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German Pages 232 Year 2006
Schriften zur Rechtstheorie Heft 229
Überpositives Recht als Prüfungsmaßstab im Geltungsbereich des Grundgesetzes? Eine kritische Würdigung der Rezeption der Radbruchschen Formel und des Naturrechtsgedankens in der Rechtsprechung
Von Hubertus-Emmanuel Dieckmann
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
HUBERTUS-EMMANUEL DIECKMANN
Überpositives Recht als Prüfungsmaßstab im Geltungsbereich des Grundgesetzes?
Schriften zur Rechtstheorie Heft 229
Überpositives Recht als Prüfungsmaßstab im Geltungsbereich des Grundgesetzes? Eine kritische Würdigung der Rezeption der Radbruchschen Formel und des Naturrechtsgedankens in der Rechtsprechung
Von Hubertus-Emmanuel Dieckmann
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a. M. hat diese Arbeit im Sommersemester 2005 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
D 30 Alle Rechte vorbehalten # 2006 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 3-428-12108-2 978-3-428-12108-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Für Victoria und Theodor
Vorwort Nachdem die zweite Welle der Aufarbeitung von Systemunrecht zur Ruhe gekommen und nahezu Geschichte geworden ist, wirkt die Frage nach der Maßstäblichkeit des überpositiven Rechts im Geltungsbereich des Grundgesetzes auf den ersten Blick ein wenig obsolet. Eine (neue) Ausnahmesituation, in der wie üblich das Tor zum Überpositiven geöffnet werden könnte, zeichnet sich schließlich nicht ab. Ein zweiter Blick auf die sich aus Anlass der justiziellen Bewältigung des NSUnrechts und des (vergleichsweise milder zu beurteilenden) DDR-Unrechts kreuzenden naturrechtsfreundlichen und naturrechtskritischen Diskurse und auf die in diesem Kontext stets implizit oder explizit mobilisierte Radbruchsche Formel zeigt jedoch, dass die Frage nach der Vereinbarkeit des überpositiven Rechts mit fundamentalen Legitimations- und Organisationsprinzipien des geltenden Verfassungsrechts überwiegend ausgeblendet wird. Durch die verfassungsnormative Engführung einer weit ausgreifenden Debatte, die nunmehr vor allem unter der Frage erörtert wird: Wer entscheidet über die Erkenntnis und Geltung überpositiven Rechts und dessen Bindungswirkung?, rückt die vorliegende Arbeit bekannte Diskurse in ein neues Licht. Ausgehend von ihrer dezidiert verfassungsrechtlichen Fragestellung und einer mit dieser korrespondierenden verfassungsnormativen Argumentation würdigt sie die Heranziehung überpositiven Rechts in der einschlägigen Rechtsprechung und Literatur strikt am Maßstab des Grundgesetzes – und hier vor allem an dessen in der Diskussion bisher weitgehend vernachlässigten Grundsatznormen von Volkssouveränität, (grundgesetzlich positivierter) Gerechtigkeit und Vorrang der Verfassung sowie an der grundgesetzlichen Gewaltenteilungs- und Kompetenzordnung. Dabei wird das naturrechtliche Denkmuster als Argumentationsfigur der Rechtsprechung und weiter Teile der Literatur im Kern einer kompetenzrechtlich ansetzenden Analyse und Kritik unterzogen. Die Arbeit lag der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a. M. im Sommersemester 2005 als Dissertation vor. Spätere Veröffentlichungen wurden, soweit dies noch möglich war, bis November 2005 berücksichtigt. Mein besonderer Dank gilt meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Dr. Günter Frankenberg. Er hat mich in ungewöhnlicher Weise mit offenen Armen aufgenommen und mir zur rechten Zeit die richtigen Denkanstöße gegeben. Ich danke ihm für die zahlreichen Gespräche, Anregungen und Bestärkungen, ohne die diese Arbeit nicht zu Ende geschrieben worden wäre. Für die Übernahme und zügige Erstattung des Zweitgutachtens danke ich Herrn Prof. Dr. Ulfried Neumann. Dar-
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Vorwort
über hinaus danke ich Herrn Prof. Dr. Uwe Brauns für seinen richtigen Rat und Herrn Prof. Dr. Klaus Günther, der den Kontakt zu Herrn Professor Frankenberg hergestellt hat. Herzlich danken möchte ich meinen Eltern Irene und Dr. Heinrich-Dietrich Dieckmann sowie meinen Schwiegereltern Maria und Werner Gröning für ihre vielseitige Unterstützung, vor allem meinem Schwiegervater, der insbesondere die mühevolle Aufgabe des Korrekturlesens auf sich genommen und damit erheblich zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen hat. Mein inniger Dank gilt schließlich meiner Ehefrau Victoria, die mich stets liebevoll begleitet und motiviert hat, obwohl sie häufig genug auf mich verzichten musste. Ihr und unserem Sohn Theodor ist diese Arbeit gewidmet. Köln, im Juni 2006
Hubertus Dieckmann
Inhaltsverzeichnis A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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B. Radbruchsche Formel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Der „Naturrecht oder Rechtspositivismus“-Streit der ersten Nachkriegsjahre . . .
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1. Charakteristikum naturrechtlicher Lehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Gesetzes- / Rechtspositivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3. Naturrechtsrenaissance nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Radbruchs werttheoretischer Relativismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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III. Radbruchs Formel als Ausdruck modernen Naturrechtsdenkens: Die Idee der Unverfügbarkeit von Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Methodik der Formel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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a) „Gesetzliches Unrecht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
29
b) „Übergesetzliches Recht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Unerträglichkeit von Unrecht als Unverfügbarkeitsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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C. Formelrezeption und Naturrechtsgedanke in der bundesgerichtlichen Rechtsprechung und Literatur der Bundesrepublik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Exkurs: Verfassungskollisionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Formelrezeption und Naturrechtsgedanke vor 1990 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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a) Bundesgerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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aa) Zivilrechtssenate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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(1) Urteil vom 12. Juli 1951 (BGHZ 3, 94 ff.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
39
(2) Urteil vom 10. Juli 1952 (BGH NJW 1952, 1139) . . . . . . . . . . . . . . .
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(3) Urteil vom 11. Februar 1953 (BGHZ 9, 34 ff.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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(4) Gutachten des I. Zivilsenats vom 6. September 1953 (BGHZ 11, Anhang S. 34*) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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(5) Entscheidung vom 29. Januar 1957 (BGHZ 23, 175 ff.) . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis bb) Strafsenate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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(1) Urteil vom 6. November 1951 (BGHSt. 1, 391 ff.) . . . . . . . . . . . . . . .
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(2) Urteil vom 29. Januar 1952 (BGHSt. 2, 234 ff.) . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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(3) Urteil vom 12. Februar 1952 (BGHSt. 2, 173 ff.) . . . . . . . . . . . . . . . .
47
(4) Urteil vom 19. Dezember 1952 (BGHSt. 3, 357 ff.) . . . . . . . . . . . . . .
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b) Bundesverfassungsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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aa) Urteil vom 23. Oktober 1951 (BVerfGE 1, 14 ff.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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bb) Urteil vom 17. Dezember 1953 (BVerfGE 3, 58 ff.) . . . . . . . . . . . . . . . . .
50
cc) Urteil vom 18. Dezember 1953 (BVerfGE 3, 225 ff.) . . . . . . . . . . . . . . . .
50
dd) Beschluss vom 19. Februar 1957 (BVerfGE 6, 132 ff.) . . . . . . . . . . . . . . .
53
ee) Urteil vom 10. Mai 1957 (BVerfGE 6, 389 ff.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
54
ff) Urteil vom 14. Februar 1968 (BVerfGE 23, 98 ff.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
54
gg) Urteil vom 15. April 1980 (BVerfGE 54, 53 ff.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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c) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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a) Rechtsphilosophische und rechtstheoretische Rezeptionen . . . . . . . . . . . . . . . .
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b) Grundgesetzliche Strukturentscheidungen in der Diskussion . . . . . . . . . . . . . .
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aa) Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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bb) Begründung richterlicher Prüfungs- und Verwerfungskompetenz . . . .
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(1) Der rechtstheoretische Ansatz Geigers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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(2) Deduktion aus dem Wesen richterlicher Prüfungszuständigkeit . .
68
cc) Richterliche Prüfungs- und Verwerfungskompetenz in der Kritik . . . .
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(1) Demokratische Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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(2) Stellung des Richters zum Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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(3) Umdeutung der Radbruchschen Formel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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(4) Bezüge zur Diskussion um die Zulässigkeit von Richterrecht . . . .
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c) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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III. Formelrezeption und Naturrechtsgedanke seit der Wiedervereinigung . . . . . . . . . .
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1. Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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a) Bundesgerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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aa) Todesschüsse an der innerdeutschen Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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(1) Urteil vom 3. November 1992 (BGHSt. 39, 1 ff.) . . . . . . . . . . . . . . . .
79
(2) Urteil vom 25. März 1993 (BGHSt. 39, 168 ff.) . . . . . . . . . . . . . . . . . .
85
(3) Urteil vom 26. Juli 1994 (BGHSt. 40, 218 ff.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis
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(4) Urteil vom 26. Juli 1994 (BGHSt. 40, 241 ff.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
86
(5) Urteil vom 20. März 1995 (BGHSt. 41, 101 ff.) . . . . . . . . . . . . . . . . . .
87
(6) Urteil vom 8. November 1999 (BGHSt. 45, 270 ff.) . . . . . . . . . . . . . .
90
(7) Urteil vom 6. November 2002 (BGHSt. 48, 77 ff.) . . . . . . . . . . . . . . .
90
bb) Rechtsbeugungsfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
91
(1) Urteil vom 13. Dezember 1993 (BGHSt. 40, 30 ff.) . . . . . . . . . . . . . .
92
(2) Urteil vom 9. Mai 1994 (BGHSt. 40, 178 ff.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
93
(3) Urteil vom 6. November 1994 (BGHSt. 40, 272 ff.) . . . . . . . . . . . . . .
93
(4) Urteil vom 5. Juli 1995 (BGHSt. 41, 157 ff.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
94
(5) Urteil vom 19. September 1995 (BGHSt. 41, 247 ff.) . . . . . . . . . . . .
95
(6) Urteil vom 16. November 1995 (BGHSt. 41, 317 ff.) . . . . . . . . . . . .
95
(7) Urteil vom 10. Dezember 1998 (NJW 1999, 3347 ff.) . . . . . . . . . . . .
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(8) Aktuellere Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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b) Bundesverfassungsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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aa) Bodenreformurteil vom 23. April 1991 (BVerfGE 84, 90 ff.) . . . . . . . .
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bb) Beschlüsse zu Todesschüssen an der deutsch-deutschen Grenze . . . . . 100 (1) Beschluss vom 12. Juli 1995 (BVerfG DtZ 1995, 397 ff.) . . . . . . . . 101 (2) Beschluss vom 24. Oktober 1996 (BVerfGE 95, 96 ff.) . . . . . . . . . . 102 cc) Beschlüsse zur Rechtsbeugung durch DDR-Richter . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 c) Exkurs: Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 d) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 2. „Vergangenheitsbewältigung durch Recht“ und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 a) Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 b) Rechtsethisch determinierte Legitimationsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 aa) Staatsrechtslehrertagung 1991 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 bb) Naturrechtsgedanke und Radbruchsche Formel als generell akzeptierter Korrekturmaßstab strafrechtlicher Unrechtsaufarbeitung . . . . . . 118 cc) Gesetzliches Unrecht oder unrichtiges Recht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 (1) Mauerschützen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 (2) Rechtsbeugung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 c) Grenzen rechtsstaatlicher Vergangenheitsbewältigung – die „positivistischen“ Gegenthesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 aa) Rückwirkungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 (1) Wertende Rückprojektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 (2) Art. 103 Abs. 2 GG – Absolutheit und strikte Formalisierung . . . . 128 (3) Einigungsvertrag und Rückwirkungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
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Inhaltsverzeichnis bb) Anwendungsprobleme des Naturrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 (1) Strafbarkeit kraft Naturrechts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 (2) Bestimmtheit des Naturrechts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 d) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 IV. Haltung der Gesetzgebung zum überpositiven Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 V. Analyse und Kritik – Das Naturrechtsproblem: Rechtserkenntnis als Kompetenzfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138
D. Rechtssouveränität versus Volkssouveränität? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 I. Volkssouveränität und Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 1. Volk als Souverän der Verfassungsgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 a) Historische Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 b) Volkssouveränität als formale Legitimationsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 c) Nachholende „Verfassungsgebung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 d) „Invocatio dei“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 2. Volkssouveränität als intra-konstitutionelles Element . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 II. Vereinbarkeit mit der Bindung an überpositives Recht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 1. Autonomie des einheitlichen pouvoir constituant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 a) Faktische Bindungen und Legitimitätsinteresse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 b) Rechtsbindung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 aa) Bekenntnis des Deutschen Volkes zu den Menschenrechten . . . . . . . . . 153 bb) Zirkelschluss naturrechtlicher Bindung des pouvoir constituant . . . . . . 158 2. Überpositive Bindung der pouvoirs constitués? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 a) Verfassungsgesetzliche Positivierung von Naturrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 b) Art. 20 Abs. 3 GG: Gesetz und Naturrecht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 aa) Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 (1) Identitätsthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 (2) Transpositivitätsthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 (3) Legitimität aus verfassungsrechtlicher Legalität . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 bb) Orientierung am klassischen Auslegungskanon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 (1) Grammatik und Historie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 (a) Ambivalenz der Argumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 (b) Durchsetzung des „materiellen Rechtsstaatsverständnisses“ . 173
Inhaltsverzeichnis (2) Einordnung über die Systematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Vorrang und Normativität der Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Verfassungsgerichtsbarkeit und Normenkontrolle . . . . . . . . . . . . (c) Vorrang des Gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (d) Formen demokratischer Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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(aa) Funktionell-institutionelle demokratische Legitimation . . 187 (bb) Personelle demokratische Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 (cc) Sachlich-inhaltliche (materielle) demokratische Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 (dd) Maßgeblichkeit und Zusammenwirken der personellen und materiellen demokratischen Komponenten . . . . . . . . . 189 (e) Gesetzesbindung und richterliche Unabhängigkeit . . . . . . . . . . . 191 (aa) Entstehungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 (bb) Systematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 E. Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229
A. Einleitung Überpositives Recht als überverfassungsgesetzlicher Prüfungsmaßstab im Grundgesetz? Das Bundesverfassungsgericht bejaht diese Frage bereits in der ersten Entscheidung seines ersten Entscheidungsbands. Dort heisst es im siebenundzwanzigsten Leitsatz: „Das Bundesverfassungsgericht erkennt die Existenz überpositiven, auch den Verfassungsgesetzgeber bindenden Rechts an und ist zuständig, das gesetzte Recht daran zu messen“.1
Der Rückgriff auf überpositives Recht als Prüfungsmaßstab durchzieht die Rechtsprechung deutscher Gerichte seit Entstehung der Bundesrepublik bis in die jüngere Vergangenheit. Überpositives Recht bzw. „Naturrecht“ erlebte insbesondere im Kontext der Aufarbeitung des nationalsozialistischen Unrechts seine Renaissance.2 Auslöser dieser so genannten Naturrechtsrenaissance der unmittelbaren Nachkriegsjahre war die rechtsphilosophische Diskussion der Frage nach einer rückwirkenden Bestrafung von Systemunrecht. In diesem Kontext entwickelte Gustav Radbruch in seinem Aufsatz über „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht“3 von 1946 die berühmt gewordene Radbruchsche Formel. Die Formel wird häufig überpositivem Recht oder Naturrecht zugeordnet4 und sogar auf die schlichte Schlussfolgerung „Naturrecht bricht positives Recht“5 reduziert. Von anderer Seite wird indessen vertreten, dass Radbruch selber nie „überpositives“ Recht gemeint habe.6 Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist es darzulegen, dass und wie die Rechtspraxis insbesondere, aber nicht nur, durch die Rezeption der Radbruchschen Formel überpositives Recht als Prüfungsmaßstab heranzieht, mit welchen Inhalten sie dieses ausfüllt und zu welchen Ergebnissen dies führt. Ziel ist dabei, diese Praxis Urteil des Zweiten Senats vom 23. 10. 1951, BVerfGE 1, 14 (18, LS 27). Insofern ist das Zitat aus dem Urteil des BVerfG vom 23. 10. 1951 eher atypisch. Das Urteil betrifft die Neugliederungsgesetze nach Art. 118 Satz 2 GG. Vgl. hierzu eingehend unten, S. 49. 3 SJZ 1946, 105. 4 Vgl. etwa Alexy, Mauerschützen – Zum Verhältnis von Recht, Moral und Strafbarkeit, 1993, S. 26; Schumacher, Rezeption und Kritik der Radbruchschen Formel; R. Dreier, in: FS für Arthur Kaufmann, S. 69; H. Dreier, JZ 1997, 421 (429); Amelung, JuS 1993, 637. Streitig: vgl. Kaufmann, NJW 1995, 81 (84 ff.), auch Frommel, in: FS für Arthur Kaufmann, S. 81 (86, 89). 5 So H. Dreier, JZ 1997, 421 (429). 6 Kaufmann, NJW 1995, 81 (84 ff.), vgl. auch Frommel, in: FS für Arthur Kaufmann, S. 81 (86, 89). 1 2
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A. Einleitung
einer kritischen Würdigung anhand des auf dem Prinzip der Volkssouveränität basierenden und von diesem durchdrungenen positivierten Verfassungsgefüges des Grundgesetzes zu unterziehen. Zwar ist speziell die Radbruchsche Formel und deren Rezeption bereits Gegenstand unzähliger Abhandlungen unterschiedlichster Provenienz; diese können jedoch weitgehend der rechtsphilosophischen Debatte oder aber der Rückwirkungsproblematik des Art. 103 Abs. 2 GG zugeordnet werden.7 Dagegen sind die Aspekte der Volkssouveränität, der Positivierung grundlegender Gerechtigkeitswerte, des Vorrangs der Verfassung und des Gesetzes, der Konstituierung der Verfassungsgerichtsbarkeit, der Normenkontrolle sowie der Gesetzesbindung der Judikative insbesondere im Kontext der Unrechtsaufarbeitung unterbelichtet geblieben. Von der Rechtsprechung werden sie sogar weitgehend ignoriert. Sie sollen in dieser Arbeit in den Vordergrund gerückt werden. Zu diesem Zweck wird in einem ersten Schritt (Gliederungspunkt B.) die Radbruchsche Formel kontextualisiert dargestellt und analysiert. Es gilt in diesem Teil, die Formel vor dem Hintergrund des (ewigen) Widerstreits zwischen Naturrecht und Rechtspositivismus von diesem abzugrenzen und in Radbruchs werttheoretischen Relativismus einzuorten. Ziel ist dabei, den naturrechtlichen Kern der Formel herauszuarbeiten. Der zweite Schritt widmet sich einem chronologischen Aufriss der Rezeption der Radbruchschen Formel und des Naturrechtsgedankens in Rechtsprechung und Literatur (Gliederungspunkt C.), aufgeteilt in die Zeiträume vor und nach der Wiedervereinigung. Dieser Aufbau folgt der historischen Logik und soll die unterschiedlichen Schwerpunkte der Diskussionen herausstellen. Die Darstellung der Rechtsprechung beschränkt sich dabei auf die Bundesgerichte (Bundesgerichtshof und Bundesverfassungsgericht). Die Entscheidungen werden kontextualisiert vorgestellt und der Rückgriff auf überpositives Recht als Prüfungsmaßstab wird nachgewiesen. Es werden die dem Naturrecht eigenen Begründungsmuster in Rechtsprechung und Literatur herausgearbeitet, insbesondere im Hinblick auf die von den Gerichten in Anspruch genommene Kompetenz. Rechtfertigt die Rechtspraxis überhaupt – und wenn ja, wie – die Anerkennung von und den Rückgriff auf überpositives Recht in Anbetracht des Prinzips der Volkssouveränität und dessen Durchdringung der Verfassung? Aus der Literatur werden die rechtsphilosophischen und rechtstheoretischen Rezeptionen kurz dargestellt. Das Hauptaugenmerk richtet sich auf die vereinzelten Auseinandersetzungen mit der Frage nach der Vereinbarkeit der Annahme überpositiven Rechts als Prüfungsmaßstab mit grundgesetzlichen Prinzipien, Strukturentscheidungen und Kompetenzregelungen, insbesondere Art. 1 Abs. 1 und 2, Art. 20 Abs. III, Art. 97 und 100 Abs. 1 GG. Hervorgehobenes Interesse finden Ausführungen zum richterlichen Prüfungs- und Ver7 Vgl. nur die Dissertationen von Schumacher, Rezeption und Kritik der Radbruchschen Formel; Buchholz-Schuster, Rechtsphilosophische Legitimation der Rechtspraxis nach Systemwechseln; Seidel, Rechtsphilosophische Aspekte der „Mauerschützen“-Prozesse – jeweils m. w. N. Siehe auch die Angaben unter C.II.2.a, unten, S. 60 ff. und unter C.III.2.a), unten, S. 112 ff.
A. Einleitung
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werfungsrecht, da sich hier in besonders drastischer Weise die ganze Problematik überpositiver Argumentation verdeutlicht. In einem dritten Schritt wird die dargestellte Rechtsprechung und Literatur schließlich einer kritischen Würdigung unter der im dargestellten Kontext von Rechtsprechung und großen Teilen der Literatur vernachlässigten Frage nach der Vereinbarkeit eines überpositiven Prüfungsmaßstabs mit der positivierten Verfassung des Grundgesetzes unterzogen (Gliederungspunkt D.). Die mit der Anerkennung überpositiven Rechts verbundene Negierung des Autonomiegedankens der Volkssouveränität wird an der Doppelnatur des Volkes als verfassungsgebender und intra-konstitutioneller Souverän untersucht. Dabei werden vor allem mögliche überpositive Fenster der Verfassung abgeklopft. Die Untersuchung spitzt sich zu in einer Auslegung der Formulierung „Gesetz und Recht“ in Art. 20 Abs. 3 GG am klassischen Auslegungskanon. Sie schließt ab in einer Einordung von Art. 20 Abs. 3 GG über die Systematik.
2 Dieckmann
B. Radbruchsche Formel Gustav Radbruch erwarb sich nachhaltigsten Ruhm mit seinem Aufsatz „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht“ aus dem Jahre 1946.1 Der Aufsatz ist in die vorgrundgesetzliche rechtsphilosophische Diskussion um das vornehmlich gegen Denunzianten angewendete Kontrollratsgesetz (KRG) Nr. 10 vom 20. 12. 19452 und die Verantwortlichkeit von NS-Richtern einzuordnen und damit in die konkret strafrechtliche Problematik rückwirkender Bestrafung: Das KRG Nr. 10 erlaubte es, Verbrechen gegen die Menschlichkeit ohne Rücksicht darauf zu bestrafen, ob sie das nationale Recht des Landes, in welchem die Handlungen begangen worden waren, verletzten;3 hiermit korrespondierte die rückwirkende Ächtung von NS-Gesetzen bei der Bestrafung von NS-Richtern – „beides unter der Schirmherrschaft des übergesetzlichen Axioms der ,Rechtsidee‘“.4 Das KRG Nr. 10 war nicht nur für die alliierten Gerichte, sondern aufgrund einer Anordnung der britischen Militärregierung zeitweise auch für deutsche Gerichte maßgeblich.5 In den einschlägigen Strafverfahren gegen NS-Denunzianten beriefen sich die Angeklagten immer wieder auf ihren Glauben an die Gültigkeit und Verbindlichkeit der entsprechenden Gesetze und Anordnungen der NS-Diktatur. Für diesen historisch spezifischen Konflikt zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit formulierte Radbruch eine Kollisionsregel, vergleichbar mit den in den Nürnberger Prozessen zugrunde gelegten Grundsätzen:6 „Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als ,unrichtiges Recht‘ der Gerechtigkeit zu weichen hat. Es ist unmöglich, eine schärfere Linie zu ziehen zwischen den Fällen des gesetzlichen Unrechts und den trotz unrichSJZ 1946, 105; vgl. H. Dreier, JZ 1997, 421 (423). Kontrollratsamtsblatt S. 50. 3 Art. II des KRG Nr. 10 lautet: „Gewalttaten und Vergehen, einschließlich der folgenden, den obigen Tatestand jedoch nicht erschöpfenden Beispiele: Mord, Ausrottung, Versklavung, Zwangsverschleppung, Freiheitsberaubung, Folterung, Vergewaltigung oder andere an der Zivilbevölkerung begangene unmenschliche Handlungen; Verfolgung aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen, ohne Rücksicht darauf, ob sie das nationale Recht des Landes, in welchem die Handlung begangen worden ist, verletzten.“ 4 Buchholz-Schuster, Rechtsphilosophische Legitimation der Rechtspraxis nach Systemwechseln, S. 82 f.; vgl. eingehend hierzu ders., a. a. O., S. 53 ff., S. 82 ff. 5 Vgl. hierzu Papier, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. IX, § 213 Rn. 56 f. 6 Vgl. Frommel, in: FS für Arthur Kaufmann, S. 81 ff. (88). 1 2
B. Radbruchsche Formel
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tigen Inhalts dennoch geltenden Gesetzen; eine andere Grenzziehung aber kann mit aller Schärfe vorgenommen werden: wo Gerechtigkeit nicht einmal angestrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewußt verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur ,unrichtiges Recht‘, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur. Denn man kann Recht, auch positives Recht, gar nicht anders definieren denn als eine Ordnung und Satzung, die ihrem Sinne nach bestimmt ist, der Gerechtigkeit zu dienen.“7
Diese inzwischen als klassisch zu bezeichnende8 Formulierung, die so genannte „Radbruchsche Formel“, war letztlich Stein des Anstoßes in der staatsrechtlichen Nachkriegsdiskussion um die Debatte „Naturrecht oder Rechtspositivismus?“9. Die Radbruchsche Formel bestimmt auch jetzt in der „Nachwendezeit“ weitgehend die Diskussion um die Frage nach dem übergesetzlichen bzw. überpositiven Recht. Radbruch spricht zwar an keiner Stelle seines Aufsatzes „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht“ von „überpositivem“ Recht oder „Naturrecht“.10 Gleichwohl wird die Formel häufig überpositivem Recht oder Naturrecht zugeordnet.11 H. Dreier reduziert sie sogar auf die schlichte Schlussfolgerung „Naturrecht bricht positives Recht“12. Um den naturrechtlichen Kerngehalt der Formel auszumachen, bedarf es zunächst einer hinreichenden Kontextualisierung.
7 Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, SJZ 1946, 105 (107); siehe auch Radbruch, in: Rechtsphilosophie, Anhang, S. 353. Es ist zu unterscheiden zwischen zwei unterschiedlichen Kriterien, welche zu der geltungstheoretischen Aussage der Formel führen, nämlich dass extremes Unrecht zu Nichtrecht mutiert: das „objektiv bestimmbare“ unerträgliche Maß des Widerspruchs zwischen positivem Gesetz und Gerechtigkeit einerseits und die „subjektive“ fehlende Bereitschaft, überhaupt gerechte Regeln zu erstreben, andererseits. Diese Varianten werden als „Unerträglichkeitsformel“ und „Verleugnungsformel“ bezeichnet. Wenn allerdings von der sog. Radbruchschen Formel die Rede ist, wird gemeinhin auf die Unerträglichkeitsformel abgestellt, da die Verleugnungsformel einen praktisch nie belegbaren Gerechtigkeitsbeugungsvorsatz verlangt (vgl. nur H. Dreier, JZ 1997, 421 (423) m. w. N.). Wenn in vorliegender Arbeit daher von der Radbruchschen Formel die Rede ist, so ist auch hier die „Unerträglichkeitsformel“ gemeint. 8 Vgl. nur Herzog, in: Maunz / Dürig, Art. 20 GG, VI.,Rn. 53. 9 Vgl. den gleichnamigen Sammelband Maihofers, Naturrecht oder Rechtspositivismus?, aus dem Jahre 1963, nunmehr in 3. Auflage (1981), und die gleichnamige Dissertation Schumachers aus dem Jahre 1985. 10 Kaufmann, NJW 1995, 81 (85), macht hierauf mit Nachdruck aufmerksam. 11 Vgl. etwa Alexy, Mauerschützen – Zum Verhältnis von Recht, Moral und Strafbarkeit, 1993, S. 26; Schumacher, Rezeption und Kritik der Radbruchschen Formel; R. Dreier, in: FS für Arthur Kaufmann, S. 69; H. Dreier, JZ 1997, 421 (429); Amelung, JuS 1993, 637. Kaufmann, NJW 1995, 81 (84 ff.), ist der hingegen der Auffassung, dass Radbruch, der immer nur von „übergesetzlichem Recht“ spreche, nie „überpositives“ Recht gemeint habe; vgl. auch Frommel, in: FS für Arthur Kaufmann, S. 81 (86, 89). 12 So H. Dreier, JZ 1997, 421 (429).
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I. Der „Naturrecht oder Rechtspositivismus“-Streit der ersten Nachkriegsjahre Die Rechtsphilosophie erlebte nach der Willkürherrschaft der Nationalsozialisten in der unmittelbaren Zeit nach 1945 ein Wiederaufleben der Naturrechtsdiskussion. Diese wurde unter anderem heraufbeschworen durch die Auffassung, der Gesetzespositivismus habe das nationalsozialistische Unrechtssystem zumindest nachhaltig gefördert.13 Radbruch selber leitet seinen Aufsatz über „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht“ u. a. mit den Worten ein, dass der Grundsatz „Gesetz ist Gesetz“ zu den Grundsätzen des Nationalsozialismus zählte, mit welchem dieser die Juristen an sich zu fesseln wusste. Dieser Grundsatz habe keine Einschränkung gekannt und sei Ausruck des positivistischen Rechtsdenkens gewesen, welches durch viele Jahrzehnte fast unwidersprochen die deutschen Juristen beherrscht habe.14 Der Widerstreit zwischen (Rechts- oder auch Gesetzes-)Positivismus und (klassischem) Naturrecht fußt in der unterschiedlichen rechtsphilosophisch-ontologischen Auffassung über den Seinsgrund, die Geltung des Rechts. Während das Naturrecht die vorgegebene „Natur des Menschen“ als Seinsgrund des Rechts bestimmt, diktiert nach dem Gesetzespositivismus der nicht an eine vorgegebene natürliche Ordnung gebundene und wandelbare „Wille des Gesetzgebers“ die Geltung des Rechts.15
1. Charakteristikum naturrechtlicher Lehren Es ginge an dieser Stelle zu weit, die naturrechtliche Lehre in der Breite ihrer historischen Vielfältigkeit und Entwicklung darzustellen. Einen ersten Eindruck vermittelt etwa Wiethölter.16 Im Naturrecht ereignet sich ein „Recht, das die Natur 13 So genannte Naturrechtsrenaissance. Vgl. hierzu z. B. Buchholz-Schuster, Rechtsphilosophische Legitimation der Rechtspraxis nach Systemwechseln, S. 20, S. 27 und S. 38 ff.; Rosenbaum, Naturrecht und positives Recht, 1972, S. 146; Walther, KJ 1988, 263 ff.; Maihofers Sammelband, Naturrecht oder Rechtspositivismus?; Schumacher, Rezeption und Kritik der Radbruchschen Formel, S. 31 ff.; A. Kaufmann, in: FS für S. Gangnér, S. 105 ff.; ders., Problemgeschichte der Rechtsphilosophie, S. 98 f.; Ellscheid, Das Naturrechtsproblem, S. 183 f. Der Rechtspositivismus war zu Beginn des 20. Jahrhunderts herrschende Rechtstheorie in der deutschen Rechtswissenschaft, geriet aber bereits durch das erschütterte Vertrauen in die Sittlichkeit der Staaten und die Stabilität der staatlichen Verhältnisse durch den ersten Weltkrieg in eine erste Krise, vgl. hierzu Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 91 ff., S. 95 ff. Zum Positivismus im 19. Jahrhundert und den Zerfallserscheinungen bereits Ende des 19. Jahrhunderts vgl. Kaufmann, in: FS für Sten Gagnér, S. 105 (106 ff.). 14 Radbruch, SJZ 1946, 105. 15 Vgl. A. Kaufmann, Problemgeschichte der Rechtsphilosophie, S. 99 f. 16 Wiethölter, Rechtswissenschaft, S. 42 ff.; vgl. auch bspw.: E. Wolf, Das Prolbem der Naturrechtslehre; Ellscheid, Naturrecht, in: Handbuch philosophischer Grundbegriffe, S. 969 ff.
I. Der „Naturrecht oder Rechtspositivismus“-Streit der ersten Nachkriegsjahre
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selbst setzt, eine Natur des Rechts, die wie die Natur der Natur ewig erscheint. Die Kombinationsmöglichkeiten sind ihrerseits unendlich, wenn ,Natur‘ und ,Recht‘ ohne verbindlich fixierbaren Gehalt sind, also ihrerseits grandiose Leerformeln darstellen. Das ist der Fall.“17 Es gibt nicht ein Naturrecht, sondern so viele Naturrechtskonzeptionen, wie sich thetische Positionen denken lassen.18 Naturrechte haben in der abendländischen Geschichte eine weit über zweitausendjährige Tradition.19 Dementsprechend gibt es auch „fast nichts, das nicht im Namen von Naturrecht begründet und widerlegt worden wäre“20. Es kann hier nicht der Ort sein, einen Naturrechtsbegriff zu entwickeln. Für die Zwecke dieser Arbeit ist dies auch nicht notwendig. Es reicht vielmehr, das Charakteristische naturrechtlicher Lehren darzustellen, also das ihnen Gemeinsame. Dies lässt sich mit E. Wolf zusammenfassen in der „Intention, das eigentliche Recht als eigentliche Natur zu erschließen“21. Naturrecht lässt sich als eine „Seinsentsprechung“ verstehen. Damit ist es in der Natur des Menschen immer schon da und in der objektiven Ordnungsstruktur dieses Daseins immer schon mitgegeben.22 Und hieraus folgt, was „die theoretische Vielfältigkeit des Naturrechtsbegriffs immer wieder praktisch zum einheitlichen Handeln bringt“, nämlich „die Eindeutigkeit seiner Funktion“: die notwendige Begründung und Begrenzung allen Rechts.23 Naturrecht funktioniert, wie E. Wolf klarstellt, in zweifacher Weise: als „legitimierender Grund“ allen positiven Rechts sowie als „normierendes Richtmaß“.24 Das Selbstverständnis der Naturrechtslehren ist es, über dem Recht zu wachen, dass es in seinem Wesen bleibe. Im Ergebnis begrenzt die immanente Bindung des Norminhalts an eine vorausgesetzte Rechtsidee a priori den Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers.25 2. Gesetzes- / Rechtspositivismus Gesetzespositivismus ist die Auffassung, nach der jedes ordnungsgemäß zustandegekommene Gesetz, d. h. jeder „Akt einer kompetenten Macht“, „durch den einem bestimmten normativen Inhalt äußerlich erkennbar Rechtsqualität verliehen wird“, verbindlich ist, und zwar ohne Rücksicht auf seinen Inhalt.26 Grundgedanke Wiethölter, Rechtswissenschaft, S. 42. E. Wolf, Das Problem der Naturrechtslehre, S. 193. 19 Wiethölter, Rechtswissenschaft, S. 43, S. 55. 20 Wiethölter, Rechtswissenschaft, S. 43. 21 E. Wolf, Das Problem der Naturrechtslehre, S. 193: „Eigentlichkeit des Rechts zu erhellen und zu stärken, ist die Funktion des Naturrechtsgedankens“. 22 E. Wolf, Das Problem der Naturrechtslehre, S. 195 f. 23 E. Wolf, Das Problem der Naturrechtslehre, S. 195 f. 24 E. Wolf, Das Problem der Naturrechtslehre, S. 197. 25 Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 97. Vgl. auch Weinkauff, in: Maihofer (Hrsg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus?, S. 554 (557). 17 18
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des juristischen Positivismus ist die Ansicht, dass „alles Recht durch zwei Tatsachen bedingt ist, nämlich durch die Setzung und durch die Geltung im Sinne tatsächlicher sozialer Gestaltungsmacht. Wer die Macht hat, Normen zu setzen und durchzusetzen, schafft nach positivistischer Auffassung Recht“27. Der Positivismus kennt keine Bindung des Gesetzgebers. Dieser ist vielmehr „selbstherrlich und an keine anderen Schranken gebunden als diejenigen, die er sich selbst in der Verfassung oder in anderen Gesetzen gezogen hat“28. Dem positivistischen Rechtsbegriff ist also entgegen dem Naturrechtsgedanken eine Bindung an eine Rechtsidee fremd. 3. Naturrechtsrenaissance nach 1945 Die Naturrechtsrenaissance der Nachkriegszeit ist aus der „abnormen Rechtsnot“29 jener Jahre heraus zu verstehen. Die Gerichte standen vor der kaum zu lösenden Aufgabe, Unrechtsgesetzen die Geltung zu versagen und stattdessen anhand überpositiver Normen Recht zu sprechen. Das Vertrauen des Positivismus in das sittliche Qualitätsbewusstsein des Gesetzgebers,30 bereits durch den ersten Weltkrieg in Frage gestellt, die Allmacht des Gesetzgebers und die rein instrumentale Funktion der Judikatur – Kennzeichen der positivistischen Rechtstheorie – mussten nun vor dem Hintergrund der unfassbaren Verbrechen des Dritten Reiches zwangsläufig eine Gegenbewegung erfahren. Die „lex corrupta“, das verbrecherische, niederträchtige Gesetz, im 19. und ausgehenden 20. Jahrhundert nur ein theoretisch gedachter Fall, war Wirklichkeit geworden. Das Unrecht bedurfte des korrigierenden Maßes des Naturrechts.31 Ob die so genannte Naturrechtsrenaissance jedoch die adäquate Antwort auf die schrecklichen Unrechtserfahrungen im Dritten Reich war, ist eher fraglich.32 Die 26 Ellscheid, Das Naturrechtsproblem, S. 179. Zum Rechts- bzw. Gesetzespositivismus allgemein vgl.: Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt. 27 Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 92 f. Vgl. Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 179: „Wer Recht durchzusetzen vermag, beweist damit, daß er Recht zu setzten berufen ist.“ 28 RGZ 118, 325 (327). 29 A. Kaufmann, FS für Sten Gagnér, S. 105, 109; Vgl. ders., Problemgeschichte der Rechtsphilosophie, S. 98: „was sollten die Gerichte in der Rechtsnot jener Jahre auch schon anderes machen, als auf den nationalsozialistischen Unrechtsstaat mit Hilfe ,naturrechtlicher‘ Erwägungen zu reagieren und Gesetzenormen, die ungerecht waren oder ihnen wenigstens so erschienen, beiseite zu schieben und den Fall mit Berufung auf ein ,überpositives Wesensrecht‘ zu entscheiden?“ 30 Vgl. Kaufmann, in: FS für Sten Gagnér, S. 105 (107), der darauf verweist, dass es das sittliche Qualitätsbewusstsein des Gesetzgebers gewesen sei, das dem Positivismus des 19. Jahrhunderts seine Legitimität verlieh habe. 31 Vgl. zu den Naturrechtskonzepten dieser Zeit Kaufmann, in: FS für Sten Gagnér, S. 105 (109 f.). 32 Sie war ohnehin nur Episode. Vgl. Kaufmann, in: FS für Sten Gagnér, S. 105; Kühl, Rückblick auf die Renaissance des Naturrechts nach dem 2. Weltkrieg, in: Köbler / Heinze /
I. Der „Naturrecht oder Rechtspositivismus“-Streit der ersten Nachkriegsjahre
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Meinungen darüber, ob tatsächlich der Rechtspositivismus oder nicht eher Vulgärformen des Naturrechts die Rechtsperversionen im nationalsozialistischen Staat bedingt, gefördert oder ermöglicht haben, gehen stark auseinander.33 Historisch betrachtet, erscheint es als Übertreibung, allein den Gesetzespositivismus als rechtstheoretischen Sündenbock zu brandmarken. Dies verleitet nämlich zu der Illusion, „mit dem erhofften naturrechtlichen Sieg über den Gesetzespositivismus sei jener Perversion nachhaltig vorgebeugt“.34 Für den Bereich des Zivilrechts beispielsweise hat Rüthers besonders anschaulich dargestellt, dass die Neigung, im juristischen Positivismus (und Relativismus) die Hauptursachen der damaligen Perversion des Rechts zu sehen, verfehlt ist.35 Rüthers hat nachgewiesen, dass bei der Auslegung positiven Rechts gerade der Rückgriff auf eine wie auch immer begründete überpositive Institutionenlehre in besonderer Weise geeignet ist, vorhandene gesetzliche Regelungen auf neue Sachverhalte anzuwenden oder an neue Wertvorstellungen anzupassen.36 Weil der Gesetzespositivismus im Sinne einer strengen Bindung des Richters an die von den neuen Machthabern vorgefundenen Gesetze eher „lästige Fessel als sichere Stütze des neuen Regimes“37 war, bedurfte es naturrechtlicher Argumentationsmuster, um die Bindung an das Gesetz durch eine Bindung an die Ideologie der neuen Herren zu ersetzen.38 Man sollte sich sicherlich von der Legende verabschieden, dass gerade der Rechtspositivismus dem NS-Regime gedient habe. Die Nationalsozialisten haben sich der jeweils für sie nützlichen Methodik bedient: sie griffen auf das überpositive Naturrecht zurück, wenn sie erklärten, der Richter sei an das vorrevolutionäre Recht nicht gebunden, ebenso wie sie auf den strengen Gesetzespositivismus zurückgriffen, wenn die Befolgung nationalsozialistischer Unrechtsgesetze es verlangte.39 Dem Nationalsozialismus war eine theoretisch durchdachte und konsequent angewendete Rechtsvorstellung bereits nach seinen ideologischen Prämissen fremd.40 Schon deshalb kann der Rechtspositivismus nicht als die theoretische Grundlage nationalsozialistischer Rechtsauffassung bezeichnet werden, gleichermaßen aber auch nicht das Naturrecht.41 So unverträglich Positivismus und NaturSchapp: Geschichtliche Rechtswissenschaft. Gießener rechtswissenschaftliche Abhandlungen, Bd. 6, S. 331 ff. 33 Vgl. nur Ellscheid, Das Naturrechtsproblem, S. 183 f. und A. Kaufmann, NJW 1995, 81 Fn. 1, jeweils m. w. N. 34 Ellscheid, Das Naturrechtsproblem, S. 184. 35 Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung. 36 Vgl. auch Luig, NJW 1992, 2536. 37 Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 99. 38 Vgl. Ellscheid, Das Naturrechtsproblem, S. 184; Luhmann, Positives Recht und Ideologie, in: Soziologische Aufklärung, S. 199, Anm. 9. 39 Vgl. A. Kaufmann, NJW 1995, 81 Fn. 1.; vgl. insoweit auch insbesondere die Kritik an der Radbruchschen Formel von Walther, KJ (21) 1988, 263 (270 ff.); ders., in: Redaktion Kritische Justiz, S. 299 ff. 40 Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 99.
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recht hinsichtlich ihres Geltungsgrundes sind, so eigentümlich verwandt sind sie sich hinsichtlich ihrer Denkstrukturen: nach beiden Denkmodellen ist das konkrete, positive Recht etwas Starres, a priori Festgelegtes.42 Die Lehre aus den geschichtlichen Erfahrungen ist, dass sowohl die klassischen Naturrechtslehren wie auch der Positivismus nicht vor der Perversion des Rechts schützen können.
II. Radbruchs werttheoretischer Relativismus Auch wenn Radbruch angenommen hat, dass die Perversion der Rechtsordnung im NS-Staat vom positivistischen Denken heraufbeschworen wurde,43 so wäre es doch zu einfach, im Umkehrschluss zu behaupten, aus dem einstmaligen „Positivisten“ Radbruch sei unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Verbrechen ein „Naturrechtler“ geworden. Der Radbruch-Schüler Kaufmann weist zu Recht darauf hin, dass sich ein solcher Wandel aus Radbruchs Werken sowohl belegen wie auch widerlegen lässt.44 Zutreffend ist, dass sich weder der Rechtsbegriff noch die Rechtsidee Radbruchs zwingend auf eine dieser rechtsphilosophischen Alternativen reduzieren lassen.45 Nach Kaufmann lieferte Radbruchs „werttheoretischer Relativismus“ sogar den Anstoß zur Überwindung des Stellungskrieges zwischen dem substanzontologischen Naturrecht und dem funktionalistischen Gesetzespositivismus.46 Festzustellen ist jedenfalls, dass Radbruch seinen Rechtsbegriff nach 1945 nicht geändert, sondern lediglich die Akzente innerhalb seines Rechtsbegriffs verschoben hat:47 Radbruch definierte 1948 und sinngemäß auch schon 1914 Recht als den „Inbegriff der Seinstatsachen, die den Sinn haben, Gerechtigkeit zu verwirklichen, . . . 41 Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 99. Rüthers stellt dies aber nur bezüglich des Positivismus fest. 42 A. Kaufmann, Problemgeschichte der Rechtsphilosophie, S. 100. 43 „Der Positivismus hat in der Tat mit seiner Überzeugung ,Gesetz ist Gesetz‘ den deutschen Juristenstand wehrlos gemacht gegen Gesetze willkürlichen und verbrecherischen Inhalts“ (Radbruch, SJZ 1946, 105 (107). Vgl. auch Radbruch, Vorschule der Rechtsphilosophie, 3. Auflage, 1965, S. 113; vgl. A. Kaufmann, NJW 1995, 81 Fn. 1. 44 Kaufmann, Problemgeschichte der Rechtsphilosophie, S. 108. 45 Vgl. hierzu eingehend Buchholz-Schuster, Rechtsphilosophische Legitimation der Rechtspraxis nach Systemwechseln, S. 40 ff., S. 330 f., mit weiteren Verweisen zu kritischen Stellungnahmen von Hassemer, Einführung zur Gustav-Radbruch-Gesamtausgabe Bd. 3, S. 8; Saliger, Radbruchsche Formel und Rechtsstaat, S. 23 f. 46 Kaufmann, Problemgeschichte der Rechtsphilosophie, S. 102, 108 ff. 47 Nach eigenem Bekunden brauchte Radbruch nicht „die Substanz der früheren Gedanken zu verändern, vielmehr nur die Akzente anders zu setzen, nur das, was dort noch im Schatten stand, ins volle Licht zu rücken“ (Radbruch, Kulturlehre des Sozialismus, S. 79); vgl. Buchholz-Schuster, Rechtsphilosophische Legitimation der Rechtspraxis nach Systemwechseln, S. 43, 131; Schumacher, Rezeption und Kritik der Radbruchschen Formel, S. 24; Kaufmann, Problemgeschichte der Rechtsphilosophie, S. 111.
II. Radbruchs werttheoretischer Relativismus
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die Rechtsidee in die Wirklichkeit umzusetzen“,48 oder an anderer Stelle, als „die Wirklichkeit, die den Sinn hat, der Gerechtigkeit zu dienen“.49 Recht ist damit „wertbezogen“ und nicht positivistisch, da hier betont wird, dass nur solche Rechtsnormen Rechtsqualität haben, die auf Gerechtigkeit bezogen sind. Radbruchs Rechtsbegriff lässt sich aber auch nicht ohne weiteres dem Naturrecht zuordnen; Radbruch setzt Recht nicht mit einem absoluten, richtigen Recht gleich.50 Der rechtswissenschaftliche Wertrelativismus Radbruchs setzt vielmehr eine „relativistische Vieldeutigkeit der Rechtsidee“51 voraus. Die Rechtsidee (oder auch: Gerechtigkeit im weiteren Sinne) besteht aus der Verknüpfung dreier Elemente, der Gleichheit (oder auch: Gerechtigkeit im engeren Sinne), der Zweckmäßigkeit und der Rechtssicherheit.52 Gleichheit gilt dabei zwar absolut, aber nur als formales Prinzip der absoluten und verhältnismäßigen Gleichheit. Es geht hier nur um die Frage, wie die Lebenssachverhalte geregelt werden sollen. Das formale Gleichheitsprinzip wird durch das inhaltliche Prinzip der Zweckbestimmung (spätere Zweckidee) ergänzt. Hier geht es um die Frage, was geregelt werden soll. Die Zweckmäßigkeit gilt aber nur relativ. In ihr verbinden sich drei gleichwertige Höchstwerte des Rechts: die Persönlichkeitswerte (individualistisch: Freiheit des Individuums), die Gemeinschaftswerte (überindividualistisch: Macht) und die Werkwerte (transpersonal: Kulturwerte). Da diese Werte nicht in eine rational auszumachende Rangordnung eingestuft werden können, bedarf es einer autoritativen Festsetzung des Rechtsinhalts, der Rechtssicherheit. In seinen „Grundzügen der Rechtsphilosophie“53 aus dem Jahre 1914 räumte Radbruch der Rechtssicherheit dabei den Vorrang vor dem formalen Element der Gleichheit und dem inhaltlichen Element der Zweckmäßigkeit ein.54 Buchholz-Schuster weist allerdings zu Recht auf die „Radbruchsche Vor-Vorkriegsformel“ ebenfalls aus dem Jahre 1914 hin:55 „man glaube doch nicht, es sei das Problem der Gültigkeit unrichtigen positiven Rechts schon durch die bisherigen Ausführungen im Sinne der Gültigkeit jedes ,Schandgesetzes‘ . . . entschieden – eine solche uneingeschränkte Gültigkeit eines positiven Gebildes, eine Radbruch, Vorschule der Rechtsphilosophie, S. 32. Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 123 (Der Begriff des Rechts); sinngemäß so auch schon im Jahre 1914 in: ders., Grundzüge der Rechtsphilosophie, S. 29 ff. 50 Vgl. Kaufmann, Problemgeschichte der Rechtsphilosophie, S. 111, 114; BuchholzSchuster, Rechtsphilosophische Legitimation der Rechtspraxis nach Systemwechseln, S. 40 f. 51 Vgl. Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 97. 52 Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 123 ff. (Der Begriff des Rechts), 146 ff. (Der Zweck des Rechts), 168 ff. (Antinomien der Rechtsidee); vgl. zum Folgenden auch: Kaufmann, Problemgeschichte der Rechtsphilosophie, S. 109 ff. 53 Radbruch, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1914. 54 „ . . . vermag niemand festzustellen, was gerecht ist, so muß jemand festsetzen, was rechtens sein soll“ (Radbruch, Grundzüge der Rechtsphilosophie, S. 171); vgl. BuchholzSchuster, Rechtsphilosophische Legitimation der Rechtspraxis nach Systemwechseln, S. 42. 55 Buchholz-Schuster, Rechtsphilosophische Legitimation der Rechtspraxis nach Systemwechseln, S. 42. 48 49
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B. Radbruchsche Formel solche Verabsolutierung einer empirischen Gegebenheit . . . wäre auch in der gesamten Wertphilosophie ohne Beispiel.“56
In den „Grundzügen der Rechtsphilosophie“ lehrt Radbruch zudem: „Für die Geltung erweislich unrichtigen Rechts läßt sich keine Rechtfertigung erdenken.“57
Ein richterliches Widerstandsrecht, wie es der späteren so genannten Radbruchschen Formel über das gesetzliche Unrecht aus dem Jahre 1946 immanent ist, lehnte Radbruch indessen ab. Noch 1932 äußert er: „Wir verachten den Pfarrer, der gegen seine Überzeugung predigt, aber wir verehren den Richter, der sich durch sein widerstrebendes Gerechtigkeitsgefühl nicht beirren läßt.“58
Mit seiner späteren „Lehre vom gesetzlichen Unrecht“ verschob Radbruch zwar den Akzent eindeutig zu Lasten der Rechtssicherheit und zugunsten der materialen Gerechtigkeit, blieb dabei aber im Koordinatensystem seines 1914 entwickelten Rechtsbegriffs. Genauer betrachtet modifizierte Radbruch nach 1945 zwei Koordinaten innerhalb seiner Rechtsidee: den Relativismus innerhalb der Zweckbestimmung des Rechts (jetzt: Zweckidee) und das Zusammenspiel zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit: Radbruch entschärft den Relativismus zwischen den zuvor noch als gleichwertige Höchstwerte ohne rational auszumachende Rangordnung nebeneinander stehenden inhaltlichen Werten der Zweckidee.59 Er erkennt nunmehr die Menschenrechte als Rechte „absoluter Natur“60 an und bezeichnet ihre völlige Leugnung als „absolut unrichtiges Recht“61. Die Menschenrechte erhalten bei Radbruch nunmehr sogar naturrechtlichen Status:62 „Es gibt also Rechtsgrundsätze, die stärker sind als jede rechtliche Satzung, so daß ein Gesetz, das ihnen widerspricht, der Geltung bar ist. Man nennt diese Grundsätze das Naturrecht oder das Vernunftrecht. Gewiß sind sie im Einzelnen von manchem Zweifel umgeben, aber die Arbeit der Jahrhunderte hat doch einen festen Bestand herausgearbeitet, und in den sogenannten Erklärungen der Menschen- und Bürgerrechte mit so weitreichender Übereinstimmung gesammelt, daß in Hinsicht auf manche von ihnen nur noch gewollte Skepsis den Zweifel aufrechterhalten kann.“63 Radbruch, Grundzüge der Rechtsphilosophie, S. 175 f. Radbruch, Grundzüge der Rechtsphilosophie, S. 171. 58 Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 182. 59 Vgl. Buchholz-Schuster, Rechtsphilosophische Legitimation der Rechtspraxis nach Systemwechseln, S. 43 f. 60 Radbruch, Vorschule der Rechtsphilosophie, S. 27. 61 Radbruch, Vorschule der Rechtsphilosophie, S. 29. 62 So sogar A. Kaufmann, Problemgeschichte der Rechtsphilosophie, S. 109. Allerdings ist Radbruchs Lehre nach A. Kaufmann nicht naturrechtlich, jedenfalls nicht verstanden im Sinne eines klassischen Naturrechts, weil Radbruch nicht „absolut richtiges Recht“ aus seiner Rechtsidee folgert (vgl. A. Kaufmann, a. a. O., S. 109 ff., insbes. S. 114). 63 Radbruch, Fünf Minuten Rechtsphilosophie, in: Rechtsphilosphie, Anhang S. 335, (336). 56 57
III. Radbruchs Formel als Ausdruck modernen Naturrechtsdenkens
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Als Rechte absoluter Natur, ja als „Naturrecht“, sind die Menschenrechte mithin vom Relativismus ausgenommen.64 Zudem zeigt sich bereits hier, was Radbruch ein Jahr später in der Radbruchschen Formel über das gesetzliche Unrecht klarer formuliert, dass nämlich der Konflikt zwischen Gerechtigkeit und Rechtssicherheit im Falle des unerträglichen Widerspruchs des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit zugunsten der Gerechtigkeit zu lösen sei; und als ultima ratio befürwortet Radbruch ebenfalls bereits hier das früher noch ausdrücklich abgelehnte richterliche Widerstandsrecht:65 „Wenn Gesetze den Willen zur Gerechtigkeit bewußt verleugnen, . . . dann müssen auch die Juristen den Mut finden, ihnen den Rechtscharakter abzusprechen.“66
Radbruch geht nunmehr so weit, auch den Richter als Adressat seiner Grundsätze anzusprechen.67
III. Radbruchs Formel als Ausdruck modernen Naturrechtsdenkens: Die Idee der Unverfügbarkeit von Recht Trotz der so vollzogenen Akzentverschiebung innerhalb seiner Rechtsidee kann Radbruch nicht als „Naturrechtler“ eingeordnet werden, zumindest nicht widerspruchsfrei und jedenfalls nicht im „klassischen“ Sinne. Radbruch definiert keinen substantiell aufgefassten Naturbegriff, keine gleichbleibende „Natur des Menschen“, aus der ein ganzes System objektiver, unveränderlicher, immerwahrer Rechtssätze abzuleiten wäre.68 Seine Formel vom gesetzlichen Unrecht und übergesetzlichen Recht beschreibt mehr einen Prozess, für den es Richtpunkte, aber keine Garantien gibt.69 Richtiges Recht ist nicht mit einem absoluten Rechtswert gleichzusetzen. Es gibt vielmehr nur „annäherungsweise“ richtiges Recht.70 Kaufmann legt besonderen Wert darauf festzustellen, dass Radbruch in Hinblick auf seine Formel stets von „übergesetzlichem“ Recht, nie aber von „überpositivem“ Recht – verstanden im Sinne von überpositiv-naturrechtlich – gesprochen habe.71 64 Vgl. Buchholz-Schuster, Rechtsphilosophische Legitimation der Rechtspraxis nach Systemwechseln, S. 43. 65 Vgl. Buchholz-Schuster, Rechtsphilosophische Legitimation der Rechtspraxis nach Systemwechseln, S. 45. 66 Radbruch, Fünf Minuten Rechtsphilosophie, in: Rechtsphilosophie, Anhang, S. 335 (336). 67 Buchholz-Schuster, Rechtsphilosophische Legitimation der Rechtspraxis nach Systemwechseln, S. 45. 68 Vgl. Kaufmann, Problemgeschichte der Rechtsphilosophie, S. 109; ders., in: FS für Sten Gagnér, S. 105 (117). 69 Kaufmann, in: FS für Sten Gagnér, S. 105 (120). 70 Vgl. Kaufmann, in: FS für Sten Gagnér, S. 105 (117).
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B. Radbruchsche Formel
Und Radbruch selbst warnte noch 1949 davor, das „übergesetzliche Recht“ mit dem frühen Naturrecht zu identifizieren:72 „In Gestalt dieses ,übergesetzlichen Rechts‘ erlebte der alte Gedanke des ,Naturrechts‘ nach hundertjährigem Scheintode seine Wiederauferstehung; dennoch werden wir uns hüten müssen, das übersetzliche Recht von heute mit dem früheren Naturrecht zu identifizieren: es teilt nicht die übernationale und überzeitliche Unveränderlichkeit des Naturrechts der Vergangenheit . . . Das alte Naturrecht ist auch nicht ohne Grund aus seiner Herrscherstellung durch den Positivismus verdrängt worden, und auch seine Wiederauferstehung bringt unleugbare Gefahren mit sich. Allzu leicht kann sich in Gestalt ,übergesetzlichen Rechts‘ der Irrtum und die Willkür zur Geltung bringen und damit die übergesetzliche Rechtsfindung zur schweren Gefahr für die Rechtssicherheit werden. Die Annahme gesetzlichen Unrechts und die Anerkennung übergesetzlichen Rechts müssen auf die äußersten Fälle jener Art beschränkt bleiben, wie sie den Anlaß zu ihnen gegeben haben: auf Fälle eines flagranten, für niemand ernstlich bestreitbaren, schlechthin verbrecherischen Mißbrauchs in Gesetzesform.“
Radbruch macht sich in dieser kurz vor seinem Tode abgefassten Schrift die Stammlersche Version eines „Naturrechts mit wechselndem Inhalt“ zu eigen, „wandelbar nach Zeit und Ort“.73 Mit diesem „Naturrecht wechselnden Inhalts“ lässt sich kein einziger Rechtsinhalt als schlechthin richtiges Recht nachweisen, wie Stammler selber feststellt.74 Radbruchsche Formel und Radbruchs Erläuterung zum Begriff des „übergesetzlichen Rechts“ (oder „Naturrechts“ im genannten Sinne) reflektieren jedoch, was Ellscheid als „gemeinsames Kriterium modernen Naturrechtsdenkens“75 qualifiziert:76 die Idee der Unverfügbarkeit von Recht.77 Naturrecht wird in diesem (wei71 Es falle auf, dass nicht wenige Autoren im Hinblick auf die Radbruchsche Formel statt „übergesetzliches“ Recht „überpositives“ Recht (bzw. „Naturrecht“) sagen, ohne einen Grund dafür zu nennen, warum sie von der Terminologie Radbruchs abweichen (A. Kaufmann, NJW 1995, 81 (85); vgl. ders., in: FS für Sten Gagnér, S. 105 (119)). 72 Radbruch, Neue Probleme in der Rechtswissenschaft, S. 31 ff. 73 Radbruch, Neue Probleme in der Rechtswissenschaft, S. 33; vgl. A. Kaufmann, NJW 1995, 81 (86). 74 Vgl. A. Kaufmann, NJW 1995, 81 (86). 75 Ellscheid, Das Naturrechtsproblem, S. 184. Vgl. auch Kaufmann, in: FS für Sten Gagnér, S. 105 (109 ff., 113). 76 Vgl. hierzu und zum folgenden Ellscheid, Das Naturrechtsproblem, S. 184 ff. 77 „Es geht dem Naturrecht nach seiner Renaissance mehr denn je darum, die Unverfügbarkeit von Recht zu behaupten und zu sichern“, Ellscheid, Das Naturrechtsproblem, S. 184 f.; vgl. auch Kaufmann, Problemgeschichte der Rechtsphilosophie, S. 101; ders., in: FS für Sten Gagnér, S. 105 (106): Damit knüpft es an die Anfänge des Positivismus an, der als Gegenbewegung zum rationalistischen und aufklärerischen Naturrecht des 17. und 18. Jahrhundert das 19. Jahrhundert prägte. v. Feuerbach, von Kants Kritizismus geprägt, hielt das Bestehen eines objektiven Naturrechts für ausgeschlossen, erkannte aber subjektive Rechte des Menschen als unverfügbar an (v. Feuerbach, Kritik des natürlichen Rechts als Prolädeutik zu einer Wissenschaft der natürlichen Rechte, 1796). Als Ausnahme für die Geltung positiven Rechts hielt v. Feuerbach den richterlichen Ungehorsam als eine heilige Pflicht, wo der „Ge-
III. Radbruchs Formel als Ausdruck modernen Naturrechtsdenkens
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ten) Sinne als das verstanden, was die Manipulierbarkeit von Recht durch die Gesetzgebung durchkreuzt. Diese Idee der Unverfügbarkeit von Recht ist dem Naturrecht zwar immer schon immanent gewesen.78 Die Bindung an einen wie auch immer gearteten Naturrechtsbegriff wird allerdings mehr und mehr ersetzt durch das bloße Festhalten an der Vorstellung von der Unverfügbarkeit überhaupt.79 Diese richtet sich gegen die positive Rechtssetzung, mit dem Ziel, sie letztlich zu bändigen. Genau darum geht es bei Radbruch: die Menschenrechte werden zwar materialethischer Mindestgehalt des Rechts, sie werden aber auch abgegrenzt von dem „klassichen“ Naturrecht durch ein Naturrecht wandelnden Inhalts. Die Bindung an einen wie auch immer gearteten „Menschenrechtsnaturrechts“-begriff80 löst sich in der Vorstellung der Unverfügbarkeit von Recht gewissermaßen auf: Der Nichtwiderspruch zu den – seien sie nun im Kern absolut oder doch wandelbar – jedenfalls übergesetzlich gedachten „Menschenrechten“ wird zur legitimierenden Voraussetzung allen Rechts und zum Maßstab für die Zähmung positiver Rechtssetzung. Ein kurzer Blick auf die Methodik der Formel soll ihre (modern-)naturrechtliche Wirkungsweise in diesem Sinne noch einmal verdeutlichen:
1. Methodik der Formel Kaufmann weist zutreffend darauf hin, dass die Radbruchsche Formel in zwei Akte aufzuteilen ist, einen negativen und einen positiven:81 Der negative Akt besteht aus einer Falsifizierung; er verlangt die Feststellung, dass das fragliche Gesetz „gesetzliches Unrecht“ ist. Beim positiven Akt handelt es sich hingegen um eine Verifizierung: es muss festgestellt werden, was das „übergesetzliche Recht“ ist. a) „Gesetzliches Unrecht“ Die eigentliche Aufgabe, so die Argumentation Kaufmanns, liegt allerdings in der Falsifikation. Es sei zunächst festzustellen, dass das fragliche Gesetz der Gerechtigkeit in einem unerträglichen Maß widerspreche. Eine solche Falsifikation sei wesentlich leichter und führe zu sichereren Ergebnissen als eine Verifikahorsam Treubruch sein würde gegen die Gerechtigkeit, in deren Dienst allein er gegeben ist“ (ders., Die hohe Würde des Richteramts, 1817). 78 Ellscheid, das Naturrechtsproblem, S. 185. Naturrecht wurde stets als „das von menschlicher Praxis nicht gesetzte Seiende“ verstanden, Spaemann, Sitchwort: „Natur“, Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Bd. II, S. 957. 79 Vgl. Ellscheid, das Naturrechtsproblem, S. 185. 80 Vgl. H. Dreier, JZ 1997, 421 (429). Radbruch, Erneuerung des Rechts, in:Maihofer (Hrsg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus?, S. 1 (2), beruft sich u. a. auf die „jahrtausendalte gemeinsame Weisheit der Antike, des christlichen Mittelalters und der Aufklärung“. 81 Kaufmann, NJW 1995, 81 (82, 83 ff.).
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B. Radbruchsche Formel
tion.82 Dem liege das aus der Philosophie stammende „negative Prinzip“ zugrunde, wonach das menschliche Erkenntnisvermögen uns eine sichere Erkenntnis nur davon erlaube, was ein Ding nicht sei, während es uns eine sichere Erkenntnis desjenigen, was ein Ding sei, nicht erlaube.83 So könnten wir eher sagen, was ungerecht sei, als was Gerechtigkeit sei, desgleichen, was den Menschenrechten widerspreche, als was ihnen gemäß sei, also auch eher sagen, was „gesetzliches Unrecht“ sei, als was „übergesetzliches Recht“ sei. Und schließlich: Um „gesetzliches Unrecht“ zu erkennen, brauche man nicht genau und in allen Einzelheiten zu erkennen, was Gerechtigkeit sei. So genüge zum Beispiel die „unspezifische Vorstellung“, dass sie etwas mit Gleichheit / Ungleichheit zu tun habe. Die Falsifikation ist also eine Art „negatives Naturrecht“: sie sagt nicht, was absolut richtiges Recht ist, sondern vielmehr was absolut Unrecht ist.84 Der „Radbruchsche Kernbereich des Rechts“ beansprucht absolute Gültigkeit „eben nur im Angesicht ,absoluten‘, extremen Unrechts“.85 Hier spiegelt sich der instrumentale Charakter der Formel als „ultima ratio im Falle einer krassen Rechtsverkehrung“86 und damit als Ausdruck der Unverfügbarkeit von Recht wider, ohne das absolut richtige Recht zu definieren. Dennoch, die Falsifikation funktioniert nicht ohne eine gewisse Verifizierung dessen, was Recht ist.
b) „Übergesetzliches Recht“ Die Radbruchsche Formel wird getragen von der „Gerechtigkeitsidee“. Die formale Gerechtigkeit soll der materialen Gerechtigkeit weichen, wenn das formale Recht in höchstem Maße materiales Unrecht ist. Geht also die Falsifizierung der Verifizierung auch voraus, so verlangt dennoch bereits sie ein ungefähres Verständnis dessen, was denn nun gerecht sein soll. Das Unrecht bedarf zu seiner Qualifikation seines Gegenpols. Ohne Recht gibt es auch kein Unrecht. Die Radbruchsche Formel entkommt also schon hier nicht einer konkreteren Verifizierung. Bereits in der „unspezifischen Vorstellung“ dessen, was denn nun gerecht sein soll, liegt eine Verifizierung. Die Problematik der Falsifizierung wird zwar ihrerseits gewissermaßen relativiert. Nur der „unerträgliche“ Widerspruch soll die Geltung des Unrechts vernichten. Unter der Prämisse, dass extremes Unrecht in aller Regel auch evidentes Unrecht ist,87 reicht möglicherweise sogar eine unspezifischere GerechtigkeitsKaufmann, NJW 1995, 81 (83). Kaufmann, NJW 1995, 81 (83 ff.). Dazu näher Kaufmann, Negativer Utilitarismus, m. w. N. 84 Kaufmann, NJW 1995, 81 (85). 85 Buchholz-Schuster, Rechtsphilosophische Legitimation der Rechtspraxis nach Systemwechseln, S. 331. 86 Kaufmann, Gustav Radbruch – Leben und Werk, S. 83; vgl. Buchholz-Schuster, Rechtsphilosophische Legitimation der Rechtspraxis nach Systemwechseln, S. 131, 330 f. 87 Alexy, Mauerschützen, S. 34. 82 83
III. Radbruchs Formel als Ausdruck modernen Naturrechtsdenkens
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vorstellung als Grundlage für die Falsifizierung aus. Aber Radbruch selber verifiziert, indem er – so Kaufmann – „(falsifizierend) die Frage nach dem materialethischen Mindestgehalt des Rechts“ beantwortet, nämlich durch die „Anerkennung der Menschenrechte – oder besser negativ: der Nichtwiderspruch zu den Menschenrechten ist der legitimierende Grund allen Rechts“.88 Als Ausnahme vom Relativismus und als Rechte absoluter Natur prägen die Menschenrechte die Zweckidee und im Zusammenspiel mit der Gerechtigkeit und der Sicherheit den Begriff des Rechts und den Rechtsetzungsspielraum des Gesetzgebers. Sogar Kaufmann muss feststellen, dass Radbruch „gewisse subjektive Rechte des Menschen, die der staatlichen Gesetzgebung vorgegeben und unverfügbar, gleichwohl aber geschichtlich sind, also im Wesentlichen das, was wir als Grund- und Menschenrechte bezeichnen“ als „Naturrecht erachtet und anerkannt hat“.89 Und wenn Radbruch von diesem Naturrecht später sagt, es sei „wandelbar nach Ort und Zeit“, so bezeichnet er es doch als Naturrecht, da es eben der staatlichen Gesetzgebung vorgegeben und damit unverfügbar ist. Das ist der naturrechtliche Kern der Formel. Sie misst „übergesetzlichem Recht“ eine Art Geltungsvorrang mit unmittelbar rechtsgestaltender Wirkung bei. „Menschenrechtsnaturrechtssätze“ verharren nicht auf einer Vorstufe zur Positivierung. Zuwiderlaufende Rechtsvorschriften werden zu Nichtrecht. Dies ist das Spezifische an der Radbruchschen Formel, hierin hat sie ihre eigene (wenn man so will moderne) Naturrechtskonjunktur. Insofern ist es für die Zwecke der vorliegenden Arbeit auch müßig zu diskutieren, ob von der Terminologie Radbruchs abgewichen wird, indem, wie bei vielen anderen auch, von „überpositivem“ Recht bzw. „Naturrecht“ und nicht von „übergesetzlichem“ Recht die Rede ist.90
2. Unerträglichkeit von Unrecht als Unverfügbarkeitsmaßstab Die Radbruchsche Formel beansprucht absolute Gültigkeit lediglich für den Radbruchschen Kernbereich des Rechts, und zwar nur im Angesicht des extremen Unrechts.91 Das negative Prinzip verschiebt die Erkenntnisaufgabe auf die Frage, wann eine Norm der Gerechtigkeit in unerträglichem Maße widerspricht, wann sie extremes Unrecht ist. Dies ist der Maßstab für den Nichtwiderspruch, für die Unverfügbarkeit von Recht. Wo aber ist die Grenze zwischen „unerträglich“92 und 88 Kaufmann, Radbruch – Leben und Werk, S. 83 f.; vgl. Buchholz-Schuster, Rechtsphilosophische Legitimation der Rechtspraxis nach Systemwechseln, S. 131. 89 Kaufmann, Problemgeschichte der Rechtsphilosophie, S. 109. 90 In der Tat erinntert die Kritik A. Kaufmanns an eine gewisse Definitionsakrobatik (so zurecht Buchholz-Schuster, Rechtsphilosophische Legitimation der Rechtspraxis nach Systemwechseln, S. 243). 91 Buchholz-Schuster, Rechtsphilosophische Legitimation der Rechtspraxis nach Systemwechseln, S. 331. 92 Radbruch, SJZ 1946, 105 (107).
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B. Radbruchsche Formel
„noch erträglich“93, „extremem“94 und „(noch) nicht extremem“, „außerordentlichem“95 und „(noch) nicht außerordentlichem“, „exzessivem“96 und „(noch) nicht exzessivem“, schließlich „evidentem“97 und „(noch) nicht evidentem“ bzw. „offensichtlichem“ 98 oder auch „offenkundigem“ und „(noch) nicht offenkundigem“ Unrecht zu ziehen?99 Der Begriff der Unerträglichkeit impliziert Evidenzerlebnisse. Nach Alexy ist „extremes Unrecht in aller Regel auch evidentes Unrecht“100. Und der Bundesgrichtshof stellt, wie zu zeigen sein wird, auf Evidenzerlebnisse ab.101 Die Radbruchsche Formel stellt aber nur die Erkenntnisaufgabe und gibt keine Auskunft über die Methode des Abwägungsprozesses.102 In der Praxis zeigt sich, wie im folgenden Abschnitt darzulegen sein wird, die Problematik dieses Abwägungsprozesses insbesondere im Rahmen der Aufarbeitung des realsozialistischen Unrechts. Die allseits beschworene Evidenz ist gerade bei der Aufarbeitung des DDR-Unrechts im konkreten Fall regelmäßig kein taugliches Unterscheidungsmerkmal.
A. Kaufmann, NJW 1995, 81 (84). Alexy, Mauerschützen, S. 34; BVerfGE 95, 96 (133 f., 136); H. Dreier, JZ 1997, 421 (423); ders., Diskussionsbeitrag, VVDStRL 51 (1991), S. 137. 95 Dannecker / Stoffers, JZ 1996, 490, (492); Dannecker, Jura 1994, 585 (590). 96 Alexy, Mauerschützen, S. 22; R. Dreier, in: FS für Arthur Kaufmann, S. 57 (68). 97 Alexy, Mauerschützen, S. 34. 98 BVerfGE 95, 96 (135). 99 Allein die Bemerkung Dannecker / Stoffers, JZ 1996, 490 (492), zeigt hier schon, dass es sich nicht nur um reine Begrifflichkeiten handelt, sondern bereits um klare Definitionsschwierigkeiten. 100 Alexy, Mauerschützen, S. 34. 101 Vgl. H. Dreier, JZ 1997, 421 (429). 102 Vgl. Limbach, DtZ 1993, 66 (68). 93 94
C. Formelrezeption und Naturrechtsgedanke in der bundesgerichtlichen Rechtsprechung und Literatur der Bundesrepublik Ruhige Zeiten sind der natürliche Nährboden des Positivismus, während unruhige Zeiten das Naturrecht fördern:1 „Solange Rechtsgeschehen nicht zur Debatte steht, bedarf es keiner Bewahrungs- oder Überwindungsmanöver. . . . Gerät aber Recht ,ins Gerede‘, in Krisen, in Fragwürdigkeit, spalten sich Menschen in Gruppen, die das geltende Recht verteidigen oder bekämpfen“2. Hiermit lassen sich alle Naturrechtskonjunkturen erklären. Und so hatte der Naturrechtsgedanke in der unmittelbaren Nachkriegszeit seine spezifische Konjunktur aufgrund der Rechtsnot der Gerichte bei der Aufarbeitung nationalsozialistischer Makrokriminalität. Bis 1933 jahrzehntelang von einer gesetzespositivistischen Auffassung geprägt, bewirkten die bestürzenden Erfahrungen im Dritten Reich einen grundlegenden Wandel. Das Vertrauen in die Legitimität der Legalität war erschüttert und führte zu einer bis in die sechziger Jahre hinein andauernde Grundlagendiskussion.3 Ausgangspunkt dieser Naturrechtsrenaissance war die rechtsphilosophische Diskussion um die Problematik rückwirkender Bestrafung durch das vornehmlich gegen Denunzianten angewendete KRG Nr. 10 und die Bestrafung von NS-Richtern. Diese Diskussion ereignete sich außerhalb des zeitlichen Geltungsbereichs des Grundgesetzes. Die Radbruchsche Formel stammt, wie dargelegt, aus diesem Kontext und war letztlich der Auslöser der Diskussion. Als das Grundgesetz verabschiedet wurde, hatte sich die Naturrechtsrenaissance der ersten Nachkriegsjahre noch nicht erschöpft. Zumindest blieb ein Bodensatz. Trotz der Positivierung der Prinzipien materialer Gerechtigkeit im Grundgesetz fand die Idee der Unverfügbarkeit von Recht insbesondere bei der fortwirkenden Aufarbeitung nationalsozialistischen Unrechts weiterhin Eingang in die Rechtsprechung.4 Eine Wiederauflage erlebt der Naturrechtsgedanke in der Rechtspraxis Nöldeke, MDR 1949, 537. Wiethölter, Rechtswissenschaft, S. 42 f. 3 Vgl. hierzu umfassend Schumacher, Rezeption und Kritik der Radbruchschen Formel, S. 31 ff. 4 Einen Überblick zum Naturrechtsgedanken in der Rechtsprechung des BGH in den fünfziger Jahren verschafft Weinkauff, in: Maihofer (Hrsg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus?, S. 554 ff. Die Rechtspraxis greift allerdings auch außerhalb der Unrechtsaufarbeitung auf den Naturrechtsgedanken zurück. So beispielsweise im Zusammenhang mit Art. 6 Abs. 2 und 3 GG: BVerfGE 10, 59 (81) zu der Frage, ob die Einheit der Familie die primäre Zuständigkeit des 1 2
3 Dieckmann
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C. Bundesgerichtliche Rechtsprechung und Literatur
durch die Rezeption der Radbruchschen Formel seit der Wiedervereinigung, insbesondere im Kontext der strafrechtlichen Aufarbeitung des realsozialistischen Unrechts. Maß und Intensität des Unrechts dieser beider Diktaturen sind zwar kaum miteinander zu vergleichen; die rechtsstaatlichen Fragen im Rahmen der insbesondere strafrechtlichen Aufarbeitung des geschehenen Unrechts sind jedoch ähnlich. Das Dilemma der Gerichte ist identisch: das Bedürfnis nach materialer Gerechtigkeit in Einklang zu bringen mit den formalen Kautelen der Rechtsstaatlichkeit, insbesondere dem Rückwirkungsverbot. Dabei hat die „Kontroverse um Rechtsstaat und Gerechtigkeit“5 mit Verabschiedung des Grundgesetzes eine ganz andere Qualität erlangt. Es stellt sich die Frage, ob die Radbruchschen Formel in diesem Koordinatensystem überhaupt noch anwendbar ist, ob sie sich nicht an den formalen Kautelen grundgesetzlich konstituierter Rechtsstaatlichkeit stößt. Die Rechtsprechung fügt sich in ein sorgfältig auf der Basis der Volkssouveränität austariertes Gewaltenteilungssystem ein. Das Rückwirkungsverbot, in den unmittelbaren Nachkriegsjahren noch als grundlegendes rechtsstaatliches Prinzip diskutiert (teilweise sogar als „überstaatliches Recht“ qualifiziert),6 ist in der strikten Form des Art. 103 Abs. 2 GG positiviert und zugleich in das Rechtsstaatsprinzip eingelassen. Mit dem Bekenntnis zu den Menschenrechten hat der Verfassungsgeber zudem den Weg einer Positivierung des rationalen Naturrechts gewählt.7 Und schließlich steht die Radbruchsche Formel bei Gesamtbetrachtung und -abwägung, dort des nationalsozialistischen, hier des realsozialistischen Unrechts heute vor dem Hintergrund einer deutlich anderen Unrechtsqualität als früher. Radbruch selber wollte seine Formel auf die „völlig singulären Verhältnisse“ der NS-Zeit beschränkt wissen,8 freilich ohne Kenntnis Vaters für die Konfliktentscheidung notwendig fordert, dazu H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG Bd. I, 1. Aufl., Art. 6 Rn. 66 m. w. N. Die Geltung von Naturrecht wird insbesondere im Zusammenhang mit der Präambel (im Rahmen der sog. „invocatio dei“, siehe hierzu unten, S. 147 ff.), Art. 1 Abs. 2 GG (hierzu eingehend unten, S. 153 ff.) und Art. 20 Abs. 3 GG (siehe hierzu eingehend unten, S. 163 ff.) diskutiert. Es sei auch an die monströse Gerichtsentscheidung des Bundesgrichtshofs in Sachen Unzuchtscharakter des Sexualverkehrs von Verlobten erinnert, BGHSt. 6, 46; 6, 147: „Normen des Sittengesetzes“. Vgl. hierzu Kaufmann, Problemgeschichte der Rechtsphilosophie, S. 98. Auch die Radbruchsche Formel wird außerhalb der Unrechtsaufarbeitung rezipiert, insbesondere in der Diskussion um „verfassungswidrige Verfassungsnormen“, wo sie das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 3, 225 ff.) erstmals bemüht (vgl. hierzu eingehend unten, S. 50 ff.). 5 AK-GG – Frankenberg, Art. 20 Abs. 1 – 3 IV Rn. 26. 6 Vgl. hierzu nur Buchholz-Schuster, Rechtsphilosophische Legitimation der Rechtspraxis nach Systemwechseln, S. 55 ff. 7 H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG Bd. I, Art. 1 II Rn. 12 und Vorb. Rn. 69. Ob das Grundgesetz mit dem Rechtsstaatsprinzip grundlegende Gerechtigkeitspostulate der naturrechtlichen Verfassungstradition oder nur ein ethisches Minimum inkorporiert hat, ist allerdings umstritten, vgl. AK-GG – Frankenberg, Art. 20 Abs. 1 – 3 IV Rn. 25 m. w. N. 8 Vgl. H. Dreier, JZ 1997, 421 (429). Allein deswegen stellt sich bereits die Frage der Anwendbarkeit der Formel auf die ebenfalls einzigartige Situation der Aufarbeitung des realsozialistischen Unrechts.
I. Exkurs: Verfassungskollisionsrecht
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der damals noch erst bevorstehenden realsozialistischen Unrechtsentwicklung in Deutschland. Mit der Rezeption der Formel in der Rechtsprechung nach der Wiedervereinigung hat sie nunmehr den historisch-politischen Rahmen ihrer Entstehung überschritten. Die nachfolgende Darstellung der Rezeption der Radbruchschen Formel behandelt den Zeitraum ab Inkrafttreten des Grundgesetzes. Einen Überblick über den Zeitraum davor verschafft Buchholz-Schuster.9 Die vorliegende Arbeit fokussiert die strafrechtliche Unrechtsaufarbeitung insbesondere in der Zeit nach der Wiedervereinigung (nachfolgend III.). Diese verleiht der Thematik ihren aktuellen Bezug. Der Zeitraum bis 1990 (nachfolgend II.) ist in der Gesamtheit, was die rechtstheoretischen Stellungnahmen zur Radbruchschen Formel angeht, zwar immens, der Praxisbezug dieser Diskussion ist jedoch im Gegensatz zur Diskussion nach 1990 gering.10 Es soll nachfolgend gerade nicht darum gehen, die „rechtsphilosophische Legitimation der Rechtspraxis nach Systemwechseln“11 darzulegen. Vielmehr beabsichtig der Überblick, Anwendung und Kontext überpositiven Rechts als Prüfungsmaßstab in der Rechtspraxis herauszustellen und deren Rechtfertigung im Lichte grundlegender Verfassungsprinzipien, Strukturentscheidungen und Kompetenzzuweisungen herauszupräparieren. Die Unrechtsaufarbeitung bietet eine breite Plattform insbesondere für die Rezeption der Radbruchschen Kollisionsregel. Die Radbruchsche Formel erscheint aber gelegentlich auch in anderem Kontext. Wie verhält sich aber die Radbruchsche Formel bzw. der Naturrechtsgedanke in der positivierten Ordnung des Grundgesetzes?
I. Exkurs: Verfassungskollisionsrecht Die naturrechtliche Frage stellt sich den Gerichten bei der Unrechtsaufarbeitung als der Konflikt, den die Radbruchsche Formel zum Ausdruck bringt. Die Rechtsnot der Gerichte in den Anfangsjahren der Bundesrepublik konnte nur entstehen, weil nationalsozialistisches Unrecht in die grundgesetzliche Rechtsordnung hineinwirkte. Die Neuauflage war mit der Wiedervereinigung 1990 vorprogrammiert. Damals wie in unserer jüngsten Vergangenheit standen die Gerichte vor dem Problem, Sachverhalte aufgrund verfassungsrechtlicher bzw. einigungsvertraglicher Vorgaben nach altem Recht beurteilen zu sollen und damit Rechtsnormen anwenden zu müssen, die dem Gerechtigkeitsempfinden stark widersprachen.
9 Buchholz-Schuster, Rechtsphilosophische Legitimation der Rechtspraxis nach Systemwechseln, S. 53 ff., S. 82 ff. Vgl. aus dieser Diskussion bspw. Bader, DRZ 1946, 140; v. Hodenberg, SJZ 1947, 113; Wimmer, SJZ 1947, 123; Coing, SJZ 1947, 61; Figge, SJZ 1947, 179; Lange, DRZ 1948, 155. 10 Vgl. Schumacher, Rezeption und Kritik der Radbruchschen Formel, S. 33, S. 65, S. 69. 11 Vgl. hierzu die bereits oben zitierte Arbeit von Buchholz-Schuster mit dem gleichlautenden Titel.
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Das so genannte „Altrecht“ findet Eingang in die grundgesetzliche Rechtsordnung über die Fortgeltungs- und Fortwirkungsanordnungen des Verfassungs- (und einigungsvertraglichen) Kollisionsrechts. Dabei ist zu unterscheiden zwischen der Fortgeltung und der Fortwirkung vorkonstitutionellen NS-Rechts und vorkonstitutionellen DDR-Rechts. Gemäß Art. 123 Abs. 1 GG gilt vorkonstitutionelles Recht aus der Zeit vor dem Zusammentreten des ersten Bundestages12, also auch NS-Recht, fort, soweit es mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Gleiches gilt (in eingeschränktem Maße)13 gemäß Art. 143 GG und Art. 9 Abs. 1 und 2 EinigungsV für die Fortgeltung (vorkonstitutionellen) DDR-Rechts, wobei hier der maßgebliche Zeitpunkt der Tag der Unterzeichnung des Einigungsvertrages (Art. 9 Abs. 1 EinigungsV) ist.14 Das vorkonstitutionelle Recht muss nach der zum Zeitpunkt seines Erlasses bestehenden staatsrechtlichen Lage gültig zustande gekommen15 und nicht nachträglich unwirksam geworden16 sein. Die grundsätzlichen Fortgeltungsanordnungen des Art. 123 Abs. 1 GG sowie die Fortgeltungsanordnungen des Einigungsvertrages stehen jedoch maßgeblich unter dem Vorbehalt der Grundgesetzkonformität des Altrechts. Wegen des ausdrücklichen Vorbehalts der Grundgesetzkonformität fortgeltenden vorkonstitutionellen Rechts und der Positivierung der Prinzipien materialer Gerechtigkeit im Grundgesetz, geben die Fortgeltungsanordnungen letztlich keinen Anlass für eine naturrechtliche Diskussion. Der Widerspruch zu materialen Gerechtigkeitspostulaten wird grundsätzlich durch die rezipierende Rechtsordnung des Grundgesetzes abgefangen. Naturrechtliche Positionen finden entsprechend in der Praxis auch keinen Eingang in diesen Rechtsbereich.17
12 Anknüpfungszeitpunkt für die prinzipielle Rechtskontinuität ist der 01. 07. 1949 und nicht der Zeitpunkt des Inkrafttretens des Grundgesetzes. 13 Nach Maßgabe von Art. 9 Abs. 2 bis 5 EinigungsV und unter Berücksichtigung der Übergangsfristen des Art. 143 Abs. 1 und 2 GG. 14 Art. 9 Abs. 1 und 2 EinigungsV ordnen auch ausdrücklich die Notwendigkeit einer Berücksichtigung des EinigungsV, insbesondere eine Vereinbarkeit mit dem europäischen Gemeinschaftsrecht an. Auch das sonstige vorkonstitutionelle Recht wie auch das nachkonstitutionelle einfache Recht unterliegt freilich grundsätzlich dem Vorbehalt einer Vereinbarkeit mit europäischen Gemeinschaftsrecht. An dieser Stelle interessiert aber nur die Tatsache, dass eine Normenkontrolle durch die Rechtsanwendungsorgane am Maßstab überpositiven Rechts nicht vorgesehen ist. 15 BVerfGE 6, 389 (414, 418 f.); 8, 71 (75 ff.); 10, 354 (360 f.); AK-GG – Bothe, Art. 123 GG, Rn. 9; Kirn, in von Münch / Kunig Bd. 3; Art. 123 GG, Rn. 4; Schulze, in: Sachs, GGKommentar, Art. 123, Rn. 7. 16 BVerfGE 4, 115 (138). 17 Mit Art. 123 Abs. 1 GG, hebt das Grundgesetz ganz formal auf die Positivität des alten Rechts ab und misst die Fortgeltung nach den eigenen neu gesetzten Maßstäben. Damit entzieht es zugleich „der naturrechtlichen Diskussion um die Legitimität der Rechtsquellen des NS-Regimes und ihres fortdauernden Geltungsanspruchs weithin den Boden“ (Hofmann, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. I, § 7 Rn. 1).
