”Legitime” und “illegitime” Geschichtsschreibung: Eine Auseinandersetzung mit Emil Ludwig [Reprint 2019 ed.] 9783486760095, 9783486760088


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„LEGITIME" UND „ILLEGITIME" GESCHICHTSSCHREIBUNG. EINE AUSEINANDERSETZUNG MIT EMIL LUDWIG
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”Legitime” und “illegitime” Geschichtsschreibung: Eine Auseinandersetzung mit Emil Ludwig [Reprint 2019 ed.]
 9783486760095, 9783486760088

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„LEGITIME" UND „ILLEGITIME" GESCHICHTSSCHREIBUNG EINE AUSEINANDERSETZUNG MIT EMIL LUDWIG

VON

WILHELM MOMMSEN O.PROFESSOR DER GESCHICHTE AN DER UNIVERSITÄT MARBURG/LAHN

MÜNCHEN UND BERLIN 1930

VERLAG VON R.OLDENBOURG

Druck von R. Oldenbourg, München und Berlin.

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er nachstehende Aufsatz ist im Oktoberheft der „Zeitwende" erschienen. Ich bin von verschiedensten Seiten gebeten worden, ihn in einer besonderen Veröffentlichung vorzulegen und damit weiteren Kreisen zugänglich zu machen. Trotz dem großen Leserkreis, dessen sich die „Zeitwende" erfreut, schien der Wunsch nicht unberechtigt, denn auch eine weitverbreitete Zeitschrift wendet sich an ein bestimmt zusammengesetztes Publikum und bleibt anderen Kreisen schwer erreichbar, bei denen ein Interesse an der fraglichen Auseinandersetzung zu bestehen scheint. Herausgeber und Verlag der „Zeitwende" sei dafür gedankt, daß sie die gesonderte Veröffentlichung gestatteten, ebenso dem Verlag Oldenbourg, der sich zu derselben bereit erklärte. Der vor mehr als einem halben Jahr erschienene Aufsatz war veranlaßt durch die zuerst in der „Neuen Rundschau" erschienene und dann von seinem Verlag kostenlos verbreiteten Schrift Emil Ludwigs „Historie und Dichtung". Er versuchte, das „Problem Emil Ludwig" von der reinen Polemik loszulösen und die Auseinandersetzung auch zu einer Art „Selbstkritik" der Fachhistorie zu erweitern. Auf meine frühere Polemik mit Emil Ludwig, die vor allem sehr humoristisch im, .Tagebuch" geführt wurde, ist dabei mit Absicht nicht eingegangen worden. Ebenso habe ich vermieden, noch einmal die Kritik des Ludwigschen Bismarck-Buches zu wiederholen, die zunächst in der „Historischen Zeitschrift" und dann in der Broschüre „Historische Belletristik" erschienen war. Aber in dieser gesonderten Veröffentlichung der kleinen Arbeit aus der „Zeitwende" darf zur Ergänzung der allgemeineren Ausführungen nochmals wieder abgedruckt werden, was damals vor allem auf Grund des Bismarck-Buches über den Charakter der historischen Bücher Ludwigs auszuführen versucht wurde: „Der tiefste Grund der Wirkung der Bücher von Ludwig scheint uns freilich darin zu liegen, daß seine Art zu schreiben, 3

ihn zum Exponenten einer Zeitströmung macht. Hier liegt ein Problem, für das Ludwig selbst nur ein Symptom ist, und das über alles Persönliche hinaus in den Ernst unserer geistigen Situation führt. Die Tatsache ist unbestreitbar, daß auch sehr ernsthaft Bildung suchende und geschichtlich interessierte Laien historische Lektüre vorwiegend bei Ludwig und Hegemann suchen. Wie oft hört man, daß man keine Zeit zu anderem habe, manchesmal bedauernd ; und doch, die Zeit hätte man oft, aber es fehlt die innere Sammlung. In dem rastlosen Getriebe unserer Tage findet auch der bildungshungrige Laie Erholung nur in Büchern, die nicht anstrengen, sondern die ihm leicht faßbare Nahrung bieten. Wie das Kino das Theater verdrängt, so die Literatur ä la Ludwig die ernsthafte populäre Darstellung von Fachhistorikern. Und diese Parallele läßt sich noch weiter führen. Ludwigs Darstellung gibt aneinandergereiht Einzelbilder, die schnell und flüchtig vorüberrauschen. Es kommt dabei nicht darauf an, ob man erst in der Mitte anfängt; wie im Kino wird ein Scheinbild vorgetäuscht, das lebenswahr scheint und es doch nicht ist. Auch bei Ludwig ist für die Wirkung entscheidend nicht die Einheitlichkeit der Auffassung, sondern der Glanz der einzelnen Bilder, die wie die Perlen einer Kette aneinandergereiht werden und wo der Laie die echten von den falschen ebenso schwer zu unterscheiden vermag wie bei wirklichen Perlen. Das kinomäßige Sehen unserer Zeit kommt Ludwig zugute, dessen Art und Unart, dessen Vorzüge wie Fehler ihm durchaus entspringen. Man wird ruhig anerkennen können, daß seine Schriften den Höhepunkt dieser Gattung bilden, und es liegt hier ein Problem, das nicht nur für die Wissenschaft, sondern auch für die geistige Situation unserer Tage ernst und schwer ist. Es aufzuzeigen und den Weg zur Lösung zu weisen, kann nicht der Zweck dieser „Besprechung" sein. Aber freilich — nachdenken soll man darüber, nicht nur tadeln". (Historische Belletristik, S. 3 6f.) Im übrigen ist eine Ergänzung oder Erweiterung des Zeitwende-Aufsatzes wohl nicht nötig. Emil Ludwig hat auf ihn bisher nicht geantwortet, und es ist auch kaum zu hoffen, daß eine solche Antwort die Diskussion fördern könnte. Auch Emil Ludwigs inzwischen erschienenes Buch über Lincoln macht Zusätze unnötig. Erwähnt sei freilich, daß die amerikanische Kritik, die Emil Ludwig im allgemeinen bisher freundlich gegenüberstand, diese Ver4

