnde Effektivität vorgeworfen, bzw. zumindest der bislang nicht empirisch erbrachte Beweis der eigentlich erwünschten Wirkung:176 Konkret gemeint ist damit die Abschreckung – der Allgemeinheit und des Delinquenten – und dessen Resozialisierung. Die Wirkung einer Strafe wird, je nach Adressat, unterschiedlich gemessen. Die abschreckende Wirkung einer Strafe auf den bestraften Täter wird mithilfe von Rückfallquoten gemessen. Wird ein Delinquent, der mit einer Shame Sanction belegt wurde, nach der Verbüßung seiner Strafe nicht mehr (einschlägig177) rückfällig, ist es nicht zumindest nicht gänzlich ausgeschlossen, dass die Strafe eine abschreckende bzw. resozialisierende Wirkung entfaltet hat.178 Zwar gibt es keine empirischen Daten zur Wirksamkeit von Shame Sanctions, jedoch haben einige der Richter, die regelmäßig Shame Sanctions verhängen, ihre eigenen Beobachtungen gemacht: Richter Cicconetti etwa behauptet, eine lediglich 10 %-ige Rückfallquote bei den von ihm verurteilten Straftätern festzustellen.179 Zum Vergleich: In den gesamten USA liegt die Rückfallquote nach 176 Massaro, Shame, Culture, and American Criminal Law, Michigan Law Review 89 (1991), S. 1880, 1917, 1921; Ziel, Eighteenth Century Public Humiliation Penalties in Twenty-First Century America: The „Shameful“ Return of „Scarlet Letter“ Punishments in U.S. v. Gementera, Brigham Young University Journal of Public Law 19 (2005), S. 499, 513. 177 Von einem einschlägigen Rückfall spricht man, wenn der Delinquent wegen des gleichen Delikts erneut verurteilt wird. Tetal, Rückfall nach strafrechtlicher Sanktionierung in Deutschland (2020), in: „Sag, wie hast du’s mit der Kriminologie?“, S. 573, 573. 178 Zur Frage nach den Effekten vorausgegangener Sanktionierung siehe Singelnstein/ Kunz, Kriminologie (2021), § 20 Rn. 31. 179 Pinedo/Brown/Valiente, Why an Ohio Judge Is Using Unusual Punishments to Keep People Out of Jail 01. 09. 2015, https://abcnews.go.com/US/ohio-judge-unusual-punishmentspeople-jail/story?id=33440871 [zugegriffen am 9. 6. 2022].
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der Inhaftierung bei 75 %, 50 % der ehemals Gefangenen werden sogar noch innerhalb eines Jahres nach ihrer Entlassung aufgrund einer begangenen Straftat erneut inhaftiert.180 Dabei ist jedoch nicht ganz klar, ob sich Cicconettis Quote lediglich auf Shame Sanctions oder auch auf andere seiner „kreativen Strafen“ bezieht.181 Das Gericht, an dem der Richter Ted Poe tätig war, verkündete sogar die niedrigste Quote an Rückfällen von verurteilten Tätern im ganzen Land.182 Dass die Richter, die solche Shame Sanctions verhängen, zumindest vordergründig von deren Wirksamkeit überzeugt sind, ist wenig überraschend. Dies kann jedoch nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass es keine groß angelegten empirischen Untersuchungen zur Frage der Effektivität von Shame Sanctions gibt.183 Massaro geht davon aus, dass, selbst wenn man die Effekte der Shame Sanctions messen würde, sich solche gar nicht zeigen würden, da die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für effektive öffentliche Strafen in der heutigen modernen Gesellschaft nicht gegeben seien.184 Shaming funktioniere, wenn überhaupt, nur in kleinen, intimen Gemeinschaften, deren Mitglieder gleiche Werte miteinander teilen.185 Die heutige (amerikanische) Gesellschaft, insbesondere in den urbanen Zentren, unterscheide sich hiervon jedoch erheblich:186 Charakteristisch für die heutige gesellschaftliche Struktur in den Städten sei vor allem die Anonymität.187 180 Durose/Cooper/Snyder, Recidivism of Prisoners Released in 30 States in 2005: Patterns from 2005 to 2010 04.2014, https://bjs.ojp.gov/content/pub/pdf/rprts05p0510.pdf [zugegriffen am 9. 6. 2022]; Pinedo/Brown/Valiente, Why an Ohio Judge Is Using Unusual Punishments to Keep People Out of Jail 01. 09. 2015, https://abcnews.go.com/US/ohio-judge-unusual-punish ments-people-jail/story?id=33440871 [zugegriffen am 9. 6. 2022]. Mittlerweile ist die Rückfallquote weiter auf 79 % innerhalb von 6 Jahren nach der Verurteilung angestiegen, nach 9 Jahren werden sogar 83 % der Verurteilten rückfällig. Siehe dazu: Alper/Durose/Markman, 2018 Update on Prisoner Recidivism: A 9-Year Follow-up Period (2005 – 2014) 05.2018, https://bjs.ojp.gov/content/pub/pdf/18upr9yfup0514.pdf [zugegriffen am 9. 6. 2022]. 181 So verurteilte Cicconetti eine Frau, die ihren Hund eine Woche lang in einem heruntergekommenen Haus zurückgelassen hatte, dazu, 8 Stunden lang Müll auf einer Müllhalde aufzusammeln. Pinedo/Brown/Valiente, Why an Ohio Judge Is Using Unusual Punishments to Keep People Out of Jail 01. 09. 2015, https://abcnews.go.com/US/ohio-judge-unusual-punish ments-people-jail/story?id=33440871 [zugegriffen am 9. 6. 2022]. Diese Art von Strafe wäre wohl eher als Guilt Sanction einzuordnen. Siehe dazu Teil 1, A. IV. 182 Harris, Texas judge knows how to punish criminals 11. 10. 2003, https://www.bgfalcon media.com/texas-judge-knows-how-to-punish-criminals/article_0e8f0fe7-163a-5f14-978a9f5d2efbe064.html [zugegriffen am 9. 6. 2022]. 183 Massaro, Shame, Culture, and American Criminal Law, Michigan Law Review 89 (1991), S. 1880, 1918. 184 Massaro, Shame, Culture, and American Criminal Law, Michigan Law Review 89 (1991), S. 1880, 1916. 185 Massaro, Shame, Culture, and American Criminal Law, Michigan Law Review 89 (1991), S. 1880, 1916. 186 Massaro, Shame, Culture, and American Criminal Law, Michigan Law Review 89 (1991), S. 1880, 1884. 187 Massaro, Shame, Culture, and American Criminal Law, Michigan Law Review 89 (1991), S. 1880, 1932.
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Massaro geht in ihrem Argument allerdings vom reintegrativen Shaming aus, dessen Effekt darin liegen soll, den Täter wieder in den Kreis der Gemeinschaft aufzunehmen, was wahrscheinlicher ist, wenn sich all deren Mitglieder kennen und schätzen.188 Für ein desintegratives Shaming wäre zwar eine möglichst eng vernetzte Gemeinschaft ebenso wichtig, da nur dadurch die soziale Brandmarkung des Täters möglich ist – wer den Täter nicht kennt, wird ihn nämlich auch nicht ausschließen können. Die Angst in der Bevölkerung, wie der ausgestellte Delinquent ebenfalls sozial exkludiert zu werden, wächst außerdem nur dann, wenn man davon ausgeht, dass man selbst ebenfalls ge- und erkannt werden würde. Allerdings würde dafür sicherlich auch die direkte Nachbarschaft, das berufliche oder das familiäre Umfeld ausreichen; diese Voraussetzungen existieren in dieser Form auch heute noch, trotz der gewachsenen Anonymität. Es kommt also nicht auf die Größe der Gemeinschaft an, deren Teil man ist, sondern nur darauf, ob man überhaupt Teil einer solchen Gruppe ist, sei es auch ,nur‘ der unmittelbaren Nachbarschaft. Auch, wenn heutige, moderne Gesellschaften weniger eng vernetzt sind, gibt es immer noch soziale Beziehungen, die durch Shame Sanctions belastet werden können, weshalb diese grundsätzlich Effekte aufweisen könnten. Anderes müsste natürlich für bereits vollständig ausgeschlossene Menschen gelten, die selbst durch eine drohende soziale Exklusion nicht mehr abgeschreckt werden können. Deni Garcia Smith hat deshalb große Zweifel hinsichtlich der potentiellen Abschreckungswirkung der Shame Sanctions.189 Bei folgenden drei Tätergruppen würde das Shaming ihrer Ansicht nach nicht wirken: bei besonders wohlhabenden Menschen, deren Status nahezu ausschließlich von ihrem Vermögen abhänge, bei besonders armen Menschen, die keinen Status bzw. Ansehen zu verlieren hätten und bei Menschen, die keiner sozialen Gruppe angehören.190 Im Gegensatz zu Massaro und Garcia Smith ist James Whitman der Meinung, dass Shame Sanctions durchaus effektiv sein könnten.191 Allerdings beschränke sich diese Effektivität auch Whitman zufolge auf bestimmte, folgende Tätergruppen: Sexualstraftäter, Täter aus dem Wirtschaftsleben und Ersttäter.192 Whitman zufolge lassen sich potentielle Effekte bei Sexualstraftätern unter anderem dadurch erklären, dass Sexualität generell ein schambehaftetes Thema ist und die Täter damit besonders
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Massaro, Shame, Culture, and American Criminal Law, Michigan Law Review 89 (1991), S. 1880, 1916. 189 Garcia, Three Worlds Collide: A Novel Approach to the Law, Literature and Psychology of Shame, Texas Wesleyan Review 1999, S. 105, 116. 190 Garcia, Three Worlds Collide: A Novel Approach to the Law, Literature and Psychology of Shame, Texas Wesleyan Review 1999, S. 105, 116. 191 Whitman, What is wrong with inflicting shame sanctions?, The Yale Law Journal 107 (1998), S. 1055, 1058. 192 Whitman, What is wrong with inflicting shame sanctions?, The Yale Law Journal 107 (1998), S. 1055, 1058.
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Teil 2: Betrachtung gegenwärtiger Diskussion zu den Shame Sanctions
empfänglich für das Shaming sind.193 Täter aus dem Wirtschaftsleben sind in besonderem Maße auf ihren guten Ruf angewiesen, weswegen das Shaming auch hier durchaus Wirkung zeigen könne.194 Für Ersttäter wirke die Shame Sanction wie ein „liminal rite“195, wie ein Warnschuss, der ihnen einen bevorstehenden Statuswechsel zum Kriminellen ankündige.196 Es besteht also in der Diskussion um Shame Sanctions keine Einigkeit darüber, ob diese die erwünschten Effekte erzielen können oder nicht. Fest steht jedoch, dass ein Effekt bislang empirisch nicht belegt ist.197 Solange nicht belegt ist, dass Shame Sanctions die erwünschten Effekte auch tatsächlich erreichen können, überzeugt die Behauptung der Effektivität bzw. der höheren Effizienz im Vergleich zu anderen Strafformen als Argument für die Shame Sanctions nicht. Neben den fehlenden empirischen Belegen für die erwünschten Effekte wird auch kritisiert, dass Shame Sanctions unerwünschte Effekte bewirken könnten. Ein Beispiel dafür sind Angriffe auf den Delinquenten, nachdem dessen Tat und Identität der Bevölkerung gegenüber bekannt gegeben wird.198 Insbesondere bei moralisch verwerflichen Taten wie dem sexuellen Missbrauch von Kindern seien solche Übergriffe nach dem Bekanntwerden der Tat und der Identität des Täters zu befürchten.199 Dies ist insofern keine ganz unberechtigte Sorge, als dass es in der Vergangenheit bereits zu solchen Übergriffen gekommen ist.200 In der Praxis, so zum Beispiel im Fall Gementera, wird versucht, diesen Bedenken durch verschärfte Sicherheitsmaßnahmen entgegenzuwirken, etwa indem Sicherheitspersonal während des Vollzugs der Shame Sanction anwesend ist, um im Falle eines drohenden Übergriffs einschreiten zu können.201
193 Whitman, What is wrong with inflicting shame sanctions?, The Yale Law Journal 107 (1998), S. 1055, 1064 f. 194 Whitman, What is wrong with inflicting shame sanctions?, The Yale Law Journal 107 (1998), S. 1055, 1066 f. 195 Whitman, What is wrong with inflicting shame sanctions?, The Yale Law Journal 107 (1998), S. 1055, 1068. 196 Whitman, What is wrong with inflicting shame sanctions?, The Yale Law Journal 107 (1998), S. 1055, 1067 f. 197 Massaro, Shame, Culture, and American Criminal Law, Michigan Law Review 89 (1991), S. 1880, 1918. 198 Kubiciel, Shame Sanctions – Ehrenstrafen im Lichte der Straftheorie, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 118 (2006), S. 44, 57 f. 199 Teichman, Sex, Shame, and the Law: An Economic Perspective on Megan’s Laws, Harvard Journal on Legislation 2005, S. 3, 35. 200 Nordheimer, ,Vigilante‘ Attack in New Jersey Is Linked to Sex-Offenders Law, The New York Times vom 11. 01. 1995. 201 Im Fall Gementera sollte die Shame Sanctions an einer Postfiliale vollzogen werden, an der Sicherheitspersonal beschäftigt ist. „For the safety of defendant and general public, the postal facility designated shall be one that employs one or more security guards.“ U.S. v. Gementera, 379 F.3d 596 (9th Cir. 2004).
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Problematisch erscheint auch die Gefahr für Angehörige oder andere nahestehende Personen des Verurteilten.202 Insbesondere bei der Markierung von Eigentum, etwa bei „DUI“203-Aufklebern, die auf dem Auto angebracht sind, das der Delinquent und dessen Familienmitglieder nutzen, besteht die Gefahr, dass Familienmitglieder angegriffen werden, wenn sie mit dem Fahrzeug unterwegs sind.204 Doch auch außerhalb des eigentlichen Shaming-Vorgangs könnten Familienmitglieder oder Freunde zum Ziel von Übergriffen werden, etwa, wenn sie zum Verurteilten halten, obwohl dieser der Öffentlichkeit etwa als Sexualstraftäter bekannt ist.205 Dies wiederum könnte dazu beitragen, das soziale Umfeld des Täters auszudünnen, weil die betroffenen Personen mit dem Druck der Öffentlichkeit nicht umgehen können.206 Wird der Täter sozial isoliert, kann das wiederum dazu führen, dass er sich anderen ,Ausgestoßenen‘ anschließt, wodurch sich kriminelle Subkulturen bilden könnten.207 Somit würde der eigentliche Zweck der Shame Sanction, nämlich die Erhöhung der Sicherheit in der Gesellschaft, unterlaufen, wenn durch die Entstehung von kriminellen Subkulturen die Kriminalitätsrate sogar ansteigt.208 Zwar gibt es Berichte über Übergriffe auf Sexualstraftäter nach Bekanntwerden der begangenen Straftat und der Identität des Täters, Belege für die anderen befürchteten unerwünschten Effekte wie eine wachsende Kriminalitätsrate gibt es jedoch kaum.209 Trotz fehlender Belege ist die Kritik hinsichtlich der Effekte der Shame Sanctions durchaus ernstzunehmen und sollte bei der Entscheidung, eine Shame Sanction zu verhängen, berücksichtigt werden – allerdings erst dann, wenn festgestellt worden ist, dass Shame Sanctions prinzipiell legitim sind. Die Frage, inwiefern man unerwünschte Effekte abmildern kann, wie etwa im Fall Gementera,
202 Teichman, Sex, Shame, and the Law: An Economic Perspective on Megan’s Laws, Harvard Journal on Legislation 2005, S. 3, 34; Nussbaum, Hiding from humanity (2004), S. 231. 203 Abkürzung für „Driving under the influence“. 204 Nussbaum, Hiding from humanity (2004), S. 231. 205 Teichman, Sex, Shame, and the Law: An Economic Perspective on Megan’s Laws, Harvard Journal on Legislation 2005, S. 3, 34. 206 Book führt das Beispiel eines Mannes an, der wegen Trunkenheit am Steuer unter anderem dazu verurteilt wurde, ein Foto von sich in der Lokalzeitung zu veröffentlichen. Dessen Mutter, die bis zu diesem Zeitpunkt nichts von der Verurteilung wusste, sah das Foto in der Zeitung und hinterließ ihrem Sohn eine Notiz, mit der sie zum Ausdruck brachte, wie sehr sie sich schämte. Der verurteilte Mann nahm sich kurz darauf das Leben. Siehe Book, Shame on you: An analysis of modern shame punishment as an alternative to incarceration, William & Mary Law Review 40 (1999), S. 653, 684 f. 207 Whitman, What is wrong with inflicting shame sanctions?, The Yale Law Journal 107 (1998), S. 1055, 1063. 208 Whitman, What is wrong with inflicting shame sanctions?, The Yale Law Journal 107 (1998), S. 1055, 1063. 209 Nordheimer, ,Vigilante‘ Attack in New Jersey Is Linked to Sex-Offenders Law, The New York Times vom 11. 01. 1995.
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Teil 2: Betrachtung gegenwärtiger Diskussion zu den Shame Sanctions
in dem der Richter für die Durchführung der Shame Sanction die Anwesenheit von Sicherheitspersonal voraussetzte, ist dann im Rahmen der Strafzumessung zu klären. Im Folgenden sollen nun die in der moral- und politikphilosophischen Diskussion vorgebrachten prinzipiellen Bedenken hinsichtlich der Shame Sanctions dargestellt und analysiert werden.
II. Prinzipielle Bedenken 1. Verletzung der Würde des Delinquenten Den Shame Sanctions wird vorgeworfen, die Würde210 des Delinquenten zu verletzen.211 Dieser Kritikpunkt findet sich in nahezu jedem wissenschaftlichen Beitrag zu Shame Sanctions. An dieser Stelle soll exemplarisch auf die Kritik von zwei der größten Gegner der Shame Sanctions eingegangen werden. Eine der schärfsten Kritikerinnen der Shame Sanctions ist die amerikanische Rechtsphilosophin Martha Nussbaum. In ihrem Werk „Hiding from Humanity“212 äußert sie sich explizit zu den Shame Sanctions: ihrer Meinung nach sind die Shame Sanctions abzulehnen, weil diese den Delinquenten in seiner Menschenwürde verletzen.213 Das Kernproblem der Shame Sanctions liegt Nussbaum zufolge in der Stigmatisierung des Delinquenten.214 Der Begriff der „Stigmatisierung“ leitet sich aus dem altgriechischen Wort „stigma“ ab, das unter anderem die Tätowierung als Strafe bezeichnete.215 Während Schuldstrafen zum Ausdruck brächten, dass jemand (bloß) eine schlechte Tat begangen habe, würden Shame Sanctions die Identität des Delinquenten angreifen und zum Ausdruck bringen, dass dieser ein kaputter Mensch sei.216 Die Abgrenzung sei zwar durchaus schwierig, vor allem, weil Shame Sanctions ja auch aufgrund eines Schuldspruchs überhaupt erst verhängt werden;217 das entscheidende Merkmal der Shame Sanctions bestehe jedoch darin, dass die umstehenden Passanten dazu ein-
210 Die Verwendung des unscharfen Begriffs der „Würde“ erfolgt an dieser Stelle ganz bewusst, da in der herkömmlichen Kritik selten bis nie eine Begriffsklärung vorangestellt wird. 211 Anstatt vieler Nussbaum, Hiding from humanity (2004), 230. 212 Nussbaum, Hiding from humanity (2004). 213 Nussbaum, Hiding from humanity (2004), S. 230. 214 „Shame punishments, historically, are ways of marking a person, often for life, with a degraded identity.“ Nussbaum, Hiding from humanity (2004), S. 230. 215 Nussbaum, Hiding from humanity (2004), S. 217; Jones, Stigma: Tattooing and Branding in Graeco-Roman Antiquity, Journal of Roman Studies 77 (1987), S. 139, 140 f. 216 Nussbaum, Hiding from humanity (2004), S. 230. 217 Nussbaum, Hiding from humanity (2004), S. 230.
B. Moral- und politikphilosophische Diskussion
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geladen werden, über die Person als Ganzes, über ihre „makelbehaftete Identität“ 218 zu lachen, nicht über eine speziell von der Person begangene Handlung.219 Um dieses Argument zu verdeutlichen, zieht Nussbaum die historischen Ehren- und Schandstrafen heran, vor allem die Brandmarkung, wodurch die Person für ihre ganze Lebenszeit als „schlecht“ markiert wurde.220 Ähnliches geschehe bei den Shame Sanctions, wenn Menschen etwa als „Trinker“ oder als „Freier“ markiert würden.221 Nussbaum vertritt eine ihrer eigenen Aussage nach aristotelische Konzeption der Würde,222 den sogenannten „Capabilities Approach“223, zu deutsch „Befähigungsansatz“. Die Würde des Menschen ergebe sich daraus, dass er über die Vernunft hinaus typisch menschliche Befähigungen habe, deren Ausübung für ihn wichtig sei, weshalb er darin auch nicht eingeschränkt werden dürfe.224 Nussbaum formuliert konkret eine Liste mit 10 Befähigungen, die ihr zufolge Voraussetzung für ein gutes Leben sind: 1.
Leben
2.
Körperliche Gesundheit
3.
Körperliche Integrität
4.
Sinne, Vorstellungskraft, Denken
5.
Gefühle,
6.
Praktische Vernunft
7.
Zugehörigkeit
8.
Andere Spezies
9.
Spiel
10. Kontrolle über die eigene Umwelt.225
218 „When the public laughs at someone in the pillory, they are not invited to focus on any particular act: they are invited to scoff at the person’s spoiled identity.“ Nussbaum, Frontiers of justice (2006), S. 230 f. 219 Nussbaum, Hiding from humanity (2004), S. 230. 220 „But tattoos, brands, signs – these mark a person as having a deviant identity, and their role historically has been to announce that spoiled identity to the world. In many times and places no finding of a guilty act was required; the identity was targeted directly, often in ways that persisted through life – the tattoo, the scarlet letter.“ Nussbaum, Hiding from humanity (2004), S. 230. 221 Nussbaum, Hiding from humanity (2004), S. 230. 222 Nussbaum, Frontiers of justice (2006), S. 159. 223 Nussbaum, Frontiers of justice (2006), S. 69. 224 Nussbaum, Frontiers of justice (2006), S. 70. 225 Nussbaum, Frontiers of justice (2006), S. 76 f.
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Die für die Kritik an den Shame Sanctions relevante menschliche Befähigung ist Nussbaum zufolge die der „Zugehörigkeit“,226 die zwei unterschiedliche Aspekte umfasst: einerseits die Fähigkeit, mit und unter anderen leben zu können, andere Menschen anzuerkennen und Interesse an diesen zu zeigen, sich an unterschiedlichen Formen sozialer Interaktion zu beteiligen;227 fähig zu sein, sich in die Situation anderer hineinzuversetzen.228 Andererseits bedeutet die Befähigung zur Zugehörigkeit auch, dass die sozialen Voraussetzungen für Selbstachtung und Nicht-Demütigung gegeben sein müssen und dass der Mensch fähig sein muss, als Wesen mit Würde behandelt zu werden, dessen Wert gleich zu dem Wert von anderen ist.229 Daraus folgt auch, dass Vorkehrungen gegen Diskriminierung unter anderem aufgrund der ethnischen Zugehörigkeit, des Geschlechts, der sexuellen Orientierung, der Religion und der nationalen Herkunft getroffen werden müssen.230 Shame Sanctions verstoßen Nussbaum zufolge gegen diese Befähigung der „Zugehörigkeit“, indem sie den Delinquenten demütigen und erniedrigen und damit unvereinbar mit der politischen Verpflichtung sind, allen Bürgern gleichermaßen die notwendigen sozialen Bedingungen für Selbstachtung und Selbstrespekt zu ermöglichen.231 Nussbaum selbst sieht nur die Strafe als angemessen an, die darauf abzielt, Schuldgefühle beim Delinquenten auszulösen; Scham dagegen ist ihrer Ansicht nach nie ein legitimes Mittel, selbst wenn das Ergebnis, etwa die Prävention von Kriminalität, wünschenswert ist.232 Nussbaums Argumentation ist jedoch aus mehreren Gründen nicht überzeugend. Zunächst ist ihr Vergleich der Shame Sanctions mit den historischen Formen der Ehren- und Schandstrafen, den sie zur Verdeutlichung ihres Arguments, Shame Sanctions würden stigmatisierend wirken, anführt, abzulehnen. Grund dafür ist, dass, wie bereits in Teil 1 der Arbeit deutlich geworden ist, zwischen den historischen Formen der Beschämungsstrafen und den heutigen Shame Sanctions nur oberflächliche Gemeinsamkeiten, dagegen aber vor allem gravierende Unterschiede bestehen: allen voran die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, aber auch die körperliche Dimension der Ehrenstrafen, die bei den heutigen Shame Sanctions keinerlei Rolle mehr spielt.233 Wäre aus Nussbaums Sicht tatsächlich die Stigmatisierung das Problem der Shame Sanctions und gleichzeitig Grund für die daraus resultierende Würdeverletzung, müsste Nussbaum in letzter Konsequenz jede Art der Strafe ablehnen, da bereits die Verurteilung eine stigmatisierende Wirkung auf den 226 „[…] Thus it is incompatible with a political commitment to giving all citizens the social conditions of self-respect, even if, for some contingent reason, the person happens not to feel humiliation.“ Nussbaum, Hiding from humanity (2004), S. 230. 227 Nussbaum, Frontiers of justice (2006), S. 77. 228 Nussbaum, Frontiers of justice (2006), S. 77. 229 Nussbaum, Frontiers of justice (2006), S. 77. 230 Nussbaum, Frontiers of justice (2006), S. 77. 231 Nussbaum, Hiding from humanity (2004), S. 230. 232 Nussbaum, Hiding from humanity (2004), S. 233. 233 Siehe dazu Teil 1, C. I. 4.
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Delinquenten haben kann.234 Widersprüchlich sei dann Thom Brooks zufolge aber, dass Nussbaum sich nicht gegen jede Strafe ausspreche, sondern nur gegen Shame Sanctions.235 Schlussendlich ist Nussbaums Auseinandersetzung mit den Begriffen Scham und Schuld, zumindest was die darauf beruhende Unterscheidung zwischen einer legitimen und illegitimen Strafe angeht, nicht befriedigend. Die Trennung zwischen Scham und Schuld ist, wie sie selbst sagt, nicht leicht vorzunehmen, zumal für eine Shame Sanction ebenfalls die Feststellung von Schuld erforderlich ist. Ausgehend von dieser Kritik stellt sich ganz allgemein die Frage, inwiefern Nussbaums Würdekonzeption tatsächlich geeignet ist, um Würdeverletzungen festzustellen. An sich spricht nichts dagegen, Voraussetzungen für ein gutes Leben zu formulieren. Nussbaums Konzeption eines guten Lebens ist sogar wünschenswert – allerdings ungeeignet als Maßstab für die Feststellung von Würdeverletzungen. Problematisch ist vor allem, dass Nussbaum, sobald eine dieser Grundbefähigungen verletzt ist, eine Würdeverletzung annimmt. Damit wären Würdeverletzungen gleichbedeutend mit Rechtsverletzungen jeglicher Art; der übergeordneten Bedeutung von Würde wird man mit diesem Ansatz nicht gerecht. Außerdem wird Nussbaums Ansatz Paternalismus vorgeworfen; diesen Vorwurf weist sie selbst jedoch entschieden zurück.236 Die Befähigung erfordere nicht, dass sie auch tatsächlich ausgeübt wird.237 Es gehe lediglich darum, dass die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen es jedem Menschen ermöglichen, diese Befähigungen auszuleben und auszuüben.238 Im Ergebnis lässt sich sagen, dass Nussbaums Würdekonzeption zu weit geht. Diese kann jedoch als positive Formulierung von Grundbedingungen für ein gutes Leben betrachtet werden. Damit überzeugt Nussbaums Schlussfolgerung, Shame Sanctions würden die Würde des Delinquenten verletzen, nicht. James Whitman setzt sich ebenfalls mit einer potentiellen Würdeverletzung durch die Shame Sanctions auseinander. Er präsentiert zunächst eine Unterteilung der unterschiedlichen Strafformen je nach dem in deren Rahmen entzogenem Gut. Die Hinrichtung entziehe das Leben, die Freiheitsstrafe die körperliche Freiheit, Körperstrafen würden die körperliche Sicherheit und Integrität verletzen, die Geldstrafe entziehe das Eigentum und Shaming verletze das, „was wir ,Würde‘ nennen“239.240 Die Shame Sanctions stünden im Gegensatz zu einer tiefen Überzeugung, die er-
234 So auch Brooks, Shame On You, Shame On Me? Nussbaum on Shame Punishment, Journal of Applied Philosophy 25 (2008), S. 322, 327. 235 Brooks, Shame On You, Shame On Me? Nussbaum on Shame Punishment, Journal of Applied Philosophy 25 (2008), S. 322, 328. 236 Nussbaum, Gerechtigkeit oder Das gute Leben (1999), 40 f. 237 Nussbaum, Gerechtigkeit oder Das gute Leben (1999), 40 f. 238 Nussbaum, Gerechtigkeit oder Das gute Leben (1999), 40 f. 239 Whitman, What is wrong with inflicting shame sanctions?, The Yale Law Journal 107 (1998), S. 1055, 1060. 240 Whitman, What is wrong with inflicting shame sanctions?, The Yale Law Journal 107 (1998), S. 1055, 1060.
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fordere, dass selbst Kriminelle mit Respekt behandelt werden müssten;241 der Staat habe zwar die Macht, Delinquenten die körperliche Freiheit oder das Eigentum zu entziehen, aber nicht die Würde.242 Diesem Argument komme Whitman zufolge eine „intuitive Richtigkeit“243 zu, jedoch könne dies nicht als Gegenargument gegen Shame Sanctions angeführt werden, solange nicht spezifiziert werde, was „Würde“ genau ist.244 Mit der Verletzung der Würde des Delinquenten durch die Shame Sanctions sei seiner Ansicht nach nicht die „Würde“, wie sie im herkömmlichen Sinne verstanden werde, gemeint, sondern vielmehr eine sogenannte „transactional dignity“245.246 Die „transactional dignity“ bestehe darin, zu wissen, „mit wem man es zu tun habe“.247 Damit bezieht sich Whitman auf die Tatsache, dass während der Vollstreckung der Shame Sanctions nicht ausgewählte, sondern mehr oder weniger zufällige Privatpersonen anwesend sind.248 Dieser „unberechenbare“ Faktor im Rahmen der Shame Sanctions verletze die „transactional dignity“ des Delinquenten.249 Damit erläutert Whitman jedoch nicht den Begriff der Würde, sondern verschiebt vielmehr den Gegenstand der Kritik. Zwar ist der Begriff der Würde im Rahmen der Diskussion durchaus präzisierungsbedürftig, jedoch darf diese mangelnde Begriffsschärfe nicht dazu führen, um eine vollkommen andere Kritik hinter diesem Begriff zu „verstecken“. Dazu kommt, dass mit Whitmans Verständnis von Würde auch eine Anwesenheit von Personen bei der Hauptverhandlung abzulehnen wäre, da auch in diesem Rahmen im Vorfeld nicht klar ist, mit wem es der Angeklagte zu tun hat. Aus diesem Grund ist auch Whitmans Kritik, Shame Sanctions verletzen die Würde des Delinquenten, nicht überzeugend. Sie bezieht sich statt auf die Verletzung von Individualrechten des Delinquenten vielmehr auf die Beteiligung von im Vorfeld nicht bekannten Privatpersonen an der Strafvollstreckung. Anhand der Betrachtung von Nussbaums und Whitmans Kritik, zeigt sich, dass die Annahme einer Würdeverletzung im Rahmen der Shame Sanctions vorwiegend 241 Whitman, What is wrong with inflicting shame sanctions?, The Yale Law Journal 107 (1998), S. 1055, 1069. 242 Whitman, What is wrong with inflicting shame sanctions?, The Yale Law Journal 107 (1998), S. 1055, 1069. 243 Whitman, What is wrong with inflicting shame sanctions?, The Yale Law Journal 107 (1998), S. 1055, 1069. 244 Whitman, What is wrong with inflicting shame sanctions?, The Yale Law Journal 107 (1998), S. 1055, 1069. 245 Whitman, What is wrong with inflicting shame sanctions?, The Yale Law Journal 107 (1998), S. 1055, 1090. 246 Whitman, What is wrong with inflicting shame sanctions?, The Yale Law Journal 107 (1998), S. 1055, 1090. 247 Whitman, What is wrong with inflicting shame sanctions?, The Yale Law Journal 107 (1998), S. 1055, 1090. 248 Kubiciel, Shame Sanctions – Ehrenstrafen im Lichte der Straftheorie, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 118 (2006), S. 44, 74. 249 Whitman, What is wrong with inflicting shame sanctions?, The Yale Law Journal 107 (1998), S. 1055, 1090 f.
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intuitiver Natur ist. Es scheint schlicht und ergreifend so sein zu müssen, dass Shame Sanctions abzulehnen sind, weil sie die Würde des Delinquenten verletzen. Die „intuitive Richtigkeit“250 dieser Annahme kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Denk- und Argumentationsweg zur Annahme der Würdeverletzung nicht überzeugend ist. Die von Martha Nussbaum vorgebrachten Bedenken sprechen gegen jede Form der Strafe, sie sprechen sogar schon gegen die strafrechtliche Verurteilung, da bereits diese stigmatisierend wirken kann. James Whitman bemerkt die Problematik um die mangelnde Überzeugungskraft der Würdeverletzung als Argument, präsentiert aber stattdessen ein ganz anderes Gegenargument, eingekleidet in einen vermeintlich besonders innovativen Würdebegriff. Keiner der beiden Autoren begründet damit in überzeugender Weise, dass die Würde des Delinquenten verletzt wird, wenn er eine Shame Sanction durchlaufen muss, welcher Inhalt sich auch immer hinter dem Begriff „Würde“ nun verbergen mag. Das bedeutet nicht, dass die Kritik nicht nachvollziehbar ist, sie ist jedoch im Fall der Shame Sanctions nicht durchschlagend. Das bedeutet, dass der Kern des intuitiven Unbehagens durch diese Kritik nicht getroffen ist. Aus diesem Grund ist dieser Frage weiter nachzugehen. 2. Verletzung des staatlichen Strafmonopols Neben der Verletzung der Würde des Delinquenten wird an den Shame Sanctions außerdem kritisiert, dass diese das staatliche Strafmonopol verletzen, weil sie die „Öffentlichkeit zum Vollstrecker der Strafe machen“251. Teilweise ist sogar von einer „Übertragung der Strafgewalt“252 die Rede. Dass die Bevölkerung in irgendeiner Weise Teil der Shame Sanction ist, ist nicht von der Hand zu weisen. Schließlich finden die Shame Sanctions – anders als etwa die Freiheitsstrafe – in der Öffentlichkeit statt. Die konkrete Kritik, dass die Shame Sanctions aufgrund ihres öffentlichen Charakters das staatliche Strafmonopol verletzen, soll in diesem Kapitel betrachtet und analysiert werden. Alon Harel und Martin Nettesheim zufolge liegt die Verletzung des staatlichen Strafmonopols darin, dass bei den Shame Sanctions die Festlegung des Strafmaßes unzulässigerweise auf Privatpersonen übertragen wird.253 Dies erklären beide damit, dass das genaue Maß bzw. die Schwere der Strafe im Rahmen der Shame Sanction erst durch die jeweiligen Reaktionen der Betrachter bestimmt werde und die Fest250 Whitman, What is wrong with inflicting shame sanctions?, The Yale Law Journal 107 (1998), S. 1055, 1069. 251 Kubiciel, Shame Sanctions – Ehrenstrafen im Lichte der Straftheorie, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 118 (2006), S. 44, 73. 252 Jüngel, Shame sanctions – Wiedergeburt der Schandstrafe? (2011), S. 93. 253 Nettesheim, Öffentlichkeit als Unternehmenssanktion (2019), 23, 32; Harel, Why Only The State Might Inflict Criminal Sanctions: The Case Against Privately Inflicted Sanctions, Legal Theory 14 (2008), S. 113, 114.
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Teil 2: Betrachtung gegenwärtiger Diskussion zu den Shame Sanctions
legung eines Strafmaßes im Voraus damit gar nicht möglich sei.254 Um das Problem der Mitwirkung von Privatpersonen an der Strafvollstreckung zu erläutern, grenzt Nettesheim die Shame Sanctions von privaten Gefängnissen ab. Er unterscheidet in diesem Zusammenhang klar zwischen der Privatisierung der Sanktionsgewalt einerseits und der Vollstreckung staatlich verhängter Sanktionen unter dem Einsatz Privater andererseits.255 Bei privatisierten Gefängnissen gehe es im Gegensatz zu den Shame Sanctions nur darum, den Vollzug bereits bestimmter Sanktionen umzusetzen, eine eigene Entscheidungsgewalt der überwachenden Akteure bestehe nicht.256 Mit den Shame Sanctions gehe dagegen die „Abgabe der staatlichen Entscheidungsverantwortung über die Art und das Maß der Sanktion einher“.257 Alon Harel zufolge ist darüber hinaus jede Art der Beteiligung Privater im Rahmen der Strafe abzulehnen. Um die Unzulässigkeit privat auferlegter Sanktionen aufzuzeigen, beschreibt Harel ein hypothetisches Szenario: Man stelle sich den rechtstreuen Bürger A vor, der von staatlicher Seite dazu aufgefordert wird, den verurteilten Straftäter B zu bestrafen, indem er ihn ausgrenzt oder seine sozialen Interaktionen mit diesem einschränkt.258 As Entscheidung könnte Harel zufolge jeweils auf folgenden drei Überlegungen fußen:259 A könnte B sozial ausgrenzen, weil er dies als seine bürgerliche Pflicht empfindet.260 Dies würde bedeuten, dass A sich kein eigenes Urteil über das Verhalten des B gebildet hat.261 A könnte B aber auch im Vertrauen auf die Richtigkeit des staatlichen Urteils bestrafen.262 Drittens könnte A den B aufgrund seiner eigenen Überzeugung bestrafen, dass das Verhalten des B falsch war.263 Harel zufolge haben alle drei Entscheidungsgrundlagen ihre Schwächen: Den B aufgrund einer bestehenden oder empfundenen bürgerlichen Pflicht zu bestrafen, stellt aus Harels Sicht nicht einmal eine Strafe dar, da A sich überhaupt kein eigenes Urteil über Bs Verhalten gebildet habe.264 Aus Sicht des B sei 254
Nettesheim, Öffentlichkeit als Unternehmenssanktion (2019), S. 23. Nettesheim, Öffentlichkeit als Unternehmenssanktion (2019), S. 31. 256 Nettesheim, Öffentlichkeit als Unternehmenssanktion (2019), S. 31 f. 257 Nettesheim, Öffentlichkeit als Unternehmenssanktion (2019), S. 32. 258 Harel, Why Only The State Might Inflict Criminal Sanctions: The Case vately Inflicted Sanctions, Legal Theory 14 (2008), S. 113, 127 f. 259 Harel, Why Only The State Might Inflict Criminal Sanctions: The Case vately Inflicted Sanctions, Legal Theory 14 (2008), S. 113, 127 f. 260 Harel, Why Only The State Might Inflict Criminal Sanctions: The Case vately Inflicted Sanctions, Legal Theory 14 (2008), S. 113, 128. 261 Harel, Why Only The State Might Inflict Criminal Sanctions: The Case vately Inflicted Sanctions, Legal Theory 14 (2008), S. 113, 128. 262 Harel, Why Only The State Might Inflict Criminal Sanctions: The Case vately Inflicted Sanctions, Legal Theory 14 (2008), S. 113, 128. 263 Harel, Why Only The State Might Inflict Criminal Sanctions: The Case vately Inflicted Sanctions, Legal Theory 14 (2008), S. 113, 128. 264 Harel, Why Only The State Might Inflict Criminal Sanctions: The Case vately Inflicted Sanctions, Legal Theory 14 (2008), S. 113, 128. 255
Against PriAgainst PriAgainst PriAgainst PriAgainst PriAgainst PriAgainst Pri-
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die Übelszufügung durch den A deshalb nicht akzeptabel.265 Auch die Übelszufügung, die der A im Vertrauen auf die Richtigkeit der staatlichen Entscheidung vornimmt, sei unzulässig.266 Wäre das Vertrauen gerechtfertigt, bliebe die Verantwortung für die Übelszufügung beim Staat.267 Letzteres sei ausnahmsweise im Falle von Amtsträgern gerechtfertigt, wie etwa bei Richtern oder Justizvollzugsbeamten.268 Diese handelten jedoch auch nicht aufgrund ihrer eigenen privaten Überzeugung, sondern in Erfüllung ihrer beruflichen Pflicht.269 Private Bürger könnten sich jedoch nicht von moralischer Verantwortung im Rahmen der Übelszufügung freimachen.270 Der Bürger müsse sich ein eigenes Urteil über die Angemessenheit der Sanktion bilden.271 Die Übelszufügung durch A, die auf dessen eigener Überzeugung fußt, der B habe sich falsch verhalten, sei grundsätzlich zulässig.272 Dies wäre – zumindest in diesem Rahmen – auch aus Sicht des bestraften Delinquenten die überzeugendste Begründung.273 Allerdings sei es aus dessen Sicht nicht nachvollziehbar, weshalb die Überzeugung des Mitbürgers seiner eigenen vorzuziehen sein sollte.274 Im Rahmen der Bestrafung treffen damit zwei gleichwertige Individuen aufeinander, von denen die Meinung des einen von staatlicher Seite stärker gewichtet wird als die des anderen.275 Und da aus Harels Sicht die Shame Sanction eine solche ,Bestrafung‘ durch Private darstellt, ist diese unzulässig. Selbst der größte Befürworter der Shame Sanctions, Dan Kahan, hat sich im Jahre 2006 hinsichtlich der Gleichheit der Bürger kritisch über Shame Sanctions geäußert: das Problem dieser
265
Harel, Why Only The State Might Inflict Criminal Sanctions: vately Inflicted Sanctions, Legal Theory 14 (2008), S. 113, 128. 266 Harel, Why Only The State Might Inflict Criminal Sanctions: vately Inflicted Sanctions, Legal Theory 14 (2008), S. 113, 129. 267 Harel, Why Only The State Might Inflict Criminal Sanctions: vately Inflicted Sanctions, Legal Theory 14 (2008), S. 113, 129. 268 Harel, Why Only The State Might Inflict Criminal Sanctions: vately Inflicted Sanctions, Legal Theory 14 (2008), S. 113, 129. 269 Harel, Why Only The State Might Inflict Criminal Sanctions: vately Inflicted Sanctions, Legal Theory 14 (2008), S. 113, 130. 270 Harel, Why Only The State Might Inflict Criminal Sanctions: vately Inflicted Sanctions, Legal Theory 14 (2008), S. 113, 129. 271 Harel, Why Only The State Might Inflict Criminal Sanctions: vately Inflicted Sanctions, Legal Theory 14 (2008), S. 113, 129. 272 Harel, Why Only The State Might Inflict Criminal Sanctions: vately Inflicted Sanctions, Legal Theory 14 (2008), S. 113, 129. 273 Harel, Why Only The State Might Inflict Criminal Sanctions: vately Inflicted Sanctions, Legal Theory 14 (2008), S. 113, 129. 274 Harel, Why Only The State Might Inflict Criminal Sanctions: vately Inflicted Sanctions, Legal Theory 14 (2008), S. 113, 129. 275 Harel, Why Only The State Might Inflict Criminal Sanctions: vately Inflicted Sanctions, Legal Theory 14 (2008), S. 113, 129.
The Case Against PriThe Case Against PriThe Case Against PriThe Case Against PriThe Case Against PriThe Case Against PriThe Case Against PriThe Case Against PriThe Case Against PriThe Case Against PriThe Case Against Pri-
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Sanktionsform sei, dass sie „deeply partisan“276 sei und deshalb auch nicht mit einem egalitären Gesellschaftsbild vereinbar.277 Mit seiner negativen Begründung dafür, dass eine Bestrafung durch Privatpersonen nicht zulässig ist, hat Harel jedoch noch nicht begründet, weshalb der Staat dazu befugt sein sollte, Delinquenten zu bestrafen. Auch eine solche positive Begründung dafür, weshalb ausschließlich der Staat und seine Institutionen Strafe verhängen und vollstrecken dürfen, führt Harel an.278 Er beginnt mit zwei potentiellen Begründungen für das staatliche Strafmonopol, die er jedoch ablehnt, bevor er zu der aus seiner Sicht überzeugendsten Begründung für das ausschließliche Recht des Staates zu strafen, kommt. Die erste dieser Begründungen ist der instrumentelle Begründungsansatz: Diesem zufolge könnte die Bestrafung durch den Staat schlicht deswegen vorzuziehen sein, weil diese effizienter erfolge als jene durch Privatpersonen.279 Das würde die Bestrafung durch Private dann allerdings nicht kategorisch ausschließen. Sollte die Bestrafung irgendwann durch andere effizienter erfolgen können, wäre eine Bestrafung durch den Staat nicht mehr zwingend.280 Aus diesem Grund sei dieser Begründungsansatz nicht überzeugend. Einem anderen Begründungsansatz zufolge gibt es eine normative, „nicht-kontingente“281 Voraussetzung für eine gerechte Strafe: nämlich das Handeln des Staates als zentraler Akteur.282 Dieser Ansicht nach kann die Bestrafung durch nicht-staatliche Akteure im Prinzip ähnlich wie die staatliche Bestrafung funktionieren und ebenfalls Strafzwecke wie etwa die Abschreckung erfüllen.283 Eine Bestrafung durch diese nicht-staatlichen Akteure sei jedoch aus prinzipiellen, nicht-kontingenten Gründen grundsätzlich ungerecht.284 Unter normalen Bedingungen gebe es diesem Begründungsansatz zufolge zentrale Merkmale des Staates, die ihn zum einzigen Akteur machen, der
276 Kahan, What’s Really Wrong with Shaming Sanctions, Yale Law School, Public Law Working Paper No. 125 (2006), S. 1, 3. 277 Kahan, What’s Really Wrong with Shaming Sanctions, Yale Law School, Public Law Working Paper No. 125 (2006), S. 1, 3. 278 Harel, Why Only The State Might Inflict Criminal Sanctions: The Case Against Privately Inflicted Sanctions, Legal Theory 14 (2008), S. 113, 127. 279 Harel, Why Only The State Might Inflict Criminal Sanctions: The Case Against Privately Inflicted Sanctions, Legal Theory 14 (2008), S. 113, 118. 280 Harel, Why Only The State Might Inflict Criminal Sanctions: The Case Against Privately Inflicted Sanctions, Legal Theory 14 (2008), S. 113, 120. 281 Harel, Why Only The State Might Inflict Criminal Sanctions: The Case Against Privately Inflicted Sanctions, Legal Theory 14 (2008), S. 113, 117. 282 Harel, Why Only The State Might Inflict Criminal Sanctions: The Case Against Privately Inflicted Sanctions, Legal Theory 14 (2008), S. 113, 117. 283 Harel, Why Only The State Might Inflict Criminal Sanctions: The Case Against Privately Inflicted Sanctions, Legal Theory 14 (2008), S. 113, 117. 284 Harel, Why Only The State Might Inflict Criminal Sanctions: The Case Against Privately Inflicted Sanctions, Legal Theory 14 (2008), S. 113, 120.