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Anders verhält es sich hingegen beim fortwirkenden Altrecht.18 Fortwirkendes nationalsozialistisches und realsozialistisches Unrecht als spezifisch deutsche Altlast sind besondere Merkmale prinzipieller Diskontinuität deutscher Rechtstradition. Während das fortgeltende vorkonstitutionelle19 Recht, soweit es grundgesetzkonform ist, rezipiert und seine Geltung für alle Anwendungsfälle grundgesetzlich ausdrücklich legitimiert wird, betrifft das fortwirkende Recht ausnahmslos in vorkonstitutioneller Zeit abgeschlossene und daher nach vorkonstitutionellem Recht zu beurteilende Sachverhalte. Sie sind nach vorkonstitutionellem Recht zu beurteilen, obwohl es nicht mehr gilt. Das ist insbesondere der Fall bei der Beurteilung des Fortbestandes subjektiver Berechtigungen und bei der strafrechtlichen Beurteilung von Sachverhalten. Das Strafrecht genießt dabei jedoch eine Sonderbehandlung, faktisch wie rechtlich. Die primäre und am heftigsten diskutierte Ausnahme vom Grundsatz der „Vergangenheitsbewältigung am Maßstab des Grundgesetzes“ bildet im Rahmen der Aufarbeitung sowohl des NS-Unrechts wie auch des DDRUnrechts der in Art. 103 Abs. 2 GG verankerte Nulla-poena-sine-lege-Grundsatz. Soweit es um die materielle Beurteilung außerhalb des grundgesetzlichen Geltungsbereichs begangener Straftaten geht, handelt es sich bei Art. 103 Abs. 2 GG – einfachgesetzlich konkretisiert in § 2 StGB (für fortwirkendes DDR-Recht über Art. 315 Abs. 1 EGStGB) –, um Verfassungskollisionsrecht. Es ordnet die materiell-rechtliche Beurteilung nach dem zum Tatzeitpunkt am Tatort geltenden Recht an, eben dem damals geltenden Recht wie Unrecht. Die Fortwirkung alten Rechts setzt also dessen gültiges Zustandekommen und dessen tatsächliche Geltung zum Zeitpunkt der tatbestandlichen Verwirklichung auf der Grundlage des damals geltenden Rechts voraus. Kann eine Nichtigkeit der in Frage stehenden vorkonstitutionellen Normen bereits für den tatbestandlichen Anknüpfungszeitpunkt festgestellt werden, ist die Fortgeltung bzw. Fortwirkung freilich ausgeschlossen. Hier setzt die Rechtsprechung bei der Unrechtsaufarbeitung an. Den in Frage stehenden Normen wird (zumindest faktisch) die Gültigkeit zu vorkonstitutioneller Zeit rückwirkend abgesprochen. Mit Hilfe überpositiver Rechtsgrundsätze bzw. mit Hilfe der Radbruchschen Formel, wie nachfolgend zu zeigen sein wird, werden die Normen für von Anfang an nichtig erklärt, ungeachtet ihrer Vereinbarkeit mit der damals geltenden Staatspraxis.
II. Formelrezeption und Naturrechtsgedanke vor 1990 Bei der Rezeption der Radbruchschen Formel stehen in Rechtsprechung und Lehre vor der Wiedervereinigung meist unterschiedliche Aspekte im Vordergrund:20 Im Rahmen der Rechtsprechung diente die Formel vornehmlich der nach18 19 20
Vgl. hierzu Brunner, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. IX, § 210 Rn. 35 ff. Auch das Recht der ehemaligen DDR ist vorkonstitutionelles Recht! Vgl. Schumacher, Rezeption und Kritik der Radbruchschen Formel, S. 69.
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träglichen Unrechtsaufarbeitung. Die Lehre hingegen thematisierte die Formel eher als als „Theorie der Rechtsanwendung und -befolgung in einem Unrechtsstaat“21. 1. Rechtsprechung Positivistische Stellungnahmen deutscher Gerichte tauchen in den Anfangsjahren der Bundesrepublik daher nur selten auf.22 Den positivistischen Tendenzen in der Rechtsprechung des Reichsgerichts vor 1933 stehen der Einfluss des Naturrechtsgedankens und insbesondere der Radbruchschen Formel auf die Rechtsprechung der Anfangsjahre der Bundesrepublik entgegen.23 Besonders markant kontrastieren insoweit eine Entscheidung des Reichsgerichts aus dem 118. Band und eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem ersten Band entgegen. Hatte das Reichsgericht noch formuliert: „Der Gesetzgeber ist selbstherrlich und an keine andere Schranken gebunden als diejenigen, die er sich selbst in der Verfassung oder anderen Gesetzen gezogen hat“24, so formulierte das Bundesverfassungsgericht: „Das Bundesverfassungsgericht erkennt die Existenz überpositiven, auch den Verfassunggeber bindenden Rechts an und ist zuständig, das gesetzte Recht daran zu messen“25. Gegensätzlicher können diese Feststellungen kaum sein. Die nachfolgende Darstellung behandelt nur die bundesgerichtliche Rechtsprechung. Eine weitergehende Abhandlung wäre kaum zu leisten und würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. a) Bundesgerichtshof Der Einfluss der Naturrechtsrenaissance auf den Bundesgerichtshof ist nicht zu übersehen.26 Zahlreiche Entscheidungen der fünfziger Jahre belegen diesen EinSchumacher, Rezeption und Kritik der Radbruchschen Formel, S. 69. Vgl. andeutungsweise z. B. BGHZ 1, 274 (276 f.): Im Rahmen der Frage nach der Möglichkeit „verfassungswidriger Verfassungsnormen“ führte der BGH zu Art. 131 Satz 3 GG aus, dass der Verfassungsgesetzgeber von seinen selbst verkündeten Rechtssätzen Ausnahmen zulassen könne und deswegen eine Norm des Grundgesetzes begrifflich nicht mit dem Grundgesetz selbst in Widerspruch stehen könne. Dazu Schumacher, Rezeption und Kritik der Radbruchschen Formel, S. 70; Weinkauff, in: Maihofer (Hrsg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus, S. 554 (558 f.). 23 Einen Überblick über die Rezeption der Radbruchschen Formel und den Naturrechtsgedanken in der bundesgerichtlichen Rechtsprechung findet man bei Schumacher, Rezeption und Kritik der Radbruchschen Formel, S. 69 ff. m. w. N. und Weinkauff, in: Maihofer (Hrsg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus, S. 554 ff. Vgl. Schumacher (a. a. O., S. 70 f.) i. ü. auch dazu, dass sich die Radbruchsche Fromel in den Entscheidungen des Bundesverwaltungs-, des Bundessozial- und des Bundesarbeitsgerichts überhaupt nicht nachweisen lässt. 24 RGZ 118, 327. 25 BVerfGE 1, 18. 21 22
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fluss des Naturrechtsgedankens als Geltungskontrolle wie auch als Auslegungsmittel27. Der Bundesgerichtshof hat sich zu der Frage der Geltungskontrolle meist im Rahmen der Unrechtsaufarbeitung geäußert. Die Radbruchsche Formel steht dabei mal mehr und mal minder explizit im Zentrum seiner Entscheidungen.28 Der Bundesgerichtshof stützt seine Argumentation auf naturrechtliche Geltungsthesen, aber auch auf Völkerrecht29, während das Bundesverfassungsgericht, wie zu zeigen sein wird, erst im Rahmen seiner Urteile zu den Mauerschützen und zur Rechtsbeugung in der ehemaligen DDR auch auf Völkerrecht zurückgreift. Offenbare Legitimationsdefizite einer Anerkennung überpositiven Rechts im Geltungsbereich des Grundgesetzes werden dabei ignoriert. Das Prinzip der Volkssouveränität und dessen Durchdringung der Verfassung, die Positivierung grundlegender Gerechtigkeitswerte, die Vorrangprinzipien von Gesetz und Verfassung, die Konstituierung der Verfassungsgerichtsbarkeit und Normenkontrolle sowie die Gesetzesbindung der Judikative werden nicht thematisiert. Lediglich im Gutachten des Bundesgerichtshofs zum späteren Gleichberechtigungsurteil setzt sich das Bundesverfassungsgericht mit der Kompetenzfrage und Art. 100 Abs. 1 GG auseinander. aa) Zivilrechtssenate Im außerstrafrechtlichen Bereich befasste sich der Bundesgerichtshof in diversen Verfahren mit fortwirkendem NS-Recht, in denen immer wieder eine Hinwendung zu naturrechtlichen Betrachtungsweisen unverkennbar ist. Vereinzelte Entscheidungen enthalten aber auch eine positivistische Einstellung bezüglich der Gültigkeit von NS-Recht.30 (1) Urteil vom 12. Juli 1951 (BGHZ 3, 94 ff.) In einer Zivilsache beschäftigte sich der Bundesgerichtshof mit der Radbruchschen Formel erstmals in einem Staatshaftungsfall.31 Der Beklagte, ein Volkssturm26 Vgl. Weinkauff, in: Maihofer (Hrsg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus?, S. 554 ff.; Evers, JZ 1961, 241 ff. und Schumacher, Rezeption und Kritik der Radbruchschen Formel, S. 69 f., 90 ff. 27 Anschauliches Beispiel für den Einfluss des Naturrechtsgedankens als Auslegungskriterium bildet die Entscheidung des BGH in Sachen Unzuchtscharakter des Sexualverkehrs, BGHSt. 6, 46 (52). Vgl. hierzu Weinkauff, in: Maihofer (Hrsg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus?, S. 554 (572); Kaufmann, Problemgeschichte der Rechtsphilosophie, S. 99; Schumacher, Rezeption und Kritik der Radbruchschen Formel, S. 90 f. 28 Vgl. H. Dreier, JZ 1997, 421 ff. (zur „Nachkriegsjudikatur“: 423, m. Fn. 24); Schumacher, Rezeption und Kritik der Radbruchschen Formel, S. 90 ff. 29 Beeinflusst durch die Nürnberger Urteile, vgl. hierzu Schumacher, Rezeption und Kritik der Radbruchschen Formel, S. 91 f. 30 Vgl. Nachweise bei Weinkauff, in: Maihofer (Hrsg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus?, S. 554 (558 f.). 31 BGHZ 3, 94 ff. (Staatshafungsurteil).
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kommandeur, berief sich in diesem Schadensersatzprozess auf den so genannten Katastrophenbefehl Himmlers. Hiernach war jeder Waffenträger ermächtigt, einen Deserteur auch ohne standgerichtliches Verfahren zu erschießen. Der Beklagte hatte noch im April 1945 einen Wehrmachtsangehörigen, der sich von der Truppe entfernt hatte, ohne Verfahren erschossen. Der entscheidende Dritte Senat prüfte nun, ob die – als Rechtfertigungsgrund fortwirkenden – Befehle dem „Naturrecht“ widersprachen. Dabei berief er sich ausdrücklich auf Völkerrecht und Radbruch, ohne die Zulässigkeit dieses Rückgriffs im grundgesetzlichen Kontext zu thematisieren: „Das Gesetz findet dort seine Grenze, wo es in Widerspruch zu den allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts oder zu dem Naturrecht tritt ( . . . ) oder der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als ,unrichtiges Recht‘ der Gerechtigkeit zu weichen hat. Wird der Grundsatz der Gleichheit bei der Setzung des positiven Rechts überhaupt verleugnet, dann entbehrt das Gesetz der Rechtsnatur und ist überhaupt kein Recht.“32
Das Gerechtigkeitsprinzip füllt der Bundesgerichtrichtshof dabei in Anlehnung an Radbruch mit Menschenrechten aus: Zum Gerechtigkeitsprinzip gehöre das „unveräußerliche Recht eines Menschen“, nicht ohne Gerichtsverfahren getötet zu werden. (2) Urteil vom 10. Juli 1952 (BGH NJW 1952, 1139) Bemerkenswert ist die Entscheidung zu § 40 des Beamtenrechtsänderungsgesetzes (BRÄndG) vom 30. 06. 1933. Dieses Gesetz diente der Beseitigung von Hindernissen, die der Herabsetzung von Dienstbezügen im Hinblick auf wohlerworbene Rechte entgegenstanden. Es war auf der Grundlage des Gesetzes „zur Behebung der Not von Volk und Reich“ vom 24. 03. 1933, des so genannten Ermächtigungsgesetzes, erlassen worden. Die vom Bundesgerichtshof vorgenommene Normprüfung erfolgte in den üblichen zwei Schritten. Der Bundesgerichtshof trennte zwischen der formal-rechtlichen Gültigkeit und der material-rechtlichen, sprich inhaltlichen Gültigkeit der Norm. Augenfällig ist allerdings die unterschiedliche Beurteilung der Legitimitätsfrage. Die Legitimität der Rechtssetzung wird vom Bundesgerichtshof nicht angezweifelt, wohl aber die Legitimität des gesetzten Rechts: Die formelle Gültigkeit der in Frage stehenden Norm wird vom Bundesgerichtshof bejaht. Hierzu führt das Urteil aus, dass sich jedes Staatswesen die formellen Voraussetzungen für das Zustandekommen eines Gesetzes, auch wenn es von der Verfassung abweiche, selbst schaffe. Ihre Wahrung könne nur an dem Rechte des Staates geprüft werden, der das Gesetz erlassen habe. Auch wenn dem Ermächtigungsgesetz selbst die Anerkennung und vor allem die formelle Kraft zur Abänderung der Weimarer Reichsverfassung abgesprochen werde, so habe doch die 32
BGHZ 3, 94 (107).
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damalige Reichsregierung auf Grund dieses Gesetzes fortlaufend Gesetze ohne Mitwirkung des Reichstages erlassen und dabei keine Ausnahme für solche Gesetze gemacht, die einen die Verfassung ändernden Inhalt gehabt hätten. Alle diese Gesetze seien ohne Beanstandung der Form ihres Zustandekommens als formell wirksam anerkannt und angewandt worden. Entscheidend sei, dass ihnen (faktisch) formale Wirksamkeit zugekommen sei, und zwar auch insoweit, als sie die Verfassung abänderten. Sie seien formalrechtlich gültig gewesen.33 Auch die materielle Wirksamkeit wird vom Bundesgerichtshof bejaht. Allerdings stellt das Gericht fest, dass „despotischen Normen“ (Thoma)34 die Geltung zu versagen sei: Ob die genannten formal gültigen Gesetze auch sachlich rechtswirksame Normen seien, hänge davon ab, ob ihr Inhalt den Anforderungen eines Rechtsstaates genüge oder ob sie etwa Unrecht statt Recht enthielten, ob es sich also um noch irgendwie akzeptable oder aber um „despotische Normen“ handle, welche niemals gültiges Recht geworden seien. Letztlich kommt damit auch hier der Grundgedanke Radbruchs zum Ausdruck. Erstaunlich bleibt aber der Verweis auf die Prüfungsmaßstäbe: Der Inhalt soll an den Anforderungen eines Rechtsstaats gemessen, Recht oder Unrecht inhaltlich nach rechtsstaatlichen Kriterien bestimmt werden, die Formgültigkeit hingegen nach faktischen Machtverhältnissen. Den Normen des Despoten wird Gültigkeit beigemessen, der despotischen Norm aber nicht. Damit gelten für den Bundesgerichtshof die Maßstäbe des Rechtsstaats überpositiv, wenn auch nur „inhaltlich“. (3) Urteil vom 11. Februar 1953 (BGHZ 9, 34 ff.) Der Bundesgerichtshof hat sich im Rahmen des fortwirkenden Rechts auch mit den durch § 3 der 11. Durchführungsverordnung zum Reichsbürgergesetz angeordneten Enteignungen auseinandergesetzt.35 Hierzu begnügt sich der Zweite Zivilsenat36 mit der Festellung, dass „jene Vermögensentziehungen wegen ihres materiellen Unrechtsgehalts nicht rechtens gewesen sind. [ . . . ]. Solche politischen Ausnahmegesetze gegen bestimmte Personengruppen widersprechen so sehr dem allgemeinen Rechtsempfinden, daß es alle Kulturnationen seit Jahrhunderten ablehnen, sie als Recht anzuerkennen“37 33 Vgl. zur gegenteiligen Auffassung das Tribunal Général Rastatt, JO 47, 633 (635), mit Verweise auf die offenkundige von der Regierung begangene Gesetzwidrigkeit und Gewaltanwendung, auf die infolge Ausschlusses von zweiundachtzig ordnungsgemäß gewählten Mitgliedern eine gesetzwidrige Zusammensetzung des Parlaments und darauf, dass durch Vereinigung aller Vollmachten in der Hand von Hitler die wesentlichen Voraussetzungen einer ordnungsgemäßen und normalen Rechtsgrundsätzen entsprechenden Regierung verletzt worden seien. 34 Thoma, DRZ 1948, 142 (143). 35 Vgl. BGH, RzW 1962; BGHZ 9, 34 ff.; 10, 340 ff.; 16, 350 ff.; 26, 91 ff. 36 BGHZ 9, 34 (43 f.).
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(4) Gutachten des I. Zivilsenats vom 6. September 1953 (BGHZ 11, Anhang S. 34*) Im September 1953 erstattete der Bundesgerichtshof im Rahmen eines vom Oberlandesgericht Frankfurt am Main angestrengten konkreten Normenkontrollverfahrens gemäß Art. 100 Abs. 1 GG, § 80 BVerfGG ein Gutachten zu der Frage der Verfassungsmäßigkeit von Art. 117 Abs. 1 GG. Der erste Zivilsenat des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main38 vertrat die Auffassung, dass Art. 117 Abs. 1 GG insoweit, als er das dem Art. 3 Abs. 2 GG entgegenstehende Recht bereits vor Erlass eines Anpassungsgesetzes außer Kraft setzen sollte, wegen Verstoßes gegen „übergeordnete Verfassungsnormen“ nichtig sei. Das Bundesverfassungsgericht entschied auf diese Vorlage später durch Urteil am 18. Dezember 1953 (so genanntes Gleichberechtigungsurteil).39 Das Gutachten des Bundesgerichtshofs ist zwar im Kontext der hier dargestellten Rechtsprechung ebenso wie das spätere Urteil des Bundesverfassungsgerichts insofern atypisch, als es nicht gesetzliches Unrecht aus der NS-Zeit behandelt. Gutachten und Gleichberechtigungsurteil sind aber gerade für die vorliegende Arbeit deshalb außerordentlich bedeutsam, weil sich Bundesgerichtshof und Bundesverfassungsgericht ausschießlich in dieser Sache zu der Frage des richterlichen Prüfungsrechts gegenüber Verfassungsnormen äußern und dabei zwischen der materiellen und der formellen Frage unterscheiden. Das Gutachten bejaht ausdrücklich die Existenz überpositiver Normen.40 Der Bundesgerichtshof führt hierzu relativ knapp aus, dass es Verfassungsnormen gebe, die ohne weiteres übergesetzlichen, ja überverfassungsmäßigen Rang hätten – Normen welche die Verfassung in diesem Rang nicht schaffe, sondern nur anerkenne.41 Deklaratorische Verfassungsnormen in diesem Sinne seien beispielsweise die elementaren Grundrechte einschließlich des allgemeinen Gleichheitssatzes. In seiner Begründung der Verbindlichkeit übergesetzlichen Rechts ist der Bundesgerichtshof etwas ausführlicher. Die Annahme einer von allen Bindungen freien Autonomie des Verfassungsgesetzgebers legitimiere auch eine Verfassung, die lediglich den Zweck erfülle, durch geschriebenes Recht eine Willkür- und Gewaltherrschaft zu legalisieren. Dieses Ergebnis aber erscheint dem Bundesgerichtshof vor dem Hintergrund der nur acht Jahre nach dem Ende der Diktatur noch frischen 37 Mit Verweis auf Arndt, SJZ 1948, 144. Diese Auffassung hat der BGH in weiteren Entscheidungen bestätigt: Dem II. Senat folgend der IV. Zivilsenat in BGHZ 10, 340 (342), der Große Senat für Zivilsachen in BGHZ 16, 350 (354) und schließlich der VII. Zivilsenat in BGHZ 26, 91 (93), allesamt bestätigt durch BVerfGE 23, 98 (106 f.) sowie LS 1 und 2; siehe hierzu unten, S. 54 ff. 38 OLG Frankfurt, NJW 1953, 746. 39 Urteil des Ersten Senats des BVerfG vom 18. 12. 1953, BVerfGE 3, 225. Vgl. hierzu eingehend unten, S. 50 ff. 40 BGHZ 11, Anhang S. 34 * (40* ff.). 41 BGHZ 11, Anhang S. 34 * (40 f.); Hervorhebung nicht im Original.
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Erinnerungen an „gesetzliches Unrecht“ für das deutsche Rechtsbewusstsein untragbar. Die verfassungsmäßige Ordnung eines Rechtsstaates setze schließlich die Bindung auch des Verfassungsgesetzgebers an die unabdingbaren Gebote der Gerechtigkeit voraus und verhindere die Gleichsetzung von Gesetz und Recht. Hinsichtlich der formellen Frage nach der entsprechenden richterlichen Prüfungszuständigkeit führt der Bundesgerichtshof schließlich aus, dem Richter stehe die Nachprüfung der Vereinbarkeit von Verfassungsnormen mit höherrangigen Normen der Verfassung oder des übergesetzlichen Rechts grundsätzlich offen.42 Dabei argumentiert er ähnlich wie später das Bundesverfassungsgericht im Gleichberechtigungsurteil. Im Ergebnis schließt sich der Bundesgerichtshof der Auffassung des Oberlandesgerichts Frankfurt an. Der Bundesgerichtshof bleibt jedoch unscharf in der Definition des Prüfungsmaßstabs im Rahmen der formellen Frage. Während er bei der materiellen Frage nach der Denkbarkeit „verfassungswidriger Verfassungsnormen“ noch ausdrücklich den Prüfungsmaßstab des „übergesetzlichen Rechts“ heranzieht,43 spricht er bei der Erörterung der Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts zur Entscheidung über die Nichtigkeit von Verfassungsnormen von „übergeordnetem Verfassungsrecht“ und „ranghöheren Verfassungsnormen“, meint aber damit wohl auch überpositives Recht. Der Bundesgerichtshof verharrt allerdings in einer prüfungsgegenstandsbezogenen Argumentation: „Der reine Wortlaut des Art. 100 GG läßt keinen zwingenden Rückschluß auf eine ausschließliche Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts zu, über die Nichtigkeit von Verfassungsnormen zu entscheiden, weil er nur von einem Verstoß eines Bundesgesetzes gegen das Grundgesetz ausgeht. Das Bundesverfassungsgericht kann aber seiner Aufgabe, ,Hüter‘ des Grundgesetzes zu sein, nur gerecht werden, wenn bei ihm auch die Zuständigkeit zusammengefaßt wird, die Gültigkeit geschriebener Grundrechtsnormen nach den Maßstäben übergeordneten Verfassungsrechts mit verbindlicher Wirkung für alle Gerichte zu verneinen. Die Rechtssicherheit gebietet es, auch diese negative Entscheidungsgewalt bei dem Bundesverfassungsgericht zu konzentrieren. Es würde dem mit Art. 100 GG verfolgten Zweck widersprechen, den Prozeßgerichten die Entscheidung über die Unvereinbarkeit eines einfachen Gesetzes mit einer Verfassungsnorm zu entziehen, ihnen aber die Feststellung der Ungültigkeit von Verfassungsnormen wegen eines Widerspruchs mit ranghöheren Verfassungsnormen zu belassen.“44
Diese Argumentation setzt die Zulässigkeit einer Verwerfungskompetenz am Maßstab überpositiven Rechts bzw. „übergeordneten Verfassungsrechts“ denknotwendig voraus. Die entscheidende Frage aber, woraus diese sich herleiten lässt, wird gar nicht erst gestellt, geschweige denn beantwortet.45 Dass das Grundgesetz 42 Der BGH schließt sich damit dem in dieser Frage viel erörterten und „überwiegend angenommen(en)“ Urteil des Bayer. VerfGH, DÖV 1950, 407 an. 43 BGHZ 11, Anhang S. 34* (40*, 42*). 44 BGHZ 11, Anhang S. 34* (42* f.). 45 Das OLG Frankfurt behandelt noch nicht einmal die Frage des Prüfungsmaßstabs. Es beantwortet lediglich die Frage, ob über die Gültigkeit einer Verfassungsbestimmung jedes
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selber Prüfungsgegenstand einer Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG sein kann, ist unproblematisch; auch das Grundgesetz ist Gesetz im Sinne des Art. 100 Abs. 1 GG. Zu fragen ist doch vielmehr, ob eine grundgesetzliche Norm auch anhand des Prüfungsmaßstabs des überpositiven Rechts verworfen werden kann. Gerade hier aber geht das prüfungsgegenstandsbezogene Argument der Funktion des Bundesverfassungsgerichts als „Hüter des Grundgesetzes“ fehl, wenn man das überpositive Recht nicht in den Begriff „Grundgesetz“ mit einbezieht46. Wacht das Bundesverfassungsgericht auch dann noch über das Grundgesetz, wenn es dieses am Maßstab übergesetzlichen, mit dem Grundgesetz nicht unbedingt deckungsgleichen Rechts überprüft und gegebenenfalls verwirft? (5) Entscheidung vom 29. Januar 1957 (BGHZ 23, 175 ff.) Ebenso atypisch wie vorstehend betrachtete Gutachten des Bundesgerichtshofs ist dessen Entscheidung vom 29. Januar 1957. Der Gerichtshof befasste sich hier mit der Geltung als Rechtsverordnung erlassener Allgemeiner Geschäftsbedingungen für die Energiewirtschaft. Dabei wirft er auch die Frage auf, ob Prinzipien materieller Gerechtigkeit die Verbindlichkeit von Rechtsvorschriften beeinflussen könnten. In eigentümlicher Weise zitiert er dabei unter Berufung auf das Staatshaftungsurteil vom 12. Juli 1951die Radbruchsche Formel, welche allerdings keine Auswirkung auf den Tenor der Entscheidung hat.47 Der Rückgriff auf die Radbruchsche Formel überrascht deshalb, weil die in dieser Entscheidung aufgeworfenen Fragen „naturrechtlichen Erwägungen kaum zugänglich“ sein dürften.48
bb) Strafsenate In seiner strafrechtlichen49 Bewertung der nationalsozialistischen Unrechtsvergangenheit bewegt sich der Bundesgerichtshof auf der Linie der Urteile des ObersGericht abschließend entscheiden dürfe oder ob nur das Bundesverfassungsgericht dazu berufen sei. Konsequent und richtig, wenn auch über einen nicht notwendigen Erst-Recht-Schluss – es geht davon aus, dass Art. 100 Abs. 1 GG lediglich die Normverwerfung einfacher formeller Gesetze monopolisiert –, argumentiert es im Sinne des negativen Entscheidungsmonopols des Bundesverfassungsgerichts (NJW 1953, 746 (748)). 46 Das ergibt sich aus dem Verweis des BGH – siehe seine Anmerkung auf S. 43* (a. a. O.) – auf die seine Auffassung unterstützende Argumentation Bachofs, wo ausdrücklich erwähnt wird, dass Bachof das Entscheidungsmonopol des BVerfG aus dem Wortlaut des Art. 100 GG glaube ableiten zu können, weil er in den Begriff „Grundgesetz“ auch das überpositive Recht einbeziehe. Zu Bachof eingehend im folgenden, S. 69 ff. 47 BGHZ 23, 175 (181). 48 Evers, JZ 1961, 241 (246); vgl. hierzu eingehend Schumacher, Rezeption und Kritik der Radbruchschen Formel, S. 96 f. 49 Zusammenfassend zu der Frage der strafrechtlichen Aufarbeitung des NS-Unrechts: Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 4. Abschn., Rn. 9 Fn. 23 m. w. N.; siehe auch Nachweise bei Blumenwitz, DA 1992, 567 (577).
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ten Gerichtshofs für die britische Zone50 sowie der Nürnberger Urteile des Internationalen Militärgerichtshofes51 und stützt seine Argumentation auf naturrechtliche Geltungsthesen und auch auf Völkerrecht. (1) Urteil vom 6. November 1951 (BGHSt. 1, 391 ff.) Das erste Urteil eines Strafsenats des Bundesgerichtshofs, in welchem der Naturrechtsgedanke zum Ausdruck gelangt, behandelt einen Sachverhalt, der sich nach Kriegsende ereignete. Die Angeklagte, eine frühere Dienstverpflichtete des nationalsozialistischen Reichsicherheitshauptamtes, hatte sich unter Druck dem sowjetischen NKWD gegenüber zu Spitzeldiensten verpflichtet. In dieser Funktion verschleppte sie eine frühere Bekannte in den Machtbereich der Sowjets, wo sie vom NKWD jahrelang ohne Verfahren in einem Konzentrationslager festgehalten wurde. In diesem Zusammenhang stellte sich die Frage, ob der NKWD aus irgendeinem Rechtsgrund zu seinem Vorgehen berechtigt war oder ob das Vorgehen gegen die Haager Landkriegsordnung verstieß oder sonst wie gegen ein „Recht höherer Rangordnung“. Dazu führte der Bundesgerichtshof mit ausdrücklichem Rückgriff auf das Nürnberger Urteil52 folgendes aus: „Es gehört ( . . . ) zu den gesicherten Erkenntnissen, daß keine kriegführende Macht und keine Besatzung in ihrem Tun und Lassen rechtlich völlig ungebunden ist; auch sie unterliegt vielmehr rechtlichen Schranken. Diese ergeben sich einerseits aus dem mißbilligten Bestreben, völkerrechtlich anerkannte Kriegs- und Besatzungszwecke zu erreichen, andererseits aber, wie es Abs. 9 der Einleitung der LKO ausdrücke, aus den unter gesitteten Völkern feststehenden Gebräuchen, aus den Gesetzen der Menschlichkeit und den Forderungen des öffentlichen Gewissens. Ein solches Recht höherer Rangordnung steht ebenso als unantastbarer Kernbereich des Rechts auch über jedem innerstaatlichen Recht.“53
Der Bundesgerichtshof konkretisiert die Grundsätze eines überstaatlich geltenden Rechts anhand völkerrechtlicher (Menschenrechts-)Regeln. Damit liegt er nah an Radbruchs Konkretisierung des Gerechtigkeitsbegriffs, ohne die Geltungsthesen Radbruchs explizit zum Inhalt dieser Entscheidung zu machen.
OGHSt. 2, 269 (271 f.) und 3, 121 (124 f.). Nürnberger Urteil, Amtl. Deutsche Ausgabe Bd. 1, S. 284 f., vgl. auch S. 290: Der Internationale Militärgerichtshof stellt ausdrücklich klar, dass er für seinen Zweck kein neu gesetztes und mit rückwirkender Kraft ausgestattetes Recht anwende, sondern die Grenze zwischen Recht und Unrecht nach denjenigen völkerrechtlichen Grundsätzen ziehe, die bei allen gesitteten Nationen anerkannt seien, gleichgültig ob sie dem Haager Abkommen beigetreten seien oder nicht. 52 Vgl. vorangehende Fußnote. 53 BGHSt. 1, 391 (399) mit Verweis auf die beiden Entscheidungen des OGH. Hervorhebungen nicht im Original. 50 51
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C. Bundesgerichtliche Rechtsprechung und Literatur
(2) Urteil vom 29. Januar 1952 (BGHSt. 2, 234 ff.) Erstmals übernahm der Bundesgerichtshof in einer Strafsache Elemente der Radbruchschen Geltungslehre in einer Entscheidung aus seinem zweiten Band, ohne sich allerdings auf Radbruch zu berufen.54 In diesem Verfahren hatten sich ehemalige Gestapoangehörige wegen der Mitwirkung an mehreren Deportationen von Juden nach Osteuropa zu verantworten. Im objektiven Tatbestand war zu entscheiden, ob die Angeklagten durch die nationalsozialistischen Verordnungen und Dienstbefehle gedeckt waren oder ob diese Anordnungen und Befehle gegen jenen Kernbereich des Rechts verstießen, „der nach allgemeiner Rechtsüberzeugung von keinem Gesetz und von keiner anderen obrigkeitlichen Maßnahme verletzt werden darf“.55 In Anlehnung an Radbruch urteilte der Bundesgerichtshof: „Anordnungen, die die Gerechtigkeit nicht einmal anstreben, den Gedanken der Gleichheit bewußt verleugnen und die allen Kulturvölkern gemeinsame Rechtsüberzeugungen, die sich auf den Wert und die Würde der menschlichen Persönlichkeit beziehen, deutlich mißachten, schaffen kein Recht, und ein ihnen entsprechendes Verhalten bleibt Unrecht“.56
Der Bundesgerichtshof knüpft an die Rechtsprechung der Nürnberger Prozesse und des Obersten Gerichtshofs für die britische Zone an, indem er auf den ordre public der Kulturvölker verweist.57 Wo „die Grenze zu ziehen ist zwischen dem Bereich, in dem der Staat darüber befinden darf, was Recht und was Unrecht sein soll, und jenem anderen Bereich, in dem auch der Staat mit seinen Maßnahmen Bindungen und Beschränkungen unterliegt“, ergibt sich für den Bundesgerichtshof „heute aus den Art 1 – 19 Grundgesetz, in denen die von Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung in gleicher Weise zu achtenden Grundrechte näher beschrieben sind. Sie ergab sich aber auch schon für diese Zeit, in der die Angeklagten die ihnen zur Last gelegten strafbaren Handlungen begingen, aus dem Grundgedanken der Gerechtigkeit und Menschlichkeit, wie er im Bewußtsein der Allgemeinheit lebt. Mit diesem Grundgedanken ist der Gedanke der Gleichheit untrennbar verbunden“.58
Die Geltungsgrenze wird damit ähnlich wie in Radbruchs Gerechtigkeitsbegriff definiert. Neben der Menschenwürde spielt, wie bereits in den zivilrechtlichen Entscheidungen, der Gedanke der Gleichheit die zentrale Rolle.59
54 H. Dreier, JZ 1997, 421 (423 m. Fn. 24), spricht von einer versatzstückhaften Eingangsfindung der Radbruchschen Formel in die Nachkriegsjudikatur des BGH, ohne Erwähnung des Namens Radbruch. 55 BGHSt. 2, 234 (237); vgl. auch Weinkauff, in: Maihofer (Hrsg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus?, S. 554 (555). 56 BGHSt. 2, 234 (238 f.). 57 Schumacher, Rezeption und Kritik der Radbruchschen Formel, S. 97. 58 BGHSt. 2, 234 (238). 59 Vgl. BGHZ 9, 34 ff.,; BGHZ 11, Anh. 1 (12 f.).
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(3) Urteil vom 12. Februar 1952 (BGHSt. 2, 173 ff.) Der Erste Strafsenat des Bundesgerichtshofes war 1952 mit einem Verfahren gegen einen ehemaligen Regierungsdirektor und SS-Standartenführer befasst. Der Angeklagte hatte an den „Standgerichtsverfahren“ gegen mehrere Teilnehmer des 20. Juli 1944 als „Vertreter der Anklage“ mitgewirkt. Es stellte sich die Frage, ob die von Hitler angeordneten „Standgerichtsverfahren“ rechtmäßig waren. Eine Beihilfe zum Mord kam für den Gerichtshof in Betracht, wenn die Hinrichtung der Verschwörer „auch durch das damals geltende Recht nicht gedeckt wurde oder gegen allgemein verbindliche Grundsätze verstieß, die unabhängig von staatlicher Anerkennung gelten“.60 Der Bundesgerichtshof prüft und verneint die Geltung des Standgerichtserlasses anhand der bereits im Deportationsurteil entwickelten Kriterien. Er führt unter anderem aus, dass zahlreiche im nationalsozialistischen Staat erlassene Vorschriften und Anordnungen, welche mit dem Anspruch auftraten, „Recht“ zu setzen, trotzdem der Rechtsnatur ermangelten, „weil sie jene rechtlichen Grundsätze verletzten, die unabhängig von jeder staatlichen Anerkennung gelten und stärker sind als ihnen entgegenstehende obrigkeitliche Akte, die mit dem Wortlaut weitgefaßter gesetzlicher Vorschriften noch vereinbar zu sein scheinen“.61
Der Senat versteht unter diesen rechtlichen Grundsätzen den Gedanken der Gleichheit und die allen Kulturvölkern gemeinsamen Rechtsüberzeugungen von Wert und Würde der menschlichen Persönlichkeit.62 Er knüpft damit nicht nur im Wortlaut an die Radbruchsche Fomel an, sondern auch inhaltlich an Radbruchs Gerechtigkeitsbegriff. (4) Urteil vom 19. Dezember 1952 (BGHSt. 3, 357 ff.) In dieser Entscheidung aus dem dritten Band wiederholt der Bundesgerichtshof schließlich die Grundsätze aus den vorhergehend zitierten Entscheidungen und zieht nochmals die Grenze zwischen geltendem Recht und nicht geltendem Unrecht an dem jeden Gesetzgeber und Machthaber bindenden und verpflichtenden Grundgedanken der Gerechtigkeit und Menschlichkeit, wie er im Bewusstsein der Allgemeinheit lebe, insonderheit am Gedanken der Gleichheit und an den allen Kulturvölkern gemeinsamen Rechtsüberzeugungen, die sich auf den Wert und der Würde der menschlichen Persönlichkeit beziehen.63 In diesem Verfahren ging es ein weiteres Mal um die Deportation von Juden im Nationalsozialismus. Der Bundesgerichtshof prüfte nochmals, ob es für die mit den Deportationen verbundenen Freiheitsberaubungen einen Rechtfertigungsgrund gab. Den als Rechtfertigungsgrund in Betracht kommenden Erlassen des Reichssicherheitshauptamtes spricht 60 61 62 63
BGHSt. 2, 173 (175). BGHSt. 2, 173 (177). BGHSt. 2, 173 (177). BGHSt. 3, 357 (362 f.).
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C. Bundesgerichtliche Rechtsprechung und Literatur
der Bundesgerichtshof anhand obiger Kriterien jegliche Geltung ab: Sie verletzten „offensichtlich und bewußt“ den „unantastbaren Kernbereich des Rechts“.
b) Bundesverfassungsgericht Natur- und vernunftrechtliche Argumente finden sich in diversen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. So interpretiert das Bundesverfassungsgericht das Menschenbild der Grundrechte sowie die staatstragenden Prinzipien des Grundgesetzes im Lichte rechtsethischer Maßstäbe.64 Schon ersten Entscheidungsband ist beispielsweise die Rede vom Gleichheitssatz als einem in der Verfassung anerkannten überpositiven Rechtsgrundsatz (Art. 1 Abs. 2 und 3 i. V. m. Art. 3 GG), der seinen Sinn nur aus einer Einbettung in das Gesamtgefüge der verfassungsmäßigen Ordnung empfange und von jenem „überpositive(n) Rechtsgrundsatz, auf den zurückgegriffen werden müßte, wenn der Gleichheitssatz nicht in Art. 3 GG geschriebenes Verfassungsgrecht geworden wäre“.65 Entscheidungsrelevant sind naturrechtliche Vorstellungen für das Bundesverfassungsgericht allerdings nur, soweit es sich um „fundamentale Rechtsgrundsätze“ handelt.66 Eine verfassungsrechtliche Prüfung an naturrechtlichen Vorstellungen schlechthin verbietet sich für das Bundesverfassungsgericht aufgrund der „Vielfalt der Naturrechtslehren“, die zutage tritt, „sobald der Bereich fundamentaler Rechtsgrundsätze verlassen wird“.67 Vorliegend sollen nur solche Entscheidungen interessieren, in denen sich das Bundesverfassungsgerich zur naturrechtlichen Geltungskontrolle des Rechts bekennt.68 Die Frage, ob NS-Recht wegen der evidenten Überschreitung der äußersten (Radbruchschen) Geltungsgrenze und wegen seines evidenten Widerspruchs zu den fundamentalen Prinzipien der Gerechtigkeit nicht mehr zu beachten sei, hatte für das Bundesverfassungsgericht vor dem Hintergrund des Art. 123 Abs. 1 GG Bedeutung nur noch für den zwischenzeitlichen Fortbestand subjektiver Berechtigungen.69 So hat das Bundesverfassungsgericht in dem Beamtenurteil70, dem Sol64 BVerfGE 2, 1 (12); 7, 205; 12, 53; 5, 205 f., vgl. Schumacher, Rezeption und Kritik der Radbruchschen Formel, S. 71 f. 65 BVerfGE 1, 208 (233, 243 f.). 66 BVerfGE 10, 59 (81). 67 BVerfGE 10, 59 (81). H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG Bd. I, Art. 1 II Rn. 12, liest aus dieser Entscheidung allerdings, dass sich die Bindung staatlicher Gewalt nach dem vom Verfassungsgeber selbst definierten Grundrechtskatalog und nicht nach einem wie auch immer gearteten Naturrechtskodex richtet. 68 Weitere Entscheidungen, in denen das BVerfG überpositives Recht anerkennt, wenngleich es auch meint, dass diese Naturrechtsgrundsätze letztlich doch in den Grundrechten aufgefangen und positiviert sind: BVerfGE 15, 126 (144); 29, 166 (176); 34, 269 (287), vgl. Doehring, in: FS für Willi Blümel, S. 111 (115). 69 Hofmann, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. I, § 7 Rn. 1. 70 BVerfGE 3, 58 (119).
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datenurteil71, dem Gestapo-Beschluss72 sowie in seinen Entscheidungen zur Ausbürgerung von Juden73 die Frage der Geltung der entsprechenden NS-Vorschriften und ihrer Vereinbarkeit mit überpositivem Recht aufgeworfen.74 Hervorstechendstes Beispiel für die naturrechtliche Geltungskontrolle im Bereich fortwirkenden Rechts ist der Staatsangehörigkeitsbeschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 23, 98 ff.). Ausdrücklich greift das Bundesverfassungsgericht die Radbruchsche Formel jedoch erstmals in dem Gleichberechtigungsurteil vom 18. Dezember 1953 auf (BVerfGE 3, 225 ff.) und damit, wie bereits erwähnt, in atypischer Weise gemessen an anderen Entscheidungen; denn dieses Urteil behandelt kein gesetzliches Unrecht aus der NS-Zeit.75
aa) Urteil vom 23. Oktober 1951 (BVerfGE 1, 14 ff.) Zunächst jedoch zum bereits einleitend erwähnten ersten Urteil aus dem ersten Entscheidungsband.76 In diesem Urteil befasst sich das Bundesverfassungsgericht mit den Neugliederungsgesetzen nach Art. 118 Satz 2 GG. Der 27. Leitsatz, in dem das Bundesverfassungsgericht die Existenz überpositiven Rechts anerkennt und sich für zuständig erklärt, gesetztes Recht daran zu messen, bleibt letztlich obiter dictum. Hinsichtlich des Ersten Neugliederungsgesetzes führt das BVerfG lediglich aus, dass jede Verfassungsbestimmung, so auch Art. 118 Satz 2 GG so ausgelegt werden müsse, dass sie mit jenen elementaren Verfassungsgrundsätzen und Grundentscheidungen des Verfassungsgesetzgebers vereinbar sei. Das Gericht schließt sich dabei der Auffassung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs an, wonach es Verfassungsgrundsätze gibt, „die so elementar und so sehr Ausdruck eines auch der Verfassung vorausliegenden Rechts sind, daß sie den Verfassungsgesetzgeber selbst binden und daß andere Verfassungsbestimmungen, denen dieser Rang nicht zukommt, wegen ihres Verstoßes gegen sie nichtig sein können“77. Zu diesen Grundsätzen gehören nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts das Prinzip der Demokratie, das bundesstaatliche Prinzip und das rechtsstaatliche Prinzip78. Mit Rücksicht auf das Zweite Neugliederungsgesetz führt das Gericht zudem aus, dass eine verfassungsgebende Versammlung nur gebunden sei an die jedem Recht vorausliegenden überpositiven Rechtsgrundsätze.79
71 72 73 74 75 76 77 78 79
BVerfGE 3, 288 (335). BVerfGE 6, 132 (198 f.). BVerfGE 23, 98 (106 f.); 54, 53 (67 ff.). Vgl. Hofmann in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. I, § 7 Rn. 1. Vgl. Schumacher, Rezeption und Kritik der Radbruchschen Formel, S. 72. Siehe oben, S. 4. BayVerfGH, DÖV 1950, 407; BVerfGE 1, 14 (32). BVerfGE 1, 14 (18, vgl. LS 28 und S. 33 ff.). BVerfGE 1, 14 (18, 61).
4 Dieckmann
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bb) Urteil vom 17. Dezember 1953 (BVerfGE 3, 58 ff.) In dem so genannten Beamtenurteil zum Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Art. 131 GG fallenden Personen vom 11. Mai 1951 (G 131)80 hatte das Bundesverfassungsgericht über den Status ehemaliger Reichsbeamter zu entscheiden. Im Zusammenhang mit der Frage des Erlöschens oder Fortbestehens der Beamtenverhältnisse über die Kapitulation des Deutschen Reichs hinaus prüft das Gericht die Geltung der nationalsozialistischen Beamtengesetze in rechtlicher und moralischer Hinsicht.81 Die rechtliche, d. h. formale Geltung nationalsozialistischer Gesetze beurteilt das Bundesverfassungsgericht nach den „verfassungsrechtlichen Grundlagen des ,Dritten Reichs‘“.82 Bezüglich der hier interessierenden „moralischen“ Geltung übernimmt das Bundesverfassungsgericht fast wörtlich die Radbruchsche Formel, ohne sich ausdrücklich auf diese oder auf Radbruch zu berufen. Die Verbindlichkeit von Rechtssätzen sei zu verneinen, wenn sie „in so evidenten Widerspruch mit den alles formale Recht beherrschenden Prinzipien der Gerechtigkeit träten, daß der Richter, der sie anwenden oder ihre Rechtsfolgen anerkennen wolle, Unrecht statt Recht spräche“83. Die „äußerste Geltungsgrenze“ wird hier, anders als in der Radbruchschen (Unerträglichkeits-)Formel, da gezogen, wo der Widerspruchs mit der Gerechtigkeit „evident“ wird. Im gegebenen Entscheidungsfall sieht das Gericht diese Grenze aber nicht berührt. Die vom nationalsozialisitschen Gesetzgeber geschaffenen rechtserheblichen Tatsachen könnten aus Gründen der Rechtsicherheit nicht „als nur tatsächliche Behinderung der Geltung des ,wirklichen Rechts‘ beseite geschoben“ werden.84
cc) Urteil vom 18. Dezember 1953 (BVerfGE 3, 225 ff.) Wie eingangs erwähnt, verweist das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich auf die Radbruchsche Formel erstmals im so genannten Gleichberechtigungsurteil. Es hatte in diesem Urteil auf die Vorlage des Oberlandesgerichts Frankfurt (Main) im Rahmen eines konkreten Normenkontrollverfahrens nach Art. 100 Abs. 1 GG die Gültigkeit des Art. 117 GG zu prüfen. Das Oberlandesgericht hatte die Nichtigkeit des Art. 117 Abs. 1 Halbsatz 2 GG mit dem Verstoß gegen die „übergeordneten Grundsätze der Rechtssicherheit und der Gewaltenteilung“ 85 begründet. Da wesentliche Teile des alten Eherechts nicht mit dem Gleichbehandlungssatz in Einklang stünden, so das Oberlandesgericht, komme auf das Gericht die wesensBGBl. I S. 307. Darüber hinaus auch noch in soziologischer Hinsicht. Vgl. dazu Schumacher, Rezeption und Kritik der Radbruchschen Formel, S. 76 ff., S. 78). 82 BVerfGE 3, 58 (119). 83 BVerfGE 3, 58 (119). 84 Vgl. Schumacher, Rezeption und Kritik der Radbruchschen Formel, S. 77. 85 BVerfGE 3, 225 (231). 80 81
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fremde Aufgabe zu, empfindliche Gesetzeslücken in freier Rechtsschöpfung zu schließen.86 Die Zulässigkeit der Vorlage begründet das Bundesverfassungsgericht unter anderem damit, dass es theoretisch durchaus denkbar sei, „Normen der Verfassung selbst an ranghöheren Normen, welcher Herkunft auch immer, zu messen“87. Hierzu führt das Gericht unter anderem aus,88 dass der Grundsatz, der ursprüngliche Verfassungsgeber könne alles nach seinem Willen ordnen, „einen Rückfall in die Geisteshaltung eines wertungsfreien Gesetzespositivismus bedeuten“ würde, wie sie in der juristischen Wissenschaft und Praxis seit längerem überwunden sei. Gerade die Zeit des nationalsozialistischen Regimes in Deutschland habe gelehrt, dass auch der Gesetzgeber Unrecht setzen könne. In äußersten Fällen müsse die Möglichkeit gegeben sein, den „Grundsatz der materialen Gerechtigkeit höher zu werten als den der Rechtssicherheit“. Auch ein ursprünglicher Verfassungsgeber sei der Gefahr nicht denknotwendig entrückt, „jene äußersten Grenzen der Gerechtigkeit zu überschreiten“. Das Bundesverfassungsgericht verweist sodann auf die „vorsichtige Formulierung“ der Radbruchschen Unerträglichkeitsformel, welche vollständig zitiert wird. Für die Entscheidung des Falles sieht das Bundesverfassungsgericht jedoch keinen Anlaß, im Einzelnen zu entwickeln, wann solche extremen Fälle gegeben sein könnten.89 Bemerkenswert ist, dass trotz der Positivierung überpositiven Rechts in der Verfassung, das Bundesverfassungsgericht die Qualität der Normen überpositiven Ursprungs nicht geändert sieht: „Auch dadurch, daß der Gesetzgeber des Grundgesetzes in seine Grundentscheidung Normen einbezogen und damit im Grundgesetz positiviert hat, die vielfach als übergesetzlich bezeichnet werden (etwa Art. 1, aber auch in Art. 20 GG), haben sie ihren besonderen Charakter nicht verloren. In ihrer Einzelausgestaltung, namentlich in der Frage, inwieweit Ausnahmen von ihnen zuzulassen sind, stehen sie also zur freien Disposition des Verfassunggebers nur insoweit, als jene Grenzen der Gerechtigkeit selbst nicht überschritten werden“.90
Damit ist auch der ursprüngliche Verfassungsgeber nach Auffassung des Gerichts nicht autonom, sondern an überpositive Maßstäbe gebunden. Das Bundesverfassungsgericht erkennt damit die Existenz überpositiven, auch den Verfassungsgeber bindenden Rechts an. Es bestätigt seine Feststellung in seiner ersten BVerfGE 3, 225 (226 f.). BVerfGE 3, 225 (231). 88 Vgl. zum Nachfolgenden BVerfGE 3, 225 (230 – 236). 89 Die Radbruchsche Formel gehört nicht zu den entscheidungstragenden Argumenten. Sie steht außerhalb der Argumentation nach der Möglichkeit „verfassungswidriger Verfassungsnormen“, vgl. Schumacher, Rezeption und Kritik der Radbruchschen Formel, S. 73. 90 BVerfGE 3, 225 (233). Vgl. auch den zweiten Leitsatz der Entscheidung, a. a. O., S. 225: „Die Norm einer Verfassung kann dann nichtig sein, wenn sie grundlegende Gerechtigkeitspostulate, die zu den Grundentscheidungen dieser Verfassung gehören, in schlechthin unterträglichem Maße mißachtet“. 86 87
4*
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Entscheidung im Ersten Band, ohne auf diese allerdings zu verweisen. Auch inhaltlich scheint das Bundesverfassungsgericht mit seinem Verweis auf Art. 20 GG an seine Feststellungen aus dem ersten Band anzuknüpfen. Darüber hinaus werden offensichtlich die Menschenwürde und die aus ihr abgeleiteten Menschenrechte als überverfassungsgesetzlich verstanden. Die besondere Bedeutung des Gleichberechtigungsurteils für die vorliegende Arbeit erwächst jedoch einem ganz anderen Gesichtspunkt: Im Rahmen der verfassungsgerichtlichen Rezeption der Radbruchschen Formel kommt es nur in diesem einen Urteil zu einer Auseinandersetzung mit der formellen Frage nach der Verwerfungskompetenz am Maßstab überpositiven Rechts. Die in seinem ersten Entscheidungsband lediglich festgestellte und nicht näher begründete Zuständigkeit zur Normverwerfung gesetzten Rechts am Maßstab überpositiven Rechts begründet das Bundesverfassungsgericht im Gleichberechtigungsurteil letztlich91 lapidar mit dem argumentum a minore ad maius zu Art. 100 Abs. 1 GG: „Ist ( . . . ) die Sorge vor einer Beeinträchtigung der gesetzgebenden Gewalt durch eine allgemeine, nicht bei einem höchsten Gericht konzentrierte richterliche Prüfungsbefugnis der tragende Grund für die ausschließliche Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts, Gesetze für nichtig zu erklären, dann muß diese Zuständigkeit um der Würde und der Autorität des pouvoir constituant willen erst recht für die Überprüfung des Staatsgrundgesetzes selbst, an welchen Normen auch immer, gelten.“92
Das Bundesverfassungsgericht bemüht sich lediglich bezüglich des Prüfungsgegenstandes – das Grundgesetz – um eine ausführliche Argumentation anhand des Wortlauts und der Teleologie von Art. 100 Abs. 1 GG.93 Bezüglich des Prüfungsmaßstabs interessiert das Gericht dagegen der Wortlaut von Art. 100 Abs. 1 GG nicht, obwohl hier ausdrücklich nur „das Grundgesetz“ in Frage kommt. Auch der Umkehrschluss anhand der Teleologie von Art. 100 Abs. 1 GG fällt eigentümlich kurz aus und bleibt prüfungsgegenstandsbezogen. Die Frage nach einer Prüfungszuständigkeit am Maßstab des wie auch immer definierten überpositiven Rechts beantwortet das Gericht dann auch wie folgt: Bejahe man die Denkbarkeit „verfassungswidriger Verfassungsnormen“ (und damit auch den Verstoß gegen überpositive Rechtsgrundsätze), so sei es „in der Tat nur folgerichtig, eine solche Feststellung der richterlichen Gewalt zu übertragen, die ja eben doch ihre Autorität nicht nur äußerlich auf die Verfassung, sondern – dem Wesen ihrer Tätigkeit entsprechend – in gewisser Weise auf die Idee des Rechts selbst“ 91 Zunächst stellt das BVefG fest, dass auch die zu prüfende Norm des Grundgesetzes ein „Gesetz“ sei. Der Wortlaut des Art. 100 Abs. 1 GG schließe damit nicht aus, das Normenkontrollverfahren auch in einem solchen Fall anzuwenden, BVerfGE 3, 225 (230). 92 Hervorhebung nicht im Original. Auffällig ist allerdings, dass das Bundesverfassungsgericht seine ständige Rechtsprechung zu seiner Aufgabe als „Hüter der Verfassung“ an dieser Stelle verschweigt. 93 BVerfGE 3, 225 (230): „Da jedenfalls die zu prüfende Norm des Grundgesetzes ein ,Gesetz‘ ist, schließt es der Wortlaut des Art. 100 Abs. 1 GG nicht aus, das Normenkontrollverfahren auch in einem solchen Fall anzuwenden“.
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gründe.94 Damit siedelt das Bundesverfassungsgericht die judikative Kompetenz im überpositiven Recht an. Es wird aus der allgemeinen Notwendigkeit einer Bindung auch des pouvoir constituant an die letzten Grenzen der Gerechtigkeit heraus argumentiert. Nicht nur die materielle Bindung an überpositive Gerechtigkeitspostulate wird so mit den grauenhaften Erfahrungen während des „Dritten Reichs“ legitimiert,95 sondern letztlich auch die formelle Kompetenz. Die materielle Vorlage definiert die kompetenzrechtliche Ausübung, der materiellen Überzeugung folgt die formelle Notwendigkeit: „Die Einsicht, daß es verfassungswidrige Normen der Verfassung selbst geben könne, verlöre gegebenenfalls weithin an Wert, wenn man die Beseitigung solcher Normen allein der verfassungsändernden Gesetzgebung anheimstelle“.96
Mit seiner Argumentation zur formellen Frage, so könnte man meinen, folgt das Bundesverfassungsgericht im Ergebnis dem Standpunkt Radbruchs. Auch nach Radbruch sollte bei gesetzlichem Unrecht nicht jeder Richter „auf eigene Faust Gesetze entwerten dürfen, diese Aufgabe sollte vielmehr einem höheren Gericht ( . . . ) vorbehalten bleiben“97. Allerdings geht es hier um die Verwerfung von Verfassungsrecht, während sich Radbruch mit der Aufarbeitung fortwirkender Unrechtsnormen befasst. Die Radbruchsche Formel wirkt auch in die Sachurteilsgründe des Urteils hinein. Sie erscheint hier allerdings unter „umgekehrten Vorzeichen“.98 Das Bundesverfassungsgericht prüft, ob Art. 117 Abs. 1 GG nicht in einem „schlechthin nicht mehr erträglichem Maße“ von der Rechtssicherheit und der Gewaltenteilung als höherrangigen Prinzipien abweicht.99 Das Urteil hatte im Schrifttum überwiegend ein positives Echo,100 führte aber auch zu einer lebhaften Kontroverse zwischen Bachof und Apelt, insbesondere hinsichtlich der formellen Komponente, auf welche noch einzugehen sein wird.101 dd) Beschluss vom 19. Februar 1957 (BVerfGE 6, 132 ff.) Der Gestapobeschluss beschäftigt sich mit den beamtenrechtlichen Benachteiligungen früherer Gestapoangehöriger durch § 3 Nr. 4 G 131. Im Rahmen des BeBVerfGE 3, 225 (235). Hervorhebungen nicht im Original. Vgl. Nawiasky, JZ 1954, 717, der ebenfalls dieses empirische Element in der „naturrechtlichen“ Argumentation der Nachkriegszeit für fragwürdig hält. 96 BVerfGE 3, 225 (235). 97 Radbruch, SJZ 1946, 105 (107); vgl. Schumacher, Rezeption und Kritik der Radbruchschen Formel, S. 74. 98 Hierauf weist Schumacher, Rezeption und Kritik der Radbruchschen Formel, S. 74 f., hin. 99 BVerfGE 3, 225 (237). 100 Vgl. Schumacher, Rezeption und Kritik der Radbruchschen Formel, S. 75. 101 Siehe unten, S. 62, 69 ff. und 72 ff. 94 95
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schlusses befasst sich das Bundesverfassungsgericht ein weiteres Mal mit der Geltung des nationalsozialistischen Beamtenrechts. Anders als im im Beamtenurteil wird nunmehr abweichend von der Radbruchschen Formel anhand des Begriffs der „Gemeinschädlichkeit“ die Geltungsgrenze bestimmt:102 Das Bundesverfassungsgericht beruft sich nicht auf die Radbruchsche Formel, sondern auf eine Äußerung Radbruchs aus dem Jahre 1945. Hiernach können in einem totalitären System „Gesetze mit einem solchen Maße an Ungerechtigkeit und Gemeinschädlichkeit“ erlassen werden, dass ihnen die Geltung als Recht abgesprochen werden müsse.103 Im Ergebnis folgt aber auch diese Formulierung, wie das Beamtenurteil, der Geltungslehre der Radbruchschen Formel. Die unterschiedlichen Begrifflichkeiten ändern nichts am Gesamtbild dieser Rechtsprechung.104 Entscheidend ist auch hier die Anerkennung einer überpositiv gedachten Gerechtigkeit im Radbruchschen Sinne als Prüfungsmaßstab für die Geltung von Recht.
ee) Urteil vom 10. Mai 1957 (BVerfGE 6, 389 ff.) In seinem Grundsatzurteil zu der Strafbarkeit qualifizierter Fälle von Homosexualität aufgrund der von den Nationalsozialisten eingeführten und noch 1957 geltenden §§ 175, 175 a StGB bezieht sich das Bundesverfassungsgericht auf zentrale Passagen des Gestapobeschlusses.105 Allerdings begnügt es sich mit einem bloßen Hinweis auf die Rechtsphilosophie Radbruchs. Die §§ 175, 175 a StGB werden nicht hierunter subsumiert. Das Gericht bejaht vielmehr an anderer Stelle die Vereinbarkeit dieser Normen mit Art. 2 und 3 GG.106
ff) Urteil vom 14. Februar 1968 (BVerfGE 23, 98 ff.) Im Staatsangehörigkeitsbeschluss stellt das Bundesverfassungsgericht erstmals die Nichtigkeit einer Unrechtsnorm anhand der Radbruchschen Formel fest. Es musste auf eine Verfassungsbeschwerde die Frage klären, ob ein vor dem Krieg nach Amsterdam emigrierter und 1942 nach Deportation verschollener Jude die deutsche Staatsangehörigkeit aufgrund der 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. November 1941107 verloren hatte. Nach dieser Verordnung verlor 102 Eingehend zum Gestapobeschluss Schumacher, Rezeption und Kritik der Radbruchschen Formel, S. 79 ff. 103 BVerfGE 6, 132 (198); Radbruch, Fünf Minuten Rechtsphilosophie, in: Rechtsphilosophie, Anhang S. 335 (336). 104 Eingehend hierzu Schumacher, Rezeption und Kritik der Radbruchschen Formel, S. 80 f. 105 BVerfGE 6, 389 (415 – 419). 106 BVerfGE 6, 389 (420 – 440). Vgl. im Einzelnen auch hier Schumacher, Rezeption und Kritik der Radbruchschen Formel, S. 81 ff. 107 RGBl. I S. 722.
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ein Jude die deutsche Staatsangehörigkeit, wenn er bei Inkrafttreten der Verordnung seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland hatte oder wenn er ihn später im Ausland nahm. Den ersten Schwerpunkt der Entscheidung bildet die Frage nach der Geltung der Verordnung. Das Gericht gelangte zu der Überzeugung, dass der Widerspruch zur Gerechtigkeit hier ein so unerträgliches Maß erreichte, dass die Verordnung als von Anfang an nichtig war.108 Ohne dass der Name Radbruch in der Entscheidung erwähnt wird, findet die Radbruchsche Formel Eingang in die Leitsätze der Entscheidung: „1. Nationalsozialistischen ,Rechts‘vorschriften kann die Geltung als Recht abgesprochen werden, wenn sie fundamentalen Prinzipien der Gerechtigkeit so evident widersprechen, daß der Richter, der sie anwenden oder ihre Rechtsfolgen anerkennen wollte, Unrecht statt Recht sprechen würde. 2. In der Elften Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. November 1941 (RGBl. S. 772) hat der Widerspruch zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß sie von Anfang an als nichtig erachtet werden muss.“
Der Naturrechtsgedanke und die Radbruchsche Formel gehören zu den tragenden Entscheidungsgründen.109 Darüber hinaus offenbart sich ein an Radbruch angelehnter Gerechtigkeitsbegriff, wie er auch im Grundgesetz seine Positivierung gefunden hat. Das Bundesverfassungsgericht verweist auf das zu „den fundamentalen Rechtsprinzipien gehörende Willkürverbot, das heute in Art. 3 Abs. 1 GG und teilweise auch in Art. 3 Abs. 3 GG seinen positiv-rechtlichen Ausdruck gefunden“ habe.110 Trotz dieser Anknüpfung an Art. 3 GG wird der Gedanke des „positivierten überpositiven Rechts“111 letztlich eigentümlich abgeschnitten. So schließt das Gericht seine Ausführungen zu Art. 3 GG mit der konjunktivischen Feststellung: „Die Anerkennung der Rechtswirksamkeit der Ausbürgerung durch die 11. Verordnung würde daher gegen Art. 3 Abs. 1 und 3 GG verstoßen.“112 Der Gerechtigkeitsbegriff umfasst in dem Beschluss auch die Forderung nach Menschenrechten:113 So hebt das Bundesverfassungsgericht hervor, dass „der Versuch, nach ,rassischen‘ Kriterien bestimmte Teile der Bevölkerung mit Einschluss der Frauen und Kinder physisch und materiell zu vernichten . . . mit Recht und Gerechtigkeit nichts gemein“ habe.114 BVerfGE 23, 98 (106 f.) und BVerfGE 54, 53 (68). Vgl. auch Schumacher, Rezeption und Kritik der Radbruchschen Formel, S. 86. 110 Vgl. den 4. Leitsatz der Entscheidung. 111 Vgl. zur „Paradoxie positivierten überpositiven Rechts“ AK-GG – Frankenberg, Art. 20 Abs. 1 – 3 IV Rn. 26. Hierzu unten, S. 141 ff. und 164 ff. 112 BVerfGE 23, 98 (107). Hervorhebung nicht im Original. 113 Vgl. Schumacher, Rezeption und Kritik der Radbruchschen Formel, S. 85. 114 BVerfGE 23, 98 (106). 108 109
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Neben der Frage nach der Geltung der Ausbürgerungsverordnung bildet die Frage nach der Auslegung des Art. 116 Abs. 2 GG einen weiteren Schwerpunkt des Beschlusses. Auch in dieser Hinsicht ist die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts bemerkenswert: Gemäß Art. 116 Abs. 2 GG sind frühere deutsche Staatsangehörige, denen zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 8. Mai 1945 die Staatangehörigkeit u. a. aus rassischen oder religiösen Gründen entzogen worden ist, auf Antrag wieder einzubürgern. Sie gelten als nicht ausgebürgert, sofern sie nach dem 8. Mai 1945 ihren Wohnsitz in Deutschland genommen haben und nicht einen entgegengesetzten Willen zum Ausdruck gebracht haben. Der Wortlaut des Art. 116 Abs. 2 GG schien darauf hinzudeuten, dass der Verfassungsgeber die „Ausbürgerungen“ offenbar anerkannt hatte. Nach einhelliger Meinung des Schrifttums wurde die Norm auch entsprechend ausgelegt und als Wiedergutmachungsnorm begriffen.115 Das Bundesverfassungsgericht argumentiert jedoch, dass der Parlamentarische Rat die Ausbürgerungsgesetze für nichtig gehalten habe, die Verfolgten also ihre Staatsangehörigkeit an sich niemals verloren hätten. Die Norm bezwecke, den Schutz überlebender NS-Verfolgter, denen an der deutschen Staatsbürgerschaft nicht gelegen sei und denen sie deshalb auch nicht gegen ihren Willen aufgedrängt werden solle. Vor dem 9. Mai 1945 verstorbene Verfolgte seien von Art. 116 Abs. 2 GG mithin nicht betroffen.116 Im Zusammenhang mit der Auslegung des Art. 116 Abs. 2 GG führte der Rückgriff auf das Naturrechtsargument teilweise zu grundsätzlicher Kritik.117 Die Kritik richtete sich im Ergebnis dagegen, das Gerechtigkeitsargument aus dem Bereich überpositiver Normenkontrolle in die Verfassung selbst zu verlagern.118 Besonders interessant ist dabei die Kritik Makarovs. Er vertritt die Auffassung, dass es einfach falsch sei, mit dem Bundesverfassungsgericht Art. 116 Abs. 2 GG gegen seinen Wortlaut auszulegen und die Ausbürgerungsverordnung ex tunc für nichtig zu betrachten. Es bedürfe daher einer Änderung des Grundgesetzes, wolle man die Ausbürgerungsverordnung aushebeln. Hierfür sei aber nicht das Bundesverfassungsgericht, sondern der Verfassungsgeber zuständig.119 Interessant an dieser These ist, dass sie die Wirkungsweise einer überpositiven Normenkontrolle anhand der Radbruchschen Formel veranschaulicht: Bei der Lösung einer Kollision fortwirkenden Altrechts mit überpositv gedachter Gerechtigkeit gerät die Rechtsprechung letztlich in einen Konflikt mit grundgesetzlichen Fortwirkungsanordnungen und es stellt sich damit die Kompetenzfrage. Diese Problematik taucht insbesondere bei der nach der Wiedervereinigung geführten Debatte um Art. 103 Abs. 2 GG wieder auf.120 Vgl. zur damaligen Diskussion nur Makarov, JZ 1968, 559 (560 f.). BVerfGE 23, 98 (108 – 112). 117 Makarov, JZ 1968, 559 ff.; ders., JZ 1969, 102; Roellecke, JZ 1969, 97. Vgl. Schumacher, Rezeption und Kritik der Radbruchschen Formel, S. 87. 118 Vgl. Schumacher, Rezeption und Kritik der Radbruchschen Formel, S. 87. 119 Makarov, JZ 1968, 559 (561); ders., JZ 1969, 102. 120 Vgl. hierzu unten, S. 126 ff., 135 ff., insbes. 136 f. 115 116
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gg) Urteil vom 15. April 1980 (BVerfGE 54, 53 ff.) Letztmalig vor der Wiedervereinigung stützt sich das Bundesverfassungsgericht auf die Radbruchsche Formel in einer Entscheidung des Jahres 1980. Hier äußert sich das Gericht im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde eines ausgesiedelten Juden ein weiteres Mal zu der Ausbürgerungsverordnung. Das Urteil behandelt die Geltungsfrage in enger Anlehnung an den Staatsangehörigkeitsbeschluss. Die Geltung sei bei „krassen“ bzw. „offensichtlichen Widersprüchen“ des Rechts zu „fundamentalen Erfordernissen der Gerechtigkeit“ zu verneinen.121 Die Ausbürgerungsverordnung sei „willkürlich und nichtig“ gewesen.122
c) Zusammenfassung Der Einfluss der Radbruchschen Formel auf die Rechtsprechung der Nachkriegszeit ist unverkennbar. Meist erscheint die Radbruchsche Formel als Kollisionsregel zur Aufarbeitung nationalsozialistischen Unrechts, gelegentlich aber auch in anderem Kontext. Das Bundesverfassungsgericht und der Bundesgerichtshof rezipieren Radbruch mal ausdrücklich, mal ohne seinen Namen zu erwähnen. Dabei taucht Radbruchs Geltungslehre in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eher als obiter dictum auf, während sie in der strafrechtlichen Unrechtsaufarbeitung des Bundesgerichtshofs stets als tragender Grund fungiert.123 In allen Fällen offenbart die Anwendung der Formel ihren überpositiven Charakter als Kollisionsregel für den Konflikt positivierten Rechts mit überpositiver, wenn auch grundgesetzlich positivierter Gerechtigkeit. Beide Gerichte stecken den Inhalt überpositiven Rechts nach den gleichen materiellen Maßstäben ab. Immer wieder verweisen die Entscheidungen auf die fundamentalen Prinzipien der Gerechtigkeit, wie sie in den elementaren Grundrechten und dem grundgesetzlichen Gleichheitssatz zum Ausdruck kommen.124 Es ist indes nicht die Positivierung dieser Rechtswerte naturrechtlicher Provenienz, denen die Gerichte folgen. Die Entscheidungen heben vielmehr stets die Bindung des pouvoir constituant an diese Rechtsprinzipien hervor, ohne dies verfassungstheoretisch zu begründen. Durch das so vorausgesetzte überpositive Verständnis erhalBVerfGE 54, 53 (67 f.). BVerfGE 54, 53 (74). Schumacher, Rezeption und Kritik der Radbruchschen Formel, S. 89, weist zurecht auf eine gewisse Verwässerung des Naturrechtsgedankens hin: Das BVerfG formuliert a. a. O., S. 68, gesetzliches Unrecht sei „unter dem Grundgesetz als nichtig, d. h. als von Anfang an unheilbar unwirksam, anzusehen“. 123 Vgl. auch Schumacher, Rezeption und Kritik der Radbruchschen Formel, S. 102. 124 In den Strafsachen erflogte allerdings lediglich in BGHSt. 2, 234 ff. ein Verweis auf die Positivierung überpositiver Gerechtigkeitspostulate im Grundgesetz. Grundsätzlich sucht die strafrechtliche Unrechtsaufarbeitung, insbesondere nach 1990, eine Konkretisierung naturrechtlicher Gehalte in völkerrechtlichen Prinzipien und nicht aus grundgesetzlicher Perspektive. 121 122
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C. Bundesgerichtliche Rechtsprechung und Literatur
ten diese Rechtswerte eine eigenständige normative Bedeutung. Es bleibt der Rechtscharakter der Überpositivität bestehen. Nach dem naturrechtlichen Verständnis ist ein Rückgriff auf mögliche „überpositive Anknüpfungspunkte“ des Verfassungsgebers in Art. 1 Abs. 1 und 2 GG (Unantastbarkeit der Menschenwürde, Menschenrechtsbekenntnis) oder Art. 20 Abs. 3 GG freilich auch nicht mehr erforderlich.125 Die Frage nach der Autonomie des pouvoir constituant wird im Kontext des Gleichberechtigungsurteils schnell im Blick auf die gemachten Unrechtserfahrungen abgelehnt. Im Kontext der Unrechtsaufarbeitung wird sie gar nicht erst aufgeworfen. Dies liegt wohl nicht nur in der Logik des naturrechtlichen Verständnisses. Es lässt sich im Hinblick auf die Unrechtsaufarbeitung sicherlich auch darauf zurückführen, dass dort die Nichtigkeit von Altrecht überpositiv begründet wird. Im Strafrecht erfolgte bemerkenswerterweise keine grundlegende Auseinandersetzung mit Art. 103 Abs. 2 GG. Dies geschah erst im Rahmen der noch darzulegenden Aufarbeitung des realsozialistischen Unrechts nach 1990. Obwohl sämtliche Entscheidungen die Frage der überpositiven Normenkontrolle betreffen, wird die formelle Frage nach der Prüfungskompetenz und Art. 100 Abs. 1 GG126 lediglich im Kontext der Frage nach „verfassungswidrigen Verfas125 Dreier meint, dass bei der Verwerfung nationalsozialistischer Rechtsvorschriften wegen Verstoßes gegen fundamentale Gerechtigkeitsprinzipien Art. 1 Abs. 2 GG der Sache nach schon präsent gewesen sei (H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG Bd. I, Art. 1 II, Rn. 13). 126 Dass Art. 100 Abs. 1 GG keinerlei Bedeutung in den Entscheidungen zum NS-Unrecht spielt ist freilich darin begründet, dass es sich insoweit um vorkonstitutionelles Recht handelt. Die Normenkontrolle vorkonstitutionellen Rechts unterliegt keiner Monopolisierung im Grundgesetz. Die Verwerfungskompetenz gegenüber vorkonstitutionellen, gegen das Grundgesetz verstoßenden Rechts ist nicht Inhalt der Regelung des Art. 100 Abs. 1 GG. Der Konflikt zwischen legislativer und judikativer Kompetenz stellt sich hier nicht: Das Bundesverfassungsgericht beschränkt in ständiger Rechtsprechung die Vorlagepflicht nach Art. 100 Abs. 1 GG seiner ratio entsprechend auf nachkonstitutionelle Rechtsnormen (BVerfGE 2, 124 (128 ff.); 18, 241 (252); 70, 126 (129 f.)). Die durch Art. 100 Abs. 1 GG begründete Kontrollbefugnis des Bundesverfassungsgerichts beschränkt sich auf diejenigen Gesetze, die im Geltungsbereich des Grundgesetzes (Art. 23 S. 1 GG a. F.) von einem dem „Grundgesetz verpflichteten Gesetzgeber“ erlassen worden sind (Vgl. BVerfG, DtZ 1994, 148; Klein, in: Umbach / Clemens, § 80 BVerfGG, Rn. 28 m. w. N.). Die Vorschrift gelte der Wahrung der Autorität des konstitutionellen Gesetzgebers, der parlamentarische Gesetzgeber solle in seinem Verantwortungsbereich und in seiner Autorität im Verhältnis zur Rechtsprechung gesichert werden (BVerfGE 86, 71 (77)). Nur solche vorkonstitutionellen Gesetze stehen den nachkonstitutionellen Gesetzen gleich, die der Gesetzgeber nach Inkrafttreten des Grundgesetzes „in seinen Willen aufgenommen“ hat (Vgl. BVerfGE 6, 55 (65); 66, 248 (254 f.); neuerdings im Verhältnis zum DDR-Recht BVerfG, DÖV 1998, 468). Hier stellt sich die Frage, ob der nachkonstitutionelle Gesetzgeber nicht mindestens alle größeren Gesetzgebungswerke in seinen Willen aufgenommen hat und ob ihm deshalb nicht wenigstens das über einen längeren Zeitraum hinweg angewandte Recht zugerechnet werden kann, im besonderen beispielsweise das Bürgerliche Gesetzbuch (Vgl. Stern, Bonner Kommentar, Art. 100 Rn. 93). Gleiches gilt letztlich für fortwirkendes Recht: Das fortwirkende Recht scheidet ebenfalls als Prüfungsgegenstand einer konkreten Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG aus. Beim fortwirkenden Recht handelt es sich um auf der Grundlage nicht mehr geltenden Altrechts
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sungsnormen“ im Gleichberechtigungsurteil und dem entsprechenden Gutachten des Bundesgerichtshofs erörtert. Dabei beschränken sich die Deduktionen des Bundesgerichtshofs auf eine prüfungsgegenstandsbezogene Argumentation. Die Zulässigkeit des Prüfungsmaßstabs wird ohne weitere Auseinandersetzung mit grundgesetzlichen Prinzipien vorausgesetzt. Das Bundesverfassungsgericht leitet sie schließlich aus der „Idee des Rechts selbst“ ab. Im Rahmen der Unrechtsaufarbeitung taucht sie gar nicht erst auf. Hier wird die Prüfungs- und Verwerfungskompetenz stillschweigend vorausgesetzt. Dabei überrascht, dass die Radbruchsche Formel rezipiert wird, seine im Zusammenhang mit der Formel geäußerte Forderung nach einer Monopolisierung der Verwerfungskompetenz127 jedoch keine Erwähnung findet. Die atypische Rezeption der Radbruchschen Formel im Rahmen der Diskussion der Möglichkeit nach „verfassungswidrigem Verfassungsrecht“ ist im Rahmen sämtlicher Radbruchrezeptionen der Rechtspraxis von besonderer Bedeutung, weil sie neben der Diskussion der Kompetenzfrage offenbart, dass die Anerkennung der Radbruchschen Formel bzw. überpositiven Rechts durch die Rechtsprechung nicht nur den Konflikt mit fortwirkendem Altrecht umfasst, sondern mit dem Grundgesetz selbst. Überpositives Recht, einmal anerkannt, beschränkt in letzter Konsequenz auch die Autonomie des Verfassungsgebers128 des Grundgesetzes.
2. Literatur Die Diskussion der Radbruchschen Formel und des Naturrechtsgedankens erfolgt in der Literatur weitgehend auf rechtstheoretischer und rechtsphilosophischer Ebene. Zudem wird eine heftige Debatte darüber geführt, ob der Positivismus oder aber eher naturrechtliches Denken die Schrecken des Nationalsozialismusses fördert oder gar erst ermöglicht hatten.129 Außerdem wird die Frage der Vereinbarkeit der Radbruchschen Formel als Kollisionsregel mit grundgesetzlichen Strukturentscheidungen diskutiert. Die Erörterungen in der Literatur stehen nicht immer im Zusammenhang mit der Vergangenheitsbewältigung. Anders als in der Rechtsprechung ist die Diskussion in der Literatur wesentlich intensiver und auch breiter angelegt. Neben Art. 100 GG führt sie auch zu Art. 97 GG sowie zu Art. 1 Abs. 2 erworbene bzw. zu beurteilende Rechtspositionen und Rechtsfolgen. Das fortwirkende Recht kann in keinem Fall einem dem Grundgesetz verpflichteten Gesetzgeber zugerechnet werden. Insbesondere Sinn und Zweck der Fortwirkungsanordnungen des Einigungsvertrages verbieten bereits ein derartiges Verständnis: Es handelt sich um intertemporales Kollisionsrecht; es gilt die Regel „alter Vorgang, altes Recht“ (Vgl. Brunner, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. IX, § 210 Rn. 35 ff. m. w. N.). 127 Radbruch, SJZ 1946, 105 (107); vgl. Schumacher, Rezeption und Kritik der Radbruchschen Formel, S. 74. 128 Vgl. dazu unten, S. 152 ff. 129 Vgl. hierzu nur Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung.
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und 20 Abs. 3 GG. Im Rahmen der Normenkontrollproblematik wird mitunter klarer unterteilt zwischen Prüfungsgegenstand und Prüfungsmaßstab, und die Kompetenzfrage wird durch striktere Differenzierung eingehender und damit auch kritischer berücksichtigt. a) Rechtsphilosophische und rechtstheoretische Rezeptionen Die Auseinandersetzung mit Radbruch ist nahezu uferlos; dies gilt insbesondere für die Zeit der „Naturrechtsrenaissance“,130 dem „ewigen Kampf zwischen Naturrecht und Rechtspositivismus“131, der nicht Thema dieser Arbeit sein soll.132 Mit der Positivierung wesentlicher Naturrechtsgrundsätze im Grundgesetz verschob sich in der Lehre die zunächst sehr praxisnahe Naturrechts- und Positivismusdebatte der unmittelbaren Nachkriegszeit zunehmend in den theoretischen Raum. In dieser Diskussion stehen sich im Wesentlichen die rechtsethische Lösung, nach der gesetzliches Unrecht als von Anfang an ungültig zu betrachten ist, und die positivistische Lösung, nach der gesetzliches Unrecht durch rückwirkende Gesetze nachträglich zu beseitigen ist, gegenüber. Rechtsethisch orientierte Autoren folgen weitgehend Radbruch. Sie beziehen die Formel in ihre rechtsethisch modifizierten Geltungslehren ein, wobei das Bemühen um Konkretisierung und Fortschreibung der Radbruchschen Kernthesen im Vordergrund steht.133 Die positivisVgl. nur Schumacher, Rezeption und Kritik der Radbruchschen Formel, S. 33. H. Dreier, JZ 1997, 421 (428). 132 Eingehend hierzu Schumacher, Rezeption und Kritik der Radbruchschen Formel, S. 33 ff.; Buchholz-Schuster, Rechtsphilosophische Legitimation der Rechtspraxis nach Systemwechseln, S. 124 ff., jeweils m. w. N.; Maihofers Sammelband, Naturrecht oder Rechtspositivismus?. 133 Vgl. umfassend hierzu Schumacher, Rezeption und Kritik der Radbruchschen Formel, S. 31 ff., 104. Hierzu zählen Autoren wie beispielsweise Würtenberger und Welzel, deren Rechtstheorien an Thesen der neuzeitlichen Vernunftrechtslehre anknüpfen. Sie suchen Anhaltspunkte für eine rechtsethische Geltungslehre in einem aufklärerisch-humanistischen Menschenbild. So wird die Angemessenheit des Radbruchschen Vorschlags bei Würtenberger durch die Ergebnisse anthropologischer Forschungen bestätigt (Würtenberger, JZ 1955, 5). Welzel proklamiert den Vorrang des Rechts gegenüber der Moral aufgrund des obersten materialethischen Prinzips der Anerkennung der Personalität des Menschen (Welzel, Vom irrenden Gewissen, S. 27 f.). Welzels Ansatz wurzelt in der praktischen Vernunft Kants: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst“ (Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 52). Die Radbruchsche Formel inspirierte aber auch Geltungslehren anderer rechtstheoretischer Grundpositionen, wie beispielsweise die Formeldiskussion im Umfeld neuscholastischer Naturrechtsbegründung (Geiger, Das Verhältnis von Naturrecht zu positivem Recht) oder der Existenzphilosophie Heideggers, wie bspw. Marcic, Vom Gesetzesstaat zum Richterstaat (vgl. Schumacher, a. a. O., S. 44 ff.). Schumacher, a. a. O., legt auch die Verbindung zu Maihofer und Kaufmann dar, die weitgehend dem Spätwerk Radbruchs folgen und den sog. „dritten Weg“ der Formel zwischen Naturrecht und Rechtspositivismus als rechtstheoretische Zielvorstellung proklammieren (vgl. Maihofer, in: ders. (Hrsg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus?, Einleitung S. X.). 130 131
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tischen Theorien wahren hingegen eine kritische Distanz: dem Recht wird Vorrang vor der Moral gewährt, Recht und Moral werden analytisch voneinander getrennt. Der Konflikt zwischen Recht und Moral wird aus dem juristischen Diskurs herausgehalten.134 Die Befürwortung der Radbruchschen Formel in der rechtsphilosophischen und rechtstheoretischen Debatte lässt meist den Praxisbezug vermissen. Die Rechtsanwendung steht vor allem für naturrechtliche Ansätze nicht im Vordergund. So kritisieren positivistische Ansätze denn auch meist die naturrechtliche Forderung, der Richter habe nach einer dem gesetzten Recht angeblich vorgelagerten objektiven rechtlichen Ordnung zu judizieren. Dies scheitere daran, dass eine solche objektive Ordnung inhaltlich nicht eindeutig bestimmbar sei, mithin keine fertigen Lösungen biete.135 Insbesondere die Frage der Vereinbarkeit der Formel bzw. des Naturrechts als Kollisionsregel für die Rechtsanwendung mit wesentlichen grundgesetzlichen Strukturentscheidungen wurde stark in den Hintergrund gedrängt.136
b) Grundgesetzliche Strukturentscheidungen in der Diskussion Hervorzuheben aus der Diskussion sind für die Zwecke dieser Arbeit die Stimmen, die sich abweichend von der übrigen Diskussion mit der Anwendung der 134 Zu nennen sind da etwa Riezler und Evers und aus dem angelsächsischen Raum insbesondere Hart. Eingehend hierzu Schumacher, Rezeption und Kritik der Radbruchschen Formel, S. 50 ff. Riezler fordert den uneingeschränkten Vorrang des Rechts gegenüber der Moral. Seine Rechtsquellenlehre erkennt im Wesentlichen nur das staatliche Gesetz als geltendes Recht an. (Riezler, Der totgesagte Positivismus, insbes. S. 254 – 256). Für Evers hat auch die verwerflichste Rechtsordnung einen verpflichtenden Wert, und zwar ohne Rücksicht auf ihren Inhalt, da auch sie noch ein Minimum an Schutz gewährt (Evers, Der Richter und das unsittliche Gesetz, S. 141, 72). Nach Harts positivistischer Trennungsthese sind Recht und Moral analytisch zu trennen (Hart, in: ders.: Recht und Moral, hersg. und übers. von Hörster, S. 14 (42 f.)). Der Rechtsbegriff ist hiernach ohne Einbeziehung moralischer Prinzipien zu bestimmen. Evident unmoralisches Recht soll durch rückwirkende Gesetzes beseitigt werden (Hart, a. a. O., S. 43 f.). Hart drängt damit den Konflikt zwischen Recht und Moral als rein ethische Frage aus dem juristischen Diskurs aus, vgl. Schumacher, Rezeption und Kritik der Radbruchschen Forme, S. 59. Harts Kritik führte zu weiteren Rezeptionen der Radbruchschen Formel in den siebziger und achtziger Jahren, die vornehmlich dem positivistischen Gegenentwurf Harts skeptisch gegenüberstanden, vgl. Schumacher, Rezeption und Kritik der Radbruchschen Forme, S. 56; Buchholz-Schuster, Rechtsphilosophische Legitimation der Rechtspraxis nach Systemwechseln, S. 126 ff. Erwähnenswert sind hier etwa Kriele, Recht und praktische Vernunft, insbes. S. 114 – 116, S. 125 f. und R. Dreier, Recht und Moral, insbes. S. 189 f., S. 193 f., S. 198 f. Gegen den positivistischen Rechtsbegriff wird seit den achtziger Jahren Neben dem Unrechtsargument Radbruchs das Prinzipienargument Dworkins angeführt. Vgl. hierzu R. Dreier, Rechtsbegriff und Rechtsidee, S. 25 ff. 135 Vgl. nur Hirsch, JR 1966, 334 (337 f., m. w. N.). Zur Diskussion der „neuen Hermeneutik“ und überkommenen Feststellung, dass Rechtsprechung nicht bloßer Gesetzesvollzug ist, siehe unten, S. 170 f. 136 Vgl. Hirsch, JR 1966, 334 (339).
