Kreativität im künstlerischen Gestaltungsprozess: Entwurf einer systemtheoretischen Definition 9783839445891

"What is creativity?" The volume provides a conceptual analysis and a systems-theoretical draft of a definitio

223 77 12MB

German Pages 324 Year 2018

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Table of contents :
Inhalt
1. Einführung und Fragestellung
2. Forschungsfelder des Kreativitätsbegriffs
3. Künstlerischer Gestaltungsprozess als Anlass für Kreativität
4. Künstlerischer Gestaltungsprozess in der Systemtheorie
5. Systemtheoretische Analyse des künstlerischen Gestaltungsprozesses
6. Kreativität als Wert im künstlerischen Gestaltungsprozess
7. Resümee
Literatur
Abbildungen
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Kreativität im künstlerischen Gestaltungsprozess: Entwurf einer systemtheoretischen Definition
 9783839445891

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Florian Pfab Kreativität im künstlerischen Gestaltungsprozess

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Für meine Familie

Florian Pfab (Dr. phil., M.A.), geb. 1982, unterrichtet Kunst in Bayern und forscht an systemtheoretischen Zugängen zum künstlerischen Gestaltungsprozess. Dazu promovierte der Kunstpädagoge an der Universität Regensburg im Bereich Bildende Kunst und Ästhetische Erziehung.

Florian Pfab

Kreativität im künstlerischen Gestaltungsprozess Entwurf einer systemtheoretischen Definition

Die Arbeit wurde im Jahr 2018 von der Fakultät für Philosophie, Kunst-, Geschichts- und Gesellschaftswissenschaften der Universität Regensburg als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Florian Pfab, Darkside 7, 2016, Öl auf Leinwand, 56x89 cm Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4589-7 PDF-ISBN 978-3-8394-4589-1 https://doi.org/10.14361/9783839445891 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

1

Einführung und Fragestellung

9

1.1 Aufbau der Arbeit

9

1.2 Ausgangspunkt Kunstpädagogik

10

2

13

Forschungsfelder des Kreativitätsbegriffs

2.1 Kreativitätsbegriff

13

2.2 Differenzierung unterschiedlicher Forschungsfelder

16

2.3 Kreative Personen 2.3.1 Biografischer Erklärungsansatz 2.3.2 Psychopathologischer Erklärungsansatz 2.3.3 Psychometrischer Erklärungsansatz 2.3.4 Psychodynamischer Erklärungsansatz 2.3.5 Komplementär-psychometrischer Erklärungsansatz 2.3.6 Sozialpsychologischer Erklärungsansatz

18 19 22 23 27 29 31

2.4 Kreative Produkte und Leistungen 2.4.1 Hierarchisierung kreativer Produkte und Leistungen 2.4.2 Merkmale kreativer Produkte

34 34 37

2.5 Kreative Prozesse

40

2.6 Kreative Situationen und Umweltbedingungen

44

2.7 Kreativer Akt im Denken und Handeln 2.7.1 Kreativität im Denken 2.7.2 Kreativität im physischen Handeln 2.7.3 Kreativität im sozialen Handeln

51 54 59 60

2.8 Kreativität als Prinzip gesellschaftlicher Entwicklung 2.8.1 Individuum-Feld-Domäne-Modell von Csikszentmihalyi 2.8.2 Kreativitätsdispositiv von Reckwitz

63 66 69

2.9 Fünf Referenzbedingungen des Kreativitätsbegriffs

75

3

Künstlerischer Gestaltungsprozess als Anlass für Kreativität

81

3.1 Definition künstlerischer Gestaltung

82

3.2 Künstlerischer Gestaltungsprozess als kreativer Prozess 3.2.1 Vorbereitungsphase 3.2.2 Inkubationsphase 3.2.3 Illuminationsphase 3.2.4 Verifikationsphase 3.2.5 Realisierungsphase 3.2.6 Phasenmodell als Analysewerkzeug

88 89 92 95 98 100 102

3.3 Fünf Referenzen der Kreativität im künstlerischen Gestaltungsprozess 3.3.1 Subjektreferenz zu einem künstlerischen Gestalter 3.3.2 Produktreferenz zu einem Kunstwerk 3.3.3 Sozialreferenz als visuelle Kommunikation 3.3.4 Zeitreferenz und Zeitabhängigkeit 3.3.5 Fachbereichsreferenz als Gestaltungsanlass

104 104 105 107 111 112

3.4 Merkmale des kreativen und des künstlerischen Gestaltungsprozesses 3.4.1 Merkmal der Neuartigkeit 3.4.2 Merkmal der Nützlichkeit

114 116 123

4

129

Künstlerischer Gestaltungsprozess in der Systemtheorie

4.1 Systemtheorie als Untersuchungsmethode 4.1.1 System und Umwelt 4.1.2 Offene und geschlossene Systeme 4.1.3 Systemtheorie nach Luhmann

130 133 134 137

4.2 Systeme des künstlerischen Gestaltungsprozesses 4.2.1 Psychische Systeme des künstlerischen Gestaltungsprozesses 4.2.2 Sensomotorische Systeme des künstlerischen Gestaltungsprozesses 4.2.3 Soziale Systeme des künstlerischen Gestaltungsprozesses

143 146 164 168

5

Systemtheoretische Analyse des künstlerischen Gestaltungsprozesses

191

5.1 Entstehung einer systeminternen Struktur 5.1.1 Code als Strukturorientierung 5.1.2 Sinn als Voraussetzung für Strukturierung 5.1.3 Medium als Voraussetzung für Strukturierung

192 195 203 206

5.2 Strukturelle Koppelungen der Systeme 5.2.1 Sensomotorik und Bewusstsein im Gestaltungsprozess 5.2.2 Bewusstsein und Kommunikation im Gestaltungsprozess

208 211 223

5.3 Formen der Kommunikation im künstlerischen Gestaltungsprozess 5.3.1 Kommunikation zwischen Kunstwerk und Künstler 5.3.2 Rolle des Publikums im künstlerischen Gestaltungsprozess

233 234 238

6

Kreativität als Wert im künstlerischen Gestaltungsprozess 243

6.1 Form als Träger von Kreativität 6.1.1 Form und Information 6.1.2 Form und Gestalt 6.1.3 Form und Inhalt

244 244 250 253

6.2 Kontingenz und Kreativität 6.2.1 Komplexität als die Vielzahl möglicher Differenzierungen 6.2.2 Zeit als Bedingung für Selektionen 6.2.3 Selektion als Reduktion von Komplexität 6.2.4 Kontingenz einer Form

255 256 258 259 261

6.3 Werte einer kreativen Form 6.3.1 Neuartigkeit und Erwartbarkeit 6.3.2 Nützlichkeit und Anschlussfähigkeit

265 268 272

6.4 Ermittlung der Kreativität als Wert

276

6.5 Zufall als Katalysator für Kreativität 6.5.1 Zufall als kreativer Akt 6.5.2 Bisoziation als systemtheoretischer Zufall 6.5.3 Experiment als simulierter Zufall

281 281 287 290

7

299

Resümee

Literatur Abbildungen

307 319

1

Einführung und Fragestellung

Die zentrale Fragestellung der vorliegenden Studie lautet: Was ist Kreativität im künstlerischen Gestaltungsprozess? Der Fokus bei der Beantwortung dieser Frage liegt sowohl auf den Bedingungen, welche Kreativität im künstlerischen Gestaltungsprozess ermöglichen, als auch auf den Funktionen, welche sie beim Gestalten übernimmt. Das Ziel dieser theoriebildenden Studie besteht darin, den Begriff Kreativität zu definieren. Die Definition erfolgt systemtheoretisch am Fall des künstlerischen Gestaltungsprozesses. Die Hypothese, die der Zielformulierung zugrunde liegt, ist, dass durch die gestiegene Relevanz und die veränderte Funktion der Kreativität in Wissenschaft und Gesellschaft, sich auch deren Bedingungen und Funktionen im künstlerischen Gestaltungsprozess gewandelt haben. Um eine Definition für ein zeitgemäßes Kreativitätsverständnis zu finden, werden aktuelle Forderungen an den Begriff gesammelt und konkrete Bedingungen formuliert, die nicht nur für die Bestimmung, sondern auch für das Zustandekommen der Kreativität notwendig sind. Diese Bedingungen werden am Fall des künstlerischen Gestaltungsprozesses systemtheoretisch untersucht. Die Systemtheorie dient dieser Untersuchung als theoriebildendes Konstrukt, um Verbindungen und gegenseitige Abhängigkeiten unter den Bedingungen und Merkmalen zu analysieren. Mit der Systemtheorie als Forschungsmethode ist es möglich, die psychischen, physischen und sozialen Abläufe im künstlerischen Gestaltungsprozess darzulegen und die Bedingungen für das Zustandekommen von Kreativität zu strukturieren.

1.1 AUFBAU DER ARBEIT Die vorliegende Studie ist – abgesehen von der Einleitung (Teil 1) – in 6 Abschnitte gegliedert (Teile 2 bis 7). Teil 2 (Forschungsfelder des Kreativitätsbe-

10 | Kreativität im künstlerischen Gestaltungsprozess

griffs) entwickelt auf Basis unterschiedlicher Untersuchungsfelder der interdisziplinären Kreativitätsforschung die zentrale Frage nach der Definition von Kreativität, die im weiteren Verlauf der Arbeit beantwortet wird. Außerdem werden die Merkmale und Bedingungen bestimmt, die als Forderungen an eine Definition von Kreativität fungieren. Teil 3 (Künstlerische Gestaltung als Anlass für Kreativität) formuliert das Verständnis des künstlerischen Gestaltungsprozesses, das dieser Arbeit zugrunde liegt, und prüft, ob der Gestaltungsprozess als theoretische Grundlage für die Definition von Kreativität geeignet ist. Während Teil 4 (Künstlerischer Gestaltungsprozess in der Systemtheorie) die für diese Untersuchung relevanten Grundbegriffe der Systemtheorie klärt und den Gestaltungsprozess systemtheoretisch in die beteiligten Subsysteme ausdifferenziert, beschreibt Teil 5 (Systemtheoretische Beschreibung des künstlerischen Gestaltungsprozesses), wie sich die einzelnen Systeme im Gestaltungsprozess zueinander verhalten. Die beiden Kapitel belegen aus einer systemtheoretischen Perspektive, dass die Merkmale und Bedingungen der Kreativität fester Bestandteil des künstlerischen Gestaltungsprozesses sind. In Teil 6 (Kreativität als Wert im künstlerischen Gestaltungsprozess) werden die Merkmale der Kreativität auf die Kriterien und Funktionsweisen des systemtheoretisch ausdifferenzierten künstlerischen Gestaltungsprozesses angewandt, um die Kreativität als einen systembezogenen Wert zu definieren. Teil 7 (Resümee) fasst die Ergebnisse dieser Studie zusammen und gibt einen Ausblick, welche Konsequenzen und Anschlussmöglichkeiten sich aus dem in dieser Arbeit entwickelten Kreativitätsbegriff für die Kunstpädagogik ableiten lassen. Die Arbeit wird in aufeinander aufbauenden Schritten begriffsanalytisch und systemtheoretisch am Fall des künstlerischen Gestaltungsprozesses zu einer Definition von Kreativität finden.

1.2 AUSGANGSPUNKT KUNSTPÄDAGOGIK Die Systemtheorie als Forschungsmethode, die in dieser Untersuchung herangezogen wird, stammt ursprünglich aus der Soziologie. Sie ist ein begriffsanalytisches Werkzeug, um Mechanismen, Beziehungen und Wechselwirkungen komplexer Sachverhalte darzustellen und zu beschreiben. Trotz der systemtheoretischen Herangehensweise erfolgt der Entwurf der Definition von Kreativität nicht aus einer soziologischen, sondern aus einer kunstpädagogischen Perspektive heraus. Das zeigt sich am zweifach motivierten Anliegen dieser Arbeit.

Einführung und Fragestellung | 11

• Das eine Anliegen ist künstlerisch begründet und besteht darin, zu verstehen,

wie Menschen und im speziellen Künstler zu neuartigen, originellen und einzigartigen Ideen oder Kunstwerken finden. Welche Eigenschaften, Fähigkeiten oder Prinzipien sind für das künstlerische Gestalten verantwortlich? Das Wort, mit dem das Neuartige, Künstlerische und Originelle im Gestaltungsprozess bezeichnet wird, ist die Kreativität. Das scheint auf den ersten Blick keineswegs ungewöhnlich, da die Kreativität den Begriff des Schöpferischen beerbt hat und allgemein alle Arten des menschlichen Hervorbringens von Ideen, Handlungen oder Produkten bezeichnet. Mit Blick auf die Bildende Kunst wird der kreative Prozess mit dem künstlerischen Gestaltungsprozess gleichgesetzt. Eine klare begriffliche Trennung zwischen dem Künstlerischen und dem Kreativen fällt somit schwer. Wie man den Begriff Kreativität definieren soll, darüber ist sich die interdisziplinäre Kreativitätsforschung uneins. Die Frage, was Kreativität ist, kommt nicht nur im alltagssprachlichen, sondern auch in der Forschungsliteratur oft einer Glaubensfrage gleich. Die Erklärungsversuche sind so vielzählig wie unterschiedlich. Die Kreativität wird als Fähigkeit von Personen, als Eigenschaft von Produkten, als Merkmal von Handlungen oder auch als Prinzip der Evolution begriffen. Daher scheint die Frage berechtigt zu sein, was Kreativität ist, oder genauer, was Kreativität im künstlerischen Gestaltungsprozess ist. • Das zweite Anliegen ist pädagogischer Natur und verfolgt die Frage, welche Einflussmöglichkeiten Menschen auf die eigene Kreativität und die der anderen haben. Kreativität wird allgemein als die grundlegende Fähigkeit oder das grundlegende Prinzip verstanden, aus dem Neues entstehen kann. Da der künstlerische Gestaltungsprozess auf die Hervorbringung neuartiger, origineller und einzigartiger Produkte ausgerichtet ist, wird die Kreativität als untrennbarer Aspekt der künstlerischen Gestaltung angesehen. Aus einer kunstpädagogischen Perspektive ist die Kreativität demnach ein zentraler Lern- und Lehrinhalt und ihre Förderung ein Kernziel des Faches Kunst. Da jedoch unterschiedlichste Theorien darüber existieren, was mit dem Begriff Kreativität überhaupt bezeichnet wird, ist nicht nur unklar, welche Einflussmöglichkeiten der Mensch selbst auf die Kreativität hat, sondern auch, wie sich die Kreativität oder die kreative Leistungsfähigkeit anderer Menschen fördern lässt. In der vorliegenden theoriebildenden Arbeit erfolgt jedoch keine didaktische Aufbereitung der hier entwickelten Definition von Kreativität. Diese könnte durch eine empirisch ausgerichtete Anschlussforschung geleistet werden. Die Unklarheiten und Widersprüche bezüglich der Definition von Kreativität, ihrer Rolle im künstlerischen Gestaltungsprozess und die Einflussmöglichkeiten darauf sind der Ursprung und die Motivation für die Überlegungen dieser Arbeit.

2

Forschungsfelder des Kreativitätsbegriffs

Die Frage, die mit dieser Untersuchung beantwortet werden soll, lautet: Was ist Kreativität im künstlerischen Gestaltungsprozess? Sie fragt im Allgemeinen, was Kreativität ist, und im Speziellen, was den künstlerischen Gestaltungsprozess kreativ macht. Die Antwort auf diese Frage besteht nicht nur in der Begriffsdefinition von Kreativität, sondern auch in den hinreichenden und notwendigen Merkmalen ihres Zustandekommens. Teil 2 dieser Studie dient dazu, die gemeinsamen Merkmale der Kreativität in den unterschiedlichen Definitionen der interdisziplinären Kreativitätsforschung zu analysieren. Da die Kreativitätsforschung eine vergleichsweise junge Domäne darstellt, findet man in der Literatur Beiträge aus den unterschiedlichsten Fachdisziplinen, wie der Psychologie, der Philosophie oder der Soziologie. Zunächst wird in Kapitel 2.1 der Begriff selbst näher bestimmt. Darauf folgend werden in Kapitel 2.2 sechs Untersuchungsfelder des Kreativitätsbegriffs differenziert. In den Kapiteln 2.3 bis 2.8 wird das Kreativitätsverständnis der sechs Untersuchungsfelder analysiert und geprüft, welche Merkmale und Kriterien an den Begriff geknüpft sind. Im abschließenden Kapitel 2.9 werden die Referenzmerkmale der Kreativität, welche domänenübergreifend in den unterschiedlichen Forschungsfeldern aufgeführt werden, zusammengefasst, um zu zeigen, welche Forderungen an die Definition von Kreativität gestellt werden.

2.1 KREATIVITÄTSBEGRIFF Mit der Begründung der Kreativitätsforschung durch Guilford im Jahr 1950 taucht auch der Begriff Kreativität zum ersten Mal im deutschen Sprachgebrauch auf. Er wird direkt von dem englischsprachigen Wort creativity abgeleitet, da es bis dato

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im Deutschen keine unmittelbare Entsprechung gegeben hat.1 Ursprünglich stammt der Begriff von dem lateinischen Verb creare ab und bedeutet als ein Handlungsakt so viel wie: das aktive Schaffen, Erzeugen oder Gestalten von etwas.2 Hemmer-Junk sieht darin auch ein bewusst gesteuertes Gestaltungs- und Handlungsgeschehen.3 Creare bezeichnet im Allgemeinen jeden zielgerichteten Akt des Hervorbringens. In deutschen Übersetzungen werden die Termini wiedergegeben durch Begriffe wie schöpferische Fähigkeit, schöpferisches Denken4 oder schöpferisches Verhalten.5 Dabei fallen zwei Dinge auf. • Zum einen gibt es keine direkte Übersetzung. Es handelt sich immer um ein

Nomen, das durch das Adjektiv „schöpferisch“ näher bestimmt wird. Insofern ist der Bedeutungskern des Kreativitätsbegriffs nicht klar definiert. Gerade dieser Punkt bereitet der Kreativitätsforschung bis heute Probleme, da man sich uneins ist, ob es sich bei Kreativität um einen Denkakt, eine Handlung, eine Handlungsweise oder eine Fähigkeit handelt. • Zum anderen wird zur genaueren Bestimmung grundsätzlich das Adjektiv schöpferisch herangezogen. Dadurch wird der Begriff Kreativität im deutschen Sprachgebrauch in den Bedeutungszusammenhang mit dem Schöpferischen gebracht. Bis zu der Übernahme des Kreativitätsbegriffs benutzt man in der deutschen Sprache Ersatzformulierungen, wie das Schöpferische im Menschen, das schöpferische Sein oder auch der göttliche Funke.6 Diese Formulierungen evozieren Bedeutungszusammenhänge aus dem christlichen Mittelalter, bei denen das Schöpferische als göttliches Privileg höherer Wesen gilt und die religiöse Verbindung zum _________________________________________________________________ 1

Vgl.: Hentig, Harmut von: Kreativität. Hohe Erwartungen an einen schwachen Begriff. Carl Hauser Verlag: München (1996) 2000. S.32.

2

Vgl.: Holm-Hadulla, Rainer M.: Kreativität. Konzept und Lebensstil. Vandenhoeck & Ruprecht: Göttingen (2005) 2010. S.22.

3

Vgl.: Hemmer-Junk, Karin: Kreativität. Weg und Ziel. Peter Lang: Frankfurt am Main 1995. S.11.

4 5

Vgl.: Ulmann, Gisela: Kreativität. Beltz: Weinheim 1968. S.13. Vgl.: Aebli, Hans: Einleitung. In: Kreativität im Unterricht. Unterrichtsbeispiele nach amerikanischen Lerntheorien. Hrsg.: Massialas, Byron G.; Zevin, Jack. Klett: Stuttgart 1969. S.7.

6

Vgl.: Koestler, Arthur: Der göttliche Funke. Der schöpferische Akt in Kunst und Wissenschaft. Scherz: Bern, München, Wien 1966. S.5.