öffentlichung, deren Gegenstand ihr nahe liegt, recht skeptisch beurteilt hat. Unter anderem hat in der „The New York Times" vom 9. Februar der amerikanische Historiker Charles Willis Thompson in starker Übereinstimmung mit meinem ihm unbekannten Aufsatz geleugnet, daß Emil Ludwig eine neue historische Methode vertrete, darauf hingewiesen, daß er in diesem Buch vielfach überholte, konventionelle und stereotyp gewordene Anschauungen wieder vortrüge, und Lincoln beurteile, wie die Schulbücher vor dreißig Jahren. Er weist auch darauf hin, wie wenig psychologisch die Beurteilung Lincolns durch Emil Ludwig sei, der bei ihm von seiner Geburt bis zu seiner Ermordung stets der gleiche bleibe, ohne jede Entwicklung. Inzwischen hat Emil Ludwig den so viel geschmähten Fachhistorikern auch einmal ein sehr anerkennendes Zeugnis ausgestellt, freilich wohl etwas unbewußt. In einer Besprechung des ersten Bandes der neuen, von Walther Goetz herausgegebenen Propyläen-Weltgeschichte, in der „Vossischen Zeitung" vom 13. November 1929, äußerte er sich sehr begeistert über dieses Unternehmen. Vor allem scheinen es ihm dabei die Bilder angetan zu haben und der Glaube, daß „die Verfassung dieses Unternehmens" eine „demokratische" sei. Ein Dutzend Historiker hat nach Emil Ludwigs Ansicht offenbar ein Präsidium gewählt, das heißt den Herausgeber, Waither Goetz. Dieser Wahlakt besteht freilich nur in der Phantasie von Emil Ludwig, und nicht nur ein Dutzend Fachhistoriker, sondern ein sehr großer Teil der von ihm so sehr kritisierten „Zunft" arbeitet an diesem Werk mit, das Emil Ludwigs warme Anerkennung gefunden hat. Man darf nun vielleicht hoffen, daß Emil Ludwig auf diesem Umweg zu etwas gerechteren Urteilen über die historische Fachwissenschaft kommt, und wenn er fürchtet, daß die beteiligten Professoren sich über sein Lob ärgern könnten, so kann ihm versichert werden, daß diese Besprechung der Propyläen-Weltgeschichte nicht Ärger, sondern ein sehr zufriedenes und zugleich etwas ironisches Lächeln bei manchem der so verkalkten „Legitimen" ausgelöst hat. Juni 1930.

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n den Jahren nach der Revolution sprach man von einer Krise des „Historismus". Unter den erschütternden Wirkungen des Zusammenbruchs suchten weite Kreise, namentlich der jüngeren Generation, sich ein Weltbild zu schaffen, das bewußt die Befreiung von allem historisch Überkommenen anstrebte, das sich „von dem Erbe der Vergangenheit" und dem „Staub" der Jahrhunderte und Jahrtausende befreien wollte, um leichter und freier neue Wege in eine bessere Zukunft zu finden. Ernst Troeltsch, der wie kein anderer innerlich mit dem Problem des „Historismus" gerungen hat, wandte dagegen mit Recht ein, daß man das Erbe der Vergangenheit gar nicht abschütteln könne, daß jeder einzelne, ob er wolle oder nicht, daß noch mehr Staat und Nation mit Millionen Banden an die Vergangenheit gebunden seien. Er versuchte, wie es jede echte historische Weltanschauung tun muß, aus dem lebendigen Erbe der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft Aufgaben und Ziele zu setzen. Heute ist diese Grundeinstellung gegenüber dem Problem des „Historismus" wohl nicht mehr umstritten, ja alle politischen Richtungen sind heute nur allzusehr bestrebt ihre eigenen Ziele und Anschauungen geschichtlich zu rechtfertigen, vielfach in sehr einseitiger Ausnutzung und Umdeutung des historischen Geschehens. Man kann das beklagen, und gerade der Historiker hat manchen Grund dazu. Aber das Gefühl der Bedeutung der Geschichte für die Probleme unserer Tage ist wieder lebendig; die Ablehung des „Historismus", jedenfalls in der Form, wie sie in den Nachkriegsjähren herrschte, ist überwunden.

Dafür besteht heute eine Krise der Geschichtswissenschaft, oder besser der Geschichtsschreibung. Sie wirkt sich nur mittelbar im Lehrbetrieb der Universitäten selbst aus und sie besteht auch kaum, wenn man an die eigentliche streng fachwissenschaftliche Forschungsarbeit der Historiker denkt. Hier sind vielfach die Spitzenleistungen geringer geworden im Vergleich zu der großen historischen Generation des 19. Jahrhunderts, aber im Ganzen ist die Arbeitsleistung höchst achtbar, im Durchschnitt vielleicht sogar dem des vorigen Jahrhunderts überlegen, und die heute übliche Kritik an der Fachwissenschaft sollte nicht vergessen, daß auch in früheren Zeiten nicht auf allen Lehrstühlen Männer vom Format Rankes gesessen haben. Aber eines ist ohne Zweifel sehr anders geworden. Die führenden Historiker des 6

19. Jahrhunderts waren nicht nur große Gelehrte, sondern die politischen und nationalen Führer unseres Volkes, und ähnlich War es vielfach im Ausland; und abgesehen von der politischen Tätigkeit der Historiker bestimmten ihre Werke in starkem Maße die politischen Anschauungen. Heute hat der Historiker in der Öffentlichkeit nur noch höchst selten einen Einfluß, ja manchen Kreisen ist das, was der Fachhistoriker sagt, schon von vornherein verdächtig. Fachhistorische Bücher werden in breiteren Kreisen kaum noch gelesen, auch dann, wenn sie vom Standpunkt der Gegenwart aus interessant und aufschlußreich sind. Die Tagespresse nimmt von ihnen im allgemeinen nur Notiz, wenn sich das wissenschaftliche Ergebnis irgendwie politisch, oder besser parteipolitisch, verwerten läßt. Auch dann pflegt das Ergebnis nicht zu sein, daß weitere Kreise zur Lektüre angeregt werden. Fast alle, auch namhafte Veröffentlichungen deutscher Historiker finden nur durch die dankenswerte Unterstützung der Notgemeinschaft ihren Weg zum Druck, damit meist noch nicht zum Leser. Das ist gewiß nur eine Teilerscheinung der allgemeinen Krise des „guten Buches", aber eben nur eine Teilerscheinung, denn den Weg zum breiten Leserpublikum, den die „legitimen" Historiker, um einen Ausdruck Emil Ludwigs aufzugreifen, nicht finden, besitzen die „illegitimen". Ihr Erfolg zeigt, daß ein großes Interesse an Darstellungen historischen Stoffes besteht. Die Auflageziffern der Bücher von Hegemann, Eulenberg und vor allem Emil Ludwigs reden eine deutliche Sprache. Ist dieser Tatbestand ein Ausdruck des Versagens der „legitimen", der Fachhistoriker? Zunächst darf gesagt werden, daß der äußere Erfolg noch kein Maßstab für den inneren Wert ist. Zu allen Zeiten haben geschichtliche Bücher, die gewissen Zeittendenzen huldigten, Erfolg gehabt und manches, was glänzte, war auch früher nur für den Augenblick geboren. Wenn ein Mann, wie Herbert Eulenberg, der einen Namen zu verlieren hat, ein Pamphlet gegen die Hohenzollern schreibt, das mit Geschichte nichts zu tun hat und für ernsthafte Republikaner viel peinlicher ist als für Monarchisten, so ist das an sich wenig aufregend. Wenn ihn der äußere Erfolg dieses Buches veranlaßt bereits ein neues über die letzten Wittelsbacher vorzulegen, so ist die Ausnutzung einer Konjunktur so deutlich, daß zur Sache kaum etwas zu sagen ist. Höchstens darf man bei der großen Zahl deutscher Dynastien befürchten, daß die Fortsetzung dieser Reihe 7