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Radbruchschen Formel und des Naturrechts (als Korrektiv der rechtsanwendenden Gewalten) und ihrer Vereinbarkeit mit den formalen Kautelen des Grundgesetzes beschäftigen. Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts aus dem ersten Band (im Anschluss an den Bayerischen Verfassungsgerichtshof)137 und aus dem dritten Band138 lösten in der Lehre vorwiegend während der fünfziger und sechziger Jahre eine rege Debatte über die formelle Frage nach der Prüfungs- und Verwerfungskompetenz am Maßstab überpositiven Rechts aus.139 aa) Überblick Die Stimmen reichen von der rechtstheoretischen Begründung einer Prüfungsund Verwerfungskompetenz am Maßstab überpositiver Verbotssätze über kritische Töne auch aus rechtstheoretischer Sicht140 bis hin zur Ablehung einer Verwerfungskompetenz als Verstoß gegen das Demokratie- und Gewaltenteilungsprinzip des Grundgesetzes. Wie in der Rechtsprechung wurde die richerliche Prüfungs- und Verwerfungskompetenz in der Literatur besonders im Kontext der Frage nach der Existenz „verfassungswidrigen Verfassungsrechts“ eingehend diskutiert.141 Die Rezeption der Radbruchschen Formel bzw. des Naturrechtsgedankens ist in diesem Zusammenhang, wie bereits dargelegt, atypisch. Es geht hier nicht um Unrechtsaufarbeitung. Dieses Thema ist insoweit von besonderem Interesse, als es um die Vereinbarkeit von Verfassungsnormen mit überpositivem Recht geht. Der Streit wurde in diesem Zusammenhant insbesondere von Bachof und Apelt angefacht. Es finden BVerfGE1, 14 ff. und BayVerfGH, DÖV 1950, 407. BVerfGE 3, 225 ff. 139 Einen Überblick hierzu verschafft die Arbeit von Huh, Probleme der konkreten Normenkontrolle, S. 122 ff. Vgl darüber hinaus aus der Literatur in der siebziger und achziger Jahre: Ulsamer, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu, BVerfGG, § 80 (1976), Rn. 150; Söhn, in: Fg. für das BVerfG zum 25-jährigen Bestehen, Bd. I, S. 292 (316); Stern, Staatsrecht Bd. II, S. 992; Maunz, in: Maunz / Dürig, Art. 100, Rn. 20. 140 Vgl. Müller, Gesetzliches Recht und übergesetzliches Unrecht; ders., Leviathan, S. 326 ff., der trotz positiver Bewertung der Radbruchschen Formel die demokratiefeindlichen Tendenzen des naturrechtlichen Standpunktes kritisiert. Vgl. auch Maus, Rechtstheorie 20 (1989), 191 (192 f.), die im Rahmen der Diskussion um die Remoralisierung des Rechts darauf hinweist, dass das moralische Argument leicht als Demokratieersatz missbraucht werden kann. 141 Das Bundesverfassungsgericht greift in dem Gleichberechtigungsurteil auf die in den fünfziger Jahren kurzzeitig heftig geführte Diskussion um die Existenz „verfassungswidrigen Verfassungsrechts“ auf, vgl. oben, S. 50 ff. Die Frage nach der Existenz „verfassungswidrigen Verfassungsrechts“ wurde auch im Zusammenhang mit dem Bodenreformurteil des Bundesverfassungsgerichts wieder aktuell, vgl. Leisner, DÖV 1992, 432, ebenso wie bei Art. 16 a GG, vgl. hierzu Lübbe-Wolff, DVBl. 1996, 825, und im Zusammenhang mit dem großen Lauschangriff, vgl. hierzu Hartmann, ZRP 1998, 412, und abweichende Meinung der Richter Jaeger und Hohmann-Dennhardt, BVerfG, 1 BvR 2378 / 98 vom 3. 3. 2004, Absatz-Nr. 368. 137 138
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sich auch rechtstheoretische Ansätze zur Begründung einer richterlichen Prüfungsund Verwerfungskompetenz am Maßstab überpositiven Rechts, wie etwa bei Geiger. In der Debatte standen sich stets die gleichen Argumente gegenüber. Symptomatisch für den naturrechtlichen Ansatz ist es, aus dem Bekenntnis zur Verbindlichkeit überpositiven Rechts die Notwendigkeit einer entsprechenden Prüfungs- und Verwerfungskompetenz der Gerichte abzuleiten. Eingehend beschäftigten sich insbesondere Geiger, Grewe und Bachof mit der Kompetenzfrage. Deren Ansätze sollen nachfolgend unter bb) aus den vielen Stimmen142 exemplarisch dargestellt werden. Ihre Deduktionen verdeutlichen, dass die naturrechtlichen Positionen die Kompetenz nicht aus dem Kompetenzgefüge des Grundgesetzes herleiten. Allerdings wurde in der Lehre aus dem Menschenwürde-Satz in Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG und dem Bekenntnis zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten in Art. 1 Abs. 2 GG sowie in der Formel von der rechtsstaatlichen Bindung der Judikative an „Gesetz und Recht“ in Art. 20 Abs. 3 GG die Verbindlichkeit überpositiver Maßstäbe für die Rechtsanwendung begründet. Der Menschenwürdesatz und das Menschenrechtsbekenntnis in Art. 1 GG wurde besonders in der Kommentarliteratur der fünfziger Jahre hervorgehoben und ist in abgeschwächter Form bis heute tradiert.143 Darüber hinaus ist in der Lehre ein heftiger, bis heute andauernder Streit über die Frage entbrannt, ob das „Recht“ über das „Gesetz“ hinausgehende, insbesondere naturrechtliche Maßstäbe für das Handeln der Judikative bereithält.144 Im Kontext der Rezeption der Radbruchschen Formel spielen Artikel 1 und 20 GG allerdings schon vor, insbesondere aber auch nach 1990 allgemein eher untergeordnete Rollen.145 Vor allem die Kompetenzfrage wird nach der ins142 Vgl. etwa BK-Holtkotten, Art. 97, Anm. 2b (1968); Schäfer, NJW 1954, 1 (4); Huber, Die konkrete Normenkontrolle gemäß Art. 100 Abs. 1 GG in der Gerichtspraxis, S. 44 ff. (46); Figge, MDR 1953, 391 (393); Conzen, Die materiellrechtlichei Prüfungszuständigkeit des Richters im deutschen Verfassungsrecht, S. 1; Hamann, NJW 1959, 1465; Kirchhof, in: BVerfG-Festgabe Bd. II, S. 50 (61). 143 Dazu Denninger, JZ 1998, 1129 (1130). Vgl. Nipperdey, in: Neumann / Nipperdey / Scheuner, Grundrechte Bd. 2 (1954), Die Würde des Menschen S. 1 (7); Dürig, in: Maunz / Dürig (1958), Art. 1 Abs. 2, Rn. 73. Zur Diskussion des Menschenrechtsbekenntnisses in Art. 1 Abs. 2 GG und dem naturrechtlichen Verständnis von Art. 1 Abs. 1 und 2 GG in der Lehre eingehend unten, S. 153 ff. 144 Vgl. Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, S. 491 ff. Hierzu eingehend unten, S. 163 ff. 145 Positivbeispiele zu Art. 1 GG: vor 1990 Schnorr, AöR 85 (1960), S. 121 ff.; Bachof, in: Recht und Staat Nr. 163 / 164 (1951), S. 7 ff. (27); H. P. Ipsen, DV 1949, 486 (490); nach 1990 Denninger, JZ 1998, 1129 (1130); Dreier, in: ders. (Hrsg.), Bd. I, Art. 1 II, Rn. 12 ff.; Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, Bd. I, Art. 1 Abs. 2, Rn. 109 ff. (111). Zu Art. 20 Abs. 3 GG: vor 1990 Stern, Staatsrecht Bd. I, S. 798 ff.; Herzog, in: Maunz / Dürig, Abschn. IV, Art. 20, Rn. 53; Bettermann, in: Bettermann / Nipperdey / Scheuner, Die Grundrechte, S. 531 f.; Kirchhof, in: BVerfG-Festgabe Bd. II, S. 50 (61); Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 449 ff.; Schnorr, AöR 85 (1960), S. 121 ff.; Maunz, Deutsches Staatsrecht, S. 58; Evers, Der Richter und das unsittliche Gesetz, S. 105 ff., 113 ff.; nach 1990: AK-GG – Frankenberg, Art. 20 Abs. 1 – 3 IV Rn. 26; Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, S. 492; Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, S. 90 ff.
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besondere in den fünfziger und Anfang der sechziger Jahre geführten Debatte kaum mehr berücksichtigt. Sie geistert in aktuellerer Literatur eher in gelegentlichen Verweisen auf die dargelegten Entscheidungen aus dem ersten und dritten Band des Bundesverfassungsgerichts herum, ohne wirklich diskutiert zu werden.146 Was die Unrechtsaufarbeitung angeht, hängt das freilich nicht zuletzt damit zusammen, dass hier keine formellen Gesetze oder Verfassungsnormen auf dem Prüfstand stehen.147 Das unkritische Naturrechtsbewusstsein der Rechtsprechung und Literatur wurde insbesondere hinsichtlich der richterlichen Prüfungs- und Verwerfungskompetenz am Maßstab überpositiven Rechts in Teilen der Lehre anhand grundgesetzlicher Strukturentscheidungen entschieden hinterfragt (nicht nur aus positivistischer Sicht). Kritische Stimmen warnten vor einer Schwächung der Geltungskraft der rechtlichen Grundordnung, vor dem Verlust an Rechtssicherheit, vor dem Widerspruch zur Gesetzesgebundenheit des Richters und vor der Unvereinbarkeit mit der Gewaltenteilung148 und dem Demokratieprinzip. Die Probleme wurden allerdings meist nur angetippt: So verweist beispielsweise Schneider lediglich darauf, dass eine „aus naturrechtlichem Überschwang geborene, unbefangene richterliche Überprüfung der Verfassung auf ihre Übereinstimmung mit dem Naturrecht nicht nur die Geltungskraft der rechtlichen Grundordnung auf das Bedenklichste schwächen“ würde; „sie würde auch die richterliche Gewalt aus dem System der verfassungsmäßigen Gewalten herauslösen“.149 Schlösser lehnt die Beachtung überpositiven Rechts durch den Richter als Widerspruch zum Grundsatz der Gewaltenteilung ab.150 Der Richter würde zum AufDie Diskussion überpositiven Rechts im Zusammenhang mit Art. 1 Abs. 2 und 20 Abs. 3 GG wird in diesem Kapitel wie auch bei der Darstellung der Lehre für den Zeitraum nach 1990 nur exemplarisch angeschnitten, da sie nicht nur im unmittelbaren Kontext der Rezeption der Radbruchschen Formel, insbesondere der Unrechtsaufarbeitung geführt wird. Zudem kommt diesen Artikeln aus der Sicht der vorliegenden Arbeit eine zentrale Rolle für die Diskussion der Verbindlichkeit überpositiven Rechts für die Rechtsanwendung zu. Sie werden daher eingehend in getrennten Kapiteln D.I.2.b), S. 153 ff. und D.II.2.b), S. 163 ff., gesondert abgehandelt. 146 Siehe etwa Rozek, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu, BVerfGG, § 76 (2001), Rn. 64; Klein, in: Benda / Klein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 734 a. E.; Meyer, in: v. Münch / Kunig, Bd. III, Art. 97, Rn. 23; Lechner / Zuck, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, vor § 76 Rn. 18. 147 Vgl. aber das Bodenreformurteil des BVerfG, E 84, 90 ff., hierzu unten, S. 99 ff. 148 Vgl. zu grundsätzlichen Bedenken hinsichtlich der Gewaltenteilung zwischen 1945 und 1949 Schultes, NJ 1948, 1 (5 ff.); Stoecker, MDR 1948, 206 f. und Waldow, MDR 1948, 338 f. – jeweils m. w. N. 149 Schneider, ARSP 42 (1956), 98 (108). 150 Schlösser, NJW 1960, 943 (946). Schlösser beschäftigt sich in seinem Ausatz mit der strafrechtlichen Verantwortlichkeit ehemaliger Richter an Sondergerichten gemäß § 336 StGB und untersucht, ob „Recht“ i. S. d. § 336 StGB auch überpositives Recht sein könne, was er i. E. ablehnt.
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sichtsorgan über die gesetzgebende Gewalt bestellt. Diese Aufgabe käme ihm aber nach der Verfassung und der Gerichtsverfassung nicht zu. Die Beachtung übergesetzlichen Rechts sei vielmehr Aufgabe des Volkes und des von im gewählten und bestellten Gesetzgebers. Nach § 1 GVG werde die richterliche Gewalt durch unabhängige, nur dem Gesetz unterworfene Gerichte ausgeübt. Art. 20 Abs. 3 GG enthalte zwar einen gewissen Widerspruch, indem er die Bindung an „Gesetz und Recht“ auspreche. Damit sei aber nicht eine Bindung an überpositives Recht gemeint.151 Die gleichzeitige Anführung von „Gesetz und Recht“ weise nur auf den gelegentlich zwischen beiden auftretenden Widerspruch hin. Der Richter sei aber auch dann, wenn es seinem Rechtsgefühl nicht entsprechen sollte, an das positive Gesetz gebunden. Auch Nawiasky legt den Finger auf die Wunde, liefert aber keine systematische und insbesondere systemimmanente Analyse der Verwerfungskompetenz am Maßstab überpositiven Rechts vor dem Hintergrund des verfassungsrechtlich austarierten Kompetenzgefüges.152 Er verweist lediglich auf den logisch kaum zu vertretenden Ansatz, einerseits das Recht als seiner Qualität nach positiv, d. h. von den dazu legitimierten Rechtssetzern geschaffen anzuerkennen, andererseits aber dem Rechtsanwender die Befugnis zuzusprechen, seine Auffassung derjenigen der ihm übergeordneten Instanz zu oktroyieren, wenn er mit dem gesetzten Recht sachlich nicht einverstanden sei.153 Ähnlich klingt es bei Ehmke, der es für unzulässig hält, dass das Bundesverfassungsgericht, selbst eine Schöpfung der Verfassung, den Verfassungsgeber korrigiert, indem es Bestimmungen der Verfassung am überpositiven Recht misst.154 Sigloch fragt, wieso ein Richter, der seine richterliche Autorität letztlich doch nur auf das Grundgesetz und nicht auf Naturrecht zurückführen könne, kraft dieser Kompetenz befugt sein solle, sich über das Grundgesetz hinwegzusetzen.155 Kritische Stimmen verweisen auch häufig auf die stattgefundene Positivierung naturrechtlicher Grundsätze im Grundgesetz. So verweist H. P. Ipsen bereits 1949 darauf, dass der Streit um die Frage, ob überstaatliche Normen, Prinzipien des Schlösser, NJW 1960, 943 (945). Materiell argumentiert Nawiasky, dass interpretativ viele allgemeine, nicht ausdrücklich ausgesprochene Rechtsgedanken als dem positiven Recht angehörig nachweisbar seien, ohne dass man dabei auf überpositive Grundsätze rekurrieren müsse. Man könne daher den Radbruchschen Vorbehalt des Widerspruchs gegen oberste Grundsätze der Gerechtigkeit als Bestandteil des positiven Rechts und diesem zugehörig erklären. Zudem sei ein Konstrukt eines einheitlichen, alle Rechtsordnungen überhöhenden überpositiven Rechts mit der Rechtswirklichkeit schlechterdings nicht zu vereinbaren. So scheitert das überpositive Recht auch bei ihm im Ergebnis an dessen fehlender Bestimmtheit und Evidenz. 153 Nawiasky, JZ 1954, 717 (719). 154 Ehmke, VVDStRL 20 (1963), S. 53 (79). 155 Sigloch, in Maunz / Schmidt-Bleibtreu, BVerfGG, § 80, Rn. 45 (Altauflage zitiert bei Huh, Probleme der konkreten Normenkontrolle, S. 124). A. A. die spätere Auflage (Lfg. 8, Oktober 1985), kommentiert von Ulsamer, a. a. O. 151 152
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„Naturrechts“ oder andere metaphysische Wertungen den höchsten Maßstab der richterlichen Prüfungszuständigkeit bildeten, in der Entscheidung des Grundgesetzes zur Aktualität seiner Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG) und in der Bindung der Gesetzgebung an die „verfassungsmäßige Ordnung“ (Art. 20 Abs. 3 GG) und den Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) „praktisch“ seine Erledigung gefunden habe. „Denn: die materiale Einbeziehung solcher höchster Wertungen in ein Verfassungssystem unter Grundrechtsaktualisierung mit gleichzeitiger Verbindlichkeitserklärung für den Gesetzgeber bedeutet seine, des Gesetzgebers Unterwerfung unter die ,Verfassung‘ im so verstandenen Sinne und enthebt den Inhaber der richterlichen Prüfungszuständigkeit der Aufgabe, jenseits und oberhalb der Verfassung stehende Wertmaßstäbe an die zu prüfende Norm anzulegen. Was an Wertungen in der Verfassung seinen Ausdruck findet, ist für ihn beachtlich – nicht weniger, aber auch nicht mehr“.156 Dezidiertere Auseinandersetzungen mit dem richterlichen Prüfungs- und Verwerfungsrecht finden sich insbesondere bei Apelt, Nöldeke, Evers und Hirsch. Die kritischen Ansätze dieser Autoren sollen nachfolgend unter cc) eingehender dargestellt und einander gegenübergestellt werden, da sie die Problematik in unterschiedlichen Zusammenhängen diskutieren: Während sich Apelt mit der Problematik im Rahmen der Diskussion „verfassungswidriger Verfassungsnormen“ auseinandersetzt, unterzieht Evers das Naturrechtsbewusstsein der Rechtsprechung einer kritischen Würdigung. Beide Autoren lehnen dennoch nicht die Geltung überpositiven Rechts ab. Nöldeke untersucht die Stellung des Richters zum Gesetz und lehnt eine überpositive Bindung ab. Hirsch schließlich integriert die Problematik in den Zusammenhang der Diskussion um Richterrecht, und zwar gleichfalls unter Ablehnung einer Verbindlichkeit überpositiver Maßstäbe.
bb) Begründung richterlicher Prüfungs- und Verwerfungskompetenz (1) Der rechtstheoretische Ansatz Geigers Aus rechtstheoretischer Sicht beschäftigte sich besonders Geiger mit der Kompetenzfrage. Durch die thomistische Naturrechtslehre geprägt, entwickelte er seine rechtsethisch modifizierte Geltungslehre. Nach Geiger ist für alles Recht – das gesetzte, das Gewohnheitsrecht und das Naturrecht – der tiefere Grund der Geltung und Verbindlichkeit seine Vereinbarkeit mit der Seinsordnung, letzter Geltungsgrund allen Rechts damit der Urheber dieser Ordnung, also Gott. Die Geltung einer Rechtsnorm ergibt sich aus der Normenhierarchie lex divina, lex aeterna, lex naturalis, lex positiva.157 Das Verhältnis von Naturrecht und positivem Recht kennzeichne sich dadurch, dass das Naturrecht „das tiefer legitimierte, auf den letzten Geltungsgrund zurückgeführte und deshalb das stärkere oder ranghöhere Recht ge156 157
H. P. Ipsen, DV 1949, 486 (490). Geiger, Das Verhältnis von Naturrecht zum positiven Recht, S. 65.
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genüber jedem vom Staat gesetzten Rechtssatz“ sei. Der Widerspruch zwischen Naturrecht und positivem Recht müsse dabei in einer präziseren Formel als der vorsichtigen Formulierung Radbruchs gelöst werden.158 Geiger sucht diese sodann in einer Abgrenzung nach naturrechtlichen Verbotsnormen, welche aus unmittelbar einleuchtenden Fundamentalnormen wie Lebensrecht, Ehre, Freiheit, Menschenwürde, Gleichheit, etc. abzuleiten seien.159 Hervorzuheben sind Geigers Ausführungen für die Zwecke dieser Arbeit insbesondere wegen ihrer „unausweichlichen“ Folgen für die Rechtsanwendung durch den Richter.160 Dabei unterscheidet Geiger zwischen Prüfungs- und Verwerfungskompetenz. „Recht anwenden“ heißt für ihn „nicht nur, alles Recht anwenden, sondern auch, nur das gültige Recht anwenden“. Damit sei jeder Richter „nicht nur moralisch, sondern auch rechtlich“ zur Prüfung verpflichtet, ob positives Recht wegen eines Verstoßes gegen einen Verbotssatz des Naturrechts nichtig sei. Mit Rücksicht auf Art. 100 GG könne der Richter den von ihm für nichtig gehaltenen Satz nicht einfach außer Anwendung lassen, sondern habe die Rechtsfrage dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vorzulegen. Diese Konzentration der sogenannten Verwerfungskompetenz beim Bundesverfassungsgericht erweise sich für die Überprüfung am Maßstab überpositiven Rechts als „außerordentlich vorteilhaft“.161 Damit folgt Geiger letztlich der Auffassung Radbruchs, wonach die Verwerfungskompetenz auf ein höheres Gericht beschränkt bleiben solle.162 Als Argument für die Monopolisierung dient, wie schon bei Radbruch, die Rechtssicherheit. Würde ein anderes als das vorlegende Gericht, so führt Geiger aus, in derselben Frage zu einem anderen Ergebnis kommen als das Bundesverfassungsgericht in seiner auf die Vorlage ergangenen Entscheidung, so wäre eine Bindung an das naturrechtliche Gebotene stärker als die Bindung an die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Das hieße aber, dass es von dem Spruch des Bundesverfassungsgerichts abweichen müsse.163 Geiger konzentriert sich also auf die Frage nach der Notwendigkeit einer Monopolisierung der Verwerfungskompetenz beim Bundesverfassungsgericht. Diese begründet er (zu Recht) anhand von Art. 100 GG. Zu fragen wäre aber doch, woraus sich Prüfungs- und Verwerfungskompetenz der Gerichte im Grundgesetz überhaupt herleiten. Art. 100 Abs. 1 GG monopolisiert lediglich die Verwerfungskompetenz für formelle, d. h. parlamentsbeschlossene, nachkonstitutionelle Gesetze.164 Geiger, Das Verhältnis von Naturrecht zum positiven Recht, S. 76 f. Geiger, Das Verhältnis von Naturrecht zum positiven Recht, S. 68 f., S. 74 f., S. 77 ff. 160 Geiger, Das Verhältnis von Naturrecht zum positiven Recht, S. 84 ff. 161 Geiger, Das Verhältnis von Naturrecht zum positiven Recht, S. 84 f. 162 Radbruch, SJZ 1946, 105 (107). 163 Geiger, Das Verhältnis von Naturrecht zum positiven Recht, S. 84 f. 164 Vgl. Stern, AöR 91 (1966), S. 223 (225 ff.) m. w. N., sowie Bettermann, in: BVerfGFestgabe Band I, S. 323 (326 f.), und Maurer, DÖV 1963, 683 ff., insbesondere zu der begrifflichen Ungenauigkeit des sog. richterlichen Prüfungsrechts. 158 159
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Art. 100 Abs. 1 GG verfasst weder ein allgemeines Prüfungsrecht noch eine Verwerfungskompetenz165 schlechthin; er schließt vielmehr für den genannten Normenbereich eine allgemeine Verwerfungskompetenz durch die angeordnete Monopolisierung beim Bundesverfassungsgericht aus. Die allgemeine Prüfungsbefugnis ist eine ihr vorausliegende, in Art. 100 Abs. 1 GG vorausgesetzte und bestätigte, dieser Norm gleichsam immanente Kompetenz.166 Sie findet ihre Grundlage bereits in Art. 20 Abs. 3 GG, im Vorrang des Gesetzes, in der Gesetzesbindung der Rechtsanwendung in Verbindung mit der Rangordnung der Normen.167 Eine Antwort wäre also dort zu suchen. Geiger leitet hingegen die allgemeine Prüfungs- und Verwerfungskompetenz als logische Konsequenz der Anerkennung der Verbindlichkeit überpositiven Rechts ab. Er schließt aus der materiellen Erkenntnis auf die formelle Notwendikgeit, welche aus seiner Sicht freilich unausweichlich ist. Dies entspricht dem Argumentationsmuster der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Gleichberechtigungsurteil wie auch dem Gutachten des Bundesgerichtshofs in diesem Verfahren. Gleiches gilt für die Diskussion der Prüfungs- und Verwerfungskompetenz im Rahmen der Frage nach der Existenz „verfassungswidrigen Verfassungsrechts“, auf welche das Bundesverfassungsgericht und der Bundesgerichtshof in oben dargelegten Verfahren zurückgriffen: (2) Deduktion aus dem Wesen richterlicher Prüfungszuständigkeit Die Frage, ob den Gerichten ein Prüfungs- und Verwerfungsrecht am Maßstab überpositiven Rechts zugesprochen werden kann, beschäftigte in besonders anschaulicher Weise die Diskussion um die Existenz „verfassungswidriger Verfas165 Bettermann, in: BVerfG-Festgabe Bd. I, S. 323 (326), verweist zutreffend darauf, dass auch dieser Begriff mindestens ungenau ist. Das BVerfG „verwirft“ nicht das für verfassungswidrig beurteilte Gesetz, es erklärt es lediglich für nichtig. Der Begriff hat sich jedoch fest etabliert und ist letztlich nicht irreführend. An ihm sollte festgehalten werden. 166 Vgl. Stern, AöR 91 (1966), S. 223 (225), diese Feststellung allgemein auf das „richterliche Prüfungsrecht“ treffend. Vgl. auch BVerfGE 1, 184 (195 ff.) 2, 124 (129): „Art. 100 Abs. 1 GG ,will schon seinem Wortlaut nach die Gerichte nicht etwa von der Prüfung und Entscheidung aller verfassungsrechtlicher Fragen [ . . . ] ausschließen, und hierfür die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts begründen‘, sondern er setzt im Gegenteil voraus, daß ,die Gerichte die für ihre Entscheidung in Betracht kommenden Rechtsvorschriften auf ihre Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz [ . . . ] hin selbständig prüfen und in eigener Zuständigkeit die Vereinbarkeit bejahen“. Zur historischen Diskussion des richterlichen Prüfungsrechts während der Weimarer Reichsverfassung, welches in der Lehre lange Zeit umstritten war und erst im Wege der Evolution bis hin zur Überprüfbarkeit von Reichsgesetzen anerkannt wurde, vgl. die Nachw. bei Herzog, in Maunz. / Dürig, Art. 100 GG, Abschn. I, Rn. 1. Seit dem Urteil des RG (RGZ 111, 320) wurde das richterliche Prüfungsrecht jedenfalls von den Gerichten allgemein vorausgesetzt. 167 Vgl. bspw. Bettermann, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. III, § 73 Rn. 13; Löwer, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. II, § 56 Rn. 53.
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sungsnormen“. Hier fokussierte der in den fünfziger Jahren kurzeitig heftig geführte Streit die Frage am Beispiel von Verfassungsnormen auf dem Prüfstand einer Vereinbarkeit mit überpositivem Recht. Am profiliertesten sind hier die Thesen Bachofs und Grewes. Das Bundesverfassungsgericht berief sich im Gleichberechtigungsurteil auf diese Thesen. Grewe versteht unter der Verfassungsmäßigkeit der Verfassung neben Legalität der Verfassung auch deren überpositive Legitimität. Jede Verfassung finde ihre Schranken in bestimmten unantastbaren überpositiven Rechtsgrundsätzen, die den Akt der Verfassungsgebung sowohl rechtfertigten als auch begrenzten. In einem Verfassungssystem, in dem die Verfassung selbst unter dem Vorrang übergeordneter Normen stehe und nicht als ein allen rechtlichen Bindungen enthobener Akt absoluter Entscheidungsgewalt gelte, stehe auch der einzelne Verfassungsartikel nicht über allen Gesetzen. Hieraus folgert Grewe ausdrücklich eine verfassungsgerichtliche Überprüfbarkeit der „Verfassungsmäßigkeit der Verfassung“ auch anhand des überpositiven Rechts ein.168 Bachofs Argumentation führt ebenfalls über einen weiten „materiellen Verfassungsbegriff“169. Dieser erfordert bei Bachof „eine Berücksichtigung des übergesetzlichen Rechts“.170 Der Verfassungsbegriff Bachofs beinhaltet bereits das naturrechtliche Element der Unverfügbarkeit von Recht. Die Autonomie des Verfassungsgebers besteht nicht unbeschränkt, sondern „tatsächlich nur im Rahmen der übergesetzlichen Bindungen“171. Geltende Verfassung im materiellen Sinne sind hiernach nur diejenigen Teile des positivrechtlichen Bestandes der Integrationsordnung, die jene vorgegebenen Grenzen nicht überschreiten.172 Zu diesen zählen etwa Menschenwürde und Gleichheit aber auch die Strukturentscheidungen in Art. 20 Abs. 3 GG. Wenn auch der Verfassungsgeber insbesondere durch die Art. 1, 3, 20 Abs. 3 und 25 GG selbst den „Griff in die Sterne“173 getan und metaphysische Wertungen in das Verfassungssystem einbezogen, d. h. als „geltendes“ Verfassungsrecht im Sinne seiner Positivität anerkannt habe, so sei damit nicht bewiesen, dass jene Positivierung den Gehalt des übergesetzlichen Rechts ausschöpfe, ge168 Grewe, Rechtsgutachten über die Rechtsgültigkeit des Art. 41 der hessischen Verfassung, S. 6, 7 f. und 16 ff. 169 Vgl. Bachof, in: Recht und Staat Nr. 163 / 164 (1951), S. 7 ff. (25 ff.). 170 Bachof, in: Recht und Staat Nr. 163 / 164 (1951), S. 7 ff. (31). Für eine Einbeziehung in die „Verfassung“ spreche der Umstand, dass das übergesetzliche Recht jeder diesen Namen legitimerweise beanspruchenden Rechtsordnung, und damit auch und sogar in erster Linie jeder verbindlich sein wollenden Verfassungsordnung, immanent sei. Während hierin lediglich Polemik zu erkennen ist, lässt zudem das weitergehende Argument, de lege lata spreche dafür der Umstand, dass das Grundgesetz das Bestehen übergesetzlichen Rechts anerkenne, die Begründung vermissen, an welcher Stelle das Grundgesetz denn dieses Bestehen anerkennt, vor allem aber dessen verbindliche Geltung für das Grundgesetz. 171 Bachof, in: Recht und Staat Nr. 163 / 164 (1951), S. 7 ff. (31). 172 Bachof, in: Recht und Staat Nr. 163 / 164 (1951), S. 7 ff. (31). 173 Mallmann, JZ 1951, 245.
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schweige denn, dass die geschriebene Verfassung mit dem durch die Positivierung möglicherweise nicht ausgeschöpften übergesetzlichen Recht ohne weiters in Einklang stehe.174 Schließlich sei trotz des das positivierte übergesetzliche Recht in die „Unabänderlichkeit“ einbeziehenden Art. 79 Abs. 3 GG keine absolute Gewähr für die künftige Beibehaltung des insofern höchstens de lege lata gewährleisteten Rechts gegeben, vom provisorischen Charakter des gesamten Grundgesetzes (Art. 146 GG) ganz zu schweigen.175 Unter Berufung auf E. v. Hippel setzt Bachof für die Geltung einer Verfassung ihre Legitimität in zweierlei Gestalt voraus, nämlich in ihrer Positivität im Sinne ihres „Daseins als Plan und Ausdruck wirklicher Macht“ und in ihrer Verbindlichkeit im Sinne rechtlicher Verpflichtung des Angeordneten für die Normadressaten durch Beachtung der überpositiven Rechtsregeln.176 Bachof äußert sich detailliert zum Bestand und Umfang der Prüfungs- und Verwerfungskompetenz. Er zieht die Grenzen einerseits nach dem grundgesetzlichen Wortlaut, andererseits nach dem „Wesen richterlicher Prüfungszuständigkeit“: Wenn in den Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 und 100 Abs. 1 GG von „verfassungswidrigen Gesetzen“ und „diesem Grundgesetz“ die Rede sei, so spreche dies nicht gegen eine Verwerfungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts am Maßstab überpositiven Rechts. Ganz abgesehen davon, dass das Grundgesetz in seiner Terminologie überhaupt wenig präzise sei und zum Beispiel den Ausdruck „Verfassung“ in durchaus unterschiedlicher Weise gebrauche, weshalb allgemein vor einer Überbewertung terminologischer Folgerungen gewarnt werden müsse, lasse sich auch unter den Begriff „Grundgesetz“ zwanglos alles vom Grundgesetz materiell in die Verfassung einbezogene oder von ihm vorausgesetzte Recht subsumieren. Auch das das Grundgesetz etwa komplementierende Verfassungsgewohnheitsrecht gehöre zum Grundgesetz in einem juristisch verstandenen Sinne.177 Insofern sei es mit dem Wortlaut der Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 und 100 Abs. 1 GG zu vereinbaren, alles deutsche Gesetzesund Verfassungsrecht auf seine Vereinbarkeit mit der Verfassung zu prüfen, und zwar mit der „Verfassung“ im weitesten Sinne, d. h. unter Einbeziehung des ungeschriebenen („nicht positivierten“) und, weil unteilbaren, auch insoweit vorausgesetzten übergesetzlichen Rechts.178 Andererseits, so Bachof, könne aber aus dem Wortlaut auch nichts Entscheidendes für eine derart weitgehende Prüfungsbefugnis entnommen werden; denn so wenig jener Wortlaut die Subsumtion allen materiellen Verfassungs- und vorverfassungsmäßigen Rechts unter den Begriff „Grundgesetz“ verbiete, so wenig zwinge er auch zu einer solchen Subsumtion.179 Bachof, in: Recht und Staat Nr. 163 / 164 (1951), S. 7 ff. (27). Bachof, in: Recht und Staat Nr. 163 / 164 (1951), S. 7 ff. (27 f.). 176 Bachof, in: Recht und Staat Nr. 163 / 164 (1951), S. 7 ff. (30); E. v. Hippel, in: HdbDStR II, S. 548. 177 Bachof, in: Recht und Staat, Nr. 163 / 164 (1951), S. 7 ff. (48). 178 Bachof, in: Recht und Staat, Nr. 163 / 164 (1951), S. 7 ff. (49). 179 Bachof, in: Recht und Staat, Nr. 163 / 164 (1951), S. 7 ff. (49). 174 175
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Die richtige Lösung meint Bachof sodann, wie ihm folgend – wenn auch mit etwas differenzierterer Argumentation – das Bundesverfassungsgericht, in dem „Wesen und Inhalt der richterlichen Prüfungszuständigkeit“ zu finden, und zwar „so, wie diese sich unabhängig von der positiven Regelung im Grundgesetz darstellt“.180 Die richterliche Prüfungszuständigkeit sei nicht vom Grundgesetzgeber geschaffen, sondern als ein der deutschen Rechtsordnung bekanntes Rechtsinstitut „vorgefunden“ worden. Der Parlamentarische Rat habe bei den Beratungen zu Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 und Art. 100 Abs. 1 GG diesen vorgefundenen und insbesondere im Blick auf die Weimarer Reichsverfassung diskutierten Fragenkomplex der „richterlichen Prüfungszuständigkeit“ zum Ausgangspunkt seiner Diskussion gemacht und daher diese richterliche Prüfungszuständigkeit bei den Verfassungsgerichten zentralisieren und monopolisieren wollen. Es gehöre mithin zu dem in Art. 100 Abs. 1 GG statuierten Monopol alles, was begrifflich überhaupt zur richterlichen Prüfungszuständigkeit gehöre, also auch die Prüfung insbesondere der Legitimität der Verfassungsnormen einmal im Sinne ihres „Daseins als Plan wirklicher Macht“ und zum anderen hinsichthlich ihrer Verbindlichkeit im Sinne der Beachtung des übergesetzlichen Rechts.181 Die Diskussion im Parlamentarischen Rat knüpfte aber an einen durchaus umstrittenen Fragenkomplex an: Bachof verweist selber darauf, dass namentlich Thoma und E. v. Hippel eine so weitgehende Prüfungsbefugnis nachdrücklich verneinten.182 Bachofs Argumentation leidet daran, dass er jegliche Erwägung zum grundgesetzlichen Kompetenzgefüge vermeidet. In Anknüpfungspunkten wie Art. 20 Abs. 3 GG („Gesetz und Recht“) einerseits, Art. 97 Abs. 1 GG (Unterwerfung des Richters unter das „Gesetz“) andererseits meint Bachof lediglich ausschlaggebende Argumente für Vertreter des Positivismus zu erkennen, findet selbst aber keine grundsätzlichen Argumente.183 Der Argumentationsführung Bachofs fehlt, wie bei Geiger und Grewe, eine funktionskonkretisierende Analyse der Aufgabe und Stellung rechtsprechender Gewalt im grundgesetzlichen Kompetenzgefüge. Ausschlaggebend sind für ihn vielmehr, wie im Übrigen auch für das Bundesverfassungsgericht, zwei ganz und gar ergebnisorientierte Erwägungen: Zum einen degradiere sich eine Gerichtsbarkeit, die sich von ihrer „Verantwortung für den Rechtsgehalt des Gesetzes“ freizeichne, zum mindestens potentiellen Handlanger bloßer Macht; zum anderen verliere das seine Würde und Autorität aus der Idee der Gerechtigkeit empfangende Richteramt gerade diese seine Würde und Autorität, verzichte man grundsätzlich auf eine Prüfung am Maßstab eben jener Idee.184 Unter Berufung auf den Rechtspositivisten Kelsen185 deduziert Bachof, dass das Bachof, in: Recht und Staat, Nr. 163 / 164 (1951), S. 7 ff. (49 ff.). Bachof, in: Recht und Staat Nr. 163 / 164 (1951), S. 7 ff. (49 f., 28 f.); vgl. E. v. Hippel, HdbDStR Bd. II, S. 547 ff. Hervorhebung nicht im Original. 182 Thoma, in: HdbDStR Bd. II, S. 142 ff.; E. v. Hippel, ebenda, S. 549. 183 Bachof, in: Recht und Staat, Nr. 163 / 164 (1951), S. 7 ff. (51 f.). 184 Bachof, in: Recht und Staat, Nr. 163 / 164 (1951), S. 7 ff. (51); vgl. ders., NJW 1952, 242 ff. 180 181
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Bekenntnis zu einer auf transzendenten Werten beruhenden Rechtsordnung solange ein bloßer Wunsch bleibe, wie sich diese Rechtsordnung mangels richterlicher Prüfungsbefugnis des Rechtsgehalts nicht durchsetzen lasse und deshalb auch gesetzliches Unrecht und insbesondere illegitime Verfassungsnormen von den Gerichten anerkannt und angewandt werden müssten.186 Zudem sieht Bachof, wie ihm folgend das Bundesverfassungsgericht, bei einer Ausklammerung des überpositiven Rechts aus der richterlichen Prüfungszuständigkeit die Gefahr von verkappten Überprüfungen durch die allgemeine Gerichtsbarkeit aufziehen. Dies wäre freilich nicht zu vereinbaren mit dem erstrebten und aus Gründen der Rechtssicherheit erstrebenswerten Entscheidungsmonopol beim Bundesverfassungsgericht. Die Frage aber, ob eine allgemeine richterliche Prüfung am Maßstab überpositiven Rechts ungeachtet ihrer Wünschbarkeit von Rechts und Gesetzes wegen zulässig ist, stellt auch Bachof freilich gar nicht erst.187 Damit siedelt Bachof, wie auch das Bundesverfassungsgericht, die judikative Kompetenz im überpositiven Recht an. Die Kompetenz wird nicht aus der gesetzlich konstituierten Kompetenzordnung, sondern aus einer (theoretisch zumindest) diffusen Idee des Rechts legitimiert. Auch hier gilt: Die materiellrechtliche Vorlage definiert die kompetenzrechtliche Ausübung, der materiellen Überzeugung folgt die formelle Notwendigkeit. cc) Richterliche Prüfungs- und Verwerfungskompetenz in der Kritik (1) Demokratische Legitimation Die Anerkennung der richterlichen Prüfungs- und Verwerfungskompetenz am Maßstab überpositiven Rechts durch die Rechtsprechung insbesondere der fünfziger Jahre führte auch bei Anhängern des Naturrechtsgedankens zur Kritik. Dies gilt insbesondere für Apelt, den schärfsten Widersacher der Bachofschen Thesen und der Rechtsprechung188 in der Diskussion um die Existenz „verfassungswidriger Verfassungsnormen“. Apelt bekennt sich zum christlich-abendländischen Naturrecht, welches er im allgemeinen Persönlichkeitsrecht, in den Artikeln 2 und 4 GG als unbestrittenem vorverfassungsmäßigem und damit auch im Wege einer Verfassungsänderung nicht aufhebbarem Menschenrecht verwirklicht sieht.189 Dennoch lehnt er eine Kom185 Kelsen, VVDStRL Heft 5 (1929), S. 30 ff. (78), spricht von einem „unverbindlichen Wunsch“ hinsichtlich einer Verfassung, der mangels einer richterlichen Prüfungsbefugnis hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen und Verordnungen die Garantie der Vernichtbarkeit verfassungswidriger Akte fehle. 186 Bachof, in: Recht und Staat, Nr. 163 / 164 (1951), S. 7 ff. (52). 187 Bachof, in: Recht und Staat, Nr. 163 / 164 (1951), S. 7 ff. (56 f.). 188 Apelt bezieht sich insbesondere auf die Rechtsprechung das Gleichberechtigungsurteil des BVerfG und das Gutachten des BGH zu diesem Verfahren. 189 Apelt, JZ 1954, 401 (404).
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petenz der Gerichtsbarkeit zur Prüfung und Verwerfung von Gesetzen anhand dieses Maßstabs ab.190 Der Wortlaut des Art. 100 Abs. 1 GG umfasse nicht die Überprüfung einer Vereinbarkeit des Grundgesetzes mit überpositivem Recht. Apelt verweist auf den Widerspruch, wenn das Bundesverfassungsgericht zunächst zutreffend seine Funktion aus dem positiven Recht der Verfassung ableitet und sich dann doch wieder, den Umfang seiner Kompetenz auf eine etwas vage Idee des Rechts gründend, über diese erhebt.191 Würde und Autorität des Gerichts beruhen nach Apelt auf der Verfassung und in der Erfüllung der Aufgaben, welche diese der Rechtsprechung zuweist.192 Nicht allgemeine Prinzipien, sondern der im Grundgesetz zum Ausdruck kommende konkrete Wille des Verfassungsgesetzgebers sei maßgebend.193 Apelt bestimmt systemimmanent die Schranken der Kompetenz des Verfassungsgerichts anhand der demokratischen Legitimation als Fundament und Schranke staatlicher Macht in der Demokratie, wenn er fordert, dass „in einer Demokratie das ethische und politische Wertsystem, auf dem die Verfassung aufgebaut ist, vom gesamten Volk oder zum mindesten von einer gewählten, dieses Volk repräsentierenden Versammlung, nicht aber von einem Richtergremium bestimmt und verantwortet werden“ müsse.194 Das Verfassungsgericht ist nach Apelt an dieses vom Volk gebilligte Wertsystem und damit an die Verfassung selbst gebunden.195 Trotz seines Bekenntnisses zum christlich-abendländischen Naturrecht impliziert Apelt hiermit die Legitimität des Wertsystems ausschließlich aus seiner demokratischen Legitimation heraus. (2) Stellung des Richters zum Gesetz Die eigentliche Frage, die Frage nämlich, wie sich eine Prüfungs- und Verwerfungskompetenz am Maßstab überpositiven Rechts mit der Gesetzesbindung des deutschen Richters unter dem Grundgesetz vereinbaren lässt, stellte Nöldeke bereits 1949.196 Dazu ordnete er die richterliche Gewalt anhand der grundgesetzlichen Bestimmungen in das gewaltengteilende Koordinatensystem des Grundgesetzes ein: Art. 20 Abs. 2 und 3 GG, Art. 92 GG, Art. 97 GG, Art. 98 GG und Art. 100 GG. Unter dem Blickwinkel der Gewaltenteilung und der besonderen Stellung der Richter, denen gemäß Art. 92 GG die „rechtsprechende Gewalt“ anvertraut ist, stellt Nöldeke zunächst die Bindung der Rechtsprechung an Gesetz und Recht in Apelt, JZ 1954, 401 (404). Apelt, JZ 1954, 401 (404). 192 Apelt, NJW 1952, 1 (2). 193 Apelt, NJW 1952, 1 (2). 194 Apelt, Die Gesetzgebungstechnik, S. 9 f.; vgl. auch ders., JZ 1954, 401 (402). Hervorhebungen nicht im Original. 195 Apelt, Die Gesetzgebungstechnik, S. 9 f.; vgl. auch ders., JZ 1954, 401 (402). 196 Nöldeke, MDR 1949, 537. 190 191
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C. Bundesgerichtliche Rechtsprechung und Literatur
Art. 20 Abs. 3 GG gegen die Gesetzesbindung in Art. 97 Abs. 1 GG. Ansatzpunkt für Nöldekes Deduktion sind sodann Art. 97 Abs. 1 GG und der wortgleiche § 1 GVG. Bereits der Wortlaut von Art. 97 Abs. 1 GG spreche entschieden für eine Bindung nur an das Gesetz und dafür, dass dem Gesetzgeber die Verantwortung dafür gelassen werden müsse, dass die Gesetze den Grundsätzen der Gerechtigkeit entsprächen. Dies werde durch die ratio legis unterstützt, durch das dem Gesetz zugrunde liegende Prinzip der Gewaltenteilung. Die dem Richter vom Volk erteilte Ermächtigung zur unabhängigen Ausübung seines Amts finde ihre absolute Schranke in den vom übergeordneten gesetzgebenden Organ aufgestellten Richtlinien. Die Unabhängigkeit des Richters finde ihre Grenzen in der Bindung an das Gesetz. Diese Bindung gebe dem Richter wiederum den festen Rückhalt, um seine Unabhängigkeit gegenüber allen anderen äußeren Einflüssen zu wahren. Überschreite der Richter diese Schranke, handle er nicht mehr in Ausübung der ihm vom Volk anvertrauten Gewalt und damit pflicht- und verfassungswidrig.197 Der besonderen Stellung des Richters trage zudem Art. 98 GG Rechnung, der bei Verstößen gegen die Grundsätze des Grundgesetzes eine Richteranklage vorsehe. Rechtsprechung am Maßstab überpositiven Rechts führe zu einer unerträglichen Rechtsunsicherheit, da das Naturrecht keine hinreichend bestimmte Unterlage liefere. Zudem seien die allgemeinen Menschenrechte in ausführlicher Form in das Grundgesetz als unmittelbar geltendes bindendes Recht für Gesetzgebung und Rechtsanwendung übernommen worden. Die wesentlichsten rechtlichen Grundsätze, die man unter dem Begriff Naturrecht zusammenfasse, seien damit ohne ohnehin geltendes gesetztes Verfassungsrecht. Schließlich weist Nöldeke darauf hin, dass schon die Entscheidung darüber, ob ein einfaches Gesetz der Verfassung eines Landes oder dem Grundgesetz widerspreche, gemäß Art. 100 GG monopolisiert sei. Der einzelne Richter könne daher unter der Herrschaft des Grundgesetzes unmöglich die viel schwierigere Feststellung für sich in Anspruch nehmen, ob sich das Gesetz auch wirklich in jedem Falle mit der wahren Gerechtigkeit decke.198 (3) Umdeutung der Radbruchschen Formel Grundsätzliche Kritik erfährt das unkritische Naturrechtsbewusstsein in der Rechtsprechung der fünfziger Jahre auch durch Evers. Evers kann wie Apelt jedoch nicht dem positivistischen Lager zugeordnet werden. Er will vielmehr die Anwendung des Naturrechtsgedankens auf ein Maß reduzieren, das mit dem Wesen der Rechtsfindung im formalen Rechtsstaat vereinbar bleibt. Evers gibt zu bedenken, dass Versuche, absolute Grenzen der Gesetzgebungsgewalt und praktikable Abgrenzungen zwischen einerseits bloß ungerechten und andererseits wegen ihrer Unsittlichkeit unverbindlichen positiven Normen zu finden, wegen des formalen Charakters allgemeingültiger naturrechtlicher Aussagen gescheitert seien. Auch 197 198
Nöldeke, MDR 1949, 537 (538). Nöldeke, MDR 1949, 537 (539).
II. Formelrezeption und Naturrechtsgedanke vor 1990
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die Radbruchsche Formel habe schwerwiegende Missgriffe nicht verhindern können. Zudem sei aber eine Rechtsordnung, die den Richter an das Gesetz binde, ihm aber zugleich anheimgebe, sich auf Grund gewisser Kriterien dieser Bindung zu entziehen, ein Widerspruch in sich. Dies führe dazu, die Rechtssicherheit, die staatliche Autorität und damit die Ordnung überhaupt, die das Recht doch gerade gewährleisten solle, zu untergraben.199 Allerdings lässt Evers eine tiefergehende Auseinandersetzung vermissen. Insbesondere fehlt ein Rückgriff auf Art. 20 Abs. 3 GG und funktionskonkretisierende grundgesetzliche Vorschriften, wenn Evers anführt, der Richter könne eine Befugnis, sich im Konflikt zwischen Gesetz und Recht über das Gesetz zu erheben, nicht aus der ihm vom Staat verliehenen Macht ableiten. Nach Evers maßt sich der Richter eine Macht an, um der Machtanmaßung des Gesetzgebers zu begegnen. Machtanmaßung steht gegen Machtanmaßung. Der Kampf um das Recht verläßt für Evers die Bahnen des geordneten Rechtsganges. Da befriedigende Verhaltens- und Entscheidungsnormen nicht zur Verfügung stünden und da die Rechtsphilosophie nur vorläufige Lösungen aufweise, sei dem Konflikt nicht mit den Mitteln des Rechts zu bereinigen.200 Damit erfährt die Radbruchsche Formel bei Evers eine Umdeutung: Die Rechtsordnung könne einen Dispens von der Bindung an das Gesetz unter allgemeinen Voraussetzungen nicht erteilen; sie behalte sich jedoch vor, die Entscheidung gegen das Gesetz nachträglich zu sanktionieren, wie sie es auch bei Akten des Widerstandes und der Revolution tue.201 (4) Bezüge zur Diskussion um die Zulässigkeit von Richterrecht Entschiedene Kritik am Naturrechtsgedanken in der Rechtsprechung und an der Anwendung der Radbruchschen Formel durch die Rechtsprechung findet man bei Hirsch unter dem Aspekt des Richterrechts. Nach Hirsch hat die Naturrechtsrenaissance der Nachkriegszeit ihren Ausgangspunkt schnell überschritten, da sich sonst die Frage des Richterrechts mit der Problematik, ob gesetzlichen Vorschriften wegen Verstoßes gegen elementarste Prinzipien des Rechts die Gültigkeit verfehlten, überhaupt nicht hätte verquicken können.202 Eine Naturrechtsordnung sei objektiv gar nicht bestimmbar und könne deshalb keine fertigen Lösungen bieten. Die Berufung auf eine derartige „objektive“ Ordnung könne immer nur denjenigen erreichen, der der gleichen naturrechtlichen „Konfession“ angehöre. An der Erkennbarkeitsproblematik liege es auch, dass nicht von der Anwendung unmittelbar geltenden Naturrechts gesprochen werden könne, sondern von Richterrecht bzw. dem Schaffen von Richterrecht.203 199 200 201 202 203
Evers, JZ 1961, 241 (247). Evers, JZ 1961, 241 (248). Evers, JZ 1961, 241 (248). Hirsch, JR 1966, 334 (337). Hirsch, JR 1966, 334 (338).
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C. Bundesgerichtliche Rechtsprechung und Literatur
Eigentlicher Prüfstein sei damit die Frage, ob die richterliche Rechtsetzung mit dem Gewaltenteilungsprinzip in Einklang gebracht werden könne. Wenn das Grundgesetz die Funktionsverteilung nach dem Gewaltenteilungsprinzip vorsehe, dann bedeute das Inanspruchnehmen rechtsschöpferischer Tätigkeit durch die Rechtspflege, dass sie Aufgaben der Legislative an sich reisse und damit bezüglich der Rechtsetzung die Teilung beider Gewalten verwische. Aus der in Art. 20 Abs. 3 GG ausgesprochenen Bindung der Rechtsanwendung an Gesetz „und Recht“ könne keine überpositive Bindung abgeleitet werden. Eine solche Auslegung widerspreche der Verfassungskonzeption einer durch Gesetze des vom Volk gewählten Parlaments bei gleichzeitiger Gewaltenteilung erfolgenden Rechtsetzung. Außerdem sei nach Art. 20 Abs. 3 GG auch die vollziehende Gewalt an Gesetz „und Recht“ gebunden. Die Norm solle nach den Erlebnissen des Dritten Reichs nur das Vorhandensein oberster Gültigkeitsgrenzen betonen.204 Dafür spreche auch Art. 97 GG, wo es lediglich heiße, der Richter sei nur dem Gesetz unterworfen. Schließlich führt Hirsch an, dass sich der Umfang der Richtermacht nicht nach irgendeinem vorgegebenen Richterbild bestimme, sondern in Abhängigkeit zu der Struktur der jeweiligen Rechtsordnung stehe. Sei der Staat auf der Grundlage klarer Gewaltenteilung organisiert, so habe der Richter nicht als König des Rechts, sondern als Diener der gültigen Gesetze Recht zu sprechen.
c) Zusammenfassung Die Befürworter einer richterlichen Normprüfungs- und Verwerfungskompetenz am Maßstab überpositiven Rechts erschließen diese ebenso wie die Rechtsprechung aus ihrem materiellen Bekenntnis zur Verbindlichkeit überpositiven Rechts. Die Kompetenz ist die notwendige formelle Folgerung aus ihrer materiellen Überzeugung. Wird letztere noch an grundgesetzlichen Vorschriften oder Bekenntnissen festgemacht, so verliert sich die Kompetenzfrage meist in oberflächlichen Anknüpfungen an Art. 100 GG. Art. 100 Abs. 1 GG monopolisiert jedoch lediglich die richterliche Verwerfungskompetenz. Ob sie sich aus Art. 100 Abs. 1 GG auch ableiten lässt, wird kaum hinterfragt. Wie die Rechtsprechung lässt die Literatur eine systematische und insbesondere systemimmanente Analyse der Anerkennung überpositiven Rechts als Prüfungsmaßstab im grundgesetzlichen Legitimationsgeflecht vermissen. Die Prinzipien der Volkssouveräntität und Demokratie und deren Durchdringung auch des Kompetenzgefüges werden nicht problematisiert. Die Argumente orientieren sich vielmehr an der Zweckmäßigkeit, indem sie der Durchsetzung materieller Überzeugungen dienen und dem Argument der Rechtssicherheit mit der Monopolisierung der Kompetenz begegnen. So wirkt insbesondere Bachofs Auseinandersetzung mit den Artt. 20 Abs. 3, 93 Abs. 1 Nr. 2 und 100 Abs. 1 GG auch eher oberflächlich und unpräzise. Nicht ohne Grund greift er letzt204 Unklar bleibt, welche Rolle die „obersten Gültigkeitsgrenzen“ für das Richterrecht bzw. eine mögliche Verwerfungskompetenz nach Hirschs Auffassung spielen.
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lich etwas nebulös auf das „Wesen der richterlichen Prüfungszuständigkeit“ zurück. Damit reflektiert die Literatur jedoch im Gegensatz zur Rechtsprechung Radbruchs Forderung, die Aufgabe der überpositiven Normenkontrolle einem höheren Gericht vorzubehalten. Kritische Stimmen greifen die auf der Hand liegenden Probleme des naturrechtlichen Ansatzes im grundgesetzlichen Verfassungsgefüge auf: die Frage der Volkssouveräntität und der demokratischen Legitimation, das Problem der Rechtserkenntnis, die Stellung insbesondere des Richters zum (Verfassungs-)Gesetz und die damit verbundene Einschränkung richterlicher Normenkontrollbefugnis. Aber auch hier fehlt es letztlich an einer umfassenden Analyse grundgesetzlicher Strukturentscheidungen. Die Probleme werden meist nur angetippt. Durch Schlagwörter wie Gesetzesbindung und Gewaltenteilung wird eine überpositive Verwerfungskompetenz in Frage gestellt oder abgelehnt.
III. Formelrezeption und Naturrechtsgedanke seit der Wiedervereinigung Nach der Wiedervereinigung stand der deutsche Rechtsstaat ein weiteres Mal vor einem unrechtsstaatlichen Erbe.205 Das Bedürfnis nach allseits befriedigender Gerechtigkeit war besonders groß – ein Bedürfnis, das der Rechtsstaat nicht befriedigen konnte. Die Enttäuschung hierüber nach der Wiedervereinigung zeigt sich in dem Bärbel Bohley zugeschriebenem Wort: „Wir haben Gerechtigkeit erwartet, und wir haben den Rechtsstaat bekommen“.206 Die rechtsstaatlichen Probleme der Wiedervereinigung sind vielfältig.207 Sie haben die Gerichte häufig vor kaum lösbare Gerechtigkeitsfragen gestellt, nicht nur bei der strafrechtlichen Bewältigung der DDR-Regierungskriminalität.208 In besonderem Maße verlangte man jedoch vom Strafrecht eine Bewältigung der durch die Unrechtsvergangenheit gestörten rechtsstaatlichen Gegenwart.209 Eine Art Nürnberger Tribunal gab es nicht, auch keine „Nacht der langen Messer“. Die Gerichte standen damit faktisch stärker als 1949 vor dem Problem des verfassungsgesetzlich verankerten Rückwirkungsverbots in Art. 103 Abs. 2 GG. Die rechts205 Vgl. den gleichlautenden Titel („Der deutsche Rechtsstaat vor seinem unrechtsstaatlichen Erbe“) des Nachworts von Isensee, in: ders. (Hrsg.), Vergangenheitsbewältigung durch Recht, S. 91. 206 Vgl. AK-GG – Frankenberg, Art. 20 Abs. 1 – 3 IV Rn. 26; Isensee, in: ders. (Hrsg.), Vergangenheitsbewältigung durch Recht, S. 91 (101). 207 Einen Überblick verschaffen H. Dreier, in: FS 50 Jahre BVerfG, Bd. I, S. 159 ff.; Schulze-Fielitz, in: H. Dreier (Hrsg.), Bd. II, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 53 ff. 208 Vgl. die Nachweise bei Schulze-Fielitz, in: H. Dreier (Hrsg.), Bd. II, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 54; siehe auch Kirchhof, NJW 1996, 1497 (1500). 209 Vgl. Jakobs, in: Isensee (Hrsg.), Vergangenheitsbewältigung durch Recht, S. 37 (38).
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staatliche Aufarbeitung geriet wieder im Zusammenhang mit Makrokriminalität an die Grenzen grundgesetzlicher Konfliktbewältigungsfähigkeit. Die Wiedervereinigung führte mithin zwangsläufig zu einem Wiederaufleben der Naturrechtsdiskussion, diesmal im Kontext der Aufarbeitung des der realsozialistischen Unrechts. Kaum verwunderlich, dass Rechtsprechung und Lehre, weitgehend mit der strafrechtlichen Unrechtsaufarbeitung befasst, die Radbruchsche Formel und den Naturrechtsgedanken neu auflegten. Sie avancierten erneut zur Kernfrage der Verfahren.210 Durch die strafrechtliche Fixierung dieser „zweiten Naturrechtsrenaissance“ verlagerte sich die Diskussion der Vereinbarkeit des Naturrechtsgedankens mit den formalen Kautelen des Rechtsstaats im Wesentlichen auf Art. 103 Abs. 2 GG. Nicht „Gesetzesbindung versus Rechtsbindung“, sondern „Rückwirkungsverbot versus materielle Gerechtigkeit“ bestimmt heute die Diskussion. Die Unrechtsaufarbeitung wird in der Lehre zwar auch im allgemeineren Kontext von Art. 20 Abs. 3 GG, der „Kontroverse um Rechtsstaat und Gerechtigkeit“211 behandelt.212 Art. 20 Abs. 3 GG wie auch Art. 1 GG bleiben dennoch im Gesamtblick erstaunlich unterbelichtet, obwohl sie die eigentliche verfassungsgesetzliche Vorlage für die mögliche Bindung überpositiven Rechts bieten. Die Frage der Vereinbarkeit des wiederaufgelegten Naturrechtsgedankens mit dem Demokratie- und Gewaltenteilungsprinzip und insbesondere die Normverwerfungsfrage werden sogar stärker noch als zuvor ausgeblendet. Die vorliegende Arbeit fokussiert aus der umfangreichen Diskussion rechtsstaatlicher Probleme der Wiedervereinigung lediglich die Rezeption der Radbruchschen Formel und den wiederbelebten Naturrechtsgedanken. Deshalb soll die Literatur nicht erschöpfend, sondern nur insoweit vorgestellt werden, als sie den Schwerpunkt der Arbeit berührt. Insbesondere soll der rechtsphilosophischen Diskussion nicht im Einzelnen nachgegangen werden. Einen Überblick hierzu verschaffen bereits die Arbeiten von Seidl und Buchholz-Schuster.213 Die Darstellung der Rechtsprechung ist weiterhin auch in diesem Kapitel, um den Rahmen nicht zu sprengen, auf die Unrechtsaufarbeitung in der höchstrichterlichen Rechtsprechung beschränkt. Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs zur Unrechtsaufarbeitung bestätigen weitgehend die instanzgerichtlichen Urteile und reflektieren deren Argumentationsmuster.214 210 Am deutlichsten spricht dies der Vorsitzende der Kammer des LG Berlin aus, der im Rahmen seiner mündlichen Urteilsbegründung die „Anwendbarkeit der Radbruchschen Formel auf das der Anklage zugrunde liegende Geschehen“ als „Kernfrage dieses Prozesses – wenn nicht seine einzige –“ bezeichnete (vgl. den auszugsweisen Abdruck in der FAZ vom 13. 12. 1996, S. 6). 211 Vgl. AK-GG – Frankenberg, Art. 20 Abs. 1 – 3 IV Rn. 26. 212 Siehe etwa AK-GG – Frankenberg, Art. 20 Abs. 1 – 3 IV Rn. 26; Schultze-Fielitz, in: H. Dreier (Hrsg.), Bd. II, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 53 ff.; Dolzer, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. VIII, § 195 Rn. 15; Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, S. 490 ff. 213 Seidel, Rechtsphilosophische Aspekte der „Mauerschützen“-Prozesse; Buchholz-Schuster, Rechtsphilosophische Legitimation der Rechtspraxis nach Systemwechseln, S. 123 ff.
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1. Rechtsprechung Die Wiedervereinigung löste eine Welle von Prozessen im Kontext der Unrechtsaufarbeitung aus. Besonderes öffentliches Interesse galt den Strafverfahren wegen der Todesschüsse an der deutsch-deutschen Grenze. Die MauerschützenUrteile des Bundesgerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts bildeten die Höhepunkte der Verfahren. Sie bilden auch nachfolgend den Schwerpunkt der Darstellung.
a) Bundesgerichtshof Radbruchsche Formel und Naturrechtsgedanke werden in der Rechtsprechung des Bundesgerichthofs ausschließlich im Rahmen der strafrechtlichen Aufarbeitung realsozialistischen Unrechts wiederbelebt. Der Bundesgerichtshof beschäftigte sich gleich mehrmals mit den Todesschüssen an der deutsch-deutschen Grenze und der Rechtsbeugung durch ehemalige DDR-Richter. Anders als das Bundesverfassungsgericht konnte der Bundesgerichtshof dabei bereits auf eine ganze Reihe von Entscheidungen zur strafrechtlichen Unrechtsaufarbeitung nationalsozialistischen Unrechts zurückgreifen.215
aa) Todesschüsse an der innerdeutschen Grenze (1) Urteil vom 3. November 1992 (BGHSt. 39, 1 ff.) Das Verfahren zum ersten Mauerschützenurteil des Bundesgerichtshofs richtete sich gegen zwei Soldaten der Grenztruppen der DDR im Alter von zwanzig und dreiundzwanzig Jahren. In ihrer Funktion als Grenzsoldaten hatten sie in den frühen Morgenstunden des 1. Dezember 1984 die Flucht eines Zwanzigjährigen in Pankow mit Dauerfeuer verhindert. Die Jugendkammer des Landgerichts Berlin hatte die beiden Angeklagten wegen vorsätzlicher Tötung verurteilt.216 Der Bundesgerichtshof wies die Revisionen der Angeklagten als unbegründet zurück. In den Entscheidungsgründen stützt sich der Bundesgerichtshof, wie später das Bundesverfassungsgericht, auf eine zweigleisige Argumentation. Das „rechtsethische 214 Vgl. zur einfachgerichtlichen Rechtsprechung zu der Problematik des deutsch-deutschen Grenzkonflikts bspw. folgende grundlegende Entscheidungen mit ihren Aussagen zu der Frage des unantastbaren Kernbereichs des Rechts: KG Berlin, NJW 1991, 2653 (2654); LG Berlin, NJ 1992, 269 (270) und NJ 1992, 418 (420); aus der Zeit vor der Wiedervereinigung OLG Düsseldorf, NJW 1979, 59 (62 f.) und NJW 1983, 1277; LG Stuttgart, NJW 1964, 63. 215 Zu der Darstellung der Entscheidungen der Strafsenate siehe oben, S. 44 ff. 216 Vgl. zum erstinstanzlichen Urteil des LG Berlin sowie zu zwei weiteren Berliner Entscheidungen (KG Berlin und LG Berlin) Buchholz-Schuster, Rechtsphilosophische Legitimation der Rechtspraxis nach Systemwechseln, S. 202 ff.
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C. Bundesgerichtliche Rechtsprechung und Literatur
Legitimationskonzept der Radbruchschen Formel“217 wird mit völkerrechtlichen Auslegungsmaßstäben kombiniert. Die Verknüpfung des Argumentationsmusters bleibt jedoch eigentümlich verklärt.218 Die zentrale Frage, mit welcher sich die Entscheidung befassen muss, ist diejenige nach der Rechtswidrigkeit der Todesschüsse. Der Bundesgerichtshof untersucht zunächst, ob das Verhalten der Angeklagten nach dem Recht der DDR, wie es in der Staatspraxis angewandt wurde, gerechtfertigt war. Hierzu untersucht er die Auslegung der rechtfertigenden Vorschrift des § 27 Abs. 2 Grenzgesetz der DDR nach DDR-Lesart. Nach der Befehlslage und der Staatspraxis der DDR habe die Fluchtverhinderung Vorrang vor dem Lebensschutz gehabt. Aus der Tatzeitperspektive habe die sofortige Anwendung von Dauerfeuer nicht als rechtswidrig eingestuft werden können. Hiervon zu unterscheiden sei allerdings die Frage, ob ein so verstandener Rechtfertigungsgrund wegen Verletzung „vorgeordneter“, auch von der DDR zu beachtender allgemeiner Rechtsprinzipien und wegen eines extremen Verstoßes gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip bei der Rechtsfindung außer Betracht bleiben müsse. Dazu greift der Bundesgerichtshof auf seine alte Rechtsprechung zur strafrechtlichen Aufarbeitung nationalsozialistischen Unrechts zurück. Dem Dilemma des Rückwirkungsverbots scheint der Bundesgerichtshof zunächst auf den Wegen Radbruchs entgehen zu wollen: Ein „zur Tatzeit angenommener Rechtfertigungsgrund kann . . . dann wegen Verstoßes gegen höherrangiges Recht unbeachtet bleiben, wenn in ihm ein offensichtlich grober Verstoß gegen Grundgedanken der Gerechtigkeit und Menschlichkeit zum Ausdruck kommt; der Verstoß muß so schwer wiegen, daß er die allen Völkern gemeinsamen, auf Wert und Würde des Menschen bezogenen Rechtsüberzeugungen verletzt (BGHSt. 2, 234, 239)“219.
Der Bundesgerichtshof bezieht sich nach nochmaliger Grenzziehung – der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit müsse so unerträglich sein, dass das Gesetz als unrichtiges Recht der Gerechtigkeit zu weichen habe, – ausdrücklich auf Radbruch.220 Freilich verweist er darauf, dass die Übertragung der zum nationalsozialisitischen Unrecht festgestellten Rechtsgrundsätze nicht einfach sei, weil die Tötung von Menschen an der innerdeutschen Grenze nicht gleichgesetzt werden könne mit dem nationalsozialistischen Massenmord.221 Gleichwohl 217 Buchholz-Schuster, Rechtsphilosophische Legitimation der Rechtspraxis nach Systemwechseln, S. 209. 218 Vgl. auch Buchholz-Schuster, Rechtsphilosophische Legitimation der Rechtspraxis nach Systemwechseln, S. 209, der darauf hinweist, dass sich der argumentative Schwerpunkt des Begründungsmusters nur schwer erschließen lasse. 219 BGHSt. 39, 1 (15 f.). Hervorhebungen nicht im Original. 220 BGHSt. 39, 1 (15 f.). Hervorhebungen nicht im Original. 221 Vgl. BGHSt. 39, 1 (16). „In der Bewältigung der ,rechten‘ und ,linken‘ Vergangenheit waltet Asymmetrie“, Isensee, in: ders. (Hrsg.), Vergangenheitsbewältigung durch Recht, S. 91 ff. (99 f.).
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gelte die damals gewonnene Einsicht, dass bei der Beurteilung von Taten, die in staatlichem Auftrag begangen worden seien, darauf zu achten sei, ob der Staat die äußerste Grenze überschritten habe, die ihm nach allgemeiner Überzeugung in jedem Land gesetzt sei.222 Der Bundesgerichtshof scheint mithin in einem zweiten Schritt prüfen zu sollen, ob die Rechtfertigung nach § 27 Abs. 2 des Grenzgesetzes der DDR wegen Verstoßes gegen überpositives Recht überhaupt beachtlich ist. Dabei bemüht er sich um eine „Konkretisierung“ der aufgrund ihrer Unbestimmbarkeit schwer zu handhabenden Radbruchschen Kollisionsregel am Maßstab „völkerrechtlich() geschützte(r) Menschenrechte“: „Heute sind konkretere Prüfungsmaßstäbe hinzugekommen: Die internationalen Menschenrechtspakte bieten Anhaltspunkte dafür, wann der Staat nach der Überzeugung der weltweiten Rechtsgemeinschaft Menschenrechte verletzt.“ Hierbei ist der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966 (BGBl. 1973 II 1534 – IPBPR –) von besonderer Bedeutung.“223
Wie bereits in seiner Rechtsprechung zur Aufarbeitung nationalsozialistischen Unrechts verhält sich der Bundesgerichtshof ganz im Einklang mit Radbruch.224 In dem weiteren Verlauf der Urteilsgründe misst der Strafsenat den in Frage kommenden gesetzlichen Rechtfertigungsgrund (§ 27 Abs. 2 des Grenzgesetzes der DDR)225 ausschließlich an den Art. 6 und 12 IPBPR.226 Er kommt zu dem Schluss, BGHSt. 39, 1 (16). BGHSt. 39, 1 (16). 224 Diese Konkretisierung ist keine Neuigkeit, wie das BVerfGE 95, 96 (135) es scheinbar sieht, vgl. unten, S. 102 ff.). Der BGH hat schon in seiner früheren Rechtsprechung zur nationalsozialistischen Unrechtsvergangenheit von Anfang an den Kollisionsfall gesetzten Rechts mit der Gerechtigkeit anhand derjenigen „völkerrechtlichen Grundsätze“ gelöst, „die bei allen gesitteten Nationen anerkannt seien, gleichgültig ob sie dem Haager Abkommen vom Jahre 1907 beigetreten seien oder nicht“ (vgl. BGHSt. 1, 391 (399)) und damit die von ihm anerkannte und angewandte, obgleich nicht zitierte Radbruchsche Kollisionsregel (vgl. BGHSt. 2, 234 (238) und oben, S. 46 ff.) mit Hilfe dieser Kriterien, und zwar ganz im Radbruchschen Sinne (siehe oben, S. 26), konkretisiert. 225 § 27 des Grenzgesetzes der DDR galt erst seit dem 25. 03. 1982 (vgl. GBl.-DDR I 197). Für tödliche Schüsse an der innerdeutschen Grenze vor der Geltung des Grenzgesetzes der DDR muss, wie Isensee, Isensee / Kirchhof, HStR Bd. IX, § 202 Rn. 158, Fn. 414, klarstellt, auf die zur Tatzeit aufgrund der einschlägigen Dienstvorschriften wie auch der Befehle des Innenminister und der dazu ergangenen Durchführungsanweisungen geltende allgemeine Befehlslage zurückgegriffen werden. Vgl. auch BGHSt. 41, 101 (103 f.); Tröndle, in: Dreher / Tröndle, vor § 3, Rn. 52 a. 226 Im Ergebnis ignoriert der BGH aber die Problematik der Unvereinbarkeit des positiven DDR-Rechts mit den elementaren Geboten der Gerechtigkeit sowie die Radbruchsche Kollisionsregel. Er „tippt“ diese Problematik nur „an“ (H. Dreier, JZ 1997, 421 (424)). Sie bleibt im Weiteren unerwähnt: „Die Verletzung der in den Artikeln 6 und 12 des Internationalen Paktes garantierten Menschenrechte ( . . . ) macht es dem Senat unmöglich, bei der Rechtsanwendung die Vorschriften § 27 des Grenzgesetzes sowie des § 213 Abs. 3 StGB-DDR in dem Umfang, wie sie in der Staatspraxis der DDR verstanden worden sind, als Rechtfertigungsgrund zugrundezulegen“ (BGHSt. 39, 1 (22)). Insbesondere trennt der BGH in diesem 222 223
6 Dieckmann
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dass den Angeklagten die Rechtfertigungsgründe wegen dieses Maßstabs nicht in dem Umfang zugute kommen könnten, wie sie in der Staatspraxis der DDR verstanden worden seien.227 Dabei geht der Bundesgerichtshof allerdings davon aus, dass der internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte die DDR trotz der fehlenden Umsetzung in innerstaatliches Recht gemäß Art. 51 der DDR-Verfassung völkerrechtlich gebunden habe.228 Es stellt sich mithin die Frage, ob der Bundesgerichtshof die genannten Rechtfertigungsgründe tatsächlich anhand übergesetzlichen Rechts verwirft.229 So stellt der Bundesgerichtshof in einem weiteren Prüfungsschritt die Frage, ob § 27 Grenzgesetz der DDR mit Auslegungsmethoden, die dem DDR-Recht eigentümlich waren, so hätte ausgelegt werden können, dass die genannten Menschenrechtsverletzungen hätten vermieden werden können. „Ein so eingegrenzter Rechtfertigungsgrund wäre mit Rücksicht auf Art. 103 Abs. GG zu beachten“ gewesen.230 Dabei geht der Gerichtshof letztlich von einer Verletzung der völkervertragsrechtlichen Bindungen der DDR aus und leitet daraus die Rechtswidrigkeit der Todesschüsse an der innerdeutschen Grenze auch nach dem Recht der DDR ab: Rahmen nicht die Art. 6 und 12 IPBPR, obwohl die Qualifizierung der Freiheit der Ausreise und der Auswanderung (Art. 12 IPBPR) als elementares Menschenrecht, wie Grünwald feststellt (Strafverteidiger 1991, 31 (37)), zwar als Postulat Zustimmung verdienen mag, allerdings weder universell gewährleistet noch universell anerkannt ist – vgl. auch Polakiewicz, EuGRZ 1992, 177 (186, m. w. N.) und Jakobs, in: Isensee (Hrsg.), Vergangenheitsbewältigung durch Recht, S. 52. Polakiewicz weist darauf hin, dass die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 zwar die Ausreisefreiheit garantiere, ohne sie besonderen Schranken zu unterwerfen, ihre Entstehungsgeschichte aber deutlich mache, daß die entsprechenden Bestimmungen damals nicht als völkerrechtlich verbindliche Norm, sondern als Programmsatz verstanden wurde (a. a. O., S. 186). Lecheler ist mithin zuzustimmen, wenn er schreibt: „Der BGH hat es sich hier etwas leicht gemacht, weil er von einer Verletzung des internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte durch die DDR ausging, den diese zwar abgeschlossen, allerdings nicht in innerstaatliches Recht transformiert hatte“ (Unrecht in Gesetzesform?: Gedanken zur „Radbruchschen Formel“, S. 16). Angemerkt sei noch, dass die dem BGH-Urteil zugrunde liegende Entscheidung des LG Berlin (Urteil v. 05. 02. 1992, NJ 1992, 418) § 27 Abs. 2 GrenzG-DDR ausdrücklich „rechtsstaatlich“ interpretiert hat und ihn dadurch als Rechtfertigungsgrund ausgeschlossen hat. Anders hingegen die 23. Große Strafkammer des LG-Berlins. Diese hat bei der Frage des offensichtlichen Verstoßes der Regelungen des Grenzgesetzes gegen das Übermaßverbot die im Zusammenhang mit den nationalsozialistischen Verbrechen entwickelten naturrechtlichen Grundsätze als Grund für die rechtliche Unbeachtlichkeit der Rechtfertigung der Schüsse an der Berliner Mauer herangezogen (LG Berlin, Urteil vom 20. 01. 1992, NJ 1992, 269 (270)) und sich nicht wie der BGH auf Art. 6 Abs. 1 IPBPR bezogen. 227 BGHSt. 39, 1 (16 ff., 22). 228 BGHSt. 39, 1 (16). 229 Schreiber, ZStW 107 (1995), 157 (166), etwa, sieht im IPBPR einen eigenständigen Prüfungspunkt. Das IPBPR wird seiner Auffassung nach nicht als rechtsethischer Kontext der Formelkonkresisierung zugeordnet. Vgl. Buchholz-Schuster, Rechtsphilosophische Legitimation der Rechtspraxis nach Systemwechseln, S. 233. 230 BGHSt. 39, 1 (23 ff.).
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Der Richter sei nicht im Sinne reiner Faktizität an die zur Tatzeit in der Staatspraxis herrschende Interpretation gebunden.231 Vielmehr habe er das Tatzeitrecht bei Beachtung der vom Wortsinn des Gesetzes gegebenen Grenzen im Lichte der Verfassung der DDR so auszulegen, dass sie den völkerrechtlichen Bindungen der DDR im Hinblick auf Menschenrechte gerecht werde.232 Diese „menschenrechtsfreundliche Auslegung“ führe zu der Strafbarkeit, wie sie im Sinne des Art. 103 Abs. 2 GG zur Tatzeit ungeachtet abweichender Staatspraxis „gesetzlich bestimmt“ gewesen sei.233
Mit Rücksicht auf die Divergenz zwischen der wohlverstandenen „gesetzlichen Bestimmung“ und der tatsächlichen Staatspraxis nimmt der Bundesgerichtshof den Vertrauenstatbestand des Art. 103 Abs. 2 GG in den Blick, den das Bundesverfassungsgericht, wie dargelegt, in seinem Mauerschützenbeschluss später aufgreift: Art. 103 Abs. 2 GG schütze das Vertrauen, das der Angeklagte zur Tatzeit in den Fortbestand des damals geltenden Rechts gesetzt habe. „Die Erwartung, das Recht werde, wie in der Staatspraxis zur Tatzeit, auch in Zukunft so angewandt werden, daß ein menschenrechtswidriger Rechtfertigungsgrund anerkannt wird, ist nicht schutzwürdig. Es ist keine Willkür, wenn der Angeklagte, was die Rechtswidrigkeit seines Tuns angeht, so beurteilt wird, wie er bei richtiger Auslegung des DDR-Rechts schon zur Tatzeit hätte behandelt werden müssen.“234
Nicht nur die Argumentation über den Vertrauenstatbestand des Art. 103 Abs. 2 GG ist bereits durch die erfolgte „menschenrechtsfreundlichen Auslegung“ überflüssig, wonach die Strafbarkeit der in Frage stehenden Handlungen bereits 231 Dies ist äußerst streitig. Vgl. für den Bereich der Problematik der positivrechtlichen Strafbarkeit nationalsozialistischer Gewalttaten bspw. G. Jakobs, in: Isensee (Hrsg.), Vergangenheitsbewältigung durch Recht, S. 37 ff. (43 ff.) mit Verweis auf Kelsen, Wirksamkeit als Bedingung der Geltung, Reine Rechtslehre, S. 215 ff. Im Rahmen der Frage der strafrechtlichen Bewältigung des DDR-Unrechts vertreten wie der BGH bspw. auch Hruschka, JZ 1992, 665 ff., Scholz, in: Zeitschrift für politische Bildung 2 (1992), S. 20 ff., und Starck, in: VVDStRL 51 (1192), S. 9 ff., die Zulässigkeit und Notwendigkeit der Strafe. Die Gegenauffassung vertreten etwa: Grünwald, Strafverteidiger 1991, 31 (36); vgl. ders., Zur Kritik der Lehre vom überpositiven Recht, 1971, S. 11; Isensee, in: ders. (Hrsg.), Vergangenheitsbewältigung durch Recht, S. 91 ff. (105 ff.); ders., in: VVDStRL 49 (1990), 39 (61); Jakobs, a. a. O.; kritisch ebenfalls Lecheler, Unrecht in Gesetzesform?: Gedanken zur „Radbruchschen Formel“, S. 15, Laskowski, JA 1994, 151 (161). 232 BGHSt. 39, 1 (23 ff., 29); Hervorhebungen nicht im Original. Der BGH greift zunächst auf die Art. 30, 89 und 90 der Verfassung der DDR zurück (a. a. O., S. 23 ff.). Er bedarf auch hier der Stütze des Art. 6 IPBPR, da das Recht auf Leben und körperlicher Unversehrtheit in der Verfassung der DDR nicht ausdrücklich genannt war: „Schon im Blick auf Art. 6 IPBPR kann es aber keinem Zweifel unterliegen, daß die Verfassungsvorschrift des Art. 30 Abs. 1 VerfDDR, indem sie die Persönlichkeit für unantastbar erklärte, den Schutz des Lebens einschloß; demnach ist Art. 30 Abs. 2 VerfDDR zu entnehmen, daß Eingriffe in das Leben gesetzlich begründet sein mußten.“ (BGH, a. a. O., S. 23). Vgl. auch zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz die Ausführung des BGH, a. a. O., S. 24 f.: „Eine an den Artikeln 6, 12 IPBPR orientierte Auslegung des Art. 27 des Grenzgesetzes kann sich auf den genannten, in Art. 30 Abs. 2 Satz 2 der DDR-Verfassung enthaltenen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz stützen“. 233 BGHSt. 39, 1 (29). Vgl. hierzu insbesondere unten, S. 85 f. 234 BGHSt. 39, 1 (29 f.).
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C. Bundesgerichtliche Rechtsprechung und Literatur
zur Tatzeit „gesetzlich bestimmt“ gewesen seien.235 Bereits der Rückgriff auf eine „menschenrechtsfreundliche Auslegung“ aufgrund der Rezeption der Radbruchschen Formel wäre unnötig gewesen, hätte das Gericht die rechtfertigende Norm des § 27 Grenzgesetzes konsequent für unwirksam erklärt. Der vom Bundesgerichtshof festgestellte Verstoß gegen die DDR-Verfassung wäre dann nicht mehr zu prüfen gewesen.236 Der Rückgriff auf die Radbruchsche Formel, wie auch die menschenrechtsfreundliche Auslegung werden nicht konsequent zu Ende geführt. Zu fragen wäre doch gewesen, ob sich aus dem Völkerrechtsverstoß trotz der fehlenden Transformierung des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte die individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit der Soldaten herleiten lässt. Ein völkerrechtlicher Vertrag regelt lediglich die Rechtsbeziehungen der Staaten der Völkerrechtssubjekte untereinander, ohne das Vereinbarte automatisch in innerstaatliches Recht zu transformieren, ohne im Inneren Rechte und Pflichten zu begründen.237 Die Entscheidungsgründe lassen eine Stellungnahme zu der verbreiteten Auffassung vermissen, dass eine Völkerrechtsverletzung lediglich ein haftungsbegründendes Unrecht des betreffenden Völkerrechtssubjekts darstellt, nicht aber die individuelle Strafbarkeit der unter diesem pflichtgemäß handelnden Amtsträger, sprich der Grenzsoldaten begründen kann238. Zudem stellen die in dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte enthaltenen humanitären Rechte kein völkerrechtliches ius cogens dar, begründeten mithin auch keine Verpflichtung der Mitgliedstaaten, diese Vorschriften unmittelbar zur Anwendung zu bringen.239 Im Übrigen ist die Auslegung des Paktes in der Völkergemeinschaft umstritten und nur wenige Länder der Welt erkennen ein uneingeschränktes Ausreiserecht ihrer Bürger an.240 Diese Probleme interessieren den Bundesgerichtshof offensichtlich nicht. Eine Nichtigkeit der Rechtfertigungsgründe ließe sich widerspruchsfrei nur durch den Rückgriff entweder auf die Radbruchsche Formel oder aber auf den ordre public begründen.241 Das Kriterium der Nichtvereinbarkeit mit dem bundes235 Ogorek, KritV 83 (2000), 323 (327): Der BGH hätte die Rückwirkungsfrage gar nicht erst aufwerfen dürfen, hätte er seine Überlegungen zu Radbruch ernst genommen. 236 Vgl. Amelung, JuS 1993, 637 (641); Günther, Strafverteidiger 1993, 18 (21); R. Dreier, in: FS für A. Kaufmann, S. 61; Buchholz-Schuster, Rechtsphilosophische Legitimation der Rechtspraxis nach Systemwechseln, S. 211. 237 Vgl. H. Dreier, JZ 1997, 421 (525); Seidl-Hohenfeldern, Völkerrecht, Rn. 539 ff.; Verdross / Simma, Universelles Völkerrecht, S. 53 ff., 59; Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 15 ff., 158 ff. 238 Vgl. H. Dreier, JZ 1997, 421 (525); Polakiewicz, EuGRZ 1992, 177 (187, 189); K. Ipsen, Völkerrecht, § 35 Rn. 2; Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig, Art. 103 Abs. 2 GG, Rn. 255. 239 Arnold / Kühl, JuS 1992, 991 (995); Kimminich, Einf. in das Völkerrecht, S. 209 f. 240 Arnold / Kühl, JuS 1992, 991 (995) mit Verweis auf die UNO-Dokumentation UN Doc. E / CN 4 Sub 2 / L 234 N.69 129. 241 Vgl. Arnold / Kühl, JuS 1992, 991 (995); Laskowski, JA 1994, 151 (161).