Forschungsfelder des Kreativitätsbegriffs | 15

Schöpfertum im Verständnis der Menschen stark verankert ist.7 Bei Subjekten, die sich durch besonders kreative Leistungen von den anderen Menschen abheben, behilft man sich ab der Renaissance mit der Erklärung, dass ein göttlicher Funke diese zu schöpferischen Akten befähigt. Mit dem Einführen des Begriffs Kreativität ist eine Zäsur gesetzt worden, um sich semantisch von der Vorstellung des göttlichen Schöpfertums zu lösen. Csikszentmihalyi beschreibt diesen Schritt als eine Ursachenumkehrung in der Theorie der Kreativität. Nun ist nicht mehr ein Gott, sondern der Mensch der Schöpfer, aus dessen Phantasie alles Göttliche entspringt.8 Der Mensch ist als schöpferisches Wesen selbst für seine Entwicklung verantwortlich und die Zukunft somit untrennbar mit der Kreativität des Menschen verbunden. Diese theoretische Trennung von Kreativität und Schöpfung ist eine bedeutende Veränderung im Verständnis von Kreativität. Jedoch ist die Entwicklung des Begriffs damit noch lange nicht abgeschlossen. Vielmehr beginnt mit dieser Zäsur eine intensive Differenzierung des Kreativitätsbegriffs. 1950 löst Guilford die Kreativität vom Intelligenzbegriff ab und 1974 erfolgt durch Matussek die theoretische Abgrenzung vom Geniewesen.9 Es zeichnet sich eine einheitliche Richtung in der theoretischen Beschreibung von Kreativität ab. „Schöpferisch-Sein ist […] nicht [mehr] ein Merkmal ganz weniger großer Geister“ 10, sondern wird als Eigenschaft eines jeden Menschen definiert. Nach diesem Verständnis ist jedes Subjekt in der Lage etwas im Sinne der Kreativität zu schaffen. Die Veränderung der Begriffsbedeutung von Kreativität zeigt sich nicht nur in der wissenschaftlichen Forschung, sondern auch im gesamtgesellschaftlichen Bereich. Sowohl der inflationäre Gebrauch des Begriffs als auch die wachsende Forderung nach ihr als menschliche Ressource zeugen von einem zunehmenden Stellenwert innerhalb der Gesellschaft. Von Ingenieuren, Ärzten und Wissenschaftlern in der Forschung über Designer, Lehrer, Architekten und Künstler in der Gestaltung bis hin zu Managern, Unternehmern und Beratern in innovationsbezogenen Berufen,11 in sämtlichen Domänen wird von den beteiligten Individuen Kreativität erwartet und gefordert, um Fortschritt und Entwicklung zu gewährleisten. _________________________________________________________________ 7

Vgl.: Csikszentmihalyi, Mihaly: Kreativität. Wie Sie das Unmögliche schaffen und Ihre Grenzen überwinden. Klett-Cotta: Stuttgart 1997. S.15.

8

Vgl.: Csikszentmihalyi, 1997. S.15.

9

Vgl.: Hentig, 2000. S.33.

10 Matussek, Paul: Kreativität als Chance. Der schöpferische Mensch in psychodynamischer Sicht. Piper: München 1974. S.7. 11 Vgl.: Schuler, Heinz; Görlich, Yvonne: Kreativität. Ursachen, Messung, Förderung und Umsetzung in Innovation. Hogrefe Verlag: Göttingen 2007. S.4.

16 | Kreativität im künstlerischen Gestaltungsprozess

Ein Begriff, der ursprünglich das Genie und die Schöpferkraft einiger weniger bezeichnet hat, wurde generalisiert und hat sich zu einer Bezeichnung gewandelt, die gesamtgesellschaftliche Mechanismen beschreibt.

2.2 DIFFERENZIERUNG UNTERSCHIEDLICHER FORSCHUNGSFELDER Die Beiträge zur aktuellen Kreativitätsforschung stammen aus den unterschiedlichsten Domänen. Jede Domäne hat in ihren Studien eigene Forschungsmethoden und verfolgt eigene Ziele und Anliegen. Seit der Begründung der Kreativitätsforschung haben sich aus den Interessen der beteiligten Domänen vielzählige Forschungsfelder entwickelt. In ihnen wird die Kreativität aus verschiedenen Perspektiven betrachtet und als Merkmal bislang sowohl Produkten, Personen, Situationen als auch Prozessen zugesprochen. Die Differenzierung der Untersuchungsschwerpunkte liegt nicht zuletzt an dem sich kontinuierlich verändernden Verständnis von Kreativität. Der Psychologe Siegfried Schmidt spricht von „chronischen Definitionssorgen“12 des Leitbegriffs der Kreativitätsforschung. In dieser Studie werden sechs Untersuchungsfelder der Kreativitätsforschung differenziert, um die Forschungsbeiträge zu ordnen und dem Kernverständnis der Kreativität näher zu kommen. Zwischen den unterschiedlichen Definitionen der Forschungsfelder gibt es Analogien, Parallelen und Unterschiede. Als wichtig erweisen sich vor allem die Gemeinsamkeiten, um die Anforderungen an eine Kreativitätsdefinition zu bestimmen. Traditionell unterscheidet man die von Rhodes benannten „four p’s of creativity“13, die als wesentlich für die Struktur der Kreativität betrachtet werden. Die p’s stehen für personality (kreative Person), product (kreatives Produkt), process (kreativer Prozess) und press, worunter man die Umwelteinflüsse oder gesellschaftlichen Bedingungen verstehen kann, die zu Kreativität führen.14 Meist wird _________________________________________________________________ 12 Schmidt, Siegfried J.: Kreativität – aus der Beobachterperspektive. In: Kreativität. Ein verbrauchter Begriff? Hrsg.: Gumbrecht, Hans-Ulrich. S. 33-51. Wilhelm Finke Verlag, München 1988. S.35. 13 Rhodes, James Melvin: An Analysis of Creativity. In: Phi Delta Kappan. Vol.42, No.7. S. 305–310. Phi Delta Kappan International: Bloomington 1961. S.307. 14 Vgl.: Ulmann, Gisela: Psychologische Kreativitätsforschung. Ein Bericht über Anlässe, Tendenzen und bisherige Ergebnisse. In: Kreativitätsforschung. Hrsg.: Ulmann, Gisela. S.11-22 und diverse Anmerkungen. Kiepenheuer & Witsch; Köln 1973. S.47.

Forschungsfelder des Kreativitätsbegriffs | 17

press als kreative Situation bezeichnet. Die interdisziplinäre Kreativitätsforschung ist bis dato uneins, ob die Kreativität Personen, Produkten, Prozessen oder Situationen zuzuschreiben ist. In den meisten Theorien werden die vier Forschungsfelder so behandelt, dass sie zueinander keinen Widerspruch darstellen. Das Individuum gilt als Quelle der Kreativität, am Produkt kann man die Qualität prüfen und der Prozess untersucht die Handlungsschritte, die zwischen Idee und Produkt liegen. Die Situation definiert Rahmenbedingungen der Umwelt, welche die alltägliche und außergewöhnliche Kreativität begünstigen oder behindern.15 Bei HolmHadulla werden die vier Forschungsfelder als Einheit betrachtet.16 Eine kreative Person gestaltet über den kreativen Prozess kreative Produkte in einer kreativen Situation. Vogt ergänzt aus soziologischer Perspektive ein fünftes p, die performance oder den kreativen Akt17. Das scheint auf den ersten Blick unnötig, da das Untersuchungsfeld des kreativen Prozesses den operativen Aspekt der Kreativität abzudecken scheint. Doch während man den kreativen Prozess als Abfolge von verschiedenen Phasen definiert hat, geht es beim kreativen Akt um spezifische Denkoder Handlungsakte des Menschen, die entweder selbst kreativ sind oder zu Kreativität führen. Die Theorien zum kreativen Prozess können das Zustandekommen von Kreativität immer nur mit Blick auf eine spezielle Domäne untersuchen, da sich Vorgehen, Produkte und Ziele kreativer Prozesse in den verschiedenen Anwendungsbereichen grundlegend voneinander unterscheiden. Das Feld des kreativen Aktes hingegen untersucht keine Prozessketten, sondern Denk- und Handlungsweisen, die unabhängig von der Domäne zu kreativen Leistungen führen. In dieser Arbeit wird ein sechstes Feld differenziert, dessen Inhalte und Theorien in der Kreativitätsforschung seit Beginn diskutiert werden, jedoch erst in aktuellen Studien zum zentralen Thema avancieren. Die Rede ist von der Kreativität als Prinzip gesellschaftlicher Entwicklung. Dieser Forschungsbereich wird in der vorliegenden Studie als eigenständiges Feld untersucht, da die Kreativität in den dazugehörigen Theorien, anders als in den bereits genannten Untersuchungsfeldern, keine Fähigkeit oder Eigenschaft von Menschen, Produkten oder Prozessen ist, sondern der grundlegende Motor biologischer und kultureller Evolution. In _________________________________________________________________ 15 Vgl.: Holm-Hadulla, Rainer M.: Kreativität zwischen Schöpfung und Zerstörung. Auf dem Weg zu einer interdisziplinären Kreativitätstheorie. In: Zeichen setzen im Bild. Zur Präsenz des Bildes im Kunsttherapeutischen Prozess. Hrsg.: Titze, Doris. S.228237. Sandstein Verlag: Dresden 2012. S.228. 16 Vgl. ebd.: S.229. 17 Vgl.: Vogt, Thomas: Kalkulierte Kreativität. Die Rationalität kreativer Prozesse. VS Verlag: Wiesbaden 2010. S.28.

18 | Kreativität im künstlerischen Gestaltungsprozess

diesen Theorien wären sowohl Organismen als auch Gesellschaften ohne Kreativität nicht in der Lage, eine fortschreitende Evolution zu vollziehen. Kreativität ist in einem evolutionstheoretischen Verständnis nicht ausschließlich dem Menschen vorbehalten, sondern wird allem zugeschrieben, was das Potential hat, sich zu entwickeln. Im Folgenden werden sowohl die Merkmale und Kriterien der Kreativität in den einzelnen Domänen bestimmt als auch die Kreativitätsdefinitionen der verschiedenen Untersuchungsfelder analysiert, um zu zeigen, dass es eine Definition, die sämtliche Forderungen an den Begriff erfüllt, nicht gibt. Die einzelnen Definitionen weichen nicht nur voneinander ab, sondern schließen sich teilweise gegenseitig aus. Das Begriffsverständnis hängt mit der Domäne zusammen, welche an der Untersuchung des jeweiligen Forschungsfeldes beteiligt ist. Psychologen beispielsweise, welche in erster Linie die kreative Person untersuchen, definieren die Kreativität als Eigenschaftsgefüge des menschlichen Individuums. Soziologen, welche die kreative Situation analysieren, sehen in der Kreativität ein multikausales Potential eines Momentes. Wenn sowohl Personen, Prozesse, Handlungen, Produkte, Situationen als auch die gesamte Evolution als kreativ bezeichnet werden können, stellt sich die Frage nach dem Kernverständnis des Begriffs. Da im Rahmen dieser Arbeit eine systemtheoretische Definition von Kreativität erarbeitet wird, werden in Kapitel 2 die Bedingungen der Kreativität aus den unterschiedlichen Perspektiven der Untersuchungsfelder bestimmt. Es wird analysiert, welche Aspekte der verschiedenen Definitionen relevant sind, um als notwendige oder hinreichende Forderung an den Begriff zu fungieren. Hinzu kommt, dass im Verlauf dieser Arbeit die Kreativität im Speziellen aus dem künstlerischen Gestaltungsprozess heraus erklärt wird. Aus diesem Grund werden die unterschiedlichen Theorien und Ergebnisse der interdisziplinären Kreativitätsforschung auf ihre Anschlussfähigkeit bezüglich der Untersuchung des künstlerischen Gestaltungsprozesses geprüft.

2.3 KREATIVE PERSONEN Das wohl älteste Untersuchungsfeld der Kreativitätsforschung beschäftigt sich mit der kreativen Person. Hauptvertreter dieses Untersuchungsfeldes in der interdisziplinären Kreativitätsforschung ist die Psychologie. Aus ihrer Perspektive wird die Kreativität im Allgemeinen als Fähigkeit einer kreativen Person definiert.18 In _________________________________________________________________ 18 Vgl.: Dorsch: Lexikon der Psychologie. Hrsg.: Wirtz, Markus A. 17. Auflage. Verlag Hans Huber: Bern 2014. St.: Kreativität.

Forschungsfelder des Kreativitätsbegriffs | 19

diesem Verständnis ist sie eine geistige oder praktische Anlage, die dazu befähigt, etwas vorher nicht da Gewesenes, Originelles oder Neues zu kreieren. Das Untersuchungsfeld beschränkt sich jedoch nicht nur auf subjektbezogene Fähigkeiten. Manche Autoren sehen die Kreativität einer Person in ihrer spezifischen Biografie begründet, andere vermuten sie in der individuellen psychischen Ausstattung eines Individuums oder betrachten sie als biologische Grundausstattung eines jeden Menschen. Wiederum andere sehen in ihr nicht die Eigenschaft eines Subjekts, sondern das Potential einer Situation, in der das Subjekt nur noch als Katalysator für Kreativität fungiert. Die Erklärungsansätze von Kreativität im Untersuchungsfeld der kreativen Person sind unmittelbar an die Vorstellungen und Erklärungen geknüpft, wie Kreativität entsteht. Diese Erklärungsansätze haben zu vielfältigen Definitionen geführt. Insgesamt kann man das Untersuchungsfeld in sechs Gruppen aufteilen, bei der jede einen eigenen Erklärungsansatz verfolgt und aus denen sich jeweils ein anderes Verständnis von Kreativität ableiten lässt. Der biografische Erklärungsansatz aus Kapitel 2.3.1 versteht Kreativität als eine Eigenschaft weniger spezieller Menschen. Im psychopathologischen Erklärungsansatz aus Kapitel 2.3.2 besteht die Kreativität in einer pathologischen Ausnahmeerscheinung der menschlichen Psyche. In Kapitel 2.3.3 wird die Kreativität aus Perspektive des psychometrischen Erklärungsansatzes als Eigenschaftsgefüge eines Subjekts definiert. Der psychodynamische Erklärungsansatz aus Kapitel 2.3.4 definiert die Kreativität als eine Art Kraft, die von inneren und äußeren Einflüssen entweder gehemmt oder gefördert wird. In Kapitel 2.3.5 wird der komplementär-psychometrische Ansatz erläutert, bei dem die Kreativität als Wirken zweier entgegengesetzter Eigenschaften oder Fähigkeiten einer Person beschrieben wird. Im sozialpsychologischen Erklärungsansatz, der in Kapitel 2.3.6 ausgeführt wird, ist die Kreativität ein Potential von Subjekten, das über spezielle Denk- und Handlungsweisen sowie soziale Kontakte zur Geltung kommt. Trotz der unterschiedlichen Definitionen von Kreativität haben alle benannten Erklärungsansätze eine Gemeinsamkeit. In ihrem Zentrum steht ein Subjekt, welches für das Hervorbringen kreativer Produkte verantwortlich ist. Die Kreativität wird dabei immer, egal ob als Eigenschaft, Fähigkeit oder Potential, einer Person zugesprochen. 2.3.1 Biografischer Erklärungsansatz Der biografische oder historiometrische Ansatz untersucht Lebensgeschichten von Individuen, die durch ihr individuelles, originelles, expressives, geniales und authentisches Wirken als besonders kreativ gelten. Aus dieser Perspektive können

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nur diejenigen als kreative Person bezeichnet werden, welche sich durch außerordentliche Leistungen aus der Masse hervortun. Der Kreativitätsbegriff und damit die kreative Person weist in diesem Erklärungsansatz eine enge Verwandtschaft zum Geniebegriff auf. Ein Genie ist eine Person, die sich durch ihre überragend schöpferische Geisteskraft oder ihre besonders herausragende Leistung auszeichnet.19 Im biografischen Erklärungsansatz werden bevorzugt Individuen untersucht, die gemeinhin als Genies gelten, da bei ihnen die Differenz zwischen dem, was sie geleistet haben, und dem, was zuvor existiert hat, am deutlichsten hervortritt. Auf Basis von Biografien, Autobiografien, Zeitdokumenten, Briefen, Produkten und Werken werden Lebenswege von Individuen nachgezeichnet, um Indizien für die Definition von Kreativität darin zu finden. Dies wird zum Beispiel deutlich, wenn Csikszentmihalyi das Wirken des Chemikers und Nobelpreisträgers Ilya Prigogine beschreibt.20 In der Kreativitätsforschung werden für die Analyse meist prominente Persönlichkeiten gewählt, denen man durch ihre künstlerischen oder wissenschaftlichen Errungenschaften einen Fortschritt in der jeweiligen Domäne nicht absprechen kann. Es geht immer um Individuen, die als Urheber innovativer Leistungen gelten und denen man einen von der bestehenden Norm abweichenden Charakter und eine außergewöhnliche Biografie attestiert.21 Gerade Künstler, als Produzenten einzigartiger Werke, stehen im Fokus dieser Untersuchungen. Der Künstler oder die kreative Person wird als eine Exklusivfigur betrachtet, die aus soziologischen oder kulturrevolutionären Gründen zu einer antibürgerlichen Gegenfigur stilisiert wird22 und mit den sozialen Erwartungen des Üblichen bricht. Die Kreativität wird in diesen Untersuchungen als Fähigkeit definiert, die besondere Menschen vom Rest der Bevölkerung unterscheidet. Dieser Ansatz korrespondiert mit dem Mitte des 18. Jahrhunderts aufkommenden Diskurs der Genieästhetik, die Reckwitz aus soziologischer Sicht wie folgt beschreibt: „Die Genieästhetik modelliert den Künstler als ‚schöpferischen‘ Hervorbringer von Werken, die gegen die bestehenden Regeln verstoßen, die überraschen und in diesem Sinne

_________________________________________________________________ 19 Vgl.: Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Erster Band A – K. 4. Auflage. Mittler: Berlin 1927. St.: Genie. 20 Vgl.: Csikszentmihalyi, 1997. S.230 ff. 21 Vgl.: Reckwitz, Andreas: Vom Künstlermythos zur Normalisierung Kreativer Prozesse. Der Beitrag des Kunstfeldes zur Genese des Kreativsubjekts. In: what’s next? Kunst nach der Krise. Hrsg.: Meyer, Torsten; Hedinger, Johannes M. S.465-472. Kulturverlag Kadmos: Berlin 2013. S.465. 22 Vgl. ebd.: S.466.

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neuartig sind, und gewinnt ihre Identität aus der Abgrenzung gegenüber der humanistischen und klassizistischen Nachahmungsästhetik.“23

Die Kunstwerke entspringen dabei der einzigartigen Psyche eines individuellen, nicht austauschbaren Gestalters. Die Originalität der künstlerischen Werke wird auf den Künstler projiziert, der dadurch zum Originalgenie avanciert. Ein ähnliches Verständnis von Kreativität findet man auch in der kunstpädagogischen Forschung bei Sowa. Er definiert die Kreativität zunächst als eine allgemeine Fähigkeit von Subjekten und veranschaulicht dies an namhaften Künstlern von Michelangelo bis Jonathan Meese. Dabei zeigt er, dass die Kreativität durch die Kunstepochen hindurch zwar einen Verständniswandel erfahren hat, jedoch die grundsätzliche Definition von Kreativität als Fähigkeit einer Person gleich geblieben ist. Bei Michelangelo definiert er es als „die konzeptuelle und imaginative ‚schöpferische‘ Kraft des Künstlers [, als] jenes Vermögen, das ihn zum Hervorbringen naturanaloger, aber so noch nie gesehener Bilder und Gebilde befähigt“ 24. Bei Picasso bezeichnet Sowa die Kreativität als Fähigkeit „zur ständigen ‚Selbsterfindung‘ des künstlerischen Menschen […], in der es keinen Stillstand und kein Ziel mehr gibt.“25 Eine grundsätzliche Schwierigkeit bei der Bestimmung der Kreativität und der Benennung spezieller Merkmale kreativer Personen resultiert aus dem Erklärungsansatz selbst. Eine vergleichbare und valide Bedeutungserklärung von Kreativität kann darin kaum erfolgen, da sich biografische Untersuchungen lediglich auf einen narrativen oder deskriptiven Zugang von Quellen beschränken und ihre Auslegungen immer interpretativ sind. Hinzu kommt, dass die individuellen Lebenswege der untersuchten Personen, ihre Erfahrungen sowie ihre gestalteten Werke in ihrem Wesen zu unterschiedlich sind, um daraus einheitliche Merkmale und Kriterien für eine Definition der Kreativität abzuleiten. Aus diesem Grund bleibt die Begriffsbestimmung der Kreativität in diesem Erklärungsansatz relativ vage. Die Kreativität wird hier als Fähigkeit oder wie auch immer geartete Kraft eines Subjekts definiert. Diese Fähigkeit spiegelt sich in den außergewöhnlichen Werken und Leistungen der kreativen Personen wider. _________________________________________________________________ 23 Reckwitz, Andreas: Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung. Suhrkamp Verlag: Berlin 2012. S.60-61. 24 Sowa, Hubert: Ist „die“ Kunst „kreativ“? Ein relativierender Blick auf einige Beispiele. In: Kunst + Unterricht. Kreativität. Heft 331/332. S. 82-91. Hrsg.: Johannes Kirschenmann. Erhard Friedrich Verlag: Seelze 2009. S.83. 25 Ebd.: S.86.

