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German Pages 209 Year 1981
OTA W E I N B E R G E R
Normentheorie als Grundlage der Jurisprudenz und Ethik
Schriften zur
Rechtstheorie
Heft 95
Normentheorie als Grundlage der Jurisprudenz und Ethik Eine Auseinandersetzung mit Hans Kelsens Theorie der Normen
Von
Univ.-Prof. DDr. Ota Weinberger
D U N C K E R
&
H U M Β LOT
/
B E R L I N
Alle Rechte vorbehalten © 1981 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1981 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin 61 Printed in Germany I S B N 3 428 04884 9
0. Vorbemerkung Es gibt wenige Rechtstheoretiker, die die Entwicklung der Jurisprudenz so nachhaltig beeinflußt haben wie Hans Kelsen. Mehr als 60 Jahre hat dieser Denker i n den ersten Reihen der wissenschaftlichen Auseinandersetzungen für eine spezifische Konzeption der Rechtswissenschaft, die Reine Rechtslehre, gekämpft. Wenn dieser bedeutende Rechtsgelehrte die letzten Jahre seiner A r beit vollkommen auf die logischen und logisch-methodologischen Grundlagenprobleme der Jurisprudenz und der Normenwissenschaften konzentriert hat, scheint dies ein beredtes Zeugnis dafür zu sein, daß i n der heutigen Situation der Jurisprudenz und der praktisch-philosophischen Wissenschaften diese Fragen die entscheidenden theoretischen Probleme darstellen, von deren Klärung die angemessene Konzeption und der wissenschaftliche Fortschritt i n diesen Bereichen abhängen. Ich erblicke darin eine gewisse Bestätigung meiner logizistischen Einstellung zur rechtsphilosophischen Forschung, wenn ich auch sonst i n wesentlichen Punkten m i t Kelsen keineswegs übereinstimmen kann. Kelsen hat diese Untersuchungen, deren Ergebnisse i n dem Buch „Allgemeine Theorie der Normen" 1 festgehalten sind, nicht mehr beendet. Das Werk wurde i n sehr verdienstvoller Weise, m i t großer Sorgfalt und A k r i b i e von Prof. Kurt Ringhofer und Prof. Robert Walter herausgegeben. Meines Erachtens ist es sehr zu begrüßen, daß durch die Edition dieses bedeutenden Werkes die i m wesentlichen k l a r formulierten letzten Gedanken dieses großen Mannes der wissenschaftlichen Welt erhalten und zur Diskussion vorgelegt wurden, und zwar insbesondere aus folgenden Gründen: a) Dieses Werk stellt keine bloße Wiederholung der i n den früheren über 600 Pubiiikationen Kelsens ausgedrückten Thesen und Meinungen dar. Es werden zwar gewisse Grundauffassungen, die schon früher ausgedrückt wurden, beibehalten, doch sind die Grundthesen der Kelsenschen „Allgemeinen Theorie der Normen" Ausdruck einer neuen Konzeption, die sich i n wesentlichen Zügen von der früheren Lehre des Autors unterscheidet. 1 Das Buch: Kelsen, H.: Allgemeine Theorie der Normen, Hrsg. K. Ringhofer, R. Walter, Manz Verlag, W i e n 1979, werde ich n u r durch Angabe der Seitennummern i n K l a m m e r n zitieren.
6
0. Vorbemerkung
b) Das Buch enthält eine ganze Menge beachtenswerter Behauptungen, deren Diskussion geeignet ist, die Wissenschaften des praktisch-philosophischen Bereiches wesentlich zu fördern. c) Die hier vorgelegten Meinungen müßten — wenn ich richtig sehe — zu einer tiefgreifenden Transformation der Kelsenschen Reinen Rechtslehre führen. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß sich Kelsen der ganzen Breite der Konsequenzen seiner neuen Thesen für den Aufbau der Reinen Rechtslehre und für die von ihr geforderte juristische Methodologie nicht v o l l bewußt war. Sicherlich ahnte er einiges, was sich aus seiner neuen Konzeption ergibt, doch war er sich dessen wahrscheinlich nicht bewußt, daß die konsequente Durchführung seiner antinormenlogischen Auffassung die analytische Jurisprudenz selbst aus den Angeln hebt. Der Teil des Buches, den Kelsen nicht mehr beenden konnte, sollte offenbar dazu dienen, die durch die „Allgemeine Theorie der Normen" notwendig gewordene Umgestaltung der Reinen Rechtslehre durchzuführen. Wer die neue Konzeption der Normen, wie sie i n diesem Buch zum Ausdruck kommt, akzeptiert, muß selbst — anhand der nicht zu Ende geführten Überlegungen Kelsens — diese Transformation des Gedankengebäudes der Reinen Rechtslehre durchführen. Ich könnte m i r allerdings vorstellen, daß die Untersuchung der Konsequenzen der neuen Thesen für die von Kelsen früher vertretene Reine Rechtslehre stellenweise zu einem neuen Überdenken der Grundlagenfragen geführt hätte. Vielleicht hätten diese Untersuchungen sogar zu einer Revision einiger Thesen der allgemeinen Normentheorie geführt. d) Last but not least b i n ich davon überzeugt, daß einige der neuen Grundauffassungen Kelsens eine kritische Analyse dringend herausfordern, die m i r u m so nötiger erscheint, als die Jurisprudenz sonst meines Erachtens i n eine Sackgasse geführt werden könnte, die alle Bemühungen der analytischen Rechtsphilosophie zunichte machen würde. Insbesondere die normenlogischen Grundlagenprobleme müssen eingehend kritisch untersucht werden. Auch andere Autoren — insbesondere der tschechische Nationalökonom, Rechtstheoretiker und Logiker Karel EngliS — haben i n gewisser Beziehung verwandte Thesen über Normen und über die Frage der logischen Beziehungen von Normen ausgedrückt. Bei Kelsen finden w i r jedoch eine extreme und konsequente Formulierung, sowie den Versuch, auch die methodologischen Folgen dieser Auffassung konsequent darzulegen. Die Entschlossenheit und Konsequenz, m i t der Kelsen die Folgen seiner Thesen von der Unmöglichkeit logischer Beziehungen zwischen Normen akzeptiert und i n die juristische und ethische Lehre einbaut, zeugt einerseits von dem wissenschaftlichen Format
0. Vorbemerkung dieses Denkers, führt aber andererseits das Problematische dieser Auffassung klar vor Augen, und bietet eine starke Motivation für grundlegende K r i t i k . Wenn die strukturtheoretisch orientierte Rechtsphilosophie weiterleben soll, müssen Kelsens neue Konzeptionen ins richtige Licht gestellt werden. Ich möchte sogar noch eine stärkere These wagen, die durch meine Untersuchungen belegt werden soll: Kelsens neue Konzeption entzieht durch ihre i r rationalistische Einstellung gegenüber der Normenlogik der analytischen Rechtsphilosphie vollends den Boden. Kelsens ablehnende Einstellung zur Möglichkeit logischer Beziehungen und logischer Operationen m i t Normsätzen, sowie die für diese Konzeption angeführten Argumente ähneln weitgehend der Lehre von Karel Englis 2. Es besteht kein Zweifel, daß Kelsen die Grundzüge der Überlegungen von K a r l Englis gekannt hat. Dies ist durch die Tatsache belegt, daß Kelsen Englis ausdrücklich zitiert, und zwar i n dem Aufsatz „Nochmals: Recht und Logik" 3 , i n dem er eine deutsch geschriebene Arbeit von Englis anführt und analysiert. Wegen der relativ engen persönlichen Beziehungen zwischen den Vertretern der Wiener Schule und der Brünner Schule der Reinen Rechtslehre — Kelsen, Weyr und Englis waren Freunde —, bestand zweifellos eine gegenseitige Beeinflussung dieser Autoren. Die Tatsache, daß die vorliegenden Texte keine endgültigen Formulierungen des Autors darstellen, sondern sicherlich noch einer Überarbeitung hätten unterworfen werden sollen und daß das Gedankengebäude des Buches noch durch einige Bausteine hätte ergänzt werden sollen, zwingt den Referenten — und noch mehr den K r i t i k e r — nicht an einzelnen Passagen und Formulierungen zu kleben u n d die K r i t i k nicht an Subtilitäten der Formulierungen zu orientieren, sondern nur die grundlegenden Kerngedanken ins Auge zu fassen. Die Grundgedanken sind i m Text k l a r und detailliert ausgearbeitet, so daß i n bezug auf Kelsens Grundanliegen und seine Grundideen keine Zweifel bestehen. Sein neues logisch-methodologisches Kredo, dem diese Phase seines Denkens entspricht, steht klar vor den Augen des Lesers. I n dieser Beziehung ist das Buch eine vollkommen verläßliche Informationsquelle. Eine abschließende Redaktion hätte wahrscheinlich nur Wiederholungen und Redundanzen eingeschränkt. Dies geht auch aus der Charakte2 Vgl. EngliS, K.: Mala logika [Kleine Logik], Praha 1947; ferner ders.: Die N o r m ist k e i n Urteil, A R S P 50 (1964), Nr. 3, S. 305 - 316. Meine K r i t i k der Englisschen Lehre ist enthalten i n : Weinberger , Ο.: Die Sollsatzproblematik i n der modernen Logik, Prag 1958, wieder abgedruckt in: ders.: Studien zur Normenlogik u n d Rechtsinformatik, B e r l i n 1974, S. 59 - 186. 3 Neues F o r u m 1965, S. 3 9 - 4 0 . I n diesem Aufsatz zitiert Kelsen EngliS' „Die N o r m ist k e i n U r t e i l " , ARSP 50 (1964), Nr. 3, S. 305 - 316.
8
0. Vorbemerkung
ristik hervor, welche die Herausgeber über den Zustand des Manuskriptes geben: „Während man den ausgeführten hohen Grad der technischen Fertigstellung feststellen kann, ist dies i n inhaltlicher Hinsicht nicht i n gleicher Weise möglich. Es muß für immer dahingestellt werden, ob und inwieweit der Autor noch eine inhaltliche Veränderung vorhatte. Eine kritische Prüfung führt zu dem Ergebnis, daß die Arbeit einen hohen Grad von durchgängiger Gedankenführung aufweist. Es werden z.T. Positionen, die Kelsen früher bezogen hatte, wiederholt, vielfach aber auch ausgebaut und eingehender begründet; zahlreich sind die Auseinandersetzungen m i t abweichenden Meinungen, wie sie sich insbesonders auch i n den Anmerkungen finden. I n einer Reihe von Punkten hat Kelsen seine Meinung aber auch modifiziert und verändert. Gerade dieser letzte Umstand spricht dafür, das Werk der wissenschaftlichen Öffentlichkeit zu übergeben: Sie soll — gleichgültig welcher Standpunkt schließlich als richtig erkannt w i r d — m i t dem letzten Stand normtheoretischen Denkens Kelsens bekannt gemacht werden. Deshalb sollen Nachteile, die man dem Manuskript vorwerfen könnte, ζ. B. Wiederholungen, i n Kauf genommen werden." Kelsen weist i n seinem Werk nicht auf seine gedanklichen Vorgänger hin: weder auf die Tatsache des Einflusses von Karel Englis und von dessen Argumenten gegen die Möglichkeit einer Normenlogik noch auf von Wrights Überlegungen über die Gelegenheit zu einer gewissen Handlung i n Relation zum Sollen 4 , noch auf andere Autoren, die seine Gedankengänge offenbar inspiriert haben. Ich glaube, daß dies vor allem durch die Tatsache zu erklären ist, daß Kelsen die Arbeit an diesem Buch nicht zu Ende führen konnte. Da ich m i t einem Autor polemisieren werde, der leider nicht mehr antworten kann, muß ich insbesondere bei der Darstellung seiner Meinungen größte Vorsicht walten lassen. Die K r i t i k selbst kann jedoch keine Beschränkung kennen. Die lange Reihe der Kelsenianer bildet zweifellos eine hinreichende Front, die Kelsens Position gegen meine K r i t i k verteidigen wird. A n gewissen Stellen meine ich, den früheren Kelsen der logisch-analytischen Reinen Rechtslehre gegen den Kelsen der letzten Phase (seit ungefähr 19655) verteidigen zu müssen. Werden die Kelsenianer eher zur früheren logisch-analytischen oder zur neuen antilogischen Konzeption der Reinen Rechtslehre hinneigen? Ich weiß 4
Vgl. von Wright , G. H.: N o r m and Action. A Logical Enquiry, London 1963. Schon i n der zweiten Auflage der Reinen Rechtslehre, W i e n 1960, finden sich Spuren dieser Tendenz (vgl. z. B. S. 26 f.). Den entscheidenden Schritt zum Normenirrationalismus hat Kelsen i n den Aufsätzen „Recht u n d Logik" (Neues Forum 1965, S. 421-425, S. 495-500) u n d „Nochmals: Recht u n d L o g i k " (Neues F o r u m 1965, S. 39 - 40) vollzogen. 6
0. Vorbemerkung es nicht. Mein kritischer Beitrag soll helfen, eine wohlüberlegte A n t wort zu finden. Ich sehe die Aufgabe dieser Überlegungen nicht nur i n der K r i t i k des Kelsenschen Buches, sondern vor allem darin, die dort behandelten Grundlagenprobleme i n einer solchen Weise zu behandeln, daß eine angemessene Basis für die analytische Jurisprudenz und für eine philosophische Moraltheorie geschaffen wird. Kelsens Buch bietet m. E. eine ganz besonders günstige Gelegenheit, die essentiellen Grundlagenfragen der Normentheorie zu diskutieren, weil Kelsen mit dem Instinkt des großen Denkers den zentralen A n satzpunkt der Untersuchung richtig ortet: entscheidend für den gesamten theoretischen Aufbau der normativen Disziplinen ist die Frage der Ontologie und logischen Beziehungen der Normen, und diese Problemat i k kann nur auf Grund der Analyse der Bedingungen der Möglichkeit, Logiksysteme aufzubauen und logische Analyse zu betreiben, behandelt werden; dies hat Kelsen ebenfalls ganz klar gesehen. Bezüglich der vorausgesetzten Bedingungen der Möglichkeit, i n einem gedanklichen Bereich Logik zu konstituieren, weicht meine Meinung i n wesentlicher Weise von Kelsens Auffassung ab. Hier w i r d auch der entscheidende Ausgangspunkt meiner K r i t i k sein, ebenso wie die Quelle der tiefgreifenden Meinungsdivergenzen zwischen der Kelsenschen Spätphilosophie und meiner Auffassung der ontologischen, semantischen und logischen Grundlagen der praktischen Philosophie. Kelsen nimmt i n der „Allgemeinen Theorie der Normen" zu vielen philosophischen Lehren ausführlich Stellung. Ich betrachte es aber nicht als meine Aufgabe, mich i n diesem kritischen Essay mit diesem Problemkreis der Kelsenschen Arbeit zu befassen. Dem Kenner der Rechtsphilosophie w i r d es sicherlich auffallen, daß meine Meinungen — soweit sie überhaupt m i t der Reinen Rechtslehre übereinstimmen — der Brünner Schule, insbesondere Franz Weyr, näher stehen als Hans Kelsen 6 . Ich danke den Herrn Univ.-Ass. Dr. Peter Koller, Univ.-Ass. Dr. Alfred Schramm, Univ.-Doz. Dr. Peter Strasser und Frau Mag. Herlinde Studer, M. A. (Toronto), für die kritischen Anmerkungen zum Text und für die Hilfe bei der Durchführung der Korrekturen. Frau Gabriele Proksch bin ich für die sorgfältige Reinschrift des Manuskripts zu Dank verpflichtet. Mein Dank gilt auch den Mitarbeitern des Verlags Duncker & Humblot für die gewissenhafte Arbeit an dem Buch. Graz, November 1980 6
Ota Weinberger
Z u r Information über die Brünner Schule der Reinen Rechtslehre weise ich auf das Buch h i n : KubeS, V., Weinberger, O. (Hrsg.): Die Brünner rechtstheoretische Schule (Normative Theorie), W i e n 1980.
Abgekürzte Zitierweise Zitate aus Hans bezeichnen:
Kelsens
Schriften werde ich m i t folgender
Abkürzung
Kelsen, H.: Allgemeine Theorie der Normen, Hrsg. K. Ringhof er, R. Walter, Wien 1979
N u r durch Angabe der Seitenzahl
Kelsen, H.: Hauptprobleme der Staatsrechtslehre entwickelt aus der Lehre v o m Rechtssatze, Tübingen 1911
HP
Kelsen, H.: Reine Rechtslehre. Einleitung i n die rechtswissenschaftliche Problematik, 1. Auflage, Leipzig - W i e n 1934
RR1
Kelsen, H.: Reine Rechtslehre, 2. Auflage, W i e n 1960
RR 2
Kelsen, H.: Was ist die Reine Rechtslehre?, i n : Demokratie u n d Rechtsstaat, Festschrift für Zacd i a r i a Giacometti, Zürich 1953, S. 143 - 161 (zitiert nach: Die Wiener rechtstheoretische Schule. Schriften v o n Hans Kelsen, A d o l f M e r k l , A l f r e d Verdross, Hrsg. H. Klecatsky, R. Marcie, H. Schambeck), Salzburg - M ü n chen 1968, S. 611 - 629
WRR
Inhaltsverzeichnis
I. Kapitel Wesen und Funktion der Norm 1.
Uber die Rolle der Ontologie der Normen
2.
Die ontologischen Voraussetzungen der Kelsenschen Normentheorie
2.1.
Erkennen u n d Wollen
21
2.2.
Das Denken u n d seine Beziehung zum Erkennen u n d Wollen
24
2.3.
Positivität der N o r m als Setzung durch einen Willensakt
27
2.4.
O b j e k t i v i t ä t der Erkenntnis u n d Subjektivität des Wollens
31
2.5.
Die O b j e k t i v i t ä t des Schlußfolgerns u n d die Unmöglichkeit normenlogischer Folgerungen
32
3.
Kelsens Normbegriff
35
3.1.
Psychischer A k t u n d sein objektiver Sinn
35
3.2.
Die N o r m als Sinn v o n Willensakten
36
3.3.
N o r m u n d Aussage über die N o r m
39
3.4.
Der Aussagesatz über die N o r m u n d Normerkenntnis
40
3.5.
Die Bindung der N o r m an den Willensakt
44
3.6.
Die Bindung der N o r m an den Willensakt u n d das normenlogische Folgern
46
3.7.
Kelsens Auffassung der S t r u k t u r des Normsatzes
47
3.8.
Die Funktionen der N o r m (Kelsens Auffassung Operatoren) Das Gebieten Erlauben „Was nicht verboten ist, ist erlaubt" Das Derogieren Ermächtigen
3.9.
Norm, Wert u n d W e r t u r t e i l
15
der
allgemeinen
21
normativen 49 52 55 58 60 63
12
Inhaltsverzeichnis II. Kapitel Die Norm als Gedanke und Realität. Das Wesen der Normerkenntnis
4.
Normenontologie nach meiner Vorstellung
4.1.
Die N o r m als Idealentität. Der Normsatz kategorie
4.2.
Soll- u n d Darfsätze
68
4.3.
Inhaltliche Koordination zwischen Normsatz u n d Aussagesatz
69
4.4.
Normenlogische postulat
69
Beziehungen.
Das
67 als spezifische
normenlogische
Satz-
67
Konsistenz-
4.5.
Normenlogische Folgerungsbeziehungen
71
4.6.
Systemrelativität der Normen
71
4.7.
Die pragmatische Rolle des Normsatzes: Normsetzung u n d N o r m mitteilung
72
4.8.
Das reale Dasein der N o r m
72
5.
Die N o r m als Realität. Der institutionalistische Positivismus
74
6.
Das Wesen der Rechtserkenntnis
80
6.1.
Normerkenntnis als Verstehen
80
6.2.
Verstehen u n d Beurteilen v o n Normen
81
6.3.
Rechtserkenntnis
82
III. Kapitel Das Wesen der logisdien Beziehungen und die Möglichkeit, eine Normenlogik aufzubauen 7.
Die Bedeutung der Frage „ G i b t es eine Normenlogik"?
85
7.1.
Jurisprudenz u n d Normenlogik
85
7.2.
Moraltheorie u n d Normenlogik
86
7.3.
Das Wesen der Logik u n d die Normenlogik
87
8.
Die Vorläufer des Kelsenschen Normenirrationalismus
89
8.1.
Das Jorgensensche Dilemma
89
8.2.
Engli§' Normenirrationalismus
90
Inhaltsverzeichnis 9.
Kelsens Begründung der I r r a t i o n a l i t ä t der Normen
94
9.1.
Wahrheit u n d Geltung
94
9.2.
N o r m u n d Widerspruch
98
9.3.
Schlußfolgerung u n d N o r m
103
9.4.
Das Problem der Folgerungen aus generellen Normen Schlüsse v o n der generellen auf die individuelle N o r m Was heißt „Eine individuelle N o r m entspricht einer generellen Norm"? Kelsens Syllogismus v o n Aussagen über die Geltung v o n Normen . . Logische Beziehungen zwischen generellen Normen verschiedenen Abstraktheitsgrades ' Was bedeutet der Terminus »generell·? Was ist ein genereller Normsatz?
105 105
111 113 114
Vorbedingungen für die K o n s t r u k t i o n logischer Systeme
115
10.
108 110
10.1. Gedankenobjekt u n d sprachliche Formulierung
115
10.2. Trennung von psychischem A k t u n d Sinn
116
10.3. Die objektive Grundlage der Folgerungsrelation
119
10.4. Der Begriff der Folgerung u n d die Möglichkeit Folgerungen
normenlogischer
121
10.5. K a n n der Metasatz über die N o r m als Träger der logischen Beziehungen i m Bereich der Normen herangezogen werden? 125
IV. Kapitel Die Geltung der Rechtsnorm 11.
A l t e u n d neue Elemente i n Kelsens Theorie der Geltung v o n Rechtsnormen 127
11.1. Die Geltung der Rechtsnorm u n d der objektive u n d subjektive Sinn v o n Befehlsakten 127 11.2. O b j e k t i v i t ä t der Rechtsgeltung u n d Grundnormtheorie
130
11.3. Geltendes Recht u n d Sanktionssatz
135
11.4. Rechtsgeltung u n d Anerkennung
136
11.5. Die Bedingtheit der Normgeltung
138
11.6. Wirksamkeit, Befolgt-Werden u n d Geltung der Rechtsnorm
140
14
Inhaltsverzeichnis V. Kapitel Allgemeine Theorie der Normen und das Wesen der Moral
12.1. Allgemeine Charakteristik der Kelsenschen Moraltheorie
143
12.2. Moral u n d E t h i k
145
12.3. Ego u n d Alter-Ego als Strukturelemente der M o r a l n o r m
146
12.4. M o r a l zwischen Autonomie u n d Heteronomie
149
12.5. Metaethik u n d Metajurisprudenz
153
VI. Kapitel Die Folgen des Normenirrationalismus für die Reine Rechtslehre und für die analytische Jurisprudenz 13.
Das Buch „Allgemeine Theorie der Normen" u n d die Z u k u n f t der Reinen Rechtslehre 157
14.
Hauptanliegen u n d Grundideen der Reinen Rechtslehre
161
14.1. Die Reine Rechtslehre als logisierende Rechtstheorie
161
14.2. Kelsens Schritte zum Normenirrationalismus
166
15.
168
Klassische u n d neue Reine Rechtslehre: pro u n d kontra
Anhang I Hans Kelsen als Philosoph
179
1.
Kelsens Konzeption der Rechtswissenschaft. Der K a m p f gegen den Methodensynkretismus 181
2.
Die Gegenüberstellung v o n Sein u n d Sollen
184
3.
Die Geltung der N o r m
188
4.
Kelsens Konzeption der Rechtsnorm u n d Rechtspflicht. sophische Probleme der Sanktionstheorie der Rechtsnorm
5.
Rechtsnorm u n d Rechtssatz
6.
Kelsens Rechtspositivismus u n d Wertrelativismus. Die ideologischen u n d demokratietheoretischen Konsequenzen 197
Philo-
189 196
Anhang II Normenlogik oder deontische Logik
199
I. Kapitel
Wesen und Funktion der Norm 1. Über die Rolle der Ontologie der Normen Unter der Ontologie pflegt man „die Lehre vom Sein als solchem" zu verstehen, also eine sehr allgemeine Lehre vom Wesen der Realität und der Dinge, auf der sich das philosophische Gesamtsystem und eine umfassende Kategorisierung des Seins aufbauen soll 1 . I m Kontext meiner Überlegungen, das heißt: wenn ich hier von der ontologischen Grundlegung eines gewissen Bereiches — und i m besonderen von der Ontologie der Normen — spreche, geht es m i r nicht u m den Aufbau einer philosophischen Gesamtkonzeption, sondern u m das Problem, die Grundstruktur, die Forschungs- und Argumentationsweise einer spezifischen Disziplin zu begründen und festzulegen. Der Aufbau einer wissenschaftlichen Disziplin hängt von gewissen grundlegenden Voraussetzungen und Festsetzungen ab, die i n der betreffenden Theorie nicht begründet werden, vielmehr den Grund der Struktur dieser Theorie abgeben, und darüber entscheiden, welche Thesen i n der Theorie als überzeugende bzw. gültige Argumente verwendet werden können. I n jeder wissenschaftlichen Argumentation werden gewisse Thesen als überzeugende Beweismittel verwendet, durch die erst die Möglichkeit des Beweisens und des Plausibelmachens geschaffen wird. Dies folgt aus der Relativität jeder Begründung; eine Begründung gilt nur dann, wenn die Argumente selbst begründet oder an und für sich überzeugend sind. Diese philosophische Basis der Argumentation i n einem gewissen Bereich zu schaffen, ist die Aufgabe der Ontologie. Die Ontologie ist, wenn w i r sie i n diesem Sinne auffassen, ein System von Grundbegriffen, Festsetzungen und Voraussetzungen. Die Ontologie bezieht ihre Überzeugungskraft aus vorangehenden Analysen über ihre Problemsituation und Methodologie des betreffenden Bereiches, bzw. wenn es u m Formaldisziplinen geht, aus methodologischen Überlegungen über die vorausgesetzten Anwendungsbereiche des Systems. 1 Vgl. insbes. Hartmann, N.: Zur Grundlegung der Ontologie, Leipzig 1935; ders.: Metaphysik der Erkenntnis, B e r l i n 1965.
Berlin,
I. Kap.: Wesen und Funktion der Norm
16
Der Charakter dieser für die Konstitution der Wissenschaften wesentlichen ontologischen Voraussetzungen ist i n den einzelnen Bereichen verschieden. I n der Logik sind es die Prinzipien der Formalisierung und des formalen Operierens (neben anderen für die einzelnen Systeme spezifischen Voraussetzungen; für die Normenlogik ζ. B. die semantische Unterscheidung von Aussage- und Normsätzen als kategorial verschiedener Satzarten, sowie die sogenannten Unableitbarkeitsthesen 2 ). Für den Bereich der empirischen Naturwissenschaften gilt als ontologische Voraussetzung das Prinzip der kausalen (deterministischen oder stochastischen) Deutung der Erscheinungen. Auch innerhalb des Bereichs der empirischen Erkenntnis muß m i t der Unterschiedlichkeit der ontologischen Voraussetzungen gerechnet werden. Dies erscheint als unmittelbar einleuchtend, wenn man die methodologische Verschiedenartigkeit der empirischen Disziplinen und ihrer Forschungsweisen vor Augen hat und wenn man nicht einen kruden Reduktionismus (ζ. B. physikalischer Natur) vertritt. Eine Gegenüberstellung von Physik, Biologie, Psychologie, Soziologie, Jurisprudenz, Ökonomie, Geschichtswissenschaften usw. zeigt klar, daß die Problemstellungen und die Erkenntnisbedingungen i n den verschiedenen Erfahrungswissenschaften so grundverschieden sind, daß diese Aufgaben eine differenzierte Methodologie — und daher unterschiedliche Voraussetzungen — erfordern. Die ontologischen Grundvoraussetzungen und die daran anknüpfenden methodologischen Prinzipien der Wissenschaften sind oft heiß umstritten. So ζ. B. i n der Psychologie die Rolle der Introspektion und das Gewicht der tiefenpsychologischen Forschung; i n der Biologie die Frage der Anwendung von Zweckbegriffen i n Beschreibungen und Explikationen; i n der Jurisprudenz die Frage, ob soziologische Erkenntnisse als Bestandteile der juristischen Erkenntnis anzusehen sind. Der Streit u m die Grundprinzipien der Methodologie und der A r g u mentationsweise macht auch vor den mathematischen und logischen Wissenschaften nicht halt. Die Probleme, die ich i n diesem Essay behandeln werde, hängen gerade m i t der Konzeption der Logik zusammen; sie sind weitgehend von grundsätzlichen Untersuchungen über die Konstitution und Arbeitsweise der Logik, man kann sagen: von der Metatheorie der Logik, abhängig. Unter ,Metatheorie der Logik 4 verstehe ich hierbei die Bestimmung der Bedingungen, unter denen logische Analyse betrieben werden kann, die Bestimmung der Grundsätze des Aufbaues logischer Systeme und philosophische Betrachtungen 2
Weinberger,
Ch., Weinberger,
chen 1979, S. 13, S. 35 f.
O.: Logik, Semantik, Hermeneutik, Mün-
1. Über die Rolle der Ontologie der Normen
17
über die Anwendung der Logik i n den Wissenschaften und i n der Praxis. Die ontologischen Grundfestsetzungen korrelieren i n komplizierter Weise m i t philosophischen Auffassungen und Einstellungen. Sie werden durch eine strukturelle Problemsituationsanalyse gewonnen. Dies ist ein komplexer Prozeß der Phänomenalanalyse, der i m Zusammenhang steht mit Untersuchungen über die Erkenntnismöglichkeiten und über die Möglichkeiten einer intersubjektiven sprachlichen Kommunikation über die wesentlichen Beziehungen und Gesetzmäßigkeiten des betreffenden Bereiches. Wie diese philosophischen Grundlagenanalysen i m einzelnen verlaufen, kann ich hier nicht ausführlich darlegen. Ich müßte hierzu nämlich ein ganzes System typischer Beispielsfälle vorführen und besprechen, u m das Wesen der philosophischen Arbeit bei der Konstituierung der Struktur- und Argumentationsgrundlagen einer Wissenschaft zu erläutern 3 . Die fundamentalen Festsetzungen und die festgelegten Grundbegriffe sind i m Rahmen der auf dieser Basis aufgebauten Theorie nicht direkt kritisierbar, denn sie sind der begriffliche Apparat, m i t dem gearbeitet wird, und sie liefern jene Argumente, die zur Untermauerung der Konzeption herangezogen werden. Wenn jedoch die Konsequenzen der Theorie den Erfordernissen des Problembereiches i n wesentlicher Weise nicht gerecht werden, dann gelangt man — wenn man nicht dogmatisch fixiert ist — zur Überzeugung, daß die Grundfestsetzungen oder/und die Definitionen der Grundbegriffe — kurz: die ontologischen Voraussetzungen und Festsetzungen — neu durchdacht und revidiert werden müssen. Wenn man die ontologischen Voraussetzungen fixiert hat — für die konsequente Entwicklung einer wissenschaftlichen Lehre ist dies schließlich immer notwendig —, dann erscheinen die einzelnen Züge der Theorie als mehr oder weniger selbstverständliche Implikationen der Grundvoraussetzungen. Ich möchte hier an einem Beispiel, das für das zentrale Thema dieses Essays sehr relevant ist, zeigen, wie die ontologischen Voraussetzungen und begrifflichen Festsetzungen die Argumentationen determinieren, und unter welchen Umständen die ontologischen Voraussetzungen selbst dennoch kritisch hinterfragt werden können. Wenn man die beiden folgenden Festsetzungen trifft: 3 Einige Hinweise enthält m e i n Aufsatz: Tiefengrammatik u n d Problemsituation. Eine Untersuchung über den Charakter der philosophischen Analyse, i n : Wittgenstein u n d sein Einfluß auf die gegenwärtige Philosophie, A k t e n des 2. Internat. Wittgenstein Symposiums 1977, W i e n 1978, S. 290 - 297.
