Stummes Wissen: Die Bedeutung impliziter Vermittlung im Gestaltungsprozess 9783035619836, 9783035619782

Die unbewusste Botschaft von Gestaltung Unzählige Interaktionen mit Dingen prägen unseren Alltag: Schnürsenkel binden,

266 65 6MB

German Pages 344 Year 2022

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Table of contents :
INHALT
VORWORT
FOYER
CAFÉ
Raum [1] – Design und implizites Wissen
[RAUM 1] – [EXPONAT 2] 1.1 DIE TASTATUR
[RAUM 1] – [EXPONAT 3] 1.2 WAS TUN WIR, WENN WIR ETWAS WISSEN?
[RAUM 1] – [EXPONAT 4] 1.3 WERKZEUGE – YOU ARE WHAT YOU USE
[RAUM 1] – [EXPONAT 5] 1.4 VERSTEHEN UND WAHRNEHMEN – SICH WUNDERN
[RAUM 1] – [EXPONAT 6] 1.5 KREATIVITÄT UND REPERTOIRE
[RAUM 1] 1.6 CONCLUSIO INTUITIV BENUTZBAR ÜBERGANG RAUM 2
Raum [2] – Praxis der impliziten Vermittlung
[RAUM 2] – [EXPONAT 7] 2.1 MATERIALDENKEN
[RAUM 2] – [EXPONAT 8] 2.2 FORMDENKEN
[RAUM 2] – [EXPONAT 9] 2.3 FARBE
[RAUM 2] – [EXPONAT 10] 2.4 GERÄUSCH UND ANDERES UNTERSCHÄTZTES
[RAUM 2] – [EXPONAT 11] 2.5 FAMILIEN
[RAUM 2] – [EXPONAT 11] 2.5 FAMILIEN
[RAUM 2] – [EXPONAT 13] 2.7 DINGE HERAUSFINDEN
[RAUM 2] 2.8 CONCLUSIO HEIMLICHE ABSICHTEN ÜBERGANG RAUM [3]
ATRIUM – IMPLIZITE VERMITTLUNG
Raum [3] – Von der Notwendigkeit, bewusst zu gestalten
[RAUM 3] – [EXPONAT 14] 3.1 MENSCH UND TECHNIK
[RAUM 3] – [EXPONAT 15] 3.2 WEM DIENT DESIGN?
[RAUM 3] – [EXPONAT 16] 3.3 GUTE DINGE – BÖSE DINGE?
[RAUM 3] – [EXPONAT 17] 3.4 MACHT GESTALTEN
[RAUM 3] – [EXPONAT 18] 3.5 DESIGN, PROBLEME UND SPRACHE
[RAUM 3] – [EXPONAT 19] 3.6 CONCLUSIO DESIGN UND VERANTWORTUNG
SHOP
WERKSTATT
LESERAUM
BILDER- UND TABELLENVERZEICHNIS
INDEX
BIBLIOGRAFIE
Impressum
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Stummes Wissen: Die Bedeutung impliziter Vermittlung im Gestaltungsprozess
 9783035619836, 9783035619782

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Stummes Wissen

Board of International Research in Design, BIRD

Members: Tom Bieling Uta Brandes Michelle Christensen Sandra Groll Wolfgang Jonas Ralf Michel Marc Pfaff

Advisory Board: Lena Berglin Cees de Bont Elena Caratti Michal Eitan Bill Gaver Orit Halpern Denisa Kera Keith Russell Doreen Toutikian Michael Wolf John Wood

Stefanie Egger

Stummes Wissen Die Bedeutung impliziter Vermittlung im Gestaltungsprozess

Birkhäuser Basel

ÜBERBLICK ÜBER DIE AUSSTELLUNG

Raumplan

Foyer

Foyer

Überblick, Orientierung und Inhaltsverzeichnis

Raum [1]

Raum [2]

Raum [3]

Erkenntnis, Denken und Kreativität finden nicht nur im Körper, sonRaum [1]  dern mit unserer Umgebung statt. Raum [2]  Die Dinge sagen uns mehr, als uns bewusst ist. Implizite Vermittlung bedeutet, dass die Dinge uns mehr erzählen und vermitteln, als wir dann bewusst zu sagen wissen. Man kann nicht nicht gestalten. Wir können die Dinge nicht nur beRaum [3]  wusst gestalten, wir müssen sie bewusst gestalten.

Atrium

Atrium  Implizite Vermittlung – der Kern des Konzepts

Café

Shop

Café

Erfrischungen und alternative Themenpfade

Shop

Weiterführende Fragestellungen, Fundstücke zum Mitnehmen

Leseraum

Werkstatt

Leseraum  Kontextualisierung | Positionierung Werkstatt  Notizen zur Entstehung der Ausstellung | Begegnungen

Index und Quellen

Index und Quellen  Ergänzendes

INHALT Vorwort

013

Foyer

015

Willkommen! – Zur Ausstellung – Kommunikation mit Dingen?  –  Was ist Design?  –  Die interessanten Dinge sind nicht unbedingt Dinge  –  Darf ich Sie durch die ­Ausstellung geleiten?  –  Fragestellungen & Ausblick auf die drei Räume  –  Ein Hinweis noch, bevor es losgeht  –  Fragen, Notausgänge und Abkürzungen  –  Was gibt es noch zu sehen?

Café

027

Raumplan – Themenpfade – Was ist ein Exponat? Exponat 1: Wie sieht ein Exponat aus und was bewirkt es im Text?

Raum [1] – ­Design und ­implizites ­Wissen 1.1 Die Tastatur

038

Exponat 2: Zusammengewachsen – Tastatur und Bildschirm 1.1.1 1.1.2 1.1.3 1.1.4 1.1.5

Was wird gestaltet? Was ist ein Interface? Formen aufbrechen Formen beibehalten Das Schreiben

1.2 Was tun wir, wenn wir etwas wissen?

040 043 046 047 048 051

Exponat 3: Buchstabenleere Tastatur 1.2.1 Was heißt wissen? 1.2.2 Rules of Art – von explizitem und implizitem Wissen 1.2.3 Implizites Wissen

006  STUMMES WISSEN 

052 057 061

1.3 Werkzeuge – You are what you use

068

Exponat 4: Werkzeug Bleistift 1.3.1 1.3.2 1.3.3 1.3.4

Was ist ein Werkzeug? Werkzeuge in der Struktur i­ mpliziten Wissens Design ist Machen ist Denken? Vom Zeichnen und Entwerfen

069 070 072 074

1.4 Vom Verstehen und Wahrnehmen – sich wundern 077 Exponat 5: Was können uns Sinnestäuschungen über unsere Wahrnehmung e ­ rzählen? 1.4.1 Was bedeutet verstehen? 1.4.2 Verstehen lernen 1.4.3 Wie entwickelt sich die Wahrnehmung im Design? 1.4.4 Wie viele Sinne hat man als Mensch? | Die unterschätzte Haptik 1.4.5 Gestalten und Gestalt 1.4.6 Man sieht nur, was man weiß | Auf der Suche nach Brüchen

1.5 Kreativität und ­Repertoire

078 080 081 083 086 090 093

Exponat 6: Ideen hervorzaubern 1.5.1 1.5.2 1.5.3 1.5.4

Was bedeutet kreativ sein? Problemlösung und Kreativität Ein Repertoire an Erfahrungen Was bedeutet entwerfen? Projektivisches Erkennen

1.6 Conclusio | Intuitiv benutzbar | ­ Übergang Raum 2

094 095 097 098

101

Raum [2] – ­Praxis der ­impliziten ­Vermittlung 2.1 Materialdenken

113

Exponat 7: Metalldrücklampe

INHALT 007

2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4

Design und Material Material und Nutzung Materialeinsatz und Fertigungstechnik Typischer, ehrlicher oder authentischer ­ Materialeinsatz

2.2 Formdenken

114 115 116 119 121

Exponat 8: Drehen oder drücken? 2.2.1 Affordances 2.2.2 Irreführende Formen 2.2.3 Form | Gestalten 2.2.4 Form | Physical Constraints 2.2.5 Sprache der Formen, Sprache der Produkte | Form und Bedeutung 2.2.6 Die Sprache der Formen erlernen 2.2.7 Form öffnen

2.3 Farbe

122 124 125 129 130 133 134 136

Exponat 9: Warm und kalt 2.3.1 Farbe und Design 2.3.2 Farbe und Licht 2.3.3 Farben im sozialen Zusammenhang | Farbe bekennen

2.4 Geräusch und ­anderes Unterschätztes

137 139 140 142

Exponat 10: Achtung, heiß! 2.4.1 Geräusche und mehr 2.4.2 Sound-Design | Sound-Branding 2.4.3 Geruch 2.4.4 Haptik 2.4.5 Interface Revisited | Design geht unter die Haut

2.5 Familien

143 144 146 147 149 151

Exponat 11: Produktfamilien 2.5.1 Familienähnlichkeiten 2.5.2 Branding und Corporate I­ dentity

008  STUMMES WISSEN 

152 154

2.6 Thoughtless Acts | Design Dissolving in Behaviour

156

Exponat 12: Thoughtless Acts – Design Dissolving in Behaviour 2.6.1 Nahtlose Übergänge 2.6.2 Affekttechniken 2.6.3 Thoughtless Acts | Den Bedeutungen nachgehen 2.6.4 Non-Intentional Design

2.7 Dinge herausfinden

157 158 160 165 169

Exponat 13: Spuren lesen 2.7.1 Noticing | An der Grenze zwischen unsichtbar und sichtbar 2.7.2 Spuren 2.7.3 Problematisieren im Designprozess 2.7.4 Empathy Tools 2.7.5 Verständigung

172 173 177 179 182

2.8 Conclusio | Heimliche ­Absichten | Übergang Raum [3]

184

Atrium – Implizite Vermittlung

193

Zugänge – Interferenzen

Raum [3] – Von der ­Notwendigkeit, ­bewusst zu ­gestalten 3.1 Mensch und Technik

223

Exponat 14: Türen, die in die Irre führen 3.1.1 Türen, die in die Irre führen 3.1.2 Vermittlung | Mensch und Technik 3.1.3 Bedienung

3.2 Wem dient ­Design?

224 225 228 230

Exponat 15: Spielzeug 3.2.1 Design und Marktwirtschaft

232

INHALT 009

3.2.2 User-centered Design 3.2.3 Weltbild bestimmt Gestaltung

3.3 Gute Dinge – böse Dinge?

238 243 250

Exponat 16: Guter Kaffee, böser Kaffee 3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.3.4 3.3.5

Good Design Tools for Conviviality Gewohnheiten und Kontexte Design for Debate – Lösen aus dem Hintergrund Design und gesellschaftliche Realität

3.4 Macht gestalten

251 253 254 256 258 260

Exponat 17: Hostile architecture 3.4.1 Machtverhältnisse in Produkte integriert 3.4.2 Das Zielgruppenmantra 3.4.3 Verändern, ohne zu verändern

3.5 Design, Probleme und Sprache

261 265 267 270

Exponat 18: Dein Problem ist deine Lösung 3.5.1 Probleme gibt es nicht einfach 3.5.2 Wicked Problems | Unzähmbare Probleme 3.5.3 Wohin tragen Metaphern im Design?

3.6 Conclusio | ­Design und Verantwortung

270 274 278 284

Exponat 19: Geschlossene Fenster

Shop

295

Weiterführende Fragestellungen – Fundstücke

Werkstatt Notizen zur Entstehung der Ausstellung | Begeg­ nungen  –  Die forschende Person als Werkzeug  –  Zur Identität der Interviewpartner  –  Der Unterschied zwischen forschen und darstellen | Schritte zur Aus­ stellung  –  Darstellungsprozess als Forschungs­ prozess  –  Lernen in der Ausstellung

010  STUMMES WISSEN 

301

Leseraum

315

Kontextualisierung | Positionierung

Bilder- und Tabellenverzeichnis

329

Index

331

Bibliografie

332

Impressum 340

INHALT 011

VORWORT Design ist nicht nur omnipräsenter Bestandteil unserer Alltagswirklichkeit, es organisiert auch die Schnittstellen zwischen Kognition und Handlung, zwischen Leiblichkeit und Dinglichkeit und zwischen Sozialität und Umwelt. Dies gelingt, weil sich überzeugende Designlösungen in einen kommunikativen Latenzbereich zurückziehen und dort vermittelnd wirksam werden. Besonders deutlich wird dies anhand der unzähligen, kaum mehr auffällig werdenden Beiträge eines wenig glamourösen Alltagsdesigns, das jenseits der spektakulären Ästhetisierungen der Spätmoderne stattfindet. Ohne die vermittelnde und analytisch schwer fassbare Latenz des Designs kann der Alltag moderner Gesellschaft nicht gelingen. Doch nicht nur die bereits fertig gestaltete materielle Welt, sondern auch auch die Designprozesse selbst sind von kommunikativer Latenz durchzogen. Sie finden in einem voroder noch nicht sprachlichen Raum statt, in dem Gestalter und Gestalterinnen Umgang mit impliziten Formen des Wissens haben, auf implizite Vermittlung angewiesen sind und ihrerseits implizite Formen der Vermittlung gestalten. Stefanie Egger wagt sich explorativ in diesen Raum hinein und bedient sich dabei der Denkfigur einer imaginären Ausstellung, die sie in verschiedenen thematischen Räumen angelegt und mit zahlreichen Exponaten aus Theorie, Praxis und Alltag gefüllt hat. Als kenntnisreicher Guide und Kuratorin begrüßt sie ihre Besucher und Besucherinnen im Foyer, führt sie durch die entsprechenden Räume, erläutert die jeweiligen Exponate und erlaubt am Ende der Führung, indem sie die Werkstatt öffnet, auch einen Blick hinter die Kulissen. Bei alldem folgt sie einer einfachen Grundüberlegung, die sich im Hinblick auf die impliziten Strukturen im Design als fruchtbar erweist: Was sich nicht sagen lässt, lässt sich oftmals z­ eigen.

Sandra Groll Board of International Research in Design (BIRD)

VORWORT 013

FOYER Willkommen! Sie haben gerade dieses Buch geöffnet und betreten damit eine geschriebene Ausstellung. Wie Sie wahrscheinlich erwartet haben, beginnt der Text auf der rechten Seite. Sie legen nun aus, was ich gemeint haben könnte, als ich diese Buchstaben zu Papier brachte, indem Sie die gelesenen Worte in Gedanken zu sinnhaften Sätzen zusammenfügen. Ihre Interaktion mit dem Ding Buch beruht auf Vorwissen – Ihnen ist vertraut, wie es zu öffnen ist, wo Sie beginnen sollten, wie es zu lesen ist. Wie viel Vorwissen nötig ist, um mit einem so einfachen Gegenstand wie einem Buch interagieren zu können, ist erstaunlich. All diesem Wissen, das zwar wesentlich handlungsleitend und für Verständnis und Orientierung in der Welt essenziell, aber nur selten sprachlich verfügbar ist, ist diese geschriebene Ausstellung gewidmet. Im Laufe dieser Ausstellung möchte ich mit Ihnen, werter Leser, werte Leserin, erkunden, inwiefern Schrift und Sprache nur eine mögliche Form darstellen, an bestehendes Wissen anzuknüpfen und Informationen zu verbreiten. Auf welche unterschiedlichen Arten diese Vermittlung zwischen Menschen und Dingen vonstatten gehen kann, welche weitreichenden Folgen scheinbar kleine Hinweise haben können und wie Designerinnen und Designer diese Vermittlung gestalten, darüber werden Sie in dieser Ausstellung mehr erfahren.

Zur Ausstellung Ja, richtig, Sie befinden sich in einer Ausstellung. Ich lade Sie ein, mit mir durch eine gedachte Ausstellung zu spazieren. Warum diese Form? Das räumliche Erleben und somit auch das räumliche Vorstellungsvermögen ist eine essenzielle Bedingung des Denkens und Entwerfens von Designerinnen und Designern, weil praktisch alles, womit sie sich befassen, sich in Räumen abspielt, sich ereignet, bewegt und Platz findet – egal ob es sich um tatsächliche oder virtuelle Räume handelt. Zudem ist die Darstellung und Anschauung von Dingen im gedachten Raum schon seit langer Zeit eine wirkungsvolle Art, komplexe Zusammenhänge in Erinnerung zu behalten, über sie nachzudenken und dieselben nachvollziehbar zu machen.1 Die Figur der Ausstellung erlaubt mir, die Verknüpfungen innerhalb der verwobenen Themenstränge in Form von Abkürzungen darzustellen, und noch einige Kunstgriffe mehr. Ausführlicheres dazu finden Sie in der Werkstatt auf Seite 301. Diese Ausstellung positioniert sich in einem Gebiet zwischen etablierten Forschungsdisziplinen einerseits, einer vielgestaltigen Praxis sowie einer noch

FOYER 015

jungen Designforschung andererseits. Hier hilft mir die Darstellungsform des Raumes außerdem, eines nie aus den Augen zu verlieren: Im realen wie auch im gedachten Raum ist für eine Person zu einem gegebenen Zeitpunkt jeweils nur eine Sichtweise, ein Horizont möglich. Die Bewegung durch den gedachten Raum ist ein Weg, den ich erzählerisch beschreite, aber es ist eben nur ein Weg, und er entsteht dadurch, dass ich ihn forschend gehe. Aus der Denkfigur des Raumes ergibt sich wie von selbst, dass es unzählbar viele andere Wege durch dieses interessante Gebiet gibt. Bestimmte Aspekte einer Situation werden als Exponat hervorgehoben und beleuchtet. Das Wort Exponat selbst lässt dies auch vermuten: Es ist abgeleitet vom lateinischen Wort exponere, das so viel wie hinstellen, darlegen, aber auch auslegen bedeutet. Dies entspricht dem bewussten Auswählen und Betonen einzelner Sachverhalte innerhalb des Forschungsgegenstands für die Darstellung und Darlegung; so ist es in wissenschaftlichen Kontexten durchaus üblich. Die Auswahl der auf Reisen und in Alltagsbeobachtungen für diese Ausstellung zusammengetragenen Exponate dient dazu, sich dem Fokus der Ausstellung – implizite Vermittlung – anzunähern. In der Mitte, am Überschneidungspunkt der drei Räume, ist das luftige Atrium der Beschreibung des gedanklichen Modells ­implizite Vermittlung gewidmet. Umgekehrt gesehen könnte man sagen, vom Zentrum ausgehend sind in den drei Räumen einzelne Facetten des Konzeptes aus­ gestellt. Die Exponate dieser Ausstellung sind meist keine Gegenstände im materiellen Sinn, sondern vielmehr Situationen. Natürlich spielen die Gegenstände der Exponate eine wichtige Rolle, jedoch geht es immer um die Situation, in der diese Gegenstände in Erscheinung treten, welche Fragen sie aufwerfen, wie man mit ihnen umgehen kann, welche stumme oder implizite Vermittlung unter Umständen gerade passiert.

Kommunikation mit Dingen? Unzählige Interaktionen mit Dingen prägen unseren Alltag. Meist gehen sie so reibungslos vonstatten, dass sie gar nicht in unser Bewusstsein gelangen. Zähne putzen, telefonieren, mit Besteck essen, ein Auto oder ein Fahrrad lenken, ein öffentliches Verkehrsmittel benutzen oder an einem Computer arbeiten – die Interaktion mit einem beliebigen Ding dringt meist nur dann ins Bewusstsein, wenn im positiven Fall ein Genuss in der besonderen, vielleicht unerwarteten Reibungslosigkeit liegt oder wenn im negativen Fall eine Interaktion nicht wie erwartet funktioniert: Eine Flasche lässt sich nicht aufschrauben, eine Tür öffnet sich nicht wie erwartet selbsttätig, der Liftknopf ist unerreichbar, weil ich mit Einkäufen beladen bin und keine Hand frei habe, eine Fahrkarte am Automaten zu kaufen ist so kompliziert oder zeitaufwendig, dass ich meinen Zug verpasse.

016  STUMMES WISSEN 

Im besten Fall weiß ich als Benutzerin, welche Handlungsmöglichkeiten die Dinge in meiner Umgebung mir bieten. Doch wie kann diese Kommunikation zwischen Menschen und Dingen überhaupt gelingen? Ich werde zeigen, dass ein Teil dieser Handlungsmöglichkeiten sowohl bewusst als auch unbewusst, mit voller Absicht oder versehentlich in die Dinge hineingestaltet wird. Einen ergänzenden Teil stellen die Menschen dar, die fähig sind, diese Handlungsmöglichkeiten wahrzunehmen und zu nutzen, möglicherweise mitzugestalten. Ich hoffe, Sie sehen bereits: Interaktionen mit Dingen zu hinterfragen ist nicht nur für Designerinnen und Designer wichtig und interessant. Die zugrundeliegenden Mechanismen dessen, was Dinge mit Menschen tun und umgekehrt, sind von Bedeutung für alle, die im weitesten Sinne gestalterisch tätig sind. Gestalten ist eine grundlegende menschliche Aktivität, betont Viktor Papanek: Alle Menschen sind Gestalter. Fast alles, was wir tun, ist Design, ist Gestaltung, denn das ist die Grundlage jeder menschlichen Tätigkeit. Das Planen und Konzipieren von Handlungen auf ein erwünschtes, absehbares Ziel hin nennt man Gestaltungsprozess.2

Was ist Design? „Schon über den Anfang von Design existiert ebenso heftiger Streit wie darüber, was denn Design sei und was es nicht sei.“3 – Da nicht einmal der Blick ins DesignWörterbuch rasche Klarheit bringen kann, werde auch ich nicht lange bei dieser Frage verweilen. Ich vertraue darauf, dass schon beim Durchblättern des Raumplans dieser Ausstellung bemerkt wird, dass meine Sichtweise auf Gestaltung sehr disziplinenübergreifend ist und sich nicht auf eine einzelne Sparte wie Modedesign, Grafikdesign oder Automotive Design beschränkt. Ich bin überzeugt, dass das Gedankenmodell der impliziten Vermittlung quer über all diese Sparten und auch über einzelne Designdisziplinen hinaus nützlich sein kann. Trotzdem werde ich nicht umhinkommen, bei manchen Exponaten Stellung zu beziehen und eine eigene Sichtweise einzunehmen. Vor allem das erste Exponat in Raum [1] wird der Bemühung gewidmet sein, Ihnen mein Verständnis davon, was Design leistet und womit sich Designerinnen und Designer beschäftigen, darzulegen. Definitionen abstrakter Begriffe werde ich umgrenzen, indem ich die dazu notwendigen Tätigkeiten beschreibe. Dieser Kunstgriff soll mir die Sachverhalte einfacher erzählbar machen als das Suchen nach einer möglichen Essenz solcher Begriffe. Trotzdem wird in der Ausstellung noch genügend Raum und Zeit sein, verschiedene Definitionen und unterschiedliche Konnotationen der Begrifflichkeiten Design und Gestaltung zur Sprache zu bringen. Eine einzige Unterscheidung ist mir aber zu wichtig, um sie auf später zu verschieben, nämlich die zwischen Design und Styling.

FOYER 017

Mögen Design und Styling oft auch noch so nahe beieinanderzuliegen scheinen, „designte“ Objekte sehe ich nicht automatisch als „teuer, exquisit, herausgeputzt, manchmal lustig, aber jedenfalls wenig Not so long ago, the term ‘designer’ described praktisch“5 an. Diese Art von Gestaltung, die someone like Eliot Noyes, who was responsible sich ausschließlich mit Attraktivitätssteigefor the IBM electric typewriter in the 1960s, or rung an der Oberfläche befasst, wird von DeHenry Dreyfuss, whose clients included Locksignerinnen und Designern meist als Styling heed Aircraft and Bell Telephone Company … bezeichnet – dementsprechend ist Styling or Dieter Rams, who created a range of austere-­ auch in dieser Ausstellung nur eine Rand­ looking, but very practical products for the Gererscheinung. man company Braun. Today, ‘designer’ is more likely to bring to mind Ralph Lauren or ­Giorgio Armani, that is, a fashion designer. […] their names – are often associated with a wide variety of consumer products, including cosmetics, perfume, luggage, home furnishings, even house paint. As a result, ‘design’ is popularly identified with packaging: the housing of a computer monitor, the barrel of a pen, a frame for eyeglasses. […] styling and design are not the same thing, but of course it is impossible to keep style out of design. […] on the whole, in most designed objects, whether they are chairs, or automobiles, or skyscrapers, styling and problem-solving are messily but inextricably intertwined. The best-designed objects manage to solve problems with a sense of style, often the work of a designer whose name is hardly known.4

Die interessanten Dinge sind nicht unbedingt Dinge

Die einzelnen Objekte, mit denen sich Designerinnen und Designer beschäftigen, die sie gestalten, eignen sich nur begrenzt als Fokus, als klassisches Exponat zu den gewählten Themen, da sie meist die Sicht auf den Entstehungsprozess verstellen. Ideen, die bereits eine physische Gestalt angenommen haben, sind für diese Ausstellung nur von begrenztem Interesse, weil ihr Entstehungsprozess schon nachvollziehbar ist. Genauer gesagt, es ist eben nur mehr nachvollziehbar, wie bzw. in welchem Prozess sie entstanden sind. Im Nachhinein mögen viele der Einflussfaktoren, die genau zu dieser Gestalt geführt haben, benennbar sein. Zumindest ist die Argumentation, wie es zu genau dieser Form kam, bereits bewusst und durchdacht. Was durch diesen Blick auf das bereits abgeschlossene Projekt verdunkelt wird, ist, dass alle Beteiligten am Designprozess am Anfang und während des Prozesses oft nicht wissen, ob und vor allem nicht welche Lösungen am Ende ihrer Anstrengungen stehen werden. Wenn das Ergebnis nun aus der Darstellung des Designprozesses entfernt wird, wird mehr sichtbar: Man kann beispielsweise beobachten, wie manche Beteiligte scheinbar furchtlos ins blanke Nichts hineinarbeiten, andere bewegen sich entlang ihrer jeweiligen Sicherheiten und Selbstverständlichkeiten auf ein noch unsichtbares Ziel hin, manchmal tragen auch Zuversicht und Experimentierfreude die Gestaltenden zu einem Ergebnis. So unterschiedlich wie die einzelnen Beteiligten sind auch die Möglichkeiten, die Phasen der Ungewissheit zu durchleben und dabei zu gestalten.

018  STUMMES WISSEN 

In dieser Ausstellung nicht nur die Ergebnisse von Designprozessen auszustellen halte ich also für wichtig, weil das Ergebnis die Sicht auf das eigentlich Faszinierende, nämlich das Prozesshafte an der Gestaltung, verstellen kann. Das endgültige, das (mehr oder weniger) abgeschlossene Ergebnis tritt also in den Hintergrund und gibt den Raum frei für etwas schwieriger Darzustellendes: das Gestaltwerden von Unsichtbarem, Unaussprechbarem, das schöpferische Tun der Beteiligten und die Einflüsse, die dabei zur Wirkung kommen. Den zielgerichteten Prozess des Gestaltens im Nachhinein ohne das Wissen um das Ziel zu denken ist für mich als Designerin (besonders bei meinen eigenen Produkten) eine schwierige Gedankenübung. Ich möchte die eigene Lösung als eine gute verstanden wissen und meinen Auftraggebenden als eine tolle, mindestens plausible Lösung präsentieren. Denn während ich für die gewählte Lösung als die beste Lösung argumentiere, verschwindet automatisch das Ungewisse und Verhandelbare. Im Nachhinein ist die Vielfalt der Möglichkeiten, die sich bei der Gestaltung geboten hat, oft nicht mehr zu sehen. Die Frage, unter welchen Bedingungen Vermutungen Form annehmen können, vor welchen Hintergründen Wertigkeiten und Haltungen verhandelt werden, legt die Betonung auf die Prozesshaftigkeit des Gestaltens. Damit ist auch ein weiterer Grund genannt, warum diese Ausstellung nicht ein Katalog mit einer Liste von Dingen ist, sondern im Wesentlichen von Situation zu Situation führt. Ebendieses Prozesshafte lässt sich nicht wie mit einer Pinzette fassen und konservieren – es lässt sich, wenn überhaupt, nur anhand einer Situation beschreiben. Doch auch mit der Situation sind noch keine Prozesse dargestellt, sie können nur die fassbaren Ausgangspunkte für eine Art Erzählung von diesem Flüchtigen werden, das ich zu beschreiben suche. In Situationen kann in Erscheinung treten – und somit beschrieben werden – wie sich das Implizite im Design zeigt, was mit impliziter Vermittlung gemeint ist und warum es wichtig ist, sich (vor allem als Gestalterin) damit zu befassen.

Darf ich Sie durch die Ausstellung geleiten? Vor etwa zwei Jahrzehnten begann ich das Gestalten von Dingen, die industriell gefertigt werden, zu studieren. Viele Entscheidungen in Gestaltungsprozessen traf ich anfangs sprachlos – ich ging zu Beginn davon aus, es läge nur an meiner Unerfahrenheit, dass ich meine Vorgehensweise oft erst im Nachhinein begründen konnte, dass ich erst lernen müsste, wie ich erklären kann, woher ich weiß, was ich weiß, wohin ich meine Aufmerksamkeit lenken sollte und worauf ich dann meine Designentscheidungen begründen könnte. Doch viele ähnliche Erfahrungen und vertrauensvoller Austausch mit erfahrenen, in unterschiedlichen Designbereichen tätigen Personen (vgl. „Begegnungen“, Seite 301) brachten mich darauf,

FOYER 019

mich gezielt mit solch schwer greifbaren Phänomenen der Kommunikation zwischen Menschen und Dingen zu befassen. Als Designerin sehe ich mich und meine Arbeit in ein dicht gewobenes Netz aus gegenseitigen Abhängigkeiten, teils widersprüchlichen Interessen und verschiedenen Arten von Einflussnahmen mit eingeflochten. Ein so komplexes Netz kann kaum dargestellt werden, ohne dabei wichtige Einzelheiten und Mehrdeutigkeiten zugunsten der Darstellbarkeit zu verschweigen. Nichtsdestotrotz habe ich versucht, solche Situationen zusammenzutragen, an denen etwas zuerst Unsichtbares entscheidend wird. Ich sammle Momente, in denen das wichtigste Element oder Argument vorerst unausgesprochen bleibt, und Situationen, die Fragen stellen helfen, um etwas Unsichtbares in den Fokus zu bringen. Situationen, in denen die Selbstverständlichkeiten der Beteiligten in Erscheinung treten und Form annehmen. Kurz: Es dreht sich hier alles um das Implizite im Design. Die Nutzung, das Entstehen, das Teilen und Mitteilen von implizitem Wissen. Diese Ausstellung geht gezielt den Fragen nach, die mich und viele andere Gestaltende begleiten, in der Hoffnung, die eine oder andere Antwort unterwegs zu finden; und wo keine Antwort möglich oder sinnvoll ist, sollen neue oder präzisere Fragen gestellt werden können. Wenn das Aufschreiben beendet ist, gilt es, meine gestaltenden Kolleginnen und Kollegen (nicht nur in der Kreativbranche) und alle Interessierten hier in diese gedachte Ausstellung einzuladen. Mit dem gedanklichen Modell der impliziten Vermittlung biete ich eine Sichtweise an, mit der wir Gestaltenden manche Probleme und Ungewissheiten besser als bisher in den Blick nehmen können und dadurch eine Möglichkeit haben, uns über schwer Greifbares besser auszutauschen. Das Ziel dieser Forschungsarbeit und Ausstellung ist, dass Gestaltende diese Sichtweise tatsächlich nutzen können, um für ihre Ahnungen in diesem Licht leichter argumentieren und Fragen stellen zu können, die sie näher an die Phänomene bringen, die man nicht einfach abfragen kann. Was ich dazu leisten will, ist, den Blickwinkel implizite Vermittlung möglichst verständlich und schlüssig darzustellen. Ziel ist, eine Sichtweise zu entwickeln, die Designerinnen und Designer in unterschiedlichen Kontexten reflexionsfähig und damit handlungs- und gestaltungsfähig macht.

Fragestellungen & Ausblick auf die drei Räume Die übergeordneten Fragestellungen dieser Ausstellung sind: • Wie findet implizite Vermittlung statt, und wie wird sie ­gestaltet? • Wie kann die Kommunikation zwischen Menschen und Dingen gelingen? • Wie kann man diese Art der Kommunikation verstehen, und wie gestalten?

020  STUMMES WISSEN 

Hierbei gilt es zu untersuchen, wie das Vermitteln von Wissen zwischen Menschen und Dingen ermöglicht wird. Die Detailfrage, welches Wissen körpergebunden ist, führt zur Frage, inwieweit womöglich Werkzeuge unser Denken beeinflussen. Eine zweite Detailfrage führt zur Anwendung des Denkmodells implizite Vermittlung: Wenn ich für eine bestimmte Gruppe von Menschen gestalte, welche Möglichkeiten gibt es, als Gestalterin herauszufinden, was essenziell wichtig ist, sich aber nicht abfragen lässt?

Raum [1] Im ersten Raum werden Zusammenhänge zwischen Design und implizitem Wissen erkundet. Erkenntnis, Denken und Kreativität finden nicht nur im Körper, sondern mit unserer Umgebung statt, in einem Dazwischen von Mensch und Ding. Vielleicht sogar in einer Verschränktheit?6 Designerinnen und Designer gestalten nicht nur eine Form, sondern das Entstehen einer Form, aber auch das, was mit dieser Form dann passiert. Es geht nicht nur um Fertigungstechnik und Materialkunde, die Nutzung und das Nutzungserlebnis werden gestaltet, manchmal werden sogar Kulturtechniken (um)gestaltet. Es werden Beziehungen zwischen Elementen gestaltet, als Designerin gestalte ich Beziehungen zwischen Menschen und Objekten. Design gestaltet Wissensformen. Wir gestalten implizite Vermittlung.

Raum [2] Im zweiten Raum geht es um die Praxis der impliziten Vermittlung: Wo und wie tritt sie in Erscheinung? Mit welchen Mitteln wird sie gestaltet? In diesem Raum geht es um die Frage, wie Dinge den Menschen bestimmte Reaktionen auf sie abringen. Oft haben wir gar keine Wahl, als auf die Dinge so zu reagieren, wie wir es tun. Implizite Vermittlung bedeutet, dass die Dinge uns mehr vermitteln, als wir dann bewusst zu sagen wissen. Der erzählte Weg durch die Ausstellung führt von einzelnen Vermittlungs­ kategorien wie Material, Oberfläche, Form oder Farbe, also von präzise beschreibbaren Details hin zu Überbegriffen der Gestaltung wie Familienähnlichkeiten und den Zusammenhängen, in denen Mensch und Objekt aufeinandertreffen. Im Alltag treten Gestaltungselemente wie Form, Farbe oder Material in Union auf mit allen anderen Faktoren, die eben eine Situation ausmachen: Lichteinfall, Umgebungstemperatur und Luftfeuchtigkeit seien hier als Beispiele für äußere Faktoren genannt. Hinzu kommen all die Dinge, die mit mir als Person zu tun haben: meine Körpergröße, mein Blickfeld, meine Sichtweise, Gewohnheiten, Vorwissen, Auffassungsgabe, Stresspegel, Vorlieben, mein Repertoire an Wissen und Einstel-

FOYER 021

lungen. All diese und noch viele andere Einzelheiten mehr bedingen eine Situation. Wie erschließt man sich solch komplexe Gestaltungszusammenhänge? Im zweiten Raum soll erkundet werden, wie Designerinnen und Designer mit dieser unkontrollierbaren Menge von Faktoren umgehen.

Raum [3] Im dritten Raum geht es darum, dass es ist nicht nur möglich ist, die Dinge bewusst zu gestalten, es ist unbedingt notwendig, sie bewusst zu gestalten. Wie angedeutet, stehen wir Menschen in vielfältiger Weise in Kommunikation mit den Dingen. Es wird zu zeigen sein, dass sich Watzlawicks Axiom „Man kann nicht nicht kommunizieren“ in die Welt des Gestaltens übertragen lässt und man gar nicht nicht gestalten kann. Nicht zu gestalten könnte bedeuten, Gedankenlosigkeit oder Achtlosigkeit walten zu lassen. Wie in Raum [2] gezeigt werden wird, sind Dinge manchmal unerbittlich im Einfordern von bestimmtem Verhalten. Ist die Notwendigkeit bewussten Gestaltens erkannt, beginnen in der Praxis die Probleme oft erst: Gestaltung findet in nicht zu unterschätzenden Kräftegefügen statt. Dem muss Raum gegeben werden, denn es gilt, die in Raum [1] und Raum [2] gesammelten Erkenntnisse in einer bunten, von mächtigen, oft widersprüchlichen Interessen gezerrten Praxis wirksam werden zu lassen. Machtgefüge und Ideologien manifestieren sich durch oder werden wirksam in den Dingen. Dinge, auf die wir als Gestaltende Einfluss nehmen.

Ein Hinweis noch, bevor es losgeht Eine Vorsichtsmaßnahme – das Lesen dieses Textes könnte Sie als kreative Person womöglich beeinflussen, und das leider nicht ausschließlich in positivem Sinne: Bewusstes Nachdenken über eine Tätigkeit, die man normalerweise sehr gut beherrscht, kann mit den Prozessen kollidieren, die als Intuition bekannt sind7 – so warnt Gerd Gigerenzer, Psychologe und Bildungsforscher. Gerade wenn wir etwas besonders gut können, völlig reibungslos intuitiv tun, kann es uns aus der Bahn werfen, wenn wir plötzlich darüber nachdenken, wie wir tun, was wir gerade tun. Sei es das Ausüben einer Sportart, Rad- oder Autofahren, Schreibmaschine schreiben oder kreativ sein. So wie es Jonglierenden möglicherweise nicht mehr gelingt, einfach weiterzumachen, sobald man sie bittet zu erklären, wie sie das denn anstellen – so kann es unter Umständen zu vorübergehenden Komplikationen im kreativen Prozess kommen. Sollten Sie feststellen, dass Sie sich lieber ganz auf das intuitive Gelingen ihrer gestalterischen Arbeit verlassen, so möchte ich Ihnen an dieser Stelle eher davon abraten

022  STUMMES WISSEN 

Bild 1: Wait! What?

­weiterzulesen.* Wenn es Ihnen allerdings so geht wie mir und Sie die Dinge, die Ihnen oft gelingen, aber nicht immer, verstehen wollen, um sie besser zu machen, so folgen Sie mir bitte in die Ausstellung.

Fragen, Notausgänge und Abkürzungen Wie weiter oben dargelegt, zeige ich Ihnen im Folgenden (trotz aller darzustellenden Ambivalenzen) eine konkrete Sichtweise auf ein höchst diverses Feld. Anders gesagt: Man kann alles auch anders sehen. Um dieser Tatsache von Zeit zu Zeit Rechnung zu tragen, sind im Falle von triftigen oder verbreiteten Gegenargumenten die Notausgänge jeweils mit [*] beschriftet. Falls der Fall des völligen Widerspruchs eintritt, bewahren Sie bitte Ruhe und legen Sie den Text beiseite. Wenn Sie die Herausforderung annehmen, mit all Ihren Widersprüchen weiter durch die Ausstellung zu spazieren, können Sie jederzeit ins Café zurückkommen, sich dort erfrischen, den Raumplan betrachten und an einem beliebigen Punkt wieder in die Ausstellung zurückkehren. Im Café finden Sie auch Themenpfade (siehe Seite 030), die Ihnen dabei helfen können, sich die Ausstellung Ihren Interessen angepasst zu erlesen. Abkürzungen, die Themenstränge zusammenhalten und *

Der erste markierte (Not-)Ausgang.

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von meiner ausführlichen Route abweichen, sind mit [A] für Abzweigung, Abkürzung markiert.

Was gibt es noch zu sehen? Die Angaben zu verwendeten Materialien, zitierten Quellen und die Dokumentation des Forschungsprozesses sowie einige Ergänzungen erlaube ich mir folgendermaßen zu gestalten und zu benennen: • Im Café finden Sie Themenpfade und einen ausführlichen Raumplan. • Im Shop sind weiterführende Fragen und Fundstücke zu den Themenfeldern ­untergebracht. • In der Werkstatt finden Sie Ergänzungen zum Forschungs- und Darstellungsprozess sowie einen Überblick über meine Ressourcen. • Im Leseraum treffen meine Notizen zur Herangehensweise und eine Positionierung zu den in der Ausstellung angesprochenen Diskursen auf die Bibliografie. In der Linearität eines Textes ist es unmöglich, meine Nebengedanken und Assoziationen so wiederzugeben, wie sie mir beim Schreiben einfallen. Ich sehe Schreiben als eine mögliche Art, das Denken voranzutreiben. Lesen kann in diesem Sinne eine Art sein, dabei ein Stück mitzuspazieren. Spazieren Sie also mit mir durch die folgenden Seiten, bewegen Sie sich aber jederzeit gerne weg vom vorgegebenen Weg, machen Sie Ihre eigenen Zirkel und Abkürzungen oder finden Sie Ihren Weg zu anderen Texten.

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Vgl. Yates, A., 2001. Papanek, 2009, S. 20. Originalzitat in Papanek, 1984, S. 4.: „All men are designers. All that we do, almost all the time, is design, for design is basic to all human activity. The planning and patterning of any act toward a desired, foreseeable end constitutes the design process. […] Design is the conscious and intuitive effort to impose meaningful order.“ Erlhoff & Marshall (Hrsg.), 2008, S. 87. Von diesem Wörterbuch existiert eine häufig referenzierte englische Ausgabe, die entsprechende Stelle aus der englischen Version lautet: „At the risk of disappointing you, dear reader, it is impossible to offer a single and authoritative definition of the central term of this dictionary – design.“ Rybczynski, 2005, S. 2. „How Things Work“, Essay in: The New York Review of Books. Vgl. hierzu Bonsiepe, 2005. Rede anlässlich der Verleihung des Titels Doctor h. c. der Universidad Tecnológica Metropolitana, Santiago de Chile, Juni 2005. Hartmut Böhme verwendet gar das Wort „Ineinandergeschobenheit“ von Ich und Ding, siehe Böhme, 2006, S. 98. Vgl. Gigerenzer, 2007.

024  STUMMES WISSEN 

CAFÉ Die Arbeit während des Forschungsprozesses unterscheidet sich erheblich von der Arbeitsweise, die für das Darstellen des Herausgefundenen notwendig ist. Manchmal ist das, was am Ende logisch und einfach erscheint, viel schwieriger zu erreichen, als sich ahnen lässt. Wissenschaftliches Arbeiten hat nur am Rande mit Logik und Zitierregeln zu tun. Was am Ende eine logische Argumentation und Abfolge ist, ergibt sich oft erst wie zufällig während der Arbeit an der Darstellung der Ergebnisse. Das eigene Verständnis explizit zu machen und auch zu verbalisieren ist wohl das Schwierigste, aber auch das Wertvollste, was praktizierende Designer und Designerinnen in der Forschung lernen können. Eine Bestätigung dieses Gedankens finde ich in einem Text von Otto Kruse: Das Explizitmachen und damit Zugänglichmachen der eigenen, implizit gedachten Erkenntnisse ist eine Art der Übersetzung. Diese Schwierigkeit betrifft fast alle Forscher – was man vage verstanden oder implizit schon begriffen hat, bringt man durch Formulieren in eine lineare Ordnung. Informationen, die im Verstehen parallel existieren, müssen linearisiert werden. „Komplexe Zusammenhänge müssen in das Nacheinander einer sprachlichen Zeichenkette zerlegt werden“, so Otto Kruse.1 So war für mich während des Aufschreibens der Ablauf der Darstellung keineswegs schon in Stein gemeißelt. Auch nach Fertigstellung der Ausstellung hält sich meine Überzeugung, dass diese Reihenfolge des Erzählens meiner Einsichten nur eine von mehreren plausiblen wäre. Diese Verhandelbarkeit, die ich des Öfteren auch thematisiere, mag aber auch einer Vielschichtigkeit des Themas und eines Textes prinzipiell geschuldet sein: Im Sinne dieser mehreren Schichten, die ein Text haben kann, liste ich im Folgenden nun einige Pfade zu Themen auf, die sich durch alle drei Räume ziehen. Diese Themenpfade können auch Besucherinnen und Besuchern aus anderen Disziplinen oder Arbeitsfeldern einen Einstieg in die Ausstellung bieten.

CAFÉ 027

Raumplan Raumplan Überblick über die Ausstellung

Foyer Überblick, Orientierung und Inhaltsverzeichnis

Raum [1]

Raum [2]

Raum [3]

Raum [1] Erkenntnis, Denken und Kreativität finden nicht nur im Körper, sondern mit unserer Umgebung statt, mit und durch die Gegenstände und Technologien, die wir benutzen. Es geht um Wissensformen und Erklärungsmöglichkeiten und wie in dieser Perspektive das Erkennen, Wahrnehmen, Verstehen und Entwerfen betrachtet werden können. Übergang Intuitive Benutzbarkeit und verstehbare Dinge – diese Phäno­ mene lassen sich nun nach Raum [1] erklären. In Raum [2] stellt sich die Frage, wie implizite Vermittlung erkundet und gestaltet werden kann. Raum [2] Die Dinge sagen uns mehr, als uns bewusst ist. Implizite Vermittlung bedeutet, dass die Dinge uns mehr erzählen und vermitteln, als wir dann bewusst zu sagen wissen. In diesem Raum finden sich Beispiele und Elemente dafür.

028  STUMMES WISSEN 

Übergang Dinge sagen uns mehr, als Worte jemals sagen könnten. Nicht nur mehr, sondern auch viel unmittelbarer als Text oder Sprache. Raum [3] Man kann nicht nicht gestalten. Wir können die Dinge nicht nur bewusst gestalten, wir müssen sie bewusst gestalten.

Atrium Der Kern des Konzepts implizite Vermittlung

Café Erfrischungen und alternative Themenpfade

Shop Weiterführende Fragestellungen, Fundstücke zum ­Mitnehmen

Leseraum Kontextualisierung | Positionierung

Werkstatt Notizen zur Entstehung der Ausstellung | ­Begegnungen

Index und Quellen Ergänzendes

CAFÉ 029

Themenpfade Ein Themenpfad entsteht entlang von Schlüsselbegriffen, die mehrmals direkt in der Ausstellung auftauchen oder implizit eine Rolle spielen. Diese Themenpfade arbeiten in einer Weise mit dem Text, genauer mit dem Ausstellungskonzept, dass auch zwischen den Zeilen Stehendes erwähnt werden kann, obwohl es nicht im Inhaltsverzeichnis auftaucht. Somit sind diese Pfade ein Weg, die impliziten Dimensionen des Textes aufzuzeigen. Jeder Themenpfad hat direkte und indirekte Stationen. Direkte Stationen sind in den Wegdiagrammen durch massive Punkte (•) gekennzeichnet, indirekte durch Kreise (°). An einer direkten Station wird das Thema wörtlich erwähnt, manchmal sogar in Überschriften. An indirekten Stationen kann es sein, dass der Begriff selbst nicht direkt auftaucht, aber im Text werden sehr naheliegende Phänomene behandelt, der Begriff taucht also nur implizit im Text auf.

Interface Entlang dieser Stationen wird gezeigt, welche Entwürfe und Konzepte sich mit impliziter Vermittlung verknüpfen lassen. Interfaces lassen sich nicht auf eine (Schnitt-) Fläche reduzieren, sie betreffen immer mehrere Sinne, nicht nur den Seh- und Tastsinn, die noch gut mit Flächen zurechtkommen, sondern auch Gehör, Geruchssinn, Temperatur- und Lagesinn sind bedeutsam für die Konzeption eines Interface. Die indirekten Stationen zeigen bildhaft auf, dass an einer Interfacegestaltung nichts Neutrales bleibt. Daher ist zu klären, ob es so etwas wie sachliche oder rein funktionale Gestaltung insbesondere in Bezug auf Interfaces überhaupt gibt. • • • • •

Seite 043: Was ist ein Interface? Seite 072: Design ist Machen ist Denken? Seite 149: Interface revisited Seite 240: Ergonomie und Usability Seite 261: Machtverhältnisse in Produkte integriert

Mensch & Technik Das Verhältnis von Mensch und Technik ist durch Gestaltung verhandelbar, deshalb ist es ein durchgehendes Hintergrundthema dieser Ausstellung. Auf Seite 223 wird es direkt thematisiert als „Mensch und Technik“, besonders diskutiert im Thema „Scripts“, auch ganz zu Beginn beim Thema „Pfadabhängigkeit“ sowie im Leseraum bei „Materiality of Social Practice“. • Seite 047: Formen beibehalten und Pfadabhängigkeit • Seite 205: Scripts

030  STUMMES WISSEN 

• • • •

Seite 223: Mensch und Technik Seite 228: Bedienung: Wer dient hier wem? Wer bedient wen? Seite 253: Tools for Conviviality Seite 319: Materiality of Social Practice

Network & Entanglement Design spielt eine tragende Rolle, wenn sich in Form von Dingen eine Werthaltung oder ein Wertesystem vor einem bestimmten kulturellen Hintergrund zu materialisieren beginnt und damit wirksam – also Wirklichkeit – wird. • Seite 046: Formen aufbrechen und Formen beibehalten • Seite 232: Design und Marktwirtschaft • Seite 258: Design und gesellschaftliche Realität

Verstehen Entlang dieses Pfades geht es um Verstehen. Bedeutung und Sinn werden konstruiert, und in diesem Zusammenhang kann etwas deutlich verstanden werden, Interpretationsmöglichkeiten können reduziert und Verständnisse stabilisiert werden. • Seite 077: Verstehen und Wahrnehmen • Seite 206: Closure im Atrium • Seite 278: Stabilisierung von Problemen

Verhaltenssteuerung Verhaltenssteuerung bezeichnet die Idee, dass Objekte uns zu bestimmten Handlungsweisen bringen können. Designerinnen und Designer entwickeln beim Gestalten von Produkten oder Systemen eine Art Drehbuch für den Ablauf der Inter­aktion. Sie strukturieren Handlungsabläufe vor, die dann in den Produkten wirksam werden können. • • • •

Seite 129: Form | Physical Constraints Seite 205: Scripts Seite 240: Ergonomie und Usability Seite 261: Machtverhältnisse in Produkte integriert

CAFÉ 031

Sinne Ein körperliches System, bestehend aus spezifischen Sinneszellen, Nervenbahnen und eigenem Verarbeitungsgebiet im Gehirn ist – physiologisch betrachtet – ein Sinnessystem. Die menschlichen Sinne und damit die menschliche Wahrnehmung werden an mehreren Stellen der Ausstellung erzählungsleitend. Sie tauchen an folgenden Stellen auf: • Seite 083: Wie viele Sinne hat man als Mensch? • Seite 147: Haptik • Seite 149: Interface Revisited | Design geht unter die Haut

Was ist ein Exponat? In dieser Ausstellung eröffnet immer ein Exponat einen Abschnitt. Kurz zuvor im Foyer habe ich begonnen zu beschreiben, worum es sich bei einem Exponat handelt: Es wurden solche Situationen zusammengetragen, an denen etwas Unsichtbares entscheidend wird. Momente, an denen das wichtigste Element kaum in Sprache zu fassen ist, oder Situationen, die Fragen provozieren. Alle Bemühungen zielen darauf ab, Unsichtbares in den Fokus zu bringen. Kurz: Es dreht sich hier alles um das Implizite im Design, die Nutzung, das Entstehen, das Teilen und Mitteilen von implizitem Wissen.

Exponat 1: Wie sieht ein Exponat aus und was bewirkt es im Text?

Textschild: Im Bild über diesem Text ist ein Sachverhalt zu erkennen, der in diesem Text beschrieben wird. Es geht meist darum, eine Beobachtung dieses Sachverhalts darzustellen, die den darauffolgenden Text in Gang bringt. Dieser Rahmentext dient bei jedem Exponat zur Klarstellung, was die Autorin in obigem Bild erkannt haben möchte.

032  STUMMES WISSEN 

Das rin zug das das

obige Bild zeigt also etwas, dessen Beobachtung für die AutoFragen aufwirft. Welche Fragen beschäftigen die Autorin in Beauf die Situation und damit im folgenden Text? Wie lässt sich Gezeigte einbetten und welche Schlussfolgerungen bietet es für Publikum der Ausstellung?

Wegbeschreibung: Der Weg zum nächsten Exponat führt über die nun zu nennenden Argumente oder auch Zwischenhalte. …

Ein Exponat besteht immer aus einem Bild oder einer Serie von Bildern, die eine Situation oder einen Zusammenhang beschreiben. Dieses erste Bild, das ein Kapitel eröffnet, liegt im Querformat vor und wird ergänzt durch eine in ähnlichem Format (quer) gehaltene „Tafel“ (hinterlegter Text darunter), die den Bildinhalt beschreibt. Der Text darunter ist als forschende, sich wundernde Stimme zu lesen, die die Erzählung eröffnet.

Liste der Exponate Exponat 1: Wie sieht ein Exponat aus und was bewirkt es im Text? (Seite 032) Exponat 2: Die Tastatur (Seite 038) Exponat 3: Buchstabenleere Tastatur (Seite 051) Exponat 4: Werkzeug Bleistift (Seite 068) Exponat 5: Was können uns Sinnestäuschungen über unsere Wahrnehmung ­erzählen? (Seite 077) Exponat 6: Ideen hervorzaubern (Seite 093) Exponat 7: Metalldrücklampe (Seite 113) Exponat 8: Drehen oder drücken? (Seite 121) Exponat 9: Warm und kalt (Seite 136) Exponat 10: Achtung, heiß! (Seite 142) Exponat 11: Produktfamilien (Seite 151) Exponat 12: Thoughtless Acts – Design Dissolving in Behaviour (Seite 156) Exponat 13: Spuren lesen (Seite 169) Exponat 14: Türen, die in die Irre führen (Seite 223) Exponat 15: Spielzeug (Seite 230) Exponat 16: Guter Kaffee, böser Kaffee (Seite 250) Exponat 17: Hostile architecture (Seite 260) Exponat 18: Dein Problem ist deine Lösung (Seite 270) Exponat 19: Geschlossene Fenster (Seite 284)

1

Kruse, 2007, S. 86.

CAFÉ 033

Raum [1] – ­Design und ­implizites ­Wissen

Dreißig Speichen treffen sich in einer Nabe: Auf dem Nichts daran (dem leeren Raum) beruht des Wagens Verwendbarkeit. Man bildet Ton und macht daraus Gefäße: Auf dem Nichts daran beruht des Gefäßes Verwendbarkeit. Man durchbricht die Wand mit Türen und Fenstern, damit ein Haus entstehe: Auf dem Nichts daran beruht des Hauses Verwendbarkeit. Darum: Das Sein gibt Besitz, das Nichtsein Verwendbarkeit. tao te king, Kapitel 111 Willkommen im ersten Raum dieser Ausstellung. Was macht ein Ding zu einem Gebrauchsgegenstand? Laotse beschreibt, dass die Leere an den Dingen diese brauchbar werden lässt. In diesem ersten Raum geht es um die Erkundung der Zusammenhänge zwischen dem Gegenständlichen am Design und dem, was als nicht gegenständlich vorrangig wirksam ist und die Gegenstände verwendbar werden lässt. Gerade die Verwendbarkeit eines Objekts liegt im Wirkungsbereich des Designs. Implizites Wissen wird in diesem Raum in Bezug auf Produktwahrnehmung und Produktgestaltung als Begriff eingeführt. Was im weiteren Sinne mit implizitem Wissen gemeint ist, wird ebenso geklärt wie der Zusammenhang von Design und implizitem Wissen. In diesem Raum führt der Weg durch folgende Phänomene: • Denken findet nicht (nur) im Kopf statt. • Erkenntnis, Denken und Kreativität finden nicht nur im Körper, sondern auch mit unserer Umgebung statt. Genau in diesem Dazwischen von Mensch und Ding. • Anhand der Tastatur, die mich auch beim Schreiben dieses Textes andauernd begleitet, eröffne ich Ihnen ein mögliches Verständnis davon, was Design gestaltet. Es wird nicht nur die Form gestaltet, sondern das Entstehen einer Form. Designer gestalten nicht nur die Form, sie gestalten eine Fertigungstechnik, eine Nutzung, ein Erlebnis. Beziehungen zwischen Elementen werden gestaltet. Beziehungen zwischen Menschen und Objekten sowie zwischen Objekten und Menschen. Dadurch werden Wissensformen und implizite Vermittlung gestaltet.

036  RAUM [1] – ­D ESIGN UND ­I MPLIZITES ­W ISSEN 

Bisherige Modelle in der Praxis und in der Ausbildung von Gestaltenden sind meist entweder technikorientiert oder auf den Menschen fokussiert.A Wenn technikorientierte Ausbildungen viel Wert auf das Wissen der Gestaltenden über die Produktion und Herstellung legen, möchten psychologisch-pädagogisch orientierte Herangehensweisen die Menschen dazu ausbilden, die Dinge durch Wissen gut handhaben zu können. Dieses deutlich getrennte Entweder-oder kann zu Argumentationsnotständen und gestaltungseinschränkenden Sichtweisen führen. Die abgrenzende Sichtweise von Menschen als völlig separat von ihren Werkzeugen und ihrer Umgebung funktionierend (denkend, erkennend) führt meiner Ansicht nach dazu, dass Designerinnen und Designer sich nicht in ihrer Verantwortung und ihrer Kompetenz für umfassende Gestaltung sehen und die Dinge oft separat von menschlichem Denken, Erkennen und Arbeiten gestaltet werden. Die Folgen dieser Herangehensweise kennen viele Menschen zur Genüge aus dem Alltag: schwierig zu bedienende Technik, unhandliche Werkzeuge, unbequeme Arbeitskleidung, sperrige oder komplizierte Verschlüsse und vieles mehr – kurz, Dinge, die unser Leben verkomplizieren, obwohl sie es eigentlich vereinfachen sollten. Nicht nur ich, auch viele meiner Kolleginnen und Kollegen sehen die Notwendigkeit neuer Argumentationsmodelle, denn im weit verbreiteten und gelehrten Paradigma (Denken passiert nur im Gehirn – der Mensch ist getrennt von Umwelt und Werkzeugen zu betrachten) fällt es schwer zu argumentieren, dass eine gut gestaltete Umgebung auf weit mehr Einfluss hätte als nur auf unsere Befindlichkeit (mehr zu den vielfältigen Einflüssen von Gestaltung in Raum [3], ab Seite 223). Gestaltung nimmt ganz elementar Einfluss auf unser Verhalten, auf unser Denken und unser Empfinden, in jeder Form, bewusst und unbewusst. Die Dinge unserer Umgebung können Verhaltensweisen ermöglichen, fördern oder unterbinden und genau für dieses Bewusstsein beim Herangehen an die Gestaltung unserer Umgebung werde ich in dieser Ausstellung argumentieren.

A  Siehe z. B. Human centered approach, in Kapitel 3.2.2 „User-Centered Design“, Seite 238.

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[RAUM 1] – [EXPONAT 2]  1.1  DIE TASTATUR

Exponat 2: Zusammengewachsen – Tastatur und Bildschirm

Im Bild links ein zeitgenössischer Schreibakt: Zwei Hände berühren eine Tastatur. In der Mitte eine Gegenüberstellung zweier Schreibgeräte: Zwischen dem Herstellungsdatum des einen und dem des anderen liegen gut achtzig Jahre. Ganz rechtes Bild: Noch eine Gegenüberstellung, hier die „Notebooks“ einer Designerin im Jahr 2021. Links Notizbücher mit handschriftlichen Notizen, rechts ein Computer, der zusammengeklappt leichter und schmaler ist als die Schreibmappen.

Hier sitze ich und schreibe. Nicht mit Stift und Papier, sondern auf einer Tastatur. Keine klassische Schreibmaschinentastatur, die wäre um einiges größer und lauter … Nein, dies ist eine besondere Tastatur: eine, die mit meinem Bildschirm verwachsen ­ ist. Gemeinsam bilden diese beiden (Tastatur und Bildschirm) mein tragbares Büro. Die beiden Elemente lassen sich zusammenklappen und so passt dann mein gesamtes Schreibbüro mühelos in meinen Rucksack. Wenn ich möchte, sogar in eine etwas größere Handtasche, denn Tastatur und Bildschirm wiegen erstaunlicherweise zusammen gerade einmal ein Kilo! Meine Mappe und die Notizbücher mit den handschriftlichen Notizen und Ausdrucken sind schwerer und um einiges sperriger. Seltsam … ­ Da ich, während ich dies hier schreibe, ein typisches Designprodukt vor mir habe, frage ich mich, wer es gestaltet hat. Wer hat im Entstehungsprozess wann welche Entscheidungen getroffen? Mit welcher Absicht? Und da dieses Ding eigentlich nur mehr aus dem Notwendigsten besteht, ein bisschen Bildschirm (kaum dicker als ein Stück Pappe) und ein bisschen Tastatur (kaum höher als die Tischplatte, haupt noch auf der sie liegt), frage ich mich – was wird hier über­ gestaltet? Viel Spielraum kann ja hier nicht mehr gegeben sein? ­

038  RAUM [1] – ­D ESIGN UND ­I MPLIZITES ­W ISSEN 

Bild 2: Schreibmaschinentext

Wo sitzt in diesem Ding die verarbeitende Technik? Wie geschieht die Kommunikation mit der (schon fast verschwundenen) Hardware? Was ist hier alles Interface? Wenn man sich erst einmal zu wundern beginnt, kommen immer mehr Fragen auf. Ich wechsle auf die alte Schreibmaschine meiner Schwester, ein antiquarisches Stück aus den frühen 1930er Jahren – mit ohrenbetäubendem Tack-tack-tack hämmere ich wichtige Worte aufs Papier. Kein return, kein copy and paste. Schreiben fühlt sich jetzt völlig anders an. Wie kann es sein, dass meine Schreiberfahrung ­ so unterschiedlich ist, ob ich nun mit der Hand schreibe oder mit der Schreibmaschine oder eben auf dieser ­ Tastatur? Und … warum ist die Anordnung der Tasten auf der Schreibmaschine dieselbe wie auf dem Laptop?

Wegbeschreibung – der Pfad von diesem Exponat zum nächsten führt über: 1.1.1 Was wird gestaltet? Womit beschäftigen sich Designerinnen und Designer? ­Erkundung verschiedener Designdisziplinen  ≥  1.1.2 Was ist ein Interface? – Die Schnittstelle zwischen Mensch und Objekt als Gestaltungsdomäne von Design  ≥  1.1.3 Formen aufbrechen – Selbstverständlichkeiten verunsichern, diskutierbar ­machen  ≥  1.1.4 Formen beibehalten – Wo das Verändern nicht gelingt  ≥  1.1.5 Das Schreiben – Schreiberfahrung abseits der Tasten

[EXPONAT 2] 1.1 DIE TASTATUR 039

1.1.1  Was wird gestaltet? There is a story embedded in every object. Every decision was made at some point about something. As Henry Ford said: every object tells a story – if you know how to read it. andrew blauvelt,2 Design Curator, Walker Art Center Wenn jedes Objekt eine Geschichte erzählt, wie lassen sich diese erschließen? Manche Geschichten werden zugänglich, wenn man Fragen zur Herstellung und Entwicklung stellt: Welche Entscheidungen wurden im Lauf der Entwicklung dieses oder jenes Produkts getroffen? Welche Geschichte erzählt zum Beispiel das MacBook Air, auf dem ich den Großteil dieser Ausstellung schreibe? Wer als Gestalter dieses Computers gilt, ist klar: Zu dieser Zeit Senior Vice President of Industrial Design bei Apple, Jonathan Paul „Jony“ Ive, ab 1992 bei Apple, ab 1996 Leiter des Industrial-Design-Teams. Er zeichnete verantwortlich für die ersten iMacs – jene bunten eiförmigen Geräte, die Röhrenbildschirm und Rechner unter einer farbigen, transparenten Kunststoffhülle vereinten, ab 2001 auch für die ersten Apple Notebooks. Sein Team und er haben noch weitere Meilensteine der Consumer-Electronics-Industrie erschaffen, wie das iPhone und das iPad. 2008 wurde das damals dünnste Notebook der Welt präsentiert, das MacBook Air. Für Gary Hustwits Dokumentarfilm Objectified (2009) hat Jony Ive in einer Werkstatt ein Interview gegeben. Er beschreibt, wie aus einem stranggepressten Aluminiumprofil in möglichst wenigen Arbeitsschritten das Teil in seiner rechten Hand entsteht, das obere Rechner-Tastaturteil des MacBook Air. Die Gehäuse der meisten Appleprodukte bestehen zu dieser Zeit zu einem guten Teil aus Aluminium, daher lassen sich verschiedene Fertigungsstrecken verknüpfen und dabei Material effizient nutzen. Die Metallplatte, die aus dem Frame des Cinema Display entfernt wird, dient als Ausgangsmaterial für zwei externe Tastaturen. Zu Ives Verantwortungsbereich gehörte hier unter anderem die Konzeption der Fertigungsstraßen für alle Geräteteile. Ein Ziel, das er dabei zusammen mit seinen Teams verfolgte, war etwa, dass es möglichst weniger Befestigungsänderungen des Rohlings während der Fertigung bedarf. Zusammen mit den beteiligten Expertinnen und Experten anderer Fachbereiche wurden Wege gesucht, möglichst viel Funktion in nur ein einziges Teil zu packen, keine weiteren Befestigungen und Halterungen für essenzielle Rechnerteile sollten mehr nötig sein. Jedes Mikrometer weniger zählt, wenn es darum geht, ein neuartig dünnes Gerät zu schaffen. Reicht es, Jony Ive als zuständig für das Erscheinungsbild dieser Produkte zu beschreiben? Er gestaltet weitaus mehr – alles, was das Erscheinungsbild dann bedingt, vorrangig den Fertigungsprozess. Er entwickelt und gestaltet mit seinem Team die Funktionen der integrativen Teile bis hin zur Art und Weise, wie sie gefertigt werden. Und das ist nur eine Facette dessen, was mit Design bei Apple gemeint

040  RAUM [1] – ­D ESIGN UND ­I MPLIZITES ­W ISSEN 

Bild 3: Jony Ive, Apple Industrial Design (Filmstills Objectified)

ist. Seit Beginn der Firmengeschichte hatten die Geräte dieses Unternehmens den Ruf, einfach bedienbar und intuitiv benutzbar zu sein, und dazu haben Experten in unterschiedlichsten Disziplinen beigetragen: Menschen wie Bill Atkinson (Mr. User Interface bei Apple), Doug Engelbart (berühmt für seine Beiträge zur Entwicklung der Computermaus) und Cordell Ratzlaff (Human Interface Group Manager zur Zeit des Sprungs auf das Betriebssystem OS X) beispielsweise waren in den 1980er und 1990er Jahren entscheidend an der Entwicklung der benutzerfreundlichen Interfaces bei Apple beteiligt.3 Gestaltungsleitende Fragen waren immer: Wie tritt das Produkt in Erscheinung? Wie lässt es sich benutzen, verstehe ich, was passiert, ist es verlässlich und gut handhabbar? Auf allen erdenklichen Ebenen dieser sogenannten User Experience haben die Mitarbeiter der Firma Recherche betrieben.4 Wie man Antworten auf solche Fragen systematisch näherkommen kann, wird in Raum [2] ausführlicher behandelt.A Im hier genannten Beispiel zeigt sich eine besonders enge Zusammenarbeit zwischen Industrie und Designerinnen und Designern, daher wird Gestaltung ­dieser Art meist als Industrial Design bezeichnet, in Abgrenzung zu anderen Spezialisierungen wie etwa Grafikdesign oder Informationsdesign. Kommerziell erfolgreiche Kooperationen zwischen Design und Industrie bedingen eine weitere Ausdifferenzierung von Designdisziplinen. Welche Rolle bei diesen Kooperationen jeweils Design, Produktentwicklung oder Verkaufs- und Präsentationsstrategien spielen, ist äußerst unterschiedlich. Eine Ausstellung 1952 im MoMA, New York, würdigte beispielsweise die Designarbeit der Firma Olivetti.5 Zu dieser Zeit arbeiteten viele namhafte Architekten, Designer und Grafiker mit dem Chef Adriano Olivetti und begründeten den damals beispielhaften Ruf der Firma. Die in den 1960er und 1970er Jahren hergestellten Schreibmaschinen boten „ein zu ihrer Zeit völlig neuartiges Erscheinungsbild – gepaart mit einer Robustheit, die die Maschinen aus dieser Zeit noch heute [50 bis 60 Jahre später, Anm. d. A.] vorzüglich benutzbar macht.“6 Manchmal werden auch Designerinnen und Designer mit einer Produktidee selbst als inventor-entrepreneurs7 unternehmerisch tätig, wie beispielsweise Michael Thonet, der zur Herstellung seiner berühmten Bugholzmöbel um 1850 in Wien die A  Abkürzung zu [Raum 2] – [Exponat 13], 2.7 „Dinge herausfinden“, Seite 169.

[EXPONAT 2] 1.1 DIE TASTATUR 041

Firma Gebrüder Thonet gründete, oder wie Baron Marcel Bic zur Herstellung seiner Bic-Kugelschreiber. Charles und Ray Eames haben im Laufe ihrer Designkarriere mehrere bis dahin neue Fertigungstechniken entwickelt (etwa formgepresstes Schichtholz) und bestehende verfeinert.8 Brownie Wise wurde zu Beginn der 1950er Jahre von Earl Tupper eingestellt, um ihr erfolgreich gepflegtes Konzept der Verkaufspartys weiterzuentwickeln und zu verbreiten; untrennbar sind die Tupperware Home Parties9 in den folgenden Jahrzehnten mit dem Produkt verbunden. Wo Vertrieb, Fertigungstechnik, Produktentwicklung und Konsumentenrecherche sich überschneiden, wird deutlich, dass ein weiterer Aspekt unbedingt zum Tätigkeitsfeld einer Designerin oder eines Designers gehört: das Firmenerscheinungsbild, die Produktwirkung, das Branding. Alles, was eine bekannte Marke wie zum Beispiel Apple ausmacht, ist in jedem einzelnen Gerät, sei es ein Telefon, ein Tablet-Computer oder ein Standrechner, unverkennbar vorhanden. Was heutzutage nicht mehr aus Wirtschaft und Industrie fortzudenken ist, dieses einheitliche Auftreten, die Corporate Identity, die sich in allen Produkten und Leistungen eines Unternehmens widerspiegeln soll, war nicht immer in dieser Form üblich. Das erste Beispiel10 für bewusste Gestaltung eines gesamten Firmenbildes ist die AEG in Berlin: 1908 wurde hier der Architekt und Gestalter Peter Behrens (1868–1940, Entwickler der Sparbogenlampen für die AEG 1907) als verantwortlich für das gesamte Firmenerscheinungsbild etabliert.11 Zu einem späteren Zeitpunkt, als das Innere und das Äußere eines Produktes zwar noch sehr nah beieinander, aber im Verantwortungsbereich von verschiedenen Menschen liegen, taucht in Zusammenhang mit als zu einer Marke gehörend gestalteten Produktlinien oft das Wort Styling auf. Als Designerin nehme ich die Aussage, ich wäre Stylistin – „ProduktbehübThey asked, ‘Can you fix this up and make it look scherin“ – oft als Vorwurf wahr und sehe pretty?’ Indeed, for a time in this chaotic period meine eigentliche Tätigkeit verkannt. Mit a person who knew how to enamel something dieser Wahrnehmung bin ich nicht allein. black and put three chromium strips around the Eine schlüssige und gut durchdachte Firbottom was considered an industrial designer. menidentität mitzuentwickeln und einer solIn time manufacturers learned that good induschen treu zu bleiben, die Erwartungshaltuntrial design is a silent salesman, an unwritten gen der Nutzenden und ihr Vertrauen nicht advertisement, an unspoken radio or television zu enttäuschen geht weit über eine obercommercial, contributing not merely increased flächliche Behübschung von Produkten hinefficiency and a more pleasing appearance to aus. Auch der in den USA sehr einflussreiche their products but also assurance and confiDesigner Henry Dreyfuss grenzt sich 1955 in dence.12 diesem Sinne von reiner Produktkosmetik ab: „[To] fix this up and make it look pretty“ macht aus jemandem, der etwas schwarz lackiert und Chromzierleisten anbringt, noch keinen Industriedesigner. Doch zurück zu Jony Ive, dem MacBook Air und dem Kern seines Designverständnisses: Im Interview erklärt er, es gehe ihm darum, „großartige Technik in

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atemberaubender Qualität leicht zugänglich“13 zu machen. Dabei treibt ihn eine gewisse Besessenheit zur Perfektion und zum Understatement an, immer ausgefeiltere Details zur Selbstverständlichkeit werden zu lassen, etwa die Batterie­ standsanzeigen eines MacBook Pro, die unsichtbar unter einer hauchdünnen Metallschicht verschwinden, wenn sie nicht gerade leuchten. „Why on earth should there be an indicator that isn’t indicating anything?“14 Seine gestalterischen Bemühungen beziehen sich eben nicht nur auf Wir versuchen, die Hürden zu beseitigen […], die optisch wahrnehmbaren Qualitäten der die bislang die Menschen gezwungen haben, Produkte sowie deren Fertigung, seine Ansich selbst der Maschine anzupassen, statt strengungen zielen am Ende darauf ab, jedie Maschine sich anzupassen.15, A des mögliche Hindernis an der Schnittstelle – dem Interface – zwischen User und dem A Produkt aus dem Weg zu räumen. Ab Oktober 2012 war er auch für einen Teil des Erscheinungsbildes der Apple Software verantwortlich;16 die Pressestelle verlautbarte, er würde ab diesem Zeitpunkt auch für das HI (Human Interface) richtungsweisend tätig sein. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Tätigkeiten im Design sehr heterogen17 sind – es werden Objekte, Systeme, Fertigungsprozesse, Firmenidentitäten und vieles mehr gestaltet. Für die vorliegende Ausstellung steht ein Tätigkeitsfeld im Mittelpunkt: die Gestaltung von Interaktionen zwischen Menschen und Dingen. Um dies näher zu beleuchten, ist der Begriff des Interface hilfreich.

1.1.2  Was ist ein Interface? Ein Interface bezeichnet eine Übergangs- oder Schnittstelle. Im naturwissenschaftlichen Bereich18 bezeichnet Interface eine Phasengrenze oder Grenzfläche zwischen zwei Medien oder Aggregatzuständen, so wie beispielsweise die Fläche, die in einem Glas mit Wasser und Öl entsteht, sobald die beiden Flüssigkeiten zur Ruhe gekommen sind. Feste Stoffe in Flüssigkeiten umgibt ein Interface an der Grenze zur Flüssigkeit, in der sie sich befinden. Auch bei der ebenen Fläche auf einem Wasserglas handelt es sich in diesem Sinne um ein Interface, nur eben zwischen Wasser und Luft. In Bezug auf technische Hardware ist ein Interface eine Stelle, an der zwei Hardwarekomponenten zusammentreffen und in Kommunikation treten sollen oder müssen. Industriestandards wie etwa USB oder Firewire sorgen dafür, dass Komponenten verschiedener Art von verschiedenen Herstellern gekoppelt werden A  Abkürzung: Ähnliche Worte werden Ihnen in Raum [3] erneut begegnen, Sie können hier aber auch direkt die Abkürzung zu den Fragen „Wer dient hier wem?“ bzw. „Wer bedient hier wen?“ nutzen, Seite 229, bzw. zu [Raum 3] – [Exponat 15], 3.2 „Wem dient Design?“, Seite 230.

[EXPONAT 2] 1.1 DIE TASTATUR 043

können und sich verstehen können. Auch auf Softwareebene gibt es Schnittstellen zwischen verschiedenen Geräten oder verschiedenen Programmen, wo ebenfalls Übersetzungsleistungen vonnöten sind. Systemwissenschaftlich abstrahiert gilt allgemein eine Berührungsfläche zwischen zwei Systemen als Interface. Für eine gelungene Kommunikation muss man nicht das gesamte angrenzende System (möglicherweise eine Blackbox) kennen, sondern es reiche, die Oberfläche zu verstehen.19 Dies könnte einer der Gründe sein, wie es zu der Überzeugung mancher Gestalterinnen und Gestalter kommt, Design sei (nur) eine Gestaltung von Oberflächen. Diese Ansicht wird in vorliegendem Text nicht vertreten.* Die Stelle jedenfalls, an der Mensch und Gegenstand in direktem Kontakt aufeinandertreffen, wird üblicherweise auch als Interface bezeichnet. Es ist die Stelle, an der es um den direkten Austausch von Informationen zwischen Mensch und Gerät geht, sei es um eine Eingabe, eine Ausgabe oder beides. Dieser gebräuchlichen Bezeichnung Zum ersten ist da ein Nutzer oder sozialer Agent, nähert sich der Designer und Designtheoreder eine Handlung effektiv realisieren will. Zum tiker Gui Bonsiepe ausführlicher und erhebt zweiten ist da eine Aufgabe, die er bewältigen Interface Anfang der 1990er-Jahre zu einem will, beispielsweise Brot schneiden, Lippen Zentralbegriff des Designs.20 Er beschreibt schminken, Rockmusik anhören, ein Bier trinsein „trichotomisches Diagramm instruken oder einen Zahnkanal ­öffnen. mentellen und kommunikativen Handels“21 damit, dass ein sozialer Agent, eine Aufgabe oder Absicht und ein Werkzeug oder Artefakt aufeinandertreffen. Die Koppelung dieser drei Bereiche geschieht in einem Raum und mithilfe eines Raums, dessen Gestaltung dem Design obliegt: durch ein Interface. Das bedeutet, aus der vorhin beschriebenen Fläche, einer Grenzfläche zwischen zwei Elementen, wird ein Raum. Diese Zum dritten ist da ein Werkzeug oder Artefakt, Erweiterung zur räumlichen Dimension ist das der Handelnde zur effektiven Ausführung ein wichtiger Schritt, um ein Interface geder Handlung benötigt – ein Brotmesser, ein staltbar zu machen. Tatsächlich lässt sich Lippenstift, ein Walkman, ein Bierglas, eine ein Interface nur selten als Fläche fassen, hochtourige, mit 20 000 Umdrehungen pro Miwie in dem Beispiel aus dem Film Playtime: nute rotierende Präzisionsturbine mit Bohrer Eine Hand oder ein Finger trifft flächig auf 22 und Kühlung. einen Knopf oder ein ähnliches Steuerelement. Hier kann man wohl noch vom Interface als einer Fläche sprechen. Doch gerade bei der Gestaltung von Soft- und Hardware ist Interface als reine Fläche, als Treffpunkt und Berührungsfläche zweier Phasen gedacht, wahrscheinlich zu kurz gegriffen. *

Notausgang: Eine Publikation, die sich mit Design in dieser Sichtweise auseinandersetzt: „Design – der Markt der Oberflächen“, in: Bolz, 1999. Interessant ist, dass gerade in diesem Zusammenhang eine Interessengemeinschaft von Stoffdesignern und -künstlern, „Surface Design“, die Benennung des Vereins als „irreführend“ scharf kritisiert, siehe etwa den Beitrag von Leesa Hubbell v. 21.7.2011: http://www. surfacedesign.org/what-does-surface-design-mean-you (Zugriff: April 2014).

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Bild 4: Playtime, Jaques Tati (1967)

Denn welche Phasen treffen aufeinander, wenn ich an einem Bildschirm arbeite? Meine Hand berührt die Computermaus oder ein Touchpad, manchmal berühren die Finger auch nur die Buchstabentasten des Keyboards. Eigentlich sollte mein ganzer Körper, seine Reichweite und seine Haltung miteinbezogen werden, denn gerade bei lang andauernder Computerarbeit spielt es eine große Rolle, in welcher Körperhaltung ich arbeite und auf welcher Dabei ist zu bedenken, daß Interface nicht eine Sitzgelegenheit ich sitze. Richtig heikel wird Sache ist, sondern der Raum, in dem die Interes dann, wenn ich mich auf die Suche nach aktion zwischen Körper, Werkzeug (Artefakt, der Fläche mache, an der meine Augen den sowohl dingliches wie zeichengebundenes Bildschirm berühren … oder wo meine Ge­Artefakt) und Handlungsziel gegliedert wird. danken den Text berühren … Genau das ist die unverzichtbare Domäne des Ich fürchte, auch das Interface als Designs.23 Raum gedacht ist noch nicht alles, was zum Thema Interface gedacht werden kann. Es scheint, als läge ein fundamentaler Unterschied in der gestalterischen Herangehensweise, ob ich mich auf die Suche nach zu gestaltenden Berührungsflächen mache oder ob ich nach Räumen suche, die sich zwischen meinem Körper, meinen Absichten und meinem Werkzeug auftun. Dieser Begriff ist uns in dieser Ausstellung nun zum ersten Mal, aber noch bei weitem nicht zum letzten Mal begegnet;A um weiterzugehen, will ich mich fürs Erste mit dem Interface als dem Raum, der sich zwischen Nutzer, Handlung und Artefakt aufspannt, begnügen.

A  Abkürzung: Im Café (ab Seite 027) sind zu Themen, die quer durch die Ausstellung immer wieder auf­ tauchen, spezielle Themenpfade gelistet. Interface ist der Titel eines solchen Themenpfads.

[EXPONAT 2] 1.1 DIE TASTATUR 045

1.1.3  Formen aufbrechen In diesem kritischen Bereich, dem Interface, sind nun Interventionen möglich, ­deren Bedeutung weder allein (design-)technisch noch allein psychologisch oder sozialwissenschaftlich gut fassbar wäre.24 Im New Yorker Museum of Modern Art kuratiert Paola Antonelli seit 1994 regelmäßig Ausstellungen, die Design in einem jeweils spezifischen Kontext zeigen und auf die vielfältigen Konsequenzen der Produktgestaltung für unsere Lebenswelten aufmerksam machen (zum Beispiel 2005: Safe – Design Takes on Risks, 2008: Design and the Elastic Mind). Für die Ausstellung Workspheres (2001) wurden verschiedene Entwürfe, Produkte sowie noch in Entwicklung befindliche Prototypen zum Thema Arbeit zusammengestellt. Die Exponate beleuchteten Fragen wie: Wie arbeiten wir heute und in Zukunft? Wie wollen wir arbeiten? Was bedeutet Arbeit? Was sind (in Zukunft) mögliche Gegenteile von Arbeit?25 In der Ausstellung waren Produkte und Konzepte von Designerinnen und Designern aus aller Welt zu sehen. Manche stellten komplette Arbeitssituationen oder Büros dar, manche Ex­ponate waren nur kleinen Teilbereichen gewidmet oder regten als möglicherweise in Zukunft erhältliche Accessoires die Vorstellungskraft der Besucherinnen und Besucher an. So auch die Entwürfe von Hella Jongerius, einer niederländischen Designerin, die unter anderem die Tastatur Weekly Dinner für die Ausstellung zur Verfügung stellte. Weitere Entwürfe stellte sie unter den Titel My soft office. Sowohl die Tastatur mit dem Teller in der Mitte als auch ein Kissen mit eingehäkelten TastenA beruhen auf der Beobachtung der Designerin, dass, im Unterschied zum reinen Bürogerät Schreibmaschine, der Computer auch in der Freizeit häufig genutzt wird. Die Exponate verdeutlichen ihre Ahnung, dass die damals beobachtbaren Phänomene erst der Anfang der Verbreitung von Computern in der Freizeit und in privaten Bereichen sein würden. In Kunst spiegelt gesellschaftliche Vorgänge anden Homeoffices der Zukunft (wohlgemerkt, ders – unabhängiger und subjektiver als Design, aus der Sicht von 2001) wäre daher mit diedas sie zwanghaft unmittelbar vollziehen muss. sen beiden Keyboards dem Phänomen RechDesign ist eher Werkzeug zur Schaffung gesellnung zu tragen, dass die beruflich-geschäftschaftlicher Realität als Kunst.28 liche Nutzung der Büroaccessoires nach der Arbeitszeit (oder zwischendurch) in eine private Nutzung übergeht. Auch in unserer Freizeit würden wir in Zukunft Nachrichten und Mails schreiben und im Netz surfen. Was 2001 für viele Lebenswelten noch sarkastisch überzeichnet wirkte – immerhin gibt es beispielsweise Facebook erst seit 2004, wäre inzwischen sicher ein alltagstaugliches Objekt.26

A  Abkürzung: Abb. der Tastaturkissen und mehr zu Design als eine Möglichkeit, selbstverständlichen ­Hintergrund zum Gegenstand von Diskussionen zu machen, siehe Seite 254 Raum [3]: „Gewohnheiten und Kontexte“.

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Bild 5: Arbeitsraum der Zukunft/Gegenwart: © Jongeriuslab, ausgestellt im MoMA, New York 2001, im ­Rahmen der Workspheres Exhibition27

Design kann also eine eindrucksvolle Möglichkeit bieten, Dinge, Werthaltungen und Einstellungen auf einer sehr konkreten Ebene auszuprobieren und zu diskutieren. Der Designhistoriker Gert Selle sieht hierin einen wesentlichen Unterschied zur Kunst, da Design gesellschaftliche Vorgänge nicht spiegelt, sondern unmittelbar vollzieht. Welche Rolle Design dabei spielt, eine Werthaltung, ein Wertesystem vor einem bestimmten kulturellen Hintergrund zu materialisieren und damit wirksam – also Wirklichkeit – werden zu lassen, dem widmet sich diese Ausstellung in Raum [3] ausführlich.

1.1.4  Formen beibehalten Um den Exkurs nun wieder zur Tastatur, zum Ausgangspunkt dieses Exponats zurückzuführen, noch eine Bemerkung zur Schreibmaschine: Der Tiroler Erfinder Peter Mitterhofer war einer der ersten, der in den 1860er Jahren eine funktionierende, ja marktreife Schreibmaschine aus Holz baute. Er ordnete die Tasten noch alphabetisch an. Als diese Technologie sich zu verbreiten begann, gab es bestimmte Restriktionen, die die Anordnung der Tasten bestimmten. Beispielsweise war ein zentrales Problem, dass sich die Buchstabenhämmerchen – genannt Typen­hebel – leicht miteinander verhakten. Daher durften Buchstaben, die häufig aufeinanderfolgten, wie zum Beispiel e und n nicht nebeneinanderliegen. Insgesamt galt es, auch für geübte Schreibende die Geschwindigkeit zu drosseln, da sich prinzipiell bei zu hoher Schreibgeschwindigkeit die Typenhebel leicht miteinander verhaken konnten. Christopher Latham Sholes, der in den USA 1868 den Type­writer zum Patent anmeldete, verwendete keine alphabetische Anordnung, sondern die QWERTY-Anordnung der Tasten, die sich beinahe überall (mit kleinen lokalen Änderungen) bis heute gehalten hat. Spannend ist, dass die Anordnung der Tasten praktisch sämtliche technologischen Überarbeitungen bis zu den Computertastaturen und am Touchscreen

[EXPONAT 2] 1.1 DIE TASTATUR 047

Bild 6: Typenhebel – Details einer Schreibmaschine aus dem Jahr 1927

einblendbaren Tastaturen unverändert überstanden hat; meist mit dem Argument, geübte Schreibende nicht enttäuschen zu dürfen. Aus welchen Gründen ist die Anordnung der Tasten scheinbar so unantastbar? Bei der Gestaltung von mechanischen Tastaturen musste man darauf achten, dass Buchstaben, die häufig hintereinander, Wie sähe eine Tastaturbelegung aus, würde sie folgen, nicht als Typenhebel nebeneinanderheute neu gestaltet werden? Angenommen, die zuliegen kommen, diese würden sich viel zu Absichten „Ergonomie“ und „Schreibgeschwinoft verhaken. Insgesamt ergibt sich durch digkeit“ stünden im Vordergrund, „mit Bisheridiese mechanische Beschränkung eine Angem vertraute Nutzer nicht überraschen“ wäre ordnung, die nicht allzu schnell betätigt werzweitrangig? Im Gegensatz zur Konstanz der den kann, damit die Typenhebel nach BeTastenbelegung, die sogar auf eingeblendeten tätigung auch genug Zeit haben, wieder in Tastaturen beibehalten wird, fällt mir auf: Wenn ihre Ausgangsposition zurückzufallen. Nun Software dieser Tage eine Überarbeitung erbleibt die berechtigte Feststellung, dass an fährt, kommt man eher Neulingen entgegen. unseren Desk- und Laptops weder HämmerHier werden oft den „alten Hasen“ mehr Umchen noch Hebel zu berücksichtigen sind. stellungsschwierigkeiten zugemutet. Unter diesem Gesichtspunkt könnten wir schon längst Tastaturen so gestalten, dass sie ergonomisch sinnvoller zu bedienen sind und auch noch leichter hohe Schreibgeschwindigkeiten ermöglichen.29

1.1.5  Das Schreiben Natürlich gibt es noch andere Möglichkeiten als Schreibmaschine und Computer, um Geschriebenes zu Papier zu bringen. Das rechte Bild dieses ersten Exponates stellte den Laptop einer Mappe voller handschriftlicher Notizen gegenüber. Dieser letzte Abschnitt widmet sich der Schreiberfahrung abseits von Tasten. Schreiben als eine grundlegende Kulturtechnik ermöglicht Menschen, die lesen und schreiben können, den Zugang zu allem expliziten Wissen (siehe Seite 059), das heißt bewusst gemachtes, in Worten fassbares Wissen. Schreiben ermöglicht

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Bild 7: Was die Füllfeder verrät

auch, das eigene (aufschreibbare) Wissen weiterzugeben. Zwar unterstützt die Maschinen- oder Computerschrift meist die gute Lesbarkeit der Texte, aber gerade mit der Hand, mit einem Stift zu schreiben There is a state of mind which is not accessible ermöglicht auf besondere Weise, dem eigeby thinking. It seems to require a participation nen Denken beim Schreiben auf die Spur zu with something. Something physical we move, kommen. like a pen, like a pencil. […] a body in motion. Or Lynda Barry, Künstlerin und Schriftyou can tap your fingers […] but not on plastic stellerin, schöpft aus dem Mit-der-Handbuttons. This is motion, but in the motion there Schreiben eine besondere, entspannt-aufare no variables.33 merksame Geisteshaltung und thematisiert dies in ihrem Buch What it is. Ein ähnlicher Geisteszustand tritt ein, wenn man unwillkürlich Linien auf Papier (oder an den Rand einer Mitschrift) kritzelt. Dieses freie Kritzeln (engl.: doodling) ist in den letzten Jahren zu einem (neuro-)psychologiWhen I see that … [E. O. nimmt meine Füllfeder] schen Forschungsgegenstand gemacht wor… you know, I can know so much about the user. den. Es wird vermutet, dass solches doodling Because … you know it’s pretty classic, so you einen bestimmten Geisteszustand fördere, must be conservative. There is wood and gold, in dem man besser behält, was man hört which makes it even more conservative … and oder zu lernen versucht.30 Jackie Andrade31 it’s a fountain pen, so you must be a scholar … konnte 2010 belegen, dass gerade diese Art or someone who is in research. Is that true or von variationsreicher Bewegung am Papier not? The object says so much about the user (wie etwa Ausmalen von Formen oder freies ­because you wouldn’t buy it or keep it … if it Kritzeln) das einen optimalen Aufmerksamdoesn’t express your personality. [kramt sein keitszustand zu stabilisieren hilft, in dem Schreibwerkzeug aus seiner Tasche] So for inman Gehörtes besser erinnert.32 stance this is a more technical, drawing oriented Lynda Barry hat jedenfalls für sich und pen … […] this is the pen that I would buy.34 zahlreiche ihrer Studierenden festgestellt, dass Mit-der-Hand-Schreiben denselben Zweck erfüllt wie zielloses Ausmalen von Formen. Wenn es um das Stabilisieren eines bestimmten Bewusstseinszustandes, einer entspannten Aufmerksamkeit geht, kann das Tippen auf einer Tastatur weniger beitragen als eine v­ ariationsreiche ­Bewegung.

[EXPONAT 2] 1.1 DIE TASTATUR 049

Die Art und Weise, wie wir schreiben und wie wir beim Schreiben denken, ist untrennbar sowohl mit der Bewegung als auch mit unseren Werkzeugen verknüpft.A Ich vermute, dass sich dieser eng verwobene Zusammenhang zwischen dem benutzten Werkzeug und der ermöglichten, ja begünstigten Denkart bei weitem nicht nur auf das Schreiben und Zeichnen beschränkt, sondern dass diese Be-ding-theit unseres Tuns sich auch in vielen anderen Bereichen feststellen lässt. Nicht zuletzt ist mit unserem Schreiben mit Bleistift oder Füllfeder ein Ausdruck unserer Persönlichkeit verknüpft. Das Gerät der Wahl ist ein Ausdruck der Persönlichkeit, aber auch die Tätigkeit, die durch das jeweilige Schreibwerkzeug ermöglicht wird, spricht Bände über den Schreibenden. Die Geschwindigkeit, Genauigkeit, Sorgfalt und was auch immer man noch aus der Handschrift herauslesen kann und mag; die Wahl des Schreibwerkzeuges ist eine Möglichkeit, noch viel mehr in unsere Schrift zu legen als den eigentlichen Text – und es ist eine Wahl, die man bewusst treffen kann. Ob wir mit der Schreibmaschine, mit einem speziellen Computer, einer Labeling Machine oder mit Papier und Feder schreiben – mit dieser Wahl beeinflussen wir sowohl das mögliche Ergebnis als auch unser Erlebnis, während wir den Text verfassen, und damit die Art und Weise unseres Denkens während des Verfassens. Wir erzählen (uns) damit etwas über uns selbst.

A  Wie später noch in diesem Raum weiter erkundet wird: Werkzeuge – You are what you use, Seite 068.

050  RAUM [1] – ­D ESIGN UND ­I MPLIZITES ­W ISSEN 

[RAUM 1] – [EXPONAT 3]  1.2  WAS TUN WIR, WENN WIR ETWAS WISSEN?

Exponat 3: Buchstabenleere Tastatur

Zu sehen ist eine Tastatur des Jahres 2012, die mit USB-Anschluss zur Texteingabe an zu dieser Zeit handelsübliche Computersysteme angeschlossen werden kann. Einige der Buchstaben, die normalerweise an den Tasten Hinweise auf die Befehle geben, wurden für dieses Exponat in einem Bildbearbeitungsprogramm entfernt.

Vorausgesetzt, ich beherrsche das Zehnfingersystem: Wie schnell kann ich beliebige Worte schreiben, wie einfach gehen mir Texte von der Hand? Keine bewusste Anstrengung ist zum Schreiben nötig, meine Finger wissen wie von selbst, wo sie welche Buchstaben finden, auch ohne Beschriftung auf den Tasten. Meine Finger wissen – heißt das, nur ein Teil von mir weiß, wo die Buchstaben auf der Tastatur liegen? Löschte man die Buchstaben von der Tastatur, wäre da nicht eine ganz andere kognitive Anstrengung, eine andere Denkleistung vonnöten, die Buchstaben wieder den richtigen Tasten zuzuordnen? Prinzipiell geht es aber, daher stellt sich für mich die Frage: Handelt es sich hierbei um unterschiedliche Arten des Zugriffs auf ein und dasselbe Wissen oder um unterschiedliche Wissensformen?

[EXPONAT 3]  1.2  WAS TUN WIR, WENN WIR ETWAS WISSEN?  051

Wird mit dem eingelernten Auflegen der Hände auf die Tastatur ein einstudiertes Bewegungsmuster ausgelöst, handelt es sich also um eine trainierte Fertigkeit, um eine Art von Körperwissen? Wenn dieses Wissen von der Umgebung unabhängig in meinem Körper verankert wäre, dürfte es wohl keine Rolle spielen, ob die ­ Tastatur überhaupt vorhanden ist. Könnte ich die Fertigkeit auch ohne das Gegenstück außerhalb des Körpers hervorbringen, das heißt: Wäre die Tastatur nicht da, könnten meine Finger mit der gleichen Leichtigkeit die Worte ins Leere tippen? Was wissen meine Finger, was ich nicht weiß? Was passiert hier?

Wegbeschreibung – der Pfad von diesem Exponat zum nächsten führt über: 1.2.1 Was heißt wissen? – Wissen sind keine Klumpen in einem Behältnis, wissen ist eine Tätigkeit – explizit und implizit zueinander in Beziehung setzen  ≥  1.2.2 Rules of Art – von explizitem und implizitem Wissen  ≥  1.2.3 Implizites Wissen – ­Arten impliziten Wissens, Struktur des impliziten Wissens

1.2.1  Was heißt wissen? Als ich selbst mir das erste Mal über dieses Tastaturphänomen Gedanken gemacht habe, war ich verwirrt, da es so gar nicht zu meinem bisherigen Verständnis von Wissen passen wollte. Unter Wissen habe ich mir meist einen Denkinhalt vorgestellt, den man erlernen, sich aneignen kann. Mit dieser Vorstellung bin ich nicht alleine: In der mind-as-container-metaphor35 gilt der menschliche Geist als ein Gefäß, das mit Wissen (oder Wissensinhalten, Konzepten, Repräsentationen, Gedanken) befüllt werden kann. Dementsprechend kann ein Inhalt, der einmal gelernt (also eingefüllt) wurde, gespeichert und auch wiedergefunden werden. In diesem Denkmodell ist Wissen auch etwas, das man besitzen kann, ähnlich wie man einen Gegenstand besitzt. Es ist also nur natürlich zu fragen: Wo sitzt im Beispiel mit der Tastatur das Wissen? Befindet es sich in der Tastatur? Oder in den Fingern? Oder im Gehirn? Für ein Verständnis von Wissen, das sich von Denkinhalten als Gegenständen und von Köpfen als mit Wissensklumpen befüllbaren Gefäßen entfernen soll, ist es hilfreich, sich der englischen Sprache zu bedienen: To know ist ein Verb, ­wissen also eine Tätigkeit. Es gibt zwar auch das Hauptwort knowledge, das dem deutschen Wissen (mit großgeschriebenem W) entspricht, und to have knowledge of something entspricht in etwa der Wendung „Wissen von etwas haben“. Dennoch ist die gebräuchlichere Form knowing, welche das Tätigsein des Wissenden in den Mittelpunkt stellt.

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Im Folgenden versuche ich nun die Vorstellung aufzubauen, dass wissen – mit kleinem w – etwas ist, das man tut, und nicht etwas, das man hat.A1 Ich möchte hier der Argumentation von Woodruff36 oder anderen37 folgen, bei denen weder Denken noch Wissen gegenständliche Eigenschaften haben. Meist wird das Wort Kognition verwendet und bezeichnet den Vorgang, bei dem Wissen durch Interaktion des Menschen mit der Umwelt entsteht. In dieser Argumentation entsteht ein Bild, bei dem der gesamte Körper sowie die dingliche Umwelt, in der sich der Mensch bewegt, aus dem Denkprozess nicht auszuschließen sind. Die Interaktion mit Dingen begünstigt ein Verstehen. Aus vielen Momentaufnahmen und Verbindungen zu dem Wissensobjekt oder Gedankeninhalt stabilisiert sich ein Wissen. Durch Denken habe ich Zugriff auf Konzepte, die ich entweder in einer bestimmten Form erfahren habe und genau so wiedergeben kann oder die ich im Geiste (wieder) erfahren, verändern, kombinieren kann, um sie dann wiederum in veränderter oder gar neuer Form zu verstehen. Es ist klar, dass die Begriffe Denken, Verstehen und Erkennen im Rahmen dieser Ausstellung noch einer genaueren Erkundung unterzogen werden müssen.A2B

Wissensmanagement Fürs Erste genügt mir hier nun, das Verständnis von Wissen so weit gelockert zu haben, dass Wissen meist nicht aus Klumpen besteht, die in ein Gefäß gefüllt werden können. Es geht um etwas Flüchtigeres, es gibt ganz und gar unterschiedliche Phänomene, die sich als Wissen bezeichnen lassen: Ich weiß zum Beispiel, wie eine bestimmte Rose duftet, und kann sie allein am Duft von einem Veilchen unterscheiden. Ich weiß, wie spät es ist. Ich weiß, ob ich durstig bin oder nicht. Ich weiß, wie man Auto fährt. Ich weiß, wie ein Induktionsherd funktioniert. Ich weiß, warum wir in unseren Breiten der nördlichen Hemisphäre Jahreszeiten erfahren. Bei dieser Aufzählung sind nun schon einige sehr unterschiedliche Arten des Wissens versammelt. Die Disziplin des Wissensmanagements beschäftigt sich mit Wissen als Ressource im unternehmerischen Kontext. Die Forschung in diesem Fach bietet mehrere Sichtweisen: Oft geht es um eine Optimierung von Verfahren zur Weitergabe von Wissen oder um möglichst gute Verteilung von Wissen im Unternehmen – eine wichtige Bemühung des Wissensmanagements ist daher, ­implizites, unausgesprochenes Wissen in Sprache, Listen oder Datenbanken zu ­codieren und so jedem/r Unternehmensangehörigen zugänglich zu ­machen.38 A1  Anm. d. A.: Zu klären, was in diesem Zusammenhang „Gedächtnis“ bedeutet, was es mit den Begrifflichkeiten Verstand, Geist oder Seele auf sich hat, wäre zwar bestimmt aufschlussreich; ich möchte hier aber davon Abstand nehmen, denn das würde den Rahmen dieser Ausstellung sprengen. Es sei aber verwiesen auf das Buch Philosophy in the Flesh (Lakoff & Johnson, 1999). A2  Abkürzung zum Thema Verstehen, siehe Seite 077; Wahrnehmen, sinnliches, Seite 083.