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eine gerechte Strafe verhängen kann.285 Eine Rechtfertigung durch diese normative Voraussetzung schließt allerdings nicht aus, dass es Umstände geben kann, unter denen auch nicht-staatliche Akteure strafrechtliche Sanktionen rechtmäßig verhängen können.286 Diese Umstände müssten sich allerdings von den ,normalen‘ Umständen dann in extremer Hinsicht unterscheiden – beispielsweise müsste sich der Staat in radikaler Hinsicht verändern;287 bloße Kosten- bzw. Effizienzerwägungen wie im Rahmen der instrumentellen Rechtfertigung reichen hierfür nicht aus.288 Auch dieser Begründungansatz sei Harel zufolge nicht überzeugend. Der einzige überzeugende Begründungsansatz ist Harel zufolge der sogenannte „integrationistische Ansatz“289 bzw. eine „state-centered justification“290. Danach ist eine Strafe nur dann legitim, wenn sie vom Staat bzw. von staatlichen Institutionen verhängt und vollstreckt wird.291 Grund dafür ist, dass sich Harel zufolge die Strafe, die von einem staatlichen Akteur verhängt wird, ganz fundamental von der Strafe unterscheidet, die von nicht-staatlichen Akteuren verhängt wird.292 Zur Verdeutlichung seiner Position zieht Harel das Beispiel der Blutrache an.293 Die Blutrache ist die Tötung eines (meist männlichen) Mitglieds einer anderen Familie, nachdem dieses ein Mitglied der eigenen Familie getötet hat.294 Die Tötung muss, um als Blutrache gelten zu können, meist von einem bestimmten (männlichen) Familienmitglied vorgenommen werden.295 Handelt nicht der ,zuständige‘ Akteur, gilt die Tötung nicht als Blutrache und damit nicht als legitime Tötung.296 Eine solche „state285 Welche genauen Merkmale das sein sollen, spezifiziert Harel nicht näher. Siehe Harel, Why Only The State Might Inflict Criminal Sanctions: The Case Against Privately Inflicted Sanctions, Legal Theory 14 (2008), S. 113, 117. 286 Harel, Why Only The State Might Inflict Criminal Sanctions: The Case Against Privately Inflicted Sanctions, Legal Theory 14 (2008), S. 113, 117. 287 Harel, Why Only The State Might Inflict Criminal Sanctions: The Case Against Privately Inflicted Sanctions, Legal Theory 14 (2008), S. 113, 117. 288 Harel, Why Only The State Might Inflict Criminal Sanctions: The Case Against Privately Inflicted Sanctions, Legal Theory 14 (2008), S. 113, 117. 289 Harel, Why Only The State Might Inflict Criminal Sanctions: The Case Against Privately Inflicted Sanctions, Legal Theory 14 (2008), S. 113, 123. 290 Harel, Why Only The State Might Inflict Criminal Sanctions: The Case Against Privately Inflicted Sanctions, Legal Theory 14 (2008), S. 113, 115. 291 Harel, Why Only The State Might Inflict Criminal Sanctions: The Case Against Privately Inflicted Sanctions, Legal Theory 14 (2008), S. 113, 123. 292 Harel, Why Only The State Might Inflict Criminal Sanctions: The Case Against Privately Inflicted Sanctions, Legal Theory 14 (2008), S. 113, 121. 293 Harel, Why Only The State Might Inflict Criminal Sanctions: The Case Against Privately Inflicted Sanctions, Legal Theory 14 (2008), S. 113, 121. 294 Harel, Why Only The State Might Inflict Criminal Sanctions: The Case Against Privately Inflicted Sanctions, Legal Theory 14 (2008), S. 113, 121. 295 Harel, Why Only The State Might Inflict Criminal Sanctions: The Case Against Privately Inflicted Sanctions, Legal Theory 14 (2008), S. 113, 121. 296 Harel, Why Only The State Might Inflict Criminal Sanctions: The Case Against Privately Inflicted Sanctions, Legal Theory 14 (2008), S. 113, 121.
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centered justification“ könnte Harel zufolge darin liegen, staatlicher Strafe eine expressive Funktion zuzuschreiben.297 Danach dient Strafe dazu, Empörung und Missbilligung auszudrücken, entweder von Seiten der strafenden Autorität selbst oder von denen, „in deren Namen“298 Strafe verhängt wird.299 Diese expressive Funktion könne allerdings nur vom Staat selbst erfüllt werden, da die Bestrafung das Urteil der Gemeinschaft ausdrückt, dass das Verhalten des Täters falsch war.300 In Namen der Gemeinschaft könne aber nur der Staat sprechen, keine einzelnen Bürger.301 Die Abschreckung oder andere Strafzwecke könnten demnach durchaus auch durch die Bestrafung mittels nicht-staatlicher Akteure erreicht werden, die expressive Funktion könne jedoch nur durch die vom Staat vollstreckte Strafe erfüllt werden.302 Harel ist also der Ansicht, dass der Staat die von ihm verhängte Strafe auch vollstrecken muss, damit die Strafe überhaupt als legitim, sogar überhaupt als Strafe gelten kann. Dabei sei die Beziehung zwischen Staat und Bürger maßgeblich, die von ihrer Struktur mit der Eltern-Kind-Beziehung vergleichbar sei.303 Die Bestrafung eines Kindes erfolge durch dessen Eltern und müsse auch durch diese erfolgen:304 nicht, weil diese das Kind effizienter bestrafen können, sondern weil die Bestrafung durch die Eltern, allein aufgrund der besonderen Beziehung zwischen Eltern und ihrem Kind, eine einzigartige Funktion erfülle, die niemals durch die Bestrafung durch einen anderen Akteur erfüllt werden könne.305 Das Recht, das Kind zu bestrafen, sei nämlich eng mit anderen Rechten und Pflichten verbunden, die aus dem Eltern-Kind-Verhältnis resultieren.306 Übertrage man diese Argumentation auf das Recht des Staates zu bestrafen, ergebe sich dieses damit aus anderen staatlichen Rechten und Pflichten, wie etwa der Normierung von Straftatbeständen und der Verurteilung von Straftätern, aber auch der staatlichen Pflicht, die eigenen Bürger zu
297 Harel, Why Only The State Might Inflict Criminal Sanctions: The Case Against Privately Inflicted Sanctions, Legal Theory 14 (2008), S. 113, 121; Feinberg, The Expressive Function of Punishment, Monist 49 (1965), S. 397, 402 f. Mehr zur expressiven Funktion von Strafe unter Teil 3, A. III. 5. 298 Feinberg, The Expressive Function of Punishment, Monist 49 (1965), S. 397, 400. 299 Feinberg, The Expressive Function of Punishment, Monist 49 (1965), S. 397, 400. 300 Feinberg, The Expressive Function of Punishment, Monist 49 (1965), S. 397, 403. 301 Harel, Why Only The State Might Inflict Criminal Sanctions: The Case Against Privately Inflicted Sanctions, Legal Theory 14 (2008), S. 113, 121. 302 Harel, Why Only The State Might Inflict Criminal Sanctions: The Case Against Privately Inflicted Sanctions, Legal Theory 14 (2008), S. 113, 123. 303 Harel, Why Only The State Might Inflict Criminal Sanctions: The Case Against Privately Inflicted Sanctions, Legal Theory 14 (2008), S. 113, 123. 304 Harel, Why Only The State Might Inflict Criminal Sanctions: The Case Against Privately Inflicted Sanctions, Legal Theory 14 (2008), S. 113, 123. 305 Harel, Why Only The State Might Inflict Criminal Sanctions: The Case Against Privately Inflicted Sanctions, Legal Theory 14 (2008), S. 113, 123 f. 306 Harel, Why Only The State Might Inflict Criminal Sanctions: The Case Against Privately Inflicted Sanctions, Legal Theory 14 (2008), S. 113, 124.
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beschützen.307 Der staatliche Strafanspruch darf Harel zufolge damit nicht isoliert betrachtet werden, sondern ist eng verbunden mit anderen staatlichen Rechten und Pflichten.308 In seiner Begründung für ein exklusives Recht des Staates zu strafen, bringt Harel einen wichtigen Punkt an: dass der Delinquent überhaupt vom Staat bestraft werden kann, muss sich aus der Beziehung zwischen diesen beiden Akteuren ergeben, so, wie sich die Inakzeptabilität der Bestrafung durch Private aus dem gleichberechtigten Verhältnis der Bürger untereinander ergibt. Harels Vergleich zwischen der Eltern-Kind-Beziehung einerseits und der Staat-Bürger-Beziehung andererseits weist jedoch auch ein erhebliches Problem auf: Harel schließt bereits vom äußeren Verhältnis zwischen dem Bürger und dem Staat auf die Berechtigung des Staates, den Bürger zu bestrafen. Das würde, um das Eltern-Kind-Beispiel Harels noch einmal aufzugreifen, bedeuten, dass Eltern ihre Kinder bestrafen dürfen, ganz unabhängig davon, wie sie ihre Kinder behandeln, ob sie sie misshandeln oder vernachlässigen. In seinem integrationistischen Ansatz geht Harel offenbar von der Prämisse aus, dass Eltern ihre Kinder gut behandeln, sie beschützen – dass sie ihre elterlichen Pflichten so zufriedenstellend erfüllen, dass sie dann auch das Recht haben, das Kind bei einem Fehlverhalten zu bestrafen. Diese Prämisse ist zwar Voraussetzung für seine Theorie, sie entspricht aber nicht der Realität.309 Harel fokussiert sich in seiner Begründung damit zu stark auf den Status des bestrafenden Akteurs und dessen äußere Beziehung zum Bestraften. Um – vor allem dem Delinquenten gegenüber – begründen zu können, weshalb nur der Staat strafen darf, müsste deshalb der Blick auf den konkreten Inhalt der Beziehung zwischen den Akteuren gerichtet werden. Darüber hinaus ist sowohl an Nettesheims als auch Harels Behauptung, Shame Sanctions würden das staatliche Strafmonopol verletzen, problematisch, dass keiner von beiden den Begriff des staatlichen Strafanspruchs bzw. -monopols im Vorfeld definiert. Von der Definition hängt jedoch ab, ob eine Verletzung des staatlichen Strafmonopols durch die Shame Sanctions angenommen werden kann. Um zu überprüfen, inwiefern Harels und Nettesheims Kritik stichhaltig ist, soll daher zunächst kurz auf die Frage eingegangen werden, worin das staatliche Strafmonopol
307 Harel, Why Only The State Might Inflict Criminal Sanctions: The Case Against Privately Inflicted Sanctions, Legal Theory 14 (2008), S. 113, 127. 308 Harel, Why Only The State Might Inflict Criminal Sanctions: The Case Against Privately Inflicted Sanctions, Legal Theory 14 (2008), S. 113, 125. 309 Harel selbst weist bei seinem Vergleich mit der Eltern-Kind-Beziehung darauf hin, dass es ihm nicht darauf ankomme, eine möglichst stichhaltige Begründung für das Bestrafungsrecht der Eltern zu präsentieren, sondern darauf, die Struktur dieser Begründung zu nutzen, um das Argument für den politischen Kontext verständlich zu machen. „It is important, however, to concede at the outset that this section is not aimed at conclusively establishing the soundness of a parent-centered justification. Instead, it aims to explore the structure of such a justification in order to facilitate the construction of an analogous argument in the political context.“ Siehe: Harel, Why Only The State Might Inflict Criminal Sanctions: The Case Against Privately Inflicted Sanctions, Legal Theory 14 (2008), S. 113, 123.
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überhaupt besteht.310 Das staatliche Strafmonopol ergibt sich aus dem staatlichen Gewaltmonopol.311 Gesetzlich findet das Strafmonopol seinen Einschlag in unterschiedlichen Regelungen.312 Aus den gesetzlichen Regelungen zum staatlichen Strafmonopol kann geschlossen werden, dass dieses unter anderem darin besteht, die Strafbarkeit von Handlungen festzulegen und zu bestimmen, welche Strafen in welcher Höhe festgesetzt werden. Außerdem resultiert aus dem staatlichen Strafmonopol, dass die Strafverfolgung durch staatliche Institutionen erfolgen muss.313 Die Existenz des Strafmonopols hat damit zur Folge, dass Selbstjustiz, sofern keine Ausnahmen geregelt sind, verboten ist.314 Diese spezifischen Ausnahmen bestätigen wiederum die Existenz des staatlichen Strafmonopols. Eine erschöpfende und abschließende Auseinandersetzung mit dem Begriff des Strafmonopols ist an dieser Stelle nicht möglich, aber auch gar nicht notwendig: Es geht vielmehr darum, das Konzept des Strafmonopols insoweit zu skizzieren, als sich dadurch die Frage beantwortet lässt, ob und inwiefern die Shame Sanctions das staatliche Strafmonopol verletzen. Nun soll geklärt werden, inwiefern das soeben definierte staatliche Strafmonopol durch die Shame Sanctions verletzt ist. Dabei soll sowohl auf die von Harel und Nettesheim behauptete fehlende Bestimmung des Strafmaßes im Rahmen der Shame Sanction als auch auf die von Harel kritisierte Beteiligung der Bevölkerung an der Strafvollstreckung eingegangen werden. Zunächst muss überprüft werden, ob und inwiefern bei der Shame Sanction von staatlicher Seite ein Strafmaß festgelegt wird. Unter dem Maß einer Strafe wird üblicherweise deren Dauer oder im Fall einer Geldstrafe deren Höhe verstanden. Im Rahmen der Freiheitsstrafe ist das Maß der Strafe die Dauer der Freiheitsentziehung. Bei den Shame Sanctions wird jedoch von Seiten des urteilenden Gerichts ebenfalls eine Dauer bzw. Häufigkeit der öffentlichen Ausstellung des Delinquenten festge310 Der Begriff des staatlichen Strafanspruchs bzw. des staatlichen Strafmonopols wird in der deutschen verfassungsrechtlichen Rechtsprechung zwar häufig genutzt, aber selten ausgeführt. „Diese Beispiele sollen genügen um aufzuzeigen, daß der Begriff des staatlichen Strafanspruchs einerseits zur Standardterminologie des Bundesverfassungsgerichtes gehört, andererseits aber in diesen Entscheidungen kaum näher bestimmt wird. Erläuterungen, Ableitungen und Aussagen zu den Grundlagen des staatlichen Strafanspruchs lassen sich nicht finden.“ Feltes, Der staatliche Strafanspruch. Überlegungen zur Struktur, Begründung und Realisierung staatlichen Strafens (1991), S. 18, Thomas Feltes weist in diesem Zusammenhang jedoch auch darauf hin, dass der staatliche Strafanspruch teilweise auf die Rechtsstaatlichkeit bzw. das auf Vertrauen in die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege zurückgeführt wird. 311 Feltes, Der staatliche Strafanspruch. Überlegungen zur Struktur, Begründung und Realisierung staatlichen Strafens (1991), S. 14. 312 Feltes, Der staatliche Strafanspruch. Überlegungen zur Struktur, Begründung und Realisierung staatlichen Strafens (1991), S. 14. 313 Feltes, Der staatliche Strafanspruch. Überlegungen zur Struktur, Begründung und Realisierung staatlichen Strafens (1991), S. 16. 314 Das zeigt sich an Ausnahmeregelungen wie der in § 32 I StGB geregelten Notwehr im deutschen Strafrecht.
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legt, etwa zwei Tage für je zwei Stunden an einem bestimmten Ort.315 Dass das Gericht im Fall der Shame Sanctions überhaupt kein Strafmaß festlegen würde, kann damit nicht behauptet werden. Worauf Harel und Nettesheim allerdings abstellen, ist die Unberechenbarkeit der Folgen der Shame Sanctions, die mit der öffentlichen Vollstreckung einhergeht. Es ist also nicht die mangelnde Festlegung eines Strafmaßes, sondern vielmehr die kaum bis gar nicht vorhersagbare Wirkung der Sanktion, die Gegenstand der Kritik ist. Dass die Frage der Wirkung gleichzeitig mit der des Strafmaßes diskutiert bzw. mit dieser vermischt wird, liegt am einzigartigen Charakter der Shame Sanction, wie sich bei einem Vergleich zwischen der Shame Sanction und der Freiheitsstrafe zeigt. So lässt sich bei der Freiheitsstrafe die Dauer im Voraus festlegen, die konkrete Wirkung der Haft auf den einzelnen Inhaftierten lässt sich jedoch nur schwer vorhersagen. Bestimmte psychosoziale Faktoren lassen jedoch eventuell eine stärkere Wirkung der Haft auf den Inhaftierten erwarten, weshalb in diesen Fällen eine sogenannte „Haftempfindlichkeit“ festgestellt werden kann, die dann wiederum einen Einfluss auf die Festsetzung der Dauer der Freiheitsstrafe haben kann.316 Grundsätzlich könnte man bei der konkreten Ausgestaltung der einzelnen Shame Sanctions ebenfalls solche Faktoren berücksichtigen: z. B. könnte angeordnet werden, dass die Shame Sanction nicht in der Nähe des Arbeitsplatzes des Delinquenten stattfindet, sondern an einem anderen Ort, um die beruflichen Beziehungen des Delinquenten nicht (zu stark) zu beeinträchtigen. Der Vergleich zwischen den Wirkungen von Shame Sanctions und der Freiheitsstrafe ist allerdings nicht ganz passend: Während bei der Freiheitsstrafe der Entzug der Freiheit für eine bestimmte Dauer Inhalt der Strafe ist und bestimmte, unerwünschte Wirkungen wie die Stigmatisierung „Kollateralschäden“317 der Freiheitsstrafe sind, sind diese Kollateralschäden bei den Shame Sanctions gerade der eigentliche Inhalt der Strafe.318 Gleichzeitig hängt die Wirkung bzw. das Maß der Shame Sanction nicht nur von den persönlichen Umständen des Täters ab, sondern eben auch von den anwesenden Passanten, wodurch die Strafe und deren Wirkung noch schwieriger vorherzusehen sind. Deswegen ist es im Rahmen der Shame Sanction, anders als bei der Freiheitsstrafe, schwierig, zwischen dem Maß und der Wirkung der Strafe zu unterscheiden, da das Maß die Wirkung der Shame Sanction beinhaltet. Die Wirkung der Strafe auf den Delinquenten kann jedoch nicht Inhalt des staatlichen Strafmonopols sein. Damit besteht die Verletzung des Strafmonopols zumindest nicht in der 315
Siehe dazu auch den Fall Gementera, der dazu verurteilt wurde, 8 Stunden vor einer Postfiliale zu stehen. United States v. Gementera, 379 F.3d 596, 599 (9th Cir. 2004). 316 So kann im deutschen Strafzumessungsrecht eine Haftempfindlichkeit des Angeklagten, etwa aufgrund einer schweren Krankheit, gem. § 46 Abs. 1, Abs. 2 strafmildernd zu berücksichtigen sein. Siehe: BGH Urt. v. 27. 2. 2020 – 4 StR 552/19, BeckRS 2020, 3819. 317 Kubiciel, Shame Sanctions – Ehrenstrafen im Lichte der Straftheorie, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 118 (2006), S. 44, 71. 318 Kubiciel, Shame Sanctions – Ehrenstrafen im Lichte der Straftheorie, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 118 (2006), S. 44, 71; Zum Zusammenfallen vom sogenannten „Stigmatisierungsleiden“ und dem durch die Strafe intendierten Leiden im Rahmen der Shame Sanctions, siehe: Hallich, Strafe (2021), S. 69.
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fehlenden Festlegung des Strafmaßes durch den Staat, wie von Harel und Nettesheim behauptet. Wenn es nicht die fehlende Festlegung des Strafmaßes ist, die eine Verletzung des staatlichen Strafmonopols begründet, könnte es möglicherweise ganz grundsätzlich die öffentliche Vollstreckung der Shame Sanction und die Beteiligung von Mitbürgern des Delinquenten an der Strafvollstreckung sein, die eine Verletzung des Strafmonopols darstellen. Denn wie die Skizzierung des Begriffs des staatlichen Strafmonopols gezeigt hat, resultiert daraus auch die Zuständigkeit staatlicher Institutionen zur Festlegung strafbarer Handlungen und zur Strafverfolgung. Darüber hinaus könnte aus dem staatlichen Strafmonopol auch folgen, dass die Strafvollstreckung zwingend von staatlichen Institutionen durchzuführen ist. Kubiciel führt als Argument für eine Strafvollstreckung durch staatliche Institutionen die daraus resultierende Förmlichkeit des Vollstreckungsverfahrens an.319 Diese verdeutliche, dass „die Folge von Straftat und Strafe keine ,unvernünftige Sequenz zweier Übel‘320 ist, sondern sich Unrecht und Recht gegenüberstehen“.321 Harel lehnt grundsätzlich jegliche Beteiligung Privater an der Strafvollstreckung ab, Nettesheim unterscheidet richtigerweise zwischen der Privatisierung der Sanktionsgewalt und der Vollstreckung verhängter Sanktionen unter Einsatz Privater.322 Während aus Nettesheims Sicht private Gefängnisse unter letztere Kategorie fallen und damit zulässig sind, stellen Shame Sanctions im Gegensatz dazu eine unzulässige Privatisierung der Sanktionsgewalt dar.323 Ob man eine Verletzung des staatlichen Strafmonopols durch die Shame Sanctions aufgrund einer Beteiligung der Mitbürger im Rahmen der Strafvollstreckung annimmt, hängt allerdings maßgeblich davon ab, ob die Shame Sanctions tatsächlich eine Strafvollstreckung durch Private darstellen. Harels und Nettesheims Annahme setzt voraus, dass die Strafvollstreckung im Rahmen der Shame Sanctions durch Privatpersonen erfolgt. Diese Prämisse entspricht jedoch nicht der Realität der Shame Sanction: Die Bürger ,strafen‘ den Delinquenten nicht bzw. sie ,wirken‘ auch nicht im Rahmen der Strafvollstreckung ,mit‘. Sie sind allenfalls unverzichtbare Zeugen, die als Konsequenz ihres Zeugnisses den Täter seinen sozialen Abstieg spüren lassen. Sie sind an dem beteiligt ,was wehtut‘, dem Strafschmerz, der Stigmatisierung, die auf die öffentliche Vollstreckung der Shame Sanction folgt.324 Dies 319 Kubiciel, Shame Sanctions – Ehrenstrafen im Lichte der Straftheorie, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 118 (2006), S. 44, 71. 320 Jakobs, Strafrecht, Allgemeiner Teil (1991), 1. Abschnitt, Rn. 10. 321 Kubiciel, Shame Sanctions – Ehrenstrafen im Lichte der Straftheorie, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 118 (2006), S. 44, 71. 322 Nettesheim, Öffentlichkeit als Unternehmenssanktion (2019), S. 31. 323 Nettesheim, Öffentlichkeit als Unternehmenssanktion (2019), S. 32. 324 Kubiciel, Shame Sanctions – Ehrenstrafen im Lichte der Straftheorie, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 118 (2006), S. 44, 71; Abraham, Sanktion, Norm, Vertrauen (2018), S. 214.
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stellt jedoch keine Verletzung des staatlichen Strafmonopols dar. Das Strafmonopol wird gewahrt, indem das Gericht als staatliche Institution die Schuld des Angeklagten feststellt, ihn verurteilt und die Shame Sanction gegen den Delinquenten verhängt. Auch an dieser Stelle wird deutlich, dass die für Shame Sanctions charakteristische Identität zwischen Strafinhalt und Strafwirkung eine große Relevanz für die Diskussion aufweist. Die Wirkung der Strafe kann jedoch, wie bereits dargelegt wurde, nicht Gegenstand des Strafmonopols sein. Dass der Strafinhalt und die Strafwirkung in der Stigmatisierung des Delinquenten besteht, hat zwar keine Verletzung des staatlichen Strafmonopols zur Folge, dies bedeutet jedoch nicht, dass die öffentliche Strafvollstreckung und die damit notwendigerweise verbundene Anwesenheit von Mitbürgern des Delinquenten nicht in anderer Hinsicht problematisch ist. Inwiefern die öffentliche Durchführung der Shame Sanctions und die Stigmatisierung als Strafinhalt kritisch zu bewerten ist, wird sich in Teil 3 der Arbeit zeigen. Aus den Shame Sanctions resultiert somit, entgegen Harels und Nettesheims Überlegungen, keine Verletzung des staatlichen Strafmonopols. 3. Shame Sanctions als „politisch fragwürdige Praxis“325 James Whitmans Ansicht nach sind die Shame Sanctions auch deshalb abzulehnen, weil sie eine „politisch fragwürdige Praxis“326 darstellen. Dies zeige sich bei einem Blick auf die Shaming-Praxis im maoistischen China und in Afghanistan unter der Herrschaft der Taliban.327 Auch die Erwägungen im Nationalsozialismus, den Pranger wiedereinzuführen, zeigten dies auf.328 Whitman zufolge ist die öffentliche Bestrafung und Zurschaustellung des Delinquenten daher charakteristisch für eine „Massenpolitik des 20. Jahrhunderts, die ihre Macht nicht von einer nüchternen Öffentlichkeit, sondern von einer aufgeheizten Menge herleitete“329. Aus Sicht illiberaler Staaten seien Shame Sanctions besonders deshalb attraktiv, weil diese dazu geeignet seien, die Bevölkerung zu emotionalisieren und sogar zu „dämonisieren“330. Besonders verwerflich sei die Verhängung von Shame Sanctions daher für Sexualstraftaten, da diese naturgemäß dazu geeignet seien, die Bevölkerung dazu zu 325 Whitman, What is wrong with (1998), S. 1055, 1091. 326 Whitman, What is wrong with (1998), S. 1055, 1091. 327 Whitman, What is wrong with (1998), S. 1055, 1055, 1056, 1091. 328 Whitman, What is wrong with (1998), S. 1055, 1083. 329 Whitman, What is wrong with (1998), S. 1055, 1091. 330 Whitman, What is wrong with (1998), S. 1055, 1091.
inflicting shame sanctions?, The Yale Law Journal 107 inflicting shame sanctions?, The Yale Law Journal 107 inflicting shame sanctions?, The Yale Law Journal 107 inflicting shame sanctions?, The Yale Law Journal 107 inflicting shame sanctions?, The Yale Law Journal 107 inflicting shame sanctions?, The Yale Law Journal 107
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bringen, die Kontrolle über ihre Emotionen zu verlieren, wie es in der Vergangenheit in Dorfgesellschaften bereits der Fall war.331 Zwar betont Whitman, dass die heutigen USA als liberale Gesellschaft weit vom Faschismus oder Maoismus entfernt seien.332 Aber auch eine liberale Gesellschaft müsse sich der Gefahren demagogischer Politik bewusst sein und diesbezüglich aufmerksam bleiben.333 Dabei gelte es, sich insbesondere der Unangemessenheit jeglichen staatlichen Handelns bewusst zu sein, das sich die irrationalen Triebe der Bevölkerung zu Nutze mache.334 Voraussetzung für eine demokratische Form der Herrschaft sei nämlich eine „nüchterne und disziplinierte Bevölkerung“335.336 Kubiciel geht auf den Vorwurf ein, dass die Shame Sanctions in unzulässiger Weise auf die inneren Überzeugungen und Einstellungen einwirken – sowohl die des Delinquenten selbst als auch auf die der Bevölkerung.337 Beim Delinquenten insofern, als dass ihm der Vorwurf gemacht wird, die sozialethischen Normen nicht ausreichend verinnerlicht zu haben;338 bei der Allgemeinheit insofern, als dass ihr nicht nur vermittelt wird, dass sich jemand falsch verhalten hat, sondern dass bestimmte Werte verinnerlicht werden müssen.339 Was die Shame Sanctions betrifft, merkt Kubiciel zutreffend an, dass diese nicht als Folge falscher Überzeugungen oder Werte des Delinquenten verhängt werden, sondern vielmehr anlässlich des Bruchs einer Rechtsnorm, wie jede andere Strafe auch.340 Selbstverständlich beruht der Rechtsbruch häufig auf bestimmten Überzeugungen, aber der Anknüpfungspunkt für die Bestrafung liegt beim Rechtsbruch selbst. Hinzu kommt, dass Shame Sanctions nicht einmal den Anspruch erheben, die der Tat zugrundeliegenden Überzeugungen oder Vorstellungen beim Täter zu verändern oder auf diese Einfluss zu nehmen.341 Von einem Zugriff auf die Innerlichkeit des Delin331
Whitman, What is wrong with inflicting shame sanctions?, The Yale Law Journal 107 (1998), S. 1055, 1092. 332 Whitman, What is wrong with inflicting shame sanctions?, The Yale Law Journal 107 (1998), S. 1055, 1091. 333 Whitman, What is wrong with inflicting shame sanctions?, The Yale Law Journal 107 (1998), S. 1055, 1091. 334 Whitman, What is wrong with inflicting shame sanctions?, The Yale Law Journal 107 (1998), S. 1055, 1091. 335 Whitman, What is wrong with inflicting shame sanctions?, The Yale Law Journal 107 (1998), S. 1055, 1091. 336 Whitman, What is wrong with inflicting shame sanctions?, The Yale Law Journal 107 (1998), S. 1055, 1091. 337 Kubiciel, Shame Sanctions – Ehrenstrafen im Lichte der Straftheorie, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 118 (2006), S. 44, 54. 338 Kubiciel, Shame Sanctions – Ehrenstrafen im Lichte der Straftheorie, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 118 (2006), S. 44, 54. 339 Kubiciel, Shame Sanctions – Ehrenstrafen im Lichte der Straftheorie, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 118 (2006), S. 44, 54. 340 Kubiciel, Shame Sanctions – Ehrenstrafen im Lichte der Straftheorie, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 118 (2006), S. 44, 54 f. 341 Kubiciel, Shame Sanctions – Ehrenstrafen im Lichte der Straftheorie, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 118 (2006), S. 44, 55.
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quenten kann damit keinesfalls eine Rede sein. Der Zugriff auf die Innerlichkeit des Delinquenten ist also kein zentrales Ziel hinter den Shame Sanctions; anders verhält es sich jedoch hinsichtlich der Innerlichkeit der Allgemeinheit.342 Es ist gerade der Zweck der Shame Sanctions, eine bestimmte Botschaft an die Bevölkerung zu vermitteln, sodass diese von der Begehung von Straftaten Abstand nimmt.343 In diesem Zusammenhang wird an den Shame Sanctions kritisiert, dass durch das öffentliche Shaming eines Delinquenten der Allgemeinheit bestimmte Werte und Überzeugungen vermittelt werden sollen. Dabei stellt sich grundsätzlich die Frage, inwiefern Strafe eine bestimmte Botschaft vermitteln darf bzw. ob sie grundsätzlich neutral sein sollte.344 An dieser Stelle stellt sich jedoch die berechtigte Anschlussfrage, wie eine ,neutrale‘ Strafe überhaupt aussehen soll. Schließlich ist staatliche Strafe die Reaktion auf ein von staatlicher Seite verbotenes Verhalten; darin ist also durchaus eine Wertung enthalten. Es ist mittlerweile weitgehend anerkannt, dass Strafe durchaus einen sozialethischen Vorwurf erheben darf, da damit zunächst nur ausgesagt wird, dass der Täter die grundlegenden Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens missachtet hat.345 Die Strafe ohne jeglichen sozialethischen Vorwurf zu verhängen, würde diese ihres eigentlichen Wesens entkleiden. Kahan sieht den Vorteil der Shame Sanctions sogar gerade darin, dass diese die Gesellschaft „moralisieren“346 können.347 Ihm zufolge „moralisiere“348 das Recht im Allgemeinen durch drei verschiedene Mechanismen: durch die Veränderung von Einstellungen, die Verstärkung von glaubensabhängigen Überzeugungen und die Stärkung des Vertrauens in Recht und Gesetz.349 Indem Shame Sanctions das Verhalten des Täters öffentlich als falsch und gegen die Norm kennzeichnen, bringen sie gegenüber der Gesellschaft zum Ausdruck, welche Einstellungen bei Mitgliedern dieser Gesellschaft erwünscht sind und welche nicht.350 Dass Shame Sanctions dazu geeignet sind, 342 Kubiciel, Shame Sanctions – Ehrenstrafen im Lichte der Straftheorie, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 118 (2006), S. 44, 55. 343 Kubiciel, Shame Sanctions – Ehrenstrafen im Lichte der Straftheorie, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 118 (2006), S. 44, 55. 344 Kubiciel, Shame Sanctions – Ehrenstrafen im Lichte der Straftheorie, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 118 (2006), S. 44, 54. 345 Pawlik, Staatlicher Strafanspruch und Strafzwecke (2010), in: Das strafende Gesetz im sozialen Rechtsstaat, S. 59, 70; A. v. Hirsch, Fairness, Verbrechen und Strafe (2005), S. 23; Mühl, Strafrecht ohne Freiheitsstrafen, absurde Utopie oder logische Konsequenz? (2015), S. 67 f.; a. A. Jüngel, Shame sanctions – Wiedergeburt der Schandstrafe? (2011), S. 179 f. 346 Kahan, What Do Alternative Sanctions Mean?, University of Chicago Law Review 63 (1996), S. 591, 638 f. 347 Kahan, What Do Alternative Sanctions Mean?, University of Chicago Law Review 63 (1996), S. 591, 638 f. 348 Kahan, What Do Alternative Sanctions Mean?, University of Chicago Law Review 63 (1996), S. 591, 639. 349 Kahan, What Do Alternative Sanctions Mean?, University of Chicago Law Review 63 (1996), S. 591, 639. 350 Kahan, What Do Alternative Sanctions Mean?, University of Chicago Law Review 63 (1996), S. 591, 639.
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Teil 2: Betrachtung gegenwärtiger Diskussion zu den Shame Sanctions
bestimmte Moralvorstellungen zu vermitteln oder zu verstärken, ist allerdings noch kein überzeugendes Argument dafür, dass jene auch tatsächlich in unzulässiger Art und Weise auf die Innerlichkeit der Bevölkerung zugreifen würden. Nur, weil der Staat mittels der Strafe aufzeigt, welches Verhalten moralisch verwerflich und welches im Umkehrschluss moralisch erwünscht ist, heißt das nicht, dass die Bevölkerung dieselbe Ansicht teilen muss; solange sich die Bürger an das Recht halten, sind die Beweggründe dahinter für den Staat irrelevant.351 Man könnte Whitmans Kritik somit als eher ,ästhetisches‘ Argument verstehen. Damit würden Shame Sanctions einem gewissen Verständnis des Strafens widersprechen – einem Verständnis, dass Strafe nicht zelebriert, sondern sie möglichst unauffällig vollstreckt. Whitman stellt in seiner Argumentation eine Verbindung zwischen diesem Strafverständnis und dem demokratischen Staat her. Dies wird vor allem deutlich, wenn er im Gegensatz zum Strafverständnis eines demokratischen Rechtsstaats auf das Shaming in autoritären Regimes wie den Taliban verweist. Zwar ist die bloße Tatsache, dass Shaming in undemokratischen Staaten vollzogen wird, kein Argument für die Ablehnung der Shame Sanctions, da nicht jede Praxis, die in einem undemokratischen Staat vollzogen wird, zwingend auch undemokratisch ist. Dennoch lohnt sich in diesem Fall ein genauerer Blick aus diesem Blickwinkel, weswegen an späterer Stelle an das vermeintlich ,ästhetische‘ Argument von Whitman angeknüpft werden soll.
III. Zusammenfassung Im Rahmen der Betrachtung der gegenwärtigen Diskussion zu den Shame Sanctions hat sich herausgestellt, dass es enorm schwierig ist, die intuitive Ablehnung der Shame Sanctions überzeugend zu begründen. Die Ausführungen zu einer potentiellen Verletzung der Würde des Delinquenten durch die Shame Sanction leiden daran, dass sie den Würdebegriff im Vorfeld entweder gar nicht definieren oder keine überzeugenden Würdekonzepte voranstellen. Damit gehen die meisten Argumente in diesem Zusammenhang nicht wesentlich über die intuitive Annahme einer Würdeverletzung hinaus. Auf diesem Wege lässt sich eine Ablehnung der Shame Sanctions jedoch nicht überzeugend begründen. Die Ausführungen zur potentiellen Verletzung des staatlichen Gewaltmonopols durch die Shame Sanctions leiden vor allem an fehlenden Begriffsklärungen und unzutreffenden Prämissen: So hat sich herausgestellt, dass das staatliche Strafmonopol sich nicht auf die Strafwirkung erstrecken kann. Daher kann auch die Tatsache, dass der Strafinhalt der Shame Sanction in der Stigmatisierung des Delinquenten 351
Immanuel Kant „nennt die bloße Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung einer Handlung mit dem Gesetze, ohne Rücksicht auf die Triebfeder derselben, Legalität (Gesetzmäßigkeit); diejenige aber, in welcher die Idee der Pflicht aus dem Gesetze zugleich die Triebfeder der Handlung ist, die Moralität (Sittlichkeit) derselben.“ Kant, Die Metaphysik der Sitten (2011), S. 53.
B. Moral- und politikphilosophische Diskussion
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liegt, keine Verletzung des staatlichen Strafmonopols begründen. Außerdem beschränkt sich die ,Beteiligung‘ der Bevölkerung im Rahmen der Vollstreckung der Shame Sanction auf die bloße Anwesenheit, sodass nicht von einer Privatisierung der Sanktionsgewalt die Rede sein kann. Whitmans Argument, Shame Sanctions wären Ausdruck eines illiberalen Politikstils, ist zumindest in ästhetischer Hinsicht zuzustimmen. Aus der Ähnlichkeit der Shame Sanctions mit dem öffentlichen Shaming in autoritären Regimes jedoch bereits zu schließen, dass Shame Sanctions ihrem Wesen nach abzulehnen sind, überzeugt nicht. Nur, weil eine Praxis in einem undemokratischen Staat vollzogen wird, heißt es noch nicht, dass die Praxis selbst auch undemokratisch ist. Daher soll im weiteren Verlauf der Arbeit über die herkömmlichen Einwände gegen Shame Sanctions hinaus der Versuch unternommen werden, die intuitive Ablehnung der Shame Sanctions überzeugend zu begründen.
Teil 3
Vorschlag für einen dritten Diskussionsstrang – Shame Sanctions im Lichte der Straftheorie Ausgangspunkt dieser Arbeit ist, wie zu Beginn von Teil 1 formuliert, die intuitive Ablehnung der Shame Sanctions. Nach der Betrachtung der gegenwärtigen verfassungsrechtlichen und moralphilosophischen Diskussion zu den Shame Sanctions, soll im dritten Teil aus Perspektive der straftheoretischen Diskussion überprüft werden, ob und inwiefern die intuitive Ablehnung der Shame Sanctions überzeugend begründet werden kann. Neben den bereits betrachteten beiden Diskussionssträngen bildet die Betrachtung und Bewertung der Shame Sanctions im Lichte der Straftheorie damit den dritten Diskussionsstrang.
A. Theoretischer Hintergrund Bevor darauf eingegangen wird, wie Shame Sanctions aus straftheoretischer Sicht zu beurteilen sind, soll zunächst auf die theoretischen Grundlagen für die Straftheorie eingegangen werden. Darüber hinaus soll zum besseren Verständnis der straftheoretischen Begründung für Shame Sanctions die historische Entwicklung der straftheoretischen Diskussion in den USA ab der Nachkriegszeit betrachtet werden.
I. Begriff der Strafe Wenn sich die Frage nach der Rechtfertigung von Strafe stellt, muss vorher geklärt werden, was überhaupt mit dem Begriff „Strafe“ gemeint ist. Wichtig ist zunächst, sich vor Augen zu führen, dass Strafe „keine Erfindung der Theorie“1, sondern vielmehr eine „soziale Praxis“2 ist. Nahezu jeder hat eine, zumindest laienhafte, Vorstellung davon, was der Begriff „Strafe“ bedeutet und erkennt eine solche, wenn sie vor seinen Augen vollstreckt wird.3
1
Pawlik, Person, Subjekt, Bürger (2004), S. 14. Pawlik, Person, Subjekt, Bürger (2004), S. 14 f. 3 Vgl. Pawlik, Person, Subjekt, Bürger (2004), S. 15.
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A. Theoretischer Hintergrund
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Es gab bislang viele Versuche, Strafe zu definieren bzw. ein Konzept des Begriffs der Strafe vorzustellen. Die Flew-Benn-Hart-Definition4 ist eine der bekanntesten Definitionen der Strafe im anglo-amerikanischen Sprachraum. Sie lautet wie folgt: Strafe ist eine (i) Übelszufügung, (ii) die eine Reaktion auf einen rechtlichen Regelverstoß darstellt, (iii) die gegen den Rechtsbrecher gerichtet ist, (iv) durch eine Autorität auferlegt wird, die von der Institution, welche die Regeln erlassen hat, dafür ermächtigt worden ist und (v) durch diese ausführende Autorität auch beabsichtigt ist und unter Zwang verhängt wird.5
Problematisch an einer solchen Definition könnte sein, dass durch diese bereits eine Entscheidung für bzw. gegen bestimmte Straftheorien gefällt und somit eine sogenannte „Definitionssperre“6 errichtet wird. Bei der Flew-Benn-Hart-Definition könnte insbesondere das Merkmal „Reaktion auf einen Regelverstoß“ darauf hindeuten, dass bereits eine Entscheidung für eine retributive Straflegitimation getroffen und jegliche präventionstheoretische Rechtfertigung von vornherein ausgeschlossen werde.7 Obwohl H. L. A. Hart klar darauf hinweist, dass es sich beim Fehlen dieses Merkmals schlicht nicht mehr um Strafe, wie sie der sozialen Praxis nach verstanden wird, handeln würde,8 zeigt der Einwand trotzdem, wie schwierig es gerade aufgrund der unterschiedlichen Positionen innerhalb der straftheoretischen Diskussion ist, das Konzept staatlicher Strafe zu definieren, ohne die Entscheidung für bzw. gegen eine Straftheorie vorwegzunehmen. Dieser Aspekt soll jedoch an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden. Unabhängig davon, welche Arbeitsdefinition von Strafe bevorzugt wird, ist bei der straftheoretischen Auseinandersetzung zu beachten, dass das vortheoretische Verständnis von Strafe nicht ignoriert werden darf;9 dieses bedarf jedoch einer Präzisierung durch die jeweiligen Straftheorien.10 Wie weit der Begriff der „Strafe“ tatsächlich gefasst wird, hängt dann von der jeweiligen Straftheorie ab und auch davon, welche anderen Begriffe für die Bezeichnung dieser sozialen Praxis zur Verfügung stehen. Zwar steht im Kern der institutionellen Praxis die „Strafe“, wie sie von der Flew-Benn-Hart-Definition gemeint ist. Zum Zwecke der Betrachtung der Diskussion ist jedoch eine wichtige Erweiterung des Strafbegriffs vorzunehmen: Während im deutschen Strafrecht zwischen „Strafe“ und „Maßregeln der Besserung 4 Die ursprünglich von Anthony Flew vorgeschlagenen Kriterien für eine Konzeption der Strafe wurden von S. I. Benn und H. L. A. Hart übernommen. 5 Flew, „The Justification of Punishment“, Philosophy 29 (1954), S. 291, 291; Benn, An Approach to the Problems of Punishment, Philosophy 33 (1958), S. 325; Hart, The Presidential Address: Prolegomenon to the Principles of Punishment, Proc Aristot Soc 60 (1960), S. 1, 4 – 5. 6 „Definitional stop“ Hart, The Presidential Address: Prolegomenon to the Principles of Punishment, Proc Aristot Soc 60 (1960), S. 1, 5. 7 Vgl. Pawlik, Person, Subjekt, Bürger (2004), S. 16. 8 Hart, The Presidential Address: Prolegomenon to the Principles of Punishment, Proc Aristot Soc 60 (1960), S. 1, 5. 9 Lampe, Strafphilosophie: Studien zur Strafgerechtigkeit (1999), S. 1; Pawlik, Person, Subjekt, Bürger (2004), S. 15. 10 Pawlik, Person, Subjekt, Bürger (2004), S. 15.
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Teil 3: Vorschlag für einen dritten Diskussionsstrang
und Sicherung“ unterschieden wird, gibt es im amerikanischen Strafrecht kein solches zweispuriges System.11 Das bedeutet auch, dass der Begriff der „Strafe“ für die vorliegende Arbeit etwas weiter gefasst werden muss, wodurch an den Rändern dieser institutionellen Praxis auch anderweitige Zwangsakte wie etwa die „Behandlung“ oder auch die „Unschädlichmachung“ von Straftätern und die dazugehörigen Straftheorien eingeschlossen werden.
II. Funktion der Straftheorien Bevor es zur Betrachtung der historischen Entwicklung der straftheoretischen Diskussion kommt, soll außerdem geklärt werden, welche Funktion den Straftheorien überhaupt zukommt. Straftheorien beantworten die Frage, warum gestraft wird; sie legen also den Strafzweck fest.12 Darüber hinaus werden den Straftheorien jedoch auch weitere Funktionen zugeschrieben: Michael Pawlik geht davon aus, dass Straftheorien das Strafrechtssystem als Ganzes beeinflussen.13 Auch Tatjana Hörnle ist der Ansicht, dass das „Warum“ der Strafe das „Was“ und das „Wie“ der Strafe beeinflusst.14 Mit dem „Was“ sind die Strafgesetze gemeint, in denen festgelegt wird, welches Verhalten unter Strafe gestellt wird; das „Wie“ dagegen bezieht sich auf die Arten der Strafe, also die Strafformen, wie etwa die Shame Sanction eine ist. Welche konkrete Rolle spielen Straftheorien in der straf- und sanktionsrechtlichen Praxis? Caspar Sachs spricht den Straftheorien für die Praxis insbesondere im Rahmen der Strafzumessung eine bedeutende Rolle zu: „Vielleicht nirgends zeigen sich die Auswirkungen der Straftheorien auf das gesamte Strafrecht so deutlich wie im Rahmen von Art, Gestaltung und Schwere der Übelszufügung.
11 Im amerikanischen Strafrecht finden sich Dubber zufolge jedoch zumindest Parallelen zum deutschen Zweispurensystem, nämlich in der „porösen Unterscheidung zwischen ,commitment‘ (Einweisung) und ,punishment‘ […]“ und im unbegrenzten „commitment“ von Sexualstraftätern. Für ein solches „Commitment“ wird eine psychische Erkrankung und/oder eine Suchterkrankung des Einzuweisenden vorausgesetzt, die eine Gefahr für die Gesellschaft darstellt. Maßnahmen, die als „Commitment“ qualifiziert werden, können nicht mithilfe derselben einfachgesetzlichen und verfassungsrechtlichen Vorgaben wie für das „Punishment“ auf ihre Legitimität hin überprüft werden, da sie nicht unter das Strafrecht, sondern das Zivilrecht fallen. Siehe Dubber, Positive Generalprävention und Rechtsgutstheorie: Zwei zentrale Errungenschaften der deutschen Strafrechtswissenschaft aus amerikanischer Sicht, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 117 (2005), S. 485, 486; Dubber, The Right to Be Punished: Autonomy and Its Demise in Modern Penal Thought, Law and History Review 16 (1998), S. 113, 131 f. 12 Pawlik zur „irritierenden Mehrdeutigkeit“ des Zweckbegriffs im Zusammenhang mit der Frage nach der Legitimation der Strafe: Pawlik, Person, Subjekt, Bürger (2004), S. 12. 13 Pawlik, Person, Subjekt, Bürger (2004), S. 13. 14 Hörnle, Die Rolle des Opfers in der Straftheorie und im materiellen Strafrecht 61. (2006), S. 950, 956.