die Arbeitskraft Eulenbergs allzu lange in Anspruch nehmen wird. Ebenso wenig aufregend ist im Grunde der Fall Hegemann. Auch hier kann man bedauern, daß ein geistvoller Mann eine nicht geringe Darstellungsgabe rein negativ verwertet. Die Zerstörung von Heroenbildern ist selbst bei reichlich aufgewandtem Geist eine fast kindlich anmutende Spielerei, die freilich des Beifalls aller derer sicher ist, die sich darüber freuen, daß große Männer auch ihre kleinen Seiten haben, und die nicht erkennen, daß man Persönlichkeiten der Vergangenheit nicht mit dem Maßstab heutiger Anschauungen messen kann. Sehr anders und ohne Zweifel ernster liegt das Problem, das an die geschichtlichen Bücher Emil Ludwigs anknüpft. Sie bestimmen die historisch-politische Urteilsbildung auch sehr emsthafter Kreise und nehmen in der öffentlichen Meinung vielfach den Platz ein, den im 19. Jahrhundert die großen Fachhistoriker besaßen. Ob mit Recht oder mit Unrecht ist eine Frage, über die noch zu sprechen sein wird, deren Beantwortung aber an dem Tatbestand nichts ändert. Wie kommt es, daß heute der Literat, oder wie Emil Ludwig selbst sagt, der Künstler die Stelle einnimmt, die einst der Fachhistoriker besaß? Emil Ludwig hat sich in einem in der „Neuen Rundschau" erschienenen und von seinem Verlag kostenlos verbreiteten Aufsatz selbst über die Frage geäußert. Der Aufsatz trägt den Titel „Historie und Dichtung"; besser wäre die Überschrift „Legitime und illegitime Schule der Geschichtsschreibung" und noch besser „Die Fachhistoriker und Emil Ludwig". Denn das ist recht eigentlich das Thema. Der Aufsatz ist im Grunde eine in der Form des Gegenangriffes geführte Verteidigung gegen die vor einiger Zeit von Fachhistorikern in der Broschüre „Historische Belletristik" (R. Oldenbourg, München) an Emil Ludwig geübte Kritik, obwohl er das Wesentliche dieser Kritik nicht erwähnt und auch von Ludwigs eigenen Büchern nur in Umschreibungen spricht. Emil Ludwig tritt in diesem Aufsatz mit dem Anspruch auf, daß er die neue, wahre, lebenskräftige Schule der Geschichtsschreibung im Gegensatz zu der alten legitimen, verkalkten Fachwissenschaft verkörpere, die in Spezialistentum und Tatsachenkult stecken geblieben sei. Dabei rückt er sich in schönem Selbstbewußtsein an Carlyle, Macaulay und Jakob Burckhardt heran. Von der historischen Fachwissenschaft entwirft er ein Zerrbild, das nur 8

mit Unkenntnis zu entschuldigen ist, eine Unkenntnis, die auch durch die anscheinend eifrige Lektüre von Fueters „Geschichte der Historiographie" nicht gemildert wurde. Es ist nicht nötig, diese Unkenntnis im Einzelnen zu belegen. Sie ist im Grunde kein Wunder, da Emil Ludwig ja mehrfach selbst bekennt, daß er die Werke der Fachhistoriker nicht liest, um sich nicht den Blick für die „Quellen" trüben zu lassen, und da er selbst gesagt hat, daß er an der Universität geschichtliche Vorlesungen nie besucht hat. Man kann von ihm daher ein maßgebliches Urteil über die sogenannten Fachleute nicht erwarten, zumal es eine etwas primitive Kenntnis des heutigen Universitätslebens mit seinem überaus modernen Massenbetrieb bedeutet, wenn man sich den Universitätslehrer als zwischen Aktenstaub lebend vorstellt. Man darf aber vielleicht doch fragen, welcher namhafte deutsche Historiker eine Biographie geschrieben hat, die der Schilderung des „öffentlichen" Lebens seines Helden zum Schluß ein Kapitel anfügt, „der Held als Mensch". Überhaupt zeichnet die Polemik Emil Ludwigs aus, daß er zwar schwere Vorwürfe erhebt, aber keine Namen nennt. Wenn er sie nennt, wie etwa bei Treitschke, ist die Behauptung meist falsch. Denn daß Treitschke nur „preußische Archive" benutzt habe, um sich die „Freude an der preußischen Machtpolitik" nicht trüben zu lassen, ist unrichtig. Sein Verhältnis zur „alten Schule" der Geschichtswissenschaft bezeichnet Emil Ludwig mit den folgenden Worten: „Und doch sind wir es, die Hans Sachsens Worte im Munde führen: Verachtet mir die Meister nicht und ehrt mir — ihre Entsagung, Hingabe, ihren Fleiß. Denn wir sind so wenig die Gegner der Inschriftensammler, Glossatoren, Textkritiker und all der anderen Philologen, deren Arbeiten wir benutzen müssen, wie ein Mann, der eine Brücke bauen möchte, Feind aller Köpfe und Hände sein kann, die ihm den Platz gegraben, die Träger gegossen, die Blöcke gefügt, auch die Gefahren gewiesen haben." Diese Formulierung ist erstaunlich, weil der Angriff der „Fachhistoriker" gerade davon ausgeht, daß Emil Ludwig die „entsagungsvolle und fleißige" Arbeit der fachhistorischen Sammler nicht benutzt, daß er deshalb zwar kühne Brücken baut, aber mit einem Material, das höchst brüchig ist. Die Fachhistoriker haben sich nie dagegen gewehrt, daß Leute, die „keinen Lehrauftrag" haben, für weitere Kreise geschriebene Darstellungen veröffentlichen, wenn diese auf Kenntnis der Tat9