[EXPONAT 3]  1.2  WAS TUN WIR, WENN WIR ETWAS WISSEN?  053

Eine Idee, die das Bild von Wissen als Denkinhalt und das von Menschen als ­Gefäße für Wissen benötigt, zeugt von der Suche nach einer Möglichkeit, Wissen im Unternehmen behalten zu können, auch wenn die Person, die es entwickelt hat, das Unternehmen verlässt. Im Gegensatz dazu steht die Sichtweise, dass es sozial konstruiertes Wissen gibt,A das in verschiedenen Kontexten eingebettet ist. So kann man eben nicht das Wissen einer Person von ihr abschälen und beliebig jedem anderen zugänglich machen. Hier kommen auch die vorhin genannten Wissensformen zum Tragen, die man unheimlich schwer in Worte fassen kann. Das Konzept des impliziten Wissens39 benennt auch Wissensformen, die sich prinzipiell nicht in Worte kleiden lassen.

Mitteilen | Vermitteln Wichtig bleibt, dass es wohl Wissensformen gibt, die sich in Sprache verwandeln lassen und die dann in Wort oder Schrift codiert von einem Menschen zum nächsten weitergegeben werden können. Ich kann sagen, dieses Wissen lässt sich von einer Person zur anderen über Worte vermitteln. Sämtliche Fakten, der klassische Lernstoff, den Kinder und Jugendliche in der Schule lernen, wäre auf diese Art codiertes Wissen. Ein weiteres Beispiel sind Gesetzbücher, deren Aufschreibbarkeit und damit Konservierbarkeit eine wichtige Bedingung für ihre Sinnhaftigkeit bzw. für ihre Anwendbarkeit ist. Aber – ist Sprache das einzige Medium, über das wir uns unseren Mitmenschen verständlich machen können? Wissen über einen bestimmten Sachverhalt kann ich den Menschen meiner Umgebung zum Beispiel auch über Gesten und Mimik mitteilen. Mein Kollege fragt mich, wie das Essen in der Kantine heute schmeckt. Mein Gesichtsausdruck kann dazu ausreichend Auskunft geben. Wenn ich nun eine Mitteilung oder einen Hinweis an einem Ort hinterlassen möchte, quasi meine Mitteilung an ein Objekt delegieren40 möchte, kann ich das zum Beispiel so tun: Ein Keil unter der Tür zeigt an, dass die Tür nicht geschlossen werden soll. Ein Handtuch auf einer Liege zeigt ebenso wie ein Kleidungsstück auf einem Sessel an, dass die jeweilige Sitzgelegenheit schon von jemandem benutzt wird. Zuvor habe ich Beispiele für die Kommunikation zwischen Menschen gebracht, nun ist es Zeit für das Kerninteresse dieser Ausstellung: die Vermittlung von Wissen, Anweisungen oder Botschaften mithilfe von Dingen.41 Gerade Handlungsanweisungen oder Ratschläge sind eine gut geeignete Möglichkeit für den Einstieg in dieses erst zu artikulierende Feld. In den Bildern auf Seite 055 sieht man in Wort und Schrift codierte Hinweise. In allen dreien steckt auch eine Handlungsanweisung. Im ganz linken Bild weist A  Abkürzung zu Seite 062, verschiedene Arten impliziten Wissens.

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Bild 8: Schriftliches Informieren/Handlungsanweisungen

die Schrift darauf hin, dass die Tür durch Ziehen zu öffnen ist, mittig werden Londoner Fußgänger darauf aufmerksam gemacht, beim Überqueren dieser Einbahnstraße nicht – wie durch den Linksverkehr sonst gewohnt – zuerst nach rechts zu schauen, sondern – Achtung! – nach links, denn an dieser Straße queren die Kraftfahrzeuge von links. Im rechten Bild ein Hinweisschild, wie es in vielerlei Gestalt im späten Winter oft in Österreich zu finden ist: „Achtung Dachlawine“ weist Fußgänger darauf hin, dass der Schnee nicht nur am Boden schmilzt, sondern auch auf den Dächern, und dass daher beim EntlangWhen affordances are taken advantage of, gehen an Häusern ein gewisser Abstand sothe user knows what to do just by looking. No wie erhöhte Vorsicht geboten sind, um nicht picture, label or instruction is required. Comvon herabfallenden Eis- und Schneemassen plex things my require explanation, but simple getroffen zu werden. things should not. When simple things need Viele Designer fragen sich von Berufs ­pictures, labels or instructions, the design has wegen nun sicher schon – könnte ich denselfailed.43 ben Hinweis nicht besser ohne Beschriftungen kommunizieren?42 Gibt es Möglichkeiten, die Dinge selbst sprechen zu lassen? Gerade einfache Hinweise müssten sich doch auch ohne Worte mitteilen ­lassen können? Kolleginnen und Kollegen aus dem Ausstellungsdesign (im Bereich von Messen ebenso wie in Museen) sind sehr interessiert an Vermittlungsleistungen, die ohne Schrift und möglichst auch ohne Symbole auskommen, da das ­Museums- und Messepublikum meist ohnehin von einer überbordenden Menge von Eindrücken sowie von Unmengen an Text und Symbolen gefordert wird. Manche Aufforderungen lassen sich sehr gut anders als in Schrift vermitteln. Ein Beispiel aus dem Museumskontext zeigt die Abbildung auf der folgenden Seite. Diese Bilder stammen aus einer Ausstellung, in der das Berühren der Objekte nicht erlaubt ist. Im linken Bild ist mit einer Klebeschrift in Englisch und Deutsch auf den Boden geschrieben: „Bitte die Werke nicht berühren. Please do not touch the exhibits.“ Zusätzlich ist eine Linie am Boden aufgeklebt, die ebenfalls die Besucherinnen und Besucher daran erinnern soll, Abstand zu halten. Im rechten Bild sieht man, dass die ausgestellten Objekte auf einem blütenweißen Po-

[EXPONAT 3]  1.2  WAS TUN WIR, WENN WIR ETWAS WISSEN?  055

Bild 9: Bitte die Werke nicht berühren – mit und ohne Schrift

dest (das ­jeden Schuhabdruck verraten würde) erhöht ausgestellt sind.A Beide Varianten sind dazu geeignet, neugierige Museumsbesucher auf Abstand zum Objekt zu halten. Momentan interessiert hier nicht, welche Variante aus welchen Gründen besser funktioniert, das Beispiel soll lediglich veranschaulichen, dass eine eindeutige Aufforderung, ja sogar eine Verneinung (Bitte nicht betreten), auch ohne Codierung in Sprache vermittelbar ist. Zurück zu wissen mit kleingeschriebenem w: Verstehen und wissen sind Vorgänge, zu denen Menschen ihren ganzen Körper brauchen (und nicht nur ihr Gehirn) und zu denen sie auch ihre Umgebung benutzen. Für das Design ist es daher immens wichtig, sich mit Wissens- und Verhaltensformen auseinanderzusetzen und nicht nur mit Dingen und Oberflächen. Die Sichtweise, die diese Ausstellung erschließen soll, ist die der impliziten Vermittlung zwischen Menschen und Objekten. Implizit ist jenes Wissen, das nicht oder nur schwer artikulierbar ist, das sich in der Anwendung zeigt und in hohem Maße personen- und situationsbezogen ist.44 Es ist als latentes Wissen auch Voraussetzung für jedes Verstehen. Immer wenn ich etwas begreife oder verstehe, ist ein entscheidender Teil des Wissens, auf dem das Verstehen beruht, nicht bewusst und daher nicht artikulierbar.45 Ich behaupte, dass ich als Designerin nun genau in diesem impliziten Bereich tätig bin, Hinweise platzieren und Bedeutung beeinflussen kann. Daher versuche ich in der Absicht, den Arbeitsbereich auf diese impliziten Wissensformen abzuklopfen, in vorliegender Ausstellung diesen Nebel zwischen Wahrnehmen, vorbewusstem Wissen, Begreifen und Verstehen mithilfe der nächsten drei Exponate so gut wie möglich zu durchleuchten.

A  Abkürzung: Falls Sie sich fragen, was passieren könnte, sobald der/die Erste einen Schuhabdruck hinterlassen hat, empfehle ich Ihnen, auf Seite 162, bei „… und jetzt darf ich auch.“ weiterzulesen oder sich bis dorthin zu gedulden.

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1.2.2  Rules of Art – von explizitem und implizitem Wissen Es gibt Wissen in Texten, Wissen in Büchern, Wissen in Sprache. Das andere, uncodierte Extrem ist ein stummes Wissen, das sich erst in der Anwendung zeigt. Expertinnen und Experten in ihren jeweiligen Fachgebieten können wortlos wissend agieren. Wie aber kann sich das eine Wissen ins andere verwandeln? Denn aus dem Erfassen der Theorie muss nicht direkt ein Können folgen. Wie wird theoretisches Wissen zu anwendbarem Wissen? Es ist zu vermuten, dass sich Wissen und Können Stück für Stück entwickeln: Ich muss schon einiges an Vorwissen mitbringen, damit ich eine Bedienungsanleitung überhaupt verstehe.46 Um dem Verhältnis zwischen explizitem, von der Person unabhängig codiertem Wissen und implizitem, auf verschiedene Art und Weise verinnerlichtem Wissen zusammenschreiben, versuche ich, der Übersetzung des einen Wissens ins andere nachzugehen.

Lehren – extrahieren und integrieren helfen? Was ich als Expertin weiß, kann ich nicht automatisch auch so extrahieren, dass eine Anfängerin oder ein Anfänger mit meinen Informationen auch etwas anzufangen weiß, Lehren erfordert noch weitere Bemühungen, außer mir selbst meines Wissens bewusst zu werden. Ein Beispiel: Ich versuche eine Bedienungsanleitung für eine von mir gerne benutzte Software, zum Beispiel ein Bildbearbeitungsprogramm, zu verfassen. Schwierig – ich muss mich dazu in eine Person hineinversetzen, die nicht über mein Vorwissen verfügt, die noch nicht verstehen kann, was mir so selbstverständlich ist, dass ich nicht mehr darauf achte. Beim Verfassen von Bedienungsanleitungen tut man sich meist leichter, wenn man selbst das zu Beschreibende erst lernt, wenn das, was man sieht, noch nicht so bekannt ist; wenn man mit den Augen eines Neulings das dem Experten schon Vertraute sieht. Zwischen meinem gesamten Anwendungswissen als Expertin und dem verhältnismäßig kleineren Teil, den ich zu formulieren weiß, gibt es einen Abgrund oder zumindest eine Lücke. Diesen kleineren Teil meines Wissens, den ich mir selbst abzuringen und in Sprache zu verpacken imstande bin, nennt man explizites Wissen. Michael Polanyi warnt davor, den expliziten Teil des Wissens als den wichtigeren zu verstehen:47 Was kann man mit einer Liste von Handlungsabfolgen als Neuling in einem Gebiet oder in einer Firma schon anfangen? Den durch solches Aufschreiben des expliziten Teils einer Expertise entstandenen Text nennt Polanyi „Regeln der Kunst“. Diese lassen sich sehr wohl destillieren, meint er, man kann sie aus der Praxis extrahieren. Aber die Praxis wird durch diese Regeln nicht bestimmt. Sie können diese Praxis nicht per se anleiten, und schon gar nicht können diese Regeln das praktische Wissen ersetzen. Ohne Vorwissen sind die Regeln nicht

[EXPONAT 3]  1.2  WAS TUN WIR, WENN WIR ETWAS WISSEN?  057

­anwendbar, das heißt, praktisches Wissen muss schon aufgebaut sein, erst dann können die Regeln integriert werden und eine kunstvolle Praxis ausmachen.48 Ein praktisches und zugleich persönKristina Niedderer weist darauf hin, dass die liches Wissen – im Sinne von: an die eigene Wichtigkeit eines ergänzenden, impliziten WisPerson gebunden – ist also notwendig, um sens nach Polanyi bedeutsam ist und genauer mit explizitem Wissen überhaupt etwas anuntersucht werden müsse, da sie Übersetfangen zu können. Polanyi sieht diese Notzungsschwierigkeiten von der Theorie in die wendigkeit auch dort, wo es um das IntegriePraxis und auch umgekehrt zu erklären hilft: ren neuen Wissens geht: Wenn man einem ‘Rules of art’ in this context refers to subject Neuling etwas zeigen oder erklären will, ist specific knowledge expressed in form of theoman darauf angewiesen, dass er oder sie ries (maxims). Polanyi indicates that, while ebendiese Lücke, die zwischen dem Sach­useful, there is another kind of practical or verhalt und dem Verstehen des Sachver­person­al knowledge that is necessary to comhalts klafft, zu schließen vermag. Ich zeige plement this theoretical knowledge in order to mit ausgestrecktem Arm in den Himmel und make it applicable. However, what exactly this nenne ein Wort. Was genau ist gemeint? Die knowledge is and how it can be included in reFarbe, eine Wolke, ein Vogel? Das Konzept search has remained elusive. This has created Fliegen? Das Wort für oben? problems with the inclusion of practical knowlWas hat es mit dieser Lücke51 auf sich, edge in research and in turn with the applicabildie sich anscheinend an beiden Übersetity of research findings within practice.49 zungswegen zwischen Implizitem und Explizitem auftut? So nützlich die explizierten Regeln oder Maximen sein mögen, sie bedürfen der Ergänzung des praktischen persönlichen Wissens, um anwendbar zu werden. Wie dieses Wissen genau aussieht, das hier notwendig ist, bleibt zwar noch zu erklären, aber allein schon das Bewusstsein darüber, dass explizites Wissen immer ergänzt wird von einer persönlichen, impliziten Komponente, ist wichEin solches Benennen-durch-Zeigen heißt tig. Diese Lücken zu untersuchen bedeutet, „deiktische Definition“, und dieser philosophian der Problematik zu arbeiten, wie sogesche Terminus verdeckt eine Lücke, die von nanntes Praxiswissen besser für Forschung ­einer Intelligenzleistung derjenigen Person und Wissenschaft zugänglich gemacht werüberbrückt werden muß, der wir sagen wollen, den kann. Andererseits erhellt das Bewusstwas das Wort bedeutet. In unserer Botschaft sein über diese Lücken, warum Forschungslag ­etwas, das wir nicht in Worte zu fassen wußergebnisse, so praxisgebunden sie auch ten, und beim Empfang muß man sich darauf anmuten mögen, nicht automatisch und verlassen, daß die angesprochene Person herselbstverständlich in die Praxis eines Feldes ausfinden wird, was wir ihr nicht vermitteln integrierbar sind. konnten.50 Es ist mir wichtig, anzumerken, dass dieses Problem mit den „Regeln der Kunst“ nicht nur in der Designforschung auftritt. Jedes Experimentieren oder Beobachten beruht auf persönlichem und praktischem Wissen und hat daher eine persönliche Komponente: Ich kann nur bemerken, was mir auffällt. Der Prozess der Verschrift-

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Bild 10: Magnet und Eisenstaub

lichung, des Beschreibens, Legitimierens und In-Kontext-Setzens52 des Herausgefundenen (also vieles von dem, was wissenschaftliches Wissen ausmacht) kommt ja erst nach der Beobachtung, ist unbedingt Wie werden Daten, personenunabhängige In­ ein eigener Prozess und nicht automatisch formationen zu Wissen? Ein Gedanke hierzu mit der Forschung gleichzusetzen.53A ­bildlich dargestellt: Ein Magnet interagiert mit Eisenstaub durch eine Glasscheibe hindurch. Die Späne stellen hier Daten, Informationen dar, für alle gleich, unabhängig von der Person, die sie betrachtet. Erst wenn der Magnet ins Spiel kommt, entsteht durch die Orientierung und ­Anbindung der Späne an den Magneten eine bestimmte Gestalt,A so wie erst durch die Anbindung der Information an eine Person aus dieser Information durch Verstehen Wissen wird. Dieses Anbinden ist eine Tätigkeit, es geht dabei ums Verknüpfen, Angliedern, Festhalten. Dieses aktive Einbinden von Informationen könnte man Verstehen bzw. Wissen nennen – so kann in ­diesem Sinne analog zum englischen knowing Wissen als Tätigkeit verstanden werden.

Was bedeutet also explizit?

Ich rufe das Exponat der buchstabenleeren Tastatur in Erinnerung: Explizit ist hier, dass es eine korrekte Anordnung der Buchstaben gibt und wie diese aussieht. Wie aber diese Ordnung von den Befragten hergestellt wird und welches Wissen dabei zu Hilfe genommen wird – ein Erinnern, wie die vertraute Tastatur aussieht, oder im Geiste bestimmte Worte zu tippen, um sich anhand der Bewegungsabfolge zu orientieren –, dafür gibt es mehrere mögliche Lösungswege. Die buchstabenleere Tastatur ist also nur ein anschauliches Beispiel dafür, wie jede einzelne Person ständig in verschiedenste Arten von Wissen und Handeln verstrickt ist. Virtuos und meist unbewusst jonglieren wir mit verschiedenen Arten von ­Wissen (und verschiedenen Arten, auf dieses Wissen zuzugreifen), je nachdem, was wir gerade brauchen. A  Abkürzung: Hier wird das Wort nur figurativ verwendet, Näheres zum Thema „Gestalt“ ab Seite 086.

[EXPONAT 3]  1.2  WAS TUN WIR, WENN WIR ETWAS WISSEN?  059

Alles, was wir intuitiv wie automatisch können oder erledigen, ohne bewusst darüber nachzudenken, fällt in den Bereich impliziten Wissens.54 Auch wenn ich manches ja explizit gelernt habe, habe ich diese Dinge so verinnerlicht, dass sie sich nun meinem bewussten Zugriff wieder entziehen. Doch wie kann etwas, das ich nicht artikulieren kann, überhaupt Wissen sein? Georg Neuweg argumentiert, dass sich das unaussprechbare Wissen in der Ausführung zeige, es ist diagnostizierbar, lern- und umlernbar, es kann an einer subjektunabhängigen Wirklichkeit scheitern oder sich bewähren und es ist in der Regel sozial vermittelt und geht eindeutig über bloß individuelles Meinen und individuelle Intuition hinaus.55 Im Grunde genommen meint also explizites Wissen jenes Wissen, auf das wir bewusst Zugriff haben, das wir in Worten formulieren können und das über Sprache und Schrift konservierbar und weitergebbar ist. Man könnte auch sagen: Explizit ist alles, was uns nicht zutiefst selbstverständlich ist. Wie kann nun etwas, das uns selbstverständlich ist, explizit werden? Ein Beispiel: Kaum etwas ist uns selbstverständlicher als die Luft, die wir atmen. Bruno Latour beschreibt in Air 56 eine eindrucksWe feel not something, but the absence of volle Explizitwerdung der Luft. Schon lange something we did not know before could possiwusste man vom Element Luft, auch das Vably be lacking. […] Air has entered the list of kuum war längst bekannt, als Soldaten zum what could be withdrawn from us. In the terms ersten Mal Gasmasken verwendeten. Luft of the great German thinker Peter Sloterdijk, air wurde durch die Erfahrung, dass sie einem has been made explicit; air has been reconfiggeraubt werden konnte, auf neue, eindringured; it is now part of an air-conditioning sysliche Weise explizit und konnte als Kriegstem that makes our life possible. […] Is not air schauplatz rekonfiguriert werden. one of the four elements? Everyone knew that Explizit wird, was aus dem Sumpf des air was one of the conditions of (aerobic) life. definitiv-selbstverständlichen Wissens aufYet this knowledge was not explicit in the sense taucht, dieses Explizit-Werden kann auch Sloterdijk wishes to elaborate. Air was not felt, (wie hier beschrieben) plötzlich und gewaltit was not experienced, no laboratory scientist sam vonstattengehen. Peter Sloterdijk zieht was able to place his laboratory in between ordiese eben angedeutete Parallele zwischen dinary living creatures and air itself.57 der Bewusstwerdung und dem Beherrschbar-Machen von Dingen, die bisher im Unbewusst-Selbstverständlichen der Menschen nicht greifbar waren.A Als Beispiel zieht er ein Konzeptpapier des Department of Defense (vom 17. Juni 1996) heran, in dem die Bedingungen für die Herrschaft über das Wetter bis 2025 skizziert werden. Er folgert: Der Luftraum ist als Kampfraum ins Bewusstsein gelangt und kann nun beherrschbar gemacht werden.58

A  Das wird relevant, wenn man der Bedeutung von „verstehen“ auf die Spur kommen möchte: Abkürzung zu Kapitel 1.4.1 „Was bedeutet verstehen?“, Seite 078.

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Plicare Vielleicht kann die Wortherkunft noch mehr Licht in diesen Zusammenhang bringen: Das lateinische plicare bedeutet so viel wie wickeln, falten, legen. Mit der Vorsilbe ex- die in diesem Fall der deutschen Vorsilbe ent- ähnelt, offenbart sich das auseinander, das Öffnende in einem Explizieren der Gedanken, wörtlich übertragen als auseinanderfalten oder darlegen verstehbar. Wenn ich expliziere, erkläre, darlege, breite ich meine Gedanken aus wie ein Tuch, das ich auseinanderfalte, oder wie ein Papier, das ich zur Begutachtung durch andere ausbreite und entfalte. Im Gegensatz dazu implicare: Die Vorsilbe „im-“ deutet hinein ins Innere. Eingewickelt in eine Frage wie „Weißt du, wie spät es ist?“, impliziere ich die Bitte, mir auch mitzuteilen, wie spät es ist. Die Welt der Sprache und der Gesten ist genauso voller Mehrdeutigkeiten wie die Welt der Dinge. Eine Uhr ist niemals nur ein Instrument zur Anzeige der Zeit (watches tell more than time59), denn wenn ich beobachte, dass mein Gegenüber auf die Frage hin eine silberne Taschenuhr hervorholt, um die Uhrzeit herauszufinden, entsteht für mich ein ganz anderes Bild als der Blick aufs Handgelenk oder ein Blick aufs Handy. Implizieren als Aktivform kann im Wortsinne also bedeuten, einen Gedanken in einen anderen einzuwickeln, eine Geste mit einer anderen zu unterlegen, eine Aufforderung in ein Ding und seine Benutzung hineinzugestalten. Das Partizip impliziert – eingewickelt – schließlich deutet an, dass alles Wissen, alle Gedanken und Symbole in etwas eingewickelt, eingelegt sind. Sie sind in einen größeren Stoff und Zusammenhang hineingefaltet. In Johann Baptist Mayers Synonymwörterbuch60 wird ein möglicher Zusammenhang mit dem Wort pflücken erwogen. Die Bewegung des Faltens oder Flechtens wird als eine ähnlich achtsame gedeutet wie die vorsichtig biegende Bewegung, die für das Pflücken einer Frucht oder einer Blume notwendig ist. Dieses Pflücken steht im Gegensatz zum weitaus gröberen Rupfen. Ich finde diese Behutsamkeit, die prinzipiell in diesem Wortstamm stecken könnte, wegweisend. Sie entspricht auch einer zuvor erläuterten notwendigen Vorsicht beim Versuch, klare Trennungen zwischen explizit und implizit vornehmen zu wollen.

1.2.3  Implizites Wissen Wie lässt sich nun das andere, das nicht explizite Wissen beschreiben? Ist es tatsächlich, wie Polanyi postuliert, die Basis alles Wissens, aus dem das Explizite herauszupflücken nur manchmal gelingt? Alles, was uns so selbstverständlich (geworden) ist, dass es sich unserem bewussten Zugriff entzieht? Wenn man einmal den Geruch einer Gewürznelke von dem von Zimt unterscheiden kann, dann hat man unbestreitbar ein Unterscheidungswissen erlangt, sodass es immer wieder

[EXPONAT 3]  1.2  WAS TUN WIR, WENN WIR ETWAS WISSEN?  061

gelingen wird, die beiden Düfte auseinanderzuhalten. Soll man aber einer anderen Person erklären, wie sie vor ihrem ersten Versuch die beiden unterscheiden kann, wird man vermutlich scheitern. Beim It can be made explicit, or more precisely, it can Benennen durch Zeigen bleibt (wie gesagt) be made less tacit, but such acts of explicitaimmer eine Lücke, bei der man sich darauf tion demand more creativity than mere translaverlassen muss, dass die andere Person dietion; a poetics is demanded to overcome some selbe zu schließen vermag. Dieses wichtige inherent resistances. Stück des Verstehens kann man nicht für die What resistances then? It is important I think andere Person gehen.A not to conflate the many ways in which the Es gibt also Widerstände, wenn man knowing involved in an expert act like making versucht, implizites Wissen sprachlich zu exare difficult to articulate. Whilst they are replizieren, daher rührt auch die Bezeichnung lated, they are nonetheless distinct instances tacit knowledge, wobei tacit für schweigend, of tacitness.61 stumm steht – also stummes Wissen. Cameron Tonkinwise weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass es nicht nur Kreativität erfordert, das implizite, stumme Wissen eines Experten zu explizieren, nein, es brauche poetisches Geschick. Die Widerstände beim Explizieren sind aber nicht nur der Schweigsamkeit der Wissensform geschuldet, sondern auch der Vielfalt der Phänomene, die unter dem einen Begriff implizites Wissen versammelt werden.

Verschiedene Arten des impliziten Wissens Das implizite Wissen lässt sich also nicht leicht definieren, auch dann nicht, wenn man ihm das explizite Wissen gegenüberstellt. Lässt sich vielleicht durch eine Auflistung verschiedener Definitionen impliziter Wissensformen Klarheit gewinnen? Viele einander ähnliche, doch unterscheidungswürdige Wissensarten werden mit dem Etikett „implizites Wissen“ versehen. Ich habe bisher keine vollständige Liste gefunden und aus diesem Grund greife ich auf jene von Katenkamp62 (siehe Tabelle) zurück – auch sie ist sicherlich nicht vollständig, bietet aber einen Überblick über die entsprechenden Konzepte, wie sie vor allem im organisationalen Wissensmanagement von Bedeutung sind.63 Tacit knowledge benennt auch in dieser Tabelle verschiedenste Wissensformen, die man sich aneignet und über Sprache weitergeben kann. Stille Expertisen wie zum Beispiel ärztliches Diagnosewissen oder Kunstkennerschaft fallen unter diesen Begriff ebenso wie knowing in action, Handlungswissen, verinnerlichte Spielregeln und prozedurales verkörperlichtes Wissen, wie es sich zum Beispiel beim ­Autofahren oder Radfahren zeigt. Doch diese Sammlung von K ­ atenkamp macht ­weder ersichtlich, wie einfach oder schwierig die Übersetzungsprozesse von impliA Abkürzung; hier dazu mehr: „Was bedeutet verstehen?“, Seite 078.

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Wissensart

Beschreibung

Autoren (Auswahl)

Tacit

Verborgenes Wissen: „Wir wissen mehr, als wir zu sagen wissen.“

Polanyi (1985)

Embodied

Verinnerlichtes Wissen: Wissen, das durch praktische Erfahrung und Anwendung entsteht

Blackler (1995), Nonaka/ Takeuchi (1997), Lam (2000)

Encoded

Codiertes Wissen: Wissen, das explizit vor­handen ist, wenn Mitarbeiter das Unternehmen ­verlassen (z. B. Datenbanken, Verfahrensregeln)

Blackler (1995)

Embrained

Konzeptionelles Wissen: Wissen ist von kognitiven Fähigkeiten abhängig, übergeordnete Muster zu ­erkennen und zu abstrahieren.

Fiol/Lyles (1985)

Embedded

Sozial konstruiertes Wissen: Betonung des Prozesses der Konstruktion von Wissen. Wissen ist in verschiedenen Kontextfaktoren eingebettet und nicht objektiv vorgegeben.

Brown/Duguid (1991), von Krogh (1995)

Encultured

Kulturelles Wissen: Wissen, das von den Organisationsmitgliedern geteilt wird und durch Prozesse der Sozialisierung übertragen wird

Sackmann (1991), Kogut/Zander (1992)

Event

Ereigniswissen: Wissen über Ereignisse und Trends innerhalb und außerhalb von der Organisation, z. B. Wissen über Käuferverhalten

Volberda et al. (2006)

Procedural

Prozesswissen: Es enthält Wissen über Abläufe und Zusammenhänge, z. B. Wissen über einen Produktions­prozess.

Fischer (2008)

Quellen: in Anlehnung an von Krogh/Venzin (1995: 421), Lam (2000: 491) Tab. 1: Wissensarten im Wissensmanagement

zit nach explizit sind, noch, ob es sich überhaupt um prinzipiell explizierbares Wissen handelt oder nicht. Außerdem unterscheidet diese Auflistung nicht, ob Wissen explizit oder implizit angeeignet wurde. Eine in dieser Hinsicht schlüssige Begriffsfassung finde ich bei Georg Neuweg, auf seiner Arbeit (Kapitel 1.2) basiert die zweite Tabelle. Beim impliziten Wissen ist vor allem zu unterscheiden zwischen internalisierten Fähigkeiten und Regelwerken einerseits und andrerseits dem Phänomen, dem Polanyi als theory of non explicit thought auf der Spur war. Es gibt Wissen, das verbalisiert werden kann, und Wissen, das sich jedem Explizierungsversuch entzieht. Genau so zeigt sich auch das Verhältnis von explizit zu implizit: Es handelt sich weniger um prinzipielle Gegenstücke, vielmehr meint implizit (nach Polanyi) vor allem das Gegenteil von artikulierbar.64 Wie schon im Foyer erwähnt, halte ich es für Gestaltende der verschiedensten Subdisziplinen für wichtig zu verstehen, auf welch vielschichtige Weise Körper und Umwelt miteinander verstrickt sind. Wenn ich die Menschen, für die ich gestalte, als Wesen denke, die unterschiedlichste Wissensformen kunstfertig ­anzuwenden imstande sind – dann kann ich nach Wegen suchen, die Objekte

[EXPONAT 3]  1.2  WAS TUN WIR, WENN WIR ETWAS WISSEN?  063

Tacit knowing Unbewusste Verhaltenssteuerung, Intuition „Prozedurales Wissen“, knowing in action: „Unser Wissen ist gewöhnlich stillschweigend, implizit in ­unseren Handlungsmustern und in unserem Gefühl für das Material, mit dem wir es zu tun haben, ­enthalten. Es scheint angemessen zu sagen, dass unser Wissen in unserem Handeln liegt.“65 Implizites Gedächtnis Erlernte Annahmen oder Inhalte, die nicht bewusst erinnert werden können Tacit knowledge Implizites Begriffswissen: das Vermögen, Objekte, Ereignisse und Situationen als gleichwertig zu ­erkennen.

Explizites Gegenstück: ausdrückliches Wissen um identifizierende Merkmale im Kategorisierungsprozess

Implizites Erwartungswissen: Wissen darüber, welche Ereignisse üblicherweise aufeinanderfolgen

Explizites Gegenstück: Wenn-dann-Sätze bzw. ­bewusstes Erwägen solcher Sätze

Implizites Handlungswissen: Wissen darüber, wie man eine Tätigkeit ausführt oder welche Handlungen unter welchen situativen Bedingungen angemessen sind.

Explizites Gegenstück: Verfahrensbeschreibungen, Ziele und Regeln in Form von Situations-­ Aktions-Zuordnungen.

Implizites Wissen wird als Basis der Kognition angesetzt, auf die bei Bedarf reflektiert, die bei Bedarf partiell expliziert und die bei Bedarf bewusst korrigiert werden kann. Nichtverbalisierbarkeit Die vielleicht häufigste Begriffsfassung von implizitem Wissen geht davon aus, dass der Könner nicht nur mehr weiß, als er im Tun erinnert, sondern dass er auch mehr weiß, als er überhaupt berichten könnte. Implizites Wissen heißt, dass wir mehr wissen, als wir zu sagen wissen.66 Erfahrungsgebundenheit Einverleibtes, integriertes Wissen. Wissen, das durch Übung und persönliche Erfahrung erworben wird, es liegt sowohl im Tun als auch im Urteilen-Können. Neuweg nennt vier Typen von Relationen zwischen Lernmodus (IL = impl. Lernen, EL = expl. Lernen) und Lernergebnis (IW = impl. Wissen, EIW = expl. und impl. Wissen) IL–IW: Das können als Ergebnis impliziten Lernens, bei dem kein Wert auf den Erwerb von Regelwissen gelegt wurde.

Beispiele: klassische Konditionierung; die Art und Weise, wie die meisten von uns das Radfahren erlernt haben; Erwerb der Muttersprache; Erwerb der Fähigkeit, die Stimmung von einem menschlichen Gesicht ablesen zu können; Sozialisierung in einer Firmenkultur …

EL–IW: Umfasst Können, das wir über sprachlich gefasste Regelsysteme erlernt haben, die uns heute nicht mehr explizit zugänglich sind; Wissen ist „prozeduralisiert“.

Beispiel: das einer motorischen Fertigkeit zugrunde liegende Wissen, das uns früher explizit gelehrt wurde, inzwischen aber internalisiert ist, wie etwa beim Autofahren

IL–EIW: ein Können, das wir ohne verbale Instruktion erlernt haben, aber im Nachhinein zu verbalisieren lernen.

Beispiel: wenn jemand im Probierverfahren lernt, eine Krawatte zu binden, und später versucht, es jemand anderem beizubringen

EL–EIW: explizit erlernte Regelsysteme, die dem Subjekt sowohl deklarativ als auch prozedural zugänglich sind

Beispiel: Jemand, der Schach spielen gelernt hat, hat es nach expliziten Regeln gelernt, seine Fähigkeit zeigt sich aber auch im Können.

Tab. 2: Arten des impliziten Wissens67

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­ nknüpfungen zu eben diesem Wissen anbieten zu lassen. Als Gestalterin kann A ich umso besser die Dinge strukturierend in Handlungen einbetten, je geschickter ich auf das Repertoire meiner ZielgruppeA eingehen kann. Wenn ich dabei weiß, welches Wissen ich jeweils voraussetzen kann, dann weiß ich, wie ich kommunizieren muss, damit ich verstanden werde. Mithilfe des nachfolgenden Exponats soll erörtert werden, auf welche Arten Dinge als handlungsstrukturierend zu verstehen sind. Zuvor jedoch ist noch wichtig zu klären, wie Polanyi die beiden Modi des impliziten Wissens gedacht hat, um verstehen zu können, auf welchen Modus ich mich bei der Gestaltung in welcher Form konzentrieren muss. Diese zwei Modi unterscheiden sich dadurch, dass der eine fokal bewusst ist (focal awareness), während der andere dem bewussten Denken nicht zur selben Zeit zugänglich sein kann (subsidiary awareness). Die Bedeutung dieser Unterscheidung wird im Weiteren noch genauer betrachtet.

Die Struktur impliziten Wissens Michael Polanyi legte in Vorlesungen in Yale in den frühen 1960er Jahren den Grundstein für ein Verständnis von implizitem Wissen, das seither weite Verbreitung gefunden hat. Er versuchte Phänomene wie zum Beispiel Diagnosewissen von Ärzten oder andere Expertisen zu erklären. Seine Suche, so schreibt er, führt ihn „zu einer neuen Vorstellung vom menschlichen Wissen“, er nimmt dabei das menschliche Erkennen als Ausgangspunkt. Er betrachtet den Erkenntnisprozess ausgehend von der Tatsache, „dass wir mehr wissen, als wir zu sagen wissen“.68 Er räumt ein, dass dies zwar eine ziemlich augenscheinliche Tatsache sei, doch ist es gar nicht einfach zu belegen, was genau damit gemeint ist. Als Ausgangsbeispiel dient ihm das Erkennen eines bekannten Gesichtes. Wenn wir eine uns bekannte Person erkennen, dann können wir meist nicht angeben, woran genau wir die jeweilige Person erkannt haben. Es gibt also einen Teil unseres Wissens, der uns zu weiteren Erkenntnissen verhilft, auf den wir aber bewusst keinen Zugriff haben. Man mag nun einwenden, dass es doch Phantomzeichnungen und Karteien mit Einzelmerkmalen gäbe, anhand derer man ein bekanntes oder gesuchtes Gesicht zusammenstellen könne. Das verschiebt aber das Problem nur weiter, anstatt es zu lösen: Denn auch die Einzelmerkmale müssen wir wieder „erkennen“ wie vorhin das bekannte Gesicht. Das heißt, wir müssen uns auf das Erkennen und Bekanntsein verlassen (in der Übersetzung von Heinz Brühman, 1985, wird das Wort „Gewahrwerden“ verwendet69), und damit liegen auch diesem bewussten Erkennen wieder implizite Einzelteile zugrunde, die uns nicht bewusst sind.

A  Abkürzung zu Überlegungen zum Begriff der Zielgruppe, Seite 265.

[EXPONAT 3]  1.2  WAS TUN WIR, WENN WIR ETWAS WISSEN?  065

Bild 11: Erkennen: Beispiel zur Struktur impliziten Wissens nach M. Polanyi

Polanyi zerlegt nun dieses Phänomen in zwei Teile, um damit weiter argumentieren zu können: Er benennt einen proximalen Term impliziten Wissens und einen distalen Term impliziten Wissens. Diese beiden Bezeichnungen deuten, wie die Verwendung der Begriffe distal und proximal in der Medizin belegt, auf einen Körperbezug hin. Proximal (von lat. proximus: sehr nahe) entspricht dem Wissen, das dem Körper sehr nahe ist, distal (von lat. distare: getrennt, entfernt sein) ist der weiter vom Körper entfernte Teil des Wissens; auf die Bedeutung dieser Entfernungen komme ich in den nächsten Beispielen noch zurück. Wie oben im Beispiel der Gesichtserkennung beschrieben, ist der distale Term dasjenige, was wir aufgrund der Einzelmerkmale erkennen („Das ist Ella“). Der distale Term ist der Teil des Wissens und Erkennens, der bewusst wird und somit auch angebbar ist. Anders der proximale Term des Wissens/Erkennens. Hierbei handelt es sich um die Einzelteile, die einzelnen Merkmale, die entscheidend dafür sind, dass wir das spezifische Gesicht erkennen, jedoch sind wir uns dieser Einzelteile nicht bewusst, so sind sie auch nicht angebbar/benennbar. Sie bleiben implizit. Es zeigt sich nun das angekündigte Paradoxon: Wir kennen eindeutig den proximalen Term, denn wir sind ja fähig, ein Gesicht zu erkennen (eine Krankheit zu diagnostizieren, ein beliebiges Spezifikum zu erkennen), aber nur insofern, als wir uns auf das Gewahrwerden70 von Einzelheiten – die wir bewusst anzugeben nicht in der Lage sind  – verlassen. Wir sind also nicht in der Lage, exakt anzugeben, warum wir etwas wissen, was wir definitv wissen. Es gibt also einen Teil der Aufmerksamkeit, der sich mit der Konstruktion von Bedeutung befasst, und einen Teil, der sich mit der Entschlüsselung befasst.

066  RAUM [1] – ­D ESIGN UND ­I MPLIZITES ­W ISSEN 

Der Teil, der mir meine Umgebung entschlüsseln hilft, also der Werkzeug-Teil, ist der mir nähere, proximale, verinnerlichte Teil, während der ergänzende, entferntere, distale Teil mich eine Bedeutung konstruieren lässt. Polanyi bringt das Beispiel eines Briefes, dessen Inhalt er zwar erDiese Struktur macht deutlich, daß jeder unseinnern kann, nicht aber die Sprache, in der rer Gedanken Komponenten umfaßt, die wir nur er verfasst war. mittelbar, nebenbei, unterhalb unseres eigentDas Transparentwerden des Textes, um lichen Denkinhalts registrieren – und daß alles seine Bedeutung zu verstehen, betont noch Denken aus dieser Unterlage, die gleichsam ein einmal die beiden unterschiedlichen Rollen Teil unseres Körpers ist, hervorgeht.71 der Terme in unserer Aufmerksamkeit: Der proximale Term, die Unterlage für bewusstes Erkennen, ist nur subsidiär in unserer Aufmerksamkeit vorhanden, die Bedeutung, der distale Term, ist im Fokus des Bewusstseins. Fokalbewusstsein (focal awareness) und subsidiäres Bewusstsein (subsidiary awareness) schließen einander aus. Im Beispiel des Textes ist die Bedeu … we are free to distinguish also between tung des Textes im Fokalbewusstsein. Die ­hearing a message and knowing what conveys einzelnen Worte, ja sogar die Sprache,73 in it to us. […] having just read a letter, I no longer der der Text verfasst ist, können in den Hinknew in what language it was written, though I tergrund treten. knew its contents precisely. […] While I read the Für Designerinnen und Designer ist letter, I was consciously aware both of its text nun unentbehrlich zu wissen, dass diese Unand of the meaning of the text, but my awareterlage etwas ist, was wir mitgestalten. Als ness of the text was merely instrumental to that Nächstes soll nun untersucht werden, wie of the meaning, so that the text was transparein Ding oder ein System zum proximalen ent in respect to its meaning.72 Term impliziten Wissens, „gleichsam Teil unseres Körpers“, werden kann.

[EXPONAT 3]  1.2  WAS TUN WIR, WENN WIR ETWAS WISSEN?  067

[RAUM 1] – [EXPONAT 4]  1.3  WERKZEUGE – YOU ARE WHAT YOU USE

Exponat 4: Werkzeug Bleistift

Bleistift, Papier und To-do-Liste. Drei verschiedene Arten von Werkzeugen. Im Bild oben ein Bleistift: Er dient als Werkzeug, um Ideen auf dem Papier festzuhalten. Er ist nicht nur beim Festhalten von Gedanken auf Papier nützlich, sondern auch, um auf dem Papier diese Ge­ danken weiterzuentwickeln.

Wie eng ist der Zusammenhang zwischen meinem Tun, meinem Benutzen und meinem Sein? Was wäre ich ohne meine wichtigsten Werkzeuge? Ohne Bleistift und Papier bin ich praktisch nie anzutreffen. Immer möchte ich eine Notizmöglichkeit parat haben, um Gedanken und Skizzen festzuhalten. Wartezeiten überbrücke ich am liebsten, indem ich an begonnenen Zeichnungen weiterarbeite oder bereits Notiertes weiterentwickle. To-do-Listen ermöglichen mir, die vielen großen und kleinen Erledigungen, die sich in meiner durchschnittlichen Woche ansammeln, gewissenhaft zu erledigen. Die Liste hilft mir, die Erledigungen in meinen Zeitplan einzuordnen, und sie entlastet mich, wenn sich ein freier Tag nähert und ich sichergehen kann, dass für die freie Zeit nichts Wichtiges oder Dringendes anliegt. Auf der To-do-Liste gespeichert können die Punkte bis zum nächsten Arbeitstag warten.

068  RAUM [1] – ­D ESIGN UND ­I MPLIZITES ­W ISSEN 

Welche meiner Werkzeuge – ob nun gegenständlich wie der Bleistift und das Papier oder nicht gegenständlich wie die Liste – könnte man mir nehmen und ich könnte trotzdem noch meinen Alltag bewältigen? Das Fehlen welcher Werkzeuge wäre fatal und würde mich quasi (über-)lebensunfähig machen? Wie würde ich mich ohne meinen Kalender fühlen? Ohne mein Smartphone, das mich an wichtige Termine erinnert, alle meine Kontakte gespeichert hat und mich nahezu immer erreichbar macht, kann ich nicht einmal meine besten Freunde, geschweige denn meine Arbeitskontakte anrufen. Vergesse ich mein Handy zuhause, ist das Gelingen des Tages gefährdet. Ich als ich selbst, meiner wichtigsten Werkzeuge entledigt, wäre in meiner momentanen Lebenswelt schwer beeinträchtigt. Das, was mich in meiner Interaktionsfähigkeit ausmacht, in meiner Arbeit, in meinem sozialen Umfeld, lässt sich nicht auf meinen Körper ­ reduzieren …

Wegbeschreibung – der Pfad von diesem Exponat zum nächsten führt über: 1.3.1 Was ist ein Werkzeug – Physische und geistige Grenzen erweitern  ≥  1.3.2 Werk­zeuge in der Struktur impliziten Wissens – Integrieren von Werkzeugen  ≥  1.3.3 Design ist ­Machen ist ­Den­ken – Geschichtlich neue Trennung von Kopf und Hand wieder über­winden  ≥  1.3.4 Vom Zeichnen und Entwerfen – Das Denken auf das ­Papier hin erweitern

1.3.1  Was ist ein Werkzeug? Der Mensch kann so wie die Spinne in ihrem Netz nach Otl Aicher als Zentrum eines Systems gesehen werden, das aus Mensch plus Werkzeug besteht. Mithilfe von Werkzeugen überwinden Menschen eine spinne ist nicht nur eine spinne, zu ihr ihre körperlich-physischen oder auch men­gehört auch ihr netz. ohne netz würde sie vertalen Grenzen. So gesehen ist ein Werkzeug hungern. was ist dann eine spinne? ist sie ein ein Gegenstand oder ein Regelwerk, das uns lebewesen oder ein lebewesen plus fangzeug? dazu dient, unsere physischen und psychiist sie singulär oder nur das zentrum eines sysschen Kapazitäten zu erweitern. Was bei der tems, das erst als ganzes lebensfähig ist?74 Verwendung von Werkzeug erweitert wird, ist jedoch weit mehr als der Körper, zum Beispiel Reichweite oder Kraft des physischen Körpers. Das eigene Selbst kann über ein ausgelagertes Gedächtnis verfügen sowie über virtuelle Welten und durch übermenschliche Sinneseindrücke (Radar, Röntgen, Infrarotkamera …) erwei­ lanen tert ­werden. Als erweitertes Selbst kann das gesamte alltägliche Tun und P

[EXPONAT 4]  1.3  WERKZEUGE – YOU ARE WHAT YOU USE  069

­betrachtet werden, denn es findet nicht mehr ohne Werkzeugunterstützung in Form von Mobiltelefonen, Kalendern, Planern, Lexika etc. statt. Cameron Tonkinwise spricht an, dass wir Cameron Tonkinwise relativiert: uns in unserer Wahrnehmung über die Welt Again, it is clear that practitioners do not have gewiss werden – dabei spielt es keine Rolle, enlarged bodies or that they are in-dwelling ob die Sinneseindrücke direkt stattfinden their prosthetic tools. Nevertheless, anyone oder von einem Werkzeug übermittelt sind. who has used a back scratcher or stirred a Ein Ertasten zum Beispiel kann auch über wooden spoon in sauce that is starting to stick ein Werkzeug vermittelt stattfinden. Dieses to the surface of a pot recognises that this Phänomen lässt sich mithilfe der Struktur ­perceptual ‘as-if’ is intuitively correct, that impliziten Wissens erklären. we can come to empirically know things about the world through the devices we use, and that those feelings are no less certain for their seeming occurrence at the end of a tool.75

1.3.2  Werkzeuge in der Struktur ­impliziten Wissens

Sobald ich einen Löffel in die Hand nehme, spüre ich den Widerstand, vielleicht die Kälte in meiner Hand noch deutlich. Sobald ich ihn aber dazu benutze, die Konsistenz einer Speise im Topf zu beurteilen, oder am Boden des Topfes bemerke, dass sich Angebranntes gesammelt hat, nehme ich den Widerstand quasi an der Spitze des Löffels wahr. Polanyi erklärt, dass durch den Gebrauch von Werkzeugen die Trennung der beiden Terme impliziten Wissens noch deutlicher wird: Das Verinnerlichen von Werkzeugen76 meint das InSuch technologies will be less like tools and tegrieren eines Werkzeugs in meinen Wahrmore like part of the mental apparatus of the nehmungsapparat. Der proximale Term ist person. They will remain tools only in the thin alles, was mir durch den Gebrauch des geand ultimately paradoxical sense in which my nannten Löffels zugänglich wird. Dies umown unconsciously operating neural structures fasst nun den Körper und das Werkzeug, und (my hippocampus, my posterior parietal cortex) von diesem proximalen Term aus erschließt are tools. I do not really ‘use’ my brain. […] sich der distale Term, die Bedeutung meiner Rather, the operation of the brain makes me Empfindungen: Sie zeigt sich an der Spitze who and what I am. So too with these new des Löffels. So wird „… die Trennung zwiwaves of sensitive, interactive technologies. schen einer Bedeutung (distaler Term) und As our worlds become smarter and get to know dem, was diese Bedeutung hat (proximaler us better and better, it becomes harder and Term)“77 noch deutlicher. harder to say where the world stops and the Ein Werkzeug kann nun vielerlei Geperson begins.78 stalt haben, nicht nur Sonden, Hammer oder Löffel sind integrierbare Werkzeuge, auch Brillen, Hörgeräte oder externe Sensoren können als proximale Terme in die „vonzu-Struktur“ impliziten Wissens integriert werden. Andy Clark sieht die Grenzen zwischen Werkzeug und den Benutzenden verschwimmen, vor allem bei neuen,

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Bild 12: Illustration eines Beispiels für Werkzeugintegration aus The Tacit ­Dimension

interaktiven Werkzeugen, die auf uns reagieren, gerade so, wie wir auf sie reagieren. In der Umgebung von Smartphones, lernfähigen Anwendungen und (beinahe) intelligenten Haushaltsgeräten vernetzen wir uns unweigerlich immer mehr mit unseren Geräten. Wenn diese Verstrickung mit den Werkzeugen den Menschen ausmacht, ist es in diesem Sinne auch schwierig zu bestimmen, was die Grenze des Menschen zu seiner Umgebung ausmacht. Was bedeutet das für Designerinnen und Designer, die Werkzeuge gestalten? Das Selbst, von dem aus (als proximaler Term – im Bild die Berührungsfläche zwischen Hand When we use a hammer to drive in a nail, we atund Löffel, wo die eigentlichen Nervenreize tend to both nail and hammer, but in a different passieren) die Bedeutungen (distale Terme – way. We watch the effect of our strokes on the Konsistenz der Suppe) wahrgenommen wernail and try to wield the hammer so as to hit the den, dehnt sich auf die Werkzeuge, die ich nail most effectively. When we bring down the benutze, aus.79 You are what you use – meine hammer we do not feel that its handle has struck Werkzeuge werden ein Teil meines Selbst. our palm but that its head has struck the nail. Wichtig für das Design ist, dass bei dieser In[…] I have a subsidiary awareness of the feeling tegration die Werkzeuge für mein Bewusstof the palm of my hand which is merged into my sein verschwinden, unsichtbar werden. Sie focal awareness of my driving in the nail.80 werden – mit all ihren Eigenschaften! – zu eben dieser Unterlage, aus der unser Tun und Denken hervorgeht.A Ein Zitat von Lucius Burckhardt aus einem anderen Zusammenhang: „… hier ist vor allem das Auto zu nennen, das überdies die Eigenschaft hat, den Benützer zur Rücksichtslosigkeit zu erziehen“81, kann so gelesen A  Abkürzung zu „Thoughtless Acts | Design Dissolving in Behaviour“, Seite 156.

[EXPONAT 4]  1.3  WERKZEUGE – YOU ARE WHAT YOU USE  071

werden, dass das Auto wie ein Werkzeug integriert wird, mit allen Konsequenzen. Unsere Werkzeuge bestimmen unsere Selbstverständlichkeiten und unsere Selbstverständlichkeiten bestimmen unsere Handlungsmöglichkeiten – mit einem bekannten Sprichwort gesagt: „Wenn einer einen Hammer in der Hand hält, ist die ganze Welt voller Nägel“.82 die relationen zwischen denken und körper sind Auch das Zitat von Otl Aicher illustriert, so eng, daß das, was im denken geschieht, oft wie sehr die Hand das Denken bestimmt – in der sprache der hände beschrieben wird. die Hand, die Sprache und das Denken sind geist ist offenbar weniger in der transzendenz eng miteinander verknüpft. Etwas zu begreials in der hand angesiedelt. weil die hand greifen, sich einen Begriff von etwas machen, fen kann, kann auch das denken begreifen. weil sich etwas vorstellen, etwas in Gedanken die hand fassen kann, erfassen wir auch etwas drehen und wenden – im gedanklichen Tun in unserem kopf. weil die hand etwas vor uns entsteht das Wissen. hinstellen kann, können wir auch etwas durch denken darstellen. weil die hand legen kann, ­legen wir auch im denken etwas dar. und wir ­legen nicht nur dar, wir überlegen, wir legen aufeinander, übereinander. wir stellen nicht nur fest, wir stellen auch auf, eine neue these zum beispiel. wir begreifen nicht nur, wir er­ fassen nicht nur, wir befassen uns mit etwas, wir drehen und wenden etwas und gelangen schließlich zu einer auffassung.83

1.3.3  Design ist Machen ist Denken?

Mit der Hand zu denken – damit könnte das Zeichnen gemeint sein. Ein möglicher Ursprung des Worts Design findet sich im Italienischen disegno – ich zeichne, bezeichne, halte fest – und bezeichnet somit auch eine Idee, einen Plan, den ich von einem fertigen Gegenstand habe, bevor ich ihn umsetze. Diese „Trennung von Kopf und Hand“, wie Richard Sennett84 es nennt, hat aber erst eine recht kurze Geschichte. Die Zeichnungen von Gebäuden oder Dingen, als Plan genutzt, bevor sie hergestellt wurden, waren in der europäischen Kulturgeschichte bis ins 19. Jahrhundert wenig verbreitet. Diese Entwurfszeichnungen von Gebäuden oder Gegenständen hatten ihre Funktion weniger im Gestaltungsprozess (so wie Dinge, die in kreativen Prozessen entstehen, oft nach und nach am Papier ihre Form annehmen), sondern sie dienten, wie Richard Sennett mehrfach in Handwerk (2008) beschreibt, eher als eine Art Vertrag und Kommunikationsbasis zwischen Auftraggebern und den Umsetzern. Die Planzeichnung im späten 19. Jahrhundert etwa hatte vor allem solch eine Vertragsfunktion. Erhalten geblieben sind vor allem Entwurfszeichnungen von großen Bauwerken und erst ab dem Zeitpunkt der industriellen Fertigung von Gegenständen tauchen auch Entwurfszeichnungen von kleineren Gegenständen (wie Besteck oder Kronkorkenöffner) auf. Erst in diesen hoch arbeitsteiligen Herstellungsprozessen war es nötig, über Details zu kommunizieren und Financiers eine Vorschau oder einen Bezugspunkt für den fertigen Gegenstand zu bieten.85 In der Gegenwart hat das Zeichnen während des Entwerfens selbst, so möchte ich unterstellen, mit der vermarktungsfähigen technischen Zeichnung, die oft erst

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nach einem Entwurfsprozess möglich ist, nur wenig zu tun, es entspricht vielmehr einem Denken oder Überlegen auf Papier. Aber es gibt noch weitere Möglichkeiten, das Denken und Wissen im Machen zu verorten, auch wenn es keine Zeichnung als Beleg dazu gibt. Tonkinwise und Kasunic weisen in ihrem Artikel What Things Know darauf hin, dass im Gebrauch von Dingen sowie auch im Design dieser Dinge eine spezielle Wissensform ins Spiel käme. Sie argu­mentieren, dass eine spezielle Art von Wissen involviert sei, sobald es um die Benutzung von Gegenständen geht. Dieses Wissen ist aus zweierlei Gründen so speziell: Einerseits ist es embodied, We take the difference between art and design to centre on use. Design is the creation of useful das heißt, es handelt sich um verinnerlichtes things, things that only are what they are when oder verkörperlichtes Wissen. Es geht dabei they are in use. […] We are using ‘use’ as the nicht nur um geschickte physische Fertigdistinguishing feature of design precisely bekeiten, sondern um ein Wissen, ein knowingcause of the special forms of knowing that use how, das gerade erst durch die ganzheitliche involves.86 körperliche Involviertheit in der Interaktion mit Dingen entsteht.87 Solch einem Phänomen könnten wir zum Beispiel begegnen, wenn wir mit einem Wählscheibentelefon konfrontiert sind. Wer es kennt, weiß es auch zu benutzen. Zweitens geht es um die schon genannte Verschmelzung mit Dingen, die dieses Wissen so speziell macht. Wie im Beispiel mit dem Löffel und der Suppe angeführt, verwenden wir Gegenstände wie eine Verlängerung oder Erweiterung unseres Körpers und empfinden auch die Wahrnehmung „an der Spitze“ des Gegenstandes, als ob er gleichsam Teil unseres Körpers wäre. So erst entziehen sich im Idealfall Werkzeuge aus der bewussten Wahrnehmung und rücken völlig in den Hintergrund, wenn wir sie benutzen, um etwas zu vollbringen oder zu erledigen. Aus diesen beiden Gründen ist dieses Wissen ein stummes Wissen (tacit knowing). Es ist durch drei Dinge charakterisiert: • explicable but not abstractable • regular but not consistent • committed but not common88 Das heißt, es lässt sich zwar im Nachhinein explizieren, doch meist bleibt es situations- oder umgebungsgebunden. So wie im Beispiel mit dem Wählscheibentelefon: Natürlich kann ich jemandem, der noch nie ein solches Telefon benutzt hat, erklären, wie es funktioniert, doch bleibt das Wissen dinggebunden, das heißt auch, es wird mir leichter fallen, mein Wissen zu zeigen, als es komplett abstrakt zu erklären. Weiters folgt das Wissen Regeln, doch diese Regeln können sich leicht ändern, wie zum Beispiel mit der Bauart eines Telefons. Und zu guter Letzt charakterisieren Tonkinwise und Kasunic dieses stumme Wissen dadurch, dass es für sicher gültig gehalten werden kann, ohne dass dies durch andere bestätigt werden

[EXPONAT 4]  1.3  WERKZEUGE – YOU ARE WHAT YOU USE  073

müsste. Wenn es mir gelingt, ein Ding so zu benutzen, wie es für meine Absicht zum Erfolg führt, ist mein Wissen gültig, ohne dass ich mit anderen mein Wissen abgleichen müsste. Vielleicht gibt es andere oder einfachere Wege, zum Erfolg zu gelangen, doch das Gelingen allein ist schon Bestätigung. All diese Punkte veranschaulichen, dass dieses Wissen-im-Verwenden eine Unbestreitbarkeit trotz seiner Stummheit hat: Wenn man weiß, wie ein Ding zu gebrauchen ist, kann man es auch benutzen. Das Wissen zeigt sich im (kunstfertigen) Gebrauch. Wenn nun unsere Werkzeuge (wie vorher beschrieben) zu unserem Körper gehören können, jedenfalls was die Denk- und Erkenntnisprozesse anbelangt, dann kann ich im Anschluss skizzieren, welche Bedeutung das für Design hat: Einerseits benutze ich als Designerin selbst Werkzeuge, die mich auf bestimmte Pfade beim Entwerfen lenken, mein eigenes Denken und Wahrnehmen ist natürlich an Werkzeuge gebunden. Andrerseits gestalte ich als Designerin Werkzeuge, die andere Menschen dann benutzen und integrieren. Designerinnen und Designer gestalten diese „stumme und mächtige Unterlage, aus der alles Wissen hervorgeht. Diese Formung oder Integration halte ich für die große und unentbehrliche stumme Macht, mit deren Hilfe alles Wissen gewonnen und, einmal gewonnen, für wahr gehalten wird.“89

1.3.4  Vom Zeichnen und Entwerfen Das Entwerfen selbst, so habe ich bereits erwähnt, hat mit der technischen Zeichnung, die erst nach einem ersten Entwurfsprozess möglich ist, nur wenig zu tun. Natürlich sind Bleistift und Papier für viele Gestaltende unentbehrliche Werkzeuge, „Denkwerkzeuge“90, meinen manche sogar. Wenn Papier beim Denken hilft, liegt die Vermutung nahe, dass es nicht eine mangelnde Fähigkeit, sich etwas mehrdimensional vorzustellen, überbrückt, vielmehr passiert hier mehr oder etwas anderes als allein beim „Denken im Kopf“. Florian Satzinger91 zeichnet an seinem The sketch pad is not just a convenience for the Schreibtisch mit einem Tablet und einem artist … Instead, the iterative process of exterEingabestift. Auf physisches Papier verzichnalising and re-perceiving turns out to be intetet er weitgehend. Der Blick ist bei ihm nicht gral to the process of artistic cognition itself.93 auf die Hand, sondern stets auf den Monitor gerichtet – so wie der Blick am Papier ja auch weniger auf der Hand als auf dem Gezeichneten ruht. Es entsteht ein Hin und Her zwischen dem, was man sich beim Zeichnen vorstellt (innere Repräsentationen des Konzepts), und dem, was sich auf dem Papier zeigt (äußere Repräsentationen des Konzepts)92, ein Dialog zwischen dem Gezeichneten und seiner Vorstellung davon, sodass das Zeichenbrett mehr ist als bloße Hilfestellung für Zeichnende.

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Bild 13: Zauberpapier

Florian Satzinger merkt an, dass für ihn auf dem Monitor das Abbild der Hand, die ja normalerweise am Papier immer Teile der Zeichnung verdeckt, wegfällt. Zusätzlich ist der Computer auch sein Recherche­ Drawing, […] is an exploratory, sense-making hilfsmittel, Collagier-Tool, Bildbearbeitungsprocess where the observer, and the thing or werkzeug und Zeitmaschine. Er nennt die idea observed, are inextricably bound together bination aus Tablet und Screen daher Kom­ in a physical, material space/time relationship. sein „Zauberpapier“. Mit einem TastaturbeDrawing is both an active and subjective enfehl kann er seine letzten Eingaben und Striche gagement, valued by artistic researchers, not rückgängig machen oder auf verschiedenen only for what may finally be encrypted in the virtuellen Ebenen zeichnen, sodass sehr komdrawing, but more significantly for the access plexe Entwürfe und Entwurfsschritte mög­lich provided through drawing to thinking that is werden. Auf einer Ebene wird das Skelett des close to the unconscious.94 neuen Wesens gezeichnet, auf einer Ebene darüber bekommt es seine endgültige Gestalt. Gabriela Goldschmidt nennt das Designzeichnen auch interaktive Imagination (sketching as interactive imaginary).95 Wichtig ist auch der Faktor Zufall, wenn man zeichnet, so Goldschmidt. Immer wieder gibt es Linien und Punkte, die in der Freihandzeichnung vielleicht nicht ganz wie geplant auf dem Papier landen. Doch gerade diese Elemente helfen oft beim Finden neuer Lösungen, schreibt sie: In turn, these interpretations inform the generation of new mental images. Ascribing meaning to the unintended consequences of a rapidly made (freehand) sketch is what enables the sketcher to use it as a source of new information. This is what is meant by the previously quoted assertion claiming that „one reads off the sketch more information than was invested in its making“.96 Manchmal ist Designzeichnungen, vor allem wenn es sich um Sketche für Gegenstände oder Gebäude handelt, auch ganz deutlich anzusehen, dass sie und wie sie Denkprozesse unterstützen.

[EXPONAT 4]  1.3  WERKZEUGE – YOU ARE WHAT YOU USE  075

Der Designprozess zwischen dem Briefing und den ersten detaillierten Zeichnungen findet meist zu einem guten Teil auf dem Papier statt. Nigel Cross schreibt, dass eine Sache ganz klar aus den verschiedensten Design-Sketches, die er evaluiert hat, hervortritt: „… sketches enable designers to handle different levels of abstraction simultaneously.“98 Designerinnen und Designer können mithilfe der Zeichnungen mehrere Abstraktionsebenen … we see how sketching can help the designer gleichzeitig bedenken und bearbeiten. Das to consider many aspects at once – we see heißt, die Skizzen erlauben ihnen, am Grobplans, elevations, sections, details, all being konzept überblickshaft zu arbeiten und zudrawn ­together and thus being all about, gleich über einzelne Details genau nachzu­reasoned about, all together, alongside calcu­ denken, sodass Schritt für Schritt immer lations of ­areas, volumes and perhaps even detailliertere, exaktere Zeichnungen des zu 97 costs. designenden Objekts entstehen. Vorstellungskraft, Sehen und Zeichnen ergänzen einander ständig.99 Außerdem tritt noch etwas Wichtiges im Laufe des Skizzierens und des Annäherns an mögliche Lösungen zutage: nämlich welches Wissen überhaupt notwendig ist, um die Designaufgabe zu lösen. Richard MacCormac formuliert: I don’t think that you can design anything just by absorbing information and then ­hoping to synthesise it into a solution. What you need to know about the problem only becomes apparent as you’re trying to solve it.100 So kann ein Teil des Machens während eines Designprozesses als Denken verstanden werden. Mithilfe von Zeichnungen zu entwerfen, überlegend in einen Dialog zwischen den inneren und äußeren Repräsentationen einzutauchen ist außerdem nicht allein auf das Papier beschränkt, oft helfen Mock-ups und Modelle, um sich einer Gestaltung anzunähern. Diese externalisierten Repräsentationen – Zeichnungen, Modelle und Ähnliches – ermöglichen nicht nur alleine, sondern auch in Teams gemeinsam über Lösungswege nachzudenken.A Weiters geht aus dem letzten Zitat hervor, dass die Designzeichnung auch dazu dient, das Problem durch Lösungsversuche zu strukturieren.101 Und schließlich helfen Designzeichnungen dabei, Schritt für Schritt die Eigenschaften der schlussendlichen Lösung entstehen zu lassen und zu erkennen. Ganz wie das Schreiben ist auch das Zeichnen ein Weg, die eigenen Gedanken zu erkunden und reifen zu lassen. Es scheint also essenziell, dass sich Gestaltende auf das Zeichnen im Entwurfsprozess einlassen. Manchmal muss man Objekte zeichnen, um sie besser verstehen zu können,102 um zu verstehen, wie sich Flächen zueinander krümmen, um zu verstehen, welche Proportionen die typische Form bestimmen … wobei – was heißt eigentlich verstehen? A  Genaueres dazu beim übernächsten Exponat, Abkürzungsweg zu: Projektivisches Erkennen, Seite 098.

076  RAUM [1] – ­D ESIGN UND ­I MPLIZITES ­W ISSEN 

[RAUM 1] – [EXPONAT 5]  1.4  VERSTEHEN UND WAHRNEHMEN – SICH WUNDERN

Exponat 5: Was können uns Sinnestäuschungen über unsere Wahrnehmung erzählen?

Obige Sinnestäuschungen (linkes Bild aus: Visuelle Intelligenz103, rechtes Bild aus: Gesetze des Sehens104) bergen einen elementaren Unterschied. Links zwei symbolhaft vereinfachte Tische, und auf der rechten Seite drei Hakenlinien, die auf den ersten Blick keinen tieferen Sinn zu haben scheinen.

Zwei optische Täuschungen. Die linke zeigt zwei Tische, von denen der linke eher lang und schmal wirkt, der rechte von den beiden wirkt breiter, eher gedrungen. Nimmt man ein Lineal oder eine Schablone zu Hilfe, stellt sich heraus, dass die Fläche sowie die Seitenverhältnisse beider Tische exakt gleich sind. Sie haben exakt die gleiche Form. Es erscheint nur so, als wären die Tische ­ verschieden. Die zweite Täuschung zeigt drei Linien oder Haken, bedeutungslos – bis ich erfahre, dass man die Linien auch als die Schatten eines „E“ sehen kann. Plötzlich ergeben die Linien einen gemein­ samen Sinn … und es zeigt sich etwas Seltsames: Ich kann es nicht mehr „ver“sehen, „un“sehen … Das „E“ wird von nun an immer ein „E“ sein. Die Bedeutung bleibt. Und oben die beiden Tische? Der gleiche Eindruck wie beim ersten Sehen: zwei verschiedene Tische. Seltsam.

[EXPONAT 5]  1.4  VERSTEHEN UND WAHRNEHMEN – SICH WUNDERN  077

Warum funktioniert die eine Täuschung immer wieder, die ­ndere nur ein einziges Mal? Kann es sein, dass die begriffene a Bedeutung nun meine Wahrnehmung formt? ­

Wegbeschreibung – der Pfad von diesem Exponat zum nächsten führt über: 1.4.1 Was bedeutet verstehen? – Was im Moment des Verstehens geschieht  ≥  1.4.2 Verstehen lernen – Paradoxon des Suchens und Findens  ≥  1.4.3 Wie ent­ wickelt sich die Wahrnehmung im Design? – Den designerischen Blick entwickeln  ≥  1.4.4 Wie viele Sinne hat man als Mensch? Die unterschätzte Haptik – Wahr­ nehmungskanäle und ihre Bedeutung für Design  ≥  1.4.5 Gestalten und Gestalt – Ge­setzmäßigkeiten der Wahrnehmung  ≥  1.4.6 Man sieht nur, was man weiß – Auf der Suche nach Brüchen, ­eigene Selbstverständlichkeiten sichtbar machen

Man muss über die Dinge straucheln, um überhaupt nach ihnen fragen zu können.105 Gerade eine Sinnestäuschung kann wichtige Fragen über die Funktion der jeweiligen Sinne aufwerfen. Durch besagtes Straucheln, das Wundern erst, wird das ­Fragen nach Dingen und Sachverhalten, die uns sonst selbstverständlich wären, ermöglicht.

1.4.1  Was bedeutet verstehen? Ist man dabei, Neues herauszufinden und zu verstehen, konstruiert man Bedeutung und Sinn. Earl Woodruff106 argumentiert, dass ver-stehen (under-stand) nicht bedeutet, etwas im Geiste gespeichert zu haben, sondern dass Verstehen ein Prozess ist, der sich durch das Auseinandersetzen mit ein- und derselben Sache aus verschiedenen Perspektiven ereignet. Verstehen kann eben auch bedeuten, zu et­ ositionen heraus zu etwas Verwas Position beziehen bzw. aus verschiedenen P knüpfungen herstellen zu können. Dieses Verstehen, die Umfunktionierung einer vormals fokal betrachteten Sache zu einem Fingerzeig, der auf etwas wesentlich anderes, die Gestalt, das „größere Bild“ hindeutet, ist begleitet erstens von einer phänomenalen Transformation. Die Einzelheiten erscheinen jetzt anders als vorher. Und es reichert die Einzelheiten zweitens semantisch an. Sie tragen nun eine Bedeutung, die vormals verschlossen geblieben ist.107 Dem Wissen im Sinne eines Unterscheidenkönnens (lat. scire, trennen, unterscheiden) steht das Wissen im Sinne eines Verstehens gegenüber. Das griechische Lehn-

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Bild 14: Was bedeutet verstehen im Wortsinne?

wort dafür lautet episteme, das vom Verb epistasthai kommt: vor, auf oder in einer Sache stehen, sie angehen und zu verstehen suchen.108 Verstehen und Wissen können so auch entlang ihrer Wortherkunft voneinander unterschieden werden. Das deutsche Verb verstehen hat in der Tat mehrere Grundbedeutungen. Die Autoren Rehbein und Saalmann unternehmen in der Einleitung ihres Bandes Verstehen eine linguistische109 Erkundung des Wortes und seiner Bedeutungszusammenhänge. Verstehen kann bedeuten, etwas Modeling, they tried modeling all the time. richtig zu deuten, etwas zu hören, zu vernehThey were always modeling things. And I think men oder etwas zu erkennen. part of that is that they never delegated underIch verstehe kann auch heißen, ich kann standing.110 mich in einen Sachverhalt einfühlen oder ich kann etwas verzeihen. Außerdem kann man auch verstehen etwas zu tun, ich verstehe zum Beispiel ein Ersatzteil bei einem Gerät zu wechseln. Aus all dem wird klar, dass verstehen sehr eng mit der verstehenden Person verknüpft ist, geradezu eine Aktivität der jeweiligen Person ist. Demetrios Eames erklärt am Beispiel seiner Großeltern Charles & Ray Eames, dass man

[EXPONAT 5]  1.4  VERSTEHEN UND WAHRNEHMEN – SICH WUNDERN  079

sich mit Dingen, Materialien usw. selbst befassen muss, um volle Inspiration daraus schöpfen zu können. Verstehen soll man nicht delegieren, meint er. Ich glaube: Verstehen kann man gar nicht delegieren. Für implizite Vermittlung ist es von Bedeutung, dass es zwei unterschiedliche Modi des Verstehens Cameron Tonkinwise schreibt dazu: gibt: unmittelbares Verstehen und mittelbaIt is not that I have a desired action in my head, res, konstruierendes Verstehen. Ein wichtiand then a representation of the kind of thing – ger Unterschied – eine Unmittelbarkeit des a tool – that would assist that action that I then Verstehens kann einem decodierenden Verlook about for, searching for a match. […] It restehen gegenübergestellt werden. turns us to exactly what Gibson was trying to get away from with his hypothesis: a representational decoding version of perception. Gibson wanted to describe perception as a more actively immediate experience, rather than one that was interpretively mediated.111

1.4.2  Verstehen lernen

Für Design, welches das Prädikat intuitiv verstehbar zu verdienen sucht, ist wichtig, den Unterschied zwischen unmittelbarem Verstehen und decodierendem Verstehen zu berücksichtigen und vor allem das unmittelbare Verstehen erahnen zu können. Es gilt herauszufinden, welche Art von Gegenständen von wem wie (und warum) verstanden und in Handlungsabläufe integriert wird. Es ist für das Design wichtig, antizipieren zu können, wie Benutzerinnen und Benutzer ein Objekt verstehen werden. With art – if you like, you can be really weird. Es geht nicht nur darum, ob ein ProBut in design you have to think about what other dukt gefällt oder nicht, sondern auch darum, people will like. | Ghisli, age 10 (aus: 1995 Britob es verstanden wird oder nicht. Wie User ish Design Council ‘Definitions of Design’)112 ein Produkt auffassen werden und ob sie verstehen werden, wozu es gut ist, welche Tätigkeit damit verrichtet werden kann, sind leitende Fragen für den Designprozess. Werden sie es zu benutzen verstehen? Obwohl unsere eigenen Erfahrungen mit dem Integrieren, dem Verstehen schon so schwer zu greifen sind, müssen wir Designerinnen und Designer auch mit dem Verstehen unserer Adressaten umgehen. Wir als Gestaltende sollten antizipieren lernen, wie jemand etwas verstehen wird. So formuliert Jane Fulton Suri die Notwendigkeit für Designerinnen und Designer, sich in die zukünftigen Nutzer und Nutzerinnen hineinversetzen zu können:A It is essential to the success of interaction design that designers find a way to understand the perceptions, circumstances, habits, needs, and desires of the ultimate users.113

A  Abkürzung zu Kapitel 2.7.4 „Empathy Tools“, Seite 179.

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Jedoch ist zu beachten, dass ich beim Verstehenwollen des anderen unter Umständen recht nahekommen muss. Wilhelm Berger weist hierzu auf eine Ambivalenz des Verstehens hin: Der Wunsch nach Verstehen trägt ein Einverständnis mit sich, das manchmal zu nahe rücken kann: Wer verstehen möchte, will hinter die Oberfläche geraten und die Geheimnisse wissen. Und wer so verstanden wird, hat diese nicht nur preisgegeben. Er gerät in die schon ­erwähnte „Schaumwelt“. Wer auf den guten Willen des Verstehens trifft, ist vom Ersticken bedroht. Das wissen alle Studierenden, deren Proteste von ihren modernen Professoren verstanden werden. Gegen die, die solidarisch ihre Seminare ausfallen lassen, lässt sich kein Vorlesungsstreik organisieren.114 Dass wir als Designschaffende in der Lage sein müssen, als Verstehende agieren zu können, ist inzwischen klar. Aber wie wir das respektvoll tun können, welche Sinne dabei zur Verfügung stehen und welche Wege zu tieferem Verständnis sowie zu wichtigen Ideen führen können, dahin führt der Weg vom bisher Dargelegten nun in die Details der Wahrnehmungskanäle.A1

1.4.3  Wie entwickelt sich die Wahrnehmung im Design? Erkennen ist die erste kreative Leistung. Wenn man anderes erkennt als die anderen im Team, gilt man als kreativ. Es gilt, ein handhabbares Problem zu finden und dieses dann einer Lösung zuzuführen. Allein das Erkennen eines Problems als handhabbar ist ein Kunstgriff. Insofern kann man ­Designerinnen und Designer durchaus als Problemfinder bezeichnen.A2B Für dieses Erkennen ist das Wahrnehmen die Basis, das sich im Laufe der Designausbildung verändert. Auch später wird potenziell mit jedem einzelnen Projekt die Wahrnehmung auch für den Alltag geschult. Mit einem möglichen Fertigungs­prozess im Hintergrund beginne ich Gegenstände ihrer Form und Herstellungsart entsprechend wahrzunehmen. Farben, Kontraste, Materialien, Formen bestimmen oft die Betrachtungsweise von Designerinnen und Designern. Nigel Cross geht sogar so weit zu sagen, dass die Art von Wissen und Forschen im Design grundlegend verschieden ist von Arten des Forschens und Wissens in den Natur- und Geisteswissenschaften:

A1  Es gibt eindringlichere und weniger eindringliche Recherchemethoden, siehe auch Kapitel 2.7 „Dinge ­herausfinden“, Seite 169. A2  Abkürzung zu Kapitel 2.7.3 „Problematisieren im Designprozess“, Seite 177.

[EXPONAT 5]  1.4  VERSTEHEN UND WAHRNEHMEN – SICH WUNDERN  081

Design has its own distinct things to know, ways of knowing them, and ways of finding out about them.115 Kurse an Designhochschulen wie „Grundlagen der Gestaltung“, „freies Zeichnen“ oder Ähnliches sind gezielt darauf ausgerichtet, die Studierenden hinsichtlich der Fragen: Wie kann man sehen lernen? Was kann sehen bedeuten? zu fördern. Dem Zeichnen als „Instrument zum Sehenlernen“ kommt hier eine besondere Stellung zu. Betty Edwards argumentiert, dass mit dem Zeichnenlernen ein Sehenlernen einhergeht: Es wird die Wahrnehmung von Randlinien, von Raumformen, von Größenverhältnissen, von Licht und Schatten und die Wahrnehmung des Ganzen oder des Gesamtbilds geschult.116 Dies sind nach Betty Edwards die fünf Grundfertigkeiten beim Zeichnen. Nigel Cross bestätigt die zentrale Wichtigkeit des Zeichnens im Berufsbild: The thinking process of the designer seem to hinge around the relationship between internal mental processes and their external expression and representation in sketches.117 In einem Interview mit [C. G.]118 vom Helen Hamlyn Centre, RCA,119 bekam ich Einblick in sein damals aktuelles Forschungsprojekt. Er befasste sich damit, welche Bedeutung Licht für Menschen mit eingeschränktem Sehvermögen und blinde Menschen hat. Anhand von gebastelten Prototypen einer Zimmerleuchte erläuterte er einem potenziellen User die geplante Funktionsweise, mehrere Personen testeten die zukünftigen Produkte und gaben Feedback zum Prototypen. Er erklärte mir einige Dinge, die er dabei erfahren hatte – eine blinde Frau erzählte ihm, dass sie selbst gar kein Licht wahrnehme und ein Lichtschalter in ihrer Wohnung daher eigentlich überflüssig wäre; doch ihr Begleithund war durchaus auf Lichtquellen in der Wohnung angewiesen. Aus den Erkenntnissen mit seheingeschränkten Personen ging ein Prototyp in der zylindrischen Form einer „Fackel“ hervor: Die Testpersonen hatten ihn darauf hingewiesen, dass sie mit ausreichend hellem Licht sogar lesen könnten, so konnte die „Fackel“ aus ihrem Halter, wo sie als „ambient light“ diente, genommen und dank ihrer zylindrischen Form auf ein Buch oder eine Zeitung gelegt werden. Wie in fast jeder Berufssparte wird auch die Aufmerksamkeit im Design auf bestimmte Gegebenheiten geschult, die man bemerken sollte. Um das genaue Beobachten zu üben, ist das Zeichnen ein geeignetes Mittel, außerdem ist es insgesamt für den iterativen Designprozess nicht aus der Grundausbildung in Design und Architektur wegzudenken:120 Es bietet die Möglichkeit, mit anderen am Gestaltungsprozess Beteiligten über Beobachtungen zu kommunizieren. Den Blick für etwas Bestimmtes entwickeln – sehen zu lernen – ist eines der wichtigsten Elemente einer Designausbildung.121 Klar ist, dass ich mit jedem Projekt, in dem ich eine spezifische Gruppe von Nutzerinnen und Nutzern kennenlernen durfte, neue Erfahrungen integriert habe, sodass ich beispielsweise nach ausführlicher Recher-

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che über das Rollstuhlfahren und nach einem ganzen Tag im Rollstuhl meine vertraute Stadt wie mit anderen Augen sehe. Zusammenfassend bleibt zu sagen, dass Recherche für Designprozesse nicht allein darin bestehen kann, Marktforschungsergebnisse des Unternehmens zu studieren oder potenziellen Zielgruppen mit Fragebögen zu Leibe zu rücken. Verstehen und Erkennen sowie auch Kreativität sind zutiefst persönliche, im Sinne von an die eigene Person gebundene Dinge. Die Verknüpfung des Erlebten mit der eigenen Person durch das „Selbsterleben“ und das Verständnis einer Situation oder eines Sachverhaltes kann für mich von niemand anderem übernommen werden. Für einen Designprozess ist es daher weder ausreichend noch zielführend, als Ausgangspunkt rohe Daten und Fakten (im weitesten Sinne) zu nehmen. Fotos, Dinge, Erfahrungen müssen eine Geschichte ergeben, eine Bedeutung bekommen. Ich muss durch die Daten hindurch auf eine Bedeutung sehen können, so werden sie mir zum proximalen Term meines Erkennens, dann habe ich sie auf eine mögliche Art verstanden oder integriert.A1 Mag es für eine erste Problemformulierung ausreichen, sich auf Fakten zu beziehen oder diese mit solchen zu begründen, das Erkennen eines ProblemsA2Bist eine persönliche Erfahrung oder muss unbedingt zu Beginn des Gestaltungsprozesses den Designerinnen und Designern persönlich zugänglich gemacht werden.122 Es geht dabei nicht darum, 100%ig authentisch eine Situation oder ein Empfinden nachzuerleben, es geht mehr um ein Nachempfinden mit möglichst vielen Sinnen. Daher ist interessant zu fragen: Wie viele Sinne hat man als Mensch, und welche Rolle spielen die Sinne für Gestaltung und implizite Vermittlung?

1.4.4  Wie viele Sinne hat man als Mensch? | Die unterschätzte Haptik Ein körperliches System, bestehend aus spezifischen Sinneszellen, Nervenbahnen und eigenem Verarbeitungsgebiet im Gehirn, ist – physiologisch betrachtet – ein Sinnessystem.123 Ein Lichtreiz trifft auf Rezeptorzellen im Auge und die Information wird im Gehirn zu einer Wahrnehmung verarbeitet.124 Je nachdem, welche Literatur oder welches Fachgebiet man befragt, hat der Mensch fünf bis zwanzig Sinne. Die Uneinigkeit beruht einerseits auf verschiedenen Definitionen, was einen eigenständigen Sinn ausmacht, was also als eigenes Sinnessystem deklariert werden kann, denn es gibt Wahrnehmungen, die als Kombination von Informationen anderer Sinne eventuell nicht als eigener Sinn definiert werden können, zum Beispiel der Zeitsinn. A1  Abzweigung zum Begriffspaar proximal – distal vgl. „Die Struktur impliziten Wissens“, Seite 065. A2  Abzweigung zu „Probleme gibt es nicht einfach“, Seite 270 und zu „erkennen, was das Problem ist, ist das Problem“ – Horst Rittel, siehe Seite 274.

[EXPONAT 5]  1.4  VERSTEHEN UND WAHRNEHMEN – SICH WUNDERN  083

Bild 15: Fünf Sinne

Historisch wird seit der Antike die menschliche Wahrnehmung in fünf Sinne aufgeteilt: Sehen (optische Wahrnehmung), Hören (akustische Wahrnehmung), Riechen (olfaktorisch), Schmecken (gustatorisch), Fühlen (haptische bzw. taktile Wahrnehmung). Die Fernsinne Sehen und Hören erfuhren im Laufe der Geschichte eine Aufwertung, die Nahsinne Fühlen, Riechen, Schmecken wurden im Mittelalter als besonders anfällig für Fehler und als diejenigen Sinne bezeichnet, durch die das moralische Verderben in die Seele eindringt.125 Der Begriff „Haptik“ als Bezeichnung der Lehre des Tastsinnessystems wurde erst Ende des 19. Jahrhunderts vom Psychologen Max Dessoir geprägt und entstand in Anlehnung an „Optik“ und „Akustik“.126 Der Fühlen-Sinn Haptik lässt sich in mehrere Sinne aufsplitten, da es tatsächlich eigene Sinneszellen für Temperatur, Schmerzen, Vibration, Berührung sowie einen Lagesinn gibt. Letzerer Sinn ermöglicht mir, genau und ohne visuelle Kontrolle einzuschätzen, wo meine Körperteile sich gerade befinden, so kann ich beispielsweise auch mit geschlossenen Augen meine Nase berühren. Martin Grunwald, dem Leiter des Haptikforschungslabors der Uni Leipzig, gereichen diese umfangreichen Wahrnehmungen dazu, die Haptik als wichtigstes, grundlegendstes Sinnessystem zu schätzen: Dass wir uns selbst als zur äußeren Umwelt abgrenzbare, individuelle Person und Körper, als physische Einheit, als zeitlich und dreidimensional existierenden Organismus erleben können, ist eine Elementarleistung unseres Tastsinnessystems. Kein anderer Sinnesbereich trägt so substantiell zu dieser Selbsterkenntnis bei.127 Unter Haptik werden also im allgemeinen Sprachgebrauch verschiedenste Sinne subsumiert. Martin Grunwald zeichnet ein umfassendes Bild128 vom menschlichen Tastsinn. Er liefert eine wahrnehmungsphysiologisch begründete Entwirrung der Begriffe haptisch und taktil: Er unterscheidet die beiden Begrifflichkeiten danach, ob das wahrnehmende Subjekt aktiv oder passiv ist: Wenn der Mensch berührt wird, sei es von einem Objekt oder einem anderen Wesen, bleibt er/sie

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Bild 16: Schema Haptik, nach M. Grunwald

In

Haptik te

on epti roz

Exterozeption Propriozeption Viscerozeption

selbst bei der Wahrnehmung passiv, dann nennt man diese Wahrnehmung taktil.129 Berührt ein Mensch ein Objekt oder ein anderes Wesen, so spielen für die Wahrnehmung/Empfindung auch körpereigene Wahrnehmungen eine Rolle (beispielsweise der Lagesinn der Hände) und daher werden diese kombinierten Sinneseindrücke zu einer haptischen Wahrnehmungserfahrung. Dabei entstehen sogar bei einfachsten Handlungen wie zum Beispiel Werkzeuggebrauch äußerst komplexe Wahrnehmungen, wie in Bild 16 dargestellt. Interozeption meint die Wahrnehmungen, die sich aus der Eigenaktivität des handelnden Körpersinnes ergeben, und umfasst die Lage- und Stellungsformen des Körpers, genannt Propriozeption. Viscerozeption meint die Wahrnehmungen der inneren Organe. Zusätzlich werden nun noch exterozeptive Informationen aus der Perspektive des Tastsinnessystems integriert. Diese entstehen, wenn der Körper entweder mit der Haut, dem größten Grenzflächenorgan, oder tiefer liegenden Strukturen wie Muskeln, Sehnen und Gelenken mit anderen Objekten oder Subjekten in direkten körperlichen Kontakt tritt. Exterozeption liefert demnach vermittelt über den Körperkontakt physische Informationen über die Eigenschaften von externen Objekten. Dazu sind Millionen von Rezeptoren über den gesamten Körper in der Haut, in den Muskeln und Sehnen verteilt, um Grenzflächenkontakte wie Berührung oder Handhabung von Werkzeugen überhaupt erst möglich und wahrnehmbar zu machen.130 Wenn ich ein Objekt vor einer Kaufentscheidung anfasse, teste ich, ob die Haptik dem visuellen Eindruck gerecht wird – fühlt es sich so hochwertig an, wie es aussieht? Wie gut liegt mir ein Besteck in der Hand? Wie schmeckt der Wein aus einem guten Weinglas? Wie fühlt es sich an, ein bestimmtes Fahrzeug zu benutzen?

[EXPONAT 5]  1.4  VERSTEHEN UND WAHRNEHMEN – SICH WUNDERN  085

Kein Zweifel, wichtig sind für mich als Designerin vor allem der interozeptive Körpersinn, der Lagesinn, der Vibrations- und Berührungssinn sowie die Erfahrung von Zeit und Rhythmus. In diesem Sinne hat die Haptik eine zentrale Bedeutung fürs Design. Wenn Grunwald schreibt, dass Informationen über externe Objekte via Exterozeption zusammen mit der Interozeption zum Werkzeuggebrauch integriert werden, lässt sich diese Sichtweise eins zu eins mit der Integration von proximalen Termen des impliziten Erkennens (siehe Seite 38) in Deckung bringen. Von Einzelheiten (Informationen des Tastsinnessystems), die mir nicht bewusst zugänglich sind, hin zu einer gemeinsamen Bedeutung, einem Sinn der Informationen (ich erinnere an das Beispiel mit dem Löffel, der mich Angebranntes am Grund des Topfes erkennen lässt). Dieses Konstrukt, basierend auf einzelnen Sinneswahrnehmungen, das über diese Einzelheiten dann hinausgeht, kann man auch als Gestalt bezeichnen.

1.4.5  Gestalten und Gestalt Die Gestaltpsychologie wandte sich gegen atomistische Erklärungsversuche komplexer Wahrnehmungen. Immer, wenn ein Mensch lernt, so Polanyi, werden zuvor bedeutungslose Einzelheiten zu einer Gestalt.131 Es gibt eine Möglichkeit, gestalterisch Was in solchen Akten des Lernens und Erkenin das Integrieren von Termen einzugreifen, nens geschieht, hat Drusilla Scott 1985 folgenalso zu beeinflussen, wie Theorien, Sachverdermaßen zusammengefasst: halte, Geräte etc. erkannt werden, nämlich: Verstreute bedeutungslose Einzelheiten werihnen Bedeutung zu geben, eine bestimmte den durch eine Verlagerung des Fokus in Teile Bedeutung anzudeuten. Wenn ich will, dass eines bedeutungsvollen Ganzen transformiert. etwas auf eine bestimmte Weise gesehen Man hört auf, auf sie zu achten, und beginnt von wird, gebe ich dem Sachverhalt eine (schlüsihnen auf ein Ganzes oder eine gemeinsame sige) Bedeutung – dann ist die Chance groß, Bedeutung zu achten, die man zunächst nur dass ein Gegenüber versteht, und es würde vage empfindet. Aber wenn das Ganze, die gebewusste Anstrengung abverlangen, die Bemeinsame Bedeutung, vorrangig wird, haben deutung wieder zu zerlegen oder zu ent-deudie einzelnen Elemente einen subsidiären Platz ten – vgl. auch das Exponat mit den Schatten in unserer Aufmerksamkeit eingenommen und des „E“. Gestalten anzudeuten ist ein wichtischeinen nicht mehr dieselben zu sein.132 ger Part der Tätigkeit gestalten. Als Beispiel: Im Fleckenbild ist der Kopf einer Kuh zu sehen. Sobald man es einmal erkannt hat, verschwinden die einzelnen bedeutungslosen Flecken und die Gestalt Kuh überlagert sämtliche andere Interpretationsversuche.

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Bild 17: Flecken oder Kuh?

In der Gestaltpsychologie geht man davon aus, dass das Wahrgenommene (zum Beispiel eine Melodie) nicht direkt als die schlichte Summe der Einzeltöne verstanden werden kann – Christian Freiherr von Ehrenfels führt dies als eines der Gestaltkriterien an.133 Ein zweites Kriterium für eine Gestalt liegt in ihrer Transponierbarkeit. Ehrenfehls gewinnt dieses Kriterium ebenfalls aus der Beobachtung der Melodie, entlehnt diesen Terminus aus dem akustischen Erleben und überträgt ihn auf andere Bereiche. Transponierbarkeit meint, dass eine Gestalt sehr wohl als Gestalt erhalten bleiben kann, auch wenn sich die Einzelelemente, auf denen sie beruht, verändern: Eine Melodie ist auch als solche erkennbar, selbst wenn sie einen anderen Ausgangston hat und vielleicht keinen einzigen Ton mehr mit der ursprünglichen Melodie gemeinsam hat. So kann eine Gestalt, die auf Kontrasten beruht, auch in unterschiedlichen Farben bestehen.134 Eine weitere Erkenntnis liegt in der Beobachtung des akustischen Erlebens: Alle psychischen Prozesse verlaufen in der Zeit; das heißt aber nicht, dass dieser zeitliche Verlauf uns als solcher bewusst ist. Bei akustischen Phänomenen beispielsweise verwandelt sich die Wahrnehmung der zeitlichen Differenz in eine Gestalt: Das Geräusch, das jeweils meine beiden Ohren erreicht, und die zeitliche Versetztheit der beiden Signale dienen als proximaler Term der Richtungswahrnehmung. Das bedeutet, dass mir dieser Zeitunterschied nicht bewusst ist. Er kann wohl erfasst werden, er ist messbar und kann expliziert werden. Distal – das meint die Bedeutung, die dieser Zeitunterschied für mich hat – ergibt sich für mich die Wahrnehmung der Richtung, aus der das Geräusch kommt. David Katz beschreibt, dass die Zeitdifferenz nicht als solche wahrgenommen wird, sondern:  … diese gewissermaßen aufgezehrt oder verwandelt wird in der Produktion andersartiger Komplexe. So etwas beobachtet man auf allen Sinnesgebieten, nicht nur auf dem akustischen […]. Die Zeitdifferenz kommt nicht als solche zum Bewußtsein, sondern sie verwandelt sich sozusagen in ein Richtungserlebnis. Aus Zeit wird Richtung, wird eine Raumbestimmtheit.135 Die wahrgenommene Zeitdifferenz gerinnt quasi zur Lokalisationsleistung. Die Gestaltpsychologie mit ihren Erklärungsmodellen für menschliche Wahrneh-

[EXPONAT 5]  1.4  VERSTEHEN UND WAHRNEHMEN – SICH WUNDERN  087

mung bietet enorm viele bereichernde Denkmodelle und Konzepte für Designschaffende. Auf der Suche nach Möglichkeiten, wie man die gewünschte Wirkung in Designarbeiten erzielen kann, hat die Gestaltpsychologie natürlich auch in Bezug auf den Sehsinn mehr für uns Gestaltende zu bieten. Wie dieses Exponat [5] zeigt, gibt es optische Täuschungen, denen wir immer wieder aufs Neue erliegen, aber es gibt auch Beispiele, die wir – einmal erkannt – nicht wieder un/ver/sehen können, das heißt der erste bedeutungslose Eindruck geht uns verloren. In den zwei vorigen Beispielen (die Hakenlinien im Exponat, die plötzlich ein „E“ ergeben, und die Flecken, in denen die Gestalt einer Kuh gesehen werden kann) zeigt sich, was bei der Integration von Einzelteilen passiert: einerseits wird eine Bedeutung gewonnen, andererseits geht der Blick auf die Einzelelemente verloren. Die Einzelteile gereichen mir als Betrachterin zum proximalen Term, ich (die Betrachterin) mache sie zu einem Fingerzeig auf eine Gestalt, zuerst im Fokus betrachtete Einzelheiten werden So long as you look at X, you are not attending unsichtbar und etwas wesentlich anderes from X to something else, which would be its zeigt sich, nämlich eine Gestalt. Die Einzelmeaning. In order to attend from X to its meanheiten scheinen sich selbst verwandelt zu ing, you must cease to look at X, and the mohaben. Nach Polanyi geschieht dieses Blindment you look at X you cease to see its meaning. Werden für die Einzelheiten und Gewinnen […] to attend from a thing is to interiorize it, and von neuen Gestalten immer dann, wenn ein to look instead at the thing is to exteriorize or Mensch lernt, eine Bedeutung erkennt, etalienate it. We shall then say that we endow a was integriert. thing with meaning by interiorizing it and destroy Was uns in den genannten Beispielen its meaning by alienating it.136 am un- oder ver-sehen hindert, ist, dass kein Gegenstand zugleich Gegenstand des Hintergrundbewusstseins und des Fokalbewusstseins sein kann. Denn sobald ein Gegenstand fundierend für einen fokal bewussten Inhalt wirkt und dessen Erscheinung mitformt, ist er der kritischen Reflexion entzogen. Wir müssen uns, wie Polanyi sagt, auf ihn verlassen, ganz so, wie wir nicht mit einer Brille auf sie selbst schauen können.137 Doch wie funktionieren solche Brillen? Der Kognitionsforscher Daniel Hoffmann vertritt die Auffassung, dass jeder Sehakt Konstruktionen umfasse. Der Großbuchstabe E (Exponat [5]) zeigt – in seinen Worten – nur ein Beispiel für semantisches Sehen.138 Mithilfe der drei in der nächsten Abbildung gezeigten Würfelzeichnungen argumentiert Hoffmann, dass Menschen jedes Mal, wenn sie die Augen öffnen, eine enorme Konstruktionsleistung vollbringen, wo man doch meinen könnte, es handle sich um „direkte“, unübersetzte Wahrnehmung. Sobald Licht in meine Augen fällt, kann physikalisch nur ein zweidimensionales Bild auf der Netzhaut abgebildet werden, was aber bedeutet, dass die dritte Dimension immer hinzukonstruiert wird, und zwar von Mechanismen, die man durchaus dem „Wahrnehmungsapparat“ zuordnen sollte. Wichtig ist für Gestaltende an diesen drei Würfel­ -D-Würfel bildern, dass nicht alle drei gleich einfach und selbstverständlich als 3

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Bild 18: „Necker-Würfel“ und „Kopfermann-Würfel“139

gesehen werden können. Warum es den meisten Menschen beim mittleren Necker-Würfel140 am leichtesten fällt, hat gute Gründe: Es hat mit Winkeln von Ecken und überlagernden Linien zu tun.141 Dass es sich beim Sehen um Konstruktionen handelt, bedeutet nicht, dass beim Konstruieren Beliebigkeit vorherrscht. Hoffman listet die typischen Argumente gegen konstruierte Wahrnehmung auf:142 1. Übereinstimmung: Mein Würfel kann nicht konstruiert sein, wenn wir alle den gleichen Würfel sehen. Die dahinterliegende falsche verborgene Prämisse: Intersubjektiv konstruierte Wahrnehmungen können nicht konstruiert sein. 2. Fügsamkeitsprämisse: Ich kann mit meiner Hand nicht durch den Tisch schlagen, also konstruiere ich ihn nicht. Die verborgene falsche Prämisse besagt: Was ich konstruiere, das fügt sich meinen Wünschen. Doch für diese Konstruktionen gelten Regeln, ich kann nur konstruieren, was diesen Regeln folgt. Die Konstruktionen passen sich immer einem Gesamtbild ein. Beau Lotto erklärt in einem Vortrag über das menschliche Sehen143 mithilfe von farbigen optischen Täuschungsphänomenen, dass einzelne Wahrnehmungen verschiedene Bedeutungen haben können, und erläutert damit die Wichtigkeit des Kontexts: „Information itself is meaningless, context is everything.“A Es gibt einen weiteren Beleg für die Prozesshaftigkeit des menschlichen Sehens und Erkennens: 2008 publizierte eine Gruppe von Wissenschaftern um Mark Changizi,144 dass einige optische Illusionen (wie die leicht gebogenen Quadrate im Bild) daher rühren, dass menschliches Sehen eine zeitliche Verzögerung beim Konstruieren der Wahrnehmung kompensiere. Es handelt sich zwar nur um eine schwer fassbare, minimale Zeitverzögerung von etwa 100 Millisekunden,145 dennoch stellt solch eine vermeintlich geringe Verzögerung eine große Herausforderung an unseren Wahrnehmungsapparat: In normaler Gehgeschwindigkeit legt man schon mehrere Zentimeter zurück, und will man einen Gegenstand erfassen, der sich mit etwa 1 Meter pro Sekunde bewegt, läge man mit einer Verzögerung von 100 Millisekunden schon etwa 6° daneben. Changizi argumentiert, dass es als A  Abzweigung zu „lernen“ – Magnet und Eisenstaub, Seite 059.

