Wissensproduktion und Wissenstransfer unter erschwerten Bedingungen: Der Einfluss der Corona-Krise auf die Erzeugung und Vermittlung von Wissen im öffentlichen Diskurs 9783495998052, 9783495492550


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Table of contents :
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Einführung: Die Corona-Krise als Paradigma einer nicht-idealen Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie?
Zu den Beiträgen des Bandes
Teil I Wissenschaft und ihr Verhältnis zur Politik in der Krise
Erkenntnis im Eilverfahren? Wissenschaftsphilosophische Implikationen von »Fast Science«
1. Die Beschleunigung von Wissenschaft in der Corona-Pandemie
1.1 Publikationsgeschwindigkeit und Publikationsmenge
1.2 Informationsbewertung und Qualitätssicherung
1.3 Selektion in öffentlicher Wahrnehmung und Berichterstattung
1.4 Veränderung von Forschungsthemen und -ressourcen
2. Beschleunigung mit Verlusten? Eine wissenschaftsphilosophische Einordnung von »Fast Science«
2.1 Epistemische Integrität und wissenschaftlicher Dissens
2.2 Epistemischer Pluralismus und Interdisziplinarität
2.3 Scheitern, Misserfolg und Risiko
3. Gute Wissenschaft unter Zeitdruck? Ein Fazit
Wie die Wissenschaft sich selbst zerstört
1. Einleitung
2. Platonisches vs. naturwissenschaftliches Wissen
3. Soziale Ingenieurskunst: Die Rückkehr der Platoniker
4. Die Parallele zur Eugenik
5. Die anti-wissenschaftliche Legitimation der Corona-Politik
6. Wissenschaft und Öffentlichkeit
Post-COVID-19: Auf dem Weg zu einem integrativen Modell der wissensbasierten Politikberatung
1. Einleitung
2. Das traditionelle Modell wissenschaftlicher Politikberatung
2.1 Das traditionelle Modell wissenschaftsbasierter Politikberatung und seine Grenzen
2.2 Reaktionen auf die Pandemiepolitik
2.3 Kritik der Kritik
3. Einsichten aus der Wissenschaftsphilosophie
3.1 Epistemischer Pluralismus
3.2 Die Rolle von Werten
3.3 Umgang mit Unsicherheit
4. Grundzüge eines alternativen Modells
4.1 Auswahl von Expert:innen
4.2 Pluralistische Wissenssynthese und Erarbeitung von Policy-Optionen
4.3 Kommunikation
5. Schluss
Wertfreie Wissenschaft in der Krise? Was taugt Webers Ideal in Zeiten einer Pandemie?
1. Einleitung
2. Die These und die Forderung von der Wertfreiheit der Wissenschaften
3. Die Wertfreiheit der Wissenschaften in Zeiten von Corona
4. Wertabhängigkeiten wissenschaftlicher Forschung
5. Schlussfolgerungen
Zwischen Fakten und Werten: Zur Rolle von Experten im Umgang mit Pandemien
1. Einführung
2. Wertneutralität und die Begründung der Fakten-Werte-Trennung
3. Die Bedeutung der Fakten-Werte-Trennung für Vertrauen in Expertenurteile
4. Objektive Faktendarstellung als Voraussetzung rationaler Werteabwägung
4.1 Einseitige Faktendarstellung: die gesundheitliche Gefahrenbeurteilung
4.2 Irrationale Ängste: Impfwirksamkeit und Risiken
5. Kriterien rationaler Werteabwägung
5.1 Zur (Un)verhältnismäßigkeit von Lockdown-Maßnahmen
5.2 Überbelegung von Intensivstationen: ein strukturelles Problem, aber kein normatives Instrument
5.3 Zur Verhältnismäßigkeit der Impfpflicht
6. Schlussfolgerung und Ausblick
Teil II Wissensvermittlung und das Experten-Laien-Verhältnis
Streitkultur? – Expertenmeinungen in der Pandemie und die Rolle der PhilosophInnen
1. Einleitung
2. Um Rat fragen
3. Vertrauen? Welches Vertrauen?
4. Krisenkommunikation und Radikalisierungsdynamiken
5. Vertrauensfragen – eine Wertediskussion?
6. Die Rolle der PhilosophInnen
7. Resümee
Falsche Autoritäten
1. Einleitung
2. Merkmale epistemischer Autorität
3. Autoritäten, Expert:innen und eine funktionale Analyse von »Autorität«
4. Objektivistische versus epistemische Explikationen von epistemischer Autorität und eine kombinierte Definition
5. Falsche Autoritäten: Schein-Autoritäten, Pseudo-Autoritäten und Fake-Autoritäten
6. Mögliche Anfragen, Einwände und weitere Klärungen
7. Fazit
Epistemischer Dogmatismus und Arroganz – das Expert*innen-Laien-Verhältnis in nicht-idealer epistemischer Umgebung
1. Einführung
2. »Inquiry-Framework« und die relationale Charakterisierung der Funktion von Expert*innen
3. Belastete Umgebung als Mikroproblem: Veränderungen testimonialer Ökonomie
3.1 Testimoniale Wissensvermittlung und das Problem der Irrelevanz-Ungerechtigkeiten
3.2 Strategischer testimonialer Austausch und das Problem der Expert*innen-Identifikation
4. Belastungen der Umgebung als Makroproblem: Veränderungen epistemischer Gewohnheiten und Polarisierung
4.1 Epistemische Wachsamkeit und Dogmatismus in nicht-idealer Umgebung
4.2 Intellektuelle Arroganz als interpersonaler und intrapersonaler Zustand
4.3 Belastete Tugend und epistemische Polarisierung
5. Epistemische Verantwortung in nicht-idealer epistemischer Umgebung
5.1 Die sozio-epistemische Integrität von Expert*innen als Basis für Vertrauen
5.2 Epistemisches Wohlwollen als unbelasteter Indikator
5.3 Zurückgewinnung von Vertrauen durch verantwortliche Wachsamkeit
6. Schluss
Teil III Vertrauen und Misstrauen gegenüber wissenschaftlichen Aussagen und Empfehlungen
Empfehlen und Vertrauen
1. Der Sprechakt des Empfehlens
2. Empfehlungen wissenschaftlicher Experten
3. Empfehlungen aus der Wissenschaft im Kontext der COVID-19-Pandemie
4. Gründe, eine Empfehlung anzunehmen
5. Über Vertrauen
6. Empfehlen und Vertrauen
6.1 Epistemisches Vertrauen
6.2 Praktisches Vertrauen
6.3 Vertrauen in Empfehlungen
7. Die Rationalität von Vertrauen in Empfehlungen
8. Konklusion
Testimoniale Skepsis und Corona
1. Reduktionismus und testimoniale Skepsis
2. Anti-Reduktionismus und testimoniale Skepsis
2.1 Mooreanismus
2.2 Externalismus
3. Was heißt das für den Umgang mit Corona-Skepsis?
Der Fluch kritischen Denkens in Zeiten der Pandemie
1. Einleitung
2. Kritisches Denken in Zeiten der Pandemie
2.1 Zwei Beispiele zum Einstieg
2.2 Zwei Beispiele aus der Literatur
2.3 Berechtigte epistemische Kritik als erkenntnistheoretische Herausforderung
3. Kritisches Denken und epistemische Kritik
3.1 Was ist kritisches Denken?
3.2 Was ist berechtigte epistemische Kritik?
4. Der Fluch kritischen Denkens in Zeiten der Pandemie
5. Anwendung auf zwei »Paradoxien«
5.1 Das Präventionsparadox
5.2 Das Überraschungsparadox
6. Fazit
Teil IV Nicht-Wissen, Pseudo-Wissen und heterodoxes Wissen
Wissen, Unwissen, Unwissenheit und Ignoranz: Corona als Chance und Herausforderung für den epistemologischen Diskurs
1. Einleitung
2. Erklärungsbedürftige Phänomene
3. Einsichten für die Erkenntnistheorie
3.1 Erste erkenntnistheoretische Einsicht. Die Unterscheidung Unwissen vs. Unwissenheit
3.2 Zweite erkenntnistheoretische Einsicht. Die Unterscheidung Unwissenheit vs. Ignoranz
3.3 Dritte erkenntnistheoretische Einsicht. Die Bedeutung von epistemischen Tugenden und Lastern für die Definition von Unwissenheit und Ignoranz
3.4 Vierte erkenntnistheoretische Einsicht: Definitionen von Unwissenheit und Unwissen und Ignoranz gelingen nicht rein privativ
4. Anwendung auf erklärungsbedürftige erkenntnistheoretische Corona-Phänomene
5. Konsequenzen für die Erkenntnistheorie
6. Fazit
Doxastische Neutralität in der Pandemie: Die Nichtempfehlung der Ständigen Impfkommission
1. Einleitung
2. Dagegen oder nur nicht dafür?
3. Arten doxastischer Neutralität
3.1 Neutralität durch Unkenntnis der Fragestellung
3.2 Verweigerung der alethischen Auseinandersetzung
3.3 Doxastische Unentschiedenheit
3.4 Doxastisch-neutrale Haltungen
3.4.1 Agnostische Urteilsenthaltung
3.4.2 Temporäre Urteilszurückhaltung
4. STIKO unter Druck
Virales Nichtwissen: Fake News in Zeiten von Covid-19
1. Einführung
2. »Fake News«: Von (Real-)Satire zur Bedrohung
3. Eine kleine Taxonomie von Covid-19-»Fake News«
3.1 Phantasmagorien der Fremdkontrolle: Von 5G bis zum »Great Reset«
3.2 Virale Akteure: Staaten als Zielscheibe und Quelle von Desinformation
3.3 »Follow the Money«: »Big Pharma« und die verheimlichten Wundermittel
3.4 »Keine Pandemietreiber«: Kognitive Dissonanzreduktion
3.5 »Epistemic Trespassing«
4. Fake News im Spannungsfeld zwischen Opportunismus und Wissenschaft
Epistemische Invektivität in der Corona-Krise: Eine function-first-Analyse am Beispiel der Ausdrücke »Fake News«, »Verschwörungstheorie« und »Wissenschaftsleugnung«
1. Einleitung
2. Der function-first-Ansatz in der Erkenntnistheorie
3. Die Funktion epistemischer Invektiven
3.1 Relevante Alternativen
3.2 Konversationelle Exerzitiva und epistemische Invektiven
3.3 »Verschwörungstheorie«, »Fake News« und »Wissenschaftsleugnung« als epistemische Invektiven
4. Zu Motiven, Konsequenzen und Fragen der Legitimität des Gebrauchs epistemischer Invektiven
4.1 Epistemische Ökonomie
4.2 Manipulation, Täuschung und Propaganda
4.3 Delegitimierung relevanter Alternativen und vorschnelle Wissensansprüche
4.4 Polarisierung
5. Schluss
Sachregister
Personenregister
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Wissensproduktion und Wissenstransfer unter erschwerten Bedingungen: Der Einfluss der Corona-Krise auf die Erzeugung und Vermittlung von Wissen im öffentlichen Diskurs
 9783495998052, 9783495492550

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Rico Hauswald | Pedro Schmechtig [Hrsg.]

Wissensproduktion und Wissenstransfer unter erschwerten Bedingungen Der Einfluss der Corona-Krise auf die Erzeugung und Vermittlung von Wissen im öffentlichen Diskurs

https://doi.org/10.5771/9783495998052 .

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Rico Hauswald | Pedro Schmechtig [Hrsg.]

Wissensproduktion und Wissenstransfer unter erschwerten Bedingungen Der Einfluss der Corona-Krise auf die Erzeugung und Vermittlung von Wissen im öffentlichen Diskurs

https://doi.org/10.5771/9783495998052 .

© Titelbild: pixabay, dianakuehn30010

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-495-49255-0 (Print) ISBN 978-3-495-99805-2 (ePDF)

Onlineversion Nomos eLibrary

1. Auflage 2023 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2023. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de https://doi.org/10.5771/9783495998052 .

Inhaltsverzeichnis

Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

Rico Hauswald, Pedro Schmechtig Einführung: Die Corona-Krise als Paradigma einer nichtidealen Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie? . . . . . . .

13

Teil I Wissenschaft und ihr Verhältnis zur Politik in der Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29

Michael Jungert Erkenntnis im Eilverfahren? Wissenschaftsphilosophische Implikationen von »Fast Science« . . . . . . . . . . . . . .

31

Michael Esfeld, Boris Kotchoubey Wie die Wissenschaft sich selbst zerstört . . . . . . . . . .

55

Karim Bschir, Jörn Knobloch, Simon Lohse Post-COVID-19: Auf dem Weg zu einem integrativen Modell der wissensbasierten Politikberatung . . . . . . . . . . . .

81

Claus Beisbart Wertfreie Wissenschaft in der Krise? Was taugt Webers Ideal in Zeiten einer Pandemie? . . . . . . . . . . . . . . . . . .

117

Gerhard Schurz Zwischen Fakten und Werten: Zur Rolle von Experten im Umgang mit Pandemien . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

149

5 https://doi.org/10.5771/9783495998052 .

Inhaltsverzeichnis

Teil II Wissensvermittlung und das Experten-LaienVerhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

187

Nicola Mößner Streitkultur? – Expertenmeinungen in der Pandemie und die Rolle der PhilosophInnen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

189

Christoph Jäger Falsche Autoritäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

219

Pedro Schmechtig Epistemischer Dogmatismus und Arroganz – das Expert*innen-Laien-Verhältnis in nicht-idealer epistemischer Umgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . .

245

Teil III Vertrauen und Misstrauen gegenüber wissenschaftlichen Aussagen und Empfehlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

283

Jon Leefmann Empfehlen und Vertrauen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

285

Moritz Schulz, Roman Heil Testimoniale Skepsis und Corona . . . . . . . . . . . . . .

321

Tim Kraft Der Fluch kritischen Denkens in Zeiten der Pandemie . . . .

341

Teil IV Nicht-Wissen, Pseudo-Wissen und heterodoxes Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

369

Nadja El Kassar Wissen, Unwissen, Unwissenheit und Ignoranz: Corona als Chance und Herausforderung für den epistemologischen Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

Verena Wagner Doxastische Neutralität in der Pandemie: Die Nichtempfehlung der Ständigen Impfkommission . . . . .

403

Axel Gelfert Virales Nichtwissen: Fake News in Zeiten von Covid-19 . . .

435

Rico Hauswald Epistemische Invektivität in der Corona-Krise: Eine functionfirst-Analyse am Beispiel der Ausdrücke »Fake News«, »Verschwörungstheorie« und »Wissenschaftsleugnung« . .

461

Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

497

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

503

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Autorinnen und Autoren

Claus Beisbart Institut für Philosophie und Multidisciplinary Center for Infectious Diseases, Universität Bern Karim Bschir School of Humanities and Social Sciences, Universität St. Gallen Nadja El Kassar Institut für Philosophie, Freie Universität Berlin Michael Esfeld Institut für Philosophie, Universität Lausanne Axel Gelfert Institut für Philosophie, Literatur-, Wissenschafts- und Technikge­ schichte, Technische Universität Berlin Rico Hauswald Institut für Philosophie, Technische Universität Dresden Roman Heil Institut für Philosophie, Goethe-Universität Frankfurt Christoph Jäger Institut für Christliche Philosophie, Universität Innsbruck, und Guar­ dini-Professur für Religionsphilosophie und Theologische Ideenge­ schichte, Zentralinstitut für Katholische Theologie, Humboldt-Uni­ versität zu Berlin Michael Jungert Zentralinstitut für Wissenschaftsreflexion und Schlüsselqualifikatio­ nen, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Jörn Knobloch Institut für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung, Univer­ sität zu Lübeck

9 https://doi.org/10.5771/9783495998052 .

Boris Kotchoubey Institut für Medizinische Psychologie und Verhaltensneurobiologie, Universität Tübingen Tim Kraft Institut für Philosophie, Universität Regensburg Jon Leefmann Zentralinstitut für Wissenschaftsreflexion und Schlüsselqualifikatio­ nen, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Simon Lohse Institute for Science in Society, Radboud University Nicola Mößner Institut für Philosophie, Leibniz Universität Hannover Pedro Schmechtig Institut für Philosophie, Technische Universität Dresden Moritz Schulz Institut für Philosophie, Technische Universität Dresden Gerhard Schurz Institut für Philosophie, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Verena Wagner Fachbereich Philosophie, Universität Konstanz

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Danksagung

Wir möchten uns bei allen Autorinnen und Autoren für ihre Koope­ rationsbereitschaft und die stets konstruktive wie auch anregende Zusammenarbeit während des gesamten Prozesses der Fertigstellung dieses Bandes herzlich bedanken. Unser Dank gebührt auch der Deutschen Forschungsgemein­ schaft und dem Bundesministerium für Bildung und Forschung für die finanzielle Gewährung von Projektmitteln, die den Herausgebern den Freiraum gegeben haben, den Band in Angriff zu nehmen. Schließlich möchten wir uns auch bei Martin Hähnel vom AlberVerlag für die Unterstützung und beratende Hilfe bei diesem Projekt und gleichzeitig bei allen anderen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Verlags bedanken, die an der sorgfältigen Begleitung des Ferti­ gungsprozesses beteiligt waren. Dresden, Oktober 2022

Rico Hauswald und Pedro Schmechtig

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Rico Hauswald & Pedro Schmechtig

Einführung: Die Corona-Krise als Paradigma einer nicht-idealen Erkenntnisund Wissenschaftstheorie?

Viele derer, die in den letzten zweieinhalb Jahren über die CoronaKrise geschrieben haben, haben vermutlich bisweilen die Erfahrung einer gewissen Unsicherheit gemacht, in welcher grammatikalischen Zeitform sie dies am besten tun sollten. Auch zum Zeitpunkt des Verfassens dieser Einleitung im August 2022 ist unklar, ob die Krise im Wesentlichen hinter uns liegt oder lediglich eine Sommerpause eingelegt hat. Aber auch wenn sie mittlerweile überwunden sein sollte, bedeutet dies nicht, dass sich die intellektuelle Beschäftigung mit ihr erübrigt hätte. Im Gegenteil: Gerade die wachsende Distanz bietet die Chance, die Pandemie und die Reaktionen darauf einer unbedingt wünschenswerten Aufarbeitung zuzuführen und zu evalu­ ieren, welche der Reaktionen angemessen bzw. unangemessen waren, welche Lehren mit Blick auf eventuelle künftige Krisen gezogen wer­ den sollten, und vielleicht auch welche nachhaltigen Verschiebungen unseres politischen, wissenschaftlichen oder philosophischen Blicks die Krise ausgelöst oder beschleunigt haben könnte. Die Rückschau hat nicht nur den Vorteil, dass sich beispielsweise ursprüngliche epidemiologische Prognosen mit den in der Zwischenzeit tatsäch­ lich stattgefundenen Entwicklungen vergleichen lassen; der zeitliche Abstand erlaubt häufig auch eine größere Nüchternheit und Objekti­ vität der Beurteilung, als sie unter dem Eindruck einer unmittelbaren Bedrohungslage und einer oft erhitzten öffentlichen Diskussion mög­ lich gewesen ist. Für die Aufarbeitung der politischen und gesellschaftlichen Reaktionen auf die Pandemie – zu der sich Ansätze aus naturund sozialwissenschaftlicher sowie juristischer Perspektive etwa in dem Ende Juni 2022 veröffentlichten Evaluationsbericht des Sach­ verständigenausschusses finden – braucht es eine Perspektive, die

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Rico Hauswald & Pedro Schmechtig

den Besonderheiten und Verwerfungen der Wissensproduktion und ‑vermittlung in Krisenzeiten gerecht wird. Ohne die Einnahme einer solchen Perspektive lassen sich viele Eigenarten der Krise und der politischen Reaktionen darauf nicht oder nur unvollständig verstehen. Nicht ohne Grund ist seit Frühjahr 2020 mit großer Regelmäßigkeit betont worden, während der Corona-Krise habe die Stunde wissen­ schaftlicher Experten geschlagen. Wie selten zuvor schien ihr Rat in Politik, Öffentlichkeit und anderen Lebensbereichen zur Bewäl­ tigung der Herausforderungen gefragt zu sein. Die Corona-Krise hatte aber auch tiefgreifende Auswirkungen auf die Generierung und Vermittlung des Wissens selbst. Gerade in der Anfangszeit sah sich die wissenschaftliche Forschung mit der Herausforderung konfrontiert, trotz großer Unsicherheiten möglichst schnell belast­ bare Erkenntnisse bereitzustellen, was sie einer gängigen Diagnose zufolge in ein Stadium der »Fast Science« hat eintreten lassen (vgl. z.B. Stegenga 2020). Ist die Wissenschaft den in sie gesetzten Erwar­ tungen gerecht geworden? Ist das produzierte Wissen – aber auch die bestehende Unsicherheit – auf angemessene Weise durch die einschlägigen Experten kommuniziert worden? Wie ist der Umgang von Politik und Medien mit Wissenschaft, Wissen und Unsicherheit zu bewerten? Diese und ähnliche Fragen werden in den in diesem Band versammelten Texten aufgegriffen. Für viele stellen sie allerdings nur den Ausgangspunkt für weiterführende Analysen grundlegen­ der wissenschafts- und erkenntnistheoretischer Problemstellungen dar, die bislang wenig berücksichtigt wurden, in der Pandemie aber einen ganz neuen Stellenwert erhalten haben. Wie wir im Folgenden ansatzweise demonstrieren möchten, lässt sich ein schärferer Blick für das gemeinsame Profil dieser Problemstellungen unter Rekurs auf die Unterscheidung zwischen idealen und nicht-idealen Theorien gewinnen, die, aus der politischen Philosophie kommend, in letzter Zeit zunehmend auch in der theoretischen Philosophie aufgegriffen worden ist.1 Auch wenn sich nur einige der Beiträge des Bandes dieser Terminologie explizit bedienen, so verhandeln sie doch alle Fragestel­ Zentrale Ausgangspunkte dieser Diskussion in der politischen Philosophie waren insbesondere Rawls (1971) und Mills (2005). Jüngere Beiträge, die die Unterschei­ dung im Kontext der theoretischen Philosophie diskutieren, sind etwa Herzog (2012), Barker/Crerar/Goetze (2018), Beaver/Stanley (2019), Begby (2021), Cappelen/ Dever (2021), Kukla (2021), Lackey (2021), Mühlebach (2022), Rini (2022), Carr (forthcoming) und Keiser (forthcoming). 1

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Einführung

lungen und Aspekte, die sich gewinnbringend zur Debatte zwischen idealen und nicht-idealen Ansätzen in Beziehung setzen lassen. Wenig kontrovers dürfte die Einschätzung sein, dass die Erkennt­ nisgewinnung während der Corona-Krise in starkem Maße mit nichtidealen – mit erschwerten, suboptimalen – Bedingungen zu kämpfen hatte. Auch die Einschätzung, dass die Verbreitung und Verteilung von Wissen im öffentlichen Diskurs sowie der Umgang mit Nicht­ wissen und Unsicherheit in vielerlei Hinsicht problematisch waren und teilweise auch irrationale Züge aufgewiesen haben, dürfte sicher auf breite Zustimmung stoßen. Schon deutlich stärker gehen die Auffassungen darüber auseinander, worin genau die Probleme und Irrationalitäten primär bestanden: in einem letztlich immer noch zu geringen politischen Einfluss wissenschaftlicher Experten oder eher einer Verwischung der Grenze zwischen den Sphären des Politischen und des Epistemischen; in der ausgeprägten Skepsis eines Teils der Bevölkerung gegenüber Lockdowns, Impfkampagnen und anderen Maßnahmen oder eher einem Übermaß blinden Vertrauens aufseiten eines anderen Teils; in der Anfälligkeit vieler Menschen für Fake News und Verschwörungstheorien oder eher dem Ausmaß, in dem kritische Stimmen mithilfe von Vorwürfen, sie würden »Fake News« oder »Verschwörungstheorien« verbreiten, aus dem öffentlichen Diskurs herausgedrängt wurden? Zu diesen und ähnlichen Fragen beziehen die Beiträge zum Teil deutlich unterschiedliche Positionen. Ein wichtiges Anliegen des Bandes besteht nicht zuletzt auch darin, diese Vielfalt der Auffassungen zu Natur und Quellen epistemischer Nicht-Idea­ lität in der Krise sichtbar zu machen und einen Dialog zwischen ihnen anzuregen. Auch wenn die Krise mit Herausforderungen und Verwerfungen besonderer Art und besonderen Ausmaßes einhergegangen ist, heißt das freilich nicht, dass wir zuvor in einer perfekten epistemischen Welt gelebt hätten. Phänomene der Nicht-Idealität prägen unser Leben seit jeher. Das ist weitestgehend unstrittig, auch wenn, wie gesagt, nicht immer Konsens darüber besteht, welche Phänomene genau in wel­ chem Maße als problematisch zu bewerten sind. Strittig ist dagegen, welche Konsequenzen aus diesem Umstand für die philosophische Theoriebildung gezogen werden sollten. Für Rawls – den zentralen Ausgangspunkt dieser Diskussion in der praktischen Philosophie – bestand die Konsequenz darin, zwischen zwei Typen philosophischer Theorien zu unterscheiden und ihnen im Rahmen der Entwicklung seiner Theorie der Gerechtigkeit

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Rico Hauswald & Pedro Schmechtig

(Rawls 1971) eine jeweils spezifische Rolle zuzuweisen. Die ideale Theorie sieht zunächst von den verschiedenen Unzulänglichkeiten unserer aktualen Welt ab (z.B. von historisch gewachsenen ökono­ mischen Verwerfungen oder dem Umstand, dass sich menschliche Akteure nicht immer an geltende Regeln halten) und ist auf die Ent­ wicklung einer Konzeption von Gerechtigkeit gerichtet, die in einer Welt ohne diese Unzulänglichkeiten Geltung beanspruchen würde. Demgegenüber stellt die nicht-ideale Theorie diese Unzulänglichkei­ ten in Rechnung und behandelt die Frage, wie sich Gerechtigkeit – oder zumindest gerechtere Verhältnisse – in unserer tatsächlichen Welt realisieren lassen. Die Differenzierung dieser beiden Theorietypen kann leicht missverstanden werden. Wie Mills (2005) betont hat, ist die spezifi­ sche Differenz zwischen beiden nicht das Erheben oder Nicht-Erheben normativer Ansprüche (beide Theorietypen gehen typischerweise mit normativen Ansprüchen einher). Der für die Unterscheidung einschlägige Begriff von Idealität ist auch nicht derjenige, der aus der Rede von »idealisierten« wissenschaftlichen Modellen her bekannt ist (die nicht-ideale Theorie kann genauso wie die ideale Theorie von Modellen Gebrauch machen, die von bestimmten als unwesentlich erachteten Eigenschaften der zu analysierenden Phänomene abstra­ hieren). Nach Mills ist vielmehr entscheidend, dass die ideale im Unterschied zur nicht-idealen Theorie Modelle verwendet, die von bestimmten als unerwünscht empfundenen Eigenschaften der zu beschreibenden Phänomene abstrahieren, indem diese Phänomene im Sinne eines wünschenswerten Optimums von einem evaluativen oder präskriptiven Standpunkt aus modelliert werden.2 Rawls’ Konzeption hat eine umfangreiche Debatte ausgelöst, bei der insbesondere die von ihm vorgenommene Priorisierung der idealen Theorie kontrovers diskutiert wurde (für einen Überblick vgl. Stemplowska/Swift 2012). Während Rawls von der Idee ausgegangen ist, dass sich nur im Rahmen der idealen Theorie eine robuste Konzep­ tion von Normativität entwickeln lässt – im Lichte derer sich dann die verschiedenen problematischen Phänomene unserer aktualen Welt in einem zweiten Schritt innerhalb der nicht-idealen Theorie analysieren Mills (2005) bezeichnet diesen Sinn von Idealität als »ideal-as-idealised-model« und grenzt ihn von den zwei anderen Möglichkeiten ab, wie der Idealitätsbegriff prinzipiell verstanden werden kann (»ideal-as-normative« und »ideal-as-descriptivemodel«).

2

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Einführung

lassen (für eine Verteidigung dieser Herangehensweise vgl. auch Simmons 2010) –, haben andere Autoren diese Annahme bestritten und behauptet, dass eine nicht-ideale Theorie kritisches Potential ent­ falten könne, auch ohne dafür auf einen »reinen« Normativitätsbegriff zurückgreifen zu müssen (d.h. einen Begriff von Normativität, der auf das Leben in einer idealen Welt abgestimmt ist). Mehr noch: Werden die verschiedenen kontingenten Einschränkungen, denen die Akteure unterliegen, nicht von Anfang an mit bedacht, so könnte dies zu einer Formulierung normativer Regeln führen, die diese Akteure gar nicht befolgen können und die damit – im Sinne des Prinzips, dass Sollen Können impliziert3 – ungültig wären. Eine weitere, insbe­ sondere von Mills (2005) formulierte Befürchtung lautet, dass eine Priorisierung der idealen Theorie mit der Gefahr einhergeht, dass diese – ausgehend von einem privilegierten evaluativen Standpunkt – viele problematische Phänomene stillschweigend ausschließt oder marginalisiert, so dass das Projekt einer idealen Theorie letztlich auf eine Art »Ideologie« hinauslaufe.4 Eine Reihe von Autoren hat nun in jüngster Zeit eine Übertra­ gung der Unterscheidung zwischen idealen und nicht-idealen Theo­ rien in die theoretische Philosophie in Erwägung gezogen, so dass sich eine Debatte zu entwickeln begonnen hat, die ein Stück weit ein Abbild von jener in der praktischen Philosophie darstellt. Damit einhergegangen ist eine verstärkte Hinwendung zu Phänomenen der Nicht-Idealität im Bereich der Erkenntnistheorie oder Sprach­ philosophie, die zuvor weitgehend vernachlässigt wurden – Phäno­ mene wie epistemische Ungerechtigkeit, Fake News, Polarisierung, 3 Ein zentrales Argument in der Diskussion zwischen idealen und nicht-idealen Ansätzen besagt, dass Menschen von Natur aus einer Vielzahl von (z.B. kognitiven) Beschränkungen unterliegen (wie die begrenzte Fähigkeit, mögliche Folgen der eige­ nen Handlungen vorherzusehen, die begrenzte Speicherkapazität von Informationen, begrenzte Verarbeitungskapazitäten, mangelnde Fähigkeiten der Integration verschie­ dener kognitiver Systeme usw.), die es bei der Formulierung normativer Ansprüche zu berücksichtigen gilt. Wer das »Sollen impliziert Können«-Prinzip akzeptiert, geht davon aus, dass solche Ansprüche nur dann gerechtfertigt sind, wenn sie sich tatsächlich erfüllen lassen. 4 Im Ausgang dieser Diskussion hat es verschiedene Versuche gegeben (vgl. u.a. Stemplowska 2008; Jubb 2012), die Trennung zwischen idealer und nicht-idealer Theorie nicht als eine Unterscheidung zwischen rivalisierenden Projekten zu begrei­ fen, sondern beide Theorietypen so zu rekategorisieren, dass sie nicht miteinander konfligieren. Trotz solcher Versuche scheint jedoch das tiefere Problem fortzubeste­ hen, dass nicht klar ist, ob eine ideale Theorie der nicht-idealen Theorie vorangehen muss (oder evtl. das Umgekehrte der Fall ist).

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Rico Hauswald & Pedro Schmechtig

Propaganda, Slurs, Silencing, Bullshitting usw. Mit Endre Begby (2021, 43ff.) lassen sich diese Phänomene grob in endogene und exogene Formen unterteilen. Dabei sind mit ersteren intrinsische Einschränkungen der kognitiven Kapazitäten von Menschen gemeint, beispielsweise die Begrenztheit unseres Schlussfolgerungs- oder Erinnerungsvermögens oder die Neigung zu Bias, unangemessenen Stereotypen und Vorurteilen. Exogen sind dagegen die verschiedens­ ten kontingenten Zwänge, denen wir in unterschiedlichen sozialen Umgebungen unterworfen sind, beispielsweise in informationellen Ökosystemen, die in hohem Maße durch politische Propaganda, Ideologie und Formen epistemischer Ungerechtigkeit geprägt sind. Diese Unterscheidung ist insofern bedeutsam, als dass einige der für die Corona-Krise spezifischen nicht-idealen epistemischen Heraus­ forderungen im Wesentlichen dem exogenen Typ zuzuordnen sind. Sie sind, wie die Krise selbst, temporärer Natur – man könnte etwa an das Phänomen der »Fast Science« oder andere mit der besonderen Drucksituation verbundene Erscheinungen denken. Das schließt nicht aus, dass auch dauerhaftere Formen exogener oder auch endogener Nicht-Idealität eine Rolle gespielt haben oder in besonderer Weise in der Krise sichtbar oder relevant geworden sind; hier ließe sich z.B. an problematische Aspekte im Zusammenhang mit sozialen Medien denken, die es bereits vor der Krise gab und die auch danach weiterbestehen werden. Ähnlich wie im Bereich der praktischen Philosophie ist die Exis­ tenz solcher nicht-idealer Phänomene an sich weitgehend unstrittig; strittig ist dagegen die Frage, welcher theoretische Zugang ihnen gegenüber angemessen ist bzw. welcher Stellenwert ihnen zukommt. Braucht es auch im Bereich der theoretischen Philosophie eine nichtideale Theorie und falls ja, wie genau sähe sie aus bzw. wie sollte ihr Verhältnis zur idealen Theorie modelliert werden?5 Klar ist, dass ähnlich wie im Bereich der praktischen Philosophie nicht das bloße Erheben von normativen Ansprüchen der eigentliche Knackpunkt 5 Plädoyers für eine nicht-ideale Erkenntnistheorie halten etwa Begby (2021), Kukla (2021), Lackey (2021) und Rini (2022). Carr (forthcoming) argumentiert hingegen, dass auch eine ideale Epistemologie weiterhin eine wichtige Rolle spielen sollte. Im Bereich der Sprachphilosophie werden divergierende Positionen vertreten etwa von Cappelen/Dever (2021), die bestreiten, dass die Unterscheidung zwischen idealen und nicht-idealen Theorien hier überhaupt sinnvoll ist, und Beaver/Stanley (2019), Mühlebach (2022) und Keiser (forthcoming), die im Gegensatz dazu die Wichtigkeit eines nicht-idealen Zugangs in der Sprachphilosophie betonen.

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Einführung

ist, um den es bei der Auseinandersetzung zwischen idealer und nicht-idealer Theoriebildung geht. Auch in der Erkenntnis- oder Wissenschaftstheorie ist es nicht so, dass ein nicht-idealer Ansatz zur Folge hätte, dass epistemische Normativität aufgegeben werden muss.6 Im Gegenteil, einige Autor*innen wie Begby (2021) oder Mühlebach (2022) sind vielmehr der Ansicht, dass sich nur im Rahmen einer nicht-idealen Erkenntnistheorie epistemische Normen formulieren lassen, die einen echten (kritischen) Einfluss auf die menschliche Erkenntnispraxis haben.7 Nicht-ideale Theorie in diesem Sinne verfolgt das Ziel, Prinzipien des vernünftigen Umgangs mit den epistemischen Herausforderungen zu formulieren, mit denen wir angesichts der verschiedenen endogenen und exogenen Unzu­ länglichkeiten konfrontiert sind – Herausforderungen, die durch für ein epistemisches Utopia geschaffene ideale Regeln oder Normen (vermeintlich) nur unzureichend erfasst werden. Aus Sicht der idealen Theorie stellt sich allerdings abermals die Gegenfrage, ob es nicht strenge ideale Prinzipien und die Inanspruchnahme hoher unbeding­ ter theoretischer Werte braucht, die als Maßstab oder Korrektiv dienen können, ohne die sich die Unzulänglichkeiten unserer aktualen Welt gar nicht als solche erkennen lassen. Im Hinblick auf die wissen­ Von einer »nicht-idealen Wissenschaftstheorie« (bzw. »non-ideal philosophy of science«) ist – im Vergleich zu einer »nicht-idealen Erkenntnistheorie« oder »nichtidealen Sprachphilosophie« – zumindest bislang kaum die Rede gewesen. Die Ursache dafür muss freilich nicht unbedingt darin bestehen, dass die Wissenschaftstheorie den anderen philosophischen Teildisziplinen irgendwie in ihrer Entwicklung hinter­ herhinken würde, sondern könnte im Gegenteil gerade damit zusammenhängen, dass verwandte Kontroversen in der Wissenschaftstheorie bereits seit Jahrzehnten (teilweise bevor diese Terminologie aufkam) geführt werden. Man denke etwa an die Diskrepanz zwischen dem eher formalen Zugang des logischen Positivismus und den seit Mitte des 20. Jahrhunderts verstärkt diskutierten Ansätzen, die eher die histori­ schen, kulturellen und politischen Dimensionen der Wissenschaft betont und im Zuge dessen auch nicht-ideale Phänomene in den Vordergrund gerückt haben, etwa bei Kuhn (1962), Feyerabend (1975) oder der feministischen Wissenschaftsphilosophie (z.B. Harding 1986). 7 So hat beispielsweise Mühlebach (2022) kritisiert, dass ideale Theorien im Bereich der Erkenntnistheorie bzw. Sprachphilosophie zwar irgendwie vorgeben, auch in normativer Hinsicht bedeutsam zu sein, da sie jedoch idealisierte Annahmen über die Art der menschlichen Fähigkeiten, die zugrunde liegende soziale Ontologie der Phänomene und die dabei ins Spiel kommenden kollektiven Institutionen machen, abstrahieren sie von den tatsächlich vorliegenden Machtverhältnissen und einflussrei­ chen gesellschaftlichen Strukturen, die ein wesentlicher Faktor dafür sind, dass die von der Theorie beschriebenen Phänomene normativ wirksam sind. 6

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schaftliche Erkenntnispraxis während Krisenzeiten wie der CoronaPandemie lässt sich beispielsweise fragen, ob an einem Prinzip wie dem Ideal der Wertfreiheit festgehalten werden sollte. Ein Argument aus Sicht der nicht-idealen Theorie könnte dabei lauten, dass die wissenschaftliche Forschungspraxis so stark von nicht-epistemischen Werten durchdrungen ist, dass der Versuch, sie davon komplett freizuhalten, kaum erfolgversprechend wäre. Und wenn Sollen Kön­ nen voraussetzt, könnte das dafür sprechen, das Ideal aufzugeben oder zumindest zu relativieren und an die Gegebenheiten unserer auf vielfältige Weise mit problematischen Aspekten durchsetzten Erkenntnispraxis anzupassen. Verfechter der idealen Theorie müssen sich fragen lassen, warum man epistemische Normen aufstellen soll, die für normale Menschen in den meisten Fällen nicht erfüllbar sind. Umgekehrt können sie jedoch wiederum versuchen, geltend zu machen, dass es das Ideal trotzdem als eine Art Orientierung braucht, und es gerade sein idealer Charakter ist, aufgrund dessen es diese Funktion zu erfüllen in der Lage ist.8 Doch selbst wenn zugestanden wird, dass zur normativen Orien­ tierung ein Ideal gehört, scheint der ideale Ansatz mit signifikanten Limitationen einherzugehen. So tendieren Anhänger einer idealen Erkenntnistheorie etwa dazu, epistemische Normativität unter einem eingeschränkten doxastischen Blickwinkel zu betrachten und nur solche Aktivitäten in die Bewertung als potentiell verantwortlich bzw. unverantwortlich einzubeziehen, die im engeren Sinne die Glau­ bensbildung betreffen (vgl. hierzu exemplarisch Carr forthcoming).9 Demgegenüber bringen nicht-ideale Ansätze einen weiter gefassten Begriff der epistemischen Verantwortung ins Spiel, der nicht nur unmittelbar die Glaubensbildung, sondern auch andere Phasen der 8 Im Hinblick auf diese Frage hat beispielsweise Carr (forthcoming) im Sinne des Mottos »ideal epistemology is the only game in town« zu zeigen versucht, dass nur eine ideale Theorie der epistemischen Bewertung normativ robust ist und es ein Irrtum sei, zu glauben, dass eine solche Theorie nicht mit dem »Sollen impliziert Kön­ nen«-Prinzip in Einklang stehen könne. Gleichwohl gesteht auch sie der nicht-idealen Theorie eine Existenzberechtigung zu und bringt die Idee einer Koexistenz von idealer und nicht-idealer Theorie der epistemischen Bewertung ins Spiel. 9 Auch in vielen Arbeiten, die sich direkt mit dem Begriff der epistemischen Ver­ antwortung auseinandersetzen, herrscht die allgemeine Tendenz vor, vorrangig dieje­ nigen epistemischen Aktivitäten zu betrachten, die der Glaubensbildung im engen Sinne dienen. Vgl. hierzu u.a. Kornblith (1983), Code (1987), Montmarquet (1993), Zagzebski (1996), Miller/Record (2013). Eine seltene Ausnahme in dieser Hinsicht stellt jüngst eine Arbeit von Grasswick (2020) dar.

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Einführung

Untersuchung bzw. Aspekte epistemischer Aktivitäten (z.B. das Stel­ len von Fragen) berührt. Möglicherweise wird das Projekt einer idealen Erkenntnistheorie nicht grundsätzlich durch diese Limita­ tion unterminiert, da zumindest prima facie nicht ausgeschlossen werden kann, dass auch nicht-doxastische epistemische Normen im Sinne eines idealen Sollens zu formulieren sind. Schwerwiegender scheint jedoch zu sein, dass der ideale Ansatz einem aus Sicht der nicht-idealen Theorie zentralen Aspekt unserer Erkenntnispraxis offenbar nicht angemessen Rechnung tragen kann, nämlich dem Umstand, dass sich epistemische Verantwortung auch und vielleicht sogar vorrangig durch einen präventiven oder non-obstruktivistischen Charakter auszeichnet und insofern darauf abzielen sollte, epistemi­ sche Ungerechtigkeiten und andere epistemische Schädigungen zu verhindern oder abzumildern bzw. allgemein dafür Sorge zu tragen, dass die betreffenden Akteure auch unter erschwerten (nicht-idealen) Bedingungen ihre epistemischen Ziele erreichen können.10 In einer idealen epistemischen Welt gibt es keine epistemischen Ungerechtig­ keiten, keine unkooperativen Kommunikationspartner, keine Fake News usw. Infolgedessen scheinen ideale Theorien in der Bewer­ tung kognitiven Verhaltens (sei es in doxastischer oder non-doxasti­ scher Hinsicht) keinen Unterschied zwischen epistemischen Akteuren machen zu können, die im Hinblick auf den Umgang mit solchen nicht-idealen Phänomenen gewissenhaft sind und verantwortlich agieren und solchen, die das offenkundig nicht tun. Doch gerade wenn wir Bedingungen der Wissensproduktion und -vermittlung betrachten, die wie in der Pandemie von exogener Nicht-Idealität geprägt sind – also solche Umstände, unter denen Personen vielleicht durchaus bemüht sind, nur das zu glauben, was man unter idealen Voraussetzungen (rational) glauben sollte, die äußeren Umstände aber ein rationales epistemisches Agieren erheblich erschweren –, stellt sich die Frage der epistemischen Verantwortung und damit der normativen Orientierung in einer Weise, die über das Befolgen idealer Normen hinausgeht. Viele Probleme in der Corona-Krise, die dazu beigetragen haben, dass epistemische Unternehmungen nicht optimal verlaufen sind, lassen sich nicht oder nur sehr begrenzt damit erklären, dass die betreffenden Akteure nicht gewillt waren, 10 Genau hier setzt die nicht-ideale Theorie an. So schreibt Rini (2022, 25): »Nonideal epistemic theory begins by describing our actual social epistemic practice, then identifies undesirable features of that practice, and finally sketches realistic changes in the contingent epistemic environment that might lead to better practice.«

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diejenigen Normen zu befolgen, die unter idealen Bedingungen epis­ temischen Erfolg verheißen. Doch auch in einer Umgebung, die durch verschiedenste Phänomene epistemischer Nicht-Idealität geprägt ist – seien es Formen von Unwissenheit, nicht-ideale Informationsprak­ tiken (Echokammern, Filterblasen, Propaganda, journalistische Dra­ matisierungen, Formen des »bullshitting« usw.), strategische (d.h. politisch motivierte oder interessengeleitete) »Expert-Testimony« oder ein Zuviel bzw. vielleicht auch ein Zuwenig an Skepsis und Kritik –, sind wir als rationale epistemische Akteure aufgefordert, uns zu fragen, was es heißt, epistemische Verantwortung zu übernehmen. Die Corona-Pandemie gibt daher vielfach Anlass und Gelegenheit, Fragen der epistemischen Normativität unter einem weiter gefassten Blickwinkel zu betrachten, der es uns erlaubt, zu untersuchen, ob – und falls ja, wie – epistemische Verantwortlichkeit unter Bedingungen von (exogener) Nicht-Idealität möglich ist bzw. was epistemisch ver­ antwortliches Agieren unter solchen Bedingungen erschweren oder verhindern kann.

Zu den Beiträgen des Bandes Der Band enthält 15 Originalbeiträge, die zwischen Mitte 2021 und Mitte 2022 entstanden sind. Teil I enthält Aufsätze, die aus primär wissenschaftsphilosophischer Perspektive der Frage nachgehen, wel­ chen Einfluss die Krise auf die Organisation wissenschaftlicher For­ schungsprozesse hatte und wie ihr Verhältnis zu Prozessen politischer Entscheidungsfindung modelliert werden sollte. Michael Jungert greift das Konzept der »Fast Science« auf, das zur Charakterisierung der Wissenschaft während der Corona-Krise häufig verwendet worden ist. Mit diesem Konzept geht die Diagnose einher, dass die Wissen­ schaft auf die in sie gesetzte Erwartung, schnellstmöglich belastbare Erkenntnisse zur Bewältigung der Krise bereitzustellen, mit einer enormen Beschleunigung reagiert hat. Der Beitrag geht den Bedin­ gungen und Potentialen, aber auch möglichen Schattenseiten und epistemischen Kosten dieser Beschleunigung nach, etwa einer Absen­ kung etablierter Qualitätsstandards und einer Einschränkung von wissenschaftlichem Dissens, epistemischem Pluralismus und Inter­ disziplinarität. Im Fokus des Beitrags von Michael Esfeld und Boris Kotchou­ bey steht weniger die Beschleunigung, sondern vielmehr eine aus

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Einführung

ihrer Sicht verhängnisvolle Politisierung der Wissenschaft während der Corona-Krise. Genauer gesagt lautet ihre These, dass die Wis­ senschaft durch eine drohende Transformation in ein politisches Programm, einen politischen Szientismus, an den Rand ihrer »Selbst­ zerstörung« geraten sei. Der Wahlspruch dieses Programms – »follow the science« – suggeriere eine vermeintliche Einstimmigkeit, mit der »die« Wissenschaft spricht, sowie eine vermeintliche Eindeutigkeit ihrer normativen Konsequenzen, mit der sich – so wird anhand einer historischen Parallele zur Eugenik veranschaulicht – nur allzu leicht eine in der Konsequenz totalitäre Politik legitimieren lasse. Das Verhältnis von Wissenschaft und Politik ist auch Gegenstand des Beitrags von Karim Bschir, Jörn Knobloch und Simon Lohse, in dem die Grenzen und Probleme des traditionellen, ihrer Analyse zufolge zu stark idealisierten Modells wissenschaftlicher Politikberatung vor dem Hintergrund der Corona-Krise untersucht werden. Die Autoren schlagen demgegenüber ein alternatives, »integratives« Modell vor, das die Idee in den Mittelpunkt rückt, dass komplexe politische Ent­ scheidungsprozesse insbesondere in Krisensituationen umso besser gelingen, je mehr sie auf der Grundlage einer möglichst pluralisti­ schen Wissensbasis getroffen werden, was nicht nur Wissensbestände aus unterschiedlichsten Disziplinen der institutionalisierten Wissen­ schaft einschließt, sondern auch epistemische Ressourcen aus anderen Bereichen der Gesellschaft. Claus Beisbart beschäftigt sich mit dem klassischen Ideal wis­ senschaftlicher Wertfreiheit und untersucht, wie überzeugend es in Krisenzeiten ist. Ausgehend von einer Analyse beispielhafter Äuße­ rungen von Forschenden während der Pandemie demonstriert er, wie schwer es sein kann, dem Ideal gerecht zu werden. Gleichwohl, so argumentiert er, bleibe es ein sinnvolles Korrektiv. Die gegenwärtige Wissenschaftsphilosophie weise zwar mit Recht darauf hin, dass die Forschung in mehreren Hinsichten durch nicht-epistemische Werte beeinflusst wird. Solche Einflüsse seien aber damit vereinbar, dass wissenschaftliche Ergebnisse ihrem Gehalt nach wertfrei sind. Sie machen das Ideal der Wertfreiheit nicht obsolet, sondern motivieren ergänzende Forderungen wie etwa die, die Art und Weise des Zustan­ dekommens von Forschungsfragen transparent zu machen. Auch Gerhard Schurz verteidigt in seinem Beitrag eine Variante des klassischen Ideals wissenschaftlicher Wertneutralität und kriti­ siert, im öffentlichen Diskurs sei während der Corona-Krise zu selten berücksichtigt worden, dass sich politische Maßnahmen nicht allein

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durch den Verweis auf wissenschaftliche Faktenaussagen rechtferti­ gen lassen, sondern für ihre Legitimation auch normative Abwägun­ gen erforderlich seien. Er demonstriert dies exemplarisch anhand von Analysen der epistemischen und evaluativen Basis von Lockdowns einerseits und einer Corona-Impfpflicht andererseits. Dabei kommt er nach Abwägung von Nutzen und Schäden dieser Maßnahmen zu dem Ergebnis, dass erstere unverhältnismäßig gewesen seien, letztere dagegen verhältnismäßig. In Teil II werden Aspekte der Wissensvermittlung und des Experten-Laien-Verhältnisses aus primär erkenntnistheoretischem Blickwinkel in den Mittelpunkt gerückt. Nicola Mößner setzt in ihrem Beitrag bei der Diagnose einer zumindest scheinbaren Glaubwür­ digkeitskrise an, in die die Wissenschaft im Verlauf der Pandemie bei (Teilen) der Bevölkerung geraten ist. Bei der Suche nach deren Ursachen bringt auch Mößner das Verhältnis von Faktenaussagen und Wertungen ins Spiel und identifiziert eine Hauptschwierigkeit im Aufeinandertreffen von Expert*innen mit sehr unterschiedlich fokus­ sierten Werthaltungen. Diese können zwar jeweils für sich betrachtet durchaus legitim sein, für eine erforderliche Hierarchisierung fehle es aber bisher an hinreichenden Leitlinien. In diesem Zusammenhang wirft Mößner die Frage auf, inwieweit die Philosophie die Funktion übernehmen könnte, für die notwendige Orientierung innerhalb solcher Wertedebatten zu sorgen. Christoph Jäger untersucht die Corona-Krise als »Krise der Autoritäten«, die dadurch charakterisiert sei, dass viele Kritiker nicht nur die von politischen Entscheidungsträgern beschlossenen Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung abgelehnt, sondern auch die dabei zugrundegelegten Analysen wissenschaftlicher Expert*innen verworfen haben. Zugleich habe die Tendenz zugenommen, »falsche Autoritäten« auf den Schild zu heben, d.h. Personen mit geringer oder gar keiner Expertise, die gleichwohl vorgeben, es besser zu wissen. Jäger verfolgt das Ziel, den Begriff einer falschen Autorität in Abgren­ zung von »echten« epistemischen Autoritäten genauer zu klären, verschiedene Subtypen zu unterscheiden (insbesondere »Schein-«, »Pseudo-« und »Fake-Autoritäten«) und deren Rolle während der Corona-Krise zu erörtern. Pedro Schmechtig nimmt die Corona-Krise zum Anlass, genauer zu betrachten, welche Belastungen auf die wissensvermittelnde Umgebung zukommen, wenn die tragende Beziehung zwischen wis­ senschaftlichen Expert*innen-Gruppen und Laien-Gemeinschaften

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Schaden erleidet. Derartige Belastungen werden von ihm auf zwei Ebenen analysiert: als Mikroproblem der Schädigung testimonialer Ökonomie und als Makroproblem der Veränderung epistemischer Gewohnheiten (Dogmatismus und Misstrauen). Es werden zwei Formen von epistemischer Wachsamkeit in nicht-idealer (belasteter) Umgebung vorgestellt (tugendhafter Dogmatismus und wachsames Misstrauen) und argumentiert, dass beide Formen eine polarisierende Tendenz zur intellektuellen Arroganz aufweisen. Hiervon ausgehend wird die Frage aufgeworfen, wie es entgegen dieser Tendenz möglich ist, in einer nicht-idealen Umgebung (mit den zuvor diagnostizierten Verzerrungen) epistemisch verantwortlich zu agieren. Teil III fokussiert auf die Rolle von Vertrauen, Skepsis und kritischem Denken gegenüber wissenschaftlichen Aussagen und wis­ senschaftlich begründeten Empfehlungen. Jon Leefmann analysiert Empfehlungen als besonderen, im Rahmen der Corona-Krise bedeut­ samen Typ von Sprechakt. Eine Empfehlung gehe mit dem Anspruch einher, dass Bürger*innen nicht nur etwas glauben, sondern dass sie tun sollen, was von ihnen im Zusammenhang mit bestimmten Maßnahmen verlangt wird. Leefmann möchte zum einen zeigen, dass Empfehlungen eine besondere Konzeption von Vertrauen erfordern, die sich von Vertrauen im Kontext von Mitteilungen oder Behauptun­ gen stark unterscheidet. Zum anderen untersucht er die Bedingungen, unter denen es rational ist, wissenschaftsbasierten Empfehlungen der Politik mit Vertrauen zu begegnen, und argumentiert, dass diese Rationalitätsbedingungen im Kontext der COVID-19-Pandemie nur schwer einzulösen waren. Moritz Schulz und Roman Heil nehmen das während der CoronaKrise in signifikanten Teilen der Bevölkerung verbreitete Phänomen der Skepsis gegenüber Aussagen wissenschaftlicher Expert*innen zum Ausgangspunkt, um über eine generelle Konzeption testimo­ nialer Skepsis nachzudenken und strukturellen Parallelen zwischen dieser und dem klassischen Außenweltskeptizismus nachzugehen. Am Beispiel der Impfskepsis untersuchen sie, welcher der beiden klas­ sischen Hauptansätze in der Epistemologie der Testimonialerkenntnis (Reduktionismus und Anti-Reduktionismus) besser geeignet ist, der skeptischen Herausforderung zu begegnen. Dabei kommen sie zu dem Schluss, dass ein mit einer externalistischen Theorie von Testi­ monialwissen kombinierter Anti-Reduktionismus am ehesten in der Lage ist, eine anti-skeptische Strategie erfolgreich zu implementieren.

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Tim Kraft argumentiert, dass es zu einer skeptischen Einstellung auch durch die Ausübung kritischen Denkens kommen kann. Anhand einer Analyse der Argumentationsweise von bekannten Kritikern herrschender Narrative während der Corona-Krise möchte er ver­ deutlichen, dass es bei kritischem Denken auf die richtige Dosierung ankomme. Gerade in Zeiten der Pandemie sei es zu epistemischen Problemen nicht nur durch einen Mangel, sondern oft auch durch einen Exzess an kritischem Denken gekommen. Den möglichen Implikationen eines solchen Exzesses kritischen Denkens geht Kraft im Zusammenhang mit zwei im Rahmen der Pandemie relevanten Paradoxien nach: dem Präventions- und dem Überraschungsparadox. Teil IV enthält Beiträge, die sich mit der Rolle von Nicht-Wissen, Pseudo-Wissen und heterodoxem Wissen während der Corona-Krise sowie Formen des vernünftigen Umgangs damit auseinandersetzen. Nadja El Kassar nimmt den Umstand zum Anlass, dass in der Anfangszeit der Corona-Krise nur wenig für die Einschätzung der Pandemie erforderliches Wissen verfügbar war, um grundlegende begriffliche Klärungen und Abgrenzungen zwischen Konzepten wie »Unwissen«, »Unwissenheit« und »Ignoranz« vorzunehmen. Sie argumentiert, dass diese Formen jeweils unterschiedliche Reaktio­ nen erfordern, und illustriert diese These anhand von vier einschlä­ gigen Phänomenbereichen: (i) Unwissenheit und Unsicherheit bei Laien, Forschenden und Expert*innen, (ii) Unwissenheit und Unwis­ sen in der Forschung, (iii) verschwörungserzählerischen Zugängen zur Corona-Pandemie und (iv) hartnäckiger Ablehnung von wissen­ schaftlicher Evidenz. Aus diesen Überlegungen leitet sie auf meta­ theoretischer Ebene ein Plädoyer für eine nicht-ideale Erkenntnis­ theorie ab. Die Frage, wie vernünftigerweise in Situationen mit fehlendem Wissen agiert werden sollte, steht auch im Mittelpunkt des Beitrags von Verena Wagner. Am Beispiel der STIKO, die sich im Sommer 2021 aufgrund unzureichender Daten und trotz öffentlichen Drucks zumindest vorübergehend nicht für eine allgemeine Impfempfehlung für Kinder und Jugendliche aussprach, untersucht sie den epistemi­ schen Wert doxastisch neutraler Einstellungen. Sie kritisiert, dass diese Nichtempfehlung der STIKO häufig als Ablehnung der Impfung missverstanden wurde. Ferner argumentiert sie, dass die doxastische Neutralität keine einheitliche dritte Option neben dem Glauben und dem Zurückweisen darstellt, sondern weitaus facettenreicher ist, als in der Erkenntnistheorie gemeinhin angenommen werde.

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Einführung

Axel Gelfert untersucht pandemiebezogene Fake News, Gerüchte und Desinformationskampagnen als nahezu unvermeidliche Neben­ effekte der Wissensproduktion in Zeiten von »Fast Science«, die zur allgemeinen Desorientierung und epistemischen Überforderung beigetragen haben. Solche Phänomene können seiner Analyse zufolge eine Vielfalt unterschiedlicher Formen aufweisen und auf eine Reihe von potentiellen Ursachen zurückgeführt werden, die vom allgemei­ nen Mangel an gesichertem Wissen und dem Drang zu kollekti­ vem »Sensemaking« bis hin zu staatlicher Propaganda und dem Profitinteresse verschiedenster Akteure reichen können. Derartige Phänomene drohen gerade auch die öffentliche Kommunikation wis­ senschaftlicher Expertise in Mitleidenschaft zu ziehen und eine zur vieldiskutierten »Epistemisierung des Politischen« komplementäre »Politisierung des Epistemischen« auszulösen. Rico Hauswald möchte den Fokus der Betrachtung von Phäno­ menen wie Fake News, Verschwörungstheorien oder Wissenschafts­ leugnung zu den sie bezeichnenden sprachlichen Ausdrücken hin verschieben, die seiner Diagnose zufolge in die Kategorie der »episte­ mischen Invektiven« fallen. Bezugnehmend auf den Relevante-Alter­ nativen-Ansatz argumentiert er, dass eine der primären sprechakt­ theoretischen Funktionen solcher Ausdrücke darin besteht, die durch sie bezeichneten Propositionen aus der Menge der im jeweiligen konversationellen Kontext als relevant behandelten Alternativen zu exkludieren. Während der Gebrauch epistemischer Invektiven seiner Analyse zufolge grundsätzlich legitim sein könne, habe er während der Corona-Krise vielfach auch zum Ausschluss von Alternativen aus dem öffentlichen Diskurs beigetragen, die eigentlich hätten ernstge­ nommen werden sollen.

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Rico Hauswald & Pedro Schmechtig

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Teil I Wissenschaft und ihr Verhältnis zur Politik in der Krise

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Michael Jungert

Erkenntnis im Eilverfahren? Wissenschaftsphilosophische Implikationen von »Fast Science«

1. Die Beschleunigung von Wissenschaft in der CoronaPandemie Sowohl der Begriff der »Fast Science« als auch die generelle Beobach­ tung einer Beschleunigung vieler Forschungs- und Publikationspro­ zesse sind nicht erst mit Beginn der COVID-19-Pandemie auf den Plan getreten.1 Vielmehr wirkt die Pandemie – wie etwa bei den Themen Kinder- und Jugendhilfe, Pflege, soziale (Un-)Gerechtigkeit oder Fake News – auch in der Wissenschaft als das vielzitierte »Brenn­ glas«2 für bereits länger existierende Phänomene und schwelende Probleme. In diesem Beitrag werden zentrale Charakteristika und Auswirkungen von »Fast Science« expliziert und – auch anhand von Beispielen aus der wissenschaftlichen wie gesellschaftlichen Debatte während der Pandemie – wissenschaftsphilosophisch analysiert und diskutiert. Als Grundlage für diese Analyse werden einführend und exemplarisch einige Spezifika der Eigenschaften und Auswirkungen von »Fast Science« im Kontext der Corona-Pandemie seit dem Früh­ jahr 2020 herausgearbeitet.3

1 Für die neuere Diskussion zum Begriff und zu den Auswirkungen von »Fast Science« sowie zum Gegenbegriff »Slow Science« vgl. bspw. Frith (2020), Sarewitz (2020) sowie Stengers (2016) und Stengers (2017). 2 Zur Metapher des »Brennglases« im Kontext der COVID-19-Pandemie und zu deren Implikationen vgl. Dietze et al. (2021, 118–121) und Klemm/Knieps (2020). 3 Ich danke den beiden Herausgebern für hilfreiche Anmerkungen und Vorschläge zur ersten Fassung dieses Beitrags sowie Katharina Bachus für das umsichtige for­ male Lektorat.

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Michael Jungert

1.1 Publikationsgeschwindigkeit und Publikationsmenge Auch wenn bereits zuvor eine enorme Steigerung bei der Taktung und Zahl wissenschaftlicher Publikationen zu beobachten war – die Entwicklung während und aufgrund der Pandemie stellt eine neue Dimension dar. So gelangen etwa Cai et al. (2021) auf der Basis einer umfassenden Analyse von coronabezogenen wissenschaftlichen Publikationen zu dem Ergebnis that the number of coronavirus publications has seen a great boom in 2020, rising at a spectacular rate from a total of 4,875 articles produced on the topic (preprint and peer reviewed) between January and mid-April to an overall sum of 44,013 by mid-July, and 87,515 by the start of October 2020 (in comparison, nanoscale science was a rapidly growing field in the 1990s, but it took more than 19 years to go from 4000 to 90,000 articles. (Cai et al. 2021, 3683)

Wirken diese Zahlen im Oktober 2020 mit über 80.000 Veröffent­ lichungen innerhalb eines halben Jahres bereits überwältigend, so sind sie im weiteren Verlauf der Pandemie nochmals enorm gestiegen: Im Februar 2022 zählt die Forschungsdatenbank »Dimensions« über 900.000 Publikationen und einen Spitzenwert von fast 20.000 innerhalb einer einzigen Woche.4 Sowohl die Gesamtmenge der Ver­ öffentlichungen zu einem bestimmten Themenfeld5 als auch der extrem kurze Zeitraum, in dem diese entstanden sind, stellen ein Novum in der Wissenschaft dar.6 Die schon länger bestehende Pro­ blematik, dass konstant riesige Datenmengen produziert werden und die Vielzahl neuer Studien selbst von hochspezialisierten Wissen­ schaftlerInnen nicht mehr überblickt werden kann, wird dadurch nochmals deutlich verschärft. Hinzu kommt, dass ein außergewöhn­ lich hoher Anteil der Publikationen im Kontext des Coronavirus – Raynaud et al. (2021) sprechen mit Blick auf ihre Stichprobe von 4 Vgl. dazu die statistische Übersicht auf https://covid-19.dimensions.ai (letzter Seitenabruf am 23.02.2022). 5 Allerdings muss bei solchen Angaben stets beachtet bzw. hinterfragt werden, nach welchen Kriterien solche Gesamtzahlen ermittelt werden, was also aus Sicht der Zählenden etwas als ein bestimmtes Feld konstituiert und welche Beiträge folglich darunter subsummiert werden. 6 Mehrere Studien haben sich zudem mit der Frage beschäftigt, wie sich diese enormen Zahlen auf einzelne Länder verteilen und ob ein Zusammenhang zwischen den Infektionszahlen in einem Land und der Zahl der dort produzierten Studien besteht (vgl. Cai et al. (2021) und Strobl/Roth (2021)).

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56,1 % – keine eigenen/neuen Daten enthält, sondern beispiels­ weise Experteneinschätzungen und Bewertungen bereits vorhande­ ner Daten umfasst (sog. »opinion articles« u.ä.).7

1.2 Informationsbewertung und Qualitätssicherung Ein weiterer Aspekt, der unter anderem mit der Publikationsmenge und -geschwindigkeit zusammenhängt, sind die zunehmenden Anforderungen an die Bewertung und Einordnung neuer Daten und Studien und damit an das System der Qualitätssicherung in der Wis­ senschaft. Auch hier wurden Tendenzen, die es zuvor gab, mit Beginn der Pandemie sichtbarer und stärker. Dies betrifft beispielsweise die Vorabveröffentlichung von Studien ohne vorangegangene Qualitäts­ prüfung durch Peer Review auf sog. »Preprint Servern« – Else (2020) spricht für den Stand Ende 2020 von bis zu 30 % der Publikationen, die als Preprints erschienen sind. Zugleich legt eine Reihe von Meta­ studien nahe, dass die Menge, die Veröffentlichungsgeschwindigkeit und die veränderten Bewertungsabläufe von COVID-19-bezogenen Publikationen auch Auswirkungen auf die sog. »retraction rate« haben, also auf den Anteil der nach einer Veröffentlichung wieder zurückgezogenen Forschungsbeiträge (Shimray 2022; Anderson et al. 2021; El-Menyar et al. 2021). Einige Autoren nennen die Zunahme von zurückgezogenen Artikeln »alarming« (Yeo-Teh/Tang 2021) und sehen sie als Indikator für »substandard research« (Bramstedt 2020) oder für »potential quality issues« (Kodvanj et al. 2022). Es gibt aber auch Stimmen, die zur Vorsicht bei der Einordnung dieser Zahlen mahnen, etwa weil die analysierten Stichproben vergleichsweise klein, die Auswahlkriterien unklar oder die Zeiträume, in denen das Zurückziehen geschieht, wesentlich kürzer sind als im wissenschaft­ lichen »Normalfall« vor Beginn der Pandemie8 (Abritis et al. 2021). Zudem wird gegenwärtig kritisch diskutiert, ob und inwiefern das 7 Hierbei könnte es sich um eine Begleiterscheinung des mit »Fast Science« einher­ gehenden Publikations- und Karrieredrucks handeln, der zu einer höheren Zahl an Publikationen dieser Art führt. 8 Ein Argument ist diesbezüglich, dass im Kontext der Corona-Publikationen eine außergewöhnlich schnelle und umfangreiche Prüfung von Veröffentlichungen statt­ findet. Dadurch könnte eine hohe Zahl rasch erfolgter »retractions« erklärt werden, ohne dass damit zwingend auch der Vorwurf eines allgemeinen Qualitätsverlusts gestützt wird.

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Zurückziehen von Artikeln in konsistenter, transparenter und auch für Laien nachvollziehbarer Weise geschieht und wie gegebenenfalls Verbesserungen im Prozess des Zurückziehens von Publikationen erreicht werden könnten (Frampton et al. 2021; Ledford/van Noorden 2020).

1.3 Selektion in öffentlicher Wahrnehmung und Berichterstattung Ein dritter Aspekt betrifft die Selektion und Verarbeitung der enor­ men wissenschaftlichen Daten- und Publikationsmengen durch den Wissenschaftsjournalismus und die Öffentlichkeit. Der Umfang und die Dynamik der Forschungsergebnisse, wie sie oben geschildert wurden, erzwingen sowohl eine starke Auswahl durch den Laien bzw. Wissenschaftsjournalisten als auch eine Zusammenfassung und Auf­ bereitung im Rahmen der journalistischen Berichterstattung, woraus sich zahlreiche Fragen nach den Beurteilungskriterien für Fachexper­ tise und nach angemessenen Selektionskriterien ergeben (Wäscher et al. 2021; Wicke 2022). Zu den unter 1.2 geschilderten inner­ wissenschaftlichen Auswahlprozessen gesellen sich hier also auch Auswahlprozesse gesellschaftlicher und journalistischer Natur, die zum Teil wiederum in einem engen Zusammenhang mit Politik und Politikberatung stehen (Beck/Nardmann 2021; Bogner/Menz 2021).

1.4 Veränderung von Forschungsthemen und -ressourcen Ein weiterer Aspekt, der hinsichtlich seines Umfangs und seiner Geschwindigkeit ebenfalls ein Novum darstellt, betrifft die Verände­ rung beziehungsweise Umlenkung von Forschungsressourcen und Forschungsschwerpunkten in Richtung der coronabezogenen For­ schung.9 Bereits wenige Monate nach Beginn der Pandemie skizziert Elizabeth Gibney in einer Nature-Artikelserie zu »Science after the Pandemic« diese Entwicklung im Rahmen von Interviews mit For­ schenden wie folgt: Eine Umlenkung der Mittel aus anderen Bereichen bedeutet für die coronabezogene Forschung natürlich eine Aufstockung, wobei in vielen Fällen zudem auch kurzfristig zusätzliche Mittel bereitgestellt und somit nicht umgelenkt, sondern zusätzlich in die Forschungsförderung investiert wurden. 9

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Around the world, thousands of scientists have quickly pivoted to researching COVID-19, or using their equipment to run diagnostic tests. If enough researchers embrace this change, it could prompt a vast shift in the scientific landscape. But if the virus remains and continues to suck up government money, that could create a »black hole« that pulls in researchers who have focused on other diseases, or who work outside the life sciences altogether, says Jones. Blue-skies research could lose out, in particular, which would squeeze the pipeline of sci­ ence for decades, says Stephan. Even before the pandemic, funding agencies were veering away from risky and abstract research, she says. »This may push the balance even further.« (Gibney 2020)

Dieser Ausschnitt verweist gleich auf mehrere Veränderungen, die sich mit Beginn der Pandemie hinsichtlich des Wissenschaftsbetriebs beobachten ließen: Erstens wurden – zumindest kurzfristig – massiv Forschungsressourcen aus anderen Bereichen abgezogen und umge­ lenkt, da viele WissenschaftlerInnen und Labore auf den Bedarf reagierten, in kürzester Zeit Antworten auf offene Fragen zum Virus, seinen gesundheitlichen Folgen, Prävention, Impfungen und vielem mehr zu finden. Oft wurden dafür die eigentlichen Arbeitsbereiche – zumindest vorübergehend – verlassen oder nur noch in geringe­ rem Umfang betrieben, sodass die Arbeitskraft, die in andere Wis­ senschaftsbereiche floss, teils deutlich reduziert wurde. Dies hängt, zweitens, auch mit starken Anreizen durch kurzfristig aufgelegte und finanziell umfassende Förderprogramme von Staaten und For­ schungsförderinstitutionen zusammen. Gibney verweist – allerdings ohne Angabe spezifischer Gründe – auf die Sorge, dass dieser starke monetäre Anreiz auch langfristige Auswirkungen auf die Lenkung von Forschung haben und etwa zu einer Vernachlässigung von Grund­ lagenforschung oder zu geringeren Anreizen für besonders riskante Ansätze abseits des Forschungsmainstreams führen könnte.

2. Beschleunigung mit Verlusten? Eine wissenschaftsphilosophische Einordnung von »Fast Science« Wie bereits zu Beginn des Beitrags geschildert, handelt es sich bei vie­ len der im ersten Abschnitt beschriebenen Beschleunigungsformen und -ebenen um Phänomene, die sich bereits seit mehreren Jahrzehn­

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ten als Entwicklungstendenzen in der Wissenschaft abzeichnen und die häufig unter dem Sammelbegriff »Fast Science« zusammengefasst werden.10 Viele dieser Tendenzen entwickelten sich allerdings – zumindest aus der Außenperspektive auf Wissenschaft – langsam und teils kaum bemerkbar (Baylis 2012). Im Kontext der Corona-Pan­ demie haben sich jedoch sowohl die Geschwindigkeit als auch die Sichtbarkeit dieser Entwicklungen stark erhöht, sodass eine bereits zuvor angestoßene Debatte über die möglichen Negativfolgen von »Fast Science« – und über das Gegenmodell einer »Slow Science« (Owens 2013; Berg/Seeber 2016; Stengers 2017; Frith 2020) – gegenwärtig wieder aufgegriffen und weitergeführt wird (Levy et al. 2020; Sarewitz 2020; Leite/Diele-Viegas 2021). Nachfolgend nehmen wir exemplarisch drei Bereiche in den Blick, in denen sich wissenschaftsphilosophisch und erkenntnistheo­ retisch relevante Auswirkungen von »Fast Science« zeigen: Epistemi­ sche Integrität und wissenschaftlicher Dissens, epistemischer Plura­ lismus und Interdisziplinarität sowie den Themenkomplex Scheitern, Misserfolg und Risiko.

2.1 Epistemische Integrität und wissenschaftlicher Dissens Beginnen wir unsere Analyse mit der Frage, in welcher Hinsicht und warum die epistemischen Mechanismen, die im Idealfall zu stabilem oder gesichertem wissenschaftlichem Wissen führen, durch beschleunigte Prozesse innerhalb der Wissenschaft beeinträchtigt werden können. Im Prozess der wissenschaftlichen Erkenntnisbildung werden unter anderem Argumente entwickelt, Daten erzeugt und Hypothe­ sen und Theorien aufgestellt. Abhängig von der jeweiligen Wissen­ schaft werden diese anschließend unter anderem kritisch diskutiert und mit etablierten Theorien verglichen, mit logischen oder statisti­ schen Methoden analysiert oder empirisch getestet. All diese Schritte 10 Neben diesen Formen – diesen Hinweis verdanke ich den Herausgebern dieses Bandes – ist eine weitere erwähnenswert, die zwar ebenfalls nicht völlig neu ist, jedoch im Kontext der Corona-Pandemie in besonders starkem Umfang zu beobachten war und ist: der Versuch, in kurzer Zeit einen wissenschaftlichen Konsens herbeizu­ führen bzw. zu unterstellen und wissenschaftlichen Dissens aktiv zu unterdrücken bzw. als etwas Negatives darzustellen. Zu der integralen Rolle von Dissens für den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess vgl. 2.1 in diesem Beitrag.

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erfolgen zumeist sequentiell und benötigen Zeit – empirische Daten etwa müssen zunächst erhoben, ausgewertet, überprüft und statis­ tisch aufbereitet werden, bevor sie weiteren WissenschaftlerInnen zugänglich gemacht und von diesen wiederum überprüft und hinter­ fragt oder gegebenenfalls bestätigt werden können. In den Geistesund Sozialwissenschaften werden Argumente erprobt, publiziert, diskutiert, anhand von Fallstudien oder Gedankenexperimenten kon­ kretisiert, hinterfragt und mit anderen Ansätzen verglichen. Der Aspekt der sorgfältigen Prüfung von neuen Hypothesen, Theorien, Argumenten oder Daten durch andere WissenschaftlerIn­ nen sowie deren ausführliche Diskussion in der »scientific commu­ nity« sind für das Entstehen von wissenschaftlichem Wissen von großer Bedeutung, da sie darauf zielen, neue Ansätze aus unterschied­ lichen, oft auch fachübergreifenden Perspektiven zu hinterfragen und eingehend zu testen. Im Gegensatz zu einem zuweilen durch vereinfa­ chende und einseitige Darstellungen wissenschaftlicher Durchbrüche, »Geniestreiche« oder vermeintlich spontaner Erfolge kursierenden Zerrbild von Wissenschaft und dem Prozess ihrer Erkenntnisgewin­ nung (Jungert/Schuol 2022, 14-16) ist der Regelfall von Wissenschaft daher ein anderer: Science, after all, does not reach reliable results because scientists have uncovered some magical method for finding the truth on the first pass. Science reaches reliable results because scientific claims are usually subjected to intense scrutiny – a stress testing of the concepts, data, and methods over an extended period of time – by members of rival research programs. Most scientific claims are flawed. But the process of mutual criticism eventually weeds out these flawed claims, leaving behind a much more reliable body of knowledge than could possibly be produced on the first pass. (Schliesser/Winsberg 2020)

Schliesser und Winsberg führen hier einen zentralen Faktor für die Erkenntnisgenese und Qualitätssicherung in der Wissenschaft an: den »Stresstest« für neue wissenschaftliche Ansätze, Daten, Argu­ mente oder Theorien in Form einer intensiven kritischen Überprüfung durch die wissenschaftliche Gemeinschaft und insbesondere durch die VertreterInnen anderer, konkurrierender Forschungsprogramme. Für letztere kann eine Zurückweisung oder Widerlegung dieser neuen Ansätze auch eine Stärkung des eigenen Forschungsparadigmas dar­ stellen, was als zusätzliche Motivation neben die zumeist als gene­ relle wissenschaftliche Mitwirkungspflicht begriffene Beteiligung an Review-, Begutachtungs- und Qualitätssicherungsprozessen tritt. Die

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intensive Überprüfung (»intense scrutiny«), die solchen »Stresstests« zugrunde liegt, benötigt entsprechend Zeit. Die zu überprüfenden neuen Annahmen müssen zunächst an eine breite wissenschaftliche Gemeinschaft gelangen, danach von dieser nachvollzogen, gegebe­ nenfalls empirisch getestet, reproduziert, diskutiert und vergleichend analysiert werden. Je nach Disziplin oder Disziplinenkonstellation können sich die »Orte«, an denen sich diese Prozesse vollziehen, unterscheiden: Wichtige Beispiele sind Konferenzen und Tagungen, Publikationen und das vorangeschaltete Peer Review oder auch spe­ zifische Workshops, Lab Meetings, inter- und transdisziplinäre For­ schungs- und Diskussionsformate und Arbeits(-gruppen)gespräche. Allerdings wird bei der Betrachtung dieser Prozesse und ihrer Spielar­ ten klar, dass grundsätzlich auch Beschleunigungsoptionen bestehen, die per se keine epistemisch negativen Auswirkungen auf die Entste­ hung wissenschaftlichen Wissens haben: Wenn etwa die Durchlauf­ zeiten für das Peer Review durch verbesserte Organisationsabläufe auf Seiten der Journals verkürzt werden, ohne im Gegenzug dessen inhaltliche Qualität zu senken, so zählt dies ebenso zu begrüßens­ werten Beschleunigungsformen, wie auch das schnellere Einbeziehen von größeren Teilen der wissenschaftlichen Gemeinschaft in Diskus­ sions- und Evaluierungsprozesse durch digitale Technologien und Online-Formate oder Open Science (Allen/Mehler 2019; Ciriminna et al. 2021). Potentiell problematisch werden Beschleunigungsprozesse jedoch dann, wenn sie in die epistemische Integrität des oben geschil­ derten Prozesses eingreifen. Dies kann beispielweise der Fall sein, wenn die schnelle Publikation von (potentiell) neuen wissenschaftli­ chen Erkenntnissen dazu führt, dass ein lückenhaftes oder zu ober­ flächliches Peer Review stattfindet oder nicht hinreichend kompetente Reviewer ausgewählt werden. Dadurch können etwa handwerkliche Fehler oder Ungenauigkeiten in der Erzeugung oder Interpretation von Daten nicht oder erst spät erkannt und/oder nicht oder verspä­ tet an die betreffenden AutorInnen kommuniziert und durch diese korrigiert werden. In solchen Fällen können unberechtigte Schlussfol­ gerungen, unvollständige Daten oder in ihrer logischen Struktur feh­ lerhafte Argumentationen sowohl in den wissenschaftlichen Diskurs als auch – wie im Falle vieler Preprints im Rahmen der COVID-19Forschung (Khatter et al. 2021; Tentolouris et al. 2021) – an eine breitere Öffentlichkeit und in den (wissenschafts-)politischen Diskurs gelangen. Häufen sich solche Fälle oder werden Einzelfälle stark in

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den Fokus gerückt, ist das ein möglicher Auslöser oder Verstärker von Wissenschaftsskeptizismus, Wissenschaftskritik und Vertrauensver­ lust. Ein weiteres Problem ist das unberechtigte »Vorgaukeln« von wissenschaftlichen Qualitätsstandards: Levy (2018) schildert das eindrückliche Beispiel der Elsevier-Verlagsgruppe, die gemeinsam mit mehreren Pharmafirmen vermeintlich wissenschaftliche Journale konzipierte, welche vorgaben, nach den üblichen Standards der wis­ senschaftlichen Qualitätssicherung zu arbeiten, in Wirklichkeit aber das Ziel hatten »to produce publications mimicking peer-reviewed journals in the interest of promoting the companies’ commercial products [..]. The companies hoped to leverage the prestige of Elsevier with these fake journals to endow their promotional ›research‹ with an air of reliability« (Levy 2018, 128). Als diese Täuschung offengelegt wurde, hatte dies negative Auswirkungen auf die Glaubwürdigkeit der Publikationen und Prüfprozesse des Verlages, die auch über den betroffenen Verlag hinaus zu allgemeinen Zweifeln und zu Kritik am wissenschaftlichen Qualitätssicherungssystem führten (Levy 2018, 128). Auch solche Verstöße gegen Standards – Levy spricht mit Blick auf deren Folgen von »epistemically polluted environments« (Levy 2018, 123) – können demnach das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Zuverlässigkeit und Unabhängigkeit wissenschaftlicher Ergebnisse und Publikationen mindern. Hinzu kommt, dass insbesondere durch rasch verbreitete, aber noch ungeprüfte Preprints weitere Negativaspekte von »Fast Science« zum Vorschein kommen: Preprint-Server können als Publikations­ plattformen dazu verleiten, durch eine Kombination aus aufmerk­ samkeitsheischenden Titeln und eine auf schnelle Verbreitung in sozialen Medien abzielende Aufbereitung zu einer Form von »click­ bait science« (Heimstädt 2020) zu werden, die wiederum nur ein schmaler Grat davon trennt, als eine Grundlage für Fake News, Verschwörungsideologien und Desinformationskampagnen genutzt zu werden (King 2020; Heimstädt 2020). Kommen wir noch einmal zurück auf die Feststellung von Schliesser und Winsberg, dass wissenschaftlicher Fortschritt und Erkenntnisgewinn eben gerade nicht auf einer »magical method for finding the truth on the first pass« (Schliesser/Winsberg 2020) beruhen. Dies ist auch mit Blick auf Wissenschaftskommunikation und -vermittlung essentiell, weil in der öffentlichen Diskussion häu­ fig der Eindruck entsteht, die Wissenschaft müsse lediglich einen

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etablierten Werkzeugkasten auf neue Probleme anwenden, welche dann damit routiniert, rasch, verlässlich und auf Dauer gelöst werden können. Entgegen diesem verzerrten Eindruck handelt es sich bei wis­ senschaftlicher Erkenntnisgewinnung jedoch um einen Prozess, der notwendigerweise Zeit in Anspruch nimmt. Wechselseitige Kritik, Korrekturen und Dissens spielen eine wesentliche Rolle dabei, neue Aussagen und Annahmen zu prüfen, Fehler zu korrigieren und auf produktiven Umwegen und gegebenenfalls in mehreren Wiederho­ lungsschleifen durch Reproduktion und Verfeinerung schließlich zu neuem, gut gesichertem Wissen zu gelangen. In der Wissenschafts­ philosophie werden einige dieser Aspekte gegenwärtig – auch vor dem Hintergrund der sog. »Replikationskrise« in der Psychologie und (Bio-)Medizin (Ioannidis 2005; Button et al. 2013; Shrout/Rodgers 2018) – unter dem Begriff der »scientific self-correction« diskutiert: Another pressing set of philosophical questions triggered by the rep­ licability crisis concerns the topic of scientific self-correction. For an important tradition in philosophy, science has an epistemically privileged position not because it gives us truth right away but because in the long run it corrects its errors (Peirce, 1901/1958; Reichenbach, 1938). Authors call this idea the self-corrective thesis (SCT) (Laudan, 1981; Mayo, 2005). (Romero 2019, 6)

In der Forschungsdebatte zu SCT wird kontrovers diskutiert, ob und gegebenenfalls in welcher Spielart und in welchem Umfang diese These zutrifft (Ioannidis 2012; Romero 2016; Peterson/Panofsky 2021). Insbesondere ist strittig, wodurch die Selbstkorrektur der Wissenschaft stattfindet. Die klassische Antwort, dass diese vor allem durch das Peer Review und durch Replikationsstudien geschehe, wird von einigen AutorInnen in Frage gestellt – etwa auf der Grundlage von Studien, die nahelegen, dass im Prozess des Peer Review vor einer wissenschaftlichen Publikation ein Großteil der Fehler nicht entdeckt wird und daher auch nicht korrigiert werden kann (Schroter et al. 2008). Einen aktuellen Vorschlag, an welchen alternativen Stellen im Prozess der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung und durch wel­ che Mechanismen die Selbstkorrektur von Wissenschaft tatsächlich erfolgen kann, machen die Sozial- und KognitionspsychologInnen Simine Vazire und Alexander Holcombe: The usual processes that supposedly provide mechanisms for scientific self-correction, such as journal-based peer review and institutional

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committees, have been inadequate. We describe more verifiable indic­ ators of a field’s commitment to self-correction. These fall under the broad headings of 1) transparency, which is already the subject of many reform efforts and 2) critical appraisal, which has received less attention and which we focus on here. (Vazire/Holcombe 2022, 212)

Unter »Transparenz« (»transparency«) fallen einerseits einige der häufig unter dem Schlagwort »Open Science« zusammengefassten Aspekte, etwa die freie und einfache Zugänglichkeit von Daten und die Offenlegung und Nachvollziehbarkeit von Methoden oder Materia­ lien (Vazire/Holcombe 2022, 215). Hinzu kommen Faktoren wie die Prä-Registrierung von Studien, die Vorabprüfung der methodischen Validität von Publikationen durch sogenannte »registered reports« oder niedrige Eintrittsbarrieren für den betreffenden Wissenschafts­ bereich (Vazire/Holcombe 2022, 215). Die umfängliche Umsetzung dieser Transparenzkriterien hätte in unterschiedlichem Maße Auswir­ kungen auf die Geschwindigkeit von wissenschaftlicher Forschung: Während die Open-Science-Elemente im Falle einer strukturell in das Wissenschaftssystem integrierten Lösung nur einen geringen zeitlichen Mehraufwand mit sich bringen dürften, könnte beispiels­ weise die Verpflichtung zu einem mehrstufigen Publikationsprozess mit »registered reports« zu einer Verlängerung von Forschungs- und Publikationsprozessen führen. Stärker wären mögliche Auswirkungen auf das Tempo und die Organisation von Forschung allerdings im zweiten Bereich der von den AutorInnen vorgeschlagenen Kriterien für eine funktionierende Selbstkorrektur in der Wissenschaft, der »kritischen Beurteilung« (»critical appraisal«). Unter diesen Sammelbegriff fallen etwa Sys­ teme zur automatisierten Erkennung von Fehlern in Daten oder in anderen Bestandteilen eingereichter Publikationen, Reproduzierbar­ keits- und Replizierbarkeitsprüfungen, das Suchen und Korrigieren von impliziten Vorurteilen und kognitiven Verzerrungen (»biases«) oder die Implementierung eines hohen Grades an Diversität in der Forschung (Vazire/Holcombe 2022, 215). Betrachten wir exempla­ risch den letzten Aspekt, die Verankerung von Diversität auf ver­ schiedenen Ebenen, der zugleich in einem engen Zusammenhang mit der Vermeidung von Vorurteilen und Verzerrungen steht. Ein zentrales Ziel der Erhöhung von Diversität besteht in den angenom­ menen positiven Effekten auf die epistemische Integrität von Wis­ senschaft, indem durch das Aufeinandertreffen möglichst vielfältiger Ansätze, Vorannahmen, Erfahrungen oder Forscherpersönlichkeiten

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ein Umfeld geschaffen wird, das die Wahrscheinlichkeit erhöht, indi­ viduelle Fehlannahmen, festgefahrene Denkweisen oder implizite Vorurteile und Verzerrungen durch Kontrastierungen und Verglei­ chen diverser Positionen zu erkennen und zu überwinden. In ähnli­ cher Weise sieht die Wissenschaftshistorikerin Naomi Oreskes einen Zusammenhang zwischen Diversität und wissenschaftlicher Objekti­ vität: The greater the diversity and openness of a community and the stronger its protocols for supporting free and open debate, the greater the degree of objectivity it may be able to achieve as individual biases and background assumptions are »outed,« as it were, by the commu­ nity. Put another way: objectivity is likely to be maximized when there are recognized and robust avenues for criticism, such as peer review, when the community is open, non-defensive, and responsive to criticism, and when the community is sufficiently diverse that a broad range of views can be developed, heard, and appropriately considered. (Oreskes 2021, 53)

Folgt man Oreskes’ Einschätzung, so scheint es naheliegend, dass der Aufbau und Betrieb einer in diesem Sinne kritischen Infrastruktur für die Wissenschaft – die Wissenschaftsphilosophin Helen Longino bezeichnet das angestrebte Ideal als »collective give-and-take of critical discussion« (Longino 1990, 79) – ebenso Zeit benötigt wie die Auswahl und Zusammensetzung möglichst diverser ForscherIn­ nen-Teams und das Ausbalancieren der in solchen Teams generier­ ten Ansätze. Die Zeit, die in solche Prozesse investiert wird, dient dabei einem eminent wichtigen Ziel: der Stärkung der epistemischen Robustheit von wissenschaftlichen Aussagen und Ergebnissen und der Erhöhung des Grades an Objektivität, der nach dem Ansatz von Longino stark abhängig ist von »depth and scope of the transformative interrogation that occurs in any given scientific community« (Longino 1990, 79). Mit Blick auf »Fast Science« bedeutet dies, dass die Prozesse und Mechanismen, die der Erhöhung von epistemischer Robustheit und Objektivität dienen, dafür zu sprechen scheinen, dass der »default mode« von Wissenschaft zumindest tendenziell eher der eines Mara­ thons statt der eines Sprints ist. Dennoch kann es gute Gründe dafür geben, temporär von diesem Ideal abzusehen – etwa, wenn wie im Fall der Pandemie akuter Zeitdruck mit Blick auf lebensentscheidende und potentiell lebensrettende Forschung mit klinischer Relevanz besteht. In solchen Fällen ist ein Wechseln zwischen »Slow Science« und »Fast Science« bzw. ein paralleles Bestehen beider Formen – abhängig

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von Forschungsthemen, Disziplinen und gesellschaftlichen Bedarfen und Rahmenbedingungen – eine pragmatische Option, wie Leite und Diele-Viegas etwa ein Jahr nach Beginn der Pandemie konstatie­ ren: »We agree that some science cannot and should not be rushed [..], but COVID-19 has also taught us that some science cannot and should not be slowed. During the pandemic, the assumption that one speed fits all, whether fast or slow, is revealed to be more hurtful than helpful« (Leite/Diele-Viegas 2021). Dass ein solches Vorgehen, wie Leite und Diele-Vargas es vorschlagen, in bestimmten Situationen geboten sein kann, heißt aber freilich nicht, dass dabei keine episte­ misch problematischen »Trade-Offs« eingegangen werden. Vielmehr würden die durchaus vorhandenen Probleme – etwa die Inkaufnahme mangelnder Gründlichkeit – nach Abwägung gegen die situativen Vorteile – bspw. schnelleren Zugriff auf neue Daten und Erkenntnisse – in solchen Konstellationen gesehen, aber hingenommen.

2.2 Epistemischer Pluralismus und Interdisziplinarität Nach dieser Analyse der Auswirkungen von »Fast Science« auf die epistemische Integrität und den wissenschaftlichen Dissens nehmen wir zwei weitere Aspekte des wissenschaftlichen Erkenntnisgewin­ nungsprozesses in den Blick, die durch »Fast Science« beeinflusst werden können: Epistemischen Pluralismus und Interdisziplinarität – in welchem Verhältnis stehen sie zur Beschleunigung von Wissen­ schaft und inwiefern werden sie von ihr tangiert? Beginnen wir mit dem epistemischen Pluralismus. Der Begriff bezeichnet die Integration mehrerer unterschiedlicher Methoden, Ansätze oder Fachperspektiven bei der Analyse von erkenntnisbezo­ genen Fragestellungen.11 Die Corona-Pandemie eignet sich auch hier gut, um das Konzept und seine Implikationen im Kontext beschleu­ nigter Wissenschaft zu explizieren. Die Wissenschaftsphilosophen Simon Lohse und Karim Bschir skizzieren die Rolle von beziehungs­ weise den Umgang mit epistemischem Pluralismus im Rahmen der Frühphase der Pandemie wie folgt12: 11 Für einen umfassenden Überblick zum Konzept und Begriff des »epistemic plura­ lism« vgl. Coliva/Pedersen (2017). 12 Vgl. zu ähnlichen Überlegungen auch den Beitrag von Bschir, Knobloch und Lohse in diesem Band.

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Die beiden wichtigsten Typen von Kritik an der Rolle der Wissen­ schaft in der COVID-19-Pandemie […] haben eines gemeinsam: Sie äußern Besorgnis über einen unzureichenden epistemischen Pluralis­ mus bei den gesundheitspolitischen Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie. […] Die erste bezieht sich darauf, dass das Regierungshandeln hauptsächlich davon bestimmt ist, wie sich die Zahlen der COVID-19-Fälle und -Toten in der Bevölkerung entwi­ ckeln – auf Kosten anderer problematischer Aspekte der Situation. […] In Deutschland beklagten Fachleute während des ersten Teillock­ downs im Frühjahr 2020, dass man insbesondere sozialpolitische Aspekte der Situation vernachlässige und beispielsweise die Gefah­ ren der häuslichen Gewalt und der sozialen Ungleichheit im Home Schooling nicht oder nur unzureichend in politische Entscheidungs­ prozesse einbeziehe […] Die zweite Kritiklinie problematisiert epide­ miologische Modellierungen und ihre zentrale Rolle für politische Entscheidungen. Die Regierungen hätten sich, so der Einwand, viel zu sehr auf epidemiologische Prognosen verlassen, obwohl selbst ausgefeilte Computermodelle große Unsicherheiten und mathemati­ sche Vereinfachungen enthalten würden […]. Modellierungen bilden mögliche Szenarien ab, allerdings beruhen sie zwangsläufig auf Voran­ nahmen und Schätzungen bestimmter Parameter. Die Unklarheiten und Ungenauigkeiten der Ausgangsbedingungen gehen in die von den Modellen erstellten Prognosen ein […]. Unter bestimmten Umständen sind die Prognosen solcher Modelle vollkommen unbrauchbar. […] Demzufolge hätte die Politik nur scheinbar exakte Projektionen über die Pandemieentwicklung und die Auswirkungen bestimmter Maß­ nahmen der öffentlichen Gesundheitspolitik als Entscheidungsgrund­ lage herangezogen, während sie anderen Daten und Informationen nicht genügend Aufmerksamkeit schenkte, insbesondere sozialwissen­ schaftlichen Erkenntnissen zu den je unterschiedlichen Folgen der politischen Strategien in verschiedenen sozioökonomischen Bereichen der Gesellschaft. (Lohse/Bschir 2021)

Welche Zusammenhänge lassen sich mit Blick auf die beiden geschil­ derten Kritiklinien hinsichtlich »Fast Science« erkennen? Bei der ersten Kritiklinie, dem Vorwurf der einseitig-selektiven Beachtung einiger weniger Disziplinen und der gleichzeitigen Vernachlässigung anderer Disziplinen kann man zunächst den Eindruck gewinnen, dass das Problem hier hauptsächlich in der voreiligen und einsei­ tigen Selektion bestimmter wissenschaftlicher Erkenntnisse durch politische AkteurInnen besteht. Auffällig ist allerdings, dass die hier scheinbar »bevorzugten« Disziplinen zum einen Eigenschaften wie (mutmaßliche) klinische und gesundheitspräventive Relevanz auf­

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weisen, zum anderen aber auch zu denjenigen Disziplinen gehören, in denen die Beschleunigung von Forschung und Publikationstätig­ keit in besonders hohem Maße möglich ist und umgesetzt wurde (allerdings mit den oben genannten potentiellen Problemen bezüglich der wissenschaftlichen Qualitätssicherung und epistemischen Inte­ grität). Diejenigen Disziplinen aber, insbesondere aus den Geistesund Sozialwissenschaften, in denen in der Regel andere, zeitaufwän­ dige diskursive, vergleichende und kritische Prozesse der Veröffent­ lichung von Publikationen und der öffentlichen Vorstellung und Verteidigung neuer Ansätze vorgeschaltet sind, können aufgrund eben dieser Mechanismen nicht in vergleichbar kurzer Zeit neue, spezifische Erkenntnisse produzieren.13 Dies bedeutet jedoch nicht, dass ExpertInnen aus diesen Disziplinen nicht wesentlich umfang­ reicher und frühzeitiger angehört und in wissenschafts- wie auch gesellschaftspolitische Prozesse hätten einbezogen werden sollen. Es zeigt lediglich, dass die Erwartung, dass alle wissenschaftlichen Dis­ ziplinen gleichermaßen schnell »liefern« können müssen, aufgrund der oben diskutierten starken Unterschiede in der Art und Weise des Erkenntnisgewinnungsprozesses – und zumindest zum Teil daran gekoppelt auch in dessen Geschwindigkeit – nicht angemessen und realistisch ist. An dieser Stelle ein kurzer Exkurs zur Rolle der Wissenschafts­ philosophie in der Corona-Pandemie: Ihr, wie auch weiteren Geistesund Sozialwissenschaften, wurde in der Pandemie vorgeworfen, sich kaum und nicht schnell genug in wissenschaftliche und gesellschaft­ liche Debatten einzubringen und im oben genannten Sinne nicht zu »liefern«. Der Wissenschaftsphilosoph Jacob Stegenga hat diesbe­ züglich die Ergebnisse einer online geführten Debatte mit weiteren WissenschaftsphilosophInnen wie folgt auf den Punkt gebracht: One argument that was raised in favour of reticence, or at least to explain our discipline’s degree of silence about the relevant science and policy response thus far, is that philosophers tend to be good at debat­ ing issues that require a long time to clarify. […] The deep questions we tend to address require cautious and often slow scholarship. […] 13 Zudem ist in den Geistes- und Sozialwissenschaften schon alleine die Frage, was in diesen Disziplinen neue und spezifische Erkenntnisse sind und anhand welcher Kriterien Erkenntnisse als neuartig, originell, innovativ oder wichtig beurteilt werden, schwierig und in der Regel nicht einfach durch den Hinweis auf erstmals erzeugte Daten zu beantworten.

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We are typically good at dealing with settled science rather than with developing science. (Stegenga 2020)

Stegenga nennt also zunächst den bereits oben angesprochenen Punkt, dass die Wissenschaftsphilosophie als Geisteswissenschaft aufgrund ihrer Methoden, Fragestellungen und Diskursmodi mehr Zeit benötigt als manche empirische Wissenschaft – und daher häufig nicht kurzfristig auf akute wissenschaftliche Debatten zu reagieren vermag.14 Hinzu kommt aber, dass die Wissenschaftsphilosophie es gewohnt ist, in der Rückschau auf – zumeist länger zurücklie­ gende und länger andauernde – wissenschaftliche Entwicklungen deren epistemische Potentiale und Problematiken zu rekonstruieren, wohingegen die Echtzeitanalyse gegenwärtiger Wissenschaft bis dato kaum zu den Aufgaben gehörte, für die man sich zuständig und/oder methodisch gewappnet fühlte. Kommen wir nach diesem Exkurs zurück zum Beitrag von Lohse und Bschir: Mit Blick auf die zweite von ihnen skizzierte Kritikli­ nie – die zentrale Rolle epidemiologischer Modellierungen für die politische Entscheidungsfindung – scheinen die Zusammenhänge mit »Fast Science« weniger stark – im Vordergrund stehen hier das zu einseitige Sich-Verlassen auf solche Modellierungen und teils falsche oder zumindest unvollständige Einschätzungen bezüglich ihrer Validität und Aussagekraft. Allerdings sind auch mit Blick auf epidemiologische Modellierungen und Simulationen – insbesondere in der Frühphase der Pandemie – in manchen Fällen negative Auswir­ kungen von stark beschleunigter Forschung beobachtet worden – etwa fehlendes oder unzureichendes Peer Review, der Mangel an anderwei­ tigen Prüfinstanzen, Biases oder Fehler und Ungenauigkeiten bei der Datenerzeugung und/oder -auswertung (Klingwort/Schnell 2020; Wolkewitz et al. 2020; Accorsi et al. 2021; Kodvanj et al. 2022). Kommen wir zum zweiten Aspekt, dem Zusammenhang zwi­ schen »Fast Science« und Interdisziplinarität. Seit Jahrzehnten gehört »Interdisziplinarität« zu den großen Schlagworten und Forderungen in Wissenschaft und Wissenschaftspolitik und zugleich zu denjenigen Dazu zwei Anmerkungen: Zum einen könnte man einwenden, dass ein zeitnahes Reagieren auf akute gesellschaftliche Fragen gar nicht zu den Aufgaben der (Wis­ senschafts-)Philosophie gehört, sondern sie als Reflexions- oder Metawissenschaft andere (Primär-)Aufgaben hat. Zum anderen lassen sich, wenn auch nicht besonders zahlreich, auch im Kontext der Corona-Pandemie Beispiele für sehr schnelle philoso­ phische Reaktionen und Publikationen finden (etwa Mukerji/Mannino 2020 oder Keil/Jaster 2021). 14

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Konzepten, bei denen Verwendungshäufigkeit und theoretisches Ver­ ständnis in einem eklatanten Missverhältnis stehen (Jungert 2010). Davon abgesehen, dass die Frage offen und berechtigt ist, in welchen Fällen und in welchem Umfang Interdisziplinarität in der Wissen­ schaft sinnvoll und möglich ist (Jacobs/Frickel 2009; Graff 2016), scheint es naheliegend, dass interdisziplinäre Forschung in der Regel zusätzliche zeitliche Ressourcen erfordert, wie etwa Leahey auf der Basis von Interviews mit Nachwuchswissenschaftlern feststellt: Most (78 %) of our scholars had similar experiences and indicated that their interdisciplinary work required more time to conduct. Read­ ing and learning new material from another discipline is more difficult, as indicated above, but these challenges are amplified when they com­ pete with existing professional obligations. (Leahey 2018)

Zum einen erfordert es viel Zeit, sich fundiert in die Wissensbe­ stände, Methoden und kognitiven Modi anderer Fächer einzuarbeiten (MacLeod 2018), was jedoch eine fundamentale Grundlage für gelin­ gende Interdisziplinarität darstellt – ebenso wie das Erlernen diszipli­ närer »Sprachspiele« und das Finden einer gemeinsamen Sprache in interdisziplinären Projekten (Janich/Zakharova 2014). Zum anderen treffen diese Anforderungen von Interdisziplinarität häufig auf die konträren Anforderungen einzelner Disziplinen: frühzeitige Spezia­ lisierung, disziplinärer Karrieredruck und strikte zeitliche Vorgaben für Forschungsprojekte und Karriereschritte. An diesem Punkt wird auch deutlich, inwiefern »Fast Science« und Interdisziplinarität in einem Spannungsverhältnis stehen, da erstere zumindest tendenziell mit einer disziplinären Engführung in wissenschaftlicher Ausbildung und Forschung, mit dem Fokussieren auf bestimmte Forschungspa­ radigmen und dem Anspruch auf eine schnelle Verwertbarkeit von Forschungsergebnissen verbunden ist (Frith 2020; Stengers 2017, 23-82). Interdisziplinäre Forschung ist aus Sicht dieser Auffassung von »Fast Science« daher in der Regel keine erstrebenswerte Option, da sie von den eng gefassten Forschungsschwerpunkten abweicht, Zeit und Ressourcen benötigt und in der Regel nicht karriere- oder prestigeförderlich ist. Auch die zunehmend kürzeren und durchgetak­ teten Tagungen und Workshops, die eine weitere Ausprägung von »Fast Science« darstellen, haben mit Blick auf interdisziplinäres Ver­ ständnis und fachübergreifenden Forschungsdialog negative Folgen.

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2.3 Scheitern, Misserfolg und Risiko Nehmen wir abschließend noch kurz eine weitere Eigenschaft von »Fast Science« in den Blick: das weitestgehende Ausblenden von wis­ senschaftlichem Irrtum, Scheitern und Misserfolg sowie das häufige Vermeiden von »riskanter« Forschung. Wie bis hierher klar geworden ist, zielt »Fast Science« in einem starken Maße auf die rasche Pro­ duktion von verwertbarem, anwendbarem Wissen. Dies hat Folgen auf unterschiedlichen Ebenen der Wissenschaftsorganisation und Erkenntnisproduktion: kurze Projektzeiten, Aufteilen von Ergebnis­ sen in »smallest publishable units« (auch bekannt unter dem Begriff des »salami slicing«; Norman/Griffiths 2008; Dupps/Randleman 2012; Baker 2020), Fokussierung auf Mainstream-Forschung, hohe Spezialisierungsgrade und vieles mehr. Eine weitere Folge dieser starken Konzentration auf schnellen Output und Verwertbarkeit ist, dass Scheitern und Irrtum bei »Fast Science« in der Regel keinen Platz haben. Sie werden kaum themati­ siert, gescheiterte Experimente oder solche, die keine neuen Erkennt­ nisse hervorbringen, werden nicht publiziert und sind auch keine »Karrierewährung« für WissenschaftlerInnen. Diese Haltung führt zudem dazu, dass sog. »riskante« Forschung zumeist vermieden wird. Gemeint ist damit Forschung, bei der etwa aufgrund der Neuartigkeit von Methoden und Ansätzen unklar ist, ob und gegebenenfalls in welchem Zeitraum sie zu neuen Ergebnissen führt und ob, falls es zu Ergebnissen kommt, diese anwendbar und verwendbar sind. Dazu zählen sowohl neuartige Grundlagenforschung als auch bspw. die Übertragung von etablierten Methoden auf neuartige Gebiete, in denen unsicher ist, ob eine solche Übertragung möglich oder fruchtbar ist. Die damit verbundene Risikoaversion und Tabuisierung von Scheitern und Irrtum in den Wissenschaften ist auch epistemisch problematisch: Zum einen gibt es durch einen starken Fokus auf wissenschaftliche Erfolge und neuartige Erkenntnisse und den damit verbundenen Karrieredruck nur geringe Anreize für zeitaufwändige Replikationsstudien oder Versuche einer kritischen Diskussion und Widerlegung, die jedoch für Qualitätssicherungsprozesse und die Falsifikation neuer Ansätze oder Theorien wichtig sind. Zum anderen wird auf diese Art auch die potentiell produktive Kraft des Scheiterns nicht umfassend genutzt. Denn transparentes und frühzeitig kom­ muniziertes/publiziertes Scheitern kann aus epistemischer Sicht zur »Reparatur« und Verbesserung von Ansätzen und damit zu einem

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späteren epistemischen Erfolg nach einem vorläufigen Scheitern bei­ tragen (Jungert/Schuol 2022, 16-18).

3. Gute Wissenschaft unter Zeitdruck? Ein Fazit Ziel dieses Beitrags war es zunächst, anhand extremer Formen der Beschleunigung von Erkenntnis-, Selbstorganisations- und Kommu­ nikationsprozessen der Wissenschaft im Kontext der Corona-Pande­ mie einen Überblick über wichtige Auswirkungen und Ausprägungs­ grade von »Fast Science« zu bekommen. Während im Bereich der Zunahme von Publikationen und Daten vor allem eine nochmalige massive Steigerung eines bereits vorher vieldiskutierten Aspektes von »Fast Science« zu beobachten ist, hatten andere Phänomene erst mit der Pandemie ihren Durchbruch in der Breite: Dazu gehört die umfängliche Nutzung von vorher wenig beachteten Publikationswe­ gen wie etwa Preprint-Archiven, durch die auch eine größere Debatte über Qualitätssicherungsmechanismen und die Einflüsse von kaum geprüften Vorabveröffentlichungen auf die öffentliche und politische Meinungsbildung angestoßen wurde. Ebenfalls neu war die massive und von heute auf morgen erfolgte Umlenkung von Forschungsres­ sourcen und finanziellen Anreizsystemen, deren längerfristige Aus­ wirkungen sich erst in den kommenden Jahren zeigen werden. Im zweiten Teil wurden, im Anschluss an konkrete Beispiele aus dem ersten Teil, wichtige wissenschaftsphilosophische Aspekte beschleunigter Wissenschaft untersucht. Vorausgeschickt wurde dabei die Feststellung, dass es sich bei »Fast Science« um ein hete­ rogenes Phänomen mit unterschiedlichen Ausprägungsformen und -graden handelt und die Beurteilung von epistemischen Vor- oder Nachteilen stets an den konkreten Kontext und die konkreten Aus­ wirkungen geknüpft werden muss. Als wissenschaftsphilosophisch relevante Auswirkungsbereiche wurden anschließend epistemische Integrität und wissenschaftlicher Dissens, epistemischer Pluralismus und Interdisziplinarität sowie Scheitern, Misserfolg und Risiko unter­ sucht. In allen diesen Bereichen kann »Fast Science« zu negativen Fol­ gen für die Wissenschaft hinsichtlich der epistemischen Robustheit des von ihr erzeugten Wissens, der Öffnung für neue Forschungsan­ sätze und -methoden oder ihrer gesellschaftlichen Glaubwürdigkeit führen. Eine Fortsetzung und Intensivierung der wissenschaftsphilo­ sophischen und erkenntnistheoretischen Forschung zu diesen The­

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men ist daher ein wichtiges Desiderat, das aufgrund der Verwobenheit philosophischer mit sozialwissenschaftlichen, psychologischen und weiteren Aspekten unbedingt auch im Rahmen einer interdiszipli­ nären Wissenschaftsreflexion (Jungert et al. 2020) bearbeitet wer­ den sollte.

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Michael Esfeld & Boris Kotchoubey

Wie die Wissenschaft sich selbst zerstört

1. Einleitung Wissenschaft ist eine Methode, um Wahrheit über die Welt herauszufinden. Als Methode ist sie sehr erfolgreich: Wir verdanken ihr einen enormen Gewinn an Lebensqualität und Lebensverlängerung. Wenn man aber aus dieser Methode ein politisches Programm macht – »follow the science« –, das man zur Steuerung der Gesellschaft einsetzt, dann ersetzt man Wissenschaft durch einen politischen Szientismus, durch den Wissenschaft sich letztlich selbst zerstört. Der politische Szientismus ist in vielen Aspekten analog zum politischen Islamismus: Politischer Islamismus

Politischer Szientismus

1. Der Islam ist nicht nur ein berechtigter und bewährter Ansatz in der Suche des Menschen nach Gott, sondern der Koran beinhaltet – und zwar nicht der Koran im Allgemeinen, sondern so wie er heute von theologischen Autoritäten gedeutet wird – die wesentliche Wahrheit nicht nur über Gott, sondern auch über den Menschen. Jeder, der diese Deutung des Koran in Frage stellt, ist ein Gottesleug­ ner.

1. Die Wissenschaft ist nicht nur der Weg des Menschen in der Suche nach Erkenntnis der Tatsachen, der wir uns mit jedem Schritt ein bisschen annähern, sondern sie enthält in ihrem gegenwärti­ gen Stand die wesentliche Wahrheit nicht nur über die Natur, sondern auch über den Menschen als denkende und han­ delnde Person. Jeder, der einen beste­ henden Expertenkonsens in Frage stellt, ist ein Wissenschaftsleugner.

2. Die vom Konsens der theologischen / wissenschaftlichen Autoritäten erklärte Erkenntnis sagt nicht nur, was ist, sondern auch, was sein soll. Diese Erkenntnis soll deshalb sofort in ein politisches Programm umgesetzt werden und das gesamte Verhalten der Menschen in der Gesellschaft steuern.

Die These, dass wir gegenwärtig einen politischen Szientismus erleben, der im Grunde genommen Anti-Wissenschaft ist, möchten wir in diesem Artikel anhand der Weise begründen, wie die Corona-Politik durch angebliche Wissenschaft legitimiert wird. Abschnitt 2 beleuch­ tet den wissenschaftshistorischen Hintergrund in Form des Gegen­ satzes zwischen platonischem und naturwissenschaftlichem Wissen.

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Michael Esfeld & Boris Kotchoubey

Abschnitt 3 zeigt den Mechanismus auf, durch den naturwissenschaft­ liches Wissen normative Ansprüche zur Steuerung der Gesellschaft erlangen kann. In Abschnitt 4 diskutieren wir anhand der Eugenik ein einschlägiges Beispiel des politischen Szientismus. Abschnitt 5 zeigt, wie im Namen von Wissenschaft tatsächlich das Gegenteil von Wissenschaft zur Legimitation der Corona-Politik eingesetzt wird. Der Artikel schließt in Abschnitt 6 mit einer These dazu, was das Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit sein sollte.

2. Platonisches vs. naturwissenschaftliches Wissen Wissenschaft als politisches Programm – »follow the science« – orientiert sich am platonischen Wissensbegriff, gemäß dem wissen­ schaftliches Wissen zur Steuerung der Gesellschaft eingesetzt werden kann und soll. Platon war insbesondere der Auffassung, dass es ein Wissen um das Gute für alle und jeden gibt: die Idee des Guten schlechthin. Diese Erkenntnis ist nur wenigen Menschen zugänglich. Modern ausgedrückt: Diese Erkenntnis ist auf Experten beschränkt. Bestimmte Fähigkeiten und eine bestimmte Ausbildung sind erfor­ derlich, um sie zu erlangen. Die Experten sind für Platon die Philo­ sophen. Damit sind allgemein die Wissenden gemeint: Das können Philosophen, aber auch Theologen oder Wissenschaftler sein. Weil diese Personen ein privilegiertes Wissen haben, sollen sie herrschen bzw. die Herrscher anweisen, wie Platon in seinem Hauptwerk Der Staat darlegt. Das Wissen um das Gute ist so, dass es die Steuerung der Gesellschaft auf dieses Gute hin ermöglicht und erforderlich macht. Diese Steuerung umfasst alle Bereiche des Lebens. Sie reicht so weit, dass sie zum Beispiel auch festlegt, wer wen und wann heiraten darf, um einen optimalen Fortbestand der Gesellschaft sicherzustellen. Karl Popper sieht daher in seinem einflussreichen Werk Die offene Gesellschaft und ihre Feinde (1945, Band 1) Platon als den Begründer totalitärer Herrschaft an. In der Tat ist Platon damit zunächst einmal der Begründer des Szientismus. Das ist die Idee, dass der Gegenstandsbereich wissen­ schaftlichen Wissens unbegrenzt ist und auch alle Aspekte unserer Existenz umfasst. So auch die Moral: Wissenschaft gibt vor, was moralisch geboten ist. Diese Idee führt zu dem politischen Programm, die Gesellschaft gemäß wissenschaftlichen Vorgaben – »follow the science« – zu steuern. Das ist dann der politische Szientismus. Dieses

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Programm ist kollektivistisch, weil eine wissenschaftliche Vorgabe für das allgemein Gute und seine Umsetzung über die Würde und die Rechte der einzelnen Menschen und ihrer sozialen Gemeinschaften wie der Familien gestellt wird. Seine Umsetzung läuft auf einen Totalitarismus hinaus, weil letztlich das gesamte Leben einschließlich der sozialen Kontakte geregelt und überwacht wird. Häufig wird dann nicht nur verbale, sondern schließlich auch physische Gewalt bis zur Vernichtung von Personen eingesetzt, um diese totale Regelung gegen Bedenken und Widerstände durchzusetzen. Für Platon steht hinter diesem politischen Programm ein bestimmter Wissensbegriff. Wissen ist die Erkenntnis von Ideen im Sinne idealer Darstellungen der betreffenden Gegenstände. Der Begriff des Pferdes zum Beispiel ist die Idee des Pferdes. Diese stellt das vollkommene Pferd dar. Die Pferde in Fleisch und Blut haben an dieser Idee teil, insofern sie mehr oder weniger diesem Ideal entspre­ chen. Das heißt: In dem Wissen, das Platon konzipiert, sind Tatsachen und Normen nicht voneinander getrennt. Modern ausgedrückt: Es ist ein fließender Übergang von technisch-naturwissenschaftlichem zu moralisch-normativem Wissen möglich. Das Wissen – jeder Begriff – ist eo ipso eine Norm, auf die hin die vorgefundenen Gegenstände beurteilt werden. Deshalb kann Platon ohne Sprung von der Idee eines Pferdes und dergleichen bis hin zu der Idee des Guten übergehen. Und deshalb ist es für Platon fragwürdig, ob es auch für banale Dinge wie Schlamm und Schmutz Ideen gibt: Wir können auch solche Dinge unter Begriffe bringen; aber der ideale Schlamm und der ideale Schmutz sind offensichtlich keine Norm (siehe Parmenides 130 c-e). Ganz anders ist hingegen die neuzeitliche Naturwissenschaft beschaffen (die ihre Wurzeln ebenfalls in der griechischen Antike und im Christentum hat): Sie ist objektiv, ganz auf den Gegenstand bezogen. Sie sieht von den Bewertungen des Betrachters ab. Ihre Theorien sind so gut es geht so formuliert, dass man von dem eigenen Standpunkt absieht. Das Ideal, das allerdings nicht erreichbar ist, ist der Standpunkt außerhalb von jedem Ort und jeder Zeit, der Standpunkt von nirgendwo und nirgendwann. Gerade darin ist aber der Erfolg der neuzeitlichen Naturwissenschaft begründet: Indem sie die Betrachtungen der Gegenstände von den Bewertungen der Subjekte, welche die Theorien formulieren, abscheidet, stellt sie uns ein Wissen zur Verfügung, das man dann einsetzen kann, um die Welt so zu gestalten, dass man die eigenen Absichten und Bewertun­ gen verwirklicht.

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Die neuzeitliche Naturwissenschaft beruht somit auf der Tren­ nung zwischen dem, was der Fall ist – den Tatsachen –, und dem, was gemäß den Bewertungen von Personen der Fall sein soll – den Normen. Das Wissen, das sie zur Verfügung stellt, kann daher gar kein Wissen sein, aus dem Normen folgen, und schon gar nicht eine Norm wie das allgemein Gute. Das heißt: Das Wissen der modernen Naturwissenschaft kann seinem Wesen nach von sich aus nicht zur Steuerung der Gesellschaft eingesetzt werden. Aus den Theorien der Naturwissenschaften folgt nur technisches Wissen, das uns sagen kann, wie man jeweils ein von außerhalb dieses Wissens stammendes konkretes Ziel verwirklichen kann. So kann Naturwissenschaft uns zum Beispiel technisch über die verschiedenen Energiequellen und die Möglichkeiten ihrer Verwendung informieren. Sie kann jedoch nicht normativ eine Bewertung der Verwendung dieser Energiequellen vor­ nehmen. Dieses technische Wissen ist Expertenwissen auch in dem Sinne, dass es Experten für ein jeweils eng eingegrenztes Gebiet gibt – wie zum Beispiel die Physik der Elementarteilchen, die Chemie der Makromoleküle, die Molekularbiologie von Genen, die Medizin von Viren usw. Aber es gibt keine Experten im Sinne der Philosophen Platons, die ein umfassendes Wissen über alles haben und daher moralisch geeignet sind, die Gesellschaft auf das von ihnen erkannte Gute hin zu steuern. Selbst wenn es Personen mit einem solchen Wissen und einem solchen Status geben könnte, in der neuzeitlichen Naturwissenschaft könnte man sie nicht finden. Richard Feynman (1955, 14f.) beschreibt den Status des natur­ wissenschaftlichen Wissens so: Das wissenschaftliche Wissen ist ein Körper von Aussagen mit ver­ schiedenen Gewissheitsgraden – einige sind sehr unsicher, andere fast sicher, aber keine absolut sicher. Wir Wissenschaftler finden das ganz normal und gehen davon aus, dass es vollkommen konsistent ist, unsicher zu sein – dass es möglich ist zu leben und nicht zu wissen. … Das ist auch die Philosophie, welche die Menschen leitete, die die Demokratie errichteten, in der wir leben. Die Idee, dass niemand wirklich weiß, wie man einen Staat führt, brachte uns auf die Idee, ein System zu errichten, in dem neue Ideen entwickelt und ausprobiert werden können; ein System des Versuchs und Irrtums. … Zweifel und Diskussion sind wesentlich, um Fortschritt im Unbekannten zu erreichen. (eigene Übersetzung)

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Deshalb geht die neuzeitliche Naturwissenschaft mit einem ganz anderen Staatsverständnis einher als die Wissenschaft Platons, die nach der Erkenntnis von Idealtypen sucht – und meint, diese Erkennt­ nis erlangt zu haben. Die neuzeitliche Naturwissenschaft ist unmit­ telbar mit dem republikanischen Rechtsstaat verbunden (der seine Wurzeln ebenfalls in der griechischen Antike und im Christentum hat). Der Rechtsstaat basiert auf Wissen um den Mangel an Wissen: Das wissenschaftliche Wissen beschränkt sich auf Tatsachen. Es gibt kein Wissen über einen allgemein gültigen Lebensinhalt. Dement­ sprechend kann es nicht Aufgabe des Staates sein, einen solchen Lebensinhalt in Kraft zu setzen. Es gibt somit kein Wissen um ein allgemein Gutes, das eine Elite hat und das diese Elite berechtigt, im Staat zu herrschen. Die Bürger treffen die Entscheidungen über die allgemeinen Angelegenheiten gemeinsam. Öffentliche Ämter werden auf Zeit vergeben und unterliegen den Prinzipien der Rotation und Machtbegrenzung. Wenn die Bürger die politischen Entscheidungen in gemeinsa­ mer Beratung treffen, dann kommen ihnen grundlegende Rechte zu. Dazu gehören die Meinungsfreiheit, die Freiheit, untereinander Verträge einschließlich wirtschaftlicher Verträge einzugehen und Eigentum zu erwerben, Freiheit in Forschung und Lehre usw. Die Entscheidungen werden durch Mehrheitsbeschlüsse getroffen. Inso­ fern ist der republikanische Rechtsstaat eine Demokratie. Aber er steht über der Demokratie: Die Grundrechte und die Prinzipien der Rotation und der Begrenzung der Befugnisse von öffentlichen Ämtern darf man nicht durch Mehrheitsbeschlüsse außer Kraft setzen. Der Rechtsstaat braucht die Naturwissenschaft, weil diese eine gemeinsame Basis von Wissen über Tatsachen bereitstellt, die dann jeder individuell für seine Lebensplanung nutzen kann und die als gemeinsamer Referenzpunkt von Tatsachen für die Beratung über die öffentlichen Angelegenheiten zur Verfügung steht. Aufgrund dieser gemeinsamen Basis können dann die verschiedenen politischen Positionen entwickelt werden, zwischen denen man in der Regel schließlich per Mehrheitsbeschluss entscheiden muss. Aber man kann nicht per Mehrheitsbeschluss über die Grundlagen abstimmen wollen, durch die Mehrheitsbeschlüsse ihre Legitimität erhalten. So kann auch die Freiheit der Wissenschaft in Forschung und Lehre nicht Gegenstand eines Mehrheitsbeschlusses sein. Denn diese Freiheit ist erforderlich, um das Wissen über Tatsachen zu beschaf­ fen, auf dessen Grundlage man dann verschiedene politische Hand­

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lungsoptionen formulieren kann, die Gegenstand einer Abstimmung werden. Ebenso wenig können die Menschenwürde und die aus ihr folgenden Grundrechte der Abwehr gegen äußere Eingriffe in die eigene Lebensgestaltung Gegenstand von Mehrheitsbeschlüssen sein. Denn sie sind die Grundlage für den Status von Personen als freie Bürger, die dann an den politischen Entscheidungen in Form von Mehrheitsbeschlüssen partizipieren. Kurz, im Rechtsstaat sind die Grundrechte alternativlos; aber politische Beschlüsse bestehen immer in der Wahl zwischen Alternativen (bzw. einem Kompromiss aus den verschiedenen rationalen Wahlmöglichkeiten). Die neuzeitliche Naturwissenschaft leistet somit zweierlei für den republikanischen Rechtsstaat: Sie stellt positiv eine gemeinsame Basis von Wissen über Tatsachen zur Verfügung; und sie macht nega­ tiv klar, dass es auf Grund der Weise, wie dieses Wissen gewonnen wird, kein mit wissenschaftlichen Methoden etabliertes normatives Wissen gibt, das die Entscheidungen über die persönlichen oder die öffentlichen Angelegenheiten vorgeben kann. Genauso braucht die Wissenschaft den Rechtsstaat: Indem zu den Grundrechten die Freiheit der Wissenschaft in Forschung und Lehre gehört, schafft der Rechtsstaat den Freiraum, in dem sich eine Wissenschaft entwickeln kann, die objektiv auf die Tatsachen gerichtet ist, statt durch vorge­ gebene Normen auf politische Ziele hin gesteuert zu werden. Nur ein Staat, der nicht auf solche Normen ausgerichtet ist, kann der Wissenschaft freien Lauf in der Entdeckung der Tatsachen lassen. Die Parallele zur Geschichte der Religion in der Neuzeit ist offensichtlich: Erst ein säkularer Staat, der nicht auf religiöse Normen ausgerichtet ist und in dieser Hinsicht keine Erkenntnis für sich und seine Funkti­ onsweise in Anspruch nimmt, kann Religionsfreiheit gewähren. Und erst eine Wissenschaft, die sich von Religion gelöst hat, kann objektiv sein und sich auf die Entdeckung von Tatsachen in der Welt richten.

3. Soziale Ingenieurskunst: Die Rückkehr der Platoniker Wissenschaft und Rechtsstaat sind beide ein Versuch, die Ausübung von Macht durch den Einsatz von Vernunft zu begrenzen. In der Wissenschaft zählt nicht Autorität, sondern nur Argument und Evi­ denz. Genau wie der Rechtsstaat nach der Trennung von der Religion einen Rahmen setzt, innerhalb dessen verschiedene Lebensformen und Kulturen friedlich miteinander zusammenleben können, so ist

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auch die Wissenschaft nach der Trennung von der Religion durch Pluralismus gekennzeichnet. Dieser Pluralismus ergibt sich aus dem Ziel, durch Gebrauch von Vernunft Wahrheit über die Tatsachen herauszufinden. Angesichts unserer begrenzten Erkenntnismöglich­ keiten ist institutionalisierte und disziplinierte Skepsis der Weg, Wahrheit aufzudecken: Fortschritt wird dadurch ermöglicht, dass man Erkenntnisansprüche stets einer kritischen Prüfung durch Argument und Experiment unterzieht und miteinander konkurrierende Hypo­ thesen zulässt. Paradoxerweise birgt dieser Fortschritt die Gefahr in sich, diese Methode der institutionalisierten und disziplinierten Skepsis zu unterminieren. Mit dem Erfolg der neuzeitlichen Naturwissenschaf­ ten in der Aufdeckung von Tatsachen und mathematischen Naturge­ setzen, die diese Tatsachen erfassen, stellt sich die Frage, inwieweit diese Naturwissenschaften auch den Menschen zum Gegenstand haben können und ihre Methoden auch auf uns Menschen als Perso­ nen mit Bewusstsein, Vernunft und freiem Willen anwendbar sind. Je erfolgreicher die Naturwissenschaften sind, desto mehr verstärkt sich die Tendenz, ihre Methoden auch in den Geistes- und insbeson­ dere den Sozialwissenschaften anzuwenden. Dem humanistischen Menschenbild, das den Akzent auf die menschliche Freiheit legt, steht dann ein technokratisches Menschenbild gegenüber, gemäß dem auch der Mensch in seinem Denken und Handeln vollumfänglich den Methoden und den Gesetzen der Naturwissenschaft unterworfen ist. Wir haben diesen Zusammenhang in früheren Buchpublikatio­ nen ausführlich und unabhängig voneinander dargelegt (Kotchoubey 2012 und Esfeld 2019). Mit dem technokratischen Menschenbild ziehen die Platoniker wieder in Wissenschaft und Gesellschaft ein. Sie tun das in Gestalt von Experten, die sich aufgrund ihres naturwissenschaftlichen Wis­ sens für befähigt und berechtigt halten, Anweisungen zur Steuerung der Gesellschaft zu geben, und zwar – und das ist der entscheidende Punkt für den Rechtsstaat – Anweisungen, die gegebenenfalls auch über den Grundrechten stehen. Ein klares Beispiel für dieses politische Programm ist das Editorial der einst renommierten Zeitschrift Science vom 26. November 2021 (Pai/Olatunbosun-Alakija 2021): Zunächst soll die gesamte Weltbevölkerung mit regelmäßigen Impfungen gegen das Coronavirus immunisiert werden und dann soll nach dem gleichen Muster die Herausforderung der Klimaerwärmung durch wissenschaftsgeleitete Politik angegangen werden. Diesem Pro­

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gramm liegt ein Menschenbild zugrunde, dem zufolge die Methoden und Gesetze der Naturwissenschaften auch den Menschen als Person vollumfänglich erfassen. Deshalb, so die Annahme, ist es legitim, das Expertenwissen bezüglich dieser Methoden und Gesetze zur Steue­ rung der Menschen einzusetzen. Diese Einstellung ist als soziale Ingenieurskunst (»social engineering«) bekannt. Man übersieht dabei aber, dass die technischen Planer der Gesellschaft für sich mit dem Setzen der Ziele und Wege der Planung eine Freiheit in Anspruch nehmen, die sie den anderen Menschen, deren Lebensbahnen sie pla­ nen, absprechen. Spätestens an dieser Stelle wird die Parallele zu Pla­ tons Philosophenkönigen offensichtlich. Nur haben die heutigen Experten weder das umfassende Wissen noch die moralische Qualität, die Platon den Philosophen zusprach. Wie vor allem Friedrich von Hayek (1952) und Karl Popper (1957) herausgestellt haben, kommt man in den Geistes- und Sozial­ wissenschaften keinen Schritt weit, wenn man nicht berücksichtigt, wie die Personen jeweils die Tatsachen bewerten und wie sie ihr Ver­ halten spontan an die Informationen anpassen, die sie erhalten. Das Leben von Menschen ist keine Bahn physikalischer Objekte, die man in Laborexperimenten gemäß bestimmten Parametern steuern kann – zum Beispiel so steuern kann, dass weniger Begegnungen zwischen diesen Objekten stattfinden und auf diese Weise die Ausbreitung von Viren unter diesen Objekten im Voraus so gesteuert werden kann, dass diese Objekte nicht durch Infektionen zu Schaden kommen. So ein Unterfangen ist schon naturwissenschaftlich unsinnig, weil wir es nicht mit einem begrenzten Laborexperiment mit physikalischen Objekten unter idealen Bedingungen und wenigen, kontrollierbaren Parametern zu tun haben. Wir haben es vielmehr mit einer Realität zu tun, in welcher der Verlauf einer Virenwelle von vielen, nicht kon­ trollierbaren Faktoren beeinflusst wird. Das Verhindern von Schäden hängt vor allem davon ab, wie die Menschen ihr Verhalten spontan anpassen gemäß den verfügbaren Informationen. Diese spontane Verhaltensanpassung kann nicht im Voraus geplant werden. Sie hängt zunächst davon ab, welchen Lebensinhalt die Menschen haben und wie sie Risiken im Hinblick auf diesen Lebensinhalt bewerten; ent­ scheidend ist dann, welche neuen Strategien die Menschen vor diesem Hintergrund entwickeln auf der Grundlage der neuen Informationen, die sie erhalten. Es ist eine Trivialität, dass man, um ein selbstbestimmtes Leben führen zu können, ein gewisses Maß an Gesundheit benötigt. Wenn

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diese bedroht ist, nutzt einem die Freiheit nichts mehr zur Lebensge­ staltung. Deshalb, so die Überlegung, ist die technokratische Steue­ rung der Bewegungen der Menschen in Bezug auf die Erhaltung von deren Gesundheit erforderlich und gerechtfertigt: Diese technokrati­ sche Steuerung gefährdet nicht die Freiheit, sondern ermöglicht erst deren Ausübung. Dies ist jedoch ein Fehlschluss – auch wenn er weit verbreitet ist (ein besonders krasses Beispiel für diesen Fehlschluss ist Habermas 2021). Es gibt kein allgemeines Gut der Gesundheit, auf das hin eine technokratische Steuerung der Gesellschaft möglich wäre. Denn niemand lebt für das Leben allein, sondern für das, was der eigenen Existenz einen Sinn gibt. Um die Lebensziele zu erreichen, geht jeder bestimmte Risiken ein. Diese Lebensziele sind Kraftquelle und stiften damit auch körperliche Gesundheit. Das Problem ist nun, dass es kein einheitliches Lebensziel für alle und keine einheitliche Risikoabwägung für alle gibt. Deshalb scheitert der Versuch einer technokratischen Steuerung der Menschen auf Gesundheit hin als Bedingung für die Ausübung von Freiheit an eben dieser Freiheit, aufgrund derer die Menschen sich verschiedene Lebensziele setzen und Risiken verschieden abwägen. Statt Vorbedingung für Freiheit zu sein, unterminiert diese technokratische Steuerung die Freiheit (siehe dazu aus rechtsphilosophischer Sicht auch Rösinger 2021). Sie bevorzugt immer die Interessen und Lebensziele bestimmter gesellschaftlicher Gruppen auf Kosten der Interessen und Lebens­ ziele anderer gesellschaftlicher Gruppen. Deshalb ist es wichtig, dass auch in Krisenzeiten die Grundrechte der Leitfaden politischen Handelns bleiben. Genau das Gegenteil erleben wir jedoch seit Frühjahr 2020. Die technokratische Steuerung der Gesellschaft auf das allgemeine Gut des Gesundheitsschutzes hin und über die Grundrechte hinweg weist inzwischen einige Merkmale totalitärer Herrschaftssysteme auf, wie wir im Folgenden zeigen werden – mit der zentralen Ausnahme allerdings, dass es bis Sommer 2022 jedenfalls zu keinem umfas­ senden Einsatz von Polizeigewalt gekommen ist. Durch die Weise, wie sich die institutionalisierte Wissenschaft zur Legimitation dieses Totalitarismus hergibt, zerstört sie sich letztlich selbst.

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4. Die Parallele zur Eugenik Betrachten wir dazu zunächst ein historisches Beispiel. Die auf Wis­ senschaft gestützte Politik der Eugenik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist ein herausragendes Beispiel für politischen Szientismus – »follow the science« –, der letztlich eine totalitäre Politik stützt und Wissenschaft zerstört. Eugenik (von griech. »Eu-« – gut – und »genos« – Entstehung, Herkunft) ist ein Corpus von theoretischen Ideen und praktischen Verfahren zur Verbesserung der genetischen Qualität der Bevölkerung. Allen diesen Ideen und Verfahren liegt zunächst die Vorstellung zugrunde, dass Erbanlagen verschiedener Menschen verschiedene Grade von Güte haben und dass diese genetische Qualität im Wesentlichen den Wert eines Menschen bestimmt. Es gibt also genetisch wertvollere und weniger wertvolle Menschen. Ferner besteht die Annahme, dass die Mensch­ heit erst dann fortschreiten kann, wenn sich die genetisch Wertvollen gegenüber den genetisch Minderwertigen durchsetzen. Umgekehrt droht der Menschheit ein Niedergang, wenn sich die Minderwertigen rascher vermehren als die Hochwertigen. Daher gibt es Maßnahmen sowohl der positiven Eugenik (Unterstützung der Besitzer guter Gene) als auch der negativen Eugenik (Unterdrückung der Menschen mit schlechten Genen). Während die meisten positiven genetischen Maßnahmen nicht über das Stadium von Plänen hinauskamen, wurden negative Maß­ nahmen in sehr vielen westlichen Ländern zwischen ca. 1890 und 1950 (teilweise sogar bis Ende der 1990er Jahre) breit imple­ mentiert. Die wichtigsten dieser Maßnahmen waren Heiratsverbote für »Minderwertige« sowie deren Isolation und Sterilisation. Die Anzahl der Zwangssterilisationen infolge eugenischer Gesetze liegt im hohen sechsstelligen Bereich, etwa die Hälfte davon im nationalso­ zialistischen Deutschland, die andere Hälfte in demokratisch regierten Ländern Europas und Nordamerikas. Die genaue Anzahl hängt stark von der Definition von Zwang ab. Viele Betroffene haben formal ihre Einwilligung zur Sterilisation gegeben. Doch kann man nicht von einer freien Entscheidung ausgehen: Es handelte sich meistens um arme, kranke, notleidende, entwurzelte, oft geistig behinderte oder alkohol- oder drogenabhängige Menschen. Bei Zustimmung zur Ste­ rilisation wurden ihnen offensichtliche Vorteile in Aussicht gestellt, bei Weigerung substantielle Nachteile angedroht wie Entzug der Sozi­ alhilfe oder gar lebenslange Einweisung in geschlossene Anstalten.

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Des Weiteren wurden die »erblich Minderwertigen« als Objekte in biomedizinischen Experimenten verwendet, deren Ergebnisse den anderen, wertvolleren Menschen möglicherweise das Leben retten oder verbessern sollten. Der am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts erreichte Fortschritt in der Mikrobiologie und Infek­ tionsmedizin ist kaum vorstellbar ohne die vielen Menschen, die mit gefährlichen Krankheiten – wie Syphilis, Diphterie, Scharlach, Lepra, Gonorrhöe, Tuberkulose, Gelbfieber – ohne ihre Zustimmung angesteckt wurden, um den Krankheitsverlauf genau zu verfolgen und auf dieser Grundlage Behandlungsmöglichkeiten auszuprobieren. Viele Opfer waren geistig behinderte oder epilepsiekranke Kinder, von denen die meisten infolge der Infektion verstarben. Einspritzen der die Gonokokken enthaltenden Flüssigkeit in die Augen von Kindern war eine gängige Methode zur Untersuchung von Mecha­ nismen der Gonorrhöe, einer damals sehr verbreiteten Krankheit. Auch Stoffwechselerkrankungen wurden an geistig und körperlich behinderten Kindern, in der Regel Waisen aus der Unterschicht – in Nordamerika auch an Kindern von Afroamerikanern, Indianern und Inuits – erforscht, bei denen zum Beispiel durch systematischen Vitaminentzug zuerst die entsprechenden Symptome hervorgerufen wurden. Viele Versuchskinder starben, andere verloren ihre Gesund­ heit für immer (siehe die Beiträge in Grodin/Glantz 1994). Es mag paradox erscheinen, wenn man Berichte über diese Untaten in den demokratischen Staaten USA, Kanada und den skandi­ navischen Ländern liest – aber nicht in Diktaturen wie Italien, Spanien und Portugal. Wenn sie dort auch stattgefunden haben, so jedenfalls in deutlich geringerem Umfang. Das Paradox verschwindet, wenn wir uns in die Argumentation vertiefen, mit der die Maßnahmen der negativen Eugenik überall von Kalifornien bis nach Finnland begrün­ det wurden: Diese Maßnahmen seien wissenschaftlich notwendig – womit die Trennlinie zwischen Tatsachen und Normen überschrit­ ten ist (siehe Etzemüller 2015). Die Kampfslogans von Mussolini, Franco und Salazar waren Staat, Volk, Kirche und Tradition, aber nicht Wissenschaft. Damit unterschieden sich diese drei von einem vierten Diktator. Im Umkreis von Adolf Hitler gab es zwar esoterisch tickende Per­ sonen, aber der Führer selbst verachtete solche Ansichten. Mit Spott hat er über »okkulte Jenseitsforscher«, »germanische Brauchtumsund Kräuterweisheiten« und »Wortklauberei und Spiegelfechterei bezopfter völkischer Theoretiker« gesprochen. Der Nationalsozia­

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lismus, wiederholte er, sei »eine kühle Wirklichkeitslehre«, deren Grundlage feste wissenschaftliche Tatsachen und »eherne Naturge­ setze« bildeten. Sein gepflegtes Image war: kein Mystiker, kein Ideologe, sondern ein nüchterner, pragmatischer Rationalist, dessen Überzeugungen allein auf dem Erkennen absolut gültiger Naturge­ setze und auf der kalten Logik beruhen. Kurz zusammengefasst behauptete Hitler, dass das Leben ein Rassenkampf sei, den eine höhere Rasse, solange sie nicht durch Mischung mit niederen Rassen entartet, immer gewinnt; dieser Kampf allein sei der Mechanismus der Höherentwicklung der Menschen (siehe Hant 2020). Solche Ansichten lagen zwar am extrem rechten Rand im Spek­ trum der damals von der wissenschaftlichen Elite akzeptierten Posi­ tionen, aber immer noch innerhalb dieses Spektrums. Im Nachhinein, nachdem die Nazis in ihrer »Aktion T4« den letzten Schritt von der Sterilisation zur Tötung gemacht hatten, erschufen dieselben Experten, die seit Jahrzehnten dieselbe Gewalt in milderen Formen für notwendig erachtet hatten, den Mythos, dass die diesen Verbrechen zugrunde liegende Ideologie ein besonderes nationalsozialistisches Gedankengut gewesen sei. Doch vom Inhalt her folgte die Bevöl­ kerungspolitik der NSDAP keiner spezifisch nationalsozialistischen Lehre; spezifisch war nur die eiserne Konsequenz, mit der die aller Welt bekannten Ideen bis zum letzten Ende ausgeführt wurden, sowie die Konsequenz, mit der die Schlussfolgerungen aus dem Bereich des »gesicherten Wissens« unmittelbar in praktische politische Lösun­ gen übergingen. Aber Konsequenz war immer eine charakteristische Tugend des deutschen Geistes: »Wer A gesagt hat, muss auch B sagen«. Es war »die Wissenschaft«, die A sagte. Die Geschichte der Eugenik zeigt uns die im vorigen Abschnitt skizzierte Umwandlung der Wissenschaft in Anti-Wissenschaft mit voller Klarheit. Zwischen ca. 1890–1945 beruhte die eugenische Bewegung auf einem nahezu vollständigen und fächerübergreifen­ den Konsens der Experten in einem riesigen Bereich von Bio- und Sozialwissenschaften. Eugenik wurde als eine Art Superwissenschaft angesehen. Die gesamte Biologie, wie auch Geologie, Psychologie, Anthropologie, Soziologie, Kultur-, Rechts- und Wirtschaftswissen­ schaft und viele andere Wissenschaften sollten ihre Einzelteile sein. Die höchste wissenschaftliche Qualität der meisten Eugeniker kann genauso wenig bestritten werden wie ihre menschliche Inte­ grität. Unter den Unterstützern der eugenischen Politik und Ent­ wicklern eugenischer Theorien befinden sich allgemein anerkannte

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wissenschaftliche Genies wie der Begründer der biologischen Statistik und einer der Begründer der modernen Evolutionstheorie Roland Fisher, der Telefonerfinder Alexander Graham Bell, der einflussreiche britische Ökonom John Maynard Keynes, sein amerikanischer Kol­ lege Irving Fisher – nach der Einschätzung von Joseph Schumpeter (1952, 223) der größte US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler –, die Mitbegründer der klassischen Psychiatrie Auguste Forel und Eugen Bleuler, der große schwedische Neurologe Herman Lundborg sowie zahlreiche Nobelpreisträger. Unterstützt wurden diese Wissen­ schaftler durch weltberühmte Intellektuelle wie unter anderem die Schriftsteller George Bernard Shaw und H. G. Wells, den Strafrecht­ ler Karl Binding, die Gewerkschaftsführerin Beatrice Webb, durch Personen mit höchsten ethischen Standards wie Margaret Sanger, eine Heldin der amerikanischen Frauenbewegung (sie hat den Begriff »Geburtskontrolle« eingeführt), die Friedensnobelpreisträgerin Alva Myrdal oder Julian Huxley, den ersten Präsidenten der UNESCO und Ko-Autor der Allgemeinen Deklaration der Menschenrechte. Genauso falsch ist die Vorstellung, dass die Eugenik eine wis­ senschaftliche Projektion konservativer sozialpolitischer Ansichten gewesen sei. Zwar waren viele prominente Eugeniker von Francis Gal­ ton bis Herman Lundborg streng konservativ, aber ebenfalls verbrei­ tet waren diese Ideen in der Sozialdemokratie und insgesamt in der Arbeiterbewegung. In Schweden führte die Regierungsübernahme durch die Sozialdemokraten 1932 zu vielen radikalen Reformen, doch die Bevölkerungspolitik blieb nach wie vor von der Eugenik beherrscht (siehe Rabenschlag 2008). Heute bestreitet das Bundes­ ministerium für Arbeit und Soziales, dass ein gesetzlicher Mindest­ lohn zu Arbeitsplatzverlusten führen kann. Vor 100 Jahren hingegen betrachteten Sozialisten den Verlust von Arbeitsplätzen als einen positiven, erwünschten Effekt des Mindestlohns. Dadurch würden die Unwerten, die »unemployable«, welche nicht einmal fähig sind, den Mindestlohn zu erarbeiten, vom Arbeitsmarkt abgeschnitten, iso­ liert und sozusagen sozial sterilisiert. Jene unwürdigen Schmarotzer dürften nicht durch Lohndumping den rechtschaffenen, qualifizierten Arbeitern Konkurrenz machen (siehe Leonard 2005). Die politisch linken Eugeniker zogen die Grenze zwischen biologisch Höher- und Minderwertigen zwar anders als die politisch rechten, aber an der Existenz dieser Grenze und ihrer wissenschaftlichen Begründung zweifelten die einen ebenso wenig wie die anderen.

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Rückblickend finden wir in der Eugenik zahlreiche methodolo­ gische Fehler. Die Biologen übersahen den grundsätzlichen Unter­ schied zwischen Naturkonstanten und Populationsparametern. Wenn der Vererbungsquotient für den Intelligenzquotienten die Marke von 80 % erreicht, so ist das keine Naturkonstante wie die Ladung eines Elektrons, sondern eine Variable, die sich mit veränderten Populati­ onsbedingungen ebenfalls ändern kann. Die Eugeniker spekulierten über die genetische Grundlage von Merkmalen, die sie nicht messen konnten, wie zum Beispiel moralische Eigenschaften eines Menschen. Der erste zuverlässige Intelligenztest wurde erst nach dem Rückgang der eugenischen Bewegung veröffentlicht. Ohne operationale Defi­ nition der Merkmale mussten Eugeniker gewagte Parallelen mit der Vererbung des Verhaltens bei Tieren in Kauf nehmen, die sich als vollkommen falsch erwiesen. Sie missbrauchten die genealogische Methode, die in dem Fall, dass man die biologische und die kulturelle Vererbung auseinanderhalten will, gerade die schwächste Methode ist. Schließlich war den meisten Humangenetikern der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Unterschied zwischen mono-, oligo- und polygener Vererbung nicht klar. Aber all diese Probleme und Ungereimtheiten stellen in der Geschichte der Wissenschaft keinen Sonderfall dar. So läuft es eben immer: vom weniger genauen zum genaueren Wissen, von schlechteren zu besseren Messverfahren, vom oberflächlichen zum tieferen Verständnis. Wären die Irrtümer der frühen Humangenetik innerhalb eines wissenschaftlichen Diskurses geblieben, so gäbe es keinen Grund zur Sorge. Die durch eugenische Theorien ausgelöste humanitäre Katastrophe wurde nicht von wissenschaftlichen Fehlern verursacht, sondern vom politischen Szientismus, der aus Kompo­ nenten besteht, welche allen Totalitarismen zugrunde liegen. Zuerst wird ein Bedrohungsszenario hergestellt: Es sei »fünf vor zwölf«, es drohe der Untergang der zivilisierten Menschheit. Die Überzeugungskraft der Eugenik entstand aus ihrer Fähigkeit, zwei anscheinend entgegengesetzte Katastrophenszenarien miteinander zu verbinden: einerseits die malthusianische Angst vor Bevölkerungs­ explosion mit Überpopulation der Erde; andererseits die am Ende des 19. Jahrhunderts entstandene Angst vor Geburtenrückgang mit der darauf folgenden Bevölkerungsimplosion und Vergreisung der Menschheit. Laut Eugenik drohen zwei Katastrophen: Die »höheren Rassen« zeugen immer weniger Kinder und entarten, die »niederen« vermehren sich und überfüllen die Welt.

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Auf diese Bedrohung muss die Wissenschaft die Antwort geben, und zwar – wegen der Dringlichkeit der Lage – eine eindeutige und sofortige Antwort. Dafür muss der gegenwärtige Stand der Wis­ senschaft als unhinterfragbare Wahrheit angesehen werden. Diese absolute Wahrheit, formuliert von autoritären Expertengremien, muss sofort in ein politisches Programm umgesetzt werden, dem alle Menschen Gehorsam zu leisten haben. Politischer Widerstand gegen eine wissenschaftlich basierte Politik wäre ebenso unsinnig wie Widerstand gegen Naturgesetze. Dementsprechend sind die Wider­ ständler keine politischen Gegner, sondern erscheinen als Irrationale, wenn nicht gar Geisteskranke. Jeder Zweifel, ob vielleicht unsere Kenntnisse unvollständig seien und ob es eventuell auch alternative Antworten auf die Bedrohung geben könnte (insofern diese tatsäch­ lich besteht), würde zu unverzeihlichem Zeitverlust führen. Jeder Zweifler ist deshalb nicht nur ein Wissenschaftsleugner, sondern letztlich ein Verbrecher; denn er verhindert die einzig richtige Lösung, die allein uns vor dem Untergang der zivilisierten Menschheit ret­ ten kann.