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deutschen ordre public lehnt der Bundesgerichtshof aber ausdrücklich ab.242 Der Bundesgerichtshof fühlt sich offenbar unwohl, seine Argumentation allein auf die „legitimierende Kraft seiner rechtsehthischen Argumentation“ zu stützen.243 Erweist sich der Rückgriff auf das Völkerrecht und auf die „menschenrechtsfreundliche Auslegung“ damit aber nicht als „Ausweichmanöver“ des Bundesgerichtshofs gegenüber der Frage nach der Rolle der Überpositivität und der darauf gründenden Radbruchschen Kollisionsformel?244 Es kann jedenfalls mit Spendel festgestellt werden, dass in der ausdrücklichen Anerkennung eines über staatlicher Satzung stehenden „übergesetzlichen Rechts“ die eigentliche und größte Bedeutung des Urteils des Bundesgerichtshofs liegt,245 auch wenn das erste Mauerschützen-Urteil der Konsequenz ausweichen will und den Weg über die „menschenrechtsfreundliche Auslegung“ und den Vertrauensschutztatbestand des Art. 103 Abs. 2 sucht.246 Die Bedeutung der Geltung überpositiven Rechts und der Anwendbarkeit der Radbruchschen Formel für den Bundesgerichtshof wird in den weiteren Urteilen zu den Mauerschützen- und Rechtsbeugungsfällen erst allmählich klarer formuliert. Der Bundesgerichtshof leistet mit der Zeit Aufklärungsarbeit zu seiner aufklärungsbedürftigen Grundsatzentscheidung.247 Er setzt sich allerdings erst in seinem Urteil vom 20. März 1995 intensiv mit der Kritik der Lehre an seiner undeutlichen Rechtsprechung auseinander. (2) Urteil vom 25. März 1993 (BGHSt. 39, 168 ff.) In dem zweiten Mauerschützenverfahren mussten sich wiederum Grenzsoldaten (Wehrpflichtige und deren Postenführer) wegen vorsätzlicher Tötungshandlungen an der Berliner Mauer vor Gericht verantworten. In diesem Urteil beschränkt sich der Bundesgerichtshof in den entscheidenden Passagen darauf, auf seine Ausführungen im ersten Mauerschützenurteil Bezug zu nehmen. So verweist er darauf, dass für die geschilderte Staatspraxis, die die vorsätzliche Tötung von Flüchtlingen BGHSt. 39, 1 (15). Buchholz-Schuster, Rechtsphilosophische Legitimation der Rechtspraxis nach Systemwechseln, S. 211. 244 Vgl. H. Dreier, JZ 1997, 421 (424 ff.), der von „Ausweichstrategien“ des BGH gegenüber der Radbruchschen Formel spricht. 245 Spendel, RuP 1993, 61 (64). 246 Schlink, NJ 1994, 433 (436) interpretiert dieses Urteil dahin, dass der BGH hier letztlich nicht auf die Radbruchsche Formel, auf das naturrechtliche Argument setzen möchte. 247 BGHSt. 39, 168 (183 ff.); 40, 218 (232); 40, 241 (244 ff.); 40, 272 (277 ff.); 41, 101 (103 ff.), wobei er immer wieder auf die Grundsatzentscheidung aus dem 39. Band zurückverweist. Vollständige Wiedergabe der Entscheidungen zu den Todesschüssen an der innerdeutschen Grenze bei Dannecker / Stoffers, JZ 1996, 490; zu den Entscheidungen zur Rechtsbeugung durch Richter und Staatsanwälte vgl. die Aufzählung bei Isensee, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. IX, § 202 Rn. 165, Fn. 442 und 447. 242 243
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C. Bundesgerichtliche Rechtsprechung und Literatur
durch Schusswaffengebrauch eingeschlossen habe, dasselbe gelte wie für die Verhältnisse, die Gegenstand des Senatsurteils BGHSt. 39, 1 ff. gewesen seien. Wegen offensichtlichen, unerträglichen Verstoßes gegen elementare Gebote der Gerechtigkeit und gegen die Menschenrechte, die zu schützen die DDR als Vertragsstaat des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte verpflichtet gewesen sei, habe § 27 des Grenzgesetzes der DDR in der Auslegung, die durch eine solche Staatspraxis gekennzeichnet gewesen sei, keine rechtfertigende Wirkung entfaltet.248 Zudem habe § 27 des Grenzgesetzes mit Auslegungsmethoden, die der DDR eigentümlich gewesen seien, bereits so ausgelegt werden können, dass die schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen hätten vermieden werden können. (3) Urteil vom 26. Juli 1994 (BGHSt. 40, 218 ff.) In diesem ersten Urteil vom 26. Juli 1994 ging es um die Verurteilung der Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrats der DDR Albrecht, Keßler und Streletz, welche später dem so genannten Mauerschützenbeschluss des Bundesverfassungsgerichts zugrunde lag.249 Diesmal stellte der Bundesgerichtshof nicht nur hinsichtlich des Schusswaffengebrauchs, sondern auch bezüglich der Selbstschussanlagen und der Verwendung von Minen in den Grenzabschnitten fest, dass die Staatspraxis der DDR „wegen offensichtlichen, unerträglichen Verstoßes gegen elementare Gebote der Gerechtigkeit und gegen völkerrechtlich geschützte Menschenrechte“ nicht geeignet gewesen sei, die Täter zu rechtfertigen.250 (4) Urteil vom 26. Juli 1994 (BGHSt. 40, 241 ff.) Auch in seinem zweiten Urteil vom 26. Juli 1994 bezieht sich der Bundesgerichtshof auf seine in den ersten beiden Mauerschützenurteilen aufgestellten Grundsätze. Allerdings stellt er in diesem Urteil erstmals ausdrücklich fest, dass der „Rechtfertigungsgrund“ – welcher bleibt offen –251 „wegen offensichtlichen, unerträglichen Versoßes gegen elementare Gebote der Gerechtigkeit und gegen völkerrechtlich geschützte Menschenrechte unwirksam“ sei.252 Der Verstoß wiege hier so schwer, dass er die allen Völkern gemeinsamen, auf Wert und Würde des Menschen bezogenen Rechtsüberzeugungen verletze, so dass das positive Recht der Gerechtigkeit zu weichen habe, wie es Radbruch formuliert habe.253 BGHSt. 39, 168 (183). Vgl. unten, S. 102 ff. 250 BGHSt. 40, 218 (232). Hervorhebung nicht im Original. 251 Vgl. auch Buchholz-Schuster, Rechtsphilosophische Legitimation der Rechtspraxis nach Systemwechseln, S. 249. 252 BGHSt. 40, 241 (244). 253 Vgl. BGHSt. 40, 241 (244) mit dem ausdrücklichen Verweis auf Radbruch. 248 249
III. Formelrezeption und Naturrechtsgedanke nach 1990
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Das Urteil betrifft zwei Grenzsoldaten, die einen die Spree durchschwimmenden Flüchtling durch mehrere Feuerstöße tötlich verletzt hatten.254 Der Sachverhalt ereignete sich 1972 und damit vor Inkrafttreten des Grenzgesetzes der DDR und vor der Unterzeichnung der Ratifizierungsurkunde des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR). Der Rückgriff auf die ohnehin zweifelhafte völkervertragsrechtliche Argumentation war dem Bundesgerichtshof mithin verwehrt. Es bedurfte – in Konsequenz der vom Bundesgerichtshof entwickelten „Konkretisierungskomponente“ zur Radbruchschen Formel anhand der „hinzugekommenen konkreteren Prüfungsmaßstäbe“ – 255 im Grunde genommen keines besonderen Kunstgriffs, da der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte bereits seit 1966 zur Unterzeichnung auflag (Art. 48).256 Gleichwohl sah sich der Bundesgerichtshof veranlasst, über mehrere Seiten Art. 3 und 13 Nr. 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 zu erläutern und darauf zu verweisen, dass diese Menschenrechtserklärung schließlich die Grundlage für den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte bilde.257 Es überrascht, dass der Bundesgerichtshof nach wie vor zweigleisig fährt. Obwohl er nunmehr erstmals ausdrücklich den „Rechtfertigungsgrund“ für nichtig erklärt, verweist er anschließend auf seine Ausführungen in seinen Urteilen BGHSt. 39, 1, 23 ff. und 39, 168, 184 f. zu den nach dem Recht der DDR zur Verfügung stehenden menschenrechtskonformen Auslegungsmethoden.258 (5) Urteil vom 20. März 1995 (BGHSt. 41, 101 ff.) Dem vorletzten Urteil zu den Schüssen an der innerdeutschen Grenze liegt ein Sachverhalt aus den frühen sechziger Jahren zugrunde. Der vom Landgericht Berlin in erster Instanz verurteilte Angeklagte hatte am 5. Juni 1962 drei gezielte Schüsse auf einen durch die Spree schwimmenden siebzehn Jahre alten Flüchtling 254 Einer der Verurteilten legte später Verfassungsbeschwerde ein, welche zusammen mit den Verfassungsbeschwerden von Albrecht, Keßler und Streletz zu dem Mauerschützenbeschluss des Bundesverfassungsgerichts führte. 255 Vgl. BGHSt. 39, 1 (16). Dass die Konkretisierung der Radbruchschen Formel anhand völkerrechtlicher Maßstäbe, d. h. völkerrechtlich anerkannter Menschenrechte, in diesem Grundsatzurteil eigentlich keine Neuigkeit war, insbesondere auch im Radbruchschen Sinne ist, wurde vorangehend bereits erwähnt. 256 BGHSt. 40. 241 (245). Das IPBPR war mithin zur Tatzeit, d. h. am 23. 03. 1972, zwar für die DDR durch deren noch ausstehenden Ratifizierung noch nicht völkervertragsrechtlich verbindlich, aber es war doch immerhin schon ein klares Indiz dafür, wann ein „Staat nach der Überzeugung der weltweiten Rechtsgemeinschaft Menschenrechte verletzt“ und damit ein eindeutiger „konkreterer Prüfungsmaßstab“ (vgl. zu den Zitaten BGHSt. 39, 1 (16))! 257 BGHSt. 40, 241 (245 ff.). Der BGH bemüht sich hier offensichtlich einer (von ihm sicherlich nicht als solche anerkannte) Korrektur seiner Grundsatzentscheidung aus dem 39. Band (BGHSt. 39, 1 (16 ff.). 258 BGHSt. 40, 241 (249 f.).
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C. Bundesgerichtliche Rechtsprechung und Literatur
abgegeben und diesen dabei tödlich getroffen. In diesem Urteil will der Bundesgerichtshof seine Rechtsprechung unter dem Eindruck der zum Teil starken Kritik des Schrifttums an so empfundenen „Ungereimtheiten“ ergänzend erläutern und rechtfertigen.259 Bezüglich der Frage der Geltung überpositiven Rechts oder Naturrechts sowie der Radbruchschen Formel räumt er übrig bleibende Ungereimtheiten tatsächlich beiseite. Der Bundesgerichtshof verweist zum einen erneut auf den Grundsatz der Radbruchschen Formel und auf deren Konkretisierung durch die Dokumente des internationalen Menschenrechtsschutzes. Im Lichte des Menschenrechtsschutzes wertet der Bundesgerichtshof die „Rechtfertigungsgründe“ als extremes und erklärt sie folgerichtig für unwirksam.260 Darüber hinaus knüpft er an die eindeutig naturrechtlichen Grundlagen des Urteils des Internationalen Militärgerichtshofs vom 30. September 1946 an.261 Der Senat wiederholt im Übrigen, dass es bei dem Rückgriff auf die Grundsätze des internationalen Menschenrechtsschutzes nicht darauf ankomme, ob die DDR den internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte in innerstaatliches Recht transformiert habe.262 Hierbei ignoriert er abermals die Problematik, dass es nicht um die völkervertragsrechtliche Verbindlichkeit des Pakts geht, sondern um die Wirksamkeit dieser Grundsätze im innerstaatlichen Recht der DDR.263 Damit spricht der Senat den Menschenrechtserklärungen in der Tat, wie Amelung264 klarstellt, „naturrechtliche Geltung“ zu; folgerichtig beinhaltet die Feststellung, geltendes DDR-Recht verstoße gegen die Menschrechterklärungen zugleich, wenn auch unausgesprochen, die Festellung der Naturrechtswidrigkeit.265 Die Völkerrechtswidrigkeit indiziert in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die Naturrechtswidrigkeit.266 Dass der Bundesgerichtshof schließlich auch mit Hilfe der „menschenrechtsfreundlichen Auslegung“ geltendes DDR-Recht267 teleologisch auf einen natur259 BGHSt. 41, 101 (103 ff., insbes. 106 ff.) mit umfassenden Nachw. zur kritischen Literatur (a. a. O., passim). 260 BGHSt. 41, 101 (105). 261 BGHSt. 41, 101 (109). 262 So bereits BGHSt. 39, 1 (16 f.) 263 BGHSt. 41, 101 (109). Vgl. hierzu unten, S. 94, und insbesondere die Kritik bei H. Dreier, JZ 1997, 421 (425). 264 Amelung, NStZ 1995, 29 (29, 30). 265 Amelung, NStZ 1995, 29 (30); vgl. H. Dreier, JZ 1997, 421 (426). Beide beziehen dies bereits auf BGHSt. 40, 241. 266 Vgl. H. Dreier, JZ 1997, 421 (426). Der BGH betreibt nun, was er in BGHSt. 39, 1 ff. nur angedeutet hat: Aus dem Widerspruch zu den Menschenrechtserklärungen wird der Verstoß gegen die nicht näher definierten Naturrechtssätze abgeleitet. Anders insofern Alexy, Mauerschützen, S. 26, als dass er dies bereits für BGHSt. 39, 1 ff. annimmt, die dortige Rechtsprechung mithin für konsequent hält. Vgl. auch Günther, Strafverteidiger 1993, 18 (19) und Köhler, Strafrecht Allgemeiner Teil, 1997, S. 111 f., der von einer vorpositiv-außergesetzlichen Begründung durch den BGH spricht, wenn dieser dem internationalen Menschenrechtspakt direkte Geltung zumesse.
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rechts- und rechtsstaatskonformen Kern reduziert und damit im Übrigen faktisch als naturrechtswidrig bzw. rechtsstaatswidrig verwirft,268 tritt offen und unübersehbar zu Tage, wenn der Senat schließlich im Rahmen der Frage nach dem Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG ausführt: „[Soweit] Gesetze oder Staatspraxis offensichtlich und in unerträglicher Weise gegen völkerrechtlich geschützte Menschenrechte verstießen, können die dafür verantwortlichen Machthaber und diejenigen, die auf deren Anordnung handelten, nicht dem Strafanspruch, den die Strafrechtspflege als Reaktion auf das verübte Unrecht mit rechtsstaatlichen Mitteln durchsetzt, unter Berufung auf das Rückwirkungsverbot entgegenhalten, sie hätten sich an bestehende Normen gehalten ( . . . )“269
und sodann fortfährt: „Das würde sich erst recht zeigen, wenn ein Gesetz so pervertiert war, daß eine menschenrechtsfreundliche Auslegung überhaupt nicht in Betracht kam. [ . . . ] Das folgt aus der Erwägung, daß die Freistellung von Strafbarkeit, die derart gegen die Menschenrechte verstößt, von vornherein unwirksam ist, also überhaupt nicht Recht geworden ist.“270
Das insofern „richtig ausgelegte[] Recht der DDR“271 ist letztlich eben doch „Naturrecht im Gewande der Auslegung“272, Normverwerfung am Maßstab der Überpositivität:273 Der Bundesgerichtshof denkt „naturrechtlich im Sinne der Rad267 Sei es nun in Form der allgemeinen Befehlslage bzw. der beamtenrechtlichen Weisungen, wie sie sich im Zeitpunkt der Tat aufgrund der einschlägigen Dienstvorschriften sowie der Befehle des Innenministers und der dazu ergangenen Durchführungsanweisungen ergab, oder in Form des faktisch gehandhabten § 27 Abs. 2 GrenzG-DDR. 268 Auch H. Dreier spricht von „Verwerfung“, und zwar von der Verwerfung eines im DDR-Recht auffindbaren Rechtfertigungsgrundes, welche auf der Anwendung der Radbruchschen Formel beruhe, vgl. JZ 1997, 421 (428), ohne allerdings die Problematik in einen weiteren Zusammenhang mit der allgemeinen Normverwerfungsproblematik zu bringen. 269 BGHSt. 41, 101 (111). 270 BGHSt. 41, 101 (112); Hervorhebung nicht im Original. Vgl. auch bereits die Formulierung in BGHSt. 39, 1 (22): „Der im DDR-Recht vorgesehene, in § 27 GrenzG-DDR bezeichnete Rechtfertigungsgrund hat deswegen von Anfang an in der Auslegung, die durch die tatsächlichen Verhältnisse an der Grenze gekennzeichnet war, keine Wirksamkeit gehabt. 271 BGHSt. 39, 1 (26). Hervorhebung nicht im Original. 272 Günther, StV 1993, 18 (23). 273 Hierin ist eine große Ähnlichkeit zu der Rechtsprechung contra legem des BVerfG in dem bereits erwähnten Soraya-Beschluß zu erkennen. Dort hatte das BVerfG, wie auch schon der BGH im Herrenreiter-Urteil (BGHZ 26, 349 (354 ff.)), unter dem Vorwand der verfassungskonformen Auslegung – ohne diesen Begriff freilich zu erwähnen – entgegen dem Wortlaut der §§ 254, 847 BGB die Erstattung von Schmerzensgeld im Falle der Verletzung des Persönlichkeitsrechts für Recht erkannt. Der BGH und das BVerfG betreiben dort Normverwerfung im Gewande der verfassungskonformen Auslegung. Nun betreiben sie Normverwerfung im Gewande der naturrechtskonformen Auslegung. Berechtigt aber schon die verfassungskonforme Auslegung, wie nach allgemeiner Auffassung – so i. ü. auch vom BVerfG (E 8, 28 (34)) – vertreten (vgl. nur Ipsen, Richterrecht und Verfassung, S. 176), nicht zur Gesetzeskorrektur, so kann dies erst recht nicht eine naturrechtskonforme Auslegung. Erstere stellt jedenfalls eine Umgehung des Vorrangs der Kontrollverfahren und damit der Kompetenzverteilung des Grundgesetzes dar.
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bruchschen Formel“274. Mehr noch, der Bundesgerichtshof spricht nun aus, was seine Grundsatzentscheidung lediglich impliziert hat:275 die teleologische Reduktion der Norm, deren mindestens teilweise Nichtanwendung wegen ihrer Unvereinbarkeit mit dem Naturrecht und schließlich deren Verwerfung kraft Naturrechts. Die menschenrechtsfreundliche Auslegung des DDR-Rechts schlägt nahtlos in dessen Verwerfung um. Der Übergang zwischen Auslegung und Verwerfung ist fließend. (6) Urteil vom 8. November 1999 (BGHSt. 45, 270 ff.) Das Urteil vom 08. November 1999 betrifft das Aufsehen erregende Verfahren gegen die ehemaligen Politbüromitglieder Kleiber, Schabowski und Krenz. In diesem Urteil bestätigt der Bundesgerichtshof die Verurteilung der Angeklagten wegen Totschlagts in mittelbarer Täterschaft durch das Landgericht Berlin am 25. August 1997. Es zeigt sich ein gewachsenes Selbstbewusstsein des Bundesgerichtshofs in Sachen Unrechtsaufarbeitung. Die Kürze, in der er die Problematik des Rückwirkungsverbots abhandelt ist auch ein Beweis dafür, dass diese Rechtsprechung in der Tat nunmehr als ständige Rechtsprechung bezeichnet werden kann.276 Der Bundesgerichtshof, zuvor stets um eine umfangreiche Begründung der Rechtswidrigkeit der Todesschüsse an der innerdeutschen Grenze bemüht, behandelt hier in nur wenigen Sätzen den Art. 103 Abs. 2 GG betreffenden Fragenkomplex.277 (7) Urteil vom 6. November 2002 (BGHSt. 48, 77 ff.) Das jüngste und voraussichtlich letzte bundesgerichtliche Urteil zu Todesschüssen an der innerdeutschen Grenze betrifft ein ebenso Aufsehen erregendes Verfahren gegen ehemalige Politbüromitglieder. Das Landgericht Berlin hatte Herbert Häber, Hans-Joachim Böhme und Siegfried Lorenz am 07. Juli 2000 vom Vorwurf des Totschlags an DDR-Flüchtlingen freigesprochen. Die Angeklagten hatten an H. Dreier, JZ 1997, 421 (427). Vgl. die ähnliche, aber nicht sehr klare Formulierung in BGHSt. 39, 1 (30): „Nichts anderes könnte im übrigen im Ergebnis gelten, wenn ein gesetzlicher Rechtfertigungsgrund, der gleich gewichtigen Einwendungen ausgesetzt ist, überhaupt keiner Auslegung zugänglich wäre, die sich an den Menschenrechten orientiert“. Siehe hierzu insbesondere H. Dreier, JZ 1997, 421 (427); kritisch dazu auch Dannecker / Stoffers, JZ 1996, 490 (493); Isensee, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. IX, § 202 Rn. 159 a. E., Fn. 424. Die nun eindeutige Formulierung entspricht im Übrigen der Auffassung des BVerfG zu der Frage der Vereinbarkeit des Art. 103 Abs. 2 GG, wonach in der Rechtsprechung des BGH kein Verstoß gegen das Nullapoena-Grundrecht zu sehen sei, weil die Rechtfertigungsgründe „für die Tötung von ,Grenzverletzern‘ als extremstes staatliches Unrecht unbeachtlich“ seien, siehe unten, S. 102 ff. 276 BGH, NJW 2000, 443 (450). 277 Indem er beinahe wortgleich die Ausführungen des BVerfG zur rechtsstaatlichen Rechtfertigung des Rückwirkungsverbots übernimmt. 274 275
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einem Beschluss mitgewirkt, den das Politbüro im Juni 1985 zur Fortdauer des Grenzregimes gefasst hatte. In den Gründen der Berliner Freisprüche wird die Möglichkeit einer Bestrafung der Angeklagten wegen Totschlags durch Unterlassen erörtert und schließlich verneint. Zwar habe den Angeklagten eine Pflicht zur Abwendung der Todeserfolge oblegen, was sich aus der Gesamtschau der Regelungen in Art. 1 und 30 Abs. 2 der DDR-Verfassung und Art. 6 und 12 IPBPR ergebe. Es habe jedoch mangels zureichender Möglichkeiten der Erfolgsabwendung an der Kausalität zwischen Handlungsbeitrag und Erfolg gefehlt. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft hob der Bundesgerichtshof das Urteil auf und verwies die Sache zurück an das Landgericht. Von diesem wurde der prominenteste der drei Angeklagte, Herbert Häber, dessen Verahren abgetrennt wurde, nunmehr mit Urteil vom 11. Mai 2004 wegen tödlicher Schüsse in den achtziger Jahren auf drei DDR-Bürger verurteilt. Von einer Strafe wurde jedoch gemäß dem milderen Gesetz, § 25 DDR-StGB, abgesehen.278 Der Bundesgerichtshof vertritt die Auffassung, dass die Angeklagten sich durch Unterlassen der Beihilfe zum Mord schuldig gemacht haben. Bezüglich der Rechtspflicht zum Handeln stützt er sich auf Art. 1 und 30 der DDR-Verfassung, Art. 6 und 12 IPBPR und die allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Ein ausdrücklicher Rückgriff auf überpositives Recht erfolgt nicht in diesem Zusammenhang. Das ist auch nicht verwunderlich. Dies ist nur notwendig im Zusammenhang mit der Haupttat. So reicht es auch, dass der Senat zur Strafbarkeit der Todesschützen auf die ständige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs hierzu verweist (BGHSt. 39, 1 und 168; 40, 218, 231; 45, 270, 295).
bb) Rechtsbeugungsfälle Die Rechtsprechung zur Rechtsbeugung durch Richter und Staatsanwälte bedient sich ähnlicher Argumentationsmuster wie diejenige zu den Todesschüssen an der innerdeutschen Grenze.279 Anders als in den Mauerschützenprozessen, wo sich das Unrecht in Rechtfertigungsgründen der Staatspraxis und insbesondere in § 27 StGB-DDR manifestierte und die Frage nach der Nichtigkeit dieser Rechtfertigungsgründe im Raum stand, knüpft die Strafbarkeit der Rechtsbeugung an einen Straftatbestand des StGB-DDR an – § 244 –, dessen Rechtmäßigkeit nicht in Frage stand. In den Verfahren ging es also nicht um die Rechtswidrigkeit von Normen, sondern um die Rechtswidrigkeit bzw. Gesetzwidrigkeit280 von Entscheidungen. Es konnte dementsprechend auch nicht die Radbruchsche Formel angewendet werden, da kein „gesetzliches Unrecht“ zur Debatte stand. Dennoch kommen die F.A.Z. v. 12. 5. 2004, S. 4. BGHSt. 40, 30 (42); 40, 272 (278); 41, 157 (164); 41, 247 (253 ff.); 41, 317 (328 f.). Vgl. zu diesen Urteilen auch Buchholz-Schuster, Rechtsphilosophische Legitimation der Rechtspraxis nach Systemwechseln, S. 277 ff. 280 Im Sinne von § 244 StGB-DDR. 278 279
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Urteile ohne den Rückgriff auf den Naturrechtsgedanken nicht aus.281 Dabei wird in Anlehnung an die Radbruchsche Formel argumentiert. Wie in den Mauerschützenprozessen flankiert der Bundesgerichtshof seine rechtsethische Begründung auch hier mit positivistischen Erwägungen. Die vielen Freisprüche belegen indessen die Schwierigkeit der Abgrenzung evidenten Unrechts in Anlehung an Radbruchs Konzept von noch nicht unerträglichen Exzessen. (1) Urteil vom 13. Dezember 1993 (BGHSt. 40, 30 ff.) In seiner ersten Grundsatzentscheidung zur Rechtsbeugung hatte der Bundesgerichtshof über einen Kündigungsschutzprozess aus dem Jahre 1989 zu entscheiden. Die beiden Angeklagten hatten eine Kündigungsschutzklage eines FDGBBeschäftigten gegen den Bundesvorstand des FDGB als offensichtlich unbegründet abgewiesen. Der damalige Kläger hatte sich geweigert, einen Antrag auf Aufnahmen in die Betriebskampfgruppen zu stellen. Deswegen wurde er aus der SED ausgeschlossen und sein Anstellungsvertrag als Fachbereichsleiter für Informationstechnik beim Bundesvorstand des FDGB gekündigt. Die Klage wurde unter Mitwirkung der Angeklagten als offensichtlich unbegründet abgewiesen, und zwar mit der knappen Begründung, der damalige Kläger sei aufgrund der von ihm tatsächlich gezeigten Verhaltensweise nicht mehr geeignet gewesen, mit der veinbarten Arbeitsaufgabe beschäftigt zu werden. Die Entscheidung stützte sich auf entsprechende DDR-Normen, die es erlaubten, Arbeitsverträge zu kündigen, wenn der „Werktätige für die vereinbarte Arbeitsaufgabe nicht geeignet war“. Der Kläger hatte zuvor immer eine gute Beurteilung seines Arbeitgebers erhalten. Der Bundesgerichtshof bestätigte den Freispruch durch das Landgericht Berlin. Im Rahmen der Rückwirkungsproblematik führt er in den Urteilsgründen zunächst aus, dass die Bestrafung von Richtern der DDR wegen Rechtsbeugung grundsätzlich auf Fälle zu beschränken sei, „in denen die Rechtswidrigkeit der Entscheidung so offensichtlich war und insbesondere die Rechte anderer, hauptsächlich ihre Menschenrechte, derart schwerwiegend verletzt worden sind, daß sich die Entscheidung als Willkürakt darstellt. Orientierungsmaßstab wird die offensichtliche Verletzung von Menschenrechten sein, wie sie in der DDR durch den Beitritt zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte ( . . . ) anerkannt waren. Nur bei Anlegung dieses strengen Maßstabs ist gewährleistet, daß eine Bestrafung nicht gegen das Rückwirkungsverbot (Art. 103 Abs. 2 GG) verstößt.“282
Sodann weist der Bundesgerichtshof wie schon im ersten Mauerschützenurteil darauf hin, dass das Recht der DDR mit den ihm eigenen Auslegungsmethoden auch so hätte ausgelegt werden können, dass Willkürakte im Sinne offensichtlicher, schwerer Menschenrechtsverletzungen vermieden worden wären:283 281 Vgl. zu den Rechtsbeugungsfällen Jarass / Pieroth, GG Art. 103 Rn. 54 a. E.; Isensee, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. IX, § 202 Rn. 165. 282 BGHSt. 40, 30 (41 f.). 283 BGHSt. 40, 30 (42).
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„Eine solche menschenrechtsfreundliche Auslegung war dem Richter ungeachtet der auf ihn wirkenden Einflüsse möglich.“284
Der zunächst positivistische Ansatz wird anschließend rechtsethisch überholt. In Anlehnung an die Radbruchsche Formulierung urteilt der Bundesgerichtshof: „Als durch Willkür gekennzeichnete offensichtliche schwere Menschenrechtsverletzungen, bei denen unter Beachtung des Art. 103 Abs. 2 GG eine Bestrafung wegen Rechtsbeugung in Betracht kommt, werden hiernach Fälle zu bewerten sein, in denen Straftatbestände unter Überschreitung des Gesetzeswortlauts oder unter Ausnutzung ihrer Unbestimmtheit bei der Anwendung derart überdehnt worden sind, daß eine Bestrafung, zumal mit Freiheitsstrafe, als offensichtliches Unrecht anzusehen ist.“285
Allerdings kann diese rechtsethische Anlehnung als eher zurückhaltend eingestuft werden. Der Schwerpunkt liegt auf der menschenrechtlichen Schiene. In einem Interview mit dem damaligen Vorsitzenden Richter Jähnke äußerte dieser auf eine entsprechende Frage, dass sich ein Kündigungsschutzprozess wenig zur Konkretisierung überpositiven Rechts eigne. (2) Urteil vom 9. Mai 1994 (BGHSt. 40, 178 ff.) In seinem zweiten Rechtsbeugungsurteil erstreckt der Bundesgerichtshof die Grundsätze aus seiner ersten Rechtsbeugungsentscheidung auf Handlungen von DDR-Staatsanwälten. Das Urteil bestätigt lediglich die Rechtsprechung aus dem Grundsatzurteil und soll hier daher nicht weiter dargestellt werden. (3) Urteil vom 6. November 1994 (BGHSt. 40, 272 ff.) Dass der Bundesgerichtshof den Nulla-poena-sine-lege-Grundsatz „auf den Verstoß gegen überpositives Recht reduziert“, wie Schröder es formuliert,286 wird erst in seinem Urteil vom 6. November 1994 zur Rechtsbeugung durch DDR-Richter offen ausgesprochen. In diesem Urteil ging es um den Tatbestand der so genannten „Beeinträchtigung staatlicher oder gesellschaftlicher Tätigkeit“ (§ 214 DDRStGB). Die Angeklagten (eine Staatsanwältin und ein Richter) hatten an einem Verfahren gegen einen DDR-Bürger mitgewirkt, in welchem dieser zu einer eineinhalbjährigen Haftstrafe ohne Bewährung verurteilt wurde. Der Verurteilte hatte anlässlich einer Vereidigung von DDR-Grenztruppen ein Plakat mit der Aufschrift „DDR! Deine Grenzen sind für mich kein Friedensbeitrag!“ entrollt. Das Landgericht Schwerin hatte in erster Instanz die Angeklagten wegen Rechtsbeugung verurteilt. Zur Begründung hatte es ausgeführt, dass das Verhalten kein solches im Sinne von § 214 DDR-StGB gewesen sei. Der Bundesgerichtshof hob das Urteil auf. 284 285 286
BGHSt. 40, 30 (42). BGHSt. 40, 30 (42 f.). Hervorhebung nicht im Original. Schroeder, NJW 1999, 90 (91).
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In den Entscheidungsgründen stellt der Bundesgerichtshof fest: „Die Rechtsanwendung durch die Angeklagten in dem Strafverfahren gegen P. hält zwar rechtsstaatlichen Anforderungen nicht stand; sie verstieß aber weder gegen überpositives Recht noch gegen – materielles oder formelles – Recht der DDR.“287
Der Bundesgerichtshof prüft nicht nur die Vereinbarkeit von § 214 DDR-StGB mit überpositivem Recht288, sondern auch die Anwendung der Vorschrift. Das wird anschließend noch mal deutlich: „Sind somit für die Auslegungsmethoden als solche keine Besonderheiten für die DDR anzuerkennen, so ist aber bei der wertenden Subsumtion des Sachverhalts unter einen Straftatbestand zu berücksichtigen, daß Richter und Staatsanwälte der DDR in ein Rechtssystem eingegliedert waren, dessen Wertvorstellungen sie verhaftet waren. Solche Wertvorstellungen, wie sie insbesondere in den von dem Obersten Gericht der DDR in Form von Richtlinien, ,gemeinsamen Standpunkten‘ und ,Orientierungen‘ herausgegebenen Verlautbarungen zum Ausdruck kommen, dürfen nicht außer acht gelassen werden, sofern sie überpositivem Recht nicht widersprechen“289.
(4) Urteil vom 5. Juli 1995 (BGHSt. 41, 157 ff.) In einem weiteren Urteil des Bundesgerichtshofs zur Rechtsbeugung durch DDR-Richter ging es um ein Verfahren gegen einen ehemaligen Kreisgerichtsdirektor. Diesem war in dem Verfahren vor dem Landgericht Dresden Rechtsbeugung zur Last gelegt worden, insgesamt acht Kündigungsschutzklagen durch Beschluss als „offensichtlich unbegründet“ abgewiesen zu haben. Die Betroffenen waren Pädagogen, welchen aufgrund der Stellung eines Ausreiseantrags gekündigt worden war. Das Landgericht hatte den Angeklagten freigesprochen. Der Bundesgerichtshof bestätigte den Freispruch. Der Bundesgerichtshof unterscheidet in den Urteilsgründen zwischen der dogmatischen Lage nach dem zur Tatzeit geschriebenen DDR-Recht und der damaligen Auslegungspraxis. Der Gerichtshof kommmt zu dem Ergebnis, dass die Rechtsanwendung des Angeklagten sich in materiell-rechtlicher Hinsicht und in verfahrensrechtlicher Hinsicht in den Grenzen der einschlägigen positiv-rechtlichen Vorschriften des DDR-Rechts gehalten habe. Insbesondere stellt er fest: „Sie verstieß auch nicht im dargelegten Sinne gegen die in der DDR ebenfalls verbindlichen Werte überpositiven Rechts.“290 BGHSt. 40, 272 (277). Hervorhebungen nicht im Original. So aber Buchholz-Schuster, Rechtsphilosophische Legitimation der Rechtspraxis nach Systemwechseln, S. 282 f. 289 BGHSt. 40, 272 (279 f.). Hervorhebung nicht im Original. 290 BGHSt. 41, 157 (165). Die Werte des auch in der DDR verbindlichen überpositiven Rechts beschreibt der BGH dabei a. a. O., S. 163 f., wie folgt: „Das geschriebene Recht der DDR in der durch die damals herrschende Auslegungspraxis festgelegten Gestalt ist jedoch nicht ausschließlicher und letzter Maßstab für die Beurteilung, ob eine richterliche Entschei287 288
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(5) Urteil vom 19. September 1995 (BGHSt. 41, 247 ff.) Auch in dem Urteil vom 19. September 1995 bekennt sich der Bundesgerichtshof eindeutig zum überpositiven Recht. In diesem Verfahren ging es ein weiteres Mal um politisches Strafrecht der DDR. Es betraf eine mit dessen Anwendung befasste ehemalige Staatsanwältin. Die Prüfung am Maßstab überpositiven Rechts beschränkt sich jedoch auf den Fall des gesetzlichen Unrechts. Die Unvereinbarkeit der Bestimmungen des politischen Strafrechts der DDR mit Menschenrechten, insbesondere die damit verbundenen, rechtsstaatlichen Anforderungen zuwiderlaufende Einschränkung von Ausreisefreiheit, Meinungsfreiheit sowie Versammlungsund Vereinigungsfreiheit gehe „nicht soweit, daß sie jenes Maß der Unerträglichkeit erreichte, das im Sinne von Radbruchs Konzept zur Annahme der Unverbindlichkeit gesetzten Rechts führt.“291
(6) Urteil vom 16. November 1995 (BGHSt. 41, 317 ff.) Das Urteil vom 16. November 1995 betrifft einen Sachverhalt aus den fünfziger Jahren. Der Angeklagte hatte 1954 und 1956 an mehreren Strafverfahren mitgewirkt292, die zum Teil zu Todesurteilen gegen die Betroffen geführt hatten. Das Landgericht Berlin verurteilte den Angeklagten wegen Rechtsbeugung (in drei Fällen) in Tateinheit mit (z. T. versuchtem) Totschlag. Der Bundesgerichtshof wies das hiergegen gerichtete Rechtsmittel des Angeklagten ab. Der Bundesgerichtshof knüpft in den Urteilsgründen an seine bisherige Rechtsprechung an. Er bewertet das Verhalten des Ankgeklagten als Rechtsbeugung in der Form grausamen und überharten Strafens und entscheidet sich damit für eine Variante, die besonders geeignet ist, „den Willkürbegriff mit übergesetzlichem dung gesetzwidrig im Sinne des § 244 StGB-DDR war. Das richterliche Handeln war auch dann gesetzwidrig, wenn die Rechtsanwendung in einem offensichtlichen und unerträglichen Widerspruch zu elementaren Geboten der Gerechtigkeit und zu völkerrechtlichen geschützten Menschenrechten stand ( . . . ). Dieser Widerspruch muß so schwerwiegend sein, daß er eine Verletzung der Mindestanforderungen bedeutet, die nach der Rechtsüberzeugung der Völkergemeinschaft an die staatliche Achtung von Wert und Würde des Menschen zu stellen sind und die durch Dokumente des internationalen Menschenrechtsschutzes Ausdruck und Konkretisierung gefunden haben (vgl. Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948; Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966 – . . . ). ,In einem solchen Fall muß das positive Recht der Gerechtigkeit weichen‘ (BGHSt. 41, 101)“. Hervorhebung nicht im Original. 291 BGHSt. 41, 247 (259). 292 Die Verfahren betrafen Spionagetätigkeit und damit so genannte „Verbrechen gemäß Art. 6 II DDR-Verf.“. Dieser lautet: „Boykotthetze gegen demokratische Einrichtungen und Organisationen, Mordhetze gegen demokratische Einrichtungen und Organisationen, Mordhetze gegen demokratische Politiker, Bekundung von Glaubens-, Rassen-, Völkerhaß, militärische Propaganda sowie Kriegshetze und alle sonstigen Handlungen, die sich gegen die Gleichberechtigung richten, sind Verbrechen im Sinne des Strafgesetzbuches. Ausübung demokratischer Rechte im Sinne der Verfassung sind keine Boykotthetze“.
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Leben zu füllen“.293 Zunächst äußert sich der Gerichtshof allerdings gemäßigt positivistisch, was im Gesamtblick wieder an seine dualistisches Begründungsmuster aus den Mauerschützenprozessen erinnert: „Jede gerichtlich verhängte Strafe hat vor dem Willkürverbot nur Bestand, wenn sie in einer noch angemessenen Relation zum begangenen Unrecht bleibt. Die Idee der Gerechtigkeit fordert, daß Tatbestand und Rechtsfolge in einem sachgerechten Verhältnis zueinander stehen.“294
Beurteilungsmaßstab dafür, wann ein unerträglicher Willkürakt vorliege, seien die Wertvorstellungen in der DDR im Tatzeitraum. Allerdings wird diesen in der Folge zunächst eine überpositive Grenze gesetzt: „Andererseits muß in diesem Zusammenhang auch die überragende Bedeutung des Rechtsguts des menschlichen Lebens Beachtung finden. Sie kann dazu führen, dass Tatzeitrecht, welches vorsätzliche Tötung gestattete, im Blick auf vorrangige übergesetzliche Grundsätze und völkerrechtliche Normen als unwirksam zu verwerfen ist.“ 295
Nach Verweis auf seine Rechtsprechung zu den Todesschüssen an der innerdeutschen Grenze kommt es aber nicht zu einer Verwerfung der entsprechenden Normen. Die Lösung erfolgt über die „menschenrechtsfreundliche Auslegung“: „Im übrigen gestattete Art. 6 II DDR-Verf. 1949 in der Auslegung durch die Rechtsprechung der DDR es dem Richter in allen Fällen, eine andere Strafe als die Todesstrafe zu wählen; insofern konnte die Vorschrift ,menschenrechtsfreundlich‘ . . . ausgelegt werden.“296
(7) Urteil vom 10. Dezember 1998 (NJW 1999, 3347 ff.) In dem Aufsehen erregenden Fall Havemann ging es um Rechtsbeugung durch willkürliche Verfahrensgestaltung.297 In den Jahren 1976 / 1977 und 1979 wurden in der DDR zwei Gerichtsverfahren gegen den Regimekritiker Professor Havemann durchgeführt. Im November 1976 verurteilte das Kreisgericht Fürstenwalde Havemann auf Antrag des Staatsanwalts zu einer Aufenthaltsbeschränkung auf dessen Grundstück. Die Berufung blieb erfolglos. Der Vollzug der Aufenthaltbeschränkung endete im Mai 1979. Im unmittelbaren Anschluss daran wurde Havemann wegen Verstoßes gegen Devisenbestimmungen zu einer Geldstrafe verurteilt. Die Berufung wurde ebenfalls verworfen. Das Landgericht Frankfurt (Oder) hat in beiden Verfahren keine Rechtsbeugung gesehen. Nach den Feststellungen des Landgerichts waren die damaligen Gerichtsverfahren Teil einer Verfol293 Buchholz-Schuster, Rechtsphilosophische Legitimation der Rechtspraxis nach Systemwechseln, S. 287 f. 294 BGHSt. 41, 317 (326 f.). 295 BGHSt. 41, 317 (328). 296 BGHSt. 41, 317 (328 f.). 297 Vgl. hierzu die Anmerkungen von Schroeder, NStZ 1999, 620 und Herdegen, NStZ 1999, 456.
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gung Havemanns als politischem Gegner. Die Durchführung der Verfahren basierte hiernach auf einer umfassenden Abstimmung der obersten Justizorgane mit dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS), in die teilweise auch Erich Honecker eingeschaltet war. Dass die angeklagten Amtsträger der Staatsanwaltschaft und des Bezirks- bzw. Kreisgerichts diese Abstimmung der obersten Justizorgane mit dem MfS gekannt hätten, vermochte das Landgericht Frankfurt (Oder) nicht festzustellen. Die auf Sachrügen gestützten Revisionen der Staatsanwaltschaft führten zur Aufhebung und Zurückkweisung an das Landgericht Neuruppin. Zur Begründung führte der Bundesgerichthof aus, dass die Verneinung der objektiven und subjektiven Voraussetzungen der Recthsbeugung rechtsfehlerhaft gewesen sei. Der objektive Tatbestand der Rechtsbeugung sei in beiden Verfahren verwirklicht. Dabei stützt sich der Bundesgerichtshof auf seine inzwischen gefestigte Rechtsprechung zur Rechtsbeugung durch Richter und Staatsanwälte der DDR.298 Art. 103 Abs. 2 GG wird allerdings nicht mehr problematisiert. Ebenso wird kein Verstoß gegen überpositives, auch die DDR bindendes Recht festgestellt. Das Urteil enthält an keiner Stelle mehr ein methodisches Bekenntnis zum überpositiven Recht. Vielmehr wird Willkür aufgrund einer derart schwerwiegenden Verletzung von Menschenrechten festgestellt, dass das richterliche und staatliche Vorgehen den objektiven Tatbestand der Rechtsbeugung erfüllt habe, und zwar ungeachtet der Einflussnahme des MfS.299 Gerade in dieser und insbesondere in ihrer konkreten Form habe sich aber, so der Bundesgerichtshof, der Tatbestand der Rechtsbeugung verwirklicht. Eine Rechtsbeugung im Sinne von Willkür durch schwere Menschenrechtsverletzungen könne auch durch die Art und Weise der Durchführung von Verfahren begangen werden, namentlich wenn die Strafverfolgung überhaupt nicht der Verwirklichung von Gerechtigkeit, sondern der Ausschaltung des politischen Gegners diene.300 (8) Aktuellere Entscheidungen An diese Rechtsprechung knüpfen auch aktuellere Urteile und Beschlüsse wegen Rechtsbeugung an.301 Auch in den weiteren Verfahren stützt sich der Bundes298 Der BGH, NJW 1999, 3347 (3351), führt die drei Fallgruppen einleitend auf, welche er mit Rücksicht auf Art. 103 Abs. 2 GG entwickelt hat: (1.) Fälle, in denen Straftatbestände unter Überschreitung des Gesetzeswortlauts oder unter Ausnutzung ihrer Unbestimmtheit bei der Anwendung derart überdehnt worden seien, dass eine Bestrafung als offensichtliches Unrecht anzusehen sei; (2.) Fälle, in denen die verhängte Strafe in einem unerträglichen Missverhältnis zu der abgeurteilten Handlung gestanden habe, so dass die Strafe im Widerspruch zu Vorschriften des DDR-Strafrechts als grob ungerecht und schwerer Verstoß gegen die Menschenrechte erscheinen müsse; (3.) Menschenrechtsverletzungen durch die Art und Weise der Durchführung von Verfahren, in denen die Strafverfolgung und die Bestrafung überhaupt nicht der Verwirklichung von Gerechtigkeit, sondern der Ausschaltung des politischen Gegners oder einer bestimmten sozialen Gruppe gedient hätten. 299 BGH, NJW 1999, 3347 (3351 f.). 300 BGH, NJW 1999, 3347 (3352 ff.).
7 Dieckmann
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gerichtshof, soweit es hierauf überhaupt ankommt, auf seine inzwischen gefestigte Rechtsprechung. Die Rückwirkungsproblematik wird nicht mehr problematisiert. Ein Rekurs auf übergesetzliche Rechtsgrundsätze erfolgt mithin nicht mehr.
b) Bundesverfassungsgericht Anders als der Bundesgerichtshof befasste sich das Bundesverfassungsgericht nicht nur im Rahmen der strafrechtlichen Unrechtsaufarbeitung mit Problemen der Wiedervereinigung. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu rechtsstaatlichen Problemen der Wiedervereinigung ist aufgrund seiner Aufgaben vielseitiger als die des Bundesgerichtshofs. Das Gericht hat Entscheidungen des Gesetzgebers bestätigt302 und abgelehnt303 und es hat die Verwaltung im Einzelfall korrigiert304. Das Problem der Geltung überpositiven Rechts beschäftigte das Bundesverfassungsgericht allerdings außer in Fällen der strafrechtlichen Unrechtsaufarbeitung lediglich im Zusammenhang mit der heiklen Frage der Bestandskraft der so genannten Bodenreform der Jahre 1945 bis 1949.305 Das hierzu geführte Verfahren war das erste nach der Wiedervereinigung, in welchem sich das Bundesverfassungsgericht mit Fragen der Unrechtsaufarbeitung befasste. Das Thema „verfassungswidrige Verfassungsnormen“ geriet damit ein weiteres Mal unter dem Gesichtspunkt überpositiven Rechts ins Blickfeld der Rechtsprechung.306 301 Vgl. Urteil v. 18. 2. 1998, 5 StR 658 / 97; Urteil vom 19. 2. 1998, 5 StR 631 / 97; Urteil v. 19. 2. 1998, 5 StR 711 / 97; Beschluss v. 23. 5. 2000, 5 StR 181 / 00; Urteil v. 15. 8. 2000, 5 StR 311 / 00; Urteil v. 4. 5. 2001, 5 StR 68 / 01. 302 BVerfGE 84, 90 (117 ff.) zur Bestandskraft der Enteignungen auf besatzungsrechtlicher Grundlage 1945 – 1949; BVerfGE 84, 113 (154 ff.) zur Beendigung öffentlich-rechtlicher Arbeitsverhältnisse; BVerfGE 88, 384 (401 ff.) zur Umgestaltung von Vermögensverhältnissen. 303 BVerfGE 82, 322 (337 ff.); 82, 353 (363 ff.) bei den ersten gesamtdeutschen Wahlen; BVerfGE 84, 133 (155 f.) beim Mutterschutz für ehemalige DDR-Bedienstete. 304 Z. B. bei der Würdigung der DDR-Vergangenheit von Angehörigen des Öffentlichen Dienstes, BVerfGE 92, 140 (152 ff.), von Anwälten, BVerfGE 93, 213 (241 ff.) oder Parlamentariern, BVerfGE 93, 208 (211 ff.). Weitere Nachweise bei Schulze-Fielitz, in: H. Dreier (Hrsg.), Bd. II, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 54. 305 BVerfGE 84, 90 (121) bestätigt durch BVerfGE 94, 12, 34 ff. 306 Das Thema „verfassungswidriger Verfassungsnormen“ ist im Zusammenhang mit der Einführung des Art. 16 a GG und insbesondere mit dem „großen Lauschangriff“ besonders aktuell geworden. Die Möglichkeit originärer verfassungswidriger Verfassungsnormen wird in diesem Zusammenhang allerdings nicht diskutiert. Überpositives Recht bzw. der Naturrechtsgedanke werden nicht bemüht, weder bei der Debatte um die Verfassungsmäßigkeit der Asylrechtsänderung, vgl. hierzu Lübbe-Wolff, DVBl. 1996, 825 und dies., in: H. Dreier (Hrsg.), Bd. I, Art. 16 a, noch bei der Diskussion um die Verfassungsmäßigkeit des neu eingeführten Art. 13 Abs. 3 GG, vgl. hierzu Leutheuser-Schnarrenberger, ZRP 1998, 87, Selk, ZAR 1994, 59, Hartmann / Zekl, ZRP 1998, 87 und das abweichende Votum der Richter Jaeger und Hohmann-Dennhardt, BVerfG, 1 BvR 2378 / 98 vom 3. 3. 2004, Absatz-Nr. 364 ff. Die Möglichkeit sog. verfassungswidrigen Verfassungsrechts beschränkt sich nach heutiger Ansicht auf den Verstoß verfassungsändernder Vorschriften gegen Art. 79 Abs. 3 GG, vgl.
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aa) Bodenreformurteil vom 23. April 1991 (BVerfGE 84, 90 ff.) In der sowjetisch besetzten Zone (der späteren DDR) waren zwischen 1945 und 1949 auf besatzungsrechtlicher Grundlage Grundstücke entschädigungslos enteignet worden. Im Zuge der Wiedervereinigung sah Art. 41 des Einigungsvertrags von 1990 und der in diesem Zusammenhang neu eingeführte Art. 143 Abs. 3 GG vor, dass entsprechende Eigentumseingriffe weder rückgängig gemacht noch entschädigt werden sollten. Betroffene Eigentümer legten hiergegen Verfassungsbeschwerde ein und rügten ausdrücklich die Verfassungswidrigkeit des Art. 143 Abs. 3 n. F. GG. Sie argumentierten, der konstitutive Rechtsakt der Bundesrepublik sei wegen Verletzung des Menschenwürdesatzes, des Gleichheitsgebots und der Eigentumsfreiheit „verfassungswidriges Verfassungsrecht“. Das Bundesverfassungsgericht wies die Verfassungsbeschwerden als unbegründet zurück. In den Entscheidungsgründen führt das Gericht u. a. aus, dass zu den nach Art. 79 Abs. 3 GG gegen Verfassungsänderungen geschützten „grundlegenden Gerechtigkeitspostulaten“307 der Grundsatz der Rechtsgleichheit, das Willkürverbot und grundlegende Elemente des Rechts- und Sozialstaatsprinzips gehörten, die in Art. 1 und 20 GG zum Ausdruck kämen. Ausdrücklich und einmalig wird in diesem Kontext (auch) auf Art. 1 Abs. 1 und 2 GG abgestellt.308 Nach Denninger interpretiert das Bundesverfassungsgericht jedoch lediglich die „Ewigkeitsklausel“ des Art. 79 Abs. 3 GG. Nirgendwo in dem Urteil sei von einem wie auch immer gearteten Rückgriff auf überpositives Recht die Rede.309 Leisner meint sogar, dem Bodenreform-Urteil des Bundesverfassungsgerichts eine Distanzierung vom naturrechtlichen Denken zu entnehmen.310 H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG Bd. II, Art. 79 III Rn. 11. Einen Überblick über das schwierige Feld „verfassungswidrige Verfassungsnormen“ gibt von Münch, Staatsrecht I, Rn. 96 ff. Die Konstruktion „verfassungswidrige Verfassungsnormen“ außerhalb eines möglichen Verstoßes gegen Art. 79 Abs. 3 GG wird inzwischen als eine im Wesentlichen nur theoretisch in Betracht zu ziehende Rechtsfigur angesehen (vgl. Badura, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. VII, § 159, Rn. 7; ders., in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. VII, § 160, Rn. 29). Der oben dargestellte Streit (S. 69 ff., 72 ff.) über das verfassungswidrige Verfassungsrecht im Kontext möglicher überpositiver Bindungen des Verfassungsgebers ist seit den fünfziger Jahren abgeklungen, vgl. Leisner, DÖV 1992, 432 (436); Dürig, in: Maunz / Dürig, Art. 1 Abs. II GG, Rn. 81 f. Nach Leisner hat sich „die Lehre“ allerdings unter Führung von Bachof, Verfassungswidrige Verfassungsnormen?, und Wintrich,BayVBl. 1957, 137, der Auffassung angeschlossen, wonach es überpositives, auch den Verfassungsgeber bindendes Recht gibt. Einen Beleg hierfür liefert Leisner nicht. Da der Streit in diesem Kontext seit der Debatte in den fünfziger Jahren abgeklungen ist, ist diese Einschätzung nicht ganz nachzuvollziehen. 307 BVerfGE 84, 90 (121). 308 Dies stellen ausdrücklich H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG Bd. I, Art. 1 II, Rn. 13 und Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, Bd. I, Art. 1 Abs. 2, Rn. 111 heraus. Dreier, a. a. O., meint allerdings, Art. 1 Abs. 2 GG sei der Sache nach bei den Entscheidungen zum NS-Unrecht präsent gewesen. Ähnlich Starck, a. a. O. 309 Denninger, DVBl. 1998, 1130 (1134). 310 Leisner, DÖV 1992, 432 (438). 7*
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Es ist zwar richtig, dass das Bundesverfassungsgericht in diesem Urteil vorsichtig nur die „Bindung an grundlegende Gerechtigkeitspostulate“ erwähnt, während die Gerechtigkeitspostulate, wie Leisner zutreffend feststellt, früher nur Beispiel für ein schlechthin „der Verfassung vorausliegendes Recht“ waren;311 das Gericht mag damit den Rückgriff auf die Vorstaatlichkeit oder gar Naturrechtsvorstellungen vermeiden wollen;312 der Naturrechtsgedanke kommt in dem Urteil aber dennoch explizit zum Ausdruck, wenn auch nicht als tragender Entscheidungsgrund. Das Bundesverfassungsgericht verweist nicht nur auf seine früheren Entscheidungen313 zu dieser Thematik, sondern erwähnt ausdrücklich, dass ebenso wie der originäre (!) Verfassungsgeber auch der verfassungsändernde Gesetzgeber die grundlegenden Gerechtigkeitspostulate nicht außer Acht lassen dürfe.314 Damit erlangt Art. 1 Abs. 2 GG gerade keine eigenständige normative Bedeutung.315 Die „grundlegenden Gerechtigkeitspostulate“ erscheinen wie bereits im 23. und 54. Band316 zwar als positiviertes überpositives Recht; aber auch hier verweilen sie im Überpositiven. Art. 1 Abs. 2 GG erscheint zwar als positiver Anknüpfungspunkt überpositiven Rechts, der behauptete überpositive Ursprung wird allerdings wie bereits in der älteren Rechtsprechung weder näher begründet, noch verfassungstheoretisch hinterfragt. Abschließend vermerkt das Bundesverfassungsgericht sogar über die verfassungsgesetzlich gefundene Positivierung hinaus, dass „überstaatliche Rechtsgrundsätze . . . nicht feststellbar“ seien, die der Wirksamkeit der Entschädigungslosigkeit der Enteignung, soweit sie Objekte im Territorium des enteignenden Staates betreffe, entgegenstünden.317 Damit erkennt das Gericht ausdrücklich die Überprüfbarkeit sogar von Verfassungsnormen an überstaatlichen, sprich überpositiven Rechtsgrundsätzen an. Solche sind eben hinsichtlich der Entschädigungslosigkeit der betroffenen Enteignungen nur nicht ersichtlich.
bb) Beschlüsse zu Todesschüssen an der deutsch-deutschen Grenze Deutlich klarer kommt der Naturrechtsgedanke als Prüfungsmaßstab in den Beschlüssen zu Todesschüssen an der innerdeutschen Grenze zum Ausdruck. Anders als der Bundesgerichtshof musste sich das Bundesverfassungsgericht dem Rückwirkungsverbot erstmals in diesem Kontext stellen, war es doch zuvor mit dem 311 Vgl. Leisner, DÖV 1992, 432 (438); BVerfGE 3, 225 (LS 2 i.V.m. 231 ff.) als „jene letzten Grenzen der Gerechtigkeit“. 312 So Leisner, DÖV 1992, 432 (438). 313 BVerfGE 3, 225 (232) und BVerfGE 23, 98 (106)! 314 BVerfGE 84, 90 (121) mit Verweis auf seine Grundsatzentscheidung in BVerfGE 3, 225 (232)! Hervorhebung nicht im Original. 315 So aber Dreier, in: ders. (Hrsg.), Bd. I, Art. 1 II, Rn. 13. 316 Siehe oben, S. 54 ff. und S. 57. 317 BVerfGE 84, 90 (124).
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Problem des gesetzlichen Unrechts, wie es selber erwähnt, nur im außerstrafrechtlichen Bereicht befasst.318 (1) Beschluss vom 12. Juli 1995 (BVerfG DtZ 1995, 397 ff.) Der Beschluss vom 12. Juli 1995 betrifft einen atypischen Sachverhalt. Bei einer Bootstour im Juni 1965 im Teltow-Kanal waren West-Berliner Ausflügler versehentlich auf DDR-Gebiet geraten. Daraufhin schoss der Angeklagte mit mehreren Salven auf das Boot. Ein Insasse wurde dabei tödlich getroffen. Die andere Insassin wurde schwer verletzt, überlebte aber. Das Landgericht Berlin verurteilte den Angeklagten. Die zur Tatzeit geltende Weisung DV 30 / 10 erklärte es wegen schwerwiegenden Verstoßes gegen die Grundgedanken der Menschlichkeit und Gerechtigkeit für unbeachtlich; es verneinte einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG mit Hinweis auf eine menschenrechtsfreundliche Auslegungsmöglichkeit.319 Das Urteil hielt in der Revision vor dem Bundesgerichtshof stand.320 Der Angeklagte legte gegen die Urteile Verfassungsbeschwerde ein. Das Bundesverfassungsgericht gab dem Antrag auf einstweilige Aussetzung der Strafvollstreckung statt, da es die Verfassungsbeschwerde als nicht von vorneherein unbegründet ansah. Zu prüfen sei die in der Lehre umstrittene und durch die eigene Rechtsprechung noch nicht geklärte Frage des Rückwirkungsverbots in derartigen Fällen. Es sei verfassungsrechtlich zu klären, ob (1.) ein nach dem DDRRecht in seiner Auslegung durch die Staatspraxis bestehender Rechtfertigungsgrund „wegen eines Verstoßes gegen höherrangige Rechtsgrundsätze“ unbeachtlich sei und (2.) die dabei angewandten Normen nach der Änderung des gesamten Rechtssystems auch für die Vergangenheit menschenrechtskonform ausgelegt werden dürften.321 Die Fragestellung erinnert an die Methodik des Bundesgerichtshofs in seinen Mauerschützenurteilen. Die hier gestellten verfassungsrechtlichen Fragen verdeutlichen bereits das Argumentationsmuster, welchem der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts in seinem späteren Mauerschützenbeschluss folgt: Die „rechtsethische Argumentationslinie“, d. h. der Rückgriff auf Naturrecht, wird angesichts der Konfrontation mit dem verfassungsgesetzlich verankerten Nulla-Poena-Grundrecht von der menschenrechtsfreundlichen Auslegung flankiert.322
BVerfGE 95, 96 (134). Vgl. Sachverhalt zu BVerfG, DtZ 1995, 397. 320 BGH, NJW 1995, 2732 (2733). 321 BVerfG, DtZ 1995, 397 322 So zu Recht Buchholz-Schuster, Rechtsphilosophische Legitimation der Rechtspraxis nach Systemwechseln, S. 255 f. 318 319
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C. Bundesgerichtliche Rechtsprechung und Literatur
(2) Beschluss vom 24. Oktober 1996 (BVerfGE 95, 96 ff.)323 Mit den Tötungen von DDR-Flüchtlingen an der innerdeutschen Grenze („Mauerschützen“) befasste sich das Bundesverfassungsgericht aufgrund der Urteilsverfassungsbeschwerden der ehemaligen Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates der DDR, Albrecht, Keßler und Streletz sowie eines früheren Angehörigen der DDR-Grenztruppen. Der frühere Angehörige der Grenztruppen war wegen Totschlags eines DDR-Flüchtlings ebenfalls vom Berliner Landgericht zu einer Jugendstrafe von einem Jahr und zehn Monaten auf Bewährung verurteilt worden. Seine Revision beim Bundesgerichtshof verwarf dieser durch das bereits vorgestellte Urteil vom 26. Juli 1994.324 Albrecht, Keßler und Streletz waren hingegen vom Landgericht Berlin wegen der Tötung von DDR-Flüchtlingen jeweils zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt worden: Albrecht wegen Beihilfe zum Totschlag, Keßler und Streletz wegen Anstiftung zum Totschlag. Auf Revision der Staatsanwaltschaft änderte der Bundesgerichtshof durch Urteil ebenfalls vom 26. Juli 1994 das Urteil des Landgerichts ab.325 Alle drei Angeklagten werden nunmehr als Täter des Totschlags für schuldig befunden. Das Bundesverfassungsgericht wies sämtliche Verfassungsbeschwerden als unbegründet zurück und bestätigte die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur strafrechtlichen Unrechtsaufarbeitung.326 Den justiziellen Schlusspunkt zu diesen Sachverhalten setzte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mit seiner Entscheidung vom 22. März 2001. Wie schon in den Urteilen des Bundesgerichtshofs liegt auch im Mauerschützenbeschluss vom 24. Oktober 1996 die Kernproblematik, wie das Bundesverfassungsgericht selber formuliert, beim absoluten und strikt formalen327 Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG, einfachgesetzlich konkretisiert in Art. 315 n. F. EGStGB in Verbindung mit § 2 StGB. Eine Strafbarkeit konnte nur nach dem zur Tatzeit am Tatort geltenden DDR-Recht begründet werden.328 Die Beschwerdeführer beriefen sich auf die Straflosigkeit ihrer Handlungen nach der damaligen Strafrechtsordnung und machten u. a. einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG = BVerfG, NJW 1997, 929. BGHSt. 40, 241 ff., siehe oben, S. 86 f. 325 BGHSt. 40, 218 ff., siehe oben, S. 86 f. 326 BVerfGE 95, 96 (127 ff., 130 ff.). 327 So formuliert es das Bundesverfassungsgericht in Übereinstimmung mit dem Schrifttum zunächst selber. Es entspricht der allgemeinen Auffassung, dass Art. 103 Abs. 2 GG seine rechtsstaatliche Gewährleistungsfunktion durch eine strikte Formalisierung erfüllt (Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig, Art. 103 Abs. II GG Rn. 225; vgl. hierzu i. ü. bspw. Dannecker / Stoffers, JZ 1996, 492 (494); H. Dreier, JZ 1997, 421 (432) und Isensee, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. IX, § 202 Rn. 161; Schlink, NJ 1994, 433 (436) – jeweils m. w. N.). Vgl. hierzu eingehend unten, S. 128 ff. 328 Zur Strafbarkeit nach dem Recht der DDR als Strafbarkeitsvoraussetzung über Art. 315 EGStGB wie auch zur Frage der Strafbarkeit der Mauerschützen nach dem Recht der DDR eingehend Rosenau, Tödliche Schüsse im staatlichen Auftrag, S. 85 ff., 93 ff. – jeweils m. w. N. 323 324
III. Formelrezeption und Naturrechtsgedanke nach 1990
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geltend. Die Strafgerichte, so argumentierten sie, hätten ihnen eine Berufung auf einen Rechtfertigungsgrund versagt, der sich aus den Vorschriften der DDR über das Grenzregime, wie sie in der Staatspraxis ausgelegt und angewendet wurden, zur Tatzeit ergeben habe. Ihre Handlungen seien gemäß § 27 des Grenzgesetzes der DDR und aufgrund der entsprechenden staatlichen Anordnungen und Befehle sowie der Staatspraxis gerechtfertigt gewesen.329 Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts wurde Art. 103 Abs. 2 GG jedoch nicht verletzt. Die Ausführungen hierzu knüpfen an die sich bereits im Beschluss vom 12. Juli 1995 andeutende zweigleisige Argumentation an. Anders als der Bundesgerichtshof beginnt das Bundesverfassungsgericht mit einer Auslegung des Art. 103 Abs. 2 GG. Dazu entwickelt es zunächst einen Grundrechts- und „Demokratievorbehalt“330, welchen es schließlich durch einen menschenrechtskonformen Rechtsstaatsvorbehalt abrundet: Der von den Beschwerdeführern in Anspruch genommene, teils in § 27 des Grenzgesetzes der DDR331 normierte und teils auf staatlicher Anordnung und Praxis beruhende Rechtfertigungsgrund der damaligen Strafrechtsordnung könne nicht mehr unter den Regelfall des Art. 103 Abs. 2 GG fallen. Das Rückwirkungsverbot habe den Regelfall im Blick, dass die Tat im Anwendungsbereich des vom Grundgesetz geprägten materiellen Strafrechts der Bundesrepublik Deutschland begangen und abgeurteilt werde. Die infolge der Wiedervereinigung entstandene Rechtslage, nach der die Bundesrepublik ihre Strafgewalt unter Zugrundelegung des Rechts eines Staates auszuüben habe, der weder die Demokratie noch die Gewaltenteilung und die Grundrechte verwirklicht gehabt habe, könne zu einem Konflikt zwischen den unverzichtbaren rechtsstaatlichen Geboten des Grundgesetzes und dem absoluten Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG führen. Das strikte Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG finde seine rechtsstaatliche Rechtfertigung in der besonderen Vertrauensgrundlage, welche die Strafgesetze trügen, wenn sie von einem an die Grundrechte gebundenen demokratischen Gesetzgeber erlassen worden seien.332
Das insbesondere auch in seinem ersten Leitsatz333 noch absolut und strikt formal verstandene Rückwirkungsverbot stellt das Bundesverfassungsgericht nicht 329 Vgl. bezüglich der Befehlslage vor und nach Erlass des Grenzgesetzes der DDR vom 25. März 1982 ausführlich Rosenau, Tödliche Schüsse im staatlichen Auftrag, S. 40 ff., 56 ff. 330 Die in diesem Zusammenhang getroffene Bezeichnung als Demokratievorbehalt stammt von Isensee, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. IX, § 202 Rn. 162. Ähnlich wie das BVerfG argumentiert in diesem Punkt lediglich Hruschka, JZ 1992, 665 (668), vgl. unten, S. 113 und S. 113, Fn. 382. 331 Zu dessen strittigen Auslegung und Einschlägigkeit im Falle der „Todesschützen“ vgl. insbesondere die richtigen Ausführungen von Jakobs, in: Isensee (Hrsg.), Vergangenheitsbewältigung durch Recht, S. 52 ff.; ders., GA 1994, 1 (8 ff.); Rosenau, Tödliche Schüsse im staatlichen Auftrag, S. 97 f., 165 ff. – jeweils m. w. N. 332 BVerfGE 95, 96 (130 ff., 132 f.); vgl. auch die LS 2 und 3 des BVerfG a. a. O. Hervorhebungen nicht im Original. 333 BVerfGE 95, 96 (LS 1a): „Das Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG ist absolut und erfüllt seine rechtsstaatliche und grundrechtliche Gewährleistungsfunktion durch eine strikte Formalisierung“.
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C. Bundesgerichtliche Rechtsprechung und Literatur
nur unter den so begründeten Grundrechts- und Demokratievorbehalt, sondern rundet diesen schließlich durch einen menschenrechtskonformen Rechtsstaatsvorbehalt ab:334 Die besondere, durch den an die Grundrechte gebundenen demokratischen Gesetzgeber geschaffene Vertrauensgrundlage entfalle schließlich, wenn der andere Staat für den Bereich schwersten kriminellen Unrechts zwar Straftatbestände normiert, aber die Strafbarkeit gleichwohl durch Rechtfertigungsgründe für Teilbereiche ausgeschlossen habe, indem er über die geschriebenen Normen hinaus zu solchem Unrecht aufgefordert, es begünstigt und so die in der Völkerrechtsgemeinschaft allgemein anerkannten Menschenrechte in schwerwiegender Weise missachtet habe. Hierdurch habe der Träger der Staatsmacht extremes staatliches Unrecht gesetzt, das sich nur solange behaupten könne, wie die dafür verantwortliche Staatsmacht faktisch bestehe. In dieser ganz besonderen Situation untersage das Gebot der materiellen Gerechtigkeit, das auch die Achtung der völkerrechtlich anerkannten Menschenrechte aufnehme, die Anwendung eines solchen Rechtfertigungsgrundes. Der strikte Schutz von Vertrauen durch Art. 103 Abs. 2 GG müsse daher zurücktreten, da anderenfalls die Strafrechtspflege der Bundesrepublik zu ihren rechtsstaatlichen Prämissen in Widerspruch geraten würde.335 Nach dem Verständnis des Bundesverfassungsgerichts enthält Art. 103 Abs. 2 GG also eine Art rechtsstaatlichen Vertrauenstatbestand.336 Das Vertrauen rechtfertigt sich aus der Geltung allgemein anerkannter unantastbarer und in der grundgesetzlichen Rechtsordnung positivierter, unter der Staatsmacht der DDR dagegen faktisch nicht wirksamer Gerechtigkeitsgrundsätze. Der strikte Schutz von Vertrauen entfällt nicht bereits für undemokratische Gesetze schlechthin, sondern erst im Falle extremen staatlichen Unrechts. Dies erinnert stark an Radbruch. Der naturrechtliche Ansatz des Bundesverfassungsgerichts kommt deutlich allerdings erst in seiner zweiten Argumentationslinie zum Vorschein. Das Bundes334 Nach Denninger bestätigt das BVerfG damit den u. a. von Habermas aufgezeigten internen Zusammenhang von Rechtsstaat und Demokratie für den Bereich des Strafrechts. Hierzu Denninger, JZ 1998, 1129 (1133). Denninger vertritt die These, dass das BVerfG „einer Menschenrechtskonzeption folgt, die weder als naturrechtlich noch al positivistisch bezeichnet werden kann, sondern die allmähliche Entwicklung der Menschenrechte als einen übernationalen, konsensorientierten Diskurs begreift“ (a. a. O., 1129 ff.). Die fortschreitende Konkretisierung der Menschenrechtsidee als diskursive, konsensorientierte Entwicklung (vgl. Denninger, a. a. O., S. 1135) soll hier nicht in Abrede gestellt werden. Angesichts der vom BVefG allerdings in gewissen, hier maßgeblichen Grenzen als unverfügbar verstandenen Menschenrechtskonzeption (s. insbesondere nachfolgende Ausführungen), kann der Naturrechtsgedanke dieser Rechtsprechung nicht geleugnet werden. 335 BVerfGE 95, 96 (133). Hervorhebungen nicht im Original. 336 Entgegen seiner früheren Rechtsprechung: Das BVerfG hatte in E 25, 269 (289, 291) Art. 103 Abs. 2 GG ausdrücklich von den an den Vertrauensschutz anknüpfenden Einschränkungen des allgemeinen Rückwirkungsverbots aus Art. 20 Abs. 3 GG ausgeschlossen; vgl. Schlink, NJ 1994, 433 (436). Zu der Frage, ob Art. 103 Abs. 2 GG ein schutzwürdiges Vertrauen des Bürgers abdeckt, siehe unten, S 128 ff.
III. Formelrezeption und Naturrechtsgedanke nach 1990
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verfassungsgericht greift hier ausdrücklich das Gleichberechtigungsurteil und schließlich die dort erfolgte Rezeption der Radbruchschen Formel auf. Allerdings bleibt der Großteil der Ausführungen eigentümlich distanziert.337 Über mehrere Passagen werden insbesondere die Ausführungen des Bundesgerichtshofs zur strafrechtlichen Aufarbeitung von DDR-Unrecht lediglich in indirekter Rede wiedergegeben: Der Bundesgerichtshof habe seine Rechtsprechung zu der Beurteilung der sogenannten Regierungskriminalität während des SED-Regimes der DDR fortentwickelt, wonach die genannten Rechtfertigungsgründe wegen offensichtlichen, unerträglichen Verstoßes gegen elementare Gebote der Gerechtigkeit und gegen völkerrechtlich geschützte Menschenrechte unwirksam seien, der Verstoß zudem so schwer wiege, dass er die allen Völkern gemeinsamen, auf Wert und Würde des Menschen bezogenen Rechtsüberzeugungen verletze und daher schließlich das positive Recht der Gerechtigkeit zu weichen habe. Die Verknüpfung der Kriterien der Radbruchschen Formel mit den völkerrechtlich geschützten Menschenrechten habe der Bundesgerichtshof dahin umschrieben, dass zu den wegen ihrer Unbestimmbarkeit schwer zu handhabenden Kriterien der Formel konkretere Prüfungsmaßstäbe hinzugekommen seien. Die internationalen Menschenrechtspakte böten dafür Anhaltspunkte, wann ein Staat nach der Überzeugung der weltweiten Rechtsgemeinschaft Menschenrechte verletze.338
Die Darstellung schließt das Bundesverfassungsgericht endlich mit der lapidaren Feststellung ab: „Diese Bewertung entspricht dem Grundgesetz“.339 Das Bundesverfassungsgericht vermeidet es zwar, die DDR-Vorschriften über den Schusswaffengebrauch selber ausdrücklich für nichtig zu erklären.340 Es bestätigt die in den internationalen Menschenrechtspakten festgelegten Menschenrechte als konkreten Prüfungsmaßstab für staatliches Unrecht. Völkervertraglich „positiviertes“ Recht bietet den konkreten Anhaltspunkt für „übergesetzliches“ Recht. Das ändert aber nichts an dem naturrechtlichen Kern dieser Lösung. Die Menschenrechte versteht das Bundesverfassungsgericht trotz ihrer entsprechenden „Positivierung“ als überpositiv. Es sei absolut unerheblich, ob sie auch geltendes Recht in der DDR waren – diese Frage stellt das Gericht schließlich auch gar nicht. Die „internationalen“, von der weltweiten Rechtsgemeinschaft – wer gehört eigentlich dazu? – anerkannten Menschenrechte bleiben unverfügbares Recht. Sie konkretisieren lediglich den überpositiven Ansatz der vom Bundesverfassungsgericht kzeptierten Radbruchschen Formel. Auf deren völkerrechtliche Positivierung kommt es überhaupt nicht an. Der Rückgriff auf das Völkerrecht dient nur der Be337 Vgl. auch H. Dreier, JZ 1997, S. 421 (428); Buchholz-Schuster, Rechtsphilosophische Legitimation der Rechtspraxis nach Systemwechseln, S. 254 f. 338 BVerfGE 95, 96 (135). 339 BVerfGE 95, 96 (135). 340 Ebenso der BGH, s. oben; anders hingegen das dem ersten Mauerschützen-Urteil des BGH (BGHSt. 39, 1) zugrunde liegende Urteil des LG Berlin vom 20. 01. 1992, NJ 1992, 269 (270); vgl. H. Dreier, JZ 1997, 412 (428); Buchholz-Schuster, Rechtsphilosophische Legitimation der Rechtspraxis nach Systemwechseln, S. 255 f., Fn. 859.
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tonung des angeblichen weltweiten Konsenses über die Unverfügbarkeit. Damit bewegt sich das Bundesverfassungsgericht völlig im Rahmen der bereits von Radbruch selber bemühten Konkretisierung des Naturrechts: Auch wenn die Grundsätze des Naturrechts gewiss im Einzelnen von manchem Zweifel umgeben seien, so habe doch die Arbeit der Jahrhunderte „einen festen Bestand herausgearbeitet und in den sogenannten Erklärungen der Menschen- und Bürgerrechte mit so weitreichender Übereinstimmung gesammelt, daß in Hinsicht auf manche von ihnen nur noch gewollte Skepsis den Zweifel aufrechterhalten“ könne.341 Die Grenzen zwischen Normprüfung / -verwerfung und „rechtsstaatlicher“ Auslegung des Art. 103 Abs. 2 GG werden in dem Mauerschützenbeschluss allerdings merkwürdig verwischt: Das Bundesverfassungsgericht stellt selber fest, dass die Unterordnung des Lebensrechts des Einzelnen unter das staatliche Interesse an der Verhinderung von Grenzübertritten, d. h. die Überlagerung des geschriebenen Rechts durch Befehle zu dessen Hintansetzung aus Gründen politischer Zweckmäßigkeit materiell schwerstes Unrecht gewesen und als extremes staatliches Unrecht unbeachtlich sei.342 Der Grundgedanke Radbruchs trägt damit die gesamte Entscheidung.343 Demokratie- und Grundrechtsvorbehalt des Art. 103 Abs. 2 GG, zunächst mühsam begründet, werden mit dem Rückgriff auf Radbruch überflüssig. Der verfassungsgesetzlich verankerte objektive Vertrauensschutz entfällt nicht bereits dort, wo es dem als beständig und vertrauenswürdig gedachten Gesetzesbestand an einer demokratischen Legitimation und Grundrechtsbindung fehlt, sondern erst dort, wo der Gesetzesbestand (Strafanordnung oder Strafbefreiung) wegen seines krassen Verstoßes gegen das Gebot materieller Gerechtigkeit als extremes staatliches Unrecht zwar formal und faktisch, aber nicht im Rechts- und Gerechtigkeitssinne geltendes Recht geworden ist. Der durch Art. 103 Abs. 2 GG geschützte Vertrauenstatbestand des Strafgesetzes steht und fällt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mit dem („konkretisierten“) Radbruchschen Maßstab. Die Radbruchsche Formel wird in den Vertrauenstatbestand hineinprojiziert. Vertrauen in die Norm entfällt mit der (rechtlichen) Geltung der Norm, bestimmt anhand der Radbruchschen Kollisionslösung, gemessen an unverfügbaren Rechtsvorstellungen.
341 Radbruch, Fünf Minuten Rechtsphilosophie, in: Rechtsphilosphie, Anhang S. 335, (336); ders., Vorschule der Rechtsphilosophie, S. 29. Vgl. oben, S. 26. Möglicherweise trifft auch hier zu, was Kaufmann zu den Mauerschützenurteilen des BGH vermutet, nämlich dass die Richter mit ihrer „menschenrechtsfreundlichen Auslegung“ näher an Radbruch sind, als ihnen vielleicht bewusst ist (NJW 1995, 81 (86)). 342 BVerfGE 95, 96 (136). Hervorhebungen nicht im Original. 343 Vgl. H. Dreier, JZ 1997, 421 (428); Krajewski, JZ 1997, 1054 (1055); Sendler, NJW 1997, 3146 (3147).
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cc) Beschlüsse zur Rechtsbeugung durch DDR-Richter Das Bundesverfassungsgericht hält an dieser Rechtsprechung in seinen jüngsten Entscheidungen zur der Unrechtsaufarbeitung fest.344 In seinen Beschlüssen vom 07. April 1998 und 12. Mai 1998 greift es seine Rechtsprechung aus dem Mauerschützenbeschluss auf und überträgt deren Grundsätze auf die Fälle der Rechtsbeugung durch DDR-Richter. Mit ihren Verfassungsbeschwerden machten die wegen Rechtsbeugung gemäß § 244 StGB-DDR, Art. 315 Abs. 1 S. 1 EGStGB i. V. m. § 2 Abs. 1 und 3 StGB verurteilten Beschwerdeführer einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG geltend. Ihre Verfassungsbeschwerden wurden gemäß § 93 a Abs. 2 BVerfGG nicht zur Entscheidung angenommen. Das Bundesverfassungsgericht führt hierzu aus, dass die Verfassungsbeschwerden keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung hätten. Die durch die Verfassungsbeschwerden aufgeworfenen verfassungsrechtlichen Fragen seien durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hinreichend geklärt. Dabei verweist das Bundesverfassungsgericht bezüglich der Problematik des Rückwirkungsverbots auf auf seinen Mauerschützenbeschluss. Zu Art. 103 Abs. 2 GG führt das Bundesverfassungsgericht in beiden Beschlüssen lediglich aus, dass das Vertrauen in den Fortbestand einer bestimmten Interpretationspraxis von Strafgesetzen jedenfalls in Fällen der vorliegenden Art nicht mehr durch Art. 103 Abs. 2 GG geschützt sei:345 „Art. 103 Abs. 2 GG ist nicht anwendbar, wenn die der Rechtsanwendung zugrundeliegende Staatspraxis durch Aufforderung zu schwerstem kriminellen Unrecht und seiner Begünstigung die in der Völkergemeinschaft allgemein anerkannten Menschenrechte in schwerwiegender Weise mißachtet; denn hierdurch setzt der Träger der Staatsmacht extremes staatliches Unrecht, das sich nur solange behaupten kann, wie die dafür verantwortliche Staatsmacht faktisch besteht.“346
Das Bundesverfassungsgericht verweist damit ausdrücklich nur auf sein im Mauerschützenbeschluss begründetes Verständnis des Vertrauenschutzes des Art. 103 Abs. 2 GG.347
c) Exkurs: Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Die Strafverfahren wegen der Tötungen an der innerdeutschen Grenze finden ihren justiziellen Schlusspunkt in den beiden Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 22. März 2001 im Fall Streletz, Keßler, Krenz . / . BRD348 und im Fall K.-H. W. . / . BRD349. Streletz, Keßler und Krenz sowie der BVerfG, NJW 1998, 2585 ff. und 2587 ff. BVerfG, NJW 1998, 2585 und NJW 1998, 2587 (2588 f.). 346 BVerfG, NJW 1998, 2585, vgl. BVerfG, NJW 1998, 2587 (2588 f.). Hervorhebung nicht im Original. 347 Siehe oben, S. 102 ff. 348 EGMR, NJ 2001, 261. 344 345
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C. Bundesgerichtliche Rechtsprechung und Literatur
ehemalige Grenzsoldat W. hatten nach der Zurückweisung ihrer Verfassungsbeschwerden beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Individualbeschwerde gegen die Bundesrepublik wegen Verletzung der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten350 (EMRK) eingelegt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte prüfte den von den Verurteilten gerügten angeblichen Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot des Art. 7 Abs. 1 EMRK und verneinte diesen.351 Art. 7 Abs. 1 EMRK lautet in seiner deutschen Übersetzung: „Niemand darf wegen seiner Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach innerstaatlichem oder internationalem Recht nicht strafbar war. Ebenso darf keine schwerere als die zur Zeit der Begehung angedrohte Strafe verhängt werden.“
Der Gerichtshof unterschied drei Prüfungsschritte: Rechtswidrigkeit nach nationalem Recht der DDR, Rechtswidrigkeit nach internationalem Recht sowie Vorhersehbarkeit der Strafbarkeit. Für die Zwecke der vorliegenden Arbeit interessieren lediglich die ersten beiden Prüfungsschritte. Anders als die deutschen Gerichte argumentiert der Gerichtshof rein positivistisch, obwohl Art. 7 Abs. 1 EMRK nicht jene strikte Trennung zwischen Gesetz und Recht aufzuweisen scheint, wie sie sich in Art. 103 Abs. 2 GG und Art. 20 Abs. 3 GG manifestiert352: Wie bereits der Bundesgerichtshof und das Bundesverfassungsgericht vertritt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Auffassung, dass sich die Rechtswidrigkeit der Tötungen an der DDR-Grenze unmittelbar aus dem Recht der DDR ergibt (1. Prüfungsschritt). Der Schusswaffengebrauch sei nur gerechtfertigt gewesen, „um die unmittelbar bevorstehende Begehung oder Fortsetzung einer Straftat zu verhindern, die sich den Umständen nach als ein Verbrechen darstellt“ oder „um eine Person zu verhaften, die in dem dringenden Tatverdacht steht, ein Verbrechen begangen zu haben“. Als Verbrechen seien schwere Fälle des ungesetzlichen Grenzübertritts nach § 213 Abs. 3 StGB / DDR gewertet worden. Die Gesetze der DDR enthielten jedoch Bestimmungen zur Wahrung des Prinzips der Verhältnismäßigkeit und zum vorrangigen Schutz menschlichen Lebens.353 So habe § 27 Abs. 1 Grenzgesetz der DDR den Gebrauch der Schusswaffe als „äußerste Maßnahme der Gewaltanwendung“ bezeichnet. Laut Art. 89 Abs. 2 der DDR-Verfassung hätten die Gesetze zudem nicht der Verfassung widersprechen dürfen. In EGMR, NJ 2001, 268. BGBl. 1952 II S. 685 idF des 11. Protokolls, BGBl. 1995 II S. 579. 351 Eine Prüfung eines Verstoßes gegen Art. 7 Abs. 2 EMRK war damit hinfällig geworden. Art. 7 Abs. 2 EMRK lautet: „Durch diesen Artikel darf die Verurteilung oder Bestrafung einer Person nicht ausgeschlossen werden, die sich einer Handlung oder Unterlassung schuldig gemacht hat, welche im Zeitpunkt ihrer Begehung nach den allgemeinen von den zivilisierten Völkern anerkannten Rechtsgrundsätzen strafbar war.“ 352 Vgl. Arnold / Karsten / Kreiker, NJ 2001, 561 (562); Classen, GA 1998, 215 (217). 353 EGMR, NJ 2001, 261. 349 350
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Art. 19 Abs. 2 der DDR-Verfassung hätte es aber geheißen: „Achtung und Schutz der Würde und Freiheit der Persönlichkeit sind Gebot für alle staatlichen Organe“. Des Weiteren seien alle Staatsorgane an Art. 30 der DDR-Verfassung gebunden gewesen. Hiernach waren „Persönlichkeit und Freiheit jedes Bürgers . . . unantastbar. Die Rechte dürfen nur insoweit eingeschränkt werden, als dies gesetzlich zulässig und unumgänglich ist“. Der Gerichtshof kommt bei einer rechtsstaatlichen Auslegung, die sich eng am Wortlaut der einschlägigen Normen orientiert, zu dem Ergebnis, dass die Taten der Beschwerdeführer schon zur Tatzeit vom geschriebenen Recht nicht gerechtfertigt waren.354 Auch im zweiten Prüfungsschritt verlässt der Europäische Gerichtshof nicht seine positivistische Lösung. In der Staatspraxis, die über die rechtsstaatlich interpretierten Gesetze weit hinausgehe,355 entdeckt der Gerichtshof eine Verletzung der Verpflichtungen zur Respektierung der Menschenrechte und anderer internationaler Verpflichtungen der DDR.356 Er greift nicht auf die Radbruchsche Formel zurück, um diese eventuell anhand von internationalen Menschenrechten zu konkretisieren. Es reicht ihm festzustellen, dass die Taten gegen internationales Recht i.S.d Art. 7 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 EMRK verstoßen.357 Dazu verweist er auf die herausragende Bedeutung des Rechts auf Leben in Art. 3 der Allgemeinen Erklärungen der Menschenrechte, auf Art. 6 Abs. 1 IPBPR und auf Art. 2 EMRK. Da das Recht auf Leben völkerrechtlich allerdings nicht vorbehaltlos geschützt ist,358 prüft der Gerichtshof, ob die Tötung von Flüchtlingen völkerrechtlich erlaubt war. Dazu beruft er sich auf Art. 2 Abs. 2 EMRK, obwohl die Konvention von der DDR nicht ratifiziert worden war und bejaht den Verstoß.359 Die Strafbarkeit nach internationalem Recht begründet er allerdings in Verbindung mit § 95 DDR-StGB.360 Der so begründeten Bestätigung der deutschen Rechtsprechung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte kann eine Anerkennung der Anwendung der Radbruchschen Formel bzw. des Rückgriffs auf überpositive Rechtsvorstellungen durch die deutschen Gerichte nicht entnommen werden.361 Der Gerichtshof Vgl. Arnold / Karsten / Kreiker, NJ 2001, 561 (563). Der EGMR stand in diesem Verfahren erstmals vor dem Problem, eine rückwirkende täterbelastende Auslegung auf Handlungen anwenden zu müssen, die in einem untergegangenen politischem System begangen wurden, der kein Rechtsstaat war, vgl. Arnold / Karsten / Kreiker, NJ 2001, 561 (565). Es sei für einen Rechtsstaat legitim, entsprechende Strafverfahren durchzuführen. Genauso könnten Gerichte eines solchen Staates, die an Stelle der früher bestehenden getreten seien, nicht dafür kritisiert werden, dass sie zur Tatzeit geltende Rechtsnormen im Lichte der Grundsätze eines Rechtsstaats anwendeten und auslegten, EGMR, NJ 2001, 261 (263). 356 EGMR, NJ 2001, 261 (262), mit Verweis auf das IPBPR. 357 Vgl. zur Kritik hierzu Arnold / Karsten / Kreiker, NJ 2001, 561 (564). 358 Vgl. Art. 29 Nr. 2 AEMR, Art. 6 Abs. I IPBPR und Art. 2 Abs. 2 EMRK. 359 EGMR, NJ 2001, 261 (264). 360 Vgl. Arnold / Karsten / Kreiker, NJ 2001, 561 (564). 361 So aber Arnold / Karsten / Kreiker, NJ 2001, 561 (566), mit Verweis auf Ziff. 64 f. des Urteils. 354 355
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fasst zwar in knappen Sätzen die Kernargumente des Landgerichts Berlin, des Bundesgerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts zusammen. Er stellt jedoch ausdrücklich klar, dass er das Ergebnis dieser Rechtsprechung allein am Maßstab der Menschenrechtskonvention zu überprüfen habe.362
d) Zusammenfassung Die Unrechtsaufarbeitung nach der Wiedervereinigung führte zu einer Wiederbelebung der Radbruchschen Formel und des Naturrechtsgedankens in der Rechtsprechung deutscher Gerichte zur Bodenreform und zur strafrechtlichen Aufarbeitung des DDR-Unrechts.363 Dabei wird der Inhalt des „übergesetzlichen Rechts“ anhand der internationalen Menschenrechtserklärungen und in der Regel ohne Rekurs auf Art. 1 Abs. 1 und 2 GG ganz im Sinne Radbruchs konkretisiert.364 Die Radbruchsche Formel erscheint hier allerdings in einem anderen Unrechtskontext, denn die Qualität des Unrechts während des Dritten Reichs ist mit derjenigen der DDR-Diktatur kaum zu vergleichen. Radbruch hatte seine Formel vor dem Hintergrund der schrecklichen Erfahrungen im Dritten Reich entwickelt.365 Diese rechtsgeschichtliche Abhängigkeit der Formel vom NS-Kontext ist dem Bundesgerichtshof natürlich nicht entgangen.366 Deshalb stellt die Rechtsprechung auf ganz eindeutige „Evidenzerlebnisse“ 367 von erheblichem Gewicht ab, und deshalb ist auch die Frage, ob die dem Schießbefehl zugrunde liegenden Regelungen tatsächlich jedes erträgliche Maß verletzen, in der Literatur nicht unumstritten.368 InsbesonZiffer 66 des Urteils. Der Geist Gustav Radbruchs steht mit seiner Kollisionslösung für den unerträglichen Widerspruch zwischen Gerechtigkeit und Rechtssicherheit nicht nur im Zentrum der so genannten „Mauerschützen-Prozesse“, sondern der gesamten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs wie auch des Bundesverfassungsgerichts zum nationalsozialistischen wie realsozialistischen Unrecht, vgl. H. Dreier, JZ 1997, 421. 364 Der vom Bundesgerichtshof angelegte und vom Bundesverfassungsgericht akzeptierte Maßstab greift auf keinen anderen als Radbruch selber zurück, der darauf verweist, dass die Arbeit der Jahrhunderte doch einen festen Bestand herausgearbeitet habe, insbesondere in den so genannten Erklärungen der Menschen- und Bürgerrechte.Vgl. hierzu bereits oben, S. 26. 365 Es stellt sich insofern auch die Frage, der hier allerdings nicht nachgegangen werden kann, ob sich das Radbruchsche Argumentationsmuster überhaupt übertragen lässt, vgl. etwa Schöneburg, NJ 1992, 49 (55). 366 BGHSt. 41, 101 (109): „Gleichwohl bleibt der Senat bei seiner Rechtsprechung“. Vgl. auch Buchholz-Schuster, Rechtsphilosophische Legitimation der Rechtspraxis nach Systemwechslen, S. 223 f., S. 251. 367 H. Dreier, JZ 1997, 421 (429); vgl. auch Ogorek, KritV 83 (2000), 323 (331). 368 Zur Rechtsprechung vgl. die beiden Urteile des LG Berlin, die jeweils vergleichbare Mauerschützenfälle betrafen und später im Rahmen der Revision Inhalt der ersten beiden Mauerschützen-Urteile des BGH waren. In dem Urteil des LG Berlin vom 20. 01. 1992 stellte das LG fest, dass die Rechtfertigungsgründe des DDR-Rechts nichtig und damit unbeachtlich seien, da sie gegen den Kernbereich des Rechts verstießen, den kein Gesetz und kein obrig362 363
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dere aber die Rechtsbeugungsfälle zeigen durch häufig divergierende Einschätzungen der Instanzgerichte einerseits und des Bundesgerichtshofs andererseits die besonderen Probleme bei der Feststellung des „offensichtlichen, unerträglichen Verstoßes gegen elementare Gebote der Gerechtigkeit und gegen völkerrechtlich geschützte Menschenrechte“. Mit dem Rückgriff auf völkerrechtlich geschützte und im Grundgesetz auch verfassungsrechtlich positivierte (Menschen)Rechtsvorstellungen bedient sich die Rechtsprechung zwar positivierter Rechtsgrundsätze, versteht diese aber dennoch als unverfügbar. Auch im Kontext der Aufarbeitung des realsozialistischen Unrechts steckt die Rechtsprechung den Inhalt überpositiven Rechts zwar nach positivierten Werten ab. Die Gerichte folgen indessen nicht der grundgesetzlichen Positivierung dieser Rechtswerte naturrechtlicher Provenienz, sondern konkretisieren in ihren Entscheidungen die Radbruchsche Formel anhand völkerrechtlicher Menschenrechte und beharren auf der überpositiven Gebundenheit des pouvoir constituant. So verharren sie im überpositiven Glauben an die Menschenrechte, ohne dies verfassungstheoretisch zu begründen. Lediglich das Bodenreformurteil enthält den vorsichtigen Vermerk einer Anknüpfung an Art. 1 und 20 GG.369 Die Gerichte denken naturrechtlich im Sinne der Radbruchschen Formel. Insbesondere in den Rechtsbeugungsfällen wird der Maßstab „überpositives Recht“ ausdrücklich erwähnt. In den Mauerschützenverfahren sind die Gerichte zögerlicher. Im Ergebnis betreiben sie aber auch hier unter dem Mantel der Normenkontrolle am Maßstab des Völkerrechts Normverwerfung anhand überpositiven Rechts. Die sich aufdrängende Kompetenzfrage, in den fünfziger Jahren im Zusammenhang mit der Frage nach der Möglichkeit „verfassungswidrigen Verfassungsrechts“ noch diskutiert, wird in der Rechtsprechung nach der Wiedervereinigung ignoriert. Eine entsprechende Verwerfungskompetenz wird stillschweigend vorausgesetzt. Die Forderung Radbruchs, dass nicht jeder Richter auf eigene Faust Gesetze solle entwerten düren, diese Aufgabe vielmehr einem höheren Gericht oder der Gesetzgebung vorbehalten bleiben müsse, wird in der Rechtsprechung nicht mehr diskutiert. Die Rechtsprechung der deutschen Gerichte findet ihre abschließende Bestätigung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Der Gerichtshof nimmt allerdings keine Prüfung am Maßstab überpositiven Rechts vor. Insofern kann seiner Entscheidung nicht entnommen werden, dass die Anwendung der Radbruchschen Formel anerkannt wird.370
keitlicher Akt antasten dürfe (LG Berlin, NJ 1992, 269 (270)). In dem Urteil vom 5. 2. 1992 hielt das LG Berlin hingegen das zur Tatzeit geltende DDR-Recht im Rahmen der Rechtfertigungsgründe für beachtlich (LG Berlin, NJ 1992, 418). 369 Vgl. oben, S. 99 ff. 370 So aber Arnold / Karsten / Kreiker, NJ 2001, 561 (566), ohne nähere Begründung.