[EXPONAT 5]  1.4  VERSTEHEN UND WAHRNEHMEN – SICH WUNDERN  089

Bild 19: Welche Eigenschaften der Wahrnehmung liegen dieser Täuschung zugrunde?

überlebenswichtig angesehen werden kann, dass unsere Wahrnehmung zum Zeitpunkt t auf einer möglichst exakten Konstruktion aus den Stimuli von vor t-100 Millisekunden beruht. Visuelle Systeme, denen es gelingt, die Gegenwart anstatt einer wie nahe auch immer gelegenen Vergangenheit wahrzunehmen, waren evolutionär im Vorteil, so Changizi. Es gibt also eine Kluft zwischen dem, was meine Gegenwart war und ist, die meine Wahrnehmung überbrücken kann. Was überbrückt meine Wahrnehmung noch?

1.4.6  Man sieht nur, was man weiß | Auf der Suche nach Brüchen Ein weiteres Beispiel für die Konstruktion einer kontinuierlichen visuellen Wahrnehmung ist, dass Saccaden (schnelle, unwillkürliche Augenbewegungen, wie sie bei jedem Fokuswechsel unserer Augen entstehen) uns nicht als solche Bewegungen oder „Lücken“ auffallen. Die Konstruktion der kontinuierlich wahrgenommenen Welt ist so beständig und die Bewegungen so rasch, dass es unmöglich ist, diese Bewegungen an sich selbst im Spiegel zu beobachten, wenn man abwechselnd das eine und dann das andere Auge fixiert. Hochgerechnet146 konstruiert das Wahrnehmungssystem mindestens 2 Minuten „Realität“ pro Stunde, die uns aufgrund der Augenbewegungen eigentlich entgingen. Die Regeln der Konstruktion unserer direkten visuellen Umwelt sind meist so stabil, dass man meinen kann, sie wäre nicht konstruiert. Das Integrieren der nicht bewussten Einzelmerkmale geht so mühelos vonstatten, dass man sich scheinbar auf sicherem Terrain bewegt. Doch wie kann man trotz all der Bestimmtheit noch Neues erkennen? Polanyi erinnert an Platons Menon-Paradoxon: Wieso kann man nach der Lösung eines Problems suchen? Entweder man weiß, wonach man suchen muss, dann ist es eigentlich nicht nötig, zu suchen; oder man weiß es nicht – wonach soll man dann aber suchen? Polanyi hält fest,

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dass wir von wichtigen Dingen wissen, ohne dass wir dieses Wissen in Worte fassen könnten. Erst wenn unartikulierbares Wissen auch als Wissen anerkannt ist, lässt sich das Menon-Paradoxon auflösen. Doch wenn dieses Implizite uns so selbstverständlich ist, dass es uns nicht bewusst ist – wie kann ich dann als Designerin mir die Selbstverständlichkeiten wieder auf„SOKRATES: Ich verstehe was du sagen willst, schließen und diese verändern? Menon! Siehst du was für einen streitsüchtigen Ein untersuchender Blick auf die einSatz du uns herbeibringst? Dass nämlich ein zelnen Merkmale eines Gesichts, das ich Mensch unmöglich suchen kann, weder was er mühelos erkenne, lässt mir das Gesicht wie weiss, noch was er nicht weiss. Nämlich weder fremd erscheinen, während ich die Einzelwas er weiss, kann er suchen, denn er weiss es merkmale so genau betrachte, wie es nötig ja, und es bedarf dafür keines Suchens weiter, ist, um es zeichnen zu können. Dieses Fremdnoch was er nicht weiss, denn er weiss ja dann werden des schon Erkannten, um es danach auch nicht, was er suchen soll.“147 erneut zum Bekannten zusammenzusetzen, Schon Platon hat im Menon auf diesen Widerbirgt die Möglichkeit für tieferes Verstehen spruch hingewiesen. Die Suche nach der Lösowie für Erkennen von Neuem. Genau in sung eines Problems, sagt er, sei etwas Widerdiesem Potenzial des Stolperns, des Fremdsinniges; denn entweder weiß man, wonach werdens liegt meines Erachtens der Grund, man sucht, dann gibt es kein Problem; oder warum Sinnestäuschungen so aufschlussman weiß es nicht, und dann kann man nicht reich sind für Forschende, die sich mit der erwarten, irgend etwas zu finden. […] Platons Funktionsweise unserer Sinne befassen. Menon demonstriert zwingend, daß wir kein Durch Risse und Brüche können mir meine Problem erkennen oder seiner Lösung zuführen „Brillen“ zuweilen bewusst werden. Neue Erkönnten, wenn alles Wissen explizit, das heißt kenntnisse finden oft gerade entlang solklar angebbar wäre. […] – und auch das wird im cher Bruchlinien statt. Madeleine Akrich ist Menon gezeigt –, daß wir von Dingen, und zwar in diesem Gedanken auf der Suche nach Mewichtigen Dingen wissen, ohne daß wir dieses chanismen der Abstimmung zwischen dem Wissen in Worte fassen könnten.148 Innen und Außen eines Objektes: Das methodologische Problem ist, dass wir, wenn wir die elementaren Mechanismen der Abstimmung beschreiben wollen, Umstände finden müssen, in denen das Innen und das Außen von Objekten nicht gut zusammenpassen. Wir müssen Widerspruch, Verhandlung und das Potenzial für Zusammenbruch finden.149 Bei fast all dem oben Gezeigten geht es um Selbstverständlichkeiten – es kann auch sein, dass eine Ungereimtheit plötzlich zu einer Selbstverständlichkeit wird.A Alles, was wir schaffen, zu einem proximalen Term zu machen, kann als stabilisiert gelten. Egal ob es um Interaktionen geht oder um technische Veränderungen, um soziale Normen und Regeln oder Bedienkonzepte. Ein Beispiel dazu aus dem Film A  Abkürzung zu „Gewohnheiten und Kontexte“, Seite 254.

[EXPONAT 5]  1.4  VERSTEHEN UND WAHRNEHMEN – SICH WUNDERN  091

„iRobot“: Die Wissenschaftlerin der Zukunft ist in der Wohnung des Polizisten mit einer Stereoanlage aus den 1990er Jahren konfrontiert. Sie schafft es nicht, diese auszuschalten, weil sie anscheinend SprachAnalyseprozesse als Zentrierungen der Aufsteuerung so gewohnt ist, dass sie gar nicht merksamkeit auf Subsidien lösen die implizite auf die Idee kommt, nach einem StandbyTriade [Subjekt > proximale Subsidien > distale knopf zu suchen. Auf diese Weise, durch ein Bedeutung, Anm. d. A.] aufgrund der wechselScheitern an dem, was uns vertraut ist, könseitigen Ausschließlichkeit der Bewusstseinsnen uns Selbstverständlichkeiten (also Imebenen zunächst auf. […] Aber die Zerstörung plizites) explizit und damit zugänglich werdes fokalen Gegenstandes kann durch eine erden. neute Verinnerlichung der einzelnen Merkmale wiedergutgemacht werden und die ursprüngliche Bedeutung schärfen und vertiefen.150

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[RAUM 1] – [EXPONAT 6]  1.5  KREATIVITÄT UND ­REPERTOIRE

Exponat 6: Ideen hervorzaubern

Zu sehen: ein Zauberhut. Wer kann, der kann aus diesem Hut Kaninchen, Kuchenstücke, Tücher oder Tauben zaubern. Natürlich nur, wer zaubern kann. Und selbst wer zaubern kann, tut gut daran, was auch immer man herauszaubern will, vorher in den Hut hineinzutun.

Woher kommen die Ideen? Wer ist kreativ? Wovon hängt es ab, ob meine Gedanken als kreativ gelten oder nicht? Vielleicht bringt mich der Hut auf Ideen? Oder hängen meine Ideen mehr davon ab, was ich vorher in den Hut hineingegeben habe?

Wegbeschreibung – der Pfad von diesem Exponat zum nächsten führt über: 1.5.1 Was bedeutet kreativ sein? – Kreative Prozesse  ≥  1.5.2 Problemlösung und ­Kreativität – Dinge anders sehen  ≥  1.5.3 Ein Repertoire an Erfahrungen – Der Boden, auf dem Ideen gedeihen  ≥  1.5.4 Was bedeutet entwerfen? Projektivisches Erkennen – Ideen vor sich hinwerfen

[EXPONAT 6]  1.5  KREATIVITÄT UND ­R EPERTOIRE  093

1.5.1  Was bedeutet kreativ sein? Der Begriff Kreativität meint stets ein Handeln, allerdings ein ganz besonderes Handeln, das sich grundlegend von anderen Handlungsformen unterscheidet. Eine gewisse Neuartigkeit und eine entsprechende Wertschätzung für dieses Neue bedingt die Bezeichnung eines Handelnden als „kreativ“. Destruktive Handlungen werden für gewöhnlich nicht als kreativ bezeichnet, ebenso wenig wie verschlechternde Neuerungen.151 Kreativität Kreativität ist in ihrem Wesen ein situativer Prosteht also meist für neu, nützlich, originell zess, in dem sich erlebte Bedeutungen veränund schöpferisch. dern. […] Was heißt das? Das, was ein KunstKarl Brodbeck, Philosoph und Kreawerk, einen neuen Gedanken, einen neuen tivitätsforscher, weist darauf hin, dass die technischen Prozess als kreativen auszeichnet, Schwierigkeit, Kreativität zu messen, eben kann weder gemessen noch allgemein bedarin besteht, dass in einem Messexperischrieben werden; es hängt ausschließlich ab ment ein etwaiger Experimentator nicht wisvon der Bedeutung, die eine Sache für eine sen könne, welcher Gedanke in welchem ­Person oder eine Gruppe in einer bestimmten Kontext (zum Beispiel Management, Musik, Situation besitzt.152 Malerei) ein neuer, kreativer Gedanke sei. Kreativität ist also etwas, das sowohl situativ auftaucht und auch personen- bzw. gruppenabhängig ist. Welche Faktoren sind der Kreativität hinderlich? Die Alltagsroutine scheint ein Haupthemmnis für Kreativität zu sein. Durch gezieltes Infragestellen der eigenen Selbstverständlichkeiten können mir die proximalen Terme,153 die Einzelmerkmale oder auch sogenannten Clues mit etwas Anstrengung selbst zu fokalem Bewusstsein kommen. Selbstverständlichkeiten können durch Achtsamkeit verändert werden. Genauso gehen auch die von mir interviewten Designerinnen und Designer vor: Im Alltag fragen sie sich ständig: Warum funktioniert dies oder jenes so, wie es funktioniert? Könnte es nicht noch anKreativität wird weder verursacht noch gedere Möglichkeiten geben, wie ein bestimmmacht, sie kann aber dennoch wirksam eingetes Problem gelöst werden kann? Brodschränkt werden. Wodurch? Durch Unachtsambeck merkt dazu an, dass Kreativität nichts keit, durch die Routinen des Denkens, Fühlens ist, was wir herstellen können: „Man sagt: und Handelns. […] Kreativität entfaltet sich Mir kommt eine Idee, nicht: Ich mache eine dann, wenn diese Routinen beachtet, erkannt Idee.“154 Was aber nicht heißt, dass wir durch 155 und verändert werden. Untätigkeit, durch Warten auf Ideen kommen. Wer viel denkt, kommt eher auf neue Gedanken, wer viel macht, wird vielleicht auch viel Neues machen.156 Im Design ist man von Berufs wegen gewohnt, was vertraut ist, zu hinterfragen, man kann üben, etwas als etwas anderes zu sehen, meist spielerisch werden Selbstverständlichkeiten befragt und unter Umständen verändert.

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Kreatives Arbeiten bedeutet also eine Änderung in der Wahrnehmung, die eine neue, originelle Sichtweise bringt. Laut Design Dictionary ist Kreativität immer dann präsent …  … when a person or people undertaking an activity can employ understanding, skill, fluency, and capabilities to gain a new and different perspective on this activity and, through the combination of their imagination and their preexisting understanding, are able to arrive at a genuinely unique and original perception.157 Kreativität ist also zweiteilig, einerseits fußt sie auf gemachten Erfahrungen,158 andrerseits bringt die Imagination ein neues Licht auf diese Erfahrungen und bricht so Selbstverständlichkeiten auf. Ein While creativity is commonly used to describe „Aha-Moment“ oder ein „Heureka-Erlebnis“ the activity of artists, novelists, performers ist die Folge. Obwohl sich der Mythos vom and so on, this can be narrow and misleading. kreativen Genie hartnäckig hält: Kreativität ­Creativity is a quality that is in evidence in all ist keine Eigenschaft, die Künstlern oder Geaspects of human endeavor.159 nies vorbehalten ist. Der Pfad der Idee verläuft in mehreren Phasen, so die Literatur zum Thema „kreativer Prozess“; bereits 1926 hat Graham Wallas diese so zusammengefasst: If we examine a single achievement of thought we can distinguish four stages – Preparation, Incubation, Illumination (and its accompaniments) and Verification.160 Ein modellhafter Prozess verläuft also wie folgt: In der Vorbereitungsphase (Preparation) werden Informationen gesucht und verarbeitet und die Problemstellung angepasst bzw. (re-)formuliert. In der Inkubationsphase konzentriere ich mich entweder auf anderes oder mache eine Pause. Das Auftreten einer Idee, eines neuen Gedankens schließlich wird Illumination genannt, und das Testen und Prüfen dieser Idee nennt Wallas „Verifikation“. Dieses Modell beschreibt vor allem das Verfestigen eines zuerst noch unbestimmten Gedankens, einer Idee. Beim Abschluss des vorherigen Exponats ging es darum, wie es möglich ist, bereits bestehende Selbstverständlichkeiten zu lockern, damit sie neu verstanden werden können.

1.5.2  Problemlösung und Kreativität Um die Dinge anders sehen zu können, ist es notwendig, eine Bedeutung, derer man sich sicher ist, aufweichen zu können. Sich auf die Suche nach neuen Bedeutungen für bereits bekannte Sachverhalte zu machen, in anderen Kontexten reframing genannt, ist ein Unterfangen, das vieler Übung bedarf. Dennoch scheint

[EXPONAT 6]  1.5  KREATIVITÄT UND ­R EPERTOIRE  095

mir durch ungewöhnliche Sichtweisen neue Bedeutung zu ermöglichen als entscheidende Fähigkeit zur Kreativität. Polanyi nimmt so wie beim impliziten Wissen auch bei dem, was er kreative Intuition nennt, eine Zweiteilung vor.A So sieht Polanyi den Ablauf, wenn wir für uns Neues erkennen: We can recognize here two kinds of awareness. We are obviously aware of the object we are looking at, but are aware also – in a much less positive way – of a hundred different clues which we integrate to the sight of the object. […] We are aware of these clues only as pointing to the object we are looking at. I shall say that we have a subsidiary awareness of the clues in their bearing on the object to which we are focally attending.161 Es spielen also zwei Arten der Aufmerksamkeit eine Rolle, wenn ich (für mich) Neues erkenne. Eine subsidiäre und eine fokale Aufmerksamkeit. Die subsidiäre, hintergründige Aufmerksamkeit Clues, ist die Basis für die Bedeutung, der meine fokale Aufmerksamkeit gewidmet ist. Als Clues lassen sich nicht nur Sinnesreize oder Objektdetails benennen, vor allem Theorien, Routinen und Weltanschauungen strukturieren als subsidiäre Elemente meine Wahrnehmungen Searching for, retrieving and using particular vor. Wenn ich nun eine leise Ahnung oder stimuli for inspirational purposes is often eine Idee habe und in eine bestimmte Richachieved via the implementation of more or less tung arbeite, leitet mich laut Polanyi die jeelaborated idea generation methods. Methods weils dichter werdende Kohärenz bis zu dem can range from informal activities, such as acPunkt, wo mir tatsächlich eine neue Entdetive/passive searching, collaborating, and sockung zugänglich wird.162 cialising to very formal procedures like brainFür die Ideenphase (Ideation) gibt es etstorming and morphological analysis. Design liche Techniken, um den Prozess in Gang zu methodology literature provides information on bringen oder zu begünstigen. Kreativitätsa vast number of methods aiming to support techniken zur Ideengenerierung stehen im the different phases of the design process. […] Design hoch im Kurs. Ideation methods have been broadly categoIntuitive Methoden, die dennoch eirised into two main groups: intuitive e. g., brainner gewissen Struktur folgen, zielen vorranstorming, roleplaying, metaphors, synectics; gig darauf ab, mit einer gewissen Routine zu and logical e e. g., TRIZ and forward steps.163 brechen und mentale Hemmnisse zu überwinden. Einer Entdeckung oder einer neuen Idee, so Polanyi, gehe der Glaube an eine wie auch immer geartete Lösung voraus. Schließlich richtet man den Blick nach vorn und die Entdeckung …

A  Abkürzung zu den zwei Termen des impliziten Wissens, Seite 038.

096  RAUM [1] – ­D ESIGN UND ­I MPLIZITES ­W ISSEN 

 … beginnt mit ein paar Hinweisen auf ein Problem, hier und da Andeutungen und Bruchstücken, die auf etwas Verborgenes schließen lassen und wie Fragmente eines noch unbekannten zusammenhängenden Ganzen erscheinen.164 Dieses ahnungsvolle Streben nennt er die Vorstufe hin zu einer neuen Erkenntnis. Die Arbeit an bestimmten Lösungen beginnt, während die Designaufgabe als eine lösbare formuliert wird. Ein iterativer Prozess zwischen Problemformulierung und Einkreisen einer möglichen Lösung kommt in Gang. Nigel Cross stimmt dem zu, wenn er sagt: „Defining and framing the design problem is therefore a key aspect of creativity.“165 So stellt sich die kreative Lösung nicht blitzartig ein, sondern entsteht wie ein Trampelpfad zwischen Problemformulierung und kreativer Lösung. Wie vorhin erwähnt, kann das Explizit-Machen der Selbstverständlichkeiten ein wichtiger Schritt für das Erschaffen von neuen Gedanken und Ideen sein. Den unsichtbaren Untergrund zur Sprache zu bringen, das Stillschweigen der t­ acit dimension zu überwinden, stellt eine Art Mobilisierungsprozess dar: „The articulation of tacit perspectives is a kind of ‚mobilization‘ process – a key factor in the creation of new knowledge.“166 Auch hierbei kann man sagen, dass es weniger „die eine Erleuchtung“ gibt, sondern eine Lösung sich vielmehr Schritt für Schritt abzeichnet. Es braucht so einige „Aha“ Momente, bis aus einer ersten Idee ein serienreifes Produkt entwickelt ist. [R. W.] formulierte im Interview: „Idee kann der Mann da drüben auch eine haben, aber die Entwicklung einer Idee hin zum Produkt, […] dafür sind Designer die Experten.“167

1.5.3  Ein Repertoire an Erfahrungen Bei einem Interview mit [R. B.]168 in London erzählte mir der Designstudent, der bereits als erfolgreicher Inhaber seiner eigenen Designagentur tätig war, dass Menschen, die schon viel erlebt hätten, normalerweise auf viel mehr und bessere Ideen kämen als Menschen, die bisher erst wenig Eindrücke in ihrem Leben gesammelt hätten. Er ist der Überzeugung, dass Intuition „oder wie auch immer man diesen Raum nennt, aus dem man seine Ideen holt.“ vergleichbar wäre mit einem Fundus – je größer mein Repertoire, desto ausgefallener und vielfältiger können meine Ideen werden. [R. B.] ist nicht allein mit diesem Gedanken: Participants who possess large and unconstrained amounts of prior knowledge, or whose boundaries for topics overlap widely, would seem to be able to generate both more and better quality solutions.169

[EXPONAT 6]  1.5  KREATIVITÄT UND ­R EPERTOIRE  097

Deshalb sei es gut und wichtig, sich auf möglichst viele und möglichst unterschiedliche Erfahrungen einzulassen, stets neugierig zu bleiben; das bejaht auch einschlägige Ratgeberliteratur.170 Daten, wie zum Beispiel Ergebnisse aus Marktumfragen, gereichen im Design also eher nicht zur Inspiration. Am eigenen Leib Erfahrungen zu machen, sei es mittels Rapid Prototyping, immersions171 oder empathic researchA, sind wichtige Erfahrungen, die Design als Ausgangspunkt braucht. Jane Fulton Suri nennt dieses Nähren der Kreativität auch „Informing our Intuition“, sie schreibt: I’m fairly convinced that the people who did the Finder Sounds probably never saw and heard the SonicFinder, even if they had heard about it. It took about ten years from the original SonicFinder before Finder Sounds were released. I think it’s a good example of how the kind of ­research we do folds into a sort of background consciousness, and then reappears later, sometimes without people even realizing it. I take that as a hopeful sign.174

For radical innovation, we need both evidence and intuition: evidence to become informed, and intuition to inspire us in imagining and creating new and better possibilities.172

Dies gilt nicht nur für Individuen, sondern auch für Designteams, die projektübergreifend arbeiten. Hier wird an einem Hintergrundwissen mitgearbeitet, das oft erst nach langer Zeit Früchte trägt: Bill Gaver173 erzählt von seinem SonicFinder, einer Studie in den späten 1980er Jahren für Apples Betriebssystemnutzeroberfläche als eine Vorarbeit für die Finder Sounds, die erst sehr viel später das Licht des Marktes erblickten und nicht mehr allzu sehr seinen ersten Experimenten ähnelten. Er meint, erste Erkenntnisse und Experimente auf einem völlig neuen Gebiet verhalten sich öfter wie eine Art Hintergrundwissen, das erst Unsere Entdeckungssuche beginnt an den unabsehbar später zum Tragen komme. Die ­Rändern eines Problems; je weiter wir kommen, Sounds der Benutzeroberfläche blieben midesto verbissener gehen wir neuen Fingerzeinimal, bis Cordell Ratzlaff etwa zehn Jahre gen nach, und wenn uns die Entdeckung endspäter sich an das Design der Finder Sounds lich gelingt, sind wir von diesem neuen Blick auf heranwagte. die Realität gefesselt.175 Der Boden, auf dem neue Ideen gedeihen, ist also keineswegs bewusst, sondern oft nicht artikulierbar – aber dennoch vorhanden. In einem Projekt arbeite ich mich von dem, was mir bekannt ist, mittels Entwürfen hinein in noch unergründetes Terrain.

1.5.4  Was bedeutet entwerfen? Projektivisches Erkennen Sich noch nicht Gedachtes zu erschließen, kann mittels Entwurfstechniken wie zum Beispiel Zeichnungen oder Mindmaps gelingen. Noch nicht in Worte zu Fassendes A  Abkürzung zu Kapitel 2.7.4 „Empathy Tools“, Seite 179.

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Bild 20: Projektivisches Erkennen

kann schon erahnt werden: Dieser Felt Sense ist ein zentraler Begriff im ­Focusing. Eugene T. Gendlin war dem Phänomen auf der Spur, dass man, bevor man etwas in Worten explizit formulieren kann, eine Art Choose something you know and cannot yet say, Körpergefühl, einen Felt-Sense176, davon hat. that wants to be said. Have this knowing as a Diesen kann man unter Einbeziehung körfelt sense (a distinct bodily-felt unclear edge) perlichen Erlebens entlang eines von ihm to which you can always return. […] What you ­erforschten und beschriebenen Prozesses in choose to work on needs to be in a field in which die Wirklichkeit explizieren, aus sich herausyou are knowledgeable and experienced. Do not bringen und mitteilbar machen. work on a question, but on something that you Die eigenen Ahnungen in Form von know. There is something that you know very Entwürfen als Trittsteine für neue Ideen zu thickly from years of experience but which is nutzen, hat Otl Aicher als projektivisches Dendifficult to talk about … it may seem illogical … ken beschrieben. Er beschreibt das projekmarginal … unconventional … awkward … or it tivische Denken als einen Gegensatz zum may simply be that language seems not to work rezeptiven (Mit-)Denken. Wenngleich seine here.177 Wortwahl zwischen Denken und Erkenntnis eine Gleichsetzung vornimmt (die ich nicht teile), möchte ich hier seine Beschreibung nachzeichnen: Er unterscheidet zwischen dem kreativen (projektivischen) Überlegen und ­einem die ­Natur wahrnehmenden Denken. Das „vor-sich-hinwerfende“ Denken

[EXPONAT 6]  1.5  KREATIVITÄT UND ­R EPERTOIRE  099

besteht aus Ent­­würfen, diese verdeutlicht er als „Würfe in das Unbekannte hinein“. Bezeichnet doch die Vorsilbe ent- meist ein „aus etwas hinaus“, so heißt also entwerfen, aus dem Bekannten heraus-werfen. Machen ist hier ein Denkmodus, nicht etwas, das das Denken ergänzt oder dem Denken nachfolgt, sondern eine eigene Art zu denken.178 Diesen Gedanken unterstützt auch Richard Sennett: In den Anmerkungen zu seinem Buch Handwerk beschreibt er, wie ihn jemand bat, in einem einzigen Satz zuumreißen, was er mit ihm vorrangig zeigen wollte: „Machen ist Denken.“179 Eine Zeichnung oder ein rasch gebasteltes Modell bis hin zum Rapid Proto­ typing einer Idee kann also einen Weg in bisher Unbekanntes eröffnen, genauso helfen Mindmaps dabei, mit Bekanntem den Weg ins bisher Ungedachte hineinzufinden und damit Neuland zu erkunden.

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[RAUM 1]  1.6  CONCLUSIO | INTUITIV BENUTZBAR | ­ÜBERGANG RAUM 2 Überblick Exponat [2] – [Die Tastatur] …   hat gezeigt, aus welchen Teilen Design besteht, wer involviert ist, wie Design zwischen Kunst, Industrie und einzelnen Menschen verortet ist und was Design bedeuten kann. Die Fragen „Was wird gestaltet? Womit beschäftigen sich Designerinnen und Designer?“ dienen der Erkundung und Abgrenzung einzelner (Design-)Disziplinen. Ein zentraler Begriff – Interface – wird eingeführt und diese Schnittstelle zwischen Mensch und Objekt als Gestaltungsdomäne von Design erklärt. Wann Formen aufgebrochen werden können und damit Selbstverständlichkeiten verunsichert werden können, steht dem Phänomen „Pfadabhängigkeit“180 gegenüber, in dem bestimmte Formen um jeden Preis beibehalten werden.

Exponat [3] – [Buchstabenleere Tastatur | Was tun wir, wenn wir etwas wissen] …   hat gezeigt, dass wissen mit kleingeschriebenem „w“ eine Tätigkeit ist, für die Menschen ihren ganzen Körper brauchen (und nicht nur ihr Gehirn) und zu der Menschen auch ihre Umgebung benutzen. Für das Thema implizite Vermittlung ist dies eine grundlegende Erkenntnis. Der Begriff implizites Wissen wurde erklärt, explizit/implizit voneinander abgegrenzt und auch zueinander in Beziehung gesetzt. Die Frage, ob sich jedes implizite Wissen explizieren lässt, wird erkundet und schließlich das Wissen nach Polanyi in die beiden Terme proximal und distal zerlegt.

Exponat [4] – [Werkzeug Bleistift | You are what you use] …   hat gezeigt, dass wir mithilfe von Werkzeugen unsere physischen und geistigen Grenzen erweitern können. Werkzeuge spielen in der Struktur impliziten Wissens eine wichtige, vermittelnde Rolle. Wie das Integrieren von Werkzeugen (nach Polanyi) geschieht, ist die Basis für die Erkundung, wie zentral die Hand für das Denken ist – die Hand hilft begreifen. Machen ist denken – es wird versucht, die geschichtlich neue Trennung von Kopf und Hand wieder zu überwinden. Das Zeichnen und Entwerfen sind Möglichkeiten, das Denken auf das Papier hin zu erweitern.

1.6  CONCLUSIO | INTUITIV BENUTZBAR | ­Ü BERGANG RAUM 2  101

Exponat [5] – [Was können uns Sinnestäuschungen über unsere Wahrnehmung erzählen?] Verstehen ist eine zutiefst persönliche Erfahrung. Verstehen kann man nicht delegieren. Designerinnen und Designer sind gefordert, antizipieren zu können, was potenzielle Nutzende verstehen werden bzw. welche Gestalten sie erkennen werden. Gestaltung passiert vor- und mitsinnlich – genau dort, wo bei Menschen aus der Wahrnehmung Bedeutung entsteht, greift das Design ein. Die Struktur impliziten Wissens (die beiden Terme) werden mit Beispielen aus der Gestaltpsychologie verbunden. Eine Sinnestäuschung kann viel Aufschluss geben über die Funktion des jeweiligen Sinnes. Es gibt die Möglichkeit, in das Integrieren von Termen einzugreifen, zu beeinflussen, wie Theorien/Sachverhalte, Geräte etc. erkannt werden, indem man ihnen Bedeutung zuweist. Entlang aktueller Wahrnehmungstheorien und Sinnesphysiologien werden die einzelnen Sinne darauf untersucht, was sich am Rand des Bewusstwerdens abspielt, wo sich Implizites und Explizites entwickeln.

Exponat [6] – [Ideen hervorzaubern | Kreativität und Repertoire] Implizites Wissen in Verbindung mit Kreativität bietet ergänzende Sichtweisen für den ersten Raum. Erlebtes bietet wichtige Referenzpunkte für das aktuell Erfahrene, aus Erfahrungen kann Inspiration geschöpft werden. Projektivisches Denken ermöglicht Entwürfe, Würfe über das Bekannte hinaus.

Übergang zu Raum [2] Wenn ich intuitiv weiß, wie etwas zu benutzen ist – liegt es am Ding oder an mir? Weder – noch: Das Dazwischen besteht in der kunstvollen Z ­ usammenführung des proximalen und des distalen Terms impliziten Wissens. Dies geschieht völlig unbewusst, ist jedoch eine Konstruktionsfähigkeit eines jeden Individuums. Zum Beispiel: Das Wissen um einen Sachverhalt, das Unterscheiden-Können zwischen Klängen von Querflöte und Oboe oder das Unterscheiden-Können, um einen Wagen einer bestimmten Marke zu erkennen und zu identifizieren. Implizite Vermittlung ist etwas, das sich zwischen Menschen und Dingen ereignet und daher schwer zu verorten, aber definitiv nicht von der Hand zu weisen ist. So wie die Musik weder im Menschen noch im Instrument allein zu verorten ist, sondern auf dem kunstvollen Zusammentreffen beider beruht und sich dann ereignen kann, ist auch die implizite Vermittlung situationsgebunden und nicht an einem der Beteiligten zu finden, sondern gewissermaßen zwischen den Einzelnen zu suchen.

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Einzeln kann nun hier Akteur oder Aktant bedeuten und damit beginne ich im nächsten Raum den Einzelheiten, den einzelnen Facetten proximaler Terme zu folgen. Zu Beginn mit der designtypischen Unterscheidung zwischen Material und Form. Ich beginne also bei den Dingen und suche ihren Beitrag zum Gelingen dieses Zusammentreffens, von besagten erlernten Einzelkriterien, Material über Form und Farbe bis hin zu Designschaffenden, die diese Dinge in Wirkungszusammenhängen in einer bestimmten Absicht zueinanderführen.

1.6  CONCLUSIO | INTUITIV BENUTZBAR | ­Ü BERGANG RAUM 2  103

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Übersetzt nach Victor v. Strauss, 1870. Hustwit, 2009, Dokumentation, 75 Min., Swiss Dots Production (00:04:30). Vgl. Moggridge, 2007, S. 101. Vgl. https://web.archive.org/web/19970104025145, http://www.research.apple.com/welcome/, ebenso Don Norman, der 1993 zu Apple kam und dort die Bezeichnung User Experience Design für seine Unternehmungen prägte. 5 „Olivetti: Design in Industry“, vgl. http://www.moma.org/learn/resources/archives/archives_exhibition_ history_list#1950 (Zugriff: Mai 2016). 6 Antonelli, 2003, S. 242. 7 In Anlehnung an Hughes, 1979, S. 124. 8 Vgl. z. B. Koenig, 2005. 9 Clarke, 1999. 10 Kozel, 2013, S. 61. 11 Vgl. Walker, 1992 sowie Schepers & Schmitt (Hrsg.), 2000. 12 Dreyfuss, 2003, S. 19. 13 Hustwit, 2009, wobei er zum Abschluss des Interviews kichernd anmerkte: „… that‘s quite obsessive, isn‘t it?“. 14 Ibid. 15 Ive, Jony, zit. n. Antonelli, 2003, S. 242. 16 „Jony Ive will provide leadership and direction for Human Interface (HI) across the company in ­addition to his role as the leader of Industrial Design. His incredible design aesthetic has been the driving force behind the look and feel of Apple’s products for more than a decade.“ Aus der Pressemitteilung des Apple-Konzerns vom 29. Oktober 2012, abrufbar unter http://www.apple.com/pr/library/2012/10/29Apple-Announces-Changes-to-Increase-Collaboration-Across-Hardware-SoftwareServices.html (Zugriff: Juni 2013). 17 In Raum [3] wird noch nach weiteren Parallelen zu heterogenous engineering (vgl. Law, 1987, S. 112) ­gesucht, wo es darum geht, in welchen networks im Sinne von Macht- und Kräftegefügen Designerinnen und Designer tätig sind, siehe S. 267, Kapitel 3.4.3 Verändern, ohne zu verändern. 18 Vor allem in der Oberflächenphysik und -chemie. 19 Khazaeli, 2005, S. 14, S. 204 ff. 20 Bonsiepe, 1994, S. 14. 21 Bonsiepe, 1993, S. 31. 22 Ibid., S. 31, Hervorh. im Orig. 23 Ibid., S. 31. 24 Anm. d. A.: Es erstaunt mich daher, dass die Bereiche Design sowie Technik- und Wissenschaftsforschung bisher noch nicht weitaus mehr Austauschmöglichkeiten gefunden haben, ist doch für beide Bereiche charakteristisch, Mensch und Technik gemeinsam in den Blick zu nehmen und nicht nur einen dieser beiden. 25 Onlinearchiv zur Ausstellung: http://www.moma.org/interactives/exhibitions/2001/workspheres/ (­Zugriff: April 2014). 26 In einigen Blogposts, z. B. www.incrediblethings.com/tech/best-keyboard-ever/ sowie auf de.engadget.com/tag/Hella+Jongerius/ und the305.com/2012/12/04/best-keyboard-ever/ (Zugriff: April 2014), wünschen sich die Schreibenden, dass man diese Tastatur doch kaufen könnte. Diese Posts häufen sich aber erst seit etwa 2012. Ein Detail am Rande – in den Kommentaren zu den Postings erklärte eine der holländischen Sprache mächtige Person den Wortwitz, der außerdem noch hinter diesem Entwurf steckt: Tastatur heiße auf Niederländisch „toetsenbord“ und als „toets-en-bord“ gelesen ließe es sich ungefähr als „Taste-und-Teller“ zurückübersetzen. 27 Bilder von http://www.jongeriuslab.com (Zugriff: April 2014). 28 Selle, Gert: Designgeschichte, S. 7, zit. n. Schneider, 2005, S. 13. 29 Wie zum Beispiel die Dvorak-Tastaturbelegung, entstanden bereits in den 1930er-Jahren, vgl. Longstreth et al., 2005. 30 Vgl. Schott, 2011. 31 Vgl. Andrade, 2010. 32 Versuchsablauf aus dem Abstract: „[…] 40 participants monitored a monotonous mock telephone message for the names of people coming to a party. Half of the group was randomly assigned to a ‚doodling‘ condition where they shaded printed shapes while listening to the telephone call. The doodling group

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performed better […] and recalled 29% more information on a surprise memory test. Unlike many dual task situations, doodling while working can be beneficial“ (Andrade, 2010). Barry, 2008, S. 106. Interview mit [E. O.], d_eo_1074, April 2008, 00:09:34. Anm. d. A.: In manchen meiner ersten Interviews übergab ich die Filmkamera meinem Gegenüber, um mehr über ihren Standpunkt zu erfahren. Da die Interviews aber im weiteren Forschungsverlauf einen anderen Stellenwert als geplant einnahmen, wurde auf eine gesonderte Auswertung der Blickwinkel verzichtet. Näheres zur Forschungsmethodik hinter dieser Ausstellung siehe S. 195. „It is natural to think of believing as involving entities, beliefs, that are in some sense contained in the mind. When someone learns a particular fact, for example, when Kai learns that many astronomers no longer classify Pluto as a planet, he or she acquires a new belief –in this case, Kai acquires the belief that many astronomers no longer classify Pluto as a planet. The fact in question – or, more accurately, a representation, symbol, or characterization of that fact – may be stored in memory and accessed or recalled when necessary. To have a fact represented in the mind in this way is to possess the corresponding belief.“ Quelle: Stanford Encyclopedia of Philosophy, http://www.faculty.ucr.edu/%7Eeschwitz/SchwitzPapers/BeliefEntry030227.html (Zugriff: Januar 2015). Vgl. Woodruff, 2005. Vgl. etwa Cowart, 2005. Embodied Cognition, Internet Encyclopedia of Philosophy, http://www.iep.utm. edu/embodcog/ (Zugriff: Januar 2015). Vgl. Blackler, 1995. Vgl. Polanyi, 1966. „Delegieren“ bzw. „translate“ sind die Worte, die Bruno Latour meist verwendet, vgl. etwa Latour, 1990. Anm. d. A.: Wie also Dinge unsere Handlungen strukturieren bzw. in unser Handeln eingebettet sind oder wie wir sie einbetten. Anm. d. A.: Text oder Sprache sind in vielen Gestaltungsbereichen bei Weitem nicht das erste Mittel der Wahl, wenn es um Vermittlung von Botschaften geht – man stelle sich vor, eine Firma würde in ihrem Briefpapier, statt mithilfe des Papiers, der Schriftart, Farbwahl etc. ihre Seriosität zu kommunizieren, einfach mit Filzstift auf das Papier schreiben: „Wir sind eine seriöse und vertrauenswürdige Firma. Kaufen Sie bei uns.“ Wäre das glaubwürdig? Die Dinge um uns herum kommunizieren auf vielschichtige Weise mit uns: Das Papier, auf dem der Text gedruckt ist, sollte nichts anderes erzählen als der Text, der auf ihm steht, und die Schriftart, in der der Text gesetzt ist. Je konsistenter die verschiedenen Gestaltungsmöglichkeiten genutzt werden, um dieselbe Botschaft zu erzählen, desto größer ist die Chance, von möglichst vielen Menschen im Sinne des oder der Gestaltenden richtig verstanden zu werden. Norman, 1988, S. 9. Etwa Mareis, 2011, S. 254. Vgl. Polanyi, 1958. Vgl. Neuweg, 1999. Polanyi, 1985, S. 50. Das Originalzitat lautet: „Rules of art can be useful, but they do not determine the practice of an art; they are maxims, which can serve as a guide to an art only if they can be integrated into the practical knowledge of the art. They cannot replace this knowledge“ (Polanyi, 1958, S. 50). Niedderer, 2007, S. 5. Polanyi, 1985, Implizites Wissen, S. 15. Vgl. „Deixis“ bei Lösener, 2010. Anmerkung: „contextus 3“ aus dem Lateinischen bedeutet in etwa „verweben, verknüpfen“. Anmerkung: Genaueres zum Entstehen dieser Ausstellung siehe Abschnitt „Darstellungsprozess als Forschungsprozess“, S. 305. Vgl. z. B. Polanyi, 1985; Neuweg, 1999; oder Katenkamp, 2011. Neuweg, 1999, S. 24. Siehe Latour, 2005a. Ibid., S. 104. Sloterdijk, 2004, S. 148. Vgl. Buchtitel Watches Tell More Than Time. Product Design, Information, and the Quest for Elegance von Del Coates (New York, NY: McGraw-Hill, 2003). Mayer, 1837, S. 803: „Etwas mit den Fingern fassend ziehen oder reißen. Pflücken gehört […] mit dem lateinischen plicare und dem griechischen πλέκειν (plekein), welche beide Wörter so viel als: biegen,

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­falten, flechten bedeuten, zu einem Stamme, und bedeutet daher ursprünglich so viel als: etwas biegend reißen. „Wer eine Blume pflückt, der biegt ihren Stängel und reißt sie auf die Art ab.“ Rupfen, welches im Gothischen raupian lautete, ist eine Verstärkungsform von raufen (s. raffen, raufen), und deutet daher auf ein starkes, heftiges Ziehen und Reißen; während dagegen pflücken ein schwächeres, gelinderes und sanfteres Reißen bezeichnet, wie man es bei weichen, nachgiebigen Körpern, die man mit Fingern biegen und zerknicken kann, anzuwenden pflegt. Man pflückt die Blumen und reißt das Unkraut aus, das sich eingewurzelt hat.“ Tonkinwise, 2008, S. 5. Katenkamp, 2011, S. 58 ff. Vgl. z. B. Katenkamp, 2011. Mareis, 2012, S. 65. Schön, 1983, S. 49. Polanyi, 1985, S. 14. Frei nach Neuweg, 1999, S. 12 ff. Polanyi, 1985, S.14, engl. Orig.: „I shall reconsider human knowledge by starting from the fact that we can know more than we can tell.“ Brühman zit. n. Polanyi, 1985. Ibid., S. 18. Polanyi, 1958, S. 10 (Implizites Wissen). Ibid., S. 91. Ibid., S. 92. Aicher, 1989, S. 41. Tonkinwise, 2008, S. 8. Polanyi, 1985, S. 21. Ibid., S. 20. Clark, 2003, S. 7. Polanyi, 1985, S. 10: „[…] persönliche Bedingtheit des Wissens. […] Es hat eine von-zu-Struktur.“ Polanyi, 1958, S. 55. Burckhardt, 1995, S. 23. Auch bekannt als Law of the Instrument (Maslow, 1966). Aicher, 1991, S. 19. Sennett, 2008, z. B. S. 61. Im 15. Jahrhundert wuchs außerdem erstmals eine „Papierindustrie“, die sich zusammen mit der ­Verbreitung des Buchdrucks entwickelte, und versetzte dann erst Künstler in Europa in die Lage, ­Entwurfszeichnungen in größerem Ausmaß anzufertigen (Goldschmidt, 2003, S. 80). Tonkinwise & Lorber-Kasunic, 2006, S. 3. Vgl. auch Schön, 1983. Vgl. Tonkinwise & Lorber-Kasunic, 2006. Polanyi, 1985, S. 15 (Implizites Wissen). Vgl. Schmitz & Groninger, 2012. Interview vom 11.12.2014. Cross, 2007, S. 53. Clark, 2003, S. 77. Mäkelä et al., 2014, S. 4. Goldschmidt, 2003, S. 83. Ibid., S. 83. Cross, 2007, S. 55. Ibid., S. 57, Hervorh. im Orig. Verplank, 2009, S. 3. In Cross, 2007, S. 52. ibid., S. 58: „Because the design problem is itself ill-defined and ill-structured, another key feature of design sketches is that they assist problem structuring through solution attempts.“ Vgl. z. B. Edwards, 1993. Hoffman, 2003, S. 22. Metzger, 1936, Täuschung von Roger Shepard, S. 68. Böhme, 2006, S. 69. Woodruff, 2005, S. 27.

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107 Neuweg, 1999, S. 136. 108 Hentig, 2003, S. 27. 109 Rehbein & Saalmann, 2009, S. 8: „In der Odyssee (16, 136; 17, 193) ist davon die Rede, dass man die Worte eines anderen Menschen verstehe, wenn man ähnliche Gedanken hege. Homer verwendet hierfür die Vokabel gignóskein, die noch von Plotin in derselben Bedeutung gebraucht wird. Das Wort kann auch „erkennen“ bedeuten. […] Ein Zusammenhang von „erkennen“ und „verstehen“ kann kaum in Frage gestellt werden. Er ist jedoch nicht in allen Sprachen so offenkundig wie im Altgriechischen.“ 110 Eames, 2007 (00:07:44). 111 Tonkinwise, 2014, S. 5. 112 Zit. n. Moggridge, 2007, S. 648. 113 Moggridge, 2007, S. 665. 114 Berger, 2014, S. 104. 115 Cross, 2007, S. 17. 116 Edwards, 1993, S. 21. 117 Cross, 2007, S. 53. 118 Vgl. [C. G.], MVI_0749.avi, 2008. 119 https://www.rca.ac.uk/research-innovation/research-centres/helen-hamlyn-centre/ (Zugriff: Januar 2020). 120 Vgl. Lecanides-Arnott, 2014. 121 Siehe z. B. Süß et al., 2004, S. 115: „Erfinden und finden muss er wollen, mit Spaß sehen und kluge Ideen entwickeln. Allein die Qualität des richtigen Sehens ist eine der wichtigsten Voraussetzungen, um kreativ sein zu können. Sehen ist die Grundlage von Erkenntnisprozessen, Grundlage von geistigen Kompositionen und letztlich vom Einschätzen aller Zusammenhänge. Lernen, ohne zu sehen, ist unmöglich und sehen ohne zu lernen, ausgeschlossen. Fehlt einem Menschen diese grundlegende Eigenschaft oder zumindest die Lernbereitschaft dafür, fehlt ihm gleichermaßen eine der wichtigsten Grundlagen eines solchen Berufsweges.“ 122 Anm. d. A.: Polanyi formuliert an einer Stelle, in Tacit Dimension, S. 70, wie folgt: „Ein Problem darf uns nicht in Ruhe lassen, sonst ist es kein Problem. Entweder treibt es uns, oder es ist keins. Niemals könnten wir angeben, um was sich unsere Obsession, die uns anspornt und lenkt, eigentlich dreht. Ihr Inhalt ist undefinierbar, indeterminiert, ganz persönlich.“ 123 Vander, Sherman & Luciano, 2001, S. 228. 124 Ibid., S. 168 ff. 125 Vgl. Getzinger, 2005. 126 Grunwald, Martin: Haptik, in Schmitz & Groninger, 2012, S. 96. 127 Ibid., S. 95. 128 Ibid., S.106–109. 129 Anm. d. A.: Taktile Wahrnehmung ist besser erforscht als die haptische, kommt im Alltag jedoch äußerst selten vor. Sie ist schlichtweg einfacher zu erfassen und zu messen. 130 Schmitz & Groninger, 2012, S. 97. 131 Polanyi, 1985, S. 15. 132 Scott, 1985, S. 57, zit n. Neuweg, 1999, S. 137. 133 Vgl. Katz, 1969. 134 Vgl. Ibid. 135 Ibid., S. 43. 136 Polanyi, 1971, S. 146. 137 Zit. n. Neuweg, 1999, S. 138. 138 Abb. aus Seyler, 2004, S. 42. Original aus Metzger, 1936, S. 22, wenn auch in leicht unterschiedlichem Zusammenhang. Metzger zeigt es vorwiegend als ein Beispiel für Umrissergänzung. 139 Abb. übern. aus Hoffman, 2003, S. 42. 140 Vgl. Necker, 1832. 141 Vgl. Hoffman, 2003. 142 Hoffman, 2003, S. 104. 143 https://www.ted.com/speakers/beau_lotto (Zugriff: April 2016). 144 Changizi et al., 2008, S. 459–503. 145 Die Autoren beziehen sich dabei auf folgende Artikel: Lennie, P. (1981): The physiological basis of variations in visual latency. Vision Research, 21, 815–824; Maunsell, J. H. R., & Gibson, J. R. (1992): Visual response latencies in striate cortex of the macaque monkey. Journal of Neurophysiology, 68, 1332–1344;

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sowie Schmolesky, M. T., Wang, Y., Hanes, D. P., Thompson, K. G., Leutger, S., Schall, J. D., et al. (1998): Signal timing across the macaque visual system. Journal of Neurophysiology, 79, 3272–3278. Für Ausgangsdaten vgl. z. B. Fischer & Ramsperger, 1984, oder Gegenfurtner, 2016. Schleiermacher, 1865: Platon: Menon (De Virtute), in Platons Werke, zweiter Teil des ersten Bandes, 3. Auflage, Berlin 1856. Polanyi, 1985, S. 29. Akrich, 2006, S. 409 (Übersetzung d. A.). Neuweg, 2004, S. 353. Brodbeck, 2010, S.19 ff. Ibid., S. 1, Hervorh. im Orig. Proximal/Distal-Erklärung siehe S. 38. Brodbeck, 2010, S. 19. Ibid., S. 3, Hervorh. im Orig. Ibid., S. 21. Erlhoff & Marshall (Hrsg.), 2008, S. 92. Gonçalves et al., 2014, S. 34: „The relationship between expertise and creativity is a close one. Whilst knowledge in a particular domain does not automatically imply creative solutions, research has shown that significant creative contributions in certain domains were usually made by individuals who were very knowledgeable in that particular field.” Erlhoff & Marshall (Hrsg.), 2008, S. 92. Wallas, 2014, S.37 ff. Dutton & Krausz, 1981, S.94, Hervorh. im Orig. Vgl. Polanyi, M., The Creative Imagination; Dutton & Krausz, 1981. Gonçalves et al., 2014, S. 33. Polanyi, 1985, S. 69 f. Zit. n. Dorst, 2006, S. 431. Nonaka, 1994, S. 16. Interview mit [R. W.], DS230062.mp3, 2008, 00:23:15. Interview mit [R. B.], DS230065_c.mp3, 2008, 00:54:10. Vgl. z. B. Marsh et al., 1999. Vgl. z. B. Dougher & Berger, 2003. So genannt von [N. M.], DS230042, 2008, 00:16:30: Er beschreibt eine berufliche Reise nach Indien als In­-Kontakt-Kommen mit der Lebenswelt, für die designt wird. Suri, 2008, S. 57. Moggridge, 2007, S. 578. Ibid., S. 578. Polanyi, 1985, S. 74. Stumm & Pritz, 2010, S. 205. Vgl. Gendlin, 2004, Introduction to Thinking at the Edge. Aicher, 1989, in Archplus, 98, S. 40–43. Sennett, 2008, S. 393. Vgl. z. B. Arthur, 1989.

108  RAUM [1] – ­D ESIGN UND ­I MPLIZITES ­W ISSEN 

Raum [2] – ­Praxis der ­impliziten ­Vermittlung

„We can know more than we can tell.“  michael polanyi Das heißt, wir können mehr wissen, als wir zu sagen wissen. Implizite Vermittlung ist die Art und Weise, wie wir mehr erfahren, als wir dann zu sagen wissen. Implizite Vermittlung – wo und wie tritt sie in Erscheinung? Wie wird sie gestaltet? • Dinge ringen uns bestimmte Reaktionen auf sie ab. Wir haben manchmal kaum eine Wahl, auf die Dinge so zu reagieren, wie wir es tun. (Es hat ja meistens auch seinen Sinn.) • Die Dinge sagen uns mehr, als uns bewusst ist. Implizite Vermittlung bedeutet, dass die Dinge uns mehr vermitteln, als wir bewusst zu sagen wissen. Von einzelnen Vermittlungsmöglichkeiten wie Material, Oberfläche, Form oder Farbe, von präzise beschreibbaren Details hin zu der Art und Weise, wie sie uns im Alltag begegnen: in Union. In Raum [2] wird sich zeigen, was ich in Raum [1] angedeutet habe: Anhand von Beobachtungen und Forschungsergebnissen kann belegt werden, wie eng menschliches Verhalten, Denken und auch Entwerfen mit Dingen und Werkzeugen verflochten sind. Der Begriff Affordances wird eingeführt, er bezieht sich auf die wahrnehmbaren Interaktionsmöglichkeiten, die uns ein Objekt anbietet. Genauer betrachtet, sind es beispielsweise Materialien, die uns Hinweise geben (streichel mich, zerschlag mich, fass mich nicht an …), aber auch Formen und Farben per se lassen uns nicht unorientiert und unvoreingenommen Objekten begegnen. Wie erwähnt führt der erzählerische Weg von Einzelheiten zu Zusammenhängen, die dann eine Situation ausmachen: Lichteinfall, Umgebungstemperatur, Luftfeuchtigkeit als äußere Faktoren zusammen mit all den Faktoren, die mit mir als Person zu tun haben: meine Körpergröße, mein Blickfeld, meine Sichtweise, meine Gewohnheiten, mein Vorwissen, meine Auffassungsgabe, meine Vorlieben, mein Repertoire an Wissen und Einstellungen. All dies und noch viel mehr bedingt eine Situation. Designerinnen und Designer erschließen sich diese Gestaltungszusammenhänge. Wenn sie etwas wahrgenommen haben, wie teilen sie es mit anderen an der Gestaltung Beteiligten, mit ihren Teams? Wenn es Möglichkeiten gibt, ihre Erfahrungen anderen zugänglich zu machen, bleibt zu erkunden, wie sie es schaffen, ihr implizites Wissen zugänglich und anschlussfähig zu machen. Der Weg führt, wie gesagt, vom analysierbaren Detail zum wirksam werdenden Zusammenhang.

112  RAUM [2] – ­P RAXIS DER ­I MPLIZITEN ­V ERMITTLUNG 

[RAUM 2] – [EXPONAT 7]  2.1 MATERIALDENKEN

Exponat 7: Metalldrücklampe

Metallklemmleuchten in einem Möbelhaus. Die Anschauungsstücke werden offensichtlich nicht nur angeschaut, sondern auch angefasst. Im mittleren Bild sieht man deutlich die Spuren davon. Im rechten Bild ein unversehrtes Exemplar, das auf den noch verpackten Lampen liegt.

Als ich 2010 in einem Möbelhaus zu arbeiten begann, war eine meiner Aufgaben die regelmäßige Wartung der ausgestellten Produkte. Kaputte Stücke wurden durch neue ersetzt. Auffällig war für mich, dass Produkte aus bestimmten Materialien besonders wartungsintensiv waren. Tagtäglich waren die Metalllampen eingedellt und verformt. Ich fragte mich: Würde dasselbe mit Glasleuchten oder Holzlampenschirmen passieren? Wohl eher nicht … offensichtlich liegt etwas im Material, das Vorbeikommende dazu reizt, den Widerstand des Materials gegen Verbiegen auszutesten.

Wegbeschreibung – der Pfad von diesem Exponat zum nächsten führt über: 2.1.1 Design und Material – Von der Tragweite der Entscheidung für ein bestimmtes ­Material  ≥  2.1.2 Material und Nutzung – Was sich über das Material implizit ver­ mitteln lässt  ≥  2.1.3 Materialeinsatz und Fertigungstechnik – Inspiration aus dem Material  ≥  2.1.4 Typischer, ehrlicher oder authentischer Materialeinsatz – Charakteristika von Materialien entdecken, Verknüpfung von Material und Form

[EXPONAT 7] 2.1 MATERIALDENKEN 113

2.1.1  Design und Material Sich mit Materialien gut auszukennen ist eine Grundbedingung in der Designwelt: Wie altert das Material? Wie belastbar, temperatur- und witterungsbeständig ist es? Wie wird es gewonnen oder hergestellt? Lässt es sich recyclen? Viel über Materialien und deren mögliche Einsatzgebiete Making involves working with materials. It inzu wissen ist genauso wichtig wie Erfahrunvolves a knowing about materials. That knowing gen mit der Bearbeitbarkeit. is not the knowing of materials science, that Wie das Material sich während des Beis, the knowledge of properties, […]. Makers arbeitungsprozesses verhält, wie es schlussare less concerned with what materials are – endlich auf die Benutzerin oder den Benutthough they may know much of this sort of zer wirkt, ob und wie das Material recycelbar ­information, but not in ways that are new or ist – in einem Designprozess ein bestimm­significant – than in what materials can be tes Material auszuwählen ist eine der weitreimade to become.1 chendsten Entscheidungen. Designers have to consider and weigh all of the implications before choosing one particular material over other materials: how it feels, looks, smells, moves, how heavy or light it is, its durability, cost, aesthetic or cultural resonance, ecological impact, and so on. Designers also have to consider that every material will evoke different value assumptions and reactions across users, as well.2 Wie gelungen ein Produkt sein wird, hängt sehr von der Materialwahl ab; viele Produktlinien bauen zum Beipiel auch in puncto Wiedererkennbarkeit auf ein bestimmtes Material. Wie transport- und lagerfähig die Produkte sind, wie angenehm und haltbar sie in der Nutzung sind und wie gut sie wiederverwertbar sind, all das sind nur Beispiele für die AuswirkunCameron Tonkinwise führt weiter aus: gen der Materialentscheidung. Nicht umWhen a maker experiments with a material, the sonst gibt es Materialbibliotheken oder auch knowing about what the material can and canFirmen, die ihre eigenen material labs unter not (be made to) do, is articulated, when it must strenger Geheimhaltung führen.3 Die stratebe made explicit in educational contexts for gische Entscheidung für ein bestimmtes Ma­example, as the material in dialogue with the terial sollte in einem Design aufgehen, das maker, responding to his or her questions, with die Stärken und die typischen Charakterisstatements like, ‘yes I can do that, but I do not tika des jeweiligen Materials zu nutzen verlike to; no, it only looks like that is something I mag. Hierzu ist es enorm hilfreich, durchaus am capable of; yes that is something I am good spielerisch mit dem gewählten Material umat becoming.’5 zugehen, seine Grenzen, Stärken und Schwächen kennenzulernen. Donald Schön beschreibt in diesem Prozess einen back-talk des zu gestaltenden Materials.4 Die intuitive Empfindung, dass ein Material während der Bearbeitung zu mir spricht, ist natürlich eher eine innere Erfahrung meinerseits, denn ich kann Mate-

114  RAUM [2] – ­P RAXIS DER ­I MPLIZITEN ­V ERMITTLUNG 

rialien keine Absicht unterstellen, ebenso wenig, dass sie mir diese mitteilen könnten. Designschaffende sehen dennoch nicht nur, was physikalisch vor ihnen liegt, sie sehen auch die Möglichkeiten: Was man aus dem Material machen könnte; was aus dem, was da vor ihnen liegt, werden könnte und wie es potenziell beim Publikum ankommen und wirken wird.

2.1.2  Material und Nutzung Holz wirke generell eher warm und heimelig, Glas kühl und transparent, Metall eher kalt und nüchtern – von solchen Allgemeinplätzen abgesehen lassen sich viele Vermutungen anstellen, wie ein Material schlussendlich fertig verarbeitet in der jeweiligen Form und Farbe wirken wird. Das Wissen darum ist vorhanden, wenn auch bisher nicht in allgemein zugänglicher Form dargestellt.6 Die Wahl eines bestimmten Materials To sum up, materials affect various aspects in aus Gründen der Wirkung auf die potenziproduct design such as form, function, manuelle Nutzerschaft wird oft intuitiv getroffen. facturing technologies, etc. and they are used Belegen lassen sich diese Wirkungen recht for creating sensorial experiences. In addition schwer – allein wenn man berücksichtigt, to these aspects, materials are used to convey dass es kein Material ohne Form und keine meanings and elicit emotions. Designers tend Form ohne Farbe gibt. Woran genau dann to invent their own ways (or just use their intueine spezifische Wirkung auf die Nutzenden itions) in putting these (intangible) concerns festzumachen ist, ist daher nicht so leicht zu into practice in their material decisions (e. g. beantworten. ­selecting materials for emotional experience), Eine Möglichkeit, wie man die Wirkung because there exists no common systematic verschiedener Materialien auf Menschen beleapproach for supporting designers in involving gen kann, lässt sich in verschiedenen Formen these concerns into their selection processes.7 des Vandalismus finden, wie zum Beispiel bei Mülleimern (siehe Abbildung Seite 116). Bei Kunststoffmülleimern liegt oft das Ergebnis des Versuchs vor, Deckel und Korb zu trennen oder den Korb undicht zu machen, weiters findet man oft Brandspuren an Kunststoffmülleimern. Verunstaltete Metalleimer zu finden fiel mir schon schwerer, auch bei Materialkombinationen wie Holz und Metall fand ich weniger Spuren von Vandalismus. Der Metalleimer in der Mitte erinnert ein wenig an die Metallklemmleuchten des Exponats oben – hier wurde eindeutig versucht, den Eimer zu deformieren. Holz im öffentlichen Raum provoziert andere Handlungen als Glas. Im Folgenden sind einige Beispiele versammelt, wie Holz im öffentlichen Raum behandelt wird bzw. wie es altert. Insgesamt lohnt es sich, bei der Materialwahl auch darauf zu achten, wie das Material sich mit der Zeit verändern wird: Stufen aus Holz (siehe Abbildung) oder

[EXPONAT 7] 2.1 MATERIALDENKEN 115

Bild 21: Mülleimer aus unterschiedlichen Materialien

Stein werden mit den Jahren zeigen, wo sie am häufigsten benutzt wurden, Portemonnaies aus Leder werden mit der Zeit immer weicher und griffiger, Kunststoffgefäße werden nach und nach spröder oder Manche Materialien im öffentlichen Raum sind zeigen länger, womit sie befüllt wurden. dermaßen heftigen Interaktionen ausgesetzt, Das Material ist also eine unentbehrlidass sie auch zu Bruch gehen können. William che Facette dessen, wie Dinge mir etwas imHenry Mayall beschreibt in Bezug auf Materiaplizit vermitteln können: Aus welchem Matelien den Fall der Wartehäuschen der British rial sie sind, bestimmt einen Gutteil dessen, Railways: was ich über das Ding erfahren kann, ohne In one case, the reinforced glass used to panel es exakt benennen zu können. Wenn ich in shelters (for railroad passengers) erected by einem Supermarkt verschiedene SalatbesteBritish Rail was smashed by vandals as fast as cke zur Auswahl in die Hände bekommen it was renewed. When the reinforced glass was kann, eines aus Kunststoff, eines aus geölreplaced by plywood boarding, however, little tem Holz, ein weiteres aus schwerem, glänfurther damage occured, although no extra zendem Metall, so wird bei ähnlicher Form force would have been required to produce it. das Material mir einen HauptentscheidungsThus British Rail managed to elevate the desire grund für das eine oder andere liefern. for defacement to those who could write, albeit in somewhat limited terms.8

2.1.3  Materialeinsatz und Fertigungstechnik Für viele Designschaffende ist das Material, mit dem sie arbeiten, die wichtigste I­nspirationsquelle. Sie erkunden und erproben meist spielerisch das gewählte

116  RAUM [2] – ­P RAXIS DER ­I MPLIZITEN ­V ERMITTLUNG 

Bild 22: Wie Holz altert

­Material und oft genug sind diese Experimente der Anstoß zur Entwicklung neuer Fertigungstechniken. Nach 1945 schuf das Ehepaar Charles und Ray Eames unter anderem einige Sitzmöbel, die zu Design-Ikonen des 20. Jahrhunderts wurden, zum Beispiel den Eames’ Lounge Chair, und weitere dreidimensional geformte Schichtholzmöbel, die sehr komfortabel und gleichzeitig relativ günstig als Massenware herstellbar waren. Ihre ersten Möbelentwürfe basierWhen Charles and Ray Eames,9 newly married, ten teilweise auf Ideen des finnischen Archimoved into a rented apartment in 1941, they tekten Alvar Aalto, der bereits in den 1930er converted the spare room into a workshop Jahren mit zweidimensional geformtem where they built a plywood moulding machine Schichtholz arbeitete. Die Entwicklungen that they called ‘Kazam!’, because it moulded der KriegszeitA wie neue Klebstoffe und die the plywood like magic. The first design they dreidimensionale Verarbeitung von Schichtmanufactured was a splint, based on a mould of holz (unter anderem für Korpusse von FlugCharles’s leg and a year later, the US Navy orzeugen) nutzten Charles und Ray Eames für dered 5000 of them.10 friedliche Zwecke und komfortable Möbelstücke. Sehr oft findet sich Inspiration im geeignetsten Umgang mit einem Material, nicht nur in der Ausgestaltung einer bestimmten Funktion. Der Schreinermeister Michael Thonet aus Boppard am Rhein entwickelte aus den bis dahin im Schiffs-, Rad- und Fassbau üblichen Methoden neuartige Bugholzmöbel. Er begann 1830 schichtverleimte Hölzer zu biegen. Der Durchbruch gelang ihm 1856, als er es schaffte, Vollholz für die Gestaltung von Sesseln zu biegen.11 Noch heute sind Thonet-­Sessel mit der typischen, floral anmutenden Rückenlehne in vielen Wiener Kaffeehäusern gegenwärtig. Der dänische Architekt Verner Panton12 befasste sich mit den damals neuen Materialien, die seit den 1950er Jahren hergestellt worden waren, und mit ihren strukturellen Eigenschaften. Er war bekannt dafür, mit farbenfrohen Kunststoffen innovative Sitzmöbel zu gestalten, die abseits der traditionellen Trennungen (Sitzfläche, Rückenlehne, vier Beine) funktionierten. A  Abkürzung zu „Design at War“, Seite 235.

[EXPONAT 7] 2.1 MATERIALDENKEN 117

Bild 23: Der S-Chair von Verner Panton, 1967

Der S-Chair von Verner Panton wurde 1967 zum ersten Mal vorgestellt.13 Dieser stapelbare Sessel aus Polyurethan war der erste mittels Spritzguss-Verfahren hergestellte Sessel, der nur aus einem einzigen Teil bestand. Später wurde der Stuhl unter anderem aus Preisgründen aus dem leichteren Polystyrol hergestellt, diese Version erwies sich aber als zu instabil und brüchig, sodass der Stuhl seit 1999 aus glasfaserverstärktem Polypropylen hergestellt wird. Panton fertigte seine ersten Entwürfe in diese Richtung schon in den 1950er Jahren an. Er wandte sich gegen die Vorstellung, ein Sessel müsse vier Beine haben, und verschmolz die Rückenlehne mit dem Sitz und der Tragestruktur: So entstand der erste KunststoffFreischwinger. Solch eine Struktur war mit den damals neuartigen Kunststoffen erstmals möglich. Mathias Remmele meint, der Sessel tauge sogar als Ikone für das Stuhldesign des 20. Jahrhunderts schlechthin, dem er durch Form, Material und Herstellungstechnik aufs Engste verbunden ist.14 Um 1940 erfand Earl Tupper eine bestimmte Nutzungsmöglichkeit des damals neuen Materials Polyethylen.15 Er sah eine Notwendigkeit darin, dass Hausfrauen die neu erfundenen Behälter zum Aufbewahren von Lebensmittelresten nutzen, und entwickelte die ersten Tupperware-Stücke. Anfang der 1950er Jahre entwickelte Brownie Wise das Vertriebssystem der Tupperpartys und Tupperware war nur mehr über den Direktvertrieb erhältlich.

118  RAUM [2] – ­P RAXIS DER ­I MPLIZITEN ­V ERMITTLUNG 

2.1.4  Typischer, ehrlicher oder authentischer Materialeinsatz Viktor Papanek beschreibt die Faktoren, die Einfluss darauf haben, ob authentisch oder ehrlich, also dem Material entsprechend, gearbeitet wurde, nämlich „die Interaktion von Werkzeugen, Verfahren und Materialien“.16 An honest use of materials, never making the material seem that which it is not, is good method. Materials and tools must be used optimally, never using one material where another can do the job less expensively, more efficiently, or both. Etwas anderes meint der Designer einer Strohhalm-Vase, wenn er von ehrlichem oder in diesem speziellen Fall eher von authentischem Materialeinsatz spricht. Ein Grazer Designer17 gibt mir Auskunft darüber, was ihn an seinem Beruf fasziniert. Schnell wird in diesem Gespräch klar, dass es ihm vor allem die Erforschung von Materialien und ihrer ganz spezifischen Eigenschaften angetan hat. In jedem seiner Projekte versucht er nicht nur, die leicht zu entdeckenden Charakteristika eines Materials zu erkunden und im Produkt zum Ausdruck zu bringen, nein, durch leidenschaftliches Experimentieren fordert er das jeweilige Material bis an seine Grenzen und entdeckt dabei oft erstaunliche Gestaltungsmöglichkeiten für das betreffende Material. Was ihm bei seinen Produkten enorm wichtig ist, so erzählt er, ist ein „ehrlicher Materialeinsatz“. Er gewährt mir Zugang zu seinem Studio und zeigt mir als Beispiel eine von ihm entworfene Strohhalm-Vase, um zu präzisieren, was er darunter versteht. Eine Vase, die Menschen, die sich mit Fertigungstechniken auskennen, stutzig macht: Eine Vase in solch einer Form ist doch nicht herstellbar? Das Material erhält nur durch die List, die Vase mitten im Fertigungsprozess einmal im noch verformbaren Zustand zu bewegen, die endgültige Form. Im Sinne von dem Material entsprechend gibt es die Möglichkeit des typischen Materialeinsatzes – darüber hinaus aber finden sich Formen, die sich nur aufgrund einer ganz speziellen Eigenschaft des Materials erreichen lassen. Diese Formen sind dann seiner Ansicht nach besonders charakteristisch für das betreffende Material. Der Gestalter bemüht sich aktiv um ein möglichst genaues Verständnis der Materialien, welches er in seiner Arbeit dann weiter zu vertiefen sucht. Er geht so weit zu behaupten, er würde in gewisser Weise in dem Material denken, mit dem er arbeitet.18 [U. L.] dient als Inspiration für eine Vase eine typische Eigenschaft eines Strohhalms. Das Material- und Funktionsverhältnis des klassischen Strohhalms wird als Vorbild genommen und die Authentizität und Einzigartigkeit des Objekts wird dadurch erreicht, dass jede Vase eine individuelle Formung kurz vor dem endgültigen Aushärten erhält. Wie der Designer beschreibt, eignet sich das verwendete Material perfekt dazu, nach einem ersten Härtungsvorgang noch in eine individuelle Form gebracht zu werden. Dazu nimmt jemand den Rohling aus der Form und vollführt genau die typische Strohhalmknickbewegung. Wie [U. L.] mir

[EXPONAT 7] 2.1 MATERIALDENKEN 119

im I­ nterview erklärt, besteht gerade darin für ihn der besondere Reiz des Produkts, in der Spannung zwischen einem Hinweis der Form („Ich bin ein Strohhalm“) und einer einzigartigen Ausnutzung der spezifischen Materialeigenschaften (Verformbarkeit des Keramikrohlings). Das Verhältnis, in dem Form und Material hier zueinander stehen, ermöglicht die nächste Frage: Welche Vermittlungsmöglichkeiten hat eine Form, im Detail betrachtet, zu bieten?

120  RAUM [2] – ­P RAXIS DER ­I MPLIZITEN ­V ERMITTLUNG 

[RAUM 2] – [EXPONAT 8]  2.2 FORMDENKEN

Exponat 8: Drehen oder drücken?

Die Bilder zeigen Gegenstände, die man öffnen kann. Links ein Klebestift, dann ein Farbspender, ein Leimbehälter und eine Pfeffermühle. Gemeinsam ist all d ­ iesen ­Objekten eine zylindrische Grundform an der Öffnung. Die Formgebung im Detail verrät etwas über die gewünschte Handhabung.

Neulich, als ich Papier klebte, fiel mir an der Form des Klebestiftes (linkes Bild) auf, dass der zylindrische Teil unten, den ich drehen sollte, Längsrillen aufwies. Die Kappe oben, die man abziehen muss, war mit einer Querrillung versehen. Ich stutzte und erinnerte mich an Getränkeflaschen aus PET, die doch ebenfalls am Schraubverschluss fast immer Längsrillen haben. Sofort ging ich in meinem Arbeitszimmer auf die Suche, ob noch andere Drehverschlüsse als Bezeichnung längs gerillt waren, und ich wurde sofort fündig. Das zweite Bild (von links) zeigt eine Farbflasche, die man auf zwei Arten öffnen kann: einmal die Kappe oben aufklappen für feinere Dosierung oder den gesamten Verschluss aufdrehen. Die Möglichkeit, die Flasche auf zwei verschiedene Arten zu öffnen, bietet auch der Holzleim im nächsten Bild, doch hier ist klar (wohl durch die Rillung?), dass man auch den kleineren, schwarzen Verschluss nur durch Drehen öffnen kann. Zu guter Letzt ein Gegenbeispiel: An der Pfeffermühle (rechts) gibt es nichts zu drehen, der Abrieb, also das Mahlen, geschieht durch Drücken des Zylinderknopfes oben, man kann ihn dazu in einer Hand halten, wie einen etwas überdimensionierten Kugelschreiber. In diesen Bei­ spielen wird also über eine Form (bzw. Detailform) eine Handlungsanweisung vermittelt. Welche Formen bergen welche Anleitungen?

[EXPONAT 8] 2.2 FORMDENKEN 121

Wegbeschreibung – der Pfad von diesem Exponat zum nächsten führt über: 2.2.1 Affordances – Die Form gibt Auskunft über die mögliche Nutzung  ≥  2.2.2 Irreführende Formen – Wenn diese Auskunft nicht stimmt  ≥  2.2.3 Formen | Gestalten – Gestaltpsychologie für Gestaltung  ≥  2.2.4 Form | Physical Constraints – Wie denn sonst, es geht ja gar nicht anders  ≥  2.2.5 Sprache der Formen, Sprache der Produkte | Form und Bedeutung – der Offenbacher Ansatz zur Analyse von Formen  ≥  2.2.6 Die Sprache der Formen erlernen: dominant – subdominant – subordinate  ≥  2.2.7 Form öffnen – Welche Faktoren unterstützen die Kommunikation?

2.2.1 Affordances Nicht nur für Designerinnen und Designer halten Formen und Materialien Auskünfte über die mögliche Nutzung bereit. Der Psychologe James J. Gibson, der in den 1960er Jahren begann, WahrnehmungsCameron Tonkinwise schreibt über diese Sichtprozesse zu erforschen, beschreibt Affor­ weise: dances als darauf ausgerichtet, HandlungsAffordances are literally articulations, or joinmöglichkeiten in der Umwelt zu erkennen. Er ings, material conjunctions of the capacity of bietet also die Sichtweise, dass es bei Wahrtools and the skills of bodies. But for this very nehmungsprozessen nicht vorrangig darauf reason, they are constitutionally resistant to ankommt, dass Lebewesen möglichst genau being articulated. […] And yet, in as much as so die Eigenschaften der sie umgebenden Obmuch of our built environments are usefully jekte erfassen, im Sinne von „objektiven“ Eiuseable, and do become transparently routine genschaften wie Länge, Größe, Farbe etc., beneath our acts, this is exactly what designers sondern dass unsere Wahrnehmung letztmust know. And in as much as there are not endlich darauf ausgerichtet sei, Handlungsonly new products being designed by designers, möglichkeiten zu erfassen.19 Dies hebt Gibbut products that enable new ways of being in son in seinem Werk klar hervor: Die gesamte the world, affordances must be designable menschliche Wahrnehmung sei auf Handeln (contra Gibson); that is to say, designers must ausgerichtet und nicht vorrangig auf das exbe able to come to know, through their pracakte Analysieren von einzelnen Aspekten tices of co-creative material making, new afforunserer Umgebung. Wir nehmen die Affor­ dances, new and significant, even if still only dances wahr, die uns die Umgebung bietet: ever general and generative, things about what eine ebene Fläche, die uns rasches Laufen erhumans can do, like to do and should do.21 laubt, Werkzeuge, die uns ermöglichen, Materialien zu manipulieren, die wir mit bloßen Händen nicht bearbeiten könnten, etc. Er betont, dass Affordances nicht erst decodiert werden müssen. „Seeing what something is useful for is a direct experience, not an indirect one“, schreibt auch Cameron Tonkinwise.20 Den Begriff der Affordances brachte Donald A. Norman mit seinem Buch The Design of Everyday Things (1988) zum ersten Mal in einen Designkontext. Er

122  RAUM [2] – ­P RAXIS DER ­I MPLIZITEN ­V ERMITTLUNG 

Bild 24: Türgriffe

bezeichnet damit Handlungs- und Interaktionsmöglichkeiten, die die gestaltete Umwelt bietet. Ursprünglich, so wie von James J. Gibson ausgearbeitet, lässt sich die Interaktionsmöglichkeit jedoch The verb to afford is found in the dictionary, keineswegs nur der Umwelt zuschreiben. but the noun affordances is not. I have made it Vielmehr meinte er damit eine günstige up. I mean by it something that refers both to Verschränkung von Lebewesen und deren the environment and the animal in a way that Umgebung. no existing term does, it implies the compleUnsere unmittelbare Wahrnehmung ist mentarity of the animal and the environment.25 nicht darauf ausgerichtet, einen fünfzehn Zentimeter langen rechtwinkelig geknickten Zylinder zu erkennen (siehe Abbildung), sondern eben einen Türgriff und damit die Möglichkeiten, die uns zur Interaktion geboten werden, zu erkennen. Das gilt laut Gibson22 für uns Menschen ebenso wie für alle anderen Lebewesen. Es sei überlebenswichtig zu erkennen, welche Angebote – Affordances – die jeweilige Umwelt bereithält:

Versicherungen und Instandhaltern der städ­ tischen Infrastruktur sind diese Zusammenhänge nicht fremd: Bestimmte Materialien zum Beispiel scheinen bestimmte Arten der Zerstörung zu provozieren (siehe, Seite 116).

The affordances of the environment are what it offers the animal, what it provides or furnishes, either for good or ill.23

Die oben genannte Formulierung verleitet dazu, Affordances als Eigenschaften der Umwelt oder der Objekte zu verstehen. Doch so einfach lassen sich Affordances weder der Umwelt noch dem sie wahrnehmenden Subjekt zuordnen. Gibson formuliert: „An affordance is neither an objective property nor a subjective property; or it is both if you like.“24 Ob Affordances nun Eigenschaften der Umwelt oder des Individuums sind, ist meiner Ansicht nach für das Design keineswegs nebensächlich. Es bedeutet, dass auch hier das, was kommuniziert, gewusst und verstanden wird, sich weder direkt und klar einer beteiligten Person noch nur dem Ding zuordnen lässt. Diesem Sachverhalt wird noch mehrfach in dieser Ausstellung Platz eingeräumt.A

A  Abkürzung zum Atrium, Seite 193, aber auch Raum [1], Seite 038.

[EXPONAT 8] 2.2 FORMDENKEN 123

Donald A. Norman, ein Forscher auf dem Gebiet der Cognitive Sciences, hat das Konzept der Affordances, wie schon erwähnt, in die Welt der Gestalterinnen und Gestalter von Produkten übersetzt. Er A Chair affords (‘is for’) support and, therefore, betont, dass sich die Interaktionsmöglichaffords sitting. A chair can also be carried. Glass keiten nicht von dem Materialeinsatz ableis for seeing through, and for breaking. Wood is sen lassen, sondern im Speziellen auch von normally used for solidity, opacity, support or der Gestalt der Dinge. carving. Flat, porous, smooth surfaces are for Sowohl die Form der Dinge als auch die writing on. So wood is also for writing on.26 Materialien, aus denen sie gefertigt sind, implizieren den möglichen Umgang mit ihnen. Wir wissen, dass Glas (meistens) zerbricht, wenn wir es fallen lassen, und Kunststoff nicht, so wie wir wissen, dass Metall bei hohen Temperaturen schmilzt, aber Kork oder Holz sich nicht schmelzen lassen. Über manche Interaktionsmöglichkeiten wissen wir Bescheid, ohne vielleicht jemals bewusst darüber nachgedacht zu haben, andere Eigenschaften unserer Umgebung Vgl. dazu: Parallelen sind in der Tabelle auf (bzw. der uns umgebenden Formen) sind uns Seite 064 zu finden, bewusstes sowie auch un­ nur verständlich, weil wir sie einmal erlernt bewusstes Lernen kann zu implizitem Wissen haben. führen. Egal ob das implizite Wissen durch explizites Lernen entstanden ist und verinnerlicht wurde oder ob das Lernen selbst schon implizit geschehen ist – wie auch immer das jeweilige implizite Wissen entstanden ist, es ist wertvoll für mich als Designerin, den Blick auf dieses unsichtbare Wissen zu lenken. Dieses Wissen liegt dem Gelingen aller Interaktionen zugrunde. Wenn die Nutzerschaft mit neuen Dingen konfrontiert wird, ist es unumgängCreative designs, by definition, provide novel lich, im Design vorauszuahnen, wie diese functionalities and often provide novel ways for Dinge verstanden werden können. users and artifacts to interact. ‘Preparing’ the Trotz der enormen Vielfalt der Interakuser to easily identify appropriate affordances tionsmöglichkeiten, die uns umgibt und die for a new interaction is crucial for the adoption wir tagtäglich erfahren und nutzen, funktioof a creative design.27 niert der Alltag in und mit unserer Umwelt meist sehr reibungslos.

2.2.2  Irreführende Formen Sind auch Sie schon Knöpfen begegnet, die gar keine sind, weil sie nicht die gewünschte Funktion in Gang setzten, zum Beispiel an Kaffeeautomaten? Der sonst so reibungslose Handlungsfluss gerät meist dann ins Stocken, wenn die Formen der Dinge Interaktionsmöglichkeiten anzeigen, die sie gar nicht bieten, oder aber wenn mehrere Möglichkeiten angezeigt werden, aber kein klarer Hinweis gege-

124  RAUM [2] – ­P RAXIS DER ­I MPLIZITEN ­V ERMITTLUNG 

Bild 25: Irreführende Wasserhähne

ben ist, welche Möglichkeit zu wählen ist. Eine Ausstellung über irreführende Hinweise an Produkten und ungünstig gestaltete Objekte fand 1998 in der Kunsthalle Krems statt. Gerade der verwirrenden Gestalt von nicht benutzbaren, aber dennoch erhabenen „Tasten und Knöpfchen“28 war eine eigene Kategorie in dieser Ausstellung gewidmet. Beim Händewaschen in unvertrauter Umgebung stehe ich oft vor der Herausforderung, durch welche Handlung ich den Wasserfluss in Gang bringen kann. Bei Wasserhähnen in der Form wie im Bild mit dem weißen Waschbecken vermute ich, dass der kleine Hebel wie bei einem handelsüblichen Einhandmischer zu bedienen ist: Nach-oben-Ziehen bestimmt die Strahlstärke, Nach-links-oder-rechts-Bewegen ändert die Temperatur des Wasserstrahls. Doch – siehe da, der kleine Hebel lässt sich nur nach rechts bewegen. Diese Bewegung kontrolliert die Strahlstärke, auf die Temperatur des Wassers kann ich keinen Einfluss nehmen. Der Wasserhahn am Metallwaschbecken suggeriert durch fehlende Steuerhebel, dass ich es mit einem Bewegungssensor zu tun habe. Einige Male fuchtele ich mit meinen Händen um den Wasserhahn im Kreis, bis ich schließlich den winzigen Knopf entdecke, der eine bestimmte, festgelegte Wassermenge in Bewegung setzt.

2.2.3  Form | Gestalten Wie oben bereits dargelegt, deuten zylindrische Formen oft auf eine Drehung im Gebrauch hin, bei zahlreichen Mischbatterien für Duschen wird diese Form als Hinweis genutzt. Die Längsrillen an der zylindrischen Form können als Aufforderung zu drehen gedeutet werden (siehe Exponat). Henkel, Schlaufen und Griffe entsprechen der dinglichen Aufforderung, an einer bestimmten Stelle zuzugreifen, um das Objekt zu bewegen. Ebenso bei

[EXPONAT 8] 2.2 FORMDENKEN 125

­ usnehmungen an sonst glatten Gegenständen, an denen man mit den Fingern A gerade noch Platz findet, um das Objekt anheben oder öffnen zu können. Bei Kartonkisten finden sich oft an den Seiten Löcher, die sich gut als Grifflöcher interpretieren und benutzen lassen … Wie kann man solche Hinweise oder Anzeichen gut und erkennbar gestalten? Max Wertheimer identifizierte bereits 192329 mehrere Gestaltgesetze, die eine gute Grundlage für diese Frage bieten. Im Folgenden habe ich einige dieser Gesetze herausgegriffen, die sich insbesondere auch auf die Gestaltung von dreidimensio­ nalen Objekten anwenden lassen.

Faktor der Prägnanz, der guten (einfachen) Gestalt

Bild 26: Gestaltfaktor Prägnanz30

Im linken Teil des Bildes sieht man ein Quadrat, das von zwei anliegenden, umgekehrten L-Formen umrahmt wird. Viel wahrscheinlicher ist jedoch die Sichtweise, es handele sich um drei sich teilweise überlappende Quadrate. Die Figur rechts ist am einfachsten zu erklären, indem man eine Ellipse sieht, die von einem Dreieck gekreuzt wird. Die „freie“ Form wird so am einfachsten und prägnantesten gesehen. Dominant ist die „einfachste“ Form.

Faktor der Ähnlichkeit

Bild 27: Gestaltfaktor Ähnlichkeit

Was sich ähnelt, wird zu einer Gestalt zusammengefasst.A Es überwiegt hier im Bild die Ähnlichkeit der kontrastierten Elemente in der Waagerechten gegenüber der zusammenfassenden Wirkung der Form „Kreis“. Es fällt viel leichter, hier waagrechte Reihen zu erkennen als senkrechte Reihen mit voll/leer alternierenden Kreisen.

A  Siehe auch: Familienähnlichkeiten, Seite 152.

126  RAUM [2] – ­P RAXIS DER ­I MPLIZITEN ­V ERMITTLUNG 

Faktor der Nähe Bei gleichen Einzelelementen, die unterschiedlich weit voneinander entfernt sind, werden die einander näheren zu einer Gestalt zusammengefasst. Bild 28: Gestaltfaktor Nähe

Faktor der geschlossenen Form

Bild 29: Gestaltfaktor Geschlossenheit

Es werden aus Sinneseindrücken mit Ähnlichkeiten eher geschlossene Formen als offene gebildet. In diesem Bild sieht man im Vergleich zum vorigen Bild auch, dass das Gesetz der Geschlossenheit „stärker“ wirkt als das Gesetz der Nähe. In diesem Bild wirken die dunklen Elemente als Begrenzungen einer nicht direkt sichtbaren Fläche, am Beispiel der Stachelkugel (links unten in Bild 30) sogar als Begrenzung einer dreidimensionalen Form. Die Geschlossenheit der Formen wird jeweils konstruiert.

Faktor des gemeinsamen Schicksals Bei sich bewegenden Einzelteilen werden diejenigen gruppiert, die mit der gleichen Geschwindigkeit bzw. in die gleiche Richtung unterwegs sind. Dies lässt sich gut beobachten, wenn man einen großen Vogelschwarm sieht, der plötzlich seine Richtung ändert. Viele Einzelelemente wirken dann wie eine Fläche, die sich in Bewegung befindet. Bild 30: Gestaltfaktor Geschlossenheit (Konstruktion)

[EXPONAT 8] 2.2 FORMDENKEN 127

Faktor der Bedeutung oder Vertrautheit

Rhombus (Raute)

Quadrat

gekipptes Quadrat

gekippter Rhombus (Raute)

Durch den Kontext (im unteren Teil des Bildes ein gekipptes Rechteck als Rahmen) können Formen eine neue Bedeutung bekommen. Hier im Bild kehrt sich die Bedeutung sogar um. Durch das sie umrahmende Rechteck erhalten die Objekte eine genau entgegengesetzte Bedeutung.

Bild 31: Gestaltfaktor Vertrautheit

Faktor der Verbundenheit von Elementen

Bild 32: Gestaltfaktor Verbundenheit

Elemente, die eine Verbindung aufweisen, werden als zusammenhängend erfahren oder lassen mindestens eine Gruppierung erkennen. Gerade die im Bild gezeigte Verbindung erleichtert das Zählen ungemein, da immer Fünfergruppen als zusammengehörig wahrgenommen werden.

Faktor der zeitlichen Synchronizität Bei einer Gruppe von sich bewegenden Elementen, wie etwa einer Schafherde oder einem Vogelschwarm, werden diese Elemente, die sich zeitgleich bewegen, als zusammengehörig wahrgenommen. Ebenso entsteht die Wahrnehmung einer Gestalt, wenn sich die Elemente in die gleiche Richtung bewegen. Diese Gestaltgesetze sind nur wenige von bisher über hundert solcher nachgewiesenen dynamischen Selbstordnungstendenzen.31 Zuerst wurden diese Gesetze in der figuralen Wahrnehmung und in Zusammenhang mit dem Gedächtnis verortet, die gestaltpsychologische Forschung beschäftigt sich jedoch mit umfangreicheren Zusammenhängen, unter anderem mit Gestalttendenzen im Denken, Lernen und Problemlösen, in Affekten und im Verhalten generell.32

128  RAUM [2] – ­P RAXIS DER ­I MPLIZITEN ­V ERMITTLUNG 

Bild 33: Schlüssel und Schloss

2.2.4  Form | Physical Constraints Das Design Dictionary stellt zum Begriff Form folgende Ansicht bereit: „Form is a mental, not a physical construct. Form is the visual shape of content.“33 Form, Material und Farbe sind prinzipiell die drei abstrahierten Sichtweisen, die Grundelemente für Designerinnen und Designer, die zu einzelnen Gestaltungskomponenten werden, obwohl keines losgelöst vom anderen gestaltet werden kann.34 Die Form kann Benutzenden genaue Auskunft darüber geben, welche Nutzung intendiert ist. In The Design of Everyday Things erwähnt D. Norman physical constraints, Einschränkungen, die durch die Physical limitations constrain possible operaphysische Erscheinung gegeben sind. Legosteine in ihrer Grundform lassen sich tions. Thus, a large peg cannot fit into a small hole. […] The value of physical constraints is nur gerade oder rechtwinkelig zusammenthat they rely upon properties of the physical stecken, bei Puzzlesteinen passen nur korworld for their operation; no special training is rekte Teile zueinander, bei Steckverbindunnecessary. With the proper use of physical congen, wie zum Beispiel bei Steckdosen, gibt straints there should be only a limited number es in vielen Ländern der Welt nur eine Mögof possible actions – or, at least, desired aclichkeit, den Stecker anzubringen und den tions can be made obvious, usually by being Stromfluss zu gewährleisten. Physical con­especially salient.35 straints zu gestalten bedeutet, über die Form der Dinge Handlungsmöglichkeiten so einzuschränken, dass die gewünschte Interaktion als die einzig richtige möglichst unmissverständlich kommuniziert wird. Bei jedem Schlüssel-Schloss-Prinzip gilt: Es braucht zum Öffnen genau den richtigen Schlüssel vom Schlüsselbund. Die Form des Schlüsselloches kann dabei helfen, den richtigen Schlüssel zu wählen. Physical constraints schränken die Handlungsmöglichkeiten der Nutzerinnen und Nutzer auf eine Art und Weise ein, die Missverständnissen bzw. Fehlnutzungen entgegenwirkt.

[EXPONAT 8] 2.2 FORMDENKEN 129

Bild 34: Additiv – integrativ – integral

2.2.5  Sprache der Formen, Sprache der Produkte | Form und Bedeutung Physical Constraints bedeuten meist eine Einschränkung der Nutzungsmöglichkeiten, doch anhand eines Beispiels lässt sich zeigen, dass dadurch nicht automatisch der Gestaltungsfreiraum eingeschränkt ist: Henkel oder Griffe zeigen bei einem Koffer an, an welcher Stelle man ihn am besten aufheben und tragen kann. Am Beispiel der Platzierung von Griffen führte Dieter Mankau die Begriffe additiv, integral und integriert für die im Bild gezeigten Formen ein.36 Ein additives Gestaltungskonzept ist eines, das der Grundform andere Elemente, wie Griff, Schlösser und Schnallen, anfügt. Integrativ meint, dass die Einzelelemente wie aneinandergewachsen scheinen. Diese Art der Gestaltung wurde insbesondere mit Erfindung des Spritzgussverfahrens möglich, zwei Korpusteile konnten mit angrenzendem Griff direkt in einer Form hergestellt werden. Ein integrales Gestaltungskonzept wiederum lässt die einzelnen Teile wie aus einer Grundform herausgeschnitzt wirken und ist ebenso erst mit den Kunststoffen und den entsprechenden Fertigungstechniken als Massenprodukt herstellbar. Was genau bestimmte Formen vermitteln und wie das Verhältnis zwischen dem Ding und seiner Bedeutung zustande kommt, diese Fragen werden auf vielen Ebenen untersucht. Ein sehr bekanntes Analysemodell stellt der Offenbacher ­Ansatz dar, der von Jochen Gros an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach entwickelt wurde.37 Er trennt praktische Funktionen (ergonomische Funktion, öko­logische Faktoren, Fertigungstechnik u. v. m.) eines Produkts von produktsprachlichen Funktionen. Die produktsprachlichen Funktionen teilt er ein in formalästhetische Funktionen, in Symbolfunktionen und Anzeichenfunktionen. Die formalästhetischen Funktionen gehen laut Dagmar Steffen38 auf die gestaltpsychologischen Qualitäten (wie bereits in Kapitel 2.2.3 „Form | Gestalten“ dargestellt) zurück. Die Anzeichenfunktionen wiederum (siehe folgendes Diagramm) bilden im Offenbacher Ansatz eine eigene Kategorie.

130  RAUM [2] – ­P RAXIS DER ­I MPLIZITEN ­V ERMITTLUNG 

Gestaltreinheit

asymmetrisch

undeutlich

aus dem Raster

aus dem Gleichgewicht

neu

kontrastierend

symmetrisch

deutlich

im Raster

im Gleichgewicht

bekannt

passend

National-/Regionalstil Konzeptdesign Firmenstil Designerstil Zielgruppendesign etc.

Klassizismus Biedermeier Historismus Jugendstil Moderne Postmoderne Zukünftiges

Look

Barock

Epochenstil

Partialstil

Symbolfunktionen

etc.

nüchtern/verträumt

geordnet/zerfahren

offen/verschlossen

aktiv/passiv

weich/hart

emotional/rational

stark/schwach

heiter/traurig

jung/alt

männlich/weiblich

Assoziationen

Oberflächensprache (zweidimensional, z.B. Typografie, Piktografie)

Produktsprachliche Funktionen

Mensch – Objekt – Relation

Symbolkomplexe

Gestaltreinheit = maximale Ordnung und minimale Komplexität Gestalthöhe = hohe Ordnung und hohe Komplexität

unterschiedlich

einheitlich

… durch Unterbrechung

… gute Fortsetzung

offen

geschlossen

… durch Distanz

vielfältig

… durch Nähe

Reizquellen

einfach

Komplexität

Gestalthöhe

Reduktion

Ordnung

Körpersprache (dreidimensional)

Formalästhetische Funktionen

Gros/Steffen 1999

Grundbegriffe der Theorie der Produktsprache

… etc.

… Gebrauchspatina

… Material

… Herstellungstechnik

Eigenart

… als Stuhl – etc.

… als Fernsteuerung

… als Handy

Identifikation

Wesensanzeichen

etc.

Stapelbarkeit

Standfunktion

Stabilität

Beweglichkeit

Körperbezug

Bedienung

Ausrichtung

Funktionsanzeichen

Anzeichenfunktionen

Zeichenhafte Funktionen

Lautsprache (akustisch)

Bild 35: Produktsprachliche Funktionen39 „Grundbegriffe der Theorie der Produktsprache“ (Gros & Steffen, 1999)

[EXPONAT 8] 2.2 FORMDENKEN 131

Im sogenannten „Offenbacher Ansatz“ wird die Produkt- bzw. Formensprache deutlich als Funktion des Objekts (also dem Objekt zugehörig) dargestellt. Genauer gesagt, werden die Deutungsbereiche wie folgt aufgeschlüsselt:

Abgrenzung Bestimmte Elemente lassen sich formal abgrenzen und werden so leichter als zusammengehörig erfasst.

Oberflächenstrukturen Teile eines Produkts können über die unterschiedlichen Oberflächen orientierungstaugliche Gestalten bilden.

Kontraste Durch Nutzung von Kontrasten lassen sich ebenfalls Gruppierungen oder anderweitige Zusammengehörigkeiten definieren.

Ausrichtung Grundform eines Objekts kann beispielsweise ein Quader sein, die kurzen Seiten senkrecht gehalten, wird er liegend wahrgenommen. Mit den langen Seiten senkrecht wird er stehend wahrgenommen. Wenn nun Kanten entsprechend schräg angeschliffen werden, wird die Qualität dynamisch leichter erkannt.

Standfunktion/Stabilität Die Standhaftigkeit eines Produktes kann aufgrund verschiedener Materialien und Fertigungstechniken zwar gegeben sein, doch für Nutzerinnen und Nutzer sieht das Produkt eventuell nicht stabil genug aus, daher kann die Form helfen, das Produkt stabil aussehend darzustellen. Weiters werden noch die Einstellbarkeit, das Funktionsfeld Bedienen, also die Hinwendung zum User, und die Präzision von Jochen Gros genannt.40

132  RAUM [2] – ­P RAXIS DER ­I MPLIZITEN ­V ERMITTLUNG 

2.2.6  Die Sprache der Formen erlernen Ob eine Form mir zugewandt ist, ob sie stabil scheint oder aufrecht – die grundlegende Sprache der dreidimensionalen Objekte sei erlernbar, meinte Rowena Reed Kostellow. Ihr Curriculum zur Formensprache am New Yorker Pratt Institut, das sie Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelte und selbst fast 50 Jahre unterrichtete, prägte viele weitere Curricula, nicht nur in Amerika.41 Sie legte besonderen Wert auf das Verständnis der Beziehungen der Volumina zueinander. Eine der ersten Übungen für die Studierenden bestand darin, drei beliebig große Quader zueinander in Beziehung zu setzen, sodass die Verhältnisse dominant, subdominant und subordinate ablesbar sind.42 Die Charakteristiken der Formen nennt sie inherent, wenn sie einen Volumensteil betreffen (etwa Verhältnis der Länge zur Breite zur Höhe), comparative, wenn sie zwei Elemente zueinander in Beziehung setzen (etwa eine kleine, gedrungene Form zu einer gestreckten, länglichen Form) und schließlich gibt es noch einen Begriff, der den Gesamteindruck einer Form, beschreibt: overall. Dieses Formenvokabular sollten die Studierenden anhand unzähliger Materialskizzen verinnerlichen. Hierzu bemerkt einer ihrer Studenten: Once you’ve had the experience, you can destroy the exercise, and you haven’t lost any­ thing.43 Dem ausführlichen Experimentieren mit drei Quadern in unterschiedlichen Größen und Längenverhältnissen und Postitionen zueinander folgen Experimente mit drei kurvilinearen Formen: Zylindern, Kegeln, Kugeln, Eiformen und Schnittteilen derselben. Wieder folgen den Experimenten ausführliche Diskussionen. James Fulton, ein weiterer ihrer Studenten, vergleicht diese Übungen mit dem Einprägen von Tonleitern: Man müsse die Noten eben sicher treffen können, bevor man gute Musik machen könne.44 Auch mit grammatikalischen Regeln wird diese Formensprache manchmal verglichen. „In When cutting the outside edges of planes to my experience, all designers have particular make them curve in space, don’t draw curved areas of sensitivity. But sensitivities can be lines on paper to represent a desired curve. developed. Flounder around for a while.“45 ­Forget about the outline. Start with a basically Zum Beispiel versucht man, eine Grundform rectilinear surface and curve it to the desired zu zerteilen und in neue Formen zu brinshape in your hands. Just make a beautiful gesgen, die noch schöner sind als die Ausgangsture. Hold in position and pencil in the changes. form. Auch mit ebenen Formen, gebogenen Cut a little at a time.46 und flachen lässt sich experimentieren. Hier scheint die Versuchung besonders groß zu sein, mit zweidimensionalen Skizzen Vorarbeit zu leisten. Doch Rowena Reed Kostellow beharrt: „Don’t work with the outlines first – ever, ever, ever!“ Der Entwurf solle unbedingt den Achsen der Ebenen folgen, und die zeigen sich eben am wenigsten in den äußeren Umrissen der Ebene.