5. Die anti-wissenschaftliche Legitimation der CoronaPolitik Die Entwicklung der Covid-Krise seit 2020 weist die gleichen Mecha­ nismen auf, die wir aus der Geschichte der Eugenik kennen. Als erstes wird eine Vorstellung von einer schrecklichen Bedrohung auf­ gebaut – ein Gefahrenszenario, das sofort eintritt, wenn man nicht scharfe Maßnahmen ergreift, die sich über die Grundrechte eines jeden Menschen hinwegsetzen. Diese Bedrohung ist so groß, dass im Vergleich mit ihr alles andere vernachlässigt werden muss. Wer nur wagt zu erwähnen, dass es andere Gefahren gibt, zum Beispiel dass Millionen Menschen an Krebs, Herzinfarkt, Schlaganfall, in Entwick­ lungsländern auch an Malaria oder Tuberkulose sterben, wird gleich als »Corona-Leugner« gebrandmarkt; denn die Gefahr von Covid-19 sei absolut, sie dürfe nicht ins Verhältnis zu anderen Gefahren gestellt und damit »relativiert« werden. Aus dem absoluten Charakter dieser einen Bedrohung folgt weiterhin, dass jegliche Normen der wissenschaftlichen und sogar der allgemein menschlichen Vernunft außer Kraft gesetzt werden können und sogar müssen; denn diese Normen wurden für normale

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Situationen entwickelt und haben in der gegenwärtigen Notlage keine Geltung (»Not kennt kein Gebot«). Dazu gehört unter anderem das Prinzip der Kausalität. Die Wissenschaft hat immer nach Ursachen der Dinge gesucht. Selbstverständlich handelt es sich nicht um mecha­ nische Monokausalität, sondern um verschiedenartige Ansätze zur Analyse verschiedener mitwirkender Faktoren (siehe dazu Hill et al. 2021). Besonders in Anwendungswissenschaften wie der Medizin ist es notwendig, die Faktoren einer Krankheit zu ordnen und die wichtigsten Ursachen abzusondern, um auf diese einzuwirken. Zum Beispiel muss der Arzt bei multikausalen Pneumonien wissen, ob Viren oder Bakterien im konkreten Fall die führende pathogenetische Rolle spielen, um über den Einsatz der Antibiotika zu entscheiden. Die Erfindung der Formel »an und mit« macht damit Schluss. Sobald nur ein Anzeichen des SARS-CoV-2-Virus (in der Regel ein positiver PCR-Test, egal wie er durchgeführt wurde) gefunden wird, leidet (und eventuell stirbt) der Mensch »an und mit Covid« und wird in die Statistik als Covid-Fall oder Covid-Toter eingetragen, auch wenn er an Krebs im Endstadium litt, mit multiplen Knochenbrüchen nach einem Verkehrsunfall ins Krankenhaus kam oder auch kernge­ sund war und bloß zufällig getestet wurde. Diese »neunormale« Logik ist vollkommen zirkulär: (1) Weil die eine Gefahr so groß ist, müssen alle anderen Gefahren ignoriert werden, um nicht zu »relativieren«. (2) Weil andere Gefahren ignoriert werden, werden alle negativen Ereignisse (Krankheit, Tod) der absolut gesetzten Gefahr zugeordnet. (3) Weil alle negativen Ereignisse als Folgen der einen Gefahr betrach­ tet werden, ist diese Gefahr besonders groß, und so sind wir wieder bei (1). Speziell in der Medizin manifestiert sich die Suche nach Ursa­ chen in dem seit der Antike bekannten Prinzip der Differenzialdia­ gnostik: Wenn ein Arzt ein Symptom einer Krankheit A beobachtet, geht er nicht direkt zur entsprechenden Diagnose über, sondern soll an weitere Krankheiten B, C, D usw. denken, die auch ähnliche Symptome hervorrufen könnten. Dann sucht der Arzt gezielt nach den Symptomen, die zwischen A, B, C und D unterscheiden. Für jede der Tausenden der Medizin bekannten Krankheiten gibt es differenzialdiagnostische Anleitungen, die Ärzte informieren, wie sie bei Verdacht auf diese oder jene Krankheit eine Differenzialdia­ gnostik durchführen sollen; allerdings mit einer einzigen Ausnahme: Covid-19. Für diese Erkrankung gibt es keine Differenzialdiagnostik: Sobald ein positiver PCR-Test vorliegt, steht die Diagnose fest.

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Wie einst bei der Bedrohung durch »erbliche Last« und der »Entartung des Menschengeschlechts durch Verbreitung minderwer­ tiger Gene« wird heute angesichts der Covid-Bedrohung von einem umfassenden wissenschaftlichen Konsens eine klare Antwort erwar­ tet. Ein wesentlicher Unterschied ist allerdings dieser: Während bei der Eugenik der große fachübergreifende Konsens tatsächlich existierte, wird bei Covid der Anschein eines solchen Konsenses mit Hilfe einer zirkulären Logik aufgebaut. Alle Wissenschaftler, die die offizielle Meinung nicht bedingungslos unterstützen, werden als »Pseudoexperten«, »Sektierer« und »Verschwörungstheoretiker« bezeichnet und somit aus dem Kreis der »richtigen Wissenschaftler« ausgeschlossen, auch wenn sie Jahrzehnte einwandfreier Forschungs­ arbeit und Hunderte begutachtete internationale Publikationen in Virologie, Epidemiologie, Mikrobiologie und anderen relevanten Dis­ ziplinen vorweisen können. Ein Medienliebling dagegen, der voll auf der Linie ist, wird dem Publikum als »Epidemiologe« vorgestellt, auch wenn ihn bisher in der Wissenschaft niemand kannte (siehe dazu Ioannidis 2021). Am dreistesten hat der US-amerikanische Obervirologe Anthony Fauci diesen künstlichen Konsens ausgedrückt: Wer die Corona-Politik kritisiert, »kritisiert in Wirklichkeit die Wissenschaft, weil ich die Wissenschaft repräsentiere. Das ist gefährlich« (eigene Übersetzung, Zitat gemäß Wall Street Journal Editorial Board 2021). Eine Behauptung wird so mit verbaler Gewalt als wahr festgesetzt, nämlich einfach dadurch, dass sie von genügend Leuten in Medien verbreitet wird, die eben diese Medien als Experten präsentieren. Gegenteilige Behauptungen werden zu Falschmeldungen erklärt und auf Internetplattformen gelöscht. Ein Wahrheitsanspruch ist folglich kein Erkenntnisanspruch mehr, der Prüfung ausgesetzt wird und gegen Zweifel bestehen muss, sondern direkt und unmittelbar ein Autoritäts- und Machtanspruch. Expertenkonsens, selbst wenn er denn wirklich besteht (wie im Falle der Eugenik) und nicht wie im gegenwärtigen Fall medial konstruiert ist, ist aber immer ein schwaches Mittel der Rechtferti­ gung. Wenn man fundierte Erkenntnisse hat, dann kann man diese benennen, und sie werden der Prüfung in einer offenen Debatte stand­ halten. Die Berufung auf die Mehrheitsmeinung von Experten spielt dann keine Rolle mehr. Man braucht dann auch keine sogenannten Faktenchecker, die gegenteilige Äußerungen von bisher anerkannten

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Experten auslöschen. Diese erledigen sich von selbst, wenn man klar begründen kann, was die Fakten sind. In der Tat, heute müsste – im Gegensatz zum Beginn des 20. Jahrhunderts – jeder Medizinanfänger sich eigentlich darüber im Klaren sein, dass wissenschaftlicher Konsens keinen Wert hat. Die heutzutage allgemein bekannten Regeln der evidenzbasierten Medi­ zin (EBM) halten fest, dass unter allen Informationsquellen, aufgrund derer ein Mediziner seine Meinung bilden und seine Behandlung aufbauen soll, die Expertenmeinung den letzten Platz einnimmt. Von allen Quellen der wissenschaftlichen Information ist sie am wenigsten zuverlässig (siehe Greenhalgh 1997; Burns et al. 2011). Dennoch wird uns in den Medien täglich gesagt, dass sogar schwere Eingriffe in die Grundrechte der Menschen unabdingbar seien, weil ihre Notwendigkeit auf Expertenkonsens basiert. Die EBM bewertet auch Einzelfallstudien als weitgehend unzu­ verlässige Evidenz. Höchstens bei seltenen Erkrankungen, bei denen man kein umfangreiches Material sammeln kann, bleiben Einzelfall­ darstellungen als eine Orientierungshilfe übrig; meistens sind Aus­ sagen über Einzelfälle wissenschaftlich wertlos. Ein Pfleger erzählte mir (B.K.) von einem Cholera-Patienten (Cholera-Ausbruch in Odessa 1971), der nach ein paar Sauergurken wieder gesund wurde. Wird aber ein ernstzunehmender Arzt aufgrund dieser Geschichte Sauergurken als »wissenschaftlich bewiesene« Cholera-Behandlung vorschlagen? Nichtdestotrotz behauptete die Leopoldina am 8. Dezember 2020 aufgrund eines einzigen Falls von Irland, dass der harte Lockdown »aus wissenschaftlicher Sicht unbedingt notwendig« sei (Leopoldina 2020). Zu diesem Zeitpunkt waren bereits viele qua­ litativ hochstehende Studien veröffentlicht, die zeigten, dass Schulund Geschäftsschließungen, Abbruch von Konzerten und Theater­ veranstaltungen, Ausgangssperren usw. keine messbare Auswirkung auf das Infektionsgeschehen hatten und dass ihrerseits Lockdowns zu einem Verlust an Lebensjahren von Menschen führen, der mindestens um eine Größenordnung höher ist als der Verlust durch die CovidEpidemie (siehe für einen kurzen Überblick Kotchoubey 2021). Was von der Leopoldina als »Wissenschaft« dargestellt wurde, ignorierte somit die vorhandene Literatur, um den politischen Auftrag zu erfül­ len. So rechtfertigte Angela Merkel im Deutschen Bundestag nur einen Tag nach der Leopoldina-Stellungnahme, am 9. Dezember 2020, einen harten Lockdown unter Berufung auf wissenschaftliche

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Wahrheit und unveränderliche Naturgesetze wie das Gravitationsge­ setz (Merkel 2020). Die angebliche Alternativlosigkeit, die durch Sachzwänge begründet wird, die in diesem Fall durch die Wissenschaft aufgedeckt sein sollen, ist das augenfälligste Merkmal dieser Politik. Wissenschaft kann in diesem Fall nicht wissenschaftliche Debatte bedeuten über Hypothesen, die man einer Prüfung durch Argument und Evidenz unterziehen muss. Sie muss als felsenfeste Erkenntnis unerschütterlicher Naturgesetze dargestellt werden, die zudem – und das ist wiederum eine entscheidende Parallele zur Politik der negati­ ven Eugenik – sofort umgesetzt werden muss, und zwar über ele­ mentare Menschenrechte hinweg. Die offensichtliche Konsequenz von diesem Mechanismus ist, dass die Zuteilung von Verantwortung diffus ist: Niemand ist für die Naturgesetze verantwortlich und für das, was aus diesen folgt. Die Wissenschaft ist es nicht, weil sie nur Tatsachen aufdeckt und die offensichtlichen politischen Konsequenzen dieser Tatsachen zur Sprache bringt; auch wenn diese Konsequenzen darin bestehen, gravierende Verletzungen elementarer Menschenrechte als »aus wis­ senschaftlicher Sicht unbedingt notwendig« zu erweisen (Lepoldina 2020), haben diese Schlussfolgerungen nur den Status von Hand­ lungsempfehlungen. Die Politiker wiederum sind für die entsprechen­ den Handlungen und ihre Folgen nicht verantwortlich, weil sie nur das umsetzen, was durch Wissenschaft vorgegeben ist, statt politische Entscheidungen zu treffen, die in der Auswahl von einer unter meh­ reren Handlungsmöglichkeiten bestehen. Wenn hingegen hinter dieser Politik wissenschaftliche Hypothe­ sen statt apodiktischer Erkenntnisansprüche ständen, dann würde eine solche Politik schrittweise umgesetzt werden mit der Offenheit für Alternativen, so dass jederzeit sowohl eine Korrektur der Poli­ tik als auch der wissenschaftlichen Hypothesen möglich wäre. Die unhinterfragbaren Erkenntnisansprüche haben demgegenüber zur Folge, dass man diese Politik fortsetzt ungeachtet der Schäden, die sie anrichtet. Die gesundheitlichen, wirtschaftlichen und sozialen Schäden der sogenannten Corona-Schutzmaßnahmen treten inzwi­ schen immer deutlicher hervor. Die in die Impfkampagne gesetzten Hoffnungen erfüllen sich nicht, weil auch die Impfung der gesamten Bevölkerung nicht in der Lage ist, eine Herdenimmunität aufzubauen, durch die weitere Corona-Virenwellen verhindert werden. Dennoch findet keine Überprüfung dieser Politik statt. Im Gegenteil, je weniger erfolgreich sie ist, desto intensiver wird sie fortgesetzt, bis hin zum

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zumindest faktischen Zwang zu regelmäßigen Booster-Impfungen, die nichtsdestoweniger mit fortbestehenden Einschränkungen von Grundrechten wie Vertragsfreiheit und Zugangsbeschränkungen zum sozialen Leben einhergehen. Mit dem Verabreichen der genetischen Impfstoffe werden in der Tat weitere Normen und Regeln, die noch vor wenigen Monaten in der Wissenschaft als selbstverständlich galten, über den Haufen geworfen. Substanzen werden an Menschen getestet, die noch nicht an Tieren ausreichend getestet worden sind. Sie werden auch bei Personengruppen verwendet, an denen sie überhaupt nicht getestet wurden (Alte, Kinder). Sie werden in Kombinationen verwendet, nachdem sie nur einzeln getestet wurden. Bei den Berichten über die Effizienz der Impfungen werden vollkommen verschiedene Messgrö­ ßen (wie die absolute und die relative Risikoreduktion) regelmäßig miteinander vermischt, obwohl sich diese Zahlen um mehrere Grö­ ßenordnungen unterscheiden. Man muss nicht einmal kritische Publikationen lesen, die schwere Verstöße gegen wesentliche Regeln der Pharmakologie auf­ decken, die sich Pfizer beim Testen der neuen Vakzine erlaubt hat (Thacker 2021), oder auf ernsthafte Verzerrungen bei der statisti­ schen Auswertung der Impfungs-Daten hinweisen (Neil et al. 2021). Die offizielle EMA-Information (Comirnaty 2021) reicht vollkom­ men aus, um gravierende Verstöße gegen bisher selbstverständliche Regeln in der öffentlichen Gesundheitsvorsorge zu belegen. Dort liest man unter anderem: ● ●

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Die Auffrischung soll nur ab 18 Jahren verabreicht werden. Die Entscheidung über die Auffrischung soll »unter Berücksich­ tigung der begrenzten Sicherheitsdaten« (§ 4.2) getroffen wer­ den – trotzdem wird die Auffrischung generell und auswahllos allen angeboten. »Die Austauschbarkeit … mit COVID-19-Impfstoffen anderer Hersteller ... ist nicht erwiesen« – trotzdem werden Impfstoffe im Austausch verwendet. Die Überempfindlichkeit gegenüber dem Wirkstoff oder einem der sonstigen Bestandteile ist eine Kontraindikation (§ 4.3) – doch in keinem Impfzentrum werden Impflinge auf eine solche Überempfindlichkeit getestet, allein aus Zeitgründen. »Die Dauer der Schutzwirkung des Impfstoffs ist nicht bekannt« (§ 4.4) – wie kann dann die Politik versprechen, dass die Impfung der Ausweg aus der Covid-Epidemie ist?

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Es liegen keine Daten zur Wirksamkeit und Sicherheit bei immungeschwächten Personen vor – aber die Impfung wird ohne Rücksicht auf Immunschwäche angewendet. Es wurden keine Studien zur Erfassung von Wechselwirkungen durchgeführt – trotzdem werden Personen geimpft, die zahlrei­ che andere Medikamente einnehmen.

Dabei sind wir erst auf der Seite 5 des 114-seitigen Dokuments ange­ langt. Jeder Apotheker, der die Warnhinweise auf dem Beipackzettel eines Medizinprodukts – und das EMA-Dokument ist sozusagen der erweiterte Beipackzettel – auf eine solche Art und Weise ignoriert, würde seine Lizenz verlieren. Als der russische Roma-Schriftsteller Juri Dombrowski (1990) seinen Roman über die stalinistische Justiz »Die Fakultät unnützer Dinge« nannte, meinte er die Jura-Fakultät, in der man Dinge lernt, die in einer Willkürherrschaft keine Verwendung haben. Im Jahr 2020 wurden allgemein bekannte Normen und Kriterien der Natur­ wissenschaft, insbesondere der Medizin, außer Kraft gesetzt und letztlich als unnötig verworfen. Zugespitzt formuliert kann man daher sagen: Die Covid-Krise droht, weite Teile der medizinischen und naturwissenschaftlichen Fakultäten zu »Fakultäten unnützer Dinge« zu machen. Die Covid-Krise führt uns eindrücklich vor Augen, wie sich Wissenschaft durch politischen Szientismus selbst zerstört. Schließlich ist das wohl erschreckendste Merkmal dieser Allianz von Anti-Wissenschaft und gegen den Rechtsstaat gerichteter Politik, dass sie ihr Scheitern zu verdecken oder zumindest hinauszuzögern versucht, indem sie bestimmte Personengruppen ausgrenzt und sie dafür verantwortlich macht, dass das Ziel nicht erreicht wird, obwohl es doch durch unerschütterliche Naturgesetze vorgegeben sein soll. Im Herbst 2021 sind es die Ungeimpften, die dafür verantwortlich sein sollen, dass das Ziel, weitere Corona-Virenwellen zu verhindern, nicht erreicht wird, trotz all der Anstrengungen einschließlich der Impfung des größten Teils der Bevölkerung in Erfüllung des durch »die Wissenschaft« vorgegebenen Planes der Epidemiebekämpfung. Diese Behauptung lässt sich leicht als unzutreffend erweisen (siehe Kampf 2021). Die Ungeimpften müssen die Konsequenzen dessen tragen, dass sie ein falsches Bewusstsein haben, weil sie ihr Grund­ recht auf körperliche Unversehrtheit in Anspruch nehmen und sich damit gegen »die Wissenschaft« stellen. Wir gelangen mit dieser Aus­ grenzung im Herbst 2021 an den Punkt, an dem in der Geschichte das jeweilige Regime nur noch durch den Einsatz von Gewalt fortbestehen

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konnte: Das verheißene Ziel tritt nicht ein, und man hält das Kollektiv dadurch zusammen – und das eigene Narrativ aufrecht –, dass man eine Minderheit ausgrenzt, sie als Bedrohung für die Mehrheit darstellt und aus der Gemeinschaft ausschließt, was im Extremfall auf ihre Vernichtung hinläuft (siehe dazu Welzer 2005). Wenn eine Virenwelle dazu benutzt werden kann, elementare Menschenrechte auszusetzen und bestimmte Menschen so darzustellen, dass diese gar nicht mehr zur menschlichen Gemeinschaft gehören, dann drohen soziale Folgen wie in den übelsten Formen von Rassismus, in denen bestimmte Gruppen von Personen so angesehen werden, dass sie gar nicht wirklich Menschen sind und daher auch keine Menschen­ rechte haben.

6. Wissenschaft und Öffentlichkeit Wissenschaft wird heute in nahezu allen Staaten weitgehend durch die Öffentlichkeit finanziert, nämlich durch die Steuerzahler über Zwangsabgaben. Diese Finanzierung soll eigentlich die Freiheit der Forschung und Lehre sicherstellen, unabhängig von ökonomi­ schen oder weltanschaulichen Interessen privater Geldgeber; denn es besteht der Verdacht, dass diese Geldgeber Wissenschaft nicht allein aus philanthropischen Beweggründen finanzieren. Wenn aber die staatlichen Organe, welche die Finanzierung der Wissenschaft durch Steuergelder organisieren, selbst ein bestimmtes Interesse verfolgen – nämlich dasjenige, eine wissenschaftliche Legitimation ihrer Politik zu erhalten, die nicht durch rechtsstaatliche Prinzipien und Grund­ rechte eingeschränkt ist –, dann erweist sich das staatliche Monopol der Finanzierung von Wissenschaft als eine größere Gefahr für die Freiheit und den Fortschritt der Wissenschaft als es private Geldgeber sein könnten; denn allein die Vielzahl privater Geldgeber und die Verschiedenheit ihrer Interessen würde einen gewissen Pluralismus in der Wissenschaft zur Folge haben. Genauso ist es in der Politik: Eine weltweite, durch supranationale Organe technokratisch vorgegebene und durch angebliche Wissenschaft legitimierte Politik, die keine rechtsstaatlichen Schranken kennt, ist wegen ihrer Machtfülle die größte Gefahr für die Menschheit. Was die Wissenschaft betrifft, ist das grundlegende Problem, dass die folgende Idee verfehlt ist: Politik finanziert die Wissen­ schaft und erwartet dafür von der Wissenschaft als Gegenleistung

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eine wissensgestützte Politikberatung, die bis hin zur Legimitation bestimmter politischer Maßnahmen reicht. Dieses Denkmuster tritt unter so harmlos klingenden Namen wie »Orientierungswissen« auf. Die Sache ist jedoch alles andere als harmlos: Man weist hier der Wissenschaft eine Aufgabe zu, die sie nicht erfüllen kann und die sie in demokratischen Rechtsstaaten auch gar nicht beanspruchen darf. Wissenschaft dient der Öffentlichkeit, nicht der Politik. Das Wissen der Wissenschaft ist Wissen über Tatsachen. Die Leistung der Wissenschaft für die Gesellschaft besteht darin, dass dieses Wissen öffentlich ist: Es steht der Öffentlichkeit als gemeinsame, geteilte Grundlage für Entscheidungen zur Verfügung. Diese Öffentlichkeit des Wissens ist die – einzige – Gegenleistung, welche die Wissen­ schaft für ihre öffentliche Finanzierung erbringt. Insofern gibt das wissenschaftliche Wissen auch Orientierung: Es stellt Wissen über Tatsachen bereit; dieses Wissen ist nützlich, um Mittel zu identi­ fizieren, mit denen wir individuelle oder gemeinschaftliche Ziele realisieren können. Aber Wissenschaft kann die Entscheidung über Ziele, über das Abwägen von Risiken und die Verantwortung für die getroffenen Entscheidungen nicht abnehmen, und zwar weder auf der individuellen noch auf der politischen Ebene. Wissenschaft sollte die gemeinsame, geteilte Grundlage für die politische Debatte über verschiedene Handlungsmöglichkeiten sein und nicht der Ersatz für diese Debatte. Ansonsten zerstört sie sich selbst durch ihre politische Instrumentalisierung. Sie überschreitet dann die Grenze zwischen Tatsachen und Normen. Normative Vorgaben eines bestimmten Inhalts verhindern die innerwissenschaftliche Debatte. Wenn diese Vorgaben über die Grundrechte gestellt werden, führen sie schließlich zu einem politischen Totalitarismus, in dem die Gesellschaft durch angebliche wissenschaftliche Vorgaben umfassend gesteuert wird.

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Post-COVID-19: Auf dem Weg zu einem integrativen Modell der wissensbasierten Politikberatung

1. Einleitung Dem herkömmlichen Verständnis zufolge läuft wissenschaftliche Politikberatung im Wesentlichen linear und in drei Stufen ab: In einem ersten Schritt produziert oder synthetisiert die Wissenschaft mehr oder weniger gesichertes Wissen in für die Politikgestaltung relevanten Bereichen. Dieses Wissen wird anschließend den poli­ tischen Entscheidungsträger:innen übermittelt, welche auf dessen Grundlage und unter Berücksichtigung relevanter gesellschaftlicher Interessen Entscheidungen treffen und Maßnahmen implementieren. Dieses traditionelle Modell der wissenschaftlichen Politikberatung ist stark geprägt von der Vorstellung einer klaren Rollenteilung zwischen Wissenschaft und Politik, wonach die Wissenschaft wertneutrale und objektive Fakten zu Tage fördert, während die Politik auf der Grundlage dieser Fakten und unter Einbezug normativer Erwägun­ gen handelt. Die Integration von wissenschaftlichem Wissen in politische Entscheidungsprozesse ist jedoch häufig problembehaftet, zum Bei­ spiel dann, wenn Entscheidungsträger:innen die wissenschaftliche Evidenz nur selektiv berücksichtigen oder epistemische Unsicherhei­ ten in der Evidenzbasis nicht oder ungenügend transparent gemacht werden. Hinzu kommt, dass wissenschaftliches Wissen sich im Laufe der Zeit weiterentwickelt. So kann es vorkommen, dass im Lichte neu hinzutretender Evidenz politische Maßnahmen, die einst wohl­ Alle Autoren haben zu gleichen Teilen zu diesem Artikel beigetragen. Die Arbeit von Jörn Knobloch und Simon Lohse an diesem Beitrag wurde von der VolkswagenStiftung unterstützt (Förderlinie »Corona Crisis and Beyond – Perspectives for Science, Scholarship and Society«). 1

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begründet waren, nicht mehr wissenschaftlich legitimiert werden können und darum abgeschafft oder angepasst werden müssen. Dies führt nicht selten zum Eindruck einer inkonsistenten Wissenschaft bzw. – wenn diese gemäß aktualisierter oder erweiterter Evidenz handelt – einer inkonsistenten Politik. Während der COVID-19-Krise hat sich dieser Punkt wiederholt in öffentlichen Diskussionen um widersprüchlich erscheinende Empfehlungen und Kritik an Neujus­ tierungen politischer Maßnahmen gezeigt. Als weiteres schwerwiegendes Problem erweist sich die Tatsa­ che, dass empirisches Wissen, selbst wenn es in seiner Gesamtheit betrachtet wird, selten Handlungsoptionen nahelegt, geschweige denn determiniert. Je nachdem, welche wissenschaftlichen Perspekti­ ven und welche Evidenztypen mehr oder weniger gewichtet werden, drängen sich andere – und mitunter zu viele – Handlungsoptionen auf. Diese praktischen Unsicherheiten können nur effektiv überwun­ den werden, indem normative Erwägungen mit in den Beratungspro­ zess einbezogen werden, die ihrerseits nicht Teil der empirischen Wis­ sensbasis sind. Wissenschaftliches Wissen kann daher in den meisten Fällen nur dann effizient in die Politikgestaltung eingebracht werden, wenn es durch (nicht-epistemische) Werturteile angereichert wird. Die genannten Probleme der wissenschaftsbasierten Politikge­ staltung sind bekannt und ihre Relevanz ist weitgehend unbestritten. Es mangelt daher auch kaum an Literatur mit guten Vorschlägen, die auf die eine oder andere Weise auf eine Optimierung des bestehenden Modells abzielen. Obwohl diese Optimierungsvorschläge auf echte Probleme reagieren und einen konstruktiven Kern haben, gehen sie selten auf die strukturellen Faktoren ein, welche den Problemen zugrunde liegen. Dieser Beitrag soll die Probleme am Beispiel der Corona-Krise auf eben dieser strukturellen Ebene adressieren, indem politik- bzw. verwaltungswissenschaftliche und wissenschaftsphilo­ sophische Betrachtungen miteinander verknüpft werden. Ausgehend von den während der Pandemie sichtbar geworde­ nen Defiziten in der Politikberatung, möchten wir im Folgenden Grundzüge eines alternativen Modells skizzieren, das wegführt vom traditionellen Modell der wissenschaftsbasierten Politikberatung hin zu einem alternativen Ansatz, der eine Vielzahl von Wissensformen und -beständen in den Prozess der Politikgestaltung integriert. Das vorgeschlagene integrative Modell unterscheidet sich vom traditionel­ len Modell im Wesentlichen darin, dass sowohl nicht-wissenschaftli­ che Wissensformen, insbesondere lokales Wissen gesellschaftlicher

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Akteure, als auch normative Erwägungen explizit in die Wissensbasis integriert werden sollen. Damit wird vorausgesetzt, dass Wertorien­ tierungen eine konstitutive Rolle bei der Produktion von politik-rele­ vantem Wissen spielen. Außerdem werden nicht-wissenschaftliche Wissensbestände gegenüber der Evidenz der empirischen Wissen­ schaften aufgewertet, mit dem Ziel, die Vorzüge eines epistemischen Pluralismus für die Politikberatung fruchtbar zu machen. Wir beginnen in Abschnitt 2 mit einer Skizze und ersten Problematisierung des traditionellen Modells der wissenschaftsba­ sierten Politikberatung. Mit einem kurzen Blick auf die im Zuge der COVID-19-Pandemie erfolgte politik- bzw. verwaltungswissen­ schaftliche Aufarbeitung der Krise zeigen wir, dass die Tragfähigkeit des traditionellen Modells der wissenschaftsbasierten Politikberatung kaum hinterfragt bzw. weiterhin vorausgesetzt wird. In Abschnitt 3 identifizieren wir drei relevante Themenfelder aus der Wissenschafts­ philosophie, die an dieser Stelle weiterführen können. Diese sind: epistemischer Pluralismus, die Rolle von Werten in der Wissenschaft sowie der Umgang mit Unsicherheit. Ausgehend von einer Ausein­ andersetzung mit relevanten Argumenten aus der wissenschaftsphi­ losophischen Diskussion werden in Abschnitt 4 die Grundzüge eines alternativen Modells skizziert, das wegführt von einer wissenschaftshin zu einer wissensbasierten Politikgestaltung. Der Beitrag schließt mit einem kurzen Fazit.

2. Das traditionelle Modell wissenschaftlicher Politikberatung Im Folgenden wird das traditionelle Modell der wissenschaftsba­ sierten Politikberatung vorgestellt, das die öffentliche Diskussion dominiert und die vorherrschende Selbstbeschreibung der beteiligten Akteure darstellt (2.1). Anschließend fassen wir die wesentlichen Erkenntnisse der politik- und verwaltungswissenschaftlichen Ausein­ andersetzung mit der politischen Verarbeitung der Pandemie zusam­ men (2.2). Im dritten Schritt kritisieren wir die Kritik an der Pande­ miepolitik mit Blick auf das Verhältnis von Wissenschaft und Politik und machen deutlich, dass die vorliegenden kritischen Analysen in verschiedenen Hinsichten zu kurz greifen (2.3).

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2.1 Das traditionelle Modell wissenschaftsbasierter Politikberatung und seine Grenzen Die Aufgabe der Politik ist die Lösung kollektiver Probleme durch kollektiv legitimierte Maßnahmen. Dabei kann sie in verschiedener Weise auf wissenschaftliches Wissen zurückgreifen. Ein zentraler Modus – insbesondere beim Umgang mit neuartigen Problemstellun­ gen oder akuten Krisen – ist die wissenschaftliche Politikberatung im Sinne einer »Bereitstellung wissenschaftlicher Informationen« (Kori­ nek/Veit 2013, 263; vgl. Weingart 2001). Um einige Implikationen dieser Art des Wissenstransfers besser zu verstehen, ist es sinnvoll zwei Aspekte hervorzuheben, die den Rahmen für das traditionelle Modell der wissenschaftsbasierten Politikberatung bilden: (1) Autonomie: Sowohl Politik als auch Wissenschaft haben ihre eigenen Regeln, kollektiven Praktiken und Institutionen. Diese kon­ stituieren eine Eigenlogik, die so von keinem anderen gesellschaftli­ chen Bereich reproduziert werden kann (vgl. Büttner/Laux 2021, 26). (2) Wissen: Beide Sphären verfügen über eigene Wissenskom­ plexe, die nur von ihnen generiert werden können. In der Politik ist das neben dem Wissen zur Identifikation politischer Probleme vor allem das notwendige Entscheidungswissen, dessen Eigenlogik seit Machiavelli systematisch reflektiert wird. Trotz seiner stetigen Aufarbeitung und Systematisierung hat das politische Wissen sei­ nen rein praktischen, situativen und erfahrungsbasierten Charakter nicht verloren, weshalb es auch als Regierungskunst verstanden wird. Demgegenüber zeichnet sich das wissenschaftliche Wissen in verschiedenen Hinsichten durch ein besonders hohes Maß an Verläss­ lichkeit und Systematizität aus, etwa bei der Entwicklung von Erklä­ rungen und Vorhersagen oder bei der Darstellung wissenschaftlicher Erkenntnisse. In unserem Kontext sind besonders die systematische Verteidigung von Wissensansprüchen zur Vermeidung von Irrtümern sowie die planmäßige Institutionalisierung von Kritik hervorzuheben (vgl. Longino 2002; Hoyningen-Huene 2013), die sich in spezifi­ schen »Produktions- und Geltungssicherungsverfahren« (Korinek/ Veit 2013, 264) realisieren und wissenschaftliches Wissen als zertifi­ ziertes Wissen von anderen Wissensformen unterscheiden (Weingart 2001, 64ff.). Beide genannten Aspekte sind relevant, um das traditionelle Modell der Politikberatung zu verstehen. Einerseits ist damit klar, dass Politik und Wissenschaft ihre Aufgaben nicht gegenseitig sub­

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stituieren können, auch wenn sog. Expertenregierungen gern das Gegenteil für sich in Anspruch nehmen. Wie die Technokratiedis­ kussion (Morandi 1997) gezeigt hat, ist auch die Proklamation einer unpolitischen, wissenschaftlichen Ordnung eine politische Ent­ scheidung. In diesem Fall agieren Wissenschaftler:innen als Politi­ ker:innen, und das Feld wird nicht durch ein anderes ersetzt. Ande­ rerseits wird verständlich, weshalb Politik wissenschaftliches Wissen für sich nutzen möchte. Die erfolgreiche Zertifizierung des wissen­ schaftlichen Wissens und seine oft demonstrierte Qualität stützen die Überzeugung, dass nur dieses Wissen »die Grundlage für rationale, fortschrittliche Politik« (Bogner 2021, 26) sein kann und legen es nahe, den Beratungsprozess tatsächlich als Bereitstellung von wissen­ schaftlichem Wissen für die Politik zu verstehen.2 Das hat folgende Implikationen für die wissenschaftliche Politikberatung: Linearität: Politik behandelt das Wissen der Wissenschaft als externen Input, ohne selbst Teil des Produktionsprozesses zu sein. Damit erfolgt der Wissensaustausch linear als einseitiges Angebot von Wissen an die Politik. Zwar kann Politik gezielt Beratungsleistun­ gen nachfragen oder Auftragsforschung initiieren, doch auch in diesen Beratungssituationen greift sie auf die existierende epistemische Autorität zurück. Die politischen Akteure wählen zwischen verschie­ denen epistemischen Autoritäten aus, ohne selbst die Bedingungen der Autorisierung von Wissenschaften zu diktieren. Nur wenn sie das Wissen als nicht-politischen Input behandeln kann, besitzt es die notwendige Orientierungskraft für die Politik. In diesem Kontext sind auch die Aussagen der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel zur Corona-Krise zu verstehen, in denen sie bspw. die Empfehlungen der Leopoldina als externes Wissen kommuniziert (»Das hat uns die Wissenschaft gesagt…«) und damit zwischen der Wissenschaft mit ihrem Erkenntnisprozess und der Politik differenziert. Diese Positionierung zieht sich wie ein roter Faden durch die Corona-Krise, etwa wenn auf Pressekonferenzen von Bund und Ländern unabhän­ gige Expertise und wissenschaftliche Fakten als Basis für politische Entscheidungen genannt wurden. Stabilität: Das durch den Status der Autonomie und der Diffe­ renz des Wissens geprägte traditionelle Modell zieht die Differenzie­ Diese Vorstellung liegt auch dem Konzept der evidenzbasierten Politik zugrunde, das sich seit den 1990er Jahren ausgehend von Großbritannien in der Welt ausgebrei­ tet hat (vgl. Nutley et al. 2010).

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rung von epistemischer und legitimatorischer Funktion der wissen­ schaftlichen Beratung nach sich (vgl. Weingart/Lentsch 2008, 28f.). Damit lässt sich die zur Überlegenheit wissenschaftlicher Expertise notwendige wissenschaftliche Eigenständigkeit der Wissenschaften im Beratungsprozess behaupten. Da wissenschaftliches Wissen als Basis für politische Entscheidungen dienen soll, wird eine gewisse Stabilität wissenschaftlicher Expertise und Evidenz vorausgesetzt. Wissenschaft wird als Produzent gesicherten und damit verlässlichen Wissens angesehen, das gerade darum zur Legitimierung politischer Entscheidungen dienen kann, als Grundlage von Lösungsansätzen, zur Identifikation und Evaluation politischer Handlungsalternativen, zur Schaffung regulativer Standards etc. Expertise: Die Auswahl von wissenschaftlichen Expert:innen durch die Politik erfolgt zumeist auf der Basis einschlägiger und zer­ tifizierter Expertise, angezeigt durch wissenschaftliche Reputation und moduliert durch Vorerfahrungen in der Politikberatung. Politi­ sche Akteure, welche effektiv mit der politischen Bearbeitung eines Problems betraut sind, wählen demnach diejenigen wissenschaftli­ chen Akteure aus, die in den als relevant angesehenen wissenschaft­ lichen Feldern spezialisiert und durch wissenschaftliche Kriterien als Expert:innen ausgewiesen sind (im Sinne einer Auswahl auf einem idealen Markt der Expertisen). Während der Corona-Krise – und auf Basis des deutschen Infektionsschutzgesetzes (IfSG § 1(2)) – waren dies primär (aber nicht ausschließlich) wissenschaftliche Expert:innen aus Medizin und Epidemiologie. Somit findet hier ein enger Expert:innenbegriff Anwendung, unter den neben Wissenschaft­ ler:innen allenfalls noch thematisch versierte Stakeholder und Expert:innengruppen aus angrenzenden Bereichen (etwa der Impf­ stoffherstellung) fallen (vgl. Büttner/Laux 2021, 279). Dem traditionellen Modell liegt ein nachvollziehbares Rational zu Grunde, da es eine Politik auf Basis unabhängigen wissenschaftli­ chen Wissens ermöglicht. Die Wissenschaft liefert das Wissen, doch die Politik bestimmt die Fragestellung (mit), präferiert bestimmte Werthaltungen, antizipiert die Funktion des Wissens und wählt die Berater aus (Weingart 2021, 2f.). Gleichwohl lassen sich einige Zwei­ fel an der empirischen Tragfähigkeit des Modells anbringen. So lässt sich fragen, ob die idealtypische Differenzierung von epistemischer und politischer Funktion der Beratung – und damit auch die Vorstel­ lung der Linearität – aufrechterhalten werden kann, wenn die Politik für ihre Entscheidungen speziell nach dem Wissen sucht, welches zur

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Komplexitätsreduktion und zur strategischen Selektion von Optionen beiträgt (Weingart/Lentsch 2008, 31). Damit greift sie doch indirekt in die Konstruktion der epistemischen Autorität ein. Tatsächlich zeigen jüngere Arbeiten zur Beratung, dass diese eine Arena konsti­ tuiert, in der Politik und Wissenschaft »über die Grenzen zwischen politischer und epistemischer Autorität verhandeln« (Korinek/Veit 2013, 267). Folglich ist die Konstruktion der epistemischen Autorität Teil der Beratung und wird zum Beispiel durch advokatorische und technokratische Diskurse beeinflusst (vgl. Straßheim 2013, 80). Dies führt zu Konflikten in der Beratung, denn Politik und Wissenschaft streiten um die Kontrolle der Wissensproduktion. Dabei wird auch um die Grenzen zwischen Politik und Wissenschaft gestritten (Gieryn 1983, 789), was nicht ohne Auswirkung auf die Produktion des Wis­ sens bleibt und die Annahme einer stabilen Wissensproduktion des Modells konterkariert. Das wissenschaftsbasierte Beratungswissen wird erst in Anbetracht einer Problemlage aktuell und u.U. auch nur dafür produziert. Es wird in Stellungnahmen, Gutachten oder vertraulichen Berichten via Voten zur Verfügung gestellt (Korinek/ Veit 2013, 265); seine Form und Qualitätssicherung orientieren sich an »kontextspezifischen sozialen, politischen und ökonomischen Kri­ terien« (Weingart/Lentsch 2008, 20) oder der medial-öffentlichen Reputation der Expert:innen (Korinek/Veit 2013, 265). Die Produk­ tion des Beratungswissens setzt eigene Standards und differenzierte Bewertungs- wie auch Qualitätskriterien, die nicht dieselben wie in der Wissenschaft sind. Dementsprechend bestimmt die Fähigkeit zur Produktion dieses Wissens, ob wissenschaftliche Expert:innen in die Beratung einbezogen werden. Nur wer in der Wissenschaft in der Lage ist, entsprechendes Wissen situativ »zu liefern«, qualifiziert sich für die Politik als Partner. Die hier angesprochenen Punkte formulieren eine systematische Kritik an den dem traditionellen Modell zugrundeliegenden Ideen des linearen Wissenstransfers aus der Wissenschaft, der Stabilität wissenschaftlichen Wissens und der Auswahl einschlägiger Expertise. Diese Kritik an der idealisierten Autonomie und dem Status des unter­ schiedlichen Wissens wurde auch in anderen Arbeiten aufbereitet.3 Im Lichte der Corona-Krise verschärfen sich die damit zusammen­ 3 Vgl. etwa Weingart (2001), der die politische Neutralität der Wissenschaft hinter­ fragt. Daran schließt sich eine vielfältige Kritik an der Rolle der Expert:innen (Nichols 2017), dem (finanziellen) Einfluss der Politik auf die Wissenschaft (Hacker/Artmann 2018), der Reduktion auf bestimmte Wissensformen (Hörning 2001), der Qualität

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hängenden Probleme teils drastisch, was die Notwendigkeit einer Revision des traditionellen Modells immer dringlicher werden lässt und dazu einlädt, das Verhältnis von Wissenschaft und Politik grund­ sätzlich neu zu denken.

2.2 Reaktionen auf die Pandemiepolitik Die COVID-19-Pandemie stellt einen Stresstest für das demokrati­ sche Regieren (Korte 2021, 26) und für das traditionelle Modell wis­ senschaftsbasierter Politikberatung dar. Bei der wissenschaftlichen Aufarbeitung dieses Stresstests sollten auch die Grenzen des traditio­ nellen Modells der Politikberatung genauer betrachtet werden. Tat­ sächlich aber greift sowohl die einschlägige politikwissenschaftliche als auch die stärker an Organisations- und Administrationsprozessen orientierte verwaltungswissenschaftliche Analyse und Bilanzierung der Erfolge und Fehler der politischen Reaktion auf die Pandemie auf interessante Weise zu kurz. Insbesondere Fragen nach dem Wis­ sensproduktionsprozess in der Politikberatung und der adäquaten Einbeziehung wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Politik werden nicht explizit gestellt. Stattdessen konzentrieren sich diese Arbeiten auf drei Aspekte: Analyse: Hierzu zählen vor allem die ersten wissenschaftlichen Arbeiten, die das Feld für die Auseinandersetzung mit der politischen Steuerung der Pandemie bereitet haben (Capano et al. 2020). Sie sammeln und systematisieren die politischen Reaktionen auf die Pandemie in China, Italien, Singapur, Südkorea, Kanada, Hong Kong, Türkei, Israel, USA und Schweden. Diese Systematisierung von Diffe­ renzen der politischen Maßnahmen und die Suche nach Erklärungen für deren Varianz wird von einer Reihe weiterer Arbeiten fortgeführt (Jasanoff et al. 2021; Shvetsova et al. 2020; Toshkov et al. 2021). Evaluation: Eine Erweiterung des Diskurses stellen die Arbeiten dar, die basierend auf den stetig angepassten Analysen die politischen Reaktionen evaluieren. Da sich aber die Kriterien für die Evaluation in der Pandemie verändern bzw. durchaus umstritten sind (Boin/Lodge 2021), müssen diese Ansätze vorsichtig agieren. Relativ unkompli­ ziert ist es hier noch für Risikoperspektiven, verfügen diese doch des Wissens (Weingart/Lentsch 2008, 39) und auch der Wissenschaft an sich an (Nowotny 1999; Kurath 2005).

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über differenzierte und erprobte Kriterien des adäquaten Risikoma­ nagements (Collins et al. 2020). Einen komplexen Ansatz verfolgt Korte, indem er das Regieren in der Pandemie zu einem idealtypischen Modus des »kurartierten Regierens« erhebt (2021). Eine weitere Form der Bewertung verbindet die wissenschaftliche Evaluation der Pande­ mie mit der Evaluation existierender Konzepte wie »Government« und »Governance« (Ying et al. 2021). Andere Autoren betten die Bewertung der politischen Bearbeitung der Pandemie in das Konzept der »wicked problems« ein, womit sich ein theoretisch begründetes Set an weiteren Evaluationskriterien erschließt (Angeli et al. 2021). Optimierung: Natürlich spielen Referenzen zur Praxis auch bei den genannten Arbeiten zur Evaluation schon eine Rolle (Jans­ sen/van der Voort 2020, 6; Ying et al. 2021, 211). Dennoch ist es hilfreich, Arbeiten mit einem spezifischen Optimierungsangebot für die Praxis separat aufzuführen. Optimierungsangebote können stark formalisiert als abstrakte Heuristiken vorliegen (Lee et al. 2020) oder zentrale Erkenntnisse als Leitlinien politischen Handelns aufbereiten (Collins et al. 2021, 1078f.). Auld et al. (2021) diskutieren auf der Grundlage des »wicked problems«-Ansatzes Empfehlungen zur Kommunikation, Deliberation und Kontrolle intervenierender Expert:innenstatements. Andere Ansätze zur Optimierung entwi­ ckeln Leitideen erfolgreicher Beratung, wie Resilienz, Robustheit oder Evidenz (Korte 2021; Ansell et al. 2021; Lancaster et al. 2020). Diese Gruppierung der Beiträge ist natürlich programmatisch, und einige Arbeiten decken simultan mehrere Zielrichtungen ab. Wir verzichten hier auf den produktiven Strang der politiktheoretischen und -philosophischen Kritik, der die Pandemiepolitik demokratie­ theoretisch bzw. ethisch bewertet und eigene Optimierungsstrategien anbietet (Greitens 2020; Heuling 2020). Deren Ausklammerung erklärt sich aus unserem Fokus auf die Beziehung von Politik und Wissenschaft, die sich einer rein demokratietheoretischen Analyse entzieht (Bogner 2021). Indes zeigt sich, dass in keinem der drei angesprochenen Themenfelder die Praxis der wissenschaftlichen Poli­ tikberatung in der Krise eine nennenswerte Rolle spielt.

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2.3 Kritik der Kritik Angesichts des massiven Einflusses wissenschaftlicher Expertise auf die Ziele und Gestaltung der Politik in der Pandemie, insbesondere durch epidemiologische Modelle (vgl. Birch 2021; van Basshuysen et al. 2021), verwundert es, dass in der politikwissenschaftlichen Literatur spezifische Analysen und Bewertungen des wissenschaft­ lichen Wissensproduktionsprozesses im Kontext der Politikberatung bisher weitgehend fehlen. Zwar wird der Wert des Wissens für die Generierung politischer Entscheidungen anerkannt und der Rahmen einer möglichst effizienten Vermittlung dieses Wissens in die Politik diskutiert. Indes gibt es noch keine spezifisch politikzentrierte Syste­ matisierung des Produktionsprozesses im Hinblick auf die Auswahl, Begründung und zielgruppenorientierte Aufbereitung des Wissens, die neben der epistemischen Ebene auch die wissenschaftsinternen Dynamiken beachtet. Stattdessen legt der Überblick der politikund verwaltungswissenschaftlichen Verarbeitung des pandemischen Stresstests nahe, dass die traditionelle Vorstellung von Politikbe­ ratung als Bereitstellung von Expertise nicht hinterfragt, sondern gespiegelt wird.4 Die politikwissenschaftliche Kritik beschränkt sich hauptsächlich auf Vorschläge zur Prozessoptimierung und organisa­ torische Aspekte, die das grundsätzliche Verhältnis von wissenschaft­ lichem Wissen und Politik in der Politikberatung unangetastet lassen. Einige aus der Beratungspraxis entstammende Empfehlungen gehen teilweise in die richtige Richtung, indem sie einzelne Aspekte der Wissensproduktion ansprechen. So identifiziert die FriedrichEbert-Stiftung in einem im Zuge der Pandemie entstandenen Impulspapier zehn Verbesserungsvorschläge für die wissenschaftli­ che Politikberatung. Dazu gehören neben Gesichtspunkten wie mehr Transparenz und bessere Kommunikation auch: mehr Pluralität, die Ablehnung von Rosinenpicken, eine bessere Datenerhebung, die krisenfeste Institutionalisierung von Beratung und die Stärkung der Wissenschaft insgesamt (vgl. Molthagen-Schnöring/Wöpking 2021). Obschon Empfehlungen dieses Typs beispielsweise auf die 4 Auf den ersten Blick bildet der Beitrag von Pamuk (2021), der die Schwierigkeiten einer politikberatenden Wissenschaft in der Pandemie diskutiert, eine Ausnahme. Durch die Forderung, Beratung müsse effizienter werden und die Bereitstellung wissenschaftlicher Informationen solle sich noch stärker an den Bedürfnissen der Politik orientieren, bleibt Pamuks Evaluation wissenschaftlicher Beratung allerdings auf den Aspekt der Kommunikation beschränkt.

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Wichtigkeit einer pluralen Wissensbasis hinweisen, greifen sie nicht weiter in die Wissensproduktion ein. Sie plädieren für eine »Pro­ duktvielfalt« der Wissenschaft, blenden aber die Bedingungen ihrer Entstehung aus. Ähnliches lässt sich von einer Analyse der KonradAdenauer-Stiftung sagen, die feststellt, dass die Wissenschaft häufig nur über unsicheres Wissen verfügt (z.B. in der Pandemie), sie aber dennoch in der Lage ist, mittels Plausibilisierung gute Beratung zu leisten, wenn sie auf eben diesen Charakter des Wissens dezidiert hinweist (vgl. Arnold 2020, 4). Hier wird auf die Notwendigkeit einer verbesserten Kommunikation von Unsicherheit in der Wissensbasis hingewiesen, ohne allerdings die konstitutive Rolle von Unsicherhei­ ten im Wissensproduktionsprozess selbst zu thematisieren. In beiden Empfehlungen wird eine Kritik der erfolgten Beratung in der Pandemie geleistet und Verbesserungsvorschläge unterbreitet. Was jedoch an dieser Kritik kritisiert werden kann, ist ihr unkritischer Blick auf das wissenschaftliche Wissen entsprechend des traditionel­ len Modells wissenschaftlicher Politikberatung mit seinen Vorstell­ ungen von Linearität, Stabilität und Expertise. Eine entscheidende Frage bleibt zumeist ausgeklammert: Wie sollte der Prozess der Wissensproduktion selbst gestaltet sein, um eine wissensbasierte Politikgestaltung möglichst effektiv und zielgerichtet zu unterstüt­ zen? Diese Frage rückt das Fundament der Politikberatung, d.i. das Wissen, direkt in den Blick.

3. Einsichten aus der Wissenschaftsphilosophie Im Folgenden werden drei wissenschaftsphilosophische Themenfel­ der besprochen, die für die Frage, wie Wissen produziert werden sollte, um politische Entscheidungen fruchtbar unterstützen zu kön­ nen, von besonderer Relevanz sind: epistemischer Pluralismus (3.1), die Rolle von Werten (3.2) und Unsicherheit (3.3). Es handelt sich dabei um wissenschaftsphilosophische Themen, die seit Jahrzehnten oder noch länger breit diskutiert werden. Diese Diskussionen finden allerdings selten mit Blick auf das Problem der Politikberatung statt. Die folgenden Erörterungen zielen daher darauf ab, Einsichten aus der neueren wissenschaftsphilosophischen Literatur für Diskussionen in den Politikwissenschaften fruchtbar zu machen und das Feld für ein alternatives Modell der wissensbasierten Politikberatung zu bereiten, das nicht allein auf eine Optimierung des traditionellen Modells

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abzielt, sondern direkt an der Wissensproduktion ansetzt und von einem über das wissenschaftliche Wissen hinausreichenden Wissens­ begriff ausgeht.

3.1 Epistemischer Pluralismus Die Frage des Pluralismus in der wissenschaftlichen Forschung ist ein klassisches Thema der Wissenschaftsphilosophie des 20. Jahrhun­ derts. Im Logischen Empirismus/Positivismus wurde der Pluralismus zunächst mit Blick auf die Möglichkeit einer Einheitswissenschaft diskutiert (vgl. Cat 2021 für einen Überblick über verschiedene Varianten dieser Idee). Seit den 1970er Jahren wird die Möglich­ keit einer Einheitswissenschaft vor dem Hintergrund historischer Fallstudien und einer stärkeren Hinwendung zur tatsächlichen Praxis wissenschaftlicher Forschung allerdings zunehmend kritisch betrach­ tet. In der Wissenschaftsphilosophie rückt die Erforschung unter­ schiedlicher epistemologischer Grundannahmen und Methodologien einer pluralistischen Wissenschaftslandschaft in den Vordergrund. Dabei wird der real existierende Pluralismus in den Wissenschaften unter normativen Gesichtspunkten durchaus kontrovers betrachtet. Es wird diskutiert, inwieweit wissenschaftlicher Pluralismus einen ontologischen oder epistemologischen Relativismus nahelegt und zu einem unübersichtlichen und womöglich unüberbrückbaren Dis­ sens zwischen verschiedenen wissenschaftlichen Perspektiven führt. Von Befürwortern eines wissenschaftlichen Pluralismus wird eben dieser im Sinne einer fruchtbaren Perspektivenvielfalt ausdrücklich begrüßt. Ansätze zu einer Analyse der epistemischen Vorzüge des Pluralismus für die kollektive Wissensproduktion finden sich bereits bei John Stuart Mill (1859). Paul Feyerabend hat später die Mill’schen Ideen aufgegriffen und eine spezifische Version des epistemischen Pluralismus entwickelt, in welcher die Wichtigkeit von alternativen Methoden und Theorien für die Aufdeckung von Mängeln in her­ gebrachten Ansätzen innerhalb der Wissenschaft betont wird (vgl. Feyerabend 1970a; 1975; Lloyd 1997; siehe hierzu auch Lohse/Bschir 2020). Viele der neueren Beiträge zum epistemischen Pluralismus heben ebenfalls die korrektive und wissensfördernde Funktion des epistemischen Pluralismus hervor (vgl. Kellert et al. 2006).

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Interessanterweise haben im Umfeld der wissenschaftlichen Politikberatung zu COVID-19 vergleichbare Diskussionen stattge­ funden. Nach einigen Monaten Pandemie wurde insbesondere in der öffentlich-medialen Diskussion festgestellt, dass es einen gewissen Pluralismus in der wissenschaftlichen Sichtweise auf die Pandemie gibt – und zwar sowohl in inter- als auch in intradisziplinärer Hin­ sicht. Dieser zeigte sich unter anderem in kontroversen Einschätzun­ gen zur Aussagekraft von epidemiologischen Computermodellen, in unterschiedlichen Vorstellungen zu den (primären) Übertragungs­ wegen von SARS-CoV-2 und in voneinander abweichenden wissen­ schaftlichen Bewertungen möglicher Eindämmungsstrategien. Auch im Kontext der Pandemie wurde der Pluralismus normativ kontrovers diskutiert.5 Einerseits wurde der Dissens-Aspekt in den Vordergrund gerückt, etwa wenn beklagt wurde, dass es keine Einigkeit in der Wissenschaft gäbe und insofern keine verlässlichen Vorgaben für die Politik gemacht werden könnten. Entsprechende Diskussionen fanden sowohl in politischen Talkshows und sozialen Medien als auch in akademischen Settings statt. Andererseits gab es Stimmen, die sich für einen epistemischen Pluralismus in der Politikberatung aus­ sprachen, diesen im Sinne eines produktiven Perspektivenpluralismus sogar gestärkt sehen wollten (vgl. z.B. das oben genannte Papier der Ebert-Stiftung und das Corona-Positionspapier des Wissenschaftsra­ tes 2021). Der Widerspruch beider Sichtweisen auf den Pluralismus in der wissenschaftlichen Politikberatung lässt sich unseres Erachtens überwinden, wenn es gelingt, den angesprochenen Dissens produktiv für einen epistemischen Pluralismus auszuweisen, der weder in einem einfachen Konsensmodell noch in einem bloßen Nebeneinander von Perspektiven aufgeht. Vielmehr muss es darum gehen, alternative epistemische Ansätze und Perspektiven zu einem epistemischen Problem auf eine solche Weise in Kontakt miteinander zu bringen, dass Unzulänglichkeiten und Einseitigkeiten der jeweiligen Herange­ hensweisen ans Licht gebracht und besser verstanden werden können, 5 Schon auf Basis dieser Beobachtung erscheint die Charakterisierung weiter Teile der politikberatenden Wissenschaft als gleichgeschaltet im Rahmen einer technokra­ tischen Steuerung der Gesellschaft mit totalitären Merkmalen (vgl. den Beitrag von Esfeld/Kotchoubey in diesem Band) als irreführend. Sowohl innerhalb als auch außerhalb der Wissenschaft fanden durchaus unterschiedliche Sichtweisen Gehör. Auch die rechtsstaatliche Kontrolle der Exekutive – insbesondere (aber nicht nur): durch Gerichte – war zu keinem Zeitpunkt ausgehebelt.

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um darauf aufbauend ein adäquateres Bild eines komplexen Sachver­ haltes (wie einer Pandemie) in den Blick zu bekommen. Eine weitere Stärkung des Potentials einer pluralistischen Poli­ tikberatung lässt sich durch eine Ausweitung der verfügbaren Wis­ sensquellen erreichen, die neben den Natur- und Sozialwissenschaf­ ten weitere epistemische Ressourcen und Perspektiven aus der Gesellschaft in den Politikberatungsprozess mit einbezieht. Damit kann vorhandenes, aber wissenschaftlich kaum verfügbares gesell­ schaftliches Wissen für die Politik mobilisiert werden. Zudem kann dies der Gefahr einer Expertokratie bzw. einer »Top-Down-Episte­ misierung« des Politischen entgegenwirken (vgl. Bogner 2021; Fey­ erabend 1970b). Dazu bedarf es eines Forums, in dem inter- und transdisziplinäre Perspektiven und Expertisen in einen deliberativen Austausch treten. Ein solches Forum, im Sinne Mills und Feyerabends, soll in Abschnitt 4 in seinen Grundzügen skizziert werden.

3.2 Die Rolle von Werten Wie oben herausgestellt wird, ist die gegenwärtige institutionelle Organisation wissenschaftlicher Politikberatung stark vom Ideal der wertfreien Wissenschaft geprägt, das eine klare Rollenteilung zwischen Wissenschaft und Politik vorsieht: Die Wissenschaft pro­ duziert robustes und durch Evidenzen gestütztes Wissen über die empirische Realität, und die Politik trifft Entscheidungen auf der Grundlage dieses Wissen und unter Einbezug relevanter Werte und gesellschaftlicher Interessen.6 Innerhalb dieses Schemas fällt der Wissenschaft eine weitgehende epistemische Autorität zu. Poli­ tische, moralische oder ökonomische (d.i. nicht-epistemische) Wert­ urteile werden dagegen explizit aus dem Zuständigkeitsbereich der Wissenschaft ausgeschlossen. Argumente für das Wertfreiheitsideal zielen typischerweise auf die Sicherung der Unabhängigkeit wissen­ schaftlicher Forschung sowie die Glaubwürdigkeit ihrer Resultate ab. Werte können weder das Produkt wissenschaftlicher Forschung sein, noch darf die Rechtfertigung der Resultate dieser Forschung 6 Zur Geschichte des Wertfreiheitsideals siehe Douglas (2009, Kap. 3) und Proctor (1991). Zur terminologischen Unterscheidung zwischen »wertfreier« und »wertneutraler« Wissenschaft siehe Schurz in diesem Band. Zum Begriff der Robustheit wissenschaftlicher Beratung siehe Weingart/Lentsch (2008, 50ff.).

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durch nicht-epistemische Werte beeinflusst sein. Nicht-epistemische Werte mögen vielleicht innerhalb des Entstehungszusammenhangs und bei der Anwendung von wissenschaftlichem Wissen ins Spiel kommen, innerhalb des Rechtfertigungszusammenhangs dürfen sie jedoch keine Rolle spielen. Nur dadurch, so die Idealvorstellung, kann die Glaubwürdigkeit und Objektivität wissenschaftlicher Resultate gewährleistet werden (siehe hierzu Weber 1917). Das Wertfreiheitsideal in seiner strikten Form beschränkt den Verantwortungsbereich der Wissenschaften und der Personen, die wissenschaftlich tätig sind, allein auf die objektive Wahrheits­ suche, eine transparente und wahrheitsgetreue Kommunikation wissenschaftlicher Erkenntnisse und die Normen der guten wis­ senschaftlichen Praxis. Es finden sich in der neueren wissenschafts­ philosophischen Literatur jedoch auch Beiträge, welche das Wertfrei­ heitsideal in Frage stellen. Sie sind auf Argumente angewiesen, welche nicht-epistemischen Werten eine angemessene Rolle im Prozess der wissenschaftlichen Wissensproduktion und insbesondere auch in Rechtfertigungszusammenhängen zuweisen. Das Argument vom induktiven Risiko ist eines dieser Argumente. Es legt den Schluss nahe, dass Werturteile notwendigerweise immer dann ins Spiel kommen, wenn das Akzeptieren oder Verwerfen von empirischen Hypothesen mit dem Risiko von induktiven Fehlern behaftet ist (bspw. das Akzeptieren von tatsächlich falschen Hypothesen auf Basis eines bestimmten Evidenzstandards), und diese Fehler ernsthafte gesellschaftliche Konsequenzen nach sich ziehen können. Das ist bspw. in Disziplinen wie Toxikologie oder Epidemiologie oft der Fall. In solchen Fällen erfordert das Akzeptieren oder Verwerfen von Hypothesen, so das Argument, nicht nur eine sorgfältige Prüfung der empirischen Evidenz, sondern auch die Erwägung normativer Fakto­ ren.7 In den letzten Jahren sind zahlreiche Beiträge zum Argument des induktiven Risikos entstanden (vgl. z.B. Douglas 2000; 2007; 2009; Wilholt 2009; Steel 2010; Betz 2013; Brown 2013; De Melo-Martin/ Intemann 2016; Elliot 2017; Elliot/Richards 2017). Die Beiträge der jüngeren Wissenschaftsphilosophie zur Rolle von Werten bei der Produktion von gesellschaftlich relevantem empirischen Wissen 7 Eine frühe Version des Arguments wurde von Rudner (1953) vorgetragen. Für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Argument und eine differenzierte Analyse seiner Implikationen für das Wertfreiheitsideal siehe Beisbart in diesem Band.

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sind insofern wichtig für die Frage, wie wissenschaftliches Wissen in politische Entscheidungsprozesse eingebunden werden sollte, als sie mindestens zwei Aspekte deutlich machen: Erstens, dass Wertein­ flüsse unter gewissen Umständen bereits bei der Produktion und der Evaluation von wissenschaftlichem Wissen eine konstitutive Rolle spielen können, und zweitens, dass die moralische Verantwortung für die Folgen von Entscheidungen, welche auf der Basis wissenschaftli­ chen Wissens getroffen werden, nicht vollständig auf die Politik bzw. die Gesellschaft als Ganze abgewälzt werden kann. In der Praxis der wissenschaftlichen Politikberatung erweist sich insbesondere das Herstellen von Transparenz bezüglich Werteinflüs­ sen auf den Prozess der Wissensproduktion als Herausforderung. Dass sich empirische und normative Fragen in der Beratungspraxis mitunter kaum systematisch auseinander halten lassen, zeigt sich deutlich am Beispiel einer Stellungnahme, welche die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina im Dezember 2020 zur COVID-19-Pandemie abgegeben hat, in der sie sich für einen harten Lockdown zum Jahresende aussprach (Leopoldina 2020). Die Tatsa­ che, dass diese Empfehlung auf vorhandener Evidenz beruhte und empirisch nachgewiesen werden konnte, dass der Grad der damals geltenden Kontaktbeschränkungen nicht ausreichend war, um die Infektionszahlen unter einem bestimmten Niveau zu halten, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass bestimmte Vorgehensweisen in komplexen Krisen niemals durch empirische Evidenz und Daten allein determiniert sind. Eine Empfehlung wie die eines harten Lockdowns kann nur unter Berufung auf die Überzeugung begründet werden, dass der Schutz der öffentlichen Gesundheit eine entsprechende Einschränkung der Freiheitsrechte rechtfertigt. Dabei handelt es sich wohlgemerkt um eine normative Erwägung und nicht um eine empi­ rische Erkenntnis. Wenn Wissenschaftler:innen eine Alternative aus­ wählen und gleichzeitig andere Alternativen dezidiert zurückweisen, dann kann von »normatively heavy scientifc advice« gesprochen werden, der evaluative/normative Begründungen mit empirischen Aussagen in Form eines »mixed judgement« vermischt (Birch 2021, 5ff.). Genau dieser Aspekt blieb aber in der Stellungnahme der Leopoldina verborgen. Die Werteprioritäten, welche der Empfehlung

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– neben den empirischen Evidenzen – zugrunde lagen, wurden nicht transparent gemacht.8 Die implizite Vermischung von normativen und epistemischen Fragen und Intransparenz bezüglich normativer Elemente in wissens­ basierten Entscheidungen sollten in einem revidierten Modell der Politikberatung aus mindestens zwei Gründen vermieden werden. Zum einen sind politische Entscheide und Maßnahmen kaum glaub­ würdig zu rechtfertigen, wenn die ihnen zugrunde liegenden Werte­ prioritäten nicht klar und verständlich kommuniziert werden. Zum anderen ist es dem Vertrauen der Öffentlichkeit gegenüber wissen­ schaftlichen Expert:innengremien kaum zuträglich, wenn diese Hand­ lungsempfehlungen abgeben und dabei vorgeben, allein aufgrund der vorliegenden Evidenz zu argumentieren, obwohl die Empfehlungen klare Wertorientierungen aufweisen.9 Ein alternatives Modell der wissensbasierten Politikgestaltung, das bereits bei der Produktion des wissenschaftlichen Wissens ansetzt, sollte daher der Tatsache Rechnung tragen, dass Wertein­ flüsse bereits bei der Wissensproduktion konstitutiv sein können. Werteinflüsse sollten zudem immer dann transparent gemacht wer­ den, wenn wissenschaftliche Expert:innengremien vorhandene Evi­ denzen direkt in Handlungsempfehlungen übersetzen (so wie dies im Beispiel der Leopoldina 2020 der Fall war).

3.3 Umgang mit Unsicherheit Dem Status wissenschaftlichen Wissens ist in der Wissenschaftsphi­ losophie mit Blick auf dessen Auszeichnungsmerkmale hohe Auf­ merksamkeit geschenkt worden. Hier kann der Vielzahl der damit verbundenen Fragestellungen nicht genüge getan werden. Vielmehr möchten wir nur auf einige Aspekte im Kontext der Unsicherheit wissenschaftlichen Wissens eingehen, die für unsere Themenstellung 8 Siehe hierzu Hirschi (2021). Zur Vermischung von empirischen und normativen Fragen siehe auch Weingart (2001) (von Hirschi zitiert). Neben der Empfehlung der Leopoldina wurde auch der radikale Kurswechsel in der britischen Corona-Politik maßgeblich durch eine »mixed judgement«-Empfehlung der SAGE beeinflusst (vgl. Birch 2021). 9 Zum Argument, dass die Wissenschaft umso glaubwürdiger ist, je transparenter sie Werteinflüsse auf ihre Ergebnisse oder Empfehlungen kommuniziert, siehe Ores­ kes (2019).

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besondere Relevanz hat. Mit der Unsicherheit wissenschaftlichen Wissens ist einerseits die grundsätzliche Begrenztheit, Vorläufigkeit und Fehlbarkeit wissenschaftlicher Erkenntnis angesprochen, die besonders im kritischen Rationalismus betont wird. Der Clou von Popper (1992) ist dabei, eben diese Vorläufigkeit als Qualitätsmerk­ mal der Wissenschaft hervorzuheben. Neue Erkenntnisse führen immer wieder zu Revisions- und damit zu Lernprozessen, die in der Wissenschaft institutionell und methodisch verankert sind. Zum anderen geht es um die spezifische Unsicherheit von bestimmten Modellen und wissenschaftlichen Aussagen. Unsicherheit kann hier unterschiedliche Quellen haben, etwa durch die Indeterminiertheit bestimmter Prozesse oder durch begrenztes Wissen über unsere kom­ plexe Welt verursacht sein, und sie kann unterschiedliche Auswirkun­ gen auf die Aussagekraft wissenschaftlicher Modelle und Aussagen haben (vgl. Gustafson/Rice 2020). Eine zentrale Einsicht in diesem Zusammenhang ist, dass Unsicherheiten sich häufig nicht quantitativ, mittels Wahrscheinlichkeiten oder subjektiven Überzeugungsgraden, präzise ausdrücken lassen. Häufig kann nur eine grobe qualitative Einschätzung erfolgen.10 Die Unsicherheit wissenschaftlichen Wissens ist im Zusammen­ hang mit der COVID-19-Pandemie deutlich in den Vordergrund getreten. Das ist einerseits der Tatsache geschuldet, dass der wissen­ schaftliche Erkenntnisprozess quasi als Live-Mitschnitt im Fokus der Öffentlichkeit stand. Vorläufige Ergebnisse wissenschaftlicher Studien wurden auf Pressekonferenzen zur Rechtfertigung politischer Maßnahmen zitiert, während die zugrundeliegenden Preprints schon auf Twitter auseinandergenommen wurden. Zum anderen erhöhte auch das hohe Tempo, mit dem wissenschaftliche Erkenntnisse in kürzester Zeit nachgefragt und erzeugt wurden, erwartbar den Grad an Unsicherheit eben dieser Erkenntnisse. Diese Situation einer fast science provozierte Diskussionen um die generelle Unsicherheit der wissenschaftlichen Wissensbasis zu COVID-19 und die Rationalität einer Politik, die den Einsichten der Wissenschaft folgt (vgl. z.B. Ioannidis 2020; Köppe 2021). Kritisiert wurde nicht nur, dass wissen­ schaftliche Erkenntnisse zur Pandemie instabil und einem stetigen Vgl. hierzu auch die klassische Unterscheidung zwischen Risiko (quantifizierbar) und Unsicherheit (nicht quantifizierbar) des Ökonomen Frank Knight (1921; siehe auch Keynes 1937). Hansson (2009) hat auf die Probleme hingewiesen, die der Versuch, in Entscheidungskontexten Unsicherheiten auf Risiken zu reduzieren, nach sich ziehen kann. 10

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Wandel unterworfen waren. Auch gab es Kritik daran, dass Unsi­ cherheit, insbesondere von epidemiologischen Modellierungen, von Seiten der Wissenschaft mitunter nicht transparent kommuniziert oder von Politik und Öffentlichkeit nicht richtig verstanden und eingeordnet wurde (vgl. Saltelli et al. 2020). Schließlich hat der oben angesprochene Eindruck eines pluralistischen Dissenses den Eindruck der Unsicherheit der wissenschaftlichen Wissensbasis verstärkt. Als Antwort auf diese Kritik wurden vor allem zwei inein­ andergreifende Strategien empfohlen. Zum einen sollte ein besse­ res Verständnis des wissenschaftlichen Forschungsprozesses in der Bevölkerung gefördert werden, damit der Wandel wissenschaftlicher Erkenntnisse nicht als grundsätzliches Problem, sondern gerade als wünschenswerter Aspekt des Erkenntnisprozesses betrachtet wird. Hier soll es also darum gehen, das Trugbild der Wissenschaft als Garant von sicherer Erkenntnis durch das adäquatere Bild der Wissen­ schaft als durch Fehler systematisch dazulernenden, rationalen Pro­ zess zu ersetzen. Zum anderen soll die Rolle der Wissenschaftskom­ munikation gestärkt werden, gerade wenn es darum geht, den Grad an Unsicherheit wissenschaftlicher Modelle und Aussagen transparent zu machen. Diese Bestrebungen sind zu begrüßen, müssen allerdings im Rahmen eines alternativen Modells der Politikberatung genauer spe­ zifiziert werden. Die Fallibilität und Vorläufigkeit wissenschaftlicher Erkenntnis muss als Normalfall im Prozess der wissenschaftlichen Politikberatung und ihrer Kommunikation verankert werden. Ein wesentliches Element ist hier die Hervorhebung des Nicht-Wissens als zentraler und entscheidungsrelevanter Unsicherheitsfaktor, derjeni­ gen Bereiche also, über die (noch) kein stabiles Wissen zur Verfügung steht und die sich durch fortschreitende Forschung stets verändern und verschieben (vgl. dazu den Beitrag von El Kassar in diesem Band). Das gilt insbesondere dann, wenn aufgrund von zu wenigen Studien und Zeitdruck kein stabiler wissenschaftlicher Konsens zu einem komplexen Problem besteht, auf den zurückgegriffen werden kann.11 Zudem muss der Umgang und die Kommunikation mit wissenschaft­ 11 Wissenschaftlicher Konsens ist nicht mit der Mehrheitsmeinung der wissenschaft­ lichen Gemeinschaft zu verwechseln. Er ist vielmehr das Resultat einer kritischen Diskussion auf Basis empirischer Studien und theoretischer Argumente. Wenn 9 von 10 Wissenschaftler:innen ohne adäquate Bezugnahme auf empirische oder theoreti­ sche Evidenz der Meinung X sind, ist das kein wissenschaftlicher Konsens.

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licher Unsicherheit in der Politikberatung differenzierter als bislang und mit Blick auf praktische Implikationen erfolgen.

4. Grundzüge eines alternativen Modells Aus diesen Ausführungen lassen sich Bedingungen ableiten, denen ein adäquateres Modell der Politikberatung genügen muss. Ers­ tens muss ein solches Modell plurale epistemische Ressourcen der Gesellschaft sinnvoll miteinander verknüpfen, zweitens Wertfragen bei der Wissensproduktion und der Erarbeitung von Empfehlun­ gen angemessen einbeziehen und transparent machen und drittens differenzierter als bislang mit der Unsicherheit wissenschaftlicher Erkenntnisse umgehen. Die formulierten Bedingungen haben auf unterschiedlichen Ebenen Auswirkungen auf die Politikberatung, bei der relevante Akteure aus Wissenschaft, Verwaltung und Zivilgesell­ schaft in »epistemic communities« sowohl zu Beginn des Prozesses bei der Artikulation bzw. dem Framing von politisch zu bearbeitenden Problemen als auch bei der Umsetzung von Maßnahmen beratend tätig sind (vgl. dazu Howlett 2019, 418). Im Folgenden werden wir in der gebotenen Kürze diese Auswirkungen idealtypisch skizzieren und damit Grundzüge eines integrativen Modells der Politikberatung darlegen, die so allgemein sind, dass sie als Orientierungsrahmen für wissensbasierte Beratungen von Politik fungieren können.12

4.1 Auswahl von Expert:innen Mit der Forderung nach einem Mehr an Pluralismus ist sowohl das während der Pandemie häufig thematisierte Gebot einer adäquaten intradisziplinären Diversität (Drosten vs. Streeck) als auch die Aus­ weitung der zu berücksichtigenden wissenschaftlichen Disziplinen bei der Auswahl von Expert:innen angesprochen. Bei einem vertrackten Problem wie einer Pandemie ist es zum Beispiel notwendig, nicht vor­ eilig das Feld der als relevant betrachteten Expertise einzuschränken. Also ist es im Prinzip sowohl auf langfristige, generalisierte Beratungen in diversen Gremien als auch auf kurzfristige, fachlich spezifische Beratung, z.B. in der institutio­ nalisierten Ressortforschung, anwendbar. 12

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Die Politik kann angesichts der Komplexität der Situation aber auch unter dem Entscheidungsdruck weder selbst entscheiden, wer über die notwendige Expertise verfügt, noch die Selektion der Wissenschaft überlassen. Einflussreiche Organisationen der Wissenschaften, aber auch ungleich verteilte Zugänge der Disziplinen zu den Medien und der Öffentlichkeit, selektieren das Feld der Expertise einseitig vor. Ein institutionalisierter Pluralismus kann die Politik hierbei entlasten und eine Diversifizierung der Expertise sichern. Neben naturwis­ senschaftlichen, medizinischen und angrenzenden Wissensfeldern sollte generell stärker auf eine substanzielle Einbeziehung sozialwis­ senschaftlicher Disziplinen geachtet werden.13 Um nur einige Bei­ spiele aus der Corona-Krise zur Plausibilisierung anzudeuten: Sozio­ logische und wirtschaftswissenschaftliche Expertise wäre essentiell (gewesen), um ein hochauflösenderes Monitoring der sozioökonomi­ schen Effekte der Pandemie zu etablieren. Dies betrifft besonders das sozial ungleich verteilte Infektionsrisiko und die ungleichen sozioökonomischen Folgen des politischen Pandemiemanagements (Wachtler et al. 2020; Möhring et al. 2021). Gleiches gilt für eine optimierte Implementierung nicht-pharmazeutischer Interventionen in unterschiedlichen sozialen Feldern und die (qualitative) Vorher­ sage der nicht-intendierten Effekte von Lockdown-Maßnahmen (vgl. Lohse/Canali 2021 für Details). Die geforderte Stärkung eines interdisziplinären Profils in der Politikberatung ist ein zentrales Element unseres Modells. Wenn nur bestimmte Faktoren eines komplexen Problems mit empirischer Evidenz für die Politik ausgeleuchtet werden (bspw. medizinische oder wirtschaftliche Faktoren), andere aber nicht, so führt das zwar nicht zwangsläufig zu deren Unsichtbarkeit. Gleichwohl sind diese dann eben schlechter im Blick, was Einseitigkeiten der politischen Berücksichtigung wahrscheinlicher macht, besonders wenn es sich um indirekte Auswirkungen und gesellschaftliche Probleme »unter der Oberfläche« handelt (bspw. soziale Benachteiligungseffekte für marginalisierte Gruppen, vgl. Lohse/Bschir 2021).

13 Am Beispiel der COVID-19-Pandemie: Sozialwissenschaftliche Expertise wurde natürlich nicht komplett ausgeblendet (vgl. etwa das COSMO Snapshot Monitoring). Sie hat allerdings in der Politikberatung insgesamt eine eher untergeordnete Rolle gespielt, was sich in verschiedenen Bereichen gezeigt hat (vgl. z.B. Sell et al. 2021; Streeck 2021).

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Mit der Ausweitung der wissenschaftlichen Disziplinen ist es allerdings nicht getan. Vielmehr gilt es auch jenseits wissenschaftli­ cher Expertise, relevante epistemische Ressourcen in die Politikbera­ tung einzubeziehen. Damit favorisieren wir einen breiten Zugang zur Expertise, welcher neben den traditionellen Stakeholdern wie NGOs oder den »Professionals« aus der Verwaltung vor allem wei­ tere gesellschaftliche Wissensressourcen, die über relevantes prakti­ sches Erfahrungswissen verfügen, aktivieren will (vgl. Büttner/Laux 2021, 25ff.).14 Was jeweils relevant ist, kann natürlich nicht abstrakt bestimmt werden, sondern muss im Kontext des jeweiligen Problems entschieden werden. In der COVID-19-Pandemie wäre bspw. an Expert:innen aus den Bereichen Logistik (medizinische Produkte), Erziehungssystem (Schulen) und Pflege (Seniorenheime) zu den­ ken.15 Mit Blick auf das oben angesprochene Problem der Transpa­ renz bezüglich Werteinflüssen ist der Einbezug von Personen mit der Fähigkeit, normative Implikationen bestimmter empirischer Wis­ sensinhalte zu reflektieren und allfällige Werteinflüsse hervorzuhe­ ben und zu begründen, als besonderes Desiderat des integrativen Modells zu betonen. Dazu bedarf es nicht nur einer Kompetenz, die unterschiedlichen epistemischen Standards und Rechtfertigungs­ ansprüche verschiedener empirischer Disziplinen zu verstehen und zwischen diesen zu vermitteln, sondern insbesondere auch der Fähig­ keit, empirisches Wissen in Beziehung zu normativen Erwägungen zu setzen und diese in adäquate Handlungsempfehlungen zu integrieren. Für diese anspruchsvolle Vermittlungsaufgabe (siehe hierzu unten mehr) drängen sich Personen mit einer Ausbildung in Philosophie oder Ethik mit zusätzlichen profunden Kenntnissen nicht nur der Inhalte, sondern auch der Methoden und Forschungspraktiken unter­ schiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen auf (vgl. die Ausführun­ gen zur Rolle der Philosophie von Mößner in diesem Band).

14 Hier bestehen Anknüpfungspunkte zur Diskussion über die Ausweitung des Wis­ sensbegriffs wie im Kontext von citizen science (vgl. Vohland et al. 2021). Vgl. Lohse/ Bschir (2021) und Bschir/Lohse (2022) zu Problemen bei der Institutionalisierung dieses Ideals, etwa hinsichtlich Effizienz und epistemischer Hierarchien. 15 Die Zusammensetzung der Corona-Beratungsgremien der Länder und des Corona-Expertenrates des Bundes berücksichtigt diesen Gesichtspunkt bislang nur in Ansätzen und fokussiert nach wie vor zu sehr auf Medizin und Epidemiologie sowie die (politische) Risikokommunikation.

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Mit dem Einbezug von Expert:innen aus relevanten Praxisberei­ chen und der Integration normativer Erwägungen wird der Aufga­ benbereich der wissensbasierten Politikberatung deutlich über das Bereitstellen empirischer Fakten erweitert. Für Gremien mit einer derart pluralen Zusammensetzung und Aufgaben, die über das Gene­ rieren und Zusammentragen von empirischen Evidenzen hinausge­ hen, erweist sich die Konstitution als große Herausforderung. Eine Möglichkeit wäre die Einsetzung einer Gruppe von (ständigen) Subgremien auf nationaler Ebene zu unterschiedlichen Politikbereichen, die im Austausch miteinander stehen (denkbar wären beispielsweise: Medizin und öffentliche Gesundheit; Ener­ gie, Versorgung und Infrastruktur; Wirtschaft, Bildung und Sozia­ les; Verteidigung und Sicherheit). Im Unterschied zu herkömmli­ chen Ansätzen bestünden die einzelnen Subgremien gerade nicht nur aus Expert:innen aus dem jeweiligen Themenbereich, sondern jedes Subgremium wäre zusammengesetzt aus wissenschaftlichen Expert:innen aus einer breiteren Vielfalt relevanter Disziplinen, Per­ sonen aus der Praxis, die wissenschaftsexternes Wissen einbringen, sowie Personen, die als interdisziplinäre Vermittler:innen dienen und normatives Reflexionswissen einfließen lassen.

4.2 Pluralistische Wissenssynthese und Erarbeitung von PolicyOptionen Damit es nicht zu einem bloßen Nebeneinander von interdisziplinä­ ren und gesellschaftlichen epistemischen Ressourcen kommt, müssen diese in einem deliberativen Prozess integriert werden. Ziel ist es hierbei, die Pluralität der epistemischen Perspektiven und Wissens­ bestände so zusammenzubringen, dass dadurch ein komplexeres Pro­ blemverständnis erreicht wird und gleichzeitig die Limitationen der jeweiligen Perspektiven zu Tage treten können. Damit dieser positive Effekt des epistemischen Pluralismus tatsächlich entstehen kann, ist eine Form der inter- und transdisziplinären Moderation nötig.16 Die Aufgabe dieser Moderation besteht erstens darin, zwischen den Disziplinen unterschiedliche Zugänge und Ansätze sichtbar zu 16 Diese Vorgehensweise wäre ein deutlicher Fortschritt dazu, wie Politikberatung während der Pandemie in Deutschland über weite Phasen verlief, nämlich ad hoc als separates Abfragen von Expertise unterschiedlicher Expert:innen (vgl. dazu bspw. das Interview mit Viola Priesemann im NDR-Podcast »Die Idee«, 20.12.21).

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machen, und zweitens unter Berücksichtigung dieser Differenzen eine gemeinsame Position zu entwickeln. Für die Sichtbarmachung sind insbesondere drei Aspekte von Bedeutung: Blinde Flecken: Jede wissenschaftliche Disziplin oder auch Sub­ disziplin beobachtet ihren Gegenstand mit spezifischen Vorannah­ men (Theorien, Paradigmen) und Methoden. Die Vorteile selektiver Zugriffe liegen in der Genese von Spezialwissen zum Gegenstand, die von anderen Zugängen nicht erreicht werden können. Die Kosten dieser spezifischen Zugriffe sind blinde Flecken der Beobachtung, die durch die gewählten Theorien bzw. Methoden nicht selbst proble­ matisiert werden. Der moderierte Austausch in der Beratschlagung vermittelt zwischen dem wissenschaftlichen Wissen und weiteren Expertisen und kann dafür sorgen, dass das durch die Fachdisziplin bedingte Nichtwissen durch die Einsichten der anderen Disziplinen und Perspektiven explizit gemacht und damit für alle beobachtet werden kann. Problemverschiebung: Unterschiedliche Disziplinen beobachten ihre Objekte nicht nur spezifisch, sondern sie entwickeln auch eigene Problematisierungen. Die Moderation kann dafür sorgen, dass die Möglichkeit der Problemverschiebung hier produktiv in einem wis­ senschaftlichen Diskurs reflektiert werden kann. Es geht nicht um eine Strategie der Infragestellung von Expertise (vgl. Barlösius/Ruffing 2021, 121), sondern darum, sich durch unterschiedliche disziplinäre Problemdefinitionen kreativ mit der wissenschaftlichen Identifika­ tion des Problems auseinanderzusetzen. Auch an diesem Punkt kann die Berücksichtigung nicht-wissenschaftlicher epistemischer Ressourcen eine wichtige Rolle spielen. Durch ihre Berücksichtigung innerhalb des Deliberationsprozesses kann sie zu einer Abmilderung der Grundproblematik der wissenschaftlichen Politikberatung führen (nicht zu deren Auflösung), nämlich dass hier nur die wissenschaftli­ che Perspektive auf ein Problem entwickelt wird, weshalb die Politik dann in einem nächsten Schritt gezwungen ist, weitere gesellschaftli­ che Aspekte einzubeziehen. Wissensdifferenzen: Differenzierte Unsicherheiten, pluralistische Perspektiven und unterschiedliche Werthaltungen erzeugen ambiva­ lentes Wissen. Die Moderation hat deshalb auch die anspruchsvolle Aufgabe, die Vielfalt und Unterschiedlichkeit dieses Wissens zuzulas­ sen, fair zu kommunizieren und zu vermitteln. Dank dieser Vermitt­ lung werden Wissensdifferenzen nicht automatisch als antagonisti­ sche Wahrheiten verstanden, die moralisch aufgeladen und damit

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problematisch werden. Indem die Moderation die Fairness bei der Berücksichtigung unterschiedlicher Erkenntnisse und Perspektiven fördert, wird die Entwicklung gemeinsamer Positionen wahrscheinli­ cher. Eine weitere zentrale Dimension der Wissenssynthese muss der reflektierte Umgang mit unterschiedlichen Typen von Unsicher­ heit sein. Das betrifft mindestens die folgenden Punkte: (a) Die Berücksichtigung des Zeitfaktors bei der empirischen Erschließung eines epistemischen Problems, bspw. die Einpreisung einer hohen Wahrscheinlichkeit von relevanten unknown unknowns, je kürzer der Zeitraum ist, in dem sich Studien diesem Problem widmen; (b) das Explizitmachen zentraler Unsicherheitsfaktoren, mit denen empirische Erkenntnisse, Modelle und Theorien behaftet sind; und (c) ein deutlich zurückhaltender Umgang mit quantitativen Aussagen und Prognosen, die exakte Wahrscheinlichkeiten für das Eintreten bestimmter Ereignisse beinhalten, insbesondere dann, wenn diese wiederum auf (kaum quantifizierbaren) unsicheren Hintergrundan­ nahmen basieren. In der Diskussion um den Umgang mit wissenschaftlicher Unsi­ cherheit ist deutlich geworden, dass Pluralismus zwar zu mehr Unsi­ cherheit führen kann. Allerdings kann Pluralismus auch der produkti­ ven Aufdeckung und der Abmilderung wissenschaftlicher Unsicherheit dienen. Ersteres ist dann möglich, wenn es zu einem triangulierenden Austausch zwischen unterschiedlichen Perspektiven kommt, der die Unterbestimmtheit oder Ungesichertheit von bestimmten Erklärun­ gen oder Prognosen deutlich werden lässt (s.o.). Letzteres erfolgt dann, wenn Erkenntnisse durch unterschiedliche methodologische Zugänge abgesichert werden können (ein Beispiel ist der Abgleich von Modellen aus unterschiedlichen Disziplinen zur Projektion von Verhaltensänderungen während einer Pandemie). Ein Pluralismus von Perspektiven aus unterschiedlichen wissen­ schaftlichen und gesellschaftlichen Bereichen ist auch im Hinblick auf das Desiderat der Werte-Transparenz erstrebenswert. Die neuere wissenschaftsphilosophische Diskussion hat gezeigt, dass ein epis­ temischer Pluralismus notwendig ist, um implizite Werteinflüsse überhaupt aufdecken zu können, die in Hintergrundannahmen von Theorien und Modellen verborgen sein können (Longino 1990). Das Explizieren von impliziten Werteinflüssen im Prozess der Wis­ sensproduktion muss sich dabei nicht zwingend negativ auf die Objektivität und die Glaubwürdigkeit des resultierenden Wissens

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auswirken, solange man Objektivität in erster Linie als Eigenschaft von Wissensbeständen versteht, die in einem adäquat strukturierten Prozess und unter Einbezug einer Mehrzahl von Perspektiven gewon­ nen wurden.17 Werte und Werturteile sind in der Politikberatung essentiell, wenn es darum geht, (Nicht-)Wissen in verschiedene Handlungsop­ tionen zu übersetzen. Hier müssen neben dem häufig genannten Vorsichtsprinzip auch andere Gesichtspunkte berücksichtigt werden. Insbesondere müssen Opportunitätskosten und (unsichere) Tradeoffs von politischen Maßnahmenpaketen einbezogen – und das heißt auch: anhand von zu explizierenden normativen Gewichtungen bewertet – werden. Hierbei spielt wiederum der Pluralismus von Perspektiven aus unterschiedlichen wissenschaftlichen und gesell­ schaftlichen Bereichen eine wichtige Rolle. Dieser trägt nicht nur zu einer realistischeren Einschätzung realisierbarer Politikoptionen und einem erhöhten Wertepluralismus bei, der etwaigen Verengungen entgegenwirkt, sondern ist gerade auch notwendig, um implizite nor­ mative Zielvorstellungen sichtbar werden zu lassen, was schließlich eine Voraussetzung für Wertetransparenz ist. Eine Möglichkeit, innerhalb eines pluralen Beratungsgremiums Transparenz bezüglich Werteinflüssen herzustellen, bestünde darin, politischen Entscheidungsträger:innen im Hinblick auf eine anste­ hende Entscheidung eine Reihe von Szenarien mit jeweils unter­ schiedlichen Werteprioritäten zu präsentieren (vgl. Carrier 2021). Bezogen auf die Pandemie-Situation im Dezember 2020 in Deutsch­ land hätte dies etwa bedeutet, neben dem harten Lockdown mindes­ tens ein weiteres Szenario auszuformulieren, welches dem Schutz der individuellen Freiheitsrechte eine höhere Priorität einräumt als der Sicherstellung der öffentlichen Gesundheit. Eine solche Praxis wäre mit dem Ideal der Wertfreiheit der Gehalte wissenschaftlicher Ergeb­ nisse durchaus vereinbar (siehe hierzu Beisbart in diesem Band). Allerdings wäre damit die strikte Rollenteilung zwischen Wissen­ schaft und Politik insofern infrage gestellt, als dass das Resultat eines Beratungsprozesses nicht länger allein in der Bereitstellung empirischer Fakten bestünde, sondern auch normative Überlegungen in die Empfehlungen einbezogen würden.

17 Zum Begriff der sozialen Objektivität siehe Longino (1990, 216). Siehe auch Harding (1992), Douglas (2004) und Oreskes (2019, 49–54).

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4.3 Kommunikation Mit der Erarbeitung von Policy-Optionen ist der Wissensprodukti­ onsprozess nicht abgeschlossen, da diese Optionen schließlich noch für die Kommunikation zielgruppenorientiert aufbereitet werden müssen. Das sollte im Sinne eines allgemeinen Transparenzgebots in schriftlicher Form und unter Kenntlichmachen der unterliegenden empirischen Daten sowie der erfolgten theoretischen und normativen Überlegungen erfolgen.18 Dabei werden durch unseren Vorschlag scheinbar einige Probleme verschärft, die auch beim traditionellen Modell der Politikberatung bestehen: (a) Wie sollte mit abweichenden Stimmen umgegangen werden, besonders wenn erwartbar ist, dass ein übermäßig großer Pluralismus an Empfehlungen bzw. Minderheitenvoten die politische Brauchbar­ keit von Politikberatung untergräbt? Auf den ersten Blick scheint es so zu sein, dass unser integratives Idealmodell zu einer Verschärfung dieses Problems führen muss, da mehr unterschiedliche Disziplinen und Perspektiven mit ins Boot geholt werden. Das ist allerdings nicht zwingend der Fall, sofern der oben skizzierte Deliberationsprozess erfolgreich moderiert werden kann – und wie Positivbeispiele zeigen (vgl. Czypionka et al.; 2022; Priesemann et al. 2021). Zudem wäre die angestrebte Wertetransparenz unseres Models hier womöglich gerade von Vorteil. Da unterschiedliche Werte explizit ausgewiesen werden sollen, kann leichter sichtbar gemacht werden, ob jeweils ein normativer oder empirischer Dissens vorliegt. Damit bekommt die Politik differenzierte Beratungsangebote in Abhängigkeit verschiede­ ner normativer Prämissen angeboten. Freilich kann die Beratung sich ein gewisses Maß an Dissens leisten, die Politik indes muss dann zwischen den Szenarien entscheiden. (b) Wir haben uns für einen differenzierten und transparen­ teren Umgang von unterschiedlichen Formen von epistemischer Unsicherheit sowie von Werturteilen ausgesprochen. Hier besteht offenbar die Gefahr, dass insbesondere wissenschaftliches Wissen als in hohem Maß unsicher und politisch gefärbt aufgefasst werden könnte. Das Problem dabei ist, dass damit auch das grundlegende Rational wissenschaftlicher Politikberatung auf der Kippe zu stehen scheint. Hier besteht allerdings ein grundlegendes Missverständnis. 18 Schon diese Forderung weist deutlich über die Praxis der Politikberatung in 2020/21 hinaus.

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Es sollte an diesem Punkt schließlich nicht darum gehen, unvermeid­ bare epistemische Unsicherheiten und Werturteile kommunikativ zu verschleiern und Wissenschaft – zumal in Zeiten akuter und neuartiger Krisen – als Garant sicheren und vollkommen wertfreien Wissens auszuweisen. Dass diese Strategie nicht funktioniert, wurde während der Pandemie stets dann deutlich, wenn widersprüchliche Studienergebnisse zu Tage traten und Expert:innen im Lichte neuer Erkenntnisse bisherige Auffassungen verwerfen mussten oder unter­ schiedliche Expert:innen auf Basis der gleichen Datenlage zu vonein­ ander abweichenden Urteilen kamen. In dem Maße wie sich zuvor – getrieben durch entsprechende Berichterstattung – im öffentlichen Raum das Bild etabliert hat, dass die Wissenschaft über sicheres Wis­ sen verfügt, und wie einige Expert:innen sich öffentlich ohne Verweis auf bestehende Unsicherheiten oder Werturteile auf bestimmte Posi­ tionen festgelegt hatten, konnte die mangelnde Robustheit und/oder Wertbeladenheit wissenschaftlicher Erkenntnisse als deren Mangel problematisiert werden. Um diesem Problem entgegenzuwirken, soll­ ten die grundsätzliche Fallibilität und Revisibilität wissenschaftlicher Erkenntnis als Normalfall, spezifische Unsicherheiten wissenschaftli­ cher Modelle und Projektionen sowie Werturteile als unvermeidbar ausgewiesen werden. Diese Forderungen implizieren eine radikale Umorientierung der kommunikativen Einbettung wissenschaftlicher Erkenntnisse: Zum einen wird damit ein realistisches Bild der Mög­ lichkeiten und Limitationen der Wissenschaft für praktische Zwecke etabliert (und dadurch ein angemessenes public understanding of science gefördert). Zum zweiten wird es somit leichter sich in Situa­ tionen von sehr großer Unsicherheit, etwa aufgrund mangelnder empirischer Evidenz, zumindest vorläufig eines beratenden Urteils zu enthalten. Schließlich wird durch die transparente Kommunikation von epistemischer Unsicherheit das Behaupten von sog. Sachzwängen von Seiten der Politik erschwert, was wiederum einen Beitrag dazu leisten könnte, (wertebasierte) Abwägungsfragen als solche kenntlich zu machen.19 (c) Die Kommunikation von Unsicherheit und Werturteilen muss mit Blick auf unterschiedliche Zielgruppen sensibel gehandhabt werden. Das gilt insbesondere dann, wenn Empfehlungen im Sinne Stephen John (2017) argumentiert für eine alternative (pessimistischere) Strategie, die normative Konsequenzen der epistemischen Asymmetrie von Expert:innen und Nicht-Expert:innen betont und übermäßige Offenheit und Transparenz in der Wissen­ schaftskommunikation als »wishful speaking« ablehnt. 19

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unseres Modells nicht nur intern (der Politik), sondern auch extern (der Öffentlichkeit, etwa in Form von Stellungnahmen) zugänglich gemacht werden sollen. Hinter dieser Forderung steht das Prob­ lem, dass unterschiedliche Zielgruppen ggf. unterschiedlich auf die Kommunikation von mehr oder weniger unsicherer Erkenntnissen reagieren (vielleicht eine Gefahr unterschätzen oder trotz vorsichtiger Einbettung von neuen Studien zu einer nur potentiellen Gefahr panisch reagieren). Wir können diese äußerst heikle Problematik hier nicht lösen (vgl. zu diesem Problem John 2015), sondern müssen uns mit dem Hinweis begnügen, dass es notwendig ist, die jeweiligen Adressaten der Kommunikation und ihre unterschiedlichen Erwar­ tungshorizonte und Rationalitäten möglichst gut zu antizipieren. Es liegt in der Verantwortung der Politik wie auch der wissensbasierten Politikberatung, im Austausch mit der Gesellschaft ein verantwortba­ res Maß an Nichtwissen zu vertreten und in einer professionellen Risikokommunikation zu adressieren. Letztlich gilt es, dieses in die Überlegungen zur Rahmung der eigenen Aussagen und Empfehlun­ gen einzubeziehen, um dann zu entscheiden, inwieweit bspw. das Vor­ sorgeprinzip in Anschlag gebracht werden sollte – oder gerade nicht.

5. Schluss Die COVID-19-Pandemie erzeugte nicht nur eine politische Krise, sondern traf auf eine wissenschaftliche Politikberatung, die schlecht auf Krisen vorbereitet war. Wir hoffen in diesem Aufsatz deutlich gemacht zu haben, dass dies auch mit grundlegenden Problemen des traditionellen Modells der Politikberatung zusammenhängt, die sich durch Prozessoptimierung auf der Ebene der Governance nicht lösen lassen. Vielmehr ist es notwendig, bereits bei der Wissensproduktion anzusetzen und diese mit Blick auf ihren Zweck grundsätzlich und auf verschiedenen Ebenen zu überdenken. Wir haben aufgezeigt, dass hierbei insbesondere drei Problem­ felder relevant sind: Unsicherheit von Wissen, Pluralismus sowie die Rolle von Werten im Zusammenhang mit wissenschaftlichen Wissensansprüchen. Speziell schlagen wir in unserem Modell eine dezidierte Erweiterung des für die Politik relevanten Wissensbegriffs vor. Komplexe politische Entscheidungen, insbesondere in Krisensi­ tuationen, gelingen umso besser, je mehr sie auf der Grundlage einer möglichst pluralistischen Wissensbasis getroffen werden. Das

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schließt den Einbezug von nicht-wissenschaftlichen Wissensformen mit ein. Dadurch, dass das traditionelle Modell wissenschaftsbasierter Politikberatung fast ausschliesslich auf Wissensbestände aus dem Bereich der institutionalisierten Wissenschaft zurückgreift, beraubt es sich unserer Meinung nach wichtiger epistemischer Ressourcen aus anderen Bereichen der Gesellschaft. In der Konsequenz impli­ ziert unser integratives Modell dagegen eine Abwendung von einer rein wissenschaftsbasierten hin zu einer wissensbasierten Politikge­ staltung. Die skizzierten Grundzüge eines integrativen Modells der wis­ sensbasierten Politikberatung können natürlich nur ein erster Auf­ schlag sein. Wir hoffen damit zeigen zu können, dass hier eine fruchtbare Zusammenarbeit von Wissenschaftsphilosophie und Poli­ tik- bzw. Verwaltungswissenschaften möglich ist.

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Claus Beisbart

Wertfreie Wissenschaft in der Krise? Was taugt Webers Ideal in Zeiten einer Pandemie?

1. Einleitung Die politischen Reaktionen auf die Ausbreitung des Corona-Virus stützten sich in den meisten Ländern auf neue wissenschaftliche Erkenntnisse. Daher kam es zu einer intensiven Interaktion zwischen einigen Wissenschaften und der Politik. Forschende meldeten sich mit neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen zu Wort und formulierten Ratschläge für politische Maßnahmen. Die Politik setzte umgekehrt Expertengremien ein und konsultierte sie. Doch worin genau besteht die Aufgabe, welche die Wissenschaften in der Beratung der Poli­ tik haben? Eine einfache Antwort auf diese Fragen besagt, dass die Wissen­ schaften Information oder objektives Wissen über Tatsachen eruieren und verbreiten sollen. Dagegen bleibt es der Politik überlassen, auf der Basis der bekannten Informationen zu entscheiden, was zu tun ist. Dabei ist es insbesondere Sache der Politik, Werte, Interessen, Bedürfnisse und vorgängig gesetzte Ziele zu berücksichtigen und dort zwischen ihnen abzuwägen, wo sie miteinander in Konflikt geraten. Wissenschaftliche Ergebnisse und Ratschläge sollen hingegen keine Werte, Interessen, Bedürfnisse oder praktische Ziele widerspiegeln und in diesem Sinne wertfrei sein. So entsteht eine klare Aufgaben­ trennung zwischen Wissenschaft und Politik. Dieser einfachen Antwort liegt die Vorstellung zugrunde, die Wissenschaften seien wertfrei oder sollten es wenigstens sein. Max Weber artikuliert diese Vorstellung prominent, wenn er fordert: »Politik gehört nicht in den Hörsaal.« (Weber 1919, 28) Er begründet dies mit der »Unmöglichkeit ›wissenschaftlicher‹ Vertretung von praktischen [d.h. wertenden] Stellungnahmen« (ibid., 32). Folgt man Weber, sollten sich Forschende auch in Zeiten einer Pandemie auf die

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Claus Beisbart

Tatsachen konzentrieren, die sie herausgefunden haben, und darauf verzichten, politische Maßnahmen zu bewerten. Eine solche Zurückhaltung wurde in der Corona-Krise aber nicht immer geübt. So veröffentlichte die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina im Dezember 2020 eine Stellungnahme, in der es heißt, es sei »aus wissenschaftlicher Sicht unbedingt not­ wendig, die weiterhin deutlich zu hohe Anzahl von Neuinfektionen durch einen harten Lockdown schnell und drastisch zu verringern« (Leopoldina 2020). Wenn hier von Notwendigkeit die Rede ist, dann ist gemeint, dass ein Lockdown erfolgen sollte. Das Urteil, das damit ausgedrückt wird, enthält also eine Wertung; trotzdem wird es in der Stellungnahme als wissenschaftlich ausgegeben. Insofern liegt ein klarer Verstoß gegen die Forderung vor, die Wissenschaft solle wertfrei bleiben. Wenn sich viele weitere Verstöße dieser Art finden, dann lässt sich sagen, die wertfreie Wissenschaft sei in der Krise. Die Verstöße lassen sich aber verteidigen, wenn die Forderung selbst problematisch ist. Tatsächlich ist das Ideal einer wertfreien Wis­ senschaft in der jüngeren wissenschaftsphilosophischen Literatur nur wenig populär; vielmehr wird dort gerne betont, wie eng die wissen­ schaftliche Forschung mit menschlichen Werten verflochten sei (etwa Elliott 2017). Auch in Diskussionsbeiträgen zur Corona-Pandemie wurde die Vorstellung einer wertfreien Wissenschaft kritisiert. So schrieb etwa der Philosoph A. Pollmann (2021): »der Glaube, nur wertfreie Fakten zu sammeln, [ist] ein häufiges Selbstmissverständ­ nis der Naturwissenschaften.« Damit ist die wertfreie Wissenschaft möglicherweise in einem tieferen Sinne in der Krise: Das Ideal einer wertfreien Wissenschaft könnte sich als obsolet erwiesen haben. Vor diesem Hintergrund möchte ich im Folgenden untersuchen, ob die Vorstellung einer wertfreien Wissenschaft in Zeiten einer Pandemie ein sinnvolles Ideal ist. Um diese Frage zu beantworten, möchte ich zunächst ausgehend von Weber an die Vorstellung der wertfreien Wissenschaften erinnern (Abschnitt 2). Ich diskutiere dann anhand einiger Beispiele, inwieweit die Wertfreiheit in der CoronaPandemie berücksichtigt wurde (Abschnitt 3). Danach wende ich mich einigen Weisen zu, in denen wissenschaftliche Forschung von Werten beeinflusst ist. Teilweise wird der Einfluss von Werten dabei von Vertretern der Wertfreiheit explizit eingeräumt, teilweise wird er aber auch im Rahmen von Kritik am Ideal geltend gemacht (Abschnitt 4). Ich möchte zeigen, dass bestimmte Einflüsse von Werten die Forde­ rung, Forschende sollten in dieser Rolle keine Werturteile fällen, nicht

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Wertfreie Wissenschaft in der Krise?

obsolet machen. In meiner Analyse wird auch deutlich, dass einige der behaupteten Einflüsse in der Corona-Pandemie nicht besonders einschlägig waren. Insgesamt laufen meine Überlegungen auf folgende Hauptthese hinaus: Obwohl die wissenschaftliche Tätigkeit als Praxis von vielerlei Werten beeinflusst wird, ist die Forderung, Werturteile nicht als wissenschaftliche Resultate auszugeben, weiter sinnvoll. Das gilt wenigstens für die empirischen Natur- und Sozialwissenschaften. Andere Wissenschaften muss ich aus sachlichen Gründen aus der Untersuchung ausklammern. Die Wertfreiheit, die ich wenigstens für einige Wissenschaften fordere, schließt dabei nicht aus, dass deren Ergebnisse eine Grundlage für politische Entscheidungen liefern. In diesem und anderen Punkten vertrete ich ähnliche Ansichten wie G. Schurz in seinem Beitrag zu diesem Band. Während Schurz jedoch hauptsächlich im Streit über staatliche Maßnahmen vermitteln will, die zur Eindämmung der Pandemie eingeführt wurden, möchte ich zur wissenschaftsphilosophischen Debatte über Werte in den Wissen­ schaften beitragen. In meinen Überlegungen werde ich nicht immer zwischen Politik und Öffentlichkeit unterscheiden, da die Wertfreiheit der Wissen­ schaft für den Umgang mit Politik und Öffentlichkeit dieselben Folgen hat. Ohnehin sind Politik und Öffentlichkeit in einem demokratisch verfassten Staat eng aufeinander bezogen. Mein Beitrag fokussiert sich zudem stark auf die grundlegende Aufgabe der Wissenschaften in Bezug auf die Öffentlichkeit. Wie sich die Politikberatung konkre­ ter gestalten lässt, wird in diesem Band von Bschir, Knobloch und Lohse diskutiert.

2. Die These und die Forderung von der Wertfreiheit der Wissenschaften Weber stellt seine Überlegungen zur Wertfreiheit im Kontext von Bemühungen an, objektive Sozialwissenschaften zu begründen (Weber 1917; 1922). Seine Argumentation lässt sich aber ohne Weite­ res auf alle empirisch vorgehenden Natur- und Sozialwissenschaften beziehen. Für Weber hat die Wertfreiheit der Wissenschaften dabei einen logischen Kern (etwa Weber 1917, 33). So heißt es bei ihm, daß Tatsachenfeststellung, Feststellung mathematischer oder logischer Sachverhalte oder der inneren Struktur von Kulturgütern einerseits,

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Claus Beisbart

und andererseits die Beantwortung der Frage nach dem Wert der Kultur und ihrer einzelnen Inhalte und danach: wie man innerhalb der Kulturgemeinschaft und der politischen Verbände handeln solle – daß dies beides ganz und gar heterogene Probleme sind (Weber 1919, 29).

Der Gegensatz, den Weber hier beschreibt, lässt sich gut auf der Ebene von Urteilen explizieren. Es gibt einmal Urteile, die bloß beschreiben sollen, wie die Welt in bestimmten Hinsichten beschaffen ist, kurz deskriptive oder Tatsachenurteile, wie etwa das Urteil, dass COVID-19 auch von Personen übertragen werden kann, die keine Krankheitssymptome verspüren. Zum anderen gibt es Werturteile, etwa dass eine Überlastung der Krankenhäuser nicht gut ist. Mit Werturteilen ist dabei eine große Klasse von Urteilen gemeint, die andernorts auch als normative Urteile bezeichnet werden. Diese umfassen nicht nur die axiologischen Urteile, nach denen etwas – vielleicht in einer gewissen Hinsicht – gut oder besser als etwas Anderes ist, sondern auch die deontischen Urteile, denen zufolge eine Handlung richtig oder falsch, geboten, verboten oder erlaubt ist. Die Werturteile, die ich meine, sind dabei insofern unbedingt, als sie nicht unter der Bedingung eines Ziels stehen. Sie sagen also z.B. nicht einfach, dass es gut ist, sich impfen zu lassen, sofern man das Risiko einer Infektion senken möchte. Denn ein solches Urteil, das man manchmal ein bedingtes Werturteil nennt, stellt letztlich nur die Tatsache fest, dass eine Impfung das Risiko einer Infektion senkt. Ein echtes Werturteil, so wie es hier verstanden wird, sagt hingegen aus, dass es gut ist, sich impfen zu lassen, unabhängig davon, welches Ziel man verfolgt. Wenn im Alltag ein Werturteil gefällt wird, dann erkennen wir das meist an charakteristischen Wertausdrücken wie etwa »gut«, »besser« oder »sollte« und daran, dass keine Bedingung eines Ziels genannt wird. Der Unterschied zwischen Tatsachen- und Werturteilen ist aber tiefer und letztlich darin begründet, dass uns Werturteile auf eine besondere Art und Weise auf Handlungen oder Haltungen festlegen (vgl. Hare 1952). Im Kontext dieses Aufsatzes ist dabei besonders die Festlegung auf Handlungen wichtig. So legt mich das Werturteil, ich solle mich impfen lassen, direkt auf die Impfung fest. Andere Menschen könnten mich daher als irrational oder wil­ lensschwach bezeichnen, wenn ich mich trotz meines Urteils nicht impfen lasse. Hingegen legt mich das Tatsachenurteil, die Impfung habe keine Nebenwirkungen, nicht auf ein bestimmtes Handeln fest;

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Wertfreie Wissenschaft in der Krise?

nur wenn ich es mit geeigneten Werturteilen verbinde, werde ich auf ein Handeln festgelegt (Smith 1994, Kap. 3). Nach der hier vorgeschlagenen Charakterisierung können Wert­ urteile durchaus Tatsachen feststellen, wie es der moralische Realis­ mus behauptet. Für diese Position stellt etwa das Urteil, eine Impfung sei geboten, eine moralische Tatsache fest (dazu etwa Smith 1994). Das ist vereinbar damit, dass Werturteile direkt auf bestimmte Hand­ lungen und Haltungen festlegen. Im Folgenden meine ich aber, wenn ich von Tatsachen spreche, nur Tatsachen, die nicht moralisch oder anderweitig wertend sind. Wenn ich deskriptive Urteile auch als Tatsachenurteile bezeichne, dann geht es nur um Tatsachen in diesem engen Sinn. Aus Werturteilen können aber durchaus Urteile über (nichtwertende) Tatsachen folgen. Wenn wir etwa eine Ärztin als fleißig bezeichnen, dann handelt es sich um ein Werturteil, weil wir die Ärztin in einer gewissen Hinsicht positiv bewerten. Das legt uns darauf fest, die Ärztin z.B. bei der Vergabe einer Stelle bevorzugt zu berücksichtigen. Weil aber die Hinsicht, in der wir die Ärztin positiv bewerten, genauer benannt wird, lässt sich aus dem Urteil auch ein deskriptives Urteil folgern, nämlich dass die Ärztin viel arbeitet. Denn nach der gängigen Terminologie steht das Wort »fleißig« für einen inhaltsreichen ethischen Begriff (»thick ethical concept«), mit dem sich die Wertung und die Feststellung von (nicht-wertenden) Tatsa­ chen verbinden lassen (siehe Väyrynen 2021 für eine Einführung). Wenn Tatsachen- und Werturteile so unterschieden werden wie hier vorgeschlagen, dann folgen aber aus Tatsachenurteilen allein keine Werturteile. Diese Konsequenz ist eine Verallgemeinerung von Humes Aussage, dass aus einem Sein kein Sollen folgt (siehe etwa Hume 1739/1978, III.1.i). Die These, die Wissenschaften seien wertfrei, kann man dann wie folgt formulieren: Die Ergebnisse empirischer Wissenschaften sind und enthalten keine Werturteile. Zur Begründung lässt sich Folgendes sagen: Die Ergebnisse aller Wissenschaften sind wissen­ schaftlich begründet; bei den empirischen Wissenschaften erfolgt die Begründung mithilfe bestimmter empirischer Verfahren. Mit diesen lassen sich aber keine (unbedingten) Werturteile begründen. So kann man mit Methoden der Sozialwissenschaften zwar ausfindig machen, wie eine gewisse soziale Gruppe bestimmte Dinge wertet, aber deswegen muss man sich den eruierten Wertungen noch lange nicht anschließen. In diesem Sinne folgen aus den sozialwissenschaft­

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lich eruierten Tatsachen keine Wertungen. Auch bei den Methoden anderer empirischer Wissenschaften, etwa bei der Beobachtung eines Sterns mit einem Teleskop, sieht man nicht, wie sie zu Werturteilen führen sollen. Man mag einwenden, dass gerade in der Medizin viele Ergeb­ nisse Werturteile implizieren, weil sie auf Begriffe zurückgreifen, deren Anwendung auf Einzelfälle Wertungen enthält, wie etwa der Begriff der Krankheit. Aber wenn solche Begriffe in empirischen Studien verwendet werden, dann werden sie so operationalisiert, dass die wertenden Begriffsbestandteile keine Rolle spielen. Ob eine Person eine bestimmte Krankheit hat, wird etwa anhand ihrer Kör­ pertemperatur und ähnlicher Messwerte bestimmt und nicht durch eine Überlegung darüber, ob ihr Zustand schlecht ist. Daher lassen sich die Ergebnisse von Einzeluntersuchungen so formulieren, dass sie keine Werturteile enthalten. Wenn der Krankheitsbegriff, wie im Einwand behauptet, wirklich normativ ist, dann ist allerdings die Kategorisierung eines Zustands als Krankheit kein rein wissenschaft­ liches Urteil mehr. Es ist dann aber tatsächlich plausibel zu sagen, dass die Bezeichnung eines Zustands als krank über die Medizin hinausgeht, wenn mit der Krankheit etwas Schlechtes gemeint ist. Weber versucht (wie übrigens auch Schurz in diesem Band), die Wertfreiheit der Wissenschaften weitergehend zu rechtfertigen, indem er Wertungen als nicht objektiv begründbare Setzungen ansieht. In der Metaethik ist allerdings umstritten, ob Wertungen objektiv begründbar sind. Wir müssen uns dem Subjektivismus Webers an diesem Punkt nicht anschließen, weil er für die Rechtferti­ gung der Wertfreiheit nicht notwendig ist. Wenn wir die Wertfreiheit so formulieren und begründen wie eben geschehen, dann bezieht sie sich auf wissenschaftliche Ergeb­ nisse, die sich wirklich wissenschaftlich begründen lassen. Dagegen kann man mit »wissenschaftlichen Ergebnissen« auch all das mei­ nen, was als wissenschaftliches Ergebnis ausgegeben oder angesehen wird. Werturteile werden natürlich manchmal als wissenschaftliche Ergebnisse in diesem weiten Sinne ausgeben. Die These der Wertfrei­ heit muss sich daher auf die wirklich wissenschaftlich begründbaren Ergebnisse beschränken. Weiterhin gilt die Wertfreiheit, wie sie hier formuliert und gerechtfertigt wurde, nicht für alles, was man in einem weiten Sinne als Wissenschaft bezeichnen mag. So begründet Ethik ihrem eige­ nen Selbstverständnis nach Werturteile und ist daher nicht wertfrei.

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Wissenschaften, die Kulturprodukte deuten, führen möglicherweise auf Werturteile, wenn sie etwa einen Text mithilfe von ästhetischen Kategorien untersuchen. Ich schließe daher alle nicht-empirischen Wissenschaften aus der folgenden Betrachtung aus und meine im Fol­ genden mit »Wissenschaften« nur die empirisch vorgehenden Naturund Sozialwissenschaften. Damit möchte ich nicht die Wichtigkeit anderer Wissenschaften in Abrede stellen oder bestreiten, dass sie als Wissenschaften einen Beitrag zur Bewältigung von Pandemien leisten können. Mir scheint aber, dass sie selbst ihren Beitrag nicht als die Erkenntnis von Tatsachen ohne Wertung beschreiben würden. Wenn die Resultate empirischer Forschung wertfrei sind, dann heißt das nicht, dass sie für die Praxis irrelevant wären. Im viel­ leicht einfachsten Fall nennen wissenschaftliche Resultate Mittel für ein bestimmtes Ziel, das für gut befunden oder anderweitig akzep­ tiert wurde (Weber 1922, 149; vgl. dazu die Handlungsdefinition von Davidson 1963). Allerdings zeitigt der Einsatz von Mitteln oft Nebenwirkungen, die positiv oder negativ bewertet werden. Diese Nebenfolgen müssen natürlich bei einer Handlungsentscheidung berücksichtigt werden; sie können ebenfalls durch wissenschaftliche Forschung bestimmt werden (Weber 1922, 149f.). Darauf hat pro­ minent Karl Popper hingewiesen, der den Sozialwissenschaften die Aufgabe zuordnete, die Nebenfolgen politischer Maßnahmen zu bestimmen (siehe etwa Popper 1949). Wissenschaftliche Forschung kann ferner auch feststellen, dass bestimmte Ziele entweder für sich allein oder auch in gewissen Kombinationen nicht gemeinsam realisiert werden können (Weber 1922, 151). Dabei können die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung unser Handeln selbst dort indirekt mitbestimmen, wo sie kein Wissen darüber liefern, was der Fall ist. Sie können nämlich manchmal wenig­ stens die Wahrscheinlichkeiten beziffern, mit denen Handlungen gewisse Folgen zeitigen. Wo auch das nicht mehr geht, kann die Forschung immer noch herausfinden, was möglich ist, wenn eine bestimmte Handlung gewählt wird (Resnik 2003). Entsprechend dif­ ferenziert die Entscheidungstheorie idealtypisch zwischen drei Typen von Entscheidungen, nämlich Entscheidungen unter Sicherheit, unter Risiko und unter Ungewissheit, je nachdem, ob alle für die Bewertung relevanten Folgen oder Aspekte, entsprechende Wahrscheinlichkeiten oder wenigstens entsprechende Möglichkeiten bekannt sind (etwa Resnik 1987). In allen drei Typen von Entscheidungen können wissen­ schaftliche Ergebnisse wichtig sein.

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Claus Beisbart

So wie die Wertfreiheit eben formuliert wurde, ist sie eine Aus­ sage über den Charakter von Ergebnissen, die von den empirischen Wissenschaften gewonnen werden. Man kann die These der Wertfrei­ heit sogar als Tatsachenfeststellung kennzeichnen, allerdings geht es dann nicht um eine Tatsache, deren Bestehen empirisch festgestellt werden kann. Es folgt in jedem Fall, dass die Auffassung, Wissenschaft sei wertfrei, keine Wertung ist oder enthält. Trotzdem lassen sich praktische Konsequenzen oder Forderun­ gen aus der Auffassung ableiten, wenn man sie mit einer passenden wertenden Prämisse kombiniert. Eine solche Prämisse besagt etwa, dass nur wissenschaftlich begründete Urteile als wissenschaftliche Ergebnisse ausgegeben werden sollten oder erscheinen dürfen. Es folgt dann, dass Werturteile nicht als wissenschaftliche Ergebnisse ausgegeben und dass vernünftige Maßnahmen ergriffen werden soll­ ten, um den Eindruck zu vermeiden, Werturteile ließen sich wissen­ schaftlich begründen. Diese praktische Konsequenz ist sehr plausibel; sie lässt sich etwa mit folgender Überlegung stützen: Wenn Werturteile als wis­ senschaftliche Ergebnisse ausgegeben werden oder erscheinen, dann führt das wahrscheinlich dazu, dass Menschen ihre Werturteile in einer problematischen Weise verändern: Sie übernehmen z.B. – möglicherweise unbewusst – ein Werturteil bloß deswegen, weil sie es von einer Wissenschaftlerin hören und weil sie dieser eine besondere Expertise einräumen. Diese Expertise bezieht sich aber letztlich nicht auf Werturteile. Daher ist die Übernahme des Wertur­ teils aufgrund wissenschaftlicher Expertise nicht gerechtfertigt und dementsprechend nicht rational. Wenn Werturteile als wissenschaftliche Ergebnisse ausgegeben haben, dann kann das auch längerfristig problematische Konsequen­ zen haben. So kann der Eindruck entstehen, die Wissenschaften seien nicht neutral, was bestimmte Werte angeht. Vielleicht werden die Wissenschaften dann sogar in der öffentlichen Wahrnehmung mit bestimmten politischen Richtungen assoziiert. Das führt dann aber wahrscheinlich dazu, dass einige Menschen, die sich mit anderen poli­ tischen Richtungen identifizieren, ihr Vertrauen in die Wissenschaft verlieren. Damit wird es schwerer, die Politik auf die Grundlage von wissenschaftlich etablierten Tatsachen zu gründen. Die praktische Konsequenz, die ich aus der Wertfreiheit der Wissenschaft gezogen habe, ist also plausibel. Sie muss sich aber nicht in jedem Fall durchsetzen; in bestimmten Situationen können

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andere praktische Erwägungen gewichtiger sein, so dass es alles in allem legitim sein mag, Werturteile als wissenschaftliche Ergebnisse auszugeben. Vielleicht ist es angesichts der Gefahr einer Klimaka­ tastrophe vertretbar, wenn Klimawissenschaftler das 1,5-Grad-Ziel als wissenschaftliches Resultat ausgeben, weil sich so mehr Unter­ stützung für dieses Ziel findet. Doch auch in dieser Situation muss wenigstens mitberücksichtigt werden, dass es in einer bestimmten Hinsicht (pro tanto) problematisch ist, Werturteile als wissenschaftli­ che Ergebnisse auszugeben. Die Forderung, dass Ergebnisse nicht als Werturteile ausgegeben werden sollten, richtet sich plausibler Weise vor allem an Forschende, gerade wenn sie in dieser Rolle in der Öffentlichkeit auftreten. Man kann die Forderung dann als Teilaspekt des wissenschaftlichen Ethos ansehen. Wenn Forschende die Forderung bewusst verletzen, kann man ihnen sogar den Missbrauch einer Macht vorwerfen, die sie aufgrund ihrer Expertise haben. Die Forderung, keine Wertungen als wissenschaftliche Ergebnisse auszugeben, ist dabei vermutlich nicht die einzige Forderung, denen Forschende in Bezug auf die Öffentlich­ keit unterliegen. So ist es plausibel anzunehmen, dass Forschende die Pflicht haben, die Öffentlichkeit über Erkenntnisse zu informieren, die für anstehende politische Entscheidungen relevant sind. Im Fol­ genden geht es aber nur um die Forderung der Wertfreiheit. Diese Forderung richtet sich natürlich nicht nur an Forschende. So haben auch Menschen, die etwa als Journalistinnen in der Wis­ senschaftsvermittlung tätig sind, ihren Beitrag dazu zu leisten, dass Werturteile nicht als wissenschaftliche Ergebnisse erscheinen. Im Folgenden konzentriere ich mich aber auf die Forschenden. Insgesamt lässt sich die Wertfreiheit der Wissenschaft also alter­ nativ als These oder als Forderung auffassen. Als These besagt die Wertfreiheit, dass wissenschaftliche Resultate (genauer: die Resul­ tate, die sich durch Anwendung wissenschaftlicher Methoden begrün­ den lassen) keine Werturteile sind oder enthalten. Ich meine diese These, wenn ich ohne weitere Qualifikation von der Wertfreiheit der Wissenschaften spreche. Als Forderung oder Ideal besagt die Wert­ freiheit, Werturteile sollten nicht als Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung ausgeben werden oder erscheinen. Diese Forderung folgt aus der These der Wertfreiheit zusammen mit wertenden Prämissen, die von vielen Menschen geteilt werden.

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3. Die Wertfreiheit der Wissenschaften in Zeiten von Corona Wie steht es nun mit der Wertfreiheit der Wissenschaften in der Pandemie? Haben sich Forschende in der Politikberatung und in Äußerungen gegenüber der Öffentlichkeit darum bemüht, wissen­ schaftliche Ergebnisse von Wertungen zu trennen? Und können wir aus Entwicklungen während der Pandemie Aufschlüsse über die Wertfreiheit selbst gewinnen? Wenigstens auf den ersten Blick haben Forschende in dieser Rolle in der Pandemie auch unbedingte Werturteile geäußert. Die bereits erwähnte Stellungnahme der Leopoldina (2020), die einen harten Lockdown als »wissenschaftlich notwendig« bezeichnet, ist ein besonders deutliches Beispiel. Weitere Beispiele lassen sich finden. So sagte die Virologin M. Brinkmann im April 2020 in einem Interview zu Lockerungen von Kontaktbeschränkungen: »Die Regierung hat mit den Lockerungen nun ein falsches Signal gesendet« (Brinkmann 2020a). Auf die Frage, ob man das normale Leben wiederaufnehmen solle und dafür bestimmte besonders gefährdete Gruppen gezielt schützen solle, antwortete der Virologe H. Streeck im November 2020: »Nein, keinesfalls. Die AhA-L-Regeln (Abstand, Hygiene, All­ tagsmasken, Lüften) sollten weiter von allen eingehalten werden« (Streeck 2020). Die Wörter »falsch« und »sollte«, die hier verwendet werden, sind nicht weiter qualifiziert, so dass es wenigstens sehr nahe liegt, von unbedingten Werturteilen auszugehen. Allerdings ist bei der Interpretation der Äußerungen von Exper­ tinnen und Experten Vorsicht geboten. Es ist durchaus denkbar, dass ein Werturteil, das mithilfe eines unqualifizierten »falsch« aus­ gedrückt wird, letztlich als bedingtes gemeint ist und damit bloß Konsequenz eines wissenschaftlich begründbaren Tatsachenurteils ist. So könnte im Alltag der Ratschlag: »Du solltest Dich impfen lassen« bloß im Sinne des Urteils gemeint sein: »Wenn Du gesund bleiben möchtest, solltest Du Dich impfen lassen.« Die Nennung der Bedingung könnte bei der Formulierung des Ratschlags unterdrückt worden sein, weil im konkreten Kontext klar ist, dass das Erfüllt-Sein der Bedingung unterstellt wird. Manchmal lässt sich im sprachlichen Zusammenhang ein Hin­ weis darauf finden, dass letztlich nur ein bedingtes Werturteil gemeint ist. So sagte der Virologe C. Drosten im März 2020 in einem Inter­ view: »Egal, wie man es rechnet und mit wem man spricht: Wir

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müssen jetzt unbedingt die Fälle senken. Sonst werden wir es nicht schaffen. Wir kriegen sonst innerhalb von ein paar Wochen genau dieselben Probleme wie in Italien« (Drosten 2020). Isoliert betrachtet drückt der Satz »Wir müssen jetzt unbedingt die Fälle senken« ein (unbedingtes) Werturteil aus. Weil Drosten aber unmittelbar nach diesem Satz mit einer Beschreibung der Situation fortfährt, die ein­ träte, wenn die Anzahl der Fälle nicht gesenkt würde, kann man ihn auch so verstehen, dass er lediglich sagen will: Wir müssen jetzt die Fallzahlen senken, um eine Situation wie die in Italien zu vermeiden. Dann aber ist das Müssen bedingt; die Senkung der Fallzahlen ist notwendig für ein bestimmtes Ziel. Ein solches Urteil lässt sich wissenschaftlich begründen, denn es ist eine Frage von Tatsachen, was geschieht, wenn die bestehenden Maßnahmen gelockert werden. Mit etwas Wohlwollen kann man Drosten also durchaus so verstehen, dass er nur ein bedingtes und damit wissenschaftlich begründbares Werturteil abgeben wollte. Wenn er das tun wollte, wird es allerdings durch seine Formulierung nicht ganz klar, und es ist wahrscheinlich, dass seine Äußerung wenigstens von einigen Menschen bewusst oder unbewusst als unbedingtes Werturteil aufgefasst wird. Schon das wäre ein Problem, weil es dazu führen könnte, dass diese Menschen Werturteile übernehmen, weil ihnen diese wissenschaftlich begrün­ det erscheinen. In anderen Empfehlungen und Interviews, in denen sich For­ schende zur Corona-Pandemie geäußert haben, lassen sich ähnliche Unklarheiten finden. So sagte die bereits erwähnte Virologin Brink­ mann im April 2020: »Aus virologischer Sicht gibt es jedenfalls keine Grundlage, den Lockdown jetzt schon zu lockern. Ein intelligentes Anpassen ja, aber in Summe können wir uns kein Wiederaufflammen der Infektionszahlen leisten.« (Brinkmann 2020a) Dabei ist unklar, wie die Qualifikation »Aus virologischer Sicht« zu verstehen ist. Die Qualifikation könnte entweder eine Perspektive definieren, welche die Voraussetzung eines Ziels mit sich führt, nämlich des Ziels, mög­ lichst wenige Ansteckungen zuzulassen. Dabei muss nicht unterstellt werden, dass die Virologie dieses Ziel verfolgt (als Wissenschaft hat die Virologie vielmehr das Ziel, Erkenntnisse zu gewinnen). Vielmehr geht es um ein Ziel, dessen Erfüllung die Virologie untersucht. Insgesamt läge dann kein unbedingtes Werturteil vor; die Forderung von Brinkmann würde nur für den Fall gelten, dass man sich das Ziel zu eigen macht, möglichst wenige Ansteckungen zuzulassen. Alternativ lässt sich die Qualifikation »Aus virologischer Sicht« aber

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auch so deuten, dass sie mit einem unbedingten Werturteil vereinbar ist. Die Qualifikation würde dann nur andeuten, dass die unbedingte Forderung, keine echte Lockerung einzuführen, nur durch Aspekte begründet ist, die sich mithilfe der Virologie untersuchen lassen. Die Forderung gilt dann nur pro tanto, oder wenn eine Lockerung nicht in anderen Aspekten so gut ist, dass sie insgesamt durchgeführt werden sollte. Ähnliche Unklarheiten gibt es bei der Leopoldina-Stellung­ nahme aus dem Dezember 2020 nicht. Dort wird ja explizit von unbedingter Notwendigkeit gesprochen. Außerdem wird die Perspek­ tive nicht eingeschränkt – tatsächlich wurde das Papier von einer interdisziplinären Arbeitsgruppe verfasst. Vor diesem Hintergrund fällt allerdings auf, dass das Papier nur sehr wenige Perspektiven berücksichtigt. Der Fokus liegt ganz auf den Ansteckungen und ihren Folgen. Es wird noch eine wirtschaftliche Perspektive erwähnt und argumentiert, dass der empfohlene Lockdown langfristig auch für die Wirtschaft besser ist. Letztlich wird damit suggeriert, in den entscheidenden relevanten Hinsichten sei ein Lockdown die bessere Lösung als kein Lockdown. Auf nachteilige Aspekte eines Lockdowns wie die damit verbundenen Freiheitseinschränkungen oder auch die Verschärfung psychischer Probleme wird gar nicht eingegangen. Damit kann auch keine angemessene Abwägung der relevanten Gesichtspunkte erfolgen. Es ist daher nicht weiter erstaunlich, wenn die Stellungnahme auf heftige Kritik stieß. Der Historiker C. Hirschi (2021) machte etwa geltend, die Wissenschaft habe sich damit auf das Feld der Ideologie begeben. Neben Interpretationsschwierigkeiten der besprochenen Art gibt es ein weiteres Problem bei der Interpretation von Äußerungen, die Forschende zur Corona-Politik getan haben: Es ist nicht immer ganz klar, ob die Forschenden wirklich in dieser Rolle sprechen. Denn sie sind gleichzeitig auch Angehörige der Zivilgesellschaft und können sich in dieser Rolle auch mit Wertungen zu Wort melden. Das Problem wird an einer weiteren Äußerung der Virologin Brinkmann deutlich: Eigentlich will ich solche Sätze von mir gar nicht zitiert haben. Schließ­ lich bin ich Wissenschaftlerin. Aber ich bin auch Bürgerin. Ich halte es für eine sehr schlechte Idee, bei den aktuell hohen Inzidenzen in Deutschland die Schulen aufzumachen – ohne Testkonzept. Wer die Dynamik des Virus verstanden hat, kann darüber nur entsetzt sein. (Brinkmann 2021)

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Brinkmann verurteilt hier die Öffnung von Schulen und gibt dabei ein unbedingtes Werturteil ab. Vorher spricht sie aber ihre Rollen als Wis­ senschaftlerin und Bürgerin an und gibt implizit zu verstehen, dass sie mit bestimmten Äußerungen nicht als Wissenschaftlerin zitiert werden möchte. Das legt die Vermutung nahe, dass sie im Folgenden als Bürgerin spricht, und als solche kann sie natürlich auch unbedingte Werturteile abgeben. Allerdings ist auch hier wieder nicht ganz klar, ob Brinkmann die Öffnung der Schulen nur als Bürgerin verurteilt. Selbst wenn Brinkmann an dieser Stelle als Bürgerin verstanden werden möchte, spricht sie doch im Rahmen eines Interviews, für das sie vermutlich nur aufgrund ihrer Expertise als Wissenschaftlerin angefragt wurde. Tatsächlich wurden die Äußerungen von Brinkmann in einem anderen Nachrichtenportal zusammengefasst unter dem Titel »Corona in Deutschland: Virologin ›entsetzt‹ über Politik-Stra­ tegie« (Wolf 2021). Das zeigt, dass Brinkmann dort vor allem als Vertreterin ihres Fachs wahrgenommen wurde. Der genannte Titel ist natürlich nicht Brinkmann anzulasten. Man kann ihr auch nicht vorwerfen, dass sie aufgrund ihrer Fachkom­ petenz eingeladen wird, dann aber teilweise als Bürgerin befragt wird. Vielmehr haben wir es hier mit problematischen Praktiken seitens des Journalismus zu tun. Gerade der eben zitierte Titel illustriert, wie die Äußerungen von Forschenden in den Medien weiterverarbeitet und verbreitet werden. Mit dem Wort »entsetzt« wird in der Überschrift des Nachrichtenportals ein Wort aus dem Interview herausgegriffen, das eine starke emotionale Reaktion beschreibt. Damit soll offenbar die Aufmerksamkeit von Internetnutzenden angezogen werden. Zu einer differenzierten Wahrnehmung von Expertenäußerungen trägt das nicht bei. Allgemeiner begeben sich Forschende mit Äußerungen in öffent­ lichen Medien in eine Sphäre, die nicht unbedingt den Regeln unterliegt, die in der Wissenschaft gelten. Bereits die Wahl einer Überschrift zu einem Interview gilt als journalistische Aufgabe und wird oft nicht mit der befragten Forscherin abgesprochen. Dabei hat die Aussicht, die Aufmerksamkeit vieler Menschen zu erregen, oft Vorrang vor einer präzisen Wiedergabe von Forschungsresultaten. Die Techniken, mit denen in den Medien Aufmerksamkeit erzeugt wird, können natürlich der Verbreitung von wissenschaft­ lichen Erkenntnissen zugutekommen. So können Forschende ihre Ergebnisse reißerisch vermitteln und etwa als Horrorszenarien dar­ stellen. Das würde zwar die Forderung der wertfreien Wissenschaft

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verletzen, da Horrorszenarien Zustände sind, die es zu vermeiden gilt. Es könnte aber langfristig dazu führen, dass die Öffentlichkeit über bestimmte Themen besser informiert ist, als sie es sonst wäre. Die Forderung, keine Werturteile als Forschungsergebnisse auszuge­ ben, kollidiert hier also mit dem Ideal, unter den Bedingungen der Aufmerksamkeitsökonomie Informationen zu vermitteln. Das spricht nicht gegen die Forderung der wertfreien Wissenschaft, sondern zeigt nur, dass sie wie viele andere Forderungen gelegentlich im Konflikt mit anderen praktischen Anforderungen steht. Ein weiteres Problem in der Wissenschaftskommunikation besteht darin, dass Journalisten Forschenden manchmal mit falschen Erwartungen entgegentreten. So wurde die Virologin Brinkmann an einem Tag, an dem eine wichtige politische Entscheidung getroffen wurde, in einem Radiointerview gefragt: »Frau Brinkmann, wenn Sie diese Entscheidungen heute Abend hätten treffen können oder dürfen, würde das Ergebnis dann ähnlich aussehen?« (Brinkmann 2020b) Mit dieser Frage wurde Brinkmann unfreiwillig in die Rolle einer Politi­ kerin gedrängt, die eine Entscheidung über Maßnahmen zu treffen befugt ist. Fragen dieser Art stellen Forschende vor ein Dilemma: So wie die Frage gestellt ist, kann sie nur mit einem Werturteil beantwor­ tet werden, das aber nicht Sache der wissenschaftlichen Forschung ist. Brinkmann versuchte, dem Dilemma zu entgehen, indem sie explizit auf ihre Rolle verwies; sie antwortete: »Aus infektionsbiologischer Sicht ist es gut, Kontakte so weit wie möglich einzuschränken, und das wurde heute getan.« (Brinkmann 2020b) Wie wir oben gesehen haben, ist aber nicht ganz klar, wie eine solche Spezifikation einer Perspektive zu deuten ist. Unsere bisherigen Beispiele zeigen, dass einige Äußerungen, die Forschende in dieser Rolle zur Pandemie machten, als unbedingte Werturteile verstanden werden konnten. Zugegebenermaßen mag im Einzelfall nicht immer klar sein, ob wirklich ein unbedingtes Werturteil getroffen wurde oder ob eine Äußerung aus der Rolle von Forschenden heraus erfolgte. Aber schon diese Unklarheit ist ein Problem, weil sie problematische Arten der Bildung von Werturteilen begünstigt. Wenigstens in einigen Fällen kann man den Forschen­ den dabei sicher nicht vorwerfen, dass sie absichtlich Werturteile als Resultate wissenschaftlicher Forschung ausgegeben haben. Aber in den untersuchten Kontexten traten sie als Forschende auf und mussten daher riskieren, dass ihre Äußerungen als wissenschaftlich fundiert wahrgenommen wurden. Insofern lässt sich schon sagen,

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dass sie die praktische Forderung einer wertfreien Wissenschaft manchmal wenigstens fahrlässig verletzt haben. Zugegebenermaßen ist es aufgrund der Gesetze medialer Kommunikation natürlich oft schwierig, sich eines Werturteils zu enthalten. Immerhin scheint bei einigen Akteuren ein gewisses Umden­ ken eingesetzt zu haben. So fällt etwa auf, dass eine neuerliche Stellungnahme der Leopoldina, die ziemlich genau ein Jahr nach der besprochenen veröffentlicht wurde und die inhaltlich in eine ähnliche Richtung zielt, einen abschließenden Teil zu »Wertfragen« enthält. Dort heißt es unter anderem: Wenn die Unterzeichner dieser Ad-hoc-Stellungnahme vor dem Hin­ tergrund der skizzierten Wertfragen für Freiheitseinschränkungen in Form von Impfpflichten und drastischeren Kontaktbeschränkungen plädieren, dann geschieht dies in der Überzeugung, dass die hierzu führenden Abwägungen im Einklang mit Grundwerten und Prioritäten stehen, die von der Mehrheit der Bevölkerung mit guten Gründen geteilt werden. (Leopoldina 2021, 5)

Damit wird immerhin explizit zugegeben, dass die Empfehlungen auf Abwägungen zwischen konfligierenden Werten und Interessen beru­ hen. Die Versicherung, die Wertungen und Abwägungen stimmten mit denen der Mehrheit überein, kann man als indirektes Zugeständ­ nis ansehen, dass die Wertfragen nicht allein von der Wissenschaft entschieden werden können. Etwas deutlicher wird der Virologe Drosten, wenn er in einem Interview gegen Ende des Jahres 2021 sagt: »Ganz prinzipiell finde ich, Wissenschaftler sollten keine politischen Forderungen stellen, sondern die Situation erklären.« (Drosten 2021) Vielleicht können wir Äußerungen wie diese als Hinweis darauf deuten, dass die Forderung einer wertfreien Wissenschaft zwar nicht immer eingehalten wurde, dass das aber von wichtigen Akteuren im Nachhinein als Problem angesehen wurde. Das könnte darauf hindeuten, dass sich die Wertfreiheit der Wissenschaften in der Pandemie als heilsames Korrektiv erwiesen hat. Damit würde sich die Plausibilität von Webers Forderungen erhöhen. Aber natürlich ist die Quellenbasis weniger ausgewählter Äußerungen letztlich zu dünn, als dass sie eine so allgemeine Konklusion zuließe.

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4. Wertabhängigkeiten wissenschaftlicher Forschung Nun wird die Vorstellung, die Wissenschaften seien wertfrei oder sollten es sein, in der heutigen Wissenschaftsphilosophie oft kritisiert. Daher stellt sich die Frage, ob es nicht doch eine Wertabhängigkeit der Wissenschaften gibt, welche meine bisherigen Resultate infrage stellt. Ich möchte daher in diesem Abschnitt zwei Hinsichten diskutieren, in denen wissenschaftliche Forschung von Wertungen abhängig ist. Die entsprechenden Abhängigkeiten stellen aber die bisher erörterte Wertfreiheit bei näherer Untersuchung weder als These noch als Forderung infrage. Allerdings haben sie Konsequenzen für den Wis­ senstransfer und die Politikberatung. Ich illustriere meine Überlegun­ gen mit Beispielen aus der Corona-Pandemie. Dabei zeigt sich, wie relevant einige der in der Literatur diskutierten Wertabhängigkeiten der Wissenschaft in der Pandemie wirklich waren. Erstens ist die wissenschaftliche Forschung in der Auswahl der bearbeiteten Gegenstände, Fragestellungen und Methoden von Wer­ ten abhängig. Denn es gibt viele Themengebiete, die eine weitere wissenschaftliche Erforschung lohnen, und so stellt sich auf unter­ schiedlichen Ebenen immer wieder die Frage, welches Thema mit welcher Fragestellung und mit welchen Methoden erforscht werden soll. Für die einzelne Forscherpersönlichkeit ist die Wahl von Themen und Methoden oft mit wichtigen Karriereentscheidungen verknüpft, weil unterschiedliche Stellen verschiedene Potentiale für eine thema­ tische Weiterentwicklung bieten. Auf der Ebene der staatlichen und privaten Forschungsförderung fragt sich, für welche Themen, aber auch für welche Infrastrukturen und damit für welche Methoden finanzielle Mittel bereitgestellt werden sollen. Entscheidungen, ein bestimmtes Thema zu bearbeiten, eine bestimmte Frage zu behandeln oder eine bestimmte Methode einzu­ setzen, sind nun letztlich Entscheidungen dafür, in einer bestimmten Weise zu handeln. Nach der Handlungsauffassung von Davidson (und Vergleichbares gilt für viele anderen Handlungstheorien) ist für die Entscheidungen stets eine Pro-Einstellung erforderlich, und damit gehen Wertungen, Interessen, oder Bedürfnisse in die Entscheidun­ gen ein. Aus der These der Wertfreiheit folgt dann sofort, dass die Entscheidung, ein bestimmtes Thema, eine Frage oder eine Methode auszuwählen, nicht rein durch wissenschaftliche Resultate begründet werden kann. Eine begründete Entscheidung muss vielmehr auf der Basis von Werten erfolgen (dabei gehe ich davon aus, dass Pro-Ein­

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stellungen auch Interessen, Bedürfnisse oder anders geartete Motive umfassen; dass eine begründete Entscheidung aber auf Werten beru­ hen muss, in denen sich z.B. berechtigte Interessen spiegeln). So sprechen derzeit moralische Werte dafür, Forschung über COVID-19 zu betreiben. Denn die Krankheit ist weit verbreitet, und weitere Forschung zu ihrem Verlauf und ihren Ursachen kann dazu beitragen, dass weniger Menschen infiziert werden und erkranken. Damit lässt sich Forschung über COVID-19 durch den Wert der menschlichen Gesundheit begründen. Zusätzlich haben die Pandemie und die Maßnahmen, die zu ihrer Eindämmung getroffen wurden, weitreichende Konsequenzen für die Wirtschaft und das Zusammen­ leben. Daher kann Forschung über COVID-19 auch allgemeiner dem menschlichen Wohlergehen dienen und so durch den Wert dieses Wohlergehens begründet werden. In der Tat haben sich Forschende wie etwa der Virologe Streeck erst während der Pandemie dem Corona-Virus zugewandt. Zudem haben Förderinstitutionen wie die Deutsche Forschungsgemeinschaft besondere Maßnahmen ergriffen, um Forschung zu COVID-19 zu finanzieren. Dass die Wahl von Forschungsthemen, -fragen und -methoden letztlich praktischer Natur ist und damit von moralischen Werten abhängt, zeigt sich auch daran, dass entsprechende Entscheidungen in der Corona-Krise auf der Basis von moralischen Werten kritisiert wurden. So wurde moniert, dass viele Studien zu COVID-19 den Faktor Geschlecht nicht berücksichtigen; dies könne letztlich zu Ungleichbehandlungen von Frauen und Männern führen (Watzel 2021 auf der Basis von Brady et al. 2021). Damit wird auf den mora­ lischen Wert der Gleichberechtigung rekurriert, um zu kritisieren, wie Fragestellungen oder Perspektiven der wissenschaftlichen Forschung gewählt wurden. Beobachtungen zur Corona-Krise illustrieren damit, dass Ent­ scheidungen über Forschungsthemen, Fragestellungen und Metho­ den von Werten, Interessen und Ähnlichem abhängen. Insofern gibt es einen Einfluss von Werturteilen auf die wissenschaftliche For­ schung. Dass wissenschaftliche Resultate alleine nicht hinreichen, um die Wahl von Themen und Fragestellungen zu begründen, folgt dabei sogar aus der These der Wertfreiheit. Daher kann der beschriebene Einfluss von Werten auf die Wissenschaft nicht im Widerspruch zur These oder zur Forderung der Wertfreiheit stehen. Weber (1922, 43) gibt sich denn auch erstaunt darüber, dass die Wert- oder Interessen­

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abhängigkeit jeder Entscheidung darüber, welche Themen bearbeitet werden, als Einwand gegen die Wertfreiheit verwendet wurde. Man mag aber einwenden, die These der Wertfreiheit sei eben doch verletzt, weil der Umstand, dass die Forschungsthemen aufgrund von Werten ausgewählt würden, dazu führe, dass die Gesamtheit der erzielten Resultate Wertungen widerspiegle. Tatsächlich lässt sich nur unter Rekurs auf Werte, Interessen und Ähnliches begründen und erklären, warum bestimmte Themen untersucht wurden und warum Resultate zu diesen Themen vorliegen und nicht zu anderen. Das steht aber nicht im Widerspruch zur These der Wertfreiheit. Diese besagt nur, dass wissenschaftliche Ergebnisse keine Werturteile sind oder (logisch) enthalten. Bei der Wertfreiheit geht es damit nur um den Gehalt von wissenschaftlichen Ergebnissen: Es wird bestritten, dass die Ergebnisse eine Wertung beinhalten oder implizieren. Damit ist vereinbar, dass Werte einen Einfluss darauf nehmen, welche Ergebnisse dieser Art erzielt wurden. Man kann den entscheidenden Punkt durch den Vergleich mit einer Zeitung erläutern, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, nur über Tatsachen zu berichten. Diese Aufgabe wird auch dann erfüllt, wenn die Auswahl der Tatsachen, über die berichtet wird, Wertun­ gen widerspiegelt. Denn die Gesamtheit der berichteten Tatsachen impliziert dabei immer noch keine Wertungen. Die Gesamtheit der berichteten Tatsachen mag dabei äußerst einseitig sein und sogar bestimmte Werturteile nahelegen. So könnte eine Zeitung nur über Forschungsergebnisse berichten, die es plausibel erscheinen lassen, dass nur äußerst wenige Menschen schwer an Corona erkranken. Das wäre einseitig und könnte zudem das Werturteil nahelegen, dass Corona keine Maßnahmen wie einen Lockdown rechtfertigt. Doch streng genommen folgt dieses Werturteil nicht aus der Gesamtheit der Tatsachen, über die berichtet wurde. Es folgt nur, wenn man Annahmen darüber macht, unter welchen Bedingungen ein Lock­ down gerechtfertigt ist. Nun lässt sich ein Lockdown aber nur dann plausibler Weise rechtfertigen, wenn man das gesamte einschlägige Wissen über Corona mit einbezieht. Daraus folgt, dass die Ergebnisse, über welche die Zeitung berichtet hat, nicht einmal eine geeignete Grundlage für eine Bewertung des Lockdowns sind. Sie implizieren damit also keine Wertung des Lockdowns – genau so, wie es die These der Wertfreiheit besagt. Der Umstand, dass die Auswahl von Forschungsthemen, -per­ spektiven und -methoden von Werten abhängt, ist aber durchaus

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wichtig für die Politikberatung und den Wissenstransfer. Denn selbst wenn die Forschenden alle ihre Resultate, die für eine bestimmte praktische Entscheidung wichtig sind, vorbildlich kommunizieren, können gewaltige Lücken im Wissen fortbestehen. Dadurch kann die Gesamtheit der Forschungsresultate missverständlich sein oder falsche Konklusionen nahelegen. Insbesondere können so die Fol­ gen bestimmter Handlungsoptionen weithin unbekannt bleiben, was dann dazu führen kann, dass sie nicht in Rechnung gestellt werden. So beruhten die politischen Antworten auf den Ausbruch von COVID-19 vor allem auf biomedizinischer Forschung, die im Zuge der Pandemie oft sehr schnell Resultate vorlegen konnte. Dagegen gab und gibt es deutlich weniger Arbeiten zu den sozialen Aspekten der Pandemie (Lohse/Canali 2021). Das könnte unterschiedliche Gründe haben, etwa dass sozialwissenschaftliche Studien bestimmter Formate viel Zeit brauchen, dass die biomedizinische Forschung generell stärker gefördert wird oder vielleicht auch dass die Relevanz der biomedizi­ nischen Forschung für viele offensichtlicher war. Im Ergebnis waren auf jeden Fall die epidemiologisch erfassbaren Konsequenzen, die etwa ein Lockdown für die Anzahl der Infektionen zeitigt, viel besser bekannt als andere, soziale Folgen, die etwa Erziehung und Bildung betreffen. Zusätzlich ließen sich die epidemiologischen Ergebnisse zu unterschiedlichen Szenarien sinnfällig quantitativ darstellen. Man kann daher von einer systematischen Verzerrung in der Informati­ onslage oder von asymmetrischer Salienz unterschiedlicher Aspekte eines Lockdowns (Contessa 2021) sprechen. Das hat vermutlich zu Entscheidungen geführt, in denen die sozialen Aspekte vernachlässigt wurden. So ist es aufschlussreich, dass die Leopoldina-Stellungnahme von Ende 2020 vor allem epidemiologisch argumentiert und soziale Konsequenzen kaum in Rechnung stellt. Natürlich ist es im Einzelfall schwierig, ein Kausalverhältnis zwischen einer einseitigen Informati­ onslage und bestimmten politischen Entscheidungen nachzuweisen, aber für die Zwecke meiner Argumentation reicht es, dass solche Kausalverhältnisse einigermaßen plausibel sind. Wenn die Auswahl der Themen, die in der Forschung behandelt werden, einen Einfluss auf politische Entscheidungen haben kann, dann ergeben sich auch Konsequenzen für die Politikberatung und die Äußerungen von Forschenden in der Öffentlichkeit. Wenn wir plausibler Weise vom Ideal ausgehen, dass die Politik möglichst über alle Tatsachen informiert sein sollte, die für eine Entscheidung relevant sind, dann muss die Politik berücksichtigen, dass ihr faktisch

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bestenfalls ein Teil der relevanten Tatsachen bekannt ist und dass Tatsachen bestimmter Art vielleicht gar nicht untersucht wurden. Das lässt sich mit der erwähnten idealtypischen entscheidungstheore­ tischen Differenzierung von drei Entscheidungsarten verdeutlichen. Wenn wir uns nämlich zum Beispiel in einer Situation befinden, in der die möglichen epidemiologischen Konsequenzen von Maß­ nahmen mit Wahrscheinlichkeiten beziffert werden können, andere Konsequenzen aber allenfalls als Möglichkeiten in Rechnung gestellt werden können, dann liegt keine Entscheidung unter Risiko mehr vor; vielmehr haben wir es dann teilweise mit Ungewissheit zu tun. Das bedeutet aber, dass die Wahrscheinlichkeiten an Bedeutung verlieren; eine bekannte Entscheidungsregel, die auf der Basis von Wahrschein­ lichkeiten den Erwartungsnutzen der Optionen vergleicht, kann nicht mehr angewandt werden. Eine angemessen informierte Entscheidung berücksichtigt daher nicht nur das bekannte Wissen, sondern reagiert angemessen auf die Informationslage insgesamt. Das bedeutet auch, dass Wissenslücken als solche identifiziert und etwa bei der Bestim­ mung von Möglichkeiten berücksichtigt werden. Für die Wissenschaft bedeutet das, dass sie in der Politikberatung erklären sollte, was untersucht wurde und was nicht. Da sich das, was nicht untersucht wurde, oft nicht positiv beschreiben lässt, sollte es wenigstens indirekt erhellt werden, und das lässt sich oft erreichen, wenn die Werte und Interessen offengelegt werden, welche die Wahl von Forschungsthe­ men leiteten. In diesem Sinne ist es angemessen, wenn Forschende erklären, auf der Basis welcher Werte oder Interessen Forschungsan­ sätze, -fragen und -methoden gewählt wurden – und zwar nicht, um die Ergebnisse auf die Geltung der Werte zu relativieren, sondern um sie angemessen zu kontextualisieren. Angesichts unserer Überlegungen fragt sich natürlich auch, ob die Wahl von Forschungsthemen im Wesentlichen den Forschenden überlassen sein sollte oder ob die Politik und die Zivilgesellschaft nicht mehr Einfluss auf die Wahl der Themen nehmen sollte. Diese Frage wurde in der Wissenschaftsphilosophie für demokratisch ver­ fasste Staaten prominent von P. Kitcher (2001; 2011) beantwortet. Sie kann hier offenbleiben, weil sie unser Hauptziel nicht direkt berührt. Eine zweite Wertabhängigkeit der Wissenschaften, die in der Wissenschaftsphilosophie diskutiert wird, betrifft die Frage, welche Theorien und Hypothesen angenommen werden. Damit geht es um Entscheidungen, die anders als vielleicht die Themenwahl als integraler Bestandteil wissenschaftlicher Forschung gelten müssen.