2 Weinberger
18
I. Kap.: Wesen und Funktion der Norm
(i) der logische Widerspruch ist eine Beziehung zwischen den Sätzen ,Si und ,S2*, die darin besteht, daß nicht beide Sätze gleichzeitig wahr sein können (oder äquivalent: daß ,Si Λ S2* aus rein sprachlich-logischen Gründen — also unabhängig davon, wie die Realität tatsächlich beschaffen ist — unwahr ist), (ii) Normsätze können nicht als wahr werden,
(bzw. unwahr)
bezeichnet
dann ist per definitionem klar, daß es keinen logischen Widerspruch zwischen Normsätzen — i n dem durch (i) definierten Sinn — gibt. Diese Konsequenz ist — solange man bei den angeführten Festsetzungen bleibt — unbestreitbar. Überlegungen über den Charakter des logischen Widerspruchs und über die Begründung des Postulates des ausgeschlossenen Widerspruchs, führen uns zu der Erkenntnis, daß es die sprachlich-logische Struktur der Sätze ,Si' und ,S2 und die Beziehung zwischen diesen Strukturen sind, was logische Widersprüche zwischen Aussagesätzen bedingt. Aufgrund solcher Überlegungen erkennen w i r , daß das Widerspruchsprinzip gerade deswegen gilt, weil die Sprachstruktur der Sätze ,Si' und ,S2* ihr Zusammenwahrsein ausschließt. Wenn w i r nun weiter fragen, ob es auch für den Bereich der Normsätze solche sprachlich-logischen Strukturbedingungen gibt, aus denen eine Unverträglichkeit gewisser Normsätze entspringt, und eine positive Antwort geben, dann werden w i r versuchen, die Bedingungen der Unverträglichkeit von Normsätzen explizit darzustellen. Wenn es Normsätze gibt, die aus rein sprachlich-logischen Gründen, also unabhängig von allem Faktischen, nicht zusammen bestehen können (das bedeutet hier, daß sie als Inhalt jedes möglichen Normensystems abzulehnen sind), dann w i r d man auch von logischer Unverträglichkeit bei Normsätzen sprechen können. Diese Unverträglichkeit muß natürlich ausdrücklich definiert werden und ist von den Widersprüchen zwischen Aussagesätzen streng zu unterscheiden. Ob man dann terminologisch von »logischer Unverträglichkeit 4 von Normsätzen oder von Widersprüchen' zwischen Normsätzen sprechen wird, ist eine reine Konventionssache. Wenn man sich dazu entschließt, den Terminus »Widersprüche 4 auch auf Normsätze anzuwenden, dann muß man zwei A r t e n von Widersprüchen, Aussagewidersprüche und Normwidersprüche, unterscheiden. Die Wahl der Terminologie bedeutet hier keinen wesentlichen Unterschied der philosophischen und logisch-methodologischen Konzeption. — Aus meiner Auffassung der philosophischen Analyse und der ihr entsprechenden Meinung über die ontologischen und begrifflichen Voraussetzungen einer wissenschaftlichen Disziplin geht hervor, daß die philosophische K r i t i k i n erster Linie die Grundvoraussetzungen und
1. Über die Rolle der Ontologie der Normen
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die Grundbegriffe der Lehre betrifft. Dies w i r d eine Richtlinie für meine Analysen sein. Ich werde vor allem versuchen, die ontologischen Voraussetzungen der Kelsenschen allgemeinen Normentheorie darzustellen, und zwar sowohl jene, welche der Autor ausdrücklich anführt, als auch jene, welche offenbar die Basis seines Gedankengebäudes b i l den, ohne explizit angeführt zu werden. Sowohl für das Verständnis der Lehre als auch für kritische Untersuchungen, scheint m i r dies ein zweckmäßiger Weg zu sein, denn nur aus den Grundauffassungen heraus gelangt man dazu, auch sonst befremdlich anmutende Thesen zu verstehen. Überzeugende immanente K r i t i k kann nur bei den Grundvoraussetzungen ansetzen, denn die Lehre selbst ist bei konsequent denkenden Autoren i m wesentlichen ein Ergebnis dieser Voraussetzungen. Es gilt als communis opinio der Rechtstheoretiker, insbesondere der Vertreter der analytischen Jurisprudenz, daß der Begriff der Norm (des Normsatzes) der zentrale Begriff der Rechtstheorie ist. Kelsens Werke — von den „Hauptproblemen der Staatsrechtslehre" (der Buchtitel enthält den Beisatz „entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze" 4 , 1911) bis zu seiner „Allgemeinen Theorie der Normen" (1979) — können als markanter Beleg für diese These gelten. Wenn man der Norm (bzw. dem Normsatz) diese Rolle zuerkennt, dann w i r d die Theorie der Normen zur zentralen Grundlagenproblematik der Jurisprudenz. Eine Theorie der Normen kann i n philosophisch fundierter Weise nur auf einer ontologischen Analyse des Wesens und der pragmatischen Funktionen der Norm erstellt werden. Die Bestimmung des Begriffes und der Daseinsweise der Norm — also die Ontologie der Norm — ist für die gesamte Theorie der Normen, und damit indirekt für die Grundstruktur der normativen Disziplinen, von entscheidender Bedeutung. I n den ontologischen Festsetzungen, die ihrerseits durch eine Problemsituationsanalyse der Gebiete, i n denen Normen auftreten, gewonnen werden, ist eigentlich schon die Methodologie des Bereiches und die A n t w o r t auf alle wesentlichen Fragen des Operierens m i t Normen i n nuce verankert. Ich wollte hier eigentlich sagen, daß i n diesen Festsetzungen die Logik der Normen verankert ist, doch hätte ich m i t einer solchen Formulierung schon jene Konzeptionen ausgeschlossen, die — ähnlich wie die von Kelsen und Englis — die Möglichkeit des logischen Operierens m i t Normen, d. h. i m wesentlichen des normenlogischen Folgerns, ausschließen. Es gibt Versuche, die Ontologie der Normen so zu konzipieren, daß ein negativer Standpunkt zur 4 Kelsen, H.: Hauptprobleme der Staatsrechtslehre Lehre v o m Rechtssatze, Tübingen 1911.
2·
entwickelt
aus der
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I. Kap.: Wesen und Funktion der Norm
Normenlogik resultiert. Diese Normenontologien führen meist als Ersatz für die normenlogischen Beziehungen und Operationen gewisse Operationen m i t Aussagen über Normen (oder ähnlichen nicht-normativen, aber von Normen abhängigen Gedankengebilden) ein. Diese ontologischen Voraussetzungen über das Wesen der Normen sind — neben allgemeinen Untersuchungen über die Bedingungen der Möglichkeit von Logik — die gedanklichen Grundlagen, auf denen entschieden werden kann, ob eine Logik der Normen bestehen, bzw. wie sie aufgebaut werden kann, oder ob eine Normenlogik ein Unding ist, so daß die normativen Wissenschaften keine logischen Beziehungen zwischen Normen und keine logischen Operationen m i t Normen, also insbesondere kein normenlogisches Folgern, voraussetzen dürfen. Bei der Auseinandersetzung mit einer Lehrmeinung ist es zweckmäßig, i n erster Linie die Grundvoraussetzungen sowie die ontologischen Grundvorstellungen des Autors darzustellen — und gegebenenfalls zu ihnen kritisch Stellung zu nehmen —, denn hierdurch gewinnt man einerseits eine Basis für das Verstehen der Meinungen des Gesprächspartners, andererseits solide Ausgangspunkte für eine K r i t i k , die das Wesentliche der Lehre trifft. Ich werde daher i m nächsten Abschnitt Kelsens Grundvoraussetzungen darzustellen versuchen.
2. Die ontologischen Voraussetzungen der Kelsenschen allgemeinen Normentheorie 2.1. Erkennen und Wollen Kelsen geht davon aus, daß es zwei prinzipiell verschiedene A r t e n psychischer Akte gibt, die kategorial geschieden werden müssen: Erkenntnisakte und Willensakte. I h r Sinn, die inhaltlichen Produkte dieser Akte, sind grundverschieden. Inhalt (Sinn) von Erkenntnisakten sind Urteile — sie werden i n Aussagen (Aussagesätzen) ausgedrückt —, Sinn von Willensakten sind Normen. Da Kelsen die Norm als Sinn eines Willensaktes auffaßt, der auf fremdes Verhalten gerichtet ist, kann nicht ausgeschlossen werden, daß er neben Willensakten, deren Sinn Normen sind, auch andere sinnvolle Willensakte anerkennt. I m Rahmen der Normentheorie geht es aber hauptsächlich u m jene Willensakte, die auf fremdes Verhalten gerichtet sind, deren Sinn also Normen sind 5 . Der Unterscheidung zwischen kognitiven und volitiven A k t e n entspricht eine koordinierte Verschiedenheit der Gedankeninhalte. Dies ist selbstverständlich, da doch gerade die unterschiedlichen Sinngehalte der A k t e — Erkenntnis auf der einen, Sollen auf der anderen Seite — diese beiden A r t e n von A k t e n definitorisch trennen. Ebenso wie der Sinn von Erkenntnisakten durch Sätze ausgedrückt werden kann, ist auch der Sinn von Willensakten i n Sätzen, nämlich i n Normsätzen, ausdrückbar. 5 Es ist nicht uninteressant, daß Kelsen ursprünglich — nämlich i n den „Hauptproblemen" — die Meinung vertrat: „ D a m i t v o n einem W o l l e n i m eigentlichen Sinne u n d nicht bloß v o n einem Wünschen die Rede sein kann, muß i m Bewußtsein die Vorstellung eines zur Bedürfnis- oder Triebbefriedigung geeigneten k ü n f t i g e n Vorganges oder Zustandes verbunden sein mit einer eigenen Aktivität des Wollenden." (S. 110) Danach wäre es eigentlich problematisch, überhaupt v o n „auf fremdes Verhalten gerichtetem Wollen" zu sprechen. Kelsen spricht jedoch schon i n den „Hauptproblemen" davon, „daß der Imperativ der unmittelbare Ausdruck eines auf fremdes Verhalten gerichteten Willens ist" (S. 210). Seine Auffassung, daß n u r eigenes V e r halten I n h a l t des Wollens sein kann, spielt i n der Begründung der Sanktionstheorie der N o r m eine entscheidende Rolle. Vgl. hierzu a.a.O., S. 190 ff.; ferner m e i n V o r w o r t zu Kelsen, H.: Essays i n Legal and M o r a l Philosophy, Dordrecht, Bosten 1973 (Hrsg.: O. Weinberger) „Hans Kelsen as Philosopher", S. X V I I I ff.; deutsche Fassung „Kelsen als Philosoph" i m A n h a n g S. 179 ff.
I. Kap.: Wesen und Funktion der Norm
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Erkennen und Wollen sind nicht nur dem Sinn der entsprechenden Akte nach verschieden, sie sind auch darin voneinander abgetrennt, daß aus Erkenntnis allein kein Wollen resultiert, und umgekehrt: aus Wollen keine Erkenntnisse gewonnen werden können. Kelsen ist offenbar der Meinung, daß w i r i m wesentlichen wissen, was Erkennen und was Wollen ist. W i r wissen dies aus unserem unmittelbaren Erleben. Die Eigentümlichkeit dieser psychischen Tätigkeiten kennen w i r , da w i r m i t ihnen durch unsere Lebenspraxis vertraut sind; eine besondere Theorie über das Wesen des Erkennens und Wollens scheint Kelsen nicht für nötig zu halten. Meine Auffassung, daß w i r durch die Bestimmung der Willensstrukturen und der informationsverarbeitenden Operationen des Wollens und Wählens eine analytische Explikation der Willensphänomene geben müssen, scheint Kelsen fremd zu sein. Sie führt auch offenbar zu einer Auffassung der Forschung i n der praktischen Philosophie, die seiner Tendenz diametral entgegengesetzt ist, nämlich zur logischen Analyse als metatheoretischer Basis der praktischen Philosophie und zu den Bemühungen, eine formale Teleologie, eine Normenlogik und eine formale Wertlehre zu konstituieren 6 . Erkennen ist wahrheitsstrebig, d.h. es zielt auf ein Wissen ab, das objektiv wahr sein soll. Wollen hat keine analoge Beziehung zu einer objektiven Realität, die ein K r i t e r i u m für die Richtigkeit des Wollens abgeben könnte. Wollen ist subjektiv: subjektiv nicht nur deswegen, weil es beim Wollen — und daher auch beim Sollen, da dieses nur durch Willensakte von Subjekten konstituiert w i r d — u m eine subjektive (von einer Person ausgehende) Setzung geht, sondern auch i n dem Sinne, daß diese Setzung keiner objektiven Begründung fähig ist. Sie ist eben durch die Einstellung und durch die Dezision des Subjektes, wie sie i m Willensakt zum Ausdruck kommen, bestimmt. Es gibt keine praktische Erkenntnis, durch die über die Richtigkeit des Wollens bzw. des Sollens entschieden werden könnte: „Der Begriff
der praktischen Vernunft
Da die menschliche V e r n u n f t ein Erkenntnis- bzw. Denk-Vermögen ist, können die Normen des sogenannten Vernunftrechtes nicht durch die V e r n u n f t gesetzt sein. Mittels der Vernunft k a n n m a n die — v o n einer A u t o r i tät durch Willensakte gesetzten — Normen erkennen, k a n n man Begriffe, k a n n m a n aber nicht Normen erzeugen. Die V e r n u n f t als moralischer Gesetzgeber ist der Zentralbegriff der Kaniischen E t h i k . A b e r diese Vernunft 6
Vgl. Weinberger,
Ch., Weinberger,
O.: a.a.O., insbes. Kap. 7, 8 und 9.
2. Die ontologischen Voraussetzungen
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ist nach Kant die p r a k t i s c h e V e r n u n f t , u n d diese ist — w i e die göttliche Vernunft — zugleich Denken u n d Wollen, u n d ist, sieht m a n näher zu, die göttliche V e r n u n f t i m Menschen, die Vernunft Gottes, an der der Mensch, als von Gott nach seinem Ebenbild geschaffen, t e i l hat. Auch der i n der Lehre v o m Vernunftrecht unternommene Versuch, die N o r m nicht als Sinn eines Willens-, sondern eines Denkaktes zu begreifen, beruht auf metaphysisch-theologischer Spekulation, u n d steht u n d fällt m i t dieser" (S. 6). „Der i n sich widerspruchsvolle Begriff der praktischen Vernunft, die zugleich Erkennen u n d W o l l e n ist, u n d i n dem daher der Dualismus v o n Sein u n d Sollen aufgehoben ist, ist die Grundlage der Kantschen Ethik" (S. 63). „Gebote, Befehle sind der Sinn v o n Willensakten; w e r etwas befiehlt, gebietet, w i l l , daß sich jemand i n bestimmter Weise verhalten soll. W e n n v o n der praktischen V e r n u n f t Gebote, Befehle ausgehen, stellt sie den Widerspruch eines wollenden Denkens dar. I n diesem Widerspruch ist die Aufhebung des Dualismus v o n Sein u n d Sollen impliziert, denn als Denken ist die praktische V e r n u n f t auf ein Sein gerichtet, als Wollen auf ein Sollen" (S. 54 f.).
Wegen der grundlegenden und unüberbrückbaren Alternative der psychischen Fähigkeiten des Erkennens und des Wollens und wegen der Zäsur zwischen Sein und Sollen ist für Kelsen der Begriff einer praktischen Erkenntnis ein Widerspruch i n sich selbst. Darüber hinaus hält Kelsen auch rationale und kognitive Argumentationen, die nur relativ zu gesetzten voluntaren Voraussetzungen m i t bestimmender Kraft gelten würden, für unmöglich, bzw. er zieht sie gar nicht i n Betracht. Kein Zweifel: Erkennen und Wollen, Erkenntnisse (Tatsachenfeststellungen) und Stellungnahmen, sind ganz verschiedene Sachen. Aber dies schließt m. E. keineswegs aus, daß zwischen ihnen gewisse genau bestimmbare Zusammenhänge bestehen. Und gerade die Bestimmung dieser Zusammenhänge führt zu einer klärenden Behandlung der W i l lensphänomene — ohne daß man den Boden des Non-Kognitivismus verlassen müßte, d.h. ohne daß man genötigt wäre, die Reduzierbarkeit des Volitiven auf Kognitives vorauszusetzen. Wenn man bloß die eine Seite sieht, nämlich: die Wesensverschiedenheit der Erkenntnisakte und der Willensakte, der Erkenntnisse und der Willensinhalte, die Abhängigkeit der Willensdezisionen vom Wissen und von rationalen Operationen aber außer acht läßt, dann versperrt man sich durch eine solche Ontologie den Weg zu einer rationalen Theorie der praktischen Gedankenstrukturen und — infolgedessen zu einer rational-analytischen Konzeption der praktischen Philosophie, insbesondere der Jurisprudenz, der Ethik und der ökonomischen Theorie.
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I. Kap.: Wesen und Funktion der Norm 2.2. Das Denken und seine Beziehung zum Erkennen und Wollen
Kelsen geht von der Überzeugung aus, daß Denkakte immer kognitive Akte seien, daß Denken nur m i t dem Erkennen befaßt sei, und daß es daher immer auf Wahrheiten gerichtet sei. Denken ist Erkennen; Denkakte sind eine A r t von Erkenntnisakten. Das Ergebnis von Denkakten sind — wie das Ergebnis aller Erkenntnisakte — Erkenntnisse, Stücke des Wissens. Denken ist also seinem Wesen nach kognitiv; ein Operieren m i t kognitiven Gebilden, dessen Ergebnisse ebenfalls kognitive Gedankengebilde oder Sätze, die solche Gedanken ausdrücken, sind. Denken unterscheidet sich von anderen Erkenntnisakten nur dadurch, daß es relativ ist, und zwar i m Verhältnis zu vorausgesetzten Prämissen, gegebenen Aussagen, von denen aus durch logisches Operieren neue Aussagen (neue Erkenntnisse) gewonnen werden können. Es ist schwer zu entscheiden, ob diese Grundvoraussetzung die Kelsensche philosophische Einstellung von jeher bestimmt hat, oder ob sie sich erst nach und nach i n seinem Denken entwickelt hat, u m schließlich i n seiner Spätphilosophie, die in der „Allgemeinen Theorie der Normen" dargestellt ist, eines der wesentlichsten Grundprinzipien seiner Lehre zu bilden. Mangels an expliziten Analysen dieser Grundlagenfrage i n den früheren Werken des Autors können w i r nur aus dem allgemeinen Charakter der Thesen und der Arbeitsweise der Reinen Rechtslehre schließen: Die Reine Rechtslehre ist eine analytische Theorie der Normensysteme, die durchaus — ja ich meine sogar: i n erster Linie — auf die rationalen Beziehungen i m Normensystem gerichtet ist, das heißt: es handelt sich u m eine Lehre, die die Existenz spezifischer Gedankenstrukturen und rationaler Operationen i m Bereich der Normensysteme voraussetzt. Schon i n der zweiten Auflage der „Reinen Rechtslehre" versucht Kelsen — wenn auch nur i n etwas unklaren Andeutungen und i n nicht sehr überzeugender Weise — das Problem der logischen Beziehungen i m Bereich der Normen zu behandeln: da Normen nicht wahrheitsfähig sind, sucht er die logischen Beziehungen zwischen Rechtsnormen indirekt über die entsprechenden Beziehungen zwischen Rechtssätzen zu konstituieren. Die Begriffe »Rechtsnorm 4 und ,Rechtssatz4 stellt Kelsen einander i n folgender Weise gegenüber: „Die v o n dem Gesetzgeber statuierte Norm, die E x e k u t i o n i n das V e r mögen desjenigen vorschreibt, der den durch Nichterfüllung seines Heiratsversprechens verursachten Schaden nicht gutmacht, u n d der v o n der Rechtswissenschaft formulierte, diese N o r m beschreibende Satz: daß, w e n n jemand den durch ein nicht erfülltes Heiratsversprechen verursachten Schaden nicht
2. Die ontologischen Voraussetzungen
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gutmacht, gegen sein Vermögen Zwangsvollstreckung gerichtet werden soll, haben logisch verschiedenen Charakter. D a r u m empfiehlt es sich, die beiden Äußerungen auch terminologisch als Rechts-Norm u n d Rechts-S atz zu u n t e r scheiden. Die v o n der Rechtswissenschaft formulierten Rechtssätze sind daher keine einfache Wiederholung der durch die Rechtsautorität gesetzten Rechtsnormen" (RR 2 , S. 76).
I n diesem Kontext fährt Kelsen fort: „Da Rechtsnormen als Vorschreibungen, das heißt als Gebote, Erlaubnisse, Ermächtigungen weder w a h r noch u n w a h r sein können, ergibt sich die Frage, w i e logische Prinzipien, insbesondere der Satz v o m Widerspruch u n d die Regeln der Schlußfolgerung auf das Verhältnis zwischen Rechtsnormen angewendet werden können (so wie die s die Reine
Rechtslehre
seit
jeher
getan
hat),
wenn, traditioneller A n -
schauung nach, diese Prinzipien n u r auf Aussagen anwendbar sind, die w a h r oder u n w a h r sein können. Die A n t w o r t auf diese Frage ist: daß logische Prinzipien, w e n n nicht direkt, so doch indirekt, auf Rechtsnormen angewendet werden können, sofern sie auf die diese Rechtsnormen beschreibenden Rechtssätze, die w a h r oder u n w a h r sein können, anwendbar sind. Z w e i Rechtsnormen widersprechen sich u n d können daher nicht zugleich als gültig behauptet werden, w e n n die beiden sie beschreibenden Rechtssätze sich widersprechen; u n d eine Rechtsnorm k a n n aus einer anderen abgeleitet werden, w e n n die sie beschreibenden Rechtssätze i n einen logischen Syllogismus eingehen können" (Hervorhebung O. W.; RR 2 , S. 76 f.).
Der Nachdruck auf die Idee der Einheit und Ausschließlichkeit der Normenordnung, die insbesondere die Grundlage für seine, die dualistische Konzeption der Beziehung zwischen Völkerrecht und Staatsrecht ablehnende Argumentation bildet 7 , sowie die ganze Konstruktion der Rechtsdynamik und der Kelsenschen Grundnormtheorie scheinen eigentlich dadurch motiviert zu sein, rationale Zusammenhänge i m Rechtssystem aufzuweisen und eine Begründung der Rechtsgeltung aufgrund rationaler Beziehungen aufzubauen. Ich habe daher den Eindruck, daß die Grundvoraussetzung, Denken gäbe es nur i n der kognitiven Sphäre, sich erst sukzessive i n der Ontologie Kelsens festgesetzt hat, während er ursprünglich Rationalität i m praktischen Bereich suchte, allerdings ohne tiefer über die philosophischen, ontologischen und logisch-methodologischen Grundlagenprobleme, die hierfür als Voraussetzungen erforderlich sind, nachzusinnen. Etwas genauer könnte man sagen: Ursprünglich hat Kelsen wohl die traditionelle A u f fassung, daß Denken Prozesse sind, die der Erkenntnis dienen, vorausgesetzt, aber die Rechtswissenschaft und die Analyse der Rechtsnormen i n der Weise betrieben, daß sie darauf gerichtet waren, die rationalen Strukturen und die logischen Beziehungen i m Recht ans Licht zu b r i n gen, ohne reflektierend die Möglichkeit und die Voraussetzungen der 7
Kelsen, H.: Das Problem der Souveränität u n d die Theorie des V ö l k e r rechts. Beitrag zu einer Reinen Rechtslehre, Tübingen 19282, insbes. K a pitel 6.
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I. Kap.: Wesen und Funktion der Norm
Logik der Normen und der logischen Analysen i n der Jurisprudenz in Frage zu stellen oder explizit zu erörtern. Als Kelsen diese Grundlagenproblematik als Problem zu empfinden begann, hat er die Auffassung, Denken sei Erkennen, Denken können nur Operieren m i t kognitiven Gebilden sein, erst i n einzelnen Ansätzen — beginnend m i t seiner „Reinen Rechtslehre" (zweite Aufl. 1960, siehe S. 26 f., S. 358 F N 1, ferner S. 76 f., 209 f.) und dann fortfahrend m i t den Forum-Aufsätzen „Recht und Logik" (Forum X I I , 1965, S. 421-425, S. 495-500) und „Nochmals: Recht und Logik" (Neues Forum X I V , 1967, S. 39-40)—, dann als Grundvoraussetzung akzeptiert, von der seine Konzeption i n der „Allgemeinen Theorie der Normen" vollkommen determiniert ist. Daß dann die analytische Einstellung der Reinen Rechtslehre und viele ihrer Argumentationen auf Sand gebaut zu sein scheinen, hat Kelsen wahrscheinlich nur teilweise erfaßt: einerseits führt i h n dieses Bewußtsein zu tiefgreifenden Transformationen der juristischen Konzeptionen (ζ. B. zu einer Änderung der Einstellung zur Anerkennungslehre 8 ), andererseits hat er jedoch nicht gesehen, daß hierdurch der ganze Sinn und die grundlegende wissenschaftliche Intention der Reinen Rechtslehre und der Strukturtheorie des Rechts überhaupt zunichte gemacht werden. Der Terminus ,denken' w i r d i n verschiedenem Sinne gebraucht. Es geht m i r hier natürlich keineswegs darum, die Verwendungsweisen dieses Wortes Revue passieren zu lassen und die Unterschiede der Bedeutung nach dem Kontex und der Situation zu erörtern. I n einigen philosophischen Lehren faßt man das Denken — wenigstens i n gewissen Überlegungen — als Bewußtwerden von Sachverhalten auf. Dies ist ζ. B. dann der Fall, wenn gewisse marxistische Autoren behaupten, das Denken sei ein Abbilden der Realität. I m Kontext meiner Überlegungen über die Beziehung zwischen dem Denken auf der einen, dem Erkennen und Wollen (Sollen) auf der anderen Seite, geht es nur u m die Bedeutung des Denkens i m Sinne der Wissenschaftstheorie und der Logik. I n diesem Sinne ist das Denken ein Operieren m i t gedanklichen Gebilden bzw. m i t den sie ausdrückenden sprachlichen Ausdrücken. Die Logik als Theorie des Denkens i n diesem Sinne umfaßt zwei innig zusammenhängende Gebiete: das Problem der Gedankenstrukturen (zusammen mit der Frage ihres sprachlichen Ausdruckes) und das Problem des logischen Operierens. Logisches Denken i n diesem Sinne ist ein regelgelenktes Operieren m i t sprachlich-gedanklichen Strukturen, gegebenenfalls ein Erfassen gewisser Beziehungen zwischen Gedankengegenständen. Sowohl die Operationen als auch die Beziehungen, die man als »logische4 bezeichnet, sind nur von sprachlichen Festsetzungen über die Struktur oder/und Bedeutung der Ausdrücke, nicht aber durch empirische Tatsachen bestimmt. 8
Vgl. S. 33 ff.; ferner Abschnitt 11.4 dieses Essays.
2. Die ontologischen Voraussetzungen
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Nach Kelsens Voraussetzungen besteht logisches Denken i n Operationen m i t kognitiven Gedankengebilden und kann nur i n diesem Bereich sinnvoll sein. Nur i m Bereich der Aussagen (Aussagesätze) gibt es logische Operationen. Nur dort kann objektiv gültig gedacht werden, weil nur dort objektive Relationen existieren. Das Wahrsein von Aussagen, das die Grundlage der dem logischen Denken Objektivität verleihenden Operationen bildet, ist der Grund, warum hier — und nur hier — logisches Operieren Geltung hat. Für die Normen gibt es kein objektives Korrelat, welches etwa ihre Geltung i n analoger Weise objektiv fundieren könnte, wie die Wahrheit von Aussagen (Aussagesätzen) objektiv fundiert ist. Normen gelten nur, weil etwas als gewollt gesetzt (oder anerkannt — was eigentlich nur einen besonderen Fall von willentlicher Setzung, nämlich: rezipierende Setzung, darstellt) ist. Da es für Normen keine objektiven Korrelate gibt, gibt es nach Kelsen auch keine Basis für logische Beziehungen von Normen und für normenlogisches Folgern. Normenlogisches Folgern erscheint — infolge der Kelsenschen ontologischen Voraussetzungen, denen gemäß logische Beziehungen und Operationen gerade dadurch charakterisiert sein müssen, daß ihnen ein objektives Korrelat zugeordnet ist, dessen Struktur die logischen Beziehungen und Operationen begründet — als ein Ding der Unmöglichkeit. 2.3. Positivität
der Norm als Setzung durch einen Willensakt
Kelsens Positivismus beruht nicht nur auf der Ablehnung der Möglichkeit praktischer Erkenntnis und der Existenz von Naturrechtsprinzipien, sondern auch auf der Überzeugung, die Geltung ( = Existenz) der Norm gründe sich ausschließlich auf die Setzung durch W i l lensakte normerzeugender Subjekte. Die Norm definiert er direkt als Sinn solcher Willensakte, was zur Konsequenz führt, daß eine Norm dort und nur dort vorliegt, wo ein normsetzender (d.h. auf fremdes Verhalten gerichteter) Willensakt festgestellt werden kann. „Der A k t , dessen Sinn ist, daß etwas geboten, vorgeschrieben w i r d , ist ein Willensakt. Dasjenige, was geboten, vorgeschrieben w i r d , ist i n erster Linie ein bestimmtes menschliches Verhalten. Wer etwas gebietet, v o r schreibt, w i l l , daß etwas geschehen s o l l . Das Sollen, die Norm, ist der Sinn eines Wollens, eines Willensaktes, u n d — w e n n die N o r m eine V o r schrift, ein Gebot ist — der Sinn eines Aktes, der auf das Verhalten eines anderen gerichtet ist, eines Aktes, dessen Sinn ist, daß sich ein anderer (oder andere) i n bestimmter Weise verhalten soll (oder sollen)" (S. 2).
Da die Norm der freien — man kann sagen: willkürlichen — Setzung entstammt, kann jeder beliebige Inhalt zum Inhalt einer Norm (Rechtsnorm) gemacht werden.
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I. Kap.: Wesen u n d F u n k t i o n der N o r m
I m Recht g i b t es Setzungsakte d e r h i e r z u e r m ä c h t i g t e n S u b j e k t e u n d G e w o h n h e i t als Q u e l l e n d e r Rechtsnormen. „Wirksamkeit (bzw. Möglichkeit der Wirksamkeit) ist aber nicht die einzige Bedingung. Auch eine andere Seins-Tatsache ist eine Bedingung der Geltung einer Norm: die Seins-Tatsache ihrer S e t z u n g . N u r eine i m Wege bewußter Setzung oder i m Wege der Gewohnheit gesetzte N o r m k a n n als p o s i t i v e N o r m der Moral oder des Rechts gelten. I n diesem — durch menschliche A k t e — Gesetzt-Sein u n d der i m Vorhergehenden gekennzeichneten Wirksamkeit als der Bedingung der Geltung liegt die P o s i t i v i t ä t d e r M o r a l u n d d e s R e c h t s " (S. 113 f.). D i e E n t s t e h u n g des G e w o h n h e i t s r e c h t s b e t r a c h t e t K e l s e n n i c h t als w e s e n t l i c h e M o d i f i k a t i o n d e r These, daß N o r m e n d u r c h W i l l e n s a k t e gesetzt w e r d e n . E r sagt ü b e r diese F r a g e i n d e r z w e i t e n A u f l a g e der „ R e i n e n Rechtslehre" ( u n d v e r w e i s t a n d e r z i t i e r t e n Stelle d e r „ A l l g e m e i n e n T h e o r i e der N o r m e n " a u f diese Passagen): „Normen, durch die ein Verhalten als gesollt bestimmt w i r d , können auch durch A k t e gesetzt werden, die den Tatbestand der Gewohnheit konstituieren. W e n n Menschen, die gesellschaftlich zusammenleben, durch eine gewisse Zeit hindurch sich unter gewissen gleichen Bedingungen i n gewisser gleicher Weise verhalten, so entsteht i n den einzelnen I n d i v i d u e n der Wille, sich so zu verhalten, w i e sich die Gemeinschaftsglieder gewohnheitsmäßig verhalten. Der subjektive Sinn der A k t e , die den Tatbestand der Gewohnheit k o n stituieren, ist zunächst nicht ein Sollen. Erst w e n n diese A k t e durch eine gewisse Zeit erfolgt sind, entsteht i n dem einzelnen I n d i v i d u u m die V o r stellung, daß es sich so verhalten soll, w i e sich die Gemeinschaftsmitglieder zu verhalten pflegen, u n d der Wille, daß sich auch die anderen Gemeinschaftsmitglieder so verhalten sollen. Verhält sich ein Gemeinschaftsmitglied nicht so, w i e sich die Gemeinschaftsmitglieder zu verhalten pflegen, w i r d sein Verhalten v o n den anderen mißbilligt, w e i l es sich nicht so verhält, w i e diese wollen. So w i r d der Tatbestand der Gewohnheit zu einem k o l l e k t i v e n W i l l e n , dessen subjektiver Sinn ein Sollen ist." . . . „Da der Tatbestand der Gewohnheit durch A k t e menschlichen Verhaltens konstituiert w i r d , sind auch die durch Gewohnheit erzeugten Normen durch A k t e menschlichen Verhaltens gesetzt, u n d sohin, w i e die Normen, die der subjektive Sinn v o n Gesetzgebungsakten sind, gesetzte, das heißt positive Normen" (RR 2 , S. 9). „Der traditionellen Jurisprudenz folgend, n i m m t m a n an, daß opinio necessitatis ein wesentliches Element des Gewohnheitstatbestandes ist. Das heißt: daß die die Gewohnheit konstituierenden A k t e i n der Meinung erfolgen müssen, daß sie erfolgen sollen. Diese Meinung setzt aber einen individuellen oder k o l l e k t i v e n Willensakt voraus, dessen subjektiver Sinn ist, daß man sich gewohnheitsmäßig verhalten soll. W e n n Gewohnheitsrecht, ebenso w i e Gesetzesrecht, positives, das heißt gesetztes Recht ist, muß es einen individuellen oder k o l l e k t i v e n Willensakt geben, dessen subjektiver Sinn das Sollen ist, das als o b j e k t i v gültige Norm, als Gewohnheits-Recht gedeutet w i r d " (RR 2 , S. 232). Diese K o n z e p t i o n erscheint m i r n i c h t u n p r o b l e m a t i s c h : der k o l l e k t i v e W i l l e ist z w a r — i n n i c h t einfacher Weise — a b h ä n g i g v o m W o l l e n d e r
2. Die ontologischen Voraussetzungen
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Gemeinschaftsglieder und einzelner willensfähiger Subjekte, aber ein A k t , dessen Sinn direkt geäußert oder konstatiert wird, ist eine fiktive Konstruktion. Müssen für die Entstehung von Gewohnheitsrecht bewußte Willensakte des betreffenden Inhalts vorliegen? Es scheint m i r gleichermaßen schwierig, den kollektiven Willensakt auf eine Menge von ausdrücklichen Willensakten einzelner Gemeinschaftsmitglieder zu reduzieren, wie den kollektiven Willensakt als realen A k t anzusehen, dessen Sinn aus dem A k t selbst verstanden werden kann; denn der kollektive Willensakt ist als solcher einer direkten hermeneutisch erfaßbaren Äußerung nicht fähig. Welchen Sinn haben die einzelnen Akte, durch die Gewohnheitsrechtsregeln erzeugt werden? Ist ihr Sinn ein gnerelles oder ein individuelles Sollen? Wenn ein gewisses Subjekt Si sich i n einer gewissen Situation i n gewisser Weise verhält, so mag es zwar die allgemeine Rechtlichkeit seiner Verhaltensweise voraussetzen, doch ist der Sinn des entsprechenden Willensaktes jedenfalls ein individuelles Sollen. Analoges gilt, wenn ein Staatsorgan einen gewissen Fall entscheidet: es setzt einen Willensakt, dessen Sinn ein individuelles Sollen ist. Die von Kelsen vorausgesetzte Gleichheit der Sollensinhalte der Willensakte, die zum Gewohnheitsrecht führen, ist also i n Wirklichkeit nicht gegeben. Auch der deflatorischen Festsetzung, daß eine positive Norm nur dann besteht, wenn ein Willensakt existiert, dessen Sinn die Norm ist, w i r d hier nicht Genüge getan, denn die existierenden Akte haben individuellen Sinn, das Gewohnheitsrecht ist aber eine generelle Regel. Kelsen verbindet insbesondere i n seiner Spätphilosophie die Existenz einer Norm so eng m i t dem normsetzenden Willensakt, daß er sogar die Geltung der Norm nach dem Setzungsakt als eine gewisse Einschränkung des Grundsatzes „Keine Norm ohne einen Willensakt, dessen Sinn sie ist" ansieht. „Darin, daß die Geltung einer N o r m durch den Willensakt bedingt ist, dessen Sinn sie ist, liegt ihre Ρ ο s i t i ν i t ä t . . . " (S. 187). „ K e i n I m p e r a t i v ohne Imperator, keine N o r m ohne eine normsetzende A u t o r i t ä t , d . h . keine N o r m ohne einen Willensakt, dessen Sinn sie ist" (S. 187). „Eine Einschränkung dieses Grundsatzes [nämlich des Grundsatzes „keine N o r m ohne einen Willensakt, dessen Sinn sie ist", A n m . O. W J ist n u r insofern gegeben, als das Sollen, das der Sinn des auf das Verhalten eines anderen gerichteten Wollens ist, die Norm, gilt, das heißt: vorhanden ist, auch nachdem der Willensakt, dessen Sinn sie ist, nicht mehr vorhanden ist; u n d das Vorhandensein eines Willensaktes ist, seiner N a t u r nach, auf die kurze Zeitspanne seiner Setzung beschränkt. Ja, die Geltung einer N o r m ist — normalerweise — gerade für die Zeit nach der Setzimg des Willensaktes bestimmt; u n d eine N o r m k a n n auch für die Zeit v o r der Setzung des Willensaktes, dessen Sinn sie ist, das heißt: m i t rückwirkender K r a f t , gelten" (S. 187 f.).