A. Theoretischer Hintergrund
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Weil die Straftheorien auf diese Modalitäten abstrahlen, liegt hier die wichtigste Schnittstelle zwischen allen Theorien von Strafe und ihrer ,tatsächlichen Praktizierung‘“.15
So haben die Straftheorien einen Einfluss auf die Erarbeitung von Gesetzesentwürfen, etwa wenn es um die Kriminalisierung bestimmter Verhaltensweisen geht.16 Aber auch im konkreten Einzelfall, etwa bei der Strafzumessung durch den Richter, kommen straftheoretische Erwägungen zum Tragen.17 Dabei wird heute in der praktischen Anwendung der Straftheorien vorwiegend auf eine Kombination der einzelnen Straftheorien gesetzt, wobei die Gewichtung der einzelnen Strafzwecke je nach konkretem Fall unterschiedlich ausfällt.18
III. Historische Entwicklung der straftheoretischen Diskussion in den USA ab der Nachkriegszeit Nachdem der Begriff der Strafe und die Funktion der Straftheorien kurz skizziert wurden, soll an dieser Stelle auf die historische Entwicklung der straftheoretischen Diskussion in den USA ab der Nachkriegszeit eingegangen werden. Die Betrachtung der amerikanischen straftheoretischen Diskussion in diesem Kapitel erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Es soll vielmehr ein allgemeiner Abriss über die straftheoretischen Positionen gegeben werden, um die spezifischen Begründungen für Shame Sanctions und damit auch die Hintergründe ihrer Entstehung besser nachvollziehen zu können. Die historische Entwicklung der US-amerikanischen straftheoretischen Diskussion lässt sich dem amerikanischen Kriminologen Michael Tonry zufolge in drei Phasen unterteilen:19 in der ersten Phase, etwa zwischen 1780 und 1860, bestand die Hauptdiskussion in der Auseinandersetzung zwischen dem utilitaristischen Lager einerseits und dem deontologischen bzw. retributiven Lager andererseits, namentlich zwischen den Anhängern Jeremy Benthams und denen Immanuel Kants.20 In der zweiten Phase, die bis in die 1960er Jahre andauerte, hatte sich der Utilitarismus gegen den Retributivismus durchgesetzt und war zur einflussreichsten amerikani-
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Sachs, Moral, Tadel, Buße: zur Straftheorie von Antony Duff (2015), S. 239. Fischer, Die Normierung der Strafzwecke nach Vorbild der U.S. Sentencing guidelines – eine Chance für das deutsche (Steuer-)Strafrecht? Zugleich eine Einführung in das US-amerikanische Steuerstrafrecht (1999), S. 25. 17 Fischer, Die Normierung der Strafzwecke nach Vorbild der U.S. Sentencing guidelines – eine Chance für das deutsche (Steuer-)Strafrecht? Zugleich eine Einführung in das US-amerikanische Steuerstrafrecht (1999), 28, 34 – 35. 18 Zur Gewichtung der einzelnen Strafzwecke innerhalb der Vereinigungstheorie und der „Inclusive Theory of Punishment“, siehe Teil 3, A. III. 4. 19 Tonry, Thinking About Punishment (2011), in: Why punish? How much?, S. 3, 7. 20 Tonry, Thinking About Punishment (2011), in: Why punish? How much?, S. 3, 7. 16
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Teil 3: Vorschlag für einen dritten Diskussionsstrang
schen Strafrechtsphilosophie geworden.21 Im Rahmen der Strafpraxis spielte vor allem die Rehabilitation von Straftätern eine wichtige Rolle – zu diesem Zweck wurden etwa die Indeterminate Sentences eingeführt.22 Ab den 1960er Jahren wuchs jedoch die Kritik an utilitaristischen Straftheorien und deren praktischen Auswirkungen und allmählich auch das Interesse an retributiven Theorien.23 Während es zunächst nach einer Vorherrschaft der retributiven Ideen und dem Konzept der Tatproportionalität aussah, forderten insbesondere Vertreter der Law-and-OrderBewegung ab Mitte der 1980er Jahre besonders harte und damit unproportionale Strafen;24 Vertreter des gegensätzlichen politischen Lagers hingegen sprachen sich ab den 1990er Jahren eher für therapeutisch orientierte Ansätze wie der „Restorative Justice“ aus.25 Gleichzeitig rückten Straftheorien, die den kommunikativen Aspekt der Strafe in den Fokus stellten, in den Vordergrund der Diskussion.26 Somit war diese letzte Phase der historischen Entwicklung der straftheoretischen Diskussion nicht mehr von einer Einstimmigkeit und Einigkeit geprägt wie die klar utilitaristisch dominierte Phase bis zu den 1960er Jahren. Die folgende Betrachtung konzentriert sich insbesondere auf das Ende der zweiten und den Beginn der dritten Phase. 1. Utilitarismus Die nahezu ein Jahrhundert lang dominierende straftheoretische Strömung in den USA war der Utilitarismus. Bekannte Vertreter des modernen Utilitarismus waren unter anderem A. C. Ewing27, Jerome Michael28, Mortimer Adler29, Sheldon Glueck30, Livingston Hall31 und Herbert Wechsler32, einer der einflussreichsten amerikanischen Strafrechtswissenschaftler des 20. Jahrhunderts, der als Direktor des 21
Tonry, Thinking About Punishment (2011), in: Why punish? How much?, S. 3, 7. Tonry, Thinking About Punishment (2011), in: Why punish? How much?, S. 3, 7. 23 Tonry, Thinking About Punishment (2011), in: Why punish? How much?, S. 3, 7. 24 Tonry, Thinking About Punishment (2011), in: Why punish? How much?, S. 3, 22. 25 Tonry, Thinking About Punishment (2011), in: Why punish? How much?, S. 3, 22. 26 Siehe dazu Teil 3, A. III. 5. 27 Ewing, The Morality of Punishment, Mind 39 (1930), S. 47. 28 Michael/Adler, Crime, Law and Social Science (1933); Wechsler/Michael, A Rationale of the Law of Homicide: I, Columbia Law Review 37 (1937), S. 701; Michael/Wechsler, Criminal Law and Its Administration: Cases, Statutes, and Commentaries (1956). 29 Michael/Adler, Crime, Law and Social Science (1933). 30 Glueck, Principles of a Rational Penal Code, Harvard Law Review 41 (1928), S. 453; Hall/Glueck, Cases and Materials on Criminal Law (1940). 31 Hall/Glueck, Cases and Materials on Criminal Law (1940). 32 Michael/Wechsler, A Rationale of the Law of Homicide: I, Columbia Law Review 37 (1937), S. 701; Michael/Wechsler, A Rationale of the Law of Homicide II, Columbia Law Review 37 (1937), S. 1261; Michael/Wechsler, Criminal Law and Its Administration: Cases, Statutes, and Commentaries (1956). 22
A. Theoretischer Hintergrund
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American Law Institutes maßgeblich an der Entstehung des Model Penal Codes im Jahre 1962 beteiligt war.33 Ursprünglich wurde der Utilitarismus vom englischen Juristen und Philosophen Jeremy Bentham begründet.34 Der Utilitarismus ist die bekannteste Spielart der konsequentialistischen Ethik.35 Letzterer zufolge bemisst sich der Wert bzw. Unwert einer Handlung allein nach deren Folgen.36 Der Utilitarismus präzisierte den Konsequentialismus dahingehend, dass der Wert bzw. Unwert einer Handlung nach dem Nutzen, das größtmögliche Glück für die größtmögliche Anzahl an Menschen (bzw. auch sehr intelligenten Tieren37) zu befördern, bemessen wird.38 Das Glück gilt deshalb als Referenz, weil Bentham von der Prämisse ausging, dass der Mensch zwei Empfindungen unterworfen ist: Lust und Schmerz.39 Seine Handlungen richten sich danach, Lust zu erlangen und Schmerz zu vermeiden.40 Dabei sah Bentham jedes Glück als gleichwertig an.41 Dieser universalistische Ansatz wurde vom britischen Politiker und Philosophen John Stuart Mill dahingehend modifiziert, dass hinsichtlich des zu erreichenden Glücks qualitative Unterschiede zu machen sind.42 Für die Strafe bedeutet dies, dass diese aus utilitaristischer Sicht dann als ,gut‘ zu bewerten ist, wenn sie das größtmögliche Glück für die größtmögliche Anzahl an Menschen befördert. Allerdings sei die Strafe Bentham zufolge an sich ein Übel und dürfte nur auferlegt werden, sofern sie verspreche, dadurch ein noch größeres Übel zu verhindern.43 Dieses noch größere Übel bestehe in der Begehung von Straftaten, da
33
Dubber, An introduction to the Model Penal Code (2015), S. 7 ff. Zürcher, Legitimation von Strafe: die expressiv-kommunikative Straftheorie zur moralischen Rechtfertigung von Strafe (2014), S. 37. 35 Zürcher, Legitimation von Strafe: die expressiv-kommunikative Straftheorie zur moralischen Rechtfertigung von Strafe (2014), S. 36. 36 Zürcher, Legitimation von Strafe: die expressiv-kommunikative Straftheorie zur moralischen Rechtfertigung von Strafe (2014), S. 35 f. 37 Zürcher, Legitimation von Strafe: die expressiv-kommunikative Straftheorie zur moralischen Rechtfertigung von Strafe (2014), S. 36; Danto, Connections to the world (1990), S. 68. 38 Zürcher, Legitimation von Strafe: die expressiv-kommunikative Straftheorie zur moralischen Rechtfertigung von Strafe (2014), S. 36. 39 Dübgen, Theorien der Strafe zur Einführung (2016), S. 27 f.; Bentham, An introduction to the principles of morals and legislation (1970), S. 11. 40 Dübgen, Theorien der Strafe zur Einführung (2016), S. 28; Bentham, An introduction to the principles of morals and legislation (1970), S. 11. 41 Zürcher, Legitimation von Strafe: die expressiv-kommunikative Straftheorie zur moralischen Rechtfertigung von Strafe (2014), S. 38. 42 Zürcher, Legitimation von Strafe: die expressiv-kommunikative Straftheorie zur moralischen Rechtfertigung von Strafe (2014), S. 38; Mill, Der Utilitarismus (2004), S. 15 f. 43 „All punishment in itself is evil. […] [I]f it ought at all to be admitted, it ought only to be admitted in as far as it promises to exclude some greater evil“, siehe Bentham, An introduction to the principles of morals and legislation (1970), S. 158. 34
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Teil 3: Vorschlag für einen dritten Diskussionsstrang
Kriminalität für die gesamte Gesellschaft das Erreichen von Glück verhindere.44 Somit könne Strafe aus utilitaristischer Sicht nur dann gerechtfertigt sein, sofern sie die Begehung von Straftaten verhindert und damit das Glück für die größtmögliche Anzahl an Menschen45 fördert. Ausgehend von diesen utilitaristischen Überlegungen haben sich unterschiedliche Theorien herausgebildet, die zwar alle jeweils die Prävention von Straftaten zum Ziel haben, sich zur Erreichung dieses Ziels jedoch unterschiedlicher Mittel bedienen. Je nach Ausprägung der Präventionstheorie liegt der Fokus auf dem verurteilten Delinquenten oder auf der Allgemeinheit als Adressat bzw. Adressatin der Einwirkung, das Mittel der Einwirkung besteht entweder in der Strafandrohung, in der Strafzumessung oder in der Art der Vollstreckung.46 Alle präventiven Theorien haben aufgrund ihres Ziels, Straftaten zu verhindern, gemeinsam, dass die von ihnen bezweckten Wirkungen zumindest theoretisch47 empirisch überprüfbar sind.48 a) Deterrence – Individual und General Die Theorie der Abschreckung, die in den USA unter dem Namen „Deterrence“ bekannt ist, ist die utilitaristische Theorie schlechthin.49 Während die „Individual“ bzw. „Specific Deterrence“ die Abschreckung des einzelnen Straftäters bezwecken soll, liegt bei der „General Deterrence“ der Fokus auf der Abschreckung der Allgemeinheit.50 In beiden Fällen dient die Abschreckung der Prävention von zukünftigen Straftaten.51 Besonders utilitaristisch geprägt ist diese Theorie deshalb, weil sie den Gedanken der Schmerzvermeidung weiterführt: Wer Strafe als etwas Schmerzvolles, Unangenehmes ansieht, wird eine solche (im Falle des bereits bestraften Täters wiederholte) Erfahrung in Zukunft vermeiden wollen – im Idealfall durch den Verzicht auf die Begehung einer Straftat.
44 Draper, Punishment, Proportionality, and the Economic Analysis of Crime, JBS 2009, S. 1, 3. 45 Das Glück des Bestraften wird dadurch im Zweifel eher nicht gefördert, aber das ist die Konsequenz des utilitaristischen Denkens – es wird immer Personen geben, für die die utilitaristische Entscheidung nachteilig ist. 46 Hörnle, Gegenwärtige Strafbegründungstheorien (2011), in: Strafe – Warum?, S. 11, 13. 47 Für die positive Generalprävention ist eine solche Überprüfung praktisch nicht umsetzbar. Man müsste aufhören, Normbrüche zu bestrafen und abwarten, wie sich die Kriminalitätsrate entwickelt. Siehe Hörnle, Straftheorien (2017), S. 28 f. 48 Hallich weist jedoch auch hinsichtlich der anderen Präventionstheorien auf die erheblichen methodischen Probleme der Nachweisbarkeit von Präventionseffekten hin. So sei weder die kausale Wirksamkeit von Strafen nachweisbar noch, dass eine Tat begangen worden wäre, wenn deren Begehung nicht mit Strafe bedroht wäre. Hallich, Strafe (2021), S. 34 f. 49 So auch A. v. Hirsch, Censure and sanctions (1995), S. 20; A. v. Hirsch, Warum soll die Strafsanktion existieren? (2011), in: Strafe – Warum?, S. 43, 46. 50 LaFave, Criminal law (2000), S. 23 ff. 51 LaFave, Criminal law (2000), S. 23 ff.
A. Theoretischer Hintergrund
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Die Strafe kann entweder dazu dienen, den zu bestrafenden Delinquenten selbst davon abzuschrecken, noch einmal straffällig zu werden oder andere Menschen aus der Bevölkerung, die dazu neigen, eine Straftat zu begehen. Ersteres soll dadurch erreicht werden, dass die Strafvollstreckung möglichst unangenehm gestaltet wird. Ob die Strafe tatsächlich einen abschreckenden Effekt auf den Bestraften hat, lässt sich zumindest theoretisch an Rückfallquoten messen.52 Eine wichtige Rolle spielt im Rahmen der Abschreckung der Allgemeinheit die Strafandrohung.53 Diese beruht auf der Vorstellung eines rational denkenden und handelnden Individuums, das bei der Entscheidung, eine Straftat zu begehen, zwischen den Kosten und dem Nutzen einer Handlung abwägt.54 Dabei kündigt die Strafandrohung an, welche Kosten in Form einer bestimmten Strafe auf den Täter einer Straftat zukommen. Überwiegt der Nutzen aus der Tatbegehung die Kosten, würde sich das rationale Individuum dieser Theorie zufolge kaum davon abhalten lassen, die Tat zu begehen. Folglich müssten für eine erfolgreiche Abschreckung die Kosten in Gestalt der Androhung einer besonders drastischen Strafe derart angehoben werden, dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit jeglichen Nutzen aus der Tat überwiegen. Doch nicht nur die angedrohte Strafe, auch die Entdeckungswahrscheinlichkeit spielt dieser Theorie zufolge für den potentiellen Täter eine – sogar noch wichtigere – Rolle.55 Ist die Gefahr, entdeckt zu werden, sehr hoch, braucht die angedrohte Strafe nicht außerordentlich hart zu sein, weil bereits die hohe Wahrscheinlichkeit der Bestrafung einen abschreckenden Effekt erzielen kann.56 Ist dagegen die Entdeckungswahrscheinlichkeit sehr gering, muss dieses ,Defizit‘ durch eine besonders hohe Strafandrohung kompensiert werden, um einen Abschreckungseffekt zu erreichen.57 Somit spielt aus Sicht der Abschreckungstheorie zunächst die Entdeckungswahrscheinlichkeit eine Rolle; davon abhängig ist dann die Höhe der angedrohten Strafe zu bestimmen.58 Angedrohte Strafen, die nicht verhängt und vollstreckt werden, würden allerdings auf lange Sicht den Abschreckungseffekt ins Leere laufen lassen, weshalb die Vollstreckung der angedrohten Strafen aus Sicht der Abschreckungstheorien „eine notwendige Konsequenz“59 darstellt.60 52
Hallich, Strafe (2021), S. 34 f.; LaFave, Criminal law (2000), S. 23 f. Hörnle, Straftheorien (2017), S. 26. 54 Kahan, What Do Alternative Sanctions Mean?, University of Chicago Law Review 63 (1996), S. 591, 591, 638. 55 Hörnle, Straftheorien (2017), S. 26. 56 Bentham, An introduction to the principles of morals and legislation (1970), S. 170. 57 Bentham, An introduction to the principles of morals and legislation (1970), S. 170. 58 Dass ein potentieller Täter tatsächlich rational zwischen Kosten und Nutzen abwägt und damit sogar noch seine Entdeckungswahrscheinlichkeit miteinbezieht, scheint jedoch vor allem im Hinblick auf Affekttaten oder Taten aus emotionalen Ausnahmesituationen heraus fragwürdig. Dazu auch Hörnle, Tatproportionale Strafzumessung (1999), 81 f.; Andrissek, Vergeltung als Strafzweck (2017), S. 48. 59 Hörnle, Straftheorien (2017), S. 26. 60 Hörnle, Straftheorien (2017), S. 26. 53
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Teil 3: Vorschlag für einen dritten Diskussionsstrang
Für die Abschreckung der Allgemeinheit kann die Art und Weise der Strafvollstreckung an einem verurteilten Delinquenten ebenfalls eine Rolle spielen. Damit die Allgemeinheit überhaupt erst von der Strafvollstreckung erfährt, müsste diese in irgendeiner Form jener gegenüber kommuniziert werden oder sogar öffentlich stattfinden, damit möglichst viele Menschen erreicht werden. b) Incapacitation Die andere Variante der negativen Spezialprävention, die Theorie der Incapacitation, schlägt eine „Unschädlichmachung“ des meist als besonders gefährlich zu beurteilenden Täters in Form einer faktischen Hinderung vor.61 Auf die Gefährlichkeit des Täters wird aufgrund seiner zurückliegenden Tat bzw. Taten geschlossen.62 Im äußersten Fall bedeutet diese Unschädlichmachung die Hinrichtung des Täters;63 deutlich häufiger erfolgt jene jedoch durch dessen Inhaftierung, teilweise sogar auf unbestimmte Zeit64 – auf diese Weise wird ihm zumindest die Kriminalität außerhalb der Gefängnismauern unmöglich gemacht. Eine zumindest faktische Erschwerung weiterer krimineller Aktivitäten kann statt einer Inhaftierung auch durch andere Maßnahmen erfolgen, z. B. durch eine elektronische Überwachung des Delinquenten.65 Von der Deterrence unterscheidet sich die Incapacitation dadurch, dass letztere hinsichtlich zukünftiger krimineller Aktivitäten nicht auf die Selbstkontrolle des Täters vertraut, sondern auf eine externe Kontrolle abstellt.66 Im amerikanischen Strafrecht zählt die Incapacitation zu den Straftheorien, im Gegensatz zum deutschen Strafrecht, in dem die ,Unschädlichmachung‘ von besonders gefährlichen Tätern durch Maßregeln vorgenommen wird, da das amerikanische Recht das zweispurige System der Strafen und Maßregeln nicht kennt.67 c) Rehabilitation Die positive Ausprägung der Spezialprävention, die utilitaristische Straftheorie der „Rehabilitation“, dominierte ab etwa 1870 nahezu ein Jahrhundert lang die 61
LaFave, Criminal law (2000), S. 24. LaFave, Criminal law (2000), S. 24. 63 LaFave, Criminal law (2000), S. 24. 64 LaFave, Criminal law (2000), S. 24. 65 Massaro, Shame, Culture, and American Criminal Law, Michigan Law Review 89 (1991), S. 1880, 1899. 66 Massaro, Shame, Culture, and American Criminal Law, Michigan Law Review 89 (1991), S. 1880, 1899. 67 Siehe dazu bereits Teil 3, A. I.; Dubber, Positive Generalprävention und Rechtsgutstheorie: Zwei zentrale Errungenschaften der deutschen Strafrechtswissenschaft aus amerikanischer Sicht, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 117 (2005), S. 485, 486. 62
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amerikanische Straftheorie und -praxis.68 Die Rehabilitation zielte auf eine Änderung des Charakters und der Verhaltensmuster des Delinquenten ab: diese sollten so verändert werden, dass der verurteilte Straftäter in Zukunft keine Straftaten mehr begeht.69 Diese Einwirkung konnte auf unterschiedliche Art und Weise erfolgen: durch psychotherapeutische Behandlung, spezielles Berufstraining oder Verhaltensänderungstechniken.70 Die Teilnahme an solchen Maßnahmen war jedoch nicht abhängig von der Bereitschaft des Delinquenten: er wurde, falls er nicht freiwillig mitwirkte, dazu gezwungen.71 Diesem Zweck diente auch die Freiheitsstrafe, in deren Rahmen der verurteilte Delinquent dem staatlichen Einfluss ohne Ausweichmöglichkeit ausgesetzt war.72 Die Rehabilitation diente also nicht dazu, wie der Name möglicherweise vermuten ließe, dazu, dem Delinquenten ,einen Gefallen zu tun‘ oder ihm ein besseres Leben zu ermöglichen, sondern, ganz im utilitaristischen Sinne, die Begehung weiterer Straftaten durch jenen zu verhindern.73 Der Aufstieg der Rehabilitation in den USA war keineswegs eine exklusive US-amerikanische Entwicklung. Auch in Deutschland spielten Resozialisierungsansätze74 innerhalb der kriminalpolitischen und straftheoretischen Diskussion vor allem ab den 1960er Jahren (wieder75), und damit etwas zeitversetzt zur US-amerikanischen Entwicklung, eine wichtige Rolle. In der Bundesrepublik Deutschland wurde die Resozialisierung im Strafvollzugsgesetz von 1977 sogar gesetzlich als Ziel der Freiheitsstrafe festgeschrieben.76 68
Clear/Cole/Reisig, American corrections (2010), S. 57 ff. Blecker, Haven or Hell? Inside Lorton Central Prison: Experiences of Punishment Justified 42 (1990), S. 1149, 1197. 70 A. v. Hirsch, Doing justice (1986), S. 11. 71 McNeill, Punishment as Rehabilitation (2014), in: Encyclopedia of Criminology and Criminal Justice, S. 4195, 4199; dazu auch Pawlik, Person, Subjekt, Bürger (2004), S. 29 ff. 72 Frühere Versuche, Täter zu rehabilitieren, bestanden darin, sie in den sogenannten „Penitentiaries“ zu isolieren, sowohl von ihrem ursprünglichen Umfeld als auch ihren Mitgefangenen. Dort mussten sie meist Schwerstarbeit verrichten. Bspw. das Pennsylvania- oder Auburn-System. S. Friedman, Crime and punishment in American history (1993), S. 77 ff. 73 A. v. Hirsch, Doing justice (1986), S. 11. 74 Der Begriff der „Resozialisierung“ weist die gleiche sprachliche Bedeutung auf wie der Begriff der „Rehabilitation“ im anglo-amerikanischen Raum. 75 Bereits Ende des 19. Jahrhunderts stellte Franz von Liszt sein sogenanntes „Marburger Programm“ vor, womit er die Bedeutung der Resozialisierung bereits im deutschen Kaiserreich und später in der Weimarer Republik beeinflusste. Ihm zufolge müsse Strafe einen bestimmten Zweck verfolgen, nämlich die Spezialprävention. Dabei sei je nach Tätertyp unterschiedlich auf diesen einzuwirken. Von Liszt zufolge muss die Einwirkung auf den Täter bei einem besserungsfähigen und besserungsbedürftigen Täter in der Besserung (positive Spezialprävention), bei einem nicht besserungsbedürftigen Täter in der Abschreckung und bei einem nicht besserungsfähigen Täter sogar in dessen Unschädlichmachung (negative Spezialprävention) bestehen. Siehe dazu Liszt, Der Zweckgedanke im Strafrecht (1948), S. 31 ff. 76 § 2 des StVollzG lautet bis heute: „Im Vollzug der Freiheitsstrafe soll der Gefangene fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen (Vollzugsziel).“ 69
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Teil 3: Vorschlag für einen dritten Diskussionsstrang
Der Konsens in der amerikanischen straftheoretischen und -praktischen Diskussion während der Hochzeit des Rehabilitationsideals war es, dass es sich bei all diesen unter dem Begriff der „Rehabilitation“ stehenden Maßnahmen um Behandlungen handelte, nicht um Strafe.77 Grund dafür war, dass der Rehabilitationstheorie die Vorstellung zu Grunde lag, dass kriminelles Verhalten eine Krankheit sei und diese Krankheit einer Behandlung bedürfe.78 So wurde selbst in den Sachverzeichnissen bekannter Lehrbücher beim Begriff „punishment“ auf den Begriff „treatment“ verwiesen.79 Auch die Bezeichnung der Strafvollzugsanstalten als „corrections“, übersetzt „Besserungsanstalten“, ist vor diesem Hintergrund besser verständlich. Auch die Entstehung des Model Penal Codes im Jahre 196280 war stark vom utilitaristischen Zeitgeist beeinflusst, was sich an den in Section 1.02 (1) normierten Strafzwecken zeigt, die ausschließlich in der Prävention von künftigen Straftaten liegen.81 Die Dominanz des Rehabilitationsgedankens in der straftheoretischen Diskussion wirkte sich auch auf die Strafpraxis aus. So wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts die bereits in Teil 1 erwähnte Möglichkeit der Indeterminate Sentence eingeführt.82 Dabei sprach das Gericht keine Freiheitsstrafe von festgelegter Dauer aus, sondern eine Mindestdauer, die der Verurteilte in Haft zu verbringen hatte.83 Für welche Dauer der verurteilte Straftäter tatsächlich inhaftiert blieb, entschied nach Ablauf der vom Gericht festgelegten Mindestdauer das sogenannte „Parole Board“, das etwa zeitgleich mit den Indeterminate Sentences eingeführt wurde.84 Dieses bestand aus Juristen, Psychologen und Kriminologen, die zu entscheiden hatten, wann der richtige Zeitpunkt für die Entlassung des Inhaftierten gekommen war.85 Das Ergebnis der Entscheidung richtete sich nach den Rehabilitierungschancen des Inhaftierten. Für die Einschätzung der Rehabilitierungschancen wurde das Verhalten des Inhaftierten im Gefängnis berücksichtigt; Gefängnisaufseher sollten Protokolle führen, die über eine Verbesserung oder Verschlechterung des Charakters des Gefangenen 77
Michael/Adler, Crime, Law and Social Science (1933), S. 334 f. Clear/Cole/Reisig, American corrections (2010), S. 61. 79 Michael/Wechsler, Criminal Law and Its Administration: Cases, Statutes, and Commentaries (1956); Tonry (Hrsg.), Why punish? How much? (2011), S. 17; Tonry, Thinking About Punishment (2011), in: Why punish? How much?, S. 3, 17. 80 Siehe dazu Teil 1, B. I. 3. 81 Section 1.02. (2) (ii) „when reasonably feasible, to achieve offender rehabilitation, general deterrence, incapacitation of dangerous offenders […]“. 82 Gertner, A Short History of American Sentencing: Too Little Law, Too Much Law, or Just Right, The Journal of Criminal Law and Criminology 100 (2010), S. 691, 695. 83 Friedman, Crime and punishment in American history (1993), S. 161. 84 Friedman, Crime and punishment in American history (1993), S. 161. 85 Bereits 1927 hatte Sheldon Glueck die Einführung einer sogenannten „Socio-PenalCommission“ vorgeschlagen, die aus Psychologen, Soziologen und Juristen bestehen und über die Rehabilitation und Incapacitation in Fällen schwerer Straftaten entscheiden sollte, da Richtern allein die Kompetenz für solche Entscheidungen fehle. Siehe Glueck, Principles of a Rational Penal Code, Harvard Law Review 41 (1928), S. 453, 476 f. 78
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Aufschluss geben könnten.86 Es wurden auch die Gründe für die Straffälligkeit des Täters geprüft, wie z. B. soziale Einflüsse im Kindes- oder Jugendalter.87 Sowohl das Gericht als auch die Staatsanwaltschaft sollten dem Parole Board alles vorlegen, was über die Gewohnheiten, das Umfeld, die Veranlagung und den Ruf des Häftlings bekannt war und alle Fakten, die Licht ins Dunkel bezüglich der Frage bringen könnten, ob der Gefangene grundsätzlich in der Lage ist, ein rechtstreuer Bürger zu werden.88 Kam es zu einer positiven Prognose, wurde der inhaftierte Täter früher entlassen, war die Prognose negativ, blieb er inhaftiert. Aus einer zeitlich unbestimmten Freiheitsstrafe folgte allerdings keine tatsächlich lebenslange Haft.89 Dennoch gab es Wege, Wiederholungstäter und vermeintlich unverbesserliche Täter lebenslang zu inhaftieren, etwa im Rahmen der „Habitual Offender Laws“,90 die allerdings eher als Incapacitation denn als Rehabilitation einzuordnen sind. d) Niedergang des Rehabilitationsideals Da es in der richterlichen Praxis aufgrund des sehr weiten Ermessensspielraums nicht notwendig war, die Einbeziehung von anderen straftheoretischen Überlegungen als der Rehabilitation gesondert zu begründen, gab es zumindest aus richterlicher Sicht lange keinen Anlass, das System der Rehabilitation zu hinterfragen.91 In der straftheoretischen Diskussion hingegen gab es schon ab den 1950er Jahren Kritik am Rehabilitationsideal, etwa vom Strafrechtswissenschaftler Francis A. Allen.92 Er hatte die Rehabilitation und deren praktische Auswirkungen wie die Indeterminate Sentences und individualisierte Strafen in mehreren Aufsätzen93 stark kritisiert. Die Kritik blieb jedoch für längere Zeit unbeantwortet. Einige Jahre später, 1969, legte der Verwaltungsrechtler Kenneth C. Davis nach und kritisierte die mangelnde Überprüfbarkeit der Entscheidungen der Gerichte und der Parole Boards und sprach sich für Regelungen zur Strafzumessung aus, deren Einhaltung dann auch tatsächlich von einer Kontrollinstanz überprüft werden konnte.94 Auch der Strafrechtswissenschaftler Marvin Frankel forderte Regeln für die Strafzumessung, die dann wiederum von einer Rechtsmittelinstanz überprüft werden konnten.95
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Friedman, Crime and punishment in American history (1993), S. 161. Friedman, Crime and punishment in American history (1993), S. 161. 88 Friedman, Crime and punishment in American history (1993), S. 161. 89 Friedman, Crime and punishment in American history (1993), S. 160. 90 Friedman, Crime and punishment in American history (1993), S. 161. 91 Tonry, The handbook of crime and punishment (1998), S. 661. 92 Tonry, Thinking About Punishment (2011), in: Why punish? How much?, S. 3, 20. 93 Allen, Criminal Justice, Legal Values and the Rehabilitative Ideal, The Journal of Criminal Law, Criminology, and Police Science 50 (1959), S. 226; Allen, The decline of the rehabilitative ideal, Cleveland State Law Review 1978, S. 147. 94 Tonry, Thinking About Punishment (2011), in: Why punish? How much?, S. 3, 20. 95 Tonry, Thinking About Punishment (2011), in: Why punish? How much?, S. 3, 20. 87
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Diese und weitere Kritik schwächte zunehmend die ursprünglich sehr starke Stellung des Rehabilitationsideals. In den 1970er Jahren wurde auch die Kritik am System der Indeterminate Sentences immer lauter. Konservative Juristen und vor allem Politiker kritisierten diese insbesondere deshalb, da die Gefahr bestünde, dass ein inhaftierter Straftäter ,zu früh‘ in die Freiheit entlassen werde, obwohl er womöglich noch gefährlich sei und damit eine Bedrohung für die Gesellschaft darstelle.96 Ihnen zufolge war das System der Rehabilitation zu lasch – statt der Fokussierung auf die Behandlung von Tätern forderten sie vielmehr die Verhängung ,richtiger‘ Strafen.97 Doch auch liberale Politiker und Juristen waren mit den Indeterminate Sentences sehr unzufrieden.98 Ihrer Ansicht nach bestand nicht die Gefahr, dass jemand trotz seiner Gefährlichkeit entlassen werde, sondern vielmehr, dass ein verurteilter Straftäter unverhältnismäßig lange in Haft bleiben müsse und währenddessen Opfer willkürlicher, nicht überprüfbarer Entscheidungen von Parole Board und Gerichten werde.99 Diese kurzzeitige „Allianz“100 der beiden politischen Gegner trug zur weiteren Destabilisierung des rehabilitationsorientierten Strafsystems bei.101 Nicht nur die Praxis der Rehabilitation war Kritik ausgesetzt; es kamen auch verstärkt Zweifel an den zu erzielenden Rehabilitationseffekten auf, nämlich der Prävention von Straftaten durch die Verhinderung von Rückfällen.102 Der amerikanische Kriminologie Robert Martinson und seine beiden Kollegen Douglas Lipton und Judith Wilks hatten zu dieser Frage im Jahr 1974 231 Studien untersucht, die den Erfolg von Rehabilitationsprogrammen messen sollten.103 Bei der Durchsicht der Studien fiel ihnen auf, dass sich die Rückfallzahlen von behandelten, also vermeintlich rehabilitierten Tätern kaum von denen der nicht-behandelten Täter unterschieden.104 Daraus schloss Martinson, dass die Rehabilitationsbemühungen nichts brachten.105 Auch wenn Martinson im Jahre 1979 korrigierte, dass er bei seiner Untersuchung Fehler gemacht habe, und einige Rehabilitationsprogramme unter bestimmten Umständen und einer bestimmten Gruppe von Häftlingen durchaus 96
Friedman, Crime and punishment in American history (1993), S. 307. Friedman, Crime and punishment in American history (1993), S. 307. 98 Friedman, Crime and punishment in American history (1993), S. 307. 99 Friedman, Crime and punishment in American history (1993), S. 307. 100 Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung: zur Rechtfertigung von Strafe (1999), S. 137. 101 Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung: zur Rechtfertigung von Strafe (1999), S. 137. 102 Tonry, The handbook of crime and punishment (1998), S. 661. 103 Cullen, Rehabilitation: Beyond Nothing Works, Crime and Justice 42 (2013), S. 299, 326; Lipton/Martinson/Wilks, The effectiveness of correctional treatment (1975). 104 Cullen, Rehabilitation: Beyond Nothing Works, Crime and Justice 42 (2013), S. 299, 327. 105 Cullen, Rehabilitation: Beyond Nothing Works, Crime and Justice 42 (2013), S. 299, 326. 97
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Erfolge verzeichnen konnten, war mit Martinsons Feststellung „nothing works“106 das Ende der Rehabilitationsära besiegelt.107 2. Retribution Mit dem Niedergang des Rehabilitationsideals und dem geschwundenen Vertrauen in die utilitaristischen Theorien, die schwache bis gar keine Effekte hinsichtlich der Kriminalitätsprävention vorweisen konnten, wuchs das Interesse an Straftheorien, deren Legitimation nicht von empirisch überprüfbaren zukünftigen Effekten abhing, sondern die die Strafe aus einer engen Beziehung mit der begangenen Straftat heraus legitimierten. So gerieten in den USA ab der Mitte der 1960er Jahre sogenannte „retributive“ Straftheorien in den Fokus der straftheoretischen Diskussion. Der Begriff „Retribution“ stammt vom lateinischen Wort „retribuere“, das so viel bedeutet wie „zurückgeben, zurückerstatten“.108 Aus Sicht der retributiven Straftheorien109 besteht zwischen der begangenen Straftat und der Strafe eine enge Beziehung; nicht in der Zukunft liegende gesellschaftliche Zwecke, sondern die in der Vergangenheit liegende Straftat bildet die Rechtfertigungsgrundlage für die zu verhängende Strafe.110 Das Kernelement der retributiven Straftheorien ist der Verdienst des Täters.111 Bestraft wird jemand, der und weil er Strafe aufgrund der von ihm begangenen Straftat verdient. Verdient ist Strafe aus retributiver Sicht dann, wenn jemand willentlich Normen verletzt;112 Voraussetzung für eine Strafe aus retributiver Sicht ist damit die Schuld des Täters. Grundlage für eine retributive Straftheorie ist also die Annahme, dass der Mensch grundsätzlich einen freien Willen haben kann.113 Damit kann 106 Martinson stellte in einer der Überschriften seines Aufsatzes „What works“ vielmehr die Frage, „Does nothing work?“. Dazu Cullen, Rehabilitation: Beyond Nothing Works, Crime and Justice 42 (2013), S. 299, 326. 107 Cullen, Rehabilitation: Beyond Nothing Works, Crime and Justice 42 (2013), S. 299, 328. 108 PONS Wörterbuch Latein-Deutsch, https://de.pons.com/%C3%BCbersetzung/lateindeutsch/retribuere [zugegriffen am 10. 06. 2022]. 109 Unter dem Begriff der retributiven Theorien werden in der US-amerikanischen Diskussion jedoch bei einem genaueren Blick auf die jeweilige Straftheorie auch solche Straftheorien gefasst, die keine Vergeltungstheorien im engeren Sinne darstellen, sondern etwa Gesellschaftsgestaltung zum Ziel haben, wie die sogenannte „benefit-and-burden“-Theorie, die auf S. 145 dargestellt wird. 110 Zürcher, Legitimation von Strafe: die expressiv-kommunikative Straftheorie zur moralischen Rechtfertigung von Strafe (2014), S. 59. 111 A. v. Hirsch, Doing justice (1986), S. 45 ff. 112 Dressler, Understanding criminal law (2009), S. 16. 113 Dressler, Understanding criminal law (2009), S. 16 Dressler verweist auch auf die sogenannten „hard determinists“, die die Existenz eines freien Willens verneinen. Damit könnte einem Menschen, der eine Straftat begeht, kein Strafvorwurf gemacht werden, da der Tat keine Entscheidung basierend auf einem freien Willen vorausgegangen ist, sondern diese vielmehr
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demjenigen, der sich entscheidet, eine Straftat zu begehen, aus diesem Grund auch ein Vorwurf gemacht werden, da er sich auch hätte anders entscheiden können.114 In Deutschland reagierte man auf die „Nothing-Works“-Erkenntnis von Martinson und die daraus resultierende tiefgreifende Krise der sozialen Strafrechtspflege mit einer Hinwendung zur Theorie der positiven Generalprävention, wonach Strafe dazu dient, die verletzten Normen in ihrer Geltung zu bestätigen, um damit die rechtstreuen Bürger in ihrer Rechtstreue zu bestärken.115 Im Folgenden soll die Entwicklung der retributiven Theorien innerhalb der amerikanischen Diskussion betrachtet werden. Nachdem sich der Utilitarismus in den USA Mitte des 19. Jahrhunderts vorerst gegen Vergeltungstheorien, wie die von Immanuel Kant, durchgesetzt hatte und zur dominierenden amerikanischen Straftheorie geworden war, war es um das retributive Lager der straftheoretischen Diskussion zunächst still geworden. Erst im Jahr 1939, während der Hochzeit der utilitaristischen Straftheorie und der davon stark geprägten Strafpraxis, veröffentlichte J. D. Mabbott den Aufsatz „Punishment“116, der „die Renaissance retributiver Straftheorien in der englischsprachigen Rechtsphilosophie ein[leitete]“.117 Der erste Satz in Mabbotts Aufsatz lautet: „I propose in this paper to defend a retributive theory of punishment and to reject absolutely all utilitarian considerations from its justification“.118 Wenn jemand eine Schule oder einen Staat gründen möchte, müsse er aus Mabbotts Sicht zuerst zwei Fragen beantworten: Sollen Regeln für das Miteinander aufgestellt werden und falls ja, welche Regeln?119 Die Antwort auf die erste Frage könne entweder mit ja oder nein beantwortet werden.120 Zwar sind in sehr kleinen Gruppen Konflikte auch durch Einzelfall-Verhandlungen zu lösen, je größer die Gruppe, desto sinnvoller erscheint es jedoch, abstrakt-generelle Regeln – im Staat
ein Produkt von genetischen und Umweltfaktoren ist. Die Ansicht der „hard determinists“ und retributive Straftheorien sind daher miteinander unvereinbar. Siehe dazu Fn. 22 in Dressler, Understanding criminal law (2009), S. 16. 114 Dressler, Understanding criminal law (2009), S. 16. 115 Dubber, Positive Generalprävention und Rechtsgutstheorie: Zwei zentrale Errungenschaften der deutschen Strafrechtswissenschaft aus amerikanischer Sicht, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 117 (2005), S. 485; Hörnle, Straftheorien (2017), S. 27 f. 116 Mabbott, Punishment, Mind 48 (1939), S. 152. 117 Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung: zur Rechtfertigung von Strafe (1999), S. 44; allerdings fehlt diesen retributiven Ansätzen in der amerikanischen Diskussion meist der metaphysische Überbau, weshalb sie inhaltlich wenig mit Kants oder Hegels Strafphilosophie gemeinsam haben, auch wenn vor allem Kant häufig namentlich in den Ausführungen zum Retributivismus genannt wird. Beispiel: Mabbott, Punishment, Mind 48 (1939), S. 152, 157. 118 Mabbott, Punishment, Mind 48 (1939), S. 152, 152. 119 Für den Staat im Hinblick auf Gesetze, siehe Mabbott, Punishment, Mind 48 (1939), S. 152, 161, für die Schule, siehe Mabbott, Punishment, Mind 48 (1939), S. 152, 164. 120 Mabbott, Punishment, Mind 48 (1939), S. 152, 161, 164.
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Gesetze – zu erlassen.121 Bezüglich des Norminhalts hat der Gesetzgeber einen weiten Ermessensspielraum.122 So könne er sich überlegen, welches Verhalten er unter Strafe stellen möchte. Bei dieser Entscheidung können auch potentielle Konsequenzen eine Rolle spielen; die Entscheidung über den Norminhalt wäre damit utilitaristisch.123 Wenn sich der Staatsgründer bzw. Schulleiter allerdings dazu entscheide, Regeln zu erlassen, dann müsse er deren Bruch auch bestrafen.124 Obwohl der Norminhalt utilitaristisch motiviert ist, wird Strafe nicht utilitaristisch gerechtfertigt.125 Denn Strafe sei laut Mabbott keine logische Folge der Gesetzgebung, sondern erst des Gesetzesbruchs.126 Es sei durchaus vorstellbar, dass es einen „Zustand idealer Normbefolgung“127 gebe, in dem es dann auch keine Strafe geben müsse.128 Mabbott zufolge ist Strafe damit erst durch den Gesetzesbruch gerechtfertigt.129 Als retributive Rechtfertigung von Strafe können diese Erwägungen jedoch nicht bezeichnet werden. Vielmehr schließt Mabbott von der Beziehung zwischen Tatbestand und Rechtsfolge, die in einem logischen Zusammenhang zueinander stehen, auf den ontologischen Zusammenhang zwischen Tat und Strafe, ohne dies jedoch näher zu begründen;130 damit liefert er allerdings keine Theorie für die Legitimation von Strafe, sondern deckt lediglich eine „triviale analytische Wahrheit“131 auf. Der britische Rechtsphilosoph A. M. Quinton bezeichnete diese Form des Re-
121 Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung: zur Rechtfertigung von Strafe (1999), S. 144. 122 Mabbott, Punishment, Mind 48 (1939), S. 152, 164; Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung: zur Rechtfertigung von Strafe (1999), S. 144. 123 „But I suspect that most Headmasters, especially those of large schools, would either decide at once, or quickly be driven, to realize that some rules were necessary. This decision would be ,utilitarian‘ in the sense that it would be determined by consideration of consequences. The question ,what rules?‘ would then arise and again the issue is utilitarian.“ Mabbott, Punishment, Mind 48 (1939), S. 152, 164. 124 „But the one choice which is now no longer open to the Headmaster is whether he shall punish those who break the rules.“ Mabbott, Punishment, Mind 48 (1939), S. 152, 164. 125 Mabbott, Punishment, Mind 48 (1939), S. 152, 161. 126 Mabbott, Punishment, Mind 48 (1939), S. 152, 161. 127 Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung: zur Rechtfertigung von Strafe (1999), S. 144. 128 Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung: zur Rechtfertigung von Strafe (1999), S. 144. 129 „The only justification for punishing any man is that he has broken a law. […] He [the headmaster] decides actually to have rules and to threaten, but only hypothetically, to punish. The one essential condition which makes actual punishment just is a condition he cannot fulfill – namely that a rule should be broken.“ Mabbott, Punishment, Mind 48 (1939), S. 152, 158, 164. 130 Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung: zur Rechtfertigung von Strafe (1999), S. 144. 131 Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung: zur Rechtfertigung von Strafe (1999), S. 144.
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tributivismus als „keine moralische, sondern eine logische Doktrin […]“132. Diese liefere „keine moralische Rechtfertigung für die Verhängung von Strafen […], sondern eine Erklärung für den Gebrauch des Wortes.“133 Hanno Kaiser bringt das Problem von Mabbotts vermeintlicher retributiver Theorie wie folgt auf den Punkt: „Entgegen seinem ursprünglichen Ziel, präsentiert Mabbott […] keine retributive Straftheorie, sondern ein positivistisches Rechtsanwendungsmodell im Rahmen einer utilitaristischen Theorie der Gesetzgebung.“134 Trotz der normativen Schwächen von Mabbotts Ausführungen führte seine Kritik an den utilitaristischen Theorien, wenn auch erst viele Jahre später, in der straftheoretischen Diskussion zu Versuchen, diese Kritik135 zu entschärfen. So stellte der liberale Moralphilosoph John Rawls im Jahr 1954 in seinem Aufsatz „Two Concepts of Rules“ eine sogenannte „Mischtheorie“136 mit einem retributiven Element vor. Seiner Ansicht nach widersprächen sich die utilitaristischen und retributiven Theorien hinsichtlich der Frage der Rechtfertigung von Strafe nicht zwingend; vielmehr käme es auf die jeweilige Perspektive an.137 Denn die Rechtfertigung der Strafe als generelle Praxis sei von der Rechtfertigung einzelner Handlungen unter dieser Praxis zu unterscheiden.138 Aus der Perspektive des Gesetzgebers sei Strafe aus utilitaristischen, präventiven Gründen gerechtfertigt – aus Sicht des urteilenden Richters käme es bei der Rechtfertigung der Strafe darauf an, die angemessene Strafe für den jeweiligen Täter und dessen begangene Tat zu finden, womit diese Perspektive vielmehr retributiv geprägt sei.139 Der Retributivismus ist Rawls zufolge damit in der Rechtsanwendung zu verorten, während der Utilitarismus die Gesetz-
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Quinton, On Punishment, Analysis 14 (1954), S. 133, 134. Quinton, On Punishment, Analysis 14 (1954), S. 133, 134. 134 Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung: zur Rechtfertigung von Strafe (1999), S. 145. 135 Etwa die Bestrafung Unschuldiger oder exorbitant hohe Strafen. Siehe dazu Zürcher, Legitimation von Strafe: die expressiv-kommunikative Straftheorie zur moralischen Rechtfertigung von Strafe (2014), S. 51. 136 Der Begriff wird genutzt für Theorien, die Strafe nicht aufgrund eines in sich geschlossenen straftheoretischen Ansatzes rechtfertigen, sondern unterschiedliche Elemente, z. B. aus dem Utilitarismus und dem Retributivismus miteinander kombinieren. Siehe z. B. Lacey, State punishment (1988), S. 16. 137 Rawls, Two Concepts of Rules, The Philosophical Review 64 (1955), S. 3, 6. 138 Rawls, Two Concepts of Rules, The Philosophical Review 64 (1955), S. 3, 3. 139 „We might try to get clear about this distinction by imagining how a father might answer the question of his son“. Suppose the son asks, „Why was J put in jail yesterday?“ The father answers, „Because he robbed the bank at B. He was duly tried and found guilty. That’s why he was put in jail yesterday.“ But suppose the son had asked a different question, namely. „Why do people put other people in jail?“ Then the father might answer, „To protect good people from bad people“ or „To stop people from doing things that would make it uneasy for all of us; for otherwise we wouldn’t be able to go to bed at night and sleep in peace.“ Rawls, Two Concepts of Rules, The Philosophical Review 64 (1955), S. 3, 5. 133
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gebung beeinflusst.140 Die Kritik, der Utilitarismus ermögliche bzw. befürworte sogar die Verurteilung von Unschuldigen, sei nicht angebracht: Der Richter, der den Unschuldigen verurteilt und damit das geltende Recht bricht, agiert auf der Ebene der Rechtsanwendung. Damit sei seine Handlung allerdings gar nicht nach utilitaristischen Maßstäben zu bewerten, da „das utilitaristische Prinzip sich auf die Institution [des Strafrechts] bezieht“141 und nicht auf die Ebene der Entscheidung über Einzelfälle.142 Daher richte sich diese Kritik gar nicht gezielt gegen den Utilitarismus. Nun könnte man das Problem Rawls zufolge auch auf die Ebene der Gesetzgebung verlagern. Würde der Gesetzgeber ein Gesetz erlassen, das es in besonderen Härtefällen erlaubt, einen Unschuldigen als ,Sündenbock‘ ins Gefängnis zu werfen (was Rawls als sogenanntes „Telishment“143 bezeichnet), dann „,wäre eine utilitaristische Rechtfertigung dieser Institution in höchstem Maße unwahrscheinlich‘, da ,es […] offensichtlich [sei], dass das Volk eine sehr veränderte Stellung zum System des Strafrechts einnehmen wird […] So wird man unsicher werden, ob gegen einen Verurteilten Strafe oder Telishment verhängt wurde. Man wird sich fragen, ob man ihn bedauern soll – und ob dieses Schicksal nicht jeden zu jeder Zeit treffen kann.‘“144
Die durch die Einführung dieses „Telishments“ ausgelöste Unsicherheit in der Bevölkerung würde damit genau das Gegenteil des utilitaristischen Zwecks erzielen, womit die Kritik, der Utilitarismus würde die Bestrafung von Unschuldigen ermöglichen, vollständig ausgeräumt sei. Rawls’ Argumente gegen die Kritik an utilitaristischer Rechtfertigung für Strafe überzeugen jedoch beide nicht. Kaiser kritisiert zu Recht, dass Rawls mit dem ersten Argument eine sogenannte „Definitionssperre“ errichte.145 Er definiere den Utilitarismus unter Ausschluss theoretisch problematischer Institutionen, wie den Richtern, die das Strafrecht anwenden und Urteile sprechen.146 Damit setzt Rawls voraus, dass gesetzgeberische regelutilitaristische Überlegungen zu einem anderen
140 Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung: zur Rechtfertigung von Strafe (1999), S. 145. 141 Rawls, Two Concepts of Rules, The Philosophical Review 64 (1955), S. 3, 11, Übersetzung übernommen aus Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung: zur Rechtfertigung von Strafe (1999), S. 146. 142 Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung: zur Rechtfertigung von Strafe (1999), S. 146. 143 Rawls, Two Concepts of Rules, The Philosophical Review 64 (1955), S. 3, 11. 144 Rawls, Two Concepts of Rules, The Philosophical Review 64 (1955), S. 3, 9, Übersetzung übernommen aus Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung: zur Rechtfertigung von Strafe (1999), S. 146. 145 Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung: zur Rechtfertigung von Strafe (1999), S. 146; Hart, The Presidential Address: Prolegomenon to the Principles of Punishment, Proc Aristot Soc 60 (1960), S. 1, 5. 146 Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung: zur Rechtfertigung von Strafe (1999), S. 146.