Sachen beruhen. Sie greifen Emil Ludwigs Bücher deshalb an, weil sie jegliche Vertrautheit mit dem historischen Stoff vermissen lassen. Die Broschüre „Historische Belletristik", deren Zusammensetzung und vor allem deren Einleitung ich nicht für übermäßig glücklich halte, obwohl ich selbst an ihr mitarbeitete, hat gerade — und fast allzusehr — den Nachdruck darauf gelegt an einer großen Anzahl von Beispielen die Unrichtigkeit und Einseitigkeit des Materials zu beweisen, auf dem Emil Ludwig seine Gebäude errichtet. Daß hier eine Gefahr für den „Dichter" besteht, hat Emil Ludwig selbst erkannt, wenn er schreibt: „Das dichterische Talent gefährdet den Historiker so leicht, als es ihn fördern kann, immer bleibt es eine Frage der prozentualen Mischung, der Disziplin und Wahrhaftigkeit, also zugleich eine moralische Frage, wie weit sich der Künstler verführen läßt, wenn er als Historiker arbeitet." Die Behauptung der Fachhistoriker ist gerade, daß Emil Ludwig sich hat „verführen" lassen, und es wäre daher wohl notwendig gewesen diesen Vorwurf zu entkräften, zumal Emil Ludwig selbst sagt: „Der Biograph, der ein einziges wesentliches Dokument ausließe, versetzte oder frei ergänzte, müßte wegen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit mit Entziehung der venia scribendi bestraft werden." Wenn er trotzdem immer wieder den Eindruck zu erwecken versucht, als ob es sich bei den ihm vorgeworfenen Unrichtigkeiten um höchst äußerliche Bagatellen handle — und einige Kleinigkeiten der Art zitiert —, so muß man freilich sagen, daß das überaus bequem und im Grunde das Eingeständnis ist, daß diesen Vorwürfen gegenüber selbst seine gewandte Feder versagt. Bedeutet hier der Aufsatz von Emil Ludwig eine Enttäuschung, so noch mehr darin, daß er sich nirgends zu wirklich allgemeiner Auseinandersetzung über Wesen und Art des Gegensatzes zwischen „alter" und „neuer" Schule erhebt, sondern mit sehr primitiven, von ihm nicht erfundenen, ihm freilich heute immer wieder nachgesprochenen Vorwürfen gegen die Fachhistoriker arbeitet. Vor allem wendet er sich dabei — um von der „philologischen Methode" zu schweigen, die er anscheinend nur vom Hörensagen kennt — gegen das Spezialistentum. Gewiß, das Spezialistentum herrscht in der Fachhistorie und zum Teil allzusehr. Aber das ist ja nur eine allgemeine Erscheinung unserer gesamten geistigen Situation, die man gewiß nicht mit ungetrübter Freude beobachten kann. 10

Selbst Kreise, die sich für Emil Ludwig begeistern, treten vielfach für das Spezialistentum auf den Gebieten des geistigen Lebens und für die Schaffung neuer spezialistischer Disziplinen an den Universitäten ein. Auch im praktischen Leben bedeutet der Spezialist für das Publikum eine Autorität und schließlich, Emil Ludwig selbst ist ja der Spezialist der „psychologischen Biographie". Ein zweiter Einwand Emil Ludwigs gegen die „alte" Schule ist der, daß sie politisch einseitig eingestellt sei, daß sie die Fürsten bewußt schone und daß die Fachhistoriker im Grunde eine reaktionäre Gesellschaft der „ewig Gestrigen" seien. Emil Ludwig wird nicht wissen, daß eine große Reihe angesehener Vertreter der Geschichte an den deutschen Universitäten nicht der politischen Rechten angehört und dem neuen Staat durchaus positiv gegenübersteht. Aber er weiß, daß der Widerspruch gegen seine geschichtlichen Bücher von Historikern a l l e r politischen Richtungen ausgeht. Es ist deshalb nur ein ebenfalls sehr bequemes Ausweichen, wenn Emil Ludwig jede Kritik immer wieder aus politischen Gründen zu erklären versucht. Mit Politik hat, trotz der Polemik der Tagespresse, die Frage nichts zu tun; Emil Ludwig findet ja auch unter ausgesprochen rechtsstehenden Leuten begeisterte Leser. Der einzige Punkt, in dem Emil Ludwig eine prinzipielle Auseinandersetzung zwischen der „alten" und der „neuen" Schule versucht, ist seine These vom Vorgefühl. Er zitiert einen Ausspruch von Gauß: „Mein Resultat habe ich längst, ich weiß nur noch nicht genau, wie ich dazu kommen werde" und sagt dazu: „Mit diesem genialen Ausruf hat Friedrich Gauß unserem Problem ins Herz getroffen und sich nicht gefürchtet, obwohl er sogar Mathematiker war. Jeder Historiker der alten Schule rühmt sich seiner Objektivität, jeder der neuen bekennt sich zum Vorgefühl." Zunächst darf dazu bemerkt werden, daß auch die Historiker der „alten" Schule wissen, daß volle Objektivität nicht erreichbar ist, daß es eine „voraussetzungslose Wissenschaft" nicht gibt. Auch der Fachhistoriker ist sich bewußt, daß Weltanschauung und Stimmung der Zeit und des Volkes, in dem er lebt, daß seine eigene Individualität und dazu alle jene unwägbaren Momente, die das Interesse für einen bestimmten Stoff erwecken, noch bevor man sich in ihn vertieft, das Urteil entscheidend bestimmen. Er verI I