[EXPONAT 8] 2.2 FORMDENKEN 133

Als nächsten Schritt lernen ihre Studierenden Negativformen zu erkennen und zu nutzen, doch: „It takes weeks to get students to look at what isn’t there …“47 Die gemachten Erfahrungen sollen die Studierenden ein Berufsleben lang begleiten: If you’re ever in a bind in a design project – whether it is a car or any other product – you can get yourself off dead center by thinking dominant-subdominant-subordinate. It’s the backbone of design.48 Mit diesem Grundgerüst ausgestattet, können Designerinnen und Designer e­ inen wesentlichen Teil der impliziten Vermittlung leisten. Ein erheblicher Teil der Kommunikation zwischen Menschen und Dingen kann über die Form geschehen.

2.2.7  Form öffnen Nicht nur über Formen lassen sich Botschaften vermitteln – wie gewünschte Handlungen für die Nutzerinnen und Nutzer angezeigt werden können, wird noch Gegenstand weiterer Exponate sein. Die Form ist eine sehr wichtige Kommunikationsmöglichkeit, doch welche gibt es noch? Auf der folgenden Seite ein Foto von einer Verpackungsöffnung, bei der zwar eindeutig angezeigt ist, wo man die Verpackungen am günstigsten öffnet, doch ist nicht eindeutig, ob die Form oder vielleicht doch der Kontrast bzw. die Farbe in diesem Fall stärker kommunizieren. Oft ist nicht das Material oder die Form allein der Überträger der Botschaften. Welche Komponente im Allgemeinen leichter zu verstehen ist – diese Frage muss vorerst unbeantwortet bleiben, zu sehr kommt es auf den Einzelfall und die Gesamtsituation an, wie späterA noch diskutiert wird. Wie diese gezeigten Verpackungen zu öffnen sind, ist in der Form angedeutet. Doch was genau zeigt mir, wo ich anfassen muss, um die Verschlussfolie zu entfernen? Das Material ist hier nur eine Folie, im Kontrast zum in stärkerem Material ausgeführten Behälter gibt es hier eine Auffälligkeit. Der Kontrast im Material unterstützt die beabsichtigte Mitteilung „hier anfassen, um zu öffnen“, und das verstärkt die Eindeutigkeit, die schon die Form durch den Überstand anzeigt. Ein weiterer Faktor für Anzeichenkommunikation wurde noch nicht ausführlich besprochen, dieser Faktor kommt mit dem nächsten Exponat ins Spiel: die Farbe.

A  Mögliche Abzweigung zu Kapitel 2.6 Thoughtless Acts | Design Dissolving in Behaviour, ab Seite 156.

134  RAUM [2] – ­P RAXIS DER ­I MPLIZITEN ­V ERMITTLUNG 

Bild 36: Anzeichen – Form oder Kontrast?

[EXPONAT 8] 2.2 FORMDENKEN 135

[RAUM 2] – [EXPONAT 9]  2.3 FARBE

Exponat 9: Warm und kalt

Detailaufnahme eines Einhandmischers für Leitungswasser. Welche Richtung für die gewünschte Wassertemperatur zu wählen ist, ist meist farbig codiert. Rot steht für warmes Wasser, Blau für kaltes.

Fließendes Wasser aus der Leitung – und das noch wohltemperiert – was für ein Genuss! Auf Reisen ist mir schon einige Male aufgefallen, dass sich nicht überall Wasserhähne in die gleiche Richtung aufdrehen lassen, auch sorgt bei zwei Schraubmöglichkeiten nicht immer der rechte Hebel für das kalte Wasser. Was mir jedoch bis jetzt noch nicht untergekommen ist: Wenn es einen farbigen Hinweis auf kalt/warm gab, dann immer in Rot/Blau. Gelb/Grün zum Beispiel ist mir noch nicht untergekommen. Woran liegt das? Gilt Rot auf der ganzen Welt als warme Farbe? Steht Blau überall für Kaltes? Sind auch andere Zuordnungen zur Farbe Blau weithin gültig? Was lässt sich noch über Farbe so eindeutig kommunizieren? Was kann mir Farbe vermitteln und warum? Was kann ich alles über den Weg der Farbe sagen?

136  RAUM [2] – ­P RAXIS DER ­I MPLIZITEN ­V ERMITTLUNG 

Wegbeschreibung – der Pfad von diesem Exponat zum nächsten führt über: 2.3.1 Farbe und Design – Farbsymbolik, Farbmarkierung, Kennfarbe und Farbpsycho­ logie  ≥  2.3.2 Farbe und Licht – Kalt und warm, Lichtstimmungen  ≥  2.3.3 Farben im ­sozialen Zusammenhang | Farbe bekennen – Entwickeln der chromatischen Kompetenz

2.3.1  Farbe und Design Farbe und Design – das ist für mich und auch andere Berufskollegen manchmal ein oberflächliches Thema, stoßen wir doch im Alltagsverständnis oft auf die Assoziation, dass Design bei Produkten hauptsächlich die Farbgebung betreffen würde. Doch das Thema Farbe dient im Design zu unterschiedlichen Zwecken. Mit der Wahl einer bestimmten Farbe oder Farbkombination kann ich: • eine symbolische Zuordnung treffen. Hierzu zählen religiös motivierter Farbengebrauch, Markenzuordnungen wie Ferrari-Rot, Nivea-Blau, Waschmittelweiß, aber auch bei Flaggen und Heraldik spielen Farben eine symbolische Rolle. • eine funktionelle Zuordnung machen. Farbmarkierungen, Hinweisfarben, Geund Verbotszeichen, Kennfarben fallen in diesen Bereich. • eine semantische Zuordnung begünstigen. Hier geht es um Farbempfindungen und um Farbpsychologie.

Axel Venn schreibt im Buch Farben der Gesundheit, dass Farben in unserer medialen und stark visualisierten Welt, die weniger über Hörensagen als über Sehereignisse kommunikativ verbunden ist, eine ungeheure, nie dagewesene Bedeutung [erhalten.] Ihre signalisierende Wirkung überragt alle formalen, emblemartigen und zeichnungspräsenten Appelle. Farben sind die neuen Symbole unserer medialen Welt. Die archetypischen, vertrauten Farbbilder sind anderen universalen Bild-Farbausdrucks-Inhalten gewichen.49

Im Folgenden einige spezifischere Bemerkungen zu diesen drei gelisteten Punkten.

Farbsymbolik

In Kulturen und Religionsgemeinschaften, in denen das Lesen- und Schreibenkönnen auf kleine Gruppen beschränkt war, fungierte die Farbe als Vermittler und Träger von mystischen, kulturellen und religiösen Inhalten. Schriftgelehrte erhöhten die Symbolkraft von Farben, indem sie spirituelle Wesen mit bestimmten menschlichen Eigenschaften und Gefühlen ausstatteten. Aus dieser Verflechtung von Mystik und Religion mit Farbzuweisungen zu einzelnen Phänomenen haben sich oft komplexe Symbolsysteme und Farbcodierungen ergeben. In der christlichen Ikonenmalerei beispielsweise kommt dem Marien­blau eine bestimmte Bedeutung zu sowie auch dem Rot, das unter anderem an den Opfertod Jesu erinnert.50 Aus diesem

[EXPONAT 9] 2.3 FARBE 137

reichen Fundus bedienen sich Designerinnen und Designer, wenn sie ein Produkt oder ein System mit einer bestimmten, genau zurechtgeschneiderten Farbauswahl ausstatten. Inzwischen gewandelt und säkularisiert, tauchen vor allem in der Werbung Farbsymbole auf. Verbraucherinnen und Verbraucher wurden über Jahre hinweg an diese Farbsymbole gewöhnt, mental-emotionale Verbindungen wurden geknüpft: Die Zahnpasta ist typischerweise weiß oder weiß-blau, Waschmittel pendeln sich oft im Weiß-blau-türkis-Bereich ein, Kaffee gibt es üblicherweise in eher dunklen Verpackungen, tiefes Rot oder Braun wird dazu mit einigen Goldnuancen veredelt, die Liste ließe sich endlos weiterführen.51

Farbmarkierung, Kennfarbe Im Haushalt finde ich viele Markierungen mit Farbe – vom eingangs erwähnten Rot-Blau-Kontrast, der mir warmes und kaltes Wasser anzeigt, zur Markierung der Warnzeichnung in Gelb/Rot/Orange auf starken Putzmitteln. Wer schon einmal elektrische Geräte angeschlossen hat, dem sind die farbig ummantelten Leitungen begegnet, meist in Blau (Neutralleiter), Schwarz oder anderen Farben (Phase) und Gelbgrün (geerdeter Schutzleiter).52 In Gleichspannungs-Stromkreisen ist die Verkabelung zum Pluspol meist in Rot und zum Minuspol schwarz oder weiß ausgeführt.53 Im normalen Alltagsleben begegnen wir MittelDie Mülltrennung in Haushalten ist europäer farbunterlegten Hinweisen inzwiebenfalls farbig codiert: In großen Teilen Össchen so häufig, dass wir ihrer Funktion als terreichs steht aktuell grün oder braun für „wortloses Informationsmedium“ in vielen Be­ organische Abfälle, die rote Tonne für Papier reichen kaum noch gewahr werden.54 und der gelbe Sack oder die gelbe Tonne für Kunststoffabfälle. Gefahrenzeichen leuchten meist in Gelb/Schwarz oder Orange/Schwarz, sowohl auf Reinigungsmitteln oder Lacken wie auch auf Transportfahrzeugen, im Verkehr ist es vor allem die rote Ampel, an der Verkehrsteilnehmer warten müssen, das rote Stoppschild gebietet ebenso das Anhalten. Dreieckige, rot umrandete Schilder kündigen Gefahren an bzw. mit der Spitze nach unten weisen sie auf eine zu beachtende Vorfahrt hin. Ein rotes kreisförmiges Schild mit weißem Balken verbietet die Einfahrt in eine Einbahnstraße aus der entgegengesetzten Richtung. Grün ist dann schließlich das Zeichen, dass ich als Fußgängerin die Straße gefahrlos überqueren kann. Bei Gelb gilt für den Straßenverkehr: Achtung! In wenigen Sekunden wird die Ampel wieder rot. Selbst bei Rot dürfen bestimmte Fahrzeuge, nämlich die der Rettung, Polizei oder Feuerwehr, die Kreuzung befahren, solange sie das Blaulicht eingeschaltet haben. Die meisten der hier genannten Kennfarben entsprechen Normierungen; es wurde zu einem bestimmten Zeitpunkt festgelegt, welche Farbe wie eingesetzt werden darf oder muss und welche Bedeutung dieser Farbe dann zukommt.

138  RAUM [2] – ­P RAXIS DER ­I MPLIZITEN ­V ERMITTLUNG 

­ neindeutiger wird es in den Bereichen, wo Farbgebung mit einer gewissen BelieU bigkeit eingesetzt wird.

Farbsemantik und Farbpsychologie Design ist gefragt, wenn es darum geht, mit Logos und Farbgebung Behörden, ­Systeme oder Firmen unverwechselbar zu kennzeichnen, ein Corporate Design zu gestalten. Doch wie und warum werden welche Farben gewählt? Um der oben angedeuteten Beliebigkeit entgegenzutreten, geben manche Unternehmen Farbstudien in Auftrag, bei denen festgestellt wird, welche Empfindungen eine bestimmte Farbe oder Farbgruppierung (Farbklang) in der geplanten Zielgruppe hervorruft. Im akademischen BeFarben besitzen eine solche Kraft, dass sie als reich gibt es zum Beispiel die Farbstudie von eines der ausdrucksstärksten Mittel der GeAxel Venn56, der in seinem „Farblexikon“ Farstaltung gelten. Sie dienen zur Aktivierung der ben und deren Attribute untersucht. Er bat Aufmerksamkeit, zur Wiedererkennung, Orienseine Versuchspersonen, zu 360 Begriffen, tierung sowie zur Steuerung des Gewichts-­ von freundlich und kitschig über elegant und Größen- oder Temperaturempfindens. Der Ausdreckig bis zu spannungslos und brutal, eine druck und emotionale Gehalt der Farbe ist aber oder mehrere Farben zu wählen, um sie dastark kontextabhängig. Eine pauschale Aussage mit in einfachen gemalten Bildern zum Ausbezüglich der Colorierung ist daher schwer zu druck zu bringen. Axel Venn sortierte und vitreffen und muss von Fall zu Fall genau bedacht sualisierte diese Begriffe überblickshaft in und ausgelotet sein.55 seinem 860 Seiten starken Farblexikon. Später, in „Farben der Gesundheit“, spezialisierte er sich auf Begriffe, die im Gesundheitswesen auftauchen.57 Für Eva Hellers Werk58 wurden 2000 Probanden befragt. Es ging um Lieblingsfarben sowie um Farben, die sie bestimmten Gefühlen oder Gemütsverfassungen zuordnen mussten. Sie kommentiert die am häufigsten gewählten Farben (Blau, Rot, Gelb, Grün, Schwarz, Weiß, Orange, Violett, Rosa, Gold, Silber, Braun und Grau) und bringt diese dann in einen historischen und psychologischen Zusammenhang.

2.3.2  Farbe und Licht Als Antwort auf die Frage, woher die Unterscheidung von kalten und warmen Farben und die Benennung kalt bzw. warm kommt, existiert zum Beispiel die Theorie der Farbwahrnehmungen im Tagesverlauf: Im Dämmerlicht dominieren die kühleren Farben, bei hellem, warmem Sonnenschein oder kurz vor Sonnenuntergang überwiegen Orange-, Gelb- und Rottöne.59 Diese Effekte sind schon sehr lange

[EXPONAT 9] 2.3 FARBE 139

­ ekannt: Die e­ rsten Farbkreise, in denen die Farben in kalte und warme Farben b unterschieden werden, gehen zurück auf Leonardo da Vinci (1452–1519), Johann Wolfgang von Goethe (1810) oder auch Charles Hayter (1813).60 Lichtfarben im Kaufhaus werden eingesetzt, um Lebensmittel appetitlicher aussehen zu lassen. Obst, Gemüse, Fleisch und Fisch sollen so frisch wie möglich wirken: Dabei hat es sich bewährt, das Licht, mit dem die Waren beleuchtet werden, farblich zu nuancieren. So sehen beispielsweise Fleisch- und Wurstwaren appetitlicher aus, wenn das sie beleuchtende Licht einen Rotstich aufweist, bei Käse einen Gelbstich, bei Fisch einen Blaustich, bei Backwaren einen gelborangefarbenen Stich und bei Obst und Gemüse einen orangefarbenen Stich.61

2.3.3  Farben im sozialen Zusammenhang | Farbe bekennen Jede Begegnung mit anderen Menschen ist gefärbt. Wenn ich mein Gegenüber betrachte, nehme ich sie/ihn auch farblich wahr, und die Farbe, die getragen wird, hat oft eine spezifische Bedeutung. Wenn es um farbige Kleidung geht, stehen nicht alle Nuancen jeder/jedem frei zur Auswahl. Als Erwachsener ist man normalerweise geübt darin, angemessen gekleidet zu sein. Die meisten Menschen haben ein Gefühl dafür, wie sie diejenigen Farbtöne wählen, die ihren Absichten am besten entsprechen, in welcher Situation sie sich mit den für die jeweilige Zu den physischen Naturtönen treten jedoch Situation richtig gefärbten Kleidern zeigen. zahlreiche zivilisatorische Kolorits. Denn die Wie ein coloristischer Schlüssel, wenn Menmeisten Farben, in denen sie einander erscheischen einander betrachten und deuten, so nen, weisen die Menschen sich selbst und anwirkt die Farbigkeit der Menschen wie ein deren zu. […] Schon das Neugeborene gerät, sozialer Code, mit dem sie sich dechiffrierkaum hat es den ersten Schrei getan, in die bar als zu einer bestimmten Gruppe gehörig Zwänge von Farbvergleich und Farbzumutung. zeigen.62 Wir erlernen Farbeindrücke und Solche Maßnahmen fördern die chromatische Farbnamen sowohl des eigenen als auch von Sozialisation und Enkulturation, der wir alle anderen Milieus zuzuordnen. Hans Peter ausgesetzt sind. In ihrem Verlauf kommt keiner Thurn nennt dies chromatische Kompetenz. umhin, sich den Farben zu fügen, die die UmDie Gefüge, in denen wir uns farblich welt ihm vorschreibt.63 einordnen, sind gesellschaftlich strukturierend wirksam: Zwar gibt es in den meisten Schulen hierzulande keine Schuluniformen mehr, doch als Erwachsene im Berufsleben müssen viele Menschen in einer bestimmten Berufstönung zu ihrer Arbeit erscheinen:

140  RAUM [2] – ­P RAXIS DER ­I MPLIZITEN ­V ERMITTLUNG 

Köche, Krankenschwester und Ärzte legen ihr professionelles Weiß an, um sich von Patienten, Besuchern und Verwaltungsangestellten zu unterscheiden und einander leicht zu erkennen. [… Uniformen] entlasten sie zugleich von der nicht immer leicht zu beantwortenden Frage, ob denn zum professionellen Milieu, zu den anstehenden Aufgaben, zu den Terminen des Tages besser ein sandmattes Kostüm oder ein pfirsichfrohes Kleid, eher der kaltgraue Zweireiher oder die Kombination aus vandyckbrauner Hose und ­Kamelhaar-Jackett passe?64 Für die Gestaltung ist also die Farbe eine ungeheuer weitläufige, aber sehr wichtige Komponente, dabei ist nicht zu vergessen – das Material in Erinnerung rufend: Die jeweilige Oberflächenbeschaffenheit lässt Farben jeweils sehr unterschiedlich wirken. Designteams können sich bei der Farbgestaltung auch über sogenannte Moodboards verständigen. Für das zu gestaltende Produkt wird zuerst ein Farbklang ersonnen (zum Beispiel: Schwarz, Weiß, Gelb), Auch mit Tätowierungen und gefärbten Haaren dabei werden die gewünschten Attribute der kann mehr Farbe in die eigene Erscheinung Farbe mittels Farbbildern verstärkt. Das Bild ­gebracht werden. Aber welche Farbe trägt man eines schwarzen Panthers oder schwarze Silam besten auf dem „roten Teppich“? houetten aus dem Spitzensport, eine weißgelbe Orchidee, weiße Pferde im Schnee, Eiskristalle, Bilder von Löwenzahn und Sonnenblume rücken die Farben in den gewünschten Bedeutungszusammenhang: Schwarz soll hier als geheimnisvolle, Kraft und Schnelligkeit repräsentierende Farbe (nicht als Schwarz der Trauer) und Weiß als Farbe der Kraft und Lebendigkeit, von Eis und Winter, nicht als Farbe der Sauberkeit oder der Unschuld verstanden werden. Gelb soll als Farbe des Aufblühens und der Vitalität gelten, nicht als Gelb des Neides oder des Verrats.65 Im Sinne des Aufblühens ist die Farbe auch bei Blumen essenziell wichtig für die symbolische Bedeutung – die Blumensprache war vor allem im 18. und 19. Jahrhundert in Europa ein Mittel nonverbaler Kommunikation, durch die Farbe der Blüten konnten Bedeutungen signalisiert werden, wenn es nicht möglich oder einfach war zu reden.66 Trug die Dame beim Tanz einen Strauß von gelben Nelken, roten Rosen oder weißer Iris, bedeutete dies zum Beispiel „Ich bin schon vergeben“ oder gegensätzlich „Mein Herz ist frei“ oder Ähnliches. Als Strauß überreicht bedeuteten bestimmte Blüten „Ich gebe die Hoffnung nicht auf“ oder „Du bist mir zu anhänglich“, „Vergib mir“ oder sie sagten „Vergiss mich nicht“, wie es die hellblauen Vergissmeinnicht auf einzigartige Weise vermitteln.67 Und wenn wir nun bei Blüten und Blumensträußen angelangt sind: Düfte sind in der Designwelt noch oft unterschätzt. Mehr dazu offenbart das nächste Exponat.

[EXPONAT 9] 2.3 FARBE 141

[RAUM 2] – [EXPONAT 10]  2.4  GERÄUSCH UND A ­ NDERES UNTERSCHÄTZTES

Exponat 10: Achtung, heiß!

Zu sehen ist ein Glas mit heiß dampfendem Tee, umhüllt mit einem Stück Filz.

Herrlich, ein sommerlicher Samstagnachmittag mit guten Freunden in einem Café. Wir sind zum ersten Mal in diesem neu eröffneten Lokal. Ungewohnt, dass ein Tee nicht in einer Tasse oder Kanne serviert wird – das Glas betont die Transparenz der Flüssigkeit, dadurch wirkt der Sommertee auch noch um einiges frischer, als wenn er in einem „winterlichen“ Häferl serviert werden würde. Ich merke sofort, als ich meine Hand dem Glas nähere, das Stück Filz dient dazu, anzuzeigen, wo ich das Glas anfassen kann, ohne mir die Finger zu verbrennen. Ein visuelles Erlebnis, zweifelsohne, aber eben nicht nur – schließlich ist der Tee heiß. Die letzten drei Exponate thematisierten visuelle und hap­ tische Designelemente. Lässt sich Temperaturwahrnehmung so ohne Weiteres dem haptischen Erleben zuordnen? Und welche weiteren Sinne machen diesen Samstagnachmittagstee zu dem, was er ist? Die Lichtverhältnisse im Raum, das Raumgefühl durch die hohe unverkleidete Decke, das neue Ledersofa, auf dem ich in entspannter Haltung Platz genommen habe und das seinen dezenten Geruch verbreitet, hin und wieder trägt mir ein Luftzug den Duft von frisch gemahlenem Kaffee und süßem Gebäck entgegen, der Geräuschpegel entspannter Gespräche, im Hintergrund Musik in die-

142  RAUM [2] – ­P RAXIS DER ­I MPLIZITEN ­V ERMITTLUNG 

sem hohen Raum, in dem sich der Schall auf ganz typische Weise ausbreitet … Alle diese Dinge, die sich nicht einmal annähernd in einem Exponatbild darstellen lassen, sind unentbehrliche Zutaten für mein Erlebnis dieses Samstagnachmittagstees.

Wegbeschreibung – der Pfad von diesem Exponat zum nächsten führt über: 2.4.1 Geräusche und mehr – Hörbarer Gestaltungsspielraum  ≥  2.4.2 Sound-Design | Sound-Branding – Nichts wird dem Zufall überlassen  ≥  2.4.3 Geruch – Sensory ­Branding  ≥  2.4.4 Haptik – Haptisches Priming und gewichtige Entscheidungen  ≥ 2.4.5 Interface Revisited | Design geht unter die Haut

2.4.1  Geräusche und mehr Die Geräusche der Umgebung sowie die Geräusche, die Objekte hervorbringen, sind von nicht zu überschätzender Bedeutung für den Gesamteindruck eines Gegenstandes, für die Art, wie er im Gedächtnis bleibt, und mit welchen Assoziationen er verknüpft ist. Ein Beispiel zum Thema Tee: Eine Designikone aus den 1980er Jahren ist der Teekessel 9091 von Richard Sapper für Alessi. Ein typischer Kessel zum Erhitzen von Wasser am Herd mit Henkel, aber auf der Öffnung, aus der das heiße Wasser dann ausgegossen wird, sind zwei kleine Pfeifen angebracht. Wenn das Teewasser die Kochtemperatur erreicht hat, erzeugt der Wasserdampf, der aus der Öffnung tritt, ein charakteristisches Geräusch: normalerweise ein eher alarmierendes Pfeifen, aber bei Sappers Teekessel ertönt eine gut abgestimmte Harmonie. Das Produkt war in den 1980er Jahren ein Verkaufsschlager und ist auch im Jahr 2020 noch bei Alessi erhältlich, und es pfeift nach wie vor eine elegante kleine Harmonie, wenn das Teewasser fertig ist. Geräusche lassen sich nicht so leicht überhören, vor allem, wenn die Lautstärke der einer Sirene oder lauten Alarmanlage entspricht. Solcher Lärm setzt mich sofort körperlich unter Stress. Weitere für die Gestaltung wichtige Sinne sind Geruch und Geschmack. Food Design68 kennt auch die Wichtigkeit der Konsistenz von Speisen bzw. der Geräusche, die beim Hineinbeißen oder Kauen entstehen. Noch mehr Gestaltungsspielraum betrifft auch die Temperatur eines Dinges oder eines Raumes sowie die Luftfeuchtigkeit, die mindestens bei der Gestaltung für eher tropisch gelegene Gebiete zu berücksichtigen ist. Der Raum und das Empfinden, im Raum zu sein, dürfen ebenso nicht außer Acht gelassen werden: Der menschliche Körper besitzt einen Lage- und Körpersinn, genannt Propriozeption,69 der beständig abschätzen hilft, welche Lage meine Gliedmaßen zum Körper haben, und auch, ob mein Körper in aufrechter ­Position ist oder nicht. Zu dem Raumsinn gesellt sich noch ein Raumgefühl, ein

[EXPONAT 10]  2.4  GERÄUSCH UND ­A NDERES UNTERSCHÄTZTES  143

­ efühl d G ­ afür, ob mein Rücken frei auf einem offenen Platz ist oder ob ich mich in eine gemütliche Ecke zurückgezogen habe. In manchen Räumen ist es wichtig, den Lichteinfall zu kontrollieren, zum Beispiel in Kaufhäusern, wo darauf geachtet wird, dass die künstliche, bewusst gesetzte Beleuchtung nicht ihrer Wirkung beraubt wird. Tomaten und Fleisch sehen unter leicht rötlich getöntem Licht um einiges frischer aus, das Gebäck sieht unter leicht gelblichem Licht noch knuspriger aus.70 Die Temperatur wird an manchen Orten der Gastronomie bewusst niedrig gehalten zu dem Zweck, dass Gäste möglichst rasch aufessen und das Lokal wieder für neue Gäste freimachen. In Räumen wie Casinos wird das Tageslicht bewusst abgeschirmt, um die Spielenden vom Zeitgefühl, ja sogar vom Gefühl für Tag und Nacht zu befreien. Auch das Tempo bzw. ein Rhythmus von Anordnungen – sei es eine Raumfolge, seien es Präsentationen, seien es Warenregale – sollte beachtet werden, wenn man die Interaktionen von Menschen mit Dingen und Räumen gestaltet.

2.4.2  Sound-Design | Sound-Branding William Gaver arbeitete Ende der 1980er Jahre bei Apple Computers und begann dort ein klangliches Interface zu entwickeln.A Dieses beruhte auf seinen Forschungsarbeiten, die sich nicht ganz in die damals bestehenden Denkschulen einordnen ließen, so erzählt er.71 Eine der damals dominanten Schulen der Klangpsychologie (Psychology of Sound) beschäftigte sich eher damit, wie Musik funktioniert und wahrgenommen wird, You could try to understand how people hear eine andere Richtung (Psychoakustik) verthe material of an object when it’s struck, or suchte zu verstehen, wie Klang prinzipiell how big something is – things like that. That vom Wahrnehmungsapparat des Menschen sets up a new way of thinking about the dimenaufgenommen wird. Bill Gavers Sichtweise sions of sound. When I started thinking about beruhte hingegen auf der Erkenntnis, dass using sound in interfaces, it became pretty clear für die Wahrnehmung der Umgebung eines that if interfaces were going to have graphical Menschen die Parameter (wie Amplitude, representations of real-world objects, they Frequenz, Spektrum etc.), denen Psycholocould have auditory representations of those gen viel Wert beimaßen, nur eine untergeobjects as well.72 ordnete Rolle spielen. Worauf es stattdessen ankommt, damit Menschen Informationen über ihre Umgebung hören können, stand im Zentrum seiner Forschung. Er nahm Klangquellen des Alltags unter die Lupe.

A  Abzweigung: Kreativität, Neues zu entwickeln, fußt oft auf bereits umfangreichem Erfahrungsrepertoire, siehe dazu Kapitel 1.5.3 „Ein Repertoire an Erfahrungen“, Seite 097.

144  RAUM [2] – ­P RAXIS DER ­I MPLIZITEN ­V ERMITTLUNG 

Seine Erkenntnisse setzte er im Projekt SonicFinder um. Gaver versuchte, dem virtuellen Interface solche Qualitäten zu verleihen, wie wir sie im Alltag zu hören gewohnt sind. Er suchte nach Analogien zu digitalen Vorgängen, um diese dann mit den entsprechenden Klängen aus dem Alltag zu unterlegen. Ein Objekt am Desktop herumzuziehen bekam das Geräusch zugeordnet, das entsteht, wenn man etwa einen Kanister auf einer rauen Oberfläche hin und her schiebt. Ein weiteres Beispielexperiment: Den Fortschritt eines Kopiervorgangs könnte man hören, weil er wie das Gluck, Gluck, Gluck einer sich leerenden Flasche klingt. Das Geräusch, mit dem Objekte in den Papierkorb wandern, entspricht dem raschen Zusammenknüllen von Papier, bevor es in der Rundablage landet. Über den Klangkanal und das Hören ist prinzipiell anderes vermittelbar als über den Sehsinn, so Gaver. Ein Grund dafür liegt darin, dass der Sehsinn nun einmal grundsätzlich andere Signale verarbeitet als das Gehör. Beim Sehen nimmt das Auge prinzipiell Lichtstrahlen auf, die von Oberflächen reflektiert werden, der Sehsinn ist also auf die Oberflächen einer Sache beschränkt. Das Gehör andererseits arbeitet mit Signalen, die dadurch entstehen, dass Gegenstände in Vibration oder in Schwingungen versetzt werden. Deshalb kann uns ein Klang so viel über die innere Beschaffenheit eines GegenstanSound Design transportiert sowohl Informatiodes verraten. Wenn ein Klang so grundsätznen über die vielfältigen Funktionen und deren lich anderes über Beschaffenheit, Schwere, gewünschte Ausführung als auch emotionale Stabilität und Substanz eines Objektes sagt, Aspekte, die intuitiv und unmittelbar die Identials der Anblick der Oberfläche offenbart, fikation mit dem Produkt und letztlich die Kaufwird verständlich, warum viele Hersteller die entscheidung beeinflussen. Dabei haben die klanglichen Eigenschaften nicht dem Zufall, Akustikingenieure zwei große Aufgabenfelder sondern einem Sounddesigner oder einer zu bewältigen: Zum einen wird das Fahrzeug Sounddesignerin überlassen. von ungewollten Geräuschen […] befreit (Sound Vor allem im Automobildesign gibt es Cleaning), zum anderen versuchen sich die bekannte Beispiele für ein ganzheitliches Akustiker in der Komposition von Wohlklängen Sound-Design,73 einige davon sind in Paul (Sound Engineering).74 Steiners Werk über Sound-Branding aufgezeigt. Wie der Motor im Innenraum sowie draußen klingt, welches Geräusch es ergibt, wenn man die Autotür zuschlägt, welche Laute beim Betätigen des Blinkers erzeugt werden – nichts davon wird zum Beispiel bei großen Automobilfirmen dem Zufall überlassen. Geräusche dienen den Konsumenten dazu, sich ein Bild von der Qualität des Fahrzeuges zu machen, den Herstellern geht es dabei um Emotionalität, denn angeblich wird kaum ein anderes Produkt so sehr nach emotionalen Gesichtspunkten gekauft wie ein Auto.75 „Sound Branding bezeichnet die gezielte Nutzung akustischer Reize in der Kommunikation“, formuliert Paul Steiner. Branding bezieht sich auf den Prozess der Erkennung und Wiedererkennung von bestimmten Marken (Brands), sie soll sowohl den Käufer als auch die Hersteller (vor Imitaten) schützen. Es liegt im ­Interesse

[EXPONAT 10]  2.4  GERÄUSCH UND ­A NDERES UNTERSCHÄTZTES  145

der Unternehmen, ihre Markenwerte über möglichst viele Sinne zu vermitteln, um sich damit von der Konkurrenz explizit und schwer nachahmbar abzuheben und Konsumentinnen und Konsumenten langfristig an ihre Marke zu binden. Kopierer, Kaffeemaschinen, StaubsauSie können die Augen zukneifen, die Ohren zuger – kaum ein Produkt, das nicht ein Soundhalten, Berührung vermeiden und sich dem GeDesigner mitgestaltet hat. Es gibt noch anzu­ schmack entziehen, aber Geruch ist ein wesent­ merken, dass viele Produkte, die ich als licher Bestandteil der Luft, die wir atmen.76 sumentin kaufen kann, hochwertiger Kon­ klingen, als sie es tatsächlich sind. Spezielle Bearbeitungsverfahren garantieren, dass der Klangeffekt Robustheit und Hochwertigkeit vermittelt. Abgesehen von der klanglichen Gestaltung eines Produktes, dem product sound, gibt es noch weitere Möglichkeiten, eine Marke hörbar und einprägsam zu gestalten: die Klänge, die wir als Musik wahrnehmen. Jingles wie der Nokia Tune, der Start-up-Sound eines Computers, der eindrucksvolle Klang des Surround-Systems im Kino, einprägsame Lieder in Werbespots und vieles mehr – eindringliche Melodien, an denen man quasi nicht vorbeikommt.

2.4.3 Geruch Der Geruchssinn ist ein sehr direkter Sinn, der keinerlei Entschlüsselung braucht. Gerüche können uns sofort in eine andere Zeit versetzen, Erinnerungen sind oft sehr stark mit Gerüchen verknüpft. Viele Unternehmen nutzen den Geruchssinn, um an positive Erinnerungen anzuknüpfen  … weiß auch der durchschnittliche Popcornoder solche zu kreieren. Verkäufer von Disney World aus der Praxis, wie Waschmittel und Weichspüler in den sich Duft auf sein Geschäft auswirkt. Er weiß typischen Rosa-Pastellblau-Farbtönen und genau: Wenn es ruhiger wird, muss er nur den mit den dazugehörigen Gerüchen oder Arkünstlichen Popcorn-Duft anstellen und schon tikel zur Körperhygiene sind naheliegende bilden sich Schlangen an seinem Stand. Auch Beispiele, aber auch größere Dinge und Woolworth’s aus Großbritannien kennt dieses Räume werden bewusst beduftet: Kaffee­Phänomen. In der Vorweihnachtszeit setzten häuser und Einkaufsmeilen, Hotels und Au20 Woolworth’s-Filialen den Duft von Glühwein tos kommen kaum noch ohne Sensory Branund Weihnachtsessen ein. WHSmith, Europas ding aus. größte Zeitungs-/Zeitschriftenkette, wurde in Neuwagengeruch ist ein typisches Beider Weihnachtszeit ebenfalls aktiv und arbeispiel: Rolls-Royce-Kunden bemerkten, dass tete mit Fichtennadelduft.77 die neueren Wagen nicht mehr den typischen Rolls-Royce-Geruch hatten: „Das Innere der älteren ‚Rollers‘ roch nach natürlichen Stoffen wie Holz, Leder, Sackleinen und Wolle.“78 Neue Fertigungstechniken und neue Sicherheitsvorschriften

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gingen einher mit einer Modernisierung des Innenlebens und damit dem Austausch vieler ursprünglicher Materialien im Innenraum. Hunderttausende Dollar war es Rolls-Royce wert, den Duft der ehemaligen Neuwagen künstlich herzustellen und in die Wagen der neuesten Generation als unverkennbares sensorisches Branding einzubringen.79 Einen typischen Neuwagengeruch haben auch andere Automarken für sich entwickelt. Auch Hotels sind manchmal am Geruch gut wiederzuerkennen: Eine moderne indische Hotelkette, Le Meridien, The so-called sensory branding is gradually besetzt auf den Duft von alten Büchern und coming a major element of retailers’ consumer Pergament.80 marketing. Storeowners normally depend on Sissel Tolaas, eine norwegische Ge­ruchs­ lighting, colors and music to establish a mood. künstlerin und Professorin, lehrte 2006 an der Now, entrepreneurs also use smell in connectHarvard Business School „unsichtbare Koming consumers to their brands via the buying munikation und Rhetorik“82. Sie ist eine Ge81 ­experience. ruchsforscherin, die unter anderem für Unternehmen Corporate Smells und für Städte einen spezifischen Urban Smell anbietet. Dafür werden Geruchsproben der Firmenräumlichkeiten und der dort arbeitenden Menschen genommen und zu den eben genannten Corporate Smells verarbeitet. Was den Duft einer Stadt ausmacht, sind ebenso nicht nur wohlriechende Dinge, zusammengenommen ergeben sie das olfaktorische Profil einer Stadt.

2.4.4 Haptik Wieder zurück zum Tee. Behältnisse, die dazu gedacht sind, die heiße Flüssigkeit zum Zwecke des Konsums aufzunehmen, teilen mir wortlos mit, wo ich sie am besten anfassen kann, ohne mir dabei die Finger zu verbrennen (siehe Abbildung Seite 148). Nicht nur Gefäße und Dinge, die wir berühren, teilen uns mit, wie wir sie benutzen sollen: Ein relativ junges Forschungsgebiet der Psychologie befasst sich mit embodied cognition. Dabei wird die Art und Weise beforscht, wie eng die Logik des Verstandes zusammenhängt mit unbewussten Wahrnehmungen des Körpers und der dinglichen Umgebung. Gewicht und Gewichtung im übertragenen Sinn haben nachweislich buchstäblich miteinander zu tun.

Weight is linked to importance, so that people carrying heavy objects deem interview candidates as more serious and social problems as more pressing. Texture is linked to difficulty and harshness. Touching rough sandpaper makes social interactions seem more adversarial, while smooth wood makes them seem friendlier. Finally, hardness is associated with rigidity and stability. When sitting on a hard chair, negotiators take tougher stances but if they sit on a soft one instead, they become more flexible.83

[EXPONAT 10]  2.4  GERÄUSCH UND ­A NDERES UNTERSCHÄTZTES  147

Bild 37: Handlungsanweisungen

Ein Team um Aaron Kay84 führte fünf Studien zu haptischem Priming durch. Sie untersuchten, welchen unbewussten Einfluss die dingliche Umgebung (von Aktentaschen, Clipboards bis zu VerhandlungsIn the present research, we explore the possitischen) auf das Verhalten der Studienteilbility that the mere presence of everyday, inaninehmerinnen und -teilnehmer hatte. Diese mate objects can serve as ‘material primes’ that Requisiten, die für bestimmte Situationen exert automatic, unconscious, and even untypisch sind, kreieren den speziellen Kontext wanted effects on relevant behavioral choices für soziale Situationen. and judgments.85 Vertraute, alltägliche Objekte und die Assoziationen bzw. Bedeutungssysteme, die sie aktivieren, können dabei helfen, potenzielle Mehrdeutigkeiten einer sozialen Situation aufzulösen und damit sowohl psychologisch relevante Deutungsweisen als auch Angebote für bestimmte HandThe observed effects shouldn’t surprise lungsweisen bereitzustellen. ­designers – we, the evangelists of aesthetic Die Ergebnisse dieser Studien sollten value, whose livelihoods often rest on convincDesignerinnen und Designer nicht überraing others of the significance of choices about schen – zeigen sie doch, auf wie vielen Ebenen color, material, and surface finish. Countless gut gestaltete Dinge Menschen beein­flussen. times, we have faced a doubting audience and Die Perspektive der embodied cognition verasserted with earnest conviction that these tritt die Sichtweise, dass jedes mentale Ereigthings matter, not just because they’re pretty, nis auch auf der physischen Ebene eine Entbut ­because they have real impacts on people’s sprechung finden kann und umgekehrt. lives.86 Auch Nils Jostman und seine Forschungsgruppe konnten belegen, dass das abstrakte Konzept der Wichtigkeit mit der Empfindung von Gewicht oder Schwere korreliert. Die Teilnehmenden der Studien sollten Urteile über Wichtigkeit abgeben, während sie entweder ein leichtes oder schwereres Clipboard in Händen hielten. Mit einem schwereren Clipboard in Händen urteilten sie anders über materiellen

148  RAUM [2] – ­P RAXIS DER ­I MPLIZITEN ­V ERMITTLUNG 

Wert und faire Umstände bei Entscheidungsfindungen. Ganz wie es die Perspektive der Embodied Cognition erwartet, zeigen diese Ergebnisse, dass ein physisches ­Gewicht, welches mir mehr körperliche Aktivität abverlangt, mich ebenso bei abstrakten Begriffen beeinflusst, sodass ich From this perspective, mental action is mehr kognitiven Aufwand investiere.88 grounded in a physical substrate, and thus ­sensory and motor processing constitute necessary components of cognition. Our understanding of the world is not an abstract proposition but fundamentally depends on our multisensory experiences with it. Relevant experiences include movements, emotional events, and the processing of spatial and temperature dimensions.87

2.4.5  Interface Revisited | Design geht unter die Haut

Wie in Raum [1] (ab Seite 035) gezeigt, beziehen sich die haptischen Qualitäten eines Objektes auf alle Sinne, mit denen sie wahrgenommen werden – so distanziert diese Ausstellung auch Produkte des Designs wie im Vorbeigehen behandelt, Design geht manchmal unter die Haut und stellt Interface als Schnittstelle (im Sinne einer Fläche oder eines Bereiches) zwischen Produkt und Mensch in Frage. Gerade nach den letzten Beispielen wird deutlich, dass Interface, als Fläche gedacht, sich denkbar schlecht eignet für solch abstrakte Begegnungen zwischen Dingen und Menschen. Hand- oder Fingerabdrücke auf einem Touchscreen sind die eine Sache, das Gefühl, dass ich einen Geruch mit einem tiefen Atemzug in mich aufnehme oder ein Geräusch in einer plötzlichen, schrillen Lautstärke mich einschüchtert, eine ganz andere. Die Stimme, mit der mein Navigationsgerät mit mir spricht, das mentale Modell des Weges, der vor mir liegt … nicht alle Begegnungen lassen sich so einebnen, dass man von einem glatten, flächigen Interface sprechen könnte. Wo wäre die exakte Schnittstelle im Bereich Food-Design, wenn ich mit einem Löffel esse und dieser sich in meinem Mund befindet, die Konsistenzunterschiede zwischen heißer, flüssiger Suppe und knusprigen Brotstücken zusammen mit dem Geschmack sich entfalten? Und der Wein? Edle Weingläser tragen doch dazu bei, dass guter Wein noch besser schmeckt. Lippenstiftreste am Glasrand zeugen von den Berührungen. Mein Smartphone ermöglicht mir unter anderem auch das Telefonieren, viele Minuten lang halte ich es fest an mein Ohr, sodass mein Make-up das Display verschmiert. Ich lausche den Stimmen meiner Vertrauten und wieder ist es schwer, eine flächige Grenze zu ziehen. The cell phone is an example of the convergence of digital and physical interaction; in one product the design for sight, sound, and touch are all crucial.89

[EXPONAT 10]  2.4  GERÄUSCH UND ­A NDERES UNTERSCHÄTZTES  149

Es gibt Formen der Recherche, die dabei helfen, die Wirkung einer gestalterischen Intervention sofort und unmittelbar zu erkunden: Prototyping experience wird zum Beispiel bei der Designagentur IDEO eingesetzt. Sessel werden zusammengeschoben, eine Person liegt auf den Sitzen, eine andere unter den Stühlen, eine weitere Person liegt daneben: Es geht darum, die Dimensionen der Schlafmöglichkeiten einer zu gestaltenden Economy-Class-Flug­ linie zu erfassen: körperlich, emotional, auch The success of these fields has not been hampered by the fact that they share certain comim Hinblick auf Gerüche.90 mon-sense conceptions of colour, particularly Die letzten Exponate zusammenfasthe idea that colour is an autonomous attribute send kann ich feststellen, dass Form, Matethat can be studied almost in isolation from rial und Farbe nur Abstraktionen sind, die other perceptual attributes.91 im Design und für Produktanalysen eine wichtige Denk- und Sehhilfe sind. Rainer Mausfeld argumentiert, dass Farbe als Abstraktion des Wahrnehmungsprozesses eine Alltagsanschauung sei. Wie die Oberfläche des Farbträgers beschaffen ist und wie die Beleuchtung auf das Gesamtempfinden einwirkt, dies alles kann nicht mehr nur mit den drei typischen Parametern hue, lightness, saturation, also Farbton, Helligkeit und Sättigung, erfasst werden.92 Das heißt nicht, dass diese Begriffe verworfen werden sollten, aber ich hoffe, wir kommen nicht nur in unseren Forschungsunternehmungen, sondern auch sprachlich in nächster Zeit der Verwobenheit der zu gestaltenden Sachverhalte näher: Wie gezeigt wurde, hat jedes Geräusch einen Körper, der in Schwingung oder Vibration gebracht wird, jedes Material eine Form, jede Form eine Farbe. Das Material an sich kann nicht getrennt von anderen Elementen, allein und separat wahrgenommen werden. Jede Form besteht aus einem Material und hat eine farbige Qualität. Mausfeld warnt, dass man durch das bisherige Framing der einzelnen Komponenten wichtige Forschungsfragen übersehen könnte, wie beispielsweise das Problem der Farbwahrnehmung bei unterschiedlichem Umgebungslicht. Gerne, so Mausfeld, würde diese Frage als Problem der Inkonsistenz der Farben abgetan. Die Wirklichkeit ist noch um einiges komplexer. Erst recht dann, wenn völlig verschiedene Produkte als eine Produktfamilie, als zueinandergehörig gestaltet werden sollen.

150  RAUM [2] – ­P RAXIS DER ­I MPLIZITEN ­V ERMITTLUNG 

[RAUM 2] – [EXPONAT 11]  2.5 FAMILIEN

Exponat 11: Produktfamilien

Zu sehen sind hier mehrere Produkte der japanischen Firma Muji. Das Sortiment der Firma reicht von Haushaltswaren über Textilien bis zu Schreibwaren und mehr. Gegründet 1980, ist die Firma mittlerweile dafür bekannt, keinerlei Logo auf ihren Produkten anzubringen, dennoch sollte man als Käufer oder Käuferin sowie auch als User erkennen, dass es sich um ein Muji-Produkt handelt – so der Auftrag ans Design.93

Mein Lieblingskugelschreiber ist ein kleiner, mit Zedernholz eingefasster Kugelschreiber mit extrem feiner Mine von Muji. Ich habe ihn in London beim Stadtbummel nach einer Konferenz gekauft und benutze ihn nun schon einige Jahre. Neulich fiel mir die Laptop­ tasche eines Kollegen auf. Die robuste Naht, gerade die notwendigsten Fächer außen, dafür gedacht, noch in einer weiteren ­ Umhängetasche transportiert zu werden, das kam mir bekannt vor … ­ Im Gespräch finde ich heraus, dass es sich bei der Laptoptasche tatsächlich auch um ein Muji-Produkt handelt. Ich erinnere mich an typische Aufgabenstellungen aus meiner Designausbildung: Stell dir vor, das Unternehmen XY, bekannt als Automarke, stellt nun einen Kühlschrank, einen Staubsauger, einen Messerblock oder eine Nähmaschine her. Wie müsste dieses Produkt gestaltet sein, damit man es sofort als Produkt der Firma XY erkennt? Wir lernten so, die „Firmengenetik“ (sic) zu entschlüsseln und sie in beliebige Produkte zu übersetzen. Auch in der beruflichen Praxis von Designerinnen und Designern ist es eine vertraute Aufgabe, ein neues Produkt im Sortiment eines Unternehmens als zur Produktfamilie gehörig auszuweisen.

[EXPONAT 11] 2.5 FAMILIEN 151

Wegbeschreibung – der Pfad von diesem Exponat zum nächsten führt über: 2.5.1 Familienähnlichkeiten – Produktfamilien gestalten  ≥  2.5.2 Branding und ­Corporate Identity – Produkte als Manifestationen einer Marke

Dies ist nun die erste Metaebene zu den vorher genannten Detailbereichen der Gestaltung. Die einzelnen Elemente werden zu einem größeren Ganzen, das bestimmte Kommunikationsleistungen erbringen soll. Bei vielen Designaufträgen steht das gestaltete Objekt im Vordergrund und soll für sich und für die Marke sprechen, zu der es gehört. Das bisher in dieser Ausstellung Gezeigte kann nun zu einem praktischen designtypischen Anwendungsbereich geknüpft werden: Etwas, das unter Umständen als „Firmengenetik“ oder „Firmenwerte“94 in typischer Marketingsprache in Worten formuliert vorliegt, soll durch Design in den Dingen wahrnehmbar werden. Markenwerte (wie zum Beispiel sportlich, jugendlich oder elitär), die etwa aus Befragungen oder Beobachtungen erschlossen werden, sind meist abstrakte, schwer fassbare Begriffe. Diese müssen erst mit Eindrücken und Bedeutungen gefüllt werden, bevor mit ihnen gearbeitet werden kann. Daher ist es sinnvoll, Designschaffende schon früh in Entwicklungs- und Strategieprozesse miteinzubeziehen, nämlich schon bei der Erarbeitung dieser Begriffe und bei der Destillation aus den Recherchen, denn jedes Verstehen, jedes Sich-etwas-Aneignen ist etwas Persönliches, und diese Erfahrungen müssen persönlich gemacht werden.A Verstehen kann nicht delegiert werden.

2.5.1 Familienähnlichkeiten Manche Unternehmen vertrauen darauf, dass ein einheitlicher Farbcode die Zusammengehörigkeit der Produkte erkennen lässt, manche setzen auf ein bestimmtes Material, eine spezifische Oberflächenbeschaffenheit, auf exakt gleiche Kurvenradien, andere fassen den gemeinsamen Kern abstrakter. Wie aber kann ich mich als Designerin auf die Suche nach dem machen, was die Zusammengehörigkeit der Produkte überhaupt ausmacht, falls ich es nicht in Form eines Briefings vorliegen habe? Und selbst wenn die Markenwerte explizit vor mir liegen, wie kann dieser Übersetzungsprozess der Firmengenetik in ein Produkt oder eine Produktfamilie gelingen? Ludwig Wittgenstein erkundet in seinen philosophischen Untersuchungen den Begriff der Familienähnlichkeiten, er plädiert dafür, dass man durch bloßes Anschauen nur sieht, worin sich die Dinge ähneln, doch die unbestreitbare Ver-

A  Abkürzung: Mehr zu Methoden der Aneignung siehe Kapitel 2.7 „Dinge herausfinden“, ab Seite 169.

152  RAUM [2] – ­P RAXIS DER ­I MPLIZITEN ­V ERMITTLUNG 

wandtschaft von einer Familie von Begriffen, wie etwa bei Spielen, lässt sich nicht direkt sehen. Ähnlichkeiten tauchen zwar auf, sie verschwinden aber auch wieder. Und das Ergebnis dieser Betrachtung lautet nun: Wir sehen ein kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, die einander übergreifen und kreuzen. Ähnlichkeiten im Großen und Kleinen.95 Eine Möglichkeit, über diese Verwandtschaften zu lernen, ist, die bestehenden Produkte nachzuahmen, sich Schritt für Schritt in der Gestaltung an bereits Vorhandenem zu orientieren. So kann man sich die Form-ulierung der Produkte einer Marke erschließen. Man erkennt beispielsweise den gezielten Einsatz von Oberflächenbeschaffenheiten, Kurvenradien, Farbschemata, Korpusformen etc. So entsteht mit der Zeit ein Verständnis für die Formgebung des Bisherigen im Design innerhalb einer Marke oder einer ProduktRob Withagen schreibt dazu: familie. Für eine Weiterentwicklung derselConsider for example the proceedings that we ben sind Intuition und Kreativität vonnöten, call ‘games’. I mean board-games, card-games, es gilt, eine Wortsprache in eine Designspraball-games, Olympic games, and so on. What is che zu übersetzen, Merkmale wie elegant, common to them all? […] To repeat: don’t think, zeitlos, verspielt, edel oder auch viele andere but look! […] this is true not only for the class sollen für Konsumentinnen und Konsu‘games’ but for all classes. For example, the obmenten klar erkennbar sein.A Wie sind soljects that a human perceives as a chair do not che Merkmale zu erkennen, wenn in einer have any one physical property in common. Produktfamilie keine Eigenschaft allen DinWittgenstein introduced the concept of ‘family gen gemeinsam ist? Kein einziges typisches resemblance’ to denote the similarities of cerKennzeichen, keine Farbe, die in allen Protain objects that make them members of the dukten vorkommt, lässt sich finden, und same class. That is, the members of a class are doch gehören die einzelnen Dinge zusamrecognizably similar, although they do not all men. Wittgenstein sieht in dieser Unschärfe share any single property.97 eines Begriffs jedoch keine Schwäche – es können Dinge einander ähneln, ohne dieselben Eigenschaften zu besitzen. Er vergleicht dieses Phänomen mit einem unscharfen Bild eines Menschen und einem in einzelnen Bereichen scharfen Bild desselben Menschen. Die Verwandtschaft ist dann ebenso unleugbar wie die Verschiedenheit. Und wenn wir diesen Vergleich noch etwas weiterführen, so ist es klar, dass der Grad, bis zu welchem das scharfe Bild dem verschwommenen ähnlich sein kann, vom Grade der Unschärfe des zweiten abhängt.96

A  Abkürzung zur Unterscheidung von Eigenschaft vs. Merkmal, siehe „Eigenschaft und Merkmal“, Seite 215.

[EXPONAT 11] 2.5 FAMILIEN 153

Woran es also liegt, dass Produkte sich ähneln, kann unabhängig von ihren buchstäblichen Gemeinsamkeiten sein. Die Gemeinsamkeiten können abstrakter sein als die zuvor beschriebenen Elemente – Klaus Krippendorff betont, dass Familienähnlichkeiten dann entstehen, wenn „Benutzer verschiedene Artefakte als zusammengehörig begreifen.“ Telefonapparate, Telefonbücher und TelefonSo auch bei Muji: Das Branding paszellen zur Wahrung der Privatsphäre hängen siert dort fast allein über die Einfachheit und nicht physikalisch miteinander zusammen, hohe Qualität der Materialien. Keine einzige sondern über die Vorstellungen von Zugehörigspezifische, physikalische Gemeinsamkeit keiten seitens der Benutzer. […] Familienähnist abgesehen davon zu erkennen. lichkeiten, Systeme und Zugehörigkeiten sind begrifflicher Natur, häufig sind sie normativ. Wenn Teile eine bestimmte Rolle in einem größeren System spielen sollen, so ist es immer die Vorstellung, etwa eines Designers, Managers oder Benutzers, die den Teilen diese Bedeutung zuschreibt.98

2.5.2  Branding und Corporate ­Identity

Branding ist heute eine typische Designaufgabe – innerhalb einer Firma wird ein einheitliches Gestaltungsbild angestrebt. Einer der frühesten Corporate Designer war Peter Behrens, der für die „Allgemeine Elektricitäts Gesellschaft“ im Jahre 1907 zuerst ein Logo und Materialien wie Werbung und Verpackungen entwarf, dann 1910 für die Fabrikshalle der Turbinenfabrik als Architekt verantwortlich zeichnete und schließlich auch den gefertigten Produkten Gestalt gab. Gemeinhin wird er neben Christopher Desser als einer der ersten Industriedesigner bezeichnet und AEG als das erste Unternehmen mit einem ganzheitlichen Gestaltungskonzept (einer Corporate Identity).99 Ein anderes Beispiel für einheitliche Produktfamilien ist die Arbeit von Dieter Rams für die Firma Design can be used to reflect corporate valBraun. Kühl und sachlich, qualitativ hochues, to develop consistency across the product wertig, klare Linien bei Bedienelementen: range, and to define the attributes of each diese Attribute sind bezeichnend für seine brand clearly. Product Design, as part of the Produkte.100 ‘aes­thetics’ of the brand, plays an increasingly Um einen konsistenten Gesamteinimportant role within the surge of competidruck zu erreichen, streben Unternehmen tion.101 Gemeinsamkeiten innerhalb der Produktlinie an, während gleichzeitig ein Kontrast, eine Abgrenzung zu ähnlichen Produkten anderer Firmen entstehen soll. Über das Konzept einer Marke geschieht implizite und explizite Kommunikation. Explizit wäre zum Beispiel das Aufdrucken einer Firmen- und Produktbezeichnung, die implizite Dimension kommuniziert symbolisch Markenwerte und vermittelt diese beispielsweise über Gewicht, Handhabung, Fertigungsqualität, Farbe, Benutzerfreundlichkeit, Materialeinsatz oder Oberflächenbeschaffenheit – eben Design.

154  RAUM [2] – ­P RAXIS DER ­I MPLIZITEN ­V ERMITTLUNG 

Die Marke als Fokuspunkt der Wieder­ erkennung beruht auch darauf, dass alles, was als zum Unternehmen gehörig wahrnehmbar ist, dieselben Bedeutungen verkörpern hilft. Das heißt, während des Designprozesses werden wichtige strategische Elemente diskutiert und gestaltet. Heutzutage gibt es kaum mehr Produkte, die nicht Teil einer Marke sind. Die gestalteten, verkaufbaren Produkte oder Services einer Firma sind die stärksten Manifestationen der Markenidentität.104 Man könnte meinen, umso mehr die Produkte nach Aufmerksamkeit ringen, desto besser für die Marke – jedoch gibt es viele Designschaffende, die darauf hinarbeiten, möglichst wenig Aufmerksamkeit zu beanspruchen. Das Design soll sich unsichtbar machen, sodass sich die Gegen[…] only few products (usually only commodistände möglichst nahtlos, ja fast unbemerkt ties) can be imagined without a brand connecin den Alltag integrieren lassen. Dies ist der tion in today’s world. Brand (identity) associaSachverhalt, der im nächsten Exponat als tions are central elements of product identity. Ausgangspunkt dient. Brand, when understood in holistic terms, ­functions as the focal point of recognition. For a customer, products are differentiated through the brands they represent. Products embody meanings that are often even detached from the material dimension. […] However, the concept of brand not only involves its accumulated reputation, but also a strategic dimension. The management of brand identity, as appearing through the messages the company wants to transmit to the market, involves an array of strategic decisions to be made prior to and during the design process.102

Hence, a product is often the strongest manifestation of brand identity, while it is usually the prior source through which a brand is evaluated.103

[EXPONAT 11] 2.5 FAMILIEN 155

[RAUM 2] – [EXPONAT 12]  2.6  THOUGHTLESS ACTS | DESIGN DISSOLVING IN BEHAVIOUR

Exponat 12: Thoughtless Acts – Design Dissolving in Behaviour

Das linke Bild zeigt ein Mobiltelefon, das bis in die 2010er Jahre in Verwendung war. In der Mitte die ­Wähltasten eines Smartphones aus dem Jahr 2012, rechts die Wählscheibe eines Telefons aus den 1970er Jahren.

Im Film Objectified beschreibt der Designer Naoto Fukasawa dem Regisseur Gary Hustwit die Maxime seiner Gestaltung: „design dis­ solving in behavior“. Das bedeutet, die Dinge, die wir benutzen, sollen uns keine kognitive Anstrengung abverlangen, sondern sich nahtlos in die Handlung, die zu unterstützen sie designt wurden, einfügen. Dazu ist ein umfassendes Verständnis der zu verrichtenden Tätigkeit, des Geräts samt der involvierten Infrastruktur und der involvierten Menschen notwendig. Ich möchte einen Anruf machen – welches Vorwissen ist nötig, damit ich mit einer Wählscheibe umgehen kann? Hier zeichnet sich nun die Art von Recherche ab, die neben allen technischen und material-ästhetischen Fragestellungen wichtig ist: Was ist alles ­ notwendig, damit Menschen den Gegenstand überhaupt nutzen können? Wie muss er gestaltet sein, damit er während der Nutzung gar nicht auffällt? „Design dissolving in behaviour“ nehme ich ins Konzept

156  RAUM [2] – ­P RAXIS DER ­I MPLIZITEN ­V ERMITTLUNG 

der impliziten Vermittlung folgendermaßen auf: Die Gestaltung kann unterstützen, dass das Gerät oder der Gegenstand leicht zum proximalen Term der Handlung werden kann und ohne Schwierigkeiten zur inkorporierten Erweiterung der Nutzerin bzw. des Nutzers wird.

Wegbeschreibung – der Pfad von diesem Exponat zum nächsten führt über: 2.6.1 Nahtlose Übergänge – Schwer zu ziehende Grenzen: Form, Material und Farbe existieren nicht unabhängig voneinander  ≥  2.6.2 Affekttechniken – Reaktionen und Bedeutungen gestalten  ≥  2.6.3 Thoughtless Acts | Den Bedeutungen nachgehen – Tu, was du nicht lassen kannst  ≥  2.6.4 Non-intentional Design – Umnutzung von ­Dingen, Überwinden des Bedeutungszusammenhangs

2.6.1  Nahtlose Übergänge Im wirkenden Zusammenhang, wie zum Beispiel in Alltagssituationen, begegnet man niemals den in den vorigen Exponaten erkundeten Gestaltungselementen allein, quasi einer Form pur. Eine Form hat auch immer eine haptische Qualität und auch ganz bestimmt immer eine Farbe, manchmal einen Geruch. Die im Designstudium gelernten Denkkategorien Form, Farbe, Material, Funktion etc. sind erlernte Abstraktionen und damit Denkwerkzeuge, die überwunden werden können, um der Integration von designter Umwelt als „intuitiv zugänglich“ auf andere Weise auf die Spur zu kommen. Die bisher einzeln untersuchten Teile entsprechen in der Logik der impliziten Vermittlung proximalen Termen eines impliziten Wissens. Sie werden als Einzelteile quasi unsichtbar und in Erscheinung tritt eine Gestalt, eine Bedeutung. Der im Exponattext vorgestellte Designer Naoto Fukasawa ist der Überzeugung, dass der Alltag von vielen Menschen durch eine bestimmte Art der Vereinfachung verbessert werden kann: Die MenWe humans have an abundance of experience schen sollten niemals darüber nachdenken in implicit interactions. We successfully employ müssen, wie ein Produkt zu nutzen sei. Das them in our daily interactions without conscious Produkt sollte uns keine kognitive Anstrenthought: we modulate our speaking volume gung abringen, so seine Sichtweise – im Bebased on ambient noise level, use smaller reich der Webseitengestaltung teilt diese words when explaining things to children, and Sichtweise zum Beispiel Steve Krug.105 Alles hold the door open for others when we see that sollte wie selbstverständlich ablaufen, sich their arms are full.106 nahtlos in die Absichten der Menschen einordnen. Zu solch nahtlosem Einfügen gehört ein Verständnis für die automatischen Interaktionen zwischen Mensch und Ding, die meist unter der Grenze der bewussten Wahrnehmung verborgen liegen.

[EXPONAT 12]  2.6  THOUGHTLESS ACTS | DESIGN DISSOLVING IN BEHAVIOUR  157

Diese unbewussten Interaktionen zeigen sich überall dort, wo wir, ohne nachzudenken, auf äußere Umstände reagieren. Für Designerinnen und Designer besteht nun die Herausforderung bei diesem Hineingestalten in Selbstverständlichkeiten darin, dass die gesuchten It is the integration of technological, social and Hinweise für die Gestaltung auch unter iheconomic requirements, biological necessities, rer eigenen Bewusstseinsschwelle angesieand the psychophysical effects of materials, delt sind.A Kurz nach László Moholy-Nagys shape, color, volume, and space: thinking in Tod im Jahre 1946 wurde das Werk Vision in ­relationships. […] The designer must be trained Motion publiziert. Es handelt sich dabei um not only in the use of materials and various sein Vermächtnis als Designer, Künstler, Päskills, but also in appreciation of organic funcdagoge und Designtheoretiker. Er betont imtions and planning. He must know that design is mer wieder, dass keine designerische Tätiginvisible, that the internal and external charackeit isoliert von größeren Zusammenhängen teristics of a dish, a chair, a table, a machine, betrachtet werden kann; er schreibt: „Design painting, sculpture are not to be separated. The bedeutet Denken in Zusammenhängen.“ In idea of design and the profession of the deseinem Werk lässt er klar zutage treten, dass signer has to be transformed from the notion of es sich bei Design um keine isoliert betrachta specialist function into a generally valid attibare Tätigkeit handelt, er prägt die Formulietude of resourcefulness and inventiveness rung: „Design ist eine Haltung.“ which allows projects to be seen not in isolation Alle zuvor besprochenen einzelnen Wirbut in relationship with the need of the individkungspotenziale (Form, Farbe, Geräusch, Geual and the community.107 ruch etc.) bleiben weder beim Herangehen an eine gestalterische Aufgabe noch bei der Analyse einer solchen im fokalen Bewusstsein. Sie können zwar gesondert betrachtet und analysiert werden, es gilt aber wie so oft: Das Ganze ist mehr als die Summe der Einzelteile.

2.6.2 Affekttechniken Diese Summe ist im Fall der impliziten Vermittlung die Bedeutung, die beabsichtigte Wirkung. Nach „Welches Material, welche Form, welche Farbe wähle ich?“ führt die Frage „Welche Wirkung möchte ich erzielen?“ weg von einzelnen Elementen, hin zu wirkenden Zusammenhängen. How can I influence the way a design is perceived? How can I help people learn from ­design? How can I enhance the usability of a design? How can I increase the appeal of a design?108 A  Abkürzung: Hierzu eine weitere Auseinandersetzung bei: „Gewohnheiten und Kontexte“, Seite 254, ­sowie hier: „Design und gesellschaftliche Realität“, Seite 258.

158  RAUM [2] – ­P RAXIS DER ­I MPLIZITEN ­V ERMITTLUNG 

Material, Form, Farbe sind Abstraktionen, die im Herstellungsprozess wichtig sind und die zu kennen und zu nutzen wichtige Grundkenntnisse im Repertoire eines Designschaffenden darstellen. Eine andere essenzielle Fertigkeit ist, gewünschte Effekte zu erzeugen, vor allem sind hier emoIn diesem Zusammenhang möglicher Ordnuntionale Effekte gemeint: Empfindungen und gen gestalterischer Regeln ist bemerkenswert, Stimmungen, die ein Design hervorrufen dass die derzeit einzige explizite Sammlung von soll. Es kommen dabei Gestaltungsregeln Designregeln [Universal Principles of Design, zum Einsatz, die Reaktionen wie etwa ErAnm. d. A.] ihr Material erst alphabetisch anordschrecken, Rührung oder Aufmerksamkeit net und dann in einem zweiten Inhaltsverzeichhervorrufen. Arne Scheuermann nennt solnis relationale (Meta-)Kategorien vorschlägt, in che Gestaltungsregeln Affekttechniken.109 denen auch Mehrfachnennungen möglich sind. Es lohnt sich für Designerinnen und DesigIhre fünf (im Übrigen wirkungsbezogenen!) ner, solche zu kennen und nutzen zu kön­Kategorien lauten: „How can I influence the way nen. Als Affekttechniken beschreibt Scheua design is perceived? How can I help people ermann gestalterische Metaregeln, die eine ­learn from design? How can I enhance the spezielle Kommunikationsleistung hinsicht­usability of a design? How can I increase the lich der Wirkungsdimension ermöglichen. ­appeal of a design? How can I make better Er beschreibt einige Beispiele für das Me­design ­decisions?“111 dium Film und stellt eine Parallele her zu explizierten, überlieferten Regeln der Rhetorik. Auch im Design, so Scheuermann, gehe es darum, Emotionen zu wecken und zu überzeugen. Es handelt sich bei dieser gestalterischen Kunst der Überzeugung um eine kunstvolle Orchestrierung verschiedener Gestaltungsregeln. Eine (laut Scheuermann erste) Sammlung solcher Regeln im Buch Universal Principles of Design110 verzichtet auf eine Unterscheidung im Sinne Dies gilt nicht nur für Designregeln allgemein, von Geltungsbereichen oder Designdisziplisondern auch für die Affekttechniken des Denen, die Wirkungsdimension gibt die Einteisigns. Für die Bewältigung beispielsweise eines lung der Techniken vor. Kommunikationsauftrags „Wirke freundlich und Hinweise, ob eine Regel eher für Grafikfamiliär“ durch eine Kaufhauskette kann eine design hier oder für Produktdesign dort GülVielzahl von Maßnahmen richtig sein – angetigkeit hat, sucht man vergebens. Das Fehlen fangen von der Beleuchtung der Schaufenstersolcher Zuordnungen verweist darauf: gestaltung über die Motivwahl der Anzeigen bis zur farbigen Innenraumgestaltung der Kaufflächen. […] Das einzelne Mittel wiederum – beispielsweise die temperierte Beleuchtung des Schaufensters – kann für verschiedene Kommunikationsaufträge die gebotene Maßnahme darstellen.113

 … dass sich erstens die Designer/innen jeweils kategorial unterschiedlicher Mittel zum selben Zweck bedienen können und dass zweitens ein und dasselbe Mittel in unterschiedlichen Kontexten von Bedeutung sein kann.112

Die eine Sache ist die Kenntnis solcher Gestaltungsregeln, die andere ihre geschickte Anwendung in Kombination, also in realen Situationen.

[EXPONAT 12]  2.6  THOUGHTLESS ACTS | DESIGN DISSOLVING IN BEHAVIOUR  159

Verknüpft mit der Sichtweise der impliziten Vermittlung wird ein essenzielles Phänomen erklärbar: Affekttechniken funktionieren dann am besten, wenn sie nicht in den Vordergrund des Bewusstseins kommen, sondern wenn sie unterschwellig, nur unbewusst wahrgenommen Es ist dabei nicht immer einfach, die zum Einwerden. Scheuermann schreibt: Sobald die satz gekommenen Affekttechniken in einem Technik funktioniert, ist sie integriert und ­Design nachträglich in ihrer Gesamtheit aufzudamit nicht mehr zu benennen. spüren und zu benennen. In der Filmanalyse Es kann bei der Analyse einer Situahilft es, Bild und Ton mehrfach und getrennt zu tion passieren, dass sich trotz aller Mühe betrachten, in der Analyse grafischer Mittel im Nachhinein nicht vollständig benennen macht die Rezeption unter wechselnden Lichtlässt, was wie gewirkt hat und welche Methoverhältnissen Sinn, und bei der Analyse von den zur Wirkung beigetragen haben, weil der Produktdesign und Interfaces bereichern Usaproximale Term des impliziten Wissens per bility-Tests die Bandbreite der aufzufindenden definitionem unbennenbar bleibt (siehe DeAffekttechniken.114 finition der Terme nach Polanyi, Seite 066: Die Merkmale, an denen ich das bekannte Gesicht erkannt habe, zu benennen, verschiebt nur das Problem, löst es aber nicht). Daher ist in Frage zu stellen, ob solche Analysebemühungen ab einer gewissen Detailtiefe überhaupt gelingen können.

2.6.3  Thoughtless Acts | Den Bedeutungen nachgehen Man kann vielleicht die Detailtiefe nicht hinreichend untersuchen, aber die Bandbreite dieser impliziten Interaktionen aufzuzeigen, ist eine für Designerinnen und Designer lohnenswerte Bemühung. In der Beobachtung und im fotografischen Festhalten der Beobachtungen bleibt die Bedeutungsvielfalt erhalten, nichts wird durch eine Übersetzung in Text oder durch einen Zwang zur Eindeutigkeit verzerrt („distorted into clarity“).115 Inspiriert vom Buch Thoughtless Acts116 halte ich im Alltag seit vielen Jahren immer wieder Eindrücke fest, die Spuren von impliziten Interaktionen mit Dingen zeigen. Jane Fulton Suri sammelt in diesem Buch Beobachtungen unbedachter Interaktionen von Menschen mit der dinglichen Umwelt. Sie beschreibt diese Alltagsbeobachtungen als wertvolle Inspirationen für den Designprozess. Gesammelt werden in ihrem Buch die Beobachtungen unter den Überbegriffen reacting?, responding?, co-opting?, exploiting?, conforming?, signaling?. Im Folgenden einige Beispiele für solche Spuren:

160  RAUM [2] – ­P RAXIS DER ­I MPLIZITEN ­V ERMITTLUNG 

Abstehende Teile Das Bild zeigt eine Tür von oben gesehen. Es ist keine gewöhnliche Perspektive und es ist auch etwas Ungewöhnliches dadurch sichtbar: Diese Tür wurde als Schaukel oder Turngerät benutzt, die Handabdrücke oben auf der Türkante verraten es.

Bild 38: Türschaukel

Bei diesen Milchdöschen ist der überstehende Teil des Deckels andersfarbig als der Rest des Deckels gestaltet. Das Folienmaterial ist an der gefärbten Stelle mit dem darunterliegenden Kunststoff verbunden. Eine Sollbruchstelle im Kunststoff erleichtert das Öffnen an der farbig kontrastierten Stelle. Bild 39: Milchdöschen

Spannung

Bild 40: Spannung Auflaufformen

Es gibt für viele Menschen einen Anreiz, gespannte Flächen anzufassen bzw. die Spannung zu durchbrechen. Die „Unversehrtheit“ der Fläche ist eine große Versuchung. Dieses Bild wurde in einem Geschäft aufgenommen, Glasbackformen sind in Zweierpa­ckungen mit Folie überzogen. Die Waren, die weiter hinten stehen, sind noch unberührt, die Vermutung liegt nahe, dass gerade Kinder der Versuchung nicht widerstehen konnten: Alles, was in ihrer Reichweite lag, wurde durchbohrt.

[EXPONAT 12]  2.6  THOUGHTLESS ACTS | DESIGN DISSOLVING IN BEHAVIOUR  161

 … und jetzt darf ich auch Ein unbeabsichtigtes Experiment: Nach einem Arbeitstag sperrte ich mein Fahrrad in der Grazer Innenstadt ab, um mich mit Freunden zu treffen. Meine Plastiktrinkflasche ließ ich im Radkorb, ich wollte sie nicht ins Lokal mitnehmen. Spät abends entschied ich mich, das Fahrrad stehen zu lassen und lieber zu Fuß nach Hause zu gehen. Der nächste Tag war sehr stressig und als ich am Bild 41: Fahrradkorb = Mülleimer übernächsten Tag das Fahrrad vom Stellplatz abholen wollte, fand ich es so vor (siehe Bild). Die hinterlassene PET-Flasche im Fahrradkorb hatte anscheinend ausgereicht, den Korb als Mülleimer zu legitimieren. Ich kann nur mutmaßen, aber wahrscheinlich hat jemand aus Spaß eine weitere leere Getränkeverpackung dazugestellt, der oder die Nächste fand dann schon nichts mehr dabei, eine alte Zeitung dazuzuwerfen, und so sammelte sich immer mehr Müll an, sogar eine Bananenschale wurde mir in den Korb gelegt. An der Universität liegen Flyer für Veranstaltungen und Treffen aus. In Ermangelung eines Tisches hat wahrscheinlich eine erste Person den Heizkörper als Ablage benutzt. Der nächste Flyerverteilende sah, dass schon ein Stapel mit Flyern dort lag, und legte wohl seinen oder ihren dazu.

Bild 42: Der Erste, der handelt, gibt anderen die Erlaubnis, dasselbe zu tun …

Jane Fulton Suri, eine eine Forscherin auf dem Gebiet Design & Human Factors bei der Designagentur IDEO, hat viele ganz ähnliche Müllentsorgungs-Phänomene beobachtet und ihre Schlüsse daraus gezogen: Sie nennt solche Phänomene, bei denen ein erster Mensch eine Handlung setzt und dadurch anderen implizit die Erlaubnis gibt, dasselbe zu tun, conforming.117 Sie begründet dies damit, dass wir unser Verhalten stets unserer sozialen oder kulturellen Gruppe anpassen. Als ich 2008 für Interviews in London war, fielen mir in der Liverpool Street Station leere Kaffeebecher auf, die sich auf fast allen horizontalen Flächen sammelten. Ein Foto von solchen Cup-Sammelstellen findet sich auch in Thoughtless

162  RAUM [2] – ­P RAXIS DER ­I MPLIZITEN ­V ERMITTLUNG 

Acts: Die Autorin liefert dazu die Begründung, dass in der Londoner Untergrundbahn sämtliche Mülleimer entfernt wurden (Stand 2005), damit niemand Bomben darin verstecken kann, aber die Gewohnheit, sich der leeren Kaffeebecher zu entledigen, bevor man in die U-Bahn einsteigt, blieb erhalten. In besagter Liverpool Street Station (2008) wurde auf das „Müllentledigungsbedürfnis“ reagiert, indem mehrere mit Kehrbesen, Schaufel und Müllsack ausgestattete Angestellte quer über den großen Bahnhof patrouillierten, und die Reisenden waren dazu aufgefordert, ihren Müll einfach auf den Boden zu werfen. Bei einem erneuten Aufenthalt in London 2014 und auch in einigen anderen Großstädten begegneten mir aber an größeren Bahnhöfen sehr wohl wieder Müllablademöglichkeiten: In große Metallringe werden transparente Müllsäcke gehängt. So scheint die Security ebenfalls Bomben und Ähnliches sofort ausmachen zu können, aber die Reisenden können wieder ihren Müll in dafür vorgesehene Behältnisse geben. Wahrscheinlich war ich nicht die Einzige, die sich bei dem Gedanken, einen Becher oder ein Müsliriegelpapier an einem öffentlichen Platz einfach auf den Boden zu werfen, nicht wohlfühlte.

Reparieren Diese Kette im Bild gehört zu einer Toilettenspülung, deren Griff sich anscheinend gelöst hat. Der Knoten ermöglicht es nun, trotz nicht vorhandenem Griff die Spülung zu betätigen. Solche Reparaturideen führen Designe­ rinnen und Designer manchmal direkt zu Produktideen: Jemand schneidet sich aus einer PET-Flasche einen Kotflügel für das Fahrrad aus, ein anderer gießt mit PET-Flaschen seine Pflanzen: Aufschraubbare Gießer, Henkel etc. für PET-Flaschen lassen sich folglich gut verkaufen.118

Bild 43: Spülung

[EXPONAT 12]  2.6  THOUGHTLESS ACTS | DESIGN DISSOLVING IN BEHAVIOUR  163

Ordnen Ein eigentlich als Aschenbecher gestalteter Mülleimer vor einem Bahnhof in Wien-Umgebung. Damit der Wind die Asche nicht in alle Himmelsrichtungen verweht und damit niemand in die Asche greifen muss, um auszudämpfen, besteht die Oberseite des öffentlichen Aschenbechers aus einem Lochblech. Kleine Fläschchen, die man im Geschäft im Bahnhof kaufen kann, passen mit dem Flaschenhals genau in dieses Lochblech. Bild 44: „Passend“

Ein Schnappschuss, aufgenommen in einem Möbelhaus in der Vorhangabteilung. Ich vermute, dass einer Begleitperson beim Einkaufen von Vorhangstoffen langweilig geworden ist und er oder sie geistesabwesend eine Schlange aus Vorhangklemmen zusammengesteckt hat. Die Ordnung, die dabei entsteht, dokumentiert diese Szene. Bild 45: Vorhangabteilung

Hier ist ein Interface bei einem Spiel in einem Naturkundemuseum zu sehen. Es gibt bei diesem Ratespiel mehrere kreisrunde Scheiben zur Auswahl. Um eine Scheibe im Ratespiel zu wählen und zu überprüfen, ob man die richtige Antwort gewählt hat, muss die Scheibe in die kreisrunde, genau passende Ausparung gelegt werden. Bild 46: „Interface“

In all diesen Beispielen interagieren die Menschen mit ihrer dinglichen Umgebung, ohne darüber nachzudenken. Die Dinge selbst scheinen Hinweise zu geben, wie sie gehandhabt werden sollen oder wollen.

164  RAUM [2] – ­P RAXIS DER ­I MPLIZITEN ­V ERMITTLUNG 

Bild 47: Funktionale Gebundenheit überwinden

2.6.4  Non-Intentional Design Für eine spezielle Nutzergruppe entworfene Gegenstände beinhalten oft ein Script A, das die Absicht beim Gestalten klar hervorhebt. Wie ein Drehbuch (script 119) listen Entwerfende die zu bereitstellenden Handlungsmöglichkeiten auf, die sich dann in Form eines Produktes manifestieren. Non-intentional Design hingegen nennt Uta Brandes120 das Phänomen, wenn Menschen Gegenstände oder ihre Umgebung auf andere Weise nutzen, als es von den Designerinnen und Designern vorgesehen ist. Weiter unten sind in Bildern Beobachtungen gesammelt, wie Menschen die Welt der Dinge gemäß ihrer funktionalen und ermöglichenden Merkmalen nutzen und um-nutzen (… ist gut für … kann benutzt werden um zu …), anstatt den abstrahierten Eigenschaften wie: ist aus Holz, hat eine zylindrische Form etc. Aufmerksamkeit zu schenken.121

Umnutzung von Dingen Karl Duncker, ein Gestaltpsychologe zu Anfang des 20. Jahrhunderts, thematisierte die „funktionale Gebundenheit“ und nannte als Kriterium für Kreativität, diese funktionale Gebundenheit überwinden zu können. Funktionale Gebundenheit meint in diesem Zusammenhang, dass Menschen meist ein Objekt gebunden an die gewohnte Funktion wahrnehmen. Ein Beispiel (siehe Bild 47): Ein Fingerring lässt sich als Eierbecher verwenden, er muss jedoch aus der Gebundenheit an die Funktion Ring gelöst werden, damit er die Funktion Eierbecher annehmen kann. A Siehe Abschnitt „Scripts“ im Atrium, Seite 205.

[EXPONAT 12]  2.6  THOUGHTLESS ACTS | DESIGN DISSOLVING IN BEHAVIOUR  165

Karl Duncker führte einen „Kerzentest“ mit Studenten durch: Es ging dabei darum, dass die Versuchsperson eine Schachtel mit Reißzwecken erhielt sowie eine Kerze und eine Packung Streichhölzer – und dann vor die Aufgabe gestellt wurde, die Kerze an der Wand zu befestigen, ohne weiteres Zubehör in Anspruch zu nehmen.122 Diese Aufgabe konnte nur von jenen Versuchspersonen gelöst werden, die die Schachtel mit den Reißzwecken leerten und als Untergestell für die Kerze an die Wand pinnten. Die funktionelle Gebundenheit der Schachtel als Behältnis für Reißzwecken muss überwunden werden, dadurch erst wird die Aufgabe lösbar. Im Folgenden weitere Beispiele für die Überwindung funktionaler Gebundenheit:

Bild 48: Handy-Ladestation mit Aufhängung

Hier im Bild ein Mobiltelefon, so fotografiert im Jahr 2012 in einem Zug auf der Fahrt zwischen Graz und Wien. Die clevere Handynutzerin fand eine Möglichkeit, ihr Gerät aufzuladen, obwohl die Steckdosen nur oben entlang der Gepäckfächer montiert waren und das Ladekabel nicht bis zum Klapptisch reichte. Die Aufhängungen für Jacken und Mäntel erlaubten zum Glück für sie auch das Ablegen eines Mobiltelefons.

Bild 49: Leiter mit Handschuhen

166  RAUM [2] – ­P RAXIS DER ­I MPLIZITEN ­V ERMITTLUNG 

Bild 49 zeigt eine Leiter, wie sie in einer Galerie beim Umbau verwendet wurde. Ich fand die Leiter so in einem Nebenraum der Galerie vor. Das hintere Beinpaar der Leiter wurde offensichtlich für den Einsatz auf dem frisch abgeschliffenen Parkettboden präpariert (mit Schaumstoff und Klebeband), aber anscheinend konnte man die Leiter nicht an eine Wand anlehnen – vielleicht war auch diese frisch gestrichen? –, sodass man sich spontan behelfen musste, um keine Kratzer auf dem glänzenden Fußboden zu hinterlassen (so mutmaße ich). Was hatte man ohnehin zur Hand? Baumwollhandschuhe, wie sie meist beim Hantieren mit empfindlichen Kunstwerken getragen werden. Die Eigenschaft, dass der Baumwollstoff das Bild vor Beschädigungen durch die Hand schützt, wurde kurzerhand auf die Beine der Leiter übertragen. Als Fahrgast in diesem Taxi fiel mir auf, dass der Fahrer jederzeit einen Anruf entgegennehmen könnte, ohne dafür erst in der Mittelkonsole nach dem Handy kramen und ohne es ans Ohr halten zu müssen. Alles im Blickfeld – eine Freisprecheinrichtung durch Umnutzung des Lenkrades als Handyhalterung. Bild 50: Freisprecheinrichtung

Hier die Überwindung der funktionalen Gebundenheit einer Büroklammer. Gerne wird zu Kreativtests die Büroklammer herangezogen – wozu könnte man diesen geformten Draht noch benutzen? Eine Arbeitskollegin hatte den Griff eines Reißverschlusses verloren und bediente sich nun dieses zweckentfremdeten Büroutensils. Bild 51: Reißverschluss, ohne Verdruss

Eine junge Frau benutzt Bleistifte als Haarknotenhalter. Gerade das Überwinden des Bedeutungszusammenhangs kann für die Gestaltung erhellen, wie eine Personengruppe die Umwelt wahrnimmt, was in ihrer Umgebung fehlt oder schlicht: wie Menschen unbewusst gestalterisch tätig werden. Bild 52: Knotenhilfe

[EXPONAT 12]  2.6  THOUGHTLESS ACTS | DESIGN DISSOLVING IN BEHAVIOUR  167

Sich den Bedeutungen nähern Es werden einige Besonderheiten deutlich, die sich für Design Researcher auftun: Völlig unterschiedliche Zusammenhänge werden sichtbar, je nach Fokus der Forschung: Materialien und Fertigungstechniken oder Affordances und menschliches Verhalten. User studies, whether conducted through qualiEs reicht nicht aus, nur die Dinge zu betative ethnographic interviews or through more forschen oder separat menschliche Psychoclinical and behaviorist analyses of specific aflogie zu studieren. Die Technik- und Wissenfordances and interfaces, have remapped deschaftsforschung (STS – Science, Technology sign research from a study of things to a study and Society Studies) hat Designerinnen und of people.123 Designern viele Denkmodelle zu bieten, die es ermöglichen, Menschen und Dinge zugleich in den Blick zu nehmen. Das würde bedeuten, dass man die Eigenschaften der Produkte nicht mehr getrennt von den Benutzenden betrachten könnte. All diese oben gezeigten Basteleien, Anpassungen dürften nicht mehr als zufällige Einzelphänomene betrachtet werden, sondern müssten als integraler Bestandteil des Umgangs mit Dingen des Alltags wahrgenommen werden. Wie Julka Almquist und Julia Lupton For many design researchers, meanings are es ausdrücken: Design, Herstellung, Benutsimply subjective icing on the cake rather than zung und Kultur im Allgemeinen sollen in shared codes baked into the object itself, coneiner gemeinsamen Sichtweise verbunden necting designer, producer, user, and the culwerden. Diese würde den Menschen, für ture at large in a shared world. To continue the den designt wird, als mehr sehen als nur eimetaphor: might it be possible to have our cake nen Benutzer einer bestimmten, quantifiand eat it too, to develop paradigms that envizierbaren Funktion. Objekte sollen in neuen sion the human endpoint of design as someBegriffen weitreichendere Bedeutung bething more than the ‘user’ of a specific, quantifikommen und so aufgefasst werden, dass inable function, while also conceiving of the terdisziplinäre, universellere Herangehensmeaning of objects in terms that allow for uniweisen möglich werden. versal applications? Finding common ground Diese gemeinsame Basis in interdiszibetween affordance and meaning could offer a plinären Prozessen zu erkennen und in Decollective space for interdisciplinary collaborasignprozesse als Grundhaltung einfließen tion and new ways to approach both making zu lassen ist sicher eine lohnende Herangeand studying designed artifacts.124 hensweise. Eine Möglichkeit, sich an diese Perspektive heranzutasten, kann die Auswertung von Spuren zeigen – als Designerin interessieren mich die Spuren, die Menschen im Alltag hinterlassen. Mehr dazu beim folgenden Exponat.

168  RAUM [2] – ­P RAXIS DER ­I MPLIZITEN ­V ERMITTLUNG 

[RAUM 2] – [EXPONAT 13]  2.7  DINGE HERAUSFINDEN

Exponat 13: Spuren lesen

Auf dem Campusgelände der Karl-Franzens-Universität Graz führt ein gepflasterter Weg geradeaus, der aber offensichtlich weniger genutzt wird als der Trampelpfad, der schräg dazu entstanden ist.

Auf dem Rückweg von der Universitätsbibliothek zum Bus vermute ich ­ zwischen zwei Büschen eine Abkürzung zur Bushaltestelle. Als ich mich dem möglichen Weg quer über die Wiese nähere, stelle ich fest, dass diese Abkürzung wohl kein Geheimtipp, sondern eine sehr gebräuchliche Verbindung ist. Es ist schon ein richtiger Trampelpfad entstanden (linkes Bild). Dieser ertrampelte Weg wird sogar häufiger genutzt als der geplante, gepflasterte Weg. Das mittlere Bild zeigt deutlich, wie zwischen den Steinen schon dichtes Gras wächst, sobald der Pfad sich vom Weg trennt. Auch der Anfang des Weges ist sehr breit … Wer würde auch exakt rechtwinklig von einem Weg auf den anderen abzweigen?125 In den 1970er Jahren gab es ein Experiment unter der Leitung des Architekten Christopher Alexander an der University of Oregon, bei dem es prinzipiell um mehr Beteiligung der Menschen auf dem Campus an der Gestaltung der Universität ging. Unter anderem wurde dazu ein Rasen am Campus gesät, und Wege wurden erst nach Entstehung der Trampelpfade ebendort angelegt, wo sie durch die Nutzung entstanden waren. Ich stelle mir den Grazer Campusplan vor: Aus der Vogelperspektive und mit dem Zeichengerät sind die naheliegendsten Verbindungen wohl kurz und rechtwinklig. Und wer weiß, ob zur Zeit der Planung die Bushaltestelle schon am aktuellen Ort existierte? Jedenfalls zeugen die Spuren, die tausende Schritte auf der Wiese hinterlassen haben, von einer gebräuchlicheren Lösung als der umgesetzten, ­ asphaltierten.

[EXPONAT 13] 2.7 DINGE HERAUSFINDEN 169

Es wäre sicher sehr ergiebig, die vielen anderen Spuren, die Menschen im Alltag hinterlassen, als Beleg für tatsächliche Nutzung und damit als wichtige Recherchemöglichkeit für Designprojekte zu nutzen …

Wegbeschreibung – der Pfad von diesem Exponat zum nächsten führt über: 2.7.1 Noticing | An der Grenze zwischen unsichtbar und sichtbar – Wo sich das Bemerkte aus dem Selbstverständlichen hebt  ≥  2.7.2 Spuren – Abgenutzt, viel genutzt, anders genutzt  ≥  2.7.3 Problematisieren im Designprozess – Sich dem nähern, was man noch nicht weiß  ≥  2.7.4 Empathy Tools – Sich einfühlen  ≥  2.7.5 Verstän­ digung – Sich mitteilen

Unter dem Begriff Design Research oder Designforschung werden viele verschiedene Konzepte und Unternehmungen versammelt. Bruce Archer geht 1980 von einer allgemeinen Definition von Forschung aus, um dann daran die Spezifika von Designforschung zu knüpfen: „Research is systematic inquiry, the goal of which is knowledge.“126 Eine Bemühung, deren Ziel es ist, Wissen zu generieren – oder schlicht: zu wissen. Wolfgang Jonas untersucht in seinem Essay127 Exploring the swampy ground von 2012 Logiken, mithilfe derer man Designforschung gliedern könnte, und die Frage, in welch mannigfaltigem Verhältnis Design zu den Wissenschaften steht. Dort treffen unterschiedliche Ansätze wie Christopher Fraylings Gliederung „Research into art and design, research through art and design, research for art and design“ auf Listen und Zugänge, wie etwa allgemeinere Charakteristika wissenschaftlicher Unterfangen, so gelistet von Nigel Cross 1999: • Purposive – based on identification of an issue or problem worthy and capable of ­investigation. • Inquisitive – seeking to acquire new knowledge. • Informed – conducted from an awareness of previous, related research. • Methodical – planned and carried out in a disciplined manner. • Communicable – generating and reporting results which are testable and accessible by others.128 Designforschung, die diesen Kriterien entspricht, kann sich mit verschiedenen ­Kategorien befassen. Cross nennt People, Processes und Products. Davon abgeleitet listet er seine spezifische Taxonomie wie folgt: • People – design epistemology (study of designerly ways of knowing) • Processes – design praxiology (study of the practices and processes of design) • Products – design phenomenology (study of the form and configuration of ­artifacts)

170  RAUM [2] – ­P RAXIS DER ­I MPLIZITEN ­V ERMITTLUNG 

Gui Bonsiepe, Gestalter und Designtheoretiker, nennt zwei grundsätzliche Ausrichtungen: eine endogene und eine exogene Forschung.129 Endogene Designforschung meint Forschung, die aus dem Feld des Designs heraus initiiert wird. Exogene Designforschung betrachtet Design selbst als Forschungsgegenstand. Eine ausführliche Unterteilung für Design Research legt Bruce Archer dar, der viele Jahre Professor für Designforschung am Royal College of Art war. Aus dieser detaillierten Auflistung gehen drei Subdisziplinen hervor: Design Phenomenology, Design Praxeology und Design Philosophy: Design Phenomenology 1. Design History

The study of what is the case, and how things came to be the way they are, in the Design area.

2. Design Taxonomy

The study of the classification of phenomena in the Design area.

3. Design Technology

The study of the principles underlying the operations of the things and ­systems comprising designs.

Design Praxeology 4. Design Praxeology

The study of the nature of design activity, its organisation and its apparatus.

5. Design Modeling

The study of the human capacity for the cognitive modeling, externalisation and communication of design ideas.

6. Design Metrology

The study of measurement in relation to design phenomena, with special emphasis on the handling of non-quantitative data.

Design Philosophy 7. Design Axiology

The study of worth in the Design area, with special regard to the relationships between technical, economic, moral, social, and esthetic values.

8. Design Philosophy

The study of the logic of discourse on matters of concern in the Design area.

9. Design Epistemology

The study of the nature and validity of ways of knowing, believing and feeling in the Design area.

10. Design Pedagogy

The study of the principles and practice of education in matters of concern to the Design area.

Tab. 3: Archer’s 10 areas and 3 emergent sub-disciplines of Design Research130

Anschließend an diesen kurzen Einblick in die „sumpfigen“ Gebiete der Designforschung nun eine Positionierung dieser Ausstellung: Es geht um nichtsprachliche Arten von Wissen, die im Design eine Rolle spielen. Hier im Exponat 13, das sich um die Frage dreht, wie Wissen im Designprozess generiert werden kann, stehen die beiden Begriffe Bemerken und Verstehen im Mittelpunkt: Ways of noticing and ways of unterstanding in design.

[EXPONAT 13] 2.7 DINGE HERAUSFINDEN 171

2.7.1  Noticing | An der Grenze zwischen unsichtbar und sichtbar Für meine Beobachtungen im Rahmen dieser Ausstellung und auch für meine Designprozesse stellt sich die Frage: Kann man eigentlich lernen, etwas zu bemerken? Haben Designerinnen und Designer Einfluss darauf, was ihnen auffällt? Es lässt sich zweifelsohne trainieren, aufmerkSome actions, such as grabbing on something sam und neugierig auf den jeweils eigenen for balance, are universal and instinctive. OthAlltag zu blicken. ers, such as warming hands on a hot mug or Hier liegt aber meines Erachtens ein stroking velvet, draw on experiences so deeply großes Potenzial, wo Designerinnen und Deembodied that they are almost unconscious. signer sehr viel von den Sozialwissenschaften Still more, such as hanging a jacket to claim a lernen können: Qualitätsstandards respekchair, have become spontaneous through habit tive Gütekriterien für qualitative Forschung or social learning. Observing such everyday insollen gewährleisten, dass ich die Realität teractions reveals subtle details about how we von Menschen beobachten oder in Erfahrelate to the designed and natural world. This rung bringen kann, ohne dabei ihre „Reais key information and inspiration for design, lität“ so zu verändern, dass ich nichts mehr and a good starting point for any creative über ihre, sondern nur mehr über meine Re­initiative.131 alität berichte. Weitere bekannte Schwierigkeiten tauchen auch in den Sozialwissenschaften auf, vor allem die Deutung des Beobachteten betreffend: Es wird trainiert, zuzusehen und nur zu bemerken – ohne sofort deuten zu wollen. Aber: Wie kann ich lernen, etwas zu bemerken? Dinge so anzusehen, als sähe man sie zum Ich kann üben, Vorannahmen und be­ersten Mal, ist eine Methode, um an ihnen bisreits Bekanntes auszublenden und wie mit her unbeachtete Aspekte zu entdecken. Es ist fremden Augen auf das zu sehen, was vor mir eine gewaltige und fruchtbare Methode, aber liegt – dies ist eine Methode der Phänomesie erfordert strenge Disziplin und kann darum nologie: Die Epoche (griech. ἐπέχω, anhalten, leicht mißlingen. Die Disziplin besteht im zurückhalten) bezeichnet in der Philosophie Grunde in ­einem Vergessen, einem Ausklameine Enthaltung im Urteil, ein Innehalten mern der ­Gewöhnung an das gesehene Ding, und Sich-jeder-Stellungnahme-Enthalten.133 also aller Erfahrung und Kenntnis von dem Meine eigenen Selbstverständlichkeiten zu 132 Ding. überwinden ist ein sehr forderndes und sehr subjektives Unterfangen. Darin ähneln sich bemerken und verstehen – es geht um eine zutiefst persönliche Erfahrung und Sicht auf die Dinge.A Wie bereits in Raum [1], Seite 080 erkundet, kann ich das Verstehen nicht delegieren, es handelt sich dabei um eine zutiefst an die eigene Person gebundene Erfahrung. Was ich bei allem Beobachten als Designerin im Speziellen herausfinden möchte, ist: Warum handeln Menschen so, wie sie es tun? Dies ist auch eine A  Abzweigung zu „Was bedeutet verstehen?“, Seite 080.

172  RAUM [2] – ­P RAXIS DER ­I MPLIZITEN ­V ERMITTLUNG 

Bild 53: Spuren

Schlüsselfrage in der Soziologie. Bruno Latour, Techniksoziologe und Philosoph, erläutert, wie „handeln“ grundsätzlich analysiert und beschrieben werden kann: Handeln ist nicht transparent, es steht nicht unter der vollen Kontrolle des Bewusstseins. […] Handeln ist ein Knoten, eine Schlinge, ein Konglomerat aus vielen überraschenden Handlungsquellen, die man eine nach der anderen zu entwirren lernen muss.134

2.7.2 Spuren Um dieses Konglomerat aus vielen überraschenden Handlungsquellen zu entwirren, können sich Designer auf die Suche nach Belegen machen – ein Weg, wie sich das Handeln mit Dingen nachweisen und beschreiben lässt, gelingt mithilfe der Spuren, die die Nutzenden an den Dingen hinterlassen. Wie im gezeigten Exponat über die Trampelpfade sind Gebrauchsspuren oft ein guter Ausgangspunkt, um herauszufinden, wie mit den benutzten DinJane Fulton Suri schreibt dazu: gen umgegangen wird. Examining these everyday interactions, we disSo wie Lebewesen in frisch gefallenem cover a lot about how we engage, adapt, and Schnee Spuren hinterlassen, findet man solmake sense of our surroundings. We see diche auch an den benutzten Dingen. Wenn rectly how design plays into our lives, how we man Benutzer(ober)flächen wie zum Beispiel actively shape our environment, and how we Tastaturen oder Griffe betrachtet, sieht man in turn are shaped by it.135 bei genauerem Hinsehen die Spuren, die alle Benutzerinnen und Benutzer an ihnen hinterlässt. Beobachten ist eine wichtige Quelle für Inspiration für Design. Dabei soll der Blick aber nicht an der Oberfläche der Dinge hängen bleiben, jede Spur gibt Auskunft über die Handlung, in die das Objekt eingeflochten war. Einen ähnlichen Hinweis gibt Tom Fisher: „What we touch, touches us.“136 Anhand von Interviews belegt er, dass Plastikbesteck nicht nur von den Personen

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Bild 54: Viel genutzte Tastatur, abgewetzte Sitzbank

berührt wird, sondern dass der Kontakt mit dem Plastikgeschirr auch intensive Empfindungen bei den Nutzenden auslöst. Ob abgewetzte Sessel oder viel genutzte Tastaturen: An der Oberfläche glänzend gescheuerte Buchstabentasten und unter Umständen auch schmutzige Ränder lassen mich nicht ungerührt, dieser Anblick sorgt bei mir für gemischte Gefühle, wenn ich mir vorstelle, dass ich diese Tastatur benutzen müsste.