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2.3.2 Psychopathologischer Erklärungsansatz Der psychopathologische Ansatz untersucht die Kreativität als eine Art Krankheitsbild. In diesem Ansatz besteht die Kreativität in der psychischen Abweichung kreativer Personen gegenüber normalen Personen bei der Bearbeitung von Problemen. Kreativität ist in diesem Falle eine psychische Unregelmäßigkeit, die als Krankheitsbild oder zumindest als Abweichung von der Norm verstanden wird. Wie bei dem biografischen Theorieansatz geht es auch beim psychopathologischen darum, den Kreativen als eine Ausnahmeerscheinung zu definieren. Das heißt, die kreative Person wird von der Konformität und Durchschnittlichkeit der gesellschaftlichen Mehrheit unterschieden. Dadurch wird er, wie im biografischen Ansatz, zu einer Exklusivfigur stilisiert, dessen Besonderheit jedoch nun als „psychische Anormalität“26 gegenüber der „psychischen ‚Gesundheit‘ des Normalen“27 interpretiert wird. Damit stimmen beide Erklärungsansätze in einer Grundannahme überein. „Gemeinsam platzieren sie die [kreative Person] als ein kulturelles Anderes, das sich außerhalb der dominanten kulturellen Ordnung bewegt.“28 Dabei ist das pathologische Spektrum nicht nur auf Introversion und Depressivität beschränkt und damit negativ besetzt. Die als positiv bewertete Melancholie beispielsweise wird in diesen Theorien oft als kreativitätsfördernd verstanden.29 Ein Beispiel für die theoretische Pathologisierung der kreativen Person findet man im Diskurs um das Künstlerverständnis, das im 19ten Jahrhundert einsetzt. Reckwitz beschreibt, dass zu dieser Zeit der Künstler „auf eine psychisch gefährdete und gesellschaftlich riskante Figur […] reduzier[t]“30 wird. Dabei bedroht er nicht nur die Gesellschaft, sondern auch sich selbst. Ein allzu bekanntes Beispiel für einen solchen Fall stellt Vincent van Gogh dar. Durch sein Krankheitsbild und seine Aufenthalte in Krankenhäusern hat er unter seinen Zeitgenossen als psychisch degeneriert gegolten. Diese negative Bewertung der Psyche kann in manchen Fällen auch als ein soziales, moralisches oder kulturelles Defizit interpretiert werden. Gerade solche prominenten Beispiele, wie das von van Gogh, bei dem ein psychisches Krankheitsbild und ein überdurchschnittliches kreatives Potential in einer Person vereint sind, haben nicht nur zu einer Verklärung und Mythologisierung _________________________________________________________________ 26 Reckwitz, 2012. S.82. 27 Ebd.: S.82. 28 Ebd.: S.83-84. 29 Vgl. ebd.: S.82. 30 Ebd.: S.81.

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von Künstlern an sich, sondern auch der mit ihnen verbundenen Kreativität beigetragen. Der kreative Künstler „zeichnet sich im Kern nicht durch ein bewundernswertes Werk, sondern durch psychische Unberechenbarkeit aus.“31 Die Kreativität wird im psychopathologischen Erklärungsansatz als eine psychische Anomalität definiert, die sich im gleichzeitigen Auftreten eines defizitären sozialen Verhaltens und einer überdurchschnittlichen Schaffenskraft äußert. 2.3.3 Psychometrischer Erklärungsansatz Der in der interdisziplinären Kreativitätsforschung wohl populärste Erklärungsansatz der kreativen Person ist der psychometrische, mit dem Guilford 1950 die gesamte Domäne der Kreativitätsforschung begründet hat. Kreativität wird hier operational definiert und als Fähigkeit oder Gefüge von Fähigkeiten eines Individuums begriffen. Die Psychologie beschäftigt sich zu Beginn der Forschungstätigkeit zum Thema Kreativität damit, Tests zur Ermittlung dieser Fähigkeiten zu kreieren, um Personen, welche diese besitzen, zu selegieren.32 Der psychometrische Ansatz versteht sich „als Einrichtung zur Förderung psychischer Ressourcen“33, zur Steigerung der Kreativität. Er lässt sich aus der amerikanischen Intelligenzforschung zu Beginn des 20sten Jahrhunderts ableiten. Wie Matussek jedoch anmerkt, ist eine engere Verbindung von Intelligenz und Kreativität erst ab einem Intelligenzquotienten von 120 nachweisbar.34 Dabei ist die Intelligenz ein Anzeichen für Kreativität jedoch kein zwingendes Merkmal. Zur Feststellung des kreativen Vermögens einer Person hat man in der psychologischen Forschung Tests entwickelt, die ähnlich wie die Intelligenztests auf der Basis von unterschiedlichen Aufgaben spezielle Fähigkeiten prüfen. Jedoch haben diese Kreativitätstests kaum Aussagekraft über die tatsächliche kreative Leistung der Probanden gehabt.35 Aus diesem Grund wendet sich Guilford von den allgemeinen Kreativitätstests ab und fordert eine Untersuchung der „Eigenschaftsgefüge, die für schöpferische Menschen charakteristisch sind.“36 Es geht _________________________________________________________________ 31 Ebd.: S.82. 32 Vgl.: Ulmann, 1973. S.16. 33 Reckwitz, 2012. S.222. 34 Vgl.: Matussek, 1974. S.14. 35 Vgl.: Guilford, Joy P.: Kreativität. In: Kreativitätsforschung. Hrsg.: Ulmann, Gisela. S.25-43. Kiepenheuer & Witsch: Köln: 1973. S.30 f. 36 Ebd.: S.26.

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ihm um eine Faktorenanalyse, bei der Kreativität als Bündel voneinander unabhängiger intellektueller Eigenschaften oder Fähigkeiten definiert wird,37 um Menschen mit kreativem Potential von anderen zu unterscheiden.38 Kreative Menschen besitzen demnach ein messbares, mentales Eigenschaftsgefüge, das sie in „Tätigkeiten wie Entdecken, Entwerfen, Erfinden, Ordnen und Planen“39 zeigen. Der Kern dieses Erklärungsansatzes besteht folglich darin, verschiedenartige Eigenschaften und Fähigkeiten, die man als relevant für kreative Leistungen verifizieren kann, aufzulisten. Wollschläger benennt zum Beispiel Sensibilität, Originalität, Phantasie, Spontanität, Reflexionsvermögen und kritisches Bewusstsein als Eigenschaften und klassifiziert das Vermögen Zusammenhänge aufzeigen, bestehende Normen verändern oder allgemeine Problemstellungen lösen zu können als Fähigkeiten kreativer Personen.40 In der psychologischen Forschungsliteratur findet man weiterhin Faktoren, wie Originalität, Hingabefreudigkeit, Phantasie, Selbstvertrauen, Frustrationstoleranz, Unabhängigkeit, Nonkonformismus, Offenheit oder Risikobereitschaft. Bei der Lektüre dieser Kriterienkataloge fällt auf, dass Psychologen kreativen Personen eine unüberschaubare Fülle an positiv konnotierten Charaktereigenschaften zugesprochen haben.41 Jedoch hat man festgestellt, dass es starke Variationen bei den für kreative Leistungen verantwortlichen Eigenschaften in den verschiedenen Domänen gibt. Gerade in künstlerischen Domänen werden andere Eigenschaften vorausgesetzt als in den Naturwissenschaften. Somit wurden spezifische Eigenschaftsgefüge für einzelne Tätigkeitsfelder erstellt.42 Holm-Hadulla sieht in der Differenzierung von Eigenschaften kreativer Personen für bestimmte Betätigungsfelder eine zentrale Aufgabe der Kreativitätsforschung.43 Assoziations-, Wort- und Ideengeläufigkeit, auditives und visuelles Gedächtnis, Ausdrucksfähigkeit, Originalität, Flexibilität, Visualisierung und Evokation sind nach Guilford beispielsweise die signifikanten

_________________________________________________________________ 37 Vgl.: Ulmann, 1973. S.25. 38 Vgl.: Guilford, 1973. S.43. 39 Ebd.: S.26. 40 Vgl.: Wollschläger, Gunther: Kreativität und Gesellschaft. Neue pädagogische Methoden am Beispiel der Jugendkunstschule Wuppertal. Peter Hammer Verlag: Wuppertal 1971. S.11. 41 Vgl.: Schmidt, 1988. S.38. 42 Vgl.: Holm-Hadulla, 2012. S.234. 43 Vgl.: Holm-Hadulla, 2010. S.32.

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Kreativitätsfaktoren von Dichtern.44 Die Kunstpädagogin Corvacho Del Toro befragt in ihrer empirischen Untersuchung sieben Maler nach ihren persönlichen Eigenschaften, die sie zur Kreativität befähigen. Daraus erstellt sie eine Liste von Eigenschaften, wie Disziplin, Fleiß, Offenheit, Sensibilität, Unabhängigkeit, Freiheit, Autonomie, Erfüllung, Selbstkritik, Risikobereitschaft, Suche als treibende Kraft, spielerische Leichtigkeit, Gelassenheit, Bewusstheit, Produktivität, Flexibilität, Authentizität und Konzentration.45 In neueren psychologischen Erklärungsansätzen der Kreativitätsforschung wird versucht ein Kondensat all dieser Fähigkeiten zu finden. Schuler und Görlich benennen beispielsweise die sechs Fähigkeiten Intelligenz, intrinsische Motivation, Nonkonformität, Selbstvertrauen, Offenheit und Erfahrung.46 Wagner hingegen bezieht sich auf die von Torrance 1968 formulierten Ergebnisse47 und benennt sieben Charakteristika: Fluktualität, Flexibilität, Originalität, Sensitivität, Komplexitätspräferenz, Elaborationsfähigkeit und Ambiguitätstoleranz.48 Ein weiteres Kriterium, das in diesem Zusammenhang oft genannt wird, ist die Begabung. Holm-Hadulla sieht aus psychologischer Perspektive einen determinierten Zusammenhang zwischen der Begabung oder dem Talent und der Kreativität. 49 Diese _________________________________________________________________ 44 Vgl.: Guilford, Joy P.: Creative abilities in the arts. In: Psychological Review. Hrsg.: American Psychological Association. Vol. 64. No.2. S.110-180. Washington D.C. 1957. S.111 ff. 45 Vgl.: Corvacho del Toro, Isabel: Der Prozess des künstlerischen Schaffens in der Malerei. Interviews mit Künstlerinnen und Künstlern. Martin Meidenbauer Verlagsbuchhandlung: München 2007. S.135 ff. 46 Vgl.: Schuler; Görlich, 2007. S.14. 47 Vgl.: Torrance, Paul: Neue Item-Arten zur Erfassung kreativer Denkfähigkeit. In: Kreativitätsforschung. Hrsg.: Ulmann, Gisela. S.124-140. Verlag Kiepenheuer & Witsch: Köln 1973. S.126 ff. 48 Vgl.: Wagner, Manfred: Kreativität und Kunst. In: Woher kommt das Neue? Kreativität in Wissenschaft und Kunst. Hrsg.: Berka, Walter; Brix, Emil; Smelkka, Christian. S.5184. Böhlau: Wien, Köln, Weimar 2003. S.59. 49 Der Begabungsbegriff wird vor allem aus Sicht der Pädagogik mit Skepsis betrachtet, da er vermittelt, dass es Fähigkeiten gibt, die nicht jedem Menschen uneingeschränkt zugänglich sind. Die Diskussion um die Verbindung zwischen Kreativität und Begabung führt an dieser Stelle zu weit weg von dem Forschungsvorhaben dieser Arbeit. Wer dennoch Interesse an einer vertieften Auseinandersetzung zu diesem Thema hat, wird der Text von Monika Miller mit dem Titel Kreativität und Begabung empfohlen. Vgl.: Holm-Hadulla, 2010. S.28.

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gebündelten Fähigkeitsgefüge werden wiederum von anderen Domänen benutzt, um die Kreativität mit Blick auf ihr Sachgebiet zu erklären. In der kunstpädagogischen Forschung benutzen Kirchner und Peez die sieben Kriterien von Torrance, um sie fachspezifisch auf das Vermögen der künstlerischen Gestaltung anzuwenden.50 • Fluktualität versteht man als Einfalls- oder Denkflüssigkeit und entspricht im





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kreativen Gestaltungsprozess der Fülle an bildnerischen Ideen, die sich sowohl beim praktischen Malen, Zeichnen oder Modellieren als auch bei der Rezeption und Reflexion zeigen. Flexibilität ist eine qualitative Fähigkeit. Dabei geht es um die Unterschiedlichkeit und die Bandbreite der geäußerten Ideen und das sensible Erkennen und Akzeptieren von neuen Wegen im kreativen Gestaltungsprozess. Originalität verkörpert die Verbindung der unkonventionellen Idee mit ihrer bildnerischen Umsetzung und markiert bei den hier genannten Eigenschaften die Brücke zwischen Innen- und Außenwelt der kreativen Person. Sensitivität ist die Empathie für das Dargestellte, sowohl in der Produktion als auch in der Rezeption. Komplexitätspräferenz benennt das Streben nach einer möglichst dichten Vielschichtigkeit und Mehrdeutigkeit im kreativen Produkt. Im Gestaltungsprozess bezeichnet es auch die intensive Durchdringung und Korrelation von formalen und inhaltlichen Aspekten. Elaboration ist eine handwerkliche Fähigkeit die sich im Umgang mit Werkzeug und Material zeigt. Bei der Ambiguitätstoleranz geht es um das Vermögen Mehrdeutigkeiten zuzulassen. Ein Beispiel wäre eine gezielte Gestaltung bei gleichzeitigem Zulassen von Mehrdeutigkeiten, schwierig zu verstehender Sachverhalte oder anderer Meinungen. Ambiguitätstoleranz vereint viele Fähigkeiten, die bei anderen Autoren einzeln aufgeführt werden. Dazu gehören Neugier, Interesse, Überraschung, Humor und Selbstständigkeit.

_________________________________________________________________ Vgl.: Miller, Monika: Kreativität und Begabung. Ein Fallbeispiel regt zu Überlegungen an. In: Kunst + Unterricht. Kreativität; Heft 331/332; S. 32-36. Hrsg.: Johannes Kirschenmann. Erhard Friedrich Verlag GmbH: Seelze 2009. S.32 ff. 50 Vgl.: Kirchner, Constanze; Peez, Georg: Kreativität in der Schule. In: Kunst + Unterricht. Heft 331/332. S.10-18. Hrsg.: Kirschenmann, Johannes. Erhard Friedrich Verlag GmbH: Seelze 2009. S.11.

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Es kann wohl nicht geleugnet werden, dass bestimmte Eigenschaftsgefüge kreative Leistungen begünstigen. Die unterschiedlichen Bezeichnungen und Zusammenstellungen von grundlegenden Fähigkeiten, die für das Zustandekommen kreativer Leistungen relevant sind, lassen es jedoch nicht zu, eine kreative Person exakt zu klassifizieren. Das gilt sowohl für die psychometrischen Theorien der allgemeinen Kreativitätsforschung, als auch für diejenigen der Kunstpädagogik. Während der Ansatz zu Beginn als Fördermaßnahme für eine kleine Minderheit zur neuen Elite gedacht gewesen ist,51 geht es in aktuellen Forschungen um eine grundsätzliche, empirische Festlegung von kognitiven und nicht-kognitiven Fähigkeiten, die kreative Leistungen begünstigen (verursachen) oder hemmen (verhindern). Bei der Suche nach diesen Fähigkeiten, werden von den unterschiedlichsten Forschern unzählige verschiedene Charakteristika und Fähigkeitsgefüge gefunden und festgelegt. Wie Schuler, Görlich und Chakowski anmerken, finden sich in diesen unterschiedlichen Aufzählungen von Fähigkeiten jedoch wenige Überschneidungen52. Der psychometrische Ansatz definiert zwar geschlossen die Kreativität als das Zusammentreffen unterschiedlicher Fähigkeiten in einer Person. Um welche Fähigkeiten es sich jedoch dabei handelt, wird immer noch untersucht und diskutiert. 2.3.4 Psychodynamischer Erklärungsansatz Die Psychodynamik ist eine Teildisziplin der Psychoanalyse. Sie wird als Lehre vom Wirken innerseelischer Kräfte53 beschrieben und untersucht die Einflüsse auf Befindlichkeit und Verhalten des Menschen. Dabei geht es in erster Linie um die Frage, wie Kreativität zustande kommt. Die Frage, was Kreativität ist, wird lediglich implizit verhandelt. Matussek definiert diesen Ansatz aus Sicht der Kreativitätsforschung als „die Beschreibung der Kräfte, die Kreativität bewirken.“ 54 Wobei die Bezeichnung Kräfte relativ vage ist. Vielmehr geht es um die Auslösung kreativen Verhaltens bei Menschen durch eine Wechselwirkung zwischen äußeren Einflüssen und inneren psychischen Mechanismen. Die Psychodynamik will Auf_________________________________________________________________ 51 Vgl.: Ulmann, 1973. S.16. 52 Vgl.: Schuler; Görlich, 2007. S.12. Vgl.: Cackowski, Zdzislaw: Ein kreativer Problemlösungsprozess. In: Kreativitätsforschung. Hrsg.: Ulmann, Gisela. S.279-286. Kiepenheuer & Witsch: Köln 1973. 53 Vgl.: Möller, Hans-Jürgen: Psychiatrie und Psychotherapie. Thieme: Stuttgart 2001. S.577. 54 Matussek, 1974. S.46.

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schluss geben über die Auslösung seelischer Vorgänge als Reaktionen auf bestimmte äußere und innere Ereignisse. Dem äußeren physikalischen Raum wird in diesem Erklärungsansatz ein innerer Raum für den Ablauf seelischer Prozesse gegenübergestellt. Die Kreativität ist in diesem Ansatz eine menschliche Fähigkeit, die in einem dynamischen Verhältnis zu unterschiedlichen Faktoren der kreativen Person und seiner Umwelt steht. Dabei bilden „Freuds Thesen über die […] Kreativität als Sublimierungsprozess […] die Basis aller psychodynamischen Kreativitätsvorstellungen. Sublimierung ist die Fähigkeit, Probleme und Konflikte zu lösen, mit dem Ergebnis, keine unmittelbare Bedürfnisbefriedigung, sondern eine ‚aufgeschobene‘, die an sozialen Normen orientiert ist, zu erreichen.“55 Ein Individuum ist in diesem Erklärungsansatz insofern kreativ, „als [es] Konflikte nicht scheut oder fähig ist, sie auch dort zu sehen, wo nach der herrschenden Meinung alles ‚in Ordnung ist‘; für diese Konflikte kann [es] neue, die alte Ordnung destruierende, konstruktive Lösungen finden, die zwar von den Herrschenden nicht belohnt werden, aber eben jene innerhalb der herrschenden Ordnung kaum artikulierten und nicht befriedigten Bedürfnisse befriedigen könnten und insofern – wenn die herrschende Ordnung durch eine neue ersetzt ist allgemein brauchbar sind.“56

In dieser Definition hat eine kreative Person die Fähigkeit, durch unbewusst ablaufende, psychodynamische Prozesse die Spannung zwischen bewusster Realität und unbewusstem Antrieben abzubauen.57 Dieser Spannungsabbau ermöglicht das Aufschieben der Bedürfnisbefriedigung und befähigt eine Person zur Sublimierung. Kreativität ist demnach das Resultat einer Sublimierungsleistung, die wiederum durch eine Bedürfnisverschiebung erreicht worden ist. Um die Relation zwischen Person und äußerer Umwelt genauer definieren zu können, werden in der psychologischen Kreativitätsforschung unterschiedliche Faktoren bestimmt, die kognitiv reguliert werden. Förster und Friedmann beispielsweise definieren Promotion und Prävention als regulatorische Faktoren der Kreativität.58 Es geht dabei um die Bereitschaft _________________________________________________________________ 55 Wichelhaus, Barbara: Entwicklung der Kreativität im Kindesalter. Modelle, Ansätze und Richtungen. In: Kunst + Unterricht. Kreativität; Heft 331/332; S. 37-43. Hrsg.: Johannes Kirschenmann. Erhard Friedrich Verlag GmbH: Seelze 2009. S.39. 56 Ulmann, 1973. S.19. 57 Vgl.: Vogt, 2010. S.91. 58 Vgl.: Förster, Jens; Friedman, Ronald S.: Kontextabhängige Kreativität. In: Zeitschrift für Psychologie. Band 211. Ausgabe 3. S.149-160. Hogrefe: Göttingen 2003. S.156.

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einer Person gegenüber einer Problemsituation ein Risiko einzugehen oder nicht. Promotion bedeutet in diesem Kontext risikofreudig und Prävention risikovermeidend. Diese beiden Einstellungen werden dabei nicht ausschließlich von der kreativen Person bestimmt. Die kreative Person trifft zwar die Wahl, jedoch bestimmen vor allem die äußeren Umstände, wie beispielsweise der soziale Kontext in einer Situation, die Entscheidung, ob man einem Problem risikofreudig oder -vermeidend begegnet. Ein weiterer psychodynamischer Aspekt ist die Motivation, als „positives zielvolles Vorwärtsdrängen, das zu kreativen Akten führt.“59 Amabile betrachtet in diesem Zusammenhang das Wechselspiel von inneren und äußeren Bedingungen für das Zustandekommen von Motivation. Sie differenziert zwei Arten der Motivation: die extrinsische Motivation, die durch externe Anreize, wie Geld, Ansehen oder Begehrlichkeiten, erzeugt wird, und die intrinsische Motivation, die aus dem Individuum selbst kommt und als autotelisches Interesse oder auch „Liebe zur eigenen Arbeit“60 bezeichnet werden kann. Für eine kreative Leistung ist in diesen Theorien vor allem die intrinsische Motivation verantwortlich, die wiederum stark von den Umweltfaktoren und somit von der sozialen Situation abhängig ist. Dabei besagt die psychodynamische Kreativitätstheorie nicht nur, dass jeder Mensch durch seine physiologische Ausstattung zu kreativem Verhalten fähig ist und Kreativität keineswegs auf Begabungen und spezialisierte Einzelleistungen reduziert werden darf61, „sondern sich [die Kreativität] erst in der Auseinandersetzung mit der Vielfalt der Umweltreize entfaltet.“62 Kreativität wird im psychodynamischen Erklärungsansatz nicht explizit definiert. Sie ist darin eine Art Kraft oder Fähigkeit eines Subjekts, die durch innere und äußere Einflüsse entweder gefördert oder gehemmt wird. 2.3.5 Komplementär-psychometrischer Erklärungsansatz Der hier als komplementär-psychometrisch bezeichnete Erklärungsansatz ist eine Verbindung psychometrischer und psychodynamischer Theorien. Er benutzt zudem die Komplementarität als ein Erklärungsprinzip der Erkenntnistheorie. Unter _________________________________________________________________ 59 Maddi, Savatore: Motivationale Aspekte der Kreativität. In: Kreativitätsforschung. Hrsg.: Ulmann, Gisela. S.180-195. Kiepenheuer & Witsch: Köln 1973. S.184. 60 Corvacho del Toro, 2007. S.23. 61 Vgl.: Holm-Hadulla, 2010. S.9. und Wollschläger, 1971. S.117. 62 Reckwitz, 2012. S.330.