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2. „Vergangenheitsbewältigung durch Recht“371 und Literatur a) Überblick Anders als in der weitgehend einvernehmlichen Rechtsprechung hat sich in der Lehre ein erbitterter Streit über die Frage der Strafbarkeit des so genannten Systemunrechts der DDR entwickelt. Während sich kritische Stimmen zur Rückwirkung und zum Rückgriff auf überpositive Rechtsgrundsätze bei der Bestrafung des NS-Unrechts im grundgesetzlichen Geltungsbereich erst Ende der fünfziger Jahre und später zu Wort meldeten – nicht zuletzt wegen verständlicher Berührungsängste –,372 hat die Literatur, was das DDR-Unrecht angeht, nicht auf sich warten lassen. Lebhaft diskutiert werden insbesondere die Fragen der völkerrechtlichen Grenzen der Bestrafung des Systemunrechts,373 Art. 315 EGStGB, die Straftatbestände des Strafgesetzbuches der DDR,374 der ordre-public-Vorbehalt, die Frage des Verstoßes gegen völkerrechtliche Normen375 und die menschenrechtsfreundliche Auslegung der in Frage stehenden DDR-Bestimmungen.376 Die Diskussion der Radbruchschen Formel bzw. des Naturrechtsgedankens in der Literatur verläuft durchaus praxisnah. Es geht nicht mehr so sehr um eine inhaltliche Fortentwicklung oder rechtsphilosophische Präzisierung der Formel, als vielmehr um eine Auseinandersetzung im Kontext von Art. 103 Abs. 2 GG. Die Frage, ob die formal deckende Rechtslage der DDR trotz Verstoßes gegen übergeordnetes Recht überhaupt Rechtsverbindlichkeit entfalten konnte, beherrscht die Debatte.377 Man ist sich in der Lehre weitgehend darüber einig, dass die Strafbarkeit auch nach dem Recht der DDR Strafbarkeitsvoraussetzung der Alttaten ist.378 371 Vgl. den gleichlautenden Titel der Monographie, unter dem die drei Abhandlungen von Ulrich Battis, Günther Jakobs und Eckhard Jesse sowie das Nachwort hierzu von Josef Isensee (zugl. Hrsg.), herausgegeben sind. 372 Vgl. Pieroth, VVDStRL 51 (1991), S. 91 ff. (96) und Kirn, Verfassungsumsturz oder Rechtskontinuität, S. 65; Dencker, KritV 73 (1990), 299 (304 f.) hinsichtlich Art. 103 Abs. 2 GG. Anders hingegen die lebhafte Diskussion des gesetzlichen Unrechts in der unmittelbaren Nachkriegszeit; vgl. bspw. Bader, DRZ 1946, 140; v. Hodenberg, SJZ 1947, 113; Wimmer, SJZ 1947, 123; Coing, SJZ 1947, 61; Figge, SJZ 1947, 179; Lange, DRZ 1948, 155. 373 Das sind die „act of state“-Doktrin, das „genuine link“-Erfordernis und die Immunitätsfrage. 374 Darunter insbesondere die Straflosigkeit des Schusswaffengebrauchs nach § 27 StGBDDR sowie die Befehlslage vor Erlass des Grenzgesetzes. 375 Art. 6 Abs. 1 S. 3, 12 Abs. 2 und 3 IPBPR, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948, die Schlussakte der KSZE. 376 Eine umfassende Behandlung dieser Fragenkreise und Zusammenstellung der diesbezüglichen Literatur findet sich bei Rosenau, Tödliche Schüsse im staatlichen Auftrag, III. Teil: „Die Strafbarkeit der Mauerschützen“. 377 Vgl. Laskowski, JA 1994, 151 (152 ff.); Rosenau, Tödliche Schüsse im staatlichen Auftrag, S. 179. 378 Vgl. nur die eingehende und umfassende Behandlung durch Rosenau, Tödliche Schüsse im staatlichen Auftrag, S. 75 ff.
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Dabei finden sich nur vereinzelt Stimmen, die eine Strafbarkeit der Alttaten auf die Tatbestände des Strafgesetzbuches der DDR stützen, ohne diese bzw. die in Frage kommenden Rechtfertigungsgründe einer „menschenrechtsfreundlichen“ oder „überpositivkonformen“ „Auslegung“ unterwerfen zu wollen.379 Wenige begründen die Unwirksamkeit der Ermächtigungen zum Schusswaffengebrauch unmittelbar aus dem Recht der DDR380 oder halten diese Ermächtigung wegen des ordre-public-Vorbehalts für nicht anwendbar381. Vor der überwiegend „naturrechtlichen“ Argumentation verblassen gelegentlich zu findende Ansätze, die das Rückwirkungsverbot und das Gesetzlichkeitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG bei der Bestrafung des Systemunrechts allein deshalb für nicht verletzt ansehen, weil beispielsweise Art. 103 Abs. 2 GG nicht für fremdes Recht gelte382 oder weil sein Schutzbereich keine Rechtfertigungsgründe umfasse383 oder schließlich weil diese Norm bei praktischer Konkordanz verfassungsimmanent hinter der staatlichen Pönalisierungspflicht zum Schutze des verfassungsrechtlich verbrieften Lebensschutzes zurückzutreten habe384.385 verblassen vor der überwiegenden „naturrechtlichen“ Argumentation.386 Völlig in den Hintergrund gedrängt wird dabei indessen die wesentlich grundsätzlichere Frage nach der Vereinbarkeit überpositiven Rechts als Prüfungsmaßstab mit der Systematik des Grundgesetzes. 379 Vgl. bspw. Blumenwitz, DA 1992, 565 (576 f.), zu § 91 StGB-DDR (Verbrechen gegen die Menschlichkeit); eingehend hierzu und zu § 27 GrenzG-DDR: Rosenau, Tödliche Schüsse im staatlichen Auftrag, S. 93 ff. 380 So bspw. Schroeder, in: Brunner (Hrsg.), Juristische Bewältigung des kommunistischen Unrechts in Osteuropa und Deutschland, S. 221; Bottke, in: Lampe (Hrsg.), Die Deutsche Wiedervereinigung, S. 213 f.; Schreiber, in: Lampe (Hrsg.), Die Deutsche Wiedervereinigung, S. 60, zu § 95 StGB-DDR und Blumenwitz, DA 1992, 567 (574) und Renzikowski, NJ 1992, 152 (154) zu Art. 30 Verf. DDR. Vgl. zur Ablehnung dieser Auffassungen zutreffend Alexy, Mauerschützen, S. 11 f., 14 ff.; Rosenau, Tödliche Schüsse im staatlichen Auftrag, S. 158 ff. 381 Vgl. Küpper, JuS 1992, 723 (724); Roggemann, ZRP 1976, 243 (247); Wassermann, RuP 1992, 121 (124); Wilms / Ziemske, ZRP 1994, 170 (171 f.). Zur zutreffenden Kritik hiergegen vgl. Arnold / Kühl, JuS 1992, 991 (995); Rosenau, Tödliche Schüsse im staatlichen Auftrag, S. 104 ff. – jeweils m. w. N. Auch der BGH lehnt das Kriterium der Nichtvereinbarkeit mit dem bundesdeutschen ordre public ausdrücklich ab (BGHSt. 39, 1 (15) = NJ 1993, 88(89)). 382 Hruschka, JZ 1992, 665 (668); Bottke, in: Lampe (Hrsg.), Die Deutsche Wiedervereinigung, S. 206. 383 Lampe, ZStW 106 (1994), 683 (710 f.); Woesner, ZRP 1976, 248 (250). Siehe zu dieser Problematik mit anderer Auffassung Alexy, Mauerschützen, S. 32 ff. 384 Rosenau, Tödliche Schüsse im staatlichen Auftrag, S. 223 ff. 385 Eine ausführliche Behandlung dieser Themenkreise mit umfassenden Literaturnachweisen findet sich bei Rosenau, Tödliche Schüsse im staatlichen Auftrag, S. 75 ff. 386 Die folgende Darstellung greift den Naturrechtsgedanken in der Debatte auf und will nicht abschließend sein. Dabei beabsichtigt sie lediglich, die wesentlichen Äußerungen und Argumente exemplarisch aus den kaum mehr zu übersehenden Stellungnahmen herauszufiltern. Eine eingehendere Darstellung findet man bei Buchholz-Schuster, Rechtsphilosophische Legitimation der Rechtspraxis nach Systemwechseln, S. 139 ff., 178 ff., 215 ff., 259 ff., 290 ff.
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b) Rechtsethisch determinierte Legitimationsansätze Die von Brunner als herrschend eingeordnete387 Meinung argumentiert weitgehend auf dem Boden dem Gerechtigkeitsgefühl entspringender und dogmatisch schwer fassbarer naturrechtlicher und rechtsstaatstheoretischer Erwägungen. Diese Ansätze verfolgen den Zweck, eine mit dem Rückwirkungsverbot in Art. 103 Abs. 2 GG zu vereinbarende Bestrafung zu begründen. Wie in der rechtsethisch motivierten Begründungsschiene der Rechtsprechung stehen auch hier die „Grundgedanken der Gerechtigkeit und Menschlichkeit“388 bzw. die „elementare[n] Gebote der Gerechtigkeit“389 und der „Kernbereich“ des ungeschriebenen Rechts, „der von keinem Gesetz und keiner anderen obrigkeitlichen Maßnahme verletzt werden darf“390, im Vordergrund. Der Naturrechtsgedanke als Lösungsansatz für strafrechtliche Vergangenheitsbewältigung findet in der Tat großen Zuspruch in der Literatur.391 Ob insoweit noch immer von einer herrschenden Lehre gesprochen werden kann, erscheint allerdings vor dem Hintergrund der mit der Zeit gewachsenen Kritik an der Rechtspraxis als fraglich. Anfangs freilich waren kritische Stimmen eher selten. aa) Staatsrechtslehrertagung 1991 Aufschlussreich ist ein Querschnitt der Äußerungen während der Staatsrechtslehrertagung 1991 zum Thema der strafrechtlichen Behandlung der kommunistischen Systemkriminalität und damit zu dem, was Brunner als „schmerzlichstes Kapitel der Fortwirkungsproblematik“392 des DDR-Unrechts bezeichnet.393 Die 387 Brunner, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. IX, § 210 Rn. 42. Vgl. auch Odersky, Die Rolle des Strafrechts bei der Bewältigung politischen Unrechts, S. 15 und jeweils die weiteren Nachweise bei den hier zitierten und den im folgenden zitierten Verfassern. 388 BGHSt. 39, 1 (15); Papier, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. IX, § 213 Rn. 61. 389 BGHSt. 39, 168 (183); 40, 218 (232); 40, 241 (244); 41, 101 (105). 390 Odersky, Die Rolle des Strafrechts bei der Bewältigung politischen Unrechts, S. 15. 391 Vgl. Bracher, RuP 1991, 137 ff.; Odersky, Die Rolle des Strafrechts bei der Bewältigung politischen Unrechts, S. 14 ff.; Hassemer, JuS 1992, 162 (163); Klein, ZRP 1992, 208 (213); Hruschka, JZ 1992, 429 (436); Huhn, Mauerschützen, S. 21, 23 f.; Limbach, ZRP 1992, 170 (172); dslb., DtZ 1993, 66 (68 f.); Hilgendorf, PhR 1993, 1 (31 ff.); F. Herzog, NJ 1993, 1 (2); Maiwald, NJW 1993, 1881 (1888); Kinkel, JZ 1992, 485 (487); Spendel, RuP 1993, 61 (64 f.); R. Schröder, JuS 1994, 443 (446); Starck, JZ 1997, 147 (148 f.); Wassermann, RuP 1992, 121 (124 f., 204 ff.); ders.,NJW 1993, 895 (896); Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, S. 11; Naucke, Die strafjuristische Privilegierung staatsverstärkter Kriminalität; Papier, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. IX, § 213 Rn. 61 f.; Sprenger, NJ 1997, 3 (6 f.); Starck, JZ 1997, 147 (148 f.); Marxen / Werle, Die strafrechtliche Aufarbeitung von DDR-Unrecht; Buchholz-Schuster, Rechtsphilosophische Legitimation der Rechtspraxis nach Systemwechseln, S. 327 ff.; Lackner, Strafgesetzbuch, § 2 Rn. 16 a; Tröndle, in: Dreher / Tröndle, Strafgesetzbuch, Vor § 3, Rn. 52 ff.; Arnold / Karsten / Kreicker, NJ 2001, 561 (565 f.) – jeweils m. w. N. 392 Vgl. Brunner, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. IX, § 210 Rn. 42.
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These des Referats von Pieroth, der Strafbarkeit des Systemunrechts stehe das Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG entgegen,394 wurde auf der Grundlage naturrechtlicher und rechtsstaatstheoretischer Erwägungen überwiegend nicht akzeptiert.395 Die breite Ablehnung der These Pieroths basierte weitgehend auf den schon aus der Rechtsprechung bekannten Argumenten. Allerdings fand der von der Rechtsprechung in diesem Rahmen gar nicht bemühte Art. 20 Abs. 3 GG Eingang in die Diskussion. Die Debatte liefert einen guten Überblick über die Argumente, die für eine rechtsethisch motivierte Unrechtsaufarbeitung angeführt werden: Im Vordergrund stand die Radbruchsche Formel, auch wenn sie nicht immer beim Namen genannt wurde. So verwiesen Starck396, Häberle397 und Alexy398 ausdrücklich auf die Richtigkeit der Radbruchschen Formel, während Kriele399 und Maurer400 sie nur dem Inhalt nach wiedergaben. Es wurde wiederholt betont, dass der unerträgliche Widerspruch formal geltender DDR-Gesetze zu den wesentlichen Gerechtigkeitsprinzipien deren materielle Ungültigkeit zur Folge habe.401 Alexy brachte in der Diskussion die Radbruchsche Formel in direkten Zusammenhang mit dem grundgesetzlichen Rückwirkungsverbot.402 Seine These lautet, dass die Anwendung der Formel auf das Strafrecht der DDR auch im Blick auf Art. 103 Abs. 2 GG gerechtfertigt sei und nicht gegen den Grundsatz „nulla poena sine lege“ verstoße. Nach seinem Verständnis der Radbruchschen Formel403 komme es schon deshalb nicht zur Kollision mit dem durch Art. 103 Abs. 2 GG 393 Siehe insbesondere das Referat von Pieroth, VVDStRL 51 (1991), S. 102 ff., und die Diskussionsbeiträge, a. a. O., S. 116 ff. 394 Pieroth, VVDStRL 51 (1991), S. 102 ff.; siehe auch a. a. O., S. 144 ff. 395 Zustimmung lediglich durch H. Dreier, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 51 (1991), S. 137 f.; Herdegen, a. a. O., S. 139; Hoffmann-Riem, a. a. O., S. 122 f.; Isensee, a. a. O., S. 135 ff. und Streinz, a. a. O., S. 153). 396 Starck, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 51 (1991), S. 142. 397 Häberle, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 51 (1991), S. 119. 398 Alexy, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 51 (1991), S. 133. 399 Kriele, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 51 (1991), S. 132. 400 Maurer, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 51 (1991), S. 148. 401 Häberle, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 51 (1991), S. 119. 402 Alexy, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 51 (1991), S. 133. Vgl. auch Kriele, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 51 (1991), S. 131, der jedoch allgemeiner vom „nulla poena sine lege“ Grundsatz spricht (siehe hierzu Vogel, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 51 (1991), S. 146, der zurecht trennt zwischen der präzisen Aussage des Art. 103 Abs. 2 GG und dem „nulla-poena“-Satz als Bestandteil rechtsstaatlicher Mindestanforderungen). Wenn Kriele, a. a. O., S. 132, allerdings meint, Art. 315 n. F. EGStGB müsse „verfassungskonform“ ausgelegt werden, dann verkennt er, dass Art. 103 Abs. 2 GG Art. 315 n. F. EGStGB der verfassungskonformen Auslegung in seinem Sinne entzieht. 403 Nach Alexy ist die Radbruchsche Formel nicht schlichtes Naturrecht, sondern stützt sich lediglich auf dieses bzw. auf Vernunftrecht. Worin aber der Unterschied sein soll, wird von ihm nicht klargestellt. Siehe Alexy, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 51 (1991), S. 133.
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geschützten „rückwirkenden Vertrauen“, weil der Vertrauensschutz in die Formel mit der extrem hohen Schwelle evidenten und für jedermann ohne weiteres erkennbaren Unrechts als Maßstab für die Bewertung des positiven Rechts bereits eingebaut sei, zumal die Formel unter den Voraussetzungen eines die interpretative Praxis berücksichtigenden Rechtsbegriffs angewendet werden müsse.404 Außerdem schaffe die Radbruchsche Formel keinen neuen Straftatbestand und beseitige auch nicht die generellen, sondern lediglich besondere unrechtsspezifische Rechtfertigungsgründe. Das alles führt aber erst zu dem Problem, welches Alexy selber in der substantiellen Frage formulierte, was denn eigentlich von dem, was in der DDR geschehen sei, bloß ungerecht oder vielleicht sogar grob ungerecht gewesen sei und was dagegen extrem ungerecht und deshalb für jedermann von Anfang an als „evidentes Nichtrecht“ erkennbar gewesen sei, so dass die Sperre des Art. 103 Abs. 2 GG entfalle.405 Ähnlich wie in der späteren Rechtsprechung wurde in der Diskussion auf die internationalen Menschenrechtspakte und das Völkerrecht zurückgegriffen, zum Teil sogar als positiv geltendes innerstaatliches DDR-Recht. Allerdings wurden die internationalen Menschenrechte nicht als Konkretisierungskomponente zur Radbruchschen Formel herangezogen, sondern als verbindliches DDR-Recht verstanden. So verwies Quaritsch406 auf § 257 StGB-DDR (gemeint sind wohl §§ 91, 95, 258 StGB-DDR)407, worin er eine positivrechtliche Verankerung der Vorrangigkeit des Völkerrechts als Maßstab für militärische Befehlsausführungen sah. Außerdem griff er auf Art. 12 Abs. 2 IPBPR zurück und bewertete vor diesem Hintergrund den Straftatbestand der „Republikflucht“ wie auch die Verhinderung unerlaubten Verlassens der DDR durch Minenfelder, Selbstschussanlagen und Grenzsoldaten als klaren Verstoß gegen den als Völkerrecht und als innerstaatliches Recht geltenden Pakt. Klein408 verallgemeinerte die Problematik hingegen. Er wies darauf hin, dass eine strikt „isolierende Sicht“ der nationalen Rechtsordnungen angesichts der „internationalen Verflechtung“ der heutigen Staaten nicht zulässig sein könne. Vor dem Hintergrund, dass die nationalen Rechtsordnungen nicht völlig isoliert und abgekapselt seien, insbesondere aber auch angesichts der Erfahrung staatlichen Unrechts während der NS-Zeit seien die Deutschen nicht mehr im Stadium der Unschuld gewesen. Die maßgeblichen Organe der DDR seien sich daher bewusst gewesen, wie stark sie von elementaren Überzeugungen in der restlichen Welt außerhalb des kommunistischen Blocks abgewichen seien. 404 Alexy, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 51 (1991), S. 133. Der Vertrauensschutz als Bestandteil des Art. 103 Abs. 2 GG ist freilich äußerst fraglich. Dazu unten, S. 129 ff. 405 Alexy, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 51 (1991), S. 134. 406 Quaritsch, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 51 (1991), S. 128. 407 Vgl. zu deren Unanwendbarkeit zutreffend Alexy, Mauerschützen, S. 20 ff. und ebenda, Fn. 41. 408 E. Klein, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 51 (1991), S. 121.
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Im Übrigen gehe bei einer Befolgung der These Pieroths die ordnende Aufgabe des Rechtsstaats verloren. Auch das die Diskussion um die Frage „verfassungswidrige Verfassungsnormen?“ prägende Argument, der Verfassungsgeber sei nicht autonom, fand im Rahmen der Tagung seinen Niederschlag. Starck409 verwies darauf, dass der Machthaber nicht völlig frei in der Bestimmung des Rechts sei. Ähnlich war auch die Aussage Schachtschneiders410, der für eine Einheit von Moralität und Legalität plädierte und hieran die Legalität einer Herrschaft gemessen sehen wollte.411 Der naturrechtliche Einschlag lag auch dem elementaren Rechtsstaatsbegriff Starcks zugrunde, der, wie Alexy klarstellte, kein positivistischer Begriff sei, sondern vernunftrechtlich bzw. naturrechtlich geprägt.412 Auch die vorrechtsstaatlichen Menschenrechte, von denen Berg in seinem Referat sprach,413 seien naturrechtlich zu verstehen,414 auch wenn Berg seinen Ansatz in Art. 1 Abs. 2 GG verfassungsgesetzlich fundamentiert sah.415 Schließlich fand Art. 20 Abs. 3 GG Eingang in die Diskussion. Fiedler und Pitschas sahen die Lösung in der verfassungsgesetzlichen Formulierung „Gesetz und Recht“. Ist diese aber „die kleine() Antwort des Grundgesetzes auf ein totalitäres Regime“416 oder verweist sie – anders formuliert – auf den „ethischen und moralischen sozialen Gehalt“ des Rechts417, dann interpretiert man zwar übergesetzliche bzw. überpositive Vorstellungen in Art. 20 Abs. 3 GG hinein, stellt sie mithin quasi auf eine positivierte Grundlage, ändert jedoch nichts an der Übergesetzlichkeit bzw. Überpositivität dieser Vorstellungen. So will Fiedler denn auch der „materiellen Gerechtigkeit“ als einem Kriterium des Rechtsstaatsbegriffs über Art. 20 Abs. 3 GG, aber auch unter stärkerer Berücksichtigung internationalrechtlicher Standards eine das geschriebene Verfassungsrecht überwölbende Stellung beimessen.
Starck, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 51 (1991), S. 143. Schachtschneider, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 51 (1991), S. 152. 411 I. ü. verweist Schachtschneider darauf, dass die DDR-Bürger die ganze Zeit auch deutsche Staatsangehörige und insofern Träger der grundgesetzlichen Grundrechte gewesen seien. Damit schneidet er allerdings die hier nicht zu behandelnde und auch umstrittene Frage der Verfassungskontinuität an. 412 Alexy, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 51 (1991), S. 132. 413 Berg, VVDStRL 51 (1991), S. 46 ff. 414 Alexy, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 51 (1991), S. 133. 415 Berg, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 51 (1991), S. 146. 416 So Fiedler, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 51 (1991), S. 146. 417 So Pitschas, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 51 (1991), S. 150. 409 410
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bb) Naturrechtsgedanke und Radbruchsche Formel als generell akzeptierter Korrekturmaßstab strafrechtlicher Unrechtsaufarbeitung Anders als in der Rechtsprechung sind die Stimmen in der Lehre für eine rechtsethische Lösung im Rahmen der strafrechtlichen Unrechtsaufarbeitung wesentlich direkter und klarer. Die Ansätze sind allerdings meist wenig präzise und häufig von Zweckmäßigkeitserwägungen getragen. Auch wenn im Ergebnis die Rückwirkungsproblematik Auslöser dieser zweiten Naturrechtsrenaissance ist, so wird Art. 103 Abs. 2 GG erstaunlich oberflächlich behandelt. Die Argumente sind allzu oft generalisierend und werden häufig durch Schlagworte wie „Gerechtigkeit“, „Naturrecht“, „überpositives Recht“ gegen Einwände abgeschottet.418 Auch der Vorlage, die Art. 20 Abs. 3 GG mit der Forumlierung „Gesetz und Recht“ für rechtsethische Ansätze bietet, wird kaum Beachtung geschenkt; wenn doch, so wird lediglich auf die verfassungsrechtliche Verankerung des rechtsethischen Moments verwiesen.419 Eine ebenso untergeordnete Rolle spielt das Bekenntnis zu den „unverletztlichen und unveräußerlichen Menschenrechten“ in Art. 1 Abs. 2 GG, obwohl doch auch hier wie bei Art. 20 Abs. 3 GG eine grundsätzlichere Debatte zum Naturrecht zurückgegriffen und argumentiert werden könnte, dass deutschen Gerichten der Rückgriff auf überpositive Maßstäbe nicht verwehrt sei.420 Akzentuiert werden stattdessen die Gefahren einer Überbetonung des Rückwirkungsverbots für die „Glaubwürdigkeit“ des Rechtsstaats (Bracher). Rechtsphilosophisch und moralisch seien der Anerkennung der Gesetzlichkeit Grenzen gesetzt.421 Ähnlich äußert etwa sich Klein, der auf die aus den Nürnberger Prozessen gezogenen Lehren von der Existenz „unverfügbaren Rechts“ hinweist. Der Rechtsstaat dürfe sich nicht in einen Gegensatz zur „Gerechtigkeit“ bringen und über einen absolut gesetzten Positivismus in eine unheilige Allianz zum Unrechtsstaat geraten.422 R. Schröder fragt eher rethorisch nach den Konsequenzen eines naturrechtlichen „Befreiungsschlags“: „Ob der Schaden für den Rechtsstaat aber nicht viel größer ist, wenn das Bedürfnis nach Gerechtigkeit einer Generation von Opfern frustriert wird?“ Er verweist sodann auf die Möglichkeit, sich über die „allzu dünnen Rechtfertigungen mit Hilfe naturrechtlicher Erwägungen hinwegzusetzen“.423 Bertram sorgt sich um die Akzeptanz des Rechtsstaats, wenn das elementare und legitime Gerechtigkeitsbedürfnis der ostdeutschen Bevölkerung nicht befriedigt werde.424 Der Positivismus wird schon deshalb für unannehmbar gehalten, 418 Vgl. zu dieser Kritik „aus den eigenen Reihen“ Buchholz-Schuster, Rechtsphilosophische Legitimation der Rechtspraxis nach Systemwechseln, S. 175. 419 Vgl. etwa Dolzer, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd.VIII, § 195, Rn. 15, der allerdings von „nichtgesetztem vorstaatlichen Recht“ spricht. 420 Siehe hierzu unten, S. 163 ff. 421 Bracher, RuP 1991, 137 (138). 422 Klein, ZRP 1992, 208 (212 f.). 423 R. Schröder, JuS 1994, 443 (446). 424 Bertram, RuP 1993,95 (96).
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weil dies auf das Prinzip hinauslaufe: „Je pervertierter das staatliche System, desto strafloser bleiben dessen Protagonisten“425. Gesetzlichkeitsprinzip und Rückwirkungsverbot werden als „typisch juristisch-positivistisch in einem schlechten Sinne, als Triumph des Formalismus über eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Taten“426 bezeichnet. „Positivistisch motivierten“ Lösungen wird normative Sterilität im Kanon der Legitimationsangebote und eine gewisse Furcht vor Werten vorgeworfen, mit der Folge, dass unmoralische Exzesse des alten Systems akzeptiert würden.427 Wie in der Rechtsprechung wird mahnend an die „Erscheinung gesetzlichen Unrechts“ während der NS-Herrschaft erinnert und hieraus die Notwendigkeit überpositiver Maßstäbe für die Aufarbeitung von DDR-Unrecht legitimiert. So verweist etwa Wassermann auf die „Erfahrung, daß ein staatliches Gesetz wegen Widerspruchs gegen elementare, überpositive Rechtsgrundsätze nicht befolgt werden darf, weil es Unrecht ist . . . , eine Erfahrung, die man auch unter dem SED-Regime machen mußte“.428 Kritischere Stimmen, wie etwa die der damaligen Justizsenatorin und späteren Bundesverfassungsrichterin Limbach,429 verweisen auf den historischen Bezug der Radbruchschen Formel und die unvergleichbare Qualität von Unrecht. Dennoch sei die Frage nach der moralischen Qualität von Grenzen zu stellen und zu beantworten, auch wenn die Kernfrage nur schwer zu beantworten sei, wann Gesetze in so grobem Maße die Gerechtigkeit verfehlten, dass sie als Nicht-Recht beurteilt werden müssten. Die Formel Radbruchs stelle eben nur eine Erkenntnisaufgabe. Sie gebe keine Auskunft über das Resultat des von ihr eröffneten Abwägungsprozesses.430 Das hindert Limbach allerdings nicht daran, die Erlaubnis, Menschen notfalls zu erschießen, wenn deren Flucht mit anderen Mitteln nicht zu verhindern ist, als Verstoß gegen die rechtliche und sittliche Grundnorm „Du sollst nicht töten“ für rechtlich unbeachtlich zu halten.431 Meist wird allerdings in Anlehnung an die internationalen Menschenrechte argumentiert.432 Der die vorsätzlichen Tötungshandlungen an der innerdeutschen Grenze angeblich rechtfertigende § 27 Abs. 2 S. 1 des Grenzgesetzes der DDR 425 Maiwald, NJW 1993, 1881 (1888); vgl. auch Spendel, RuP 1993, 61 (64), der die Erfahrungen mit dem NS- und SED-Regime als Demonstration dafür sieht, dass der Rechtspositivismus in letzter Konsequenz unhaltbar sei. 426 F. Herzog, NJ 1993, 1 (2). 427 Buchholz-Schuster, Rechtsphilosophische Legitimation der Rechtspraxis nach Systemwechseln, S. 185. 428 Wassermann, RuP 1992, 121 (124). 429 Limbach, DtZ 1993, 66. 430 Limbach, DtZ 1993, 66 (68). 431 Limbach, DtZ 1993, 66 (69). 432 Vgl. etwa Papier, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. IX, § 213 Rn. 61 f.; Odersky, Die Rolle des Strafrechts bei der Bewältigung politischen Unrechts, S. 15 f. – jeweils m. w. N.
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habe jedenfalls in der durch die tatsächlichen Verhältnisse an der Grenze gekennzeichneten Auslegung und Anwendung von Anfang an keine rechtliche Wirksamkeit erlangt, weil sich darin ein offensichtlicher und grober Verstoß gegen die „Grundgedanken der Gerechtigkeit und Menschlichkeit“ manifestiere.433 Es werde gegen einen „Kernbereich“ ungeschriebenen Rechts verstoßen, „der von keinem Gesetz und von keiner anderen obrigkeitlichen Maßnahme verletzt werden“ dürfe, d. h. gegen das vorgegebene, auch dem staatlichen Gesetzgeber nicht zur Disposition stehende übergesetzliche Recht434. Insofern sei der Rückgriff auf die bei allen Kulturvölkern übereinstimmenden Grundanschauungen eine Erkenntnisquelle, insbesondere die Kundmachungen in internationalen Verträgen und Verlautbarungen.435 Scheinbare Gesetze seien deshalb von Anfang an wegen des Verstoßes gegen diesen Kernbereich unverrückbarer Rechtsnormen nichtig gewesen. Es gehe mithin nicht um eine Rückwirkung heutiger Maßstäbe.436 Zu Recht untermauere der Bundesgerichtshof, so Papier, diese Grundannahme mit dem Hinweis auf die Verletzung der in Art. 6 und 12 IPBPR verankerten Menschenrechte und liefere hiermit einen zulässigen und konkreten Maßstab.437 Wie sehr die Menschenrechte überpositiv verstanden werden, macht Wassermann438 deutlich. Es sei völlig unbeachtlich, dass das SED-Regime es unterlassen habe, den Pakt in innerstaatliches Recht umzusetzen, weil die in diesem Pakt aufgeführten Menschenrechte universal anerkannt seien. Wie es den Universalismus der Moral gebe, so gebe es auch, auf die elementaren Menschenrechte bezogen, einen Universalismus des Rechts. Universale, fundamentale Menschenrechte seien deshalb auch dann zu achten, wenn sie nicht in innerstaatliches Recht transformiert seien. Die selten eingehend behandelte Rückwirkungsproblematik wird wie in der Rechtsprechung über das in dieser Konkretisierung als evidentes Unrecht abgestempelte DDR-Recht schnell abgetan. Am pointiertesten beschreibt wohl Alexy das dahinter stehende methodische Argument: Mit der Radbruchschen Formel werde nicht rückwirkend die Rechtslage geändert, sondern nur festgestellt, wie im Zeitpunkt der Tat die Rechtslage tatsächlich gewesen sei. Natürlich bedeute dies unter dem Gesichtspunkt der Faktizität eine Änderung. Das aber sei gerade die ratio der Radbruchschen Formel. Sie identifiziere das Recht nicht mit der Faktizität des ordnungsgemäß Gesetzten und sozial Wirksamen, sondern setze dieser Faktizität an der Schwelle zum extremen Unrecht eine Grenze, indem sie den Rechtscharakter und die Rechtsgeltung dort entfallen lasse.439 Papier, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. IX, § 213 Rn. 61. Odersky, Die Rolle des Strafrechts bei der Bewältigung politischen Unrechts, S. 15. 435 Odersky, Die Rolle des Strafrechts bei der Bewältigung politischen Unrechts, S. 16. 436 Odersky, Die Rolle des Strafrechts bei der Bewältigung politischen Unrechts, S. 16. 437 Papier, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. IX, § 213 Rn. 62. 438 Wassermann, RuP 1992, 121 (124 f.). 439 Alexy, Mauerschützen, S. 33. Alexy attestiert der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu der „menschenrechtsfreundlichen“ Auslegung des DDR-Rechts eine „verdeckte Rückwirkung“, die schlimmer sei als eine offene. Die eigentliche Frage, ob die Anwendung 433 434
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Allerdings lässt Alexy in seiner wohl nachhaltigsten Auseinandersetzung zur Vereinbarkeit der Radbruchschen Formel mit Art. 103 Abs. 2 GG aus rechtsethischer Sicht die Methodik noch in einem anderen Licht erscheinen.440 Alexy unterscheidet zutreffend zwischen dem Verbot der Rückwirkung und dem Gebot der lex scripta (gesetzliche Bestimmtheit der Strafbarkeit). Die Zugrundelegung eines nichtpositivistischen Rechtsbegriffs alleine reiche eben noch nicht aus, eine verbotene Rückwirkung zu verneinen und die Vereinbarkeit der Radbruchschen Formel mit Art. 103 Abs. 2 GG festzustellen. Die Reichweite des lex-scripta-Gebots sei keine Frage des Rechtsbegriffs, sondern der „Abwägung gegenläufiger Prinzipien“. Letztlich seien es die fundamentalen Rechte der Opfer, die eine restriktive (!) Auslegung des ebenfalls fundamentalen Rechts der Täter aus Art. 103 Abs. 2 GG rechtfertigten.441 Alexy misst damit nicht die Anwendbarkeit der Radbruchschen Formel am Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG, sondern es wird im Gegenteil die Radbruchsche Formel für ihn zum Maßstab des Geltungsumfangs des Art. 103 Abs. 2 GG. Gegen eine „positivistische Interpretation“ des Art. 103 Abs. 2 GG wendet sich auch Huhn, allerdings unter anderen Vorzeichen, die in der Debatte Seltenheitswert haben.442 Er bemüht sich um den Nachweis einer verfassungsrechtlichen Verankerung rechtsethischer Maßstäbe in Art. 20 Abs. 3 GG. Mit dem Grundgesetz seien Sätze einer positivistischen Rechtsauffassung überwunden. Art. 20 Abs. 3 GG binde die Staatsgewalt an das Gesetz und gleichrangig ausdrücklich an das Recht. Damit aber bringe die Verfassung zum Ausdruck, dass es – „nach einer berühmtem Formulierung von Gustav Radbruch aus dem Jahre 1946“ – „gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht“ gebe.443 der Radbruchschen Formel gegen das Rückwirkungsverbot verstoße, werde von der Rechtsprechung umgangen. 440 Alexy, Mauerschützen, S. 30 ff. Genau genommen fragt Alexy danach, ob die Anwendung der Radbruchschen Formel „auf spezielle Rechtfertigungsgründe eines Unrechtsregimes“ gegen das Rückwirkungsverbot verstößt (Mauerschützen, S. 30). Dieser Frage liegt die Problematik zugrunde, inwiefern die Differenz zwischen Tatbestand und Rechtfertigungsgrund für sich allein genommen es rechtfertigen können, spezielle Rechtfertigungsgründe, die extremes Unrecht erlauben, vom Schutz des Art. 103 Abs. 2 GG auszuschließen. Alexys erkennt allerdings im Ergebnis in der Differenzierung zwischen Tatbestand und Rechtfertigungsgrund kein ausreichendes Argument für eine entsprechende Rechtfertigung (a. a. O., S. 32 ff.). Die in diesem Zusammenhang häufig zitierten Ausführungen von Schroeder, JZ 1992, 990 ff., plädieren im Übrigen nicht für eine restriktive Auslegung des Art. 103 Abs. 2 GG anhand fundamentaler, überpositiv gedachter Rechte der Opfer, vgl. a. a. O., S. 991. Schroeder zudem 1999 auf den Widerspruch hin, den Grundsatz „nulla poena sine lege“ auf den Verstoß gegen überpositives Recht zu reduzieren, da er ja ein Menschenrecht (Art. 7 EMRK, Art. 15 IPBR) sei und insofern selbst „überpositiv“, NJW 1999, 89 (91). 441 Alexy, Mauerschützen, S. 35. 442 Huhn, Mauerschützen, S. 21 443 Huhn, Mauerschützen, S. 23 f. Vgl. auch etwa Kaufmann, in: FS für Gagnér, S. 105 (113), zur Naturrechtsrenaissance der ersten Nachkriegsjahre.
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Die Kürze, mit welcher gerade verfassungsgesetzliche Bedenken in der Diskussion meist abgehandelt werden, irritiert auch hinsichtlich des wohl grundlegendsten Problems überpositiver Begründungsmuster im Rahmen einer positivierten Rechtsordnung, bei der Frage nämlich nach der Vereinbarkeit der Radbruchschen Formel mit dem verfassungsgesetzlich verankerten Demokratieprinzip und damit letztlich dem Gewaltenteilungsgrundsatz. Alexy begegnet Bedenken in diesem Punkt mit dem lapidaren Verweis „auf die der Formel immanente Beschränkung auf Fälle extremer Ungerechtigkeit“444. Der Demokratie – bzw. Gewaltenteilungseinwand verliere seine Kraft, wenn berücksichtigt werde, dass der nichtpositivistische Rechtsbegriff nur bei extremen Ungerechtigkeiten deren Rechtscharakter entfallen lasse.445 Die verfassungsgerichtliche Kontrolle von Grundrechtsverletzungen in demokratischen Verfassungsstaaten, so fährt Alexy fort, gehe inhaltlich weit über diesen Kernbereich des extremen Unrechts hinaus. Wer gegen Radbruch mit dem Demokratie- oder Gewaltenteilungseinwand argumentiere, müsse deshalb eigentlich jede gerichtliche Kontrolle der Bindung des Gesetzgebers an Grundrechte ablehnen.446 Dass die Grundrechte aber durch ihre Positivierung einer ganz anderen Grammatik folgen, wird ausgeblendet.
cc) Gesetzliches Unrecht oder unrichtiges Recht? Die rechtsethisch motivierte Literatur ist sich in ihrem Bekenntnis zur Radbruchschen Formel und zu überpositiven Korrekturmaßstäben im Kontext der DDR-Unrechtsaufarbeitung einig, nicht jedoch in der Qualifizierung des realsozialisischen Systemunrechts als gesetzliches Unrecht. Die Stimmen, die zwar die Anwendung der Radbruchschen Formel durchaus als legitime Problemlösung anerkennen, in den in Frage stehenden Fällen jedoch kein „gesetzliches Unrecht“ zu erkennen vermögen, sind nicht zu übersehen. Das gilt nicht nur für die auch in der Rechtsprechung häufig uneinheitlich beurteilte Rechtsbeugungsfrage, sondern – ganz im Gegensatz zu der überwiegend einheitlichen Rechtsprechung – auch für die Mauerschützenfälle. (1) Mauerschützen So wird durch einen Teil der Literatur zu der Mauerschützenfrage zwar die grundsätzliche oder mindestens sinngemäße Anwendbarkeit der Radbruchschen Formel im Rahmen der Unrechtsaufarbeitung nicht in Frage gestellt, eine Einordnung der in Frage stehenden Regelungen der DDR als gesetzliches Unrecht im Sinne Radbruchs aber abgelehnt.447 In dieser Beurteilung der Mauerschüt444 Buchholz-Schuster, Rechtsphilosophische Legitimation der Rechtspraxis nach Systemwechseln, S. 136. 445 Alexy, in: FS für Valdés, S. 85 (103 f.). 446 Alexy, in: FS für Valdés, S. 85 (104).
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zenfälle sind abweichende Stimmen aus dem rechtsphilosophischen Lager jedoch selten. Ott und Zimmermann verweisen dazu auf den historischen Kontext der Radbruchschen Formel und lehnen die Konkretisierung der Formel durch Völkerrecht ab. Die naturrechtlich abgeleitete Radbruchsche Formel beziehe ihre Rechtfertigung aus der Evidenz und der Ungeheuerlichkeit nationalsozialistischer Verbrechen, deren Attribute für das Grenzregime der DDR fehlten.448 Das einerseits begrüßenswerte Bekenntnis des Bundesgerichtshofs zur prinzipiellen Legitimation naturrechtlicher Entkräftung von Erlaubnissätzen im Sinne der Radbruchschen Formel auch in den Mauerschützen-Urteilen habe der Bundesgerichtshof andererseits selber als „nicht einfach“ bezeichnet. Eine positiv-rechtliche Ersetzung der naturrechtlichen Grundsätze durch Völkerrecht könnten die vom Bundesgerichtshof herangezogenen Normen aus strukturellen Gründen nicht leisten.449 Dabei wird insbesondere auf die fehlende Transformierung des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte in innerstaatliches Recht der DDR verwiesen. Polakiewicz und R. Dreier argumentieren eng am Wortlaut der einschlägigen Normen des DDR-Rechts. Dreier spricht der isoliert betrachteten „Norm ein Mindestmaß an ethischer Rechtfertigungsfähigkeit“ zu.450 Die „soziale Praxis“ habe sich von der rechtlich geltenden Norm so weit abgelöst, dass sie dieser juristisch nicht mehr zugeordnet werden könne. Auch Polakiewicz ist der Auffassung, dass der Widerspruch der dem Schießbefehl zugrunde liegenden Normativakte zur Gerechtigkeit nicht jenes unerträgliche Maß erreicht habe, dass sie als unrichtiges Recht der Gerechtigkeit zu weichen hätten.451 Die Grausamkeit des Sterbens habe sich vielmehr aus dem politischen System ergeben. (2) Rechtsbeugung Die weitaus schwierigere Problematik der Rechtsbeugung führt die Verfechter des Naturrechtsgedankens meist zu der Frage nach der Wirksamkeit des § 213 DDR-StGB (Verbrechen des „ungesetzlichen Grenzübertritts“). Die Qualifikation dieser Norm als gesetzliches Unrecht und damit nichtige Vorschrift wird im Gegensatz zu der Diskussion um § 27 GrenzG der DDR allerdings kaum vertreten. Vielmehr ist insoweit in der Literatur wie auch in der Rechtsprechung eine deutliche Zurückhaltung zu erkennen, wenn es um eindeutige Aussagen geht.452 Der 447 Vgl. R. Dreier, ZG 1993, 300 (311); Ott, NJ 1993, 337 (338 f.); Polakiewicz, EuGRZ 1992, 177 (190); Zimmermann, NJ 1994, 589 (590). 448 Ott, NJ 1993, 337 (338 f.); Zimmermann, NJ 1994, 589 (590). 449 Ott, NJ 1993, 337 (338 f.); Zimmermann, NJ 1994, 589 (590). 450 R. Dreier, in: FS für Kaufmann, S. 57 (66 f.). 451 Polakiewicz, EuGRZ 1992, 177 (189). 452 Vgl. die eingehende Zusammenstellung bei Buchholz-Schuster, Rechtsphilosophische Legitimation der Rechtspraxis nach Systemwechseln, S. 272 ff., 290 ff.
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schwerwiegende Verstoß gegen den Grundgedanken der Gerechtigkeit wird vielmehr in der Verhängung extrem unverhältnismäßiger Freiheitsstrafen gesehen.453 Als symptomatisch kann die folgende Äußerung Saligers behandelt werden: „Während es bei der ,Mauerschützenthematik‘ um die kumulative Verletzung zweier Menschenrechte geht, des Menschenrechts auf Ausreisefreiheit und des Menschenrechts auf Leben, betrifft § 213-DDR StGB allein die Ausreisefreiheit. . . . Aufgrund der Unrechtsdivergenz drängt sich die Nichtigkeit von § 213 DDR-StGB im Hinblick auf eine Kernbereichsverletzung . . . zumindest nicht mit der gleichen Intensität auf wie die Nichtigkeit von § 27 DDR-Grenzgesetz.“454
c) Grenzen rechtsstaatlicher Vergangenheitsbewältigung – die „positivistischen“ Gegenthesen Die rechtsethisch motivierte Unrechtsaufarbeitung stößt auf immer breitere Ablehnung einer naturrechts-kritischen und „positivistisch geprägten“455 Literatur.456 Sie wird im Kern für unvereinbar mit dem Rückwirkungsverbot in Gestalt seiner Vgl. etwa Schroeder, GA 1993, 389 (404 f.). Saliger, Radbruchsche Formel und Rechtsstaat, S. 48. Vgl. auch Rautenberg / Burges, DtZ 1993, 71 (74 f.), die es für höchst zweifelhaft halten, ob formell gültige Strafgesetzvorschriften überhaupt als nichtig angesehen werden können. Arnold / Kühl, JuS 1992, 991 (995) lehnen eine Nichtigkeit ausdrücklich ab; vgl. auch Arnold, JuS 1997, 400 (402). 455 Isensee, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. IX, § 202 Rn. 163, warnt indessen davor, das Insitieren auf dem positiven Strafgesetz in Zusammenahng mit Rechtspositivismus zu bringen (so aber etwa Rüthers, Der Staat hat immer Recht?, in: Die Welt vom 10. 10. 1991; Hruschka, JZ 1992, 665). Es gehe nicht um eine Ideologie, welche die Existenz eines vorund überstaatlichen Rechts und die rechtspraktische Relevanz der Gerechtigkeit leugne, sonder allein um die Reichweite einer Formvorschrift des Grundgesetzes. Vgl. ders., in: Vergangenheitsbewältigung durch Recht, S. 91 (107). Ob man die deutlichen Vorbehalte gegen überpositive Korrektive oder gar deren strikte Ablehnung im Rahmen der Unrechtsaufarbeitung nun dem Rechtspositivismus zuordnen will oder nicht, spielt aber keine Rolle. Entscheidend ist vielmehr die Gemeinsamkeit der Auffassungen in der Einsicht, dass, wie Isensee selber formuliert, die „verschleierte Naturrechtsjustiz“ mit den „Formkautelen des Rechtsstaats, also mit dem Grundgesetz, unvereinbar ist“ (Vergangenheitsbewältigung durch Recht, S. 91 (107). 456 Vgl. bspw. Dencker, KritV 73 (1990), 299 ff.; Pieroth, VVDStRL 51 (1991), S. 91 ff.; Grünwald, StV 1991, 31 ff.; Arnold / Kühl, JuS 1992, 991 ff.; Laskowski, JA 1992, 151 ff.; Lüderssen, Der Staat geht unter – das Unrecht bleibt?; Leutheusser-Schnarrenberger, ZRP1993, 417 ff.; Jakobs, in: Isensee (Hrsg.), Vergangenheitsbewältigung durch Recht, S. 37 ff.; ders., GA 1994, 1 ff.; Pawlik, GA 1994, 472 ff.; Schlink, NJ 1994, 433 ff.; Dannecker / Stoffers, JZ 1996, 490 ff.; Albrecht, NJ 1997, 1 f.; Ambos, JA 1997, 983 ff.; Arnold, JuS 1997, 400 ff.; ders., NJ 1997, 115 ff.; H. Dreier, JZ 1997, 421 ff.; Werle, ZStW 109 (1997), 808 ff.; F. Wolff, NJ 1997, 505 f.; Joerden, GA 1997, 201 ff.; ders., Der Rechtsstaat ist nicht gefällig, in: F.A.Z. v. 21. 02. 2000, S. 10; Roggemann, NJ 1997, 226 ff.; Classen, GA 1998, 215 ff.; Schroeder, NJW 1999, 89 ff.; Seidel, Rechtsphilosophische Aspekte der „Mauerschützen“-Prozesse, S. 257 ff., 264; Ogorek, KritV 83 (2000), 323 ff.; Kunig, in: v. Münch / Kunig, Bd. III, Art. 103, Rn. 34, Stichwort: Mauerschützen; Maunz / Dürig-Herdegen, Art. 1 Abs. 1 GG, Rn. 17 – jeweils m. w. N. 453 454
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grundgesetzlichen Positivierung gehalten. Eine mögliche rechtsstaatliche Lösung des Konflikts wird meist nur in einer einschränkenden verfassungsgesetzlichen Regelung gesehen.457 Die Vorbehalte gegen überpositive Korrektive und rechtsphilosophische Gedankengänge entspringen dabei einem betont formalen Rechtsstaatsverständnis, welches dem Rückwirkungsverbot überragende Bedeutung zuspricht.458 Art. 103 Abs. 2 GG steht damit im Mittelpunkt der Diskussion. Die Radbruchsche Formel, ihre Konkretisierung durch die Menschenrechtspakte und die menschenrechtsfreundliche Auslegung des Altrechts bilden dabei meist deren Anknüpfungspunkt. In der vorwiegend auf das Rückwirkungsverbot fixierten Debatte finden sich vereinzelt auch grundsätzlichere Bedenken, die allerdings leider nur angetippt werden. So verweist etwa Dreier auf grundsätzliche Anwendungsprobleme des Naturrechts, und zwar auf dessen Unbestimmtheit und das missliche Resultat einer recht unsicheren naturrechtlichen Strafbarkeit durch die Anwendung der Radbruchschen Formel.459 Leutheusser-Schnarrenberger bedenkt, dass der Rechtsstaat um seiner Legitimität Willen seine selbst auferlegten Grenzen beachten müsse.460 Und Lüderssen wendet sich gegen einen Rückgriff auf überpositive Korrektive, da dies undemokratisch sei: „Die von Radbruch damals sehr wirkungsmächtig . . . vorgetragene Relativierung des nullum crimen sine lege-Grundsatzes ist auf das Deutschland nach dem Beitritt der DDR nicht übertagbar. Es fehlt der interationalrechtliche Bezug. Der Einigungsvertrag ist . . . das Ergebnis eines demokratisch legitimierten Prozesses. . . . Und dies nicht wahrhaben zu wollen – unter Berufung auf höhere Rechtsgrundsätze – wäre undemokratisch; kein leicht zu nehmenderVorwurf.“461
Die möglichen verfassungsgesetzlichen Anknüpfungspunkte für überpositives Recht in Art. 1 Abs. 2 und 20 Abs. 3 GG werden, soweit sie überhaupt Beachtung finden,462 scheinbar losgelöst von der eigentlich stattfindenden Debatte um die Wege zur Vergangenheitsbewältigung diskutiert. So finden sich in der einschlägigen Kommentierung und Literatur viel häufiger generell gehaltene Verweise auf 457 Vgl. Dannecker / Stoffers, JZ 1996, 490 (494); Dencker, KritV 73 (1990), 299 (306 f.); H. Dreier, JZ 1997, 421 (432 ff.); Günther, StV 1993, 18 (23 f.); Isensee, in: ders. (Hrsg.), Vergangenheitsbewältigung durch Recht, S. 91 (107); Schlink, NJ 1994, 433 (437). 458 Vgl. Buchholz-Schuster, Rechtsphilosophische Legitimation der Rechtspraxis nach Systemwechseln, S. 154. 459 So auch Jakobs, in: Isensee (Hrsg.), Vergangenheitsbewältigung durch Recht, S. 37 (45 f.). 460 Leutheusser-Schnarrenberger, ZRP 1993, 417. 461 Lüderssen, Der Staat geht unter – das Unrecht bleibt?, S. 116. 462 Positivbeispiele etwa bei H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG Bd. I, Art. 1 II Rn. 12 und Vorb. Rn. 69; AK-Frankenberg, Art. 20 Abs. 1 – 3 IV Rn. 25; Badura, Staatsrecht, D 58, S. 326; Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, S. 492; Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, S. 90 ff.; Maunz / Dürig-Herdegen, Art. 1 Abs. 1 GG, Rn. 17 Vgl. hierzu insbesondere die gesonderte Darstellung des Meinungsstreits zu Art. 20 Abs. 3 GG, unten, S. 163 ff. und zu Art. 1 Abs. 1 GG, unten, S. 154 ff.
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die wieder aufgelebte rechtspraktische Relevanz möglicher überpositiver Bindungen durch die Rezeption der Radbruchschen Formel im Kontext der Unrechtsaufarbeitung,463 als dass die Kerndiskussion zur Unrechtsaufarbeitung Art. 1 Abs. 2 und 20 Abs. 3 GG aufgreift. Die Frage nach der Zulässigkeit eines überpositiven Maßstabs für die Judikative findet in der neueren Literatur und speziell in den Kommentierungen zu den Normenkontrollvorschriften generell nur vereinzelt Beachtung, und zwar entweder im etwas „antiquierten“ Kontext zu den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts aus dem ersten und dritten Band, ohne dass neue Argumente geliefert werden,464 oder aber allgemeiner im Rahmen von Art. 20 Abs. 3 GG465. Es entsteht somit der Eindruck, dass Art. 103 Abs. 2 GG für die Kerndiskussion den Blick auf grundlegendere Probleme des Naturrechts mit den verfassungsgesetzlichen Strukturentscheidungen verstellt. aa) Rückwirkungsverbot Die Kritik knüpft an dem rückwirkenden Effekt der Radbruchschen Formel und dessen Unvereinbarkeit mit dem Grundsatz strikter Positivität für das Strafrecht an, für den auch der Einigungsvertrag keine Ausnahme enthält oder enthalten kann. (1) Wertende Rückprojektion Am pointiertesten kritisiert wohl Dreier die Methodik der Radbruchschen Formel. Sie bewirke eine Neuordnung des Rechtssystems zu Gunsten einer imaginären, aber zu Lasten der realen Normativität bzw. der faktischen Geltung, und zwar auf offen naturrechtlicher Grundlage.466 Werde aus Unrecht im Sinne eines wertwidrigen Rechts in extremen Fällen Nichtrecht, so entstehe durch eine „wertende Rückprojektion“ erst eine Normenordnung, „die so niemals als eine effektive, wirksame, befolgte und durchgesetzte Rechtsordnung in Kraft stand“.467 Dazu verVgl. vorangehende Fußnote. Vgl. Klein, in: Benda / Klein, Verfassungsprozeßrecht, Rn. 734 a. E.; Rozek, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu, BVerfGG, § 76 (2001), Rn. 64; Lechner / Zuck, BVerfGG, vor § 76, Rn. 18; Benda, in: HdBVerfR, Teil 1, § 17, Rn. 27 ff.; Heyde, in: HdBVerfR, Teil 2, § 33, Rn. 93 f. 465 Vgl. hierzu im Einzelnen die unten, S. 163 ff., dargestellte Diskussion um die Auslegung der Formel „Gesetz und Recht“ in Art. 20 Abs. 3 GG. 466 H. Dreier, JZ 1997, 421 (431, Fn. 125 m. w. N.). Vgl. insbes. Schulz, in: Der Universalitätsanspruch des demokratischen Rechtsstaats (= ARSP-Beiheft 65), S. 173 (188 f.); vgl. auch Lippold, Rechtstheorie 19 (1988), 463 (483). Bereits 1971 stellt Grünwald, Zur Kritik und Lehre vom überpositiven Recht, S. 14 f., die nachträgliche Leugnung der Rechtseigenschaft bestimmter Teile einer Rechtsordnung am Maßstab von Normen des überpositiven Rechts in Frage; vgl. ders. nun in StV 1991, 31 (36). Ähnlich auch bspw. Lippold, Rechtstheorie 19 (1988), 463 (483). 467 H. Dreier, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 51 (1991), S. 137. 463 464
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weist er auf Grünwalds Kritik der Lehre vom überpositiven Recht von 1971, wonach eine derartige punktuelle Betrachtung einzelner Gesetze bewirke, dass für jeden Staat zu jeder Zeit festgestellt werden könne, dass in ihm eine intakte Rechtsordnung gelte oder gegolten habe – eine Rechtsordnung bestehend aus den jeweiligen staatlichen Gesetzen, korrigiert durch die Normen des überpositiven Rechts.468 Zum positiven Recht unserer unrechtsstaatlichen Vergangenheit gehörten aber auch der „Führerbefehl“ und die Schießbefehle an der innerdeutschen Grenze, wie Jakobs betont. Die fehlende Strafbarkeit der Systemkriminalität sei systemimmanenter Bestandteil der „faktisch gelebten Verfassung“469 beider Unrechtsstaaten gewesen, eben „Unrecht des Staates“470 und nicht bloß Unrecht im Staat. Der Staat sei nur dort zu finden, wo er im Großen und Ganzen wirksam sei, d. h. auch praktiziert werde.471 Nur ein „vom realen Leben abgekoppelter Normativismus“472 könne die Rechtswirksamkeit der systemimmanenten Kriminalität leugnen. Rosenau spricht von einer „imaginären Normativität“ durch die Missachtung der „realen Normativität“ und der Faktizität der gelebten Unrechtsordnung.473 Die Kritiker der Rechtsprechung verweisen dabei auch auf die fehlende Transformation völkerrechtlicher Verpflichtungen in innerstaatliches Recht der DDR. Der Rückgriff der Rechtsprechung auf die Grundsätze des internationalen Menschenrechtsschutzes als Konkretisierungskomponente überpositiv angelegter Maßstäbe oder aber als rechtlich verbindliche Postulate für das geltende DDR-Recht sei nicht hilfreich. Eine völkervertragsrechtliche Verpflichtung zur Umsetzung des Vertragsinhaltes in nationales Recht genüge nicht, um den Garantien des Art. 103 Abs. 2 GG zu entsprechen.474 Die „menschenrechtsfreundliche Auslegung“ bzw. „richtige“ Auslegung des DDR-Rechts ignoriere zudem, wie immer wieder hervorgehoben wird, die rechtlichen und tatsächlichen Verhältnisse der damaligen DDR.475 Die gesamte Argumentation auf einer derartigen Grundlage sei im ErgebGrünwald, Zur Kritik der Lehre vom überpositiven Recht, S. 14. Jakobs, in: Vergangenheitsbewältigung durch Recht, S. 37 (44). 470 Pawlik, GA 1994, 472 (476, 478), Bezug nehmend auf Jakobs, GA 1994, 1 ff.; ders., in: Isensee (Hrsg.), Vergangenheitsbewältigung durch Recht, S. 37 (44); Vgl. H. Dreier, JZ 1997, 421 (431). 471 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 215 ff.; Jakobs, in: Isensee (Hrsg.), Vergangenheitsbewältigung durch Recht, S. 37 (44). 472 Jakobs, in: Isensee (Hrsg.), Vergangenheitsbewältigung durch Recht, S. 37 (44). 473 Rosenau, Tödliche Schüsse im staatlichen Auftrag, S. 197 ff. (206 f.). Rosenau differenziert a. a. O. danach, ob Art. 103 Abs. 2 GG in der Formulierung, dass „die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde“, an die Faktizität der geltenden Rechtsordnung oder aber an die Normativität anknüpfen will. Vgl. auch etwa Dencker, KritV 73 (1990), 299 (305); Isensee, in: ders. (Hrsg.), Vergangenheitsbewältigung durch Recht, S. 91 (106); Laskowski, JA 1994, 151 (158). 474 Dannecker / Stoffers, JZ 1996, 490 (492); H. Dreier, JZ 1997, 421 (425 m. w. N.). 475 Brunner, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. IX, § 210 Rn. 42 f.; Dannecker / Stoffers, JZ 1996, 490 (492); H. Dreier, JZ 1997, 421 (); Isensee, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. IX, § 202 Rn. 160; Pawlik, GA 1994, 472 (474). 468 469
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nis nichts anderes als ein Ausweichmanöver gegenüber dem Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG.476 So bemerkt Schlink: Das „Recht, das hier gepflegt wird, ist seinerseits nicht durch allgemeine Geltung in der Wirklichkeit gekennzeichnet, sondern wird in den nachträglichen Entscheidungen, wie es hätte anerkannt und praktiziert werden müssen, erst Stück um Stück konstituiert“.477 In der wertenden Rückprojektion auf naturrechtlicher Basis wird der Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot festgemacht. Das Formerfordernis des Art. 103 Abs. 2 GG als Schranke für die Strafgewalt werde in der strafgerichtlichen Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen wie auch dem realsozialistischen Systemunrecht nur scheinbar respektiert. Die am Ort und zur Zeit des Tat geltende Strafvorschrift werde zwar angewendet, „jedoch aus ihrem raumzeitlichen Kontext gelöst, durch die unhistorische Interpretationsbrille der rechtsstaatlichen Gegenwart betrachtet und wie eine hier und heute geltende Strafvorschrift behandelt [ . . . ], so daß sie ihrer Substanz nach mutiert von einer Norm totalitärstaatlicher zu einer Norm rechtsstaatlicher Implikationen und Voraussetzungen. Die Textidentität der Norm wird gewahrt, dem Nulla-poena-Satz nominell genüge getan, die ratio dieser ,Magna Charta des Verbrechers‘ jedoch mißachtet“478. Art. 103 Abs. 2 GG verlange eine positivrechtliche Strafbarkeit, während die Tat begangen wurde. (2) Art. 103 Abs. 2 GG – Absolutheit und strikte Formalisierung Diese Auffassungen entspringen einem streng formalen Verständnis des grundgesetzlich verfassten Rückwirkungsverbots. Hiernach unterliegt Art. 103 Abs. 2 GG dem Grundsatz strikter Positivität. Aus diesem Verständnis heraus wird die Bestrafung der rechtstotalitären und linkstotalitären Systemkriminalität im Wege der Radbruchschen Formel oder naturrechtlicher Begründungen als Verstoß gegen geltendes Verfassungsrecht gewertet.479 Die „richtige Interpretation“ bzw. die „menschenrechtsfreundliche Auslegung“ des DDR-Rechts werden für ebenso verfassungswidrig gehalten wie ein angeblicher Rechtsstaats- und DemokratievorH. Dreier, JZ 1997, 421 (424 ff.). Schlink, NJ 1994, 433 (435). 478 Isensee, in: Vergangenheitsbewältigung durch Recht, S. 91 ff. (106); Hervorhebung nicht im Original; vgl. ders., in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. IX, § 202 Rn. 160 f. 479 Vgl. Brunner, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. IX, § 210 Rn. 44; Classen, GA 1998, 215; Dannecker, Das intertemporale Strafrecht, S. 249 ff., 267 ff.; Dannecker / Stoffers, JZ 1996, 490 (494); Dencker, KritV 73 (1990), 299 (304 ff.); H. Dreier, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 51 (1991), S. 137; ders., JZ 1997, 421 (431 ff.); Günther, StV 1993, 18 (23 f.); Isensee, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 51 (1991), S. 136; ders., in: Vergangenheitsbewältigung durch Recht, S. 91 (105 f., 107); ders., in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. IX, § 202 Rn. 160 ff., 164; Jakobs, in: Isensee (Hrsg.), Vergangenheitsbewältigung durch Recht, S. 37 (43 ff.); ders., Strafrecht Allgemeiner Teil, 4. Abschn., Rn. 9 Fn. 23 a. E.; Pieroth, VVDStRL 51 (1991), S. 91 (103 f.); Schlink, NJ 1994, 433 (437); Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig, Art. 103 Abs. 2 GG, Rn. 184; Schünemann, Nulla poena sine lege?, S. 26; Werle, NJW 1992, 2532 (2535) – jeweils m. w. N. 476 477
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behalt des Art. 103 Abs. 2 GG. Ratio des Gesetzlichkeitsprinzips, enstehungsgeschichtlicher Hintergrund und rechtsvergleichende Verweise zu völkerrechtlichen Normen belegen dabei die formal-rechtsstaatliche Interpretation. Art. 103 Abs. 2 GG sei eine der wenigen Bestimmungen des Grundgesetzes, deren Wortlaut so klar sei, dass sie einer Relativierung eigentlich nicht zugänglich sei.480 Die naturrechtliche Idee der Gerechtigkeit breche sich auf dem Felde des Strafrechts an den Formerfordernissen des Nulla-poena-Grundrechts, bedingt durch dessen Absolutheitsanspruch und strikte Formalisierung:481 Insbesondere die Einschränkung des „Vertrauensschutztatbestands“ des Art. 103 Abs. 2 GG über einen angeblichen Rechtsstaats- und Demokratievorbehalt482 wird scharf angegeriffen. Der Konnex zwischen Rückwirkungsverbot und demokratischer Gesetzgebung entspreche nicht der Genese des nulla-poena-Grundsatzes, die in eine vordemokratische Verfassungsperiode zurückführe.483 Die verfassungsgerichtliche Interpretation leugne die vordemokratischen Wurzeln des Rückwirkungsverbotes und zerstöre seinen historischen Kontext, seine rechtsstaatliche, keinesfalls aber demokratische ratio.484 Dreier weist zudem darauf hin, dass Art. 103 Abs. 2 GG der „Rechtssicherheit“ uneingeschränkten Vorrang vor der „Gerechtigkeit“ nicht aus formaljuristischen Gesichtspunkten gewähre, sondern als eine gerade an der Gerechtigkeitsidee orientierte und notwendige Bedingung rechtsstaatlichen Strafens.485 Die rechtsstaatliche Entscheidung für das Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG als „strikt-formal“ dürfe daher nicht unter Berufung auf „Gerechtigkeit“ als Maxime das Rechtsstaatsprinzip zurechtgestutzt werden. Art. 103 Abs. 2 GG enthalte bereits die Lösung des Konflikts zwischen Gerechtigkeit und Rechtssicherheit, nicht erst dessen Formulierung. Dannecker / Stoffers erinnern daran, dass Art. 103 Abs. 2 GG ein Freiheitsrecht verkörpere. Das Gesetzlichkeitsprinzip ziehe eine strenge Grenze zwischen der Freiheit des Bürgers und der Staatsgewalt, deren Notwendigkeit sich vor dem Hintergrund des besonders scharfen Mittels des strafrechtlichen Eingriffs in die Frei480 Classen, GA 1998, 215; Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig, Art. 103 Abs. 2 GG, Rn. 184; Dannecker, Das intertemporale Strafrecht, S. 249 ff., 267 ff. 481 Isensee, in: Vergangenheitsbewältigung durch Recht, S. 91 (105 f.). 482 Vgl. BVerfGE 95, 96 (130 ff., 132 f.); Werle, ZStW 109 (1997), 808 (826 f.); Kaufmann, NJW 1995, 81 (84 f.); siehe hierzu bereits oben, S. 104. 483 Isensee, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. IX, § 202 Rn. 162. Die in dem Mauerschützenbeschluss des Bundesverfassungsgerichts ausgesprochene These, das Rückwirkungsverbot finde seine rechtsstaatliche Rechtfertigung in der besonderen Vertrauensgrundlage, welche die Gesetze eines demokratischen und an die Grundrechte gebundenen Gesetzgebers trage, bezeichnet H. Dreier, JZ 1997, 421 (432), sogar als eine „schlichte Erfindung des Gerichts“. 484 H. Dreier, JZ 1997, 421 (432); Isensee, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. IX, § 202 Rn. 162; a.A. Kenntner, RuP 1997, 170 ff., der darauf hinweist, dass der rechtsgeschichtliche Zweck und Sinn des nulla-poena-Grundsatzes eine Anwendung des Rückwirkungsverbotes auf Staatsverbrechen ausschließe. 485 H. Dreier, JZ 1997, 421 (432).
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heit des Menschen erschließe.486 Auch Isensee unterstreicht diesen Aspekt und stellt ihn ausdrücklich als Schranke überpositiver Gerechtigkeitsbelange dar: Das Erfordernis der Formalität erweise sich zwar als Hemmnis bei der Durchsetzung von überpositiven wie positivrechtlichen Gerechtigkeitsbelangen, aber als Schutzwall individueller Freiheit.487 Schlink betont darüber hinaus einen doppelten rechtsdogmatischen Zusammenhang zwischen Rückwirkungsverbot und Rechtsstaat.488 Vor dem Hintergrund des allgemeinen, auf Art. 20 Abs. 3 GG zurückzuführenden Schutzes gegen rückwirkendes Staatshandeln folgert er in überzeugender Weise die Unbedingtheit des Rückwirkungsverbots in Art. 103 Abs. 2 GG. Schlink erinnert daran, dass der generelle Schutz vor rückwirkendem Staatshandeln auf das Vertrauen des Bürgers abstellt, differenziert nach echter und unechter Rückwirkung, nach mehr oder weniger schutzwürdigem Vertrauen und nur gelegentlich zu einem Rückwirkungsverbot erstarkt.489 Vor dem Hintergrund dieses „bedingten Rückwirkungsverbots“490 kristallisiere sich aber das Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG in seiner klaren Formulierung als ein „unbedingtes“491 heraus. Tatsächlich bedürfte es doch ansonsten gar keines des Art. 103 Abs. 2 GG, entpuppte sich dieser lediglich als bedingtes Rückwirkungsverbot. Das Verständnis des Art. 103 Abs. 2 als bedingtes Rückwirkungsverbot stufe diesen immanent rechtsstaatlichen und nicht ohne Grund verfassungsgesetzlich verankerten Grundsatz auf eine lediglich deklaratorische Verfassungsnorm herunter. Auf den tatsächlichen Grad der Schutzwürdigkeit des Vertrauens abzustellen, sei dem unbedingten Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG mithin absolut fremd.492 Schließlich deckt Schlink die Widersprüchlichkeit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auf. In anderem Zusammenhang nehme das Bundesverfassungsgericht Art. 103 Abs. 2 GG selber ausdrücklich von den an den Vertrauensschutz anknüpfenden Einschränkungen des allgemeinen Rückwirkungsverbots aus.493 Darüber hinaus wird allseits in Erinnerung gerufen, dass der deutsche pouvoir constituant bewusst von der Durchbrechung des lex-scripta-Erfordernisses durch einen Vorbehalt zugunsten elementarer naturrechtlicher Strafnormen, auf welche die Nürnberger Prozesse zurückgegriffen hätten, abgesehen habe.494 Art. 103 Dannecker / Stoffers, JZ 1996, 490 (492). Isensee, in: Vergangenheitsbewältigung durch Recht, S. 91 (106). 488 Schlink, NJ 1994, 433 (436). 489 Schlink, NJ 1994, 433 (436), mit Verweis zum allgemeinen Rückwirkungsverbot auf Pieroth, Rückwirkung und Übergangsrecht. 490 Schlink, NJ 1994, 433 (436). 491 Schlink, NJ 1994, 433 (436). 492 Schlink, NJ 1994, 433 (436). 493 BVerfGE 25, 269 (289, 291); vgl. Schlink, NJ 1994, 433 (436). 494 Isensee, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. IX, § 202 Rn. 164; Dannecker / Stoffers, JZ 1996, 490 (491 f.); H. Dreier, JZ 1997, 421 (432); Schlink, NJ 1994, 433 (436); Schünemann, Nulla poena sine lege?, S. 26 – jeweils m. w. N. 486 487
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Abs. 2 GG sei in Kenntnis des hieraus entstehenden Problems formuliert worden.495 Der Verfassungsgesetzgeber habe das Problem in Kauf genommen und eindeutig zugunsten der Rechtssicherheit entschieden. Hierzu wird insbesondere der Vergleich mit internationalen Texten angeführt. Es wird darauf hingewiesen, dass Art. 11 Abs. 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte aus dem Jahre 1946, Art. 7 der Europäischen Menschenrechtskonvention aus dem Jahre 1950 sowie Art. 15 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte insoweit großzügiger gefasst und zur Begründung der Strafbarkeit neben dem nationalen auch internationales Recht zulassen. Insbesondere Art. 15 Abs. 2 IPBPR und Art. 7 Abs. 2 EMRK ließen eine Durchbrechung des Grundsatzes nulla poena sine lege i. S. d. Nürnbergklausel zu. Art. 7 Abs. 2 EMRK lautet: „Durch diesen Artikel darf die Verurteilung oder Bestrafung einer Person nicht ausgeschlossen werden, die sich einer Handlung oder Unterlassung schuldig gemacht hat, welche im Zeitpunkt ihrer Begehung nach den allgemeinen von den zivilisierten Völkern anerkannten Rechtsgrundsätzen strafbar war.“496
Eine Ratifizierung der Europäischen Menschenrechtskonvention durch die Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1952 ist aber in der Tat, wie etwa Isensee betont, nur unter dem in Bezug auf Art. 7 Abs. 2 EMRK gemachten Vorbehalt erfolgt, dass auf jeden Fall die Grenzen des Art. 103 Abs. 2 GG gewahrt sein müssten.497 Sogar Arnold stellt klar, dass der formale absolute Gehalt des Rückwirkungsverbotes sich nicht unabhängig von dem Vorbehalt zu Art. 7 Abs. 2 EMRK betrachten lasse.498 (3) Einigungsvertrag und Rückwirkungsverbot499 Eine Ausnahme vom Rückwirkungsverbot ist auch nicht im Einigungsvertrag zu finden und sie würde freilich einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG darstellen.500 Das Rückwirkungsverbot hat über Art. 315 Abs. 1 EGStGB im Einigungs495 Classen, GA 1998, 215 (217, 220). Die Argumentation, die Classen, a. a. O., S. 217, allerdings aus der Systematik des Grundgesetzes anführt, Art. 20 Abs. 3 GG differenziere vor dem Hintergrund des Problems des staatlichen Unrechts ausdrücklich zwischen „Gesetz“ und „Recht“, Art. 103 Abs. 2 GG beschränke sich hingegen bewusst auf den Begriff des Gesetzes (ähnlich Arnold / Karsten / Kreicker, NJ 2001, 561 (562)), fällt eigentümlich knapp aus. Zu fragen wäre doch zumindest, warum man nicht Art. 103 Abs. 2 GG verfassungsimmanent im Lichte des unter der „Ewigkeitsgarantie“ des Art. 79 Abs. 3 GG stehenden Art. 20 Abs. 3 GG auszulegen hat. 496 Diese Bestimmung ist zwar entstehungsgeschichtlich auf die Kriegsverbrecherprozesse der Nachkriegszeit gemünzt gewesen, doch ist es inzwischen allgemein anerkannt, dass sie auch heute noch zum Tragen kommt, wie Classen, GA 1998, 215 (218 m. w. N.) klarstellt. 497 BGBl. II 1954, S. 14. Vgl. Isensee, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. IX, § 202 Rn. 164. 498 Arnold, JuS 1997, 400 (402). 499 Die Überschrift findet sich so bei Arnold, JuS 1997, 400 (403). 500 Hätte man den Schutz des Rückwirkungsverbots hinsichtlich bestimmter DDR-Alttaten einschränken wollen, hätte dies im Einigungsvertrag geregelt werden müssen und ein verfas-
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vertrag seinen Ausdruck gefunden. Art. 315 Abs. 1 EGStGB formuliert vereinbar mit Art. 103 Abs. 2 GG den zwingenden Verweis auf § 2 StGB und damit insbesondere auch auf das Meistbegünstigungsprinzip in § 2 Abs. 3 StGB. Die Strafbarkeit der so genannten Systemkriminalität richtet sich nach dem Recht der DDR, wenn der Günstigkeitsvergleich zu dem Ergebnis führt, dass die Taten, beispielsweise die Todesschüsse an der innerdeutschen Grenze, nach diesem Recht nicht strafbar waren. So verweist Arnold darauf, dass Handlungen, die in der DDR nicht strafbar waren, nach dem Meistbegünstigungsgrundsatz des § 2 Abs. 3 StGB auch heute nicht strafrechtlich verfolgt werden könnten.501 Einer rückwirkenden Strafbarkeitsbegründung ist auch im Einigungsvertrag verfassungskonform der Boden entzogen. bb) Anwendungsprobleme des Naturrechts Von besonderem Interesse sollten neben der Rückwirkungsproblematik die im Kontext der DDR-Unrechtsaufarbeitung weitaus weniger beachteten „Anwendungsprobleme des Naturrechts“ sein, auf die insbesondere H. Dreier ausdrücklich verweist.502 Noch vor der Erörterung der Rückwirkungsproblematik wirft H. Dreier wesentlich grundsätzlichere Fragen zur Strafbarkeit der Mauerschützen bei Anwendung der Radbruchschen Formel auf, nämlich die Fragen nach der Strafbarkeit kraft Naturrechts und nach der Bestimmtheit des Naturrechts. (1) Strafbarkeit kraft Naturrechts? Am Beispiel der Mauerschützen greift H. Dreier die nicht nur bereits von Jakobs im Kontext des NS-Unrechts gestellte Frage nach einer übergesetzlichen oder naturrechtlichen Strafbarkeit auf.503 H. Dreier macht zu Recht darauf aufmerksam, dass es der wesentliche Charakterzug der Radbruchschen Formel sei, lediglich einzelne Normen zu verwerfen, das normative Umfeld dieser Normen aber unberührt zu lassen. So führe dies im Fall der Mauerschützen dazu, dass § 27 Abs. 2 GrenzG als Rechtfertigungsgrund wegfalle und das strafbare Delikt, der Totschlag, zurückbleibe. Dies bringe es mit sich, dass eigentlich das Naturrecht die Strafbarkeit der Mauerschützen begründe. Diese hier nicht weiter zu erörtende Problemstellung504 veranschaulicht die wenig beachteten Konsequenzen rechtsethischer Legitimation nicht nur für positisungsänderndes Gesetz erlassen werden müssen, wie bspw. Ambos, JA 1997, 983 (988) klarstellt. 501 Arnold, NJ 1997, 115. 502 H. Dreier, JZ 1997, 421 (428 ff.). 503 H. Dreier, JZ 1997, 421 (428 m. w. N., insbes. Fn. 94 ff.); Jakobs, in: Isensee (Hrsg.), Vergangenheitsbewältigung durch Recht, S. 37 (45 f.); ders., GA 1994, 1 (10 ff.); vgl. auch Grünwald, Zur Kritik der Lehre vom überpositiven Recht, S. 11. 504 Hierzu bereits Coing, SJZ 1947, Sp 61 (63 f.).
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vierte Rechtsordnungen. Sie legt Konsequenzen offen, die sogar dem Naturrecht fremd sind.505 (2) Bestimmtheit des Naturrechts? Dreier zeigt sich außerdem angesichts der inhaltlichen Weite, Vielfalt und Unbestimmtheit des Naturrechts erstaunt über die Wertungssicherheit der Gerichte.506 Zu Recht weist er auf die letztlich bis zur Gegensätzlichkeit reichende Palette unterschiedlicher naturrechtlicher Positionen hin, auf das in vielen Spielarten existierende antike, auf das aufklärerische oder auch auf das katholische Naturrecht.507 Radbruch selbst löste das Problem nicht, sondern – so Dreier – brachte es zum Ausdruck, wenn er sich auf die „jahrtausendealte gemeinsame Weisheit der Antike, des christlichen Mittelalters und der Aufklärung“508 berief.509 Auch wenn man das Naturrecht des 20. Jahrhunderts im Wesentlichen als Menschenrechtsnaturrecht bezeichne und die Menschenrechtserklärungen als dessen authentische Interpretation begreife, so umfasse ein entsprechender weltweiter Konsens doch immer nur die Garantieebene. Zeitlich und örtlich höchst variable nationale Traditionen und Eigenarten politischer Systeme wie auch Art und Gewicht staatlicher Interessen bestimmten immer noch Bedingungen und Intensität der Gewährleistungen. Alle diese Wertungs- und Konkretisierungsprobleme würden den Bundesgerichtshof aber nicht anfechten. Dieser stelle schließlich schlicht auf vermeintliche „Evidenzerlebnisse“ ab.510 505 Dreier verweist darauf, dass sich in keinem neuzeitlichen System eine naturrechtliche Begründung für die Strafbarkeit desjenigen findet, der den sittenwidrigen Gesetzen Folge leistet; H. Dreier, JZ 1997, 421 (428, m.w. N. in Fn. 95 – 97). Zudem möchte Dreier den der Radbruchschen Formel immanenten Satz „Naturrecht bricht positives Recht“ hinterfragt wissen. Unter Verweis auf „neuere Forschungen“ lasse sich nachweisen, dass für das neuzeitliche Naturrecht des 17. und 18. Jahrhunderts einschließlich des jüngeren Naturrechts ein derartiger Geltungsvorrang mit unmittelbar geltender rechtsgestaltender Wirkung jener Zeit fremd gewesen sei – vgl. H. Dreier, JZ 1997, 421 (429) mit Verweis auf Arbeiten von Klippel und J. Schröder. Ob das tatsächlich der Fall ist, mag dahin gestellt bleiben. Klippel, Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts, S. 190 f., verweist jedenfalls auch darauf, dass das jüngere Naturrecht seinen Anspruch auf absolute Geltung gegenüber dem positiven Recht machte und auch auf unmittelbare Wirkung in der jurisitischen Praxis zielte. 506 Vgl. hierzu etwa auch Amelung, JuS 1993, 637 (640). 507 Vgl. Amelung, JuS 1993, 637 (640), der auf die Vielzahl von Naturrechtssystemen hinweist, wie bspw. das katholische und das aufklärerische, der Sache nach auch ein islamisches und ein marxistisches, aus welchen alleine schon in unserem Kulturkreis nicht nur die Menschenwürde und die Auswanderungsfreiheit (Kant), sondern bspw. auch die Todesstrafe (Kant) abgeleitet worden sind. 508 Radbruch, Erneuerungen des Rechts, in: Naturrecht oder Rechtspositivismus?, S. 1 ff. (2). 509 H. Dreier, JZ 1997, 421 (429). 510 H. Dreier, JZ 1997, 421 (429 ff.); vgl. auch Ogorek, KritV 83 (2000), 323 (331).
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Hinsichtlich der angeblichen Offenkundigkeit des Unrechts verweisen viele auf die unerträglichen Ergebnis- und Begründungsdifferenzen zwischen den Mauerschützenurteilen einerseits und den Rechtsbeugungsurteilen andererseits. Es zeige sich eine Tendenz, Rechtsbeugungsvorwürfe gegen ehemalige DDR-Richter eher zu verneinen.511 Die Unbestimmtheit des Naturrechts gerät in Konflikt mit dem in Art. 103 Abs. 2 GG enthaltenen Bestimmtheitsgebot.512 Insoweit leistet auch die vom Bundesgerichtshof vorgenommene und vom Bundesverfassungsgericht abgesegnete Konkretisierung der Radbruchschen Formel, was die „Evidenz“ angeht, keine Abhilfe. Unterstellt man, dass die Menschenrechte auf Leben und Ausreise als Konkretisierung der Radbruchschen Formel geeignet sind, die Rechtfertigungsgründe des DDR-Rechts für unanwendbar zu erklären, dann sei – so meint Krajewski – zu fragen, ob dann die DDR mit ihren Grenzregelungen überhaupt gegen die Menschenrechte aus Art. 6 und 12 IPBPR verstoßen habe.513 Die Art. 6 und 12 IPBPR würden nämlich nicht vorbehaltlos gelten, ein Verstoß durch die Grenzregelungen der DDR sei mithin nicht so eindeutig feststellbar, nicht so „evident“ wie die Rechtsprechung meine. Art. 6 IPBPR verbiete nur eine willkürliche Beraubung des Lebens und Art. 12 IPBPR stelle die Ausreisefreiheit ausdrücklich unter den Vorbehalt der Gesetze zum Schutz der öffentlichen Ordnung. Die Auslegung dieser Tatbestandsmerkmale sei in der Völkergemeinschaft durchaus umstritten und nur wenige Länder der Welt würden ein uneingeschränktes Ausreiserecht ihrer Bürger anerkennen.514 Die in dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte enthaltenen humanitären Rechte stellten, wie bereits erwähnt, kein völkerrechtliches ius cogens dar.515 Entscheidende Anstöße kommen aus den Diskussionsbeiträgen zur Staatsrechtslehrertagung von 1991. Hier schließt sich der Kreis. Die Evidenzformel, so stellte Streinz in Anspielung auf Radbruch fest, zwänge zur Auseinandersetzung mit der Frage, was „evident“ sei und gerade auch für den Täter habe evident sein müssen.516 Und Herdegen fragte schließlich in Anspielung auf Alexy zu Recht: Wer soll denn nun der authentische Interpret der Evidenz sein?517 Damit werden die beiden Kernfragen der Normverwerfungsproblematik angesprochen, die nach der 511 Lüderssen, JZ 1997, 525 (530 ff.); H. Dreier, JZ 1997, 421 (431); Schroeder, DRiZ 1996, 81 (88); Peschel-Gutzeit, F.A.Z. v. 18. Juni 1996, S. 11 f.; Homann, KritJ 29 (1996), 494 (499 f.); Köhler, Strafrecht AT, S. 111 Fn. 122. 512 Vgl. etwa Ambos, JA 1997, 983 (985). 513 Krajewski, JZ 1997, 1054 (1055). 514 Arnold / Kühl, JuS 1992, 991 (995) mit Verweis auf die UNO-Dokumentation UN Doc. E / CN 4 Sub 2 / L 234 N.69 129; Krajewski, JZ 1997, 1054 (1055); Polakiewicz, EuGRZ 1992, 177 (182 ff.); vgl. bereits oben, S. 84; zweifelnd bspw. auch Ambos, JA 1997, 983 (985) – jeweils m. w. N. 515 Arnold / Kühl, JuS 1992, 991 (995); vgl. bereits oben, S. 84. 516 Streinz, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 51 (1991), S. 153. 517 Herdegen, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 51 (1991), S. 139.