Viel genutzt und abgenutzt Nicht alle Gebrauchsspuren sind unerwünscht: Wenn es um Dinge geht, die jemand exklusiv nutzt, wie beispielsweise eine Ledertasche, so bedeutet eine gewisse Patina eher eine Wertsteigerung für die Benutzenden. Manche Stücke, wie etwa Handschuhe für bestimmte Sportarten, müssen sogar erst „eingetragen“ werden. Wenn es allerdings um Dinge geht, die von vielen Menschen gemeinsam genutzt werden – öffentliche Toiletten, Durchgangstüren oder Lifte –, sind die meisten Gebrauchsspuren wenig erwünscht. Doch auch hier gibt es Ausnahmen: In alten, geschichtsträchtigen Gebäuden lösen jahrhundertelang genutzte Möbelstücke oder Treppen eine gewisse Ehrfurcht vor dem Ort aus – unzählige Menschen haben diese Treppen schon benutzt. Jedenfalls verändert sich durch häufige Nutzung die Erscheinung und dies kann ein wichtiger Faktor für die Gestaltung sein. Wie das Material altert, das ich einzusetzen gedenke, kann ausschlaggebend sein für die Entscheidung für ein bestimmtes Material.A Holz oder Leder altern anders als die meisten Kunststoffe, zu meiner Geldbörse habe ich einen besonderen persönlichen Bezug, der auch durch die äußere Erscheinung deutlich wird. Etwas lange zu besitzen kann einen GegenA  Abzweigung: „Materialdenken“, Seite 113.

174  RAUM [2] – ­P RAXIS DER ­I MPLIZITEN ­V ERMITTLUNG 

Bild 55: abgenutzte Türen

Bild 56: Cupholders

pol bilden zum viel propagierten immer neuA – „weich genutztes“ Sportzubehör, „eingetragene“ Schuhe, „eingespielte“ Instrumente untermauern diesen Standpunkt. Manche Türen zeugen davon, dass sie schwer zu öffnen sind und dass es wohl beide Hände braucht, um sie zu öffnen. Der Lack ist an den Berührungsstellen schon abgeblättert. Ausgetrunken – im öffentlichen Raum stellt sich dann die Frage: Wohin mit dem Becher oder der Dose? In Ermangelung von Mülleimern zeigen diese Lösungen auf, welche alternativen Befestigungs- und Abstellmöglichkeiten es für Dosen und Becher gäbe. So lässt sich gut nachvollziehen, welche Funktionsmöglichkeiten Menschen in Gegenständen und Umgebungen finden. Ich stelle mir vor, wonach die Person, die einen leeren Getränkekarton loswerden möchte, sucht: Sie sucht wahrscheinlich keinen Gegenstand. Da sie keinen Abfalleimer findet, sucht sie eine Interaktionsmöglichkeit: „Wo kann ich … Ich suche etwas, wo ich … Ich brauche etwas, um …“ Noch ein abschließendes Beispiel, wie auf eine solche Beobachtung reagiert wurde. A  Abzweigung zu „Neuer – schneller – billiger“, Seite 237.

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Bild 57: Parkplätze

Vor einer Volksschule in Mödling sah ich eines Tages eine amüsante, chaotische Anordnung der Verkehrsmittel, mit denen die Schülerinnen und Schüler wohl zur Schule kamen. Die Fahrradständer boten keine Möglichkeit, die Roller zu befestigen, an eine Ordnung ist nicht zu denken. Aber ein Jahr später kam ich wieder an derselben Schule vorbei; inzwischen hatte man sich auf die Situation eingestellt und eine sehr ordentliche Park- und Befestigungslösung zur Verfügung ­gestellt.

Entladungen Die Spuren von Vandalismus in den folgenden Fotos teilen eine Gemeinsamkeit: Alle Fotos wurden in der Nähe von Bushaltestellen aufgenommen. Meine Vermutung ist nun, dass sich der Unmut von nicht mitgenommenen Fahrgästen an den verfügbaren Objekten an der Haltestelle entlädt. Der Gedanke, überhaupt an Bushaltestellen nach Frustentladungsspuren zu suchen, kam mir, als ich selbst vor der Tafel (im ganz rechten Bild) stand, auf der anderen Seite des Schrankenbogens befand sich mein Bus – stehend, an der roten Ampel wartend. Ich durfte nicht einsteigen, die Schranke und der stur geradeaus gerichtete Blick der Busfahrerin, die mir die Tür nicht öffnete, hinderten mich daran. Meine Wut beim Warten auf den nächsten Bus war immens, sie musste sich erst ein wenig legen, bis mir die Tafel an der Schranke überhaupt auffiel: Dort geschrieben steht eine Erklärung, warum die Busse, während sie an der Ampel halten, keine Fahrgäste mehr zusteigen lassen dürfen. Nicht zu übersehen, dass die Tafel sicher schon einigen Zorn von stehen gelassenen Fahrgästen abbekommen hat. Wer sich in einer Türe einklemmt, beschimpft die Tür dann vielleicht dafür. Wir treten gegen Objekte, die uns nicht fügsam sind, und verfluchen das Möbelstück, an dem wir uns Schienbein oder Zehen gestoßen haben. Elaine Scarry137 blendet dieses Verhalten nicht aus, sondern sie nimmt es als Beleg, dass wir Menschen von den Dingen verlangen, dass sie uns zugewandt, untertan und quasi ­verständnisvoll sind. Da die Dinge so gestaltet sind, dass sie sich in unsere Handlungsabsichten einfügen, erwarten wir zu Recht, dass wir unse-

176  RAUM [2] – ­P RAXIS DER ­I MPLIZITEN ­V ERMITTLUNG 

Bild 58: Entladungen

ren Alltag bewältigen können, ohne dass uns die Dinge dabei bemerkbar, quasi sichtbar werden. Hier schließt sich der Kreis zum BemerFor Scarry, the shape of an artefact like a chair ken und zum einleitenden Zitat beim fünften is therefore not defined by ‚the shape of the Exponat in Raum [1] (Seite 077) – es besagt, skeleton, the shape of the body weight, nor even man müsse über die Dinge erst straucheln, the shape of pain-perceived’. Instead, the um überhaupt nach ihnen fragen zu können. shape of the chair is defined by the shape of Wann immer die uns umgebenden Arte‚perceived-pain-wished-gone’. […] Scarry finds fakte nicht unseren Erwartungen an sie entevidence for her conjectures about the nature of sprechen, treten sie ins fokale Bewusstsein. making in those moments when we users ‚bite Somit tauchen sie aus der Selbstverständback’ at things that harm us, hitting the door lichkeit auf. Und das für Designschaffende that pinches us, kicking the chair that collapses Positive daran: Sie sind im Bewusstsein aufunder our weight, cursing the cracked footpath getaucht und können nun direkte Gegenon which we stub our toe. In a Freudian-style stände der Gestaltung sein. argument, Scarry does not see these everyday events as embarrassing childish reactions, but as demonstrations of the fact that we expect things to be sentient of our human condition. For the most part we move about the world unaware of the artefacts about us, on the expectation that they, in our place, will take care of our needs, and of the responsibilities assigned to them. When artefacts do no live up to this expectation, they surprise us with their ‚object stupidity’, drawing attention to our background animism.138

2.7.3  Problematisieren im Designprozess

Erst wenn mir als Designerin aufgefallen ist, was an einer Situation besonders ist, kann ich in der Lage sein, das Bemerkte in einen Arbeitsauftrag oder ein Produkt zu übersetzen oder in ein bestehendes Produkt zu integrieren. Also brauche ich spezielle Formen der Recherche für designprozessrelevante Inputs. Ich möchte hier festhalten, was ich aus den in dieser Ausstellung vorgestellten Gedanken vieler verschiedener Designerinnen und Designer und Forschenden zusammenfassen und extrahieren kann: Für designprozessrelevante Forschung braucht es zum einen konkrete Anbindung an die Menschen, für die gestaltet wird.

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Die Informationen, die dabei zutage gefördert werden können, beruhen aber darauf, dass die gestaltende Person sich ebenso persönlich auf diese Inhalte einlässt. Die Kontexte sind bedeutungsdeterminierend,A1 sie neigen aber dazu, in Statistiken, Kategorisierungen oder Berichten allzu leicht zu verschwinden. Persönliches, direktes Verstehen kann nicht delegiert werden. Je näher ich der Situation, für die gestaltet wird, kommen kann, desto besser. Hier ein Beispiel dafür, was passiert, wenn verabsäumt wird, wenigstens einem Teil des gestaltenden Teams tatsächliche Erfahrungen vor Ort oder im Anwendungskontext zu ermöglichen: die Episode des Peachtree Center am Rand von Atlanta, Georgia. Eine Gruppe von Architekten plante zwischen einem ausgeklügelten Komplex von Bürotürmen und Einkaufszentren eine mit Cafés belebte Straßenzone – die aber kaum genutzt wird, da die Hitze, die tagsüber im Freien herrscht, bei der Planung nicht berücksichtigt wurde. Simulation ist ein unzureichender Ersatz für Gerade weil ich noch nicht weiß, noch das unmittelbare Empfinden des Lichts, des gar nicht wissen kann, was mir überhaupt Windes und der Hitze vor Ort. Die Architekten auffallen könnte, sollte ich mich als Designehätten besser daran getan, sich um die Mitrin nicht mit Simulationen einer Situation zutagszeit eine Stunde lang ungeschützt in die friedengeben. Und sobald man sich in der tatSonne Atlanta zu setzen, bevor sie sich an die sächlichen Situation zu orientieren versucht, Arbeit machten. Das körperliche Unwohlsein sollte man nicht vergessen: Die Problemdefihätte Ihnen die Augen geöffnet. Das eigentliche nition gestaltet den Lösungsversuch.A2 Problem liegt hierin, dass Simulation kein ausIn den Phasen im Designprozess, in reichender Ersatz für taktile Erfahrung sein ­denen es mehr um das Finden von Ideen als kann.139 um das Bewerten oder Überprüfen derselben geht, stehen viele verschiedene Arten, Daten zu erheben, zur Auswahl. Viele davon haben im Designprozess ihre Berechtigung und ein großes Repertoire an verschiedenen Methoden kann angewendet werden. Im Auge behalten sollte man jedoch, dass manche Methoden in unterschiedlichen Phasen des Prozesses unterschiedlich hilfreich sind. It’s really hard to design products by focus groups. A lot of times, people don’t know what they want until you show it to them.140 Diesem Steve Jobs zugeschriebenen Zitat möchte ich intuitiv gerne zustimmen, denn es unterstützt die zuvor genannte Andeutung, dass manche Forschungsmethoden in bestimmten Phasen im Designprozess besser geeignet sind als zu anderen Zeitpunkten. Es kann sein, dass die „Kunden nicht wissen, was sie wollen“, ­bevor man es ihnen zeigt. Diese Sichtweise unterschlägt jedoch, wie fruchtbar sich

A1  Abzweigung zu „Information itself is meaningless. Context is everything“, Seite 089. A2  Abzweigung: Weitere Charakteristika solcher „Wicked Problems“ sind in Raum [3], Seite 274, ausgestellt.

178  RAUM [2] – ­P RAXIS DER ­I MPLIZITEN ­V ERMITTLUNG 

Bild 59: Exemplarische Designprozessdarstellung141

viele Projekte erst in Kooperation mit Auftraggebern und Adressaten – insgesamt in partizipativen Designprozessen – entwickeln. Außerdem könnte man das Zitat als bevormundend verstehen: als ob die Menschen prinzipiell nicht wissen würden, was sie wollen, und man ihnen mit diesem Satz ihre Eigenverantwortlichkeit absprechen dürfte. Aber es mag sein, dass Fokusgruppen zum falschen Zeitpunkt ein eher schlechtes Designinstrument sein können. Sie sind ein großartiges Mittel, um wohldurchdachte Prototypen zu testen und Planungsfehler aufzudecken, aber es gibt bessere Methoden, um Designer auf neue Ideen zu bringen.

2.7.4  Empathy Tools Wenn der Kontakt mit der potenziellen Benutzergruppe nicht von vornherein gegeben ist, dann liegt es oft im Verantwortungsbereich der Designer selbst, Feldforschung zu betreiben, zu beobachten und Erkenntnisse zu sammeln, um diese dann in die Gestaltung des Systems miteinzubeziehen. Verstehen ist etwas zutiefst

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Bild 60: Cambridge Simulation Gloves (Bild: Sam Waller/ Image © University of Cambridge, reproduced from www.inclusivedesigntoolkit.com, with permission)143

Bild 61: Tubenverschluss

­ ersönliches, das haben viele Designforschende erkannt und Werkzeuge entwiP ckelt, die dabei helfen, sich in die potenzielle Nutzerin einzufühlen. Im Folgenden einige Beispiele für solche empathy tools:

Cambridge Simulation Gloves Wenn ich beispielsweise ein Gerät gestalte, das auch von Menschen mit Arthritis benutzt werden soll, stellen die Cambridge Simulation Gloves für geschickte Hände ein genauestens kalibriertes Hindernis dar, sodass ich mich in die Handlungsmöglichkeiten von jemandem versetzen kann, der oder die Einschränkungen beim Greifen und in der Feinmotorik hat.142 Es gibt Untersuchungen dazu, wie genau die Benutzung der Handschuhe tatsächlich den Krankheitsbildern bei Arthritis ähnelt, vgl. zum Beispiel die Untersuchung zu den Simulation Gloves des Georgia Tech Research Institute.144 Das Bild zeigt eine Anwendung, die aus Erkenntnissen mit der Arbeit solcher Simulation Gloves stammen könnte: Ein Schraubverschluss einer Salbe (wohlgemerkt eine Salbe gegen Gelenksschmerzen) nutzt eine Dreiecksform für den Schraubverschluss, da dieser so leichter und mit weniger Kraftaufwand geöffnet werden kann.

Simulation Glasses Genauso gibt es Brillen, die von außen gesehen stark an Taucherbrillen erinnern, aber dabei helfen, mich in das Sehvermögen von Fehlsichtigen einzufühlen; eine Linsentrübung oder verschiedene Stadien von Makuladegeneration können wie

180  RAUM [2] – ­P RAXIS DER ­I MPLIZITEN ­V ERMITTLUNG 

am eigenen Leib erfahren werden. Um auf Farbfehlsichtigkeiten eingehen zu können, gibt es für Grafik und Interface Design-Software, die meinen Bildschirm, an dem ich gestalte, so anzeigt, wie ihn eine farbfehlsichtige, etwa rotgrün-sehschwache oder gelbgrün-sehschwache Person sehen würde.

AGNES Ein Anzug hilft dabei, sich die Bewegungswelten alternder, bewegungseingeschränkter Personen zu erschließen. Der Anzug-zum-sofort-Altern heißt Age-GainNow-Empathy-System, kurz: AGNES und wurde von Forschenden am MIT entwickelt. Er beeinflusst die gesamte Motorik, AGNES is a suit worn by students, product von Bewegungsfreiheit bis Geschicklichkeit ­developers, designers, engineers, marketing, und Kraft, zusätzlich wird auch die Sehfähigplanners, architects, packaging engineers, and keit eingeschränkt. others to better understand the physical challenges associated with aging. Developed by AgeLab researchers and students, AGNES has been calibrated to approximate the motor, visual, flexibility, dexterity and strength of a person in their mid-70s. AGNES has been used in retail, public transportation, home, community, automobile, workplace and other environments.145

Design for emergencies

Wie verändert sich die Wahrnehmung im Alarmfall? Typische Stressoren, die meinen Körper messbar unter Stress setzen, sind nicht nur bedeutungsgeladene Situationen, wie eine Prüfungssituation oder ein Notfall, auch extremer Lärm, ein Knall, Sirenen, plötzliche extreme Temperaturschwankungen, unerwarteter unerklärlicher Beleuchtungskontrast (von nachtdunkel zu blendend hell oder umgekehrt) und noch vieles mehr kann den Körper messbar unter Stress setzen. Unter solcher Stressbelastung sind einige Wahrnehmungsfunktionen eingeschränkt, manche Sinne sind aber besonders alarmiert. Donald A. Norman146 beschreibt an einer Stelle, wie es in einem Atomreaktor beinahe zu einem Zwischenfall gekommen wäre: Der Sicherheitstechniker war alarmiert, hatte einen wichtigen Schalter nicht gefunden und einen anderen stattdessen betätigt. Durch den Stress nahm er das Bedienfeld anders wahr – trotzdem bewertete man den Zwischenfall als menschliches Versagen statt als technisches Versagen. Norman regte eine Diskussion darüber an, wer in dieser Situation nun versagt hat … Auch der Defibrillator an öffentlichen Orten wie zum Beispiel an Flughäfen stellt ein äußerst anspruchsvolles Designprojekt dar: Schließlich muss er in menschlichen Ausnahmesituationen funktionieren, international verständlich sein und dazu noch von medizinischen Laien richtg bedient werden können.

[EXPONAT 13] 2.7 DINGE HERAUSFINDEN 181

2.7.5 Verständigung Viele wichtige Parameter für die Gestaltung sind in Erfahrung gebracht, viele davon habe ich aber implizit gelernt, begriffen. Nun geht es darum, dieses Wissen meinem Team und anderen Projektbeteiligten zugänglich zu machen. Wenn es Möglichkeiten gibt, implizites Wissen zu teilen, ohne zu explizieren, lassen sich Erfahrungen auch mit-teilen. So, not only are expert level skills deliberately Cameron Tonkinwise weist darauf hin, tacited actions, but they are tacited by being dass für das Explizieren impliziten Wissens turned into wholistic bodily sensations. These poetische Fähigkeiten vonnöten sind, das skills can be articulated, for teaching for examheißt, man braucht über die Sprache hinausple, but such articulations involve not just regehende Mittel, sich mitzuteilen. Schließlich membering the actions that comprise an act, geht es nicht nur darum, ins Bewusstsein zu but also dismembering how those acts have rufen, was wir schweigend wissen. Es geht been efficiently embodied; highly subjective auch darum, zu entwirren, wie wir die Erfahfeelings must be made sharable. However, to rungen, die wir gemacht haben, verinnerthe extent that experts know how to do new and licht, verkörperlicht haben. Höchst subjeksignificant things, a poetics of their skill makes tive Erfahrungen müssen mitteilbar gemacht available strong general and generative knowlwerden. Ein Weg, der über lebhaft erzählte edges.147 Geschichten gelingen kann, aber auch Bilder können eine aufschlussreiche Methode sein. Richard Sennett berichtet von Diderots Encyclopedie,148 er beschreibt, wie schwer sich Diderot tat, ein Buch über Handwerker zu schreiben: Er fand kaum welche, die ihr Wissen explizieren konnten, und nahm zur anschließenden Beschreibung – nach dem Verstehen – Bilder zu Hilfe. Bilder Symbols and constraints are not affordances. können mehr sichtbar machen, als es SpraThey are examples of the use of a shared and che unter Umständen vermag. Laut einem visible conceptual model, appropriate feedback, Hinweis von Wilhelm Berger149 war für Ludand shared, cultural conventions. How do you wig Wittgenstein Wissen zuerst stets sprachknow if the user shares the conventions? Why, lich: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten with data, of course. This is something that can die Grenzen meiner Welt“,150 und: „Wovon not be decided by arguments, logic, or theory. man nicht sprechen kann, darüber muss Cultural constraints and conventions are about man schweigen“; allerdings sprach der späte what people believe and do, and the only way to Wittgenstein davon, dass man zeigen kann, find out what people do is to go out and watch was man nicht sagen kann. them. Not in the laboratories, not in the usabilDas Zeigen wiederum lässt sich nicht ity testing rooms, but in their normal environnur mit Bildern bewerkstelligen. Rollenspiele, ment.151 Modelle, experience prototyping (siehe auch Seite 150) – wie auch immer man recherchiert und danach davon berichtet: In jedem Fall ist schon ein bisschen Recherche besser als gar keine Recherche.

182  RAUM [2] – ­P RAXIS DER ­I MPLIZITEN ­V ERMITTLUNG 

Zeigen lässt sich auch mithilfe von Symbolen, doch so universell manche Symbole wirken, sie werden nicht von allen ähnlich verstanden. Kulturelle Konventionen sind die Basis für eine Verständigung mithilfe von Symbolen, und diese Konventionen können sich ändern. Es ist wichtig, das Verständnis der Adressatinnen und Adressaten dahingehend immer wieder zu überprüfen. Donald Norman berichtet immer wieder, dass er enttäuscht darüber ist, dass so viele EntObservation can sharpen our awareness of how scheidungen in Designprozessen wohl nach people respond to particular arrangements and wie vor recht willkürlich – oder eher implizit elements; we notice what people already do inauf falschen Vorannahmen beruhend – getuitively. And that helps us make better predictroffen werden. Es gibt sehr viele Annahmen tions about how people will perceive and interdarüber, wie sich Nutzerinnen und Nutzer pret the things we design so we can better elicit in der „wirklichen“ Welt draußen verhalthe kind of response we intend.153 ten, was sie glauben, was ihnen gefällt, was sie kaufen würden … Einer der einfachsten Wege, dahinterzukommen, wie Menschen die Welt sehen, ist, sie zu beobachten. Unter realen Bedingungen, wie Norman betont: I still hear far too much dogmatism about what people really ‘want’, what they ‘believe’, or how they ‘really’ behave, but I see very little data. It doesn’t take much data. My partner, Jakob Nielsen, has long argued that you can get these data at a discount: three to five people will give you enough for most purposes […] But they need to be real people, doing real activities. Don’t speculate. Don’t argue. Observe.152 Designschaffende können sich für solche Beobachtungen sensibilisieren, und gerade aus Alltagserfahrungen, die nicht projektgebunden sind, Inspiration und wichtige Erkenntnisse schöpfen.

[EXPONAT 13] 2.7 DINGE HERAUSFINDEN 183

[RAUM 2]  2.8  CONCLUSIO | HEIMLICHE ­ABSICHTEN | ÜBERGANG RAUM [3] Überblick Exponat [7] – [Metalldrücklampe] Das erste Exponat des zweiten Raumes hilft zu ergründen, inwieweit wahrgenommene Interaktionsmöglichkeiten vom verwendeten Material bestimmt werden. Wie Menschen mit einem Objekt interagieren, hängt ganz entscheidend davon ab, aus welchem Material das Objekt besteht. Eine Schatulle aus Holz ist ganz und gar anders beschaffen als eine derselben Form beispielsweise aus Metall oder aus Glas.

Exponat [8] – [Drehen oder drücken?] Einen erheblichen Anteil am Gesamteindruck hat die Form. Bliebe das Material dasselbe, würde die Form den ausschlaggebenden Teil der impliziten Vermittlung liefern. Insbesondere Anzeichenformen werden hier untersucht.

Exponat [9] – [Warm und kalt] Wären nun bei zwei Objekten Form und Material dieselben, könnte man noch immer unterschiedliche Wirkungen erzeugen, wenn die zwei Objekte unterschiedliche Farben hätten. Hier geht es um die Rolle der Farbe und welchen Anteil sie an der impliziten Vermittlungsleistung hat.

Exponat [10] – [Achtung, heiß! | Geräusch und anderes Unterschätztes]  … weist darauf hin, dass Material, Form und Farbe eben nur drei gängige Abstraktionsvarianten sind, in denen Gestaltende gewohnt sind zu denken. Entscheidende Hinweise auf Interaktionsmöglichkeiten erhalten Menschen auch von der Temperatur eines Objekts, vom Geruch, von Geräuschen, die es verursacht oder reflektiert. Insbesondere am Beispiel der Akustik kann gezeigt werden, dass sich ganz andere Zugänge zur Kommunikation zwischen Mensch und Ding auftun, wenn man rein visuelle Sichtweisen hinter sich lässt.

184  RAUM [2] – ­P RAXIS DER ­I MPLIZITEN ­V ERMITTLUNG 

Exponat [11] – [Produktfamilien]  … thematisiert Versuche, vom Gestalten von Einzelmerkmalen zum Gestalten größerer Einheiten zu kommen. Eine typische Designaufgabe ist, ein Produkt in die Produktfamilie eines Unternehmens passend zu gestalten. Außerdem: Die Gestalttheorie hat dem Design bereichernde Sichtweisen zu bieten.

Exponat [12] – [Thoughtless Acts | Design dissolving in behaviour ]  … ebnet den Weg zu einer Sicht auf Design, die Objekte und Menschen in der Interaktion gleichzeitig in den Blick nimmt. Wenn Designerinnen und Designer nicht nur das Objekt gestalten, sondern die Interaktion mit dem Objekt, dann spielen vorher erkundete Dinge wie Form oder Material eine zwar wichtige, aber untergeordnete Rolle, besser gesagt zu-geordnete Rolle. Alles Gestaltete ordnet sich menschlichem Verhalten, unseren Gewohnheiten zu oder ein.

Exponat [13] – [Dinge herausfinden] Das letzte Exponat des Raumes schließlich erkundet Wege, zu hilfreichen Gestaltungshinweisen zu kommen. Wenn es für Gestalterinnen und Gestalter nicht ausreicht, Materialkunde und Farbenlehre verinnerlicht zu haben, sollten sie sich in Beobachtungen üben, um mehr über dieses Verhalten, das sie angeben zu gestalten, herauszufinden. Design formt Interaktionen, und es gibt Wege, Gestaltungshinweise zu finden, wie man diese formen kann.

Übergang zu Raum [3] Gestalten als absichtsvolles Handeln: lat. manipulare, mit der Hand etwas absichtsvoll verändern. Etwas absichtsvoll verändern – ist das nicht ziemlich genau das, was gestalten bedeutet? In diesem Verständnis wäre alles Design automatisch Manipulation. „Designer sind listige Zeitgenossen, auch im Sinne von hinterlistig“154 – dem Gestalten zu einem Zweck haftet Vilém Flussers Aussage nach immer auch etwas Böswilliges an: „Es ist eben leider so mit der Güte: Alles, das zu irgendetwas gut ist, ist ein reines Übel. […] Die reine Güte ist zwecklos, absurd, und wo immer ein Zweck ist, dort lauert der Teufel.“ Der erste Teil des Wortes Manipulation – lat. manus, Hand, d. h. mit den Händen etwas tun, sei es nehmen, füllen, setzen, stellen, legen –, ist ebenso Teil der prinzipiellen Idee vom „Gestalten“. Auch beim Gestalten kommt es darauf an,

2.8  CONCLUSIO | HEIMLICHE ­A BSICHTEN | ÜBERGANG RAUM [3]  185

buchstäblich (oder im übertragenen Sinne einer Handlung) die Hände zu benutzen und etwas absichtsvoll, auf ein erwünschtes Ziel hin zu verändern. Aber auch in dieser relativ neutralen, von beinahe jeder negativen Konnotation befreiten Definition von Manipulieren sehe ich besorgt auf den Aspekt des erwünschten Ziels. Nachdem mit Exponat [12] gezeigt wurde, warum es für gutes Design wichtig ist, nicht allzu viele kognitive Ressourcen zu beanspruchen (siehe Exponat [12], Seite 156: Thoughtless Acts | Design Dissolving in Behaviour), fällt nun auf, dass eben dieses dienende Designverständnis der negativ konnotierten Definition von Manipulation erstaunlich nahe kommt: nämlich jemandes Verhalten und Erleben einer gewünschten Absicht entsprechend zu verändern – und das so geschickt, dass der/die Betroffene gar nicht merkt, dass er/sie beeinflusst wurde. Es ist an diesem heiklen Punkt besonders verlockend, der Beschwichtigung nachzugeben: Ach, die Dinge sind nur Dinge, sie haben weiter keinen großen Einfluss.* Außerdem ist es schon schwierig genug, Menschen und ihr Verhalten auf der einen Seite und technische Objekte, ihre Konzeption und Herstellung auf der anderen Seite zu untersuchen. Die Räume dieser Ausstellung dienen jedoch der Erkundung, dass Dinge und Menschen separat, getrennt voneinander betrachtet ein ganz anderes Bild ergeben, als wenn sie als zusammen handelnd betrachtet werden. „Jedes Artefakt hat […] Potenzial, Vorbeikommende zu packen und sie dazu zu zwingen, Rollen in seiner Erzählung zu spielen.“155 Absichtsloses Gestalten ist per definitionem (s. o.) unmöglich. Ich kann höchstens beim Gestalten Gedankenlosigkeit walten lassen. Ich habe leider wenig Hoffnung, dass ich als Designerin vermeiden könnte, auch gänzlich Ungewolltes in das Produkt, Objekt oder Thema einzubauen. „Die Medaille gibt es immer nur ganz. Vorder- und Hinterseite.“ – so der Designer [M. C.] in einem Interview 2008. Einer Stimmung, einem Gefühl Ausdruck verleihen zu wollen ist ebenso eine Absicht, der man beim Gestalten folgt. Sind sie der eigenen Meinung nach völlig absichtslos, dann tritt vielleicht eine gerade nicht bewusste Absicht hervor. Absichtslosigkeit und Handeln schließen einander aus. (Was nicht heißen soll, dass sich Gedankenlosigkeit oder Achtlosigkeit und Handeln ausschließen würden.) So tun Gestaltende wahrscheinlich gut daran, ihre Absichten zu ergründen. Gestalten ist meistens auch Filtern. Bereitstellen von Information heißt auch für andere eine (Vor-)Auswahl treffen. Gestalten von Erlebnissen und Eindrücken bedeutet eine gezielte Organisation, gezieltes Auswählen und Klassifizieren dieser Eindrücke für andere. Eine gezielte Reorganisation vorzunehmen bedeutet: mit Kunstgriffen absichtsvoll (vor-)sortieren, also ebenso manipulieren. Ich möchte als Designerin die Eigenverantwortung und Selbstbestimmung von Menschen respektieren und fördern. Dazu muss ich mich mit dem Vorberei*  Notausgang: „Ein Messer, ob es nun in der Hand eines Mörders liegt oder in der Hand eines Chirurgen – ist und bleibt immer nur ein Messer.“ Falls Sie zu dieser Aussage noch unentschlossen sind, darf ich Sie in den Leseraum einladen; auf Seite 319 werden unter dem Titel „Materiality of Social Practice“ die Standpunkte zur Handlungsträgerschaft von Technik etwas ausführlicher diskutiert.

186  RAUM [2] – ­P RAXIS DER ­I MPLIZITEN ­V ERMITTLUNG 

ten, ja Vorkauen von Realität für andere versöhnen, denn es reicht mir nicht, einfach zu sagen – gut – Manipulation ist ja nichts an sich Schlechtes. Ich möchte dieses Schönmalen durchschreiten und zu einem reicheren Verständnis von Gestalten und Selbstbestimmung kommen. In Raum [3] wird sich die Möglichkeit finden, solch ein Verständnis zu entwickeln.

2.8  CONCLUSIO | HEIMLICHE ­A BSICHTEN | ÜBERGANG RAUM [3]  187

1 2 3 4 5 6 7

8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52

Tonkinwise, 2008, S. 5. Erlhoff & Marshall (Hrsg.), 2008, S. 256. Vgl. z. B. Zeitschrift form (229, 2009). Vgl. Schön, 1983. Tonkinwise, 2008, S. 7. Anm. d. A.: Unabhängige Materialbibliotheken und Unternehmen horten meist solches Wissen, ohne es für die Allgemeinheit zugänglich zu machen. Karana, 2010, S. 273. Er verweist für dieses Statement noch auf einige andere Autorinnen und Autoren: Arabe, 2004; Hodgson & Harper, 2004; Karana & Kesteren, 2008; Ljungberg & Edwards, 2003; MacDonald, 2001; Sapuan, 2001; Kesteren, 2008; Zuo et al., 2005. Mayall & Design Council London, 1979, S. 84. 1907–1978, 1912–1988. Sparke, 2010, S. 132. Kozel, 2013, S. 20. 1926–1998. Sparke, 2010, S. 170. Remmele, Panton & Vitra Design Museum, 2001, S. 76. Ibid., S. 94. Vgl. Clarke, 1999. Papanek, 1984, S. 23. [U. L., vgl. 08_08_DS230072], 2008. [U. L., vgl. 08_08_DS230075], 2008. Vgl. Gibson, 1979a. Tonkinwise, 2014, S. 5. Tonkinwise, 2008, S. 10. Vgl. Gibson, 1982, Original: The Ecological Approach to Visual Perception. Gibson, 1982, S. 127. Ibid., S. 129. Gibson, 1979a, S. 124. Norman, 1988, S. 9. Kannengiesser & Gero, 2012, S. 62. Krems, 1998, S. 67. Vgl. Wertheimer, 1923. alle Abbildungen der Gestaltgesetze selbst erstellt, frei nach Metzger, 1936. Stumm & Pritz, 2010, S. 242 ff. Ibid. 2010, S. 243. Erlhoff & Marshall (Hrsg.), 2008, S. 169. Heufler, 2004, S. 38 ff. Norman, 1988, S. 84. Bürdek, 1991, S. 191, auch mit einem anderen Beispiel zu finden in Heufler, 2004, S. 41. Gros, 1987, S. 5 und S. 10. Vgl. Steffen, 2000. Orientiert an Steffen, 2000, S. 94 f. Vgl. Gros, 1987. Vgl. Hannah, 2002. Hannah, 2002, S. 53 ff. Ibid., S. 54, Zitat v. Gerald Gulotta. Ibid., S. 62. Ibid., S. 72. Ibid., S. 82. Ibid., S. 125. Ibid., S. 142. Venn, Schmitmeier & Venn-Rosky, 2011, S. 32. Vgl. z. B. http://www.ikonografie.antonprock.at/farbensymbolik.htm oder https://orthpedia.de/index. php/Ikonenmalerei#Farben (Zugriff: November 2020). Vgl. Venn, Schmitmeier & Venn-Rosky, 2011 und Venn, 2010. Farbordnung von Kabeln und Leitungen, vgl. Abschnitt 514.3.1 von DIN VDE 0100-510 (VDE 0100-510): 2011-03.

188  RAUM [2] – ­P RAXIS DER ­I MPLIZITEN ­V ERMITTLUNG 

53 54 55 56 57 58 59 60 61

Vgl. Welsch & Liebmann, 2011. Ibid., S. 26. Roth & Saiz, 2014, S. 181. Vgl. Venn, 2010. Vgl. Venn, Schmitmeier & Venn-Rosky, 2011. Vgl. Heller, 2000. http://www.handprint.com/HP/WCL/color12.html#colorlight (Zugriff: Mai 2017). Gage, 2011, S. 23. Dies lässt sich leicht in einem beliebigen großen Lebensmittelkaufhaus überprüfen, vgl. auch z. B. http://www.freepatentsonline.com/DE202012003621.html (Zugriff: Mai 2017). 62 Thurn, 2007, S. 54. 63 Ibid., S. 51. 64 Ibid., S. 53. 65 Vgl. Heller, 2000. 66 Vgl. Goody, 1993. 67 Vgl. Ibid. 68 Vgl. Stummerer & Hablesreiter, 2009. 69 Vgl. Grunwald, 2017. 70 Beobachtbar in fast jedem größeren Supermarkt, siehe auch S. 140. 71 Moggridge, 2007, S. 575. 72 Interview mit Bill Gaver, in Moggridge, 2007, S. 576. 73 Audi Sound Design, 7-minütiger Kurzfilm: https://www.youtube.com/watch?v=sY7KhvdtB9I (Zugriff: Mai 2016). 74 Steiner, 2014, S. 112. 75 Ibid., S. 113. 76 Lindstrom, 2011, S. 45. 77 Ibid., S. 133. 78 Ibid., S. 125. 79 Ibid., S. 125. 80 https://www.neurosciencemarketing.com/blog/articles/sensory-branding-at-le-meridien.htm (Zugriff: Juni 2017). 81 https://zenmerchandiser.com/visual/exploring-the-sense-of-smell-for-retail/ (Zugriff: Juni 2017). 82 http://sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/32563/Sagen-Sie-jetzt-nichts-Sissel-Tolaas (Zugriff: Juni 2017). 83 http://blogs.discovermagazine.com/notrocketscience/2010/06/25/heavy-rough-and-hard%E2%80%93-how-the-things-we-touch-affect-our-judgments-and-decisions/ (Zugriff: August 2016). 84 Vgl. Kay & Ross, 2003. 85 Kay et al., 2004, S. 83. 86 Fetell, 2010, S. 2. 87 Ackerman et al., 2010, S. 1713. 88 Vgl. Jostman et al., 2009. 89 Moggridge, 2007, S. 521. 90 Thorpe, 2007, S. 142. 91 Mausfeld, 2003, S. 2. 92 Ibid., S. 12. 93 Vgl. Foscht, Sinha, Maloles & Schloffer, 2011, sowie http://www.muji.com/us/feature/whatismuji/ (Zugriff: Juni 2015). 94 Anm. d. A.: Wofür steht die Marke, wie unterscheidet sie sich von der Konkurrenz etc. 95 Wittgenstein, 2010, S. 57. 96 Ibid., S. 63. 97 Withagen & Chemero, 2012, S. 5. 98 Krippendorf, 2006, S. 250. 99 Vgl. Schepers & Schmitt (Hrsg.), 2000. 100 http://designmuseum.org/designers/dieter-rams (Zugriff: Juni 2017). 101 Karjalainen, 2004, S. 10. 102 Ibid., S. 8. 103 Ibid., S. 57.

ANMERKUNGEN 189

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Vgl. z. B. Karjalinen, 2007. Vgl. Krug, 2006. Ju & Leifer, 2008, S. 73. Moholy-Nagy, 1946, S. 42. Vgl. Lidwell, Holden & Butler, 2004. Scheuermann, 2008, S. 211. Vgl. Lidwell, Holden & Butler, 2003. Joost & Scheuermann (Hrsg.), 2008, S. 210. Scheuermann, 2008, S. 210. Ibid., S. 211. Ibid., S. 211. Law, 2004, S. 3. Thoughtless Acts, Buchtitel: Suri, 2005. Suri, 2005, bzw. siehe auch http://www.thoughtlessacts.com (Zugriff: Mai 2014). Anzumerken ist, dass Jane Fulton Suri ihre Überbegriffe „conforming?, reacting?, responding?, co-opting?, signaling?“ immer mit einem Fragezeichen versieht. Einerseits trägt sie damit sicherlich dem Status ihrer Beobachtungen als Beobachtungen und nicht als wohldurchdachte Theorie Rechnung, andererseits ist das ein wichtiger Hinweis zur Vorsicht im Umgang mit solchen Beobachtungen: Es sind immer nur Vermutungen, was dahinter steckt. Vgl.: http://www.adweek.com/creativity/coca-cola-invents-16-crazy-caps-turn-empty-bottles-usefulobjects-158136/ (Zugriff: August 2016). Vgl. Akrich, 1992. Brandes, Stich & Wender, 2008, S. 53 ff. Anm. d. A.: Man beachte die Trennung zwischen Eigenschaft und Merkmal – dieser Unterschied wird von größter Bedeutung in der Beschreibung von impliziter Vermittlung, S. 215. Duncker, 1963, S. 105 ff. Almquist & Lupton, 2010, S. 1. Ibid., S. 4. Vgl. Alexander, 1975. Archer, 1981: „A view of the Nature of Design Research“ in Jaques & Powell (Hrsg.): Design:­ Science:Method, 1981. Grand & Jonas, 2012, S. 11–41. Cross, 1999, S. 9. Gui Bonsiepe in Michel, 2007, S. 32. Archer, 1981: „A view of the Nature of Design Research“ in Jaques & Powell (Hrsg.): Design:­ Science:Method, Tabelle entnommen aus: Grand & Jonas, 2012, S. 15. Suri, 2005, Vorwort. Flusser, 1993, Umschlagtext. Historisches Wörterbuch der Philosophie, Schwabe AG Verlag, Basel. https://www.schwabeonline.ch/schwabe-xaveropp/elibrary (Zugriff: Dezember 2020) > Epoché. Latour, 2010, S. 77. Suri, 2005, S. 166. Vgl. Fisher, 2003. Vgl. Scarry, 1985. Tonkinwise & Lorber-Kasunic, 2006, S. 7. Sennett, 2008, S. 63. Interview with Steve Jobs, BusinessWeek, May 25, 1998. Exemplarische Designprozessdarstellung: Lepenik, Christian, erstellt 2020, orientiert an Lidwell, ­Holden & Butler, 2012. Vgl. http://www.cambridge-news.co.uk/Giving-designers-helping-hand/story-22515051-detail/story. html. http://129.169.10.90/news/stories/2013/simulation_tools/ (Zugriff: Mai 2016). Bildquelle: www.flickr.com/photos/cambridgeuniversity-engineering/7400544042/in/photostream/ (Zugriff: Mai 2016) veröffentlicht unter CC-Lizenz by-nc-nd, vgl.: https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/. Vgl. Hall, Nixon, Dias, Graham & Cook, 2010. http://agelab.mit.edu/agnes-age-gain-now-empathy-system (Zugriff: Mai 2014).

190  RAUM [2] – ­P RAXIS DER ­I MPLIZITEN ­V ERMITTLUNG 

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Vgl. Norman, 2004. Tonkinwise, 2008, S. 7. Sennett, 2008, S. 130, ff. Betreuungsgespräch vom 15. Dezember 2015. Wittgenstein, 1963, Satz 5.6 bzw. Satz 7. Norman & Verganti, 2014, S. 41. Norman, 1999, S. 41. Suri, 2005, S. 171. Vgl. Flusser, 1993, S. 28 ff. Belliger & Krieger (Hrsg.), 2006, S. 485.

ANMERKUNGEN 191

ATRIUM – IMPLIZITE VERMITTLUNG

Raum [1]

Raumplan

Raum [2]

Raum [3]

Raum [1] Erkenntnis, Denken und Kreativität finden nicht nur im Körper, sondern mit unserer Umgebung statt, mit und durch die Gegenstände und Technologien, die wir benutzen. Es geht um Wissensformen und Erklärungsmöglichkeiten und wie in dieser Perspektive das Erkennen, Wahrnehmen, Verstehen und Entwerfen betrachtet werden können. Raum [2] Die Dinge sagen uns mehr, als uns bewusst ist. Implizite Vermittlung bedeutet, dass die Dinge uns mehr erzählen und vermitteln, als wir dann bewusst zu sagen wissen. In diesem Raum finden sich Beispiele und Elemente dafür. Raum [3] Man kann nicht nicht gestalten. Wir können die Dinge nicht nur bewusst gestalten, wir müssen sie bewusst gestalten.

Atrium Der Kern – implizite Vermittlung

ATRIUM – IMPLIZITE VERMITTLUNG  193

Nachdem nun die ersten beiden Räume durchschritten sind, ist es Zeit, kurz innezuhalten. Durch die Raumanordnung befinden wir uns nach dem geschlängelten Weg durch Raum [1] und Raum [2] nun genau in der Mitte der Ausstellung.

Zugänge Zugang aus Raum [1] Wo geschieht implizite Vermittlung? Ausgehend von einigen erkenntnistheoretischen Ausgangspunkten und dem Hinterfragen von wahrnehmen, erkennen und verstehen im Designkontext ist implizite Vermittlung etwas, das sich zwischen Menschen und Dingen ereignet. Sie ist unmöglich nur im Ding oder nur im Menschen zu verorten, sie findet durch das Aufeinandertreffen in einem „Dazwischen“ statt. So wie die Musik weder im Menschen noch im Instrument zu verorten ist, sondern auf dem kunstvollen Zusammentreffen beider beruht und sich dann ereignen kann, ist auch die implizite Vermittlung nicht an einen der Beteiligten zu binden, sondern gewissermaßen zwischen den Einzelnen zu suchen.

Zugang aus Raum [2] Im Beobachten von Praxisfeldern und anhand einiger alltäglicher Beispiele lässt sich implizite Vermittlung als ein Phänomen beschreiben, durch das ein Mensch mehr über eine Situation, ein Ding oder eine Dienstleistung weiß, als man bewusst-sprachlich in der Lage wäre anzugeben. Und nicht nur ein Mehr an Informationen lässt sich über die Dinge kommunizieren, es passiert auch viel unmittelbarer als über eine Kodierung in Sprache. Es geht bei impliziter Vermittlung weniger um Denken oder Entschlüsseln, sondern um unmittelbares Verstehen, Erkennen und Wahrnehmen. Der Entschlüsseln-Aspekt betrifft praktisch nur die Gestaltenden, die mit dem vermittelnden Modus vertraut sein müssen, ihn antizipieren können sollten und ihn daher wohl auch anders als sprachlich vorbereiten, verarbeiten und teilen.

Zugang aus Raum [3] Da nun die Tür aufgestoßen ist ins Reich der nichtsprachlichen, meist nicht einmal bewussten Kommunikation zwischen Menschen und Dingen, ist implizite Vermittlung auch ein Vehikel, das Handlungsanleitungen, Werthaltungen und Einstellungen transportieren, vermitteln und auf subtile Weise etablieren kann. Hat

194  STUMMES WISSEN 

man die Wirkungsweise dieses Konzeptes einmal durchschaut, wird sichtbar, wie tragfähig dieses Konzept ist und wie viel davon ohnehin genutzt wird, um einen Status quo zu perpetuieren. Wenn Designerinnen und Designer implizite Vermittlung bewusst gestalten, so gestalten sie viel mehr als nur die Dinge und Systeme, derer die Menschen sich bedienen, vielmehr gestalten sie auch die Werthaltungen, die in Dingen materialisiert sind, und die Handlungen, die diese Dinge dann ermöglichen oder die sie unterbinden.

Interferenzen So wie im Ausstellungsplan die einzelnen Räume sich an dieser Stelle überlagern, werden in diesem Atrium die zentralen Konzepte, die am meisten zum Verständnis impliziter Vermittlung beitragen, zur Überlappung gebracht. Ich erkunde, worin sie sich ähneln und was sie voneinander unterscheidet. Schließlich kann ich erörtern, was mir an bisherigen, ähnlichen Konzepten noch fehlt und konstruieren, was genau ich mit impliziter Vermittlung fassbar machen möchte.

Implizite Vermittlung | Definition, Vorschau und Vermutungen „We can know more than we can tell.“   michael polanyi1 Wenn Michael Polanyi sagt, dass wir mehr wissen, als wir zu sagen wissen, macht er geltend, dass jedes menschliche Wissen und Erkennen immer auch aus einem nicht angebbaren Teil besteht.2 Implizite Vermittlung nenne ich nun die Art und Weise, wie wir von den Dingen – oder allgemeiner gesagt, von unserer dinglichen Umgebung – mehr erfahren, als wir dann zu sagen wissen. Folgender Satz definiert die Elemente impliziter Vermittlung: Implizite Vermittlung ist situiert, zeitgebunden, relational und unmittelbar. Wenn implizite Vermittlung situiert ist, ist gemeint, dass die gesamte Situation ­Einfluss darauf hat, wie ich mit einem Werkzeug – ich nenne als Beispiel eine Leiter – zurechtkomme. Je nachdem, in welcher Verfassung ich mich befinde, ob ich körperlich in der Lage dazu bin, die Leiter zu erklimmen, ob die äußeren Umstände, wie zum Beispiel die Bodenbeschaffenheit oder das Wetter, die Nutzung einer ­Leiter erlauben, und nicht zuletzt, ob meine Absicht überhaupt die Nutzung einer Leiter erfordert, all das ist nicht zu trennen von der Nutzungserfahrung. Diese Situiertheit stelle ich in dieser Ausstellung mithilfe der Exponate dar, bei ­denen

ATRIUM – IMPLIZITE VERMITTLUNG  195

zwar Dinge auf den Bildern gezeigt werden, jedoch werden diese immer durch eine Situationsbeschreibung ergänzt (siehe auch Foyer, Seite 018). Hier im Atrium erkunde ich die Situationsgebundenheit impliziter Vermittlung sowie die Gestaltbarkeit der Situationen vor allem beim Konzept Interface (siehe Seite 209). Implizite Vermittlung beschreibe ich als zeitgebunden, weil sie in Prozesse ­eingebettet ist. Vorwiegend meine ich damit Wahrnehmungsprozesse, aber auch Abläufe von Handlungen und wie sie sich entwickeln. Um diesen Aspekt der impliziten Vermittlung zu beleuchten, eignet sich das Konzept der Scripts (siehe Seite 205) besonders gut. Um Auslösern für Abläufe auf die Spur zu kommen, werde ich ein Stück weit auch dem Begriff Closure (siehe Seite 206), vor allem wie er in der Gestalttheorie beschrieben wird, nachgehen. Dass implizite Vermittlung als relational begriffen werden muss, ist vielleicht der am schwierigsten zu beschreibende Aspekt. Gemeint ist Folgendes: Wenn eine Person einen Hammer dazu benutzt, einen Nagel in ein Brett zu schlagen, dann ist alles, was die implizite Vermittlung zwischen dem Menschen und dem Hammer ausmacht, weder allein dem Ding noch allein der Person zuzuordnen. Die Grundgedanken hierzu finden sich vor allem im Konzept der Affordance (siehe Seite 199), wie es James J. Gibson 19723 entwickelt hat. Die Wirkmächtigkeit von Dingen (Agency, siehe Seite 203) zeigt sich erst in der Relation zum Menschen und wird dann handlungsleitend. Von Unmittelbarkeit kann man sprechen, wenn ich im Akt des Begreifens keine Wahlmöglichkeit habe, was und wie viel von einem Zusammenhang ich begreife. Der Sinn erschließt sich mir unmittelbar – so weit, wie ich im Moment des Wahrnehmens in der Lage bin, ihn zu erfassen. Außerdem gibt es einen Teilbereich des impliziten Vermittelns, der ohne vorherige Decodierung funktioniert. Ich meine damit den Gegensatz zwischen dem Lesen eines Textes, dessen Bedeutung erst erschlossen und decodiert werden muss, und beispielsweise dem eindringlichen Geräusch einer Sirene beim Feueralarm, die unmissverständlich meine Aufmerksamkeit fordert und mich in Alarmbereitschaft versetzt (siehe auch: Raum [2], Seite 142, „Geräusch und anderes Unterschätztes“).

Unmittelbarkeit Was mich an den Erkundungen in Raum [2], besonders in der Nähe von Exponat [12] – „Thoughtless Acts“, Seite 156 besonders erstaunt, ist die eben angedeutete Unmittelbarkeit beim Begreifen dessen, was vermittelt wird. Wie in Raum [1] benannt, gibt es unterschiedliche Arten, Zugang zu Wissen zu finden. Es gibt einerseits solche, welche eine gewisse Decodierung der Eindrücke erfordern, wie zum Beispiel das Lesen eines Textes. Im Gegensatz dazu gibt es Arten des Erkennens und Erfassens der Umgebung, die unmittelbar, quasi ohne Zwischenstation ablaufen. Ich sehe eine Situation und ich habe sie (zumindest in Grundzügen)

196  STUMMES WISSEN 

Bild 62: Silhouettenschere

­ nmittelbar erfasst. In einem Text kann ich unter Umständen etwas überlesen, u aber ich kann keinen Geruch überriechen. Ebenso kann ich kein lautes, sich näherndes Fahrzeug überhören, außer mir steht dieser Sinn nicht zur Verfügung. Alles, was sich den Sinnen anschlussfähig und eindrücklich genug offenbart, scheint im Moment der Wahrnehmung integriert. Es kann sein, dass die Bedeutung des Wahrgenommenen überfordert oder nicht anschlussfähig ist (was das genau bedeutet, wird später, bei „Struktur impliziter Vermittlung“, Seite 212, noch behandelt), aber normalerweise offenbaren sich einer Person die Bedeutungen an den Dingen unmittelbar. Genau darauf beruht die Direktheit der impliziten Vermittlung. Ich kann gar nicht anders, als viele Merkmale des abgebildeten Werkzeugs sofort und unmittelbar zu begreifen. Im Bild mit den Notizen versuchte ich aufzuschreiben, was mir persönlich diese zierliche Schere implizit vermittelt. Den Eindruck spitz wird wahrscheinlich jede/r mit mir teilen. Mir fällt niemand ein, der auch nur kurz überlegen müsste, wo man diese Schere anfassen würde und was man damit tun kann. Scheren sind in meinem Umfeld vertraute Gegenstände. Vom Gedankenmodell implizite Vermittlung erhoffe ich mir in erster Linie Hilfe beim Gestalten und beim Argumentieren im Designprozess. Außerdem ist zu erwarten, dass es auch ein brauchbares Analysewerkzeug darstellt. Wäre obige Schere ein Prototyp, den ich gerade entworfen habe, würde es mich unbedingt interessieren, ob sie für andere Menschen ebenso einfach zu verwenden ist wie für mich. Aus der Struktur impliziten Wissens, wie sie Polanyi darlegt (siehe Seite 066), folgt, dass Werkzeuge im Idealfall als proximaler Term einverleibt werden, damit aber nicht im Bedeutungsfokus stehen. Das heißt, wenn ich herausfinden will, ob sich die Schere gut integrieren lässt, darf ich die Aufmerksamkeit nicht auf sie selbst lenken, mit „Wo würden Sie die Schere anfassen?“, sondern ich würde einen Faden in die Hand nehmen und fragen: „Könnten Sie bitte diesen Faden durchschneiden?“

ATRIUM – IMPLIZITE VERMITTLUNG  197

Benutzer/in

Funktionen

praktische Funktionen

Produkt

produktsprachliche, sinnliche Funktionen

formalästhetische Funktionen

zeichenhafte, semantische Funktionen

Anzeichenfunktionen

Symbolfunktionen

Bild 63: Anzeichenfunktion – Verortung im „Offenbacher Ansatz“

Wenn also die Frage die Aufmerksamkeit auf den distalen Term (im genannten Beispiel: die Aufgabe) lenkt, wird sichtbar, ob und wie jemand ein bestimmtes Werkzeug integrieren kann, und es ist eher gewährleistet, dass nicht schon die Frage die Testnutzerinnen und -nutzer dazu bringt, sich mit dem Werkzeug auf ­ungewohnte Weise auseinanderzusetzen.

Anzeichenfunktion Für das oben anhand der Schere veranschaulichte Phänomen, dass viele Menschen die Schere, auch wenn es sich um ein neuartiges Modell handeln würde, sofort gut benutzen können, taucht in deutschsprachiger Designliteratur der Begriff Anzeichenfunktion auf.4 Der Offenbacher Ansatz zur Produktanalyse markiert eine Entwicklung in Designtheorien der 1970er und 1980er Jahre, die den Funktionsbegriff im Design erweitert. Klassisch aufgeteilt in symbolisch, praktisch, ästhetisch5 gliedert der Offenbacher Ansatz nach Jochen Gros6 die produktsprachliche Funktion weiter auf (siehe Bild).7 Als untergeordnetes Element der produktsprachlichen Funktion fügt sich die Bedienbarkeit (Anzeichenfunktion) als ein technischer Aspekt eines gestalteten Produkts in die Liste der Eigenschaften des zu analysierenden Produktes. Zwei Dinge möchte ich zu dieser Darstellung anmerken: 1. Ein Designer taucht in diesem Modell nicht auf, was vermutlich dem Umstand geschuldet ist, dass es sich um einen Ansatz zur Produktanalyse handelt, der nicht notwendigerweise zur Strukturierung eines Designprozesses vorgesehen ist.

198  STUMMES WISSEN 

2. Die Funktion steht zwar zwischen Benutzer und Produkt, jedoch ist in der ausformulierten Theorie immer wieder die Anzeichenfunktion deutlich als Funktion des Produktes beschrieben und verliert dadurch die in der ersten Zeile sehr wohl angedeutete Sonderposition zwischen Ding und Mensch. Da ich implizite Vermittlung jedenfalls zwischen Nutzerschaft und Produkt verorten möchte, erhoffe ich Argumente oder zumindest Hinweise vom parallel zur Anzeichenfunktion im englischsprachigen Raum entwickelten Affordance-Konzept.

Affordance Ein Begriff, der mir für die Fassung impliziter Vermittlung sehr hilfreich und an weiten Stellen deckungsgleich mit ihr erscheint, ist Affordance – er bezieht sich auf wahrnehmbare Interaktionsmöglichkeiten in der Umwelt. Da selten eindeutig übersetzt, belasse ich den Begriff am liebsten eingedeutscht mit Affordanz/en. Ich lege nun in weiterer Folge dar, warum Affordance nicht mit Anzeichenfunktion übersetzt oder gar gleichgesetzt werden sollte. James J. Gibson,8 der den Begriff geprägt hat, untersucht in den 1950er bis 1970er Jahren Wahrnehmungsprozesse und kommt zu dem Schluss, dass Lebewesen dabei nicht getrennt von ihrer Umwelt betrachtet werden sollten.9 Donald A. Norman, der in Uneinigkeit mit Gibson das Konzept der Affordances für die Designwelt nutzbar gemacht hat, beschreibt in seinem 1988 erschienenen Buch The Psychology of Everyday Things Affordanzen so: There already exists the start of a psychology of materials and things, the study of affordances of objects. When used in this sense, the term affordance refers to the perceived and actual properties of the thing, primarily those fundamental properties that determine just how the thing could possibly be used. A chair affords (‘is for’) support and, therefore, affords sitting. […] Door Hardware can signal whether to push or to pull without signs. […] Affordances provide strong clues to the operations of things. […] When affordances are taken advantage of, the user knows what to do just by looking. No picture, label or instruction is required.10 Affordances und Hinweise (Clues) verwendet er in dieser Definition von 1988 fast austauschbar, außerdem weist er Affordanzen klar als Eigenschaften der Umgebung aus – ein Punkt, in dem er ganz und gar nicht mit Gibson, dem Erfinder des Konzepts, übereinstimmt. Die zentrale Frage, mit der sich Norman in seinem Buch beschäftigte, lautete: In unserem Alltag, in dem wir mit Abertausenden Objekten umgehen müssen, von denen wir viele nur ein einziges Mal sehen – wie kommen wir (Menschen) da überhaupt zurecht? Woher wissen wir (meistens zumindest), wie wir ein Ding

ATRIUM – IMPLIZITE VERMITTLUNG  199

­ enutzen können, das wir zum ersten Mal sehen? Er formulierte 1988 drei Orib entierungsmöglichkeiten für User: Conceptual Models, Constraints und Affordances.11 Zu seiner Überraschung, so schreibt er 1999,12 habe das Konzept der Affordances (im Gegensatz zu den anderen beiden) in der Designwelt am meisten Anklang ­gefunden. Norman jedenfalls ging damals davon aus, dass Affordanzen Eigenschaften der Umwelt wären,13 doch bei einer aktuellen Überarbeitung für eine Neuauflage seines Buches von 1988 ersetzt er jede Instanz von affordances durch perceived affordances, denn: The designer cares more about what actions the user perceives to be possible than what is true. Moreover, affordances, both real and perceived, play very different roles in physical products than they do in the world of screen-based products.14 Warum ist ihm diese Präzisierung in der Unterscheidung zwischen Affordanzen und wahrgenommenen Affordanzen plötzlich doch so wichtig? Die Antwort auf diese Frage wird sichtbar, sobald man um diese Unterscheidung nicht mehr herumkommt: Notwendig wird dieser Unterschied in der metaphernreichen Welt des Software- und Screendesigns.15 Jeder Bildschirm bietet berühren als mögliche Interaktion an, doch nur bei Touchscreens erzeugt eine Berührung auch tatsächlich (an bestimmten Stellen) eine Wirkung auf Softwareebene. Das heißt, wenn der Begriff designrelevant sein soll, muss es eine Unterscheidung geben zwischen einer Eigenschaft, die das Objekt tatsächlich hat (Affordance als Objekteigenschaft), und einer Eigenschaft, die als Interaktionsmöglichkeit erkannt wird, die das Objekt aber nicht bietet (Affordance als eine Wahrnehmung des Subjekts). Ob bewusst oder unbewusst wahrgenommen, spielt an dieser Stelle der Diskussion noch keine Rolle.16 Norman ringt um Klarheit in der Unterscheidung zwischen erlernten Konventionen, symbolischer Kommunikation und Affordances, doch mir scheint, es mag ihm nicht so recht gelingen zu klären, was denn der Unterschied sei zwischen einem Interaktionsangebot (entspricht bei ihm einer Affordanz), einem anders gearteten Hinweis und einem angebotenen Symbol: Far too often I hear graphical designers claim that they have added an affordance to the screen design when they have done nothing of the sort. Usually they mean that some graphical depiction suggests to the user that a certain action is possible. This is not affordance, neither real nor perceived. Honest, it isn’t. It is a symbolic communication, one that works only if it follows a convention understood by the user.17 Ich gehe zum Ursprung des Begriffes zurück, um zu sehen, wo sich Norman und Gibson entzweit haben: So wie Norman es oben beschreibt, war für ihn von Anfang an klar, dass Affordanzen Interaktionsangebote und somit Eigenschaften der

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­Umwelt seien.18 1999 allerdings kritisiert er selbst seine damals vertretene Auffassung des Konzeptes19 und nähert sich Gibsons ursprünglichen Untersuchungen wieder ein Stück weit an, indem er einen Schritt Richtung Relationalität geht und anerkennt, dass für Affordanzen die Relationen zwischen Mensch und Umwelt wichtig sind. Dennoch bleibt er bei seiner Zuweisung, dass Affordances Eigenschaften der Welt seien: „Affordances reflect the possible relationships among ­actors and objects: they are properties of the world.“20 Er erzählt, dass Gibson und er ausführliche Diskussionen darüber hatten, worin die Unterschiede bestünden, aber beide grundsätzlich verschiedene Auffassungen davon hatten, wie menschliche Wahrnehmung Informationen verarbeite (allein schon diese Formulierung hätte Gibson in Rage gebracht, schreibt er 201521). Aus folgendem Zitat wird deutlich, inwiefern Gibson wohl prinzipiell die Diskussion umgehen wollte, ob nun Affordances Eigenschaften der Umwelt wären oder Eigenschaften unserer Wahrnehmung: An affordance cuts across the dichotomy of subjective-objective and helps us to understand its inadequacy. It is equally a fact of the environment and a fact of behavior. It is both physical and psychical, yet neither. An affordance points both ways, to the environment and to the observer.22 Mit dem Versuch, die Subjekt-Objekt-Dichotomie zu umgehen oder aufzulösen, bin ich am Kern der Schwierigkeiten der Analyse von Mensch – Ding – Interaktion angelangt. Wie kann man dieses Dazwischen, das Beides-zugleich sprachlich fassen? Bemerkenswert finde ich, dass in obigem Zitat Affordance exakt wie im Bild zur Anzeichenfunktion (siehe Seite 198) die Funktion in beide Richtungen zeigt: zum Benutzer und zum Produkt zugleich, doch es fällt schwer, die volle Tragweite dieser Erkenntnis in Sprache wiederzugeben. Es ist schwierig, eine Welt zu beschreiben, in der die Trennung zwischen Mensch und Objekt nicht mehr die treffende Grundeinteilung der Sachverhalte leistet. Diese Objekt-Subjekt-Dichotomie ist weit verbreitet, entspricht der gängigen alltäglichen Einteilung der Welt und ist sprachlich wohl nicht einfach zu überwinden.23 Es wird mir also nicht gelingen, diese Dichotomie sprachlich zu beseitigen, wenn ich Affordance mit Anzeichenfunktion, Angebotscharakter oder mit Interaktionsmöglichkeit übersetze, da diese Begriffe alle zu naheliegend mit „… des Objekts“ gedanklich ergänzt werden können und daher automatisch als Eigenschaften des Objektes gelten würden. Verbindung von Objekt und Mensch

Eine Affordanz ist also ein Phänomen, das nur entsteht, wenn Umwelt und wahrnehmendes Lebewesen zusammentreffen.24 Affordanzen sind also keine separat von Subjekt oder Objekt existierenden Sachen (wie Norman bemängelt, wenn jemand einem Screendesign eine Affordanz hinzuzufügen meint), sondern Sach­

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verhalte zwischen diesen Instanzen.25 Eine Denkhilfe, um Eigenschaften eines Objektes mit der Wahrnehmung durch Lebewesen sprachlich direkter zu verbinden, bieten Chemero (2001) und Reed (1996), und zwar über das Konzept der „direkten Wahrnehmung“, das schon bei Gibson zu finden ist: Das zentrale Argument für direkte Wahrnehmung lautete bei Gibson, dass die Umgebungswahrnehmung immer relational zum wahrnehmenden Lebewesen ist, also weniger auf absolute Eigenschaften abzielt, sondern auf Handlungsmöglichkeiten, die das Lebewesen wahrnehmen kann. Ein Beispiel: Wenn ich über einen kleinen Bach springen will, würde mir die akkurate Wahrnehmung der Distanz in Zentimetern wenig helfen, entscheidend ist: Ist die zu überbrückende Strecke weiter, als ich springen kann, oder nicht? Wenn ich weit genug springen kann, gilt für mich und den Bach: „Affords jumping over.“ Direkte Wahrnehmung bedeutet auch, dass sich bei Lebewesen durch Affordanzen ein Selektionsdruck ergibt: Nur wenn sie Affordanzen zu nutzen wissen, können sie überleben. Chemero26 weist in diesem Zusammenhang auf eine wichtige Unterscheidung hin: die zwischen „feature“ und „property“. Diese Unterscheidung übersetze ich als Merkmal und Eigenschaft – ein Merkmal existiert als wahrgenommene Interaktionsmöglichkeit, die mir eine Situation bietet, auch unabhängig von einem bestimmten Objekt (wie zum Beispiel: essbar; oder relevant für den Designkontext: „wirkt elegant, hochwertig“), im Gegensatz zu prädikativen Eigenschaften eines Objekts (wie etwa: ist aus Holz, glänzt etc.).27 Diese Unterscheidung nehme ich auf in die Konstruktion impliziter Vermittlung, denn sie spiegelt exakt, warum anhand der Eigenschaften eines Objekts (die ich als Designerin gestalte) noch nicht automatisch die gewünschten Merkmale (leicht verständlich, elegant, zu einer Marke gehörig …) gestaltet sind. Chemero fasst zusammen: „Affordances, I argue, are relations between particular aspects of animals and particular aspects of situations.“28 Cameron Tonkinwise schafft es, den Begriff Affordance sprachlich als relational zu fassen, jenseits der Trennung von Subjekt und Objekt, und weist dabei ebenfalls auf eine Unmittelbarkeit hin, wie sie bei der direkten Wahrnehmung beschrieben wurde: Affordances are the result of interactional perceptions, seeing not just a feature, but a future way of making use of that feature. The key to understanding an affordance is to realise its utterly unsemiotic nature; affordances are the opposite of digital communications needing decoding. If they are communications, they are direct communications, without mediation, communications, as it were, between things and my body without the involvement of my mind. I do not see a shape, but a handle, or rather a ‘handlable’; I see myself handling that shape; or more precisely, my hand sees that handlable, reaching out for it before I have even really ‘seen’ it (as if I were something other than my hand).29

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Was hier zur Sprache kommt, ist auch in Raum [1] schon aufgetaucht – sich auf die Suche nach den Verschmelzungen von Menschen und Werkzeugen zu machen bedeutet auch, unter Umständen noch weitere bisher gewohnte Trennungen und Zuordnungen in Frage zu stellen, siehe „Where does my mind end and the rest of the world begin?“30 oder „Wo fängt ein Ding an und wo hört es auf?“.31 Tonkinwise sieht Affordance als Verschmelzung, als materiellen Zusammenschluss der Fähigkeiten von Dingen und Menschen.32 Und aufgrund ebendieser Verschmelzung stoßen Menschen auf typische Widerstände, wenn sie versuchen zu erklären, wo welche Arten von Wissen zu verorten wären: To attempt to explain what a product knows about a body in such and such a situation, what it is a body knows about what can and cannot be done with the things around it, is to either semiotise affordances, or to become mired in animistic relativisms.33 Tonkinwise deutet an, dass es auf falsche Fährten führt, die Eigenschaften des Objekts einerseits und andrerseits die Wahrnehmung des Subjekts zu studieren, um dann schließlich zu hoffen, dass sich in der Relation zwischen den gesammelten Erkenntnissen irgendwo plötzlich Affordances analysieren und vielleicht sogar gestalten lassen. Dennoch: Die gebaute Umwelt sowie mein von Dingen bevölkerter Alltag ist erstaunlich brauchbar und mir zuhanden. Sobald die Dinge mir im Alltag, im routinierten Umgehen mit ihnen transparent werden, fügen sie sich wie selbstverständlich in meine Handlungen ein – oder ich füge mich in das, was mir meine gewohnte Umgebung ermöglicht. Als Designerin habe ich doch genau darüber ein Wissen: Affordances sind ja gestaltbar, denn viele Handlungen, die ich vor einigen Jahren noch nicht kannte, sind mir inzwischen zu neuen Selbstverständlichkeiten geworden. Um nur ein Beispiel zu nennen: Die Bewegung, die ich mit zwei Fingern mache, um ein Bild auf einem Touchscreen zu vergrößern, bin ich manchmal fast geneigt, auf Papier zu machen, wenn mir eine Grafik zu klein ist. Diese Relationalität, dieses hier nun umrissene Dazwischen-Verorten, ist eine wichtige Aufgabe, die ich mir vom Affordance-Begriff für die Beschreibung impliziter Vermittlung mitnehme. Agency in Affordance – Gestaltbarkeit der Affordanz

Bei der sprachlichen Verortung sollte also ein Weg gefunden werden zwischen semiotischen Erklärungen (in diese Kategorie fallen viele Versuche einer Analyse von Produktsprache) und animistischen Deutungen der unbelebten Welt, in der mir Dinge sagen, was zu tun ist. Bruno Latour wird im Zusammenhang mit seiner Akteur-Netzwerk-Theorie manchmal vorgeworfen, er würde Dinge beseelen oder vermenschlichen wollen, da ja Menschen sowie auch Nicht-Menschen Akteure sein können.34 Jedenfalls entfalten diese analytischen Ansätze ihre Aussagekraft vor ­allem bei der Untersuchung von bereits bestehenden Dingen – die Frage bleibt offen, wie Affordances im Prozess der Gestaltung gedacht und methodisch genutzt

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­ erden (können). Die Handlungsmacht von Dingen, auch agency genannt, entw steht ja im Designprozess. Cameron Tonkinwise betont in einem Draft von 201435 über „things have agency“, dass mit der Behauptung, Dinge hätten Wirkkraft, nicht notwendigerweise gesagt ist, Dinge hätten Absichten, wären willensfähig, lebendig. Er sieht Agency als eine Möglichkeit, die Aufmerksamkeit auf die nicht sichtbaren gestaltenden Kräfte zu lenken, die sich im Umgang mit Dingen eben zeigen, mögen sie halb in den Dingen zu finden sein und halb im Gebrauch. Beim Herstellen, Machen von Dingen spielen die Absichten der Gestaltenden eine entscheidende Rolle36 – und zum Verständnis der Absicht lasse ich noch einmal ihn selbst zu Wort kommen. Er entdeckt zum Thema Agency in der Arbeit von Elaine Scarry,37 wie man den Schritt von der Absicht zur gestalteten Affordanz sehen könnte. Scarry, die „Schmerz“ ins Zentrum ihrer Arbeit stellt, untersucht, welche Rolle der Schmerz bei „making and unmaking of the world“ spielt. Throughout the book there is the claim that to perceive pain in another is to be overwhelmed by the desire to make that ‘pain be gone‘ – which is why torture is the apotheosis of inhumanity. When in the presence of someone I perceive to be in pain, I will be already trying to comfort them. The urgency of these actions will be frustrating to me, urging me to look for something more, more effective at longer-term pain removal. According to Scarry, this overflowing desire to do something should be understood as the externalization of the desire, ‘pain be gone‘. I begin to demand that pain-removal become some thing permanent in the material world. In the presence of pain, we sense the indifference of the material world to human suffering.38 Dies wirft ein spezielles Licht auf die Absicht, die beim Herstellen von Dingen eine Rolle spielt. Machen ist mit Tonkinwise gesagt immer dadurch motiviert, die unbelebte Umgebung mitfühlender für menschliches Empfinden zu machen, und die Form, die diese Absicht dann annimmt, soll das stabilisieren, was ein Mensch sonst leisten würde. „I cradle a partner in pain, I imagine a materialized cradle, a chair that can relieve my partner’s weight more permanently. I make the world afford weight relief.“39 Dinge sind eine Art, menschliche Absichten und Kompetenzen zu materialisieren, sie an einen nichtmenschlichen Akteur zu delegieren,40 wie Latour wahrscheinlich sagen würde, um sie dadurch dauerhafter zu machen.41 Die Besonderheit dieser Ergänzung liegt darin, dass Latours Konzept eben nicht nur ein nützliches Analysewerkzeug bietet, sondern dass Delegieren auch illustriert, wie diese Art von Agency zustande kommt: Absichten, in denen Dinge hergestellt werden, materialisieren sich in ihnen. Tonkinwise formuliert: „Things have agency because making is making things have agency; that is why they were made in the first place.“42 Die Theorie der Affordances zeigt also, dass die Dinge für Lebewesen (Gibson beschränkt sich in seiner Theorieentwicklung nicht auf Menschen) als Handlungs-

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möglichkeiten existieren und erfahrbar sind. Menschen folgen nicht nur einer einzigen Möglichkeit, die Dinge zu nutzen.A1 Wenn es um die Analyse der wahrnehmbaren Interaktionsmöglichkeiten geht, helfen mir die beiden Begriffe scripts und closure weiter:

Scripts Scripts bezeichnen die Idee, dass Designerinnen und Designer beim Gestalten von Produkten oder Systemen eine Art Drehbuch für den Ablauf der Interaktion entwickeln. Scripts knüpfen mehr an prozedurales WissenA2 an als Affordances, besonders deutlich wird dieser Ansatz, wenn Interaction Designer sagen, dass ihre Gestaltungsabsicht nicht vorwiegend Dinge betrifft, sondern eher das Verhalten der Nutzenden, einen Handlungsablauf, eine Interaktion.43 Das Script, das Drehbuch, welches dabei zum Tragen kommt, strukturiert die Handlungsabläufe so vor, als wären die User Schauspieler in einem Theaterstück. Scripts können nun intentional sein oder nicht, ein Handlungsablauf wird immer wieder provoziert, aber er war nicht beabsichtigt.44 Außerdem können sie relativ offen oder geschlossen sein: Das bedeutet, wie sehr die jeweiligen Scripts Abweichungen zulassen. Ein Beispiel für ein bewusst offenes Script wäre der Ulmer Hocker. Max Bill entwarf und baute diesen Hocker 1954 als Grundausstattung für die Seminar- und Wohnräume der Ulmer Hochschule für Gestaltung. Man konnte ihn als Beistelltisch, als Pult, Regal, Tragehilfe (am Rundstab gefasst) und natürlich als Sitzmöglichkeit verwenden. Diese Art, den Hocker auf verschiedene Arten zu deuten und zu nutzen, würden Pinch und Bijker45 interpretative Flexibilität nennen (siehe Closure). Auch an einem typischen Sushi-Messer (Seite 240) ist ein bewusst offenes Script zu bemerken. Der Griff an diesem Messer ist sehr gerade und schlicht abgeflacht-zylindrisch geformt. Das leitet die messerführende Hand nicht automatisch in eine bestimmte Position, sondern erlaubt verschiedene Arten, das Messer mit einer oder auch mit zwei Händen zu fassen. Bei der Gestaltung von offenen Scripts liegt die Betonung darauf, möglichst viele unterschiedliche Nutzungen zu ermöglichen. Im Gegensatz dazu werden manche Dinge bewusst so gestaltet, dass eine nicht intendierte Nutzung erschwert, wenn nicht gar verhindert wird. Ein bekanntes Beispiel für ein ziemlich geschlossenes Script ist der „Berliner Schlüssel“,46 der sich nicht vom Schloss ziehen lässt, wenn es nicht versperrt ist. Das Handlungsprogramm (oder Script) lautet also: „Wenn du gehst, versperre die Tür!“ Bruno Latour führt ein weiteres Schlüsselbeispiel an, wenn er den Hotelmanager erwähnt, der möchte, dass die Gäste ihre Zimmerschlüssel bei der Rezeption abgeben, s­ obald A1  Abzweigung zu Non-Intentional Design, Seite 165. A2  Abzweigung zu „Prozedurales Wissen“ in Zusammenhang mit anderen impliziten Wissensformen, siehe Seite 062.

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Bild 64: Ulmer Hocker47

sie das Hotel verlassen. Das Script „Geben Sie ihren Schlüssel an der Rezeption ab“ wird übersetzt (die Übersetzung einer Handlungsanweisung in ein Objekt nennt Latour Translation48): Ein sperriges Metallgewicht als Anhänger ist unhandlich und schwer, es würde die Taschen der Gäste deformieren und wird deshalb wohl recht gewissenhaft an der Rezeption zurückgelassen werden. Ein ähnliches Beispiel ist im Bild unten (Luzerner Schlüssel) zu sehen. Das Foto (siehe nächste Seite) zeigt einen Toilettenschlüssel für ein Kunden-WC. Die Form des Anhängers begünstigt außerdem, dass der Schlüssel so abgelegt/abgestellt wird, dass er nicht nass wird. In dieser Ausstellung gibt es beim Exponat [17] im dritten Raum, „Hostile architecture“ (siehe Seite 260), weitere sehr geschlossene Scripts zu sehen.

Closure Der Umstand, dass es mehrere Möglichkeiten gibt, wie ein Gegenstand interpretiert, gesehen und genutzt werden kann, wird als interpretative Flexibilität bezeichnet. Trevor Pinch und Wiebe Bijker beschreiben,49 wie technische Artefakte in der Phase ihrer Entdeckung und Erfindung verschiedene Interpretationen zulassen können und welche Mechanismen von Closure (zu deutsch: Schließung) zur Schließung dieser Mehrdeutigkeiten beitragen. Interpretative Flexibilität machen sie anhand der Entwicklungen der ersten Typen und Modelle von Fahrrädern anschaulich. Das Hochrad wurde vorwiegend von jungen Männern genutzt. So kann in einem Hochrad einmal ein Gerät gesehen werden, mit dem ich Mut und Können darstellen kann, andere Gruppen sehen darin vor allem ein gefährliches Rad. Wie ein Fahrrad auszusehen hat, war eine Zeit lang strittig und nicht eindeutig zu beantworten. Closure meint in diesem Zusammenhang eine Stabilisierung eines Artefakts im Sinne einer Reduzierung der

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Bild 65: Luzerner Schlüssel

verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten. Dabei geht es nicht nur darum, welche Gestalt eine technologische Entwicklung annehmen kann (anhand des Beispiels Fahrrad ließen sich das Hochrad und verschiedene Niederrad-Typen anführen) sondern auch, welche Bedeutung einem Artefakt von relevanten Gruppen in der Gesellschaft zugeordnet wird. Anders gesagt: Es gibt in dieser Beschreibung zwei Arten von Closure: Eine Stabilisierung der Gestalt kann durch eine rhetorische Schließung, für welches Problem das Artefakt eine Lösung darstellen soll, erreicht werden (rhetorical closure).50 Als performative closure bezeichnen Pinch und Bijker das Phänomen, dass in weiterer Folge unterschiedliche Fahrradtypen aus Zeitschriften und Rennveranstaltungen verschwanden und langsam fast nur mehr das heute bekannte Niederrad als Typus übrig bleibt. Doch Closure mit einer etwas davon abweichenden Bedeutung kommt als wichtiger Begriff auch im Kommunikations- und Grafikdesign vor, und zwar als ein aus der Gestalttheorie entlehnter Begriff. Closure – Gestaltprinzip

Diese andere Schließung meint vorrangig eine Stabilisierung der Wahrnehmung: Beim Begriff der Affordanz ist die von Donald Norman formulierte Frage aufgetaucht, wie es sein kann, dass Menschen mit den meisten Dingen ihrer Umgebung so gut umgehen können, obwohl sie viele davon zum ersten Mal sehen.51 Für Designerinnen und Designer ist also die Frage nach den Mechanismen, wie bei nahezu unendlich vielen Interpretationsmöglichkeiten eine Stabilisierung der Wahrnehmung zu erreichen ist, eine ganz entscheidende für die Gestaltung verstehbarer Produkte, Dinge und Systeme. Schließung ist in der Gestaltwahrnehmung eine Bezeichnung für solche Stabilisierungsmechanismen. In der Wahrnehmungspsychologie suchen Forscherinnen und Forscher beispielsweise nach Mechanismen, die das „Grundproblem des (Tiefen-)Sehens“ erklären:52 So, wie

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Bild 66: Kanisza-Dreieck

die Lichtsignale die Netzhaut im Auge treffen, lassen sie schier unendlich viele Interpretationsmöglichkeiten zu, und die Regeln, nach denen Menschen ihre Wahrnehmungen konstruieren und stabilisieren, sind höchst gefragt. Gaetano Kanisza hat um 1955 Dreiecke entwickelt, die kein Photometer und kein Scanner sehen kann. Menschen können jedoch das auf der Spitze stehende weiße Dreieck ganz deutlich sehen. „Gesetze der Prägnanz“ wie sie Max Wertheimer 192353 formuliert, sind Versuche, Gesetzmäßigkeiten für die menschlichen Wahrnehmungsmechanismen zu ergründen. Gestaltgesetze der Wahrnehmung54 bieten Orientierung, welche Hinweise ich als Designerin geben kann, um bestimmte Deutungen zu begünstigen.A Gut dokumentiert sind solche Gestaltgesetze vorwiegend im zweidimensionalen, grafischen Bereich. Donald Hoffman55 unternimmt die Anstrengung, zu zeigen, dass alles, was für uns an visuellen Eindrücken selbstverständlich ist, auf bestimmten Konstruktionsregeln beruht, und es liegt fürs Design ein großer Gewinn darin, zu verstehen, wie Menschen ihre Umwelt (sehend) konstruieren. Wenn ich Gesetzmäßigkeiten benennen könnte, wie Menschen ihre Umgebung wahrnehmen, dann kann ich auch besser gestalten, wie sie mit ihr umgehen. So verlockend es auch ist, absolute Gesetzmäßigkeiten zur Verfügung zu haben, so wenig anwendbar scheinen sie in der mehrdimensionalen Welt. Der Komplexität der Realität viel eher entsprechend ist also die Suche nach einzelnen belegbaren Wirkungen und Stabilisierungsmechanismen wie in dieser Ausstellung. Die Suche nach absoluten und vorhersagbaren Gesetzmäßigkeiten entspricht nicht der Situiertheit impliziter Vermittlung, wo Form, Farbe, Material und viele Bedingungen mehr eine Rolle dafür spielen, wie eine Interaktionsmöglichkeit wahrgenommen werden kann.

A  Abzweigung zu anderen Gestaltprinzipien, Seite 126.

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Closure in Comics

Eine weitere Nutzung des Konzepts möchte ich noch hier anführen, um dem Aspekt der Bedeutungsstabilisierung noch eine Nuance hinzuzufügen. Das Wort Schließung steht beim Comicautor Scott McCloud für das Phänomen, dass Menschen aus wenigen Clues imstande sind, sehr abstrakte Dinge zu konstruieren. Er benutzt Closure in seinem Werk Understanding comics – the invisible art56 als Bezeichnung für die Fähigkeit der Comic-Leserschaft, aus einer Abfolge von Bildern zum Beispiel erschließen zu können, wie viel Zeit zwischen den einzelnen Bildern der Geschichte vergangen ist – auch ohne explizite Hinweise im Text. Er zeigt Belege dafür, wie sich Leserinnen und Leser Sachverhalte und Entwicklungen zwischen den Bildern erschließen, auch wenn im Text kaum explizite entsprechende Clues enthalten sind. Weiters legt er dar, welche Ergänzungsleistungen die Leserin oder der Leser jeweils vollbringt und dass all diese Fähigkeiten, die notwendig dafür sind, Comics als „sequential art“ genießen zu können, auf einer bestimmten Art, wie Menschen Bilder (im Großen und Ganzen) entschlüsseln, beruhen. Scott McCloud nennt im zitierten Werk ein Phänomen, das der weiter oben diskutierten Wahrnehmung von Affordances sehr ähnelt: Closure Er legt dar, dass es grundlegende Unterschiede gäbe zwischen dem Wahrnehmen eines Bildes (receive – instantaneously) und dem Wahrnehmen eines Texts (perceive – decoding, needs time and specialized knowledge): Eines trifft uns unmittelbar, das andere müssten wir erst entschlüsseln, so schreibt (und zeichnet) er. Seine Definition von Closure kommt Polanyis Erläuterungen zur Struktur impliziten Wissens, wie ich sie auch auf Seite 212 zur Konstruktion meines Konzepts von impliziter Vermittlung heranziehen werde, sehr nahe: „… this phenomenon of observing the parts but perceiving the whole has a name. It’s called closure.“57 Bei Polanyi findet sich die Beschreibung, dass die Einzelmerkmale transparent werden, aus dem Fokalbewusstsein verschwinden und den Blick auf eine Bedeutung freigeben.58 Ich stimme zwar zu, dass viele Bilder sich mühelos in Grundzügen begreifen lassen, doch ist meiner Meinung nach sehr wohl viel Zeit und spezialisiertes Wissen vonnöten, um sich Bilder (wie Kunstwerke) im Detail erschließen zu können. Festzuhalten bleibt, dass es einen wichtigen Teil der menschlichen Wahrnehmung gibt, dem wenige Hinweise genügen, und schon entsteht unmittelbar im Begreifen eine Vollständigkeit. Dies anzuerkennen ist wichtig, um in weiterer Folge das Verständnis von impliziter Vermittlung aufzubauen.

Interface Ein zentraler Begriff für das Dazwischen-Verorten von impliziter Vermittlung ist der des Interface. Im physikalischen Sinn bezeichnet es eine Berührungsfläche zwischen zwei Phasen (das ist ein räumlicher Bereich, in dem Materialeigenschaften, wie etwa der Aggregatzustand, homogen sind), wie zum Beispiel beim Zusammen-

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treffen von Öl und Wasser oder Luft und einem Festkörper.A Diese Art Berührungsfläche wurde als Metapher in der Kommunikationstechnologie aufgegriffen und bezeichnet dort Schnittstellen, an denen ein Gerät mit einem anderen oder ein Softwareprogramm mit einem anderen kommunizieren soll. Den Bereich, wo sich Informationen und Steuerelemente zwischen Nutzerin oder Nutzer einerseits und dem Artefakt oder auch einer digitalen Anwendung andrerseits befinden, nennt man meist Interface. Doch um welche Berührungsflächen es geht, was genau von was am Interface berührt wird, ist nicht so einfach zu fassen. Obwohl man an mehreren Hochschulen bereits explizit Interface-Design studieren kann,59 bleiben Definitionen, was denn ein Interface sei bzw. wie es konzeptuell zu fassen sei, eher rar. Meist reicht Autorinnen und Autoren der Verweis auf die Übersetzung „Interface = Schnittstelle“, um von schwierigeren Definitionsbemühungen abzusehen. This is what the interface designer should care about: Does the user perceive that clicking on that object is a meaningful, useful action, with a known outcome?60 Ein Interface ist nicht nur eine Grenze – wenn sie Nahtstelle61 statt Schnittstelle genannt wird, unterstreicht dies, dass es um die Verbindung zweier unterschiedlicher Bereiche geht. Trotzdem handelt es sich bei einem Interface nicht um einen Punkt, eine Stelle im eigentlichen Sinn: Wenn ein User mit einem Touchscreen zugange ist, reicht auch die Vorstellung einer Schnittfläche nicht mehr aus, um zu analysieren, wie Informationen zwischen Hand, Screen und Augen zueinanderkommen und die Benutzungserfahrung bedingen. Diese zweidimensionale Vorstellung einer Schnittfläche zu einer räumlichen Fassung eines Übergangs zu erweitern bemüht sich der Designer und Designtheoretiker Gui Bonsiepe. Er setzte sich Anfang der 90er Jahre intensiv mit dem Begriff Interface auseinander und ernennt ihn zu einem Zentralbegriff des Designs.62 Er beschreibt sein „trichotomisches Diagramm instrumentellen und kommunikativen Handels“ so: Zum ersten ist da ein Nutzer oder sozialer Agent, der eine Handlung effektiv realisieren will. Zum zweiten ist da eine Aufgabe, die er bewältigen will […]. Zum dritten ist da ein Werkzeug oder Artefakt, das der Handelnde zur effektiven Ausführung der Handlung benötigt.63 Die Koppelung dieser drei Bereiche geschieht in einem Raum und durch einen Raum, dessen Gestaltung dem Design obliegt: durch Interface – in Bonsiepes ­Worten:

A  Abkürzung zu „Was ist ein Interface“, Raum [1], Seite 043.

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Dabei ist zu bedenken, daß Interface nicht eine Sache ist, sondern der Raum, in dem die Interaktion zwischen Körper, Werkzeug (Artefakt, sowohl dingliches wie zeichengebundenes Artefakt) und Handlungsziel gegliedert wird. Genau das ist die unverzichtbare Domäne des Design.64 Das bedeutet, aus einer Grenzfläche zwischen zwei Phasen oder Elementen wird ein Raum. Es ist ein fundamentaler Unterschied in der gestalterischen Herangehensweise, ob man nach zu gestaltenden Berührungsflächen sucht oder nach Räumen, die sich zwischen einem Körper, Absichten und einem Werkzeug auftun. Diese Erweiterung um die räumliche Dimension ist ein wichtiger Schritt, um ein Interface gestaltbar zu machen. Tatsächlich lässt sich ein Interface nur selten als Fläche fassen, wenn nicht gerade eine Hand oder ein Finger flächig auf einen Knopf oder einen berührungsempfindlichen Bildschirm trifft. Und gerade bei der Gestaltung von Soft- und Hardware ist Interface, als Fläche gedacht oder als Ersatzwort für einen Touchscreen, zu kurz gegriffen. Es ist schwierig zu fassen, welche Phasen aufeinandertreffen, wenn ich an einem Bildschirm arbeite. Meine Hand berührt die Computermaus oder ein Touchpad, manchmal berühren die Finger auch nur die Buchstabentasten der Tastatur. Noch heikler wird es dann, wenn ich mich auf die Suche nach der Fläche mache, an der meine Augen den Bildschirm berühren oder wo meine Gedanken einen Text berühren. Je mehr Sinne in eine Mensch-Maschine-Interaktion involviert sind, desto eher kann man von Immersion sprechen: Das heißt, es entwickelt sich in der Interaktion ein neues Gefühl von Präsenz, das mehr in der eigenen Imagination als im realen Umfeld stattfindet. Insofern ließe sich Interface als Übergang vom Realen zum Imaginären denken: Mensch-Maschine-Schnittstellen, die Körper und Sinne einbeziehen, zwingen den Benutzer nicht an einen Arbeitstisch oder in eine bestimmte Haltung. Vielmehr unterstützen sie die Wahrnehmung der eigenen Bewegung. Sie beschreiben den Übergang von ­einem realen in einen imaginären Zustand, der körperlich erfahrbar wird.65 Dies berücksichtigend, fehlt in der Beschreibung des Interface als Raum nun nur noch die Dimension Zeit, sobald zum Beispiel das Hören als SinnA mit einbezogen wird. William Gaver beschreibt „everyday listening“ im Gegensatz zu „musical listening“ als die Erfahrung von Klangqualitäten in einer Form, die uns Ereignisse statt Klängen hören lässt. Wenn wir auf offener Straße ein Motorengeräusch wahrnehmen, konzentrieren wir uns weniger auf die klanglichen Qualitäten (zum Beispiel Tonhöhe, Lautstärke) des Geräusches als eher auf die Größe und Geschwindigkeit des Wagens, der sich uns nähert.66 Insgesamt gibt der Hörsinn Auskunft A  Abkürzung zu „Geräusch und anderes Unterschätztes“, Seite 142.

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über andere Eigenschaften der Umwelt als der Sehsinn: Sehen und Hören sind die zwei Entfernungssinne, über die wir die Umwelt ohne physischen Kontakt erfahren. Während der Sehsinn Aufschluss gibt über Oberfläche und Größe eines Objekts, kann der Hörsinn das Innere eines Objekts, seine Schwere, innere Beschaffenheit oder Dynamik erhellen.67 Auch bei Tätigkeiten, wie beispielsweise dem Füllen oder Leeren eines Gefäßes, kann der Klang eine wichtige Orientierung sein, der parallel zum Sehsinn wichtige Informationen liefert. Für jede sinnliche Information gilt: Ich sehe/höre/empfinde nicht die absolute Information (Klanghöhe, Oberflächenhelligkeit, Temperatur oder Ähnliches), sondern ich nehme die Bedeutung wahr. We do not respond to the physical qualities of things, but to what they mean to us. […] Interfaces are processes and they dissolve artifacts into interaction sequences.68 Genau wie Bonsiepe fordert, dass ein Design sich nicht so sehr auf die zu gestaltenden Artefakte konzentrieren soll, sondern auf den Raum zwischen Nutzer und Artefakt, kann nun ergänzt werden, dass vom Blickpunkt der Gestalterinnen und Gestalter aus Artefakte sich zu Handlungssequenzen aufzulösen beginnen. Interfaces sollten also, um eine brauchbare Metapher für das Design von Interaktionen zu bieten, um einen prozessualen Blickwinkel ergänzt werden, wie es Klaus Krippendorf benennt: „Für die semantische Wende sind Interfaces im Idealfall andauernde und sich intrinsisch motivierende Interaktionen zwischen Menschen und ihren Artefakten.“69

Die Struktur impliziten Wissens und impliziter Vermittlung Vermittlung und Kommunikation

Warum der zentrale Begriff dieser Ausstellung implizite Vermittlung und nicht implizite Kommunikation lautet, lässt sich an der umfassenderen Bedeutung von Vermittlung festmachen. Vermittlung kann bedeuten, ungleiche Teile zueinander in Beziehung und Verständigung zu setzen. Vermittlung macht verständlich und beinhaltet mitteilen, lehren und zeigen. Um Verbindungen herzustellen, im technischen Sinne zu koppeln, zwischen Dingen, die sich sonst nicht verständigen könnten oder die sich auszuschließen scheinen, braucht es ein Vermittlungselement oder zumindest eine Verwebung. Zu guter Letzt deutet es auch auf eine Schlichtung hin, im Sinne von: Vermittlung zwischen unterschiedlichen Interessen und Agenden. Vermitteln impliziert das Dazwischen als eigene Instanz, ohne dass ein substantielles Etwas dazu nötig wäre. Aus dem Begriff Affordance nehme ich auf, dass implizite Vermittlung mir dabei hilft, die Phänomene zwischen Menschen und Dingen zu verorten bzw. Mensch

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und die dingliche Umgebung so in Beziehung zu setzen, dass diese ungleichen Teile miteinander eine Verbindung eingehen. Aus dem Begriff Scripts bietet sich an, dass das Verhalten der User, die Merkmale wahrnehmen, komplementär ist zu den Absichten der Designer und Designerinnen, zum Gestalten von Eigenschaften eines Gegenstandes. Somit geht es mehr um das Gestalten von Handlungsabläufen, nicht nur das Gestalten von Dingen. Aus dem Begriff Closure kommt dazu: Wenige Hinweise, Clues, die Eigenschaften betreffend, genügen – und eine Person erzeugt Vollständigkeit und nimmt Merkmale wahr. Hier möchte ich nun kurz die Struktur impliziten Wissens nach M. Polanyi in Erinnerung rufen, wie schon in Raum [1] genauer diskutiert.70 Polanyi sagt, dass jeder Bedeutung, die ein Mensch wahrnimmt (distaler Term impliziten Wissens), ein impliziter, nicht bewusst angebbarer Teil (proximaler Term) zugrunde liegt. Das bedeutet: Wenn ich ein mir bekanntes Gesicht unter Tausenden erkenne, so geschieht das aufgrund von Einzelmerkmalen, die ich nicht bewusst angeben kann, ich kann mich aber auf ihr Gewahrwerden verlassen. Das bekannte Gesicht entspricht dem distalen Term, der Bedeutung meines Wissens. Dieser Teil ist bewusst zugänglich und angebbar. Woran genau ich das Gesicht erkannt habe, entspricht dem proximalen Term, darüber habe ich kein bewusst angebbares Wissen. Wie in Raum [1] erkundet wurde, stellt implizites Wissen einen großen Teil alles menschlichen Wissens und Erkennens dar, das heißt, alles, worauf sich die bewusste Aufmerksamkeit richtet, geschieht von integriertem (impliziten) Wissen aus – hin zu dem, worin die Aufmerksamkeit Bedeutung erkennt. Die Einzelheiten, von denen aus man sie erkennt, bleiben unbewusst. Ich kann also sagen, wenn ich eine bestimmte Bedeutung nicht erkenne oder etwas nicht verstehe, fehlt mir die Unterlage, das Vorwissen, der proximale Term, um es zu verstehen. Wann immer ich neue Zusammenhänge lerne oder wenn ich mir neues Wissen erschließe, muss dazu das nötige Vorwissen integriert vorhanden sein und damit aus dem fokalen Bewusstsein verschwinden können. Man könnte es mit einer Brille vergleichen: Solange ich die Brille betrachte, ist sie in meinem fokalen Bewusstsein und damit selbst der distale Term. Sobald ich sie aufsetze, wird sie mir unsichtbar, ich habe sie als Werkzeug integriert und das Bewusstsein richtet sich darauf, was ich nun mit der Brille, die jetzt mein proximaler Term ist, sehen kann. Dieser Umstand ist für das Design von Werkzeugen besonders interessant, da man dabei meist darauf abzielt, dass das Werkzeug möglichst gut integrierbar ist und somit möglichst leicht „unsichtbar“ werden kann. Es folgt eine Übersicht der Zusammenhänge in der Struktur impliziter Vermittlung:

ATRIUM – IMPLIZITE VERMITTLUNG  213

(I) … steht für „Individuum“, (P) … proximaler Term, persönlich, muss angebunden oder einverleibt werden, um (D) zu erkennen, zu verstehen oder zu erledigen, und ist nicht bewusst angebbar. (D) … distaler Term. Entfernt, bewusst, bedeutungstragend. Aber erst – und nur dann! – erkennbar, wenn (I) durch (P) auf ihn sieht. (P ist wie eine farbige Brille: Man sieht nicht dasselbe ohne sie.) Das (I) versteht (D), indem es (P) integriert, sich einverleibt. (P) muss aus dem Bewusstsein verschwinden, um den Blick auf D freizugeben.

Unverständliche Faktenlage: Ich bin umgeben von Fakten, die mir unverständlich sind. (Beispiel Suchbild: Es ist noch keine Gestalt erkennbar.) Zwischen (D), das für das Individuum (I) noch nicht vorhanden ist, da ja noch kein Sinn, keine Bedeutung wahrgenommen wird, und dem Individuum selbst besteht noch keine Verbindung. Was mich also vom Verstehen, ­Begreifen abhält, ist das fehlende Integrationselement (P), ein proximaler Term, den ich leicht integrieren kann und der mir (D) erschließt. Sobald sich ein (P), ein integrierbarer Bestandteil findet, wird auf einmal die Bedeutung, der distale Term (D), klar oder sichtbar. (Beispiel Suchbild: Ein klarer, mir verständlicher Hinweis genügt und ich erkenne im Suchbild plötzlich eine Bedeutung.)