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Ergebnis führen würden als einzelfallbezogene handlungsutilitaristische.147 In der richterlichen Praxis könne dies durchaus zutreffen, zumal dem Richter nicht immer alle relevanten Informationen zugänglich sind, um eine Abwägung zwischen der Bestrafung eines Unschuldigen und den potentiellen gesellschaftlichen Konsequenzen vorzunehmen; in der Theorie ist dies jedoch kein schlagkräftiges Argument.148 Wenn das Ziel lautet, das größtmögliche Glück der größtmöglichen Anzahl Menschen zu befördern, kann theoretisch auch ein Richter durch das Befolgen eines klugen oder durch den Bruch eines unklugen Gesetzes zu diesem Ziel beitragen.149 Das Telishment, also das Gesetz, das es erlaubt, einen Sündenbock auszuwählen, der ins Gefängnis muss, obwohl er keine Straftat begangen hat, würde nur dann für Unsicherheit in der Bevölkerung sorgen, wenn diese davon erfahren würde.150 Sofern der Bevölkerung ein solches Gesetz nicht bekannt gegeben würde, „ein geheimes Legislativkomitee dem Richter im jeweiligen Falle eine telefonische Order mit Gesetzeskraft [gäbe]“151, würden regelutilitaristische Argumente nicht gegen ein solches „Telishment“ sprechen.152 Rawls Versuch, die Kritik am Utilitarismus zu entkräften, führt damit im Ergebnis zur Auflösung des „(logischen) Retributivismus in einer utilitaristischen Theorie erster Ordnung“.153 Der britische Rechtsphilosoph H. L. A. Hart präsentiert ebenfalls eine eigene Mischtheorie, die jedoch den Retributivismus nicht im Utilitarismus auflöst, sondern jenem durchaus einen eigenen normativen Charakter zuspricht.154 In seinem Vortrag „Prolegomenon to the Principles of Punishment“ im Jahre 1959 weist er darauf hin, dass es nicht die eine Frage nach der Rechtfertigung der Strafe gebe; vielmehr handle es sich dabei um folgende drei Fragen:155 „Warum strafen wir?“156 „Wen bestrafen
147 Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung: zur Rechtfertigung von Strafe (1999), S. 146. 148 Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung: zur Rechtfertigung von Strafe (1999), S. 146. 149 Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung: zur Rechtfertigung von Strafe (1999), S. 146. 150 Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung: zur Rechtfertigung von Strafe (1999), S. 146. 151 Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung: zur Rechtfertigung von Strafe (1999), S. 146. 152 Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung: zur Rechtfertigung von Strafe (1999), S. 146 153 Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung: zur Rechtfertigung von Strafe (1999), S. 146. 154 Hart, The Presidential Address: Prolegomenon to the Principles of Punishment, Proc Aristot Soc 60 (1960), S. 1, 9. 155 Hart, The Presidential Address: Prolegomenon to the Principles of Punishment, Proc Aristot Soc 60 (1960), S. 1, 4. 156 „General Justifying Aim“ Hart, The Presidential Address: Prolegomenon to the Principles of Punishment, Proc Aristot Soc 60 (1960), S. 1, 8.
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wir?“157 und „Wie [hart] bestrafen wir?“158 Auf die erste Frage müsse die Antwort lauten, dass gestraft werde, damit keine weiteren Straftaten begangen werden und die Gesellschaft sicher ist – demzufolge wäre das Strafrechtssystem, die Institution der Strafe, konsequentialistisch und präventionstheoretisch gerechtfertigt („general justifying aim“).159 Die Antwort auf die zweite Frage, die sich auf den konkreten Akt der Bestrafung eines Menschen bezieht („distribution“), sei retributiv geprägt – bestraft wird, wer eine Straftat begangen hat, womit etwa die Bestrafung einer unschuldigen Person, die aus utilitaristischer Sicht grundsätzlich160 möglich wäre, ausgeschlossen wird.161 Bei der Frage nach der Höhe der Strafe gibt die utilitaristische Rechtfertigung der Institution Strafe zwar eine bestimmte Richtung vor,162 bei der Bemessung der Strafhöhe müssen Hart zufolge jedoch auch die persönlichen Umstände des Täters miteinbezogen werden, die dann eventuell eine Milderung der Strafe erforderlich machen.163 Hart unterscheidet zwischen dem Retributivismus als „General Justifying Aim“ und dem Retributivismus im Sinne der „Distribution“.164 Daher sei es auch völlig konsistent, zu behaupten, dass das generell legitimierende Ziel der Strafpraxis in ihren nützlichen Folgen bestehen kann und dass die Verfolgung dieses Ziels durch Verteilungsprinzipien qualifiziert oder beschränkt werden sollte, die voraussetzen, dass nur ein Täter für eine Tat bestraft werden sollte.165 Retributive Erwägungen 157 „Distribution“, zunächst die Frage, „Wer soll bestraft werden?“ Hart, The Presidential Address: Prolegomenon to the Principles of Punishment, Proc Aristot Soc 60 (1960), S. 1, 10. 158 Ebenfalls Frage der „Distribution“, aber „Wie hoch soll die Strafe sein?“ Hart, The Presidential Address: Prolegomenon to the Principles of Punishment, Proc Aristot Soc 60 (1960), S. 1, 14. 159 „[…] that the General justifying Aim of the practice of punishment is its beneficial consequences […]“, Hart, The Presidential Address: Prolegomenon to the Principles of Punishment, Proc Aristot Soc 60 (1960), S. 1, 9. 160 An dieser Stelle stellt sich natürlich die Frage, inwiefern es selbst aus utilitaristischer Sicht sinnvoll wäre, häufiger Unschuldige zu bestrafen, da die Bevölkerung möglicherweise irgendwann das Vertrauen in die Strafjustiz verlieren könnte. Siehe dazu Hart, The Presidential Address: Prolegomenon to the Principles of Punishment, Proc Aristot Soc 60 (1960), S. 1, 11. 161 Hart, The Presidential Address: Prolegomenon to the Principles of Punishment, Proc Aristot Soc 60 (1960), S. 1, 9. 162 So würde aus utilitaristischer Sicht keine exorbitant hohe Strafe verhängt, wenn vorhersehbar ist, dass diese Strafe nicht mehr zur Rechtsbefolgung der Bevölkerung und des Bestraften beiträgt als dies eine mildere Strafe tun könnte. (Ist natürlich in der Praxis kaum feststellbar) dazu Hart, The Presidential Address: Prolegomenon to the Principles of Punishment, Proc Aristot Soc 60 (1960), S. 1, 14. 163 Hart, The Presidential Address: Prolegomenon to the Principles of Punishment, Proc Aristot Soc 60 (1960), S. 1, 14. 164 Hart, The Presidential Address: Prolegomenon to the Principles of Punishment, Proc Aristot Soc 60 (1960), S. 1, 9. 165 Hart, The Presidential Address: Prolegomenon to the Principles of Punishment, Proc Aristot Soc 60 (1960), S. 1, 9.
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dienen damit zwar nicht als Rechtfertigung für das ,System‘ der Strafe, aber als Begrenzung der üblicherweise sehr weitgehenden utilitaristischen Begründung durch die Festlegung bestimmter Verteilungsprinzipien.166 Hart behauptet damit nicht, wie Rawls, dass Retributivismus und Utilitarismus sich überhaupt nicht widersprächen; viel eher sei es so, „dass jede moralisch vertretbare Darstellung dieser Institution [Anm. d. Verf.: „der Institution Strafe“] diese als Kompromiss zwischen unterschiedlichen und teilweise widersprüchlichen Prinzipien offen legen muss.“167 Sowohl in der Mischtheorie von Rawls als auch in der Harts sind retributive Erwägungen erst auf der Ebene des Schuldspruchs bzw. der Strafzumessung einzubeziehen, während utilitaristische Theorien die eigentliche Begründung für die Existenz der Institution der Strafe bilden. Im Gegensatz zu Rawls und Quinton spricht Hart dem Retributivismus einen normativen Charakter zwar nicht ab, jedoch besteht auch in seiner Theorie das „General Justifiying Aim“ in utilitaristischen Zwecksetzungen.168 Nichtsdestotrotz war die Arbeit von Hart ein wichtiger Schritt, um dem Retributivismus dazu zu verhelfen, sich von seiner den Utilitarismus beschränkenden Funktion zu einem potentiellen „General Justifying Aim“ zu entwickeln.169 Ende der 1960er Jahre präsentierten die amerikanischen Philosophen Herbert Morris170 und Jeffrie G. Murphy171 eine vielbeachtete, eigenständige retributive Legitimationstheorie für die Strafe, die sogenannte „benefit-and-burden“-Theorie.172 Im Gegensatz zu den Theorien von Rawls und Hart nimmt der Retributivismus in der „benefit-and-burden“-Theorie nach langer Zeit wieder die Rolle eines „General Justifying Aim“ des Strafrechts ein.173 Der der „benefit-and-burden-Theorie“ zugrunde liegende Gedanke ist, dass das Leben im Staat sowohl Vorteile als auch Nachteile bietet.174 Während ein großer Vorteil im Schutz vor Übergriffen besteht, ist es nachteilig, dass der Bürger in seiner 166
Hart zufolge ist die Bedeutung der Retribution im Rahmen der Verhängung von Strafe unabhängig von der Kritik an der Retribution als allgemeine Rechtfertigung für die Existenz der Strafe. Hart, The Presidential Address: Prolegomenon to the Principles of Punishment, Proc Aristot Soc 60 (1960), S. 1, 12. 167 Hart, The Presidential Address: Prolegomenon to the Principles of Punishment, Proc Aristot Soc 60 (1960), S. 1, 1. 168 Hart, The Presidential Address: Prolegomenon to the Principles of Punishment, Proc Aristot Soc 60 (1960), S. 1, 8 ff. 169 Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung: zur Rechtfertigung von Strafe (1999), S. 149. 170 Morris, Persons and Punishment, Monist 52 (1968), S. 475, 477. 171 Murphy, Marxism and Retribution, Philosophy & Public Affairs 2 (1973), S. 217. 172 Tonry (Hrsg.), Why punish? How much? (2011), S. 108. 173 Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung: zur Rechtfertigung von Strafe (1999), S. 149. 174 Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung: zur Rechtfertigung von Strafe (1999), S. 149.
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natürlichen Handlungsfreiheit eingeschränkt wird, um eben jenen Schutz auch für die anderen Bürger zu gewährleisten.175 Eine retributive Straftheorie wird daraus nun durch die normative Prämisse, dass die Vor- und Nachteile des Staates gleichmäßig und fair176 auf die Bürger verteilt werden müssen.177 Es sollen damit innerhalb des Staates alle Mitglieder der Gesellschaft die gleiche Last tragen, sich an Recht und Gesetz zu halten und sich selbst zu beherrschen.178 Dafür profitieren sie aber auch alle von der Sicherheit und dem Schutz, die dieses Recht ihnen bietet, aber auch von anderen staatlichen (Dienst-)Leistungen.179 So bestehe eine Balance zwischen Gütern, wie dem staatlichen Schutz vor Übergriffen, und Lasten, wie der Pflicht zur Rechtskonformität.180 Wer eine Straftat begeht, trägt allerdings weniger Lasten als die übrigen, rechtstreuen Mitglieder der Gesellschaft, profitiert aber weiterhin vom Schutz durch den Staat und der Rechtskonformität der anderen Gesellschaftsmitglieder.181 Somit hat der Straftäter gegenüber diesen einen unfairen Vorteil erlangt.182 Dieses Ungleichgewicht kann nun entweder durch den Entzug des Vorteils oder durch die Auferlegung einer zusätzlichen Last ausgeglichen werden.183 Einem Täter die Last aufzuerlegen, noch rechtstreuer als rechtstreu zu sein, ist nicht möglich.184 Ihm den Schutz des Rechts vollständig zu entziehen, würde einer faktischen Exklusion aus der Gesellschaft gleichkommen, die unabhängig von der Schwere seiner Straftat als Folge des Normbruchs erfolgen würde.185 So würde ein Dieb ebenso wie ein Mörder jeglichen staatlichen Schutz verlieren, was im Ergebnis bedeuten würde,
175 Morris, Persons and Punishment, Monist 52 (1968), S. 475, 477; Murphy, Kant’s Theory of Criminal Punishment (1979), in: Retribution, justice, and therapy, S. 82, 83. 176 Die „benefit-and-burden“-Theorie wird deshalb auch als sogenannte. „Fairness“-Theorie oder „Unfair-Advantage“-Theorie bezeichnet. 177 Morris, Persons and Punishment, Monist 52 (1968), S. 475, 477; es drängt sich die Frage auf, wieso es dieser fairen Verteilung bedarf, wenn nicht für die Wahrung eines gesellschaftlichen Friedens und damit der Senkung der Kriminalitätsrate. Damit wäre die „benefit-and-burden“-Theorie allerdings inhaltlich nah an einer Theorie der positiven Generalprävention. 178 Morris, Persons and Punishment, Monist 52 (1968), S. 475, 477. 179 Morris, Persons and Punishment, Monist 52 (1968), S. 475, 477. 180 Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung: zur Rechtfertigung von Strafe (1999), S. 149; Morris, Persons and Punishment, Monist 52 (1968), S. 475, 477; Murphy, Kant’s Theory of Criminal Punishment (1979), in: Retribution, justice, and therapy, S. 82, 83; Murphy, Three mistakes about retributivism, Analysis 31 (1971), S. 166, 166. 181 Morris, Persons and Punishment, Monist 52 (1968), S. 475, 477. 182 Morris, Persons and Punishment, Monist 52 (1968), S. 475, 478. 183 Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung: zur Rechtfertigung von Strafe (1999), S. 150. 184 Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung: zur Rechtfertigung von Strafe (1999), S. 150. 185 Burgh, Do the Guilty Deserve Punishment?, The Journal of Philosophy 79 (1982), S. 193, 206; Dolinko, Mismeasuring „unfair advantage“: A response to Michael Davis, Law and Philosophy 13 (1994), S. 493, 497
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dass er sogar straffrei getötet werden könnte.186 Das Problem der „benefit-andburden“-Theorie besteht damit in ihrer Binarität, aufgrund derer eine Abstufung nach der Schwere der begangenen Tat im Rahmen der Strafzumessung nicht möglich ist. Aus diesem Grund entstand zunächst die Überlegung, den staatlichen Schutz und die Pflicht, sich rechtstreu zu verhalten, in einzelne Elemente aufzuspalten, die, ebenso wie die übergeordneten Kategorien „Gut“ einerseits und „Last“ andererseits, synallagmatisch miteinander zusammenhängen: so soll ein Dieb, der mit seiner Straftat das Eigentum eines anderen verletzt, den Schutz seines Eigentums verlieren, nicht aber den Schutz seines Lebens.187 Das Aufrechterhalten dieses Synallagmas funktioniert allerdings nur dann, wenn der Täter von der Norm, die er bricht, auch selbst geschützt wird.188 So würde nach dem Konzept dieser Aufspaltung in einzelne Elemente eine volljährige Person, die einen Minderjährigen sexuell belästigt, im Gegenzug den Schutz verlieren, als Minderjährige sexuell belästigt zu werden, was im Ergebnis ins Leere läuft: so könnte dieser Täter die Norm also straflos übertreten.189 Dieser Lösungsversuch ist damit nicht wirklich überzeugend. Stattdessen schlagen andere vor, dass zur Bestimmung der Schwere der Tat neben dem abstrakten unfairen Vorteil der konkrete Wert des unfairen Vorteils zu ermitteln sei.190 Dabei könne dieser Wert in der konkreten Höhe der Beute aus der Tat liegen, was allerdings dann schwierig ist, wenn die Tat gar keine geldwerten Vorteile bringt oder nur im Versuchsstadium stecken geblieben ist.191 Statt auf die konkrete Beute aus der Tat, stellt eine andere Variante dieser Überlegung auf die unerlaubte Lust („illicit pleasure“) ab, die der Täter durch die Begehung der Straftat erlangt hat, um die Schwere der Tat und damit die angemessene Strafe zu bestimmen.192 Problematisch an diesem Modell ist neben seinem fragwürdigen „amateurpsychologische[n]“193 Fundament, dass ein Täter, der überhaupt keine Lust aus der Straftat zieht, straffrei ausgehen müsste.194
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Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung: zur Rechtfertigung von Strafe (1999), S. 151; Murphy, 1970b, S. 85 187 Burgh, Do the Guilty Deserve Punishment?, The Journal of Philosophy 79 (1982), S. 193, 204; Kaiser, S. 151 188 Burgh, Do the Guilty Deserve Punishment?, The Journal of Philosophy 79 (1982), S. 193, 205; Kaiser, S. 152 189 Burgh, Do the Guilty Deserve Punishment?, The Journal of Philosophy 79 (1982), S. 193, 205; Kaiser, S. 152 190 Davis, How to Make the Punishment Fit the Crime, Ethics 93 (1983), S. 726, 744 („ill gotten gain“). 191 Davis, Criminal Desert and Unfair Advantage: What’s the Connection?, Law and Philosophy 12 (1993), S. 133, 142; Kaiser, S. 152 192 Davis, How to Make the Punishment Fit the Crime, Ethics 93 (1983), S. 726, 743. 193 „Was bleibt, ist ein Kampf amateurpsychologischer Überzeugungen.“ Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung: zur Rechtfertigung von Strafe (1999), S. 153. 194 Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung: zur Rechtfertigung von Strafe (1999), S. 153.
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Unabhängig davon, ob man es zur Herstellung einer Balance zwischen Gütern und Lasten bevorzugt, dem Täter eine Leistung zu entziehen oder aber eine zusätzliche Last aufzuerlegen, wird deutlich, dass keiner der Lösungswege unproblematisch ist. Der Grundgedanke einer Güter-Lasten-Theorie wird trotzdem deutlich. Freilich ist die normative Prämisse der „benefit-and-burden“-Theorie weit weg von der Realität: faktisch genießt nicht jeder Bürger gleich viel Sicherheit, Schutz oder andere Privilegien.195 Geht man von einem realistischeren Szenario aus, hätte jemand, der weniger Güter erhält, auch weniger Lasten zu tragen und könnte im Umkehrschluss weniger verpflichtet sein, sich an die geltenden Gesetze zu halten.196 Oder jemand, der unschuldig zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde, hätte, zumindest rein theoretisch, noch eine zu begehende Straftat frei, damit ein Gleichgewicht zwischen Gütern und Lasten entstehen kann.197 Aus diesem Grund will Wojciec Sadurski die „benefit-and-burden“-Theorie auf strafrechtsrelevante „benefits“ und „burdens“ beschränken.198 Sei das Strafrecht, das in Rede steht, im Großen und Ganzen gerecht, d. h. gewähre es nicht einer bestimmten Gruppe Menschen einen höheren Handlungsspielraum zu Lasten des Handlungsspielraums anderer Menschen, seien sozioökonomische Nachteile bei der Strafentscheidung nicht zwingend zu berücksichtigen, wobei Sadurski auch zugibt, dass es durchaus Fälle geben kann und gibt, in denen sozioökonomische Nachteile sich auch auf das Strafrecht durchschlagen können.199 Problematisch ist also, dass für eine nach dieser Theorie wirklich gerechte Strafe auch eine gerechte Ausgangssituation erforderlich wäre, die es so aber kaum geben kann.200 Um den Wert des unfairen Vorteils näher zu bestimmen, legt Michael Davis201 eine imaginäre Auktion zu Grunde, in der der Staat eine limitierte Anzahl Lizenzen für 195 Zürcher, Legitimation von Strafe: die expressiv-kommunikative Straftheorie zur moralischen Rechtfertigung von Strafe (2014), S. 70. 196 Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung: zur Rechtfertigung von Strafe (1999), S. 159 f. 197 Zürcher, Legitimation von Strafe: die expressiv-kommunikative Straftheorie zur moralischen Rechtfertigung von Strafe (2014), S. 70. 198 Sadurski, 1985, S. 232 199 Sadurski, 1989, S. 365; Murphy, 1973, S. 109. Anders dazu Katz, Seductions of Crime: Moral and Sensual Attractions in Doing Evil, 1988, S. 164 ff. 200 Zu einer ausführlichen Kritik an Sadurskis Ansatz, siehe Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung: zur Rechtfertigung von Strafe (1999), S. 160 ff. 201 Als Alternative zur utilitaristischen Bestimmung von Strafe, präsentierte Davis folgende sieben-schrittige Lösung zur Ermittlung von zur Schwere der Straftaten proportionalen Strafen: 1. Erstelle eine Liste von Strafen bestehend aus denjenigen Übeln, die (a) keine rationale Person außer für einen substantiellen Nutzen riskieren würde und (b) die innerhalb eines Strafverfahrens verhängt werden können. 2. Streiche alle inhumanen Strafen von dieser Liste. 3. Schreibe die verbleibenden Strafen nieder und ordne sie zunächst innerhalb ihrer Art und dann insgesamt. 4. Schreibe alle Straftaten eine Liste. 5. Ordne sie innerhalb ihrer Art und dann insgesamt. 6. Verbinde die schwerste Strafe mit dem schwersten Verbrechen, die geringste Strafe mit dem geringsten Verbrechen und den Rest entsprechend. 7. Schreibe danach die neuen Strafen auf und die neuen Straftaten auf und ordne sie wie in Schritt 2 und 4
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den Bruch strafrechtlicher Normen versteigert.202 Wer eine solche Lizenz ersteigert, kann diese, wenn er einer Straftat für schuldig befunden und dafür verurteilt wird, gegen seine Straffreiheit eintauschen.203 Die Anzahl der Lizenzen wird limitiert, damit durch die Begehung von zu vielen Straftaten die öffentliche Sicherheit nicht gefährdet wird.204 Der Preis der jeweiligen Lizenz ist abhängig von der Schwere der Straftat, deren Begehung dadurch straffrei ermöglicht wird.205 Für diese Art der Preisermittlung führt Davis folgende Gründe an: 1. Je schwerer die Straftat, desto weniger Lizenzen können dafür vergeben werden, da eine schwerere Straftat die öffentliche Sicherheit stärker gefährdet als eine weniger schwere Straftat.206 2. Je schwerer die Straftat, desto größer ist die Nachfrage nach einer Lizenz.207 3. Je schwerer die lizenzierte Straftat, desto höher ist der Preis, der dem Lizenznehmer von anderen Personen angeboten wird, um diese Lizenz nicht einzulösen. Davis zufolge kann der Preis der Lizenz niemals unter den Preis dieses ,Gegenangebots‘ fallen.208 Davis zufolge spiegelt der Preis der jeweiligen Lizenz den Wert des unfairen Vorteils wider.209 Zwar lässt sich der Preis nicht direkt in eine Strafe umrechnen, jedoch gibt der Preis für das jeweilige Delikt eine gewisse Rangordnung der Delikte vor.210 In seinem Auktionsmodell geht Davis allerdings davon aus, dass die Delikte bereits ihrer Schwere nach geordnet sind.211 Davis’ Modell leidet jedoch vor allem daran, dass er selbstverständlich davon ausgeht, dass ohne Lizenz keine Straftaten begangen würden.212 Dies ist jedoch gerade der Sinn eines „unfairen Vorteils“, dargestellt, und gehe dann wie oben vor. Davis, How to Make the Punishment Fit the Crime, Ethics 93 (1983), S. 726, 737. 202 Davis, How to Make the Punishment Fit the Crime, Ethics 93 (1983), S. 726, 744. 203 Davis, How to Make the Punishment Fit the Crime, Ethics 93 (1983), S. 726, 744. 204 Davis, How to Make the Punishment Fit the Crime, Ethics 93 (1983), S. 726, 744. 205 Davis, How to Make the Punishment Fit the Crime, Ethics 93 (1983), S. 726, 744. 206 Davis, How to Make the Punishment Fit the Crime, Ethics 93 (1983), S. 726, 744. 207 Davis, How to Make the Punishment Fit the Crime, Ethics 93 (1983), S. 726, 744. 208 Davis, How to Make the Punishment Fit the Crime, Ethics 93 (1983), S. 726, 744. 209 Davis, Criminal Desert and Unfair Advantage: What’s the Connection?, Law and Philosophy 12 (1993), S. 133, 139 f. 210 Davis zufolge soll sein Sieben-Schritte-Modell zur Bestimmung von gerechten Strafen zum gleichen Ergebnis kommen wie sein Auktionsmodell. Davis, Criminal Desert and Unfair Advantage: What’s the Connection?, Law and Philosophy 12 (1993), S. 133, 140. 211 Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung: zur Rechtfertigung von Strafe (1999), S. 154. 212 „For those who find ,poaching‘ troublesome, I offered instead the less plausible (but still workable) assumption that no crime will be committed without a license (so long as licenses are not too few).“ Davis, Criminal Desert and Unfair Advantage: What’s the Connection?, Law and Philosophy 12 (1993), S. 133, 151, Fn. 24.
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weshalb es aus Sicht des Normbrechers kaum sinnvoll wäre, im Voraus eine Lizenz zu kaufen, wenn die Möglichkeit bestünde, überhaupt nicht als Täter ermittelt bzw. für die Tat verurteilt zu werden.213 Geht man mit Davis jedoch nun folgerichtig davon aus, dass ohne Lizenz auch keine Straftat begangen wird, erscheint es fragwürdig, überhaupt Lizenzen zu verkaufen, wo doch jede einzelne Straftat den Staat mehr als nötig gefährdet.214 Würden keine Lizenzen verkauft, dürfte es Davis’ Theorie zufolge auch nicht zu Normbrüchen kommen. Aufgrund der Kritik an dem von Davis zugrundegelegten Konzept totaler Normtreue präsentierte er Anfang der 1990er Jahre eine alternative Variante seiner Theorie, die erklären sollte, weshalb der Täter überhaupt an der Auktion teilnehmen sollte.215 Grund dafür sei die Androhung einer sogenannten „Einheitsstrafe“.216 Bei der Begehung einer Straftat, ohne die dazugehörige Lizenz zu besitzen, müsse der Täter zu einer sogenannten „Einheitsstrafe“ verurteilt werden. Diese Einheitsstrafe müsse besonders hart sein, so dass der Kauf einer Lizenz dagegen wie ein „Schnäppchen“217 wirke.218 Die Einheitsstrafe dürfe sogar eine „lebenslange Freiheitsstrafe, den Tod oder eine inhumane Behandlung“219 einschließen. Dabei sei es völlig irrelevant, welche Straftat ohne den Besitz der jeweiligen Lizenz begangen wurde.220 Kritisiert wurde Davis’ Theorie sowohl für die Prämisse, dass es keine unlizensierten Straftaten gebe als auch besonders für die Idee dieser sogenannten „Einheitsstrafe“, die innerhalb einer retributiven Proportionalitätstheorie eine „monströse Ungerechtigkeit“221 darstelle. Ausgehend von der Kritik an Fairness-Konzepten im Allgemeinen und der „benefit-and-burden“-Theorie im Besonderen entwickelte M. Margarete Falls einen retributiven, aber nicht ökonomischen, sondern moralischen Ansatz zur Rechtfertigung von Strafe. Falls kritisierte die „benefit-and-burden“-Theorie insbesondere
213 Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung: zur Rechtfertigung von Strafe (1999), S. 156. 214 Dolinko, Mismeasuring „unfair advantage“: A response to Michael Davis, Law and Philosophy 13 (1994), S. 493, 505, Fn. 55 und Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung: zur Rechtfertigung von Strafe (1999), S. 156. 215 Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung: zur Rechtfertigung von Strafe (1999), S. 157. 216 Davis, Criminal Desert and Unfair Advantage: What’s the Connection?, Law and Philosophy 12 (1993), S. 133, 151, Fn. 24. 217 Davis, To make the punishment fit the crime (1992), S. 244. 218 Davis, To make the punishment fit the crime (1992), S. 244; Dolinko, Mismeasuring „unfair advantage“: A response to Michael Davis, Law and Philosophy 13 (1994), S. 493, 505. 219 Davis, 1992, S. 111 220 Davis, Criminal Desert and Unfair Advantage: What’s the Connection?, Law and Philosophy 12 (1993), S. 133, 151, Fn. 24. 221 „Surely such extraordinarily harsh penalties would make the hypothetical society monstrously unjust!“, Dolinko, Mismeasuring „unfair advantage“: A response to Michael Davis, Law and Philosophy 13 (1994), S. 493, 505.
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dafür, dass diese die Straftat als einen unfairen Vorteil des Straftäters ansieht.222 Strafe wird damit als etwas eigentlich Gutes angesehen, das allerdings verboten ist;223 käme der Täter jedoch mit seiner Tat davon, hätte er etwas ,gewonnen‘.224 Dabei beziehen sich die Anhänger der „benefit-and-burden“-Theorie laut Falls irrtümlicherweise auf Kant, indem sie das von ihm postulierte Instrumentalisierungsverbot225 darüber hinaus in dem Sinne verstehen, dass die Instrumentalisierung des Opfers in Form der Straftat gleichzeitig zu einem Vorteil des Täters gegenüber dem Opfer führe.226 Genau diese Schlussfolgerung sei jedoch ein Missverständnis.227 Viel eher sei die Straftat intrinsisch schlecht und schade auch dem Täter selbst.228 Aus diesem Grund sei Strafe nicht, wie von der „benefit-and-burden“-Theorie dargestellt, ein Übel, sondern vielmehr intrinsisch gut, weil der Täter damit erst als moralisches Subjekt respektiert werde.229 Verdiente Strafe ist Falls zufolge eine proportionale Strafe im Sinne eines „Ius Talionis“230, d. h. eine zur Tat artgleiche Strafe: dies würde grundsätzlich bedeuten, dass dem Täter das angetan wird, was er jemand anderem angetan hat. Beispielsweise hieße das, dass etwa ein Folterknecht zur Strafe selbst gefoltert würde.231 Allerdings gibt es Falls zufolge eine wichtige Einschränkung: es 222
Falls, Retribution, Reciprocity, and Respect for Persons, Law and Philosophy 6 (1987), S. 25, 32. 223 Falls, Retribution, Reciprocity, and Respect for Persons, Law and Philosophy 6 (1987), S. 25, 32. 224 „Using the theory of reciprocity says to criminals that they were correct in thinking that crime benefits, that doing evil is a good if only you can get away with it.“ Falls, Retribution, Reciprocity, and Respect for Persons, Law and Philosophy 6 (1987), S. 25, 32. 225 „[…] denn der Mensch kann von keinem Menschen […] bloß als Mittel, sondern muss jederzeit zugleich als Zweck gebraucht werden […].“ Kant, Die Metaphysik der Sitten: erläuternde Anmerkungen zu den metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre (1990), S. 354. 226 Falls, Retribution, Reciprocity, and Respect for Persons, Law and Philosophy 6 (1987), S. 25, 34. 227 Falls, Retribution, Reciprocity, and Respect for Persons, Law and Philosophy 6 (1987), S. 25, 34. 228 „[…] therefore doing evil harms the evildoer.“ Falls bezieht sich hier laut eigener Aussage auf Immanuel Kant. Falls, Retribution, Reciprocity, and Respect for Persons, Law and Philosophy 6 (1987), S. 25, 31. 229 Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung: zur Rechtfertigung von Strafe (1999), S. 163. 230 Das „Ius Talionis“ wird auch als Talionsprinzip bezeichnet. In Kants Straftheorie dient das Talionsprinzip als „Leitlinie der Strafzumessung“, Zürcher, Legitimation von Strafe: die expressiv-kommunikative Straftheorie zur moralischen Rechtfertigung von Strafe (2014), S. 62. In seinem Werk „Metaphysik der Sitten“ äußert sich Kant wie folgt zum Talionsprinzip: „Welche Art aber und welcher Grad der Bestrafung ist es, welche die öffentliche Gerechtigkeit sich zum Prinzip und Richtmaß macht? Kein anderes, als das Prinzip der Gleichheit […] Nur das Wiedervergeltungsrecht (ius talionis) […] kann die Qualität und Quantität der Strafe bestimmt angeben.“ Kant, Die Metaphysik der Sitten: erläuternde Anmerkungen zu den metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre (1990), S. 193. 231 Falls, Retribution, Reciprocity, and Respect for Persons, Law and Philosophy 6 (1987), S. 25, 36.
A. Theoretischer Hintergrund
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gibt bestimmte Strafen, die grundsätzlich unverdient sind,232 völlig unabhängig von der begangenen Straftat. Um die Beziehung zwischen dem Ius Talionis und dem Respektsprinzip näher zu erläutern, geht Falls auf die zwei verschiedenen Arten des Verdienstes, die sogenannten Verdienstgrundlagen ein; zur Erläuterung führt sie folgende zwei unterschiedliche Verdienstbehauptungen an: „Matthews, der seine Opfer gefoltert hat, verdient es, gefoltert zu werden.“233 Ebenfalls um eine Verdienstbehauptung handle es sich bei der Aussage, dass Personen immer als rationale Wesen und Selbstzweck respektiert werden sollen;234 letztere Verdienstbehauptung kann auch als allgemeines Respektsprinzip bezeichnet werden.235 Während die erste Verdienstbehauptung als Verdienstgrundlage einen verdienten Verdienst (De für earned desert236) hat, ist die Grundlage der zweiten Behauptung der unverdiente Verdienst (Du für unearned desert237).238 Ein verdienter Verdienst liegt bei einem vergangenen, freiwilligen und damit zurechenbaren Tun vor, wie beispielsweise der schuldhaften Begehung einer Straftat.239 Bei einem unverdienten Verdienst besteht die Verdienstgrundlage in der Eigenschaft einer Person, die nicht erworben wurde und die daher auch nicht zurechenbar ist;240 die für Falls’ Theorie maßgebliche Eigenschaft ist das „Personsein“.241 Die fundamentalste Pflicht, die daraus erwächst, Personen als moralischverantwortliche Entscheidungsträger zu behandeln, ist es, sie für ihre Handlungen verantwortlich zu machen.242 Da Personen als Personen es verdienen, dass der Staat sie für ihr Tun verantwortlich macht, und dieses Verantwortlichmachen durch den 232 Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung: zur Rechtfertigung von Strafe (1999), S. 163. 233 Falls, Retribution, Reciprocity, and Respect for Persons, Law and Philosophy 6 (1987), S. 25, 38. 234 Falls, Retribution, Reciprocity, and Respect for Persons, Law and Philosophy 6 (1987), S. 25, 38. 235 Falls, Retribution, Reciprocity, and Respect for Persons, Law and Philosophy 6 (1987), S. 25, 38. 236 Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung: zur Rechtfertigung von Strafe (1999), S. 164. 237 Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung: zur Rechtfertigung von Strafe (1999), S. 164. 238 Falls, Retribution, Reciprocity, and Respect for Persons, Law and Philosophy 6 (1987), S. 25, 35. 239 Falls, Retribution, Reciprocity, and Respect for Persons, Law and Philosophy 6 (1987), S. 25, 40; Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung: zur Rechtfertigung von Strafe (1999), S. 163. 240 Falls, Retribution, Reciprocity, and Respect for Persons, Law and Philosophy 6 (1987), S. 25, 39; Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung: zur Rechtfertigung von Strafe (1999), S. 163. 241 Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung: zur Rechtfertigung von Strafe (1999), S. 163. 242 Falls, Retribution, Reciprocity, and Respect for Persons, Law and Philosophy 6 (1987), S. 25, 41.
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Teil 3: Vorschlag für einen dritten Diskussionsstrang
Staat in der Bestrafung der Person besteht, verdienen Personen als Personen Strafe.243 Das bedeutet, dass das Respektsprinzip die Pflicht zur Bestrafung (De) begründet, weil dies die Art und Weise ist, wie der Staat seiner Pflicht, seine Bürger als moralische Subjekte zu behandeln, nachkommen kann.244 Gleichzeitig begrenzt das Respektsprinzip (Du) jedoch diese Pflicht (De) auch.245 Strafe ist damit nur dann gerechtfertigt, wenn sie Personen tatsächlich für ihr Tun verantwortlich macht und dabei deren Eigenschaft als Person berücksichtigt. Neben der Voraussetzung der Proportionalität in Form des Ius Talionis bedeutet dies auch, dass Strafe nur dann gerechtfertigt ist, „wenn derjenige, der sie erleidet, weiterhin in der Lage bleibt, reflektierend auf die Behandlung und die Missbilligung, die durch jene kommuniziert wird, zu reagieren.“246 Damit schließt Falls kategorisch Strafen aus, die es dem Täter unmöglich machen, als „moral agent“ zu antworten.247 Dies trifft etwa für die Todesstrafen, Verstümmelungen und Folter zu.248 Ihrer Meinung nach widerspricht das Respektsprinzip damit nicht dem Proportionalitätsprinzip, sondern begrenzt es lediglich.249 Neben der benefit-and-burden-Theorie und anderen Fairness-Theorien wurden auch andere retributive Theorien bzw. Konzeptionen vertreten.250 So besagt ein weiterer retributiver Ansatz, dass der Staat strafen darf, um das Rachebedürfnis des Opfers und der Bevölkerung und deren Hass in legaler Art und Weise zu kanalisieren,251 der wohl eher als positive Generalprävention zu verstehen ist, wenn man dadurch Selbstjustiz und gesellschaftliche Unruhen verhindern will. 243 Falls, Retribution, Reciprocity, and Respect for Persons, Law and Philosophy 6 (1987), S. 25, 43. 244 Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung: zur Rechtfertigung von Strafe (1999), S. 164. 245 Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung: zur Rechtfertigung von Strafe (1999), S. 164. 246 Falls, Retribution, Reciprocity, and Respect for Persons, Law and Philosophy 6 (1987), S. 25, 47. 247 Falls, Retribution, Reciprocity, and Respect for Persons, Law and Philosophy 6 (1987), S. 25, 47. 248 Falls, Retribution, Reciprocity, and Respect for Persons, Law and Philosophy 6 (1987), S. 25, 46. 249 Falls, Retribution, Reciprocity, and Respect for Persons, Law and Philosophy 6 (1987), S. 25, 47; Hieran kritisiert Kaiser, dass Falls den Fokus zu sehr auf das Individuum als Subjekt und dessen Leib als Referenz für Eingriffe festlegt. Der Tod müsse für das Subjekt nicht zwingend die Grenze seiner Freiheit sein. Siehe Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung: zur Rechtfertigung von Strafe (1999), S. 165 f. 250 Für einen Überblick dazu, siehe Duff, Penal Communications: Recent Work in the Philosophy of Punishment, Crime and Justice 20 (1996), S. 1, 25 ff. 251 „[…] the feeling of hatred and the desire of vengeance […] to be satisfied in a regular public and legal manner.“ Stephen/Warner, Liberty, Equality, Fraternity (1874), S. 162. Wobei dieser Ansatz auch als konsequentionalistisch eingeordnet werden könnte, sofern die Kanalisierung der Rache- und Hassgefühle dazu dient, Selbstjustiz und Unruhen in der Bevölkerung zu verhindern.
A. Theoretischer Hintergrund
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Im Jahre 1976 entwickelte Andrew von Hirsch ausgehend von der Kritik, die dem Rehabilitationsideal entgegengebracht wurde, die Strafen seien willkürlich, ungleich und unverhältnismäßig, das Prinzip des sogenannten „Just Deserts“252, das Prinzip der Tatproportionalität. Dieses Prinzip knüpft, wie bereits der Name sagt, ebenfalls stark an den Verdienst an und ist retributiv geprägt.253 Danach muss die Strafzumessung proportional zur Schwere der begangenen Tat erfolgen.254 Es gibt jedoch nicht die eine, von Natur aus proportionale Strafe für die jeweilige Straftat.255 Um Strafen miteinander vergleichen zu können, muss von Hirsch zufolge zunächst einmal ein generelles Strafniveau festgelegt werden: d. h., es muss eine absolute obere Strafgrenze und eine absolute untere Strafgrenze festgelegt werden.256 Damit stellt sich also zunächst die Frage, ab wann überhaupt ein strafrechtlich vorwerfbares Verhalten vorliegt, das bestraft werden soll und was die höchste vorstellbare Strafe ist, die ein Rechtsstaat verhängen kann – z. B. eine lebenslange Haftstrafe oder sogar die Todesstrafe. Diese Verankerung absoluter Grenzen nach oben und unten nennt von Hirsch „kardinale Proportionalität“.257 Innerhalb dieser absoluten Grenzen müssen gleich schwere Straftaten gleich schwere Strafen nach sich ziehen und unterschiedlich schwere Straftaten auch unterschiedliche schwere Strafen.258 Daraus ergibt sich dann einerseits die Relativität der Strafe zur Tat, aber auch die Relativität einer Strafe zu anderen Strafen.259 Letzteres Prinzip ist die sogenannte „Ordinalproportionalität“.260 Das „Just-Deserts“-Prinzip stieß in der US-amerikanischen Diskussion ab Mitte der 1970er und 1980er Jahren auf breite Zustimmung, sodass im Rahmen des Sentencing Reform Acts aus dem Jahre 1984 sogar die Implementierung des „JustDeserts“-Prinzips in die „Federal Sentencing Guidelines“ erfolgte.261 Die Federal Sentencing Guidelines dienten dazu, die Sanktionspraxis einheitlicher zu gestalten; zu diesem Zweck wurden in einer Tabelle die Mindest- und Höchststrafen für das jeweilige Delikt vorgegeben.262 Verschärfungen bei besonderen Umständen der Tat 252 Der Begriff bedeutet in etwa: „Gerechter Verdienst“ oder „Gerechter Lohn“. Das „JustDeserts“-Prinzip bildet allerdings nur einen Teil der Straftheorie Andrew von Hirschs, die im Folgenden weiter ausgeführt wird. 253 A. v. Hirsch, Doing justice (1986), S. 45 ff. 254 A. v. Hirsch, Doing justice (1986), S. 66 ff. 255 Damit meint von Hirsch eine andere Form der Proportionalität als M. M. Falls. A. v. Hirsch, Censure and sanctions (1995), S. 19. 256 A. v. Hirsch, Censure and sanctions (1995), S. 19. 257 A. v. Hirsch, Censure and sanctions (1995), S. 19. 258 A. v. Hirsch, Censure and sanctions (1995), S. 18. 259 A. v. Hirsch, Censure and sanctions (1995), S. 18 f. 260 A. v. Hirsch, Censure and sanctions (1995), S. 18. 261 Zu den Federal Sentencing Guidelines siehe bereits Teil 1, B. I. 7. 262 Siehe United States Sentencing Commission, U.S. Sentencing Guidelines Manual – Sentencing Table, https://www.ussc.gov/sites/default/files/pdf/guidelines-manual/2016/Senten cing_Table.pdf [zugegriffen am 27. 6. 2022].
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Teil 3: Vorschlag für einen dritten Diskussionsstrang
oder der Person des Täters waren ebenfalls vorgesehen.263 Dadurch wurde der richterliche Ermessensspielraum bei der Strafzumessung stark eingeschränkt.264 Daneben wurde die Möglichkeit der Überprüfung von richterlichen Entscheidungen durch Rechtsmittel eingeführt.265 Zu diesem Zwecke wurden in den Sentencing Guidelines auch die Strafzwecke der „Retribution“, „Deterrence“, „Incapacitation“ und „Rehabilitation“ normiert.266 Außerdem wurde eine richterliche Begründungspflicht für Strafzumessungsentscheidungen eingeführt, die dann zum Tragen kam, wenn der Richter bei seiner Strafzumessungsentscheidung nicht den Vorgaben der Guidelines entsprechend entschied.267 Der praktische Einfluss des retributiven „Just-Deserts“-Prinzips war jedoch nicht mit dem der Rehabilitationstheorie vergleichbar, sondern deutlich schwächer. Dies zeigte sich insbesondere an den dem Tatproportionalitätsprinzip entgegenstehenden kriminalpolitischen Entwicklungen in den 1980er und 1990er Jahren:268 so wurden Mitte der 1980er Jahre mit dem Anti-Drug-Abuse-Act269 sogenannte Mandatory Minimum Sentences, gesetzliche Mindeststrafen von 10, 20 oder sogar 30 Jahren, für die Begehung von Drogendelikten eingeführt, während etwa schwere Gewaltdelikte milder bestraft wurden.270 Außerdem wurden in den 1990er Jahren auf Bundesebene und in vielen Bundesstaaten sogenannte „Three-Strikes-Laws“ eingeführt, wonach bei der dritten einschlägigen Verurteilung wegen eines Verbrechens (felony), selbst, wenn die anderen beiden begangenen Straftaten Jahrzehnte zurücklagen, eine Freiheitsstrafe von mindestens 20 Jahren bis zu lebenslang verhängt werden muss-
263 Siehe United States Sentencing Commission, U.S. Sentencing Guidelines Manual – Sentencing Table, https://www.ussc.gov/sites/default/files/pdf/guidelines-manual/2016/Senten cing_Table.pdf [zugegriffen am 27. 6. 2022]. 264 Fischer, Die Normierung der Strafzwecke nach Vorbild der U.S. Sentencing guidelines – eine Chance für das deutsche (Steuer-)Strafrecht? Zugleich eine Einführung in das USamerikanische Steuerstrafrecht (1999), S. 116. 265 Fischer, Die Normierung der Strafzwecke nach Vorbild der U.S. Sentencing guidelines – eine Chance für das deutsche (Steuer-)Strafrecht? Zugleich eine Einführung in das USamerikanische Steuerstrafrecht (1999), S. 116. 266 Fischer, Die Normierung der Strafzwecke nach Vorbild der U.S. Sentencing guidelines – eine Chance für das deutsche (Steuer-)Strafrecht? Zugleich eine Einführung in das USamerikanische Steuerstrafrecht (1999), S. 106. 267 Fischer, Die Normierung der Strafzwecke nach Vorbild der U.S. Sentencing guidelines – eine Chance für das deutsche (Steuer-)Strafrecht? Zugleich eine Einführung in das USamerikanische Steuerstrafrecht (1999), 116, 144. 268 Siehe dazu Teil 1, C. II. 2. 269 Beim Anti-Drug-Abuse-Act von 1986 handelte es sich um ein Gesetz, das Mindestfreiheitsstrafen für den Handel mit oder die Verbreitung bestimmter Drogen einführte. Mit dem Anti-Drug-Abuse-Act von 1988 weitete der Gesetzgeber diese Vorschriften erheblich aus und verschärfte sie. Köstler-Loewe, Strafrecht US-Style: „Three Strikes and You’re Out!“: Baseball, Rückfall und Kriminalpolitik? (2008), S. 105 f. 270 Köstler-Loewe, Strafrecht US-Style: „Three Strikes and You’re Out!“: Baseball, Rückfall und Kriminalpolitik? (2008), S. 105 f.