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Evidenz und die nach der Kompetenz. Evidenz und Kompetenz sind eng miteinander verknüpft, ist doch insbesondere die fehlende materielle Evidenz ein entscheidendes Argument für die Monopolisierung der Verwerfungskompetenz beim Bundesverfassungsgericht. d) Zusammenfassung Ebenso wie in der Rechtsprechung zeigt sich der naturrechtliche Ansatz auch in der Literatur unreflektiert gegenüber grundsätzlichen Strukturentscheidungen des Grundgesetzes. Fokussiert wird hier wie dort die sich aufdrängende Rückwirkungsfrage – freilich Auslöser der aus rechtsethischer Sicht notwendigen „zweiten Naturrechtsrenaissance“. Die Projizierung der Radbruchschen Formel in den Kontext der Aufarbeitung realsozialistischen Unrechts wird zwar kritisch angemahnt. Dennoch erinnert vieles an die Evidenzerlebnisse der Rechtsprechung. Es zeigt sich, dass die völkerrechtliche Konkretisierung überpositiver Maßstäbe nicht über die Wertungsschwierigkeiten hinweghilft, weder bei der Mauerschützenfrage noch bei der schwierigeren Rechtsbeugungsfrage. In der Tat erstaunen daher die auch in der rechtsethisch motivierten Literatur umstrittenen Wertungsevidenzen. Zudem verwundert die weit verbreitete Blindheit gegenüber der Tatsache, dass die angeblich „in der Völkergemeinschaft allgemein anerkannten Menschenrechte“ in Wahrheit lediglich auf einem „westlichen Individualismus“ beruhen, nicht aber auf einem weltweiten Konsens.518 Bekenntnisse scheinen an die Stelle von Erkenntnissen zu treten.519 Art. 1 und 20 Abs. 3 GG, die Positivierung grundlegender Gerechtigkeitswerte, der Vorrang der Verfassung und des Gesetzes, die Konstituierung der Verfassungsgerichtsbarkeit, die Normenkontrolle sowie die Geseztesbindung der Judikative werden weitgehend ignoriert. Demokratie- und Gewaltenteilungsprinzip werden, soweit überhaupt als Problem gesehen, mit der Ausnahmeerscheinung des extremen Unrechts abgetan. Und die Rückwirkungsproblematik wird im Wege der Radbruchschen Formel nur scheinbar gelöst. Über Art. 103 Abs. 2 GG hilft eine Abwägung von Gerechtigkeit und Rechtssicherheit ebenso wenig hinweg wie eine Abwägung der Rechte des Opfers gegen die Rechte des Täters. Das lex-scripta-Erfordernis bleibt jedenfalls auf der Strecke: „der normativen Verschrottung einstiger Legalitätsaussagen fällt notwendigerweise auch deren faktische Gesetzesform zum Opfer“520. Die rechtsethisch motivierte Unrechtsaufarbeitung scheint somit weitgehend durch Zweckmäßigkeitserwägungen521 und Ergebnisorientierung522 bestimmt zu Ogorek, KritV 83 (2000), 323 (331); vgl. Amelung, NStZ 1995, 29 (30). Vgl. Sprenger, NJ 1997, 1 (6), mit Verweis auf die entsprechende Aussage Radbruchs. 520 Vgl. Buchholz-Schuster, Rechtsphilosophische Legitimation der Rechtspraxis nach Systemwechseln, S. 328. 521 Vgl. Buchholz-Schuster, Rechtsphilosophische Legitimation der Rechtspraxis nach Systemwechseln, S. 138. 518 519
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C. Bundesgerichtliche Rechtsprechung und Literatur
sein. „Glaubwürdigkeit“ und „Akzeptanz“ des Rechtsstaats sollen durch den offenbaren Triumph der Gerechtigkeit über das Unrecht bedient werden und rechtfertigen einen „geringen Schaden für den Rechtsstaat“. Auch die naturrechtskritische Literatur konzentriert sich weitgehend auf Art. 103 Abs. 2 GG. Den rechtsethischen Ansätzen wird ein streng formales Verständnis des grundesetzlichen Rückwirkungsverbots entgegengehalten. Die wertende Rückprojektion der Radbruchschen Formel wird als mit der strikten Formalisierung und dem Absolutheitsanspruch von Art. 103 Abs. 2 GG für unvereinbar erklärt. Auch hier werden die internationalen Menschenrechte als Schützenhilfe herangezogen, freilich nicht als Konkretisierung, sondern als Abgrenzung in Form von Art. 7 Abs. 2 EMRK. Verweise auf grundlegendere Probleme des Naturrechts, auf Art. 1 und 20 Abs. 3 GG oder etwa Andeutungen zur Kompetenzfrage sind wohltuende Ausnahmen. Die Fixierung der gesamten „Nachwendedebatte“ auf das Rückwirkungsverbot spart grundsätzliche Probleme des Bekenntnisses zu überpositiven Bindungen in der verfassten Rechtsordnung des Grundgesetzes aus. Das hat sicherlich auch etwas damit zu tun, dass überpositiv verstandene Rechtsgrundsätze als Prüfungsmaßstab lediglich für fortwirkendes Alt- bzw. Fremdrecht herangezogen werden. Prüfungsgegenstand ist zunächst nicht das Grundgesetz, sondern das DDR-Unrecht bzw. das NS-Unrecht. So verwundert es auch kaum, dass die Naturrechtsrenaissance die Diskussion weniger bei der strafrechtlichen Unrechtsaufarbeitung, sondern eher im Kontext des Gleichberechtigungsurteils und der Frage „verfassungswidrigen Verfassungsrechts“ belebte, die Diskussion nämlich um die Grenzen richterlicher Prüfungs- und Verwerfungskompetenz, umd die Stellung des Richters zum Gesetz, um das Demokratieprinzip und die Gewaltenteilung. Es darf aber nicht verkannt werden, dass Art. 103 Abs. 2 GG – einfach gesetzlich konkretisiert in § 2 StGB und Art. 315 Abs. 1 EGStGB – die demokratische Fortwirkungsanordnung und damit den demokratischen Anwendungsbefehl für das Alt- bzw. Fremdrecht enthält. Insofern handelt es sich um Verfassungskollisionsrecht. Die Frage nach dem Prüfungsgegenstand täuscht allzu schnell darüber hinweg, dass die Anerkennung überpositiven Rechts als bindender Prüfungsmaßstab keinen Halt vor der eigenen Rechtsordnung macht. Wie es Schlink formuliert, trifft das „naturrechtliche Argument . . . nicht nur das ehemalige, das DDR- oder auch das nationalsozialistische Recht, sondern gefährdet das gegenwärtig geltende Rückwirkungsverbot selbst. Dass das ehemalige Recht nur nach Maßgabe seiner Vereinbarkeit mit dem Naturrecht gilt, ist ja, ohne dass sich im Ergebnis etwas ändert, dahin zu übersetzen, dass das 522 Ogorek, KritV 83 (2000), 323 (339, 340 f.) stellt dies besonders überzeugend heraus. Sie weist darauf hin, dass es kaum anzunehmen sei, dass den Richtern am Bundesverfassungsgericht die Schwachstelle ihrer Argumentation nicht bekannt gewesen sei: „Vielmehr ist davon auszugehen, dass sie um das Dilemma wussten, das darin bestand, entweder die Strafaussprüche lege artis für verfassungswidrig zu erklären und damit die Rechtserwartungen der ganz überwiegenden Bevölkerung zu verfehlen oder einen fundamentalen rechtsstaatlichen Grundsatz preiszugeben“ (a. a. O., S. 340).
IV. Haltung der Gesetzgebung zum überpositiven Recht
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Rückwirkungsverbot nur nach Maßgabe der Vereinbarkeit seiner Konsequenzen mit dem Naturrecht gilt“.523
So kann man auch mit Dannecker / Stoffers zu der Überzeugung gelangen, dass über die Radbruchsche Verwerfung faktisch geltender Unrechtsnormen Art. 103 Abs. 2 GG nicht verfassungsimmanent, sondern überpositiv „eingeschränkt“ wird.524 Die Erregung in der naturrechtskritischen Lehre über die Gefährdung des Rückwirkungsverbots zeigt also nicht nur, auf welch brüchigem Boden sich rechtsphilosophische Legitimationen in einem besonders im Strafrecht durch formale Kautelen ausgezeichneten Rechtsstaat bewegen; sie verdeutlicht auch, wie rasch ein Bekenntnis zur „Unverfügbarkeit von Recht“ bei der Aufarbeitung fortwirkenden „fremden“ Rechts zu einer überpositiven Korrektur der eigenen Rechtsordnung führt, in anderen Worten: wie ungeeignet der Anknüpfungspunkt überpositiver Einschnitte ist und wie gefährlich überposotive Korrekturversuche sind.
IV. Haltung der Gesetzgebung zum überpositiven Recht Schließlich sei noch ein Blick auf die Gesetzgebung gerichtet, welche sich wiederholt einer Anerkennung überpositiven Rechts versperrt hat:525 Seidel macht darauf aufmerksam, dass sich bereits der Normgeber der Besatzungszeit bei seinem Umgang mit rassisch, religiös oder politisch diskriminierenden Gesetzen aus der nationalsozialistischen Zeit nicht von der Radbruchschen Idee eines überpositiven Rechts hat leiten lassen.526 Es ist zutreffend, dass sich das KRG Nr. 1527 eine konstitutive Bedeutung zumaß, indem es „ausdrücklich“ eine Reihe von „Gesetzen politischer Natur oder Ausnahmegesetzen“ des Dritten Reichs ex nunc aufhob. Deutlicher noch ist die Regelung des § 1 Abs. 2 VO Nr. 165 aus dem Jahr 1948, der es den Verwaltungsgerichten untersagte, eine gesetzliche Vorschrift darum nicht anzuwenden, „weil sie nach ihrer Ansicht der Billigkeit oder übergesetzlichen Grundsätzen widerspricht“528. Schlink, NJ 1994, 433 (436). So auch Dannecker / Stoffers, JZ 1996, 490 (494). Das BVerfG spricht i. ü. selber ausdrücklich von „Einschränkungen des absoluten Rückwirkungsverbots“ (BVerfGE 95, 96 (132)). Das grundgesetzlich formulierte Rückwirkungsverbot verbietet jegliche Einschränkungen. Vgl. dazu eingehend bereits oben, S. 131 ff. 525 Vgl. Seidel, Rechtsphilosophische Aspekte der „Mauerschützen“-Prozesse, S. 262 ff. 526 Seidel, Rechtsphilosophische Aspekte der „Mauerschützen“-Prozesse, S. 262 f. 527 KRG Nr. 1 v. 20. 09. 1945, Aufhebung von Nazi-Gesetzen, Amtsblatt der Militärregierung Deutschland, Britisches Kontrollgebiet, S. 34. 528 VO Nr. 165, Verwaltungsgerichtsbarkeit in der britischen Zone, Verordnungsblatt für die britische Zone 1948, S. 263. 523 524
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C. Bundesgerichtliche Rechtsprechung und Literatur
Entscheidender dürften freilich die Beschlüsse der gegenwärtigen gesetzgebenden Gewalt sein. Hier verweist Seidel zutreffend auf zwei Regelungen, nämlich auf Art. 116 Abs. 2 GG und auf das Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege (NS-AufhG): Die differenzierte Regelung des Art. 116 Abs. 2 GG wäre in der Tat überflüssig gewesen, wenn der Verfassungsgesetzgeber das übergesetzliche, sprich überpositive Recht Radbruchs ohne weiteres hätte anerkennen wollen.529 Zudem bringt Art. 116 Abs. 2 S. 2 GG zum Ausdruck, dass es auf jeden Fall eines Rechtsakts bedarf, um einen im Dritten Reich Ausgebürgerten wieder einzubürgern. Hier wird ganz deutlich, dass der Verfassungsgesetzgeber von der faktischen Rechtswirksamkeit der Ausbürgerung im Dritten Reich ausging.530 Besondere Aufmerksamkeit verdient schließlich das Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege – der jüngste Umgang der Legislative mit der Rechtssetzung des Dritten Reichs. Seidels Hinweis, dieser bestätige den Befund, dass der Gesetzgeber sich gegen die Anerkennung übergesetzlichen Rechts sperre, verdient uneingeschränkt Zustimmung: Der Gesetzgeber geht gerade nicht von einer ipso iure eintretenden „Unwirksamkeit gesetzesvollziehender Entscheidungen auf der Grundlage des nach Radbruch stets nichtigen ,gesetzlichen Unrechts‘ aus“531, wenn er in § 1 S. 1 NS-AufhG532 bestimmt, dass „verurteilende strafgerichtliche Entscheidungen, die unter Verstoß gegen elementare Gedanken der Gerechtigkeit nach dem 30. Januar 1933 zur Durchsetzung oder Aufrechterhaltung des nationalsozialistischen Unrechtsregimes aus politischen, militärischen, rassischen, religiösen oder weltanschaulichen Gründen ergangen sind, aufgehoben“ werden; wären die gemeinten gesetzesvollziehenden Entscheidungen im Sinne der Radbruchschen Formel ohnehin unwirksam, hätte es ihrer ausdrücklichen Aufhebung aus rechtlicher Sicht nicht bedurft.
V. Analyse und Kritik – Das Naturrechtsproblem: Rechtserkenntnis als Kompetenzfrage Es ist dem Naturecht immanent, dass es sich über jede Rechtsordnung stellt. Das Problem dabei ist aber, dass der Gehalt des Naturrechts nicht evident ist. So lehrt die Geschichte des Naturrechts, dass es fast nichts gibt, das nicht im Namen des Naturrechts begründet oder widerlegt worden wäre.533 Gerade das NS-Unrecht 529 Anders freilich das BVerfG, E 23, 98 (108 f.); vgl. Seidel, Rechtsphilosophische Aspekte der „Mauerschützen“-Prozesse, S. 263. 530 Seidel, Rechtsphilosophische Aspekte der „Mauerschützen“-Prozesse, S. 263; Makarov, JZ 1968, 559 (561). 531 Seidel, Rechtsphilosophische Aspekte der „Mauerschützen“-Prozesse, S. 263. 532 BGBl. 1998 I, S. 2501. 533 Wiethölter, Rechtswissenschaft, S. 43.
V. Analyse und Kritik
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und die Radbruchsche Formel bezeugen dies: während dort auch mit „Naturrecht“ abscheulichstes Unrecht gerechtfertigt wurde, wird hier mit Naturrecht genau dieses widerlegt. Das „Naturgesetz“ des Naturrechts ist sein Zirkelschlusscharakter.534 „Die Natur ergibt, was sie vorher empfangen hat, ,ihr‘ Verständnis ist Verständnis des jeweils Verstehenden oder einer Gruppe Gleichverstehender.“535 Gerade für die Rechtsanwendung ist entscheidend, dass sich Existenz und Inhalt des Naturrechts nicht zweifelsfrei erkennen, nicht verifizieren lassen,536 Naturrechtslehren aber auch nicht falsifizierbar sind537. Damit sind Geltung und Inhalt des Naturrechts allein von den Vorstellungen der Instanz abhänigig, die die Befolgung ihrer eigenen und nur ihrer eigenen Naturrechtsvorstellungen garantiert.538 Das gilt auch, wenn man die Menschenrechtserklärungen als authentische Konkretisierung eines „Menschenrechtsnaturrechts“ begreift. Das Konzept der allgemeinen Menschenrechte stützt sich in Wahrheit nicht auf einen weltweiten Konsens, sondern ist vielmehr mit dem „westlichen Individualismus“ verbunden.539 Unterstellt aber, es gäbe einen entsprechenden weltweiten Konsen, so würde dieser, wie Dreier feststellt, immer nur die „Garantieebene, grundrechtsdogmatisch gesprochen: den Schutzbereich der Norm“ umfassen.540 Die uneinheitliche Beantwortung der Frage dessen, was denn nun evidentes Unrecht gewesen sei, ist doch lebendiger Ausdruck dieses dem Naturrecht immanenten Widerspruchs. Das Naturrechtsproblem ist also das Problem der Rechtserkenntnis schlechthin, und damit stellt sich die Frage danach, wem seine Erkenntnis und Auslegung maßgeblich obliegt.541 Die Anerkennung einer „Rechtssouveränität vor der VolkssouWiethölter, Rechtswissenschaft, S. 44. Wiethölter, Rechtswissenschaft, S. 44 f. „Was ihr den Geist der Zeiten heißt, das ist im Grund der Herren eigener Geist“ (Goethe, in: Faust I). 536 Es ist nicht erkennbar, was tatsächlich Ewigkeitswert besitzt, was „überzeitliche unverfügbare Gültigkeit haben soll“, Rosenau, Tödliche Schüsse im staatlichen Auftrag, S. 123. 537 Doehring, Evangelisches Staatslexikon, Sp. 1619 f.; Murswiek, Die verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, S. 137. 538 Murswiek, Die verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, S. 137. Es mangelt an einem „konsolidierten Wertbewußtsein“, einer „außerrechtlich gesicherten Verbindlichkeit naturrechtlicher oder sonstiger ethischer Gehalte“, um dessen Wirksamkeit zu begründen (Forsthoff, DÖV 1959, 41). 539 Ogorek, KritV 83 (2000), 323 (331); vgl. Amelung, NStZ 1995, 29 f. (30). 540 H. Dreier, JZ 1997, 421 (429). Vgl. auch Isensee: „Es gibt keinen (scil. allgemein verbindlichen) Kanon der Menschenrechte, und es kann auch niemals einen geben“ (in: Modernes Freiheitsethos und christlicher Glaube, 1981, S. 70 (72); ebenso etwa Höfling, in: Sachs (Hrsg.), Art. 1, Rn. 65; Stern, Staatsrecht Bd. III / 1, S. 38. Allgemein zu internationalen Bemühungen, universell geltende Menschenrechte zu begründen Denninger, Menschenrechte und Grundgesetz, 1994, S. 77 ff., 89 ff. 541 „Die entscheidende Frage nach einer materialen Naturrechtsordnung verschiebt sich damit vom Erkenntnisproblem (Was sagt das Naturrecht?) auf die Ebene einer Zuständigkeitsregelung: Quis iudicabit?“ (Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 448). Vgl. auch Ellscheid, Das Naturrechtsproblem, S. 186 f.; Murswiek, Die verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, S. 137 f.; Wiethölter, Rechtswissenschaft, S. 42 ff. 534 535
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C. Bundesgerichtliche Rechtsprechung und Literatur
veränität, nämlich des absoluten Geltungsanspruchs des allem menschlichen Zugriffs entzogenen Rechts“542, verlangt doch letztlich eine „naturrechtlich“ begründete Kompetenzzuweisung zur verbindlichen Erkenntnis eben jenes Naturrechts.543 Gerade hierin gerät Naturrecht in einen Konflikt mit jeder positivierten Rechtsordnung, deren Verfassung des Rechtserkenntnisprozesses sich nicht mit dem naturrechtlichen Vorverständnis deckt. Der Gegensatz zwischen Positivismus und jeder Art naturrechtlicher Theorie besteht in der unterschiedlichen Definition der Zuständigkeit für die Entscheidung darüber, was rechtens ist.544 Die Rezeption der Radbruchschen Formel in der Rechtspraxis hat jedenfalls gezeigt, dass sich die Rechtsprechung diese Kompetenz weitgehend bedenkenlos zuspricht, auch und insbesondere was die Überprüfbarkeit der Verfasssung selber betrifft. Die Frage, ob sie sich diese Befugnis aus der vom Staat verliehenen Rechtsprechungsgewalt ableiten kann, wird mit dem vagen Hinweis auf das „Wesen richterlicher Prüfungszuständigkeit“ beantwortet. Im Ergebnis erschließt sich die Kompetenzanmaßung indes aus der naturrechtlichen Überzeugung. Gewiss hat die Rechtsprechung die Radbruchsche Formel dabei durch ihre Bemühung um Konkretisierung von der Aura, die das Naturrecht stets umgab und stets umgibt, ein Stück weit befreit und sich auf die völkerrechtlich und rechtsstaatlich positivierte Ebene zubewegt.545 Damit hat die Rechtsprechung dem Naturrecht einen großen Teil jener „Verschwommenheit“, „Verehrungswürdigkeit“ und „Heiligkeit“ genommen, die diesen Begriff „zu einer Art Zauberwand“ werden lassen, „auf die . . . neue Ideen und Forderungen als legitime Nachkommen jener altehrwürdigen Vorstellungen“ projiziert werden können.546 Man begegnet Radbruchs Gerechtigkeitsvorstellungen und –prinzipien nicht nur in seiner Formel und in ihrer Ausprägung und Konkretisierung durch die Rechtsprechung, sondern auch im positiven Recht der Bundesrepublik, namentlich in dem über Art. 25 GG in das Bundesrecht inkorporierten Völkerrecht und vor allem in den unantastbaren Grundund Menschenrechtsbestand des Grundgesetzes. An dieser Schnittstelle begegnen sich Radbruchs naturrechtsgeborene Formel und das Recht der Bundesrepublik also an sich nicht unharmonisch. Die Rezeption der Radbruchschen Formel im Rahmen der Unrechtsaufarbeitung zeigt freilich, wie in der grundgesetzlichen Rechtsordnung längst positivierte Rechtswerte naturrechtlicher Provenienz in eigentümlicher Weise zu einer überpositiven Korrektur eben solcher Rechtsgrundsätze547 unserer eigenen RechtsordMessner, Das Naturrecht, 4. Auflage, 1960, S. 726. Ellscheid, Das Naturrechtsproblem, S. 187. 544 Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 97. 545 Vgl. Gropp, NJ 1996, 393 (396) und Sprenger, NJ 1997, 1 (6). 546 Die Zitate stammen von Nußbaum, Geschichte des Völkerrechts in gedrängter Darstellung, S. 17, vgl. Sprenger, NJ 1997, 1 (7). 547 Auch dem Rückwirkungsverbot wurde schon ein überpositiver Ursprung nachgesagt, vgl. LG Siegen, Beschl. v. 8. 5. 1947, MDR 1947, 204: „Es ist schlechthin als ein ,Naturrecht‘ zu bezeichnen“. 542 543
V. Analyse und Kritik
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nung führen. Es gehört zur „Paradoxie positivierten überpositiven Rechts“548, dass diese Rechtswerte, gerade weil sie durch den Akt ihrer Positivierung einer anderen Grammatik gehorchen, in der Rechtsanwendung zur Umgehung eben dieser Grammatik aus dieser herausgehoben und wieder in einen vor- oder überkonstitutionellen Status versetzt werden. Das völkerrechtliche und im Grundgesetz verankerte Menschenrechtsverständnis ist aber doch nur ein Teil unseres Gerechtigkeitsverständnisses. Zum grundgesetzlichen Verständnis von Gerechtigkeit zählen ebenso formal rechtsstaatliche Kautelen, die institutionelle549 und die prozedurale550 Gerechtigkeit. Zu diesem Dilemma hat sich die Rechtspraxis, eher von Zweckmäßigkeitserwägungen getragen, anhand der Radbruchschen Formel und überpositiver Rechtsvorstellungen zugunsten „materieller Gerechtigkeit“ entschieden. Dabei messen sich „Glaubwürdigkeit“ und „Akzeptanz“ des Rechtsstaates ebenso an der Einhaltung seiner formalen Grundsätze – auch in absoluten Ausnahmefällen wie denen der Unrechtsaufarbeitung. Gerade in der Überwindung formaler Rechtsstaatsgrundsätze offenbaren sich die Methodik naturrechtlicher Argumentation und die mit naturrechtlichen Lösungen verbundenen Gefahren in der positivierten Rechtsordnung. Der Rechtsstaat aber „steht und fällt mit der unbezweifelten Verbindlichkeit des positivierten Rechts. Lässt er daran irgendwo einen rechtlich relevanten Zweifel zu, so stellt er sich selbst zur Disposition, weil dann die logischen Prämissen und Prozeduren der Gewährleistung der gesetzmäßigen Freiheit fragwürdig werden.“551 Naturrechtsdenken folgt denknotwendig anderen Spielregeln als denen, welchen sich der Rechtsstaat unterwirft. In einer positivierten Rechtsordnung wird das Naturrechtsproblem zu einem Problem widerstreitender Kompetenzen und Legitimationsgrundlagen. Das macht die Normprüfungs- und Normverwerfungsfrage in besonderer Weise deutlich. Mit der Negation der Gesetzesbindung zugunsten einer bloßen Rechtsbindung stellt sich ganz drastisch die Frage, was von der Demokratie und namentlich der Gewaltenteilung übrig bleibt. Hier tritt der Widerspruch zwischen Volkssouveränität und Rechtssouveränität, Gesetzesbindung und Rechtsbindung am ausdrucksvollsten zu Tage. Die Diskussion um die Rezeption der Radbruchschen Formel im Kontext des Gleichberechtigungsurteils bzw. des „verfassungswidrigen Verfassungsrechts“ spricht diese Probleme an. Die strafrechtliche Unrechtsaufarbeitung vernachlässigt sie, obwohl Radbruch selber eine zentrale Normverwerfungskompetenz bei einem höheren Gericht oder der Gesetzgebung anmahnte.552 AK-GG – Frankenberg, Art. 20 Abs. 1 – 3 IV Rn. 25. Dazu zählen insbesondere die Gewaltenteilung und die Verfassungs- und Gesetzesbindung der Gewalten, vgl. AK-GG – Frankenberg, Art. 20 Abs. 1 – 3 IV Rn. 26. 550 Dazu zählen insbesondere die Formalisierung der Verfahren, die richterliche Unabhängigkeit, die Verfahrensöffentlichkeit und der effektive Grundrechtsschutz, vgl. AK-GG – Frankenberg, Art. 20 Abs. 1 – 3 IV Rn. 26. 551 Forsthoff, DÖV 1959, 41 (43). 552 Radbruch, SJZ 1946, 105 (107); siehe oben, S. 53. 548 549
D. Rechtssouveränität versus Volkssouveränität? Die Anerkennung nicht positivierten überpositiven Rechts durch die Rechtsprechung als verbindlicher Prüfungsmaßstab negiert die Autonomie des pouvoir constituant. Das gilt auch, wenn man den Ausnahmecharakter des Rückgriffs auf überpositives Recht betont. Ein uneingeschränktes Rechtssouveränität-vor-Volkssouveränitäts-Denken wird freilich von keiner Seite ernsthaft propagiert. Naturrecht erscheint unbestreitbar als eine „begrenzte Rechtsquelle des Ausnahmezustandes“1. Dennoch fordert dieses Verständnis eine Anerkennung eines Rechts über und jenseits der Verfassung. Die Rechtspraxis vernachlässigt in der dem Naturrecht eigentümlichen Logik die wesentliche Frage, ob sie sich nicht mit ihrem Bekenntnis zur Unverfügbarkeit von Recht ihrer eigenen Legitimationsgrundlage beraubt. Das Grundgesetz basiert auf dem Prinzip der Volkssouveränität. Es durchzieht die Verfassung von der Konstituierung der Gewalten bis hin zum Handeln des einzelnen Organwalters und durchdringt somit sämtliche Strukturentscheidungen des Grundgestzes. Im Folgenden sollen die Kollisionspunkte, an denen sich die Anerkennung überpositiven Rechts als Prüfungsmaßstab und die wesentlichen Sturkturentscheidungen des Grundgesetzes aneinander reiben, von folgenden Gesichtspunkten aus beleuchtet werden: der Positivierung grundlegender materieller Gerechtigkeitswerte, dem Vorrang der Verfassung und des Gesetzes, der Verfassungsgerichtsbarkeit und der Normenkontrolle sowie der Gesetzesbindung der Judikative. In diesem Kontext soll die Bindung an „Gesetz und Recht“ (Art. 20 Abs. 3 GG) als mögliches überpositives Fenster ausgelegt werden.
I. Volkssouveränität und Grundgesetz Die Volkssouveränität behauptet in der grundgesetzlichen Rechtsordnung eine doppelte Stellung: Das Volk tritt nicht nur als Souverän der Verfassungsgebung auf, sondern auch innerhalb der Verfassungsordnung als Träger der konstituierten Staatsgewalt.2 Das Grundgesetz geht von der Volkssouveränität als Oberbegriff der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes und der verfassten Staatsgewalt des Volkes aus.3 Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 450. Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, S. 380 ff.; H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG Bd. II, Art. 20 (Demokratie), Rn. 77; E.-W. Böckenförde, Die verfassunggebende Gewalt, S. 104; Stern, Staatsrecht Bd. II, S. 22 ff.; Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 275 ff. 3 Vgl. Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, S. 380 ff. 1 2
I. Volkssouveränität und Grundgesetz
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1. Volk als Souverän der Verfassungsgebung Das Grundgesetz erwähnt die verfassungsgebende Gewalt des Volkes in der Präambel und in Art. 146 GG, jeweils von einem anderen Gesichtspunkt aus. Die Präambel schreibt den Geltungsgrund, die Legitimationsquelle des Grundgesetzes fest; Art. 146 GG4 befasst sich hingegen mit der Geltungsdauer des Grundgesetzes. Die Präambel erkennt die vorrechtliche Gegebenheit des pouvoir constituant an; Art. 146 GG (alte wie neue Fassung) richtet hingegen den Blick auf dieselbe Instanz aus der „verfassungsrechtlichen Binnenperspektive“.5 Art. 146 GG formuliert lediglich die Kriterien für eine aus der Sicht des Grundgesetzes legale und nicht revolutionäre Verfassungsablösung.6 Für die Frage der Anerkennung überpositiven, den Verfassungsgeber bindenden Rechts ist der Blick also auf die Präambel zu richten. Wie der erste Satz der Präambel feststellt, „hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.“ Dieser für die Volkssouveränität entscheidende Passus hat sich durch die Wiedervereinigung im Sinngehalt nicht geändert. Als Träger verfassungsgebender Gewalt wird ausdrücklich das „Deutsche Volk“ genannt. Mit der Entscheidung zugunsten der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes steht das Grundgesetz in der Tradition der Weimarer Verfassung,7 nicht jedoch mit den traditionellen Regeln der Verfassungsgebung8. Die Präambel verwendet einen in der Französischen Revolution von Abbé Sieyes geschaffenen staatstheoretischen Schlüsselbegriff.9 Mit diesem Rekurs auf die verfassungsgebende Gewalt anerkennt das Grundgesetz die Differenzierung zwischen dem pouvoir constituant und den pouvoirs constitués: Der pouvoir constituant legt in einem „außerordentlichen Urakt der Rechtsschöpfung ( . . . ) den Grund für die anderen Staatsgewalten und Staatsorgane, die als bloße pouvoirs constitués durch diesen Akt erst erzeugt, zugleich aber legitimiert und vor allem limitiert werden“.10 a) Historische Wirklichkeit Geht man von einer faktischen Souveränität als Voraussetzung für die Ausübung der verfassungsgebenden Gewalt aus, so muss man vor dem Hintergrund der hisAlte wie neue Fassung. Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, S. 388 und 393. 6 Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, S. 392. Zu der verfassungstheoretischen Bedeutung und der Diskussion von Art. 146 GG a. F. und n. F. eingehend Unruh, a. a. O., S. 387 ff. mit umfangreichen Nachweisen. 7 Vgl. Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, S. 381. 8 Vgl. hierzu nachfolgend a). 9 Vgl. hierzu H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG Bd. I, Präambel, Rn. 64 m. w. N. 10 H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG Bd. I., Präambel, Rn. 64. 4 5
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D. Rechtssouveränität versus Volkssouveränität?
torischen Wirklichkeit von 1948 / 49 die Berufung auf die verfassungsgebende Gewalt des Deutschen Volkes sicherlich als „fromme Lüge“ bezeichnen:11 Kritische Stimmen rügen die unrichtige Beschreibung der Entstehungsgeschichte; die Berufung auf die verfassungsgebende Gewalt stelle keine Erklärung, sondern vielmehr eine Verklärung ihres Entstehungsprozesses dar.12 Freilich stellt die Entstehungsgeschichte des Grundgestzes ohnehin einen Bruch mit den traditionellen Regeln demokratisch-westlicher Verfassungstradition dar: Verfassungen, die sich auf Volkssouveränität berufen, beruhen traditionell auf einem plebiszitären Akt, sei es in der Wahl der verfassungsgebenden Versammlung, sei es in einer Volksabstimmung, die einem Verfassungsentwurf zustimmt.13 Der Parlamentarische Rat war hingegen keine vom Volk gewählte verfassungsgebende Versammlung und es gab auch keine Volksabstimmung über einen Verfassungsentwurf. Weder die Wahl der Mitglieder des Parlamentarischen Rates durch die Länderparlamente, die ihrerseits der Legitimation für eine länderübergreifende deutsche Verfassungsgebung ermangelten, noch die abschließenden Abstimmungen durch die Länderparlamente konnten an demokratische Verfassungstraditionen anknüpfen.14 Darüber hinaus stand der Parlamentarische Rat unter dem Einfluss der Alliierten, und das Grundgesetz bedurfte der Genehmigung der Militärgouverneure.15 So waren Ministerpräsidenten und Mitglieder des Parlamentarischen Rates denn auch der Auffassung, dass die verfassungsgebende Gewalt erst ausgeübt werden könne, wenn das deutsche Volk zu einer souveränen Entscheidung wieder in der Lage sei.16 Nicht ohne Grund fiel die Wahl auf die Verwendung der Begriffe „Parlamentarischer Rat“ statt „verfassunggebende Versammlung“ und „Grundgesetz“ statt „Verfassung“.17 Diverse Äußerungen der Abgeordneten bestätigen die Auffassung im Parlamentarischen Rat, dass die fak11 So Meyer, KritV 76 (1993), 399 (424). Vgl. auch H.-P. Schneider, in: Der Spiegel, Heft 33 / 1990, S. 19: „schriftliche Lüge“; Wahl, S. 476: „irreführende Formulierung“; Sachs, JuS 1991, 985 (990): „Lebenslüge“. 12 Geiger, EuGRZ 1986, 121 (124); Rumpf, Der ideologische Gehalt des Bonner Grundgesetzes, S. 17; H. P. Ipsen, S. 25; Nawiasky, Grundgedanken für das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, S. 79. 13 Vgl. hierzu Mußgung, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. I, § 8, Rn. 98; H. H. Klein, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. VIII, § 198 Rn. 15 f.; H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG Bd. I, Präambel, Rn. 67; Huber, in: Sachs (Hrsg.), Präambel, Rn. 16; Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, Bd. I, Präambel, Rn. 17 ff. 14 Vgl. im Einzelnen Mußgung, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. I, § 8, Rn. 96 ff.; H. H. Klein, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. VIII, § 198 Rn. 15 f. 15 Rödel / Frankenberg / Dubiel, Die demokratische Frage, S. 76, sprechen von den Alliierten als „Ersatzsouverän“, der nicht nur die Beratungen und schließlich die Verabschiedung der Verfassung der Länder und des Grundgesetzes überwachte, sondern Entnazifizierungsund Re-edukationsprogramme überwachte. 16 Vgl. Murswiek, Die verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, S. 36. 17 Vgl. Murswiek, Die verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, S. 36.
I. Volkssouveränität und Grundgesetz
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tische Souveränität des Volkes an sich als Voraussetzung der Verfassungsgebung angesehen wurde.18 Rödel / Frankenberg / Dubiel verweisen zudem darauf, dass „die vom nationalsozialistischen Terror-Regime atomisierte und moralisch verwüstete Gesellschaft nach dem ,Zusammenbruch‘ dem Projekt der autonomen Gründung einer neuen demokratischen Republik eher indifferent“ gegenüberstanden.19 So wäre es sicherlich historisch abwegig, von einem verbreiteten leidenschaftlichen Interesse des Volkes an der Begründung öffentlicher Freiheit nach der gelungenen Befreiung von der Gewaltherrschaft zu sprechen.20 Die Verfassungsgebung kann unter diesem Aspekt als ein Versuch gesehen werden, „einer nicht existenten Zivilgesellschaft deren künftige Handlungsfähigkeit zu ermöglichen“.21 Man kann aber von einer Schwächung der verfassungsgebenden Gewalt des deutschen Volkes nur sprechen, wenn man ganz auf diesen genetischen Gesichtspunkt fixiert ist.22 Und von einer „Lüge“ kann nur gesprochen werden, wenn man in der Präambel einen historischen Bericht sieht. Das plebiszitäre Defizit des Grundgesetzes, sein „Geburtsmakel“ schränkt jedoch in Wahrheit das Prinzip der Volkssouveränität im Grundgesetz nicht ein. Eine entsprechende Sichtweise würde die verfassungstheoretische Figur der verfassungsgebenden Gewalt verkennen.23 b) Volkssouveränität als formale Legitimationsgrundlage Das Geburtsmakel-Argument24 verkennt die „Situation des Anfangs, weil eine demokratische Verfassung nicht notwendig schon eine demokratische Ordnung voraussetzen kann“.25 Aus staatstheoretischer Sicht ist die verfassungsgebende 18 So äußerte etwa der Abgeordnete Schmid: „Freilich zeigen die dem Parlamentarischen Rat gemachten inhaltlichen und verfahrensmäßigen Auflagen deutlich genug, daß die Besatzungsmächte – auch hier im Westen – bisher nicht gewillt sind, alles, was der Begriff Volkssouveränität beinhaltet, zur Auswirkung kommen zu lassen. Hinzu kommt, daß nur das gesamte Volk imstande ist, seine Souveränität wirklich zu aktualisieren. Diese Einschränkungen unserer Handlungsfreiheit aber bedeuten, daß der Parlamentarische Rat nicht imstande ist, eine deutsche Verfassung im vollen Sinne des Wortes zu schaffen“; zitiert bei Murswiek, Die verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, S. 36. Vgl. auch die Äußerung des Abgeordneten Menzel: „Wegen der fehlenden Souveränität mußte die Schaffung einer Verfassung im althergebrachten Sinne unterbleiben,“, zitiert ebenda. 19 Rödel / Frankenberg / Dubiel, Die demokratische Frage, S. 76. 20 Rödel / Frankenberg / Dubiel, Die demokratische Frage, S. 75. 21 Rödel / Frankenberg / Dubiel, Die demokratische Frage, S. 80. 22 Vgl. Starck, in: v.Mangoldt / Klein / Starck, Präambel, Rn. 18. 23 H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG Bd. I, Präambel, Rn. 68 ff. Zu dieser Unterscheidung E.-W. Böckenförde, Die verfassunggebende Gewalt, S. 92. 24 Vgl. zu der „Geburtsmakeltheorie“ im Rahmen des Grundsatzstreits zur staatlichen Einheit bei Isensee, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. VII, § 166, Rn. 32 ff., mit umfassenden Nachweisen. 25 Isensee, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. VII, § 166, Rn. 33.
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D. Rechtssouveränität versus Volkssouveränität?
Gewalt des deutschen Volkes die formale Legitimationsquelle: 26 „Der Vorspruch des Grundgesetzes enthält keine historischen Urteile, sondern normative Rechtfertigungen und Ortsbestimmungen. Er nennt Legitimationsgrundlagen und entwirft das Legitimationsprogramm für die neue Ordnung“.27 Bei der Berufung auf das Volk handelt es sich systemtheoretisch gesprochen nur um eine symbolische Externalisierung.28 Die einzigartige Ausnahmesituation während der Entstehung des Grundgesetzes verursachte und rechtfertigte die Abweichung von historischen Standardmodellen.29 Aufgrund der historischen Besonderheit 1948 / 49 war der „klassiche“ Weg der Verfassungsgebung gar nicht gangbar. Die Grundgesetzentstehung war zwar atypisch, letztlich aber alternativlos.30 Die verfassungsgebende Gewalt des Deutschen Volkes war von allem Anfang an bis heute verfassungspolitischer Anspruch.31 Ganz deutlich wird dies im Wortlaut der alten Präambel, das Deutsche Volk in den Bundesländern habe „auch für jede Deutschen gehandelt, denen mitzuwirken versagt war. Das gesamte Deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.“ Die Volkssouveränität als bleibender Anspruch ging 1945 weder durch den Zusammenbruch der faktischen Staatsgewalt noch durch die militärische Kapitulation und die Übernahme der obersten Gewalt in Deutschland durch die Besatzungsmächte unter; vernichtet war „lediglich die Möglichkeit, von diesem Recht freien Gebrauch zu machen. Die Besatzungsmächte“ hatten vielmehr „seine Ausübung für Zeit gesperrt.“32 Auch angesichts der temporären, faktischen Beschränkung wurde an der legitimatorischen Kraft der verfassungsgebenden Gewalt des deutschen Volkes festgehalten. Die faktischen Legitimationsdefizite sind unter dem Aspekt einer nachholenden „Verfassungsgebung“ wettgemacht worden. c) Nachholende „Verfassungsgebung“33 Die vom Grundgesetz 1949 formal beanspruchte und zugleich als Möglichkeit eröffnete Volkssouveränität ist später durch reale Prozesse ausgefüllt worden.34 Auf dem Fundament der freiheitlich-demokratischen Verfassung hat sich 26 H.-P Schneider, in: Isensee / Krichhof (Hrsg.), HStR Bd. VII, § 158, S. 21; H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG Bd. I, Präambel, Rn. 68 ff. 27 Isensee, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. I, 1. Aufl., § 13, Rn. 6 ff.; vgl. ders., in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. VII, § 166, Rn. 35. 28 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993, S. 473. 29 Vgl. H. Dreier, in ders. (Hrsg.), Präambel, Rn. 51 ff. 30 Knies, Verfassunggebung, S. 20; H. Dreier, in ders. (Hrsg.), Präambel, Rn. 73 a.E. 31 Klein, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. VIII, § 198, Rn. 17. 32 Carlo Schmid, zitiert nach Murswiek, Die verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, S. 29 f. und Unruh, Der verfassungsbegriff des Grundgesetzes, S. 383. 33 Rödel / Frankenberg / Dubiel, Die demokratische Frage, S. 74 ff., sprechen von einer nachholenden Gründung der Republik.
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eine freiheitlich-demokratische Gesellschaft auch tatsächlich gegründet. Somit ist die formale Legitimationsgrundlage des Grundgesetzes eine ganz reale geworden. Die Heilung des plebiszitären Defizits begann bereits mit der ersten Wahl des Deutschen Bundestages am 14. August 1949. Allerdings fand sich unter Berücksichtigung der Wahlbeteiligung und abzüglich der Stimmen für Parteien, die das Grundgesetz ausdrücklich ablehnten, lediglich eine knappe Mehrheit (54,7%) des Deutschen Volkes, die sich durch die Wahl von CDU / CSU, SPD und FDP mittelbar auf die Seite des Grundgesetzes stellten.35 Die eigentliche nachträgliche Legitimation des Grundgesestzes beruht denn auch eher auf der täglichen Bewährung des Grundgesetzes nicht nur im Rechtsleben, sondern in der pluralen Zivilgesellschaft an sich. Das Grundgesetz erfährt über tägliche Grundrechtsausübung, über die personelle und funktionelle demokratische Legitimation der pouvoirs constitués ebenso seine Legitimität wie über die verfassungsbejahenden politischen Kräfte, die mehrheitliche politische Absage gegenüber verfassungsfeindlichen Bestrebungen und die Beteiligung der Zivilgesellschaft am Staatsleben. Die pluralistische Gesellschaft findet im Grundgesetz zum Konsens und das Grundgesetz über diesen demokratischen Konsens seine Geltungsbasis.36 Die in die Verfassung hineingetragene verfassungsgebende Gewalt des Volkes ist in diesem Sinne stets gegenwärtig.37 Dieser Legitimationsprozess setzt sich seit der Wiedervereinigung im gesamten Deutschen Volk fort.38
d) „Invocatio dei“? Die Eingangsworte der Präambel des Grundgesetzes lauten, das Deutsche Volk habe sich dieses Grundgesetz im „Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott“ kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt gegeben. Deshalb ist zu fragen, ob die häufig als „invocatio dei“39 bezeichnete Formel die Volkssouveränität in irgendeiner Weise berührt oder gar einschränkt? 34 Vgl. zu diesem Prozess Mußgung, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. I, § 8, Rn. 100 ff.; Isensee, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. VII, § 166, Rn. 36 ff.; Klein, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. VIII, § 198, Rn. 18 ff.; Huber, in: Sachs (Hrsg.), Präambel, Rn. 17; Würtenberger, in: Brunner, (Hrsg.); Legitimation des Grundgesetzes aus Sicht von Rechtsphilosophie und Gesellschaftstheorie, S. 43 f.; Rödel / Frankenberg / Dubiel, Die demokratische Frage, S. 74 ff. 35 Vgl. hierzu eingehend Mußgung, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. I, § 8, Rn. 101. 36 Isensee, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. VII, § 166, Rn. 37. 37 Vgl. Klein, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. VIII, § 198, Rn. 19. 38 Zur demokratischen Legitimität des Grundgesetzes als Verfassung Gesamtdeutschlands nach der Wiedervereinigung: Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, Bd. I, Präambel, Rn. 25 ff.; H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG Bd. I, Präambel, Rn. 39 ff.; Isensee, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. VII, § 166, Rn. 41 ff.; Klein, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. VIII, § 198, Rn. 21 ff. 39 H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG Bd. I, Präambel, Rn. 25 f., verweist darauf, dass die Bezeichnung falsch ist: Um eine „Anrufung Gottes“ handele es sich nur, wenn die Verfassung
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D. Rechtssouveränität versus Volkssouveränität?
Der Gottesbezug der Präambel ist auf eine von dem Abgeordneten Süsterhenn erst in der sechsten Sitzung des Plenums angefangene Diskussion zurückzuführen.40 Die Herrenchiemseer Präambelvorschläge und die in den ersten Sitzungen des Parlamentarischen Rates diskutierten Entwürfe enthielten keinen Gottesbezug. Süsterhenn verwies darauf, dass der zentrale Gedanke des Grundgesetzes so unterbaut werden müsse, dass „er nicht einfach durch einen Mehrheitsentscheid wieder weggefegt werden“ könne, sondern „seine fundamentalen Wurzeln letzten Endes auch im Metaphysischen“ finde.41 Die Fundamente des Grundgesetzes müssten „auf dem ewigen Felsgrund des göttlichen Sittengesetzes errichtet werden“; vom Grundgesetz müsse eine „sozialpsychologische, volkspädagogische Kraft ausgehen“.42 Die ursprüngliche Fassung des Präambelvorschlags – „im Vertrauen auf Gott“ – wurde in der Diskussion des Grundsatzausschusses letztlich verworfen.43 Auf Empfehlung des Abgeordneten Heuss kam schließlich die Formulierung „im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott“ zustande, da es sauberer sei, „den lieben Gott nicht für alle die Dummheiten, die hier gemacht werden, unmittelbar verantwortlich zu machen“; dies sei eine „theologische Überhebung“.44 Aus den Beratungen der Herrenchiemseer Präambelvorschläge und des Parlamentarischen Rates ist nicht ersichtlich, dass sich der Grundgesetzgeber in seiner Tätigkeit an ein bestimmtes christliches Naturrecht rechtlich gebunden fühlte.45 Die Äußerung von Heuss verweist vielmehr auf das Unvermögen des Menschen, naturrechtliche Sätze richtig zu erkennen.46 Dem ist zuzustimmen. Der Gottesbezug erlaubt keine „transzendente Überhöhung“ oder „legitimierende überpositive Verankerung“ des Grundgestzes.47 Dahingehende Auffassungen sind abzulehnen.48 Die Verfassung und der Staat sind Menschenwerk und als solches fehlbar.49 „Besteht aber Klarheit darüber, dass unvollkommenes Menschenwerk gemacht und „im Namen Gottes“ erlassen werde. Am treffendsten wäre daher die Bezeichnung „nominatio dei“ (Vgl. hierzu auch die weiteren Nachweise ebenda). 40 Murswiek, Die verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, S. 37 f. 41 JöR N.F. Bd. 1, S. 29. 42 JöR N.F. Bd. 1, S. 29. 43 Vgl. hierzu Murswiek, Die verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, S. 37 f. 44 JöR N.F. Bd. 1, 34. 45 Hierzu Murswiek, Die verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, S. 36 ff. Vgl. auch Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, S. 384; Jarass / Pieroth, Präambel, Rn. 3. 46 Vgl. Murswiek, Die verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, S. 38. 47 H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG Bd. I, Präambel, Rn. 28. 48 Vgl. etwa Apelt, NJW 1949, 481; Häberle, in: FS für Zeidler, S. 12; weitere Nachweise bei Behrendt, Gott im Grundgesetz, 1980, S. 42 ff. Vgl. hierzu auch Dreier, in: ders. (Hrsg), Bd. I (1. Aufl.), Präambel, Rn. 15. 49 Vgl. H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG Bd. I, Präambel, Rn. 28.
I. Volkssouveränität und Grundgesetz
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nicht einfach der göttliche Wille vollzogen wird, kann auch nicht eine rechtliche Bindung an diesen Willen gewollt sein, sondern nur die Anerkennung einer sittlichen Verpflichtung gegenüber Gott“50. Das Grundgesetz konstituiert einen demokratischen Rechtsstaat, und Demokratie ist keine „quasi-religiöse“, sondern eine menschliche Ordnung.51 Durch den Gottesbezug der Präambel wird das Recht also nicht im legitimierenden Sinn „in überpositive Zusammenhänge gerückt“.52 Die Präambel formuliert keine „legitimierende überpositive Verankerung“, sondern betont die Weltlichkeit und damit vor allem die Endlichkeit und Fehlbarkeit auch einer demokratischen Verfassungsordnung.53 Die Verantwortung vor Gott setzt gerade „die eigene, nicht vorab determinierte Entscheidungsmacht voraus, die so oder anders ausgeübt werden kann“.54 Eine andere Annahme bedeutet streng genommen einen Rückfall aus der säkularen Staatlichkeit.
2. Volkssouveränität als intra-konstitutionelles Element Die Volkssouveränität ist nicht nur der legitimatorische Ursprung des Grundgesetzes; mit dem Fundamentalsatz „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ verschafft Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG dem Prinzip der Volkssouveränität auch innerhalb der Verfassung Geltung.55 „Der Legitimationstitel, der schon die verfassunggebende Gewalt getragen hatte, wird in die Verfassungsordnung hineingetragen.“ 56 Damit sagt das Grundgesetz zugleich aus, dass sich das demokratische Herrschaftsprinzip konsensual legitimiert.57 Diese Deutung erfuhr der Gedanke der 50 Murswiek, Die verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, S. 38. Vgl. auch Schnorr, AöR 85 (1960), S. 121 (145 f.): „Vergleicht man etwa die Präambel des Grundgesetzes, in der die Verantwortung vor den Menschen egaliter neben die Verantwortung vor Gott gestellt und somit jede Stellungnahme zum ius divinum einerseits und zum ius naturale andererseits vermieden wird, mit der pathetischen Formel des Art. 1 der Verfassung von Rheinland-Pfalz, der die Rechtsprechung den „naturrechtlich bestimmten Erfordernissen des Gemeinwohls“ verpflichtet, so lässt sich die Distanz des Grundgesetzes gegenüber metajuristischen Gedankengängen recht wohl ermessen“. 51 Vgl. Kägi, Rechtsstaat und Demokratie, S. 141; Benda, HdBVerfR, Teil 1, § 17, Rn. 20. 52 So aber etwa Häberle, in: FS für Zeidler, S. 3; vgl. H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG Bd. I, Präambel, Rn. 28. 53 H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG Bd. I, Präambel, Rn. 28. Vgl. H.-P. Schneider, in: „Gott im Grundgesetz?“, S. 10 (12); Isensee, ZRP 1996, 10 (15). 54 E.-W. Böckenförde, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. II, § 24, Rn. 10. 55 Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, S. 396; H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG Bd. II, Art. 20 (Demokratie), Rn. 76; Badura, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. II, § 25, Rn. 27; E.-W. Böckenförde, Demokratie und Verfassungsprinzip, S. 291; H.-P. Schneider, in: HdBVerfR, Teil 2, Rn. 38 (47); Herzog, in: Maunz / Dürig, Art. 20, Abschn. II, Rn. 33; Sachs, in: ders. (Hrsg.), Art. 20, Rn. 18. 56 Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, S. 395. 57 Grimm, JZ 1995, 581 (587), mit Verweis auf Kelsen, Vom Wesen und vom Wert der Demokratie, 2. Auflage, 1929, S. 102.
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D. Rechtssouveränität versus Volkssouveränität?
Volkssouveränität bereits durch Carlo Schmid im Rahmen der ansonsten sehr abstrakt geführten Erörterungen im Grundsatzausschuss des Parlamentarischen Rates.58 Schmid verwies darauf, dass das ganze Leben des Staates „von dem Fundamentalsatz durchdrungen ist, daß das Volk Träger aller Staatsgewalt ist“.59 Die Gewalten stünden dem Volk nicht polar oder kontradiktorisch gegenüber, sondern seien Ausfluss der Volkssouveränität. Alle staatliche Gewaltausübung gehe zurück auf die originäre Volksgewalt.60 Obrigkeitliche Befugnisse beruhten „nicht auf Privilegien, auf Erbrecht wie in der Monarchie, sondern auf dem Konsens des Volkes“.61 Es gehe um die Benennung der letzten irdischen Quelle der Gewalt im Staate.62 Die grundgesetzliche Herrschaft stützt sich damit insbesondere nicht auf transzendentale, naturrechtliche Legitimität, religiöse oder ideologische Heilslehren, sondern auf den ganz irdischen Volkswillen.63 Demokratie erkennt „keine nicht auf das Volk rückführbare und von ihm zumindest mittelbar legitimierte staatliche Macht als gerechtfertigte Autorität“ an.64 Volkssouveränität bedeutet aber nicht, dass das Volk selbst die Staatsgewalt innehat und zugleich ausübt65 oder dass dem Volk jederzeit und umfassend eine eigenständige Handlungs- und Sachentscheidungsbefugnis zugewiesen sein muss. Das Prinzip Volkssouveränität ist vielmehr „Legitimations- und Verantwortungsprinzip“, nicht aber Zuständigkeitsregelung.66 Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG drückt lediglich die Rückführbarkeit aller staatlicher Gewalt auf den Volkswillen aus.67 Intra-konstitutionell wird die Volkssouveränität erst durch das Demokratieprinzip konkretisiert und komplettiert:68 Während Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG das Prinzip der Volkssouveränität lediglich manifestiert, legt Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG die Modalitäten der Ausübung der Staatsgewalt durch das Volk fest, und zwar durch Wahlen und Abstimmungen, Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und RechtspreVgl. H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG Bd. II, Art. 20 (Demokratie), Rn. 19. JöR N. F., Bd. 1, S. 196. 60 JöR N. F., Bd. 1, S. 197. 61 JöR N. F., Bd. 1, S. 198. 62 JöR N. F., Bd. 1, S. 199. 63 H. Dreier, in: ders. (Hrsg.); Art. 20 (Demokratie), Rn. 77. 64 Rhinow, ZSR 103 II (1984), 111 (187). Eingehend hierzu Hoffmann, JZ 1992, 165 (168 ff.). 65 Vgl. H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG Bd. II, Art. 20 (Demokratie), Rn. 77: „keine Identität von Innehabung und Ausübung der Staatsgewalt“. Badura, Staatsrecht, D 10 (S. 233 f.). Dass das Volk letztlich auch die Staatsgewalt ausübt, ist die konsequente Verwirklichung des Prinzips Volkssouveränität in der konkreten demokratischen Ausgestaltung des Grundgesetzes. 66 Grawert, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. I, § 14 Rn. 22. 67 BVerfGE 47, 253 (275); 83, 60 (71 f.); 93, 37 (66); H. Dreier, in: ders. (Hrsg.); Art. 20 (Demokratie), Rn. 77; Schnapp, in: v. Münch / Kunig, GG I, Art. 20 Rn. 30. 68 Das Prinzip der Volkssouveränität erfährt durch das demokratische Prinzip seine wesentliche Konkretisierung: Herzog, in: Maunz / Dürig, Art. 20 Abschn. II, Rn. 36; Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, S. 396. 58 59
II. Vereinbarkeit mit der Bindung an überpositives Recht?
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chung.69 Damit unterscheidet das Grundgesetz die Legitimationsmodi70 Wahlen und Abstimmungen für die unmittelbare und die rechtsnotwendige Einschaltung besonderer Organe für die mittelbare Ausübung staatlicher Gewalt.71 Art. 20 Abs. 2, 1. Halbsatz GG formuliert dabei kein „Vorrang- oder Nachrangverhältnis“ zwischen der repräsentativen Legitimationsform der Wahlen und der direkten der Abstimmungen.72 Das Grundgesetz verfasst indes eine weitgehend repräsentative Ordnung, über die schon bei der Genese des Grundgesetzes überwiegend Einigkeit bestand.73 Plebiszitäre Elemente enthält das Grundgesetz nur ausnahmsweise.74 Die Unterscheidung zwischem dem beim Volk liegenden Besitz der Staatsgewalt und deren tatsächliche Ausübung durch die besonderen Organe der Legislative, Exekutive und Judikative führt zu einem im Einzelnen sehr komplexen Legitimations-, Autorisations- und Verantwortungsgeflecht, bei welchem dem Parlamentsgesetz – Stichwort: Vorrang des Gesetzes75 – die herausragende Rolle zukommt.76 Dies ist von besonderer Bedeutung für die Frage, ob die Judikative sich mit einer Rechtsprechung am Maßstab überpositiven Rechts nicht in einen prekären Widerspruch zu dem demokratischen Kompetenzgefüge begibt.
II. Vereinbarkeit mit der Bindung an überpositives Recht? Die Anerkennung überpositiven Rechts negiert zwar ausdrücklich die Autonomie des pouvoir constituant, indem sie unterstellt, dass bereits die verfassungsgebende Gewalt naturrechtlichen Grundsätzen unterworfen ist; die dargestellte Rechtspraxis folgt genau dieser Prämisse.77 Es fragt sich aber, ob dies nicht im 69 E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, S. 295 f.; Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, S. 396. 70 Schmidt-Aßmann, AöR 116 (1991), 329 (351 ff.). 71 Vgl. H. Dreier, in: ders. (Hrsg.); Art. 20 (Demokratie), Rn. 87. 72 Vgl. dazu und zu der Frage der Einführbarkeit (weiterer) plebiszitärer Elemente H. Dreier, in: ders. (Hrsg.); Art. 20 (Demokratie), Rn. 93 ff. und in Jura 1997, 249 (251 ff.), jeweisl mit umfassenden weiteren Nachweisen zu der Diskussion um direkte Demokratie im Grundgesetz. 73 Dazu H. Dreier, in: ders. (Hrsg.); Art. 20 (Demokratie), Rn. 20 ff.; Otto, Das Staatsverständnis des Parlamentarischen Rates, S. 159 ff. 74 Als Beispiele für grundgesetzlich vorgesehene Abstimmungen werden die Territorialplebiszite in Art. 29, 118 und 118a GG genannt (vgl. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 148; Badura, Staatsrecht, D 12; Stern, Staatsrecht I, S. 607). Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominialverwaltung, spricht insofern von einer antiplebiszitären Grundhaltung des Grundgesetzes. Zum Streit darüber, ob es sich hier tatsächlich um Abstimmungen handelt, H. Dreier, in: ders. (Hrsg.); Art. 20 (Demokratie), Rn. 95. Zu den Gemeindeversammlungen ebenfalls H. Dreier, a. a. O., Rn. 96. 75 Hierzu unten, S. 183 ff. 76 Vgl. H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG Bd. II, Art. 20 (Demokratie), Rn. 77, 87 ff., 104 ff.
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D. Rechtssouveränität versus Volkssouveränität?
Blick auf das Bekenntnis des Deutschen Volkes zu den Menschenrechten durchaus zulässig ist (hierzu nachfolgend 1.)? Letztlich sind es ja die Menschenrechte, welche in der Rechtsprechung und Teilen der Lehre den überpositiven Gehalt des Rechts ausmachen. Wegen der vorangehend dagelegten Doppelnatur des Begriffs der „Volkssouveränität“ ist davon zu unterscheiden die Frage, ob der pouvoir constituant die verfasste Staatlichkeit, die pouvoirs constitués, nicht möglicherweise überpositivem Recht unterworfen hat (dazu nachfolgend 2.). Dies bleibt dem autonomen Verfassungsgeber schließlich unbenommen. 1. Autonomie des einheitlichen pouvoir constituant a) Faktische Bindungen und Legitimitätsinteresse Die verfassungsgebende Gewalt ist nicht frei von äußeren Zwängen. Sie unterliegt dem Einfluss der jeweils herrschenden Machtverhältnisse und der politischen Umstände, die zum Akt der Verfassungsgebung führen. Der Moment der Verfassungsgebung ist eingebettet in historische Entwicklungen, vorhandene Wert- und Rechtsvorstellungen, kulturelle und religiöse Auffassungen. Die Verfassungsentstehung ist damit in außer- oder auch vorrechtliche Kategorien eingebunden, die „als Legitimitätskriterien politisch wirksam“78 sind. Die Berücksichtigung, d. h. Positivierung der entsprechenden Ideen in der Verfassung ist essentielle Voraussetzung für deren Akzeptanz. Die Positivierung ist „nachträgliche Umschreibung ihrer Legitimität“ und hat „auf die Zukunft gesehen stabilisierende Wirkung“.79 So 77 Vgl. insbesondere BVerfGE 1, 14 (17, 18, 61); 3, 225 (233), siehe oben, S. 49 f. und S. 50 ff. Abseits von der Diskussion um „verfassungswidriges Verfassungsrecht“ wird sie etwa von Stern, Staatsrecht Bd. I, S. 150, vertreten. Aus der älteren Literatur, insbesondere im im Kontext von Art. 146 GG, vgl. etwa Maunz, in: Maunz / Dürig, Art. 146, Rn. 22; ders., Staatsrecht, § 7 2; Maunz / Dürig, in: Maunz / Dürig, Art. 79 Rn. 25 f.; Schmidt-Bleibtreu / Klein, Art. 146, Rn. 22; Hamel, Staatsrecht I, S. 38; Gutmann, Diss., S. 134 ff. 78 Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, Bd. I, Präambel, Rn. 16 (Hervorhebung nicht wie im Original): „Die Aussagen über Träger, Verfahren und inhaltliche Vorgaben der verfassunggebenden Gewalt beanspruchen keine allgemeine Gültigkeit in zeitlichem und räumlichem Sinne; sie beruhen auf dem Umstand, daß sich in wichtigen Teilen der Welt die Ideen der Volkssouveränität, der Gewaltenteilung und der Menschenrechte (die beiden letzten zusammengenommen auch Rechtsstaat) durchgesetzt haben und als Legitimitätskriterien politisch wirksam sind.“ Vgl. auch Henke, in: Der Staat 19 (1980), S. 181 (198): „Der Ursprung oder Anfang oder Grund aller juristischen Legitimität liegt sowenig im Bereich des Rechts wie der Ursprung des Lebens in dem der Biologie oder der Anfang des Weltalls in dem der Physik. Er liegt im Bereich der Wirklichkeit, aber jenseits der Grenze methodischer Jurisitscher Arbeit.“ 79 Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, Bd. I, Präambel, Rn. 16. Vgl. E.-W. Böckenförde, Die verfassunggebende Gewalt, S. 110 Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, S. 385. Vgl. zur Legitimität allgemein Blankenagel, Tradition und Verfassung, S. 255 ff.; Luhmann, Legitimität durch Verfahren.
II. Vereinbarkeit mit der Bindung an überpositives Recht?
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gesehen geht in gewisser Weise zwar Naturrecht im Zeitpunkt der Entstehung einer Verfassung voraus, aber nicht im Sinne eines über alle Zeiten hinweg, allerorten geltenden unverfügbaren Rechts, sondern im Interesse der Legitimität zu respektierenden faktischen Bindung an die in der gegebenen historischen Situation tatsächlich bestehenden, Form und Inhalt der Verfassung bestimmenden Wertungen und Vorstellungen.80 b) Rechtsbindung? Davon zu unterscheiden ist indes die von der dargestellten Rechtspraxis angenommene Bindung des pouvoir constituant. Das der Verfassung vorausliegende Recht ist im Verständnis der Rechtsprechung unverfügbar im Rechtssinne. Verstöße dagegen sind nicht nur ein Legitimitätsproblem, sondern führen zur Nichtigkeit entsprechender Vorschriften. Dabei stützt sich die Rechtsprechung materiell weitgehend auf die (völkerrechtlich konkretisierten) „Menschenrechte“. Für dieses Menschenrechts-Naturrechtsverständnis könnte eine verfassungsgesetzliche Grundlage in dem Menschenrechtsbekenntnis des Deutschen Volkes zu finden sein. Damit würde man an eine verbreitete Auffassung in der Lehre anknüpfen. Die Rechtsprechungsübersicht hat gezeigt, dass ein entsprechender Ansatz nur im Bodenreformurteil zu finden ist.81
aa) Bekenntnis des Deutschen Volkes zu den Menschenrechten Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG erklärt die Menschenwürde für „unantastbar“. In Art. 1 Abs. 2 GG „bekennt“ sich das „Deutsche Volk“ „darum“ ausdrücklich zu „unverletztlichen und unveräußerlichen Menschenrechten“. Unantastbarkeitserklärung und Menschenrechtsbekenntnis haben in der Tat etwas Metaphysisches an sich. Schon die Wortwahl – „Bekenntnis“, „unverletzlich“, „unveräußerlich“ – deutet auf ein überpositives Verständnis der Menschenrechte hin, ist doch Naturrecht nicht eigentlich Gegenstand sicherer Erkenntnis, sondern eher des Bekenntnisses zu wenig randscharfen Vorstellungen und Zielen.82 „Unverletzliche“ und „unveräußerliche“ 80 Vgl. Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgestzes, S. 385: Nur im Sinne einer faktischen Bindung „kann der Auffassung zugestimmt werden, dass die verfassunggebende Gewalt natur- und vernunftrechtliche Grundsätze zu beachten habe“. 81 BVerfGE 84, 90 (121); hierzu bereits oben, S. 99 ff. Dreier, in: ders. (Hrsg.), Bd. I, Art. 1 II, Rn. 13, meint allerdings, Art. 1 Abs. 2 GG sei der Sache nach bei den Entscheidungen zum NS-Unrecht präsent gewesen. Ähnlich Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, Bd. I, Art. 1 Abs. 2, Rn. 111: Nichts anderes könne gemeint gewesen sein. Dann fragt sich aber doch, warum eine so immanent wichtige verfassungsgesetzliche Stütze bis zum Bodenreformurteil auf sich warten ließ und in zeitlich folgenden Mauerschützen- und Rechtsbeugungsentscheidungen wiederum keine Erwähnung findet. 82 Vgl. die Formulierung Radbruchs hinsichtlich Wertanschauungen als Behauptungen über die letzten Sollenssätze in: Radbruch, S. 96.
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D. Rechtssouveränität versus Volkssouveränität?
Rechte scheinen auch für den Verfassungsgeber „unantastbar“ zu sein.83 Das Menschenrechts-Bekenntnis erscheint „als Griff nach dem Naturrecht“.84 Der Naturrechtscharakter der Unantastbarkeitserklärung und des Menschenrechtsbekenntnisses ist umstritten.85 Er wurde in den fünfziger Jahren von maßgeblichen Stimmen der Kommentarliteratur hervorgehoben, etwa von Nipperdey und Dürig:86 Nipperdey meinte, Art. 1 Abs. 1 GG würde auch gelten, wenn er nicht im Grundgesetz stünde, weil er „ein Naturrechtssatz“ sei.87 Von Dürig insbesondere wurde die Autonomie des Verfassungsgebers ausdrücklich abgelehnt. Das Grundgesetz messe sich nicht die Autonomie zu, die Menschenrechte konstitutiv zu „gewähren“, sondern wolle diese vielmehr „nur als vorgegeben ,gewährleisten‘“.88 Dürig sah konsequenterweise in der Positivierung der „übergesetzlichen Wertnormen“ keinen Wechsel ihres „besonderen Charakter(s)“. Das positive Verfassungswerk könne diese allenfalls publizieren, nicht aber denaturieren.89 Dürig formulierte dies in späteren Auflagen sogar noch deutlicher: Art. 1 Abs. 2 GG zwinge „zu der Einsicht, dass ein bestimmter Gehalt jedes Einzelfreiheitsrechts im überpositiven Recht wurzelt, dass eben dieser Menschenrechtsgehalt jeglicher staatlichen und autonomen Verfügungsmacht entzogen ist“.90 Die Anerkennung eines vorgegebenen materiellen Menschenwürdegehalts der Grundrechte lasse die Denkmöglichkeit der Widerspruchshaftigkeit der positiven Rechtsordnung selbst innerhalb der Verfassung zu.91 83 Vgl. Murswiek, Die verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, S. 138. 84 Vgl. die Unterüberschrift bei Denninger, JZ 1998, 1129 (1130): „Das Menschenrechtsbekenntnis als Griff nach dem Naturrecht?“ 85 Für ein naturrechtliches Verständnis der in Art. 1 Abs. 1 und 2 GG fundierten Prinzipien: Stern, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. V, § 108, Rn. 51 ff.; ders., Staatsrecht Bd. III / 1, S. 36 ff. (38); Kirchhof, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. I, § 19, Rn. 74; Isensee, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. V, § 115, Rn. 36; Badura, Staatsrecht, C 1, S. 82; Höfling, in: Sachs (Hrsg.), Art. 1, Rn. 61 f. Gegen ein entsprechendes naturrechtliches Verständnis: Kunig, in: v. Münch / Kunig, Bd. I, Art. 1, Rn. 38 f.; Denninger, JZ 1998, 1129 (1130); wohl auch H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG Art. 1 II, Rn. 12; neuerdings auch Maunz / Dürig-Herdegen, Art. 1 Abs. 1 GG, Rn. 17. Unklar Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, Bd. I, Art. 1 Abs. 2, Rn. 109 ff., der auf die naturrechtlich begründeten Menschenrechte verweist (a. a. O., Rn. 109, 114), in der Geltungsfrage aber meint, das Grundgesetz bringe die Menschenrechte zur normativen Geltung, „die legitimierende Kraft des Naturrechts nutzend“ (a. a. O., Rn. 114). 86 Vgl. Denninger, JZ 1998, 1129 (1130) und mit Verweis auf Nipperdey, in: Neumann / Nipperdey / Scheuner, Grundrechte Bd. 2 (1954), Die Würde des Menschen S. 1 (7); Dürig, in: Maunz / Dürig (1958), Art. 1 Abs. 2, Rn. 73. 87 Nipperdey, in: Neumann / Nipperdey / Scheuner, Grundrechte Bd. 2 (1954), S. 1 (7). 88 Dürig, in: Maunz / Dürig (1958), Art. 1 Abs. 2, Rn. 73. 89 Dürig, in: Maunz / Dürig (1958), Art. 1 Abs. 2, Rn. 73. 90 Dürig, in: Maunz / Dürig, Art. 1 Abs. II GG, Rn. 81. 91 Dürig, in: Maunz / Dürig, Art. 1 Abs. II GG, Rn. 82 (Hervorhebung nicht im Original). Vgl. Murswiek, Die verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, S. 138.
II. Vereinbarkeit mit der Bindung an überpositives Recht?
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Der überpositive Charakter von Art. 1 Abs. 2 GG wird auch in der aktuellen Literatur von prominenter Seite vertreten.92 So verweist etwa Stern darauf, dass der Grund der Menschenrechte kein positivrechtlicher, kein staatsgesetzlicher sei – „er ist überpositiv“.93 Der Herkunft der Menschenrechte aus der Natur der Menschen entspreche es, dass sie nicht positiviert sein müssten. Als „ewige Rechte“ seien sie zeitlich und örtlich nicht begrenzt.94 Die Positivierung der Menschenrechte dürfe „nicht zu dem Irrtum führen, sie unterlägen nunmehr dem Schicksal dieser Gesetze“.95 Nach Isensee wirken die Menschenrechte nicht nur als Richtmaß der Grundrechtsauslegung, sondern auch als ihr „kritisches Korrektiv“ und als „überpositive Normreserve“ für den Fall menschenrechtlicher Lückenhaftigkeit der Verfassung.96 Die Grundrechte bilden in Isensees und Kirchhofs Meinung kein geschlossenes System, sondern „halten sich überpositiven Vorgaben offen“.97 Auch nach Badura erkennt das Grundgesetz „die vorstaatliche und überpositive Verpflichtung aller staatlichen Gewalt an“ und nimmt „nicht für sich in Anspruch, die unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte erst durch die Verfassung hervorzubringen“.98 Für diese Sichtweise finden sich Ansätze bereits in der Entstehungsgeschichte von Art. 1 GG. Der Grundgesetzgeber knüpfte an die freiheitlich-liberale Menschenrechtstradition der amerikanischen, englischen und französischen Erklärungen des 17. / 18. Jahrhunderts an und er hatte den Text der damals gerade von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verkündeten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vor Augen.99 In diesem Sinne bemühten sich einflussreiche Mitglieder des Parlamentarischen Rates, den naturrechtlichen Kerngedanken der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789 im Text des Grundgesetzes zu verankern.100 Im Parlamentarischen Rat wurde die Frage diskutiert, ob die Grundrechte zu betrachten seien als Rechte, „die der Staat verliehen hat, oder als vorstaatliche Rechte, als Rechte die der Staat schon antrifft, wenn er Siehe oben, S. 154, Fn. 85. Stern, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. V, § 108, Rn. 51. 94 Stern, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. V, § 108, Rn. 51. 95 Stern, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. V, § 108, Rn. 52. 96 Isensee, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. V, § 115, Rn. 36; vgl. auch Höfling, in: Sachs (Hrsg.), Art. 1, Rn. 61 f. 97 Isensee, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. V, § 115, Rn. 36; Kirchhof, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. I, § 19, Rn. 74. 98 Badura, Staatsrecht, C 1. 99 Vgl. AK-GG – Denninger, Art. 1 Abs. 2, 3, Rn. 1 ff., ders., JZ 1998, 1129 (1130); Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, Bd. I, Art. 1 Abs. 2, Rn. 109, 113 – jeweils m. w. N. 100 Vgl. Denninger, JZ 1998, 1129 (1130), wonach das Ziel jeder politischen Vergemeinschaftung die Bewahrung der „natürlichen und unveräußerlichen Menschenrechte“ sei. Vgl. Art. 2 der Erklärung vom 26. 8. 1789: „Le but de toute association politique est la conservation des droits naturels et imprescriptibles de l’homme . . .“; Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, Bd. I, Art. 1 Abs. 2, Rn. 110. 92 93
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D. Rechtssouveränität versus Volkssouveränität?
entsteht, und die er lediglich zu gewährleisten und zu beachten hat“.101 Von Mangoldt wollte ausdrücklich auf dem Naturrecht aufbauen. Der Abgeordnete Süsterhenn sprach von den Grundrechten als vor- und überstaatlichen Rechten, von „natürlichen, gottgewollten Rechten“. Es ließen sich auch Stimmen und Argumente hören, die einer entsprechen Untermauerung widersprachen.102 So machte Carlo Schmid grundsätzliche Vorbehalte geltend, indem er auf die Vielgestaltigkeit und inhaltliche Beliebigkeit von Naturrecht verwies. Zinn wandte sich gegen Naturrechtssätze und Heuss sah Naturrecht lediglich als Basis und Mittel einer moralischen Prüfung an.103 So setzte sich der Vorschlag einer Bezugnahme auf naturgegebene Rechte schließlich auch nicht durch; und es scheiterte im Hauptausschuss ebenso ein Antrag von DP, CDU / CSU und Zentrum, die Menschenrechte als „von Gott gegeben“ zu bezeichnen.104 Dennoch ist die Entstehungsgeschichte von Art. 1 Abs. 1 und Abs. 2 GG freilich nur vor dem Hintergrund der Naturrechtsrenaissance in Reaktion auf die Unrechtserfahrungen im Dritten Reicht zu verstehen.105 Das Grundgesetz knüpft unbestreitbar an die historische Tradition außerstaatlicher, auch naturrechtlich begründeter Menschenrechte an.106 Zu fragen ist aber doch, ob Art. 1 GG nicht eher „Engagement, Unterstützung, politische Handlungsanleitung“ dokumentieren soll,107 als überpositive Anerkennung, ob Art. 1 GG und die im Grundrechtskatalog des Grundgesetzes erfolgte Positivierung menschenrechtlicher Gehalte nicht eher an 101 So der Abgeordnete Schmid (SPD), 2. Sitzung des Plenums am 8. 9. 1948, Sten.Ber. S. 14 (zitiert bei Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, Bd. I, Art. 1 Abs. 2, Rn. 110. Vgl. zum Nachfolgenden Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, Bd. I, Art. 1 Abs. 2, Rn. 110 und H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG Bd. I, Art. 1 II, Rn. 3. 102 Vgl. zur Zwiespältigkeit der Beratungen im Parlamentarischen Rat auch AK-GG – Denninger, Art. 1 Abs. 2, 3, Rn. 3: „Im Grunde wollte man zweierlei, einander Ausschließendes: Einerseits wollte man eine positivierte Naturrechtsordnung beschließen, eine nach Rechtsgeltung und Legitimität auf naturrechtliche Grundsätze fundierte Verfassungsordnung. Und andererseits wollte man gerade eben dieses nicht, sondern unmittelbar anwendbares positives Recht schaffen. Einerseits betonte man den ,vorstaatlichen‘, ,überstaatlichen‘, unmittelbar in der Anerkennung der Menschenwürde als Höchstwert wurzelnden Charakter der fundamentalen Rechte, um sie einem pervertierenden Zugriff des (verfassungsändernden) Gesetzgebers zu entziehen, andererseits aber wollte man den unschlichtbaren Streit unterschiedlicher Naturrechtspositionen aus dem juristischen Alltag der Grundrechtsinterpretation heraushalten.“ 103 Heuss warnte im Parlamentarischen Rat davor, dass Verfassungsrecht mit Aufgaben der Theologie zu befrachten, JöR n. F. (1951), 49; vgl. hierzu auch Maunz / Dürig-Herdegen, Art. 1 Abs. 1 GG, Rn. 17. 104 Vgl. Parlamentarischer Rat, Hauptausschuß, 2. Lesung, 42. Sitzung v. 18. 1. 1949, Sten.Protokolle, S. 529 ff. (531). Siehe hierzu H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG Bd. I, Art. 1 II, Rn. 3; Maunz / Dürig-Herdegen, Art. 1 Abs. 1 GG, Rn. 17. 105 Vgl. Denninger, JZ 1998, 1129 (1130); Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, Bd. I, Art. 1 Abs. 2, Rn. 109. 106 Vgl. nur Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, Bd. I, Art. 1 Abs. 2, Rn. 109, 113. 107 Kunig, in: v. Münch / Kunig, Bd. I, Art. 1 Rn. 38; vgl. Denninger, JZ 1996, 585 ff.
II. Vereinbarkeit mit der Bindung an überpositives Recht?
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„die überpositive Dignität und Verankerung der Menschenrechte als Leitidee“ (Dreier)108 erinnern als auf eine überpositive Bindung des pouvoir constituant verweisen soll. So stellt Kunig fest, dass das „Bekenntnis“ nichts aussage über die Geltung des Bekannten als Recht.109 Nach Kunig wird Art. 1 Abs. 2 GG überdehnt, wenn man ihm eine „rechtsphilosophische Feststellung“ entnehme. Denninger stimmt dieser Argumentation Kunigs zu und folgt dessen Argument, wonach der Verfassungsgeber nicht über theoretische Fragen wie die nach dem Geltungsgrund von Normen außerhalb der eigenen Normsetzungsbefugnis befinden könne.110 Der Verfassungsgeber könne ihren Inhalt ausdrücklich normativ inkorporieren und sie damit zum Gegenstand der eigenen Gesetzes- oder Verfassungsgebung machen, wie er dies in Art. 25 GG mit den allgemeinen Regeln des Völkerrechts getan habe. Mit den Menschenrechten, so Denninger, sei dies aber gerade nicht geschehen.111 Auch Herdgen zeigt sich überrascht über das „zähe Festhalten am überpositiven Charakter der Menschenwürdegarantien und deren Deutung als verfassungsrechtliche Einbruchstelle für naturrechtliche Vorstellungen in Teilen der deutschen Staatslehre“.112 Wer bestreite, dass für die staatsrechtliche Betrachtung allein die (unantastbare) Verankerung im Verfassungstext und die Exegese der Menschenwürde als Begriff des positiven Rechts maßgeblich seien, könne nur auf das Hohepriestertum seiner höchstpersönlichen Ethik und deren Überzeugungskraft in der Gemeinschaft der Würdeinterpreten setzen. Verfassungsauslegung mit prognostizierbaren Ergebnissen lasse sich so nur in einer religiös und weltanschaulich homogenen Gemeinschaft erreichen.113 H. Dreier formuliert hingegen etwas vage, allerdings salomonisch und verweist darauf, dass die „letztlich theologische Wendung vom ,Bekenntnis‘ zu den Menschenrechten“ die Begrenztheit aller Staatsgewalt und den „nicht staatlichen Sinn staatlicher Organisation“ zum Ausdruck bringe.114 Mit Dreiers oben erwähnten Charaktisierung der Menschenrechte als bloßer „Leitidee“ und seinem Hinweis darauf, dass der Grundgesetzgeber keine bestimmte Naturrechtslehre verfassungsrechtlich für verbindlich erkläre, ist aber wohl auch Dreier kein Befürworter einer überpositiven Bindung des Verfassungsgebers. Die Annahme einer naturrechtlichen Bindung des Grundgesetzgebers begegnet in der Tat grundsätzlichen verfassungstheoretischen Bedenken.
H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG Bd. I, Art. 1 II, Rn. 12. Kunig, in: v. Münch / Kunig, Bd. I, Art. 1 Rn. 38. 110 Denninger, JZ 1998, 1129 (1131); vgl. Kunig, in: v. Münch / Kunig, Bd. I, Art. 1, Rn. 38. 111 Denninger, JZ 1998, 1129 (1131). 112 Maunz / Dürig-Herdegen, Art. 1 Abs. 1 GG, Rn. 17. 113 Maunz / Dürig-Herdegen, Art. 1 Abs. 1 GG, Rn. 17. 114 H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG Bd. I, Art. 1 II, Rn. 12. 108 109
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D. Rechtssouveränität versus Volkssouveränität?
bb) Zirkelschluss naturrechtlicher Bindung des pouvoir constituant Eine überpositive Rechtsbindung verfassungsgebender Gewalt verträgt sich nur schwer mit dem Wesen des pouvoir constituant. Verfassungsgebende Gewalt ist bereits begrifflich jeglichem positiven Recht geltungstheoretisch vorgelagert: Sie ist das Subjekt der Transformation von Verfassungstheorie in Verfassungsrecht.115 Als vorrechtliche Instanz kann sie rechtlichen Bindungen nicht unterliegen,116 gerade weil sich eine naturrechtliche Bindung des pouvoir constituant an dem Erkenntnisproblem überzeitlicher und überörtlicher Gültigkeit stößt: Wenn Naturrecht existieren würde, dann wäre es unbestreitbar staatlichem Recht übergeordnet. Dann würde es auch den Verfassungsgeber binden.117 Ob es verbindliches Naturrecht gibt, ist aber ein metaphysisches Problem.118 Naturrecht lässt sich nicht beweisen, sondern nur glauben, es ist nicht der Erkenntnis zugänglich, sondern nur des Bekenntnisses fähig,119 nur allgemein erahnbar, aber nicht sicher feststellbar120. So verweisen die Befürworter einer überpositiven Feststellung in Art. 1 GG selber darauf, dass in der Qualität als natürliche Rechte zugleich die Schwäche der Menschenrechte liege.121 Treffend formuliert Isensee: „Es gibt keinen (scil. allgemein verbindlichen) Kanon der Menschenrechte, und es kann auch niemals einen geben.“122 Eben wegen „des Erkenntnisproblems ist eine Bindung des pouvoir 115 Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgestzes, S. 384. Vgl. E.-W. Böckenförde, Die verfassunggebende Gewalt, S. 99: „Als pouvoir constituant, der der rechtlichen Verfassung vorausliegt, ist die verfassunggebende Gewalt des Volkes nicht durch die Verfassung selbst rechtlich normierbar und in ihren Äußerungen festlegbar. Sie hat und behält einen originären, unmittelbaren, auch elementaren Charakter; sie ist demzufolge in der Lage, sich – gerade als politische Größe – Äußerungsformen selbst zu suchen und zu schaffen.“ 116 Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgestzes, S. 384. Die Verfassungsgeber beruft sich auf historische, ideologische, philosopische, nicht aber rechtliche Legitimation, vgl. Henke, in: Der Staat 19 (1980), S. 181 ff. (204 ff.); H. H. Klein, in: FS für Karl Castens Bd. 2, S. 645 (658 f., Fn. 71). Die verfassungsgebende Gewalt ist keine rechtliche Befugnis (so aber Murswiek, Die verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, S. 189, 212 und 256; zur Kritik hieran: H. H. Klein, in: FS für Karl Castens Bd. 2, S. 645 (658 f., Fn. 71)), sie ist eine „ver-rechtlichte“ Befugnis. Rechtlich gesehen wird sie nicht konstituiert, sie konstituiert sich selber. 117 Murswiek, Die verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, S. 137: „Auch er ist Träger staatlicher Gewalt; auch für ihn gelten die vorstaatlichen Bindungen.“ 118 Murswiek, Die verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, S. 137. 119 Vgl. die Formulierung Radbruchs hinsichtlich Wertanschauungen als Behauptungen über die letzten Sollenssätze in: Radbruch, S. 96. 120 Vgl. auch Schreiber, Jurisprudenz auf dem Weg zum Recht, S. 99, der feststellt, dass das absolut Gerechte nur erahnt werden könne, es aber nicht verlässlich erkannt werden könne, was wirklich gerecht und richtig sei. 121 Stern, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. V, § 108, Rn. 51; vgl. ders., Staatsrecht Bd. III / 1, S. 38; Höfling, in: Sachs (Hrsg.), Art. 1, Rn. 61.
II. Vereinbarkeit mit der Bindung an überpositives Recht?
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constituant an ,das Naturrecht‘ oder ,das überpositive Recht‘ nicht möglich. Wird der Verfassunggeber auf konkrete ,Naturrechtssätze‘ verpflichtet, so stellt sich dies für unser Erkenntnisvermögen nicht als Bindung an ,das Naturrecht‘ dar, sondern an die Naturrechtsauffassungen derer, die den Verfassunggeber in Pflicht nehmen.“123 „Was ihr den Geist der Zeiten heißt, das ist im Grund der Herren eigner Geist“ (Goethe, Faust I)!124 Die Annahme einer überpositiven Bindung des Verfassungsgebers folgt auch hier dem Zirkelschluss, bedarf das Naturrecht doch erst einer Instanz, die „dem Naturrecht“ rechtliche Verbindlichkeit verschafft.125 Gerade weil Naturrecht ein Erkenntnisproblem ist, ist das Naturrechtsproblem zu allererst ein Kompetenzproblem verfassungsgebender Gewalt. In dem Umfang, in dem eine materielle überpositive Bindung den pouvoir constituant in seiner verfassungsgebenden Autonomie einschränkte, wäre seine verfassungsgebende Entscheidung bereits vorweggenommen.126 In anderen Worten: Naturrecht kann den pouvoir constituant nach dessen Selbstverständnis nicht binden, ohne dessen Verfassungsgebungskompetenz zu untergraben. Naturrechtsdenken folgt der Logik einer vorgeschalteten Kompetenz verfassungsgebender Gewalt. Die den Verfassungsgeber beschränkende (überpositive) Norm ist bereits Verfassungsgebung, ihr Interpret die eigentliche und damit den pouvoir constituant erst konstituierende Gewalt. Aus verfassungstheoretischer Sicht kann es indes eine Rechtsbindung einer einheitlich verfassungsgebenden Gewalt nicht geben.127 In diesem Sinne ist die Behauptung einer Naturrechtsverbindlichkeit ein der grundgesetzlichen Volkssouveränität gegenläufiges Prinzip. Das Grundgesetz stützt sich auf die einheitliche verfassungsgebende Gewalt des „Deutschen Vol122 Isensee, in: Modernes Freiheitsethos und christlicher Glaube, S. 70 (72); allgemein zu internationalen Bemühungen, universell geltende Menschenrechte zu begründen Denninger, Menschenrechte und Grundgesetz, 1994, S. 77 ff., 89 ff. 123 Murswiek, Die verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, S. 138. 124 Vgl. Wiethölter, Rechtswissenschaft, S. 45. 125 Vgl. Wiethölter, Rechtswissenschaft, S. 44. Geltung und Durchsetzung des Naturrechts bzw. überpositiven Rechts bedürfen einer Instanz, die ihre eigenen Naturrechtsvorstellungen garantiert (Murswiek, Die verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, S. 137). Zum Zirkelschluss vgl. auch Murswiek, a. a. O., S. 149: „1. Die Verfassung beruht auf der Entscheidung des Verfassunggebers. 2. Diese Entscheidung beruht auf einer naturrechtlichen Kompetenz. 3. Daß diese Kompetenz besteht und wie weit sie reicht, ergibt sich aus der Verfassung. 4. Diese beruht auf der Entscheidung des Verfassunggebers. 5. Diese beruht auf einer naturrechtlichen Kompetenz. 6. . . . – Aufbrechen lässt sich der Zirkel nur, wenn man sachlich bestimmt, welches die Instanz ist, die das letzte Wort über den Inhalt des Naturrechts hat. Diese Instanz kann das Naturrecht selbst nicht sein, weil es uns nicht offenbar ist.“ 126 Vgl. zu dieser verfassungstheoretischen Erkenntnis und zum Folgenden Murswiek, Die verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, S. 148. 127 Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, S. 384 f.