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I. Kap.: Wesen und Funktion der Norm
Es w i r d später noch die Frage eingehend erörtert werden müssen, ob die strikte Bindung der Norm (bzw. der Geltung von Normen) an W i l lensakte, deren Sinn die Norm ist, eine akzeptable Auffassung darstellt. Für Kelsen ist dies ein grundlegendes Kredo, dem er seine Theorie so weit als möglich anzupassen sucht. Die Bindung der Norm an den Willensakt entspricht seiner Auffassung des Positivismus als These, daß Normen nur durch Willensakte gesetzt werden; sie w i r d nur dadurch eingeschränkt, daß die Zeitspanne der Geltung der Norm den Augenblick des normsetzenden Willensaktes überschreitet; und diese Konzeption verbindet sich dann weiters m i t Kelsens antinormenlogischer Einstellung, indem sie keine Normen kennt, die als logische Folgen gesetzter (vorausgesetzter) Normen gelten (ohne daß ein die gefolgerten Normen konstituierender Willensakt neben dem die normativen Prämissen schaffenden Willensakt existieren würde). M i r erscheint diese ontologische Grundauffassung Kelsens problematisch: (i) Der Positivismus muß zwar eine Abhängigkeit des Rechts vom gesellschaftlichen Wollen voraussetzen, doch darf er dies nicht als direkte Bindung an einzelne Willensakte verstehen. (ii) Wenn man sagt, daß die Norm der Sinn gewisser Willensakte ist, dann ist die Anerkennung der Existenz der Norm, auch nachdem der Willensakt beendet ist, nur dann vertretbar, wenn man die Norm als soziale Realität von dem sie erzeugenden A k t ablöst und sie als real daseiendes Sinngebilde versteht. Der Willensakt ist dann nur eine Entstehungsquelle der Norm, die als Idealentität i h r eigenes Dasein hat und als gedankliche Entität verstanden werden kann (insbesondere aus ihrer sprachlichen Formulierung). (iii) Der Begriff des Gewohnheitsrechts ist unter der Voraussetzung, daß die Norm ihrem Wesen nach der Sinn eines bestimmten Willensaktes sei, kaum zu erklären, denn ein solcher Willensakt ist nicht gegeben, denn das kollektive Wollen ist eine soziale Summe von — nicht immer explizitem — Wollen, das nur dann sinnvoll ist, wenn man dem idealen Inhalt — der Norm — gesellschaftliche Realität zuspricht, abgelöst von einzelnen Willensakten. (iv) Durch die ontologische Voraussetzung der Bindung der Norm an den Willensakt w i r d die Möglichkeit von vornherein ausgeschlossen, i n der Rechtstheorie m i t normenlogischen Folgerungen zu arbeiten. Wenn ζ. B. der normsetzende Willensakt statuiert „Alle Subjekte s sollen p", dann ist dieser Satz der Sinn des betreffenden Willensaktes, nicht aber „Franz Maier soll p" (wobei Franz Maier eines dieser Sub-
31
2. Die ontologischen Voraussetzungen
jekte sei). Was uns eine logische Konsequenz des Sinnes des Willensaktes, durch den die generelle Norm gesetzt wird, zu sein scheint, ist nicht der Sinn eines Willensaktes (denn ein solcher A k t muß ja nicht existieren), also — i m Kelsenschen Sinne — keine geltende Norm (d. h. keine Konsequenz der generellen Prämisse). W i r werden später sehen, zu welch unerfreulichen Konstruktionen Kelsen greifen muß — nämlich zu einer äußerst problematischen Anerkennungstheorie —, u m seine Lehre auf Grund der ontologischen Voraussetzung einer wesenhaften (begrifflichen) Bindung der Norm an den Willensakt, dessen Sinn sie ist, anzupassen. 2.4. Objektivität
der Erkenntnis
und Subjektivität
des Wollens
Erkenntnis ist prinzipiell objektiv i n dem Sinne, daß jede Erkenntnis objektiv gemeint ist, und daß deswegen über die Wahrheit der Erkenntnis die Relation der Erkenntnis zur objektiven Realität entscheidet. Auch eine irrige Erkenntnis ist dennoch insoweit objektiv, als sie als objektive Beschreibung gemeint ist und wegen der falsifizierenden Relation zur objektiven Realität als unwahr erkannt wird. Wollen (Sollen) ist dagegen i n dem Sinne subjektiv, daß es nur dann besteht, wenn entsprechende Willensakte vorliegen. Eine Norm gilt — nach Kelsen — nur dann, wenn ein sie setzender Willensakt, dessen Sinn sie ist, existiert. Der Willensakt eines Subjektes (von Subjekten) ist Bedingung der Geltung der Norm, sie existiert nur dann, wenn sie durch einen Willensakt gesetzt ist. „ A b e r diese Parallele [sc. zwischen der Wahrheit einer Aussage u n d der Geltung einer Norm; A n m . O. W J besteht nicht. I h r steht v o r allem entgegen, daß das Verhältnis zwischen dem A k t , m i t dem die N o r m gesetzt w i r d , u n d der Geltung der N o r m wesentlich verschieden ist v o n dem V e r hältnis zwischen dem A k t , m i t dem die Aussage gemacht w i r d , u n d der Wahrheit der Aussage. Z w a r ist die Aussage ebenso w i e die N o r m Sinn eines Aktes; aber die Wahrheit einer Aussage ist nicht durch den A k t , m i t dem sie gemacht w i r d , bedingt, während die Geltung der N o r m durch den A k t bedingt ist, m i t dem sie gesetzt w i r d . Dabei ist w o h l zu beachten, daß der A k t , m i t dem die N o r m gesetzt w i r d , der A k t , dessen Sinn die N o r m ist, die B e d i n g u n g der Geltung der Norm, nicht aber m i t der Geltung der N o r m identisch ist" (S. 136).
Die Norm besteht infolge des Willensaktes eines normsetzenden Subjektes, und ist also i n diesem Sinne subjektiv. Sie untersteht auch keiner objektiven Verifikationsinstanz, die sie i n analoger Weise disqualifizieren könnte, wie Aussagen durch ihre objektiv feststellbare Unwahrheit disqualifiziert werden.
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I. Kap.: Wesen u n d F u n k t i o n der N o r m 2.5. Die Objektivität die Unmöglichkeit
des Schlußfolgerns
normenlogischer
und
Folgerungen
Das logische F o l g e r n ist eine o b j e k t i v e B e z i e h u n g zwischen S i n n g e b i l d e n , n i c h t z w i s c h e n D e n k a k t e n . Logische F o l g e r u n g e n g i b t es — n a c h Kelsens Ü b e r z e u g u n g — d a h e r n u r i m B e r e i c h d e r Aussagen, n i c h t i m Bereich der Normen. „Die Prinzipien der L o g i k beziehen sich nicht — w i e die Sätze der Psychologie — auf D e n k - A k t e , sondern auf den S i n n v o n Denkakten, nicht auf das Denken, sondern das Gedachte, das heißt: nicht auf den Sinn tatsächlicher, sondern auf den Sinn möglicher Denkakte, gleichgültig ob diese Denkakte i n W i r k l i c h k e i t stattfinden oder nicht" (S. 182 f.). „Die Wahrheit der generellen Aussage ,Alle Menschen sind sterblich 4 geht nicht zeitlich der Wahrheit der individuellen Aussage voraus: ,Der Mensch Sokrates ist sterblich. 4 Die individuelle Aussage ist schon wahr, w e n n die generelle Aussage w a h r ist, ein Umstand, der — w i e w i r sehen werden — bei der Gegenüberstellung des sogenannten normativen zu dem theoretischen Syllogismus v o n Bedeutung ist. Dabei ist zu beachten, daß die logische Schluß-Regel nicht psychologisch mißdeutet werden darf. Sie bedeutet nicht, daß es unter der Voraussetzung der Prämissen: ,Alle Menschen sind sterblich', ,Sokrates ist ein Mensch', notwendig zu einem Denkakt kommen muß, dessen Sinn ist: ,Sokrates ist sterblich', oder daß, w e r die wahre Aussage machen w i l l ,Alle Menschen sind sterblich', schon wissen muß, daß es einen Menschen Sokrates gibt, gegeben hat oder geben w i r d , der sterblich ist. Denn die L o g i k bezieht sich nicht auf wirkliche D e n k - A k t e , sondern auf den Sinn v o n möglichen Denkakten. Sie sagt: w e n n es w a h r ist, daß alle Menschen sterblich sind, u n d w e n n es w a h r ist, daß Sokrates ein Mensch ist, dann ist es wahr, daß Sokrates sterblich ist, gleichgültig ob ein Mensch die D e n k - A k t e vollzieht, deren Sinn die Prämissen u n d der Schlußsatz des Syllogismus sind. Der Syllogismus, der v o n der generellen Wahrheit: ,Alle Menschen sind sterblich' zu der individuellen Wahrheit: ,der Mensch Sokrates ist sterblich' führt, beruht darauf, daß — logisch — das Individuelle i n dem Generellen impliziert ist" (S. 183 f.). „ U m i n dem theoretischen Syllogismus v o n der generellen Wahrheit: ,Alle Menschen sind sterblich' zu der individuellen Wahrheit zu kommen: ,Der Mensch Sokrates ist sterblich', bedarf es daher keines tatsächlichen Denkaktes, dessen Sinn diese individuelle Aussage ist, u n d der v o n einem t a t sächlichen Denkakt verschieden ist, dessen Sinn die generelle Aussage ist, oder i n diesem Denkakt impliziert ist. Die Wahrheit ,Der Mensch Sokrates ist sterblich' k a n n i n der Wahrheit ,Alle Menschen sind sterblich' darum impliziert sein, w e i l sich zwischen dem Sinn, den die generelle Aussage ausdrückt, u n d dem Sinn, den die individuelle Aussage ausdrückt, k e i n Denkakt schieben muß, dessen Sinn die individuelle Aussage ist. Auch dieser Umstand ist für die Frage v o n Bedeutung, ob dem theoretischen Syllogismus ein i h m analoger normativer Syllogismus zur Seite gestellt werden k a n n " (S. 184). F e r n e r ist K e l s e n o f f e n b a r d a v o n ü b e r z e u g t , daß die F o l g e r u n g s b e z i e h u n g eine W a h r h e i t s b e z i e h u n g z w i s c h e n P r ä m i s s e n u n d K o n s e q u e n z e n ist — was auch d e r t r a d i t i o n e l l e n A u f f a s s u n g e n t s p r i c h t .
2. Die ontologischen Voraussetzungen
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Eine Schlußfolgerung mit normativen Gliedern (Prämissen, Schlußsätzen) — wie dies die Normenlogik voraussetzt — ist für Kelsen ein Ding der Unmöglichkeit. Erstens folgt dies aus der Unfähigkeit der Normen, wahr oder unwahr zu sein, während die Folgerung sich auf Wahrheitsbeziehungen stützt und daher nur wahrheitsfähige Glieder betreffen kann. Zweitens folgt dies für Kelsen aus der Subjektivität der Norm, die nur dann gelten kann, wenn ein entsprechender Willensakt, dessen Sinn sie ist, existiert. Kelsen legt dies anhand der Analyse der Frage, ob eine individuelle Norm aus der generellen folgt, dar: „Die Geltung der individuellen N o r m k a n n nicht i n der Geltung der generellen N o r m u n d der Wahrheit der Aussage impliziert sein, w e i l die Geltung einer N o r m durch den Willensakt bedingt ist, dessen Sinn sie ist, während i n dem theoretischen Syllogismus die Wahrheit der individuellen Aussage i n der Wahrheit der generellen Aussage darum impliziert sein kann, w e i l die Wahrheit einer Aussage nicht durch den Denkakt bedingt ist, dessen Sinn sie ist. Da sich zwischen die Geltung der generellen N o r m u n d die Geltung der i h r entsprechenden individuellen N o r m ein Willensakt einschieben muß, dessen Sinn die individuelle N o r m ist, k a n n die Geltung der individuellen N o r m nicht logisch, d. h. i m Wege einer Denkoperation, folgen wie die Wahrheit einer individuellen Aussage aus der Wahrheit der generellen Aussage folgt, der die individuelle Aussage entspricht" (S. 186 f.).
Wenn Kelsen hier behauptet, daß „sich zwischen die Geltung der generellen Norm und die Geltung der ihr entsprechenden individuellen Norm ein Willensakt einschieben muß, dessen Sinn die individuelle Norm ist", so macht er sich einer A r t von petitio principii schuldig. Seine Behauptung, daß ein Willensakt dazwischen treten muß, ist an und für sich durch nichts bewiesen; und diese Behauptung hat zur unmittelbaren Folge, daß die individuelle Norm keine logische Konsequenz der generellen ist, was Kelsen beweisen w i l l . Dies ist aber kein Beweis, sondern durch die Festsetzung, daß ein A k t dazwischentreten muß, damit eine individuelle Norm gelte, w i r d eine Aktabhängigkeit der individuellen Norm postuliert, die die Geltung der logischen Beziehung unmöglich macht. Die Möglichkeit einer begrifflichen Erweiterung des Folgerungsbegriffes, u m ihn auch auf normative Glieder anwendbar zu machen, zieht Kelsen nicht i n Betracht, ebensowenig wie die Möglichkeit einer relativen Objektivität der Folgerungsbeziehung, bei der diese Beziehung relativ zu den vorausgesetzten Prämissen (die selbst nicht notwendig objektiv fundiert sein müssen) als objektiv gültig aufgefaßt wird. Diese beiden Wesensvoraussetzungen für die logische Folgerung: sie sei eine Wahrheitsbeziehung und als solche rein objektiv fundiert, und die Beziehung zum existenten Willensakt, dessen Sinn die Norm ist, als notwendige Bedingung der Geltung der Norm — sind die entscheiden3 Weinberger
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I. Kap.: Wesen und Funktion der Norm
den Quellen der antinormenlogischen Einstellung Kelsens. Die anderen Überlegungen und Argumente, die ich später noch kritisieren werde, sind von untergeordneter Bedeutung, sozusagen nur nebensächliche Momente, die zum Gegenbeweis gegen die Möglichkeit einer Normenlogik herangezogen werden. I n Wirklichkeit ist das logische Folgern i n keiner Weise von der Voraussetzung der Objektivität der Prämissen — ihrem objektiven Wahrsein oder ihrer objektiven Geltung — abhängig, sondern objektiv ist nur die relative Geltung der Folgerungsrelation aufgrund des formalen (gegebenenfalls auch des semantischen) Verhältnisses zwischen Prämissen und ihren Konsequenzen. Es gibt auch keinen sachlichen Grund, warum logisches Folgern nur durch Wahrheitsbeziehungen begründbar sein sollte. Entscheidend ist, ob eine formale (bzw. semantische) Beziehung zwischen den Prämissen und den Konklusionen aufweisbar ist, die die Determination einer gewissen „Erbeigenschaft" — sei es die Eigenschaft ,wahr sein 4 , ,gelten 4 oder eine andere — vermittelt.
3. Kelsens Normbegriff 3.1. Psychischer Akt und sein objektiver
Sinn
Die Gegenüberstellung von psychischem A k t und dessen Sinn entstammt den Betrachtungen über kognitives Denken bzw. über kognitive Gedanken. Die Eigenart der logischen Beziehungen und die angemessene Konstruktion der logischen Analyse machten diese Gegenüberstellung erforderlich, u m die psychologistische Betrachtungsweise von der logischen abzusondern und u m vom psychologischen Kontext absehen zu können, wenn man logische Beziehungen und Operationen analysieren und begründen wollte. Die antiken und mittelalterlichen logischen Untersuchungen kamen recht gut ohne solche Differenzierungen der Betrachtungsweise und des Kontextes des Denkens aus, denn sie behandelten die Gedanken so, wie sie gedacht (erlebt) werden, als sinnvolle objektiv gemeinte Gebilde, die — mehr oder weniger angemessen — sprachlich formuliert werden können. Durch die Betrachtungsweise der psychologistisch orientierten logischen Analyse wurde jedoch eine Problemsituation geschaffen, i n der nur durch explizite Klarstellung des Unterschieds zwischen den psychologischen Prozessen des Denkens und der logischen Analyse der Gedanken eine tragfähige Basis für die Logik als einer Lehre von den Gedankenstrukturen und den rationalen Operationen geschaffen werden konnte. Husserl ist es gelungen, fürderhin klarzumachen, und zwar i n unstrittiger Weise, daß die logischen Beziehungen die Gedanken als Sinngefüge einer bestimmten Struktur betreffen, so daß die Logik es einzig und allein m i t diesen Gebilden — Gedanken i m objektiven Sinne — zu t u n hat, und von den psychischen Akten, Prozessen und Zusammenhängen säuberlich abstrahieren muß. Der Kontakt zum faktischen Prozeß des Denkens w i r d dadurch aufrecht erhalten, daß der Gedanke (im Sinne der Logik) der Sinn psychischer Akte sein kann, bzw. daß der Gedanke i m Sinne der Logik als der Sinn möglicher psychischer Akte angesehen wird, wobei es jedoch ganz unerheblich ist, ob ein entsprechender A k t tatsächlich existiert, je vor sich gegangen ist oder je vor sich gehen wird. Ein Gedanke i m Sinne der Logik kann der Sinn mehrerer Gedankenakte eines oder verschiedener Subjekte sein. Ja, als möglichen Sinn von A k t e n muß 3*
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I. Kap.: Wesen und Funktion der Norm
man i n diesem Zusammenhang auch das ansehen, was — ζ. B. wegen der beschränkten Kapazität unserer Psyche — gar nicht i n einem realen psychischen A k t bewältigt werden kann. Die Gedanken i m objektiven Sinne, also die Gegenstände der Logik, sind strukturierte Sinngefüge, die als ideelle sprachliche Gebilde oder als Sinn sprachlicher Ausdrücke (als Sinn von Zeichenreihen) anzusehen sind. Der Gedanke i m logischen Sinne steht also i n direkter Beziehung zu möglichen sprachlichen Äußerungen, deren Sinn er ist. Der Gedanke i m objektiven Sinn hat eine durch das Sprachsystem determinierte Struktur; er hat aber auch objektiviertes Eigenleben; er ist losgelöst und unabhängig von einem eventuellen psychischen Erzeugungsakt des Gedankens; mittels der Sprache und faktischer oder potentieller sprachlicher Formulierungen des Gedankens w i r d er — wenigstens der Möglichkeit nach — zum Kommunikat. Wenn der Gedanke formuliert ist und als Kommunikat auftritt, hört er auf, etwas rein Innerpsychisches, ein gedankliches Erlebnis zu sein; er w i r d zu einer intersubjektiv verstehbaren Idealentität. 3.2. Die Norm als Sinn von Willensakten Der psychische A k t , dessen Sinn i n einer Aussage (in einem Aussagesatz) dargestellt werden kann, ist ein Erkenntnisakt, ein Behauptungsakt oder ein A k t des logischen Folgerns (wobei ich hinzufügen würde: i n der deskriptiven Sprache). Die ideellen Ergebnisse solcher Akte sind kognitive (rein beschreibende) Sinngebilde, ausdrückbar i n Sätzen, die wahr oder unwahr sein können. Wenn man die prinzipiell verschiedenen psychischen Kapazitäten des Erkennens und Wollens unterscheidet, und i n der Semantik deskriptive und präskriptive Sätze einander kategorial gegenüberstellt, dann ist es naheliegend, den kognitiven (behauptenden) psychischen A k t e n die Willensakte an die Seite zu stellen. Die durch Willensakte gesetzten Sinngefüge unterscheiden sich grundsätzlich vom Sinn kognitiver bzw. behauptender Akte: ihr Sinn ist ein intentionaler Inhalt, der eine auf menschliches Verhalten gerichtete Intention ausdrückt. „ W o l l e n k a n n — vernünftigerweise — n u r auf das Verhalten eines Wesens gerichtet sein, das den Sinn des Wollens versteht u n d sich i h m entsprechend verhalten kann. Dadurch unterscheidet sich das W o l l e n v o m W ü n s c h e n , das auch auf anderes Geschehen gerichtet sein kann. Ich k a n n wünschen, daß es morgen regnen soll; aber ich k a n n das nicht »wollen', denn ich k a n n durch die Äußerung eines solchen Wollens den Regen nicht herbeiführen" (S. 21). „Es besteht ein Unterschied zwischen dem W o l l e n eines eigenen Verhaltens u n d dem Wollen, daß ein anderer sich i n bestimmter Weise verhalten
3. Kelsens Normbegriff
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s o l l , einem Wollen, das auf das Verhalten eines anderen gerichtet ist, auch w e n n dieser andere m a n selbst als der Adressat einer selbst gesetzten N o r m ist" (S. 24).
Der Willensakt der auf fremdes Verhalten gerichtet ist, ist ein Befehlsakt, dessen sprachlicher Ausdruck der Imperativ ist (vgl. S. 23). Sinn eines auf fremdes Verhalten gerichteten Willensaktes (Befehlsaktes) ist eine Norm. Die definierende Grundstruktur der Norm, daß sie der Sinn des Willensaktes eines Subjektes über das gesollte Verhalten eines anderen Subjektes ist, w i r d von Kelsen auch für die Normen der autonomen Moral beibehalten: „Auch die Idee einer autonomen M o r a l scheint der Behauptung zu w i d e r sprechen, daß eine N o r m zwei Menschen voraussetzt. Denn die Normen dieser M o r a l richtet der Mensch an sich selbst. A b e r ein solcher Vorgang ist n u r möglich, w e n n sich das menschliche Bewußtsein — so w i e i n einem A k t e der Selbstbeobachtung — i n zwei Persönlichkeiten, ein e g o u n d ein a l t e r e g o , spaltet, so daß die eine die Normen setzt, die an die andere gerichtet sind, das heißt, das Verhalten der anderen als gesollt statuiert. Das die N o r m setzende e g o w i l l , daß sich, das a l t e r e g o i n bestimmter Weise verhalten s o l l . Der Vorgang, i n dem sich die Selbst-Bindung einer autonomen M o r a l vollzieht, ist nicht richtig beschrieben, w e n n m a n sagt: der Mensch, der als sein eigener Gesetzgeber fungiert, der selbst die N o r m setzt, die i h m ein bestimmtes Verhalten vorschreibt, w i l l sich i n dieser Weise verhalten. Was er als sein eigener Gesetzgeber w i l l , ist nicht: sich selber i n einer bestimmten Weise zu verhalten, sondern: daß er sich i n bestimmter Weise verhalten s o l l " (S. 23 f.).
Diese nicht uninteressante Konstruktion der autonomen Norm führt zu beachtenswerten Konsequenzen i n der Moraltheorie (vgl. IV. Kapitel). Für Kelsens Auffassung der Norm und für die gesamte Normentheorie, insbesondere dann für die Frage, ob eine Normenlogik prinzipiell möglich ist, ist es entscheidend, inwieweit die Beziehungen zwischen kognitivem A k t und deskriptivem Gedanken i m objektiven Sinne auf der einen Seite und dem Willens- (bzw. Befehls-)akt und der Norm auf der anderen Seite analog sind. Zu dieser Frage möchte ich nun Kelsens Meinung darstellen und sie kritisch prüfen. Der Sinn eines solchen Willensaktes (Befehlsaktes) kann — daran zweifelt Kelsen nicht — sprachlich formuliert werden, was einen Imperativ (oder Sollsatz) ergibt, der eine Norm ausdrückt. Der Sollsatz ist auch verstehbar, und er w i r k t gerade dadurch, daß er vom Adressaten, dessen Verhalten er durch die Norm bestimmen w i l l , aufgefaßt und verstanden wird.
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I. Kap.: Wesen u n d F u n k t i o n der N o r m
„Der Sinn meines auf das Verhalten eines anderen gerichteten Willensaktes ist das, was ich m i t dem Ausdruck meines Willensaktes m e i n e . E i n auf das Verhalten eines anderen gerichteter Willensakt w i r d zumeist sprachlich, d . h . i n gesprochenen oder geschriebenen Worten, ausgedrückt. Wer einen Befehl gibt, m e i n t etwas. Er erwartet, daß der andere dieses Etwas v e r s t e h t . Er meint m i t seinem Befehl, d a ß sich der andere i n bestimmter Weise verhalten s o l l . Das ist der S i n n seines Willensaktes" . . . (S. 25). „Der Befehlsgeber erwartet, daß der Befehlsadressat den Befehl v e r s t e h t , d.h., daß er den S i n n der Äußerung des Befehlsgebers a l s B e f e h l versteht, das heißt, daß er weiß: 1. d a ß er sich i n bestimmter Weise verhalten s o l l ; und 2. w i e er sich verhalten soll, w a s er t u n oder unterlassen soll. Das eine ist der S i n n , das andere der I n h a l t des einen Befehl darstellenden Willensaktes" (S. 25 f.). „Eine Bedeutung k a n n m a n aber nicht sinnlich wahrnehmen; man k a n n sie n u r v e r s t e h e n , das heißt, gedanklich erfassen" (S. 27). . . . „ W e n n der Angesprochene die Bedeutung eines Wortes oder den Sinn des Satzes, d . h . dessen, was ich zu i h m gesagt habe, nicht verstanden hat, k a n n er mich fragen: was bedeutet dieses Wort? oder was meinst d u m i t dem, was du gesagt hast, was ist sein Sinn? Ist es der Sinn eines Denkaktes, das heißt: eine A u s s a g e , oder der Sinn eines Willensaktes, d. h. ein B e f e h l ? Drücke diesen Sinn i n anderen Worten aus, damit ich i h n verstehe. N u r w e n n der Befehlsadressat den Sinn des an i h n gerichteten Ausdrucks v e r s t e h t , k a n n er — s u b j e k t i v — den Befehl befolgen" (S. 27). . . . „So w i e ich, w e n n ich einem anderen befehle, sich i n bestimmter Weise zu v e r halten, durch Selbstbeobachtung einen inneren Vorgang feststellen kann, der ein auf das Verhalten eines anderen gerichtetes W o l l e n ist, k a n n ich, w e n n ich einen Befehl empfange, durch Selbstbeobachtung feststellen, daß ich die an mich gerichtete Äußerung eines anderen innerlich wahrnehme, d . h . bestimmte gesprochene Worte h ö r e , eine Geste oder geschriebene oder gedruckte Schriftzeichen s e h e , u n d daß a u ß e r d e m i n m i r etwas v o r geht, was v o n diesem Hören oder Sehen verschieden ist, nämlich, daß ich die gehörte oder gesehene Äußerung v e r s t e h e , u n d zwar als B e f e h l u n d nicht als A u s s a g e verstehe; das heißt den S i n n erfasse, der m i t i h r ausgedrückt wurde, den Sinn: daß ich mich i n bestimmter Weise verhalten s o l l " (S. 27). W e i t e r r e i c h t aber b e i K e l s e n die A n a l o g i e n i c h t : die N o r m als S i n n eines a u f f r e m d e s V e r h a l t e n g e r i c h t e t e n W i l l e n s a k t e s w i r d n i c h t als selbständige, v o m W i l l e n s a k t abgelöste G e d a n k e n e n t i t ä t aufgefaßt, w i e dies b e i d e n v o m psychischen A k t losgelösten, r e i n beschreibenden Ged a n k e n der F a l l ist. Daß der S i n n v o n W i l l e n s a k t e n b e i K e l s e n n i c h t i n analoger Weise als s e l b s t ä n d i g e r G e d a n k e aufgefaßt w i r d w i e d e r S i n n k o g n i t i v e r A k t e , zeigt sich i n f o l g e n d e n M o m e n t e n :
3. Kelsens Normbegriff
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(a) i n Kelsens Gegenüberstellung von Norm und Aussage über die Norm (bzw. von Normsatz und Rechtssatz) — siehe Abschnitt 3.3; (b) i n dem Hinweis auf die Objektivität der Wahrheit von Aussagen und die Bindung der Geltung von Normen an den Willensakt normsetzender Subjekte — siehe Abschnitt 3.4; (c) i n der aus der Bindung der Existenz der Norm an den Setzungsakt folgenden Ablehnung der Möglichkeit rationaler Folgerungen aus normativen Prämissen — siehe Abschnitt 3.5. 3.3. Norm und Aussage über die Norm Trotzdem Kelsen ausdrücklich von der sprachlichen Darstellung des Sinnes eines Willensaktes, also der Norm, spricht, und den Prozeß des Verstehens der Norm aufgrund der sprachlichen Äußerung beschreibt — vergleiche die oben angeführten Zitate —, behandelt er die Norm nicht analog wie die Aussage als vom A k t losgelöste gedankliche Entität, die sprachlich formuliert und i n sprachlicher Formulierung als intersubjektiv verstehbare Idealentität verstanden werden kann, sondern unterscheidet die Norm und die Aussage über die Norm, die Rechtsnorm und den Rechtssatz9. „«Wer den Befehl des H e r r n dem Diener überbringt, sagt i h m : du sollst das u n d das tun: i n ,du sollst 1 liegt also zunächst nichts anderes als i m einfachen Imperativ, die Eröffnung eines Gebotes an den Angeredeten, den ich v o n dem W i l l e n eines anderen, sei's ein D r i t t e r oder auch ich selbst, abhängig denke.» Auch das ist nicht richtig. I n dem Satz »du sollst das u n d das tun«, den jemand spricht, der dem Diener den Befehl des H e r r n ,überbringt 4 , hat das »Sollen4 keine imperative Bedeutung, denn der Überbringer des Befehls ist nicht der Befehlende. Der Überbringer des Befehls t e i l t dem Diener m i t , daß ein Befehl seines H e r r n vorhanden ist. Der Satz, den er spricht, ist eine Aussage über einen Befehl 44 (S. 121 f.).
Diese Konstruktion bedeutet eine prinzipielle Ablehnung der Objektivierung des Sinnes der Willensakte: die den Sinn des Willensaktes ausdrückende sprachliche Äußerung w i r d nicht als verselbständigte Idealentität angesehen, die Gegenstand intersubjektiver Kommunikation sein und ihre Logik haben kann, sondern die Norm (die Rechtsnorm) ist nur der Sinn des Befehlsaktes (des normerzeugenden Rechtsaktes), nur aus dem Munde des Willenssubjektes hat ein Satz vorschreibende Bedeutung; wenn er aber von einem anderen erfaßt oder ausgesprochen wird, ist er keine Norm (kein Normsatz), nicht vorschreibend, sondern beschreibend, eine Aussage über eine Norm (bzw. ein Rechtssatz). 9 Seine Darlegungen erinnern sehr an K a r e l Engli§' analoge Unterscheidung. Siehe unten.