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Natürlich sollten diese Entscheidungen auf der Basis einer geeigneten wissenschaftlichen Rechtfertigung erfolgen. In der Wissenschaftsphi­ losophie wird nun argumentiert, dass eine solche Rechtfertigung letztlich von Werten abhängt und abhängen muss (vgl. Betz 2013). So hat Kuhn argumentiert, dass die Wahl zwischen rivalisierenden Theorien auf Werten basiert (Kuhn 1977; siehe auch Lacey 1999). Diese These können wir aber im Kontext der Pandemie vernachläs­ sigen, weil die Anstrengungen, das Virus zu erforschen, kaum auf eine Theorie zielten. Interessanter für unsere Zwecke ist Rudners Argument, dass auch die empirische Überprüfung einzelner Hypo­ thesen abhängig von Werten ist, und zwar von nicht-epistemischen wie etwa moralischen Werten (Rudner 1953; siehe Douglas 2000 für eine Verallgemeinerung). Ausgangspunkt ist die Prämisse, dass sich allgemeine Hypothesen über empirische Zusammenhänge nicht beweisen, sondern nur mehr oder weniger durch Daten stützen lassen. Eine Hypothese kann daher nur angenommen oder verworfen werden, wenn zuvor eine Schwelle definiert wird, die festlegt, welcher Umfang von Belegmaterial (engl. oft »evidence«) für das Annehmen oder Verwerfen einer Hypothese notwendig ist. Dieses Problem lässt sich anhand statistischer Testverfahren illustrieren, für die ein sog. Signifikanzniveau festgelegt werden muss. Die Festlegung dieser Schwelle kann aber, so das Argument weiter, nicht bloß aufgrund von rein wissenschaftlichen Erwägungen getroffen werden; vielmehr ist es angemessen, dabei das sog. induktive Risiko zu berücksichtigen, dass man z.B. irrtümlicherweise eine korrekte Hypothese verwirft. Wenn die Wahrscheinlichkeit für einen solchen Fehler gering bleiben soll, dann muss man die Schwelle für den Umfang des Belegmaterials entsprechend hoch ansetzen. Wie wahrscheinlich ein solcher Fehler höchstens sein darf, hängt aber davon ab, wie problematisch die Folgen sind, die sich ergeben, wenn man den Fehler begeht. So zeigen sich sehr negative Folgen, wenn ein teurer Impfstoff, der breit verimpft wird, gar keine Schutzwirkung hat. Daher ist es angemessen, eine hohe Schwelle für das Belegmaterial anzusetzen, wenn es darum geht, die Hypothese zu widerlegen, der Impfstoff wirke nicht. Dass das Verimpfen eines wirkungsglosen Impfstoffs sehr problematisch ist, ist dabei Ausdruck einer moralischen Wertung, die insbesondere das menschliche Wohlergehen berücksichtigt. Insgesamt ergibt sich damit, dass die Annahme von Hypothesen indirekt von nicht-episte­ mischen Werten abhängt, weil nur diese eine sinnvolle Entscheidung

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über Schwellenwerte für das erforderliche Belegmaterial ermöglichen – so wenigstens das Argument. Rudners Überlegungen basieren auf der Prämisse, dass For­ schende Hypothesen akzeptieren oder verwerfen (siehe Jeffrey 1956; Levi 1960). Diese Prämisse lässt sich aber mit guten Gründen bestrei­ ten: Die Aufgabe von Forschenden könnte alternativ sein, herauszu­ finden, wie wahrscheinlich, plausibel oder auch unsicher bestimmte Hypothesen sind, so dass keine feste Schwelle für das Belegmaterial festgelegt werden müsste (so etwa Jeffrey 1956; siehe Henschen 2021 für eine aktuelle Würdigung). In der Terminologie von Betz (2013) geht es darum, Hypothesen so zu qualifizieren, einzuschrän­ ken oder »einzuzäunen« (engl. »to hedge«), dass Abhängigkeiten von Werten gewissermaßen herausdividiert werden. Forschende sollten also nicht darauf hinarbeiten, die Hypothese zu akzeptieren, dass ein Impfstoff wirkt, sondern etwa auf das Ergebnis zielen, dass er mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit wirkt – vielleicht noch unter der Bedingung, dass eine bestimmte Methode zur Abschätzung der Wahrscheinlichkeit angewandt wurde (Thonemann 2020 argumen­ tiert etwas anders, wenn er sagt, Forschende sollten Hypothesen nur in Hinblick auf die Wahrheit akzeptieren und das Akzeptieren in Bezug auf praktische Fragen anderen überlassen). Natürlich kann man behaupten, die Forschenden würden immer noch eine Hypothese akzeptieren, wenn sie sagen, mit dieser oder jener Methode habe man eine bestimmte Wahrscheinlichkeit festgestellt (Rudner 1953, 4). Aber es ist nicht klar, dass die Begründung dieser Hypothese wiederrum nur mit induktivem Risiko möglich ist (siehe z.B. Betz 2013, 214f.). Eine kleine Recherche zu COVID-19 bestätigt diesen Einwand gegen eine zentrale Prämisse von Rudners Argument. Dazu wurden in PuBMed mit der Anfrage »pfizer covid-19 vaccine side effects« Publikationen gesucht. Die sich am 7.1.2022 ergebenden 378 Resul­ tate wurden durch den Fokus auf sog. randomisierte kontrollierte Stu­ dien weiter eingeschränkt, so dass 13 Studien übrigblieben. Von die­ sen wurden die ersten drei genauer geprüft (Mulligan et al. 2020; Polack et al. 2020; Baden et al. 2021). Dabei ergab sich, dass die zen­ tralen Resultate als Fallzahlen oder Prozentsätze von Fallzahlen ange­ geben wurden. So fanden etwa Polack et al. (2020) heraus, dass die Impfung mit dem Wirkstoff BNT162b2 in 95 % der Fälle wirksam war, was man auch als Wahrscheinlichkeit für die Wirksamkeit ansehen kann. Diesem Ergebnis haftet natürlich eine statistische Unsicherheit

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an. Diese wurde von Polack et al. mithilfe eines 95 %-KonfidenzIntervalls angegeben. Die Angabe von Unsicherheiten mit solchen 95 %-Konfidenz-Intervallen hat sich in vielen Gebieten eingebürgert und spiegelt damit keine Überlegungen wider, die spezifisch das induktive Risiko eines Corona-Impfstoffs beträfen. Auch die anderen beiden untersuchten Studien (Mulligan et al. 2020; Baden et al. 2021) erzielten Ergebnisse derselben Art und quantifizierten Unsicherhei­ ten auf genau dieselbe Weise. Allein die Studie von Baden et al. (2021) enthielt einen Hypo­ thesentest und damit ein Verfahren, das sich besonders gut für Rud­ ners Argumentation ausnutzen ließe. Dabei wurde die Nullhypothese untersucht, dass die Wirksamkeit der untersuchten Impfung weniger als 30 % beträgt. Diese Nullhypothese wurde unter Verweis auf einen p-Wert verworfen, der kleiner als 0,001 war. Damit ist die bedingte Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Hypothese mit dem Testverfahren verworfen wird, obwohl sie korrekt ist, kleiner als 0,001. Das zu unterschreitende Signifikanzniveau ist damit recht gering, was bedeu­ tet, dass die statistischen Unsicherheiten sehr klein sind. Es wird auch eine Betrachtung zur sog. Trennschärfe angestellt, aber insgesamt findet sich keine Argumentation dafür, dass eine bestimmte Schwelle für das Belegmaterial gewählt wird. Es scheint daher, dass man sich auch hier an häufig benutzten Schwellen für das Belegmaterial ori­ entiert, anstatt fallspezifische Abwägungen des induktiven Risikos vorzunehmen. Insgesamt zeigt sich im Rahmen der kurzen Recherche damit Folgendes: Die meisten veröffentlichten Hauptergebnisse sind Fall­ zahlen, relative Häufigkeiten oder Wahrscheinlichkeiten. Die dazu­ gehörigen statistischen Unsicherheiten werden auf der Basis von Konventionen quantifiziert, welche in bestimmten Bereichen der For­ schung unabhängig vom Untersuchungsgegenstand verwendet wer­ den. Fallspezifische Abschätzungen von induktiven Risiken anhand von moralischen Werten finden nicht statt. Natürlich ist die Recherche selbst viel zu wenig umfangreich, als dass sie allgemeinere Schlüsse zuließe. Aber die Ergebnisse zeigen doch, dass Forschende moralische Abwägungen zum induktiven Risiko wenigstens ein Stück weit ver­ meiden können. Die Unsicherheiten der Forschungsresultate wurden dabei nicht nur in der wissenschaftsinternen Kommunikation mitgeteilt, sondern auch in die öffentliche Diskussion getragen. So sagte die Virologin Brinkmann (2020b) in einem Interview: »Vieles weiß man ja jetzt

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noch nicht […] ich bin nicht sicher, ob die Maßnahmen, wie sie heute beschlossen wurden, tatsächlich ausreichen, um die Zahlen in kürze­ rer Zeit und nicht in einer ewig langen Zeigt nach unten zu drücken.« Eine solche Kommunikation von Unsicherheiten ist natürlich vager als die Angabe von Wahrscheinlichkeiten oder Signifikanzniveaus, erlaubt es aber der Öffentlichkeit und der Politik, eine eigene Reaktion auf die Unsicherheiten zu finden und sich begründet für ein mehr oder weniger risikoreiches Vorgehen zu entscheiden. Das aber bedeutet, dass die Abwägung der Risiken nicht primär durch die Wissenschaft erfolgte, sondern durch die Politik. In diesem Sinne äußerte sich auch der Virologe Drosten (2020): Ich sehe meinen Job nicht darin, die Wahrheit zu verkürzen, sondern darin, die Aspekte der Wahrheit zu erklären, aber auch Unsicherheiten zuzulassen und zu sagen: Das weiß man so nicht – und dass dann eine politische Entscheidung nötig ist. Und solange es als politische Entscheidung kommuniziert wird, finde ich das in Ordnung.

Dabei fokussierte sich die öffentliche Diskussion übrigens nicht auf die statistischen Unsicherheiten (die darauf zurückgehen, dass eben nur eine begrenzte Zahl von zufällig ausgewählten Fällen untersucht wurde), sondern auf die systematischen. Letztere ergeben sich etwa daraus, dass die Bevölkerungen unterschiedlicher Länder verschieden zusammengesetzt sind, so dass nicht klar war, inwiefern sich erste Ergebnisse zur Omikron-Mutante von Südafrika, wo sie zuerst nach­ gewiesen und untersucht wurde, auf andere Länder übertragen lassen (etwa Meyer 2021). Selbst wenn das Argument von Rudner schlüssig ist und die Rechtfertigung von Hypothesen letztlich von nicht-epistemischen Werten und ihren Gewichten abhängt, ist das mit derjenigen Wert­ abhängigkeit vereinbar, die hier in Abschnitt 2 im Anschluss an Weber untersucht wurde. Denn auch wenn die Rechtfertigung von Hypothesen von nicht-epistemischen Werten abhängt, so ist doch der Gehalt der Resultate nicht wertend. Dieser Gehalt wird nämlich im Argument von Rudner gar nicht betrachtet. Wenn Rudners Argument nicht zurückgewiesen werden kann (wie etwa Carrier 2022 denkt), dann sind allerdings weitergehende Forderungen für die Kommunikation wissenschaftlicher Ergebnisse plausibel (z.B. Elliott 2017, 105; zur Diskussion siehe John 2015 und Biddle 2020). Die Forschenden sollten dann im Austausch mit Politik und Öffentlichkeit erklären, wie sie zu ihren Resultaten

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gekommen sind, damit der anderen Seite bewusst wird, unter welchen Bedingungen sie ihre Resultate erzielt haben. Damit würden die Forschenden letztlich die Art und Weise, wie sie die Schwellenwerte für Belegmaterial festgelegt haben, offenlegen, so dass diese zur Disposition gestellt werden können und die Gesellschaft entscheiden kann, wie sie sich zu induktiven Risiken und damit genuinen Wertfra­ gen stellt. Eine entsprechende Offenlegung wäre insofern gefordert, als die Entscheidung über Werte letztlich nicht in der Kompetenz der Forschenden liegt. Außerdem würde nur eine solche Offenlegung ein umfassendes Verständnis des Informationsstands über Tatsachen erlauben, wie es auch schon in Bezug auf die Themenwahl eingefor­ dert wurde. Fairerweise muss man sagen, dass es im Kontext vieler Massenmedien schwierig ist, Unsicherheiten und den Umgang damit zu erklären, wenn ein breites Publikum angesprochen werden soll. Die Unsicherheiten und der Umgang damit lassen sich aber wenigstens im Gespräch zwischen Verwaltung und Forschenden klären und diskutie­ ren, so dass die Politik angemessen informiert wird.

5. Schlussfolgerungen Wie steht es nun insgesamt mit der Wertfreiheit der Wissenschaft in der Krise? Ist sie selbst in der Krise – vielleicht in einer Krise, die durch andauernde philosophische Kritik vorbereitet wurde? Die Antworten auf diese Fragen hängen davon ab, was man genau unter der Wertfreiheit der Wissenschaften versteht und was es heißt, sich in einer Krise zu befinden. Man kann die Wertfreiheit als These oder als Forderung auffassen. In der ersten Auffassung geht es um die Behauptung, dass wissenschaftliche Resultate (genauer: Resultate, die durch die Methoden der empirischen Wissenschaften gerechtfertigt sind) keine Werturteile sind oder enthalten. Sofern der Sinn dieser Behauptung geklärt wurde, ist sie wahr oder falsch und daher nicht anfällig für Krisen, wie sie etwa durch eine Pandemie entstehen können. Ich habe argumentiert, dass die Behauptung in der Tat wahr ist. Wenn man zur These der Wertfreiheit plausible wer­ tende Annahmen hinzunimmt, lässt sich die Forderung begründen, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Werturteile nicht als Ergebnisse ihrer Forschung ausgeben. Diese Forderung kann insofern in der Krise sein, als sie nicht erfüllt wird. In der Tat gab es in der Pandemie Beispiele, in denen die Forderung verletzt wurde, etwa

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die Stellungnahme der Leopoldina aus dem Dezember 2020. Aber das besagt nicht, dass die Forderung als Forderung unberechtigt ist. Vielmehr lässt sich mithilfe der Forderung teilweise erklären, warum die Stellungnahme auf deutliche Kritik stieß (zum Teil war die Kritik aber auch auf andere Umstände zurückzuführen; sie hat sicher damit zu tun, dass die von der Stellungnahme geforderten Maßnahmen unbeliebt waren). Außerdem, so habe ich in Abschnitt 3 zu zeigen versucht, gibt es durchaus Anzeichen dafür, dass die Forderung der Wertfreiheit letztlich in der einen oder anderen Weise anerkannt wurde. Das würde darauf hindeuten, dass die Forderung der Wertfrei­ heit eine gewisse normative Orientierung gewährt. Das ist allerdings nur dann der Fall, wenn die Wertfreiheit nicht in einem tieferen Sinn in der Krise steckt, wenn sie also nicht durch berechtigte Kritik obsolet geworden ist. Sieht man sich in der heutigen Wissenschaftsphilosophie um, dann findet man viel Kritik an der Wertfreiheit der Wissenschaft. Um die Relevanz dieser Kritik für das Gesagte zu taxieren, muss man allerdings wieder genauer fragen, was mit Wertfreiheit gemeint ist. In der heutigen Wissen­ schaftsphilosophie wird die Wertfreiheit der Wissenschaft vor allem in Bezug auf die Praxis der wissenschaftlichen Forschung kritisiert. Das lässt sich dadurch erklären, dass es spätestens seit Kuhn eine Hinwendung von den Resultaten der Wissenschaft zur Praxis ihrer Hervorbringung gegeben hat. Dementsprechend wird heute gerne betont, dass die wissenschaftliche Forschung als Praxis von Werten beeinflusst wird. Dieser Einfluss ist nicht zu leugnen; als Handeln ist Forschung von Pro-Einstellungen und damit insbesondere von Werten abhängig. Tatsächlich können wir ohne den Bezug auf gewisse Standards oder Werte der Wissenschaftlichkeit gar nicht verständlich machen, was Wissenschaft ist. Daraus folgt aber nicht, dass die Resultate der Wissenschaft unbedingte Werturteile enthielten. Denn die empirische Wissenschaft ist eine Praxis, die auf eine Beschreibung und eine Erklärung von Phänomenen zielt, nicht aber auf die direkte Handlungsleitung. Pointierter formuliert ist sie eine Praxis, die auf etwas Nicht-Praktisches zielt. Der unbestreitbare Umstand, dass die Wahl von Forschungsthemen, -fragen und ‑methoden auf moralische Werte zurückgeht, tut dem keinen Abbruch. Der berühmte Einwand Rudners gegen die Wertfreiheit zeigt bestenfalls auf, dass das begründete Akzeptieren von Hypothesen von nicht-epistemischen Werten abhängt. Aber selbst das würde den Gehalt wissenschaftlicher Resultate nicht zu Werturteilen machen.

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Außerdem ist fraglich, ob die Wissenschaften wirklich immer Hypo­ thesen akzeptieren müssen. Wir haben wenigstens einige Beispiele gesehen, in denen die Unsicherheiten, die es bei der Begründung von Hypothesen gibt, in der Forschung und der Öffentlichkeit offengelegt und diskutiert wurden. Die Beobachtung, dass die wissenschaftliche Praxis von Wertur­ teilen abhängt, hat aber durchaus Folgen für die adäquate Kommuni­ kation von Forschungsergebnissen. Weil die Wahl von Forschungs­ themen und vielleicht auch die wissenschaftliche Entscheidung über Hypothesen durch Werte beeinflusst wird, hängt von Werten ab, was insgesamt als Resultate von Forschung ausgegeben werden kann. Das ist aber nur eine Auswahl aller Resultate, die sich etablieren ließen. Die tatsächliche Auswahl kann zu Missverständnissen Anlass geben oder wichtige handlungsrelevante Aspekte vernachlässigen. Im Sinne einer angemessenen Information von Politik und Öffentlichkeit ist es daher wichtig, dass Forschende erklären, wie diese Auswahl zustande kam. Öffentlichkeit und Politik sollten nicht bloß das (kontingenter­ weise lückenhafte und mit Unsicherheiten behaftete) Wissen berück­ sichtigen, sondern auch die aktuelle Lage der Forschung, die auch dadurch gekennzeichnet sein kann, dass etwa bestimmte Fragen gar nicht untersucht wurden. Im Rahmen dieses Aufsatzes konnten nicht alle Einwände gegen die Wertfreiheit der Wissenschaft untersucht werden. So wird manchmal behauptet, dass die Modellierung auf nicht-epistemischen Werten beruht, weil dabei bestimmte Aspekte eines Untersuchungs­ gegenstands in den Fokus gerückt werden, während andere vernach­ lässigt werden (Parker/Winsberg 2018; im Zusammenhang von COVID-19: Harvard et al. 2021). Die Wertfreiheit wird heute auch insbesondere von der Standpunkttheorie geleugnet. Dieser zufolge prägen die Werturteile der Forschenden die Resultate unvermeidlich so stark, dass sie sich nicht »herausdividieren« lassen (siehe etwa Harding 1992; zur Pandemie: Schaubroeck/Hens 2022). Ein dritter Einwand gegen die Wertfreiheit könnte lauten, dass unser Denken durch Begriffe mit wertenden Bestandteilen durchsetzt ist und dass wir daher gar keine reinen Tatsachenurteile fällen können. Die letzten beiden Einwände haben durchaus eine gewisse Plau­ sibilität, wenn es darum geht, wie wir im Alltag über gesellschaftliche Zusammenhänge sprechen. Ich denke aber, dass es den empirischen Natur- und Sozialwissenschaften wenigstens in bestimmten Berei­ chen gelingt, ein Wissen zu gewinnen, das unabhängig von Wertun­

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gen ist. Eine genauere Untersuchung der beiden letztgenannten Ein­ wände würde den Rahmen einer rein wissenschaftsphilosophischen Erörterung aber sprengen und etwa auch in die Sprachphilosophie führen. Das zeigt immerhin, wie tief einige philosophische Fragen sind, die in einer Krise wichtig werden, wie sie durch die Corona-Pan­ demie verursacht wurde. Danksagung: Ich danke den Herausgebern R. Hauswald und P. Schmechtig sowie den Mitgliedern des Wissenschaftsphilosophi­ schen Forschungskolloquiums in Bern für wertvolle Hinweise.

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Gerhard Schurz

Zwischen Fakten und Werten: Zur Rolle von Experten im Umgang mit Pandemien

1. Einführung Selten hatten medizinische Experten einerseits so viel politische Macht und wurden andererseits so massiv angezweifelt wie gegen­ wärtig in der Corona-Pandemie. Forderungen nach restriktiven gesundheitlichen Schutzmaßnahmen auf der medizinorientierten Seite geraten in zunehmenden politischen Konflikt mit Verteidigern von individuellen Freiheitsrechten auf der Gegenseite. Dieser Aufsatz möchte zur Klärung dieses Konflikts beitragen. Aber nicht, indem wie bei vielen Gegnern von Corona-Schutzmaßnahmen üblich, medizini­ sches Faktenwissen mit fragwürdigen Argumenten bezweifelt wird. Stattdessen soll der Blick für den Unterschied zwischen Faktenwissen und Wertentscheidungen geschärft werden. Die Hauptaussage des folgenden Beitrages lässt sich so zusam­ menfassen: Epidemiologie-Experten können uns sagen, welche Ver­ zichtsmaßnahmen oder Schutzvorschriften die Infektionsraten sound-so niedrig halten können. Aber ob diese Maßnahmen die damit erreichten Wirkungen wert sind, durch sie legitimiert werden, ist keine wissenschaftliche Faktenfrage, sondern eine Wertentscheidung. Die Wertdimension von Corona-Fragen wird in den gängigen Medien­ berichten leider allzu oft übersehen; stattdessen werden schwierige Wertentscheidungen in das Tarngewand medizinischen Fachwissens gekleidet, wie etwa in folgender Schlagzeile: »Die Mediziner haben ein Urteil gefällt, das wir umsetzen müssen«.1 Der unbegründete Übergang von Fakten auf Wert- oder Norm­ aussagen wird in der Philosophie auch als Sein-Sollens-Fehlschluss oder naturalistischer Fehlschluss bezeichnet. Wie wir zeigen wer­ den, benötigt man für diesen Übergang allgemeine Wertprämissen 1

Kleine Zeitung Graz vom 19.1.2021.

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oder Fakten-Wert-Brückenprinzipien, die ihrerseits durch Rekurs auf gemeinsame Interessen oder Grundwerte zu rechtfertigen sind. Wenn dies zutrifft, dann sind für Wertentscheidungen in der Corona-Frage Wissenschaften wie Psychologie, Ökonomie und Philosophie ebenso wichtig wie Medizin und Epidemiologie. Letztlich aber ist diese Wertentscheidung von den politischen Repräsentanten aller Bürger im Rahmen der parlamentarischen Demokratie vorzunehmen.

2. Wertneutralität und die Begründung der Fakten-WerteTrennung Vorweg sei betont, dass es hier um die Begründung der Wertneu­ tralität der Wissenschaften geht und nicht um Wertfreiheit. »Wert­ freiheit« suggeriert, dass Wissenschaftler (jedweden Geschlechts) gar keine Wertempfehlungen vornehmen sollten, was unsinnig wäre, da es Wissenschaften ihrer praktischen Relevanz berauben würde. Oft wird die engstirnige Wertfreiheitsidee als »Strohmann« benutzt, um leicht dagegen argumentieren zu können. Wertneutrali­ tät schließt dagegen keineswegs aus, dass in den Wissenschaften mit Werten rational umgegangen werden kann. Insbesondere schließt sie nicht aus, dass mithilfe von erfahrungswissenschaftlich begründeten Zweck-Mittel-Beziehungen aus vorgegebenen Fundamentalwerten abgeleitete Werte in Form von Mittelempfehlungen gewonnen wer­ den können. Woran die Wertneutralitätsforderung lediglich festhält, ist, dass »fundamentale« Werte oder Normen – solche, die nicht aus übergeordneten Werten bzw. Normen abgeleitet sind – nicht erfah­ rungswissenschaftlich begründet werden können, sondern letztlich aufgrund menschlicher Interessen oder Intuitionen bestimmt werden. Die so verstandene Wertneutralitätsforderung geht auf Max Weber (1917) zurück. Ihre Begründung, die sich in ähnlicher Form auch bei Weber findet, lässt sich so zusammenfassen: Werte sind keine Eigenschaften, die den Gegenständen selbst innewohnen, sondern beruhen auf subjektiven Bewertungen durch Menschen. Gleichermaßen sind Normen keine objektiven Tatsachen, sondern menschengemachte Forderungen, die entsprechenden Werten zur Rea­ lisierung verhelfen sollen. Es gibt bei der Frage der Begründung von Wert- und Normsätzen keine Ebene von Beobachtungstatsachen, anhand derer sich diese Sätze überprüfen ließen. Andererseits sind Wert- und Normsätze keine analytischen Behauptungen, die allein

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Zwischen Fakten und Werten: Zur Rolle von Experten im Umgang mit Pandemien

mittels Logik oder Definitionen begründbar wären. Daher gibt es im Bereich der Normen und Werte keine erfahrungswissenschaftliche Objektivität; es liegt letztlich in der Freiheit des Menschen, sich für gewisse Normen und Werte zu entscheiden. Terminologisch bezeichnet man erfahrungsgestützte Urteile auch als deskriptive Urteile und fasst Wert- oder Normurteile als ethi­ sche (oder »präskriptive«)2 Urteile zusammen. Für eine vollständige Begründung der Wertneutralitätsthese im Rahmen der Metaethik muss dreierlei geleistet werden: Erstens muss, um Wertneutralität einfordern zu können, gezeigt werden, dass es möglich ist, deskriptive und ethische Urteile von­ einander zu trennen. Dies ist, wie unten argumentiert wird, bei hinreichendem Bemühen immer möglich. Die Wertneutralitätsforde­ rung verlangt von Wissenschaftlern (beliebigen Geschlechts) in erster Linie, deskriptive wissenschaftliche Behauptungen, die empirisch prüfbar sind, von Werturteilen zu trennen. Zweitens muss zur Begründung der Wertneutralitätsthese gezeigt werden, dass aus rein deskriptiven Prämissen keine ethischen Konklusionen folgerbar sind. Das Hauptproblem eines Beweises dieser These besteht darin, dass es auch gemischte Konklusionen gibt, die sowohl deskriptive wie normative Bestandteile besitzen. Dieses Problem konnte durch die Anwendung eines Relevanzkrite­ riums gelöst werden, dem zufolge aus rein deskriptiven Prämissen niemals Konklusionen logisch erschließbar sind, die ethische Satzbe­ standteile relevant (d.h. nicht beliebig ersetzbar) enthalten (Pigden 1989; Schurz 1997). Es konnte bewiesen werden, dass die zuerst von David Hume (1739/40, 177f.) formulierte Nichtableitbarkeitsthese für alle formallogischen Systeme gilt, deren Axiomenschemata keine sog. Brückenprinzipien enthalten, die einen Zusammenhang zwischen deskriptiven und präskriptiven Sätzen herstellen und logisch betrach­ tet daran erkannt werden, dass sie einen Schemabuchstaben sowohl innerhalb wie außerhalb des Bereichs von Norm- oder Wertoperato­ ren enthalten (Schurz 1997, Theorem 1). Ebenso wenig wie normative Konklusionen aus deskriptiven Prämissen (relevant) folgerbar sind, können deskriptive Konklusionen aus Norm- oder Wertprämissen Diese Bezeichnung »präskriptiv« (»vorschreibend«) geht auf Hare (1952) zurück. Werturteile sind indirekt »präskriptiv«, da sie mit Normen analytisch verknüpft sind, gemäß des Prinzips, dass das Gute getan werden und das Schlechte vermieden werden soll. 2

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erschlossen werden – ersteres ist der »Sein-Sollens-Fehlschluss« und letzteres der »Sollen-Seins-Fehlschluss«. Drittens muss gezeigt werden, dass solche Brückenprinzipien nicht schon als analytisch gültige Definitionen oder Bedeutungskon­ ventionen, und damit als Kandidaten für logische Axiome angesehen werden können. Diese auf Moore (1903, 15f.) zurückgehende These lässt sich damit begründen, dass sich kontroverse ethische Theorien in ihren Brückenprinzipien unterscheiden. Beispielsweise wird das Brückenprinzip des Utilitarismus, dem zufolge als gut anzusehen ist, was den Gesamtnutzen maximiert, von alternativen Ethiken dahingehend kritisiert, dass es über Nutzenüberlegungen hinaus auch gewisse nicht der Nutzenmaximierung dienende moralische Intuitio­ nen gibt, weshalb wir oben auch sagten, dass sich fundamentale Werturteile letztlich auf menschliche »Interessen oder Intuitionen« stützen – womit alle gegenwärtig relevanten ethischen Ansätze abgedeckt sind.3 Lediglich sog. funktionale Brückenprinzipien, wie das unten besprochene Zweck-Mittel-Prinzip, können als analytisch betrachtet werden; mit ihrer Hilfe lassen sich jedoch nachweislich aus deskriptiven Prämissen keine nicht-trivialen Wert- oder Normsätze erschließen (Schurz 1997, Theorem 6). Aufbauend auf diesen Überlegungen unterscheiden wir zwischen der Wertneutralitätsthese und der Wertneutralitätsforderung. Die Wertneutralitätsthese besagt, dass (nicht-triviale) ethische Urteile nicht erfahrungswissenschaftlich begründet werden können, ohne (noch grundlegendere) ethische Prämissen vorauszusetzen, die ent­ weder die Form von reinen Wert- oder Normsätzen oder von Brücken­ prinzipien haben müssen.4 Genauer gesagt können keine fundamen­ talen (nicht-abgeleiteten) und kategorischen Werturteile der Form »P ist ein Grundwert«5 erfahrungswissenschaftlich begründet werden, 3 Auch aprioristische oder quasi-empiristische Ansätze berufen sich letztlich auf Intuitionen (Schurz 1997, Kap. 11). 4 Strenggenommen muss gezeigt werden, dass ein solcher Schluss nicht nur logisch ungültig sein muss, sondern auch nicht enumerativ-induktiv, oder abduktiv als Schluss auf die beste Erklärung, geführt werden kann. Dies ist vergleichsweise einfach. Durch induktive Generalisierungsschlüsse können trivialerweise keine neuen Begriffe – Wert- oder Normbegriffe – in die Konklusion eingeführt werden. Und einen solchen Schluss abduktiv zu führen, würde bedeuten, mittels rein ethischen Prämissen empiri­ sche Tatsachen erklären zu wollen, was auf einen Sollen-Seins-Fehlschluss hinausliefe. 5 Formallogische Präzisierung: »P ist Grundwert« bedeutet so viel wie: »›Es ist wertvoll, dass P‹ ist ein Element der Menge akzeptierter Werturteile, das nicht von anderen Elementen dieser Menge wertelogisch impliziert wird«. Die Formulierung

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wohl aber Implikationen zwischen Werturteilen, sog. hypothetische Werturteile (»wenn P ein Grundwert ist, ist Q ein abgeleiteter Wert«), auf die wir weiter unten zu sprechen kommen. Die Wertneutralitätsforderung ergibt sich daraus im Verein mit der zusätzlichen Überlegung, dass es im Bereich der Norm- und Wert­ aussagen keine erfahrungswissenschaftlichen Urteilen vergleichbare Objektivität bzw. Allgemeinverbindlichkeit gibt. Es gibt nur wenige anthropologisch universale, d.h. von (nahezu) allen Menschen geteil­ ten Grundwerte (wobei gleichartige egoistische Interessen wie z.B. jedermanns Interesse an der Erhaltung seines Lebens noch keine echt gemeinsamen Interessen ausmachen). Insbesondere aber enthalten Abwägungen zwischen ähnlich wichtigen Interessen, die in der Pan­ demie besonders zum Tragen kommen – wie etwa Sicherheit versus Freiheit – immer eine unvermeidlich subjektive Komponente. Aus diesem Grund ist es, zur Wahrung wissenschaftlicher Objektivität, unerlässlich, zwischen erfahrungswissenschaftlichen Aussagen und Wertaussagen zu trennen und in Bezug auf Wertaussagen explizit anzugeben, welche fundamentalen Wertannahmen bzw. Interessens­ annahmen diesen zugrunde liegen. Darüber hinaus bedarf die Wertneutralitätsforderung zwei wei­ terer Präzisierungen. Erstens darf sie sich nur auf den sog. Begrün­ dungszusammenhang von Wissenschaft beziehen, nicht auf ihren Entstehungs- oder Verwertungszusammenhang, und zweitens nur auf wissenschaftsexterne Werte – worunter alle Werte zu verstehen sind, die nicht dem obersten wissenschaftlichen Wert der Suche nach gehaltvollen Wahrheiten dienen.6 Die sich daraus ergebende Wertneutralitätsforderung lässt sich schlussendlich so formulieren: Der wissenschaftliche Begründungszusammenhang soll frei von funda­ mentalen wissenschaftsexternen Wertannahmen sein. Diese Begründung der Wertneutralitätsforderung ist nicht nur theoretisch schlüssig, sondern auch praktisch plausibel. Jedermann weiß, dass die Herstellung eines Konsenses in Wertfragen zwischen Angehörigen verschiedener Kulturen viel schwieriger ist als die Her­ »P ist ein Wert« (bzw. »Es ist wertvoll, dass P«) ist ebenfalls kategorisch, aber nicht unbedingt fundamental. Jeder Wenn-Dann-Satz der Form »Wenn P ein Wert ist, dann auch Q« ist hypothetisch. 6 Einige Autoren machten darauf aufmerksam, dass Wissenschaft schon deshalb nicht wertfrei sein kann, weil sie selbst einem Wert – dem der Wahrheitssuche – dient (Schmidt 1971). Unter »gehaltvolle Wahrheiten« fallen insbesondere auch explana­ torisch gehaltvolle Theorien (siehe Schurz 2014a, 30; 2014b, Abschn. 6.5).

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stellung eines Konsenses in Sachfragen. Dennoch wurde die Wert­ neutralitätsforderung aus verschiedenen Richtungen immer wieder kritisiert. Pars pro toto seien die drei wichtigsten Argumente gegen die Wertneutralität und ihre Widerlegung rekapituliert: 1.) Im Zuge des Positivismusstreits der 1960er und 1970er Jahre haben Vertreter der neomarxistisch orientierten kritischen Theorie argumentiert, eine empirisch-wertneutrale Sozialwissenschaft würde die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse nur reproduzieren, ohne zu deren Veränderung etwas beizutragen.7 Doch dieser Vor­ wurf beruht auf einem fatalen Missverständnis: Zur Erforschung des Deskriptiven gehört natürlich auch die Erforschung der Gesetzmäßig­ keiten, und damit die Erforschung des naturgesetzlich, technisch oder praktisch Möglichen und Unmöglichen. Daher ist es gerade auch die empirische Sozialwissenschaft, die aufzeigen kann, wie gesellschaftli­ che Verhältnisse verändert werden können, und eben dadurch zu der von der kritischen Theorie geforderten Emanzipation beitragen kann. 2.) Viele Begriffe unserer Alltagssprache besitzen zugleich Tat­ sachen- und Wertgehalt, oft eng verzahnt, sodass die begriffliche Trennung nicht leicht fällt. Einige Kritiker der Wertneutralität, bei­ spielsweise Putnam (2002, Kap. 2) und daran anknüpfend Dupré (2013), haben behauptet, dass bei gewissen sog. »dicken« Konzepten (»thick concepts«), wie beispielsweise »Grausamkeit« oder »Verge­ waltigung«, eine solche Trennung nicht möglich wäre. Doch wie schon Hare (1981, 74f.) einwandte, ist diese Trennung mehr eine Frage des Wollens denn Könnens, und unter Zuhilfenahme geeigneter sprachlicher Mittel ist sie immer möglich. Illustrieren wir dies am Dupréschen Beispiel des Begriffs der Vergewaltigung einer Frau. Der deskriptive Begriffsanteil dieses Begriffs wäre in erster Näherung gegeben, wenn ein Mann eine Frau gegen ihren Willen dazu nötigt, mit ihm Geschlechtsverkehr oder ähnliche Handlungen auszuüben. Die Konjunktion aus obiger Umschreibung und dem Werturteil »Und dies ist ein schwerwiegendes Vergehen« lässt sich als zufriedenstel­ lende Näherung der deskriptiv-normativen Gesamtbedeutung von »Vergewaltigung« ansehen, die das Trennungsgebot erfüllt. 3.) Dupré (2013) argumentiert, selbst wenn die Abspaltung des Tatsachengehalts vom Wertgehalt von Erkenntnissen möglich wäre, wäre sie kontraproduktiv, da nach einer solchen Abspaltung Wissen­ schaft keine praktischen Handlungskonsequenzen mehr haben 7

Vgl. Adorno et al. (1969); Habermas (1968, Abschn. V); Dahms (1994).

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könnte. Dupré übersieht dabei die bereits eingangs erwähnte und entscheidende Tatsache, dass die Forderung der Wertneutralität – im Gegensatz zur engstirnigen Wertfreiheit – wissenschaftliche Wert­ empfehlungen nicht nur zulässt, sondern explizit begrüßt, aber eben nur in Form von hypothetischen anstatt von kategorischen Werturtei­ len. Dies setzt aber die Trennung des deskriptiven und präskriptiven Gehalts von Wertempfehlungen voraus, die auch für die empirische Untersuchung der Frage notwendig ist, durch welche Maßnahmen die Häufigkeit von Vergewaltigungsversuchen am effektivsten gesenkt werden kann (vgl. Schurz 2013, Abschn. 6.2).

3. Die Bedeutung der Fakten-Werte-Trennung für Vertrauen in Expertenurteile Der Unterschied zwischen hypothetischen und kategorischen Wertoder Normurteilen ist für das richtige Verständnis von Wertneutra­ lität zentral und sei im Folgenden näher erläutert. Die Auffindung geeigneter Mittel für gegebene Zwecke ist die wichtigste praktische Leistung empirischer Wissenschaften. Ein vereinfachtes Schema des Zweck-Mittel-Schlusses sieht so aus: Einfaches Schema des Zweck-Mittel-Schlusses: Deskriptive Zweck-Mittel-Prämisse: M ist unter den gegebenen Umständen ein notwendiges – oder alternativ: ein optimales – Mittel für die Realisierung des Zweckes bzw. Wertes Z. Daher: Wenn Fundamentalnorm: Zweck Z soll realisiert werden, dann abgeleitete Norm: Mittel M soll realisiert werden. Die implikative Konklusion (Wenn Fundamentalnorm, dann abgelei­ tete Norm) ist das hypothetische Normurteil, das Wissenschaftler aus der deskriptiven Zweck-Mittel-Prämisse gewinnen. Die abgeleitete Norm allein (ohne Relativierung auf die Fundamentalnorm) wäre dagegen ein kategorisches Normurteil. Der Zweck-Mittel-Schluss (von deskriptiver Mittel-Zweck-Beziehung auf das hypothetische Normurteil) wird in den meisten ethischen Theorien als analytisch gültig akzeptiert (Schurz 1997, Kap. 11.4). Dabei wird angenommen, dass es sich bei M entweder um ein notwendiges oder ein optimales Mittel für Z handelt. Ein notwendiges Mittel ist unter den gegebe­ nen Bedingungen eine notwendige Handlung oder Handlungskom­

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ponente, um den Zweck Z zu erreichen, und ein optimales Mittel hat unter den gegebenen Bedingungen die besten bzw. am wenigsten schädlichen Nebenfolgen. Für den Zweck, frische Luft ins Zimmer zu lassen, wäre beispielsweise eine Öffnung ins Freie ein notwendiges Mittel und das Öffnen eines Fensters ein optimales Mittel. Für hinrei­ chende Mittel ist der Zweck-Mittel-Schluss im Allgemeinen ungültig, denn derselbe Zweck Z besitzt viele verschiedene hinreichende Mittel, und bei vielen dieser Mittel überwiegt der Schaden der Nebenfolgen den Nutzen der Zweckerreichung. Für den Zweck, frische Luft ins Zimmer zu lassen, ist beispielsweise auch das Aufbrechen der Wand ein hinreichendes Mittel, aber sicher nicht empfehlenswert. Die fundamentale Norm übernehmen Wissenschaftler bzw. Experten (beliebigen Geschlechts) von den Wissensbenutzern (Poli­ tikern oder Anwendern), und geben die mithilfe ihres deskriptiven Wissens daraus abgeleitete Norm als Mittelempfehlung an die Wis­ sensbenutzer zurück. Dabei ist wesentlich, dass der Experte seine Empfehlung auf die jeweils vorausgesetzte fundamentale Norm rela­ tiviert, weshalb man auch von einem bloß »hypothetischen« Normoder Werturteil spricht. Lautet die fundamentale Norm »Wir wol­ len P erreichen«, dann hat die hypothetische Mittelempfehlung die Form »Wenn ihr P erreichen wollt, dann sollt ihr Q tun«. Erst diese Relativierung macht es dem Wissensbenutzer möglich, zu prüfen, ob die vom Experten angenommenen Fundamentalwerte auch seine eigenen sind. Die Wertneutralitätsforderung besitzt damit eine kritisch-emanzipatorische Funktion. Unterlässt der Experte (beliebi­ gen Geschlechts) die Explizitmachung vorausgesetzter Werte und formuliert seine Empfehlung kategorisch, dann kann dies die poli­ tisch bedenkliche Folge haben, dass der Wissensbenutzer (beliebigen Geschlechts) zu Handlungen angestiftet wird, die nicht in seinem eigenen Interesse liegen, was irgendwann auffällt und dann das Ver­ trauen in Expertenurteile aushöhlen kann. Wenn beispielsweise der Arzt seinem Patient, einem begeisterten Feinschmecker, hypothetisch rät, wenn er Blutdruck und Cholesterinspiegel auf unbedenkliche Werte verbessern wolle, müsse er mindestens 20 Kilo abnehmen, so kann der Patient zumindest entgegenhalten, dass er sich nicht sicher ist, ob die damit erreichte Gesundheitsverbesserung das Ausmaß des zugefügten psychischen Leides wert ist. Ermahnt der Arzt den Patient dagegen kategorisch, er müsse vernünftigerweise 20 Kilo abnehmen, dann versperrt der Arzt seinem zögernden Patienten die Freiheit seiner eigenen Wertentscheidung. Ähnlich im Beispiel der

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Pandemie: Wenn Mediziner den Bürgern erklären, um die aktuelle Infektionswelle kurzfristig zu stoppen, sei ein sofortiger Lockdown notwendig, so können letztere zumindest entgegenhalten, die damit verbundenen Kosten seien zu hoch, weshalb sie dieser Zielsetzung nicht zustimmen wollten, was einen Diskurs über eine rationale Werteabwägung ermöglicht bzw. begünstigt, im Gegensatz zu einer kategorischen Einforderung eines Lockdowns, die den Blick auf die Wertdimension dieser Maßnahme verstellt und dem Unbehagen des Normalbürgers gegenüber Expertenurteilen Vorschub leistet. Die hypothetische Wertempfehlung gemäß obigem Zweck-Mit­ tel-Schema trägt zusammenfassend dem Mündigkeitsanspruch des Anwenders Rechnung. Dennoch ist dieses Schema übervereinfacht. Denn wie wir sahen, liegt der Grund, warum ein potentieller Wissens­ anwender den vom Experten angenommenen Oberzweck zurück­ weist, im Regelfall darin, dass die Kosten des empfohlenen Mittels aus der Sicht des Anwenders seinen Nutzen überwiegen würden. Die Auflistung und Bewertung der wesentlichen Nebenfolgen des empfohlenen Mittels wird in obigem Schema jedoch ausgeblendet. Man könnte obigem Zweck-Mittel-Schema sogar irrtümlich vorwer­ fen, es wäre trotz der Einschränkung auf notwendige oder optimale Mittel nicht generell gültig, denn darin würde angenommen, dass der Zweck die Mittel heiligt. Dies ist ein Irrtum, denn aufgrund der hypothetischen Formulierung heiligt der Zweck eben nicht die Mittel: Sollten die Kosten des Mittels den Nutzen der Zweckerreichung überwiegen, dann sollte das Mittel eben nicht realisiert werden, woraus folgt, dass dann auch der Fundamentalzweck nicht realisiert werden soll bzw. die Fundamentalnorm zurückzuweisen ist – so wie das in obigen Beispielen demonstriert wurde. Dennoch kann die vereinfachte Formulierung moralisch und politisch bedenkliche Folgen haben, da hier die uninformierten Anwender nicht über die möglichen negativen Folgewirkungen und die Notwendigkeit einer Werteabwägung aufgeklärt werden. Dass die Aufklärung über Nebenfolgen eine Expertenpflicht ist, ist im Falle pharmazeutischer Medikamente mittlerweile eine Selbstver­ ständlichkeit. In Expertenempfehlungen von Kontaktbeschränkungen zur Eindämmung der Pandemie hat man es dagegen häufig unterlas­ sen, auch die damit verbundenen Nebenwirkungen zahlenmäßig zu beziffern und zu vergleichen, was eine Voraussetzung für eine sachge­ rechte Wertentscheidung mündiger Bürger auf Basis von Expertenur­ teilen wäre. Wenn etwa gesagt wird, die aktuelle Pandemiewelle in

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Deutschland würde tausend weitere Covid-Tote kosten, die nur durch einen Lockdown verhindert werden können, ohne dazu zu sagen, dass dieser Lockdown Millionen von Menschen schwerwiegendes ökonomisches und psychisches Leid zufügen würde, dann fehlt diese Aufklärung über Nebenfolgen. Stattdessen werden unreflektierte Gewissensbisse aufseiten derer mobilisiert, die sich diesen Maßnah­ men nicht anschließen wollen und sich womöglich in querdenkerische Abwehrhaltungen flüchten. In der Konsequenz sollte der verfeinerte Zweck-Mittel-Schluss also folgende »aufklärende« Form besitzen: Aufklärendes Schema des Zweck-Mittel-Schlusses: Deskriptive Zweck-Mittel-Hypothese: M ist unter den gegebenen Umständen ein notwendiges – oder alternativ: ein optimales – Mittel für die Realisierung des Zweckes bzw. Wertes Z, wobei dieses Mittel die potentiellen Nebenfolgen N besitzt. Daher: Vorausgesetzt Fundamentalnorm: Zweck Z soll realisiert wer­ den und der Nutzen der Realisierung von Z überwiegt die Kosten der Nebenfolgen N, dann abgeleitete Norm: Mittel M soll realisiert wer­ den. Expertenempfehlungen, so die zentrale These dieses Abschnitts, soll­ ten immer die obige Form besitzen – jedenfalls aus einer aufgeklärtdemokratischen Perspektive. Wie am Ende von Abschn. 1 erwähnt, sind bei der Kosten-Nutzen-Abwägung von Corona-Maßnahmen viele unterschiedliche Disziplinen betroffen, sodass Expertenempfeh­ lungen von einem interdisziplinären Expertenrat zu treffen sind. Zugegeben können wertrelativierte Expertenempfehlungen nicht denselben Handlungsdruck auf Bürger aufbauen wie einfachhypothetische oder gar kategorische Expertenurteile. Aufgeklärthypothetische Empfehlungen eignen sich deutlich weniger zur Len­ kung der Bürger als kategorische Einforderungen; andererseits aber genügen erstere Empfehlungen dem Ideal von Objektivität und Auf­ klärung und verhindern damit, dass sich der Unmut jener Bürger, welche die implizit suggerierten Oberstwerte und Wertpräferenzen nicht teilen, gegen die Experten wendet. Dies soll im Rest dieses Abschnitts am Beispiel der Pandemie illustriert werden. In der Corona-Krise wurde das Problem der Werteabwägung brisant wie kaum zuvor. Die Werteabwägung, die uns das CovidVirus aufzwingt, ist eine zwischen gleichrangigen Grundwerten, die in Konflikt geraten sind: Gesundheit auf der einen Seite und Frei­

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heit und Wohlergehen auf der anderen. Wertentscheidungen dieser Art hängen, neben Vernunftgesichtspunkten, immer von faktischen menschlichen Interessenslagen ab. Sie enthalten eine unvermeidliche subjektive Komponente, da Menschen aufgrund unterschiedlicher Lebenssituationen oder Charakteranlagen unterschiedliche Interes­ senschwerpunkte setzen. Die eine Person ist bereit, für eine geringe statistische Erhöhung der medizinischen Sicherheit auf essentielle Freiheiten wie Kommunikation, Sport und Kultur zu verzichten, doch einer anderen Person erscheint dies unvertretbar. Solche subjektiven Einstellungsunterschiede sind anzuerkennen, weswegen kollektive Wertentscheidungen immer an demokratisch-mehrheitsfähige Inter­ essenslagen rückgebunden werden müssen und nicht von Experten diktiert werden können, so wichtig Expertenwissen für die Kenntnis der zu bewertenden Konsequenzen von Handlungsoptionen auch ist. Somit sollte man von einer Expertenempfehlung in der Corona-Krise erwarten, dass neben dem erreichten Ziel auch alle wesentlichen Nebenfolgen genannt werden, und eine hypothetische Werteabwä­ gung vorgenommen wird, die dem mehrheitlich-demokratischen Kol­ lektivwillen supponiert wird. Ein Statement wie die in der Einleitung erwähnte Pressemeldung »Die Mediziner haben ein Urteil gefällt, das wir umsetzen müssen« steht dazu in klarem Widerspruch. Aber auch die Stellungnahme der Leopoldina vom 8.12.2020, verfasst von einer vorwiegend aus Medizinern bestehenden Leopoldina-Arbeitsgruppe, die der Merkel-Regierung als wissenschaftliche Stütze der LockdownMaßnahme diente, entsprach nicht diesem Standard. Denn darin hieß es (schon im Vorwort): »[E]s [ist] aus wissenschaftlicher Sicht unbedingt notwendig, die weiterhin deutlich zu hohe Anzahl an Neuinfektionen durch einen harten Lockdown schnell und drastisch zu verringern«.8 Dies ist ein Sein-Sollens-Fehlschluss, da wie erläutert ohne zusätzliche ethische Prämissen aus Fakten keine normative Konklu­ sion erschlossen werden kann. Insbesondere fehlt in dieser Stellung­ nahme die Abwägung der Kosten eines Lockdowns mit dem davon erwarteten Nutzen; stattdessen wird (im nächsten Absatz) in alar­ mierendem Tonfall, aber ohne konkrete Zahlen, auf die hohe Zahl an Corona-Toten und die drohende Überlastung des Gesundheitssys­ tems hingewiesen. 8

Siehe Leopoldina (2020).

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Urban Wiesing, Medizinethiker und selbst Leopoldina-Mitglied, hat zusammen mit seinem Autorenteam die Mängel der LeopoldinaStellungnahme einer eingehenden Kritik unterzogen. Darin heißt es unter anderem, dass diese Leopoldina-Stellungnahme ihren eigenen 2014 festgelegten Kriterien wissenschaftlicher Politikberatung nicht entspricht (Wiesing et al. 2021, 4f.) und gegen die Maxime der Wertneutralität und der hypothetischen Formulierung von Wertemp­ fehlungen verstoßen wird (ibid., 10f.). In einem später ergänzten Vorwort zur Stellungnahme nennt die Leopoldina-Arbeitsgruppe den Gesundheitsschutz als oberstes »nicht verhandelbares Ziel«. Wie Wiesing et al. (2021) ausführen, wäre es aber aus humanistischer Sicht unvertretbar, dem Gesundheitsschutz alles andere nachzuord­ nen (ibid., 10f.). Dies würde darauf hinauslaufen, viele Freiheiten, die das Leben lebenswert machen, zu untersagen, wie zum Beispiel kalorienreiche Ernährung, diverse Sportaktivitäten, Genussmittel, den Straßenverkehr, etc., was niemand wollen kann. Zur Mündigkeit des Bürgers gehört es eben auch, innerhalb gewisser Grenzen sein Lebensrisiko selbst zu bestimmen. Dies entspricht auch der Sicht­ weise des Grundgesetzes. Es nennt im Artikel 1 als obersten Wert nicht die Gesundheit, sondern die Würde des Menschen, und im Arti­ kel 2 werden Gesundheitsschutz und Freiheitschutz als gleichrangige oberste Grundrechte genannt. In Diskussionen auf einem Workshop der wissenschaftsphiloso­ phischen Sektion der Leopoldina wurde zudem deutlich, dass die kategorische Formulierung der Stellungnahme auch dem Wunsch der Politiker und Krankenhausleiter entgegenkam, ein deutliches Signal für schnelle Maßnahmen gegen hochschnellende Infektionszahlen und Hospitalisierungen zu setzen. Verallgemeinert gesprochen ste­ hen politikberatende Expertenurteile unter dem doppelten Druck, einerseits der Forderung wissenschaftlicher Objektivität und damit der hypothetischen Formulierung von Wertempfehlungen Rechnung zu tragen, andererseits aber den drängenden Interessen der politi­ schen Adressaten zu entsprechen, die sich meist nicht hypothetisch relativierte, sondern kategorisch eingemahnte Maßnahmenempfeh­ lungen wünschen. Diese Spannung auszuhalten ist für politikbera­ tende Experten ein schwerer Seiltanz. Dennoch hat ein knappes Jahr später die Leopoldina-Stellungnahme vom 27.11.2021 (Leopoldina 2021) in dieser schwierigen Angelegenheit bemerkenswerte Fort­ schritte gemacht. Zum einen setzte diese Stellungnahme nicht Kon­ taktbeschränkungen, sondern den Impffortschritt und die Einführung

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einer stufenweisen Impfpflicht an die erste Stelle der umzusetzenden Maßnahmen (S. 4). Zum zweiten wurden in Bezug auf kontaktbe­ schränkende Maßnahmen zwei Optionen hypothetisch vorgestellt: Option 1: »sofortige umfassende Kontaktbeschränkungen für alle, zumindest in Regionen mit hoher Inzidenz« und Option 2: »Strikte, kontrollierte und sanktionierte 2G-Regelung und Kontaktbeschrän­ kungen für Ungeimpfte« (S. 2). Danach werden allerdings Option 1 kategorisch höhere »Erfolgsaussichten« zugesprochen, ohne hinzu­ zufügen, dass sich dieser höhere »Erfolg« nur auf den Gesundheits­ schutz, aber nicht auf den Freiheitsschutz bezieht. Es wird erläutert, dass Option 2 »weniger effektiv als Option 1 [sei], weshalb mit einem längeren Verlauf der 4. Welle und einer erhöhten Zahl von Todesop­ fern gerechnet werden muss« (S. 3). Ausgeglichen wird dieser gewisse Bias aber durch einen eigenen Schlussabschnitt, übertitelt mit »Wert­ fragen«. Darin wird ausgeführt, dass die anstehenden Entscheidungen [...] komplexe und mit manchen Unsi­ cherheiten behaftete Abwägungen zwischen Freiheitsansprüchen und Schutz vor schweren Covid-19-Erkrankungen bzw. vor anderweitiger Unterbehandlung aufwerfen. [...] Wenn die Unterzeichner dieser Adhoc-Stellungnahme vor dem Hintergrund der skizzierten Wertfragen für Freiheitseinschränkungen in Form von Impfpflichten und drasti­ scheren Kontaktbeschränkungen plädieren, dann geschieht dies in der Überzeugung, dass die hierzu führenden Abwägungen im Einklang mit Grundwerten und Prioritäten stehen, die von der Mehrheit der Bevöl­ kerung mit guten Gründen geteilt werden. (S. 4)

Der Forderung nach hypothetischer Wertrelativierung wird damit klar Rechnung getragen und gibt auch jenen Bürgern (beliebigen Geschlechts), die anders als die Leopoldina für Option 2 plädieren, die Möglichkeit, die präferierte Werteabwägung zu kritisieren, ohne sich in die querdenkerische Ecke hinein zu manövrieren und gut gesicherte Prognosen durch »alternative Fakten« in Frage zu stellen. Leider wurde diese Leopoldina-Stellungnahme in kurz danach stattfindenden TV-Berichten (z.B. Anne Will vom 28.11.21) so darge­ stellt, als würde sie wie die Stellungnahme von Ende 2020 vor alle­ dem auf eine Lockdown-Forderung hinauslaufen, während die Wertereflektierenden und relativierenden Aspekte der Stellungnahme ausgeblendet wurden. Es ist kein Geheimnis, dass öffentlich-rechtli­ che TV-Sender damit eine Verhaltenssteuerung beabsichtigen und daher von sich aus dazu tendieren, werthypothetische Handlungs­ empfehlungen von wissenschaftlichen Experten in ein kategorisches

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Diktum umzufunktionieren. Wer auch immer die Hauptverantwor­ tung für in wissenschaftlichem Gewande getarnte Wertbeeinflussun­ gen trägt: Sie stehen nicht nur im Gegensatz zu wissenschaftlichen Methodenstandards, sondern schaden letztendlich der Institution der Wissenschaft selbst, denn sie untergraben das Vertrauen in die Objektivität derselben. Das Vertrauen der Bevölkerung in Naturwissenschaft und Medi­ zin ist mit etwa 60–70 % immer noch sehr hoch, etwa doppelt so hoch wie das in Politiker.9 Wie wichtig dieses Vertrauen ist, verdeutlicht unter anderem eine Studie von Bicchieri et al. (2021), worin gezeigt wird, dass die Bereitschaft des Einzelnen, expertengestützten CoronaRegeln zu folgen, durch politische Beeinflussung zwar gesteigert wer­ den kann, aber nur bei Personen, deren Vertrauen in Wissenschaft und Forschung hoch ist. Dieser Vertrauensbonus könnte verspielt werden, wenn wissenschaftliche Politikberatung zunehmend in normative Beeinflussungsversuche ausartet. Tendenzen dieser Art sind bereits zu beobachten, nicht nur im Lager der Querdenker, das mittlerweile beängstigende Auswüchse angenommen hat, sondern auch gesamt­ gesellschaftlich. So berichtet das Wissenschaftsbarometer 2021, dass der Wunsch nach wissenschaftlicher Politikberatung, der Ende 2020 beim Wert von 77 % lag, Ende 2021 auf 69 % gesunken ist (s. Fn. 9; sowie Wiesing et al. 2021, 1). Wie Bogner (2021) ausführt, entwickelt sich die gegenwärtige Politik zunehmend zu einer »Epistemokratie«, in der politische Ent­ scheidungen sich auf als Faktenwissen gekleidete Expertenurteile berufen. Dies bewirkt zum einen, dass ein impliziter Wertdissens zwischen Experten den Eindruck erweckt, als könnten sich die Exper­ ten nicht über objektive Fakten einigen. Zum anderen führt es dazu, dass auch Gegner von Experten ihre Gegenargumente auf (pseudo‑)wissenschaftliche Gegenexpertise zu stützen suchen und mit abenteuerlichen alternative Faktenkonstruktionen gegen die vor­ herrschende Politik angehen, anstatt die dahinterstehenden Wertprä­ ferenzen zu hinterfragen. »Mit Bestürzung berichten akademische Beobachter, dass der Amoklauf gegen Rationalismus und Experten­ tum mittlerweile zum Massensport geworden ist«, meint Bogner (2021, 12). Aber: Wenn selbst maßgebliche Expertengremien Werte als Fakten tarnen, wie sollte dann ein anderes Verhalten von Laien zu erwarten sein? Gegenwärtig stehen »nur« 75 % der Deutschen der 9

Vgl. Forschung und Lehre (2021).

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Querdenkerbewegung ablehnend und immerhin 12 % sympathisie­ rend gegenüber.10 33 % tendieren zu einer verschwörungstheoreti­ schen Deutung der Corona-Pandemie.11 »Weil man dem Wissen alles zutraut, kommt es auch als Quelle allen Übels in Betracht«, schreibt Bogner (2021, 66). Beängstigend ist auch die Tatsache, dass gerade in den USA als jenem Land, das wissenschaftlich weltweit (immer noch) führend ist, das Vertrauen in Wissenschaft und Forschung (mit 0,36) deutlich geringer ausgeprägt ist als etwa in der Schweiz (0,61), UK (0,48) oder Deutschland (0,41) (auf einer Skala von 0 bis 1; siehe Bicchieri 2021, 19). Es ist zu vermuten, dass dies mit der gesellschaft­ lichen Wertespaltung zwischen links-demokratisch dominierten Aka­ demikern und konservativ-rechts dominierten Nichtakademikern zusammenhängt, die in den USA noch weiter vorangeschritten ist als hierzulande in Westeuropa.12

4. Objektive Faktendarstellung als Voraussetzung rationaler Werteabwägung Die Ausführungen des letzten Abschnitts lassen sich so zusammen­ fassen. Einerseits ist es notwendig, zur Wahrung von Unparteilich­ keit, Vertrauenswürdigkeit und Nutzerfreundlichkeit von Experten­ urteilen, Handlungsempfehlungen hypothetisch auf eine Pluralität von möglichen Wertannahmen und Wertpräferenzen zu relativieren. Andererseits sind faktengestützte Prognosen über Wirkungszusam­ menhänge zusammen mit statistischen Risikoangaben unentbehrlich für die Anwender, um Werteabwägung auch aus der Sicht des Eigen­ interesses richtig vorzunehmen. Auch wenn Wertentscheidungen nicht auf Faktenwissen reduzierbar sind, ist empirisch gesichertes Wissen ganz unentbehrlich für rationale Entscheidungen und seine Bedeutung kann nicht hoch genug eingeschätzt werden, insbesondere für aufgeklärt-demokratische Staaten, die die »richtige« Lebensfüh­ rung nicht dogmatisch vorschreiben, sondern der rationalen Entschei­ dung ihrer Bürger überlassen. Im Gegensatz zu Wertentscheidungen Umfrage des idw vom 11.11.2021 (vgl. Informationsdienst Wissenschaft 2021). Welt vom 18.11.2020 (vgl. Welt 2020). 12 Gemäß einer Studie in der Sozialpsychologie in den USA beschreiben sich 90 % der befragten Akademiker als »links der Mitte«, nur 2,5 % als »konservativ oder rechts der Mitte«. 96 % vertraten politische Positionen, die selbst in der demokratischen Partei eher als links gelten würden. Siehe Welt vom 8.8.2017 (vgl. Welt 2017). 10

11

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ist die Begründung von Faktenwissen nicht demokratische Verhand­ lungssache, sondern gehorcht objektiven Standards. Konkret gespro­ chen, wenn 30 % der Bevölkerung einem Gesundheitsschutz durch harten Lockdown widersprechen, muss diese Willensbekundung in die kollektive demokratische Entscheidung einfließen. Wenn dagegen 30 % von Wissenschaftsleugnern die bestens bestätigte Sicherheit von Covid-Impfungen bestreiten, kann dies weder den maßgeblichen Erkenntnisstand noch die statistischen Angaben zur Impfsicherheit beeinflussen, sondern sollte als Appell an Experten und Fachjourna­ listen verstanden werden, Expertenwissen der Bevölkerung noch bes­ ser verständlich zu machen, noch überzeugender nahezubringen, und Fehlinformationen noch wirksamer entgegen zu treten, so wie dies dankenswerterweise auf diversen Faktencheck-Plattformen im Inter­ net stattfindet. Wie sensibel die Werteabwägung von empirischen Informatio­ nen über Folgewirkungen möglicher Maßnahmen gerade in der Corona-Situation abhängt, soll nun anhand mehrerer Beispiele illus­ triert werden. Dabei geht es uns vorwiegend nicht um extreme Fehlinformationen, wie sie im Lager der Querdenker kursieren, son­ dern um weichere Fehlinformationen, die auch seriösen Medien und Quellen im »Eifer des politischen Gefechts« unterlaufen (im Einklang mit psychologischen Studien über »kognitiven Bias«; vgl. PiatelliPalmarini 1997; Jaster/Lanius 2019, 50ff.). Darunter befinden sich insbesondere einseitige Faktendarstellungen durch Weglassung wich­ tiger Zusatzinformationen.

4.1 Einseitige Faktendarstellung: die gesundheitliche Gefahrenbeurteilung Wir beginnen mit der Abschätzung der Gefährlichkeit des CovidVirus, speziell der Todesrate, zuerst im Jahr 2020 vor den Impfungen, und danach im Jahr 2021 nach den Impfungen. In Schurz (2021a) werden Daten aus Deutschland und Österreich dazu wie folgt zusam­ mengefasst:

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Zwischen Fakten und Werten: Zur Rolle von Experten im Umgang mit Pandemien

Stand 31.1.2021:13

Deutsch­ land

Österreich

Covid-Infektionen bis dahin

26.700/ Mio Ew.

46.700/ Mio Ew.

56.900 (685/Mio)

7653 (869/ Mio)

ca. 2,5 %

ca. 1,9 %

ca. 5 %

ca. 8 %

Covid-bedingte Todesfälle (C.T.) bis dahin Todesrate (Anteil C.T. an Covid-Infekt.) Anteil C.T. an allen Todesfällen seit 01/20

Sind diese Zahlen hoch oder niedrig? Eine beliebte Einschätzung ergibt sich über den Vergleich mit den Todeszahlen von Grippeepide­ mien.14 Grippewelle 2016/17 Deutschland: 22.900 Todesfälle (Schät­ zung RKI). Grippewelle 2017/18 Deutschland: 25.100 Todesfälle (Schät­ zung RKI). Die corona-bedingten Todesfälle lagen 2020, vor der Impfung, also »nur« etwa doppelt so hoch wie die einer stärkeren Grippewelle. Ist Covid-19 daher lediglich doppelt so gefährlich, oder gar nur »ähnlich gefährlich« wie eine Grippewelle? Derartiges wurde von vielen Corona-Verharmlosern behauptet.15 Doch dieser Vergleich verzerrt 13 Belege dazu in Schurz (2021a, Fn. 2). Äußerst empfehlenswert ist die Datenauf­ bereitung, auch im internationalen Vergleich, im Standard: https://www.derstanda rd.at/story/2000131167404/. Für die Zahlen über Deutschland siehe die weniger übersichtliche Seite des RKI: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartig es_Coronavirus/Situationsberichte/Wochenbericht/. Sowie https://de.statista.co m/statistik/daten/studie/405363. 14 Fangerau/Labisch (2020, 13) sowie https://de.statista.com/statistik/daten/stu die/405363/umfrage/influenza-assoziierte-uebersterblichkeit-exzess-mortalitaet -in-deutschland/. Hinweis: Grippetote werden durch Übersterblichkeit geschätzt, die eine gewisse Fehlerbreite besitzt. 15 Wobei Todesraten von Corona-Verharmlosern, bezugnehmend auf eine fehlerhafte Studie von Ioannidis (2020), wesentlich geringer als 1 % beziffert werden; vgl. Lütge/Esfeld (2021, 8); Bahner (2021, 60). In Ioannidis’ Studie wird der Mittelwert aus gemeldeten Daten von weltweit verstreuten Regionen gebildet, wobei einige Todesraten um ein 10-faches zu klein angegeben wurden. Zur Kritik daran siehe Müller-Jung (2021).

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Gerhard Schurz

die Faktenlage, denn während die Grippeausbreitung weitgehend ungehemmt und ohne Schutzmaßnahmen stattfand, erfolgte die Covid-19-Ausbreitung im Jahr 2020 trotz diverser Schutzmaßnah­ men. Ohne Schutzmaßnahmen hätte es im Jahr 2020 vermutlich 10– 15 mal so viele Corona-Tote wie Grippetote gegeben. Dies wird durch drei Indikatoren nahegelegt: 1.) Wie der Vergleich von Österreich und Schweden im Frühjahr 2020 zeigt, war die Covid-19-Ausbreitung in Schweden mit deutlich geringfügigeren Schutzmaßnahmen als in Österreich 3–5 mal so hoch gewesen.16 2.) Die typischen Infektions­ zahlen bei Grippewellen liegen viel höher als bei Covid-19 im Jahr 2020; nach Schätzungen des RKI bei 10 ∓  5 % der Gesamtbevölke­ rung, was einer 7-Tagesinzidenz von etwa 800 entspricht.17 3.) Auch neuere Studien legen im Direktvergleich eine 10–15 mal höhere Todesrate als bei einer Grippewelle nahe.18 Ein ähnliches Bild ergibt der Vergleich schwerwiegender Spätfol­ gen von Grippe mit Long-Covid. Insgesamt ist Covid-19 für Nichtge­ impfte im Durchschnitt deutlich gefährlicher, mindestens 10 mal so gefährlich wie eine Grippe. Aber auch diese empirische Aussage ist noch irreführend und muss ergänzt werden, indem man die Altersab­ hängigkeit betrachtet (Details und Quellen in Schurz 2021a): (Daten Österreich Anfang 2021)

Gesamt

≤ 65 Jahre

> 65 Jahre

Corona-Todesrate altersabhängig

1,9 %

0,5 %

9%

Erneut ergibt die umfassendere Darstellung der Fakten ein anderes Bild: Die höhere Sterblichkeit von Covid-19 betrifft im Wesentlichen nur die älteren Menschen und ist für Jüngere nur geringfügig höher als die Sterblichkeit bei eine Grippewelle. Im Unterschied zu einer sachlich ausgewogenen Gefahrendar­ stellung überwog 2020 in namhaften Medien (wie ARD und Spiegel) die Komponente der Angstmachung durch unvollständige und damit verzerrende Darstellung von Fakten. Täglich schockierten angster­ zeugende Bilder von Covid-Patienten auf Intensivstationen die TVSeher; dass es sich dabei nur um einen sehr kleinen Promillesatz von 16 17 18

Siehe Quarks (2021b). RKI (2021). Bevand (2021).

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Zwischen Fakten und Werten: Zur Rolle von Experten im Umgang mit Pandemien

Covid-Patienten handelt und 2020 die deutschen Intensivstationen nie an der Belastungsgrenze standen, wurde nicht hinzugefügt. Als der Virologe Hendrik Streeck dies öffentlich kundtat, wurde er auf Twitter diffamiert (#SterbenmitStreeck) und vom Spiegel (Nr. 9, Februar 2021) als Minderheitsmeinung abgewertet (ein Schicksal, das er mit anderen seriösen Lockdown-Gegnern teilte). Streecks wichtige Leistung bestand in der Korrektur der einseitigen Faktenpräsentation durch Hardliner, und die neue Regierung hatte eine glückliche Hand, ihn neben Drosten in den Expertenrat der neuen Bundesregierung aufzunehmen. Erreicht werden sollte mit der angsterzeugenden Berichterstat­ tung die Durchsetzbarkeit von Lockdown-Maßnahmen gegenüber der darunter ächzenden Bevölkerung. Der Lockdown wurde in Öster­ reich am 17.1.21 bei täglich 2000 Neuinfektionen (bzw. einer 7-TagesInzidenz von 156) ausgerufen, obwohl erst bei täglich 6000 Neuin­ fektionen (bzw. einer 7-Tages-Inzidenz von 470) eine Überlastung der Krankenhäuser drohte.19 In Deutschland rief man den Lockdown damals bereits bei 12.000 täglichen Neuinfektionen (bzw. einer 7-Tages-Inzidenz von 101) aus und die Merkel-Regierung verabschie­ dete im April 2021 eine bundesweite Lockdown-Verordnung ab einer Inzidenz von 100. Ab Mitte des Jahres 2021 änderte sich die Perspektive durch die zunehmende Durchimpfung der Bevölkerung, und es bestand die Hoffnung, Ende 2021 die Corona-Krise endgültig überwunden zu haben. Auch namhafte Mediziner erklärten Anfang 2021, sobald die Altersgruppe der über 65-jährigen gegen das Corona-Virus geimpft sei, sei die Gefahr überbelegter Intensivstationen gebannt und die Situation nicht gefährlicher als eine Grippeepidemie.20 Leider musste diese hoffnungsfrohe Einschätzung aufgrund neuerer Kenntnisse Ende 2021 gedämpft werden. Erstens weil die Impfrate im Herbst 2021 aufgrund der bekannten Impfgegner leider bei unter 70 % stagnierte. Zweitens aufgrund der Einsicht, dass der Doppelimpfschutz vor Covid-Infektionen bei älteren Personen nur etwa ein halbes Jahr 19 Erklärung von Vizerektor der Med-Uni Wien Professor Wagner (siehe Fn. 20). Siehe auch Schurz (2021a). 20 Vizerektor der Med-Uni Wien Professor Wagner der Pressekonferenz der österrei­ chischen Regierung im ORF am 17.1.2021. Ähnliches ergibt sich aus: https://de.stat ista.com/statistik/daten/studie/1196577/umfrage/veraenderung-der-todesfaelle-i n-oesterreich-nach-altersgruppen/.

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Gerhard Schurz

anhält (und stetig abflacht). Bei jüngeren Personen hält der Infekti­ onsschutz länger vor; der Schutz vor lebensbedrohenden Covid-Aus­ wirkungen wirkt auch bei Älteren länger nach.21 Wie Daten aus Israel zeigten, kann durch rasche Booster-Impfung die Impfwirkung schnell wieder nach oben gebracht werden. Drittens stellten sich CovidKrankheitsverläufe häufig als langwieriger heraus als gedacht; die Häufigkeit von Long-Covid-Symptomen wurde zunächst mit 5– 10 % und wird derzeit mit zwischen 10 und 20 % beziffert.22 Viertens traten neue Virusmutanten auf, Anfang 2021 die Delta-Variante und jetzt schließlich die Omikron-Variante. Unter Experten kann diese Entwicklung freilich nicht überraschen, denn dass neue Virusmuta­ tionen auftreten, die etwas ansteckender und zugleich milder sind, so wie dies bei der derzeitigen Omikron-Variante der Fall ist,23 sind bekannte evolutionäre Mechanismen (Schurz 2011, 351f.). Dennoch hat der Erfolg der Impfung bislang (nicht die sofortige Beendung doch) eine enorme Besserung der Lage bewirkt. Umso bedauerlicher ist es, dass zum Jahreswechsel 2021/22 in den Medien erneut Angstmache in der Berichterstattung überhandnahm, und zwar durch den einseitigen Blick auf die zunehmenden 7-Tages-Inzidenzen, ohne zugleich über die aufgrund der Impfung gesunkene Gefahr zu informieren. Zwar stieg die Infektionsrate in der Winterzeit 2021/22 wieder an, auf wesentlich höhere Werte als die, bei denen man sich letztes Jahr Sorgen machte, doch aufgrund der 70 %igen Impfrate ist die Gefährlichkeit einer Covid-Infektion enorm gesun­ ken. Wie die folgenden Daten von Frühjahr und Ende 2021 in vier europäischen Ländern zeigen, ist die Todesrate einer Covid-Infektion in der Tat auf ein Fünftel bis Sechstel der Rate vom Frühjahr vor der großen Impfwelle gesunken (Hinweis: Die 7-Tages-Inzidenz ist die

21 Vgl. Spiegel 44/30, 30.10.21, S. 102. In den deutschen TV-Nachrichten wurde Ende November 2021 berichtet, dass auf den Intensivstationen bei Über-60jährigen 33 % zweimal geimpft waren. Bei 70 %iger Impfrate war demnach der Schutz vor schweren Verläufen bei doppelt Geimpften Über-60jährigen nach einem knappen halben Jahr immer noch ca. 5 mal so hoch wie bei Ungeimpften. Eine Studie im Fach­ blatt The Lancet Infectious Diseases legt nahe, dass doppelt Geimpfte im Fall eines Impfdurchbruches vor Covid-Langzeitfolgen weitgehend geschützt sind. Siehe Anto­ nelli et al. (2022). 22 Quarks (2021a). 23 Siehe Tagesspiegel (2022).

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Zwischen Fakten und Werten: Zur Rolle von Experten im Umgang mit Pandemien

Anzahl von Neuinfektionen und die Todesfall-Inzidenz die Zahl von Toten, jeweils in 7 Tagen pro 100.000 Einwohner).24 7-Tages-Inzidenz

Todesfall-Inzidenz

Datum

1.4.21

30.11.21

12.4.21

11.12.21

1.4.21

Todesrate % 30.11.21

Öster­ reich

54,8

970

1,7

4,4

3,1

0,45

Deutsch­ land

46,3

485

1,8

3,1

3,9

0,6

Kroatien

12,6

795

0,3

10,3

2,3

1,3

Slowakei

3,0

1419

0,1

9,8

3,3

0,7

Dies bedeutet, dass eine Covid-Erkrankung in einer breitflächig geimpften Bevölkerung wirklich nicht viel gefährlicher als eine Grip­ pewelle ist. Die geringere Absenkung der Todesrate in Kroatien und Slowakei erklärt sich durch die niedrigere Impfquote dieser Länder. Experten können diese Zusammenhänge sicher noch genauer bezif­ fern als wir, doch der wesentliche Kritikpunkt wird klar, nämlich dass in der medialen Faktendarstellung die Gefahr häufig übertrieben wurde, was einer rationalen Werteabwägung schadet und eher der Irrationalität, der Vermehrung von »Wutbürgern« und »Querden­ kern« zugutekommt.

4.2 Irrationale Ängste: Impfwirksamkeit und Risiken Beim Thema Impfungen geht es nicht nur, so wie bisher, darum, einseitigen Verharmlosungen oder Übertreibungen durch eine voll­ ständige und ausgewogene Faktenrepräsentation gegenzusteuern. Man muss auch jede Menge glatter Fehlinformationen aufdecken, die im Lager der Impfskeptiker und Wissenschaftsleugner mittlerweile in großen Mengen ersonnen wurden und in den Internetforen dieser Gruppierungen kursieren. Zum einen gibt es absurde verschwörungs­ theoretische Behauptungen, wie z.B. dass mit Impfungen die Bevöl­ kerung dezimiert werden soll, menschliche Kontrollchips eingespritzt werden sollen, oder dass Impfen zu Autismus, Krebs, Fehlgeburten oder Allergien (etc.) führen oder das menschliche Erbgut verändern https://www.derstandard.at/story/2000131167404/aktuelle-zahlen-coronavir us-oesterreich-weltweit#todesfaelle.

24

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Gerhard Schurz

kann, was alles jeder evidentiellen Grundlage entbehrt (vgl. Kuhrt et al. 2021, 107–118). Zum anderen gibt es allgemein-skeptische Aussagen, die nicht nur die »Extremisten« unter den Impfgegnern, sondern breitere Bevölkerungsanteile bewegen, insbesondere die Sorge vor den angeblich unerforschten Langzeitfolgen der neuen Covid-Impfungen. Die wichtigste Gegeninformation hierzu ist fol­ gende: Alle »Langzeitfolgen«, die bei Impfungen bisher beobachtet wurden, waren lediglich statistische, aber keine physikalischen Lang­ zeitfolgen, d.h., die betreffenden Nebenwirkungen traten alle schon nach wenigen Wochen ein, waren aber so selten, dass erst nach meh­ reren Jahren eine so hohe Anzahl dieser Fälle zusammenkam, dass die Fallzahl statistisch signifikant wurde (d.h. nicht als bloß zufälliges Zusammentreffen gelten konnte).25 Bei der mittlerweile europaweit verabreichten Zahl von mehr als 100 Millionen Covid-Impfdosen müssten dagegen auch seltene Nebenwirkungen längst als signifikant beobachtet worden sein. Leider wird dies in den Medien viel zu selten erklärt; stattdessen begnügt man sich meist damit, Impfskep­ tiker pauschal als Querdenker zu verurteilen, was jene Gruppen, die man erreichen will, wohl kaum impfwilliger macht. Zudem wird selten eine quantitative Gegenüberstellung von Covid-Erkrankungs­ risiken und Impfrisiken vorgenommen. Im Folgenden werden zwei Risiken gegenübergestellt: (1.) das Risiko eines Ungeimpften, innerhalb eines Jahres an Covid mit schwerem Verlauf zu erkranken bzw. zu sterben26, und (2.) das Risiko, nach einer Zweifachimpfung mit Biontech im Jahr mittelschwere resp. lebensbedrohliche Impfnebenwirkungen zu erleiden bzw. daran zu sterben. Dabei dienen als Berechnungs­ basis die gemeldeten außergewöhnlichen Nebenwirkungen, kurz NW; für Ärzte besteht eine diesbezügliche Meldepflicht.27 25 Dasselbe sagt Klaus Cichutek, Präsident des Paul-Ehrlich-Institutes, im Spiegel Nr. 44/30, 30.10.21, S. 102. Siehe auch Bayrischer Rundfunk (2021). 26 Das Risiko eines Ungeimpften, innerhalb eines Jahres an Covid zu erkranken, wird hier auf 10 % geschätzt (mittlerweile gibt es in Deutschland knapp 10 % Covid-Infek­ tionen), das Risiko eines schweren Covid-Verlaufs zu 15 % (siehe Fn. 22), und die Todesrate mit 3 % (etwas höher als die durchschnittliche Todesrate 2020). Multipli­ kation ergibt die angeführten Prozentzahlen. 27 Datenbasis ist die Seite der EMA (European Medical Agency), https://www.ema .europa.eu/en/human-regulatory/overview/public-health-threats/coronavirus-dis ease-covid-19/treatments-vaccines/vaccines-covid-19/safety-covid-19-vaccines. Mit Stand vom 1.12.2021 gab es unter allen verabreichten Biontech-Impfdosen 0,1 %

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Zwischen Fakten und Werten: Zur Rolle von Experten im Umgang mit Pandemien

Schwere Covid-Erkrankungen sind solche mit Hospitalisierung und Long-Covid-Folgen. Mittelschwere NW sind alle NW, die länger als 2 Wochen andauern; zu sehr schweren NW zählen lebensbedrohliche und bleibende NW. Stand Ende 2021: Jährliches Risiko schwerer Jährliches Risiko mittelschwe­ Covid-Erkrankung (post-Covid): rer / sehr schwerer Biontech1,5 % Impfnebenwirkungen: 0,026 % (60 x kleiner) / 0,003 % (500 x kleiner) Entsprechendes Todesrisiko: 0,3 %

Entsprechendes Todesrisiko: 0,0012 % (250 x kleiner)

Die Gegenüberstellung zeigt klar, dass Impfungen bei weitem risiko­ loser sind als Covid-Erkrankungen. Unsere Übersicht vertuscht keine Impfrisiken, sondern ist um neutrale Objektivität bemüht. Viele Mediziner gehen davon aus, dass nur ein Bruchteil aller gemeldeten Nebenwirkungen echte Kausalzusammenhänge widergeben und kor­ rigieren obige Impfrisiken nach unten. Impfgegner korrigieren sie stattdessen nach oben und argumentierten, dass nur ein Bruchteil der Ärzten bekannten Impfnebenwirkungen gemeldet werden; bei Bah­ ner (2021, 186) gar nur 1 % – was aufgrund von den Ärzten drohenden Sanktionen bei Nichtmeldungen sehr unplausibel ist. Dagegen geht unsere Schätzung von der Zahl tatsächlich gemeldeter Nebenwirkun­ gen aus.

5. Kriterien rationaler Werteabwägung Im letzten Abschnitt wurde die Bedeutung objektiver Fakteninforma­ tion für rationale Werteabwägung aufgezeigt. Objektive Fakteninfor­ NW; der Anteil von Biontech an allen gemeldeten NW betrug 56 %. Die Aufschlüs­ selung der NW beruht auf der Seite https://www.impfnebenwirkungen.net/report .pdf; diese Seite präsentiert leider Absolutzahlen und stellt keinen Bezug zur Zahl der Impfdosen her. Die daraus berechneten Prozentsätze unter allen NW für Biontech betragen: mittelschwere Nebenwirkungen (die dort als »schwerwiegend« bezeichnet werden) 26 %; lebensbedrohliche Nebenwirkungen 1,6 %; bleibende Nebenfolgen 1,4 % (zusammen 3 %); Todesfälle 1,2 %. Multiplikation dieser Prozentsätze mit 0,1 % ergibt die genannten Risiken.

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mation kann irrationale Werteabwägung, die den eigenen Interessen schadet, vermeiden, doch sie kann die Werteabwägung nicht diktie­ ren. Werteabwägungen sind nicht auf Fakten reduzierbar; es verbleibt ein subjektiver Spielraum von Wertorientierungen. Aufgrund welcher Kriterien eine Werteabwägung vorgenommen werden kann, die der Maxime der »Verhältnismäßigkeit« genügt, wird in diesem Abschnitt besprochen.

5.1 Zur (Un)verhältnismäßigkeit von Lockdown-Maßnahmen Um eine verhältnismäßige Werteabwägung für Kontaktbeschrän­ kungsmaßnahmen abzuschätzen, muss, wie in Abschn. 3 erläutert, auf der Basis der empirischen Folgenabschätzung der erreichte Nutzen mit den Kosten der Nebenfolgen verglichen und ›abgewogen‹ werden. Dabei legen wir folgende Überlegungen zugrunde: 1.) Verglichen werden sollen die Effekte rigider Kontaktbeschrän­ kungen (Lockdown) mit milden Schutzmaßnahmen (Maskenpflicht, keine Großveranstaltungen), vor einer Impfung und nach einer Imp­ fung, jeweils auf ein Jahr gerechnet. Der Effekt auf die Reduktion von Corona-Toten und schweren Verläufen vor der Impfung ist extrem schwer abzuschätzen. Es ist natürlich Unsinn, wenn Leugner der Corona-Gefahr behaupten, Lockdown-Maßnahmen würden gar keine Gefahrenreduktion bringen (z.B. Lütge/Esfeld 2021, 17); natür­ lich tun sie es, doch der Effekt ist stark kontextabhängig und schwächt sich mit der Zeit ab. Dies zeigen unter anderem zwei empirische Stu­ dien, wonach die Reduktion des Reproduktionsfaktors aufgrund Kon­ taktbeschränkungen zwischen 20 und 60 % liegt; für schwache Schutzmaßnahmen liegt er zwischen 10 und 20 %.28 Aus den empi­ rischen Fallzahlkurven dieser Studien lässt sich grob eine hypotheti­ sche Erhöhung der Corona-Erkrankungen ohne Kontaktbeschrän­ kungen um den Faktor 3–4 abschätzen. Beim oben erwähnten Vergleich Österreich (mit Lockdown) mit Schweden (mit geringen Schutzmaßnahmen) im ersten Halbjahr 2020 ergab sich ebenfalls dieser Faktor. Allerdings muss man bedenken, dass bei steigenden Fallzahlen (in der kontrafaktischen Situation ohne starke Schutzmaß­ nahmen) viele Menschen sich freiwillig beschränken würden (seltener 28 Siehe Brauner et al. (2020); Haug et al. (2020); zusammengefasst in MaierBorst (2020).

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Zwischen Fakten und Werten: Zur Rolle von Experten im Umgang mit Pandemien

ausgehen würden, etc.). Dies zeigt insbesondere der Vergleich mit der Schweiz: Hier beruhten Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen großteils nicht auf Zwangsvorschriften, sondern auf freiwilligem Appell, und dennoch wurden kaum höhere Inzidenzen oder Todesfälle erreicht als etwa in Deutschland oder Österreich.29 Aus diesem Grund muss ein Abzug von der Extrapolation der Inzidenzzunahme vorge­ nommen werden, weshalb wir den Steigerungsfaktor 2 annehmen. Daraus ergibt sich für Deutschland pro Jahr vor der Impfung durch mehrmonatige Lockdown-Maßnahmen eine Reduktion von etwa 55.000 Corona-Toten (nochmal so viele, wie es 2020 gab), was 0,065 % der Bevölkerung und 5 % der jährlichen Todeszahlen ent­ spricht. Ein analoger Faktor gilt für schwere Covid-Verläufe. Nach der Impfung sind davon (bis auf seltene tödliche Impfdurchbrüche) nur die Ungeimpften betroffen, was die Raten um den Faktor 0,3 redu­ ziert. Das alles sind zugegebenermaßen ungewisse Schätzungen. 2.) Der psychische Effekt von Lockdowns, insbesondere verur­ sacht durch soziale Isolation, kann ebenfalls statistisch beziffert wer­ den.30 (i) Laut einer Studie der Donau-Universität Krems vom 1.11.2021 haben sich in Österreich Depressionen während der Pan­ demie sogar verfünffacht (von 5 % auf 25 %). (ii) In einer deutschen Studie der Max-Planck-Gesellschaft Berlin, die bis Mitte 2021 lief, wird eine Verdoppelung der Rate von Depressionen und Angststö­ rungen berichtet (von 8 % auf 16 %). (iii) Besonders stark sind Kinder und Jugendliche betroffen, auch wegen des mehr schlecht als recht funktionierenden Heimunterrichts. Eine weitere Studie der DonauUniversität Krems vom 2.3.21 berichtet von 55 % Schülern mit depressiver Symptomatik und 16 % mit suizidalen Gedanken. (iv) Laut einer Untersuchung der UNICEF vom 5.10.2021 leidet jeder 7. junge Mensch weltweit unter einer psychischen Beeinträchtigung oder Störung; die London School of Economics schätzte die Kosten dieser Störungen (wegen Erwerbsunfähigkeiten oder Suiziden) auf 390 Milliarden US-Dollar pro Jahr. 3.) Der wirtschaftliche Schaden eines dreimonatigen Lockdowns in Deutschland wird von einer Studie des ifo-Institutes München auf 15 % Rückgang des BIP oder 538 Mrd. Euro geschätzt. Die Autoren schlussfolgern: »[A]us der astronomischen Höhe der Kosten des Siehe Tiefenbacher (2021, 110f.); www.derstandard.at/story/2000131167404/. Quellen: (i): Wiener Zeitung (2021); (ii) Singer/Koop/Godara (2021); (iii) Donau-Universität Krems (2021); (iv) UNICEF (2021).

29

30

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Shutdown folgt, dass es dringend zu empfehlen ist, praktisch jeden denkbaren Betrag im Bereich gesundheitspolitischer Maßnahmen einzusetzen, der die Dauer des Shutdown verkürzt« (Dorn et al. 2020, 35). Die stark gestiegene Inflationsrate im Jahr 2021 ist ebenfalls eine Folge der Corona-bedingten staatlichen Schuldenaufnahmen. Da zahlreiche wirtschaftliche Existenzen ruiniert werden, erzeugen auch die negativen wirtschaftlichen Folgen massives Leid, das bis zu Sui­ ziden führen kann. Die Kosten-Nutzen-Bilanz ist in folgender Gegenüberstellung zusammengefasst (wobei eine umfassende Bilanz noch weitere Aspekte beinhalten müsste): Vergleich verhinderter vs. erzeugter Kosten durch strenge Kontaktbe­ schränkungen (Deutschland): Verhinderte Kosten:

Erzeugte Kosten:

Tote vor Impfung/nach Impfung [Reduk­ Lockdown: Freiheitsentzug [für 80 tion um 50/15 %; das sind 0,06/0,02 % Mill. Bürger] Bevölk.anteil] Schwere Covid-Erkrankung [Reduktion wie oben; das sind 0,4 %/0,13 % Bevölk.anteil]

Psychisches Leid durch soziale Isolation [Zunahme Depressionen um 100– 200 %, das sind 8–16 % Bevölk.anteil] Ausfall von Erziehung/Unterricht [für alle Kinder bzw. Jugendliche] Wirtschaftliche Einbußen [550 Mrd. Euro], Leid Krankheitszunahme wegen aufgescho­ bener Arztbesuche31 [Reduktion Arztbe­ suche 2020 50 %]

Die Gegenüberstellung zeigt, dass der erzielten Reduktion von etwa 55.000 zusätzlichen Corona-Todesfällen, etwa 0,06 % des Bevölke­ rungsanteils und vorwiegend ältere Menschen, ganz beträchtliche Kosten für alle Menschen gegenüberstehen, bestehend aus dem psy­ chischen Leid, dem Anstieg von Depressionen, und leider auch Sui­ zidversuchen bei Jugendlichen; abgesehen vom wirtschaftlichen Desaster und dem Anstieg der Inflationsrate. Dennoch – und das ist wieder eine Instanz der Fakten-Werte-Trennung – folgt daraus noch Vgl. https://www.springermedizin.de/covid-19/diagnostik-in-der-infektiologie /aus-angst-vor-corona-nicht-zum-arzt-/17921188.

31

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nicht, wie die richtige Werteabwägung vorzunehmen ist. Aus meiner Sicht ergibt sich daraus, dass die Kosten der Lockdown-Maßnahmen, so wie sie 2020 und 2021 angeordnet wurden, bis auf wenige Aus­ nahmen unverhältnismäßig hoch waren. Ich denke, die Zunahme von Virenepidemien ist ein durch die Zunahme der Bevölkerung und der internationalen Vernetzung unvermeidliches Schicksal, mit dem die Menschheit in der Zukunft leben muss und das die Sterberisiken von sehr alten Menschen mit schwachem Immunsystem leider wieder nach oben klettern lässt. Ich selbst gehöre zur Risikogruppe der über 65-jährigen und bin entsprechend vorsichtig, befolge »weiche« Schutzmaßnahmen und setze mich für den Fortschritt der Impfquote ein. Doch will ich nicht, dass Menschen, für die Corona statistisch nicht gefährlicher ist als eine gewöhnliche Grippe, zum Schutz einer vergleichsweise kleinen Bevölkerungsgruppe – Ungeimpfte, Hoch­ betagte und Vorerkrankte – wiederholt in prophylaktische Heimqua­ rantäne gesetzt werden, statt ihr Leben entfalten zu können. Es ist ein Grundaspekt der Würde und Selbstbestimmung von Menschen, ihr Lebensrisiko innerhalb gewisser Grenzen selbst bestimmen zu kön­ nen. Wer Angst vor einer Covid-Infektion hat, kann seine Kontakte beschränken und sollte sich innerhalb vertretbarer Grenzen im öffent­ lichen Raum schützen können, was durch Maskenpflicht, Abstands­ regeln, aber auch beispielsweise durch die Einrichtung eines Zeitin­ tervalls für Geschäfte mit strengen Vorsichtsmaßnahmen (2G und Besucherbeschränkung) erreicht werden kann. Aber einen Lockdown mit Ausgangssperren für die Gesamtbevölkerung anzuordnen, halte ich für unverhältnismäßig, außer in Extremsituationen, in denen die Hospitalisierungsraten deutlich über den Werten liegen, bei denen bislang Lockdowns ausgerufen wurden. Das ist meine Werteabwägung, die ich mit vielen Menschen teile, aber mit vielen Menschen auch nicht. Das Risiko, das Menschen für ihre Freiheit einzugehen bereit sind, ist nun einmal subjektiv unterschiedlich. Was folgt daraus? Erstens einmal, dass im Bereich der Werteabwägung Verständnis und Toleranz für unterschiedliche Wert­ präferenzen aufzubringen sind. Wir sollten niemanden, der unsere Wertestandards nicht teilt, gleich als irrational brandmarken. Dies würde lediglich auf beiden Seiten Abneigung provozieren, die Gesell­ schaft spalten, aber keine Probleme lösen. Zweitens folgt daraus, dass die Interessen der Mehrheit einen wesentlichen Maßstab für poli­ tische Werteentscheidungen abgibt, weshalb zwar nicht unbedingt

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Volksentscheiden (so wie in der Schweiz), doch jedenfalls repräsenta­ tiven Bevölkerungsumfragen ein hohes Gewicht zukommen sollte. Umfragen sind also wichtig; andererseits ist die statistische Ver­ teilung dieser Meinungen sensibel davon abhängig, wie die Situation in der Berichterstattung der öffentlichen Medien präsentiert wird, weshalb es zuletzt doch wieder auf die besseren Argumente ankommt. Auch wenn es im Bereich der Werte keine den Erfahrungswissen­ schaften vergleichbare Objektivität gibt, so gibt es doch rationale Kri­ terien, anhand derer sich unterschiedliche subjektive Werteabwägun­ gen einander rational annähern lassen. Eine wichtige diesbezügliche Methode ist der Vergleich mit akzeptierten Praktiken in ähnlichen Situationen; wir sprechen hier von Kalibrierung. Erhellend ist bei­ spielsweise der Vergleich der Corona-Risiken mit den durch Luftver­ schmutzung verursachten Gesundheitsrisiken, von denen der Stra­ ßenverkehr etwa 50 % ausmacht. Gemäß den Berechnungen der WHO liegen die durch Luftverschmutzung in Deutschland verur­ sachten Todesfälle in vergleichbarer Höhe wie die Corona-Toten:32 Durch Luftverschmutzung verursachte Todesfälle in Deutschland

Jahr 2005

Jahr 2010

Corona-Tote bis 01/21

51.155

42.578

55.000

Würden wir die bisher dominierende Corona-Lockdown-Politik in Deutschland zum Prinzip erheben, müsste konsequenterweise auch das Autofahren verboten oder extrem beschränkt werden; doch kaum jemand würde dem beipflichten. Eine weitere Kalibrierungsmöglichkeit ist der Vergleich mit der bisherigen historischen Praxis in Epidemien. Interessant ist der Ver­ gleich mit der Spanischen Grippe, die 1918–20 weltweit wütete und in Europa bei der damals geringeren Bevölkerungszahl 3 Millio­ nen Grippetote kostete (manche Schätzungen liegen noch höher), verglichen mit bis Ende 2021 »nur« 1,6 Millionen Corona-Toten. Damals gab es noch keine Intensivstationen und die Auslagerung von Krankenbetten in Hallen oder Zelte war an der Tagesordnung. Wie Salfellner (2020, insbes. 28–31, 75, 101) berichtet, erließ man damals Schutzmaßnahmen wie Hygiene, Masken, Abstandsregeln, Quarantäne für Infizierte und direkte Kontaktpersonen sowie die vorübergehende Schließung von Theatern und für vier Wochen auch von Schulen, aber keine Lockdowns. Salfellner spricht resümierend 32

Siehe OECD (2014a; 2014b).

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Zwischen Fakten und Werten: Zur Rolle von Experten im Umgang mit Pandemien

von einem tiefen Mentalitätswandel von heute verglichen zu damals in Hinblick auf Ängstlichkeit (178). Zusammengefasst sprechen auch die beiden Kalibrierungsargumente für die Unverhältnismäßigkeit von Lockdowns als Instrument der Pandemiebekämpfung.

5.2 Überbelegung von Intensivstationen: ein strukturelles Problem, aber kein normatives Instrument Das Hauptargument von Politikern und Medizinern für einen Lock­ down bezieht sich nicht auf die absolute Anzahl von Corona-Erkran­ kungen, sondern auf die Vermeidung der Überbelegung der Inten­ sivstationen durch Corona-Patienten und der dadurch drohenden Situation der »Triage«, also der Wahl, welchen von zwei Corona-Pati­ enten das einzig freie lebensrettende Intensivbett zuteilwird. Dieses Argument weckt starke Gefühle, doch ich halte es nicht für tragfähig, aus zwei Gründen: 1.) Intensivstationen sind extrem kostenintensiv und müssen der Finanzierbarkeit halber auch in Normalzeiten zu 70 % oder mehr ausgelastet sein. Im April 2021, als in Deutschland mit der Begrün­ dung von Corona-überfüllten Intensivstationen ein erneuter Lock­ down ausgerufen wurde, gab es auf deutschen Intensivstationen nur 19 % Corona-Patienten, verglichen mit 68 % anderen Patienten und 13 % freien Betten.33 Im November 2021 betrug die Auslastung von Bayerns Intensivbetten mit Corona-Patienten nur 22 %, obwohl Bayern damals die höchste Corona-Auslastung unter den Bundeslän­ dern aufwies. Der mögliche Spielraum für die Aufnahme von Inten­ sivpatienten in gesellschaftlichen Ausnahmesituationen (wie Epide­ mien oder anderen Katastrophen) ist also so gering, dass es zwangsläufig zu Überbelegungen kommen muss. Hinzu kommt das knappe, überbelastete und zu schlecht bezahlte Krankenhauspersonal, unter dem es während der Epidemie zu zunehmenden Kündigungen kam, was die Situation weiter verschärfte. Laut Spiegel (Nr. 46, 13.11.2021, S. 17) gingen in den vergangenen 12 Monaten 3000 Beat­ mungsplätze aufgrund fehlenden Personals verloren. Es liegen hier massive strukturelle Probleme des Gesundheitssystems vor, die nur durch massive Geldzuwendungen von staatlicher und steuerlicher https://interaktiv.morgenpost.de/corona-deutschland-intensiv-betten-monitor -krankenhaus-auslastung.

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Seite verbessert werden können. Keine nachhaltige Lösung kann es aber sein, die Bevölkerung in Überbelegungsphasen in einen Lock­ down zu versetzen. Das ist eben so, als wenn eine Schutzpolizei der Bevölkerung sagt: »Wir haben die edle Pflicht, euch außerhalb eurer vier Wände vor Gefahren zu schützen, doch weil uns derzeit dazu das Personal fehlt, müssen wir euch leider einsperren«. In der Tat wurde 2020 so beim österreichischen Bergrettungsdienst gehandelt: Statt den Bergsteigern zu sagen, die Bergrettung sei wegen Corona-Ein­ sätzen nicht mehr gesichert und sie müssten auf eigenes Risiko gehen, hat man anspruchsvolles Bergsteigen einfach verboten und Kletter­ steige gesperrt. Mit solchen als »Schutzmaßnahmen« getarnten Zwangsmechanismen behandelt man Menschen eher wie unmündige Kinder denn als selbstverantwortliche Bürger. 2.) Die gegenwärtige Hochtechnologisierung der Medizin – in Kombination mit zunehmenden Gesundheitsbelastungen – bringen Triage-Situationen geradezu mit Notwendigkeit hervor. Millionen­ teure Intensivbehandlungsmethoden können nur wenigen Menschen zugänglich gemacht werden, und in Epidemie-Situationen eben zu wenigen. Wollte man Triage-Situationen nachhaltig vermeiden, dürfte man sündteure Intensivmedizin gar nicht einsetzen. Triage-Situatio­ nen sind selbstverständlich schwierig, doch sie gehören zum profes­ sionellen Aufgabenbereich von Notfallärzten und kommen auch außerhalb von Corona immer wieder vor. Als Entscheidungskriterium wird hierfür in der Ärzteschaft derzeit nur das Kriterium der Überle­ benswahrscheinlichkeit akzeptiert. Ohne in diese schwierige Debatte einzusteigen (vgl. Birnbacher 2021), kann folgendes gesagt werden: Es muss klare Regeln geben, die dem betroffenen Notarzt professio­ nelles Handeln ohne Gewissenszweifel ermöglichen. Unter dieser Bedingung scheint mir die Darstellung von Triage-Entscheidungen als »Albtraum« für Ärzte im Spiegel (Nr. 409, 2021, 8ff.) stark über­ trieben zu sein. Die psychische Belastung, Handlungen durchführen zu müssen, deren Konsequenzen über Leben und Tod von Patienten entscheiden, sollten Notfallärzte aushalten, denn das gehört zu ihrem Beruf. Was berechtigterweise viel weniger auszuhalten ist und den Hauptgrund der Klagen über überfüllte Intensivstationen ausmacht, ist die bereits angesprochene Personalknappheit und die damit ver­ bundene Überlastung des Krankenhauspersonals. Doch dieses Prob­ lem ist auf längere Sicht nicht durch Lockdowns, sondern durch struk­ turelle Verbesserungen des Gesundheitssystems zu lösen.

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5.3 Zur Verhältnismäßigkeit der Impfpflicht Es mag einem Impfskeptiker als Widerspruch erscheinen, dass wir Lockdowns für überwiegend unverhältnismäßig, doch eine Impf­ pflicht als verhältnismäßig einstufen, da in beiden Fällen in subjektive Freiheitsrechte eingegriffen wird. Die Begründung hierfür ist ver­ gleichsweise einfach. Erstens geht es bei der Frage der Impfpflicht um die Abwägung von Werten, die alle innerhalb einer Dimension liegen, nämlich der Gesundheit, und daher in intersubjektiv stabiler Weise vergleichbar sind: das Risiko einer schweren Covid-Erkrankung ver­ glichen zum Risiko einer schweren Impfnebenwirkung, bzw. das Risiko einer tödlichen Covid-Erkrankung verglichen zum Risiko einer tödlichen Impfnebenwirkung. Zweitens sind, wie erläutert, nur Wer­ teabwägungen an subjektive Interessenslagen, den »subjektiven Fak­ tor« rückgebunden, aber nicht Faktenfragen. Daher gehen wir von der wissenschaftlich gesicherten Datenlage zu gesundheitlichen Nutzen und Kosten der Impfung aus, die in Abschn. 4.2 ausgeführt wurde und eine eindeutige Sprache spricht: Das statistische Risiko (aufgrund der gesamten europäischen Impfevidenz) einer sehr schweren Impfne­ benwirkung ist 500 mal kleiner als das eines schweren Covid-Verlaufs mit Long-Covid-Folgen; selbst das Risiko einer nur mittelschweren Impfnebenwirkung ist noch 60 mal kleiner, und das Risiko einer töd­ lichen Impfnebenwirkung 250 mal kleiner als das eines CoronaTodes. Daraus ergibt sich der Impfschutz für fast alle Menschen – ausgenommen Vorerkrankte mit Impfkomplikationen – als der bei weitem sinnvollste Schutz vor Corona, unabhängig von sonstigen Interessenslagen. Nachträgliche Anmerkung: Ändert sich an obiger Einschätzung etwas durch die seit 2022 dominierende Omikron-Variante, die weni­ ger gefährlich ist als die 2021 dominierende Delta-Variante und gegen die derzeitige Impfungen weniger wirksam sind? Aus drei Gründen nicht oder nur wenig: Erstens kann die Omikron-Variante gegen Ungeimpfte durchaus gefährlich sein, zweitens werden bald Omikron-spezifische Impfstoffe auf den Markt kommen, und drittens wird es bald neue Corona-Varianten geben, sodass nur eine kollektive Impfverpflichtung ein sicherer Weg ist, um uns dauerhaft von der Corona-Last zu befreien. Man kann dagegen einwenden, dass es unabhängig von der Ein­ schätzung der Faktenlage zum Grundrecht jedes Menschen gehört, über seinen eigenen Körper selbst zu bestimmen und sein individu­

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elles Lebensrisiko selbst zu wählen. Diesem Argument könnten wir (innerhalb gewisser Grenzen) zustimmen, wenn es sich dabei um eine Individualentscheidung handeln würde, ohne negative Konsequenzen für die Mitmenschen. Genau das ist aber nicht der Fall. Die Virusepi­ demie kann nur durch eine sehr hohe Impfquote, von 95 % oder darüber, überwunden werden; nur so kommen die epidemischen Ver­ mehrungswellen zum Erliegen. Somit ist eine hohe Impfquote ein Kollektivgut: Wer sich impft, nutzt der ganzen Gemeinschaft, und wer sich nicht impft, schadet ihr. Zuguterletzt kommt es soweit, dass die Minderheit der Impfgegner mit ihrem Oppositionsgeist die ganze Bevölkerung in einen nicht enden wollenden Lockdown treiben. Um dieses gesellschaftsschädigende Verhalten zu verhindern, scheint die im Leopoldina-Statement vom November 2021 (Leopoldina 2021) vorgeschlagene (und in Österreich schon beschlossene) stufenweise Einführung einer Impfpflicht – ohne physischen Impfzwang aber mit Sanktionen für Verweigerer – ein geeignetes und auch verhältnismä­ ßiges Mittel zu sein, denn anders ist die erforderliche Erhöhung der Impfquote zur Überwindung von Corona offenbar nicht zu erreichen.

6. Schlussfolgerung und Ausblick Wir haben das Für und Wider von staatlich verordneten Schutzmaß­ nahmen gegen die Gefahren der Pandemie aus der Perspektive der Wertneutralität von Faktenwissenschaften und der Rückbindung von Werteabwägungen an Mehrheitsinteressen behandelt. Dies hat uns zu einer vermittelnden Position zwischen nicht notwendigerweise gegensätzlichen Lagern geführt. Einerseits betonten wir, dass wissen­ schaftlich gesicherte Evidenzen über die Gefahren von Covid-Erkran­ kungen und über die Kosten von Schutzmaßnahmen eine unerlässli­ che Voraussetzung für eine korrekte hypothetische Werteentscheidung sind, die Experten als Mittelempfehlung an die Bevölkerung bzw. ihre politischen Repräsentanten richten. Andererseits beharrten wir darauf, dass die kategorische Werteentscheidung nicht schon aus wis­ senschaftlichen Fachurteilen folgt, sondern durch einen politischen Willensbildungsprozess zu treffen ist, der den Interessen aller Bürger so gut wie möglich gerecht wird. In Bezug auf Lockdowns führte uns dies zum Schluss, dass rigide Kontaktsperren im Regelfall unverhält­ nismäßig sind, auch wenn damit die Raten von Viruserkrankungen gesenkt werden können, weil die damit verbundenen Kosten zu hoch

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sind. Umgekehrt führte uns die evidenzbasierte Analyse in Bezug auf die Impffrage zum Schluss, dass der Impfschutz trotz möglicher seltener Nebenwirkungen den weitaus besten Gesundheitsschutz in der Corona-Pandemie darstellt, verglichen mit den Risiken einer Covid-Infektion. Die Sorgen und Argumente der Impfgegner sind zu kritisieren, aber ohne Pauschalverurteilung und mit Verständnis für ihre Sorgen, durch nicht nachlassende Information und Aufklärung. Zugleich ist die Impfpflicht stufenweise in die Wege zu leiten, weil nur sie den Gesundheitsinteressen aller Menschen am besten dient. Schlussendlich sollten wir nach nahezu zwei Jahren Covid-Pan­ demie eines gelernt haben: Wir können den Virus nicht ausrotten, wohl aber schwächen, seine Infektionswellen und Gefahren nicht verhindern, wohl aber mindern. Letztendlich müssen wir mit dem Virus leben lernen, was bedeutet, eine möglichst vollständige Durch­ impfung der Bevölkerung zu erreichen und mit den zwischenzeitlich unvermeidlich ansteigenden Erkrankungs- und Todeszahlen verant­ wortungsvoll aber panikfrei umzugehen. In dieser Situation ist die Entstehung der ansteckenderen und milderen Omikron-Variante eine eher positive Entwicklung. Was dagegen negativ zu Buche schlägt, ist die Rolle von übertriebenen Medienberichten, die täglich die Angst der Bevölkerung und den Hass auf Andersdenkende schüren, auch dann, wenn kein erhöhter Anlass zur Sorge besteht – weil sich auf diese Weise die höchsten Leser-, Einschalt- und Anklickquoten erzielen lassen. Auf diese Weise werden Menschen, statt informiert und aufgeklärt, nur zunehmend verunsichert, flüchten in irrationale Oppositionsblasen oder lassen sich populistisch aufhetzen, und das ist das Gegenteil von dem, was wir brauchen.

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Zwischen Fakten und Werten: Zur Rolle von Experten im Umgang mit Pandemien

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Teil II Wissensvermittlung und das Experten-LaienVerhältnis

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Nicola Mößner

Streitkultur? – Expertenmeinungen in der Pandemie und die Rolle der PhilosophInnen

1. Einleitung Zu sagen, die durch das Corona-Virus verursachte Pandemielage stelle eine Herausforderung für die Gesellschaft dar, erscheint gera­ dezu euphemistisch. Viele Bereiche des täglichen Lebens hat das Auftreten und die rasante Verbreitung von SARS-CoV-21 gründlich und nachhaltig auf den Kopf gestellt. Darüber hinaus hat die Pande­ miesituation einige Stilblüten hervorgebracht, die zum Stirnrunzeln einladen. Ein solches mag auftreten, wenn in Philosophie-Instituten zwischenzeitlich damit Werbung gemacht wurde, Corona-Forschung zu betreiben. Sicherlich kann es dabei nicht darum gehen, dass an die­ sen Orten der neuartige Virus oder Heilungsmethoden für die durch diesen hervorgerufene Krankheit erforscht würden. Dass dennoch mit Slogans dieser Art gearbeitet wird, zeigt indes einiges über unser gegenwärtiges Wissenschaftssystem und dessen interne Dynamiken. Inwiefern letztere zur Verstärkung eines Phänomens beitragen können, das gegenwärtig unter dem Stichwort Glaubwürdigkeits- bzw. Vertrauenskrise nicht nur innerhalb der Wissenschaftstheorie disku­ tiert wird (vgl. z.B. Kitcher 2011; Leuschner 2012; Nichols 2017; Ores­ kes 2019), soll im folgenden Beitrag thematisiert werden. Im Rahmen dieser Debatte geht es um die Frage, warum – zumindest in einigen sozialen Gruppen – das Vertrauen in wissenschaftliche ExpertInnen zunehmend zu schwinden scheint. Eine solche Entwicklung konnte während der Corona-Pandemie in Deutschland im Zusammenhang mit der sogenannten Querdenker-Bewegung beobachtet werden.2 In diesem Umfeld wurden und werden öffentlich und öffentlichkeits­ wirksam Zweifel an den Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie 1 2

Vgl. RKI (2021). Vgl. dazu z.B. Amlinger/Nachtwey (2021); Daum/Buhl (2021).

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geäußert, welche auf der Basis von ExpertInnen-Meinungen durch PolitikerInnen beschlossen und umgesetzt wurden. Ganz richtig konstatiert Sebastian Schmidt in seinem Beitrag zur Krise des intellektuellen Vertrauens und der Analyse von Ver­ schwörungstheorien, dass die Pandemie-Zeit diese Krise nicht origi­ när begründet, aber deutlich »sichtbarer« gemacht habe (Schmidt 2021, 99). Mit dem zusätzlichen Fokus, den die Corona-Krise auf das epistemologische Phänomen des Zweifels an etablierten Informa­ tionsquellen in einigen sozialen Gruppen geworfen hat, verstärkt sich auch das Interesse an den Fragen, was zu diesem Phänomen einer Abkehr von wissenschaftlicher Expertise geführt hat, welche Rolle in diesem Zusammenhang der Aspekt des Vertrauens spielt und inwiefern Strategien zur (Re-)Etablierung einer entsprechenden Vertrauensbeziehung erarbeitet und realisiert werden können. Im Zusammenhang damit und im Kontext der Corona-Pandemie weist Christian Budnik (2021) auf den wichtigen Unterschied zwi­ schen Vertrauen und bloßem Sich-Verlassen hin, welcher von Bernd Lahno (2002) im Hinblick auf die Klärung des Vertrauensbegriffs diskutiert wurde.3 Während ein Sich-Verlassen impliziert, dass man über gute Gründe verfügt,4 die eine Entscheidung bezüglich der Zuverlässigkeit der Person, auf die man sich verlassen möchte oder muss, stützen können, ist das Vertrauen dadurch gekennzeichnet, dass in diesem Fall eine weitere Komponente in den Blick gerückt wird, die über das Vorliegen rationaler Gründe hinausführt. Im Falle von Lahnos Definition, mit der im Folgenden weiter gearbeitet werden soll, wird dabei eine affektive Einstellung des Vertrauenden gegenüber der Vertrauensperson in den Vordergrund gerückt. Vertrauen kann missbraucht werden. Geschieht dies, ist der Vertrauende im episte­ mischen Kontext nicht nur um eine wahre Überzeugung gebracht worden, sondern fühlt sich auch emotional verletzt. Diese Reaktions­ weise erfolge insbesondere auch, wie Lahno betont, weil von geteilten Werten und Einstellungen ausgegangen worden sei (vgl. Lahno 2002, 179). Der Vertrauensbruch offenbart dann, dass diese Annahme nicht zutreffend war. Nun wäre es natürlich ein empirisches Vorhaben, klären zu wol­ len, ob die Abkehr von den klassischen ExpertInnen in der Corona3 Annette Baier (1986) führt die zugrunde liegende Unterscheidung zwischen Ver­ trauen und Sich-Verlassen in der Ethik zum Vertrauensbegriff ein. 4 Wobei anzumerken ist, dass das epistemische Subjekt als fallibel gilt, mithin es sich also um für gut gehaltene Gründe handelt.

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Streitkultur?

Krise auf eine tatsächliche Divergenz in den Werthaltungen zwischen Vertrauenden und Vertrauenspersonen zurückgeführt werden kann. Man müsste Erhebungen dazu durchführen, welche Werte faktisch in den jeweiligen Gruppen die dominierende Rolle gespielt haben und welche Werteinstellungen jeweils der anderen Partei zugeschrieben wurden. Doch auch wenn die genaue Natur der Werte offenbleiben muss, kann die philosophische Analyse der Thematik zumindest inso­ fern klärend wirken, als mit ihrer Hilfe aufgezeigt werden kann, was den Hintergrund der pandemiebezogenen Vertrauens(bruch)frage ausmacht: eine Werte-Debatte oder eine generelle Glaubwürdigkeits­ krise wissenschaftlicher Expertise? In diesem Beitrag soll für ersteres argumentiert werden – zumindest im Hinblick auf die schon vorange­ schrittene Pandemie-Situation. Aus dieser Perspektive kann ferner deutlich gemacht werden, welchen Beitrag PhilosophInnen in diesem Kontext leisten können und warum die öffentliche Aufmerksamkeit für diese Profession – zumindest in Deutschland – während der Corona-Pandemie ein selten erreichtes Maß erlangte.5 Die Argumentation im vorliegenden Beitrag entfaltet sich dann in den folgenden Schritten: Zunächst wird die epistemische Aus­ gangssituation von Laien und ExpertInnen im Rahmen der Debatte zur testimonialen Erkenntnisgewinnung genauer verortet. Als beson­ ders wichtig erweist sich dabei die Klärung des Expertenbegriffs selbst. Nachfolgend wird die bereits angesprochene Differenzierung zwischen Vertrauen und bloßem Sich-Verlassen näher beleuchtet. Hierbei wird der Frage nachgegangen, ob eine konzeptuelle Neu­ ausrichtung der Laien-Position im Kontext der Corona-Pandemie, wie sie in der Debatte vorgeschlagen wurde, dazu beitragen kann, der zunehmend verfahren wirkenden Situation einer wachsenden Wissenschaftsskepsis in einigen sozialen Bereichen entgegenzuwir­ ken. Um zu einer schlüssigen Antwort zu gelangen, wird auf die genaue Kommunikationssituation während der Pandemie eingegan­ gen. Deutlich wird in diesem Zusammenhang, dass eine Vielzahl von AkteurInnen mit unterschiedlichen Interessen und Werthaltungen zusammenkommen, um u.a. Fragen der Pandemiebekämpfung zu diskutieren. Eine epistemologische Analyse muss dieser komplex­ eren Situation gerecht werden. Insbesondere wird die Untersuchung 5 Eine umfangreiche Sammlung der Beiträge deutscher PhilosophInnen zur CoronaPandemie findet sich z.B. unter Philpublica (2022).

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Nicola Mößner

aufzeigen, dass ExpertInnen mit sehr unterschiedlich fokussierten Werthaltungen in der Debatte aufeinandertreffen. Dass Werturteile in den epistemischen Prozessen wissenschaftlicher Hypothesenbil­ dung und Ergebnisgewinnung eine Rolle spielen, stellt einen typi­ schen Ansatzpunkt zur Erklärung für einen wachsenden Vertrauens­ verlust in wissenschaftliche ExpertInnen dar. In diesem Beitrag soll dieser Aspekt im Kontext der Pandemiesituation genauer analysiert werden. Es wird sich zeigen, dass eine Hauptschwierigkeit u.a. darin besteht, dass eine Reihe durchaus legitimer Werthaltungen hier mit­ einander in Konflikt geraten, für deren Hierarchisierung es bisher keine hinreichenden Leitlinien zu geben scheint. Abschließend wird daher die Frage aufgeworfen, ob PhilosophInnen die Funktion über­ nehmen können, die notwendige Orientierung innerhalb solcher Wertedebatten herzustellen.

2. Um Rat fragen Sowohl das Phänomen der Glaubwürdigkeitskrise als auch jenes der Vertrauensproblematik sind eingebettet in den Kontext menschlichen Informationsaustausches. Wir begegnen hier dem Phänomen des Zeugnisses anderer und damit der Frage, unter welchen Bedingungen ein Rezipient dem Wort eines Sprechers Glauben schenken darf (vgl. z.B. Coady 1992; Gelfert 2014; Mößner 2010; 2019). In der Corona-Pandemie wurde diese epistemische (oder kognitive) Arbeits­ teilung (vgl. Kitcher 1995, Kap. 8) vor allem im Zusammenspiel von wissenschaftlicher Expertise und politischer Entscheidungsfindung deutlich, welche in den Debatten über die verschiedenen Eindäm­ mungsmaßnahmen des neuartigen Virus und über Impfkampagnen verfolgt werden konnte. Kennzeichnend für diese Ausgangssituation ist, dass die UmRat-Fragenden darauf angewiesen sind, dass ihre gewählte Informati­ onsquelle sowohl kompetent bezüglich der relevanten Thematik ist, als auch aufrichtig Auskunft erteilt. Aufrichtigkeit und Kompetenz gel­ ten üblicherweise als die beiden Kriterien, welche die Glaubwürdigkeit eines Zeugen ausmachen. Im Umfeld der Corona-Pandemie scheint sich das Gewicht auf den Aspekt der Kompetenz verlagert zu haben, wenn es in der kritischen Diskussion zur Vertrauensfrage um die Evaluierung der Gesprächspartner geht. Es ist wenig verwunderlich,

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dass zu Beginn der Krisensituation ein Ringen um das notwendige Faktenwissen zu durch den Virus ausgelösten Krankheitsverläufen, den zugehörigen Übertragungswegen und damit Fragen nach adäqua­ ten Maßnahmen zur Eindämmung unter den beteiligten Wissen­ schaftlerInnen vorherrschend war, und die Themen entsprechend kontrovers diskutiert wurden. Die relevante Kompetenz für eine zuverlässige Beratungsfunktion, so könnte man sagen, befand sich zu diesem Zeitpunkt noch im Aufbau.6 Da sich die neuartige Erkrankung aber innerhalb weniger Monate zur Pandemie ausgedehnt hatte und eine intensive mediale Berichterstattung erfuhr, wurde die sonst eher im geschlossenen Umfeld der wissenschaftlichen Community ausgetragene Forschungsdebatte nun sozusagen auf der öffentlichen Bühne vollzogen. Auf Grund der allgemeinen Betroffenheit ging die Teilnahme der Medienöffentlichkeit schnell über den bloßen Zuschauerstatus an einer Fachdiskussion hinaus. Erinnert sei als Vergleich an den Ausbruch der Ebola-Epidemie im Jahr 2014.7 Zwar beunruhigte auch dieser epidemiologische Fall die Weltöffentlichkeit, da die Krank­ heit, bedingt durch internationale Reiseaktivitäten, den afrikanischen Kontinent verließ, allerdings wurde zum damaligen Zeitpunkt der Expertenstatus der beteiligten WissenschaftlerInnen, die sich der Erforschung von Impfstoffen verschrieben hatten, nicht zum Gegen­ stand einer öffentlichen Debatte. Dabei ist die Ausgangsproblematik, von einem epistemologischen Standpunkt aus betrachtet, durchaus analog: Medizinische Laien sind mit den Einschätzungen zu einem möglichen Infektionsgeschehen durch vermeintliche ExpertInnen konfrontiert, ohne deren Fachkompetenz in relevanter Weise selbst beurteilen zu können. Diese Situation schildert Alvin I. Goldman (2011) in seiner schon klassisch zu nennenden Analyse des Laie-Zwei-Experten-Problems. In diesem Kontext entwickelt er zunächst eine hilfreiche Definition des Expertenbegriffs selbst, wenn er schreibt: »[…] we can say that an expert (in the strong sense) in domain D is someone who possesses an extensive fund of knowledge (true belief) and a set of skills and methods for apt and successful deployment of this knowledge to new 6 Vgl. dazu Weingart (2021, 28). Beim »Round Table SAS21« (Oktober 2021) sprach der Soziologe Stefan Böschen von »Wissenschaft als Prozess«, um diesen Entwicklungsgedanken einzufangen. 7 Vgl. Centers for Disease Control and Prevention (2021) und WHO (2021).

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questions in the domain« (vgl. ebd., 115). Oliver R. Scholz präzisiert diesen Begriff des Expertentums, wenn er festhält, dass neben der For­ derung nach wahren Überzeugungen auch andere epistemische Desi­ derate, d.h. insbesondere gerechtfertigte Überzeugungen, ein kohären­ teres Überzeugungssystem sowie ein besseres epistemisches Verständnis der Fragestellungen innerhalb der vermeintlichen Expertise-Domäne, Berücksichtigung finden müssten (vgl. Scholz 2009, 192ff.).8 Diese modifizierte Definition wird im Folgenden vorausgesetzt, wenn es um die Frage geht, welche kognitiven Anforderungen an den Exper­ tenstatus gebunden sind. Mediziner und insbesondere VirologInnen scheinen diese Definition im Falle der Corona-Pandemie zu erfüllen. Auch wenn ihnen anfänglich, wie angemerkt, konkrete Erkenntnisse zum neu aufgetretenen Virus gefehlt haben mögen, verfügen sie doch meist über eben jene Fähigkeit, bestehende Kenntnisse und Methoden ihres Gebiets auf neue Fragestellungen anzuwenden, um zu relevanten Wissensinhalten zu gelangen. Die Tatsache, dass die zugehörigen Debatten jedoch vor den Augen der Öffentlichkeit ausgetragen wurden, lässt Sebastian Schmidt konstatieren, dass hierin ein Grund für die oben erwähnte Vertrauensproblematik zu finden sei. »Die Überinterpretation und Verbreitung von ersten und vorläufigen Forschungsergebnissen hat Misstrauen gegenüber der Wissenschaft provoziert und der Vertrau­ ensbeziehung zwischen Experten und Laien geschadet« (Schmidt 2021, 101). Letzteres zeigt sich nach wie vor in einigen sozialen Gruppen, obwohl sich zwischenzeitlich zu vielen der anfänglich diskutierten Forschungsmeinungen ein stabiler Konsens unter den ExpertInnen etabliert hat, wie beispielsweise der Virologe Christian Drosten im Interview betont (vgl. Di Lorenzo/Sentker 2021).9 Es muss ergänzt werden, dass sich Scholz in einer späteren Schrift gegen den Versuch einer strikten Definition mittels einzeln notwendiger und zusammen hinrei­ chender Bedingungen des Expertenbegriffs wendet (vgl. Scholz 2018). Im Anschluss an Nelson Goodman plädiert er stattdessen für das Aufzeigen von Symptomen, die zur Charakterisierung eines Begriffs verwendet werden können (vgl. ebd., 31). Zu diesen Symptomen, die eine weiteren Erforschung des Expertenbegriffs möglich machen sollen, zählen dann im Bereich der kognitiven Fähigkeiten und Leistungen einer solchen Person auch das epistemische Verstehen und weitere epistemische Desiderata (vgl. ebd., 32). 9 Sicherlich kann man hier die Induktionsbasis für die Annahme eines Konsenses in der wissenschaftlichen Gemeinschaft kritisch hinterfragen. Doch sei auf diesen Einwand erwidert, dass gerade Christian Drosten im bundesdeutschen Raum als der ausgewiesene Experte im Zusammenhang mit Covid-19 gilt. Vor diesem Hintergrund 8

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Für den Laien stellt sich die eigene epistemische Ausgangssitua­ tion allerdings über die Zeit hinweg unverändert dar: Ihm fehlt das Hintergrundwissen, um ExpertInnenmeinungen direkt kalibrieren zu können. Es bleibt bei einer epistemischen Abhängigkeitsrelation seitens der Laien. Dass es sich hierbei um eine Beziehung handelt, aus welcher sich letztere selten mit eigener Kraft lösen können, nutzen Personen als argumentativen Fallstrick aus, welche Zweifel an den ExpertiseträgerInnen in Fällen zu säen beabsichtigen, in denen hinsichtlich deren Kompetenz und Aufrichtigkeit kein begründetes Misstrauen bestehen kann. Schmidt verweist darauf, dass in der Corona-Pandemie ein solches »Misstrauen […] von Verschwörungs­ theorien stark befeuert [wurde]« (Schmidt 2021, 101). Ließe sich diese problematische Situation dadurch beheben, dass man die bestehende epistemische Relation auf eine andere Basis stellen würde? Für diesen Vorschlag plädiert Budnik (2021) in seinem Beitrag. Er konstatiert: Die Pathologien des Misstrauens in Zeiten von Corona lassen die Vermutung aufkommen, dass einige von uns in unserem Verhältnis zu politischen Repräsentanten, unseren Mitbürgerinnen, aber auch zu den Experten aus der Wissenschaft zu sehr dem emotional und normativ aufgeladenen Paradigma des Vertrauens verhaftet sind. (ebd., 29, Hervorhebung NM)

Alternativ, schlägt Budnik im Weiteren vor, solle die fragliche epis­ temische Beziehung unter der Perspektive rationaler Verlässlichkeit betrachtet werden: Sich stattdessen an der Kategorie der Verlässlichkeit zu orientieren, ist hierbei nicht lediglich ein begrifflicher Trick, sondern stellt eine echte Alternative zum Vertrauen dar. Wer sich auf etwas verlässt, macht eine Annahme über die Zukunft, die sich bewahrheitet oder eben nicht. Wenn sie sich nicht bewahrheitet, hat er keinen Grund, in einem moralisch relevanten Sinn enttäuscht oder empört zu sein – anders als derjenige, dessen Vertrauen missbraucht worden ist. (ebd.)

Lässt sich die epistemische Situation aber so einfach ›umstellen‹, wie Budnik es hier vorschlägt? Und ist dies zum gegenwärtigen Zeitpunkt der Corona-Pandemie tatsächlich der Weg, der aus der verfahren kann von einer hinreichenden Vernetzung seiner Person innerhalb der relevanten Forschungsgemeinschaft ausgegangen werden, die sein Urteil bezüglich des Bestehens konsensualer Überzeugungen innerhalb derselbigen stützt.

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scheinenden Situation des Misstrauens zwischen einigen Laien und wissenschaftlichen ExpertInnen hinausführen könnte? Um diese Fra­ gen beantworten zu können, ist zunächst eine genauere Analyse der epistemischen Ausgangssituation und damit des Unterschieds zwi­ schen einer Situation des Sich-Verlassens und eines Vertrauenskon­ textes erforderlich.

3. Vertrauen? Welches Vertrauen? Um Budniks Vorschlag vor dem Hintergrund der pandemiebedingten Krisensituation genauer prüfen zu können, müssen zunächst die von ihm eingeführten Alternativen – die Abgrenzung einer Vertrauens­ situation von einer Konstellation des rationalen Sich-Verlassens – näher beleuchtet werden. Beginnen wir mit ersterer und fragen uns, was eine Vertrauenssituation überhaupt auszeichnet. Eine Vertrauenshandlung10 bedeutet das Eingehen eines Risikos. Bernd Lahno formuliert das entstehende Problem folgendermaßen: »Der Vertrauende macht sich durch seine Vertrauenshandlung ver­ letzlich« (Lahno 2002, 39). Die Verletzbarkeit entsteht dadurch, dass der Person, der vertraut wird, verschiedene – und nicht nur die vom Vertrauenden gewünschte – Handlungsoptionen offen stehen, sodass dem Vertrauenden eventuell ein Schaden zugefügt werden könnte (vgl. ebd., 50f.). Wird aber zum Nachteil des Vertrauenden gehandelt, vollzieht sich ein Vertrauensbruch. Im Falle des Vertrauens in die Mitteilungen anderer bedeutet dies das Risiko, entweder durch die Informationsquelle (z.B. den Experten) belogen zu werden oder durch deren mangelnde Kompetenz einem Irrtum aufzusitzen.11 Während der Corona-Krise bezogen sich die Mitteilungsinhalte beispielsweise auf die Frage nach Notwendigkeit, Nützlichkeit und zulässiger Reichweite der verschiedenen Maßnahmen zur Eindäm­ mung der Pandemie. Ist es unter Infektionsschutzgesichtspunkten 10 Bernd Lahno definiert eine Vertrauenshandlung als »Risikohandlung«. Die Wahl einer solchen Handlung auf der Basis von Vertrauen nennt er »Vertrauensentschei­ dung« (vgl. Lahno 2002, 33). 11 Es kann argumentiert werden, dass sich im Falle des Zeugnisses anderer tatsächlich auch der Sprecher durch das Eingehen einer Vertrauenssituation verletzlich mache. So baut dieser darauf, dass ihm in angemessener Weise Glaube geschenkt werde. Dass dies durchaus nicht immer der Fall ist, macht Miranda Fricker in ihren Ausführungen zur testimonialen Ungerechtigkeit klar (vgl. Fricker 2009).

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hilfreich, eine FFP2-Maske zu tragen? Sollen Schulen geschlossen werden, um Infektionswege zu unterbinden? Wer darf zu welchem Zweck reisen und wer nicht? Als weiterer wichtiger Themenkomplex tritt die Debatte über eine Impfpflicht hinzu, um den von den Exper­ tInnen angemahnten relevanten Schwellenwert einer Immunisierung innerhalb der Bevölkerung zu erreichen – eine Diskussion, die wie­ derum verbunden wird mit stetig neu aufkeimenden Fragen nach der Wirksamkeit verschiedener Impfstoffe, deren Nebenwirkungen, deren Verträglichkeit für bestimmte Altersgruppen usw. Welches vermeintliche Risiko man in der zugehörigen Vertrauenssituation eingehen würde, wird in der Debatte von den sogenannten Impfgeg­ nerInnen kundgetan, nämlich sich möglichen, noch wenig erforschten oder auch unbekannten Nebenwirkungen der Impfung auszusetzen.12 Man werde also hinsichtlich der Sicherheit und Schutzwirkung der Impfung belogen bzw. erhalte falsche Informationen z.B. auf Grund von Fehleinschätzungen der Lage. Doch welches Risiko impliziert die Einhaltung der erwähn­ ten Eindämmungsmaßnahmen? Das Tragen einer Maske scheint eher einer Unannehmlichkeit zu entsprechen denn einer Gefähr­ dung. Letztere stünde eher mit ökonomischen Einbußen auf Sei­ ten bestimmter Bevölkerungsschichten durch fortgesetzte LockdownMaßnahmen in Verbindung. Quarantänepflichten und Kurzarbeit als Folge von Betriebsschließungen insbesondere in bestimmten gesell­ schaftlichen Bereichen (Kulturbetrieben, Gastronomie, Reiseindus­ trie etc.) stellen eine ernstzunehmende Herausforderung dar. Darüber hinaus wurde im Zusammenhang mit Schulschließungen nicht nur auf die negativen Auswirkungen auf die Bildungsarbeit verwiesen, sondern auch auf psychologische Schwierigkeiten, die für Kinder dabei entstünden. Verfolgt man die gegenwärtige Debatte in der Bundesrepublik, zeichnet sich allerdings ab, dass nicht diese konkreten Problem­ stellungen in den Fokus gerückt werden, sondern insbesondere Meinungen darüber, dass mit den verhängten oder verhängbaren Pandemiebekämpfungsmaßnahmen bestimmte Freiheitsrechte der BürgerInnen eingeschränkt würden.13 Im Gegensatz zu der vermu­ teten konkreten Risiko-Abwägung steht eine kontrovers geführte Von den irrationalen Verschwörungsmythen rund um das Thema Impfung sei an dieser Stelle abgesehen. 13 Johannes Pantenburg et al. (2021) halten in ihrer Auswertung von Interviews mit Mitgliedern der sogenannten Querdenker-Bewegung im Oktober 2020 fest: »Insge­ 12

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Wertedebatte im Vordergrund, wenn es um die öffentliche Ausein­ andersetzung mit den Corona-Maßnahmen geht. Eine Rolle spielt dabei sicherlich, und auf diesen Punkt werden wir zurückkommen, dass sich die Kommunikationssituation komplexer darstellt, als im angenommenen Fall des Vertrauens eines Rezipienten in einen Exper­ ten als Ratgeber. Bevor die genaue Konstellation jedoch analysiert werden kann, soll zunächst der Unterschied zwischen Vertrauen und Sich-Verlassen benannt werden, welchen Lahno klar herausgearbeitet hat. Er betont, dass Vertrauen mehr sei als bloß rationale Erwartbar­ keit: Man verlässt sich darauf, dass X passiert, wenn man mit einer gewissen Zuversicht erwartet, dass X geschieht, und sich darauf in gewisser Weise – in der Regel durch sein Handeln – einrichtet. Man verlässt sich auf einen Gegenstand G oder eine Person P, wenn man sich darauf verlässt, dass G oder P eine bestimmte in der Regel erwünschte Eigenschaft oder Beschaffenheit hat oder dass sich G oder P in einer bestimmten Weise verhalten wird. Wenn man einer Person vertraut, so verlässt man sich in der Regel auf sie. Aber man kann sich auf eine Person verlassen, ohne ihr im eigentlichen Sinne des Wortes zu vertrauen. (Lahno 2002, 134f.)

Das Sich-Verlassen-Auf wird von Gründen gesteuert, die bestimmte Handlungen, Verhaltensweisen oder Mitteilungsinhalte für den Rezi­ pienten erwartbar machen. Solche Gründe können vorliegen, ohne dass eine engere Beziehung zwischen den beteiligten Personen besteht. Sie mögen allein durch die Kenntnis bestimmter Konstitu­ enten eines Berufsstandes, einer politischen Gesinnung, eines gesell­ schaftlichen Engagements etc. des Gegenübers bestimmt sein. Und natürlich können diese Annahmen fehlerhaft sein.14 Im obigen Zitat macht Lahno darauf aufmerksam, dass ein solches begründetes Sich-Verlassen nicht identisch ist mit dem Ver­ samt lassen sich einige zentrale Argumente benennen: Erstens relativieren viele die Gefährlichkeit der Corona-Pandemie, vergleichen sie mit der Grippe und sprechen von ›Panikmache‹; zweitens verweisen Teilnehmende auf die (Gesundheits-)Schädlichkeit der Gegenmaßnahmen, wie Sauerstoffmangel und vermeintliche Todesfälle durch Alltagsmasken; und drittens wird vor der Einschränkung von Grundrechten und dem Abrutschen in autoritäre Verhältnisse gewarnt« (ebd., 22). 14 Insbesondere wenn diese Annahmen ins Negative abdriften, können an dieser Stelle jene Mechanismen ins Spiel kommen, die Miranda Fricker unter dem Stichwort der »Identitätsvorurteile« kritisch im Zusammenhang mit ihrem Konzept der testimo­ nialen Ungerechtigkeit diskutiert (vgl. Fricker 2009, Kap. 2).

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trauensbegriff. Bei letzterem tritt noch etwas hinzu, das er weniger auf der nüchtern kognitiven, sondern auf der zwischenmenschlichen Ebene zu verorten sucht, wenn er schreibt: Im Vertrauen offenbart sich eine bestimmte Einstellung oder Haltung des Vertrauenden gegenüber der Vertrauensperson. Diese Haltung ist charakteristisch für Vertrauen [,] und sie ist nicht notwendig Teil bloßen Sich-Verlassens. [...] Die Einstellung eines Vertrauenden gegenüber seinem Partner bestimmt [...] seine Erwartungen und in manchen Fällen auch seine Präferenzen; d.h. diejenigen Elemente, auf die eine Theorie des Vertrauens als rationale Erwartung Vertrauen zurückführen will, sind gar nicht unabhängig vom Vertrauen gegeben. (ebd., 138)

Die Erwartungshaltung des Vertrauenden wird also erst durch das Eingehen der Vertrauenshandlung begründet. Sie kann daher nicht als Voraussetzung seiner Handlung angesehen werden, wie es im Falle des Sich-Verlassens zutreffen würde. Zeigte sich uns diese Konstellation im Kontext der Corona-Krise, liefe Christian Budniks Vorschlag ins Leere, eine vermeintlich negativ aufgeladene Vertrauenssituation durch die rationale Haltung eines Sich-Verlassens zu ersetzen (vgl. Budnik 2021, 29ff.). Sein Ansatz setzt voraus, dass die betroffenen Personen von der Einstellung des Vertrauens in jene des Sich-Verlassens wechseln können. Jedoch verdeutlicht Lahnos Analyse, dass die »Haltung und Einstellung des Vertrauenden gegenüber der Vertrauensperson« überhaupt erst durch ein vorhergehendes Vertrauen geschaffen wurden. Spricht man im Kontext der Corona-Pandemie von enttäuschtem Vertrauen, dann bedeutet dies auch, dass eine entsprechende Konstellation der beteiligten Parteien bereits vorlag und nicht von einem neutralen Standpunkt aus neu begründet werden kann. Der in pragmatischer Hinsicht so plausibel erscheinende Vorschlag Budniks lässt sich also nicht so einfach in die Tat umsetzen, da seitens der betroffenen BürgerInnen bereits eine bestimmte Haltung gegenüber der anderen Seite eingenommen und ihrem Empfinden nach von letzterer verletzt bzw. missachtet worden ist. Der relevante Ansatzpunkt zur Lösung der misslichen Lage muss folglich bei dieser vormals begründeten Einstellung und Haltung der Vertrauenden ansetzen und nicht nach­ geordnet die Relation selbst auf eine neutrale Ebene stellen wollen. Um auf erstere Einfluss nehmen zu können, muss jedoch untersucht werden, von welcher Art diese tatsächlich ist. Um Aufschluss über ihre

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genaue Natur zu erhalten, kann wiederum Lahnos Ansatz herangezo­ gen werden. Er geht davon aus, dass der Vertrauensbegriff durch drei Kom­ ponenten gekennzeichnet ist: einen behavioralen, einen kognitiven und einen affektiven Aspekt: (a) In behavioraler Hinsicht bedeutet das Eingehen einer Vertrauenshandlung, wie schon dargestellt, die Hinnahme eines Risikos durch den Vertrauenden. Letzterer muss davon ausgehen, dass sein Vertrauen eventuell durch die Person, der er vertraut, missbraucht wird. (b) In kognitiver Hinsicht bringt der Vertrauende eine Vertrauenserwartung in die Handlung in dem Sinne mit ein, dass er annimmt, dass die Person, der er vertraut, nicht zu seinem Schaden handeln wird. Diese beiden Aspekte sind relativ unproblematisch in der Diskussion bezüglich des Vertrauensbegriffs. Kontrovers ist dagegen die Annahme eines affektiven Aspekts (c). Dieser Punkt betrifft die oben angesprochene einstellungsbegrün­ dende Komponente des Vertrauens. Lahno schlägt an dieser Stelle vor, den Fokus auf die Charakte­ risierung der wahrgenommenen Person durch den Vertrauenden zu legen. Letzterer fühlt sich auf eine bestimmte Art und Weise mit der Person seines Vertrauens verbunden, z.B. durch das Teilen gemein­ samer Ziele, Werte und Normen. Außerdem spiele auch eine teilneh­ mende Haltung, also die Herstellung eines größeren Zusammenhangs durch die Interaktion zwischen Vertrauendem und Vertrauensperson, eine Rolle.15 A [der Vertrauende, NM] erlebt die Situation als eine solche, in der es um die Verfolgung geteilter Ziele oder um die Wahrung gemeinsamer Werte geht, und er erlebt seinen Partner als jemanden mit einer ent­ sprechenden Weltsicht. Dies induziert eine vertrauensvolle Erwartung und motiviert vertrauensvolle Handlungsentscheidungen. (Lahno 2002, 210)

Halten wir fest, dass Vertrauen in der definierten Form voraussetzt, dass entweder eine persönliche Beziehung zwischen den involvierten Personen besteht, oder deren Relation vom Vertrauenden als eine wahrgenommen wird, in der gemeinsam geteilte Werte, Normen und Ziele vorliegen.16 Für die im Kontext der Corona-Pandemie konsta­ 15 Lahnos Definition des Vertrauensbegriffs findet sich in voller Länge in Lahno (2002, 210). 16 Man kann an dieser Stelle fragen, ob es nicht hinreichend wäre, wenn der Vertrau­ ende davon ausginge, dass die von ihm vertretenen Werte etc. durch die Vertrauens­

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tierte Vertrauensproblematik heißt dies, dass die von Budnik vorge­ schlagene Re-Konstituierung der bestehenden Situation zwischen zweifelnden Laien und wissenschaftlichen ExpertInnen nicht von einer vermeintlich neutralen Basis starten würde, sondern im bereits, wie Budnik selbst es formuliert, »emotional und normativ aufgelade­ nen Paradigma des Vertrauens« (Budnik 2021, 29) vorgenommen werden müsste. Dass in einem solchen Kontext die Etablierung einer rein rationalen Beziehung zumindest schwierig sein wird, sollte jedem klar sein, der einmal im eigenen Umfeld mit der Herausforderung konfrontiert wurde, eine emotional aufgeladene Beziehung auf eine neutralere Basis stellen zu sollen, ohne dabei den Kontakt zu der Person abzubrechen. Darüber hinaus können zwei weitere Punkte aus diesen Überle­ gungen zum Vertrauensbegriff für die sich im Kontext der CoronaPandemie darbietende Situation abgeleitet werden: (a) Es kann davon ausgegangen werden, dass zunächst eine – wie auch immer konkret geartete – Vertrauenssituation bestand bzw. die vorhandene Relation als eine solche von den Beteiligten wahrgenommen wurde. (b) Wie aufgezeigt, spielen Debatten über Werte und Normen eine wichtige Rolle. Diesem zweiten Punkt soll im Folgenden weiter nachgegangen werden. Es wird sich zeigen, dass gerade hier ein sozusagen neural­ gischer Punkt der Krisenkommunikation zu verorten ist, der einen wichtigen Beitrag für die zuvor konstatierten Schwierigkeiten einer vertrauensbasierten Relation zwischen wissenschaftlichen ExpertIn­ nen auf der einen und Mitgliedern bestimmter sozialer Gruppen auf der anderen Seite zu leisten scheint. Im nächsten Abschnitt soll das kommunikative Szenario, in wel­ chem der vermeintliche Vertrauensverlust in wissenschaftliche Exper­

person respektiert werden, anstatt diese tatsächlich zu teilen. Lahnos Definition zielt explizit auf die stärkere Lesart, doch scheint unsere empirische Praxis dafür zu spre­ chen, dass die schwächere Lesart ebenfalls für eine Vertrauensbeziehung hinreichend wäre. Allerdings zeigt diese Praxis auch, dass es auf Seiten des Vertrauenden häufig zumindest Irritation auslöst – wenn nicht sogar die Vertrauensbeziehung auflöst –, wenn die Person, in welche das Vertrauen gesetzt wurde, in bestimmten Kontexten nicht konform mit den für relevant gehaltenen Zielen und Werten handelt. Die aufgezeigte Spannung lässt sich beheben, wenn man in Betracht zieht, das Vertrauen ein gradueller Begriff ist. Starkes oder volles Vertrauen spräche dann für Lahnos Defi­ nition, während die Situation eines bloßen Respekts vor Zielsetzungen und Werten des Vertrauenden und ein dann ggf. anders motiviertes Handeln der Vertrauensperson für eine schwächere Form dieser Relation zwischen beiden AkteurInnen spräche.