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dem Komplementaritätsprinzip versteht man „zwei gegensätzliche, einander ausschließende, nicht aufeinander reduzierbare Beschreibungsweisen […], die aber [in ihrer wechselseitigen Ergänzung] zum Verständnis eines Phänomens oder Sachverhaltes im Ganzen notwendig sind.“63 Die Kreativität ist in diesem Falle wie im psychometrischen Ansatz eine Fähigkeit oder ein Gefüge von Fähigkeiten eines Individuums, das wie im psychodynamischen Erklärungsansatz durch innere und äußere Einflüsse entweder gefördert oder gehemmt wird. Der Kern dieses Erklärungsansatzes liegt in der Bestimmung antithetischer Eigenschaftspaare oder komplementärer Fähigkeiten, die ein Subjekt zu kreativen Leistungen befähigen. In diesem Ansatz erforschen Psychologen im Hinblick auf ein besseres Verständnis von Kreativität, „wie das Gehirn im Chaos von ungeordneten Erregungen und Wahrnehmungen kohärente Strukturen ausbildet – und diese auch wieder auflöst.“64 Das menschliche Gehirn ist, egal ob bewusst oder unbewusst, in der Lage zwischen inkonsistent-chaotischen und konsistent-geordneten Zuständen zu unterscheiden. Daraus entsteht eine kreative Handlungen begünstigende Dynamik zwischen Kohärenz und Inkohärenz oder Stabilität und Dynamik. Dieses Prinzip der komplementären Operationen findet man in Holm-Hadullas Theorie wieder, der als Bedingung für Kreativität von einem grundsätzlich dialektischen Streben zwischen Konstruktion und Destruktion oder Schöpfung und Zerstörung ausgeht.65 Gumbrecht beschreibt diese komplementäre Struktur der Kreativität in Anlehnung an Schmidt66 als eine „Integration von Alteritäten und Dualitäten, [als] Bipolarität der Produktmerkmale […] und [als] Paradoxalität der Komponenten.“67 Dabei müssen für einen kreativen Akt beide Eigenschaften oder Fähigkeiten gleichzeitig zum Tragen kommen. Auch Csikszentmihalyi geht von antithetischen Merkmalspaaren kreativer Personen aus. Er nennt beispielsweise die Eigenschaftspaare diszipliniert und spielerisch, phantasievoll und bodenständig, demütig und stolz oder leidenschaftlich und objektiv. Kreative Menschen operieren nach Csikszentmihalyi in kreativen Situationen immer auf beiden Seiten dieser Polaritäten.68 _________________________________________________________________ 63 Dorsch, 2014. St.: Komplementaritätsprinzip. 64 Holm-Hadulla, 2012. S.231. 65 Vgl.: Holm-Hadulla, 2012. S.228. 66 Vgl.: Schmidt, 1988. S.38. 67 Gumbrecht, Hans-Ulrich: Der Ort von (ein Ort für) Kreativität. In: Kreativität. Ein verbrauchter Begriff? Hrsg.: Gumbrecht, Hans-Ulrich. S. 7-12. Wilhelm Finke Verlag, München 1988. S.11. 68 Vgl.: Csikszentmihalyi, 1997. S.115.

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Wie im psychometrischen Ansatz geht es auch in diesem in erster Linie um die Ursachen und das Zustandekommen von Kreativität. Eine klare Definition findet nicht statt. Die Kreativität wird hier implizit als Fähigkeit verstanden. 2.3.6 Sozialpsychologischer Erklärungsansatz Beim sozialpsychologischen Erklärungsansatz der kreativen Person handelt es sich um ein Teilgebiet der Psychologie und Soziologie, das die Auswirkungen der tatsächlichen oder vorgestellten Gegenwart anderer Menschen auf das kreative Erleben und Verhalten des Individuums erforscht. Amabile begründet diesen Ansatz 1996 mit ihrem Forschungsbeitrag Creativity in Context69. Die individuelle Kreativität eines Subjekts ist nach diesem Ansatz von Situationen und Kontexten abhängig. Im Zentrum der empirischen Untersuchungen steht nicht die Definition der Kreativität, sondern das interpersonale und situative Zustandekommen von Kreativität. Amabile differenziert dabei drei Komponenten der kreativen Performanz einer Person, die unmittelbar über die Situation reguliert werden. • Zum einen bestimmt die Situation, ob und welche domänenspezifischen Fähig-

keiten eines Individuums zum Tragen kommen. • Weiterhin bestimmt die Situation, ob sie kreativitätsrelevante Prozesse überhaupt zulässt. • Zuletzt ist die Situation dafür verantwortlich, ob das Individuum sich für eine kreative Performanz motivieren kann.70 Ähnliche Merkmale definiert auch Csikszentmihalyi, der sowohl von einem generellen Interesse für die Domäne als auch von einem fachspezifischen Wissen darin und einem ungehinderten Zugang zum Feld ausgeht. Sein Person-Feld-DomäneModell bildet für den sozialpsychologischen Erklärungsansatz eine Bezugstheorie, die als Prinzip gesellschaftlicher Entwicklung in Kapitel 2.8.1 noch genauer analysiert wird.

_________________________________________________________________ 69 Vgl.: Amabile, Teresa M.: Creativity in Context. Update to The Social Psychology of Creativity. Westview Press: Boulder, Oxford 1996. S.5 ff. 70 Vgl.: Vogt, 2010. S.131.

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„Kreativität findet statt, wenn ein Mensch, der mit den Symbolen einer bestehenden Domäne […] eine neue Idee oder ein neues Muster entwickelt, und wenn diese Neuentwicklung von dem entsprechenden Feld ausgewählt und in die relevante Domäne aufgenommen wird.“71

In dieser Erklärung wird impliziert, dass die Kreativität nicht ausschließlich eine Fähigkeit, sondern eine Art Ereignis ist, das stattfindet, wenn die drei Faktoren Person, Feld und Domäne auf eine bestimmte Weise zusammenwirken. Die Person ist zunächst lediglich dafür verantwortlich, dass sie mit den Regeln und Inhalten der Domäne und den Kriterien und Präferenzen des Feldes vertraut ist. Bei der Analyse eines solchen kreativen Ereignisses geht es vornehmlich um die Suche nach subjektbedingten, sozialen und umweltbedingten Faktoren, die kreative Prozesse befördern oder behindern.72 Der sozialpsychologische Ansatz untersucht die Wechselwirkung zwischen der Psyche eines Individuums, seiner motivationalen Orientierung und dem sozialen Umfeld.73 Hinter dem sozialpsychologischen Erklärungsansatz steht die Annahme, „dass jedes Subjekt auf seine Weise […] zu kreativen Leistungen fähig sei, dass dies allerdings bei den meisten durch die Umstände verhindert werde.“74 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es im sozialpsychologischen Ansatz um die Untersuchung psychischer Aspekte des Individuums geht, die von sozialen und domänenspezifischen Umweltfaktoren beeinflusst werden und kreative Leistungen entweder fördern oder hemmen. Aus diesem Grund wird dieser Ansatz oft für die Kreativitätsförderung herangezogen. In der Kunstpädagogik wird dieser Ansatz unter anderem von Sowa und Przybilla angewendet, um den Schüler als kreative Person im Kunstunterricht – einer spezifischen, kreativen Situation – zu untersuchen.75 Vor allem aus pädagogischer Sicht ist es wichtig die Situation als Indikator für individuelle kreative Leistungen zu begreifen, da man so praktische Konsequenzen für deren Förderung gewinnen kann. In diesem Ansatz ist der

_________________________________________________________________ 71 Csikszentmihalyi, 1997. S.47 72 Vgl.: Vogt, 2010. S.125. 73 Vgl. ebd.: S.156. 74 Reckwitz, 2012. S.78. 75 Vgl.: Sowa, Hubert; Przybilla, Patrycja: Der Spielraum der kreativen Imagination. Hermeneutische Untersuchungen zur bildnerischen Arbeit von Realschülern. In: Kunst + Unterricht. Kreativität; Heft 331/332; S. 19-28. Hrsg.: Johannes Kirschenmann. Erhard Friedrich Verlag GmbH: Seelze 2009. S.23.

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Kunstunterricht eine situative Lernumgebung, mit der man über die Steuerung sozialer Mechanismen und fachlicher Inhalte, den kreativen Output der Schüler beeinflussen kann. Wie in den anderen Erklärungsansätzen zur kreativen Person steht auch im sozialpsychologischen Erklärungsansatz die kreative Person im Zentrum der Untersuchungen. Das von der Psychologie geprägte Forschungsfeld der kreativen Person interessiert sich vornehmlich für das Zustandekommen von Kreativität und weniger um eine begriffsanalytische Definition. Das Verständnis, dass es sich bei der Kreativität um eine Fähigkeit oder Eigenschaft eines Menschen handelt, wird meist nicht zur Diskussion gestellt. Im sozialpsychologischen Ansatz hingegen ist unklar, wie die Kreativität definiert wird. Zum einen basiert der Erklärungsansatz auf den persönlichen Fähigkeiten und Eigenschaften eines Subjekts. Die Bestimmung der Kreativität erschöpft sich jedoch nicht in diesen Eigenschaften und Fähigkeiten. Als weitere Merkmale und Kriterien der Kreativität werden ebenso das soziale Umfeld, der spezielle Betätigungsbereich und die Beschaffenheit der Situation bestimmt. Somit wird in diesem Erklärungsansatz nicht nur ausschließlich das Zustandekommen der Kreativität als multikausales Ereignis beschrieben. Er definiert implizit die Kreativität selbst als intersubjektives, domänenspezifisches und situationsabhängiges Phänomen. Zusammenfassung Kapitel 2.3 Grundsätzlich ist man sich in dem Forschungsfeld der kreativen Person einig, dass ein aktiv handelndes Subjekt der zentrale Ausgangspunkt von Kreativität ist. Die Fragen jedoch, ob jedes Subjekt die Fähigkeit zur Kreativität besitzt und ob die Kreativität überhaupt eine ausschließlich subjektbezogene Fähigkeit ist, werden in den unterschiedlichen Erklärungsansätzen jeweils anders beantwortet. Im biografischen und psychopathologischen Erklärungsansatz ist die Kreativität eine Fähigkeit, Kraft oder psychische Anomalie, die nur wenigen Menschen vorbehalten ist und in der Regel zu herausragenden kreativen Leistungen führt. Im psychometrischen Ansatz ist die Kreativität ebenfalls eine Fähigkeit, die entweder an ein Gefüge anderer Fähigkeiten oder an spezielle Eigenschaften gebunden ist und grundsätzlich jedem Menschen entsprechend seiner Eigenschaften und Fähigkeiten zur Verfügung steht. Im psychodynamischen Ansatz wird die Kreativität als Fähigkeit oder Kraft definiert. Diese Fähigkeit oder Kraft wird darin von innersubjektiven Abläufen und äußeren Umweltfaktoren beeinflusst. Im sozialpsychologischen Ansatz kann man nicht unmittelbar von der Kreativität als Fähigkeit sprechen, da nicht nur das handelnde

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Subjekt, sondern auch das soziale Umfeld für das Zustandekommen von Kreativität verantwortlich ist. Kreativität ist hier ein Resultat intersubjektiver Mechanismen. Auch wenn man sich im Untersuchungsfeld der kreativen Person uneins ist, ob es sich bei der Kreativität um eine Fähigkeit, ein Eigenschaftsgefüge, eine Kraft, eine psychische Anomalität oder Resultat unterschiedlicher Mechanismen handelt, kann man festhalten, dass in allen Erklärungsansätzen das Zustandekommen von Kreativität immer von einer oder mehreren Personen abhängig ist.

2.4 KREATIVE PRODUKTE UND LEISTUNGEN Im Untersuchungsfeld des kreativen Produkts gibt es zwei grundsätzlich unterschiedliche Vorstellungen, wie Kreativität definiert werden kann. Zum einen ist in manchen Definitionen die Kreativität eine Eigenschaft des kreativen Produkts und zum anderen ist das kreative Produkt lediglich das Resultat von Kreativität. Im Folgenden wird nicht nur geklärt, dass sich kreative Produkte qualitativ unterscheiden lassen (Kapitel 2.4.1), sondern auch bestimmte Merkmale definiert, die ein kreatives Produkt ausmachen (Kapitel 2.4.2). 2.4.1 Hierarchisierung kreativer Produkte und Leistungen Matussek definiert das kreative Produkt als das Ergebnis eines kreativen Prozesses76, was über dessen Wesen noch relativ wenig aussagt. Schuler und Görlich sprechen nicht von einem Ergebnis, sondern von einer kreativen Leistung 77, bei deren Differenzierung sie auf Torrance und Taylor verweisen. Diese unterscheiden zwischen fünf Arten der kreativen Leistungen: Ausdruckskreativität, produktive Kreativität, erfinderische Kreativität, innovative Kreativität und emergenative Kreativität.78 Schuler und Görlich veranschaulichen die fünf Leistungsarten mit Beispielen, die im Folgenden aufgeführt werden: _________________________________________________________________ 76 Vgl.: Matussek, 1974. S.47. 77 Vgl.: Schuler; Görlich, 2007. S.7. 78 Vgl.: Taylor, Irvine: The nature of creative process. In: Creativity. Hrsg.: Smith, Paul. S.51-82. Hastings House: New York 1959. S.53 ff. Vgl.: Torrance, E. Paul: The nature of creativity as manifest in its testing. In: The nature of creativity. Hrsg.: Sternberg, Robert J. S.43-75. Cambridge University Press: Cambridge 1988. S.46.

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• Die Ausdruckskreativität bezeichnet eine spontane kreative Äußerung, wie das









gestische Setzen eines Farbflecks. Schuler und Görlich nennen als Beispiel dafür auch eine Kinderzeichnung. Unter der produktiven Kreativität versteht man das Produkt einer kreativen Handlung oder Leistung, wie das endgültige, sinnlich wahrnehmbare Kunstwerk. Erfinderische Kreativität zeichnet sich in neuen technischen Errungenschaften ab. Im Gestaltungsprozess ist das die Entwicklung einer neuen Gestaltungstechnik, die so zur kreativen Leistung wird. Bei der innovativen Kreativität kommt es nicht zu einer physischen Repräsentation der kreativen Leistung. Die Kreativität besteht in der kognitiven Formierung neuer Konzepte und Ideen. Abgetrennt von den vier bereits benannten Formen kreativer Äußerungen bezeichnet die emergenative Kreativität eine Leistung, die sich nicht im Erzeugen eines Produktes oder eines Gedankens widerspiegelt, sondern in der Entstehung einer völlig neuen Bewegung oder Domäne. Im Bereich der Kunst könnte man darunter die Begründung einer neuen Stil- oder Kunstrichtung verstehen.

Diese Aufteilung in fünf Arten kreativer Leistungen wird gleichzeitig als eine Wertung in Stufen benutzt. Die Ausdruckskreativität besetzt dabei die niedrigste Stufe, während die emergenative Kreativität die höchste Stufe einnimmt. 79 Torrance und Taylor definieren die Kreativität als eine spezielle Art der Leistung, deren Ergebnis sich in den fünf genannten Arten kreativer Produkte zeigen kann. Leistung wird in der Psychologie als ein durch Energieaufwand geschaffener Wert beschrieben, der durch den Einsatz menschlicher Fähigkeiten zustande kommt, wobei ein Handlungsziel mit einem gewissen Niveau erreicht wird. Die Kreativität ist in diesem Fall nicht mehr, wie in diversen Erklärungsansätzen der kreativen Person, eine Fähigkeit, sondern eine Eigenschaft der daraus resultierenden Leistung oder des Produkts. Diese von Torrance und Taylor vorgeschlagene Differenzierung verschiedener kreativer Produkte zeigt zwar, wie vielfältig kreative Leistungen sein können, erschwert es jedoch, den gemeinsamen Kern kreativer Produkte zu definieren. Das liegt vor allem daran, dass Torrance und Taylor die verschiedenen Arten kreativer Leistungen nicht nur diversifizieren, sondern gleichzeitig qualitativ abstufen. Eine qualitative Durchdringung der Stufen oder Überschneidungen in den einzelnen Leistungsarten werden nicht angedacht. Es gibt

_________________________________________________________________ 79 Vgl.: Matussek, 1974. S.44.

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keinen Grund, warum die Ausdruckskreativität nicht unmittelbar zu einer produktiven Kreativität führt, die gleichzeitig Auslöser einer emergenativen Kreativität ist. Ein anderer Ansatz klassifiziert kreative Produkte nicht nach Leistungstypen, sondern gliedert sie ausschließlich hierarchisch. Die Vertreter eines hierarchischen Erklärungsansatzes kreativer Produkte gehen davon aus, dass die Kreativität einen Wert besitzt, der in seiner Qualität schwanken kann. Mumford und Gustafson beispielsweise beziehen sich in ihrer Theorie auf das kreative Lösen von Problemen und unterscheiden die Lösungsansätze als major und minor contributions.80 Major contributions sind kreative Beiträge die ein hohes Maß an Originalität aufweisen und somit für eine Vielfalt von Problemen herangezogen werden können. Minor contributions hingegen sind kreative Leistungen, die lediglich zur Verbesserung eines Zustandes oder einen kleinen Teil zur Lösung eines Problems beitragen. Csikszentmihalyi differenziert drei qualitativ unterschiedliche Arten von kreativen Leistungen.81 Die kleine Kreativität zeigt sich bei Personen, die im Alltag außergewöhnliche Ideen haben. Die persönliche Kreativität ist eine kreative Leistung, die sich in der Wahrnehmung von Individuen äußert, welche die Welt auf ungewöhnliche und originelle Weise erleben. Die große Kreativität bezeichnet jede Handlung, Idee oder Sache, welche eine Domäne oder die Kultur in einem wichtigen Gebiet verändert oder in eine neue verwandelt. Sie hinterlassen eine „Spur in der kulturellen Matrix“82. In seinen Ausführungen bezieht Csikszentmihalyi diese qualitative Abstufung auch auf die bildnerisch künstlerische Gestaltung: „Wenn ein Gemälde den Kunstkennern maniriert und schablonenhaft vorkommt, kann [der Künstler] nur als großer Zeichner beschrieben werden, als subtiler Kolorist – vielleicht sogar als persönlich kreativer Mensch –, aber nicht als Vertreter ‚großer‘ Kreativität.“83

Csikszentmihalyi, der sich in seinen fortführenden Untersuchungen ausschließlich auf die große Kreativität konzentriert, definiert die Kreativität mit diesem Erklärungsansatz ebenfalls als Leistung. Der Unterschied zu dem Verständnis von Torrance und Taylor besteht darin, dass die Kreativität entsprechend ihrer sozialen _________________________________________________________________ 80 Vgl.: Mumford, Michael D.; Gustafson, Sigrid B.: Creativity syndrome. Integration, application, and innovation. In: Psychological Bulletin. Hrsg.: American Psychological Association. Ausgabe 103. S. 27–43. Berkeley 1988. S.28. 81 Vgl.: Csikszentmihalyi, 1997. S.43. 82 Csikszentmihalyi, 1997. S.46. 83 Ebd.: S.50.