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I. Kap.: Wesen u n d F u n k t i o n der N o r m
K e l s e n h ä l t es f ü r e r f o r d e r l i c h , j e d e n f a l l s z w i s c h e n d e r N o r m u n d der Aussage ü b e r die N o r m z u unterscheiden, auch d a n n , w e n n e i n u n d derselbe sprachliche A u s d r u c k s o w o h l f ü r die N o r m als auch f ü r die Aussage ü b e r die N o r m v e r w e n d e t w i r d . ( I n Wittgensteinscher Sprechweise k ö n n t e m a n sagen: die t i e f e n g r a m m a t i k a l i s c h e A n a l y s e z w i n g t uns, auch d a n n N o r m u n d Aussage ü b e r die N o r m z u unterscheiden, w e n n f ü r beides derselbe A u s d r u c k v e r w e n d e t w i r d . ) D e r I m p e r a t i v (Befehlssatz) d r ü c k t i n d e r Regel eine N o r m aus, d e r Sollsatz k a n n j e nach U m s t ä n d e n diese oder j e n e B e d e u t u n g h a b e n : „ H ä l t man sich an den sprachlichen Ausdruck, k a n n m a n dabei leicht irregeführt werden, da ein u n d derselbe sprachliche Ausdruck nicht n u r v o r schreibende, sondern auch beschreibende Bedeutung haben kann. Das t r i f f t insbesondere auf den Soll-Satz zu. Diese Doppelbedeutung r ü h r t daher, daß ein Soll-Satz sowohl eine N o r m w i e eine A u s s a g e ü b e r eine N o r m sein kann, während ein Imperativ n u r der Ausdruck einer Norm, nicht aber die Aussage über eine N o r m sein kann, u n d daß eine Aussage über eine Norm, das ist ein Satz, der das Vorhandensein einer Norm, die Geltung einer N o r m aussagt, ein Soll-Satz sein m u ß , nicht ein SeinsSatz, das heißt nicht ein Satz sein kann, der die Existenz einer Tatsache a u s s a g t . M i t anderen Worten: ein Imperativ- S atz k a n n n u r eine imperative, keine deskriptive Bedeutung haben. Dadurch unterscheidet er sich v o n einem Soll-Satz" (S. 120 f.). 3.4. Der Aussagesatz
über die Norm
und
Normerkenntnis
Schon i n d e r „ R e i n e n Rechtslehre" s t e l l t K e l s e n d i e R e c h t s n o r m u n d d e n Rechtssatz e i n a n d e r g e g e n ü b e r 1 0 . Diese A u f f a s s u n g f i n d e t n u n i n seiner „ A l l g e m e i n e n T h e o r i e d e r N o r m e n " i n v e r a l l g e m e i n e r t e r F o r m i h r e n A u s d r u c k : d e r N o r m ( d e m N o r m s a t z ) w i r d die Aussage (der Aussagesatz) ü b e r die G e l t u n g der N o r m g e g e n ü b e r g e s t e l l t . 10 „ I n d e m die Rechtswissenschaft menschliches Verhalten n u r insofern begreift, als es I n h a l t v o n Rechtsnormen, das heißt v o n Rechtsnormen bes t i m m t ist, stellt sie eine normative Deutung dieser Tatbestände dar. Sie beschreibt die durch A k t e menschlichen Verhaltens erzeugten u n d durch solche A k t e anzuwendenden u n d zu befolgenden Rechtsnormen u n d damit die durch diese Rechtsnormen konstituierten Beziehungen zwischen den v o n ihnen bestimmten Tatbeständen. Die Sätze, i n denen die Rechtswissenschaft diese Beziehungen beschreibt, müssen als Rechtssäfze v o n den Rechtsnormen unterschieden werden, die v o n den Rechtsorganen erzeugt, v o n ihnen anzuwenden u n d v o n den Rechtssubjekten zu befolgen sind. Rechtssätze sind hypothetische Urteile, die aussagen, daß i m Sinn einer — nationalen oder internationalen — der Rechtserkenntnis gegebenen Rechtsordnung unter gewissen v o n dieser Rechtsordnung bestimmten Bedingungen gewisse v o n dieser Rechtsordnung bestimmte Folgen eintreten sollen. Rechtsnormen sind keine Urteile, das heißt Aussagen über einen der Erkenntnis gegebenen Gegenstand. Sie sind, i h r e m Sinne nach, Gebote u n d als solche Befehle, Imperative; aber nicht n u r Gebote, sondern auch Erlaubnisse u n d Ermächtigungen; jedenfalls aber nicht — w i e mitunter, Recht m i t Rechtswissenschaft identifizierend, behauptet w i r d — Belehrungen. Das Recht gebietet, erlaubt, ermächtigt, es ,lehrt 1 nicht" (RR 2 , S. 73).
3. Kelsens Normbegriff
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K e l s e n f o l g t h i e r Tendenzen, die auch b e i a n d e r e n A u t o r e n v o r z u f i n d e n s i n d u n d die auch i n der D i s k u s s i o n der L o g i k e r ü b e r die N o r m e n l o g i k eine gewisse R o l l e spielen. I c h möchte h i e r insbesondere a u f G. H. von Wright
u n d Karel
Englis
h i n w e i s e n . A u f v o n W r i g h t deswegen, w e i l b e i i h m die M o t i v a t i o n , aussagende u n d nicht-aussagende N o r m s ä t z e e i n a n d e r gegenüberzustellen, dem Wunsch entspringt, den üblichen Formalismus der Logik sinnvoll auch i m B e r e i c h der n o r m a t i v e n F o l g e r u n g e n auf d e m W e g ü b e r die aussagenden N o r m s ä t z e a n w e n d b a r z u machen. E n g l i s f ü h r e i c h desw e g e n an, w e i l dieser A u t o r aus d e m g e d a n k l i c h e n U m k r e i s der R e i n e n Rechtslehre — n ä m l i c h d e r B r ü n n e r Schule — k o m m t u n d w e i l K e l s e n ü b e r die G r u n d g e d a n k e n d e r Englisschen A r g u m e n t a t i o n e n i n f o r m i e r t w a r 1 1 , so daß i n dieser F r a g e o f f e n b a r eine gewisse g e d a n k l i c h e F i l i a t i o n Englis-Kelsen bestanden hat. Die Ä h n l i c h k e i t der Gedankenführ u n g b e i d e r A u t o r e n ist auch z u f r a p p a n t ! „ T h a t prescriptions lack t r u t h - v a l u e w e can, I t h i n k , safely accept. Or w o u l d anyone w i s h to m a i n t a i n that the permission , given b y the words ,You may park your car i n front of m y house', or the command formulated ,Open the door', or the prohibition ,No through traffic', are true or false? Those philosophers who have defended the v i e w t h a t norms generally lack t r u t h - v a l u e have sometimes, i t seems, i m p l i c i t l y identified norms w i t h prescriptions. I f b y »prescription' w e understand commands and permissions w h i c h are given b y some n o r m - a u t h o r i t y to some norm-subject(s), the identification of norms w i t h prescriptions must appear much too narrowing." „Suppose I say to someone, for example i n reply to a question: ,You may park your car i n front of m y house.' Is this a normformulation? I t is easy to see that there are t w o possibilities to be considered here. I n replying w i t h those words I m i g h t actually have been giving permission to the questioner to p a r k his car i n front of m y house. I n this case the sentence was (used as) a normformulation. I t did not say anything w h i c h was true or false. B u t the same words m i g h t also have been used for giving information to the questioner concerning existing regulations about the p a r k i n g of cars. I n this case the sentence was a descriptive sentence. I t was used to make a, true or false, statement. I shall call this type of statement a normative statement 12" 11 Dies ist durch die Tatsache belegt, daß Kelsen i n „Nochmals: Recht u n d Logik. Z u r Frage der Anwendbarkeit logischer Prinzipien auf Rechtsnormen", Neues F o r u m X I V / 1 5 7 (Jan. 1967), S. 39 - 4 0 , Englië' Aufsatz „Die N o r m ist k e i n U r t e i l " , ARSP 50 (1964), No. 3, S. 305-316, zitiert. (Aus demselben Aufsatz geht auch hervor, daß Kelsen auch meine kritische A u s einandersetzung m i t K a r e l Englis i n meiner Monographie „Die Sollsatzproblematik i n der modernen L o g i k " , Rozpravy CSAV, Praha 1958, gekannt hat (s. Kelsen, H.: a.a.O., S. 40).
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I. Kap.: Wesen und Funktion der Norm
Nach Karel Englis kann ein und derselbe Satz, ζ. B. „Alle Männer sind wehrpflichtig", eine Norm ausdrücken — diese Bedeutung hat er, wenn er aus dem Mund des Gesetzgebers stammt — oder ein Urteil sein, wenn er eine Antwort des erkennenden Subjekts auf die Frage ist, ob diese Norm gilt. Die Norm ist Willensäußerung, sie kann weder wahr noch unwahr sein. Das Urteil über die Norm, welches besagt, daß die Norm „Alle Männer sind wehrpflichtig" gilt, ist wahr oder unwahr. Genauso wie Kelsen lehnt Englis die Folgerungen m i t normativen Gliedern (Prämissen, Schlußfolgerungen) ab und kennt nur Folgerungen von Urteilen über Normen. Bei Englis ist die doppelte Deutung des normativen Satzes, je nachdem, ob er vom normsetzenden Willenssubjekt oder vom erkennenden Subjekt ausgesprochen wird, gekoppelt m i t einer interessanten Theorie der Norm, die ich als ,Zweiseitentheorie der Norm 4 bezeichnen möchte. Die Norm als Ausdruck des Wollens ist ein Instrument zum Erreichen der Ziele des normsetzenden Subjekts und steht daher i n teleologischen Beziehungen. Der Wille (Willensinhalt) des befehlenden Subjekts erscheint i n der Sicht des Gehorsamkeitssubjekts (des Adressaten der Pflicht) als Norm. Englis* Theorie scheint m i r insoweit interessant, als sie die teleologischen Begründungszusammenhänge, i n denen Normen eingebettet sind, vor Augen führt. Sie stößt aber auf eine zusätzliche — meines Erachtens nicht überwindbare — Schwierigkeit: Wenn man die Meinung vertritt, daß nur aus dem Mund des Normschöpfers Normen geäußert werden, daß aber die anderen, Normen auffassenden, Subjekte Urteile über Normen bilden, dann müßte man eigentlich konsequenterweise die Zweiseitentheorie folgendermaßen formulieren: Das Postulat (der Willensinhalt) erscheint von der Warte des Gehorsamkeitssubjektes (der Adressaten) als Urteil über ein Postulat. Das heißt: Normen als besondere semantische Kategorie sind überflüssig, da aus der Sicht des Adressaten von Postulaten des gebietenden Subjekts Urteile über die Willensäußerungen des normsetzenden Subjekts gebildet werden 1 3 . 18 Von Wright , G. H.: N o r m u n d Action, London 1963, S. 104 f. V o n W r i g h t schreibt die Unterscheidung zweier Bedeutungen deontischer Sätze Hedenius zu: „The systematic ambiguity of deontic sentences was, as far as I k n o w , first clearly noted and emphasized b y the Swedish philosopher Ingemar Hedenius. [FN.: I n his book Om rätt och moral (,Οη L a w and Moral·, 1941). See especially op. cit., pp. 65 f.] He coined for (an aspect of) the distinction between the t w o uses the terms »genuine* and »spurious* legal sentence. Genuine legal sentences are used to formulate the legal norms themselves. Spurious ones are used to make existential statements about legal norms (normative statements)" (S. 105). 18 Vgl. Weinberger, O.: Die Sollsatzproblematik i n der modernen Logik, Prag 1958, auch i n : ders.: Studien zur Normenlogik u n d Rechtsinformatik, B e r l i n 1974, S. 59 - 186 (siehe insbes. S. 145 - 156).
3. Kelsens Normbegriff
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Ich habe an anderer Stelle Kelsens Gegenüberstellung von Rechtsnorm und Rechtssatz vom kommunikationstheoretischen Standpunkt aus kritisiert 1 4 . Ich fasse die Ergebnisse dieser Untersuchungen kurz zusammen. 1. Gedanken, die intersubjektiv mitgeteilt werden sollen, müssen als Gedanken i m objektiven Sinne verstanden werden, d. h. als die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke. Dies gilt gleichermaßen von deskriptiven wie von präskriptiven Gedanken. 2. Mitteilen funktioniert dann und nur dann, wenn der Nachrichtenempfänger den i n der Mitteilung enthaltenen Gedanken nachvollzieht. Es muß daher am Anfang und am Ende des Mitteilungskanals ein und dasselbe Gedankengebilde vorliegen. Daher ist es m i t der Struktur der Kommunikation unverträglich, zu behaupten, der Normerzeuger sende eine Norm (eine Rechtsnorm) ab, und der Empfänger — sei er ein Pflichtsubjekt oder ein Dritter (ζ. B. ein Rechtsgelehrter) — empfange eine Aussage über die Norm (einen Rechtssatz). 3. Die (Rechts-)Norm ist ein Gegenstand ideeller A r t , ein Gedankengebilde, das i n ganz anderer Weise erkannt w i r d als materielle Gegenstände. Normerkenntnis (bzw. Rechtserkenntnis) kann nur darin bestehen, daß präskriptive Gedankeninhalte erfaßt, das heißt i n der Regel, daß die entsprechenden sprachlichen Ausdrücke verstanden werden. Die Rechtserkenntnis ist analog dem Vorgang des Verstehens einer Behauptung. Ohne Verstehen gibt es keine Rechtserkenntnis. 4. Normsetzung, das heißt: Normerzeugung durch Willensakte, ist immer auch Sprechakt und Mitteilung, denn es muß den Normadressaten (den potentiell oder aktuell Verpflichteten oder Berechtigten) kundgetan werden, was vorgeschrieben wird. Daß dieser Sprechakt (ζ. B. die Veröffentlichung eines Gesetzes i n einem offiziellen Gesetzblatt) Normschöpfung ist, ist nicht Inhalt des präskriptiven Kommunikats, sondern ein Umstand, der zur normativen Mitteilung hinzutritt. Das Befehlen oder die Erzeugung einer Norm benützt denselben Ausdruck wie eine andere Mitteilung über ein Sollen oder ein Dürfen; der Kommunikationsprozeß besteht immer i n einem Absenden einer normativen Nachricht, die vom Mitteilungsempfänger aufgenommen und verstanden werden muß. 5. Anstelle des Verstehens eines normativen Kommunikats, setzt Kelsen ein Urteilen über die Rechtsordnung. Die Begründung dieses Urteils — i n der Kelsenschen Terminologie: des Rechtssatzes —, und 14
Weinberger, O.: Intersubjektive K o m m u n i k a t i o n , Normenlogik u n d N o r mendynamik, i n : Strukturierungen u n d Entscheidungen i m Rechtsdenken, Wien - New Y o r k 1978, S. 235 - 263.
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I. Kap.: Wesen und Funktion der Norm
die Entscheidung, ob es wahr oder unwahr ist, ist nur durch das Verstehen des normativen Kommunikats gegeben. I n diesem Sinne kann man den Kelsenschen Rechtssatz als Pseudoaussage bezeichnen. 6. Der Kelsensche Rechtssatz — obwohl er als Aussagesatz konzipiert ist — enthält normative Bestimmungen, gleichsam i n indirekter Rede, nämlich die Behauptung, daß i m Sinne der Rechtsordnung unter gewissen Bedingungen gewisse Rechtsfolgen eintreten sollen. Genauer wäre zu sagen, daß es ein Urteil über die vorliegende Rechtsordnung ist, sie enthalte den Bedingungssollsatz „wenn die Bedingungen . . . eintreten, soll die Rechtsfolge sein". Es muß nämlich zum Ausdruck gebracht werden, daß dieser Inhalt der Normenordnung als hypothetische Norm zu verstehen ist. Der ganze, ein bedingtes Sollen ausdrückende Satz hat normativen Sinn, nicht nur sein Hintersatz. Es besteht die Rechtslage des bedingten Sollens auch dann, wenn die Bedingung der hypothetischen Norm nicht erfüllt ist. Das Urteil über die Rechtsordnung ist zwar ein sinnvoller — wahrer oder unwahrer — Aussagesatz, der durch das Verstehen des i n i h m enthaltenen Normsatzes und durch eine Gültigkeitsfeststellung begründet ist. Die Rechtserkenntnis ist jedoch vor allem Verstehen des Normsatzes selbst — denn dies ist auch Voraussetzung für die Feststellung der Gültigkeit. Man kann doch offenbar nur dann über die Gültigkeit eines Normsatzes sprechen, wenn man ihn versteht. 7. Die logischen Operationen, die für die juristischen Analysen (ζ. B. den Subsumtionsschluß) relevant sind, sind normative Schlußfolgerungen. Sie haben als Prämissen Normsätze (meist generelle Bedingungsnormsätze), nicht Aussagesätze über Normen, neben konstatierenden Aussagesätzen. Den üblichen logischen Regeln entsprechend kann man, wenn man eine Aussage über eine Norm statt der Norm als Prämisse setzt, die gewünschte Konklusion gar nicht gewinnen, weil die üblichen Folgerungsregeln Transformationen des i n indirekter Rede auftretenden Satzes nicht zulassen. Formal gilt also nicht: „Aus ,Es gilt, daß du, wenn es schneit, zu Hause bleiben sollst 4 und ,Es schneit 4 folgt ,Du sollst zu Hause bleiben 4 "; ein solcher Schluß scheint nur deswegen plausibel, weil der normenlogische Schluß gilt: „Aus ,Wenn es schneit, sollst du zu Hause bleiben 4 und ,Es schneit4 folgt ,Du sollst zu Hause bleiben 4 ". 3.5. Die Bindung der Norm an den Willensakt Da die Wahrheit einer Aussage unabhängig vom A k t der Setzung der Aussage ist, die Geltung der Norm aber durch den Setzungsakt bedingt ist (vgl. S. 136), erscheint Kelsen die Norm i n ganz anderer Weise an den A k t gebunden als die Aussage. Die Aussage w i r d echt verselbstän-
3. Kelsens Normbegriff
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digt, weil sie i n objektiven Wahrheitsrelationen steht, die von psychischen Akten, deren Sinn die Aussage ist, unabhängig sind. Die Wahrheit der Aussage ist nur durch die Wirklichkeit bestimmt. „ . . . eine Aussage ist wahr, w e n n sie dem G e g e n s t a n d der Aussage entspricht, u n d i n dem Hauptfall: dem F a l l der Aussage über eine Tatsache der Wirklichkeit, w e n n die Aussage der W i r k l i c h k e i t entspricht, auf die sich die Aussage bezieht, die der Gegenstand der Aussage ist. Bezeichnet m a n die zuletzt erwähnte Wahrheit als eine m a t e r i e l l e Wahrheit u n d stellt m a n dieser eine f o r m a l - l o g i s c h e Wahrheit gegenüber, die darin besteht, daß eine Aussage den Prinzipien der Logik entspricht, so muß festgestellt werden, daß diese sogenannte formal-logische Wahrheit die materielle Wahrheit v o r a u s s e t z t " (S. 140).
Die Objektivität der Wahrheit entspringt nach Kelsens Auffassung immer aus der Relation der Aussage zur Wirklichkeit; die formale Wahrheit versucht er auf die materielle zurückzuführen, was nicht durchführbar ist. [Die Wahrheit einer Tautologie (ζ. Β. ,p p') oder eines analytisch wahren Satzes kann nicht auf materielle Wahrheit gegründet werden.] Diese Konzeption führt Kelsen auch zu einer unangemessenen Auffassung des Widerspruchsprinzips. Es sagt nicht nur: „ W e n n v o n zwei Aussagen, die sich widersprechen, eine — materiell — w a h r ist, muß die andere u n w a h r sein" (S. 140),
sondern es gilt auch von Sätzen und Formeln, denen keine Realität entspricht (z.B.: — ,-»p'; ,Es regnet oder regnet nicht* — ,Es ist nicht wahr, daß es regnet oder nicht regnet'). Da die Norm durch den Willensakt gesetzt w i r d und nur dann gilt, wenn ein kreierender Willensakt vorliegt, betrachtet Kelsen die Norm als wesenhaft an den Willensakt gebunden. Er meint — und dies ist eine konsequente Fortführung seiner Auffassung —, daß die Geltung der Norm, also die Existenz der Norm, dort und nur dort gegeben sei, wo ein erzeugender Willensakt vorliege, daß die Existenz der Norm an die Willensakte so eng gebunden ist, daß i h m — wie ich gezeigt habe — sogar das Fortbestehen (Weiterhingelten) der Norm über den Kreationsakt hinaus als auffällige Einschränkung der Bindung der Norm an den Willensakt erscheint. I n Wirklichkeit kann auch dieses Bestehen der Norm über den erzeugenden Setzungsakt hinaus nur auf einer ideellen Verselbständigung der Norm beruhen, d.h. auf der Loslösung der Norm und ihrer Geltung (d. h. ihrem Dasein) vom Erzeugungsakt.
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I. Kap.: Wesen und Funktion der Norm
Es ist meines Er acht ens ein falscher Weg, wenn Kelsen die Objektivierung und ideelle Verselbständigung des Sinnes von A k t e n m i t der Objektivität des Wahrseins verbindet, und daher echte Selbständigkeit nur bei Aussagen, nicht aber bei Normen voraussetzt. Einerseits hat die Aussage diesen verselbständigten und objektivierten Charakter eines Gedankens i m objektiven ( = nicht-psychologischen) Sinne auch dann, wenn sie als bloße Annahme gesetzt wird, also ohne Bezug zu ihrem objektiven Wahrsein, andererseits kann und muß auch der Sinn von normsetzenden Willensakten als ein vom A k t losgelöstes Sinngebilde angesehen werden. Diese Möglichkeit ist dadurch gegeben — und zwar i n genau gleicher Weise wie bei den Aussagen —, daß der Sinn des Willensaktes sprachlich formuliert und intersubjektiv mitgeteilt und verstanden werden kann. Die Notwendigkeit der Konzeption der Norm als eines Gedankens i m objektiven Sinne ergibt sich daraus, (a) daß sonst ein Fortbestehen der Norm über den Willensakt hinaus nicht erklärbar wäre, (b) daß sonst eine intersubjektive Normkommunikation mittels der Sprache nicht möglich wäre und — last but not least —, (c) daß sonst logische Beziehungen zwischen Normen und logische Operationen m i t Normen nicht möglich wären. Die Möglichkeit solcher Beziehungen und Operationen leugnet Kelsen — er ist auch hier konsequent —, was i h n dazu nötigt, zu theoretischen Konstruktionen seine Zuflucht zu nehmen, die kaum akzeptabel sind: ich meine insbesondere die Anerkennungstheorie (siehe unten IV. Kap. 11.4). 3.6. Die Bindung der Norm an den Willensakt und das normenlogische Folgern Wenn man die Norm definitorisch an den willenhaften Normsetzungsakt bindet (und den Setzungsakt nicht nur als Entstehungsgrund, sondern auch als Daseinsgrund ansieht), dann gibt es ex definitione keine normenlogischen Folgerungen. Dies läßt sich leicht zeigen: Es sei Ν eine Norm (oder eine Klasse von Normen), die durch den Willensakt gesetzt wurde. Ν ist also eine Norm (eine Klasse von Normen) i m Sinne der Kelsenschen Definition. Wenn nun N ' eine von Ν verschiedene (bzw. i n der Klasse Ν nicht enthaltene) Norm ist, von der vorausgesetzt wird, daß sie aus Ν (gegebenenfalls auch unter Heranziehung von aussagenden Prämissen) logisch abgeleitet werden kann, dann müßte durch diese Ableitung auch die Existenz eines Willensaktes bewiesen sein, dessen Sinn N ' ist. Aus der Existenz eines Willensaktes, dessen Sinn Ν ist, folgt nicht, daß auch ein Willensakt, dessen Sinn 2V' ist (wobei N' von Ν verschieden ist), vorliegt. Ζ. B. wenn ein Willensakt einer
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3. Kelsens Normbegriff
Person Ρ existiert, daß alle Menschen die Wahrheit sprechen sollen, ist daraus nicht beweisbar, daß die Person Ρ auch einen Willensakt gesetzt hat, dessen Sinn ist „Franz Maier aus Graz soll jetzt die Wahrheit sprechen." Die Person Ρ muß doch von der Existenz des Herrn Franz Maier aus Graz gar nichts wissen; aus dem generellen Willensakt folgt also logisch sicherlich nicht die Existenz des entsprechenden individuellen Willensaktes. N ' kann daher keine logisch abgeleitete Norm sein, da die begrifflich konstitutive Bedingung des Seins der Norm, die Existenz des W i l lensaktes, dessen Sinn N ' ist, unter den gegebenen Voraussetzungen nicht beweisbar ist. Kelsen bindet die Existenz der Norm so fest an den A k t , daß er die Möglichkeit normenlogischer Beziehungen definitorisch ausschließt. „Es wäre aber eine absurde F i k t i o n anzunehmen, daß i n den Willensakten des Gesetzgebers, deren Sinn die generellen Rechtsnormen sind, schon alle möglichen Willensakte impliziert sind, deren Sinn die den generellen Rechtsnormen entsprechenden individuellen Rechtsnormen sind" (S. 190).
3.7. Kelsens Auffassung der Struktur
des Normsatzes
Kelsen legt kein sprachliches Konstitutionssystem der Normsätze, d. h. der Normen darstellenden Sätze, vor, wie dies ein Logiker machen würde. Bei Kelsen w i r d auch meist nicht klar zwischen dem sprachlichen Ausdruck, durch den eine Norm dargestellt wird, und der Norm als Sinn eines solchen Satzes unterschieden. (Diese Ungenauigkeit ist i n der juristischen Literatur gang und gäbe.) Dennoch erfaßt er die Sachlage ziemlich genau, wie ζ. B. aus folgendem Zitat hervorgeht: „Dabei ist zu beachten, daß der Willensakt, dessen Sinn eine N o r m ist, von dem Sprech-Akt unterschieden werden muß, i n dem der Sinn des Willensaktes ausgedrückt w i r d . Gesprochen werden Worte, w i r d ein Satz: ein Imperativ oder ein Soll-Satz. Die Norm, die der Sinn des Willensaktes ist, ist die Bedeutung des Satzes, der das Produkt des Sprechaktes ist, i n dem der Sinn des Willensaktes zum Ausdruck k o m m t " (S. 131).
Kelsen bringt, wenn auch nicht i n logisch formaler Diktion, ziemlich klare und ausführliche Bestimmungen über die — wie ich sagen würde — i h m vorschwebende logische Struktur der Normsätze ( = Sätze, durch die Normen ausgedrückt werden können). Die grundlegenden Elemente der Normsatzstruktur, von denen Kelsen spricht, entsprechen i m wesentlichen jener der üblichen logischen Konstitutionssysteme. Er spricht vom ,modal indifferenten Substrat 4 und von »Gebieten', ,Erlauben 4 , »Ermächtigen* und »Derogieren* als den verschiedenen Funktionen der Norm. Den Funktionen entsprechen i n
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I. Kap.: Wesen und Funktion der Norm
den Analysen der Logiker die normativen (oder deontischen) Operatoren, dem modal indifferenten Substrat das Argument dieser Operatoren, das i n der Logik der präskriptiven Sprache unter verschiedenen Namen auftritt (,Indikativbestandteil', »Inhalt 4 , ,Sachverhaltsbeschreibung 4 , ,Phrastic 4 ,,Topic 4 u. a.). I n diesem Abschnitt behandle ich nur Kelsens Begriff des modal indifferenten Substrats; den umfangreichen Problemen der Funktionen der Norm (den normativen Operatoren) widme ich den Abschnitt 3.8. „»Sein4 und »Sollen' sind zwei voneinander wesensverschiedene M o d i , zwei verschiedene Formen, die einen bestimmten Inhalt haben. I n den Aussagen, daß etwas ist und daß etwas (sein) soll, muß man zwei verschiedene Bestandteile unterscheiden: D a ß etwas ist und w a s ist; d a ß etwas (sein) soll, und w a s (sein) soll. Das w a s ist u n d das w a s soll, der Inhalt des Seins und der Inhalt des Sollens ist ein m o d a l i n d i f f e r e n t e s S u b s t r a t 1 5 " (S. 46).
Schon der Terminus ,modal indifferentes Substrat 4 zeigt, daß sich hier der Einfluß jener Logiksysteme bemerkbar macht, die den Normsatz als einen besonderen Modalsatz ansehen, und die man gewöhnlich als ,deontische Logiken 4 bezeichnet. Kelsen sieht richtig, daß hier eine inhaltliche Beziehung zwischen Sein und Sollen, zwischen Aussagesätzen und Normsätzen besteht. Es ist auch richtig, diese Beziehung so zu deuten, daß die möglichen Inhalte von Aussagesätzen und Normsätzen einander zugeordnet sind. Hierbei darf nicht angenommen werden, die Aussage werde i n die Norm aufgenommen, sondern die Beziehung Norm- und Aussageinhalt muß so konstruiert werden, daß derselbe Inhalt — das modal indifferente Substrat — i n beiden Sätzen auftreten kann. Damit ein Aussagesatz entsteht, muß zum Inhalt (zum modal indifferenten Substrat; zur Sachverhaltsbeschreibung) die modale Bestimmung des Seins hinzutreten, genauso wie zur Bildung eines Normsatzes ein normativer Operator hinzugefügt werden muß1®. 15 Der letzte Satz sollte wahrscheinlich lauten: „Das, was ist, u n d das, was sein soll, der Inhalt des Seins u n d der Inhalt des Sollens, ist ein modal indifferentes Substrat." 18 Diese oder ähnliche Auffassungen finden w i r fast überall, wo logische Analyse der Normstruktur versucht w i r d . V o n Schopenhauers „Wenn ein Mensch w i l l ; so w i l l er auch Etwas: sein Willensakt ist allemal auf einen Gegenstand gerichtet und läßt sich n u r i n Beziehimg auf einen solchen denken" (Schopenhauer , Α.: Preisschrift über die Freiheit des Willens, 1839) über Jergensens Aufspaltung des Imperativs (der Norm) i n einen imperativen und einen indikativen Faktor (Jergensen, J.: Imperatives and Logic, Erkenntnis, Bd. 7, 1937/38, S. 288 - 296) zu Hares Gegenüberstellung ,neustic' und ,phrastic' (Hare, R. M.: The Language of Morals, London, Oxford, New Y o r k 1970 (1. Auflage 1952), S. 18) und Ross, (Ross, Α.: Directives and Norms, London 1968, S. 10), der das modal indifferente Substrat, topic' nennt.
3. Kelsens Normbegriff
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Ziemlich subtil führt Kelsen aus, daß ein i n der Norm als Pflicht gesetztes Verhalten i m Modus des Sollens, nicht i m Modus des Seins auftritt. „ I n h a l t eines Sollen-Seins ist die Eigenschaft des Verhaltens als modal indifferentes Substrat (so w i e die Eigenschaft eines Kirschenkerns die Eigenschaft ist, i n einer Kirsche enthalten zu sein). I n diesem Sinne k a n n Pflicht-Sein nicht Eigenschaft eines seienden, des der N o r m entsprechenden, Verhaltens sein. Eigenschaft des seienden Verhaltens ist: p f l i c h t g e m ä ß zu sein, nicht Pflicht zu sein, w e n n Pflicht-zu-sein bedeutet: Gesollt-zu-sein, I n h a l t eines Sollens zu sein" (S. 47).
M i t Recht lehnt es Kelsen ab, das modal indifferente Substrat als wahr oder unwahr anzusehen (diese Attribute stehen nur den aus dem Substrat gebildeten Aussagen zu). Nicht überzeugend erscheint m i r aber seine weitere These, daß „die Prinzipien der Logik auf modal indifferente Substrate keine Anwendung finden". (S. 47) I n den Systemen der deontischen Logik werden als Argumente auch komplexe Inhalte (Handlungs- oder Sachverhaltsbeschreibungen) ins Auge gefaßt, ζ. B. ,0 (p A q)\ ,Ρ (ρ V Auch i m Sinne von Kelsens Lehre w i r d man wohl nicht umhinkommen, zusammengesetzte modal indifferente Substrate i n Erwägung zu ziehen, da das Verhalten, welches durch die Norm zur Pflicht gemacht wird, durch eine zusammengesetzte Beschreibung bestimmt sein kann. Dann muß geprüft werden, ob das modal indifferente Substrat tautologisch, widersprüchlich oder faktual ist. Das bedeutet aber: die logische Analyse und die Prinzipien der Logik werden auch i m Bereich des modal indifferenten Substrats relevant. 3.8. Die Funktionen der Norm (Kelsens Auffassung der normativen Operatoren) I n der an Kant anknüpfenden Reinen Rechtslehre stand das Sollen und der Sollsatz ursprünglich i m Mittelpunkt der Betrachtungen, während dem Dürfen nur sekundäre Bedeutung zugesprochen wurde. Vielleicht kann man sogar sagen, daß die Norm (bzw. der sie ausdrückende Normsatz — zwischen beiden wurde terminologisch nicht scharf unterschieden) m i t dem Sollsatz gleichgesetzt wurde. Bei Kelsen macht sich später offensichtlich der Einfluß des modal-logischen Zutritts der deontischen Logiker zum Problem der Normsätze (deontischen Sätze) bemerkbar. I n der zweiten Auflage der „Reinen Rechtslehre" (1960) unterscheidet Kelsen zwischen dem Gebieten, Verbieten, Ermächtigen und 17 Von Wright f ü h r t ζ. B. solche komplexe Gebotsinhalte durch performance-functions ein, ζ. B. in: „Deontic Logic", M i n d 1951, S. 1 - 15.
4 Weinberger
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Erlauben als Funktionen der Norm 1 8 , i n dem Aufsatz „Derogation" (in: Essays i n Jurisprudence i n Honour of Roscoe Pound, 1962, wiederabgedruckt in: Kelsen, H.: Essays i n Moral and Legal Philosophy, Hrsg. 0 . Weinberger, Dordrecht 1973, S. 261 -275) führt er als weitere besondere Funktion der Norm das Derogieren an. I n seinem Spätwerk finden w i r noch einige Hinweise, die nur für die Diskussion der normativen Operatoren — einer wichtigen Grundfrage der Normenlogik — von wesentlicher Bedeutung zu sein scheinen. Der Begriff des Sollens w i r d — so scheint es m i r — von Kelsen i n verschiedener Bedeutung verwendet. 1. Wenn ein gewisses Verhalten geboten (angeordnet) oder verboten wird, dann besteht ein Sollen; d. h. Sollen w i r d als Inhalt von Geboten oder Verboten, als Folge einer Anordnung, angesehen. Da jedes Verbot als Gebot, und umgekehrt jedes Gebot als Verbot dargestellt werden kann, ist das Sollen ein Ausdruck des dem Gebot und Verbot gemeinsamen Bedeutungselements der anordnenden Norm. „Jedes V e r b o t k a n n als ein G e b o t dargestellt werden. Das Verbot: ,Man soll nicht stehlen' als das Gebot ,Man s o l l Stehlen unterlassen'. A b e r auch jedes G e b o t k a n n als V e r b o t dargestellt werden. Das Gebot: ,Man s o l l die Wahrheit sprechen' als das Verbot: ,Man soll nicht lügen', d . h . nicht unterlassen, die Wahrheit zu sprechen. Der Satz: ,Den E l t e r n gehorchen ist geboten' ist gleichbedeutend m i t dem Satz: ,Den E l t e r n nicht gehorchen ist verboten'. Jedes Verbot eines bestimmten Verhaltens ist das Gebot des Unterlassens dieses Verhaltens, jedes Gebot eines bestimmten Verhaltens ist das Verbot des Unterlassens dieses Verhaltens" (S. 76 f.).