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tise auftritt, näher beleuchtet werden, um präziser darauf eingehen zu können, welche Gründe für diese Entwicklung eine Rolle spielen.

4. Krisenkommunikation und Radikalisierungsdynamiken Üblicherweise wird innerhalb der wissenschaftstheoretischen Refle­ xion einer vermeintlichen Glaubwürdigkeitskrise der Wissenschaften eine vereinfachte dualistische Perspektive verwendet: Wissenschaftli­ che ExpertInnen stehen einem mehr oder weniger skeptischen Rezi­ pientenkreis wissenschaftlicher Laien gegenüber. Die Corona-Pande­ mie zeigt nun deutlich, dass die Kommunikationszusammenhänge weitaus komplexer verlaufen, als in diesem Schema angenommen. So spielen neben WissenschaftlerInnen und BürgerInnen auch Vertrete­ rInnen aus Behörden, der öffentlichen Verwaltung, der Politik und den Medien eine wichtige Rolle. Die Initiative »Wissenschaft im Dialog« unterlegt diese komplexe Ausgangslage mit Zahlen einer repräsenta­ tiven Bevölkerungsbefragung17 in Deutschland zum Thema Vertrauen in der Pandemielage 2021: Neben dem generellen Vertrauen in Wissenschaft und Forschung ist auch das Vertrauen in Aussagen der Wissenschaft im Kontext der pan­ demischen Lage hoch (2021: 73 %, November 2020: 73 %, April 2020: 71 %). Noch höher ist sogar das Vertrauen in Aussagen von Ärzten und medizinischem Personal (2021: 79 %, November 2020: 80 %, April 2020: 79 %). Weniger Vertrauen genießen hingegen die Aussagen behördlicher oder amtlicher Vertreter sowie seitens der Politik (2021: 34 %, 21 % und 18 %).18

Es erweist sich also als ratsam, genau hinzublicken, wenn pauschali­ sierend von wachsendem Misstrauen die Rede ist. Nicht immer richtet sich die skeptische Haltung tatsächlich gegen die Wissenschaft. Oft bezieht sich diese Einstellung eher auf behördliche VertreterInnen oder RepräsentantInnen der klassischen Medien.19 Dies erscheint auch nicht weiter verwunderlich, sind es doch vor allem diese Perso­ 17 Befragt wurden insgesamt 1.002 Personen der deutschsprachigen Wohnbevölke­ rung ab 14 Jahren. Die Auswahl der befragten Personen erfolgte dabei nach einem Stichprobenkonzept (vgl. Wissenschaft im Dialog/Kantar 2021, 31f.). 18 Wissenschaft im Dialog (2021). 19 Dass insbesondere letztere in den Augen skeptischer BürgerInnen ihre Funktion eines zuverlässigen Vermittlers zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Berei­

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nengruppen, die (als Vermittler wissenschaftlicher Erkenntnis und davon abgeleiteter Verhaltensmaßnahmen) in kommunikativen Kon­ takt zu den BürgerInnen treten und nur selten die Wissenschaftle­ rInnen selbst.20 In einigen Fällen mag es dann dazu kommen, dass das solchermaßen aufgetretene Misstrauen sich auf Wissenschaft­ lerInnen ausdehnt, die in den entsprechenden Medien zu Wort kommen oder deren Ratschlag von den betreffenden Behörden einge­ holt wurde. Neben dieser sich überwiegend positiv darstellenden epistemi­ schen Ausgangssituation der Laien-Experten-Relation in Deutsch­ land, vermerken die Datenerheber aber auch das Bestehen der angesprochenen wissenschaftskritischen Haltung bei einem nicht zu vernachlässigenden Prozentsatz der Befragten: Es bleiben jedoch auch skeptische Stimmen: So stimmten 39 Prozent der Aussage ›Wissenschaftler sagen uns nicht alles, was sie über das Coronavirus wissen‹ eher oder voll und ganz zu (19 % unentschieden, 40 % stimmen eher nicht oder nicht zu). Der Aussage, dass die Pan­ demie zu einer größeren Sache gemacht werde, als sie eigentlich ist, stimmten 26 Prozent zu (12 % unentschieden, 61 % stimmen nicht oder eher nicht zu).21

Interessanterweise wurde als der häufigste Grund für ein mögliches Misstrauen22 in WissenschaftlerInnen im Rahmen dieser Umfrage chen zunehmend einzubüßen scheinen, heben auch Pantenburg et al. im Rahmen ihrer Studie hervor (vgl. Pantenburg et al. 2021, 23). 20 Der Virologe Christian Drosten stellt eine wichtige Ausnahme dar. Im Interview mit Journalisten der Wochenzeitung »Die Zeit« erläutert er seine Initiative, einen eigenen Podcast zu etablieren, über welchen er wissenschaftlichen Laien unmittelbar über die Forschung zum Coronavirus berichten kann: »Beispielsweise. Die Bevölke­ rung zu informieren, das war für mich eine bewusste Entscheidung. Ich habe lange an Coronaviren gearbeitet. Wenn man sich wirklich mit einem Thema auskennt, kann man nicht nur die wissenschaftlichen Arbeiten anderer lesen, sondern die Situation aus eigener Berufserfahrung einschätzen. Dieses Einschätzungsvermögen musste ich einfach zur Verfügung stellen. […] Für mich war entscheidend, dass das ein Format ist, in dem man frei und vor allem ungekürzt sprechen kann. Und es sollte öffentlich-rechtlich sein, für jeden jederzeit zugänglich. Ich bin ja auch ein öffentlich-rechtlicher Wissenschaftler. Mich zahlt der Steuerzahler« (Drosten im Interview in: Di Lorenzo/Sentker 2021, 33). 21 Wissenschaft im Dialog (2021). 22 Gefragt wurde nach Gründen, die ein Misstrauen in WissenschaftlerInnen stützen könnten, nicht nach Gründen, die ein tatsächlich bestehendes Misstrauen untermau­ ern würden.

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genannt (angeführt von 48 Prozent der Befragten), dass letztere stark von ihren Geldgebern abhängig seien (vgl. Wissenschaft im Dialog/Kantar 2021, 15f.). Offenbar wird von den Studienteilneh­ merInnen im monetären Abhängigkeitsverhältnis ein Einfallstor für eine schlechte wissenschaftliche Praxis gesehen.23 Allerdings wird im Rahmen der Befragung weder spezifiziert, um welche Geldgeber es sich eigentlich handele, noch welche nachteiligen Konsequenzen für die Objektivität wissenschaftlicher Erkenntnisse durch ein solches Abhängigkeitsverhältnis zu befürchten stünden.24 Wie schon eingangs bemerkt, legt die Datenlage empirischer Sozialforschung zumindest für die Bundesrepublik Deutschland nahe, dass Misstrauen in wissenschaftliche Expertise ein Problem inner­ halb einiger sozialer Gruppen darstellt, nicht jedoch übergreifend für die gesamte Bevölkerung zu konstatierten ist. Selbst für die sogenannte Querdenker-Bewegung wird in entsprechenden Untersu­ chungen darauf hingewiesen, dass es sich weniger um eine allgemeine Leugnung wissenschaftlicher Fakten handele, als eher um eine Art gezielter Selektion von Meinungen, welche die eigenen Überzeugun­ gen stützen. Pantenburg et al. führen z.B. an, dass eine populäre Strategie in diesem Umfeld darin bestünde, sich auf »›Überläufer‹, also ehemalige Insider aus der ›Mainstream‹-Wissenschaft« zu beru­ fen (Pantenburg et al. 2021, 23). In diesem Sinne findet auch bei VertreterInnen dieser Gruppierung eine Berufung auf »wissenschaft­ liche« Expertise statt – nur dass diese vermeintliche Expertise eben von vornherein nach Gesichtspunkten ausgewählt wurde, welche die

23 Auf dieses Abhängigkeitsverhältnis weisen auch Naomi Oreskes und Erik M. Con­ way (2012) als einen wichtigen Faktor in ihren wissenschaftshistorischen Fallstudien hin, wenn es um die Untersuchung von Ursachen für eine wissenschaftskritische Haltung innerhalb der (v.a. US-amerikanischen) Bevölkerung geht. Das in diesem Kontext typische Beispiel der beiden Wissenschaftshistoriker ist dabei Forschung, die von der Tabakindustrie finanziert wurde (vgl. ebd., Kap. 5). 24 Es könnte argumentiert werden, dass die genannte Befürchtung tatsächlich kein Misstrauen gegen die wissenschaftlichen Ergebnisse per se begründe, sondern eher auf eine Verzerrung möglicher Forschungsschwerpunkte und sich daraus ergebender Erklärungshypothesen abhebe, welche sich durch eine strategische Ausrichtung der Forschungsaktivität auf der Basis entsprechender Finanzierungen ergeben könnte. Beispielsweise könnte man hier an das medienwirksame Favorisieren bestimmter Impfseren denken, deren Hersteller zuvor finanziell unterstützt wurden.

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bestehenden Überzeugungen unterstützen und nicht kritisch reflek­ tieren sollen.25 Die Mechanismen, die hier zu Tage treten – also das Auswählen, welchen Quellen man sein Vertrauen schenken will, nach Gesichts­ punkten, die sich nach der Suche nach Bestätigung bereits bestehen­ der Überzeugungen richten –, wurde in den letzten Jahren immer wieder mit den Funktionsweisen der Gruppenbildung innerhalb der sozialen Medien in Verbindung gebracht (vgl. Lanier 2018; Pariser 2012; Sunstein 2006; 2007; 2018).26 Insbesondere Cass R. Sunstein diskutiert kritisch die Auswirkungen solcher »Echo-Kammern« auf deliberative Demokratien, indem er auf ihre polarisierenden und radikalisierenden Effekte hinweist (vgl. Sunstein 2018, Kap. 3).27 Die entsprechenden Entwicklungen wirken fragmentierend und gefähr­ den in diesem Sinne das soziale Zusammenleben der BürgerInnen: Social media make it easier for people to surround themselves (virtu­ ally) with the opinions of like-minded others and insulate themselves from competing views. For this reason alone, they are a breeding ground for polarization, and potentially dangerous for both democracy and social peace. (ebd., 71)

Auch wenn eine wissenschaftsskeptische Haltung lediglich im Kon­ text einiger sozialer Gruppen auftritt, kann dies somit nicht als eine grundsätzliche Deeskalation der Problemsituation aufgefasst werden. 25 Es geht damit gerade das kritische Element der wissenschaftlichen Arbeitsweise verloren, das von Karl Popper als eines der wesentlichen Charakteristika dieser Art von Erkenntnissuche hervorgehoben wurde (vgl. Popper 2002, Kap. 1). Jedoch könnte man für die Expertise der »Mainstream«-Wissenschaft ein analoges Argument vorbringen. Auch Ergebnisse aus diesem Bereich können nach strategischen Gesichtspunkten ausgewählt und verbreitet werden. 26 Der Punkt, dass erst durch das Internet eine Alternative zur Verfügung stand, um sich die passenden Quellen in einem nennenswerten Umfang selbst aussuchen zu können, wird diskutiert in Mößner (im Erscheinen). Hier kommt ebenfalls die Annahme zum Tragen, dass mit dieser Quellenwahl ein stärkeres Streben nach epistemischer Autonomie vermeintlich realisiert werden könne. Auch Pantenburg et al. sprechen von einem »knowledge empowerment« innerhalb der sich in den sozialen Medien konstituierenden Gruppen der Corona-Pandemie, womit »einerseits eine Ermächtigung der Protestakteur:innen durch Wissen, andererseits eine Ermächtigung von Wissensinhalten, die im politischen Diskurs bislang unberücksichtigt oder stig­ matisiert sind« gemeint sei (Pantenburg et al. 2021, 25). 27 In Deutschland wurde über die Zeit hinweg eine zunehmende Radikalisierung der TeilnehmerInnen an Protestaktionen gegen die Corona-Maßnahmen der Regierung konstatiert, vgl. z.B. Zeit online (2021a).

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Wie virulent die von Sunstein beschriebenen Dynamiken in Gruppen der sozialen Medien sein können, lässt sich am Problem der zuneh­ menden Radikalisierung von GegnerInnen der Corona-Maßnahmen in Deutschland im zweiten Pandemie-Winter verfolgen.28 Halten wir fest, der auftretende Radikalisierungseffekt innerhalb sozialer Gruppen, die dem von Sunstein beschriebenen Modell der »Echo-Kammern« folgen und sich im Umfeld der Corona-LeugnerIn­ nen, ImpfgegnerInnen und anderer KritikerInnen der Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung konstituiert haben, verdeutlicht, dass diese Entwicklung ernstzunehmende Beachtung verdient, auch wenn es sich dabei nicht um einen bevölkerungsübergreifenden Trend oder um eine umfassende Krise handelt, wie es in der philosophischen Debatte zum Verlust von Vertrauen und Glaubwürdigkeit wissenschaftlicher Expertise häufiger betont worden ist. Deutlich wird ferner, dass bei all diesen sozialen Mechanismen der Aspekt einer vermeintlich geteilten Weltsicht sowie gemeinsamer Werte und deren postulierter Verlust eine wichtige Rolle spielt. Hier kommt der affektive Faktor des Vertrauens zum Tragen, den Lahno in seiner Begriffsdefinition herausgearbeitet hat. Betrachten wir diesen Punkt im Zusammenhang mit der Frage nach den Grün­ den, die im Hintergrund der Entwicklung einer skeptischen Haltung gegenüber klassischer wissenschaftlicher Expertise stehen, im Fol­ genden genauer.

5. Vertrauensfragen – eine Wertediskussion? In der bisherigen Erörterung der Vertrauensfrage in wissenschaftliche ExpertInnen im Kontext der Corona-Krise in Deutschland wurde sichtbar, dass ein entscheidender Punkt im normativen Bereich zu lie­ gen scheint. Vertrauen wird entzogen, wenn die Meinung dominiert, dass die bisherigen Vertrauenspersonen nicht mehr zur gleichen Wer­ tegemeinschaft zählen. Ebenso werden neue vermeintliche ExpertIn­ nen gekürt und mit Vertrauen belohnt, wenn sie als VertreterInnen einer geteilten Weltsicht wahrgenommen werden. Dass Werte und Werturteile bei der Frage nach der Glaubund Vertrauenswürdigkeit wissenschaftlicher Expertise eine wichtige Rolle spielen, hat u.a. Philip Kitcher ausführlich diskutiert (vgl. 28

Vgl. z.B. Zeit online (2021b; 2021c).

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Kitcher 2011, Kap. 1, 2). Er sieht hierin einen von drei möglichen Faktoren, welche die Autorität der Wissenschaften zu unterminie­ ren drohen: Schuld ist vielmehr erstens der auf Wissenschaftler ausgeübte Zwang, sich zu dringlichen Fragen zu äußern, ehe ein klar artikulierter Konsens gegeben ist, der in unkomplizierter Sprache vorgestellt und begründet werden kann; zweitens die Funktionsweise der ›Prestigewirtschaft‹, die den Verfahrensweisen wissenschaftlicher Gemeinschaften zugrunde liegt; und drittens die unvermeidliche Vermischung von wissenschaft­ licher Arbeit und Werturteilen. (Kitcher 2012, 212)

Bei letzteren betont Kitcher, dass es nicht darum gehen könne, auf das Ideal einer vollkommen wertfreien Wissenschaft zu setzen,29 sondern dass es auf die Auswahl von in einem demokratischen Staat mehrheitlich präferierten Werten ankomme. In der gegenwärtigen Pandemiesituation in Deutschland stellt sich die öffentliche Diskussion nun in der Tat als eine solche um Werte kreisende Debatte dar. Dabei lassen sich verschiedene Diskurs­ linien voneinander abgrenzen. Eine erste wurde bereits genannt: VertreterInnen wissenschaftsskeptischer Gruppierungen entziehen klassischen ExpertInnen ihr Vertrauen und investieren dieses in vermeintliche WissensträgerInnen, die ihre Weltsicht teilen, wobei letztere dann z.B. von einem Misstrauen in etablierte Institutionen geprägt ist, motiviert u.a. durch ein als elitär und selbstgefällig wahr­ genommenes Gebaren der VertreterInnen dieser Einrichtungen.30 In diesem Zusammenhang machte der Vorwurf einer »Expertokra­ tie« medial die Runde (vgl. z.B. Bogner 2021b), d.h. einer Kritik daran, dass demokratische Staaten in der Corona-Pandemie von wissenschaftlichen ExpertInnen gelenkt würden und nicht mehr von gewählten VolksvertreterInnen. Alexander Bogner (2021a) diskutiert diese Befürchtung kritisch, stützt aber die These, dass im öffentlichen Diskurs das Faktenwissen der NaturwissenschaftlerInnen dominiere, welches von vielen BürgerInnen aber nicht verstanden werde. In Für ein solches plädiert beispielsweise Gregor Betz (2013). Eine solche Sichtweise als Problemkonstituente hält auch Kitcher im Zusammen­ hang mit der breiteren These eines zunehmenden Vertrauensverlustes in wissen­ schaftliche Expertise fest: »The specific worries present sciences as a threat; scientism conjures the image of scientists as overambitious and arrogant. Prominent episodes in recent public discussions of various sciences suggest that scientific inquiry is inevitable prejudiced, biased by individual aspirations or political allegiances« (Kitcher 2011, 19). 29

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Reaktion darauf würde den als opak und belehrend empfundenen Kenntnissen klassischer ExpertInnen Entscheidungen des Bauchge­ fühls, Emotionen und Esoterik entgegengesetzt (vgl. ebd., 114f.).31 Darüber hinaus lässt sich noch ein zweiter Typ der Wertedis­ kussion im Umfeld der Corona-Krise aufzeigen, welcher die wis­ senschaftlichen ExpertInnen selbst betrifft. Weiter oben wurde auf Goldmans Problem der Identifikation von Experten durch Laien hin­ gewiesen. Die darin skizzierte Schwierigkeit wurde in der bisherigen Vertrauens(bruch)-Debatte in der Corona-Pandemie immer wieder rezitiert: Ein wissenschaftlicher Laie sähe sich mit dem Problem kon­ frontiert, eine begründete Wahl zwischen zwei vermeintlichen Exper­ tenmeinungen zum selben Thema treffen zu müssen, ohne selbst über ein entsprechendes Hintergrundwissen im relevanten Bereich zu ver­ fügen. Wie schon dargestellt wurde, besteht gegenwärtig jedoch kein solch substantieller Expertenstreit zwischen VertreterInnen derselben Disziplin. Wir haben also keinen Fall eines klassischen »Peer-Dis­ agreements« (vgl. Frances/Matheson 2019) vorliegen. Stattdessen vertreten WissenschaftlerInnen unterschiedlicher Disziplinen öffentlich ihre Forschungsmeinungen zu Fragen der Corona-Pandemie, die allerdings im Zusammenspiel tatsächlich konfligieren. Und dieser Konflikt kann wiederum oftmals darauf zurückgeführt werden, dass in den Disziplinen verschiedene Werte in den Vordergrund gerückt wer­ den. Ein deutliches Beispiel findet sich in den Beiträgen der Kinderund JugendpsychologInnen, die nachdrücklich auf die negativen men­ talen Folgen fortgesetzter Schulschließungen hingewiesen haben und daher dafür plädieren, diese Einrichtungen von zukünftigen Lock­ down-Maßnahmen auszunehmen (vgl. z.B. Fegert 2021). Hier steht eindeutig das Kindeswohl im Vordergrund, während im Zusammen­ hang mit übergreifenden Lockdown-Maßnahmen v.a. das Argument vorgebracht wurde, eine Überlastung des Gesundheitssystems zu ver­ meiden, womit die Sicherstellung der übergreifenden Gesundheits­ versorgung als Wert betont wird. Auch Peter Weingarts Überlegungen zur Rolle von wissenschaft­ lichen ExpertInnen als PolitikberaterInnen in der Pandemiezeit stellen 31 Unabhängig davon kann kritisch diskutiert werden, wie viel Einfluss wissenschaft­ lichem Faktenwissen auf die normativen Entscheidungen der (Gesellschafts-)Politik eingeräumt werden kann oder sollte bzw. welche Faktoren darüber hinaus in Betracht gezogen werden müssen, um diese Art von Entscheidungen in demokratischen Staaten treffen zu können.

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den Punkt konfligierender Werthaltungen unterschiedlicher akade­ mischer Disziplinen heraus, wenn er schreibt: Abhängig von der anstehenden Problemlage werden zunächst die Experten gehört, deren Kompetenz am relevantesten erscheint. Was als relevant gilt, kann sich jedoch ändern. Bestes Beispiel dafür ist die Verschiebung des Pandemieproblems von der virologischen und epidemiologischen Verbreitungs- und Ansteckungsgefahr hin zur Wahrnehmung wirtschaftlicher Auswirkungen und damit vom Rat der Virologen zu dem der Ökonomen. (Weingart 2021, 32)

ExpertInnen unterschiedlicher Disziplinen wird zu verschiedenen Zeitpunkten der Pandemielage unterschiedlich stark Gehör geschenkt – sowohl seitens der Politik als auch seitens der Öffentlichkeit. Wein­ gart greift exemplarisch VertreterInnen aus den Bereichen Virologie und Wirtschaftswissenschaften heraus. Es ist verständlich, dass ForscherInnen aus der Perspektive ihres Faches heraus argumentieren. Letztlich ist es ja genau das, was von den Ratsuchenden als Erwartungshaltung an sie herangetragen wird. Dadurch wird jedoch neben dem Faktenwissen der unterschiedlichen Disziplinen auch das Wertverständnis dieser Fachkulturen transpor­ tiert. Und gerade diese Werte scheinen nun in diesem Diskussionszu­ sammenhang und vor den Augen der Öffentlichkeit in Konkurrenz zueinander zu treten. Was sich hier beobachten lässt, ist ein öffentlich ausgetragener Wertekonflikt zwischen klassischen ExpertInnen, der auftritt, da es kein festgelegtes Hierarchiesystem für diese Wertfragen im demokratischen Staat zu geben scheint.32 Im Kontext dieses zweiten Typs einer Wertediskussion während der Corona-Pandemie handelt es sich durchaus um Werte, die im Einklang mit der demokratischen Grundauffassung stehen und in den verschiedenen Fachkulturen der akademischen Welt fest verankert zu sein scheinen. Die Spezialisierung innerhalb des Wissenschaftssys­ tems und die Diversifizierung der Fächer ermöglichte bisher ein eher unauffälliges Nebeneinanderbestehen der alternativen Werte. Nun führt die Corona-Pandemie diese in der öffentlichen Wahrnehmung wieder zusammen, denn es wurde klar, dass die durch den neuen Virus hervorgerufene Ausnahmesituation auf nationaler Ebene nur 32 Besonders drastisch trat dieses Problem zu Tage, als der ehemalige Präsident des Deutschen Bundestages, Wolfgang Schäuble, im Interview die Meinung äußerte, dass der Schutz des Lebens nicht als oberster zu verteidigender Wert im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie gelten könne (vgl. Schäuble 2020).

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im Zusammenspiel aller Teilbereiche des demokratischen Staates und international nur durch die Kooperation der Staaten insgesamt nach­ haltig bewältigt werden kann. Zurückkommend auf die Wertkonflikte der verschiedenen aka­ demischen Fächer lässt sich festhalten, dass sich die gegenwärtige Lage so darstellt, dass zwar sehr wohl demokratische Werte von den wissenschaftlichen ExpertInnen in den Fokus gerückt werden (z.B. Schutz des Kindeswohls, Schutz des Lebens, Schutz der allgemeinen Gesundheitsversorgung, Schutz des Rechts auf Bildung, Schutz einer freien Berufswahl usw.), diese aber, da als gleichrangig von den jewei­ ligen VertreterInnen postuliert, notwendig miteinander in Konkur­ renz geraten müssen. Insofern kann Kitchers Punkt erneut aufgegrif­ fen werden, dass Werturteile eine Rolle in den Wissenschaften spielen und dass es dabei um demokratische Werte gehen müsse. Es zeigt sich aber auch, dass letzteres Kriterium allein nicht hinreichend ist, um eine Auswahl festzulegen. Was derzeit zu fehlen scheint, ist gerade die Mehrheitsentscheidung, welche in Kitchers Modell eine Selektion und Hierarchisierung von Werten begründen würde. Da eine solche öffentliche Stellungnahme derzeit nicht vorliegt, könnte man einen Ausweg darin sehen, jemanden bezüglich dieser Auseinandersetzung um Werte um Rat zu fragen. Gibt es eine solche Ansprechperson? Gibt es ExpertInnen für Wertfragen?

6. Die Rolle der PhilosophInnen Eine naheliegende Antwort auf diese Fragen liegt im Verweis auf die PhilosophInnen, und es hat den Anschein, dass sich diese Ansicht im Zuge der Corona-Pandemie mehr und mehr durchgesetzt hat. Beispielsweise wurden in kaum einem anderen Diskussionszusam­ menhang die Mitglieder des deutschen Ethikrates so häufig öffentlich angehört wie im Kontext von gesellschaftspolitischen Fragestellungen bedingt durch SARS-CoV-2.33 33 Vgl. Deutscher Ethikrat (2021). Angemerkt werden muss freilich, dass aus der gesteigerten Aufmerksamkeit für dieses Gremium noch nicht darauf geschlossen werden kann, dass die dort vorgebrachten Meinungen tatsächlich auch Einfluss auf die gesellschaftspolitische Entscheidungsfindung zu den pandemiebezogenen Frage­ stellungen hatten. Dennoch unterstreicht der Fakt der gesteigerten Aufmerksamkeit für den Ethikrat und seine Stellungnahmen, dass in der allgemeinen Suche nach

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Doch was können PhilosophInnen in diesem Zusammenhang überhaupt leisten? Wenn letztlich ein Streit um Werte und um eine plausible Hierarchisierung derselben im Hintergrund der gegenwär­ tigen Auseinandersetzungen stehen und nicht eine faktenbezogene Debatte divergierender Expertenmeinungen, können PhilosophInnen dann als RatgeberInnen auftreten, weil sie in diesem Umfeld über eine nennenswerte inhaltliche Kompetenz und entsprechende Fähigkeiten verfügen, wie diese in der Definition des Expertenbegriffs bei Gold­ man gefordert wurden? Schon seit Längerem besteht eine philosophische Auseinander­ setzung über die allgemeine Frage, ob es moralische ExpertInnen geben könne und ob PhilosophInnen diese Rolle übernehmen könn­ ten. An dieser Stelle sei auf die Untersuchung von Martin Hoff­ mann (2012) zum Thema verwiesen, dessen Analyse sich ebenfalls auf den von Goldman erarbeiteten Expertenbegriff stützt.34 Hoffmann diskutiert kritisch, inwieweit Goldmans Kriterienliste zur Identifizie­ rung wissenschaftlicher ExpertInnen auch im Zusammenhang mit Ratgebern bezüglich moralischer Fragen Anwendung finden könne. Er kommt dabei zu einem durchweg negativen Ergebnis. Sein stärks­ ter Einwand besteht dabei darin, dass die von Goldman vorgelegte Differenzierung zwischen esoterischem und exoterischem Wissen im Kontext moralischer Fragen nicht fruchtbar gemacht werden könne. Goldman sieht durch diese Unterscheidung die Möglichkeit begründet, dass ein Laie auf die vergangene Erfolgsgeschichte eines vermeintlichen Experten schließen könne, wenn sich nämlich dessen getroffenen Vorhersagen in einer entsprechenden Anzahl von Fällen als zutreffend herausgestellt hätten. In diesem Faktor sieht Goldman das zuverlässigste Entscheidungskriterium, das ein Laie bei der Beur­ teilung divergierender Expertenmeinungen anwenden könne (vgl. Goldman 2011, 126ff.). Während es im naturwissenschaftlichen Umfeld tatsächlich möglich sei, dass im Laufe der Zeit auch von Laien beurteilt werden könne, ob bestimmte Vorhersagen vermeintlicher ExpertInnen sich als wahr herausgestellt haben oder nicht, sei dies, so Hoffmann, im Zusammenhang mit moralischen Fragen nicht möglich, weil es Orientierung diesem Gremium seitens der Öffentlichkeit und der Politik das Potential zugeschrieben wird, wichtige klärende Beiträge zur Debatte zu liefern. 34 Weitere Beiträge zum Thema »moralische Expertise der PhilosophInnen« finden sich in Selinger/Crease (2006).

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die entsprechenden Äquivalente von Vorhersagen und allgemeinen Fakten als Prüfinstanzen in diesem Bereich nicht gäbe (vgl. Hoffmann 2012, 304f.).35 Die Heterogenität moralischer Theorien böte nicht die notwendige Grundlage, um eine solche konsensuale Praxis zu ermög­ lichen. Auch wenn Hoffmann vor diesem Hintergrund letztlich gegen die Möglichkeit argumentiert, dass Laien moralische ExpertInnen sicher identifizieren könnten,36 hält seine Analyse doch ein positives Ergebnis bereit: Seine Untersuchung legt nämlich offen, dass es zwar nicht um eine inhaltlich auf moralische Fragen ausgerichtete epistemische Autorität der PhilosophInnen gehen könne, sie aber durchaus Kompetenzen und Kenntnisse mitbrächten, die eine Orien­ tierungsgebung im Kontext von Wertkonflikten erlaubten. Hoffmann differenziert nämlich weiter zwischen moralischen und ethischen ExpertInnen und schreibt den PhilosophInnen letztere Rolle zu: »The ethics expert possesses competences in science and logic that must not be equated with genuine moral competences. In the domain of morality, the ethics expert can only make justified contributions to explicate and clarify moral problems« (ebd., 311). Die Fähigkeit, moralische Probleme zu explizieren und zu klären, scheint doch gerade die Wurzel der genannten Wertdebatten zu treffen. Aufzuzeigen, dass es sich um solche handelt und eben nicht um faktenbasierte Uneinigkeiten wissenschaftlicher ExpertInnen, stellt einen wichtigen ersten Schritt dar, um sich begründet von der Annahme einer generell wissenschaftsfeindlichen Stimmung lösen zu können, deren Ursprung in einem klassischen faktenbasierten Man mag einwenden, dass die von Goldman angeführte zeitlich verzögerte Über­ prüfbarkeit auch im Falle naturwissenschaftlicher Ergebnisse nicht so häufig gegeben ist, als dass hieraus ein nutzbares Kriterium zur Orientierung des Laien generiert werden kann. Viele Experimente können nur im Laborumfeld wiederholt werden, und viele Erklärungshypothesen setzen gerade in den sich immer stärker spezialisierenden Fachwissenschaften ein hohes Maß an Hintergrundwissen voraus, um sie verstehend beurteilen zu können. Dazu sei angemerkt, dass Goldman keines der von ihm diskutierten Kriterien als alleinig hinreichend für eine klare Entscheidungsfindung betrachtet. Alle Kriterien dienen lediglich der Orientierung des Laien in der beschrie­ benen Problemsituation. Goldman möchte damit v.a. betonen, dass es nicht korrekt wäre zu beklagen, dass einem Laien »kein« Kriterium in der Entscheidungssituation zur Verfügung stünde. 36 Er spricht sich explizit nicht gegen die Möglichkeit des Bestehens moralischer Expertise (ontologische Frage) aus, sondern wendet sich lediglich kritisch dem episte­ mologischen Problem ihrer Identifizierung zu (vgl. Hoffmann 2012, 312). 35

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Expertenstreit à la Goldman gesehen wird. Darüber hinaus können die Analysekompetenzen der PhilosophInnen dazu genutzt werden, die unterschiedlichen Werte in den jeweiligen Fachkulturen offenzulegen, ihren Ursprung und Einfluss aufzuzeigen und in eine Diskussion über das Allgemeinwohl in einem demokratisch verfassten Staat strukturiert einfließen zu lassen. Allerdings geht mit der Wahrnehmung einer solchen Rolle im öffentlichen Diskurs einher, dass sich die VertreterInnen dieser Pro­ fession darüber im Klaren sein sollten, dass ihr Verhalten nicht minder kritisch begutachtet werden wird als jenes der naturwissen­ schaftlichen KollegInnen. Auch für sie gilt daher die Ermahnung, die aus Kitchers Drei-Punkte-Liste spricht, welche Art von Verhalten zu vermeiden ist, um das Vertrauen der Laien nicht leichtfertig aufs Spiel zu setzen, und zwar nicht erst, wenn man im Licht der Öffentlichkeit steht. Dazu gehört eben auch, die Werbetrommel, die man vielleicht im akademischen Ranking-Spiel zu rühren gewöhnt wurde, wieder gegen die begründete Argumentation einzutauschen. PhilosophInnen können wichtige Beiträge zu Fragestellungen leisten, die im Umfeld der Corona-Pandemie neu oder verstärkt auftreten. Corona-Forschung allerdings bleibt Aufgabe der VirologInnen und MedizinerInnen.

7. Resümee Im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie wurde wiederholt der Hinweis laut, dass wissenschaftliche ExpertInnen zunehmend an Glaubwürdigkeit und Vertrauen in der Bevölkerung verlören. In der zugehörigen Debatte wird nach Gründen für diese Entwick­ lung gesucht sowie nach Möglichkeiten einer Wiederherstellung der demontierten Relation zwischen ExpertInnen und Laien, beispiels­ weise durch eine Ersetzung der emotional aufgeladenen Vertrauens­ beziehung durch eine neutralere Relation des Sich-Verlassens. Im vorliegenden Beitrag wurden Vorschläge dieser Art genauer untersucht, und es wurde aufgezeigt, dass derartige Umstrukturierun­ gen vor dem Hintergrund einer vormals bestehenden Vertrauensbe­ ziehung und der sie auszeichnenden affektiven Komponente wenig erfolgversprechend erscheinen. Mittels Lahnos detaillierter Analyse des Vertrauensbegriffs wurde offengelegt, dass besagter affektiver Faktor in der Corona-Pandemie bestimmt wird durch die Wahrneh­ mung einer geteilten Weltsicht. Die Suche nach vermeintlich »neuen«

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ExpertInnen im Umfeld von Verschwörungstheorien etc. und die Abwendung von klassischen ExpertInnen aus dem Bereich der Natur­ wissenschaften scheinen v.a. mit diesem Punkt zusammenzuhängen. Ferner wurde herausgearbeitet, dass die oftmals als Grund für Wissenschaftsskepsis angeführten und vor den Augen der Öffent­ lichkeit ausgetragenen Debatten zumindest gegenwärtig primär von Wertstreitigkeiten geprägt zu sein scheinen, wobei diese Werte aus den Fachkulturen der jeweils beteiligten Wissenschaftszweige stam­ men. Es handelt sich demnach nicht um einen klassischen Fall des Peer-Disagreements, wie Vergleiche mit der Debatte zum Klimawan­ del nahelegen, sondern um die Frage, wie die unterschiedlichen Werte, die in einer demokratischen Gesellschaft eine Rolle spielen und die in der relevanten wissenschaftlichen Disziplinen reflektiert werden, zueinander gewichtet werden sollen. Abschließend wurde dafür argumentiert, dass PhilosophInnen als ethische ExpertInnen ihre Fachkompetenzen einbringen können, um besagte Wertkonflikte analysieren und strukturieren zu helfen. Sie müssen dann allerdings reflektieren, dass an sie die gleichen Maß­ stäbe angelegt werden wie an (natur-)wissenschaftliche ExpertInnen, die eine beratende Funktion im öffentlichen Diskurs übernehmen.

Danksagung Ich danke den Herausgebern für einige hilfreiche Kommentare zu einer früheren Fassung dieses Beitrags.

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Christoph Jäger

Falsche Autoritäten

1. Einleitung Die SARS-CoV-2-Pandemie hat seit ihrem Auftreten Anfang 2020 weltweit nicht nur eine Reihe medizinischer, ökonomischer, sozialer und bildungstechnischer Probleme hervorgebracht oder verstärkt. Sie mündete auch in eine Krise der Autoritäten. Viele Kritiker:innen lehnen dabei nicht nur die von politischen Entscheidungsträgern beschlossenen Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung ab, sondern verwerfen auch die von ihnen herangezogenen Analysen, Diagnosen und Ratschläge wissenschaftlicher Expert:innen.1 Interessanterweise erweist sich diese Haltung jedoch offenbar oft nicht als Reflex einer allgemeinen Autoritätsskepsis. Vielmehr geht sie vielfach damit ein­ her, Personen ohne oder mit bestenfalls geringer Expertise in den betreffenden Fachgebieten auf den Schild zu heben – Akteure, die gleichwohl vorgeben, es besser zu wissen, und denen es gelingt, sich trotz ihrer faktischen Ignoranz erfolgreich in öffentlichen Dis­ kursen als Autoritäten zu inszenieren. (Wir erinnern uns etwa an Kuriositäten wie die Empfehlung, als Schutz vor Covid-19-Erkrankungen oder zu ihrer Behandlung Chlordioxid oder ein bestimmtes Pferde-Entwurmungsmittel einzunehmen. Nicht wenige, die schul­ 1 Für Diskussionen dieser These vgl. etwa die journalistischen Beiträge von Mayr (2021) oder Lintl (2020). Ein gutes Beispiel für die Idee, dass staatliche CoronaGegenmaßnahmen auf autoritäre und moralisch unzulässige Weise die Autonomie von Bürger:innen einschränken oder zerstören, ist das Buch von Becker (2021). Budnik (2021, 26) diagnostiziert, dass den verschiedenen Formen von »Corona-Skepsis« ein Merkmal gemeinsam sei, nämlich »in der einen oder anderen Form den medizi­ nisch-epidemiologischen Stand der Dinge und das dahinterstehende Paradigma der evidenzbasierten Wissenschaft anzuzweifeln.« Ähnlich spricht Schmidt (2021) von einem »Misstrauen in wissenschaftliche und politische Autoritäten« im Zuge der Corona-Krise (103) und davon, dass uns diese auf »eine grundlegende Krise des intel­ lektuellen Vertrauens« aufmerksam mache (102, vgl. auch 98). Viele dieser Diagnosen lassen sich in meiner Terminologie beschreiben als eine Krise epistemischer Autorität.

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medizinische Empfehlungen zur Vorbeugung oder Behandlung von Covid-19-Erkrankungen ablehnen, sind solchen Aufrufen gefolgt; es gab Todesfälle.) Ich nenne Meinungsmacher:innen, die fachlich nicht oder nur wenig kompetent sind, doch denen es gelingt, sich bei einer signifikant großen Gefolgschaft Gehör zu verschaffen, »falsche epistemische Autoritäten«, oder kurz: falsche Autoritäten. In diesem Essay diskutiere ich das Phänomen der falschen Autoritäten, indem ich zunächst echte, genuine epistemische Autoritäten (kurz: Autoritä­ ten) charakterisiere und sodann darlege, welche Merkmale genuiner Autoritäten falschen Autoritäten fehlen. Unter dem Oberbegriff der falschen Autorität gilt es sodann, weitere Unterscheidungen zu treffen, für die ich die Begriffe der Schein-Autorität, der Pseudo-Autorität und der Fake-Autorität2 ein­ führe. Daneben ist das Phänomen der schlechten Autoritäten zu berücksichtigen, und es sind Fälle zu unterscheiden, in denen die falsche Autorität selbst glaubt, die betreffenden autoritätsverleihen­ den Kompetenzen zu besitzen, obwohl sie ihr in Wahrheit fehlen, und Fälle, in denen sie ihre Klientel bewusst über diese Kompetenzen täuscht und ohne den Glauben, kompetent zu sein, bzw. sogar in dem Glauben, nicht kompetent zu sein, vorgibt, solche Kompetenzen zu besitzen. Obwohl falsche Autoritäten typischerweise viel Falsches sagen und denken, sei gleich darauf hingewiesen, dass der Terminus nicht etwa eine sogenannte veritistische Explikation von »Autorität« nahe­ legen soll, die das Wesen epistemischer Autorität auf Wissensvor­ sprünge oder Vorsprünge in der Menge der wahren Überzeugungen gegenüber Laien, Novizen oder anderen epistemisch weniger fortge­ schrittenen Akteuren beschränkt. »Falsche Autoritäten« soll nicht einfach heißen »Autoritäten mit falschen Überzeugungen«. Vielmehr wird »falsch« hier gebraucht wie in »falsche Freunde«. Falsche Freunde sind keine Freunde, denn bei näherem Hinsehen stellt sich heraus, 2 Sprachpuristen dürften den »denglischen« Ausdruck »Fake-Autorität« missbilligen. Mitglieder des Vereins Deutscher Sprache etwa stemmen sich wacker gegen das Einsickern von Anglizismen und vor allem, wie es heißt, von »Denglisch« ins Deutsche. Interessanterweise bekämpft der Verein laut eigener Aussage in einer »AG Gendersprache« auch, wie es heißt, die »Genderlobby« und »gendergerechte« Sprache, wie auch ich sie in diesem Essay zustimmend verwende (s. https://vds-ev.de, zuletzt aufgerufen am 01.10.2022). Da es offenbar nicht ganz leicht ist, Anglizismen und »Denglisch« zu vermeiden, mögen Wachtmeister:innen der deutschen Sprache Nachsicht mit meiner Terminologie üben.

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dass sie das Vertrauen, das man in sie hat oder hatte, nicht verdie­ nen und legitime Erwartungen nicht erfüllen. Von epistemischen Autoritäten erwartet man zwar in der Tat oft, dass sie Wissen oder wahre Überzeugungen mit uns teilen, und Diskussionen epistemi­ scher Autorität haben diese epistemischen Güter traditionell in den Vordergrund gestellt (s. etwa Zagzebski 2012). Doch es gibt andere epistemische Errungenschaften und Ziele, darunter insbesondere Verstehen. Falls sich, wie viele Autor:innen in jüngerer Zeit argumen­ tiert haben, Verstehen nicht auf Wissen oder wahre Überzeugung reduzieren lässt, dann gilt es somit u.a., Verstehens-Autoritäten von Wissens-Autoritäten zu unterscheiden.3 Dies wirkt sich auch auf die Charakterisierung falscher Autoritäten aus: Viele falsche Autoritäten geben nicht nur vor (und glauben es manchmal tatsächlich auch), einen signifikanten Vorsprung an relevantem Wissen zu haben, das ihnen in Wahrheit fehlt, sondern gerieren sich auch so, als ob sie einen Verstehensvorsprung hätten, auch wenn sie ihn faktisch nicht besitzen. Ich kann hier aus Platzgründen nicht näher auf die Debatte um die Beziehung zwischen Wissen und Verstehen eingehen, werde die folgende Diskussion jedoch für unterschiedliche, darunter auch nicht auf Wissen und wahre Überzeugung reduzierbare epistemische Güter offenhalten. Der oft diagnostizierte Vertrauensverlust gegenüber Autoritä­ ten, so hatte ich gesagt, betrifft u.a. praktische Autoritäten wie Politiker, die Kosten-Nutzen-Abwägungen und unpopuläre Entschei­ dungen zur Pandemiebekämpfung treffen müssen; aber er betrifft auch Verwaltungen, Behörden, Leitungs- und Exekutivorgane, die diese Entscheidungen um- und durchsetzen müssen. Reisebeschrän­ kungen, Lockdowns, »Maskenpflicht«, Test- und Impfpflichten, Aus­ gangssperren, Quarantäne-Regelungen und andere Einschränkungen bürgerlicher Selbstbestimmung rufen bei vielen Bürger:innen Ableh­ nung und Frustration hervor und münden vielfach in Versuche, die beschlossenen Gesetze und Verordnungen zu umgehen. Zugegeben, einiges ist nicht gut gelaufen: Die eine oder andere lokale Maß­ nahme mag rückblickend wie ein Schildbürgerstreich anmuten; und Korruptionsskandale etwa bei der staatlichen Auftragsvergabe zur Beschaffung medizinischer Güter zur Pandemiebekämpfung haben 3 Einige Autor:innen argumentieren, dass zumindest für epistemische Autoritäten eines bestimmten Typs das Fördern von Verstehen nicht nur eine unter vielen epistemischen Aufgaben, sondern die entscheidende Aufgabe ist (Jäger 2016; Croce 2018; Jäger/Malfatti 2021).

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nicht eben dazu beigetragen, Vertrauen in »die Politik« zu fördern. Im Folgenden soll es jedoch weder um praktische Skandale noch um psychologische oder andere kausale Erklärungen dafür gehen, warum bestimmte tatsächliche oder vermeintliche Phänomene im Kontext der Pandemie Menschen in die Arme falscher Autoritäten treiben. Um solche Diskussionen in hinreichender Klarheit führen zu kön­ nen, bedarf es vielmehr zunächst einer Klärung dessen, was falsche Autoritäten sind, was sie von echten und was gute von schlechten Autoritäten unterscheidet. Die eben genannten Beispiele illustrieren ein Aufbegehren zivil­ gesellschaftlicher Akteure gegen praktische Autoritäten. Grob gesagt, ist ein Akteur A eine praktische Autorität gegenüber einem ande­ ren Akteur S, wenn A kraft seiner sozialen oder institutionellen Rolle Handlungs-Direktiven (wie Imperative, Aufforderungen, Bit­ ten) gegenüber S geltend machen und durchsetzen kann. Die Beteilig­ ten sind einzelne Akteure oder Gruppen von Akteuren. Praktische Autoritäten stützen sich indessen oft auf theoretische bzw. speziell epistemische Autoritäten: auf epistemische Akteure, die in den rele­ vanten Bereichen einen signifikanten epistemischen Vorsprung haben oder von denen man dies zumindest annimmt. Halten wir in einem ersten Schritt fest, dass ein (individueller oder pluraler4) Akteur A, der in einer bestimmten Domäne eine epistemische Autorität gegenüber einem (individuellen oder pluralen) Akteur S ist, sich S gegenüber in dieser Domäne tatsächlich oder – je nachdem, wie man den Begriff der Autorität im Einzelnen bestimmt – zumindest aus der Sicht von S im Hinblick auf bestimmte epistemische Güter in einer epistemisch superioren Position gegenüber S befindet. Diese erste Charakterisierung gilt es in verschiedenen Punkten zu erläutern und zu präzisieren.

2. Merkmale epistemischer Autorität5 (i) Personale und nicht-personale Autorität: Der Ausdruck »Autori­ tät« bezieht sich nicht nur auf Personen, sondern auch auf Nichtper­ sonales wie etwa Theorien, Lehren, Doktrinen, Traditionen usw. Da Diese Terminologie folgt Hauswald (unveröffentlicht). Die folgenden Überlegungen werden ausführlicher entwickelt in Jäger (im Erschei­ nen). 4

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solche Entitäten Produkte personaler epistemischer Akteure sind, ist der personale Sinn jedoch fundamentaler, und von nun an werde ich meist in diesem Sinn von »Autorität« sprechen. Dabei ist eine Person eine epistemische Autorität gegenüber anderen, wenn sie aufgrund bestimmter Eigenschaften, die sie besitzt oder die ihr zugeschrieben werden, ihnen gegenüber epistemische Autorität hat. (ii) Individuelle versus Gruppenautorität: Wie Autorität im All­ gemeinen ist auch epistemische Autorität nicht auf einzelne Indivi­ duen beschränkt. Wir erwerben autoritative Informationen auch von pluralen Akteuren wie Spezialisten-Teams, Wissenschaftler-Gemein­ schaften usw. Dies wirft eine Reihe spezifischer Fragen auf: Wie etwa verhält sich die Autorität einer Gruppe als ganzer zu den individuellen Autoritäten ihrer einzelnen Mitglieder? Wie lassen sich autoritative Gruppenüberzeugungen im Einzelnen rekonstruieren? Kann jemand allein aufgrund einer Gruppenzugehörigkeit epistemische Autorität für andere besitzen? Solche Fragen können hier nicht verfolgt wer­ den,6 doch viele Ergebnisse der folgenden Diskussion lassen sich, mutatis mutandis, auch auf kollektive epistemische Autorität anwen­ den. (iii) Zeitrelativität: Autoritätsbeziehungen sind endlich und ver­ änderbar. A kann seinen epistemischen Vorsprung gegenüber S ver­ lieren (z.B. wenn S mit A epistemisch »gleichzieht« oder sich das Verhältnis umkehrt und S zur Autorität gegenüber A wird). Dies mag nicht oft geschehen, insbesondere sind Laien oft nicht in der Lage, jemals hinreichende Expertise auf dem betreffenden Fachgebiet zu erlangen. Das ändert jedoch nichts daran, dass Autoritätsrelationen vergänglich sind. A steht zu einem gegebenen Zeitpunkt oder in einem bestimmten Zeitraum t in der Beziehung der epistemischen Autorität zu S. (iv) Irreflexivität: Man ist – zu einem gegebenen Zeitpunkt – keine Autorität gegenüber sich selbst. Vielleicht können wir episte­ mische Autorität gegenüber dem eigenen Selbst-zu-anderen-Zeiten besitzen. (Wir beziehen uns auf unser diachrones Selbst, wenn wir sagen: »Jetzt weiß ich es besser als damals!«) Weil jedoch Autorität Superiorität voraussetzt, ist aus begrifflichen Gründen ausgeschlos­ sen – zumindest, wenn man Fälle dissoziativer Identitätsstörungen (»Persönlichkeitsspaltung«), beiseitelässt –, dass eine Person in einer 6 Für erste Vorstöße in das Thema kollektive epistemische Autorität s. Zagzebski (2012), Kap. 7; Hauswald (unveröffentlicht); oder Croce (2019).

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epistemisch überlegenen Position gegenüber ihrem eigenen synchro­ nen Selbst ist. So, wie niemand größer sein kann als er oder sie selbst, so kann (mit den genannten Einschränkungen) auch niemand eine Autorität für sich selbst sein. (v) Universale, unübertroffene und einzigartige Autorität: Typi­ scherweise ist eine Autorität, auch wenn sie anderen in einer bestimmten Domäne und hinsichtlich der Akquise oder Pflege eines bestimmten epistemischen Gutes voraus ist, ihnen in anderen Domä­ nen nicht überlegen. Allgemein sind zumindest menschliche Autori­ täten keine universalen Autoritäten in dem Sinne, dass sie anderen in allen Fragen aus allen Domänen epistemisch voraus wären. Sehr wohl gibt es dagegen Autoritäten in einer gegebenen Domäne, die dort niemanden mehr epistemisch »über sich« haben. Solche Autoritäten nenne ich, relativ zu der betreffenden Domäne und zu bestimmten epistemischen Gütern, unübertroffene Autoritäten. Eine unübertroffene Autorität für jemanden zu sein, schließt nicht aus, dass es andere, epistemisch ebenbürtige Autoritäten in der Domäne und bzgl. des jeweiligen epistemischen Gutes gibt. Wenn dies für eine unübertroffene Autorität nicht der Fall ist, ist sie für ihre Klientel eine einzigartige Autorität.7 Man beachte, dass A für S weder eine universale noch eine unübertroffene noch eine einzigartige epistemische Autorität sein muss, um für S schlicht eine epistemische Autorität zu sein. (vi) Komparativität: In diesem Kontext ist auch das Problem miteinander konfligierender Autoritäten zu erwähnen. Oft halten wir es für sinnvoll, eine »zweite Meinung« (ggf. eine dritte, vierte …) einzuholen, doch vielfach treffen wir dann auf widerstreitende Autoritäten. Wem sollen wir glauben? Manchmal entspannen sich die Meinungsverschiedenheiten mit der Zeit und die Streitenden nähern sich einander an. Doch es gibt auch, wie bei Dissensen zwischen epistemisch Ebenbürtigen, sogenannten epistemic peers, tiefe und persistierende Meinungsverschiedenheiten zwischen Auto­ ritäten. Dies kann die Wahl, wem man glauben soll, erschweren oder verunmöglichen. In anderen Fällen stellt sich irgendwann heraus (oder verstärken sich die Indizien dafür), dass einige Autoritäten bes­ ser sind als andere, d.h. relativ zu uns einen größeren epistemischen Vorsprung haben. Haben wir die Wahl zwischen erkennbar besseren 7 Vgl. zu diesen Unterscheidungen auch De George (1985, 21, und passim), der jedoch teils eine andere Terminologie verwendet.

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und schlechteren Autoritäten, so sollten wir den besseren folgen. Das praktische Problem besteht natürlich oft gerade darin, im Konfliktfall zu erkennen (oder zu einer gut gerechtfertigten Überzeugung darüber zu kommen), welche Partei die bessere, kompetentere ist. Offenkun­ dig können ein Laie oder eine Novizin, die per definitionem nur ein­ geschränkten Einblick in die betreffende Domäne haben, dies nicht immer ohne Weiteres feststellen. Man ist angewiesen auf äußere Merkmale, darunter beispielsweise die öffentliche Anerkennung in der betreffenden epistemischen Gemeinschaft. Auch solche äußeren Merkmale sind indessen offenkundig keine Garanten für echte epis­ temische Kompetenz in dem gewünschten Ausmaß. (vii) Signifikante Superiorität: Zu ergänzen ist schließlich, dass der epistemische Vorsprung oder die epistemische Überlegenheit einer Autorität gegenüber der relativen epistemischen Nicht-Autori­ tät hinreichend groß oder, wie ich sagen werde, signifikant sein muss. Wenn etwa eine Person in einer bestimmten Domäne in 75 % ihrer Überzeugungen und jemand anders in 73 % die Wahrheit trifft, ist fraglich, ob die nur minimal verlässlichere Person bezogen auf die andere als Autorität gelten sollte. Wie groß der Abstand im Einzelfall sein muss, lässt sich vermutlich nicht allgemein festlegen, sondern hängt vom Kontext ab. Zu den relevanten Kontextfaktoren gehören dabei insbesondere die jeweiligen epistemischen Ziele sowie das, was für die Beteiligten auf dem Spiel steht.

3. Autoritäten, Expert:innen und eine funktionale Analyse von »Autorität« Ich habe bisher ohne weitere Differenzierungen sowohl von »episte­ mischen Autoritäten« als auch von »Expert:innen«, der »Autorität von Expert:innen« usw. gesprochen. Dies gilt es nun zu präzisieren. Die einflussreichste Explikation dessen, was Expert:innen sind, stammt von Alvin Goldman: S is an expert in domain D if and only if S has the capacity to help others (especially laypersons) solve a variety of problems in D or execute an assortment of tasks in D which the latter would not be able to solve or execute on their own. S can provide such help by imparting to the layperson (or other client) his/her distinctive knowledge or skills (Goldman 2018, 4).

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Ähnliche Ansätze verfolgen etwa David Coady (2012), Christian Quast (2018)8, Michel Croce (2018, 2019)9 oder Pedro Schmechtig (dieser Band). Coady sagt kurz und bündig: [An expert] is someone laypeople can go to in order to receive accurate answers to their questions (Coady 2012, 30).

Nennen wir solche Ansätze, die das, was Experten ausmacht, von deren sozio-epistemischer Rolle innerhalb ihrer Gemeinschaft her zu beschreiben suchen, funktionale Ansätze. Ich halte die Grundidee funktionaler Ansätze, die die obigen Autoren für Expertise vorschlagen, auch für das Thema »Autorität« für vielversprechend und greife sie hier auf. Dabei sind jedoch Anpas­ sungen erforderlich. Eine entscheidende Frage lautet, genau welche epistemischen Eigenschaften es Expert:innen ermöglichen, ihre sozioepistemische Funktion wahrzunehmen. Goldman zufolge ist dies ein Vorsprung an wahren Überzeugungen, wobei dieser nicht nur als relativ anzusehen sei, sondern ein bestimmtes absolutes Niveau erreichen soll: »Being an expert«, erklärt er, »is not simply a matter of veritistic superiority to most of the community. Some non-compara­ tive threshold of veritistic attainment must be reached« (2001, 115). Diese Einschränkung soll ausschließen, jemanden mit wenig Wissen, doch einem Wissensvorsprung gegenüber den meisten Mitgliedern einer insgesamt epistemisch in der betreffenden Domäne nicht gut aufgestellten Gemeinschaft, als Expert:in in dieser Gemeinschaft anzusehen. In jüngerer Zeit definiert Goldman:

8 »[T]he main function of expertise is sharing some knowledge for the benefit of someone else« (2018, 13). 9 Croce (2019) unterscheidet, bezogen auf die Rezipient:innen-Seite, Novizen- oder Laien-orientierte Ansätze auf der einen Seite von Experten-orientierten – oder, wie man sagen könnte, disziplinären Ansätzen – auf der anderen. Gegen Goldman argumentiert er, dass die entscheidende Funktion von Expert:innen nicht darin liegt, Laien bei der Erreichung ihrer epistemischen Ziele behilflich zu sein, sondern den Fortschritt der jeweiligen Disziplin und unter deren Expert:innen zu fördern. Wie die folgenden Ausführungen deutlich machen, können zumindest Autoritäten indessen beide Funktionen haben: Sie können sowohl Autoritäten für Laien sein als auch für andere, in der betreffenden Disziplin weniger fortgeschrittene Ko-Expert:innen. Damit soll nicht geleugnet werden, dass diese Funktionen, wie Croce fordert, unter­ schieden werden sollten. Beispielsweise könnte eine Person eine Autorität bzgl. der Generierung neuen Wissens in einer Expert:innengemeinschaft sein, ohne die Fähigkeiten zur Vermittlung von Expert:innenwissen an Laien zu haben. Dank an Pedro Schmechtig für diesen Hinweis.

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S is an expert about domain D if and only if (A) S has more true beliefs (or high credences) in propositions concerning D than most people do, and fewer false beliefs; and (B) the absolute number of true beliefs S has about propositions in D is very substantial (Goldman 2018, 5).

Goldman bezieht hier auch credences im Sinne gradierter (oder »par­ tieller« im Unterschied zu »vollen«) Überzeugungen ein. Zweierlei sei hervorgehoben. Zum einen mag die Frage auf­ tauchen, welchen Ansatz Goldman denn nun vertritt: den oben skizzierten funktionalen oder den im letzten Zitat dargelegten veri­ tistischen, der auf die Quantität und Qualität der Überzeugungen der Expert:innen abstellt. Tatsächlich schließen sich die beiden Cha­ rakterisierungen jedoch nicht aus, sondern können als zwei Seiten derselben Medaille gelten: Aufgrund welcher Eigenschaften kön­ nen Expert:innen ihre sozio-epistemische Rolle erfüllen? Goldmans Ansatz lässt sich so verstehen, dass die Antwort lautet: Sie kön­ nen dies deshalb, weil sie die betreffenden Vorsprünge an wahren Überzeugungen haben. Jedenfalls werde ich ein solches Modell, das die sozio-epistemische Funktion von Expert:innen im Rekurs auf ihre epistemischen Kompetenzen erklärt, auf epistemische Autoritä­ ten anwenden. Zweitens ist hervorzuheben, dass Goldmans Ansatz zufolge Expert:innen von epistemischen Autoritäten zu unterscheiden sind. Letztgenannte brauchen keine Expert:innen zu sein, denn sie müssen keine bestimmte absolute Anzahl an wahren Überzeugungen in der betreffenden Domäne erreichen. Mit einem Beispiel Michel Croces (2019) verdeutlicht: Damit eine Großmutter eine Autorität für ihren fünfjährigen Enkel in Bezug darauf ist, wie Fische atmen, muss sie in der relevanten epistemischen Gemeinschaft (die mehr als nur sie und ihren Enkel umfasst) keine Expertin für diese Frage sein. Man muss kein Ichthyologe sein, um gegenüber einem fünfjähri­ gen Kind einen signifikanten epistemischen Vorsprung zu besitzen, der genügt, diesem gegenüber eine Autorität in der Frage zu sein, wie Fische atmen. Ein naheliegendes Beispiel sind auch Eltern mit durchschnittlicher mathematischer Bildung, die etwa für ihre Kinder im Grundschulalter gleichwohl Autoritäten in Fragen elementarer Algebra sind. Kurz, Goldmans Bedingung (B) zufolge sind viele Personen, die in dem von mir vorgeschlagenen Ansatz sehr wohl epis­ temische Autoritäten für bestimmte Mitglieder einer epistemischen Gemeinschaft sein können, keine Expert:innen. Man beachte, dass all das keineswegs in Abrede stellt, dass viele Autoritäten durchaus

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besondere Expertise in der jeweiligen Domäne haben. Ich nenne sol­ che Autoritäten Expert:innen-Autoritäten. Die in der Pandemie laut werdende Autoritätsskepsis ist viel­ fach eine Skepsis gegenüber Expert:innen-Autoritäten. Wichtig ist aber zunächst festzuhalten, dass sich die von Goldman und anderen vorgeschlagene funktionale Analyse von Expertise allgemein wie folgt auf den Begriff der epistemischen Autorität übertragen lässt: Epistemische Autoritäten, so schlage ich vor, sind Personen, die ihren Interaktionspartnern dabei helfen können, ihre epistemischen Ziele zu erreichen, weil sie (die Autoritäten) einen signifikanten epistemi­ schen Vorsprung in der betreffenden Domäne und hinsichtlich der angestrebten epistemischen Güter haben. Anders als in den Ansätzen Goldmans und anderer auf Wissen fokussierter Autor:innen erscheint es jedoch sinnvoll, diese Güter nicht auf wahre Überzeugungen und Wissen einzuschränken, sondern auch andere, darunter insbesondere Verstehen zuzulassen. Neben Wissens-Autoritäten gibt es auch Ver­ stehens-Autoritäten.10

4. Objektivistische versus epistemische Explikationen von epistemischer Autorität und eine kombinierte Definition Berücksichtigt man die soweit skizzierten Differenzierungen, dann ergibt sich in erster Annäherung, dass ein epistemischer Akteur A 10 Auch Zagzebskis, von Joseph Raz inspirierte Theorie der epistemischen Autorität kann man als Spielart eines funktionalen Ansatzes deuten. Zagzebski zufolge ist eine epistemische Autorität jemand »who does what I would do if I were more conscientious or better than I am at satisfying the aim of conscientiousness—getting the truth« (2012, 109). Autoritäten liefern daher diesem Ansatz zufolge ihren Rezipi­ ent:innen präemptive Gründe dafür, bestimmte Überzeugungen von der Autorität zu übernehmen: Der Grund, dass die Autorität glaubt, dass p, soll für die Rezipient:innen alle anderen relevanten Gründe für oder gegen p ersetzen. Man kann die entscheidende Funktion von Autoritäten daher für solche Ansätze so beschreiben, dass sie den Rezi­ pient:innen die epistemische Last abnehmen, selbst Pro- und Kontra-Gründe abwägen zu müssen, um einen angemessenen Glauben zu bilden. Dank an Michael Vollmer für diesen Punkt. Ich habe Zagzebskis Theorie ausführlich kritisiert in Jäger (2016). Für weitere ausführliche Diskussionen dieses Themas s. etwa Anderson (2014); McMyler (2014); Wright (2016); Dormandy (2018); Constantin und Grundmann (2020); Hauswald (2021).

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genau dann eine epistemische Autorität gegenüber einem anderen epistemischen Akteur S ist, wenn (a) A S beim Erreichen von S’s epistemischen Zielen behilflich sein kann, (b) weil A sich, bezogen auf diese Ziele, in einer signifikant superioren epistemischen Position gegenüber S befindet. Diese Analyse führt somit eine funktionale und eine auf Kompetenzen rekurrierende Charakterisierung von Autorität zusammen: Die kompetenzorientierte Bedingung (b) erklärt, warum A die unter (a) beschriebene sozio-epistemische Funktion erfüllen kann. Handelt es sich um Expert:innen-Autoritäten, dann – aber nur dann – ist mit Goldman die Rede von einer »signifikant superioren epistemischen Position« so zu lesen, dass die epistemische Kompetenz der Autorität einen gewissen Schwellenwert erreicht.11 Diese erste Charakterisierung gilt es indessen weiter zu differenzieren. Bedingung (a) greift die von Coady, Goldman und ande­ ren vorgeschlagene funktionale Analyse auf, die, übertragen auf (Expert:innen-)Autoritäten darauf hinausläuft, dass diese – laut Bedingung (b) aufgrund ihres epistemischen Vorsprungs – Laien oder, allgemeiner, relativen Nicht-Autoritäten Hilfestellung bei deren epistemischen Bemühungen leisten können. Doch was heißt hier »können«? Offensichtlich müssen zur Erfüllung dieser Forderung eine Reihe weiterer Bedingungen sowohl seitens der Autorität als auch seitens der Nicht-Autorität erfüllt sein. Beispielsweise darf die epistemische Kluft zwischen Nicht-Autorität und Autorität nicht so groß sein, dass die Kommunikation zwischen den Parteien unmöglich wird. Semantische Kompetenz ist dabei nicht unabhängig von episte­ mischer Kompetenz: Wem etwa der Zugang zu bestimmten Fachbe­ griffen fehlt, weil die dahinterstehende Theorie unbekannt ist oder nur rudimentär verstanden wird, der kann fachspezifische Thesen und Aussagen einer Autorität in der betreffenden Domäne, in denen diese Begriffe vorkommen, nicht oder nur rudimentär verstehen. Ferner muss die Autorität z.B. auch gewisse didaktische Fähigkeiten und epistemische Tugenden wie etwa »epistemische Empathie« besitzen,12 um tatsächlich erfolgreich epistemische Hilfestellung leisten zu kön­ nen. Allgemeiner sollte man daher sagen, dass A unter geeigneten Bedingungen in der Lage sein muss, S epistemisch zu unterstützen. Diese Überlegungen legen folgende Explikation nahe: 11 S. hierzu jedoch kritisch Coady (2012), der die Angemessenheit dieser Bedin­ gung bestreitet. 12 S. hierzu Jäger/Malfatti (2020).

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EAO: Ein (individueller oder pluraler) epistemischer Akteur A ist zum Zeitpunkt (oder im Zeitraum) t in der Domäne D und hinsichtlich des epistemischen Gutes G genau dann eine episte­ mische Autorität gegenüber einem anderen (individuellen oder pluralen) epistemischen Akteur S, wenn (a) A S unter geeigneten Bedingungen beim Erlangen von G in D behilflich sein kann, weil (b) A sich zu t in D und bezogen auf das Erlangen von G in einer signifikant superioren epistemischen Position gegenüber S befindet. Ansätze im Sinne von EAO fordern das tatsächliche und nicht etwa nur ein vermeintliches Vorliegen der mit (a) und (b) verbundenen Kompetenzen. Ich nenne solche Ansätze daher »rein objektivistisch« oder kurz objektivistisch. Objektivistischen Ansätzen zufolge ist epis­ temische Autorität nicht nur irreflexiv, sondern auch asymmetrisch und transitiv: Wenn A gegenüber S in einer epistemisch superioren Position ist, dann gilt nicht zugleich das Umgekehrte; und wenn A eine Autorität für S ist und S eine für S*, dann ist A auch eine Autorität für S*. Die obige Explikation ist bereits einigermaßen differenziert, doch sie lässt eine Bedeutungskomponente, die der Begriff der Autorität zu konnotieren scheint, unberücksichtigt. Wenn wir sagen, dass eine Person eine Autorität für eine andere ist, dann schwingt darin zumin­ dest sehr oft mit, dass sie von dieser auch als eine solche gesehen wird. Einige Autor:innen sehen in einer solchen »subjektivistischen« oder, wie ich sagen werde, epistemischen Relativierung, abweichend von EAO, die zentrale Bedeutung und charakterisieren A als eine epistemische Autorität relativ zu jemand anderem, genau dann, wenn diese andere Person urteilt oder glaubt, dass A die relevanten Eigen­ schaften hat:13 EAE: Ein (individueller oder pluraler) epistemischer Akteur A ist zum Zeitpunkt (oder im Zeitraum) t in der Domäne D und hinsichtlich des epistemischen Gutes G genau dann eine epistemische Autorität gegenüber einem anderen (individuellen oder pluralen) epistemischen Akteur S, wenn S zu t glaubt, dass 13 S. etwa Constantin und Grundmann (2020), oder Bokros (2020, 12047), die von »urteilen« spricht: »A is an epistemic authority for S with respect to p iff S judges A to have a higher expected accuracy with respect to p than S takes herself to have independently of following A’s authority«.

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A die in den Bedingungen (a) und (b) von EAO beschriebenen Eigenschaften hat. Eine solche rein epistemische Explikation hat freilich entscheidende Nachteile. Beispielsweise muss EAE eine funktionale Analyse im Sinne des oben beschriebenen Ansatzes aufgeben: Für eine Autorität, die nur insofern eine ist, als ihre Rezipient:innen ihr bestimmte Kompetenzen zuschreiben, gilt nicht, dass sie diesen generell qua ihrer Autorität epistemische Hilfestellung leisten kann. Denn womöglich sind diese Zuschreibungen falsch und die relevanten Kompetenzen fehlen ihr. A könnte EAE zufolge auch dann eine epistemische Autori­ tät für S sein, wenn A zu S’s epistemischen Peers gehört, ja, sogar dann, wenn A S epistemisch unterlegen ist. Entsprechend wäre die Relation der epistemischen Autorität rein epistemischen Explikationen zufolge nicht mehr asymmetrisch und auch nicht mehr transitiv. EAE lässt zu, dass A S und S zugleich A für eine Autorität hält; und daraus, dass A für S und S für S* eine Autorität ist, folgt EAE zufolge nicht, dass A auch für S* eine ist. Wie bereits angedeutet ist gleichwohl zuzugestehen, dass es epistemische oder »subjektive« Konnotationen des Begriffs der epis­ temischen Autorität gibt, die epistemische Explikationen sinnvoller­ weise einzufangen suchen. Außerdem haben sie die Ressourcen, den Erfolg von Autoritäten besser zu erklären: Wenn die Rezipient:innen tatsächlich glauben, dass A eine Autorität ist, dann wird dies typi­ scherweise im Falle genuiner Autoritäten, die bestimmte epistemische Güter besitzen und diese teilen können und wollen, deren Übergabe erleichtern. Wer jemand anderen als Autorität anerkennt, wird dessen Ratschläge leichter annehmen. Ich schlage vor, diese Einsichten zu berücksichtigen, ohne sich jedoch die Nachteile rein epistemischer Explikationen einzuhandeln. Dies leistet die folgende, kombiniert objektivistisch-epistemische Charakterisierung: EAK: Ein (individueller oder pluraler) epistemischer Akteur A ist zum Zeitpunkt (oder im Zeitraum) t in der Domäne D und hinsichtlich des epistemischen Gutes G genau dann eine epistemische Autorität gegenüber einem anderen (individuellen oder pluralen) epistemischen Akteur S, wenn (i) A die in den Bedingungen (a) und (b) von EAO beschriebenen Eigenschaften hat und (ii) S dies auch glaubt. Dieser Explikation zufolge hat S somit einen wahren Glauben (und damit, wie einige sagen würden, zumindest schwaches Wissen) bzgl.

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A’s Kompetenzen, wenn A eine Autorität für S ist. Epistemische Autoritäten, die diese Bedingung erfüllen, nenne ich (von der relati­ ven Nicht-Autorität) anerkannte Autoritäten. EAK synthetisiert die Einsichten beider zuvor skizzierter Ansätze, und ich werde von nun an diese Explikation zugrunde legen. Sie trägt der subjektiven Bedeu­ tungskomponente Rechnung, auf die EAE abzielt; anders als in EAE bleibt jedoch EAK zufolge die Relation der epistemischen Autorität, wie in objektivistischen Ansätzen garantiert, asymmetrisch. Entspre­ chend kann laut EAK die Relation weder zwischen epistemischen Peers bestehen, noch kann jemand, der einer Person faktisch sogar epistemisch unterlegen ist, eine Autorität für diese Person sein.

5. Falsche Autoritäten: Schein-Autoritäten, PseudoAutoritäten und Fake-Autoritäten Vor der Folie der bisherigen Überlegungen lässt sich nun der Begriff der falschen epistemischen Autorität systematisch einführen. Hier­ von ausgehend werde ich sodann einige Subunterscheidungen einfüh­ ren und parallel dazu die Begriffe der Schein-Autorität, der PseudoAutorität und der Fake-Autorität vorschlagen. Als falsche Autoritäten seien allgemein solche Personen bezeich­ net, von denen ihre Klientel fälschlicherweise glaubt, dass sie die relevanten Kompetenzen besitzen. Legt man EAK zugrunde, so sind falsche Autoritäten keine Autoritäten, denn die Tatsache, dass sie die ihnen zugeschriebenen Kompetenzen in Wahrheit nicht besitzen, verstößt gegen Bedingung (i): Wenn ihnen jene Kompetenzen fehlen, können sie anderen auch nicht aufgrund solcher Kompetenzen bei deren Bemühungen, ihre epistemischen Ziele zu erreichen, behilflich sein. Der Modifikator »falsch« in dem Ausdruck »falsche Autorität« fungiert somit als privatives Adjektiv, ähnlich wie in den Ausdrü­ cken »falscher Revolver« (in Aussagen wie: »Der Tankstellenräuber benutzte einen falschen Revolver«) oder »falscher Freund«. Ein fal­ scher Revolver ist kein Revolver, sondern eine Attrappe, und falsche Freunde sind keine Freunde, weil sie Vertrauen missbrauchen oder legitime Erwartungen enttäuschen. Rein epistemische Autoritätsexplikationen wie EAE können dagegen den Begriff der falschen Autorität nicht in der Weise verwen­ den, dass falsche Autoritäten im oben beschriebenen Sinne keine Autoritäten sind, da ihnen zufolge S’s Glaube, dass A die betreffenden

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Falsche Autoritäten

Kompetenzen besitzt, ja dafür hinreicht, dass A tatsächlich eine Auto­ rität gegenüber S ist. Verfechter rein epistemischer Autoritätsbegriffe könnten den Begriff der falschen Autorität indes im Sinne genuiner, wenngleich schlechter Autoritäten verwenden. Schlecht sind solche Autoritäten dann eben deshalb, weil sie die ihnen zugeschriebenen Kompetenzen in Wahrheit nicht besitzen. »Falsch« sind sie jedoch nicht etwa so, wie ein falscher Freund »falsch« ist, sondern analog zu einem »falschen Zug«, in den man einsteigt. Im Unterschied zu einem falschen Freund, der in Wahrheit kein Freund ist, bleibt ein falscher Zug ein Zug. Wer jedoch in ihn einsteigt, fährt in die falsche Richtung und handelt nicht zielführend. Kehren wir nach diesen Hinweisen zurück zum Autoritätsverständnis im Sinne von EAK. Dass falschen Autoritäten dennoch Autorität zugeschrieben wird, kann unterschiedliche Gründe haben. Sozialepistemologisch vielleicht am interessantesten sind Kontexte, in denen die angebliche Autorität ihren Rezipient:innen gegenüber bewusst als eine solche auftritt und die Absicht verfolgt, als Autorität wahrgenommen zu werden. Denkbar sind jedoch auch Fälle, in denen dies nicht so ist: Wir können anderen Personen, zumindest eine Zeitlang, auch dann fälschlicherweise autoritative Kompetenzen zuschreiben, wenn sie selbst dies nicht forcieren oder überhaupt nicht beabsichtigen. Um dies von anderen Fällen terminologisch zu unterscheiden, nenne ich solche Autoritäten Schein-Autoritäten. Schein-Autoritäten sind keine Autoritäten, auch wenn sie, von ihnen selbst unbeabsichtigt, so behandelt werden, als wären sie welche. Will die betreffende Person hingegen als Autorität wahrgenom­ men werden, so gilt es zwei weitere Fälle zu unterscheiden. Zum einen mag sie sich auch selbst für hinreichend kompetent halten, um ihren Rezipient:innen bei der Erreichung epistemischer Ziele helfen zu können, und sich auch entsprechend verhalten. (Dieser letztgenannte Zusatz wird auch in Abschnitt 5 noch wichtig werden.) Die vermeintliche Autorität verhält sich in diesen Fällen wahrhaftig und hegt keine Täuschungsabsichten bzgl. der eigenen Kompetenzen, auch wenn sowohl sie selbst als auch ihre Interaktionspartner:innen mit ihren Einschätzungen, dass sie eine geeignete Autorität ist, falsch liegen. Nennen wir die angeblichen Autoritäten in solchen Fällen Pseudo-Autoritäten. In anderen Fällen dagegen glaubt die vermeintliche Autorität selbst nicht, die relevanten Kompetenzen in hinreichendem Ausmaß

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Christoph Jäger

zu besitzen bzw. glaubt sogar, sie nicht zu besitzen,14 erweckt jedoch absichtlich den Anschein, sie zu besitzen. Nennen wir solche Personen Fake-Autoritäten. Während Pseudo-Autoritäten inkompetent, doch ihrer Klientel gegenüber bzgl. ihrer Selbsteinschätzung ehrlich und wahrhaftig sind, sind Fake-Autoritäten nicht nur inkompetent, son­ dern auch unaufrichtig. Fake-Autoritäten sind dabei nicht als Autoritäten zu verstehen, die ausschließlich oder auch nur hauptsächlich sogenannte Fake News verbreiten. Obwohl einige, vielleicht auch viele Fake-Autoritäten häufig Multiplikator:innen oder auch Urheber:innen von Fake News sind, gehört dies dem hier vorgeschlagenen Ansatz zufolge nicht zu den definierenden Merkmalen von Fake-Autorität. Was Fake News sind, ist im Detail kontrovers. Weitgehende Einigkeit besteht jedoch darin, dass sich der Terminus, ganz wie er sagt, auf neue Meldungen oder Nachrichten bezieht. Falsche Autoritäten in der Gestalt von FakeAutoritäten verbreiten jedoch nicht nur Neues, sondern auch Inhalte anderer Art. Tatsächlich greifen sie oft auf Verschwörungsnarrative zurück, die eine lange Tradition haben. Ein Blick auf die Diskussion um Fake News macht jedoch ein weiteres erwähnenswertes Charakteristikum sichtbar. Unter Fake News versteht man üblicherweise falsche oder irreführende Inhalte, die medial, typischerweise über Massenmedien, verbreitet werden, wobei diejenigen, die für ihre Produktion oder Verbreitung verant­ wortlich sind, damit (i) entweder die Absicht verfolgen, die Rezi­ pient:innen zu täuschen, oder aber (ii) dem Wahrheitswert der Nachricht gegenüber gleichgültig sind, Irreführungen aber in Kauf nehmen.15 Sprecher:innen mit dieser letztgenannten Haltung heißen (bezogen auf diese Inhalte) in der berühmten Terminologie Harry Frankfurts (2005) Bullshitter. Der Begriff der Fake-Autorität in dem oben vorgeschlagenen Sinn umfasst zum einen falsche Autoritäten, die ihre Anhängerschaft dazu bringen, Inhalte zu glauben, die sie (die Fake-Autoritäten) selbst für falsch halten. Ich nenne solche Autoritäten Lügner-Autoritäten. Zum zweiten umfasst er auch falsche Autoritäten, denen es gleichgültig ist, ob das, was sie ihren Zuhörern erzählen, wahr oder falsch ist. Ich nenne solche Autoritäten Bullshit­ ter-Autoritäten. Betrachten wir drei fiktive Beispiele: 14 Aus (i) S’s Nichtglauben (fehlendem Glauben), dass p, folgt nicht, dass (ii) S glaubt, dass nicht-p, auch wenn umgangssprachlich Aussagen der Form »S glaubt nicht, dass p« oft oder sogar überwiegend im Sinne von (ii) verwendet werden. 15 Vgl. hierzu etwa Jaster und Lanius (2018) oder Gelfert (dieser Band).

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Falsche Autoritäten

Der ruhmsüchtige Rapper: Ein ruhmsüchtiger, einigermaßen erfolgreicher Rapper postet auf seinem Telegram-Account, dass Covid-19-Erkrankungen für Menschen aller Altersgruppen in Europa nicht gefährlicher seien als eine »gewöhnliche Grippe«; dass die vorliegenden Statistiken zur Übersterblichkeit seit Aus­ bruch der Pandemie in vielen Ländern gefälscht seien; das Tragen eines Mund-Nasenschutzes im öffentlichen Raum nachweislich keine positiven Effekte zur Minimierung des Ansteckungsrisikos habe; und dass hinter Anti-Covid-Impfkampagnen mächtige Akteure (darunter Freimaurer, Illuminaten und Bill Gates) ste­ cken, die das Ziel haben, eine neue Weltordnung (»NWO«) zu etablieren, usw. Der Rapper findet zahlreiche Zuhörer, die ihm glauben. Er hält jene Thesen selbst nicht für wahrscheinlich, ist aber auch nicht überzeugt, dass sie falsch sind. Tatsächlich hat er sie in dubiosen Internetforen aufgelesen, nicht weiter über sie nachgedacht oder gar überprüft. Ihr Wahrheitsgehalt interessiert ihn nicht, er ist diesem gegenüber epistemisch indifferent. Sein Hauptmotiv dafür, jene Thesen zu verbreiten, liegt darin, seine Bekanntheit und seinen öffentlichen Einfluss zu maximieren. Der doxomanische Dreisterne-Koch: Ein auch mit Publikationen zu seinem Fach einigermaßen erfolgreicher Koch postet auf sei­ nem Telegram-Account, dass Covid-19-Erkrankungen für Men­ schen aller Altersgruppen in Europa nicht gefährlicher seien als eine »gewöhnliche Grippe«, die vorliegenden Statistiken zur Übersterblichkeit seit Ausbruch der Pandemie in vielen Ländern gefälscht seien, usw. Er findet zahlreiche Menschen, die ihm glauben. Tatsächlich ist er überzeugt, dass jene Thesen falsch sind. Sein Hauptmotiv dafür, sie dennoch zu verbreiten, liegt darin, seine Bekanntheit und seinen öffentlichen Einfluss zu maximieren. Der demente Doktor: Ein seit vielen Jahren pensionierter Allge­ meinmediziner, der vor 50 Jahren verschiedene medizinische Examina abgelegt hat und danach einige Jahrzehnte in halbwegs kompetenter Weise seinem Beruf als Landarzt nachging, schal­ tet sich in die aktuellen Diskussionen um die Gefahren von Covid-19-Erkrankungen, pandemische Prognosen, usw. ein. Er glaubt und vertritt öffentlich die These, dass Covid-19-Erkrankungen für Menschen aller Altersgruppen in Europa nicht

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gefährlicher seien als eine »gewöhnliche Grippe«, usw. Der Arzt findet zahlreiche Menschen, die ihm glauben. Er leidet unter fortschreitender Altersdemenz, ist aber fälschlicherweise davon überzeugt, medizinisch auf der Höhe seiner Zeit zu sein und Expertenwissen zu besitzen, das es ihm erlaubt, kompetent über die betreffenden Fragen zu urteilen. Der demente Doktor ist (in den betreffenden Fragen) eine PseudoAutorität: Er hat faktisch keine hinreichenden Kompetenzen in den Fragen, in denen er von vielen als Autorität akzeptiert wird, glaubt aber fälschlicherweise auch selbst, diese Kompetenzen zu besitzen. Der doxomanische Dreisterne-Koch ist (in den betreffenden Fragen) eine Fake-Autorität, genauer gesagt, eine Lügner-Autorität: Er ver­ breitet Thesen, die er selbst für falsch hält. Der ruhmsüchtige Rapper hingegen ist (in den betreffenden Fragen) eine Bullshitter-Autorität; er verbreitet Thesen, deren Wahrheitswert ihn nicht interessiert. Die folgende Tabelle fasst die soweit vorgeschlagenen Differenzierun­ gen zusammen: Falsche Autoritäten Schein-Autoritäten

Pseudo-Autoritäten

Fake-Autoritäten Lügner- Bullshit­ Autori­ tertäten Autori­ täten

Bei den zahlreichen falschen Autoritäten, die im Zuge der Pandemie in Erscheinung getreten sind (und weiterhin die Bühne betreten), lässt sich von außen betrachtet oft schwer beurteilen, ob es sich um PseudoAutoritäten oder Fake-Autoritäten handelt. Donald Trump glaubte im Oktober 2020 vermutlich wirklich, was er öffentlich sagte: dass das intravenöse Spritzen eines bestimmten Bleichmittels eine gute Therapie gegen eine Covid-19-Infektion sei. Aber glaubt oder glaubte der deutsche Sänger und Songwriter Xavier Kurt Naidoo tatsächlich (u.a.) an die Q-Anon-Verschwörungstheorie, dass bestimmte »mäch­ tige Eliten« zigtausende von Kindern in Geheimverstecken gefangen halten, sie foltern, ihnen Blut abzapfen, daraus Adrenochrom gewin­ nen und dieses trinken, um ewig jung zu bleiben? Für viele von uns dürfte es schwer vorstellbar sein, dass ein normaler erwachsener Mensch solche Erzählungen wirklich glaubt. Aber der Wirrköpfigkeit

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und Irrationalität sind keine Grenzen gesetzt. In jedem Fall war Naidoo ein wichtiger Multiplikator (auch) dieses bizarren Narrativs und wurde von vielen seiner Fans als epistemische Autorität in der Sache gefeiert. Wenn er dieses Narrativ glaubte und zugleich der Überzeugung war, tatsächlich einen signifikanten Informations- und Verstehensvorsprung in der Sache gegenüber seinen Gefolgsleuten zu haben, fungierte er ihnen gegenüber als Pseudo-Autorität; wenn er dies nicht glaubte, sondern dieses Narrativ beispielsweise allein aus profilneurotischen Motiven heraus erzählte, war sein Verhalten das einer Fake-Autorität. Fest steht für beide Fälle, dass er eine falsche Autorität ist, die die epistemische Umgebung der relevanten epistemischen Gemeinschaft, in einer von Schmechtig (dieser Band) vorgeschlagenen Terminologie gesprochen, verunreinigt und belastet.

6. Mögliche Anfragen, Einwände und weitere Klärungen Es gibt andere Möglichkeiten, die hier vorgeschlagene Terminologie aufzuteilen. Die Modifikatoren »Schein-«, »Pseudo-« und »Fake-« sollen an ein gewisses semantisches Vorverständnis anknüpfen; doch ob oder inwieweit ein solches (unter kompetenten Sprecher:innen des Deutschen) einigermaßen einheitlich verbreitet ist, ist schwer zu sagen und kann jedenfalls mit philosophischen Mitteln nicht weiter geklärt werden. Wichtiger ist aber ohnehin die Frage, ob es die Phänomene, die ich mit den Begriffen der Schein-Autorität, der Pseudo-Autorität usw. unterschieden habe, tatsächlich als distinkte Fälle gibt. Diese These habe ich versucht, in einigen ersten Schritten plausibel zu machen. Was ich dagegen an dieser Stelle, auch wenn einige wenige Andeutungen hierzu erfolgten, nicht versucht habe, ist eine sys­ tematische sozialpsychologische Erklärung dessen, warum falsche Autoritäten (vielleicht besonders in gesellschaftlichen Krisenzeiten) so erfolgreich sein können, oder zumindest deutlich erfolgreicher, als es wünschenswert wäre. Zur Psychologie der Verbreitung von Fake News und Verschwörungstheorien gibt es bereits umfangreiche Untersuchungen, und es ist zu erwarten, dass viele Einsichten aus diesen Bereichen auch für ein umfassenderes Verständnis des Phäno­ mens der falschen Autoritäten relevant sind. Dieses Thema kann hier jedoch aus Raumgründen nicht mehr aufgegriffen werden.

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Ein weiteres wichtiges Thema, das hier nur gestreift werden kann, ist die Identifikation von falschen Autoritäten. Die hier einge­ führten Explikationen und Unterscheidungen, so mag eingewandt werden, bringen uns nichts für die praktische Frage, wie wir feststellen können, ob eine epistemisch autoritativ auftretende Person unser epistemisches Vertrauen verdient oder aber wir einer falschen Auto­ rität anheimfallen würden, wenn wir ihr glaubten. Dieser Hinweis ist tendenziell richtig, auch wenn er in seiner Zuspitzung nicht zutrifft. Ich habe in der Tat nicht über konkrete Kriterien und Techniken gesprochen, mithilfe derer wir die Spreu vom Weizen trennen können. Um dieser Aufgabe gewachsen zu sein, gilt es jedoch, zunächst einen klaren Begriff von falscher Autorität und seinen verschiedenen Spiel­ arten zu entwickeln und vor Augen zu haben. Fehlt ein solcher in der epistemischen Gemeinschaft, so wissen ihre Mitglieder nicht, wonach sie suchen sollen, wenn es darum geht, sich von falschen Autoritäten abzuwenden und sich genuinen, guten zuzuwenden. Der vorliegende Aufsatz beschränkt sich auf diese begriffsanalytische Aufgabe. Abschließend sei auf eine weitere Frage eingegangen, die die vorliegende Diskussion aus der allgemeinen Sozialen Erkenntnis­ theorie erbt. Muss eine epistemische Autorität selbst glauben, was sie anderen vermittelt? Allgemeiner gefragt: Muss sie die epistemischen Güter (Glauben, Wissen, Verstehen, usw.), die sie vermittelt oder bei deren Erwerb sie anderen behilflich ist, selbst besitzen? Es liegt nahe, dies zu bejahen und anzunehmen, dass eine Autorität zum Beispiel ein bestimmtes Wissen nur dann vermitteln kann, wenn sie selbst dieses Wissen hat, oder dass sie Verstehen in einer Hörerschaft erzeugen oder fördern kann, weil sie selbst einen hinreichenden Verstehensvorsprung hat. Für den Fall von Wissen hat Jennifer Lackey (2006; 2008) indessen einflussreich argumentiert, dass dieses in bestimmten testimonialen Situationen durch assertive Äußerungen, statt weitergegeben, bei der Hörerschaft auch neu erzeugt werden kann, weil die Sprecherin selbst dieses Wissen – trotz ihrer asserti­ ven Sprechhandlungen, die prima facie das Gegenteil suggerieren – nicht besitzt. Wissenserwerb unter Mithilfe von Autoritäten ist ein Spezialfall testimonialen Wissenserwerbs, und somit gilt Lackeys Überlegung, wenn sie zutrifft, auch für den Autoritätsfall. Ferner lässt sich Lackeys Überlegung, falls korrekt, womöglich auch auf andere epistemische Güter ausdehnen. Federica Malfatti (2019) beispielsweise argumentiert, dass, obwohl dies zunächst weni­ ger nahe liegt, eine Sprecherin ein Phänomen oder einen Phänomen­

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bereich auch nicht verstehen muss, um ein entsprechendes Verstehen bei ihren epistemischen Interaktionspartnern zu erzeugen. Sie muss hierzu zwar die Theorie, die jenen Phänomenbereich repräsentiert, verstehen, nicht jedoch die betreffenden Phänomene selbst, sofern ein solches Verstehen auf der Objektebene positive doxastische Ein­ stellungen zu den Phänomenen voraussetzt. Kann jemand in einer solchen Situation als epistemische Autorität gelten? Betrachten wir exemplarisch den Fall testimonialer Wissenser­ zeugung. In Lackeys meistdiskutierten Beispielen hat eine Sprecherin selbst kein Wissen bzgl. einer gegebenen Proposition p, weil sie nicht glaubt, dass p der Fall ist, und dennoch gelangen Rezipient:innen aufgrund assertiver Äußerungen der Sprecherin des Inhalts, dass p, zu Wissen, dass p. In Lackeys bekanntester Geschichte lehrt eine kreationistische Lehrerin (mit korrekten Erklärungen und Hinweisen etc.) die Evolutionstheorie, obwohl sie selbst nicht an diese Theorie glaubt (Lackey 2006; 2008, 48). Ihre Schülerinnen und Schüler, meint Lackey, können dann aufgrund der Äußerungen der Lehrerin sehr wohl zu entsprechendem Wissen gelangen, sofern sie entspre­ chende wahre Überzeugungen über die Evolutionstheorie erwerben – auch wenn der Lehrerin, als ihrer testimonialen Quelle, dieses Wissen fehlt. Wie sind solche Fälle im Licht der obigen Charakterisierung epistemischer Autorität zu beschreiben? Ist die Lehrerin eine genuine oder eine falsche Autorität? Einerseits verhilft sie ihren Rezipient:innen zu einem epistemi­ schen Gut, das diese, wie man für das Beispiel annehmen kann, anstreben. (Die Lernenden wollen Wissen über die Entwicklung der Spezies auf diesem Planeten erlangen, und faktisch unterstützt die Lehrerin sie bei der Erreichung dieses Ziels.) Dies spricht der funktionalen Analyse zufolge dafür, der Lehrerin den Status einer Autorität zuzugestehen. Andererseits bildet sie selbst nicht diejenigen Überzeugungen, die aufgrund der ihr verfügbaren Evidenzen rational oder gerechtfertigt wären, und verhält sich damit insgesamt episte­ misch inadäquat. Darüber hinaus muss sie davon ausgehen, dass die Schüler:innen – fälschlicherweise – annehmen, sie habe auch die ent­ sprechenden, ihren Aussagen korrespondierenden Überzeugungen, und sie sei in dieser Hinsicht in ihren Sprechakten aufrichtig. Dies spricht dafür, sie als eine falsche, speziell als eine Fake-Autorität zu klassifizieren. Lackeys Beispiel ist an entscheidenden Stellen unterbeschrieben. Es liegt jedoch nahe es so zu lesen, dass erstens die kreationistische

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Lehrerin die Evolutionstheorie und die Belege für sie gut kennt, auch wenn sie mit diesen Belegen, was ihre epistemischen Einstellungen angeht, nicht das Richtige tut, d.h. nicht die richtigen Konsequen­ zen aus ihnen zieht und die entsprechenden Überzeugungen bildet; anderen Expert:innen, die die Evolutionstheorie aufgrund derselben Belege vertreten und denen sie in der Frage glauben sollte, nicht glaubt, usw. Zweitens haben in dem Beispiel die Schüler:innen noch keine wahren Überzeugungen über die Evolutionstheorie und kennen noch keine Argumente für sie. Dann aber befindet sich die Lehrerin trotz allem in dem betreffenden Zeitraum, in dem sie ihren Schüler:innen die Theorie vermittelt – d.h. in einem Zeitraum, in dem die Schüler sich noch in einem Stadium kompletter Unwissenheit bzgl. der Theorie befinden – ihnen gegenüber in einer epistemisch superioren Position, ganz wie EAK (und auch EAO) fordert. Denn auch wenn sie selbst aufgrund fehlender oder zu schwacher Überzeugungen zum Thema kein entsprechendes Wissen hat, kennt sie doch die Theorie in ihren wesentlichen Aussagen und die Belege und die Argumente für sie. Die Frage, wie diese epistemische Situation seitens der Lehrerin genauer zu beschreiben ist, ist an Lackey zu delegieren, die sie jedoch, soweit ich sehe, nicht verfolgt. (Auch in diesem Punkt ist ihr Beispiel unterbeschrieben.) Vielleicht hält die Lehrerin die Belege für nicht stark genug, als dass sie einen Glauben an die Evolutionstheorie (einen kategorischen oder »vollen« Glauben, oder womöglich einen gradierten, »partiellen« Glauben hinreichender Stärke?) rechtfertigen könnten. Oder vielleicht lässt sich das Beispiel so fortschreiben, dass die Lehrerin zwar sogenannte propositionale Rechtfertigung für einen entsprechenden Glauben besitzt, sie diesen Glauben aber, aus welchen Gründen auch immer, nicht bildet und ihr a fortiori die entsprechende doxastische Rechtfertigung fehlt. Vielleicht sollte man auch sagen, dass sie gute Gründe für einen Glauben an die Theorie hat, aber diese Gründe nicht oder nicht korrekt einsetzt und ihre faktische Einstellung (der Glaube, dass die Evolutionstheorie nicht gilt, oder zumindest der fehlende Glaube, dass sie gilt) daher nicht auf guten Gründen beruht oder basiert, in einem technischen Sinn epistemi­ schen Basierens. Lackey lässt diese Fragen offen. Klar zu sein scheint jedoch, dass die kreationistische Lehrerin zum Zeitpunkt ihrer (wah­ ren) Aussagen über die Evolution ihren Schüler:innen epistemisch voraus ist. Denn auch wenn ihr selbst das relevante Wissen (d.h. das Wissen über die Evolution) auf der Phänomenebene fehlt, so versteht sie doch beispielsweise die entsprechende Theorie insofern, als sie

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weiß, was sie besagt, auf welche Argumente und Belege sie sich stützt und wie diese miteinander zusammenhängen und aus der Sicht ihrer Verfechter ein kohärentes Ganzes bilden. Insofern befindet sie sich auch, bezogen auf das Ziel, das betreffende epistemische Gut (Wissen) zu erlangen, in einer signifikant superioren epistemischen Position gegenüber ihren Schüler:innen, ganz wie die oben vorgeschlagene Explikation es für epistemische Autoritäten fordert. Mein Ergebnis lautet somit, dass eine epistemische Autorität das Wissen, zu dem sie ihrer Klientel verhilft, nicht selbst besitzen muss, und dass eine Situation, in der es ihr fehlt, sie nicht automatisch zu einer falschen Autorität macht: Lackeys kreationistische Lehrerin (wie auch Figuren in anderen Lackey-Geschichten mit ähnlicher Pointe) erfüllt die in meiner Autoritätsexplikation EAK genannten Bedingungen, was sie zu einer epistemischen Autorität für ihre Schü­ lerinnen und Schüler macht. Sie wird von ihnen als Autorität aner­ kannt und verhilft ihnen aufgrund eines einschlägigen epistemischen Vorsprungs zu einem von ihnen angestrebten epistemischen Gut (Wissen). Es liegt nahe, Analoges für andere epistemische Güter, ins­ besondere auch für Verstehen zu behaupten (s. Malfatti 2019), doch eine Diskussion solcher Fälle muss auf andere Gelegenheiten warten.

7. Fazit Die Covid-19-Pandemie liefert gute Beispiele für das Zusammenspiel zwischen praktischen und epistemischen Autoritäten und für die Bedeutung epistemischer Arbeitsteilung: Politische Entscheidungs­ träger ziehen führende Virologinnen, Epidemiologen, Intensivme­ dizinerinnen, Biologen, Statistikerinnen usw. zu Rate, die sich professionell mit einschlägigen Fragen befassen, um politische Ent­ scheidungen zum Umgang mit der Pandemie und zur Aufrechterhal­ tung bestimmter wirtschaftlicher und medizinischer Abläufe auf der Grundlage von Fachexpertise zu treffen, die sie selbst nicht oder nur in beschränktem Maße besitzen. Es ist daher aus der Sicht sogenannter »Querdenker«, »Corona-Skeptiker«, Impfgegner, Maßnahmen-Kri­ tiker usw. durchaus kohärent, wenn sie nicht nur die jeweils beschlos­ senen Maßnahmen und diejenigen, die sie durchsetzen, ablehnen und bekämpfen, sondern auch die epistemischen Autoritäten, auf welche sich die politischen Entscheidungsträger berufen. Im vorliegenden Essay habe ich verschiedene Optionen diskutiert, den Begriff der

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epistemischen Autorität genauer zu charakterisieren, und begrün­ det, warum einem bestimmten Begriff der Vorzug zu geben ist. Vor dem Hintergrund der entwickelten Klärungen habe ich sodann schlechte, falsche, Schein-, Pseudo- und Fake-Autoritäten unterschie­ den und angedeutet, in welcher Weise Meinungsmacher:innen dieser verschiedenen Spezies in Erscheinung treten. Sodann habe ich am Beispiel von Wissen gezeigt, dass – entgegen einem ersten, oberfläch­ lichen Eindruck – eine epistemische Autorität bzw. Kandidatin für diesen Status diejenigen epistemischen Güter, zu denen sie ihren Rezipient:innen verhilft, nicht unbedingt selbst besitzen muss und sie ein solcher Zustand nicht unweigerlich zu einer falschen Autori­ tät macht. Theodor W. Adorno hat die berühmte Sentenz geprägt, dass es kein richtiges Leben im falschen gibt. Dies lässt sich auch erkenntnis­ theoretisch wenden und auf das vorliegende Thema übertragen: Es gibt kein richtiges Denken unter falschen Autoritäten. Versuchen wir, die richtigen zu erkennen und falschen keinen Raum zu geben.16

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Pedro Schmechtig

Epistemischer Dogmatismus und Arroganz – das Expert*innen-Laien-Verhältnis in nichtidealer epistemischer Umgebung

1. Einführung Traditionell werden Fragen der Generierung von Wissen und anderen epistemischen Gütern im Hinblick auf die internen Relationen der wissenschaftlichen Gemeinschaft untersucht. Weniger Aufmerksam­ keit wird den epistemischen Beziehungen zwischen verschiedenen Gruppen einer Gemeinschaft gewidmet. Insbesondere wird häufig die Frage vernachlässigt, welchen Wert wissenschaftliche Forschung für Gruppen von Nicht-Expert*innen hat und was dabei zu beachten ist, dass die Ergebnisse der Forschung bei diesen Gruppen auch ankommen. Die Covid-19-Pandemie hat uns jedoch gezeigt, dass die Beziehungen zwischen den Gruppen für die Bewertung epistemischer Praktiken äußerst bedeutsam sind. Wenn den Expert*innen nicht vertraut wird, mag die wissenschaftliche Forschung so gut sein wie sie will, das hervorgebrachte Wissen wird dann von vielen nicht geteilt. Die Frage der Wissensvermittlung besteht offenkundig nicht nur darin, unter welchen Bedingungen Wissen generiert wird, sondern auch – manchmal sogar vorrangig – darin, unter welchen Bedingun­ gen es wahrscheinlich ist, dass die Ergebnisse der Forschung von anderen Gruppen innerhalb einer Gesellschaft geteilt werden. Die vorliegende Arbeit versteht sich als Beitrag zu einer nicht-idealen Erkenntnistheorie. Bereits vor der Pandemie haben Autor*innen – inspiriert durch Arbeiten feministischer Erkenntnis­ theorie und gestützt auf Einsichten der politischen Philosophie (vgl. insbesondere Mills 2005) – damit begonnen, den Fokus darauf zu richten, dass vieles im epistemischen Leben schieflaufen kann. Durch die Covid-19-Krise hat das Projekt einer nicht-idealen Erkenntnis­ theorie einen bis dato unerwarteten Schub erlangt. Selten zuvor

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Pedro Schmechtig

wurde so eindringlich davor gewarnt, dass politische Maßnahmen, die auf der Basis von Expert*innen-Wissen gerechtfertigt werden, zum Auseinanderbrechen der Gesellschaft führen, weil die in dieser Form transferierten wissenschaftlichen Ergebnisse von verschiedenen Tei­ len der Bevölkerung nicht anerkannt werden. Es liegt nahe, genauer zu betrachten, woran es liegt, dass zahlreiche Informationen zur Bekämpfung der Pandemie, die von Virologen und anderen wissen­ schaftlichen Expert*innen generiert wurden, bei vielen Mitgliedern von Laien-Gruppen nicht als Wissen angekommen sind. Die Idee einer nicht-idealen Erkenntnistheorie lässt sich in zwei Richtungen vorantreiben:1 Wir können Formen epistemischer NichtIdealität betrachten, die sich aus den Kapazitätsgrenzen des mensch­ lichen Geistes oder bestimmten Besonderheiten der kognitiven Psy­ chologie ergeben. Beispielsweise lässt sich fragen, inwieweit unsere individuellen glaubensbildenden Praktiken durch irrelevante Situati­ onsfaktoren beeinflussbar sind.2 Dieser eher individuenbezogenen oder endogenen Perspektive epistemischer Nicht-Idealität steht eine zweite, umgebungsbezogene oder exogene Perspektive gegenüber, bei der es um Phänomene epistemischer Nicht-Idealität geht, die aus strukturellen Verzerrungen oder Schädigungen der Informationsum­ gebung hervorgehen, in der epistemische Akteure tagtäglich agieren müssen. In exogener Perspektive geht es weniger um die kognitiven Limitierungen einzelner Akteure; exogene Nicht-Idealität betrifft vielmehr die Belastungen oder Verunreinigungen der wissensvermit­ telnden Umgebung, in der die Mitglieder einer epistemischen Gemein­ schaft ihre individuellen (epistemischen) Glaubenspraktiken regulie­ ren. Die Covid-19-Pandemie gibt uns Anlass, ein zentrales Merkmal exogener Nicht-Idealität genauer zu untersuchen, nämlich danach zu fragen, welche Belastungen auf die epistemische Umgebung zukom­ men, wenn die tragende Beziehung zwischen wissenschaftlichen Expert*innen-Gruppen und Laien-Gemeinschaften Schaden erleidet. Ich untersuche diese Belastungen in der vorliegenden Arbeit auf zwei Ebenen: einerseits als Mikroproblem der Schädigung testimonia­ ler Ökonomie und andererseits als Makroproblem der Veränderung epistemischer Gewohnheiten (Dogmatismus und Misstrauen), durch 1 Vgl. zur Unterscheidung von endogener und exogener Nicht-Idealität Begby (2021, 43ff.). 2 Vgl. hierzu Fairweather/Alfano (2016).

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Epistemischer Dogmatismus und Arroganz

welche, so werde ich argumentieren, die Gefahr einer Polarisierung der epistemischen Gemeinschaft im Hinblick auf ein bestimmtes epis­ temisches Laster, nämlich intellektuelle Arroganz, heraufbeschwo­ ren wird. Der Beitrag gliedert sich wie folgt: In Sektion (2) skizziere ich den konzeptionellen Rahmen dieser Arbeit, der die Idee einer »Inquiry«-Erkenntnistheorie mit einer relationalen Sichtweise der sozio-epistemischen Funktion von Expert*innen verbindet. Anschlie­ ßend (Sektion 3) betrachte ich zwei charakteristische Probleme nichtidealer Wissensvermittlung, die in Zeiten der Pandemie besonders hervorstechen, dadurch dass sie epistemische Irrelevanz-Ungerechtig­ keiten heraufbeschwören und testimonialer Austausch unter nichtabgestimmten Interessen stattfindet, woraufhin sich das Problem der Identifikation echter Expert*innen noch einmal verschärft. Sektion (4) untersucht dann die Folgen nicht-idealen testimonialen Austau­ sches auf der Ebene der Veränderung epistemischer Gewohnheiten (Makroproblem) innerhalb des Expert*innen-Laien-Verhältnisses. Es werden zwei Formen von epistemischer Wachsamkeit in nicht-idealer Umgebung vorgestellt (tugendhafter Dogmatismus und wachsames Misstrauen) und dafür argumentiert, dass sich in beiden Fällen das Problem der sog. »belasteten« Tugend eröffnet, nämlich die Schwie­ rigkeit, dass vermeintlich vorteilhafte epistemische Gewohnheiten die polarisierende Tendenz aufweisen, intellektuelle Arroganz zu fördern, die eine erfolgreiche Wissensvermittlung im Rahmen des Expert*innen-Laien-Verhältnisses behindert. In Sektion (5) wird nach Möglichkeiten der Eindämmung dieser negativen Tendenz gesucht und danach gefragt, ob es in einer nicht-idealen Umgebung mit den diagnostizierten Verzerrungen möglich ist, epistemisch ver­ antwortlich zu agieren. Sektion (6) fasst die Ergebnisse kurz zusam­ men.

2. »Inquiry-Framework« und die relationale Charakterisierung der Funktion von Expert*innen Um untersuchen zu können, welche Auswirkungen eine nichtideale epistemische Umgebung auf das Verhältnis von Expert*innen-

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Gemeinschaft und verschiedenen Laien-Gruppen3 hat, benötigen wir einen konzeptionellen Rahmen, der im Folgenden kurz umrissen wird. Der Begriff der Expert*in kann auf unterschiedliche Weise definiert werden. Nach Goldmans (2001) klassischer Auffassung sind Expert*innen grob gesagt diejenigen, die in einem bestimmten Bereich viel häufiger wahre Meinungen besitzen als die meisten anderen Mitglieder einer Gemeinschaft. Im Gegensatz dazu hat sich in den letzten Jahren eine funktionalistische Sichtweise etabliert, der sich Goldman (2018) auch teilweise angeschlossen hat.4 Diese identi­ fiziert Expert*innen in Bezug auf ihre sozio-epistemische Funktion, d.h. im Hinblick auf den Beitrag, den Expert*innen für eine epistemische Gemeinschaft erbringen. Nach funktionalistischer Auffassung ist der Begriff der Expertise unter Rückgriff auf diejenigen kognitiven Leistungen und Ressourcen zu bestimmen, die Expert*innen in eine Gemeinschaft einbringen und Mitgliedern anderer Gruppen zur Ver­ fügung stellen. Dabei sollten jedoch zwei Sichtweisen unterschieden werden: Novizen-orientierte Ansätze (Goldman 2018; Quast 2018) gehen davon aus, dass sich Laien auf Expert*innen verlassen, weil sie wahre Informationen in Bereichen benötigen, in denen sie nicht kompetent sind. Im Gegensatz dazu nehmen forschungsorientierte Ansätze (vgl. Croce 2019) an, dass die epistemische Gemeinschaft auf Expert*innen angewiesen ist, weil sie den epistemischen Fortschritt oder wie ich sagen werde, den Erfolg der Untersuchung sicherstellen, indem sie bestehende Probleme lösen und Fragen in verschiedenen Bereichen beantworten. Ich verfolge in dieser Arbeit eine modifizierte Variante des for­ schungsorientierten Ansatzes, die ein allgemeines »Inquiry-Frame­ 3 Die Unterscheidung zwischen wissenschaftlicher Expert*innen-Gemeinschaft und Laien-Gruppen ist bisweilen komplex und in vielerlei Hinsicht noch wenig untersucht. Ich verwende die Begriffe »Laie« und »Nicht-Expert*in« um diejenigen Gruppen innerhalb einer Gemeinschaft abzugrenzen, die in Bezug auf einen bestimmten Bereich der Wissensproduktion nicht über das Fachwissen und die geeigneten Quali­ fikationen verfügen, um relevante Wissensansprüche angemessen beurteilen zu kön­ nen. 4 Die funktionalistische Analyse von Expert*innen sollte als ein komplementäres Projekt zur Frage nach der Definition von Expert*innen angesehen werden. Grund­ mann (2017) ist einer der wenigen, der gegen eine funktionalistische Auffassung von Expertise argumentiert hat und stattdessen Expert*innen als diejenigen Personen defi­ niert, die über bessere Evidenz in einem bestimmten Bereich sowie über zuverlässigere Argumentationsfähigkeiten im Vergleich zu anderen Mitgliedern der epistemischen Gemeinschaft verfügen.

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work« epistemischer Aktivitäten mit einer relationalen Sichtweise der sozio-epistemischen Funktion von Expert*innen verbindet. Die Idee eines solchen »Inquiry-Frameworks« besagt kurzgefasst, dass epistemische Aktivitäten vor allem dadurch gekennzeichnet sind, dass wir versuchen, Dinge herauszufinden, indem wir Fragen aufwerfen und Untersuchungen anstellen.5 Mit dem Ausdruck »Untersuchung« ist die Gesamtheit derjenigen durch Neugier geleiteten Praktiken gemeint, die darauf abzielen, kongruente Antworten auf Fragen zu liefern.6 In allgemeinster Form beinhalten solche Praktiken die fol­ gende Erfolgsbedingung: Eine Untersuchung U ist zum Zeitpunkt t erfolgreich, d.h. die epistemische Aktivität darf beendet werden, wenn es zu t eine kongruente Antwort auf die Fragestellung gibt, die dem leitenden Ziel oder epistemischen Interesse von U entspricht. Diese Erfolgsbedingung ist generischer Natur, da es von der Art des jeweiligen Ziels abhängt (Wahrheit, Wissen, Verstehen, Weisheit usw.), wie genau eine kongruente Antwort auf die Frage aussehen muss, die zur Beendigung der Untersuchung berechtigt.7 Ich verbinde dieses allgemeine »Inquiry-Framework« mit einer relationalen Sichtweise der sozio-epistemischen Funktion von Expert*innen. Nach dieser Sichtweise beruht eine erfolgreiche Ver­ mittlung von Wissen und anderen epistemischen Gütern auf einer Form der sozio-epistemischen Anerkennung, die Expert*innen nur erlangen, wenn in den Leistungen, die sie für eine epistemische Gemeinschaft erbringen, die Fragestellungen und kognitiven Interes­ sen derjenigen Gruppen der Gemeinschaft berücksichtigt werden, denen sie dienen sollen. Gemäß dieser relationalen Sichtweise lässt sich die sozio-epistemische Funktion nicht auf die (individuelle) kognitive Kompetenz von Expert*innen reduzieren. Vielmehr hat sie auch damit zu tun, wie Expert*innen Untersuchungen durchführen, d.h. ob die Ausübung ihrer sozio-epistemischen Funktion nicht nur in der Art und Weise tugendhaft ist, dass die eigenen Untersuchun­ gen erfolgreich zum Abschluss gebracht werden, sondern dass die 5 Vgl. zu einem solchen Ansatz Hookway (1994; 2008), Kelp (2021), Cassam (2016), Schmechtig (2013). 6 Vgl. hierzu genauer Schmechtig (2013). 7 Ähnlich wie Kelp (2021) gehe ich davon aus, dass Untersuchungen einen spezifi­ schen interrogativen Inhalt haben, der durch eine Frage der Form, ob p der Fall ist, zum Ausdruck gebracht wird. Demnach gilt: Eine Untersuchung, ob p der Fall ist, ist zum Zeitpunkt t erfolgreich, d.h. die Untersuchung kann beendet werden, wenn es zu t eine kongruente Antwort auf die Frage gibt, ob p der Fall ist.

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Ergebnisse ihrer Forschung es anderen Mitgliedern der Gemeinschaft ermöglicht, ihre Untersuchungen zu beenden. Ich werde später argu­ mentieren, dass ein Vorteil der relationalen Sichtweise genau darin liegt, dass sie die Funktion der Wissensvermittlung nicht auf die Rolle von »reinen« Wissenschaftler*innen reduziert, die ausschließlich an der Erzeugung wahrer Informationen interessiert sind und kein epis­ temisches Interesse daran haben, dass die Ergebnisse ihrer Forschung kongruente Antworten auf die Fragen anderer Personen liefern. Die relationale Sichtweise der Anerkennung wird den Schlüssel liefern, die besonderen Herausforderungen zu erkennen, vor denen das Expert*innen-Laien-Verhältnis in nicht-idealer Umgebung steht. Mit dieser Rahmenkonzeption in der Hand lassen sich im Fol­ genden zwei charakteristische Probleme nicht-idealer Wissensver­ mittlung betrachten, die in Zeiten der Pandemie einen funktionie­ renden testimonialen Austausch im Expert*innen-Laien-Verhältnis erschweren oder gar verhindern.

3. Belastete Umgebung als Mikroproblem: Veränderungen testimonialer Ökonomie In der Pandemie scheint es wenigstens zwei charakteristische Pro­ bleme zu geben, die zu einer Verzerrung testimonialer Ökonomie zwischen Expert*innen-Gemeinschaften und Nicht-Expert*innen führen. Das erste Problem betrifft die Beobachtung, dass in einer Umgebung, in der Desinformation und strukturell irreführende Kom­ munikation8 zunehmend Verbreitung finden, so etwas wie episte­ mische Irrelevanz-Ungerechtigkeiten entstehen, die besonders dann, wenn sie unerkannt bleiben, testimonialen Wissenstransfer erschwe­ ren oder unmöglich machen. Das zweite Problem hat damit zu tun, dass es unter Pandemie-Bedingungen in einem viel höheren Maße zu einer strategischen Ausrichtung von Expert*innenaussagen kommt (wie im Fall der wissenschaftlichen Politikberatung), d.h. testimonialer Austausch unter nicht-abgestimmten epistemischen und praktischen Interessen stattfindet, was im Fall der Gruppe der NichtExpert*innen zu einer Radikalisierung der Schwierigkeiten führt, 8 Zu solchen nicht-idealen Kommunikationspraktiken zählen Echokammern, Fil­ terblasen, Propaganda, journalistische Dramatisierungen, Formen des »bullshit­ ting« usw.

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wie vertrauenswürdige Expert*innen zu identifizieren sind. Meine grundlegende Behauptung in diesem Zusammenhang ist, dass durch die Zunahme von Strategien der Fehlinformation und strategischer »Expert-Testimony« es unter pandemischen Bedingungen zu einer Verzerrung testimonialer Ökonomie gekommen ist, die den Nährbo­ den dafür geliefert hat, dass exogene Nicht-Idealität auf Makroebene entsteht. Letzteres werde ich in Abschnitt (4) näher betrachten.

3.1 Testimoniale Wissensvermittlung und das Problem der Irrelevanz-Ungerechtigkeiten Testimoniale Wissensvermittlung lässt sich nach der Standardauffas­ sung wie folgt charakterisieren: Wenn ein Sprecher S weiß, dass p, und S gegenüber einem Hörer H behauptet, dass p, so dass H auf der Grundlage der Aussage von S akzeptiert, dass p, dann weiß H (testimonial), dass p. Diese Form der Erklärung setzt voraus, dass wir in der Lage sind, Personen Wissen zuzuschreiben. Derartige Wis­ senszuschreibungen lassen sich mit Hilfe eines Relevante-Alternati­ ven-Frameworks wie folgt analysieren: Wir können einem Sprecher S zuschreiben, dass S weiß, dass p, wenn S alle relevanten Alternativen zu p in der betreffenden Umgebung ausschließen kann.9 Wann eine Alternative relevant ist, ist eine unter Philosoph*innen umstrittene Frage.10 David Lewis (1996, 559) hat in diesem Zusammenhang eine sog. Aufmerksamkeitsregel vorgeschlagen, die besagt, dass eine Alternative in einer Umgebung relevant ist, wenn ein Gesprächsteil­ nehmer die Aufmerksamkeit der anderen Teilnehmer auf sie lenkt. In der Weiterentwicklung dieser Idee lässt sich argumentieren, dass 9 Um eine ernstzunehmende Alternative ausschließen zu können, muss ein Sprecher S über Evidenzen verfügen, die einen solchen Ausschluss rechtfertigen. Wenn wir beispielsweise annehmen, dass genau ein Weg nach Larissa führt, aber drei ernstzu­ nehmende Optionen A, B oder C existieren, welcher Weg das sein könnte, wobei S über hinreichende Evidenzen verfügt, dass A und B falsch sind, können wir S zuschrei­ ben, dass S weiß, dass C nach Larissa führt. Ein Problem das ich an dieser Stelle offen lassen muss, betrifft die schwierige Frage, ob man das Relevante-Alternativen-Frame­ work auch für eine Theorie des Wissens in Anspruch nehmen kann oder nur als Theo­ rie der Wissenszuschreibung betrachten sollte. Es gibt Autoren wie Blake-Turner (2020, Fn. 2) die dafür argumentieren, dass klassische Formulierungen in beide Rich­ tungen zu deuten sind. 10 Vgl. zu dieser anhaltenden Diskussion u.a.: Austin (1946); Stine (1976); BlomeTillmann (2009); Lawlor (2013); Battaly (2018a); Tuckwell (forthcoming).

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in einer nicht-idealen Umgebung, in der vermehrt Fehlinformationen in Umlauf gebracht werden, ein Problem der irrelevanten Alternativen entsteht, das zu einer Verzerrung testimonialer Ökonomie führt. Das Problem entsteht immer dann, wenn in einer Umgebung durch Desinformationen und strukturell irreführende Kommunikation auf Alternativen aufmerksam (salient) gemacht wird, die eigentlich irre­ levant sind, aber den Sprecher in seinem Wissensanspruch bedrohen, da er nicht in der Lage ist – d.h. über die geeigneten Evidenzen verfügt –, derartige Alternativen auszuschließen (vgl. zu dieser Dis­ kussion Blake-Turner 2020 und auch Hauswald in diesem Band). Wenn wir die obige Auffassung von testimonialer Wissensvermitt­ lung zugrundelegen, dann bedroht das vermehrte Auftauchen von Fehlinformationen nicht nur den Wissensanspruch des Sprechers, sondern auch seine testimoniale Funktion, anderen Personen als verlässliche Quelle der Wissensübermittlung zu dienen. Denn in einer Umgebung, in der es nicht zulässig ist, dem Sprecher Wissen zuzuschreiben, kann der testimoniale Adressat nicht mehr (rational) darauf vertrauen, dass die Behauptung des Sprechers eine verlässliche Form der Übermittlung von Wissen ist. Es scheint daher, dass wir es hier mit einer besonderen Art von testimonialer Ungerechtigkeit zu tun haben, die dadurch zustande kommt, dass im konversationalen Austausch auf Alternativen aufmerksam gemacht wird, die eigentlich irrelevant sind, aber dadurch, dass sie nicht ausgeräumt werden kön­ nen, die testimoniale Quelle in ihrer Vertrauenswürdigkeit bedrohen, woraufhin ihre sozio-epistemische Funktion, für andere Personen eine verlässliche Instanz der Wissensvermittlung zu sein, nachhaltig Schaden erleidet.11 An dieser Stelle sind zwei Aspekte hervorzuheben: Nach Fricker (2007) liegt testimoniale Ungerechtigkeit genau dann vor, wenn einer testimonialen Quelle nicht die Glaubwürdigkeit zuerkannt wird, die sie eigentlich verdient, weil ihr gegenüber ein negatives identitätsbezogenes Stereotyp im Spiel ist. Demgegenüber sind testi­ moniale Schädigungen der eben beschriebenen Art nicht durch ein negatives Identitätsstereotyp verursacht. Irrelevanz-Ungerechtigkei­

11 So funktionieren beispielsweise sog. »Firehose of Falsehood«-Desinformations­ techniken. Indem man versucht, dass epistemische Umfeld mit einer breiten Palette von Falschinformationen zu überschwemmen, wird im Hinblick auf vormals verläss­ liche Informationsquellen gezielt Verwirrung gestiftet.

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ten12 scheinen vielmehr durch ein allgemeines Muster der epistemi­ schen Hegemonie geleitet zu sein und davon abzuhängen, ob es einer Gruppe innerhalb der Gemeinschaft gelingt, über mediale oder ander­ weitige gesellschaftliche Einflussnahme dahingehend epistemische Dominanz auszuüben, welche Alternativen in einer epistemischen Umgebung ernst genommen werden und welche nicht.13 Das Hervor­ bringen irrelevanter Alternativen kann in nicht-idealer Umgebung dahingehend zu Irrelevanz-Ungerechtigkeiten führen, dass zu viel epistemischer Aufwand betrieben werden muss, um als vertrauens­ würdige Quelle testimonialer Wissensvermittlung anerkannt zu wer­ den. Darüber hinaus ist zweitens zu berücksichtigen, dass das Problem der Schädigung testimonialer Ökonomie in nicht-idealer Umgebung zwei Seiten hat: Es entsteht nicht nur dann, wenn Teil­ nehmer*innen eines testimonialen Austausches auf Alternativen aufmerksam machen, die ernst genommen werden, obwohl sie es nicht sollten, sondern umgekehrt auch dann, wenn auf Alternativen aufmerksam gemacht wird, die als irrelevant abgetan werden, obwohl sie ernstgenommen werden müssten. Diese Form der Ungerechtigkeit hat sich in der Pandemie vor allem dort gezeigt, wo ungeprüft Infor­ mationen oder Quellen von Informationen diffamiert wurden, die nicht der »offiziellen« Sichtweise entsprachen. Beispielweise wurde zu Beginn der Pandemie vor »Verschwörungstheorien« gewarnt, die behauptet haben, dass in China ein neuartiges, sehr gefährliches Virus aufgetreten sei, das eine weltweite Pandemie verursachen könnte.14 Um zu sehen, was es mit dieser zweiten Art von IrrelevanzUngerechtigkeit auf sich hat, muss zwischen testimonialer Ungerech­ tigkeit aus Informationsperspektive und aus Teilnehmerperspektive Vgl. zur genaueren Diskussion von Irrelevanz-Ungerechtigkeiten Tuckwell (forth­ coming). 13 Autoren wie Blome-Tillmann (2009, 249ff.) haben zu Recht darauf hingewiesen, dass Lewis’ Aufmerksamkeitsregel unangemessen ist, da sich Wissenszuschreibungen unter Annahme dieser Regel zu einfach untergraben lassen. Um Relevanz zu erlangen, muss eine Alternative nicht nur Aufmerksamkeit auf sich ziehen, sondern darüber hinaus von den Gesprächsteilnehmer*innen auch ernst genommen werden. Nach Blome-Tillmann nimmt eine Sprecherin eine Alternative ernst, wenn sie mit ihren pragmatischen Präsuppositionen vereinbar ist. Ich diskutiere in dieser Arbeit nicht, wie genau der Begriff des Ernstnehmens einer Alternative zu explizieren ist, setze hier jedoch die Möglichkeit einer angemessenen Explikation voraus. Eine Kritik an Blome-Tillmanns Vorschlag findet sich in Ichikawa (2015). 14 Vgl. hierzu ausführlich Anton/Schink (2021, 203ff.). 12

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unterschieden werden.15 Bei epistemischer Ungerechtigkeit aus der Informationsperspektive wird ein Akteur aufgrund eines identitäts­ bezogenen Stereotyps zu Unrecht als unzuverlässige Wissensquelle behandelt. Bei testimonialer Ungerechtigkeit aus der Teilnehmerper­ spektive wird hingegen einem Akteur oder einer Gruppe von Akteu­ ren die erforderliche Kompetenz abgesprochen, einen relevanten Bei­ trag zur Untersuchung leisten zu können. Wobei die Beiträge zur Untersuchung sowohl unterschiedliche Arten von epistemischen Gütern, partielle Antworten, als auch relevante Fragestellungen betref­ fen können.16 Epistemische Irrelevanz-Ungerechtigkeit in dieser Form stellt eine Art Ausgrenzung und mangelnden epistemischen Respekt gegenüber anderen Teilnehmern der Untersuchung dar, die nicht zur eigenen Gruppe mit denselben kognitiven Standards, Zielen und epistemischen Ressourcen gehören. Letzteres ist eine weite Form von testimonialer Ungerechtigkeit, die ich als »Inquiry«-IrrelevanzUngerechtigkeit bezeichnen möchte. Derartige Ungerechtigkeiten beruhen auf asymmetrischen Möglichkeiten der Beeinflussung des­ sen, was als relevanter Beitrag der Untersuchung anzuerkennen ist. Nach meinem Dafürhalten liegt ein zentrales Zerwürfnis in der Pan­ demie darin, dass sich weite Teile der Bevölkerung im Hinblick auf die asymmetrische Form der Einflussnahme, welche epistemischen Güter und Fragestellungen im Prozess der Wissensvermittlung eine Rolle zu spielen haben und welche nicht, im Sinne einer »Inquiry«-Irrele­ vanz ungerecht behandelt fühlten. Das bringt mich direkt zu einem zweiten Problem.

3.2 Strategischer testimonialer Austausch und das Problem der Expert*innen-Identifikation Im Standardbild testimonialer Wissensvermittlung wird still­ schweigend vorausgesetzt, dass testimonialer Austausch zwischen Expert*innen und Laien stets unter abgestimmten testimonialen Interessen stattfindet. Expert*innen sehen sich in der Rolle, anderen Vgl. erstmals zu dieser Unterscheidung Hookway (2010). Es ist an dieser Stelle zu unterscheiden, ob eine Person eine relevante Alternative ins Spiel bringt, die nicht ernstgenommen wird, oder eine Fragestellung aufwirft, die als nicht wert, verfolgt zu werden, abgetan wird. Beides führt zu Inquiry-Ungerechtig­ keit, aber auf unterschiedliche Weise.

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Gruppen der Gemeinschaft Wissen zu offerieren, und vorausgesetzt sie erweisen sich als vertrauenswürdig (wissenschaftlich kompetent und aufrichtig), nehmen Nicht-Expert*innen dieses Angebot dankbar an. Im Rahmen des Standardbilds wird so gut wie nie danach gefragt, was passiert, wenn testimonialer Austausch unter nicht-abgestimmten Interessen vonstattengeht.17 Die testimoniale Situation verändert sich jedoch dramatisch, wenn wir uns in eine nicht-ideale Umgebung mit interessengeleitetem oder strategischem Austausch18 begeben. Hier stößt das Standardbild offenkundig an seine Grenzen, denn testimonialer Austausch findet dann unter abweichenden oder sogar konträren praktischen Interessen der verschiedenen Parteien statt. Mit diesen unterschiedlichen praktischen Interessen sind nun aber auch unterschiedliche epistemische Interessen verbunden, denn in den meisten Fällen von strategischem Austausch liegt keine Übereinstim­ mung vor, worin die leitende Fragestellung und das damit verbundene epistemische Ziel der Untersuchung besteht. Was uns in der Covid-19Pandemie deutlich vor Augen geführt wurde, ist die Tatsache, dass wir eine Diskussion von Situationen testimonialer Wissensvermitt­ lung benötigen, die unter nicht-idealen Bedingungen stattfindet, d.h. im Hinblick auf nicht-abgestimmte epistemische Interessen. Wenn beispielsweise Epidemiologen im Einklang mit politischen Entschei­ dungsträgern versichern, dass es ausgehend von ihrer Expertise das Beste sei, in öffentlichen Räumen Masken zu tragen (sofern man die Pandemie wirksam bekämpfen will), für viele Nicht-Expert*innen aber auch andere Fragestellungen im Vordergrund stehen – nämlich beispielsweise die Frage, welche dermatologischen Nebenfolgen das permanente Tragen von Masken hat –, dann haben wir es offenkundig mit einer Form von testimonialer Wissensvermittlung zu tun, in der beide Parteien unterschiedliche interrogative Interessen mit der Untersuchung verbinden, die nicht aufeinander abgestimmt sind. In unserem Beispiel zeigt sich nämlich, dass die Behauptung der Eine seltene Ausnahme, der diese Arbeit verpflichtet ist, stellt Guerrero (2017) dar. Im Anschluss an Guerrero (2017, 157) können wir strategische Formen des testi­ monialen Austausch zwischen Expert*innen und Nicht-Expert*innen als Situationen charakterisieren, in denen (i) den beteiligten Parteien bekannt ist, dass zwischen ihnen eine asymmetrische Form der Unwissenheit besteht, (ii) diese Asymmetrie das Ergebnis von Expertise ist, (iii) die Interessen der Expert*innen nicht mit den Interes­ sen der Nicht-Expert*innen abgestimmt sind und (iv) die fehlende Abstimmung so beträchtlich ist, dass man als Nicht-Expert*in einen guten Grund hat, der Expert*in nicht zu vertrauen. Im Paradigma einer idealen Theorie der Wissensvermittlung bleiben strategische Fälle des testimonialen Austausches zumeist unberücksichtigt. 17

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Expert*in – wonach das Tragen von Masken ein wirksames Mittel der Pandemiebekämpfung ist – auch dann keine kongruente Antwort auf das leitende Frageinteresse der Gruppe von Nicht-Expert*innen liefert (die zur Beendigung der Untersuchung berechtigt), wenn die Behauptung der Epidemiologin wahr ist. Wenn wir das vorgeschlagene »Inquiry-Framework« zugrunde legen, lässt sich erklären, warum es in solchen Fällen für NichtExpert*innen epistemisch rational sein kann, das testimoniale Ange­ bot nicht zu akzeptieren, selbst wenn wahr ist, was die Expert*in behauptet. Wissenszuschreibungen können dazu dienen, Personen zu identifizieren, die uns kongruente Antworten auf unsere Fragen lie­ fern und uns dadurch helfen, die Ziele unserer Untersuchung zu errei­ chen. Wenn wir annehmen, dass wissenschaftliche Expert*innen nur dann für uns eine geeignete testimoniale Quelle sind, wenn das, was sie behaupten, uns dabei hilft, die Untersuchung zu beenden, indem sie eine kongruente Antwort auf unsere Fragen liefern, dann scheint es in unserem Beispiel aus Sicht der Nicht-Expert*innen durchaus ratio­ nal zu sein, der Expert*in skeptisch gegenüberzustehen, denn ihre Behauptung liefert für all diejenigen, für die eine andere Fragestellung leitend ist, offenkundig keinen Grund, die Untersuchung zu beenden. Angesichts dieser Situation stellt sich uns die folgende Frage: Kann es in einer nicht-idealen Umgebung mit strategischer Expertise rational sein, sich auf Expert*innenaussagen zu stützen? Viele Philo­ soph*innen scheinen diese Frage in der folgenden Weise beantworten zu wollen: Wenn es verlässliche Methoden gibt, vertrauenswürdige Expert*innen zu identifizieren, die von Nicht-Expert*innen auch in Situationen mit strategischer Expertise eingesetzt werden können, sollte testimoniales Wissen auch in nicht-idealer Umgebung auf der Basis von Expert*innenaussagen möglich sein. Mit diesem Vorschlag ist jedoch das bekannte Problem ver­ bunden, dass es für Mitglieder von Laien-Gruppen schwierig ist, echte Expert*innen zu identifizieren. Zum einen liegt das daran, dass für Nicht-Expert*innen die Methode der Kalibrierung (Kitcher 1993, 314–322) nicht anwendbar ist, da sie sich nicht, ohne selbst Expert*in zu sein, auf ihre eigenen Urteile stützen können, um her­ auszufinden, ob jemand in einem bestimmten Bereich kompetent ist (Goldman 2001, 90). Zum anderen scheinen diejenigen Indikatoren, die Nicht-Expert*innen unabhängig von irgendeinem Fachwissen zur Beurteilung der Kompetenz von vermeintlichen Expert*innen heranziehen können, selbst in einer Umgebung mit abgestimmten

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Interessen fehlbar zu sein. Es besteht daher Dissens in der philosophi­ schen Diskussion, von welcher Art die gesuchten Indikatoren sind bzw. ob Nicht-Expert*innen überhaupt in der Lage sind, solche (unab­ hängigen) Indikatoren erfolgreich einzusetzen. Manche Autor*innen scheinen optimistisch zu sein (vgl. Anderson 2011 und Blancke et al. 2017), dass sich ein geeigneter Kandidat finden lässt. Andere behaupten, dass keiner der gängigen Indikatoren für sich betrachtet geeignet ist, Expert*innen zuverlässig zu identifizieren, dass aber in einem minimalen Sinne die Verfahrensstandards der Auswahl von Mitgliedern der wissenschaftlichen Gemeinschaft ein geeignetes Kriterium liefern können (vgl. Grundmann 2021) oder zumindest eine Kombination von Indikatoren die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass Laien in der Identifikation echter Expert*innen erfolgreich sind (vgl. Baghramian/Croce 2021). Im Gegensatz dazu behaupte ich, dass in einer nicht-idealen Umgebung, wie wir sie in der Pandemie erleben, selbst diese einge­ schränkten Varianten noch zu optimistisch sind. Das Problem ist, dass man in einer Umgebung mit strategischer Expertise nicht ohne weiteres darauf vertrauen kann, dass die betreffenden Indikatoren selbst nicht geschädigt sind und alle wissenschaftlichen Verfahrens­ weisen »ordnungsgemäß« funktionieren. Wie Levy (2018) hervor­ gehoben hat, kann die allgemeine Bekanntheit der Indikatoren in nicht-idealer interessengeleiteter Umgebung zu einer zusätzlichen Verschärfung des Identifikationsproblems führen: Sie bietet einerseits denjenigen, die diese Indikatoren (bewusst oder unbewusst) zur Täuschung einsetzen, die Möglichkeit, ihre strategischen Interessen – durch Nachahmung der Indikatoren für echte Expertise – besser durchzusetzen. Gerade im Bereich der Gesundheitsfürsorge gibt es eine Vielzahl von Beispielen für diese Praxis.19 Und andererseits, was noch gravierender ist, bewegen wir uns in Zeiten der Pandemie in einem nicht-idealen epistemischen Umfeld, in dem wir zu wissen 19 Eine ausführliche Beschreibung derartiger Praktiken findet sich in Levy (2018). Man könnte meinen, dass Indikatoren nicht nur im Hinblick auf das Vortäuschen von intellektueller Kompetenz, sondern auch in Bezug auf das bloße Vorspielen eines vermeintlichen (an sich aber nicht aufrichtigen) Interesses an den epistemi­ schen Zielen von Nicht-Expert*innen geschädigt sein können. Ich werde jedoch später (Abschnitt 5.2) argumentieren, dass die Indikatoren für wohlwollende Expertin*innen, die ein aufrichtiges Interesse an den Fragestellungen von NichtExpert*innen zeigen, nicht in derselben Weise wie im Fall des Vortäuschens intellek­ tueller Kompetenz belastet sind.

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glauben, dass die von Fachwissen unabhängigen Indikatoren für echte Expert*innen durch Nachahmung oder Vortäuschung geschädigt sein können. Das Grundproblem ist, dass strategischer »Expert-Testi­ mony« äußerlich nicht anzusehen ist, ob sie gutartig (d.h. trotz nichtabgestimmter Interessen mit epistemisch wohlwollender Absicht erfolgt) oder bösartig ist, nämlich unmittelbar eine Täuschungsabsicht intendiert. Infolgedessen könnte es immer der Fall sein, dass eine bloße Nachahmung der Indikatoren zum Zweck der Befolgung eige­ ner praktischer Interessen vorliegt. Kurzum, die Kombination aus der Erfahrung, dass es lasterhafte epistemische Akteure gibt, die ein Interesse daran haben, die Ökonomie testimonialen Austausches zwi­ schen Expert*innen und Laien durch Nachahmung von Indikatoren und anderen Mitteln der Vortäuschung von Expertise zu verzerren, und die Tatsache, dass in einer nicht-idealen Umgebung nicht mehr unterstellt werden kann, dass solche Vortäuschungen nicht der Regel­ fall sind, sondern eher die (seltene) Ausnahme bilden,20 führt zu einem generellen Misstrauen gegenüber derartigen Indikatoren und radikalisiert für Laien das Problem, zuverlässige von unzuverlässigen Expert*innen unterscheiden zu können. In nicht-idealer Umgebung scheint es Nicht-Expert*innen-Gruppen nicht mehr zumutbar zu sein, anhand von unabhängigen Indikatoren in epistemisch verant­ wortlicher Weise zu entscheiden, wer eine echte Expert*in ist und wer nicht. Vor diesem Hintergrund komme ich im nächsten Abschnitt zu einer weiteren Problematik. Ich hatte eingangs hervorgehoben, dass sich umgebungsbezogene, exogene Nicht-Idealität auf zwei Ebenen abspielt: als Mikroproblem der Schädigung testimonialer Ökonomie und als Makroproblem der Veränderung epistemischer Gewohnheiten. Ich argumentiere im Folgenden dafür, dass es in nicht-idealer (belasteter) Umgebung zwei Arten von epistemischer Wachsamkeit gibt – nämlich »tugendhaften« Dogmatismus aufseiten der Expert*innen und »wachsames« Misstrauen aufseiten der NichtExpert*innen –, die unsere epistemischen Gewohnheiten in idealer Umgebung nachhaltig verändern. Mein Ziel wird es sein, deutlich zu machen, dass derartige Veränderungen einen beträchtlichen Preis haben, da sie sehr leicht dazu führen können, den Respekt vor der Es sei darauf hingewiesen, dass hier ein Grund liegt, warum in Bezug auf eine nicht-ideale Umgebung mit nicht-abgestimmten epistemischen Interessen, in der strategische Expert-Testimony vonstattengeht, die traditionelle anti-reduktionisti­ sche Erklärung testimonialer Wissensvermittlung an ihre Grenze stößt. 20

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Epistemischer Dogmatismus und Arroganz

Teilhabe anderer Gruppen (außer der eigenen) am arbeitsteiligen Prozess der Wissensvermittlung durch polarisierende Gruppen-Ein­ stellungen zu untergraben.

4. Belastungen der Umgebung als Makroproblem: Veränderungen epistemischer Gewohnheiten und Polarisierung Durch die eben geschilderten Schwierigkeiten rückt die folgende Frage in den Vordergrund: Wenn wir Grund zur Annahme haben, dass wir in einer Umgebung leben, in der Fehlinformation und strategische Expert-Testimony es zunehmend schwieriger oder gar unmöglich machen, verlässliche Indikatoren für vertrauenswürdige Expert*innen zu finden und gleichzeitig Irrelevanz-Ungerechtigkei­ ten zu einem generellen Misstrauen gegenüber dem Modell der epis­ temischen Arbeitsteilung führen, wie sollen wir uns in einer solchen nicht-idealen Umgebung epistemisch rational verhalten? Sollten wir im Sinne eines epistemischen Opportunismus einfach gar nichts tun und bei unseren epistemischen Gewohnheiten bleiben, auch auf die Gefahr hin, dass dadurch die Umgebung noch stärker belastet wird? Oder sollten wir uns aktiv mit irreführenden testimonialen Angebo­ ten auseinandersetzen und gegen epistemische Irrelevanz-Ungerech­ tigkeiten vorgehen, selbst wenn das bedeuten würde, dass man das für alle Seiten vorteilhafte Modell der epistemischen Arbeitsteilung in Frage stellen muss? Mehr noch: Wenn wir aktiv vorgehen, sollten wir den testimonialen Verzerrungen mit einer offenen oder dogmatisch verschlossenen epistemischen Haltung entgegentreten? Ich werde die Notwendigkeit, auf Fragen dieser Art eine angemessene Antwort geben zu müssen, das Problem der epistemischen Wachsamkeit in nicht-idealer Umgebung bezeichnen. Mein allgemeiner Eindruck ist, dass uns die Covid-19-Pandemie wie kaum jemals zuvor vor Augen geführt hat, wie schwierig es ist, angesichts der vielen Nebengeräu­ sche herauszufinden, was es in einer nicht-idealen epistemischen Umgebung heißt, epistemisch wachsam zu sein.

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4.1 Epistemische Wachsamkeit und Dogmatismus in nichtidealer Umgebung Eine naheliegende Antwort auf das eben genannte Problem könnte wie folgt aussehen: Unter den betrachteten nicht-idealen Bedingun­ gen ist es epistemisch rational – im Sinne der Vermeidung einer fort­ schreitenden Schädigung der (idealen) epistemischen Umgebung –, sich vor irreführenden testimonialen Angeboten dogmatisch zu ver­ schließen und stattdessen nur noch solchen Informationen Glauben zu schenken, die von Quellen stammen, die sich in der Vergangenheit bewährt haben. 21 Ebenso scheint es rational zu sein, in einer Umge­ bung, in der vermehrt »Inquiry«-Irrelevanz-Ungerechtigkeiten auf­ treten und in der die Indikatoren für vertrauenswürdige Expert*innen selbst geschädigt sind, nur noch denjenigen Expert*innenaussagen zu vertrauen, die mit den eigenen epistemischen Interessen abge­ stimmt sind. Dieser Antwortstrategie liegt die Idee zugrunde, dass epistemi­ sche Wachsamkeit eine dogmatische Einstellung ist, die sich in nichtidealer Umgebung als tugendhaft erweisen kann, da sie schlimmeres verhindert. Anders gesagt, in einer nicht-idealen Umgebung wie der Pandemie scheinen wir bereit zu sein, mit der unter idealen Bedingungen vorherrschenden Bewertung zu brechen, dass kognitive Verschlossenheit und Dogmatismus als epistemisch schlecht oder lasterhaft zu betrachten sind.22 Im Rahmen des Expert*innen-LaienVerhältnisses, so wie es hier diskutiert wird, lassen sich zwei Formen der epistemischen Wachsamkeit unter nicht-idealen Bedingungen wie folgt unterscheiden:

21 Ein Überblick über die verschiedenen Varianten dieser Strategien und eine ausführ­ liche Diskussion von zentralen Argumenten für oder gegen einzelne Varianten findet sich in Battaly (2021b). 22 Hier muss einschränkend hinzugefügt werden, dass epistemischer Dogmatismus im Sinne von Alfano (2013) als ein »high-fidelity«-Laster zu betrachten ist, weshalb auch in einer idealen Umgebung nicht jede Ausübung von Dogmatismus die Bezeich­ nung »epistemisch lasterhaft« verdient. Eine Disposition gilt nach Alfano als »high fidelity«-Laster, wenn die Verkörperung dieses Lasters ein nahezu perfektes Befolgen in fast allen Situationen erfordert, in denen die betreffende Disposition hervorgerufen wird. Wenn sich eine Person beispielsweise nur in 40 % der Situationen dogmatisch verhält, spricht das noch nicht unbedingt dafür, ihr das epistemische Laster eines fest verwurzelten Dogmatismus anzuhängen.

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Tugendhafter Epistemischer Dogmatismus Epistemischer Dogmatismus ist eine Form von tugendhafter Wachsamkeit, wenn es um Fälle von strategischer »ExpertTestimony« in nicht-idealer Umgebung geht, in denen NichtExpert*innen auf irrelevante Alternativen aufmerksam machen, die den Wissensanspruch der Expert*innen bedrohen würden (da sie nicht ausgeräumt werden können), die Expert*innen auf­ grund ihrer Wachsamkeit gegenüber epistemischen IrrelevanzUngerechtigkeiten diese Alternativen jedoch nicht ernstnehmen. Wachsames Misstrauen Misstrauen ist eine Form von tugendhafter Wachsamkeit, wenn es um Fälle von strategischer »Expert-Testimony« in nicht-idea­ ler Umgebung geht, in denen Nicht-Expert*innen auf relevante Alternativen aufmerksam machen, die von Expert*innen vor­ schnell und zu Unrecht als irrelevant abgetan werden, weshalb Nicht-Expert*innen aufgrund ihrer Wachsamkeit gegenüber »Inquiry«-Irrelevanz-Ungerechtigkeiten den Expert*innen miss­ trauen. Ich argumentiere in diesem Abschnitt dafür, dass tugendhafte Wach­ samkeit als dogmatische Einstellung unter nicht-idealen Bedingun­ gen tatsächlich rational sein kann, die damit verbundene Veränderung epistemischer Gewohnheiten aber die Gefahr einer Polarisierung des Expert*innen-Laien-Verhältnisses heraufbeschwört, da sie der Aus­ bildung intellektueller Arroganz auf beiden Seiten (jedoch in unter­ schiedlicher Ausprägung) förderlich sein kann. Meine diesbezügliche These lautet, dass epistemische Wachsamkeit unter nicht-idealen Bedingungen nur im eingeschränkten Sinne tugendhaft ist, da sie selbst so etwas wie eine »belastete« (epistemische) Tugend darstellt. Der damit verbundene epistemische Dogmatismus (im Folgenden kurz ED) kann leicht zu einer besonderen interpersonalen Form der Expert*innen-Arroganz führen, die ich als gruppenfunktionale oder Rollen-Arroganz bezeichnen werde, und die quasi als negatives Pendant aufseiten der Nicht-Expert*innen zu einer übertriebenen, epistemisch nicht-tugendhaften Form des Misstrauens gegenüber der sozio-epistemischen Funktion von Expert*innen führen kann. Bevor ich dazu komme, muss ich kurz erläutern, inwiefern (ED) in nicht-idealer Umgebung eine Form von epistemischer Wachsam­ keit sein kann. Nach Battaly (2018a; 2018b) kann (ED) im Rahmen

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eines Relevante-Alternative-Frameworks als eine Variante von epis­ temischer Verschlossenheit (kurz EV) definiert werden. Demnach ist (EV) eine Form von Unfähigkeit oder Unwille, sich ernsthaft mit relevanten intellektuellen Optionen (Alternativen) auseinander­ zusetzen. (ED) ist dann kurz gesagt eine Unterform von (EV), nämlich der Unwille, sich ernsthaft mit relevanten Alternativen zur Menge derjenigen intellektuellen Optionen auseinanderzusetzen, die man selbst akzeptiert, oder – falls man sich doch ernsthaft mit anderen Alternativen beschäftigt – die eigenen Ansichten zu revidieren.23 Diese Analyse hat den entscheidenden Vorteil, dass sie nicht vor­ wegnimmt, ob (ED) ein epistemisches Laster oder eine Tugend ist (Battaly 2018, 20). Um sagen zu können, dass (ED) epistemisch gut oder schlecht ist, bedarf es vielmehr einer zusätzlichen Erklärung, wie derartige intellektuelle Dispositionen zu bewerten sind. Ein prominenter Vorschlag, der mit meinem untersuchungsorientierten Ansatz der sozio-epistemischen Funktion von Expertise vereinbar ist, besagt, dass intellektuelle Dispositionen gut oder schlecht sind, je nachdem, ob sie eine verantwortungsvolle und effektive Untersuchung begünstigen oder behindern (Cassam 2016).24 Hiervon ausgehend können wir sehen, inwiefern (ED) unter nicht-idealen Bedingungen epistemisch tugendhaft sein kann: Das dogmatische Zurückweisen irrelevanter Alternativen, auf die zu Unrecht aufmerksam gemacht wird, stellt in nicht-idealer Umgebung eine Reaktion der epistemischen Wachsamkeit gegenüber irrefüh­ renden Behinderungen der Untersuchung dar. Wenn Irrelevanz-Unge­ rechtigkeiten epistemisch verantwortungsvoll und effektiv zurückge­ wiesen werden (aufgrund von intellektueller Kompetenz oder einem tugendhaften epistemischen Interesse), hebt diese Reaktion Behinde­ rungen auf und begünstigt damit das Erreichen des jeweiligen Ziels der Untersuchung.