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oder problembezogenen Nützlichkeit im Wert variieren kann. Die Erklärungsansätze von Mumford, Gustafson und Csikszentmihalyi verstehen die Kreativität als menschliche Fähigkeit. Das kreative Produkt, welches auf den aus den Fähigkeiten resultierenden Leistungen besteht, kann dabei in seinem kreativen Wert schwanken. Auch wenn die drei Autoren die Kreativität als Fähigkeit definieren, impliziert ihre qualitative Unterscheidung kreativer Produkte, dass die Kreativität an bestimmte Produktmerkmale gebunden ist und somit weniger eine Fähigkeit von Subjekten, sondern vielmehr eine Eigenschaft von Produkten ist. Dieser Eindruck wird verstärkt, da die Kreativitätsforschung unterschiedlichste Merkmale benennt, die als notwendige Kriterien kreativer Produkte festgelegt werden. 2.4.2 Merkmale kreativer Produkte Um ein Produkt oder eine Leistung als kreativ einzuordnen, muss es an bestimmte Bedingungen geknüpft sein, da es sich sonst von herkömmlichen Ereignissen, Handlungen oder Produkten nicht unterscheiden ließe. Aus diesem Grund hat man in Definitionen Merkmale differenziert, die notwendig oder hinreichend sind, damit man von Kreativität sprechen kann. Diese Merkmale sind für das Verständnis der Kreativität außerordentlich wichtig, da sie konkrete Forderungen an eine Definition darstellen. Doch während Guilford zu Beginn der Kreativitätsforschung noch anmerkt, dass solche Merkmale schwer festzulegen sind, „weil unbestritten überragende schöpferische Leistungen extrem selten sind“84 und kaum Übereinstimmungen in ihren Merkmalen aufweisen, sind in den Folgejahren unterschiedlichste Merkmale benannt worden. Das wichtigste Kriterium, das implizit in jeder Theorie des kreativen Produktes vorausgesetzt wird, ist, dass jedes Produkt oder jede Leistung sinnlich wahrnehmbar sein muss. Ohne eine sinnlich wahrnehmbare Entsprechung in der äußeren Umwelt können an einem kreativen Produkt keine weiteren Merkmale bestimmt werden. Neben dem impliziten Merkmal der sinnlichen Wahrnehmbarkeit finden sich in der Forschungsliteratur zum kreativen Produkt auch explizit genannte Merkmale. In der Psychologie geht Torrance beispielsweise von den Faktoren Neuartigkeit und Bedeutsamkeit aus, egal ob es sich um ein Produkt oder um ein Denkergebnis handelt.85 Bei der deutschen Psychologin Ulmann werden die Attribute brauchbar und neu mit kreativen Produkten verbunden.86 Der Soziologe Luhmann _________________________________________________________________ 84 Guilford, 1973. S.27. 85 Vgl.: Torrance, 1973. S.126. 86 Vgl.: Ulmann, 1973. S.17.

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hingegen spricht nicht von zwei Merkmalen, sondern von einer Dreiheit: neu, bedeutend und überraschend.87 Er geht dabei von drei Dimensionen aus, die bei der Kennzeichnung von Kreativität relevant sind. In der Zeitdimension tritt sie durch ihre Neuartigkeit hervor, in der Sachdimension durch ihre Bedeutsamkeit und in der Sozialdimension durch die Überraschung.88 Bei den psychologischen Kreativitätsforschern Jackson und Messick finden sich im Hinblick auf kreative Produkte sogar vier notwendige Merkmale. Das Kriterium Ungewöhnlichkeit entspricht der bei anderen Autoren genannten Neuartigkeit. Angemessenheit ist mit Nützlichkeit vergleichbar. Hinzu kommen bei Jackson und Messick Transformation und Verdichtung. Transformation verweist direkt auf ein Produkt und bezeichnet den Übergang von einem Produktzustand in den nächsten. Das Resultat der Transformation ist eine neue Form.89 Verdichtung bezeichnet die Spannung zwischen Einfachheit und Komplexität. „Was auf den ersten Blick einfach erscheint, erweist sich bei näherem Hinsehen als nur scheinbar einfach.“90 Auch Groys attestiert der Spannung zwischen höchst möglichem Anspruch an Komplexität gegenüber einer Umsetzung durch profane, unbedeutende oder wertlos scheinende Produkte eine besonders große Wirkung und Ausstrahlung. Je einfacher eine Lösung für ein komplexes Problem ist, desto höher ist die Verdichtung. In der Bildenden Kunst wird diese Spannung durch die Reduktion auf das Wesentliche erreicht. Künstlerische Werke sind in diesem Sinne verdichtet, wenn sie durch ihr vordergründig einfaches Aussehen auffallen und gleichzeitig mit den höchsten kulturellen Werten in Verbindung gebracht werden können91. Dabei räumen Jackson und Messick ein, dass die beiden Merkmale Transformation und Verdichtung deutlich komplexer und schwieriger zu beurteilen sind als Ungewöhnlichkeit und Angemessenheit.92

_________________________________________________________________ 87 Vgl.: Luhmann, Niklas: Vom Zufall verwöhnt. Eine Rede über Kreativität. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 132. 10. Juni 1987 (2). S.33. 88 Vgl.: Luhmann, Niklas: Über Kreativität. In: Kreativität. Ein verrauchter Begriff? Hrsg.: Gumbrecht, Hans-Ulrich. S.13-19. Wilhelm Finke Verlag: München 1988. S.16. 89 Vgl.: Jackson, Philip; Messick, Samuel: Die Person, das Produkt und die Reaktion. Begriffliche Probleme bei der Bestimmung der Kreativität. In: Kreativitätsforschung. Hrsg.: Ulmann, Gisela. S.93-110. Kiepenheuer & Witsch: Köln 1973. S.99. 90 Ebd.: S.102. 91 Vgl.: Groys, Boris: Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie. Carl Hauser Verlag: München, Wien 1992. S.70. 92 Vgl.: Jackson; Messick, 1973. S.103.

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Letztendlich kann man sämtliche in der Kreativitätsforschung genannten Merkmale kreativer Produkte auf zwei zentrale Aspekte zurückführen. Wie Mayer sagt: „In summary, there appears to be consensus that the two defining characteristics of creativity are originality and usefulness.”93 Die Neuartigkeit vereint den Merkmalsbereich rund um das Überraschende, Ungewöhnliche, Transformative und Originelle. Die Nützlichkeit beschreibt sämtliche Merkmale, die bei anderen Autoren als Bedeutsamkeit, Brauchbarkeit, Angemessenheit oder Verdichtung bezeichnet werden. Diese Produktanforderungen weisen auf das Verständnis der Kreativität zurück. Kann es Kreativität ohne neuartige und brauchbare Produkte oder Leistungen geben? Auch wenn die Frage an dieser Stelle noch nicht beantwortet wird, spielen die Produktmerkmale für die Definition der Kreativität eine zentrale Rolle. Sie implizieren gleichzeitig, dass es sich bei der Kreativität nicht um Fähigkeiten von Menschen, sondern um eine Eigenschaft oder ein Eigenschaftsgefüge von Leistungen oder Produkten handelt. In Kapitel 3.4 werden die beiden notwendigen Merkmale kreativer Produkte, Neuartigkeit und Nützlichkeit, auf den künstlerischen Gestaltungsprozess bezogen und dabei genauer ausgeführt, was man darunter verstehen kann. Zusammenfassung Kapitel 2.4 Das kreative Produkt wird in diesem Forschungsfeld als Leistung definiert, die auf spezifischen Fähigkeiten eines Subjekts beruht. Die Kreativität wird dabei entweder als die Befähigung zur kreativen Leistung oder als eine Eigenschaft des Produkts selbst verstanden. Der Eindruck, dass die Kreativität eine Eigenschaft oder ein Merkmal des kreativen Produkts ist, wird in den Theorien dieses Forschungsfeldes bekräftigt, da die Kreativität über spezielle Produktmerkmale, wie Neuartigkeit oder Nützlichkeit, bestimmt wird, die kreative Produkte von herkömmlichen Produkten abheben.

_________________________________________________________________ 93 Mayer, Richard E.: Fifty years of creativity research. In: Handbook of creativity. Hrsg.: Sternberg, Robert J. S.449-460. Cambridge 1999. S.450.

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2.5 KREATIVE PROZESSE Im Gegensatz zu den bereits genannten Untersuchungsfeldern wird die Kreativität im Feld des kreativen Prozesses nicht als Fähigkeit einer Person oder als Eigenschaft einer Leistung verstanden, sondern als der Weg zum kreativen Produkt94. Während das Endprodukt in den Theorien dieses Feldes an Bedeutung verliert, wird dem Prozess umso größere Beachtung geschenkt.95 Brodbeck und Wollschläger sind der Überzeugung, dass man, um Kreativität zu schaffen, nicht das Produkt, sondern den Prozess verändern muss.96 Der kreative Prozess wird dabei allgemein als zweckrationaler, zielgerichteter und konstruktiver Akt definiert, der durch den Vorgang der Um- oder Neustrukturierung (neuartig) eine positive Veränderung (nützlich) herbeiführt.97 Die Merkmale des kreativen Produktes, Neuartigkeit und Nützlichkeit, spielen auch beim kreativen Prozess eine zentrale Rolle, da sie die beiden Faktoren sind, die kreative Prozesse von herkömmlichen Prozessen unterscheiden. Dieser kreative Prozess wird im Rahmen des Untersuchungsfeldes grundsätzlich als eine Abfolge verschiedener Phasen verstanden, die ihn als Ablauf in der Zeit modellieren. Die Phasenmodelle haben eine lange Tradition, die weit vor dem Einsetzen der Kreativitätsforschung beginnt. Bereits 1902 formuliert Ribot aus einer philosophischen Perspektive ein Phasenmodell des Schöpfungsprozesses. Er gliedert diesen in die drei Phasen Idee, Erfindung bzw. Entdeckung und Anwendung.98 Dewey, der sich weniger spezifisch für den kreativen Prozess interessiert, sondern das menschliche Denken an sich untersucht, beschreibt 1910 in seiner Theorie ein Phasenmodell, das den Prozess zur Lösung eines Problems erklärt.99 Er benennt fünf Phasen: Empfinden einer Schwierigkeit, Erfassen des Problems, Sammeln möglicher Lösungen, Erwägen verschiedener Hypothesen und das Testen der Lösungen. Auch wenn er in seinem Modell im Gegensatz zu Ribot den _________________________________________________________________ 94 Vgl.: Brodbeck, Karl-Heinz: Entscheidung zur Kreativität. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995. S.18. 95 Vgl.: Wollschläger, 1971. S.13. 96 Vgl.: Brodbeck, 1995. S.42. 97 Vgl.: Torrance, 1988. S.61 ff. und Reckwitz, 2012. S.224-225 und Hemmer-Junk, 1995. S.61 und Wichelhaus, 2009. S.39. 98 Vgl.: Ribot, Théodule: Die Schöpferkraft der Phantasie. Eine Studie. Emil Strauß: Bonn 1902. S.108. 99 Vgl.: Dewey, John: How we think. D. C. Heath & Co: Boston, New York, Chicago 1910. S.72 ff.

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Bezug zum kreativen Prozess nicht herstellt, beeinflusst es die darauf folgenden Untersuchungen des kreativen Prozesses maßgeblich. Die wichtigste Bezugstheorie formuliert hingegen Wallas 1926, der das erfinderische Denken bei Wissenschaftlern und Künstlern in Problemsituationen untersucht. Dabei bezieht er sich auf die autobiografischen Notizen des Physiologen und Physikers Hermann von Helmholtz und des Mathematikers Henri Poincaré.100 Er konstruiert parallel zu der Theorie von Dewey ein universell anwendbares Verlaufsschema menschlicher Gedankenarbeit, die er in vier Phasen aufteilt: Vorbereitung, Inkubation, Illumination und Verifikation.101 Diese vier Phasen interagieren dynamisch. Das bedeutet, dass die Übergänge zwischen den einzelnen Phasen fließend sind und auf weiten Strecken nebeneinander existieren.102 Sie „lösen einander ab und benötigen einander gleichzeitig, jedoch mit unterschiedlichem Schwergewicht in eben jener zeitlichen Ordnung.“103 Guilford überführt dieses Modell 1950 in die Kreativitätsforschung, indem er den kreativen Prozess mit dem Denkprozess zur Lösung von Problemen gleichsetzt.104 Auch Torrance definiert die Kreativität als einen Sonderfall des Problemlösens.105 So avanciert Wallas Modell in der Kreativitätsforschung zur Bezugsgröße für sämtliche Nachfolgemodelle. Die Abbildung 1 zeigt eine Übersicht der verschiedenen Modelle (Abb. 1).

_________________________________________________________________ 100 Vgl.: Hemmer-Junk, 1995. S.61. 101 Vgl.: Wallas, Graham: Art of Thought. C.A. Watts & Co.: London 1926. S.10. 102 Vgl.: Hemmer-Junk, 1995. S.60. 103 Meyers, Hans: Theorie der Kunsterziehung. Frankfurt am Main: Waldemar Kramer 1973. S.210. 104 Vgl.: Guilford, 1973. S.37. 105 Vgl.: Torrance, Paul: Lernprozesse bei problemlösendem und schöpferischem Verhalten. In: Lernen und Erziehung. Hrsg.: Haseloff, Otto Walter. Colloquium Verlag: Berlin 1969. S.133.

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Abb. 1: Vergleich der unterschiedlichen Phasenmodelle zum kreativen Prozess.

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Ulmann, Hemmer-Junk und Corvacho del Toro beziehen sich in ihren Untersuchungen und Theorien unmittelbar auf die vier von Wallas genannten Phasen.106 Csikszentmihalyi ergänzt 1996 eine fünfte, indem er die Phase der Verifikation aufteilt in Bewertung und Ausarbeitung.107 Aktuelle Untersuchungen wie die von Holm-Hadulla108 beziehen sich auf Csikszentmihalyis Fünf-Phasen-Modell: • In der Vorbereitungsphase wird ein Problem oder Sachverhalt erkannt, definiert









und analysiert. Sie ist eine der wichtigsten Phasen, da ohne ein Problembewusstsein der kreative Prozess gar nicht begonnen wird. Weiterhin ist die Problemanalyse meist von einer intensiven und ausführlichen Informationsbeschaffung begleitet. Die Inkubationsphase läuft größtenteils unterbewusst ab. In ihr werden verschiedene Informationen und Lösungsansätze verbunden. Man nennt sie Inkubation, da sie als Phase gilt, in der die Idee reift. Das Subjekt brütet über der Lösung. Die Illumination markiert den Durchbruch auf der Suche nach der Lösung eines Problems. In den Theorien wird sie meist als eine Zäsur beschrieben, die über den weiteren Ablauf des Prozesses bestimmt. In der Verifikationsphase findet die Bewertung und Evaluation des Lösungsansatzes statt. Hier wird von der kreativen Person überprüft und bestätigt, ob die Einsicht lohnend, wertvoll oder tauglich ist. Die Realisierung ist die längste und aufwendigste Phase. In ihr geht es nicht nur darum, eine Lösung umzusetzen oder auszuführen. Auch der soziale Aspekt ist in dieser Phase wichtig, da eine Lösung oder Idee von einer Gruppe oder der Gesellschaft erst akzeptiert werden muss.

Sämtliche Theorien der Phasenmodelle beschreiben, dass die einzelnen Phasen nicht chronologisch ablaufen, sondern sich permanent abwechseln und gegenseitig durchdringen. Eine exakte Beschreibung der Abläufe innerhalb der Phasen erfolgt in Kapitel 3.2 am Beispiel des künstlerischen Gestaltungsprozesses. Da der Fokus der unterschiedlichen Phasentheorien auf einem Denk- bzw. Handlungsmodell beruhen, dessen Ziel eine Problemlösung ist, findet eine Definition der Kreativität in diesem Untersuchungsfeld nur implizit statt. Das Verständnis von Kreativität ist im Feld des kreativen Prozesses ambivalent. In den philosophischen Theorien zum kreativen Prozess, wie beispielsweise bei Guilford, ist die Kreativität die Fähigkeit einer Person, von welcher der kreative Prozess _________________________________________________________________ 106 Vgl.: Ulmann, 1973. S.19 und Hemmer-Junk, 1995. S.61 ff. 107 Vgl.: Csikszentmihalyi, 1997. S.121. 108 Vgl.: Holm-Hadulla, 2010. S.19 f.

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abhängig ist. In anderen Theorien, wie bei Brodbeck oder Wollschläger, wird der kreative Prozess als Weg zur Kreativität im Sinne einer Leistung oder einem Produkt definiert. Die Kreativität ist dabei wie im Untersuchungsfeld zum kreativen Produkt über bestimmte Merkmale und Eigenschaften definiert. Was alle Studien zum kreativen Prozess vereint, ist die Ansicht, dass es einen spezifischen Ablauf von Denk- und Handlungsweisen bedarf, der letztendlich notwendig ist, damit Kreativität entstehen kann. Der Prozess selbst ist in diesem Sinne eine kreative Leistung. Das Feld des kreativen Prozesses betont neben der Notwendigkeit einer kreativen Person und eines kreativen Produktes den operativen Charakter der Kreativität. Zusammenfassung Kapitel 2.5 Der kreative Prozess wird gemeinhin als Weg zur Kreativität oder zum kreativen Produkt verstanden. Dieser Prozess wird in den Theorien geschlossen als Abfolge verschiedener Phasen definiert. Die Kreativität ist dabei entweder eine Eigenschaft des kreativen Produktes, auf das der Prozess abzielt, oder die Fähigkeit eines Subjekts den Prozess durchzuführen. In einigen Theorien wird die Kreativität als Eigenschaft des Prozess selbst begriffen, wenn der Prozess als Leistung oder Produkt interpretiert wird. Auch wenn die Theorien zum kreativen Prozess kein einheitliches Kreativitätsverständnis aufweisen, lassen sich daraus dennoch charakteristische Merkmale der Kreativität ableiten. Die Kreativität ist subjektbasiert, da die Prozesse immer von einem oder mehreren Personen ausgehen. Weiterhin ist sie produktorientiert, da der Prozess immer ein Produkt zum Ziel hat. Außerdem ist die Kreativität operational, da sie immer auf Denk- und Handlungsakten beruht.

2.6 KREATIVE SITUATIONEN UND UMWELTBEDINGUNGEN Im Untersuchungsfeld der kreativen Situation wird die Kreativität als multikausales Phänomen verstanden. Cackowski fordert 1973, dass die „Analyse der Kreativität mit der ‚kreativen Situation‘ beginnen [muss] statt mit der ‚kreativen Persönlichkeit“109. Dabei hängen die Theorien der kreativen Situation eng mit den psychodynamischen Erklärungsansätzen der kreativen Person zusammen. Die Krea_________________________________________________________________ 109 Cackowski, 1973. S.280.

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tivität ist dabei nicht als Fähigkeit einer Person zu verstehen, sondern als Phänomen mit einem komplexen Beziehungsgefüge aus äußeren physischen Einflüssen, inneren biologischen Mechanismen, psychischen Operationen und sozialen Interaktionen. Die kreative Situation wird dabei meist als ein Konstrukt beschrieben, das man aktiv gestalten kann, und somit Kreativität fördert oder hemmt. Im grundsätzlichen Verständnis der kreativen Situation ist sich das Forschungsfeld einig. In den einzelnen Forschungsansätzen und Erklärungsmodellen gibt es jedoch große Unterschiede, vor allem in Bezug auf die Faktoren der kreativen Situation und ihrer Zusammensetzung. Wie Matussek sagt, haben die Befunde der Kreativitätsforschung ergeben, „daß es keine äußeren Einflüsse gibt, die zwingend und durchgehend Kreativität bestimmen. Man kommt bei allen empirischen Untersuchungen immer nur zu Faktoren, die mit einer mehr oder weniger großen Wahrscheinlichkeit Schöpfertum hemmen oder aktivieren, aber nicht auslöschen oder erzwingen.“110 Aus diesem Grund wird meist zwischen positiven und negativen Faktoren unterschieden. Von Hentig zählt beispielsweise Sättigung, Gewissheit, Reichtum, Ordnung, fertige Lösungen, Perfektion, Wissenspräparate, Handlungsanweisungen, Geräte und Spielzeug als hemmende Faktoren auf. Fördernd hingegen wirken persönliche Problemstellungen, ermutigende Vorbilder, ermutigendes Echo, sachliche Anerkennung, Bewusst-Machen von Unbewusstem, Anmahnen von Langmut und Drängen auf Unterscheidung.111 Corvacho del Toro hingegen bezieht sich in ihrer empirischen Untersuchung lediglich auf den malerischen Akt als kreative Situation, kommt jedoch durch die Befragung von sieben Künstlern bezüglich positiver oder negativer Einflussfaktoren auf den Gestaltungsprozess zu folgenden Ergebnissen. Als hemmende Faktoren nennen sie die Anwesenheit Dritter, Bewertungen von außen, sozialer Druck, Normierungstendenzen, Fremdbestimmung, Zwänge, Erwartungen, Sorgen, Monotonie, Wiederholung, Misslingen, negative Selbstbewertung, keine Befriedigung und Stress.112 Als förderlich für kreative Leistungen in der Malerei empfinden die Befragten frühe und positive Erfahrungen in der Domäne, spezifische Förderung von außen, Anerkennung, ausreichend Zeit, gesunden Arbeitsrhythmus, Abwechslung, bewertungsfreie Räume und ein intensiver Austausch mit der Domäne. 113 Wie die Ergebnisse zeigen, können nicht alle Faktoren verallgemeinert und auf andere Domänen angewandt werden. Ähnlich wie im psychometrischen Erklärungsansatz der kreativen Person werden in der Forschungsliteratur unzählige unterschiedliche Faktoren aufgelistet, _________________________________________________________________ 110 Matussek, 1974. S.313. 111 Vgl.: Hentig, 2000. S.72 ff. 112 Vgl.: Corvacho del Toro, 2007. S.139 ff. 113 Vgl.: Corvacho del Toro, 2007. S.131 ff.