langt freilich von dem seiner Verantwortung bewußten Historiker, daß er „Ehrfurcht vor der Tatsache", „Disziplin" und „Wahrhaftigkeit" hat, und sich selbst kritisch prüft, ob nicht die eigene Anschauung ihn in den Quellen nur das finden läßt, was ihm genehm ist. Auch scheint uns das Wort von Gauß keineswegs das auszudrücken, was Emil Ludwig ihm entnimmt. Gauß hat auf Grund intimster Beschäftigung mit den Problemen das Resultat erkannt und sucht noch den schlüssigen Beweis. Auch der Fachhistoriker wird häufig ähnliche Erfahrungen bei seiner Arbeit machen. Auch er geht mit einem gewissen „Vorgefühl" an das ihn beschäftigende Problem heran. Aber er wird im allgemeinen erst, wenn er sich mit dem von Emil Ludwig so gering geschätzten Sammlerfleiß — und nicht in der von ihm gefeierten „kürzeren Liebschaft" — in das Material eingearbeitet hat, wenn er den Stoff wirklich beherrscht, in dem Instinkt eines Augenblicks die wesentlichen Gesichtspunkte erfassen, zunächst in einem plötzlichen und unbewußten Aufleuchten den tieferen Sinn der Probleme erkennen, mit denen er sich beschäftigt. Diese zunächst instinktive Erkenntnis gilt es festzuhalten, wenn aller Sammlerfleiß und alle Detailarbeit nicht umsonst getan sein soll. Das Wort „Vorgefühl" scheint uns freilich dieses Wesen wissenschaftlicher Erkenntnis ungenügend zu bezeichnen und darüber hinaus eine recht gefährliche Formulierung zu sein. Wenn Emil Ludwig für die „neue" Schule jetzt „laut erklärt, daß Dokumente meist nur das belegen, was man im Herzen vorgefühlt hat", so wird die „alte" Schule freilich „kleinlich" genug sein zu meinen, daß er damit ihre Kritik selbst bestätigt. So führt die Auseinandersetzung mit der Fachhistorie, die Emil Ludwig in seinem Aufsatz vorgenommen hat, in keiner Weise wirklich fruchtbar weiter; sie erklärt auch nicht die Wirkung seiner Werke. Auch daß Emil Ludwig besseres Deutsch schreibt als der Durchschnitt der Fachhistoriker, scheint uns dafür kein ausreichender Erklärungsgrund zu sein, zumal Emil Ludwigs sprachliche Ausdrucksfähigkeit doch stets in einem überaus prätenziösen und gespreizten, Effekte suchenden Stil sich äußert. Gewiß lesen sich seine Bücher amüsanter und leichter als die der Fachhistoriker, zumal sein „Vorgefühl" sich meist mit dem „Erlaubt ist, was gefällt" vereinigt, und vielfach gar nicht das, was er selbst sagt, sondern die höchst pikante Auswahl der Zitate — das Bismarckbuch ist mit ihnen direkt überladen — die Spannung 12

erzeugt, die er für seine Leser zu brauchen scheint. Eine Darstellungskraft großen Stils, die ihn der Masse der „Legitimen" überlegen machen könnte, besitzt er nicht. Denn nirgends werden in seinen Darstellungen die eigentlichen Probleme plastisch und anschaulich herausgearbeitet, eine Fülle nicht nur äußerer, sondern auch innerer Widersprüche zeigt, daß die Darstellung das Material nicht meistert, daß der einheitliche große Grundzug fehlt. Dem flüchtigen Leser wird das dadurch verdeckt, daß Emil Ludwig stets alles auf eine ziemlich äußerliche und primitive, den Kern der Dinge nicht fassende Formulierung bringt. In seinem soeben erschienenen Buch „Juli 14" ist diese Formel: „Die Gesamtschuld lag in den Kabinetten, die Gesamtunschuld auf den Straßen Europas"; diese These gibt zu sehr kontrastreichen und fesselnden Gegenüberstellungen Anlaß, ist aber überaus primitiv und im übrigen „veraltet". Auch diese Darstellung der Politik der Mächte im „Juli 14" löst Emil Ludwig in eine Reihe „psychologischer Biographien" auf und erklärt das Weltgeschehen fast ausschließlich aus Leichtsinn, Torheit und Frivolität einiger weniger führender Persönlichkeiten. Außerdem muß die isolierte Betrachtung des Juli 1914 notwendig den Blick für die Tiefen der historisch-politischen Entwicklung verschließen, auf deren Grundlage überhaupt erst das Geschehen der Wochen vor Kriegsausbruch zu verstehen ist. Und diese so primitive Schilderung wird im Grunde nur dadurch lesbar, daß nicht künstlerische Darstellungsgabe, sondern einige Kunstgriffe sie für den nichtunterrichteten Leser direkt sensationell machen. Daß Emil Ludwig seine „Deutungen", „um nicht durch Analysen zu ermüden", in der Form von Monologen der handelnden Staatsmänner gibt, beweist, daß er selbst sich nicht zu wirklich historischer Darstellung befähigt glaubt, ohne den Leser eben zu ermüden. Noch schlimmer ist der Kunstgriff die in indirekter Rede gegebenen Berichte der Diplomaten „in den direkten Dialog" zurückzuversetzen*). Auf dieses Verfahren scheint uns im *) Es sei zu diesen Dingen eine der Emil Ludwig so verhaßten „philologischen" Anmerkungen gestattet. Emil Ludwig teilt im Vorwort des Buches mit, er habe alle „Dokumente kursiv" gesetzt (auch die in direkte Rede zurückversetzten) und meint: „ D a s schien diesmal geboten, weil gewisse Historiker, die noch immer die Weisheit der damals verantwortlichen deutschen Staatsmänner einseitig zu erweisen versuchen, meinen früheren, ihnen politisch unbequemen Darstellungen die Echtheit der

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Grunde der Satz anwendbar, daß ein Versetzen oder freies Ergänzen „wegen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit mit Entziehung der venia scribendi bestraft werden" muß, wie Emil Ludwig in dem von uns schon zitierten Wort so treffend sagt. Auf diese Weise wird die Schilderung Emil Ludwigs vom „Juli 14" im Grunde zu einem historischen Roman, über den er selbst in seinem Aufsatz so harte Worte gesprochen hat. Wenn wir nun die bei Emil Ludwig vermißte Antwort auf die Frage nach dem Wesen des Unterschiedes zwischen der „alten" und der „neuen" Schule wenigstens andeutend zu geben versuchen, so kommen wir zu dem vielleicht erstaunlichen Ergebnis, daß gerade Emil Ludwigs Geschichtsschreibung im Grunde eine alte, längst überholte ist. Emil Ludwig rühmt seinen Biographien nach, daß sie die volle lebendige Persönlichkeit in ihren menschlichen Gebundenheiten und Beziehungen künstlerisch wieder lebendig machen, während die Fachhistoriker in Tatsachen und Daten stecken blieben. Aber gerade die „alte" Schule der Fachhistoriker verlangt von der Biographie, daß die Schilderung eines Lebenslaufes nicht in der äußerlichen Lebensschilderung stecken bleibt, sondern daß der Charakter der Persönlichkeit, ihr Werden und Wirken hineingestellt wird in die Umwelt, in all ihre sozialen und politischen Abhängigkeiten und Bindungen, in das „Milieu", um einen modernen Ausdruck zu gebrauchen; das erschwert freilich die biographische Darstellung, nicht nur für den Verfasser, sondern auch für den Leser. Im Gegensatz dazu ist allen Biographien Emil Ludwigs die streng isolierende, Zeitumstände und Zeiteinflüsse nicht berücksichtigende Schilderung der Persönlichkeit gemeinsam. Er schreibt zum Beispiel eine Biographie Bismarcks ohne die geringste Vertrautheit mit der Umwelt, in der der junge Bismarck aufwuchs, ohne Kenntnis des Wesens und Quellen bestritten haben." Ich darf annehmen, daß sich diese Bemerkung auch gegen mich richtet. Emil Ludwig weiß, daß ich die Weisheit der deutschen Staatsmänner nie verteidigt, sondern im Gegenteil ihre unkluge Politik hervorgehoben habe. Emil Ludwig müßte wissen, daß fast kein deutscher Historiker, der sich mit den Dingen beschäftigt hat, die Weisheit der kaiserlichen Politik im Juli 1914 wie in den Jahrzehnten zuvor „einseitig zu erweisen" versucht hat. Man kann sich eigentlich derartige Bemerkungen, wenn man nicht bewußte Entstellung annimmt, nur damit erklären, daß Emil Ludwig zwar zu „schreiben", aber nicht zu lesen versteht.