Vgl. hierzu genauer Battaly (2021, 56). Im Gegensatz zu dem von Battaly vertretenen strikten epistemischen Konsequen­ zialismus, demzufolge (ED) als eine Art »effect vice« oder »effect virtue« zu bestim­ men ist, favorisiere ich einen verantwortungsbasierten Konsequenzialismus im Sinne des von Cassam vorgeschlagenen Obstruktivismus, ohne jedoch dessen Behauptung zu übernehmen, dass Wissen das alleinige Ziel der Untersuchung ist. Stattdessen vertrete ich einen Obstruktivismus, der im Rahmen des vorgeschlagenen Inquiry-Frameworks davon ausgeht, dass das Ziel der Untersuchung generischer Natur ist. 23

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4.2 Intellektuelle Arroganz als interpersonaler und intrapersonaler Zustand Auch wenn es unter nicht-idealen Bedingungen wie der Covid-19Krise tugendhaft sein kann, sich nicht einer Form des testimonialen Austausches auszusetzen, von der man weiß, dass sie die epistemi­ sche Umgebung weiter schädigt und Irrelevanz-Ungerechtigkeiten hervorbringt, heißt das nicht, dass epistemischer Dogmatismus eine vollwertige Tugend ist, die zur intellektuellen Weiterentwicklung oder epistemischen Vervollkommnung beiträgt. Es ist wichtig, an dieser Stelle zu betonen, dass es keine intrinsische Motivation oder spezielle epistemische Verpflichtung gibt, dogmatisch zu sein. Die Relation zwischen intellektueller Vervollkommnung und (ED) ist offenkun­ dig kontingent. Vor diesem Hintergrund hat Liz Tessman (2005) – im Rahmen der feministischen Forschung – das Konzept der limitierten oder »bur­ dened virtue« ins Spiel gebracht. Demnach sind belastete Tugenden intellektuelle Dispositionen, die ein Überleben in schlechter oder repressiver Umgebung erlauben, aber nach überwundener Repres­ sion die Trägerin an einer charakterlichen Vervollkommnung hindern. Solche belasteten Tugenden beinhalten sowohl einen tugendhaften als auch einen lasterhaften Aspekt. Wenn wir diese Idee auf unsere Diskussion übertragen, stellt sich die Frage, worin der lasterhafte Aspekt von epistemischer Wachsamkeit in nicht-idealer Umgebung besteht. Meine diesbezügliche Behauptung lautet, dass (ED) und Misstrauen (jeweils auf unterschiedliche Weise) eine Tendenz zur testimonialen Polarisierung aufweisen, indem sie intellektuelle Arro­ ganz und Respektlosigkeit gegenüber Teilnehmern der Untersuchung fördern, die nicht der eigenen Gruppe angehören. Dabei gilt es, zwei Formen von intellektueller Arroganz zu unterscheiden. Intellektuelle Arroganz wird nach gängiger Analyse als Unter­ schätzung kognitiver Schwächen oder Überschätzung der eigenen kognitiven Stärken verstanden (vgl. Battaly 2020). Demnach ist Arroganz ein intrapersonaler Zustand, der die mangelnde Bereitschaft oder Unfähigkeit zum Ausdruck bringt, sich die eigenen intellektuel­ len Grenzen anzueignen bzw. der mit der Neigung verbunden ist, die eigenen intellektuellen Stärken überzubewerten. Für meine Behaup­ tung ist hingegen entscheidend, dass man sich als repräsentatives Mitglied einer epistemisch superioren Gruppe wie der Expert*innenGemeinde gegenüber anderen Gruppen arrogant verhalten kann,

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ohne sich selbst in einem intrapersonalen Zustand der Arroganz befinden zu müssen. Intellektuelle Arroganz ist in diesem Fall ein genuin interpersonales oder relationales Phänomen, das für den Ein­ zelnen leicht zu übersehen ist, weil die betreffende Disposition nicht auf einer Selbsttäuschung bezüglich eigener kognitiver Schwächen oder Stärken beruht, sondern im Hinblick auf die sozio-epistemische Funktion der Wissensvermittlung erfolgt. Die Selbsttäuschung bezüg­ lich der sozio-epistemischen Funktion muss daher nicht (zumindest nicht notwendigerweise) mit einem intrapersonalen Zustand der intellektuellen Arroganz korrelieren. Das möchte ich kurz erläutern. Die Pandemie hat Beispiele geliefert, dass Expert*innen als arrogant oder respektlos gegenüber den Interessen anderer Personen eingestuft wurden, aber nicht weil man glaubte, dass sie ihre indivi­ duellen kognitiven Schwächen unterschätzten oder ihre kognitiven Stärken überbewerteten, sondern vielmehr deshalb, weil sie einer epistemisch superioren Gruppe angehörten, die in ihrer sozio-episte­ mischen Funktion der Wissensvermittlung als arrogant wahrgenom­ men wurde. Eine Person ist – wie ich im Folgenden sagen werde – gruppenfunktional arrogant, wenn sie intellektueller Teil einer supe­ rioren Gruppe ist, mit deren epistemischen Zielen sie sich identifi­ ziert, wobei die Gruppe als Ganze gegenüber den Fragestellungen und epistemischen Interessen anderer Gruppen arrogant ist. Eine derartige gruppenfunktionale Arroganz beinhaltet zwei zentrale Aspekte: die Gruppenidentifikation ihrer Mitglieder und eine arrogante Ausrich­ tung der ganzen Gruppe (nicht unbedingt der einzelnen Person) gegenüber den epistemischen Interessen anderer Gruppen innerhalb der epistemischen Gemeinde. Die Ausrichtung einer Gruppe ist in intellektueller Hinsicht arrogant, wenn sich die betreffende Gruppe aufgrund ihrer kognitiven Ressourcen gegenüber anderen Gruppen dahingehend überlegen fühlt, dass ihr allein die epistemische Auf­ gabe zusteht, beurteilen zu dürfen, ob eine intellektuelle Option ein relevanter Beitrag zur Untersuchung ist, d.h. sie allein darüber entscheidet, was die leitende Frage der Untersuchung ist und ob p – im Sinne einer relevanten Alternative, die zur Beendigung der Untersuchung berechtigt – eine kongruente Antwort liefern würde. Gruppenfunktionale Arroganz drückt sich darin aus, dass Beiträge anderer Gruppen im Hinblick auf die Frage, ob p eine kongruente Antwort ist, ohne genauere Prüfung als irrelevant abgetan werden, weil man sich aufgrund des Vertrauens in den superioren Gruppensta­ tus in Sicherheit wähnt, dass es Evidenzen zur Ausräumung der ins

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Spiel gebrachten alternativen Optionen gibt bzw. sich solche jederzeit finden lassen.25 Wenn wir intellektuelle Arroganz als intrapersonalen Zustand betrachten, betreffen die unmittelbaren Auswirkungen der Arroganz in erster Linie die arrogante Person selbst und nicht die epistemische Position anderer Personen. Eine Wissenschaftlerin kann in der Art und Weise, wie sie ihre Untersuchung durchführt, arrogant sein, selbst wenn sie diese allein durchführt und niemals auf die Idee kommt, ihr Wissen oder andere epistemische Güter mit anderen Per­ sonen zu teilen (vgl. Tanesini 2016, 82). Wenn wir hingegen Arroganz als interpersonalen Zustand betrachten, richtet sich unsere Aufmerk­ samkeit auch auf die Auswirkungen, die die epistemischen Möglich­ keiten anderer Personen betreffen. Hier wird die Expertin nicht in der isolierten Perspektive der einsamen Forscherin betrachtet, sondern im Hinblick auf ihre sozio-epistemische Funktion, die sie als Mit­ glied einer superioren Gruppe von wissenschaftlichen Expert*innen 25 Eine Person kann in einem weiten oder engen Sinn gruppenfunktional arrogant sein. Im weiten Sinne von gruppenfunktionaler Arroganz befindet sich die Person selbst in einem intrapersonalen Zustand der Arroganz, d.h. sie überschätzt ihre indi­ viduellen intellektuellen Stärken oder unterschätzt ihre intellektuellen Schwächen. In diesem Fall ist die betreffende Person aufgrund ihrer Loyalität zur Gruppe grup­ penfunktional arrogant und gleichzeitig befindet sie sich in einem intrapersonalen Zustand der (individuellen) intellektuellen Arroganz. Demgegenüber ist eine Person im engen oder besser genuinen Sinn gruppenfunktional arrogant, wenn sie selbst nicht in einem intrapersonalen Zustand der (individuellen) intellektuellen Arroganz ist. Die Übernahme der arroganten gruppenfunktionalen Ausrichtung hat in diesem Fall nichts damit zu tun, dass die Person ihre individuellen kognitiven Schwächen nicht anerkennt oder kognitiven Stärken überschätzt. Gruppenfunktionale intellektuelle Arroganz muss also nicht notwendig negative Auswirkungen auf die epistemische Position der Person selbst haben. Nichtsdestotrotz kann auch eine solche demütige Person aufgrund der Ausrichtung einer Gruppe, deren Teil sie ist und mit der sie sich identifiziert, gruppenfunktional arrogant sein. In diesem Fall hat die Zughörigkeit zur Gruppe negative Auswirkungen auf die sozio-epistemische Funktion der Wissens­ vermittlung, die eine Person als Repräsentant ihrer Gruppe ausübt, wenn sie unter interessengeleiteten Gesichtspunkten in testimonialen Austausch mit Mitgliedern anderer Gruppen tritt. Genuine gruppenfunktionale Arroganz beeinträchtigt nicht die intellektuelle Kompetenz oder Vertrauenswürdigkeit einer Person im Hinblick auf die eigene Forschung oder Untersuchung, wohl aber im Hinblick auf die Anerkennung der sozio-epistemischen Funktion der Wissensvermittlung durch jene Personen, die Opfer gruppenfunktionaler Arroganz werden, weil sie sich mit den epistemischen Interessen einer Gruppe identifizieren, deren Teilhabe an der Untersuchung nicht respektiert wird. In diesem Sinne lässt sich gruppenfunktionale (intellektuelle) Arroganz als Pendant zu pluralen Tugenden als eine Art kollektives epistemisches Laster verstehen. Vgl. zum Begriff der pluralen (intellektuellen) Tugend Fricker (2010).

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gegenüber anderen (zumeist) Laien-Gruppen der Gemeinschaft im Hinblick auf einen gemeinsamen Prozess der epistemischen Arbeits­ teilung ausübt.

4.3 Belastete Tugend und epistemische Polarisierung Ausgehend von der Unterscheidung zwischen intrapersonaler und interpersonaler intellektueller Arroganz lässt sich nun klären, warum beide Formen von epistemischer Wachsamkeit in nicht-idealer Umge­ bung einerseits tugendhaft sind und andererseits die Gefahr in sich bergen, die epistemische Umgebung weiter zu belasten. Im Fall des tugendhaften Dogmatikers liegt das Problem darin begründet, dass es in nicht-idealer Umgebung zu einer Art von Selbsttäuschung über die sozio-epistemische Funktion von Expertise kommen kann, die gruppenfunktionale Arroganz verfestigt und zur Polarisierung der Gemeinschaft beiträgt. Indem der tugendhafte Dog­ matiker glaubt, dass er in seiner Funktion als Wissensvermittler nur sich selbst und seiner wissenschaftlichen Forschung rechenschafts­ pflichtig ist – relativ zu den doxastischen Normen der eigenen supe­ rioren Gruppe –, verhält er sich respektlos gegenüber der grundlegen­ den Art von Anerkennung, die andere Teilnehmer der Untersuchung dazu bringt, ihn als Wissensvermittler auch unter nicht-abgestimm­ ten Interessen zu akzeptieren. Was dem tugendhaften Dogmatiker fehlt, wenn er sich über seine sozio-epistemische Funktion täuscht, ist der Respekt vor einer gleichberechtigten epistemischen Teilhabe von Nicht-Expert*innen als potenzielle Untersuchende. Ein tugendhafter Dogmatiker in nicht-idealer Umgebung verhält sich gruppenfunk­ tional arrogant, wenn er ausschließlich seinen wissenschaftlichen Ergebnissen verpflichtet ist und Mitgliedern anderer Gruppen nicht zugesteht, einen potenziellen Beitrag zur Untersuchung leisten zu können, und sie infolgedessen nicht als eine potentielle Quelle von Wissen (in Bezug auf die Umstände, die die Menge der relevanten Alternativen konfiguriert) oder alternative Fragestellungen betrach­ tet. Indem Expert*innen glauben, es gehe bei der Frage, wann die Untersuchung zu beenden ist, allein um die Wahrheit von p und nicht um die Frage, ob p eine kongruente Antwort auf die Fragestellungen derjenigen Gruppe ist, denen die Expertise dienen soll, täuschen sich Expert*innen über die Art der epistemischen Anerkennung, die sie benötigen, damit Mitglieder von anderen Gruppen mit nicht-abge­

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stimmten testimonialen Interessen ihnen auch unter nicht-idealen Bedingungen Vertrauen entgegen bringen. Sie täuschen sich über die Art der epistemischen Sorgfaltspflicht, die Untersuchende als tugend­ hafte Wissensvermittler*innen auszeichnen. Diese Sorgfaltspflicht anzuerkennen, bedeutet, dass man als wissenschaftliche Expertin nur dann unter nicht-idealen Bedingungen eine funktionierende testimoniale Quelle ist, der andere Personen mit nicht-abgestimm­ ten Interessen vertrauen können, wenn die Ergebnisse der eigenen Untersuchungen kongruente Antworten auf deren Fragen liefern. Umgekehrt ist es so, dass eine offenkundige, vielleicht sogar beab­ sichtigte Verletzung dieser Sorgfaltspflicht zum Auseinanderdriften der Gemeinschaft beiträgt, da berechtigtes Misstrauen gegenüber dem Modell der epistemischen Arbeitsteilung bei denjenigen Gruppen von Nicht-Expert*innen geschürt wird, deren Teilhabe an der Unter­ suchung nicht respektiert wird, indem ihre Fragen marginalisiert oder – schlimmer noch – in derogativer Einstellung diffamiert werden. Auf der anderen Seite, im Fall des wachsamen Misstrauens von Nicht-Expert*innen in nicht-idealer Umgebung, ergibt sich das komplementäre Problem, dass Mitglieder von Laien-Gruppen dazu neigen, ihr Misstrauen auf epistemisch unverantwortliche Weise zu kultivieren, indem sie die eigenen kognitiven Stärken überbewerten und eine Art intrapersonale (gruppenorientierte) Arroganz entwi­ ckeln. Eine verhinderte Beteiligung an der Untersuchung aufgrund von invektiver gruppenfunktionaler Arroganz kann Mitglieder von Nicht-Expert*innen-Gruppen dazu motivieren,26 sich in epistemische Parallelwelten zu begeben, in denen die kognitive Arbeitsteilung mit »offiziellen« Expert*innen aufgekündigt und stattdessen nach einer alternativen, nicht-offiziellen Form der »Expert-Testimony« gesucht wird, die mit den eigenen epistemischen Interessen abgestimmt ist. 26 Gruppenfunktionale Arroganz aufseiten der superioren Expert*innen-Gemeinde scheint Mitgliedern von Laien-Gruppen insbesondere dann ein starkes Motiv zu liefern, den kooperativen Prozess der epistemischen Arbeitsteilung aufzukündigen, wenn das gruppenfunktionale Auftreten der Expert*innen-Gemeinde durch politische Aktivitäten bekräftigt wird, die darauf abzielen, die nicht-abgestimmten Interessen von Laien durch eine Diffamierung der Gruppenorientierung zu diskreditieren. Die Ausgegrenzten haben dann nicht nur das Gefühl, dass ihre epistemischen Anlie­ gen nicht gehört werden, sie erleben gruppenfunktionale Arroganz als Ausdruck sozialer Marginalisierung durch die politisch Mächtigen, was ihnen zusätzlich zur epistemischen Benachteiligung einen weiteren (praktischen) Grund liefert, sich aus der epistemischen Abhängigkeit einer auf machtpolitischen Erwägungen gestützten Expert*innen-Gemeinde zu lösen.

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Wie in der Pandemie deutlich zu sehen war, geschieht das in der Regel dadurch, dass man gezielt nach »abweichenden« Expert*innen sucht, die sich nicht (oder nicht mehr) mit den Zielen der superioren Gruppe identifizieren und nicht selten selbst von ihr diffamiert werden. Diese abgrenzende Reaktion führt nicht nur zum Verlust eines Großteils von Informationen (die von »offizieller« Seite generiert werden) bei den betreffenden Nicht-Expert*innen-Gruppen, sie ist zugleich polarisierend im Hinblick auf die Frage, wer die richtigen oder besseren Expert*innen sind. Denn in dem Maße, in dem Laien beginnen, nur noch solchen Expert*innen zu vertrauen, deren Aussagen mit ihren epistemischen Interessen abgestimmt sind, entwickeln sie eine Form des epistemischen Misstrauens gegenüber allen »offiziellen« Expert*innen, das selbst dann noch Bestand hat (und seine polarisie­ rende Wirkung entfaltet), wenn deren Aussagen – anders als im Fall der berechtigten Skepsis – tatsächlich kongruente Antworten auf ihre Fragen liefern. Zu beachten ist an dieser Stelle, dass ein solches unver­ antwortliches Misstrauen gruppenorientiert ist, aber nicht wie im Fall des tugendhaften Dogmatikers als gruppenfunktional bezeichnet werden kann, da ein derartiges polarisierendes Misstrauen stets mit einer epistemischen Selbstüberschätzung jedes einzelnen Mitglieds der Gruppe – im Sinne einer Unterschätzung der kognitiven Gren­ zen, richtige von falschen Expert*innen kompetent unterscheiden zu können und nicht einfach nur solche Expert*innen zu präferieren, deren Aussagen mit den eigenen Interessen abgestimmt sind – ein­ hergeht. Gruppenorientierte Arroganz aufseiten der Laien-Gruppen scheint zwangsläufig mit einer Form von fehlender epistemischer Demut verbunden zu sein, nämlich der Selbstüberschätzung, die eigenen intellektuellen Limitierungen (im Sinne des bekannten Dun­ ning-Kruger-Effekts) erkennen zu können. Wie eben gesehen, haben beide Formen von epistemischer Wachsamkeit in nicht-idealer Umgebung die inhärente Tendenz, intellektuelle Arroganz zu fördern, deren polarisierendes Potential darin besteht, Mitglieder anderer Gruppen nicht mehr als gleichbe­ rechtigte epistemische Akteure im arbeitsteiligen Prozess der Unter­ suchung zu respektieren. Es ist wichtig an dieser Stelle zu betonen, dass epistemische Teilhabe, die wir anderen zugestehen, wenn wir ihnen epistemische Anerkennung als Untersuchende erweisen, nicht darauf zurückzuführen ist, dass sie für Expert*innen gehalten wer­ den. Der hier zugrundeliegende Anerkennungsaspekt ist keine Form der Wertschätzung epistemischer Kompetenz. Was wir bei Nicht-

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Expert*innen anerkennen, wenn wir ihnen epistemischen Respekt zollen, ist die Tatsache, dass sie potenzielle Wissende und gleichbe­ rechtigte Untersuchende sind. Als solche sind Nicht-Expert*innen als Quelle von Fragestellungen und Adressaten von Antworten zu betrachten, denen wir prima facie in jedem Akt eines testimonia­ len Austausches rechenschaftspflichtig sind, d.h. wir müssen ihren Ansichten selbst dann eine beitragende Rolle im Untersuchungspro­ zess zugestehen, wenn diese Beiträge nicht mit unseren epistemischen Interessen abgestimmt sind. In der Covid-19-Pandemie konnte in die­ ser Hinsicht eine besonders krasse Form des fehlenden epistemischen Respekts beobachtet werden: Gruppenfunktionale Arroganz, ganz gleich ob weit oder eng, mündete in verbale Auseinandersetzungen, deren vorrangiges Ziel darin bestand, die Anerkennung epistemi­ schen Respekts zu verweigern, indem man wechselseitig versucht hat, unter Verwendung herabsetzender Ausdrücke wie »Covid-Idiot« oder »Corona-Nazi« die jeweils andere Seite zu diskreditieren und damit von einer gleichberechtigten Teilnahme an der Untersuchung auszu­ grenzen. Fassen wir kurz zusammen: Ich habe zu zeigen versucht, dass beide Formen von epistemischer Wachsamkeit (in nicht-idealer Umgebung) »belastete« epistemische Tugenden sind, die nicht der kognitiven Vervollkommnung dienen, da sie zu polarisierender intel­ lektueller Arroganz neigen. Dabei muss jedoch zwischen Arroganz als interpersonellem und intrapersonalem Zustand unterschieden werden. Tugendhafter (ED) aufseiten der Expert*innen hat den Hang zur Polarisierung, weil dadurch gruppenfunktionale (interpersonale) Arroganz gefördert wird, die mit einer Selbsttäuschung bezüglich der sozio-epistemischen Funktion von Expertise verbunden ist. Die gene­ relle Kultivierung von Misstrauen aufseiten der Nicht-Expert*innen führt hingegen zu einer gruppenorientierten (intrapersonalen) Arro­ ganz, deren polarisierende Ausrichtung darin besteht, die Bedeut­ samkeit gruppenfremder »Expert-Testimony« prinzipiell in Frage zu stellen. In beiden Fällen ist fehlende Anerkennung des epistemischen Respekts im Hinblick auf eine kooperative Teilhabe im arbeitsteiligen Prozess der Untersuchung das negative Ergebnis. Ich hatte eingangs betont, dass ein Vorteil des vorgeschlagenen untersuchungsorientierten Ansatzes der sozio-epistemischen Funk­ tion von Expertise darin liegt, dem Umstand Rechnung zu tragen, dass intellektuelle Dispositionen tugendhaft oder lasterhaft sein können, je nachdem, ob sie eine verantwortungsvolle und effektive Unter­

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suchung begünstigen oder behindern. Abschließend soll nun der Versuch unternommen werden, zu klären, was es im Rahmen dieses Ansatzes für Expert*innen bedeutet, unter nicht-idealen Umständen epistemisch wachsam zu sein, ohne dabei Opfer von gruppenfunktio­ naler Arroganz zu werden.

5. Epistemische Verantwortung in nicht-idealer epistemischer Umgebung Im Rahmen des von mir präferierten Ansatzes haben Expert*innen eine besondere Einstellung zur Untersuchung; sie versuchen in Aus­ übung ihrer wissensvermittelnden Funktion epistemisch tugendhaft zu agieren, indem sie intellektuelle Laster vermeiden und in ihren Untersuchungen größtmögliche epistemische Sorgfalt walten lassen. Hiervon ausgehend lässt sich fragen, was es unter nicht-idealen Bedingungen heißt, im Rahmen der Wissensvermittlung epistemi­ sche Verantwortung zu übernehmen. Um welche Art von Verantwor­ tung geht es dabei?27 Ich argumentiere im verbleibenden Teil dafür, dass eine Konsequenz der vorangegangenen Überlegungen darin besteht, dass epistemische Verantwortung unter nicht-idealen Bedin­ gungen der Wissensvermittlung eine Art sozio-epistemische Integrität erfordert, die Expert*innen nur dann besitzen, wenn sie die Fragestel­ lungen und epistemischen Interessen anderer Gruppen innerhalb der Gemeinschaft in angemessener Form berücksichtigen. Tugendhafte Wissensvermittler*innen handeln in nicht-idealer Umgebung verant­ wortlich, wenn sie die Ergebnisse ihrer Forschungen in den Dienst 27 Epistemische Verantwortung kann in zweierlei Weise betrachtet werden: Enge epistemische Verantwortung betrifft kognitive Verpflichtungen, die einzelne Akteure zum Zeitpunkt der Überzeugungsbildung eingehen, wenn sie sich an den doxastischen Normen der epistemischen Gemeinschaft orientieren. Demgegenüber betrifft weite epistemische Verantwortung die Aktivität der Untersuchung, d.h. die Art und Weise wie wir Untersuchungen durchführen (vgl. hierzu Grasswick 2020). Normen der Untersuchung sagen uns nicht, was wir glauben sollen oder wann es gerechtfertigt ist, etwas zu glauben, sondern regeln die Art und Weise, wie wir etwas herausfinden. Letztere hat Friedman (2020) jüngst als »zetetic norms« bezeichnet. »Zetetic«-Nor­ men sind umfassender und manchmal auch unvereinbar mit doxastischen Normen, weil sie die Aktivität der Untersuchung als Ganze betreffen (vom Beginn der Neugier, über die genaue Klärung der Frage, bis hin zum Herausfinden einer kongruenten Antwort). Entsprechend haben wir es hier mit einer umfassenderen Art epistemischer Verantwortung zu tun.

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der Untersuchungen anderer stellen. Im Fall der sozio-epistemischen Integrität der Wissensvermittlerin besteht die Hoffnung, dass Laien auch unter nicht-abgestimmten epistemischen Interessen bereit sind, die Art von Anerkennung zu gewähren, die es benötigt, um den Aus­ sagen von Expert*innen ohne polarisierendes Misstrauen begegnen zu können.

5.1 Die sozio-epistemische Integrität von Expert*innen als Basis für Vertrauen Bereits vor der Pandemie war von einem schwindenden Vertrauen im Verhältnis zwischen wissenschaftlichen Expert*innen und LaienGruppen die Rede. Die Art und Weise, wie Wissenschaftler*innen in der Pandemie beratend tätig gewesen sind, scheint jedoch als eine Art Katalysator für weiteren Vertrauensverlust gewirkt zu haben.28 Ent­ sprechend wird vielerorts die Frage gestellt, wie verlorengegangenes Vertrauen zurückgewonnen werden kann. Die Diskussion des Ver­ trauensverlusts wird zumeist im Hinblick auf testimoniales Vertrauen geführt. Um genau zu sehen, um welche Art von Verantwortung es im Kontext des Expert*innen-Laien-Verhältnisses geht, ist es hilfreich, zwei Aspekte der Vertrauensfrage auseinanderzuhalten. Erstens sollte man genauer zwischen der bloßen Abwesenheit von bereichsspezi­ fischem testimonialen Vertrauen und bereichsunspezifischem Miss­ trauen unterscheiden. Aus der Abwesenheit von bereichsspezifischem testimonialen Vertrauen in einzelnen Fällen von »Expert-Testimony« folgt in der Regel kein allgemeines bereichsunspezifisches Misstrauen in die wissensvermittelnde Funktion von Expert*innen. Zweitens erfordert die Diskussion des Vertrauensverlusts, so wie er in der Pandemie im Zusammenhang mit wissenschaft­ licher Politikberatung beklagt wurde, eine genauere Differenzie­ rung zwischen der Vertrauenswürdigkeit und dem tatsächlichen Ver­ trauen in Expert*innen. Letzteres betrifft die Glaubwürdigkeit, die Expert*innen im Hinblick auf die Ausübung ihrer sozio-epistemischen Funktion in den Augen von Laien besitzen. Eine wissenschaftliche Quelle als vertrauenswürdig zu identifizieren, scheint eine Sache zu sein, einer vertrauenswürdigen (wissenschaftlichen) Quelle tatsäch­ 28 Auf diesen Aspekt wurde in verschiedenen Feldstudien wie beispielweise Panten­ burg et al. (2021) aufmerksam gemacht.

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lich zu vertrauen, eine ganz andere. Die Vertrauenswürdigkeit von Expert*innen wird in der Regel im Hinblick auf ihre wissenschaftli­ che Kompetenz und Aufrichtigkeit bewertet.29 Ob man vertrauens­ würdigen Expert*innen in einer bestimmten Umgebung tatsächlich vertraut, hängt hingegen von mehr als nur diesen Aspekten ab. Die zweite Unterscheidung tritt in den Vordergrund, wenn Expert*innen wie in der Pandemie im öffentlichen Raum an politi­ schen Entscheidungsprozessen beteiligt sind, in denen Aussagen in einer strategischen Umgebung mit nicht-abgestimmten Interessen gemacht werden und daher nicht prima facie erwartet werden kann, dass testimoniale Vertrauenswürdigkeit ein geeigneter Indikator für epistemisches Wohlwollen ist. Viele soziale Erkenntnistheoreti­ ker*innen haben darauf hingewiesen, dass es im Zusammenhang mit der Wissensvermittlung sozio-epistemische Faktoren gibt, die Wis­ senschaftler*innen in den Augen anderer Personen nicht glaubwürdig erscheinen lassen, obwohl diese nichts mit der Qualität ihrer wissen­ schaftlichen Forschung zu tun haben.30 Es gibt zahlreiche Beispiele dafür, dass Wissenschaftler*innen Untersuchungen durchführen, deren Ergebnisse von großem Wert sein könnten, ihnen aber nicht vertraut wird, weil die von den Ergebnissen betroffenen Personen zu Recht oder zu Unrecht glauben, dass die Wissenschaftler*innen aufgrund ihrer Stellung in der Gesellschaft, ihrer Arbeitgeber, oder aufgrund von Verpflichtungen gegenüber staatlichen Institutionen voreingenommen sind, was die Wahrnehmung ihrer epistemischen und praktischen Interessen und die damit verbundenen Fragestellun­ gen angeht. Vor diesem Hintergrund hat Naomi Scheman (2001) vorgeschla­ gen, dass mit der Vertrauenswürdigkeit von Expert*innen die intellek­ tuelle Disposition verbunden sein sollte, epistemische Verantwortung 29 Die oft hervorgehobene Wertneutralität der Wissenschaften (vgl. hierzu auch die Beiträge von Beisbart und Schurz im vorliegenden Band) hat etwas mit der Vertrauens­ würdigkeit von Expert*innen im Hinblick auf Kompetenz und Aufrichtigkeit zu tun, da es hier um wissenschaftsinterne Werte wie Wahrheit, Wissen, Verstehen usw. geht. Um Expert*innen in nicht-idealer Umgebung als Wissensvermittler*innen vertrauen zu können, bedarf es hingegen epistemischer Tugenden, die über wissenschaftliche Kompetenz hinausgehen und nicht unter das Verdikt der Wertneutralität fallen. Ich werde später zu diesen Tugenden noch mehr sagen. 30 Im Rahmen feministischer Wissenschaftsforschung wurde etwa vielfach darauf hingewiesen, dass unter anderem auch soziale Faktoren wie Rassismus oder Sexismus das Vertrauen beeinträchtigen. Vgl. hierzu Anderson (1995); Code (1991); Rolin (2002); Scheman (1993); Williams (1991).

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mit sozialer Integrität zu verbinden. Expert*innen sollten nicht nur den eigenen Forschungen verpflichtet sein; sie sollten auch dafür Sorge tragen, dass es in der Vermittlung wissenschaftlicher Ergebnisse keine Voreingenommenheiten gibt, die zu Ungerechtigkeiten führen. Bei Scheman geht es hauptsächlich um soziale Ungerechtigkeiten.31 Im Rahmen der von uns diskutierten Inquiry-Irrelevanz-Ungerech­ tigkeiten lässt sich jedoch der Zusammenhang von epistemischer Verantwortung und sozialer Integrität auf den epistemischen Bereich übertragen. Demnach ist eine vertrauenswürdige Expert*in nur dann in den Augen von Nicht-Expert*innen eine glaubwürdige Wissens­ vermittlerin, der man tatsächlich vertrauen kann, wenn sie dafür sorgt, dass Inquiry-Irrelevanz-Ungerechtigkeiten vermieden werden und die sozio-epistemische Funktion der Wissensvermittlung episte­ misch verantwortlich ausgeführt wird. Eine vertrauenswürdige Exper­ tin handelt in dieser Hinsicht verantwortungsvoll, wenn sie bereit ist, die epistemische Abhängigkeit von Nicht-Expert*innen nicht einfach nur zu respektieren, sondern die Tatsache, dass diese auf sie zählen, selbst als Teil ihrer Vertrauenswürdigkeit ansieht (vgl. Almassi 2012, 46). Meine Behauptung ist nun, dass man verlorengegangenes Ver­ trauen nur dann zurückgewinnen kann, wenn Expert*innen die besondere Verantwortung anerkennen, die mit der Vermittlung ihrer Ergebnisse in nicht-idealer Umgebung verbunden ist. Dazu muss der strategische Kontext der »Expert-Testimony« reflektiert werden und die Bereitschaft gegeben sein, Vertrauenswürdigkeit nicht auf die Überprüfbarkeit von Forschungsergebnissen im wissenschaftlichen Kontext der eigenen Untersuchung zu reduzieren. Stattdessen muss epistemische Verantwortung für die Untersuchung in einem breite­ ren Sinne verstanden werden. In nicht-idealer Umgebung mit nichtabgestimmten Interessen sind Expert*innen nur dann tugendhafte Vermittler*innen von Wissen und anderen epistemischen Gütern, wenn sie die sozio-epistemische Integrität besitzen, die eigenen Unter­ suchungen in den Dienst der Untersuchungen derjenigen zu stellen, die von ihnen abhängen und auf sie zählen. Nach Scheman (2001, 43) wäre es irrational, zu erwarten, dass Menschen ihr Vertrauen in epistemische Praktiken setzen, von denen sie aus früheren Erfahrungen wissen, dass es Fälle des ethischen Missbrauchs gab und die betreffenden Institutionen (Universitäten, Unternehmen, Regierungsbehörden) sie wahrscheinlich wieder unge­ recht behandeln werden. 31

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5.2 Epistemisches Wohlwollen als unbelasteter Indikator Ich hatte gesagt, dass es in der Pandemie zu einer Verschärfung des Problems der Identifikation von echten Expert*innen kommt. Im Rahmen einer relationalen Sichtweise der sozio-epistemischen Funktion von Expert*innen lässt sich jedoch argumentieren, dass die sozio-epistemische Integrität ein Indikator ist, der selbst in nichtidealer Umgebung, in der gängige Indikatoren für die Vertrauens­ würdigkeit von Expert*innen geschädigt sein können, verlässlich funktioniert. Der Grund ist folgender: In einer belasteten Umgebung wie der Pandemie mangelt es offenkundig nicht an Expert*innen, sondern eher daran, dass die Entwicklung von Fragestellungen und die Suche nach kongruenten Antworten ein äußerst schnelllebiger Prozess ist, der es zeitlich nicht erlaubt, darauf zu warten, dass sich zwischen den verschiedenen Expert*innen-Meinungen ein Kon­ sens herauskristallisiert.32 In einer solchen Umgebung scheint die folgende Frage ein höheres Gewicht zu bekommen: Welche der Kandidat*innen ist angesichts der gegebenen nicht-idealen Voraus­ setzungen diejenige, der man am ehesten vertrauen kann? Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass es in einer Umgebung mit weit­ verbreiteten Meinungsverschiedenheiten nicht aussichtslos erschei­ nen muss, herauszufinden, welche der verschiedenen Expert*innen die sozio-epistemische Funktion der Wissensvermittlung am besten erfüllt. Wie unter anderem Jennifer Lackey (2018) betont hat, stehen uns weitaus mehr Mittel zur Verfügung, geeignete Expert*innen zu identifizieren, wenn wir auf ihre Rolle als gute, tugendhafte Bera­ ter*innen achtgeben. Wir können in der Regel sehr gut einschätzen, inwieweit die betreffende Expertin in der Lage ist, das Verstehen eines bestimmten Zusammenhangs zu verbessern. Wir können feststellen, wie gut Expert*innen auf klare und verständliche Weise Sachverhalte erklären können, wie gut sie darin sind, Fragen auf den Punkt zu bringen usw. Und auch wenn wir nicht mit Sicherheit sagen können, wer in einem bestimmten Bereich die kompetentere Forscherin ist, können wir ziemlich genau sagen, wer besser darin ist, anderen Personen zuzuhören, bemüht ist, anderen eine Hilfestellung zu sein, die richtigen Antworten auf ihre Fragen zu finden, oder wer gegenüber Fragen, die nicht unbedingt die eigenen sind, aufgeschlossen ist, und die Bedenken und Interessen anderer Personen ernstnimmt, ohne 32

Vgl. hierzu den Beitrag von Jungert in diesem Band.

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dabei in gruppenfunktionale (interpersonale) Arroganz zu verfallen. Der entscheidende Punkt ist hier, dass sich die damit verbundenen Fähigkeiten und Tugenden auch dann beobachten lassen, wenn die herkömmlichen Indikatoren für wissenschaftliche Vertrauenswürdig­ keit aus den genannten Gründen nicht anwendbar sind. In einem solchen umfassenden Rahmen der Identifikation von Expert*innen sind wir nämlich weniger daran interessiert, ob Expert*innen in der Lage sind, irgendwelche Wahrheiten zu präsentieren, deren Einord­ nung schwer zu beurteilen ist, sondern vielmehr daran, wie sie Wissen vermitteln, d.h. ob sie uns helfen können, die eigene Untersuchung zu beenden, indem sie kongruente Antworten auf unsere Fragen liefern. An dieser Stelle kommt ein weiterer Aspekt hinzu. Wie Kyle Powys Whyte und Robert P. Crease (2010) anschaulich gezeigt haben, hängt der Erfolg der Wissensvermittlung in nicht-idealer Umgebung maßgeblich davon ab, ob Wissenschaftler*innen und Laien zusam­ menarbeiten. In manchen Kontexten wird dies jedoch verhindert, da Wissenschaftler*innen die Notwendigkeit der Beiträge von NichtExpert*innen nicht anerkennen und sie aufgrund mangelnder Kom­ petenz und nicht-abgestimmter Interessen nicht an der Untersuchung teilhaben lassen.33 Besonders auffällig in diesen Fällen ist, dass Laien die Tatsache, dass Wissenschaftler*innen ihre Beiträge nicht anerken­ nen, als ein Indiz dafür werten, dass im vorliegenden Fall wachsames Misstrauen geboten ist. Das Versäumnis der Wissenschaftler*innen, sie an der Untersuchung teilhaben zu lassen, ist, so kann man sagen, ein direkter Indikator dafür, dass sie die sozio-epistemische Funktion der Wissensvermittlung schlecht bzw. lasterhaft ausüben. Zu erkennen, welche Expert*in die höchste Kompetenz hat, mag gut für diejenigen sein, die zu Gruppen mit gleichen (abgestimmten) epistemischen Interessen gehören, aber nicht für Außenstehende, die Inquiry-Irrelevanz-Ungerechtigkeit befürchten, weil ihre epistemi­ schen Interessen nicht berücksichtigt werden. Umgekehrt heißt das, in nicht-idealer Umgebung kann es sein, dass Expert*innen, die nach den gängigen Indikatoren für Vertrauenswürdigkeit möglicherweise schlechter abschneiden würden, aber wohlwollend sind – indem sie die Rolle von Nicht-Expert*innen als Beitragende zur Untersuchung respektieren – als tugendhafte Wissensvermittler*innen (denen man dann tatsächlich vertrauen kann) anerkannt werden. Der entschei­ 33 Powys Whyte/Crease (2010, 415) bezeichnen solche Fälle als »unrecognized contributor cases«.

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dende Punkt ist hier, dass epistemisches Wohlwollen für diejenigen, die es betrifft, direkt identifizierbar ist, da es unmittelbar an den eige­ nen Fragestellungen abgelesen werden kann. Auch wenn man in einer nicht-idealen Umgebung nicht mit Sicherheit sagen kann, wer in einem bestimmten Bereich die kompetentere oder zuverlässigere Expertin ist, kann man mit relativ großer Sicherheit feststellen, ob sich Expert*innen fürsorglich mit Fragestellungen auseinandersetzen, die nicht mit ihren eigenen epistemischen Interessen abgestimmt sind. Damit komme ich zu einem letzten Aspekt.

5.3 Zurückgewinnung von Vertrauen durch verantwortliche Wachsamkeit In einer nicht-idealen Umgebung der Wissensvermittlung wie in Zei­ ten der Covid-19-Pandemie scheint die Veränderung epistemischer Gewohnheiten im Rahmen des Expert*innen-Laien-Verhältnisses (tugendhafter Dogmatismus und wachsames Misstrauen) zu fehlen­ dem Respekt zu führen, die jeweils andere Seite als Teil der arbeitsteili­ gen Aktivität der Untersuchung anzuerkennen. Wenn wir uns fragen, wie dieser Entwicklung entgegengewirkt werden kann, müssen wir uns über den Begriff der verantwortungsvollen epistemischen Wach­ samkeit in nicht-idealer Umgebung Gedanken machen. Der folgende Vorschlag kann als eine erste Annäherung dazu verstanden werden: Verantwortliche epistemische Wachsamkeit Ein epistemischer Akteur handelt in nicht-idealer Umgebung verantwortungsvoll in der Ausübung epistemischer Wachsam­ keit, wenn er in der Anpassung epistemischer Gewohnheiten (tugendhafter epistemischer Dogmatismus bzw. wachsames Misstrauen) reflektiert, dass diese nicht zur intellektuellen Ver­ vollkommnung beitragen und sich daraufhin verpflichtet, damit verbundene mögliche negative Konsequenzen wie die Ausbil­ dung intellektueller Arroganz zu vermeiden. Was heißt das im Einzelfall? Will man als tugendhafter Dogma­ tiker nicht Opfer gruppenfunktionaler Arroganz werden, müssen Expert*innen ihre sozio-epistemische Funktion im Hinblick auf strategische »Expert-Testimony« reflektieren. Um epistemisches Ver­ trauen zurückzugewinnen, reicht es nicht aus, relativ zu den nor­

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mativen Standards der eigenen wissenschaftlichen Gemeinschaft vertrauenswürdig zu erscheinen. Vielmehr sind epistemische Tugen­ den gefragt, die der Tatsache gerecht werden, dass die Vermitt­ lung wissenschaftlicher Ergebnisse in nicht-idealer Umgebung unter nicht-abgestimmten Interessen stattfindet.34 Tugendhafte Wissens­ vermittler*innen müssen aus diesem Grund eine hohe Sensitivi­ tät dafür entwickeln, dass sie als Repräsentantin einer superioren Expert*innen-Gemeinschaft in ihrer wissensvermittelnden Rolle nicht als gruppenfunktional arrogant wahrgenommen werden, indem sie versuchen, wohlwollend auf die epistemischen Ziele und Frage­ stellungen von Laien-Gruppen einzugehen, selbst wenn diese vor dem Hintergrund der eigenen Forschungsergebnisse abwegig erschei­ nen. Insbesondere müssen sie dafür sorgen, dass »Inquiry«-Irrele­ vanz-Ungerechtigkeiten vermieden werden, indem lokales Wissen und Wissen, das Laien-Gruppen aufgrund von wissenschaftlichen Außenseitermeinungen erlangen, als potentieller Beitrag zur Untersu­ chung respektiert wird. In Vergleich dazu setzt verantwortungsvolles Misstrauen aufsei­ ten der Nicht-Expert*innen voraus, dass von ihnen vorurteilsfrei geprüft wird, ob wachsames Misstrauen gegenüber der sozio-epistemi­ schen Integrität von Expert*innen angebracht ist oder nicht. In einer nicht-idealen Umgebung wie der Covid-19-Pandemie verantwortlich mit wachsamem Misstrauen umzugehen, heißt anzuerkennen, dass wohlwollende Expert*innen die Ziele und epistemischen Interessen anderer Teilnehmer*innen der Untersuchung respektieren und sich ihnen gegenüber im Rahmen des gemeinsamen arbeitsteiligen Pro­ zesses der Untersuchung rechenschaftspflichtig erweisen. Diese Form der Anerkennung beruht nicht auf gruppenorientierter Selbstüber­ schätzung was die epistemischen Ressourcen der Beurteilung der Ver­ trauenswürdigkeit von Expert*innen angeht. Sie stellt vielmehr eine Unter idealen Bedingungen werden neben Kompetenz unter anderem auch Unparteilichkeit, epistemische Autonomie, uneingeschränkte Aufgeschlossenheit usw. genannt (Collins 2014; Croce 2018; Grundmann 2017; Shapin 2008). Es sollte jedoch klar geworden sein, dass das nicht die epistemischen Tugenden sind, die an erster Stelle stehen, wenn es darum geht, Vertrauenswürdigkeit mit sozio-epistemi­ scher Integrität zu verbinden. Hier benötigt es adressaten-orientierte intellektuelle Tugenden, die Expert*innen für die Interessen und epistemischen Ressourcen von Nicht-Expert*innen sensibilisieren. Kandidaten hierfür sind intellektuelle Fürsorge und Einfühlungsvermögen, generelle mäeutische Fähigkeiten, aber auch Tugenden wie epistemische Großzügigkeit und epistemisches Rechtsempfinden. Vgl. hierzu Croce (2017, 19); Schmechtig (2018). 34

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demütige Aneignung der eigenen kognitiven Grenzen dar, indem man die epistemische Abhängigkeit von wohlwollenden Expert*innen im eigenen Prozess der Untersuchung grundsätzlich respektiert. NichtExpert*innen, die in nicht-idealer Umgebung epistemisch verant­ wortlich handeln, setzen ihr wachsames Misstrauen gezielt ein, näm­ lich nur dort, wo es verlässliche Anzeichen gibt, dass InquiryIrrelevanz-Ungerechtigkeiten und strategische »Expert-Testimony« eine respektvolle (kooperative) Teilhabe an der Untersuchung verhin­ dern. Wenn vertrauenswürdige Expert*innen als tugendhafte Wis­ sensvermittler*innen eine sozio-epistemische Integrität entwickeln, die eine respektvolle Teilhabe am Prozess der Wissensvermittlung auch unter nicht-abgestimmten Interessen erlaubt, und sie alles daran setzen, epistemische Inquiry-Irrelevanz-Ungerechtigkeiten zu ver­ meiden, gibt es für Nicht-Expert*innen keinen rationalen (epistemi­ schen) Grund, sich ihnen gegenüber misstrauisch zu verhalten. Das setzt jedoch voraus, dass sie ihr wachsames Misstrauen in nicht-idea­ ler Umgebung auf epistemisch verantwortliche Weise einsetzen, indem sie selbst darauf achten, dass von ihrer Seite Irrelevanz-Unge­ rechtigkeiten und ein damit einhergehender (gruppenorientierter) Hang zur epistemischen Selbstüberschätzung vermieden wird.

6. Schluss Für das Verständnis einer funktionierenden »Expert-Testimony« ist es bedeutsam, die Bedingungen zu betrachten, unter denen es wahr­ scheinlich ist, dass die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung, die durch Expert*innen generiert werden, von anderen Gruppen inner­ halb der Gemeinschaft geteilt werden. In einer epistemischen Umge­ bung wie der Covid-19-Krise sind diese Bedingungen nicht ideal, da es zu Verzerrungen testimonialer Ökonomie im Mikrobereich (Irrelevanz-Ungerechtigkeiten und strategische »Expert-Testimony«) kommt, die Veränderungen epistemischer Gewohnheiten innerhalb des Expert*innen-Laien-Verhältnisses auf Makroebene (tugendhaf­ ter Dogmatismus und wachsames Misstrauen) zur Folge haben. Letzteres bringt die Gefahr einer Polarisierung der epistemischen Gemeinschaft mit sich, da epistemische Wachsamkeit unter nichtidealen Bedingungen selbst eine »belastete« intellektuelle Tugend ist, die gruppenfunktionaler (interpersonaler) Arroganz aufseiten der

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Expert*innen und gruppenorientierter (intrapersonaler) Arroganz aufseiten der Laien-Gruppen förderlich ist. Das für beide Seiten ungünstige Resultat ist fehlender Respekt gegenüber der koopera­ tiven Teilhabe am gemeinsamen Prozess der Untersuchung. Ich habe argumentiert, dass dieser Tendenz entgegengewirkt werden kann, wenn Expert*innen die besondere Verantwortung anerkennen, die tugendhafte Wissensvermittler*innen in einer Umgebung mit nicht-abgestimmten Interessen auszeichnet. Expert*innen sollten in nicht-idealer Umgebung die sozio-epistemische Integrität entwickeln, die eigenen Untersuchungen in den Dienst der Untersuchungen derjenigen zu stellen, die von ihnen im arbeitsteiligen Prozess der Wissensvermittlung abhängen. Das darin zum Ausdruck kommende epistemische Wohlwollen liefert Nicht-Expert*innen einen direkten Indikator für tugendhafte Wissensvermittler*innen, auf den sie sich auch in einer Umgebung mit nicht-abgestimmten epistemischen Interessen wie der Covid-19-Pandemie verlassen können.35

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Teil III Vertrauen und Misstrauen gegenüber wissenschaftlichen Aussagen und Empfehlungen

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Jon Leefmann

Empfehlen und Vertrauen

Der Erfolg von Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie ist abhängig vom Vertrauen der Öffentlichkeit in wissenschaftli­ che Experten. Zwar ist Vertrauen als Einstellung gegenüber Experten im Zusammenhang mit der Pandemie bereits viel Aufmerksamkeit zuteilgeworden, allerdings meist in Bezug auf das Vertrauen, das Laien Äußerungen wie Behauptungen und Mitteilungen entgegen­ bringen, die ihnen das Wissen der Experten zugänglich machen sol­ len. Dieser Aufsatz stellt dagegen eine andere Art der Äußerung in den Mittelpunkt: die Empfehlung. Im Zusammenhang mit der Pandemie haben Forderungen gegenüber der Politik, wissenschaftsbasiert zu verfahren, zugenommen. Gleichzeitig sind Politikerinnen und Politi­ ker aber nicht das Sprachrohr der Wissenschaft, sondern übernehmen Verantwortung für eine wissenschaftsbasierte Gesundheitspolitik, unter anderem indem sie Bürgerinnen und Bürgern bestimmte Hand­ lungen empfehlen. Damit erhebt die Politik allerdings den Anspruch, dass Bürgerinnen nicht nur glauben sollten, was ihnen von den Exper­ ten gesagt wird, sondern auch, dass sie tun sollten, was von ihnen im Rahmen der Maßnahmen verlangt wird. Ziel dieses Aufsatzes ist es daher zu zeigen, dass Empfehlungen eine Konzeption von Vertrauen erfordern, die sich vom Vertrauen im Kontext von Mitteilungen und Behauptungen stark unterscheidet.1 Es geht nicht nur darum, diese Art von Vertrauen genauer zu spezifizieren, sondern auch darum zu erklären, unter welchen Voraussetzungen es vernünftig ist, wissenschaftsbasierten Empfehlungen der Politik mit Vertrauen zu begegnen. Dazu gehe ich folgendermaßen vor: In Abschnitt 1 analysiere ich zunächst den Sprechakt des Empfehlens. Das dadurch gewonnene Grundverständnis von empfehlenden Sprechakten unter­ suche ich dann im Kontext von Empfehlungen wissenschaftlicher 1 Diese Unterschiede sind auf unterschiedliche Weise auch von Hinchman (2005) und Bennett (2020) untersucht worden.

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Jon Leefmann

Experten während der Covid-19-Pandemie (Abschnitt 2) und plädiere dann dafür, dass eine Analyse der an eine breite Öffentlichkeit gerich­ teten Empfehlungen am besten bei Äußerungen von Politikern anset­ zen muss, die sich auf das kompetente Urteil wissenschaftlicher Expertinnen und Experten beziehen (Abschnitt 3). In Abschnitt 4 dis­ kutiere ich dann die Gründe, die ein Hörer haben könnte, eine sol­ che Empfehlung anzunehmen, bevor ich in den Abschnitten 5 und 6 die für Empfehlungen relevante Form des Vertrauens herausarbeite. Abschnitt 7 diskutiert die Auffassung, dass Vertrauen in wissen­ schaftsbasierte Empfehlungen nur durch die Anerkennung der Spre­ cherin im Sinne einer guten Ratgeberin als rationale Einstellung aus­ gewiesen werden kann, bevor ich abschließend argumentiere, dass diese Rationalitätsbedingungen im Kontext der COVID-19-Pandemie nur schwer einzulösen waren.

1. Der Sprechakt des Empfehlens Im Folgenden analysiere ich Empfehlungen als Sprechakte. Dazu gehe ich von einem konventionalistischen Analyserahmen aus. Ich folge Searle (1974), insofern ich voraussetze, dass verschiedene Arten illo­ kutionärer Akte durch bestimmte Kontextbedingungen individuiert werden können. Ob die Äußerung einer Sprecherin eine Empfehlung ist, hängt Konventionalisten wie Searle und Austin zufolge davon ab, durch welche sozialen und sprachlichen Konventionen der jeweilige Äußerungskontext bestimmt ist. Zum Beispiel kann die Äußerung einer Sprecherin: (*) »Zum Schutz vor Infektionen und zur Eindämmung des Pandemiegeschehens insgesamt sollten Masken getragen und Abstandsregeln eingehalten werden« je nach Äußerungskontext als Behauptung oder auch als Empfehlung gedeutet werden. Eine konventionalistische Analyse muss daher die sprachlichen Konventionen beschreiben, die von den Kommunika­ tionspartnern vorausgesetzt werden müssen, damit die Äußerung als Empfehlung aufgefasst werden kann. Gemäß der Searle’schen Taxonomie von Sprechakten fallen Empfehlungen in die Kategorie der Direktiva. Direktiva sind Sprechakte, deren illokutionärer Zweck darin besteht, einen Hörer dazu zu bewegen, eine bestimmte Hand­

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Empfehlen und Vertrauen

lung auszuführen. Empfehlungen fallen nach diesem Klassifikations­ vorschlag in die gleiche Kategorie wie Befehle, Anordnungen, Anwei­ sungen, Vorschläge oder Bitten. All diese Sprechhandlungen drücken Searle zufolge den Wunsch der Sprecherin aus, dass der Hörer eine bestimmte Handlung ausführen möge. Ich teile Searles Auffassung, dass Empfehlungen in diese allgemeine Klasse von Sprechakten eingeordnet werden können. Empfehlungen fordern den Hörer typi­ scherweise auf, etwas zu tun (»Tragen Sie eine Maske!«). Gleichzeitig bringen Empfehlungen aber auch eine Proposition zum Ausdruck, die die Sprecherin als relevant für den Hörer erachtet (»Wenn Sie eine Maske tragen, schützen Sie sich vor einer Infektion und helfen, die Pandemie einzudämmen«). In der Literatur ist daher umstritten, ob bei Sprachakten wie Empfehlen oder einen Rat erteilen die direktive oder die deklarative Komponente als grundlegend betrachtet werden sollte.2 Da ich diese Debatte im Rahmen dieses Aufsatzes nicht führen kann, wird es mir im Folgenden nur darum gehen, zu bestimmen, durch welche spezifischen Konventionen sich Empfehlungen von anderen direktiven Sprechakten unterscheiden lassen. Zunächst möchte ich aber auf eine allgemeine Eigenschaft direk­ tiver Sprechakte hinweisen. (*) kann nur dann als direktiv aufgefasst werden, wenn wir voraussetzen, dass die Sprecherin davon überzeugt ist, dass eine realistische Möglichkeit besteht, dass der Hörer es unterlässt, eine Maske zu tragen und die Abstandsregeln einzuhal­ ten. Bestünden seitens der Sprecherin keine Zweifel bezüglich des Verhaltens des Hörers, gäbe es für sie gar keinen Anlass, den Hörer mittels sprachlicher Äußerungen dazu zu bringen, diese Handlungen auszuführen. Für alle Direktiva gilt daher, dass die Sprecherin glauben muss, dass der Hörer grundsätzlich frei ist zu entscheiden, welche Ziele er mit welchen Mitteln verfolgt. Direktiva zielen darauf ab, diese grundsätzlich freie Entscheidung zu beeinflussen, indem sie dem Hörer Gründe zur Verfügung stellen, eine bestimmte Handlung 2 Diese Literatur unterscheidet nicht systematisch zwischen Empfehlungen (recom­ mendations) und Ratschlägen (advices). Ob ein derartiger Unterschied besteht, kann ich hier nicht erörtern. In der deutschen und englischen Alltagssprache werden beide Ausdrücke allerdings häufig synonym gebraucht, wobei »Ratschlag« (»advice«) in beiden Sprachen besonders in Kontexten üblich erscheint, in denen eine Person zunächst formell um eine Beurteilung gebeten hat. Jedenfalls stellen Autoren wie Gauthier (1963) und Wiland (2004; 2021) sowie Searle (1974) den direktiven Aspekt in den Vordergrund; Autoren wie Hinchman (2005) und Sliwa (2012) dagegen den deklarativen.

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(φ)3 auszuführen. Für alle Direktiva gilt daher, dass die Äußerung der Sprecherin für den Hörer einen (nicht notwendigerweise zwingen­ den) Grund darstellen können muss, φ auszuführen. Diese Gründe unterscheiden sich bei verschiedenen Arten direktiver Sprechakte allerdings stark. Wo genau diese Unterschiede liegen, lässt sich verdeutlichen, indem man verschiedene direktive Sprechakte kontrastiert. Um die Besonderheiten von Empfehlungen herauszuarbeiten, betrachte ich zunächst die verwandten Sprechhandlungen des Bittens und Befehlens. Damit eine Äußerung als Bitte verstanden werden kann, müs­ sen wenigstens rudimentäre moralische Hilfspflichten zwischen Spre­ cherin und Hörer vorausgesetzt werden. Die Äußerung einer Bitte bezweckt, den Hörer durch Verweis auf eine Norm zum Ausführen einer Handlung zu bringen. Wenn eine Norm besteht, Hilfsbedürfti­ gen zu helfen, kann die Sprecherin dem Hörer mithilfe der Äußerung signalisieren, dass sie seine Hilfe benötigt. Wenn der Hörer die Hilfsbedürftigkeit der Sprecherin dann als einen Grund betrachtet, die Handlung auszuführen, ist der Sprechakt des Bittens erfolgreich vollzogen. Eine Bitte macht dem Hörer die Hilfsbedürftigkeit der Sprecherin als Grund zugänglich. Sie muss für den Hörer zumin­ dest der Anlass sein, zu φ-en. Das bedeutet nicht, dass der Hörer notwendigerweise moralische Motive haben muss, um einer Bitte nachzukommen. Er kann der Bitte nachkommen, weil er sich die Zuneigung der Person wünscht, oder weil er sich dadurch erhofft, die Person später ebenfalls um einen Gefallen bitten zu können. Aber um seine Handlung als Reaktion auf die Bitte verstehen zu können, muss er zumindest anerkennen, dass Hilfsbedürftigkeit ein Grund ist zu helfen. Die Bitte gibt dem Hörer daher einen Grund zu φ-en, indem sie seine Aufmerksamkeit auf die Hilfsbedürftigkeit der Sprecherin lenkt. Betrachten wir als nächstes Befehle. Um eine Äußerung als einen Befehl zu verstehen, müssen wir eine Machtbeziehung zwischen Sprecherin und Hörer unterstellen. Die Sprecherin muss mit ihrer Äußerung beabsichtigen, das Ausführen der Handlung durch den Hörer zu erzwingen. Das ist nur möglich, wenn der Hörer die Autori­ tät der Sprecherin anerkennt und bereit ist, seine eigenen Interessen zurückzustellen. Nur unter dieser Bedingung stellt die Äußerung der Im Folgenden wird eine nicht weiter spezifizierte Handlung mit φ bezeichnet, das Ausführen der Handlung mit φ-[Endung des Verbs], also beispielsweise »er φ-t« oder »wir φ-en«. 3

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Sprecherin für den Hörer einen zwingenden (d.h. alle anderen Gründe des Hörers überwiegenden) Grund dar, die Handlung auszuführen. Befehle geben daher Gründe zu φ-en, indem sie die Aufmerksamkeit des Hörers auf die Autorität der Sprecherin lenken. Ein Hörer, der die ihm befohlene Handlung aus anderen Gründen ausführt, han­ delt zwar wie von der Sprecherin gewünscht, aber nicht aufgrund des Befehls. Ein Befehl muss dem Hörer einen zwingenden Grund zugänglich machen, zu φ-en. Wenn eine Äußerung dies nicht erreicht, hat sie den illokutionären Zweck des Befehlens verfehlt. Trotz dieser Unterschiede, teilen Bitten und Befehlen aber eine wichtige Gemeinsamkeit: In beiden Fällen geht es der Sprecherin um ihre eigenen Interessen. Befehle, zu φ-en, sind nur dann angemessen, wenn der Hörer kein Interesse hat, zu φ-en. Bitten sind nur dann sinnvoll, wenn Sprecherin und Hörer (noch) nicht die gleichen Inter­ essen verfolgen. Äußert die Sprecherin einen Befehl oder eine Bitte, dann wünscht sie also, dass der Hörer eine Handlung um ihretwillen ausführt. Entsprechend verweist sie auf ihre Autorität oder auf ihre Hilfsbedürftigkeit, um dem Hörer Gründe zu geben. Hier liegt der wesentliche Unterschied zu Empfehlungen. Um eine Äußerung als Empfehlung verstehen zu können, müssen wir voraussetzen, dass es der Sprecherin um die Interessen des Hörers geht. Dies zeigt sich beispielsweise daran, dass der Hörer im Falle einer Empfehlung Anspruch auf eine besondere Begründung hat, wenn er die Sprecherin nach der Motivation ihrer Äußerung fragt. Im Fall einer Empfehlung ist »Weil ich glaube, dass es in Ihrem Sinne ist, wenn Sie eine Maske tragen« eine sinnvolle Antwort auf die Frage »Warum fordern sie mich auf, eine Maske tragen?«. Diese Antwort wäre dagegen bei einem Befehl unangemessen, weil sie dessen auto­ ritativen Charakter unterminieren würde (eine angemessene Antwort wäre: »Weil ich dazu befugt bin!«). Sie wäre auch bei einer Bitte unan­ gemessen, denn sie würde unterstellen, dass die Sprecherin eigentlich gar nicht auf den Hörer angewiesen ist (eine angemessene Antwort wäre: »Weil Sie mir damit helfen würden«).4 Die für Empfehlungen 4 Mögliche Grenzfälle sind paternalistische Befehle und Bitten. Die Sprecherin kann auch Befehle und Bitten äußern, von denen sie glaubt, dass es im Interesse des Hörers ist, diesen nachzukommen. In solchen Fällen scheint die Antwort »Weil ich glaube, dass es in Ihrem Sinne ist, wenn Sie eine Maske tragen« auch als angemessene Begründung eines Befehls oder einer Bitte zu funktionieren. Allerdings weisen diese Fälle gerade auf einen wichtigen Unterschied zwischen Empfehlungen und Befehlen bzw. Bitten hin. Bei Empfehlungen ist es notwendig, dass es der Sprecherin um die

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angemessene Antwort auf die Frage nach dem Grund einer Äußerung muss eine Überzeugung der Sprecherin bezüglich der Wünsche und Ziele des Hörers und der für den Hörer angemessenen Mittel zu deren Erreichen zum Ausdruck bringen. Man kann daher sagen, dass Empfehlungen zugleich uneigen­ nützig und anmaßend sind. Sie sind uneigennützig, weil das Äußern einer Empfehlung voraussetzt, dass die Sprecherin wünscht, der Hörer möge die Handlung ausführen, die für ihn am besten ist.5 Sie sind anmaßend, weil Empfehlen voraussetzt, dass die Sprecherin glaubt, mindestens so gut wie der Hörer zu wissen, wie dieser seine Ziele am besten erreichen kann. Entsprechend kann der Sprechakt des Empfehlens auch nur dann erfolgreich vollzogen werden, wenn umgekehrt der Hörer der Sprecherin keine egoistischen Motive unter­ stellt und wenn er bereit ist, ihr in Bezug auf die Frage, was er tun soll, mindestens die gleiche Urteilskraft zuzugestehen wie sich selbst. Einem Hörer, der einen von vornherein für egoistisch und dumm hält, kann man nichts empfehlen. Ob der illokutionäre Zweck einer Emp­ fehlung erreicht wird, hängt davon ab, ob der Hörer die Sprecherin für aufrichtig hält und ihr die Kompetenz zuschreibt, zu beurteilen, wie er seine Ziele am besten erreichen kann. Empfehlungen zielen darauf ab, dem Hörer Gründe zu geben zu φ-en, indem sie seine Aufmerksamkeit auf die Uneigennützigkeit und die Kompetenz der Sprecherin lenken. Eine Empfehlung, zu φ-en, ist erfolgreich, wenn sie dem Hörer Gründe gibt zu glauben, dass es gut für ihn ist, zu φ-en. Und das ist nur möglich, wenn der Hörer diese Uneigennützigkeit und besondere Kompetenz der Sprecherin anerkennt. Der Grund zu φ-en, der einem Hörer durch eine Empfehlung zugänglich gemacht wird, ist aber anders als bei einem Befehl kein zwingender Grund. Die Empfehlung eines uneigennützigen und kom­ petenten Sprechers entwertet nicht alle Gründe des Hörers, die gegen die Ausführung von φ sprechen. Empfehlungen beeinflussen die Entscheidung des Hörers, eine Handlung auszuführen, aber sie führen Interessen des Hörers gehen muss. Bei Befehlen und Bitten besteht diese Notwendig­ keit nicht. Ich danke den Herausgebern für diesen Einwand. 5 Dies beschreibt auch Hinchman für den verwandten Fall des Ratgebens (advice). Die Sprechhandlungen des Mitteilens und Ratgebens vergleichend schreibt er: »The adviser but not necessarily the mere testifier represents herself as taking a perspective of the advisee’s self-interest, a perspective which she moreover represents as presu­ ming may equal or exceed in authority for the advisee the perspective of the advisee himself.« (Hinchman 2005)

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diese Entscheidung nicht herbei. Sollte der Hörer nach Abwägung aller seiner Gründe zu dem Schluss kommen, dass es für ihn doch nicht das Beste wäre, die empfohlene Handlung auszuführen, dann wird der illokutionäre Zweck der Empfehlung dennoch erreicht. Es reicht, dass der Hörer die Auffassung der Sprecherin in seine Deli­ beration einbezogen und damit auf ihren Wunsch reagiert hat, er möge φ-en. Daraus folgt, dass das Nicht-Ausführen einer empfohlenen Handlung nicht notwendigerweise als Missachtung der Aufrichtigkeit und Kompetenz der Sprecherin verstanden werden muss. Dagegen würde ein Hörer, der sich weigert einen Befehl zu befolgen, immer die Autorität der Sprecherin missachten. Und ein Hörer, der sich entschließt, einer Bitte nicht nachzukommen, würde dadurch norma­ lerweise signalisieren, dass er die Äußerung der Sprecherin entweder für unaufrichtig oder ihre Hilfsbedürftigkeit für moralisch irrelevant hält.6 Beides wäre verletzend. Während das Nicht-Ausführen einer befohlenen oder erbetenen Handlung die Sprecherin berechtigt, mit Empörung zu reagieren, ist das beim Nicht-Ausführen einer emp­ fohlenen Handlung nicht der Fall. Um zu signalisieren, dass er die Sprecherin für unaufrichtig oder inkompetent hält, muss ein Hörer mehr tun, als eine empfohlene Handlung zu unterlassen. Fassen wir das bis hier Gesagte kurz zusammen: Die Äußerung A einer Sprecherin S ist für einen Hörer H eine Empfehlung, eine Handlung φ auszuführen genau dann, wenn die folgenden Bedingungen erfüllt sind: 1) 2) 3) 4) 5) 6) 7)

S wünscht, dass H seine Ziele erreicht. S glaubt, dass H seine Ziele erreichen kann, indem H φ-t. S wünscht, dass H φ-t. S drückt durch A den Wunsch aus, dass H φ-t. S drückt durch A die Überzeugung aus, dass H seine Ziele erreichen kann, indem H φ-t. S beabsichtigt, H mittels A einen Grund zu geben, zu φ-en. Es ist weder für S noch für H selbstverständlich, dass H beim normalen Gang der Dinge ohnehin φ-en würde.

Es gibt eine Ausnahme, in der das Ablehnen einer Bitte keine Zurückweisung der Sprecherin bedeuten muss. Beispielsweise ist in einem pädagogischen Kontext das Ablehnen der Bitte nicht notwendigerweise verletzend. Wenn der Sprecherin klar ist, dass die Ablehnung ihrer Bitte einem übergeordneten Lernziel dient, signalisiert die Ablehnung nicht Missachtung, sondern vielmehr Vertrauen in ihre Fähigkeiten.

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Darüber hinaus hat unsere Untersuchung gezeigt, dass die Empfeh­ lung einer Sprecherin S genau dann ein nicht-zwingender Grund für H ist zu φ-en, wenn 1) 2)

H glaubt, dass S’ Äußerung aufrichtig ist, H glaubt, dass S kompetent ist zu beurteilen, ob H seine Ziele erreichen kann, indem H φ-t.

2. Empfehlungen wissenschaftlicher Experten Mit diesem Grundverständnis von Empfehlungen können wir nun fragen, inwiefern Äußerungen wissenschaftlicher Experten in der Art von (*) als Empfehlungen verstanden werden können. Dazu müssen die folgenden spezifischen Eigenschaften des Äußerungskontextes berücksichtigt werden: ●

Die Sprecherin äußert sich als wissenschaftliche Expertin. Als solche verfügt sie über ausgezeichnete epistemische Fähigkei­ ten, d.h. Expertise. Wissenschaftliche Expertise beinhaltet eine Vielzahl spezieller Fähigkeiten, die es der Expertin erlauben, in einem bestimmten Erkenntnisgebiet wahre Propositionen zu formulieren. Diese Fähigkeiten werden typischerweise im Rah­ men eines besonderen Sozialisationsprozesses erworben. Um eine wissenschaftliche Expertin zu werden, muss die angehende Wissenschaftlerin zunächst ein Fachgebiet studieren. Sie muss das anerkannte Wissen rezipieren, die Forschungsmethoden und Standards des Fachgebiets erlernen und schließlich eigene Beiträge zur Forschung formulieren, die in der Wissenschaftsge­ meinschaft rezipiert werden. Es mag Bereiche geben, in denen es möglich ist, Expertise zu entwickeln, ohne einen solchen Sozia­ lisationsprozess zu durchlaufen. Die Wissenschaft gehört nicht dazu. Eine wissenschaftliche Expertin zu sein, ohne zugleich Wissenschaftlerin zu sein, ist nicht möglich, weil Wissenschaft ein gemeinschaftliches Unternehmen ist. Wer dazu beitragen will, muss in der Lage sein, eigene Erkenntnisse in den wissen­ schaftlichen Diskurs einzubringen und sich der kollegialen Kritik zu stellen. Für wissenschaftliche Expertinnen ist aber nicht nur ihre besondere Expertise, sondern auch ihre spezifische sozioepistemische Funktion kennzeichnend. Gesellschaften sind auf

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Personen mit spezieller Expertise angewiesen, um bestimmte epistemische Interessen befriedigen zu können. In der CoronaPandemie war das offensichtlich. Um zu entscheiden, ob und wie die Gesellschaft am besten auf die Pandemie reagieren sollte, war eine Vielzahl empirischer Erkenntnisse z.B. über die Biologie des Virus, über Ansteckungsgefahren, über Verbreitungswege, über effektive Schutzmaßnahmen und deren absehbare Konse­ quenzen und über vieles andere mehr vonnöten. Expertinnen und Experten mussten diese Erkenntnisse nicht nur erzeugen, sondern der Gesellschaft auch schnell und in angemessener Form zur Verfügung stellen. Personen, denen eine besondere Expertise in einem relevanten Gebiet zugeschrieben wurde, übernahmen die Rolle des Informationsgebers für wichtige gesellschaftliche Entscheidungen. Wissenschaftliche Expertinnen sind daher nie nur Spezialistinnen. In ihrer Rolle als Informationsgeberinnen sind sie für die Gesellschaft immer auch epistemische Autoritä­ ten.7 Die Äußerungen wissenschaftlicher Expertinnen gelten als besonders glaubwürdig. Die Zuschreibung von Glaubwürdig­ keit speist sich im Wesentlichen aus der sozio-epistemischen Funktion der Expertin. Das Bekleiden der Rolle der Expertin signalisiert, dass die Äußerungen der Sprecherin zuverlässige Informationen enthalten und daher für wahr gehalten werden können, solange es keine Anhaltspunkte dafür gibt, dass die Sprecherin nicht über die notwendige Expertise verfügt, die das Bekleiden der Expertinnen-Rolle rechtfertigt. Allerdings ist es für einen Laien oft schwer nachzuweisen, dass eine Person, die die Rolle einer wissenschaftlichen Expertin bekleidet, nicht über eine diese Rolle rechtfertigende Expertise verfügt. Wohlbegründete Zweifel an der Expertise einer Wissenschaftlerin können nur

7 Im Kontext dieses Aufsatzes kann der Begriff der wissenschaftlichen Expertin nicht abschließend geklärt werden. In den philosophischen und sozialwissenschaftlichen Diskussionen des Expertenbegriffs werden in der Regel beide der genannten Dimen­ sionen anerkannt. Ob die sozio-epistemische Funktion oder die tatsächliche Expertise als grundlegend für das Verständnis des Begriffes betrachtet wird, unterscheidet verschiedene Ansätze voneinander. So vertritt beispielsweise Goldman (2018) einen Expertenbegriff, der nur überdurchschnittliche epistemische Fähigkeiten als notwen­ dig erachtet. Soziologen wie Collins und Evans (2007) betonen dagegen vor allem die Rolle des Wissenschaftlers innerhalb der Wissenschaftsgemeinschaft. Quast (2018a; 2018b) vertritt einen Ansatz, in dem es zu den notwendigen Bedingungen des Expertenbegriffes gehört, anderen Personen seine Expertise zur Verfügung zu stellen.

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Personen haben, die selbst über ausreichende Expertise im selben Fachgebiet oder über ausreichende Kenntnisse der Üblichkeiten wissenschaftlichen Arbeitens im selben Fachgebiet verfügen. Da die Expertise von Expertinnen daher nur selten mit Gründen in Zweifel gezogen wird, die zugleich sachlich und allgemeinver­ ständlich sind, hängt der Eindruck besonderer Glaubwürdigkeit aus Laienperspektive vornehmlich vom Bekleiden der sozialen Rolle ab. Äußerungen wissenschaftlicher Expertinnen präsentieren häu­ fig einen konsentierten Wissenstand. Da die Gesellschaft zur Befriedigung ihrer epistemischen Interessen auf zuverlässige Informationen angewiesen ist, ist es wünschenswert, dass die von Expertinnen zur Verfügung gestellten Informationen über einen hohen Grad an Objektivität verfügen. Ein Mittel, Objek­ tivität herzustellen, ist die Bildung eines empirisch adäquaten Konsenses innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft. Ist es möglich, dass sich eine große Zahl unterschiedlicher und unab­ hängiger wissenschaftlicher Spezialistinnen und Spezialisten auf eine gemeinsame Deutung der empirischen Befunde verständi­ gen kann, erhöht das die Objektivität der Erkenntnis und damit die Glaubwürdigkeit einer Äußerung, die diese Erkenntnis zum Ausdruck bringt (Miller 2013; 2016). Im konkreten Fall der Corona-Pandemie lag ein solcher Konsens allerdings in vielen Fällen nicht vor. Weil Politik und Gesellschaft schnell auf die Pan­ demie reagieren mussten, waren wissenschaftliche Expertinnen aufgefordert, sich auf Grundlage ihrer tagesaktuellen Erkennt­ nisse öffentlich zu äußern. Dieser Umstand und die Tatsache, dass unterschiedliche Expertinnen und Experten innerhalb eines Fachgebiets (aber auch aus verschiedenen Fachgebieten) sich bei solchen tagesaktuellen Einschätzungen nicht immer einig waren, hat den Eindruck der besonderen Glaubwürdigkeit der Wissenschaft möglicherweise beschädigt. In einer liberalen Demokratie dürfen Äußerungen wissenschaft­ licher Expertinnen den Prozess demokratischer Meinungsbil­ dung nicht ungebührend beeinflussen. Wer sich in der Rolle der Expertin äußert, sollte sich in einer Demokratie daher darauf beschränken, möglichst neutrale Informationen zu vermitteln, und sich bemühen, zu den im politischen Diskurs diskutier­ ten Handlungsoptionen keine Stellung zu beziehen. Die ideale Expertin sollte als Honest Broker of Policy Alternatives (Pielke

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2007) auftreten, deren Aufgabe lediglich im Ausleuchten des Spielraums politischer Handlungsoptionen besteht. Um dieser Rolle gerecht zu werden und ihre epistemische Autorität nicht als politische Autorität zu missbrauchen, sollten Expertinnen daher stets anzeigen, wann sie in der Rolle der Expertin und wann sie in der Rolle der Bürgerin sprechen. Auch sollten sie keine direkten Handlungsempfehlungen aussprechen, sondern lediglich darlegen, welche Handlungsziele ihrer Meinung nach mit welchen Mitteln am besten zu erreichen sind. In einer libe­ ralen Demokratie, so eine verbreitete Ansicht, muss der Bereich der Fakten vom Bereich der Werturteile streng unterschieden bleiben. Wissenschaftliche Experten sind für den ersten Bereich zuständig, die Bürger und politischen Institutionen für den zwei­ ten. Aus dieser Aufteilung ergibt sich die Forderung, dass wis­ senschaftliche Expertinnen Werturteile immer explizit benennen und Handlungsempfehlungen nur in Form hypothetischer Impe­ rative formulieren sollten (»Wenn Sie sich vor einer Infektion schützen und zur Eindämmung der Pandemie beitragen wollen, dann sollten Sie eine Maske tragen und die Abstandsregeln einhalten«). Es ist allerdings fraglich, ob öffentliche Äußerungen wissenschaftlicher Expertinnen diesen Anforderungen immer genügen können. Wenn Politik wissenschaftlich informiert ver­ fahren soll, dann grenzen von wissenschaftlichen Expertinnen behauptete Fakten den Raum vernünftiger politischer Entschei­ dungen ein. Auch dass die Politik die Rolle des Honest Broker of Policy Alternatives allein der Wissenschaft zuweist, verleiht den Äußerungen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern an sich schon ein besonderes politisches Gewicht.8 Zudem ist von verschiedener Seite darauf hingewiesen worden, dass gesell­ schaftlich relevante wissenschaftliche Erkenntnisse nicht ohne Bezugnahme auf außer-epistemische Werte generiert werden können und dass damit auch ihre politische Neutralität in Frage steht (Douglas 2009; Rudner 2013). Entsprechend lässt sich argumentieren, dass ein Staat, der der Wissenschaft durch die Zuweisung der Rolle als neutraler Informationsgeber diesen besonderen Einfluss zugesteht, undemokratisch handelt. Ein demokratisch verfasster Staat sollte keine gesellschaftliche Gruppe bevorzugen. Vor diesem Hintergrund erscheint es manchen Autoren (wie Turner 2003) fraglich, ob und wie sich die besondere epistemische Autorität wissenschaftlicher Expertinnen im Rahmen einer liberalen Demokratie überhaupt rechtfertigen lässt.

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Äußerungen wissenschaftlicher Expertinnen erreichen den Hörer in der Regel vermittelt durch Massenmedien. Für wie glaubwürdig ein Hörer die so vermittelten Äußerungen hält, hängt daher auch davon ab, welche Glaubwürdigkeit er diesen Medien zuschreibt. Zweifel an der journalistischen Qualität eines Mediums können die Glaubwürdigkeit einer Äußerung schmälern. Das Präsentieren der Äußerung im Zusammenhang eines Fachbeitrages kann ihre Glaubwürdigkeit unterstreichen. Dass Medien Äußerungen wissenschaftlicher Expertinnen in einem spezifischen Kontext präsentieren, kann aber auch dazu führen, dass der ursprüngliche illokutionäre Zweck der Äuße­ rung verschleiert wird. Beispielsweise kann eine Behauptung als Empfehlung präsentiert werden. Bei einer Übermittlung von Äußerungen in Massenmedien, kann der Hörer außerdem auch nicht davon ausgehen, als Individuum angesprochen zu werden. Die Äußerungen sind nicht an ihn speziell, sondern an eine breite Öffentlichkeit gerichtet, was ihnen einen allgemeinen Charakter verleiht. Wer eine Äußerung wie (*) im Radio hört und als Empfehlung einer Expertin auffasst, wird sich schwertun, darin den Wunsch der Sprecherin ausgedrückt zu finden, dass er seine individuellen Ziele erreichen möge.

Berücksichtigen wir diese Bedingungen, scheint es schwierig zu sein, in einer Äußerung einer wissenschaftlichen Expertin überhaupt eine Empfehlung zu erkennen. Gemäß ihrer Funktion in einem demo­ kratischen politischen System sollten Expertinnen direktive Sprech­ handlungen generell unterlassen. Es widerspricht dieser Rolle, die Absicht zu verfolgen, Hörer zum Ausführen einer Handlung zu bewegen. Zudem haben Hörer, die Wissenschaftlerinnen im Sinne ihrer sozio-epistemischen Funktion als Honest Broker of Policy Alter­ natives betrachten und davon ausgehen, dass diese bemüht sind, den Anforderungen dieser Rolle gerecht zu werden, keinen Grund, Sprecherinnen den Wunsch zu unterstellen, dass sie (die Hörer) φ-en sollten. Unter diesen Umständen werden sie Äußerungen einer Expertin daher auch eher als deklarative denn als direktive Sprechakte auffassen. Diese Tendenz, Äußerungen als Deklarativa zu deuten, wird noch dadurch verstärkt, dass Hörer, die keinen Grund haben zu bezweifeln, dass die Sprecherin über die zur Übernahme der Exper­ tinnen-Rolle berechtigenden wissenschaftlichen Expertise verfügt, gute Gründe haben, deren Äußerungen für besonders glaubwürdig zu halten. Dieser Eindruck wird weiter erhärtet, wenn die Expertin

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sich als Sprecherin einer größeren Fachgruppe von Wissenschaftle­ rinnen und Wissenschaftlern präsentiert und dadurch in Anspruch nimmt, mit ihrer Äußerung in der Gruppe konsolidierte Überzeugun­ gen zum Ausdruck zu bringen. Unter Bedingungen eines idealen demokratischen Diskurses, in dem Expertinnen ihre Äußerung den Anforderungen ihrer Rolle entsprechend einhegen, erscheint es daher unwahrscheinlich, dass sie überhaupt Empfehlungen im Sinne der obigen Analyse formulieren.

3. Empfehlungen aus der Wissenschaft im Kontext der COVID-19-Pandemie Allerdings haben nicht erst Analysen der Rolle wissenschaftlicher Expertise für die politische Entscheidungsfindung in der COVID-19Pandemie gezeigt, dass dieses Ideal der Trennung von Wissenschaft und Politik in der Praxis nicht immer aufrechterhalten wird. Unter anderem kann es in Situationen unter Druck geraten, die einerseits ein schnelles und breit abgestimmtes Handeln der Politik erfordern und in denen andererseits auf Seiten der Wissenschaften noch große Unsicherheiten bestehen, weil relevantes Wissen erst noch erzeugt oder konsolidiert werden muss. Die Wissenschaft kann diesem Prob­ lem begegnen, indem sie versucht, den Forschungsprozess soweit zu beschleunigen, wie dies unter Einhaltung epistemischer Mindest­ standards möglich ist. Die Politik wiederum kann eine engere und kontinuierlichere Einbeziehung der Wissenschaften forcieren, um ihre Entscheidungen stets an den sich erst entwickelnden Forschungs­ stand anpassen zu können. Dies führt zu einer Intensivierung des Kontakts zwischen Wissenschaft und Politik und kann unter Umstän­ den begünstigen, dass die Grenzen zwischen beiden gesellschaftlichen Subsystemen verschwimmen. Zumindest kann in der öffentlichen Wahrnehmung der Eindruck entstehen, Wissenschaft und Politik arbeiteten so eng zusammen, dass erstere nicht mehr allein Wissen bereitstelle und hypothetische Szenarien der Auswirkungen verschie­ dener Handlungsalternativen vorausberechne, sondern aktiv in die Formulierung von Handlungszielen eingreife. Solche Aufweichungen der Grenze zwischen Wissenschaft und Politik sind in den öffentlichen Diskussionen um die Regulierung der COVID-19-Pandemie von verschiedenen Seiten kritisiert worden. In der in den Medien ausgetragenen Debatte um die »Corona-Politik«

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wurde wissenschaftlichen Expertinnen und Experten zum Beispiel vorgeworfen, der Politik zu enge Grenzen zu setzen und politische Entscheidungen aktiv beeinflussen zu wollen (Dorn 2020; Hirschi 2021). Auch aus der Wissenschaft selbst kam Kritik. So wurde insbesondere die Expertenkommission der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina für ihre an die Politik gerichteten Ad-hoc-Stellungnahmen scharf kritisiert. In einer Analyse dieser Stellungnahmen monieren zum Beispiel Wiesing et al. (2021), dass weder die Gründe für die Zusammensetzung der Kommissionen transparent gemacht worden seien noch, dass klar kommuniziert wor­ den sei, inwiefern Empfehlungen der Kommission auf einem konsoli­ dierten wissenschaftlichen Forschungsstand (d.h. auf Autorität in der Sache) oder auf der individuellen Expertise einzelner Kommissions­ mitglieder (d.h. auf Autorität der Personen) beruhten. Vor allem aber würden in den Ad-hoc-Stellungnahmen an verschiedenen Stellen Empfehlungen unter Voraussetzung normativer Urteile formuliert, die auf keine demokratische Entscheidung der Politik zurückgeführt werden könnten. Indem alle in der siebten Ad-hoc-Stellungnahme genannten Empfehlungen »dem obersten Prinzip folgen, dass der Gesundheitsschutz das nicht verhandelbare Ziel aller Maßnahmen gegen die Pandemie ist« (Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina 2020), werde von den Experten eine unzulässige Wertung vorgenommen und die Grenze zwischen den verschiedenen Kom­ petenzebereichen – wissenschaftliche Beschreibung verschiedener möglicher Handlungsalternativen auf der einen, politische Entschei­ dung für eine bestimmte Handlungsalternative auf der anderen Seite – unterlaufen. Es gibt aber auch einige Anhaltspunkte, die umgekehrt ein Über­ greifen der Politik auf die Wissenschaft nahelegen. Dabei geht es aber zumindest im Kontext der deutschen Debatte nicht um eine Über­ schreitung der Grenze zwischen Werturteilen und Fakten durch die Politik,9 sondern um den verstärkten Rückgriff auf wissenschaftliche Erkenntnisse zur Begründung und Kommunikation politischer Ent­ Dieses Problem zeigte sich allerdings in den USA, wo der damalige Präsident Trump durch die Empfehlung von Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung auffiel, die jeglicher wissenschaftlicher Grundlage entbehrten und von Seite der Wissen­ schaft korrigiert werden mussten. Das wohl bekannteste Beispiel ist Trumps Empfeh­ lung, zur Behandlung einer COVID-19-Infektion Hydroxchloroquin zu trinken (Zeit Online 2020). 9

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scheidungen. Die Bezugnahme auf wissenschaftliche Erkenntnisse erfüllt für die Politik eine wichtige Legitimierungsfunktion. Viele Bürgerinnen und Bürger erwarten von der Politik sogar explizit Ent­ scheidungen, die den Erkenntnissen der Wissenschaften entsprechen, und fordern – wie insbesondere im Fall der Klimapolitik – eine solche Orientierung sogar aktiv ein. Die Orientierung der Politik an den Erkenntnissen der Wissenschaften ist daher eine Möglichkeit, politische Entscheidungen als besonders glaubwürdig zu präsentieren und die epistemische Autorität der Wissenschaft zur Untermauerung politischer Autorität zu nutzen. Diesen Zugriff auf die Wissenschaft zur Glaubwürdigkeitsbeschaffung kann man beispielsweise daran ablesen, dass Lothar Wieler, der Präsident des Robert-Koch-Instituts (einer Bundesbehörde), regelmäßig an der Seite des Bundesgesund­ heitsministers in die Bundespressekonferenz eingeladen wurde, um öffentlichkeitswirksam über den aktuellsten Stand der Pandemie und die Effekte bereits beschlossener Maßnahmen zu informieren. Viele der Mitglieder des Expertenrates der Bundesregierung zur Corona-Pandemie waren zudem häufig in den Medien präsent, um sich zu den von der Politik beschlossenen Maßnahmen zu äußern.10 Auch wenn sich rückblickend nicht konstatieren lässt, dass unter den in der Öffentlichkeit in Erscheinung getretenen Expertinnen und Experten in allen relevanten Fragen zum politischen Umgang mit der pandemischen Lage Einigkeit bestand, konnte doch der Eindruck entstehen, Politik und Wissenschaft zögen im Großen und Ganzen an einem Strang. Auch die bereits erwähnten Ad-hoc-Stellungnahmen der Expertenkommission der Leopoldina ließen sich aufgrund ihres politischen Charakters und des Status der Leopoldina als Nationale Akademie der Wissenschaften in dieses Bild einordnen. Nicht zuletzt kann die sowohl im öffentlichen als auch im akademischen Diskurs verbreitete Sorge einer expertokratischen Steuerung der Pandemie­ politik und einer unzulässigen »Epistemisierung des Politischen« (Bogner 2021) als Hinweis gedeutet werden, dass Politik und Wissen­ schaft während der COVID-19-Pandemie häufig als eng miteinander verflochten wahrgenommen wurden. 10 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler waren regelmäßig in den Fernseh-Talk­ shows präsent oder wurden in den Nachrichten zitiert. Bemerkenswert ist auch, dass einige Expertinnen und Experten, wie Christian Drosten, Sandra Ciesek oder Alexander Kekulé, eigene Podcast-Formate auflegten, die über die Mediatheken öffentlich-rechtlicher Sender verbreitet wurden.

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Wenn diese Beobachtung richtig ist, dann stellt sich für die Äuße­ rungen wissenschaftlicher Expertinnen im Kontext der COVID-19Pandemie die Frage, ob sie noch unzweideutig als Behauptungen über unterschiedliche politische Handlungsalternativen und deren abseh­ bare Konsequenzen verstanden werden konnten. Wenn die Rolle der Wissenschaft als Honest Broker of Policy Alternatives so sehr aufge­ weicht wird, wie dies im Kontext der Corona-Politik augenscheinlich manchmal der Fall war, können sie dann nicht auch als konkrete Handlungsempfehlungen – und damit direktiv – verstanden werden? Diese Lesart erscheint mir aus zwei Gründen nicht plausibel zu sein. Erstens spricht gegen diese Deutung, dass Äußerungen wie (*) in einem konventionalistischen Rahmen nur in Abhängigkeit geltender sozialer und sprachlicher Konventionen als Empfehlungen verstanden werden können. Trotz der Beispiele, die Veränderungen im Verhalten wissenschaftlicher Experten während der Corona-Pan­ demie nahelegen, wäre es aber wohl zu hoch gegriffen, ernsthaft von einer Veränderung dieser Konventionen zu sprechen. Im Gegen­ teil: Die heftigen Reaktionen auf das Abweichen vom Ideal des Honest Broker of Policy Alternatives und die Problematisierung der Durchdringung von Wissenschaft und Politik, zeigen vielmehr, dass die genannten sozialen Konventionen sehr lebendig sind. Wissen­ schaftliche Expertinnen sollten im Rahmen einer demokratischen Ordnung keine konkreten Handlungsempfehlungen abgeben. Außer­ dem spricht, zweitens, gegen diese Deutung, dass die Wissenschaft, würde sie konkrete Handlungsempfehlungen geben, ihre epistemi­ sche Autorität untergraben, solange diese Konventionen weiterhin in der Gesellschaft anerkannt sind. Denn ihre politische Unabhängigkeit ist ein wesentliches Element der Autorität wissenschaftlicher Exper­ ten. Deshalb konzentriere ich mich im Folgenden auf Äußerungen wissenschaftlicher Expertinnen nur insofern sie von der Politik zur Legitimation konkreter Handlungsempfehlungen angeführt werden und dadurch in einen politischen Kontext eingebunden werden. Von Interesse sind daher nicht konkrete und teilweise grenzüberschrei­ tende Empfehlungen wissenschaftlicher Expertinnen und Experten, die es mit Bezug auf die COVID-19-Pandemie offenbar auch gegeben hat (siehe das Beispiel der Leopoldina), sondern Handlungsempfeh­ lungen von Politikerinnen und Politikern, die sich auf die epistemische Autorität der Wissenschaft stützen oder als durch diese Autorität gestützt wahrgenommen werden.

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Empfehlen und Vertrauen

Dies ist der Kontext der Sprechhandlungen, die ich im Folgenden aus Perspektive der sozialen Erkenntnistheorie untersuchen werde. Wenn meine Beschreibung des Verhältnisses von Politik und Wissen­ schaft auf den Fall der Pandemie-Politik zutrifft, dann stellte sich während der COVID-19-Pandemie aus Sicht der Bürgerinnen und Bürger die Frage, ob die Berufung der Politik auf die epistemische Autorität der Wissenschaften es für sie in irgendeiner Weise vernünf­ tiger machen würde, den Handlungsempfehlungen der Politik zu folgen. Verbessert also die Darstellung von Handlungsempfehlungen als mit den Erkenntnissen der Wissenschaft im Einklang stehend die Gründe der Bürgerinnen und Bürger, eine empfohlene Handlung auch auszuführen?

4. Gründe, eine Empfehlung anzunehmen Um diese Frage zu beantworten, mache ich allerdings eine weitere Annahme, die zentral für den Fortgang dieser Untersuchung sein wird: Das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die wissenschafts­ basierten Handlungsempfehlungen der Politik ist in Fällen wie der Corona-Pandemie ein notwendiger Bestandteil der gesellschaftlichen Antwort auf die Krise. Für diese Annahme spricht in erster Linie, dass die Wirkung der meisten Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie wesentlich davon abhängt, dass die Bürgerinnen und Bürger sie frei­ willig befolgen. Da eine Pandemie ein epidemiologisches Phänomen ist, betrifft sie immer die gesamte Population, so dass die Maßnah­ men zu ihrer Eindämmung auch auf dieser Ebene ansetzen müssen. Das kann allerdings nur gelingen, wenn möglichst viele Individuen gleichzeitig ihr Verhalten anpassen. Es wäre aber sehr unpraktisch, wollte die Politik Verhaltensänderungen der Gesamtpopulation durch Kontrolle jedes einzelnen Individuums erreichen. Das Befolgen von zum Beispiel Abstandsregeln oder Quarantäne-Vorschriften durch umfassende amtliche oder polizeiliche Kontrollen (oder auch indirekt durch die Androhung extremer Strafen) zu erzwingen, erscheint extrem aufwändig und auch nicht wünschenswert. Daher können diese Maßnahmen nur wirken, wenn möglichst viele Bürgerinnen und Bürger bereit sind, sich kooperativ zu verhalten, und die Maßnahmen freiwillig umsetzen. Und dafür müssen sie der Politik vertrauen. Wenn wir in den folgenden Abschnitten die Gründe der Bür­ gerinnen und Bürger untersuchen, eine Handlungsempfehlung anzu­

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nehmen, wird der Fokus daher auf der Frage liegen, inwiefern Vertrauen in eine wissenschaftsbasierte Politik diese Gründe zur Verfügung stellen kann. Ein Hörer kann verschiedene Gründe haben, zu tun, was Politikerinnen und Politiker auf Grundlage wissenschaft­ lichen Wissens empfehlen. Er kann die empfohlene Handlung zum Beispiel einfach ausführen, weil dies seiner Gewohnheit entspricht. In diesem Fall würde er die Handlung aber nicht aufgrund, sondern trotz der Empfehlung ausführen. Vertrauen in die Politikerinnen und Poli­ tiker, die diese Empfehlung aussprechen, würde also gar keine Rolle für die Erklärung der Handlung des Hörers spielen. Das heißt, Ver­ trauen kommt nur dann eine relevante Rolle in dieser Erklärung zu, wenn dem Hörer durch die Empfehlung Gründe zugänglich gemacht werden, die Handlung auszuführen. Daher müssen wir fragen, unter welchen Bedingungen es für Bürgerinnen und Bürger vernünftig ist, aufgrund einer Empfehlung zu handeln, die in den Erkenntnissen wissenschaftlicher Expertinnen und Experten gründen. Dazu müssen wir diese Empfehlungen aus der Perspektive des Hörers betrachten. Wir hatten in Abschnitt 2 gesehen, dass Empfehlungen einem Hörer unter bestimmten Bedingungen einen nicht-zwingenden Grund geben können, eine Handlung auszuführen. Dazu muss der Hörer glauben, dass die Sprecherin aufrichtig ist (1), und er muss glauben, dass die Sprecherin kompetent ist zu urteilen, dass er seine Ziele erreichen kann, wenn er die von der Sprecherin gewünschte Handlung ausführt (2). Daher können wir in einem ersten Schritt auch fragen, wie Vertrauen für den Hörer ein Grund sein kann, diese Überzeugungen zu haben. Allerdings stellt sich in Bezug auf wissenschaftsbasierte Emp­ fehlungen von Politikern im Kontext der Corona-Politik die Lage etwas komplizierter dar. Denn die Sprecherin, deren Position nun von der Politik eingenommen wird, lagert ihre Urteilskompetenz ja an die Wissenschaft aus. Deshalb müssen wir die Bedingung (2) so anpassen, dass sie Folgendes besagt: (2) H glaubt, dass die Politikerin P glaubt, dass eine wissenschaftliche Expertin E gute Gründe hat zu glauben, dass P ihre Ziele erreichen kann, indem H φ-t. Aber diese Formulierung stellt uns vor ein weiteres Problem. Da es die Politik ist, die sich im Hinblick auf ihre Ziele von der Wissenschaft beraten lässt, gibt es offensichtliche Fälle, in denen sowohl (1) als auch (2) erfüllt sind, und H trotzdem keinen Grund hat, zu φ-en.

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Das ist immer dann der Fall, wenn die Ziele des Hörers nicht mit den Zielen der Politikerin übereinstimmen. Solange diese Übereinstim­ mung nicht vorausgesetzt wird, stellt die Überzeugung, dass die Poli­ tikerin ihre Ziele erreichen kann, indem der Hörer φ-t, für den Hörer keinen Grund dar, die Handlung auszuführen. Damit die wissen­ schaftsbasierte Handlungsempfehlung der Politikerin für den Hörer einen nicht-zwingenden Grund darstellen kann, zu φ-en, muss daher noch eine dritte Bedingung erfüllt sein, die die Kooperation des Hörers plausibilisiert. Daher ergibt sich das folgende Set von Bedingungen, die ein Hörer erfüllen muss, damit die wissenschaftsbasierte Emp­ fehlung einer Politikerin für ihn einen nicht-zwingenden Grund dar­ stellt, zu φ-en: 1) 2) 3)

H glaubt, dass die Politikerin P aufrichtig ist. H glaubt, dass die Politikerin P glaubt, dass eine wissenschaftli­ che Expertin E gute Gründe hat zu glauben, dass P ihre Ziele erreichen kann, indem H φ-t. H glaubt, dass die Ziele der Politikerin P mit seinen eigenen Zielen übereinstimmen.

Um zu sehen, inwiefern das Vertrauen in die Politikerin diese Über­ zeugungen des Hörers begründen kann, müssen wir zunächst etwas mehr über Vertrauen als Einstellung sagen.

5. Über Vertrauen Was genau unter Vertrauen verstanden wird, hängt im Allgemeinen stark davon ab, welche soziale Praxis mithilfe des Begriffes beschrie­ ben werden soll. Geht es beispielsweise darum, die Abhängigkeit des eigenen Verhaltens vom Verhalten anderer zu beschreiben, wird »Vertrauen« oft verwendet um die Bereitschaft auszudrücken, sich auf ein antizipiertes Verhalten einer anderen Person zu verlassen. Kenntnisse der typischen Verhaltensweisen und Handlungsmotive der anderen Person sind hilfreich, die Unsicherheit zu reduzieren, die mit dem Vertrauen einhergeht. In diesem Zusammenhang bezeichnet Vertrauen nicht viel mehr als die Bereitschaft, unter der Annahme zu handeln, dass eine Person, von deren Verhalten man abhängig ist, sich so verhalten wird, wie man es vorhergesagt hat. Für den Fall unseres Hörers hieße dies, dass er der Politikerin vertraut, wenn er einfach

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annimmt, dass seine Überzeugungen hinsichtlich der Aufrichtigkeit, wissenschaftlichen Wohlinformiertheit und Zustimmungswürdigkeit der Politikerin wahr sind, weil sie dies in der Vergangenheit auch waren. Er vertraut also, insofern er aufgrund von Evidenzen über das frühere Verhalten der Politikerin glaubt, dass die Politikerin erneut aufrichtige, wohlinformierte und zustimmungswürdige Emp­ fehlungen äußern wird. Die Rationalität dieser Art von Vertrauen hängt daher davon ab, ob diese Evidenzen ausreichend sind, diese zukunftsbezogenen Überzeugungen11 zu stützen. Dieser sehr schwache Vertrauensbegriff kann aber einige sehr wesentliche Aspekte nicht erklären, die häufig mit Vertrauen in Ver­ bindung gebracht werden, allen voran die Vorstellung, dass Vertrauen in reziproken Beziehungen stattfindet, dass es nicht nur prädiktive sondern auch normative Erwartungen an das Verhalten anderer Per­ sonen zum Ausdruck bringt und dass es daher nicht nur enttäuscht, sondern auch gebrochen werden kann.12 Vielfach ist deshalb vorge­ schlagen worden, die Bereitschaft unter der Annahme zu handeln, dass eine andere Person ein von uns antizipiertes Verhalten zeigen wird, als Sich-Verlassen zu klassifizieren und von Vertrauen im engeren Sinne zu unterscheiden. Eine Möglichkeit, zwischen Sich-Verlassen und Vertrauen im engeren Sinne zu unterscheiden, besteht darin, für Vertrauen eine zusätzliche normative Erwartung zu postulieren, die über die Bereit­ schaft, sich auf den Anderen zu verlassen, hinausgeht.13 Da Vertrauen im Gegensatz zum Sich-Verlassen nicht nur enttäuscht, sondern miss­ braucht werden kann, scheinen wir Personen, denen wir vertrauen, zu unterstellen, ihr eigenes Verhalten im Bewusstsein unserer Erwartun­ gen an ihr Verhalten steuern zu können. Wir scheinen zu unterstellen, dass die Tatsache, dass wir uns von ihrem Verhalten abhängig machen (müssen), für die andere Person einen Unterschied machen sollte. Denn nur dann können wir andere dafür verantwortlich machen, Im Folgenden spreche ich statt von »zukunftsbezogener Überzeugung« von »Erwartung«. 12 Diese in der Literatur gängige Unterscheidung zwischen »predictive expectations« und »normative expectations« findet sich in Bezug auf Vertrauen etwa bei Faulkner (2007) und Darwall (2017). Dormandy (2020) nutzt sie, um vier Ansätze von Vertrauen zu differenzieren: (i) »mere-predictive accounts«, (ii) »mere-normative accounts«, (iii) »combined accounts« und (iv) solche, die behaupten, dass Vertrauen nicht notwendig eine Erwartung beinhalten muss. 13 Vgl. Holton (1994); Faulkner (2007). 11

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die Erwartungen, die wir in sie gesetzt haben, nicht zu erfüllen. Alle Versuche, die Unterscheidung zwischen Sich-Verlassen und Ver­ trauen theoretisch zu begründen, zielen daher darauf ab, Vertrauen als eine zweitpersonale und damit als eine normativ signifikante Einstellung auszuzeichnen.14 In diesem engeren Sinne lässt sich Vertrauen daher nicht redu­ zieren auf die Kombination der Erwartung, dass ein Ereignis, das für einen von Bedeutung ist, mit einer bestimmten Wahrscheinlich­ keit eintreten oder herbeigeführt werden wird, und der Bereitschaft, diese Erwartung zur Grundlage des eigenen Handelns zu machen. Wenn der Hörer wie oben lediglich aufgrund früherer Erfahrungen glaubt, dass die Politikerin erneut aufrichtige, wohlinformierte und zustimmungswürdige Empfehlungen äußern wird, vertraut er nicht in diesem engeren Sinne. Das liegt daran, dass seine Erwartung sich nicht an die Politikerin richtet, sondern darauf, dass die Politikerin Empfehlungen äußert, die den genannten Kriterien genügen. Daher ist die Erwartung des Hörers prädiktiv und nicht normativ. Normative Erwartungen beziehen sich dagegen auf die Absichten und Motive der anderen Person. Sie sind Erwartungen an die andere Person und keine bloßen Verhaltensprognosen. In unserem Fall lägen sie vor, würde der Hörer von der Politikerin erwarten, die Empfehlung aus Sorge um seine Gesundheit zu äußern. Normative Erwartungen an eine andere Person haben wir qua der Beziehung, in der wir uns zu ihr befinden. Sie betreffen den Anspruch an die Person, ihr Handeln 14 Wie genau diese Unterscheidung zu ziehen ist, ist in der Literatur umstritten. Grob kann man zwei Ansätze unterscheiden. Vertreter non-doxastischer Theorien gehen von einer Kontinuität zwischen Sich-Verlassen und Vertrauen aus. Demnach sind sowohl Vertrauen als auch Sich-Verlassen praktische Einstellungen, die sich nur dadurch voneinander unterscheiden, dass Vertrauen zusätzlich eine interperso­ nale und damit normative Dimension aufweist, wie beispielsweise das Unterstellen wohlwollender Handlungsmotive (Baier 1986), spezifischer Selbstverpflichtungen (Hawley 2014; Bennett 2021) oder moralischer Pflichten (Nickel 2007) beim Gegen­ über oder das Einnehmen eines Teilnehmerstandpunktes (Holton 1994) oder einer optimistischen emotionalen Haltung gegenüber den Handlungen der Person (Lahno 2001; Jones 1996). Vertreter doxastischer Theorien lehnen diese Kontinuität ab. Ihnen zufolge ist Vertrauen keine praktische, sondern eine kognitive Einstellung, die sich von der kognitiven Einstellung des Glaubens allerdings ebenfalls in der interpersonalen Dimension unterscheidet. Wer einer anderen Person vertraut, glaubt demzufolge dieser Person, dass sie seine Abhängigkeit bei ihrer Handlungsentscheidung berück­ sichtigen und sich daher erwartungsgemäß verhalten wird (Hieronymi 2008; Marušić 2017; Budnik 2016). Argumente, die Unterscheidung in der einen oder anderen Weise zu treffen, habe ich ausführlicher in Leefmann (2020) diskutiert.

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im Wissen um die Interessen und Bedürfnisse ihres Gegenübers zu planen. Wird eine Person einem durch die Einstellung des Vertrauens formulierten normativen Anspruch nicht gerecht, zum Beispiel indem sie ihr Gegenüber absichtlich hinters Licht führt, nutzt sie das in sie gesetzte Vertrauen aus und begeht einen Vertrauensbruch. Dies ist der Kern der Intuition, dass Vertrauen nicht nur enttäuscht, sondern auch gebrochen werden kann und dass ein solcher Bruch angemessen durch reaktive Einstellungen wie Ärger, Groll und Verbitterung beantwortet werden kann (Holton 1994). Um zu erklären, worin die spezifische Art unseres Vertrauens in wissenschaftsbasierte Empfehlungen besteht, muss kurz noch eine weitere Frage angesprochen werden: Welchem Typ mentaler Einstellung ist die Einstellung des Vertrauens zuzuordnen? Es gibt zwei Möglichkeiten, die unserer Bereitschaft, uns auf eine andere Person zu verlassen, zugrundeliegende Erwartung zu interpretieren. Zum einen kann man vertreten, dass wann immer wir erwarten, dass eine andere Person eine Handlung ausführt bzw. wann immer wir von einer anderen Person erwarten, eine bestimmte Handlung auszuführen, wir tatsächlich glauben, dass die Person die Handlung ausführen wird bzw. wir der Person tatsächlich glauben, dass sie die Handlung ausführen wird. Wenn der Hörer in unserem Beispiel der Empfehlung der Politikerin folgt, weil er der Politikerin vertraut, dann glaubt er dieser Sichtweise zufolge, dass die Politikerin aufrich­ tige, wohlinformierte und zustimmungswürdige Empfehlungen gibt und daher vertrauenswürdig ist. Zum anderen kann man vertreten, dass unsere Erwartung, dass die Person eine bestimmte Handlung ausführt bzw. dass die Person eine bestimmte Handlung ausführen möge, unseren dementsprechenden Wunsch zum Ausdruck bringt. In diesem Fall vertrauen wir der Person also nicht, weil wir glauben, dass sie tatsächlich vertrauenswürdig ist, sondern weil es im Lichte unserer persönlichen Interessen und unserer Abhängigkeit vom Handeln der anderen Person wünschenswert wäre, dass die Person vertrauenswür­ dig ist.15 Für beide Ansichten gibt es gute Argumente. Betrachtet man das Entstehen von Vertrauensbeziehungen, fällt einerseits auf, dass wir anderen Personen nicht unter­ schiedslos vertrauen, sondern deren Vertrauenswürdigkeit mithilfe von Evidenzen einzuschätzen versuchen (Gambetta 1988). Andererseits können wir uns aber in manchen Fällen auch willentlich entscheiden, Personen zu vertrauen, bei denen wir Zweifel haben, ob sie sich tatsächlich als vertrauenswürdig erweisen werden (Holton 15

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Empfehlen und Vertrauen

Wie lässt sich nun mithilfe dieser Differenzierungen das Ver­ trauen des Hörers in die Empfehlung der Politikerin genauer beschrei­ ben?

6. Empfehlen und Vertrauen Zunächst ist relevant, dass die vertrauensvolle Einstellung des Hörers erklären soll, weshalb der Hörer gerechtfertigt ist, die ihm durch die Empfehlung zugänglich gemachten Gründe in seine Erwägung, zu φ-en, einzubeziehen. Inwiefern gibt sein Vertrauen in Politik und Wissenschaft dem Hörer Grund zu glauben, dass die Empfehlung der Politikerin aufrichtig, wohlinformiert und zustimmungswürdig ist? Das Vertrauen des Hörers muss sowohl eine epistemische als auch eine praktische Komponente aufweisen. Die epistemische Kom­ ponente begründet die ersten beiden der oben genannten Überzeu­ gungen des Hörers. Ein vertrauensvoller Hörer muss von der Politike­ rin erwarten, dass sie ihre Empfehlungen nicht bloß aus strategischen Gründen äußert, sondern weil sie wirklich glaubt, dass der Hörer φ-en sollte. Außerdem muss er von der Politikerin erwarten, dass sie ihre Empfehlungen auf das Urteil thematisch einschlägiger und kompe­ tenter Expertinnen und Experten stützt, so dass der in der Empfehlung geäußerte Sachverhalt (die Politikerin kann ihr Ziel erreichen, wenn H φ-t) zutrifft. Das beinhaltet einerseits die Erwartung, dass die Politike­ rin einschätzen kann, wer die in der Sache kompetenten Expertinnen und Experten sind, und dass diese wiederum tatsächlich kompetent sind, ein entsprechendes Urteil zu fällen. Die praktische Komponente begründet dagegen die dritte der oben genannten Überzeugungen des Hörers. Sie betrifft die Erwartung, dass die Ziele, welche die Politikerin ihrer Empfehlung zugrunde legt, auch seinen eigenen Zielen entsprechen. Beim Vertrauen in die wissenschaftsbasierten Empfehlungen der Politik kommen epistemisches und praktisches Vertrauen zusammen (Bennett 2020). Um die folgende Diskussion der relevanten Eigenschaften dieser Art von Vertrauen nicht unnötig zu verkomplizieren, fasse ich die komplexen Erwartungen des Hörers, die die epistemische Kompo­ nente seines Vertrauens ausmachen, als die Erwartung zusammen, 1994). Im ersten Fall erklären epistemische Gründe, warum wir der anderen Person vertrauen, im zweiten praktische.

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dass die Empfehlung der Politikerin aufrichtig und wohlinformiert ist. So ist es möglich, das epistemische Vertrauen des Hörers direkt auf die Politikerin zu beziehen. Ich gehe also davon aus, dass die epistemische Autorität der Expertin auf die Politikerin übergeht, wenn beide die geäußerte Empfehlung gemeinsam erarbeitet haben. Um die spezifische Art des Vertrauens in solche wissenschaftsbasierten Emp­ fehlungen genauer zu charakterisieren, werde ich die epistemische und die praktische Komponente getrennt analysieren.

6.1 Epistemisches Vertrauen Im Fall einer wissenschaftsbasierten Empfehlung der Politik ist episte­ misches Vertrauen insofern relevant, als die Bürgerinnen und Bürger in der Regel Laien in Bezug auf die für die Empfehlungen relevanten Wissensgebiete sind. Als solche sind sie nicht in der Position zu beur­ teilen, ob es beispielsweise eine auffällige Häufung von Atemwegs­ erkrankungen gibt, wodurch diese Erkrankungen ausgelöst werden, wie groß die Gefahr einer Infektion für uns selbst und Andere ist, oder welche Maßnahmen zur Vermeidung weiterer Infektionen am wirksamsten sind. Wenn sie also glauben, dass die Empfehlungen der Politik wohlinformiert sind, müssen sie letztlich darauf vertrauen, dass die Politik in einer besseren epistemischen Position ist als sie selbst. Allgemeiner gesagt: Für einen Hörer besteht überhaupt nur dann ein Anlass, der Empfehlung einer Sprecherin zu vertrauen, wenn er glaubt, dass ihm die Sprecherin im für die Empfehlung relevanten Wissensgebiet epistemisch überlegen ist. Ohne epistemische Abhän­ gigkeit ist epistemisches Vertrauen unnötig. Die Bürgerinnen und Bürger müssen aber nicht nur aufgrund ihrer schlechteren epistemischen Position in Bezug auf das relevante Wissensgebiet vertrauen, sondern auch weil sie im Moment der Emp­ fehlung nicht wissen können, ob die Äußerungen der Regierungsver­ treter aufrichtig sind. Wenn ein Gesundheitsminister die Empfehlung äußert, Masken zu tragen, erwarten wir, dass er sich nur in dieser Weise äußern würde, wenn er wirklich glaubt, dass das Tragen einer Maske eine wirksame Maßnahme zur Eindämmung der Pandemie ist. Wir wären außerdem zu Recht empört, würde der Minister uns zwar empfehlen, eine Maske zu tragen, dies aber selbst mit der Begründung unterlassen, dass er nicht glaube, dass diese Maßnahme zum Infektionsschutz tatsächlich geeignet sei. Beides ist Ausdruck

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Empfehlen und Vertrauen

unseres Vertrauens in die Aufrichtigkeit seiner Äußerung. Für die epistemische Komponente des Vertrauens unseres Hörers ergibt sich daher folgendes Bild: Ein Hörer H vertraut einer Sprecherin S, dass p der Fall ist, genau dann, wenn (i) (ii) (iii)

H glaubt, dass S eine im relevanten Wissensgebiet epistemisch überlegene Person ist, H von S erwartet, nur dann p zu behaupten, wenn S aus guten Gründen glaubt, dass p der Fall ist, H glaubt, dass S diese Erwartung erfüllen wird.

Diese Formulierung positioniert sich bezüglich der oben referierten Differenzierungen unterschiedlicher Vertrauensbegriffe wie folgt: Erstens geht es um ein normativ gehaltvolles Vertrauen im engeren Sinne. Als Bürgerinnen und Bürger erwarten wir von der Regierung, in Katastrophenfällen wie einer Pandemie Maßnahmen zu ergreifen, die die von der Katastrophe ausgehenden Gefahren für Leib und Leben minimieren. Dass der Schutz des Lebens und der Gesundheit der Bürger in den Verantwortungsbereich staatlicher Institutionen gehört, ist eine grundlegende Prämisse unserer politischen Ordnung. Bürgerinnen und Bürger haben daher ein Anrecht darauf, dass die Regierung dieser Verpflichtung nachkommt. Und zum Nachkommen einer solchen Verpflichtung gehört es auch, keine empirisch frag­ würdigen und unaufrichtigen Empfehlungen äußern. Bedingung (ii) bringt diese normative Erwartung zum Ausdruck. Zweitens geht es um ein doxastisches Verständnis von Vertrauen, insofern bestimmte Überzeugungen des Hörers notwendig für diese Form des Vertrauens sind. Der Hörer glaubt, dass die Sprecherin vertrauenswürdig ist, weil sie eine epistemisch überlegene Person ist und weil sie die in sie gesetzten Erwartungen erfüllen wird. Das kommt in den Bedingungen (i) und (iii) zum Ausdruck. Einen doxastischen Begriff von Vertrauen zugrunde zu legen, ist in diesem Kontext nicht die einzige Möglich­ keit. Sie erscheint aber plausibel, weil die Politik für die allermeisten Bürgerinnen und Bürger kein völlig fremder Interaktionspartner ist. Die Entscheidung, der Empfehlung einer Politikerin zu vertrauen, ist kein Sprung ins Ungewisse. Die meisten Bürgerinnen und Bürger haben zumindest eine ungefähre Vorstellung davon, in welchen recht­ lichen Grenzen sich politisches Handeln bewegt, und verfügen bereits über Erfahrungen mit den Äußerungen verschiedener Politikerinnen und Politiker. Sie haben in der Regel relevante Evidenzen, auf die

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sie ihre Überzeugung stützen, dass die Sprecherinnen vertrauenswür­ dig sind.

6.2 Praktisches Vertrauen Im Kontext von Empfehlungen ist praktisches Vertrauen relevant, insofern der Hörer seine Entscheidung, zu φ-en, von der Empfehlung der Sprecherin abhängig macht. Empfehlungen setzen diese Abhän­ gigkeit sogar voraus, weil sie sinnlos wären, wenn der Hörer in seiner Entscheidung, zu φ-en, durch die Empfehlung unbeeinflussbar wäre. Ein Hörer, der einer Sprecherin in diesem praktischen Sinne vertraut, lässt sich allerdings durch die Überzeugung der Sprecherin, dass er φ-en solle, nicht nur beeinflussen. Die Überzeugung der Sprecherin, dass er φ-en sollte, muss selbst der Grund seiner Handlung sein. Würde seine Handlungsentscheidung nicht allein auf der Empfehlung der Sprecherin, sondern auch auf seinen sonstigen Gründen, zu φ-en, basieren, oder würde er die Empfehlung lediglich in seine Überlegung, wie er handeln soll, einbeziehen, wäre seine Handlungsentscheidung nicht oder nicht in einem für Vertrauen notwendigen Maße von der Empfehlung der Sprecherin abhängig. Um einer Sprecherin praktisch zu vertrauen, muss der Hörer daher glauben, dass die Sprecherin besser weiß als er selbst, was zu tun richtig ist. Wir hatten in Abschnitt 2 aber auch gesehen, dass Empfehlungen sich von Befehlen unter anderem dadurch unterscheiden, dass sie in uneigennütziger Absicht geäußert werden. Sie reagieren auf die Bedürfnisse des Hörers. Insofern muss der Hörer der Sprecherin auch vertrauen, ihn durch das Äußern der Empfehlung nicht zu mani­ pulieren. Er muss ihr nicht nur eine überlegene Urteilskompetenz hinsichtlich seiner Handlungsoptionen unterstellen, sondern auch eine uneigennützige Einstellung. Die praktische Komponente des Vertrauens in eine Empfehlung kann daher wie folgt formuliert wer­ den: Ein Hörer H vertraut einer Sprecherin S, dass es richtig ist, zu φ-en, genau dann, wenn

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Empfehlen und Vertrauen

(i) (ii) (iii)

H glaubt, dass S besser weiß als H, was für H zu tun richtig ist, H von S erwartet, nur dann den Wunsch zu äußern, dass H φ-en möge, wenn S damit uneigennützige Motive verfolgt, H glaubt, dass S diese Erwartung erfüllen wird.

Auch hier geht es also wieder um Vertrauen in einem doxastischen und normativ gehaltvollen Sinne. In Bezug auf wissenschaftsbasierte Empfehlungen der Politik im Kontext der COVID-19-Pandemie scheint diese Konzeption angemessen, weil wir als Bürgerinnen und Bürger mit Recht erwarten, dass politische Entscheidungsträger uns nicht als bloßes Mittel zur Erfüllung ihrer Interessen betrachten. Wir betrachten Politiker als gewählte Vertreter der Bevölkerung, deren Aufgabe darin besteht, in öffentlichem Interesse zu agieren. Daher sind wir zu Recht empört, wenn sie zu Handlungen aufrufen, die nur ihren eigenen, nicht aber dem öffentlichen Interesse dienen. Diese Erwartung, dass die Politik im öffentlichen Interesse agieren sollte, kommt in Bedingung (ii) zum Ausdruck. Problematischer erscheint im vorliegenden Fall des Vertrauens in die Empfehlungen der Politik allerdings die Bedingung (i), und zwar, weil es in einer Demokratie geboten erscheint, Politikern nicht einfach zu unterstellen, dass sie wissen, was zu tun richtig ist. Damit die demokratische Entschei­ dungsfindung funktioniert, müssen die Bürgerinnen und Bürger ihre eigenen Vorstellungen dessen artikulieren, was zu tun richtig ist. Auch wenn Regierungen die Autorität besitzen, in Form von Gesetzen zu bestimmen, welche Handlungen als zulässig und unzulässig gelten, und damit eine Vorstellung dessen artikulieren, was zu tun richtig und falsch ist, muss dieses Urteil letztlich von den Urteilen der Bürgerinnen und Bürger abhängig bleiben. Die Regierung darf der Bevölkerung keine Vorstellung des Guten vorschreiben, die nicht in den Vorstellungen der Bürgerinnen und Bürger verankert ist. Daher sollte die Bedingung (i), so notwendig sie für eine Konzeption praktischen Vertrauens auch ist, unter idealen demokratischen Bedin­ gungen nicht erfüllt werden. Im konkreten Fall des Vertrauens in die wissenschaftsbasierten Empfehlungen sollten die Bürgerinnen und Bürger die Politik nur als epistemisch, aber nicht als praktisch überlegen betrachten.

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6.3 Vertrauen in Empfehlungen Setzen wir die beiden Komponenten unter Berücksichtigung der gerade erwähnten Einschränkung zusammen, ergibt sich für das Vertrauen eines Hörers in die wissenschaftsbasierte Empfehlung einer Politikerin P das folgende Bild: Ein Hörer H vertraut der Empfehlung einer Politikerin P, dass er φ-en sollte, genau dann, wenn (i) (ii) (iii) (iv)

H glaubt, dass P ihm in einem für seine Entscheidung, zu φ-en, relevanten Wissensgebiet epistemisch überlegen ist, H von P erwartet, nur dann zu behaupten, dass er Grund habe, zu φ-en, wenn P aus guten Gründen glaubt, dass das der Fall ist, H von P erwartet, nur dann den Wunsch zu äußern, dass H φ-en möge, wenn P damit uneigennützige Motive verfolgt, H glaubt, dass P diese Erwartungen erfüllen wird.

Wenn der Hörer in unserem Beispiel diese Einstellungen gegenüber der Politikerin einnimmt, kann man sagen, dass sein Vertrauen seine Überzeugungen stützt, dass die Politikerin aufrichtig, wohlinformiert und zustimmungswürdig ist. Sein Vertrauen berechtigt ihn also, die Empfehlung der Politikerin anzunehmen und die Gründe, die ihm durch die Empfehlung zugänglich werden, in seine Überlegungen einzubeziehen, was er tun soll. Natürlich garantiert Vertrauen keine Vertrauenswürdigkeit. Die Politikerin kann unaufrichtige, schlecht informierte und eigennützige Empfehlungen abgeben. Das ist schlicht die Kehrseite von Vertrauen. Vertrauen als Grund für die Rationalität der Akzeptanz von Empfehlungen anzuführen, erscheint daher unbe­ friedigend. Zu klären ist deshalb die Frage, warum die Einstellung des Vertrauens den Hörer eigentlich zu der Annahme berechtigen sollte, dass die Politikerin vertrauenswürdig ist. Im folgenden Abschnitt werde ich daher einen kurzen Blick auf die Frage werfen, was das Vertrauen eines Hörers in die wissenschaftsbasierte Empfehlung der Politikerin eigentlich rational macht.

7. Die Rationalität von Vertrauen in Empfehlungen Eine analoge Debatte um die Möglichkeit des Wissens aus dem Zeugnis anderer aufgreifend, ergibt sich das folgende Problem. Man

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kann erstens annehmen, dass das Vertrauen des Hörers nur dann gerechtfertigt ist, wenn er über ausreichende Evidenzen verfügt, die seine Überzeugung rechtfertigen, dass die Sprecherin vertrauenswür­ dig ist. Dies entspräche der reduktionistischen Sichtweise auf die Rechtfertigung von Wissen aus dem Zeugnis anderer (Fricker 2006). Dann aber wäre das Vertrauen des Hörers nicht der Grund, der seine Akzeptanz der Empfehlung rechtfertigt. Genaugenommen müsste der Hörer in diesem Fall gar nicht vertrauen, weil er ja aufgrund ihm zugänglicher Evidenzen gerechtfertigt ist zu glauben, dass die Politikerin aufrichtig, uneigennützig und wohlinformiert ist. Die zweite Strategie entspricht der nicht-reduktionistischen Sichtweise auf die Rechtfertigung aus dem Zeugnis anderer, der zufolge eine A-priori-Rechtfertigung besteht, die Aussagen anderer Personen für wahr zu halten (Coady 1992; Burge 1993; McDowell 1994). Auf den Fall der Empfehlung übertragen müssten wir also annehmen, dass der Hörer a priori gerechtfertigt ist zu glauben, dass die Sprecherin aufrichtig, uneigennützig und wohlinformiert ist. Der Hörer wäre dann gerechtfertigt, eine Empfehlung zu akzeptieren, solange er keine Anhaltspunkte dafür hat, dass die Politikerin in den Dimensionen Aufrichtigkeit, Uneigennützigkeit und Wohlinformiertheit nicht ver­ trauenswürdig ist. Aber auch dieser Ansatz ist ungeeignet, Vertrauen als Grund der Akzeptanz der Empfehlung auszuweisen, denn der Hörer wäre berechtigt, die Empfehlung der Politikerin auch dann zu akzeptieren, wenn er gar keine normativen Erwartungen an die Poli­ tikerin hätte. Das bloße Fehlen von Anhaltspunkten für mangelnde Vertrauenswürdigkeit würde ausreichen, die Empfehlung zu akzeptie­ ren, und die Einstellung des Hörers ließe sich nicht als das starke Vertrauen beschreiben, das wir bis hierher herausgearbeitet haben, sondern müsste als bloßes Sich-Verlassen charakterisiert werden. Wenn wir also den hier entwickelten Vertrauensbegriff aufrecht­ erhalten wollen, dann bleibt nur die Möglichkeit, die Rationalität von Vertrauen durch spezielle akteur-relative Gründe zu rechtfertigen (Keren 2014; McMyler 2011). Das Vertrauen des Hörers in die Empfehlung der Politikerin wäre dann nur für Hörer rational, die in einer bestimmten Beziehung zu der Politikerin stehen, in der es normativ fragwürdig wäre, ihre Empfehlung nicht zu berücksichtigen. Solche akteur-relativen Gründe scheinen nur Personen zu haben, die

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eine Sprecherin als »gute Ratgeberin«16 anerkennen. Das Vertrauen des Hörers in die Empfehlung der Politikerin wäre dieser Ansicht zufolge also rational, insofern die Politikerin für den Hörer den Status einer guten Ratgeberin hat. Welche Eigenschaften muss eine Sprecherin aufweisen, um eine gute Ratgeberin zu sein? Gute Empfehlungen für einen Hörer kann nur äußern, wer über Kenntnisse verfügt, die dem Hörer nicht zugänglich sind. Eine gute Ratgeberin ist dem Hörer also in einer relevanten Hinsicht epistemisch überlegen. Gute Empfehlungen für einen Hörer kann zudem nur äußern, wer in der Lage ist, sich so in den Hörer hineinzuversetzen, dass dessen Schwierigkeiten, eine Handlungsentscheidung zu treffen, nachvollziehbar werden. Eine solche Person verfügt daher über Empathie. Wer gute Empfehlungen äußern will, muss zudem in der Lage sein, eigene Interessen und Bedürfnisse zurückzustellen, denn es geht bei Empfehlungen darum, ein Urteil im Sinne des Hörers abzugeben. Eine gute Ratgeberin ist daher auch uneigennützig. Neben diesen objektiven Eigenschaften ist aber eine relationale Eigenschaft für gute Ratgeberinnen zentral. Sie könnten nicht als Ratgeberinnen wirken, wenn sie als solche nicht vom Hörer anerkannt werden würden. Da diese Anerkennung aber nicht auf Evidenzen des Hörers über das Vorhandensein dieser objek­ tiven Eigenschaften bestehen kann (sonst könnte der Hörer nicht im starken Sinne vertrauen), kann die Anerkennung nur in der Zuschrei­ bung einer bestimmten Rolle durch den Hörer fundiert sein. Qua dieser Rolle kommen einer Ratgeberin bestimmte sozio-epistemische Pflichten zu, beispielsweise die Übernahme von Verantwortung für ihre Empfehlungen. Sollte sie Empfehlungen äußern, die nicht auf ihren überlegenen Kenntnissen basieren, nicht an den Interessen des Hörers orientiert oder eigennützig sind, verliert sie die Anerkennung des Hörers. Ihr Status als gute Ratgeberin hängt maßgeblich davon ab, wie sehr sie bereit ist, die sozio-epistemische Funktion einer guten Ratgeberin zu erfüllen. Auf dieser Grundlage können wir nun fragen, ob es empirisch angemessen ist, die Beziehung zwischen Politikerinnen, die wissen­ schaftsbasierte Empfehlungen äußern, und Bürgern als Rezipienten dieser Empfehlungen als die Beziehung zwischen einer guten Ratge­ 16 Ich verwende den Begriff »Ratgeberin« in Ermangelung eines passenden Aus­ drucks für eine Person, die eine Empfehlung äußert. Damit soll nicht insinuiert werden, dass Ratgeben und Empfehlen identisch sind. Zum Zusammenhang von Ratgeben und Weisheit siehe auch Schmechtig (2018).

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berin und einem Ratsucher zu betrachten? Dazu müssen wir die vier genannten Kriterien auf wissenschaftsbasierte Empfehlungen der Politik im Kontext der COVID-19-Pandemie anwenden. Wie ich zeigen werde, gibt es eine ganze Reihe von Gründen, aus denen man bezweifeln kann, dass Politikerinnen, die auf dem Urteil wissenschaft­ licher Expertinnen beruhende Empfehlungen geäußert haben, als gute Ratgeberinnen betrachtet werden konnten. Betrachten wir als erstes das Kriterium der epistemischen Über­ legenheit. In ihrer Funktion als verantwortliche Mitglieder der Regie­ rung hatten Politikerinnen vermutlich einen besseren Zugang zur relevanten Expertise als die meisten Bürgerinnen und Bürger. Ande­ rerseits ist der leichtere Zugang in einer Phase, in der wissenschaftli­ ches Wissen noch unsicher ist, kein Garant für epistemische Autorität. Letztere käme nur den Expertinnen und Experten zu, insofern sie als Fachleute über die Fähigkeiten verfügen, dieses Wissen erst zu erzeugen. Erst in späteren Phasen der Pandemie, als in zentralen Fragen Einigkeit unter den Experten bestand, macht der leichtere Zugang einen Unterschied. Schwerer wiegt, dass aus Sicht des Hörers die epistemische Überlegenheit der Politikerin auch davon abhängt, ob diese in der Lage ist, die relevanten Experten zu identifizieren. Auf den ersten Blick scheint zumindest unklar zu sein, weshalb die Politi­ kerin den Bürgerinnen und Bürgern hier überlegen sein sollte. Der wichtigere Punkt ist allerdings, dass Politikerinnen selbst dann, wenn sie besser informiert sind als der Hörer, Empfehlungen aufgrund von wissenschaftlichen Erkenntnissen treffen, denen indirekt bestimmte Werturteile eingeschrieben sind.17 Sollten diese Werturteile nicht transparent sein oder – wenn sie transparent sind – von denen des Hörers abweichen, kann das die Anerkennung der epistemischen Überlegenheit unterminieren. Betrachten wir das Kriterium der Empathie, stellt sich zunächst die Frage, was dies im vorliegenden Kontext eigentlich bedeuten soll. Es kann nicht bedeuten, dass Politikerinnen nur dann gute Ratgeberinnen sind, wenn sie in der Lage sind, die Welt aus der 17 Man beachte in diesem Zusammenhang das Argument des induktiven Risikos, dem zufolge Wissenschaftler in verschiedenen Phasen des Forschungsprozesses zwischen den Risiken abwägen müssen, eine eigentlich wahre Hypothese fälschlicherweise abzulehnen oder eine eigentliche falsche Hypothese fälschlicherweise anzunehmen. Diese Abwägung kann nicht ohne eine Bewertung der Konsequenzen der beiden Fehler geschehen, weshalb wissenschaftliches Wissen unvermeidlich durch Werte affiziert sei (Douglas 2007).

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Perspektive jedes einzelnen potentiellen Hörers zu betrachten. Das ist nicht nur praktisch unmöglich, sondern auch gar nicht erforder­ lich, da Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie auf kollektives Handeln abzielen. Daher sind Handlungsempfehlungen auch nicht an Einzelpersonen, sondern die Bevölkerung insgesamt gerichtet. Damit spiegeln sie aber nicht mehr die Ziele des einzelnen Hörers wieder, sondern die Ziele, welche die Politiker der Bevölkerung als Gesamtheit unterstellen. Politikerinnen legen ihren Empfehlungen bestimmte Werturteile oder Rangfolgen von Werturteilen zugrunde, die im Idealfall auf die Werte oder Rangfolgen von Werten der Bevöl­ kerung abgestimmt sind, aber nicht notwendigerweise auf diejenigen des einzelnen Hörers. Dass die Empfehlungen aus Sicht des einzelnen wenig empathisch erscheinen, lässt sich zudem kaum vermeiden. Im Kontext der COVID-19-Pandemie wirken viele der empfohlenen Maßnahmen nur, wenn sie von möglichst vielen Personen gemeinsam befolgt werden, so dass eine Fokussierung der Empfehlungen auf die Werte einer einzelnen Person überhaupt nicht zielführend wäre. So bleibt Spielraum, die Empathie von Politikerinnen zu bezweifeln. Auch die Uneigennützigkeit der Empfehlungen erscheint nicht selbstverständlich. Politikerinnen wollen meistens auch wiederge­ wählt werden. Das bedeutet, es gibt ein Interesse der Politik, Emp­ fehlungen so zu formulieren, dass sie ihre Wählerklientel nicht zu sehr verschrecken. Während das einerseits dazu führen kann, dass die Empfehlungen sich stärker an den Werten dieser Klientel orientieren und die Politikerinnen aus Sicht dieser Gruppe vertrauenswürdiger erscheinen, kann es für andere Gruppen die Vertrauenswürdigkeit verringern. Wenn die Empfehlungen nicht als unabhängig von par­ tikularen Interessen verstanden werden, steht auch ihre epistemi­ sche Qualität und damit die epistemische Überlegenheit der Politike­ rin infrage. Es gibt gerade im Kontext der Pandemie daher eine größere Zahl an Hindernissen, die einer Anerkennung einer wissenschaftsbasierte Empfehlungen äußernden Politikerin als gute Ratgeberin im Wege stehen. Allerdings sind alle untersuchten Kriterien Quellen akteurneutraler Gründe, insofern sie für jeden möglichen Hörer Gründe darstellen können, der Politikerin den Status einer guten Ratgeberin (nicht) zuzuschreiben. Wenn die Basis der für Empfehlungen relevan­ ten Form von Vertrauen aber die Anerkennung durch den Hörer ist, dann muss Vertrauen auch möglich sein, wenn für den Hörer nicht transparent ist, ob die Politikerin diese Kriterien erfüllt. Ein

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Empfehlen und Vertrauen

Grund für Vertrauen in die Politikerin sollte daher insbesondere in der normativen Beziehung gesehen werden, die zwischen Bürgerinnen und Bürgern auf der einen und Politikerinnen und Politikern auf der anderen Seite qua ihrer jeweiligen sozio-epistemischen Funktionen besteht. Die Politik ist in unserem politischen System gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern verantwortlich. Aus diesem Grund muss sie sich bemühen, in einer Situation wie der Pandemie die Rolle einer Ratgeberin, die wissenschaftsbasierte Empfehlungen gibt, so gut wie möglich auszufüllen, und die Verantwortung für die Qualität ihrer Empfehlungen übernehmen. Diese Bereitschaft, den Anforderungen dieser Rolle zu entsprechen, ist der eigentliche Grund, weshalb ein Hörer der Politikerin die beanspruchte Autorität zuschreiben sollte. Sie ist zugleich der rechtfertigende Grund seines Vertrauens. Letzteres wird allerdings auf die epistemische Komponente beschränkt bleiben müssen. Da wissenschaftsbasierte Empfehlungen von Politikerinnen insbesondere im Kontext der Pandemie immer an Bevölkerungsgrup­ pen oder an die Bevölkerung insgesamt gerichtet sind, besteht immer die Möglichkeit, dass eine Empfehlung den Werten eines einzelnen Hörers nicht entsprechen wird.

8. Konklusion In diesem Aufsatz habe ich im Rahmen der Diskussionen über die Rolle von Experten während der COVID-19-Pandemie unter­ sucht, inwiefern Vertrauen die rationale Basis der Akzeptanz wissen­ schaftsbasierter Empfehlungen darstellen kann. Ausgehend von einer sprechakttheoretischen Analyse, die Empfehlungen primär als direk­ tiv versteht und in den Kontext der Debatten um die Eindämmung der Pandemie stellt, hat die Untersuchung gezeigt, dass ein Hörer Grund hat, eine Empfehlung zu akzeptieren, wenn er glaubt, dass die Empfehlung aufrichtig, wohlinformiert und zustimmungswürdig ist. Diese Überzeugungen des Hörers können durch eine für Empfeh­ lungen spezifische Art des Vertrauens gerechtfertigt werden. Dafür muss der Hörer aber in einer für Vertrauen angemessenen Beziehung zu der Sprecherin stehen. Für den Fall der Beziehung zwischen einer Politikerin, die wissenschaftsbasierte Empfehlungen äußert, und den Bürgerinnen und Bürgern als Adressaten dieser Empfehlungen hat sich gezeigt, dass solches Vertrauen die Anerkennung der Politikerin

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als gute Ratgeberin erfordert. Diese Anerkennung bezieht sich aber nur auf die epistemische, nicht auf die praktische Autorität der Spre­ cherin, weil nur erstere in dem akteur-neutralen Gut wissenschaftli­ cher Expertise gründet. Die praktische Autorität einer Sprecherin ist dagegen abhängig von geteilten Wertvorstellungen von Sprecherin und Hörer und daher nur relativ zum Hörer. Als Hörer sollten wir einer Empfehlung deshalb nur dann folgen, wenn wir die Sprecherin in beiden Dimensionen als Autorität betrachten können.18

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Empfehlen und Vertrauen

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Testimoniale Skepsis und Corona

Skepsis kann eine Tugend sein, wenn sie problematische Darstellun­ gen kritisch hinterfragt. Skepsis kann auch ein Laster sein, wenn sie verlässliche Darstellungen ohne guten Grund anzweifelt. Ein Problem entsteht, wenn sich eine Form von Skepsis aus der Innenperspektive als Tugend präsentiert, aus der Außenperspektive hingegen als Las­ ter erweist. Diese Art von Problem lässt sich auf unterschiedliche Weise im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie beobachten. Die Pande­ mie ist nicht nur eine enorme Belastung für unser Gesundheitssystem und unser soziales Miteinander, sondern bringt auch enorme episte­ mische Herausforderungen mit sich: Wissenschaftler*innen müssen unter Hochdruck Daten über das neue Virus sammeln, medizinische Laien hingegen werden wie kaum sonst im Alltag gebeten, sich auf die Aussagen von Expert*innen zu verlassen.1 Dieser Bitte kommen nicht alle nach: Ein wichtiger Aspekt der Pandemie ist, dass Teile der Bevölkerung den Aussagen von Expert*innen äußerst skeptisch gegenüberstehen.2 Auf diesen Aspekt wollen wir uns im Folgenden konzentrieren und uns exemplarisch mit einer Form von Impfskepsis beschäftigen. Dabei stößt man unweigerlich auf Varianten der folgen­ den Erzählung: Wissenschaftler*innen sind einem politischen und/oder ökonomi­ schen Erwartungsdruck ausgesetzt, mögliche Impfnebenwirkungen Wir sprechen von Sich-Verlassen, wenn es um eine Aussage geht, auf deren Wahrheit sich eine Akteurin verlässt. Wir sprechen von Vertrauen, wenn es um eine Person geht, der – z.B. mit Blick auf ihre epistemische Expertise – vertraut wird. Vertrauen wir einer Person in epistemischer Hinsicht, so sind wir im Regelfall geneigt, uns auf den Gehalt ihrer Behauptungen zu verlassen. 2 Eine solche Skepsis kann sich auf einzelne Personen oder einen klar umrissenen Personenkreis beziehen. Sie kann aber auch generisch sein und sich auf »die Wissen­ schaftler*innen«/»die Wissenschaft« beziehen, ohne dass dabei klar wäre, wer genau damit gemeint ist. 1

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weniger stark zu erforschen und als weniger gravierend darzustellen, als sie tatsächlich sind. Diesem Erwartungsdruck geben die Wissen­ schaftler*innen nach, ohne sich dessen notwendigerweise bewusst zu sein. So werden die Risiken, die mit einer Impfung verbunden sind, signifikant kleiner dargestellt, als sie in Wirklichkeit sind.

Diese Erzählung wird uns als skeptische Hypothese, kurz SH, dienen. Als Impfleugnerin klassifizieren wir eine Person, die der festen Über­ zeugung ist, dass SH stimmt. Wer hingegen SH als epistemische Möglichkeit ernst nimmt, klassifizieren wir als Impfskeptikerin.3 Eine Impfskeptikerin ist sich also beispielsweise nicht sicher, ob ihr eine relative Impfsicherheit nicht bloß vorgegaukelt wird, um ein politi­ sches Ziel zu erreichen. Die skeptische Position ist strukturähnlich zu klassischen skep­ tischen Positionen wie beispielsweise dem Außenwelt-Skeptizismus. So würde eine Außenwelt-Skeptikerin vertreten, dass wir nicht wis­ sen können, dass uns unsere Wahrnehmung nicht ausnahmslos täuscht, weil wir womöglich in so etwas wie der Matrix leben. Eine Außenwelt-Leugnerin würde darüber hinausgehen und vorgeben zu wissen, dass wir Opfer eines perfekten Täuschungsszenarios sind. Sie würde sagen »Ich weiß, dass ich in der Matrix lebe« und nicht lediglich »Ich kann nicht ausschließen, dass ich in der Matrix lebe«. Da eine solche Variante des Außenwelt-Leugnens meist keine gute Antwort auf die Frage hat »Wie kannst Du wissen, dass Du einer perfekten Täu­ schung unterliegst und nicht schlicht die Wirklichkeit wahrnimmst?«, gilt eine Auseinandersetzung mit dem Skeptizismus als größere, und eigentliche erkenntnistheoretische Herausforderung. Aus diesem Grund diskutieren auch wir hier nur die Position der Impfskeptikerin.4 Impfskepsis ist eine Form von testimonialer Skepsis, zumindest in der Ausprägung, die wir diskutieren wollen. Testimoniale Skepsis richtet sich dabei auf die jeweiligen Aussagen einer Gruppe von Erkenntnissubjekten. Ist diese Gruppe universal, so haben wir es mit 3 Hier lehnen wir uns an die analoge Terminologie bei Worsnip (2021) im Zusam­ menhang mit Klimaskepsis an. 4 Damit wollen wir nicht ausschließen, dass es Situationen geben kann, in denen wir durchaus gerechtfertigt sein könnten, Hypothesen, die SH ähnlich sind, zu glauben. Denn natürlich kann es positive Evidenz für kollektive Biase in bestimmten Wissensbereichen, wie z.B. der Medizin, geben (siehe Hauswald 2021). Vergleiche auch: Verschwörungstheorien sind in der Regel hochgradig irrational, aber manchmal gibt es selbstverständlich gute Gründe zu glauben, dass eine Verschwörung stattgefun­ den hat.

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Testimoniale Skepsis und Corona

einer Form globaler testimonialer Skepsis zu tun. Ist diese Gruppe nicht universal und richtet sich beispielsweise auf eine bestimmte Gruppe von Wissenschaftler*innen, so haben wir es mit einer Form lokaler testimonialer Skepsis zu tun. Beide Formen von Skepsis können dabei noch weiter eingeschränkt werden, wenn der fraglichen Gruppe nur bei einem bestimmten Thema misstraut wird (z.B. beim Thema Impfung), bei einem anderen Thema aber nicht (z.B. bei Auskünften zu privaten Themen). Testimoniale Skepsis ist dabei zunächst eine Form von Quel­ lenskepsis. Die Auskünfte einer Gruppe werden dabei als weniger oder gar nicht verlässliche Erkenntnisquelle eingestuft. Präsentiert sich z.B. eine Sprecherin mit einer Behauptung als jemand, die bezüglich des behaupteten Sachverhalts über Wissen verfügt, so würde eine testimoniale Skeptikerin bestreiten, dass man der Person Glauben schenken sollte und dadurch Wissen erwerben kann. Auf Basis der bisherigen Überlegungen lässt sich ein skeptisches Argument formulieren: 1. 2. 3.

Ich, ein Bürger ohne medizinische Expertise, kann nicht wissen, dass die skeptische Hypothese SH falsch ist. Wenn ich nicht weiß, dass SH falsch ist, dann weiß ich nicht, dass die Risiken von Impfnebenwirkungen der wissenschaftlichen Mehrheitsmeinung entsprechen. Also weiß ich nicht, dass die Risiken von Impfnebenwirkungen der wissenschaftlichen Mehrheitsmeinung entsprechen.

In der ersten Prämisse wird angenommen, dass sich die skeptische Hypothese eines wissenschaftlichen Biases (im weitesten Sinne) zulasten einer angemessenen Darstellung der Impfrisiken für medizi­ nische Laien nicht ausschließen lässt. Die zweite Prämisse macht sich zunutze, dass die wissenschaftlichen Darstellungen für medizinische Laien die einzig mögliche Erkenntnisquelle sind: Es gibt für Laien im Regelfall keine andere Möglichkeit, sich von den Aussagen der medizinischen Expert*innen unabhängig zu überzeugen. Als Schluss­ folgerung erhalten wir, dass medizinische Laien nicht wissen können, dass die Impfrisiken den wissenschaftlichen Darstellungen entspre­ chen. Es ist nicht zu bestreiten, dass testimoniale Skepsis in hohem Maße praktisch relevant ist, nicht nur im Kontext der Corona-Pande­ mie, sondern auch im Zusammenhang mit der Klimakrise. Denn wer den Informationen misstraut, die bestimmte Handlungen begründen

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könnten, der wird weniger geneigt sein, die fraglichen Handlungen zu vollziehen, sei es beispielsweise das Einhalten von Vorgaben zur Kontaktreduktion (Brzezinski et al. 2021) oder die Reduktion CO2-intensiver Aktivitäten. Es überrascht deshalb, dass testimoniale Skepsis als distinktive Form von Skeptizismus in der Erkenntnistheo­ rie bisher nur wenig erforscht wurde.5 Wir wollen hier einen Beitrag dazu leisten, diese Forschungslücke zu schließen. Die Theorien zu Testimonialwissen zerfallen grob in zwei Lager: reduktionistische und anti-reduktionistische Positionen.6 Eine reduk­ tionistische Theorie zeichnet sich durch die Auffassung aus, dass Testimonialwissen vollständig durch den Beitrag anderer Erkenntnis­ quellen, insbesondere Wahrnehmung, Erinnerung und Schlussfolge­ rung, gerechtfertigt ist. Anti-Reduktionist*innen bestreiten dies: Die Behauptungen Anderer wären demnach eine eigenständige Erkennt­ nisquelle, die Wissen erzeugen kann. Wir sind der Meinung, dass testimoniale Skepsis unterschied­ liche Antworten erfordert, je nachdem welchem Lager man sich zugehörig fühlt. Deshalb werden wir diese beiden Lager getrennt betrachten. Wir werden zunächst Zweifel daran säen, dass sich auf Basis einer reduktionistischen Position erfolgreich gegen testimoniale Skepsis argumentieren lässt. Wird hingegen eine anti-reduktionisti­ sche Position vertreten, so ergeben sich vielfältige Lösungsmöglich­ keiten. Da ein Anti-Reduktionismus eine enge Parallele zwischen Testimonialwissen und Wahrnehmungswissen zieht, kann nahezu für jede Antwort auf den Außenwelt-Skeptizismus gefragt werden, ob und wie gut sich diese Antwort zu einer Antwort auf testimoniale Skepsis erweitern lässt. Dieses so beschriebene Forschungsprogramm werden wir exemplarisch mittels zweier anti-skeptischer Strategien erproben: der Mooreschen Antwort auf den Skeptizismus und dem erkenntnistheoretischen Externalismus. Hinsichtlich der Mooreschen Antwort glauben wir zeigen zu können, dass nicht jede Antwort auf den Außenwelt-Skeptizismus automatisch zu einer guten Antwort auf testimoniale Skepsis führt. Im Gegensatz dazu halten wir einen Ausnahmen bilden Faulkner (2006) und Worsnip (2021). Erwähnenswert ist, dass es auch einige Vorschläge in der Debatte gibt – beispiels­ weise sogenannte hybride Positionen (Lackey 2008; Graham 2006; Faulkner 2000; Lehrer 2006; Pritchard 2006) –, die keinem der beiden Lager klar zuzuordnen sind. Unsere vereinfachende Diskussion sollte aber auch für Anhänger hybrider Vorschläge relevant sein, da sich solche Positionen in der Regel durch ihre Anteile an reduktionistischen und anti-reduktionistischen Aspekten charakterisieren lassen. 5

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externalistischen Ansatz für vielversprechend. Wir fragen uns deshalb abschließend, wie mit testimonialer Skepsis, einschließlich CoronaSkepsis, umzugehen wäre, wenn man die externalistische Antwort auf den Skeptizismus favorisiert.