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die in einer kreativen Situation entweder hemmend oder fördernd wirken. Die Mechanismen innerhalb einer kreativen Situation werden dabei oft zugunsten einer Aufzählung von Faktoren vernachlässigt. Einen systematischen Erklärungsansatz der kreativen Situation findet man bei Brodbeck. Er beschreibt die Kreativität als einen situativen Prozess, der durch seine multikausale Abhängigkeit nicht gemessen oder objektiv beschrieben werden kann. Die kreative Leistung und ihre Bedeutung hängen weder vom Denken einer einzelnen Person noch von der reinen Interaktion einer Gruppe ab, sondern von dem umgebenden Erlebnisraum, der Situation.114 Er differenziert fünf Modalitäten der kreativen Situation: Sinnesgegenstände, Emotionen, Wahrnehmung, Denken und Bewegungs- bzw. Gewohnheitsmuster. • Die Sinnesgegenstände bezeichnen alles sinnlich Wahrnehmbare der äußeren •







Umwelt.115 Sie schaffen den äußeren Kontext einer kreativen Situation. Die Emotionen eines Individuums hängen eng mit den Sinnesgegenständen zusammen. Sie werden von ihren äußeren Formen beeinflusst und wirken auf Gefühle und Stimmungen. Die Wahrnehmung richtet sich auf spezifische Sinnesgegenstände und schafft die Verbindung zwischen äußerer Umwelt und Individuum. Sie alleine kann nicht kreativ sein, da sie nicht erschaffen, sondern lediglich das Wesen der äußeren Umwelt erfassen kann. Zudem ist sie durch die anderen Modalitäten äußerst störungsanfällig. Emotionen, Bewegungsmuster und Gedanken beeinflussen unmittelbar die aktuelle Wahrnehmung.116 Das Denken fungiert als Regulativ. Es beeinflusst über die Ausrichtung der Intention eines Subjekts sowohl die Emotionen als auch die Wahrnehmung. Weiterhin steuert es zusätzlich die Bewegungsmuster. 117 Die Bewegungsmuster wiederum bestimmen durch Routinen, die als Erfahrungen über bereits Wahrgenommenes und Gedachtes geschaffen wurden, die Gewohnheiten eines Individuums.

Alle fünf Modalitäten bestimmen die Achtsamkeit eines Individuums innerhalb einer Situation. Die Achtsamkeit bezieht sich auf die Sinnesgegenstände, wird von der Wahrnehmung geleitet, von Emotionen verändert, von Gewohnheitsmustern _________________________________________________________________ 114 Vgl.: Brodbeck, 1995. S.1. 115 Vgl. ebd.: S.51 f. 116 Vgl. ebd.: S.54. 117 Vgl.: Brodbeck, 1995. S.55.

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beeinflusst und von Gedanken bestimmt. Für Brodbeck ist diese Achtsamkeit, als übergeordneter Faktor, ausschlaggebend für das Zustandekommen von Kreativität. Kreativität ist bei ihm ein Phänomen oder eine Art Produkt, das durch die Umänderung, Umpolung oder Umwertung unserer Achtsamkeit entsteht.118 Erst durch eine veränderte Achtsamkeit können Probleme erkannt und verändert werden. Er beschreibt sie darüber hinaus nicht nur als Quelle, sondern auch als Ziel der Kreativität.119 Kreativität entstammt der Aufmerksamkeit und erzeugt wiederum Aufmerksamkeit. In Brodbecks Theorie richtet sich der Fokus der Untersuchung auf das Wechselspiel zwischen den äußeren Sinnesgegenständen und den inneren Mechanismen eines Individuums. Der soziale Aspekt, der jedoch ebenso Auswirkungen auf Gedanken, Emotionen und Wahrnehmung hat, wird außer Acht gelassen. Soziale Zwänge, interpersonale Beziehungen oder gesellschaftliche Regeln, haben ebenso starke Auswirkungen auf das Wesen einer Situation. Vogt beispielsweise berücksichtigt in seinem Modell den sozialen Kontext einer kreativen Situation. Er untersucht verschiedene Kreativitätstheorien, wie die von Csikszentmihalyi oder Amabile, und prüft, ob sie sich als Brückentheorien zur Beschreibung der kreativen Situation eignen.120 Es geht ihm darum, diverse Modalitäten, wie die soziale Struktur, zu beschreiben, um zu bestimmen, welche Bedingungen dieser Modalitäten kreative Handlungen oder Leistungen wahrscheinlicher machen.121 Nach Vogt besteht das kreative Potential einer Situationen in der Eröffnung kreativer Handlungsalternativen, die sich von Routinehandlungen abheben. „Die kreative Leistungsfähigkeit von Menschen hängt von den Handlungsmöglichkeiten und -beschränkungen in sozialen Situationen ab.“122

Vogt differenziert auf der Basis seiner Brückentheorien vier Modalitäten der kreativen Situation, die kreative Leistungen entweder fördern oder hemmen können. Dabei nennt er die soziale Struktur, den regulatorischen Fokus, die motivationale Haltung und die kognitive Ausstattung.123 Bei diesen vier Einflussfaktoren unterscheidet er wiederum zwischen inneren und äußeren Bedingungen und prüft ihren Einfluss auf die Eröffnung kreativer Handlungsalternativen. _________________________________________________________________ 118 Vgl. ebd.: S.41. 119 Vgl. ebd.: S.65. 120 Vgl.: Vogt, 2010. S.53 ff. 121 Vgl.: Vogt, 2010. S.186. 122 Ebd.: S.277. 123 Vgl. ebd.: S.237.

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• Bei der sozialen Struktur werden die Beschaffenheit einer Gruppe oder Gesell-

schaft und ihre Einstellung gegenüber kreativen Handlungsalternativen untersucht. Bei der Analyse des Forschungsfeldes findet Vogt unterschiedliche Bedingungen, die innerhalb einer Situation gegeben sein müssen, damit kreative Handlungsoptionen zur Verfügung stehen. Äußere Bedingungen sind hier beispielsweise Offenheit und Wertschätzung kreativer Handlungen durch die Gruppe. Eine interne Bedingung des Akteurs ist zum Beispiel das Wissen über die domänenimmanenten Kreativitätskriterien.124 • Der regulatorische Fokus beinhaltet kontextabhängige Faktoren, die sich sowohl auf das Individuum als auch auf die Gruppe auswirken. Eine äußere Bedingung ist zum Beispiel das Signalisieren von individueller Sicherheit und Raum für Selbstverwirklichung. Eine innere Bedingung wäre die Neigung zu riskanten Strategien.125 • Die Motivation innerhalb einer kreativen Situation wird im entsprechenden Untersuchungsfeld aufgeteilt in die intrinsische Motivation, als innere Bedingung, und die extrinsische, als äußere Bedingung. Die intrinsische Motivation gilt grundsätzlich als positiver Faktor für kreative Handlungen. Die extrinsische Motivation hingegen ist nur förderlich, wenn sie nicht als Kontrollinstrument benutzt wird, sondern als Unterstützung oder zusätzlicher Informationsgewinn auftritt.126 • Im Forschungsfeld, welches die kognitive Ausstattung untersucht, beziehen sich die Faktoren auf das persönliche Wissen und die Erfahrung sämtlicher beteiligter Personen. Während sich die inneren Bedingungen auf die kognitiven Faktoren des kreativ Handelnden beziehen, beschreiben die äußeren Bedingungen die Kognitionen der Individuen innerhalb einer Gruppe. Eine äußere Bedingung wäre das möglichst zieloffene Formulieren von Aufgaben und Problemen. Eine interne Bedingung ist beispielsweise die Fähigkeit zu einer kreativen zielorientierten Kognition.127 Vogt erkennt beim Vergleich der Ergebnisse innerhalb der untersuchten Faktoren, dass sich manche Bedingungen wiederholen und andere wiederum zusammenfassen lassen. Hinzu kommt, dass sich bei der Zuordnung der unterschiedlichen Faktoren auf die vier Modalitäten Überschneidungen und Ungereimtheiten ergeben.128 _________________________________________________________________ 124 Vgl. ebd.: S.241. 125 Vgl. ebd.: S.249. 126 Vgl.: Vogt, 2010. S.243. 127 Vgl. ebd.: S.253. 128 Vgl. ebd.: S.257.

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Man merkt, dass Vogts Fokus auf die Förderung von Kreativität ausgerichtet ist, da sein Hauptaugenmerk nicht, wie bei Brodbeck, auf den unterschiedlichen Modalitäten, sondern auf der Benennung der kreativitätsfördernden Bedingungen für kreative Situationen liegt. Im Forschungsfeld der kreativen Situation geht es nicht um das Formulieren einer allgemeinen Definition von Kreativität. Im Zentrum steht stattdessen die Bestimmung zuverlässiger Faktoren, die einen quantitativ bestimmbaren Kreativitätsoutput von Akteuren und Gruppen innerhalb kreativer Situationen fördern. Das Verständnis von Kreativität wird wiederum beiläufig vermittelt. „Wenn Kreativität aus einem komplexen Zusammenspiel von individuellen Potentialen und sozialen wie materiellen Umweltbedingungen entsteht, dann reicht es nicht aus, Menschen individuell zu fördern. Das gesamte institutionelle Gefüge, die sozialen Regeln, des menschlichen Miteinander müssen […] kreativitätsfreundlich gestaltet sein.“ 129

In diesem Zitat geht es zwar vornehmlich um die Entstehung von Kreativität und wenig darum, was Kreativität tatsächlich ist. Dennoch lässt sich daraus ein bestimmter Kreativitätsbegriff ableiten. Kreativität ist bei Vogt keine Fähigkeit oder Eigenschaft, sondern eine Art wertvolles Gut, ein Phänomen, das von bestimmten Umweltfaktoren und Modalitäten abhängig ist. Diese Umweltbedingungen zu kennen, ist gerade für die pädagogische Forschung besonders wichtig, da durch sie die Lernumgebung aktiv gestaltet werden kann. Vogt nennt fünf konkrete Maßnahmen, die zur Gestaltung einer kreativen Situation beitragen. Die Lehrperson muss Kreativität als oberstes Handlungsziel etablieren, die intrinsische Motivation fördern statt hemmen, externe Anreize für kreative Vorhaben setzen, den Promotionsfokus der Lernenden über soziale Umweltbedingungen aktivieren und die Nutzung der kognitiven Instrumente von Lernenden unterstützen.130 Ähnliche Theorien oder Modelle werden auch in der Kunstpädagogik erstellt. Kirchner und Peez bestimmen beispielsweise für den Kunstunterricht vier allgemeine Rahmenbedingungen, die kreative Leistungen fördern: • Die Situation braucht eine Atmosphäre, die für alle Beteiligten Freiheit und Si-

cherheit miteinander verbindet. • Die Einstellung der Gruppe muss von Toleranz und Offenheit für divergente

Problemlösungen geprägt sein, damit selbstständiges und selbst indiziertes Lernen möglich ist. _________________________________________________________________ 129 Vogt, 2010. S.272. 130 Vgl. ebd.: S.264 ff.

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• Die Umwelt muss spannungsreich gestaltet sein, damit für die Lernenden die

Befähigung zur Selbstförderung ausgebildet wird. • In der Lernumgebung muss es für die Lernenden die Möglichkeit geben, ihr ei-

genes Verhalten reflektieren zu können. Gleichzeit muss Reflexion sowohl angestoßen als auch angeleitet werden.131 Von diesen allgemeinen Situationsbedingungen leiten Kirchner und Peez konkrete Handlungsweisen für die Lehrpersonen ab. Sie fordern von Kunstlehrern im Rahmen eines kreativitätsfördernden Unterrichts, dass sie Pluralität zulassen, Kontextabhängigkeit berücksichtigen, Transparenz ermöglichen, motivieren und ermutigen.132 All diese Fördermaßnahmen geben jedoch keinen Aufschluss darüber, was eigentlich gefördert wird. Auch wenn Kirchner und Peez implizit davon ausgehen, dass es sich bei Kreativität um eine Fähigkeit handelt, kann die Kreativität selbst lediglich über die tatsächlich erbrachte Leistung oder ein Produkt geprüft werden. Somit ist unklar, ob sich durch die Veränderung der Situation die Kreativität als Fähigkeit einer Person oder lediglich als Eigenschaft eines Produktes verbessert hat. Selbst wenn die Kreativität als Fähigkeit von Subjekten im Sinne eines Vermögens oder Könnens verstanden wird, ist sie, wie Vogt anschaulich darlegt, zum großen Teil von äußeren Bedingungen abhängig. Weiterhin wird Kreativität im Kontext des Forschungsfeldes der kreativen Situation als ein positiver Wert verstanden. Situationen sollen so verändert werden, dass zu üblichen Handlungsalternativen als kreativ bewertete Optionen hinzukommen. Demnach wäre die Kreativität wiederum keine Fähigkeit, sondern eine positiv bewertete Form der Leistung. Auch wenn das Forschungsfeld der kreativen Situation wenig Aufschluss über die Definition der Kreativität gibt, werden Modalitäten und notwendige Aspekte für ihr Zustandekommen formuliert. Neben der Person, dem Produkt und einem operationalen Prozess werden der Kontext und das soziale Umfeld als Referenzbedingungen für Kreativität ergänzt. Zusammenfassung Kapitel 2.6 Das Forschungsfeld der kreativen Situation liefert keine eindeutige Definition des Kreativitätsbegriffs, sondern evoziert lediglich ein ungefähres Verständnis davon. Kreativität ist dabei eine positiv bewertete Leistung, deren Erzeugung über diverse innere und äußere Modalitäten gehemmt oder gefördert wird. Aus _________________________________________________________________ 131 Vgl.: Kirchner; Peez, 2009. S.18. 132 Vgl. ebd.: S.18.

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den Modalitäten lassen sich wiederum Rückschlüsse auf die Merkmale der Kreativität ziehen. Die Kreativität ist abhängig von inneren Faktoren, wie dem Bewusstsein, der Motivation, den Emotionen oder den Bewegungsmustern, und von äußeren Faktoren, wie dem sozialen Umfeld oder der sinnlich wahrnehmbaren Umwelt.

2.7 KREATIVER AKT IM DENKEN UND HANDELN Die Theorien der Kreativitätsforschung zum kreativen Denken und Handeln sind für die systemtheoretische Definition der Kreativität besonders wichtig. Da die Theoriebildung dieser Arbeit über die systemtheoretische Ausdifferenzierung des künstlerischen Gestaltungsprozesses erfolgt und dieser, wie sich zeigen wird, aus drei unterschiedlichen Systemarten besteht, ergeben sich daraus drei unterschiedliche Arten des Operierens: Denken, Handeln und Kommunizieren. Diese Dreiteilung findet man auch in den vielfältigen Erklärungsansätzen des kreativen Aktes wieder. Die Kreativität selbst ist in diesen Theorien entweder eine Eigenschaft des Denken und Handelns oder eine Eigenschaft des Ergebnisses dieser Akte. In Kapitel 2.7.1 werden die Denktheorien der psychologischen und philosophischen Kreativitätsforschung erläutert, bei denen die Kreativität als Eigenschaft oder Resultat des Denkens definiert wird. In Kapitel 2.7.2 wird nicht nur erörtert, warum eine physische Handlung für die Kreativität notwendig ist, sondern auch, dass die Kreativität eine Eigenschaft der Handlung und damit das kreative Produkt selbst sein kann. Auch kommunikative Handlungen gelten als zwingendes Merkmal kreativer Leistungen. Inwiefern eine kommunikative Handlung sich von der physischen Handlung und dem Denken unterscheidet und warum sie für eine Theorie der Kreativität unerlässlich ist, wird in Kapitel 2.7.3 ausgeführt. In den besprochenen Kreativitätstheorien der vorangegangenen Kapitel ist Kreativität nicht nur als Eigenschaft von Personen und Produkten definiert worden, sondern auch als Eigenschaft von Prozessen. Man könnte nun annehmen, dass die kreativen Akte eng mit dem kreativen Prozess verbunden sind. In den Theorien gibt es jedoch einen gravierenden Unterschied. Im Gegensatz zu dem Forschungsfeld des kreativen Prozesses steht bei der Untersuchung des kreativen Denkens und Handelns nicht eine Abfolge von unterschiedlichen Akten im Fokus, sondern ein einzelner Akt, der bereits kreativ ist oder zu Kreativität führen kann. Bei Vogt, der aus der Perspektive der Soziologie die kreative Handlung als eigenständiges Untersuchungsfeld in der Kreativitätsforschung fordert, ist die „kreative Handlung

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eine Handlung im Rahmen eines Prozesses“133 und wird einem solchen somit untergeordnet. Vogts Bezeichnung der kreativen Handlung ist irreführend, da er auch psychische Akte und somit das Denken darunter zählt. In der vorliegenden Untersuchung werden die Akte des Denkens und die des Handelns klar voneinander getrennt, damit in der Ausdifferenzierung der einzelnen Systemarten des künstlerischen Gestaltungsprozesses keine Unklarheiten darüber entstehen, ob gerade über physische, psychische oder soziale Systeme gesprochen wird. Vogt bezieht sich mit dieser Einordnung des Handelns und Denkens innerhalb eines geschlossenen kreativen Prozesses auf die Ausführungen von Guilford, der diese Akte als Teil seines Phasenmodells definiert. Viele aktuelle Untersuchungen des kreativen Agierens distanzieren sich jedoch von den Phasenmodellen des kreativen Prozesses und konstruieren eine unabhängige Theorie des kreativen Denkens und Handelns. Bleibt zu fragen, was unter einem kreativen Akt zu verstehen ist. Der Begriff lässt auf eine physische Handlung schließen. Jedoch ist eine Handlungstheorie der Kreativität ohne die Anbindung einer wie auch immer gearteten Denktheorie kaum realisierbar. Vogt beschreibt die kreative Handlung ganz allgemein als eine Veränderung oder Durchbrechung gewohnter Handlungsweisen. „Routinewege des Handeln[s] [werden] verlassen“134. Nach dieser Definition ist die Handlung selbst das kreative Produkt. Sie ist ein Agieren, das sich durch die Merkmale des kreativen Produktes (neuartig und nützlich) von gewöhnlichen Handlungen unterscheidet. Diese Theorie scheint der Aussage von Brodbeck zu widersprechen, der sagt, dass „jede Handlung in ihrem Wesen kreativ“ 135 ist. Damit meint Brodbeck jedoch nur, dass jede Handlung ein kreatives Potential besitzt. Dieses Potential entfaltet sich erst dann, wenn eine Handlung eine neue Ordnung schafft. Damit bezieht auch Brodbeck die kreative Handlung auf eine neuartige und nützliche Veränderung innerhalb einer bestehenden Struktur. Er unterscheidet zwischen physischen Handlungen, bei denen der eigene Körper auf seine Umwelt einwirkt136, und dem reinen Denken als kreativem Akt137. Diese Unterscheidung wirft die Frage auf, ob eine kreative Handlung eine physische Handlung voraussetzt oder ob der reine psychische Akt des Denkens auch als kreative Handlung be-

_________________________________________________________________ 133 Vogt, 2010. S.27. 134 Ebd.: S.27. 135 Brodbeck, 1995. S.6. 136 Vgl. ebd.: S.52. 137 Vgl.: Brodbeck, 1995. S.8.

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zeichnet werden kann. Guilford beispielsweise formuliert in seiner psychologischen Denktheorie, dass die Kreativität zwischen dem divergierenden und dem konvergierenden Denken entsteht und, „daß der kreative Akt ein Fall von Lernen ist“138. Diese Theorie impliziert, dass es sich bei der kreativen Handlung um einen rein psychischen Akt handelt. Das Denken operiert kreativ, wenn es Ideen erzeugt. Wenn man jedoch die Ergebnisse aus Kapitel 2.4.2 zum kreativen Produkt betrachtet, reicht es eben nicht aus, lediglich einen nützlichen und neuartigen Gedanken zu haben. Ein kreatives Produkt muss, um als kreativ gewertet zu werden, in die äußere Umwelt überführt werden, in welcher Form auch immer. Der kreative Akt erfordert demnach immer eine sinnlich wahrnehmbare Handlung. Darin besteht auch die theoretische Verbindung zwischen dem kreativen Akt und dem künstlerischen Gestalten. Die künstlerische Gestaltung kann sich, wie die kreative Handlung, nicht auf die Generierung von Ideen beschränken. Die Ideen müssen im Gestaltungsprozess in kommunizierbare Informationen übersetzt werden, die in Form von Kunstwerken rezipierbar werden. Diese Übersetzung ist bereits im Wortstamm des Gestaltungsprozesses angelegt. Das Gestalten bezeichnet immer eine Art der Gestaltgebung. Der kreative Akt sowie die künstlerische Gestaltung sind somit weder das bloße pragmatische Handwerk noch die reine Idee. Wie Regel sagt, ist das „Sichtbarmachen […] niemals nur ein äußerlicher, rein technischer Vorgang, sondern vielmehr der lebendige Prozeß der materiellen Verkörperung des bildnerischen Erlebnisses und der darin eingeschlossenen Aussageabsicht, in dem sich die Einheit des künstlerischen Schaffens als geistig-praktische Tätigkeit bewähren muß.“139

Die von Regel angesprochene Aussageabsicht führt neben dem Denken und dem physischen Handeln zu einer dritten Art des Agierens im Gestaltungsprozess: dem Kommunizieren. In Anlehnung an die Theorien zum Gestaltungsprozess wird in dieser Arbeit der kreative Akt als ein Zusammenwirken von Denken, Handeln und Kommunizieren begriffen. Im Folgenden werden die kreativitätstheoretischen Positionen zu den drei Arten des kreativen Agierens genauer beleuchtet, da diese bereits auf eine systemtheoretische Ausdifferenzierung der unterschiedlichen Operationsweisen im künstlerischen Gestaltungsprozess hinweisen.