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te.271 Sowohl die Einführung der Mandatory Minimum Sentences als auch die der Three-Strikes-Laws ging stark von der Law-and-Order-Bewegung aus.272 3. Restorative Justice Nicht nur die praktischen Auswirkungen der Law-and-Order-Bewegung standen dem „Just-Deserts“-Prinzip entgegen; auch das im Laufe der 1990er Jahre aufgekommene Konzept der „Restorative Justice“ maß dem Tatproportionalitätsprinzip keine übergeordnete Bedeutung bei.273 Der „Restorative-Justice“-Ansatz zielt vielmehr auf eine Wiederherstellung persönlicher Beziehungen, die durch die begangene Straftat Schaden genommen haben und auf Wiedergutmachung.274 Dabei gibt es unterschiedliche Ausprägungen der „Restorative Justice“. Ein Aspekt ist die tatsächliche Wiedergutmachung eines Schadens, den das Opfer durch die Straftat erlitten hat („Victim Restitution“), sei es in psychischer oder finanzieller Hinsicht.275 Ein anderer Aspekt ist die Schlichtung des Konflikts zwischen Täter und Opfer, der durch die Straftat verkörpert wird („Conflict Resolution“).276 Hierbei wird der Fokus auf die Vermittlung zwischen den Beteiligten gelegt und darauf, Verständnis für den jeweils anderen zu entwickeln und die Gefahr künftiger Konflikte zu bannen.277 Mit dem sogenannten „Täter-Opfer-Ausgleich“ haben diese zwei Aspekte des „Restorative-Justice-Ansatzes“ Anfang der 1990er Jahre auch ins deutsche Strafrechtssystem Eingang gefunden.278 Die dritte Möglichkeit der „Restorative Justice“ ist die sogenannte „Community Restoration“.279 Danach wird die Straftat als Angriff auf die Interessen der Gemeinschaft angesehen, weshalb die durch die Straftat verletzten Normen bekräftigt und die beschädigten gemeinschaftlichen Beziehungen wieder aufgebaut werden müssen.280 4. Inclusive Theory of Punishment In den letzten Jahren hat die sogenannte „Inclusive Theory of Punishment“ Unterstützung in der Diskussion um die Legitimation von Strafe gefunden.281 Dabei 271
Tonry, The handbook of crime and punishment (1998), S. 676. Tonry, The handbook of crime and punishment (1998), S. 676 f. 273 Tonry, The handbook of crime and punishment (1998), S. 672 f. 274 Tonry, The handbook of crime and punishment (1998), S. 672 f. 275 Tonry, The handbook of crime and punishment (1998), S. 673 f. 276 Tonry, The handbook of crime and punishment (1998), S. 674. 277 Tonry, The handbook of crime and punishment (1998), S. 674. 278 Der Täter-Opfer-Ausgleich ist in § 46a StGB gesetzlich festgeschrieben. Dessen Ausgestaltung wird in §§ 155a, 155b StPO geregelt. 279 Tonry, The handbook of crime and punishment (1998), S. 674. 280 Tonry, The handbook of crime and punishment (1998), S. 674. 281 LaFave, Criminal law (2000), S. 27. 272
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ist entgegen des Namens weniger eine neue Theorie gemeint als vielmehr die Einigung dahingehend, dass (nahezu) alle Straftheorien hinsichtlich der Begründung von Strafe in Erwägung gezogen werden können und sollten.282 Dadurch hat sich der Fokus von der Frage, welche Straftheorie ,die richtige‘ ist, hin zur Frage, in welcher Beziehung die Straftheorien zueinander stehen und welche Straftheorie Priorität vor den anderen genießen sollte, verschoben.283 Diese Entscheidung muss vor allem deshalb getroffen werden, weil die Theorien hinsichtlich der Strafzumessung zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen können:284 Aus Sicht der RehabilitationTheorie kann ein Straftäter dann aus der Haft entlassen werden, wenn er als rehabilitiert bzw. resozialisiert gilt, was im Ergebnis eine kürzere oder längere Haftzeit bedeuten kann;285 aus Sicht des retributiven „Just-Deserts“-Prinzips gibt es jedoch eine für die Schwere des Delikts angemessene Strafe bzw. zumindest einen angemessenen Strafrahmen.286 Somit muss eine Priorisierung der unterschiedlichen Strafzwecke vorgenommen werden. Eine solche Priorisierung von Strafzwecken kann durch den Gesetzgeber, durch die Gerichte oder Verwaltungsakteure (z. B. Parole Officers) erfolgen.287 Dabei wird sich die Entscheidung auch von Fall zu Fall unterscheiden können,288 was jedoch den Konflikt um die Begründung von Strafe im Ergebnis nicht löst, sondern lediglich verschiebt. Auch an dieser Stelle zeigen sich gewisse Parallelen zur Entwicklung in der deutschen Strafzweckdiskussion: In Deutschland wurde vom Bundesverfassungsgericht in einem Urteil aus dem Jahre 1977 die Geltung einer sogenannten „Vereinigungstheorie“ für das Strafrecht und die Rechtsprechung bekräftigt.289 Nach jener wird „versucht, sämtliche Strafzwecke in ein ausgewogenes Verhältnis zueinander zu bringen“290. Danach werden „Schuldausgleich, Prävention, Resozialisierung des Täters, Sühne und Vergeltung für begangenes Unrecht […] als Aspekte einer angemessenen Strafsanktion bezeichnet“.291 5. Neuorientierung in der amerikanischen Straftheorie: Expressive Straftheorien – Strafe als Botschaft Ausgehend von den klassischen Straftheorien entwickelten sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den USA sogenannte „expressive“ Straftheorien. Für die Betrachtung der expressiven Theorien ist es wichtig, zunächst zu erläutern, was in 282
LaFave, Criminal law (2000), S. 27. LaFave, Criminal law (2000), S. 27. 284 LaFave, Criminal law (2000), S. 27 f. 285 LaFave, Criminal law (2000), S. 27 f. 286 LaFave, Criminal law (2000), S. 28. 287 LaFave, Criminal law (2000), S. 28. 288 LaFave, Criminal law (2000), S. 28. 289 BVerfG, NJW 1977, 1525 (1531). 290 BVerfG, NJW 1977, 1525 (1531). 291 BVerfG, NJW 1977, 1525 (1531).
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der vorliegenden Arbeit unter dem Begriff der expressiven Theorien verstanden wird. Während manche Autoren den Begriff der expressiven Straftheorie enger ziehen,292 fassen ihn andere wiederum weiter.293 In der vorliegenden Arbeit werden unter den Begriff der expressiven Straftheorien solche Theorien gefasst, die den kommunikativen Aspekt von Strafe betonen294 und das Verhalten des Täters als moralisch bzw. rechtlich295 falsch bewerten und dies auch dem Täter, dem Opfer und/oder der Allgemeinheit gegenüber zum Ausdruck zu bringen.296 Danach ist das Konzept der Strafe in zwei Bestandteile aufzuspalten: in die Übelszufügung, z. B. den Entzug der körperlichen Bewegungsfreiheit, einerseits und den kommunikativen Aspekt andererseits.297 Dabei werden, je nach Ausprägung und Vertreter der jeweiligen expressiven Theorie, unterschiedliche – teilweise austauschbare – Begriffe für diesen kommunikativen Aspekt der Strafe angeführt: Missbilligung, moralische Verdammung bzw. Verurteilung oder Tadel.298 Teilweise ist in diesem Zusammenhang auch etwas neutraler vom „Widerspruch“299 die Rede, der der in der Tat zum Ausdruck kommenden Botschaft des Täters entgegengesetzt wird. Dabei ist zu beachten, dass die meisten300 dieser expressiven Ansätze nicht als Rechtfertigung für Strafe dienen, sondern vielmehr notwendige Bedingungen für eine legitime Strafe aufstellen und damit einen theoretischen Rahmen bilden, innerhalb dessen die Frage nach der Rechtfertigung von Strafe beantwortet werden soll. a) Unterteilung nach Adressat und Inhalt der Kommunikation Tatjana Hörnle hat für die Berücksichtigung dieser unterschiedlichen inhaltlichen Aspekte der expressiven Theorie die Unterscheidung zwischen personenorientierten und normorientierten expressiven Theorien vorgeschlagen.301 292 Zürcher, Legitimation von Strafe: die expressiv-kommunikative Straftheorie zur moralischen Rechtfertigung von Strafe (2014), 71 – 72. 293 Hörnle, Straftheorien (2017), S. 31. 294 Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung: zur Rechtfertigung von Strafe (1999), S. 167. 295 Hörnle, Straftheorien (2017), S. 30. 296 Der genaue Inhalt der expressiven Theorie hängt von ihrer jeweiligen Ausprägung ab. Siehe Hörnle, Straftheorien (2017), S. 31 ff. 297 Narayan, Appropriate Responses and Preventive Benefits: Justifying Censure and Hard Treatment in Legal Punishment, Oxford J Legal Studies 13 (1993), S. 166, 166. 298 Joel Feinberg spricht von „Reprobation“, siehe Feinberg, The Expressive Function of Punishment, Monist 49 (1965), S. 397, 400, Igor Primoratz von „Condemnation“, siehe Primoratz, Punishment as Language, Philosophy 64 (1989), S. 187, 187, und Andrew von Hirsch von „Censure“, siehe A. v. Hirsch, Censure and sanctions (1995), S. 9. 299 Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung: zur Rechtfertigung von Strafe (1999), S. 167. 300 Eine Ausnahme davon bildet etwa die Straftheorie von Antony Duff, die unter Teil 3, A. III. 5. c) aa) (3) (b) erläutert wird. 301 Hörnle, Straftheorien (2017), S. 31.
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Personenorientierte expressive Theorien adressieren eine oder mehrere bestimmte Personen mit der Botschaft des Strafurteils bzw. auch der -vollstreckung.302 Je nachdem handelt es sich dabei um den Täter und/oder das Opfer; theoretisch kann sich die Botschaft aber an jede beliebige Person richten, die von der Straftat erfahren hat.303 Inhalt der Kommunikation soll danach eine Botschaft an den jeweiligen Adressaten sein. Je nach Adressat unterscheidet sich die Botschaft: der Täter soll getadelt werden, dem Opfer gegenüber soll formell bestätigt werden, dass ihm Unrecht geschehen ist.304 Personenorientierte Ansätze werden hauptsächlich in den USA diskutiert,305 haben aber mit Tatjana Hörnle und Klaus Günther auch in der deutschsprachigen Diskussion Anhänger gefunden.306 Normorientierte expressive Straftheorien bezwecken mit der Strafe die Bestätigung der missachteten Norm, ähnlich wie bei der positiven Generalprävention; Adressatin der Normbestätigung ist damit eine unbestimmte Personengruppe – die Allgemeinheit.307 Normorientierte expressive Straftheorien werden in zwei unterschiedlichen Varianten vertreten: Nach einer in der US-amerikanischen Diskussion vertretenen Variante dient Strafe dazu, moralische Normen bzw. Werte und Verhaltensanforderungen zu bekräftigen.308 Strafrecht wird damit als „praktizierte Moralphilosophie“309 verstanden.310 Dagegen werden in der deutschen straftheoretischen Diskussion – z. B. von Günther Jakobs311, Michael Pawlik312 und Wolfgang Frisch313 – normorientierte expressive Ansätze vertreten, die die Stärkung und Bekräftigung rechtlicher Normen als Rechtfertigung der Strafe sehen.314 Die Grenzen zwischen den in Deutschland diskutierten rechtsnormorientierten expressiven Straftheorien und den Theorien der positiven Generalprävention sind fließend; 302
Hörnle, Straftheorien (2017), S. 34. Hörnle, Straftheorien (2017), S. 34 304 Hörnle, Straftheorien (2017), 34, 39. 305 A. v. Hirsch, Censure and sanctions (1995); Duff, Trials and punishments (1986); Duff, Punishment, communication and community (2001). 306 A. v. Hirsch/Hörnle, Positive Generalprävention und Tadel (1995), in: Goltdammer’s Archiv für Strafrecht, S. 261, 261 ff.; Günther, Die symbolisch-expressive Bedeutung der Strafe, in: Cornelius Prittwitz u. a. (Hrsg.), Festschrift für Klaus Lüderssen, Baden-Baden 2002, S. 205 ff. 307 Hörnle, Straftheorien (2017), S. 31. 308 Hörnle, Straftheorien (2017), S. 31. 309 Hörnle, Straftheorien (2017), S. 32. 310 Kritisch dazu: Bastelberger, Die Legitimität des Strafrechts und der moralische Staat: utilitaristische und retributivistische Strafrechtsbegründung und die rechtliche Verfassung der Freiheit (2006), S. 118 ff. 311 Jakobs, Strafrecht, Allgemeiner Teil (1991), 1. Abschnitt, Rn. 9 – 11. 312 Pawlik, Person, Subjekt, Bürger (2004), S. 88. 313 Frisch, Schwächen und berechtigte Aspekte der Theorie der positiven Generalprävention. Zur Schwierigkeit des „Abschieds von Kant und Hegel“ (1998), in: Positive Generalprävention, S. 125. 314 Hörnle, Straftheorien (2017), S. 32 ff. 303
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teilweise erfolgt die Unterscheidung danach, ob empirische Effekte die Rechtfertigungsgrundlage der jeweiligen Theorie sind.315 Doch auch die Effekte der positiven Generalprävention sind empirisch praktisch nicht messbar, da dafür die Strafpraxis für einen bestimmten Zeitraum ausgesetzt werden müsste.316 b) Philosophische Grundlagen expressiver Theorien Im Folgenden sollen die philosophischen Grundlagen der expressiven Theorien in den Blick genommen werden. Die expressiven Straftheorien (und die amerikanische Rechtsphilosophie im Allgemeinen) wurde von der anglo-amerikanischen Sprachphilosophie der 1950er und 1960er Jahre beeinflusst,317 insbesondere von der Sprechakttheorie von John Langshaw Austin und dessen Schüler John Searle, der Austins Theorie weiterentwickelt hat.318 Die Sprechakttheorie erklärt, wie es dazu kommt, dass eine Äußerung oder Handlung – im vorliegenden spezifischen Fall die Strafe – eine bestimmte Bedeutung erhält.319 Austin und Searle vertreten die These, dass Sprache nicht nur Sachverhalte und Dinge beschreibt, sondern auch die „soziale Realität“320 gestaltet.321 Dies geschieht mittels sogenannter „Sprechakte“.322 Die Teilaspekte eines solchen Sprechakts sollen an dieser Stelle kurz skizziert werden: der Sprechakt wird unterteilt in den lokutionären Aspekt, den illokutionären Aspekt und den perlokutionären Aspekt.323 Der lokutionäre Aspekt meint das Sprechen an sich, also das Formen von Lauten und das Aussenden von Schallwellen.324 Der illokutionäre Aspekt bezeichnet die Bedeutung, die der Äußerung entsprechend geltenden Konventionen beigemessen wird.325 Mit Konventionen sind nicht subjektive Einstellungen oder kurzfristige politische Trends gemeint, sondern vielmehr intersubjektive Verständigungen über die Erschaffung oder Veränderung sozialer Fakten, die, je nachdem wie lange sie schon gelten, schwer zu verändern sein können.326 Als strafrechtliches Beispiel für eine Illokution kann das Strafurteil herangezogen werden. Die Äußerung des Richters im Gerichtsaal am Ende der 315
Hörnle, Straftheorien (2017), S. 32 f.; Hamel, Strafen als Sprechakt (2009), S. 122 ff. Hörnle, Straftheorien (2017), S. 28 f. 317 Dazu Lacey, A life of H. L. A. Hart (2006), S. 112 ff., 133 ff. 318 Zur Strafe als Sprechakt, siehe Hamel, Strafen als Sprechakt (2009). 319 Zürcher, Legitimation von Strafe: die expressiv-kommunikative Straftheorie zur moralischen Rechtfertigung von Strafe (2014), S. 146. 320 Searle, The construction of social reality (1995), S. xi. 321 Searle, The construction of social reality (1995), S. 59. 322 Searle, The construction of social reality (1995), S. 11; Austin/Savigny, Zur Theorie der Sprechakte (2010). 323 Austin/Savigny, Zur Theorie der Sprechakte (2010), S. 112 ff. 324 Austin/Savigny, Zur Theorie der Sprechakte (2010), S. 112 ff. 325 Austin/Savigny, Zur Theorie der Sprechakte (2010), S. 116 – 118, 126. 326 Zürcher, Legitimation von Strafe: die expressiv-kommunikative Straftheorie zur moralischen Rechtfertigung von Strafe (2014), S. 154. 316
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Teil 3: Vorschlag für einen dritten Diskussionsstrang
Hauptverhandlung: „Im Namen des deutschen Volkes verurteile ich Sie zu …“ erhält ihre Bedeutung kontext- und konventionsabhängig, also indem ein Richter diesen Satz in einem Gerichtssaal während einer Hauptverhandlung ausspricht. Der Begriff der Perlokution beschreibt die Handlung, mit der Äußerung eine Wirkung zu erzielen.327 Diese Wirkung kann allerdings nur dann eintreten, wenn die Bedeutung der Äußerung auch verstanden wird, was dann der Fall ist, wenn die Äußerung die geltenden Konventionen berücksichtigt.328 Wenn also ein Richter die Äußerung in der U-Bahn tätigt, entspricht dies nicht der Konvention, wird damit nicht verstanden und somit auch keinen Effekt erzielen. Tritt der intendierte Effekt jedoch ein, wird vom perlokutionären Effekt gesprochen329; damit wäre der Sprechakt dann erfolgreich vollzogen. Das Strafurteil als Sprechakt kann Statusänderungen herbeiführen; wird der Angeklagte schuldig gesprochen, erhält er den Status einer Person, die eine Norm verletzt hat und dafür verantwortlich gemacht wird.330 Im Falle der Verurteilung eines Angeklagten zu einer Freiheitsstrafe bestünde der perlokutionäre Effekt im Aufenthalt des Verurteilten in einer Haftanstalt;331 auch die Reue des Verurteilten könnte ein perlokutionärer Effekt der Verurteilung sein.332 Lokution, Illokution und Perlokution sind Aspekte einer Äußerung und bilden zusammen den Sprechakt. Strafe im Sinne harter Behandlung ist im Gegensatz zum gesprochenen Strafurteil jedoch kein Sprechakt (die Aussage „ich bestrafe dich“ bewirkt nicht schon die Bestrafung); vielmehr handelt es sich bei der harten Behandlung um einen nichtsprachlichen, tatsächlichen Akt, der an sich erst einmal nichts bedeutet. Daher stellt sich die Frage, inwiefern die Sprechakttheorie bei der Ermittlung der sozialen Bedeutung von harter Behandlung behilflich sein kann. Austin und Searle zufolge weist nichtsprachliche Kommunikation ganz ähnliche Muster wie sprachliche Kommunikation auf, wonach auch die Übelszufügung eine performative Art der Sprache ist, die soziale Realität schafft.333 Die Übelszufügung erhält ihre Bedeutung damit ebenfalls durch Konventionen, die wiederum das Verhältnis zwischen harter Behandlung und der Art des Vorwurfs bestimmen.334 Wenn sich die Frage nach der Rechtfertigung der Übelszufügung stellt, stellt sich damit zum einen die Frage, was 327
Austin/Savigny, Zur Theorie der Sprechakte (2010), S. 118 f. Austin/Savigny, Zur Theorie der Sprechakte (2010), S. 31, 37, 126. 329 Austin/Savigny, Zur Theorie der Sprechakte (2010), S. 126, 137. 330 Zürcher, Legitimation von Strafe: die expressiv-kommunikative Straftheorie zur moralischen Rechtfertigung von Strafe (2014), S. 152. 331 Zürcher, Legitimation von Strafe: die expressiv-kommunikative Straftheorie zur moralischen Rechtfertigung von Strafe (2014), S. 150. 332 Zürcher, Legitimation von Strafe: die expressiv-kommunikative Straftheorie zur moralischen Rechtfertigung von Strafe (2014), S. 150. 333 Zürcher, Legitimation von Strafe: die expressiv-kommunikative Straftheorie zur moralischen Rechtfertigung von Strafe (2014), S. 152 f.; Hamel, Strafen als Sprechakt (2009), S. 76. 334 Zürcher, Legitimation von Strafe: die expressiv-kommunikative Straftheorie zur moralischen Rechtfertigung von Strafe (2014), S. 153. 328
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gemäß der Konvention überhaupt als Übelszufügung verstanden wird, zum anderen und in einem weiteren Schritt, inwiefern eine bestimmte Übelszufügung einen bestimmten Vorwurf zum Ausdruck bringt.335 c) Legitimation der Missbilligung einerseits, Legitimation der Übelszufügung andererseits Die Aufspaltung des Konzepts der Strafe in Missbilligung und Übelszufügung hat auch Konsequenzen für die Frage der Legitimation: denn üblicherweise wird mithilfe straftheoretischer Begründungen ausschließlich die Androhung und der Vollzug der Übelszufügung gerechtfertigt.336 Neben die Frage der Legitimation der Androhung und des Vollzugs der Übelszufügung tritt nun jedoch auch die Frage nach der Legitimation des kommunikativen Aspektes der Strafe – der Legitimation der Missbilligung. Die Antwort auf die Frage der Legitimation der Missbilligung einerseits und der Übelszufügung andererseits hängt auch davon ab, welche Strömung innerhalb der Gruppe der expressiven Theorie vertreten wird. Dabei ist zu beachten, dass neben der Unterscheidung nach dem Inhalt und dem Adressaten der Kommunikation und auch nach der Funktion der Kommunikation zu differenzieren ist. Diesbezüglich werden sowohl utilitaristisch337 als auch retributiv geprägte expressive Theorien338 vertreten. Während erstere die Kommunikation der Missbilligung als Mittel zu einem gesellschaftlichen Zweck ansehen,339 geht es für letztere um einen „angemessenen Umgang mit vergangenem Verhalten“340. Während für erstere die Missbilligung an sich ein Übel ist, das deshalb nur mit Blick auf wünschenswerte Folgen gerechtfertigt werden kann, ist für letztere die Missbilligung als verdiente Antwort auf bestimmtes Verhalten an sich gut.341
335 Zürcher, Legitimation von Strafe: die expressiv-kommunikative Straftheorie zur moralischen Rechtfertigung von Strafe (2014), S. 153. 336 Siehe zu den Ausführungen in den vorigen Kapiteln zu Utilitarismus und Retributivismus in Teil 3, A. III. 1., 2. 337 So z. B. die Theorie des Shamings – sei es reintegrative oder desintegrative nach Braithwaite oder Kahan. Siehe unter Teil 3, A. III. 5. c) bb). 338 Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung: zur Rechtfertigung von Strafe (1999), S. 167. 339 So z. B. Dan Kahan, für den die „moral condemnation“ ein Mittel zur Kriminalitätsprävention ist. Kahan, What Do Alternative Sanctions Mean?, University of Chicago Law Review 63 (1996), S. 591. 340 Hörnle, Straftheorien (2017), S. 31. 341 Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung: zur Rechtfertigung von Strafe (1999), S. 167.
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Teil 3: Vorschlag für einen dritten Diskussionsstrang
aa) Retributive expressive Straftheorien – Missbilligung als angemessene Reaktion auf Fehlverhalten Innerhalb der retributiv geprägten expressiven Theorien gibt es wiederum drei voneinander zu unterscheidende Ansätze: den nominalistisch-akzessorischen Ansatz, den realistisch-akzessorischen Ansatz und den nicht-akzessorischen Ansatz.342 Die Anhänger der akzessorischen Ansätze vertreten, dass sich die Legitimation der Übelszufügung aus der Legitimation der Missbilligung ergibt. Der nicht-akzessorische Ansatz trennt, wie der Name bereits vermuten lässt, die Frage nach der Legitimation der Missbilligung von der Frage nach der Legitimation der Übelszufügung. (1) Nominalistisch-akzessorische expressive Theorie Die Vertreter der nominalistisch-akzessorischen expressiven Theorie sind der Ansicht, dass Übelszufügung Missbilligung gegen den Weltentwurf des Täters bedeute.343 Bekannte Vertreter dieser Ansicht sind Joel Feinberg, Jean Hampton und John Kleinig. Im Jahr 1965 schrieb der Philosoph Joel Feinberg in seinem Aufsatz „The expressive function of punishment“, dass Strafe im Vergleich zu anderen Sanktionen wie z. B. einem Bußgeld, einen faktisch expressiven, missbilligenden Charakter aufweise.344 Strafe sei Feinberg zufolge das konventionelle Symbol für Missbilligung, so wie das Tragen schwarzer Kleidung das konventionelle Symbol für Trauer sei.345 Wenn Übelszufügung konventionellerweise Missbilligung bedeutet und Missbilligung als richtige Antwort auf Fehlverhalten angesehen wird, wäre Feinberg zufolge auch die Übelszufügung legitim. Feinbergs Ansatz ist damit jedoch nicht normativ bzw. strafbegründend, sondern vielmehr deskriptiv.346 Jean Hampton geht über Feinbergs Erwägungen hinaus und unternimmt innerhalb eines normorientierten expressiven Ansatzes den Versuch, die Notwendigkeit des Widerspruchs normativ zu begründen. Notwendig ist der Widerspruch Hampton zufolge dann, wenn der Täter dem Opfer gegenüber eine sogenannte „moral in-
342 Die Begriffe sind übernommen aus Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung: zur Rechtfertigung von Strafe (1999), S. 167 ff. 343 Feinberg, The Expressive Function of Punishment, Monist 49 (1965), S. 397, 402. 344 Feinberg, The Expressive Function of Punishment, Monist 49 (1965), S. 397, 400. 345 „To say that the very physical treatment itself expresses condemnation is to say simply that certain forms of hard treatment have become the conventional symbols of public reprobation. This is neither more nor less paradoxical than to say that […] black is the color of mourning.“ Feinberg, The Expressive Function of Punishment, Monist 49 (1965), S. 397, 402. 346 Primoratz bezeichnet Feinbergs Ansatz als ein „nicht normatives Prolegomenon zu einer Philosophie der Strafe“, Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung: zur Rechtfertigung von Strafe (1999), S. 169; Primoratz, Justifying legal punishment (1990), S. 188.
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jury“347, also eine Verletzung der sittlichen Person348 begeht. Diese Verletzung definiert Hampton wie folgt: „Der Missetäter verletzt die sittliche Person eines anderen, wenn er diesen in einer Weise behandelt, die durch seinen sittlichen Wert ausgeschlossen ist, und/oder ihn deutlich unter Wert darstellt; oder, mit anderen Worten, wenn die Handlung des Täters bedeutet, dass er das Opfer herabsetzt und sich dadurch als über dieses erhaben präsentiert, dass er sich einen Wert zuschreibt, den er nicht hat.“349
Diese Botschaft, die sich in der Tat des Täters ausdrückt, sei jedoch falsch: jeder Mensch sei gleich wertvoll.350 Damit könne der Wert eines Menschen durch eine Straftat niemals tatsächlich herabgesetzt werden, dennoch könne dies jedoch nach außen so wirken. Retributive Strafe ist damit Hampton zufolge die notwendige Antwort auf die falsche Botschaft des Täters. Diese Antwort besteht darin, den Wert des Opfers zu bestätigen, indem die Botschaft des Täters, die in der Tat zum Ausdruck kommt, abgewiesen wird.351 Dabei reiche es nicht, den Wert des Opfers mündlich oder schriftlich zu bestätigen und damit der Botschaft des Täters nur symbolisch zu widersprechen, da auch dieser durch tatsächliche Handlungen (die Straftat) versucht hat, zu vermitteln, dass das Opfer minderwertig sei.352 Dieser Widerspruch müsse daher durch die Übelszufügung zum Ausdruck gebracht werden, um den vom Täter behaupteten Wert des Opfers zu erhöhen, den vom Täter behaupteten eigenen übergeordneten Wert herabzusetzen und den Akt der (vermeintlichen) Herabsetzung des Opfers zu annullieren.353 Auch John Kleinig vertritt die Ansicht, dass Missbilligung konventionell durch die Übelszufügung symbolisiert werde. Als Ergänzung zu Hamptons Ausführungen betont Kleinig, dass moralisches Fehlverhalten des Täters nicht nur eine Angelegenheit zwischen Täter und Opfer sei, sondern auch eine Angelegenheit der Gesellschaft.354 Aus diesem Grund ist Kleinig zufolge in diesen Fällen keine private 347 Hampton, Correction Harms versus Righting Wrongs: The Goal of Retribution, UCLA Law Review 39 (1992), S. 1659, 1666. 348 „Moral injury“ übersetzt Kaiser als „öffentliche Nichtachtung des sittlichen Werts einer Person“. Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung: zur Rechtfertigung von Strafe (1999), S. 169. 349 Hampton, Correction Harms versus Righting Wrongs: The Goal of Retribution, UCLA Law Review 39 (1992), S. 1659, 1679 Übersetzung übernommen von Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung: zur Rechtfertigung von Strafe (1999), S. 170. 350 Hampton, Correction Harms versus Righting Wrongs: The Goal of Retribution, UCLA Law Review 39 (1992), S. 1659, 1672. 351 Hampton, Correction Harms versus Righting Wrongs: The Goal of Retribution, UCLA Law Review 39 (1992), S. 1659, 1686. 352 Hampton, Correction Harms versus Righting Wrongs: The Goal of Retribution, UCLA Law Review 39 (1992), S. 1659, 1686. 353 Hampton, Correction Harms versus Righting Wrongs: The Goal of Retribution, UCLA Law Review 39 (1992), S. 1659, 1686 f. 354 Kleinig, Punishment and Moral Seriousness Justice in Punishment: Theories of Punishment, Israel Law Review 25 (1991), S. 401, 411.
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Reaktion ausreichend; vielmehr ist eine „offene Antwort“355, also ein Widerspruch, der in der harten Behandlung symbolisiert wird, erforderlich.356 (2) Realistisch-akzessorische expressive Theorie A. J. Skillen, Vertreter eines realistisch-akzessorischen Ansatzes, widerspricht den Vertretern des nominalistischen Ansatzes, namentlich Feinberg, insbesondere hinsichtlich des Aspektes der Konventionalität. Ihm zufolge ist die Übelszufügung kein konventionelles Symbol für Missbilligung – vielmehr kann die Übelszufügung, wie z. B. der Entzug der körperlichen Bewegungsfreiheit, kaum eine andere Bedeutung als Missbilligung aufweisen.357 Die Übelszufügung würde sich zur Missbilligung daher nicht wie die Farbe schwarz zur Trauer verhalten, da die schwarze Farbe an sich neutral sei und nur durch die Konvention zur Farbe der Trauer werde;358 viel besser passe das Verhältnis zwischen Trauer und Klage als Vergleich zum Verhältnis zwischen Missbilligung und Übelszufügung.359 Skillens Behauptung, der Entzug der körperlichen Bewegungsfreiheit könne kaum eine andere Bedeutung als Missbilligung aufweisen, ist nach mehreren Jahren globaler Pandemieerfahrung leicht zu widerlegen: Quarantäne bzw. Isolation aufgrund einer Virusinfektion entziehen dem Infizierten bzw. der Kontaktperson die körperliche Bewegungsfreiheit und weisen dabei keine missbilligende Bedeutung auf. Eine positive Begründung für die Rechtfertigung der Übelszufügung aus Sicht des realistisch-akzessorischen Ansatzes bietet Skillen darüber hinaus nicht; vielmehr besteht Skillens Ansicht in einer negativen Abgrenzung vom nominalistisch-akzessorischen Ansatz.360 (3) Nicht-akzessorische expressive Theorien Die nicht-akzessorischen expressiven Theorien differenzieren hinsichtlich der Frage der Rechtfertigung von Strafe klar zwischen der Rechtfertigung der Missbilligung und derjenigen der Übelszufügung. Beide Aspekte der Strafe müssen dieser Theorie zufolge jeweils für sich gerechtfertigt werden.
355 „We owe it to others – and to the bonds that unify us – to make or consider making some overt response.“ Kleinig, Punishment and Moral Seriousness Justice in Punishment: Theories of Punishment, Israel Law Review 25 (1991), S. 401, 411. 356 Eingehend und auch kritisch zu Kleinigs Ansatz Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung: zur Rechtfertigung von Strafe (1999), S. 174 ff. 357 Skillen, How to Say Things with Walls, Philosophy 55 (1980), S. 509, 517; bei Berücksichtigung der Unterscheidung zwischen Strafe und Maßregel im deutschen Recht wird deutlich, dass es auch den Entzug der körperlichen Bewegungsfreiheit ohne Missbilligung geben kann. 358 Skillen, How to Say Things with Walls, Philosophy 55 (1980), S. 509, 517. 359 Skillen, How to Say Things with Walls, Philosophy 55 (1980), S. 509, 516. 360 Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung: zur Rechtfertigung von Strafe (1999), S. 177.
A. Theoretischer Hintergrund
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(a) Von Hirsch – Censure and Proportionality Der bekannteste personenorientierte und nicht-akzessorische expressive Ansatz stammt von Andrew von Hirsch. Das bereits dargestellte „Just-Deserts“-Prinzip ist nämlich nur ein Teil von Andrew von Hirschs Straftheorie, die ebenfalls, wie auch die Theorien von Rawls und Hart, eine Mischtheorie darstellt. In seinem Buch „Censure and Sanctions“ aus dem Jahre 1993 betont von Hirsch, dass Strafe aus zwei Elementen bestehe: aus der harten Behandlung, wie etwa dem Einsperren in ein Gefängnis, und dem Tadel, also der Mitteilung an den Täter, dass sein Verhalten falsch war.361 Beide Elemente der Strafe müssen jeweils für sich gerechtfertigt werden.362 Anknüpfend an Feinberg und an die anderen Vertreter der akzessorischen expressiven Theorien geht auch von Hirsch davon aus, dass Strafe dem Täter gegenüber Tadel bzw. Missbilligung („censure“) zum Ausdruck bringe.363 Doch von Hirsch geht weiter als Feinberg und fordert für die Rechtfertigung von Strafe sogar, dass Strafe dem Täter gegenüber Missbilligung zum Ausdruck bringen und ihn tadeln müsse, um gerechtfertigt zu sein.364 Dieses Erfordernis leitet von Hirsch vom „Reactive Attitudes“-Ansatz des englischen Philosophen Peter F. Strawson ab.365 Dessen Ansatz besagt, dass es zwei unterschiedliche Arten gebe, auf das Fehlverhalten anderer Menschen zu reagieren: mit einer objektivierenden oder einer reaktiven Einstellung.366 Während erstere den Mitmenschen als zu kontrollierendes Wesen, ähnlich einem gefährlichen Tier behandle, werde bei einer reaktiven Einstellung auf das Fehlverhalten der Mensch als Teilnehmer sozialer Beziehungen angesehen.367 Strawsons Ansatz ist normativ – er erklärt die „Praxis des Lobes und des Tadelns, des Wertschätzens und des Übelnehmens“368 zu einer wertvollen Lebensform, die „der menschlichen Interaktion eine Reichhaltigkeit und Würde verleiht“369. Tadel als Reaktion auf unrechtmäßiges Verhalten sei somit Teil einer Moral, die Menschen für ihr Verhalten verantwortlich macht.370 Für die Strafe bedeute dies, dass der getadelte Delinquent für die von ihm begangene Straftat verantwortlich gemacht wird. Da361
A. v. Hirsch, Censure and sanctions (1995), S. 9 ff. A. v. Hirsch, Warum soll die Strafsanktion existieren? (2011), in: Strafe – Warum?, S. 43, 49. 363 A. v. Hirsch, Warum soll die Strafsanktion existieren? (2011), in: Strafe – Warum?, S. 43, 50. 364 A. v. Hirsch, Warum soll die Strafsanktion existieren? (2011), in: Strafe – Warum?, S. 43, 50. 365 Hörnle, Straftheorien (2017), S. 34; Strawson, Freedom and resentment (1974), S. 6. 366 Hörnle, Straftheorien (2017), S. 34 f.; Strawson, Freedom and resentment (1974), S. 6 ff. 367 Hörnle, Straftheorien (2017), S. 34 f. 368 Zürcher, Legitimation von Strafe: die expressiv-kommunikative Straftheorie zur moralischen Rechtfertigung von Strafe (2014), S. 106. 369 Zürcher, Legitimation von Strafe: die expressiv-kommunikative Straftheorie zur moralischen Rechtfertigung von Strafe (2014), S. 106. 370 A. v. Hirsch, Censure and sanctions (1995), S. 9 ff. 362
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Teil 3: Vorschlag für einen dritten Diskussionsstrang
durch werde er als „moral agent“ respektiert, als Person, die moralische Handlungskompetenz besitzt,371 wobei sich der Begriff „moral“ dabei nicht auf die Bewertung der Tat als „gut“ oder „böse“ bezieht.372 Das Maß des Tadels drücke sich von Hirsch zufolge in der Höhe der Strafe aus:373 je höher die Strafe ausfällt, desto größer der Tadel, je niedriger die Strafe ausfällt, desto weniger tadelnswert ist das bestrafte Verhalten.374 Somit schlägt sich das Erfordernis des Tadels bis auf die Ebene der Strafzumessung durch und prägt das von von Hirsch vertretene „Just-Deserts“-Prinzip.375 Bei der Frage danach, welche Strafe der Täter verdiene, geht es also nach von Hirsch eigentlich um die Frage, wie tadelnswert das Verhalten des Delinquenten ist. Das grundsätzliche Erfordernis reaktiver Einstellungen könne jedoch in Ausnahmefällen entfallen und stattdessen eine objektivierende Einstellung erfordern.376 Für die Strafe hieße das, dass ein schuldunfähiger Täter, etwa im Falle einer geistigen Behinderung, aufgrund seiner Schuldunfähigkeit für seine Tat nicht verantwortlich gemacht werden und aus diesem Grund auch nicht getadelt werden kann.377 Aus dem Erfordernis einer reaktiven Haltung in Form des Tadels gegenüber dem Täter folgt jedoch noch keine eigenständige Straftheorie, sondern zunächst einmal eine zwingend notwendige Bedingung für eine legitime Strafe.378 Eine Straftheorie in Gestalt einer Mischtheorie wird daraus erst durch die Verbindung der Rechtfertigung des Tadels mit der Rechtfertigung der harten Behandlung. Die Übelszufügung rechtfertigt von Hirsch mithilfe negativ-generalpräventiver Erwägungen.379 Grund für eine präventive Rechtfertigung der Übelszufügung sei, dass die moralische Ansprechbarkeit des Menschen als „moral agent“ auch ihre Grenzen habe.380 Dort, wo diese Ansprechbarkeit ende, brauche es einen zweckrationalen Grund381 („prudential reason“), um einen potenziellen Täter zu „entmutigen“, eine Straftat zu begehen.382 Von Hirsch sieht die Menschen seiner Aussage 371 A. v. Hirsch, Warum soll die Strafsanktion existieren? (2011), in: Strafe – Warum?, S. 43, 51. 372 A. v. Hirsch, Warum soll die Strafsanktion existieren? (2011), in: Strafe – Warum?, S. 43, 51. 373 A. v. Hirsch, Warum soll die Strafsanktion existieren? (2011), in: Strafe – Warum?, S. 43, 54 f. 374 A. v. Hirsch, Warum soll die Strafsanktion existieren? (2011), in: Strafe – Warum?, S. 43, 54 f. 375 A. v. Hirsch, Censure and sanctions (1995), S. 15. 376 Strawson, Freedom and resentment (1974), S. 7 ff. 377 Hallich, Strafe (2021), S. 218. 378 Hörnle, Straftheorien (2017), S. 35. 379 A. v. Hirsch, Censure and sanctions (1995), S. 14. 380 A. v. Hirsch, Censure and sanctions (1995), S. 13. 381 So übersetzt von Hirsch selbst den Begriff „prudential reason“. A. v. Hirsch, Warum soll die Strafsanktion existieren? (2011), in: Strafe – Warum?, S. 43, 55. 382 A. v. Hirsch, Censure and sanctions (1995), S. 13.
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zufolge weder als „Engel“383, für die rein normative Appelle ausreichen würden, noch als „Bestien“384, die nur durch Drohungen beeinflusst werden können:385 vielmehr sei der Mensch ein moralisches, aber fehlbares Wesen, das zwar fähig sei, sich durch normative Appelle motivieren zu lassen, aber doch in Versuchung gerate, sich gegen jene zu widersetzen.386 Die Trennung der Rechtfertigung des Tadels auf der einen und der Rechtfertigung der Übelszufügung auf der anderen Seite hat vor allem den Vorteil, dass, selbst wenn eine Übelszufügung aus bestimmten Gründen nicht mehr möglich sein sollte, etwa, weil es keine Strafvollzugsanstalten oder andere Möglichkeiten der Vollstreckung mehr gäbe, es immer noch möglich wäre, den Täter für die von ihm begangene Straftat zu tadeln.387 Nicht nur der Täter ist als Adressat des Tadels wichtig, auch die Bedeutung des Opfers kann mit von Hirschs Theorie berücksichtigt werden: Neben dem Tadel an den Täter kann die Strafe als Botschaft auch dem Tatopfer gegenüber zum Ausdruck bringen, dass ihm kein „Zufall oder Unglück“388, sondern ein Unrecht widerfahren sei.389 Fehlt eine solche Mitteilung an das Opfer, könnte bei diesem der Eindruck entstehen, das Vorgefallene stelle überhaupt keine oder zumindest keine gravierende Rechtsverletzung dar oder die Belange des Opfers seien nicht von ausreichender Wichtigkeit,390 was auch das Vertrauen des Opfers in die Strafjustiz schwächen kann. Dies wäre jedoch ein konsequentialistisches Argument. Von Hirsch betont allerdings, dass die Rechtfertigung der Übelszufügung mithilfe generalpräventiver Erwägungen erst dann zum Tragen kommen darf, wenn die Voraussetzungen der Rechtfertigung des Tadels, also die Anforderungen an eine reaktive Einstellung dem Täter als „moral agent“ gegenüber erfüllt sind.391 Erst dann ist Strafe, bestehend aus Tadel und harter Behandlung, als solche gerechtfertigt. (b) Duff – Repentance, Reform and Reconciliation Einen anderen personenorientierten expressiven und nicht-akzessorischen Ansatz vertritt der britische Jurist und Philosoph Antony Duff. Er geht in seiner Straftheorie
383 A. v. Hirsch, Warum soll die Strafsanktion existieren? (2011), in: Strafe – Warum?, S. 43, 56. 384 A. v. Hirsch, Warum soll die Strafsanktion existieren? (2011), in: Strafe – Warum?, S. 43, 56. 385 A. v. Hirsch, Warum soll die Strafsanktion existieren? (2011), in: Strafe – Warum?, S. 43, 56. 386 A. v. Hirsch, Warum soll die Strafsanktion existieren? (2011), in: Strafe – Warum?, S. 43, 56. 387 Dazu noch in der 1. Auflage Hörnle, Straftheorien (2011), S. 33. 388 Hörnle, Straftheorien (2017), S. 39. 389 A. v. Hirsch, Censure and sanctions (1995), S. 10; Hörnle, Straftheorien (2017), S. 39. 390 Hörnle, Straftheorien (2017), S. 39. 391 A. v. Hirsch, Censure and sanctions (1995), S. 14.