Tab. 4: Zusammenhänge in der Struktur impliziter Vermittlung

Als Designerin gibt es nun mehrere Möglichkeiten, wie ich mir dieses Konzept zu Nutze machen kann: • Ich kann sowohl den Designprozess als auch das gewünschte Ergebnis in einen distalen Term (D) und einen proximalen Term (P) aufgliedern. Will ich, um einen gewünschten Zweck zu erreichen, eine neue Lösung, einen neuen Prozess oder einen neuen Service anbieten, ist ein (D) (distal, eine Bedeutung) bekannt, und ich sollte (P) (proximal, die Bedienung, den Werkzeug-Aspekt) so gestalten, dass der Term möglichst gut integrierbar ist, also so anschlussfähig wie nur möglich ist. • Ich will prinzipiell Dinge zu proximalen Termen werden lassen, sofern es sich um Werkzeuge handelt (in der Um-zu-Struktur). • Ich kann überprüfen, ob (I) (das Individuum) ein bestimmtes (P) integriert hat, indem ich (I) bitte, (D) zu tun (und ich sehe, ob die Aufgabe erfüllt werden kann, weil dafür die Bedingung ist, dass I (P) integriert hat). Man kann diese Vorgänge auch als Tacit Knowledge Transfer sehen: nicht zwischen Menschen, sondern auch zwischen Menschen und Nicht-Menschen. Artefakt und bestimmte Situationen provozieren bei Nutzerinnen und Nutzern jeweils eine

214  STUMMES WISSEN 

­ eaktion, ein Gegenstück, ein passendes Komplementär, sodass sie in einer SiR tuation ein gewünschtes Ziel erreichen können. Ein Beispiel: Menschen, die vertraut sind mit der Benutzung eines Touchscreens, werden am Bahnhof bei einem Ticketautomaten mit einem Bildschirm diesen auch versuchsweise berühren und können dann durch die Benutzung geführt werden. Beim Kontakt mit neuen Interfaces wird zuerst intuitiv das vorhandene Repertoire an Umgang mit Interfaces getestet. Elementar ist, dass sich die Recherche für einen Designprozess so gestalten muss, dass Designerinnen und Designer selbst Zugang zum Feld bekommen und auch auf intuitive Weise vorhandene Selbstverständlichkeiten und Abläufe erforschen dürfen. Vorhandene proximale Terme können auch potenziell als solche im anschließenden Design dienen. Da Befragungen niemals einen nicht bewusst angebbaren Teil des Wissens zutage fördern können, halte ich Fragebögen und ähnliche Recherchemethoden für wenig bis gar nicht geeignete Mittel, um sich Merkmalswahrnehmung zu erschließen. Eigenschaft und Merkmal

Die bisher gültigen Kommunikationsmodelle im Design veranschaulichen den Kommunikationsweg zwischen mir als Designerin und einer beliebigen Person meist etwa wie folgt:

Bild 67: Exemplarisches Kommunikationsmodell Design

Ein Individuum (I) nimmt ein Artefakt (A) wahr, so wie es von Gestalterin oder Gestalter (G) designt wurde. In dieser Sichtweise sind alle Attribute eines Designobjekts in das Artefakt hineingestaltet. Wenn aber diese Kommunikation nicht wie geplant funktioniert, bietet dieses Modell nur schwer Anhaltspunkte, woran es liegen kann, dass die gewünschte Vermittlung nicht stattfindet. Sobald man nun das Modell der proximalen und distalen Terme des impliziten Wissens nach Polanyi mit einbezieht in die Analyse impliziter Vermittlung, ist eine Unterscheidung wichtig, die Polanyi als deiktische Lücke bezeichnet: Wenn ich jemandem etwas erkläre, muss ich mich bis zu einem gewissen Grad darauf verlassen, dass mein Gegenüber selbstständig die richtigen Schlüsse zieht, weil etwas in meiner Erklärung nicht vorhanden sein konnte. Den jeweils eigenen proximalen Term kann ich für mein Gegenüber nicht integrieren, das bleibt ganz und gar ihm oder ihr zu tun.

ATRIUM – IMPLIZITE VERMITTLUNG  215

Diese Lücke gebe ich bei der impliziten Vermittlung im Designprozess mit der Unterscheidung zwischen Merkmal und Eigenschaft wieder: • Ein Merkmal (M) ist eine wahrgenommene Eigenschaft, eine Interaktions­­­mög­ lichkeit unabhängig vom konkreten Objekt (essbar, elegant, zur Marke XY gehörig …). • Eine Eigenschaft (E) ist ein prädikatives, gestaltbares Element des Merkmals (ist aus Holz, glänzt, hat einen bestimmten Kantenradius etc.), das heißt im Design können Eigenschaften gestaltet werden, User nehmen Merkmale wahr. Genauer gesagt: Die Eigenschaften werden im Idealfall zum proximalen Term, von dem aus die Merkmale als distaler Term erschlossen werden (siehe Bild).

Bild 68: Implizite Vermittlung

Diese Unterscheidung von Merkmal und Eigenschaft ist wichtig für die theoretische Konstruktion impliziter Vermittlung, denn sie spiegelt exakt, warum anhand der Eigenschaften eines Objekts (die ich als Designerin gestalte) noch nicht automatisch die gewünschten Merkmale (leicht verständlich, elegant, zu einer Marke gehörig …) gestaltet sind. In obiger Grafik wird auch deutlich, dass sich implizite Vermittlung zwischen Individuum und Artefakt ereignet, also weder nur dem Ding noch nur dem Menschen zuzuordnen ist. Dort, wo sich Merkmal und Eigenschaft überlagern, geschieht implizite Vermittlung. Wichtig ist, anzuerkennen, dass ich kein Merkmal direkt gestalten kann, da die implizite Vermittlung eines Merkmals etwas ist, was sich zwischen dem Betrachter und dem Ding ereignet. Ich kann mich als Designerin natürlich bemühen, die Wahrnehmung eines Merkmals zu evozieren, doch ich gestalte nur Eigenschaften. Merkmalswahrnehmung hängt vom Individuum, dessen Vorwissen, Situation etc. ab. Vermitteln impliziert das Dazwischen als eigene Instanz.

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Polanyi, 1985, S. 14. Vgl. Polanyi, 1985. Vgl. Gibson, 1979b. Vgl. Bürdek, 1991, S. 218 ff.; Heufler, 2004, S. 48 ff. Heufler, 2004, S. 24 f.; Schneider, 2005, S. 198; Bürdek, 1991, S. 182. Vgl. Jochen Gros, 1983: Grundlagen einer Theorie der Produktsprache, Einführung. In Steffen, 1997 erläutert, Darstellung ähnlich Steffen, 2000, S. 34. Vgl. Gibson, 1979b. Vgl. Gibson, 1979a. Norman, 1988, S. 9. Zit. n. Bürdek, 1991, S. 223. Norman, 1999, S. 39. „When you first see something you have never seen before, how do you know what to do? The answer, I decided, was that the required information was in the world: the appearance of the device could provide the critical clues required for its proper operation” (Norman, 1999, S. 38). Ibid., S. 39. Anm. d. A.: Software- und Screendesign wird oft synonym mit „Interface Design“ verwendet, auf das ich im nächsten Abschnitt noch näher eingehe. Anm. d. A.: Norman verwundert außerdem, dass der Begriff in seiner bewegten Geschichte ein sonderbares Eigenleben in verschiedenen Disziplinen wie der Wahrnehmungspsychologie, dem Design- und Ingenieurwesen führt, ohne dass die jeweiligen Diskussionen besondere Notiz von den parallel stattfindenden nehmen würden (vgl. Norman, 1999). Norman, 1999, S. 40. Anm. d. A.: Gibson wehrte sich gegen diese Auffassung. Die Details dieser Entzweiung beschreibt D. Norman folgendermaßen (1999b): „I originally hated the idea: it didn’t make sense. I cared about processing mechanisms, and Gibson waved them off as irrelevant.“ Seine Anmerkung zur zitierten Definition aus 1988 lautet: „The notion of affordance and the insights it provides originated with J. J. Gibson, a psychologist interested in how people see the world. I believe that affordances result from the mental interpretation of things, based on our past knowledge and experience applied to our perception of the things about us. My view is in somewhat conflict with the views of many Gibsonian psychologists, but this internal debate within modern psychology is of little relevance here.“ Hier prallten also Grundeinstellungen zu Wahrnehmung aufeinander. Wie ich weiter schildere, finde ich diese Unterschiede alles andere als irrelevant. Norman, 1999, S. 39. Ibid., S. 42. Vgl. Norman, 1999. Gibson, 1979a, S. 129. Gibson selbst tat sich damit schwer, vgl. Dorst, 2006. Um sich der Frage zu nähern, was in der Umwelt die Wahrnehmung von Affordances begünstigt, führte Gibson in seinen späteren Arbeiten einen komplementären Hilfsbegriff ein: „Effectivity“ – was allerdings das zentrale Argument der Überwindung einer Unterscheidung Subjekt/Objekt, „points both ways“, schwächt. Vgl. auch Kannengiesser & Gero, 2012. Anm. d. A.: Ich erinnere an die Parallelität zur im Foyer gemachten Bemerkung, dass in dieser Ausstellung nicht vorrangig Dinge gezeigt werden, sondern Situationen. Chemero, 2001, S. 113. Siehe Chemero, 2001, S. 114. Chemero spricht von „nonpredicational environment properties“: „Consider sentences such as ‘It’s raining,’ ‘It’s too cold in here,’ and ‘It’s dinnertime’. In each case, a property is being ascribed to the environment without being assigned to any particular object in the environment. [These …] are called feature placing sentences.“ Chemero, 2003, S. 184. Tonkinwise, 2008, S. 10. Andy & Chalmers, 1998, Einleitung. Böhme, 2006, S. 54. Tonkinwise, 2008, S. 11. Ibid., S.10. Vgl. z. B. Latour, 2010. Tonkinwise, 2014, S. 8.

ATRIUM – IMPLIZITE VERMITTLUNG   217

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Anm. d. A.: Welche, und wie – das wird in Raum [3] ausführlich behandelt werden. Vgl. Scarry, 1985. Tonkinwise, 2014, S. 6. Ibid., S. 6. Sie an einen nichtmenschlichen Akteur delegieren – wie Latour wahrscheinlich sagen würde, vgl. ­Johnson alias Latour, 2006. 41 Vgl. Latour, 1991. 42 Tonkinwise, 2014, S. 8. 43 Vgl. Moggridge, 2007, in der Einleitung: Der Titel des Buches verrät schon, dass es dem Erkunden der Gestaltung von Handlungsabläufen gewidmet ist. 44 Anm. d. A.: Beispiele für nicht intendierte, aber immer wieder provozierte Handlungsabläufe wären irreführende Türbezeichnungen, sodass immer wieder die falsche Tür zu öffnen versucht wird. Ebenso knopfartige Erhöhungen an einer Maschine, die sich nicht versenken oder bedienen lassen, sozusagen „blinde“ Knöpfe. 45 Vgl. Pinch & Bijker, 1984. 46 Latour, 1992, S. 174 f. 47 Der Ulmer Hocker, entworfen von Max Bill 1954, https://de.wikipedia.org/wiki/Ulmer_Hocker (Zugriff: Februar 2015). 48 Latour, 2006, S. 371. 49 Pinch & Bijker, 1984, S. 40. 50 Ibid., S. 46. 51 „When you first see something you have never seen before, how do you know what to do? The answer, I decided, was that the required information was in the world: the appearance of the device could ­provide the critical clues required for its proper operation“ (Norman, 1999, S. 38). 52 Vgl. z. B. Hoffman, 2003, S. 30 ff. 53 Gemeint ist: Wertheimer, 1923, S. 348. 54 Siehe Lidwell, Holden & Butler, 2004, vgl. S. 34, S. 98, S. 120. 55 Vgl. Hoffman, 2003. 56 McCloud, 1994, S. 49. 57 Ibid., S. 53. 58 Vgl. Polanyi, 1961. 59 Seit 2003 z. B. an der FH Potsdam: http://www.fh-potsdam.de/studieren/design/studiengaenge/­ interfacedesign/ (Zugriff: Februar 2017) oder z. B. an der Bauhaus Universität Weimar. 60 Norman, 1999, S. 40. 61 Vgl. „Link“ in Interface Design, S. 255 f. in Erlhoff & Marshall (Hrsg.), 2008. 62 Bonsiepe, 1994, S. 14. 63 Bonsiepe, 1993, S. 31. 64 Ibid., S. 31. 65 Fleischmann & Strauss, 2001, S. 2. 66 Gaver, 1993, S. 2. 67 Ibid., S. 2. 68 Krippendorf, 2000, S. 59. 69 Ibid., S. 112. 70 Siehe „Die Struktur impliziten Wissens“, S. 65.

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Raum [3] – Von der ­Notwendigkeit, ­bewusst zu ­gestalten

There are these two young fish swimming along and they happen to meet an older fish swimming the other way, who nods at them and says ‘Morning, boys. How’s the water?’ And the two young fish swim on for a bit, and then eventually one of them looks over at the other and goes ‘What the hell is water?’1 david foster wallace Implizite Vermittlung als Konzept hat weitreichende Implikationen. Wie gezeigt, stehen Menschen in vielfältiger Weise in Kommunikation mit den Dingen. Analog zu Watzlawicks Erkenntnis: „Man kann nicht nicht kommunizieren“2 soll geltend gemacht werden: Man kann nicht nicht gestalten. Gestaltung ist eine zutiefst menschliche Herangehensweise an die Welt. Welche Hintergründe dabei handlungsleitend werden, wird in diesem Raum gezeigt. Was hat es nun mit der Geschichte von den Fischen auf sich? David Foster Wallace fährt nach der Frage „What the hell is water?“ folgendermaßen fort: „[…] I am not the wise old fish. The point of the fish story is merely that the most obvious, important realities are often the ones that are hardest to see and talk about.“ Welches Wasser umgibt mich beim Gestalten? Es ist nötig, dass Designerinnen und Designer sich mit ihren Selbstverständlichkeiten, ihrem Wasser auseinandersetzen, um es benennen zu können und zu erkunden, wie ein verantwortungsvoller Umgang mit dem Gestalten von Selbstverständlichkeiten, dem Gestalten impliziter Vermittlung, aussehen könnte, denn: • Man kann nicht nicht gestalten. • Man kann die Dinge nicht nur bewusst gestalten, man sollte sie bewusst gestalten. • Dinge sind oft unerbittlich im Einfordern von bestimmtem Verhalten. Ist nun die Notwendigkeit bewussten Gestaltens erkannt, beginnen damit in der Praxis die Probleme oft erst. Gestaltung findet nicht im luftleeren Raum statt, sondern in nicht zu unterschätzenden Kräftegefügen, die hier in Raum [3] aufgezeigt werden. Diese Ausstellung soll mehr als eine Entwerfen bedeutet, sich den Paradoxien und reine Gedankenübung sein. Es gilt, die ErWidersprüchen auszusetzen, sie niemals unter kenntnisse nun wirksam werden zu lassen einer harmonisierenden Schicht zu verdecken, in einer bunten, aber von mächtigen, oft wiund es bedeutet darüber hinaus, diese Widerdersprüchlichen Interessengezerrten Praxis. sprüche explizit zu entfalten. In einer von Machtgefüge, ja Ideologien manifestieren Wider­sprüchen heimgesuchten Gesellschaft sich durch und werden wirksam in unseren ist auch das Entwerfen und Gestalten von Dingen. Dinge, auf die wir als Gestaltende ­Widersprüchen geprägt.3 Einfluss nehmen. Wir können uns der Sichtweise stellen, dass wir beim Gestalten Weltbilder (mit-)gestalten und unterstützen – egal ob bewusst oder unbewusst – und uns trotzdem (oder gerade deswegen?) Gestaltungs- und Handlungsspielraum erobern.

222  RAUM [3] – VON DER ­N OTWENDIGKEIT, ­B EWUSST ZU ­G ESTALTEN 

[RAUM 3] – [EXPONAT 14]  3.1 MENSCH UND TECHNIK

Exponat 14: Türen, die in die Irre führen

Die oberen Bilder zeigen Glastüren einer Grazer Universität. Das Hinweisschild über dem Türgriff ist so abgenutzt, dass man nicht mehr erkennen kann, ob es jemals „drücken“ oder „ziehen“ als Anweisung zeigte. Das untere Bildpaar zeigt eine Tür, die durch die senkrechten Griffe anzeigt, dass sie eine Schwingtür ist, das heißt, es wäre egal, ob man sie aufdrückt oder aufzieht – allerdings handelt es sich um eine selbsttätig öffnende Tür.

„Nur ich“, sage ich mir, „nur mir geht es so. Ich bin wohl zu dumm, ein … (beliebiges Gerät einsetzen) … zu bedienen. Und nun? Kann ich nicht einmal mehr mit Türen umgehen?“ Ein langer Korridor, ein weiter Weg, Tür folgt auf Tür. Manchmal sind sie durch Ziehen zu öffnen, manchmal durch Drücken. Meistens ist der entsprechende Hinweis direkt über der Türklinke angebracht. Allerdings ist die Tür, vor der ich nun stehe, offen-

[EXPONAT 14]  3.1 MENSCH UND TECHNIK  223

sichtlich eine viel benutzte, und der Hinweis fehlt. „Wie kann, bitte schön, hier über dem Griff ein Abrieb stattfinden?“, frage ich mich gerade, als mich jemand sanft beiseiteschubst und die Tür einfach aufdrückt, ohne die Klinke zu benutzen. Wenig später, als ich die Bibliothek verlasse, schafft es erneut eine Tür, mich beinahe vor den Kopf zu stoßen: Handelt es sich nicht eindeutig um Schwingtüren? Keine Griffe, sondern Längsstangen, die doch andeuten, dass ich selbst entscheiden kann, ob ich die Tür aufdrücke oder aufziehe? Als ich die Hand nach der Tür ausstrecke, fährt meine Hand beinahe ins Leere – die Tür kommt mir zuvor und öffnet sich freiwillig. Langsam, aber doch. Ganz automatisch.

Wegbeschreibung – der Pfad von diesem Exponat zum nächsten führt über: 3.1.1 Türen, die in die Irre führen – Zur Rolle von Technologien im Alltag  ≥  3.1.2 Vermittlung | Mensch und Technik – Wie kann die Verantwortung für ein Handeln verortet werden?  ≥  3.1.3. Bedienung – Bedienen und bedient werden

3.1.1  Türen, die in die Irre führen Eine Tür kann mir helfen, das Verhältnis zwischen Mensch und Technik (insbesondere das durch Design gestaltete Verhältnis) zu erkunden. Bei der in der Abbildung gezeigten Tür ist zwar durch den Türgriff ein­ ffen deutig zu erkennen, wo die Hand zum Ö hingreifen kann. Doch gerade in diesem Beispiel gesellt sich noch die Schwierigkeit hinzu, dass man kaum auf den ersten Blick erkennen kann, ob man zum Öffnen der Tür drücken oder ziehen muss. Laut Jim Johnson alias Bruno Latour sind Türen reversible Löcher in Wänden, einmal Wand, einmal Durchgang. Falls die Menschen immer wieder vergessen sollten, die Tür nach dem Durchgehen auch zu schließen, könnte ein Portier Abhilfe schaffen. Dieser sorgt dafür, dass die Tür bei Nichtgebrauch geschlossen bleibt. Dieses Element der Portierstätigkeit lässt sich auf einen nichtmenschlichen Akteur übertragen: Ein mechanischer Türschließer kommt zum Einsatz. Falls nun Kinder, die noch nicht genügend Kraft besitzen, die

Wände sind eine nette Erfindung, aber wenn es keine Löcher in ihnen gäbe, gäbe es keine Möglichkeit, hinein- oder hinauszukommen; sie ­wären Mausoleen oder Gräber. Das Problem ist, dass alles und jedes hinein- oder hinauskann (Bären, Besucher, Staub, Ratten, Lärm), wenn man Löcher in die Wände macht. Also haben Architekten diesen Hybriden erfunden: eine Lochwand, oft auch Tür genannt […]. Weiter – und hier ist der wirkliche Trick – muss man, nachdem man einmal durch die Tür gegangen ist, nicht nach Maurerkelle und Zement suchen, um die Wand wieder aufzubauen, die man gerade zerstört hat; man drückt die Tür einfach sanft zurück (ich ignoriere hier für einen Augenblick die zusätzliche Komplikation der „Ziehen“- und „Drücken“-Symbole).4

224  RAUM [3] – VON DER ­N OTWENDIGKEIT, ­B EWUSST ZU ­G ESTALTEN 

Bild 69: Zusätzliche Komplikation: Drücken oder Ziehen?

Tür aufzudrücken, Menschen mit viel Gepäck oder mit einem Kinderwagen die Tür benutzen wollen, kann sich der Türschließer als unhöflich oder diskriminierend erweisen, da er keinerlei Rücksicht auf verschiedene Nutzungssituationen nimmt. Menschliche Attribute wie höflich oder diskriminierend auf Dinge zu übertragen spricht deutlich über das Verhältnis zu unserer gestalteten Umwelt; so fährt Jim Johnson fort: Wir haben sicher alle schon einmal erlebt, wie eine Tür mit einem starken Federmechanismus uns ins Gesicht schlägt. Sicherlich erledigen Federn die Aufgabe des Portiers, aber sie spielen die Rolle eines sehr unhöflichen, ungebildeten Portiers, der offensichtlich die Wandversion der Tür der Lochversion vorzieht. Sie schlagen die Tür einfach zu. Das Interessante an solchen unhöflichen Türen ist dies: Wenn sie die Tür so gewaltsam zuschlagen, bedeutet dies, dass Sie, der Besucher, sehr schnell beim Durchgehen sein müssen und dass Sie nicht direkt hinter jemandem gehen sollten; andernfalls wird Ihre Nase gestaucht und blutig. Ein inkompetenter nichtmenschlicher Portier setzt also einen kompetenten menschlichen Nutzer voraus. Es ist immer eine gegenseitige ­Abstimmung.5 Wie diese Abstimmung vonstattengeht, soll auf den folgenden Seiten erkundet werden.

3.1.2  Vermittlung | Mensch und Technik Das Verhältnis der Menschen zu den Dingen ist durch Gestaltung verhandelbar. Das Bestreben, der Wille, die eigenen Besitztümer und die Umgebung – und seien es auch die elementarsten Werkzeuge – uns zu eigen zu machen, zu optimieren

[EXPONAT 14]  3.1 MENSCH UND TECHNIK  225

und in jeder Hinsicht zu verbessern, scheint ein grundlegendes Bedürfnis zu sein. Ein stetiger Drang zur Entwicklung und Verbesserung führt zu immer neuen Vorläufigkeiten. Bedingungen für den Umgang mit NeuDie menschlichen Grundbedürfnisse – sich ererungen ändern sich stetig. Zuvor nicht Genähren, sich kleiden, behaust sein – sind von unkanntes ist schwer einzuschätzen, es könnte seren Vorfahren ausgestaltet worden mit aberauch Schaden verursachen, daher werden tausend Dingen, die uns bei der Befriedigung Normen verhandelt und Gesetze beschlosdieser Bedürfnisse helfen und sie umspielen. sen, um negative Folgen und Leid möglichst Die Dinge helfen uns funktional. Man hält das zu begrenzen. Doch während sich mit jeder Fleisch an einem Spieß oder in einem Gefäß Nutzung das Potenzial der Umnutzung, Verübers Feuer, man braucht nicht die Finger mitbesserung und Weiterentwicklung vervielfälzugrillen. Aber damit nicht genug. Die Dinge, wie tigt, kann die Bemühung, technologischem sie sind, fordern uns zur Verbesserung, zum Fortschritt mithilfe von Gesetzen und Richttechnischen Fortschritt heraus. Und zugleich linien gerecht zu werden, eben nur gerade wollen wir uns an ihnen ästhetisch erfreuen. so weit reichen, wie eine Beurteilung zu eiFrüh in der Geschichte der Artefakte wird das nem bestimmten Zeitpunkt eben möglich Gefäß, der Messergriff mit einem Muster geist. Was also die Konsequenzen der Nutzung schmückt. „Im Magen kommt’s eh zusammen“ und der damit eingeleiteten Weiterentwickoder „Hauptsache, ich hab’s warm und trocken“ – lung betrifft, sind die technischen Möglichdas ist keine menschliche Einstellung zu den keiten und Gegebenheiten meist den sie reDingen. Dann gäbe es keine Kulturgeschichte.6 gulierenden Gesetzen voraus. Neri Oxman, Professorin am MIT, mahnt daher, dass Fantasie und unser Gestaltungsvermögen nicht völlig frei von jeglicher Verantwortung sein können: „Technology catches up with imagination, and so, therefore, imagination has responsibility.“7 A Eine wichtige Schnittstelle, an der Designerinnen und Designer ins Spiel kommen, ist genau dort, wo Technologien und mögliche Nutzungen aufeinandertreffen. Paola Antonelli, Kuratorin der Designausstellung „Design and the Elastic Mind“ (2008) am Museum of Modern Art in New York, ist nicht nur eine Sammlerin von Objekten zu den jeweiligen Themen der Ausstellungen, sie ist auch eine Sammlerin von Designdefinitionen. Eine ihrer bevorzugten Definitionen lautet:  … really good design is what takes revolutions and progress and makes it into objects that we can use. So I like the push-forward that designers give to us by taking innovation and … bringing it home, in a way.8 Diese Sichtweise betont die wichtige Rolle von Designschaffenden, Innovationen und revolutionäre Technik in benutzbare Dinge zu verwandeln, die wir alle dann verwenden (können), für die (wie eben festgehalten) aber noch keine oder A  Abkürzung zu Design und Verantwortung, Seite 284.

226  RAUM [3] – VON DER ­N OTWENDIGKEIT, ­B EWUSST ZU ­G ESTALTEN 

sehr ­wenige gesetzliche Vorgaben vorhanden sind. Diese Definition macht meiner Ansicht nach einmal mehr deutlich, dass Designerinnen und Designer an Schlüsselstellen der Gestaltung gesellschaftlicher Realität arbeiten und ihnen deswegen eine gewisse Verantwortung für ihre Entwürfe zufallen sollte. Wo diese Verantwortung zu verorten ist, ist allerdings eine schwierige Frage. Welcher Teil der Handlung bei der Technik liegt und welcher beim Menschen, ist eine Frage, die unter anderem die Wissenschafts- und Technikforschung beschäftigt. „Der Mythos des neutralen Werkzeugs unter vollständiger menschlicher Kontrolle und der Mythos der autonomen Bestimmung, die kein Mensch beherrschen kann“9 sind die traditionellen Extreme dieser Diskussion. Die Definition von Technik als „Aufzwingen einer bewusst geplanten Form auf formlose Materie“10 lässt sich nach den letzten Exponaten nicht mehr halten. Doch ist auch der Gegenpol, dass Technik wie selbstständig handelnd unser Verhalten unumgehbar beeinflusst, so nicht zutreffend.A Die Möglichkeiten eines Handelns und damit auch die daran gebundene Verantwortung lassen sich laut Bruno Latour auf Akteur-Aktanten-Verbindungen verteilen. Er geht so weit zu sagen: „Handlung ist eine Eigenschaft assoziierter Entitäten.“11 Weder allein ein Vermögen einer Person noch eine Leistung von Gegenständen, sondern erst durch die Verbindung von Aktanten oder Akteuren zu einem Akteur-Netzwerk wird Handeln ermöglicht: Eine Axt-im-Werkzeugschrank ist eine andere als eine Axt-in-der-Hand, so wie eine Person sich verändert, wenn sie eine Axt in der Hand hält. Der Baum fällt erst durch die Person-mit-Axt, nicht durch eine der beiden. Wie viel Handlungsspielraum die einzelnen Akteure einander dabei lassen, dem bin ich schon beim Thema Scripts (Seite 205) nachgegangen. Auch dies ist eine Frage des Designs: Etwas funktional, gut bedienbar machen bedeutet so viel wie an der impliziten Vermittlung zu arbeiten, an den Assoziationsmöglichkeiten, die zwischen Mensch und Technik vermitteln und Handlungen ermöglichen oder einschränken. Präskription heißt ein sehr geschlossenes Script, welches dann entsteht, wenn von nichtmenschlichen Akteuren bestimmtes Verhalten auf Menschen gewälzt wird. Einen „schlafenden Polizisten“,12 ein nach oben gewölbtes Asphalthindernis, findet man zuweilen auf Straßen, in denen langsam gefahren werden soll. Wenn das Auto keinen Schaden davontragen soll, muss die Hürde vorsichtig und langsam genommen werden. Ingenieure, Bauleute oder Gesetzesträger sind nicht körperlich anwesend, doch ihre Absicht, ihre Handlungsanweisung liegt präskribiert, delegiert, in Beton gegossen auf der Straße.

A  Abzweigung: siehe zum Beispiel Non-intentional Design, Seite 165.

[EXPONAT 14]  3.1 MENSCH UND TECHNIK  227

3.1.3 Bedienung Vor allem im Interaction Design und im Produktdesign liegt ein Hauptaugenmerk auf dem Kontrollierbar-Machen von Objekten. Ein Druck auf den richtigen Knopf oder (in der Version sprachgesteuerter SysDesign ist ja nie etwas, das sich nur an die Proteme) das richtige Wort – und die Maschine dukte verschwendet; die technische Ökonomie, tut, was von ihr erwartet wird. Doch ganz so die hier hinter den Entwürfen steht, bemächtigt einfach und überschaubar ist die Bedienung sich der menschlichen Natur und setzt Gebrauselten. cherbewusstsein und Dinge in ein unmittelbares Dinge und Menschen sind in vielfacher Einvernehmen. […] so soll dieser bereits industWeise einander zugewandt, durch Design riell überformte Leib sich wie selbstverständlich sind viele technische Neuerungen – wie oben zwischen den exakten Formen einer symbolisch erwähnt – mehr Menschen zugänglich geaufgeladenen technischen Welt bewegen, deren worden. Doch diese Zugänglichkeit scheint Handhabung schon in unbewußten Griffen und den Preis einer gewissen Abhängigkeit geReflexen angelegt ist.13 genüber der gestalteten Welt einzufordern. Dinge wollen auf eine bestimmte Weise gebraucht werden, die Funktionen und Interaktionsmuster setzten sich im Bewusstsein der Menschen fest. Bestimmte Nutzungen und Umfelder bedingen einander, diese können soziale Unterschiede Es war, was man fortan unter Design überhaupt verstärken. verstehen sollte, das Glänzend-Neue, umEs geht nicht nur um möglichen Besitz standslos zu Genießende […] Durch Art und Umin privaten Räumen, durch den man sich zufang des Gebrauchs dieser neuen Objekte wurgehörig oder ausgeschlossen fühlt. Nicht jeden auch soziale Abgrenzungen vorgenommen der weiß, wie man sich inmitten neuester und die Bereitschaft auserwählter Konsumentechnischer Errungenschaften verhalten ten, sich mit dem Produktionssystem und seiner kann oder soll. Beispielsweise war es eine Entwicklung zu identifizieren, unterstützt.14 Zeit lang völlig unsinnig, teils auch verpönt, Bildschirme anzufassen – wozu auch? Eine interviewte 79-Jährige15 gibt an, sie wäre früher nie auf die Idee gekommen, die Bildschirmflächen bei Ticketautomaten am Bahnhof anzufassen. Erst durch ihre Auseinandersetzung mit einem eigenen Computer, den sie vor einigen Jahren bekam, lernte sie Bedienungsmöglichkeiten  … it is bad, when the devices fail, or when they wie Touchscreens kennen. Viele Bildschirme transform productive, creative people into serim öffentlichen und halböffentlichen Raum vants continually looking after them, getting sind heutzutage genau dazu da, dass man sie their machines out of trouble, repairing and mit Händen berührt, ansonsten geben sie maintaining them. This is not the way it’s supihre Informationen nicht preis. posed to be, but it’s certainly the way it is.16 Wer nie Zugang zu bestimmten Möbeln, Autos oder Wohnungen hatte, den betreffen andere Sachzwänge als die auserwählten Konsumentinnen und Konsumenten, die sich mit den stets neuesten Gadgets befassen, oft Vorreiter sind für

228  RAUM [3] – VON DER ­N OTWENDIGKEIT, ­B EWUSST ZU ­G ESTALTEN 

richtungsweisende Gewohnheiten und sich mit der Bedienung ihrer immer neuen Geräte auseinandersetzen müssen. Sprachlich dreht sich hier das Verhältnis plötzlich um: Wer bedient wen? Technische Geräte im Jahr 2020 agieren noch nicht völlig autonom, noch braucht es uns Menschen, um die meisten Maschinen zu bedienen. Doch in diesem Ausdruck steckt eine nicht von der Hand zu weisende Tatsache: Von Zeit zu Zeit dienen wir den Geräten. Wer dient hier wem?

[EXPONAT 14]  3.1 MENSCH UND TECHNIK  229

[RAUM 3] – [EXPONAT 15]  3.2 WEM DIENT ­DESIGN?

Exponat 15: Spielzeug

Ein flauschiger kleiner Spielzeugbär aus Kunststoffen. Dieser Materialmix wäre oft sehr leicht entzündlich, wäre er nicht mit Brandhemmern imprägniert. Allerdings sind sie dadurch möglicherweise gesundheitsschädigend.

Eine Freundin hat mich zu Besuch eingeladen. Ihrer jüngsten Tochter wollte ich ein kleines Spielzeug mitbringen, ein kleines Kuscheltier. Ich sehe mich in der Spielzeugabteilung eines Kaufhauses um und bemerke ellenlange Zettel und Beschreibungen an jedem Kuscheltier. Zeichen, Gütesiegel, dass dieses Qualitätsspielzeug ungiftig ist – eine zu betonende Besonderheit? Sollte man nicht davon ausgehen können, dass Spielzeug für Kinder prinzipiell ungiftig ist? Ich erkundige mich bei einer Verkäuferin, um etwas Licht in den Sachverhalt zu bringen. Sie erzählt mir, dass es strenge Auflagen für Spielzeug, Sofas, Vorhänge und Stoffe im Allgemeinen gibt, was die Brennbarkeit anbelangt. Je mehr Kunststoffe wir in unsere Haushalte bringen, desto höher entzündlich würden diese Wohnräume sein, schon ein kleiner Funke könnte einen Brand auslösen, der nach wenigen Minuten nicht mehr kontrollierbar wäre. Deshalb sind Stoffe von Vorhängen, Sitzmöbeln und Spielzeug mit Brandhemmern imprägniert, um einen etwaigen Brand möglichst lange klein und löschbar zu halten. Diese Imprägnierungen sind jedoch bei Einnahme gesundheitsschädlich – da Kleinkinder aber ihre Welt noch mit dem Mund erkunden, sollten sie nicht an Vorhänge oder Sitzmöbel oder nicht ausgewiesen unbedenkliches Kuschelspielzeug geraten. Egal ob es um Möbel, Vorhänge oder Kinderspielzeug geht – sind „nicht brennbar“ und „ungiftig“ wirklich zwei unvereinbare Pole?

230  RAUM [3] – VON DER ­N OTWENDIGKEIT, ­B EWUSST ZU ­G ESTALTEN 

Wegbeschreibung – der Pfad von diesem Exponat zum nächsten führt über: 3.2.1 Design und Marktwirtschaft – Schwer zu ziehende Grenzen  ≥  3.2.2 User-­ centered Design – Design für Menschen – Für wen wird gestaltet?  ≥  3.2.3 Weltbild bestimmt Gestaltung – Design, um die Realität zu bändigen

Technology is Society made durable.17 Angelehnt an das, was Bruno Latour vorausschickt, lassen sich mittels Design von Technologien bestimmte Verhaltensweisen stabilisieren. Ob Menschen verantwortungsvoll handeln (können), ist auch Heute müssen sich Designer bei ihrer Arbeit durch ihre Umgebung bedingt. Viktor Papamit den Prioritäten und Verantwortungen ihrer nek vertrat schon in den 1980er Jahren die Zunft auseinandersetzen, wie etwa mit dem Ansicht, dass dem Design eine besondere Schutz der Umwelt, mit einer neu definierten Verantwortung zukommt: Verantwortlichkeit für ihre Mitmenschen, technischen Errungenschaften in Herstellung und Vertrieb, mit einer neuen Wertschätzung der Privatsphäre und des persönlichen Besitzes von Dingen und Räumen, mit der Immaterialität innovativer Entwurfsmethoden, den von vielen Objekten ermöglichten interaktiven Umgang und mit dem Wiedererwachen lokaler Kulturtraditionen als Reaktion auf die Globalisierung der Märkte, um nur einige Faktoren zu nennen.19

Es wird langsam Zeit, dass die industrielle Formgebung, wie wir sie kennen, stirbt. Solange sich Design mit der Gestaltung von trivialen „Spielzeugen für Erwachsene“, Mordwaffen mit Hochglanzheckflossen und „sexy aufgemachten“ Gehäusen für Schreibmaschinen, Toaster, Telefone und Computer beschäftigt, hat es seine Existenzberechtigung verspielt.18

Die Aktualität solcher Einwürfe zeigt, dass diese Verantwortlichkeiten noch immer nicht im Mainstream angekommen sind und vor momentanen Hintergründen noch anderen Wertigkeiten Vorrang gegeben wird. Also die aktuellen proximalen TermeA Wie sieht es dort aus, wo Design Research im Design, die den Gestaltenden nicht sichtkeine Rolle spielt? Wie sind Designaufträge bar sind. Diesen Wertigkeiten nähere ich ­formuliert? Ich erinnere mich an verschiedene mich in diesem Raum über die bewusst geDesignauftragsbesprechungen, und ich frage führten Diskussionen, um sowohl frühere mich nun: Was macht ein gutes Produkt aus? Abscheulichkeiten als auch aktuelle SelbstWas ist gutes Design? Wem habe ich zu „dieverständlichkeiten ans Licht zu bringen. nen“? Wem dient Design wozu? Design Research (wie in Raum [2] beschrieben) ist in meiner beruflichen Tätigkeit leider noch nicht in allen Projekten realisierbar gewesen. Angemessene Recherche spielt in jenen Firmen und Projekten eine wichtige Rolle, in denen man A  Abzweigung zur Erklärung und Unterscheidung proximal | distal auf Seite 066.

[EXPONAT 15]  3.2 WEM DIENT ­D ESIGN?  231

sich der Wichtigkeit dieser Elemente überhaupt bewusst ist und genügend Ressourcen es erlauben, Design Research Raum und Zeit zu geben.

3.2.1  Design und Marktwirtschaft Obwohl Design und Marktwirtschaft sehr eng miteinander verwoben sind, ist das Verhältnis zwischen ökonomischen Rahmenbedingungen und designerischen Absichten oft angespannt. Folgende Fragmente zur Rolle von Design innerhalb und außerhalb ökonomischer Strukturen verdeutlichen diese Spannungsverhältnisse. Ein oft gehörter Vorwurf ist, dass sich Frederic Mercer definierte die Aufgabe des InDesignschaffende von der Wirtschaft instrudustriedesigners 1947 so: mentalisieren lassen, obgleich es ebenso ein Der Industriedesigner ist ein technischer Experte freiwillig gewähltes Ziel sein könnte, vorranfür visuelle Wirkung … [Er] wird von ­einem Hergig an der Verbesserung der Verkaufszahlen steller nur aus einem Grund beschäftigt: Er soll zu arbeiten. Ein Designstudent erlebte sich die Nachfrage nach Produkten durch ihre stärin seinem Praktikum diesen Kräften ausgekere Anziehungskraft für die Konsumenten erhöliefert, Design sei „die Speerspitze des Kahen. Der Hersteller bezahlt ihn nach Maßgabe pitalismus“.20 Manche sehen die ökonomiseines Erfolges bei der Erreichung dieses Ziels. schen Hintergrundbedingungen als Fesseln, Der Industrie­designer steht und fällt mit seiner weshalb Gerhard Heufler (ehem. StudienFähigkeit, Handelsgewinne zu erzeugen und zu gangsleiter Industrial Design der FH Joanerhalten. In erster Linie ist er ein Industrietechneum Graz) eine Zeile von Nietzsche abniker und nicht vorwiegend ein Geschmacks­ wandelte: „Design ist Tanzen in Ketten.“21 erzieher der Öffentlichkeit. Unter den vorherrVielleicht ist auch der ökonomische Sog inschenden Bedingungen muss sein Ziel in der zwischen ein Freund geworden, ein überProfitgewinnung für seine Arbeitgeber liegen.22 mächtiger Freund genau genommen, den man nicht verärgern darf, um den eigenen Ideen überhaupt Raum geben zu können. Schmerzlich illustriert folgende Aussage einer Kollegin die Schwierigkeit, sich mit dieser Abhängigkeit abzufinden: „Wir sind die Huren der Wirtschaft, wir schmücken uns mit den besten Ideen, die wir bis jetzt gehabt haben, und warten, bis jemand in einem dicken Auto vorbeikommt und uns kauft … unsere Seele kauft …“23 Es ist schwierig, die tatsächliche Wirkmächtigkeit von Design einzuschätzen, und anspruchsvoll, die eigene Rolle als Designer oder Designerin in diesem Gefüge einzunehmen. David Kelley schließt seinen TED-Vortrag 2002 mit folgender Feststellung: Er sei insgesamt sehr froh über die Entwicklung, die Designer überall auf der Welt in den letzten 18 Jahren vorangetrieben hätten.A „Designers are more trusted, and more integrated into the business strategy of companies.“ A  Abkürzung zu: „User-centered Design“, Seite 238.

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Da er ein wichtiger Fürsprecher Human-centered Designs ist und sicherlich viel Energie aufwenden musste, Firmen von den Wertigkeiten zu überzeugen, die er für wichtig hielt, deute ich seine Worte dahingehend, dass es ratsam und günstig sei, sich mit Machtstrukturen bis zu einem gewissen Grad anzufreunden; sozusagen bei einem Spiel mitzuspielen, um überhaupt spielen zu dürfen, in der Hoffnung, den eigenen Beitrag zu dem Verlauf des Spiels leisten zu können und neue Wege für das Spiel insgesamt aufzeigen zu können. Schon seit Beginn des industriellen Designs gab es divergente Standpunkte zur technischen Entwicklung und der Rolle des Designs in Zeiten des Umbruchs. Nicht alle unter den ersten InDagmar Steffen* relativiert die Rolle von Design dustriedesignern wandten sich gegen die in den „Fängen“ der Wirtschaft. neuen Entwicklungen. Die Botschaft an Mit Gestaltung allein ist die Welt nicht umzugeWilliam Morris (1834–1896, ein Gegner der stalten, aber auch der resignative UmkehrIndustrialisierung) von Christopher Dresser schluss, das Design habe sich als „Handlanger“ (1834–1904) war, dass die industrielle Entwirtschaftlicher Interessen instrumentalisieren wicklung ohnehin nicht verhindert werden lassen, ist überzogen. Vielmehr ist Design in könne. Es sei daher besser, mit den neuen übergeordnete Kontexte eingebunden, die es Techniken und Materialien vorbildlich degestalterisch reflektiert. Im Entwurf von Prosignte Objekte zu schaffen, als sich der Zeit dukten, Konzepten und komplexen Szenarios entgegenzustellen.24 Um es mit dem Marschlagen sich die geistig-mentale Verfassung tin Held zugeschriebenen (sehr hinterfraeiner Gesellschaft, ihre Werte und Leitbilder, gungswürdigen) Zitat ­auszudrücken: „Wer aber auch technologische Entwicklungen sowie die Zukunft als Gegenwind empfindet, geht ökonomische und ökologische Rahmenbedinin die falsche Richtung.“ gungen nieder. Design kann diese Werte, Trends und Entwicklungen aufspüren, kann ihnen „Form geben“ und sie somit vielleicht sogar verstärken; es kann vage Möglichkeiten mit seinen Konzept- und Produktentwicklungen in konkrete Diskussions- und Nutzungsangebote übersetzen, nicht mehr, aber auch nicht weniger. So wird die Zukunft des Designs gerade so aussehen, wie die gesellschaftlichen Kontexte, in die es eingebettet ist.27

„Gutes Design ist Design, das sich gut ­verkauft!“25

„The primary purpose of design for the market is creating products for sale.“26 – Dieser Aussage hätte Raymond Loewy, eine berühmte Figur des amerikanischen Designs in der Mitte des vorigen Jahrhunderts, wahrscheinlich zugestimmt. Er sah sich vorwiegend als Absatzförderer, aber auch als Ratgeber für Firmen, die daran interessiert waren, neue Geräte in möglichst viele amerikanische Haushalte zu bringen. Dabei entwickelte er ein besonderes Gespür für den Grad an Neuheit, den die

*

Notausgang: Dagmar Steffen, „Pluralistisch und allgegenwärtig“ in Schepers & Schmitt (Hrsg.), 2000, Seite 66. Design sei eher Reflexion als Eingriff.

[EXPONAT 15]  3.2 WEM DIENT ­D ESIGN?  233

­ onsumenten gerade noch als aufregend neu empfanden, aber noch nicht verwirK rend oder verstörend neu. Vom Designer werde ein Gespür dafür verlangt, wie weit die Neuheit gehen kann, ohne die Kosumenten zu verschrecken. So entwickelte er seine berühmte MAYA-Formel: „most advanced, yet acceptSo – we really will continue to focus on prodable“. Sein Wirken beschränkte sich nicht ucts. But – something’s happened in the last auf Hilfestellung zur Profitmaximierung, er 18 years […] and that is that people like us – I gilt in den USA als großer Pionier des Indusknow ­people like us […], we kind of have climbed trial Design.28 Trotzdem findet sich in seiMaslow’s hierarchy a little bit and so we’re now nem Buch Never leave well enough alone imfocused more and more on kind of human-cenmer wieder eine Bemessung seines Erfolges tered-design, human-centeredness in an apam Maß der Gewinnsteigerung für seine Aufproach to design, and that really involves detraggeber. Begonnen hatte seine Karriere signing, like, behaviors and personality in the in den Geschäften von New York, wo er die products. And I think you’re starting to see that Waren nach seinem Verständnis ordnete. Er and it’s making our job even more enjoyable.29 versuchte zur Orientierung beizutragen, ordnete die Waren aber auch so an, dass Waren, die leichter verfügbar waren oder die eine höhere Gewinnspanne hatten, absatzfördernd positioniert waren. Die Ästhetik kam in all dieser Ordnung nicht zu kurz, im Gegenteil. So kam es, dass in all den GeschäfOur desire is naturally to give the buying public ten, in denen er gestalterisch tätig wurde, der the most advanced product that research can Umsatz merkbar stieg. Heute ist dieses Spedevelop and technology can produce. Unfortuzialgebiet meist als „Visual Merchandising“ nately, it has been proved time and time again bekannt. that such a product does not always sell well.30 Später war eines der Projekte, mit dem ihm und seiner noch jungen Agentur der Durchbruch gelang, die kommerziell erfolgreiche Neugestaltung eines Kühlschrankes für Frigidaire. Er fügte dem Kühlschrank hinzu, was er als schön empfand, und veränderte Elemente, sodass die Herstellung günstiger wurde. In dieser Auffassung von Design ist Der Gesamteindruck war Schlichtheit und die Konsumentenseite nur durch die Einhöchste Qualität! […] Am wichtigsten aber war, schätzungen der Gestalter selbst vertreten. dass unsere gründliche Analyse des Problems Die auftraggebende Seite vertraut dem Dein Zusammenarbeit mit unserem Kunden und signer, die Überprüfung, ob seine Einschätseinen Ingenieuren einerseits das Aussehen zungen korrekt waren, erfolgt allein durch verbessert und andererseits die Herstellungsdie Verkaufszahlen. Die Verständigung mit kosten herabgemindert hatte. Der Erfolg war der technisch-herstellenden Seite war daverblüffend und begründete unseren Ruf.31 mals neu und ungewöhnlich, ist aber heutzutage schon Grundbedingung für (Industrial) Designer geworden. Die marktwirtschaftliche sowie die auftraggebende Seite zu ­verstehen, wird in den meisten Design-Ausbildungsstätten inzwischen ebenfalls gelehrt.

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In diesem Bild fehlen jedoch viele Menschen. Design wie auch ökonomische Systeme sind in noch weitaus größere Zusammenhänge eingebettet, sämtliche kulturellen Vorbedingungen oder auch For me design is nothing more than a communiökologische Gegebenheiten sind hier noch cations tool. It is a way to bend the sheet metal gar nicht bedacht. Die Recherche, die die Adressatenseite betrifft, beschränkt sich in der in such a way that it communicates the values of the brand and pulls the customers in, makes oben genannten Art von Projekten manchthem reach in their wallet, pull out the money mal auf eine einzige Fragestellung: Wofür and pay for the car.32 sind Menschen bereit, Geld auszugeben? Design kann weitaus mehr, als Kommunikation zu marktförderlichen Zwecken zu leisten. Es ist in Frage zu stellen, ob Design überhaupt an Marktwirtschaft gebunden gedacht werden muss.

Design at War Design unabhängig von marktwirtschaftlichen Interessen gedacht – das gibt es. Einige der größten Entwicklungsschritte unabhängig von Märkten, wie zum Beispiel Design für Massenfertigung, viele neuartige Materialien und Fertigungstechniken, Design für unmissverständliche Kommunikation – hat (Industrial) Design in den Zeiten der beiden Weltkriege des letzten Jahrhunderts gemacht. Here’s what they don’t teach at art school: when nations go to war, design is in the front line. Skills that in peacetimes are devoted to making the world a better place are used in wartime to devise better ways for people to kill each other.33 Design nimmt eine unentbehrliche Rolle ein, wenn Nationen sich bekriegen. Design als Problemlösung hilft dabei, Wege zu finden, wie Produktionslinien mit weniger Material auskommen, wie von überlebenswichtigen Produkten Hunderttausende Stück in kürzester Zeit gefertigt werden können, wie Waffen kinderleicht zu bedienen sind. Grafikdesign beispielsweise wurde gebraucht, um wichtige Botschaften sowie auch Propaganda in der Bevölkerung zu More prosaically, war also diminishes the verbreiten, Produktdesigner nahmen sich ­market-led purpose of design. In their new role, der wenigen noch gebrauchten Konsumdesigners made a number of important contrigüter an, und etliche Designer und Ingenibutions during the years of the Second World eure widmeten sich der Gestaltung von UniWar and immediately after it.34 formen, Kriegsgütern, Flugzeugen, Panzern und Waffen. In den 1930er und 1940er Jahren wurde Massenproduktion in neue Größenordnungen gehoben. Als Beispiel können die Bugholztechniken von Charles und Ray EamesA gelten: Sie stellten zu A  Abzweigung zu Design und Material, Seite 113.

[EXPONAT 15]  3.2 WEM DIENT ­D ESIGN?  235

Ende des Krieges Stützschienen für Verletzte aus Bugholz her und scheiterten zu Beginn an der Fertigungstechnik. Bugholz ließ sich problemlos in zwei Dimensionen verbiegen, aber die nun notwendige Verformung in die dritte Dimension war schwierig zu erreichen. Bald war es ihnen möglich, einige wenige Stück der gleichen Form herzustellen, allerdings war der Bedarf so groß, dass mehrere Tausend Stück hergestellt werden mussten. Durch hartnäckiges Experimentieren gelang es ihnen, die benötigte große Zahl identischer Formen herzustellen. Nach dem Krieg verfeinerten sie das Verfahren, und einige ihrer dann entstandenen Bugholzmöbel gelten noch heute als Designikonen. Ein weiteres Beispiel: Die britische Sten Gun von Harald Turpin und Reginald Sheperd wurde um 1940 mit dem Ziel entworfen, eine besonders einfach zu bauende Waffe aus möglichst wenigen Teilen herzustellen. In einer ehemaligen Spielwarenfabrik sollte die Waffe produziert werden: Der Inhaber der Fabrik, Walter Lines, sah noch weiteres Potenzial zur Vereinfachung – er konnte den Herstellungsaufwand weiter reduzieren, sodass noch weniger Rohstoffe benötigt wurden und die Waffe noch billiger wurde. Qualität wurde bewusst zugunsten der Quantität vernachlässigt,35 im Sinne von: Es wurde ausgelotet, wie mit vorhandenem Zeitund Materialkontingent so viele Soldaten wie nur möglich mit Schusswaffen ausgestattet werden können, die ihren Dienst zuverlässig erfüllen. Die Qualität darf dabei gerade noch nicht unter den Punkt fallen, bei dem die Waffen zur Gefahr für die eigenen Soldaten werden. In diesem Narrativ festigt der Zweite Weltkrieg auch für viele Designdisziplinen den Entwurfsprozess als Design des Fertigungsprozesses: Es verlangt eine andere Herangehensweise an die Gestaltung, ob ich von einem Werkstück zehn, 100 oder 150 000 Stück brauche. Ich gestalte eiDeadly weapons are among the most fascinatnen Gegenstand und denke dabei immer ing and well-designed artifacts of our time. But auch an die Herstellungsmöglichkeiten. their beauty can only be cherished by those for Barbara Eldredge, eine in New York täwhom aesthetic pleasure is divorced from the tige Designkritikerin, zitiert in einem Aufvalue of life. A mode of perception the arts are satz über „Missing the Modern Gun“ Arnot meant to encourage.36 thur Drexler, einen ehemaligen Direktor des MoMA Architecture and Design Departments. Er spricht über das Design der AK-47 und zieht allgemein den Schluss, dass Waffen mit die faszinierendsten und am besten ausgestalteten Artefakte unserer Zeit seien. Obwohl sie als Beispiele für außergewöhnlich gut durchdachtes Design stehen könnten, ist es in den USA anscheinend noch nicht möglich, Waffen als Designobjekte in einem Museum auszustellen. Sowohl Barbara Eldredge als auch Paola Antonelli legen das als mangelnde Reflexionsbereitschaft aus. Anders im Design Museum London: Das Design Museum hat 2011 eine AK-47 erworben und stellt die Waffe „zusammen mit anderen Designklassikern“37 aus. Kann eine Waffe ein Designklassiker sein? Diese Frage selbst zeigt schon deutlich die implizierten

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Werthaltungen derer, die sie stellen. In punkto Werthaltungen bleibt festzuhalten, dass Design und Violence vom MoMa als reines online curatorial project geführt wird, während folgende Ausstellung ab Februar 2015 tatsächlich gezeigt wurde: This Is for Everyone: Design Experiments for the Common Good.38 Das Verhältnis von Designerinnen und Designern zum Thema Effizienz- und Effektivitätssteigerung vor allem in Bezug auf Gewalt und Krieg ist oft ein zwiespältiges, ob es nun um die AK-47, neue Panzer, Drohnen oder beliebige andere Geräte geht, die prinzipiell als Hilfsmittel für Gewalt eingesetzt werden können. George Nelson, eine der Größen des Good Design der 1950er Jahre in den USA, hatte ein zu dieser Zeit unüblich großes Interesse am Einfluss von Design auf ökologische, ökonomische und soziale Zusammenhänge. Sein 1960 erschienener 20-minütiger Kurzfilm „How to kill people: a problem of design“ – ein Monolog über die wichtigsten Bereiche, in denen Designer [sic] tätig sind, sei die Kreation und Verbesserung tödlicher Waffen. Einer der drei BereiA Problem of Design: How to Kill People. In the che, die die „unhinterfragte Unterstützung“ 20-minute program, a straight faced Nelson der Gesellschaft hätten, neben Wohnlichkeit presented a cultural history of weapon technolund Mode.39 ogy, which was at the same time a scathing Designer tun das, wofür sie bezahlt commentary on the arms race during the Cold werden, hält er fest. Das empfinde ich als War. Its main statement: designers always do eine sehr pikante Version des Eingangsaronly what they are paid for, and give form to the guments „Gutes Design ist Design, das sich things that are most important to society and gut verkauft“. Ich musste bei der Verleihung 40 for which society allocates the largest budget. meines Abschlusses als ­Industriedesignerin einen Eid leisten, dass ich mich niemals mit der Gestaltung von Waffen befassen würde. Doch auf so vielen Ebenen geht für mich auch dies nicht weit genug. Wie Arthur Drexler sagt, die Perfektion einer Waffe können wohl diejenigen am meisten schätzen, „for whom aesthetic pleasure is divorced from the value of life“.41 Der Wert des Lebens … wenn ich mich als Designerin solchen Werten verschreiben will, die Leben und Vielfalt fördern, dann ist mit einem Abschwören von Waffendesign meiner Meinung nach leider noch bei weitem nicht genug getan. Folgen Sie mir bitte noch durch weitere Ambivalenzen.

Neuer – schneller – billiger In The Story of Stuff, einem 20-minütigen Kurzfilm, der bereits 2007 erschienen ist und aus dem sich mittlerweile eine stattliche Plattform entwickelt hat, bietet Annie Leonard einen „fast-paced, fact-filled look at the underside of our production and consumption patterns“.42 The Story of Stuff stellt brisante Verbindungen zwischen Wirtschafts-, Umwelt- und Sozialthemen dar: Obwohl die meisten Systeme schon an ihre Grenzen stoßen, lautet die gegenwärtige Maxime des Wirtschaftssystems noch immer: „Konsumiere!!!“ Designer tragen zu diesem „golden arrow

[EXPONAT 15]  3.2 WEM DIENT ­D ESIGN?  237

named consuming“ (Zitat aus dem Film) nach Kräften bei. Rob Walker, Journalist der New York Times, führt aus, dass Designer sich in Wirtschaftssystemen befinden, in denen mehr und immer mehr erzeugt und verkauft werden soll. Der Hunger nach immer Neuem darf nicht versiegen, Often the way that a product comes into being und im Designberuf Arbeitenden scheint isn’t because a bunch of expert designers sat nichts anderes übrig zu bleiben, als eben das down and said, ‘What are the ten most importimmer Neueste zu gestalten. ant problems we can solve?’ There’s a company In der Wirtschaftslage und Designrethat’s writing a check. And what the company alität der ersten Dekaden des 21. Jahrhunwants is new SKU’s [stock keeping units, derts ist der Konsum von Produkten, profitAnm. d. A.], they want more stuff and they want orientiertes Wirtschaften beinahe über alles more people to buy it. And that’s the name of andere gestellt. Designerinnen und Desigthe game. We tend to want new things. […] And ner stehen meist mitten in einem rein konthe problem with spending a lot of time on fosumorientierten Gestaltungsprozess. Ob es cusing on what’s very now and very next is that meinen gestaltenden Kolleginnen und Kolit isn’t very forever. And that means it doesn’t legen genauso schwer fällt wie mir, Design last, because there’s someone else coming unabhängig von marktwirtschaftlichen Inalong trying to design what’s now and next after teressen zu denken und zu betrachten, wage that.43 ich nicht zu beurteilen. Der vorher schon erwähnte Raymond Loewy war einer jener Vertreter des Industriedesigns der 1950–70er Jahre, die Design vorwiegend als Absatzförderung betrachteten. Sein (wirtschaftlicher) Erfolg gab ihm recht. Und hier stehe ich nun vor genau der Frage, die Die Reformbewegungen des 19. Jahrhunderts die Diskussion um das Exponat mit dem Kumachen ein Grunddilemma deutlich, in dem die schelspielzeug auf die Spitze treibt: Schwer Designer und Designerinnen bis heute stecken: entzündlich, ungiftig, unbedenklich für KinWie verhält sich das Design gegenüber der Inderzimmer oder Gewässer, ressourcenschodustrie – oder genauer: gegenüber dem realen nend, all dies mitzudenken scheint noch industriellen Verwertungsprozess? Ignoriert es immer Verkaufszahlensteigerung untergediesen, oder bäumt es sich gegen ihn auf?44 ordnet zu sein. Verkaufszahlen sind zwar längst nicht das einzige Kriterium für gutes Design – trotzdem, so scheint es, momentan noch immer eines der gültigsten. Im Folgenden noch einige andere Kriterien, nach denen Design heute beurteilt werden könnte und vielleicht auch sollte.

3.2.2  User-centered Design Human-centered design, user-centered design manchmal auch nutzerzentriertes Design – diese Begriffe tauchen seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts häufig in der Beschreibung von zuvor hauptsächlich fertigungs- oder marktwirtschaft-

238  RAUM [3] – VON DER ­N OTWENDIGKEIT, ­B EWUSST ZU ­G ESTALTEN 

lich orientierten Designprozessen auf. Jeder dieser Begriffe betont unterschiedliche Facetten. Mir geht es hier jedoch darum, dass entlang dieser Termini die Designschaffenden Interessen der Nutzerschaft im Gestaltungsprozess übernehmen und für Themen eintreten, die ansonsten in einer konsumorientierten Welt vernachlässigt würden. Die Prämisse, die mit When we ask what design is or could be, conabsatzfördernden Interessen versöhnt, lautemplate a Ph. D. in Design, or discuss the tet meist, dass ein Ding, das angenehmer zu ­future of the designed world, we are, in effect, nutzen ist, sich auch besser verkauft – die Inredesigning design. This observation suggests teressen scheinen sich zumindest oberflächmy first proposition of human-centered design: lich nicht auszuschließen. Design must continuously redesign its disObjektzentriertes Design wäre also im course and itself.45 Gegensatz zum human-centered design ein solches, das sich ausschließlich durch Kriterien wie Kosten, Produzierbarkeit, Effizienz und Effektivität in der Herstellung und Vermarktung, Haltbarkeit sowie formalästhetische Kriterien definiert, auch unabhängig vom Konsum. Der Unterschied ist eben immens, ob ich mich dem Design von Produkten für den Markt oder dem Design von Produkten für Menschen widme. Ein entscheidendes Element, nämlich die Bedeutung, verändert sogar laut Klaus Krippendorf den gesamten Diskurs. We do not respond to the physical qualities of Die Bedeutung, die Produkte oder Systeme things, but to what they mean to us. This epistefür die Menschen haben, reicht Krippendorf mological axiom distinguishes clearly between als grundlegende Unterscheidung zwischen human-centered design, the concern for how den anderweitig durchaus verwandten Disindividuals see, interpret and live with artifacts, kursen von engineering und Design. and object-centered design, which ignores huWährend Design für den Markt inzwiman qualities in favor of objective criteria (e. g. schen auch in verschiedenen Disziplinen der functionality, costs, effort, durability, even forWirtschaft, Produktsemantik oder im stratemal aesthetics), all measurable without human gischen Marketing gute Unterstützung und involvement. It also distinguishes between breites Verständnis findet,47 seien die Pro­design and engineering. In a design discourse, zesse und Programme, die es für soziales Demeaning is central. In engineering it has no sign brauche, noch sehr wenig entwickelt, beplace.46 mängeln Sylvia und Viktor Margolin. „… little has been accomplished. Nor has attention been given to changes in the education of product designers that might prepare them to design for populations in need rather than for the market alone.“48 Auch in der Ausbildung werde meist zu wenig Wert auf die Entwicklung der Rolle von angehenden Designerinnen und Designern als gesellschaftsbeeinflussende Akteure gelegt: Stattdessen führt man sie vorwiegend in die Gepflogenheiten eines marktorientierten Gestaltens von Produkten und Systemen ein.

[EXPONAT 15]  3.2 WEM DIENT ­D ESIGN?  239

Bild 70: Messergriff-Vergleich

Ergonomie und Usability In den 1930er Jahren gründete Henry Dreyfuss49 seine Designfirma „Henry Dreyfuss & Associates“. Er hat wichtige Beiträge zur Entwicklung von Ergonomie und Usability und deren Verbreitung geleistet. In seinen Designprozessen spielten „Joe and Josephine“ eine wichtige Rolle. In seiner 1965 erschienenen Autobiographie Designing for People erzählt er die Geschichte der beiden: Joe und Josephine sind Linienzeichnungen von Menschen, denen We bear in mind that the object being worked verschiedene Attribute und Aufgaben zugeon is going to be ridden in, sat upon, looked at, ordnet werden. Stets sind sie umringt von talked into, activated, operated, or in some Maßbezeichnungen, da sie für Ergonomie other way used by people individually or en und Usability in verschiedensten Designs masse. When the point of contact between the bürgen. Niemals – so Henry Dreyfuss – dürproduct and the people becomes a point of fricfen ihre physischen und psychischen Bedürftion, then the industrial designer has failed. On nisse hintangestellt werden. Design gestaltet the other hand if people are made safer, more immer für Menschen, daher tut man gut dacomfortable, more eager to purchase, more efran, das auch beim Gestalten zu bedenken. ficient – or just plain happier – by contact with Bestimmten Körperbedingungen entgethe product, then the designer has succeeded.50 genzukommen soll aber nicht zu Bewegungs­ einschränkungen in der Nutzung führen. Es besteht die Gefahr, die Benutzung zu stark vorzugeben: John Maeda vergleicht die Griffform eines typisch japanischen Küchenmessers (siehe Bild) mit dem eines klassisch westlichen Kochmessers.51 Er beschreibt, dass ein Sushi-Messer für Köche zwar durchdacht und usercentered designt ist, aber auf den ersten Blick nicht so aussieht. Am Griff sind keinerlei Hinweise auf eine empfohlene Haltung oder Positionierung der Finger zu finden – es wirkt eher, als ob es ein wenig schwer zu halten wäre. Es offenbart sich eine der typischen Ambivalenzen des Usability Design – zu viel Anleitung könnte den Freiheitsgrad bei der Nutzung einschränken. Oft treffe ich in einem Designprozess stellvertretend für die Userschaft Entscheidungen. Im ergonomischen Beispiel (unteres Messer) wurde im Vorhinein entschieden, wie der Nutzer, die Nutzerin das Messer zu halten hat. Es ist ein schmaler Grat zwischen Vereinfachung und bestmöglicher Anleitung einerseits und Gängelung bzw. der Einschränkung von Möglichkeiten andrerseits.

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The Human Factor Geschichtlich gesehen ist Anfang des 20. Jahrhunderts auch die Sicherheit der Konsumenten und der Nutzerschaft von kaum einer anderen Instanz als der gestaltenden vertreten worden. Im Begleitband52 Das Jahrhundert des Design zur gleichnamigen Ausstellung findet sich das Bild eiWe were asked by a device producer […], we did nes Toasters ohne Verkleidung – sehr lang a lot of sexy tack at IDEO, they had seen this fiel die Sicherheit von Produkten, die in die and they wanted a sexy piece of technology for Haushalte Einzug hielten, allein ins Zustänmedical diagnostics, now this was a device that digkeitsfeld des Designs. Aktuell haben ana nurse uses when they’re doing a spinal procedere Stellen diese Verantwortung übernomdure in hospital, they ask the nurses to input men: Ein Beispiel zeigt mir [J. M.] in einem data and they had this vision of the nurse comInterview auf: Der junge Designer bei Mitsuing in and clicking away on this aluminum debishi53 beklagt, dass beim Auto nur mehr ein vice and they’re all being incredibly sort of gadminimaler Spielraum für Formbarkeit mögget-lustish … lich ist, da Gesetze und Bestimmungen zur When we actually went and watched this proceSicherheit die Form großteils diktieren. Die dure taking place […] it became very obvious Funktion (in diesem Fall die Sicherheit beim that there was a human dimension to this that Autofahren) diktiert die Form dermaßen, they really weren’t recognising … dass für Gestaltung in einem individualisieWhen you’re having a four-inch-needle inserted renden Branding-Sinne fast gar kein Raum into your spine – which was the procedure that mehr bleibt. this device’s data was about […] – you’re shit Unabhängig von den Rahmenbedinscared! You’re freaking out! And so the first gungen und den Gestaltungsfreiheiten im thing that pretty much every nurse did was hold Design, will User-centered Design den Menthe patient’s hand. To comfort them. Human schen dienen: „Simply put, this design philogesture. Which made the fabulous two-handed sophy aims to improve usability by keeping data input completely impossible. So … the the experiences of end users in mind at every thing that we designed – much less sexy, but stage in the design cycle.“54 so Paul Bennett, much more human and practical – was this Designer bei IDEO, London. Er erzählt, wie [shows a square input device with one-thumbessenziell es ist, dass im Design die ganze Sidata input]. It’s not a palm pilot […] but it has a tuation und Umgebung des Objekts miteinthumb scroll so you can do anything with one bezogen wird, und wie wichtig es ist, dass hand. So again, going back to this [points at the Designer die zuvor von den Auftraggebern erpicture that shows the nurse holding the pahaltenen Vorgaben in Frage stellen dürfen. tient’s hand] the idea that a tiny human gesture Durch den Freiraum, den sich Desigdictated the design of this product. And I think nerinnen und Designer in diesen Diskussithat is really, really important.55 onen schaffen, können sie die Wertigkeiten, für die sie zuständig sind oder sich zuständig fühlen, einbringen. Hier tritt nun deutlich in den Blick, wie wichtig es ist, sich der Prioritäten im Gestaltungsprozess bewusst zu sein: Der konkrete Auftrag, das Briefing, spiegelt gewisse Werthaltungen. Der Haken ist, je professioneller das

[EXPONAT 15]  3.2 WEM DIENT ­D ESIGN?  241

Umfeld, desto unsichtbarer ist meist die Eingespieltheit auf bestimmte Selbstverständlichkeiten. Hinter einem User-centered Design kann tatsächliches Interesse an Menschen und ihren Ängsten und Bedürfnissen stecken oder aber hauptsächlich ein verkaufsförderndes Mittel zum Was braucht es, damit nicht nur Einzelne gut Zweck. Als beauftragte Designerin kann ich ­leben können, sondern möglichst viele? Wie ist entscheiden, ob ich mit diesen Werthaltundas mit Wünschen und Bedürfnissen, was ist gen einverstanden bin oder nicht. Wenn ich ein Wunsch, was ein Bedürfnis? Suchen Unterausschließlich für die Beauftragenden oder nehmen nicht einfach nur das, wofür Menschen das Produkt kaufenden Menschen gestalte, bereit sind, Geld auszugeben? Und worin liegt darf in Frage gestellt werden, inwieweit ich der Unterschied? den nicht für das Produkt bezahlenden Teil der Menschen berücksichtigen darf. Weiteren Aufschluss über die Prioritäten des Auftrags gibt der Blick auf weitere Teile der Menschheit, des Planeten – dort tun sich Fragen einer anderen Größenordnung auf. In einem Calvin & Hobbes Comicstrip56 wartet der kleine Junge Calvin hinter seinem Pappkartontresen auf Kundschaft. Auf seiner Schachtel ist handschriftlich festgehalten, was er feilbietet: „A swift kick in the butt – 1$“. Sein Stofftiger Hobbes fragt ihn, wie die Geschäfte so laufen würden – worauf Calvin erwidert, dass der geschäftliche Erfolg sich unbegreiflicherweise noch nicht eingestellt habe. Unbegreiflich, denn der Junge hält fest: „Everybody needs what I’m selling!“ So einige Menschen könnten wohl brauchen, was Calvin im Comicstrip verkauft, nur ist niemand bereit, dafür zu bezahlen. Dies ist nur Begreift man Design als Weg, Bedürfnisse zu ein Beispiel für Dinge, die wir zwar brauchen erfüllen, ist der Anspruch, ein allgemein gül­ könnten, aber niemals kaufen würden. Dartiges Design für alle zu schaffen, schon fast über hinaus hat Geld manchmal die Eigen­vermessen, zumindest jedoch naiv, da er den schaft, Dinge, die man nicht in Geld bemesPluralismus nicht anerkennt, der dem Indivisen kann, zu entwerten, so wie Gefälligkeiten duum, aber auch verschiedenen Bevölkerungsoder Freundschaftsdienste.57 Doch selbst segmenten oder Kulturen innewohnt. […] Was bei käuflichen Lösungen gibt es einiges zum als Design-Anforderung bleibt, sind VerbesseThema Bewertungen zu beachten. Ein Berungen von Vorhandenem oder die Erforschung dürfnis „beschreibt ein Mangelgefühl und neuer Bedürfnisse, die sich aus der geselldas Verlangen, dieses zu beseitigen“58. schaftlichen Entwicklung ergeben. InteressanMan entdeckt ein Bedürfnis nicht, wie tes Design berücksichtigt daher mehrere Beman eine neue Insektenart entdeckt. Ich dürfnisstufen zugleich und schafft so ganz halte es für enorm wichtig, hier die Relaneue Entwicklungen.59 tionalitätA nicht aus den Augen zu verlieren: Selbst ein Grundbedürfnis wie Hunger existiert nicht unabhängig von der Person, die ihn hat. Ich benenne ein Bedürfnis und habe damit eine neue Entität geschaffen, um die ich mich als DesigneA  Abkürzung zum Atrium: Relationalität als Element impliziter Vermittlung, Seite 195.

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rin nun ­kümmere. Möglicherweise verliert man dabei aus den Augen, was das ­ dressieren (oder Unterstellen) eines Bedürfnisses mit den Menschen macht, die A es zugeschrieben oder diagnostiziert bekomImmer wieder wird nämlich versichert, Gegenmen: Die Bedürfnisorientiertheit – nicht nur stand der Bemühungen des Industrial Design im Design – birgt die Gefahr, den Menschen seien die Bedürfnisse der Menschen. Die Frage als ein „Bündel von Bedürfnissen“ zu sehen, nach dem Interesse hinter der realen Produkmerkt Ivan Illich60 an, ihn infolgedessen als tion bleibt dabei ausgeklammert; denn hier treein Wesen des Mangels anzusehen, dem ten fatale Widersprüche auf, an denen auch sokein Preis zu hoch sei, all diese Bedürfnisse zialutopische und revolutionäre Theorien des zu befriedigen. Was die Erzählung wieder Design zu scheitern drohen. […] Die Motive der zurück zum marktwirtschaftlichen Narrativ Marktstrategie und der Mensch-Umwelt-Bezieführt, wo die Bezahlung für die Befriedigung hungen dürften einander wohl ausschließen. von Bedürfnissen zentral ist. Dieser konkrete Widerspruch kennzeichnet die Angenommen sei ein Briefing für ein Diskrepanz zwischen Entwurfspraxis und soziabeliebiges Produkt – wenn ich diejenigen in ler Theorie des Design, und nach welcher Maden Blick holen will, die bei der Rohstoffgexime in der Produktionspraxis gehandelt oder winnung, entlang des Fertigungsprozesses, entschieden wird, beweist schon ein Blick auf nach dem Kauf oder nach der Nutzung mit den Markt von heute. Produktivitätssteigerung dem Produkt und dessen Folgen beschäfund Profitrate sind mit Märkten und nicht mit tigt sind und dabei auf Konflikte mit meiMensch-Umwelt-Problemen in der Zielsetzung nen Auftraggebenden stoße, ist klar, dass gekoppelt.61 der Human Factor in diesem Auftrag nur mit ganz bestimmten Menschen zu tun hat: Denen, die das Produkt nutzen. Dies sind die User, das Briefing ist nutzerzentriert,A exakt wie der Name sagt. Immerhin ist das schon als Erweiterung zu sehen zu dem Design, das nur einen bestimmten Menschen im Blick hat: den, der das Produkt kauft.

3.2.3  Weltbild bestimmt Gestaltung Die physische Umgebung hat großen Einfluss auf das Denken und Handeln der Menschen – die gegenseitige Beeinflussung von Gestaltung und Umwelt fasst Winston Churchill am Beispiel der Architektur wie folgt zusammen: „First, we shape our buildings and afterwards, they shape us.“ In seiner Rede vom 28. Oktober 1943 plädierte er dafür, dass das von Bomben zerstörte House of Commons in genau der vorherigen Form wieder aufgebaut werde, rechteckig, ohne bestimmte Plätze für einzelne Mitglieder und: eigentlich zu klein. Er betont den „sense of crowd and urgency“ (Enge und Dringlichkeit), der gerade in wichtigen Debatten erst durch A  Abkürzung zu „Zielgruppenmantra“, siehe Seite 265.

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den Platzmangel entstehe. Die Tatsache, dass es weniger Sitzplätze als Abgeordnete gab, half dabei, die Debatten in ihrer Dringlichkeit kurz und lebendig zu halten: „… helped to keep debates lively and robust but also intimate.“62 So wie die Gestaltenden die Welt sehen, There is no doubt whatsoever about the in­ so manifestiert sie sich: Zu bestimmen, wie fluence of architecture and structures upon Gebäude und Produkte sein sollten, hat das h ­ uman character and action. We shape our Potenzial, Lebensweisen und Erfahrungen buildings and afterwards, they shape us. explizit zu formen.64 Elizabeth Shove geht in 63 They regulate the course of our lives. ihren Analysen zu Converging Conventions of Comfort, Cleanliness and Convenience davon aus, dass die Welt, so wie wir Designerinnen und Designer sie vorfinden, stets der Ausgangspunkt für neue Normalität ist. Normalität ist das, was sich festigen kann. Alle Gewohnheiten des Zusammenlebens sind nicht natürlich – nicht von Natur aus vorgegeben – und doch, erstaunlicherweise, scheinen sie es zu sein: Ein Stück Wirklichkeit zu ordnen und zu strukturieren kann ein bemerkenswerter Eingriff sein. Wann immer es gelingt, leicht verständlich und attraktiv zu gestalten, ist die Chance groß, das es sich für viele Nutzerinnen und Nutzer so anfühlt, als In developing a more systemic, more thoroughly „wäre es nie anders gewesen“. Aber mit jeder sociological perspective on everyday life and erfolgreich etablierten Lösung „strukturiert sustainability, I start with a number of as­ der Designer auch teilweise das soziale Rolsumptions. First, that domestic consumption lenverständnis oder dessen sichtbaren Ausand practice are intimately linked in reproducdruck für den zukünftigen Verbraucher oder ing what people take to be normal and, for them, Gebraucher vor“66. ordinary ways of life. Second, that much enviMadeleine Akrich sieht in gut benutzronmentally significant consumption – and in baren Dingen, in stabilisierter Infrastruktur particular, consumption of energy and water – ebenfalls einen gelungenen Akt der Naturais quite simply invisible. It is bound up with roulisierung. In diesem Verständnis, so schreibt tine and habit and with the use as much as the sie, kann man durchaus sagen, dass Objekte acquisition of tools, appliances, and household politisch seien. Sie können soziale Verhältinfrastructures. Third, changing conventions nisse verändern, aber auch stabilisieren und and expectations have far reaching implications naturalisieren. Das heißt, es sieht so aus, als for the resources required to sustain and mainhätte es gar nie eine andere Möglichkeit getain them. These three points suggest a switchgeben, das Problem zu lösen.67 ing around of the agenda. […] How do new conNormal, selbstverständlich – alles, was ventions become normal, and with what in diese Kategorien fällt, ist mir im Alltag consequence for sustainability?65 transparent und daher nicht zugänglich. Wie in Raum [1] erkundet, kann ich meinen eigenen proximalen Term nicht wahrnehmen, da er mir einverleibt und unbewusst ist. Wie eine Brille, durch die ich scharf sehen kann: Die Brille selbst kann ich nicht fokussieren, während ich durch sie hindurchsehe. Ganz ähnlich verhält es sich mit meinen Konzeptionen und Sichtweisen auf die Welt, die Theorien und Perspekti-

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ven, von denen ich ausgehe, kann ich selbst nur schwer fokussieren, da sie mein eigener proximaler, einverleibter Term sind. Der Kreis zu Churchills Zitat schließt sich, wo wir von unserer Umgebung geformt uns daranmachen, sie zu formen. Was mir als Designerin gut, richtig und logisch erscheint, werde ich weiter perpetuZum anderen fungiert alle Theorie im Akt der ieren und immer wieder einfließen lassen in Anwendung als proximaler Term, als einverleibmeine Gestaltung der Welt. ter Interpretationsrahmen […]. Man kann sie f­ okussieren, tut das aber dann wiederum vor dem Hintergrund anderer im Moment impliziter Annahmen, Erfahrungen, Überzeugungen. Was wir wissen, bildet dabei ein Geflecht sich wechselseitig verstärkender Bestandteile, ein System, dessen Zirkularität wir nie gänzlich verlassen und das wir letztlich auch nur als Ganzes verstehen können.68

Design to tame, to simplify | Die Welt ist zu kompliziert

Sehr oft wird Design eingesetzt, um bestehende Lösungen zu vereinfachen – das Design soll die Komplexität zähmen. So genutzt ist Gestalten eine Reduktion der Komplexität. Dieser Akt ist aber niemals ein neutraler – wie in der Kartographie wird manche Information weggelassen, manche betont – so kommt es dazu, dass Karten zwar sehr praktisch sind, aber niemals neutral oder objektiv. Ein dreidimensionales Objekt für Darstellungszwecke auf zwei Dimensionen zu reduzieren, wirft Probleme auf, auf die in unterschiedlichen Projektionsarten reagiert wird, je nachdem, ob zum Beispiel Winkeltreue eine größere Rolle spielt oder die Exaktheit der Flächeninhalte im Vordergrund steht. John Maeda stellt zehn Gestaltungsmaximen für Simplicity auf.69 Darunter finden sich Hinweise wie „Reduzieren: Der einfachste Weg zur Einfachheit führt über durchdachtes Weglassen“. Hier kann besonders in die Weltsicht der Adressaten eingegriffen werden bzw. verlangt es von Gestaltenden besonders viel Einfühlungsvermögen und Gespür für die proximalen Terme derer, für die gestaltet wird, da nur bei treffsicherem Einsatz eine Vereinfachung auch als solche funktioniert. In der Einfachheit liegt eine Perfektion.

100 % gestalten | Was du beginnst, stelle fertig. Ganz. Ich stelle die zur Überschrift entgegengesetzte Behauptung in den Raum: Es gibt gute Gründe, ein Projekt nicht zu 100 % fertigzustellen. Ich kenne jedoch wenige Kolleginnen oder Kollegen, die sich damit wohlfühlen würden, ein Projekt nicht ganz abzuschließen. Ein eigentlich unfertiges Projekt kann durchaus funktionieren und praxistauglich sein. Markus Krajewski70 untersucht in seinem Buch Restlosigkeit die zugrundeliegenden Annahmen und Strukturen der „Weltprojekte um 1900“. Es geht dabei um Lösungen für die ganze Welt, perfekte Lösungen – und er belegt, dass solch große Pläne durchaus Gefahren bergen können.

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Richard Sennett weist ebenfalls darauf hin, dass alles zu 100 % ausgestalten zu wollen Gefahren birgt.71 Diese Überdeterminiertheit zeigt sich beispielsweise in einem am Reißbrett oder genauer gesagt am Computer mittels CAD entstandenen Stadtviertel am Rande von Atlanta, GeorDieser Blick auf die Vergangenheit wirft einige gia, dem Peachtree Center. Fragen für die Gegenwart auf: Was sind unsere Im Detail zeigt sich diese Überdeterheutigen Ziele? Wer darf sie definieren? Welche miniertheit auch in den Parkhäusern des Weltbilder und welches Verhältnis zu uns selbst Peachtree Centers, wo Sennett bemerkt, dass steckt hinter unseren jeweiligen Zielen? Wer nach Fertigstellung des Baus noch grobe darf bestimmen, wann etwas „fertig“ ist? Wann bauliche Veränderungen notwendig waren: es nicht mehr weiterwachsen darf? Woran muss Die Kurvenradien der Puffer in den Parkgedacht werden, was darf missachtet werden? buchten mussten verändert werden sowie A Wer bestimmt das? auch im Nachhinein weiße Leitplanken angebracht werden mussten. Durch diese aber traten in den seitlich offenen Parkhäusern an manchen Stellen gefährliche Schatten auf, all das war in der Planungssoftware nicht sichtbar. Lucius Burckhardt wünscht in einer Eine überdeterminierte Planung verhindert jene Rede in der Jakobskirche in Weimar am ungeregelte Anordnung von Gebäuden, die es 30. Juni 1994 den Studierenden der Ingeneuen Unternehmen oder auch Gemeinden ernieurwissenschaften, zu denen er spricht, laubt, zu wachsen und ein vibrierendes Leben ein „fleischernes Herz“.73 Dieses ist im Gezu entfalten. Solche Regellosigkeit resultiert gensatz zum „steinernen Herz“ zu betrachaus unterdeterminierten Strukturen, die es geten – es steht sinnbildlich dafür, dass Pläne statten, Nutzungsweisen weiter zu entwickeln, immer perfekt und in Stein gemeißelt sein abzuändern oder ganz aufzugeben.72 müssen, was ja keinerlei Platz für eine Reaktion auf veränderte Randbedingungen lasse. In diesem Sinne sollen sich die Absolventen darum bemühen, Projekte auch einmal „offenzulassen“, die Unabschließbarkeit und das Nichtwissen ertragen zu lernen, sich ein „fleischernes Herz“ zu bewahWenn wir nun hier um ein fleischernes Herz ren. Burckhardt erwähnt, dass es gang und ­ itten, so auch um Regeln oder Entwurfsmethob gäbe sei, im wissenschaftlichen Weltbild an den, welche die saubere Lösung relativieren. „saubere Lösungen“ zu glauben. […] Es muß nicht alles heute entschieden werUm spätere Umgestaltungen zu ermög­­ den; unsere Nachfolger sind ja nicht dümmer, lichen, um sich mehr Optionen auf spätere sondern haben die Möglichkeit, weiter in die Anpassung offenzuhalten, ist es wünschensZukunft zu sehen als wir.74 wert, einige Entscheidungen ­aufzuschieben. Endgültige Entscheidungen zu treffen ist zwar verführerisch, mögliche Fehlplanungen sollen aber später abänderbar sein. Es ist nur wahrscheinlich, dass Menschen, die in Zukunft mit dem begonnenen Projekt leben müssen, mit ihrem Wissensstand und ihren Möglichkeiten A  Abkürzung zu „Macht gestalten“, Seite 260.

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zur ­Einschätzung der Zukunft mehr wissen, als wir es in der Gegenwart jemals ­könnten. Georg Hans Neuweg weist noch auf einen weiteren möglichen Verlust hin: Er sieht im endgültigen Planen, in bestmöglichen oder endgültigen Lösungen die Selbstbestimmung der Menschen in Gefahr: Es ist die Idee einer absoluten geistigen Selbstbestimmung des Menschen, die über die Idee einer absoluten moralischen Selbstbestimmung zu dem Versuch führt, die gute Welt am Reißbrett zu entwerfen – und damit in Verhältnisse, die Selbstbestimmung ­gerade nicht mehr zulassen.75

Einzelstück und Massenware | Standardisierung In welchem Verhältnis Variantenreichtum und Massenproduktion aktuell stehen, deutet darauf hin, wie wichtig Standardisierung für Design ist. Ob es nun um eine Angleichung der Alice Hawthorn76 meint dazu im Film Bögen geht oder um die Standardisierung O ­ bjectified: der Pfeile, wie im Zitat von Alice Hawthorn, The goal of Industrial Design has always been es ist ein Interesse und ein Auftrag im Demass production. Producing standardized obsign, eine Skalierbarkeit mit zu denken. Gejects for mass consumption by millions and milrade beim Thema Standardisierung zeigte lions of people. One of the earliest examples sich in einem Interview mit einem Designer would be the first emperor of China. He was von Nokia Mobiltelefonen77 eine Ambivawaging war to try and colonize more and more lenz: Konsumentinnen und Konsumenten parts of what eventually became China and one wollen sich zwar gerne einmal individuelle of his problems was that each of his archers Cover für ihr Handy gestalten, aber der Lamade their own arrows and so if an archer died degerätedschungel war um 2010 noch weita fellow archer couldn’t grab the arrows from aus unübersichtlicher als zehn Jahre spähis quiver and start shooting at the enemy beter. Die Hersteller von Handys konnten sich cause the arrows literally didn’t fit his bow. So bis auf eine freiwillige EU-weite Absichtserthe first emperor and his advisors came up with klärung 2011 auf kein einheitliches Ladea way of standardising the design of the arrows system einigen – gute ökonomische Gründe so that each arrow would fit any bow. sprechen nämlich dafür und dagegen.78 Der Designer äußerte folgende Bedenken: Ganze Landstriche hingen in Indien von den Produktionsstätten für Nokia und auch deren Ladegeräten ab. Wenn diese nun aufgelassen würden, weil man woanders einheitliche Ladegeräte baut, würden Abertausende Menschen vor Ort ihre Jobs verlieren. Einige der Designerinnen und Designer, die ich interviewen durfte, nahmen sich als nicht genügend gewappnet für die Ausmaße von Entscheidungen wahr, in die sie eingebunden waren. Probleme in Designprozessen sind selten Probleme,

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die nur auf Einzelstücke zutreffen – Cameron Tonkinwise fasst die Schwierigkeiten so: Design is the applied science of mass; the mechanical engineering of mass production and the social engineering of mass consumption. There is never just one of any design; this is what differentiates design, which is always industrial, from craft. When Victor Papanek claimed that design is one of the most harmful professions, it was because it operates at unlicensed volume.79 Design sei die angewandte Wissenschaft der Masse: Es gibt ja nicht nur einzelne iPhones, sondern es verkauften sich allein von den ersten beiden Generationen der iPhones 6 Millionen Stück. Nokia verkaufte zur selben Zeit schier unvorstellbare 10 Millionen Telefone pro Woche.80 Im krassen Gegensatz dazu steht die marktgerechte Präsentation der Designs – one on one – in Magazinen und Werbung. In diesem Sinne scheint die Präsentation von Designs oft den Designprozess gemeinsam mit der Produktionswirklichkeit komplett auszublenden.A

Sustainability | Was heißt hier „weg“werfen? Wenn Mobiltelefone ausgedient haben oder durch neuere Exemplare ersetzt werden, was geschieht mit ihnen dann? Wo kommen sie hin – weg? Wie kann es überhaupt zu dem Gedanken kommen, man könne etwas auf diesem runden Planeten, dieser Insel im Weltall, „weg“werfen? Wohin In particular, discussions of sociotechnical denn? transitions and their governance routinely obDesignschaffende sollten sich auch der scure the central role that practitioners themVerhaltensweisen, die sie fördern oder unterselves play in generating, sustaining and overbinden, bewusst sein. Es reicht laut Camethrowing everyday practices. There is more to ron Tonkinwise82 nicht, die Rolle von Usern this than merely recognising the role of users. quasi als zentrale Figur im Gebrauch zu beAs we have sought to show, focusing on practrachten. Wenn sich der designerische Blick tices, their trajectories and their interconnecauf sämtliche Requisiten des menschlichen tions, obliges us to attend to processes of ongoHandelns erweitert, haben Veränderungen ing transformation, feedback and related in Richtung nachhaltige Entwicklung weitcircuits of reproduction.81 aus größere Chancen auf Verwirklichung: Dinge sind nicht nur Elemente einer Praxis, sondern sind aufs engste verwoben mit Formen des praktischen Know-hows, mit körperlichen Aktivitäten. Bedeutungen, Ideen und Verständnisse sowie auch Ma-

A  Abzweigung zurück zum Foyer: Was wird hier in dieser Ausstellung gezeigt? oder: Die interessanten Dinge sind nicht unbedingt Dinge, Seite 018.

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terialien, Infrastrukturen und soziotechnische KonfigurationenA1 sind in Betracht zu ziehen. Die Frage, wie Verhaltensmuster und tägliche Rituale zueinander in Beziehung stehen, wie sie sich gegenseitig aushöhlen oder verstärken, dies alles sind Schlüsselthemen, wenn man große technologische und gesellschaftliche Veränderungen verstehen oder gar steuern will, vor allem solche in Richtung Nach­ haltigkeit. Welche Rolle Rituale für Nachhaltigkeit spielen, dieser Frage widmet sich Cameron Tonkinwise in seinem Aufsatz Beauty-in-use.83 Er berichtet über eine von Lehrenden der EcoDesign Foundation in Australien gerne gestellte Aufgabe an ihre Studierenden: Design a tea cup that can and will be used every day for at least 100  years. Er beschreibt, wie sich Studierende üblicherweise der Aufgabe annähern: zuerst über spezielle Materialien, besonders robustes Design, unzerstörbar – bis sie auch auf den Faktor „will be used“, und zwar jeden Tag! stoßen: Sie kommen meist früher oder später auf die Design semantics constrain, map and afford not kontraintuitive Lösung, die Teetasse zwar just the instrumental use of what is designed, fragil zu machen, sie jedoch in ein wichtiges but how the designed is perceived and valued. Ritual einzubinden. So hat diese Tasse durch Designers can, do and should design patterns die Verbindung mit dem Menschen in Form of behaviour like rituals of care. They cannot eines Rituals enorme Beständigkeit.A2 Ein ­design these in the way they specify materials Ritual, das wert ist, gepflegt zu werden, überand components, but they do, every time they dauert mühelos Generationen. design, emphasise, promote, and foster certain Der Kontext für dieses Argument ist, practical dispositions towards what they have dass es so etwas wie ein nachhaltiges Prodesigned.84 dukt an sich kaum gäbe, sondern dass es nur mehr oder weniger nachhaltige Wege gibt, mit Dingen umzugehen. Verschwendung von Ressourcen entsteht mehr oder weniger einfach daraus, wie Menschen sich zu den Dingen des Alltags in Beziehung setzen – oder wie sie sich eben nicht zu ihnen in Beziehung setzen. Ein Plastikbecher, der prinzipiell eine Materiallebenszeit von mehreren Hunderten Jahren hat, wird selten länger als ein paar Minuten verwendet, bevor er zu Müll deklariert wird. Und selbst Gegenstände, deren Nachhaltigkeit prämiert worden ist, können auf außerordentlich unnachhaltige Weise verschwendet werden.85 Ob es den Gestaltenden nun bewusst ist oder nicht, sie haben immensen Einfluss darauf, wie sich Menschen zu Gegenständen in Relation setzen. Designerinnen und Designer können und sollten ihre Fähigkeiten und ihr Verantwortungsbewusstsein über die Gestaltung von Dingen hinaus auf die Verhältnisse zwischen Menschen und Dingen ausdehnen.

A1  Soziotechnische Konfigurationen werden in folgendem Abschnitt noch näher beschrieben: Seite 321. A2  Siehe auch in Kapitel 3.3.3 „Gewohnheiten und Kontexte“, Seite 254.

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[RAUM 3] – [EXPONAT 16]  3.3 GUTE DINGE – BÖSE DINGE?

Exponat 16: Guter Kaffee, böser Kaffee

Die Bilderserie zeigt eine von vielen Möglichkeiten der Kaffeezubereitung.

Es ist ja nicht nur der Kaffee. Was brauche ich alles, um aus den Kaffeebohnen das bittere, anregende Getränk zu brauen? Was ist alles nötig, damit Kaffee in meiner Küche zubereitet werden kann? Woher kommen die Rohstoffe für meine Kaffeemaschine, wo wird sie gebaut, wie wird sie verkauft? Wie kommt der Kaffee aus den Anbaugebieten in meinen Supermarkt, wie bin ich gewohnt, ihn zu kaufen? Welche Art der Zubereitung ist mir geläufig? Lauter technische und soziale, also eigentlich soziotechnische Zusammenhänge, ohne die so einfache Dinge wie Kaffee zubereiten gar nicht möglich wären. Eine interessante und weitreichende Frage stellt sich fast bei jeder Designaufgabe: Zu welchen Systemen gehören die Dinge? Alle Dinge, die gestaltet werden, sind in solche Zusammenhänge eingebettet, dennoch ist dieser Blickwinkel noch nicht allen geläufig. Was kann dieser Blick zur Designpraxis beitragen? Und was macht aus diesem Blickwinkel eigentlich gutes Design aus?

Wegbeschreibung – der Pfad von diesem Exponat zum nächsten führt über: 3.3.1 Good Design – Designansprüche aus einer anderen Zeit  ≥  3.3.2 Tools for Conviviality – Zusammenleben ermöglichende Objekte  ≥  3.3.3 Gewohnheiten und Kontexte – Neue Selbstverständlichkeiten etablieren  ≥  3.3.4 Design for Debate | ­Lösen aus dem Hintergrund – Diskussionen zum Anfassen  ≥  3.3.5 Design und ­gesellschaftliche ­Realität – Neue Normen schaffen?

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3.3.1  Good Design In den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts definierte man in den USA, was es mit gutem Design auf sich hätte. So gab es zu dieser Zeit beispielsweise eine Reihe von Designausstellungen zum Thema Good Design. Auch im deutschsprachigen Raum ist die Gute Form eine Erscheinung, die durch ihre Qualität an Material, Verarbeitung und Funktion im Kontrast steht zur schlechteren, billigeren Massenware. Was diesen Ausstellungen, Wettbewerben sowie den Bemühungen des Werkbundes gemeinsam ist, ist ihre Ausrichtung auf eine Geschmackserziehung der Öffentlichkeit. Hintergrund hierfür ist der wirtschaftliche Aufschwung zu dieser Zeit und der wachsende Wohlstand, wo sich „Designer und Hersteller um eine Steigerung der Lebensqualität“ mithilfe der neuen techSchließlich sind Entwurf, Produktion und Genischen Möglichkeiten bemühten.86 brauch gesellschaftliche Vorgänge, die auch Nicht nur Geschmacksfragen im kaufabbilden, was im Augenblick tendenziell an kräftigen Umfeld wurden hier diskutiert, ­Interessen, Einstellungen und Machtkonstel­ ­ reisliche auch die Herstellungsqualität und p lationen zum Ausdruck drängt. Den „unschul­ Gestaltung der Produkte spielte eine Rolle. digen“ Gegenstand gibt es nicht, so wenig Doch Gerd Selle thematisiert, dass gesellEntwurfs­geschichte und gesellschaftlicher schaftliche, geschweige denn ökologische ­Gebrauch „gegenstandslos“ sind.87 kungen von Produkten kaum bis gar Wir­ nicht dargestellt wurden. In einigen Interviews habe ich meinen Gegenübern die Frage gestellt, was für sie gutes Design ausmache. Einige meinten – nicht ohne Verbitterung in der Stimme – „Das, was sich gut verkauft“. Ich erinnere mich noch an einiges Unwohlsein bei manchen Interviewpartnerinnen und -partnern. Ein Designer merkte an, dass er glaube, von Berufs wegen schon eine gute Antwort darauf haben zu müssen, doch er habe keine, die ihn selbst überzeugt. Ist die Frage „Was macht gutes Design aus?“ überhaupt eine Frage, der ich mich als Designerin unbedingt stellen muss? Ich denke, dass es vielleicht keiner präzisen Antwort bedarf, doch es ist erstrebenswert zu merken, wann der Punkt erreicht ist, an dem ich nicht mehr hinter meiner Arbeit stehen kann. Irgendwann werden die Diskrepanzen zu groß, dann kann ich mich auch nicht mehr hinter einem Auftrag verstecken, in der Art: Ich kann nichts dafür – so wurde das eben in Auftrag gegeben. Der Designer Dieter Rams stellte zehn Gebote zu gutem Design auf. Seine Erfahrung zeigt, so sagt er, „dass die Gebraucher sehr positiv reagieren, wenn Dinge einsichtig sind begreifbar sind“88. Was ihn am meisten störe, sei die überwältigende Beliebigkeit und Gedankenlosigkeit, mit der vieles momentan produziert und vermarktet wird. Das beschränkt sich für ihn nicht nur auf die Produktwelt des täglichen Gebrauchs, er sagt: „Nicht nur am Gebrauchsgütersektor, sondern auch in der Architektur, in der Werbung, überall haben wir zu viel Überflüssiges.“ Seine Gebote lassen sich wie folgt zusammenfassen: Gutes Design sollte innovativ und ästhetisch sein. Es macht ein Produkt brauchbar und verständlich, ist

[EXPONAT 16]  3.3 GUTE DINGE – BÖSE DINGE?  251

ehrlich, unaufdringlich, langlebig, ist konsequent bis ins letzte Detail, ist umweltfreundlich und – gutes Design ist so wenig Design wie möglich.89 Abgesehen davon, dass sich aus diesen Kriterien vorwiegend ein gedachter Dialog zwischen Designern und Gebrauchern entfaltet, lassen diese Kriterien denkbar viel Handlungs- und Interpretationsspielraum. Eine mögliche Annäherung zum besseren Verständnis kann die Frage nach dem Gegenteil sein: Was ist das Gegenteil der Guten Form? So sehr Dichotomien andernorts auch einschränkend sein mögen, so kann es erhellend sein, bei verdächWer darf bestimmen, was „ästhetisch“, was „ehrlich“, was „unaufdringlich“ ist? Wie entsteht tig großem Konsens nach dem Gegenteil zu Konsens zu diesen Themen in jedem Projekt suchen. Das kann Hinweise auf etwas Veraufs Neue? stecktes hinter dem allgemein Guten liefern. Dieter Rams hat in obigem Zitat schon angedeutet, wie er schlechtes Design definiert: Er mahnt, beim Gestalten weder Beliebigkeit noch Gedankenlosigkeit walten zu lassen. Aber es gibt ein weiteres Gegenteil von gut – es könnte böses Design geben. Ivan Illich hat eine interessante Antwort darauf, was gute Dinge ausmacht, die sich in genau das Gegenteil verkehren lässt: Er definiert, dass gute Dinge viele Verwendungs- und Interaktionsmöglichkeiten bieten. Entscheidend ist, dass sie unter der Kontrolle der Nutzerschaft sind und deren Interessen dienen, das heißt, sie lassen sich prinzipiell selbst warten und reparieren, sie fördern Beziehungen und Wohlbefinden.90 Böse Dinge wiederum sind solche, die Abhängigkeiten schaffen und Beziehungen unterbinden oder zerstören und die nur sehr wenige Anwendungsmöglichkeiten enthalten. Aktuell an meinem Güter sind dann schädlich, wenn sie uns von Computer tippend, mein Mobiltelefon neben Systemen abhängig werden lassen, die uns am mir, fühle ich die Diktatur ebendieser Dinge Ende ausplündern oder im Stich lassen. Zwei– ich denke beispielsweise an das häufig nöfellos hängen wir alle an solchen Systemen, die tige Update der Betriebssysteme. Immer wieuns erpreßbar werden lassen. Einfluß haben wir der verschwinden mir Programme, Apps oder aber immer noch auf den Grad der Abhängigkeit. Funktionsweisen, an die ich mich schon geWir sollten diejenigen Objekte meiden, die uns wöhnt hatte. Doch ich habe keine Wahl: Tue zwingen, Zusatzgeräte zu kaufen. Wir sollen es, mach mit oder vergiss es. Bei manchen teden Gütern mißtrauen, die einseitige Informatilefonischen Beratungsstellen werde ich eronswege enthalten, wenn wir wohl auch nicht presst: „Ihr Anruf wird zu Zwecken der Quamehr ohne solche auskommen. Wir sollten zulitätssicherung aufgezeichnet. Sind Sie damit rückhaltend sein im Kauf und Gebrauch solcher einverstanden, drücken Sie die Eins. Sind Sie Güter, die isolieren.91 damit nicht einverstanden, legen Sie bitte auf.“ Habe ich zurzeit in meinem aktuellen Umfeld tatsächlich die freie Wahl, nicht an Facebook, Twitter oder WhatsApp teilzunehmen? Nicht an bestimmten sozialen Austauschformen teilzunehmen bedeutet, dass ich viel Interaktion in meinem Freundes- und Kundenkreis versäume – so soll ich wohl mein Leben um die Produkte herum gestalten, ohne die ich nicht arbeiten

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kann. Ich kann nur selten völlig frei entscheiden, wie viel Kundenbindung ich mir zumuten lasse. Habe ich mich einmal für ein (Betriebs-, Kamera-, Bank-, …) System entschieden, wäre ein Wechsel mit großem Aufwand und erheblichen Kosten verbunden. Lucius Burckhardt nennt solche Güter und Systeme schädlich, denn sie lassen uns abhängig werden von Systemen, denen wir nicht trauen können.