_________________________________________________________________ 138 Guilford, 1973. S.28. 139 Regel, Günther: Medium bildende Kunst. Bildnerischer Prozeß und Sprache der Formen und Farben. Henschelverlag: Berlin 1986. S.27.

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2.7.1 Kreativität im Denken In der interdisziplinären Kreativitätsforschung findet man meist nur Theorien, in denen der psychische Akt der kreativen Handlung beschrieben wird. Diese Theorien beziehen sich auf die psychologischen Forschungsergebnisse von Guilford und Torrance, die von zwei unterschiedlichen Arten des Denkens ausgehen: dem konvergierenden und dem divergierenden Denken. Guilford und Torrance treffen diese Unterscheidung, um sich von der bisherigen Intelligenzforschung abzugrenzen. Denn während sich die Intelligenzforschung auf die Untersuchung des zielgerichteten und konzentrierten Konvergenzdenkens fixiert, definieren sie das assoziative und wenig fokussierte Divergenzdenken als die Quelle der Kreativität.140 „In einer anderen Bedeutung ist ‚divergierend‘, nämlich als ‚abweichend vom Üblichen‘, schon immer ein Synonym für Kreativität gewesen.“141 Torrance benutzt das divergierende Denken synonym mit Formulierungen zu Vorstellungsvermögen, Problemlösen oder erfinderisches, schöpferisches oder produktives Denken. Bei ihm erfordert das Divergenzdenken eine bestimmte Konstellation von Fähigkeiten142, die in Kapitel 2.3.3 im Rahmen des psychometrischen Erklärungsansatzes der kreativen Person bereits erörtert worden sind. Während das konvergierende Denken auf das Lösen eines Problems ausgerichtet ist und dabei alle Denkinhalte zielorientiert, ordnend und transformierend zusammenführt, ist das Divergenzdenken jene psychische Handlung „zur Entwicklung unkonventioneller Perspektiven, zur Abweichung vom Pfad der scheinbar einzig möglichen Lösung.“ 143 Das Denken geht dabei in die Breite, strebt auseinander und schweift aus, um durch das Umstrukturieren von Gedanken und Gegebenheiten in der äußeren Umwelt weitere ungewohnte und unübliche Handlungsalternativen zu finden. Da in der psychologischen Denktheorie das divergierende Denken nicht bewusst nachvollziehbar ist und als eine Art vorbewusstes Denken definiert wird, sieht Vogt darin die Erklärungsversuche für die Phase der Inkubation aus der Theorie des kreativen Prozesses.144 Hinzu kommt, dass das divergierende Denken durch sein vorbewusstes Operieren unterhalb des konvergierenden Denkens rangiert. Diese Hierarchisierung lässt sich mit einem Blick auf die Abstraktionstheorie belegen. Die traditionellen Theorien des Denkens gehen davon aus, dass das Denken immer _________________________________________________________________ 140 Vgl.: Reckwitz, 2012. S.224. 141 Ulmann, 1973. S.17. 142 Vgl.: Torrance, 1973. S.126. 143 Reckwitz, 2012. S.224. 144 Vgl.: Vogt, 2010. S.223.

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begrifflich bzw. sprachlich erfolgt. Ein Bewusstsein, das ohne Prädikation oder Abstraktion zu Begriffen kommt, gibt es in diesen Theorien nicht. Die Abstraktion ist somit notwendiges Kriterium für das Denken.145 Das konvergierende Denken ist ebenfalls mit einem Abstraktionsprozess des Bewusstseins vergleichbar. Gegenstände und Sachverhalte der Umwelt werden im konvergierenden Denken auf ihre wesentlichen Eigenschaften reduziert, so dass sie vom Bewusstsein verarbeitet werden können. Das divergierende Denken hingegen operiert in der Kreativitätstheorie nach Guilford vor der Abstraktion, bevor eine Reduktion oder Bezeichnung im Denken stattfindet. Das reine divergierende Denken führt zwar zu neuen Gedanken, diese können jedoch oft nicht weiter verarbeitet werden, da ihm eine Zielorientierung oder ein Ordnungswille fehlt. Ein neuer Gedanke ist nicht immer gleichzusetzten mit einem nützlichen Gedanken. Damit ein Gedanke auf seine Nützlichkeit bezüglich eines bestimmten Sachverhalts geprüft werden kann, muss ein Individuum konvergierend denken. Aus diesem Grund weist Guilford im Gegensatz zu anderen Kreativitätsforschern immer wieder darauf hin, dass beide Denkprozesse für kreative Leistungen unbedingt notwendig sind.146 Im Anschluss an Guilford wird in aktuellen Theorien nicht mehr nur das Divergenzdenken als Quelle für Kreativität diskutiert, sondern das flüssige, mühelose und zügige Umschalten zwischen beiden Denkarten. Ein Beispiel dafür ist das von Csikszentmihalyi beschriebene und mit der Kreativitätsforschung verwandte Flow-Erlebnis.147 Im Flow-Erlebnis pendelt das Subjekt zwischen einer weiten Öffnung der Wahrnehmung und einer engen Konzentration auf eine bestimmte Aufgabe.148 Somit besteht die Befähigung zum kreativen Denken nicht allein im Zugang zum divergierenden Denken, sondern in dem mühelosen Wechsel zwischen beiden Denkarten. Bei den Ausführungen zum divergierenden und konvergierenden Denken handelt es sich ausschließlich um denkpsychologische Theorien. Neben diesen gibt es denkphilosophische Kreativitätstheorien, die ebenfalls von zwei verschiedenen Denkarten ausgehen. Trotz mancher Überschneidungen in den Erklärungen, dürfen die unterschiedlichen Theorien nicht miteinander vermischt werden. Das liegt vor allem an der hierarchischen Ordnung der unterschiedlichen Denkarten, die sich aus den jeweiligen Definitionen ableiten lassen. Bei Mahrenholz findet man _________________________________________________________________ 145 Vgl.: Plaum, Goda: Bildnerisches Denken. Eine Theorie der Bilderfahrung. transcript: Bielefeld 2016. S.52 f. 146 Vgl.: Guilford, 1973. S.28. 147 Vgl.: Csíkszentmihalyi, Mihaly: Das Flow-Erlebnis. Jenseits von Angst und Langeweile im Tun aufgehen. Klett-Cotta: Stuttgart 2000. S.21 f. 148 Vgl.: Reckwitz, 2012. S.229.

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eine philosophische Theorie des kreativen Denkens, bei der die Kreativität ebenfalls aus dem Wechselspiel zweier Denkarten entspringt. • Das digitale Denken ist vergleichbar mit dem konvergierenden Denken. Es abs-

trahiert Gedachtes und Wahrgenommenes, indem es konkrete Unterschiede zwischen ähnlichen Objekten oder Ereignissen vernachlässigt, damit eine endgültige Unterscheidung getroffen werden kann. Das digitale Denken sucht nach endlichen Differenzierungen und arbeitet begriffsfindend und formalisierend. Dabei geht es sukzessiv vor, um die Differenzierungen zu ordnen.149 • Das analoge Denken bei Mahrenholz hingegen versucht Unterschiede nicht zu löschen, sondern sucht aktiv danach. Dieses Denken besteht aus einem unendlichen Differenzieren, bei dem jede Unterscheidung zu einer neuen führt. In enger Verbindung zum analogen Denken wird auch das bildhafte Denken diskutiert, „das interferierend willkürlich und unwillkürlich Wahrgenommenes, Gedächtnisinhalte, Zugefallenes und Gewolltes, relevante und irrelevante Gedanken assoziiert und wohl auch Transfermomente aufweist.“150 Bei Plaum wird es auch als bildnerisches oder konkretisierendes Denken bezeichnet.151 In der Theorie von Mahrenholz handelt es sich bei den Denkarten um entgegengesetzte Operationen, zwischen denen es keinen graduellen Übergang gibt. „Beide Denkarten sind nicht nur unterschiedlich, sie schließen einander aus, und dennoch sind sie stets aufeinander bezogen.“152 Die Kreativität entsteht aus ihrer Sicht in einer Art Übersetzungsphänomen, in einem aneinandergereihten Wechsel zwischen analog und digital. Bei Mahrenholz gibt es zwei Richtungen in die eine solche Übersetzung laufen kann. Sie bezeichnet diese als Analog-Digital-Konversion und Digital-Analog-Konversion. Die Analog-Digital-Konversion überführt sinnlich Wahrnehmbares in Begriffe und Konzeptionen. Die Digital-Analog-Konversion überführt Begriffe und Theorien in Anschauungen und Wahrnehmung. Diese zweite Konversion ist bei ihr jedoch keine Veranschaulichung von Begriffen, sondern ein Übergang in ein bildnerisches Denken. Diesen Zusammenhang erklärt Mahrenholz mithilfe der Symboltheorie von Goodman.

_________________________________________________________________ 149 Vgl.: Mahrenholz, Simone: Kreativität. Eine philosophische Analyse. Akademie Verlag GmbH: Berlin 2011. S.30. 150 Regel, 1986. S.195. 151 Vgl.: Plaum, 2016. S.252 f. 152 Mahrenholz, 2011. S.30.

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• Das digitale Denken bezieht sich auf die syntaktische Disjunktivität von Good-

mans Denotation, bei der jedes Zeichen nur einen Charakter hat und durch eine finite Zuweisung entweder das eine oder das andere bedeutet.153 Als Beispiele für die Denotation nennt Goodman das Benennen, Beschreiben oder Bezeichnen in Sprach- und Notationssystemen154. Das bedeutet, dass der Übergang vom analogen zum digitalen keine Denotation ist, sondern dass das digitale Denken grundsätzlich denotativ operiert. • Das analoge Denken bezieht sich auf die Exemplifikation. Diese wird durch Objekte und Ereignisse repräsentiert, die unendlich viele Zeichen aufweisen und somit syntaktisch dicht sind. Dabei sind sie nicht nur syntaktisch, sondern auch semantisch dicht, was dazu führt, dass jede Unterscheidung in der Wahrnehmung auch zu einer Unterscheidung in der Anwendung führt.155 Wenn ein Subjekt analog denkt, dann operiert es exemplifizierend, indem es jeden Unterschied als wichtig erachtet. Anders als in der psychologischen Theorie des konvergierenden und divergierenden Denkens gibt es bei Mahrenholz kein hierarchisches Gefälle zwischen den beiden Denkarten. Sie existieren gleichwertig nebeneinander, ohne Überschneidungen. Während das konvergierende und das digitale Denken vergleichbar sind, unterscheiden sich analoges und divergierendes Denken maßgeblich voneinander. Das analoge Denken findet anders als das divergierende Denken bei vollem Bewusstsein statt. Es ist lediglich eine andere Art, die Eindrücke der Umwelt zu verarbeiten. Was die Theorien von Guilford und Mahrenholz hingegen vereint, ist die Erklärung, dass die Kreativität im Übergang zwischen den beiden Denkarten entsteht. Aus philosophischer Perspektive formuliert Mahrenholz: „Kreativität findet […] statt, […] wenn gleichzeitig eine bestimmte Ordnung und die Aufhebung dieser Ordnung zugunsten einer anderen stattfindet.“ 156

_________________________________________________________________ 153 Vgl. ebd.: S.182 ff. 154 Vgl.: Goodman, Nelson: Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie. Suhrkamp Verlag: Frankfurt a.M. (1997) 2012. S.150. 155 Vgl.: Mahrenholz, 2011. S.182 ff. 156 Ebd.: S.35.

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Auch aus psychologischer Perspektive wird die Entstehung der Kreativität im Übergang zwischen zwei Denkarten bestätigt. Gerade im bildnerisch künstlerischen Gestaltungsprozess sehen Regel und Holm-Hadulla einen zwingenden Wechsel zwischen den beiden Denkarten. 157 „Das divergierende Denken sorgt immer wieder dafür, daß das bildhaft-anschauliche Denkmaterial umstrukturiert und die verschiedenen Angebote der schöpferischen Phantasie an Bildideen und Formvorstellungen ins Kalkül gezogen und fortwährend unbewußt, gelegentlich auch bewußt auf ihre Brauchbarkeit geprüft und bewertet werden als gültig oder ungültig, echt oder unecht, vollständig oder unvollständig.“158

In der Bildenden Kunst findet man etliche Beispiele, bei denen Künstler Methoden entwickeln, um das konvergierende Denken auszuschalten und das divergierende Denken zu aktivieren. Der Surrealist André Breton beispielsweise entwickelt die Technik der automatistischen Text- und Bildproduktion, die sich in erster Linie auf innerpsychische Prozesse bezieht.159 Das Subjekt versetzt sich in einen Bewusstseinszustand mittlerer, gelockerter Aufmerksamkeit, bei dem zwischen dem konvergent agierenden Bewusstsein und dem divergenten Abschweifen Bilder und Wörter spontan und ungeordnet mental auftauchen können. Bei Breton soll das über traum- oder tranceartige Zustände erfolgen, damit die konvergierende Selbstkontrolle des Bewusstseins überwunden werden kann. Es gibt auch Beispiele aus Kunst und Musik, bei denen solche psychischen Handlungsweisen durch Drogen erzeugt werden. Gerade in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts haben amerikanische Künstler wie Rick Griffin, Stanley Mouse oder Alton Kelley mit bewusstseinserweiternden Drogen experimentiert, um zu neuen Ausdrucksformen zu finden. Man kann festhalten, dass es in den denktheoretischen Erklärungsansätzen der Kreativitätsforschung zwei Aspekte gibt, die in sämtlichen Theorien wiederzufinden sind. Zum einen wird die Kreativität nicht als der Akt des Denkens selbst definiert, sondern entweder als dessen Resultat oder als Befähigung zum kreativen Denken. Zum anderen benötigt das Bewusstsein, egal ob hierarchisch oder heterarchisch organisiert, zwei Arten des Denken, zwischen deren Wechsel kreative Ideen, Leistungen oder Produkte entstehen können.

_________________________________________________________________ 157 Vgl.: Holm-Hadulla, 2012. S.233. 158 Regel, 1986. S.195. 159 Vgl.: Reckwitz, 2012. S.100.

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2.7.2 Kreativität im physischen Handeln Eine reine Kreativitätstheorie der physischen Handlung gibt es nicht. Dennoch darf der sensomotorische Aspekt im Rahmen des kreativen Agierens nicht unbeachtet bleiben. Müller sagt: „Die ästhetische Kreativität muss handlungsgebunden sein und kann sich nicht auf imaginäres Kreieren stützen, obwohl es ihre Quelle ist. Sie braucht eine öffentlich sichtbare Handlung, einen kreativen Produktionsakt, die Herstellung eines Objektes oder der Aufführung einer Verhaltensweise, da sie sonst leer und solipsistisch wäre.“ 160

In den meisten Kreativitätstheorien, vor allem aus den Untersuchungsfeldern des kreativen Produktes, des kreativen Prozesses und der kreativen Situation, wird eine – egal ob haptisch, visuell der akustisch – sinnlich wahrnehmbare Handlung vorausgesetzt. Das liegt an der Zielorientierung dieser Theorien. Jeder darin beschriebene kreative Akt strebt die Vollendung eines kreativen Produkts an, das von anderen Menschen als solches erkannt werden kann. Das heißt, dass das kreative Produkt erst durch eine physische Handlung in die Umwelt überführt werden muss. Das kann über einen Sprechakt erfolgen, indem man jemanden die Lösung eines Problems mitteilt oder soziale Probleme durch das Sprechen selbst löst. Auch das Konstruieren oder Bauen bzw. das motorische Anfertigen eines Produkts, kann aus dem kreativen Akt nicht ausgeschlossen werden. Die tatsächliche Rolle dieses motorischen Aktes ist jedoch unklar. Zum einen wird die Handlung lediglich als notwendige Operation hin zum kreativen Produkt verstanden und zum anderen kann die Handlung auch das kreative Produkt selbst sein, wie im Tanz oder im Schauspiel. Eine weitere Unklarheit besteht in der Referenz, auf welche Art des Agierens das kreative Produkt zurückgeführt werden kann bzw. welche Instanz für die Kreativität zuständig ist. Die Denktheorien der Kreativität gehen davon aus, dass kreative Leistungen ausschließlich im Bewusstsein generiert und im Anschluss in die sinnlich wahrnehmbare Umwelt überführt werden. Das wirft die Frage auf, ob physische Handlungen kreative Gedanken lediglich ausführen und sichtbar machen, oder ob sie auch selbst kreativ sein können. Ist es möglich, dass etwas Kreatives ohne das Zutun eines Bewusstseins entstehen kann? Es gibt Beispiele in der Bildenden Kunst, bei denen aus der rein physischen Handlung heraus kreative Ergebnisse angestrebt werden. Wiederum stehen die _________________________________________________________________ 160 Müller, Ulrich: Kunst und Rationalität. Zur Konstruktion ästhetisch-kreativen Handelns. PHILO Verlagsgesellschaft: Berlin 2001. S.23 f.

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Surrealisten Pate für Kreativität fördernde Methoden, bei denen der Zufall im Handeln Routinen und bekannte Bewegungsabläufe überwinden soll. Breton fügt seiner automatistischen Bild- und Textproduktion neben der psychischen noch eine physische Komponente hinzu. Durch eine erhöhte Geschwindigkeit im Arbeitsprozess, etwa beim Auftragen der Farbe auf die Leinwand, werden gelernte und geübte Bewegungsmuster durchbrochen, um zu neuen Formen und Formkombinationen zu finden.161 Ein prominentes Beispiel für diese Technik stellen die Werke von Jackson Pollock dar. Auch Max Ernst entwickelt eine physische Methode, die kreative Handlungen begünstigt. Anders als Breton geht es Ernst um die interobjektive Beziehung zwischen Subjekt und Objekt. In Anlehnung an ein Kinderspiel entwickelt er beispielsweise die materialästhetische Frottage, bei der Alltagsobjekte mit Farbe oder Stiften auf ein Papier durchgerieben werden. Dieser rein physische und automatisierte Vorgang erzeugt ein Negativ der Objektoberfläche und durch mehrfache Übereinanderschichtung auf dem Bildträger werden zufällige Kombinationen geschaffen.162 Eine klare Trennung von physischer Handlung und dem Denken fällt grundsätzlich schwer, da beides meist Hand in Hand geht. Selbst wenn Breton das bewusste Handeln durch die Geschwindigkeit in der Bewegung überwindet, würde er nach Guilford dennoch im Modus des divergierenden Denkens agieren. Auch Ernst entscheidet sich im Vorfeld seines Gestaltungsaktes bewusst für die Frottage als Technik. Selbst wenn der Akt der Frottage vornehmlich motorisch abläuft, hat er zuvor Material und Bildträger bewusst gewählt, um im Anschluss über das Ergebnis bewusst zu reflektieren. Man kann festhalten, dass das motorische Handeln im kreativen Akt vom Denken kaum zu trennen ist und die motorische Handlung notwendig ist, um das kreative Produkt einem Publikum zu präsentieren. Hinzu kommt, dass man von Fall zu Fall unterscheiden muss, ob es sich beim kreativen Akt des motorischen Handelns um den Weg zum kreativen Produkt handelt oder bereits um das kreative Produkt selbst. 2.7.3 Kreativität im sozialen Handeln In der Kreativitätsforschung wird der soziale Aspekt der Kreativität immer wieder hervorgehoben. Gerade in Untersuchungsfeldern, wie dem kreativen Prozess oder der kreativen Situation wird erläutert, wie wichtig das soziale Umfeld nicht nur für das Zustandekommen von Kreativität, sondern auch für seine Rezeption und _________________________________________________________________ 161 Vgl.: Reckwitz, 2012. S.100. 162 Vgl. ebd.: S.100 f.