2. Das Sollen w i r d als gemeinsame Bezeichnung des normativen Inhalts aller Normsätze angesehen, der je nach der unterschiedlichen normativen Funktion des Satzes (der Logiker würde sagen: je nach dem normativen Operator) unterschieden werden muß als: Gebieten, Erlauben und Ermächtigen. 3. Diese Bestimmung des Sollens w i r d dann noch dadurch modifiziert, daß Derogieren als weitere Funktion der Norm hinzugefügt wird. (Ob dem Derogieren ein eigener normativer Operator zuzuordnen ist, werde ich später diskutieren.) „Gebieten ist aber nicht die einzige Funktion. Eine N o r m k a n n nicht n u r ein bestimmtes Verhalten g e b i e t e n , sie k a n n auch zu einem bestimmten Verhalten e r m ä c h t i g e n ; u n d schließlich die Geltung einer anderen N o r m a u f h e b e n , d . h . einer anderen N o r m d e r o g i e r e n . A b e r auch e r l a u b e n w i r d als eine normative F u n k t i o n angesehen" (S. 77). 18
Kelsen, H.: Reine Rechtslehre, 2. Auflage, W i e n 1960, S. 4, 15 f.
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Kelsen ist sich dessen bewußt, (a) daß Sollen üblicherweise nur dem Gebieten (inklusive Verbieten) entspricht, (b) daß es eine Erweiterung des Sollensbegriffs ist, wenn man mit dem Terminus »Sollen* alle drei normativen Funktionen: Gebieten, Ermächtigen und Erlauben (oder vier, wenn das Derogieren hinzugefügt wird) bezeichnet (vgl. S. 77). Eine gewisse terminologische Schwierigkeit liegt darin, daß Kelsen die Norm — und daher auch das Sollen i n erweiterter Bedeutung — als Sinn von Befehlssätzen bzw. Soll-Sätzen ansieht. Wenn Befehlssätze Sollen ausdrücken, erscheint es befremdlich, wenn man gleichzeitig zuläßt, daß dieses Sollen auch Erlauben sein kann: der Begriff eines ,erlaubenden Befehlssatzes 4 klingt wie eine contradictio i n adjecto. Ich halte folgende terminologische Festsetzung für zweckmäßig, die wohl auch vom Standpunkt der Kelsenschen Normentheorie akzeptabel zu sein scheint: (a) Der Begriff des Sollens ist nur auf gebietende oder verbietende Normen zu beziehen (Sollen w i r d durch den Verbots- oder Gebotsoperator ausgedrückt); (b) verschiedene A r t e n des Erlaubtseins sind unter dem Terminus ,Dürfen* zusammengefaßt (die verschiedenen Erlaubnisoperatoren drücken ein Dürfen aus); (c) Normsätze (Normen) können i n verschiedene Arten eingeteilt werden, je nach ihrer Bedeutung und Funktion bzw. je nach dem normativen Operator; Normsätze wären dann vor allem i n Soll- und Darfsätze einzuteilen (wenn es sich zeigen sollte, daß ermächtigende und derogierende Normen nicht auf Soll- und Darfsätze reduziert werden können, müßte man entsprechende weitere A r t e n von Normsätzen unterscheiden). Das Problem der Beziehungen zwischen den verschiedenen Funktionen der Norm — wie dies Kelsen nennt — ist eigentlich als Problem der Arten von Normen anzusehen, denn diese unterschiedlichen Funktionen der Norm sind durch den Sinn der Normen bedingt, nicht durch eine verschiedene Anwendungsweise. Es geht also genau u m jenes Problem, das i n der Normenlogik (bzw. deontischen Logik) als Problem der normativen (deontischen) Operatoren auftritt. Einige Fragen von grundlegender Wichtigkeit beantwortet hier Kelsen nicht, weil er sie i n seiner, nicht auf die Logik gerichteten Sicht nicht ins Blickfeld bekam: die Frage, ob alle Funktionen für die norma4*
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tiven Systeme gleichermaßen fundamental sind, und die Frage, ob die normativen Funktoren gegenseitig definierbar sind 1 9 . Das Gebieten. I n bezug auf den Begriff des Sollens — i m Sinne der normativen Funktion des Gebietens oder Verbietens — hält Kelsen eine Unterscheidung des Charakters dieser Funktionen i m Bereich des Rechts und i n jenem der Moral für wesentlich. [Es muß wohl nicht näher ausgeführt werden, daß der Normenlogiker m i t dieser Unterscheidung nicht zufrieden sein kann, denn der logische (d. h. syntaktische und semantische) Charakter eines rechtlichen Sollsatzes, der etwas gebietet, ohne auf die Nicht-Befolgung des Gebots eine Strafe festzusetzen, kann doch kein anderer sein, als der des gleichlautenden Sollsatzes eines Moralsystems.] „Eine positive Rechtsordnung gebietet ein bestimmtes Verhalten, indem sie an das gegenteilige Verhalten einen Zwangsakt als Sanktion knüpft, genauer formuliert, indem sie f ü r den F a l l dieses Verhaltens einen Zwangsakt als gesollt setzt u n d zwar i n dem Sinne, daß sie die Setzung des Zwangsaktes ermächtigt" (S. 77). „Würde der Gesetzgeber die Rückzahlung einer Darlehensschuld gebieten oder Diebstahl verbieten, ohne an die Nichtrückzahlung der Schuld oder an die Verübung des Diebstahls eine Sanktion zu knüpfen, würde er n u r einen rechtlich irrelevanten Wunsch z u m Ausdruck bringen; wäre die Rückzahlung der Schuld oder die Unterlassung des Diebstahls rechtlich nicht geboten" (S. 78).
Wenn ein Willensakt des Gesetzgebers existiert, dessen Sinn es ist, daß Diebstahl verboten ist, dann muß man — wenn man Kelsens Definition der Norm als Sinn eines auf fremdes Verhalten gerichteten W i l lensaktes akzeptiert — das Diebstahlsverbot als Norm ansehen. Jede andere als die sanktionssetzende Willensäußerung des Gesetzgebers als bloßen „rechtlich irrelevanten Wunsch" zu deuten, widerspricht Kelsens eigener Definition der Norm. Kelsens Sanktionstheorie der Rechtsnorm erhält durch seine allgemeine Theorie der Normen keine Stütze, sie steht sogar i n einem gewissen Widerspruch zu seiner Definition der Norm, nach der nur die Exi19 Franz Weyr, das Haupt der Brünner Schule der Reinen Rechtslehre, hat eindringlich unterstrichen, daß das Sollen (nicht das Dürfen) den K e r n des Normativen darstellt. (Vgl. Weyr, F.: Teorie prâva [Rechtstheorie], B r n o Praha 1936, S. 34 ff., S. 173 f.). Diese Auffassung ist auch i m Einklang m i t der Auffassung der Rechtsordnung (oder einer anderen Normenordnung) als einem regulierenden (handlungslenkenden) System, denn n u r das Sollen, nicht aber Darf-Bestimmungen regulieren das Verhalten, da dies n u r durch Ausschluß möglicher A l t e r n a t i v e n v o n Verhaltensweisen erreicht werden kann. Ich habe versucht, eine neue theoretische Basis f ü r das normenlogische Folgern dadurch zu gewinnen, daß ich p r i m ä r Soll-Folgerungen behandelt habe, u n d das Dürfen erst sekundär als Ausschluß des Sollens eingeführt habe. Vgl. Weinberger, Ch., Weinberger, O.: Logik, Semantik, Hermeneutik, München 1979, S. 301 - 324.
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Stenz des Willensaktes entscheidend ist, nicht aber das zur Motivation des Adressaten verwendete Instrumentarium 2 0 . Wenn w i r die Geltung von Rechtsnormen nach formalen Erzeugungskriterien beurteilen, müssen w i r den Sinn der erzeugenden Willensakte als Rechtsnormen akzeptieren, seien sie an Staatsorgane (an Amtswalter von Staatsorganen) oder an andere Subjekte gerichtet. Da die Amtswalter auch Rechtspflichten haben, müßte man ihre Pflichten nicht aus der Ermächtigung den Bürgern gegenüber, unter gewissen Bedingungen Sanktionen zu setzen, ableiten, sondern wieder aus einer Norm, die auf die Verletzung dieser Amtspflicht Sanktionen festsetzt. Bei Normen, die ein rechtliches Dürfen (Erlaubnisnormen) oder Können (Ermächtigungsnormen) statuieren, erscheint die Sanktionstheorie des Rechtssatzes ziemlich absurd zu sein. Bei der Rechtsnorm unterscheidet Kelsen einen unmittelbaren und einen mittelbaren Adressaten. Da die Rechtsnorm nur die Ermächtigung, Sanktionen zu setzen, zum Inhalt haben kann, ist unmittelbarer Adressat jenes Individuum, das unter gewissen Bedingungen gegen andere Personen Sanktionen setzen soll. Diese Personen, denen unter gewissen Bedingungen Sanktionen drohen, sind nur mittelbar Adressaten der Rechtsnorm: sie haben Rechtspflichten gerade deswegen, weil bei Pflichtverletzung Sanktion droht. Kelsen meint, daß durch die Eigentümlichkeit der Rechtsnorm, nur über die Sanktionsandrohung Rechtspflichten, rechtliches Sollen der mittelbaren Adressaten (der Bürger, der Rechtsunterworfenen), zu statuieren, das Recht von der Moral wesenhaft abgetrennt wird. Durch diese Auffassung soll der Zwangscharakter des Rechts konsequent durchgeführt und eine Wesensunterscheidung zwischen Recht und Moral aufgewiesen werden. Ich zweifle daran, ob es angemessen ist, strukturelle Wesensunterschiede zwischen Rechts- und Moralnormen zu suchen — oder genauer gesagt: eine Theorie aufzustellen, die solche strukturelle Differenzen festsetzt. Die rationalen Beziehungen zwischen Rechtsnormen auf der einen und Moralnormen auf der anderen Seite müßten wohl dieselben sein, da sie vom semantischen Charakter der Normsätze abhängen. Der Unterschied zwischen Recht und Moral kann also nur i m Inhaltlichen und i n den Umständen der Anwendung der normenlogischen Strukturen liegen. Die sanktionstheoretische Konstruktion ist aber auch i n ihrem inneren Aufbau äußerst problematisch, ganz abgesehen davon, daß ihre 20 Z u r K r i t i k der Sanktionstheorie des Rechtssatzes vgl. Weinberger, O.: Der Begriff der Sanktion u n d seine Rolle i n der Normenlogik u n d Rechtstheorie, i n : Normenlogik. Grundprobleme der deontischen Logik, Hrsg.
H. Lenk, München 1974, S. 89 - 111.
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sozusagen ideologischen Implikationen m i r widerstreben: wenn nur die Sanktion das Wesen des Rechts darstellt, dann w i r d — symbolisch gesprochen — der Staatsanwalt zum Mittelpunkt des Rechts, die organisatorische Funktion des Rechts und Überlegungen über social engineering werden zu eitlen Spekulationen. Die erste Schwierigkeit liegt darin, daß der durchaus nicht einfache soziologische Begriff des Zwanges zum konstitutiven Element des Rechtsnormbegriffes wird. Dies scheint m i r mit dem strikten Postulat der Methodenreinheit der Reinen Rechtslehre kaum verträglich zu sein. Wie können i n dieser Lehre die Begriffe der Strafe und des Zwangsvollzuges (Exekution) definitorisch eingeführt werden? Strafe ist ein normativer Begriff. Strafe ist nicht definierbar ohne Rückgriff auf eine Pflicht (bzw. eine die Pflicht statuierende Norm). Strafe ist Unrechtsfolge, das, was von einem Staatsorgan gesetzt werden soll, wenn ein anderes Sollen eines Pflichtsubjektes verletzt wurde. Nur wenn eine Pflichten statuierende Norm gilt, kann es Strafe geben. Anzunehmen, es gebe nur Sanktionsnormen (bzw. hier: nur Strafnormen), ist unmöglich, weil der Begriff der Strafe die Existenz einer anderen Norm, deren Verletzung Straffälligkeit hervorruft, ex definitione voraussetzt. Die Existenz einer solchen Norm (genauer: einer solchen Rechtsnorm) ist wenigstens implizit gesetzt (vorausgesetzt), wenn eine Norm statuiert wird. „Wenn A, dann soll Strafe S sein." Nicht aus der Form dieser Bedingungsnorm (symbolisch: ,A > ! S'), sondern nur aus der Bestimmung des Sachverhalts S als Strafe, folgt, daß nicht-A sein soll (die Pflicht non-Α). Die Bestimmung der die Rechtspflicht ausdrückenden Norm auf Grund der Sanktionsnorm beruht auf der Definition der Strafe als Unrechtsfolge. Sie setzt ferner ein logisches Operieren mit Normen (Normsätzen) voraus, das Kelsen jedoch prinzipiell ablehnt. Analoge Überlegungen lassen sich für den Begriff des Zwangsvollzugs (der Exekution) anstellen. Zwangsvollzug kann nur dann angeordnet werden, wenn vorausgesetzt wird, daß eine nicht erfüllte SollLeistung besteht, d. h. wenn eine Norm existiert, die diese Soll-Leistung statuiert. Aus der Zwangsvollzug statuierenden Norm läßt sich auf das Gesolltsein der Leistung, deren Sanktion die Exekution darstellt, dann und nur dann schließen, wenn der Begriff des Zwangsvollzugs als Ersatzakt für die nichterfüllte Soll-Leistung definiert ist. Man könnte allerdings festsetzen, daß nur durch das Statuieren von Sanktionen generelle Rechtsnormen gesetzt werden können, d.h. daß immer gleichzeitig m i t dem Statuieren von Rechtspflichten Rechtsfolgen der Rechtspflichtverletzung statuiert werden müssen. Dies ist wohl Kelsens Absicht, wenn er sich auch über die A r t , wie durch die Sanktionsngrm die Pflichtnorm (,Sekundärnorm' i n seiner Terminologie)
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bestimmt ist, nicht i m klaren ist, da er nicht sieht, daß die Bestimmung der Rechtspflicht aus der Sanktionsnorm nur aus der Definition der Begriffe »Strafe* und ,Exekution* folgt. Problematisch, ja unangemessen, w i r d diese Auffassung bei der Charakteristik des rechtlichen Sollens von Grenzorganen (ζ. B. der obersten Gerichte), die keine Rechtspflichten hätten, bei Ermächtigungsnormen, die dann keine Rechtsnormen wären, soweit keine Pflicht besteht, die Ermächtigung auszunützen, und bei Erlaubnisnormen, die nicht verletzt werden können, also auch nicht Bedingung von Sanktionen sein können. Auch die oft aufgeworfene Frage, ob es sanktionslose Normen (leges imperfectae) als Rechtsnormen gibt, gehört hierher. Formal gibt es sie sicher. Sie haben m. E. auch ihre Funktion — und daher ihre Berechtigung —, weil nicht nur Zwang, sondern auch andere gesellschaftliche Beziehungen motivieren. Erlauben. Es ist auffällig, daß i n der Theorie der normativen (bzw. deontischen) Operatoren gerade bei den ein Dürfen ausdrückenden Operatoren am meisten Zweifel und Probleme auftauchen. Ich habe deswegen einmal die These aufgestellt, daß w i r i n bezug auf das Dürfen und die logischen Beziehungen der Erlaubnissätze keine klare logische Intuition besitzen, und daß dies dadurch verursacht ist, daß w i r unseren Überlegungen keine prinzipiell erhellende Theorie der pragmatischen Funktionen der Erlaubnissätze zugrunde legen, durch die eine Semant i k der Darfsätze konstituiert werden könnte. Diese Meinung vertrete ich noch immer. Daher begrüße ich es auch, daß Kelsen einige durchaus klärende Überlegungen anstellt, wenn er auch m. E. weit davon entfernt ist, solche semantische Basisvorstellungen der Darfsätze zu entwickeln, die für eine Darfsätze berücksichtigende Normenlogik erforderlich wäre. Dies kann er naturgemäß nicht leisten, da er das normenlogische Ziel nicht vor Augen hat, und weil er die pragmatische Rolle der Normsätze von ihrer Bedeutung nicht klar trennt, d. h. nicht sieht, daß ein und derselbe Normsatz verschiedene pragmatische Funktionen erfüllen kann. Ein Sollsatz kann ζ. B. zur Normsetzung oder und zur Normmitteilung verwendet werden. Auch Darfsätze können — ohne Änderung des Sinns des Satzes — verschiedene pragmatische Rollen haben. Das wichtige Ergebnis der Kelsenschen Untersuchungen der Erlaubnisnormen ist seine Erkenntnis, daß die Erlaubnis eine ganz andere normative Modalität als das Sollen (Gebieten oder Verbieten) ist und daß Erlauben m i t dem Derogieren (genauer: m i t dem Ausschließen des Sollens) zu t u n hat. Kelsen ist zu dieser wichtigen Einsicht gelangt — die m. E. schon als Ausgangspunkt einer logischen Semantik der Normsätze verwendet werden k a n n 2 1 —, obwohl er bei der Aufzählung der
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verschiedenen Funktionen der Norm Gebieten, Erlauben, Ermächtigen (und Derogieren) als koordinierte Begriffe (ich würde sagen: als Arten von Norminhalten) anführt. Zur Illustration meiner These über die Schwierigkeiten mit den Darfsätzen möchte ich einige Beispiele anführen: Von Wrights System der deontischen Logik aus dem Jahre 1951 betrachtet den Erlaubnisoperator ,P' als Grundterminus (bei strikter gegenseitiger Definierbarkeit der deontischen Operatoren ,P', ,0\ und ,Γ), obwohl die für den Aufbau des Systems nötigen performance-functions (Erfüllungsfunktionen), durch die zusammengesetzte Handlungsinhalte eingeführt werden, m i t dem ,P'-Operator nicht eingeführt werden können, da Erlaubnis nicht erfüllt und nicht verletzt werden kann 2 2 . Diese Tatsache hätte schon als Hinweis gelten müssen, daß ,P' nicht,in gleicher Weise fundamental ist wie ,0' (oder ,F'). Das A x i o m dieses Systems ,Ρ (Α Λ B) = Pa Λ Pb' hat beim Autor selbst bald Zweifel hervorgerufen, und diese Zweifel haben seinen Vorschlag motiviert, das angeführte A x i o m durch ,Ρ (A A B) = PA V PB 1 zu ersetzen. So kam es zur Unterscheidung der starken und der schwachen Erlaubnis (free-choice permission). I n seinem „Essay" 2 3 hat von Wright dann nicht weniger als sechs Arten der Erlaubnis definiert. — Bekannt ist die Unterscheidung von ausdrücklicher Erlaubnis und dem Erlaubten als dem Nicht-Verbotenem, sowie die verwandte Gegenüberstellung des Erlaubtseins i m offenen und i m geschlossenen Normensystem 24 . Von ganz anderen Gesichtspunkten aus w i r d Erlaubtheit von bilateraler Erlaubtheit unterschieden 25 . — 21 Vgl. Weinberger, O.: Versuch einer neuen Grundlegung der normenlogischen Folgerungstheorie, i n : Argumentation u n d Hermeneutik i n der
Jurisprudenz (Hrsg. W. Krawietz, K. Opalek, A. Peczenik, A. Schramm),
Rechtstheorie, Beiheft 1, 1971, S. 301 - 324. 22 Vgl. von Wright , G. H.: Deontric Logic, M i n d , 1951, S. 1 - 1 5 ; Weinberger, Ο.: Die Sollsatzproblematik i n der modernen Logik, Prag 1958, S. 95 ff., ders.: Der Erlaubnisbegriff u n d der A u f b a u der Normenlogik, Logique et analyse, 1973, S. 113 - 142. 25 Von Wright, G. H.: A n Essay i n Deontic Logic and the General Theory of Action, Acta Philosophica Fennica 21 (1968), S. 23 ff. 24 Weinberger, Ch., Weinberger, Ο.: Logik, Semantik, Hermeneutik, M ü n chen 1979, S. 115 ff. 25 Vergleiche die E n t w i c k l u n g der Beziehungen i m Sinne des Blanché sehen Sechsecks (zum Unterschied v o n Oppositionsbeziehungen des „logischen Quadrats"). Z u dieser Problematik siehe insbes. Gardies, J.-L.: Essai sur la logique des modalités, Paris 1979. (Wohl die gründlichste u n d aufschlußreichste Analyse dieser Problematik.) Wichtig ist auch die Erkenntnis, daß diese Beziehungen zwischen normativen Operatoren n u r dann gelten, w e n n es sich u m geschlossene u n d widerspruchsfreie Systeme handelt (Weinberger,
Çh v Weinberger,
O.: a.a.O., S. 116 f.).
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Kelsen unterscheidet zweierlei Erlaubnis: Erlaubt-sein i m negativen Sinne und Erlaubt-sein i m positiven Sinne. Erlaubt i m negativen Sinne ist ein Verhalten, wenn „überhaupt keine Norm dieses Verhalten zum Gegenstand hat, insbesondere, daß dieses Verhalten weder verboten noch geboten, d.h., daß weder dieses Verhalten noch sein Unterlassen durch eine Norm geboten ist" (S. 78). Wenn Kelsen hier davon spricht, daß eine Norm ein Verhalten zum Gegenstand hat, muß der Terminus ,Norm' offensichtlich als ,Sollnorm* (gebietende oder verbietende Norm) verstanden werden, nicht als Erlaubnis-, Ermächtigungs- oder Derogationsnorm. Ein Verhalten V kann durch eine Soll-Norm geboten oder verboten sein. Üblicherweise sagt man nur, das Verhalten V ist erlaubt, wenn es nicht Gegenstand einer Verbotsnorm ist (d. h. äquivalent: wenn das umgekehrte Verhalten V 2 6 nicht Gegenstand einer Gebotsnorm ist). Man erhält einen anderen Begriff — die sog. bilaterale Erlaubnis, wenn man, wie Kelsen es hier tut, festsetzt, daß das Verhalten V dann und nur dann erlaubt ist, wenn V weder Gegenstand einer Gebotsnoch einer Verbotsnorm ist; dies ist nämlich genau dann der Fall, wenn weder das Verhalten V noch das Verhalten V geboten (d.h. Gegenstände des Sollens) sind. Zweifellos sind V und V zwei verschiedene Verhaltensweisen, die nicht gleichzeitig geboten (verboten) sein können (sc. ohne normenlogischen Widerspruch). Es gibt keinen Grund, warum nicht nur eine der beiden Verhaltensweisen V und V erlaubt sein könnte, und zwar i n dem negativen Sinn, daß sie nicht gesollt ist (nicht Gegenstand des Sollens ist). Man kann natürlich auch den Begriff der bilateralen Erlaubnis einführen, darf aber die für die Erlaubnis i m üblichen Sinne geltenden Thesen nicht auf die bilaterale Erlaubnis beziehen. Das positive Erlauben setzt die Existenz einer Norm, die ein bestimmtes Verhalten gebietet, voraus. Die erlaubende Norm hebt die Geltung der Verbotsnorm auf oder schränkt sie ein. „Daß ein bestimmtes Verhalten erlaubt ist, k a n n aber auch bedeuten, daß die Geltung einer Norm, die ein bestimmtes Verhalten verbietet (oder, was dasselbe bedeutet: das Unterlassen dieses Verhaltens gebietet), durch eine andere derogierende N o r m aufgehoben w i r d , so daß dieses Verhalten nicht mehr verboten (bzw. nicht mehr geboten) ist. D a n n sagt man, daß dieses Verhalten erlaubt ist" (S. 78). 28 Wenn V eine gewisse Handlung darstellt, dann ist V das Unterlassen v o n V; w e n n V ein Unterlassen darstellt, dann ist V das entsprechende Tun.
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Positives Erlauben sei daher frei-steilen, derogieren 27 : „Die normative F u n k t i o n des positiven Erlaubens ist auf die F u n k t i o n des Derogierens, d . h . auf die Aufhebung oder Einschränkung der Geltung einer ein bestimmtes Verhalten verbietenden N o r m reduzierbar" (S. 79).
Kelsen faßt auch den positiven Erlaubnisbegriff als bilaterale Erlaubnis auf, d. h. er setzt voraus, daß, wenn das Verhalten V erlaubt ist, auch das Verhalten V erlaubt ist (oder m. a. W.: daß auch positive Erlaubtheit bedeutet, daß gleichzeitig V (bzw. V) weder geboten noch verboten ist). Daß durch Setzung bilateraler Erlaubnis von V das Verbot von V aufgehoben wird, ist zwar richtig, doch w i r d dies auch durch einfache Erlaubnis von V (d. h. die Erlaubnis i m üblichen Sinne) erreicht. Auch hier zeigt es sich, daß man Erlaubnis durchaus nicht i m bilateralen Sinn verstehen muß: U m das Verbot von V aufzuheben, genügt es, V zu erlauben, es ist aber durchaus nicht nötig, auch gleichzeitig V zu erlauben. Man kann doch das Verbot von V w o h l auch dadurch aufheben, daß man V gebietet (was das Erlaubtsein von V ausschließt). Erlaubtheit von V ist also zur Aufhebung des Verbots von V nicht erforderlich. Die derogatorische Funktion der positiven Erlaubnis setzt also keineswegs voraus, daß Erlaubnis als bilateral aufgefaßt werden muß. I m Gegenteil, wenn man die Erlaubnisnorm ,p ist erlaubt 4 definiert als jene Norm durch die gerade ,-»p ist geboten 4 ausgeschlossen (aufgehoben) wird, dann bedeutet die Erlaubnisnorm einseitige Erlaubnis, setzt als nicht voraus, daß ρ und ->p immer gleichzeitig erlaubt sein müssen. „Was nicht verboten ist, ist erlaubtIm Zusammenhang m i t seiner Unterscheidung positiven und negativen Erlaubtseins diskutiert Kelsen auch den Grundsatz „Was nicht verboten ist, ist erlaubt." I m negativen Sinne des Erlaubtseins t r i f f t die Regel nicht zu, denn was nicht verboten ist, muß offenbar deswegen noch nicht bilateral erlaubt sein: wenn das Verhalten V nicht verboten ist, muß nicht sowohl V als auch V erlaubt sein (d. h.: werden V noch V geboten sein); es kann doch V geboten sein 28 . Der Satz ist nur für die einseitige Erlaubnis interessant; dann kommt man aber m i t der Kelsenschen Argumentation nicht aus, sondern muß 27 Uber die Möglichkeit anderer pragmatischer Funktionen der Erlaubnisnormen (Darfsätze) vgl.: Weinberger, Ch., Weinberger, O.: Logik, Semantik, Hermeneutik, S. 115 ff. u n d S. 68 f. dieser Abhandlung. 28 „ I n bezug auf die Geltung einer positiven Rechtsordnung pflegt m a n zu sagen: ,Was nicht verboten ist, ist erlaubt. 4 Hat Erlaubt-Sein die negative Bedeutung des weder Geboten- noch Verboten-Seins, t r i f f t die Regel nicht zu, denn es ist ein Widerspruch, zu sagen: ,Was nicht verboten ist, ist weder geboten noch verboten 4 " (S. 81).
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das Problem der Offenheit oder Geschlossenheit der Normensysteme ins Auge fassen 29 . Für positive Erlaubnis m i t ihrer derogierenden Funktion kommt die Regel nicht i n Frage (S. 81). Das Derogieren. Obwohl Kelsen das Erlauben i m positiven Sinne als ein Derogieren ansieht, hält er dennoch das Derogieren für eine spezifische — auch vom Erlauben wohl zu unterscheidende normative Funktion (oder Normenart). „Derogation ist die Aufhebung der Geltung einer — i n Geltung stehenden — N o r m durch eine a n d e r e N o r m . Die F u n k t i o n einer n u r derogierenden N o r m ist nicht — w i e die anderer Normen — das Gebieten, Ermächtigen, Erlauben eines bestimmten Verhaltens. Sie besagt nicht, daß unter bestimmten Bedingungen ein bestimmtes Verhalten erfolgen soll; sondern hebt das i n einer bisher geltenden N o r m statuierte Gesollt-Sein eines Verhaltens auf. Sie statuiert nicht ein Sollen, sondern ein Nicht-Sollen" (S. 85).
Die derogierende Norm ist insoweit eine unselbständige Norm als sie nur i n Beziehung auf eine andere Norm gelten kann, die sie aufhebt (ggf. teilweise aufhebt) (S. 85). Wenn man die positive Erlaubnis i n ihrer derogatorischen Funktion versteht, dann gilt dieselbe Unselbständigkeit für Erlaubnisnormen wie für jede derogierende Norm. Es wäre von diesem Standpunkt aus nicht sinnvoll, etwas zu erlauben, was vorher nicht verboten war. Man kann m. E. einen Unterschied zwischen Erlaubnisnorm und derogierender Norm nur dann finden, wenn man die Derogation einfach als Streichung ansieht, das ausdrückliche (positive) Erlauben als Setzung, die gegebenenfalls auch andere Funktionen als bloße Derogation haben kann, z. B. — meist i n Form von qualifizierten Normen (Normen m i t Verfassungsrang) — die Sollvorschrift komplementären Inhalts auszuschließen. (Dies setzt aber schon eine andere als die Kelsensche Konzeption der Erlaubnis voraus.) Die Derogation versteht Kelsen als Aufhebung der Geltung einer Norm (S. 92). Das Problem der sogenannten materiellen Derogation kann er offenbar nicht richtig i n den Griff bekommen, w e i l sie ihrem Wesen nach vom Widerspruch zwischen Normen abhängt. Eine Norm derogiert materiell einer früheren Norm gerade dann — und nur insoweit —, als sie m i t i h r i m logischen Widerspruch steht. Wenn man logischen Widerspruch (im Sinne von logischer Unverträglichkeit) zwi29
Vgl. Weinberger, O.: Über die Offenheit des rechtlichen Normensystems i n : FS für Walter W i l b u r g zum 70. Geburtstag, Graz 1975, S. 439-451; ferner Weinberger, Ch., Weinberger, O.: Logik, Semantik, Hermeneutik, München 1979, S. 115 ff., S. 122, S. 132.
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sehen Normen ablehnt, kann man nicht von materieller Derogation sprechen. Dies gilt u m so mehr dann, wenn man — wie Kelsen — die gleichzeitige Geltung der Norm „ A soll sein" und „non-A soll sein" gar nicht als logischen Mangel des Systems ansieht 80 . Ermächtigen. Der Begriff des Ermächtigens hat i n der Reinen Rechtslehre zweifellos eine tragende Rolle. „Da das Recht seine eigene Erzeugung u n d A n w e n d u n g regelt, spielt die normative F u n k t i o n der Ermächtigung i m Recht eine besonders wichtige Rolle" (S. 82).
Die Theorie der Normendynamik und des Stufenbaus der Rechtserzeuger, also die wesentlichen Grundgedanken dieser Lehre, beruhen auf Ermächtigungszusammenhängen. Jeder Jurist weiß, was eine Ermächtigung ist, und versteht es, diesen Terminus i m wesentlichen richtig zu gebrauchen. Dennoch ist eine exakte Begriffsanalyse des Ermächtigens keineswegs trivial. Die Meinung, Ermächtigen sei eine spezifische normative Funktion, die sich von anderen Funktionen von Normsätzen wesentlich unterscheidet, erscheint recht plausibel, da kaum daran gezweifelt werden kann, daß es sich beim Ermächtigen u m eine normative Machterteilung handelt, und da sich keine von vornherein evidente Reduktion des Ermächtigens auf Sollen und Dürfen anbietet. Die Ermächtigung ist eine notwendige Bedingung für die Entstehung gültiger Rechtsakte (S. 82). Hatte Kelsen i n der „Reinen Rechtslehre" (2. Aufl.) nur das Ermächtigen als eine besondere Funktion der Norm hervorgehoben 31 , so gelingt es Kelsen, i n der „Allgemeinen Theorie der Normen" einige wesentliche Charakterzüge des Ermächtigens herauszuarbeiten, die — wenn man 30 „Aus dem Vorhergehenden ergibt sich, daß zwischen Aussagen über die Geltung zweier miteinander i n K o n f l i k t stehenden Normen k e i n logischer Widerspruch besteht, w i e j a auch zwischen den beiden i n K o n f l i k t stehenden Normen ,Ehebruch soll bestraft werden 4 — »Ehebruch soll nicht bestraft werden 4 k e i n logischer Widerspruch besteht. Beide Normen setzen ein V e r halten als gesollt; die eine ,Bestraftwerden 4 , die andere ,Nicht-Bestraftwerden 4 . Beide Normen können nebeneinander gelten, d.h., da Geltung die Existenz, das Vorhandensein einer N o r m ist, daß das nebeneinander V o r handensein beider Normen möglich ist 44 (S. 178). Es ist zwar richtig, daß Normensysteme, die Normen der F o r m ,p soll sein 4 u n d ,—.p soll sein 4 enthalten, existieren können, doch sieht Kelsen dies nicht einmal als logischen Mangel an, d . h . er anerkennt k e i n normenlogisches Konsistenzpostulat. 31 Vgl. Kelsen, H.: a.a.O., S. 15, A u f S. 123 findet sich auch hier schon ein Hinweis darauf, daß m a n verpflichtet sein kann, v o n einer Ermächtigung Gebrauch zu machen.