1. Reduktionismus und testimoniale Skepsis Ein Reduktionismus bezüglich Testimonialwissen zeichnet sich dadurch aus, dass Behauptungen Anderer als derivative Erkenntnis­ quelle gesehen werden.7 Damit ist gemeint, dass Testimonialwissen nur durch einen Schluss gewonnen werden kann, dessen Prämissen auf Erkenntnisquellen beruhen, die unabhängig von Behauptungen Anderer sind. Die Quellen, die Reduktionist*innen hier typischer­ weise im Sinn haben, sind Wahrnehmung, Erinnerung und Schluss­ folgern. Mittels Wahrnehmung kann bestimmt werden, welche Art von Person in welchem Kontext gerade spricht und was diese Person behauptet. Aufgrund von Erinnerung kann die Wahrnehmungssitua­ tion mit ähnlichen Situationen abgeglichen werden und daraufhin befragt werden, ob sich in diesen Situationen das Gesagte eher als wahr oder eher als falsch herausgestellt hat. Zusammen mit möglichem Hintergrundwissen über das Thema der Behauptung, soll dann im Lichte des Wahrnehmungs- und Erinnerungswissens geschlussfolgert werden, welche Einstellung zum Gehalt der Behaup­ tung erfolgen soll. Kurz gesagt: In Fällen von Testimonialwissen ist all das, was man aufgrund von nicht-testimonialen Quellen wissen kann (Wahrnehmung, Erinnerung, Schlussfolgerung) bereits hinreichend, um zur fraglichen Überzeugung zu gelangen. Wie würde man aus Sicht des Reduktionismus reagieren, wenn die Behauptung einer anderen Person angezweifelt wird? Eine Reduk­ tionistin könnte hier die folgenden Fragen stellen: Wie plausibel ist das Behauptete im Lichte dessen, was ich über das Thema der Behauptung weiß? Als wie verlässlich hat sich die behauptende Per­ son in der Vergangenheit erwiesen? Wie verlässlich waren ähnliche Personen in vergleichbaren Situationen? Gibt es im Kontext der Behauptung Hinweise, die für oder gegen eine Falschbehauptung sprechen? Je nachdem, wie die Antworten auf diese Fragen ausfallen, 7 Viel von dem, was wir über testimoniales Wissen sagen, ließe sich genauso über die epistemische Rechtfertigung von testimonialen Überzeugungen sagen.

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würde eine positive, neutrale oder negative Einstellung zum Gehalt der Behauptung eingenommen. Ein Vorteil einer reduktionistischen Position im Zusammenhang mit testimonialer Skepsis ist die Möglichkeit, auf unabhängige Quel­ len verweisen zu können, die von testimonialer Skepsis zunächst nicht bezweifelt werden. Griffe eine Person eine Behauptung also zu Unrecht an, so kann eine Reduktionistin auf Quellen verwei­ sen, die von dem ausgesprochenen Zweifel zunächst nicht betroffen sind. Wird beispielsweise die Behauptung einer Wissenschaftlerin zu Unrecht angezweifelt, so kann entgegnet werden, dass sich die Person bisher als verlässlich erwiesen hätte, Wissenschaftler*innen im All­ gemeinen sehr verlässlich sind, etc. Da diese Aussagen sich mittels Wahrnehmung, Erinnerung und ggf. Hintergrundwissen bestätigen lassen sollen, könnte so einem testimonialen Skeptizismus, insbeson­ dere in seiner lokalen Ausführung, begegnet werden. Was sich zunächst als möglicher Vorteil präsentiert, wird in der Debatte zu Testimonialwissen eher als wenig vielversprechend betrachtet. Einer der Standard-Einwände gegen den Reduktionismus lautet nämlich, dass er einen weitreichenden Skeptizismus impliziert (vgl. Coady 1992; Lackey 2008). Und in der Formulierung dieses Einwandes werden skeptische Hypothesen, wie etwa SH, noch gar nicht in Betracht gezogen. Wie kommt es zu diesem Einwand gegen den Reduktionismus? Eine Sorge ist, dass wir häufig zu wenige Informationen haben, um die Verlässlichkeit unseres Gegenübers einschätzen zu können. Fragen wir beispielsweise eine fremde Person am Bahnhof, wo das nächste Café zu finden ist, so scheinen wir wissen zu können, dass ein Café in einer Seitenstraße beim Bahnhof ist, wenn uns die angesprochene Person dies mitteilt. Allerdings scheinen wir keine hinreichenden Informationen über die Verlässlichkeit dieser Person zu besitzen, Informationen, die dem Reduktionismus nach notwendig wären, um zu testimonialem Wissen zu gelangen. Dieses Problem verschärft sich zusätzlich, wenn die Verlässlichkeit hinsichtlich komplexer wis­ senschaftlicher Sachverhalte eingeschätzt werden muss. Reduktionist*innen wie etwa Kenyon (2013) reagieren auf diese Art des »insufficient evidence«-Einwands mit einem Verweis auf den Informationsreichtum von Äußerungskontexten. Die Annahme ist dabei, dass wir in unserem Leben sukzessive eine komplexe Theorie von Personen und Institutionen entwickeln, die im Einzelfall eine Reihe von Rückschlüssen auf die Verlässlichkeit einer Behauptung

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Testimoniale Skepsis und Corona

ermöglicht. Weiterhin stehen uns in gewöhnlichen Konversations­ kontexten oft mehr subtile Informationen zur Verfügung (beispiels­ weise über Verhaltensweisen wie das Halten von Blickkontakt) als von Kritikern bisweilen angenommen wird. Was allerdings nicht gezeigt wird, aber sicher auch schwierig und sehr aufwendig zu zeigen wäre, ist, wie einer konkreten Behauptung, z.B. die einer Virologin, Glauben geschenkt werden dürfte, ohne sich dabei auf das Zeugnis von ande­ ren Expert*innen zu verlassen, denen womöglich ebenfalls Skepsis entgegengebracht wird.8 Deshalb bleibt es zumindest zweifelhaft, ob eine reduktionistische Theorie von Testimonialwissen ausreichend plausibilisiert werden kann. Aus unserer Sicht werden die Probleme für den Reduktionismus noch verstärkt, wenn dieser mit testimonialer Skepsis konfrontiert wird. Wie kann aus Sicht des Reduktionismus eine skeptische Hypo­ these wie SH, der zufolge Darstellungen der Wissenschaft aufgrund eines kollektiven Biases verzerrt sind (vgl. Hauswald 2021), in einer gegebenen Situation ausgeschlossen werden? Da zwischen Laien und Expert*innen eine starke Asymmetrie im Zugang zum fraglichen Themenbereich besteht, hat ein Laie kaum Möglichkeiten, wissenschaftliche Äußerungen zur Impfsicher­ heit unabhängig zu überprüfen. Natürlich kann eine einzelne Äuße­ rung mit den Behauptungen anderer Wissenschaftler*innen abgegli­ chen werden, oder auf Darstellungen des Wissenschaftsjournalismus zurückgegriffen werden, aber dies wären ja wiederum testimoniale Erkenntnisquellen. Diese Schwierigkeit exemplifiziert einen weiteren Standardeinwand gegen den Reduktionismus: Nicht-testimoniale Gründe für die Verlässlichkeit Anderer zu finden führt uns oft wieder zurück zu den Aussagen Anderer – und damit in einen unauflöslichen Regress. Wie sieht es mit anderen Quellen für die benötigte Informa­ tion aus? Zum fraglichen Themenbereich, beispielsweise möglichen Impfrisiken von mRNA-Impfstoffen, wird ein Laie keine unmittelbare Evidenz basierend auf aktueller oder vergangener Wahrnehmung

Zahlreiche Autoren haben Indikatoren vorgeschlagen, auf die Laien zurückgreifen können, um Expert*innen im relevanten Fachgebiet zu identifizieren (siehe bspw. Anderson 2011; Rolin 2020; Grundmann im Erscheinen). Typische Beispiele sind hierbei der »track record«, die Reputation oder die didaktische Kompetenz der Expert*innen. Fraglich bleibt hierbei allerdings, inwieweit diese Vorschläge für Indi­ katoren, die ja selbst von Expert*innen geäußert werden, nicht auch von skeptischen Hypothesen wie SH betroffen sind. 8

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haben.9 Auch das Aufsuchen der relevanten Informationen birgt epistemische Risiken: Die laienhafte Anwendung des von Skeptikern oft zitierten Diktums, dass man seine eigenen Recherchen anstellen solle (»Do your own research!«), führt typischerweise eher dazu, dass vermehrt falsche Überzeugungen zum fraglichen Thema erworben werden (Ballantyne/Dunning 2022). Die einzige Möglichkeit, die einem Laien hier aus unserer Sicht bleibt, wäre einen großen indirekten Schluss zu ziehen. Vieles, was ein Laie über das komplexe System Wissenschaft wissen kann, legt nahe, dass es sich dabei um ein sehr erfolgreiches System handelt. Das legen z.B. eigene Arztbesuche nahe, die oft zu einer Besserung der Symp­ tome führten oder das Nutzen von öffentlichen Verkehrsmitteln, deren Antrieb auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruht. Indirekt könnte so aus Sicht eines Laien vermutet werden, dass eine gegebene wissenschaftliche Behauptung verlässlich ist, selbst wenn man zu dem fraglichen Themenbereich überhaupt keinen Zugang hat.10 Aus unserer Sicht gibt es hier kein prinzipielles, aber immer noch ein graduelles Problem. Denn Laien wissen auch, dass in der Wissen­ schaft gelegentlich gefälscht wird, dass einige wichtige Themenberei­ che zu lange unerforscht geblieben sind (Stichwort Gender-Bias in der medizinischen Forschung) und dass gelegentlich unerwünschte Ergebnisse nicht veröffentlicht wurden.11 Dass Wissenschaft erfolg­ reich, womöglich sogar sehr erfolgreich ist, bleibt damit vereinbar, dass Wissenschaft nicht perfekt ist. Ein großer, indirekter Schluss kann daher nur pauschal ein hohes Maß an Verlässlichkeit für alle wissenschaftlichen Äußerungen ausweisen. Er lässt zu, dass man es im Einzelfall mit einer nicht-verlässlichen Behauptung zu tun hat. Zwar sind spezifischere Überlegungen hinsichtlich der Verlässlichkeit einzelner Disziplinen und Subdisziplinen prinzipiell denkbar, das Was wäre, wenn Expert*innen verlautbaren würden, dass Nebenwirkungen in keinem Fall auftreten können, im familiären Umfeld eine Person aber in einem nahen Zeitraum nach der Impfung gravierende gesundheitliche Probleme erleidet? Wäre das nicht hinreichende Evidenz für die Falschheit der Verlautbarung der Expert*innen? Unserer Ansicht nach ist der evidenzielle Status dieser Beobachtung höchstens tentativ, da ein Laie nicht unterscheiden kann, ob ein gesundheitliches Problem eine vermeintliche Nebenwirkung ist oder nur ein zufälliges Ereignis, das auch unabhängig von der Impfung aufgetreten wäre. 10 Eine ähnliche Überlegung bringt Grundmann (2021) vor. Er argumentiert, dass die Verfahrensstandards zur Auswahl der Mitglieder der wissenschaftlichen Gemein­ schaft ein geeignetes Kriterium für die Identifikation von Experten liefern. 11 Für weitere Beispiele siehe Levy (2018). 9

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dafür nötige Hintergrundwissen ist aber in der Regel für einen Laien praktisch nicht verfügbar. In jedem Fall gelingt es nicht, zumindest nicht ohne weiteres Zutun, eine skeptische Hypothese wie etwa SH aus dem Weg zu räumen. Man müsste das skeptische Argument aus der Einleitung akzeptieren: Wissen auf Basis wissenschaftlicher Behauptungen wäre nicht zu haben. Diese Konsequenz klingt auf den ersten Blick attraktiver als sie in Wirklichkeit ist. Sie klingt attraktiv, weil Behauptungen in der Wissenschaft sehr oft als vorläufig und mit Unsicherheit behaf­ tet angesehen werden. Für die Hypothesen und Theorien, die in der Wissenschaft aufgestellt werden, beanspruchen die Wissenschaft­ ler*innen typischerweise selbst kein Wissen. Gerade in der CoronaKrise sind wissenschaftliche Daten oft vorläufig und mit Unsicher­ heit behaftet und werden entsprechend als begründete Vermutungen vorgetragen (vgl. Viebahn 2021). Dass Laien Aussagen von Wissen­ schaftler*innen mit einer Spur Zweifel versehen, könnte so wie die Übernahme der kritischen Einstellung aussehen, die Wissenschaft­ ler*innen selbst ihren eigenen Überzeugungen entgegenbringen. Aber dieser Eindruck täuscht. Nach der obigen Überlegung würde gelten: Wenn eine Wissenschaftlerin eine Behauptung der Art »Wahrscheinlich ist es so-und-so, denn das wird durch die momentan verfügbare Evidenz gut gestützt« tätigt, so würde die skeptische Einstellung gegenüber wissenschaftlichen Behauptungen zur Konsequenz haben, dass der wissenschaftliche Laie die Überzeu­ gung entwickelt, dass es wahrscheinlich so-und-so ist. Der Zweifel, den die Wissenschaftlerin bereits mitkommuniziert hat, würde noch einmal verstärkt werden, weil es sich um die Behauptung einer Person handelt, die unter einen skeptischen Zweifel gestellt wurde. Dass im Kommunikationsprozess kontextuelle Standards häufig verloren gehen, trägt dabei auch zu dieser Übersteuerung bei. Was im strengen Wissenschaftskontext als »wahrscheinlich« gilt, ist sehr viel besser als das abgesichert, was wir im Alltagskontext für wahrscheinlich halten.

2. Anti-Reduktionismus und testimoniale Skepsis Der Anti-Reduktionismus lässt sich als Negation des Reduktionismus verstehen: Das Zeugnis Anderer ist eine eigene Form von Erkennt­ nisquelle, die nicht derivativ durch andere Erkenntnisquellen, bei­ spielsweise Wahrnehmung oder Erinnerung, gerechtfertigt werden

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muss. Dies wird oft als Motivation für den Anti-Reduktionismus angeführt: Gemäß einem Anti-Reduktionismus wäre es möglich, dass die Rezipientin einer Behauptung zu Testimonialwissen gelangt, obwohl die Gesamtheit der nicht-testimonialen Evidenz, über die sie verfügt, nicht hinreichend für entsprechendes Wissen wäre. Der Standard-Einwand gegen einen Anti-Reduktionismus ist so etwas wie das Gegenstück zum Standard-Einwand gegen den Reduk­ tionismus. Während dem Reduktionismus vorgeworfen wird, zu viel Misstrauen zu empfehlen und zu wenig Testimonialwissen prognosti­ zieren zu können, wird dem Anti-Reduktionismus vorgeworfen, eine irrationale Form von Leichtgläubigkeit zu empfehlen und zu viel Testi­ monialwissen zu prognostizieren. Müsste eine Anti-Reduktionist*in nicht sagen, dass wir Behauptungen vollkommen fremder Personen oder Äußerungen auf unbekannten Webseiten unkritisch Glauben schenken dürfen? Zur Verteidigung des Anti-Reduktionismus kann eine Parallele zwischen Testimonialwissen und Wahrnehmungswissen gezogen werden. Aus Sicht des Anti-Reduktionismus ist das Zeugnis Anderer ja eine ähnlich fundamentale Erkenntnisquelle wie Wahrnehmung. Aber nur weil etwas eine fundamentale Erkenntnisquelle ist, müssen wir dieser Quelle nicht in allen Situationen blind vertrauen. Wahr­ nehmung ist eine verlässliche Erkenntnisquelle in Normalsituationen. Befinden wir uns in einem Spiegelkabinett oder schleppen wir uns dem Verdursten nahe durch die Wüste, so ist eine kritische Haltung zu dem, was wir wahrzunehmen meinen, angebracht. Ähnlich kann so auf den Standard-Einwand reagiert werden: Dem Zeugnis Ande­ rer sollte ebenfalls nur in Normalsituationen vertraut werden. Und womöglich muss der Kreis um das, was als Normalsituation gilt, bei dem Zeugnis Anderer um einiges enger gezogen werden als bei Wahrnehmung. Mit der Parallele zu Wahrnehmung ergibt sich ein interessan­ tes Forschungsprogramm. Eine Reihe von Lösungen zum AußenweltSkeptizismus lassen sich damit prinzipiell zu möglichen Antworten auf testimoniale Skepsis erweitern. Es lassen sich so Varianten des Mooreanismus, Externalismus, Kontextualismus oder Dogmatismus als mögliche Zurückweisungen von testimonialer Skepsis testen. Wir möchten im Folgenden einen ersten Schritt innerhalb dieses Forschungsprogramms gehen und zwei dieser Strategien – Moorea­ nismus und Externalismus – auf testimoniale Skepsis anwenden. Dabei dient uns der Mooreanismus als Illustration dafür, dass eine

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gute Antwort auf den Außenwelt-Skeptizismus nicht automatisch zu einer guten Antwort auf testimoniale Skepsis wird. Die Strategie des Externalismus soll ein Beispiel für eine Strategie sein, die auch in der Konfrontation mit testimonialer Skepsis erfolgreich sein könnte.

2.1 Mooreanismus In seinem »Proof of an External World« hebt George Edward Moore (1939) seine Hand und sagt »Hier ist eine Hand«. Seine Behauptung wird dann später sein, dass ein Wissen darüber, dass er eine Hand habe, plausibler sei als jedes gegenteilige skeptische Argument. Die Antwort, die Moore einem Außenwelt-Skeptizismus entgegenstellt, beruft sich also darauf, dass ein Verfügen über Alltagswissen einen besseren epistemischen Status hat als die Prämissen skeptischer Argumente, die ein solches Wissen zu untergraben versuchen. Wie ließe sich der Mooresche Ansatz auf Testimonialwissen übertragen? Was ist das Gegenstück zur Mooreschen Behauptung »Hier ist eine Hand« [dabei eine Hand hebend]? Eine Möglichkeit wäre, die folgende Art von Behauptung zu erwägen: »Die Risiken von schweren Impfnebenwirkungen sind ver­ gleichsweise klein« [dabei auf eine Wissenschaftlerin zeigend, die genau dies behauptet]. Auf diese Art würde man ähnlich wie bei Moore den Gehalt möglichen Wissens behaupten und dabei gleichzei­ tig auf die Quelle dieses Wissens verweisen können.12 Wie überzeugend wäre eine solche Strategie? Faulkner (2006) formuliert dagegen zwei Einwände, wovon wir uns den ersten, und aus unserer Sicht besseren Einwand anschauen wollen: [T]he phenomenology of perception is authoritative in the sense that when one sees that p part of the phenomenology of seeing is that there is a compulsion to believe that p and that one is seeing that p. (Faulkner 2006, 155)

Faulkner beobachtet, dass Wahrnehmung uns stärker beeindruckt als die Behauptungen Anderer. Wir sind unmittelbar geneigt, unse­ ren Wahrnehmungseindrücken eine entsprechende Überzeugung zur Seite zu stellen. Wir konzentrieren uns hier der Einfachheit halber auf einen Fall mit einer einzigen testimonialen Quelle. In komplexeren Fällen mit mehreren Quellen wäre eine Abwä­ gung und abschließend eine komplexere »Zeigehandlung« erforderlich. 12

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Wo Faulkner einen kategorischen Unterschied zwischen Wahr­ nehmung und Behauptungen Anderer konstatiert, sehen wir aller­ dings nur einen graduellen. Wahrnehmung hat keine absolute Auto­ rität: Es ist möglich, einem Wahrnehmungseindruck, z.B. einer gesichtsförmigen Wolkenformation, zu misstrauen. Und umgekehrt ist es auch so, dass Behauptungen Anderer eine gewisse Autorität haben. Wenn nichts dagegen spricht, sind wir durchaus geneigt, Anderen zu glauben. Dennoch könnte es hier einen graduellen Unterschied geben. Wir sind etwas weniger geneigt, Anderen zu glauben, als wir geneigt sind, unserer eigenen Wahrnehmung zu vertrauen. Die Erfahrung zeigt, dass uns die Aussagen von Anderen öfters als unsere Wahrnehmung dazu verleiten, Falsches zu glauben, insbesondere wenn beim Spre­ cher Anreize für Falschbehauptungen bestehen (beispielsweise im Falle eines Gebrauchtwagenhändlers, der den Zustand eines Wagens schönreden will). Dieser graduelle Unterschied könnte also einen graduellen Unterschied in der Verlässlichkeit der beiden Erkenntnis­ quellen widerspiegeln. Obgleich so lediglich ein gradueller Unterschied bestünde, könnte hier dennoch eine Gefahr für eine Mooresche Antwort auf testimoniale Skepsis liegen. Der Clou bei Moore ist ja, dass die Annahme von Wahrnehmungswissen plausibler ist als die Kon­ klusion gegenteiliger skeptischer Argumente. Dieses vergleichende Urteil könnte allerdings ins Wanken geraten, wenn die Annahme von Testimonialwissen etwas weniger plausibel ist – ein Problem, dass sich bei erst kürzlich gesammelter Information noch verschärft. Dadurch, dass das Zeugnis Anderer etwas weniger verlässlich ist, wird die Annahme von Testimonialwissen – z.B. »Die Risiken von schweren Impfnebenwirkungen sind vergleichsweise klein« [dabei auf eine Wissenschaftlerin zeigend, die genau dies behauptet] – etwas weniger plausibel. Auf diese Weise könnte sich allerdings die Waage zugunsten testimonialer Skepsis neigen: Es wäre nicht mehr klar, oder zumindest weniger klar, dass die Annahme von Testimonialwissen plausibler ist als die Prämissen möglicher skeptischer Argumente.

2.2 Externalismus Die Grundidee hinter externalistischen Positionen in der Erkenntnis­ theorie besteht darin, dass der epistemische Status einer Überzeugung

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auch von Faktoren bestimmt werden kann, die außerhalb des Subjekts liegen und die dem Subjekt nicht unabhängig zugänglich sein müssen. Im Falle von Wissen ist ein minimaler Externalismus unumgänglich: Da Wissen Wahrheit impliziert, hängt die Frage, ob eine Überzeugung Wissen darstellt, von vornherein davon ab, ob eine bestimmte externe Bedingung erfüllt ist. Der erkenntnistheoretische Externalismus geht über diese Beobachtung allerdings in der Regel weit hinaus. Auch für Eigenschaften von Wissen, die zur Wahrheit der Überzeugung noch hinzukommen müssen, wird angenommen, dass sie von externen Faktoren abhängen können. Beispiele, die die Plausibilität des Externalismus besonders deut­ lich illustrieren können, sind bestimmte Varianten von sogenannten Gettier-Fällen. Schaut Henry, während er mit dem Zug unterwegs ist, auf eine echte Scheune vor ihm auf einem Feld, so stellt diese Überzeu­ gung kein Wissen dar, wenn die Scheune – ohne dass Henry davon wüsste – umgeben ist von täuschend echten Scheunen-Attrappen, die zu Filmzwecken aufgebaut wurden (vgl. Goldman 1976). Anders verhält es sich, wenn die Scheunen-Attrappen echte Scheunen wären. Dann spricht nichts dagegen, Henry Wissen zuzusprechen. Auffällig ist hierbei, dass (a) Henry in beiden Fällen eine wahre Überzeugung hat, (b) er nur in einem Fall über Wissen verfügt, und (c) beide Situationen für Henry aus der Innenperspektive ununterscheidbar sind. Das legt nahe, dass externe Faktoren, neben der Wahrheit, den Unterschied machen können, ob eine Person über Wissen verfügt oder nicht.13 Um eine konkrete Variante einer externalistischen Theorie vor Augen zu haben, werden wir mit der Sicherheitstheorie von Wissen arbeiten.14 Gemäß dieser Theorie stellt die Überzeugung einer Person Wissen dar, wenn es nicht leicht hätte sein können, dass die Person mittels der Methode ihrer Überzeugungsbildung, die sie de facto zur Ausbildung ihrer Überzeugung benutzt hat, zu einer falschen Überzeugung gelangt wäre. Entscheidend für Wissen ist demnach, ob eine wahre Überzeugung von einem Schutzmantel hinreichender Stärke umgeben ist, der sie gegenüber möglichen Fehlern abschirmt. Damit ist auch leicht zu erklären, warum Henry im ersten Fall nicht 13 Es ist erwähnenswert, dass die Intuitionen in Gettier-Fällen in der experimentellen Philosophie nicht unumstritten sind. Siehe Turri (2019) für eine Übersicht. 14 Die Sicherheitstheorie von Wissen findet ihren Ursprung in Arbeiten von Sains­ bury (1997), Sosa (1999) und Williamson (2000). Siehe Grundmann (2018) zu aktuellen Forschungsfragen der Sicherheitstheorie.

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über Wissen verfügt. Seine Überzeugung ist zwar wahr, er hätte aber auch leicht eine falsche Überzeugung ausbilden können. Hätte er etwas früher oder etwas später aus dem Zugfenster geschaut, dann hätte er von einer falschen Scheune gedacht, dass es sich um eine echte handelt. Gleiches kann ihm im zweiten Fall nicht passieren, weshalb es sich in diesem Fall durchaus um Wissen handeln kann. Eine externalistische Theorie von Testimonialwissen wäre zunächst nichts Besonderes. Eine testimonial generierte Überzeu­ gung würde Wissen darstellen, wenn die Methode der Überzeugungs­ bildung nicht leicht zu einer falschen Meinung hätte führen können. Die fragliche Methode im Fall von Testimonialwissen besteht dabei darin, einer Behauptung Glauben zu schenken. Dabei kann die einschlägige Methode durchaus feiner individuiert sein, und auch Eigenschaften der Sprecherin, des Kontexts und womöglich auch des Hintergrundwissens der Hörerin mit einbeziehen.15 Ein Unterschied in der aktivierten Methode kann dabei helfen, problematische Fälle in der Debatte zwischen Reduktionist*innen und Anti-Reduktionist*innen zu erklären. Glaubt ein Individuum relativ wahllos, was auch immer im Internet zu lesen ist, so ist dies eine Methode, die leicht zu falschen Überzeugungen führen kann. Selbst wenn also eine so entstandene Überzeugung zufällig wahr ist, würde sie kein Wissen darstellen. Anders verhält es sich, wenn ein Individuum bei der Auswahl der Webseiten selektiv vorgeht. Die Faktoren, die dabei für die Auswahl der Webseiten kausal wirksam sind, müssen dem Individuum nicht bewusst sein (sie können es aber natürlich). Auf diese Weise kann es auch gelingen, dem gegenteiligen Einwand auszuweichen. Es wird gerade nicht gefordert, dass ein Vorwissen bezüglich der Verlässlichkeit einer testimonialen Quelle vorhanden sein muss. Es wird lediglich gefordert, dass Faktoren, die für Verlässlichkeit sorgen, so mit dem Individuum verknüpft sind, dass es gegen die Ausbildung einer falschen Überzeugung zu einem gewissen Maß geschützt ist. Der Externalismus ist in der Erkenntnistheorie dafür bekannt, eine relativ direkte Lösung für das Problem des Skeptizismus anzu­ bieten. Für testimoniale Skepsis könnte eine externalistische Lösung 15 Wie Methoden individuiert werden sollten, ist eine komplexe Frage, die wir hier nicht klären können, die aber in der Sicherheitsdebatte ausführlich diskutiert wird, siehe beispielsweise Broncano-Berrocal (2014), Grundmann (2018), Berne­ cker (2020).

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in etwa wie folgt aussehen. Testimonialwissen ist möglich, solange man sich de facto in einer Situation befindet, in der das Gegenüber wahre Informationen übermittelt, und sowohl man selbst als auch die Situation so beschaffen ist, dass man auf die gleiche Art nicht leicht eine falsche Überzeugung hätte ausbilden können. Ein solcher Exter­ nalismus kann die Existenz von Testimonialwissen erklären, ohne voraussetzen zu müssen, dass man über unabhängige Gründe verfügt, die stark genug wären, eine skeptische Hypothese auszuschließen.16 Angenommen, eine externalistische Antwort auf testimoniale Skepsis ist auf dem richtigen Weg. Was hieße das für den Umgang mit Corona-Skepsis?

3. Was heißt das für den Umgang mit Corona-Skepsis? Der Externalismus kann erklären, wie und warum wir über Testimoni­ alwissen verfügen können. Allerdings erachten wir auch noch andere Effekte bei anti-skeptischen Strategien als wünschenswert: Erstens rationale Überzeugungskraft: Man würde gerne über Argumente ver­ fügen, die Corona-Skeptiker*innen rational überzeugen können, ihre Position aufzugeben. Zweitens psychologische Effektivität: Man hätte gerne Argumente an der Hand, die nicht bloß rational überzeugen könnten, sondern tatsächlich zu einer Überzeugungsänderung und damit verbundenen Handlungsänderungen führen. Was kann in diesen Hinsichten eine externalistische Theorie von Testimonialwis­ sen leisten? Auf den ersten Blick fällt die Bilanz ernüchternd aus. Einer Skeptikerin zu entgegnen, dass sie sich de facto in einem nicht-skep­ tischen Szenario befindet und deshalb über Testimonialwissen verfü­ gen könnte, wird nur wenig ausrichten. Denn diese Antwort arbeitet mit einer Prämisse, die eine Skeptikerin nicht zu akzeptieren bereit ist. Sie bezweifelt ja gerade, dass sie sich in einer epistemisch guten Situation befindet. Was hier wie ein Problem erscheint, enthält für Externa­ list*innen eine wichtige Einsicht: Wer einmal einen Skeptizismus akzeptiert hat, der kommt mit Argumenten aus dieser Lage typi­ Ob der Externalismus am Ende diesem Anspruch gerecht wird, ist eine vieldisku­ tierte Frage, die wir hier nicht klären können. Siehe Poston (2020) für eine Übersicht der Debatte. 16

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scherweise nicht mehr heraus. In einigen Fällen akzeptieren Skepti­ ker*innen nur eine sehr kleine Menge von Prämissen, auf deren Basis es oft schwer ist, rational zum Schluss zu gelangen, dass man sich in Wirklichkeit in einem nicht-skeptischen Szenario befindet. Ergibt sich daraus, dass Externalist*innen einer Skeptikerin nichts anzubieten haben, um auf ihre skeptischen Sorgen einzugehen?17 Unserer Ansicht nach haben Externalist*innen mehr anzubieten, als es zunächst den Anschein haben könnte. Die zentrale Einsicht ist, dass Externalist*innen nicht notwendigerweise argumentativ die Skeptiker*innen zum Einlenken bringen müssen. Ganz im Gegenteil: Ist der Überzeugungswandel vollzogen, sind die Skeptiker*innen – das garantiert der Externalismus – automatisch durch die Verlässlich­ keit ihrer neuen Überzeugungen abgesichert. Die Strategie, die der Externalismus nun im Angebot hat, besteht dabei aus zwei Kompo­ nenten: »Prävention« und »Therapie« (McDowell 1994; Williamson 2005).18 Diese beiden Ausdrücke sind nicht-wörtlich zu verstehen, und insbesondere der letztere ist sicher nicht ideal, da er als abwertend gegenüber Skeptiker*innen verstanden werden kann (wir werden ihn deshalb im Folgenden in distanzierende Anführungszeichen setzen). Mit Prävention ist gemeint, dass Individuen mittels des Exter­ nalismus ein Argument in die Hand gegeben wird, dass sie daran hindern kann, zu viele ihrer Überzeugungen in Zweifel zu ziehen.19 Die Erkenntnis, dass man auch Überzeugungen vertrauen kann, selbst wenn man nicht unabhängig nachweisen kann, dass sie auf einer verlässlichen Quelle beruhen, ist dabei der zentrale Schlüssel.20 Prävention wurde bereits erfolgreich in Studien zu Klimakri­ senskepsis (Van der Linden et al. 2017) und Impfskepsis (Jolley/ Douglas 2017; Roozenbeek/Van der Linden/Nygren 2020) erprobt. Die dahinterstehende Strategie schlägt eine Form von epistemischer Impfung gegen Falschinformation, Verschwörungserzählungen und unangemessene Zweifel vor. Die Empfehlung ist, dass Individuen sich Es soll hier angemerkt werden, dass der Externalismus nicht impliziert, dass Skepsis nie die korrekte Haltung ist. In einigen Fällen ist eine skeptische Haltung klarerweise gerechtfertigt. 18 Wir übernehmen hier in erster Linie eine etablierte Terminologie, lehnen uns aber nur lose an die dahinter stehenden Ideen an. Siehe beispielsweise Echeverri (2011) für eine einschlägige Diskussion von McDowell. 19 Tim Kraft (in diesem Band) nennt dies in seinem Beitrag zum vorliegenden Sammelband den »Fluch des kritischen Denkens«. 20 Unsere Diskussion setzt per Annahme voraus, dass die besagten Überzeugungen in der Tat auf verlässlichen Quellen beruhen. 17

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prophylaktisch mit abgeschwächten Formen von Testimonialskepsis konfrontieren, mit dem Ziel, resilienter gegen stärkere Formen von Testimonialskepsis zu werden. Unangemessene Zweifel sollen dabei in der Entstehung verhindert werden. Prävention ist auch aus anderen Gründen eine sinnvolle Strategie. Bereits akzeptierte Falschinforma­ tionen, die unangemessenen Zweifeln oft zugrunde liegen, können einen kontinuierlichen negativen Einfluss auf ein Individuum haben, selbst wenn die Informationen schon vom Individuum als falsch erkannt worden sind (Chan et al. 2017). Unter »Therapie« verstehen wir hier das Wiederherstellen von Dispositionen, die für Vertrauen in verlässliche Quellen sorgen kön­ nen. Das Problem mit einigen skeptischen Positionen ist ja, dass verlässliche Quellen nicht als solche akzeptiert werden. Der Exter­ nalismus geht hier davon aus, dass ein solches Wiederherstellen kein rationaler Überlegungsprozess sein muss (und oft auch nicht sein kann). Deshalb werden hier aus unserer Sicht Maßnahmen nahegelegt, die das Vertrauen in die Wissenschaft stärken, ohne dabei ausschließlich argumentativ von der Vertrauenswürdigkeit der Wissenschaft überzeugen zu wollen. Eine Möglichkeit ist dabei, sicherzustellen, dass Wissenschaft­ ler*innen und Laien die gleichen Werte teilen. Aussagen von Wis­ senschaftler*innen in der Pandemie sind häufig wertgeladen (»Ein Lockdown in den nächsten Wochen ist dringend notwendig!«) und ein Anzweifeln dieser Aussagen fußt oft auf einem Anzweifeln der dahinter vermuteten Werte (vgl. bspw. Furman 2020). Damit man in solchen Fällen der Expertin und nicht dem skeptischen Nachbarn glaubt, ist es für Expert*innen wichtig, die geteilten Werte transpa­ rent zu signalisieren und die Vereinbarkeit der Weltanschauungen der skeptischen Gruppen mit den Zielen der Gesundheitspolitik zu zeigen.21 Andere Strategien involvieren stärkere Beteiligung: So könnte die Öffentlichkeit stärker involviert werden im Setzen von For­ schungsprioritäten (vgl. Goldenberg 2016): Durch die Anerkennung der epistemischen Interessen der Öffentlichkeit könnten gemeinsame Ziele gesetzt und dabei Zweifel über eigentliche Forschungsbeweg­ Goldenberg (2021, 59–65) berichtet beispielsweise von einer australischen Impf­ kampagne, in der eine sonst gesundheitspolitisch nur schwer beeinflussbare natural living-Gemeinschaft dadurch erreicht werden konnte, dass in einer Impfkampagne dargestellt wurde, dass Stoffwindeln, Gemüseanbau im eigenen Vorgarten und eine Präferenz für Homöopathie mit einer positiven Haltung zu Kinderimpfungen verein­ bar sind. 21

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gründe ausgeräumt werden. Auch sind verstärkt dialogische Formen von Kommunikation denkbar (vgl. Grasswick 2010). Im testimonia­ len Austausch sollte auch auf die spezifischen Informationsbedürf­ nisse der Laien eingegangen werden, was wiederum dazu beitragen kann, individualisierte Formen von Zweifeln auszuräumen. Falls der Externalismus korrekt ist, sind solche – nicht notwendigerweise epistemischen – Interventionen eine zielführende Art und Weise, Skeptiker*innen zu gerechtfertigten Überzeugungen zu verhelfen. Zwar muss unsere Beschreibung der beiden Komponenten hier skiz­ zenhaft verbleiben, sie deutet aber bereits darauf hin, dass sich ein Externalismus um Strategien erweitern lässt, die im Umgang mit testimonialer Skepsis effektiv sein können. Wir kommen so zu folgendem Schluss: Testimoniale Skepsis ist eine unterschätzte Herausforderung für Theorien von Testimoni­ alwissen. Erfolgreiche Antworten erfordern eine Richtungsentschei­ dung beim Streit zwischen Reduktionist*innen und Anti-Reduk­ tionist*innen. Sollte testimoniale Evidenz reduktionistisch oder anti-reduktionistisch verstanden werden? Wir haben argumentiert, dass ein Anti-Reduktionismus die besseren Aussichten hat, eine anti-skeptische Strategie erfolgreich zu implementieren. Insbeson­ dere haben wir uns probeweise auf die Seite einer externalistischen Theorie von Testimonialwissen geschlagen. Mit ihr kann es zunächst in der Theorie gelingen, testimoniale Skepsis zurückzuweisen. Was das für den praktischen Umgang mit testimonialer Skepsis heißt, insbesondere mit Corona-Skepsis, haben wir abschließend (an)disku­ tiert. Uns scheint dabei eine Mischung aus Prävention und »Therapie« vielversprechend. Aber das kann natürlich nur der Anfang einer vertieften Auseinandersetzung mit testimonialer Skepsis sein.

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Tim Kraft1

Der Fluch kritischen Denkens in Zeiten der Pandemie

1. Einleitung Der Wissenstransfer von den Wissenschaften zu Politik und breiter Öffentlichkeit während der Corona-Pandemie lässt sich sowohl als eine Geschichte des Erfolgs als auch eine Geschichte des Scheiterns erzählen. Die gelebte Solidarität in weiten Teilen der Bevölkerung (entlang der Dimensionen jung-alt und ohne-mit Vorerkrankungen), das weitreichende Einhalten der Corona-Maßnahmen durch mindes­ tens drei Wellen hindurch (trotz außerhalb der Schulen oft nur stich­ probenartiger Überwachung), die große Impfbereitschaft (die sich in dem Hauen und Stechen um Impftermine in der ersten Hälfte 2021 niederspiegelte) und das enorme Interesse an Informationsquellen (wie z.B. dem Podcast Coronavirus-Update des NDR) u.v.m. sprechen dafür, dass der Wissenstransfer hinsichtlich zentraler Informationen zum Coronavirus und dem Pandemiegeschehen gelungen ist. Selten hat eine breite Öffentlichkeit einen sich nahezu täglich ändernden Wissensstand in diesem Umfang nachgefragt und hat darüber auch tatsächlich seitens der beteiligten Wissenschaftlerinnen Informatio­ nen erhalten. Jedoch ist dies nur eine Seite der Medaille: Ein enormes Misstrauen gegenüber Wissenschaft, Politik und Medien in Teilen der Bevölkerung ist ebenfalls deutlich zu Tage getreten. Die sog. Corona-Skepsis mit ihren vielfältigen problematischen Konsequen­ zen von der beträchtlichen Impflücke bis zur wachsenden Politik‑ und Demokratiefeindlichkeit sprechen nicht gerade für einen in der

1 Die erste Fassung dieses Aufsatzes wurde, wie die Beispiele zeigen, im Januar/ Februar 2022 niedergeschrieben. Für Diskussion und hilfreiche Hinweise danke ich den Herausgebern sowie Moritz Cordes, Eva Hund, Thomas Jahnke und Niki Pfeifer.

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ganzen Breite gelungenen Wissenstransfer.2 Neben dieser traditio­ nellen Form der Wissenschaftsskepsis ist dabei auch eine weitere Form der Wissenschaftskritik zu beobachten: Statt inhaltlich an den Aussagen der Wissenschaftlerinnen zu zweifeln, wird angemahnt, dass politische Fragen keine Wissensfragen seien und daher der Einfluss von Wissenschaftlerinnen auf politische Entscheidungen reduziert werden sollte. Zum Nachdenken über den Wissenstransfer in Zeiten der Pandemie gehört daher nicht nur, über die Ursachen des Misstrauens gegenüber den Wissenschaften nachzudenken, sondern sich auch darüber Gedanken zu machen, wie Öffentlichkeit und Politik wissenschaftsbasierte Entscheidungen treffen können.3 Was lässt sich aus Sicht der angewandten Erkenntnistheorie zu Erfolg und Scheitern beim Wissenstransfer zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit während der (ersten zwei Jahre der) Corona-Pan­ demie sagen? Erfolgreicher Wissenstransfer ist kein einseitiger Pro­ zess, in dem die Wissenschaftlerinnen – evtl. unterstützt von Jour­ nalistinnen – eine aktive Rolle als Senderin übernehmen und die Bürgerinnen eine passive Rolle als Empfängerin. Die Bürgerinnen müssen im Wissenstransfer die Fähigkeit des kritischen Denkens anwenden: Sie müssen dabei aus den vielen Quellen eine Auswahl treffen, Informationen als gesichert, vorläufig oder spekulativ einord­ nen, für Änderungen des Informationsstands offen bleiben, aus diesen Informationen Konsequenzen für ihre eigene Lebenssituation ablei­ ten u.v.m. Vor diesem Hintergrund kann sich die These aufdrängen, Wissenschaftsskepsis ist nichts Neues, sondern zieht sich als roter Faden durch vergangene Pan- (z.B. Cholera-Ausbruch Hamburg 1892) und Endemien (z.B. Reichsimpfgesetz gegen Pocken 1875), vgl. zu den historischen Details z.B. Kohlhö­ fer (2021). 3 Diese Form der Wissenschaftskritik lässt sich auch beim Umgang mit der Klima­ krise beobachten. Es scheint mittlerweile zum guten Ton zu gehören, gegen »unite behind the science« oder »ein Virus verhandelt nicht« mit einer Warnung vor einer vermeintlichen Epistemisierung des Politischen zu reagieren: Politische Fragen seien keine Wissensfragen, sondern müssten politisch entschieden werden (vgl. z.B. Fücks 2017, 167–173; Wiesing 2019; Dorn 2020; Bogner 2021; Landwehr/Schäfer 2021; Nassehi 2021). Als Einwand ist dieser Hinweis bestenfalls irreführend: Dass politische Fragen keine Wissensfragen sind, ist nicht umstritten. Weder Wissenschaftsliebhabe­ rinnen (vgl. z.B. Lesch/Kamphausen 2021, 71–79) noch Aktivistinnen (vgl. Thunberg 2019, 35) wollen Politik durch Wissenschaft ersetzen. Sie erheben eine politische For­ derung, sie setzen sich dafür ein, die Umsetzung einer bereits getroffenen politischen Entscheidung (Pariser Abkommen) nicht weiter aufzuschieben. Dies lässt sich jedoch auf die Corona-Pandemie nicht ohne weiteres übertragen, da es hier weder einen festen Wissensstand noch ein Analogon zum Pariser Abkommen gibt. 2

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dass der Wissenstransfer dann scheitert, wenn es an diesen Fähig­ keiten des kritischen Denkens mangelt: Wissenschaftsleugnung, Ver­ schwörungstheorien, Fake News und Demokratiefeindlichkeit werden dann durch einen Mangel an kritischem Denken erklärt.4 Dieser Erklärungsversuch überdeckt jedoch, wie ich in diesem Aufsatz zu zeigen versuche, dass Wissenstransfer zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit auch wegen eines Zuviels an kritischem Denken schei­ tern kann. Dies ist als begriffliche, aber auch explanatorische These zu verstehen: Begrifflich möchte ich dafür werben, dass kritisches Denken als etwas verstanden werden sollte, von dem es zu wenig und zu viel geben kann. Explanatorisch möchte ich darauf hinweisen, dass verschiedene Formen der Corona-Skepsis verschiedene Erklärungen haben: Während manche Formen der Corona-Skepsis auf epistemi­ schen Defiziten – fehlendes kritisches Denken, kognitive Verzerrun­ gen, Irrationalität u.a. – beruhen mögen, lassen sich andere Formen der Corona-Skepsis, so die These dieses Aufsatzes, als Ergebnis eines epistemischen Exzesses erklären.5 Wie dieser »Fluch des kritischen Denkens« zustande kommen kann, erläutere ich im nächsten Abschnitt (§ 2) an Beispielen, bevor ich in den beiden folgenden Abschnitten (§§ 3–4) eine erkenntnis­ theoretische Analyse dieses »Fluchs« versuche, sowie diese anschlie­ ßend (§ 5) auf das Präventions- und das Überraschungsparadox anwende.

2. Kritisches Denken in Zeiten der Pandemie Aus Sicht der angewandten Erkenntnistheorie ist eine auffällige Begleiterscheinung der Corona-Pandemie, zumindest in Deutsch­ 4 Zu Fake News siehe Jaster/Lanius (2019), zu Verschwörungstheorien Hepfer (2015) und Butter (2018), zu Wissenschaftsleugnung Gorman/Gorman (2017). 5 Im Hintergrund steht hier die allgemeine Debatte, wie man prima facie irrationale Meinungen erklären kann. In diesem Aufsatz exploriere ich eine bestimmte Erklärung für vermeintlich irrationale Meinungen im spezifischen Kontext der Corona-Pande­ mie (vgl. auch Kraft 2020a). Die allgemeine These, dass sehr viele »bad beliefs« nicht durch Irrationalität erklärt werden können, verteidigt Levy (2022), allerdings mit einem anderen Modell als ich in diesem Aufsatz. Auch in der philosophischen Debatte um Verschwörungstheorien werden generalistische (Verschwörungstheorien sind per se irrational) und partikularistische Ansätze unterschieden (Verschwörungstheorien sind abhängig von den spezifischen Details rational oder irrational), vgl. z.B. Harris (2018); Dentith (2022).

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land, die Beliebtheit und Reichweite von Podcasts, Talkshows und Twitter-Kanälen, in denen sich Wissenschaftlerinnen an die Öffent­ lichkeit wenden. Während der traditionelle Wissenschaftsjourna­ lismus in der Regel indirekt und stark zeitverzögert ist, hat die Öffentlichkeit beim Hören, Schauen bzw. Lesen von Podcasts, Talk­ shows bzw. Twitter-Kanälen den Eindruck, die Überlegungen und Erkenntnisfortschritte der Wissenschaftlerinnen direkt und zeitnah zu begleiten. Die erkenntnistheoretische Herausforderung, auf die ich in diesem Aufsatz aufmerksam machen möchte, lässt sich am besten anhand von Beispielen aus diesem Umfeld illustrieren. Ich werde zunächst zwei eigene Beispiele vorstellen, dann zwei Beispiele aus der corona-kritischen Literatur, um dann am Ende dieses Abschnitts das Phänomen, um das es mir geht, allgemein zu charakterisieren.

2.1 Zwei Beispiele zum Einstieg Meine Beispiele stammen aus der jeweils ersten Folge der Podcasts Coronavirus-Update (NDR) und Corona-Kompass (MDR) nach der Weihnachtspause 2021/22. Am 4. Januar 2022 äußert sich Christian Drosten im Coronavirus-Update über den Vergleich der CoronavirusVarianten Omikron und Delta unter anderem wie folgt: […] bei Omikron-Infizierten im Haushalt infizieren sich 31 Prozent daran und bei Delta-Infizierten infizieren sich 21 Prozent. Also die Secondary Attack Rate ist zehn Prozent geringer. (Coronavirus-Update #107 vom 4. Januar 2022, S. 11, m. H.)

Drosten verwechselt hier Prozente und Prozentpunkte: Die Secondary Attack Rate von Delta ist im Vergleich zu Omikron nicht um 10 Prozent geringer. Vielmehr ist sie um ca. 33 Prozent oder um ca. 10 Prozentpunkte niedriger. Ebenfalls am 4. Januar 2022, diesmal im Corona-Kompass, erklärt Alexander Kekulé die Evolution von Coronavirus-Varianten unter anderem wie folgt: Und der Hauptevolutionsdruck, der auf so einem Virus lastet, ist die Immunantwort des Wirts. […] Und deshalb wollen die Viren zwei Dinge machen. Sie wollen erstens dafür sorgen, dass sie mit dem Immunsystem irgendwie klarkommen. Sie wollen infizieren, ohne sich mit dem Immunsystem anzulegen, wenn ich mal so sagen darf. (Corona-Kompass #260 vom 4. Januar 2022, S. 12, m. H.)

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Kekulé spricht hier über das Corona-Virus in anthropomorpher Weise als einem Wesen, das etwas will. Das ist nicht nur falsch, weil Viren nicht Träger mentaler Zustände sind, sondern auch irreführend, weil es in der Evolution nicht darum geht, wer welche Ziele und Wünsche hat. Die Evolution beruht auf dem bloßen Umstand, dass manche Lebewesen – oder hier: Viren – sich aus welchen Gründen auch immer (stärker) fortpflanzen als ihre Konkurrentinnen. Es gibt daher keine planvolle oder teleologische Entwicklung hin zu einer milderen Virus­ variante. Es mag sein, dass Kekulé mit seiner Prognose recht behalten wird, aber seine Vereinfachungen (»wenn ich mal so sagen darf«) erleichtern es den Zuhörerinnen nicht, den Status seiner Aussage als Hypothese zu erkennen. Wenn Evolution teleologisch zu verstehen ist, bleibt es rätselhaft, warum andere Wissenschaftlerinnen viel zurückhaltender in ihren Prognosen sind. Sie sind es deshalb, weil sie eben keine teleologische Evolution in Richtung milderer Varianten annehmen. Es handelt sich daher nicht um eine pädagogisch sinn­ volle Vereinfachung, sondern eine, die es den Zuhörerinnen unnötig schwierig macht, die wissenschaftliche Debatte nachzuvollziehen. Bei den Anmerkungen zu den beiden Beispielen handelt es sich um berechtigte epistemische Kritik:6 Drosten und Kekulé sagen beide etwas, das streng genommen nicht stimmt. Die Kritik ist daher berechtigt. Es handelt sich auch um eine epistemische Kritik: Es geht nicht darum, welche praktischen Konsequenzen zu ziehen sind, sondern darum, was wir über Varianten des Coronavirus glauben sollten. Die Fehler oder Vereinfachungen sind auch leicht zu erkennen, selbst für Laiinnen. Man muss keine Virologin, Epidemiologin oder Statistikerin sein, um zu erkennen, dass hier etwas nicht stimmt – 6 Wichtig ist, dass es sich um eine epistemische Kritik handelt: Es wird eine Aussage (Einschätzung, Prognose o.ä.) als nicht ausreichend begründet zurückgewiesen, nicht eine politische Maßnahme als übervorsichtig oder riskant, über- oder untertrieben, voreilig oder verspätet usw. kritisiert. Beide Arten an Kritik gehen oft Hand in Hand. Sie tun es aber nicht immer: Wer z.B. eine Masken- oder Impfpflicht als unzumutbare Freiheitseinschränkung kritisiert, muss dies nicht mit einer epistemischen Kritik an den Aussagen von Wissenschaftlerinnen verbinden. Es ist daher angemessen, epistemische Kritik und Kritik an Maßnahmen analytisch zu trennen. Außerdem gehe ich davon aus, dass es sich bei der Form der Wissenschaftskommunikation, um die es hier geht, um einen epistemischen Kontext mit einheitlichen epistemischen Standards handelt. Der epistemische Standard ist zwar nicht derselbe wie der für wissenschaftliche Aufsätze, aber der epistemische Standard in der Wissenschafts­ kommunikation ist auch nicht derart niedrig, dass epistemische Anfechtungen von vorneherein unangemessen wären.

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man benötigt nur grundlegende Kenntnisse der Prozentrechnung und der Evolutionstheorie. Die epistemische Kritik ist, so berechtigt sie im Detail auch sein mag, zugleich kein Grund, an den jeweiligen Kernaussagen zu zwei­ feln oder die Personen, die diese Aussagen machen, zu diskreditieren. Selbst mein, mittlerweile verstorbener, Mathematiklehrer aus der Mittelstufe, der Fehler wie denjenigen Drostens rigoros mit Punktab­ zügen quittiert hat, hätte zugegeben, dass Drosten eine vertrauens­ würdige Quelle im Hinblick auf die Unterschiede zwischen Varianten des Coronavirus ist. Selbst meine Biologielehrerin aus der Oberstufe, die beherzt gegen unsere Missverständnisse der Evolutionstheorie angekämpft hat, würde zugeben, dass Kekulés Überlegungen zur Gefährlichkeit von Omikron nicht schon deshalb hinfällig sind, weil er davon spricht, dass Viren etwas »wollen«. Selbstverständlich ist während einer dynamischen Pandemie nicht garantiert, dass Einschät­ zungen wie die von Drosten und Kekulé zutreffen; aber wir sollten ihnen nicht schon deshalb das Vertrauen entziehen, weil Prozente und Prozentpunkte verwechselt werden oder die Evolutionstheorie grob vereinfacht wird.

2.2 Zwei Beispiele aus der Literatur Was bei diesen Beispielen noch Konsens sein dürfte, wird zu einer erkenntnistheoretischen Herausforderung, wenn wir uns vor Augen führen, dass strukturell vergleichbare Einwände in Zeiten der CoronaPandemie am laufenden Band erhoben werden. Es ist daher keines­ wegs offensichtlich, wie viel berechtigte epistemische Kritik Äußerun­ gen von Wissenschaftlerinnen aushalten, bevor sie als unzuverlässig eingestuft werden. Auch hierzu zwei Beispiele, diesmal tatsächlich vorgebrachte epistemische Kritik, die (zumindest prima facie) eben­ falls berechtigt ist und ebenfalls von (philosophisch geschulten) Lai­ innen stammt. In seinem Buch Meine Pandemie mit Professor Drosten. Vom Tod der Aufklärung unter Laborbedingungen (2021) bringt der promovierte Philosoph und Journalist Walter van Rossum u.a. folgende Kritik vor: Es ist Mittwoch, der 21. Oktober 2020. Das Robert Koch-Institut (RKI) meldet wieder einmal Rekordzahlen von täglich »Neuinfizierten«. 7.595 sollen seit gestern dazugekommen sein. […] Der Anstieg der Zahlen im April hatte vor allem damit zu tun, dass man seit der 12.

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Kalenderwoche (beginnend mit dem 16. März) die Anzahl der Tests von 31.000 auf 103.000 pro Woche verdreifacht hatte. Seit Mitte August hat man wiederum die Anzahl der Tests kontinuierlich erhöht bis auf zurzeit ca. 1,2 Millionen pro Woche – also um den Faktor 12 im Vergleich zum April. (van Rossum 2021, 3)

Van Rossum weist hier darauf hin, dass die Anzahl der positiv Getes­ teten im Kontext der Testkapazität und der Positivrate zu bewerten sei. Die These, dass am 21.10.2020 ein Rekord an Neuinfektionen erreicht wurde, sei daher mit Vorsicht zu betrachten. Das ist – sofern die von van Rossum recherchierten Zahlen stimmen – eine berech­ tigte epistemische Kritik. Denn der sachliche Punkt, den van Rossum machen möchte, trifft zu: Inzidenzen ohne Angabe der Testanzahlen oder der Positivrate geben ein unvollständiges Bild. Aus sachlicher Sicht ist zwar anzumerken, dass die Ausweitung der Testkapazitäten und der Anstieg der Inzidenz keine unabhängigen Ereignisse sind: Es ist davon auszugehen, dass die Nachfrage nach Testungen stieg, weil sich das Coronavirus ausbreitete. Die gemessene Inzidenz stieg daher nicht nur wegen der Ausweitung der Testkapazitäten. Aber van Ross­ ums Punkt, dass aus der bloßen Anzahl der positiv Getesteten kein unmittelbarer Rückschluss auf die Anzahl der Infektionen möglich ist, bleibt davon unberührt. Auch das Buch der Philosophen Christoph Lütge und Michael Esfeld, Und die Freiheit? Wie die Corona-Politik und der Missbrauch der Wissenschaft unsere offene Gesellschaft bedrohen (2021), enthält eine ganze Reihe an Beispielen von Kritik dieser Art. Insbesondere in dem Kapitel »Evidenzbasiert?« (2021, Kap. 8) soll das beliebte Bild, »Deutschland [würde] diese Krise gut überstehen« und »die Wissenschaftskommunikation verdiene Bestnoten« (2021, 63), als falsch entlarvt werden. Ein Beispiel ist ihre Kritik an der Datenqualität in Deutschland: Es gibt noch einen weiteren Punkt, der das deutsche Versagen in Sachen Corona deutlich macht: das Versagen im Hinblick auf die Digitalisie­ rung. Auch hier war man in anderen Ländern inzwischen weiter. Bei uns hatte man bekanntlich lange Zeit auf die Nachverfolgung von Kontaktpersonen gesetzt. Nur setzte man dafür nicht die modernste Technik ein, sondern arbeitete sehr lange mit dem hoffnungslos ver­

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alteten Instrument Faxgerät, mit dessen Hilfe Daten ausgetauscht beziehungsweise weitergegeben wurden. (2021, 71)7

Die Kritik ist hier eine zweifache: Einerseits werde Personal und Geld gebunden, das anderswo sinnvoller eingesetzt werden könnte. Das ist keine im eigentlichen Sinne epistemische Kritik. Andererseits wird aber auch eine epistemische Kritik erhoben: Die Datenerhebung per Faxgerät sei zu langsam und die Auswertung zu umständlich, so dass den darauf beruhenden Daten nicht vertraut werden könne. Es könne zufällig sein, dass die berichteten Daten das Infektionsgeschehen zutreffend beschreiben, aber eine hohe Wahrscheinlichkeit könne man dem nicht beimessen.8 Nun könnte man hierauf antworten, dass wir nun einmal von den besten verfügbaren Daten ausgehen müssen. Da man Gesundheitsbehörden während einer Pandemie kaum grundlegend umbauen und modernisieren kann, sollten wir uns nicht für den Blindflug entscheiden, sondern uns an den verfügbaren Daten orientieren, auch wenn sie sub-optimal sind. Das stimmt sicherlich, ändert aber nichts daran, dass wir es hier mit berechtigter epistemischer Kritik zu tun haben. Dass es pragmatisch sinnvoll ist, mit sub-optimalen Daten zu arbeiten, ist eben nur ein pragmatisches Argument, keine epistemische Ehrenrettung. In einer Hinsicht gleichen diese beiden Beispiele meinen Bei­ spielen zuvor: Es wird eine epistemische Kritik vorgetragen, deren Berechtigung auch Laiinnen nachvollziehen können. Aber es besteht auch ein bedeutsamer Unterschied: Anders als in meinen Beispielen wird aus der berechtigten epistemischen Kritik der Schluss gezogen, dass den Aussagen von Wissenschaftlerinnen nicht getraut werden dürfe (und deshalb die darauf aufbauenden Corona-Maßnahmen

7 Für ein weiteres Beispiel siehe die Diskussion der sog. Ferguson-Studie in der Frühphase der Pandemie: »Bereits Mitte März 2020 im Rahmen der Ferguson-Studie war klar, dass es sich beim Thema Covid-19 nicht um eine Angelegenheit von wenigen Wochen handeln würde. Die Leopoldina als Nationale Akademie der Wissenschaften hat dennoch immer wieder suggeriert, es würde sich nur um einen kurzen Lockdown handeln – etwa über Ostern oder dann über Weihnachten.« (Lütge/Esfeld 2021, 27) Hier weisen Lütge/Esfeld wohl zu Recht darauf hin, dass die zeitliche Dauer der Pandemie und die zu ihrer Eindämmung nötigen Maßnahmen auch für Laiinnen erkennbar intransparent und unplausibel dargestellt wurden. 8 Mit anderen Worten: Es handelt sich nicht um eine widerlegende (rebutting) Anfechtung, sondern um eine unterminierende (undermining) Anfechtung.

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abgelehnt werden sollten).9 Bei den Büchern von van Rossum und Lütge/Esfeld handelt sich um corona-skeptische Literatur, wobei sich die »Corona-Skepsis« hier sowohl als Kritik an wissenschaftlichen Aussagen (»was diese Wissenschaftlerin behauptet, kann nicht stim­ men oder ist nicht ausreichend belegt«) äußert, als auch als Kritik an politischen Maßnahmen (»Schulschließungen, Masken, Impfungen usw. sind überflüssig, ungeeignet oder unzumutbar«). Natürlich begründen die Autoren ihre Corona-Skepsis nicht ausschließlich anhand der von mir ausgewählten Beispiele. Die Art der Kritik bleibt jedoch über viele Beispiele hinweg konstant: Es werden z.B. keine fachinternen Einwände gegen das Design oder die statistische Aus­ wertung von Studien erhoben, zu deren Beurteilung wissenschaftliche Fachexpertise benötigt werden würde. Die Einwände beruhen, soweit ich das überblicken kann, fast ausnahmslos auf einem auch Laiinnen zugänglichem und verständlichem kritischen Denken. Nicht ohne Grund habe ich daher für diesen Abschnitt Textpassagen von Philoso­ phen ausgewählt. Auch wenn Philosophinnen nicht qua Promotion oder Professur bereits epistemisch rational sind, wäre es unseriös, ihre Corona-Kritik ohne nähere Prüfung durch einen Mangel an rationalem oder kritischem Denken zu erklären.10

2.3 Berechtigte epistemische Kritik als erkenntnistheoretische Herausforderung Der Ausgangspunkt für diesen Aufsatz ist daher die folgende Beob­ achtung: Beim Wissenstransfer in Zeiten der Pandemie bleibt es 9 Man kann die beiden zitierten Passagen so lesen, dass nicht Aussagen der Wissen­ schaftlerinnen, sondern Aussagen der Politik, der Medien und der Gesundheitsbehör­ den kritisiert werden. Doch es finden sich auch viele Passagen, in denen Aussagen von Wissenschaftlerinnen bzw. von wissenschaftlichen Institutionen problematisiert werden: Bei van Rossum sind dies wiederholt Aussagen von Drosten, bei Lütge/Esfeld Stellungnahmen der Leopoldina. 10 Das Phänomen, um das es mir geht, ist jedoch nicht auf populäre Beiträge von Philosophinnen beschränkt. So enthalten auch Reiss/Bhakdi (2020) und Berger (2021) Beispiele für das Phänomen, um das es in diesem Aufsatz gehen soll. Ohne jedes populäre corona-kritische Buch (gemeint sind hier: corona-kritische Bücher, die sich an ein Laiinnen-Publikum richten und deren Autorinnen gegenwärtig nicht in der Corona-Forschung aktiv sind) gelesen zu haben, ist meine Hypothese, dass ein roter Faden dieser Literatur epistemische Kritik darstellt, die zumindest prima facie berechtigt, aber eben keine fachinterne Kritik ist.

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nicht aus, dass es zu berechtigter epistemischer Kritik an Aussagen der Wissenschaftlerinnen seitens der Rezipientinnen kommt. Vier Gründe führen dazu, dass diese Situation nicht nur ausnahmsweise auftritt: Erstens gibt es während der sich entwickelnden Pandemie noch wenig gesichertes Wissen. Es geht bei diesem Wissenstransfer nicht um den Transfer von durch jahrelange Forschung gesichertem Wissen, sondern um die Kommunikation über einen sich regelmäßig ändernden Wissensstand. Es ist daher nicht überraschend, dass es zu voreiligen (z.B. hinsichtlich Alltagsmasken) oder sich hinterher als falsch herausstellenden (z.B. hinsichtlich asymptomatischer Infektio­ sität) Aussagen kommt. Zweitens wird aber dieses sich in Veränderung befindende Wissen für Handlungsentscheidungen benötigt und des­ halb kann der Wissenstransfer nicht aufgeschoben werden. Die Wis­ senschaftlerinnen können nicht erst intern den üblichen Forschungs­ prozess durchlaufen, um dann das gewonnene Wissen weiterzugeben. Politik und Öffentlichkeit benötigen laufend den aktuellen Wissen­ stand, um rationale Handlungsentscheidungen treffen zu können. Der Wissenstransfer kann hier auch nicht auf einen Transfer an die Politik beschränkt werden, da es für die Akzeptanz der Coronamaßnahmen wichtig ist, auch die breite Öffentlichkeit zu informieren und es immer auch Handlungsentscheidungen gibt, die ohne wissenschaft­ liche Erkenntnisse nicht informiert getroffen werden können. Zum Beispiel wurde im Dezember 2021 in vielen Familien diskutiert, unter welchen Bedingungen Familientreffen an Weihnachten stattfinden sollen; die Frage wurde in der Regel nicht durch einen Blick in die aktuellen Verordnungen entschieden, sondern aufgrund des ver­ fügbaren Wissensstands und der darauf aufbauenden individuellen Risikoabwägung. Drittens setzt die Art von epistemischer Kritik, um die es hier geht, wenig bis kein Spezialwissen voraus. So können Lai­ innen zwar selbst keine wissenschaftlichen Studien durchführen, sie können aber sehr wohl mathematisch-statistische Fehler, ungereimte Erklärungen, Fehlschlüsse u.a. erkennen. Kritisches Denken dieser Art ist auch kein Prärogativ einer kleinen Bildungselite, sondern wird als ein Bildungsziel in Schulen, Universitäten und Medien vermittelt. Wir sind deshalb, anders als manchmal scherzhaft insinuiert wird, kein Volk von 80 Millionen Virologinnen; wir sind aber eventuell ein Volk von 80 Millionen genauen Zuhörerinnen und kritischen Prüferinnen geworden. Viertens hat kritisches Denken eine fast schon mythische positive Aura: Von Sokrates (Apologie) über Kant (»Was ist Aufklärung?«) und Weber (»Wissenschaft als Beruf«) bis zu

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Bestsellerautorinnen wie Welzer (Selbst denken – Eine Anleitung zum Widerstand) wird (nicht-egoistisches, interesseloses) kritisches Denken als Ideal des modernen, aufgeklärten und selbstbestimmten Menschseins beworben. Zusammengenommen führen diese vier Gründe zu einer beson­ deren Konstellation: Wir wollen kritisch denken (4.), wir können kritisch denken (3.), wir müssen kritisch denken (2.) und wir sind berechtigt zu kritischem Denken (1.). Wir haben eine hohe Motiva­ tion, über wissenschaftliche Aussagen kritisch nachzudenken, aber aufgrund des sich dynamisch entwickelnden Wissensstands ist es nicht überraschend, dass beim kritischen Nachdenken erfolgreich Ungereimtheiten und Fehler gefunden werden. Doch wie sollen wir mit berechtigter epistemischer Kritik durch Laiinnen an wissenschaftlichen Aussagen umgehen? Wie die ersten beiden Beispiele von oben zeigen, ist Descartes’ Klugheitsregel, »nie­ mals denen volles Vertrauen zu schenken, die uns auch nur ein einzi­ ges Mal getäuscht haben« (1641, AT VII 18), oder ihre sprichwörtliche Variante »fool me once, shame on you; fool me twice, shame on me« in Zeiten der Pandemie sicherlich nicht angemessen. Aber das ist zu wenig, um unsere Frage zu beantworten. Dass eine kleine Falschheit nicht genügt, um wissenschaftlichen Aussagen mit Misstrauen zu begegnen, ist eine rein negative Auskunft: Wenn ein einzelner Fehler nicht genügt, genügen dann vielleicht zwei? Auch müssten weder van Rossum noch Lütge/Esfeld ihre Kritik überdenken, wenn man sie daran erinnert, dass Descartes’ Klugheitsregel ein zu strenger Standard in Zeiten der Pandemie ist. Sie würden darauf verweisen, dass sie nicht einzelne Fehler aufdecken würden, sondern einem systemischen Problem auf der Spur seien. Eine zu Descartes’ Klugheitsregel diametral entgegengesetzte Regel wäre, dass epistemische Kritik an wissenschaftlichen Aussagen seitens Laiinnen niemals zu Misstrauen führen sollte, egal wie berech­ tigt sie sein möge. Auch diese Regel ist nicht angemessen: Es geht hier weder darum, dass Laiinnen sich ohne die nötigen Kenntnisse und Fähigkeiten in wissenschaftliche Debatten einmischen (z.B. Lai­ innen-»Beweise« der Goldbach’schen Vermutung oder Laiinnen-Aus­ wertungen von Klimadaten), noch darum, dass Laiinnen ihre eigenen epistemischen Fähigkeiten überschätzen (vgl. hierzu Dunning-Kru­ ger-Effekt). Auch wenn es Debatten gibt, die man lieber den Expertin­ nen überlassen sollte (z.B. »sollte bei einer Auffrischungsimpfung mit Moderna die Dosis halbiert werden?«), gibt es bei dem Wissenstrans­

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fer während der Pandemie mehrere Gründe, nicht alle wissenschaft­ liche Aussagen gegen Kritik durch Laiinnen zu immunisieren. Zum einen geht es nicht darum, dass Laiinnen beanspruchen, es besser zu wissen als die Expertinnen. Wissenschaftlichen Aussagen wird keine Gegenaussage gegenübergestellt: So kann eine Laiin erkennen, dass eine wissenschaftliche Aussage schlecht begründet ist, ohne selbst Stellung in der Frage beziehen zu müssen; ich kann erkennen, dass beispielsweise eine Studie zu Long Covid mehr Fragen aufwirft als sie Antworten gibt, ohne selbst eine Einschätzung hinsichtlich des Long-Covid-Risikos abgeben zu müssen. Zum anderen zeigen Beispiele, unabhängig von abstrakten Argumenten, dass epistemische Kritik an wissenschaftlichen Aussagen seitens Laiinnen sinnvoll sein kann. Ein Rückblick auf die Diskussion um Masken während der Frühphase der Pandemie genügt, um dies zu belegen: Die Erfolge in einigen asiatischen Ländern (und ein wenig Commonsense) zeigten, dass Alltagsmasken die Anzahl von Infektionen höchstwahrschein­ lich verringern; dennoch waren die wissenschaftlichen Äußerungen zu Alltagsmasken uneindeutig bis ablehnend. Es fällt im Nachhinein schwer, die damalige Diskussion zu verstehen, da verschiedene Fragen parallel verhandelt wurden: Wurde die grundsätzliche Wirksamkeit von Masken bei der Verhinderung von Infektionen diskutiert? Oder wurde die Wirksamkeit einer Maskenpflicht diskutiert? Oder wurde diskutiert, wie das knappe Gut »Masken« am besten eingesetzt wer­ den sollte? So oder so kann man festhalten, dass kritisches Denken seitens Laiinnen hier sinnvoll und de facto auch dafür verantwortlich war, dass in Eigenregie (Stoff‑)Masken hergestellt und verwendet wurden (zu diesem Beispiel vgl. auch Mukerji/Mannino 2020, 54, sowie Kraft 2020b, 358–360). Die erkenntnistheoretische Herausforderung ist daher, genauer zu spezifizieren, wie wir als kritisch denkende Laiinnen mit berechtig­ ter epistemischer Kritik umgehen sollten, sofern sowohl fundamen­ tales Misstrauen als auch bedingungsloses Vertrauen unangemessen sind. Eine rein quantitative Antwort ist, so viel sei schon verraten, nicht möglich, aber das heißt nicht, dass qualitative Kriterien unmög­ lich wären. Bevor ich mich einer Antwort darauf nähere, muss ich jedoch zwei Begriffe erläutern, die ich bereits verwendet habe, ohne

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sie näher zu erläutern: »kritisches Denken« und »berechtigte episte­ mische Kritik«.11

3. Kritisches Denken und epistemische Kritik 3.1 Was ist kritisches Denken? Unter »kritischem Denken« verstehe ich hier, (eigene und fremde) Aussagen und Meinungen hinsichtlich ihrer epistemischen Recht­ fertigung einzuschätzen und zu überprüfen. In der Literatur wird mitunter ein deutlich weiteres Verständnis von »kritischem Denken« zugrunde gelegt. So definiert Pfister in seinem Lehrbuch Kritisches Denken (2020): Kritisches Denken (engl. critical thinking) meint ein sorgfältiges und zielgerichtetes Überlegen. Man könnte es auch ein reflektierendes, rationales oder aufgeklärtes Denken nennen. (Pfister 2020, 7)

Diese Definition steckt gut den Themenbereich von US-amerikani­ schen Universitätskursen zum Critical Thinking ab, die von Aussa­ genlogik über Grundlagen der Wahrscheinlichkeitstheorie bis zu Fehlschlüssen ein weites Spektrum des Nachdenkens, Überlegens und Argumentierens abdecken. Für meine Zwecke ist diese Begriffsbe­ stimmung jedoch zu weit. Mir geht es darum, ob man exzessiv kritisch denken kann und dadurch paradoxerweise die Zwecke des kritischen Denkens verfehlt. Ich will aber nicht behaupten, dass man »zu viel« argumentieren könnte oder »zu viele« Fehlschlüsse aufdecken könnte. Ich beschränke mich daher auf den Teil des kritischen Denkens, der für den Wissenstransfer besonders relevant ist. Trotz dieser Einschränkung ist auch meine Definition noch bewusst offen formuliert: Kritisches Nachdenken über die Aussage eines anderen besteht oft nicht darin, die Details der Begründung 11 Die folgende Diskussion ist individualistisch angelegt: Es geht um Einzelpersonen, die kritisch nachdenken und deren epistemische Kritik evtl. berechtigt ist. Tatsächlich sind unsere Überlegungen auch während der Pandemie im Guten wie im Schlechten sozial verfasst: Echokammern können zu Verhärtung führen, aber ebenso können gemeinsame Diskussionen über die letzte Folge eines Podcast zu einer besseren Einordnung des Gehörten führen. Ich verzichte hier auf eine Diskussion des Sozialen, weil sowohl Gruppen als auch Einzelpersonen dem Fluch des kritischen Denkens erliegen können. Dies ist aber zugegebenermaßen eine Vereinfachung.

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nachzuvollziehen. Bei wissenschaftlichen Aussagen kann dies seitens der Laiinnen in der Regel aufgrund des fehlenden Fachwissens ohne­ hin nur oberflächlich oder kursorisch geschehen. Fragen, die Laiinnen im Zuge des kritischen Prüfens jedoch durchaus beantworten können, sind beispielsweise: ●









Expertise: Fällt die Aussage in die (Kern-)Expertise der Wissen­ schaftlerin? Oder gibt sie ihrerseits Aussagen anderer Wissen­ schaftlerinnen wieder? Oder äußert sie sich sogar außerhalb ihrer (Kern-)Expertise? Status der Aussage: Wird die Aussage als gesichertes Wissen, als vorläufige Information, als (durch die wissenschaftliche Erfah­ rung gestützte) Vermutung oder als Spekulation formuliert? Ist es nachvollziehbar, dass die Aussage in diese oder jene Katego­ rie fällt? Fehler, Ungenauigkeiten und Vereinfachungen: Gibt es offensicht­ liche Fehler, Ungenauigkeiten oder Vereinfachungen? Sind sie relevant für die Kernaussage oder lässt sich die Kernaussage ohne Weiteres korrigieren? Sind Fehler im Detail, Ungenauigkeiten und Vereinfachungen überhaupt vermeidbar? Voreingenommenheiten und Einseitigkeiten: Besteht die Sorge, dass die Aussage voreingenommen (z.B. aufgrund wirtschaftli­ cher Einflussnahme) oder einseitig (z.B. aufgrund eines einseitig besetzten Gremiums) ist? Umgang mit Dissens: Handelt es sich um eine Aussage, die den geteilten Stand der Wissenschaft wiedergibt? Wenn es rivalisie­ rende Positionen gibt, wird die eigene Aussage dann entspre­ chend gekennzeichnet und wird auf rivalisierende Positionen sachlich-neutral oder voreingenommen eingegangen?

Keine dieser Fragen gibt einen Lackmustest dafür ab, ob eine bestimmte Aussage einer Wissenschaftlerin vertrauenswürdig ist oder nicht. So dürfen und sollen Wissenschaftlerinnen z.B. die Ergebnisse anderer Wissenschaftlerinnen referieren. Diese Fragen sollen vielmehr verdeutlichen, dass beim Wissenstransfer eine Rezep­ tionsleistung seitens der Laiinnen erbracht wird und dass die dabei leitenden Fragen von Laiinnen auch beantwortet werden können, ohne die wissenschaftliche Rechtfertigung (Studien, Experimente,

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Modelle usw.) im Detail zu kennen oder überprüfen zu können.12 Um die eben aufgezählten Fragen beantworten zu können, ist auch keine spezielle Expertise gefragt, die über allgemeine (Schul-)Bildung hinausgeht.13 Sich mit ihnen auseinanderzusetzen, kann daher Lai­ innen einerseits zugemutet werden und andererseits überschätzen Laiinnen dabei auch nicht ihre eigenen epistemische Fähigkeiten. Es liegt auf der Hand, dass die oben genannten Fragen während der Corona-Pandemie wichtige Bestandteile des Wissenstransfers sind. Laiinnen müssen diese Fragen beantworten, um während der Pandemie epistemisch verantwortungsvoll mit wissenschaftlichen Aussagen umgehen zu können. Meine Definition kritischen Denkens umfasst aber nicht nur das Prüfen fremder Aussagen; eigene Meinungen können und müssen ebenfalls auf den Prüfstand gestellt werden. Es mag den Anschein haben, dass das Prüfen eigener Meinungen im Kontext des Wissens­ Meine Beschreibung der Situation weicht daher von dem Problemaufriss ab, den Goldman (2001) gibt. Goldman ist wesentlich skeptischer, was die epistemischen Fähigkeiten von Laiinnen vis-à-vis Expertinnen angeht, insbesondere im Fall von Dissens unter den Expertinnen. Mir geht es darum, dass Laiinnen nicht Expertinnen für Expertise sein müssen, um beurteilen zu können, ob Wissenschaftlerinnen sachlich argumentieren oder nur einen ad hominem-Einwand vorbringen, ob Wissenschaftle­ rinnen etwas als bewiesen hinstellen oder eine wissenschaftlich fundierte Vermutung aufstellen usw. Anders als Goldman sehe ich das Problem auch weniger darin, wie Laiinnen zwischen mehreren (vermeintlichen) Expertinnen entscheiden können, wenn diese unterschiedliche Thesen vertreten. Epistemisch gesehen sind Laiinnen im Fall einer raschen wissenschaftlichen Dynamik, wie bei einer Pandemie, dann wohlinformiert, wenn sie verstehen, worin der Dissens besteht und wie er zustande kommt. Schlecht informiert über den Wissensstand sind sie, wenn sie nur eine Seite kennen oder sich für eine Seite entscheiden. Zur Illustration hilft vielleicht ein Beispiel: Wenn eine Expertin nach der Impfung eine Sportpause von mindestens drei Tagen empfiehlt, eine andere eine Sportpause von einer Woche, dann besteht die Entscheidung nicht in einer doxastischen Entscheidung (»was soll ich glauben?«), sondern in einer praktischen Risikoabwägung (»welches Risiko bin ich angesichts der Unsicherheit bereit einzugehen?«). Wenn jemand nach der Impfung kein Fieber bekommt und nach drei Tagen wieder Sport treibt, dann heißt das daher nicht, dass die Person die Meinung der ersten Expertin übernimmt. 13 Die These ist eine Potentialitätsthese: Allgemeine (Schul-)Bildung genügt, um den Rechenweg im Steuerbescheid des Finanzamts verstehen und eventuelle Fehler entdecken zu können. Man muss auch nicht über die Kenntnisse einer Finanzbeamtin verfügen, um berechtigte Nachfragen zum Steuerbescheid stellen zu können. Das gilt selbst dann, wenn viele de facto ihren Steuerbescheid nicht verstehen und Fehler nicht bemerken. Entsprechendes gilt, wenn wir das Finanzamt durch Wissenschaftle­ rinnen ersetzen. 12

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transfers nicht einschlägig wäre, weil es nur darum geht, Aussagen von Wissenschaftlerinnen zu übernehmen bzw. nicht zu übernehmen. Dem ist aber nicht so: Wie die Liste oben deutlich macht, können Lai­ innen hinterfragen, wie sie mit wissenschaftlichem Dissens umgehen sollen oder warum sie eine für sie unbequeme Aussage als gesichert oder vorläufig einschätzen. Ich beschränke mich an dieser Stelle auf diejenigen Aspekte der epistemischen Selbstprüfung, die im Kontext des Wissenstransfers während der Corona-Pandemie relevant sind. Dies sind weniger klassische Fehlschlüsse, sondern vorrangig kogni­ tive Voreingenommenheiten (biases) wie zum Beispiel:14 Der selection bzw. confirmation bias: Wird eine wissenschaftliche Aussage übernommen bzw. als gesichert angesehen, weil sie einer bereits gefassten Meinung entspricht? Beispiel: Wer das Risiko von Long Covid bei Kindern ohnehin als gering (oder alternativ: hoch) einschätzt, schätzt eine Studie, die wenig Evi­ denz für Long Covid bei Kindern findet, vielleicht als abschlie­ ßende Bestätigung ein (oder alternativ: als vorläufige Studie mit methodischen Beschränkungen, die weitere Studien erfor­ derlich machen). Der optimism bias: Welcher Schluss wird aus einer wissenschaft­ lichen Aussage gezogen, ein eher positiver oder ein eher realis­ tisch-neutraler? Beispiele: Dies kann das eigene Verhalten (»wir sollten die Maskenpflicht ernst nehmen, aber wenn ich hier im Bus die Maske abnehme, wird schon nichts passieren«) oder das eigene Risiko betreffen (»das Risiko für Ü60 ist deutlich erhöht, aber das betrifft mich nicht, da ich keine Vorerkrankun­ gen habe«), aber auch allgemeine Einschätzungen (»Omikron wird milde sein«). Der doom bias: Welcher Schluss wird aus einer wissenschaftli­ chen Aussage gezogen, ein eher negativer oder ein eher realis­ tisch-neutraler? Der doom bias steht dem optimism bias spiegel­ bildlich gegenüber: Auf Ungewissheit wird mit einer Betonung der Risiken regiert. Beispiele: Dies kann das eigene Verhalten (»wir sollten die Maskenpflicht auch im Freien ernst nehmen, schließlich wissen wir bei vielen Ansteckungen nicht, wo sie stattgefunden haben«) oder das eigene Risiko betreffen (»Long Covid kann auch bei milden Verläufen auftreten«), aber auch







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Ausführlicher dazu vgl. Kraft (2020a).

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allgemeine Einschätzungen (»die nächste gefährliche Variante kommt bestimmt«). Diesen Voreingenommenheiten ist gemein, dass sie den Wissens­ transfer behindern und verzerren können: Sie führen zu einer selek­ tiven Wahrnehmung oder einer einseitig gefärbten Interpretation wissenschaftlicher Aussagen.

3.2 Was ist berechtigte epistemische Kritik? Zu der Frage, was berechtigte epistemische Kritik überhaupt ist, kann ich mich hier kurzfassen, da sie unter dem Stichwort Anfechtung (defeat) in der Erkenntnistheorie bereits ausgiebig diskutiert wird (vgl. zum Überblick Grundmann 2011). Grob gesagt, handelt es sich um berechtigte epistemische Kritik genau dann, wenn folgende Bedingungen erfüllt sind: a)

b)

c)

Wahrheitsbedingung: Was als Kritik oder Anfechtung angeführt wird, muss zutreffen. Beispiel: Wenn Inzidenz und Testkapazität in Wirklichkeit gar nicht miteinander korreliert sind, dann ist die Kritik an der Aussage, es habe einen neuen Inzidenzrekord gegeben, unberechtigt. Relevanzbedingung: Was als Kritik oder Anfechtung angeführt wird, muss relevant für die angefochtene Aussage sein. Der Anfechtungsgrund muss dazu entweder der angefochtenen Aus­ sage widersprechen (rebutting defeater) oder die Rechtfertigung der angefochtenen Aussage unterminieren (undermining defea­ ter). Beispiel: Die Aussage, es habe einen neuen Inzidenzrekord gegeben, kann durch eine Hochrechnung angefochten werden, die zeigt, dass die Inzidenz vor zwei Wochen höher war (rebutting defeater), aber auch durch den Hinweis, dass die gemessene Inzidenz ohne Positivrate keinen Rückschluss auf die tatsächliche Inzidenz zulasse (undermining defeater). Keine anfechtbaren Anfechtungen-Bedingung: Was als Kritik oder Anfechtung angeführt wird, darf nicht selbst wiederum anfecht­ bar sein. Beispiel: Der Hinweis, dass die gemessene Inzidenz keinen Rückschluss auf die tatsächliche Inzidenz zulasse, könnte wiederum damit angefochten werden (dies ist ein fiktives Bei­ spiel!), dass das Testregime einen repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung abdeckt.

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Vor diesem Hintergrund wird keine neue Theorie epistemischer Kritik benötigt, aber einige Klarstellungen zur Anwendung könnten den­ noch hilfreich sein. Erstens ist, darauf hatte ich bereits hingewiesen, epistemische Kritik mitunter asymmetrisch. Die Kritikerin muss nicht zwingend so viel wissen und verstehen, wie die Person, deren Aussage angefochten wird. Dies gilt insbesondere für die unterminierende Anfechtung: Eine Laiin kann eine Aussage als ungerechtfertigt erken­ nen, ohne inhaltlich Stellung beziehen zu müssen. Zweitens geht es, auch darauf hatte ich schon hingewiesen, um epistemische Kritik. Auch wenn in der praktischen Begründung einer Corona-Maßnahme ein Zwischenschritt vorkommen sollte, der sich epistemisch kritisieren lässt, heißt das nicht, dass die darauf aufbauenden Corona-Maßnah­ men deshalb unbegründet sein müssen. So kann ein Shutdown berechtigt sein, auch wenn die genaue Inzidenz unbekannt ist. Drittens ist es wichtig, worauf sich die Anfechtung bezieht: Geht es um eine Detailaussage (z.B. »die Secondary Attack Rate ist um n % höher«) oder um eine Kernaussage (z.B. »Omikron ist infektiöser als Delta«). Epistemische Anfechtungen können nur relativ zu einer bestimmten, konkreten Aussage als berechtigt oder unberechtigt beurteilt werden.

4. Der Fluch kritischen Denkens in Zeiten der Pandemie Wie bereits ausgeführt, besitzt kritisches Denken einen hohen Stel­ lenwert in modernen aufgeklärten Gesellschaften. Es handelt sich nicht nur um ein Ideal, das zentral für unser Verständnis von Bildung ist, sondern auch um etwas, das Teil des Selbstverständnisses vieler Menschen als individueller, selbstbestimmter Person ist. Es lohnt daher einmal explizit zu machen, warum eigentlich kritisches Denken als wertvoll erachtet werden sollte. Kritisches Denken hat sowohl eine abwehrend-schützende, als auch eine ermöglichende Funktion. Wer eine fremde Quelle oder eine eigene Meinung kritisch prüft, wird einerseits vor Falschheiten geschützt: Eine kritisch denkende Person fällt idealerweise weder auf unglaubwürdige Quellen herein, noch macht sie kognitive Fehler zu ihrem eigenen Nachteil. Andererseits entgehen einer kritisch den­ kenden Person idealerweise aber auch keine glaubwürdigen Quellen und sie misstraut sich selbst auch nicht über Gebühr. Die kritische Prüfung dient daher nicht nur dem Aufdecken von Fehlern, die man

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meiden sollte, sondern auch der Identifizierung von Quellen, denen man glauben sollte. Dies gilt auch für die kritische Prüfung eigener Meinungen: Das Ziel ist nicht, so viele (potenzielle) Fehler zu finden, dass man gar nichts mehr glaubt, sondern auch diejenigen Meinungen zu identifizieren, die übernommen oder beibehalten werden sollten.15 Es zeigt sich hier für den spezifischen Fall des kritischen Denkens eine Struktur, die (William James folgend, vgl. 2000, 209) auch das Wahrheitsziel hat, d.h. das Ziel, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu glauben: Wir haben nicht nur das Ziel, möglichst viele Wahrheiten zu glauben, sondern auch das Ziel, möglichst viele Falschheiten zu vermeiden. Wer nur das Ziel verfolgt, Falschheiten zu vermeiden, endet in der kognitiven Paralyse. Wer nur das Ziel verfolgt, möglichst viele Wahrheiten zu glauben, endet in Leichtgläu­ bigkeit. So wie das Wahrheitsziel aus zwei Teilzielen besteht, hat auch das kritische Denken eine Doppelfunktion: Alle Quellen und alle eigenen Meinungen als zuverlässig durchgehen zu lassen, würde zu Leichtgläubigkeit führen. Alle Quellen und alle eigenen Meinungen als unzuverlässig zu entlarven, würde zu kognitiver Paralyse führen. Wenn das stimmt, kann kritisches Denken aber auch auf zwei Weisen scheitern, nämlich dann, wenn zu viel die kritische Prüfung übersteht, und dann, wenn zu wenig die kritische Prüfung übersteht. Damit ist die Bühne für den titelgebenden Fluch kritischen Denkens vorbereitet. Man ist keine erfolgreiche kritische Denkerin, wenn man alles glaubt, aber man ist auch keine erfolgreiche kritische Denkerin, wenn man gar nichts mehr glaubt. Der Segen kritischen Denkens ist, dass es uns vor Leichtgläubigkeit bewahren kann, sein Fluch, dass es zu kognitiver Paralyse führen kann. Kritisches Denken soll uns vor Leichtgläubigkeit, Fehlschlüssen und kognitiven Vorein­ genommenheiten bewahren, führt aber, wenn es exzessiv betrieben wird, zu epistemischem Misstrauen (man glaubt keiner Wissenschaft­ lerin mehr), kognitiver Paralyse (man weiß gar nicht mehr, wem oder was man glauben soll) und Entscheidungsunfähigkeit (ohne Überzeugungsbasis können Entscheidungen nur noch aus dem Bauch heraus getroffen werden). Wenn wir darüber nachdenken, wann kritisches Denken misslingt, müssen wir daher sowohl defizitäres als auch exzessives kritisches Denken im Blick behalten. Wissenstransfer 15 Ein weiteres Ziel kritischen Denkens, das in der Literatur oft genannt wird, ist (epis­ temische) Autonomie (vgl. Pfister 2020, 7; Baumann 2000, Teil 1): Kritisches Denken führe dazu, sich seine eigene Meinung zu bilden und epistemische Fremdbestimmung zu vermeiden.

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in Zeiten der Pandemie setzt nicht nur voraus, dass die Rezipientinnen ein grundsätzliches Vertrauen in die Wissenschaften mitbringen, sondern auch, dass sie den Wissenschaften mit einer angemessenen Dosis an kritischem Denken begegnen. Was ich hier als Fluch des kritischen Denkens bezeichne, ist zumindest in ähnlicher Form bereits anderswo festgestellt worden. Dass bei Verschwörungstheorien wissenschaftliches Arbeiten zumin­ dest imitiert wird und sie durchaus wahre Beobachtungen enthalten können, wird in der Literatur zu Verschwörungstheorien zumindest en passant regelmäßig erwähnt (vgl. z.B. Butter 2018, Kap. 2). Auch innerhalb der Philosophie wird auf die unabsichtlich zerset­ zende Kraft, die das Philosophieren haben kann, öfter hingewiesen. So schreibt Williamson (2018, 2) über Descartes’ methodischen Zweifel: »His reasons for doubt were like Frankenstein’s monster, which he constructed but could not control.« Descartes’ Motivation dafür, einmal radikal alles zu bezweifeln, war es, dass nur so ein sicheres Fundament für unser Wissen gefunden werden könne; auch wenn Descartes selbst geglaubt haben mag, ein solches Fundament gefunden zu haben, hat er damit eine Form des Skeptizismus in die Welt gebracht, auf die es bis heute keine befriedigende – jedenfalls keine allgemein überzeugende – Antwort gibt. Sowohl Mangel als auch Exzess an kritischem Denken weisen ein charakteristisches Profil auf.16 Ein Mangel an kritischem Denken liegt vor, wenn Aussagen anderer unkritisch übernommen werden oder Anekdoten mehr vertraut wird als wissenschaftlichen Quellen. Ein Exzess an kritischem Denken liegt vor, wenn Aussagen anderer so lange kritisch geprüft werden, bis irgendein Detaileinwand gefunden wird, oder Ansprüche an wissenschaftliche Quellen erhoben werden, die unerfüllbar sind. Typische Beispiele für einen Mangel an kriti­ schem Denken im Kontext der Corona-Pandemie sind: ●

Wenn jemand leichtgläubig die unbelegte (und tatsächlich fal­ sche) Behauptung übernimmt, Opfer von Verkehrsunfällen wür­

16 Es besteht hier eine Parallele zu Aristoteles’ mesotes-Lehre (NE II.6, 1106a-1107a). Es bestehen jedoch auch Unähnlichkeiten: So lege ich mich weder darauf fest, dass tugendhaftes kritisches Denken auf genau einer Dimension liegt (laut Aristoteles liegt Mut zwischen Feigheit und Tollkühnheit), noch darauf, dass tugendhaftes kritisches Denken eine psychologische Angelegenheit ist (laut Aristoteles handelt der Mutige nicht nur mutig, sondern empfindet das richtige Maß an Furcht), noch darauf, dass kritisches Denken eine (stabile, nicht-situative) Charaktereigenschaft ist.

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den als Corona-Tote gezählt werden, sofern sie kurz vor ihrem Tod positiv getestet wurden. Wenn jemand unbelegten Anekdoten über (angebliche) Todes­ fälle in zeitlicher Nähe zur Impfung ein höheres Gewicht bei­ misst als Zulassungsstudien, hinter denen zahlreiche Wissen­ schaftlerinnen und Aufsichtsbehörden stehen. Wenn jemand leichtgläubig davon ausgeht, dass der PCR-Test nichts taugen könne, da Drosten und Corman ihn entwickelt haben, ohne das Virus in der Charité vorliegen zu haben. Nur weil etwas für Laiinnen erstaunlich ist, ist es nicht wissenschaft­ lich seltsam.17

Typische Beispiele für einen Exzess an kritischem Denken im Kontext der Corona-Pandemie liegen dagegen vor: ● ● ●

Wenn jemand die Unterscheidung zwischen »an« und »mit« Corona verstorben so weit überspannt, dass praktisch niemand mehr »an« Corona sterben kann. Wenn jemand an der Wirksamkeit von Impfungen zweifelt, weil der übertrieben hohe Standard der sterilen Immunität nicht eingehalten wird. Wenn jemand über die Gefährlichkeit von Omikron oder Long Covid gar nichts mehr sagen mag, solange nicht alle Daten auf dem Tisch liegen.

Um es auf den Punkt zu bringen: Kritisches Denken ist dann exzes­ siv, wenn es weiteres Nachdenken unmöglich macht oder auf unbe­ stimmte Zeit ausdehnt bzw. vertagt. Dies ergibt sich aus der Funktion des kritischen Denkens: Falschheiten zu vermeiden ist nur die eine Hälfte seiner Funktion. Kritisches Denken scheitert dann, wenn alle Quellen, alle Daten, alle Begriffe als untauglich »entlarvt« werden, so dass das Nachdenken nur noch abgebrochen werden kann. Kritisches Denken »schützt« zwar vor Leichtgläubigkeit, wenn alle Quellen zurückgewiesen werden oder sehr strenge Standards angelegt werden, aber es führt zugleich auch in die kognitive Paralyse. Woran erkennt man einen Exzess an kritischem Denken? In Einzelfällen ist das nicht zu entscheiden, ohne in die Sachdebatte einzusteigen. So gab es einen Zeitpunkt unmittelbar nach der Erstbe­ schreibung von Omikron, zu dem man sich über die Gefährlichkeit 17 Wie die schnelle Testentwicklung gelingen konnte, kann man nämlich nachlesen, z.B. bei Kohlhöfer (2021, Kap. 1).

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von Omikron besser enthalten hätte (ohne dass dies ein Exzess an kritischem Denken gewesen wäre), aber es gab auch einen Zeitpunkt, ab dem eine Enthaltung bereits ungerechtfertigt war (weil dies ein Exzess an kritischem Denken gewesen wäre). Ohne die Details der Sachdebatte lässt sich aber nicht angeben, wann genau der Übergang zwischen den beiden Zeitpunkten stattfand. Dennoch lassen sich zumindest allgemeine Kriterien angeben. Kriterien für einen Exzess an kritischem Denken sind: ●









Überzogene Erwartungen an Fehlerfreiheit: In Zeiten der Pande­ mie sind Fehler zu erwarten, da es sich um ein neues und sich schnell entwickelndes Thema handelt; der Hinweis auf kleinere Fehler und Ungenauigkeiten trägt hier nichts aus. Überzogene Erwartungen an den Status wissenschaftlicher Aussa­ gen: In Zeiten der Pandemie ist zu erwarten, dass viele wissen­ schaftlichen Aussagen zunächst Hypothesen, Vermutungen und Spekulationen sind und sie sollten daher nicht als gesicherte Erkenntnisse missverstanden werden. Überzogene Erwartungen an die Präzision von Begriffen: In Zeiten der Pandemie ist zu erwarten, dass nicht alle relevanten Begriffe (sofort) präzise definiert werden können (z.B. »Long Covid«, »Immunität«, »endemisch«). Überzogene Erwartungen an die Qualität von Daten: In Zeiten der Pandemie ist zu erwarten, dass die Datenqualität (zunächst) unter den nicht-optimalen Erhebungsbedingungen leidet. Im Grunde wird dann jede Datenbasis als ungenügend zurückge­ wiesen, weil jede Erhebung noch genauer sein könnte, mehr Variablen berücksichtigen könnte usw. Überzogene Erwartungen an die Zuverlässigkeit von Quellen: In Zeiten der Pandemie ist zu erwarten, dass es eine Vielzahl von Stimmen gibt und es darum geht, bei den vielen Quellen die für den jeweiligen Bereich zuverlässigen und vertrauenswürdigen zu bestimmen. Überzogene Erwartungen führen nur zu einer pauschalen Diskreditierung.

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5. Anwendung auf zwei »Paradoxien« Die Diagnose, dass in Zeiten der Pandemie der Fluch des kritischen Denkens droht, kann bei der Deutung zweier »Paradoxien« helfen, dem Präventions- und dem Überraschungsparadox.18

5.1 Das Präventionsparadox Die erste Paradoxie ist das sog. Präventionsparadox: Wenn ein Ereig­ nis nicht eintritt, weil es von einer Maßnahme verhindert wurde, erlebt man die Wirksamkeit der getroffenen Maßnahme nicht. Wenn daraus geschlossen wird, dass die Maßnahme unwirksam gewesen sei, sitzt man einem Fehlschluss auf. Ein reales Beispiel für das Präventionsparadox im Kontext der Corona-Pandemie könnte die These sein, dass Impfungen überflüssig waren, weil sie nicht die Omikron-Welle verhindert haben. Hier wird übersehen, dass Impfun­ gen sehr wohl die Anzahl und Schwere der Ansteckungen verringert haben. Prima facie mag hier die Erklärung naheliegen, dass wir es mit einem Mangel an kritischem Denken zu tun haben: Die eingetretenen Ereignisse (hier: Ansteckungen trotz Impfung) werden gesehen, die nicht-eingetretenen Ereignisse (hier: wegen Impfung ausgebliebene schwere Verläufe) werden übersehen. Will man die Wirksamkeit einer Maßnahme evaluieren, muss man jedoch sowohl auf die eingetrete­ nen als auch auf die nicht-eingetretenen Ereignisse schauen. Diese Erklärung hebt darauf ab, dass nicht verstanden wird, was es heißt, dass eine Maßnahme etwas wirksam verhindert hat. Es gibt jedoch auch eine alternative Erklärung: Wer an der Wirk­ samkeit von Impfungen zweifelt, stellt, so trivial das klingen mag, den Wirkmechanismus in Frage. Die Wirksamkeit von Anschnallgur­ ten ist z.B. leicht zu erkennen, die vermeintliche Wirksamkeit des Klatschens, um in Mitteleuropa Elefanten zu vertreiben, ist dagegen

18 Ich spreche hier von »Paradoxien«, auch wenn es sich im technischen Sinn (vgl. z.B. Sainsbury 2009, 4) nicht um Paradoxien handelt. Da der lose Gebrauch von »Paradoxie« – in dem Einsteins Zwillingsparadoxie oder das Präventionsparadox als »Paradoxien« bezeichnet werden – aber bereits etabliert ist, folge ich diesem Sprach­ gebrauch.

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dubios.19 Ebenso plausibel erscheint daher die Erklärung, dass auch Impfskeptikerinnen auf einen Fehlschluss hinweisen, nämlich dass daraus, dass etwas nicht eingetreten ist, nicht folgt, dass es verhindert wurde. Sie fragen daher nach Evidenz dafür, dass das nicht-eingetre­ tene Ereignis tatsächlich verhindert wurde. Wenn diese Erklärung stimmt, kann das Präventionsparadox auch durch exzessives kriti­ sches Denken erklärt werden: Man ist nicht überzeugt von einer all­ gemein akzeptierten Erklärung dafür, warum etwas nicht eingetreten ist. Es ist dann wenig hilfreich, das Präventionsparadox als Fehlschluss zu klassifizieren; es sollte stattdessen in der Wissenschaftskommu­ nikation deutlich werden, warum Zweifel an der Wirksamkeit von Impfungen, anders als Zweifel an der Wirksamkeit des Klatschens, überzogen sind.

5.2 Das Überraschungsparadox Eine nahe Verwandte des Präventionsparadoxes ist das Überra­ schungsparadox: Es besteht darin, dass Menschen von einem Ereignis überrascht werden, mit dessen Eintreten gerechnet werden konnte. Während das Präventionsparadox während der Pandemie vor allem bei Maßnahmenkritikerinnen zuhause ist, ist das Überraschungspa­ radox vor allem bei solchen politischen Entscheiderinnen zu veror­ ten, die auf erwartbare Entwicklungen nicht vorbereitet waren (für Beispiele vgl. Stoecker 2021). Das Überraschungsparadox ist jedoch kein Spezifikum der Corona-Pandemie: Auch Menschen, die täglich Alkohol trinken (und von ihrer Ärztin gewarnt wurden), sind oft genug überrascht, wenn sie erfahren, dass ihre Leber geschädigt ist; auch Menschen, die keine Zeit für ihre Partnerin haben (und wissen, dass ihre Partnerin deshalb unglücklich ist), sind oft genug überrascht, wenn es daraufhin wirklich zur Trennung kommt. Auch hier kommen grundsätzlich zwei Erklärungsmodelle in Frage: Mangel oder Exzess. Man kann Opfer des Überraschungspa­ radoxes als irrationale Menschen betrachten, die den Kopf in den Sand stecken, weil sie etwas nicht wahrhaben wollen. Dann leiden 19 Ich spiele hier auf Paul Watzlawicks bekannte Illustration des Präventionsparadox an: »Das Grundmuster dafür liefert die Geschichte vom Manne, der alle zehn Sekun­ den in die Hände klatscht. Nach dem Grunde für dieses merkwürdige Verhalten befragt, erklärt er: ›Um die Elefanten zu verscheuchen.‹ ›Elefanten? Aber es sind doch hier gar keine Elefanten?‹ Darauf er: ›Na, also! Sehen Sie?‹« (Watzlawick 1983, 51f.)

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sie an einem Mangel an kritischem Denken. Dann bleibt jedoch rät­ selhaft, warum Menschen mit hoher Verantwortung und Intelligenz dem Überraschungsparadox erliegen. Deshalb lohnt es sich, auch das andere Erklärungsmodell, das Modell des exzessiven kritischen Denkens, zu berücksichtigen. Sofern wir davon ausgehen, dass Poli­ tikerinnen nicht nur Überraschung vorspielen, sondern tatsächlich überrascht sind, müssen wir einen kognitiven Mechanismus ausfindig machen, der erklärt, wie wir von etwas überrascht sein können, das wir »eigentlich« wissen. Exzessives kritisches Denken bietet eine solche Erklärung. Weil es schwerfällt, die düsteren Aussichten zu akzeptieren, wird so lange kritisch nachgedacht, bis die Voraussage als unsicher gilt oder als reine Spekulation eingeordnet werden kann. Eine Enthaltung lässt sich immer irgendwie begründen: »Das wäre nicht die erste Prognose, die aufgrund einer Modellierung vorgenom­ men wird, aber nicht eintritt«, »vielleicht lassen sich doch noch mehr Menschen impfen«, »wenn wir der Bevölkerung ins Gewissen reden, dann werden sie schon Kontakte reduzieren«. Diese Begrün­ dungen lassen sich kaum durch einen Mangel an kritischem Denken erklären. Hier werden aktiv Denkschritte unternommen, um eine sich aufdrängende Meinung zu verhindern. Zugegeben, der Exzess an kritischem Denken wird ausgelöst durch eine irrationale Vorein­ genommenheit, wie beispielsweise dem optimism bias. Aber diese Voreingenommenheiten wirken nicht allein und unmittelbar, sondern mittelbar dadurch, dass sie an just an einem Punkt kritisches Denken auslösen, an dem mehr Vertrauen in wissenschaftliche Prognosen und weniger kritisches Denken die angemessenere Reaktion gewe­ sen wäre.

6. Fazit Das Anliegen dieses Aufsatzes ist es, auf den leicht zu übersehen­ den, aber wichtigen »Fluch« des kritischen Denkens aufmerksam zu machen. Nicht nur, aber ganz besonders in Zeiten der Pandemie ist nicht nur ein Mangel, sondern auch ein Exzess an kritischem Denken ein epistemisches Problem. Wir sind es gewohnt, prima facie irratio­ nale Meinungen dadurch zu erklären, dass es hier an kritischem Den­ ken oder Rationalität mangelt. Wir sollten jedoch auch eine andere Erklärung in Betracht ziehen: Manche prima facie irrationale Meinun­ gen lassen sich durch eine Überdosis an kritischem Denken erklären.

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Nur wenn wir das Phänomen benennen und beschreiben können, können wir darauf angemessen reagieren. Denn in einer Pandemie »gewinnen« nicht diejenigen, die am wenigsten Fehleinschätzungen begehen oder die meisten Fehler bei anderen gefunden haben. Es gewinnen diejenigen, die trotz unsicherer Zahlen, ungenauer Begriffe, divergierender Prognosen usw. erfolgreiche Maßnahmen gegen das Virus ergreifen.

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Teil IV Nicht-Wissen, Pseudo-Wissen und heterodoxes Wissen

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Nadja El Kassar

Wissen, Unwissen, Unwissenheit und Ignoranz: Corona als Chance und Herausforderung für den epistemologischen Diskurs1

1. Einleitung Die COVID-19-Pandemie hat sehr große Teile der Weltbevölkerung mit Herausforderungen und extremen Belastungen konfrontiert. Sowohl die Erkrankung selbst als auch die Maßnahmen, die gegen die Pandemie ergriffen wurden, sowie die Reaktionen von Menschen und Gesellschaften auf die Krankheit und die Pandemie durchbrechen alltägliche Erwartungen, Regeln und Muster menschlichen Lebens. Das Leben und das Zusammenleben aller haben sich durch Corona geändert, mal mehr mal weniger, und fast jeder Mensch auf dieser Welt erlebt direkt oder indirekt die Auswirkungen der Pandemie. Ein Bereich der Philosophie, der besonders stark durch die Pan­ demie in den Fokus gerückt wurde – neben der Ethik natürlich –, ist die Erkenntnistheorie. Meta-Reflexionen zu Wissen und Unwissen werden inspiriert durch die Corona-Pandemie2. Zu Beginn der Pande­ mie fehlte beispielsweise sehr viel Wissen, um das Virus einschätzen zu können, um seine Wirkung verstehen zu können, um Gegenmaß­ nahmen einleiten zu können. Es gab sehr viel bewusstes Unwissen (known unknowns), z.B. wusste man nicht, wie das Virus übertragen wird, wie genau das Virus in einem infizierten Körper wirkt oder warum die Lungen so stark betroffen sind. Und es gab noch mehr 1 Vielen Dank an Florian Braun, Rico Hauswald, Pedro Schmechtig, Sebastian Schmidt sowie Eva Schmidts Lesekreis an der TU Dortmund für wertvolle Anmerkun­ gen zu früheren Fassungen dieses Textes. 2 »Corona-Pandemie« und »COVID-19-Pandemie« verwende ich als Sammelbe­ griffe, die auf verschiedene Phänomene verweisen, u.a. die weltweiten Infektionen mit COVID-19, Maßnahmen während der COVID-19-Pandemie, Ereignisse rund um die Pandemie.

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Nadja El Kassar

unbewusstes Unwissen (unknown unknowns): Fragen, die wir noch nicht einmal formulieren konnten (können), weil wir nicht wussten, dass wir ihre Antworten nicht kannten. Mittlerweile können wir für einige Arten dieses unbewussten Unwissens die Fragen formulieren, weil sie nun bewusstes Unwissen (und teilweise Wissen) geworden sind, z.B. »Warum ist der Verlauf einer COVID-19-Infektion bei Männern häufiger schlimmer als bei Frauen?«3 Und hinter diesen virologischen (immunologischen, soziologischen, etc.) Fragen stan­ den immer auch Fragen aus epistemologischen Diskursen: Was ist Wissen? Was ist gewusst? Wer ist Wissende:r? Und wer meint nur zu wissen? Was macht Unwissenheit aus? Wie ist das Verhältnis von Unwissenheit und Wissen? Im Verlauf der Pandemie kamen weitere Problemstellungen in Bezug auf Wissen und Unwissen dazu, die auch hohe erkenntnistheo­ retische Relevanz haben. Es bildeten sich Gruppen, die COVID-19 als eine Inszenierung, eine Lüge, eine Verschwörung verstanden, und mit Beiträgen im Internet, Demonstrationen, Drohungen und auch Gewalt gegen die Maßnahmen – aber auch gegen die Mehr­ heitsgesellschaft – vorgingen. Sie bilden Gegenöffentlichkeiten, die wissenschaftliche Ergebnisse, politische Entscheidungen, sowie Wis­ senschaftler:innen, Politiker:innen, Journalist:innen anfeinden und für Lügner:innen, Teil des sogenannten ›Systems‹ etc. halten. Diese Gruppen, u.a. die sogenannten »Querdenker«, haben dazu beigetra­ gen, dass Familien und Freundschaften leiden oder gar zerbrechen, beispielsweise weil Verschwörungsgläubige Familienmitglieder und Freund:innen bekehren wollen und weil die verschiedenen Auffassun­ gen von der Welt da draußen teilweise radikal widersprechend sind. Die Impfungen gegen COVID-19 haben diese Dissonanzen noch weiter verschärft. Zugleich ist bereits hier auf eine wichtige Unterscheidung hinzu­ weisen: Die Gruppe der Ungeimpften ist nicht deckungsgleich mit der Gruppe der Querdenker:innen und Verschwörungsgläubigen. Die Gründe dafür, sich nicht impfen zu lassen, müssen nicht verschwö­ rungserzählerisch fundiert sein. Es kann im Gegenteil sogar für manche Gruppen epistemisch vernünftig sein, vor einer Impfung zu zögern und sich nicht impfen zu lassen. Ein Beispiel sind hier Afro­ amerikaner:innen in den USA, denn im Verlauf des 20. Jahrhunderts wurden in den USA immer wieder menschenverachtende, tödliche 3

Peckham et al. (2020) für einen Erklärungsansatz.

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Wissen, Unwissen, Unwissenheit und Ignoranz

medizinische Experimente an Afroamerikaner:innen durchgeführt. Hier ist das Misstrauen und ein Zögern gegenüber Impfungen, die von derselben Medizin- und Pharmaindustrie produziert werden, epistemisch gerechtfertigt und vernünftig (siehe bspw. Hawley 2020; Bunch 2021). Wenn ich im Folgenden also von einer Ignoranz bei verschwörungsgläubigen Corona-Leugner:innen spreche, ist das nicht auch eine Aussage über ungeimpfte Personen oder Impfskepti­ ker:innen, sondern eine Aussage über Verschwörungsgläubige. Mit dem Begriff »Verschwörungserzählung« folge ich einer Unterscheidung, auf die beispielsweise Nocun und Lamberty (2020) hinweisen.4 Sie erklären, dass der Begriff der Verschwörungstheorie unpassend sei, weil die Konstrukte keine »Theorien im wissenschaftli­ chen Sinn« (Nocun/Lamberty 2020, 21) seien. »Die Verschwörungs­ erzählung zeichnet sich […] eben genau dadurch aus, dass sie sich der Nachprüfbarkeit entzieht. Egal wie viele Gegenbeweise es gibt, der Verschwörungsideologe beharrt auf seiner Meinung« (Nocun/ Lamberty 2020, 21). Und auch wenn es umstritten sein mag, was eine wissenschaftliche Theorie ausmacht, so ist Nachprüfbarkeit doch ein signifikantes, sehr wahrscheinliches Kriterium.5 Nocun/Lamberty definieren eine Verschwörungserzählung entsprechend wie folgt: »Eine Verschwörungserzählung ist eine Annahme darüber, dass als mächtig wahrgenommene Einzelpersonen oder eine Gruppe von Menschen wichtige Ereignisse in der Welt beeinflussen und damit der Bevölkerung gezielt schaden, während sie diese über ihre Ziele im Dunkeln lassen« (2020, 18). Wie die Autorinnen selbst anmerken, lässt die Definition Lücken – so konzentriert sie sich etwa nicht spezi­ fisch auf heterodoxe Erzählungen –, aber als erste Annäherung an den Begriff ist sie für diesen Rahmen passend. Wichtig ist, dass diese Defi­ nition Verschwörungserzählungen nicht per definitionem als falsch auszeichnet, denn Verschwörungserzählungen können sich auch als wahr herausstellen. Zudem ist anzuerkennen, dass die Bezeichnungen 4 Grundsätzlich ist hervorzuheben, dass die Terminologie bei so einem komplexen, historischen Phänomen immer schwierig ist. Da es in meinem Beitrag vor allem um eine Analyse von Unwissen, Unwissenheit und Ignoranz in der Corona-Pan­ demie geht, möchte ich nicht zu tief in die Definitionsdiskussionen für Verschwö­ rungserzählungen oder Verschwörungstheorien einsteigen. Diese Arbeit erfolgt viel genauer in der Literatur zur Definition dieser Phänomene, z.B. in Butter (2018) und Coady (2018a). 5 Siehe aber auch Butter (2018) für die These, dass Verschwörungserzählungen falsifizierbar sind.

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»Verschwörungserzählung«, »Verschwörungstheorie« oder »conspi­ racy theory« auch als Mittel zur Diskreditierung von unbeliebten Positionen verwendet wird (Coady 2018b; Coady 2021; Hauswald in diesem Band). Das heißt allerdings nicht, dass der Begriff fallen gelassen werden muss; er sollte sorgsam eingesetzt werden, auch im Bewusstsein, dass er politisch-ideologisch und unterdrückend verwendet werden kann. Dies ist ein sehr holzschnittartiges Bild der Situation bis Anfang 2022 in Deutschland. Es gibt viele Details und Nuancen in anderen Staaten und Gesellschaften, die hier nicht abgebildet sind, und bis zum Zeitpunkt des Erscheinens des vorliegenden Aufsatzes wird sich auch vieles geändert haben. Nichtsdestotrotz sollten auch diese vergange­ nen Situationen analysiert werden, denn sie enthalten Kerninhalte, die gesellschafts- und staatsübergreifend relevant sind: Es gibt durch und in der Corona-Pandemie Fragen und Herausforderungen, die sich für Menschen, Gesellschaften, Staaten und wissenschaftliche Disziplinen übergreifend stellen. Fragen wie etwa: Wie kann das Phänomen X erklärt werden? Wie können wir vernünftig entscheiden, ob die Maßnahme Y zu ergreifen ist? Wie kann die Maßnahme Y überzeugend begründet werden? Auch für die Erkenntnistheorie zeigen sich zentrale und ein­ schneidende Fragen, auf die sie Antworten haben sollte. Diese Fragen können dabei sowohl kritische Herausforderungen sein als auch produktive Chancen: Sie können Erkenntnistheorien unter Druck setzen – etwa: Kann diese Theorie das Phänomen erklären? Sie können aber auch Anlass für Weiterentwicklungen und Anpassungen in bestehenden Theorien liefern und so den erkenntnistheoretischen Diskurs insgesamt voranbringen.6 Genau zu diesem Projekt soll der vorliegende Artikel einen Beitrag leisten. Ich werde vier erklärungs­ bedürftige Phänomene aus der Zeit der Corona-Pandemie diskutieren und zeigen, dass Erkenntnistheoretiker:innen wichtige Einsichten aus der Betrachtung dieser Phänomene gewinnen können. Ich werde mich dabei vor allem auf das Cluster Wissen, Unwissen(heit) und Ignoranz konzentrieren. Umgekehrt liefert die Erkenntnistheorie wertvolle Beiträge dazu, die genannten Phänomene genauer zu beschreiben, zu erklären und zu verstehen. Damit soll nicht angenommen sein, dass es Fortschritt in der Erkenntnistheorie gibt, denn die Fortschrittsthese ist ja notorisch umstritten. Unumstritten scheint mir aber, dass es innerhalb der Erkenntnistheorie Entwicklungen und Anpassungen an Gegebenheiten gibt. 6

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Wissen, Unwissen, Unwissenheit und Ignoranz

Im folgenden Abschnitt führe ich zunächst die vier ausgewählten, erklärungsbedürftigen Phänomene ein (§ 2). Danach entwickle ich vier erkenntnistheoretische Einsichten aus den Erfahrungen mit bzw. in der Corona-Pandemie und den begleitenden Diskursen (§ 3). Diese Einsichten wende ich dann auf die vier erklärungsbedürftigen Phä­ nomene an (§ 4) und zeige abschließend, welche Konsequenzen sich für die Erkenntnistheorie ergeben (§ 5).

2. Erklärungsbedürftige Phänomene Während der COVID-19-Pandemie haben Wissen, Unwissen, Unwis­ senheit und Ignoranz bei einer Vielzahl von Phänomenen, Beobach­ tungen und Momenten eine zentrale Rolle inne. Aus dieser Menge nehme ich vier Phänomene in den Fokus.7

Phänomen (1): Unwissenheit und Unsicherheit bei Laien, For­ schenden und Expert:innen. Viele Menschen sind sich ihrer Unwissenheit in Bezug auf COVID-19 sehr bewusst – sowohl Laien als auch Expert:innen. Hier einige Beispiele: Die meisten Laien wissen nicht, wie der mRNA-Impfstoff wirkt. Viele Menschen empfinden Unsicherheit angesichts steigender Infektionszahlen. Einige Menschen empfinden Unsicherheit, ob die verfügbaren Corona-Impfstoffe keine Langzeitauswirkungen haben. Ende November 2021 waren Forschende und Expert:innen für Virolo­ gie sich nicht sicher, welche Auswirkungen die Omikron-Variante auf den Verlauf der Pandemie haben wird. Laien wussten nicht, welche Auswirkungen die Omikron-Variante auf den Verlauf der Pandemie haben wird. Laien wissen (meist) nicht, wie sich die Omikron-Vari­ ante von der Delta-Variante unterscheidet.

7 Weitere Phänomene, die diskutiert werden könnten, sind etwa Dissens zwischen Expert:innen oder der Umgang mit Irrtum.

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Nadja El Kassar

Phänomen (2): Unwissenheit und Unwissen in der Forschung. Forschende wissen Einiges über COVID-19 noch nicht. – An dieser Stelle eine kurze Anmerkung zur verwendeten Terminologie: For­ schende sind in der Forschung aktiv, und sind nicht automatisch identisch mit Expert:innen. Expert:innen sind institutionell aner­ kannt und haben oft auch politische und kommunikative Funktio­ nen. Forschende hingegen sind primär in der Forschung involviert. Studien-Abschlussarbeiten tragen zur Forschung bei und die Studie­ renden sind dann auch Forschende, aber sie sind (in der Regel) keine Expert:innen. Ihre Beiträge sind nichtsdestotrotz Teil des gro­ ßen Projekts Forschung.8 – Zurück zu Unwissen(heit) in Bezug auf COVID-19. Forschende wissen beispielsweise nicht, wie sich eine spezifische Mutante im Verlauf der Pandemie niederschlagen wird. Allerdings können sie anhand von bestimmten Eigenschaften des mutierten Virus und auf Grundlage von Studien gut begründet ver­ muten, warum eine Mutation zu einer besseren Übertragbarkeit und damit zu mehr Infektionen führen wird. Forschende wussten Ende November 2021 etwa nicht, wie stark sich die Omikron-Variante ver­ breiten wird; anhand der Erfahrungen und den Studien zur Verbrei­ tung der Delta-Variante konnten sie aber gut begründet behaupten, dass die Verbreitung schnell und weit sein wird. Forschende wissen etwa noch nicht in allen Details, warum das Virus wirkt, wie es wirkt. Sie haben seit Beginn der Pandemie mehr Wissen, aber auch mehr Unwissen.

Phänomen (3): Verschwörungserzählerische Zugänge zur CoronaPandemie. Die Corona-Pandemie wird von sehr vielen Verschwörungserzählun­ gen begleitet, wie z.B. dass COVID-19 nicht real ist, dass Bill Gates und die WHO sich COVID-19 ausgedacht hätten, dass bei der Imp­ fung Mikrochips implantiert würden, mit denen die Geimpften dann kontrolliert werden könnten. Fast jede Facette der Pandemie wird durch verschwörungserzählerische Zugänge begleitet. Es gibt Über­ schneidungen mit anderen Verschwörungserzählungen, z.B. QAnon, Das komplexe Verhältnis zwischen Forschenden und der Forschung habe ich für diesen Kontext stark vereinfacht.

8

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Wissen, Unwissen, Unwissenheit und Ignoranz

die ich hier aber nicht thematisieren werde.9 Mir geht es um die Ver­ wendung verschwörungserzählerischer Zugänge in der Corona-Pan­ demie, das sind dann insbesondere heterodoxe Verschwörungserzäh­ lungen, die »von der Mehrheit der Bevölkerung, den Leitmedien oder anderen gesellschaftlich legitimierten Deutungsinstanzen nicht aner­ kannt [werden]« (Anton et al. 2014, 14).

Phänomen (4): Hartnäckige Ablehnung von wissenschaftli­ cher Evidenz. Einige Verschwörungsgläubige haben die Tendenz, wissenschaftliche Evidenz, die gegen ihre Thesen spricht, für gefälscht und/oder falsch zu halten. Dabei gibt es verschiedene Nuancen in ihren Reaktionen: a) b) c) d) e)

Die Validität der Studien oder Ergebnisse wird in Frage gestellt. Die Glaubwürdigkeit der Forschenden wird in Frage gestellt oder abgelehnt. Forschung und Ergebnisse werden nicht rezeptiert. Die Forschung und die Ergebnisse werden missverstanden oder falsch rekonstruiert. Es wird (angebliche) Gegenevidenz produziert.

Diese Haltungen können einzeln oder in Kombination auftreten.10

9 Auch dass Verschwörungserzählungen sich als wahr herausstellen können, beachte ich hier nicht weiter; denn wie sich im Verlauf des Textes zeigen wird, besteht das erkenntnistheoretische Defizit der Verschwörungsgläubigen und der Corona-Leug­ ner:innen nicht einfach nur in der Wahrheit oder Falschheit der Erzählung, sondern in den epistemischen Haltungen und Einstellungen der Subjekte im Umgang mit den Erzählungen. Eine ähnliche Unterscheidung markiert Harris mit conspiracy theory und conspiracy theorising (2018). 10 Schmidt (2021) weist darauf hin, dass eine Verschwörungsgläubige nur dann praktisch irrational ist, »wenn [sie] es als [ihr] wichtigstes Projekt ansieht, die eigene Theorie zu bestätigen und auf Kosten dieses Projektes alles andere in [ihrem] Leben vernachlässigt: In diesem Fall ist grundsätzliches intellektuelles Misstrauen angebracht« (106). Ich kann die Rolle von Rationalität für die Unterscheidung zwi­ schen Ignoranz und Unwissenheit in diesem Aufsatz nicht weiter diskutieren, möchte die Überlegung aber als eine mögliche wichtige Ergänzung für die vorliegenden Überlegungen markieren.

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Nadja El Kassar

3. Einsichten für die Erkenntnistheorie Nachdem die zu erklärenden Phänomene beschrieben sind, werde ich in dieser Sektion vier Einsichten in Bezug auf Wissen, Unwissen(heit) und Ignoranz einführen. Die theoretischen Einsichten sind einer­ seits durch Beobachtungen während der Corona-Pandemie motiviert, andererseits dienen die Einsichten auch dazu, Beobachtungen in der Corona-Pandemie besser beschreiben zu können. Das Verhältnis ist also ein wechselseitiges. In der darauffolgenden Sektion zeige ich dann, wie die erkenntnistheoretischen Einsichten dazu genutzt wer­ den können, die vier ausgewählten Phänomene genauer zu erklären.11 Der Anspruch ist nicht, dass die erkenntnistheoretischen Einsichten die COVID-19-Phänomene vollständig erklären können. Vielmehr vertiefen und ergänzen sie wichtige Erklärungsansätze aus verschie­ denen Disziplinen.

3.1 Erste erkenntnistheoretische Einsicht. Die Unterscheidung Unwissen vs. Unwissenheit Begrifflich und sprachlich muss zwischen Unwissen und Unwissen­ heit unterschieden werden. Unwissen ist das Nichtgewusste, der Gegenstand der Unwissenheit – the unknown würde man im Engli­ schen sagen. Unwissenheit ist der Zustand, in dem ein Subjekt ist, das etwas nicht weiß – not knowing oder ignorance im Englischen. Zur Illustration kann dieses schematische Beispiel dienen: »Anna weiß nicht, dass p.« Dabei ist »dass p« das Unwissen bzw. Nichtgewusste und Annas Zustand ist die Unwissenheit. Wie dieser Zustand zu spezifizieren ist, wird mich bei der vierten Einsicht beschäftigen. Hier geht es erst einmal um die Grundunterscheidung zwischen einem Objekt und einem Zustand eines Subjekts, da diese Unterscheidung in der Literatur zu Unwissen(heit) meist nicht angewendet wird.12 Diese Unterscheidung ergibt sich in der deutschen Sprache auch aus der Morphologie. Das Suffix »-heit« bezeichnet »einen Zustand, Ich brauche in diesem Kontext keine Definition von Wissen anzugeben, weil ich Unwissenheit nicht privativ definiere. 12 Diese Aussage basiert nur auf einer begrenzten Textgrundlage (vor allem englischund deutschsprachige Literatur), aber sie ist als Ausdruck eines allgemeinen Ein­ drucks fundiert. 11

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Wissen, Unwissen, Unwissenheit und Ignoranz

eine Beschaffenheit, eine Eigenschaft« (DWDS 2021) und zusammen mit dem Substantiv »Unwissen«, gebildet durch die Negation von Wissen mit der Vorsilbe »Un-« und dem Substantiv »Wissen«, wird so der Zustand einer Person beschrieben, die nicht weiß.13 Hervor­ zuheben ist, dass in der deutschen Sprache Unterscheidungen zur Verfügung stehen, die im Englischen fehlen.14 Im Englischen gibt es nur den Ausdruck ignorance, der sowohl für das Nichtgewusste als auch für den Zustand des Subjekts verwendet wird. Und zwei weitere Nuancen stehen im Deutschen zur Verfügung, während sie im Englischen fehlen. Erstens wird neben Unwissen im Deutschen auch oft von »Nichtwissen« gesprochen. »Nichtwissen« kann sich entweder auf den Gegenstand – das Nichtgewusste – beziehen oder auf den Zustand des Subjekts, das nicht weiß. Er ist dadurch weniger präzise als die Begriffe »Unwissen« und »Unwissenheit«, und diese Ambiguität ist auch die Begründung dafür, dass ich den Begriff in diesem Artikel wenig verwende. Zweitens gibt es im Deutschen auch das Substantiv »Ignoranz« sowie das Adjektiv »ignorant«, die für eine bestimmte Art von Unwis­ senheit stehen. Im Deutschen kann also Ignoranz von Unwissenheit sprachlich unterschieden werden, im Englischen ist das nicht der Fall. Im Englischen gibt es allenfalls eine begriffliche Unterscheidung, die nur durch die Verwendung von modifizierenden Adjektiven explizit gemacht wird. Oft wird die Unterscheidung im Englischen gar nicht berücksichtigt. Aber auch in deutschsprachigen Arbeiten zu Unwissen oder Nichtwissen wird die Unterscheidung zwischen Unwissenheit und Ignoranz meines Wissens selten berücksichtigt oder gar fruchtbar gemacht.15 Mehr dazu, was Ignoranz ist, in der zweiten Einsicht. Zurück zur ursprünglichen Unterscheidung zwischen Unwissen und Unwissenheit. Warum ist diese Unterscheidung wichtig? Weil sie eine genauere Beschreibung der Situation von Personen im Hinblick auf ihr Unwissen und ihre Unwissenheit ermöglicht. Zum Beispiel die Im alltäglichen Sprachgebrauch wird auch das Substantiv »Unwissen« für den Zustand einer Person, die nicht weiß, verwendet, aber in diesem Beitrag soll die Unterscheidung durchgehalten werden. 14 Ich beschränke mich hier auf das Englische als Vergleichssprache, da aus sehr diversen Gründen derzeit die meisten Arbeiten zu Unwissenheit und Ignoranz auf Englisch verfasst werden. 15 Eine Ausnahme sind die Übersetzer:innen von McGoeys englischem Beitrag zu strategic ignorance in einem deutschsprachigen Sammelband; sie merken an, dass strategic ignorance nicht einfach als strategische Ignoranz übersetzt werden dürfe (McGoey 2015). 13

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Nadja El Kassar

Situation von Forschenden in Bezug auf spezifische nicht-gewusste Aspekte, etwa das Mutationsverhalten von COVID-19. So gibt es bei­ spielsweise Unwissen bezüglich der kommenden Mutationen von COVID-19, etwa was für Mutationen erfolgen werden. Dieses Unwis­ sen liegt vor allem in zwei Tatsachen begründet: Mutationen sind immer zufällig, also nicht vorherbestimmbar, und das, was in der Zukunft passieren wird, ist aus der Perspektive der Gegenwart not­ wendigerweise unbestimmt und Unwissen (vgl. bspw. Mittelstrass 1996; Rescher 2009a, b). Im Unterschied dazu wird die epistemische Einstellung von Forschenden zu den kommenden Mutationen durch den Begriff »Unwissenheit« erfasst. Sie sind im Zustand der Unwis­ senheit in Bezug auf kommende Mutationen. Und die Einstellung von Menschen zu zukünftigen Ereignissen wird auch durch den Begriff »Unwissenheit« erfasst. Wir sind alle notwendigerweise gegenwärtig in Unwissenheit in Bezug auf das, was in der Zukunft passieren wird. Wenn etwas Unwissen ist, also nicht gewusst ist, ist damit aller­ dings noch nicht die Unwissenheit der Person, die nicht weiß, spezi­ fiziert. Rund um das Nichtgewusste, das Unwissen, kann sehr viel Wissen bestehen, so dass die Unwissenheit begrenzt ist. Ich kehre später zu der Unterscheidung zwischen begrenzter und umfassender Unwissenheit zurück (in § 4).

3.2 Zweite erkenntnistheoretische Einsicht. Die Unterscheidung Unwissenheit vs. Ignoranz Die notwendige Unwissenheit in Bezug auf Zukünftiges unter­ scheidet sich von einer speziellen Art von Unwissenheit, die mit bestimmten Einstellungen und Haltungen einhergeht, der sogenann­ ten »Ignoranz«. Auch bei Ignoranz ist das Subjekt im Zustand der Unwissenheit, doch bei Ignoranz ist die Unwissenheit gewollt und durchdrungen von epistemischen Lastern, wie Verschlossenheit und epistemischer Arroganz.16 Ignorieren ist nicht gleich schon Ignoranz, dazu müssen Laster die Haltung mitbestimmen. Wenn man mit guten Gründen (epistemisch oder moralisch) Wissbares ignoriert, ist dies kein Fall von Ignoranz. Bei Ignoranz weiß die Person nicht Siehe Medina (2013, 30–40) für eine Analyse dieser epistemischen Laster, aber auch Bortolotti (2020) zur epistemischen Harmlosigkeit bestimmter Fälle von Irrationalität, die wir auf harmloses Ignorieren erweitern könnten. 16

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Wissen, Unwissen, Unwissenheit und Ignoranz

und will auch nicht wissen und ihre epistemische Haltung ist beglei­ tet von epistemischen Lastern. Dieses Nichtwollen kann bewusst oder unbewusst sein.17 Dahinter stecken komplexe psychologische, soziale Prozesse. Etwa können strukturelle Faktoren, die der Person nicht leicht zugänglich sind, erklären, warum sie nicht wissen will. Oder die Mechanismen, durch die das Nichtwissenwollen umgesetzt wird, können gar subpersonal sein (vgl. Hertwig/Engel (2020) zu deliberate ignorance, gewolltem Nichtwissen). Schließlich ist es auch möglich, dass die Person nicht wissen will und auch glaubt, dass es da nichts zu wissen gibt. In ungerechten Gesellschaften gibt es Mit­ glieder, die von der Ungerechtigkeit profitieren, und nichts über die relevanten Zusammenhänge wissen wollen und die Ungerechtigkeit anders beschreiben, so dass sie nicht relevant für sie ist.18 Ignoranz ist eine Unterkategorie von gewollter Unwissenheit – nicht wissen wollen. Der Einstellung Ignoranz kommt Tadel und/oder Kritik19 zu: a) b)

S möchte über das Thema T nicht Bescheid wissen, obwohl S weiß, dass es geboten ist, darüber Bescheid zu wissen. S weiß über das Thema T nicht Bescheid, und glaubt nicht, dass es geboten ist, über T Bescheid zu wissen. Dazu hat S sich in verschiedenen (epistemischen) Gewohnheiten eingerichtet, die sicherstellen, dass S über das Thema T kein Wissen erwer­ ben kann.20

Gewolltes Nichtwissen, das nicht Ignoranz ist, kann es aber auch ohne Tadel und Kritik geben. Es ist beispielsweise kein Anlass für Tadel oder Kritik, wenn man nicht wissen möchte, dass die Familie eine Überraschungsparty für einen selbst plant. Ich kehre später zum 17 Medinas Analyse der Prozesse, die hinter »active ignorance« liegen, liefert weitere Anhaltspunkte zum Verhältnis von bewussten und unbewussten Prozessen bei Igno­ ranz (2013, 57–58). 18 Ob Fälle, in denen man wissen will, aber nicht weiß, dass man nicht weiß, soge­ nannte »metablindness« (Medina 2013) als Ignoranz gelten, hängt vom Kontext ab. 19 Ich kann hier nur oberflächlich auf den Unterschied zwischen Tadel und Kritik eingehen. Es scheint so, dass Tadel angemessen ist, wenn die Person verantwortlich für ihren Zustand ist, während Kritik auch ohne Verantwortlichkeit angemessen ist. Sie erfolgt dann auf der Grundlage, dass der kritisierte Zustand epistemisch/nichtepistemisch schlecht ist. Vgl. bspw. Battaly (2019) zu verschiedenen Arten der Verantwortung für Laster. 20 Beispiele sind hier der selektive Konsum von Medien, Filterblasen oder gar Echokammern (Nguyen 2020; Lackey 2021).

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Nadja El Kassar

Unterschied zwischen gewolltem Nichtwissen und Ignoranz zurück. Jetzt konzentriere ich mich erst einmal auf den Kontrast zwischen Unwissenheit und Ignoranz. Die Unterscheidung lässt sich durch ein kontrastierendes Bei­ spiel illustrieren und weiter erläutern. Stellen wir uns zwei Personen vor: Kim und Anna. Beide sind unwissend, dass es derzeit eine Pandemie gibt. Genauer gesagt: Kim hat nicht die Überzeugung (glaubt nicht), dass es derzeit eine Pandemie gibt. Anna glaubt nicht, dass es derzeit eine Pandemie gibt. Aber ihre Unwissenheit scheint nur bis hier identisch; denn es gibt eine wichtige Erweiterung: Kim lag von Januar 2019 bis November 2021 im Koma und hat von der Corona-Pandemie gar nichts mitbekommen. Als sie aus dem Koma erwacht, glaubt Kim nicht, dass es derzeit eine Pandemie gibt. Anna hingegen glaubt, dass die Behauptungen des Querdenken-Gründers Michael Ballweg (u.a.) wahr sind und alle Berichte über die CoronaPandemie falsch sind. Die Ursachen ihrer Unwissenheiten sind also verschieden: Kim konnte nicht wissen, dass es eine Pandemie gibt, weil sie gar nichts von den Abläufen in der Welt während ihres Komas mitbekommen hat. Anna konnte die Abläufe in der Welt verfolgen, aber sie hält eine Interpretation für wahr, gemäß derer es keine Pandemie gibt. Für diese beiden Personen wäre es ungenau zu sagen, dass sowohl Kim als auch Anna unwissend in Bezug auf das Bestehen der Pandemie sind. Kim ist unwissend, aber Anna ist ignorant.21 Das Beispiel kann in einer weiteren Variante auch dazu dienen, Ignoranz genauer zu beschreiben und etwa von Ungläubigkeit zu unterscheiden. Wir können uns nämlich vorstellen, dass Kim nach dem Aufwachen zunächst ungläubig auf Aussagen über die Pande­ mie reagiert. Das kann ja nicht sein, dass alle Menschen, die in Deutschland mit einem ICE fahren, eine medizinische Maske tragen (müssen), und dass es einen Lockdown gab, in dem Friseursalons für vier Monate geschlossen waren, etc. Das passiert doch nur im Film, mag sie sagen. Diese Reaktion macht Kims Unwissenheit allerdings nicht zur Ignoranz. Ignorant ist sie erst dann, wenn sie diverse, 21 Ich unterscheide in diesem Text nicht genau zwischen Unwissenheit, dass eine Proposition wahr ist (S weiß nicht, dass eine Lärche ein Nadelbaum ist.) und Unwis­ senheit bezüglich eines Sachverhalts oder Themenbereichs (S weiß nicht, ob Wolken das Klima erwärmen oder abkühlen.). Unwissenheit beinhaltet beide Typen und mir scheint, dass die Unterscheidung zwischen Proposition und Themenbereich hier oft eher künstlich ist. Zudem führt die Unterscheidung in diesem Artikel wahrscheinlich nicht zu wesentlich anderen Ergebnissen.

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Wissen, Unwissen, Unwissenheit und Ignoranz

wiederkehrende, glaubwürdige Quellen nicht ernst nimmt oder wenn sie ohne ausreichende Grundlage Forscher:innen diskreditiert, etc.22 Aber Ignoranz zeigt sich nicht nur im Umgang mit Quellen und Evidenzen. Charles Mills weist in seinen Arbeiten zu white ignorance darauf hin, dass Ignoranz sich auch im Blick auf die Welt zeigt (2007). Im Fall von white ignorance haben Subjekte eine ignorante Haltung gegenüber unterdrückenden, rassistischen Strukturen, die Weiße Menschen bevorteilen und Nicht-Weiße Menschen ausschlie­ ßen. Diese white ignorance manifestiert sich auch in der Art, wie ignorante Personen die Welt wahrnehmen; sie sehen beispielsweise Rassismus nicht oder sie interpretieren einen rassistischen Vorfall als unproblematisch.23 Allgemeiner können wir festhalten: Ignoranz beeinflusst, wie eine ignorante Person die Welt wahrnimmt (Mills 2007, 2015). Eine ignorante Person, die rassistische Vorurteile hat, sieht eine Person of Color anders als ein Subjekt ohne diese Vorurteile; beispielsweise kann sie die Person of Color als Sozialhilfe-Empfän­ ger:in wahrnehmen, ohne dass die Person of Color dazu selbst Anlass bietet. Die ignorante rassistische Person glaubt, dass People of Color in Deutschland nur das Sozialsystem ausnutzen wollen. Diese Thesen entstehen nicht nur durch explizite Schlüsse, sondern sind in die Wahrnehmung der ignoranten Person eingeschrieben. Die Ignoranz wirkt sich also nicht nur im Überzeugungssystem einer Person aus (z.B. in den rassistischen Vorurteilen), sondern auch in ihrem weiteren epistemischen Verhalten, der Wahrnehmung, den Schlüssen, dem Umgang mit Evidenz, etc. Die Ignoranz betrifft also die Person als epistemischen Akteur insgesamt.24

22 Was Glaubwürdigkeit genau ausmacht, kann ich hier nicht abschließend beantwor­ ten. Die Diskussionen etwa zu Glaubwürdigkeit und Expertise sind sehr verzweigt (beginnend u.a. mit Goldman 2001). Im Rahmen dieses Beitrags reicht es anzuneh­ men, dass eine Quelle glaubwürdig ist, wenn sie von verschiedenen, unabhängigen Instanzen (Personen und Institutionen) anerkannt wird, wenn sie irrtumssensibel ist, wenn ihre Aussagen von anderen Instanzen nach Prüfung bestätigt werden. 23 Auch hier geht es um ein Nicht-Sehen-Wollen, und nicht bloß um eine kogni­ tive Fähigkeit. 24 Ignoranz ist allerdings nicht das gleiche wie Dummheit. Bei Ignoranz findet sich eine bereits hervorgehobene Aktivität, etwa nicht wissen wollen, Evidenz ignorieren, etc., die bei Dummheit nicht gleichermaßen konstitutiv ist. Eine ausführlichere Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zwischen Ignoranz und Dummheit muss an anderer Stelle erfolgen. Zu Dummheit siehe bspw. van Treeck (2015) und Kast­ ner (2022).

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Nadja El Kassar

Ein wichtiges Detail von Unwissenheit und Ignoranz möchte ich hervorheben, bevor ich zur nächsten Einsicht übergehe. Ignoranz und Unwissenheit können domänenspezifisch oder allgemein sein. Bei domänenspezifischer Ignoranz oder Unwissenheit gilt dieser Zustand nur für die spezifische Domäne (oder Domänen). Das domänenspezi­ fisch ignorante Subjekt besitzt in anderen Bereichen Wissen. Zudem ist es möglich, dass das domänenspezifisch ignorante Subjekt in anderen Bereichen bloß unwissend und nicht ignorant ist. Und auch Unwissenheit ist meist domänenspezifisch. Neben der Unwissenheit in einem Bereich gibt es viel Wissen, wahre Überzeugungen und Ver­ ständnis. Die Domänenspezifizität ermöglicht es, die Unwissenheit zu präzisieren und zu beschränken – wenn jemand etwas nicht weiß, heißt das nicht, dass die Person ganz allgemein unwissend ist.25 Die Aussage, dass eine Person unwissend ist, ist also immer elliptisch und fordert eine Spezifikation, in welcher Hinsicht, für welchen Bereich die Unwissenheit gilt.26

3.3 Dritte erkenntnistheoretische Einsicht. Die Bedeutung von epistemischen Tugenden und Lastern für die Definition von Unwissenheit und Ignoranz Was unterscheidet Unwissenheit und Ignoranz? Ich habe gesagt, dass der Kontrast deutlich wird im Umgang mit Quellen und Eviden­ zen und auch im Blick auf die Welt. Ein ignorantes Subjekt lehnt valide Evidenz ohne gute Gründe ab und blickt engstirnig auf die Welt; es kann nicht aus der ignoranten Perspektive heraustreten. 25 Eine Domäne ist dabei nicht auf den verhandelten Inhalt beschränkt, sondern kann auch auf einen Bereich in der Kognition des Subjekts referieren. Rassistische Vorurteile können in verschiedensten Kontexten aktiviert sein, und sind somit in gewisser Hinsicht domänenübergreifend. Andererseits ist die Domäne der Vorurteile selbst klar begrenzt. 26 Allgemeine Ignoranz zeigt sich in (sehr vielen) falschen Überzeugungen und einer Häufung von epistemischen Lastern, die auch noch durch eine Meta-Ignoranz – Ignoranz gegenüber der eigenen Ignoranz (vgl. Medina 2013 zu meta-ignorance) – ergänzt wird. Beispiele für allgemein ignorante Personen finden sich vor allem in der Literatur, z.B. Oblomov in Goncharovs Roman, der intellektuell lasterhaft ist, auch weil er keinerlei epistemische Ziele verfolgt (vgl. Crerar 2018). Allgemeine Unwissenheit ohne eine Einschränkung ist ein Zustand, der wohl äußerst selten bei Menschen gegeben ist. Eine genauere Analyse dieser Kategorie würde hier zu weit führen und ist für den Artikel auch nicht erforderlich.

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Wissen, Unwissen, Unwissenheit und Ignoranz

Ein unwissendes Subjekt reagiert hingegen mit Fragen oder gar mit Überraschung auf Evidenz. Vielleicht auch mit einer Urteilsenthal­ tung, weil sie die Evidenz nicht versteht. Und auch ihr Blick auf die Welt ist anders: bloße Unwissenheit erlaubt, dass das Subjekt neuen Phänomenen mit Überraschung entgegentritt oder sie vielleicht auch schlicht übersieht, weil die relevanten Salienzmuster fehlen. Das Sub­ jekt besitzt aber keine ablehnenden, ausschließenden Perspektiven auf die Welt (in der Domäne, für die die Unwissenheit gilt). Ignoranz wird dadurch zu einer speziellen Haltung, dass das Sub­ jekt epistemische Laster manifestiert und nicht wissen will (bewusst oder unbewusst). In der Definition von epistemischen Lastern folge ich Quassim Cassams obstruktivistischer Bestimmung von epistemi­ schen Lastern (2019). Epistemische Laster sind Charaktereigenschaf­ ten, Einstellungen oder Denkweisen, die verantwortungsvoller und effektiver Untersuchung und Wissen im Weg stehen. Sie behindern den Erwerb, den Erhalt oder die Weitergabe von Wissen. Und diese Laster machen Unwissenheit zu Ignoranz. Beispiele für epistemische Laster, die Ignoranz ko-konstituieren, sind Verschlossenheit und epistemische Arroganz (vgl. Medina 2013). Zwei Klarstellungen sind an dieser Stelle wichtig: Erstens, meine Aussagen beschränken sich hier ausschließlich auf epistemische Laster und implizieren keine Schlussfolgerungen in Bezug auf moralische Laster. Wer ein epistemi­ sches Laster manifestiert, besitzt nicht automatisch moralische Laster. Und wem ein epistemisches Laster zugeschrieben wird, wird damit nicht auch ein moralisches Laster zugeschrieben.27 Zweitens, episte­ mische Laster und Ignoranz sind in den meisten Fällen nicht allein in der Verantwortung des Subjekts. Soziale, strukturelle Prozesse sind ebenfalls konstitutiv.28 Ich habe oben Ignoranz auch als eine Ablehnung von Evidenz ohne gute Gründe beschrieben. Was sind aber diese guten Gründe? Auch dies ist eine Frage, die eine eigene sorgfältige Antwort erfordert, und damit den Rahmen hier übersteigt. Aber eine erste Annäherung 27 Der tugend- bzw. lastertheoretische Rahmen kann nicht alles bezüglich Unwissen, Unwissenheit und Ignoranz erklären, aber er liefert zentrale Instrumente, um grundle­ gende Unterscheidungen einzuführen und zu erklären. Für weitergehende Fragen zum Umgang mit oder Reaktionen auf Unwissenheit und Ignoranz müssen möglicherweise zusätzliche Ansätze mit eingebunden werden. 28 Siehe Medina (2013) mit einer Analyse, die schuldhafte Ignoranz in einen Rahmen geteilter Verantwortung einordnet, und Battaly (2019) zum »responsibility problem« der Lastererkenntnistheorie.