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D. Rechtssouveränität versus Volkssouveränität?
kes“. Vom grundgesetzlichen Verständnis verfassungsgebender Gewalt kommt mithin auch nur die verfassungsgebende Gewalt des Deutschen Volkes als die Instanz in Betracht, welche die Geltung von Naturrecht für das Grundgesetz verbindlich feststellen kann.128 Wie sieht es aber mit einer verfassungsgesetzlich diktierten überpositiven Bindung der verfassten Gewalten aus, etwa durch die Anknüpfung an die naturrechtliche Tradition der Menschenrechte in Art. 1 GG und bestimmter Grundrechte oder durch die offene Formulierung der Bindung der Rechtsanwendung an „Gesetz und Recht“ in Art. 20 Abs. 3 GG?
2. Überpositive Bindung der pouvoirs constitués? Dem pouvoir constituant ist es unbenommen, sich zu Naturrecht zu bekennen und seine eigenen Vorstellungen von Naturrecht in die Verfassung zu übernehmen. Ebenso wie er seine eigene Kompetenz zur Verfassungsgebung (in gewisser Weise naturrechtlich) voraussetzt,129 kann er materielle Naturrechtswerte voraussetzen und diesen durch ihre Positivierung rechtliche130 Verbindlichkeit für die verfasste Ordnung verschaffen. Das im Akt der Verfassungsgebung vom pouvoir constituant vorausgesetzte Naturrecht folgt zwar der Logik einer selbstverordneten, subjektiven Unverfügbarkeit. Für die pouvoirs constitués könnte es sich indessen als unverfügbar im Rechtssinne darstellen, als positiviertes, aber den Naturrechtscharakter bewahrendes überpositives Recht. In diesem Sinne könnte in dem Menschenrechtsbekenntnis und in der Positivierung weiterer Rechtswerte naturrechtlicher Provenienz der überpositive Ansatz des Grundgesetzes (auch) für die Radbruchsche Formel gesucht werden.
a) Verfassungsgesetzliche Positivierung von Naturrecht Einige Normen des Grundgesetzes enthalten Naturrechte wie trojanische Pferde131, beispielsweise der Gleichheitssatz132. Mit ihrer Positivierung hat das Grund128 „Das Volk als Subjekt des pouvoir constituant ist die Instanz, deren Kompetenz zur Auslegung des Naturrechts mit letzter Verbindlichkeit das Grundgesetz voraussetzt“, Murswiek, Die verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, S. 149 (vgl. auch S. 148 f. und 223). Vgl. Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, S. 384. 129 „Der Grundgesetzgeber hat die rechtliche Befugnis des Volkes, seine Verfassung zu bestimmen, dem Wortlaut nach nicht gesetzt, sondern vorausgesetzt“, Murswiek, Die verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, S. 146. Nach Murswiek ist die verfassunggebende Gewalt nach der Präambel eine „naturrechtliche Befugnis“, a. a. O., S. 138. 130 Vgl. Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgestzes, S. 385; Murswiek, Die verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, S. 146 f. 131 Vgl. Schulze-Fielitz, in: H. Dreier (Hrsg.), Bd. II, Art. 20 (Rechtsstaat), Rn. 76: „Schleusenbegriffe“.
II. Vereinbarkeit mit der Bindung an überpositives Recht?
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gesetz indessen das naturrechtliche Erkenntnisproblem und damit auch das Geltungsproblem133 gelöst und nicht etwa an die pouvoirs constitués weitergereicht. Es kann Starcks Ausführungen gefolgt werden, wonach das Grundgesetz von der überlieferten moralischen und teilweise auch soziologisch feststellbaren Geltung der naturrechtlich begründeten Menschenrechte ausgeht. „Auf dieser Grundlage bringt [das Grundgesetz] die Menschenrechte und weitere Rechte – die legitimierende Kraft des Naturrechts nutzend – in den Grundrechten zur normativen Geltung, was in Art. 1 Abs. 3 GG ausdrücklich hervorgehoben und durch positives Prozessrecht (Art. 19 Abs. 4, Art. 93 Abs. 1 Nr. 2, 4a, Art. 100 Abs. 1 GG) besonders gesichert wird.“134 Insbesondere der Hinweis auf das Verfassungsprozessrecht ist wertvoll. Es garantiert erst die Durchsetzbarkeit der vom pouvoir constituant rezipierten Rechtswerte naturrechtlichen Ursprungs. Die naturrechtlich geprägte Diskussion „verfassungswidrigen Verfassungsrechts“ hat gezeigt, dass der Rechtspraxis der Anschluss an die Kompetenzordnung nicht gelingt: Die Normverwerfungskompetenz wird nicht aus Art. 100 Abs. 1 GG heraus begründet, sondern in einer diffusen Idee des Wesens richterlicher Prüfungszuständigkeit gefunden.135 Man wird also Dreier zustimmen können, dass die zentralen Theoreme der neuzeitlichen Staatsphilosohpie, insbesondere des rationalen Naturrechts, mit der Aufnahme in die Verfassung eine „Transformation“ erfahren haben:136 „Sie teilen den Rechtscharakter der Verfassung und sind den Regeln der juristischen Methodik gemäß auszulegen“.137 Das Argument Dreiers hat Gewicht, wenn er auf die Verknüpfung zwischen der Positivierung des Menschenrechtsbekenntnisses in Art. 1 Abs. 2 GG und der unmittelbaren, justiziablen Geltung der im Grundgesetz ausdrücklich genannten Grundrechte in Art. 1 Abs. 3 GG hinweist und folgert: „Nach diesem vom Verfassunggeber selbst festgelegten Grundrechtskatalog und nicht nach einem wie auch immer gearteten Naturrechtskodex richtet sich die Bindung staatlicher Gewalt“.138 132 Vgl. zur Debatte des Gleichheitssatz als überpositiver Rechtsgrundsatz über den Wertgehalt des Art. 1 Abs. 1 GG hinaus etwa BVerfGE 1, 208 (233); 23, 98 (106 f.); 84, 90 (121); Dürig, in: Maunz / Dürig, Art. 3 Abs. 1, Rn. 2, 273; H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG Bd. I, Art. 3, Rn. 15. 133 Vgl. zum allgemeinen Phänomen der Rechtsgeltung (normativ und empirisch) Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, S. 87 ff., mit Verweis im normativen Bereich auf Kelsen (Kelsen begegnet der Zirkelkonstruktion – die Geltung von Rechtsnormen könne nicht ihrerseits auf eine Rechtsnorm gestützt werden – mit der sog. Grundnorm), Hasso Hofmann, Habermas und Gröschner. 134 Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, Bd. I, Art. 1 Abs. 2, Rn. 114. 135 Siehe oben S. 42 ff., 50 ff., 57 f. sowie S. 68 ff. 136 H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG Bd. I, Vorb., Rn. 69, vgl. auch a. a. O., Art. 1 II, Rn. 2 und 12. Zum Prozess der Positivierung des Rationalen Naturrechts R. Dreier, Recht-StaatVernunft, S. 36; Hoerster, JuS 1987, 181 (186); Hofmann, Rechtsphilosophie, in: P. Koslowski (Hrsg.), S. 118 ff. (123). 137 H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG Bd. I, Vorb., Rn. 69. 138 H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG Bd. I, Vorb., Rn. 69; vgl. auch Denninger, JZ 1996, 585 (589).
11 Dieckmann
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Die Rechtsprechung knüpft in bemerkenswerter Weise nicht an das sie rechtlich bindende Bekenntnis des Volkssouveräns zu den Menschenrechten an;139 aber nicht etwa, weil sie die dargelegten Bedenken teilt. Vielmehr begründet sie, wie die Rezeption der Radbruchschen Formel gezeigt hat, die Überpositivität rechtsethisch, frei von grundgesetzlicher Positivierung. Sie beruft sich auf die legitimierende Kraft des Naturrechts und nicht auf die legitimierende Kraft der Volkssouveränität – auch wenn sie sich in paradoxer Weise materiell im Rahmen verfassungsgesetzlich positivierter Rechtswerte naturrechtlicher Provenienz bewegt. Den Ansatz für diese Methodik könnte allenfalls Art. 20 Abs. 3 GG bieten. Mit seinem Postulat der „Rechtsbindung“ von Judikative und Exekutive steht er allerdings in einer scheinbar eigentümlichen Schieflage zu der konkreten Ausgestaltung von Rechtswerten naturrechtlichen Ursprungs in den Grundrechten: Art. 20 Abs. 3 GG formuliert keinen greifbaren Gerechtigkeitswert. Die Formulierung der Bindung der Rechtsanwendung an „Gesetz und Recht“ ist folglich Anlass für einen Jahrzehnte währenden Streit über die Frage, ob das „Recht“ über das „Gesetz“ hinausgehende, naturrechtliche140 Maßstäbe für das Handeln der Rechtsanwendung bereithält.141 Dreier belegt a. a. O. diese Auffassung mit der Rechtsprechung des BVerfG. Das BVerfG hat jedoch im Kontext des Gleichberechtigungsgebots im Bereich der elterlichen Gewalt die verfassungsrechtliche Prüfung auf der Grundlage naturrechtlicher Vorstellung nicht per se abgelehnt. Vielmehr hat das Gericht sie für den Bereich außerhalb fundamentaler Rechtssätze ausgeschlossen, vgl. BVerfGE 10, 59 (81): „Die verfassungsrechtliche Prüfung an diesen Vorstellungen zu orientieren, verbietet sich jedoch schon durch die Vielfalt der Naturrechtslehren, die zutage tritt, sobald der Bereich fundamentaler Rechtsgrundsätze verlassen wird.“ 139 Auch der einsame Rekurs auf Art. 1 Abs. 2 GG im Bodenreformurteil knüpft nicht an einer möglichen überpositiven Öffnung der Verfassung an. Art. 1 Abs. 2 GG erlangt dort gerade keine eigenständige normative Bedeutung. Die „grundlegenden Gerechtigkeitspostulate“ erscheinen zwar als positiviertes überpositives Recht, verweilen aber im Überpositiven. Vgl. hierzu oben, S. 99 ff. 140 Einigkeit besteht hingegen darüber, dass die Bindung an Gesetz und Recht als Bindung an die Verfassung und an förmliche Gesetze wie auch an alle anderen Rechtsvorschriften, insbesondere Rechtsverordnungen und Satzungen, Gewohnheitsrecht und unmittelbar anwendbares EU-Recht zu verstehen ist, nicht hingegen an Richterrecht und Verwaltungsvorschriften (vgl. nur Jarass, in: Jarass / Pieroth, Art. 20 Rn. 38; Schnapp, in: v. Münch / Kunig, Bd. II, Art. 20, Rn. 44 ff.; Schulze-Fielitz, in: H. Dreier (Hrsg.), Bd. II, Art. 20 (Rechtsstaat), Rn. 84; Sachs, in: ders. (Hrsg.), Art. 20, Rn. 106 f.; Schmidt-Aßmann, in: FS für Klaus Stern, S. 745 (747)). 141 Vor allem das Verhältnis zu der kürzeren Formulierung in Art. 97 Abs. 1 GG – Bindung des Richters nur an das Gesetz – hat zu einer Auseinandersetzung darüber geführt, ob eine sachliche Identität beider Bindungsklauseln besteht: bejahend etwa Barbey, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. III, § 74, Rn. 32; Detterbeck, in: Sachs (Hrsg.), Art. 97, Rn. 11; AK-GG – Wassermann, Art. 97, Rn. 52; Herzog, in: Maunz / Dürig, Art. 97, Rn. 4 f.; ablehnend etwa Meyer, in: v. Münch / Kunig, Bd. III, Art. 97, Rn. 23; Heyde, in: HdBVerfR, Teil 2, § 33, Rn. 92 f.; BK-Holtkotten, Art. 97, Anm. 2bá (1968)). Diese Frage ist eng mit derjenigen nach einem möglichen naturrechtlichen Maßstab verknüpft und wird insbesondere von den Vertretern der Identitätsthese in diesem Kontext angeführt. Vgl. hierzu die nachfolgende Darstellung.
II. Vereinbarkeit mit der Bindung an überpositives Recht?
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b) Art. 20 Abs. 3 GG: Gesetz und Naturrecht? Man kann mit Schmidt-Aßmann unbestritten feststellen, dass das Grundgesetz mit der „getragenen aber unscharfen Formel von ,Gesetz und Recht‘“ auf die Idee der Gerechtigkeit hinführen will.142 Art. 20 Abs. 3 GG nimmt den Gedanken des Art. 1 Abs. 2 GG wieder auf.143 Er „erinnert daran, daß die lex nicht schlechthin ius ist, daß es nicht ausgeschlossen ist, sie im Widerspruch zum Recht zu sehen.“144 Verleiht Art. 20 Abs. 3 GG dem „Recht“ im Grundgesetz damit aber tatsächlich einen „transpositiven Zug“145?
aa) Meinungsstand Die Auffassungen zu der Formel „Gesetz und Recht“ in Art. 20 Abs. 3 GG können im Kontext der naturrechtlichen Frage unter drei Thesen gestellt werden: die Identitätsthese, die Transpositivitätsthese und die These von der verfassungsrechtlichen Legalität. (1) Identitätsthese Ein Teil der Literatur hält die Formulierung „Gesetz und Recht“ für eine Tautologie.146 Die Argumente hierfür sind vielfältig. Nicht so sehr im Vordergrund, wie es nach der Kritik der Gegenauffassung147 den Eindruck erwecken könnte, steht indes das Argument des sachlichen Widerspruchs zu Art. 97 Abs. 1 GG148, wonach die Richter unabhängig und „nur dem Gesetz unterworfen“ sind. In der Tat wirkt der nicht näher begründete Verweis auf den Widerspruch zu Art. 97 Abs. 1 GG apodiktisch, bleibt er doch der Antwort schuldig, warum „die eine Formel (in Art. 97 Abs. 1 GG) richtig und die andere (in Art. 20 Abs. 3 GG) falsch“ sein soll.149 Das Argument des Widerspruchs gewinnt jedoch im Zusammenspiel mit Schmidt-Aßmann, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. II, § 26, Rn. 41. Schmidt-Aßmann, in: FS für Klaus Stern, S. 745 (746). 144 Stern, Staatsrecht I, § 20 IV 4 a, S. 799. 145 Vgl. Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, S. 91. 146 AK-GG – Frankenberg, Art. 20 Abs. 1 – 3 IV Rn. 25; AK-GG-Bäumlin / Ridder, Art. 20 Abs. 1 – 3, III Rn. 55; Jarass, in: Jarass / Pieroth, Art. 20, Rn. 38; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 195, 197; vorsichtiger indessen Schnapp, in: v. Münch / Kunig, Bd. II, Art. 20, Rn. 43: „Die Formel ,Gesetz und Recht‘ tendiert dabei zu einer Tautologie“ (Hervorhebung nicht im Original). Wohl auch Badura, Staatsrecht, D 58, S. 326. 147 Vgl. etwa Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, S. 91 f.; Stern, Staatsrecht Bd. I, § 20 IV 4 a, S. 798; Herzog, in: Maunz / Dürig, Art. 97, Rn. 5; vgl. Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, S. 491. 148 AK-GG – Frankenberg, Art. 20 Abs. 1 – 3 IV Rn. 25; AK-GG-Bäumlin / Ridder, Art. 20 Abs. 1 – 3, III Rn. 55; Jarass, in: Jarass / Pieroth, Art. 20, Rn. 38; Schnapp, in: v. Münch / Kunig, Bd. II, Art. 20, Rn. 43. 142 143
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Art. 100 Abs. 1 GG in dem Maße an Gewicht, wie es in der Kritik durch die Transpositivitätsthese an Bedeutung verliert.150 So verweist Badura auf den inneren Zusammenhang des richterlichen Prüfungsrechts mit der Unabhängigkeit und der Unterwerfung des Richters nur unter das Gesetz.151 Badura folgert hieraus, dass Art. 20 Abs. 3 GG dem Richter keine Möglichkeit für eine „naturrechtliche Kritik“ des Geseztes eröffne.152 Der Richter könne ein Gesetz vielmehr nur bezüglich einer Verfassungswidrigkeit beanstanden und müsse in diesem Fall nach Art. 100 Abs. 1 GG vorgehen. Vor allem Frankenberg verweist auf die „Paradoxie positivierten überpositiven Rechts“ in einer geschriebenen Verfassung. Er betont den „allzu offenen Widerspruch“, wenn „eine geschriebene Verfassung einerseits ihren Vorrang kodifizierte (bes. in Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3 und 93 Abs. 1 Nr. 2 u. 4a) und andererseits die Möglichkeit eröffnete, subjektive und unüberprüfbare Vorstellungen ,gerechten Rechts‘ gegen das verfassungsmäßige Gesetz auszuspielen“.153 In diese Richtung geht auch die Äußerung von Schnapp, Recht sei ein offener Begriff und das Grundgesetz enthalte keine Aussage darüber, was unter „Recht“ zu verstehen sei, so dass die Gesetzmäßigkeit nicht gegen die Rechtmäßigkeit ausgespielt werden könne.154 Insbesondere eröffne die Formel „Gesetz und Recht“ nicht die Möglichkeit, „subjektivistische Gerechtigkeitsvorstellungen an die Stelle der positivierten Werteordnung des Grundgesetzes treten zu lassen“. Hesse überträgt das Rechtssicherheitsargument aus dem ewigen Streit zwischen Rechtspositivismus und Naturrecht auf Art. 20 Abs. 3 GG. Art. Dieser eröffnet nach Hesse keine Möglichkeit, sich unter Berufung auf das „Recht“ über das „Gesetz“ hinwegzusetzen. Dies führe nicht nur zu einer Verschiebung der verfassungsmäßigen Funktionen, sondern auch zu dem Verlust der rationalisierenden und stabilisierenden Wirkung der lex sripta.155 Lesenswert sind schließlich die Ausführungen von Bäumlin und Ridder. Sie analysieren die Frage nach der Rechtsbindung im Lichte des (intra-konstitutionellen) Vgl. Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, S. 92. Badura, Staatsrecht, D 58, S. 326; AK-GG – Frankenberg, Art. 20 Abs. 1 – 3 IV Rn. 25. Frankenberg verweist a. a. O. zudem auf die Pflicht zur verfassungskonformen Auslegung. Vgl. auch Benda, in: HdBVerfR, Teil 1, § 17, Rn. 29, der allerdings nicht der Identitätsthese zugerechnet werden kann. 151 Badura, Staatsrecht, D 58, S. 326. Interessant ist dabei, dass Badura im Kontext von Art. 1 Abs. 2 GG die überpositive Verpflichtung aller staatlichen Gewalt anerkennt, a. a. O., C 1, S. 82. 152 Badura, Staatsrecht, D 58, S. 326. 153 AK-GG – Frankenberg, Art. 20 Abs. 1 – 3 IV Rn. 25. Vgl. auch Jarass, in: Jarass / Pieroth, Art. 20, Rn. 30 und Schnapp, in: v. Münch / Kunig, Bd. II, Art. 20, Rn. 43. 154 Schnapp, in: v. Münch / Kunig, Bd. II, Art. 20, Rn. 43, in Anlehnung an R. Schreiber, Die Geltung von Rechtsnormen, 1966, S. 221, und Forsthoff, Verwaltungsrecht, Vorwort zur 7. Auflage. 155 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 195. 149 150
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Prinzips der Volkssouveränität.156 Die demokratische Mehrheitsherrschaft sei zwar letztlich ein Fall des „Absolutismus“, dem durch Mäßigung der Staatsgewalt vorzubeugen das Rechtsstaatsprinzip historisch eigentlich erst auf den Plan getreten sei. Ein rechtsstaatliches Denken, nach dem Legalität lediglich Legitimität indiziere, entspreche allerdings nicht dem grundgesetzlichen Verständnis des Rechtsstaats, welcher auf dem demokratischen Prinzip der Volkssouveränität fuße. „Alle vom antidemokratisch-,rechtsstaatlichen‘ Legitimitätsdenken in Bewegung gesetzten Operationen mit der Formel ,Gesetz und Recht‘ des Art. 20 Abs. 3 GG“ liefen darauf hinaus, „mit Hilfe solchen ,Rechts‘ die Volkssouveränität auszuhebeln“. Sie setzten „Art. 20 Abs. 2 Satz 1, der die Volkssouveränität als Verfassungsrechtssatz“ positiviere, „mit Hilfe des nicht positivierten, von einer ideologischen Suchbewegung erfundenen ,Rechtsstaatsprinzips‘ außer Kraft“.157 (2) Transpositivitätsthese Die Transpositivitätsthese wird vor allem gekennzeichnet durch den viel zitierten Satz Sterns: „Legalität indiziert Legitimität.“ 158 Ein Großteil der Literatur versteht die Formel „Gesetz und Recht“ als Ablehnung eines „engen Gesetzespositivismus“ bzw. „positivrechtliche Grundlage für die überpositiv verankerte Pflichtigkeit der Staatsgewalt“159: in „ganz vereinzelten Ausnahmefällen“ wird hiernach „bei der richterlichen Entscheidung ein Mehr an Recht als Korrektiv gegenüber dem geschriebenen Recht“160 zugelassen.161 Ausgangspunkt der Transpositivitätsthese ist das Verständnis des Rechtsstaats als materieller Rechtsstaat.162 Die Grundlage für die Interpretation des rechtsstaatlichen Prinzips bzw. der Rechtsbindung bildet die in der Tat unbestrittene163 These, dass AK-GG-Bäumlin / Ridder, Art. 20 Abs. 1 – 3, III Rn. 55. AK-GG-Bäumlin / Ridder, Art. 20 Abs. 1 – 3, III Rn. 55 a. E. 158 Stern, Staatsrecht Bd. I, § 20 IV 4 a, S. 800. 159 Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, S. 90. 160 Görisch, JuS 1997, 988 (989). 161 Hierzu zählen aus der älteren Literatur etwa BK-Holtkotten, Art. 97, Erl. 2. b á); Darmstädter, NJW 1957, 769 (770); Schnorr, AöR 85 (1960), 121 (136 ff., 139); F. Klein, in: v. Mangoldt / Klein, Bd. I, 2. Aulf. (1966), Art. 20 GG, Anm. VI 4 f., S. 604; Kirchhof, in: BVerfG-Festgabe Bd. II, S. 50 (61); Herzog, in: Maunz / Dürig, Art. 20 GG, VI., Rn. 53 f.; Maunz, Deutsches Staatsrecht, S. 75; Stern, Staatsrecht Bd. I, § 20 IV 4, S. 796 ff. und Staatsrecht Bd. II, § 43 II 4, S. 913; Ossenbühl, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. III, § 61 Rn. 18; aus der neueren Literatur etwa: Zippelius, in: Maunz / Zippelius, § 13 III, S. 94; Heyde, in: HdBVerfR, Teil 2, § 33, Rn. 92 f.; Görisch, JuS 1997, 988 (989); Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, S. 90 ff.; Sachs, in: ders., Art. 20, Rn. 104. 162 Zum „formellen“ und „materiellen“ Rechtsstaat vgl. an dieser Stelle nur Schulze-Fielitz, in: H. Dreier (Hrsg.), Art. 20 (Rechtsstaat), Rn. 44 ff. mit umfassenden weiteren Nachweisen. 163 Stern, Staatsrecht Bd. I, § 20 IV 4 a, S. 796 f., verweist zu Recht darauf, dass, wie auch immer beide Rechtswerte zu deuten seien, als Bestandteile der Rechtsstaatlichkeit seien sie unbestritten. 156 157
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das Recht als Grundbedingung des Rechtsstaats mit der Idee der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit untrennbar verbunden ist.164 Die Transpositivitätsthese stützt sich im Kern auf das historische Argument der Unrechtserfahrung; die Unrechtsherrschaft des Dritten Reichs stand dem Parlamentarischen Rat noch vor Augen. Angesichts der Positivierung grundlegender Gerechtigkeitspostulate naturrechtlicher Verfassungstraditionen im Grundgesetz165 wird die These von der Erkenntnis geleitet, dass sich Gesetz und Recht im Allgemeinen zwar faktisch, aber nicht notwendig und nicht immer decken.166 Im Sinne des nicht denkunmöglichen167 Auseinanderklaffens von Recht und Gesetz weise Art. 20 Abs. 3 GG auf die extreme Sondersituation hin, die mit Mitteln des geschriebenen Rechts nicht zu lösen seien.168 Diese könnte mit der Radbruchschen Formel gekennzeichnet werden.169 Die Formel von der Bindung an „Gesetz und Recht“ bildet in den Augen der Anhänger der Transpositivitätsthese mithin so etwas wie die letzte Reserve, eine Art Widerstandsrecht der vollziehenden Gewalten gegen die (vorsätzlich handelnde oder irrende?) Legislative, sogar gegen den ursprünglichen Verfassungsgesetzgeber. Die Verweise auf die „ewige Spannung zwischen Gesetz und Recht“, die sich „bis zum völligen Widerspruch verdichten“170 könne, die Wendung der denkmöglichen Diskrepanz, etc. knüpfen dabei an alte Formulierungen des Bundesverfassungsgerichts an, welches an die nicht „denknotwendig entrückte“ Gefahr erinnerte, „jene äußersten Grenzen der Gerechtigkeit zu überschreiten“.171 Die Rethorik scheint, wie Sobota feststellt, dem „nicht näher begründeten Gefühl“ zu folgen, die Denkbarrieren der reinen Rechtslehre Kelsens überwinden zu müssen.172 Diese Überzeugung soll durch eine Reihe weiterer grammatischer und systematischer Argumente untermauert werden, die jedoch eher an die Logik dieser Überzeugung anknüpfen, als dass sie eine wirkliche Auseinandersetzung mit Wortlaut und Systematik liefern. So begnügt sich die Wortlautargumentation mit der Diagnose, dass die Annahme einer Tautologie bereits dem „klaren Wortlaut“ der Norm widerspreche,173 wie auch der schlichte Verweis auf das Bekenntnis zu den Stern, Staatsrecht Bd. I, § 20 IV 4 a, S. 796; vgl. Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, S. 86 ff. Schulze-Fielitz, in: H. Dreier (Hrsg.), Art. 20 (Rechtsstaat), Rn. 48. 166 Vgl. etwa Stern, Staatsrecht Bd. I, § 20 IV 4 a, S. 798 f.; Sachs, in: ders., Art. 20, Rn. 104; Heyde, in: HdBVerfR, Teil 2, § 33, Rn. 92 f.; Görisch, JuS 1997, 988 (989); Ossenbühl, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. III, § 61 Rn. 18. 167 Stern, Staatsrecht Bd. I, § 20 IV 4 a, S. 799, zitiert Maunz-Dürig, in: Maunz / Dürig, Art. 20, Abschn. IV, Rn. 59 (1960): nicht „denkunmöglich“. 168 Vgl. Görisch, JuS 1997, 988 (989). 169 Vgl. Stern, Staatsrecht Bd. I, § 20 IV 4 a, S. 799; Herzog, in: Maunz / Dürig, Art. 20, Abschn. IV, Rn. 54. 170 Stern, Staatsrecht Bd. I, S. 798 f. unter Berufung auf v. Mangoldt / Klein. 171 Vgl. Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, S. 97. 172 Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, S. 97. Siehe dort auch die Ausführungen Sobotas zur Dimension des Gefühlsmäßigen in der aufkeimenden Debatte der neunziger Jahre und zum Brückenschlag zu Aristoteles. 173 Heyde, in: HdBVerfR, Teil 2, § 33, Rn. 93. 164 165
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Menschenrechten in Art. 1 Abs. 2 GG in der Feststellung verweilt, dass dem Grundgesetz ein „Recht-vor-Gesetz-Denken“ nicht fremd sei.174 Ebenso knapp fallen die Ausführungen zu Art. 97 Abs. 1 und 100 Abs. 1 GG im Kontext der Auslegung von Art. 20 Abs. 3 GG aus. So meint Stern, dass die unterschiedlichen Formulierungen in Art. 20 Abs. 3 und 97 Abs. 1 GG ohne Bedeutung seien: bei Art. 20 Abs. 3 GG gehe es um das Prinzip, bei Art. 97 Abs. 1 GG um die Ausformung für den Regelfall des Rechtssprechens, in dem dem Richter die Berufung auf „Freirecht“, „Naturrecht“ oder auf subjektiv für Recht Gehaltenes verwehrt werde.175 Heyde folgt dieser Argumentation, wenn er ohne nähere Begründung feststellt, Art. 97 Abs. 1 GG sei im Lichte des Art. 20 Abs. 3 GG auszulegen.176 Eine Auseinandersetzung mit Art. 97 Abs. 1 GG erfolgt damit nicht. Gleiches gilt letztlich für Art. 100 Abs. 1 GG, wobei die Ausführungen hierzu eher verblüffen, da sie entweder jegliche Begründung vermissen lassen oder aber sogar im Widerspruch zur vertretenen Transpositivitätsthese stehen. Während etwa Holtkotten und Stern überpositives Recht als Prüfungsmaßstab im Rahmen von Art. 100 Abs. 1 GG ohne Begründung gelten lassen,177 verweigert Heyde eine Prüfungskompetenz am Maßstab überpositiven Rechts mit Verweis auf die erfolgte Kodifizierung der Gerechtigkeitsidee im Grundgesetz.178 Bei Heyde bleibt das in Art. 20 Abs. 3 GG angelegte Spannungsverhältnis damit interessanterweise nicht auflösbar. Es scheint, dass es für ihn Sondersituationen gibt, die mit Mitteln auch des ungeschriebenen Rechts nicht zu lösen sind. Die Rezeption der Radbruchschen Formel hat sicherlich nicht zu einer subjektivistischen Gerechtigkeitsjustiz geführt. Der Verweis hierauf mag beruhigen.179 Der „Ausnahmefall“ der Unrechtsaufarbeitung hat aber doch gezeigt, wie problematisch der Rekurs auf das Überpositive sich im Verhältnis zum grundgesetzlichen Rückwirkungsverbot verhält. (3) Legitimität aus verfassungsrechtlicher Legalität Ein weiterer Teil der Lehre180 sucht den Maßstab der Konfliktlösung im „Sinnganzen“181 der Verfassung und und sieht hierin zugleich die Lösung des Instabili174 Stern, Staatsrecht Bd. I, § 20 IV 4 a, S. 798; unklar hierzu Meyer, in: v. Münch / Kunig, Bd. 3, Art. 97, Rn. 23, mit Verweis auf die „Glaubensbekenntnisse“. 175 Stern, Staatsrecht Bd. I, § 20 IV 4 a, S. 798. 176 Heyde, in: HdBVerfR, Teil 2, § 33, Rn. 92 f. 177 BK-Holtkotten, Art. 97, Anm. 2 b á (1968); Stern, Staatsrecht Bd. II, § 43 II 5, S. 913 und § 44 IV 5, S. 992. 178 Heyde, in: HdBVerfR, Teil 2, § 33, Rn. 92 f. mit Verweis auf Benda, in: HdBVerfR, Teil 1, § 17, Rn. 29. 179 Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, S. 98, hebt zu Recht hervor, „dass sich mit dem inzwischen beständigen Kurs des Bundesverfassungsgerichts keine subjektivistische Gerechtigkeitsjustiz etabliert hat“. 180 Vgl. aus der älteren Literatur Evers, Der Richter und das unsittliche Gesetz, S. 107; BK-Wernicke, Art. 20 GG, S. 11; Bettermann, in: Bettermann / Nipperdey / Scheuner, Die
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tätsproblems182. Sie findet ihre Grundlage nicht zuletzt in der Argumentation des Bundesverfassungsgerichts(!) zu Art. 20 Abs. 3 GG in dem berühmten Soraya-Beschluss183. Die These stützt sich verfassungstheoretisch auf die Verwirklichung bzw. konkrete Ausgestaltung der Herrschaft des (demokratisch erzeugten) Rechts (unter anderem) im Vorrang der Verfassung184 und ist damit zumindest mit Teilen der Identitätsthese verwandt185. Die Bestimmung des Rechts solle nicht der subjektiven Beliebigkeit unterliegen bzw. naturrechtlich ausgerichteten Reflexionen ausgeliefert werden.186 Durch Inkorporation grundlegender Gerechtigkeitsprinzipien der praktischen Vernunftphilosophie187 in Gestalt von Grundrechten und Staatszielen mache das Grundgesetz die „Gerechtigkeitsidee dogmatisch greifbar und rechtspraktisch umsetzbar“.188 Wenn der Verfassungsgeber aber alle Staatsgewalt an bestimmte Gerechtigkeitskriterien gebunden habe, dann könnten andere Grundrechte, S. 531 f.; Merten, DVBl. 1975, 677 (678); Starck, VVDStRL 34 (1976), S. 43 ff. (49); Roellecke, VVDStRL 34 (1976), S. 7 ff.; Gusy, JuS 1983, 189 (193); aus der neueren Literatur: Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, S. 492 ff.; Hain, Die Grundsätze des Grundgesetzes, S. 381; Schulze-Fielitz, in: H. Dreier (Hrsg.), Bd. II, Art. 20 (Rechtsstaat), Rn. 48 f., 85; Schmidt-Aßmann, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. II, § 26, Rn. 42 ff.; ders., in: FS für Klaus Stern, S. 745 (746 f.); wohl auch Meyer; in: v. Münch / Kunig, Art. 97, Rn. 23, der eine Tautologie ablehnt und offenbar ein Prüfungsrecht bzw. Verwerfungsrecht am Maßstab überpositiven Rechts ablehnt. 181 Im Soraya-Beschluss führte das Bundesverfassungsgericht zu Art. 20 Abs. 3 GG aus, dass die Formel „Gesetz und Recht“ das Bewußtsein aufrecht halte, „daß sich Gesetz und Recht zwar faktisch im Allgemeinen, aber nicht notwendig und immer decken. Das Recht ist nicht mit der Gesamtheit der geschriebenen Gesetze identisch. Gegenüber den positiven Satzungen der Staatsgewalt kann unter Umständen ein Mehr an Recht bestehen, das seine Quelle in der verfassungsmäßigen Rechtsordnung als einem Sinnganzen besitzt und dem geschriebenen Gesetz gegenüber als Korrektiv zu wirken vermag“ (BVerfGE 34, 269 (286 f.)). 182 Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, S. 493. 183 BVerfGE 34, 269 ff. Im Soraya-Beschluss wird die Frage der Verbindlichkeit überpositiven Rechts indes nicht diskutiert. Behandelt wird vielmehr die Frage gesetzeskorrigierenden Richterrechts. 184 Vgl. hierzu die Ausführungen von Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, S. 488 ff., m. w. N. 185 Es fragt sich sogar, ob die von dieser Meinung selbst vorgenommene Abgrenzung zur Tautologiethese nicht letztlich auf einer zu wörtlich genommenen Interpretation des Begriffs „Tautologie“ beruht. 186 Schmidt-Aßmann, in: FS für Klaus Stern, S. 745 (746); ders., in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. II, § 26, Rn. 42; Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, S. 493; Schulze-Fielitz, in: H. Dreier, Bd. II, Art. 20 (Rechtsstaat), Rn. 49; Gusy, JuS 1983, 189 (193); vgl. auch AK-GG – Frankenberg, Art. 20 Abs. 1 – 3 IV Rn. 25. 187 Zur Inkorporationsthese siehe bspw. R. Dreier, Recht-Staat-Vernunft, S. 36 und S. 84 f.; H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG Bd. I, Vorb. Rn. 69 (vgl. oben, S. 160, Fn. 130). Zur Kontroverse, ob das Grundgesetz grundlegende Gerechtigkeitspostulate der naturrechtlichen Verfassungstradition oder nur ein ethisches Minimum inkorporiert hat vgl. die Verweise bei AK-GG – Frankenberg, Art. 20 Abs. 1 – 3 IV Rn. 25, Fn. 84 und Schulze-Fielitz, in: H. Dreier, Bd. II, Art. 20 (Rechtsstaat), Rn. 48. 188 Schmidt-Aßmann, in: FS für Klaus Stern, S. 745 (746); Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, S. 493.
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Gerechtigkeitskriterien im Rahmen der grundgesetzlichen Ordnung eben nicht herangezogen werden.189 Unruh fasst die These mit den Worten zusammen: „Die potentielle Spannung zwischen überpositiven Gehalten und der positiven Gesetzesordnung entpuppt sich als (potentielle) Spannung zwischen Verfassungs- und Gesetzesrecht. Die Legitimität des Gesetzesrechts folgt aus seiner verfassungsrechtlichen Legalität.“190 Die Argumentation knüpft an die bereits vorhandenen Argumente zu Art. 1 Abs. 2 und Abs. 3 GG an. Sie folgt dem Gedanken, dass die Positivierung überpositiven Rechts eine neue Grammatik diktiert. Das Argument Frankenbergs hat auch hier Gewicht, wonach es ein allzu offener Widerspruch ist, wenn eine Verfassung einerseits ihren Vorrang kodifiziert und durch formale Kautelen absichert, andererseits Gerechtigkeitsvorstellungen jenseits der positivierten Gerechtigkeitskriterien zuläßt. Den systematischen Kontext stellen hier besonders Schmidt-Aßmann, Benda, Gusy und Merten heraus. Schmidt-Aßmann verweist auf die zur Sicherung der Verfassungsbindung vorgesehenen Institutionen und darauf, dass das Konzept des Grundgesetzes ein vorbeugendes sei.191 Die Grundrechtsbindung der Gesetzgebung (Art. 1 Abs. 3 GG), die Strukturprinzipien (Art. 20 und 28 GG) und die Regeln über das Gesetzgebungsverfahren sicherten demokratische Legitimität. Der Konflikt zwischen Gesetz und Recht werde über die Sicherung der Verfassungsmäßigkeit im Wege des exekutivischen und des richterlichen Prüfungsrechts, der Verfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 und Art. 100 GG sowie der Gesetzesverfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 N. 4a, 4b GG auf der Grundlage positiven Verfassungsrechts gelöst.192 Die Frage nach dem Prüfungsrecht formuliert Benda besonders prägnant: „Es kann nicht richtig sein, daß der ,einfache‘ Richter ein Gesetz unbeachtet lassen darf, weil es ihm zwar nicht als verfassungswidrig, aber als ungerecht erscheint, während das Bundesverfassungsgericht das gleiche Gesetz unbeanstandet lassen müßte, da es noch nicht gegen das Willkürverbot verstößt.“193 Gusy macht deutlich, dass die Verfassung einem Gericht, wenn es ein Gesetz für rechtswidrig halte, nur zwei Möglichkeiten eröffne, welche sich aus Art. 100 Abs. 1 GG ergäben: zum ersten die Vorlage unter den Voraussetzungen nach Art. 100 Abs. 1 GG zur Prüfung der Vereinbarkeit „mit dem Grundgesetz und keinem sonstwie gearteten Recht“ oder zum zweiten die Anwendung des Gesetzes, wenn diese Voraussetzungen nicht vorlägen.194 Merten wehrt sich gegen die iso189 Hain, Die Grundsätze des Grundgesetzes, S. 381; Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, S. 494. 190 Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, S. 494. Vgl. auch H. H. Klein, in: Festschr. f. Karl Carstens Bd. 2, S. 645 (651 f.); Gusy, JuS 1983, 189 (193); Schmidt-Aßmann, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. II, § 26, Rn. 45. 191 Schmidt-Aßmann, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. II, § 26, Rn. 45; vgl. auch AK-GG – Frankenberg, Art. 20 Abs. 1 – 3 IV Rn. 26: Die „spezifische Leistung von Rechtsstaatlichkeit“ liegt „primär in der Konzentration auf Unrechtsabwehr“. 192 Schmidt-Aßmann, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. II, § 26, Rn. 45. 193 Benda, HdBVerfR, Teil 1, § 17, Rn. 29.
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lierte Sicht des Art. 20 Abs. 3 GG und verweist auf die Notwendigkeit einer Gesamtbetrachtung, wonach die Formel von „Gesetz und Recht“ im Lichte von Art. 97 Abs. 1 und 100 Abs. 1 GG auszulegen sei.195 Auf den Wortlaut von Art. 20 Abs. 3 GG stützt sich schließlich auch die Auffassung von der „Legitimität nach Maßgabe der Verfassung“. Allen voran weist Evers auf die Antinomie eines Verständnisses des Art. 20 Abs. 3 GG hin, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung sowohl an das Gesetz als auch an überpositives Recht, die Gesetzgebung hingegen nur an die verfassungsmäßige Ordnung und damit nur an positives Recht gebunden zu sehen.196
bb) Orientierung am klassischen Auslegungskanon Das Bemühen um ein „richtiges“ Verständnis von Art. 20 Abs. 3 GG führt zu der Frage nach der Methodenwahl. Spätestens seit der in den fünfziger Jahren begonnenen intensiven Diskussion um die Interpretationslehren um die „neue Hermeneutik“197 – namentlich genannt seien hier nur Viehweg, Kriele, Esser, Gadamer –198 und deren Einfluss auf die Verfassungsinterpretation199 ist deutlich geworden, wie sehr die Methodenwahl das Ergebnis der Interpretation beeinflusst oder sogar vorbestimmt, jedenfalls aber vorbestimmen kann200. Die Methodenwahl 194 Gusy, JuS 1983, 189 (193). Vgl. auch Schulze-Fielitz, in: H. Dreier, Bd. II, Art. 20 (Rechtsstaat), Rn. 85; Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, S. 494, Fn. 236; Badura, Staatsrecht, D 59, S. 326. 195 Merten, DVBl. 1975, 677 (678). 196 Evers, Der Richter und das unsittliche Gesetz, S. 107; ebenso, wenn auch nicht ganz so ausdrücklich, Bettermann, in: Bettermann / Nipperdey / Scheuner, Die Grundrechte, S. 532; Gusy, JuS 1983, 189 (193); H. P. Ipsen, DV 1949, 486 (490); Schmidt-Aßmann, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. I, § 24 Rn. 42; a.A. ausdrücklich Schnorr, AöR 85 (1960), 121 (147). 197 Vgl. hierzu Stern, Staatsrecht Bd. III / 2, S. 1672; Müller / Christensen, Juristische Methodik. 198 Nach Viehweg, Topik und Jurisprudenz, S. 96 f., können aus gesetzten Obersätzen keine logischen Deduktionen abgeleitet werden. Vielmehr müssen die Bestandteile der Jurisprudenz, ihre Begriffe und Sätze in spezifischer Weise an das Problem gebunden bleiben; sie können daher nur vom Problem her verstanden werden. Insbesondere Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 14 passin (für das Verfassungsrecht), und Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, S. 7 ff., 136 ff., 159 ff., 168 (für das Zivilrecht), machten die hermeneutischen Ansätze Gadamers (Wahrheit und Methode), für die juristische Hermeneutik fruchtbar. Sie machten deutlich, dass in den Rechtsfällen, in denen sich die Lösung nicht eindeutig aus dem Gesetz ergebe, das subjektiv richterliche „Vorverständnis“ die Methode wähle, mit der die persönlich bevorzugte Lösung methodisch hergeleitet werden könne. 199 Vgl. hierzu E.-W. Böckenförde, NJW 1976, 2089 ff.; Stern, Staatsrecht Bd. III / 2, S. 1675 ff. 200 Vgl. Radbruch, Einführung in die Rechtswissenschaft, S. 169: „Die Auslegung ist also das Ergebnis – ihres Ergebnisses, das Auslegungsmittel wird erst gewählt, nachdem das Ergebnis schon feststeht, die sogenannten Auslegungsmittel dienen in Wahrheit nur dazu, nach-
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beinflusst damit die Kernfragen von Gewaltenteilung und Demokratieprinzip, die sich in der zentralen Verfassungsvorschrift des Art. 20 Abs. 3 GG bündeln.201 Rüthers bemerkt zutreffend, dass der Rechtsanwender in eine methodische Aporie gerät; denn er muss die Art. 20 Abs. 3 und 97 Abs. 1 GG methodisch zutreffend verstehen, obwohl er in ihnen die von der Verfassung verbindlich vorgeschriebenen methodischen Kriterien gerade erst finden will.202 Ebenso zutreffend Verweist Rüthers auch darauf, dass in dieser Diskussion um die Methodenwahl die verfassungsgesetzliche Einbindung der Rechtsanwendung in die Grundprinzipien der Staatsorganisation nicht übersehen werden darf.203 Eine überpositive Rechtsbindung soll vorliegend gerade an diesem Kriterium kritisch hinterfragt werden. Zu diesem Zweck orientiert sich die nachfolgende Analyse am „klassischen“ Auslegungskanon204, wie er sich in den dargestellten Meinung spiegelt, ohne das Problem aus dem Auge zu verlieren. Mittel der Auslegung sollen dabei sein: der Wortlaut, die Historie und die Systematik.205 (1) Grammatik und Historie Die grammatische, d. h. am Wortlaut orientierte Auslegung von Art. 20 Abs. 3 GG führt nicht weit; der Begriff „Recht“ ist alles andere als eindeutig. Ebenso kann dem historischen Argument der Unrechtserfahrungen nichts Eindeutiges entnommen werden. Der Streit um den transzendenten Gehalt in Art. 20 Abs. 3 GG zeigt allzu deutlich, dass sich sowohl aus dem Wortlaut als auch aus der Geschichte Argumente für wie gegen eine überpositive Bindung gewinnen lassen:
träglich aus dem Text zu begründen, was in schöpferischer Ergänzung des Textes bereits gefunden war. . .“ 201 Vgl. Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 696, 704 ff.; Starck, in: Isensee / Kirchhof, HStR VII, § 164 Rn. 1. Siehe zur Methodenproblematik im Kontext von Art. 20 Abs. 3 GG insbesondere auch die Berichte von Roellecke und Starck, in VVDStRL 34 (1976), S. 7 ff. und 43 ff. 202 Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 696, 710. 203 Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 696, 707. 204 Den Kanon „klassischer“ Auslegungselemente der Gesetzesinterpretation hat bekanntlich v. Savigny 1840 formuliert (v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. I, S. 213 ff., Bd. III, S. 244). Gesetzesauslegung bedeutet danach Rekonstruktion der dem Gesetz innewohnenden Gedanken durch grammatische, logische, historische und systematische Auslegung, später ergänzt um das teleologische und komparative Element (vgl. nur Stern, Staatsrecht Bd. III / 2, S. 1655 ff., 1657). Allgemein zur Auslegung und zu den einzelnen Auslegungselementen vgl. Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 696 ff., 717 ff.; zur Fragwürdigkeit der herkömmlichen Interpretationsmittel vgl. etwa Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 53, 55 ff. 205 Zur Unterscheidung von Auslegungsziel und Auslegungsmittel Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 725 ff.: Ziel der Auslegung ist der Normzweck (Telos), Mittel sind der Wortlaut, die systematische und die historische Auslegung.
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(a) Ambivalenz der Argumente Legt man den Schwerpunkt auf die Gegenüberstellung der Begriffe „Gesetz“ und „Recht“, dann liegt eine (auch) überpositive Bindung an nicht-gesetzliches Recht nahe, also an überpositive Normen einer gerechten Ordnung.206 Legt man indessen den Schwerpunkt auf die in Art. 20 Abs. 3 GG festgelegte Bindung der Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung, so scheint das Begriffspaar „Gesetz und Recht“ nichts anderes als eben diese Ordnung zu meinen.207 Ebenso lässt sich historisch in beide Richtungen argumentieren. Die Materialien der Entstehungsgeschichte geben keinen konkreten Anhalt über das letztlich mit der Formel „Gesetz und Recht“ Gewollte.208 So legte der Abgeordnete von Mangoldt dem Grundsatzausschuss eine Fassung vor, nach der „Rechtsprechung und Verwaltung unter der Herrschaft des für alle gleichen Gesetzes“ stehen sollten.209 Das Wort Herrschaft wurde als zu scharf empfunden und gestrichen, womit die Fassung „Rechtsprechung und Verwaltung stehen unter dem Gesetz“ in den Entwurf des Grundsatzausschusses eingang fand.210 Der Allgemeine Redaktionsausschuss empfahl indessen die Formulierung „Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, Rechtsprechung und vollziehende Gewalt sind an Gesetz und Recht gebunden“211. Zur Begründung trug der Abgeordnete Dehler vor, der Allgemeine Redaktionsausschuss habe diese Formulierung „zur besseren Kennzeichnung der Rechtsstaatlichkeit als der Grundlage des Grundgesetzes“ gewählt.212 Es besteht keinerlei Zweifel daran, dass die Worte „Gesetz und Recht“ die Erfahrungen mit den Verhältnissen in der Endphase der Weimarer Reichsverfassung und im Dritten Reich widerspiegeln.213 Die Überzeugung setzte sich durch, dem Herrschaftsinstrument Recht sei der Vorzug vor willkürlicher Macht zu geben.214 Die einschlägigen Debatten im Parlamentarischen Rat bezeugen die Einigkeit über den rechtsstaatlichen Grundsatz, dass „Recht vor Macht“ geht.215 Man wird also nicht abstreiten können, dass die Formel „Gesetz und Recht“ aus der historischen Situation heraus eine gewisse „appellative Funktion“216 erfüllt und So etwa Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, S. 90. So etwa Evers, Der Richter und das unsittliche Gesetz, S. 107. 208 JöR N. F., Bd. 1, S: 195 ff.; vgl. Stern, Staatsrecht Bd. I, § 20 IV 4 a, S. 798; Forsthoff, DÖV 1959, 41. 209 Damals Art. 21 Abs. 4, vgl. JöR N. F., S. 195. 210 JöR N. F., S. 197, 199. 211 Hervorhebung nicht im Original. 212 JöR N. F., S. 200. Hervorhebung nicht im Original. 213 Vgl. nur Forsthoff, DÖV 1959, 41; Stern, Staatsrecht Bd. I, § 20 IV 4 a, S. 798; Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, S. 488. 214 Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, S. 488. 215 Vgl. Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, S. 488, mit Verweis auf das Zitat von Carlo Schmid in der Plenumssitzung vom 8. 9. 1948. 216 Vgl. Ossenbühl, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. III, § 61 Rn. 18. Nach Ossenbühl richtet sie sich „in erster Linie“ an den Gesetzgeber. 206 207
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das Bewusstsein aufrechterhält, „daß sich Gesetz und Recht zwar faktisch im Allgemeinen, aber nicht notwendig und immer decken“217. Die Unrechtserfahrungen dienen allerdings, wie bereits gezeigt218, sowohl positivistischen als auch naturrechtlich motivierten Auffassungen als Argument. Das gilt bei genauerem Hinsehen auch für den Streit um Art. 20 Abs. 3 GG. So wird die Unrechtsvergangenheit zwar von den Vertretern der Transpositivitätsthese als Argument gegen eine mögliche Tautologie von Gesetz und Recht angeführt,219 gleichermaßen aber auch den Gegnern der Transpositivitätsthese als Argument für die strikte Herrschaft des demokratisch gesetzten Rechts der zu schaffenden künftigen Staatsordnung in Abgrenzung von der Herrschaft der Willkür in totalitären Systemen220. (b) Durchsetzung des „materiellen Rechtsstaatsverständnisses“ Die Idee eines gerade nach der Unrechtserfahrung strikt zu wahrenden Primats des demokratisch erzeugten Rechts hat besondere Überzeugungskraft. Allein mit dem Verweis auf die Unrechtserfahrungen einen transpositiven Gehalt des Art. 20 Abs. 3 GG begründen zu wollen, erscheint reichlich apodiktisch. Und es erinnert an die teilweise recht undifferenzierte Argumention während der Naturrechtsrenaissance der Nachkriegsjahre, die in dem Positivismus die einzige Quelle allen juristischen Übels des Dritten Reichs suchte. Die Dichotomie von „Gesetz und Recht“ in Art. 20 Abs. 3 GG ließe sich allerdings aus dem historischen Kontext der deutschen Rechtsstaatsentwicklung 221 heraus mit Blick auf die Systematik des Grundgesetzes auflösen. Unter dem Einfluss des Mitte des 19. Jahrhunderts aufkommenden und seit dem Ende des 19. Jahrhunderts vorherrschenden juristischen Positivismus hatte die Lehre vom formalen Rechtsstaat die materialen Elemente aus dem bürgerlich-liberalen Rechtsstaatsbegriff der Neuzeit weitgehend verdrängt, materiale Elemente, die dem Gedanken der Sicherung von Freiheit und Eigentum der Bürger und der Förderung des Wohls des Individuums geschuldet waren.222 Das hieraus resultierende Verständnis des Rechtsstaats im formalen Sinne reichte bis in die Weimarer Zeit hinein, wenngleich in dieser Zeit ein Prozess der „(Re-)Materialisierung der Rechtsstaatsdogmatik und –theorie einsetzte“.223 Das „materielle Rechtsstaatsverständnis“ konnte BVerfGE 34, 269 (286 f.) Und zwar unabhängig von der Debatte um Art. 20 Abs. 3 GG, vgl. oben, S. 22, insbesondere die Festellungen von Rüthers. 219 Siehe oben zur Transpositivitätsthese, S. 165 ff. 220 Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, S. 489. 221 Vgl. hierzu AK-GG – Frankenberg, Art. 20 Abs. 1 – 3 IV Rn. 12 ff.; Schulze-Fielitz, in: H. Dreier (Hrsg.), Bd. II, Art. 20 (Rechtsstaat), Rn. 10 ff.; Stern, Staatsrecht Bd. I, § 20 I und II, alle mit umfangreichen weiteren Nachweisen. 222 Vgl. zu dieser Entwicklung insbesondere E.-W. Böckenförde, Entstehung und Wandel des Rechtsstaatsbegriffs (1969), in: FS für Adolf Arndt, S. 53 ff. 223 Schulze-Fielitz, in: H. Dreier (Hrsg.), Bd. II, Art. 20 (Rechtsstaat), Rn. 15; vgl. AK-GG – Frankenberg, Art. 20 Abs. 1 – 3 IV Rn. 17. 217 218
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sich erst aufgrund der Erfahrungen im Nationalsozialismus wieder durchsetzen.224 Es schlug sich im Grundgesetz allerdings als Synthese des formellen mit dem materiellen Rechtsstaat225 wieder.226 In seiner konkreten grundgesetzlichen Ausprägung verbindet der Rechtsstaat des Grundgesetzes die rechtsstaatlichen Formelemente mit inhaltlichen Bindungen des Rechts. Als ein Novum in der deutschen Verfassungsgeschichte führt das Grundgesetz zur Bindung aller staatlichen Gewalt an die Verfassung, insbesondere auch der Gesetzgebung (Art. 20 Abs. 3 und 1 Abs. 3 GG).227 Die rechtssystematische Einbeziehung der Verfassung in das rechtsstaatliche Normengefüge schließt eine Lücke der älteren Rechtsstaatstradition.228 Der Vorrang der Verfassung hat in der grundgesetzlichen Rechtsordnung damit den Vorrang des Gesetzes überhöht.229 Die Suprematie des Gesetzgebers wurde damit aufgelöst.230 Durch die verbindliche Positivierung der rechtsstaatlichen Inhalte, namentlich durch die Konkretisierung des Primats der Verfassung über Art. 20 Abs. 3 GG hinaus in der ausdrücklichen Unterstreichung der Grundrechtsbindung aller staatlicher Gewalt (Art. 1 Abs. 3 und 19 Abs. 2 GG), in der Bekräftigung der Unantastbarkeit der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) und schließlich in der Formel des „sozialen Rechtsstaates„(Art. 28 Abs. 1 GG) wird der grundgesetzliche Rechtsstaat im vollen Sinne auch zum materiellen Rechtsstaat:231 „Die formellen Elemente des Rechtsstaats dienen vor allem der VerwirkVgl. Schulze-Fielitz, in: H. Dreier (Hrsg.), Bd. II, Art. 20 (Rechtsstaat), Rn. 15. Zur Unterscheidung der Begriffe vgl. Schulze-Fielitz, in: H. Dreier (Hrsg.), Bd. II, Art. 20 (Rechtsstaat), Rn. 44 ff. 226 Vgl. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 192 ff., insbes. 203 ff.; Schmidt-Aßmann, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. I, § 24 Rn. 18 f.; Benda, in: HdBVerfR, § 17, Rn. 1 ff.; Stern, Staatsrecht Bd. I, § 20 I, S. 775, spricht von der Festlegung des rechtsstaatlichen Prinzips des Grundgesetzes als Strukturprinzip, „in dem Form und spezifischem Inhalt eine untrennbare Synthese eingegangen sind“. 227 Die allgemeingültige Verbindlichkeit der Verfassung für die gesamte Staatsgewalt, d. h. für alle drei Gewalten, insbesondere auch der Gesetzgebung, hat zuvor in der deutschen Verfassungsgeschichte nicht gegeben. Vgl. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 199; Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit Bd. VI (1981), S. 82 ff.; Meyn, Kontrolle als Verfassungsprinzip, S. 317 f.; insbesondere Wahl, in: Der Staat 20 (1981), S. 485 ff.; ders., NVwZ 1984, 401 ff. So konnte selbst in der Weimarer Reichsverfassung der einfache Gesetzgeber sich über die Verfassung in Form eines Gesetzes hinwegsetzen. Vgl. Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgestzes, S. 401, 404 f. und Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, S. 39 ff. 228 Schmidt-Aßmann, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. I, § 24 Rn. 28 mit Verweis auf Badura, in: Festschr. f. Ulrich Scheuner, S. 19 ff. und Wahl, in: Der Staat 20 (1981), S. 485 ff. 229 Vgl. Ossenbühl, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. III, § 62 Rn. 2; Ossenbühl weist jedoch zurecht darauf hin, dass zwischen beiden Ebenen eine Substanzaustausch herrscht, der nicht nur von oben nach unten verläuft (vgl. Walter Leisner, Von der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zur Gesetzmäßigkeit der Verfassung, 1964). 230 Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgeseztes, S. 401; vgl. Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, S. 42. 231 Vgl. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 203. 224 225
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lichung materieller Gerechtigkeit“.232 Der Rechtsstaat des Grundgesetzes ist weit mehr als ein „System rechtstechnischer Kunstgriffe zur Gewährleistung gesetzlicher Freiheit“233.234 Erst in der Verbindung der formellen mit den materiellen Bestandteilen wird die Eigenart der rechtsstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes erkennbar.235 Daher erwachsen der systematischen Auslegung von Art. 20 Abs. 3 GG die entscheidenden Impulse. (2) Einordnung über die Systematik Die Bedeutung der Systematik wird von der Transpositivitätsthese ignoriert. Der Verweis auf die Bedeutungslosigkeit der unterschiedlichen Formulierungen in Art. 20 Abs. 3 und 97 Abs. 1 GG folgt der Logik des historischen Arguments dieser These, nicht aber dem einer systematischen Auslegung: Wenn Stern das Verhältnis von Art. 97 Abs. 1 GG zu Art. 20 Abs. 3 GG als Regel- / Ausnahme-Verhältnis bezeichnet, so dient letztlich die Überzeugung, dass lex nicht schlechthin jus ist, als „systematisches“ Argument. Es ist schon kurios, Art. 97 Abs. 1 GG als eine vom Wortlaut her völlig eindeutige Norm und letztlich auch Art. 100 Abs. 1 GG im Lichte der in ihrer Bedeutung höchst zweifelhalften Dichotomie „Gesetz und Recht“ auslegen zu wollen, ohne sich mit den funktionskonkretisierenden Vorschriften des IX. Abschnitts des Grundgesetzes näher auseinanderzusetzen. Art. 20 Abs. 3 GG enthält doch keine Detailanweisungen.236 Er ist lediglich programmatischer Ausdruck beschränkter Staatsgewalt, indem er grundsätzliche Bindungen ausspricht.237 Als isoliertes Lösungskonzept genügt er jeglichen Erwartungen, stellt man nur die richtige Frage.238 Die Gesetzes- und Rechtsgebundenheit der zweiten und dritten Gewalt wirft aber recht verschiedene Fragen auf, deren Beantwortung nicht allein durch das in Art. 20 Abs. 3 GG niedergelegte rechtsstaatliche Prinzip an sich erfolgt, sondern vielmehr in den verschiedenen grundgesetzlichen Vorschriften zu den jeweiligen Gewalten zu suchen sind.239 232 Schulze-Fielitz, in: H. Dreier (Hrsg.), Bd. II, Art. 20 (Rechtsstaat), Rn. 15. Die wesentliche Bedeutung, die die materielle Komponente in der grundgesetzlichen Rechtsstaatlichkeit einnimmt, darf daher keinesfalls zu einer Geringschätzung der formellen Seite führen, Michaelis, Die Deutschen und ihr Rechtsstaat, S. 35 f.; Schmidt-Aßmann, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. I, § 24 Rn. 19; v. Simson, in: Der Staat 21 (1982), S. 97 ff. (109). 233 Forsthoff, in: Festschr. f. Carl Schmitt, S. 35 ff. (61). 234 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 192. 235 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 192. 236 Art. 20 Abs. 3 GG ist „nur eine Art ,allgemeiner Teil‘ der spezielleren Vorschriften des Grundgesetzes“ (J. Ipsen, Richterrecht und Verfassung, S. 121). 237 Vgl. nur, aber besonders klar, J. Ipsen, Richterrecht und Verfassung, S. 117 ff., 119 ff., insbes. S. 120. 238 Vgl. J. Ipsen, Richterrecht und Verfassung, S. 119. 239 Vgl. J. Ipsen, Richterrecht und Verfassung, S. 121 und Schnorr, AöR 85 (1960), S. 121 (128 f.).
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D. Rechtssouveränität versus Volkssouveränität?
Der ewige Verweis auf den „Ausnahmefall“ offenbart sich als Argument zur Durchbrechung der Systematik. Die Ausnahme bestätigt gleichsam die Regel. Ist es aber nicht paradox, wie gerade die Unrechtsaufarbeitung, welche als „extreme Sondersituation“ den (faktischen) Beleg für die (theoretische) Transpositivität von Art. 20 Abs. 3 GG liefern soll, sich am Grundgesetz selber stößt, ja sogar Vertreter einer überpositiven Bindung der Staatsgewalt zugunsten des formalen Rückwirkungsverbots auf die Barrikaden ruft?240 Und vom Fall der Unrechtsaufarbeitung einmal abgesehen,241 stellt sich doch die Frage, was denn das eigentlich für ein Ausnahmefall sein soll, der nur jenseits grundgesetzlich materialisierter Gerechtigkeit gelöst werden kann. Unter der grundgesetzlichen Ordnung kann es sich doch wohl nur um den (freilich höchst theoretischen) Fall eines grundgesetzkonformen, aber „naturrechtswidrigen“ Gesetzes handeln oder gar um den Fall einer „naturrechtswidrigen“ Verfassungsnorm. Unbeantwortet von der Transpositivitätsthese bleibt damit auch ein weiterer problematischer Aspekt: warum es gerade Aufgabe des (Verfassungs-?)Richters sein soll, diesen Grenzfall gegen den Volkssouverän mit Mitteln des überpositiven Rechts zu lösen, wenn man sich doch angesichts der Anknüpfung des Naturrechtsgedankens an die Menschenrechte letztlich schon im Bereich von Art. 79 Abs. 3 GG und damit auch des Widerstandsrechts des Art. 20 Abs. 4 GG bewegen dürfte. Eine nähere Auseinandersetzung mit der konkreten Ausgestaltung der Idee der Herrschaft des Rechts im Grundgesetz, insbesondere mit den funktionskonkretisierenden Vorschriften, verdeutlicht die Legitimationsdefizite, in welche die Transpositivitätsthese sich begibt. Hier offenbart sich die Schieflage, welche ein (auch nur ausnahmsweise beanspruchtes) Recht-vor-Gesetz-Denken im sorgsam austarierten Legitimationsgeflecht intra-konstitutioneller Volkssouveränität und der korrespondierenden Gesetzesherrschaft erzeugt.242 (a) Vorrang und Normativität der Verfassung Art. 20 Abs. 3 GG formuliert zuallererst den Vorrang der Verfassung. Die Idee vom Vorrang und von der Normativität der Verfassung war im Parlamentarischen 240 Isensee verweist einerseits auf die Menschenrechte als „kritisches Korrektiv“ und als „überpositive Normreserve“ (so in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. V, § 115, Rn. 36, vgl. oben, S. 155), andererseits gehört er zu den Hauptkritikern der Anwendung der Radbruchschen Formel durch die Rechtsprechung im Rahmen der Unrechtsaufarbeitung (in: ders. (Hrsg.), Vergangenheitsbewältigung durch Recht, S. 91 (105 f.): „Die naturrechtliche Idee der Gerechtigkeit bricht sich auf dem Felde des Strafrechts an den Formerfordernissen des Nullapoena-Grundrechts“). 241 Ob Art. 20 Abs. 3 GG gerade die Unrechtsaufarbeitung als solchen Fall vor Augen hat, ist unter dem Aspekt des „vorbeugenden“ Konzepts (Schmidt-Aßmann, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. II, § 26, Rn. 45; vgl. auch AK-GG – Frankenberg, Art. 20 Abs. 1 – 3 IV Rn. 26) des Grundgesetzes eher fraglich. 242 Der Primat des Rechts findet im Grundgesetz seine konkrete Ausgestalung im Vorrang der Verfassung und im Vorrang des Gesetzes, insbesondere gesichert durch die richterliche Normenkontrolle, Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 198 ff.
II. Vereinbarkeit mit der Bindung an überpositives Recht?
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Rat unumstritten.243 Zwar enthielt erst die Fassung des Allgemeinen Redaktionsausschusses die ausdrückliche Formulierung der Bindung der Gesetzgebung an „die verfassungsmäßige Ordnung“.244 Dass eine entsprechende Formulierung nicht bereits in der Fassung des Grundsatzausschusses enthalten war, begründete der Abgeordnete von Mangoldt damit, dass diese Formulierung unerwähnt geblieben sei, weil der Grundsatzausschuss es für selbstverständlich gehalten habe, dass die Verfassung Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung binde. Die Befolgung des Grundsatzes von der Gesetzmäßigkeit aller Staatsgewalt verstehe sich bei der Rechtsprechung von selbst, weil diese die Aufgabe habe, die Gesetze auszulegen und anzuwenden.245 Im Lichte dieser Entstehungsgeschichte wird die Formulierung, die in Art. 20 Abs. 3 GG Eingang gefunden hat und primär das Verbot verfassungswidriger Gesetze ausspricht,246 unumstritten als Verfassungsbindung auch der Exekutive und Judikative verstanden.247 Das Grundgesetz erkennt mit dem Vorrang der Verfassung die geltungstheoretische „Rechtsnormenpyramide“248 mit der Verfassung an deren Spitze an.249 Die besondere Qualität des Vorrangs der Verfassung grundgesetzlicher Prägung liegt in der dargelegten Entscheidung für den materiellen Rechtsstaat. Art. 20 Abs. 3 GG verallgemeinert die bereits in Art. 1 Abs. 3 GG ausgesprochene „Bindung des demokratischen Souveräns“.250 Das Demokratieprinzip ist also nicht absolut.251 Die Volkssouveränität ist zugunsten einiger Fundamentalrechtsnormen auch und gerade materieller Art eingeschränkt, denen unabhängig von Mehrheitsentscheidungen unumstößliche Geltung zukommt. Dafür sorgt insbesondere die Unabänderlichkeitsklausel von Art. 79 Abs. 3 GG. Die damit verbundene Relativierung der Souveränität des Volkes kann indessen kein Recht voraussetzen, „das sich auf etwas anderes als die demokratische Willensbildung stützt“,252 ohne die vom Grundgesetz selbst vorausgesetzte Differenzierung des VolkssouveränitätsVgl. auch Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, S. 399. JöR N.F.,Bd. 1, S. 197 ff., 199, 200; in dem Entwurf handelte es sich um Art. 21 Abs. 4. 245 Der Hauptausschuss nahm den Vorschlag des Allgemeinen Redaktionsausschusses schließlich an, JöR N. F., Bd. 1, S. 200. 246 Vgl. nur Sachs, in: ders. (Hrsg.), Art. 20, Rn. 61. 247 Vgl. nur Schulze-Fielitz, in: H. Dreier (Hrsg.), Bd. II, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 74 f.; Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, S. 401 f.; Badura, Staatsrecht, D 50 f.; Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, S. 39 ff. – jeweils mit umfassenden weiteren Nachweisen. 248 Herzog, in: Maunz / Dürig, Art. 20 GG, VI., Rn. 3, 9. 249 Sachs, in: ders. (Hrsg.), Art. 20, Rn. 63; Schulze-Fielitz, in: H. Dreier (Hrsg.), Bd. II, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 74; Starck, Vorrang der Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 42; Badura, Staatsrecht, D 51, S. 317 f.; Ossenbühl, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. III, § 61, Rn. 69 ff.; Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, S. 401 f., verweist darauf, dass bereits Adolf Merkl und Hans Kelsen einen entsprechenden Vorrang der Verfassung propagiert haben. 250 Schulze-Fielitz, in: H. Dreier (Hrsg.), Bd. II, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 74. 251 Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, S. 42. 252 So andeutungsweise Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, S. 42 f. 243 244
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D. Rechtssouveränität versus Volkssouveränität?
prinzips nach verfassungsgebender und intra-konstitutioneller Volkssouveränität zu ignorieren:253 Der Vorrang der Verfassung ist Ausdruck der Volkssouveränität als eines herrschaftskonstitutiven Elements der (einheitlichen) Verfassungsgebung.254 Wenn also die Änderungsfestigkeit von Art. 79 Abs. 3 GG und die Rechtsverbindlichkeit von Art. 20 Abs. 3 GG die Allmacht des Parlaments beschränken,255 so löst sich der vermeintliche Widerspruch zum Souveränitätsprinzip darin, dass die hierdurch eingeschränkte Volkssouveränität intra-konstitutionell eingeschränkte Souveränität ist. Das Volk als verfassungsgebender Souverän hat dem Volk als intra-konstitutionellem Souverän durch materiale und formale Rechtssätze übergeordnete Grenzen gesetzt.256 Aus der Verfassungsbindung des Gesetzgebers (als pouvoir constitué) folgt kein überpositives Bekenntnis.257 Im Gegenteil: In der Ergänzung von Art. 20 Abs. 3 GG durch Art. 1 Abs. 3 GG hat der Grundgesetzgeber klargestellt, dass die Grundrechte genauso rechtsverbindlich sind wie andere Verfassungsnormen auch.258 Als „unmittelbar geltendes Recht“ sind sie keine Programmsätze.259 In diesem Kontext hat das immer wieder betonte „Positivierungsargument“ seine besondere Berechtigung. Ohne Positivierung wäre doch jede Argumentation anhand des Verfassungsvorrangs ein Zirkelschluss, da die in Art. 20 Abs. 3 GG angeordnete Rechtsbindung ebenfalls Bestandteil der Verfassung ist. Eine Verfassung, die ihren eigenen Vorrang kodifiziert setzt sich nur in Widerspruch zu sich selbst, wenn sie subjektiven, unüberprüfbaren Gerechtigkeitsvorstellungen Vorschub leistet, obwohl sie selber einen festen Bestand von Gerechtigkeitswerten positiviert. Die feste bis unumstößliche Bindung sämtlicher Staats253 Die Verfassung verdient das Prädikat als eine „höhere Gattung von Normen“ durch den besonderen Kreationsprozess, „der sich vor allem in der besonderen Urheberschaft, nämlich der Ausübung der verfassunggebenden Gewalt, vom einfachen Gesetz unterscheidet“, H. Dreier, JZ 1994, 741 (743). 254 Vgl. Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, S. 400; Starck, in: Isensee / Kirchhof, HStR VII, § 164 Rn. 9. 255 Vgl. ohne Differenzierung Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, S. 42. 256 „Die auf der Basis der Volkssouveräntität geschaffene Verfassung begründet und begrenzt die Staatsgewalt, organisiert sie und legt deren Aufgaben und Pflichten fest, verleiht Kompetenzen und bestimmt die Verfahren, in denen die Staatsgewalt tätig wird. Konsequenterweise ist die durch die Verfassung eingerichtete Staatsgewalt an die Verfassung gebunden“ (Starck, in: Isensee / Kirchhof, HStR VII, § 164 Rn. 10). Die grundgesetzliche Unterscheidung zwischen pouvoir constituant und pouvoirs constitués macht die „Konsequenz unausweichtlich, dass die verfassten Gewalten an die Vorgaben der verfassunggebenden Gewalt gebunden sind“, Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, S. 400 f. Sie macht zugleich deutlich, dass es sich hier nicht um eine (überwindbare) Selbstbindung handelt. 257 Vgl. Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, S. 44: „Die Verfassungsbindung des Gesetzgebers, wie sie Art. 20 Abs. 3 mit Art. 79 Abs. 3 GG ausspricht, muß also nicht notwendig ein Bekenntnis zu einem der dogmatisch ausgeprägten Naturrechtssysteme und einen Widerspruch zum Republikprinzip bedeuten.“ 258 Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, S. 41. 259 Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, S. 41, verweist darauf, dass diese Feststellung ihre Berechtigung im Hinblick auf die vorverfassungsmäßige Dogmatik, welche den Grundrechten lediglich die Qualität von Programmsätzen zugebilligt hatte, ihre Berechtigung findet.
II. Vereinbarkeit mit der Bindung an überpositives Recht?
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gewalt an bestimmte positivierte Rechtswerte naturrechtlicher Herkunft insbesondere über Art. 1 Abs. 3, 19 Abs. 2 und 79 Abs. 3 GG wäre also völlig sinnentleert, wenn Art. 20 Abs. 3 GG darüber hinausgehenden Gerechtigkeitsvorstellungen Tür und Tor öffnete. Die positivierten (Natur-)Rechtswerte folgen der neuen Grammatik, weil die Anerkennung einer originär naturrechtlichen Unverfügbarkeit dazu führen würde, der den Gehalt des Naturrechts ermittelnden Rechtsprechung verfassungskorrigierende Gewalt zuzusprechen. Die Verfassungsänderung unterliegt aber den strengen formalen und materiellen Kriterien des Art. 79 GG, welche durch verfassungskorrigierendes Naturrecht durchbrochen würden. Hier wird schließlich das charakteristische Problem der Unrechtsaufarbeitung mit dem Verfassungsvorrang deutlich. Die Verfassungsbindung und ihre Schutzmechanismen (Art. 1 Abs. 3, Art. 79 Abs. 3 GG, Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 und 4a und Art. 100 Abs. 1 GG)260 sind zukunftsgerichtet. Sie beugen der theoretischen Möglichkeit einer Legalität contra Legitimität auf positivierter Grundlage vor.261 Fortwirkendes Unrecht aus dem Bereich außerhalb des zeitlichen oder örtlichen Geltungsbereichs des Grundgesetzes passt nicht in dieses Konzept. Die „spezifische Leistung von Rechtsstaatlichkeit“ liegt „primär in der Konzentration auf Unrechtsabwehr“262. Eben dieses vorbeugende Konzept des Grundgesetzes ist das Dilemma der Unrechtsaufarbeitung.263 Vor diesem Hintergrund muss insbesondere bezweifelt werden, ob Art. 20 Abs. 3 GG als verfassungsgesetzliche Plattform für die Unrechtsaufarbeitung dienen kann. (b) Verfassungsgerichtsbarkeit und Normenkontrolle Der Verweis auf die Verfassungsgerichtsbarkeit, insbesondere die richterliche Normenkontrolle als Argument gegen die Transpositivitätsthese ist freilich nicht unproblematisch, werden die maßgeblichen Vorschriften nicht im Kontext der dargestellten Konnexität zwischen Art. 20 Abs. 3 und Art. 1 Abs. 3 GG interpretiert. Ebenso wie eine isolierte Sicht des Art. 20 Abs. 3 GG das Argument des Verfassungsvorrangs jederzeit widerlegen könnte, kann dieses Argument die Vorschriften der Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 und Art. 100 Abs. 1 GG mit dem Hinweis auf den Verfassungsrang der Rechtsbindung widerlegen. Der Wortlaut dieser Vorschriften, der ausdrücklich als Prüfungsmaßstab nur „das Grundgesetz“ nennt, kann leicht im Sinne der Transpositivitätsthese wortlautgetreu gedeutet werden: Auch die Rechtsbindung ist Bestandteil der zentralen Vorschrift des Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes. 260 Vgl. AK-GG – Frankenberg, Art. 20 Abs. 1 – 3 IV Rn. 25; Schmidt-Aßmann, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. I, § 26 Rn. 45; Benda, HdBVerfR, Teil 1, § 17, Rn. 29; Merten, DVBl. 1975, 677 (678). 261 Schmidt-Aßmann, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. I, § 26 Rn. 45. 262 AK-GG – Frankenberg, Art. 20 Abs. 1 – 3 IV Rn. 26. 263 Vgl. AK-GG – Frankenberg, Art. 20 Abs. 1 – 3 IV Rn. 26.
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D. Rechtssouveränität versus Volkssouveränität?
Als Bestandteil der gewaltenteilungsrechtlichen Kontrollmechanismen sichert die Verfassungsgerichtsbarkeit indes Vorrang und Normativität (auch) materieller Werte der Verfassung und übt so normstabilisierende Wirkung aus.264 Mit Recht hebt Badura die besondere Rolle des richterlichen Prüfungsrechts hervor. Ohne Sanktionierung der Bindung der Gesetzgebung an die Verfassung durch das richterliche Prüfungsrecht wäre der „Geltungsvorrang der Verfassung“ in der Tat „nur eine andere Ausdrucksweise für die erschwerte Abänderbarkeit des Verfassungsgesetzes“.265 Entscheidend ist dabei die verfassungstheoretische Konnexität zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und Volkssouveränität.266 Der verfassungsgerichtlichen Kontrolle unterliegen sämtliche Gewalten. Die Verfassungsgerichtsbarkeit sichert die Entscheidung des pouvoir constituant gegenüber den pouvoirs constitués, und damit zugleich die bessere demokratische Legitimation der verfassungsgebenden und -ändernden Volkssouveräntitä gegenüber der intra-konstitutionellen Volkssouveränität.267 Insbesondere unterliegt auch der Gesetzgeber diesem Kontrollmechanismus über die abstrakte und konkrete Normenkontrolle. Nach einer gelegentlich geäußerten Auffassung steht der Vorrang der Verfassung dem Bundesverfassungsgericht indessen zu seiner Disposition. So wird vertreten, dass die Verfassungsgerichtsbarkeit Anteil am pouvoir constituant bzw. an der Verfassungsgesetzgebung habe268 und dass der Vorrang der Verfassung ihr gegenüber mithin keine Geltung entfalten könne.269 Zur Begründung wird angeführt, das Verfassungsgericht betreibe Verfassungsgebung durch Verfassungsinterpretation.270 Unruh verweist auf die ideengeschichtliche Grundlage dieser Auffassung, welche 264 Es gilt also auch hier auf die Positivierung materieller Werte in den Grundrechten abzustellen, die ihre Sicherung durch die Verfassungsgerichtsbarkeit erfahren Diesen Bezug stellt schon H. P. Ipsen her, DV 1949, 486 (490), vgl. oben, S. 65. Vgl. zudem Starck, in: Isensee / Kirchhof, HStR VII, § 164, Rn. 10; Unruh, Der Verfassungsbegriff im Grundgesetz, S. 401. Vgl. Wahl, in: Der Staat 20 (1981), S. 485 (499 ff.); Starck, Verfassung und Gesetz, S. 31 f. Zum verfassungstheoretischen Zusammenhang zwischen dem Vorrang der Verfassung und der Verfassungsgerichtsbarkeit eingehend Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, S. 511 f., m. w. N. 265 Badura, in: Isensee / Kirchhof, HStR VII, § 160, Rn. 4. 266 Vgl. hierzu auch Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, S. 513 ff. 267 Vgl. Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, S. 513;. AK-GG – Rinken, vor Art. 93, Rn. 73: „Wahrung des Verfassungsvorrangs, das bedeutet Sicherung der besseren demokratischen Legitimation der Grundentscheidungen des pouvoir constituant vor dem ,alltäglichen‘ Mehrheitswillen des pouvoir constitué. . .“; Stern, Staatsrecht Bd. II, S. 954: „Als materiell allein an die Verfassung gebunden, sind Determinationsfaktoren der Verfassungsrechtsprechung nicht ein pouvoir constitué, sondern die verfassungsgebende Gewalt des Vokes und der mit qualifizierter Mehrheit eintscheidende Verfassungsänderungsgesetzgeber“. 268 Etwa Benda, DÖV 1979, 469 (469); Draht, in: VVDStRL 9 (1952), S. 17 (95). 269 Vgl. hierzu Unruh, Der Verfassungsbegriff im Grundgesetz, S. 517. 270 Vgl. Haverkate, Verfassungslehre, S. 394; Benda, DÖV 1979, 468 (469); Draht, VVDStRL 9 (1952), S. 17 (95 f.).
II. Vereinbarkeit mit der Bindung an überpositives Recht?
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bei Carl Schmitt zu finden sei, dessen Verfassungsbegriff von einer Trennung von Verfassung und Verfassungsgesetz ausgehe.271 Nur wer die Verfassung dezisionistisch und nicht normativ verstehe, könne die Verfassung auch ohne Änderung des Verfassungstextes modifizieren.272 Diese Haltung verkennt, wie Unruh zutreffend herausstellt, dass das Grundgesetz „als normative Grundordnung an unmittelbar geltendes Recht und nicht an eine vermeintlich über seinen Regelungen schwebende ,Verfassung‘ gekoppelt ist“.273 Zudem bleibt die Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts originär rechtsprechende Tätigkeit.274 Dies bestätigt insbesondere die Gerichtsförmigkeit seiner Entscheidungen: Es ist ein Gericht, das – mit unabhängigen275 Richtern besetzt – seine Entscheidungen nur auf Antrag in konkreten Einzelfällen letztverbindlich und abschließend fällt. Seine Tätigkeit ist auf eine „reaktiv-nachträgliche, kontrollierende Rolle“ beschränkt,276 welche es ihm verwehrt, politische Eigeninitiative zu ergreifen.277 Wenn das Bundesverfassungsgericht sich schließlich selber als „Hüter der Verfassung“ bezeichnet,278 so beansprucht es hiermit keine überverfassungsrechtliche Stellung. Als verfassungskonstituierte Gewalt steht auch das Bundesverfassungsgericht nicht hütend über oder außerhalb, sondern unter der Verfassung.279 Seine Aufgabe, den Vorrang der Verfassung zu wahren, korrespondiert durchaus mit der Bindung des Bundesverfassungsgerichts an das Grundgesetz.280 Ebenso wie alle anderen Organe der öffentlichen Gewalt agiert es „verfassungsakzessorisch“.281 Nicht das Bundesverfassungsgericht setzt anderen Gewalten Schranken, sondern 271 Carl Schmitt wird in diesem Kontext von Böckenförde, NJW 1976, 2089 (2099, Fn. 113), ausdrücklich in Bezug genommen, vgl. Unruh, der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, S: 519. 272 Unruh, der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, S: 519. 273 Unruh, der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, S: 519. 274 So zutreffend Unruh, der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, S: 520. 275 Zur richterlichen Unabhängigkeit siehe unten, S. 191 ff. 276 Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 476; vgl. Unruh, Der Verfasungsbegrif des Grundgesetzes, S. 520; Grimm, JZ 1976, 697 (699). 277 Simon in: HdBVerfR, Teil 2, § 34, Rn. 51 f.; Unruh, Der Verfasungsbegrif des Grundgesetzes, S. 520. 278 Vgl. BVerfGE 1, 184 (195); 1, 396 (408 f.); 2, 124 (131); 6, 300 (304); 40, 88 (93). Zur Kritik hieran vgl. Friesenhahn, ZRP 1973, 188 ff.; Großfeld, NJW 1995, 1719 (1721); Frankenberg, KJ 1996, 1 ff.; AK-GG – Rinken, vor Art. 93, Rn. 81; Jarass / Piroth, Art. 93, Rn. 3. 279 Vgl. Meyer, in: v. Münch / Kunig, Bd. III, Art. 93, Rn. 3; AK-GG – Rinken, vor Art. 93, Rn. 81; Jarass / Pieroth, Art. 93, Rn. 3; Voßkuhle, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, Bd. III, Art. 93 Rn. 18; Schlaich, VVDStRL 39 (1981), S. 99 ff. (135). 280 Voßkuhle, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, Bd. III, Art. 93 Rn. 18. 281 Voßkuhle, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, Bd. III, Art. 93 Rn. 18. Im Übrigen sind auch die anderen Verfassungsorgane zur Einhaltung der Verfassung berufen, vgl. Meyer, in: v. Münch / Kunig, Bd. III, Art. 93, Rn. 3; AK-GG – Rinken, vor Art. 93, Rn. 81; Jarass / Pieroth, Art. 93, Rn. 3.
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D. Rechtssouveränität versus Volkssouveränität?
das Grundgesetz, welches aufgrund seiner herrschaftskonstitutiven Funktion und seines Rahmencharakters die entsprechenden Vorgaben macht.282 Dem Bundesverfassungsgericht ist jedoch kompetenzrechtlich das antragsund verfahrensgebundene) Letztentscheidungsrecht zugeschrieben, welches seine Bezeichnung als „Hüter der Verfassung“ gerechtfertigt erscheinen lässt.283 Diese Rolle spiegelt sich in dem unbestrittenen Wesen und Zweck der abstrakten Normenkontrolle (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG), dem Schutz der Verfassung vor verfassungswidrigen Normen284 und der Wahrung des Rechtsfriedens durch Klärung der verfassungsrechtlichen Lage285. Hier beansprucht das Bundesverfassungsgericht die Aufgabe „Hüter der Verfassung“ zu sein.286 So hat es etwas Widersprüchliches an sich, wenn das Bundesverfassungsgericht sich einerseits selber als „Hüter der Verfassung“ versteht,287 andererseits aber anerkennt, auch das Verfassungsgesetz am Maßstab überpositiven Rechts überprüfen zu können. Die Überwindung der Verfassungsbindung durch die Anerkennung einer Rechtsbindung über der Verfassung ist geradezu revolutionär, leugnet sie doch im Ergebnis die verfassungsgebende Gewalt des Volkssouveräns. Die vorwiegend im Kontext von Art. 100 Abs. 1 GG in den fünfziger und sechziger Jahren angeführten „funktionell-rechtlichen“ 288 Bedenken,289 haben damit in Kombination mit dem Argument der Positivierung grundlegender Gerechtigkeitswerte und dem korrespondieren Wortlaut auch bei Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG ihr besonderes Gewicht.290 Der Verweis auf die konkrete Normenkontrolle (Art. 100 Abs. 1 GG) führt über deren Schutzzweck zur Problematik der intra-konstitutionellen Volkssouveränität und der gewaltenteilungsrechtlichen Funktion der Gesetzesbindung. Zwar dient auch Art. 100 Abs. 1 GG der Sicherung der Integrität der Verfassung; er soll die Anwendung verfassungswidriger Gesetze verhindern.291 Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts tritt bei der konkreten Normenkontrolle seine Aufgabe, Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, S. 516. Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, S. 515. 284 Söhn, in: Fg. für das BVerfG zum 25-jährigen Bestehen, Bd. I, S. 292 (295); Sturm, in: Sachs (Hrsg.), Art. 93, Rn. 42; Meyer, in: v. Münch / Kunig, Bd. III, Art. 93, Rn. 32; Voßkuhle, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, Bd. III, Art. 93 Abs. 1 Nr. 2, Rn. 118. 285 BVerfGE 79, 311 (326 f.). 286 Vgl. nur BVerfGE 1, 184 (195 f.). 287 Vgl. BVerfGE 1, 184 (195 ff.); 1, 396 (408 f.); 2, 124 (131); 6, 300 (304); 40, 88 (93). 288 Huh, Probleme der konkreten Normenkontrolle, S. 124. 289 Insbesondere Ehmke, VVDStRL 20 (1963), S. 53 (79); Sigloch, in Maunz / SchmidtBleibtreu, BVerfGG, § 80, Rn. 45 (Altauflage vor 1971, zitiert bei Huh, Probleme der konkreten Normenkontrolle, S. 124); Nawiasky, JZ 1954, 717 (719); Apelt, JZ 1954, 401 (404); – vgl. hierzu eingehend oben, S. 72 ff. 290 Ähnlich bereits H. P. Ipsen, DV 1949, 486 (490). 291 BVerfGE 42, 42 (49); 43, 27 (32 f.); Siekmann, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, Bd. III, Art. 100 Abs. 1, Rn. 3. 282 283
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Hüter der Verfassung zu sein, jedoch zurück.292 Art. 100 Abs. 1 GG dient in der Tat (in erster Linie) der Wahrung der Autorität des parlamentarischen Gesetzgebers im Verhältnis zur Rechtsprechung und der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zu verfassungsrechtlichen Fragen.293 Die Monopolisierung soll zum einen verhüten, dass sich jedes Gericht über den Willen des konstitutionellen Gesetzgebers hinwegsetzt,294 und zum anderen divergierende Entscheidungen der Fachgerichte vermeiden295. Im Hinblick auf den so verstandenen Zweck schränkt das Bundesverfassungsgericht zu Recht den Vorlagegegenstand auf förmliche, nachkonstitutionelle Gesetze ein.296 Damit rückt zunächst der Vorrang des Gesetzes in den Vordergrund. (c) Vorrang des Gesetzes In Art. 20 Abs. 3 GG folgt der ausschließlichen Bindung der gesetzgebenden Gewalt an die „verfassungsmäßige Ordnung“ die Gesetzesbindung von Exekutive und Judikative. Unter der Gesetzesbindung versteht man traditionell den „Vorrang des Gesetzes“.297 Dieser von Otto Mayer geprägte Begriff besagt, dass der in Form des Gesetzes geäußerte Staatswille rechtlich jeder anderen staatlichen Willensäußerung vorgeht.298 Anders als in den früheren konstitutionell-monarchischen Verfassungen ist der Gesetzeserlass im demokratischen Staat „zu einem Element der Ausübung von Staatsgewalt geworden“299. Während der Vorrang des Gesetzes 292 BVerfGE 1, 184 (197 ff.); 2, 124 (129). Diese Rechtsprechung ist vielfach kritisiert worden, insbesondere von Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 686: Die funktionell-rechtliche Argumentation des Bundesverfassungsgerichts leide daran, dass das Gericht seine Aufgabe künstlich aufspalte. Warum es im einen Fall weniger „Hüter der Verfassung“ sein solle als im anderen, sei nicht zu erkennen. Die Monopolisierung sei eine Frage der Rechtsklarheit und Rechtsgewissheit. Vgl. auch Sturm, in: Sachs, GG-Kommentar, Art. 100, Rn. 4: Auch hier gehe es um die charakteristischen Aufgaben für den Hüter der Verfassung, wenngleich sie das GG nicht vollständig beim Bundesverfassungsgericht konzentriere (mit Verweis auf das Untergesetzesrecht). 293 BVerfGE 1, 184 (197 ff.); 2, 124 (128 ff.); 10, 124 (127); 54, 47 (51); 63, 131 (141); 68, 337 (344 f.); 86, 71 (77); 97, 117 (122). Vgl. aus der Literatur nur Pieroth, in: Jarass / Pieroth, Art. 100, Rn. 1; Badura, Staatsrecht, H 54, S. 695; AK-GG – Rinken, Art. 100, Rn. 5; Meyer, in: v. Münch / Kunig, Bd. III, Art. 100, Rn. 3; Sturm, in: Sachs, GG-Kommentar, Art. 100, Rn. 4 f.; Ossenbühl, DV 1969, 393 (401). 294 BVerfGE 1, 184 (197 f.). 295 BVerfGE 1, 184 (199 f.). 296 BVerfGE 1, 184 (195 ff.); 2, 124 (128); 70, 126 (129); Siekmann, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, Bd. III, Art. 100 Abs. 1, Rn. 23 ff.; Löwer, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. II, § 56, Rn. 73; Klein, in: Benda / Klein, Verfassungsprozeßrecht, Rn. 694; Sturm, in: Sachs (Hrsg.), Art. 100, Rn. 9, 11; Piroth, in: Jarass / Piroth, Art. 100, Rn. 6, 8 f. 297 Vgl. nur Herzog, in: Maunz / Dürig, Art. 20 GG, VI., Rn. 35 f.; Gusy, JuS 1983, 189; Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, S. 104 f. 298 O. Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht Bd. I, S. 64 ff., 68. „Drei Stücke sind es, aus welchen sich die Herrschaft des Gesetzes zusammensetzt: seine rechtssatzschaffende Kraft, sein Vorrang und sein Vorbehalt“ (a. a. O., S. 65).