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der Bedeutung der nationalen liberalen Einheitsbewegung, mit der Bismarck im Kampf und zugleich im Bunde stand, als er das Deutsche Reich schuf. Gerade diese Nichtberücksichtigung des Milieus macht Emil Ludwigs „psychologische" Biographien nicht nur unmodern, sondern auch unpsychologisch. Modern ist nur die Technik, die ich an anderer Stelle mit dem Kino verglichen habe, nicht die Auffassung. Man könnte fast meinen, daß Emil Ludwig das in einseitiger Formulierung einer veralteten Schule angehörende Wort „Männer machen Geschichte" bejaht, das schon Treitschke, der es prägte, in seiner eigenen Geschichtsschreibung nicht beachtete. Die Gesamtauffassung des geschichtlichen Lebens durch Emil Ludwig ist so unmodern wie nur möglich. Diese „neue" Schule fällt in ihrer Geschichtsauffassung in die primitiven Anschauungen zurück, die die Anfänge moderner Geschichtsbetrachtung im Zeitalter der Aufklärung bestimmten. Ihr fehlt im Grunde jedes Verständnis vergangenen Lebens und historischer Persönlichkeiten, weil sie aus der Gegenwart Werturteile über Zeiten und Menschen fällt, auf die diese nicht passen. Auch diese, der eigenen Zeit entnommenen Maßstäbe sind meist sehr äußerlich gewählt, so daß die „neue" Schule — nicht nur durch den Verzicht auf eigene Forschung — sich selbst und ihren Lesern die Arbeit sehr leicht macht, leichter, als die „alte" Schule es verantworten zu können glaubt. Um das auszuführen, dürfen wir noch einmal weiter ausholen. Jede Generation hat gewiß ihr eigenes Geschichtsbild. Jede wahre Geschichtsschreibung ist ja nicht „Verherrlichung" der Vergangenheit, sondern von den Problemen der Gegenwart aus eine kritische Selbstbesinnung über die fruchtbaren und gesunden, wie über die negativen und kranken Erscheinungen der Vergangenheit, um so den festen und sicheren Boden des Wegebaus aus der Gegenwart in die Zukunft zu finden. Daß dazu sorgfältige Tatsachenforschung, auch in spezialistischer Arbeit, selbstverständlich ist, gerade dann, wenn man in der Historie mehr als eine Fachwissenschaft sieht, sei noch einmal betont. Das müßte in unserem Zeitalter des „Spezialistentums" eigentlich unbestritten sein. Wer ginge heute zu einem Arzt, der ohne Kenntnis des menschlichen Körpers und ohne sehr spezialistische Vorbildung in „künstlerischem Vorgefühl" die Diagnose stellte, und wer führe heute 15

über eine „Brücke", deren Material nicht durch vielfache Prüfungen als unbedingt zuverlässig erwiesen ist ? Aber gewiß, Tatsachenforschung und spezialistische Ergebnisse sollen und können nie Selbstzweck sein, obwohl auch hier dem „Handwerker" gegenüber Hochmut nicht am Platze ist. Und es ist schlechterdings Legende, daß unsere führenden Historiker im Tatsachenkult stecken bleiben. Aber sie können sich freilich ihre Aufgabe nicht so leicht machen, wie es Emil Ludwigs „neue" Schule tut. Denn gerade die neue und moderne Entwicklung der Wissenschaft zeigt die Mannigfaltigkeit der historischen Kräfte, im Zusammenwirken von Außen- und Innenpolitik, von Individuum und Masse, von politischen, sozialen, wirtschaftlichen und geistigen Kräften, und sie verbietet dem Fachhistoriker die einseitigen und freilich zugleich sensationell schillernden „Deutungen" Emil Ludwigs, die nur deshalb so schlagkräftig sind, weil sie primitiv vereinfachen und ein Zerrbild historischen Lebens geben, dem, um ein Wort Dahlmanns zu benutzen, nur so viel Wahrheit beigegeben ist, um einigermaßen glaubwürdig zu erscheinen. Vor allem aber hält die „alte" Schule auf Grund der modernen Entwicklung und auf Grund des Glaubens an eine geschichtliche „Relativitätstheorie" — also im Grunde höchst modern — es nicht für ihre Aufgabe, ein Richteramt an der Vergangenheit zu vollziehen, Menschen der Vergangenheit von Bedürfnissen des Tages und des Zeitgeschmacks her zu beurteilen. Emil Ludwig steht hier in einer Linie mit Hegemann und Eulenberg, nur ist er klüger als sie. Er hüllt seine Verurteilung in den Schleier psychologischen Verstehens und Begreifens, kann aber auch für den, der ohne die Sache zu kennen ein Empfinden für den „Stil" hat, nicht verbergen, daß seine Freude stets dem Menschlichen und allzu Menschlichen gehört, so daß er unnötig süffisante Bemerkungen zu unterdrücken nicht in der Lage ist, weil hier sein „Temperament" stärker ist als seine Klugheit. Emil Ludwig wendet sich mit Recht gegen die Methode aus großen Persönlichkeiten Standbilder zu machen, aber er setzt an die Stelle dieser Standbilder nicht echte menschliche Größe, sondern Filmstreifen und im besten Falle technisch gut ausgeführte Buntdruckphotogr aphien. Emil Ludwig glaubt nun freilich und ohne Zweifel ehrlich daran, daß er mit seinen Büchern der neuen Zeit dient und durch Zerstörung historischer Legenden dem demokratisch-republika16