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Nadja El Kassar

soll dennoch unternommen werden. Die guten Gründe zeigen sich unter anderem, wenn man das sogenannte Recht auf Nichtwissen (right not to know) genauer betrachtet. Eine Person, die von ihrem Recht auf Nichtwissen Gebrauch macht, ist nicht ignorant. Eine Person hat das Recht die Ergebnisse einer genetischen Untersuchung nicht wissen zu wollen, etwa weil das Ergebnis Auswirkungen auf ihr Selbstverständnis haben würde. Wenn etwa die Gen-Mutation für die Huntington-Krankheit vorliegt, erfährt die Person damit, dass sie mit 40 bis 50 Jahren sterben wird und es keinerlei Therapie-Optionen gibt. Hier hat ein Individuum ein Recht auf Nichtwissen (vgl. Wehling 2015).29 Die Person hat gute Gründe, nicht wissen zu wollen, weil sie davon ausgehen kann, dass das Wissen über die vorliegende Mutation ihr Leben verschlechtern würde; sie könnte nicht unbedarft ihr Leben führen, ihr könnte etwa Diskriminierung drohen (vgl. Robins Wahlin 2007). Die guten Gründe basieren in dem Fall auf konsequentia­ listischen und eudaimonistischen Überlegungen. Aber man könnte auch einen ethisch-deontologischen Rahmen oder einen spieltheore­ tischen Rahmen annehmen. Das Bild wird noch komplizierter, da auch epistemische Gründe bestimmen können, ob die Gründe gute Gründe sind, und dann kommen epistemisch-konsequentialistische, epistemisch-deontologische, etc. Rahmen für die Bewertung hinzu.30 Ich habe etwa gute epistemische Gründe, Fehlinformationen nicht wissen zu wollen, weil diese meine Untersuchung behindern würden. Mit diesen komplexen Theorierahmen erklärt sich auch, warum eine Antwort auf die Frage, was gute Gründe für das Nicht-WissenWollen sind, so komplex ist: Die Antwort hängt auch vom gewählten erkenntnistheoretischen und moraltheoretischen Rahmen ab.31 Auch die Bewertung von Gründen als schlechten Gründen hängt in der Regel vom jeweiligen Theorierahmen ab. Manche Gründe sind aber auch rahmenübergreifend schlecht: Evidenz oder Zeugnis abzuleh­ nen, weil man die Person aufgrund von individuellen Präferenzen nicht mag – ohne weitere Gründe –, ist ein schlechter Grund. Es ist wahrscheinlich – bei entsprechenden Einstellungen und Lastern – sogar ein Merkmal der Ignoranz der so handelnden Person. Siehe weitergehend auch Chadwick/Levitt/Shickle (2014, 19). Für weitere Überlegungen zu diesen Bewertungshinsichten, siehe El Kassar (i.E.). 31 Und auch ob man einen deskriptiven oder einen normativen Zugang zu den guten Gründen wählt, beeinflusst das Ergebnis. Für einen primär deskriptiven Zugang siehe Hertwig/Engel (2021). 29

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Wissen, Unwissen, Unwissenheit und Ignoranz

Wir können aus der Unterscheidung zwischen Unwissenheit und Ignoranz für die philosophische Diskussion folgern, dass Unwissen­ heit nicht nur als Abwesenheit (oder Mangel) von Wissen verstanden werden kann, wie es Standardzugänge oft postulieren (bspw. Le Morvan/Peels 2016). Unwissenheit befindet sich nicht nur auf der Ebene der Überzeugungen (oder propositionalen Einstellungen) eines Subjekts, sondern sie wird auch ko-determiniert durch epistemische Tugenden oder epistemische Laster. Um Unwissenheit vollständig zu erfassen, müssen neben dem Nicht-Gewussten – dem Inhalt – auch Faktoren wie Laster und Tugenden mit einbezogen werden.32

3.4 Vierte erkenntnistheoretische Einsicht: Definitionen von Unwissenheit und Unwissen und Ignoranz gelingen nicht rein privativ Wie sind Unwissenheit, Unwissen und Ignoranz im Lichte dieser drei Einsichten zu definieren? Vor allem muss festgehalten werden, dass die drei Begriffe nicht als bloße Privation von Wissen verstanden werden dürfen und somit Definitionen der drei Begriffe nicht als überflüssige Schlenker in einer Definition von Wissen betrachtet werden dürfen. Diese These wird oft in der Literatur vertreten und soll dann als Rechtfertigung für eine kurze Auseinandersetzung mit Unwissen(heit) dienen (Le Morvan/Peels 2016, 16f.). Die obige Analyse zeigt, warum dieser Zugang fehlgeleitet ist. In so einem Rahmen können noch nicht einmal die Unterscheidungen zwischen Unwissen, Unwissenheit und Ignoranz erkannt werden. Wie die vorhergehenden drei Einsichten gezeigt haben, lie­ fern Beispiele aus den Leben epistemischer Akteure, wie etwa in der Corona-Pandemie, das Anschauungs- und Analysematerial für Bestimmungen und Definitionen von »Unwissen«, »Unwissenheit«, und »Ignoranz«. Aber Definitionen aller drei Begriffe zu liefern, über­ steigt den Rahmen dieses Artikels. Definitionsvorschläge sollen aber zumindest angedeutet werden – gebündelt aus den obigen Einsichten und Anmerkungen – als weitere Grundlage für die Anwendung auf die Corona-Phänomene. Unwissen bezeichnet etwas Nicht-Gewusstes. Unwissen kann auf einer individuellen Ebene etwas sein, das ein Subjekt nicht 32

Vgl. El Kassar (2018).

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Nadja El Kassar

weiß, oder es kann etwas sein, das kollektiv nicht gewusst ist oder von niemandem gewusst ist. Es kann etwas Wissbares aber noch nicht Gewusstes oder etwas Nichtwissbares sein (etwa Ereignisse in der Zukunft, die in der Gegenwart unzugänglich sind). Unwissenheit ist der Zustand, in dem ein Subjekt ist, das etwas nicht weiß. Hier kann entweder eine Proposition (oder mehrere Propositionen) nicht gewusst werden, oder eine falsche Propo­ sition (oder mehrere Propositionen) wird für wahr gehalten.33 Diese propositionale Ebene wird ergänzt durch epistemische Tugenden oder Laster, die die Art der Unwissenheit mitbestim­ men.34 Ignoranz ist der Zustand, in dem ein Subjekt ist, das etwas nicht weiß und nicht wissen will. Auch hier kann eine Proposi­ tion nicht gewusst sein, oder eine falsche Proposition wird für wahr gehalten. Auf der ko-determinierenden Ebene zeigt das ignorante Subjekt epistemische Laster wie Verschlossenheit und epistemische Arroganz. Das Subjekt hat keine guten Gründe für das Nicht-Wissen-Wollen. Und es ist bewusst oder unbewusst motiviert, nicht zu wissen. Im nun folgenden Abschnitt wende ich die Begriffe und Einsichten auf das Anschauungs- und Illustrationsmaterial aus der Corona-Pan­ demie an. Die Anwendung demonstriert, dass die Begriffe Unwis­ sen, Unwissenheit, Ignoranz die Phänomene auf erweiternde und einsichtsreiche Weise aufschließen.

4. Anwendung auf erklärungsbedürftige erkenntnistheoretische Corona-Phänomene Die vier ausgewählten erklärungsbedürftigen Corona-Situatio­ nen waren: (Phänomen 1) Unwissenheit und Unsicherheit bei Laien, For­ schenden und Expert:innen. Ich beschränke mich aus Gründen der Vereinfachung auf propositionales Wissen und propositionale Unwissenheit. 34 Vgl. auch El Kassar (2018). 33

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Wissen, Unwissen, Unwissenheit und Ignoranz

(Phänomen 2) Unwissenheit und Unwissen in der Forschung. (Phänomen 3) Verschwörungserzählerische Zugänge zu Corona. (Phänomen 4) Hartnäckige Ablehnung von wissenschaftli­ cher Evidenz. Für die Erklärung der Phänomene sind dabei sowohl die Unterschei­ dungen zwischen Unwissen und Unwissenheit, sowie die zwischen Unwissenheit und Ignoranz als auch die angepassten, genaueren Definitionen von Unwissenheit und Ignoranz fruchtbar. Beginnen wir mit den ersten beiden Phänomenen: Unwissen und Unwissenheit in der Forschung und bei Laien und Expert:innen (Phänomene 1 und 2). Vielfach wird hervorgehoben, dass Fakten und Zusammenhänge Forschenden unbekannt oder unerklärt sind und dieses Unwissen wird den Forschenden vorgeworfen (vor allem von Laien) und als Grund für grundsätzlichen Zweifel an oder Ableh­ nung von wissenschaftlicher Forschung verstanden.35 Zum Beispiel gründet Impfskepsis oft in dem Eindruck, dass die Forschenden nicht alle Nebenwirkungen und unerwünschten Folgen von einer mRNAImpfung gegen SARS-CoV-2 kennen und sie somit unwissend sind und keine Handlungsempfehlungen geben sollten. Doch hier ist die Unterscheidung zwischen Unwissen und Unwissenheit sowie die Domänenspezifizität von Unwissenheit zentral: Aus Unwissen und lokaler Unwissenheit folgt nicht eine umfassende Unwissenheit der Forschenden. Es gibt Nicht-Gewusstes und lokale Unwissenheit (S weiß nicht, dass p), aber die Forschenden können dennoch Wissende sein, sogar auch im Bereich der lokalen Unwissenheit und der nicht gewussten Proposition. Beispielsweise können sie ihr Wissen, dass sie etwas nicht wissen, einsetzen und Experimente und Untersuchungen so planen, dass sie dem Nichtgewussten und der Beseitigung des Unwissens näher kommen. Ihre Unwissenheit wäre damit investiga­ tive Unwissenheit (»investigative ignorance«, Haas/Vogt 2015) – sie haben ihre (lokale) Unwissenheit erkannt und lassen sich in ihrer Forschung durch ihre Unwissenheit und dieses Unwissen anleiten.36 Es handelt sich nicht notwendigerweise um vollständige Unwissenheit (»complete ignorance«, Haas/Vogt 2015), bei der man beispielsweise Ich liefere für derartige Aussagen und Eindrücke keine konkreten Quellen, da sie meist Kommentare bei Kommunikationsdiensten, in Onlineforen, sozialen Medien etc. sind. Für einen empirischen Zugang siehe u.a. Pantenburg et al. (2021). 36 Vgl. Firestein (2012) für Beispiele aus den Wissenschaften.

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unwissend ist, weil man noch nie von einem bestimmten Phänomen gehört hat (Haas/Vogt 2015, 21).37 Mit Sylvain Bromberger können wir zusätzlich noch erkennen und abbilden, dass in Unwissenheit, z.B. investigativer Unwissenheit, eine kognitive Leistung steckt. Bromberger führt den Begriff ›p-pre­ dicament‹ ein, um ignorance besser zu erfassen. Die Abkürzung ›p‹ soll für ›puzzled‹ – ratlos sein – stehen und die Abkürzung soll es erleichtern, sich den Begriff zu merken. Als erste Annäherung für p-predicaments hält Bromberger fest: A p-predicament […] is the condition one is in when one is able to entertain a question, has reason to think that it is sound, i.e., that it has a right answer, but one can think only of answers that one knows (or believes) to be false. (Bromberger 1992, 4)

Und dann spezifiziert er noch genauer: Someone is in a p-predicament with regard to a question q if and only if, given that person’s assumption and knowledge, q must be sound, must have only true presuppositions (and hence have at least one correct answer), yet that person can think of no answer, can imagine no answer, can conjure up no answer, can invent no answer, can remember no answer to which, on that person’s view, there are no decisive objections. A p-predicament is canceled by a correct answer. But less will do. Any answer not known to be false will do, even if not known to be true. (Bromberger 1992, 117)

Die Forschende im p-predicament ist unwissend, in dem Sinne, dass sie die Antwort auf die Frage nicht weiß. Aber sie hat auch eine Leistung erbracht: S hat eine vernünftige Frage formuliert, sie weiß, dass ihre Antworten nicht ausreichend sind, und ihre Unwissenheit ist durch Wissen strukturiert – z.B. in Form von Fragen und unpassen­ den Antworten. Innerhalb des obstruktivistischen Theorierahmens können wir ergänzen, dass die Forschende im p-predicament episte­ misch tugendhaft ist, weil sie mit der vernünftigen Frage zu einer verantwortungsvollen, verlässlichen Untersuchung beiträgt. Dieses p-predicament ist also ein Kandidat für eine Form von tugendhafter Unwissenheit, die im Gegensatz zu lasterhafter Unwissenheit bzw. Ignoranz steht.

37 Vollständige Unwissenheit ist nicht allgemeine Unwissenheit, da vollständige Unwissenheit auch relativ lokal sein kann.

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Wissen, Unwissen, Unwissenheit und Ignoranz

Und Bromberger weist darauf hin, dass auch das nicht Gewusste, das Unwissen, durch Wissen strukturiert ist. Es besteht aus einzelnen Elementen von sogenannter »nescience«: I know questions whose correct answers I can’t tell from incorrect ones; I know questions to which I know only incorrect answers; I know problems that I can’t solve. But this now suggests that my ignorance is not one big undifferentiated glop, one huge unstructured nothingness. It is apparently made up of identifiable items. These items furthermore lend themselves to classification and comparison. It even looks as if they may stand in interesting relationships to one another and to other things. Let us tentatively refer to such items as items of nescience. (Bromberger 1992, 115, Hervorhebung im Original)

Die Teile von nescience entstehen durch das Wissen, das eine Person hat. Einige Teile von Unwissen können zu bewusstem und strukturier­ tem Unwissen werden.38 Brombergers p-predicament und die investigative Unwissenheit zeigen, dass Unwissenheit und Wissen (bzw. Wissend sein) nicht konträr sind. Es gibt einen Raum zwischen Unwissenheit und Wissen, und für die Zustände dazwischen haben wir zwar nicht klar definierte Begriffe oder Einzelausdrücke, aber die brauchen wir auch gar nicht. Wichtig ist, dass wir die Zwischenräume begrifflich erfassen kön­ nen.39 Des Weiteren zeigt sich so auch, dass Unwissenheit ein gradier­ barer Zustand ist. Das liegt vor allem daran, dass die nicht gewusste Proposition nicht alleinstehend ist, sondern in einem Zusammenhang steht. Wenn zwei Subjekte jeweils nicht wissen, dass SARS-CoV-2 die wissenschaftliche Bezeichnung für das Virus, das eine Corona-Infek­ tion auslöst (p), ist, dann kann ihre Unwissenheit verschieden sein. Unter anderem kann die Unwissenheit sich dadurch unterscheiden, dass sie umfassender oder eingegrenzter ist. Kim, die vor Beginn der Corona-Pandemie in ein Koma gefallen ist, und dann während der Pandemie aufwacht, ist beim Aufwachen umfassend unwissend in Bezug auf die Proposition, dass SARS-CoV-2 die wissenschaftliche Bezeichnung ist für das Virus, das eine Corona-Infektion auslöst. Sie kennt zwar die Begriffe Virus und Infektion und versteht, was Siehe Wilholt (2019) für eine weitere Entwicklung der unterschiedlichen Arten von Unwissen. 39 Ähnlich wie bei Aristoteles’ namenloser Mitte zwischen manchen Lastern und Tugenden (2015). 38

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es heißt, wenn ein Virus eine Infektion auslöst, aber sie kennt und versteht SARS-CoV-2 und Corona-Infektion nicht, weil sie die noch nie vorher gehört hat. Sam hingegen glaubt, dass SARS-CoV-2 die Bezeichnung eines Medikaments gegen eine Corona-Infektion ist. Er kennt die Begriffe Corona-Infektion, Virus, Infektion, aber glaubt, dass SARS-CoV-2 ein Medikamentenname ist und weiß somit nicht, dass SARS-CoV-2 die wissenschaftliche Bezeichnung für das CoronaVirus ist, und ist auch unwissend bezüglich der Proposition. Aber im Gegensatz zu Kim besitzt er mehr Grundbegriffe, um die Proposition zu verstehen; es liegt ein Fehler im Verständnis von SARS-CoV-2 vor. Seine Unwissenheit ist also begrenzter als die von Kim. Für die genauere Bestimmung der Grade der Unwissenheit sind allerdings noch weitere Details der Situationen notwendig, z.B. könnten Sams Vorwissen und normative (Rollen)Erwartungen an Sam die Bewer­ tung beeinflussen. Die Komplexität der Bestimmung der Grade von Unwissenheit zeigt sich in weiterer Form, wenn wir noch einmal zur Corona-Leug­ nerin Anna zurückkehren, weil wir damit auch noch einmal erkennen können, dass Ignoranz und Unwissenheit verschieden funktionieren und unterschiedlich aufgebaut sind. Genauer gesagt: Unwissenheit und Ignoranz sind nicht bloß quantitativ, sondern vielmehr qualitativ unterschieden. Anna kennt die Begriffe SARS-CoV-2 und CoronaInfektion, aber sie versteht sie falsch, d.h. sie besitzt die Begriffe nicht. Sie glaubt beispielsweise, dass SARS-CoV-2 auf ein Virus referiert, den die WHO produziert hat. Bei der Bestimmung von Annas Unwissenheit kommt man mit der Unterscheidung umfassend oder eingegrenzt nicht weiter, und das liegt nicht daran, dass die Unterscheidung zu beschränkt ist, sondern an den Eigenschaften von Ignoranz. Umfassend oder eingegrenzt bezieht sich auf die Ebene des Begriffsbesitzes, auf die Ebene des propositionalen Wissens könnte man sagen. Ignoranz zeigt sich aber nicht nur auf der Ebene propositionalen Wissens und Begriffsbesitz, sondern immer auch in epistemischen Lastern und auf der Ebene epistemischer Akteurschaft. Wir brauchen epistemische Laster, um Ignoranz und nicht-ignorante Unwissenheit zu unterscheiden.40 Auch so erklärt sich, dass zwischen Unwissenheit und Ignoranz ein qualitativer Unterscheid besteht. 40 Siehe auch mit einer noch stärkeren These Meyer, Alfano und de Bruin (2021), die in einer empirischen Studie zeigen möchten, dass epistemische Laster mit einer Empfänglichkeit gegenüber COVID-19-Skeptizismus sogar korrelieren.

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Wissen, Unwissen, Unwissenheit und Ignoranz

Für die Frage nach Wissen und Unwissen(heit) von Forschen­ den, die epistemisch tugendhaft vorgehen, ist die Unterscheidung eingegrenzt und umfassend wieder fruchtbar (vgl. Phänomen 2). Die Forschenden, die bestimmte spezifische Fragen zur Corona-Pandemie nicht beantworten können, weil sie die Antwort nicht wissen, können also in einem eingegrenzteren oder umfassenderen Sinne und mit weiteren Graden unwissend sein. Ihre p-predicaments können gradu­ ell verschieden sein. Eine Virologin, die zu SARS-CoV-2 forscht, ist prima facie weniger unwissend in Bezug auf SARS-CoV-2 als eine Kardiologin, die zu Herzinfarkten bei Frauen forscht, auch wenn die Virologin nicht alles über SARS-CoV-2 weiß. Ihr geringerer Grad an Unwissenheit liegt vor allem in der thematischen Grundlage ihrer Arbeit, die es ihr beispielsweise ermöglicht vernünftige Fragen zu SARS-CoV-2 zu formulieren, und sich so der Unwissenheit und dem Unwissen zu nähern. Einige Worte noch zu Laien (Phänomen 1): Was für Forschende und Expert:innen gilt, kann auch für Laien gelten. Minimal gilt es bei Ungewissheit, verstanden als bewusste Unwissenheit: Auch Laien können wissen, dass sie eine Antwort auf eine vernünftige Frage nicht wissen, dass es aber eine Antwort auf die Frage gibt. Sie durchdringen das Unwissen und ihre bewusste Unwissenheit nicht in der gleichen Form wie Forschende und es fehlt ihnen auch das Fachwissen, um die Fragestellung wie Forschende anzugehen und Antworten zu entwickeln. Aber nichtsdestotrotz sind auch sie an Untersuchungen (inquiry) in dem für obstruktivistische Lasterer­ kenntnistheorie relevanten Sinne beteiligt. Es sind in der Regel nicht die gleichen Untersuchungen und Nachforschungen, die Forschende und Expert:innen unternehmen, aber nichtsdestotrotz sind sie episte­ mologisch und epistemisch relevant. Auch die Laien-Untersuchungen können etwa durch epistemische Laster beeinträchtigt sein oder epis­ temisch tugendhaft durchgeführt werden.41 Wenden wir uns schließlich den anderen beiden erklärungsbe­ dürftigen Phänomenen zu: verschwörungserzählerische Zugänge zur Corona-Pandemie (Phänomen 3) und die hartnäckige Abwehr von Evidenz (Phänomen 4). Erneut ist die Unterscheidung zwischen Ignoranz und Unwissenheit ein wichtiger Schlüssel zu einem detail­ Zugegeben: Die Auswahl von passenden Expert:innen ist ein eigenes gewichtiges Problem, aber aus Gründen des Platzes kann ich dies hier nicht behandeln (siehe u.a. Goldman 2001). 41

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lierteren Verständnis: Wer glaubwürdige Evidenz aufgrund von epis­ temischen Lastern und ohne gute Gründe ablehnt, ist nicht bloß unwissend, sondern ignorant. Und die obigen Einsichten zu Ignoranz und Lastern und die Einsichten zu investigativer Unwissenheit bzw. dem p-predicament ermöglichen einen zusätzlichen, vielschichtigeren Blick auf die Phänomene. Zuerst gilt es festzuhalten, dass für viele Verschwörungsgläu­ bige der Glaube an eine Verschwörungserzählung eine Reaktion auf Unwissenheit und Ungewissheit ist. Auch für sie stellen sich Fragen zur Corona-Pandemie, z.B.: Woher kommt SARS-CoV-2? Wie ist mit der Pandemie umzugehen? Wie gefährlich ist SARS-CoV-2? Aber sie finden ihre Antworten in Verschwörungserzählungen und nicht in wissenschaftlich bestätigten Studien.42 Und ihre Unwissen­ heit wird zu Ignoranz, wenn ihre begleitenden Einstellungen und Arten zu denken epistemische Laster sind, etwa wenn die Personen verschlossen sind und weithin anerkannte Evidenz ohne Prüfung ablehnen und wenn sie die Welt nur durch die Brille der Ignoranz wahrnehmen (können). Mit Brombergers p-predicament können wir ein weiteres Prob­ lem der Verschwörungsgläubigen beschreiben – und damit zugleich eine Facette abbilden, die meist übersehen wird. Bei p-predicaments ist man in der Lage, eine Frage zu stellen, und hat Grund anzunehmen, dass die Frage sinnvoll ist, d.h. dass es eine richtige Antwort auf die Frage gibt (Bromberger 1992, 4). Verschwörungsgläubige befinden sich nicht in einem p-predicament, aber wir finden auch bei ihnen eine Frage-Antwort-Struktur. Bei Verschwörungsgläubigen finden wir zwei Arten von Fällen: Bei den ersten Fällen stellen sie Fragen, auf die es eine richtige Antwort gibt, aber sie entscheiden sich für die falsche Antwort. Diese Fragen sind beispielsweise: Wie ist der SARS-CoV-2-Erreger entstanden? Wie viele Menschen sind bisher an/mit einer Corona-Erkrankung gestorben? Bei der zweiten Gruppe von Fällen sind die p-predicament-Bedingungen nur subjektiv erfüllt. Die Personen stellen Fragen, auf die es keine richtige Antwort gibt, weil die Fragen falsch sind. Fragen ohne richtige Antwort, die Ver­ schwörungsgläubige in Bezug auf die Corona-Pandemie stellen, sind 42 Bei Verschwörungserzählungen wie »Pizzagate« oder dem »Sandy Hook Elemen­ tary school shooting hoax« geht es nicht um die Widerlegung durch wissenschaftlich bestätigte Studien, sondern um die Widerlegung durch Berichte von beteiligten Personen und anderen glaubwürdigen Quellen. In der COVID-19-Pandemie ist die Mischung zwischen wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen Quellen stärker.

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Wissen, Unwissen, Unwissenheit und Ignoranz

beispielsweise: Wie hat Bill Gates es geschafft, zusammen mit der WHO die Corona-Pandemie zu inszenieren? Wie funktioniert der Chip, der durch eine Impfung eingepflanzt wird? Auf diese Fragen gibt es keine richtige Antwort, weil die Frage fehlleitend ist; sie fragen nach Ereignissen, die so nicht stattgefunden haben oder so nicht stattfinden. Somit präsupponieren die Fragen etwas, das nicht der Fall ist. Dennoch suchen die Personen, die diese Fragen für korrekt halten, nach Antworten auf diese Fragen und finden in der Folge nur (falsche) Antworten auf die falsche Frage. Die Beobachtung, dass Verschwörungsgläubige auch Fragen stel­ len und Antworten suchen, genauso wie andere Menschen, die mit Unwissen(heit) umgehen, ermöglicht es, eine auffällige epistemische Verhaltensweise von Verschwörungsgläubigen zu erklären.43 Einige Verschwörungsgläubige zeichnen sich dadurch aus, dass sie sehr intensiv, fast besessen nach Antworten auf Fragen und Gründen für Behauptungen suchen. Sie sind also eigentlich nicht epistemisch faul, sondern gerade besonders aktiv auf der Suche nach Antworten. In einem gewissen Sinne sind auch sie investigativ unwissend. Aber bei ihrer Suche kommen sie zu falschen Erklärungen, die allenfalls innerhalb ihres Denk- und Überzeugungssystems kohärent sind. Ihr Problem beim Fragestellen, Antwortsuchen und Antwortfinden ist, dass neben den genannten epistemischen Lastern nicht-epistemische, selbstinteressierte Motive die epistemische Suche beeinflussen. Feh­ ler und Defizite entstehen also auch, weil die Nachfragen und der Prozess des Suchens und Findens durch Ideologie, Misstrauen und fehlerhafte Quellen verzerrt sind. Ihre Art, die Dinge wahrzunehmen, die Muster und Schemata, die für sie salient sind, stehen unter der Überschrift der Ignoranz und des Verschwörungsglaubens. An dieser Stelle sollten zwei Typen von Verschwörungsgläubi­ gen unterschieden werden. Die obige Gruppe und eine harmlosere Gruppe. Letztere bestätigt Verschwörungserzählungen eher passiv, indem sie Verschwörungserzählungen konsumiert, und nicht in Frage stellt. Sie stellt die Erzählungen nicht in Frage, weil sie die erforder­ lichen Ressourcen (z.B. zeitlich, kognitiv, sozial, psychisch) dazu nicht besitzt. Vielleicht hat die harmlose Verschwörungsgläubige aus gesundheitlichen Gründen keine Ressourcen die Erzählung genau zu 43 Vgl. auch Nocun/Lamberty (2020) dazu, dass die Überzeugungen von Verschwö­ rungsgläubigen durch weitverbreitete menschliche kognitive und psychologische Prozesse zustande kommen.

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überprüfen und hält sie für wahr, weil die Person von der sie diese gehört hat, üblicherweise verlässlich ist. Sie macht aber nicht ihr Leben von der Wahrheit der Verschwörungserzählung abhängig und die Erzählung ist harmlos. Anders sieht das bei Verschwörungsgläubigen aus, die wir »epistemisch aktiv« nennen können. Ihr Nachfragen ist beispiels­ weise erkenntnistheoretisch mangelbehaftet, weil sie unzureichend ihre eigenen Verzerrungen hinterfragen (Harris 2018, 253f.) und zudem nur selektiv skeptisch auf externe Quellen reagieren. Man­ che von ihnen selbst ausgezeichnete Quellen werden einfach akzep­ tiert, andere Quellen hingegen nicht (Harris 2017, 256). Wie oben angemerkt sind diese erkenntnistheoretischen Defizite nur ein Teil der Erklärung für das kritikwürdige Verhalten. Um die Rolle von nicht-epistemischer Motivation, identitätsbewahrender Kognition (identity-protective cognition, Kahan 2017) zu erkennen und zu verste­ hen, muss die Perspektive durch psychologische und soziologische Arbeiten ergänzt werden. Denn die Personen, die auf Verschwörungs­ mythologien zurückgreifen, tun dieses auch aus ideologischen und identitätsbezogenen Gründen (vgl. u.a. Kahan 2016; Lewandowsky 2021a, b): Sie wollen eine Ideologie unterstützen oder sie wollen ihre Identität, etwa als Konservative, nicht aufs Spiel setzen. Ihre (episte­ mischen) Laster, die die Ignoranz ausmachen, sind hier produktive Komplizen beim Erreichen des Ziels des Nicht-Wissen-Wollens. Und das Ziel »Nicht-Wissen-Wollen« ist nicht nur erkenntnistheoreti­ scher Art, sondern auch psychologisch und identitätsformend.44

44 Neben motivated reasoning ist dabei Forschung zu gewolltem Nichtwissen (deli­ berate ignorance) höchst relevant. Bei gewolltem Nichtwissen entscheidet sich ein (individueller oder kollektiver) Akteur dafür nicht weitere Informationen aufzusu­ chen, obwohl die Kosten für den Informationserwerb sehr gering und der potentielle Wissensgewinn sehr hoch sind (Hertwig/Engel 2021, 5). Gewolltes Nichtwissen kann aus nicht-epistemischen und teilweise auch epistemischen Gründen vernünftig sein, wenn es etwa zur Emotionsregulation oder zur Vermeidung einer Informati­ onsüberforderung dient (Hertwig/Engel 2021). Eine genauere Analyse würde in diesem Rahmen zu weit führen. Ich deute nur an, dass es wahrscheinlich ist, dass auch für gewolltes Nichtwissen epistemische Laster ko-determinierend und damit als Bewertungskriterien wirksam sind.

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Wissen, Unwissen, Unwissenheit und Ignoranz

5. Konsequenzen für die Erkenntnistheorie Durch die Zusammenführung von erkenntnistheoretischen Einsich­ ten und erklärungsbedürftigen Phänomenen in der Corona-Pandemie lassen sich nicht nur diese Phänomene besser erläutern und erklären, sondern auch für die Erkenntnistheorie zeigen sich wichtige theoreti­ sche Einsichten durch die Konfrontation. Erstens ist die Corona-Pandemie Herausforderung und Chance, weil die Erkenntnistheorie nicht allein die erklärungsbedürftigen Phänomene erklären kann. Sie muss interdisziplinär arbeiten oder zumindest Erkenntnisse aus anderen Disziplinen einbeziehen, um den Phänomenen gerecht zu werden. Sie kann nicht nur aus ihrem eigenen (historischen) Material schöpfen. Damit verbunden können wir als zweiten Punkt festhalten, dass eine Untersuchung von Wissen, Unwissenheit und Ignoranz in realweltlichen Umständen – wie etwa der Corona-Pandemie – einen nicht-idealen Zugang erfordert. Philosophietheoretisch ist der vorlie­ gende Text also ein Plädoyer für nicht-ideale Theorie. Nicht-ideale Theorie hat die Welt, wie sie wirklich ist, im Gegensatz zu einer idea­ lisierten Variante, zum Gegenstand. Charles Mills’ Charakterisierung für nicht-ideale politische Theorie lässt sich auch auf die (soziale) Erkenntnistheorie anwenden (siehe Lackey 2021). Mills schreibt: What distinguishes ideal theory is the reliance on idealization to the exclusion, or at least marginalization, of the actual... [I]deal theory either tacitly represents the actual as a simple deviation from the ideal, not worth theorizing in its own right, or claims that starting from the ideal is at least the best way of realizing it. (Mills 2017, 75)

Der eingeschränkte idealisierende Fokus der idealen Erkenntnistheo­ rie zeigt sich etwa darin, dass Unwissenheit und Ignoranz als bloße Abweichungen des Ideals abgetan werden. Im Zuge so einer Hal­ tung werden Unwissenheit und Ignoranz dann oft auch rein erkennt­ nistheoretisch analysiert und ethische Überlegungen werden ausge­ klammert. Und diese einseitige Analyse ist insofern ein Beispiel für ideale Theorie, als sie die relevanten Phänomene fern von der Realität konstruiert (vgl. Zack 2016). Die idealisierende Perspektive kann sich zudem auch in einem idealisierten Menschenbild manifestieren, in dem Menschen als ideale rationale Akteure verstanden werden, die nur nach Nutzenmaximierung streben. Hertwig und Engel kritisieren diese theoretischen Vorannahmen in Arbeiten zu gewolltem Nicht­

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wissen (deliberate ignorance), denn eine Bewertung, ob gewolltes Nichtwissen von Menschen rational ist oder nicht, kann mit diesem hyperrationalistischen Rahmen nicht an das gewollte Nichtwissen von echten Menschen herankommen. Ähnliche Probleme entstehen für eine ideale Erkenntnistheorie der Unwissenheit und Ignoranz. Nur wenn man nicht-ideale Überlegungen zulässt, kann man die Corona-Pandemie als Herausforderung und Chance für erkenntnis­ theoretische Diskurse anerkennen. Aus den ersten beiden Konsequenzen und den Ausführungen dieses Artikels ergibt sich für die Erkenntnistheorie im Allgemeinen, dass es in der Erkenntnistheorie nicht nur um Wissen geht, sondern auch um Unwissen, Unwissenheit und Ignoranz. Es kann in der Erkenntnistheorie sogar nicht nur um Wissen gehen, weil Unwissen, Unwissenheit und Ignoranz mögliche – und sehr häufige – Zustände von epistemischen Subjekten sind. Dies hat signifikante Konsequen­ zen für die gesamte Erkenntnistheorie. Zum Beispiel scheinen Wissen und wahre Überzeugung nicht mehr die primären Gegenstände zu sein, Unwissen(heit) muss vollwertig einbezogen werden. Und wir müssen neue Fragen stellen, etwa ob die These, dass Wissen einen besonderen Wert hat, die (psychologische) Evidenz zum Wert von gewolltem Nichtwissen (Hertwig/Engel 2021) berücksichtigen sollte. Oder ob sich der praktische Wert von Unwissen doch auf einen möglichen epistemischen Wert von Unwissen auswirkt.45 Und auch sozial können wir festhalten, dass Unwissenheit und Unwissen nicht unterschätzt oder verdrängt werden sollten. Sie sind sowieso immer da und sollten eher proaktiv eingebunden werden. Mittelstrass hält für den Umgang mit dem immer wachsenden Unwis­ sen die »Einsicht, dass Wissen nicht ohne Nichtwissen zu haben ist« fest und verbindet damit die Erkenntnis, dass »wachsenden Orientierungsdefiziten nicht durch ein wachsendes Wissen allein und schon gar nicht durch das Wissen des Experten und des Spezialisten beizukommen ist« (1996, 35). Ein Ereignis wie die Corona-Pandemie, das Wissen, Unwissen, Ignoranz so vielseitig und häufig aufruft, zeigt genau deswegen, wieso die Erkenntnistheorie nicht nur Theorien des Wissens, der Rechtfertigung etc. diskutieren darf, sondern ihr Diskussionsfeld unbedingt substantiell erweitern muss.

45 Zum möglichen epistemischen Wert von Unwissenheit (im Original: ignorance), siehe vor allem Pritchard (2016).

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Wissen, Unwissen, Unwissenheit und Ignoranz

6. Fazit Ich habe in diesem Artikel dafür argumentiert, dass Unterscheidun­ gen aus der Erkenntnistheorie des Unwissens und der Unwissenheit (Epistemology of ignorance) für eine Analyse der Diskurse über die Corona-Pandemie und in der Corona-Pandemie fruchtbar sind. Sie schließen die Interaktionen neu auf und ermöglichen – das ist in einem zukünftigen Artikel genauer zu zeigen – angepasste Reak­ tionen auf und Strategien zur Verbesserung des Diskurses. Zum Beispiel: Auf Unwissenheit ist anders zu reagieren als auf Ignoranz, weil Unwissenheit anders konstituiert ist als Ignoranz. Umgekehrt führt die Analyse der Diskurse in der Corona-Pandemie zu der Erkenntnis, dass der erkenntnistheoretische Diskurs über Wissen, Unwissen(heit) und Ignoranz angepasst werden muss, wenn diese Begriffe auf reale epistemische Akteure und Prozesse anwendbar sein sollen. Beispielsweise können gemäß der vorliegenden Analyse Ignoranz und Unwissenheit nicht in einer einzelnen Definition erfasst werden. Standarddefinitionen aus der englischsprachigen Literatur legen genau diese einfache Definition jedoch nahe, wenn sie eine Definition à la »absence of true belief« für ignorance liefern. Der Zugang ist erweiterbar auf andere Felder der Erkenntnis­ theorie, etwa epistemische Normen, die durch eine solche Analyse mit Hilfe eines Problemfalls vielschichtig und realistisch beschrieben werden können. Das heißt nicht, dass die Erkenntnistheorie nur noch deskriptiv vorgehen sollte; denn gerade aus einer nicht-idealen Per­ spektive ergeben sich besonders gut fundierte normative Aussagen (etwa über gute Gründe). Ihre normativen Aussagen sind näher dran an Menschen, wie sie wirklich sind, und liefern damit aufschlussreiche und tatsächlich relevante Einsichten.

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Verena Wagner

Doxastische Neutralität in der Pandemie: Die Nichtempfehlung der Ständigen Impfkommission

1. Einleitung In einer Krise müssen Entscheidungen zeitnah getroffen werden – Unentschiedenheit, Zögern und das Warten auf bessere Zeiten schei­ nen da unangebracht. Die Ständige Impfkommission (STIKO) geriet im zweiten Jahr der COVID-19-Pandemie immer wieder in die Kritik, weil sie keine schnelle Empfehlung der Impfstoffe für bestimmte Gruppen (z.B. Kinder und Jugendliche) aussprach, nachdem die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) die Impfstoffe für diese Gruppen bereits zugelassen hatte. Die STIKO gab im Juni 2021 kurz nach der EMA-Zulassung bekannt, dass sie die Impfung von Kindern und Jugendlichen ab 12 Jahren nicht empfiehlt, und begründete ihre Entscheidung mit der bislang unzureichenden Datenlage. Erst im August 2021 änderte sie ihre Meinung und sprach die allgemeine Empfehlung für diese Altersgruppe aus. In der Zeit zwischen Juni und August (und auch später) wurde der STIKO immer wieder vorge­ worfen, sie sei zu langsam, zögere Entscheidungen hinaus, würde für Verunsicherung sorgen und sogar die Pandemie verlängern. Prominente Beispiele dieser Vorwürfe kommen aus der Politik, von impfwilligen Ärztinnen und Ärzten, Internetportalen sowie von großen Tages- und Wochenzeitungen. So stellt die Neue Zürcher Zeitung fest »Die Stiko bremst eisern bei der Impfung von Kindern« (Hermann (2021), NZZ), und im Internetportal von T-Online wird gefragt: »EMA-Empfehlung ab fünf Jahren: Warum zögert die Stiko?« (Späth (2021), T-Online). Die Frankfurter Allgemeine Zeitung geht einen Schritt weiter und konstatiert: Die »STIKO zögert mit einer Empfehlung. Das verunsichert Eltern und Kinder« (Bingener/Gei­ nitz/Staib (2022), FAZ). Bayerns Ministerpräsident Markus Söder

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Verena Wagner

schreibt der STIKO sogar die Kompetenz als unabhängiges Experten­ gremium ab: »Wir schätzen die STIKO, aber das ist eine ehrenamtli­ che Organisation. Die EMA – die Europäische Zulassungsbehörde – das sind die Profis. Die haben entschieden: Ja, der Impfstoff ist zugelassen.« (Kontrovers (2021), BR) In diesem Beitrag werde ich die Kritik an der STIKO als zögerlich, abwartend und verunsichernd zum Anlass nehmen, um die verschie­ denen Arten des meinungsrelevanten Unentschiedenseins innerhalb der philosophischen Debatte um die doxastische Neutralität vorzu­ stellen. Im Fall der strittigen COVID-Impfungen liegt von Seiten der STIKO eine Nichtempfehlung vor, die nicht als Abraten von der Imp­ fung verstanden werden darf. Um diese Unterscheidung sichtbar zu machen, muss die doxastische Grundlage der jeweiligen Entscheidung berücksichtigt werden. Im strittigen Fall der STIKO-Entscheidung vom 10. Juni hatte die STIKO eine neutrale, aber keine ablehnende Meinung hinsichtlich der Nutzen-Risiko-Abwägung der Impfung eingenommen und auf dieser Basis die Impfung nicht allgemein emp­ fohlen. Bei der hier eingenommenen neutralen Meinung, so möchte ich zeigen, handelt es sich um eine besondere Art der Neutralität, die von anderen Arten des doxastischen und nicht-doxastischen Neutralseins unterschieden werden muss. Um diese Unterschiede herauszuarbeiten, werde ich mich auf verschiedene Entscheidungen der STIKO beziehen, die sie in den letzten Jahren bei verschiedenen Impfstoffen getroffen (oder auch nicht getroffen) hat. Ich möchte damit zeigen, dass die doxastische Neutralität keine einheitliche dritte Option neben dem Glauben und dem Zurückweisen ist, sondern weitaus facettenreicher ist, als in der Erkenntnistheorie gemeinhin angenommen wird. Diese Unterscheidung ist unmittelbar relevant, um Handlungsempfehlungen wie die der STIKO besser verstehen zu können, aber auch um den öffentlichen Umgang mit den Entscheidun­ gen der STIKO besser beurteilen und bewerten zu können. Woran es fehlt, so meine Diagnose, ist in erster Linie eine Unterscheidung der verschiedenen Arten des doxastischen Neutralseins sowie die Abgrenzung von doxastischer und praktischer Unentschiedenheit. Im Folgenden wird von Subjekten die Rede sein, die auf der Basis vorliegender und nicht vorliegender Evidenz Propositionen bezüglich ihrer Wahrheit beurteilen. Im vorliegenden Kontext sind damit Personen gemeint, die doxastische Einstellungen über die Welt ausbilden und darin mehr oder weniger gerechtfertigt sind.

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Doxastische Neutralität in der Pandemie

Doxastische Zustände sind in Abhängigkeit zur jeweils vorliegenden Evidenzlage zu bewerten, welche die Wahrheit oder Falschheit der relevanten Propositionen mehr oder weniger stützt. Als Evidenz gilt typischerweise diejenige Information, die einem Subjekt jeweils über die eigenen Überzeugungen, die Erinnerung sowie die Wahrnehmung und Erfahrung zur Verfügung stehen. Natürlich ist die STIKO kein epistemisches Subjekt mit einem individuellen mentalen Bewusstsein, sondern ein Gremium, das sich aus mehreren Personen zusammensetzt. Die einzelnen Mitglieder der STIKO können verschiedene Ansichten über ein und dieselbe Sache haben, müssen sich aber als Gremium auf der Basis eines vorgegebenen Verfahrens auf eine gemeinsame Position einigen, wenn es um Fragen in ihrem Arbeitsbereich geht. Die STIKO erlaubt dabei bestimmte Arten von Evidenz, insbesondere in Form von wis­ senschaftlich belastbaren Studien sowie mathematischen Modellie­ rungen, und ist ferner auf bestimmte Abläufe der Konsensfindung festgelegt. Ich werde die STIKO in diesem speziellen Sinn als episte­ misches Subjekt behandeln, das sich als Gremium per Beschluss zur Wahrheit und Falschheit von relevanten Propositionen positioniert und dabei rationalen Standards unterliegt. In diesem Zusammenhang werde ich davon sprechen, dass die STIKO eine doxastische Position in Bezug auf die Wahrheit von Propositionen (hier v.a. in Form von Nutzen-Risiko-Abwägungen) einnimmt.

2. Dagegen oder nur nicht dafür? Betrachten wir zunächst eine klassische Verwechslung, die sich mit Mitteln der Erkenntnistheorie aufklären lässt. Die Süddeutsche Zei­ tung erklärt: »Weil noch nicht abschließend geklärt ist, wie sicher die Covid-Impfstoffe für Minderjährige sind, sperrt sich die Stiko gegen die generelle Freigabe.« (Bartens/Klasen (2021), SZ) Der Westdeut­ sche Rundfunk meldet: »Impfung der 12- bis 15-Jährigen: Stiko dagegen, Spahn und Ethikrat dafür« (Reinle/Kahle (2021), WDR). Noch expliziter findet man diese Polarisierung im Online-Nachrich­ tendienst von RTL: »Stiko dagegen. Keine Impfung für Kinder!« (RTL News (2021), RTL). Schlagzeilen wie diese vermitteln den Eindruck, dass die STIKO eine Empfehlung gegen das Impfen von Kindern und Jugendlichen ausgesprochen hätte. Tatsächlich hat die STIKO in diesen Fällen

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Verena Wagner

aber nur keine Empfehlung dafür abgegeben. Was zunächst wie eine sprachliche Spitzfindigkeit klingt, lässt sich anhand einer grundle­ genden Unterscheidung erklären, die in der Erkenntnistheorie eine große Rolle spielt. Zunächst muss aber geklärt werden, wofür oder wogegen sich Empfehlungen der STIKO eigentlich richten. Die STIKO spricht Handlungsempfehlungen aus, das heißt, sie empfiehlt Personen bestimmter Gruppen, z.B. Kindern, Jugendlichen oder Personen mit verschiedenen Risikofaktoren, eine Impfung vornehmen zu lassen oder rät davon ab, diese Impfung vornehmen zu lassen. Eine Handlungsempfehlung für oder gegen die Impfung wird auf der Basis einer Nutzen-Risiko-Abwägung ausgesprochen, die die STIKO für bestimmte Alters- und Risikogruppen vornimmt. Diese Abwägung von Nutzen und Risiko erfolgt auf der Basis von medizinischer Beurteilung (v.a. durch die Sichtung und Bewer­ tung von epidemiologischen Beobachtungsstudien) und folgt einer standardisierten Vorgehensweise.1 Es werden dabei die gruppenspe­ zifischen Risiken einer Impfung und der Nutzen dieser Impfung gegeneinander abgewogen. Für Nutzen und Risikobewertung werden jeweils »ein Szenarium ›Impfung‹ mit dem Szenarium ›keine Imp­ fung‹ ggf. unter Berücksichtigung alternativer Präventionsmethoden« (Ständige Impfkommission 2018b, 5) miteinander verglichen. In die Abwägung gehen neben der medizinischen Evidenz hinsichtlich der Wirksamkeit und Sicherheit von Impfstoffen eine Reihe von weiteren Faktoren ein, z.B. mathematische Modellierungen, die Vorhersagen zu epidemiologischen und gesundheitsökonomischen Effekten einer Impfung machen, aber auch die erwartete Akzeptanz der Impfung in der Bevölkerung und der Ärzteschaft (ibid., 5). Eine von der STIKO berufene Arbeitsgruppe arbeitet unter Konsensbildung einen ersten Empfehlungsvorschlag aus, über den dann innerhalb der STIKO bera­ ten und abgestimmt wird (ebd., 3). Ich werde dieses Abstimmungser­ gebnis vereinfacht als doxastische Haltung der STIKO hinsichtlich der folgenden Proposition P verstehen: (P) Wenn Personen aus Gruppe G mit Impfstoff I geimpft werden, übersteigt der Nutzen der Impfung die Risiken der Impfung. Mit ihrer doxastischen Haltung bzgl. P positioniert sich die STIKO in Bezug auf die Wahrheit von P und spricht dann auf dieser Basis 1 Diese Richtlinien sind in Ständige Impfkommission (2018b), Standardvorgehens­ weise (SOP) der Ständigen Impfkommission (STIKO) für die systematische Entwicklung von Impfempfehlungen, verschriftlicht.

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Doxastische Neutralität in der Pandemie

ihre Handlungsempfehlung für die verschiedenen Gruppen und Impf­ stoffe aus. Dabei kann die STIKO je nach Gruppe und Impfstoff zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, was ich im Folgenden an einer Reihe von Beispielen illustrieren werde. Ich werde mich dabei auf Fälle konzentrieren, bei denen die medizinische Evidenz zur Sicherheit und Wirksamkeit der Impfstoffe ausschlaggebend für die Positionierung bzgl. P war. Ein Beispiel einer eindeutigen Nutzen-Risiko-Abwägung, die zu Gunsten der Impfung ausfällt, ist die prophylaktische postexpo­ sitionelle Tollwutimpfung: Bei nachweislichem Kontakt mit dem Tollwuterreger (z.B. bei einem Biss durch ein infiziertes Tier) über­ steigt der Nutzen der Tollwutimpfung deren Risiken deutlich, weil eine Tollwuterkrankung immer tödlich verläuft und einzig durch eine sofort beginnende Immunisierung verhindert werden kann. Aus diesem Grund wird nach erwiesenem Kontakt mit dem Erreger die vorbeugende Tollwutimpfung von der STIKO für alle Gruppen uneingeschränkt empfohlen.2 Umgekehrt fällt die Nutzen-Risiko-Abwägung für eine Gelbfie­ berimpfung mit dem Impfstoff Stamaril (wie sie z.B. für bestimmte Reiseziele vorgeschrieben ist) bei immungeschwächten und stillen­ den Personen eindeutig zu Ungunsten der Impfung aus. Bei Stama­ ril handelt es sich um einen Lebendimpfstoff mit einer besonders hohen Replikationskapazität, der bei fehlender Immunleistung des Impflings (oder des gestillten Säuglings) den Ausbruch der Krankheit verursachen kann. Die STIKO rät deshalb diesen Gruppen von der Gelbfieberimpfung mit Stamaril ab.3 Wie ist nun die strittige Position der STIKO bezüglich der von der EMA zugelassenen COVID-19-Impfstoffe (wie z.B. Comirnaty) bzgl. der einzelnen Gruppen zum damaligen Zeitpunkt zu beschreiben? Die zuvor genannten Zitate aus Medien und Politik, in denen die STIKO als Gegnerin der Impfungen von Kindern, Jugendlichen und Schwangeren in Erscheinung tritt, vermitteln folgendes Bild: Die Nutzen-Risiko-Abwägungen bei COVID-19-Impfungen für Kinder, Jugendliche und Schwangere seien zum damaligen Zeitpunkt zu Ungunsten der Impfung ausgefallen, weswegen die STIKO in die­ sen Fällen P für falsch gehalten und daraufhin eine entsprechende Ständige Impfkommission (2011). Wagner/Assmus/Arendt et al. (2019); Ständige Impfkommission (2018a); Stän­ dige Impfkommission (2015, 370). 2

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Verena Wagner

Empfehlung gegen das Impfen ausgesprochen hätte. Nichts davon entspricht der Realität. Die STIKO hat zu keinem Zeitpunkt über medizinische Evidenz verfügt, die ein Abraten von der Impfung nahegelegt hätte. Vielmehr gab die STIKO an, allgemein über zu wenige Daten zu verfügen, um die Möglichkeit von sehr seltenen schweren Nebenwirkungen ausschließen zu können.4 Die STIKO hat also weder eine Empfehlung für das Impfen ausgesprochen, noch hat sie eine Empfehlung gegen das Impfen ausgesprochen. Aber was hat die STIKO dann getan? Die Titelfrage des oben genannten SZ-Beitrags »Impfen – oder nicht impfen?« (Bartens/Klasen (2021), SZ) trifft das Problem: Im Praktischen haben wir nur zwei Möglichkeiten – handeln oder eben nicht handeln, aber es gibt nichts dazwischen. Nichtsdestotrotz kann eine Handlung aus verschiedenen Gründen vollzogen oder auch unterlassen werden. Eine Impfung kann beispielsweise aufgrund einer negativen Nutzen-Risiko-Abwägung unterlassen werden, aber sie kann auch unterlassen werden, weil (noch) keine Nutzen-RisikoAbwägung vorliegt oder weil die Abwägung kein klares Ergebnis lieferte. Blickt man allein auf das Praktische, also hier das, was nicht getan wird, ist dieser Unterschied nicht sichtbar, denn in allen der drei genannten Beispielfälle wird die Impfung absichtlich unterlassen. Um den Unterschied zu erkennen, muss man den Blick auf die der Unterlassung jeweils zu Grunde liegenden doxastischen oder episte­ mischen Zustände richten. In den hier behandelten Fällen kann dieser Unterschied an den doxastischen Haltungen festgemacht werden, die die STIKO bezüglich der Nutzen-Risiko-Abwägung (P) jeweils ein­ nimmt. An dieser Stelle zeigt sich die Besonderheit doxastischer Alter­ nativen gegenüber Handlungsalternativen: Im Gegensatz zu Hand­ lungen, die entweder vollzogen oder nicht vollzogen werden, gibt es neben dem Für-wahr-Halten und dem Für-falsch-Halten eine dritte Alternative: die der doxastischen Neutralität. Typischerweise werden die drei möglichen doxastischen Alternativen eines Subjekts S bezüglich einer beliebigen Proposition p so dargestellt:

4 »Hinsichtlich der Sicherheit des Impfstoffs bestehen jedoch noch Wissenslücken, da die Nachbeobachtungszeit nach der Impfung zu kurz und die Zahl der eingeschlosse­ nen ProbandInnen zu gering war.« (Ständige Impfkommission 2021a, 29)

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Doxastische Neutralität in der Pandemie

(i) (ii) (iii)

S hält p für wahr. S hält p für falsch. S hält p weder für wahr noch für falsch.5

Die STIKO nimmt bei der strittigen Entscheidung in Bezug auf die Nutzen-Risiko-Abwägung weder die zustimmende Position (i) noch die ablehnende Position (ii) ein, wenn es um die COVID-19-Impfstoffe für die diskutierten Gruppen geht. Vielmehr nimmt die STIKO die neutrale Position (iii) in Bezug auf die Wahrheit von P ein: Sie hält P weder für wahr noch für falsch. Diese dritte Alternative gibt es im Praktischen so nicht. Während es möglich ist, eine Proposition gleichzeitig nicht für wahr und nicht für falsch zu halten, ist es nicht möglich, eine Handlung absichtlich nicht auszuführen und sie dabei gleichzeitig nicht zu unterlassen. Zweifelsohne gibt es auch beim Nichthandeln einen Unterschied zwischen dem absichtlichen Unterlassen und dem bloßen Ausbleiben einer Handlung. Der Punkt ist hier aber, dass die praktische Umset­ zung der Nichtempfehlung auf Basis von (iii) und des Abratens von der Impfung auf Basis von (ii) identisch sind: Eine Impfung wird in beiden Fällen absichtlich unterlassen. Durch die Gleichheit in der praktischen Umsetzung wird der doxastische Unterschied leicht über­ sehen, obwohl dieser entscheidend für die Begründung der jeweiligen Handlungsanleitung ist. Im Folgenden werde ich mich auf Fälle, in denen die STIKO eine Entscheidung bekannt gegeben hat, einen Impfstoff weder zu empfehlen noch von ihm abzuraten, behelfsweise mit dem Ausdruck »Nichtempfehlung« beziehen. Nichtempfehlungen sind typischer­ weise Resultate einer neutralen Einstellung gegenüber P (wie in iii) und dürfen nicht mit einem Abraten verwechselt werden, das meist auf der Basis einer ablehnenden Einstellung gegenüber P (wie in ii) erfolgt.6 Um besser verstehen zu können, worin genau die Meinung der STIKO bei den diskutierten Fällen der COVID-Impfstoffe für Kinder und Jugendliche besteht, müssen wir uns mit doxastischer Neutralität befassen. Die doxastische Triade lässt sich auch darstellen als Möglichkeitsraum von drei doxastischen Reaktionen bezüglich der Frage, ob p wahr ist. 6 Wie ich später zeigen werde, muss auf ein Neutralsein gegenüber P nicht unbedingt eine Nichtempfehlung folgen. Der relevante Punkt dieses Abschnitts ist jedoch, die Nichtempfehlung einer Impfung von der Empfehlung, nicht zu impfen, zu unterschei­ den. 5

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Im nächsten Abschnitt zeige ich auf, dass es mehrere Arten des Neutralseins gibt, die mit (iii) kompatibel sind, aber unterschieden werden müssen. Ich werde diese Formen des Neutralseins vorstellen und die relevante Form herausarbeiten, die bei den strittigen Fällen der Nichtempfehlung der COVID-Impfstoffe vorlag. Ich möchte zeigen, dass die STIKO in diesen Fällen eine besondere Art der doxastischen Neutralität eingenommen hat, die für ihre Arbeit besonders wichtig ist. Diese doxastisch-neutrale Haltung geht über die in (iii) festgehal­ tene doppelte Abwesenheit eines Für-wahr-Haltens und Für-falschHaltens hinaus und verlangt von menschlichen Subjekten eine starke Resilienz gegenüber opponierenden psychologischen Kräften. Ich beginne mit trivialen Arten des Neutralseins, führe dann die doxastische Unentschiedenheit ein und stelle zuletzt zwei anspruchs­ volle doxastisch-neutrale Haltungen vor. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Arten der Neutralität werde ich anhand von verschie­ denen STIKO-Entscheidungen des letzten Jahrzehnts illustrieren und diese jeweils von derjenigen neutralen Meinung abgrenzen, die die STIKO im Juni 2021 in Bezug auf die COVID-Impfung von Kindern und Jugendlichen einnahm.

3. Arten doxastischer Neutralität 3.1 Neutralität durch Unkenntnis der Fragestellung Zunächst sind triviale Formen der Neutralität zu nennen, die sich dadurch auszeichnen, dass das Subjekt S einer Proposition p gegen­ über neutral ist, weil S p nicht kennt oder die in p vorkommenden Begriffe nicht fassen kann und damit mit p kognitiv nicht befasst sein kann.7 Bei der von der STIKO zu beurteilenden Proposition P handelt es sich um eine komplexe Proposition, die das Fassen verschiedener Konzepte wie etwa »Nutzen« und »Risiko« erfordert. Wer diese Konzepte nicht fassen kann, hat natürlich auch keinen Zugang zu dem, was durch P ausgesagt wird, und hält P so trivialerweise weder für 7 Ein Extremfall trivialer Neutralität bzgl. der Wahrheit einer Proposition liegt sicherlich bei Objekten vor, die überhaupt nicht zu irgendeiner Meinungsbildung im Stande sind. So haben etwa Steine und Zahlen die Eigenschaft, Propositionen generell weder für wahr noch für falsch zu halten, weil sie schlicht keine kognitiven Subjekte sind. Dieses Beispiel stammt von Ralph Wedgwood (2002).

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wahr noch für falsch. Dieses bloße Fehlen eines Für-wahr-Haltens und eines Für-falsch-Haltens kann schwerlich als Haltung verstanden werden. Wir können natürlich voraussetzen, dass die STIKO über die nötigen Konzepte verfügt und somit das durch P Ausgesagte kognitiv erfassen kann. Dennoch gibt es eine weitere Form der trivialen Neutralität, die damit noch nicht ausgeschlossen ist. Die STIKO ist ausschließlich mit der Nutzen-Risiko-Abwägung von Impfstoffen befasst, die bereits von der EMA zugelassen worden sind (in Ausnahmefällen auch mit solchen, die sich im Zulassungsver­ fahren befinden).8 Von der EMA nicht zugelassene Impfstoffe, wie etwa der chinesische Impfstoff Sinopharm, waren also bislang auch nicht Gegenstand einer Untersuchung durch die STIKO. Demnach müsste man die STIKO allein deshalb als neutral gegenüber der Nut­ zen-Risiko-Abwägung von Sinopharm beschreiben, weil eine solche Abwägung nie begonnen wurde. Diese Art der Neutralität ist aber doxastisch unbedeutend. Wenn man die Abwesenheit einer Haltung aufgrund von Nichtbeschäftigung überhaupt als eine Form der Neu­ tralität fassen will, so kann man sie allenfalls als nicht-doxastische Neutralität beschreiben, weil die Subjekte in keiner Weise damit befasst waren, sich eine Meinung bzgl. der Wahrheit oder Falschheit dieser Propositionen zu bilden. Diese nicht-doxastische Neutralität trifft sicher nicht die hier gesuchte doxastisch-neutrale Haltung der STIKO gegenüber den COVID-Impfstoffen für Kinder und Jugendliche, die im Juni 2021 zur Nichtempfehlung der Impfung führte. Um diese doxastisch-neutrale Haltung der STIKO einzufangen, ist eine anspruchsvollere Form der Neutralität nötig, die sich nicht in der bloßen Abwesenheit einer alethischen Beschäftigung mit der relevanten Proposition erschöpft.

3.2 Verweigerung der alethischen Auseinandersetzung Die in 3.1 genannte nicht-doxastische Form der Neutralität kann absichtlich hervorgebracht werden, indem sich Subjekte einer alethi­ schen Auseinandersetzung mit der Frage verweigern. Subjekte, die 8 »Jeder zugelassene Impfstoff ist grundsätzlich Kandidat für Behandlung in der STIKO. Bei Impfstoffen von besonderem öffentlichem Interesse kann die STIKO bereits eine Arbeitsgruppe etablieren und die Evidenzlage sichten, wenn der Impfstoff im Zulassungsprozess ist.« (Ständige Impfkommission 2018b, 8)

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sich zu einem Zeitpunkt verweigern, zu dem eine alethische Beschäf­ tigung noch gar nicht begonnen hat, sind als nicht-doxastisch-neutral zu beschreiben, sofern sie zu keinem früheren Zeitpunkt mit der Beantwortung der Frage befasst gewesen waren. Die damit fortbeste­ hende doppelte Abwesenheit des Für-wahr-Haltens und Für-falschHaltens ist keine Reaktion auf die epistemischen Umstände des Subjekts, weil durch die Verweigerung eine alethische Beschäftigung und damit die Ausbildung einer Meinung verhindert wurde. Jane Friedman (2013a, 173) führt als Beispiel einer solchen Ver­ weigerung eine unter Arachnophobie leidende Person an, die mit der Proposition konfrontiert wird, dass Spinnen über gutes Sehvermögen verfügen. Diese Person verweigert jegliches Nachdenken über die Wahrheit oder Falschheit dieser Proposition, weil Gedanken über Spinnen für sie unerträglich sind. Diese Person ist nicht mit der Wahr­ heit oder Falschheit der Proposition befasst und kommt gar nicht erst zu dem Punkt, an dem möglicherweise vorliegende (oder fehlende) Evidenz berücksichtigt wird. Wie auch immer die Evidenzlage in einer solchen Situation sein mag, sie ist nicht der relevante Faktor, der zur Neutralität des Subjekts hinsichtlich der Proposition führt. Dementsprechend ist die durch die Verweigerung fortbestehende Neutralität hinsichtlich der in Frage stehenden Proposition keine doxastisch-neutrale Haltung bezüglich dieser Proposition. Einige der medialen Beschreibungen des Vorgehens der STIKO klingen nach einer solchen Verweigerungshaltung: Die STIKO »sperrt sich [...] gegen die generelle Freigabe« (Bartens/Klasen (2021), SZ), oder die STIKO »weigert sich aufgrund fehlender Daten zu möglichen Impfrisiken, die Impfung für Kinder generell zu empfehlen« (Becker/ Schmidt (2021), FAZ). Bei genauem Hinsehen wird aber klar, dass die Weigerung der STIKO hier ausschließlich auf das Aussprechen einer Handlungsempfehlung bezogen ist, nicht aber auf die doxastische Auseinandersetzung mit der Frage um das Nutzen-Risiko-Verhältnis der Impfung. Wie aus dem letzten Zitat zudem hervorgeht, hat die STIKO die Impfempfehlung verweigert, weil sie sich mit P alethisch auseinandergesetzt hat und diese Auseinandersetzung die unzurei­ chende Datenlage offenbarte, auf deren Basis keine Empfehlung für oder gegen das Impfen von Kindern und Jugendlichen ausgesprochen werden konnte. Die gesuchte Art der Neutralität der STIKO, die die hier strittige Nichtempfehlung begründet, ist also selbst keine Ver­ weigerungshaltung.

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3.3 Doxastische Unentschiedenheit In den letzten beiden Abschnitten habe ich triviale und nicht-triviale Arten der nicht-doxastischen Neutralität gegenüber der Wahrheit von Propositionen vorgestellt und dabei ausgeschlossen, dass der strittige Fall der vormaligen Nichtempfehlung der COVID-Impfstoffe für Kinder und Jugendliche auf deren Basis erfolgte. Im Folgenden soll es um die genuin doxastischen Arten von Neutralität gehen. Der grundlegende doxastisch-neutrale Zustand, die doxastische Unent­ schiedenheit,9 setzt voraus, dass das Subjekt alethisch mit der rele­ vanten Proposition beschäftigt ist oder zu irgendeinem früheren Zeitpunkt damit beschäftigt war. Damit sind Fälle von Nichtbeschäf­ tigung (wie in Abschnitt 3.1) und absichtlicher Verweigerung, die vor jeder Auseinandersetzung stattfinden (wie in 3.2), ausgeschlos­ sen.10 Die gleichzeitige Abwesenheit des Für-wahr-Haltens und des Für-falsch-Haltens der fraglichen Proposition ist Ausdruck der unkla­ ren, unzureichenden oder widersprüchlichen Evidenzlage, sofern sich das Subjekt mit der Frage um die Wahrheit der Proposition beschäf­ tigt hat. Typischerweise ist ein Subjekt, das die Auseinandersetzung mit der Wahrheit einer Proposition gerade begonnen hat, im Zustand der Unentschiedenheit. Dieser Zustand verändert sich erst, wenn sich das Es ist wichtig, die doxastische Unentschiedenheit hinsichtlich der Wahrheit einer Proposition von der praktischen Unentschlossenheit in Bezug auf das Ausführen einer Handlung zu unterscheiden. Das folgende Merkmal eignet sich, um diesen Unterschied zu illustrieren: Während ein Münzwurf bei einer praktischen Unent­ schlossenheit ein rationales Mittel sein kann, um eine Entscheidung in einer Pattsi­ tuation herbeizuführen, ist diese Maßnahme bei der doxastischen Unentschiedenheit nicht zielführend. Selbst wenn wir psychologisch in der Lage wären, auf Knopfdruck eine Überzeugung ohne die dafür nötige Evidenz auszubilden (was auf die höchst umstrittene Behauptung eines doxastischen Voluntarismus verpflichten würde), so wäre eine solche Meinungsbildung sicher nicht rational. 10 Bei der in 3.2 besprochenen Neutralität, die absichtlich durch die Verweigerung der alethischen Beschäftigung mit der Proposition hervorgebracht wird, handelt es sich um einen Sonderfall, weil hier vorausgesetzt wird, dass auch zu keinem früheren Zeitpunkt eine solche Beschäftigung stattgefunden hat. Subjekte können die alethische Beschäftigung aber auch später verweigern und entweder eine erneute alethische Beschäftigung verweigern oder eine laufende Beschäftigung abbrechen. In diesen Fällen würde die Verweigerung nicht zu einer nicht-doxastischen Neutralität führen, denn das Subjekt war in diesen Fällen bereits im Zustand der doxastischen Unentschiedenheit und sorgt mit dem Abbruch und der Verweigerung dafür, dass es dabei bleibt. 9

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Subjekt eine Meinung über die Wahrheit der Proposition gebildet hat. Entsprechend ist es angebracht, die STIKO als doxastisch unentschie­ den zu bezeichnen, so lange die eingesetzte Arbeitsgruppe damit beschäftigt ist, Evidenz in Form von wissenschaftlichen Studien zu sammeln, auszuwerten sowie Nutzen und Risiken einer Impfung gegeneinander abzuwägen. Die doxastische Unentschiedenheit ist jedoch noch keine Haltung, sondern spiegelt lediglich den Zustand vor einer noch ausstehenden Entscheidung oder Meinungsbildung wider. Die hier gesuchte Haltung, auf Basis derer die STIKO am 10. Juni 2021 ihre Nichtempfehlung ausgesprochen hat, hat jedoch den Status von einem (wenn auch nur vorläufigen) Ergebnis der vorangegange­ nen Nutzen-Risiko-Abwägung und ist nicht nur der Zwischenstand einer gerade noch laufenden Abwägung. Diesen Unterschied kann man auch an den Arbeitsabläufen der STIKO festmachen. Vorläufig abgeschlossene Nutzen-Risiko-Abwägungen der eingesetzten Arbeitsgruppe werden der STIKO zur Bewertung und Abstimmung vorgelegt, nicht aber Zwischenstände der Arbeitsgruppe, wenn sich diese noch in der Phase der Sichtung und Auswertung der relevanten Evi­ denz befindet. Um die damalige Meinung der STIKO in den strittigen Fällen der COVID-Impfungen für Kinder und Jugendliche korrekt zu beschrei­ ben, braucht es eine neutrale doxastische Haltung, die über das bloße doxastische Unentschiedensein während der Abwägungsphase hinausgeht. Zusätzlich zur alethischen Beschäftigung, die die doxas­ tischen Arten von Neutralität von den nicht-doxastischen abgrenzt, muss eine weitere Voraussetzung erfüllt sein. In der Debatte um die Urteilsenthaltung ist von Verpflichtungen die Rede, die ein Subjekt immer dann eingeht, wenn es eine bestimmte Haltung bzgl. der Wahrheit einer Proposition einnimmt. Beispielsweise verpflichtet sich ein Subjekt, eine Proposition p als wahr (oder falsch) zu behan­ deln, wenn es eine affirmative (oder zurückweisende) Haltung gegen­ über der Wahrheit von p einnimmt. Analog dazu soll es auch eine spezielle Form der Verpflichtung geben, die eine doxastisch-neutrale Haltung von der bloßen doxastischen Unentschiedenheit abgrenzt. Welche Art der Verpflichtung dafür in Frage kommt, werde ich im nächsten Abschnitt diskutieren, in dem ich zwei verschiedene doxas­ tisch-neutrale Haltungen mit unterschiedlichen Verpflichtungen vor­ stelle. Eine der beiden Haltungen, so werde ich argumentieren, ist die korrekte Beschreibung der Meinung der STIKO in den strittigen Fällen der Nichtempfehlung.

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Tabelle 1 gibt einen Überblick über die bisher diskutierten und die noch zu diskutierenden Arten der Neutralität. In vorhergehenden Abschnitten habe ich über das Merkmal der alethischen Beschäftigung verschiedene nicht-doxastische Arten der Neutralität von den genuin doxastischen Arten der Neutralität abgegrenzt. Im Folgenden werde ich innerhalb derjenigen Arten von Neutralität, die eine alethische Beschäftigung voraussetzen, das Merkmal der Verpflichtung auf die eigene Unentschiedenheit diskutieren. Dieses Merkmal grenzt doxas­ tisch-neutrale Haltungen von bloßer Unentschiedenheit ab. Die hier fragliche neutrale Meinung der STIKO ist dabei im grau hinterlegten Feld der doxastisch-neutralen Haltungen zu finden. keine alethische Beschäftigung keine Verpflichtung Verpflichtung

alethische Beschäftigung

Triviale, nicht-doxasti­ Doxastische Unentsche Neutralität schiedenheit (3.3) (3.1 und 3.2) --

Doxastisch-neutrale Haltungen (3.4)

Tabelle 1: Arten von Neutralität bzgl. der Wahrheit von Propositio­ nen

3.4 Doxastisch-neutrale Haltungen In der Debatte um die Urteilsenthaltung gibt es verschiedene Vor­ schläge, welcher Art die spezielle Verpflichtung einer doxastisch-neu­ tralen Haltung sein könnte. Ferrari/Incurvati (2022) sprechen von einer »Verpflichtung zur Nichtverpflichtung«, während Metakogni­ tivisten die spezielle Verpflichtung einer neutralen Haltung darin sehen, dass das Subjekt eine Überzeugung über die eigene defizitäre Evidenzlage ausbildet (Crawford 2004; Rosenkranz 2007; Raleigh 2021). Jane Friedman hat in verschiedenen Arbeiten (2013a; 2013b; 2017) eine primitive Einstellung des Agnostisch-Seins verteidigt, die mit der Verpflichtung zum Beantworten der relevanten Frage einhergehen soll. Matthew McGrath (2021) fasst die Urteilsenthal­ tung als nicht-doxastischen Abbruch des Urteilsprozesses auf, durch den man sich darauf verpflichtet, später ein Urteil zu fällen. Auffäl­

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lig ist, dass es sich bei diesen Vorschlägen um verschiedene Arten der Verpflichtung handelt, z.B. die Verpflichtung, die Frage um die Wahrheit der relevanten Proposition geschlossen zu halten (Ferrari/ Incurvati 2022; Rosenkranz 2007), die Verpflichtung, diese Frage offen zu halten (Friedman 2017; McGrath 2021) oder die rein alethi­ sche Verpflichtung, die eine Überzeugung hinsichtlich der eigenen Unentschiedenheit mit sich bringt (Crawford 2004; Raleigh 2021).11 Wie ich im Folgenden anhand verschiedener STIKO-Entschei­ dungen der letzten Jahre zeigen möchte, ist es plausibel, dass es zwei verschiedene Arten doxastisch-neutraler Haltungen gibt. Beide Haltungen lassen sich durch die unterschiedlichen Verpflichtungen in Bezug auf den eigenen Umgang mit der relevanten Frage (abschlie­ ßend oder offenhaltend) charakterisieren. Das Problem der oben genannten Vorschläge liegt darin, dass sie (wenn überhaupt) jeweils nur eine der beiden möglichen doxastisch-neutralen Haltungen fassen können: die neutrale Haltung, mit der sich das Subjekt auf das Abschließen der Untersuchung trotz fehlender Antwort verpflich­ tet (kurz: frageabschließende neutrale Haltung) oder die neutrale Haltung, mit der sich das Subjekt auf das Offenhalten der Frage verpflichtet (kurz: frageoffenhaltende neutrale Haltung), aber nie beide zusammen.12 Dieses Problem kann gelöst werden, so behaupte ich, wenn man die doxastische Unentschiedenheit des Subjekts in beiden Fällen als notwendige Voraussetzung für eine neutrale Haltung fasst, aber zwei verschiedene Arten der Verpflichtung (auf die Unentschiedenheit) zulässt, durch die die zwei verschiedenen doxastisch-neutralen Hal­ tungen konstituiert werden. Zum einen können sich Subjekte auf die Unentschiedenheit als temporär aufrechtzuerhaltenden Zustand der Offenheit verpflichten, z.B. um ein vorschnelles Urteil zu verhindern. Zum anderen können sich Subjekte auf die Unentschiedenheit als abschließendes Ergebnis ihrer Auseinandersetzung verpflichten, um damit die alethische Auseinandersetzung mit der Frage ohne deren In Wagner (2022, 679ff.) habe ich dafür argumentiert, dass die metakognitive Position den Anforderungen der agnostischen Haltung nicht gerecht werden kann, weil die Art der Verpflichtung, die mit der metakognitiven Überzeugung einhergeht, nicht ausreichend ist, um sich auf eine neutrale Position agnostisch festzulegen. 12 McGrath (2021) versucht, diesen beiden verschiedenen Arten der Neutralität Rechnung zu tragen. Allerdings charakterisiert er sie als fundamental verschieden und erkennt nur das Agnostisch-Sein (das im Prinzip meiner Unentschiedenheit ähnelt) als doxastische Haltung an. 11

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Beantwortung zu beenden. In beiden Fällen ist das Subjekt im doxas­ tisch-neutralen Zustand der Unentschiedenheit, qualifiziert seine doxastische Neutralität aber dadurch, dass es eine der beiden Ver­ pflichtungen eingeht. Mit der zusätzlichen Verpflichtung nimmt es in beiden Fällen eine doxastisch-neutrale Haltung ein, die von der bloßen Unentschiedenheit zu unterscheiden ist.13 In beiden Fällen verhalten sich Subjekte zu ihrem eigenen Zustand der doxastischen Unent­ schiedenheit. Im Folgenden werde ich die agnostische Urteilsenthaltung (fra­ genabschließend) und die Urteilszurückhaltung (frageoffenhaltend) vorstellen und diese Unterscheidung anhand von verschiedenen STIKO-Entscheidungen der letzten Jahre erklären.

3.4.1 Agnostische Urteilsenthaltung Die agnostische Neutralität zeichnet sich dadurch aus, dass die alethische Auseinandersetzung mit Propositionen einen neutralen Abschluss findet, auf den sich das Subjekt festlegt. Ein Subjekt, das sich mit der Frage beschäftigt, ob eine bestimmte Proposition wahr oder falsch ist, kann mit dieser Frage agnostisch abschließen, ohne sie dabei zu beantworten. Das Abschließen mit der Frage erfolgt durch einen gründebasierten Akt der Verpflichtung auf die bereits vorliegende eigene Unentschiedenheit als das Ergebnis der Auseinan­ dersetzung. Die jeweiligen Gründe für das Festlegen auf die eigene Unentschiedenheit können dabei unterschiedlicher Art sein. Zum einen kann die Begründung des Abschließens in der Einschätzung bestehen, dass auch die Suche nach weiterer Evidenz keinen Erfolg bringen wird: etwa weil die Evidenz vollständig gesichtet wurde und sich die einzelnen Bestandteile zusammengenommen die Waage halten; oder aber weil weitere Evidenz so eingeschätzt wird, dass auch sie die Sache nicht entscheiden kann. Zum anderen kann die 13 Diese Konzeption hat ferner den Vorteil, dass durch die de facto vorliegende Unentschiedenheit in jedem Fall gewährleistet ist, dass sich das Subjekt in einem doxastischen Zustand befindet, wobei aber die jeweilige Verpflichtung auf die eigene Unentschiedenheit auch aus nicht-epistemischen sowie pragmatisch-epistemischen Gründen erfolgen kann, etwa wenn die Kosten einer weiteren Beschäftigung zu hoch sind (agnostischer Abbruch), oder aber wenn eine besonders riskante Entscheidung bewusst länger offengehalten wird als unter normalen Umständen nötig wäre (prag­ matic encroachment).

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Begründung der Festlegung auf die eigene Unentschiedenheit auch in der Einschätzung liegen, dass die Suche nach weiterer Evidenz mit zu hohen Kosten verbunden wäre.14 Im Folgenden stelle ich zwei Beispiele vor, in denen die STIKO meines Erachtens die Frage nach der Wahrheit oder Falschheit von P agnostisch geschlossen hat, ohne sie dabei zu beantworten. Im Anschluss werde ich erklären, warum es sich dabei um eine andere doxastisch-neutrale Haltung handelt, als sie bei der strittigen Nichtempfehlung der COVID-Impfstoffe vorgelegen hat. Im Jahr 2017 gab die STIKO eine allgemeine Nichtempfehlung bzgl. der Impfung mit dem Impfstoff Zostavax für alle Altersgruppen bekannt. Bei Zostavax handelt es sich um einen abgeschwächten Lebendimpfstoff gegen das Herpes-Zoster-Virus, das Gürtelrose aus­ lösen kann. Die vorgenommene Nutzen-Risiko-Abwägung fiel weder zu Gunsten noch zu Ungunsten der Impfung aus. Zur Begründung wurde angeführt, dass mit zunehmendem Alter zwar das Risiko steige, schwere Komplikationen durch eine Infektion mit Herpes Zoster zu erleiden, jedoch nehme auch die Wirksamkeit des Impfstof­ fes mit zunehmendem Alter der Impflinge ab. Ferner sei die Schutz­ wirkung des Impfstoffes nur von kurzer Dauer, sodass die bessere Wirksamkeit einer Impfung in jungen Jahren nicht den gewünschten positiven Effekt auf spätere Lebensjahre hätte.15 Die medizinische Evidenz, die für eine Impfung spricht, und diejenige, die dagegen spricht, halten sich in diesem Fall die Waage. In dieser Situation ist kein eindeutiger Nutzen der Impfung erkennbar, womit die STIKO zunächst als unentschieden hinsichtlich P zu beschreiben ist. Die doxastische Neutralität der STIKO, die zur allgemeinen Nichtempfehlung von Zostavax geführt hat, unterscheidet sich von der gesuchten Neutralität, die im Juni 2021 zur strittigen Nichtemp­ fehlung der COVID-Impfstoffe führte. Im Juni 2021 wurde die damals quantitativ spärliche Datenlage zu den COVID-Impfstoffen von der STIKO als Begründung angebracht, vorerst keine Empfehlung auszu­ sprechen. Bei der Nichtempfehlung von Zostavax war die Studienlage dagegen quantitativ ausreichend und erlaubte eine abschließende Nichtempfehlung durch die STIKO. So erfolgte die EMA-Zulassung für Zostavax bereits im Jahr 2006, also gut zehn Jahre vor der Ich habe für diese Interpretation der agnostischen Neutralität ausführlich in Wagner (2022) argumentiert. 15 Ständige Impfkommission (2017).

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hier vorliegenden Beurteilung durch die STIKO im Jahr 2017. In diesem Zeitraum wurden zahlreiche Studien durchgeführt, die von der STIKO berücksichtigt worden sind. Die STIKO konnte bei Zostavax eine abschließende Nichtempfehlung aussprechen, da sich Nutzen und Risiko selbst bei den gefährdeten über 60-Jährigen stabil die Waage hielten und die Abwägung aus diesem Grund kein eindeutiges Ergebnis in die eine oder andere Richtung lieferte. Zudem lieferten die berücksichtigten Studien Daten über einen Zeitraum von 7–11 Jahren nach der Impfung mit Zostavax, durch die nachgewiesen werden konnte, dass die Wirksamkeit innerhalb dieser Zeit vollstän­ dig nachlässt. Es ist demnach nicht zu erwarten, dass noch breitere oder längere Untersuchungen andere Ergebnisse liefern könnten. Die STIKO ist gegenüber P im Fall von Zostavax also nicht nur als unentschieden zu beschreiben, sondern hat sich abschließend auf ihre Unentschiedenheit als das Ergebnis der Abwägung verpflichtet. Sie ist damit als agnostisch neutral gegenüber P zu bezeichnen.16 Betrachten wir einen anderen Fall, in dem die STIKO eine agnos­ tisch neutrale Haltung eingenommen hat. Dieser Fall unterscheidet sich vom zuvor diskutierten Fall von Zostavax in zweierlei Hinsicht: Zum einen ist die Evidenzlage, auf deren Basis agnostisch abgeschlos­ sen wird, von anderer Art, und zum anderen hat die STIKO aufgrund weiterer Faktoren eine Gegenempfehlung (und nicht nur eine Nicht­ empfehlung) abgegeben. Im Jahr 2020 hat die STIKO (erneut) eine Empfehlung gegen das Impfen von Schwangeren mit Lebendimpfstof­ fen (z.B. gegen Masern, Mumps, Röteln (MMR)) ausgesprochen, 16 Mit »abschließend« ist hier nicht gemeint, dass nach dem agnostischen Abschluss keine Revision mehr erfolgen kann. Würde sich herausstellen, dass die für die Beurtei­ lung der Wirksamkeit von Zostavax berücksichtigten Daten allesamt gefälscht waren, müsste die STIKO ihre agnostische Haltung aufgeben und eine neue Untersuchung einleiten. Mit diesem Schritt wäre sie nicht mehr als agnostisch neutral, aber immer noch als unentschieden zu bezeichnen. Dasselbe gilt für alle doxastischen Haltungen der STIKO, auch für diejenigen, bei denen sie P für wahr oder falsch hält. Auch eine Überzeugung, durch die sich ein Subjekt abschließend auf die Wahrheit einer Proposition verpflichtet, kann (und muss) beim Vorliegen relevanter neuer Evidenz revidiert werden. Mit agnostischem Abschluss ist hier gemeint, dass sich das Subjekt aus bestimmten Gründen darauf verpflichtet, der alethischen Beschäftigung nicht weiter nachzugehen. Diese Verpflichtung kann wie oben beschrieben zurückgenom­ men werden, etwa wenn die jeweiligen Gründe angreifbar sind. Nimmt das Subjekt die Beschäftigung mit einer vormals geschlossenen Frage erneut auf, so gibt es die jeweilige affirmative, zurückweisende oder agnostische Haltung auf und fällt damit in allen drei Fällen zurück in den Zustand der bloßen Unentschiedenheit.

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weil Lebendimpfstoffe das ungeborene Kind, das noch nicht über ein ausgebildetes Immunsystem verfügt, schädigen könnten. Tatsächlich sind solche Fälle aber nicht in Studien belegt. Laut STIKO zeigen die wenigen vorliegenden Daten von MMR-Impfungen, die während einer (zum Impfzeitpunkt unerkannten) Schwangerschaft durchge­ führt wurden, keine erhöhte Fehlbildungsrate, jedoch könne eine Schädigung des Embryos durch vermehrungsfähige Lebendimpfstoffe auf Basis dieser geringen Fallzahl auch nicht sicher ausgeschlossen werden. Aus diesem Grund spricht die STIKO von »theoretischen Gründen«, die den Ausschlag für das Abraten gegeben hätten: »Dabei handelt es sich um eine Sicherheitsmaßnahme, denn teratogene [Fehlbildung hervorrufende] Effekte der abgeschwächten Impfviren sind bislang nicht bekannt.«17 Es handelt sich hier um einen Fall der Unentschiedenheit hinsichtlich P aufgrund von unzureichender Evidenz, zu der das mögliche Risiko einer besonders gravierenden Konsequenz hinzukommt. Ich behaupte, dass sich die STIKO auch in diesem Fall agnostisch bzgl. P positioniert hat. Anders als im Fall von Zostavax hat die STIKO bei MMR-Impfungen von Schwangeren nur wenige Daten, auf deren Basis schwere Nebenwirkungen nicht ausgeschlossen werden konnten. Die Bewertung des tatsächlichen Risikos von embryona­ len Fehlbildungen durch MMR-Impfungen während der Schwanger­ schaft wäre nur durch größer angelegte Untersuchungen an geimpften Schwangeren zu leisten, die aber aufgrund der ethischen Problematik nicht zu erwarten und auch nicht erwünscht sind. Aufgrund der nicht vorhandenen Aussicht auf quantitativ aussagekräftige Daten schließt die STIKO mit der Frage nach der Nutzen-Risiko-Abwägung hier agnostisch ab. Wie im Fall von Zostavax verpflichtet sich die STIKO auf ihre Unentschiedenheit als das Ergebnis ihrer Abwägung, wenn auch aus anderen Gründen. Im Gegensatz zur Impfung mit Zostavax, die auf individuellen Wunsch bei über 60-Jährigen ermöglicht (wenn auch nicht empfohlen) wird, rät die STIKO Schwangeren jedoch aus­ drücklich von der Impfung mit MMR-Impfstoffen ab, um der Schwere der nicht ausschließbaren praktischen Konsequenzen Rechnung zu tragen. Eine agnostische Haltung muss also nicht zwangsläufig in eine praktische Nichtempfehlung münden, weil es auch eine Rolle spielt,

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Ständige Impfkommission (2020, 12).

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mit welcher Begründung die agnostische Haltung in den einzelnen Fällen angenommen wurde.18 Die Evidenzlage des strittigen Falls der Nichtempfehlung der COVID-Impfstoffe für Kinder, Jugendliche und Schwangere scheint zunächst vergleichbar mit der Evidenzlage bei MMR-Impfungen von Schwangeren. In beiden Fällen konnten auf Basis der geringen Anzahl der jeweils untersuchten Impfungen die Möglichkeit von seltenen schweren Impfnebenwirkungen nicht sicher ausgeschlossen werden. Auch wenn in beiden Fällen eine doxastische Unentschiedenheit aufgrund unzureichender Daten vorliegt, so handelt es sich dennoch um unterschiedliche Haltungen in Bezug auf diese Unentschiedenheit, was etwas mit der jeweiligen Einschätzung von zukünftiger Evidenz zu tun hat. Im Gegensatz zum Fall der MMR-Impfungen von Schwan­ geren konnte die STIKO im strittigen Fall der COVID-Impfstoffe erwarten, dass zu einem späteren Zeitpunkt mehr Evidenz für eine abschließende Beurteilung verfügbar sein würde, und sie hat diese Erwartungshaltung im Rahmen ihrer vorläufigen Nichtempfehlung auch explizit geäußert. Die STIKO hat daher im Fall der COVIDImpfungen mit der Frage nach der Nutzen-Risiko-Abwägung nicht agnostisch abgeschlossen, sondern sie bewusst offen- oder zurückge­ halten, um die Abwägung zu einem späteren Zeitpunkt (mit besserer Evidenz) vornehmen zu können. Dieses bewusste Zurückhalten mit Blick auf eine spätere Entscheidung unterscheidet die Haltung der STIKO bei den strittigen COVID-Impfstoffen nicht nur von ihrer Haltung bzgl. der MMR-Impfstoffe bei Schwangeren, sondern auch von der agnostisch abschließenden Haltung, die sie 2017 hinsichtlich Zostavax eingenommen hatte. Im nächsten Abschnitt werde ich mit der Urteilszurückhaltung die letzte Art der doxastischen Neutralität diskutieren und als die gesuchte Art vorstellen, die der STIKO im strittigen Fall der COVIDImpfungen zuzurechnen ist. Die Hauptunterscheidung von agnos­ tischer und zurückhaltender Neutralität liegt in der Richtung der Spekulativ könnte man auch denken, dass eine agnostische Haltung sogar zu einer Empfehlung führen könnte, z.B. wenn sehr viel auf dem Spiel stünde. Man stelle sich ein unkontrollierbares Virus mit sehr hoher Morbiditäts- und Letalitätsrate bei Kindern vor, gegen das der Impfstoff Desperal entwickelt wurde, von dem aber keine medizinischen Daten bzgl. seiner Sicherheit und Wirksamkeit vorliegen, und diese auch nicht abgewartet werden können, weil schnell gehandelt werden muss. In einem Weltuntergangsszenarium dieser Art wäre es denkbar, dass trotz einer agnostischen Haltung bzgl. P die Impfung mit Desperal aus praktischen Gründen empfohlen wird. 18

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jeweiligen Verpflichtung zur eigenen Unentschiedenheit: Während die Verpflichtung zur Unentschiedenheit bei der agnostischen Enthal­ tung frageabschließend ist, muss sie bei der Urteilszurückhaltung als frageöffnend oder als offenhaltend verstanden werden.

3.4.2 Temporäre Urteilszurückhaltung Die Zurückhaltung im Urteil ist eine Haltung, die vorschnellen Urteilen vorgreifen soll. Epistemische Subjekte, die sich in ihrem Urteil zurückhalten, sind zwar noch unentschieden, können aber bereits in Richtung eines bestimmten Urteils tendieren, etwa wenn nicht-epistemische Interessen für die Beurteilung vorliegen (Suche nach bestätigender Evidenz (Nickerson 1998)), das Subjekt einem gewissen Druck zum kognitiven Abschluss der Frage ausgesetzt ist (Drang nach kognitiver Geschlossenheit (Kruglanski/Fishman 2009)), oder nur sehr wenig Evidenz vorliegt, diese aber bereits in eine Richtung zeigt. Die Urteilszurückhaltung ist eine akut und manchmal auch standardisiert eingesetzte Vorsichtsmaßnahme, die vorschnellen Urteilen in konkreten Situationen vorbeugen soll, um so für neue Evidenz (oder eine Neubewertung der vorhandenen Evi­ denz) offen bleiben zu können. Typischerweise ist die Zurückhaltung temporärer Natur und geht einher mit der Erwartung, dass zu einem späteren Zeitpunkt entweder die Evidenzlage oder aber die eigene Verfasstheit besser sein werde als sie es zum jetzigen Zeitpunkt jeweils ist. Typische Beispiele für die Zurückhaltung in Erwartung einer verbesserten Evidenzlage sind das Abwarten der Beurteilung von Wahlergebnissen bis quantitativ belastbare Hochrechnungen vorlie­ gen oder das Abwarten und Miteinbeziehen aller Zeugenaussagen bei polizeilichen Ermittlungen oder vor Gericht, selbst wenn andere Aussagen bereits in eine bestimmte Richtung zeigen. Beispiele für die Zurückhaltung, die eine rein zeitliche Verschiebung der Beurteilung betreffen, haben oft mit der Erwartung zu tun, dass die eigene Urteils­ fähigkeit zu einem späteren Zeitpunkt besser ist, etwa weil man später nicht mehr unter den momentan vorherrschenden Einflüssen steht (z.B. Alkohol, Schlafmangel, emotionale Verstimmung). In all diesen Fällen hält sich ein Subjekt selbst davon ab, ein Urteil zum jetzigen Zeitpunkt abschließend zu fällen, da die momentan vorliegenden Umstände dem Subjekt aus den verschiedenen oben genannten Grün­ den ungünstig für die Qualität des Urteils erscheinen.

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Die Verpflichtung auf die eigene Unentschiedenheit ist bei der Urteilszurückhaltung in entgegengesetzter Richtung zu verstehen als bei der agnostischen Urteilsenthaltung. Während das agnosti­ sche Subjekt aufgrund der eigenen problematischen Evidenzlage doxastisch unentschieden ist und sich in Ermangelung entscheiden­ der Evidenz darauf verpflichtet, die eigene Unentschiedenheit als abschließendes Resultat der alethischen Beschäftigung mit der Frage anzuerkennen, so verpflichtet sich das zurückhaltende Subjekt auf die Unentschiedenheit als temporär angestrebten Zustand, der solange beibehalten werden soll, bis die Evidenzlage oder die eigene Verfasst­ heit von bestimmter (besserer) Art ist. Wer sich im Urteil zurückhält, hat den Anspruch einer alethischen Klärung nicht aufgegeben; viel­ mehr ist die Zurückhaltung ein aktives Beibehalten der Unentschie­ denheit mit dem Ziel, die Frage nach der Wahrheit zu einem späteren Zeitpunkt zu klären – in der Erwartung, dass der Urteilsprozess dann qualifizierter und informierter sein wird. Die Zurückhaltung im Urteil ist eine Haltung, die durch einen Akt der (konditionalen) Verpflichtung auf das Beibehalten der eigenen Unentschiedenheit erreicht wird. Ich halte die strittige Nichtempfehlung der COVID-Impfstoffe für einen Fall, bei dem die STIKO sich in ihrem Urteil temporär zurückgehalten hat, um später eine bessere Entscheidung treffen zu können. Für die erste Nutzen-Risiko-Abwägung, deren Ergebnis am 10. Juni 2021 bekannt gegeben wurde, lag der STIKO die Zulas­ sungsstudie des Herstellers BioNTech/Pfizer vor, auf deren Basis am 31. Mai 2021 die EMA-Zulassung von Comirnaty für Kinder von 12 bis 15 Jahren erfolgte. Die Wirksamkeit des Impfstoffes erwies sich darin als sehr gut (100 %) und es traten die üblichen, aber ungefähr­ lichen Impfreaktionen wie bei Erwachsenen auf, wenn auch etwas stärker ausgeprägt. Ferner lagen der STIKO erste Meldungen aus Israel vor, dass bei jungen Männern in sehr seltenen Fällen Herzmus­ kelentzündungen im zeitlichen Zusammenhang mit der Impfung beobachtet worden sind, aber auch Meldungen von seltenen schweren Krankheitsverläufen von COVID-19 bei Kindern und Jugendlichen. Man hätte nun erwarten können, dass die STIKO in einer Pandemie auf Basis dieser Evidenz, die mehr für die Impfung als gegen sie zu sprechen schien, die Impfung für Kinder ab 12 Jahren allgemein emp­ fiehlt. Tatsächlich hat die STIKO keine allgemeine Empfehlung für Kinder und Jugendliche gegeben. Diese Nichtempfehlung hat sie mit fehlenden Daten begründet:

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Comirnaty hat in der Zulassungsstudie bei den Kindern und Jugend­ lichen im Alter von 12–15 Jahren eine hohe Effektivität zum Schutz vor COVID-19 gezeigt. Hinsichtlich der Sicherheit des Impfstoffs bestehen jedoch noch Wissenslücken, da die Nachbeobachtungszeit nach [der] Impfung zu kurz [weniger als drei Monate] und die Zahl der eingeschlossenen ProbandInnen [Studienpopulation von nur 1.131 Kindern] zu gering war. (Ständige Impfkommission 2021a, 29)

Zwischen der Zulassung von Comirnaty für Kinder von 12 bis 15 Jah­ ren durch die EMA am 31. Mai 2021 und der ersten Stellungnahme der STIKO am 10. Juni 2021 liegen zehn Tage. Es ist nicht verwun­ derlich, dass über die Zulassungsstudie hinaus keine weiteren Studien hinsichtlich der Sicherheit des Impfstoffes für diese Altersgruppe ver­ fügbar waren, die die STIKO mitbewerten hätte können. Darüber hinaus gab die STIKO in ihrer wissenschaftlichen Begründung der strittigen Nichtempfehlung konkret an, welche Studien verfügbar sein müssen, damit sie eine abschließende Bewertung auf dieser Basis vornehmen kann. So wird beispielsweise angeführt, dass »weiterfüh­ rende Follow-up-Studien zu Long-COVID [benötigt werden], um die Wissenslücken zur Prävalenz sowie zu Risikofaktoren und protekti­ ven Faktoren insbesondere bei Kindern und Jugendlichen [schließen zu können]« (Ständige Impfkommission 2021a, 15). Ferner forderte die STIKO Daten über eine größere Anzahl an Teilnehmenden, die »unerwünschte Ereignisse, die mit einer Häufigkeit von weniger als 1 pro 100 verabreichten Impfstoffdosen auftreten« (ebd., 29) abbilden können. Diese Untersuchungen müssten ferner eine Nachbeobach­ tungszeit von mehr als drei Monaten aufweisen. Diese Daten gelte es dann mit der bis dahin beobachteten Schwere der COVID-Erkrankung bei Kindern und Jugendlichen ins Verhältnis zu setzen. Es handelt sich hierbei um eine konkrete Beschreibung der Umstände, die vorliegen müssen, um die Nutzen-Risiko-Abwägung abschließend vornehmen zu können. Die STIKO hat sich darauf verpflichtet, so lange unentschieden hinsichtlich der Nutzen-RisikoAbwägung der COVID-Impfstoffe für gesunde Kinder und Jugendli­ che zu bleiben, bis die geforderten Umstände erfüllt sind. Die STIKO legte sich damit darauf fest, eine abschließende Beurteilung erst bei ausreichender Datenlage vorzunehmen. Es ist wichtig zu sehen, was bei der temporären Urteilszurück­ haltung genau verschoben werden soll. Es handelt sich nicht um ein schon jetzt feststehendes Urteil, das erst später bekannt gegeben werden soll; vielmehr wird der Abschluss der Beurteilung verschoben.

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Das Ergebnis dieser zukünftigen Beurteilung ist dabei noch offen, weil noch nicht klar ist, in welche Richtung die dann vorliegende Evidenz zeigen wird. Selbst wenn die STIKO angibt, welche Kriterien die von ihr geforderten Untersuchungen erfüllen müssen, so nimmt sie dadurch nicht deren inhaltliche Ergebnisse vorweg. Könnte die STIKO diese Ergebnisse voraussehen, wäre die Verschiebung auf einen anderen Zeitpunkt überflüssig. Die temporäre Verpflichtung, vorerst unentschieden zu bleiben, ist auch als Verpflichtung zur Offenheit hinsichtlich der noch nicht vorhandenen Evidenz zu ver­ stehen. Entsprechend hielt die STIKO das Ergebnis ihrer für später geplanten Beurteilung bewusst offen und erklärte am Ende ihrer schriftlichen Begründung der vorläufigen Nichtempfehlung: »Die STIKO wird neue Studiendaten und Daten zur Epidemiologie von SARS-CoV-2-Infektionen und COVID-19 in Deutschland fortlaufend auswerten und ihre Empfehlung ggf. anpassen.«19 Mehr als zwei Monate nach der Nichtempfehlung lagen ausrei­ chend viele der geforderten Daten vor, die der STIKO am 16. August 2021 eine abschließende Bewertung des Impfstoffs Comirnaty für Kinder und Jugendliche ab 12 Jahren ermöglichten: Zum einen wurde bestätigt, dass die Deltavariante für eine höhere Inzidenz sowie kri­ tischere Verläufe bei Kindern und Jugendlichen sorgte (insbesondere pädiatrisches Inflammationssyndrom (PIMS)). Zum anderen konn­ ten die bereits beobachteten schweren Impfnebenwirkungen (Herz­ muskelentzündungen) quantitativ als sehr selten und gut heilbar bestimmt werden. In ihrer Begründung der jetzt ausgesprochenen Empfehlung bezieht sich die STIKO auf ihre vorhergehende Nicht­ empfehlung sowie ihre damals doxastisch-neutrale Haltung, die nun einer affirmativen Haltung gegenüber P gewichen ist: Bisher war die STIKO nicht davon überzeugt, dass die Risiko-NutzenAbwägung zu Gunsten einer Impfempfehlung für gesunde Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren sprach. Auf Basis der aktuell vorliegenden quantitativen Daten überwiegt nach Ansicht der STIKO nun auch bei Kindern und Jugendlichen ohne Vorerkrankung der Nutzen die Risiken der Impfung. Deshalb wird ihnen die Impfung von der STIKO ebenfalls empfohlen. (Ständige Impfkommission 2021b, 5)

Es handelt sich hierbei nicht um eine gewöhnliche doxastische Revi­ sion, sondern um die Durchführung der geplanten Beurteilung, die am 10. Juni bereits angekündigt worden war. Die STIKO sah die Evi­ 19

Ständige Impfkommission (2021a, 29).

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denzlage im August 2021 als hinreichend an, um eine abschließende Beurteilung durchzuführen, und gab die temporäre Verpflichtung zur Unentschiedenheit auf. Die Nutzen-Risiko-Abwägung auf Basis der neuen Evidenzlage fiel zu Gunsten der Impfung aus (es hätte auch anders sein können) und die STIKO nahm die entsprechende affir­ mative Haltung gegenüber P ein. Auf dieser Basis empfahl die STIKO am 16. August 2021 die Impfung mit Comirnaty gegen COVID-19 für gesunde Kinder und Jugendliche ab 12 Jahren.

4. STIKO unter Druck Kommen wir zurück zu den Vorwürfen vom Anfang, die STIKO sei zu langsam, zögere Entscheidungen hinaus und würde für Verun­ sicherung sorgen. Hat sich die STIKO unnötig viel Zeit gelassen? Konnte sie sich nicht zu einer längst überfälligen Entscheidung durch­ ringen? Nein. Die STIKO hat die aktuelle Datenlage schon während des EMA-Zulassungsverfahrens überprüft und zehn Tage nach der Zulassung eine vorläufige Nichtempfehlung ausgesprochen. In der Begründung der Nichtempfehlung hat sie aufgezeigt, welche Daten bereits vorliegen, aber vor allem hat sie klar formuliert, warum diese unzureichend für eine eindeutige Nutzen-Risiko-Abwägung sind, bei der der individuelle Nutzen einer Impfung im Vordergrund steht. Ferner hat die STIKO offengelegt, welche Studien und Daten sie mindestens benötigt, um überhaupt eine abschließende Beurteilung vornehmen zu können. Als diese im August verfügbar waren, hat die STIKO entsprechend reagiert und genau wie angekündigt eine neue Beurteilung vorgenommen, die auf Basis der vorliegenden neuen Evidenz zu einer Empfehlung der Impfung von gesunden Kindern und Jugendlichen ab 12 Jahren führte. In der Zeit zwischen der vorläu­ figen Nichtempfehlung im Juni und der Neubeurteilung im August hat die STIKO eine doxastisch-neutrale Haltung eingenommen. Sie war in diesem Zeitraum nicht nur doxastisch unentschieden gewe­ sen, sondern hatte sich darauf verpflichtet, ihre Unentschiedenheit so lange aufrechtzuerhalten bis bestimmte Bedingungen vorliegen, die eine andere Beurteilung rechtfertigten. Diese Verpflichtung zur Unentschiedenheit basierte auf Gründen, die aus ihrer Beschäftigung mit der vorhandenen (und nicht vorhandenen) Evidenz sowie aus Überlegungen hinsichtlich der zukünftig erwartbaren Evidenz hervor­ ging.

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Warum ist es trotzdem so schwierig, die Urteilszurückhaltung der STIKO auszuhalten? Unter bestimmten Umständen verlangt die Urteilszurückhaltung menschlichen Subjekten eine starke Resili­ enz gegenüber den eigenen opponierenden psychologischen Kräften ab: Anders als bei der agnostischen Enthaltung, bei der sich das Subjekt von dem Druck der alethischen Klärung befreit, gibt das Subjekt dieses Ziel bei der Urteilszurückhaltung gerade nicht auf, sondern verschiebt die abschließende Beurteilung auf einen späte­ ren Zeitpunkt, der für diesen Zweck besser geeignet erscheint. Es besteht bei der Zurückhaltung eine gewisse Spannung zwischen dem Anspruch, nach einer Antwort zu suchen, und der Verpflichtung auf die eigene Unentschiedenheit, die vorschnelle Antworten verhindern soll. Im Fall der STIKO konnte das Vorhandensein neuer Evidenz zudem nicht einfach nur abgewartet werden, sondern es war eine fortwährende Auseinandersetzung mit neuer Evidenz von Nöten, um zu überprüfen, ob die geforderten besseren Bewertungsumstände bereits erfüllt sind oder nicht. Es ist psychologisch nicht einfach, in solchen Situationen doxastisch unentschieden zu bleiben, gerade wenn eine Entscheidung praktisch von großer Relevanz ist und die bereits vorliegenden (wenn auch unvollständigen) Daten immer mehr in eine bestimmte Richtung deuten. Nun ist die STIKO kein psychologisches Subjekt, das sich gegen ihre eigene vorschnelle Urteilsfindung wehren muss, und sie ist ferner durch ihre klar definierte Standardvorgehensweise gut gegen mögliche Schwächen einzelner Gremienmitglieder gewappnet. Aber auch die STIKO hat die oben beschriebenen Kräfte zu spüren bekom­ men. Bei der zu Beginn zitierten Berufung auf die Expertise der EMA (»das sind die Experten«) macht sich Söder einer einseitigen Evidenzberücksichtigung schuldig. Die STIKO zweifelt die Daten der EMA-Zulassung gar nicht an, verwehrt sich aber dagegen, auf dieser dünnen Basis eine Empfehlung auszusprechen. Die Daten reichen zwar für eine Zulassung aus, jedoch gelten bei Empfehlungen höhere Standards, um Nutzen und Risiko einer Impfung eindeutig gegenei­ nander abwägen zu können. Andere Teilnehmende des öffentlichen Diskurses dagegen haben die Urteilszurückhaltung der STIKO als Zeichen dafür missverstanden, dass die COVID-Impfstoffe für Kinder und Jugendliche unsicher seien, und interpretierten die zunächst vorgelegte Nichtempfehlung als Abraten von einer Impfung. Es wäre hier wichtig gewesen, die vorläufig neutrale Haltung noch deutlicher zu kommunizieren. Auch der allgemeine Ruf nach einer schnelleren

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Arbeitsweise der STIKO kann als Drang zu kognitiver Geschlossen­ heit interpretiert werden. Es war (und ist) für alle Beteiligten ohne Zweifel schwierig, die doxastisch-neutrale Haltung der STIKO in einer Pandemie auszuhalten. Das, was epistemische Subjekte bei der Urteilszurückhaltung psychologisch aushalten müssen, hat sich im Fall der STIKO auf gesellschaftlicher Ebene in der öffentlichen Diskussion abgespielt. Was bleibt, ist der Vorwurf, die STIKO wäre auf politischen Druck hin eingeknickt und hätte die Impfung von Kindern und Jugendlichen am Ende wider besseren Wissens empfohlen. Was erheblich zu dieser Interpretation der Ereignisse beigetragen hat, war der öffentlich aus­ geübte Druck der Politik auf die STIKO in Kombination mit einer verkürzten und tendenziösen Berichterstattung in Reaktion auf die Empfehlung der STIKO am 16. August. Beispielsweise schreibt die Süddeutsche Zeitung, die STIKO hätte »sich nun doch dazu entschlos­ sen, die Covid-Impfung für alle Kinder und Jugendlichen von zwölf Jahren an zu empfehlen« (Roßbach (2021), SZ, eigene Hervorhe­ bung), und bezieht sich dann auf die Neubeurteilung als »Schwenk der Stiko« (ebd.). Dieser »Schwenk« wird anschließend mit dem herr­ schenden politischen Druck in Verbindung gebracht: »Im Vorfeld die­ ser Entscheidung war der Druck auf die eigentlich unabhängige Stiko deutlich gestiegen« (ebd.). Auch wenn hier nicht explizit behauptet wird, dass die STIKO aufgrund des politischen Drucks »umge­ schwenkt« sei, so wird es durch die Reihenfolge der Darstellung sowie durch die Relativierung der Unabhängigkeit mittels des Ausdrucks »eigentlich« zumindest suggeriert. Es ist richtig, dass der Druck auf die STIKO sehr hoch gewesen sein muss, und es ist auch nicht unwahrscheinlich, dass sie aufgrund dessen ihre Abläufe beschleunigt hat. Man kann darüber spekulieren, inwieweit der auf die STIKO ausgeübte Druck die Impfempfehlung im August beeinflusst haben könnte. Beispielsweise kann darüber diskutiert werden, ob die für die STIKO ungewöhnliche Berücksichti­ gung von Praxisdaten zu Impfungen in anderen Ländern nicht nur der ungewöhnlichen Situation in einer Pandemie geschuldet ist, sondern auch etwas mit dem vorliegenden politischen und gesellschaftlichen Druck zu tun hatte. Es ist aber wichtig zu sehen, dass allein aus der Tatsache, dass die STIKO eine angekündigte Neubeurteilung durchgeführt hat, nicht gefolgert werden kann, dass es einen unbe­ gründeten »Schwenk« der STIKO gegeben hat. Die Neubeurteilung ist vielmehr als eine Einlösung dessen anzusehen, was die STIKO

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bereits im Juni 2021 bei ihrer vorläufigen Nichtempfehlung der COVID-Impfstoffe für Kinder und Jugendliche angekündigt hatte. Die hier vorgeschlagene Analyse der Urteilszurückhaltung kann die anfängliche Nichtempfehlung und die darauffolgende Neubeurtei­ lung als zusammenhängende Ereignisfolge fassen, und die in diesem Rahmen vollzogene Meinungsrevision der STIKO als epistemisch rational erklären. Um ein Einknicken der STIKO belegen zu können, reicht es nicht aus, auf die Revision der Nichtempfehlung zu einer Empfehlung zu verweisen. Eine andere Fehlinterpretation des Verhaltens der STIKO, die immer wieder durch Forderungen aus der Politik verstärkt worden ist, besteht darin, die Empfehlung der Impfung im August als längst überfällig zu beschreiben, so als hätte die STIKO schon von Anfang an die nötigen Daten zur positiven Nutzen-Risiko-Abwägung vorliegen gehabt und unbegründet an ihrer ursprünglichen Nichtempfehlung festgehalten. Dieses Bild wurde durch Äußerungen wie die von Mar­ kus Söder, der zuerst mit Beiträgen wie »Die Stiko sollte dringend überlegen, wann sie das Impfen von Jugendlichen empfiehlt« (Söder 2021a, Twitter, eigene Hervorhebung) Druck aufbaute, um dann nach der erfolgten Empfehlung im August festzustellen: »Endlich: Die Stiko empfiehlt die Impfung für Schüler ab 12. Das ist für den Schulstart wichtig. Allerdings hätten wir das schon früher haben können. Leider haben wir viel Zeit verloren. Umso schneller sollte jetzt das Impfangebot erfolgen.« (Söder 2021b, Twitter) Es gibt also verschiedene Arten der Missdeutung dessen, was in Fällen der Urteilsenthaltung vor sich geht. Die einen empfinden die Ereignisabfolge von der ursprünglichen Nichtempfehlung bis hin zur späteren Empfehlung als Einknicken, die anderen als überfällige Einlösung dessen, was schon früher hätte passieren können. Beide Parteien scheinen den Erkenntnisgewinn, der zwischen anfänglicher Nichtempfehlung und späterer Empfehlung stattgefunden hat, zu leugnen oder zumindest zu ignorieren. Die einen stehen der neu gewonnenen Evidenz ablehnend gegenüber (die STIKO ist nur ein­ geknickt, es gibt keine neuen Erkenntnisse, die eine Empfehlung rechtfertigen), die anderen meinen, dass es neuer Evidenz für die Empfehlung in diesem Umfang gar nicht gebraucht hätte (die Empfeh­ lung hätte schon früher ausgesprochen werden können). In beiden Fällen ist es wichtig, die Urteilszurückhaltung in ihren komplexen Abläufen besser zu kommunizieren und sie gegen Missdeutungen zu verteidigen. Es muss deutlich gemacht werden,

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dass die Urteilszurückhaltung (anders als die agnostische Enthaltung) keine abschließende neutrale Reaktion auf die Frage nach der Wahrheit einer Proposition ist, sondern nur temporär eingesetzt wird, um später ein besseres Urteil fällen zu können. Es muss ferner vermittelt werden, dass eine zukünftige abschließende Klärung schon jetzt angestrebt werden kann, ohne dass das konkrete Ergebnis dieser Klärung damit feststeht. In diesem Zusammenhang scheint es zu kurz gegriffen, einfach nur zu fordern, die STIKO in Ruhe ihre Arbeit tun zu lassen.20 Die STIKO soll und darf kritisiert werden, denn es ist nicht ausgeschlossen, dass auch ein Expertengremium bei der Urteilszurückhaltung, bei der Suche und Auswertung neuer Evidenz oder bei der abschließenden Klärung der Frage Fehler macht. Um aber mögliche Fehler überhaupt identifizieren, einordnen und bewerten zu können, muss zunächst Klarheit darüber herrschen, was die STIKO eigentlich tut, wenn sie eine vorläufige Nichtempfehlung mit der Aussicht auf spätere Klärung ausspricht.21

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Verena Wagner

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Doxastische Neutralität in der Pandemie

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Axel Gelfert

Virales Nichtwissen: Fake News in Zeiten von Covid-19

1. Einführung Am 15. Februar 2020, als die sich entwickelnde SARS-CoV-2-Pandemie aus europäischer Sicht noch als »regional begrenzte Epidemie in China« (so Jens Spahn am 12.2.2020 in einer Aktuellen Stunde vor dem Deutschen Bundestag1) wahrgenommen wurde, richtete der Generalsekretär der Weltgesundheitsorganisation, Tedros Adhanom Ghebreyesus, eine ungewöhnliche Warnung an die Teilnehmer der zu dieser Zeit – damals selbstverständlich noch in Präsenz – stattfin­ denden Münchner Sicherheitskonferenz: »We’re not just fighting an epidemic; we’re fighting an infodemic.«2 In der Rückschau mag diese Äußerung manchem prophetisch erscheinen, zumal sie in eine Phase der Pandemie fiel, als viele Gesundheitsexperten und Politiker – zumal in der westlichen Welt, die abgesehen von Beinahe-Pandemien wie SARS-1 und MERS von epidemischen Notlagen über Jahrzehnte hinweg verschont geblieben war – noch glaubten, mit freiwilligen Befragungen von Reiserückkehrern die globale Ausbreitung des SARS-CoV-2-Virus stoppen zu können. Nur wenige begriffen die sich abzeichnende globale Pandemie nicht nur als gesundheitliche Bedro­ hung, sondern auch als informationelle Herausforderung für jene deliberativen Prozesse, die ein erfolgreiches Gemeinwesen – zumal in Krisenzeiten – ausmachen müssen. In historischer Perspektive jedoch mutet Ghebreyesus’ Anmer­ kung weniger überraschend an, und die Lehren vergangener Epide­ mien waren es auch, die die WHO früh dazu animierten, sich mit der Frage nach der Verlässlichkeit öffentlicher Gesundheitsinformationen im Hinblick auf das neuartige Coronavirus zu beschäftigen. So zitiert 1 2

Vgl. Spahn (2020). Zit. nach The Lancet (2020, 875).

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Axel Gelfert

die britische Medizin-Fachzeitschrift The Lancet die WHO-Direktorin des Programms für die Bekämpfung von Infektionsrisiken, Sylvie Bri­ and: We know that every outbreak will be accompanied by a kind of tsunami of information, but also within this information you always have misinformation, rumours, etc. We know that even in the Middle Ages there was this phenomenon. But the difference now with social media is that this phenomenon is amplified, it goes faster and further, like the viruses that travel with people and go faster and further.3

So ist es nicht allein die Zirkulation falscher oder irreführender Informationen, die eine »Infodemie« ausmacht, sondern die Überfülle konkurrierender Informationen, die einerseits Aufmerksamkeit erfor­ dern, sich andererseits durch ihre Neuartigkeit und Schnelllebigkeit unseren etablierten Routinen zur Überprüfung von Informationen entziehen. »An infodemic«, schreiben dementsprechend Tangchar­ oensathien et al. (2020, 2), »is an overabundance of information – some accurate and some not – occurring during an epidemic«. Und sie fügen hinzu: »It makes it hard for people to find trustworthy sources and reliable guidance when they need it.« Zu einem nicht unbeträchtlichen Teil handelt es sich bei der von der WHO diagnostizierten »Infodemie« um die unvermeidbare Kehr­ seite wissenschaftlicher Unsicherheit in Zeiten von »Fast Science« (vgl. hierzu den Beitrag von Michael Jungert in diesem Band), also in einer Gesamtsituation, die geprägt ist von einer sich rapide wandelnden wissenschaftlichen Datenlage, einander teils widerspre­ chenden empirischen Befunden, miteinander konkurrierenden Inter­ pretationen und einer trotz allem bestehenden Dringlichkeit, auf der Basis vorläufiger Informationen Handlungsempfehlungen auszu­ sprechen. Eingeübte Prozesse der Aggregation wissenschaftlichen Wissens – etwa durch das Instrument des (schon in ruhigeren Zei­ ten nicht unproblematischen) Peer Reviews und das arbeitsteilige Zusammenwirken von Wissenschaftsinstitutionen und politischen Akteuren – erweisen sich zum einen als zu träge, zum anderen als prinzipiell dafür ungeeignet, handlungsleitende Bewertungen vor­ wegzunehmen. Letztere sollten sich zwar auf das beste verfügbare Wissen stützen, bedürfen jedoch immer eines Werturteils, das sich nicht unmittelbar aus der wissenschaftlichen Beschreibung eines Sachverhalts ergibt. Angesichts einer hohen Forschungstätigkeit, die 3

Zit. nach Zarocostas (2020, 676).

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Virales Nichtwissen: Fake News in Zeiten von Covid-19

sich gerade anfangs in einer großen Zahl noch nicht vollständig begutachteter Preprints niederschlug, sahen sich politische Entschei­ dungsträger, aber auch die breite Öffentlichkeit, mit einer Fülle wis­ senschaftlicher Teilergebnisse und Vorabinformationen konfrontiert, die schlichtweg nicht mehr überschaubar war und zum Teil als bedrü­ ckende »Information Overload« wahrgenommen wurde (vgl. de Bruin et al. 2021). Zu den unvermeidlichen Nebeneffekten von Wissensproduktion in Zeiten von »Fast Science« kommen pandemiebezogene »Fake News«, Gerüchte und Desinformationskampagnen hinzu, die beson­ ders in der Anfangsphase zur allgemeinen Desorientierung und Überforderung beitrugen. Insbesondere in Gesellschaften mit einem beständig hohen Grad politischer Polarisierung wurden erst faktische Bewertungen der Pandemielage, anschließend die Maßnahmen zu deren Eindämmung und zuletzt die als Ausweg aus der Pandemie geltenden Impfstoffe zum Politikum. So wurde in den Vereinigten Staaten das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes bzw. der Verzicht darauf zu einer weitgehend entlang politischer Trennlinien verlaufen­ den Glaubensfrage; liberale Vertreter städtischer Eliten übten sich im »Virtue Signalling«, indem sie noch beim abendlichen Joggen im Freien ihre handgenähten Masken zur Schau stellten, während einfache Starbucks-Angestellte, die lediglich auf die Einhaltung ver­ bindlicher Hausregeln zum Maskentragen hinwiesen, von libertärkonservativ veranlagten Kunden der versuchten Freiheitsberaubung bezichtigt wurden (vgl. u.a. Dyer 2020.) So verwundert es nicht, dass auch Meldungen über die laufenden politischen und wissenschaftli­ chen Entwicklungen im Hinblick auf Covid-19 in latent vorhandene – und bereits zuvor im Zusammenhang etwa mit der Klimakrise virulent gewordene – gesamtgesellschaftliche Diskurse (u.a. zum Spannungsverhältnis zwischen staatlicher Regulierung und gesell­ schaftlicher Selbstregulierung) eingespeist bzw. unter sie subsumiert wurden, und dies nicht nur in den USA. Allerdings ist die seit einigen Jahren intensiv diskutierte Frage nach dem Stellenwert von »Fake News«, die im Folgenden im Hinblick auf die SARS-CoV-2-Pandemie diskutiert werden soll, ihrerseits eng mit den politischen Entwick­ lungen in den USA verknüpft, weswegen diese für die folgende Diskussion zunächst den Ausgangspunkt darstellen soll, ehe anhand einer Reihe von Beispielen der globale Charakter von Covid-19-FakeNews und die ihnen zu Grunde liegenden universellen Mechanismen herausgearbeitet werden sollen.

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Axel Gelfert

2. »Fake News«: Von (Real-)Satire zur Bedrohung Der Begriff »Fake News« erlangte seit dem seinerzeit unerwarte­ ten Erfolg des Brexit-Referendums in Großbritannien 2016 und der US-Präsidentschaftskandidatur Donald Trumps im selben Jahr größere Verbreitung, zunächst im politisch-journalistischen Milieu, sehr bald dann aber auch in der Medienwissenschaft und in der angewandten sozialen Erkenntnistheorie. Neben propagandistischen Aussagen etwa der Brexit-Lobbyisten, die unterstellten, die Europäi­ sche Union würde dem britischen NHS-Gesundheitssystem Mittel entziehen, waren damit vor allem auch gegen einzelne Politiker (insbesondere Hillary Clinton) gerichtete Falschaussagen dubiosen Ursprungs (z.B. auf eigens für diesen Zweck eingerichteten PseudoNachrichten-Websites) gemeint. Welche notwendigen und hinrei­ chenden Bedingungen eine sich als Nachricht ausgebende Meldung erfüllen muss, um als Fake News zu gelten, wurde seither zum Gegenstand einer vielschichtigen und kontroversen Diskussion.4 Während manche Definitionsversuche darauf abzielen, Fake News unter bekannte Phänomene zu subsumieren, betonen andere die neuartigen Aspekte, die sich aus dem Zusammenspiel eines Wandels der Medienlandschaft (z.B. durch ökonomische Konzentration bei gleichzeitiger Erosion sog. »Gatekeeper«-Funktionen), veränderter Muster des Nachrichtenkonsums (z.B. über soziale Netzwerke) und neuartiger technologischer Möglichkeiten (»Microtargeting«) erge­ ben. Wieder andere zeigen sich besorgt darüber, dass der Vorwurf, es handle sich bei einer Nachricht um »Fake News«, auch als Mittel zur Diskreditierung legitimer Minderheitsmeinungen oder ganzer Nachrichtenorganisationen kooptiert werden kann, etwa wenn Trump etablierte Medien wie CNN oder die New York Times als »Fake News Media« bezeichnet. Ob man deswegen das philosophische Projekt einer Definition von »Fake News« als verfehlt ansehen muss (wie dies etwa Habgood-Coote (2019) tut), ist jedoch mehr als zweifelhaft – schließlich sind selbst philosophische Grundbegriffe wie »Freiheit« und »Demokratie« nicht davor gefeit, von ihren Feinden missbräuch­ lich vereinnahmt zu werden. Typischerweise versteht man unter Fake News falsche oder irre­ führende Meldungen, die ihr Publikum täuschen (oder anderweitig 4 Zu den ersten systematischen Definitionsversuchen des Begriffs »Fake News« zählen u.a. Rini (2017), Gelfert (2018) und Tandoc et al. (2018).

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Virales Nichtwissen: Fake News in Zeiten von Covid-19

beeinflussen) sollen oder bei denen zumindest eine hohe Wahrschein­ lichkeit der Irreführung in Kauf genommen wird, um damit eine wie auch immer geartete Beeinflussung des Publikums zu erreichen. Dabei vermischen sie oft Wahres und Falsches, zum Beispiel indem an Bekanntes oder Plausibles angeknüpft wird, welches jedoch wiede­ rum nur als Vehikel zur Weiterverbreitung von Fehlinformationen oder Spekulationen dient. Gleich in zweierlei Hinsicht unterscheiden sich Fake News vom philosophisch vieldiskutierten Fall der Lüge. Während der Lügner bewusst die Unwahrheit sagt und versucht, sein Publikum über die Wahrheit einer Tatsache zu täuschen, ist den Urhebern von Fake News deren Wahrheitsgehalt oft gleichgültig; anders als die Lüge sind Fake News mit »Bullshit« (im Sinne Harry Frankfurts (2005)) kompatibel. Zum zweiten zielen Fake News in der Regel nicht auf die Täuschung konkreter Einzelpersonen, die den unmittelbaren Adressatenkreis ausmachen, sondern auf Weiter­ verbreitung – vergleichbar dem klassischen Fall von Gerüchten.5 Anders als Gerüchte, deren informeller Charakter oft ersichtlich ist, bedienen sich Fake News des klassischen Nachrichtenformats. Einerseits kopieren auf Fake News spezialisierte Websites oft das Layout klassischer Nachrichtenseiten, andererseits kann sich auch die Fake-News-Meldung selbst mit konventionellen Markern (z.B. dem Präfix »Breaking News« oder dem Verweis auf eine angebliche Quelle) als (vermeintliche) Nachrichtenmeldung zu erkennen geben. Angesichts dieser Vielschichtigkeit ist der englischsprachige Begriff »Fake News« mit deutschen Entsprechungen wie »Zeitungs­ ente«, »Falschnachricht« oder »Desinformation« nur unzureichend übersetzt: Weder handelt es sich bei Fake-News-Meldungen um die isolierte Fehlfunktion eines ansonsten verlässlichen Mediums, noch sind alle Fake News falsch oder dienen propagandistischen Zwecken. Folgt man einer der meistzitierten Definitionen, so könnte man Fake News vielleicht vorläufig auf folgende Weise definieren: »Fake News is the deliberate presentation of (typically) false or misleading claims as news, where the claims are misleading by design.« (Gelfert 2018, 108) Damit wird verdeutlicht, dass Fake News von den Urhebern bewusst als Meldungen von Nachrichtenwert ausgegeben werden, deren irreführende Wirkung aber nicht notwendigerweise auf absicht­ licher Täuschung beruhen muss, sondern z.B. auch auf in Kauf genom­ mene systemische Biases, die sich im Design der zu Grunde liegenden 5

Vgl. hierzu Gelfert (2013).

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Axel Gelfert

Kommunikationsprozesse widerspiegeln, zurückgeführt werden kön­ nen.6 Interessanterweise spiegelt sich die systemische Dimension auch in einer frühen Verwendung des Begriffs »Fake News« wider, als dieser noch nicht auf problematische Einzelmeldungen bezogen wurde, sondern in den frühen 2000er-Jahren zur Beschreibung von satirischen Fernsehformaten wie The Colbert Report und The Daily Show diente. Solche »Fake News Shows« persiflierten auf überspitzte Weise die reißerische Rhetorik und mangelnde analytische Tiefe von Non-Stop-Nachrichtenkanälen wie etwa FoxNews und CNN: »As fake news, it satirizes traditional news by reporting in a style similar to network and cable TV news, but it amplifies their biases, mistakes, and deficiencies to ensure that viewers hear them loud and clear.« (Gettings 2007, 26f.) Zwar sollte man nicht zu viel in diese sprachliche Kontinuität hineininterpretieren, jedoch entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass aus »Fake News« als einer Art satirisch-medi­ enpädagogischer Kunstform innerhalb weniger Jahre die Zustands­ beschreibung einer polarisierten Öffentlichkeit geworden ist, in der Fakten zunehmend zur ideologischen Verhandlungsmasse degradiert werden.

3. Eine kleine Taxonomie von Covid-19-»Fake News« Der amerikanische Soziologe Tamotsu Shibutani (1920–2004), der als Nachfahre japanischer Einwanderer während des Zwei­ ten Weltkriegs von amerikanischen Behörden interniert worden war, beschrieb aufgrund seiner Erfahrungen im Internierungslager Gerüchte als »improvisierte Nachrichten«, mithilfe derer Menschen versuchen, unklare Situationen zu navigieren und sich durch kollek­ tive Prozesse des »Sensemaking« Deutungs- und Sinnzusammen­ hänge zu erschließen. Bei »Sensemaking«-Prozessen handelt es sich um soziale Aktivitäten im Austausch mit anderen, die kontinuierlich stattfinden – also nicht ausschließlich auf konkrete Problemlösung zielen – und für die sich, von einem objektiven Standpunkt aus betrachtet, nicht immer eine rationale Rechtfertigung angeben lässt. Oft korrelieren sie mit einer starken persönlichen Betroffenheit der Eine leichte Modifikation dieser Definition wurde in Gelfert (2021) vorgenommen, u.a. um auch nicht-sprachliche Inhalte wie Bild- und Videosequenzen zu berücksich­ tigen.

6

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Virales Nichtwissen: Fake News in Zeiten von Covid-19

relevanten Akteure und stellen eine Reaktion auf unzureichende Informationen dar. So treten Gerüchte vor allem dann auf, wenn der Informationsfluss durch äußere Einflüsse eingeschränkt oder ganz unterbunden worden ist.7 Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn Kommunikationskanäle durch Bombardierung im Krieg oder als Folge von Naturkatastrophen gestört oder unterbrochen sind oder wenn, wie im Internierungslager, durch autoritäre Interventionen der freie Informations- und Meinungsaustausch unterdrückt wird (vgl. Shibutani 1966). Zwar ist die SARS-CoV-2-Pandemie gelegentlich mit Natur­ katastrophen verglichen worden (zum Beispiel als Vergleichsmaß­ stab für die volkswirtschaftlichen Gesamtschäden), doch hatte sie zumeist, anders als es oft bei Erdbeben, Vulkanausbrüchen oder Flutkatastrophen der Fall ist, nicht den physischen Zusammenbruch der informationellen Infrastruktur zur Folge. Dennoch kam es vie­ lerorts sowohl zu Versorgungsmängeln als auch zu einem Wegfall alltäglicher Informationskanäle, unter anderem dadurch, dass durch Lockdowns und Ausgangssperren Möglichkeiten zum informellen Austausch wegfielen; zum Teil wurde dies durch den einseitigen Konsum von Online-Informationskanälen überkompensiert.8 Die Kombination beider Faktoren, wie etwa in Indien, als während der zweiten Covid-19-Welle im Mai 2021 der Flüssigsauerstoff ausging und sich Angehörige trotz Restriktionen zum Teil privat um die Beschaffung von Sauerstoff für ihre im Sterben liegenden Verwandten bemühten, ist in ihrer Wirkung durchaus mit den Folgeeffekten einer Naturkatastrophe vergleichbar. Hinzu kamen im Fall von Covid-19 die objektiven Informationslücken, die vor allem in der Anfangsphase bestanden, als die Wissenschaft nur wenig über den Ursprung und die Verbreitungswege von SARS-CoV-2 sowie über den Krankheitsver­ lauf von Covid-19 wusste, zugleich jedoch das Informationsbedürfnis der breiten Bevölkerung enorm hoch war. Eingespielte Arbeitsteilungen, etwa zwischen wissenschaftlichen Beratergremien und politischen Entscheidungsträgern, aber auch zwi­ schen politischer Berichterstattung und Wissenschaftsjournalismus, wurden angesichts der hohen Dynamik der Pandemieentwicklung auf eine harte Probe gestellt. Ein an die langfristige Bereitstellung 7 Für eine der ersten empirischen Arbeiten zu dem Thema, siehe Prasad (1934); weitere Verweise auf die empirische Literatur finden sich in Gelfert (2013). 8 Vgl. hierzu Van Aelst et. al. (2021).

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von Expertise angepasstes Wissenschaftssystem fand sich plötzlich mit der Herausforderung konfrontiert, kurzfristige Handlungsemp­ fehlungen auszusprechen – oft lange bevor sich ein durch langwierige Peer-Review-Mechanismen validierter wissenschaftlicher Konsens abzeichnete. Diese Schnelllebigkeit – die im Begriff »Fast Science« (Stegenga 2020), also der den üblichen Validierungsmechanismen vorauseilenden Wissenschaft gut zum Ausdruck kommt – war beglei­ tet von irreduziblen epistemischen Unsicherheiten. Selten zuvor war die Prozesshaftigkeit wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung so öffentlich sichtbar, und doch zeigen Erhebungen, dass dies dem öffentlichen Vertrauen in die Wissenschaft insbesondere zu Beginn der Pandemie nicht abträglich war – ganz im Gegenteil: Dem Wissen­ schaftsbarometer 2020 zufolge gaben rund drei Viertel der Befragten im April 2020 an, »eher« oder »voll und ganz« in Wissenschaft und Forschung zu vertrauen, und ein vergleichbarer Anteil fühlte sich »voll und ganz« oder »eher« gut über Corona informiert. Zwar sind diese Werte seither wieder gefallen, jedoch auf ein Niveau, das leicht über dem vor der Pandemie liegt. Ihren anfänglichen Vertrauensvorschuss in pandemischen Krisenzeiten hat die Wissenschaft also durchaus nicht verspielt. Zugleich haben sich neue Formate der Kommunikation von – und über – Wissenschaft etabliert, die außerhalb gewohnter institu­ tioneller Abläufe entstanden sind. Ein vielbeachtetes Beispiel im deut­ schen Sprachraum war der NDR-Podcast »Coronavirus-Update«, in dem ab Februar 2020 teils mehrmals wöchentlich der Virologe Chris­ tian Drosten im Gespräch mit Wissenschaftsjournalisten des öffent­ lich-rechtlichen Rundfunks neue Erkenntnisse rund um das SARSCoV-2-Virus vorstellte.9 In ihrer Begründung für die Verleihung eines Grimme Online Awards 2020 an die Initiatoren des Projekts betonte die Jury zum einen das »Potenzial der Wissensvermittlung via Podcast«, zum anderen die gelungene Verbindung von »Popularität und Fähigkeit zur Differenzierung« (Grimme Online Award 2020). Zugleich potenziert die Verlagerung von wissenschaftsorientierter Kommunikation in internetbasierte Formate auch die Möglichkeiten zur Zirkulation von Fake News über Wissenschaft. So wies eine im April 2020 publizierte Studie nach, dass mehr als ein Viertel der 9 Ab ca. September 2020 wurde das Programm zunehmend durch andere Gesprächs­ partner, so u.a. die Virologin Sandra Ciesek, ergänzt; in der öffentlichen Wahrneh­ mung blieb die enge Assoziation mit der Person Drostens jedoch weitgehend erhalten.

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Virales Nichtwissen: Fake News in Zeiten von Covid-19

am meisten aufgerufenen YouTube-Videos zur Covid-19-Pandemie irreführende Informationen enthielten, die den damals bekannten wissenschaftlichen Ergebnissen widersprachen (vgl. Li et al. 2020, 4f.).10 Für die Nachfrage nach solchen – wenn auch objektiv irrefüh­ renden – Informationsangeboten machen die Autoren der Studie unter anderem einen Mangel an offiziellen Informationen im nach­ gefragten Format (»lack of access of professional and government sources to individuals who use YouTube«, ebd.) verantwortlich. Ein akutes Informationsbedürfnis wird, wie kaum anders zu erwarten, zur Not auch mit ungesicherten oder irreführenden (Pseudo-)Informatio­ nen gestillt, zumal in krisenhaften Situationen, die weitreichende Prozesse kollektiven »Sensemakings« aktivieren. In dieses Bild passt die bereits in der Anfangsphase der Pandemie konstatierte Tendenz, dass viele alternative Nachrichtenquellen an bestehende ideologische Prägungen anknüpfen. Zwar verbreiten sie durchaus nicht ausschließlich Fake News, doch verbinden sie oft eine selektive Informationswahrnehmung mit einer Rekontextuali­ sierung im Sinne einer fundamentalen »Systemkritik«.11 Solange die so bedienten Narrative gleichermaßen realitätsbasiert sind, handelt es sich zunächst nur um eine – im Sinne epistemischer Diversität sogar willkommene – Generierung einer Vielzahl von Standpunkten und Interpretationsansätzen. Problematisch wird es dann, wenn aus dem Zusammenhang gerissene Einzelaspekte die Weltsicht zu dominieren beginnen und den Blick auf gegenläufige empirische Phänomene und Belege versperren. Als Resultat solcher Verengungen des Blickfelds kristallisieren sich wiederkehrende Interpretationsmuster heraus, die durch selektive Informationswahrnehmung weiter verfestigt werden; im Folgenden sollen – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – fünf derartige »Strickmuster« von Fehlwahrnehmungen im Rahmen der Covid-19-Pandemie diskutiert werden, die sich oft genug auch in entsprechenden Fake-News-Meldungen niedergeschlagen haben.12

10 Bei ihrer Auswertung stützten sich die Autoren auf bereits in früheren Studien verwendete Scoring-Kriterien (JAMA/DISCERN) zur Akkuratheit von online ver­ mittelten Gesundheitsinformationen. 11 »[O]bserved information mix[ed] with a recontextualization into an anti-systemic meta-narrative is much more likely to contribute to the feared ›infodemic‹ than simple lies.« (Wormer 2020, 469) 12 Damit soll nicht behauptet werden, Fake News beruhten immer auf Fehlwahrneh­ mungen seitens ihrer Urheber; vielmehr können letztere ganz bewusst – und wider

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3.1 Phantasmagorien der Fremdkontrolle: Von 5G bis zum »Great Reset« Wie bereits diskutiert, dienen Gerüchte oft dem kollektiven »Sense­ making« in Zeiten von Unsicherheit und Bedrohung. Zugleich wird allgemein davon ausgegangen, dass externe Bedrohungen zu einer Stärkung der Wahrnehmung von Gruppenzugehörigkeiten führen; dass also Unterscheidungen zwischen »out-group« und »in-group« prononcierter hervortreten. Es ist deshalb womöglich keine Überra­ schung, dass in der Frühphase der Covid-19-Pandemie solche Narra­ tive besonders erfolgreich waren, die Fremdheit und Fremdkontrolle besonders betonten. Damit ist nicht nur die Frage nach dem Ursprung des Virus – das anfänglich als »Wuhan-Virus« und später von einigen politischen Akteuren bewusst polemisch als »China-Virus« bezeich­ net wurde – gemeint, sondern vor allem die Erfahrung des individuel­ len Kontrollverlusts, der sich zum einen aus mangelndem verfügbaren Wissen über den (noch unbekannten) »Feind«, zum anderen aus den zur Pandemieeindämmung eingeleiteten Maßnahmen zum Infekti­ onsschutz und den damit verbundenen Einschränkungen individuel­ ler Freiheiten ergibt. Die Vorstellung, durch einen unsichtbaren »Feind« fremdbe­ stimmt – und womöglich fremdgesteuert – zu sein, gehört zum Grund­ repertoire zahlreicher Verschwörungsmythen, die auch in der CoronaPandemie zu Tage traten und auf kreative, wenn auch nur teilweise rekonstruierbare Weise entsprechend adaptiert wurden. Bereits in der Frühphase der Pandemie wurde etwa die Vorstellung, Mobilfunknetze – vor allem der neue 5G-Mobilfunk-Standard – würden unkalkulier­ bare Gesundheitsrisiken bergen, auf die Corona-Pandemie zuge­ schnitten, indem zum einen behauptet wurde, die verwendeten Mil­ limeterwellen würden das Immunsystem schwächen und so ein »harmloses« Virus erst gefährlich werden lassen, und zum anderen suggeriert wurde, die Pandemie sei ein künstlich geschaffener Vor­ wand, um unter dem Deckmantel von Infektionsschutzmaßnahmen die 5G-Technologie, bei der es sich um eine militärische Waffe im Dienste einer »Entvölkerungs-Agenda« handle, auf breiter Front installieren zu können.13 Ihren Ursprung nahm diese Fusion zweier besseres Wissen – die (z.B. durch Biases bedingte) Empfänglichkeit ihres Publikums für Fake-News-Meldungen ausnutzen. 13 Vgl. Broderick (2020).

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Virales Nichtwissen: Fake News in Zeiten von Covid-19

Verschwörungsnarrative – des seit langem schwelenden Generalver­ dachts gegenüber der 5G-Technologie und des Zweifels an der Gefähr­ lichkeit des SARS-CoV-2-Virus – vermutlich in Frankreich, wo bereits am 20. Januar 2020, drei Wochen nach den ersten chinesischen Berichten über eine neuartige Lungenkrankheit, auf der Internetseite Les Moutons Enragés eine Verbindung hergestellt wurde zwischen dem Auftreten von Covid-19 in Wuhan und der kurz zuvor fertigge­ stellten Installation von 5G-Masten in der betreffenden Region. Mit einigen Monaten Verspätung kam es ab April 2020 vor allem in Großbritannien zu zahlreichen Brandanschlägen auf Mobilfunkmas­ ten. Ein britischer Verschwörungstheoretiker war es auch, der im April 2020 eine Verbindung zwischen der angeblichen Rolle der 5G-Technologie und den – damals noch in keiner Weise absehbaren – Corona-Impfstoffen herstellte; diese, so David Icke, würden auf Geheiß von Bill Gates die Form von »Nano-Chips« annehmen, über die die so Geimpften dann drahtlos angesteuert und kontrolliert werden könnten.14 Ähnlich gelagert sind Verschwörungsmythen, die hinter der Corona-Pandemie eine »globalistische« Agenda vermu­ ten. Neben Bill Gates fallen in diesem Zusammenhang mit großer Regelmäßigkeit die Namen »Elon Musk« und »George Soros«, was leicht als antisemitische Chiffre erkennbar ist. Selbst ein zum Richter am Obersten Gerichtshof der Apostolischen Signatur aufgestiegener Geistlicher, der deutsche Kardinal Gerhard Ludwig Müller, verstieg sich zu der Behauptung, hinter den Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie stecke eine finanzstarke Elite, die keine Gelegen­ heit verstreichen lassen wolle, um die Öffentlichkeit gleichzuschalten und einen Überwachungsstaat einzurichten.15 Nun stellen Verschwörungsmythen für sich genommen noch keine Fake News dar, sondern liefern lediglich einen quasi-weltan­ schaulichen Interpretationsrahmen, der auf konkrete Phänomene, Situationen und Ereignisse angewandt werden kann – was erwar­ tungsgemäß oft genug zu situationsspezifischen Fake News führt. Auch hier gilt, dass Fake News oft ein Körnchen Wahrheit enthalten, so dass sie bisweilen zur Plausibilisierung übergreifender Verschwö­ rungsmythen am konkreten Einzelfall dienen können. Ein Beispiel: So mag es in der Tat der Fall gewesen sein, dass Covid-19 anfangs vor 14 15

Vgl. Kelion (2020). Vgl. Deutschlandfunk (2021).

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allem dort um sich griff, wo viele der neuen 5G-Masten aufgestellt worden waren – was jedoch lediglich der Tatsache geschuldet ist, dass Mobilfunknetze zuerst dort ausgebaut wurden, wo die Bevölkerungs­ dichte groß und die Mobilität der Bevölkerung hoch ist. Dieselben Faktoren, die den Ausbau der Kommunikationsinfrastruktur moti­ viert hatten, begünstigten also zugleich die Pandemieausbreitung – jedoch ohne dass zwischen letzteren ein kausaler Zusammenhang besteht. Anders als evidenzbasierte Theoriegebilde unterliegen Ver­ schwörungsmythen deutlich weniger Randbedingungen, sowohl in empirischer als auch struktureller Hinsicht. So stellen ad-hoc-Modi­ fikationen – einzig zum Zweck, empirische Widerlegungsversuche abzuwehren – eine typische Selbstimmunisierungsstrategie zur Ver­ teidigung von Verschwörungsmythen dar, was wiederum zur Folge hat, dass der theoretisch-empirische Gehalt von Verschwörungsmy­ then oft deutlich wandelbarer ist als derjenige wissenschaftlicher Theorien. Damit können Verschwörungsmythen auf geradezu syn­ kretistische Weise Einzelbehauptungen, die anfangs scheinbar ohne direkte Relevanz waren, in ihr theoretisches Gespinst mit aufnehmen – so z.B. auch Fake News anderweitigen Ursprungs. Womöglich deswegen wird im Zusammenhang mit Verschwörungsmythen in der öffentlichen Debatte nicht immer zwischen dem übergeordneten Verschwörungsnarrativ und seinen konkreten, oft die Form von Fake News annehmenden Elementen bzw. Manifestationen unterschieden. Im Extremfall – wie etwa dem in den Jahren 2020–2021 populären »QAnon«-Verschwörungsnarrativ – setzt sich der empirisch-theore­ tische Gehalt aus der Summe zahlreicher (von den anonymen Urhe­ bern in Form von Online-Posts, den sog. »Q drops«, publizierten) Einzelbehauptungen zusammen, so dass sich eine inhaltlich verbin­ dende Klammer bestenfalls als Momentaufnahme aus der Summe der Einzelbestandteile herauslesen lässt (z.B. im genannten Fall der Grundverdacht, politische Prozesse würden durch einen geheimen »Deep State« kontrolliert).

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3.2 Virale Akteure: Staaten als Zielscheibe und Quelle von Desinformation Bei der Beurteilung von Handlungen und deren Erfolg, so haben Jones/Harris (1967) gezeigt, schleicht sich eine doppelte Asymme­ trie in unsere Bewertungen ein: Zum einen sind wir geneigt, die Handlungen anderer als basierend auf stabilen Charaktereigenschaf­ ten zu erklären, während wir unser eigenes Verhalten als situativ bedingt einschätzen; zum anderen werden eigene Erfolge eher als auf eigener Anstrengung und Fertigkeit beruhend betrachtet, während eigene Misserfolge externen Störfaktoren zugeschrieben werden. Ob dieser fundamentale Attributionsfehler (engl. fundamental attribution error) tatsächlich eine treibende Kraft hinter Verschwörungsdenken ist, ist in der philosophischen Literatur zum Teil heftig diskutiert worden.16 Dass Verschwörungs- und Fake-News-Narrative ohne die Unterstellung böser Absichten oft weit weniger überzeugend und aufsehenerregend wären, lässt sich anhand der Corona-Pandemie gut zeigen, zumal oft auch Korporationen, Kollektiven und Institutionen stabile Absichten und Interessen zugeschrieben werden. Insbesondere staatliche Akteure waren während der CoronaPandemie sowohl Zielscheibe als auch Quelle von Desinformation. Sowohl westliche Politiker als auch Medien hatten anfangs nicht nur – durchaus korrekt – Wuhan und die umliegende chinesische Region Hubei als Ausbruchsort des neuartigen SARS-Corona-Virus bezeichnet, sondern den Staat China für dessen Ursprung verantwort­ lich gemacht. So forderte der damalige US-Präsident Donald Trump im September 2020 in einer Rede vor den Vereinten Nationen, die Welt müsse China dafür zur Rechenschaft ziehen, die »Pest« des SARS-CoV-2-Virus »auf die Welt losgelassen zu haben«.17 Tatsäch­ lich hat Chinas restriktive Informationspolitik, die anfangs auf Ver­ tuschung des Ausbruchgeschehens setzte, vermutlich zur schnellen Ausbreitung der Covid-19-Pandemie beigetragen. Ob der Ausbruch tatsächlich rechtzeitig hätte eingedämmt werden können, darf ange­ sichts der Übertragungsdynamik, die beim Covid-19-Erreger – anders als beim Vorgänger SARS – auch von asymptomatischen Trägern ausgeht, jedoch bezweifelt werden. Vgl. u.a. Clarke (2002) und die dort zitierte Literatur. Im O-Ton: »…we must hold accountable the nation which unleashed this plague onto the world: China«, zit. nach ABC News (2020).

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Vermutlich um die eigene Reputation zu schützen, begannen Medien und Regierungsvertreter der Volksrepublik China mit der Verbreitung von Spekulationen, die den geographischen Ursprung des Virus und die zentrale Rolle des Huanan-Wildtiermarkts in Wuhan in Zweifel ziehen sollten.18 So bezog sich die englischsprachige Zei­ tung Global Times, ein Sprachrohr der chinesischen Regierung, am 22. Februar 2020 auf einen angeblichen Bericht des japanischen Nachrichtensenders Asahi-TV, der zu Spekulationen seitens chinesi­ scher Leser geführt habe, das SARS-CoV-2-Virus habe seinen Ursprung in den USA; zitiert wurde ein anonymer Weibo-Nutzer, der die Möglichkeit in den Raum stellte, ein amerikanischer Teilnehmer an den Military World Games in Wuhan im Oktober 2019 könnte das Virus nach China getragen haben. Eine Recherche der in Hong Kong angesiedelten South China Morning Post ergab, dass es einen solchen japanischen Fernsehbericht vermutlich nie gegeben hat; ob das anonyme Weibo-Zitat tatsächlich existiert, lässt sich kaum rekon­ struieren.19 So illustriert dieses Beispiel auf anschauliche Weise, dass Desinformation nicht nur in falschen oder irreführenden Tatsachen­ behauptungen bestehen kann, sondern auch in scheinbar neutralen Pseudo-Zitaten, die anderen – womöglich für glaubwürdiger gehal­ tenen – Medien in den Mund gelegt werden. So können Fake News auch zum Vehikel propagandistischer Desinformation »von oben« werden.

3.3 »Follow the Money«: »Big Pharma« und die verheimlichten Wundermittel Sobald Erklärungsversuche verdächtigen Akteuren stabile Interessen und Absichten zuschreiben, um deren Rolle in beobachteten Entwick­ lungen zu eruieren, liegt die Frage nach dem Eigennutz der Akteure auf der Hand. Die oft ohnehin nur rhetorische Frage »Cui bono?« 18 Michael Butter hat darauf hingewiesen, dass in der westlichen Welt Verschwö­ rungsnarrative heute »vor allem ein Mittel der populistischen Elitenkritik« sind und sich gegen vermeintliche Verschwörer »von oben« richten, während sich historisch – und man wird ergänzen dürfen: auch in gegenwärtigen Autokratien – der Verdacht zumeist gegen Umstürzler »von unten« (oder aber Feinde von außen) richtete (Butter 2021, 8). 19 Vgl. Boxwell (2020).