3.3.2  Tools for Conviviality Ivan Illich weist darauf hin, dass alle Technologie den Menschen dazu dienen soll, ihre individuelle Freiheit bestmöglich gestalten zu können. Menschen brauchen Werkzeuge, mit denen sie gut arbeiten könPeople need new tools to work with rather than nen, nicht solche, die an ihrer statt arbeiten. tools that work for them. They need technology Menschen brauchen sehr wohl viele to make the most of the energy and imagination Dinge zum Leben: Möglichkeiten, sich forteach has, rather than more well-programmed zubewegen, Medikamente gegen Krankheienergy slaves.92 ten, Mittel, um miteinander in Kontakt zu treten und zu kommunizieren. Aber die Menschen brauchen die Dinge nicht unbedingt, um sie zu besitzen, schreibt Illich, vielmehr brauchen die Menschen die Freiheit, sich die Dinge selbst einzurichten, mit denen sie leben wollen. Die Menschen sollten die Dinge ihren Vorlieben anpassen können und sie dazu benutzen können, für sich selbst und für andere gut zu sorgen. Menschen, die zwar Zugang zu Objekten und Dienstleistungen haben, aber keinen Einfluss darauf haben, wie die Dinge ihnen zur Verfügung stehen, und die nicht selbst entscheiden dürfen, was mit welchen Dingen geschehen soll, sind gestraft mit einer Einbuße an Lebensqualität. Sie werAs an alternative to technocratic disaster, I proden zu bloßen Konsumenten degradiert. Den pose the vision of a convivial society. A convivial im Gegensatz dazu erstrebenswerten Zustand society would be the result of social arrangean Lebensqualiät nennt Illich Konvivialität. ments that guarantee for each member the Illichs Gegenentwurf zu seinem skizziermost ample and free access to the tools of the ten technokratischen Desaster, einem Auscommunity and limit this freedom only in favor geliefertsein an die Technologien, beinhaltet of another member’s equal freedom.93 keine Anleitung zum Fertigen von konvivialen Geräten, er definiert vielmehr die Merkmale, an denen man ein konviviales Werkzeug erkennt – und anhand derer man im Gegenzug auch das nicht konviviale Werkzeug sofort erkennen kann. Die Grundstruktur, wie ein dem Menschen angemessenes Werkzeug aussieht, erfüllt drei Forderungen: • es schafft Leistung, ohne die persönliche Autonomie zu zerstören, • es bringt weder Sklaven noch Herren hervor • und es erweitert den persönlichen Aktionsradius.94

[EXPONAT 16]  3.3 GUTE DINGE – BÖSE DINGE?  253

Lucius Burckhardt bringt in einer Anekdote ein Beispiel für eine nicht konviviale Intervention: Ein Briefkasten vor den Toren der ländlichen Bauernhöfe soll Zeit sparen und die Zustellleistung erhöhen, doch eine wichtige Leistung des Briefträgers, der viel mehr als nur die Post bringt, nämlich Nachricht von den anderen im Dorf Lebenden, wurde damit abgeschafft. Der Briefkasten dient somit als Gegenbeispiel für ein konviviales Werkzeug. … eine Anekdote: Wir verbringen den Sommer Der Briefkasten unterbricht Beziehungen, auf dem Lande bei Bauern. Der Hof steht einunterbindet Verbindungen von Menschen sam, und an manchen Tagen sieht man nieuntereinander und ist somit ein Gegenstück mand außer den Briefträger, der vormittags die zu einem tool for conviviality – einem ObZeitung bringt. Nun kommt ein Erlaß der Postjekt, das dazu taugt, Verbindungen zwischen verwaltung: Die Postkunden sind gehalten, zur Menschen zu stärken. Rationalisierung der Postverteilung am Rande Illich mahnt, dass wir den Unterschieder Straße Briefkästen aufzustellen. Auch unden zwischen einer industriellen Beziehung ser Hof beteiligte sich an der Aktion: Wir kaufvon Werkzeug und Mensch und einer konviten einen hochmodernen, gelb und schwarz lavialen Beziehung dieser beiden auf die Spur ckierten Doppelbriefkasten und verankerten ihn kommen müssen. Dieser Unterschied liege nahe der Einfahrt am Straßenrand. Seither sind in Vernetzungen, die Beziehungen und jede wir von der Information abgeschnitten. Der Hof Art von Produktivität betreffen. hat zwar Fernsehen und eine tägliche Zeitung, Die Geschichte mit dem Briefkasten aber das sind überlokale Nachrichten, die man zeigt jedenfalls erneut, wie wichtig es ist, hier nur am Rande zur Kenntnis nimmt. Briefe dass wir Bemühungen anstellen, unsere jeschreiben sich die Bauern keine. Die Nachricht weils eigenen Vorannahmen immer neu zu von Hof zu Hof geschah durch das Gerede des überdenken und was wir zu wissen glauben Briefträgers, der in die Stube trat und die Zeistets neu zu kontextualisieren. Es ist äußerst tung ablieferte. Durch den Briefkasten-Erlaß anspruchsvoll, an die eigenen proximalen hat die Post eine Leistung abgeschafft, von der Terme – die Basis an Theorien und Einstelsie selber gar keine Kenntnis hatte, die aber auf lungen, von denen all unser Denken und Bedem Lande gerade die wichtigste war.95 greifen ausgeht – heranzukommen. Es ist anstrengend für mich, mir immer wieder bewusst zu machen, dass alles Sichtbare immer nur durch eine gewisse Brille zu sehen ist, die ich mir von Zeit zu Zeit in den Fokus holen muss. Sonst passiert es allzu leicht, dass ich zerstöre, was ich nicht kenne – nur weil ich es zu kennen glaube.

3.3.3  Gewohnheiten und Kontexte Die Geschichte über den Briefkasten zeigt auch, dass mit neuen Lösungen oder neuen Produkten oft – vielleicht nur aus Unachtsamkeit oder aus mangelndem Bewusstsein dafür – zerstört wird, was an Gepflogenheiten, an Ritualen vorher vorhanden war. Sobald sich aber neue Gewohnheiten eingestellt haben, kann es sein,

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Bild 71: Mousing around (1980) – clicking97

dass User leicht vergessen, was vorher üblich oder normal war … das bringt mich zurück zum Exponat, zum Beispiel Kaffee … konnte man nicht irgendwann einmal Bekannten als Besuchsgeschenk (wenn weder Blumen noch Pralinen in Frage kamen) einfach Kaffee mitbringen? Ganz schlicht und einfach delikat geröstete Kaffeebohnen. Seit einigen Jahren müsste Die industrielle Beziehung ist der konditionierte man zuerst fragen: Besitzen die Besuchten Reflex, die stereotype Reaktion des Individuums eine Filtermaschine oder nutzen sie eine Maauf Botschaften, die von einem anderen Benutschine mit sogenannten Tabs? Welche Tabs zer, den es nie kennenlernen wird, oder von eioder welche Kapseln werden verwendet? nem künstlichen Milieu, das es nie begreifen Worauf ich mit dem Kaffeebeispiel hiwird, ausgehen. Die – stets neue – konviviale naus will, ist, dass sich Gewohnheiten und Beziehung ist das Werk von Personen, die an Kontexte ändern können, und zwar manchder Erschaffung des sozialen Lebens beteiligt mal so langsam und schleichend, dass wir sind. Von der Produktivität zur Konvivialität Gefahr laufen, zu glauben, „es sei immer übergehen heißt, einen ethischen Wert an die schon so gewesen“ – so wie junge Designer Stelle eines technischen Wertes, einen realivielleicht den Eindruck haben, die Compusierten Wert an die Stelle eines materialisierten termaus sei ein immer schon dagewesenes Wertes setzen.96 Interface. Heute so weit verbreitet, noch vor wenigen Jahrzehnten völlig neu – wie erklärt man Menschen, die noch nie zuvor eine Maus benutzt haben, wie sie funktioniert? Ein Vorschlag ist Apples User-Guide für Anfänger in Sachen Computermaus, mousing around.

[EXPONAT 16]  3.3 GUTE DINGE – BÖSE DINGE?  255

Der Umgang mit der Maus scheint mir heute so selbstverständlich, dass ich ihn als völlig „intuitiv“ einstufen würde, doch musste auch der Umgang mit einer Maus erst einmal erlernt werden. So selbstverständlich ist es gar nicht, eine Bewegung auf einer horizontalen Fläche als vertikale Bewegung auf einem senkrechten Bildschirm übersetzt zu verstehen. Im Bild 71 ein Screenshot des interaktiven Lernprogramms zur Einführung der ComThe most glaring blank on the moral canvas putermaus 1980. Im Bild wird gerade die gehowever, is the unconcern with Churchill’s prinzielte Bewegung des Cursorpfeiles auf ein geciple. [First we shape our buildings, the our wünschtes Objekt und dann das Drücken der buildings shape us, see page 155] If we are unTaste an der Maus als anklicken definiert und aware of how the shaping of our household typitrainiert. cally shapes our practices, we can tell our chilWie schon mehrfach in dieser Ausdren to do their homework, to stay away from stellung gezeigt, gestalte ich als Designerin soda pop and snacks, to talk to us, and to pracnicht nur den instrumentellen Nutzen, ich tice their instruments till we are blue in the gestalte die Nutzung der Dinge und vor alface – it will only create frustration and resentlem die Lebenswelten um diese Dinge hement unless our home is so arranged that doing rum mit. Ich erinnere an die Um-zu-Strukthe right thing comes naturally or at least does tur des impliziten Wissens:A Von einem 98 not require heroic self-discipline. proximalen Term, der mir so nahe ist, dass er mir nicht bewusst und nicht sichtbar ist, Warum sind die Werkzeuge, die ich tagtäglich hin zu einer Bedeutung, die ich durch das nutze, noch nicht konvivial? Wie kann man Gewahrwerden dieses unbewussten Terms sichtbar machen, was zu selbstverständlich ist, erst erkennen kann. So ist ein Werkzeug imals dass es in den bewussten Fokus gelangen mer gerade so gut, wie es sich als proximakönnte? ler Term integrieren lässt. Diese Integration wird vereinfacht durch Selbstverständlichkeiten, die wir sowohl als Designerinnen und Designer sowie auch als Nutzerinnen und Nutzer mittragen.

3.3.4  Design for Debate – Lösen aus dem Hintergrund Wie schon in Raum [1] angedeutet („Formen aufbrechen“, Seite 046) ist das experimentelle Design von Produkten, von Alltagsgegenständen, eine eindrucksvolle Möglichkeit, bereits bestehende Gewohnheiten zu überzeichnen und damit zur Sprache zu bringen. Vorher Unsichtbares wird damit in den Vordergrund gestellt, sodass eine Diskussion über die Randbedingungen des Designs möglich und notwendig wird.

A  Abzweigung: Die Struktur impliziten Wissens, Seite 061.

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Bild 72: my soft office © Jongeriuslab

Das Produkt selbst steht dabei nicht im Vordergrund, es geht vielmehr um die Kontexte, in die es eingebettet ist oder eingebettet sein müsste, wäre es ein tatsächlich kaufbares Produkt. Was uns selbstverständlich (geworden) ist, das haben wir uns einverleibt, das ist unser proximaler Term,A der nur durch bewusste Konzentration (wie zum Beispiel meditatives Betrachten), durch Fehler, Missverständnisse oder durch andere Brüche in der gewohnten Interaktion sichtbar werden kann. Kunstgriffe, Experimente wie das im Folgenden beschriebene eröffnen ebenfalls die Möglichkeit, über den in der Überschrift gemeinten Hintergrund bewusst nachzudenken. Für die Ausstellung Workspheres im Jahr 2001 im MoMA gestaltete die Designerin Hella Jongerius Arbeitsumfelder, die darauf hindeuteten, dass Computerarbeit sehr bald schon massiven Einzug in die Freizeit- und Privatwelten der Menschen halten würde. So nähte sie bei … we were inspired by a seminal book called spielsweise Tastaturen in Stoffkissen ein Cradle to Cradle. It told a story about rural und integrierte Monitore in Betten – um farmers in China using biological waste on their diese Arbeit besser kontextualisieren zu könpaddy fields. When someone comes around for nen, sei gesagt, dass Facebook99 erst 2004 gedinner they are expected to donate a ‘gift’ begründet wurde. fore they leave, returning the nutrients from the Auch Anthony Dunne und Fiona Raby meal back to the soil. How would social behavior nutzen das Design von fiktiven Produkten, and etiquette change if the main source of enum damit potenzielle Realitäten entstehen 101 ergy was human sewage? zu lassen, die durch diese Ausgestaltung plötzlich äußerst real wirken und besser diskutierbar werden. Sie nennen ihren Ansatz design for debate. Ein Beispiel ist die Poo Lunch Box – ein Gegenstand, der notwendig sein könnte, wenn das Poo der Kinder zu wertvoll als Energiequelle werden würde, um es in der Schule zu lassen. Zu diesem Szenario wurden die beiden durch das Buch Cradle to Cradle100 von Michael Braungart und William McDonough inspiriert.

A  Abzweigung: Erklärung proximaler und distaler Term, siehe Seite 066.

[EXPONAT 16]  3.3 GUTE DINGE – BÖSE DINGE?  257

Für dieses und ähnliche Projekte prägte James Auger102 den Begriff speculative design. Diese handfesten Spekulationen darüber, wie die Welt in der Gestalt von Produkten aussehen könnte oder sollte, dienen einerseits dazu, gezielt über zukünftige Entwicklungen nachzudenken, andererseits bieten sie auch Möglichkeiten, die aktuelle Praxis in Frage zu stellen.

3.3.5  Design und gesellschaftliche Realität Vom Spekulativen zum Tatsächlichen: Wie sieht die Rolle von Designschaffenden als gesellschaftliche Wirklichkeiten gestaltende Menschen aus? Unternehmen beauftragen Designerinnen und Designer, wenn sie ihre technischen Entwicklungen in den Alltag der Nutzerinnen oder Konsumenten bringen wollen. Design übernimmt in diesem Fall die Aufgabe, Technologien alltagstauglich zu machen. Oft mag diese Integration neuer Technologien hinter Auftragsformulierungen versteckt sein, wie zum Beispiel: „Machen Sie unser Produkt attraktiver“ oder „Im Segment der 25- bis 40-Jährigen sind unsere Verkaufszahlen nicht hoch genug, helfen Sie uns, diese Zielgruppe besser anzusprechen“ oder „Unser Produkt soll die veralteten Geräte der Firma X ablösen“. (Hierzu eine Randnotiz zum Volksempfänger, Zitat via Spiegel:103 „Das Gerät ist der bislang preiswerteste Rundfunkempfänger mit eingebautem Lautsprecher – Kostenpunkt 76 Reichsmark, weniger als die Hälfte der bisher erhältlichen Geräte. Dieser Volksempfänger soll ab sofort Radiohören für jeden Volksgenossen erschwingThe role of design seems to be to make the lich machen und die Stimme des Führers world a better place. It’s as if designers have all und seiner rechten Hand Goebbels in jeden sworn an oath never to think a bad thought. We deutschen Haushalt tragen.“) Hinter all den seem to have this blind optimism about the fugenannten und ähnlichen Aufträgen steckt ture and about technology. Designers somehow neben der Erhöhung von Verkaufszahlen automatically think that design is neutral and auch eine Verbreitung einer bestimmten implicitly good.104 Technologie und von allem, was damit einhergeht. Die Dinge, die wir benutzen, prägen nicht nur unseren persönlichen Alltag, sie prägen unsere Realität, unsere politische, ökonomische, ökologische, soziale und kulturelle Realität. Einfach zu sehen am Beispiel Mobiltelefon – Vorratsdatenspeicherung, Roamingtarife, Knappheit seltener Erden, Privatsphäre, Beschleunigung, Erreichbarkeit, Etikette, all das und mehr sind Themen, die mit der verbreiteten Nutzung von Mobiltelefonen einhergehen. Egal ob man als Gestalterin oder Gestalter nun mit vermeintlich großen oder kleinen Aufträgen zu tun hat, wichtig ist zu begreifen, an welcher Schlüsselstelle man sich auch in Hinblick auf große und undurchsichtige Zusammenhänge befindet. Das Designduo Tony Dunne und Fiona Raby ermutigt in ihrer Tätigkeit als

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Lehrende am Royal College of Art in London und in ihren Projekten, Design gezielt als medium for debate zu begreifen. Die Szenarien, die sie entwerfen, überzeichnen oft positive oder negative Aspekte einer Anwendung von Technologien. Die beiden warnen insgesamt vor einem übersteigerten Optimismus, was das Verfügbarmachen von Technologien betrifft, und ermuntern dazu, auch über negative Konsequenzen der Designarbeit nachzudenken: In der Art und Weise, wie Technologien in Produkten (wenn auch wie im Fall der Projekte von Tony Dunne und Fiona Raby nur in Prototypen oder Entwürfen) Anwendung finden, werden sie begreiflich und auch angreifbar im buchstäblichen Sinn. Dadurch, dass sich in ihren Entwürfen Konzepte „irgendwo zwischen Realität und Fiktion“105 materialisieren, können Diskussionen ausgelöst werden, noch bevor die Anwendungen großflächig wirkender Bestandteil gesellschaftlicher Realität sind. Diese gesellschaftliche Realität schafft Design nicht aus dem Nichts. Und natürlich nicht allein. Was jedenfalls in den gestalteten Produkten zum Tragen kommt, sind die Selbstverständlichkeiten Welche Gewohnheiten betrachte ich als unterund Werthaltungen (bewusst und unbestützenswert, welche als „zum Abgewöhnen“? wusst) der Auftraggeberinnen oder AutragKenne ich meine Werthaltungen und auch die geber und der Gestaltenden sowie auch ihre meiner Auftraggeber? Bin ich mit deren Wertjeweiligen Absichten. Üblicherweise werden haltungen einverstanden oder kann ich zuminzurzeit. Absichten wie ergonomische Handdest damit leben? Wie kamen die Zielgruppen, habung, Vorteile für Konsumentinnen und für die wir gestalten, zustande? Wie sind sie beKonsumenten, Verhaltensänderung, Marktgründet? Welche Argumente werden als „gültig“ positionierung und natürlich Absatzfördeanerkannt, um einen Entwurf voranzubringen? rung thematisiert. Es ist aber ebenso wichtig, von Zeit zu Zeit greifbar zu machen, welche Selbstverständlichkeiten quasi im Hintergrund diese Absichten lenken – im schlimmsten Fall sabotieren. Generell wage ich zu behaupten: Design hilft dabei, eine Werthaltung, ein Wertesystem vor einem bestimmten kulturellen Hintergrund zu materialisieren und damit wirksam, also Wirklichkeit werden zu lassen.

[EXPONAT 16]  3.3 GUTE DINGE – BÖSE DINGE?  259

[RAUM 3] – [EXPONAT 17]  3.4 MACHT GESTALTEN

Exponat 17: Hostile architecture

Ein Beispiel für hostile architecture – also feindliche Architektur. Drei Fotos desselben Objekts im öffentlichen Raum in London, am Pier vor dem Londoner Rathaus. Dieser große Platz könnte eigentlich ein Paradies für Skater sein: Doch Skaten ist dort verboten. Links ist das Verbot als Schild mit Schrift zu sehen, doch das Verbot ist auch in die Sitzstufen eingebaut. Metallnoppen verhindern, dass man mit Rollerskatern oder Skateboards Kunststücke vollführen kann.

Spazieren durch London. Öffentliche Plätze, Parks, ein Genuss. Doch als ich mich an einen Brunnen setzen möchte, stutze ich – etwa alle 60 Zentimeter sind Noppen am Brunnenrand angebracht. Es ist schlicht nicht auszuhalten, auf den Noppen zu sitzen, daher sitzen die Menschen fein säuberlich geordnet jeweils zwischen zwei Noppen. Ich frage mich, wozu sie noch dienen, außer um Korrektheit und Ordnung in die Sitzabstände zwischen den Menschen zu bringen? Ein vorbeifahrender Skater bringt mich auf eine Antwort: An den Brunnenrändern soll nicht geskatet werden. Eine weitere Nutzungsmöglichkeit verhindern die Noppen: Es ist nicht nur unbequem, auf ihnen zu sitzen, vor allem auf ihnen zu liegen ist fast unmöglich. Offensichtlich ist das längere Verweilen im Liegen hier nicht erwünscht. Wenn sich der Blick einmal eingestellt hat auf „hier darfst du nicht liegen“, fällt mir das an immer mehr öffentlichen Plätzen auf – an fast jedem Bahnsteig, bei Warteplätzen am Flughafen: Nirgends ist Liegen erwünscht.

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Wegbeschreibung – der Pfad von diesem Exponat zum nächsten führt über: 3.4.1 Machtverhältnisse in Produkte integriert – Wie die Dinge das Handeln be­ einflussen  ≥  3.4.2 Das Zielgruppenmantra – Ein wichtiges Ausblendinstrument  ≥  3.4.3 Verändern, ohne zu verändern – Macht als Bemächtigen

3.4.1  Machtverhältnisse in Produkte integriert Madeleine Akrich106 beschreibt, wie Designschaffende Hypothesen darüber bilden, wie die Welt aussieht, in die sie die zu entwerfenden Dinge hineinsetzen. Zu diesem Zweck definieren sie schon im Vorhinein Akteure107 mit gewissen Kompetenzen, Weltanschauungen, Geschmäckern und nehmen eine gewisse Entwicklung der Technologie, Wirtschaft etc. an. Wie ein Drehbuch, das mögliche Handlungsweisen enthält, spricht sie von Scripts,A1 wenn es um die imaginierten Interaktionsmöglichkeiten mit den Dingen geht. Solche Scripts können offen oder eher geschlossen sein, je nachdem, inwieweit sie Abweichungen vom Script zulassen. Wenn das Script in einem Museum beispielsweise lautet: „Bitte nicht berühren“, reichen die Möglichkeiten von offen bis geschlossen von einer aufgemalten oder aufgeklebten Linie über ein Podest bis zur Vitrine. Eine Linie, die Besucherinnen und Besucher anhält, sie nicht zu übertreten, kann leicht übersehen werden. Schwerer zu übersehen ist ein Podest: Wenn es hoch genug ist, sodass das nicht zu berührende Exponat außer Reichweite gelangt, erfüllt es seinen Zweck, und es ist bei einem Podest (vor allem in weiß) unwahrscheinlich, dass es betreten wird. Allerdings ist das Exponat dann vielleicht nicht mehr so gut zu sehen, hier kann eine Vitrine Abhilfe schaffen. Das Script „Bitte nicht berühren“ kann nun nicht mehr umgangen werden. Ein Objekt kann mehr als nur ein intendiertes Script erfüllen, genauso wie es nicht nur aus einem Material bestehen kann, ohne gleichzeitig eine Form zu haben. Wie in Raum [2] gezeigt, können Dinge auch abseits ihrer vorgesehenen Nutzung verwendet werden (siehe Seite 165, Umnutzung von Dingen). Macht – in Dinge integriert – bedeutet zum Beispiel, dass Scripts nicht umdeutbar,A2 nicht umgehbar sind. Wie zuvor in Ergonomie (siehe Seite 240, Ergonomie und Usability) gezeigt, kann durch möglichst genaue Andeutungen auch den Nutzenden entgegengekommen werden. Doch es gibt Formen, die eine andere als die (von Auftraggeberseite oder Gestaltungsseite) gewünschte Nutzung nicht zulassen, es tritt eine sehr starke Gängelung auf. Man kann sagen, eines der intendierten Scripts schießt dermaßen übers Ziel hinaus, dass im Extremfall der eigentliche Zweck, die grundlegendste Funktion des Objekts, in den Hintergrund tritt. A1  Abzweigung: Eine genauere Beschreibung des Konzepts Scripts findet sich auf Seite 205. A2  Abzweigung zu „Umnutzung von Dingen“, siehe Seite 165.

[EXPONAT 17]  3.4 MACHT GESTALTEN  261

Bild 73: Metallbänke am Bahnhof

Im Beispiel der gezeigten Bänke lässt sich bezweifeln, ob diese nahezu völlige Unbenutzbarkeit der Bänke in diesem Ausmaß geplant war. Es scheint im Interesse vieler Unternehmen zu liegen, dass auf ihren Grundstücken sich niemand länger als nötig aufhält oder gar schläft. Zu diesem Zweck ist es inzwischen üblich, vielerorts keine klassischen Bänke (ich denke hier an Parkbänke) an öffentlichen oder halböffentlichen Plätzen aufzustellen, sondern Sitzgelegenheiten, die ihrem Namen kaum mehr gerecht werden. Sie sind in einzelne Sitzeinheiten unterteilt, Armlehnen sind zwischen den vordefinierten Sitzflächen angebracht und verhindern, dass sich müde Reisende kurz hinlegen könnten. Nicht normgewichtige Menschen können sich möglicherweise überhaupt nicht hinsetzen und sperriges Gepäck wie Instrumentenkoffer ist auch nicht gut auf den Bänken abzulegen. Im Beispiel im mittleren Bild liegt der Verdacht nahe, dass an diesem Ort eine Sitzgelegenheit überhaupt nur zur Erfüllung einer gesetzlichen Vorgabe angebracht wurde, denn benützen lässt sie sich kaum. Sie ist aus Metall (vielleicht um vandalistische Aktionen zu erschweren), welches im Winter eiskalt und ungemütlich ist und sich im Sommer wegen der dunklen Lackierung unerträglich erhitzt. Wieder geben Sitzplatztrennungsarmlehnen die Größe des Sitzplatzes vor. Ausweichen oder nachrücken, falls mehrere Kinder sich setzen wollen, ist gar nicht möglich. Wenn eine bestimmte Nutzung so streng vorgegeben ist bzw. eine alternative Nutzung gar nicht möglich ist, kann man von materialisierten Machtgefällen sprechen: Es zeigt sich hier als Handlungsanweisung im Sinne von „Tu dies, unterlasse das!“, der ich als Nutzerin praktisch Jedes Artefakt hat sein Skript, seinen Auf­­ nicht ausweichen kann. forderungscharakter, sein Potenzial, VorbeiHierzu gibt es viele weitere, auch subkommende zu packen und sie dazu zu zwingen, tilere Beispiele. Smartphones und ähnliche ­Rollen in seiner Erzählung zu spielen.108 Kommunikationstools fordern meine Aufmerksamkeit im Moment des Klingelns, ich muss sie mir bewusst erziehen, mich bei wichtigen Gesprächen oder Treffen mit Freunden nicht zu unterbrechen. Um einen anderen Aspekt von Machtverhältnissen zu beleuchten, seien Diagnosegeräte erwähnt, zum Beispiel voluminöse Magnetresonanztomografen oder

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Computertomografen, die von Patientinnen und Patienten sowie auch vom betreuenden Personal eine richtige Choreographie in der Nutzung verlangen. Gerade im medizinischen Bereich ist der Zusammenhang auch im Abstand zueinander sichtbar: Macht und Nähe – wer darf wem wie nahe kommen? Ich denke hier vor allem an das Macht- und Näheverhältnis zwischen Arzt und Patient. Es gibt Diagnosegeräte (so gesehen bei einem Hautarzt), bei denen Behandelnde durch eine Lupe sehen müssen, die er oder sie dem Patienten oder der Patientin während des Durchschauens auf die Haut hält. Dadurch kommt der Arzt oder die Ärztin mit dem Kopf dem Privatbereich der zu behandelnden Person sehr nahe, was durchaus unangenehm für beide Beteiligten sein kann. Eine gewisse Intimsphäre zu bewahren hilft beispielsweise ein Diagnosegerät, das nicht das direkte Durchsehen verlangt, sondern bei dem die Lupe eine Kamera deren Bild auf einen Screen übertragen wird. Arzt oder Ärztin sehen auf den Bildschirm und müssen daher den Untersuchten nicht mehr zu nahe kommen. Intim- und Privatsphäre sind generell brisante Themen für Gestaltende: Ob es nun um Kommunikationsgeräte, Wohnbereiche, aber auch öffentliche Gebäude geht – Machtverhältnisse verändern sich durch undurchsichtige Kommunikationswege bzw. durch einseitige Informationsübertragung. Im Fall von Überwachungskameras verändert sich durch das  … an der Peripherie ein ringförmiges Gebäude; Gefühl des Überwachtwerdens das Verhalin der Mitte ein Turm, der von breiten Fenstern ten der Menschen, auf die die Kamera gedurchbrochen ist, welche sich nach der Innenrichtet ist. seite des Ringes öffnen; das Ringgebäude ist in Auf diesem Grundgedanken, dass die Zellen unterteilt, von denen jede durch die geÜberwachung das Verhalten verändert, sosamte Tiefe des Gebäudes reicht; sie haben jebald dem Individuum bewusst ist, dass weils zwei Fenster, eines nach innen, das auf es überwacht wird, beruht Jeremy Bentdie Fenster des Turms gerichtet ist, und eines hams Konzept für ein ideales „Inspektionsnach außen, sodass die Zelle auf beiden Seiten haus“ oder Gefängnis, genannt Panoptivon Licht durchdrungen wird. […] Vor dem Gecon. Präsentiert wurde das Konzept bereits genlicht lassen sich vom Turm aus die kleinen 1787, Michel Foucault folgert aus BentGefangenensilhouetten in den Zellen des Rinhams Beschreibung: In diesem neuartigen ges genau ausnehmen.109 Gefängnis gibt es im Gegensatz zu früheren ­Kerkern keine schützende Dunkelheit mehr, das Licht und mit ihm der Blick des Aufsehers oder der Aufseherin erfasst alles. „Die Sichtbarkeit ist eine Falle“ schreibt Foucault. Die Insassen werden jederzeit gesehen, ohne jedoch jemals selbst zu sehen. Die Lage ihres Zimmers zwingt den Insassen ihre Sichtbarkeit auf. Diesem Gesehenwerden können Häftlinge nicht entfliehen. Benthams Bau trennt also das Sehen vom Gesehenwerden. Wenn Macht als einseitig, uneinsehbar gestaltet ist, so wirkt sie auch dann, wenn niemand da ist, um tatsächlich eine Kontrollfunktion auszuüben. Allein die Möglichkeit des

[EXPONAT 17]  3.4 MACHT GESTALTEN  263

Bild 74: Plan des Panopticons und Presidio-Modelo-Gefängnisses auf Kuba, gebaut ca. in den 1920er Jahren, Foto von 2005110

­ esehenwerdens beeinflusst das Verhalten. Mit diesem Gedanken werden wohl in G Baumärkten Kamera-Attrappen verkauft, die Hauseingänge schützen sollen, ohne dass tatsächlich eine Kamera Aufzeichnungen vornimmt. Einseitige Informationswege im Sinne von durch Systeme/Software/Prozessdokumente unterstützte Machtverhältnisse Daraus ergibt sich die Hauptwirkung des Panerreichen aktuell absurde Dimensionen. opticon: die Schaffung eines bewußten und Fast jede Software, jede App lässt mich nur ­permanenten Sichtbarkeitszustandes beim Gedann als Nutzerin zu, wenn ich dem EULA fangenen, der das automatische Funktionieren (End User License Agreement) – also den der Macht sicherstellt. Die Wirkung der ÜberNutzungsbedingungen – zustimme. Hätte wachung ist permanent, auch wenn ihre Durchich etwas gegen die Nutzungsbedingungen führung sporadisch ist. […] Der architektonieinzuwenden, bliebe mir nichts anderes übsche Apparat ist eine Maschine, die ein rig, als die jeweilige Software gar nicht zu verMachtverhältnis schaffen und aufrechterhalten wenden. Wenn ich an Kommunikationsapps kann, welches vom Machtausübenden unabdenke, die mein gesamtes privates Umfeld hängig ist; die Häftlinge sind Gefangene einer nutzt, Tools, die meine Auftraggeber nutzen Macht­situation, die sie selber stützen.111 wollen, oder die Software, mit der ich als Designerin arbeite (arbeiten muss), Webseiten, die mir Information nur gewähren, wenn ich der Nutzung von Cookies zustimme, habe ich kaum eine andere Wahl, als einfach zuzustimmen. Andernfalls bekäme ich keinen Zugang.

264  RAUM [3] – VON DER ­N OTWENDIGKEIT, ­B EWUSST ZU ­G ESTALTEN 

Bild 75: Limited access – eingeschränkter Zugang

Nicht unerwähnt lassen möchte ich in diesem Zusammenhang einen Aufsatz112 von Bettina Heintz, die nachzeichnet, wie jedes Handeln, das klaren Vorschriften und Regeln folgt, prinzipiell mechanisierbar ist und dadurch schon lange vor der Automatisierung in gewissen Bereichen die Voraussetzungen dafür mittels Durchsetzung von Protokollen, Checklisten und Arbeitsabläufen geschaffen wurden. Die Technologien, die wir entwickeln, helfen Machtverhältnisse zu stabilisieren. So leitet Bruno Latours Aussage diesen Raum [3] ein: Technology is society made durable.113 Wenn nun die Machtverhältnisse in Dingen sichtbar integriert sind, wie verlaufen dann die Gestaltungsprozesse dazu? Im Folgenden wird exemplarisch das Finden und Definieren einer Zielgruppe als Beispiel für Verläufe und Verhandlungen in Gestaltungsprozessen durchdacht.

3.4.2  Das Zielgruppenmantra Kreative werden meist gleich zu Beginn eines Auftrages, eines Designprojektes damit konfrontiert, eine Zielgruppe benennen zu müssen oder eine bereits vorgegebene Zielgruppe zu akzeptieren.114 Das Definieren einer Zielgruppe bedeutet, dass sich Designseite und Auftraggeberseite auf einen fiktiven Personenkreis einigen, für den gestaltet wird. So wird definiert, für wen gestaltet wird und für wen nicht. Dan Formosa, Designer bei SMART Design, weist darauf hin, dass zu Beginn eines Designprozesses als Erstes Verhandlungen über die Zielgruppendefinition stattfinden müssen. Formosa bezweifelt die Sinnhaftigkeit von Durchschnittstypologien und führt in weiterer Folge als Beispiel an: Wenn etwas für Menschen mit Arthritis

[EXPONAT 17]  3.4 MACHT GESTALTEN  265

gut greifbar ist, dann ist es für alle gut greifbar. Es gibt in der Gestaltung von Gebrauchsgegenständen immer wieder etwas, das zumindest in einem Aspekt für alle passt, doch ist fraglich, ob das automatisch das Ergebnis ist, wenn man bei der Planung die Durchschnittsperson außer Acht lässt. Das Verführerische an Zielgruppendefinitionen ist, dass schon von Beginn eines Designprozesses an ein Ziel klar umrissen als solches wirkt. Zu einem sehr frühen Zeitpunkt darf die Unschärfe eines We have clients come to us and say, here is kreativen Prozesses nicht mehr als solche our average customer: for instance, female, wirken, darf sich nicht aus dem Vagen, Un34 years old, has 2.5 kids, and we’d listen poeindeutigen ein möglicher Weg finden laslitely and say, well that’s great, but … we don’t sen. Von Beginn an begleitet die am Gestalcare. About that person. What we really need tungsprozess Beteiligten ein fiktives Ziel. Es to do to design is look at the extremes. The ist festzuhalten, dass jegliches Scharfstelweakest, or the person with arthritis or the len zu diesem Zeitpunkt ein fiktives, willkür­athlete, the strongest, the fastest person. liches ist. Ich kann im Vorhinein noch nicht ’cause if we understand what the extremes wissen, wie etwas (unter Umständen völlig are, the middle will take care of itself.115 Neues) von verschiedenen Menschen unter verschiedensten Umständen wahrgenommen wird. Die Sinnhaftigkeit, einen Fokus, ein Ziel in einem kreativen, explorativen Prozess zu einem so frühen Zeitpunkt zu benennen, wo der eigentliche Entwurfsprozess noch gar nicht begonnen hat, darf in Frage gestellt werden. Zweitens ist an Formosas Aussage zu bemerken, dass möglichst umfassende Definitionen der Zielgruppe immer wieder als etwas sehr Positives dargestellt werden. Bemühungen in Richtung Design for All oder Inclusive Design heben oft hervor, dass Produkte, die für Menschen mit speziellen Bedürfnissen designt werden, oft auch für viele andere bequemer, angenehmer zu nutzen sind. Eine dieser Erfolgsgeschichten ist der Ford Focus, der zum ersten Mal 1998 erschien und eigentlich für ältere Menschen mit ersten körperlichen Einschränkungen designt wurde. Rückfahrkamera, größere Knöpfe, solche und ähnliche Elemente sollten ihn insgesamt zum Verkaufsschlager werden lassen. Obwohl ich die oben genannten Initiativen nicht im Geringsten in Frage stellen möchte, will ich dennoch an der Aussage von Formosa einhaken: „If we understand what the extremes are, the middle will take care of itself.“ Erstens ist fraglich, ob eine Bearbeitung der Extreme alles dazwischen beinhaltet – denn wenn ich an die größte und die kleinste Person denke, habe ich noch lange nicht an die schwerste und die leichteste Person gedacht oder an die blinde Person und auch nicht an die beweglichste. An alle Menschen und alle Bedürfnisse zu denken ist ein schwieriges Kunststück, das wohl kaum zu vollbringen ist. Wenn man dazu noch eine Personengruppe definiert, an die man gar nicht zu denken braucht (die „Mitte“), zeigt sich die Zielgruppendefinition ganz deutlich als ein Ausblendinstrument. Was problematisiert wird und was nicht, an wen bei der Gestaltung gedacht werden muss und wer vernachlässigt werden darf – dies sind die komplexen Hinterbühnen der Zielgruppendefinitionen.

266  RAUM [3] – VON DER ­N OTWENDIGKEIT, ­B EWUSST ZU ­G ESTALTEN 

Die dritte Anmerkung zur Zielgruppe bezieht sich auf das in der Überschrift genannte Mantra im Sinne eines Wortes oder Spruches, der immer wiederholt wird und durch die ständige Wiederholung zwar an Tiefe, aber nicht notwendigerweise an Sinnhaftigkeit gewinnt. Eine (möglicherweise nicht wirklichkeitsgetreue) Annahme wird durch ständige Wiederholung nicht zur Tatsache. Oder doch? Designer und Designerinnen dürfen skeptisch sein, wenn Auftraggeber bereits fertig ausgearbeitete Zielgruppenverständnisse mitbringen, deren Definitionen möglicherweise völlig willkürlich zustande gekommen sind. Allzu oft regieren immer noch Vermutungen und vorgefasste Meinungen über Bedürfnisse von Menschen in den Verhandlungen über die Zielgruppe und viel zu selten Fakten, Beobachtungen oder Ergebnisse von Experimenten.A So gestaltet sich die Formulierung der Zielgruppe manchmal schon als erster Kampf in einem noch jungen Gestaltungsprozess. Der Autorendesigner Marc Newson erzählt: „I find myself constantly fighting with executives about the validity of focus groups“116, und berichtet damit von einem Machtkampf um die Priorisierungen in einem nicht partizipativen Designprozess. An unterschiedlichen Sichtweisen, für wen überhaupt gestaltet werden soll, an Anschauungen über die Gültigkeit der Auswahl von Fakten und deren Gewichtung können derart belastete Prozesse auch scheitern. Doch selbst wenn von Beginn an Einigkeit über den Personenkreis, für den gestaltet werden soll, herrscht – Designerinnen und Designern soll gestattet sein, beim Wort Zielgruppe hellhörig zu werden.

3.4.3  Verändern, ohne zu verändern Ben Terrett berichtet in seinem Blog,117 dass ihm bei Aufträgen oft nicht erlaubt wird, in seinem Sinne kreativ zu werden. Die Auftraggeberseite sagt: Neues gestalten ja, aber bitte nach unseren Regeln; das Arbeitsfeld für Freidenker wird in diesem Beispiel genau abgesteckt. Wenn das Selbstbild der Designerin und die Rahmenbedingungen des Auftrages nicht gut zusammenpassen, sind Konflikte vorprogrammiert. Ich will mir nicht anmaßen zu sagen, dass, wer keine Konflikte heraufbeschwört, nicht ausreichend kreativ sei. Es sei darauf hingewiesen, dass Kreativität das Potenzial hat, eigene und fremde Vorannahmen herauszufordern. Kreativität kann auch dadurch begrenzt werden, dass man einen Konflikt vermeiden möchte und sich den mächtigen Vorgaben fügt, um sich innerhalb von Grenzen zu entfalten. Der eine Weg führt in Konflikte, das andere Setting ermöglicht andere Spielarten kreativen Gestaltens.

A  Abzweigung: Mehr zu Ergebnissen aus Experimenten, Beobachtungen etc. in Raum [2], Seite 169 ff.

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Der traditionelle designerische Anspruch, wie Lucius Burckhardt kritisiert, spielt sich immer innerhalb zugeteilter Bedingungen ab. Er bemerkt, dass „der Architekt und der Designer ja nicht in die InAs Wiebe Bijker and John Law put it, ‘Our techstitution eingreifen [durften], sondern sie nologies mirror our society. They reproduce and verbesserten Gestaltungen und Geräte innerembody the complex interplay of professional, halb der zugeteilten Bedingungen“118. Detechnical, economic, and political factors.’ Resign und die Rolle von Gestaltung haben sich lationships of power and authority frequently zwar erheblich weiterentwickelt, dennoch are expressed in material settings that are deist es oft hilfreich, sich vor Augen zu halten, liberately designed and built. For example, dass die Bedingungen, welche die Designproduct differentiation in consumer durables arbeit bestimmen, meist willkürlich zugetends to mirror the prevailing patterns of social teilt sind und nicht notwendigerweise in der differentiation: what it means to be a woman or Natur der Sache liegen, sondern primär der man, boss or secretary takes on durable form, Werthaltung und Weltsicht der Beteiligten from the razors we use to the desks we sit at.121 am Designprozess entspringen, meist jener der Auftraggeberinnen und Auftraggeber. In welche Gegebenheiten Designerinnen und Designer eingebettet sind, bestimmt das Spannungsfeld, in dem sie gestalten. Sichtweisen aus der Technik- und WissenschaftsforschungA können für solche erweiterten Betrachtungsweisen, die das Umfeld, in dem gestaltet wird, zusamThe logic is simple: (1) designers have to promen mit Technologien und Produkten geceed in terms of their own understandings of meinsam in den Blick nehmen, hilfreich the world; (2) their ideas have been shaped by sein. Woodhouse und Patton leiten eine Sontheir individual experiences, disciplinary trainderausgabe des Journals Design Issues119 mit ing, and demographic positioning by race, class, einer Standortbestimmung zum Thema „An and gender; (3) what ‘makes sense’ will tend to STS Focus on Design“ mithilfe des Begriffs be in accord with designers’ tacit assumptions – Design by society ein. Rahmenbedingungen and possibly not in accord with the assumpfür Design umfassen einerseits konkret fortions of persons not engaged in the design promulierte Regelungen und Gesetze, wie zum cess; (4) to the extent that designers’ underBeispiel Sicherheitsregelungen oder Norstandings depart in significant ways from those men, aber auch impliziten Regeln wird meist of the unrepresented, unfortunate conseFolge geleistet. Diesen Umstand beschreiquences may ensue. For example, the design of ben Woodhouse und Patton so: „Design city streets creates obstacles for many people by society is intended to signify that social who do not fit the profile of the adept user. norms, values, and assumptions are reproImagine how different city streets would be if duced – often unintentionally – in the prourban designers and traffic engineers came disducts of design.“120 Diese sozialen Kräfte (soproportionately from the ranks of the visually cial forces) haben enormen Einfluss auf die impaired, elderly, wheelchair-bound, and bicygesamte technologische und gesellschaftlicle commuters.122 che Entwicklung. A  Abkürzung zu „Materiality of Social Practice“, Seite 319.

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Machtgefüge materialisieren sich in den Verhältnissen, in denen Designer und Auftraggeber stehen. Jede Gestalterin wirkt in solchen Spannungsfeldern. Die Kunst ist abzuschätzen, inwieweit ein Konflikt noch produktiv sein kann, sodass gegensätzliche Interessen ausverhandelt werden können, ohne das Gelingen des Projektes zu gefährden. Der Gegenpol dieser Extremposition des Verhinderns durch Konfrontation, des nicht mehr produktiven Konflikts, ist jener des vorauseilenden Gehorsams, wenn mögliche Konflikte einfach ausgeblendet werden.

Macht als Bemächtigen Macht soll in den beschriebenen Fällen als Gestaltungsmacht verstanden werden, als produktives123 Kräftefeld. Design kann diese Kräftefelder nutzen und sich ihrer bemächtigen. Die Vorsilbe be- macht ein deutsches Verb transitiv,124 die Vorsilbe drückt in Bildungen mit Substantiven oder Formen des 2. Partizips aus, dass eine Person oder Sache mit etwas versehen wird. Ich bemächtige mich also einer Sache oder ich bemächtige jemanden. Latour meint eine bestimmte Art von Bemächtigen, wenn er schreibt: „As to emancipation, it does not mean ‘freed from bonds’ but well-attached.“125 Nicht das Kappen der Seile, an denen eine Marionette hängt, würde Freiheit bedeuten – sie wäre bewegungsunfähig im luftleeren Raum –, vielmehr würden Seile unter der Kontrolle der Marionette sie zur Handlungsfähigkeit bemächtigen. In diesem Sinne möchte ich die vorangegangene Diskussion gerne dahingehend verstanden wissen, dass eine Zielgruppe als ein Gestaltungsinstrument, als ein Vertrag zwischen Design und Auftraggeberseite gesehen werden kann. Eine Zielgruppe ist nur ein Beispiel für ein Instrument, mithilfe dessen man in Gestaltungsprozessen die vorhin beschriebenen Verhältnisse ausverhandeln und stabilisieren kann.

[EXPONAT 17]  3.4 MACHT GESTALTEN  269

[RAUM 3] – [EXPONAT 18]  3.5 DESIGN, PROBLEME UND SPRACHE

Exponat 18: Dein Problem ist deine Lösung

Das Bild zeigt einen Brillenträger und eine Brille. Wenn man nicht mehr scharf sieht, kann man die Brille zu putzen versuchen. Hierzu gibt es eigens entwickelte, einzeln verpackte Brillenputztücher, zu sehen im rechten Bild.

Ich bin Brillenträgerin. Ich sehe einen Gegenstand nur unscharf, wahrscheinlich ist meine Brille schmutzig. Ich könnte nun einfach eine andere Brille aufsetzen oder zum Zweck der Reinigung derselben Brille könnte ich ein Waschbecken aufsuchen und mit Spülmittel und Wasser meine Brille reinigen. Doch es gibt auch ein eigens für dieses Problem entwickeltes Produkt: das Brillenputztuch. Ich befreie es von der Verpackung und reinige meine Brille. Wenn ich nach dieser Prozedur den Gegenstand noch immer nicht scharf sehe, braucht es wohl doch eine andere Brille.

Wegbeschreibung – der Pfad von diesem Exponat zum nächsten führt über: 3.5.1 Probleme gibt es nicht einfach126 – Wie Sprache das Denken und vor allem die Kreativität beeinflusst  ≥  3.5.2 Wicked Problems | Unzähmbare ­Probleme – Manche Probleme lassen sich nicht lösen  ≥  3.5.3 Wohin tragen Metaphern im Design?

3.5.1  Probleme gibt es nicht einfach Wie Janosch127 erzählt, geht der kleine Tiger Pilze finden, anstatt zu sagen, er gehe Pilze suchen – analog dazu überspringt man als Designerin das Problem-Finden, wenn man gleich beim Problem-Lösen beginnt. Wenn Designerinnen und Designer ein Problem lösen können, bedeutet Erfolg nicht nur, dass sie das Problem ge-

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löst haben, sondern vielmehr, dass sie imstande waren, ein lösbares Problem zu identifizieren. Die Definition eines Problems versammelt schon mögliche Lösungen.129 Das Benennen von Zielsetzungen und Problemen kann meist als willkürlich, zumindest als gewählt betrachtet werden, sie liegen nicht in der Natur der Sache. Vorgegebene Regeln und Rahmen kann man verändern oder sogar aufbrechen, wenn man will. Gestaltende sollten sich solche Rahmen nicht einfach unhinterfragt übergeben lassen im Sinne von: „Dies ist unser Problem, bitte lösen Sie es!“, sondern sich die Freiheit nehmen und überlegen, ob das genannte Problem überhaupt eines ist, das sie selbst auch sehen. Eine Problemstellung, mit der man nicht arbeiten will, kann verweigert werden, Gestaltende tragen … how the designer’s job in essence is not probdie Werthaltungen und Menschenbilder im lem-solving, but problem-finding. If clients can jeweiligen Projekt mit. Wenn ich nicht aktiv clearly define their problem, they are probably widerspreche, stelle ich mich in den Dienst able to by-pass the designer and proceed directly des Vorgegebenen, wie es John Milton in dieto a fabricator. Designers are employed when ser Zeile formuliert: „They also serve who something is problematic in a not entirely definonly stand and wait.“130 able way. When designers propose a solution, Das Gedankengut, das sich in der Aufsuccess means not only that they have solved a tragsformulierung schon zeigt, wird sich im problem, but also that they have successfully Produkt manifestieren. In der Beschreibung identified the right problem to solve. The client impliziten Wissens klassifiziert Polanyi auch finds in the solution a version of the problem that Theorien und Weltanschauungen als prothey had not noticed, but that nonetheless is proximale Terme.131 In diesem Sinne bedeutet foundly apt. The solution ‘flows’, in Czíkszentmisich als Designer einzubringen auch an der hályi’s sense, because it has the right balance of Auftragsformulierung mitzuarbeiten. Für newness and correctness.128 viele Designschaffende ist selbstverständlich, dass der Designprozess mit dem Formulieren der Aufgabe, des Problems, beginnt. Der Wikipedia-Gründer Jimmy Wales betont in vielen seiner Interviews, dass man bewusst wählen sollte, für wen und um welche Bedingungen herum man entwirft. In einem seiner Interviews strengt er den Vergleich mit dem Entwurf eines Steakrestaurants an. Sein erstes Projekt, Nupedia, so sagt er,132 sei vor allem entlang von Sicherheitsrichtlinien gestaltet gewesen: Alle Bemühungen folgten dem Ziel, dass böswillige, zerstörerische User möglichst wenig Schaden anrichten können. Das liefe darauf hinaus, ein Steakrestaurant zu entwerfen, in dem man keine Messer bekäme, schließlich könnten sich die Gäste selbst oder gegenseitig damit verletzen. Ihm wurde bewusst, dass das Scheitern von Nupedia wohl hauptsächlich darauf zurückzuführen war, dass man mit dem Gedanken an zerstörerische Menschen gestaltet habe und dadurch produktiven, gestaltungswilligen Menschen den Zugriff erschwert und ihre Gestaltungsmöglichkeiten beschränkt habe. Dass dieses gestaltungsoffene System vor allem die Haltung derjenigen widerspiegelt, die tätig sind, an die bei der Gestaltung hauptsächlich gedacht wurde – kann man

[EXPONAT 18]  3.5 DESIGN, PROBLEME UND SPRACHE  271

Bild 76: Möglichst wenig Schaden ­anrichten können

am Ungleichgewicht sehen, was die Repräsentation von Frauen vs. Männern aber auch von People of Colour betrifft. Wenn man Infrastruktur für soziale Interaktionen gestalten möchte, tut man gut daran, sie für den Großteil der Nutzenden möglichst angenehm und gut benutzbar zu gestalten. Es macht einen essenziellen Unterschied, welche Eigenschaften man diesem Großteil der Nutzenden unterstellt. Das Ergebnis von Designprozessen wird enorm von solchen Grundannahmen bestimmt. Orte und Institutionen, die um Individuen herum gestaltet sind, von denen gefährliche Handlungen zu erwarten sind, entfalten eine ganz andere Wirkung als Räume, die darauf ausgelegt sind, When we think about designing any kind of Menschen viele Gestaltungsmöglichkeiten space for social interaction, we need this kind einzuräumen. of analogy to say, ‘Look, basically we need to go Bill Moggridge, Mitbegründer von under the assumption that most people are IDEO, reformuliert diese Argumente und good.’ We don’t want to have systems that are fasst zusammen, dass unser Alltag gar designed around the worst people. At the same nicht funktionieren würde, wären wir stäntime we […] need institutions as a society to dig besorgt, dass Menschen ihre Freiheiten deal with those problems.133 hauptsächlich dazu nützen, sich gegenseitig umzubringen. „We don’t design societies like that, except for airports, which is one reason that airports are such dreadful places“, sagt er.134 Tagtäglich essen wir in Restaurants, wo alle Speisenden mit Messern hantieren, und wir gehen meist davon aus, dass man uns nicht erstechen wird, und meistens haben wir damit recht. Unsere Vorannahmen, so Moggridge, sind wichtige Hintergründe für Gestaltungsprozesse. Es handelt sich dabei nach Polanyi nicht nur um Hintergründe, sondern um einen Untergrund, auf dem alles Wissen entsteht. In der Struktur impliziten Wissens sind proximale Terme die Basis, auf der alles Begreifen gründet. Polanyi nennt diese Integration ja „die große und unentbehrliche stumme Macht, mit deren Hilfe alles Wissen gewonnen und, einmal gewonnen, für wahr gehalten wird“.135 Wenn durch diese Struktur meine Basis, mein Untergrund, handlungsleitend ist und

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sie mir nicht zugänglich sein kann, klingt das Wort Hintergrund im Gegensatz dazu zu wenig steuernd. Wie ist nun der Zusammenhang zwischen Vorannahmen, dem Untergrund meines Wissens und dem Finden von Problemen? Ein Problem ist eine von einer Person wahrgenommene Differenz zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll. Diese Konstruktion ist gemeint mit der Aussage: Probleme gibt es nicht einfach. Die Benennung eines Problems ist eine Kunst für sich. Erst das Entdecken eines Problems, das Aufwerfen einer Frage versammelt die möglichen Antworten. Die Problematisierung oder die Bemühung, ein Problem zu verstehen und als solches zu formulieren, begünstigt schon einen bestimmten Lösungsansatz. Das Problem in Lucius Burckhardts Beispiel wird „Reinigung des Gerätes“ genannt und provoziert daher als Lösung ein Reinigungsgerät oder die Optimierung des Zwiebelhackgerätes. Es stehen nicht der Zeitaufwand oder andere Ressourcen im Vordergrund, sondern gefragt wird explizit nach der Reinigung. Ganz ähnlich wie bei Beginnen wir also mit dem Entwurfsprozess. Hier stellten wir schon eingangs fest, dass der der Reinigung der Brille im Exponat ein BrilDesigner die Welt einteilt nach Objekten anstatt lenputztuch benötigt wird. So kann man sanach Problemen. Dies beruht auf der linguistigen, die Infiguration eines Problems struktuschen Determination, welche die Benennung riert die Reaktionsmöglichkeiten. ­eines Übelstandes gleich zum Gerät seiner Begriffe, die verwendet werden, um ein ­Abhilfe macht. Indem ich beklage, daß meine Problem zu beschreiben, können in diesem elektrische Zwiebelmaschine mir zwar beim  Sinne nicht nur dazu dienen, vorrangig FakHacken der Zwiebel eine Minute einspart, jeten zu beschreiben. Ein Begriff kann unterdoch zum Reinigen wiederum zehn Minuten schiedliche Disziplinen versammeln, die verbraucht, steht mir vor Augen nicht die Rückdann zu einem Sachverhalt aus der jeweils kehr zum einfachen Küchenmesser, sondern disziplinären Sichtweise etwas zu sagen hader Entwurf eines Zwiebelmaschinen-Reiniben. Leitbegriffe beziehen ihre Kraft genau gungsgerätes. Der benannte Zweck wird direkt daraus, dass sie eben keine Definitionen zur Abhilfe, anstatt daß ich generell versuche, sind, sondern Spannungsfelder beschreiben. unter den Bedingungen des Mangels an Zeit Ein fruchtbarer Begriff ist in diesem Sinne wirtschaftlicher zu kochen.136 einer, der erzählungsgenerierend wirkt, der motiviert, sich um Probleme zu bemühen, und der eine Vielheit von Zugängen erlaubt. Als Ziel muss auch nicht immer eine Lösung angestrebt werden. Man beachte zum Beispiel den Begriff der Heilkunst, der darauf pocht, bestimmte Aspekte eines Problems auszubalancieren, um dadurch ein Kräftegleichgewicht herzustellen, der aber nicht notwendigerweise eine Auflösung des Problems anstrebt.137 Dieses Ausbalancieren zeigt eine völlig andere Herangehensweise an Probleme als die zuvor beschriebene Frage-Antwort-Metapher: Problem und Lösung standen zueinander wie Frage und Antwort. Wenn ein Problem sprachlich mit einer Lösung beantwortet wird, gibt mir das einen bestimmten Umgang mit dem Problem vor. Auch Viktor Papanek wendet sich gegen solche Engführungen, er

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e­ rgänzt, dass auch Dichotomien dort konstruiert werden, wo Komplexität reduziert werden soll oder wo eine Vielheit unterschätzt wird.138 Der Satz vom ausgeschlossenen Dritten, tertium non datur, entspricht nicht der Vielfalt der Realität, sondern dient zum Beispiel rhetorisch dem Erzwingen einer Positionierung: Wer nicht für mich ist, ist gegen mich.

3.5.2  Wicked Problems | Unzähmbare Probleme Diese Frage-Antwort-Relation wird auch mit der Beschreibung der wicked problems umgangen. In deutschsprachigen Artikeln hierzu wird wicked meist übersetzt mit bösartig, ich möchte es lieber – den Autoren The kinds of problems that planners deal with – in ihren Ausführungen zum Verständnis des societal problems – are inherently different Terms wicked folgend – als unzähmbar überfrom the problems that scientists and perhaps setzen. some classes of engineers deal with. Planning Wicked steht im Gegensatz zu tame, problems are inherently wicked. As distinalso zu zahmen Problemen, wie sie beispielsguished from problems in the natural sciences, weise in der Mathematik auftreten. Zahme which are definable and separable and may Probleme haben eine Lösung, sie lassen sich have solutions that are findable, the problems eindeutig beschreiben, diese Lösungen lasof governmental planning – and especially sen sich überprüfen, testen und erneut anthose of social or policy planning – are ill-dewenden. Unzähmbare Probleme unterscheifined; and they rely upon elusive political judgden sich grundlegend davon. ment for resolution. (Not ‘solution.’ Social probHorst Rittel und Melvin A. Webber140 lems are never solved. At best they are only formulierten 1973 zehn Charakteristika von re-solved – over and over again.)139 solchen wicked problems, wobei sie anmerken, dass die Liste möglicherweise nicht vollständig ist. Für Planer wäre es unverantwortlich, so die Autoren, gesellschaftliche Probleme, die grundsätzlich meist unzähmbare sind, so anzugehen zu wollen, als handle es sich um zahme Probleme. Ihre Liste von Charakteristika wird offenbaren, warum sie das so sehen.

1  Es gibt keine endgültige Formulierung für ein unzähmbares Problem. Zahme Probleme können erschöpfend formuliert werden und den Problemlösenden stehen alle Informationen über das zu lösende Problem zur Verfügung. Nicht so mit unzähmbaren Problemen. Die Information, die zur Lösung benötigt wird, hängt davon ab, wie das Problem definiert wird. Und mehr noch: Das exakte Formulieren eines solchen Problems ist an sich schon ein Problem. „The process of formulating the problem and of conceiving a solution (or re-solution) are iden-

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tical, since every specification of the problem is a specification of the direction in which a treatment is considered.“142

2  Unzähmbare Probleme haben keine Stopp-Regel. Bei zahmen Problemen, wie zum Beispiel einem Schach-Problem, weiß der/die Lösende, wenn eine oder die Lösung gefunden ist. Weil aber bei einem offenen Problem, in offenen Systemen keine Kausalketten völlig geschlossen werden können, kann der Planer immer eine noch bessere Lösung anstreben. Das bedeutet, dass die Arbeit an einem unzähmbaren Problem willkürlich beendet wird oder besser gesagt aus Gründen, die dem Problem nicht immanent sind. Gründe, die selten direkt mit dem Problem zu tun haben, bestimmen über die Beendigung der Arbeit. Zeit, Geld oder Geduld der Planenden There are at least ten distinguishing properties setzen der Arbeit ein Ende. „[the planner] fiof planning-type problems, i. e. wicked ones, nally says, ‘That’s good enough’, or ‘This is that planners had better be alert to and which the best I can do within the limitations of the we shall comment upon in turn. As you will see, project’, or ‘I like this solution’ etc.“143 we are calling them ‘wicked’ not because these properties are themselves ethically deplorable. We use the term ‘wicked’ in a meaning akin to that of ‘malignant’ (in contrast to ‘benign’) or ‘­vicious’ (like a circle) or ‘tricky’ (like a leprechaun) or ‘aggressive’ (like a lion, in contrast to the docility of a lamb).141

3  Lösungen sind nicht richtig oder falsch, sondern gut oder schlecht.

In sozialen Planungs- und Designprozessen gibt es üblicherweise keine richtigen oder falschen Antworten. Mehrere Beteiligte sind berechtigt, über die Qualität der vorgeschlagenen Lösung zu urteilen, doch steht meist keine/-r der Beteiligten in einer absoluten Position, um formale Beurteilungskriterien zu bestimmen und anzuwenden. Es kann sogar sein, dass sich die Beteiligten überhaupt nicht einig sind, ihre Begründungen für eine Beurteilung hängen von unterschiedlichem Fachwissen, verschiedenen Interessen, Werthaltungen und Weltanschauungen ab. Ihre legitimen Beurteilungen lauten daher nicht richtig oder falsch, sondern beispielsweise zufriedenstellend, schlecht, halbwegs in Ordnung oder gut genug.

4  Es gibt keinen unmittelbaren und keinen letztgültigen Test für eine ­vorgeschlagene Lösung. Bei zahmen Problemen, wie etwa dem Lösen einer Gleichung, kann die vorgeschlagene Lösung nach Implementierung getestet und beurteilt werden. Bei wicked problems generiert jeder Lösungsversuch eine unüberschaubare Menge

[EXPONAT 18]  3.5 DESIGN, PROBLEME UND SPRACHE  275

an ­Konsequenzen, die auch zeitlich nicht begrenzt werden können. Weiters kann auch der Lösungsversuch derart unerwünschte Aus- und Nachwirkungen haben, dass es vielleicht besser gewesen wäre, man hätte das Problem erst gar nicht zu ­lösen versucht.

5  Für jede Lösung eines unzähmbaren Problems gibt es nur einen einzigen ­Versuch. Es gibt keine Gelegenheit, durch Versuch und Irrtum zu lernen, jeder Lösungsversuch verändert das Problem signifikant, jede Lösung hinterlässt unauslöschbare Spuren. „One cannot build a freeway to see how it works, and then easily correct it after unsatisfactory performance.“144 Immer wenn Aktionen nicht umkehrbar sind und wenn die Lösungen eine lange Halbwertszeit besitzen (wie zum Beispiel Lehrplanentwürfe, die die betroffenen Schülerinnen und Schüler ihr Leben lang begleiten) zählt irreversibel jeder Lösungsversuch. Jeder Versuch zu retten, was zu retten ist, stellt erneut ein unzähmbares Problem dar und unterliegt denselben Dilemmata.

6  Die Menge von potenziellen Lösungen ist unzählbar. Es gibt kein Kriterium, an dem man messen kann, ob alle möglichen Lösungen gefunden wurden. Es ist also eine Frage von Beurteilung und Verhandlung, ob und welche Lösung implementiert werden sollte. Wenn weder Problem noch Lösung einfach und letztgültig beschrieben werden können, hängt es auch von persönlichen Faktoren ab, ob ein Konsens gefunden werden kann. „The set of feasible plans of action relies on realistic judgment, the capability to appraise exotic ideas and on the amount of trust and credibility between planner and clientele that will lead to the conclusion – OK, let’s try that.“145 Leider ist auch nicht auszuschließen, dass es gar keine Lösung gibt.

7  Jedes unzähmbare Problem ist wesentlich einzigartig. Das bedeutet, dass einmal gefundene Lösungen für vermeintlich ähnliche Probleme sich nicht einfach übertragen lassen. Obwohl Problemlagen so definiert sein können, dass sie einander zum Verwechseln ähnlich sind, kann man nicht sicher sein, ob nicht die spezifischen Einzelheiten eines Problems die scheinbaren Gemeinsamkeiten mit anderen bereits behandelten Problemen überlagern.

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8  Jedes unzähmbare Problem kann als Symptom eines anderen Problems ­betrachtet werden. Der Prozess der Lösungsfindung beginnt meist mit der Suche nach der Ursache des Problems. Hierzu muss entschieden werden, ob die Beseitigung dieser Ursache nicht zeigen würde, dass das Problem There is nothing like a natural level of a wicked nur das Symptom eines Problems höherer problem. Of course, the higher the level of a Stufe war und man besser dort angesetzt ­problem’s formulation, the broader and more hätte. Das Level, auf dem die Lösung angegeneral it becomes: and the more difficult it besetzt wird, hat hauptsächlich mit dem Selbstcomes to do something about it. On the other vertrauen der analysierenden Personen zu hand, one should not try to cure symptoms: and tun und kann nicht auf rein logische Begrüntherefore one should try to settle the problem dungen zurückgeführt werden. on as high a level as possible.146

9  Eine Diskrepanz, die sich als unzähmbares Problem zeigt, kann auf v­ er­schiedene Weise beschrieben werden. Die Wahl der Erklärung bestimmt jedoch die Art der Problemlösung. Die Autoren ergänzen den ersten Punkt (sie lassen sich nicht endgültig definieren) um die Verschärfung, dass jedes weitere Vorgehen von genau dieser Annäherung abhängt. Als Beispiel führen sie crime in the streets oder poverty an.

10  Der Planer hat kein Recht, unrecht zu haben. Das heißt, Planerinnen und Planer sind verantwortlich für die Konsequenzen der gesetzten Aktionen, da eine große Menge von Menschen von den Konsequenzen der Lösungsversuche betroffen ist. Im Umgang mit unzähmbaren Problemen gilt nicht, wie in manchen Wissenschaften, dass Forschende unparteiisch Hypothesen vorbringen und nicht für deren Anwendung verantwortlich sind. Solche Immunität wird im Reich der unzähmbaren Probleme nicht gewährt. Als Designer sind wir leider in den meisten Aufträgen mit mehr oder weniger unzähmbaren Problemen konfrontiert, uns bleibt nichts anderes übrig, als uns auf nicht schließbare und nicht prinzipiell beantwortbare Aufgaben einzulassen, und diese sind noch dazu immer in komplexe größere Gefüge hineinverwickelt.A

A  Abzweigung: siehe auch Wortherkunft von „implizieren“ > plicare, „wickeln“, Seite 061.

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Die Stabilisierung von Problemen Das zuvor besprochene lange Offenhalten von Problemen soll nicht handlungsunfähig machen. In wissenschaftlichen Zusammenhängen sprechen die Autoren Trevor Pinch und Wiebe Bijker von closure147 wenn sich ein Konsens abzeichnet, wenn die Spreu vom Weizen getrennt werden konnte und sich in den Interpretationen eine stabilere behaupten kann. Wenn Probleme entlang einer technologischen Entwicklung lösbar werden und sich die an der Entwicklung beteiligten Gruppen einig werden, dass ein bestimmtes Problem gelöst wurde, lässt sich deren Sichtweise technologisch stabilisieren. Das Resultat dieser Stabilisierung nennen die Autoren rhethorical closure. Closure meint also eine Reduzierung von InterpretationsmöglichkeitenA1 und ist ein wichtiger Vorgang, um in einer Entwicklung voranzukommen, denn es gibt dadurch Sachverhalte und Sichtweisen, auf denen ich mit meiner neuen Idee in Folge aufbauen kann. Eine wichtige Möglichkeit, produktiv zu bleiben, ist also be-schließen, denn es bedeutet, ein Problem zu stabilisieren, um damit weiter arbeiten zu können. Mit Stabilisierung ist keine Fixierung des Problems gemeint, sondern eher ein Ausbalancieren im Sinne eines beweglichen, dynamischen Gleichgewichts. Herbert Simon, amerikanischer Sozialwissenschaftler und Nobelpreisträger, sieht Design prinzipiell nicht vorrangig in der Tätigkeit des Problemlösens, sondern als Verbesserung bestehender Umstände. Die Naturwissenschaften befassen sich eher damit, wie die Dinge sind, Design dagegen befasst sich mit einem Möglichkeitsraum, damit, wie die Dinge sein könnten.148

3.5.3  Wohin tragen Metaphern im Design? Der Linguist George Lakoff erklärt, dass Sprache an der Oberfläche Auskunft über das geben kann, was darunter (meist unbewusst) Denken und Handeln leitet. Die Gesetzmäßigkeiten, entlang derer wir handeln, entsprechen oft den Gesetzmäßigkeiten, die sich in unserem Sprechen, unserer Wortwahl zeigen. In vielen Designvorträgen und auch in den Interviews fiel mir auf, wie oft Waffen- und Kriegsmetaphern genutzt wurden. Von „Grabenkämpfen“ mit Konkurrenzfirmen, von einem „Schuss vor den Bug“, von „eine Bresche schlagen“ ist die Rede.A2 Eine Vermutung dazu, warum dieser Typus von Metaphern so weit verbreitet ist? Es könnte daran liegen, dass der Krieg als Kräftegefüge wirkt, in dem viele Gestaltungsentscheidungen dringend und zu dem Zeitpunkt unhinterfragbar fällig und dadurch besser legitimierbar sind. A1  Abzweigung: siehe auch Closure, Seite 206. A2  Abzweigung: siehe auch „Design at War“, Seite 235.

278  RAUM [3] – VON DER ­N OTWENDIGKEIT, ­B EWUSST ZU ­G ESTALTEN 

Eine andere Episode: Ein befreundeter Designkollege erzählte von folgender Erfahrung aus einem Praktikum bei einer Designagentur, die hauptsächlich Motorräder designte – gerade entstand ein Our conceptual system is not something we are neuer Entwurf, die Zeichnung verwendete normally aware of. In most of the little things we sehr gewagte, scharfe, überbordende Striche do every day, we simply think and act more or für das Motorradkonzept. Die Aussage eines less automatically along certain lines. Just what Kollegen dazu: „Des ist ein Ding, um Selbstthese lines are is by no means obvious. One way mord damit zu begehen, und ich find, des to find out is by looking at language. Since comdarf man dem Ding ruhig ansehen.“150 munication is based on the same conceptual Klaus Krippendorff stellt eine Theosystem that we use in thinking and acting, lanrie der Metapher vor, die in fünf Stufen beguage is an important source of evidence for schrieben wird.151 what the system is like.149

• •





• Metaphern verbinden einen vertrauten Erfahrungshintergrund (Quellbereich) mit einem gegenwärtigen Zielbereich, den es zu verstehen oder umzustrukturieren gilt. So kann implizites Wissen aus dem Quellbereich im Zielbereich wirksam werden. (Beispiel: Jeder möchte einen Teil vom Kuchen). Für einen wirkungsvollen Gebrauch müssen beide Bereiche eine strukturelle Ähnlichkeit aufweisen. Metaphorische Ableitungen152 (Lakoff) sind die Folge des wirkungsvollen Gebrauchs von Metaphern. Die Übertragung der Bedeutung aus dem Quellbereich hat zur Folge, dass der Zielbereich umstrukturiert wird. Metaphern organisieren die Wahrnehmungen der sie Nutzenden, ohne dass diese sich darüber im Klaren sind, wie und auf welche Weise das geschieht: Die Wahrnehmung des Zielbereichs wird durch die vom Quellbereich übernommenen Erklärungsmuster neu strukturiert. So erzeugen Metaphern im Zielbereich genau jene Wirklichkeit, die sie aus dem Quellbereich einspielen. Durch wiederholten Gebrauch „sterben“ Metaphern. Es kann sein, dass sie nicht mehr verwendet werden, doch sie hinterlassen die Wirklichkeiten, die durch sie umstrukturiert wurden. (Das Beispiel: Jeder möchte einen Teil vom Kuchen, impliziert, dass eine Gewinnaufteilung per se einem Nullsummenspiel entspricht, in welchem eine Partei nur gewinnen kann, was eine andere verliert. Eine marktwirtschaftliche Dynamik, in der mehr zu gewinnen ist, wenn mehr geteilt würde, wird so tendenziell ausgeblendet.)

Die Übersetzerin und Schriftstellerin Jane Hirshfield erzählt in einem Vortrag,153 dass Metaphern kein Puzzle sind, kein Weg, uns irgendwie verborgene Inhalte unterzujubeln. Metaphern sind eine Art, mit der Sachverhalte oder Zusammenhänge auf eine andere Art und Weise gespürt werden können, nämlich direkt, unmittelbar. Metaphern sind also wie Türklinken zu Türen, die ganze (Sinnes-)Welten eröffnen. Indem wir eine Türklinke schaffen, eröffnen wir eine ganze Welt.

[EXPONAT 18]  3.5 DESIGN, PROBLEME UND SPRACHE  279

Bild 77: Skeuomorphismus, Screenshot: Apple iPhone 4S, iOS6

Metaphern im Design Im Design sind Metaphern wichtige Werkzeuge. Beispielsweise die sogenannte Desktop-Metapher, die uns seit der Entwicklung der ersten Personalcomputer begleitet: Am Bildschirm sehen wir angedeutet einen Schreibtisch, mit Ordnern darauf und sogar einem Papierkorb. An electromechanical object, a radio say, links Der Fachbegriff für Ähnlichkeiten in its physical mechanical components to its elecder zweidimensionalen digitalen Darstellung mit bekannten Objekten aus der dreiditronic elements in a fairly direct way. When we turn the dial, our fingertips and muscles can mensionalen Realität nennt sich Skeuomor­almost ‘feel’ the stations being scanned. With phismus. Aus dem Altgriechischen skeuos für computers, however, the distance between, on Behälter, Werkzeug und morphe für Gestalt one hand, keystrokes and screen image, and, abgeleitet, bezeichnet es eine Stilrichtung on the other, what’s happening inside the comim Softwaredesign, die durch möglichst reputer, is usually much less direct. Our physical alistische Darstellung vertrauter Objekte die world and the computer’s virtual world seem Nutzung intuitiver und einfacher machen miles apart. In this (historically unprecedented) möchte – ein Beispiel dafür sind Notizprosituation we need a clear mental model of what gramme, die einem mit Spiralbindung gewe’re interacting with.154 fasstem Notizblock ähneln, oder das Umknicken der Seiten wie bei einem Buch beim Umblättern in manchen E-book-Readern. Die Qualität und Zugänglichkeit dieser Metaphern liegt darin, dass wir die Dinge schon einmal betastet und begriffen ­haben.

Sprache wird Wirklichkeit Das Skript, das Drehbuch, dass zum Tragen kommt, wenn Designschaffende sich den Handlungsablauf vorstellen, für den sie Produkte entwerfen, strukturiert die Handlungsabläufe so vor, als wären User Schauspieler in einem Thea-

280  RAUM [3] – VON DER ­N OTWENDIGKEIT, ­B EWUSST ZU ­G ESTALTEN 

terstück. Die dort verwendeten Metaphern strukturieren vor und gestalten damit Wirklichkeit. Eine der wichtigsten Benennungen, der Designerinnen und Designer nicht ausweichen können, betrifft den Personenkreis, für den sie gestalten, also ihre Zielgruppe. Die Nutzerinnen, Gebraucher, Opfer ihrer Designs. „What Is the ­Correct Term for User?“, fragt Aaron Marcus155 und listet Termini von Actors und Addicts bis Victims, Viewers und Visitors auf. Doch von vorn: In dem Begriff Zielgruppe spiegelt sich vor allem das Ziel, eine Gruppe zu treffen oder zu erreichen mit dem Produkt, das diese Gruppe dann konsumiert. Also den Konsumenten. (So werden Benutzer in wirtschaftlich-technisch ausgerichteten Berufsausbildungen fast immer genannt.) Ich gestalte aber auch für Konsumentinnen. Also machen wir daraus wenigstens KonsumentInnen. Ich gestalte für die Personen, die durch Konsum die von mir für ein Unternehmen gestalteten Produkte in Besitz nehmen. Sie nehmen sie nicht nur in Besitz, sie gebrauchen sie auch, also könnte man sie auch Verbraucher oder Gebraucherinnen nennen. Dieter Rams ist ein bekanntes Beispiel für jemanden, der seine Zielgruppe Gebraucher nennt. Es ist wichtig, die Unterscheidung zwischen Konsumentin oder Konsument und Gebraucherinnen und Gebrauchern zu treffen. Manchmal kaufen Menschen ja Dinge nicht für den eigenen Gebrauch, sondern für jemand anderen, der diese Produkte dann nutzt. Sei es ein Geschenk für einen Freund oder eine Freundin oder auch ein Produkt, das durch den Nutzer nicht selbst erworben werden kann – zum Beispiel Babyfläschchen, Schnuller, Tierzubehör, Einrichtungen für Krankenhäuser, Schulen, Firmensoftware … Deswegen ist eine der geläufigsten Bezeichnungen unter Designerinnen und Designern für die Gruppe der Personen, an die wir bei der Gestaltung denken, Nutzerinnen und Nutzer oder alle Geschlechter einbeziehend englisch User. Mein Diplomprojekt 2005 überforderte auch diese Benennung: Ich gestaltete einen Zahnarztstuhl, der in einer Praxis, in welcher hauptsächlich Kinder behandelt werden, zur Anwendung kommen sollte. An wen denke ich also bei der Gestaltung? Konsument wäre also ein Zahnarzt oder eine Zahnärztin, vielleicht auch eine Praxisgemeinschaft. Natürlich liegt ein Hauptaugenmerk der Gestaltung in der Ergonomie und der Handhabbarkeit durch Ärztinnen oder Ärzte und deren Helfer, sodass die Behandlung der kleinen Zähne leichtfällt und gut gelingt. Hauptintention meiner Gestaltung war aber, die Möglichkeiten zu erkunden, die rein in der Möblierung und Gestaltung einer Praxis liegen, um Kindern die Behandlungsängste zu nehmen oder gar nicht erst entstehen zu lassen. Kinder und Praxispersonal sind also beide wenigstens gleichermaßen relevant für die Gestaltung. Die Erziehungsberechtigten entscheiden für ihre Kinder als Patienten, in welcher Praxis sie behandelt werden. An die Menschen, die darüber entscheiden, ob das Kind in dieser Praxis behandelt wird oder aber in einer anderen, muss ebenfalls gedacht ­ eistung, die werden, denn sie konsumieren ebenfalls und bezahlen vor allem die L

[EXPONAT 18]  3.5 DESIGN, PROBLEME UND SPRACHE  281

durch die von mir gestaltete Praxiseinrichtung ermöglicht wird. Da ich meine gestalterischen Absichten an jemanden richte, der weder das Produkt, das ich gestalte, kauft (also kein direkter Konsument ist) noch das Produkt selbst nutzt (User), habe ich mir seit diesem Projekt den Terminus der Adressaten angewöhnt, um den Personenkreis, für den ich gestalte, weiter fassen zu können. In Diskussionen mit befreundeten Architektinnen sind bei mir auch Begriffe wie Öffentlichkeit oder manchmal auch der Begriff des Publikums ins Bewusstsein gerückt. Gebäude oder Gestaltung im öffentlichen Raum richtet sich wohl vor allem in der Entwurfsphase, möglicherweise auch in einer Wettbewerbsphase, an eine Gruppe von Menschen, die das Objekt finanzieren werden. Wenn aber dann das Gebäude genutzt wird, sind von den Architektur-Interventionen alle Menschen betroffen, die sich in dem Gebäude bewegen, sich dort aufhalten, dort leben oder auch arbeiten. Aber es sind auch alle Menschen betroffen, die an dem Objekt vorbeigehen und sich weiter nicht daran stören oder sonst wie belastet werden oder sich sehr wohl belästigt fühlen, zum Beispiel durch weniger Lichteinfall oder eine verbaute Aussicht. Vielleicht passt das Objekt auch gar nicht ins Umfeld oder Ähnliches. Wer nach wie vor meiner Meinung nach zu selten im Blickfeld von Gestaltenden ist, sind die Menschen, die von Designentscheidungen betroffen sind, sobald das Produkt entsteht oder wenn die Nutzungsdauer dann vorüber ist. Menschen, die vom Design während der Fertigung des Produktes oder dessen Entsorgung betroffen sind. Wer baut die Dinge wo unter welchen Bedingungen zusammen? Wie in Raum [1] erwähnt, sind Fertigungstechniken sowie die Materialwahl Entscheidungen, die von Designerinnen und Designer zusammen mit anderen getroffen werden. Weiters sind es Designentscheidungen, die ein Zerlegen oder Recyceln nach Ablauf der Nutzung ermöglichen oder verhindern können. Geklebtes lässt sich nicht so leicht zur weiteren Verwertung trennen wie Geschraubtes. Wenn Materialien derselben Art aufeinandergeklebt werden, lassen sie sich unter Umständen ebenfalls recyceln. Wenn geschraubt wird, ist es möglicherweise für ein Recyclingunternehmen relevant, wie viele verschiedene Werkzeuge benötigt werden, um ein Objekt zu zerlegen. Wenn es möglich ist, gleich große Schrauben zu verwenden, erleichtert dies das Zerlegen erheblich. Aktuelle Design- und Nachhaltigkeitsdiskussionen zeigen in erschütterndem Ausmaß, wie viel effizienter die Wiederverwertung von Produkten sein könnte, wenn in der Designphase wenigstens ein Gedanke an das Danach, an die Produktlebensphasen abseits des Gebrauchs durch die Benutzer, verwendet worden wäre. Aber da im gängigen Vokabular der Absichtshorizont bei der Nutzung (User), wenn nicht schon davor am Verkauf (Konsument) endet, tragen viel zu viele Menschen schwer an den Konsequenzen dieser gestalterischen Kurzsichtigkeit. Welche Sprache bringt man also ins Design? Marc Steen beschreibt, dass er sich um das Vokabular des Participatory Design bemüht, denn: „Practically, I want to move away from the language […], which is derived from war and power strug-

282  RAUM [3] – VON DER ­N OTWENDIGKEIT, ­B EWUSST ZU ­G ESTALTEN 

gles and speaks of allies and opponents, strategic negotiations, and tactical manoeuvres.“156 Um den kooperativen Aspekt mehr unterstreichen zu können, möchte er sich auch einer anderen Sprache bedienen. Verantwortung scheint in gewissem Widerspruch zu den Kriegsmetaphern zu stehen, in der bemühten Logik dahinter ist ja die gewählte Problemlösung dringend notwendig, wenn nötig auch ohne Kompromisse. So machtvoll ist Sprache. Ich kann mich ihrer bemächtigen, indem ich selbst benenne, und habe unter anderem dadurch immer die Wahl, ob ich Benennungen von anderen am Gestaltungsprozess Beteiligten übernehme oder nicht.

[EXPONAT 18]  3.5 DESIGN, PROBLEME UND SPRACHE  283

[RAUM 3] – [EXPONAT 19]  3.6  CONCLUSIO | ­DESIGN UND VERANTWORTUNG

Exponat 19: Geschlossene Fenster

Das Bild zeigt einen Zug mit geschlossenen Türen und Fenstern, wobei die Fenster sich nicht öffnen lassen und auch die Türen können automatisch verriegelt werden.

Sollte ich als Designerin für jedes Produkt, das ich gestalte, Verantwortung tragen? Natürlich. Welche Produkte kann ich allein gestalten? Kein einziges: Wer designt oder entwickelt oder entwirft heute schon allein? Wie sieht infolgedessen die Sache mit der Verantwortung aus? Auf dem Foto dient als Beispiel ein Zug – die Fenster dieser Zuggeneration sind nicht mehr händisch zu öffnen, teils aus Sicherheitsgründen, teils aus Gründen der Klimatisierung. Nun fällt eines Sommertages die Klimaanlage aus.157 Der Zug hält auf offener ­ Strecke. Die Türen werden aus Sicherheitsgründen automatisch verriegelt, die Fenster lassen sich aus den genannten Gründen nicht mehr öffnen, und Dutzende von Menschen erleiden einen Hitzekollaps. Wer ist dafür verantwortlich?

Produkte entstehen heutzutage in hoch arbeitsteiligen Prozessen, so wie es in I, pencil158 treffend beschrieben ist – nicht einmal ein so einfaches Objekt wie ein Bleistift ist, ohne verschiedenste Wissensformen, Wirtschaftszweige und Technologien zu beteiligen, herstellbar. Ein Umstand, den ich bei diesem letzten Exponat noch erwähnen möchte, ist der: Design, die industrielle Formgestaltung, unterscheidet sich in wesentli-

284  RAUM [3] – VON DER ­N OTWENDIGKEIT, ­B EWUSST ZU ­G ESTALTEN 

chen Punkten von klassischen Handwerksberufen, das heißt vom Tischlerberuf, Schusterhandwerk und vielen anderen. Die Industrialisierung verstärkte spätestens ab dem 19. Jahrhundert die Entwicklung hoch arbeitsteiliger Prozesse. Endprodukte solcher Fertigungsprozesse Erfolgreich ist, was in die bestehenden Systeme können als völlig losgelöst vom Entwurf betrachtet werden, bei klassischen Handwerkseingefügt werden kann, und seien sie noch so überlastet. […] Diese Art der Problemlösung hat und Kunsthandwerksberufen ist das nicht ihre Ursache in der Stellung des ­Designers inder Fall. Dort nämlich kommt es durchaus nerhalb der Entscheidungs­gruppen: als ein im noch vor, dass ein und dieselbe meisterliche Grunde von der Verant­wortung befreiter IdeenHand sowohl den Entwurf zeichnet, ein Molieferant.159 dell fertigt sowie dem endgültigen Produkt noch den letzten Schliff verleiht. Viele unserer Produkte haben einen solchen geschichtlichen Hintergrund, zum Beispiel Sessel oder Tische. Interessant hierbei finde ich, dass viele unserer heutigen Alltagsgegenstände niemals nur von einer Person gefertigt wurden, ich denke dabei an Kaffeemaschinen, Fotoapparate, Fernseher, Smartphones und viele andere mehr. Auf einen Großteil der uns heute umgebenden Gegenstände trifft dies zu. Dadurch entsteht erst diese Notwendigkeit einer spezifischen Sichtweise von Verantwortung.

Wer lenkt? Ein Ziel, das nicht allzu weit von bisher Erkundetem liegt: Müllvermeidung. Oft folgen dieser und ähnlichen Problemstellungen Erörterungen, ob es einerseits eine technische Lösung gäbe oder ob andererseits das Verhalten der Menschen geändert werden könnte. Eine technische Lösung It is of course designers who put all this senfür ein Problem einer Verhaltensänderung tience into artefacts, either by allowing for other gegenüberzustellen übersieht, dass das Entusers or uses, or by constraining such unconwickeln eines Produktes keine von ethischen ventional use from happening. In this way, the Überlegungen befreite Handlung ist. Alain act of designing has expanded from a very Findeli schreibt in seinem 1992 publizierten clearly defined problem to be solved, to the Artikel „Ethics, Aesthetics and Design“, dass more wicked or swampy process of problem eine technologische Vermittlung prinzipiell ­anticipation.160 eine Frage der Ethik und nicht der Technologie allein sei; mit seinen Worten: „Das Entwerfen eines Artefakts ist ein Handeln auf dem Gebiet der Ethik und nicht nur der Technologie.“161 Produkte, gebaute Umgebungen, Kommunikation gelten oft immer noch als neutral und werden daher oft von ethischen Überlegungen ausgespart. Doch nicht nur diese Ausstellung ist gefüllt mit Beispielen, wie Dinge handlungsleitend

[EXPONAT 19]  3.6  CONCLUSIO | ­D ESIGN UND VERANTWORTUNG  285

­werden können, ungezählte (auch hier nicht zitierte) Arbeiten weisen nachdrücklich darauf hin, dass alles Unbelebte, von ­Menschen Gestaltete für eine Verwendung entworfen wurde und auch die Beziehungen von Menschen untereinander steuert.A Anthropologische Diskurse und etliche Auseinandersetzungen mit material culture lenken die Aufmerksamkeit darauf, inwieweit Kulturen nicht nur soziale Beziehungen, sondern auch materielle Beziehungen, Produkte und Umgebungen umThere’s great power in these revelations, and also great responsibility. By learning from these fassen, die nicht nur Instrumente des Sozianew psychological insights, we have an opporlen oder Träger symbolischer Bedeutungen tunity to be far more precise and effective in our sind. Sie sind „wesentliche Aspekte dieser practice of design.162 Kultur aus sich selbst heraus. Ein tragfähiges Ethos wird nicht nur von einer materiellen Kultur getragen, sondern existiert in dieser Materialität.“163 Objekte wirken, weil Designerinnen und Designer ihre Weltsicht in ihnen materialisieren; diese erstreckt sich hoffentlich in Zukunft mehr und mehr über die reine Nutzung der Objekte hinaus. Da sich Designschaffende in diesem Nichtwissen, Vorahnen, Ideen-Finden und Probleme-Antizipieren bewegen, kann Woraus besteht das Soziale? Was agiert, wenn mehr Zusammenarbeit mit verschiedewir agieren? Welcher Art von Gruppierung ge­ nen Fachleuten dabei helfen, ein besseres hören wir an? Was wollen wir? An welcher Art Gespür für Verantwortlichkeiten und Wirvon Welt sind wir bereit teilzuhaben? Alle diese kungsbereiche zu entwickeln. Indem wir von Fragen werden nicht nur von den Forschern psychologischen, soziologischen, anthropoauf­geworfen, sondern auch von den von ihnen logischen und philosophischen Einsichten Erforschten. Es ist nicht so, als wüssten wir, die lernen, haben wir die Möglichkeit, in unseSozialwissenschaftler, die Antwort, die irgendrer Praxis des Designs viel präziser und effek­wo jenseits der Akteure läge, noch ist es so, tiver zu sein. daß sie, die berühmten „Akteure selbst“, die Der Austausch mit Wissenschaftlern Antwort kennen. Tatsache ist, daß niemand die verschiedenster Disziplinen ist ohne Zweifel Antwort kennt – und daher müssen diese kolüberlebenswichtig, nur fürchte ich, auch die lektiv in Szene gesetzt, stabilisiert und revidiert Wissenschaften haben nicht alle Antworten ­werden.164 für uns. Auf der Suche nach Antworten oder wenigstens Wegen, mit so viel Nichtwissen umzugehen, möchte ich mit einem halbherzigen „Ja, es ist schwierig“ weder mich noch meine Leserschaft aus dieser Ausstellung entlassen: „Das Wichtigste ist sicher im Konsens aller Zusammenhänge, daß niemals Anspruchslosigkeit, Gleichgültigkeit und Lethargie das Maß der Dinge sind.“165

A  Abkürzung zu Kapitel 3.3.2 „Tools for Conviviality“, Seite 253.

286  RAUM [3] – VON DER ­N OTWENDIGKEIT, ­B EWUSST ZU ­G ESTALTEN 

Optimismus Apropos Verantwortung: Man muss sich ja nicht ständig zur Antwort gezwungen sehen. Für uns Designerinnen und Designer kann es erleichternd sein, die berufliche Tätigkeit nicht notwendigerweise als Der Erzähler in der britischen Dokumentation Antwortgeben im Sinne einer Rechtfertigung The Genius of Design formuliert: aufzufassen, sondern sich auch bewusst den Perhaps design has gotten so carried away Fragen (Problemstellungen oder problem anwith what it could do for us, it has forgotten to ticipation) zu widmen. Die Probleme müssen ask whether it should. Surely it is design’s job wir nicht als persönliche Probleme begreito shield us from, as well as connect us to, fen, sondern als in der Natur der Sache des ­technology that is changing what it means to Tuns im Design liegend.166 be ­human? These are issues yet to be fully Es kann helfen zu erkennen, dass die ­explored. Art, wie ich mich Problemen nähere, neue This ability to sort of back away from the Handlungsmöglichkeiten eröffnen kann. ­material world and think about it in methods Schon die andere Perspektive auf die Dinge which are wiser, deeper, better considered, oder auf gewisse Problemstellungen veränthat’s what differentiates design from all the dert etwas. Man kann einen begründeten craftwork that’s been going on ever since we Optimismus zu leben versuchen, denn niewere pre-human. It’s deep. It’s not a superficial mand ist allein und der Glaube daran, posipractice. It’s not about glamour or branding or tive Veränderungen (er-)schaffen zu können, typography. It really is about mankind and what ist weitaus inspirierender als pessimistimankind has created. And that’s a big issue.167 sches Nichthandeln. Gar nichts zu tun, weil man nur wenig tun kann,169 kann wohl kaum die Lösung sein. Außerdem … wenn ein Problem unlösbar groß erscheint, umfassend und vielschichtig, hat es auch ein Gutes: Man kann praktisch überall anfangen, es zu lösen. … and yet, fundamentally, for me anyway, DeFolgendes Zitat stammt aus dem konsumkrisign needs to be optimistic. It’s what design is tischen Kurzfilm The Story of Stuff: all about. It looks to the future and imagines better possibilities for the manmade world. […] and it relies on having positive impact to drive that optimism. Unless you’re incredibly cynical about what you do, you’ve got to believe that you have positive impact.168

So you see it is a system in crisis. All along the way we’re bumping up against limits. From changing climate to declining happiness – it’s just not working. But the good thing about such an all-pervasive problem is that there are so many points of intervention.170

Eine Haltung zu den grundlegenden Fragen des eigenen Berufs zu entwickeln ist niemals abgeschlossen, sondern entwickelt sich ständig weiter. Selbstkritik und auch eine Prise Perfektionismus sind in den meisten Designberufen äußerst nützlich – doch was kann dieser Kombination standhalten, sodass sie nicht selbstzerstörerisch wird? Georg Neuweg schreibt über die Kehrseite der Möglichkeit, alles

[EXPONAT 19]  3.6  CONCLUSIO | ­D ESIGN UND VERANTWORTUNG  287

zu hinterfragen; den Fluch, den Kritizismus und Autonomie in Kombination für Individuen bedeuten kann: Gerade der Pädagoge fragt sich, was der logische Fluch des infiniten Regresses psychologisch bedeutet. Was hilft uns, wieder Gewißheit zu finden in einem Panorama offenbar grenzenloser Freiheit? […] Was wäre dem Gelehrten in Goethe’s Faust eigentlich Trost gewesen im Angesicht der Erfahrung existentieller Sinnlosigkeit, Trost für einen Wissenden, der allmählich zu ahnen beginnt, daß er sich die Bedeutung dessen, was er weiß, nicht mehr über sich selbst erschließen kann?171 Wie also damit umgehen, dass in der Selbstbestimmung auch das Potenzial der Selbstzerstörung schlummert? Glückseligkeit im Tun finden, ein Flow-Erleben,172 Glaube? Sind das zufriedenstellende Antworten? Reflexion als Kardinaltugend scheint den Zugang zu solchen Erfahrungen, die wahrscheinlich mit vertrauensvoller Hingabe zu tun haben, zu erschweren. Sich für alles verantwortlich zu fühlen kann lähmend sein und macht unproduktiv. Weder sind wir völlig begrenzt noch sind wir völlig frei – Polanyi deutet in seinem Buch The Tacit Dimension an, dass es einen dritten Weg zwischen Totalitarismus und grenzenloser und entgrenzender Freiheit gebe: die Idee eines autonomen und trotzdem in Traditionen eingebetteten Menschen. Kein Mensch kann seine Anschauungen von Grund auf frei wählen. Das soll nicht heißen, dass ein Gutteil meiner persönlichen wie beruflichen Freiheit auf Resignation beruht, denn viele Grenzen vermag das Subjekt wohl zu sprengen, dies aber immer auf den Schultern derer, deren Überzeugungen es zunächst zu verstehen und sich einzuverleiben versucht hat. Das bedeutet also: Im Anerkennen der Grenzen liegt das Gegenmittel zur absoluten Verantwortlichkeit. Polanyi schreibt: Keine existentielle Wahl ist jedoch denkbar, die sich auf die ganze Welt bezöge und für sie die Verantwortung übernehmen könnte. Denn bei einer solchen Wahl bliebe nichts außerhalb: weder eine zentrale Instanz, der sie verantwortlich wäre, noch ein Kriterium, an dem sie sich messen ließe.173 Menschlich kreativ zu sein heißt verantwortlich sein, begrenzt sein, aber auch nicht allein, sondern mit anderen zu sein. Einen Platz zu finden und nicht allein die Antworten haben zu müssen. Some say that it’s unrealistic, idealistic. That it can’t really happen. But I say the ones who are unrealistic are those who want to continue with the old path. That’s dreaming. Remember, that old way didn’t just ‘happen’. It’s not like gravity that we just got to live with. People created it. And we’re people too. So let’s create something new.174

288  RAUM [3] – VON DER ­N OTWENDIGKEIT, ­B EWUSST ZU ­G ESTALTEN 

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Wallace, 2005. Er fährt fort: „[…] I am not the wise old fish. The point of the fish story is merely that the most obvious, important realities are often the ones that are hardest to see and talk about.“ – Ich wähle dieses Eingangszitat, weil ich als FH-Studentin in die Wirtschaft hineingebildet wurde. Im Infofolder des Studiengangs Industrial Design wurde 2005 Design noch als „das dritte Standbein einer erfolgreichen Marketingstrategie“ beschrieben. Damit war klar, dass Design nur in Verknüpfung mit Marktwirtschaft existieren könnte und dabei stets der Marketingabteilung eines Unternehmens zuzuordnen ist. Erst nach meiner abgeschlossenen Erstausbildung begann ich auch andere Sichtweisen auf Design zu entdecken und lernte damit mein bisheriges „Wasser“ zu benennen. 2 Watzlawick, Beavin & Jackson, 1969, S. 50 ff. 3 Bonsiepe, 2009, S. 23. 4 Johnson, Jim alias Bruno Latour in Belliger & Krieger (Hrsg.), 2006, S. 238. 5 Ibid., S. 243. 6 Elschenbroich, 2010, S. 25. 7 Neri Oxman, in „Abstract: The Art of Design“, Ep. 2, Season 2, Neri Oxman, Bio-Architecture, 00:11:15. 8 Hustwit, 2009, Extras, 00:14:30. 9 Latour, Bruno: „Über technische Vermittlung“, in Belliger & Krieger (Hrsg.), 2006, S. 498. 10 Ibid., S. 512. 11 Ibid., S. 485. 12 Belliger & Krieger (Hrsg.), 2006, S. 243. 13 Selle, Gerd, in Behnken & Wagner, 1987, S. 263. 14 Ibid., S. 265. 15 Haring, 2014, Explorative Studie zu Neuen Medien + Frauen 60+, Video 12/14, 00:06:55. 16 Norman, 2007, S. 17. 17 Titel eines Essays von Bruno Latour in Law, John (Hrsg.) 1991: A Sociology of Monsters – Essays on ­Power, Technology and Domination, Sociological Review Monograph N°38, S. 103–132. 18 Papanek, 1984, zit. n. Papanek, 2009, S. 8. 19 Antonelli, 2003, S. 21. 20 Interview mit [F. E.], April 2007, [d_F.E.2], 00:09:34. 21 Nietzsche, 1878, 2. Abteilung, 140: „In Ketten tanzen“. 22 F. Mercer, The Industrial Design Consultant, London, 1947; zit. nach Walker, 1992. 23 Interview mit [I. P.], April 2007, [d_F.E.1], 00:12:20. 24 Schneider, 2005, S. 32. 25 Loewy, Raymond – sinngemäß: Der Erfolg von Design misst sich eins zu eins in den Verkaufszahlen. 26 Margolin & Margolin, 2002, S. 25. 27 Dagmar Steffen: „Pluralistisch und allgegenwärtig“, in Schepers & Schmitt (Hrsg.), 2000, S. 66. 28 Vgl. z. B. Walker, 1992 oder Schepers & Schmitt (Hrsg.), 2000. 29 Kelley, 2002, 00:02:17–00:02:54. 30 Loewy, 1951, S. 325. 31 Loewy, 1992, zit. n. Schepers & Schmitt (Hrsg.), 2000: Das Jahrhundert des Design, S. 114. 32 BBC, 2010b, 00:09:23, J. Mays, Global Design Chief, Ford Motor Company. 33 BBC, 2010c, Beginning. 34 Sparke, 2010, S. 111. 35 Vgl. ibid. 36 https://gundesigndotorg.files.wordpress.com/2013/05/barbaraeldredge_missingthemoderngun.pdf (Zugriff: Mai 2017), S. 26. 37 http://www.theguardian.com/artanddesign/jonathanjonesblog/2011/dec/02/ak-47-design-museumlondon (Zugriff: Mai 2017). 38 https://www.moma.org/calendar/exhibitions/1501?locale=en (Zugriff: Dezember 2017). 39 „… he begins by arguing that devising lethal weapons is one of the three roles in which design enjoys the ‚unquestioning support‘of society – the others being homemaking and fashion.“ Alice Rawsthorn in Antonelli & Hunt, 2015, S. 180, bzw. auch unter http://designandviolence.moma.org/archives/. Interview mit der Kuratorin über „work in progress“, 2013: https://vimeo.com/75599754. 40 http://www.georgenelsonfoundation.org/george-nelson/index.html#film/a-problem-of-design-howto-kill-people (Zugriff: Oktober 2017). 41 Drexler, 1951, 8 Automobiles. 42 http://storyofstuff.org/movies/story-of-stuff/ (Zugriff: Oktober 2017). 43 Hustwit, 2009, 00:34:00.