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D. Rechtssouveränität versus Volkssouveränität?
ursprünglich „den Sieg der volksvertretenden Legislative über die Regierungs- und Verwaltungsmacht (beschrieb), die zum Hausgut des Monarchen zählte“,300 ist an die Stelle dieser Begründung in der parlamentarischen Demokratie die nicht weniger tragfähige Begründung der intra-konstitutionellen Volkssouveränität getreten:301 In den konstitutionellen verfassten Monarchien des deutschen Raums waren Recht und Wirklichkeit durch den Gegensatz von Staat und Gesellschaft gekennzeichnet.302 Nach dem konstitutionellen Verfassungsverständnis war unter Staat allein der Monarch mit seiner Exekutive zu verstehen. Dem Staat stand die Gesellschaft gegenüber, vertreten durch Ständeversammlungen und Parlamente. Dabei legitimierte sich die staatliche Exekutive durch das staatstragende monarchischständische Element, die Repräsentativversammlung durch das allerdings nur partiell wahlberechtigte Gesamtvolk der Gesellschaft. Durch deren Zusammenwirken bei der Gesetzgebung erschienen Gesetze als verbindliche Vereinbarung zwischen Staat und Gesellschaft. Die Gesetze wirkten damit als Begrenzung des Staatshandelns. Der „Vorrang des Gesetzes“ erwies sich folglich als Kollisionsregel für den Fall, dass eine Maßnahme der Exekutive, d. h. des Staates gegen Gesetzesrecht verstieß.303 Nach einhelliger Auffassung zeichnet sich der demokratische Verfassungsstaat des Grundgesetzes hingegen durch die Entscheidung für die weitgehend repräsentative Ausgestaltung der Demokratie unter anderem durch die zentrale „Steuerungsfunktion des Gesetzes“304 aus.305 Die „Allzuständigkeit des Gesetzge299 Gusy, JuS 1983, 189 (190). Vgl. bereits die Äußerung von Carlo Schmid, JöR N. F., Bd. 1, S. 197 (siehe oben, S. 150), wonach die Gewalten dem Volk nicht polar oder kontradiktorisch gegenüberstehen, sondern Ausfluss der Volkssouveränität sind. 300 Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, S. 105. 301 Vgl. Herzog, in: Maunz / Dürig, Art. 20 GG, VI., Rn. 35; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 508; Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, S. 105; Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, S. 495. Freilich ist die Bindung an das Gesetz, wie sie Art. 20 Abs. 3 GG vorschreibt, nicht identisch mit dem Gebot des Gesetzesvorrangs (Sobota, a. a. O., S. 106). So verwenden beide Prinzipien in der Tat unterschiedliche Gesetzesbegriffe: Der Gesetzesvorrang bezieht sich nur auf förmliche Gesetze, die Bindung an Gesetz und Recht auch auf Verordnungen. Zudem spricht der Gesetzesvorrang eine abstrakte Rangordnung aus, die Gesetzesbindung hingegen ein konkretes Folgegebot. Vgl. hierzu eingehender Sobota, a. a. O. 302 Vgl. zur historischen Entwicklung des Gesetzesvorrangs im konstitutionellen Staatsrechts als Abgrenzung zu seiner grundgesetzlcihen Ausgestaltung insbesondere Herzog, in: Maunz / Dürig, Art. 20 GG, VI., Rn. 35 f.; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 200 ff., 508; Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, S. 105 ff.; zusammenfassend auch Gusy, JuS 1983, 189 f. 303 Gusy, JuS 1983, 189 f. 304 Herzog, in: Maunz / Dürig, Art. 20 GG, VI., Rn. 45. 305 Vgl. Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, S. 495; Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, S. 77; Schuppert, Das Gesetz als zentrales Steuerungsinstrument des Rechts-
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bers“306 ist das Resultat der hervorgehobenen Rolle des vom Parlament erlassenen Gesetzes. Diese legitimiert sich vor allem vor dem Hintergrund des unmittelbaren Mandats des Staatsvolks als dem demokratischen Souverän. Maßgeblicher (demokratischer) Legitimationsmodus ist in der repräsentativ ausgestalteten Ordnung des Grundgesetzes die Parlamentswahl.307 Das Parlament ist als einziges Staatsorgan unmittelbar vom Volk legitimiert.308 Das formelle, parlamentsbeschlossene Gesetz ist auf diese Weise Ausdruck unmittelbarster 309 demokratischer Legitimation mittelbarer Ausübung staatlicher Gewalt. Verfassungstheoretisch fungiert das Gesetz also gleichsam als konsequenteste Verwirklichung intra-konstitutioneller Volkssouveränität in der repräsentativen Demokratie. Seine ihm zugedachte gewaltenteilungsrechtliche Steuerungs- und Ordnungsfunktion310 ist demokratisch bedingt. In diesem Sinne erweist sich die Herrschaft des Rechts im Grundgesetz im Wesentlichen als Herrschaft des Gesetzes.311 Unruh veranschaulicht dies prägnant wie folgt: „Sollen die Freien und Gleichen autonom bestimmen, so bedarf es demokratischer Verfahren, die diese Selbstbestimmung ermöglichen und weitgehend absichern. Die Lösung dieses Problems erfolgt über das Verfassungsbegriffselement der repräsentativen Demokratie. In der repräsentativen Demokratie erhält zwar grundsätzlich jede staatliche Machtäußerung eine demokratische Legitimation; das unmittelbar von den Volksvertretern beschlossene Gesetz ist aber durch eine vergleichsweise intensivere demokratische Legitimation ausgezeichnet, da die Beschließenden ihrerseits unmittelbar vom Volk gewählt worden sind. Verfassungstheoretisch folgt daraus, dass zwar sämtliche demokratisch legitimierten Rechtssetzungen am Primat des Rechts teilhaben, dass aber dem Gesetz die zentrale Rolle als (unter-verfassungsrechtliches) Steuerungsinstrument zukommt.“312 Dies rechtfertigt es, das parlamentarische Gesetz als „Achse rechtsstaatlicher Verfassung“313 und als „zentrales Bauelement demokratischer Verfassungsstruktur“314 staats, S. 105 ff.; Stern, Staatsrecht I, S. 797; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 74, 508; Gusy, JuS 1983, 189 (190). 306 Herzog, in: Maunz / Dürig, Art. 20 GG, VI., Rn. 45. 307 Zu den Legitimationsmodi Wahlen und Abstimmungen siehe oben, S. 150 f. 308 Vgl. hierzu eingehender nachfolgend unter (d), S. 186 f., insbes. die Ausführungen zur personellen demokratische Legitimation, S. 188 f. 309 Das Volk übt „die Staatsgewalt am unmittelbarsten durch das von ihm gewählte Parlament“ aus, BVerfGE 33, 125 (158). 310 Die Ordnungsfunktion entspricht der originär rechtsstaatlichen Komponente des Gesetzes als Garant für Stabilität und Kontinuität, vgl. Ossenbühl, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. III, § 61, Rn. 21 f. Ossenbühl, a. a. O., verweist darauf, dass das Gesetz hat in seiner im 19. Jahrhundert vorrangig stabilisierenden Wirkung als tragendes und bleibenes Fundament der Rechtsordnung einiges an Bedeutung eingebüßt hat. Dieses wird indes durch die Verfassungsbindung ausgeglichen. 311 Gusy, JuS 1983, 198 (190): „Die Überordnung der Legislative über Verwaltung und Justiz stellt sich so als Konsequenz einer Zuordnung der Grundsätze von Demokratie und Gewaltenteilung dar.“ 312 Unruh, der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, S. 495. 313 E.-W. Böckenförde, in: FS für Adolf Arndt, S. 53 ff. (58).
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oder als „Gravitationszentrum“ bzw. „Angelpunkt“315 der Gewaltenteilung zu verzeichnen. Die Verschränkung auf die demokratische Komponente ist freilich nicht ganz unproblematisch. Sobota verweist darauf, dass sich aus dem Demokratiegedanken zwar eine wichtige Stellung des Gesetzes ableiten lasse, nicht jedoch seine Höchstrangigkeit:316 Ein Volksentscheid könne beispielsweise als Akt einer Willensbildung mit höherer Legitimation angesehen werden. So könne man ohne die positivierte Gesetzesbindung in Art. 20 Abs. 3 GG ein mit dem Demokratiegedanken durchaus vereinbares317 plebiszitäres System mit (dann sogar) unmittelbar gesetzesderogierender Wirkung errichten. Damit ist Art. 20 Abs. 3 GG unzweifelhaft ein unverzichtbarer Baustein der repräsentativen Demokratie des Grundgesetzes, und vor diesem Hintergrund ist es äußerst fragwürdig, in dieser Verfassungsnorm etwas anderes sehen zu wollen als eben gerade dieses. Geradezu paradox aber wäre es, Art. 20 Abs. 3 GG zugleich als Einfallstor überpositiver Bindung der demokratischen Staatsgewalt zu betrachten; steht doch eine solche überpositive Bindung diametral im Gegensatz zum Demokratieprinzip. Die Transpositivitätsthese muss sich also fragen lassen, ob sie mit der Akzeptanz von überpositivem Recht als verbindlichem Prüfungsmaßstab auch für formelle (d. h. Verfassungs- und Parlaments-)Gesetze nicht ein zentrales Bauelement demokratischer gewaltenteilender Verfassungsstruktur auf den Kopf stellt. Der Aspekt der intra-konstitutionellen Volkssouveränität im Begründungszusammenhang von Art. 20 Abs. 3 GG ist freilich auch und gerade hier nicht ganz unproblematisch: Als Verfassungsnorm, so kann argumentiert werden, schränkt Art. 20 Abs. 3 GG mit der Rechtsbindung besonders nicht-verfassungsändernde Gesetze durch Mehrheitsentscheidungen des intra-konstitutionellen Volkssouveräns wegen des Vorrangs der Verfassung ein. Es entstünde allerdings schon eine besonders eigentümliche (demokratische und gewaltenteilungsrechtliche) Schieflage, wenn konkretisierte Wertentscheidungen, die über das Gesetz die unmittelbarste demokratische Legitimation erfahren haben und sich so auf den Volkswillen zurückführen lassen, durch die Rechtsanwendung anhand subjektiver, unüberprüfbarer Gerechtigkeitsvorstellungen jenseits der grundgesetzlich konkretisierten Wertentscheidungen aushebeln ließen. (d) Formen demokratischer Legitimation Die dargestellten demokratietheoretischen Bedenken gegen eine überpositive Bindung der verfassten Gewalten könnten jedoch durch weitere Komponenten demokratischer Legitimation relativiert sein. Nach der vom Bundesverfassungs314 315 316 317
E.-W. Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 381. Schmidt-Aßmann, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. I, § 26, Rn. 33 bzw. 58. Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, S. 106. Vgl. hierzu H. Dreier, in: ders., Bd. II, Art. 20 (Demokratie), Rn. 97 ff., 101.
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gericht und in der Literatur vertretenen Lehre von der demokratischen Legitimation318 können drei Komponenten unterschieden werden, die funktionell-institutionelle, die personelle und die sachlich-inhaltliche Legitimation.319 Dabei steht nicht jede für sich. Sie wirken, wie H. Dreier formuliert, „bausteinartig zusammen und können sich (bis zu einem gewissen, abstrakt nur schwer zu bestimmenden Grad) wechselseitig substituieren“.320 (aa) Funktionell-institutionelle demokratische Legitimation Unter der funktionell-institutionellen 321 Legitimation versteht man die im pouvoir constituant wurzelnde, verfassungsunmittelbare demokratische Legitimation: Als Verfassungsgeber trennt das Volk die drei Gewalten voneinander, ordnet sie bestimmten Staatsorganen zu und regelt deren Funktionsweise,322 um durch sie die vom Volk ausgehende intra-konstitutionelle Staatsgewalt auszuüben. Die historische Verwurzelung der Staatsorgane im pouvoir constituant reicht jedoch zur bleibenden demokratischen Legitimation nicht aus; sie „muss sich vielmehr stets in angebbarer Weise auf den Volkswillen zurückführen lassen und gegenüber dem Volk verantwortet werden.323 Nach E.-W. Böckenförde ersetzt die funktionell-institutionelle demokratische Legitimation nicht die konkrete Legitimation des jeweiligen Organwalters und seines Handelns in dem ihm zugewiesenen Funktionsbereich.324 Insoweit bedürfe es vielmehr weiterer Legitimationskomponenten, der personellen und der sachlich-inhaltlichen. 318 Grundlegend hierzu E.-W. Böckenförde, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. II, § 24, Rn. 11 ff. 319 Vgl. H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG Bd. II, Art. 20 (Demokratie), Rn. 105 ff. mit umfassenden weiteren Nachweisen. 320 Vgl. H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG Bd. II, Art. 20 (Demokratie), Rn. 108. Zur Diskussion weiterer Legitimationskomponenten wie Akzeptanz, Garantie von Entscheidungsrichtigkeit, Effizienz etc. siehe die weiteren Nachweise bei E.-W. Böckenförde, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. I, § 24, Rn. 31 ff.; Schmidt-Aßmann, AöR Bd. 116 (1991), S. 327 (369 ff.). Die weiteren Modi werden allerdings nur im Rahmen der Legitimation von Verwaltung diskutiert. Unter dem Gesichtspunkt der Akzeptanz eine Entscheidung gegen den Gesetzgeber in Form einer Nichtbefolgung bzw. Verwerfung einer Norm durch ein Gericht demokratisch für legitimiert zu halten, wäre i. Ü. eine recht waghalsige Konstruktion. Zum einen wird sie regelmäßig eine Akzeptanz antizipieren müssen, zum anderen eröffnet sie die Möglichkeit, mit dem Argument der Aktzeptanz politisch unbequeme Entscheidungen des Parlaments außer Kraft zu setzen. 321 BVerfGE 49, 89 (125);vgl. auch BVerfGE 77, 1 (40) und 93, 37 (66). 322 BVerfGE 49, 89 (125); 68, 1 (89). Begriff und Grundlegung gehen zurück auf Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, S. 169 ff., 199, vgl. Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominialverwaltung, S. 276. Vgl. aber auch etwa E.-W. Böckenförde, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. II, § 24, Rn. 14; H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG Bd. II, Art. 20 (Demokratie), Rn. 105. 323 E.-W. Böckenförde, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. II, § 24, Rn. 11. 324 E.-W. Böckenförde, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. II, § 24, Rn. 15.
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(bb) Personelle demokratische Legitimation Die personelle demokratische Legitimation beruht in einer ununterbrochenen, auf das Volk rückführbaren Legitimationskette zu dem jeweiligen Amtswalter.325 Hierdurch werden zugleich die Organe, in welchen die Amtswalter tätig sind, demokratisch legitimiert. Aus dem personellen Element, einer besonders kurzen Legitimationskette, leitet sich die „besondere demokratische Weihe“ des Parlaments ab.326 Diese unmittelbare demokratische Legitimation hebt das Parlament über die anderen Staatsorgane demokratisch hinaus. Nach einer heute weit verbreiteten These nimmt das Parlament deshalb unter den obersten Verfassungsorganen den höchsten Rang ein.327 Das Parlament sei höchstes Staatsorgan; ihm komme die Organsouveränität zu.“328 Es ist auch die Rede von einem „juristischen Übergewicht“329, einer „Überordnung“330 oder auch „Überhöhung“331 der gesetzgebenden Gewalt über die anderen Organe. Dies führt schnell zu dem Missverständnis, dass die drei Gewalten als solche unterschiedlich stark demokratisch legitimiert seien. Durch den Akt der Verfassungsgebung sind die pouvoirs constitués indessen institutionell und funktionell gleichermaßen demokratisch legitimiert.332 Nicht das Parlament als Institution bzw. als Staatsorgan weist eine erhöhte demokratische Legitimation auf,333 sondern sein personelles Substrat, die Gesamtheit seiner unmittelbar demokratisch legitimierten Mitglieder.334 Das Parlament genießt also kein demokratisches Legitimationsmonopol.335 Der vom Parlament geäußerte staatliche Wille, genießt aber die unmittelbarste demokratische Legitimation. Die insofern herausgehobene Stellung des parlamentsbeschlossenen Gesetzes vermittelt schließlich in der parlamentarischen Demokratie des Grundgesetzes im 325 BVerfGE 47, 253 (275 f.); 68, 1 (88); 77, 1 (40); 83, 60 (73); H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG Bd. II, Art. 20 (Demokratie), Rn. 106; E.-W. Böckenförde, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. II, § 24, Rn. 16; eingehend hierzu Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominialverwaltung, 1993, S. 267 ff. 326 Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, S. 198 f. 327 Herzog, in: Maunz / Dürig, Art. 20 GG, II., Rn. 76; vgl. zudem bspw. Kriele, VVDStRL 29 (1971), S. 63; Hans Meyer, VVDStRL 33 (1975) , S. 80 und 89 f. 328 Jesch, Gesetz und Verwaltung, S. 99 f.; vgl. u. a. Friesenhahn und Partsch, VVDStRL 16 (1958), S. 9 ff. 329 Peters, Die Gewaltentrennung in moderner Sicht, S. 11 Fn. 29, der das Wesen des Parlamentarismus im „juristischen Übergewicht“ sieht. 330 Gusy, JuS 1983, 189 (190). 331 Hall, DÖV 1965, 253 (257). 332 Vgl. etwa Zimmer, Funktion – Kompetenz – Legitimation, S. 209; Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, S. 196 ff. 333 So bspw. Gusy, JuS 1983, 189 (190); ähnlich auch Herzog, in: Maunz / Dürig, Art. 20 GG, II., Rn. 76. 334 Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, S. 198 f. 335 Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, S. 199; E.-W. Böckenförde, Organisationsgewalt, S. 79.
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Wesentlichen auch die sachlich-inhaltliche demokratische Legitimation der Rechtsanwendung: (cc) Sachlich-inhaltliche (materielle) demokratische Legitimation Mit der sachlich-inhaltlichen Legitimation ist gemeint die inhaltliche Rückführbarkeit von Entscheidungen auf das Volk, genauer: auf den Volkswillen.336 Sie dient dazu, die Ausübung der Staatsgewalt in der Sache und ihrem Inhalt vom Volk herleiten zu können.337 Der Volkswille soll in staatlichen Entscheidungen auch materiell zum Ausdruck kommen. Die sachlich-inhaltliche Legitimation wird demokratietheoretisch im Grundgesetz, sieht man von den wenigen plebiszitären Elementen einmal ab, auf zwei Wegen erreicht: durch die Verankerung des Gesetzgebungsrechts beim Parlament und durch „sanktionierte demokratische Verantwortlichkeit“.338 Das Gesetz vermittelt durch die Gesetzesbindung von Exekutive und Judikative diesen Gewalten materielle Entscheidungen, die unmittelbarer nicht auf das Volk zurückgeführt werden können. Die Abwählbarkeit von Amtswaltern ermöglicht dem Volk darüber hinaus als demokratische Sanktion die nachträgliche Missbilligung und gegebenenfalls inhaltliche Korrektur matrieller Entscheidungen. Diese Verantwortlichkeit besteht unmittelbar gegenüber den Parlamentariern339 und mittelbar gegenüber der Exekutive340. (dd) Maßgeblichkeit und Zusammenwirken der personellen und materiellen demokratischen Komponenten Gegen eine gleiche Gewichtung der drei Legitimationskomponenten werden nicht von der Hand zu weisende Bedenken erhoben.341 Zu Recht wird darauf hingewiesen, dass sich die funktionelle und institutionelle demokratische Legitimation und die personelle und sachlich-inhaltliche demokratische Legitimation auf verschiedenen Ebenen bewegen: die institutionell-funktionelle auf der Ebene des pouvoir constituant, die personelle und sachlich-inhaltliche auf derjenigen der pouvoirs constitués.342 Auf der gleichen Linie liegt letztlich der Hinweis auf die 336 BVerfGE 83, 60 (72); 93, 37 (67); H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG Bd. II, Art. 20 (Demokratie), Rn. 107. 337 E.-W. Böckenförde, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. II, § 24, Rn. 21. 338 E.-W. Böckenförde, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. II, § 24, Rn. 21. 339 Diese werden durch die periodisch wiederkehrenden Wahlen sanktioniert, Art. 38 Abs. 1 GG (E.-W. Böckenförde, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. II, § 24, Rn. 21). 340 Die Regierung wird durch die Kontroll- und Abberufungsrechte der Volksvertretung sanktioniert (E.-W. Böckenförde, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. II, § 24, Rn. 21). 341 Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominialverwaltung, S. 277 ff.; vgl. auch Oebbecke, Weisungs- und unterrichtungsfreie Räume, S. 69; E.-W. Böckenförde, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. II, § 24, Rn. 15. 342 Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominialverwaltung, S. 277.
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verschiedenen Legitimationssubjekte, der auf der oben dargestellten Doppelnatur der Volkssouveränität beruht. Es wir mit Recht angeführt, dass Legitimationssubjekt im Rahmen der personellen und materiellen Komponenten das verfassungskonstituierte Volk im Sinne des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG sei. Dieses sei, ebenso wie das Prinzip der Volkssouveräntität in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG und das Demokratieprinzip, Bestandteil der Verfassung. Demgegenüber sei Legitimationssubjekt im Rahmen der funktionellen und institutionellen Komponente der Verfassungsgeber, der nicht in der Bindung der Verfassung stehe.343 Darüber hinaus wird richtigerweise hervorgehoben, dass die Eigenständigkeit der einzelnen Funktionen nicht Ausfluss demokratischer Legitimation sei, sondern vielmehr verfassungsunmittelbar durch das Gewaltenteilungsprinzip garantiert und legitimiert werde.344 In die gleiche Richtung weist schließlich das Argument, dass nicht die Funktions- und Institutionengliederung des Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG Ausdruck demokratischer Legitimation ist. Vielmehr lege die Verfassung den Grund dafür, dass sich Demokratie auf der Grundlage und mit den Mitteln der Demokratie vollziehen könne.345 Gerade im Sinne dieser völlig zutreffenden Kritik liegt aber schließlich auch die Feststellung, dass die institutionell-funktionelle Legitimationskomponente allein nicht die konkrete Legitimation der jeweiligen Organwalter und ihres Handelns im zugewiesenen Funktionsbereich ersetze, welche vielmehr erst durch die personelle und die sachlich-inhaltliche demokratische Legitimation vermittelt werde. Der institutionell-funktionellen Legitimationskomponente kommt so gesehen neben der personellen und materiellen in der Tat, wie Jestaedt resümiert, keine eigenständige Bedeutung zu.346 Intra-konstitutionell lässt sich die Volkssouveränität nur über die personelle und materielle Legitimationskomponente in das Staatshandeln einbringen. Die Anerkennung überpositiven Rechts als Prüfungsmaßstab muss sich mithin in erster Linie an der demokratischen Legitimation in personeller und in sachlichinhaltlicher Sicht messen lassen. Dabei ist festzuhalten, dass diese beiden Legitimationskomponenten einander nicht ersetzen können, will man ein ausreichendes Legitimationsniveau erreichen.347 Personelle und materielle Legitimation müssen vielmehr zusammenwirken. Andernfalls besteht die Gefahr, dass sich eine autonome, vom Volkswillen unabhängige Gewalt bildet.348 Insbesondere unter diesem Gesichtspunkt soll schließlich die Ableitung des überpositiven Arguments aus Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominialverwaltung, S. 277 f. Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominialverwaltung, S. 278 – wenn auch die Rolle des Gesetzes im demokratietheoretischen Kontext, wie dargestellt, zu verstehen ist. 345 Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominialverwaltung, S. 279. 346 Vgl. Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominialverwaltung, S. 279. 347 Eingehend hierzu Emde, Die demokratische Legitimation der funktionellen Selbstverwaltung, S. 327 – 336, 328; Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominialverwaltung, S. 281 ff.; E.-W. Böckenförde, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. II, § 24, Rn. 11, 23. 348 Vgl. E.-W. Böckenförde, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. II, § 24, Rn. 11, 23. 343 344
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Art. 20Abs. 3 GG am Prüfstein der Gesetzesbindung gemäß Art. 97 Abs. 1 GG untersucht werden. (e) Gesetzesbindung und richterliche Unabhängigkeit Insbesondere die Judikative beansprucht für sich eine exponierte Stellung. Nach Art. 97 Abs. 1 GG sind die Richter von äußeren Einflüssen „unabhängig und nur dem Gesetze unterworfen“. Art. 97 Abs. 1 GG regelt als zentrale Vorschrift die rechtliche Stellung der Dritten Gewalt, und zwar auch und vornehmlich gegenüber den anderen Staatsgewalten und ist insofern (Teil-)Konkretisierung der in Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG und in Art. 20 Abs. 3 GG ebenfalls bereits (teil-)konkretisierten Gewaltenteilung in der grundgesetzlichen, demokratischen Rechtsstaatlichkeit.349 Art. 97 Abs. 1 GG bezeichnet mit der richterlichen Unabhängigkeit und der strikten Bindung des Richters an das Gesetz die wesentlichen Eckpfeiler judikativer Entscheidungsprozesse. In sachlicher Hinsicht bedeutet die richterliche Unabhängigkeit Freiheit rechtsprechender Tätigkeit von jeglichen Weisungen und wird in Art. 97 Abs. 1 GG konstituiert. In persönlicher Hinsicht bedeutet sie Staats-, Parteien- und Gesellschaftsunabhängigkeit und findet ihre verfassungsgesetzliche Grundlage in Art. 97 Abs. 2 GG.350 Der Wortlaut von Art. 97 Abs. 1 GG ist eindeutig, sagt aber letztlich nichts über seine Wechselwirkung mit Art. 20 Abs. 3 GG aus.351 Er kann mithin den Widerspruch dieser beiden Normen nicht auflösen. Es soll daher zunächst ein kurzer Blick auf die Entstehungsgeschichte geworfen werden, um anschließend die Interpretation mit der Systematik im Lichte der obigen Feststellungen abzurunden. (aa) Entstehungsgeschichte Für die Frage nach einer möglichen Bindung an überpositives Recht ist die Geschichte des Art. 97 GG nicht so aufschlussreich wie sein Wortlaut. Es zeigen sich Parallelen zur Entstehungsgeschichte des Art. 20 Abs. 3 GG. Bei beiden Vorschriften wurde die Frage der Übergesetzlichkeit kontrovers diskutiert. Die Entstehungsgeschichte des Art. 97 GG scheint indessen zu einem klareren Ergebnis zu kommen: Die Aufnahme der richterlichen Unabhängigkeit in das Grundgesetz stand von Anfang an außer Zweifel.352 Bereits der Herrenchiemseer Entwurf sah neben der 349 Vgl. Herzog, in: Maunz / Dürig, Art. 97 GG, Abschn. I, Rn. 1. Art. 97 Abs. 2 und Art. 98 GG besitzen gewissermaßen nur „Vollzugscharakter“ gegenüber Art. 97 Abs. 1 GG, wie Herzog, a. a. O., betont. 350 Vgl. zur sachlichen und persönlichen Unabhängigkeit statt vieler Zimmer, Funktion – Kompetenz – Legitimation, S. 297 m. w. N., sowie die einschlägige verfassungsrechtliche Kommentierung zu Art. 97 GG. Vgl. neben Art. 97 Abs. 1 GG zudem § 1 GVG, 25 DRiG, aber auch § 4 DRiG. 351 Der schlichte Verweis auf den Wortlaut hat nicht ohne Grund etwas Apodiktisches.
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sachlichen Unabhängigkeit, d. h. der Unabhängigkeit von Weisungen, auch die persönliche Unabhängigkeit, d. h. die Unabsetzbarkeit und Unversetzbarkeit,353 vor, und zwar für alle Richter.354 Es war indessen umstritten, ob man den Richter neben dem Gesetz auch seinem Gewissen unterwerfen sollte. So sah der Herrenchiemseer Entwurf in Art. 132 eine Unterwerfung des Richters unter sein Gewissen vor. Der Richter sollte also die Vereinbarkeit des positiven Rechts mit dem ungeschriebenen Recht zu prüfen haben.355 Zudem verstand der Rechtspflegeausschuss unter Gesetz nicht nur das Gesetz im formellen Sinne, sondern auch das „Gesetz im höheren Sinne“.356 Im Hauptausschuss wurde die Unterwerfung der Richter auch unter ihr Gewissen jedoch nicht aufgegriffen. Der Abgeordnete Zinn wies darauf hin, dass man bei den Vorerörterungen übereingekommen sei, es bei der Bindung nur an das Gesetz zu belassen. Es dürfe nicht der „grundfalsche Anschein“ erweckt werden, als ob das Gewissen des Richters eine dem Gesetz gleiche oder übergeordnete Rechtsquelle sei.357 Ebenso sprach sich der Abgeordnete Dehler aus. Einen Konflikt zwischen seinem Gewissen und dem Gesetz müsse der Richter in sich selbst austragen und notfalls die Konsequenzen tragen.358 (bb) Systematik Die Rolle der richterlichen Gesetzesbindung kann letztlich nur aus ihrem Verhältnis zur richterlichen Unabhängigkeit abgeleitet werden. Richterliche Gesetzesbindung und richterliche Unabhängigkeit stehen in einem untrennbaren Zusammenhang. Mit der Formulierung „nur dem Gesetz unterworfen“ wiederholt Art. 97 Abs. 1 GG die Gesetzesbindung des Art. 20 Abs. 3 GG und betont insbesondere die Unabhängigkeit des Richters. Hieraus geht hervor, dass die richterliche Unabhängigkeit und die Gesetzesbindung als „Komplementärprinzipien“ gedacht werden.359 Häufig ist auch die Rede von der richterlichen Unabhängigkeit als notwendigem „Korrelat“ zur strikten Bindung des Richters an das Gesetz360 352 Vgl. AK-GG – Wassermann, Art. 97 GG, Rn. 9. Zur Geschichte der richterlichen Unabhängigkeit ders., siehe ebenda, Rn. 1 ff. 353 Vgl. neben Art. 97 Abs. 1 GG auch § 1 GVG, 25 DRiG, aber auch § 4 DRiG. 354 JöR N. F., Bd. 1, S. 716. 355 JöR N. F., Bd. 1, S. 716. 356 So der Abgeordnete Becker im der siebten Sitzung des Rechtspflegeausschusses, siehe JöR N. F., Bd. 1, S. 717. 357 So zitiert bei AK-GG – Wassermann, Art. 97 GG, Rn. 9. 358 JöR N. F., Bd. 1, S. 717. 359 AK-GG – Wassermann, Art. 97 GG, Rn. 43. Vgl. auch etwa Meyer, in: v. Münch / Kunig, Bd. 3, Art. 97, Rn. 10; J. Ipsen, Richterrecht, S. 208; vgl. Badura, Grenzen und Möglichkeiten des Richterrechts, S. 55 und Eichenberger, Die richterliche Unabhängigkeit als staatsrechtliches Problem, S. 95. 360 Als markantes und hervorstechendes Kennzeichen judikativer Entscheidungsprozesse wird die richterliche Unabhängigkeit auch als Korrelat der strikten Bindung des Richters an das Gesetz bezeichnet, vgl. etwa E.-W. Böckenförde, Verfassungsfragen der Richterwahl,
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Das Verhältnis dieser Komplementärprinzipien begründet sich organisationsrechtlich wie demokratietheoretisch: Organisationsrechtlich dient die Gesetzesbindung der Bändigung der Macht des Richters und als notwendiger Ausgleich seiner Unabhängigkeit.361 Der Richter soll frei von willkürlicher Einmischung und Weisung sein und in dieser allein vom Gesetz beschränkten Freiheit Willkür verhüten.362 Ob das Unterwerfungsgebot indessen tatsächlich vor Willkür schützt, darf bezweifelt werden. Wassermann verweist in diesem Kontext auf den historischen Hintergrund dieser Zuordnung, welcher in der überkommenen Vorstellung liegt, die richterliche Entscheidung sei nichts anderes als bloßer „Gesetzesvollzug“.363 Tatsächlich haben Untersuchungen unterschiedlicher Provenienz jedoch nachgewiesen, dass die spezifische Leistung des Richters durch den Subsumtionsgedanken nicht hinlänglich erfasst wird.364 SubS. 72, insbes. S. 79; Starck, VVDStRL 34 (1976), S. 43 ff. (48, 68); Zimmer, Funktion – Kompetenz – Legitimation, S. 210 f. sowie S. 299; vgl. auch Roellecke, VVDStRL 34 (1976), S. 7 ff. (31 ff. und Leitsatz 17, S. 42). 361 Eine prägnante organisationsrechtliche Begründung des Verhältnisses findet sich etwa bei Meyer, in: v. Münch / Kunig, Bd. 3, Art. 97, Rn. 10 ff.: Die Vorrangregel eines Normgefüges enthält notwendig das „Selbstbindungsversprechen“ des Normgebers (mit Verweis auf Pauly, Verfassung als Synallagma, Staat 1994, 277 (281)). Wie Meyer darlegt, ist es aber erst die „Trennung der Verfahren zur Rechtsänderung (Rechtsetzung) von den Prozeduren zur Rechtsfindung (Erkenntnis des gesetzten Rechts), die es prüfbar macht, ob das ,Selbstbindungsversprechen‘ eingelöst – oder nach Willkür – gebrochen ist“. Daraus folgt für jedes System die „Notwendigkeit der Neutralität der Rechtsprechungsfunktion“ im Verhältnis zwischen Rechtssuchendem und Staat. Aus der hieraus resultierenden Notwendigkeit der Trennung von Legislative und Judikative ergibt sich indes, wie Meyer näher ausführt, eine Gefährdung für die Identität der Rechtsordnung. Dieser kann in der Tat nur durch das Gebot der sachlichen Unabhängigkeit der dritten Gewalt verhindert werden – ein Selbsteintrittsrecht des Normgebers wäre kontraproduktiv, da dieses leztlich in einer Lockerung der Selbstbindung des Gesetzgebers resultieren kann. Um die Richtermacht dadurch aber nicht zu einer unabhängigen Gewalt erstarken zu lassen, unterwirft das Grundgesetz den Richter bei der Ausübung rechtsprechender Gewalt dem Gesetz. 362 AK-GG – Wassermann, Art. 97 GG, Rn. 43. Die gewaltenteilungsrechtliche Bedeutung der richterlichen Unabhängigkeit findet ihre Grundlage bereits in dem Kampf gegen die Machtansprüche und die „Kabinetsjustiz“ der Regenten im Spätabsolutismus, Wassermann, a. a. O., Rn. 1 f., m. w. N.: Die sachliche Unabhängigkeit, also die Freiheit von Weisungen, wurde erstmals 1818 in der bayerischen Verfassung (8. Titel § 3) verankert, gefolgt von der badischen (§ 14). Nach dem Vormärz setzte sich die Erkenntnis durch, dass die sachliche Unabhängigkeit durch entsprechende Vorkerhrungen gegen die Versetzung und Entlassung von Richtern zu ergänzen sei. Folglich wurde die persönliche Unabhängigkeit neben der sachlichen erstmals in der preussischen Verfassung von 1948 in den Art. 85, 86 garantiert. 363 AK-GG – Wassermann, Art. 97 GG, Rn. 44, mit Verweis auf die klassische Formulierung Montesquieu’s: „Les juges des la nation ne sont que la bouche qui prononce les paroles de la loi des êtres inanimés qui n’en peuvent modérer ni la force ni la rigueur“ (De L’Esprit des lois, tome premier, 1758, livre XI, chapitre VI). 364 Müller, Richterrecht – rechtstheoretisch formuliert, in: FS der Juristischen Fakultät zur 600-Jahrfeier der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, 1986, S. 66 (67); Barbey, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. III, § 74, Rn. 34 ff.; AK-GG – Wassermann, Art. 97 GG, Rn. 44. 13 Dieckmann
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jektive Wertungen des Richters lassen sich aus der Entscheidungsfindung nicht gänzlich verbannen.365 Es entspricht vielmehr dem Regelfall, dass die gesetzlichen Vorschriften hier und dort Raum für unterschiedliche Interpretationen offenhalten, insbesondere beispielsweise für die Interpretation der Grundrechte. Die Methodenlehre hat gezeigt, dass beispielsweise der klassische Auslegungskanon von v. Savigny zwar Auslegungshilfen anbieten kann, aber nicht die einzig richtige Lösung.366 Alle diese Erkenntnisse können jedoch, wie Wassermann zutreffend mit Verweis auf Rüthers herausstellt, nicht das Postulat in Frage stellen, dass „das Gesetz trotz aller Bindungsausfälle maßgeblicher Richt- und Orientierungspunkt für die Entscheidung des Richters bleiben muß, da ein Primat der richterlichen Normsetzung mit der verfassungsgerichtlichen Kompetenzverteilung zwischen Gesetzgeber und Richter in der parlamentarischen Demokratie des GG nicht vereinbar wäre“.367 So entspricht es denn auch der ganz herrschenden Meinung zur Problematik des Richterrechts, dass dieses sich zwar intra und praeter, nicht aber contra legem bilden darf.368 Die Verbindlichkeit überpositiven Rechts als Prüfungsmaßstab für gesetztes Recht öffnet, ist sie einmal anerkannt, geradezu Tür und Tor für Entscheidungen contra legem. Von da ist es nicht mehr weit, die Erkenntnisse der Methodenlehre als Argument für eine völlig freie Rechtsschöpfung aus dem Überpositiven heranzuziehen, und schließlich, da es nun einmal „Bindungsausfälle“ gibt, zum völligen Verzicht auf gesetzte Rechtsquellen. Die unvermeidbaren, häufig aber auch gezielt eingeräumten Entscheidungsspielräume369 können kaum als Argument dafür herhalten, der Transpositivitätsthese Vorschub zu leisten.370 Sie können dies viel weniger noch unter dem Gesichtspunkt demokratischer Legitimation. Vgl. auch bereits oben die Ausführungen zur juristischen Hermeneutik (S. 170 f.) und die dortigen beispielhaften Verweise auf Viehweg, Kriele, Esser und Rühthers. 365 AK-GG – Wassermann, Art. 97 GG, Rn. 44, mit Verweis auf Bülow, Gesetz und Richteramt, 1885, S. 26 ff. 366 Vgl. oben, S. 170 ff. 367 AK-GG – Wassermann, Art. 97 GG, Rn. 47; Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 474. 368 Vgl. BVerfGE 49, 318 m. w. N. Diesen Zusammenhang stellt Wassermann heraus, in: AK-GG, Art. 97 GG, Rn. 47. Vgl. zur Problematik des Richterrechts beiwspielsweise Gusy, DÖV 1992, 461 ff.; J. Ipsen, Richterrecht und Verfassung; ders.; DVBl. 1984, 1102; Ossenbühl, Richterrecht im demokratischen Rechtsstaat. 369 Vgl. hierzu etwa Meyer, in: v. Münch / Kunig, Bd. 3, Art. 97, Rn. 16; AK-GG – Wassermann, Art. 97 GG, Rn. 45. 370 Vgl. Meyer, in: v. Münch / Kunig, Bd. 3, Art. 97, Rn. 16: Die Grenze zur Oligarchie werde überschritten, sobald die im positiven Recht unvermeidbaren oder gezielt eingeräumten Entscheidungsspielräume für Gesetzgebung, vollziehende Gewalt oder Privatrechtssubjekte im Streitfall von den Richtern genutzt würden, sich zum letztverbindlichen Normsetzer aufzuschwingen. Dies geschehe dann, wenn die Rechtsprechung sich nicht darauf beschränke, die Gültigkeit der von den demokratisch legitimierten Erstinterpreten des Rechts gesetzten Regeln, auf ihre Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht zu prüfen und gegebenenfalls auslegend anzuwenden, sondern sich z. B. unter Berufung auf überpositive kompetenzüber-
II. Vereinbarkeit mit der Bindung an überpositives Recht?
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Die Richter erhalten ihr Mandat weder durch unmittelbare demokratische Wahl, noch können sie – dies ist entscheidend – durch ein Wählervotum abberufen werden. Dies wird durch ihre personelle Unabhängigkeit (Art. 97 Abs. 2 GG) verhindert. Die Berufung der Richter in ihr Amt erfolgt nur mittelbar demokratisch. Zwar wirken beispielsweise bei der Berufung von Richtern an die obersten Gerichtshöfe des Bundes und an das Bundesverfassungsgericht Richterwahlausschüsse mit (Art. 95 Abs. 2 GG i. V. m. dem Richterwahlgesetz; Art. 94 Abs. 1 S. 2 GG i. V. m. § 6 BVerfGG). Aber die so gewählten Richter sind weder in ihrer persönlichen Stellung noch in ihrer Entscheidungstätigkeit demokratischen Sanktionen ausgesetzt.371 Trotz der prinzipiell uneingeschränkten Verantwortung des Richters gegenüber dem Volk sind also Billigung und Sanktion richterlichen Tätigwerdens jeglicher Art durch das Volk als wesentliche Bestandteile demokratischer Legitimation nicht möglich.372 Ohne die sanktionsbewehrte demokratische Verantwortlichkeit fehlt es aber, weicht man die strikte Gesetzesbindung auf, an jeglicher sachlich-inhaltlichen demokratischen Legitimation. Anders als bei der Exekutive hilft bei der Judikative auch kein Weisungsrecht. Hierfür sorgt die sachliche Unabhängigkeit. Damit schält sich aber die gewaltenteilungsrechtlich zentrale und das richterliche Handeln allein determinierende Gesetzesbindung als die eigentliche und einzige Komponente demokratischer Legitimation der ansonsten unabhängigen richterlichen Funktionsausübung heraus. Zwischen den Legitimationswegen der demokratischen Verantwortlichkeit und Weisungsabhängigkeit auf der einen und der Gesetzesbindung auf der anderen Seite besteht ein korrelativer Zusammenhang: „Entfällt, wie bei der Rechtsprechung wegen der Eigenart und der Sicherung der Funktion, demokratische Verantwortlichkeit und Weisungsabhängigkeit, so ist einmal die strenge Bindung, ja Unterworfenheit unter das Gesetz das unerlässliche Korrelat dieser Unabhängigkeit gerade auch unter demokratischem Gesichtspunkt“.373 Fehlt beides, die strenge Gesetzesbindung und die sanktionsbewehrte demokratische Verantwortlichkeit, so führt dies zur Bildung eines demokratisch exemten Entscheidungsbereichs.374 Dieser wird aber mit der Anerkennung überpositiven Rechts eröffnet. Überpositives Recht schlechthin und insbesondere die spielende Optimierungsgebote dazu erheben würden, die Rechtsanwendung davon abhängig zu machen, ob die jeweiligen Normen nach den richterlichen Vorstellungen von „praktischer Vernunft“ als „richtig“ erschienen. 371 Vgl. Zimmer, Funktion – Kompetenz – Legitimation, S. 211; E.-W. Böckenförde, Verfassungsfragen der Richterwahl, S. 79. Das Verbot ihrer Wiederwahl (§ 4 Abs. 2 BVerfGG) schneidet die Möglichkeit vermittelter demokratischer Legitimation ab, worauf Zimmer zutreffend hinweist. 372 Vgl. hierzu Bettermann, in: Die Grundrechte, Bd. III, 2, S. 523 ff. (575 – 586); Zimmer, Funktion – Kompetenz – Legitimation, S. 211. 373 E.-W. Böckenförde, Verfassungsfragen der Richterwahl, S. 79; ders., in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. II, § 24, Rn. 22: „korrelativer Zusammenhang beider Legitimationswege“; vgl. auch Kriele, VVDStRL 29 (1971), S. 46 ff. (82); Zimmer, Funktion – Kompetenz – Legitimation, S. 210; Merten, DVBl. 1975, 677 (679). 374 E.-W. Böckenförde, in: Isensee / Kirchhof, HStR Bd. II, § 24, Rn. 22. 13*
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D. Rechtssouveränität versus Volkssouveränität?
Möglichkeit der Verwerfung auch formeller Gesetze am Maßstab überpositiven Rechts375 entzieht judikativen Entscheidungsprozessen die wesentliche Komponente grundgesetzlicher Legitimität, nämlich den Boden der intra-konstitutionellen Volkssouveränität. Daraus folgt schließlich, dass sogar sein personelles Legitimationsplus das Bundesverfassungsgerichts nicht von seiner Verfassungsbindung zugunsten einer überpositiven Rechtsbindung zu befreien vermag. Das personelle demokratische Plus des primär zur Gesetzeskontrolle berufenen Bundesverfassungsgerichts kann insbesondere den in der Normverwerfung am Maßstab überpositiven Rechts liegenden Eingriff in legislative Entscheidungskompetenzen des Parlaments nicht rechtfertigen, diesen Legitimitätssprung nicht relativieren. Art. 100 Abs. 1 GG wird der Rolle des Gesetzes als Gravitationszentrum der Gewaltenteilung, insbesondere aber als zentrales Bauelement demokratischer Verfassungsstruktur nur dann gerecht, wenn er die konkrete Normenkontrolle nicht nur monopolisiert, sondern zudem auf den Prüfungsmaßstab „dieses Grundgesetzes“ beschränkt.
III. Zusammenfassung Die Annahme einer Naturrechtsbindung des Grundgesetzgebers begegnet grundsätlichen verfassungstheoretischen Bedenken. Die Anerkennung überpositiven Rechts als Prüfungs- und in letzter Konsequenz freilich auch Verwerfungsmaßstab kollidiert im Grundgesetz mit dem grundlegenden Legitimationsprinzip der Volkssouveräntität, und zwar in doppelter Hinsicht; denn die Volkssouveräntität behauptet im Grundgesetz eine Doppelnatur: Das „Deutsche Volk“ ist als Souverän sowohl Verfassungsgeber (Präambel) als auch innhalb der Verfassung Träger der konstituierten Staatsgewalt (Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG). Wie sich gezeigt hat, ist die verfassungsgebende Volkssouveränität kein Hirngespinst. Als formale Legitimationsgrundlage und normative Rechtfertigungsgrundlage leidet das Prinzip nicht an einem Geburtsmakel. Das plebiszitäre Defizit ist im Wege der sogenannten nachholenden Verfassungsgebung in der täglichen Bewährung des Grundgesetzes kompensiert. Durch den Gottesbezug der Präambel übt der souveräne Verfassungsgeber keinen Souveränitätsverzicht zugunsten verfassungsbestimmender oder verfassungsergänzender überpositiver Normen, sondern verweist nur auf seine Gewissens- und Bewusstseinslage. Die verfassungsgebende Gewalt ist jedem Recht geltungstheoretisch vorgelagert. Als vorrechtliche Instanz kann die verfassungsgebene Volkssouveränität rechtlichen Bindungen nicht unterliegen, gerade weil sich eine naturrechtliche Bindung des pouvoir constituant an dem Erkenntnisproblem des Naturrechts stößt. 375 In diesem Fall handelt es sich sogar um eine doppelte Negation des Prinzips der Gesetzesbindung.
III. Zusammenfassung
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Andernfalls wäre auch nicht das „Deutsche Volk“, sondern letztendlich jeder mit Autorität auftretende Interpret des Naturrechts der eigentliche Inhaber der konstituierenden Gewalt. Die Unantastbarkeitserklärung und das Menschenrechtsbekenntnis des Art. 1 Abs. 1 und 2 GG sind ebenso wie die postulierte Rechtsbindung des Art. 20 Abs. 3 GG nicht mehr als eine dem intra-konstitutionellen Volkssouverän aufgetragene überpositive Verpflichtung.376 Eine hierdurch begründete überpositive Bindung der pouvoirs constitués stößt indessen ebenfalls auf gravierende Bedenken. Zentrales Argument ist die erfolgte Positivierung von Rechtswerten naturrechtlicher Provenienz im Grundgesetz. Mit ihrer Positivierung hat der pouvoir constituant das naturrechtliche Erkenntnis- und Geltungsproblem selbst abschließend gelöst und gerade nicht an die pouvoirs constitués weitergereicht. Diese Rechtswerte haben durch die Verfassungsgebung eine Transformation erfahren. Sie folgen nun als deren Bestandteil der neuen Grammatik der positiven Rechtsordnung. Es wäre doch paradox, wenn sich die Bindung staatlicher Gewalt vor dem Hintergrund dieser Positivierung nicht nach dem vom Verfassunggeber selbst festgelegten Grundrechtskatalog, sondern nach einem wie auch immer gearteten Naturrechtskodex richten würde. Insofern ist auch die in der Lehre praktizierte Deutung von Art. 20 Abs. 3 GG als Öffnungsklausel und Einfallstor für überpositives „Recht“ äußerst zweifelhaft. Soweit Art. 20 Abs. 3 GG für Teile der Lehre die verfassungsgesetzliche Bestätigung der Unverfügbarkeit von Recht ist. Aber auch hier irritiert eine Rethorik, die, wie Sobota treffend formuliert, dem „nicht näher begründeten Gefühl“ zu folgen scheint, die Denkbarrieren der reinen Rechtslehre Kelsens überwinden zu wollen.377 Die angeführten grammatikalischen (eindeutiger Wortlaut des Art. 20 Abs. 3 GG) und systematischen Argumente (Art. 20 Abs. 3 GG formuliere das Prinzip, Art. 97 Abs. 1 GG den Regelfall) verweilen an der Oberfläche. Der Verweis darauf, dass Legalität Legitimität indiziere mag da beruhigend wirken, ersetzt aber nicht eine genauere, insbesondere systematische Kontextualisierung dieser zentralen Grundrechtsvorschrift. Eine grammatische und historische Auslegung des Art. 20 Abs. 3 GG führt zu keinem klaren Ergebnis. Die Argumente sind ambivalent. Nicht nur der Wortlaut des Art. 20 Abs. 3 GG lässt alle Interpretationen zu; auch beim Blick in die Genese und die historische Entwicklung finden sich Argumente für wie gegen einen überpositiven Gehalt in der Formel „Gesetz und Recht“. Entscheidende Impulse kann nur die systematische Auslegung bieten. Die nähere Auseinandersetzung mit den Prinzipien des Vorrangs der Verfassung und des Gesetzes, der Verfassungsgerichtsbarkeit und der Normenkontrolle, den Formen demokratischer Legitimation und schließlich der Gesetzesbindung des Richters verdeutlicht die Legitimationsdefizite des überpositiven Arguments und sichert das sorgsam austarierte Legi376 Es bleibt dem autonomen Verfassungsgeber unbenommen, die verfasste Staatsgewalt überpositiv zu binden. 377 Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, S. 97.
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D. Rechtssouveränität versus Volkssouveränität?
timationsgeflecht verfassungsgebender und intra-konstitutioneller Volkssouveränität. Im Kontext des Prinzips des Vorrangs der Verfassung verdeutlicht sich die Paradoxie positivierten überpositiven Rechts. Eine Verfassung, die ihren eigenen Vorrang kodifiziert, setzt sich in Widerspruch zu sich selbst, wenn sie subjektiven, unüberprüfbaren Gerechtigkeitsvorstellungen außerhalb der Verfassung Vorschub leistet, obwohl sie selber einen festen Bestand von Gerechtigkeitswerten positiviert. Eine überpositive Überwindung des Verfassungsvorrangs eröffnet in letzter Konsequenz der Kompetenzanmaßung verfassungsgebender Gewalt Tür und Tor. Die Verfassungsgerichtsbarkeit sichert Vorrang und Normativität materieller Werte der Verfassung und übt so normstabilisierende Wirkung aus. Als Kontrollinstanz für die Verfassungsmäßigkeit staatlichen Handelns sichert sie damit die „bessere demokratische Legitimation“ der verfassungsgebenden Gewalt wie der qualifizierten Mehrheit des verfassungsändernden Gesetzgebers. Die verfassungstheoretische Konnexität zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und Volkssouveränität untermauert aber auch, dass der Vorrang der Verfassung dem Bundesverfassungsgericht nicht zu seiner Disposition stehen kann. Es gibt keinen Vorrang des Bundesverfassungsgerichts vor der Verfassung. Als verfassungskonstituierte Gewalt steht auch das Bundesverfassungsgericht nicht hütend über oder außerhalb, sondern unter der Verfassung. Mit seinerAufgabe, den Vorrang der Verfassung zu wahren, korrespondiert die Bindung des Bundesverfassungsgerichts an das Grundgesetz. Seine Bezeichnung als „Hüter der Verfassung“ ist lediglich seiner kompetenzrechtlichen (antrags- und verfahrensgebundenen) Letztentscheidungsbefugnis zuzuschreiben. Im Rahmen der konkreten Normenkontrolle tritt indes die Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, Hüter der Verfassung zu sein, zurück. Hier steht als Aufgabe die Wahrung der Autorität des parlamentarischen Gesetzgebers im Vordergrund. Die Monopolisierung des Verwerfungsrechts verhindert, dass sich jedes Gericht über den Willen des konstitutionellen Gesetzgebers hinwegsehen kann und beugt divergierenden Endentscheidungen der Fachgerichte vor. Nur in der Beschränkung auf Fragen der Verfassungs- und Gesetzeskonformität wird das Verwerfungsmonopol des Verfassugnsgerichts der gewaltenteilungsrechtlichen Steuerungsfunktion des Gesetzes gerecht. Verfassungstheoretisch ist der Vorrang des Gesetzes die konsequenteste Verwirklichung intra-konstitutioneller Volkssouveränität in der repräsentativen Demokratie. Das formelle parlamentsbeschlossene Gesetz ist Ausdruck unmittelbarster demokratischer Legitimation. Maßgeblicher demokratischer Legitimationsmodus der repräsentativ ausgestalteten Demokratie des Grundgesetzes ist die Parlamentswahl. Der Gesetzesvorrang wird durch andere demokratische Legitimationskomponenten nicht in Frage gestellt. Von den drei Legitimationskomponenten der institutionell-funktionellen, der personellen und der sachlich-inhaltlichen zeichnen sich die personelle und die sachlich-inhaltliche Komponente als die eigentlichen Mittler demokratischer Legitimation aus. Nur sie führen staatliches Handeln auf den intra-
III. Zusammenfassung
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konstitutionellen Volkssouverän zurück. Die institutionell-funktionelle demokratische Legitimation ist dagegen dem Legitimationssubjekt der verfassungsgebenden Gewalt zuzuordnen. Durch den Akt der Verfassungsgebung sind aber sämtliche Gewalten institutionell-funktionell gleichermaßen demokratisch legitimiert. Vor diesem Hintergrund erklärt sich schließlich die Rolle der Gesetzesbindung als maßgebliche Legitimationskomponente der Judikative. Als zentrale funktionskonkretisierende Vorschrift greift Art. 97 Abs. 1 GG die bereits in Art. 20 Abs. 3 GG ausgesprochene Gesetzesbindung auf und betont mit der Formulierung „nur dem Gesetz unterworfen“ die richterliche Unabhängigkeit. Sind die Richter aber sachlich (Art. 97 Abs. 1 GG) und persönlich (Art. 97 Abs. 2 GG) unabhängig, so lassen sich ihre Entscheidungen nur über eine strenge Gesetzesbindung auf den Volkswillen zurückführen und damit sachlich-inhaltlich legitimieren. Die Richter erfahren über die Bestellung in ihr Amt zwar ihre (wenn auch nur mittelbare) personelle demokratische Legitimation. Diese vermag eine Lockerung der Gesetzesbindung zugunsten einer überpositiven Rechtsbindung indessen nicht zu rechtfertigen. Dem Richter fehlt es an einer demokratichen Verantwortlichkeit für sein Handeln. Seine Entscheidungen sind demokratisch nicht sanktionierbar. Der Richter ist nicht abwählbar und unterliegt keinerlei Weisungen abwählbarer Organwalter. Einzig das Gesetz vermittelt ihm seine sachlich-inhaltliche demokratische Legitimation. In diesem Sinne ist die strenge Bindung bzw. Unterwerfung des Richters unter das Gesetz das unerlässliche Korrelat seiner Unabhängigkeit. Nur sie schützt vor einem demokratisch unkontrollierten, nicht legitimierten exemten Entscheidungsbereich der Judikative. Damit kann auch das personell bedingte Legitimationsplus des zur Normverwerfung parlamentsbeschlossener Gesetze berufenen Bundesverfassungsgerichts eine den gesetzlichen Rahmen sprengende Normverwerfungskompetenz des Gerichts nicht begründen. Art. 100 Abs. 1 GG wird der Rolle des Gesetzes als Gravitationszentrum der Gewaltenteilung, insbesondere aber als zentrales Bauelement demokratischer Verfassungsstruktur dadurch gerecht, dass er die konkrete Normenkontrolle nicht nur monopolisiert, sondern zudem klar und deutlich auf den Prüfungsmaßstab „dieses Grundgesetzes“ beschränkt.
E. Schlussbetrachtung Die von Gustav Radbruch entwickelte Formel über „gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht“ erweist sich als Kollisionsregel mit naturrechtlichem Kern. Sie reflektiert, was Ellscheid als „gemeinsames Kriterium modernen Naturrechtsdenkens“ qualifiziert: die dem Naturrecht immer schon immanente Idee der Unverfügbarkeit von Recht.1 Sie folgt nicht einem wie auch immer gearteten speziellen Naturrechtsbegriff. Vielmehr wird in und mit ihr der Nichtwiderspruch zu allgemein akzeptierten, übergesetzlich gedachten Menschenrechten zum legitimierenden Grund allen Rechts und zum Maßstab für die Zähmung positiver Rechtssetzung im Extremfall. Im Sinne dieser Unverfügbarkeit stellt sich die Rezeption der Radbruchschen Formel in der Rechtsprechung deutscher Gerichte seit Entstehung der Bundesrepublik als im Kern naturrechtlich dar. Die Idee der Unverfügbarkeit von Recht greift die Rechtsprechung vornehmlich im Kontext der Unrechtsaufarbeitung auf. Hier ermöglicht sie der Rechtsprechung, nationalsozialistischem und realsozialistischem Unrecht die Rechtsqualität abzusprechen und so insbesondere die Problematik des Rückwirkungsverbots des Art. 103 Abs. 2 GG zu umgehen. Dabei fällt jedoch auf, dass im Rahmen der NSUnrechtsaufarbeitung keine grundlegende Auseinandersetzung mit der grundgesetzlichen Ausgestaltung des Rückwirkungsverbots erfolgte. Dies geschah erst im Rahmen der Aufarbeitung des Systemunrechts der DDR. Der Vergleich der Rechtsprechung vor und nach 1990 zeigt zudem, dass in den Anfangsjahren der Bundesrepublik offenbar vor dem Hintergrund der noch jungen NS-Schreckensherrschaft wesentlich direkter und energischer auf überpositive Argumente zurückgegriffen wurde als nach 1990. So besonnen sich die Gerichte nach 1990 zwar auf die Radbruchsche Formel, sicherten ihre Entscheidungen aber auch durch völkerrechtliche Argumente, „rechtsstaatliche“ und „menschenrechtsfreundliche“ Auslegungen ab. Diese mehrgleisige Argumentation kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Gerichte im überpositiven Recht einen zulässigen Prüfungsmaßstab sehen. Entscheidend ist insoweit die durchweg erfolgte Anerkennung eines über jeglicher staatlicher Satzung stehenden überpositiven Rechts. Auch bei der materiellen Ausfüllung des überpositiven Rechts durch die Gerichte offenbaren sich Unterschiede vor und nach 1990. Wenn im Ergebnis auch die gleichen Werte als Maßstäbe herangezogen werden, so suchen die Gerichte dennoch unterschiedliche Anknüpfungspunkte. Vor 1990 betont die Rechtsprechung die fundamentalen Prinzipien der Gerechtigkeit, wie sie in den elementaren 1
Ellscheid, Das Naturrechtsproblem, S. 184 f.
E. Schlussbetrachtung
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Grundrechten und dem grundgesetzlichen Gleichheitssatz zum Ausdruck kommen. Nach 1990 wird die Radbruchsche Formel im Kontext der realsozialistischen Unrechtsaufarbeitung dagegen im Sinne übernationaler Menschenrechtserklärungen „konkretisiert“, freilich ganz auf der Linie Radbruchs, der selber auf den festen Bestand verweist, den insbesondere die so genannten Erklärungen der Menschenund Bürgerrechte herausgearbeitet hätten. Dabei überrascht, wie die Bundesgerichte trotz des nicht vergleichbaren Unrechtskontextes mit erstaunlicher Wertungssicherheit zu gleichen Ergebnissen kommen. Vor dem Hintergrund divergierender Entscheidungen der Instanzgerichte zur Rechtsbeugung in der DDR und insbesondere angesichts der in der Literatur ganz unheitlichen Bewertung der Schießbefehle an der Mauer als evidentes oder eben nicht evidents Unrecht irritiert die Beharrlichkeit, mit der der Bundesgerichtshof und das Bundesverfassungsgericht immer wieder auf „Evidenzerlebnisse“ 2 abstellen. Trotz weitgehender Positivierung der von der Rechtspraxis herangezogenen Rechtswerte naturrechtlicher Provenienz, folgen die Gerichte nicht der Grammatik eben dieser Positivierung; sie heben vielmehr die Bindung auch und gerade des pouvoir constituant an diese Prinzipien der Rechtsethik hervor. Dabei bemühen sich die Gerichte nicht um eine verfassungstheoretische Rechtfertigung. Die Autonomie des pouvoir constituant wird rechtsethisch aus sich heraus und mit dem Argument der unerträglichen Unrechtserfahrung abgelehnt. Lediglich das Bodenreformurteil des Bundesverfassungsgerichts enthält eine vorsichtige Anknüpfung an Art. 1 und 20 Abs. 3 GG. Auch im Punkt der wie selbstverständlich beanspruchten und nur im Kontext des Gleichberechtigungsurteils vorsichtig erörterten Prüfungskompetenz gehen die Gerichte einer Auseinandersetzung mit den sich aufdrängenden Fragen der Art. 20 Abs. 3, 97 Abs. 1 und 100 Abs. 1 GG aus dem Weg. Die Anwendung überpositiven Rechts als Prüfungsmaßstab richterlicher Normenkontrolle folgt vielmehr allein rechtsethischen Erwägungen und wird allein auf die „Idee des Rechts selbst“ gestützt. Der Überblick über die Literatur zeigt deutliche Parallelen. So erweisen sich die naturrechtsfreundlichen Auffassungen gegenüber grundgesetzlichen Verfassungsprinzipien, Strukturentscheidungen und Kompetenzzuweisungen als ebenso unempfindlich wie die Rechtsprechung. Auch hier erfolgt keine systematische und systemimmanente Analyse der Anerkennung überpositiven Rechts als Prüfungsmaßstab. Befürworter einer richterlichen Normprüfungs- und Verwerfungskompetenz am Maßstab überpositiven Rechts erschließen diese ebenso wie die Rechtsprechung aus einem voraussetzungslosen materiellen Bekenntnis zur Verbindlichkeit überpositiven Rechts. Die Kompetenzbehauptungen erweisen sich als notwendig formelle Folge der materiellen Bekenntnisse. Die Argumente orientieren sich an Zweckmäßigkeitserwägungen und sind weitgehend ergebnisgesteuert. Die Positivierung grundlegender Gerechtigkeitswerte, der Vorrang der Verfassung und des Gesetzes, die Konstituierung der Verfassungsgerichtsbarkeit, die Normenkontrolle 2
H. Dreier, JZ 1997, 421 (429); vgl. auch Ogorek, KritV 83 (2000), 323 (331).
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E. Schlussbetrachtung
sowie die Gesetzesbindung der Judikative werden weitgehend übergangen. Die Widersprüche zum Demokratie- und zum Gewaltenteilungsprinzip werden, soweit überhaupt gesehen, mit der Ausnahmeerscheinung des extremen Unrechts abgetan. Insbesondere die nach 1990 besonders thematisierte Rückwirkungsproblematik wird nur scheinbar gelöst. So verweisen sogar rechtsethisch motivierte Auffassungen auf die Diskrepanz zum lex-scripta-Erfordernis. Insbesondere in der Auseinandersetzung nach 1990 werden „Glaubwürdigkeit“ und „Akzeptanz“ durch den offenbaren Triumph der Gerechtigkeit über das Unrecht bedient und so der „geringe Schaden für den Rechtsstaat“ legitimiert. Kritische Stimmen aus grundgesetzlicher Warte melden sich insbesondere in der Zeit nach der Wiedervereinigung zu Wort. Während in der Nachkriegszeit immerhin, wenn auch nur vereinzelt die Ungereimtheiten des naturrechtlichen Ansatzes mit dem Prinzip der Volkssouveräntität und der demokratischen Legitimation, mit der Rechtserkenntnisfrage und insbesondere mit der Gesetzesbindung der Judikative und der richterlichen Normenkontrolle im Fokus der Aufmerksamkeit stehen, dreht sich die umfangreiche Nachwendedebatte fast ausschließlich um die Rückwirkungsproblematik. Kritische Anmerkungen zur Paradoxie positivierten überpositiven Rechts, zur ungelösten Erkenntnisfrage und zu Art. 20 Abs. 3 GG (im Lichte der Art. 97 und 100 Abs. 1 GG) sind im Kontext der Aufarbeitung des DDR-Unrechts verhältnismäßig selten. Die Diskussion des strikt formal verstandenen Art. 103 Abs. 2 GG ist aber besonders wertvoll, zeigt sie doch, wie sehr sich das Bekenntnis zur Unverfügbarkeit von Recht bei der Aufarbeitung fortwirkenden Fremdrechts zu einer überpositiven Korrektur der eigenen Rechtsordnung eignet. Das ethisch fundierte naturrechtliche Argument der „Unerträglichkeit“ trifft eben nicht nur das ehemalige NS- bzw. DDR-Recht, sondern letztlich auch das grundgesetzliche Rückwirkungsverbot. Insofern drängen sich auch im Rahmen der Unrechtsaufarbeitung dieselben Fragen grundsätzlichen Charakters auf wie im Kontext der Feststellungen des Bundesverfassungsgerichts aus dem ersten3 und dritten4 Entscheidungsband. Die kritische Würdigung der dargestellten Rechtspraxis hat gezeigt, dass die Anerkennung überpositiven Rechts als Prüfungsmaßstab unter dem Grundgesetz zu schwerwiegenden verfassungstheoretischen Legitimationsdefiziten führt. Die mit der Anerkennung einhergehende Negation der Autonomie des pouvoir constituant stößt sich in der grundgesetzlichen Ordnung am Prinzip der Volkssouveränität in doppelter Hinsicht. Das Deutsche Volk ist nicht nur Träger verfassungsgebender Gewalt, sondern auch ausgeübter Staatsgewalt. In der Volkssouveränität wurzelt nicht nur der legitimatorische Ursprung des Grundgesetzes. Mit dem Fundamentalsatz „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ verschafft Art. 20 3 Vgl. den in der Einleitung zitierten 27. Leitsatz in BVerfGE 1, 14 (18): „Das Bundesverfassungsgericht erkennt die Existenz überpositiven, auch den Verfassungsgeber bindenden Rechts an und ist zuständig, das gesetzte Recht daran zu messen.“ 4 BVerfGE 3, 225 (Gleichberechtigungsurteil).
E. Schlussbetrachtung
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Abs. 2 Satz 1 GG dem Prinzip Volkssouveränität auch innerhalb der Verfassung Geltung. Eine Leugnung der Autonomie des pouvoir constituant durch die Anerkennung der Verbindlichkeit überpositiven Rechts stößt auf geltungstheoretische Bedenken. Überpositives Recht bzw. Naturrecht bedarf der Rechtserkenntnis. Der Inhalt des Naturrechts ist nicht evident und beständig. Die Naturrechtsgeschichte lehrt, dass es keinen die Zeiten überdauernden naturrechtlichen Konsens gibt. So gibt es fast nichts, das nicht im Namen von Naturrecht begründet oder widerlegt worden wäre. Es stellt sich daher immer wieder von neuem die Frage danach, wem die Erkenntnis oder eigentliche Inhaltsbestimmung des Naturrechts obliegt. Gerade weil es kein offenbares Naturrecht gibt, kann der verfassungsgebende Volkssouverän auch keinen naturrechtlichen Bindungen unterliegen. Die die Verfassungsgebung beschränkende überpositive Norm wäre ihrerseits Verfassungsgebung, ihr Interpret damit die eigentliche den Umfang des pouvoir constituant erst konstituierende Gewalt. Auch die verfassungsgesetzlichen Anknüpfungsversuche einer möglichen Anerkennung überpositiven Rechts durch den pouvoir constituant schlagen fehl. Als zentrales Argument gegen eine überpositive Bindung der pouvoirs constitués schält sich die erfolgte Positivierung von Rechtswerten naturrechtlicher Provenienz heraus. Mit ihr hat der pouvoir constituant das Erkenntnisproblem aufgegriffen und zugleich gelöst. Insbesondere vor diesem Hintergrund kann der in der Lehre praktizierte Rückgriff auf die Formulierung „Gesetz und Recht“ in Art. 20 Abs. 3 GG als Öffnungsklausel für überpositives Recht als Prüfungsmaßstab im Grundgesetz nicht bestehen. Der überpositive Zug dieser zentralen Vorschrift wird mit Mitteln des klassischen Auslegungskanons begründet. Die Verweise auf den „eindeutigen“ Wortlaut, den Entstehungskontext (Antwort auf die Erfahrungen aus der NS-Zeit) und die Systematik (Art. 20 Abs. 3 GG formuliere das Prinzip, Art. 97 Abs. 1 GG den Regelfall) halten einer eingehenden Untersuchung aber nicht stand. Mit der grammatischen und historischen Auslegung von Art. 20 Abs. 3 GG kommt man zu keinem klaren Ergebnis. Beide Auslegungsmethoden lassen sich genauso gut für wie gegen eine (auch) überpositive Bindung der Rechtsanwendung heranziehen. Entscheidende Impulse können nur einer systematischen Auslegung anhand der Vorrangprinzipien von Verfassung und Gesetz, der Konstituierung der Verfassungsgerichtsbarkeit und der Normenkonrolle, den Formen demokratischer Legitimation und der Gesetzesbindung der Judikative entnommen werden. Hier verdeutlichen sich die Legitimationsdefizite einer auf überpositives Recht als Prüfungs- und in letzter Konsequenz auch Verwerfungsmaßstab zurückgreifenden Rechtsprechung. So sichern der Vorrang der Verfassung und die Verfassungsgerichtsbarkeit die Normativität materieller Werte, die sich unmittelbar auf die verfassungsgebende Volkssouveränität und die qualifizierte Mehrheit des verfassungsändernden Gesetzgebers stützen können. Vorrang der Verfassung bedeutet insbesondere nicht
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E. Schlussbetrachtung
Vorrang des Bundesverfassungsgerichts. Auch das Bundesverfassungsgericht ist verfassungskonstituierte Gewalt. Es steht somit nicht über der Verfassung. Seine Bezeichnung als „Hüter der Verfasung“ ist nur aufgrund des ihm kompetenzrechtlich zugewiesenen antrags- und verfahrensgebundenen Letztentscheidungsrechts gerechtfertigt. Es wahrt aufgrund der Monopolisierung des Normverwerfungsrechts über Art. 100 Abs. 1 GG den Vorrang des Gesetzes und sichert damit zugleich dessen gewaltenteilungsrechtliche Steuerungsfunktion. Verfassungstheoretisch fungiert der Vorrang des Gesetzes wiederum als konsequenteste Verwirklichung intra-konstitutioneller Volkssouveränität in der primär repräsentativ ausgestalteten Demokratie. Das Gesetz ist damit unmittelbarster Ausdruck des Volkswillens in der Demokratie des Grundgesetzes. Die hierauf gestützten Legitimationsgeflechte werden nicht durch weitere demokratische Legitimationskomponenten relativiert. Von den drei Komponenten demokratischer Legitimation, der institutionell-funktionellen, der personellen und der sachlich-inhaltlichen (materiellen), vermitteln intra-konstitutionell ohnehin nur die personelle und die materielle Komponente Volkssouveränität. Die institutionellfunktionelle knüpft dagegen an die verfassungsgebende Gewalt als Legitimationssubjekt an und legitimiert sämtliche Staatsorgane demokratisch gleichwertig. Damit kristallisiert sich aber die Gesetzesbindung als allein maßgebliche Legitimationskomponente der Judikative heraus. Art. 97 Abs. 1 GG betont die Gesetzesbindung als notwendiges Korrelat richterlicher Unabhängigkeit. Durch die sachliche (Art. 97 Abs. 1 GG) und persönliche (Art. 97 Abs. 2 GG) Unabhängigkeit können richterliche Entscheidungen letztlich nur über die Gesetzesbindung intra-konstitutionell demokratisch legitimiert werden. Durch die Bestellung von Richtern in ihr Amt erfahren diese zwar eine mittelbare personelle demokratische Legitimation. Diese ist allerdings nur schwach und kann das Legitimationsdefizit einer Rechtsprechung am Maßstab überpositiven Rechts nicht beseitigen. Der Richter ist nicht abwählbar und unterliegt keinen Weisungen. Er trägt persönlich keinerlei Risiken seines Handelns. Einzig das Gesetz kann ihm materielle Schranken setzen und demokratische Legitimation vermitteln. Nur das Gesetz schützt vor demokratisch exemten Entscheidungen der Judikative. Das gilt im Prinzip auch für das Bundesverfassungsgericht. Das Gericht und seine Kompetenz zur Normverwerfung parlamantsbeschlossener Gesetze sind demokratisch nur dann ausreichend legitimiert, wenn das Gericht als Prüfungsmaßstab ausschließlich das „besser demokratisch legitimierte“ Grundgesetz heranzieht. Nur das Verfassungsgesetz kann dem Verfassungsgericht materielle Schranken setzen und ihm die nötige demokratische Legitimation vermitteln. Die Legitimationsdefizite können nicht mit dem Verweis auf den „Ausnahmefall“, auf den die Formulierung „Gesetz und Recht“ nach verbreiteter Auffassung hinweist oder auf die der Radbruchschen Formel immanenten Beschränkung auf Fälle „extremer Ungerechtigkeit“ abgetan werden. Auf Art. 20 Abs. 3 GG gemünzt, muss sich dieser Einwand schon der Frage stellen, was das denn eigentlich, vom Fall der Unrechtsaufarbeitung zunächst einmal abgesehen, für ein Ausnahme-
E. Schlussbetrachtung
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fall sein soll, der nur jenseits grundgesetzlich positivierter Gerechtigkeit gelöst werden kann; und auf den Fall der Unrechtsaufarbeitung bezogen ist der Verweis auf „Extremfälle“ schon deshalb nicht hilfreich, weil die vielfach zu beobachtende, sehr unterschiedliche Bewertung ähnlicher oder gleicher Sachverhalte zeigt, dass „der Extremfall“ keine sichere, evidente, ins Auge springende Größe ist. Daneben zeigt sich auch und gerade in der heftigen Debatte um Art. 103 Abs. 2 GG, wie problematisch der Rückgriff auf überpositives Recht ist. Das Problem des „Ausnahmefalls“ liegt im Fehlen einer sicheren Definition wie auch eines sicheren Prüfungsmaßstabs; deshalb läuft der „Ausnahmefall“ Gefahr, jenseits grundgesetzlicher Wertmaßstäbe rechtsfrei einer „ungerechten“ Lösung zugeführt zu werden. Schließlich kann auch nicht das Argument helfen, dass die verfassungsgerichtliche Kontrolle von Grundrechtsverletzungen inhaltlich doch stets über den Kernbereich des „extremen Unrechts“ hinausgehe. Die Argumentation, wer ein Demokratie- oder Gewaltenteilungsargument hervorbringe, müsse deshalb jede gerichtlich kontrollierbare Bindung des Gesetzgebers an Grundrechte ablehnen, folgt einer Logik, die es erlaubt, Grundrechte durch unüberprüfbare subjektive Gerechtigkeitsvorstellungen zu ersetzen. Tröstlich ist, dass die Rechtsprechung sich immerhin bemüht, nur längst positivierte Rechtswerte naturrechtlicher Provenienz gleichsam wie trojanische Pferde zu einer überpositiven Korrektur (auch des Grundgesetzes) zu benutzen. So kann es vielleicht beruhigen, dass sie sich damit materiell betrachtet, wenn man so will, in einem demokratisch legitimierten Rahmen zu bewegen versucht. Die Rechtsprechung erfüllt sicherlich die Erwartungen des ganz überwiegenden Teils der Bevölkerung, wie Ogorek feststellt5 – wenn auch nicht immer der Opfer, nimmt man Bärbel Bohley als deren Sprachrohr. Offenbar entspricht der materielle Rechtsstaat eher den Erwartungen der Allgemeinheit als der formelle. Die Akzeptanz und Glaubwürdigkeit des Rechtsstaats steht und fällt aber auch und gerade mit der unbezweifelten Verbindlichkeit seiner formalen Absicherungen. So bleibt zu hoffen, dass der Rechtsstaat, sind die Turbulenzen der „Wendezeit“ erst einmal abgeklungen, wieder zur vollen Wirksamkeit auch seiner formalen Sicherungssysteme zurückfindet.
5
Ogorek, KritV 83 (2000), 323 (340).
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Sachverzeichnis Auslegung – Art. 20 Abs. 3 GG – Grammatik / Wortlaut 171 ff. – Historie 171 ff. – Systematik 175 ff. – menschenrechtsfreundliche 83 ff., 87 ff., 93, 96, 101, 112 f., 124 ff., 128 – rechtsstaatliche 106, 109 Bodenreformurteil 99 Demokratische Legitimation – als Fundament und Grenze staatlicher Macht 72 f. – funktionell-institutionelle 187 f. – personelle 188 f., 189 ff. – sachlich-inhaltliche (materielle) 189 ff. – Zusammenwirken personeller und materieller demokratischer Komponenten 189 ff. Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte 107 ff. Gerechtigkeit – Positivierung grundlegender Gerechtigkeitspostulate 16, 33 f., 36, 55, 79 ff., 98 ff., 142, 160 ff., 175 ff. – und gesetzliches Unrecht 29 f. – und Radbruchscher Werterelativismus 24 ff. – und Rechtssicherheit 18 f., 25 ff., 50 ff., 114 ff., 129 ff., 164 ff. (siehe auch Rechtssicherheit) – in der Rechtsprechung des BGH 39 ff., 79 ff. – in der Rechtsprechung des BVerfG 48 ff., 98 ff. – und Rechtsstaat 34, 78, 163 ff. – und Rückwirkungsverbot 128 ff. – und übergesetzliches Recht 30 f.
Gesetz und Recht – als überpositives Fenster 142 – Art. 20 Abs. 3 GG 17, 58, 63 ff., 117, 118, 121, 124 ff., 163 ff. – Gesetz und Naturrecht 142, 163 ff. Gesetzesbindung 16, 39, 68, 73 f., 77, 78, 141 f., 182 f., 186, 189, 191 ff. (siehe auch richterliche Unabhängigkeit) Gesetzespositivismus 20 ff., 51, 165 Gesetzliches Unrecht 15, 18 f., 20, 29 f., 42 f., 49, 60, 72, 91, 122 ff., 200 Gewaltenteilung, Gewaltenteilungsprinzip 34, 50, 53, 62, 64, 73, 76 f., 78, 103, 122, 135 f., 141, 171, 179 ff., 183 ff., 190, 191 ff. Grundgesetz, Strukturentscheidungen 16, 35, 61 ff., 126, 142 ff. Identitätsthese 163 ff. Kompetenzfrage 39, 56, 59 ff., 66 ff., 111, 136, 138 ff. (siehe auch Normenkontrolle) Kontrollratsgesetz (KRG) Nr. 10 – rückwirkende Bestrafung 18, 33, 137 Legalität, verfassungsrechtliche 167 ff. Legitimation – demokratische siehe demokratische Legitimation – rechtsethische 114 ff. Legitimität – faktische Bindungen und Legitimitätsinteresse 152 f. – verfassungsrechtliche Legalität 167 ff. Legitimitätsinteresse 152 f. Mauerschützen 79 ff., 100 ff., 122 f. Menschenrechte – Bekenntnis des Deutschen Volkes 153 ff.
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Sachverzeichnis
– Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte 81 ff., 87 f., 123, 131, 134 – menschenrechtsfreundliche Auslegung siehe Auslegung – Menschenrechtsnaturrecht 29, 31, 133, 139 – völkerrechtliche Konkretisierung der Menschenrechte siehe Naturrecht Naturrecht (siehe auch überpositives Recht) – Anwendungsprobleme 132 f., 138 ff. – modernes Naturrechtsdenken 27 ff. – naturrechtliche Bindung des pouvoir constituant 158 ff. – Naturrechtsgedanke in der Literatur 33 ff., 37, 59 ff., 112 ff. – Naturrechtsgedanke in der Rechtsprechung 16, 33 ff., 37, 38 ff., 79 ff. – Naturrechtslehren 20 f. – Naturrechtsrenaissance 15, 22 ff. – Positivierung, verfassungsgesetzliche 34, 55, 57, 60, 65, 111, 122, 160 ff., 163 ff. – Rechtserkenntnis als Kompetenzfrage 138 ff. – Strafbarkeit kraft Naturrecht 132 – Unverfügbarkeit von Recht 27 ff. – völkerrechtliche Konkretisierung 81 ff., 87 f., 104 ff., 116, 123, 125, 127, 133 ff., 135, 138 ff. Normativität der Verfassung 176 ff. Normenkontrolle – Normprüfungsrecht, richterliches 16 f., 66 ff., 72 ff. – Normverwerfungsrecht, richterliches 16, 66 ff., 72 ff. – richterliche Prüfungszuständigkeit 68 ff. Positivierung – grundlegender Gerechtigkeitswerte 16, 34 ff., 39, 135, 153 ff. – überpositiven Rechts 54, 141 – verfassungsgesetzliche Positivierung von Naturrecht siehe Naturrecht – völkerrechtliche 140 f. Pouvoir constituant – Autonomie des einheitlichen pouvoir constituant 152 ff.
– naturrechtliche Bindung des pouvoir constituant 158 ff. Radbruchsche Formel 18 ff. – Formelrezeption seit der Wiedervereinigung 77 ff. – Formelrezeption vor 1990 37 ff. – völkerrechtliche Konkretisierung 39 (siehe auch Naturrecht) Rechtsbeugung 91 ff., 107, 123 f., 133 f. Rechtsbindung 153 ff. Rechtspositivismus 16, 19, 20 ff., 164 Rechtssicherheit 18 f., 25 ff., 43, 50 ff., 64, 67, 72, 76 f., 128 ff., 164 ff. – als übergeordneter Grundsatz 50 ff. – Rechtssicherheit und Gerechtigkeit 18 f., 25 ff., 50 ff., 129 ff., 164 ff. – und Art. 20 Abs. 3 GG 164 ff. – und Art. 100 Abs. 1 GG 43, 67 f., 72, 76 f. – und Art. 103 Abs. 2 GG 128 ff. Rechtssouveränität 142 ff. Rechtsstaat 173 ff. – formaler, formeller 173 ff. – materieller, materielles Rechtsstaatsverständnis 173 ff. – und Gerechtigkeit 78, 163 ff. Relativismus, werttheoretischer 16, 24 ff. Richterliche Unabhängigkeit, Art. 97 Abs. 1 GG (siehe auch Gesetzesbindung) – Art. 97 Abs. 1 GG 71, 74, 163, 167, 170, 175, 191 ff. – Entstehungsgeschichte 191 f. – Systematik 192 ff. Richterrecht 75 f., 194 Rückwirkungsverbot – Art. 103 Abs. 2 GG 128 ff. – Bestimmtheitsgebot 134 – Einigungsvertrag 131 – menschenrechtsfreundliche Auslegung 83 ff., 87 ff., 93, 96, 101, 112 f., 124 ff., 128 – wertende Rückprojektion 126 f. Todesschüsse (siehe auch Mauerschützen) – innerdeutsche / deutsch-deutsche Grenze, BGH-Urteile 79 ff. – innerdeutsche / deutsch-deutsche Grenze, BVerfG-Beschlüsse 100 ff.
Sachverzeichnis Transpositivitätsthese 165 ff. Übergesetzliches Recht 18, 30 Überpositives Recht (siehe auch Naturrecht) – Paradoxie positivierten überpositiven Rechts 141, 164, 198, 202 – überpositive Bindung der pouvoirs constitués 160 ff. – überpositive Normreserve 155, 176 – überpositives Fenster 142 – verfassungsgesetzliche Positivierung überpositiver Gerechtigkeitspostulate 57 f., 160 ff. Unrichtiges Recht 122 ff. Unverfügbarkeit von Recht 27 ff. Verfassung – Normativität der Verfassung 176 ff. – positivierte 17 Verfassungsgerichtsbarkeit 16, 179 ff. – und Normenkontrolle 179 ff. Vergangenheitsbewältigung – durch Recht 112 ff. – rechtsstaatliche 124 ff.
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Völkerrecht – Rückgriff auf Völkerrecht durch das BVerfG 102 ff. – Rückgriff auf Völkerrecht durch den BGH 38 ff., 79 ff. – Rückgriff auf Völkerrecht in der Literatur 116, 123, 127 – Rückwirkungsverbot 129 – Völkerstrafrecht 112 Volkssouveränität 15, 142 ff. – Autonomiegedanke 17 – intra-konstitutionelle Volkssouveränität 17, 149 ff. – und Grundgesetz 142 ff. – Vereinbarkeit mit der Bindung an überpositives Recht 151 ff. – verfassungsgebende Volkssouveränität 17, 143 ff. Vorrang der Verfassung 16, 135, 142, 168, 174, 176 ff., 198, 201, 203 Vorrang des Gesetzes 16, 68, 151, 174, 183 ff., 198, 204