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Teil 3: Vorschlag für einen dritten Diskussionsstrang
über das Erfordernis einer reaktiven Einstellung dem Täter gegenüber hinaus.392 Strafe ist Duff zufolge vielmehr als eine Form der (sakulären) Buße zu verstehen, die auch den Interessen des Bestraften diene.393 Sie könne dabei sowohl dazu dienen, dem Täter das Unrecht seiner Tat überhaupt erst vor Augen zu führen als auch diese Einsicht des Täters anderen gegenüber zum Ausdruck zu bringen.394 Aus Duffs Sicht ist Strafe deshalb als Buße gerechtfertigt, weil sie Reue und Selbstverbesserung des Täters und eine Versöhnung mit dessen Gemeinschaft fördere.395 Wie auch von Hirsch teilt Duff Strafe in die zwei Elemente Tadel und Übelszufügung auf: Der Tadel bzw. der „Widerspruch gegen den Weltentwurf des Täters“396 ist retributiv bzw. expressiv legitimiert.397 Die Bedeutung der Versöhnung mit der Gemeinschaft ergibt sich bei einem näheren Blick auf Duffs theoretisches Fundament: Grundlage der Straftheorie Duffs ist die Vorstellung einer politischen Gemeinschaft, die ähnliche Werte miteinander teilt und deren Mitglieder sich entsprechend dieser Werte gegenseitig behandeln sollen.398 Damit ist Duffs Straftheorie kommunitaristisch geprägt.399 Der Kommunitarismus ist eine politische Philosophie, die den Menschen als soziales Individuum begreift – das bedeutet, dass das Individuum abhängig von einer Gemeinschaft ist, deren Werte es teilt.400 Im Gegensatz dazu steht der Liberalismus, der den Menschen als unabhängiges Individuum ansieht, dessen freie Entfaltung keinen Grenzen unterliegt.401 Im Kommunitarismus würden innerhalb der Gemeinschaft auf der Grundlage gemeinsamer Werte Gesetze beschlossen, in denen auch Folgen für etwaige Verstöße geregelt werden.402 Beim Verstoß gegen eines der Gesetze müsse der Täter getadelt 392
Hörnle, Straftheorien (2017), S. 35. Sachs, Moral, Tadel, Buße: zur Straftheorie von Antony Duff (2015), S. 198; Duff, Trials and punishments (1986), S. 261. 394 Duff, Penal Communications: Recent Work in the Philosophy of Punishment, Crime and Justice 20 (1996), S. 1, 53. 395 Sachs, Moral, Tadel, Buße: zur Straftheorie von Antony Duff (2015), S. 55. 396 Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung: zur Rechtfertigung von Strafe (1999), S. 183. 397 Duff, Trials and punishments (1986), S. 260. 398 Sachs, Moral, Tadel, Buße: zur Straftheorie von Antony Duff (2015), S. 77. 399 Duffs Gemeinschaftsmodell enthält neben dem kommunitaristischen, wenn auch schwächer ausgeprägt, ein liberales Element, da Duff sich auch für Autonomie, Freiheit und Privatsphäre ausspricht. Sachs, Moral, Tadel, Buße: zur Straftheorie von Antony Duff (2015), S. 77. 400 Beim Kommunitarismus handelt es sich um eine Sammlung von Theorien, die ihren Ausgangspunkt in der Kritik am dominanten Liberalismus haben. Die bekanntesten Anhänger des Kommunitarismus sind Amitai Etzioni, Alasdair MacIntyre, Michael Sandel, Charles Taylor und Michael Walzer. Sachs, Moral, Tadel, Buße: zur Straftheorie von Antony Duff (2015), S. 72. 401 Zum Liberalismus in Abgrenzung vom Kommunitarismus: Sachs, Moral, Tadel, Buße: zur Straftheorie von Antony Duff (2015), S. 69 ff. 402 Sachs, Moral, Tadel, Buße: zur Straftheorie von Antony Duff (2015), S. 55. 393
A. Theoretischer Hintergrund
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werden dürfen, da Tadel eine natürliche Reaktion der Gemeinschaft auf einen Verstoß sei.403 Jener Tadel werde dann stellvertretend für die ganze Gemeinschaft von einem staatlichen Gericht dem Täter gegenüber zum Ausdruck gebracht.404 Der Tadel solle den Täter zum Nachdenken über sein Verhalten anregen, zu Reue und Selbstläuterung führen und damit die Versöhnung mit der Gemeinschaft ermöglichen.405 Der Tadel sei allerdings nur innerhalb einer Gemeinschaft angemessen, die gemeinsame Werte miteinander teilt.406 Dann sei der Tadel nicht nur möglich, sondern sogar verpflichtend;407 im Falle des Nicht-Tadelns trotz Verstoßes gegen die gemeinsamen Normen sei dies sogar ein Verrat an den gemeinsamen Werten.408 Wie auch in von Hirschs Straftheorie ist es aus Duffs Sicht wichtig, dass der Delinquent als „moral agent“ behandelt wird;409 eine bloße Konditionierung, etwa aus Angst vor erneuter Bestrafung bzw. eine vermeintliche ,Einsicht‘ aus taktischen Überlegungen würden dieser Anforderung nicht gerecht.410 Während es bei von Hirsch jedoch primär darum geht, den Täter nicht als bloßes Objekt zu behandeln, sondern diesen mit dem Tadel als moralisch verantwortliches Subjekt zu adressieren, geht Duff noch einen Schritt weiter und beabsichtigt, dem Täter mithilfe des Tadels zu einer Einsicht in das von ihm begangene Unrecht und zur Empfindung von Reue zu verhelfen, um ihn wiederum mit seiner Gemeinschaft zu versöhnen.411 Der Tadel allein reicht aus Duffs Sicht jedoch nicht aus: außerdem sei eine Übelszufügung notwendig. Die Übelszufügung soll nicht nur dazu dienen, den Tadel zu verdeutlichen, sondern sie wird auch unabhängig von diesem retributiv legitimiert: Grund für die Notwendigkeit412 der harten Behandlung ist, dass „die äußerliche Bürde und der Schmerz, den sie [Anm. d. Verf.: die Übelszufügung] mit sich bringt, die innere Qual der Reue erst ausdrückt, und die Hinnahme des Schmerzes die Aufrichtigkeit des Täters manifestiert. Sie kann darüber hinaus eine ansonsten bloß seichte und unvollständige Buße verstärken, indem sie die Aufmerksamkeit des Täters auf seine Tat richtet und ihm einen Rahmen bietet, in dem er sein Verständnis der Tat und seinen Entschluss, sich zu wandeln, bestärken kann. Weiterhin kann die Übelszufügung helfen, den Täter mit denen zu versöhnen, über die er Unrecht gebracht hat: mit seinem Opfer, seinen Mitbürgern, seiner Gemeinschaft. Übelszufügung bringt die reuige Anerkennung seiner 403
Sachs, Moral, Tadel, Buße: zur Straftheorie von Antony Duff (2015), S. 55. Sachs, Moral, Tadel, Buße: zur Straftheorie von Antony Duff (2015), S. 55. 405 Sachs, Moral, Tadel, Buße: zur Straftheorie von Antony Duff (2015), S. 55. 406 Sachs, Moral, Tadel, Buße: zur Straftheorie von Antony Duff (2015), S. 132. 407 Sachs, Moral, Tadel, Buße: zur Straftheorie von Antony Duff (2015), S. 133 f. 408 Sachs, Moral, Tadel, Buße: zur Straftheorie von Antony Duff (2015), S. 134. 409 Sachs, Moral, Tadel, Buße: zur Straftheorie von Antony Duff (2015), S. 137. 410 Sachs, Moral, Tadel, Buße: zur Straftheorie von Antony Duff (2015), S. 137. 411 Sachs, Moral, Tadel, Buße: zur Straftheorie von Antony Duff (2015), S. 55. 412 „But to justify such punishments, we must surely show that hard treatment is a necessary, not merely a possible, method of expressing deserved censure; unless such hard treatment is necessary, it is surely unjustified.“ Duff, Penal Communications: Recent Work in the Philosophy of Punishment, Crime and Justice 20 (1996), S. 1, 34. 404
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Teil 3: Vorschlag für einen dritten Diskussionsstrang
Verantwortlichkeit für die Tat zum Ausdruck, sein entschlossenes Abrücken von der Tat und sein Verlangen, diejenigen Bande wiederherzustellen, die er mit seiner Tat beschädigt hat.“413
Aus den Argumenten, die Duff für das Erfordernis einer Übelszufügung anführt, ergibt sich ihm zufolge auch, dass eine bloß symbolische Strafe für das Hervorrufen von Reue beim Täter, dessen Selbstverbesserung und für die Versöhnung mit der Gemeinschaft eben nicht ausreichend ist, sondern es dafür zwingend der Übelszufügung bedarf.414 Duffs Ansatz wurde, unter anderem von Andrew von Hirsch, als paternalistisch kritisiert,415 weil Duff Strafe und insbesondere auch die Übelszufügung rechtfertigt, weil sie vermeintlich gut für den Täter und dessen Gemeinschaft ist.416 Zu diesem Zweck soll auf den Täter derart eingewirkt werden, dass er seine Tat bereut, um wieder als Teil der Gemeinschaft aufgenommen zu werden. Im Gegensatz zu von Hirschs Theorie wird Duffs Theorie von Duff selbst417 als „kommunikative“ und nicht als expressive Straftheorie bezeichnet, weil sie nicht lediglich eine Botschaft an den Täter sende, sondern auch eine Antwort von ihm (an seine Gemeinschaft) begrüße, wie etwa durch eine Entschuldigung oder das Zeigen von Reue im Rahmen der Buße.418 Diese beidseitige Kommunikation spielt in Duffs Straftheorie vor allem aufgrund der engen Beziehung zwischen dem Delinquenten und dessen Gemeinschaft eine wichtige Rolle; wenn der Delinquent nur innerhalb der Gemeinschaft Erfüllung finden kann, ist eine Versöhnung mit der Gemeinschaft nach dem Normbruch eine notwendige Voraussetzung für ein weiteres, erfülltes Leben. Dagegen sei aufgrund der einseitigen Kommunikation bei einer expressiven Straftheorie Duff zufolge die Gefahr hoch, dass der Delinquent als Mittel benutzt werde, um eine bestimmte Botschaft an die Allgemeinheit zu vermitteln.419
413 Duff, Penal Communications: Recent Work in the Philosophy of Punishment, Crime and Justice 20 (1996), S. 1, 53 ff., Übersetzung teilweise übernommen aus Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung: zur Rechtfertigung von Strafe (1999), S. 184. 414 Duff, Punishment, communication and community (2001), S. 107 f. 415 A. v. Hirsch, Censure and sanctions (1995), S. 73; Von Hirsch konkretisiert mit Feinberg, Harm to others (1987), S. xiii diese Bezeichnung dahingehend, dass es sich nicht um Paternalismus in dem Sinne handle, dass der Delinquent vor einer Selbstschädigung geschützt werden solle, sondern vielmehr um einen sogenannten „moralischen Paternalismus“ – danach sei das Ziel, einen wünschenswerten moralischen Zustand, in diesem Fall Reue, beim Täter hervorzurufen. 416 Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung: zur Rechtfertigung von Strafe (1999), S. 182 ff. 417 Duff, Penal Communications: Recent Work in the Philosophy of Punishment, Crime and Justice 20 (1996), S. 1, 32 f. 418 Duff, Penal Communications: Recent Work in the Philosophy of Punishment, Crime and Justice 20 (1996), S. 1, 32 f. 419 Duff, Penal Communications: Recent Work in the Philosophy of Punishment, Crime and Justice 20 (1996), S. 1, 33.
A. Theoretischer Hintergrund
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bb) Utilitaristische expressive Straftheorie – Missbilligung als Mittel zum Zweck 1989 veröffentlichte der australische Kriminologe John Braithwaite das Buch „Crime, Shame and Reintegration“420, in dem er ein Konzept des „reintegrative Shaming“ als Antwort auf delinquentes Verhalten vorschlug, das über Australien hinaus auch in der amerikanischen straftheoretischen Diskussion auf Interesse stieß.421 Braithwaite zufolge müsse auf einen Normbruch mit einer besonderen Art der Kommunikation, nämlich mit „Shaming“ reagiert werden. Unter „Shaming“ seien dabei alle Vorgänge von Missbilligung zu verstehen, die beim Täter Reue auslösen und eine (moralische) Verurteilung durch die Gesellschaft nach sich ziehen sollen.422 Scham wirke verhaltensregulierend und könne somit zur Kriminalitätsprävention eingesetzt werden.423 Somit handelt es sich beim Konzept des reintegrative Shaming ebenfalls um eine expressive Straftheorie424, die jedoch im Gegensatz zu retributiven expressiven Theorien primär die Prävention von Kriminalität zum Ziel hat.425 Als soziales Gefühl bzw. Affekt426 brauche Scham, um beim Täter ausgelöst werden zu können, ein (potentielles) Publikum, weshalb das Shaming zu einem gewissen Maße in der Öffentlichkeit stattfinden müsse.427 Das Shaming könne dabei in unterschiedlicher Art und Weise zum Ausdruck gebracht werden: in subtiler Art und Weise wie etwa durch ein leichtes Kopfschütteln oder in einer direkten verbalen Konfrontation, durch eine Ermahnung des Täters.428 Von staatlicher Seite könne Shaming z. B. durch eine Veröffentlichung der Identität des Täters in Zusammenhang mit der Tat erfolgen.429 Beim reintegrativen Shaming erfolge also eine soziale Missbilligung wegen der konkret begangenen Straftat;430 der Täter werde jedoch über den gesamten Be-
420
Braithwaite, Crime, shame and reintegration (1989). Dazu beispielhaft Kahan, What Do Alternative Sanctions Mean?, University of Chicago Law Review 63 (1996), S. 591, 638. 422 Braithwaite, Crime, shame and reintegration (1989), S. 100; Münster, Das Konzept des reintegrative shaming von John Braithwaite (2006), S. 136. 423 Braithwaite, Crime, shame and reintegration (1989), S. 81 ff. 424 Eigentlich handelt es sich bei Braithwaites ,Theorie‘ des reintegrative Shaming zunächst einmal um eine kriminologische Studie/Untersuchung. Sie kann jedoch auch als straftheoretisches Konzept verstanden werden. Jüngel, Shame sanctions – Wiedergeburt der Schandstrafe? (2011), S. 69. 425 Tonry, The handbook of crime and punishment (1998), S. 667. 426 Frevert, Die Politik der Demütigung (2017), S. 10. 427 Deonna/Rodogno/Teroni, In defense of shame: the faces of an emotion (2012), S. 24 f. 428 Braithwaite, Crime, shame and reintegration (1989), S. 57 f. 429 Braithwaite, Crime, shame and reintegration (1989), S. 57 f. 430 Braithwaite, Crime, shame and reintegration (1989), S. 100 f. 421
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Teil 3: Vorschlag für einen dritten Diskussionsstrang
schämungsvorgang als an sich „gute“431 Person respektiert, die mit der Gemeinschaft wieder versöhnt werden soll.432 Diese Versöhnung solle nach dem Shaming durch eine Zeremonie der Vergebung und Wiedereingliederung des Täters in die Gemeinschaft der rechtstreuen Bürger erfolgen;433 dies könne entweder rein verbal, durch eine körperliche Geste wie eine Umarmung oder durch einen feierlichen formalen Akt wie die beiderseitige Unterzeichnung einer Wiedergutmachungsvereinbarung passieren.434 Neben dem reintegrativen Shaming gebe es Braithwaite zufolge auch das desintegrative Shaming.435 Hier werde nicht nur die Tat des Täters als kriminell angeprangert, sondern seine ganze Person.436 Der Täter werde aus seinem ursprünglichen Platz in der Gesellschaft entfernt, ohne, dass ihm eine Rückkehr zu seinem ursprünglichen Status zu ermöglicht werde.437 Der Täter erhalte das dauerhafte ,Etikett‘ „kriminell“.438 Der hauptsächliche Unterschied zum reintegrativen Shaming bestehe jedoch darin, dass beim desintegrativen Shaming kein Akt der Wiedereingliederung in die Gemeinschaft erfolgt.439 Die Wirkungsweise des Shaming erklärt Braithwaite wie folgt: (1) Abschreckungswirkung Drohendes Shaming kann auf potentielle Täter abschreckend wirken, da diese belastende soziale Konsequenzen fürchten, wie etwa den Verlust des ,guten Rufs‘ oder des sozialen Status‘.440 Der potentielle Delinquent begeht somit keine Straftat aufgrund sogenannter „Scham-Angst“.441 Bei diesem Mechanismus handelt es sich um eine „außengeleitete Verhaltenssteuerung“.442 (2) Gewissensbildende Wirkung Der Vollzug des Shaming dient der Vermittlung und Internalisierung gesellschaftlich anerkannter Moral- und Wertvorstellungen.443 Im Gegensatz zur außen431
Braithwaite, Crime, shame and reintegration (1989), S. 100 f. Braithwaite, Crime, shame and reintegration (1989), S. 101. 433 Münster, Das Konzept des reintegrative shaming von John Braithwaite (2006), S. 143 f. 434 Münster, Das Konzept des reintegrative shaming von John Braithwaite (2006), S. 143 f. 435 Braithwaite, Crime, shame and reintegration (1989), S. 100 f. 436 Braithwaite, Crime, shame and reintegration (1989), S. 55; Münster, Das Konzept des reintegrative shaming von John Braithwaite (2006), S. 138. 437 Braithwaite, Crime, shame and reintegration (1989), S. 55. 438 Braithwaite, Crime, shame and reintegration (1989), S. 55. 439 Braithwaite, Crime, shame and reintegration (1989), S. 55. 440 Münster, Das Konzept des reintegrative shaming von John Braithwaite (2006), S. 164. 441 Münster, Das Konzept des reintegrative shaming von John Braithwaite (2006), S. 164. 442 Münster, Das Konzept des reintegrative shaming von John Braithwaite (2006), S. 165. 443 Münster, Das Konzept des reintegrative shaming von John Braithwaite (2006), S. 171. 432
A. Theoretischer Hintergrund
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geleiteten Verhaltenssteuerung erfolgt dadurch eine innengeleitete Verhaltenssteuerung.444 Somit wird durch das vollzogene Shaming nicht erst die Ausführung, sondern bereits die gedankliche Erwägung kriminellen Verhaltens unmöglich.445 Diese innengeleitete Verhaltenssteuerung wird auch „Gewissen“446 genannt, das sich jedoch erst im Laufe der Zeit bilden muss.447 (3) Stärkung des Kollektivbewusstseins Neben der Abschreckungs- und der gewissensbildenden Funktion dient das Shaming außerdem der Normstabilisierung und Gesellschaftserhaltung.448 Durch die durch die Straftat ausgelöste öffentliche Wut verschmelzen die privaten Empfindungen einzelner Menschen zu einem gemeinsamen Moralgefühl, wodurch das Kollektivbewusstsein gestärkt wird.449 Damit die genannten Wirkungen eintreten können, müssen Braithwaite zufolge bestimmte Bedingungen erfüllt sein: So sei für ein wirkungsvolles Shaming eine gewisse soziale Nähebeziehung zwischen dem Beschämenden und dem Beschämten notwendig.450 Dies intensiviere einerseits die negative Erfahrung, andererseits ermögliche es auch den Verbleib des Beschämten in der Gemeinschaft, da diese aufgrund der persönlichen Beziehung eher gewillt sei, den Täter wieder aufzunehmen.451 Auf gesellschaftsstruktureller Ebene ist, wie auch in Duffs Straftheorie, der Kommunitarismus eine maßgebliche Bedingung für die Effektivität des Shamings.452 6. Zwischenergebnis Die straftheoretische Diskussion in den USA ab dem Ende des 19. Jahrhunderts kann nicht wirklich als ,Diskussion‘ bezeichnet werden; vielmehr handelte es sich um eine deutliche Dominanz der utilitaristischen Strafphilosophie, was bei einem Blick auf die Entwicklungen der Strafpraxis zu dieser Zeit besonders deutlich wird, wie etwa der Einführung der Indeterminate Sentences, die stark am Rehabilitationsideal ausgerichtet waren. Dieses Rehabilitationsideal stand jedoch auf einem schwachen, empirischen Fundament. Mit der „nothing works“-Erkenntnis des Kriminologen Robert Martinson, die zu einem Synonym für die großen Zweifel an den empirisch messbaren Effekten der Rehabilitationsversuche wurde, schwand das 444
Münster, Das Konzept des reintegrative shaming von John Braithwaite (2006), S. 171. Münster, Das Konzept des reintegrative shaming von John Braithwaite (2006), S. 171. 446 Münster, Das Konzept des reintegrative shaming von John Braithwaite (2006), S. 171. 447 Münster, Das Konzept des reintegrative shaming von John Braithwaite (2006), S. 171 f. 448 Münster, Das Konzept des reintegrative shaming von John Braithwaite (2006), S. 175. 449 Münster, Das Konzept des reintegrative shaming von John Braithwaite (2006), S. 176. 450 Münster, Das Konzept des reintegrative shaming von John Braithwaite (2006), S. 178. 451 Münster, Das Konzept des reintegrative shaming von John Braithwaite (2006), S. 178. 452 Münster, Das Konzept des reintegrative shaming von John Braithwaite (2006), S. 180; Braithwaite, Crime, shame and reintegration (1989), S. 100. 445
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Teil 3: Vorschlag für einen dritten Diskussionsstrang
Vertrauen in ein utilitaristisch begründetes System der Strafe. Im Laufe der folgenden Jahre wurde eine klare Absage an ein Strafsystem erteilt, das sich zur Kriminalitätsprävention auf die Rehabilitation von Tätern konzentriert. Dabei waren sich sonst in politischer Hinsicht uneinige Lager zumindest im Ergebnis einig, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen und Motivationen. Während die einen das rehabilitationsorientierte Strafsystem als zu lasch im Kampf gegen Kriminalität ansahen und ,richtige‘ Strafen der Behandlung von Straftätern vorzogen, kritisierten die anderen die unter dem Vorwand der Rehabilitation getroffenen willkürlichen Entscheidungen des Parole Boards. Mit der Renaissance retributiver Theorien ab Mitte der 1960er Jahre und dem wachsenden Interesse am „Just-Deserts“-Prinzip erfolgte der wohl größte Umbruch in der neueren Geschichte der straftheoretischen Diskussion in den USA. In den 1970er und vor allem in den 1980er Jahren sah es dann zunächst nach einem Triumph der retributiven Theorien und dem Prinzip des „Just-Deserts“ aus. Mit dem Sentencing Reform Act aus dem Jahre 1984 und den eingeführten, verpflichtend zu berücksichtigenden „Federal Sentencing Guidelines“ schwand die Flexibilität der Richter hinsichtlich der Strafzumessung; Institutionen wie das Parole Board wurden auf Bundesebene abgeschafft. Die Law-and-Order-Bewegung der 1980er und 1990er Jahre forderte jedoch keine gerechten, sondern vor allem harte Strafen: so wurden Mandatory-Minimum-Sentences und Three-Strikes-Gesetze eingeführt. Diese standen jedoch in klarem Gegensatz zum „Just-Deserts“-Prinzip. Gleichzeitig wuchs vor allem in den 1990er Jahren erneut das Interesse an therapeutisch motivierten staatlichen Maßnahmen und integrativen Konzepten wie der Restorative-Justice. Beide Entwicklungen, auch wenn sie zueinander im Gegensatz stehen, sind nicht mit dem Prinzip der Tatproportionalität in Einklang zu bringen. Spätestens mit der Entscheidung Booker vs. United States im Jahre 2005, mit der die Federal Sentencing Guidelines für nicht verbindlich erklärt wurden, ist auch vom Supreme Court die Bedeutung des „Just-Deserts“-Prinzips für die Strafzumessung relativiert worden. Die Situation der straftheoretischen Diskussion gegen Ende des 20. Jahrhunderts war damit nicht von der Dominanz einer bestimmten Straftheorie gekennzeichnet, wie dies fast ein Jahrhundert lang während der Zeit des Rehabilitationsideals bis in die 1960er Jahre der Fall war. Vielmehr wurden in theoretischer, aber auch praktischer Hinsicht kaum miteinander zu vereinbarende Konzepte vertreten, die keine klare Richtung in der straftheoretischen Diskussion erkennen ließen. Besonders hervorzuheben ist die Entwicklung der expressiven Theorien: Mit Joel Feinbergs Aufsatz „The Expressive Function of Punishment“453 aus dem Jahre 1965 begann die Geschichte der expressiven Straftheorien in der amerikanischen Diskussion. War Feinbergs Ansatz noch deskriptiv und verwies zunächst darauf, dass Strafe eine expressive Bedeutung im Sinne von Missbilligung aufweise, kamen mit den Jahren auch normative Ansätze hinzu, die verlangten, dass Strafe eine solche 453
Feinberg, The Expressive Function of Punishment, Monist 49 (1965), S. 397.
A. Theoretischer Hintergrund
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Bedeutung aufweisen müsse, um überhaupt legitim sein zu können.454 Ab den 1990er Jahren wurden expressive Theorien in Form der tadelorientierten, liberalen Theorie von Andrew von Hirsch oder der kommunitaristisch geprägten Bußetheorie von Antony Duff zum ernsthaften Diskussionsgegenstand der amerikanischen Straftheorie. Auch das Konzept des reintegrative Shaming von John Braithwaite aus dem Jahr 1989 stieß in der strafrechtlichen Diskussion in den USA auf Interesse. Eine ähnliche Entwicklung gab es in Deutschland nicht, weshalb im Folgenden die potentiellen Faktoren für den Erfolg der expressiven Theorien betrachtet werden sollen.
IV. Potentielle Faktoren für den Erfolg expressiver Straftheorien Bei der Betrachtung der historischen Entwicklung der amerikanischen straftheoretischen Diskussion ist aufgefallen, dass viele der Entwicklungen nicht exklusiv in den USA, sondern zum Beispiel auch in Deutschland, wenn auch zeitversetzt,455 stattfanden, wie die Resozialisierungseuphorie und deren Niedergang. Eine bestimmte amerikanische Entwicklung weist jedoch keine Parallele zur deutschen Situation auf: der Erfolg der – vor allem personenorientierten oder moralischnormorientierten – expressiven Straftheorien. Es stellt sich daher die Frage, welche Faktoren den Erfolg expressiver Theorien in den USA begünstigt haben könnten. Ein möglicher Faktor für den Erfolg expressiver Theorien ist der Zeitpunkt ihres Aufkommens. Während die expressiven Straftheorien quasi noch in ihren ,Kinderschuhen‘ steckten, waren rehabilitative Ansätze, unter anderem wegen ihrer empirisch zwar überprüfbaren, aber nicht nachweisbaren Effekte, gerade erst für gescheitert erklärt worden. Danach sah es zwar kurzfristig nach einem retributiven Wandel aus, doch auch retributive Theorien mussten sich einiger Kritik aussetzen; das Argument, wer eine Straftat begehe, verdiene nun einmal Strafe, konnte nicht überzeugen. Anhand dessen war es nicht möglich, theoretisch überzeugend eine gerechte Strafe zu ermitteln. Nicht einmal die vieldiskutierte und ihrerzeit gefeierte „benefit-and-burden“-Theorie vermochte dieses Problem zu lösen, obwohl sie zumindest ein überzeugenderes theoretisches Fundament bot. Welchen Vorteil nun der Täter genau genoss und welche Last man ihm nun wieso auferlegen dürfe, konnte jedoch auch die „benefit-and-burden“-Theorie nicht klären. Damit waren auch retributive Theorien, was die Frage nach der Rechtfertigung von Strafe und der Ermittlung einer gerechten Strafe anging, in einer Sackgasse angelangt. Gegenüber den retributiven Theorien weisen die expressiven Ansätze hingegen einen deutlichen Vorteil auf: sie stehen auf einem plausiblen und nachvollziehbaren philosophischem Fundament. Die Annahme, dass Sprache, aber auch tatsächliche Handlungen eine 454 Z. B. der Ansatz von Andrew von Hirsch, siehe A. v. Hirsch, Censure and sanctions (1995). 455 Siehe dazu Teil 3, A. III. 1. c).
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Teil 3: Vorschlag für einen dritten Diskussionsstrang
soziale Bedeutung aufweisen, entstammt ursprünglich der anglo-amerikanischen Sprachphilosophie, die mit John Austin und John Searle insbesondere in der Nachkriegszeit einen wesentlichen Einfluss auch auf die Straftheorie hatte. Dazu kommt, dass Kommunikation ein menschliches Grundbedürfnis ist und in zwischenmenschlichen Beziehungen eine grundlegende Rolle spielt. Was im zwischenmenschlichen Kontakt von Bedeutung ist, könnte auch für die Beziehung zwischen dem Staat und seinen Bürgern Berücksichtigung finden, um die Frage nach der Legitimation von Strafe zu beantworten. Darüber hinaus könnten auch pragmatische Erwägungen eine Rolle für den Erfolg expressiver Theorien spielen. Wie bereits erläutert, sind expressive Straftheorien keine Rechtfertigung für Strafe, sondern bieten lediglich einen theoretischen Rahmen, der einer inhaltlichen Konkretisierung bedarf – so kann eine expressive Theorie im Kern eine retributive oder eine utilitaristische Strafbegründung beinhalten, das expressive Element allein kann die Strafe jedoch nicht rechtfertigen. Diese theoretischen, aber auch strategischen Vorteile der expressiven Theorien könnten sich auch die Vordenker der Shame Sanctions zu Nutze gemacht haben. Um diese Annahme zu überprüfen, werden im folgenden Kapitel die spezifisch für Shame Sanctions angeführten Argumente aus der straftheoretischen Diskussion betrachtet.
B. Shame Sanctions im Lichte der Straftheorie In der straftheoretischen Diskussion wurden Shame Sanctions bis heute kaum und falls überhaupt, dann nur oberflächlich behandelt.456 So stellte etwa die amerikanische Strafrechtswissenschaftlerin Toni Massaro lediglich pauschal fest, Shame Sanctions seien mit allen gängigen Strafzwecktheorien vereinbar.457 Deswegen sollen die Shame Sanctions im Folgenden im Lichte der Straftheorie betrachtet und bewertet werden.
I. Normative Begründung für Shame Sanctions In Teil 1 der Arbeit hat sich gezeigt, dass Shame Sanctions aus Sicht der Richter, die sie verhängen, aufgrund ihrer Bildlichkeit ein attraktives Mittel sind, um öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen und damit politische Karrieren der Richter zu ermöglichen und zu fördern.458 Angesichts der angespannten Situation in US-ame456
Beispielhaft dazu Massaro, Shame, Culture, and American Criminal Law, Michigan Law Review 89 (1991), S. 1880, 1890 ff. 457 Massaro Massaro, Shame, Culture, and American Criminal Law, Michigan Law Review 89 (1991), S. 1880, 1900. 458 Teil 1, C. III. 2.
B. Shame Sanctions im Lichte der Straftheorie
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rikanischen Gefängnissen, werden Shame Sanctions als kostengünstige und effiziente Alternative zum klassischen Strafvollzug angepriesen. Weder Kosten- und Effizienzerwägungen noch richterliche Karriereambitionen werden jedoch der dem Täter und der Gesellschaft geschuldeten Begründung für die Verhängung von Strafe gerecht; dafür bedarf es vielmehr einer normativen Begründung.459 Im Folgenden soll herausgearbeitet werden, welche normativen Begründungen für Shame Sanctions angeführt werden. Dabei ist zu unterscheiden zwischen den normativen Begründungen, die im Rahmen von Gerichtsentscheidungen für eine konkret verhängte Shame Sanction vorgebracht werden und den normativen Begründungen, die für Shame Sanctions im Allgemeinen gelten sollen. In den Gerichtsentscheidungen werden Shame Sanctions mithilfe nahezu aller straftheoretischer Begründungen gerechtfertigt. Im Folgenden soll zunächst die in der straftheoretischen Diskussion vorgebrachte, spezifische normative Begründung für Shame Sanctions im Allgemeinen herausgearbeitet werden. 1. Shame Sanctions als Ausdruck von Missbilligung Ausführungen zur normativen Begründung für Shame Sanctions finden sich hauptsächlich im Aufsatz „What Do Alternative Sanctions Mean“460 aus dem Jahre 1996 von Yale-Professor Dan Kahan. Kahans theoretische Begründung für Shame Sanctions geht von der Prämisse aus, dass jene eine notwendige, kostengünstige und effiziente Alternative zur Gefängnisstrafe sind.461 Kahan führt an, dass die Shame Sanction eine ernstzunehmende Rivalin der Gefängnisstrafe sei, da jene, anders als andere Alternativen zur Inhaftierung, eine angemessene „moralische Verurteilung“462 zum Ausdruck brächte und dabei in finanzieller Hinsicht weitaus weniger belastend als die Gefängnisstrafe sei.463 Shame 459 Zürcher, Legitimation von Strafe: die expressiv-kommunikative Straftheorie zur moralischen Rechtfertigung von Strafe (2014), S. 17, der Lacey, State punishment (1988), S. 13 zitiert. „The most obvious reason for the need to justify punishment is that it involves, on almost any view of morality, prima facie moral wrongs: inflicting unpleasant consequences (objectively or subjectively understood) and doing so irrespective of the will or consent of the person being punished.“ 460 Kahan, What Do Alternative Sanctions Mean?, University of Chicago Law Review 63 (1996), S. 591. 461 Kahan, What Do Alternative Sanctions Mean?, University of Chicago Law Review 63 (1996), S. 591, 635. 462 „[…] they do something that conventional alternative sanctions don’t do: express appropriate moral condemnation.“ Kahan, What Do Alternative Sanctions Mean?, University of Chicago Law Review 63 (1996), S. 591, 635. 463 Kahan, What Do Alternative Sanctions Mean?, University of Chicago Law Review 63 (1996), S. 591, 635; Kahan/E. A. Posner, Shaming White-Collar Criminals: A Proposal for Reform of the Federal Sentencing Guidelines, Journal of Law and Economics 42 (1999), S. 365, 371.
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Teil 3: Vorschlag für einen dritten Diskussionsstrang
Sanctions seien ein unmissverständliches Symbol der moralischen Verurteilung durch die Gemeinschaft.464 Der expressive Charakter der Shame Sanctions ergibt sich aus ihrer Ausgestaltung: der Delinquent wird der Öffentlichkeit auf eine Art und Weise präsentiert, die zum Ausdruck bringt, dass sein Verhalten missbilligenswert ist.465 Dies geschieht vor allem dadurch, dass der Delinquent seine Tat der Allgemeinheit – möglicherweise auch gegen seinen Willen – mitteilen und damit zugeben muss, dass er eine rechtliche (und moralische) Norm verletzt hat und dafür von einem Gericht verurteilt wurde. Darüber hinaus spielen die genauen Umstände der Shame Sanction – welche Aufschrift soll das Schild tragen, an welchem Ort muss der Delinquent stehen, muss er eventuell sogar ein Kostüm tragen – eine Rolle hinsichtlich des Grades der Missbilligung, die zum Ausdruck gebracht werden soll. Nicht nur Shame Sanctions können Kahan zufolge Missbilligung zum Ausdruck bringen. Die mittlerweile traditionellere Strafform, die Freiheitsstrafe, tue dies ebenfalls in einer ähnlich unmissverständlichen Art und Weise.466 Der Grund, weshalb die Freiheitsstrafe als Ausdruck von Missbilligung anerkannt werde, liege darin, dass jemandem für sein strafbares Verhalten das höchste Gut in einer demokratischen Gesellschaft entzogen werde – seine körperliche Bewegungsfreiheit.467 Die Besonderheit, dass Shame Sanctions, als weniger traditionelle Strafform, ebenfalls Missbilligung in einer unmissverständlichen Art und Weise zum Ausdruck bringen, ergebe sich, wenn man andere alternative Sanktionen zur Freiheitsstrafe betrachte.468 So würde laut Kahan die Geldstrafe vermitteln, die Begehung einer Straftat sei „käuflich“.469 Damit wäre das Verhalten des Täters mit einem Preisschild versehen und bei Zahlung dieses Preises entfalle der missbilligenswerte Charakter des Verhaltens.470 Neben der Geldstrafe bringe auch die Verurteilung zu Sozialstunden keine unmissverständliche Missbilligung zum Ausdruck, sondern sogar das 464
Kahan, What Do Alternative Sanctions Mean?, University of Chicago Law Review 63 (1996), S. 591, 636. 465 „Such penalties, one court explained, inflict[] disgrace and contumely in a dramatic and spectacular manner.“ Kahan, What Do Alternative Sanctions Mean?, University of Chicago Law Review 63 (1996), S. 591, 635 bezieht sich auf das Gerichtsurteil Goldschmitt v. State, 490 So. 2d 123, 125 (Fla. Dist. Ct. App. 1986). 466 Vor allem zur Veränderung von Körperstrafen als akzeptiertes Symbol von moralischer Verurteilung hin zur Freiheitsstrafe: Kahan, What Do Alternative Sanctions Mean?, University of Chicago Law Review 63 (1996), S. 591, 612 ff. 467 „[…] because liberty is so universally and intensely valued, taking it away is our society’s most potent symbol of moral condemnation.“ Kahan, What Do Alternative Sanctions Mean?, University of Chicago Law Review 63 (1996), S. 591, 621. 468 Kahan, What Do Alternative Sanctions Mean?, University of Chicago Law Review 63 (1996), S. 591, 630. 469 „But when fines are used as a substitute for imprisonment, the message is likely to be that the offenders’ conduct is being priced rather than sanctioned.“ Kahan, What Do Alternative Sanctions Mean?, University of Chicago Law Review 63 (1996), S. 591, 621. 470 „[…] we do not condemn someone for buying what we are willing to sell.“ Kahan, What Do Alternative Sanctions Mean?, University of Chicago Law Review 63 (1996), S. 591, 621.
B. Shame Sanctions im Lichte der Straftheorie
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Gegenteil: die ehrenamtliche Arbeit genieße gesellschaftliches Ansehen;471 das würde bedeuten, dass wenn der Täter die Sozialstunden ableistet, ihm dafür statt Missbilligung sogar Wertschätzung entgegengebracht werden könnte.472 Beide Sanktionen, sowohl die Geldstrafe als auch die Verurteilung zu gemeinnütziger Arbeit, würden damit eine missverständliche Botschaft an die Bevölkerung senden, weswegen sie keine politisch akzeptable Form der Strafe und damit auch keine ernstzunehmende Alternative zur Gefängnisstrafe darstellen.473 Im Gegensatz zu diesen beiden anderen alternativen Sanktionen ist die Art und Weise, wie die Shame Sanction ausgestaltet ist, hinsichtlich der damit an die Öffentlichkeit vermittelten Botschaft völlig unmissverständlich; jemanden mit einem Schild an den Straßenrand zu stellen und die eigene Tat öffentlich ,gestehen‘ zu müssen, kann wenig anderes bedeuten, als dass die Person etwas schlechtes getan hat, das es zu verurteilen gilt. Die politische Akzeptanz der Shame Sanctions als alternative Sanktion sei Kahan zufolge quasi eine feststehende Tatsache,474 weswegen die Anwendung der Shame Sanction aus seiner Sicht keine „expressiven Sensibilitäten“475 verletzen würde.476 Dabei spiele es für den Aspekt der Missbilligung keine Rolle, ob der Delinquent aufgrund der Shame Sanction tatsächlich Scham empfinde;477 es sei sogar so, dass ein Täter, der trotz seines Fehlverhaltens und der Shame Sanction keinerlei Scham empfinde, den Zuschauer in der Ansicht bestätigen würde, dass er „verdorben“478 sei und für sein Verhalten verurteilt werden müsse.479 Damit wird deutlich, dass es bei der Shame Sanction weniger darum geht, dem Täter eine bestimmte Botschaft über sein Fehlverhalten zu vermitteln, als vielmehr der Allgemeinheit. Diese soll erfahren, welches Verhalten gegen rechtliche (und moralische) Normen verstößt und gleichzeitig, welche unangenehmen Konsequenzen ein solches rechtswidriges Verhalten nach sich ziehen kann. Ginge es in erster Linie darum, dem Täter gegenüber zum
471 Kahan, What Do Alternative Sanctions Mean?, University of Chicago Law Review 63 (1996), S. 591, 627 ff. 472 Kahan, What Do Alternative Sanctions Mean?, University of Chicago Law Review 63 (1996), S. 591, 627 ff. 473 Kahan, What Do Alternative Sanctions Mean?, University of Chicago Law Review 63 (1996), S. 591, 630. 474 Kahan, What Do Alternative Sanctions Mean?, University of Chicago Law Review 63 (1996), S. 591, 637. 475 Kahan, What Do Alternative Sanctions Mean?, University of Chicago Law Review 63 (1996), S. 591, 637. 476 „[…] substituting them for imprisonment does not invariably offend widespread expressive sensibilities“ Kahan, What Do Alternative Sanctions Mean?, University of Chicago Law Review 63 (1996), S. 591, 637. 477 Kahan University of Chicago Law Review 63 (1996), S. 591, 636. 478 Kahan, What Do Alternative Sanctions Mean?, University of Chicago Law Review 63 (1996), S. 591, 636. 479 Kahan, What Do Alternative Sanctions Mean?, University of Chicago Law Review 63 (1996), S. 591, 636.
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Teil 3: Vorschlag für einen dritten Diskussionsstrang
Ausdruck zu bringen, dass sein Verhalten falsch war, bedürfte es dafür nicht zwingend der Öffentlichkeit. Wie bereits erläutert,480 kann Strafe mit dem Verweis auf das expressive Element nicht gerechtfertigt werden. Um eine angemessene Auseinandersetzung mit der normativen Begründung für Shame Sanctions zu ermöglichen, ist es notwendig, die von Kahan präsentierte, „expressive“ Begründung innerhalb des klassischen straftheoretischen Spektrums zu verorten. 2. Verortung der normativen Begründung für Shame Sanctions in ,klassisches‘ straftheoretisches Spektrum Im Rahmen der Auseinandersetzung mit den expressiven Theorien in Teil 2 der Arbeit wurde festgestellt, dass die Gemeinsamkeit der expressiven Theorien darin besteht, dass dem expressiven Aspekt von Strafe eine wesentliche Bedeutung zukommt. Die Funktion dieses Aspekts unterscheidet sich jedoch je nach konkreter inhaltlicher Ausgestaltung der Theorie. Im Folgenden soll herausgearbeitet werden, welche Funktion dem expressiven Aspekt laut Kahans Begründung für Shame Sanctions zukommt. a) Shame Sanctions als Mittel zur Abschreckung Von der Begehung von (weiteren) Straftaten soll die Shame Sanction sowohl den Täter als auch die Allgemeinheit abschrecken.481 Hinsichtlich der Abschreckung der Allgemeinheit besteht die Besonderheit der Shame Sanctions darin, dass die Bevölkerung nicht durch eine abstrakte, gesetzliche Strafandrohung abgeschreckt werden soll, da eine solche gesetzliche Regelung für Shame Sanctions gar nicht existiert. Eine Strafandrohung existiert jedoch trotzdem, und zwar in Gestalt der öffentlichen Strafvollstreckung, also indem die Allgemeinheit bzw. einige konkrete Passanten den Vollzug der Shame Sanction miterleben. Das Prinzip der Abschreckung soll bei den Shame Sanctions jedoch wie auch bei anderen Strafformen funktionieren: Das rational abwägende Individuum nimmt dann Abstand von einer Straftat, wenn die Kosten für die Begehung einer Straftat höher sind als der Nutzen daraus.482 Kahan zufolge wäre der Preis, zu einer Shame Sanction verurteilt zu werden, insbesondere deswegen hoch, weil die Shame Sanction unangenehme soziale und psychische Konsequenzen nach sich zöge und damit die Kosten in Form der
480
Siehe dazu Teil 3, A. III. 5. Kahan, What Do Alternative Sanctions Mean?, University of Chicago Law Review 63 (1996), S. 591, 638 ff. 482 Kahan, What Do Alternative Sanctions Mean?, University of Chicago Law Review 63 (1996), S. 591, 638. 481
B. Shame Sanctions im Lichte der Straftheorie
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Shame Sanction den Nutzen aus einer Straftat überwiegen würden:483 Eine konkrete soziale Folge könnte beispielsweise der Statusverlust sein.484 Die mögliche, damit verbundene, negative psychische Folge könnte die Empfindung von Scham sein, was beim Individuum dazu führt, dass es sich selbst in seinen Gedanken herabwertet.485 Außerdem könnte es als Folge der Shame Sanctions zu spürbaren finanziellen Einbußen kommen, etwa, wenn der verurteilte Täter von Geschäftspartnern gemieden würde.486 Unabhängig davon, was der zu einer Shame Sanction verurteilte Täter tatsächlich fühlt, kann die Aussicht auf eine öffentliche Missbilligung einen hohen Preis für die Begehung einer Straftat darstellen.487 Was die Abschreckung des verurteilten Täters selbst betrifft, geht Massaro davon aus, dass eine einmal erlebte Shame Sanction dem Betroffenen einen „gehörigen Schrecken“488 einjagen und ihn dadurch von der Begehung weiterer Straftaten abschrecken könne. James Whitman versteht die Shame Sanction als Warnung für den Täter vor einem endgültigen Statuswechsel hin zum Kriminellen; die Shame Sanction wirke als sogenannter „liminal rite“.489 Damit würde die Shame Sanction jedoch vermutlich nicht von einer erneuten Shame Sanction abschrecken, sondern vielmehr vor einer Gefängnisstrafe, die vermutlich nach einer erfolglosen Shame Sanction verhängt werden würde. Die Konsequenz der Shame Sanction für den Täter
483
Kahan, What Do Alternative Sanctions Mean?, University of Chicago Law Review 63 (1996), S. 591, 638; siehe auch schon die Bemerkungen über die Wirkungsweise des reintegrative Shaming, Teil 3, A. III. 5. c) bb). 484 Kahan, What Do Alternative Sanctions Mean?, University of Chicago Law Review 63 (1996), S. 591, 638. 485 Coontz, Beyond First Blush: The Utility of Shame as a Master Emotion in Criminal Sentencing, Michigan State Law Review 415 (2015), S. 415, 438. 486 „The government captures and exposes white-collar criminals. When their crime is widely publicized in a manner that excites revulsion, people will refuse to deal with them. They will not hire them or socialize with them. People avoid the offender for two reasons: (1) the offender has been revealed as a bad type, who is thus likely to be unreliable in cooperative endeavors; and (2) even to the extent it might be profitable to continue to deal with the offender (because he has special skills, for example), by ostentatiously avoiding him, one shows that one belongs to the good type and thus reveals oneself to be an attractive partner for others. The resulting reputational harm to the offender can be quite severe, and yet it costs the state much less than a comparable term of imprisonment.“ Kahan/E. A. Posner, Shaming White-Collar Criminals: A Proposal for Reform of the Federal Sentencing Guidelines, Journal of Law and Economics 42 (1999), S. 365, 370 Dies gilt natürlich vor allem für Täter, die einen gewissen wirtschaftlichen Status haben. Dazu Massaro, Shame, Culture, and American Criminal Law, Michigan Law Review 89 (1991), S. 1880, 1916 f. zu Tätern, die keinen Statusverlust fürchten, weil sie gar keinen solchen Status haben. 487 Kahan, What Do Alternative Sanctions Mean?, University of Chicago Law Review 63 (1996), S. 591, 638. 488 Obwohl sie dies im Rahmen der Rehabilitation thematisiert, passt dieser Aspekt besser zur Abschreckung. Massaro Michigan Law Review 89 (1991), S. 1880, 1895. 489 Whitman, What is wrong with inflicting shame sanctions?, The Yale Law Journal 107 (1998), S. 1055, 1067.
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Teil 3: Vorschlag für einen dritten Diskussionsstrang
solle Kahan zufolge sogar in der Herabsetzung seines gesellschaftlichen Status’ bestehen.490 Unabhängig davon, ob es um die Abschreckung des einzelnen Straftäters oder tatgeneigter Personen aus der Bevölkerung geht – in beiden Fällen spielt die Öffentlichkeit der Shame Sanction eine zentrale Rolle. Die Shame Sanction verkörpert, weil sie öffentlich stattfindet, die Strafandrohung, die gesetzlich nicht festgehalten ist. Damit kündigt sie einem potentiellen Straftäter in anschaulicher Art und Weise an, was ihn im Falle der Begehung einer Straftat möglicherweise erwartet. Sie visualisiert das ansonsten sehr abstrakte Phänomen der Strafe für die Bevölkerung.491 Der öffentliche Charakter der Shame Sanctions könnte dazu führen, dass ein potentieller Täter Angst vor negativen sozialen Konsequenzen wie Ausgrenzung hat, weil seine Tat und seine Identität anderen Menschen, möglicherweise sogar seinem nahen Umfeld, bekannt werden. Der verurteilte Straftäter, der die Shame Sanction bereits am eigenen Leib erlebt hat, möchte – aufgrund der öffentlichen Strafvollstreckung, dem negativen Erlebnis und eventuell empfundenen Gefühlen wie Scham – diese Erfahrung nicht noch einmal machen. Shame Sanctions seien Kahan zufolge auch deswegen besonders gut zur Abschreckung geeignet, da sie individuell mit anderen Maßnahmen wie kurzen Gefängnis-, Geld- oder anderen Strafen kombiniert werden können und das gewünschte Maß der Abschreckung damit variiert werden könne.492 Gleichzeitig seien Shame Sanctions besonders kostengünstig,493 was aus utilitaristischer Sicht eine wichtige Rolle spielt; so könne größtmögliche Abschreckung zu einem geringstmöglichen Preis erreicht werden.494 b) Shame Sanctions als Mittel zur Incapacitation Neben dem Strafzweck der Abschreckung seien Shame Sanctions auch zur „Incapacitation“ geeignet.495 Dies aber nicht im Sinne einer faktischen Hinderung, wie bei einer Inhaftierung oder Hinrichtung des Täters, sondern durch eine von den
490 Kahan, What Do Alternative Sanctions Mean?, University of Chicago Law Review 63 (1996), S. 591, 636 f. 491 Dazu schon Teil 1, C. III. zu den Visualisierungstendenzen und „Iconic Turn“. 492 Damit meint Kahan vor allem den Fall, dass die Shame Sanction allein nicht ausreichend abschreckt. Siehe Kahan, What Do Alternative Sanctions Mean?, University of Chicago Law Review 63 (1996), S. 591, 641. 493 Kahan, What Do Alternative Sanctions Mean?, University of Chicago Law Review 63 (1996), S. 591, 593. 494 Garvey, Can Shaming Punishments Educate?, University of Chicago Law Review 65 (1998), S. 733, 775. 495 Massaro, Shame, Culture, and American Criminal Law, Michigan Law Review 89 (1991), S. 1880, 1899 f.