nischen Staat Anhänger schafft. Gewiß, mancher deutsche Leser hat erst durch Emil Ludwig erfahren, daß die Zeiten Wilhelms II. nicht eben „herrliche" waren. Aber im ganzen wirken seine Bücher politisch höchstens negativ, nie werbend, und im Grande handelt es sich, wie wir schon sagten, nicht um ein politisches, sondern um ein kulturelles Problem. Wenn es dem „illegitimen" Historiker gelänge, selbst wenn er in Einzeltatsachen fehlte, aus der Darstellung der Vergangenheit lebendige historisch-politische Energien für Gegenwart und Zukunft zu wecken und ein neues historischpolitisches Ethos entstehen zu lassen, so könnte man sein Wirken auf das wärmste begrüßen. Aber es ist gerade der deutlichste Mangel der Schriften Emil Ludwigs und der anderen Männer der „neuen" Schule, daß ihre Geschichtsauffassung zwar den längst überwundenen, aufklärerischen Fortschrittsglauben und die Wertung alles Geschehens von dem Maßstabe der Gegenwart her erneuert, aber daß sie sich nicht mit einem Ethos und dem Glauben an große Zukunftsziele verbindet, die solcher Geschichtsauffassung auch heute noch einen gewissen Wert verleihen könnten. Emil Ludwig spielt höchstens mit den Problemen des geschichtlichen und des gegenwärtigen Lebens, aber er ringt nie in innerem Ernst mit ihnen, wie es wohl der Beruf nicht nur des Historikers, sondern erst recht der des Künstlers wäre. Und so folgen im Grunde seine historischen Bücher den Maximen, die der Schauspieldirektor im Vorspiel von Goethes Faust entwickelt und deren Charakterisierung durch den wahren Dichter so deutlich auf unseren Fall zutrifft, daß es unhöflich wäre sie wörtlich anzuführen. Mit all dieser Polemik ist nun freilich die Wirkung der historischen Bücher Emil Ludwigs noch nicht erklärt. Es wäre falsch, diesen Erfolg allein mit der gewandten und wirkungsvollen Technik zu erklären. Auch die Krise unserer geistigen Kultur, die das Kino das Theater, die Revue das ernste Stück verdrängen läßt, und so fort, scheint uns keine ausreichende Erklärung zu sein. Solche Dinge hat es vor allem in Zeiten materieller Not stets gegeben, obwohl das durch die moderne Technik geschaffene „Tempo" solche Erscheinungen begünstigt. Es würde uns allzuweit führen auch diese Probleme hier zu erörtern und wir beschränken uns daher hier auf die Geschichtsschreibung. Und da scheint uns sicher, daß Emil Ludwigs Erfolg sich ohne die Tatsache nicht erklären läßt, daß er in eine schon bestehende Lücke vorstoßen konnte. Es gibt 17

dem „legitimen" Historiker zu denken, daß die Kritik gegenüber dem Fachmann, die der Geschichte gegenüber so lebendig ist, auf fast allen anderen Wissenschaftsgebieten nicht besteht. Emil Ludwig hat nicht etwa die „alte" Schule ihres Einflusses beraubt, sie hatte ihn schon vorher verloren. Die Stellung als nationale und politische Führer, die die großen Historiker des 19. Jahrhunderts sich in den Kämpfen um die Reichsgründung erwarben, hat die nachfolgende Generation nicht mehr besessen. Der Grund liegt zum Teil darin, daß die politische Bewegung des 19. Jahrhunderts gerade von den bürgerlich-akademischen Kreisen getragen war. Die führende Stellung der Universitäten im allgemeinen und der Historiker im besonderen entsprach der gesamten politischen und sozialen Situation. Sie ist in dieser Form heute in keinem Fall wieder herzustellen, zumal wir alle, auch die „legitimen" Historiker, jenen einseitigen Glauben an die Wirkung geistig moralischer Kräfte verloren haben, der die nationale und liberale Bewegung der Zeiten vor der Reichsgründung beseelte. Hinzu kommt die Entwicklung zum Spezialistentum, der die Fachhistorie ebenso ihren Tribut leisten mußte wie alle anderen Gebiete unseres Lebens, und die selbstverständlich der Wirkimg Eintrag tun muß. Aber wenn nun weite Kreise, die der Entwicklung zum Spezialistentum sonst keineswegs feindlich gegenüberstehen, diese Entwicklung der Geschichtswissenschaft immer wieder tadeln, so hat der Historiker vielleicht mehr Grund dazu darauf stolz zu sein als darüber zu klagen. E s ist ein Zeichen dafür, daß man von dem Historiker eben mehr erwartet. Man kann freilich sagen, daß der Historiker als „Fachmann" darunter leidet, daß auf seinem Gebiet sich jeder ein Urteil erlaubt, der etwa in der Naturwissenschaft und Medizin gläubig der „GeheimWissenschaft" der Fachleute und ihrer Autorität vertraut. Aber sollte diese vielfach nicht unberechtigte Klage nicht auch ein Ansporn sein ? Ist alle Kritik nicht ein Zeichen dafür, daß weite Kreise unseres Volkes von der Geschichtsschreibung etwas erwarten, was sie bei ihr nicht finden, und daß sie wenigstens zum Teil deshalb den Ersatz in Surrogaten suchen und nicht nur, weil sie die leichter genießbare Ware der „Illegitimen" der gewiß schwerer verdaulichen Kost der Fachhistoriker vorziehen? Ein Buch wie Friedrich Meineckes „Weltbürgertum und Nationalstaat", das an den Leser nicht geringe

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Ansprüche stellt, hat einen sehr erheblichen äußeren Erfolg zu verzeichnen. Auch andere historische Bücher, die bei aller fachlichen Einstellung an Probleme des Lebens rühren, finden bei weiten Schichten Beachtung. Nicht im Spezialistentum, noch weniger in der, .philologischen'' Methode und erst recht nicht in einseitiger politischer Einstellung findet die Tatsache ihre Erklärung, daß die Geschichtsschreibung die Stelle im Leben der Nation nicht einnimmt, die man von ihr verlangt und erwartet, sondern wohl darin, daß die enge Verbindung zwischen Geschichte und Leben, die enge Fühlung mit den politischen Problemen und Kämpfen der Zeit teilweise verlorengegangen ist. Emil Ludwigs Vorstellung vom historischen Professor als Aktenwurm, die ihn selbst bezweifeln läßt, ob es „amouröse" Professoren geben kann, entstammt vielleicht der Kenntnis des Monologes aus dem „Faust", nicht der Kenntnis der Professoren, und auch der Vorwurf mangelnder Menschenkenntnis, den Emil Ludwig erhebt, ist mindestens für den Professor unbegründet, der seinen Lehrberuf ernst nimmt und der dabei in viele menschliche Nöte und Probleme seiner Schüler hineinblickt, was gewiß einen Ersatz für die „instinktive" Menschenkenntnis des „Künstlers" bieten dürfte. Aber die enge Verbindung der Geschichtswissenschaft mit dem politischen Leben der Gegenwart, die den großen Historikern des 19. Jahrhunderts eine führende Stellung im Leben der Nation sicherte, besteht heute vielfach nicht. So ist es zum Beispiel wohl kein Zufall, daß im Kampf gegen die sogenannte „Kriegsschuldlüge" die Fachwissenschaft sich relativ wenig beteiligte, obwohl hier gerade die Arbeit des Historikers eine sichtbare nationale Funktion erfüllen kann. Gewiß ist namentlich in den letzten Jahren eine große Anzahl fachhistorischer Arbeiten über die Außenpolitik der Jahrzehnte vor dem Kriege erschienen — mit einem nicht ganz uncharakteristischen Schwergewicht auf der Bismarckzeit —, aber die historische Forschung und die nationale Bewegung gegen die Kriegsschuldthese laufen im Grunde mehr parallel nebeneinander her, als ineinander. Das erklärt sich zum Zeil aus der Tatsache, daß der Historiker die unhistorische Fragestellung des Artikels 231 seiner Arbeit nicht zugrunde legen kann, aber diese Erklärung reicht wohl nicht aus, um zu begründen, daß in einer nationalen Frage, in der dem deutschen Historiker im Grunde die Führung hätte zufallen sollen, 19