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wird dabei in zeitgenössischer Interpretation zur imperativischen For­ derung »Follow the money!«. Dieser Slogan, der oft – historisch unge­ nau – auf den Watergate-Informanten »Deep Throat« zurückgeführt wird, wird im Munde zeitgenössischer Fake-News-Produzenten zum Schlachtruf; wer ihm folgt, landet oft genug bei diffusen Anschuldi­ gungen, die sich gegen abstrakte Kollektive – »die Pharmaindustrie« – oder gegen einzelne, besonders herausgehobene Individuen (Bill Gates, Anthony Fauci) richten.20 Wer staatliche Akteure wie China für die Urheber des SARSCoV-2-Virus hält, wird vermutlich auch die Frage, wem die Pandemie nutzt, so zu beantworten wissen, dass sich daraus ein die Ausgangs­ these stützendes Argument ergibt – etwa indem behauptet wird, China habe die Pandemie entfacht, um die sich daran anschließende Krise zum Ausbau seiner »Soft Power« in Afrika und Europa (z.B. durch Maskenlieferungen als humanitäre Maßnahme) zu nutzen.21 Die Anzahl an Covid-19 Verstorbener, so heißt es in der verschwö­ rungstheoretischen Pseudo-Dokumentation Plandemic (2020), sei dadurch künstlich in die Höhe getrieben worden, dass US-Kranken­ häuser Prämien für die Diagnose eines Covid-19-Todesfalls erhielten – was sich bei näherer Analyse als ein fallbasierter Zuschuss zur kostenintensiven Behandlung von Covid-19-Intensivpatienten ent­ puppt.22 Eine weitere Spielart dieses Typs von irreführenden Falschmel­ dungen ist die Behauptung, es gäbe wirksame Hausmittel bzw. leicht verfügbare Standardmedikamente, die selbst schwere Covid-19-Fälle kurieren könnten, jedoch durch eine am Verkauf teurer Neuentwick­ lungen interessierte Pharmalobby unterdrückt würden. Insbesondere das Malaria-Medikament Hydroxychloroquin, das in einer Laborstu­ die vielversprechende Eigenschaften gegen das erste SARS-Virus gezeigt hatte, rückte in den Mittelpunkt des öffentlichen Interes­ 20 Im Falle von Wissenschaftlern bzw. Wissenschaftsmanagern wie Anthony Fauci geht es bei dem Slogan »Follow the Money!« zumeist nicht um den Vorwurf persön­ licher Bereicherung, sondern um die Unterstellung, Forschungsmittel und andere Ressourcen würden für unlautere Zwecke umgeleitet; so brachte die republikanische US-Senatorin Joni Ernst sogar einen »FAUCI Act« (Fairness and Accountability in Underwriting Chinese Institutions Act) als Gesetzentwurf ein, der dem angeblichen Missbrauch von US-Steuergeldern zu »Gain-of-Function«-Forschungszwecken in China auf den Grund gehen sollte; vgl. Lynch (2021). 21 Vgl. hierzu Qi/Joye/Van Leuven (2022). 22 Vgl. Funke (2020).

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ses – vor allem nachdem Trump auf einer Pressekonferenz des Weißen Hauses voreilig Hoffnungen geweckt hatte. In mehreren Ländern, darunter Brasilien, wurden daraufhin klinische Studien durchgeführt, die jedoch zum Teil aufgrund schwerwiegender Neben­ wirkungen, darunter tödlichen Arrhythmien, abgebrochen wurden, zumal keine Anzeichen für einen in-vivo-Nutzen bei der Behandlung von Covid-19-Patienten erkennbar waren. Teile der brasilianischen Öffentlichkeit, vor allem Anhänger des die Existenz des Corona-Virus leugnenden brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro, vermuteten hinter dem Abbruch der Studien den Versuch, ein billiges und leicht verfügbares Medikament aus dem Markt möglicher Therapien zu drängen. Unterfüttert wurde dies mit Fake News, das Oberste Bundesgericht habe der brasilianischen Regierung den Erwerb von Chloroquin zum Schutz der Bevölkerung untersagt, um damit der Pharmaindustrie höhere Profite durch den Verkauf des teuren antivi­ ralen Wirkstoffs Remdesivir zu sichern.23 Dass sich prompt ein teurer Schwarzmarkt sowohl für Chloro­ quin als auch wenig später für den veterinärmedizinischen Wirkstoff Ivermectin (dem ebenfalls der Charakter eines Wundermittels nach­ gesagt wurde) entwickelte, führt vor Augen, wie selektiv bei der Beantwortung der Frage »Cui bono?« von den Betreffenden verfah­ ren wird.

3.4 »Keine Pandemietreiber«: Kognitive Dissonanzreduktion Aus der Sozialpsychologie ist wohlbekannt, dass Menschen neue Informationen keineswegs »neutral« oder »objektiv« bewerten, son­ dern immer auch auf ihre Passfähigkeit und Kompatibilität mit ihrem bestehenden Glaubens- und Überzeugungssystem hin über­ prüfen. Das bedeutet keineswegs, dass wir nicht in der Lage wären, unsere Überzeugungen auf der Basis zuwiderlaufender Belege oder Argumente zu revidieren; jedoch ist die Beweislast umso größer, je stärker die neuen Informationen unser bestehendes System von Überzeugungen in Mitleidenschaft ziehen. Überzeugungen, die eher an der Peripherie unseres Überzeugungssystem angesiedelt sind oder ohnehin von uns als wandelbar angesehen werden, sind dabei leichter 23

Vgl. Silva/Silva Jr. (2021).

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aufzugeben als etwa Überzeugungen, die an unser Selbst- oder Welt­ bild rühren. So verwundert es kaum, dass im Verlauf der Corona-Krise die lückenhafte Datenlage eine Vielzahl von Interpretationen des Pande­ miegeschehens ermöglichte, deren Implikationen oft genug – ohne dass dies bei ihren Verfechtern Staunen ausgelöst hätte – mit den eigenen Interessen und dem eigenen Selbstbild korrespondieren. Dies lässt sich am Begriff des »Pandemietreibers« verdeutlichen, der vor allem ex negativo – »XYZ ist kein Pandemietreiber« – verwendet wurde. Mindestens implizit bezieht sich diese Formulierung auf die bereits seit Anfang der Pandemie beobachtete Überdispersion bei der Weitergabe des SARS-CoV-2-Virus: Einige wenige »Super­ spreader« tragen erheblich zum Pandemiegeschehen bei, während die große Mehrzahl der Infizierten jeweils nur wenige weitere Personen ansteckt. Seitdem bekannt wurde, dass das SARS-CoV-2-Virus über Aerosole – und nicht in erster Linie über Tröpfchen- oder Schmier­ infektionen – weitergegeben werden kann, ließ sich auch auf die wahrscheinlichsten Szenarien eines Ausbruchsgeschehens schließen: Infektionen waren besonders dort zu erwarten, wo viele Menschen auf engem Raum in geschlossenen Räumen über längere Zeit durch lautes Sprechen oder Singen Aerosole freisetzen. Obwohl während diverser Pandemiewellen kaum rekonstruier­ bar war, wer sich wo angesteckt hatte, und die Datenlage entspre­ chend wenig belastbar war, wurde im Brustton der Überzeugung von Gastronomen/Club-Betreibern/Bildungspolitikern verkündet, Restaurants/Clubs/Schulen seien »keine Pandemietreiber«. Insbe­ sondere die Aussage, Kinder seien keine Pandemietreiber – getätigt während der Schulschließungen der ersten Pandemiewelle, als die Kontakte von Kindern erheblich reduziert waren – erwies sich als vorschnell, denn nach der Rückkehr zum regulären Schulbetrieb schossen die Inzidenzen unter Schulkindern vielerorts in die Höhe und übertrafen zeitweilig die aller anderen Bevölkerungsgruppen. So psychologisch nachvollziehbar die Projektion des universellen Motivs der »kindlichen Unschuld« auf infektiologische Zusammenhänge auch ist (und so real die negativen Auswirkungen etwa von Schul­ schließungen auf Psyche und Sozialverhalten von Kindern gewesen sein mögen), so hatte es spätestens seit Mai 2020 solide Hinweise darauf gegeben, dass auch Kinder durchaus ansteckend sein können – wie auch anhand der damals bereits bekannten Funktionsweise des Virus nicht anders zu erwarten.

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Eine vorläufige, als Preprint publizierte Studie des Berliner Viro­ logen Christian Drosten, der die Viruslast verschiedener Altersgrup­ pen verglichen und Hinweise auf vergleichbare Viruslasten bei Schul­ kindern und Erwachsenen dokumentiert hatte, wurde in einer bis dato beispiellosen Kampagne von der Bild-Zeitung als »grob falsch« diffamiert, unterlegt mit dem sensationsheischenden Untertitel »Wie lange weiß der Star-Virologe schon davon?«24 – ganz so, als habe es sich um Geheiminformationen und nicht um einen bewusst als vorläufig gekennzeichneten, öffentlich zugänglichen Preprint gehan­ delt. Zitiert wurden Forscher – darunter Statistiker und Ökonomen – die kritisierten, die gemessenen Daten hätten auch anders statistisch analysiert werden können, so dass ein statistisch signifikanter Unter­ schied der Viruslasten nicht ausgeschlossen werden könne.25 Dass geringfügige – jedoch statistisch signifikante – Unterschiede keinen klinischen Unterschied für die Infektiosität ausmachen würden, wurde dabei als für den Laien wichtige Hintergrundinformation unterschla­ gen. So verwundert es kaum, dass die ein Jahr später in Science in begutachteter Fassung publizierte Studie die ursprünglichen Schluss­ folgerungen Drostens bestätigt, während die von der Bild-Zeitung fabrizierten Einwände wissenschaftlich haltlos – dabei jedoch um so öffentlichkeitswirksamer – waren. Der Fall der Bild-Kampagne gegen Christian Drosten zeigt nachdrücklich, dass Fake News nicht allein in Falschinformationen besteht, sondern auch irreführende und tendenziöse Berichterstat­ tung einschließt, soweit diese in Form und Ursprung darauf angelegt ist, epistemisch verzerrend zu wirken. Wenn wissenschaftsinterne Diskussion über die Grenzen der gewählten statistischen Methoden in verschwörungstheoretischem Duktus als »Eingeständnis von Män­ geln« charakterisiert wird, wenn englischsprachige Zitate fachfremder Kommentatoren »freihändig« übersetzt, aus dem Zusammenhang gerissen und so präsentiert werden, als handle es sich um direkte Zitate aus einer Interviewsituation – so widerfahren dem von Bild Vgl. Piatov (2020). Ein weiterer Kritikpunkt war die Gleichbehandlung von Datenreihen, die mittels unterschiedlichen Testverfahren gewonnen worden waren, da zu Beginn der Pandemie eine andere Maschine zur Analyse von Abstrichen verwendet worden war als ab Mitte März 2020. Die spätere Trennung der Datenreihen ergab zwar eine leicht geringere Viruslast bei Kindern, jedoch nicht in einem solchen Maße, dass es je legitim gewesen wäre, von einer Nichtinfektiosität von Kindern auszugehen. Vgl. hierzu Schumann (2020). 24

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gegen Drosten in Stellung gebrachten Cornell-Ökonom Jörg Stoye (der sich von der Bild-Interpretation distanzierte) – dann handelt es sich, entsprechend gängigen Definitionen von Fake News, um eine absichtliche Darstellung von seiner Anlage nach irreführendem Inhalt in Nachrichtenform, mithin um Fake News (vgl. Abschnitt 2).26

3.5 »Epistemic Trespassing« Der Fall des gegen seinen Willen für eine Fake-News-Kampagne vereinnahmten Ökonomen Stoye ist ein gutes Beispiel dafür, dass von Journalisten und in der Öffentlichkeit allgemein selten trennscharf zwischen verschiedenen Domänen von Expertise unterschieden wird. Sowohl Drosten als auch Stoye sind Professoren an renommierten Universitäten und werden in der Öffentlichkeit daher als Experten wahrgenommen – doch, wie Stoye in einer Reaktion auf die BildKampagne gegenüber SPIEGEL Online anmerkte: »Drosten ist ein Gigant der Virologie. Ich habe von seiner Disziplin keine Ahnung, ich bin Statistiker.«27 Soviel Selbstkritik und realistische Einschätzung der Grenzen der eigenen Expertise kommt nicht allen Wissenschaftlerinnen und Wis­ senschaftlern zu, die sich öffentlich äußern. So legte im Februar 2021 der Hamburger Physiker Roland Wiesendanger ein vom TwitterAccount der Universität Hamburg zur »Studie« geadeltes Sammel­ surium wissenschaftlicher und unwissenschaftlicher Bewertungen vor, das sich der Frage annahm, ob das SARS-CoV-2-Virus mög­ licherweise im Labor entstanden sein könnte. Darin operiert Wie­ sendanger auf der Basis zahlreicher Veröffentlichungen und öffent­ lichen Meinungsäußerungen, die collagenhaft und unsystematisch nebeneinandergestellt werden; an vielen Stellen bleibt es dem Leser überlassen, aus den diversen mit Textmarker-Hervorhebungen verse­ henen Zitaten seine eigenen Schlüsse zu ziehen. Die offenbar mit der Pressestelle der Universität Hamburg und dem damaligen Universi­ täts-Präsidenten Dieter Lenzen abgesprochene Veröffentlichung – die ihrerseits nur im Hochladen auf einen Researchgate-Server bestand – wurde überwiegend als institutionelles Eigentor gewertet, zumal 26 Presseberichten zufolge (siehe Schumann 2020) bezeichnete Stoye die wenige Wochen später überarbeitete Drosten-Studie als statistisch »vorbildlich«. 27 Zit. nach SPIEGEL (2020).

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Wiesendanger als Experte für Rastertunnelmikroskopie kaum über angelesenes Laienwissen zu Fragen der Virologie und Pandemiefor­ schung hinauskam. Wie er selbst in einem Interview mit ZDFheute anmerkte: »Im Prinzip hätte das jeder Journalist so herausfinden können.«28 Beworben wurde Wiesendangers Recherche jedoch nicht als subjektive Meinungsäußerung oder eklektischer Pressespiegel, sondern als eine »Studie zum Ursprung der Coronavirus-Pandemie« durch einen »Nanowissenschaftler«, der »zu dem Ergebnis« komme, »sowohl die Zahl als auch die Qualität der Indizien« spreche für einen Laborunfall als Ursprung des Coronavirus.29 Die Fälle Wiesendangers und – in geringerem Maße, da offenbar unverschuldet – Stoyes lassen sich mit dem von Nathan Ballantyne geprägten Begriff des »Epistemic Trespassing« (Ballantyne 2019) beschreiben. Ballantyne beschreibt damit Situationen, in denen Experten den angestammten Bereich ihrer Expertise verlassen und in Bereichen fernab ihrer Expertise Urteile fällen, ohne jedoch über das dafür benötigte Wissen und die notwendigen Fähigkeiten zu verfügen. Wenn sie dabei weiterhin ihre – dem neuen Gegenstandsbereich nicht länger angemessenen – Qualifikationen als Beleg für ihren Expertenstatus in die Waagschale werfen, wie dies in der zitierten Pressemitteilung der Universität Hamburg der Fall war, besteht darin nicht weniger als eine epistemische Anmaßung, die umso problema­ tischer ist, als die breite Öffentlichkeit sich oft blind darauf verlässt, dass sich äußernde Experten über relevante Expertise verfügen.

4. Fake News im Spannungsfeld zwischen Opportunismus und Wissenschaft Nicht nur die öffentliche Debatte über Fake News ist spannungsreich, auch innerhalb der sozialen Erkenntnistheorie ist umstritten, inwie­ weit der Begriff »Fake News« ein neuartiges Phänomen widerspiegelt, das sich nicht – oder nur auf unnötig komplizierte Weise – auch anders fassen ließe. Sieht man Fake News, wie im Abschnitt 2 disku­ tiert, als ein Symptom systemischer Veränderungen im Design bzw. Zit. nach SPIEGEL (2021). Die Zitate entstammen der entsprechenden Pressemitteilung der Universität Hamburg vom 18. Februar 2021 (»Studie zum Ursprung der Coronavirus-Pandemie veröffentlicht«).

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in der Ausgestaltung von Kommunikationsprozessen an – darunter die Konvergenz verschiedener Entwicklungen wie der zunehmenden Individualisierung des Nachrichtenkonsum, der Erosion traditioneller »Gatekeeper«-Funktionen und des gezielten Ansprechens bestimm­ ter Klientelen (z.B. durch algorithmisches »Microtargeting«) – so wird man für das Auftreten und die Verbreitung von Fake News keine monokausale Erklärung erwarten können. Dies gilt umso mehr in einer Umbruchsituation, wie sie die Corona-Pandemie besonders im Anfangsstadium darstellte. Nicht nur bestand angesichts einer existentiellen Bedrohung hoher Hand­ lungsdruck auf individueller und kollektiver Ebene, auch die ein­ gespielten Prozesse zur Qualitätssicherung genau jenes Wissens, das für effektives Handeln nötig gewesen wäre, waren einer Belas­ tungsprobe ausgesetzt. Das arbeitsteilige Zusammenwirken von gesellschaftlichen Subsystemen wie Politik und Wissenschaft, das normalerweise mit einer zeitlichen Trennung zwischen Informations­ gewinnung und Entscheidungsfindung einhergeht, musste zugunsten eines dynamischen Ineinandergreifens der verschiedenen Prozesse aufgegeben werden. Angesichts der enormen politischen und sozioökonomischen Folgeeffekte einer jeden Entscheidung für oder gegen Infektionsschutz- oder Öffnungsmaßnahmen, fand der Prozess der Neujustierung des Verhältnisses zwischen Politik und Wissenschaft unter genauester Beobachtung durch Medien, Öffentlichkeit und Interessenvertreter statt. Entsprechend vielfältig waren die Anlässe und Motivationen für die Generierung und Verbreitung von Fake News im Hinblick auf die sich entfaltende Covid-19-Pandemie: Können manche Fake-NewsFälle dem allgemeinen Mangel an gesichertem Wissen, verbunden mit dem Drang zu kollektivem »Sensemaking«, zugeschrieben wer­ den, so waren in anderen Fällen propagandistische Ziele vorrangig (etwa im Falle von chinesischen Fake News, die den Ursprung des SARS-CoV-2-Virus im eigenen Land verschleiern sollten) und in anderen Fällen das Profitinteresse, das sich entweder auf den Verkauf angeblicher Covid-19-Hausmittel richtete oder auf die Generierung von »Clickbait«. Die Autoren eines vom Reuters Institute und Oxford Internet Institute der Universität Oxford herausgegebenen Lagebe­ richts zu Covid-19-Fake-News wiesen bereits im April 2020 darauf hin, dass die »Infodemie«-Rhetorik (vgl. Abschnitt 2) das Ausmaß und die Vielschichtigkeit von Fake News in einer so komplexen und dynamischen Lage wie der sich ausbreitenden Covid-19-Pandemie

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nicht adäquat charakterisiert – nicht so sehr, weil Fake News kein weitverbreitetes Problem darstellten, sondern weil der Ausdruck eine Uniformität des Phänomens suggeriert, die empirisch so nicht gegeben ist: »As we have shown, there is wide variety in the types of misinformation circulating, the claims made concerning the virus, and motivations behind its production.« (Brennen et al. 2020, 8) Anders als die Pandemie selbst, lässt sich die Welle an Covid-19-relevanten Fake News nicht auf einen einzigen kausalen Faktor und eine Handvoll von Randbedingungen zurückführen: »Instead, Covid-19 appears to be supplying the opportunity for very different actors with a range of motivations and goals to produce a variety of types of misinformation about many different topics.« (ebd.) Dass angesichts der neuen technologischen Möglichkeiten, Fake News in Umlauf zu bringen, ein gewisser Opportunismus vor­ herrscht, der zu deren Generierung und Verbreitung beiträgt, ist nicht auf die Covid-19-Pandemie beschränkt. Gerade solche Formate, die – wie elektronische soziale Medien – auf einen steten Nachschub an neuen Informationen zielen und die denjenigen einen Distinktions­ gewinn versprechen, die ihren »Followers« neue (vorzugsweise zur eigenen Weltsicht passende) Informationshäppchen frei Haus liefern, sind anfällig für jene systemischen Verzerrungen, die Anreize für die Verbreitung von Fake News darstellen. Eine neue Erfahrung war es vor allem für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, in diese – zuvor bereits innerhalb der politischen Sphäre weit verbreitete – Dynamik hineingezogen zu werden. Ebenso wie Politikerinnen und Politiker ihre Worte im Zeitalter des »Shitstorms« auf die Waagschale legen müssen (und oft genug daran scheitern), mussten Wissenschaftle­ rinnen und Wissenschaftler unter dem Brennglas der Corona-Krise damit rechnen, auf »Soundbites« reduziert und für wissenschaftsex­ terne Zwecke vereinnahmt zu werden. Welche Folgen es langfristig für die gesellschaftliche Entschei­ dungsfindung hat, dass Expertise in Krisensituationen bereits im Moment ihrer Abfrage politisiert wird, ist schwer vorherzusehen; jedenfalls ist damit zu rechnen, dass ein Folgeeffekt der von Alexander Bogner griffig konstatierten »Epistemisierung des Politi­ schen« (Bogner 2021) auch eine nahezu zwangsläufige Politisierung des Epistemischen sein wird. Denn Wissenschaftlerinnen und Wis­ senschaftler setzen sich allein schon durch die Tatsache, dass sie sich als Expertinnen und Experten in der Öffentlichkeit exponieren, dem Spannungsfeld gesellschaftlicher Kräfte aus. Wie Caspar Hirschi

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anhand einer Auswahl historischer »Expertenskandale« beschrieben hat, führt bereits die in Anspruch genommene epistemische Autorität und der vorausgesetzte »gute Ruf« dazu, dass Experten genau jene soziale Fallhöhe haben, die geradezu dazu auffordert, sie punktuell einem »Degradierungsritual« zu unterziehen, das im Namen der öffentlichen Meinung vollzogen wird und dabei »der Rechtfertigungs­ logik [folgt], dass soziale Normen und moralische Gebote höhere Geltung haben als der Rang und Namen der Degradierten« (Hirschi 2018, 26). Dass sich die Wissenschaft während der Corona-Krise gegen haltlose Bezichtigungen, Vereinnahmungen und Desinformations­ versuche weitgehend behaupten und zudem binnen kürzester Zeit wirksamen Impfschutz gegen schwere Covid-19-Verläufe bereitstel­ len konnte, spricht für die Robustheit des gesellschaftlichen Subsys­ tems Wissenschaft. Vielleicht ist es sogar ermutigend, dass – wie im andiskutierten Fall Christian Drostens – einzelne Wissenschaftler aus gegen sie von Boulevardmedien orchestrierten Fake-News-Kam­ pagnen weitgehend unbeschädigt hervorgehen konnten, zeigt dies doch, dass dieselben elektronischen Medien, die ein Vehikel für Fake News sein können, auch zur Mobilisierung einer wissenschaftsaffinen Öffentlichkeit genutzt werden können, die sich der Zirkulation von Fake News entgegenstellt.30

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Virales Nichtwissen: Fake News in Zeiten von Covid-19

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Axel Gelfert

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Rico Hauswald

Epistemische Invektivität in der Corona-Krise: Eine function-first-Analyse am Beispiel der Ausdrücke »Fake News«, »Verschwörungstheorie« und »Wissenschaftsleugnung«

1. Einleitung Invektivität ist ein Oberbegriff für kommunikative Phänomene der Schmähung, Abwertung, Herabsetzung und Diffamierung (Eller­ brock et al. 2017). Solche Phänomene können etwa durch die Verwen­ dung spezifisch invektiver Ausdrücke wie Slurs (d.h. rassistisch oder sexistisch diskriminierende Bezeichnungen), andere Schimpfwörter (wie »Lump«, »Schuft« usw.) oder sonstige beleidigende oder pejo­ rative Wendungen realisiert werden. Invektivität kann aber auch non-verbale Erscheinungsformen annehmen (z.B. Gesten wie den ausgestreckten Mittelfinger oder bildliche Darstellungen wie Karika­ turen).1 Das Ziel invektiver Kommunikation können Personen oder Personengruppen sein, aber auch zu anderen ontologischen Kate­ gorien gehörende Entitäten (Institutionen, Handlungen, politische Maßnahmen usw.).2

Ein Beispiel sind Darstellungen von Spitzenpolitikern und Virologen in Häftlings­ kleidung, wie sie auf einigen Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen prä­ sentiert wurden. Ferner können auch Unterlassungen (wie die Verweigerung eines Grußes oder das Ausschlagen eines testimonialen Angebots (Hazlett 2017)) unter bestimmten Bedingungen invektive Qualität haben. 2 Zu denken wäre beispielsweise an einen Ausdruck wie »Corona-Diktatur«, der mit der Begründung, er werde insbesondere von »rechtsextremen Propagandisten gebraucht, um regierungspolitische Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie zu diskreditieren«, zu einem »Unwort des Jahres 2020« gekürt wurde (vgl. Unwortdes­ jahres 2021). 1

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Rico Hauswald

Als eine spezielle Teilklasse invektiver Ausdrücke können die epistemischen Invektiven abgegrenzt werden.3 Darunter möchte ich hier Ausdrücke verstehen, die typischerweise dazu gebraucht werden, Personen speziell im Hinblick auf ihre epistemischen Fähigkeiten, Verhaltensweisen oder Charaktereigenschaften zu schmähen oder abzuwerten (z.B. Substantive wie »Tor«, »Dummkopf«, »Scharlatan« oder Adjektive wie »töricht«, »einfältig« oder »bekloppt«), sowie Ausdrücke, mit denen einschlägige nicht-personale Entitäten wie Propositionen, Meinungen, Argumente, Sprechakte, Texte usw. im Hinblick auf ihre epistemische Qualität geschmäht werden (z.B. »Quatsch«, »Unsinn«, »Humbug«, »absurd«, »krude«, »wirr« usw.).4 Für das Studium epistemischer Invektivität hat der öffentliche Dis­ kurs während der Corona-Krise ergiebiges Anschauungsmaterial geliefert. Er hat Neologismen wie »Covidiot« hervorgebracht, einer jahrhundertealten – aber bis dato wenig gebräuchlichen – Wortfami­ lie wie »Schwurbler«, »Geschwurbel«, »schwurbeln« usw. zu einer bemerkenswerten Konjunktur verholfen5 oder eine zuvor weithin positiv konnotierte Bezeichnung wie »Querdenker« zum »ultimati­ ven Schimpfwort« (Meggle 2022) mutieren lassen. Unter den episte­ mischen Invektiven sind nun wiederum einige, die bereits erhebliche Aufmerksamkeit in der Erkenntnistheorie erfahren haben. Drei davon möchte ich in diesem Beitrag herausgreifen und einer exemplari­ schen Analyse als epistemische Invektiven unterziehen: die Ausdrü­ cke »Fake News«, »Verschwörungstheorie« und »Wissenschaftsleug­ nung«. Ich möchte damit zum einen zur Weiterentwicklung der diesen Begriffen gewidmeten philosophischen Debatten und zum anderen zur Schärfung des generellen Konzepts epistemischer Invek­ tivität beitragen. Zugleich möchte ich einen Beitrag zum besseren Verständnis von Charakter und Dynamik des öffentlichen Diskurses 3 Epistemische Invektivität ist ein gemeinsam mit Pedro Schmechtig entwickeltes und im Rahmen des seit dem Sommersemester 2020 an der TU Dresden kooperativ organisierten gleichnamigen Forschungsseminars studiertes Konzept. 4 Die Qualifikation »typischerweise« soll zum einen dem Umstand Rechnung tragen, dass diese Ausdrücke sich manchmal auch auf nicht-epistemische Aspekte beziehen, und zum anderen dem Umstand, dass sie unter besonderen Bedingungen auch nichtinvektiv verwendet werden können. Letzteres scheint kein Spezifikum epistemischer Invektiven, sondern ein generelles Merkmal aller Invektiven zu sein (selbst klassische Slurs lassen beispielsweise eine nicht-invektive In-group-Verwendung zu). 5 Wenn man eine Google-Trends-Häufigkeitsanalyse für den Ausdruck »Schwurb­ ler« durchführt, ergibt sich für das Jahr 2020 ein Anstieg um annähernd das Hundert­ fache gegenüber den Vorjahren.

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Epistemische Invektivität in der Corona-Krise

während der Corona-Krise leisten, der in besonderem Maße durch epistemische Invektivität geprägt war und dem ein großer Teil meines Anschauungsmaterials entstammt. Zur Frage, was Wissenschaftsleugnung, Fake News und Ver­ schwörungstheorien sind, wurden in der jüngeren Erkenntnistheorie umfangreiche Debatten geführt und verschiedenste Definitionsvor­ schläge vorgelegt. Ob einer davon allgemeine Akzeptanz erlangen wird, dürfte eher unwahrscheinlich sein.6 Zuletzt haben sich die Stimmen gemehrt, die diese definitorischen Projekte für grundsätz­ lich aussichtslos oder verfehlt halten (z.B. Habgood-Coote 2019; Coady 2019a; 2019b). Diese Situation erinnert zumindest in einigen Hinsichten an das Projekt einer analytischen Definition des Begriffs des Wissens, das einige Jahrzehnte nach der durch Gettier (1963) aufgeworfenen Herausforderung in eine gewisse Sackgasse geraten war, da zwar verschiedenste Analysevorschläge auf dem Tisch lagen, keiner davon aber allgemein überzeugen konnte. Angesichts dieser Lage hat Edward Craig (1990) die Konsequenz gezogen, dass es Zeit für einen methodologischen Paradigmenwechsel sei. Statt immer neue Definitionsvorschläge für den Wissensbegriff zu formulieren, sollte man seinem Vorschlag zufolge besser fragen, welche Rolle der Wissensbegriff in unserer Lebenspraxis spielt, warum es ihn gibt, welches epistemische Bedürfnis er befriedigt, welche Funktion er erfüllt. Eine Grundidee des vorliegenden Beitrags besteht darin, dass in Bezug auf Fake News, Verschwörungstheorien und Wissenschafts­ leugnung ein analoger Paradigmenwechsel fruchtbar sein könnte. Ähnlich wie mit Craigs function-first-Ansatz eine Hinwendung zu Wissenszuschreibungen einherging (vgl. etwa Brown/Gerken 2012), möchte ich parallel dazu nicht bei der Frage ansetzen, was Verschwö­ rungstheorien, Wissenschaftsleugnung und Fake News sind, sondern bei der Charakterisierung jener Sprechakte, mit denen Kommuni­ kationsteilnehmer bestimmte Propositionen (oder Mengen von Pro­ positionen) als »Verschwörungstheorie«, »Wissenschaftsleugnung« oder »Fake News« kategorisieren. Wie und warum werden solche Sprechakte vollzogen? Welche kommunikativen oder epistemischen Bedürfnisse erfüllen epistemische Invektiven? Und welche Folgen hat ihr Gebrauch für den Diskurs?

6 Für eine etwas optimistischere Einschätzung im Hinblick auf den Begriff Fake News vgl. aber Gelfert (in diesem Band).

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Rico Hauswald

In Abschnitt 2 werde ich etwas genauer auf die function-firstMethode eingehen, um diese dann in den nachfolgenden Abschnitten auf epistemische Invektiven anwenden zu können. In Abschnitt 3 argumentiere ich unter Bezugnahme auf den Relevante-AlternativenAnsatz für die These, dass eine grundlegende Funktion epistemi­ scher Invektiven darin besteht, bestimmte Propositionen aus der Menge der in einem gegebenen konversationellen Kontext als rele­ vant behandelten Alternativen zu exkludieren oder potentielle Erwei­ terungen dieser Menge zu verhindern. In Abschnitt 4 folgen einige weiterführende Überlegungen dazu, welche Konsequenzen der Gebrauch epistemischer Invektiven für unsere epistemische Praxis hat und wie er normativ zu bewerten ist.

2. Der function-first-Ansatz in der Erkenntnistheorie Nach der durch Gettier (1963) aufgeworfenen Herausforderung bestand die übliche Methode zur philosophischen Untersuchung des Wissensbegriffs lange Zeit primär darin, analytische Definitionsvor­ schläge zu formulieren und diese anhand von Gedankenexperimenten bzw. den intuitiven Reaktionen darauf zu testen. Trotz intensiver Bemühungen und zahlreicher (internalistischer, kausaltheoretischer, reliabilistischer usw.) Ansätze konnte jedoch auf diese Weise keine Menge notwendiger und zusammen hinreichender Bedingungen gefunden werden, mit denen der Wissensbegriff zur allgemeinen Zufriedenheit analysiert werden konnte. Vor diesem Hintergrund hat Craig (1990) vorgeschlagen, einen methodologischen Paradigmen­ wechsel zu vollziehen. Sein Vorschlag lautet, die übliche method of cases durch eine funktionalistische, eine function-first-Methode zu ersetzen oder zumindest zu ergänzen.7 Craig geht von der Frage aus: Wieso gibt es den Wissensbegriff eigentlich in so gut wie allen Sprachen? Welchen Zweck, welche Funktion erfüllt er im Rahmen der menschlichen Lebenspraxis? Wie Craig betont, würden sich diese Fra­ gen auch dann noch stellen, wenn die method of cases irgendwann doch zum Ziel führen und eine zufriedenstellende reduktive Definition des Wissensbegriffs liefern sollte. 7 Die Bezeichnung »function-first-Methode« geht nicht auf Craig selbst, sondern auf Hannon (2019) zurück.

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Epistemische Invektivität in der Corona-Krise

Konkret geht Craig zur Beantwortung der von ihm aufgeworfe­ nen Fragen so vor, dass er sich einen hypothetischen Naturzustand vorstellt und überlegt, welche epistemischen Bedürfnisse die Men­ schen in diesem hätten.8 Offenbar würden sie in verschiedensten Lebenszusammenhängen eine Reihe von Informationen brauchen, von denen sie allerdings viele nicht mit eigenen Sinnen unmittelbar selbst erschließen können. Häufig sind andere Personen die einzige verfügbare Informationsquelle. Allerdings sind nicht alle Mitmen­ schen gleich gute Quellen. Was es daher braucht, ist der Begriff eines guten Informanten, d.h. einer verlässlichen Informationsquelle, deren Mitteilungen mit hoher Wahrscheinlichkeit wahr sind. Craig behauptet nun, dass hier der Ursprung des Wissensbegriffs liegt: [A]ny community may be presumed to have an interest in evaluating sources of information; and in connection with that interest certain concepts will be in use. The hypothesis I wish to try out is that the concept of knowledge is one of them. To put it briefly and roughly, the concept of knowledge is used to flag approved sources of information. (Craig 1990, 11)

Wie verschiedene Autoren im kritischen Anschluss an Craig heraus­ gestellt haben, ist die Markierung guter Informanten allerdings nicht die einzige (und vielleicht auch nicht die fundamentalste) Funktion, die der Wissensbegriff erfüllt. So haben Kappel (2010), Kelp (2011) und Rysiew (2012) argumentiert, dass »Wissen« insbesondere eine Funktion als inquiry stopper erfüllt. Die Grundidee dieser von Rysiew (2012, 270) als certification view bezeichneten Auffassung lautet, dass für epistemische Untersuchungen einerseits nur begrenzt Ressourcen verfügbar sind, Untersuchungen aber andererseits keinen natürlichen Endpunkt besitzen, da Untersuchende nie an den Punkt kommen werden, wo jeder noch so geringfügige Zweifel ausgeräumt ist. Es gibt also ein »begriffliches Bedürfnis« nach einem Mittel, um jenen Punkt auszuzeichnen, an dem eine Untersuchung legitimerweise beendet werden kann, um wieder freie Kapazitäten für weitere epistemische Projekte zu haben: »[W]e need some way of indicating that (in our view) inquiry has gone on long enough – that some information may be fully relied upon. So too, we need some way of flagging, Wobei gegen Craigs spekulative Genealogie m.E. zu Recht eingewandt worden ist, dass ein function-first-Ansatz auch empirische (z.B. historische oder evolutionsbiolo­ gische) Befunde einbeziehen muss und sich nicht (nur) auf die Postulierung eines hypothetischen Naturzustands stützen sollte (vgl. z.B. Gelfert 2011; Kusch 2011). 8

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Rico Hauswald

for purposes of transmission, trusted information as to-be-trusted« (Rysiew 2012, 276). Der certification view besagt nun, dass der Wis­ sensbegriff diese Rolle erfüllt. Wenn wir bei einer Untersuchung, ob die Proposition p wahr ist, an dem Punkt angelangt sind, an dem wir sagen, dass wir nunmehr »wissen, dass p« (bzw. non-p), dann erscheint es legitim, diese Untersuchung zu beenden, um die frei­ werdenden epistemischen Ressourcen in die Untersuchung weiterer Projekte – z.B. die Untersuchung, ob andere Propositionen wahr sind – investieren zu können, wobei die Information, dass p (bzw. non-p), jetzt gegebenenfalls als Prämisse vorausgesetzt werden kann. Neben dem certification view sind noch weitere Alternativen zu Craigs Ansatz vorgeschlagen worden (einen Überblick gibt Han­ non 2015), die sich wohlgemerkt nicht unbedingt wechselseitig ausschließen: Zu sagen, der Wissensbegriff erfülle die Funktion, gute Informanten zu markieren, ist prinzipiell kompatibel mit der Behauptung, dass er auch als inquiry stopper funktioniert (Elgin 2021). Ich möchte hier nicht auf die weiteren Ansätze bzw. Funktionen eingehen, sondern habe speziell den certification view herausgegriffen, da ich im Folgenden argumentieren möchte, dass auch epistemische Invektiven eine im weitesten Sinn ökonomische Rolle bei unserem »epistemischen Scorekeeping« spielen (um den Titel von Rysiews Aufsatz aufzugreifen).

3. Die Funktion epistemischer Invektiven In diesem Abschnitt möchte ich die methodische Grundidee des func­ tion-first-Ansatzes auf epistemische Invektiven übertragen. Ich werde insbesondere für die These argumentieren, dass eine grundlegende Funktion epistemischer Invektiven darin besteht, bestimmte Proposi­ tionen aus der Menge der in einem gegebenen konversationellen Kon­ text als relevant behandelten Alternativen zu exkludieren oder eine Erweiterung dieser Menge zu verhindern. Dazu werde ich zunächst den Ansatz der relevanten Alternativen vorstellen (3.1), anschließend jene konversationellen Manöver diskutieren, durch die Erweiterun­ gen oder Einschränkungen der Menge der als relevant behandelten Alternativen herbeigeführt werden können (3.2), um diese Überle­ gungen dann speziell auf die Ausdrücke »Fake News«, »Verschwö­ rungstheorie« und »Wissenschaftsleugnung« anzuwenden (3.3).

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Epistemische Invektivität in der Corona-Krise

3.1 Relevante Alternativen Ein Subjekt S kann seine Untersuchung, ob p wahr ist, legitimer­ weise beenden, sobald S weiß, dass p. Aber wann ist dieser Punkt erreicht? Der Relevante-Alternativen-Ansatz besagt, dass S, um Wis­ sen bezüglich p beanspruchen zu können, hinreichende Evidenzen besitzen muss, um alle relevanten Alternativen zu p – d.h. alle nicht mit p zu vereinbarenden relevanten Propositionen – ausschließen bzw. falsifizieren zu können (vgl. Hawke 2016).9 Wenn ich z.B. meine Katze suche und die einzigen Möglichkeiten, wo sie im Zimmer sein könnte, sind auf dem Sofa, hinter der Tür oder unter dem Tisch, dann kann ich legitimerweise nur dann das Wissen beanspruchen, dass sie nicht im Zimmer ist (= p), wenn ich an diesen Stellen nachgeschaut und dabei die Evidenzen gesammelt habe, um auszuschließen, dass sie sich dort befindet. Allerdings muss ich nicht schlichtweg alle non-pMöglichkeiten falsifizieren. Bei alltäglichen Wissenszuschreibungen wird es in der Regel als legitim empfunden, bestimmte abwegige Möglichkeiten einfach zu ignorieren – z.B. skeptische Szenarien oder Möglichkeiten wie die, dass die Katze auf magische Weise unsichtbar geworden oder auf die Größe von einem Zentimeter geschrumpft ist und ich sie deswegen nicht finden kann. Dies sind irrelevante Alternativen, die meinen Wissensanspruch nicht bedrohen, obwohl ich ihre Falschheit nicht nachweisen kann. Alternativen lassen sich also zum einen danach einteilen, ob Evidenzen zu ihrer Falsifizierung verfügbar sind, und zum ande­ ren danach, ob sie relevant sind oder irrelevant. Wenn man beide Unterscheidungen kreuzklassifiziert, ergeben sich vier Kategorien, in die eine Alternative fallen kann.10 Der Platz einer Alternative in dieser Matrix ist allerdings nicht ein für alle Mal festgelegt. Alternativen können von einer Kategorie in eine andere wechseln, was etwa geschehen kann, wenn neue Evidenzen verfügbar werden, oder auch dadurch, dass sich der epistemische Kontext verändert, wodurch zuvor relevante Alternativen irrelevant werden oder umge­ 9 Neben Wissen bzw. Wissenszuschreibungen, auf die ich mich hier konzentriere, sind auch andere Phänomene in der Philosophie unter Bezugnahme auf relevante Alternativen analysiert worden, z.B. kontrafaktische Konditionale oder Kausalaussa­ gen. 10 Alternativen können irrelevant und falsifiziert zugleich sein. Dass sie irrelevant sind, heißt nicht, dass keine Evidenzen zu ihrer Falsifikation verfügbar sind, sondern dass keine nötig sind, um sich ihrer zu entledigen.

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kehrt. Eine Konsequenz dessen ist, dass Wissenszuschreibungen, die in bestimmten Kontexten zutreffend sind, in anderen unzutreffend sein können, obwohl sich die verfügbaren Evidenzen nicht verändert haben.11 Sobald beispielsweise skeptische Szenarien relevant werden, scheint etwa im vorliegenden Beispiel der Wissensanspruch, dass die Katze nicht im Raum ist, nicht länger legitim zu sein, da die verfügbaren Evidenzen nicht ausreichen, um diese Szenarien auszu­ schließen. In diesem Sinne meinte Lewis (1996), dass unser Wissen »flüchtig« (elusive) sei: Wissenszuschreibungen, die uns im Alltag legitim erscheinen, können illegitim werden, sobald etwa im Rahmen philosophischer Überlegungen skeptische Szenarien relevant werden. Aber welche Faktoren sind dafür verantwortlich, ob eine Alterna­ tive in einem Kontext relevant ist, und wie kommt es zu Kontextwech­ seln? Wir können diese Fragen, die intensiv in der kontextualistischen Literatur diskutiert werden, hier nicht umfassend behandeln; zumin­ dest ein kurzer Blick auf die in diesem Zusammenhang einschlägigen Aspekte ist aber angebracht. Die meisten Kontextualisten sind – m.E. zu Recht – der Meinung, dass die konversationelle Dynamik zumin­ dest eine gewisse Rolle dafür spielt, inwieweit Alternativen Relevanz gewinnen, wobei die Details allerdings umstritten sind. Lewis’ (1996) Auffassung, dass eine Alternative durch bloßes Erwähnen im Kontext eines Gesprächs relevant wird (das entspricht seiner »Rule of Atten­ tion«), ist bei vielen anderen Autoren auf Ablehnung gestoßen (etwa Blome-Tillmann 2009). Eine Alternative – so der Standardeinwand – wird nicht durch bloßes Erwähnen relevant, sondern (wenn über­ haupt) erst dann, wenn sie von den Gesprächsteilnehmern tatsächlich auch ernstgenommen bzw. als relevant behandelt und damit dem »konversationellen Scoreboard« hinzugefügt wird.12 Aber auch die 11 Hier sei angemerkt, dass sich eine solche kontextualistische Interpretation nicht zwingend aus dem Relevante-Alternativen-Ansatz ergibt und der Ansatz prinzipiell auch für invariantistische Deutungen anschlussfähig ist (vgl. z.B. Rysiew 2006). Inva­ riantisten können z.B. annehmen, dass die Menge der zu falsifizierenden Alternativen nicht von Kontext zu Kontext variiert. 12 Der Begriff eines konversationellen Scoreboards geht auf Lewis (1979) zurück. Die Idee dabei ist, dass jede Konversation durch ein solches Scoreboard reguliert wird, auf dem Zwischenergebnisse, geteilte Überzeugungen und verschiedenste sons­ tige Aspekte des Gesprächs registriert werden und das durch die Äußerungen der Gesprächsteilnehmer permanent aktualisiert wird. Dabei können größere öffentliche Debatten im Prinzip genauso wie Zweiergespräche als eine Konversation aufgefasst werden; dasselbe gilt auch für die Deliberationsprozesse von Einzelindividuen (»stille Selbstgespräche«) (Blome-Tillmann 2009, 256).

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Epistemische Invektivität in der Corona-Krise

Auffassung, dass Alternativen durch Hinzufügen zum Scoreboard automatisch Relevanz gewinnen, ist in der kontextualistischen Lite­ ratur umstritten, und zumindest einige Autoren (z.B. McKenna 2014; Tuckwell forthcoming) argumentieren, dass Alternativen irrelevant sein können, obwohl sie von den Gesprächsteilnehmern ernstgenom­ men werden. Wenig strittig ist dagegen, dass die konversationelle Dynamik umgekehrt nicht der einzige Faktor ist, von dem die Relevanz einer Alternative abhängt, auch wenn wiederum umstritten ist, wel­ che weiteren Faktoren zusätzlich eine Rolle spielen. Ein plausibler Kandidat könnte etwa sein, ob eine Alternative anderen relevanten Alternativen in bestimmten einschlägigen Hinsichten ähnelt (hier wäre an Lewis’ (1996) »Rule of Resemblance« zu denken). Andere denkbare Faktoren sind, ob die Gesprächsteilnehmer objektive prak­ tische Gründe haben, eine bestimmte Alternative ernst zu nehmen (McKenna 2014), oder ob ein epistemisch tugendhafter Akteur sie im fraglichen Kontext ernstnehmen würde (Tuckwell forthcoming). In der kontextualistischen Literatur finden sich noch weitere Vorschläge, die wir aber nicht im Einzelnen durchzugehen brauchen. Wichtig für die folgenden Überlegungen ist, eine Unterscheidung zu treffen zwischen zwei Mengen von Alternativen: 1. der Menge von Alternativen, die von den Gesprächsteilnehmern in einem konversationellen Kontext als relevant behandelt werden und insofern Teil des konversationellen Scoreboards sind (MScore), und 2. der Menge von Alternativen, die (unabhängig davon, ob sie als relevant behandelt werden) im fragli­ chen Kontext relevant sind in dem Sinne, dass ihre Falsifikation erfor­ derlich ist, damit eine entsprechende Wissenszuschreibung tatsäch­ lich zutreffend ist (MRel).13 Ich werde davon ausgehen, dass MRel weder zwingend eine Teilmenge von MScore sein muss, noch umge­ kehrt MScore zwingend eine Teilmenge von MRel. Alternativen können also relevant sein, auch wenn sie nicht als relevant behandelt werden, und umgekehrt können sie als relevant behandelt werden, obwohl sie irrelevant sind.

13 M Rel lässt sich prinzipiell auch allgemeiner definieren, indem der Relevanzbegriff über Wissenszuschreibungen hinaus auf andere Arten von Zuschreibungen, Schluss­ folgerungen, konversationellen Ansprüchen etc. relativiert wird.

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Rico Hauswald

3.2 Konversationelle Exerzitiva und epistemische Invektiven Ich möchte mich im Folgenden auf MScore konzentrieren und die Frage untersuchen, wie Erweiterungen und Einschränkungen dieser Menge in einem konkreten Gesprächskontext möglich sind. Dabei möchte ich die Auffassung vertreten, dass konversationelle Exerzitiva (conver­ sational exercitives) eine wichtige Rolle in diesem Zusammenhang spielen. Dabei handelt es sich um einen besonderen Typ von Sprech­ akten, der von Mary Kate McGowan in einer Reihe von Publikationen untersucht worden ist (z.B. McGowan 2004; 2019). McGowan cha­ rakterisiert konversationelle Exerzitiva als jenen Aspekt von Äuße­ rungen, der konversationelle Normen oder Erlaubnistatsachen für die gerade stattfindende Konversation erzeugt (»that aspect of a conver­ sational contribution that enacts permissibility facts for the conver­ sation in question« (McGowan 2019, 50)).14 Die Schaffung solcher Erlaubnistatsachen begleitet die verschiedensten Äußerungen, die in Konversationen getätigt werden (konversationelle Exerzitiva sind ein »ubiquitous aspect of virtually all speech« (McGowan 2019, 38n18)), ohne dass dies von den Sprechern beabsichtigt oder über­ haupt bemerkt werden müsste. Wenn ich z.B. jemandem mitteile, dass ich eine Katze habe, dann übermittle ich testimonial eine bestimmte Information, vollziehe zugleich aber auch konversationelle Exerzitiva, durch die die Erlaubnis für bestimmte weitere Äußerungen geschaffen wird (z.B. eine Äußerung der Form »Ihr Name ist soundso«, die legitimerweise erst getätigt werden kann, wenn ein Objekt spezifiziert wurde, auf das sich der Ausdruck »Ihr« beziehen kann) oder durch die bestimmte andere Äußerungen verunmöglicht werden (wenn meine Gesprächspartner die Mitteilung akzeptieren, wäre es z.B. nicht mehr legitim, mich zu einem späteren Zeitpunkt in derselben Konversation zu fragen, ob ich irgendwelche Haustiere habe). Für unsere Belange ist besonders interessant, dass durch kon­ versationelle Exerzitiva die Menge der in einem Gesprächskontext ernstgenommenen Alternativen erweitert oder eingeschränkt werden kann. McGowan (2019, 35f.) gibt folgendes Beispiel:

14 Ich folge McGowan darin, diesen Aspekt gleichwohl als separaten Sprechakt zu betrachten (vgl. McGowan 2019, 45ff.). Für die Verteidigung eines sprechakttheo­ retischen Pluralismus, dem zufolge ein und dasselbe Äußerungsereignis mehrere parallele Sprechakte umfassen kann, vgl. auch Lewiński (2021).

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Epistemische Invektivität in der Corona-Krise

Suppose, for example, that my adulterous friend Maureen and I are discussing what she should do about her husband’s suspicions and we have been considering only those courses of action that would keep her adulterous activities secret. There are plenty of things she could do (e.g., kill or hypnotize her husband) that are, in this context, simply beside the point. They are not within the class of possibilities under conversational consideration. Suppose, however, that I were to then say something that required the scope of relevant possibilities to broaden. Suppose I said, »Why don’t you just come clean and tell the truth for once!« In such a case, my utterance requires that a previously irrelevant possibility (that Maureen tell the truth) be relevant. The score automatically adjusts, though, through a rule of accommodation, so that the possibility I mention is conversationally relevant. My utterance effectively broadens the scope of relevant possibilities. Moreover, by enacting a change to the score, my utterance enacts changes to what is subsequently permissible in the conversation. Unless things change again, Maureen is no longer conversationally permitted to ignore these options. Since my utterance enacts changes to the bounds of conversational permissibility, my utterance is a conversational exercitive.

Während McGowans Äußerung die Menge MScore erweitert,15 sind andere konversationelle Exerzitiva geeignet, Elemente aus dieser Menge zu entfernen oder eine mögliche Erweiterung der Menge zu verhindern.16 Meine These lautet, dass eine der primären Funktionen epistemischer Invektiven genau darin besteht, solche Sprechakte zu ermöglichen.17 Beispielsweise hätte Maureen schlicht etwas erwidern können wie »Ach Quatsch, das kommt gar nicht infrage!«, um damit zu verhindern, dass die von McGowan ins Spiel gebrachte Möglich­ keit in MScore aufgenommen wird. Oder betrachten wir erneut das Beispiel der Katzensuche. Angenommen, ich habe seit einer Weile Der Typ der in MScore enthaltenen Elemente hängt davon ab, welcher Natur die Frage ist, um die sich die Konversation dreht. In McGowans Beispiel geht es um eine normative Frage (was soll Maureen tun?). Anders als bei der Katzensuche enthält MScore hier dementsprechend mögliche Handlungsalternativen. 16 In Hauswald (forthcoming) analysiere ich solche Sprechakte als »dismissive conver­ sational exercitives«. 17 Ich schließe allerdings nicht aus, dass epistemische Invektiven auch andere Funk­ tionen erfüllen. So ließe sich etwa in Variation von Craigs These mutmaßen, dass eine Funktion personen-bezogener epistemischer Invektiven wie »Scharlatan«, »Schwurb­ ler«, »Verschwörungstheoretiker« usw. auch darin besteht, aus Sicht des Sprechers besonders schlechte (unverlässliche, epistemisch untugendhafte) Informanten als solche zu markieren. 15

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vergeblich meine Katze gesucht, was ein zum Skeptizismus neigender Freund schließlich mit »Vielleicht ist sie ja unsichtbar geworden« kommentiert. Das könnte ich dann mit dem Hinweis darauf abtun, dass das »Unsinn« sei, um daraufhin meine Suche fortzusetzen. Durch solche Äußerungen übt man etwas aus, was DeRose (2009, 140ff.) ein konversationelles Vetorecht nennt. Man bringt zum Ausdruck, dass man eine bestimmte Proposition nicht für würdig erachtet, ernst­ genommen zu werden, und nicht bereit ist, sie als relevante Alterna­ tive zu behandeln.18 Und sofern meine Äußerung von meinem Gesprächspartner akzeptiert wird (der dagegen prinzipiell wiederum sein eigenes Vetorecht in Anschlag bringen könnte), behalte ich wei­ terhin die konversationelle Erlaubnis, die Proposition zu ignorieren, dass die Katze unsichtbar geworden ist. Solchen konversationellen Manövern können unterschiedliche Motivationen zugrundeliegen. Sofern eine Inklusion der Proposition in MScore sie zugleich auch in MRel inkludieren lässt, könnte sie etwa darin bestehen, die Erzeugung eines neuen Kontexts zu verhindern, in dem mein Wissensanspruch, dass die Katze nicht im Zimmer ist, nicht länger legitim wäre. Sofern eine Inklusion der Proposition in MScore sie nicht auch in MRel inkludieren lässt, könnte eine mögliche Motivation darin bestehen, den bestehenden Kontext von einer für diesen Kontext irrelevanten Alternative freizuhalten. (Ich werde in Abschnitt 4 noch genauer auf mögliche Motivationen und Effekte solcher konversationeller Manöver eingehen.) Während der exkludierende bzw. abweisende Charakter von Ausdrücken wie »Quatsch« oder »Unsinn« wohl relativ klar ist, ist vielleicht weniger offensichtlich, dass sich mit den Ausdrücken »Ver­ schwörungstheorie«, »Fake News« und »Wissenschaftsleugnung« eine ganz ähnliche konversationelle Wirkung erzielen lässt. Gleich­ wohl möchte ich im nächsten Abschnitt für diese Auffassung argu­ mentieren und die Einordnung dieser Ausdrücke in die Kategorie der epistemischen Invektiven verteidigen.

18 Die Ausübung des konversationellen Vetorechts ist auch verwandt mit einem kon­ versationellen Manöver, das Langton (2018) »blocking« nennt (siehe auch McGowan 2019, 47ff.).

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3.3 »Verschwörungstheorie«, »Fake News« und »Wissenschaftsleugnung« als epistemische Invektiven Beginnen wir mit dem Ausdruck »Verschwörungstheorie«. Etwas als »Verschwörungstheorie« zu labeln, mag primär als ein Akt der Prädi­ kation oder Klassifikation erscheinen: Einer bestimmten Proposition (oder Menge von Propositionen) wird eine Eigenschaft zugeschrieben (die Eigenschaft, eine Verschwörungstheorie zu sein), und sie damit in die entsprechende klassifikatorische Kategorie inkludiert. Zugleich wird dadurch typischerweise aber auch ein Akt der Exklusion vollzo­ gen: Indem die Proposition als »Verschwörungstheorie« bezeichnet wird, wird zum Ausdruck gebracht, dass man nicht gewillt ist, die Pro­ position in die Menge MScore der ernsthaft in Erwägung zu ziehenden Alternativen zu integrieren bzw. sie darin zu belassen.19 Werfen wir, um dies deutlicher zu sehen, einen genaueren Blick auf die Art und Weise, wie der Ausdruck in der Alltagssprache ver­ wendet wird. Anders als die Oberflächengrammatik es nahelegt, wird im Allgemeinen nicht einfach schlichtweg jede Theorie als »Ver­ schwörungstheorie« gelabelt, die ein Ereignis durch die Postulierung einer Verschwörung erklärt.20 So wird die Annahme, dass die Anschläge vom 11. September 2001 ein »inside job« waren, als »Ver­ schwörungstheorie« bezeichnet, wohingegen die Annahme, ein Kom­ plott der Terrororganisation Al-Qaida sei für sie verantwortlich, nor­ malerweise nicht so gelabelt wird, obwohl auch sie das Ereignis durch die Postulierung einer Verschwörung erklärt. Man könnte durchaus so weit gehen, dass die Idee einer »wahren Verschwörungstheorie« auf eine Art contradictio in adiecto hinausläuft.21 Zugleich werden manchmal Auffassungen als »Verschwörungstheorie« bezeichnet, die 19 Dieser exkludierende Aspekt muss den Gesprächsteilnehmern nicht unbedingt bewusst sein. Mit Langton (2018) könnte man sagen, dass die mit epistemischen Invektiven vollzogenen exkludierenden Sprechakte auch eine Art »back-door«-Cha­ rakter haben können. 20 Bei verwandten Ausdrücken wie »Verschwörungsmythos«, »Verschwörungsfan­ tasie« oder »Verschwörungsideologie« ist die Oberflächengrammatik in diesem Punkt transparenter. 21 Wie gesagt heißt das nicht, dass Theorien, die Verschwörungen zum Gegenstand haben, nicht wahr sein könnten. Der Punkt ist, dass Anhänger solcher Theorien diese normalerweise nicht als »Verschwörungstheorien« bezeichnen. In diesem Sinne bemerkt auch Uscinski (2019, 20): »[I]f conspiracy theorists investigate a theory that eventually turns out to be true, that theory stops being labeled conspiracy theory.«

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der jeweilige Sprecher schlicht für abwegig hält, auch wenn sie gar keinen unmittelbaren Bezug zu irgendwelchen Verschwörungen her­ stellen (Walker 2019; Napolitano/Reuter 2021). Beispielsweise wur­ den während der Corona-Krise Spekulationen wie die, dass das Virus durch einen Labor-Unfall freigesetzt oder dass der Schweregrad der Pandemie überdramatisiert worden sein könnte, oft als »Verschwö­ rungstheorien« gelabelt, obwohl diese Spekulationen nicht oder zumindest nicht zwingend auf die Unterstellung von Verschwörungen hinauslaufen (denn anders als Verschwörungen ist ein Unfall ja nichtintentionaler Natur, und auch zu Überdramatisierungen können z.B. nicht-intentionale massenpsychologische Prozesse, bestimmte insti­ tutionelle Anreizstrukturen o.ä. beitragen).22 Dass »Verschwörungstheorie«, »Fake News« und »Wissen­ schaftsleugnung« in der Alltagssprache und im öffentlichen Diskurs einen stark pejorativen Charakter haben, wird in der einschlägi­ gen philosophischen Literatur überwiegend anerkannt und ist auch empirisch gut bestätigt. Der alltagssprachliche Gebrauch von »Fake News« ist beispielsweise als »discursive weapon« (Jaster/Lanius 2021, 36), als ein »insult to throw at one’s enemies« (Pritchard 2021, 46), als »political slur« (Talisse 2018) oder als »epistemic slur« (Habgood-Coote 2019, 1041) charakterisiert worden.23 Auf Grund­ lage einer kommunikationswissenschaftlich-psychologischen Unter­ suchung schlussfolgern Jahng et al. (2021, 530): »[F]ake news labels function as discounting cues in cognitive processing that discourage a thorough examination of online information«. Coady (2019b, 40) vergleicht die Ausdrücke »Fake News« und »Verschwörungstheorie« und meint: »[B]oth terms can be compared with the far older word ›heresy‹. All three terms have functioned to narrow the range of acceptable opinion and restrict the terms of acceptable debate.« Etwas als »Verschwörungstheorie« zu labeln, läuft typischerweise darauf hinaus, es als »Blödsinn« (bunkum) zu charakterisieren.24 Auf der Basis einer Diskursanalyse der New York Times schlussfolgern Husting/Orr (2007), mit dem Terminus »Verschwörungstheorie« 22 Vgl. für entsprechende Erklärungsansätze beispielhaft Bagus et al. (2021) und Sebhatu et al. (2020). 23 Wobei es zwischen einem Ausdruck wie »Fake News« und prototypischen Slurs (d.h. rassistisch oder sexistisch diskriminierenden Bezeichnungen von Perso­ nen(gruppen)) natürlich auch gewisse semantische Unterschiede gibt. 24 Vgl. dazu Pigdens (2017) kritische Auseinandersetzung mit Cassam (2015).

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sei eine »routinized strategy of exclusion« verbunden (»shifting the focus of discourse to reframe another’s claims as unwarranted or unworthy of full consideration« (129)). Bratich (2008, 3) zufolge wird der Ausdruck verwendet, um unliebsame Auffassungen als »nicht einfach nur falsch« hinzustellen: »they do not reach the threshold of acceptability to even be tested, to be falsifiable«. Ähnlich schluss­ folgern auch Bjerg/Presskorn-Thygesen (2017, 144): »[C]onspiracy theories are excluded from being even possible candidates for truth«.25 Und Wissenschaftsleugnung wird von Frank (2021, 6091) als »nor­ matively inappropriate dissent« charakterisiert, wobei unter »norma­ tively appropriate dissent« zu verstehen ist: »the sort of dissent that ought to have the opportunity to be heard and taken seriously« (Intemann/de Melo-Martín 2014, 2751). Als Konsequenz ergibt sich der stark pejorative Charakter des Labels »Wissenschaftsleugnung«, zu dem Van Rensburg (2015, 9) notiert: »Sceptics find the label extremely divisive, to the degree that responses to the label foreclose any meaningful debate.«26 Wer die Ausdrücke »Verschwörungstheorie«, »Wissenschafts­ leugnung« oder »Fake News« verwendet, bringt damit zumindest implizit zum Ausdruck, dass er die damit bezeichneten Auffassungen für epistemisch so schwerwiegend defizitär oder defekt hält, dass sie nicht die (in Abschnitt 3.1 diskutierten) Minimalbedingungen erfüllen, um als relevante Alternativen behandelt werden zu können. Für den Erfolg der konversationellen Exklusion muss dabei nicht zwingend unterstellt werden, dass die Sprecher präzise Vorstellungen bezüglich der Art dieser epistemischen Defekte haben; gegebenen­ falls genügen auch einige vage Vorstellungen bzw. die unbestimmte Existenzunterstellung, dass es schon irgendwelche derartigen Defekte geben wird. Viele Sprecher scheinen gleichwohl durchaus recht kon­ krete Vorstellungen zu haben, was die ihrer Meinung nach mit Verschwörungstheorien, Fake News und Wissenschaftsleugnung ver­ bundenen epistemischen Defekte sind (für den Fall von Verschwö­ rungstheorien vgl. z.B. Napolitano/Reuter 2021), und auch in der Knight (2000, 11) bemerkt, etwas eine »Verschwörungstheorie« zu nennen, sei »not infrequently enough to end discussion«. DeHaven-Smith (2013, 84) zufolge hat die Anwendung des Verschwörungstheorie-Labels »the effect of dismissing conspiratorial suspicions out of hand with no discussion whatsoever«. 26 Aufschlussreich ist auch die Tatsache, dass kaum jemand eigene Überzeugun­ gen als »Wissenschaftsleugnung« oder »Verschwörungstheorien« apostrophiert (Harambam/Aupers 2017). 25

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wissenschaftlichen sowie der Ratgeberliteratur werden eine Reihe von Kandidaten für solche Defekte benannt. Verbreitet ist etwa eine Psy­ chopathologisierung verschwörungstheoretischen Denkens, das auf die Einschätzung hinausläuft, dieses Denken habe keinen hinreichen­ den Bezug zur Wahrheit (in dem Sinne, dass es nicht »truth-tracking« ist).27 Verschwörungstheoretischem Denken wird vorgeworfen, eine »verkrüppelte Epistemologie« zu involvieren (Sunstein/Vermeule 2009), nicht falsifizierbar oder schwerwiegend epistemisch lasterhaft zu sein (Cassam 2019) oder auf einem inadäquaten, vormodernen Weltbild zu beruhen (Butter 2018, 40).28 Epistemische Lasterhaftig­ keit ist auch ein gegen Wissenschaftsleugner gerichteter Vorwurf.29 Auch die Existenz böser, manipulativer, täuscherischer Absichten oder alternativ auch eine Gleichgültigkeit gegenüber der Wahrheit werden häufig als charakteristische Merkmale von Wissenschafts­ leugnung,30 besonders aber auch als charakteristische Merkmale von Fake News angesehen (vgl. z.B. Mukerji 2018; Jaster/Lanius 2021).31 Ich möchte hierzu noch drei erläuternde bzw. einschränkende Bemerkungen machen. Erstens impliziert meine Behauptung, dass die Ausdrücke »Verschwörungstheorie«, »Fake News« und »Wissen­ schaftsleugnung« typischerweise in der Alltagssprache und im öffent­ lichen Diskurs als epistemische Invektiven verwendet werden, nicht, dass diese Ausdrücke zwangsläufig so verwendet werden müssen. 27 »[O]rdinary usage of the term ›conspiracy theory‹ and also much of academic usage of the term […] implies that conspiracy theories are false and irrational to believe. Labelling a belief a conspiracy theory expresses that the belief is not worth being taken seriously and only held on irrational, presumably paranoid grounds.« (Baurmann/Cohnitz 2021, 337). Vgl. auch Basham (2018). 28 Butter vertritt in der Konsequenz die Auffassung, noch nie habe sich eine Ver­ schwörungstheorie im Nachhinein als korrekt herausgestellt (ebd., 37, 42). 29 Beispielsweise wirft Hazlett (2021) sowohl Verschwörungstheoretikern als auch Wissenschaftsleugnern vor, intellektuell arrogant zu sein und ihre Arroganz als Demut zu tarnen. 30 Der Ausdruck »Leugnung« changiert zwischen selbsttäuscherischen und täusche­ rischen Bedeutungsdimensionen. McIntyre (2020, 197) zufolge gibt es im Falle von Wissenschaftsleugnung einen »slippery slope from ignorance to willful ignorance to denial«. Diethelm/McKee (2009, 3) empfehlen, sich mit Wissenschaftsleugnern auf keine Diskussionen einzulassen, da sie die Regeln des wissenschaftlichen Dis­ kurses missachten: »A meaningful discourse is impossible when one party rejects these rules.« 31 Für Jaster/Lanius (2021, 40) ergibt sich daraus die Notwendigkeit, Fake News (ähnlich wie Pseudowissenschaft) aus der »Menge legitimer Praktiken« zu exkludie­ ren.

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So verfolgen etwa manche Philosophen ameliorative Projekte und versuchen, diesen Ausdrücken stipulativ eine präzise Bedeutung zu verleihen und sie als neutrale, wissenschaftlich-analytische Begriffe fruchtbar zu machen.32 Zweitens ließe sich fragen, wie sich eigentlich die Vielfalt episte­ mischer Invektiven erklären lässt. Wenn sie alle einen gemeinsamen funktionalen Kern haben, wozu braucht es ein ganzes Arsenal von ihnen? Ich denke, zumindest ein Teil der Antwort lautet, dass sich unspezifischere (»dünnere«) epistemische Invektiven wie »Quatsch« oder »Unsinn« und spezifischere (»dickere«, »dichtere«) wie »Ver­ schwörungstheorie« oder »Wissenschaftsleugnung« unterscheiden lassen. Wer eine Proposition als »Verschwörungstheorie« oder »Wis­ senschaftsleugnung« bezeichnet, bringt damit nicht nur zum Aus­ druck, dass er sie für »Quatsch« hält, sondern dass er sie auf bestimmte Weise für Quatsch hält. Er stellt eine Nähe zu bestimmten anderen als Quatsch erachteten Propositionen her oder hebt spezifische mit der jeweiligen Invektive assoziierte epistemische Defizite besonders hervor und liefert damit gleich eine genauere Begründung, wieso die Proposition zu exkludieren sei. Drittens ist die Exklusion einer Proposition aus MScore ver­ einbar damit, dass die Äußerung dieser Proposition in gewissem Sinne durchaus »ernstgenommen« wird. Dass Verschwörungstheo­ rien, Wissenschaftsleugnung und Fake News – etwa aufgrund einer vermuteten Gefährlichkeit – in einem nicht-epistemischen Sinne ernstgenommen werden sollten, wird sogar regelmäßig betont. Die­ ses nicht-epistemische Ernstnehmen erfordert gemäß einer breiten Ratgeberliteratur allerdings geradezu, ihren propositionalen Inhalt epistemisch nicht ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Bestenfalls wird etwas empfohlen, was man »strategisches« oder »therapeutisches Ernstnehmen« nennen könnte: das Erwecken des Anscheins etwa gegenüber einem Verschwörungstheoretiker, man nehme den Inhalt seiner Ideen ernst, aber nur, um dadurch in eine strategisch bessere Position zu kommen, die von ihnen ausgehenden Gefahren abmildern 32 Zu »Fake News« vgl. z.B. Jaster/Lanius (2021) und Gelfert (2021). Im Hin­ blick auf »Verschwörungstheorie« ist insbesondere an sogenannte partikularistische Ansätze zu denken, die von der Annahme ausgehen, dass wahre und falsche bzw. gerechtfertigte und ungerechtfertigte »Verschwörungstheorien« existieren und eine Unterstellung genereller epistemischer Defekte verfehlt sei (vgl. z.B. Dentith 2018; Hayward 2022).

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zu können. Auch gravierende Formen epistemischer Exklusion wie das Löschen von Inhalten im Internet oder auch das sogenannte Shadowbanning werden regelmäßig mit einer von Fake News, Ver­ schwörungstheorien und Wissenschaftsleugnung einhergehenden Gefährlichkeit begründet.33

4. Zu Motiven, Konsequenzen und Fragen der Legitimität des Gebrauchs epistemischer Invektiven Ich habe im letzten Abschnitt argumentiert, dass »Verschwörungs­ theorie«, »Fake News« und »Wissenschaftsleugnung« in der Alltags­ sprache und im öffentlichen Diskurs typischerweise als epistemische Invektiven gebraucht werden und eine der primären Funktionen dieser Ausdrücke darin besteht, bestimmte Propositionen aus der Menge der in einem gegebenen konversationellen Kontext als rele­ vant behandelten Alternativen zu exkludieren oder eine Erweiterung dieser Menge zu verhindern. In diesem Abschnitt möchte ich einige weiterführende Überlegungen darüber anstellen, was der Gebrauch epistemischer Invektiven für unsere epistemische Praxis bedeutet. Welche Motive liegen ihrer Verwendung zugrunde, welche Konse­ quenzen hat sie und wie ist sie normativ zu bewerten? Ich werde zunächst aufzeigen, dass epistemische Invektiven einerseits eine legitime Rolle im Rahmen unserer epistemischen Öko­ nomie spielen können (4.1). Allerdings kann ihre Verwendung auch mit einer Reihe von problematischen Aspekten verbunden sein, von denen ich drei genauer untersuchen möchte: den Einsatz epistemi­ scher Invektiven mit manipulativer Absicht (4.2), das Problem, dass ihr Gebrauch vorschnellen Wissensansprüchen Vorschub leisten kann (4.3), und die Schwierigkeit, dass er die gesellschaftliche Polarisierung vertiefen kann (4.4). 33 Zur Gefährlichkeit von Wissenschaftsleugnung, Verschwörungstheorien bzw. Fake News vgl. z.B. Specter (2009), Sunstein (2014) bzw. Goldberg (2021). Eine Auflistung von gesetzlichen Regelungen in verschiedenen Ländern – von Brasilien über Malaysia bis zum deutschen Netzwerkdurchsuchungsgesetz –, bei denen die Bekämpfung bestimmter medialer Inhalte mit Verweis auf eine von Fake News ausgehende Gefahr begründet wird, findet sich bei Coady (2019b). Speziell zur Praxis des Löschens bestimmter medizinischer Inhalte und anderen Formen der Informati­ onskontrolle während der Corona-Krise vgl. Clarke (2021) und Martin (2021b).

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4.1 Epistemische Ökonomie Kann der Gebrauch epistemischer Invektiven legitim sein? Ich denke, diese Frage kann bejaht werden, wenn man davon ausgeht, dass es bestimmte Alternativen – zumindest in bestimmten Situationen – tatsächlich nicht verdienen, epistemisch ernstgenommen zu werden. Ich habe mich nicht definitiv festgelegt, welches die Kriterien dafür sind, ob eine Alternative relevant oder irrelevant ist, aber nehmen wir (mit McKenna 2014) für einen Moment an, dass eine Alternative relevant ist, wenn die Personen im fraglichen Kontext objektive prak­ tische Gründe haben, sie ernst zu nehmen. Wenn ich beispielsweise meine Katze suche, dann sollte ich an den Orten nachschauen, wo sie mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit sein könnte. Angenommen nun, jemand bringt eine irrelevante Alternative ins Spiel, die, wenn sie ernstgenommen werden würde, in die Menge der als relevant behandelten Alternativen MScore inkludiert werden würde (aber nicht zugleich auch in MRel)34, beispielsweise die Hypothese, dass die Katze auf magische Weise auf die Größe von einem Zentimeter geschrumpft ist und ich sie deshalb nicht sehe. Im Gegensatz zu genuinen skepti­ schen Szenarien ist diese Hypothese zwar prinzipiell falsifizierbar. Aber angesichts einerseits ihrer extrem geringen Wahrscheinlichkeit und andererseits meiner praktischen Interessen in der fraglichen Situation scheint es in ökonomischer Hinsicht nicht sinnvoll zu sein, der Hypothese ernsthaft nachzugehen und zu ihrer Überprüfung bei­ spielsweise das Zimmer mit einem Vergrößerungsglas abzusuchen. Ein viel ökonomischerer Einsatz meiner epistemischen Ressourcen würde wohl darin bestehen, meine Suche auf andere Zimmer oder vielleicht den Garten auszudehnen. Ich bin in Abschnitt 2 auf den certification view eingegangen, dem zufolge der Wissensbegriff eine Funktion im Rahmen unserer episte­ mischen Ökonomie erfüllt. Er dient als inquiry stopper zur Markierung jenes Punktes im Prozess einer Untersuchung – also dem Versuch, alle relevanten Alternativen zu einer Proposition zu falsifizieren –, an dem eine Fortsetzung nicht mehr ökonomisch sinnvoll ist. Es wird nun­ mehr deutlich, dass epistemische Invektiven eine verwandte Funktion 34 Was, wenn eine Integration der Alternative in M Score sie auch in MRel inkludiert und damit einen neuen Kontext erzeugt, in dem sie ernstgenommen werden müsste? Auch dann kann der Einsatz einer epistemischen Invektive legitim sein, da (wie Ichikawa (2020) argumentiert) bestimmte Kontexte problematisch sind und ihre Herbeiführung verhindert werden sollte.

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erfüllen können. Durch sie lassen sich Alternativen, die es nicht wert sind, ernstgenommen zu werden, aus einem Untersuchungsprozess heraushalten oder entfernen, um damit einer Verschwendung der verfügbaren epistemischen Ressourcen vorzubeugen. Freilich ist meine Einschätzung, ob eine Alternative so unplau­ sibel oder epistemisch defizitär ist, dass sie gleich ungeprüft beiseite­ geschoben werden kann, abhängig von meinen Hintergrundüberzeu­ gungen. Ich habe noch nie erlebt, dass Katzen plötzlich schrumpfen; mein ganzes Überzeugungssystem widerspricht dieser Möglichkeit. Derartige Einschätzungen können allerdings auch interpersonal diffe­ rieren. Während in Bezug auf die Vorstellung, dass Katzen plötzlich schrumpfen, kaum Uneinigkeit bestehen dürfte, haben andere Pro­ positionen einen kontroverseren Status: Einige Personen halten sie für so unplausibel, dass sie als irrelevante Alternativen behandelt werden können, während andere Personen sie für relevant oder sogar für wahr erachten. Gerade in einem durch Polarisierung geprägten öffentlichen Diskurs ist diese Spezies kognitiver Disparität (um Audis (2013) Terminus aufzugreifen) bedeutsam. Was der eine für eine »Verschwörungstheorie«, »Fake News«, »Wissenschaftsleugnung« oder schlicht »Quatsch« hält, möchte der andere zumindest nicht ohne genauere Prüfung verwerfen. Ich denke, dass das Exkludieren bzw. Nicht-Exkludieren der fraglichen Alternativen auch in solchen Konstellationen ökonomisch rational sein kann. Effiziente kognitive Akteure bewerten die Plausi­ bilität einer Proposition, Evidenz oder Hypothese (partiell) in Abhän­ gigkeit davon, wie gut sie zu ihrem Überzeugungssystem passt. Sie stufen ihre Plausibilität herab, wenn sie schlechter zu ihren Hintergrundüberzeugungen passt, und herauf, wenn sie besser dazu passt. Der in diesem Verhalten sich manifestierende confirmation bias bzw. myside bias ist keineswegs grundsätzlich irrational.35 Der in unserem Fall vorliegende Spezialfall dieses Phänomens besteht darin, dass die Passung einer Proposition p zu den Hintergrundüber­ zeugungen eines Subjekts A so gering ist, dass A sie von vornherein als irrelevant exkludiert (d.h. keinerlei epistemische Ressourcen für ihre Überprüfung investiert), wohingegen Subjekt B – aufgrund der besseren Passung von p zu seinen Hintergrundüberzeugungen – keine derartige Exkludierung vornimmt. Obwohl dieses Verhalten sowohl Für eine ausführliche Diskussion auf Grundlage der einschlägigen bayesianischen und psychologischen Literatur vgl. Stanovich (2021a, Kap. 2).

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für A als auch für B individuell rational sein kann, kann es allerdings problematische Konsequenzen für die diskursive Praxis insgesamt haben. Ich werde auf diesen Aspekt noch einmal in Abschnitt 4.4 zurückkommen, wo ich argumentiere, dass die mit epistemischen Invektiven verbundene Exklusionspraxis nicht nur ein Symptom gesellschaftlicher Polarisierung darstellt, sondern diese auch weiter verschärfen kann.36

4.2 Manipulation, Täuschung und Propaganda Epistemische Invektiven können auch mit strategischem Interesse eingesetzt werden, etwa um andere Personen zu manipulieren oder zu täuschen. Betrachten wir die folgende Variation von McGowans Beispiel. Angenommen, Maureen wird von ihrem Ehemann mit dem Vorwurf des Fremdgehens konfrontiert. Dann könnte sie diesen Vorwurf mit der Bemerkung, das sei doch »Quatsch«, entschieden zurückweisen. In diesem Fall hält sie diese Annahme allerdings nicht selbst für absurd – im Gegenteil, sie weiß ja sogar, dass sie wahr ist. Vielmehr möchte sie gegenüber dem Ehemann lediglich diesen Eindruck erzeugen; sie möchte diese Option aus der für seine Delibe­ ration einschlägigen Menge relevanter Alternativen exkludieren und damit erreichen, dass er ihr nicht mehr ernsthaft nachgeht, Evidenzen dafür sammelt usw.37 Diese aus dem Alltag wohlvertraute strategische Verwendungsweise von epistemischen Invektiven kommt auch im öffentlichen Diskurs vor und wird von politischen oder wirtschaftli­ chen Akteuren zu im weitesten Sinn propagandistischen Zwecken ein­ gesetzt.38 36 Vgl. auch Stanovich (2021a, 51ff.), der mit Blick auf die Gefahr einer fortschrei­ tenden Divergenz konträrer Überzeugungssysteme von einer »Tragödie der kom­ munikativen Allmende« spricht: Neue Evidenzen werden im Lichte der jeweiligen Hintergrundüberzeugungen gegensätzlich bewertet, was wiederum zu einer weiteren Entfernung der Überzeugungssysteme beiträgt. 37 Der Fall ist ein Beispiel für etwas, was Cappelen/Dever (2019, 26ff.) »devious scoreboards« nennen. 38 Ein Beispiel ist der Umgang des Pharmakonzerns Johnson & Johnson mit dem Gerücht, er habe jahrzehntelang das Vorkommen von krebserregendem Asbest in dem von ihm hergestellten Babypuder vertuscht. Noch 2018 hat der Konzern dieses – inzwischen juristisch als wahr erwiesene – Gerücht als »absurde Verschwörungs­ theorie« zurückgewiesen (vgl. Hauswald (forthcoming) für eine ausführlichere Diskus­ sion).

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Eine prominente Charakterisierung von Propaganda lautet, dass Propaganda Formen von Kommunikation umfasst, mit denen zur Erreichung bestimmter Ziele die Auffassungen und Deliberations­ prozesse der Bevölkerung gelenkt werden sollen. Das geschieht häu­ fig mehr oder weniger manipulativ: »Propaganda bypasses reason« (Quaranto/Stanley 2021, 125); »propaganda ›closes minds‹ by pre­ cluding rational engagement, […] by ›making further thought unne­ cessary‹« (ebd., 127). Wenn sich mithilfe epistemischer Invektiven bestimmte Alternativen (inklusive eigentlich relevanter Alternativen) als irrelevant ausschließen lassen, dann scheinen sie in besonderem Maße zur Verwendung für propagandistische Zwecke geeignet zu sein. Ein Teil der wissenschaftlichen Literatur vertritt die These, dass Ausdrücke wie »Verschwörungstheorie« oder »Fake News« im öffentlichen Diskurs in der Tat in erster Linie so funktionieren. So hält Dentith (2017, 65) den Ausdruck »Fake News« für ein »rhetorical device used by the powerful to crush dissent«. Ebenso meint Habgood-Coote (2019, 52): »›Fake news‹ is propaganda«. Und Coady (2019b, 40) argumentiert: »›Fake news‹ does have a fixed function, that of restricting permissible public speech and opinion in ways that serve the interests of powerful people and institutions.« Ähnlich ist auch in Bezug auf den Ausdruck »Verschwörungstheorie« argumentiert worden.39 Eine spezielle Variante dieser Auffassung ist die These, der Ausdruck »Verschwörungstheorie« sei überhaupt erst durch Regierungsbehörden eingeführt oder zumindest seine Verbreitung maßgeblich durch diese vorangetrieben worden.40 Man ist auf die Unterstellung einer solchen »›Verschwörungstheorie‹-Ver­ schwörung« (Nera/Leveaux/Klein 2020) allerdings nicht festgelegt, wenn man die Behauptung plausibel findet, dass der Verschwörungs­ theorie-Begriff und andere epistemische Invektiven häufig zu Propa­ gandazwecken eingesetzt werden.41

39 So schreibt Knight (2014, 348): »[S]ome of the labelling of particular views as ›conspiracy theories‹ is a technique of governmentality«. Vgl. auch Coady (2018), Martin (2020) oder Hayward (2022). 40 Ein Verfechter dieser Auffassung ist DeHaven-Smith (2013): »[T]he conspiracytheory label was popularized as a pejorative term by the Central Intelligence Agency (CIA) in a propaganda program initiated in 1967« (21). Dieses Programm sei »one of the most successful propaganda initiatives of all time« (25). 41 So betont Butter (2018, 47): »[A]uch wenn der Begriff ›Verschwörungstheorie‹ nicht in die Welt gesetzt wurde, um missliebige Alternativversionen zu diskreditieren,

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Dass diese epistemischen Invektiven ausschließlich eine propa­ gandistische Funktion erfüllen, erscheint allerdings aus zwei Gründen fraglich. Zum einen muss bedacht werden, dass sie zwar tatsächlich gegen in alternativen oder sozialen Medien kursierende Meldungen gerichtet sein können, die bestimmte offizielle Narrative infrage stel­ len; sie können jedoch umgekehrt auch gegen Meldungen gerichtet sein, die von staatlichen Behörden ausgegeben oder von Leitmedien verbreitet werden.42 Der zweite Grund lautet wie folgt. Gäbe es ausschließlich einen strategisch-manipulativen Gebrauch epistemi­ scher Invektiven, dann erschiene es unplausibel, dass mit ihnen überhaupt irgendeine täuscherische Wirkung erzielt werden kann. Wenn Sprecher mit Bemerkungen wie »Das ist doch Quatsch!« immer und ausnahmslos die Hörer täuschen wollten, wie Maureen es in unserem Beispiel tut, wie könnten sie dann auch nur einen Augenblick die Hoffnung haben, damit bei ihren Hörern Erfolg zu haben? Denn diese müssten diese Sprechakte dann als kompetente Sprachverwender doch ihrerseits unmittelbar als Täuschungsversuche durchschauen. Diese Überlegung legt nahe, dass es die strategische Verwendung von epistemischen Invektiven im Allgemeinen und ihre propagandistische Verwendung im Besonderen nur parasitär zu einer authentischen bzw. wahrhaftigen Verwendungsweise geben kann, bei der die Sprecher der ehrlichen Meinung sind, dass die geschmähten Propositionen tatsächlich irrelevante Alternativen sind.

4.3 Delegitimierung relevanter Alternativen und vorschnelle Wissensansprüche Mit den Ausdrücken »Wissenschaftsleugnung«, »Fake News« und »Verschwörungstheorie« beziehen sich Sprecher auf bestimmte For­ men der Infragestellung von Wissenschaft, der Medienberichterstat­ tung oder der Erklärung von Ereignissen durch die Postulierung einer Verschwörung (oder manchmal auch auf anderweitige Propositionen) steht außer Zweifel, dass dies eine seiner wichtigsten Funktionen im alltäglichen Diskurs ist.« 42 In Bezug auf »Fake News« lässt sich beispielsweise die Verwendung dieses Aus­ drucks im Sinne des von Mirbach/Meyen (2021, 18ff.) so genannten orthodoxen Desinformations-Frames auf der einen Seite und jener gegen klassische Leitmedien gerichteten Verwendungsweise, die in den USA nicht zuletzt durch Donald Trump etabliert wurde, auf der anderen unterscheiden.

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und weisen diese invektiv als illegitim aus. Nun gibt es aber auch legitime Formen von Wissenschaftskritik, Medienberichterstattung oder verschwörungsartigen Ereigniserklärungen. Immerhin gibt es Verschwörungen und verschwörungsähnliche Phänomene wie Kor­ ruption, Lobbyismus, Vetternwirtschaft usw., so wie es auch Miss­ stände in der Wissenschaft gibt. Zwischen den legitimen und den illegitimen Formen gibt es ein Spektrum, ein Kontinuum. Ich habe in Abschnitt 4.1 argumentiert, dass epistemische Invek­ tiven eine positive Rolle im Rahmen unserer epistemischen Ökono­ mie spielen können, sofern damit Propositionen exkludiert werden, die es tatsächlich nicht verdienen, ernstgenommen zu werden. Eine Gefahr des Gebrauchs epistemischer Invektiven (und das gilt glei­ chermaßen für den wahrhaftigen Gebrauch wie den mit manipula­ tiv-täuscherischer Absicht) besteht jedoch darin, dass auch eigent­ lich relevante Alternativen – legitime Formen von Wissenschaftsoder Sozialkritik, legitime Untersuchungshypothesen, berechtigte Befürchtungen usw. – delegitimiert und aus dem Deliberationspro­ zess ausgeschlossen werden. Im öffentlichen Diskurs während der Corona-Krise konnte das vielfach beobachtet werden. Um nur einige wenige Beispiele zu nennen: Noch zu Beginn des Jahres 2020 wurden Warnungen vor der Gefährlichkeit des neuen Corona-Virus als Ver­ schwörungstheorien abgetan (vgl. dazu Anton/Schink 2021, 203ff.). Ähnliches galt für Befürchtungen, die Regierung würde schwerwie­ gende, tief in die Grundrechte eingreifende Maßnahmen zur Pande­ miebekämpfung beschließen.43 Die Annahme, SARS-CoV-2 könnte in einem chinesischen Labor freigesetzt worden sein (die »Labor­ these«), galt lange Zeit weithin als Verschwörungstheorie, bevor Mitte 2021 auch Leitmedien begannen, sie ernsthaft in Erwägung zu ziehen (z.B. BBC 2021). Auch Befürchtungen, es könnte eine Impfpflicht eingeführt werden, galten bis zum Herbst 2021 als Ver­ schwörungstheorie (vgl. z.B. Salzen 2020), bevor die Einführung einer solchen Pflicht nach der Bundestagswahl mit Vehemenz voran­ getrieben wurde.44 43 Das Bundesgesundheitsministerium selbst hat solche Befürchtungen noch wenige Tage vor Verhängung des ersten Lockdowns als »Fake News« und »Verschwörungs­ theorie« zurückgewiesen (Belousova 2020). 44 Vgl. auch Liester (2022) zur Delegitimierung berechtigter Kritik während der Corona-Krise sowie den – aus der Diskussion über den Wert epistemischer Diversität bekannten – damit einhergehenden Problemen. Ein möglicher Einwand gegen meine Beispielliste lautet, dass sich der Status der Propositionen schlicht geändert hat und

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Oder betrachten wir Formen der Kritik an wissenschaftlicher Forschung. Dass es geboten ist, Wissenschaft kritisch zu hinterfragen, sollte eigentlich wenig strittig sein. So hat die feministische Wissen­ schaftskritik auf die vielfältigen epistemischen Verzerrungen hinge­ wiesen, die aus der traditionellen Dominanz von Männern in vielen wissenschaftlichen Gemeinschaften resultieren. Vergleichbare kollek­ tive Einseitigkeiten können aber auch durch Ungleichheiten entlang anderer sozio-ökonomischer, kultureller oder politischer Merkmale zustande kommen (vgl. Hauswald (2021) für eine Diskussion des Konzepts kollektiver Einseitigkeit). Wissenschaftliche Forschung ist durch Gruppendenken (Allen/Howell 2020) und andere Fehlent­ wicklungen bedroht.45 Durch massive ökonomische oder politische Einflussnahme auf die Wissenschaft können problematische episte­ mische Verzerrungen zustande kommen (für eine Analyse entspre­ chender Strategien vgl. O’Connor/Weatherall 2019). Gerade auch die medizinische Forschung ist aufgrund ihrer Verflechtungen mit der Pharmaindustrie anfällig für solche Verzerrungen (vgl. z.B. Brown 2008; Frances 2013; Stegenga 2018). All diese Aspekte sind seit Jahrzehnten Gegenstand kritischer Wissenschaftsreflexion. Sie sind gut dokumentiert und ausführlich analysiert worden. Gleichwohl sind Hinweise auf solche Phänomene oder die Artikulation von Befürchtungen, auch die Forschung zu COVID-19 oder den CoronaImpfstoffen könnte durch sie bedroht sein, während der Corona-Krise oft pauschal als »Wissenschaftsleugnung« (oder mittels abgeleiteter Invektiven wie »Corona-Leugner«) abqualifiziert worden. Dasselbe z.B. die Befürchtung, es drohe eine Impfpflicht, im Sommer 2020 eben noch eine irrelevante Alternative gewesen sei. Meine Erwiderung lautet, dass man ausgehend von vielen plausiblen Kriterien zur Abgrenzung von relevanten und irrelevanten Alternativen (etwa Lewis’ Ähnlichkeitsregel oder Tuckwells Rekurs auf epistemisch tugendhafte Akteure) zu der Einschätzung gelangt, dass die fraglichen Propositionen durchaus zu frühen Zeitpunkten der Corona-Krise (inklusive Phasen, in denen ihre invektive Delegitimierung noch in den Leitmedien verbreitet war) bereits relevante Alternativen darstellten. Auch schon im Sommer 2020 war z.B. die Befürchtung einer Corona-Impfpflicht nicht absurd, wenn man etwa bedenkt, dass andere Impfpflichten sowohl in Deutschland als auch in anderen westlichen Ländern teilweise seit Jahr­ zehnten bestehen, oder dass einschlägige epistemische Autoritäten diese Befürchtung bereits früh artikuliert haben. 45 Fischer (2007) diskutiert Betrug, Zeitgeistdenken, Dogmatismus, Ingroup-Out­ group-Verhalten, unsachgemäße Kollegenbewertung, Fehlbeurteilung innovativer Forschung und Fehlverhalten gegenüber Nachwuchswissenschaftlern als verbrei­ tete Formen.

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gilt für Einwände gegen Lockdowns und andere von der Politik ergrif­ fene Maßnahmen. Der Vorwurf der »Wissenschaftsleugnung« ist hier nicht nur insofern fragwürdig, als er das Ausmaß der zu jeder Zeit vorhandenen wissenschaftlichen Kontroverse über geeignete Mittel ignoriert,46 sondern auch insofern, als politische Maßnahmen auch normative Abwägungen voraussetzen und sich durch Verweis auf wissenschaftliche Resultate allein grundsätzlich nicht rechtfertigen lassen (vgl. Lütge/Esfeld 2021, 50ff., sowie verschiedene Beiträge in diesem Band). Wenn mit epistemischen Invektiven eigentlich relevante Alter­ nativen exkludiert werden, droht etwas, was ich das Problem vor­ schneller Wissensansprüche nennen möchte.47 Wie in Abschnitt 3.1 dargelegt, setzt das Erheben eines legitimen Wissensanspruchs bezüglich einer Proposition p voraus, die relevanten Alternativen zu p evidentiell falsifizieren zu können. Angenommen, q sei eine relevante Alternative zu verschiedenen anderen Propositionen p1...pn (d.h. ein Element der Menge MRel). Wenn q nun aber invektiv als irrelevant zurückgewiesen – und damit aus der Menge MScore der ernstgenommenen Alternativen zu p1...pn exkludiert – wird, erübrigt sich scheinbar die Notwendigkeit, Evidenzen zur Prüfung von q zu sammeln. Die untersuchenden Subjekte werden es unter diesen Bedingungen als legitim erachten, q zu ignorieren und – sobald sie die von ihnen als relevant erachteten Alternativen falsifiziert haben – Wissen in Bezug auf p1...pn zu reklamieren, auch wenn sie keine hinreichenden Evidenzen besitzen, um q zu falsifizieren. Da q aber

46 Besonders kritisch zu sehen ist in dem Zusammenhang die Parallelisierung zu den »Klimaleugnern«, wie sie schon im März 2020 vielfach vorgenommen wurde (ein Beispiel ist Rahmstorf 2020). Denn einen »wissenschaftlichen Konsens«, wie er sich bezüglich der Existenz des anthropogenen Klimawandels als Resultat jahrzehntelan­ ger klimawissenschaftlicher Debatten etabliert hat, konnte es zu diesem Zeitpunkt in Bezug auf viele für die Bewertung der Pandemie relevante Propositionen schon deshalb nicht geben, weil dazu bestenfalls erst einige Wochen lang geforscht wurde (für eine frühe Kritik an dieser Parallelisierung aus wissenschaftstheoretischer Sicht vgl. Schliesser/Winsberg 2020; zur Charakterisierung der Corona-Forschung als Episode von »Fast Science« vgl. Jungert in diesem Band). 47 In Hauswald (forthcoming) analysiere ich dieses Problem als Spezialfall eines allge­ meineren Phänomens, das ich das »Problem vorschneller Schlussfolgerungen« nenne. Zur Urteilszurückhaltung als Gegenstrategie gegen vorschnelle Schlussfolgerungen vgl. auch Wagner (in diesem Band).

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eigentlich eine relevante Alternative ist und nicht hätte ignoriert wer­ den dürfen, ist dies ein vorschneller Wissensanspruch.48 Hier ist ein konkretes Beispiel. In Abhängigkeit davon, ob die »Laborthese« eine relevante Alternative zu anderen Hypothesen zum Ursprung des Virus ist (z.B. den Hypothesen, dass es sich um eine Fledermaus- oder eine Nerz-Zoonose handelt), muss sie entweder evidentiell falsifiziert oder nicht falsifiziert werden, bevor es legi­ tim ist, Wissensansprüche bezüglich dieser Hypothesen zu erheben. Angenommen, die Laborthese sei eine relevante Alternative, die aktu­ ell nicht evidentiell falsifiziert werden kann, sie werde aber als »Ver­ schwörungstheorie« invektiv exkludiert. Dann hat das unter Umstän­ den zur Folge, dass vorschnelle Wissensansprüche erhoben werden – etwa bezüglich der Hypothese einer Fledermaus-Zoonose. Auch wenn die Evidenzen ausreichen sollten, um die sonstigen Alternativen (z.B. die Hypothese einer Nerz-Zoonose) zu falsifizieren, wären diese Wissensansprüche erst dann legitim, sobald auch die Laborthese falsifiziert ist. Dieses Beispiel illustriert, dass der illegitime Einsatz epistemischer Invektiven negative Auswirkungen nicht nur im Hin­ blick auf die exkludierten Propositionen selbst haben kann, sondern auch insofern, als er unberechtigten Wissensansprüchen bezüglich verschiedenster weiterer Propositionen Vorschub leisten kann, die mit den exkludierten Propositionen evidentiell verknüpft sind. Besonders in der Frühphase der Corona-Krise ist vielfach im öffentlichen Diskurs das hohe Maß an Unsicherheit und der Mangel an Wissen betont worden (vgl. El Kassar in diesem Band). Gleich­ wohl ist es zu einem geradezu inflationären Gebrauch epistemischer Invektiven und in der Folge auch zu vorschnellen Wissensansprüchen gekommen. Das ist misslich nicht nur in epistemischer Hinsicht, sondern insbesondere auch deswegen, weil die Qualität politischer Maßnahmen wesentlich davon abhängt, auf welcher epistemischen Grundlage sie beruhen.

48 Das Problem vorschneller Wissensansprüche stellt eine Art komplementäres Gegenstück zu dem kürzlich von Blake-Turner (2020) identifizierten »problem of relevant alternatives« dar (vgl. Hauswald (forthcoming) für einen Vergleich beider Pro­ bleme).

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4.4 Polarisierung Wenn ich die Auffassung einer anderen Person als »Verschwörungs­ theorie«, »Wissenschaftsleugnung« oder »Fake News« charakteri­ siere, dann bringe ich damit zum Ausdruck, dass ich die Auffassung nicht einfach nur für falsch, sondern für epistemisch so defizitär halte, dass sie keiner weiteren Erwägung wert ist und ohne genauere Prüfung ignoriert werden kann. Welche Konsequenzen hat das für die Person und ihre Beziehung zu mir? Sie wird es wahrscheinlich als schwerwiegende Form von Zurückweisung oder des Angriffs erleben, gerade wenn sie ihre Auffassung (so absurd sie aus meiner Sicht ist) aufrichtig für wahr hält (oder zumindest für würdig, ernstgenommen zu werden). Vielleicht wird sie mich auch ihrerseits angreifen. Es ist nicht untypisch für Invektivität, charakteristische Formen von Anschlusskommunikation nach sich zu ziehen, die eine Eskalations­ dynamik und sich selbst verstärkende Spiralen von Beleidigung und Gegenbeleidigung in Gang setzen (Ellerbrock et al. 2017).49 Konfrontationen dieses Typs sind charakteristisch für durch Pola­ risierung – den Widerstreit antagonistischer Gruppen und Überzeu­ gungssysteme – geprägte politische Kontexte.50 Zugleich tragen sie dazu bei, die Spaltung weiter zu vertiefen.51 Das liegt auch daran, dass der Gebrauch epistemischer Invektiven gerade in polarisierten Kon­ stellationen eine »identitäts-expressive« Dimension besitzen kann. Identitäts-expressives Verhalten ist in der politischen Epistemologie zuletzt verstärkt in den Blick genommen worden. Identitäts-expres­ sive Sprechakte »may signal whose side one is on, who is the enemy, or doesn’t belong, who is illegitimate, who is superior to whom« (Ander­ son 2021, 23). Ein signifikanter Teil der politischen Kommunikation scheint eher als eine Art »Cheerleading« analysierbar zu sein denn als vernünftiger Austausch von Argumenten (vgl. z.B. Hannon 2021; Ein Beispiel für eine reaktive epistemische Invektive ist der Amalgambegriff »Verschwörungsleugner«, mit dem der Vorwurf kommuniziert wird, in zu geringem Maße für die Möglichkeit von Verschwörungen offen zu sein. 50 Zu einer Polarisierung kann es zwischen ungefähr gleich großen Gruppen kommen (wie zwischen Liberalen und Konservativen im gegenwärtigen US-amerikanischen Kontext); Größe und Diskursmacht der Gruppen kann aber auch sehr ungleichmäßig verteilt sein (wie zwischen Befürwortern und Kritikern restriktiver Maßnahmen im Deutschland während der Corona-Krise). 51 Vgl. auch Nadelhoffer et al. (2021, 175), die einen »polarising feedback loop« kon­ statieren. 49

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Stanovich 2021b). Häufig unterstützen Menschen »ihre« politischen Parteien, nicht weil sie zu der Überzeugung gekommen wären, dass diese die richtige Politik verfolgen, sondern sie unterstützen umge­ kehrt eine bestimmte Politik, weil »ihre« Parteien sie verfolgen.52 Komplementär dazu lässt sich der Gebrauch epistemischer Invektiven vielleicht oft als eine Art »Booleading« rekonstruieren: als Form von Kommunikation, bei der nicht positiv eine identitätsstiftende Proposition zum Ausdruck gebracht wird (»Ich gehöre zu denen, die p befürworten« oder »Wir sind vereint darin, p zu glauben«), sondern vielmehr negativ eine die Identität des politischen Gegners konstituierende Proposition missbilligt wird (»Ich gehöre zu denen, die q für Unsinn halten« oder »Wir sind vereint darin, q für Unsinn zu halten«). Eine sich selbst verstärkende Dynamik aus Polarisierung und Invektivität ist problematisch sowohl aus demokratietheoretischer wie aus epistemischer Perspektive. Sie ist demokratietheoretisch insofern problematisch, als sie jene Form kollektiver Deliberation untergräbt, die als wesentlich für die (deliberative) Demokratie erachtet wird (Hannon 2020). Der demokratische Diskurs erfordert eine wechselseitige Auseinandersetzung mit Gründen und Argu­ menten, die mit der Verwendung epistemischer Invektiven verbun­ dene Exklusionspraxis läuft aber gerade auf die Verweigerung einer ernsthaften Auseinandersetzung mit den Argumenten der »anderen Seite« hinaus. In epistemischer Hinsicht kommt hinzu, dass Polarisierung das Problem der vorschnellen Wissensansprüche weiter verschärfen kann. Wer den Eindruck hat, dass die »andere Seite« absurde Auffas­ sungen vertritt und eigentlich nicht für (aus eigener Sicht) vernünftige Argumente zugänglich ist, und wer umgekehrt den Eindruck hat, dass 52 Hannon (2021) verweist auf faszinierende sozialpsychologische Experimente, bei denen sich als demokratisch und sich als republikanisch identifizierende US-Ame­ rikaner über zwei imaginäre Gesetzesinitiativen informiert wurden, die entweder einen strengen oder großzügigen Zuschnitt hatten. Wenn den demokratischen Studi­ enteilnehmern gesagt wurde, ihre Partei würde die strenge Initiative unterstützen, so befürworteten sie diese; wenn ihnen gesagt wurde, ihre Partei unterstütze die großzügige Initiative, stimmten sie stattdessen dieser zu. Dasselbe Bild ergab sich bei den republikanischen Teilnehmern. Ein lohnender Gegenstand für künftige Forschung wäre die Frage, in welchem Ausmaß derartige Effekte während der Corona-Krise dazu beigetragen haben, dass sich die in Deutschland verbreitete Wahrnehmung etablieren konnte, die Befürwortung besonders restriktiver Anti-Corona-Maßnahmen sei poli­ tisch links und die Kritik daran politisch rechts.

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die »andere Seite« die eigenen Auffassungen als absurd wahrnimmt, der wird einen Austausch von Gründen und Argumenten zunehmend für müßig erachten. Es kann sich dann der Eindruck verfestigen, dass man im Grunde in »verschiedenen Welten« lebt und sich »nichts mehr zu sagen« hat.53 Ich hatte im vorigen Abschnitt argumentiert, dass epistemische Invektiven dazu verwendet werden können, episte­ mische Alternativen einschließlich eigentlich berechtigter Einwände als irrelevant abzutun, was zur Folge hat, dass Wissensansprüche erhoben werden, obwohl nicht alle relevanten Alternativen falsifiziert wurden. Polarisierung kann nun dazu führen, dass eine Kommunika­ tion mit Vertretern der »anderen Seite« gar nicht mehr stattfindet – weil beide Seiten nur noch »eigene« Medien konsumieren, sich in sozialen Netzwerken nur noch im Kreise Gleichgesinnter bewegen, bei eventuellen Interaktionen »Selbstzensur« betreiben usw. –, so dass viele von ihnen formulierte epistemische Alternativen noch nicht einmal mehr zur Kenntnis genommen werden. Selbst eine invektive Zurückweisung dieser Alternativen erübrigt sich dann, weil es zu gar keinem »Kontakt« mehr mit ihnen kommt. Die resultierende Gefahr ist abermals, dass Wissensansprüche schneller erhoben werden als in einer Situation, in der alle Aspekte, die für den Deliberationsprozess eigentlich berücksichtigt werden sollten, tatsächlich auf dem Tisch lie­ gen.

5. Schluss Ich wollte in diesem Beitrag zum einen in methodologischer Hin­ sicht deutlich machen, dass eine function-first-Perspektive sich in erkenntnistheoretisch fruchtbarer Weise auf epistemische Invekti­ ven anwenden lässt. Ich habe für die konkrete These argumentiert, dass eine primäre Funktion epistemischer Invektiven darin besteht, 53 Die von Kuhn (1962) zur Charakterisierung einer Inkommensurabilität wissen­ schaftlicher Paradigmen verwendete Metapher vom »Leben in verschiedenen Welten« ist unter der Überschrift »Welcome to Covidworld« von Kidd/Ratcliffe (2020) auf die Corona-Krise angewandt worden: »[T]here are also those who ask questions that really ought to be seen as sensible, like whether a range of social restrictions are proportionate, in view of their human, social, and economic costs. For those firmly embedded in Covidworld, however, such questions may seem no less far-fetched than that of someone who seriously wonders whether the world is just a dream.« Vgl. zur Anwendung des Paradigmenbegriffs auch Martin (2021a).

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bestimmte Propositionen aus der Menge der in einem konversatio­ nellen Kontext als relevant behandelten Alternativen auszuschließen oder eine Erweiterung dieser Menge zu verhindern. Zugleich wollte ich einen Beitrag zum besseren Verständnis der Dynamik des öffent­ lichen Diskurses während der Corona-Krise liefern. Die Verwendung epistemischer Invektiven dürfte je nach Kommunikationssituation unterschiedlich motiviert und normativ unterschiedlich zu bewerten sein. Epistemische Invektiven können eine legitime Rolle in unserer epistemischen Praxis spielen, wenn sie eingesetzt werden, um eine Überlastung von Untersuchungsprozessen durch irrelevante Alterna­ tiven zu verhindern. Ihre Verwendung kann aber auch verschiedene problematische Konsequenzen haben, sowohl für die epistemischen Projekte des Sprechers selbst als auch für andere Diskursteilnehmer sowie den Diskurs insgesamt. Verantwortungsvolle Sprecher sollten den Nutzen, den der Gebrauch einer epistemischen Invektive für sie haben mag, immer auch gegen solche problematische Konsequenzen abwägen, und gerade Sprecher mit größerer Diskursmacht – die auch größere Verantwortung nach sich zieht – sollten sich am Gebot eines möglichst zurückhaltenden und umsichtigen Umgangs mit ihnen orientieren.

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Sachregister

Agnostizismus 415–421, 423, 430 Anti-Reduktionismus 25, 258, 313, 324, 329, 330, 334, 338 Bias 18, 41, 42, 46, 50, 161, 164, 322, 323, 327, 328, 354, 356, 357, 359, 365, 439, 444, 480, 485 Bundesgesundheitsministerium, BMG 299, 484 defeater 348, 357, 358 Deklarativa 287, 296 Demokratie 58, 59, 64, 65, 77, 88, 89, 119, 136, 150, 158, 159, 163, 164, 182, 205, 207–210, 213, 214, 294–298, 300, 311, 318, 341, 343, 438, 489 Desinformation 27, 39, 250, 252, 437, 439, 447, 448, 457, 483 Direktiva 286–288, 296, 300, 317 Dissens 22, 36, 40, 43, 49, 92, 93, 99, 107, 162, 224, 354–356, 375, 475, 482 Dogmatismus 25, 245–247, 258– 263, 266, 268, 269, 276, 278, 330, 485 Doxastische Neutralität 26, 403, 404, 408–411, 413, 415, 417, 418, 421 Echokammern 22, 205, 206, 250, 353, 381 Empfehlung 25, 73, 82, 85, 89– 91, 96, 97, 100, 102, 106–109, 114, 127, 131, 150, 155–161, 163, 180, 285–292, 295–298, 300–

318, 389, 403–409, 412, 418, 419, 421, 423, 425–429, 431, 432, 436, 442 Enthaltung 108, 362, 365, 385, 414, 415, 417, 422, 423, 427, 429, 430 Entscheidungstheorie 123, 136 Epistemic Trespassing 453, 454, 457 Epistemische Autorität 24, 85, 87, 94, 115, 212, 219–234, 236–239, 241–243, 293, 295, 299–301, 308, 315, 332, 457, 485 Epistemische Diversität 41, 42, 100, 443, 484 Epistemische Ungerechtigkeit 17, 18, 21, 196, 198, 247, 250, 251, 253, 254, 259–263, 273, 277, 278 Epistemischer Pluralismus 22, 23, 36, 43, 44, 49, 53, 61, 76, 83, 91– 94, 99–101, 103–107, 109, 114 Epistemisches Vertrauen 15, 25, 39, 97, 124, 155, 156, 162, 163, 189–191, 195, 196, 198–202, 205–208, 213, 215, 216, 221, 222, 232, 238, 242, 243, 251– 253, 255–257, 259, 260, 264, 267, 268, 271–276, 278, 285, 286, 291, 301–314, 316–319, 321, 330, 332, 336, 337, 346, 351, 352, 360, 365, 442 Ethikrat 210, 215, 405, 431 Eugenik 23, 56, 64–69, 71, 73

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Sachregister

Europäische Arzneimittel-Agen­ tur, EMA 74, 75, 170, 403, 404, 407, 411, 418, 423, 424, 426, 427, 432 Expert-Testimony 22, 251, 258, 259, 261, 267, 269, 271, 273, 276, 278 Experten, Expertinnen 14, 15, 22, 24–27, 33, 45, 56, 58, 61, 62, 66, 69, 71, 72, 85–87, 89–91, 97, 100–104, 108, 110–115, 117, 124–126, 129, 149, 155– 164, 167–169, 180, 189–198, 201–203, 206–214, 219, 223, 225–229, 240, 242, 243, 245– 251, 254–261, 263–280, 285, 286, 292–300, 302, 307, 315, 317, 319, 321, 323, 327, 328, 337, 339, 351, 352, 354, 355, 375, 376, 388, 389, 393, 398, 404, 427, 430, 442, 453, 454, 456, 457 Expertokratie 63, 85, 87, 93, 94, 162, 207, 299 Externalismus 25, 324, 325, 330–338 Fake News 15, 17, 21, 27, 28, 31, 39, 234, 237, 243, 343, 366, 435, 437–440, 442, 443, 445, 446, 448, 450, 452–463, 466, 472–478, 480, 482–484, 488, 491–496 Fast Science 14, 18, 22, 27, 28, 31, 33, 35, 36, 39, 42–44, 46– 50, 53, 54, 98, 436, 437, 442, 460, 486 Filterblasen 22, 250, 381 Forschungsförderung 34, 35, 132, 133 Function-first-Ansatz 461, 463– 466, 490 Glaubwürdigkeitskrise 24, 189, 191, 192, 202

Governance 89, 109 guter Ratgeber, gute Ratgebe­ rin 192, 198, 211, 286, 314–318 Ignoranz 26, 371, 373–375, 377– 390, 392–399, 476 Impfempfehlung 26, 412, 425, 428, 432 Impfpflicht 24, 131, 161, 179, 180, 197, 221, 484, 485 Impfung 15, 25, 26, 35, 61, 73– 75, 86, 120, 121, 126, 137–139, 164, 165, 167–174, 179, 181, 192, 193, 197, 206, 235, 241, 321– 323, 327, 328, 331, 332, 336, 337, 341, 349, 355, 361, 363, 364, 372, 373, 376, 389, 395, 403–412, 414, 418–421, 423– 432, 437, 445, 457, 485 Induktives Risiko 95, 137–139, 141, 315 Infodemie 435, 436, 443, 455 Inquiry-Erkenntnistheorie 247, 249, 256, 262, 393 Inquiry-Irrelevanz-Ungerechtig­ keiten 254, 260, 261, 273, 275, 277, 278 Intellektuelle Arroganz 25, 245, 247, 261, 263–270, 275–279, 380, 385, 388, 476 Intensivstationen 166–168, 176–178 Interdisziplinarität 22, 36, 43, 46, 47, 49, 50, 52, 93, 94, 101, 103, 128, 397 Invektivität 27, 267, 461–464, 466, 470–473, 476–479, 481– 491, 493 Laien 24, 26, 34, 162, 191, 193– 196, 201–203, 208, 211–213, 220, 223, 225, 226, 229, 245– 248, 250, 254, 256–258, 260, 261, 266–268, 271, 275–279,

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Sachregister

285, 293, 308, 321, 323, 327– 329, 337, 338, 345, 346, 348– 352, 354–356, 358, 361, 375, 388, 389, 393, 452, 454 Leopoldina 72, 78, 85, 96, 97, 113, 118, 126, 128, 131, 135, 142, 145, 146, 159–161, 180, 183, 185, 298–300, 319, 320, 348, 349 Lockdown 15, 24, 44, 72, 96, 101, 106, 113, 115, 118, 126–128, 134, 135, 145, 157–159, 161, 164, 167, 172–180, 183, 197, 208, 221, 337, 348, 358, 382, 441, 484, 486 Masken, Mund-NasenSchutz 126, 172, 175, 176, 197, 198, 221, 255, 256, 286, 287, 289, 295, 308, 345, 349, 350, 352, 356, 382, 437, 449 Medien 14, 18, 39, 71, 72, 129, 131, 141, 149, 164, 166, 168–170, 176, 181, 193, 202, 203, 205, 206, 234, 296, 297, 299, 341, 349, 350, 377, 407, 412, 436, 438, 447, 448, 455–457, 483– 485, 490, 495 Meinungsmacher, Meinungsma­ cherinnen 220, 242 Misstrauen 194–196, 202–204, 207, 219, 246, 247, 258, 259, 261, 263, 267–269, 271, 275– 278, 341, 342, 351, 352, 358, 359, 373, 377, 395 Nicht-Wissen 15, 26, 99, 104, 109, 379, 381, 382, 386, 396, 398, 401, 435 Nichtideale Theorie 13–22, 25, 26, 245–247, 250–253, 255–263, 266–270, 272–279, 397–399 Open Science 38, 41 Paul-Ehrlich-Institut, PEI 170 PCR-Test 70, 361

Peer Review 33, 38, 40, 42, 46, 436, 442 Polarisierung 17, 25, 205, 247, 259, 261, 263, 266, 268, 269, 271, 278, 405, 437, 440, 478, 480, 481, 488–490 Politikberatung 23, 34, 77, 81–86, 88–91, 93, 94, 96, 97, 99–104, 106, 107, 109, 110, 113–117, 119, 126, 132, 135, 136, 160, 162, 208, 250, 271 Präventionsparadox 26, 343, 363, 364 Preprint 32, 33, 38, 39, 49, 51, 98, 437, 452 Propaganda 18, 22, 27, 250, 438, 439, 448, 455, 481–483, 492, 495 Reduktionismus 25, 313, 324– 327, 329, 330, 334, 338 Relevante Alternativen 27, 251– 253, 261, 262, 264, 266, 466, 467, 469, 472, 475, 479, 481– 487, 490 Replikationskrise 40 Robert Koch-Institut, RKI 165, 166, 183, 189, 299, 346 Scorekeeping 466, 468, 469, 494, 495 Skepsis, Skeptizismus 15, 22, 25, 26, 39, 61, 169, 170, 179, 191, 202, 203, 205–207, 214, 219, 228, 241, 256, 268, 321–332, 334–338, 341–343, 349, 360, 364, 373, 389, 392, 396, 467, 468, 479 Slow Science 31, 36, 42, 45, 51, 53 Sprechakt 25, 27, 239, 285–288, 290, 296, 317, 320, 462, 463, 470, 471, 473, 483, 488

499 https://doi.org/10.5771/9783495998052 .

Sachregister

Ständige Impfkommission, STIKO 26, 403–412, 414–421, 423–432 Szientismus 23, 55, 56, 64, 68, 75, 78 Tatsachenurteil 55, 57–62, 65, 66, 73, 77, 120, 121, 126, 143 testimonial, Testimonialität 25, 191, 192, 196, 198, 238, 239, 246, 247, 250–256, 258–260, 263, 265, 267, 269, 271, 272, 278, 312, 313, 319, 321–327, 329–332, 334, 335, 337, 338, 461, 470 Totalitarismus 23, 56, 57, 63, 64, 68, 77, 93 Transdisziplinarität 38, 94, 103 Überraschungsparadox 26, 343, 363–365 Unentschiedenheit 403, 404, 410, 413–423, 426, 427 Unsicherheit 13–15, 26, 44, 58, 81–83, 91, 97–100, 104, 105, 107–109, 138–141, 143, 297, 303, 329, 355, 375, 388, 436, 442, 444, 487 Unwissenheit 22, 26, 240, 255, 371–373, 375–382, 384, 385, 387–394, 397–399 Urteilszurückhaltung 417, 421– 424, 427–430, 486 Verantwortung 20–22, 96, 109, 262, 269–273, 276, 277, 279, 285, 314, 317, 381, 385, 390, 491 Verschwörungstheorie, Verschwö­ rungserzählung, Verschwö­ rungsnarrativ 15, 26, 27, 39, 71, 163, 169, 190, 195, 197, 214, 234, 236, 237, 253, 279, 322, 336, 343, 360, 366, 372– 374, 376, 377, 394–396, 444– 449, 452, 458, 461–463, 466,

472–478, 480–484, 487, 488, 491, 492 Vertrauenskrise 189 Wachsamkeit 25, 247, 258–263, 266, 268–270, 276, 278 Weltgesundheitsorganisation, WHO 176, 193, 376, 392, 395, 435, 436 Wert 20, 57, 58, 60, 64, 65, 69, 74, 75, 77, 83, 91, 94, 95, 105– 107, 109, 117–120, 124, 131– 134, 136–143, 147, 149, 150, 156, 157, 159, 163, 175, 179, 180, 190–192, 200, 201, 206–214, 295, 315–318, 320, 337 Wertfreiheit 20, 23, 94, 95, 106, 116–119, 122, 124–126, 131– 134, 141–143, 147, 150, 155, 184, 207 Wertneutralität 23, 81, 94, 150– 156, 160, 180, 184, 272 Werturteil 24, 57, 58, 82, 94, 95, 106–108, 118–134, 137, 141–144, 151–156, 184, 192, 206, 210, 295, 298, 315, 316, 320, 436 Wissensansprüche 61, 71, 73, 84, 109, 252, 261, 467, 468, 472, 478, 483, 486, 487, 489, 490 Wissenschaftlicher Konsens 36, 55, 66, 71, 72, 99, 194, 274, 294, 442, 486 Wissenschaftsjournalismus 34, 125, 129, 130, 327, 344, 441, 442 Wissenschaftskritik 39, 203, 342, 484, 485 Wissenschaftsleugnung 27, 55, 69, 164, 169, 204, 322, 343, 373, 392, 450, 461–463, 466, 472–478, 480, 483, 485, 486, 488, 495 Wissenschaftspolitik 46

500 https://doi.org/10.5771/9783495998052 .

Sachregister

Wissenssynthese 103, 105 Wissensvorsprung 220–230, 240, 241, 263–268, 277 Wissenszuschreibung 251, 253, 256, 463, 467–469

Wohlwollen 257, 258, 272, 274– 277, 279, 305

501 https://doi.org/10.5771/9783495998052 .

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Personenregister

Abritis, Alison 33, 50 Accorsi, Emma K. 46, 50 Adorno, Theodor W. 154, 181, 242 Albert, Hans 181, 184 Alfano, Mark 246, 260, 279, 280, 392, 401 Allen, Christopher 38, 50 Allen, David 485, 491 Almassi, Ben 273, 279 Amlinger, Carolin 189, 214 Anderson, Caleb 33, 50 Anderson, Charity 228, 242 Anderson, Elizabeth 257, 272, 279, 327, 338, 399, 488, 491 Angeli, Frederica 89, 110 Ansell, Christopher 89, 110 Anton, Andreas 253, 279, 377, 399, 484, 491 Antonelli, Michela 168, 181 Arendt, G. 407, 432 Aristoteles 360, 366, 391, 399 Arnold, Norbert 91, 110 Artmann, Stefan 87, 112 Assmus, F. 407, 432 Audi, Robert 480, 491 Auld, Graeme 89, 110 Aupers, Stef 475, 493 Austin, John 251, 279 Baden, Lindsey R. 138, 139, 144 Baghramian, Maria 257, 279 Bagus, Philipp 474, 491 Bahner, Beate 165, 171, 181

Baier, Annette 190, 214, 305, 318 Baker, Vicki L. 48, 50 Ballantyne, Nathan 328, 338, 454, 457 Ballweg, Michael 382 Barker, Simon 14, 27 Barlösius, Eva 104, 110 Bartens, W. 405, 408, 412, 430 Basham, Lee 476, 491 Battaly, Heather 251, 260–263, 279, 280, 381, 385, 400 Baumann, Peter 359, 366 Baurmann, Michael 476, 491 Baylis, Francoise 36, 50 Beaver, David 14, 18, 27 Beck, Silke 34, 50 Becker, K. 412, 430 Becker, Michael 219, 242 Begby, Endre 14, 18, 19, 27 Beisbart, Claus 23, 95, 106, 117, 272 Bell, Alexander Graham 67 Belousova, Katja 484, 492 Bennett, Matthew 285, 305, 307, 318 Berg, Maggie 36, 50 Berger, Jens 349, 366 Bernecker, Sven 334, 338 Betz, Gregor 95, 110, 137, 138, 144, 207, 214 Bevand, Marc 166, 182 Bhakdi, Sucharit 349, 367

503 https://doi.org/10.5771/9783495998052 .

Personenregister

Bicchieri, Cristina 162, 163, 182 Biddle, Justin B. 140, 144 Binding, Karl 67 Bingener, R. 403, 430 Birch, Jonathan 90, 96, 97, 110 Birnbacher, Dieter 178, 182 Bjerg, Ole 475, 492 Blake-Turner, Christopher 251, 252, 280, 487, 492 Blancke, Stefaan 257, 280 Bleuler, Eugen 67 Blome-Tillmann, Michael 251, 253, 280, 468, 492 Bogner, Alexander 34, 50, 85, 89, 94, 110, 162, 163, 182, 207, 214, 215, 299, 318, 342, 366, 456, 457 Boin, Arjen 88, 111 Bokros, Sofia Ellinor 230, 242 Bolsonaro, Jair 450 Bortolotti, Lisa 380, 400 Boxwell, Robert 448, 457 Brady, Emer 133, 144 Bramstedt, Katrina A. 33, 50 Bratich, Jack Z. 475, 492 Brauner, J. M. 172, 182 Brennen, J. Scott 456, 458 Brigandt, Ingo 111 Brinkmann, Melanie 126–130, 139, 144 Broderick, Ryan 444, 458 Bromberger, Sylvain 390, 391, 394, 400 Broncano-Berrocal, Fer­ nando 334, 339 Brown, James R. 485, 492 Brown, Jessica 463, 492 Brown, Matthew J. 95, 111 Brzezinski, Adam 324, 339

Bschir, Karim 23, 43, 44, 46, 53, 81, 92, 101, 102, 111, 113, 114, 119 Budnik, Christian 190, 195, 199, 201, 215, 219, 242, 305, 318 Buhl, Marius 189, 215 Burge, Tyler 313, 318 Burns, Patricia B. 72, 77 Butter, Michael 343, 360, 366, 373, 400, 448, 458, 476, 482, 492, 494 Büttner, Sebastian M. 84, 86, 102, 110–112, 114 Button, Katherine S. 40, 50 Cai, Xiaojing 32, 51 Canali, Stefano 101, 114, 135, 146 Capano, Giliberto 88, 111 Cappelen, Herman 14, 18, 27, 481, 492 Carr, Jennifer Rose 14, 18, 20, 28 Carrier, Martin 106, 111, 140, 144, 147, 182, 184 Cassam, Quassim 249, 262, 280, 385, 400, 474, 476, 492 Cat, Jordi 92, 111 Chadwick, R. F. 386, 400 Chan, Man-pui Sally 337, 339 Cichutek, Klaus 170 Ciesek, Sandra 299, 442 Ciriminna, Rosaria 38, 51 Clarke, Laurie 478, 492 Clarke, Steve 447, 458 Clinton, Hillary 438 Coady, C. A. J. 192, 215, 313, 318, 326, 339 Coady, David 226, 229, 242, 373, 374, 400, 463, 474, 478, 482, 492, 495 Code, Lorraine 20, 28, 272, 280 Cohnitz, Daniel 476, 491

504 https://doi.org/10.5771/9783495998052 .

Personenregister

Coliva, Annalisa 43, 51 Collins, Aegnus 89, 111 Collins, Harry M. 277, 280, 293, 318 Constantin, Jan 228, 230, 242 Contessa, Gabriele 135, 144 Conway, Erik M. 204, 216 Craig, Edward 463–466, 471, 492, 494 Crawford, Sean 415, 416, 430 Crease, Robert P. 211, 216, 275, 281 Crerar, Charlie 14, 27, 384, 400 Croce, Michel 221, 223, 226, 242, 248, 257, 277, 279, 280 Czypionka, Thomas 107, 111 Dahms, Hans-Joachim 154, 182 Darwall, Stephen L. 304, 318 Daum, Philipp 189, 215 Davidson, Donald 123, 132, 144 de Bruin, Boudewijn 392, 401 de Bruin, Kiki 437, 458 De George, Richard T. 224, 242 de Melo-Martín, Inmaculada 95, 111, 475, 494 DeHaven-Smith, Lance 475, 482, 492 Dentith, M R. X. 343, 366, 477, 482, 491, 492 DeRose, Keith 472, 492 Descartes, René 351, 360, 366 Dever, Josh 14, 18, 27, 481, 492 Di Lorenzo, Giovanni 194, 203, 215 Diele-Viegas, Luisa Maria 36, 43, 52 Diethelm, Pascal 476, 492 Dietze, Gabriele 31, 51 Dombrowski, Juri 75, 77

Dormandy, Katherine 228, 243, 304, 318 Dorn, Florian 174, 182 Dorn, Thea 298, 318, 342, 366 Douglas, Heather E. 94, 95, 106, 111, 137, 145, 295, 315, 318 Douglas, Karen M. 336, 339 Drosten, Christian 100, 126, 127, 131, 140, 145, 167, 194, 203, 215, 299, 344–346, 349, 361, 367, 442, 452, 453, 457, 459 Dunning, David 268, 281, 328, 338 Dupps, William J. 48, 51 Dupré, John 154, 155, 182 Dyer, Andrew 437, 458 Echeverri, Santiago 336, 339 El Kassar, Nadja 26, 99, 371, 386– 388, 400, 487 El-Menyar, Ayman 33, 51 Elgin, Catherine Z. 466, 492 Ellerbrock, Dagmar 461, 488, 493 Elliott, Kevin C. 112, 118, 140, 145 Else, Holly 33, 51 Engel, Christoph 381, 386, 396– 398, 400, 401 Esfeld, Michael 22, 55, 61, 77, 93, 165, 172, 183, 347–349, 351, 367, 486, 494 Etzemüller, Thomas 65, 78 Evans, Robert 293, 318 Fairweather, Abrol 246, 280 Fangerau, Heiner 165, 182 Fauci, Anthony 71, 79, 449 Faulkner, Paul 304, 318, 324, 331, 332, 339 Fegert, Jörg 208, 215 Ferguson, Neil 348 Ferrari, Filippo 415, 416, 430

505 https://doi.org/10.5771/9783495998052 .

Personenregister

Feyerabend, Paul 19, 28, 92, 94, 111–113 Feynman, Richard P. 58, 78 Firestein, Stuart 389, 400 Fischer, Klaus 485, 493 Fisher, Irving 67 Fishman, Shira 422, 431 Forel, Auguste 67 Frampton, Geoff 34, 51 Frances, Allen 485, 493 Frances, Bryan 208, 215 Frank, David M. 475 Frankfurt, Harry 234, 243, 439, 458 Frenkel, S. 401 Frickel, Scott 47, 51 Fricker, Elizabeth 313, 319 Fricker, Miranda 196, 198, 215, 252, 265, 280, 281 Friedman, Jane 270, 280, 412, 415, 416, 431 Frith, Uta 31, 36, 47, 51 Fücks, Ralf 342, 366 Funke, Daniel 449, 458 Furman, Katherine 337, 339 Galton, Francis 67 Gambetta, Diego 306, 319 Gates, Bill 235, 376, 395, 445, 449 Gauthier, David P. 287, 319 Geinitz, C. 403, 430 Gelfert, Axel 27, 192, 215, 234, 435, 438–441, 458, 463, 465, 477, 493 Gerken, Mikkel 463, 492 Gettier, Edmund 333, 340, 463, 464, 493 Gettings, Michael 440, 458 Ghebreyesus, Tedros Adha­ nom 435

Gibney, Elizabeth 34, 35, 51 Gieryn, Thomas F. 87, 112 Glantz, Leonhard H. 65, 78 Godara, Malvika 173, 184 Goetze, Trystan S. 14, 27 Goldberg, Sanford C. 478, 493 Goldenberg, Maya J. 337, 339 Goldman, Alvin 193, 211–213, 215, 216, 225–229, 243, 248, 256, 280, 293, 319, 333, 339, 355, 366, 383, 393, 400 Goncharov, Ivan 384 Gorman, Jack M. 343, 366 Gorman, Sara E. 343, 366 Graff, Harvey J. 47, 51 Graham, Peter J. 324, 339 Grasswick, Heidi E. 20, 28, 270, 280, 338, 339 Greenhalgh, Trisha 72, 78 Greitens, Sheena C. 89, 112 Griffiths, Peter 48, 53 Grodin, Michael A. 65, 78 Grundmann, K. 430, 431 Grundmann, Reiner 248, 277, 280 Grundmann, Thomas 228, 230, 242, 257, 280, 327, 328, 333, 334, 339, 357, 366 Guerrero, Alexander 255, 281 Gustafson, Abel 98, 112 Haas, Jens 389, 390, 400 Habermas, Jürgen 63, 78, 154, 182 Habgood-Coote, Joshua 438, 458, 463, 474, 482, 493 Hacker, Jörg 87, 112 Hannon, Michael 464, 466, 488, 489, 491, 493, 496 Hansson, Sven Ove 98, 112 Hant, Claus 66, 78 Harambam, Jaron 475, 493

506 https://doi.org/10.5771/9783495998052 .

Personenregister

Harding, Sandra 19, 28, 106, 112, 143, 145 Hare, Richard M. 120, 145, 151, 154, 182 Harris, Keith 281, 343, 366, 377, 396, 400 Harris, Victor A. 447, 458 Harvard, Stephanie 143, 145 Haug, Nils 172, 182 Hauswald, Rico 13, 27, 222, 223, 243, 252, 322, 327, 339, 374, 461, 471, 481, 485–487, 493 Hawke, Peter 467, 493 Hawley, Katherine 305, 319, 373, 400 Hayek, Friedrich August von 62, 78 Hayward, Tim 477, 482, 493 Hazlett, Allan 461, 476, 494 Heil, Roman 25, 321 Heimstädt, Maximilian 39, 51 Hens, Kristien 143, 146 Henschen, Tobias 138, 145 Hepfer, Karl 343, 366 Hermann, J. 403, 431 Hertwig, Ralph 381, 386, 396– 398, 400, 401 Herzog, Lisa 14, 28 Heuling, Dagmar S. 89, 112 Hieronymi, Pamela 305, 319 Hill, Benjamin 70, 78 Hinchman, Edward 285, 287, 290, 319 Hirschi, Caspar 97, 112, 128, 145, 298, 319, 456–458 Hoffmann, Martin 211, 212, 215 Hohmann-Jeddi, C. 431 Holcombe, Alex O. 40, 41, 54 Holton, Richard 304–306, 319

Hookway, Christopher 249, 254, 281 Hörning, Karl H. 87, 112 Howell, James 485, 491 Howlett, Michael 100, 111, 112 Hoyningen-Huene, Paul 84, 112 Hume, David 121, 145, 151, 182 Husting, Ginna 474, 494 Huxley, Julian 67 Ichikawa, Jonathan 253, 281, 479, 494 Icke, David 445, 459 Incurvati, Luca 415, 416, 430 Intemann, Kristen 95, 111, 475, 494 Ioannidis, John P. A. 40, 50, 51, 71, 78, 98, 112, 165, 182 Jacobs, Jerry 47, 51 Jäger, Christoph 24, 219, 221, 222, 228, 229, 243 Jahng, M. Rosie 474, 494 James, William 359, 366 Janich, Nina 47, 52 Janssen, Marijn 89, 113 Jasanoff, Sheila 88, 113 Jaster, Romy 46, 52, 164, 183, 184, 234, 242, 243, 343, 366, 474, 476, 477, 494 Jeffrey, Richard C. 138, 145 John, Stephen 108, 109, 113, 140, 145 Jolley, Daniel 336, 339 Jones, Edward E. 447, 458 Jones, Karen 305, 319 Joye, Stijn 449, 459 Jubb, Robert 17, 28 Jungert, Michael 22, 31, 37, 47, 49, 50, 52, 274, 436, 486 Kahan, Dan M. 396, 401

507 https://doi.org/10.5771/9783495998052 .

Personenregister

Kahle, A. 405, 431 Kampf, Günter 75, 78 Kamphausen, Klaus 342, 367 Kang, C. 401 Kant, Immanuel 350 Kappel, Klemens 465, 494 Kastner, Heidi 383, 401 Keil, Geert 46, 52 Keiser, Jessica 14, 18, 28 Kekulé, Alexander 299, 344–346 Kelion, Leo 445, 459 Kellert, Stephen H. 92, 113 Kelp, Christoph 249, 281, 465, 494 Kenyon, Tim 326, 339 Keren, Arnon 313, 319 Keynes, John Maynard 67, 79, 98, 113 Khatter, Amandeep 38, 52 Kidd, Ian James 490, 494 King, Anthony 39, 52 Kitcher, Philip 136, 145, 189, 192, 206, 207, 215, 256, 281 Klasen, O. 405, 408, 412, 430 Klein, Pit P. L. E. 482 Klemm, Anne-Kathrin 31, 52 Klingwort, Jonas 46, 52 Knieps, Franz 31, 52 Knight, Frank H. 98, 113 Knight, Peter 475, 482, 494 Knobloch, Jörn 23, 43, 81, 119 Kodvanj, Ivan 33, 46, 52 Kohlhöfer, Philipp 342, 361, 366 Koop, Sarah 173, 184 Köppe, Julia 98, 113 Korinek, Rebecca-Lee 84, 87, 113 Kornblith, Hilary 20, 28 Korte, Karl-Rudolf 88, 89, 113

Kotchoubey, Boris 22, 55, 61, 72, 78, 93 Kraft, Tim 26, 336, 341, 343, 352, 356, 367 Kruger, Justin 268, 281 Kruglanski, Arie W. 422, 431 Kuhn, Thomas 19, 28, 137, 142, 145, 490, 494 Kuhrt, Nicola 170, 183 Kukla, Quill R. 14, 18, 28 Kurath, Monika 88, 113 Kusch, Martin 465, 494 Labisch, Alfons 165, 182 Lacey, Hugh 137, 145 Lackey, Jennifer 14, 18, 28, 238– 241, 243, 274, 280, 281, 324, 326, 339, 381, 397, 401 Lahno, Bernd 190, 196, 198, 200, 206, 215, 305, 319 Lamberty, Pia 373, 395, 401 Lancaster, Kari 89, 113 Landwehr, Claudia 342, 367 Langton, Rae 472, 473, 494 Lanier, Jaron 205, 215 Lanius, David 164, 183, 234, 243, 343, 366, 474, 476, 477, 494 Laux, Thomas 84, 86, 102, 110– 112, 114 Le Morvan, Pierre 387, 401 Leahey, Erin 47, 52 Ledford, Heidi 34, 52 Lee, Sabine 89, 113 Leefmann, Jon 25, 285, 305, 319 Lehrer, Keith 324, 339 Leite, Luciana 36, 43, 52 Lentsch, Justus 86–88, 94, 116 Lenzen, Dieter 453 Leonard, Thomas C. 67, 78 Lesch, Harald 342, 367

508 https://doi.org/10.5771/9783495998052 .

Personenregister

Leuschner, Anna 189, 216 Leveaux, Sarah 482, 495 Levi, Isaac 138, 146 Levy, Neil 36, 39, 52, 257, 281, 328, 340, 343, 367 Lewandowsky, Stephan 396, 401 Lewiński, Marcin 470, 494 Lewis, David 251, 253, 281, 468, 469, 485, 494 Li, Heidi Oi-Yee 443, 459 Liester, Mitchell B. 484, 494 Lintl, Peter 219, 243 Lloyd, Elisabeth A. 92, 113 Lodge, Martin 88, 111 Lohse, Simon 23, 43, 44, 46, 53, 81, 92, 101, 102, 111, 113, 114, 119, 135, 146 Longino, Helen E. 42, 53, 84, 105, 106, 113, 114 Lundborg, Herman 67 Lütge, Christoph 165, 172, 183, 347–349, 351, 367, 486, 494 Lynch, James Q. 449, 459 Lynch, Michael 280, 281 MacLeod, Miles 47, 53 Maier-Borst, Haluka 172, 183 Malfatti, Federica I. 221, 229, 238, 241, 243 Mannino, Adriano 46, 53, 352, 367 Martin, Brian 478, 482, 490, 495 Martini, Carlo 279, 281 Marušić, Berislav 305, 319 Matheson, Jonathan 208, 215 Mayr, Anna 219, 243 McDowell, John 313, 319, 336, 339, 340 McGoey, Linsey 379, 400, 401

McGowan, Mary Kate 470–472, 481, 495 McGrath, Matthew 415, 416, 431 McIntyre, Lee 476, 495 McKee, Martin 476, 492 McKenna Robin 469, 479, 495 McMyler, Benjamin 228, 243, 313, 319 Medina, José 380, 381, 384, 385, 401 Meggle, Georg 462, 495 Mehler, David M. A. 38, 50 Menz, Wolfgang 34, 50 Merkel, Angela 72, 73, 78, 85, 159, 167 Meyen, Michael 483, 495 Meyer, Björn 140, 146 Meyer, Marco 392, 401 Mill, John Stuart 92, 94, 113, 114 Miller, Boaz 20, 28, 294, 319 Mills, Charles 14, 16, 17, 28, 245, 281, 383, 397, 401 Mirbach, Alexis von 483, 495 Mittelstraß, Jürgen 380, 398, 401 Moehring, Katja 114 Molthagen-Schnöring, Stefa­ nie 90, 114 Montmarquet, James A. 20, 28 Moore, George Edward 152, 183, 331, 332, 340 Morandi, Pietro 85, 114 Mößner, Nicola 24, 102, 189, 192, 205, 216 Mühlebach, Deborah 14, 18, 19, 28 Mukerji, Nikil 46, 53, 352, 367, 476, 495 Müller, Gerhard Ludwig 445, 458 Müller-Jung, Joachim 165, 183 Mulligan, Mark J. 138, 139, 146

509 https://doi.org/10.5771/9783495998052 .

Personenregister

Musk, Elon 445 Myrdal, Alva 67 Nachtwey, Oliver 189, 214 Nadelhoffer, Thomas 488, 495 Naidoo, Xavier Kurt 236, 237 Napolitano, Giulia M. 474, 475, 495 Nardmann, Julian 34, 50 Nassehi, Armin 342, 367 Neil, Martin 74, 78 Nera, Kenzo 482, 495 Nguyen, C. Thi 381, 401 Nichols, Tom 87, 114, 189, 216 Nickel, Philip J. 305, 320 Nickerson, Raymond 422, 431 Nocun, Katharina 373, 395, 401 Norman, Ian 48, 53 Nowotny, Helga 88, 114 Nutley, Sandra 85, 114 Nygren, Thomas 336, 340 O’Connor, Cailin 485, 495 Olatunbosun-Alakija, Ayoade 61, 78 Oreskes, Naomi 42, 53, 97, 106, 114, 189, 204, 216 Orr, Martin 474, 494 Owens, Brian 36, 53 Pai, Madhukar 61, 78 Pamuk, Zeynep 90, 114 Panofsky, Aaron 40, 53 Pantenburg, Johannes 197, 203– 205, 216, 271, 281, 389, 402 Pariser, Eli 205, 216 Parker, Wendy S. 143, 146 Peckham, H. 372, 402 Pedersen, Nikolaj J. L. L. 43, 51 Peels, Rik 387, 401 Peterson, David 40, 53

Pfadenhauer, Michaela 114, 115 Pfister, Jonas 353, 359, 367 Piatelli-Palmarini, Mas­ simo 164, 183 Piatov, Filip 452, 459 Pielke, Roger A. 294, 320 Pigden, Charles R. 151, 183, 495 Platon 56, 57, 62, 78 Polack, Fernando P. 138, 139, 146 Pollmann, Arnd 118, 146 Popper, Karl R. 56, 62, 78, 98, 114, 123, 146, 205, 216 Poston, Ted 335, 340 Powys Whyte, Kyle 275, 281 Prasad, Jamuna 441, 459 Presskorn-Thygesen, Thomas 475, 492 Priesemann, Viola 103, 107, 111, 115 Pritchard, Duncan 324, 340, 474, 494, 495 Proctor, Robert 94, 115 Putnam, Hilary 154, 183 Qi, Jingwen 449, 459 Quaranto, Anne 482, 495 Quast, Christian 226, 243, 248, 281, 293, 320 Rabenschlag, Ann-Judith 67, 79 Rahmstorf, Stefan 486, 495 Raleigh, Thomas 415, 416, 431 Randleman, J. Bradley 48, 51 Ratcliffe, Matthew 490, 494 Rawls, John 14–16, 28, 281 Raynaud, Marc 32, 53 Record, Isaac 20, 28 Reichardt, Sven 216 Reinle, D. 405, 431 Reiss, Karina 349, 367 Rescher, Nicholas 380, 402

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Personenregister

Resnik, David B. 123, 146 Resnik, Michael 123, 146 Reuter, Kevin 474, 475, 495 Rice, Ronald E. 98, 112 Richards, Ted 95, 112 Rini, Regina 14, 18, 21, 28, 438, 459 Robins Wahlin, T.-B. 386, 402 Rochadiat, Annisa 494 Rodgers, Joseph L. 40, 53 Rolin, Kristina H. 272, 281, 327, 340 Romero, Felipe 40, 53 Roozenbeek, Jon 336, 340 Rosenkranz, Sven 415, 416, 431 Rösinger, Luna 63, 79 Roßbach, H. 428, 431 Roth, Wilfried 32, 54 Rudner, Richard 95, 115, 137, 138, 140, 146, 295, 320 Ruffing, Eva 104, 110 Rysiew, Patrick 465, 466, 468, 495 Sainsbury, R. M. 333, 340, 363, 367 Salfellner, Harald 176, 183 Saltelli, Andrea 99, 115 Salzen, Claudia von 484, 496 Sanger, Margaret 67 Sarewitz, Daniel 31, 36, 53 Sawicki, Peter 431 Schäfer, Armin 342, 367 Schäuble, Wolfgang 209, 216 Schaubroeck, Katrien 143, 146 Scheman, Naomi 272, 273, 281 Schink, Alan 253, 279, 484, 491 Schliesser, Eric 37, 39, 52, 53, 486, 496

Schmechtig, Pedro 13, 24, 226, 237, 245, 249, 277, 282, 314, 320, 462 Schmidt, L. 412, 430 Schmidt, Paul F. 153, 184 Schmidt, Sebastian 190, 194, 195, 216, 219, 243, 377, 402 Schnell, Rainer 46, 52 Scholz, Oliver R. 194, 216 Schroter, Sara 40, 53 Schulz, Moritz 25, 321 Schumann, Florian 459 Schumpeter, Joseph 67, 79 Schurz, Gerhard 23, 94, 119, 122, 147, 149, 151–153, 155, 164– 168, 182, 184, 272 Searle, John R. 286, 287, 320 Sebhatu, Abiel 474, 496 Seeber, Barbara K. 36, 50 Selinger, Evan 211, 216 Sell, Kerstin 101, 115 Sentker, Andreas 194, 203, 215 Sepp, Benedikt 216 Shapin, Steven 277, 282 Shaw, George Bernard 67 Shibutani, Tamotsu 440, 441, 459 Shimray, Somipam R. 33, 53 Shrout, Patrick E. 40, 53 Shvetsova, Olga 88, 115 Silva Júnior, Joseeldo da 450, 459 Silva, Francisco Vieira da 450, 459 Simmank, J. 432 Simmons, A. John 17, 28 Singer, Tania 173, 184 Sliwa, Paulina 287, 320 Smith, Michael 121, 146 Söder, Markus 403, 427, 429–432 Sokrates 350 Soros, George 445

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Personenregister

Sosa, Ernest 333, 339, 340 Spahn, Jens 405, 431, 435, 459 Späth, S. 403, 432 Specter, Michael 478, 496 Staib, J. 403, 430 Stanley, Jason 14, 18, 27, 482, 495 Stanovich, Keith E. 480, 481, 489, 496 Steel, Daniel 95, 115 Stegenga, Jacob 14, 28, 45, 46, 54, 442, 460, 485, 496 Stemplowska, Zofia 16, 17, 28 Stengers, Isabelle 31, 36, 47, 54 Stine, G. 251, 282 Stoecker, Christian 364, 367 Stoycheff, Elizabeth 494 Stoye, Jörg 453, 459 Straßheim, Holger 87, 115 Streeck, Hendrik 100, 126, 133, 146, 167 Streeck, Wolfgang 101, 115 Strobl, Stephanie 32, 54 Stürmer, Martin 430 Sunstein, Cass R. 205, 206, 216, 217, 476, 478, 496 Swift, Adam 16, 28 Talisse, Robert B. 474, 496 Tandoc, Edson 438, 460 Tanesini, Alessandra 265, 280, 282 Tang, Bor Luen 33, 54 Tangcharoensathien, Viroj 436, 460 Tentolouris, Anastasios 38, 54 Tessman, Lisa 263, 282 Thacker, Paul D. 74, 79 Thonemann, Philip 138, 146 Thunberg, Greta 342, 367 Tiefenbacher, Alex 173, 184

Topitsch, Ernst 181, 184 Toshkov, Dimiter 88, 115 Trump, Donald 236, 298, 320, 438, 447, 450, 457, 483 Tuckwell, William 251, 253, 282, 469, 496 Turner, Stephen P. 295, 320 Turri, John 333, 340 Uscinski, Joseph E. 473, 496 Van Aelst, Peter 460 van Basshuysen, Philippe 90, 115 van der Linden, Sander 336, 340 van der Voort, Haiko 89, 113 Van Leuven, Sarah 449, 459 van Noorden, Richard 34, 52 Van Rensburg, Willem 475, 496 van Rossum, Walter 346, 347, 349, 351, 367 van Treeck, Werner 383, 402 Väyrynen, Pekka 121, 146 Vazire, Simine 40, 41, 54 Veit, Slyvia 84, 87, 113 Viebahn, Emanuel 329, 340 Vogt, Katja Maria 389, 390, 400 Vohland, Kathrin 102, 116 Wachtler, Benjamin 101, 116 Wagner, N. 407, 432 Wagner, Verena 26, 403, 416, 418, 433, 486 Walker, Jesse 474, 496 Wäscher, Sebastian 34, 54 Watzel, Liane 133, 147 Watzlawick, Paul 364, 367 Weatherall, James Owen 485, 495 Webb, Beatrice 67 Weber, Max 95, 116–120, 122, 123, 133, 140, 147, 150, 184, 350 Wedgwood, Ralph 410, 433 Wehling, Peter 386, 401, 402

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Personenregister

Weingart, Peter 84, 86–88, 94, 97, 116, 193, 209, 217 Wells, H. G. 67 Welzer, Harald 76, 79, 351 Wendler, A. 430, 433 Wicke, Nina 34, 54 Wieler, Lothar H. 299 Wiesendanger, Roland 453, 454 Wiesing, Urban 160, 162, 185, 298, 320, 342, 367 Wiland, Eric 287, 320 Wilholt, Torsten 95, 116, 391, 402 Williams, Patricia J. 272, 282 Williamson, Timothy 333, 336, 340, 360, 367

Winsberg, Eric 37, 39, 52, 53, 143, 146, 486, 496 Wolf, Regina 129, 147 Wolkewitz, Martin 46, 54 Wormer, Holger 443, 460 Worsnip, Alex 322, 324, 340 Wright, Sarah 228, 243 Yeo-Teh, Nicole Shu Ling 33, 54 Ying, Fang 89, 116 Zack, Naomi 397, 402 Zagzebski, Linda Trinkaus 20, 28, 221, 223, 228, 243 Zakharova, Ekaterina 47, 52 Zarocostas, John 436, 460

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