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sie w e i t e r v e r f o l g t — e i n e n W e g d e r R e d u k t i o n der E r m ä c h t i g u n g auf Sollen u n d Dürfen vorzeichnen 32. Erstens e r k e n n t K e l s e n , daß d e m E r m ä c h t i g t e n d i e S e t z u n g v o n A k ten, z u denen er e r m ä c h t i g t ist ( b e d i n g t oder u n b e d i n g t ) , geboten sein k a n n , aber n i c h t i m m e r geboten ist. „Der durch eine M o r a l - oder Rechtsnorm ermächtigte A k t k a n n — muß aber nicht — a u c h geboten sein" (S. 83). D e r Gesetzgeber ist e r m ä c h t i g t , Gesetze herauszugeben; er ist aber i n d e r Regel d a z u n i c h t v e r p f l i c h t e t . D i e E r m ä c h t i g u n g des Richters, Rechtsentscheidungen z u f ä l l e n , ist — w e n n gewisse B e d i n g u n g e n e r f ü l l t s i n d — seine A m t s p f l i c h t , also geboten. W i r s i n d also b e r e c h t i g t , a u f G r u n d v o n Kelsens A n a l y s e n zu schließen, daß es z w e i A r t e n der E r m ä c h t i g u n g e n g i b t : gebietende u n d n i c h t v e r p f l i c h t e n d e (ich k ö n n t e sagen: e r l a u b e n d e , w o b e i i c h j e d o c h d e n geläufigen, n i c h t Kelsens, E r l a u b n i s b e g r i f f voraussetze). Z w e i t e n s e r k e n n t K e l s e n , daß die e r m ä c h t i g e n d e N o r m z w e i v e r schiedene n o r m a t i v e F u n k t i o n e n e r f ü l l t . „Es [das Ermächtigen; A n m . O . W . ] impliziert ein Gebieten, w e n n N o r m s e t z u n g ermächtigt ist. W e n n eine M o r a l n o r m den Vater ermächtigt, seinem K i n d Befehle zu geben, gebietet sie damit dem K i n d , den Befehlen des Vaters zu gehorchen. W e n n eine N o r m der Verfassung das Gesetzgebungsorgan ermächtigt, generelle, für die rechtsunterworfenen Subjekte v e r b i n d l i c h e Normen zu setzen, beruht nicht n u r die Zuständigkeit des Gesetzgebungsorgans, generelle Rechtsnormen zu setzen, sondern auch deren V e r b i n d l i c h k e i t für die rechtsunterworfenen Subjekte auf der Verfassung" (S. 83). „Dabei leistet die den Vater u n d die den Gesetzgeber ermächtigende N o r m zwei verschiedene Funktionen, die zwei verschiedene Subjekte betreffen. Die erste N o r m besagt: 1. der Vater k a n n seinem K i n d Befehle geben, 2. das K i n d soll den Befehlen des Vaters gehorchen. Die zweite N o r m besagt: 1. das Gesetzgebungsorgan k a n n generelle Normen setzen; 2. die Menschen, deren Verhalten durch diese Normen geregelt w i r d , sollen i n i h r e m V e r halten diesen Normen entsprechen" (S. 83). D i e z w e i e r l e i F u n k t i o n e n d e r E r m ä c h t i g u n g b e r e c h t i g e n uns, die E r m ä c h t i g u n g als V e r b i n d u n g z w e i e r N o r m e n aufzufassen, e i n e r N o r m
32 Kelsen nähert sich hier i n entscheidender Weise meiner Analyse der Ermächtigungsrelation, die ich i m Aufsatz „Die normenlogische Basis der Rechtsdynamik", in: Gesetzgebung, juristische Logik, Z i v i l - u n d Prozeßrecht. Gedächtnisschrift für Jürgen Rödig, Hrsg. U. K l u g u. a., B e r l i n - Heidelberg 1978, S. 182 f., vertreten habe.
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I. Kap.: Wesen und Funktion der Norm
Ν ι, die die Position des Ermächtigten bestimmt, und einer Norm N2, die den Geltungsgrund für den Rechtsakt darstellt. Es geht nun darum, die Struktur dieser beiden Normen — und die Strukturzusammenhänge zwischen ihnen — genauer zu bestimmen. Diese Analyse ist allerdings i n Kelsens Darlegung nicht mehr enthalten. Für die Struktur der Norm ist die früher angeführte Erkenntnis entscheidend, daß der Ermächtigte E verpflichtet oder nur berechtigt sein kann, Rechtsakte der bestimmten A r t zu setzen. JVi w i r d also — je nach dem Typus der Ermächtigung — eine Soll- oder eine Darf-Norm sein. Was bedeutet es, daß der Ermächtigte Akte setzen kann? Ich meine, daß dieses Können nicht als unanalysierbarer elementarer Basisbegriff anzusehen ist, sondern folgende Analyse zuläßt: Der Ermächtigte kann gültige Akte setzen genau dann, wenn (und weil) er diese Akte setzen darf (oder sogar soll) und wenn sein A k t auf Grund von N2 gültige normative Folgen hat. Dieses Können ist also ein Akt-Setzen-Dürfen (oder -Sollen). Zusammen m i t der normativen Gegebenheit der Geltung des Aktinhalts als normativer Inhalt des Systems — was dadurch gegeben ist, daß dieser A k t die Subsumtionsbedingungen von N2 erfüllt. N2 hat die Struktur: Für jeden A k t A des ermächtigten Subjekts E gilt: Wenn E den A k t A , daß α sein soll {Ni) setzt, dann soll α sein (dann gilt Ni als Norm des Systems). Die Bedingung dieses hypothetischen Normsatzes ist ein Willensakt des Ermächtigten, der einen gewissen normativen Inhalt zum Ausdruck bringt, die Soll-Folge ist dieser normative Inhalt des Willensaktes. Durch die Explikation der Ermächtigung als Zusammenspiel zweier Normen N i und JV2 w i r d die Ermächtigung auf eine spezifische Struktur von Soll- und Darf-Beziehungen reduziert. Es bleibt hierbei eine Besonderheit, die für die Ermächtigungsrelation typisch ist, bestehen und die i n anderen hypothetischen Normen nicht auftritt, nämlich die eigentümliche inhaltliche Bindung zwischen Inhalt des Willensaktes i m Vordersatz und dem normativen Inhalt des Hintersatzes dieses hypothetischen Normsatzes 33 . Diese Relation ist die Grundlage dafür, daß ein Normensystem durch Akte der ermächtigten Subjekte inhaltlich wächst (angereichert wird). 33 Vgl. Weinberger, O.: Die S t r u k t u r der rechtlichen Normenordnung, i n : Rechtstheorie u n d Rechtsinformatik (Hrsg. G. Winkler), W i e n - N e w York 1975, S. 120 f.
3. Kelsens Normbegriff
63
3.9. Norm, Wert und Werturteil Kelsen geht auch von gewissen Voraussetzungen bezüglich der Werte (des Wertens) und der Werturteile aus, obwohl das Problem der Axiologie offenbar nicht das primäre Feld seines Interesses und seiner Forschung ist. Fest steht für Kelsen die ontologische Voraussetzung, daß den Werten keine absolute Existenz zukommt und daß sie nur durch menschliches Wollen konstituiert werden können. „ N u r das Wollen k a n n durch die Norm, die sein Sinn ist, Werte konstituieren" (S. 142).
Der Non-Kognitivismus, demgemäß es unmöglich ist, praktische Sätze kognitiv — durch Vernunft oder/und Erfahrung — zu erkennen bzw. rational zu begründen, betrifft die Werte ähnlich wie die Normen, da beide dem Wollen entspringen. I n dieser Hinsicht besteht eine Parallele zwischen Sollen und Wert: „Der Dualismus v o n Sein u n d Sollen fällt m i t dem Dualismus v o n W i r k l i c h k e i t u n d W e r t zusammen. Daher läßt sich aus der W i r k lichkeit k e i n Wert u n d aus dem Wert keine W i r k l i c h k e i t ableiten" (S. 47).
Die Abhängigkeit des Wertens (gegebenenfalls des Wünschens bei den subjektiven Werten; siehe unten) steht auch i m Einklang m i t Kelsens Positivismus, der die Existenz der Norm von der Existenz des normierenden Willensaktes abhängig macht. Die Tatsache, daß der Wert i m menschlichen Wollen seinen Ursprung hat, bildet die Basis des Wertrelativismus, den Kelsen auch als gesellschaftliches Faktum i n seinen früheren Schriften immer wieder konstatiert hat. Obwohl Kelsen zwei Arten von Werten, subjektive und objektive Werte, und dementsprechend subjektive und objektive Werturteile, unterscheidet, ist dies bei Kelsen keine Einteilung der Werte i n zwei koordinierte Unterklassen, sondern echte Werte sind nur die objektiven Werte, während subjektives Werten nur Billigung oder Mißbilligung ausdrückt, was nach Kelsens Auffassung keine echte Wertung ist 3 4 . Eine subjektive Wertung ist der Sinn „eines e m o t i o n a l e n A k tes, das ist eines Aktes der Billigung oder der Mißbilligung" (S. 148). Hier liegt eine Beziehung des Wünschens oder Wollens vor, die kein 34 Die Gegenüberstellung subjektiver u n d objektiver Wertungen (Werturteile) ist ohne Zusammenhang m i t Kelsens Unterscheidung des subjektiven u n d objektiven Sinns v o n Willensakten. Vgl. S. 127 ff.
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I. Kap.: Wesen und Funktion der Norm
Denkakt und daher nicht wahrheitsfähig ist. Das Wünschen oder Wollen führt hier zu einem subjektiven Werturteil, das eine Beziehung eines Objektes zu seelischen Vorgängen beschreibt; es ist also ein psychologisches Urteil. (Vgl. S. 148.) A n anderer Stelle charakterisiert der Autor das subjektive Werturteil anders, und zwar so, daß es wahrheitsfähig sein müßte: „Dieses subjektive Werturteil, das die Beziehung zwischen zwei realen Tatsachen — einem realen Gegenstand u n d einer realen emotionalen Reakt i o n eines oder vieler Menschen i n bezug auf diesen Gegenstand — zum Ausdruck bringt, ist k e i n v o n einem Wirklichkeitsurteil verschiedenes Urteil, sondern ein s p e z i e l l e s Wirklichkeitsurteil, zum Unterschied v o n einem objektiven W e r t u r t e i l " (S. 47).
Dieses Wirklichkeitsurteil müßte man doch wohl als wahrheitsfähige Aussage ansehen. Es scheint, daß Kelsen das Werten als emotional und rational fundierte Stellungnahme, die nicht nur zu Werturteilen des Billigens und Mißbilligens ( „ . . . ist gut", , . . . ist schlecht"), sondern auch zur relativen Wertung, zur Erstellung von Präferenzen oder Gleichwertigkeitsbehauptungen und gegebenenfalls zu einer Präferenzordnung führen, nicht bedacht hat 3 5 . Seine Auffassung der Axiologie ist ziemlich unvollständig; die Beziehung positive-indifferente-negative Wertung sowie eine Stufung der Bewertungen werden ebensowenig i n Betracht gezogen wie komplexe Prädikationen, bei denen Prädikate auftreten, die gleichzeitig beschreibend und wertend sind. Kelsens Interesse gilt den objektiven Werturteilen, die sich auf Normen stützen und daher zur Normentheorie gehören. Das objektive Werturteil ist eine Aussage, die feststellt, daß ein gewisses Verhalten einer Norm entspricht oder nicht entspricht, und das daher gut oder schlecht genannt werden kann. Dieses Werturteil setzt eine Norm voraus und kann als wahr oder unwahr beurteilt werden. Diese Entsprechung w i r d durch die Übereinstimmung des Inhalts („des modal indifferenten Substrats"; siehe S. 47 ff.) vermittelt. Sie besteht genau dann, wenn die Aussage über das betreffende Verhalten ein und dasselbe indifferente Substrat hat wie die Norm. „ W e n n die N o r m ein bestimmtes Verhalten als gesollt statuiert, k a n n das tatsächliche Verhalten, das der N o r m entspricht, als w e r t v o l l , als gut, das Verhalten, das der N o r m nicht entspricht, als w e r t w i d r i g , als schlecht beurteilt, das heißt bewertet werden. Diese N o r m konstituiert — w i e schon vorher festgestellt wurde — einen W e r t , sofern ,Wert' als das der N o r m 35
Vgl. Opalek, K.: Überlegungen zu Hans Kelsens „Allgemeiner Theorie der Normen", W i e n 1980, S. 35 ff.
3. Kelsens Normbegriff
65
4
Entsprechen, »Unwert als das der N o r m Nicht-Entsprechen bestimmt w i r d . I n dem Urteil, i n dem ein Verhalten i n objektiver Weise, d. h. rein erkenntnismäßig, als — einer als gültig vorausgesetzten N o r m — entsprechend oder nicht entsprechend festgestellt u n d i n diesem Sinne bewertet w i r d , dient die N o r m als W e r t m a ß s t a b . Insofern k a n n auch dieses ,Als-Wertmaßstab-dienen' als eine F u n k t i o n der N o r m bezeichnet werden. Doch ist dabei zu beachten, daß ein solches »Bewerten 4 eine U r t e i l s - F u n k t i o n u n d nicht direkt eine F u n k t i o n der N o r m selbst ist, die n u r i n dem W e r t u r t e i l vorausgesetzt w i r d " (S. 103).
Die Wertung auf Grund der Norm scheint m i r nicht die eigentliche und primäre Grundlage der Axiologie zu sein, die — wie schon oben angemerkt — auch andere als die durch eine Beziehung zur Norm kons t i t u i e r t e n Relationen umfaßt [insbesondere: die Wertung als positiv, indifferent oder negativ, die relative Wertung (Präferenz und Gleichbewertung) gegebenenfalls die Skalierung], so daß die Wertung auf Grund von Normen, die mittels des Erfüllungsbegriffes definiert ist, ein reduziertes System des Wertens darstellt, nämlich ein solches, das unter der Voraussetzung des Ausschlusses des Indifferentwertes und der relativen Wertung zustande kommt.
5 Weinberger
IL
Kapitel
Die Norm als Gedanke und Realität Das Wesen der Normerkenntnie 4. Normenontologie nach meiner Vorstellung Ich möchte nun meine Vorstellungen über das Wesen der Normen — sozusagen i n Gegenüberstellung zu Kelsens Normenontologie — skizzieren. I m Gegensatz zu Kelsen, der das Gesetzt-Willenhafte als Basis seines Positivismus und die Bindung der Norm an den Willensakt als grundlegende ontologische Voraussetzung annimmt, ist meine Normenontologie bewußt so konzipiert, daß sie die Basis für eine Normenlogik bildet und eine klare logische Analyse der normativen Bereiche ermöglicht. 4.2. Die Norm als Idealentität Der Normsatz als spezifische Satzkategorie Die Norm ist ein spezifischer Gedanke i m objektiven Sinn, ihr sprachlicher Ausdruck, der Normsatz, eine spezifische Satzart, die von Aussagesätzen kategorial unterschieden werden muß 1 . Die Norm kann zwar Inhalt (der Sinn) von Willensakten sein, doch ist die Norm als Sinngefüge erfaßbar, ein Gedanke i m objektiven Sinne, sprachlich formulierbar, i n sprachlicher Formulierung mitteilbar und als spezifische Gedankenentität verstehbar, unabhängig von der Tatsache, ob der entsprechende A k t vorliegt. Auch wenn die Norm durch einen Willensakt — ζ. B. einen Befehl — gesetzt wird, ist diese Setzung — wenn sie intersubjektiv zur Geltung kommen soll — m i t einem Sprechakt (einem sprachlichen A k t der Normäußerung) verbunden. Der Sinn des Aktes erlangt als Gedanke an sich (Gedanke i m objektiven 1 Die Semantik, die ich der praktischen Philosophie — u n d der Normenlogik — zugrunde lege, unterscheidet i n erster L i n i e theoretische u n d p r a k tische Sätze. Die Normsätze sind eine A r t der praktischen Sätze. Diese Konzeption der Semantik — ich halte sie f ü r eine notwendige Bedingung der logischen Analyse i m Bereich der Praxis — nenne ich ,erkenntnismäßig differenzierte Semantik'. Vgl. Weinberger, Ch., Weinberger, O.: Logik, Sem a n t i k , Hermeneutik, München 1979, S. 109.
5*
68
II. Kap.: Die Norm als Gedanke und Realität
SinneJ ein Eigenleben, er ist eine rational analysierbare Gedankenentität. Die semantische Eigenart des Normsatzes — insbesondere gegenüber dem Aussagesatz — muß aus der pragmatischen Funktion der Norm erklärt werden. Die Norm ist dazu bestimmt, das menschliche Handeln zu lenken (zu regulieren). Die normative Regulierung kann interpersonal als soziale Lenkung funktionieren oder i m Rahmen des Systems der handelnden Person als fixierte Absicht oder als fixiertes Prinzip der Handlungsweise. Es ist also durchaus sinnvoll, heteronome und autonome Normen zu unterscheiden. Jede Regulierung bedeutet ein Ausschließen von möglichen Verhaltensalternativen. Dieses Ausschließen kann darin bestehen, gewisse — sonst offenstehende — Alternativen des Verhaltens materiell unmöglich zu machen, oder es kann durch ein Sollen i n Erscheinung treten. Die Soll-Regulierung richtet sich an Personen, denen willenhaftes Verhalten zugeschrieben wird, die ein Sollen prinzipiell befolgen (oder nicht befolgen) können. Die Soll-Regulierung ist keine materielle Maßnahme, d.h. sie ist nicht als materielle Ursache kausal wirksam. Durch Setzung von SollRegulativen werden also die Vorgänge i n der Welt nicht direkt verändert. Die Auswirkung des Sollens als einer Realität ist immer indirekt, einerseits dadurch, daß es als bestimmendes Moment des Handelns und der Verhaltenslenkung handlungsfähiger Subjekte w i r k t — das Sollen greift i n gewisser Weise i n die handlungslenkenden Informationsverarbeitungsprozesse ein —, andererseits dadurch, daß andere Subjekte ihre Erwartungen auf ein bestimmtes Verhalten ihrer M i t menschen — wenigstens m i t einer gewissen Wahrscheinlichkeit — nach dem Sollen bestimmen. Man kann auch sagen, die reale Auswirkung des Sollens ist i m wesentlichen eine motivatorische. 4.2. Soll- und Darfsätze Aus dieser Auffassung der Norm als eines Instrumentes der Lenkung geht hervor, daß Normsätze vor allem Sollsätze sind, also Sätze, die Gebote oder Verbote ausdrücken, weil nur Sollsätze, nicht aber permissive Sätze, Darfsätze, Verhaltensalternativen ausschließen, denn Darfsätze (Erlaubnisse) können nicht verletzt werden. Ein rein permissives System, also ein System, das nur erlaubt, aber nichts gebietet und nichts verbietet, ist kein echtes Normensystem. Darfsätze werden als A r t der Normsätze neben den für die normative Sphäre grundlegenden Sollsätzen sekundär eingeführt und ihre
4. Normenontologie nach meiner Vorstellung
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Bedeutung i n Anlehnung an die Bedeutung der Sollsätze definiert. Die raison d'être der Darfsätze liegt m. E. i n zwei Funktionen, die sie zu erfüllen haben: (a) Da das offene Normensystem als grundlegend anzusehen ist (d. h., daß nur dann ein geschlossenes System vorliegt, wenn dies besonders festgesetzt ist), ist es sinnvoll, Fragen nach dem Dürfen zu stellen, das — allgemein gesagt — das Nicht-Bestehen, den Ausschluß eines Sollens (Gebots oder Verbots), ausdrückt. (b) Da Normensysteme i n dynamischer Perspektive betrachtet werden, kommt das Erlauben als Widerruf des Sollens, oder — auch statisch bei einer gewissen Darstellungstechnik — als Ausnahmebestimmung i n Frage. Durch diese Trennung der Soll- und Darfsätze und durch die Bestimmung der Bedeutung der Darfsätze i n Anlehnung an die Bedeutung der Sollsätze, die sie ausschließen, w i r d eine theoretische Basis für die Klärung unserer Intuition bezüglich der Erlaubnis und der für Erlaubnissätze geltenden logischen Regeln geschaffen 2. 4.3. Inhaltliche
Koordination
zwischen Normsatz und Aussagesatz
Für Sollsätze — und indirekt dann auch für Darfsätze — gilt eine gewisse inhaltliche Koordination zu Aussagesätzen. Elementare Sollsätze enthalten Sachverhaltsbeschreibungen, die dem Inhalt koordinierter Aussagesätze entsprechen. Dies ist m. E. deswegen notwendig, weil sonst nicht verstanden werden könnte, was sein soll, ebenso wie nicht festgestellt werden könnte, ob der Sollsatz erfüllt oder verletzt wurde. Er ist nämlich genau dann erfüllt, wenn der inhaltliche koordinierte Aussagesatz wahr ist, und nicht-erfüllt (verletzt), wenn dieser Aussagesatz unwahr ist. 4.4. Normenlogische Das normenlogische
Beziehungen
Konsistenzpostulat
Für Sollsätze (Normsätze) als Ausdruck von Gedankenentitäten (nicht für Normsätze als Inhalte tatsächlicher Akte 3 ) gelten spezifische logische Beziehungen: die wichtigsten sind die logische Unverträglichkeit (man 2 Vgl. Weinberger, O.: Versuch einer neuen Grundlegung der normenlogischen Folgerungstheorie, Rechtstheorie, Beiheft 1/1979, S. 301 - 324. 3 Durch eine Definition der Norm, welche die N o r m begrifflich an den Willensakt bindet — w i e es Kelsen macht —, w i r d allerdings die Möglichkeit logischer Beziehungen zwischen Normen v o n vornherein ausgeschlossen,
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II. Kap.: Die Norm als Gedanke und Realität
kann das Verbot, unverträgliche Normsätze i n einem System zu setzen, als ,normenlogisches Widerspruchsprinzip' oder ,normenlogisches Konsistenzpostulat' bezeichnen) und logische (hier: normenlogische) Folgerungen. Wenn ρ ein gewisser Sachverhalt ist, dann ist -«p ein zu ρ kontradiktorischer Sachverhalt; das heißt m. a. W.: der Sachverhalt ρ und der Sachverhalt ->p schließen einander aus, sie können nicht beide (gleichzeitig) Tatsache sein. Diese Behauptung ist erfahrungsunabhängig; sie ist durch das Sprachsystem gegeben, demgemäß das vorangestellte Negationszeichen aus einem beliebigen Aussagesatz ,p' einen solchen anderen Aussagesatz ,->p' bildet, daß ,p' und ,->p' nicht gleichzeitig wahr sein können. Eine analoge Unverträglichkeit, die ebenfalls weder aus der Erfahrung noch aus der Kenntnis des faktischen Wollens irgendwelcher Subjekte hergeleitet ist, sondern durch logische Sprachregeln als Mangel eines Systems, das diese unverträglichen Normsätze enthielte, aufgewiesen wird, gibt es auch i m Bereich der Sollsätze. ,p soll sein' (symbolisch: ,!p') und ,~»p soll sein' (symbolisch: , ! - φ ' ) ist ein solches Paar unverträglicher Sollsätze. Es ist nicht nur eine Tatsache, daß nicht beide Sollsätze zusammen erfüllt werden können, sondern die gleichzeitige Geltung beider Sollsätze i n ein und demselben Normensystem ist ein logischer Mangel des Systems. Etwas ganz anderes ist ein de facto unerfüllbarer Sollsatz. Ein nur tatsächlich unerfüllbarer Sollsatz wäre ζ. B. ,Du sollst 3 m groß sein!' Faktisch unerfüllbare Sollsätze zu statuieren, kann nicht zielführend sein; es ist daher unpraktisch, Unrealisierbares als gesollt zu setzen — doch ist dies keineswegs unsinnig (logisch widersinnig). Gleichzeitig unverträgliche Normen zu setzen, ist aber unsinnig und aus rein logischen Gründen abzulehnen. Man braucht keinerlei empirische Erfahrung heranzuziehen, u m dies zu begründen. Diese Unverträglichkeit ist strukturell oder/und semantisch gegeben. Die Unverträglichkeit von ,!p' und ,!->p' folgt nicht allein aus der Unmöglichkeit, daß beide Sachverhalte (p, ->p) Tatsache sind, sondern es geht u m eine Regel, die sich speziell auf das Sollen bezieht. Dies zeigt die Tatsache, daß ein analoges Paar von Erlaubnissätzen ,p ist erlaubt' und ,->p ist erlaubt', keineswegs unverträglich ist. Soll man die i n der Normenlogik auftretende Unverträglichkeit — z.B. zwischen ,!p' und , ! - φ ' — als ,normenlogischen Widerspruch' bezeichnen? Man kann dies, muß es aber nicht tun; jedenfalls ist diese Beziehung jedoch eine andere als der Widerspruch zwischen Aussage-
4. Normenontologie nach meiner Vorstellung
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sätzen. Das Gemeinsame beider Unverträglichkeitsrelationen — der zwischen Aussage und der zwischen Normen —, ist nur die Erfahrungsunabhängigkeit und die Tatsache, daß i n beiden Fällen das logische Postulat gilt, nicht beide Sätze zugleich zu setzen (in einem System anzuordnen, bzw. zu behaupten). 4.5. Normenlogische
Folgerungsbeziehungen
Wenn man Normen als Gedanken im objektiven Sinn — also als vom Setzungs- bzw. Denkakt losgelöste Idealentitäten — auffaßt, dann gelten zweifellos Folgerungsrelationen mit normativen Gliedern (Prämissen, Konsequenzen). Wenn gilt ,Jeder Mensch soll arbeiten*, dann gilt auch ,Der Mensch Franz Maier soll arbeiten.* Natürlich nicht deswegen, weil der Normschöpfer auch an Franz Maier gedacht und diese Norm ausgesprochen hätte — das tat er i n der Regel nicht —, sondern weil es der Struktur und dem Sinn der generellen Norm entspricht, daß diese logische Folgerung aus der generellen Norm ableitbar ist, wenn es Tatsache ist, daß ein Mensch Franz Maier existiert. 4.6. Systemrelativität
der Normen
Normen gehören zu Systemen; die normative systemrelativ.
Betrachtung
ist immer
Die durch den Normsatz ,Du sollst nicht stehlen* ausgedrückte Norm ist eine andere Norm als Bestandteil eines gewissen Moralsystems, und eine andere als Bestandteil einer gewissen Rechtsordnung; nicht i n dem Sinne, daß der Normsatz i n beiden Fällen verschiedenen Sinn hätte, sondern weil er je nach Zugehörigkeit zum System, verschiedenes Sollen ausdrückt. Ich meine damit nicht, daß das rechtliche Sollen ein andersartiges Sollen sei als das moralische — wie dies Kelsen meint, da seiner Ansicht nach rechtliches Sollen nur durch Sanktionsandrohung konstituiert werden könne. Auch das inhaltlich gleiche Sollen nach der österreichischen und nach der italienischen Rechtsordnung, sind verschiedenes Sollen. M i t der Systemrelativität der Normen hängen die wesentlichsten Prinzipien des normativen Bereichs zusammen. Das Normensystem bildet eine Einheit, ein gedankliches Ganzes. Das Postulat der logischen Konsistenz (Widerspruchsfreiheit) bezieht sich immer auf ein Normensystem. Dagegen können — als Bestandteile verschiedener Systeme — logisch unverträgliche Normen gelten. Deswegen hat die Systemrelativität ihre Kehrseite i n der Möglichkeit des Nebeneinander
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II. Kap.: Die Norm als Gedanke und Realität
— der Pluralität — der Normensysteme. (Für unsere K u l t u r scheint m i r diese Tatsache sehr charakteristisch zu sein, daß nebeneinander und logisch unabhängig voneinander — wenn auch faktisch interdependent und sich gegenseitig beeinflussend — verschiedene Normensysteme bestehen: das Recht, die gesellschaftliche Moral, das persönliche Ethos des einzelnen usw.). Wenn man fragt, ,Was gilt? 4 , ζ. B. ,Was ist rechtens?', bezieht sich die Frage immer auf genau ein Normensystem (Grundsatz der Ausschließlichkeit des Normensystems). Jede normative Betrachtung ist Analyse genau eines Normensystems. Werden mehrere Systeme ins Auge gefaßt, ζ. B. bei der Rechtsvergleichung, müssen dennoch die Prinzipien der Systemrelativität eingehalten werden; jedes System muß als logische Einheit betrachtet werden, und erst i n einem zweiten Schritt können systemvergleichende Operationen durchgeführt werden 4 . 4.7. Die pragmatische Rolle des Normsatzes: Normsetzung und
Normmitteilung
Die Verwendung des Normsatzes i n Sprechakten (im weiten Sinne) kann verschiedenen pragmatischen Charakter haben: M i t dem Sprechakt kann Normsetzung (Willensäußerung) verbunden sein, ζ. B. wenn die sprachliche Äußerung Promulgation einer Rechtsvorschrift ist oder wenn der Vater dem Sohn einen Befehl gibt. Der Normsatz kann aber auch als normative Information oder als bloße normative Annahme verwendet werden. Die logischen Relationen als Beziehungen zwischen Idealentitäten sind unabhängig von hinzutretenden pragmatischen Funktionen. Die normative Setzung w i r d als Kommunikat verstanden, d. h. ihrem Sinn nach gedanklich nachvollzogen, nicht als Willensakt beurteilt. So und nur so kommt eine Kommunikation normativer Gedanken zustande, die Sinn und Sinnbeziehungen — also eine logische Analyse — intersubjektiv und transsubjektiv ermöglicht 5 . 4.8. Das reale Dasein der Norm Meine Auffassung der Norm als Gedankenstruktur führt zur Frage des Realseins der Norm. Während i n der Kelsenschen Konzeption das Dasein der Norm durch die Realität des Willensaktes, mit dem sie als 4 Vgl. Weinberger, O.: Die Pluralität der Normensysteme, ARSP 1971/ L V I I / 3 , S. 399 - 427. 5 Eine eingehende Analyse der Normenkommunikation u n d die theoretische Grundlegung der normativen Folgerungen bringe ich i n Kap. I I I .
4. Normenontologie nach meiner Vorstellung
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dessen Sinn verknüpft ist, gegeben ist, w i r d durch die Loslösung der Norm vom A k t eine Idealentität der Norm begrifflich eingeführt, die sprachlich formuliertes Gedankengebilde ohne reale Geltung, A n nahme, realgeltende soziale Norm, gewohnheitsrechtliche Norm, autonome Moralnorm, oder Befehl des Vaters an den Sohn, usw. sein kann. Es stellt sich daher die Frage, wann und warum der Idealentität der Norm reales Dasein zugesprochen wird. Die Beantwortung dieser Frage ist immer abhängig von einem Tatsachenkontext, und — je nach diesem Kontext — verschieden. Wenn die Norm Inhalt (Sinn) eines Befehlsaktes — ζ. B. eines Befehls des Vaters an seinen Sohn — ist, dann ist ihr reales Dasein (Geltung i n diesem Kontext) durch den Willensakt des Vaters gegeben. Die Norm gilt aber nicht nur als Sinn dieses Aktes, sondern als Idealentität. Wenn der Vater dem Sohn gebietet ,Grüße alle Gäste des Hauses4, gilt als Folge des Befehls auch die Norm (die nicht direkt Sinn des Befehlsaktes war) ,Grüße Herrn Maier 4 , wenn dieser Herr als Gast des Hauses eintrifft. Die Norm meines autonomen Moralsystems gilt für mich, sobald ich den Vorsatz fasse, mich nach ihr zu richten und sie als Maßstab meines Verhaltens zu benützen. Ähnlich ist es dort, wo die Rechtsnormen durch Akte, die nach einem gewissen — ausdrücklich oder implizit geregelten (institutionalisierten) — Verfahren vor sich gehen, erzeugt werden. Sie gelten auf Grund der entsprechenden Akte, nicht aber nur zeitlich über den A k t hinaus (was auch Kelsen anerkennt), sondern als gesellschaftlich real existente normative Idealentitäten, d.h. samt ihren logischen Folgen (ggf. unter Heranziehung faktisch wahrer Prämissen). Die Geltung des Gewohnheitsrechts beruht auf einer anderen Regel, durch die solchen Normen reale Geltung zugesprochen wird, bzw. es kann eine Regel angegeben werden, nach der festgestellt („diagnostiziert 44 ) werden kann, daß eine gewisse gewohnheitsrechtliche Regel gilt. (Eine Konstruktion fiktiver übereinstimmender Willensakte der Rechtsgenossen — wie i n der Kelsenschen Lehre — muß hierbei nicht vorausgesetzt werden.)