B. Shame Sanctions im Lichte der Straftheorie
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Shame Sanctions ausgehende Warnfunktion.496 Massaro zufolge könnten Shame Sanctions durch die Kennzeichnung des Verurteilten als Straftäter, durch die Bekanntgabe seiner Identität und der von ihm begangenen Straftat, andere Menschen – vor allem potentielle Tatopfer – vor ihm warnen, da diese dadurch die Möglichkeit bekämen, ihn zu meiden und ihm so die Begehung weiterer Straftaten zu erschweren.497 Je nach begangenem oder in Zukunft drohendem Delikt, könnten die Meidungsstrategien potentieller Tatopfer voneinander abweichen: Während bei Wirtschaftsdelikten potentielle Geschäftspartner oder Kunden des Täters diesem aus dem Weg gehen könnten, könnten im Falle von Gewalt- oder Sexualdelikten auch nachbarschaftliche oder persönliche Beziehungen abgebrochen werden, womit die Begehung von Straftaten auch in diesem Umfeld erschwert werden könnte.498 Über wen etwa bekannt ist, dass er wegen Trunkenheit am Steuer verurteilt würde, der könnte es schwer haben, an Alkohol heranzukommen oder eine Tätigkeit auszuüben, die das Fahren eines Kfz erfordert.499 3. Einordnung der Shame Sanctions in historische Entwicklung der straftheoretischen Diskussion Was die Einordnung der Shame Sanctions in die historische Entwicklung der straftheoretischen Diskussion betrifft, ist festzuhalten, dass sich die Shame Sanctions nicht in die am „Just-Deserts“-Prinzip orientierte Entwicklung der 1970er und 1980er Jahre einreihen,500 obwohl sie zu dieser Zeit entstanden sind. Während bei der Freiheitsstrafe einerseits das entzogene Gut, nämlich die Freiheit, klar benannt ist und die Zeitspanne des Freiheitsentzugs bemessen werden kann, ist es schwierig, den Grad an sozialer Ächtung bzw. Demütigung zu messen, den Shame Sanctions dem Täter auferlegen, selbst, wenn die Zeitspanne einer Shame Sanction (Dauer der Ausstellung des Täters, Häufigkeit etc.) selbst grundsätzlich messbar ist.501 Aufgrund 496 Massaro, Shame, Culture, and American Criminal Law, Michigan Law Review 89 (1991), S. 1880, 1899 f. 497 „Publicizing the offender’s identity may alert community members of her criminal past and cause them to isolate her socially or professionally. […] As such, the shaming sanctions may have a disabling effect on the offenders, and thus may claim to serve incapacitation-type ends.“ Massaro, Shame, Culture, and American Criminal Law, Michigan Law Review 89 (1991), S. 1880, 1899 f. 498 Massaro, Shame, Culture, and American Criminal Law, Michigan Law Review 89 (1991), S. 1880, 1900. 499 „And a convicted drunk driver may be refused alcohol or a job that involves use of a vehicle.“ Massaro, Shame, Culture, and American Criminal Law, Michigan Law Review 89 (1991), S. 1880, 1900. 500 Anders Kubiciel, der jedoch insbesondere das Tadelelement der „Just-Deserts“-Theorie hervorhebt. Kubiciel, Shame Sanctions – Ehrenstrafen im Lichte der Straftheorie, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 118 (2006), S. 44, 50 501 So wurde Gementera dazu verurteilt, 8 Stunden vor einer Postfiliale zu stehen. Siehe United States v. Gementera – 379 F.3d 596 (9th Cir. 2004).
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Teil 3: Vorschlag für einen dritten Diskussionsstrang
dieser Charakteristika ist es nahezu unmöglich, die Shame Sanction proportional zur Tat selbst oder zu anderen Strafen auszugestalten.502 Spezifisch retributive Begründungen für Shame Sanctions lassen sich damit kaum bis überhaupt nicht finden. Zwar sind Toni Massaro und James Whitman der Ansicht, dass Shame Sanctions auch mit dem retributiven Gedanken in Einklang zu bringen sind, jedoch liegt dies vor allem an ihrer Definition der Shame Sanctions, unter die auch die sogenannten „Guilt Sanctions“ fallen,503 die sich bei der Ausgestaltung der Strafe an der Art und Weise der Tatbegehung orientieren.504 Als expressive Strafform505 sind Shame Sanctions dennoch ein Ausdruck einer Neuorientierung der amerikanischen Straftheorie – nämlich in Richtung einer expressiven Straftheorie. Bei Betrachtung der speziell für Shame Sanctions angeführten straftheoretischen Begründungen wird allerdings auch deutlich, dass Shame Sanctions vor allem aus präventionstheoretischer Sicht eine attraktive Strafform darstellen. Durch für die Öffentlichkeit sichtbar gewordene, expressive Strafe soll die Bevölkerung hauptsächlich von der Begehung von Straftaten abgeschreckt, vor dem Täter gewarnt und von der Funktionsfähigkeit der Strafjustiz überzeugt werden – all diese Strafzwecke sollen schlussendlich der Verhinderung von künftigen Straftaten dienen. Mit den Shame Sanctions als Mittel sollen diese Zwecke besonders effizient verfolgt werden: die Sichtbarmachung der Strafe in Form der öffentlichen Vollstreckung führt zu einer deutlich geringeren finanziellen Belastung als die Gefängnisstrafe. Shame Sanctions sind damit klar als utilitaristisch-expressive Strafform einzuordnen. Gleichzeitig sind Shame Sanctions in kriminalpolitischer Hinsicht auch ein Symptom einer populistisch orientierten, „Law-and-Order“-Kriminalpolitik, wonach sichtbares und drastisches Handeln gegen Kriminalität gefordert wird.506 4. Kritik an der normativen Begründung für Shame Sanctions Die vorwiegend von Kahan vorgebrachte straftheoretische Begründung für Shame Sanctions ist aus mehreren Gründen problematisch. Im Folgenden soll auf 502 Kubiciel ist der Ansicht, dass Shame Sanctions der Anforderung des „Just-Deserts“Ansatzes an die Schuldangemessenheit der Strafe entsprechen können, sofern sie als Ersatz für eine Freiheitsstrafe verhängt werden. Kubiciel, Shame Sanctions – Ehrenstrafen im Lichte der Straftheorie, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 118 (2006), S. 44, 50. 503 Siehe dazu Teil 1, A. IV. 504 Ein Beispiel für eine solche Guilt Sanction ist der Fall der Frau, die von Richter Cicconetti dazu verurteilt wurde, im Wald zu schlafen, weil sie junge Katzen ausgesetzt hatte. Siehe ABC News, Woman Ordered to Spend Night in Woods for Abandoning Kittens 23. 11. 2005, https://abcnews.go.com/GMA/LegalCenter/story?id=1322751 [zugegriffen am 9. 6. 2022]. 505 So vor allem Kahan Kahan, What Do Alternative Sanctions Mean?, University of Chicago Law Review 63 (1996), S. 591, 635. 506 Siehe dazu Teil 1, C. III.
B. Shame Sanctions im Lichte der Straftheorie
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diese Gründe eingegangen werden. Zunächst lässt sich sagen, dass die straftheoretische Begründung für Shame Sanctions aufgrund ihrer Einordnung als utilitaristische Strafbegründung der gleichen Kritik ausgesetzt ist wie alle utilitaristischen Strafbegründungen: Das Individuum, sei es der Delinquent oder eine tatgeneigte Person aus der Bevölkerung, spielt im Rahmen einer utilitaristischen Strafbegründung keine Rolle.507 Grund dafür ist, dass es im Utilitarismus nicht um Personen, sondern um Sachverhalte geht.508 Der Akteur an sich ist damit irrelevant.509 Dazu kommt, dass „unmoralische Wünsche“510 in einer solchen Theorie gleiches Gewicht wie alle anderen haben.511 Tobias Zürcher weist darauf hin, dass aus utilitaristischer Sicht auch ein sadistischer Wunsch erfüllt werden muss, „wenn er nicht vom hinreichenden Leiden des Opfers des Sadisten überwogen wird“.512 Das bedeutet jedoch für das Strafsystem, dass mit utilitaristischen Erwägungen grundsätzlich jede Art der Bestrafung gerechtfertigt werden kann. Zürcher weist außerdem zu Recht darauf hin, dass der Utilitarismus keine unverhandelbaren Positionen kennt.513 Dieses Problem spitzt sich in der konkreten Ausgestaltung der utilitaristischen Theorie als Begründung für die Shame Sanctions noch einmal zu. Grund dafür ist, dass in dieser Begründung expressive Elemente zum Zweck der Abschreckung eingesetzt werden: Die Missbilligung, die „moralische Verurteilung“514, soll die Allgemeinheit vor der Begehung von Straftaten abschrecken. Abschreckung ist jedoch ein vermutlich niemals zu erreichendes Ziel, weswegen auch das Maß an Missbilligung, die der 507
Das ergibt sich bereits aus der Begründung selbst: Ziel des Utilitarismus ist das größtmögliche Glück für die größtmögliche Anzahl Menschen. Siehe dazu Teil 3, A. III. 1. a). 508 Zürcher, Legitimation von Strafe: die expressiv-kommunikative Straftheorie zur moralischen Rechtfertigung von Strafe (2014), S. 49. 509 Zürcher, Legitimation von Strafe: die expressiv-kommunikative Straftheorie zur moralischen Rechtfertigung von Strafe (2014), S. 49 f.; zur Untermauerung dieser Aussage führt Zürcher folgendes Gedankenexperiment von Bernard Williams aus dessen „Kritik des Utilitarismus“ an: „Jim wird von einem skrupellosen Offizier vor die Wahl gestellt, aus einer Gruppe von zwanzig mutmaßlichen Aufständischen einen zu erschießen oder nichts zu tun. Tut er es, so werden die anderen freigelassen; weigert er sich aber, so werden alle, inklusive er selbst, hingerichtet. […] Dieser Fall zeigt […] einen Mangel der Theorie selbst. […] Der Utilitarismus kann die Schwere der Situation, die darin besteht, dass Jim selbst schießen muss, nicht erfassen. Für Jim macht es aber einen enormen Unterschied, ob die 19 Menschen durch seine Handlung überleben oder durch die eines anderen.“ Williams, Kritik des Utilitarismus (1979), S. 61. 510 Zürcher, Legitimation von Strafe: die expressiv-kommunikative Straftheorie zur moralischen Rechtfertigung von Strafe (2014), S. 51; wobei der Begriff der Moralität hier schon nicht passend ist, da Moralität keine Kategorie innerhalb des Utilitarismus darstellt. 511 Zürcher, Legitimation von Strafe: die expressiv-kommunikative Straftheorie zur moralischen Rechtfertigung von Strafe (2014), S. 50 f. 512 Zürcher, Legitimation von Strafe: die expressiv-kommunikative Straftheorie zur moralischen Rechtfertigung von Strafe (2014), S. 51. 513 Zürcher, Legitimation von Strafe: die expressiv-kommunikative Straftheorie zur moralischen Rechtfertigung von Strafe (2014), S. 51. 514 Kahan, What Do Alternative Sanctions Mean?, University of Chicago Law Review 63 (1996), S. 591, 635.
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Teil 3: Vorschlag für einen dritten Diskussionsstrang
Abschreckung dienen soll, gar nicht drastisch genug ausfallen kann. Die Abschreckung im Rahmen der Shame Sanctions soll aber ja gerade nicht in der abstrakten, schriftlichen Androhung von Strafe liegen, sondern vielmehr in der Vollstreckung einer solchen Shame Sanction mit einem realen Delinquenten. Es ist also an dieser Stelle vor allem die spezifische Verbindung zwischen konkretem expressivem Element und dem Strafzweck der Abschreckung, die die straftheoretische Begründung für Shame Sanctions inakzeptabel macht. So betrachtet, ist der Delinquent, an dem die Shame Sanction vollstreckt wird, ein ,blinder Fleck‘ der Begründung, die Kahan präsentiert. Mittels einer Strafform eine bestimmte Botschaft an die Allgemeinheit zu vermitteln, sodass diese Abstand von der Begehung von Straftaten nimmt, ist angesichts des schwerwiegenden Eingriffs in die Rechte des bestraften Individuums durch den Vollzug der Shame Sanction problematisch und bedarf einer umfassenden Begründung dem Täter gegenüber, die die Befürworter der Shame Sanctions nicht in ausreichendem Maße liefern. Darüber hinaus ist zu sagen, dass die mit Shame Sanctions bezweckten gesellschaftlichen Effekte bislang nicht einmal empirisch belegt sind.
II. Bewertung der Shame Sanctions aus Sicht anderer expressiver Straftheorien Nachdem sich gezeigt hat, dass die spezifisch für Shame Sanctions angeführte normative Begründung nicht überzeugend ist, soll die Tragfähigkeit der Shame Sanctions nach anderen „expressiven“515 Straftheorien überprüft werden, mit besonderem Augenmerk auf die Begründung dem Täter gegenüber. Auf diesem Wege soll der intuitiven Ablehnung der Shame Sanctions weiter auf den Grund gegangen werden. Dabei soll der Fokus aufgrund des expressiven Charakters der Shame Sanction auf Ansätzen liegen, die ebenfalls als expressiv eingeordnet werden. Die expressiven Ansätze werden dabei, wie bereits in Teil 2, in utilitaristisch-expressive und retributiv-expressive Ansätze unterteilt. 1. Bewertung der Shame Sanctions aus Sicht utilitaristisch-expressiver Ansätze a) Shame Sanctions zur Abschreckung Für Shame Sanctions wird, wie sich gezeigt hat, explizit eine utilitaristisch-expressive Begründung angeführt.516 Danach sollen die Shame Sanctions insbesondere der Abschreckung der Allgemeinheit vor der Begehung von Straftaten dienen. Dieser utiltitaristisch-expressive Ansatz wurde jedoch eigens für die Rechtfertigung der 515 516
Zum Begriff der expressiven Straftheorien: Teil 3, A. III. 5. Teil 3, B. I. 1., 2.
B. Shame Sanctions im Lichte der Straftheorie
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Shame Sanctions ,erfunden‘, weswegen es keine Überraschung ist, dass Shame Sanctions mit diesem Ansatz vereinbar sind.517 Diese theoretische Begründung ist selbst jedoch, wie bereits aufgezeigt wurde, aus unterschiedlichen Gründen problematisch und deshalb abzulehnen.518 b) Shame Sanctions zur Wiedereingliederung in die Gesellschaft Neben dem von Kahan präsentierten Ansatz des „desintegrativen Shaming“ wird in der Gruppe der utilitaristisch-expressiven Ansätze auch noch die Theorie des „reintegrativen Shaming“ von Braithwaite vertreten.519 Es wäre allein schon aufgrund der Theoriebezeichnung naheliegend, dass Shame Sanctions sich auch mit dieser Theorie rechtfertigen lassen.520 Fraglich ist, welche Anforderungen das reintegrative Shaming nach Braithwaite an eine legitime Strafe stellt. Geht man davon aus, dass eine potentielle rehabilitative Wirkung auf den Delinquenten ausreichend ist, könnten Shame Sanctions mit Braithwaites Theorie zu rechtfertigen sein. Tatsächlich wird den Shame Sanctions vor allem von den Gerichten eine rehabilitierende Wirkung zugesprochen.521 Der Grund dafür wird insbesondere vor dem praktischen gesetzlichen Hintergrund deutlich: Shame Sanctions werden meist als Auflage zur Probation oder zur Supervised Release erteilt. Die Auflagen zur Probation oder zur Supervised Release müssen jedoch zumindest auch der Rehabilitation des verurteilten Täters dienen,522 weshalb sich vor allem Gerichte, die in zweiter Instanz über die Rechtmäßigkeit der Verhängung einer Shame Sanction entschieden haben, mit rehabilitationsorientierten Begründungen zu Shame Sanctions auseinandergesetzt haben. Im Fall United States vs. Gementera, der bereits im ersten und zweiten Teil der Arbeit geschildert wurde, ging es um die Verurteilung eines Mannes zu einer Shame Sanction als Auflage zur Supervised Release.523 Nach Verbüßung seiner Haftstrafe wurde er unter die Supervised Release gestellt; ihm wurde die Auflage erteilt, mit einem Sandwich-Board vor einer Postfiliale zu stehen, auf dem stand: „I stole mail. This is my punishment“.524 Gementera wehrte sich gegen die Schild-Bedingung, unter anderem weil diese gegen den Strafzweck der Rehabilitation verstoße, welcher insbesondere im Rahmen der Probation und der Supervised Release Berücksichti517
Zu diesem Schluss kommt auch Marc Jüngel: „Dass die shame sanctions durch speziell auf diese zugeschnittene theoretische Erwägungen tragbar sind, versteht sich von selbst, zumindest dann, wenn man diese Systeme als in sich geschlossene Denkansätze betrachtet.“ Jüngel, Shame sanctions – Wiedergeburt der Schandstrafe? (2011), S. 75. 518 Teil 3, A. III. 5. c) bb). 519 Braithwaite, Crime, shame and reintegration (1989). 520 Jüngel, Shame sanctions – Wiedergeburt der Schandstrafe? (2011), S. 76. 521 Beispielhaft dazu United States v. Gementera – 379 F.3d 596, 602 (9th Cir. 2004). 522 Siehe 18 U.S. Code § 3563 und § 3583, die auf 18 U.S. Code § 3553 (2) (d) verweisen. 523 United States v. Gementera – 379 F.3d 596 (9th Cir. 2004). 524 United States v. Gementera – 379 F.3d 596 (9th Cir. 2004).
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Teil 3: Vorschlag für einen dritten Diskussionsstrang
gung finde müsse.525 Dem Rechtsmittelgericht zufolge verstoße die Bedingung jedoch nicht gegen den Strafzweck der Rehabilitation. Vielmehr werde dieser Strafzweck sogar explizit gefördert, da Gementera erst durch die Shame Sanction das Unrecht seiner Tat vor Augen geführt werde.526 Schließlich sei er für sein junges Alter bereits mehrfach strafrechtlich in Erscheinung getreten, was gegen jegliches Unrechtsbewusstsein spreche.527 Außerdem werde Gementera durch die Shame Sanction, die vor einer Postfiliale vollzogen werde, deutlich gemacht, dass seine Tat nicht opferlos sei, sondern echte Menschen getroffen habe.528 Der Strafzweck der Rehabilitation werde dem Gericht zufolge in diesem Fall insbesondere durch die Kombination mit anderen Maßnahmen und Bedingungen wie dem Schreiben von Entschuldigungsbriefen an die Opfer und Vorträgen an Schulen gefördert.529 Das Gericht betonte, dass sein Urteil nicht bedeute, dass Shame Sanctions grundsätzlich und immer den Anforderungen der Rehabilitation genügten; ob dies der Fall sei, sei immer anhand des Einzelfalls zu überprüfen.530 In anderen Urteilen wurde die Rehabilitation als Strafzweck für Shame Sanctions entweder bejaht, jedoch mit Argumenten für Abschreckung statt Rehabilitation531 oder ganz abgelehnt532. In der Literatur wird die Rehabilitation sehr vereinzelt als Argument für Shame Sanctions angeführt. Bei genauerer Betrachtung ist jedoch meist die Rede von Abschreckung als Argument für die Shame Sanctions statt der Rehabilitation. Massaro etwa diskutiert im Rahmen der Rehabilitation die Überlegung, dass Shame Sanctions dem Delinquenten einen Schrecken einjagen können („scared straight“533), sodass dieser von der Begehung weiterer Taten Abstand nimmt. Genau genommen handelt es sich dabei jedoch um ein abschreckungstheoretisches Argument, obwohl in diesen Fällen die Strafzwecke der Rehabilitation und der Abschreckung sicherlich nicht leicht voneinander zu unterscheiden sind. Ob ein Täter nun aufgrund einer erfolgreichen Rehabilitation oder aufgrund von Abschreckung keine Straftaten mehr begeht, kann wohl am ehesten anhand der folgenden Unterscheidung festgestellt 525
United States v. Gementera – 379 F.3d 596 (9th Cir. 2004). United States v. Gementera – 379 F.3d 596 (9th Cir. 2004). 527 United States v. Gementera – 379 F.3d 596 (9th Cir. 2004). 528 United States v. Gementera – 379 F.3d 596 (9th Cir. 2004). 529 United States v. Gementera – 379 F.3d 596 (9th Cir. 2004). 530 United States v. Gementera – 379 F.3d 596 (9th Cir. 2004). 531 Im Fall Goldschmitt v. State, 490 So. 2d 123, 125 (Fla. Dist. Ct. App. 1986) entschied die zweite Instanz, dass die Auflage, einen Aufkleber mit der Aufschrift „DUI“ auf dem Auto anbringen zu müssen, abschreckend und gerade dadurch rehabilitativ sei. 532 Beispielhaft dazu: Im Fall People v. Meyer (1976), 43 Ill. App.3d 109, 356 N.E.2d 1303 hatte ein Gericht einen Mann dazu verurteilt, ein Schild auf seinem Grundstück anzubringen, auf dem steht: „WARNING! A Violent Felon lives here. Enter at your own Risk!“ Die Instanz hob das Urteil auf mit der Begründung, das Schild diene ausschließlich der Demütigung des Verurteilten und nicht dessen Resozialisierung. 533 Obwohl sie dies im Rahmen der Rehabilitation thematisiert, passt dieser Aspekt besser zur Abschreckung. Massaro, Shame, Culture, and American Criminal Law, Michigan Law Review 89 (1991), S. 1880, 1895. 526
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werden: im Sinne der Rehabilitation nimmt der Bestrafte aus Überzeugung und aufgrund gewonnener Einsicht Abstand von weiteren Straftaten, bei der Abschreckung verzichtet er aus Angst vor erneuter Strafe auf die Begehung weiterer Straftaten.534 Sollte also der Täter aufgrund der Shame Sanction erst das Ausmaß des von ihm begangenen Unrechts erkennen und aufgrund einer Veränderung seiner Einstellungen keine weiteren Straftaten mehr begehen, könnte durchaus von einem rehabilitativen Effekt der Shame Sanctions gesprochen werden. Massaro führt außerdem an, dass aus Sicht eines überzeugten Rehabilitationstheoretikers argumentiert werden könne, dass zumindest nicht bewiesen sei, dass Shame Sanctions nicht rehabilitativ wirken.535 Dass ein rehabilitativer Effekt von Shame Sanctions bislang nicht widerlegt ist, ist jedoch noch lange kein Argument für eine rehabilitative Wirkung. Dass Shame Sanctions in besonderem Maße mit der Förderung der Rehabilitation des Straftäters begründet werden (können), kann nicht behauptet werden. Dazu kommt, dass aus Sicht von Braithwaites Theorie nicht lediglich eine mögliche rehabilitierende Wirkung der Shame Sanctions ausreicht, sondern dass er nach dem Akt des Shaming ein gesondertes reintegrierendes Ritual fordert.536 Bei den in dieser Arbeit diskutierten Shame Sanctions bleibt es jedoch beim Akt des Shaming, ein gesondertes darauffolgendes reintegrierendes Ritual gibt es nicht. Darüber hinaus führt Braithwaite selbst an, dass zwischen den reintegrativen und desintegrativen Shame Sanctions wesentliche Unterschiede bestehen: Während im Rahmen des reintegrativen Shamings lediglich die Tat des Täters als kriminell angeprangert werde, werde im Rahmen der desintegrativen Shame Sanction der Täter selbst als kriminell angeprangert.537 Damit ist die Unterscheidung zwischen den in dieser Arbeit diskutierten desintegrativen Shame Sanctions und den reintegrativen Shame Sanctions wesentlich. Aus Braithwaites Sicht sind die in dieser Arbeit behandelten Shame Sanctions aufgrund ihres mangelnden reintegrativen Elements daher abzulehnen. Allerdings liegt Braithwaites Theorie die Vorstellung einer kommunitaristischen Gemeinschaft zu Grunde, wie bereits in der Darstellung seiner Theorie aufgezeigt wurde.538 Eine Gemeinschaft, die auf moralische Verbesserung des Einzelnen angelegt ist, unterscheidet sich jedoch ganz wesentlich vom Staat.539 Braithwaites Theorie kann damit keine überzeugende Rechtfertigung für staatliche Strafe liefern, 534
Brooks, Punishment (2021), S. 69. „[…] a confirmed rehabilitationist could argue that experience proves only that our past methods do not reform offenders, not that rehabilitation cannot ever work. Absent proof to the contrary, she might add, shaming sanctions can be justified under the rehabilitation theory.“ Massaro, Shame, Culture, and American Criminal Law, Michigan Law Review 89 (1991), S. 1880, 1895. 536 Braithwaite, Crime, shame and reintegration (1989), S. 55. 537 Braithwaite, Crime, shame and reintegration (1989), S. 55; Münster, Das Konzept des reintegrative shaming von John Braithwaite (2006), S. 138. 538 Braithwaite, Crime, shame and reintegration (1989), S. 84 ff. 539 Hörnle, Straftheorien (2017), S. 36. 535
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sofern ist die Kritik an den Shame Sanctions aus der Sicht von Braithwaites Theorie nicht überzeugend. 2. Bewertung der Shame Sanctions aus Sicht retributiv-expressiver Ansätze a) Shame Sanctions zur Einsicht und Buße Im Vergleich zu Kahans Begründung für Shame Sanctions präsentiert Antony Duff eine anspruchsvolle expressive Strafbegründung.540 In seiner Straftheorie spricht sich Duff sogar für auf den Delinquenten maßgeschneiderte Strafen aus, damit könnten die Shame Sanctions aus seiner Sicht sogar eine besonders geeignete Form der Strafe sein.541 Aus Duffs Sicht dient der in der Strafe enthaltene Tadel dazu, dem Täter zur Einsicht zu verhelfen, dass er Unrecht getan hat und ihn damit auch dazu zu bringen, seine Tat zu bereuen.542 Durch diese Einsicht und Reue des Täters soll sich der Täter mit seiner Gemeinschaft versöhnen können.543 Auf den ersten Blick erscheint es nicht völlig abwegig, dass Shame Sanctions mit Duffs Theorie gerechtfertigt werden können. Schließlich geben die Shame Sanctions dem Delinquenten die Gelegenheit, sich, wie der Name der Strafform schon sagt, zu schämen und damit Einsicht in das von ihm begangene Unrecht zu gewinnen und nach außen zu zeigen. Allerdings sieht die Praxis der Shame Sanctions anders aus: Diese zielen nicht darauf ab, einen Einfluss auf die innere Einstellung des Täters auszuüben, sondern vielmehr darauf, eine Wirkung bei den Betrachtern zu erzielen.544 Damit ist es vom Zufall abhängig, ob die Shame Sanction einen Einfluss auf die Überzeugung des Täters ausübt. Damit würde jedoch das in Duffs Theorie formulierte Ziel, nämlich die Einsicht des Täters in das von ihm begangene Unrecht und die darauffolgende Versöhnung des Täters mit seiner Gemeinschaft, völlig verfehlt. Somit lassen sich Shame Sanctions auch mit Duffs Straftheorie nicht rechtfertigen. Jedoch weist Duffs, wie auch Braithwaites Theorie, eine erhebliche Schwäche auf: Auch seiner Strafrechtfertigung liegt eine kommunitaristische Wertegemeinschaft zu Grunde.545 Diese hat jedoch nichts mit der Gesellschaft im Staat ge540 Duff, Trials and punishments (1986), S. 261 ff. Als „anspruchsvollere Variante einer täter- und kommunikationsorientierten Straftheorie“ wird Duffs Straftheorie von Hörnle bezeichnet. Hörnle, Straftheorien (2017), S. 35. 541 Duff, Trials and punishments (1986), S. 245, Duff spricht sich allerdings für maßgeschneiderte Strafe im Sinne von Guilt Sanctions aus, also Strafen, die die Tat spiegeln. Beispielsweise führte er als Beispiel für eine solche maßgeschneiderte Strafe den Fall an, bei dem ein Einbrecher dazu verurteilt wurde, dem Einbruch durch die Einbruchsopfer in seine eigene Wohnung zu dulden. Garvey, Can Shaming Punishments Educate?, University of Chicago Law Review 65 (1998), S. 733, 784. 542 Sachs, Moral, Tadel, Buße: zur Straftheorie von Antony Duff (2015), S. 55. 543 Sachs, Moral, Tadel, Buße: zur Straftheorie von Antony Duff (2015), S. 55. 544 Siehe dazu Teil 2, B. II. 3. 545 Sachs, Moral, Tadel, Buße: zur Straftheorie von Antony Duff (2015), S. 80 ff.
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meinsam.546 Duffs Anforderung an eine legitime Strafe, dem Delinquenten zur Einsicht und zur Reue zu verhelfen, um ihn mit der Gemeinschaft zu versöhnen, ist damit keine legitime Anforderung an eine staatliche Strafe. Mittels der Bestrafung auf die Überzeugung des Delinquenten einzuwirken, stellt darüber hinaus einen in einem liberalen Staat unzulässigen und paternalistischen Eingriff in die Innerlichkeit des Delinquenten dar.547 Aus Duffs Sicht sind Shame Sanctions zwar abzulehnen, jedoch kann Duffs Theorie nicht als Rechtfertigung für Strafe überzeugen. b) Shame Sanctions als Tadel Im Gegensatz zu Duff präsentiert Andrew von Hirsch eine liberale personenorientierte expressive Straftheorie. Er unterteilt die Frage nach der Legitimation der Strafe in die Frage nach der Legitimation des Tadels einerseits und nach der Legitimation der Übelszufügung andererseits.548 Die Begründung für den Tadel ist die Eigenschaft des Delinquenten als „moral agent“.549 Als „moral agent“ wird bezeichnet, wer zu einem moralischen Urteil fähig ist und auch danach handeln kann.550 Den Täter als „moral agent“ zu behandeln, erfordert auch, ihn nicht mit einer ,neutralen‘ Sanktion zu belegen, sondern mit einer, die Tadel zum Ausdruck bringt.551 Umgekehrt setzt dies für eine legitime Strafe aber auch voraus, dass der Delinquent als „moral agent“ behandelt wird.552 Mit der Voraussetzung, den Täter als „moral agent“ zu behandeln, begegnet von Hirsch auch der Kritik an den rein utilitaristischen Straftheorien: diese schafften es nämlich nicht, ethische Grenzen für die Strafe zu bestimmen.553 Zwar könne auch das Schuldprinzip die Reichweite der utilitaristischen Strafbegründung einschränken, da danach zumindest die strafrechtliche Verantwortlichkeit auf schuldhaftes Verhalten beschränkt wird, dies helfe jedoch im Rahmen der Strafzumessung nicht mehr weiter, wo es dann um die Bestimmung der
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Hörnle, Straftheorien (2017), S. 61. „However, what is at issue is whether his view of legal punishment should serve even as an ideal: whether the State (even under the best of circumstances) should strive toward an abbot-like ole of seeking penitence from erring citizens.“ A. v. Hirsch, Censure and sanctions (1995), S. 75, 77. 548 A. v. Hirsch, Censure and sanctions (1995), S. 9 ff. 549 A. v. Hirsch, Warum soll die Strafsanktion existieren? (2011), in: Strafe – Warum?, S. 43, 51. 550 A. v. Hirsch, Warum soll die Strafsanktion existieren? (2011), in: Strafe – Warum?, S. 43, 51. 551 A. v. Hirsch, Warum soll die Strafsanktion existieren? (2011), in: Strafe – Warum?, S. 43, 50. 552 A. v. Hirsch, Censure and sanctions (1995), S. 14. 553 A. v. Hirsch, Warum soll die Strafsanktion existieren? (2011), in: Strafe – Warum?, S. 43, 44. 547
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Art und der Höhe der Strafe geht.554 Die (Androhung der) Übelszufügung begründet von Hirsch zwar ebenfalls utilitaristisch, er stellt jedoch vor die eigentliche Begründung der Übelszufügung die zwingende Voraussetzung, dass der Delinquent als „moral agent“ behandelt werden muss.555 Dabei umfasst die Behandlung des Delinquenten als „moral agent“ mehr als einen bloß negativen Schutz des Delinquenten: dieser soll in positiver Hinsicht als Person behandelt und gerade deswegen für sein Verhalten zur Verantwortung gezogen werden.556 Gleichzeitig verlangt von Hirsch, anders als Duff, keine Einwirkung auf die Überzeugung des Delinquenten.557 Von Hirschs „moral agent“-Anforderung an eine legitime Strafe spricht damit grundsätzlich gegen Abschreckung als Strafbegründung, da in diesem Rahmen der (potentielle) Delinquent als zweckrationales Wesen verstanden wird, das nur Abstand von der Straftat nimmt, weil die Kosten für eine Straftatbegehung höher als der Nutzen daraus sind.558 Deswegen scheitern auch die primär mit dem Zweck der Abschreckung begründeten Shame Sanctions an der Anforderung, den Delinquenten als „moral agent“ zu behandeln.559 Das expressive Element der Shame Sanction stellt von Hirsch zufolge keinen Tadel dar, sondern vielmehr Brandmarkung.560 Denn im Rahmen der Shame Sanction geht es nicht einmal primär um den Delinquenten. Es geht vielmehr um die Kommunikation mit der Allgemeinheit. Die „Missbilligung“, der „Tadel“, erfolgt, wie bereits aufgezeigt, aus Gründen der Abschreckung. Während der Anforderung des Tadels bei von Hirsch ein Eigenwert zukommt, der auf den Grundlagen zwischenmenschlichen Umgangs basiert, ist der kommunikative Aspekt bei den Shame Sanctions lediglich Mittel zum Zweck. Dabei hilft auch nicht, dass von Hirschs Theorie ebenfalls ein utilitaristisches Element enthält, weshalb sie auch als Mischtheorie bezeichnet wird. Denn das utilitaristische Element in von Hirschs Theorie dient lediglich als „Klugheitsgrund“561, als zusätzlicher Anreiz für normtreues Verhalten, dort, wo die Ansprechbarkeit des Individuums als „moral agent“ endet.562 Die Behandlung des Delinquenten als „moral agent“ ist der utili554 Damit begegnet von Hirsch dem Einwand von H. L. A. Hart, der die strafrechtliche Verantwortung des Täters auf schuldhaftes Handeln begrenzen will. A. v. Hirsch, Warum soll die Strafsanktion existieren? (2011), in: Strafe – Warum?, S. 43, 44 f. 555 A. v. Hirsch, Censure and sanctions (1995), S. 14. 556 A. v. Hirsch, Censure and sanctions (1995), S. 11. 557 A. v. Hirsch, Censure and sanctions (1995), S. 75, 77. 558 A. v. Hirsch, Censure and sanctions (1995), S. 14. 559 A. A. Kubiciel, Shame Sanctions – Ehrenstrafen im Lichte der Straftheorie, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 118 (2006), S. 44, 50 f. Kubiciel sieht in den Shame Sanctions die Eigenschaft des Delinquenten als „moral agent“ sogar bestätigt, da der Delinquent die Möglichkeit habe, die Shame Sanction „entweder zur inneren Umkehr zu nutzen oder aber nur passiv zu erdulden[.]“ 560 A. v. Hirsch, Warum soll die Strafsanktion existieren? (2011), in: Strafe – Warum?, S. 43, 59 f. Fn. 35. 561 A. v. Hirsch, Censure and sanctions (1995), S. 13. 562 A. v. Hirsch, Censure and sanctions (1995), S. 13.
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taristischen Rechtfertigung (der Androhung) der Übelszufügung jedoch übergeordnet. Die Anforderungen, die von Hirsch an eine legitime Strafe formuliert, werden von der Shame Sanction somit nicht erfüllt. Dabei bietet von Hirschs Tadel-Theorie jedoch kein spezifisches Gegenargument gegen Shame Sanctions als Strafform – die Anforderung, (potentielle) Delinquenten als „moral agents“ zu behandeln, richtet sich ganz allgemein gegen eine reine Abschreckungstheorie. c) Shame Sanction zur Normbestätigung Sowohl bei Duffs als auch bei von Hirschs Straftheorie handelt es sich um sogenannte „personenorientierte“563 Straftheorien.564 Neben personenorientierten expressiven Theorien werden, wie bereits aufgezeigt, normorientierte expressive Straftheorien vertreten.565 Während in der angloamerikanischen Diskussion vor allem normorientierte Ansätze vertreten werden, die die Aufgabe der Strafe darin sehen, „moralische Wertungen und Verhaltensanforderungen“566 zu bekräftigen, werden in der deutschen Diskussion normorientierte expressive Straftheorien vertreten, die die „Bestätigung von rechtlichen Verhaltensnormen“567 zum Zweck haben. Da, wie bereits im Rahmen der Auseinandersetzung mit Duffs Straftheorie deutlich geworden ist,568 die Aufgabe des Staates nicht darin liegen kann, moralischen Einfluss auf die Bürger auszuüben, sind moralzentrierte normorientierte expressive Theorien als Rechtfertigung von Strafe abzulehnen.569 Im Folgenden soll daher auf die Vereinbarkeit der Shame Sanctions mit einer Theorie aus der Gruppe der normorientierten expressiven Straftheorien eingegangen werden, die die Bestätigung rechtlicher Verhaltensnormen zum Zweck hat. Eine solche (rechts-)normorientierte expressive Straftheorie vertritt Michael Pawlik.570 Diese wurde im Rahmen dieser Arbeit noch nicht ausgeführt, weil sie innerhalb der amerikanischen Diskussion (zumindest noch) keine Rolle spielt. Im Folgenden soll die Theorie daher zunächst einmal vorgestellt werden. Michael Pawlik begründet die Strafe aus einer Verletzung der Mitwirkungspflicht des Bür563
Hörnle, Straftheorien (2017), S. 34. Hörnle, Straftheorien (2017), S. 34 ff. 565 Hörnle, Straftheorien (2017), S. 31. 566 Hörnle, Straftheorien (2017), S. 31. 567 Hörnle, Straftheorien (2017), S. 32. 568 Siehe dazu Teil 3, A. III. 5. c) aa) (3) (b). 569 Hörnle, Straftheorien (2017), S. 32, die die „Gleichsetzung von moralischen und rechtlichen Anforderungen“ als „problematisch“ bezeichnet. Bastelberger, Die Legitimität des Strafrechts und der moralische Staat: utilitaristische und retributivistische Strafrechtsbegründung und die rechtliche Verfassung der Freiheit (2006), S. 118 ff. 570 Pawlik selbst bezeichnet seine Theorie als „Theorie des Republikanismus“, siehe Pawlik, Normbestätigung und Identitätsbalance (2017), S. 43. 564
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gers571 heraus. Pawlik zufolge ist Strafe eine angemessene Reaktion auf ein „Unrecht des Bürgers“.572 Das „Unrecht des Bürgers“ ist zu unterscheiden vom „Unrecht der Person“573 und vom „Unrecht des Subjekts“574. Das spezifische „Unrecht des Bürgers“ besteht in der Verletzung der Loyalitäts- bzw. Mitwirkungspflicht zur Aufrechterhaltung der „Daseinsordnung der Freiheit“575, womit die Rechtsordnung gemeint ist.576 Von fundamentaler Bedeutung für die Freiheit der einzelnen Bürger sei die „Aufrechterhaltung eines Zustandes allgemein gesicherter Rechtlichkeit“577.578 Zu diesem Zweck sei die Mitwirkung und Loyalität des einzelnen Bürgers als Mitträger dieser „Daseinsordnung der Freiheit“ unverzichtbar.579 Die Freiheit und die Loyalitätspflicht sind untrennbar miteinander verbunden.580 Verletzt der Bürger als Mitträger des Staates nun diese Loyalitätspflicht, indem er z. B. eine Straftat begeht, wandelt sich die Primärpflicht der Loyalität bzw. der Mitwirkung an der Aufrechterhaltung der Daseinsordnung der Freiheit zur Sekundärpflicht der Duldung der Strafe.581 „Auf Kosten des Täters bestätigt sie [die Strafe] die Unauflöslichkeit des Zusammenhanges von Freiheitsgenuß und Loyalitätspflichterfüllung. Dadurch erbringt die Strafe einen unverzichtbaren Beitrag zur Wiederherstellung der vom Täter angegriffenen Rechtsordnung als einer Daseinsordnung der Freiheit“.582
Diese Bestätigung erfolgt dadurch, dass der Delinquent „mit der Entziehung eines Stücks seiner eigenen Freiheit belegt wird.“583 Die Konsequenz der Verbindung der Loyalitätspflicht des Bürgers und der zu verhängenden Strafe führt auch dazu, dass 571 Bürger nach Pawliks Definition kann nur sein, wer „mitzuständig für die Bestandssicherung einer bestimmten Rechtsordnung [ist]“, was voraussetzt, „daß diese Rechtsordnung auch ihm reale Freiheit vermittelt.“ Siehe Pawlik, Das Unrecht des Bürgers (2013), S. 122; zur Unterscheidung von Bürgern und Externen und den Folgen für die Legitimität der Strafe, siehe Pawlik, Das Unrecht des Bürgers (2013), S. 120 ff. 572 Pawlik, Person, Subjekt, Bürger (2004), S. 88. 573 Ein „[…] Unrecht der Person begeht […] derjenige, der das rechtlich geschützte Handlungspotential eines anderen in einer ihm objekiv zurechenbaren Weise schmälert.“ Pawlik, Person, Subjekt, Bürger (2004), S. 75. 574 Das „Unrecht des Subjekts“ ist keine Ergänzung des Unrechts der Person, sondern bezieht vielmehr die subjektive Komponente ein. Für die Begehung eines Unrechts des Subjekts „muß das Subjekt konstitutionell dazu in der Lage sein, ein normatives Urteil […] abzugeben. Kinder und Geisteskranke vermögen dies nicht.“ Pawlik, Person, Subjekt, Bürger (2004), S. 79. 575 Pawlik, Person, Subjekt, Bürger (2004), S. 76. 576 Pawlik, Person, Subjekt, Bürger (2004), S. 48. 577 Pawlik, Person, Subjekt, Bürger (2004), S. 83. 578 Pawlik, Person, Subjekt, Bürger (2004), S. 83. 579 Pawlik, Person, Subjekt, Bürger (2004), S. 83 f. 580 Pawlik, Person, Subjekt, Bürger (2004), S. 90. 581 Pawlik, Person, Subjekt, Bürger (2004), S. 90 f. 582 Pawlik, Person, Subjekt, Bürger (2004), S. 76. 583 Pawlik, Person, Subjekt, Bürger (2004), S. 91.
B. Shame Sanctions im Lichte der Straftheorie
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die Strafhöhe sich nach dem Ausmaß der Illoyalität richten muss.584 Im Gegensatz zur bereits diskutierten benefit-and-burden-Theorie585 dient Pawlik zufolge die Strafe nämlich gerade nicht dazu, einen etwaigen Vorteil auszugleichen, damit das Verhältnis zwischen Gütern und Lasten fair verteilt ist, sondern vielmehr dazu, das „Recht als Recht“586 durch die Bestätigung der Unauflöslichkeit der Verbindung zwischen Freiheitsgenuss und Loyalitätspflicht wiederherzustellen.587 Der Bürger ist also primär verantwortlich, am Projekt der Freiheit mitzuwirken, indem er keine Straftaten begeht; verletzt er diese Pflicht, ist er sekundär zur Duldung der Strafe verpflichtet, die bestätigen soll, dass Freiheitsgenuss und Mitwirkung dazu unauflöslich miteinander verbunden sind.588 Könnte man damit sagen, dass Shame Sanctions aus Sicht von Pawliks Straftheorie eine besonders gut geeignete Form der Bestätigung dieses Zusammenhangs sein könnten, insbesondere aufgrund ihrer drastischen, öffentlichen Erscheinungsform? Denn was könnte den unauflöslichen Zusammenhang zwischen Mitwirkungspflicht und Freiheitsgenuss deutlicher bestätigen als die öffentliche Missbilligung des Normbrechers? Pawlik selbst hat keine Stellung zur Vereinbarkeit der Shame Sanctions mit seiner eigenen Straftheorie bezogen.589 Michael Kubiciel, der eine Pawliks Theorie sehr ähnliche Straftheorie vertritt,590 hat sich in seinem Beitrag „Shame Sanctions – Ehrenstrafen im Lichte der Straftheorie“591 ebenfalls mit der Frage nach der Legitimität von Shame Sanctions auseinandergesetzt. Er hält diese für unvereinbar mit Pawliks Straftheorie.592 Aus seiner Sicht sei der entscheidende Kritikpunkt an den Shame Sanctions die Beteiligung der Öffentlichkeit an der Bestrafung des Delinquenten.593 Diese sei sowohl aus Perspektive des Delinquenten als auch der Perspektive der Rechtsgemeinschaft höchstproblematisch: Aus der Perspektive des Delinquenten sei es inakzeptabel, dass er „der Reaktion irgendwelcher 584
Pawlik, Person, Subjekt, Bürger (2004), S. 91. Teil 3, A. III. 2. 586 Pawlik, Person, Subjekt, Bürger (2004), S. 90 f. 587 Pawlik, Person, Subjekt, Bürger (2004), S. 90 f. 588 Pawlik, Person, Subjekt, Bürger (2004), S. 90 f. 589 Zu seiner allgemeinen Stellungnahme zu Shame Sanctions: Pawlik, Strafrecht: Seht, dieses Schwein!, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. 11. 2004. 590 Bruckmann, Sinn und Unsinn gegenwärtiger Vergeltungstheorien – überholt, hilfreich oder notwendig zur Legitimation staatlicher Strafe?, KriPoZ 2019, S. 105, 115. 591 Kubiciel, Shame Sanctions – Ehrenstrafen im Lichte der Straftheorie, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 118 (2006), S. 44. 592 Kubiciel, Shame Sanctions – Ehrenstrafen im Lichte der Straftheorie, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 118 (2006), S. 44, 74 Kubiciel erwähnt nicht explizit, dass er sich mit Pawliks Straftheorie auseinandersetzt bzw. identifiziert, indem er Begriffe wie „Mitträger des Staates“, „Duldungspflicht“ verwendet, wird jedoch deutlich, worauf er sich bezieht. 593 Kubiciel, Shame Sanctions – Ehrenstrafen im Lichte der Straftheorie, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 118 (2006), S. 44, 74. 585
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Personen ausgesetzt werde[…]“594 und nicht „der strafenden Macht des Staates, dessen Mitträger er ist.“595 Aus Perspektive der Rechtsgemeinschaft sei die Shame Sanction ebenfalls inakzeptabel, stehe ihr allein doch der Strafanspruch zu und nicht einzelnen Bürgern aus dieser Rechtsgemeinschaft mit ihren „individuellen Dispositionen“.596 Das daraus resultierende partielle Auseinanderfallen von Strafanspruch und Strafgewalt sei inakzeptabel.597 Kubiciels Schlussfolgerung leidet jedoch, ebenso wie Harels und Nettesheims bereits analysierte Kritik daran, dass sie von einer unpräzise formulierten Prämisse ausgeht. Der Strafinhalt der Shame Sanction ist, wie bereits in Teil 2 der Arbeit aufgezeigt, ihre Wirkung.598 Die Mitbürger des Delinquenten sind also ,lediglich‘ daran beteiligt, ,was wehtut‘ – an der Stigmatisierung des Bürgers im Nachgang an die Shame Sanction.599 Die Strafwirkung kann jedoch nicht Inhalt bzw. Gegenstand des Strafanspruchs sein.600 Damit kann auch kein Auseinanderfallen von Strafanspruch und Strafgewalt vorliegen, wenn der Inhalt des Strafanspruchs die Wirkung gar nicht umfasst.601 Der entscheidende Kritikpunkt gegen Shame Sanctions ist also entgegen Kubiciels Annahme nicht, dass „die Öffentlichkeit zum Vollstrecker der Strafe“602 gemacht wird. Die Kritik an Kubiciels Schlussfolgerung bedeutet jedoch noch nicht automatisch, dass die Shame Sanctions und die diesen innewohnende Identität zwischen Strafinhalt und Strafwirkung unproblematisch sind; sie bedeutet lediglich, dass das spezifische Kernproblem der Shame Sanction nicht im Auseinanderfallen zwischen Strafanspruch und Strafgewalt liegt. Die Ablehnung von Kubiciels Kritikpunkt bedeutet jedoch umgekehrt auch nicht, dass Shame Sanctions mit Pawliks Theorie vereinbar sind. Denn dessen Theorie bietet noch einen weiteren entscheidenden Prüfstein für die Shame Sanctions. Aus der Verantwortung des Bürgers heraus formuliert Pawlik nämlich gleichzeitig noch eine Beschränkung hinsichtlich der Ausgestaltung der Strafe: diese sei „in Respekt vor dem Bürgerstatus des Täters [auszugestalten]“603, sie müsse eine „chanceneröffnend-, soziale Seite aufweisen“604 und dem Delinquenten 594
Kubiciel, Shame Sanctions – Ehrenstrafen im Lichte der Straftheorie, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 118 (2006), S. 44, 74. 595 Kubiciel, Shame Sanctions – Ehrenstrafen im Lichte der Straftheorie, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 118 (2006), S. 44, 74. 596 Kubiciel, Shame Sanctions – Ehrenstrafen im Lichte der Straftheorie, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 118 (2006), S. 44, 73. 597 Kubiciel, Shame Sanctions – Ehrenstrafen im Lichte der Straftheorie, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 118 (2006), S. 44, 73. 598 Siehe dazu Teil 2, B. II. 2.; Hallich, Strafe (2021), S. 69. 599 Siehe dazu Teil 2, B. II. 2. 600 Siehe dazu Teil 2, B. II. 2. 601 Siehe dazu Teil 2, B. II. 2. 602 Kubiciel, Shame Sanctions – Ehrenstrafen im Lichte der Straftheorie, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 118 (2006), S. 44, 73. 603 Pawlik, Das Unrecht des Bürgers (2013), S. 120. 604 „Gerade weil der Täter Bürger ist und bleibt, hat er einen Anspruch darauf, daß der entsozialisierenden Wirkung der Freiheitsstrafe soweit wie möglich entgegengewirkt und ihm
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„nach Möglichkeit mehr Handlungskompetenz und soziale Teilhabe vermitteln“605, sodass er auch in Zukunft seiner Mitwirkungspflicht nachgehen kann.606 Auch Kubiciel formuliert eine ähnliche Voraussetzung: „Soll Recht als Bürgerprojekt zur Freiheitsgewährleistung durchgesetzt werden, muss die Strafe den Delinquenten als Bürger behandeln, sie muss ihm als Vernünftigen vermittelbar sein.“607
Sind die Shame Sanctions mit dieser Voraussetzung vereinbar? Kubiciel zufolge sind sie das. Denn aus dieser Voraussetzung folge unter anderem zunächst nur, dass für den Delinquenten erkennbar sein müsse, dass es sich bei der Strafe um ein Mittel zur Durchsetzung des Rechts handle und nicht um einen Ausdruck der Willkür oder Rache.608 Der Delinquent sei stets als Rechtssubjekt und damit als Bürger zu behandeln, nicht als Individuum, „dessen Vernunftbegabung für die Bestrafung keine Voraussetzung mehr ist“.609 Kubiciel zufolge lässt sich den Shame Sanctions diese Kritik nicht vorhalten: Diese unterscheiden sich zwar von anderen herkömmlichen Strafformen, indem sie die Diskretion des Strafvollzugs beenden und den Delinquenten der Öffentlichkeit präsentieren;610 dadurch sei die stigmatisierende Wirkung der Strafe bei den Shame Sanctions jedoch lediglich „augenfälliger“611 als bei anderen Strafen.612 Dabei „hieße es, den stigmatisierenden Charakter anderer Strafformen zu leugnen, wenn man in den Ehrenstrafen etwas qualitativ Neues erblicken wollte.“613 Wie bereits in der Auseinandersetzung mit Martha Nussbaums Ausfühdabei geholfen wird, seine Primärpflicht zu aktiver Loyalität in Zukunft ordnungsgemäß zu erfüllen. Deshalb muß der Strafvollzug auch eine ,chanceneröffnend- ,soziale‘ Seite‘ aufweisen, dem Täter also nach Möglichkeit mehr Handlungskompetenz und soziale Teilhabe vermitteln.“ Pawlik, Das Unrecht des Bürgers (2013), S. 120. 605 Pawlik, Das Unrecht des Bürgers (2013), S. 120, Pawlik nimmt hier Bezug auf Calliess, Theorie der Strafe im demokratischen und sozialen Rechtsstaat (1995), S. 64, 155 ff., der strafrechtlichen Sanktionen die Aufgabe der „Herstellung von Partizipationschancen“ zuschreibt. 606 Pawlik, Das Unrecht des Bürgers (2013), S. 120. 607 Kubiciel, Shame Sanctions – Ehrenstrafen im Lichte der Straftheorie, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 118 (2006), S. 44, 68. 608 Kubiciel, Shame Sanctions – Ehrenstrafen im Lichte der Straftheorie, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 118 (2006), S. 44, 68. 609 Kubiciel, Shame Sanctions – Ehrenstrafen im Lichte der Straftheorie, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 118 (2006), S. 44, 68. 610 Kubiciel, Shame Sanctions – Ehrenstrafen im Lichte der Straftheorie, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 118 (2006), S. 44, 69. 611 Kubiciel, Shame Sanctions – Ehrenstrafen im Lichte der Straftheorie, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 118 (2006), S. 44, 69. 612 Kubiciel, Shame Sanctions – Ehrenstrafen im Lichte der Straftheorie, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 118 (2006), S. 44, 69. 613 Kubiciel, Shame Sanctions – Ehrenstrafen im Lichte der Straftheorie, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 118 (2006), S. 44, 69.