ANMERKUNGEN 289

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Schneider, 2005, S. 35. Krippendorf, 2000, S. 56. Ibid., S. 59. Margolin & Margolin, 2002, S. 24. Ibid., S. 24. Dreyfuss, 2003, S. 27 ff. Ibid., Klappentext. Vgl. Maeda, 2013, https://tedmed.com/talks/show?id=17975 (Zugriff: Januar 2018). Schepers & Schmitt (Hrsg.), 2000, S. 73. [J. M.], April 2008, Gedächtnisprotokoll. Erlhoff & Marshall (Hrsg.), 2008, S. 426. Bennett, 2005: Design is in the details, http://www.ted.com/index.php/talks/view/id/43 (Zugriff: März 2013). 56 Watterson, 2006, Strip vom 31.7.1992. 57 So wie Freundschaften, Gefälligkeiten o. Ä., vgl. z. B. Ariely, 2008, S. 93 ff. 58 Erlhoff & Marshall (Hrsg.), 2008, S. 47 (deutsche Ausgabe). 59 Ibid., S. 48. 60 Vgl. „Entmündigende Expertenherrschaft“ in Illich, 1979. 61 Selle, 1973, S. 19. 62 Churchill and the Commons Chamber, Living Heritage: Architecture of the palace, https://www.parliament.uk/about/living-heritage/building/ palace/architecture/palacestructure/churchill/ (Zugriff: März 2018). 63 Churchill, 1943, zit. n. Holm, 2006, S. 11. 64 Holm, 2006, S. 348 ff. 65 Shove, 2003, S. 396. 66 Selle, 1973, S.14. 67 Akrich, 1992, S. 222. 68 Neuweg, 1999, S. 139. 69 Vgl. Maeda, 2005. 70 Vgl. Krajewski, 2006. 71 Sennett, 2008, S. 65. 72 Ibid., S. 64. 73 Burckhardt, 1995, S. 216 ff. 74 Ibid., S. 218. 75 Neuweg, 1999, S. 129. 76 Hustwit, 2009, 00:03:35. 77 Interview mit [N. H.], Mai 2008, DS230050.aif. 78 https://www.derstandard.at/story/2000128892620/eu-nimmt-neuen-anlauf-fuer-einheitliche-ladekabel (Zugriff: August 2021). 79 Tonkinwise, 2009, S. 236. 80 Ibid., S. 237. 81 Shove, 2003, S. 476. 82 Ibid., S. 476. 83 Vlg. Tonkinwise, 2003. 84 Ibid, S. 76. 85 Ibid. 86 Antonelli, 2003, S. 187. 87 Selle, Gerd, in Behnken & Wagner, 1987, S. 271. 88 Zit. n. Hustwit, 2009. 89 Vgl. z. B. https://www.vitsoe.com/de/ueber-vitsoe/gutes-design (Zugriff: Mai 2018). 90 Vgl. Illich, 1973. 91 Burckhardt, 1995, S. 23. 92 Illich, 1973, S. 17. 93 Ibid., S. 19. 94 Ibid., S. 31. 95 Burckhardt, 1995, S. 22. 96 Illich, 1986, S. 32.

290  RAUM [3] – VON DER ­N OTWENDIGKEIT, ­B EWUSST ZU ­G ESTALTEN 

97 Screenshot entnommen aus: Macintosh, 1984, abrufbar unter http://www.guidebookgallery.org (Zugriff: Juni 2014). 98 Tonkinwise, 2007, S. 2. 99 https://about.fb.com/company-info/ (Zugriff: Mai 2016). 100 Braungart & McDonough, 2003: Einfach intelligent produzieren. Original: Cradle to Cradle: Remaking the Way we make Things). 101 Moggridge, 2007, S. 605. 102 Vgl. Auger, 2013. 103 http://www.spiegel.de/einestages/75-jahre-volksempfaenger-a-949544.html (Zugriff: Juni 2014). 104 Moggridge, 2007, S. 603. 105 „We are exploring things that exist somewhere between reality and fiction“, in Moggridge, 2007, S. 593. 106 Akrich, 1992, S. 208. 107 Vgl. Designmethode „Personas“ in Lidwell, Holden & Butler, 2012, S. 132. 108 Latour, Bruno: Über technische Vermittlung, in Belliger & Krieger (Hrsg.), 2006, S. 485. 109 Foucault, 1975, S. 258. 110 Links: Jeremy Bentham [Public domain], via Wikimedia Commons. Rechts: Foto des Presidio M ­ odélo ­Gefängnis auf Kuba, 2005, von Friman, CC-BY-SA-3.0 (http://creativecommons.org/licenses/­ by-sa/3.0/), via Wikimedia Commons. 111 Foucault, 1975: Überwachen und Strafen, „Die Geburt des Gefängnisses“, S. 258. 112 Vgl. Heintz, 1995. 113 Titel eines Essays von Bruno Latour in Law, John (Hrsg.), 1991: A Sociology of Monsters Essays on Power, Technology and Domination, Sociological Review Monograph, N°38, S. 103–132. 114 Vgl. auch Wilkie, 2011. 115 Hustwit, 2009, 00:06:20. 116 „… what happens is you have to start dealing with things like kind of consumer market research and sort of focus groups and all that kind of stuff. And I’m constantly finding myself fighting with executives about the validity of using focus groups and things like that.“ in Hustwit, Gary: Objectified, https://www. linkedin.com/learning/objectified/marc-newson-2 (Zugriff: Januar 2018). 117 Terrett, 2007, http://noisydecentgraphics.typepad.com/design/2007/10/im-a-designer-u.html (Zugriff: März 2008). 118 Burckhardt, 1995, S. 16. 119 http://www.mitpressjournals.org/toc/desi/20/3 (Zugriff: Mai 2014). 120 Woodhouse & Patton, 2004, S. 2. 121 Ibid., S. 2. 122 Ibid. 123 Vgl. Berger, 2009. 124 https://www.duden.de/rechtschreibung/be_ (Zugriff: Januar 2018). 125 Latour, 2005b, „Reassembling the Social“, S. 218. 126 Brodbeck, 2010, S. 81. 127 Vgl. Janosch, 1978, „Oh, wie schön ist Panama“. 128 Tonkinwise & Lorber-Kasunic, 2006, S. 11. 129 Vgl. Rittel & Webber, 1973. 130 Schlusszeile von „When I consider how my light is spent“, eines der bekanntesten Sonette von John ­Milton (1608–1674). 131 Vgl. Polanyi, 1985. 132 Sixtus, 2007, via www.handelsblatt.com (Zugriff: Februar 2012). 133 Interview mit Jimmy Wales in Moggridge, 2010, S. 114. 134 Moggridge, 2010, S. 113. 135 Polanyi, 1985, S. 15 (Implizites Wissen). 136 Burckhardt, 1995, S. 20. 137 Elemente aus einem Vortrag im Rahmen eines Seminars von Prof. Wilhelm Berger, Juni 2013. 138 Papanek, 1984, S. 7. 139 Rittel & Webber, 1973, S. 159. 140 Vgl. ibid., 1973. 141 Ibid., S. 160. 142 Ibid., S. 161. 143 Ibid., S. 162.

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Ibid., S. 163. Ibid., S. 164. Ibid., S. 165. Pinch & Bijker, 1984, S. 39 ff. Simon, 1981, S. 114. Lakoff & Johnson, 1980, S. 3. [T. S.], am 17.6.2014, Gedächtnisprotokoll. Krippendorf, 2006, S. 212. Lakoff & Johnson, 1980, S. 168. TED-Ed, siehe: https://ed.ted.com/lessons/jane-hirshfield-the-art-of-the-metaphor (Zugriff: März 2017). Moggridge, 2007, Vorwort, S. XV. Marcus, 2015, S. 76. Steen, 2012, S. 74. Vgl. z. B. http://www.sueddeutsche.de/panorama/nach-klimaanlagen-ausfall-hitzeschock-imice-1.973260 (Zugriff: Januar 2018). Vgl. Read, 1958. Burckhardt, 1995, S. 21. Ibid., S. 8. Findeli, 1994, S. 12. Fetell, 2010, S. 2. Tonkinwise, 2004, S. 5 (Übersetzung d. A.). Latour, 2010, S. 241. Petzinka, Karl-Heinz, in Süß et al., 2004, S. 116. Siehe auch: Unzähmbare Probleme, S. 274. BBC Two, 2010a, 00:40:55. Brown, Tim: The challenges of design thinking, Keynote-Vortrag, gehalten bei der InterSections Conference „Design know-how for a new era“, 25.10.2007, Newcastle, England (bei 00:02:55). „It is the greatest of all mistakes, to do nothing because you can only do little.“ Reverend Sydney Smith (1850), Elementary Sketches of Moral Philosophy – Lecture XIX: On the Conduct of the Understanding – Part II, S. 290. Leonard, 2007, 00:19:04. Neuweg, 1999, S. vii. Vgl. Csikszentmihaly, 1997. Polanyi, 1985, S. 74. Leonard, 2007, 00:20:10.

292  RAUM [3] – VON DER ­N OTWENDIGKEIT, ­B EWUSST ZU ­G ESTALTEN 

SHOP Weiterführende Fragestellungen Hier eine zwanglose, ungeordnete Sammlung von weiterführenden Fragestellungen: • Sprachdenken/Bilddenken: Repertoireerfahrungen zu Tastaturen durch Interviews und Experimente mit Vielschreibenden oder Klavierspielenden sammeln. Mich würde interessieren, wie Erfahrungen, ähnlich denen in Exponat [3] angedeuteten, in der Praxis tatsächlich aussehen – eine Interviewpartnerin erzählte mir, dass eine gedachte Luft-Tastatur als Geheimsprache zwischen Eingeweihten in ihrer Schulzeit diente. Eine Vermutung von ihr ist, dass repräsentierte Sinne miteinander in Konflikt treten können. Das heißt, es könnte interessant sein, sowohl gedankliches Framing als auch Arten des Denkens in diesem speziellen Zusammenhang zu dokumentieren. • Als ich Georg Simmels Märchen von der Farbe, das „Grülpchen“1 las, fiel mir auf: Es gibt Dinge, die man besser sprachlich als bildlich darstellen kann, und es gibt Sprache, die dem Denken und Vorstellen hinterherhinkt. Das Grülpchen zu illustrieren stelle ich mir sehr schwer vor, andererseits halte ich es für genauso unmöglich, eine Graphic Novel wie zum Beispiel Stitches2 oder Asterios Polyp3 ausschließlich in Sprache zu übersetzen. • Zu sämtlichen Einzelaspekten, wie sie in Raum [2] vorgestellt werden, gäbe es genug Fragen und auch Materialien für weitere Forschung. Auch das gesamte Gebiet der Typographie wird in der vorliegenden Ausstellung kaum behandelt, obwohl es in Bezug auf implizite Vermittlung ein sehr lohnendes Feld wäre. • Zum Begriff Interface – ausführliche, kontextualisierte konzeptuelle Beschreibungen zu Interface zu finden ist nicht einfach. Es handelt sich dabei jedoch um einen zentralen Begriff sowohl in der Human-Computer-Interaction-Forschung als auch im Design. Möglicherweise eignen sich die Begriffe Interface einerseits sowie auch der Begriff der Zielgruppe andererseits für eine Betrachtung als boundary objects zwischen verschiedenen Disziplinen. • Handlungen und Rituale: Wie kann ich beginnen, ein Ritual zu gestalten oder umzugestalten? Wie kann ich als Designerin beginnen, hier zu intervenieren? • Welche Pflichten hat Design zu erfüllen? Welche Kriterien gibt es, nach denen Design heute beurteilt werden kann und soll? • Wie entsteht Konsens in Designprojekten? Wer darf bestimmen, was ästhetisch, was ehrlich, was unaufdringlich ist? Wie entsteht Konsens zu diesen Themen in jedem Projekt aufs Neue? • Warum sind die meisten Werkzeuge, die ich tagtäglich nutze, noch nicht konvivial? Wie kann man sichtbar machen, was zu selbstverständlich ist, als dass es von selbst in den bewussten Fokus gelangen könnte?

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Fundstücke Im Folgenden unkommentiert einige Fundstücke, die nicht direkt in die Ausstellung passten, aber im Sinne eines Museumsshops zur Inspiration und möglichen Ergänzung gesehen werden können. Ein weit verbreiteter Fehler, den die Leute machen, die etwas völlig Idiotensicheres konstruieren wollen, ist, dass sie den Einfallsreichtum von völligen Idioten unterschätzen. douglas adams, „The Hitchhiker’s Guide to the Galaxy“, Seite 719 There is hardly anything in the world that some man cannot make a little worse and sell a little cheaper, and the people who consider price only are this man’s lawful prey. j. a. richards, 1901, „Profitable Advertising: The Advertiser’s Trade Journal“, Vol. 10 (9), Seite 636, Boston, Massachusetts Anything invented before your fifteenth birthday is the order of nature. That’s how it should be. Anything invented between your 15th and 35th birthday is new and exciting, and you might get a career in it. Anything invented after that day, however, is against nature and should be prohibited. douglas adams, „The Salmon of Doubt“, Seite 95 Wie kann man produktiv bleiben im Angesicht unlösbarer Probleme? Als eine mögliche Antwort nennt Harvey Molotch das Prinzip: Think small. Er spricht über einen Messbecher, der ein klein erscheinendes Problem definitiv gelöst hat. Man muss den Messbecher beim Befüllen nicht hochheben, um die Markierungen zu sehen – nein, ein schräges Versatzstück ins Innere des Messbechers ist beschriftet, sodass man die Skala von oben lesen kann:  … and its this kind of thing by the way, that I love about design, because some of the problems of the world are so difficult to solve, problems of disease, of poverty, oh my gosh, how’re we gonna solve these problems and so it’s inspirational to see somebody actually solve a problem. It’s not a huge problem in the world, but at least it was solved.4 Gegen welche Konkurrenz setzte sich die Desktop-Metapher durch? Wie sahen andere Konzepte aus? Im Laufe der Zeit existierten auch andere Vorschläge, mentale Modelle einer Benutzeroberfläche zu verwirklichen – zum Beispiel ein Vorschlag von 1988, einen Personal Computer als Kuh5 zu denken. Nicht genutzte Dateien gelangen schrittweise von einem Magen in den nächsten, und zum Schluss kann man als User entscheiden: recycle, also speichern, oder dispose of, wirklich entsorgen, löschen.

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Bild 78: Hab und Gut: persönlicher Raum

Wie zeigt sich persönlicher Raum und Besitz in der Öffentlichkeit? Wovon hängt es ab, wie viel Abstand zwischen mir und meinen persönlichen Dingen bleiben darf? I’m not trying to prove anything, by the way. I’m a scientist and I know what consti­ tutes proof. But the reason I call myself by my childhood name is to remind myself that a scientist must also be absolutely like a child. If he sees a thing, he must say that he sees it, whether it was what he thought he was going to see or not. See first, think later, then test. Otherwise you will only see what you were expecting. Most scientists forget that. douglas adams, 1984, The Hitchhiker’s Guide to the Galaxy – [4] So long, and thanks for all the fish, Seite 63 It is the greatest of all mistakes, to do nothing because you can only do little. Reverend sydney smith, 18506 Es war einmal ein Sattlermeister. Ein tüchtiger, guter Meister. Der machte Sättel, die so geformt waren, daß sie mit den Sätteln früherer Jahrhunderte nichts gemein hatten. Auch nicht mit türkischen oder japanischen. Also moderne Sättel. Er aber wußte das nicht. Er wußte nur, daß er Sättel machte. So gut, wie er konnte. Da kam in die Stadt eine merkwürdige Bewegung. Man nannte sie die Sezession. Die verlangte, daß man nur moderne Gebrauchsgegenstände erzeuge. Als der Sattlermeister das hörte, nahm er einen seiner besten Sättel und ging damit zu einem der Führer der Sezession. Und sagte zu ihm: Herr Professor – denn das war der Mann, da die Führer dieser Bewegung sofort zu Professoren gemacht wurden –, Herr Professor! Ich habe von Ihren Forderungen gehört. Auch ich bin ein moderner Mensch. Auch ich möchte modern arbeiten. Sagen Sie mir: Ist dieser Sattel modern? Der Professor besah den Sattel und hielt dem Meister einen langen Vortrag, aus dem er immer nur die Worte „Kunst im Handwerk“, „­Individualität“, „Moderne“, „Hermann Bahr“, „Ruskin“, „angewandte Kunst“ usw. heraushörte. Das Fazit aber war: Nein, das ist kein moderner Sattel. Ganz beschämt ging der Meister davon. Und dachte nach, arbeitete, und dachte wieder. Aber so sehr er sich anstrengte, den hohen Forderungen des Professors nachzukommen, er brachte immer wieder seinen alten Sattel heraus. Betrübt ging er wieder zu dem Professor, klagte ihm sein Leid. Der Professor besah sich die Versuche des Mannes und sprach: Lieber Meister, Sie besitzen eben keine Phantasie. Ja, das war’s. Die besaß er offenbar nicht. Phantasie! Aber er

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hatte gar nicht gewußt, daß die zum Sättelerzeugen notwendig sei. Hätte er sie, so wäre er sicher Maler oder Bildhauer geworden. Oder Dichter oder Komponist. Der Professor aber sagte: Kommen Sie morgen wieder. Wir sind ja da, um das Gewerbe zu fördern und mit neuen Ideen zu befruchten. Ich will sehen, was sich für Sie tun lässt. Und in seiner Klasse schrieb er folgende Konkurrenz aus: Entwurf für einen Sattel. Am nächsten Tage kam der Sattlermeister wieder. Der Professor konnte ihm neunundvierzig Entwürfe für Sättel vorweisen. Denn er hatte zwar nur vierundvierzig Schüler, aber fünf Entwürfe hatte er selbst angefertigt. Die sollten ins Studio. Denn es steckte Stimmung in ihnen. Lange besah sich der Meister die Zeichnungen und seine Augen wurden heller und heller. Dann sagte er: Herr Professor! Wenn ich so wenig vom Reiten, vom Pferde, vom Leder und von der Arbeit verstehen würde wie Sie, dann hätte ich auch Ihre Phantasie! Und lebt nun glücklich und zufrieden. Und macht Sättel. Moderne? Er weiß es nicht. Sättel. Adolf loos, 1931: Trotzdem7

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Thurn, 2007, S. 72. Vgl. Small, 2010. Vgl. Mazzucchelli, 2009. The Genius of Design, Part 1, BBC Two, 2010: Ghosts in the Machine, 00:0:57, es spricht Harvey Molotch. Vgl. Dvorak, 1988. Reverend Sydney Smith, 1850, in: Elementary Sketches of Moral Philosophy: Delivered at the Royal ­Institution, in the Years 1804, 1805, and 1806, Lecture XIX: On the Conduct of the Understanding – Part II, Seite 290–291, Longmans, London. Loos, 1931, S. 24.

298  STUMMES WISSEN 

WERKSTATT Notizen zur Entstehung der Ausstellung | Begegnungen Wer suchet, der findet, so heißt es. Doch nicht nur die Bemühungen des Suchens allein führten mich zum staunenden Finden, sondern oft genug eine Portion Glück. Während meines Forschungsprozesses hatte ich mehrmals das Gefühl, gerade zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort zu sein und von den richtigen Menschen und Begebenheiten eine wichtige Einsicht ermöglicht zu bekommen. Wie ich schon in den ersten Gesprächen mit Designstudierenden herausfand, handelt es sich beim Impliziten, das eine Basis für kreative Prozesse zu sein scheint,1 um etwas sehr Flüchtiges. Das Interview als einziges Instrument erwies sich bald als nicht ausreichend, um die Forschungsfragen zu beantworten, da für ein Interview Sprache nötig ist, und das Aussprechbare per definitionem das Implizite nicht vollständig erklären kann.2 Zwar können Erzählungen sehr gut gewisse (Lern-)prozesse beschreiben und auch im Gesagten sind viele Hinweise auf einen Hintergrund des Erzählten zu finden, doch die Tonbandaufnahmen reichten nicht aus. Um ein reichhaltigeres Bild von meinen Interviewten zu erhalten, ergänzte ich die akustischen Aufzeichnungen der Interviews um visuelles Material. Ich begann, die Begegnungen – sofern die Beteiligten einverstanden waren – mit einer Foto- und Videokamera aufzuzeichnen und so die Möglichkeit zu schaffen, Momente, in denen dieses Flüchtige auftaucht, mithilfe der Kamera zu dokumentieren.

Die forschende Person als Werkzeug Bei den ersten Interviews merkte ich, dass sich schon allein durch meine spezielle Position zum Gegenüber eine bestimmte Atmosphäre entwickelte. So weit wie möglich achtete ich während der Interviews stets darauf, dass sich ein entspanntes Gespräch entwickeln konnte, in dem ein Austausch von Erfahrungen möglich wurde. Mir ist bewusst, dass mir viele Informationen, viele Erfahrungen nur deswegen anvertraut werden konnten, weil ich mich nicht in einem direkten Konkurrenzverhältnis zur interviewten Person befand. Das heißt: Wäre ich in diesem Gespräch eine befreundete Designerin gewesen, wären manche Themen gewiss nicht zur Sprache gekommen. Dass ich in der Gesprächssituation als interessierte Forscherin auftrat, schaffte genügend Distanz, um manches Misstrauen, das man als Designerin oder Designer vielleicht gelernt hat, gleichrangigen Berufskolleginnen und – kollegen gegenüber an den Tag zu legen, gar nicht erst entstehen zu lassen.

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Andererseits begünstigte die Tatsache, dass ich selbst Designerin bin, die angesprochene Vertrautheit. Mir sind die Berufsfelder hinreichend bekannt, mit der ersten Interviewpartnerin durchlebte ich sogar gemeinsam das Erststudium. Nur durch meine eigene Berufserfahrung lassen sich viele Themenkreise im Gespräch erkunden. Persönliche Erfahrungen in ähnlichen Spannungsfeldern sind die Grundlage für solch vertraulichen Austausch. So erst konnte eine fruchtbare Gesprächsbasis entstehen, die von gegenseitigem Respekt und dem Willen zum offenen Austausch von Gedanken und Erfahrungen geprägt war. Diese Atmosphäre ermöglichte, dass scheinbar nebenbei so flüchtige Dinge wie das Lesen einer Form mit den Fingerspitzen passieren konnten oder auch Unangenehmes aus der täglichen Berufspraxis zur Sprache kommen konnte. In diesem Zusammenhang sehe ich mich selbst nicht nur als diejenige, die forschend und fragend dieses Themenfeld bearbeitet, sondern auch quasi als Instrument, das bestimmte Situationen und Ereignisse erst ermöglichen oder aber auch verhindern kann. Welche Rolle ich jeweils als Forschende oder als Beteiligte, als Erzählende und Interpretierende einnehme, kommt von Zeit zu Zeit in dieser Ausstellung zur Sprache und zur Diskussion.

Zur Identität der Interviewpartner Wie bereits angedeutet, habe ich vieles, das ich erfahren habe, nur durch eine gewisse Vertrautheit beobachten können und mitgeteilt bekommen. Und obwohl mir fast alle interviewten Designerinnen und Designer ausdrücklich erlaubt haben, ihre Identität preiszugeben, so möchte ich doch davon Abstand nehmen. Da mir sehr viel anvertraut worden ist, möchte ich aus Respekt vor diesem Vertrauensbeweis keinen der Interviewten enttäuschen, indem ich Gesagtes oder Gezeigtes in einen neuen oder anderen Zusammenhang stelle, als sie oder ich selbst es zum Zeitpunkt der Interviews ahnen konnte.

Der Unterschied zwischen Forschen und Darstellen | Schritte zur Ausstellung Als ich mich forschend dem gewählten Feld mit Neugierde näherte, wurde es nicht (wie beim ersten Herangehen noch naiv vermutet) einfacher, durchsichtiger – natürlich war das Gegenteil der Fall: Die Zusammenhänge wurden immer dichter, plötzlich konnte kein Einzelaspekt mehr für sich genommen und betrachtet werden, bis mir die ursprünglich wahrgenommenen Trennungen wie willkürlich festgelegt schienen. Ich setzte mir zum Ziel, den erforschten Zusammenhängen

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nicht nur durch die Art der Argumentation beim Berichten, sondern auch durch die Form des Berichts gerecht zu werden. Das Erahnen beim Forschen, das Fragen und das darauffolgende Erkennen sind völlig andere Prozesse, als die Erkenntnisse dann darzustellen und so aufzubereiten, dass sie anderen zugänglich werden können. Wie entstand nun die Figur der Ausstellung und welche Hürden hilft sie mir zu überwinden?

Hürde: Entwürfe für die Ausstellung | erste Worte, erste Skizzen Was mir schmerzlich auffiel am Übergang vom praktischen, gestalterischen Tun zum Erforschen dieses Tuns: Mir fehlten die Worte. Das heißt, es gab Worte im Überfluss, aber mir fehlten passende Bezeichnungen. Allzu viele Bezeichnungen für Effekte und Methoden hatte ich erlernt, mit denen ich nun beschreiben wollte, was mir auffiel, worüber ich mir Gedanken machte, was ich dokumentieren wollte. Wundern half mir, voranzukommen: Ich wunderte mich, beobachtete und ich notierte. Nur, was ich mir notierte, war zu Beginn sehr unspezifisch. Im Moment des Erkennens hielt ich die Erkenntnis zwar für treffend festgehalten, doch als ich mir später den Weg über die Notizen zurück zu den beschriebenen Phänomenen bahnen wollte, blieb mir dieser Weg leider oft versperrt. Es dauerte eine ganze Weile, bis in meinem Denken und Aufschreiben Trampelpfade von den Phänomenen zu den Notizen und zurück entstanden. Retrospektiv betrachtet, wurden meine Notizen den Beobachtungen nicht gerecht. In meinen ersten Skizzen waren meist nur Banalitäten zu finden, die mir nicht erlaubten, das Phänomen, das mich verwunderte, zu fassen und zu behalten, geschweige denn mit anderen darüber in Kommunikation zu treten (siehe nächster Punkt). Erst nach vielem, vielem Lesen in unterschiedlichen, vor allem dem Design3 benachbarten Fachgebieten, begann ich ausreichend Sensibilität für die Sprache in meinen Notizen zu entwickeln, sodass ich meine Ahnungen und Erkenntnisse angemessen festhalten konnte. Es half, so nahe wie möglich an den Menschen und den Dingen zu bleiben und möglichst spezifisch und akribisch Prozesse („Was macht … ?“) und nicht Essenzen („Was ist … ?“) zu beschreiben. So erst konnten Protokolle entstehen, die dann zu Entwürfen für die Exponate der späteren Ausstellung führten.

Hürde: Verständigung | Disziplinen und der Name der Ausstellung Der erste Arbeitstitel für diese Ausstellung lautete: „Design und Kommunikation“. Ich merkte rasch, dass dieser Titel zwar nicht falsch ist, aber auf falsche Fährten führt. Einem Kommunikationswissenschafter, mit dem ich ins Gespräch kam, verstellte ich mit diesem Titel den Blick auf die Situationen, um die es mir ging.

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Er hatte durch den in seinem Fachgebiet anders besetzten Begriff in meinem Arbeitstitel praktisch kaum eine Möglichkeit, überhaupt zu ahnen, worum es mir im Design und in der Ausstellung ging. Ich suchte händeringend nach passenden Worten für mein Staunen. In Gesprächen zu Anfang meiner Forschungstätigkeit kam ich nur selten zu dem Punkt, an dem ich mich von anderen Wissenschafterinnen und Wissenschaftern verstanden fühlte. Viel einfacher fiel mir die Verständigung mit Gestaltenden – aus Design, Grafik, Architektur, Mode, aus welchem Kreativbereich auch immer. Uns plagen ähnliche, schwer benennbare Probleme: Inwieweit ist ein gutes Design Geschmackssache? Wenn mehrere Entwürfe den Zweck gut erfüllen, woran erkenne ich unter diesen noch immer Favoriten, auch wenn ich das (noch) nicht begründen kann? Woran kann ich festmachen, dass mein Entwurf eleganter ist als der meines Kollegen? Wie kann ich begründen, wovon ich im Designprozess überzeugt bin? Uns fehlen im Design so oft die Worte – sowohl um selbst zu verstehen als auch um die Transformation zum Verständigen zu meistern. Es erfordert viel Training, sich verständlich zu machen. Selbst wenn ich ein wenig Ahnung von den Fachgebieten meines Gegenübers habe, ist es ein Kunststück, mein Verständnis meines Forschungsgegenstandes in möglichst klarer Sprache darzulegen und dabei so zu öffnen, dass es meinem Gegenüber leichtfällt, Anknüpfungspunkte zu finden. Die Aufgabe der Verständigung in der Figur der Ausstellung war für mich geprägt von diesem Anknüpfen an verschiedene fachspezifische Diskurse, wodurch sich eine breite Diskussionsgrundlage ergibt. Außerdem weiß ich zu schätzen, wie viel von dem, was mich an meinen Forschungsthemen beschäftigt, im alltäglichen Denken und Erfahren fast eines jeden Menschen zu finden ist. Für eine in meinem Sinne einladende und dadurch gelungene Ausstellung braucht es Hintergründe aus verschiedenen Fachgebieten – um vor diesen die beobachteten Phänomene zu entfalten, verlasse ich mich auf die erzählungsgenerierenden Eigenschaften der einzelnen Exponate. In der Denkfigur, die dabei entsteht, ist nun die Erzählung mein Weg durch die Ausstellung, der rote Faden zwischen den einzelnen Exponaten.

Hürde: Ordnen, Linearisieren | Wie kam die Anordnung zustande? Beim Erkunden des Forschungsgebietes sammelte ich Notizen, Eindrücke, Situationen en masse. Als Designerin bin ich es gewohnt, in die Vielfalt zu arbeiten, Linearität spielt beim Ideensammeln meist eine untergeordnete Rolle. Aus immer mehr Skizzen und Notizen wurden Cluster und Mindmaps – ich hoffte, eine Reihenfolge würde sich irgendwann von selbst einstellen oder wäre an einem bestimmten Punkt in der Untersuchung selbst zu finden. Doch so sehr ich mich bemühte, es wollte mir nicht und nicht gelingen, eine Linearität, wie sie ein Text verlangt, in meine Gedanken zu bringen. Zusammenhänge über Zusammenhänge,

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kaum ein in sich – ohne Verweis – schlüssiger Gedanke. Die rettende Frage: Was käme dabei heraus, wenn man versuchte, diese Schwäche selbst zum Thema zu machen? Die Art, über Design so nachzudenken, braucht vielleicht auch eine entsprechende Art, das Nachdenken darzustellen. Da ich bis dahin drei große Themenbereiche als mögliche Kapitel vorgeordnet hatte, wurden aus diesen nach und nach drei Räume. Und sobald die Beobachtungen sich in Räumen anordnen durften, gab es plötzlich die Möglichkeit, zwischen den Gedanken unbeirrt hin und her zu spazieren. Die Zusammenhänge in der Darstellung mit den linearen Mitteln des schriftlichen Denkens bleiben unberührt von der Möglichkeit, auch auf anderen Wegen hindurchzuspazieren, ohne etwas am gedanklichen Gesamtbild zu zerstören.

Hürde: Kuratieren | Begeisterung und Auswahl Was mich beim Forschungsprozess begleitete, nämlich ein Staunen und Begeistertsein, kam mir in die Quere beim Bericht: Wie eine Auswahl treffen? Auf welcher Grundlage? So etwas wie Vollständigkeit anstreben zu wollen ergibt in einer Herangehensweise, die eher Querverbindungen als Umrisse sucht, keinen Sinn. Hier kommt mir eine wichtige Eigenschaft von Ausstellungen zugute: eine bewusste Auswahl der Exponate. Welche Geschichte erzählt werden soll, entscheidet darüber, was gezeigt wird und was nicht. Außerdem darf eine Ausstellung im Gegensatz zu einem möglichst sachlichen Bericht etwas herzeigen wollen. Ich muss nicht verbergen, Aufmerksamkeiten des Publikums fesseln zu wollen, Interesse wecken und wo möglich Begeisterung schüren zu wollen. Im Schreiben fühlte ich mich dadurch eben nicht einer möglichst nüchternen Erzählweise verpflichtet, sondern ich nehme meine Figur Ausstellung dahingehend ernst, dass ich meine Leserschaft als Besucherinnen und Besucher verstehe und sie dazu verleiten möchte, meinen Gedankengängen durch die Ausstellung zu folgen.

Darstellungsprozess als Forschungsprozess Würde ich behaupten: „Die Ausstellung ist wie folgt entstanden: Ich habe mir zuerst die drei Räume ausgedacht und dann Exponate hineingestellt“ – dann spräche das leider ganz und gar nicht dem tatsächlichen Entstehen. Es war schon weitaus mehr als das tatsächlich verwendete Material zusammengetragen, als ich in Überlegungen und in Gesprächen mit Kolleginnen und Kollegen drei große Themen für eine gedankliche Ausstellung entwickelte, die damals noch „Stille Vermittlung“ hieß. Alles bis zu diesem Zeitpunkt zusammengetragene Material, bestehend aus Interviews, Beobachtungen, Literatur – bildete ein dichtes Gewirr aus

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Zusammenhängen, das zuerst nur grob diesen drei Themenkreisen zugeordnet werden konnte: 1. Zusammenhang zwischen Design und implizitem Wissen 2. Praxis der Vermittlungsleistung 3. Konsequenzen für gestalterisches Handeln Aus diesen drei Themenkreisen entstanden dann die drei Räume, die in ihrer Grundkonzeption bis zur Fertigstellung der Ausstellung erhalten geblieben sind. Denn sobald ich mir diese Bereiche als drei Räume vorstellte, fiel es mir leichter, das Material zuzuordnen. Das Problem, dass einzelne Beobachtungen sehr wohl an mehreren Orten passend untergebracht wären, löste sich im Gedanken der Ausstellung nahezu auf, da ich ja in einem Ausstellungsraum jederzeit abzweigen und auf andere Exponate verweisen kann. Es geht für mich in der Ausstellung darum, ein Gesamtbild zu schaffen. Dazu sind alle Ausstellungsstücke aufgrund eines bestimmten Aspektes wichtig; ich sehe mich von der Notwendigkeit befreit, jedes Exponat erschöpfend zu beschreiben oder zu erklären. Jedes Bild und jedes beschriebene Phänomen dient dazu, die Erzählung voranzubringen und nicht vorrangig ein möglicherweise dahinterliegendes Prinzip zu belegen. Die Auswahl, welche Beobachtungen als Exponate in Frage kommen und welche illustrativ dem Erzählstrang beigeordnet werden, beruht hauptsächlich auf ihren erzählungsgenerierenden Eigenschaften.4 Sind sie tragfähig genug, provozieren sie für einen Teil des Weges ausreichend Fragen? Wenn ich mich im gewählten Erzählweg nicht ausreichend über den Sachverhalt wundern kann, eignet sich die Beobachtung besser, um eine Frage oder eine Erkenntnis nur zu illustrieren. Ich gebe gern zu, dass sich im Laufe der Arbeit an der Ausstellung einige Illustrationen zu Exponaten gewandelt haben und umgekehrt. Es zeichnet sich ab, dass ein besonderer Teil der Forschungsarbeit sich also erst beim Versuch, Gefundenes darzustellen, ereignet hat. Ich versuche dies mit einer Parallele zum Kuratieren einer Ausstellung zu beschreiben: Alle für diese Ausstellung benötigten Dinge wurden zunächst in Kisten verpackt angeliefert, das heißt, Gedanken, Beobachtungen, Interviewfragmente, Literaturverweise – schlicht alles, was für die Ausstellung gebraucht wird, kam zuerst in einer bestimmten Schriftfarbe verpackt (also Kisten) in ein Textdokument, bis die Räume gedanklich schon fast überfüllt waren. Sobald ein gewisser Sättigungsgrad5 erreicht war, machte ich mich ans Auspacken der Gedanken. Ich ging forschend und prüfend durch die Räume und setzte mich mit dem Zusammengetragenen auseinander. Manche Splittergedanken mussten von Grund auf erst zusammengebaut werden, manche mussten nur mehr nach näherer Betrachtung an die richtige Stelle gebracht werden. Bei der Bemühung, die Räume effektvoll auszustatten, zeigten sich folgende der Arbeit an einer Ausstellung entsprechenden Probleme:

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• Manche Dinge passen bei eingehender Betrachtung nicht mehr zueinander. Entweder kann die Beobachtung nicht ausgestellt werden oder sie muss einen anderen Platz finden: Manche Literatur- oder Interviewstellen, die so gar nicht zu den tragenden Gedanken der Ausstellung passten, erwiesen sich jedoch in einer Fußnote als hilfreicher Notausgang. • Manche Dinge würden den Rahmen der Ausstellung sprengen. Vielleicht treffen sie auch nicht ganz den Kern der ausgestellten Gedanken. Weil ich manche davon so gar nicht weglassen wollte, versuchte ich im Shop einen Platz dafür zu finden. • Manche Dinge entpuppen sich in der Auseinandersetzung als etwas anderes, als sie zuvor zu sein schienen. Manche Gedanken, in mühevoller Kleinarbeit gesammelt, stellten sich als im Zusammenhang völlig unbrauchbar heraus. Ganz so, als ob man einen Karton öffnet, der nur mit Verpackungsmaterial gefüllt ist. • Manche Dinge konnte ich nicht ausstellen, weil ich nicht das Recht habe, sie auszustellen. Einige Beobachtungen und Erkenntnisse wären sehr interessant für diese Ausstellung gewesen, doch sie auszustellen würde gegen geltende Rechte verstoßen. Teils handelt es sich dabei um Dinge, die mir interviewte Personen anvertraut haben, die aber einem Veröffentlichungsverbot unterliegen, teils um eigene Erfahrungen aus Dienst- und Vertragsverhältnissen. • Manche Dinge wurden bei der Registratur vermasselt. Wenn Gedanken, Gesprächsbruchstücke, Literaturstellen oder Fotos nicht sorgfältig und wiederauffindbar verwaltet, beschriftet und geordnet werden, dann stolpert man plötzlich über einen Karton mit einer Lichterkette, die vielleicht einen ganzen Ausstellungsabschnitt erhellen könnte, doch ich kann sie nicht verwenden, weil nicht herauszufinden ist, woher sie kommt. Sie trotzdem zu verwenden wäre unseriös und unter Umständen riskant.

Lernen in der Ausstellung Wissenschaftliches Arbeiten und Schreiben als Designerin zu erlernen hat sich für mich als sehr nutzbringend für die Designpraxis herausgestellt. Meines Erachtens kann jede Designerin und jeder Designer vom Erarbeiten und Pflegen solcher Fähigkeiten profitieren.

Vom Wandeln Ich bin unter enormem Druck wie traumwandlerisch durch meine Erstausbildung gewandelt, habe gemerkt, dass ich viel zu viel unhinterfragt hätte anerkennen müssen, um rasch an größere Aufträge zu kommen oder in manch schil-

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lerndem Bereich unterzukommen. Da mir das nicht geheuer war, verwandelte ich mein Unbehagen in Forschungsdrang, meine Ungewissheit in Neugier. Bald merkte ich, dass viele meiner Kolleginnen und Kollegen mit ähnlichen Fragen zu kämpfen haben, und ich merkte, dass ich durch meine eigene Umwandlung auch andere in ihren Fragen bestärken kann. Vom Zweifeln zum Fragen, von unsicher zu neugierig.

Übersetzen Ziel der Ausstellung ist es, Gedankenmodelle zu erkunden, die in unterschiedlichen Kontexten handlungsfähig und gestaltungsfähig machen. Da ich unterwegs durch mein Fragen sehr viel Hilfreiches ausfindig gemacht habe, war es dann wichtig, durch Aufschreiben und Dokumentieren das Herausgefundene zugänglich zu machen. Dieses oben schon anknüpfungsfähig kommunizieren genannte Übersetzen spielte also eine zentrale Rolle. Was und für wen habe ich übersetzt? Zu übersetzen, wie ich es im Rahmen dieser Ausstellung verstehe, habe ich vor allem in folgenden zwei Ausprägungen versucht: Es gibt Sachverhalte – in der Illlustration rechts durch die Katze repräsentiert –, die in Disziplin A auf eine bestimmte Weise untersucht werden und in Disziplin B auf eine ganz andere Weise. Eine ähnliche Kluft besteht auch manchmal zwischen Forschungsdisziplinen und bestimmten Praxisfeldern. Der Transfer von einem Bereich zum anderen kann oft nicht ganz unbeschadet gelingen. In der Designpraxis wie auch in der Designforschung lassen sich Erkenntnisse aus anderen Disziplinen meist nur durch einfühlsame Übersetzung einbringen.6 Die zweite Zeichnung zeigt ein Boot mit einem fleißig rudernden Menschen, der zwischen Menschen(ufern) übersetzt. Wo Gedanken(welten) wie durch ein Meer getrennt scheinen, braucht es Menschen, die nicht müde werden, alle Disziplinengrenzen hinter sich lassend, übersetzend hin und her zu rudern, bis die ersten Brücken gebaut werden können.

Sprache finden „Be as articulate as you can possibly be!“ rief uns Designforschenden Alex Wilkie, Vortragender für Design and Social Sciences, bei einer Konferenz an der Gold­ smiths University of London im November 2014 zu. Wir setzten uns damit auseinander, wie schwierig es ist, als Designer die einfachen, selbstverständlich erscheinenden Dinge in präzise Sprache gekleidet zu bekommen. Ist gekleidet das treffende Wort? Sachverhalte, die ich hinreichend verstanden habe, brauchen erst eine Übersetzung in Sprache. Wie beim zweiten Exponat im ersten Raum „Was tun wir, wenn wir etwas wissen?“ untersucht, ist das Verstehen aus triftigen Gründen

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Bild 79: Übersetzen – Katze und Boot

gesondert vom Verständlichmachen zu betrachten. Diese beiden Unternehmungen sind erstaunlich weit voneinander entfernt. Besonders um die zentralen Begriffe, wie sie im Atrium vertreten sind, kreiste ich immer wieder. Was ich in der Designpraxis glaubte verstanden zu haben, weigerte sich hartnäckig in Worten auf Papier zu erscheinen. Ich fragte mich immer wieder, ob mir tatsächlich nicht klar ist, was ich sehe, oder ob bestimmte Fragen über das Sehen erst durch das Aufschreibenwollen auftauchen? Ich vermute, dass das Zweite der Fall ist. Jedenfalls ist für mich das Aufschreiben eine enorm wichtige Übung geworden, die mir auch in meiner Designpraxis hilft, gedanklich wendiger zu werden. Wie kann ich auf Papier ausdrücken, sichtbar machen, was ich sehe? Dreidimensionale Objekte durch Papier zu drücken, um sie darzustellen, funktioniert ja nur mit sehr flachen Dingen, beispielsweise einer Münze, die ich unter das Papier lege und durch Schraffieren mit einem weichen Stift sichtbar mache. Wie kann ich, was ich bisher im Geist gedreht und gewendet habe, aufs Papier bringen? Wodurch müssen meine Gedanken gedrückt werden, um sichtbar zu werden? Ich komme darauf, als ich die Ebene des Papiers, durch das soeben die Münze gedrückt wurde, in die Hände nehme und mit gestreckten Armen vor mich hinhalte. Auf dasselbe Blatt Papier möchte ich einen Gegenstand zeichnen, der für mich perspektivisch schwierig zu erfassen ist. Wie einen gedachten Rahmen bringe ich das Blatt Papier zwischen mich und das, was ich sehe (und darstellen möchte). Diese Zeichenebene ist eine Fläche, die ich mir vorstelle, um eine Position oder Komposition zu finden und diese darstellen zu können. Die gedachte Ebene entspricht dabei dem Blatt Papier, auf dem die Zeichnung entsteht. Behelfsmäßig kann auch mit Daumen und Zeigefingern ein Rahmen geformt und wie mit einem Suchfenster ein passender Blickwinkel gesucht werden. Wenn ich nicht real vor mir sehe, was ich wiedergeben möchte, passiert diese Festlegung auf eine Zeichenebene trotzdem.

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Bild 80: Ichunddieworte, Skizzenbuchscan

Für einen Betrachtenden dient beim Lesen dieser Zeichnung die Papierfläche als unsichtbares Fenster, durch das sichtbar werden kann, was ich darzustellen versucht habe. Im Geist Gedrehtes und Gewendetes, das ich in einer mir eigenen Art zu wissen und zu denken zwar bewusst bearbeite, kann die Mediumsgrenze zum sprachlich-schriftlichen Denken anscheinend erst passieren, wenn diese gedachte Bildebene zwischen mir und einem fiktiven oder tatsächlichen Gegenüber platziert wird. Das gedachte Gegenüber, in meinem Fall die ersten Menschen, die diese Ausstellung besuchen, hilft mir, eine gedachte Zeichenebene zwischen mich und meine Beobachtungen zu stellen; so kann sich Betrachtetes auf dem Papier einfinden. Die Kombination der Suche nach einem erhellenden Blickwinkel, der dem Sachverhalt gerecht wird, mit dem Darstellenwollen für ein Gegenüber bestärkt auch die Figur der gedachten Ausstellung.

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Zeichenebene und Selbstverständlichkeiten Selbstverständlichkeiten werden erst auf die Probe gestellt, wenn sich Widersprüche auftun. So wie die eben beschriebene Zeichenebene sind sie meist unbewusst, bis wir sie hinterfragen. Zum Hinterfragen gelangt man oft erst durch ein Stolpern oder durch Risse (siehe auch die Hinweise auf Seite 078, warum Risse in den Selbstverständlichkeiten uns helfen können, diese zu erkennen). Herausgefordert werden sie auch durch Unstimmigkeiten. Es war für mich ein schwieriges Kunststück, zusätzlich zu einem meist visuell geprägten In-die-Breite-Denken, einem lateralen7 Assoziieren, mir auch das lineare, sprachliche Denken anzueignen. Wie eine neue Sprache zu lernen, dient mir die Fähigkeit einerseits dazu, mein Verständnis der Sachverhalte explizit zu machen, und andrerseits dazu, die Erkenntnisse durch eine argumentativ sinnvolle, aufschreibbare Reihenfolge lesbar zu machen.

Gedanken aufschreiben Warum war für mich nicht einfach, was doch so logisch und einfach wirkt? Wissenschaftliches Arbeiten hat nur am Rande mit Logik und Zitierregeln zu tun. Eine logische Argumentation und Reihenfolge stellt sich ja oft erst durch die Darstellung ein. Eine zuvor nicht geahnte Schwierigkeit bestand für mich darin, zu lernen, meine eigenen Gedanken wahrzunehmen und sie dann in Sprache zu übersetzen. Eine Aussage, ein Zitat beeindruckt mich – dann aber in Worte zu fassen, was genau mich daran fasziniert, es wörtlich mit einer anderen Aussage in Zusammenhang zu bringen, diese Verknüpfung nicht nur zu spüren oder in Bildern festzuhalten, wie es für designerische Arbeit wichtig ist, dann schnell weiterzuspringen, um möglichst rasch möglichst unterschiedliche Ideen generieren zu können – nein, das Explizit-machen-Können, das Verbalisieren meines eigenen Begreifens, das ist wohl für mich das Schwierigste, aber auch Wertvollste, das ich aus dieser Forschungsarbeit mit weiter zu den nächsten nehme. Eine Bestätigung für diesen Gedanken finde ich bei Otto Kruse: Diese Übersetzung, das Aufschließen und Zugänglichmachen des eigenen implizit Begriffenen, betrifft beinahe alle Forschenden. Er bemerkt dazu:  … dann lernen sie, dass man Formulieren als Linearisierung von Information verstehen kann, wobei komplexe Zusammenhänge in das Nacheinander einer sprachlichen Zeichenkette zerlegt werden müssen. Dieses Modell ist wichtig, um zu verstehen, wie man Wissen in einem Text so „verpackt“, dass es von anderen wieder in einen komplexen ­Zusammenhang rückübersetzt werden kann. Texte lassen sich als eine Art Gefäße für Wissen verstehen, und jede Textart enthält andere Arten von Wissen.8

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1 2 3 4 5 6 7 8

Vgl. Cross, 2007 – und Raum [1], Exponat [6]. Vgl. Polanyi, 1985 – und Raum [1], Exponat [3]. Anm. d. A.: Ich kann es im Nachhinein nicht mehr so genau festmachen, aber mir scheint, viele Designschaffende, die schreiben, stehen vor ganz ähnlichen Artikulationsproblemen. Begriff zum ersten Mal notiert bei einem Gespräch mit Prof. Wilhelm Berger im Herbst 2011. Vgl. evtl. die thematisierte „Sättigung“ als Arbeitseinheitsabgrenzung in der Grounded Theory: Strauss et al. 1970, dies. 1994, Flick et al. 2005. Vgl. auch Kapitel „Übersetzen“ in Berger, 2014, S. 127 ff. Vgl. Bono, 1970. Kruse, 2007, S. 86.

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LESERAUM Kontextualisierung | Positionierung Ergänzend zum in den Ausstellungsräumen Gezeigten finden sich hier im Leseraum noch einzelne Begriffe des Forschungsgegenstandes: Was nicht definiert werden kann, werde ich wenigstens eingrenzen und in Position bringen.

Design ist, was Designer tun Es ist nicht überall in der Ausstellung dasselbe gemeint, wenn ich die Begriffe Design und Gestaltung verwende. In meinem Grundstudium, Industrial Design an der FH Joanneum Graz, ging ich von folgendem Designverständnis aus: „Design ist neben Technologie und Marketing das dritte Standbein einer erfolgreichen Unternehmensstrategie geworden“. (Zitat aus dem Studiengangsfolder im Jahr 2005).1 Nach wie vor ist in ungezählten Bereichen ein Designverständnis aktuell, in dem solche Gegenstände und Services für den individuellen Konsum dominieren, die modischen Zyklen unterworfen sind. Für diese Art von Design liegt der Fokus beim Entwerfen weniger in strukturellen Eingriffen, sondern auf der Variation von Schnittstellen, als Oberflächen betrachtet. Mancherorts stehen Outfit oder Verpackung im Sinne eines Aufhübschens, Stylens im Vordergrund. Die Konzentration auf Oberflächen habe eine triftige Grundlage in der Tendenz zu immer komplexeren Strukturen, angesichts derer sich die Verantwortung der Produktgestaltenden auf die Schnittstelle zwischen dem Benutzer und dem Objekt beschränkt, begrifflich präsent im Wort Benutzeroberfläche.2 Von dieser Angliederung des Designs an rein marktwirtschaftliche Zusammenhänge, Design also als ausschließlich auf die absatzfördernde Gestaltung industriell hergestellter Produkte ausgerichtetes Handeln, möchte ich mich distanzieren. Wie ich in Raum [3] ausführlicher darlege, will ich den verkaufsfördernden Aspekt designerischer Bemühungen nicht leugnen, jedoch wird diese Positionierung von Design in dieser Ausstellung noch um einige konsequenzenreiche Aspekte ergänzt, wobei es sich um eine explorative Bemühung handelt, die nicht auf Vollständigkeit abzielt. Jeder Mensch, der eine Situation planvoll verändert, gestaltet3 – schreibt Viktor Papanek. Ob es dabei um die Einrichtung eines Raumes im Sinne der Innenarchitektur geht oder ob ich mir überlege, wie ich die Sessel einer Sitzgruppe für ein Seminar anordne, um eine möglichst positive Gesprächsatmosphäre aufkommen zu lassen: In Papaneks Sinn gestalte ich die Situation. Herbert A. Simon4 meint, man beschäftigt sich schon im weitesten Sinne mit Design, sobald man sich nicht nur mit der Analyse des Vorgefundenen, sondern mit einem Möglichkeitsraum

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beschäftigt – also wie die Dinge sein könnten. Diese grundlegenden Definitionen sind gern zitierte kleinste gemeinsame Nenner menschlichen planvollen Handelns. Doch ist damit der Bereich des Designs nicht gar zu weit gefasst? Die schweizerische Designforscherin Claudia Mareis hält fest, dass sich die Auffassungen von Design in den letzten Jahrzehnten massiv verändert haben: Designdiskurse haben sich weit von den traditionellen Ausbildungskontexten des Kunstgewerbes und von den kommerziellen Anwendungskontexten der Produkt- und Werbeindustrie entfernt. Sie werden in neuartigen Aufgaben- und Wirkungsbereichen erprobt und haben einen grundlegend inter- und transdisziplinären Charakter angenommen.5 Doch sie warnt davor, den Designbegriff in Beliebigkeit versinken zu lassen. Die vorhin genannten allgemeinen Definitionen zeugen von Bemühungen, das Gemeinsame an so unterschiedlichen Tätigkeiten, wie zum Beispiel dem Design eines Firmenlogos, dem Design eines Lautsprechersystems und dem Design eines öffentlichen Spielplatzes, zu finden. Der Designtheoretiker Heinz Hirdina sorgt sich darum, ob solch grundlegende Definitionsversuche sich in Ausweichbegriffen verlieren: Obgleich unterschiedlich motiviert, gehen damit Differenzen zu den Begriffen Kunst, Plan, Arbeit oder Machen verloren. Und umgekehrt löst die Reduktion des Ästhetischen auf das Inszenatorische im gängigen Designverständnis den Verzicht auf das Wort Design aus, das vor allem durch Gestaltung oder Entwurf und Entwerfen ersetzt wird.6 Die Verallgemeinerung zu dem Entwurf in der Einzahl unterschlägt außerdem die erstaunliche Vielfalt an Entwurfspraktiken und den vielen, enorm ausdifferenzierten Bedingungen für Design.7 Universalistische Designverständnisse – so Mareis – blenden aus, wie sehr Entwerfen (als Kulturtechnik verstanden) abhängig von der jeweiligen Zeit, dem jeweiligen Ort und den jeweils beteiligten Personen ist. Spätestens seit den 1970er Jahren breitet sich das Wort Design auch jenseits fachlicher Diskurse aus und entzieht sich vollends einer trennscharfen Definition. „Letztlich wird in der Spanne von Designeruhr bis Designerdroge ein Feld abgesteckt, das von der Mode bis zur Chemie reicht“, bemerkt Hirdina. Er führt aus, dass Design einerseits als Prozess verstanden werden kann, der durchaus als Grundlage menschlichen Handelns gelten kann, andererseits bezeichnet Design manchmal auch Resultate künstlerischer und handwerklicher Unternehmungen. Dennoch …  … ist der Kern, um den sich Bedeutungen historisch angelagert haben, das ästhetisch bestimmte Entwerfen von industriell reproduzierbaren Gebrauchsgegenständen, die sich auch für symbolischen Gebrauch eignen.8

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Ein heute aktuelles Verständnis von Design beinhaltet zumeist eine Unterscheidung zur Architektur, die in anderen Größenordnungen und Planungsstrukturen operiert, und bezieht sich meist auf die Planung und Konstruktion zwei- oder dreidimensionaler Gebilde, welche mit industrieller Technik reproduzierbar sind. John A. Walker bemüht sich in seiner Designgeschichte um eine gewissenhafte Benennung seines Forschungsgegenstandes, einige Abschnitte sind einer Auflistung von Designdefinitionen anderer Designhistoriker gewidmet. Er resümiert, dass Design vor allem in der kontrastierenden Abgrenzung zu verwandten Begriffen – wie Kunst, Technik, Handwerk und anderen – Sinn und Bedeutung ­findet.9 Distanzierungen von Designerinnen und Designern erzählen durch Wortschöpfungen und Benennungen, die sie sich selbst geben, viel über den Hintergrund, vor dem sie entstanden sind. Als ein früher markanter geschichtlicher Entwicklungsschritt auf dem Weg zum heutigen Verständnis von Design kann die Gründung der Accademia del Disegno 1563 in Florenz unter Giorgio Vasari benannt werden. Die Gründung der Accademia bedeutete eine Aufwertung der Vorarbeit für das Handwerk. Schon mindestens seit dem 16. Jahrhundert gab es Entwürfe und Produktionsunterlagen für Handwerker, wie Hartmut Vincon und Bernd Meurer nachweisen.10 Sie beziehen sich auf Musterbücher mit Vorlagen, die aus dieser Zeit erhalten geblieben sind, die als Arbeitsgrundlage dienten, als Hilfsmittel bei der Kooperation mit anderen Handwerkern und weiters zur Verbreitung bestimmter (meist höfischer) Vorbilder beitrugen. Die Vorlagen wurden von Architekten, Handwerkern oder Künstlern erstellt. Eine Spezialisierung (allein) auf den Entwurf bildete sich erst heraus, als durch eine fortschreitende industrielle Revolution im 19. Jahrhundert neue Trennungen stattfanden. Räumlich, zeitlich und personell trennen sich Entwurf und Ausführung immer mehr voneinander. Die Etablierung des Entwurfs in einem besonderen Raum (Ateliers, Agenturen, Studios oder Ähnlichem), in einer besonderen Zeit (bevor die Produktion startet), durch besondere Entwerfer (Zeichner, Musterzeichner, Designer … )11 ist die Folge. Bemühungen, sich und die eigene Arbeit zu verorten, oft zwischen Kunst, Handwerk und Industrie zu positionieren, prägen die Arbeit von Designern (wie es mir auch in mehreren Interviews bestätigt wurde) auch noch im 21. Jahrhundert. Die markante Auseinandersetzung mit dem Innen und Außen der Gestaltung spiegelt sich auch in sich wandelnden Berufsbezeichnungen: [Es] blieb als Gemeinsamkeit das industrielle Serienprodukt als Gegenstand des Formgebens. Mit dem Begriff „Formgeber“ aber sah sich der Designer im Osten bereits während der 50er Jahre von der Industrie in die Rolle eines Hüllenmachers gedrängt, gegen die er mit dem Ersetzen von „Formgeber“ durch „Formgestalter“ reagierte.12 Ergänzen möchte ich diese Betrachtungen noch um die Feststellung, dass Design ein Wort ist, dass nicht nur für Gegenstände verwendet wird, Design …

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 … kann auf einen Vorgang verweisen (den Akt oder die Tätigkeit des Entwerfens) oder auf das Ergebnis dieses Vorgangs (ein Design, eine Skizze, ein Plan oder ein Modell) oder auf Produkte, die mithilfe eines Designs hergestellt wurden (Designobjekte), oder auf das Aussehen oder den Gesamtentwurf eines Produkts („Mir gefällt der Schnitt, also das Design von diesem Kleid“).13 Hier in dieser Ausstellung entspricht mein Verständnis von Design einer Tätigkeit, die mit industrieller Fertigung und Verbreitungsmöglichkeiten verknüpft ist, im Sinne einer Mehrfachanfertigung, Serienproduktion oder weitreichenden Verbreitung.14 Daraus ergibt sich auch – wie in Raum [3] diskutiert – eine besondere Verantwortung im Design. Jede einzelne Entscheidung beim designerischen Gestaltungsprozess hat nahezu unüberschaubare Konsequenzen.

Vermittlung | implizit Ich war überrascht, dass es mir so schwerfiel, Quellen zur Begriffsklärung Interface zu finden. „Was ist ein Interface?“ im Sinne von „Was trifft hier eigentlich aufeinander?“ scheinen sich wenige Designerinnen und Designer im Detail zu fragen, auch durchaus nicht in der einschlägigen Fachliteratur zum Thema Human Computer-Interface. Ausführliches zur Definition der Elemente und wie sie einzusetzen sind meine ich damit nicht – sondern zum Beispiel, dass in mancher InterfaceGestaltungsrichtlinie im Glossar15 ein eigener Eintrag für „Interface“ fehlt. Ebenso ungenau wie mit allgemeinen Definitionen sind einige Publikationen im Bereich der Human Computer Interaction auch mit dem theoretischen Modell, von dem aus Interfacegestaltung beforscht und begründet wird. Mancherorts wird vorgeschlagen, den Mensch-Mensch-Interaktionen einfach mit typischen soziologischen Methoden auf die Spur zu kommen und diese Interaktionen dann „einfach“ auf neue Mensch-Maschine-Interaktionen zu übertragen.16 Problematisch ist hierbei nicht nur die Vernachlässigung der Unterschiede zwischen Maschinen und Menschen – Mensch und Maschine können sich notwendigerweise auch (noch) nicht auf dieselbe Weise miteinander verständigen wie Menschen untereinander –, zusätzlich werden meist Phänomene der menschlichen Aufmerksamkeit aufgrund unhandlicher Komplexität auf ein Arbeitskonzept vereinfacht.17 Außerdem zeigt die Alltagserfahrung der (vermutlich) meisten von uns, dass eine geplante Kooperation zwischen Mensch und Maschine bei weitem nicht immer gelingt: Die Erwartung an die soziologischen Methoden ist vielleicht etwas überhöht. Ich würde nicht davon ausgehen, dass Psychologie und Soziologie (zwei große Hoffnungsträger, die gerne bei Argumentationen im gestalterischen Bereich herangezogen werden) menschliches Handeln, vor allem in gelingender Kooperation miteinander, schon vollständig entschlüsseln und erklären können. Ich will hier keinesfalls faszinierende, sich ständig weiterentwickelnde Erkenntnisse in diesen

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Bereichen geringschätzen – ich bezweifle nur, dass man diese einfach ohne Weiteres auf Mensch-Maschine-Kooperationen übertragen kann. Reicht es aus, Mensch-zu-Mensch-Interaktionen zu studieren, um Erkenntnisse daraus mit etwas Kreativität auf Mensch-Maschine-Interaktionen zu übertragen? Ich möchte diesen Ansatz mit Vorsicht By taking stock of what it is we humans do behandeln, da Maschinen, Gegenstände, when we work with one another, and using a bit Systeme grundsätzlich andere Möglichkeiof creativity in applying these lessons to the ten haben, mit mir zu kommunizieren, als machine world, we can help make this next genMenschen es haben. Wie im ersten Drittel eration of interactive devices welcome in our von Raum [2] erkundet, erkennen die meisworld.18 ten Menschen viele Interaktionsangebote an Eigenschaften wie Material, Form und Farbe. Auch Gerüche, Geräusche und Lichtsignale (um nur einige Beispiele zu nennen) bieten ein großes Repertoire für Interfacegestaltung. Ich unterstelle, dass Hinweise für die Gestaltung von Lichtsignalen bestimmt nur bedingt aus MenschMensch-Interaktionen abgeleitet werden können. Was ich aus diesen Gleichsetzungen jedoch ebenfalls herauslese, ist ein dringender Wunsch, Interaktionen zu verstehen und sie so zu gestalten, dass sie menschlich und menschenfreundlich bleiTraditionelle Modelle, die entweder technisch ben, auch wenn es sich um Interaktionen oder sozial gewichtet sind, eignen sich nicht, mit technischen Artefakten handelt. Caum die komplexe Durchdringung von Technik meron Tonkinwise arbeitet in einem Artiund Gesellschaft, die für die Wissensgesellkel19 sorgfältig heraus, wie man animistischaft typisch ist, adäquat zu beschreiben. sche Sichtweisen im Umgang mit Dingen als Die Akteur-Netzwerk-Theorie hingegen erweist wichtige Quelle für Design Research nutzen ­genau hier ihre Stärke, da sie theoretische Bekönnte. Diesem Vorschlag folgend möchte griffe und Modelle aus der Empirie entstehen ich erneut betonen, dass es für die Erforlässt und (getreu dem ANT-Motto) „den Akteuschung der Stellen, an denen Menschen und ren folgt“.20 Dinge aufeinandertreffen, eigene Modelle braucht. Diese müssen oft gar nicht neu erfunden werden, viele davon sind vielleicht nur noch nicht bekannt aufgrund bisher noch nicht genug ausgeprägter Vernetzungen unterschiedlichster Forschungsrichtungen.

Materiality of Social Practice In ihrem Buch The Design of Everyday Life halten die Autorinnen und Autoren um Elizabeth Shove fest, dass Fragestellungen, die sich mit der Verwobenheit der physikalischen Gegebenheiten unseres Alltags sowie mit der sozialen Praxis, die dadurch entsteht, oft zwischen den Sesseln disziplinärer Forschung Platz finden müssen. Alltagsobjekte können in ihrer Wichtigkeit für die Formung des Alltags-

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lebens leicht unterschätzt werden. In den Territorien einzelner Disziplinen lassen sich leider kaum Modelle dafür finden, wie diese Hardware-Komponente menschlichen Handelns für Design erkenntnisbringend untersucht werden kann. Ich schließe mich den Forscherinnen und Forschern an, die darauf pochen, dass jede soziale Praxis eine „Hardware“-Komponente besitzt. Entlang der AkteurNetzwerk-Theorie lässt sich (menschliches) Ordinary objects are extraordinarily important Handeln als heterogenes Netzwerk, bestein sustaining and transforming the details and hend aus Menschen und Nicht-Menschen, the design of everyday life. For reasons that beschreiben.A Madeleine Akrich argumenhave to do with historic and contemporary divitiert, dass technische Objekte Elemente hesions of intellectual labour, analysis of the terogener Netzwerke sind, die unterschiedhardware of consumer culture and its role in lichste Akteure zusammenbringen. Für die the reproduction of social practice repeatedly Untersuchung, wie solch ein Akteur-Netzwerk falls between the cracks of disciplinary inquiry. eine Handlung ermöglicht, spielt es keine This book seeks to recover some of that missing Rolle, ob die Akteure menschlich oder nichtterritory and bring the materiality of practice menschlich sind. Wichtig ist allein die Rolle, into view.21 die sie innerhalb dieser Netzwerke spielen. Because the answer has to do with the way in which they build, maintain, and stabilize a structure of links between diverse actants, we can adopt neither simple technological determinism nor social constructivism.22 So trifft hier nun eine Sichtweise, die in einem gewissen Sinn keinen Unterschied macht zwischen Menschen und Objekten, auf eine weitaus verbreitetere, welche die Welt streng in Gegenstände und Menschen unterteilt wahrnehmen will. Die von Akrich und anderen beschriebene Sichtweise bemüht sich, diese Unterteilungen als willkürlich aufzufassen und von ihnen Abstand zu nehmen, um sich besser mit der Verschränktheit der Elemente befassen zu können. Diese Verschränktheit zeigt sich nicht nur in gedanklichen Repräsentationen meiner dinglichen Umwelt und ihrer Eigenschaften, auf denen jede Metapher beruht, auf die im Interfacedesign zurückgegriffen werden kann, sondern die Integration von Werkzeugen findet insgesamt an der Basis meines Erkennens und Bewegens (in) der Welt statt, wie in dieser Ausstellung immer wieder gezeigt wird. Auf der Suche nach dem Innen und Aussen von Mensch wie Objekt bringt Hartmut Böhme das Wort Ineinandergeschobenheit ins Spiel. So ist mein Alltag und das tägliche Handeln bedingt durch und aufs Engste verwoben mit den Möglichkeiten, die mir die Gegenstände bieten.23 Ausgehend von dieser Grundannahme wird in der Ausstellung betrachtet, inwiefern einzelne Nuancen einer Situation bewusst handlungsleitend gestaltet werden können (Raum [2]) und wie Menschen im täglichen Gebrauch solche Scripts wahrnehmen, A  Abzweigung zur Beschreibung der Elemente im Kontext der Ausstellung, Seite 227.

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sie annehmen, verändern oder möglicherweise auch von ihnen eingeschränkt werden (Raum [2] und Raum [3]). Der Entscheidung für eine solche Sichtweise der Verhältnisse geht eine noch grundlegendere Positionierung, was das Verhältnis zwischen Menschen und ihrer Technologie angeht, voraus.A Die Perspektive, die eine Neutralität technischer Artefakte betont, taucht in der Literatur meist Wenn wir aber uns als res cogitans (reine Innerunter dem Namen technological neutrality24 lichkeit) ihm [dem Objekt, Anm. d. A.] als bloße auf. Aus dieser Perspektive haben Technores extensa (reine Äußerlichkeit) entgegensetlogien und Gegenstände keinen systematizen, fällt das Ding in ein opakes, um seine Kraft schen Einfluss auf die Menschen, auch nicht beraubtes An-sich zurück wie umgekehrt das auf ihre Handlungsweisen. Die VerantworIch in seine inkompossible Leere. So gedacht tung für Handlungen liegt allein beim Insind Subjekt wie Objekt gerade falsch gedacht – dividuum, Technologien werden als neutund das rechtfertigt alle alltags-ethnologischen rale Werkzeuge gesehen, sie sind als bloße Untersuchungen zur material culture, welche Dinge völlig austauschbar und in ihren Eidie ebenso vertraute wie befremdliche Ineinangenschaften trennbar vom Individuum. Diedergeschobenheit von Ich und Ding zu untersuses verfolgt seine Vorhaben völlig unabhänchen anstreben.25 gig davon, welche Werkzeuge zur Verfügung stehen. Ein bekannter Slogan, in dem sich diese Haltung deutlich zeigt, lautet: „Guns don’t kill people. People kill people.“26 Hier kommt deutlich zum Ausdruck, dass in dieser Sichtweise keine verwendete Technologie je eine besondere Rolle für die Handlung spielen kann. Die alleinige Verantwortung für die Handlung sowie für das Ergebnis ist dem Menschen zuzuschreiben. Die extreme Gegenposition dazu ist die Sichtweise, dass Menschen bei der Benutzung von Technologien in vielerlei Hinsicht keine Wahl, keine Entscheidungsmöglichkeit haben und daher auch keine Verantwortung für die Handlung oder die Folgen des Handelns tragen könMadeleine Akrich schreibt über diese Positionen. Sachzwänge, zwingend vorschreiben, unnierungen: vermeidbar – sind häufige Worte in solchen Technikdeterminismus achtet nicht darauf, was Beschreibungen. Diese Position wird oft als von den strukturellen Effekten eines NetzwerTechnikdeterminismus bezeichnet. kes zusammengebracht und schließlich ersetzt In der Perspektive der Akteur-Netzwerk-­ wird. Im Gegensatz dazu leugnet der soziale Theorie oder der soziotechnischen Systeme Konstruktivismus die Dauerhaftigkeit von Oblässt sich die Verantwortung aufteilen, denn jekten und nimmt an, dass nur Menschen den sowohl Menschen als auch Nicht-Menschen Status von Akteuren haben können.27 können den Status von Akteuren einnehmen: „Ein soziotechnisches System ist mithin ein Handlungs- oder Arbeitssystem, in dem menschliche und sachtechnische Subsys­ erdeutlichung teme eine integrale Einheit eingehen.“28 Günter Ropohl bringt zur V A  Abzweigung zu Raum [3] „Mensch und Technik“, Seite 223.

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das Beispiel, wie ein computergeschriebener Text nur mithilfe aller drei Elemente Mensch – Computer – Text entstehen kann. Ein Computer wird erst wirksam, wenn er zum Teil einer Mensch-Maschine-Einheit geworden ist. Wenn Text geschrieben wird, tut das nicht allein der Mensch, aber es ist auch nicht allein der Computer, der den Text schreibt; erst die Arbeitseinheit von Mensch und Computer bringt die Textverarbeitung zuwege.29 Je unwichtiger die Unterscheidung zwischen technisch und sozial wird, umso mehr kann sich eine Analyse damit befassen, welche Handlungen von welchen Elementen übernommen werden, welche Elemente handlungsleitend sind und welche austauschbar wären – so lässt sich besser untersuchen, welche Elemente sich miteinander verbinden lassen und welche Möglichkeiten zur Rekonstruktion und Umformung es geben kann. Der „Charakter dieser Aktanten und ihre Verbindungen, das Ausmaß, zu welchem sie in der Lage sind, das Objekt umzuformen, und die verschiedenen Arten, in denen das Objekt verwendet werden kann“30 sollen im Zentrum der Betrachtung stehen. Was nun die Analyse der Elemente eines soziotechnischen Systems betrifft, wird eine Handlung als Konsequenz dieser Betrachtungen gesehen und nicht als deren Ausgangspunkt.

Einbetten der Ausstellung in Alltag und gegenwärtige Diskurse Das Design der industriell hergestellten Dinge beeinflusst die Art und Weise, wie das Alltagsleben der meisten Menschen strukturiert ist: Das (anonyme) Design reproduziert mit anderen Worten eine kulturell und historisch spezifische Material- und Formensprache, die nicht einfach nur eine tiefer liegende Sozialstruktur widerspiegelt, sondern selbst strukturierend wirkt, da sie die verschiedensten routinisierten Praktiken stets begleitet oder gar erst ermöglicht. Die Dingwelt und ihre Choreografie können somit nicht auf ein bloßes Epiphänomen des Vergesellschaftungsprozesses reduziert werden, sondern müssen aufgrund ihrer aktiven Formung von körperlichen Bewegungen und Haltungen, visuellen Aufmerksamkeiten und sinnlichen Eindrücken als ein praxis- und subjektkonstitutiver Faktor verstanden werden, der gegenüber den diskursiven Bedeutungsstrukturen und Handlungsritualen eine gewisse Eigenlogik besitzt.31 So unterschiedlich wie die Autorinnen und Autoren, die im Lauf der Geschichte Annäherungen an die Dingwelt unternommen haben, sind ihre Ansichten. Roland Barthes beispielsweise entschlüsselt „in seinen semiotischen Analysen der Alltagskultur vielmehr die Lebensstilelemente als passive Träger soziokultureller Bedeutung“.32 Für die Beschreibung des Alltags in dieser Ausstellung werden

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aber vorwiegend Ansätze herangezogen, welche die Dinge selbst wirksam werden lassen. Einige gezeigte Situationen könnten kaum dargestellt werden, würde sich die Wirkmächtigkeit der Dinge nur auf eine Funktion als „Bedeutungsträger“ beschränken. Kultursoziologien des Design und Analysestrategien, beispielsweise der Visual Culture Studies, können um Positionen ergänzt werden, die eine Aktivität der Dinge denken können. Dies ist vor allem in den neueren Science, Technology & Society Studies (STS) der Fall. Ein promiNeuere Analysen der visuellen Kultur setzen am nenter Vertreter ist Bruno Latour, mithilfe Gegenstand selbst an, um die wissens- und beder Akteur-Netzwerk-Theorie – erläutert er deutungskonstitutive Wirkung von kulturellen am Beispiel des Berliner Schlüssels34 oder am Repräsentationsregimen aufzudecken. Aufgendarme couché35 dass die sozialen Wirkungrund ihres (post-) strukturalistischen und disgen der Dinge auf ein ihnen innewohnendes kursanalytischen Theorieinstrumentariums beHandlungsprogramm zurückzuführen sind. schränken sich diese Studien allerdings bisher Möbius und Prinz36 merken an, dass durch auf die bildliche Darstellung – sei es Werbung, die Formierung von Hybriden in Latours Schulbücher oder wissenschaftliche Grafiken – Theorien teilweise ein ausdifferenzierter und interessieren sich kaum für die Formen der Körper- oder Wissensbegriff verloren geht, Dingwelt und die körperlich-sinnlichen Praktiund sie meinen, auch Verantwortungs- und ken des Sehens.33 Machtbegriffe scheinen stellenweise schwerer zu verorten zu sein. Ob diese Sichtweise nicht gerade deswegen den wahrnehmbaren Machtverhältnissen und Wissensstrukturen näher kommt, wird in den Räumen mehrfach dargestellt. Mein wichtigstes Verbindungselement zu den STS ist jedenfalls der Wunsch, Menschen und Dinge zugleich in den Blick zu nehmen und eben nicht Menschen getrennt von Dingen zu betrachten.37 Hier können sowohl Designpraxis als auch Designausbildung eine große Bereicherung erfahren, wenn sie diesen noch nicht überall angekommenen Blickwinkel ausprobieren. Die Beforschung der Wissensformen, die für Design eine Rolle spielen, ist ebenfalls ein Themenstrang, dem ich diese Ausstellung zuordnen möchte. Hierzu ist vor allem Nigel Cross zu nennen, der in seinem Essay Designerly ways of knowing38 ebensolche Wissensformen benennt und erforscht, sowie die Arbeit von Claudia Mareis, die den Interferenzen zwischen Design- und Wissensdiskursen seit 1960 in ihrem Buch Design als Wissenskultur39 nachgeht. Über die Berufsvereinigung designaustria wurde 2013 von Roswitha Peintner, Martin Breuer-Bono, Harald Gründl (2005 erster Design-Dissertant in Österreich, Mitbegründer von EOOS, Gründer und Leiter des IDRV40), Stephanie Guse, Andreas Koop, Andrea MoyaHoke und mir ein Design Research Experts Cluster gegründet, der sich bemüht, einer Designforschung41 auch in Österreich eine Plattform zu geben.

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Abschließende Bemerkungen | Putzlicht Ich schreibe in dieser Ausstellung vor allem gegen die Sprachlosigkeit an, die viele Designerinnen und Designer von Zeit zu Zeit begleitet und oft uninformierter Willkür Tür und Tor öffnet. Gemäß dem bei der PhD by Design Conference 2014 in London gehörten Aufruf: „Be as articulate as you possibly can be!“42 Was tun wir eigentlich, wenn wir • • • •

entwerfen, designen, einen Gegenstand einer Markenfamilie zugehörig erscheinen lassen, ein Gerät benutzerfreundlich gestalten, gestalterisch Orientierung erleichtern, sei es in einem großen Gebäude oder in einem Buch, • eine Produktserie überarbeiten, sodass sie eleganter wirkt, • an einem Flughafen wichtige Elemente gut auffindbar und international ­verständlich machen? All dies und noch vieles mehr ist meist für die Beteiligten schwer zu artikulieren. Allzu hastig greift man manchmal auf vorschnelle Benennungen zurück. Um dem zu entkommen, ist es mir wichtig, gegen Unüberlegtheiten anzuschreiben, vor allem vor dem Hintergrund überhandnehmender Psychologisierungen,43 an denen man zurzeit im Design kaum vorbeikommt. Der Tenor lautet dabei meist: Es würde ausreichen, Psychologie (aktueller: Neuropsychologie) studiert zu haben, um Design ausreichend verstehen zu können. Weiters schreibe ich an gegen Meinungen wie: Gezielte Gestaltung sei ein Geniewerk von Einzelnen oder Design sei „nur Marketing“. Ich glaube, in dieser Ausstellung sind genug Beispiele und Argumente versammelt, um zu untermauern, dass Design ohne Zusammenarbeit und Kommunikation nicht denkbar ist, es aber eine eigenständige Position ist und nicht mit Marketing in einem Atemzug genannt werden muss. Vor allem, weil Design eine grundlegend andere Herangehensweise an die Recherchen für Gestaltungsprozesse und eigene Forschungsprozesse benötigt.

Danke Das Stumme Wissen in der vorliegenden Form hätte ganz ohne Hilfe und Unterstützung nicht entstehen können. Besonderen Dank möchte ich meinem Professor und Freund Wilhelm Berger für die vielen inspirierenden Gespräche und die langjährige Begleitung aussprechen.

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Namentlich danken möchte ich auch Eva Brugger, Anna Schreuer, Sonja Eschli, Sol Haring, Sabine Aydt, Jenny Kremsner und Andrea Geipel, die mich immer wieder mit Rat und Tat unterstützt haben. Meinen Eltern und meinen Schwestern danke ich für all die Formen und Varianten, in denen sie mir meinen Weg ermöglicht haben. Ein eigenes, schwer zu fassendes Ausmaß an Dankbarkeit gebührt Bernd Niederkofler, der mich auf dem gesamten Weg, von der ersten vagen Idee bis zur Fertigstellung, immer mit Begeisterung ermutigt hat. Abschließend und intensiv begleitet haben die Arbeit an diesem Buch vor allem Sandra Groll, der ich hier für all ihre Anregungen danken möchte, sowie das Team des Invisible Lab, das mein Arbeiten unermüdlich angefeuert und unterstützt hat, allen voran Christian Lepenik, dem die Ausstellung auch ihr Raumkonzept sowie die tatsächliche Umsetzung als Buch verdankt.

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1 https://www.fh-joanneum.at/aw/home/Studienangebot_Uebersicht/department_medien_design/ide/ Menschen/~ofr/leitbild/?lan=de, Leitbild des Studiengangs Industrial Design der FH Joanneum Graz (Zugriff: März 2014). 2 Barck, Karlheinz, Fontius, Schlenstedt, Dieter, Steinwachs, Burkhart & Friedrich, 2001, S. 61. 3 Papanek, 1984, S. 4. Siehe auch Foyer dieser Ausstellung, S. 2. 4 „Das Ingenieurwesen, Medizin, Handel und Gewerbe, Architektur und Malerei befassen sich nicht mit dem Notwendigen, sondern mit einem Freiheitsspielraum: nicht damit, wie die Dinge sind, sondern damit, wie sie sein könnten –, kurz, mit Design“ (Simon, 1981, S. viii). 5 Mareis, 2014, S. 13. 6 Barck, Karlheinz, Fontius, Schlenstedt, Dieter, Steinwachs, Burkhart & Friedrich, 2001, „Design“, Heinz Hirdina, S. 42. 7 Mareis, 2014, S. 16. 8 Barck, Karlheinz, Fontius, Schlenstedt, Dieter, Steinwachs, Burkhart & Friedrich, 2001, „Design“, Heinz Hirdina, S. 44. 9 Vgl. Walker, 1992, S. 35. 10 Barck, Karlheinz, Fontius, Schlenstedt, Dieter, Steinwachs, Burkhart & Friedrich, 2001, „Design“, Heinz Hirdina, S. 42. 11 Ibid., S. 43. 12 Ibid., S. 59. 13 Walker, 1992, S. 35. 14 Anm. d. A.: Hieraus könnte ich auch eine mögliche Abgrenzung zur Architektur versuchen; Serienfertigung wie bei den meisten Produkten kommt im Bereich von Gebäuden, Plätzen, Städten ja eher selten vor. 15 Apple Computer, 1992. 16 Ju & Leifer, 2008 (z. B. auf S. 77: „Part of the challenge of implicit interaction design is making explicit that which is invisible in day-to-day life. One way to do this is for interaction designers to employ sociological methods to understand human-human interactions, and then translate these interactions to novel human-product interactions.“). 17 Ibid., S. 82: „Cognitive neuroscientists are starting to believe that attention actually is a catch-all grouping of widely diverse mental functions and phenomena. However, a broad, commonsense understanding of attention allows us to reason sufficiently about our interactions with other ­humans, and so it is operationally sufficient to design with.“ 18 Ibid. S. 84. 19 Vgl. Tonkinwise & Lorber-Kasunic, 2006. 20 Belliger & Krieger (Hrsg.), 2006, S. 10. 21 Shove, Watson, Hand & Ingram, 2007, S. 2. 22 Akrich, 1992, S. 206. 23 Vgl. z. B. Shove, 2003. 24 Woodhouse & Patton, 2004, S. 4. 25 Böhme, 2006, S. 98. 26 Ibid. S. 4. 27 Akrich, 2006, S. 409. 28 Ropohl, 2009, S. 141. 29 Ibid., S. 58. 30 Akrich, 2006, S. 409. 31 Moebius & Prinz, 2012, S. 10. 32 Ibid., S. 11. 33 Ibid. S. 13. 34 Vgl. Latour, 2014. 35 Vgl. auch „Luzerner Schlüssel“, zu finden in der Ausstellung auf S. 206. 36 Moebius & Prinz, 2012, S. 14. 37 Siehe Übergang zu Raum [3], S. 184. 38 Vgl. Cross, 2007. 39 Vgl. Mareis, 2011. 40 Institute for Design Research Vienna, http://www.idrv.org (Zugriff: Mai 2018). 41 http://www.designaustria.at/84-designforschung (Zugriff: Mai 2018). 42 Alex Wilkie, PhD by Design Konferenz 2014. 43 Als Beispiel sei 100 Things Every Designer Needs to Know about People (Weinschenk, 2011) als ein ­Ratgeberbuch zu diesem Thema genannt.

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BILDER- UND TABELLENVERZEICHNIS Bildquellen Der Großteil der Bilder in dieser Ausstellung ist von der Autorin selbst fotografiert oder illustriert. Jene Bilder, bei denen das nicht der Fall ist, stammen aus den hier gelisteten Quellen.

Exponate Raum [1], Exponat [5] Bild für Exponat [5]: Was können uns Sinnestäuschungen über unsere Wahrnehmung erzählen? Tische: Hoffman, 2003, S. 22; „E“: Metzger, 1936, Täuschung von Roger Shepard. Raum [2], Exponat [12] Smartphone-Screenshot aus 2012 – Apple iPhone 4S, iOS6. Fotos der Exponate [6], [9], [16], [18] von Bernd Niederkofler.

Abbildungen Bild 3: Jony Ive, Apple Industrial Design (Filmstills Objectified), Ausschnitt ebenfalls verfügbar auf Vimeo: https://vimeo.com/7827217 (Zugriff: Mai 2015). Bild 4: Filmstill aus Playtime, Jaques Tati (1967). Bild 5: Arbeitsraum der Zukunft/Gegenwart: © Jongeriuslab, ausgestellt im MoMA, New York 2001 im Rahmen der Ausstellung Workspheres, Bilder mit freundlicher Genehmigung von: http://www.jongeriuslab. com/work/my-soft-office. Onlinearchiv zur Ausstellung: http://www.moma.org/interactives/exhibitions/2001/workspheres/ (Zugriff: Juni 2014). Bild 16: Schema Haptik, erstellt nach M. Grunwald in Schmitz & Groninger, 2012. Bild 17: Flecken oder Kuh?, viral ohne nachvollziehbare Quelle im Internet zu finden. Bild 18: „Necker-Würfel“ und „Kopfermann-Würfel“, eigene Nachzeichnungen in Anlehnung an „Visuelle ­Intelligenz“, Donald D. Hoffmann. Bild 19: Welche Eigenschaften der Wahrnehmung liegen dieser Täuschung zugrunde? Eigene Nachzeichnungen in Anlehnung an „Visuelle Intelligenz“, Donald D. Hoffmann. Bild 23: Der S-Chair von Verner Panton, 1967, © Holger Ellgaard, CC-BY-SA 3.0, https://en.wikipedia.org/ wiki/Panton_Chair#/media/File:Panton_Stuhl.jpg (Zugriff: März 2016). Bild 27: Gestaltfaktoren, frei nach Wertheimer, 1923. Bild 29: additiv – integrativ – integral, Gestaltkonzepte, frei nach http://www.designwissen.net/seiten/iiidesign-grundlagen. Bild 35: Produktsprachliche Funktionen, orientiert an: Steffen, 2000, S. 94f. Bild 60: Cambridge Simulation Gloves (Bild: Sam Waller/Image © University of Cambridge, reproduced from www.inclusivedesigntoolkit.com, with permission). Bild 59: Exemplarische Designprozessdarstellung; © Christian Lepenik, orientiert an Lidwell, Holden & ­Butler, 2012. Bild 63: Anzeichenfunktion – Verortung im „Offenbacher Ansatz“, erstellt nach: Mareis, 2014, bzw. zit. n.: ­Dagmar Steffen, Theorie der Produktsprache. Bild 64: Ulmer Hocker, Bild entnommen von https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Ulmer-hocker.jpg (Zugriff: Mai 2015). Bildtitel: Ulmer Hocker (stool from Ulm) designed by Max Bill _Source=Own work by up-

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loader | Author=Christos Vittoratos. Das Bild ist veröffentlicht unter Creative Commons Lizenz, CC-BYSA 3.0, (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.de). Bild 66: Kanisza Dreieck, Commons, veröffentlicht 2007 vom User „fibonacci“ auf Wikimedia Commons unter CC BY-SA 3.0 Lizenz, siehe auch: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Kanizsa_triangle.svg?uselang=de. Bild 70: Messergriffvergleich; Sushi-Chef-Messer, aus Maeda, John: https://tedmed.com/talks/ show?id=17975 (Zugriff: Januar 2018) | 00:11:29. Bild 71: Mousing around (1980) – Clicking, aus: Macintosh, 1984, auffindbar unter http://www.guidebookgallery.org (Zugriff: Juni 2019). Bild 72: „my soft office“ © Jongeriuslab, © Gerrit Schreurs, © Jongeriuslab. Bilder mit freundlicher Genehmigung der Jongeriuslab GmbH, von: http://www.jongeriuslab.com/work/my-soft-office. Bild 74: Plan des Panopticons und Presidio-Modelo-Gefängnisses auf Kuba, gebaut ca. in den 1920er Jahren, Foto von 2005, links: Jeremy Bentham [Public domain], via Wikimedia Commons, rechts: Foto des Presidio-Modelo-Gefängnisses auf Kuba, 2005, von: I, Friman, CC-BY-SA-3.0 (http://creativecommons. org/licenses/by-sa/3.0/), via Wikimedia Commons. Bild 75: Limited Access – eingeschränkter Zugang, Screenshot, April 2015. Bild 77: Skeuomorphismus, Screenshot: Apple iPhone 4S, iOS6, Screenshot der Autorin.

Tabellen Tabelle 1: Wissensarten im Wissensmanagement, S. 63. Tabelle 2: Arten des impliziten Wissens, S. 64. Tabelle 3: Archer‘s 10 areas and 3 emergent sub-disciplines of Design Research, S. 171. Tabelle 4: Zusammenhänge in der Struktur impliziter Vermittlung, S. 214.

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INDEX Ähnlichkeiten 127, 152, 280 Affekttechniken 158 Affordanz 122, 199, 227 Ausstellung 015 Bedürfnis 226, 242, 266 f. Bemerken 172, 177 Branding 144, 154 f.

Metapher 016, 200, 210, 274, 278 f., 281, 283 Naturalisierung 244 Neuwagengeruch 146 Non-Intentional Design 165 Normalität 244 Oberfläche 018, 044, 081, 132, 141, 145, 173 Optimismus 259, 287

Closure 206 f., 278 Designforschung 170 Designprozess 018, 178 Design Research 170 Dingwelt 322 distal, distaler Term 066 Eigenschaft 085, 122, 202, 215 Eigenverantwortung 187 Eindrücke 186, 304, 322 Empathie 048, 227 Ergonomie 048, 240 Ethik 285 experience prototyping 150, 182 explizites Wissen 057 Farbe 137 Farbpsychologie 139 Form 036, 046 f., 121, 125, 129, 204 gestalten 086, 186 Gestaltpsychologie 087, 126 Gewohnheiten 229, 244, 254, 256 Grafikdesign 207 Haptik 048, 147 implizite Vermittlung 194 f., 212 implizites Wissen 061, 063 Interface 044, 048, 164, 209, 255, 295, 318 interpretative Flexibilität 205 f. Konsum 232, 234 Kontrast 132 Konvivialität 253 Kreativität 094, 267

Pfadabhängigkeit 101 Phänomen 207 Problem 081 proximal, proximaler Term 066 Schließung 207 Scripts 205, 261 Selbstbestimmung 187 Selbstverständlichkeiten 018, 072, 091, 094, 158, 203, 215, 231, 242, 244, 256, 311 Sensory Branding 146 Sinne 069, 077, 083, 087, 122, 143 Situation 019 Skeuomorphismus 280 Sound-Branding 145 soziotechnische Konfiguration 249 f., 321 Spuren 115, 173 Standardisierung 247 Tastatur 048, 174 tools for conviviality 254 Usability 030, 160, 182 User-centered Design 241 f. Verhalten 160, 186 Verhandlung 265, 276 Vermittlung 016, 055, 112, 195, 225, 318 Verstehen 078, 080 Wahrnehmung 081, 208 Wahrnehmungspsychologie 207 Werkzeug 050, 068 f., 253 Werthaltung 047, 237, 259 wicked problems 274 Wirklichkeit 258, 281 Wissen 052, 063, 275

Lösung 019, 097, 245 f. 270, 273, 276 Machtverhältnisse 261, 269, 323 Manipulation 185 ff. Marke 042, 048, 102, 137, 145, 151, 154 Material 048, 150 Merkmal 065, 153, 165, 215

Zeichenebene 311 Zielgruppe 265, 281 zweckentfremdet 167

INDEX 331

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Projektkoordination: Bettina R. Algieri, Nora Kempkens Herstellung: Anja Haering, Amelie Solbrig Layout und Satz: Sven Schrape Design-Konzept BIRD: Christian Riis Ruggaber, Formal Papier: 110 g/m2 Offset Lithografie: Pixelstorm, Wien Druck: Beltz Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza

Library of Congress Control Number: 2022932203 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungs­ anlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Ver­ vielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. Mit freundlicher Unterstützung des Invisible Lab. ISBN 978-3-0356-1978-2 e-ISBN (PDF) 978-3-0356-1983-6 © 2022 Birkhäuser Verlag GmbH, Basel Postfach 44, 4009 Basel, Schweiz Ein Unternehmen der Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston 9 8 7 6 5 4 3 2 1

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Design & Democracy Design is more than present in all social and cultural contexts. Through this strength, it is ­instrumentalized by political powers as well as seriously attacked by critics. Both positions, united in contradiction to each other, are analyzed in this book by means of hitherto unknown and innovative examples. This publication is not only aimed at design experts, but is ­addressed to a general public all over the world. Authors: Tom Bieling, Friedrich von Borries, Eray Çaylı, Carl DiSalvo, Michael Erlhoff, Saskia Hebert, Wolfgang Jonas, Ramia Mazé, Amanda Meng, Agustin Pereyra Decara, Laura Popplow, Maziar Rezai, The 27e Région, Andreas Unteidig. Michael Erlhoff, Maziar Rezai (Eds.) In Zusammenarbeit mit dem Board of International Research in Design 160 Seiten 16,8 × 22,4 cm Hardcover ISBN 978-3-0356-2282-9 English

Inklusion als Entwurf Teilhabeorientierte Forschung über, für und durch Design Wie wir Dinge gestalten, hat einen maßgeblichen Einfluss darauf, was oder wen wir als „normal“ oder „normabweichend“ empfinden. Design markiert somit die Grenzbereiche zwischen In- und Exklusion, indem es implizit Rollen- und Wertebilder konfiguriert und dabei gleichermaßen in den Herstellungs- und Deutungsprozess von Normalität involviert ist. Wenn solche Normvorstellungen durch Design mitkonstruiert werden, bedeutet das im Umkehrschluss jedoch auch, dass sie sich durch Design dekonstruieren, also kritisch hinterfragen und verändern lassen: Design kann auch Gegenmodelle entwickeln. Tom Bieling deckt auf zahlreichen Ebenen Verbindungen von Design und Inklusion auf und leitet daraus nicht nur neue Operationsbereiche für Designer ab, sondern liefert auch Anknüpfungspunkte für andere Praxis- und Wissensfelder. Tom Bieling In Zusammenarbeit mit dem Board of International Research in Design 320 Seiten 16,8 × 22,4 cm Gebunden ISBN: 978-3-0356-2020-7 Deutsch

Politics of Things In a state of ontological crisis, all boundaries have been ruptured between nature and culture, human and machine, and object and subject. We find ourselves exhaustively tackling the turmoil of our own designed circumstances, as we emerge to become extensions of the extensions that we built. In this practice-based design theory project, the authors share their experiments in negotiating power with things, hacking mundane objects, and thus their own everyday lives, allowing themselves to be swayed and misled, disrupted and called into question. The experiments delineate a mode of critical cultural inquiry where design and sociology collide to elicit critical perspectives on the ‘designer’ and the ‘designed’ as we act within an entangled politics of things. Michelle Christensen, Florian Conradi In Zusammenarbeit mit dem Board of International Research in Design 352 Seiten 16,8 × 22,4 cm Hardcover ISBN: 978-3-0356-2053-5 English

Gender Design Streifzüge zwischen Theorie und Empirie Die Auseinandersetzung mit dem Geschlecht als sozialer Konstruktion ist in sehr vielen Wissenschaftsbereichen schon lange Teil der Theorie und Forschung. Im ­Design ist die Einbeziehung der Kategorie Gender allerdings noch immer ein blinder Fleck. Das ist merkwürdig, weil Design ja den ganz gewöhnlichen Alltag überall und jederzeit bestimmt und damit auch die in diesem Alltag handelnden unterschiedlichen Menschen. Und diese Interaktion zwischen den Subjekten und den Dingen findet unabdingbar „gendered“ statt. Das vorliegende Buch setzt sich erstmals mit den essenziellen Fragen von Gender im Design theoretisch wie praktisch auseinander: Es erörtert die grundsätzliche Notwendigkeit der Ein­beziehung von Gender in den Designprozess, und es stellt exemplarisch Designprojekte zu diesem wichtigen Thema vor. Uta Brandes In Zusammenarbeit mit dem Board of International Research in Design 354 Seiten 16,8 × 22,4 cm Gebunden ISBN 978-3-0356-1227-1 Deutsch