die eigentliche Initiative mit wenig Ausnahmen von „unzünftigen Spezialisten" ausging. Es besteht heute bei den Fachhistorikern eine gewisse Scheu vor der Politik, sehr im Gegensatz etwa zu der Forderung Treitschkes, der die Parteinahme in den großen, die Nation bewegenden Fragen als Bürgerpflicht bezeichnete. Daß es hier mancherlei Ausnahmen gibt, daß ein nicht unerheblicher Teil der Historiker sehr lebhaft am politischen Leben teilnimmt, ändert an der Tatsache nichts, daß die allgemeine Stimmung doch wohl durch die ungläubige Frage eines Altmeisters der historischen Wissenschaft charakterisiert wird: Wie kann ein guter Historiker politisch tätig sein ? — ein Wort, das verkennt, wie fruchtbar und bildend aktive politische Tätigkeit und die dabei gewonnene Erfahrung über das Wesen politischer Vorgänge und politischen Handelns für den Historiker sein kann. Wir müssen dabei nun freilich ein Mißverständnis von vornherein ausschalten. Das Wiederentstehen einer politisierenden Geschichtsschreibung, die die Vergangenheit zur Waffe im polischen Kampf macht, ist keineswegs zu wünschen, zumal das, was bei Treitschkes Genialität groß war, bei Kleineren unerträglich wäre, und wo man derartige Versuche heute wieder gemacht hat, unerträglich ist. Ebensowenig wird man wünschen, daß die Geschichte zur Zweckwissenschaft wird und nur solche Probleme der geschichtlichen Vergangenheit behandelt, die für die Gegenwart wichtig erscheinen. Jede Politisierung in diesem Sinne wäre ein Rückschritt. Aber etwas anderes ist die Frage, ob nicht die gewaltigen und fast überall ganz neu gelagerten historisch-politischen Probleme der Gegenwart — nicht die aktuellen Tagesfragen — in ganz anderer Weise, als es bisher geschah, auch die wissenschaftliche Fragestellung und die Geschichtsschreibung beeinflussen könnten. Aber alle Anzeichen scheinen uns darauf hinzudeuten, daß das innere Leben der historischen Wissenschaft durch das gewaltige Erleben unserer Zeiten neu gestärkt wurde. Daß die Geschichtsschreibung an einer „Revision" des überkommenen Geschichtsbildes arbeitet, zeigt so manche Veröffentlichung unserer führenden Historiker, wobei freilich betont werden darf, daß ein neues Geschichtsbild nicht durch die Umkehrung bisheriger Werturteile entsteht. Die historische Wissenschaft ist sich heute ohne Zweifel bewußt, daß sie mehr als eine Fachwissenschaft sein muß 20

und eine nationale Funktion zu erfüllen hat. Sie weiß, daß die Ablehnung einer politisierenden Geschichtsauffassung und die Behauptung streng wissenschaftlicher Grundlage politisches Wollen im besten und höchsten Sinne des Wortes nicht ausschließt. In welchem Sinne sich das im einzelnen auswirken wird und auswirken kann, ist gewiß schwer zu sagen und kann hier nicht erörtert werden. Nur auf einen Unterschied zu Emil Ludwigs „neuer" Schule sei auch hier hingewiesen. Wenn diese im Grunde die Kluft zwischen Gegenwart und Vergangenheit erweitert, sieht es die Fachwissenschaft als ihre national-politische Aufgabe an, die unlösbare Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart zu zeigen. Sie wird stets Tendenzen ablehnen, die zwischen dem Heute und dem Gestern einen Trennungsstrich ziehen, sei es um die neue Zeit auf Kosten der alten zu preisen, oder durch Schilderung des „Glanzes" der „guten alten Zeit" die Gegenwart schlecht zu machen. Denn es gibt ebensowenig eine Rückkehr zur Vergangenheit und eine Wiederherstellung vergangener Zustände wie einen radikalen Bruch mit den Kräften vergangenen Lebens. Auch der heutige Staat kann seine Aufgabe nur erfüllen, wenn er sich der starken historischen Kräfte bewußt ist, auf denen er aufbaut. Und die historische Wissenschaft wird dem heutigen Staat am besten dienen, wenn sie aus der Schilderung der Vergangenheit die Erkenntnis der Aufgaben der Gegenwart und Zukunft erwachsen läßt.

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FEINDE BISMARCKS von

Dr. OTTO WESTPHAL 304 Seiten. Gr.-8®. 1930. Brosch.M. 11.50, in Leinen gebunden M. 13.50

Eine Geistesgeschichte der deutschen Opposition von 1848—1918

unter dem besonderen

Gesichtspunkt

„Staat, Kunst und Wissenschaft". Eine Auseinandersetzung mit E m i l L u d w i g , R i c h a r d Nietzsche,

Burckhardt,

Wagner,

Dilthey,

Lam-

p r e c h t , M e i n e c k e u. a. Westphal zeigt, wie mit der Revolution 1918 eine Umgruppierung zum A b schluß kam, die, im Gegensatz zu 1848, die Kunst zur Verfechterin des neuen, die Wissenschaft zu der des alten Staates machte. Wissenschaft und ancien régime, Kunst und Revolution gehören seitdem zusammen und die Ästhetisierung unserer Kultur steht in engem Zusammenhang mit dem Untergang der Ideen von 1871.

R. Oldenbourg / München 32 und Berlin W 10