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Teil 3: Vorschlag für einen dritten Diskussionsstrang
rungen zu den Shame Sanctions deutlich geworden ist, stellt der bloße Verweis auf eine stigmatisierende Wirkung der Shame Sanctions richtigerweise kein überzeugendes Argument für eine grundsätzliche Ablehnung der Shame Sanctions dar,614 da bereits dem Akt der Strafverurteilung und damit auch anderen Strafformen eine stigmatisierende Wirkung innewohnt.615 Aus der Tatsache, dass auch die Strafverurteilung bzw. andere Formen der Strafvollstreckung den Delinquenten stigmatisieren, bereits zu schließen, dass die Shame Sanctions in dieser Hinsicht akzeptabel sind, kann als Argument jedoch ebenso wenig überzeugen. Die intuitive Ablehnung der Shame Sanctions überzeugend zu begründen, fällt meines Erachtens deshalb so schwer, weil bisher nicht präzise herausgearbeitet wurde, worin eine etwaige „differentia specifica“616 der Shame Sanctions besteht. Diesen notwendigen Zwischenschritt möchte ich im Folgenden nachholen. Die differentia specifica der Shame Sanctions im Vergleich zu anderen Strafformen ergibt sich meiner Ansicht nach zum einen aus der Intention hinter der Stigmatisierung und zum anderen aus der Art und Weise der Behandlung des Delinquenten. Die mit der Shame Sanction verfolgte Intention ist die gezielte „Degradierung“617 bzw. die Herabsetzung des Delinquenten in seinem „Status“.618 Es geht um die Desintegration und Exklusion des Täters.619 Darin liegt auch die Gemeinsamkeit der Shame Sanctions mit ihren ,historischen Vorläufern‘, die Gegenstand des ersten Teils der Arbeit waren.620 Die Ehrenstrafe bewirkte eine formale Herabsetzung im Status, sodass sich ganz konkrete, rechtlich und sozial bindende Folgen für das Leben des Ehrlosen ergaben.621 Bei den Shame Sanctions sind diese Folgen faktischer Natur622 und dienen ebenfalls dazu, den Delinquenten herabzusetzen.623 Für eine analytische Betrachtung ist damit nicht die Stigmatisierung durch Shame Sanctions entschei614
Siehe dazu Teil 2, B. II. 1. Brooks, Shame On You, Shame On Me? Nussbaum on Shame Punishment, Journal of Applied Philosophy 25 (2008), S. 322, 328. 616 Die differentia specifica meint auf Latein den „Artunterschied“. Westermann, Unterschied, spezifischer (2017), in: Historisches Wörterbuch der Philosophie online; Ritter et al. (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie online (2017). 617 Kahan, What Do Alternative Sanctions Mean?, University of Chicago Law Review 63 (1996), S. 591, 636. 618 Kahan, What Do Alternative Sanctions Mean?, University of Chicago Law Review 63 (1996), S. 591, 636. 619 Dazu passt auch der von Braithwaite zur Abgrenzung der Shame Sanctions vom reintegrativen Shaming genutzte Begriff des „desintegrativen Shaming“. Braithwaite, Crime, shame and reintegration (1989), S. 55. 620 Siehe dazu Teil 1, C. I. 621 Teil 1, C. I. 1. a). 622 Kahan, What Do Alternative Sanctions Mean?, University of Chicago Law Review 63 (1996), S. 591, 636. 623 Kahan, What Do Alternative Sanctions Mean?, University of Chicago Law Review 63 (1996), S. 591, 636. 615
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dend, sondern die Intention hinter dieser Stigmatisierung. So lässt sich auch noch einmal das Problem von Nussbaums Kritik an den Shame Sanctions aufzeigen: Die Stigmatisierung allein kann nicht als trennscharfes Unterscheidungsmerkmal dienen, da sie auch anderen Strafarten zueigen ist. Anders als Kubiciel, sehe ich an dieser Stelle jedoch dennoch das Kernproblem der Shame Sanctions: Der entscheidende Kritikpunkt gegen die Shame Sanctions ist, dass sie zum einen ganz gezielt und zum anderen zum Zwecke der Degradierung und der Exklusion stigmatisieren. Dies ist die differentia specifica der Shame Sanction im Vergleich zu anderen Strafformen. Der andere Kritikpunkt richtet sich gegen die Art und Weise der Ausgestaltung der Shame Sanction: Im Rahmen der Shame Sanction wird der Delinquent öffentlich ausgestellt und gedemütigt. Die Ausstellung des Delinquenten dient hauptsächlich dazu, den anwesenden Passanten eine Botschaft zu vermitteln. Er wird wie ein menschliches Schild, wie eine „Vogelscheuche“624 behandelt. Er dient als Medium für die Vermittlung der abschreckenden Botschaft. Es wird nicht mit ihm, sondern „vermittels seiner mit anderen Personen“625 kommuniziert: Der Delinquent wird als reines Objekt behandelt.626 Die Stigmatisierung durch die Shame Sanctions ist damit keine bloße Steigerung des Grades an Stigmatisierung, die anderen Strafformen bzw. der Strafverurteilung selbst ebenso innewohnt; durch die, wie Kubiciel sie nennt, „augenfälliger[e]“627 Stigmatisierung ändert sich vielmehr ganz wesentlich der Charakter der Strafe, sie stellt somit – entgegen Kubiciels Feststellung – durchaus etwas „qualitativ Neues“628 dar. Auch die Art und Weise der Ausgestaltung der Shame Sanctions stellt somit eine differentia specifica im Vergleich zu anderen Strafformen dar. Mit Pawlik gesprochen, weist die Strafe damit keine „chanceneröffnend-, soziale Seite“629 auf, weil durch die öffentliche Demütigung des Delinquenten in Kauf genommen wird, dass dieser dauerhaft gebrandmarkt wird, was dazu führt, dass dem Delinquent die Mitwirkung an der Daseinsordnung der Freiheit 624 Den Begriff der Vogelscheuche benutzt Karl Theodor Welcker im Rahmen seiner Kritik an der negativen Generalprävention: Welcker, Die letzten Gründe von Recht, Staat und Strafe, 1813, S. 214: „[…] [den Täter] als bloßes Mittel für fremden Zweck, wie jede andere Sache – etwa wie unbrauchbare Stoffe zur Vogelscheuche […]“. 625 Michael Pawlik im Zusammenhang mit der Kritik an der Theorie der negativen Generalprävention, siehe Pawlik, Unrecht des Bürgers, 2012, S. 69. 626 Kubiciel führt zu diesem Punkt an, dass der Delinquent im Rahmen der Vollstreckung der Shame Sanctions eben nicht als bloßes Mittel zum Zweck gebraucht werde, da die Strafe neben der Abschreckung zumindest auch der Vergeltung der begangenen Straftat diene. Kubiciel, Shame Sanctions – Ehrenstrafen im Lichte der Straftheorie, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 118 (2006), S. 44, 70; diesem Argument zufolge wäre der Delinquent im Rahmen der Strafvollstreckung jedoch niemals Mittel zum Zweck, egal welche Art der Strafe er zu erdulden hätte; selbst Folter oder eine Hinrichtung wären damit akzeptable Strafformen, sofern sie als strafrechtliche Reaktion auf eine Normverletzung erfolgen. 627 Kubiciel, Shame Sanctions – Ehrenstrafen im Lichte der Straftheorie, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 118 (2006), S. 44, 69. 628 Kubiciel, Shame Sanctions – Ehrenstrafen im Lichte der Straftheorie, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 118 (2006), S. 44, 69. 629 Pawlik, Das Unrecht des Bürgers (2013), S. 120.
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Teil 3: Vorschlag für einen dritten Diskussionsstrang
erschwert bis sogar unmöglich gemacht wird. Sowohl die mit der Shame Sanction verfolgte Intention als auch die Art und Weise der Ausgestaltung der Shame Sanction verstößt damit eindeutig gegen die Anforderung, ihn als Bürger zu respektieren.630 Gleichzeitig wird mit den Shame Sanctions auch der gesellschaftliche Frieden aufs Spiel gesetzt: Dies folgt insbesondere aus der beabsichtigten Wirkungsweise der Shame Sanction: Strafinhalt der Shame Sanctions ist die Stigmatisierung des Delinquenten durch dessen Mitbürger.631 Auf diese Art und Weise werden Übergriffe gegen den Delinquenten und sogar dessen gesellschaftliche Exklusion in Kauf genommen.632 Ob es dann tatsächlich zu Übergriffen kommt, spielt keine Rolle; es reicht aus, dass diese Gefahr der Shame Sanction prinzipiell innewohnt und letztere damit grundsätzlich im Widerspruch zur Aufrechterhaltung der Daseinsordnung der Freiheit steht. Die Shame Sanctions sind noch mehr als andere Strafen dazu geeignet, die Gesellschaft bzw. Bevölkerung zu spalten und in ,gute‘ und ,böse‘ Bürger einzuteilen. Während der Delinquent mit einem Schild wortwörtlich als ,böser‘ Bürger markiert wird, stehen die ,guten‘ Bürger auf der anderen Seite des Geschehens. Dass dadurch Unruhen entstehen könnten bzw. kriminelle Subkulturen sich gar nicht mehr an das Recht halten, ist zumindest denkbar.633 Selbst der größte Befürworter der Shame Sanctions, Dan Kahan, korrigierte seine Ansicht und bezeichnete die Shame Sanctions als „deeply partisan“634 und aus diesem Grund als „falsch“.635 Auch an dieser Stelle zeigt sich, wie bereits im Rahmen von Nussbaums Kritik, dass Harel, Nettesheim und Kubiciel mit ihrer Kritik an der ,Mitwirkung‘ von Privatpersonen an der Strafvollstreckung zwar ein entscheidendes Charakteristikum an den Shame Sanctions erkannt, aus diesem jedoch keine überzeugenden Schlüsse gezogen haben. Das Problem liegt nicht darin, dass der Staat mit der Shame Sanction sein Strafmonopol verletzt, sondern vielmehr, dass mit der Shame Sanction der Motivation für das staatliche Strafmonopol widersprochen wird: der Verhinderung von Selbstjustiz und der Schaffung und Wahrung von gesellschaftlichem Frieden – der „Aufrechterhaltung eines Zustandes allgemein gesicherter Rechtlichkeit“636. Daher ist nicht die Tatsache, dass die Mitbürger des Delinquenten bei der Shame Sanction anwesend sind, problematisch, sondern warum sie es sind; entscheidend für die Abgrenzung der Shame Sanctions von anderen Strafformen ist damit auch die dahinterliegende In630
Nussbaum, Hiding from humanity (2004), S. 230. Kubiciel, Shame Sanctions – Ehrenstrafen im Lichte der Straftheorie, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 118 (2006), S. 44, 71. 632 Whitman, What is wrong with inflicting shame sanctions?, The Yale Law Journal 107 (1998), S. 1055, 1063. 633 Whitman, What is wrong with inflicting shame sanctions?, The Yale Law Journal 107 (1998), S. 1055, 1063. 634 Kahan, What’s Really Wrong with Shaming Sanctions, Yale Law School, Public Law Working Paper No. 125 (2006), S. 1, 2077. 635 Kahan, What’s Really Wrong with Shaming Sanctions, Yale Law School, Public Law Working Paper No. 125 (2006), S. 1, 2077. 636 Pawlik, Person, Subjekt, Bürger (2004), S. 83. 631
B. Shame Sanctions im Lichte der Straftheorie
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tention. Erst die Öffentlichkeit der Shame Sanctions und die damit verbundene Anwesenheit von Mitbürgern des Delinquenten ermöglicht die Brandmarkung und Degradierung des Delinquenten, worin der eigentliche Strafinhalt der Shame Sanctions liegt. Mit Pawliks Theorie der Normbestätigung sind Shame Sanctions somit nicht zu vereinbaren. Ist damit die intuitive Ablehnung der Shame Sanctions bereits überzeugend begründet? Dies hängt davon ab, ob die Voraussetzung, den Delinquenten im Rahmen der Bestrafung einschließlich der Strafvollstreckung als Bürger respektieren zu müssen, für sich genommen überzeugend ist. Im Rahmen der Frage nach der Vereinbarkeit der Shame Sanctions mit den kommunitaristisch geprägten Straftheorien von Braithwaite und Duff hatte sich gezeigt, dass die Shame Sanctions zwar mit diesen Theorien nicht vereinbar waren, die Theorien für sich genommen jedoch keine überzeugenden Prämissen aufweisen konnten. Die Überzeugungskraft der von Pawlik formulierten Grenze an eine legitime Strafe ergibt sich bei einem Blick auf deren Herkunft: sie wurzelt tief im System des demokratischen Rechtsstaats. Um diesen Zusammenhang aufzuzeigen, soll zunächst kurz auf die Begriffe der Demokratie und des Rechtsstaats eingegangen werden: Der Begriff der Demokratie ist einer der umstrittensten Begriffe in der Tradition des politischen Denkens.637 Grund dafür ist, dass die Demokratie nicht nur einen deskriptiven Begriff darstellt, sondern auch ein normatives Ideal umschreibt.638 Wörtlich übersetzt bezeichnet die Demokratie „die Herrschaft des Volkes“.639 In der vorliegenden Arbeit ist der Begriff der modernen Demokratie maßgeblich.640 Der modernen Demokratie liegt das Grundmodell der repräsentativen, gewaltenteiligen Demokratie zu Grunde, das sich in den USA Ende des 18. Jahrhunderts etabliert hatte.641 Die Bezeichnung einer Staatsform als moderne Demokratie reicht noch nicht für die Annahme einer solchen aus, vielmehr müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein, damit ein Staat als demokratisch eingeordnet wird.642 Die moderne Demokratie kennzeichnet sich durch Volkssouveränität, die Garantie grundlegender Menschen- und Bürgerrechte, Rechtsstaatlichkeit, durch Gewaltenteilung, freie Medien und durch eine pluralistische Öffentlichkeit.643 Von besonderer Bedeutung für die Demokratie ist die (aktive) Rolle des Bürgers: diese besteht im Rahmen der Demokratie darin, auf direktem oder indirektem Wege politische Ent637
Vorländer, Demokratie (2020), S. 8. Vorländer, Demokratie (2020), S. 8. 639 Vorländer, Demokratie (2020), S. 12 f. 640 Vorländer, Demokratie (2020), S. 47. 641 Vorländer, Demokratie (2020), S. 65. 642 Dies zeigt anschaulich das Beispiel Chinas, das sich selbst als Volksdemokratie bezeichnet, der Definition einer modernen Demokratie jedoch nicht entspricht. Siehe Vorländer, Demokratie (2020), S. 92. 643 Vorländer, Demokratie (2020), S. 9, 107 – 116; Wilfert, Strafe und Strafgesetzgebung im demokratischen Verfassungsstaat (2015), S. 40. 638
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Teil 3: Vorschlag für einen dritten Diskussionsstrang
scheidungen zu treffen.644 Eng verbunden mit dem Begriff der Demokratie ist der Begriff des Rechtsstaats.645 Das Rechtsstaatsprinzip bindet die Staatsgewalt an das geltende Recht.646 Es schützt und sichert dadurch die Freiheit der Bürger vor dem Staat.647 Ziel des Rechtsstaats ist u. a. die Sicherung des gesellschaftlichen Friedens.648 Ein bedeutendes Merkmal der Demokratie ist die Gleichheit der Bürger in formaler Hinsicht: alle Bürger haben demnach den gleichen „Bürgerstatus“.649 Die Anforderung, den Bürger als solchen zu respektieren, ist darüber hinaus Ausdruck des Menschenbildes, das dem demokratischen Rechtsstaat zu Grunde liegt; sie stellt sogar eine fundamentale Voraussetzung der Demokratie dar. Dieses Menschenbild ist eine denknotwendige Voraussetzung für den demokratischen Rechtsstaat.650 Und dennoch wird es selten explizit thematisiert, vermutlich, weil es der Demokratie wie selbstverständlich vorangestellt ist. Man kann dieses Menschenbild auch unter den Begriff des „mündigen Bürgers“ fassen. Da der Begriff der Mündigkeit recht vage ist, soll er an dieser Stelle zunächst präzisiert werden. Die hier gemeinte Mündigkeit ist vom Begriff der Mündigkeit im Zivil- und Strafrecht abzugrenzen.651 Das Menschenbild des mündigen Bürgers ist eine gesellschaftliche Kollektiventscheidung, die fundamental für die Funktionsfähigkeit der Demokratie ist. Dieses Menschenbild beruht auf dem Gedanken der Aufklärung und maßgeblich auf dem kantischen Verständnis von „Würde“: Kant begründet die Würde des Menschen mit dessen auf seinem freien Willen basierenden Autonomie, wodurch der Mensch als Vernunftwesen selbst eine normative Autorität bildet.652 Der Mensch ist damit nicht seinen natürlichen Neigungen unterworfen, sondern in der Lage, rationale Entscheidungen zu treffen, weshalb er Träger von „Würde“ ist.653 Der Bürger in der Demokratie ist 644
Vorländer, Demokratie (2020), S. 108. Zumindest in Deutschland. In anderen Staaten wird statt Rechtsstaat der Begriff des Verfassungsstaats oder der Demokratie benutzt. Pötzsch, Die deutsche Demokratie (2009), S. 28. 646 Zippelius, Rechtsphilosophie (2007), S. 156 f.; Pötzsch, Die deutsche Demokratie (2009), S. 28 ff. 647 Pötzsch, Die deutsche Demokratie (2009), S. 28 ff. 648 Pötzsch, Die deutsche Demokratie (2009), S. 131 ff. 649 Böckenförde, § 24 Demokratie als Verfassungsprinzip (2004), in: Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band II Verfassungsstaat, Rn. 41 – 42. 650 „Das Individuum geht dem Staat voraus, was auch im Leitgedanken des Herrenchiemseeer Verfassungskonvents bei den Vorüberlegungen zum Grundgesetz zum Ausdruck kommt: ,Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen‘. Wilfert, Strafe und Strafgesetzgebung im demokratischen Verfassungsstaat (2015), S. 44; Doemming, Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes (1951), in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart N.F., S. I-927, 48. 651 So bezeichnet etwa die Strafmündigkeit die Fähigkeit, strafrechtlich verantwortlich zu sein. Weber (Hrsg.), Weber, Rechtswörterbuch (2021), Strafmündigkeit. 652 Schaber, Menschenwürde (2012), S. 44 ff. 653 Schaber, Menschenwürde (2012), S. 44 f. 645
B. Shame Sanctions im Lichte der Straftheorie
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damit kein ,Untertan‘ eines autoritären, allmächtigen Herrschers, sondern selbstbestimmt dazu in der Lage, Entscheidungen zu treffen und Verantwortung zu übernehmen:654 Er ist mündig. Damit einher geht die Verpflichtung, den Bürger, sei es von Seiten des Staates oder der Mitbürger, als mündigen Bürger zu respektieren. Dieser Respekt ist keine Gegenleistung für Wohlverhalten. Mündigkeit ist nichts, was der Bürger durch kluges Handeln oder Rechtstreue unter Beweis stellen muss. Die Mündigkeit ist kein Grundrecht, sie ist überhaupt keine Individualrechtsposition, die unter bestimmten Voraussetzungen einschränkbar ist. Eher könnte man sie als die Geschäftsgrundlage des demokratischen Gesellschaftsvertrags beschreiben. Einem Bürger, der als Staatssouverän die Hoheitsgewalt im Staat ausüben soll, muss zwingend die Fähigkeit zu vernunftgeleiteten Entscheidungen zugeschrieben werden. Ebenso muss er in diesem Status von staatlicher Seite stets respektiert werden, da er denklogisch dem demokratischen Staat als souveräne Instanz vorausgeht. Die Figuren des „Vogelfreien“655, des „homo sacer“656 oder des „Feindes“657 beschreiben Menschen, denen der Bürgerstatus entzogen wurde und die deshalb außerhalb der Rechtsordnung stehen, obwohl sie Teil davon sind bzw. durch diese Rechtsordnung erfasst und definiert werden. Wie in Philosophie und Rechtsphilosophie verschiedentlich aufgezeigt wurde, kann der „homo sacer“ in modernen Demokratien zwar nachgewiesen werden, markiert aber die Grenze der Demokratie zum totalitären System.658 Duff zufolge sei eine Forderung, die sich aus einem „demokratischen
654 So auch Duff, der sich für ein demokratisches Strafrecht ausspricht: „A democratic criminal law is not something that ,they‘ (a sovereign, a ruling elite) impose on ,us‘ as their subjects, or something that ,we‘ impose on ,them‘: it is a law that we impose on ourselves, and on each other, as equal members of the polity.“ Siehe Duff, A Democratic Criminal Law, Minnesota Legal Studies Research Paper 2015, S. 1, 3. 655 „Bis in die frühe Neuzeit wurden diejenigen, die in der ,Acht‘ standen, als ,vogelfrei‘ bezeichnet. Sie sollten als Strafe jederzeit den Gefahren der Natur und Angriffen wilder Vögel ausgesetzt sein. Niemand durfte ihnen Unterschlupf gewähren. Jeder durfte den Vogelfreien festnehmen und den Behörden übergeben. Starb ein Vogelfreier, wurde seine Leiche den Vögeln zum Fraß vorgeworfen.“ Zum Begriff der Vogelfreiheit: Toyka-Seid/G. Schneider, Vogelfrei, https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/das-junge-politik-lexikon/321350/vogelfrei/ [zugegriffen am 9. 6. 2022]. In Johann Gottlieb Fichtes Straftheorie gab es eine ähnliche Rechtsfigur. Der Bürger, der gegen den sogenannten „Abbüßungsvertrag“ verstieß, wurde „völlig rechtlos“. Siehe Vormbaum, Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte (2019), S. 61. 656 Agamben, Homo sacer (2019). 657 Siehe dazu der Vorschlag eines Feindstrafrechtes nach Günther Jakobs. Es geht darum, dass bestimmte Kategorien von Delinquenten zu Feinden des Staates bzw. der Gesellschaft erklärt werden sollen, z. B. Terroristen, die dadurch ihren Bürgerstatus verlieren. Damit kann man bestimmte Maßnahmen gegen sie treffen, die Bürgern gegenüber nicht getroffen werden könnten. Jakobs, Kriminalisierung im Vorfeld einer Rechtsgutsverletzung, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 97 (1985), S. 751, 753; Jakobs, Bürgerstrafrecht und Feindstrafrecht, HRRS 5. (2004), S. 88. 658 Agamben, Homo sacer (2019), S. 19 f.
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Teil 3: Vorschlag für einen dritten Diskussionsstrang
Strafrecht“659 ergebe, dass Strafe nicht die Exklusion des Delinquenten bezwecken dürfe, sondern dessen gesellschaftliche Inklusion fördern müsse.660 Zwar wird dem Delinquenten der formale Bürgerstatus durch die Shame Sanctions nicht entzogen.661 Durch den Vollzug der Shame Sanction in der Öffentlichkeit und die damit intendierte Stigmatisierung des Delinquenten wird jedoch eine faktische Degradierung und Exklusion des Delinquenten bezweckt. In einem demokratischen Rechtsstaat, genauer gesagt innerhalb eines demokratischen Strafrechts, kann bzw. darf es jedoch weder eine faktische ,Degradierung‘ der Bürger geben noch darf eine Exklusion der Bürger bezweckt werden662 – die Bürger sind in ihrem Status gleichwertig, unabhängig von ihren Taten und sind auch dementsprechend zu behandeln.663 Die Strafe darf somit über die Missbilligung des Täterverhaltens hinaus keine Herabsetzung des Täters im Status oder dessen Exklusion bezwecken.664 An dieser Anforderung scheitern die Shame Sanctions.665 Hinsichtlich der Voraussetzung und Grenze einer legitimen Strafe, die Pawlik in seiner Straftheorie formuliert, berücksichtigt er das System, in dem staatliche Strafe verhängt wird, was nur konsequent ist, wenn man davon ausgeht, dass die Rechtfertigung von Strafe immer abhängig vom rechtlichen Bezugssystem ist, auf das sie rekurriert.666 Daraus ergibt sich, dass Strafe wertgebunden ist bzw. sein muss.667 Für 659 Duff, A Democratic Criminal Law, Minnesota Legal Studies Research Paper 2015, S. 1, 2. 660 Duff, A Democratic Criminal Law, Minnesota Legal Studies Research Paper 2015, S. 1, 2. 661 So auch Pawlik, Das Unrecht des Bürgers (2013), S. 120. 662 So auch Duff Duff, A Democratic Criminal Law, Minnesota Legal Studies Research Paper 2015, S. 1, 11. 663 Zur demokratischen Gleichheit als „politische[r] Gleichheit“, „die sich von der allgemeinen Menschengleichheit abhebt.“ Böckenförde, § 24 Demokratie als Verfassungsprinzip (2004), in: Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band II Verfassungsstaat, Rn. 41 – 42, Böckenförde betont außerdem, dass der alleinige Anknüpfungspunkt für die demokratische Gleichheit „allein die Eigenschaft als Staatsbürger“ ist. Es handle sich „um eine strikte, schematische Gleichheit, die formalen Charakter hat.“ 664 Tatjana Hörnle und Andrew von Hirsch weisen darauf hin, „dass auch im Bereich des Strafrechts der Staat die Bürger grundsätzlich als eigenverantwortlich handelnde, zu ethischen Urteilen fähige Wesen zu adressieren sind.“ A. v. Hirsch, Fairness, Verbrechen und Strafe (2005), S. 25. 665 Zu einem ähnlichen Schluss kommt auch Duff in seinem Plädoyer für ein demokratisches Strafrecht. „Community sentences can of course be imposed in a far from civic or civil spirit: they can be designed to humiliate and degrade those on whom they are imposed.“, siehe Duff, A Democratic Criminal Law, Minnesota Legal Studies Research Paper 2015, S. 1, 17. 666 Pawlik, Strafrechtswissenschaftstheorie (2007), in: Festschrift für Günther Jakobs, S. 469, 478; Wilfert, Strafe und Strafgesetzgebung im demokratischen Verfassungsstaat (2015), S. 1. Dass dies keine Selbstverständlichkeit ist, zeigt Klaus Gärditz auf. Ihm zufolge sind „die weiterhin vorherrschenden Straftheorien […] ganz überwiegend von vordemokratischer Provenienz.“ Außerdem sei „das Strafrecht […] vor allem deshalb eine Herausforderung für eine Demokratie geblieben, weil es seine soziale Symbol- und Überzeugungskraft aus
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eine legitime Strafe in einem demokratischen Rechtsstaat muss der Delinquent somit über das ganze strafrechtliche Verfahren einschließlich der Strafvollstreckung – wie Pawlik sagt – als „Bürger“668 respektiert werden.669 Dies ist nur folgerichtig, geht man davon aus, dass der Bürger erst durch seine Loyalität und Mitwirkung, konkret, durch seinen Verzicht auf die Begehung von Straftaten, die Existenz und den Fortbestand der Daseinsordnung der Freiheit ermöglicht.670 Indem er auch im Rahmen der Strafvollstreckung als Bürger respektiert wird, wird ihm nach der Strafvollstreckung (wieder) die Erfüllung seiner Primärpflicht ermöglicht. Wenn man berücksichtigt, wie fundamental die Voraussetzung und Anforderung, die Bürger als solche in ihrem Status zu respektieren, für den (Fort-)Bestand des Staates ist, wird auch deutlich, wie fundamental der Verstoß der Shame Sanctions gegen diese Voraussetzung und damit gegen den demokratischen Rechtsstaat an sich ist. Somit hat sich die zu Beginn der Arbeit geäußerte intuitive Ablehnung der Shame Sanctions erst im Rahmen einer straftheoretischen Betrachtung im engeren Sinne überzeugend begründen und bestätigen lassen.
III. Modifikation der Shame Sanctions? Fraglich ist, ob die Shame Sanctions derart modifiziert werden könnten, dass die Kritik hinsichtlich der Unvereinbarkeit mit der Anforderung, den Delinquenten auch im Rahmen der Strafvollstreckung als Bürger zu respektieren, ausgeräumt würde. So wäre es denkbar, die Vollstreckung der Shame Sanction von der Zustimmung des Delinquenten abhängig zu machen.671 Schließlich lautet eines der üblich vorgebrachten Argumente, weshalb Shame Sanctions inakzeptabel sind, dass sie den Delinquenten zwingen, eine bestimmte Botschaft über sich selbst zu vermitteln.672 Zu Recht stellen sich Kritiker die Frage, inwiefern in einem solchen Fall von einer echten Zustimmung die Rede sein kann, wenn dem Delinquenten eine von zwei zur Auswahl stehenden strafrechtlichen Sanktionen auferlegt werden soll: d. h. beivordemokratischen Bedeutungszuschreibungen bezieht.“, siehe Gärditz, Staat und Strafrechtspflege (2015), S. 39 ff., 65 ff. 667 Kubiciel, Shame Sanctions – Ehrenstrafen im Lichte der Straftheorie, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 118 (2006), S. 44, 63, 66. 668 Pawlik, Das Unrecht des Bürgers (2013), S. 120. 669 Pawlik, Das Unrecht des Bürgers (2013), S. 120. In diesem Zusammenhang weist Pawlik auf Peter Noll hin, der feststellt, dass die Gemeinschaft nicht erwarten könne, „daß der Verbrecher seine Verantwortung ihr gegenüber erkennt und übernimmt, wenn sie ihre Verantwortung ihm gegenüber ablehnt.“ Siehe Noll, Die ethische Begründung der Strafe (1962), S. 26. 670 Pawlik, Person, Subjekt, Bürger (2004), S. 82 ff. 671 Spatz, Shame’s Revival: An Unconstitutional Regression, The University of Pennsylvania Journal of Constitutional Law 2002, S. 827, 844. 672 A. v. Hirsch, Censure and sanctions (1995), S. 83.
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spielsweise, wenn die Shame Sanction als Alternative zur Freiheitsstrafe zur Wahl steht.673 Teilweise wird davon ausgegangen, die Zustimmung zur Shame Sanction könne daher nie auf eine freie Entscheidung zurückzuführen sein, weil die drohende Alternative, z. B. die Freiheitsstrafe, den Delinquenten in eine gedankliche Zwangslage bringen würde.674 Entscheidend ist aber, dass es auf die Einwilligung des Betroffenen gar nicht ankommen kann. Von einem systembezogenen Standpunkt aus betrachtet, ist Mündigkeit nicht verzichtbar. Sie kann durch den Einzelnen nicht ,abgewählt‘ werden. Da es sich bei der Mündigkeit des Bürgers um eine fundamentale Systemvoraussetzung handelt, steht sie nicht zur individuellen Disposition. Sie dient der Selbsterhaltung des demokratischen Rechtsstaates. Würde man dem Delinquenten die Gelegenheit zur Einwilligung in die Shame Sanction geben, würde sich das System selbst gefährden. Aus diesem Grund ist eine Modifizierung der Shame Sanctions in der Art und Weise, dass sie nicht mehr gegen demokratische und rechtsstaatliche Grundsätze verstoßen, nicht denkbar. Es liegt auf systemischer Ebene ein Widerspruch vor, der nicht durch individuelle Entscheidung oder formelle Modifizierung aufgelöst werden kann.
673 Spatz, Shame’s Revival: An Unconstitutional Regression, The University of Pennsylvania Journal of Constitutional Law 2002, S. 827, 844 f. 674 Spatz, Shame’s Revival: An Unconstitutional Regression, The University of Pennsylvania Journal of Constitutional Law 2002, S. 827, 845; Garvey, Can Shaming Punishments Educate?, University of Chicago Law Review 65 (1998), S. 733, 761 f.
Schlussfolgerung Erst im Rahmen der Betrachtung der Shame Sanctions im Lichte der Straftheorie im engeren Sinne hat sich die intuitive Ablehnung der Shame Sanctions bestätigt. Dabei hat sich gezeigt, dass nur eine Straftheorie, die das System berücksichtigt, in dem Strafe verhängt wird, in der Lage ist, das spezifische Kernproblem der Shame Sanctions aufzuzeigen. Diese sind mit der fundamentalen Voraussetzung einer legitimen Strafe innerhalb eines demokratischen Rechtsstaats, nämlich dem Respekt vor dem Delinquenten als Bürger, nicht vereinbar. Fraglich ist, welche Konsequenzen aus der Ablehnung der Shame Sanctions zu ziehen sind. In praktischer Hinsicht sollte die Verhängung von Shame Sanctions, in der Form, wie sie Gegenstand der vorliegenden Arbeit sind, gesetzlich untersagt werden. Wie dies konkret geschieht, hängt von den gesetzlichen Möglichkeiten ab. Eine Möglichkeit wäre es, den Ermessensspielraum hinsichtlich der Erteilung von Auflagen im Rahmen der Probation bzw. Supervised Release zu beschränken, indem eine abschließende Aufzählung von möglichen Auflagen normiert wird oder, indem die bestehende Generalklausel dahingehend eingeschränkt wird, so dass Shame Sanctions als Auflage explizit verboten werden. Darüber hinaus ergeben sich jedoch noch weitere Konsequenzen: Eine davon betrifft den Grad an Professionalisierung in der Strafpraxis und im Strafsystem. Wie sich eindrücklich gezeigt hat, haben die Richter, die Shame Sanctions verhängen, vor allem zum Zwecke ihrer Wiederwahl ein genuines Eigeninteresse an medialer Präsenz und damit auch an den Shame Sanctions, die sie dabei als politisches Machtinstrument einsetzen. Dabei bewerben sie Shame Sanctions als besonders plastische und damit volksnahe Form der Bestrafung. Im Rahmen der straftheoretischen Auseinandersetzung mit den Shame Sanctions hat sich jedoch gezeigt, dass es sich bei diesen nicht um eine demokratische Form der Bestrafung handelt, sondern dass Shame Sanctions als populistische Maßnahme eingesetzt werden. Dass Populismus und Demokratie nicht gleichzusetzen sind, hat sich im Verlauf der Arbeit deutlich gezeigt. Eine weitere praktische Möglichkeit, die Verhängung von Shame Sanctions für Richter unattraktiver zu machen, bestünde darin, die Art zu ändern, wie diese Richter ins Amt kommen: Statt der direkten Volkswahl könnte beispielsweise erwogen werden, auch Richter der bundesstaatlichen Gerichte, unabhängig von der Instanz, ernennen zu lassen, etwa vom Gouverneur des Bundesstaates. So wären diese Richter zumindest nicht unmittelbar von der direkten Gunst der Bevölkerung abhängig. Ob tatsächlich der Gouverneur in diesem Fall der richtige Akteur für die Ernennung der Richter ist, müsste an anderer Stelle eingehend untersucht werden, diese Frage kann in der vorliegenden Arbeit nicht geklärt werden. In jedem Fall
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Schlussfolgerung
könnte eine Veränderung der Art und Weise, wie Richter ins Amt kommen, dazu genutzt werden, populistischen Tendenzen im Rahmen der Verhängung von Strafe, dem schwerwiegendsten Eingriff in die Rechte eines Bürgers in einem Rechtsstaat, entgegenzuwirken. Als Konsequenz der Ablehnung der Shame Sanctions, insbesondere im Hinblick auf den Respekt vor dem Delinquenten als Bürger, könnte auch gefordert werden, dass Strafe grundsätzlich diskret und damit fernab des öffentlichen Blicks vollstreckt werden muss.1 Geht man davon aus, dass die Vollstreckung der Strafe in der Öffentlichkeit allein dem Zweck dienen kann, den Delinquenten zu demütigen und zu degradieren, ist diese Schlussfolgerung nach den in dieser Arbeit gewonnenen Erkenntnissen zwingend. Tatsächlich scheint es schwierig, neben der Demütigung des Delinquenten weitere, ,gute‘ Gründe zu finden, die für eine öffentliche Strafvollstreckung sprechen, vor allem, wenn Strafe nicht in einer Gesellschaft verhängt wird, in der die Öffentlichkeit eine Vermittlungsfunktion erfüllt, wie dies in den in Teil 1 der Arbeit betrachteten weitestgehend illiteralen Gesellschaften im Hoch- und Spätmittelalter der Fall war. Solange der Öffentlichkeit der Strafvollstreckung in einem modernen demokratischen Rechtsstaat kein Eigenwert zukommt und die Diskretion umgekehrt nicht dazu dient, willkürliches Handeln von staatlicher Seite gegen den Delinquenten vor der Bevölkerung zu verheimlichen, ist dieser aus Rücksicht auf seinen Bürgerstatus diskret zu bestrafen. Das bedeutet jedoch auch, dass hinsichtlich der Ausgestaltung von Strafe und deren Vollstreckung den gesellschaftlichen Visualisierungstendenzen, die in Teil 1 der Arbeit thematisiert wurden, gezielt entgegenzuwirken ist. Dazu hat die vorliegende Arbeit durch die umfassende kritische Auseinandersetzung mit den Shame Sanctions einen wichtigen Beitrag geleistet.
1 Zur Diskretion als Verständnis von Zivilisiertheit als wesentliches Gegenargument gegen die Shame Sanctions siehe Pawlik, Strafrecht: Seht, dieses Schwein!, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. 11. 2004.
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Stichwortverzeichnis Abschreckung 28, 62, 75, 92, 98, 105, 107, 118, 120, 136 ff., 178 f., 186 ff., 194 f., 198 f. Androhung 136 f., 155, 167, 186, 188, 192, 198 f. Benefit-and-burden 150, 152 f., 156, 158, 181, 201 Bentham, Jeremy 59, 133, 135 Buße 174 ff., 181, 187, 196 Bürger 12, 97, 116 f., 120 f., 124, 128, 141, 144, 150 f. 153, 158, 178, 199 ff., 206 ff. Bürgerkrieg 68 Bürgerrechtstreue 116, 141, 144, 151 f., 178, 209 Checks and Balances 24, 66, 84, 89, 102 f. Common Law 24, 27 f., 30 Definitionssperre 131, 147 Degradierung 81, 94, 204 f., 207, 210 Demokratie 207 ff., 213 Entschuldigung 21 f., 91 f., 176, 194 Ermessensspielraum 20, 33, 36, 38 ff., 44, 65, 71, 75, 79, 81, 90, 141, 145, 160, 213 Exklusion 92, 107, 151, 204 ff., 210 Fairness 151 ff., 201 Feind 209 Föderalismus 25, 27, 37 Folter 48, 98, 156 ff. Gesellschaftsvertrag
209
Iconic Turn 76, 80, 82 Incapacitation 138, 141, 160, 188 Individuum 56 f., 61, 137, 174, 186 f., 191 f., 198, 203 Innerlichkeit 126 ff., 197
Jury
35 ff.
Kant, Immanuel 133, 144, 156, 208 Kolonialamerika 13, 45, 53, 55, 58, 61, 95 Kommunikation 19, 73, 76 ff., 82, 163 f., 166, 177, 182, 198 Kommunitarismus 174, 179 Konsequentialismus 135 Legitimität 13, 201 Lizenz 153 ff. Missbilligung 11, 120, 158, 163, 167 ff., 177, 183 ff., 187, 191, 201, 210 Model Penal Code 27 ff., 135, 140 Moralische Panik 69 Mündigkeit 208 f., 212 Nominalismus 168, 179 Normbestätigung 164, 199, 207 Öffentlichkeit der Strafvollstreckung 52 f. Opfer 22, 43, 69, 71, 91, 102, 142, 156 ff., 161, 163 f., 168 f., 173, 175, 189, 191, 194 Police Power 25 Prävention – Generalprävention 144, 158, 164 f. – Spezialprävention 138 Probation 32 f., 38 ff., 44, 81, 90, 96, 103, 193, 213 Proportionalität 72, 134, 155 f., 158 ff., 180, 190 Rationalisierung 58, 73 Reaktive Einstellungen 171 f., 174 Rehabilitation 90, 92, 134, 138 ff., 159 f., 162, 179 f., 193 ff. Resozialisierung 28, 42, 65 ff., 71, 81, 105, 139, 162, 181 Restorative Justice 134, 161, 180
Stichwortverzeichnis Retribution 29, 68, 72, 131, 133 f., 143 ff., 155, 158 ff., 167 ff., 174 f., 177, 180 ff., 190, 192, 196 Reue 21, 53 f., 166, 174 ff., 196 f. Richter – Michael Cicconetti 40 f., 105 f. – Ted Poe 40 f., 106 Rückfallquoten 105 f., 137, 142 Scham 23, 53 f., 112 f., 177, 185, 187 f. Sentencing Guidelines 36 ff., 159 f., 180 Sentencing Reform Act 32, 37, 42, 91 ff., 159, 180 Shame Sanctions – Desintegrative 15 f., 107, 178, 193, 195 – Reintegrative 15 f., 107, 177, 181, 193, 195 Sprechakttheorie 165 f. – Illokution 165 f. – Lokution 165 f. – Perlokution 165 f. Staatsgewalt 208 Strafe – Begriff der 130 ff. – Ehrenstrafe 46 ff., 50 ff., 60, 62, 81, 112, 203 f. – Freiheitsstrafe 11, 30 ff., 38, 40 f., 44 f., 56, 59 f., 64 ff., 68, 71 f., 91, 99, 113, 115, 122 f., 139, 140 f., 153, 155, 160, 166, 184, 189, 212 – Gefängnis 11 f., 30, 40, 51, 55 ff., 59 f., 62, 64, 70, 81, 116, 124, 138, 140, 147 f., 171, 183, 185, 187 f., 190, – Geldstrafe 11, 19, 30 f., 34, 44, 53, 113, 122, 184 f. – Körperstrafe 113 – Todesstrafe 30 f., 48, 51, 62, 64, 71, 85 ff., 158 f.
233
Strafgewalt 58, 84, 115, 202 Strafpraxis 134, 140, 144, 149, 165, 179, 213 Strafschmerz 124 Strafsensibilitäten 56 f., 62 f., 72 ff. Straftheorie – Expressive 120, 162, 164, 167, 170 f., 176 f., 181 f., 184, 186, 190, 192, 196 ff. – Funktion der 132 f. Strafzumessung 33, 35 f., 39, 63, 78 f., 110, 132 f., 136, 141, 150, 152, 159 f., 152, 162, 172, 180, 197 Supervised Release 32, 38 f., 42 ff., 75, 81, 91 f., 96, 101, 103, 191 Tadel 12, 54, 72, 163 f., 171 ff., 181, 196 ff. Telishment 147 f. Transactional Dignity 114 Übelszufügung 117, 131 f., 163, 166 ff., 172 ff., 197 ff. Utilitarismus 133 ff., 144, 146 ff., 191 Verdienst 143, 157 Visualisierungstendenzen
78, 80, 82, 214
War on Drugs 70 War on Poverty 70 Widening-the-net-effect 71 Willkür 67, 86, 88, 99, 142, 159, 180, 203, 214 Würde des Delinquenten 98 f., 110 f., 113 ff., 128, 208 Zivilisierung 12 f., 56 ff., 61, 73, 84, 86, 94 – Entzivilisierungsschub 61