5. Die Norm als Realität Der institutionalistische Positivismus Da die Existenz der Norm — nach meiner Auffassung — nicht i m Erzeugungsakt verankert ist, und eine Norm auch existent sein kann, ohne daß sie durch einen Setzungsakt, dessen Sinn sie ist, erzeugt w i r d (sie kann doch ζ. B. eine Konsequenz ausdrücklich gesetzter Normen sein oder sie kann als Gewohnheitsrechtsnorm gelten, bei der ein solcher Erzeugungsakt nicht direkt aufgewiesen werden kann), besteht die Aufgabe zu erklären, was die Existenz (das Realsein) einer Norm bedeutet. Auch Kelsen müßte eigentlich eine derartige Erklärung geben, da er, trotz der engen Bindung der Existenz der Norm an den erzeugenden Willensakt, die Existenz der Norm über den A k t hinaus anerkennt. Sobald man aber eine Norm als existent anerkennt, auch außerhalb des Willensaktes, wenn man sie wenigstens zeitlich über den Erzeugungsakt hinaus bestehen läßt, dann muß man ihre Existenz explizieren, und zwar als Existenz außerhalb des Daseins des Setzungsaktes. Der Hinweis, daß die Geltung die spezifische Existenz (Daseinsweise) der Norm ist, scheint m i r keine hinreichende Erklärung des Realseins der Norm zu sein. Durch diesen Hinweis w i r d nur darauf aufmerksam gemacht, daß die Daseinsweise der Norm m i t der Existenz materieller Gegenstände i n gewisser Beziehung analog ist, sich aber gleichzeitig von der materiellen Existenz wesentlich unterscheidet. Das Gemeinsame ist vor allem die Tatsache, daß es sich u m ein Sein i n zeitlichen Grenzen handelt: Dasein bedeutet immer Sein i n der Zeit. Das Spezifische an der Daseinsweise der Normen erblicke ich insbesondere i n folgenden Momenten: (i) es geht u m die Daseinsweise einer Idealentität, also von etwas, das nicht sinnlich wahrgenommen werden kann, sondern das als Sinngebilde verstanden w i r d ; (ii) diese Idealentität hat normativen Sinn, sie ist als der Sinn eines präskriptiven Satzes charakterisierbar. Die Norm kann zwar existieren und w i r k e n ohne sprachlich formuliert zu sein; doch ist sie prinzipiell als sprachlich formulierbar anzusehen, und i n sprachlicher Formulierung auch einer intersubjektiven Kommunikation zugänglich.
5. Die Norm als Realität — Der institutionalistische Positivismus
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Wenn w i r Normen Existenz zuschreiben (d.h. eigentlich: wenn w i r den Begriff der Existenz so konzipieren, daß er auch auf Normen anwendbar ist), dann muß man materielles und ideelles Realsein klar unterscheiden. Als real bezeichnen w i r dann alles, was Dasein i n der Zeit hat, wobei die Erkenntnisgründe und Daseinskriterien i n den verschiedenen Bereichen der Realität verschieden sein werden. Wenn es u m materielles Realsein geht, w i r d sich die Erkenntnis des Daseienden letztlich auf Sinneserfahrung stützen; wenn es u m das Dasein ideeller Entitäten geht, w i r d ihr Realsein durch jene Momente bedingt, welche die Idealentitäten als Bestandteil des realen Geschehens, also insbesondere durch Bindungen zur Sphäre der materiellen Realität, begründet erscheinen lassen. Das Realsein der Norm besteht also i m wesentlichen i n Zusammenhängen zwischen der Norm und realen gesellschaftlichen Vorgängen und i n den pragmatischen Funktionen der Norm. Die wichtigsten gesellschaftlichen Vorgänge, welche das Dasein der Norm bedingen und belegen, sind Akte der Normerzeugung. Sie gehen i n der Regel i n institutionalisierter Form vor sich als Akte der Normsetzung und gleichzeitig der Normkommunikation. Als Kommunikate sind sie i n der Regel direkt erfaßbar. Die institutionalisierte Form der Rechtserzeugung t r i t t häufig als System formaler Regeln auf und ist i n diesem Sinne selbst Bestandteil des betreffenden normativen Systems. Es ist auch möglich, Regeln aufzustellen, nach denen die Entstehung gesellschaftlicher Normen festgestellt werden kann, und zwar auch i n dem Falle, daß keine expliziten Normerzeugungsregulative vorliegen (ζ. B. Regeln der Feststellung des Gewohnheitsrechts). Bei Normen der persönlichen autonomen Moral ist der Zugang zur Feststellung des Realseins der Norm nicht ohne weiteres öffentlich. Diese Feststellung kann auf Mitteilungen beruhen, oder sie kann auf Grund der tatsächlichen Verhaltensweisen (und anderer Voraussetzungen) durch Interpretation bestimmt werden. Es müssen verschiedene pragmatische Auswirkungen der Norm i n Rechnung gezogen werden; die wesentlichsten scheinen m i r zu sein: (i) Die Bestimmung und Lenkung von Handlungen (des Verhaltens) — — dies halte ich für die primäre Rolle der Soll-Regulative (ii) Wertung der Verhaltensweisen nach Maßgabe der Normen; (iii) Aufbau von Erwartungen des Menschen i n bezug auf die Verhaltensweisen der Mitmenschen und der gesellschaftlichen Systeme. Insbesondere i m Bereich des Rechts muß beachtet werden, daß durch Normen Institutionen geschaffen werden und deren Funktionieren ge-
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II. Kap.: Die Norm als Gedanke und Realität
regelt wird. Zur Rechtswirklichkeit gehören auch die verschiedenartigen Rechtsverhältnisse, die durch das Recht geschaffen werden und die — wenn auch teilweise indirekt — das Dasein der Normen als beobachtbare Auswirkungen i n der sozialen Realität belegen. Wenn man das Realsein der Norm i n dem eben skizzierten Sinne auffaßt, nämlich als Dasein einer Idealentität normativen Sinns, die i n wesenhafter Verbindung m i t dem Dasein beobachtbarer Realitäten steht, dann könnte man gegebenenfalls vermuten, die beobachtbaren Tatsachen allein seien zur Charakterisierung der gesellschaftlichen Realität hinreichend, so daß Soll-Regulative überhaupt aus der Beschreibung der gesellschaftlichen Realität als überflüssig weggelassen werden könnten. Dem ist nicht so. Ich habe an anderer Stelle i n einer ausführlichen Überlegung gezeigt, daß die gesellschaftliche Realität und die institutionellen Tatsachen nicht ohne praktische Sätze und praktische Begriffe adäquat beschrieben werden können®. Bloße Beschreibungen i m positivistischen Sinne, d.h. Angaben von festgestellten Zustandstrajektorien reichen hier keineswegs aus. Ich habe gezeigt, daß schon für die Erkenntnis der Natur und ihrer Gesetzlichkeiten — also für die Darstellung der sogenannten rohen Tatsachen (crude facts i m Sinne von Searle 7 ) ein sprachlich-logisches Instrumentarium erforderlich ist, mittels dessen faktentranszendente Beziehungen ausgedrückt werden können 8 . Der Bereich der menschlichen Praxis und das Feld des Lebens i n Gemeinschaften und i n institutionalisierten Verhaltensformen, können nicht ohne das sprachliche Instrumentarium der praktischen Sätze und Begriffe i n angemessener Weise ausgedrückt werden. Die praktischen Sätze und der Apparat der praktischen Begriffe haben hierbei einerseits solche Funktionen, durch die die handlungsbestimmenden Informationsverarbeitungen ermöglicht werden (Wertanalysen, Präferenzanalysen, Soll-Regulative), andererseits sind sie unabdingbare Vor6
Weinberger , Ο.: Tatsachen u n d Tatsachenbeschreibungen. Eine logischmethodologische Überlegung zu einem Grundlagenproblem der Sozialwissenschaft, i n : Sozialphilosophie als Aufklärung. Festschrift für Ernst Topitsch, Tübingen 1979, S. 173 - 187. 7 Searle , J. R.: Speech Acts. A n Essay i n the Philosophy of Language. Cambridge 1969. Deutsche Übersetzung: Sprechakte. E i n sprachphilosophischer Essay, F r a n k f u r t / M . 1971. 8
Vgl. Weinberger,
O.: a.a.O., S. 176 ff., ders.: Kontrafaktualität und Fak-
tentranszendenz. Versuch, die Logik der faktentranszendenten u n d k o n t r a faktualen Bedingungssätze m i t den M i t t e l n der extensionalen L o g i k zu behandeln, Ratio, Band 16, Heft 1/1974, S. 13-28; ders.: Faktentranszendente Argumentation, Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie V I / 2 (1975), S. 235-251; ders.: Der nomische Allsatz, Grazer Philosophische Studien, Vol. 4/1977, S. 31 - 42.
5. Die Norm als Realität — Der institutionalistische Positivismus
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aussetzungen für das Erfassen und Beschreiben institutioneller, normativer und axiologischer Tatsachen und Relationen. Die dargestellte Auffassung des Realseins der Normen und normativer Systeme, zu denen auch die Rechtsordnung gehört, führt zu einer Konzeption des Rechtspositivismus, die sich i n wesentlichen Punkten von dem Kelsenschen Rechtspositivismus unterscheidet. Ich bezeichne diese Konzeption als ,institutionalistischen Rechtspositivismus'. Die Grundidee jedes Rechtspositivismus ist — sozusagen negativ — durch folgende Thesen definiert: (i) Es gibt keine vorgegebenen Maßstäbe richtigen Rechts. (ii) Es gibt keine praktische Erkenntnis. Durch die These (i) w i r d die Möglichkeit der Existenz von Naturrechtsgrundsätzen und absoluten Werten ausgeschlossen. Durch die These (ii) w i r d es als unmöglich erklärt, i n irgendeiner Weise Erkenntnisse zu erlangen, was richtigerweise sein soll. Die Ablehnung der Möglichkeit praktischer Erkenntnis bezieht sich allerdings nur auf eine voraussetzungslose Bestimmung des richtigen Sollens, schließt aber nicht aus, daß relativ zu gewissen Zielen oder Werteinstellungen erkannt werden kann, was diesen Voraussetzungen entspricht. Die verschiedenen Konzeptionen des Rechtspositivismus haben auch einen gewissen gemeinsamen positiven Grundsatz: das Recht w i r d als spezifischer, gesellschaftlich realer Gegenstand angesehen, der als solcher objektiv erkannt werden kann. Man kann verschiedene Typen des Rechtspositivismus unterscheiden: jenen, der die Positivität des Rechts einfach als historische Gegebenheit auffaßt und aus der historischen Entwicklung erklärt; den sogenannten realistischen Positivismus, der das Dasein des Rechts als System tatsächlicher Vorgänge und als System von Prognosen über zukünftige tatsächliche Vorgänge des Rechtslebens ansieht und schließlich den normativistischen Positivismus, der vor allem den spezifischen semantischen Charakter des Rechts als präskriptiver Gedankenentität unterstreicht. Meine nachfolgenden Überlegungen betreffen den normativistischen Rechtspositivismus, i n dessen Rahmen sowohl Kelsens Lehre als auch meine Auffassung des institutionalistischen Positivismus fällt. Ich muß nun diese beiden Konzeptionen einander gegenüberstellen, wobei ich versuchen werde, meine Auffassung gegenüber der Kelsenschen zu begründen. Bei Kelsen ist die Positivität der Norm prinzipiell i m normsetzenden Willensakt verankert. Ohne einen solchen Willensakt gibt es
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II. Kap.: Die Norm als Gedanke und Realität
für ihn keine Norm. »Positiv4 ist »positum ( = gesetzt)4. Positiv ist also das i n einem Willensakt Gesetzte. M i t dieser Konzeption ist offenbar die Vorstellung verbunden, daß jede sonstige Anerkennung der Existenz einer Norm bedeuten würde, daß diese Norm entweder vorgegeben — präpositiv — sein müßte oder daß sie rein kognitiv — also willensunabhängig — beweisbar sein müßte. Der nächstliegende Einwand gegen diese Auffassung der Positivität ist schon der Fall, daß eine Norm N ' eine logische Folge der Norm Ν sein könnte, und als logische Folge i n dem System Geltung hätte, ohne daß ein Willensakt existieren müßte, dessen Sinn JV' wäre. Wenn ζ. B. die Norm „Alle Menschen sollen dreimal täglich beten" durch einen Normerzeugungsakt gesetzt wird, da müßte wohl auch die gefolgerte Norm „(Der Mensch) Franz Maier soll dreimal täglich beten 44 gelten, ohne durch einen Willensakt dieses Inhalts gesetzt worden zu sein. Wenn man logische Folgerungen aus Normen anerkennt, dann muß man auch eine Norm als existent ansehen, die ihre Positivität nicht aus einem A k t , dessen Sinn die abgeleitete Norm ist, bezieht. Nun, Kelsen leugnet die Möglichkeit normenlogischer Folgerungen, so daß dieser Einwand gegen seine Auffassung nur dann schlagkräftig wird, wenn seine Ablehnung des normenlogischen Folgerns widerlegt wird. Ich werde das Problem des normenlogischen Folgerns i m Kapitel I I I ausführlicher analysieren. Hier begnüge ich mich m i t einem Hinweis, der den normenlogischen Irrationalismus als unplausibel erscheinen läßt, jedoch sicher nicht zu seiner Widerlegung hinreicht: Was sollte eine allgemeine Norm überhaupt bedeuten, welche Bedeutung könnte man Wörtern wie ,alle 4 , jeder 4 , u. ä. zuschreiben, wenn die individualisierende Folgerung aus einem All-Satz nicht gelten würde? Normen des Gewohnheitsrechts müßten ihre Geltung als positive Normen aus einer Menge übereinstimmender Willensakte beziehen, denn sonst könnte eine Existenz der Norm i m Sinn der Akttheorie nicht behauptet werden. Ich halte diese Auffassung für eine fiktive und der sozialen Realität des Rechtslebens nicht angemessene Konstruktion. Vom Standpunkt der juristischen Methodenlehre erhebt sich gegen den Kelsenschen Akt-Positivismus der m. E. wichtige Einwand, daß das reale Dasein und Wirken von Zwecken hinter dem Rechtssystem geleugnet werden müßte und daß den i n juristischen Argumentationen immer wieder angerufenen Rechtsprinzipien keinerlei rechtliche Relevanz zugesprochen werden dürfte. Es scheint m i r unmöglich, den teleologischen Hintergrund des Rechts außer acht zu lassen (die juristische Hermeneutik wäre sonst eines wichtigen Arguments beraubt), ebenso wie es unrealistisch wäre, die Rolle der Rechtsprinzipien i m Rechtsdenken und i n der faktischen juristischen Argumentation zu leugnen.
5. Die Norm als Realität — Der institutionalistische Positivismus
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Wenn man i m Geiste von Kelsen den Rechtspositivismus so einschränkt, daß Normen nur dann Existenz zugeschrieben wird, wenn tatsächlich ein Willensakt vorliegt, dessen Sinn diese Norm ist, dann leistet man jenen — an und für sich unbegründeten — Bestrebungen Vorschub, die den teleologischen Hintergrund des Rechts und die Rechtsgrundsätze als naturrechtliche Elemente deuten wollen 9 . Der institutionalistische Positivismus geht davon aus, daß der Rechtspositivismus das Recht als konstitutives Element der gesellschaftlichen Realität auffassen muß, so daß i h m das Recht als institutionelles Fakt u m erscheint, welches von der Rechtswissenschaft erfaßt und erklärt werden soll. Rechtserkenntnis w i r d als Erkenntnis einer sozialen Realität aufgefaßt; sie ist daher — auch wenn sie einen spezifischen normativen Gegenstand hat, der verstehend erfaßt w i r d — von Erfahrung abhängig. Dem Bereich des positiven Rechts gehören daher nicht nur Sinngehalte faktischer normerzeugender Willensakte an, sondern das Rechtssystem umfaßt die Gesamtheit der generellen Normen und die von ihnen abgeleiteten Sekundärnormen, Rechtspflichten, Ansprüche und Rechtsbeziehungen aller A r t . Zu dem System des positiven Rechts gehört auch die Judikatur, mag sie formal anerkannte Rechtsquelle sein oder nur i n anderer Weise, insbesondere durch Argumente und Autorität auf die Entscheidungspraxis einwirken. Zum System des positiven Rechts gehören auch die Rechtsgrundsätze und der teleologische Hintergrund der Rechtsordnung, die teils als rationale Abstraktionsprodukte aus geltenden Rechtsvorschriften, teils als institutionalisiertes Vorwissen des Juristen i n Erscheinung treten. Zu den positiv institutionalisierten Momenten des Rechts als einer gesellschaftlichen Realität gehört auch die Rechtswissenschaft und die gesellschaftlich verankerte Interpretationsmethodik 10 . Der institutionalistische Rechtspositivismus faßt die gesellschaftliche Funktion des Rechts als konstitutives Begriffsmerkmal der Rechtsordnung auf. Er betrachtet Überlegungen über die anthropologische Rolle, die dem Rechtssystem zukommt, als durchaus zulässig und interessant; er deutet aber diese Erkenntnisse als Bestandteile der begrifflichen Bestimmung des Begriffes ,Recht' bzw. »Rechtsordnung 4, nicht als naturrechtliche Bestimmung, wie dies Hart m i t seiner Lehre vom „Minimalgehalt an Naturrecht" t u t 1 1 . 9
Vgl. ζ. B. die Argumentationen v o n Raz u n d Dworkin. Vgl. Weinberger, O.: Jenseits v o m Positivismus u n d Naturrecht, A k t e n des Weltkongresses I V R i n Basel 1979, i n Druck; ders.: Z u r Idee eines i n stitutionalistischen Rechtspositivismus, Revue Internationale de Philosophie, i n Druck. 11 Vgl. Hart, H . L . A . : The Concept of L a w , Oxford 1961, 189 ff.; ferner: Weinberger, O.: Über schwache Naturrechtslehren, i n : Jus humanitatis, FS für A . Verdross zum 90. Geburtstag, B e r l i n 1980, S. 321 - 339. 10
6. Das Wesen der Rechtserkenntnis 6.1. Normerkenntnis
als Verstehen
Normerkenntnis ist primär Erkenntnis einer Idealentität, also ein Verstehen von normativen Sinngebilden. Für den Prozeß des Verstehens ist charakteristisch, daß er i m Bereich der Informationsverarbeitung vor sich geht. Der Prozeß der Mitteilung, der Deutung und des Verstehens, strebt das Ziel an, daß der Nachrichtenempfänger den Gedanken (sc. i m objektiven Sinne) des Absenders nachvollzieht. I m Bereich der Kommunikation i n pragmatischen Sprachen 12 muß die deutende Verarbeitung der aufgenommenen Nachricht als integrierender Bestandteil des Kommunikationsprozesses angesehen werden. Wenn auch infolge verschiedener möglicher Einstellungen zur aufgenommenen Mitteilung und infolge von Verschiedenheiten des Deutungshorizontes differenzierte Ergebnisse des hermeneutischen Prozesses auftreten können, so kann für die ideale Kommunikation als Grundprinzip das Ziel gesetzt werden, daß der Empfänger möglichst genau den i m Kommunikat dargestellten Gedanken nachvollziehen soll. Nach meiner Auffassung ist also die Interpretation ein universell auftretendes Element der Kommunikation, welches i n verschiedenen Bereichen der Wissenschaft und Praxis — für uns ist insbesondere der Bereich der Rechtsdogmatik interessant — systematisch ausgearbeitet und sozusagen k u l t i v i e r t wird. Einen wesentlichen Beitrag zur Bewältigung der hermeneutischen Aufgabe bietet die Strukturtheorie des Rechts dadurch an, daß sie Deutungsschemata für die rationale Rekonstruktion der Rechtsinhalte bereitstellt 1 3 . Die Bedeutung dieser Schemata liegt darin, daß dem Interpreten klargemacht wird, welche Elemente er bestimmen muß, u m eine klare und übersichtliche rationale Rekonstruktion des Inhalts der Rechtsordnung, bzw. ihrer Teile, zu gewinnen. M i t der Darlegung dieser strukturellen Schemata erschöpft sich m. E. keineswegs die Leistung der Rechtstheorie zum Nutzen der juristischen 12 Z u m Begriff der pragmatischen Sprache vgl. Weinberger, O.: Interpretat i o n u n d Zielsetzung. Betrachtungen zum Problem der Eigenart der j u r i s t i schen Interpretation, Grazer Philosophische Studien, Vol. 2, 1976, S. 19 - 39. 13 Vgl. Kelsen, H.: Reine Rechtslehre, 2. Auflage, 1960, S. 3 f.
6. Das Wesen der Rechtserkenntnis
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Hermeneutik. Es besteht die Aufgabe, die hier nicht einmal andeutungsweise i n Angriff genommen werden kann, die strukturellen und materiellen Beziehungen zwischen Rechtssätzen und ihrer teleologischen Basis darzustellen, sowie zu zeigen, daß zwischen einzelnen rechtlichen Bestimmungen und Rechtssätzen auf der einen Seite, und gewissen theoretischen Konzeptionen und Grundsätzen auf der anderen Seite solche gedanklichen Beziehungen bestehen, die i n der praktischen dogmatischen Arbeit von ebenso grundlegender Bedeutung sind, wie i n der rational fundierten Praxis des juristischen Entscheidens und der Begründung von Entscheidungen. Die verstehende Normerkenntnis bedarf einer juristischen Methodenlehre, die sich durchaus nicht m i t den traditionellen Anleitungen der gängigen Einführungen i n die juristische Methodenlehre zufrieden geben kann; es muß eine modern fundierte Theorie der juristischen Interpretation erstellt werden. Hierbei kann man einerseits i m Geist der modernen Sprachtheorie und der Informationstheorie vorgehen, andererseits muß man darauf Bedacht nehmen, relativ einfache und praktikable Anleitungen für das praktische Rechtsleben bereitzustellen. 6.2. Verstehen und Beurteilen
von Normen
Das Wesen der Normerkenntnis ist das Erfassen präskriptiver Sinngehalte: Normerkenntnis ist ein Verstehen, wie ich schon i n 6.1. gesagt habe. Die Norm als Idealentität ist dieser Sinn, der Sinn von Normsätzen. Die Norm als Idealgegenstand w i r d nur durch diese Angabe des Sinns oder durch die sprachliche Äußerung des Sinns (also durch einen Normsatz) individualisiert. Man kann aber eine Norm nicht nur verstehen, sondern man kann über die Norm (die vorerst verstanden werden mußte, denn dadurch w i r d sie erst als Gegenstand der Betrachtung identifiziert) verschiedene Behauptungen aufstellen, also auch verschiedene Erkenntnisse gewinnen. Man kann ζ. B. über ihre logische Form sprechen (z. B. ,„Wenn es regnet, bleib zu Hause' ist ein individueller Bedingungsnormsatz"), man kann über ihre Geltung (d. h. Zugehörigkeit zu einem gewissen System) sprechen; man kann sie werten oder sie m i t anderen Normen desselben Systems — und unter gewissen Kautelen — auch m i t Normen eines anderen Systems vergleichen 14 . Man kann von logischen und außerlogischen Beziehungen zwischen Normen sprechen, ζ. B. von logischer Unverträglichkeit zweier Normen, oder davon, daß eine Norm eine Ausnahme von einer anderen statuiert, u. ä. 14 Vgl. Weinberger, L V I 1/3, S. 399 - 427.
6 Weinberger
O.: Die Pluralität der Normensysteme, ARSP 1971
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II. Kap.: Die Norm als Gedanke und Realität
Zweifellos gibt es also eine ganze Reihe verschiedenartiger Erkenntnisse über Normen. Wenn w i r jedoch von Normerkenntnis sprechen, dann geht es primär u m das Erfassen präskriptiver Inhalte, also u m Verstehen. Alle anderen Erkenntnisse über eine Norm Ν setzen voraus, daß die Norm Ν verstanden wurde, denn durch dieses Verstehen w i r d erst bestimmt, über welchen Gegenstand etwas ausgesagt wird. Verschiedene eine Norm charakterisierende Thesen oder Behauptungen über Beziehungen zwischen Normen sind durchaus sinnvoll, und man kann sie als Normerkenntnisse (Wissen über Normen) bezeichnen. Man muß aber beachten, daß diese Behauptungen über Normen etwas anderes sind als das Verstehen der Norm. W i r stellen also dem Verstehen der Norm als grundlegender Normerkenntnis das Beurteilen der Norm gegenüber. Das Beurteilen der Norm ist erst dann möglich und sinnvoll, wenn verstanden wurde, auf welche Norm sich das Urteil bezieht. Unmöglich ist es aber, die Norm selbst i n unseren Überlegungen und Folgerungen durch Behauptungen (Urteile) über die Norm zu ersetzen. 6.3. Rechtserkenntnis Rechtserkenntnis ist ein besonderer Fall der Normerkenntnis, daher gilt von ihr alles, was unter 6.2. gesagt wurde. Es gilt hier außerdem, daß ein ganz beliebiges System — gegebenenfalls auch ein bloß exercitu causa erdachtes — erkannt (verstanden und beurteilt) werden kann, doch wenn man Recht als eine aktuelle soziale Realität erkennen w i l l , dann muß man ein objektiv geltendes System erkennen, und,nur ein solches ist ein Rechtssystem i n diesem Sinne. Es geht also bei der Rechtserkenntnis i n diesem Sinne nicht bloß u m ein Erfassen präskriptiver Sinngehalte, sondern u m ein Erfassen solcher Sinngehalte, die der sozialen Wirklichkeit i n gewisser — sehr schwer genau definierbarer Weise — entsprechen. Rechtserkenntnis ist also — auch i m Sinne der Reinen Rechtslehre — Erkenntnis einer sozialen Realität, genauer: eines konstitutiven Faktors der sozialen Wirklichkeit. Dies gilt schon i m Rahmen der rein verstehenden Jurisprudenz, wenn postuliert wird, objektiv geltendes Recht zu erkennen. Ich möchte aber m i t meiner Behauptung, daß Rechtserkenntnis Erkenntnis eines Faktors der sozialen Wirklichkeit ist, u m einen wesentlichen Schritt weiter gehen. Für mich ist Rechtserkenntnis nicht nur verstehende Erkenntnis von faktisch wirksamen Normen, sondern außerdem Erkenntnis des Rechtslebens, der realen Ordnung und ihrer Gesetzmäßigkeiten, die durch das rechtliche Normensystem konstituiert sind. Das rechtliche Normensystem als dynamisches System ist außerdem m i t dem faktischen Geschehen i n der sozialen Wirklichkeit so
6. Das Wesen der Rechtserkenntnis
83
verwoben, daß es ohne Rücksicht auf Tatsachen gar nicht erkannt und verstanden werden kann 1 5 . Ganz konkret möchte ich sagen: Rechtserkenntnis ist nicht nur Erkenntnis gültiger Normen, sondern auch die Antwort auf die Frage, wie dieses Normensystem funktioniert, was unter der „Herrschaft" dieses Sollens faktisch geschieht.
15
Vgl. Weinberger, O.: Die normenlogische Basis der Rechtsdynamik, i n : Gesetzgebungstheorie, Juristische Logik, Z i v i l - u n d Prozeßrecht. Gedächtnisschrift für Jürgen Rödig (Hrsg. U. Klug, u. a.), B e r l i n - Heidelberg 1978, S. 173 - 190.
6*
III. Kapitel
Das Wesen der logischen Beziehungen und die Möglichkeit, eine Normenlogik aufzubauen 7. Die Bedeutung der Frage „Gibt es eine Normenlogik?" Die Frage, ob es prinzipiell möglich ist, eine Normenlogik aufzubauen, ist wenigstens für drei Wissenschaften von wesentlicher theoretischer Bedeutung: für die Jurisprudenz, für die Moraltheorie und für die Logik. 7.1. Jurisprudenz
und Normenlogik
Die analytische Jurisprudenz — und i m besonderen die Reine Rechtslehre — richtet ihr Hauptinteresse auf die Untersuchung des logischen Aufbaues des Rechts und die logischen Zusammenhänge i m Rechtssystem. A m markantesten t r i t t dieser Zug gerade bei der Reinen Rechtslehre zutage und äußert sich m. E. vor allem i n folgenden Umständen: (i) i n dem Streben, eine formal allgemeine Theorie vorzulegen; (ii) i n der Tatsache, daß der Rechtssatz als allgemeines logisches Schema i m Mittelpunkt ihres Interesses steht (vgl. den vollen Titel von Kelsens grundlegendem Buch aus dem Jahre 1911, „Hauptprobleme der Staatsrechtslehre entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze"); (iii) i n dem Gewicht, das die Reine Rechtslehre auf das Prinzip der Einheit (die sich i m wesentlichen i n dem Postulat der Widerspruchsfreiheit äußert) und Ausschließlichkeit jedes Normensystems legt; sowie (iv) i n der dynamischen Konzeption des Rechts, der gemäß das gesamte rechtliche Geschehen als Normerzeugung und Normerfüllung i n logischen Zusammenhängen gedeutet wird. Sogar bei jenen Denkern, die es als ihr Anliegen ansehen, nachzuweisen, daß es keine logischen Beziehungen zwischen Normen und keine Logik der Normen geben kann — wie bei Englis und Kelsen (in der letzten Phase seiner Entwicklung) —, ist das Problem der „Logik
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III. Kap.: Das Wesen der logischen Beziehngen
des Rechts" das zentrale Feld der Forschung, denn alle m i r bekannten Lehren dieser A r t versuchen Ersatzkonstruktionen anzubieten, die das Problem der rationalen Beziehungen i m Recht lösen und den rationalen Kern des rechtlichen Geschehens darstellen sollen. Wenn Kelsen i n der „Allgemeinen Theorie der Normen" sich erstens hauptsächlich dem Problem der Logik der Normen widmet, zweitens die Frage nach der Möglichkeit logischer Beziehungen und Operationen i m Bereich der Normen negativ beantwortet, und drittens die Konsequenzen dieses Standpunkts für seine Reine Rechtslehre zieht, ist er sich dessen bewußt, daß diese Arbeit der Grundlegung der Rechtstheorie dient und für sie von entscheidender Bedeutung ist; seine Analysen sind auch zweifellos strukturtheoretischer Natur. Meines Erachtens besteht jedoch ein innerer Widerspruch zwischen der Leugnung logischer Beziehungen i m Rechtssystem auf der einen Seite, und dem Bestreben, Strukturtheorie des Rechts zu betreiben, auf der anderen Seite. Das Interesse der Strukturtheorie des Rechts an der „Logik des Rechts" ist selbstverständlich, denn die Strukturtheorie ist i m wesentlichen logische Analyse, und daher abhängig von der Theorie der relevanten logischen Beziehungen und Operationen. Das tiefe Dilemma der Rechtstheoretiker i n dieser grundlegenden Frage entspringt der Tatsache, daß sie sich zwar über die kategoriale Spezifik der Normsätze (Sollsätze) i n Gegenüberstellung zu den Aussagesätzen i m klaren sind, daß aber die Frage der Logik solcher Sätze bisher keine voll befriedigende Lösung gefunden hat. I n der gegebenen Problemsituation ist es auch begreiflich, daß einige Forscher die Unmöglichkeit einer Normenlogik zu beweisen suchen. 7.2. Moraltheorie
und Normenlogik
Auch in der Entwicklung der modernen Moraltheorie finden w i r den Trend vor, zwischen Fragen der Ethik (als der materiellen Theorie der Moral) und Fragen des logisch-sprachlichen Charakters der Sätze der Ethik und der Argumentationen i n der Moraltheorie zu unterscheiden; mit anderen Worten: es w i r d zwischen ethischen und metaethischen Untersuchungen unterschieden. Gerade i n den metaethischen Überlegungen sehen die meisten Ethiker unserer Zeit ihr Hauptanliegen. Daß Metaethik ihrem Wesen nach von der Möglichkeit der Logik der praktischen Sätze abhängt, ist offensichtlich. Von einer moraltheoretischen Fragestellung ist auch tatsächlich einer der ersten und wichtigsten Anstöße zur Entwicklung der Normenlogik ausgegangen, als Poincaré bei der Prüfung der Frage, ob Ethik auf Wissenschaft allein gegründet werden kann, dieses Problem als formales Argumentations-
7. Die Bedeutung der Frage „Gibt es eine Normenlogik?"
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problem behandelt und gezeigt hat, daß aus rein aussagenden (kognitiven) Prämissen keine Soll-Folgerungen gezogen werden können 1 . Man kann angesichts der zentralen Rolle der metaethischen Überlegungen i n der modernen Moraltheorie sagen, daß die Frage, ob es normenlogische Beziehungen und Operationen gibt, eine ganz entscheidende Grundlagenfrage der Ethik ist.
7.3. Das Wesen der Logik und die Normenlogik Wenn w i r endgültige Kenntnisse darüber hätten, unter welchen Bedingungen und i m Bereich welcher Gegenstände Logiksysteme konstituiert werden können, dann wäre die Frage nach der Möglichkeit einer Normenlogik einfach dadurch zu beantworten, daß man prüfen müßte, ob der Bereich der Normsätze (bzw. der Normen) diese Bedingungen erfüllt. Da die metatheoretische Grundlegung der Logik eine i n Entwicklung befindliche und teilweise umstrittene philosophische Konzeption ist, muß die Beziehung zwischen der Metatheorie der Logik und der Normenlogik i n einem anderen Lichte gesehen werden: Es w i r d einerseits zu prüfen sein, ob für den Bereich der Normen solche begriffliche Festsetzungen getroffen werden können, welche nach der herrschenden Auffassung die für den Aufbau logischer Systeme erforderlichen Voraussetzungen erfüllen; andererseits führt uns das logisch-analytische Studium nicht-traditioneller Bereiche — wie ζ. B. das Studium des Normenlogikproblems — zu neuen Reflexionen über die Vorbedingungen des Aufbaues logischer Systeme. Gerade aufgrund solcher Reflexionen kann man klarere Vorstellungen über das Wesen der Logik und die Kapazität der logischen Analyse gewinnen. Die Beschäftigung m i t den philosophischen Grundlagenproblemen der Normenlogik, oder genauer gesagt: Überlegungen über die Möglichkeit, normenlogische Systeme zu konstituieren, können zur Klärung und gegebenenfalls zur Modifikation der allgemeinen metatheoretischen Prinzipien der Logik führen. Und gerade darin liegt m. E. ein wichtiges Moment des Interesses der Logik an der Normenlogikforschung. 1 Poincaré , H.: La morale et la science, i n : ders.: Dernières pensées, Paris 1913. Die berühmte Stelle lautet: „Or, les principes de la science, les postulats de l a géométrie sont et ne peuvent être qu'à l'indicatif: c'est encore à ce même mode que sont les vérités expérimentales, et à la base des sciences, i l n ' y a, i l ne peut y avoir rien autre chose. Dès lors, le dialecticien le plus subtil peut jongler avec ces principes comme i l coudra, les combiner, les échafauder les uns sur les autres; tout ce q u ' i l en tirera sera à l'indicatif. I l n'obtiendra jamais une proposition q u i dira: fais ceci, ou ne fais pas cela; c'est-à-dire une proposition qui confirme ou qui contredise la morale."
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III. Kap.: Das Wesen der logischen Beziehngen
Es taucht dann insbesondere die Frage auf, ob nur solche Objekte Gegenstände der Logik sein können, denen i n sinnvoller Weise Wahrheitswerte zugeordnet werden können. Reflexionen über formale Beziehung zwischen Normen führen den Philosophen dazu, dies nicht als unabdingbare Vorbedingung von Logiksystemen vorauszusetzen 2 . Dies hat von Wright , einer der Begründer normenlogischer (bzw. deontischer) Systeme, i m Vorwort zu seinen »Logical Studies' rückblickend auf seine ersten Versuche i n diesem Forschungsbereich aus dem Jahr 1951 m i t folgenden Worten ausgedrückt: „Deontic logic gets part of its philosophic significance f r o m the fact that norms and valuations, though removed from the realm of t r u t h , yet are subject to logical law. This shows that logic, so to speak, has a w i d e r reach t h a n truth3."
Es w i r d dann auch die allgemeine Frage aufgeworfen, ob die Logik die Aufgabe hat, eine formale Metatheorie der praktischen (d. h. handlungsbezogenen) Philosophie zu sein, und i n welcher Konzeption sie dies leisten kann. Den Logiker interessieren auch sehr die formalen Analogien und Differenzen verschiedener — aber i n gewisser formaler Beziehung analoger — Gebiete, wie die alethischen, epistemischen, deontischen usw. Modalitäten 4 . Diese Untersuchungen und die bei ihnen auftretenden Schwierigkeiten waren wichtige Triebkräfte der Entwicklung der normenlogischen Forschung.
2 Ich werde über dieses Problem später noch ausführlich sprechen; vgl. Abschn. 10, S. 115 ff. 3 Von Wright , G. H.: Logical Studies, London 1956, S. V I I . 4 Vgl. Höf 1er, Α.: Abhängigkeitsbeziehungen zwischen Abhängigkeitsbeziehungen, Sitzungsberichte der k. Akad. der Wiss. i n Wien, Phil.-hist. Klasse, Bd. C 4 X X X I , 1917, S. 1 - 5 6 ; von Wright , G. H.: A n Essay i n Modal Logic, Amsterdam 1951; Gardies, J.-L.: Essai sur la logique des modalités, Paris 1979; ferner Weinberger, O.: Die Sollsatzproblematik i n der modernen Logik (1957), wiederveröffentlicht in: ders.: Studien zur Normenlogik u n d Rechtsinformatik, B e r l i n 1974, S. 59 - 186.
8. Die Vorläufer des Kelsenschen Normenirrationalismus I n der Praxis der normativen Disziplinen und i n der Sprachpragmatik des Alltags w i r d die Existenz normenlogischer Beziehungen und die Existenz normenlogischer Folgerungen (d.h. die Geltung logischer Konsequenzen aus normativen Prämissen) vorausgesetzt. Nur theoretische Überlegungen und philosophische Reflexionen über die Möglichkeit einer Normenlogik sind die Quelle der Skepsis. Ich möchte zwei wichtige Vorläufer der Kelsenschen Argumentationen gegen die Möglichkeit, eine Normenlogik aufzubauen, kurz besprechen 5. 8.1. Das Jergensensche Dilemma J. Jorgensen hat begriffliche Zweifel an der Möglichkeit des normenlogischen Folgerns aus der Tatsache hergeleitet, daß Normsätzen (er spricht von Imperativsätzen) keine Wahrheitswerte zukommen und daß nach der üblichen Definition des Folgerns die Folgerungsrelation auf Grund von Wahrheitsrelationen definiert wird. Da er andererseits vor der Praxis des normenlogischen Folgerns nicht die Augen verschließen konnte, gelangte er zu dem sogenannten Jorgensenschen Dilemma, das aus der Plausibilität folgender Thesen entspringt: 1. Normsätze bilden eine von Aussagesätzen kategorial unterschiedene Satzart. Normsätze können nicht sinnvoll als ,wahr' oder »falsch 4 bezeichnet werden. 2. Es gibt normenlogische Folgerungsbeziehungen, die nicht weniger evident sind als die geläufigen Folgerungsbeziehungen m i t rein aussagenden Gliedern. 3. Die Formalismen des logischen Schließens werden i n der modernen Logik auf Wahrheitsbeziehungen gestützt; das Folgern w i r d als wahrheitskonservierende Operation definiert. 4. Die Grundbegriffe der Logik, wie ,Folgerung', »Schließen4, »Beweis* werden traditionell als Wahrheitsbeziehungen definiert. 5 V o n jenen Theorien, die zwar die Normenlogik ablehnen, die aber weder logische Beziehungen zwischen Normen noch die Tatsache leugnen, daß Folgerungsrelationen m i t normativen Gliedern existieren (z. B. J. Rödig), k a n n ich hier absehen.
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III. Kap.: Das Wesen der logischen Beziehngen
Wenn Folgerungen ex definitione auf Wahrheitsbeziehungen beruhen (These 4) und Normsätze nicht wahr (und auch nicht falsch) sein können, kann es kein normenlogisches Folgern geben; diese Konsequenz steht jedoch i m Widerstreit m i t These 2. Welche Lösungsmöglichkeiten gibt es für dieses Dilemma? Die These 2 zu streichen und einfach zu sagen, es gibt kein Folgern m i t normativen Gliedern, ist m. E. undurchführbar. Jede Lösung dieser A r t führt i n Wirklichkeit nur zu Umwegkonstruktionen, die an die Stelle des normenlogischen Folgerns gesetzt werden. Es gibt also nur zwei Wege, das Dilemma zu überwinden: 1. durch Erweiterung des Folgerungsbegriffes, der i n solcher Weise neu definiert wird, daß er (a) für den Fall des Schlußfolgerns i n der deskriptiven Sprache dem traditionellen Folgerungsbegriff entspricht, (b) auch auf den Fall normativer (und auf den Fall gemischter) Prämissen anwendbar wird; 2. durch Einführung eines anderen Wahrheitsbegriffes, der i n zwei Arten von Wahrheit aufgespalten wird: i n Aussagewahrheit und Normenwahrheit. Dieser Aufspaltung muß dann auch eine Unterschiedlichkeit der Folgerungsregeln entsprechen, wenn die kategoriale Unterscheidung von Aussagesatz und Normsatz sichergestellt werden soll. Wenn auch beide Konzeptionen konsequent durchgeführt werden können, und — bis auf die Diktion — zu ganz analogen Ergebnissen führen, scheint es m i r angemessener, die erste Alternative zu wählen, weil sie unserer umgangssprachlichen und philosophischen Tradition näher steht. (Sonst müßten w i r nämlich alles, was i n der Philosophie und Wissenschaftstheorie zum Wahrheitsproblem gesagt wurde, sprachlich umformulieren.) 8.2. Englis'
Normenirrationalismus
Karel Englis* These „Die Norm ist kein U r t e i l " 6 w i r d von i h m nicht nur i n dem Sinne aufgefaßt, daß der Normsatz eine kategorial andere Satzart ist als der Aussagesatz (bzw. daß die Bedeutungen dieser Satzarten, die Norm resp. das Urteil — i n anderer Terminologie: die Proposition —, kategorial verschiedene Gedankenarten sind), sondern bedeutet für i h n gleichzeitig den Nachweis, daß Normen nicht i n logischen 6 Vgl. Englië, Κ . : Die N o r m ist k e i n Urteil, ARSP 50 (1964), S. 305 ff.; ferner ders.: Malâ logika vëda ο mySlenkovém râdu [Die Wissenschaft v o n der Gedankenordnung], Prag 1947, u n d ders.: Postulât a norma nejsou soudy [Das Postulat u n d die N o r m sind keine Urteile]: Casopis pro p r â v n i a stâtni vëdu, 1947, S. 95 - 113.
8. Die Vorläufer des Kelsenschen Normenirrationalismus
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Relationen stehen und daß sie nicht Gegenstände logischer Operationen sein können 7 . „Das Urteil ist die Ordnungseinheit des Denkens" und für Englis das alleinige Objekt des Schließens. Die Norm ist für Englis eine Tatsache, nicht ein Element rationaler Beziehungen und Operationen. Der Normsatz dient dem Zweck der Willensäußerung. Für seine Auffassung, daß Normen nicht i n logischen Beziehungen stehen, führt er folgende Gründe an: (i) Urteile sind Erkenntnisse;
die Norm ist keine Erkenntnis.
Hinter dieser These steht Englis' Voraussetzung, daß es Denken nur i m Bereich des Erkennens gibt. Diese stillschweigende Voraussetzung scheint m i r keineswegs überzeugend. Wenn w i r die Normen begrifflich von den Urteilen abtrennen — und das Argument soll eine Begründung hierfür sein —, ist hierdurch nicht bewiesen, daß Normen keine Elemente logischer Beziehungen und Operationen sein können, denn es ist durchaus möglich, daß logische Beziehungen und Operationen auch zwischen anderen als Erkenntnisse darstellenden Sätzen (Gedanken) gelten. (ii) Das Urteil ist eine Antwort Antwort auf eine Frage.
auf eine Frage. Die Norm ist keine
Dieses Argument hängt m i t Englis' Theorie des Urteils zusammen, dergemäß das Urteil als A n t w o r t auf eine Frage angesehen wird. Die Frage strebt nach Erkenntnis, die i m Urteil als einer A n t w o r t auf die Frage zustande kommt. — Die Sprachpraxis kennt offensichtlich Sprechsituationen, i n denen als A n t w o r t ein Normsatz auftritt. „Was soll ich tun?" — „ D u sollst spazieren gehen." Nur wenn man — wie Engli§ — die Kognitivität des Antwortsatzes voraussetzt, w i r d man diesen Satz, der dem Wortlaut nach ein Normsatz ist, als Aussage über eine Norm deuten. (iii) Jedes Urteil ist entweder richtig oder unrichtig; das empirische Urteil ist außerdem wahr oder unwahr. Normen sind weder richtig noch unrichtig, weder wahr noch unwahr. Ich lasse es gelten, daß die Norm weder wahr noch unwahr ist. (Deswegen unterscheide ich sie ja kategorial von Aussagen.) Es ist aber nicht 7 F ü r die kategoriale Trennung zwischen Aussagesatz u n d Normsatz trete ich ebenso ein w i e EngliS; n u r seine damit verbundene Auffassung, daß Normsätze nicht Gegenstände logischer Beziehungen u n d Operationen sind, lehne ich ab.
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III. Kap.: Das Wesen der logischen Beziehngen
einzusehen, warum Normen (Normsätze) nicht ihrer Struktur nach richtig oder unrichtig sein können. Diese Meinung w i r d man nur dann vertreten, wenn man — wie Englis — Willensäußerungen als irrational ansieht, also Normen strukturell-rationale Bindungen abspricht. (iv) Das Urteil werden.
kann negiert
werden. Die Norm kann nicht
negiert
Die Negation beziehe sich — sagt Englis — auf die Wahrheit (oder Richtigkeit) des Urteils. Da diese Attribute den Normen nicht zustehen, können Normen nicht negiert werden. Da die Norm nicht wahr oder unwahr ist, kann sie offenbar nicht i n der Weise negiert werden, wie Aussagen negiert werden — soweit hat Englis zweifellos recht. Doch gibt es m. E. rein sprachlich-logisch bedingte (strukturelle) Unverträglichkeiten zwischen Normsätzen, ebenso wie es logische Unverträglichkeiten zwischen Aussagesätzen gibt. (Vgl. 9.2.) (v) Urteile können Glieder (Prämissen und Schlußfolgerungen) Schlüssen sein. Normen können nicht Glieder von Schlüssen sein.
von
„Das Erkenntnissubiékt — und nur dieses Subjekt urteilt, erkennt die Norm, hat Erkenntnisse und Urteile über die Norm, m i t denen es i n seinen Schlüssen operiert, mag auch sein Urteil über die Norm verkürzt denselben Wortlaut wie die Norm haben; ζ. B.: Prämisse I: A l l e Männer i m Alter von 20 - 65 Jahren sind arbeitspflichtig. Prämisse I I : Die Person N. ist ein 35-jähriger Mann. Schlußfolgerung: Die Person N. ist arbeitspflichtig. Die Prämisse I hat den Wortlaut einer Norm, sie ist aber ein verkürztes Urteil über die Norm: Es gilt die Norm, daß . . . , und ebenso die Schlußfolgerung: Es gilt also die Norm, daß . . . ohne Änderung des Schlusses können w i r die Prämissen auch hypothetisch ausdrücken. „Wenn gilt, daß . . . " Aus dem Munde des erkennenden Subjekts (des Rechtsgelehrten) können die Worte der Prämisse I und der Schlußfolgerung keine Normen sein, denn sie sind nicht Äußerungen seines Willens, sie sind nur Erkenntnisse über die Norm, also Urteile über Normen, welche man verkürzt durch den Wortlaut der Normen ausdrückt 8 ." Englis betrachtet die Norm als Tatsache, als Willensakt. Eine Norm besteht nur i m Willen des normsetzenden Subjekts, jedes andere Sub8
Englië, Κ . : Das Postulat u n d die N o r m sind keine Urteile. S. 104 ff.
8. Die Vorläufer des Kelsenschen Normenirrationalismus
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jekt kann nur Erkenntnisse über die Norm haben. Ebenso wie i n den Wissenschaften und i n der Logik der deskriptiven Sprache nicht Denk(Erkenntnis-)akte als Objekte der logischen Beziehungen auftreten, kann auch keine Normenlogik zustande kommen, wenn w i r von den Willensakten ausgehen. Da diese Konzeption, dergemäß Normen nicht i n logischen Beziehungen stehen und dergemäß Schlußfolgerungen nur zwischen Urteilen über Normen bestehen, Kelsens Anschauungen ganz analog ist, werde ich diese Konstruktion erst i m Rahmen der Auseinandersetzung mit Kelsen eingehend diskutieren. Erwähnen möchte ich jedoch eine Schwierigkeit, die bei Englis, nicht jedoch bei Kelsen, auftritt. Sie ist eine Folge der Englisschen ZweiSeiten-Theorie der Norm. Die gedankliche Einheit der Willensäußerung, die nach Englis' Lehre i n teleologischen Zusammenhängen steht, bezeichnet er als »Postulat'. Die Norm ist nach Englis' Definition das vom Standpunkt des Gehorsamkeitssubjektes (des Adressaten) gesehene Postulat eines anderen, nämlich des normsetzenden Willenssubjektes. „Der Inhalt eines fremden Willens und fremder Zweckmäßigkeit ist dann für das Gehorsamkeitssubjekt etwas, was für es als Gehorsamkeitssubjekt sein soll, was es t u n soll. A u f diesen Inhalt kann man von zwei Punkten aus blicken. Einer dieser Punkte liegt oberhalb dieses Inhalts; es ist Blick des Willenssubjektes, das nach seinen Zweckvorstellungen einen Befehl, ein Verbot, eine Anleitung, einen Ratschlag u. ä. gibt. Von seinem Gesichtspunkt aus ist dieser Inhalt gewollt, es ist sein Postulat. Der zweite Beobachtungspunkt liegt unterhalb dieses Inhalts; es ist der Blickwinkel des Gehorsamkeitssubiektes, das nur danach fragt, was es t u n soll, und die Zweckmäßigkeit des Befehls, der Anleitung usw. nicht prüft (wie dies das Subjekt des Postulats tut); von seinem Standpunkt aus ist der erwähnte Inhalt nur etwas, das sein soll: eine Norm 9 ." Konsequent müßte man auf Grund von Englis' Auffassung sagen, daß die Norm ein Urteil des Gehorsamkeitssubjektes über ein Postulat des normsetzenden Subjekts sei, denn vom Standpunkt des verpflichteten Subjekts handelt es sich u m Willensäußerungen eines anderen Subjekts.
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Mala logika [Kleine Logik], Praha 1947, S. 48. Meine Übersetzung.
9. Kelsens Begründung der Irrationalität der Normen Das ganze Buch „Allgemeine Theorie der Normen" ist darauf angelegt, die Irrationalität der Normen zu beweisen. Deswegen w i r d die Argumentation gegen die Möglichkeit einer Normenlogik von Kelsen nicht i n einer geordneten Übersicht zusammengestellt, sondern w i r finden i m ganzen Text des Buches wichtige Behauptungen verstreut, die dieses Thema betreffen. Als ,Normenirrationalismus 4 bezeichne ich die Auffassung, daß zwischen Normen (bzw. Normsätzen) keine logischen Beziehungen — insbesondere keine logischen Widersprüche (d. h. keine Inkonsistenz) — bestehen können und daß es keine logischen Folgerungsoperationen m i t normativen Gliedern geben kann. Ich habe nicht die Absicht, alles anzuführen, was irgendwie für Kelsens Normenirrationalismus relevant ist; es geht m i r vielmehr nur darum, jene Thesen und Voraussetzungen herauszuheben, die ich für Schlüsselpunkte der Argumentation halte und die auch für meine Gegenargumentation entscheidend sein werden. 9.1. Wahrheit und Geltung Daß Normen (Normsätze) nicht sinnvoll als wahr oder unwahr bezeichnet werden können, darin besteht weithin Konsens, nicht nur zwischen Kelsen und mir. Ich glaube auch darin m i t Kelsen gleicher Meinung zu sein, daß aus diesem Grund die Logik der deskriptiven Sprache (Aussagenlogik, Prädikatenlogik, . . . ) auf Normsätze nicht anwendbar ist; nur folgt daraus für mich keineswegs, daß es für Normsätze überhaupt keine Logik geben kann. Es gibt nämlich keinen Grund, warum prinzipiell nur wahrheitsfähige Sätze Gegenstände der Logik sein könnten. Wenn man dies zugibt, dann muß man zwei Möglichkeiten ins Auge fassen: (i) die Normenlogik wäre ein der Logik der Aussagesätze formal analoges System (ein m i t der Logik der deskriptiven Sprache isomorphes System) oder (ii) sie wäre ein formal unterschiedliches System, dessen Strukturund Operationsregeln neu statuiert und auf Grund semantisch-pragmatischer Analysen der normativen Disziplinen begründet werden müßten.
9. Kelsens Begründung der Irrationalität der Normen
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O b w o h l K e l s e n die W a h r h e i t s u n f ä h i g k e i t d e r N o r m e n als e i n e n d e r G r ü n d e f ü r d e n I r r a t i o n a l i s m u s a n f ü h r t , sieht er dennoch d i e M ö g l i c h k e i t , L o g i k s y s t e m e a u f e i n e n a n d e r e n B e g r i f f als a u f die W a h r h e i t z u stützen, d e n n er v e r s u c h t z u zeigen, daß w e d e r der B e g r i f f der G e l t u n g d e r N o r m , noch j e n e r d e r B e f o l g u n g d e r N o r m i n e i n e r solchen Weise d e m W a h r h e i t s b e g r i f f a n a l o g ist, daß eine N o r m e n l o g i k a u f diese B e g r i f f e gestützt w e r d e n k ö n n t e . „Wenn man die logischen Prinzipien des ausgeschlossenen Widerspruchs u n d der Schlußfolgerung auf Normen anwenden zu können glaubt, obgleich diese weder w a h r noch u n w a h r sind, es also nicht die Beziehung auf die Wahrheit sein kann, die dieser A n w e n d u n g zu Grunde liegt, muß es die Beziehung auf eine andere Eigenschaft der Normen sein. Es muß Normen geben, die diese spezifische Eigenschaft haben, u n d Normen, die diese Eigenschaft nicht haben. U n d diese Eigenschaft der Normen müßte der Wahrheit der Aussagen analog sein" (S. 167). „Das Problem einer L o g i k der Normen ist daher das Problem der A n wendimg v o n Prinzipien (die den Prinzipien der Aussage-Logik analog sind) auf Beziehungen zwischen Normen" (S. 167). „ B e i den verschiedenen Versuchen, die Anwendbarkeit logischer Prinzipien auf Normen nachzuweisen, w u r d e n — w i e i m Vorhergehenden gezeigt — zwei Wege eingeschlagen. Der eine ist die G e l t u n g der Norm, der andere die B e f o l g u n g der N o r m zu der Wahrheit der Aussage i n Analogie zu setzen" (S. 167). „ A u f dieser Annahme der Parallele v o n Wahrheits- u n d Geltungswert beruht zu einem großen T e i l die D o k t r i n , daß logische Prinzipien ebenso w i e — oder i n analoger Weise w i e — auf Aussagen, so auf Normen anwendbar sind. Aber diese Parallele besteht nicht. I h r steht v o r allem entgegen, daß das Verhältnis zwischen dem A k t , m i t dem die N o r m gesetzt w i r d , u n d der Geltung der N o r m wesentlich verschieden ist v o n dem Verhältnis zwischen dem A k t , m i t dem die Aussage gemacht w i r d , u n d der Wahrheit der Aussage. Z w a r ist die Aussage ebenso w i e die N o r m Sinn eines Aktes; aber die Wahrheit einer Aussage ist nicht durch den A k t , m i t dem sie gemacht w i r d , bedingt, während die Geltung der N o r m durch den A k t bedingt ist, m i t dem sie gesetzt w i r d " (S. 136). Z w i s c h e n der W a h r h e i t d e r Aussage u n d d e r G e l t u n g d e r N o r m b e steht auch deswegen k e i n e P a r a l l e l e , w e i l die G e l t u n g d e r N o r m n i c h t eine Eigenschaft, s o n d e r n die E x i s t e n z d e r N o r m ist. „Eine geltende N o r m ist ein Pleonasmus. Eine nicht geltende, ungültige N o r m ist eine contradictio i n adjecto" (S. 137). „Eine existente Aussage k a n n u n w a h r sein, eine existente N o r m k a n n nicht u n g ü l t i g sein. Denn daß sie u n g ü l t i g ist, bedeutet, daß sie nicht existiert, nicht vorhanden ist" (S. 139). „Daß eine N o r m gilt, bedeutet, daß sie e x i s t i e r t , vorhanden ist. Daß eine Aussage ,gilt', bedeutet nicht, daß die Aussage existiert, daß sie v o r -
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III. Kap.: Das Wesen der logischen Beziehngen
handen ist, sondern daß sie w a h r ist. Auch eine unwahre Aussage existiert, ist vorhanden, aber sie »gilt4 nicht, denn sie ist nicht wahr, sie existiert, aber sie ist ,ungültig'. Eine ungültige N o r m aber existiert nicht. I n Beziehung auf eine N o r m bedeutet ,Geltung' Existenz, die Existenz der Norm, i n Beziehung auf eine Aussage bedeutet ,Geltung' Eigenschaft, eine Eigenschaft der A u s sage, i h r Wahr-Sein. Daher läßt sich »Geltung' einer N o r m u n d »Wahrheit' einer Aussage nicht unter den gemeinsamen Oberbegriff der »Geltung' eines Satzes bringen. Zwischen der ,Existenz', das ist dem Vorhandensein einer Norm, u n d der Existenz, d . h . dem Vorhandensein einer Aussage, besteht ein Unterschied, der gegen die Parallelisierung von Geltung einer N o r m m i t Wahrheit einer Aussage spricht" (S. 139).
Was kann ,Existenz 4 bedeuten, wenn sie von Normen oder Aussagen — also von sprachlichen Gebilden oder deren Bedeutung — präzidiert wird? Existenz kann hier bedeuten: (i) die Tatsache, daß ein gewisser Satz (bzw. seine Bedeutung) i m Sprachsystem vorhanden ist; ,Der Satz S existiert 4 bedeutet, daß ,S4 eine sinnvolle Entität der Sprache ist; (ii) daß ein Sprachakt vorliegt, durch den der Satz gesetzt wurde (ζ. B. daß eine Norm i n einem Erzeugungsakt oder eine Aussage i n einem Behauptungsakt gesetzt wurde) oder (iii) daß ein nach (i) sinnvoller Satz (bzw. seine Bedeutung) i n gewisser Weise real, d.h. Bestandteil eines gewissen Gedankensystems ist, ζ. B. daß eine gewisse Norm einem Rechtsnormensystem angehört oder daß eine Aussage Bestandteil eines real existent angesehenen Wissenssystems ist. Kelsen verwendet hier den Terminus »Geltung4 i n unklarer Weise. Bei Aussagen setzt er ihre Geltung m i t der Wahrheit gleich, während er bei Normen Geltung und Existenz identifiziert. Da er die rein sprachliche Existenz i m Sinne von (i) nicht von der realen Existenz trennt, gelangt er zu der Gegenüberstellung: (a) Eine unwahre Aussage existiert, aber sie ist ungültig. (b) Eine ungültige Norm existiert nicht. Als sprachliche Entitäten i m Sinne von (i) existieren sowohl unwahre Aussagen als auch unwahre Normen. Ebenso können Sprechakte existieren, i n denen ungültige Normen ausgesprochen oder unwahre Behauptungen gemacht werden (ζ. B. die Setzung eines ungültigen Rechtsaktes oder die Behauptung einer falschen Zeugenaussage). Zu sagen, daß unwahre Aussagen (real) existieren, halte ich für eine ungute Sprechweise; daß unwahre Aussagen ungültig sind, ist selbstverständlich, wenn man — wie Kelsen — Wahrheit und Gültigkeit begrifflich gleichsetzt. Daß ungültige Normen (wobei die Ungültigkeit natürlich
9. Kelsens Begründung der Irrationalität der Normen
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als relativ zu einem System NS verstanden wird) nicht existieren (sc. i n NS), ist eine Selbstverständlichkeit. Eine Parallele zwischen der Geltung der Norm und der Geltung der Aussage, läßt sich durch folgende Festsetzung konstruieren: ,Die Norm Ν gilt (in NS)' heißt ist Bestandteil des Normensystems NS'; ,Die Aussage A gilt' heißt ,A ist Bestandteil eines Aussagesystems AS (und i n AS wahr) 4 . Es läßt sich also ein Oberbegriff finden, der die gemeinsame Setzung von Prämissen aussagenden und normativen Charakters zuläßt. Ebenso lehnt er die Befolgung der Norm als Analogon der Wahrheit von Aussagen ab. „Die Befolgung einer Norm ist keine Eigenschaft der Norm, sondern die Eigenschaft eines bestimmten tatsächlichen Verhaltens, also einer Tatsache" (S. 173). Die Alternative eines genuin neuen Aufbaus der Normenlogik (für die ich eintrete) zieht Kelsen gar nicht i n Betracht, w e i l er auf Grund der begrifflichen Bindung der Norm an den Willensakt die NichtExistenz normenlogischer Beziehungen — sie sind nie Beziehungen zwischen psychischen A k t e n — nachgewiesen zu haben meint (siehe unten). Obgleich ich Kelsen i n der Frage der Wahrheitsunfähigkeit von Normen weitgehend zustimmen kann, muß ich darauf aufmerksam machen, daß meine Auffassung auch i n dieser Frage sich m i t der Kelsenschen nicht deckt. Bei Kelsen ist die Wahrheit der Aussage charakterisiert durch die Unabhängigkeit von tatsächlichen oder möglichen Denk-(Erkenntnis-) akten, während die Geltung der Norm an den Willensakt gebunden ist. Nach meiner Auffassung sind Aussagen und Normen verschiedene Bedeutungskategorien, denen verschiedene Satzkategorien entsprechen, und aus dieser semantischen Verschiedenheit und aus der Unterschiedlichkeit der pragmatischen Normalfunktion der Aussagesätze und Normsätze folgt die Wahrheitsunfähigkeit der Normsätze. Die Aussagesätze werden zwar i n der Regel objektiv verstanden, aber sie stehen i n wahrheitsfunktionalen Beziehungen und können Elemente von Folgerungsrelationen auch als Annahmen 1 0 oder als Hypothesen sein. Als kontrafaktuale Sätze können sie ebenfalls wahr oder unwahr sein, obwohl hier keine entsprechende objektive Relation besteht 11 . 10
Weinberger, Ch.: Z u r L o g i k der Annahmen, W i e n 1976. Weinberger, O.: Kontrafaktualität u n d Faktentranszendenz. Versuch, die Logik der faktentranszendenten u n d kontrafaktualen Bedingungssätze m i t den M i t t e l n der extensionalen L o g i k zu behandeln, Ratio, Bd. 16/Heft 1, 1979, S. 13 - 28. 11
7 Weinberger
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Gesellschaftliche Normen — ζ. B. Rechtsnormen — sind Charakteristiken einer objektiv bestehenden sozialen Realität, d. h. zur adäquaten Beschreibung der gesellschaftlichen Realität muß auch festgestellt werden, daß i n der betreffenden Gesellschaft das Normensystem gilt und i n gewisser Weise wirksam ist 1 2 . Dennoch sind gesellschaftlich reale Normen weder wahr noch unwahr. 9.2. Norm und Widerspruch Der normenlogische Irrationalismus umfaßt i m wesentlichen zwei Thesen: (i) Es gibt keine logischen Widersprüche zwischen Normsätzen; der Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch (das Widerspruchsprinzip) bezieht sich nicht auf Normsätze. (ii) Es gibt kein normenlogisches Schlußfolgern. I n der deskriptiven Sprache besteht zwischen logischem Widerspruch und logischer Folge eine ganz enge Beziehung: Wenn Κ eine logische Folge der (konsistenten) Prämissen P i bis P n ist, dann und nur dann ist die Konjunktion P i A . . . Λ P n Λ Κ logisch unwahr. Dies sei nur deswegen angemerkt, u m zu zeigen, daß zwischen beiden Problemen, dem logischen Widerspruch und dem logischen Folgern eine Wesensbeziehung besteht; inwieweit Analoges für die Logik der präskriptiven Sprache gilt, müßte noch eingehend geprüft werden. I n diesem Abschnitt befasse ich mich m i t dem Problem (i); i n 9.3. werde ich Kelsens Begründung für die Ablehnung der Möglichkeit normenlogischer Folgerungen diskutieren. Wenn man den logischen Widerspruch wahrheitsfunktional definiert, dann ist es evident und gilt ex definitione, daß Normsätze, da ihnen keine Wahrheitswerte zukommen, nicht zueinander i n logischem Widerspruch stehen können. Hier besteht kein Streit. Es gibt aber — und auch das ist wohl unstrittig — Normen, die untereinander i n Konflikt stehen; ζ. B.: „Gehe diesen Sonntag i n die Kirche" — „Gehe nicht diesen Sonntag i n die Kirche" (vgl. S. 176). Man muß m. E. vor allem die Frage stellen, wie ein Konflikt zwischen Normen definiert ist; m. a. W.: man muß klarstellen, wann ein Konflikt zwischen den Normen ,Νι und besteht. Kelsen spricht darüber 12 Vgl. Weinberger, O.: Tatsachen u n d Tatsachenbeschreibungen. Eine logisch-methodologische Überlegung zu einem Grundlagenproblem der Sozialwissenschaft, in: Sozialphilosophie als Aufklärung, FS für Ernst Topitsch, Hrsg.: K. Salamun, Tübingen 1979, S. 173 - 187, insbes. S. 180 ff.
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nicht sehr ausführlich. Offenbar besteht so ein Konflikt, wenn ,Ni 4 und ,N2{ Sollsätze sind und wenn diese Sätze das Bestehen von Sachverhalten gebieten, die nicht gleichzeitig existieren können. Und dieses „Nicht-gleichzeitig-existieren-Können" ist hier rein logischer Natur, nicht eine bloß faktische Unmöglichkeit (wie ζ. B. eine Unmöglichkeit, die aus der Unfähigkeit einer Person etwas durchzuführen, resultiert). „Gehe i n die Kirche" — „Gehe nicht i n die Kirche" ist ein solcher Konflikt; es sind logisch unverträgliche Sollsätze, weil sie aus rein logischen Gründen nicht zusammen realisierbar (erfüllbar) sind. „Schließe jetzt eine halbe Stunde die Augen" und „Fahre jetzt m i t dem Auto durch die Stadt", sind Normen, die offenbar gleichzeitig nicht erfüllt werden können, sie stehen aber miteinander nicht i n logischem Konflikt, sondern ihre gleichzeitige Erfüllung ist nur empirisch unmöglich. Normenkonflikte sind logische Konflikte; logische Unverträglichkeiten, die unabhängig sind von empirischen Gesetzen und unabhängig vom Willen des Normerzeugers; sie gelten daher für jedes System, wer auch immer der Willensträger sei. Es handelt sich also u m eine sprachlich-logische Relation. Es liegt hier zwar ein durch keine Wahrheitsbeziehung definierter Widerspruch vor, aber eine logische Unverträglichkeit, die w i r — wenn w i r wollen — auch ,normenlogischen Widerspruch 4 nennen können. M i t Recht sagt Kelsen, daß man von einem Normenkonflikt gleichermaßen dann sprechen kann, wenn beide Normen ein und demselben Normensystem angehören, wie dann, wenn sie Bestandteil verschiedener Systeme sind (vgl. S. 169). Verschieden ist jedoch für diese beiden Fälle die Geltung des Widerspruchsprinzips (das Kelsen i n bezug auf Normen überhaupt für ungültig ansieht). Das Postulat der Widerspruchsfreiheit (das Konsistenzpostulat) bezieht sich immer nur auf Normen eines Systems: Es ist durchaus kein logischer Mangel, wenn Normen verschiedener Systeme miteinander in Konflikt stehen. Wenn man einsieht, daß logische Konflikte (logische Unverträglichkeiten) zwischen Normen existieren, dann w i r d man postulieren, daß innerhalb eines Systems nur konsistente Normen gesetzt werden — analog wie man Konsistenz bei Aussagensystemen fordert. Und man tut dies bei Aussagen- und Normensystemen aus denselben Gründen: das System würde unverstehbar, wenn die Normsätze ,p soll sein4 und ,-