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Bewertung ist. Umso erstaunlicher ist es, dass man in der interdisziplinären Kreativitätsforschung kaum Untersuchungen zu sozialen Handlungen findet. Soziale Handlungen unterscheiden sich vom physischen und psychischen Agieren darin, dass sie durch den Gebrauch von verbalen, gestischen oder gegenständlichen Sprachzeichen ein Angebot von Verstehensmöglichkeiten erzeugen, die wiederum als Handlungsaufforderung fungieren.163 In sozialen Kontexten kann ein Subjekt seine Kommunikationspartner auf Gegenstände und Sachverhalte hinweisen, die den anderen vorher nicht bekannt oder außerhalb ihres aktuellen Interessensbereichs gewesen sind. Musolff versteht „sprachliche Kreativität [beispielsweise,] als Erweiterung des Horizonts der gemeinsamen Wahrnehmung.“164 Wenn man so will, kann man die mitgeteilte Information als kreatives Produkt ansehen. Diese Information hat das Potential von den Kommunikationspartnern als neuartig, originell, nützlich oder wertvoll und in diesem Sinne als kreativ empfunden zu werden. Gerade aus Sicht des Forschungsfeldes zum kreativen Prozess scheint eine kommunikative Handlung zwingend notwendig, da eine Realisierungsphase ohne die kommunikative Vermittlung einer kreativen Lösung oder Idee nicht erfolgen kann. Kreativität ist im kreativen Prozess egal ob als Fähigkeit, Leistung oder Eigenschaft von einer sinnlich wahrnehmbaren, kommunikativen Handlung abhängig. Aus dieser Perspektive stellt sich die Frage, ob nicht jede motorische Handlung auch gleichzeitig eine soziale ist. Eine derartige Unterscheidung ist oft schwierig, da der Gebrauch kommunikativer Zeichen in den Handlungen eines Subjekts nicht immer offensichtlich ist. Eine andere Theorie kreativen Agierens durch kommunikative Handlungen beschäftigt sich mit sozialen Vernetzungsstrategien, die über den intersubjektiven Austausch erst zu kreativen Produkten kommen. Viele kreative Leistungen sind ohne die Zusammenarbeit und ohne die Beiträge verschiedener Personen nicht denkbar. Manche kreativen Produkte können demnach erst durch den Austausch und die Kommunikation innerhalb eines Teams entstehen. Ein Team, das auf produktive Weise, sein Wissen, seine Fähigkeiten und seine Perspektiven zusammenbringt, ist in der Lage kollektiv Ideen zu produzieren. Gerade die unterschiedlichen Ansichten, Einstellungen und Erfahrungen der Gruppenmitglieder sollen durch Kommunikation zu kreativen Ergebnissen führen. Die Gesprächspartner _________________________________________________________________ 163 Vgl.: Dorsch, 2014. St.: Kommunikation. 164 Musolff, Andreas: Kommunikative Kreativität. Karl Bühlers Zweifelderlehre als Ansatz zu einer Theorie innovativen Sprachgebrauchs. Aachener Studien zur Semiotik und Kommunikationsforschung. Band 25. Alano Verlag und Rader Publikationen: Aachen 1990. S.3.

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werden durch die neuen Einflüsse wiederum dazu angeregt, neuartige Informationen zu kommunizieren. Durch diesen Austausch können über das Kollektiv eine Vielzahl an Informationen generiert werden, die an Variabilität, Stimulation und Wirksamkeit die kreative Leistungsfähigkeit eines einzelnen Individuums bei weitem übertreffen.165 Das klassische Brainstorming, eine der bekanntesten Assoziationstechniken, bezieht sich auf eine intersubjektive Handlungsweise, um kreative Leistungen zu fördern. Hier agiert nicht eine einzelne kreative Person, sondern eine Kreativitätsgemeinschaft. Beim Brainstorming werden sämtliche Beteiligten unter der Prämisse der Quantität dazu aufgefordert, Informationen bezüglich eines Problems oder Themas zu generieren. Die Qualität der Äußerungen spielt in dieser Phase keine Rolle.166 Die gegenseitige Beeinflussung der Beteiligten durch immer wieder neue und eventuell unerwartete Informationen hilft bei der Generierung von Assoziationen, die wiederum zu neuen Ideen führen. In der Kunst gibt es ähnliche Verfahrensweisen. Gerade in der zeitgenössischen Kunst wird die Kollaboration als Mittel zur Generierung neuer Konzepte und Werke forciert.167 Künstler kollaborieren mit Kuratoren, Kuratoren kollaborieren mit Galeristen, Galeristen kollaborieren mit Künstlern und Künstler kollaborieren mit anderen Künstlern oder mit den Rezipienten. In der Performance beispielsweise werden durch die gewollte Interaktion mit dem Publikum Situationen erzeugt, in denen die Beteiligten durch ihr unerwartetes Verhalten den Künstler zur Improvisation, und somit zu neuen Ausdrucksmöglichkeiten anregt. Auch die Zusammenarbeit mehrerer Künstler an einem Werk führt dazu, dass die Künstler gezwungenermaßen aufeinander reagieren müssen. Der eine greift die Form oder Idee eines anderen auf und führt sie weiter. Die anderen müssen wiederum darauf reagieren. Kommunikatives oder soziales Agieren wird in der aktuellen Kreativitätsforschung unter den Stichworten kollaborative oder kollektive Kreativität immer wichtiger, da damit netzbasierte Phänomene wie Crowdsourcing oder Schwarmintelligenz erklärt werden sollen. Dabei ist das kommunikative Handeln seit jeher ein zentraler Bestandteil des kreativen Agierens. Sobald das Ziel eines kreativen Aktes ein kreatives Produkt ist, müssen alle an der Herstellung oder Gestaltung beteiligten Personen irgendwann auch kommunikativ handeln, da nur so _________________________________________________________________ 165 Vgl.: Steiner, Gerald: Das Planetenmodell der kollaborativen Kreativität. Systemischkreatives Problemlösen für komplexe Herausforderungen. Gabler Verlag. Wiesbaden 2010. S.89. 166 Vgl.: Schuler; Görlich, 2007. S.95. 167 Vgl.: Krebber, Gesa: Kreativität, kollaborative. In: Shift. #Globalisierung #Medienkulturen #Aktuelle Kunst. Hrsg.: Heil, Christine; Kolb, Gila; Meyer, Torsten. Kopaed: München 2012. S.126.

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die Kreativität, egal ob als individuelle Fähigkeit oder produktbezogene Eigenschaft, eine soziale Wirkung entfalten kann. Zusammenfassung Kapitel 2.7 Im Untersuchungsfeld der kreativen Akte kann man drei unterschiedliche Arten des Agierens unterscheiden, die für das Zustandekommen von kreativen Leistungen oder Produkten notwendig sind. Man unterscheidet zwischen Denken, motorischem Handeln und sozialem Handeln. Beim Denken wird die Kreativität nicht als der Akt des Denkens selbst definiert, sondern als dessen Resultat oder als die Befähigung dazu. Dabei benötigt das Bewusstsein, egal ob hierarchisch oder heterarchisch organisiert, zwei Arten des Denkens, zwischen deren Wechsel kreative Leistungen entstehen können. Das motorische Handeln ist im kreativen Akt vom Denken nicht zu trennen. Es ist notwendig, um das kreative Produkt in eine sinnlich wahrnehmbare Umwelt zu überführen. Dabei muss man unterscheiden, ob es sich bei der motorischen Handlung, um den Weg zum kreativen Produkt handelt oder bereits um das kreative Produkt selbst. Die soziale Handlung im kreativen Akt wird dann wichtig, wenn die Kreativität, egal ob als Fähigkeit oder Eigenschaft, eine soziale Wirkung entfalten soll.

2.8 KREATIVITÄT ALS PRINZIP GESELLSCHAFTLICHER ENTWICKLUNG Das Forschungsfeld der Kreativität als Prinzip gesellschaftlicher Entwicklung bezieht sich auf Theorien der Evolutionsbiologie. Eine der umfangreichsten Kreativitätstheorien aus diesem Bereich ist die von Simonton, der sich direkt auf Darwin bezieht.168 In seiner Theorie erreichen nur diejenigen Produkte eine genetische und kulturelle Relevanz, die nicht nur neu sind, sondern sich über die Zeit hinweg als nützlich und produktiv erweisen. Die genetische Variation und die natürliche Selektion der Evolutionstheorie von Darwin dienen ihm als Modell für das Zustandekommen kultureller Leistung durch Kreativität. Welsch schließt sich diesem Kreativitätsverständnis an und erhebt die Evolution nicht nur in der biologischen, _________________________________________________________________ 168 Vgl.: Simonton, Dean K.: Creativity as Blind Variation and Selective Retention. Is the Creative Process Darwinian? In: Psychological Inquiry. Vol. 10, No. 4. S. 309– 328. Taylor & Francis: Abingdon 1999. S. 310.

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sondern auch in der kosmischen Dimension zum „Ursprungsbereich aller Kreativität“169. Der Physiker Binnig definiert dazu ganz allgemein: „Kreativität ist die Fähigkeit zur Evolution“170. In diesen Definitionen besitzt nicht mehr nur der Mensch die Fähigkeit kreativ zu sein, sondern auch die Umwelt. Im Folgenden werden zwei kulturevolutionäre Theorien genauer betrachtet. In Kapitel 2.8.1 wird gezeigt, wie sich in Csikszentmihalyis Individuum-Feld-Domäne-Modell die Kultur über das Prinzip der Kreativität weiterentwickeln kann. Kapitel 2.8.2 stellt den Begriff des Kreativitätsdispositivs vor, mit dem Reckwitz die aktuelle Gesellschaft und deren Entwicklung charakterisiert. Die theoretische Verbindung dieser Studien zum Darwinismus impliziert, dass sich kreative Leistungen oder Produkte, ob genetisch oder kulturell, nur durch einen harten Konkurrenzkampf etablieren können. Nach dem Prinzip, in dem nur der Stärkste überlebt, konkurrieren kulturelle Information mit anderen, vielleicht besseren Informationen. Dieser Wettkampfcharakter wird in der Kreativitätstheorie von Binnig abgeschwächt, indem er den Begriff des Fraktalen in den Darwinismus einführt. Der Begriff wird von Binnig aus seinen mathematischen und biologischen Bedeutungszusammenhängen entlehnt. In seinem Verständnis sind fraktale Erscheinungsformen Elemente innerhalb selbstähnlicher Strukturen, die in Stufen geordnet sind. Im Rahmen von Binnigs Kreativitätstheorie bedeutet das, dass ein fraktales Individuum sich zwar in einer Gruppe bewähren muss, diese Gruppe jedoch Teil eines größeren Gefüges ist, in dem sich wiederum die gesamte Gruppe durchsetzen muss. Auch das Individuum selbst ist ein Kollektiv aus verschiedenen Subsystemen, in denen sich fraktale Elemente nach dem Prinzip von Variation und Selektion entwickeln.171 Binnig stellt in seinen Studien einen Zusammenhang, zwischen Schulsystem und Evolutionstheorie her. Während sich sämtliche Systeme der Natur nach dem Prinzip des fraktalen Darwinismus entwickeln, fehlen in der Schule die grundlegenden Mechanismen der Evolution. Variation und Selektion gibt es laut Binnig im Bereich des Lehrens und Lernens nicht, da lediglich Informationen vermittelt werden, die im Rahmen des Curriculums bereits vorselektiert worden sind. Das System erhält sich am Leben, indem es Informationen nicht neu kreiert, sondern Bekanntes reproduziert und auf die Schüler _________________________________________________________________ 169 Welsch, Wolfgang: Blickwechsel. Neue Wege der Ästhetik. Reclam: Stuttgart 2012. S.252. 170 Binnig, Gerd: Die Kreativität der Natur. Was wir von ihr lernen können. In: Evolution, Kreativität und Bildung. Hrsg.: Ebert, Wilhelm. S.21-32. Verlag Alois Erdl: Trostberg 1995. S.21. 171 Vgl.: Binnig, 1995. S.23.

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überträgt.172 Dadurch kann beim Schüler keine gedankliche Selektion angeregt werden, da der Stoff nicht kritisch beleuchtet wird und keine Auslese stattfinden muss. Die einzige Selektion, die im Schulsystem stattfindet, ist die der Schüler selbst und diese erfolgt nicht fraktal. Sie ist rein darwinistisch, da sich jeder Schüler isoliert von allen anderen bewähren muss und kein Teil einer übergeordneten Gruppe ist. „Fraktal-darwinistisch würde bedeuten, daß die Schüler sich zwar als Individuen, darüber hinaus aber auch als Mitglied einer Gruppe bewähren müssen.“173

Wenn nun die Kreativität nach Binnig die Fähigkeit zur Evolution ist und die Mechanismen der Evolution im Schulsystem fehlen, besitzt das Schulsystem im Umkehrschluss nicht die Fähigkeit kreativ zu sein. Mit dem Fehlen einer fraktalen Struktur auf der Ebene der Schüler mag Binnig recht haben, jedoch lässt sich das Fehlen von Variation und Selektion nicht auf alle Fächer, Inhalte und Mechanismen im Lehr- und Lernbetrieb der Schulen anwenden. Gerade das Fach Kunst basiert nicht nur auf der einfachen Weitergabe von bekanntem Wissen, sondern vor allem in der Förderung und Differenzierung des gestalterischen und künstlerischen Potentials der Lernenden. Im Kunstunterricht besteht die Möglichkeit – gerade im Bereich der künstlerischen Gestaltung – Kreativität als grundlegenden Motor für Variation und Selektion zu integrieren. Nach dem Verständnis von Binnig wäre die künstlerische Gestaltung Teil der genetischen und kulturellen Koevolution174, bei der die Kreativität allgemein als Anpassungsleistung an eine komplexe Umwelt verstanden wird.175 Die menschliche Evolution besteht in seiner Theorie aus genetischen und kulturellen Informationen, die eng miteinander verbunden sind. „Kreativität ist [darin] das Prinzip, das zu immer wieder neuer Information führt“176 und damit das Fortschreiten in der Evolution ermöglicht. In dieser Arbeit soll jedoch der genetische Aspekt dieses Untersuchungsfeldes außen vor gelassen werden, da der kreative Gestaltungsprozess des Menschen im Fokus steht und dieser ein kulturelles Phänomen ist. Untersucht wird in diesem Kapitel die Kreativität als soziologisches Prinzip der gesellschaftlichen bzw. kulturellen Entwicklung. Das Ziel dieses Teilbereichs der _________________________________________________________________ 172 Vgl. ebd.: S.27. 173 Ebd.: S.28. 174 Vgl.: Binnig, 1995. S.27. 175 Vgl.: Schuler; Görlich, 2007. S.24. 176 Vogt, 2010. S.98.

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Kreativitätsforschung ist es, zu erklären, wie wissenschaftliche Entdeckungen, politische Innovationen oder Kunstwerke unter gesellschaftlichen Bedingungen zustande kommen und diese wiederum prägen. Die Kreativität ist in dem Zusammenhang nicht nur wie in der kreativen Situation ein multikausales Phänomen, das von kognitiven Fähigkeiten, der Kommunikation, der Motivation oder der sozialen Gemeinschaft abhängig ist und nur unter optimalen Voraussetzungen zustande kommt, sondern der maßgebliche Faktor, der diese beeinflusst und in jeder kulturellen Handlungsweise zum Vorschein kommen kann. Luhmann beschreibt dieses Verständnis von Kreativität als „demokratisch deformierte Genialität“177, da durch die Möglichkeit, dass jede Handlung ein kreatives Potential besitzt, auch jeder Mensch die Möglichkeit hat kreativ zu sein. Auf Basis dieses Begriffsverständnisses stellt sich die Frage, was Kreativität als besondere Fähigkeit oder Eigenschaft auszeichnet. „Mit diesem Übergang ins Kleinformatige, gar nicht mehr so Seltene und Exklusive wird […] die Frage nach der Erkennbarkeit des Kreativen erst recht akut.“178 2.8.1 Individuum-Feld-Domäne-Modell von Csikszentmihalyi Die ersten Beiträge zur kulturellen Relevanz und der Interpendenz von kreativen Werken und deren gesellschaftlicher Anerkennung in einem zeitlichen Kontext kommt von Stein, der davon spricht, dass kreative Werke „von einer Gruppe zu einem bestimmten Zeitpunkt anerkannt“179 werden müssen. Csikszentmihalyi greift diese Theorie auf und formuliert ein Modell, das aus den drei Faktoren Domäne, Feld und Individuum besteht. Alle drei Faktoren bedingen sich gegenseitig und sind nicht nur dafür verantwortlich, dass kreative Leistungen anerkannt werden, sondern dass kreative Leistungen überhaupt erst entstehen können. • Die Domäne bezeichnet ein Fachgebiet oder einen speziellen kulturellen Rah-

men in dem sich spezifische, symbolische Regeln und Verfahrensweisen etabliert haben. Das Individuum ist bei der Erbringung kreativer Leistung stark von der jeweiligen Domäne abhängig. „Man kann nicht in einer Domäne kreativ sein, zu der man keine Verbindung hat.“180 Regelkenntnisse, Basiswissen und _________________________________________________________________ 177 Luhmann, 1987 (2). S.33. 178 Ebd.: S.33. 179 Stein, Morris: Kreativität und Kultur. In: Kreativitätsforschung. Hrsg.: Ulmann, Gisela. S.65-75. Kiepenheuer & Witsch: Köln 1973. S.65. 180 Csikszentmihalyi, 1997. S.48.

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Methodenkompetenz der jeweiligen Disziplin gelten bei Csikszentmihalyi als Grundvoraussetzungen für jegliche kreative Leistung. Dabei ist jede Domäne ein Teil unserer Umwelt, an der alle Individuen durch den Austausch von Informationen partizipieren können.181 • Die von Csikszentmihalyi als Feld benannte Gesellschaft sind „alle Personen, die den Zugang zu einer Domäne überwachen.“182 In der Domäne der Bildenden Kunst wären das Kuratoren, Galeristen, Sammler, Kritiker, Stiftungen oder Kunstlehrer. Sie alle sind in dieser Domäne die Experten, welche die Leistung daraufhin beurteilen und auswählen, welche Werke in den Kanon der Domäne aufgenommen werden. Das Feld ist jedoch nicht nur ein Filter für kreative Leistungen, sondern auch eine Quelle dafür, in der das Individuum Probleme erkennen und Ideen finden kann.183 • Als Individuum bezeichnet Csikszentmihalyi die Person, welche die kreative Leistung erbringt. Sein Konzept des Individuums beruht auf dem sozialpsychologischen Erklärungsmodell der kreativen Person, das bereits in Kapitel 2.3.6 genauer beleuchtet worden ist. Alle drei Komponenten bedingen sich in einem systemartigen Zyklus gegenseitig (Abb. 2). Das Individuum speist in die Domäne neue Informationen in Form von kreativen Leistungen ein und gleichzeitig extrahiert es bestehendes Wissen daraus. Das Feld bietet dem Individuum sowohl Anreize, wie beispielsweise Statusoder Vermögensgewinn, als auch Kontrollmechanismen, welche die kreativen Leistungen bewerten. Das Individuum hingegen liefert dem Feld diese kreativen Leistungen in Form von sinnlich wahrnehmbaren Informationen. Feld und Domäne sind ebenfalls durch eine Interpendenz verbunden. Beide sind für die Zertifizierung von kreativen Leistungen verantwortlich. Während die Domäne über die Zugehörigkeit zu einer Leistung und damit über ihren Nutzen oder ihren Wert entscheidet, bestimmt das Feld den Grad der Neuartigkeit.

_________________________________________________________________ 181 Vgl. ebd.: S.60. 182 Ebd.: S.47. 183 Vgl. ebd.: S.135.

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Abb. 2: Domäne-Feld-Individuum-Modell basierend auf Csikszentmihalyi und Vogt (leicht modifiziert). Csikszentmihalyi weist jeder der drei Instanzen eine spezifische Handlung zu: Variation, Selektion und Transmission. Jede dieser Handlungen bezieht sich auf die unmittelbare kreative Leistung. Das Individuum erzeugt über die Variation eine neue Information für Feld und Domäne. Das Feld selektiert diese und die Domäne integriert sie durch eine Transmission.184 In dem kulturellen Diskurs werden diese Informationen dann als Meme aufgenommen und für die Weiterentwicklung und den Fortbestand der Kultur gesichert. Anders als Gene, die körperliche Informationen, durch Fortpflanzung weitergeben, sind Meme Bewusstseinsinhalte, die durch Kommunikation weitergegeben werden. Bei Csikszentmihalyi entstehen diese Meme durch kreative Leistungen in der Interaktion zwischen Individuum, Feld und Domäne. Kreativität ist in diesem Sinne die Fähigkeit zur Generierung _________________________________________________________________ 184 Vgl.: Csikszentmihalyi, Mihaly: Implications of a Systems Perspective for the Study of Creativity. In: Handbook of Creativity. Hrsg.: Sternberg, Robert. S.313-337. Cambridge University Press: Cambridge 1999. S.315.

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eines Mems, „wenn das menschliche Nervensystem auf eine Erfahrung reagiert“185 und dabei eine neuartige und nützliche Information erzeugt. Da ein spezifisches Mem für ein Feld nicht immer neu sein kann, verändert sich die Rolle, die das Mem innerhalb der Kultur oder Domäne einnimmt. Csikszentmihalyi beschreibt die Entwicklung eines Mems wie folgt: „[Es] bricht Tabus, verletzt die gewohnten Denk- und Wahrnehmungsmuster, wird zum Skandalon, sucht neue Formen und, wenn diese alle schon eingenommen sind, die Formlosigkeit. Ist der Durchbruch erzielt, schlägt die Wirkung um: Aus Ärgernis wird ein Stil, aus dem Stil eine Dekoration, ein historisches Zitat, ein Teil der bestehenden Ordnung [bzw. Kultur].“186

Auch wenn Vogt kritisiert, dass in Csikszentmihalyis Theorie „lediglich die zentralen Faktoren benannt und [diese] in einen groben Zusammenhang gebracht“187 werden, ist sein Modell der erste integrative Erklärungsansatz, der Kreativität systemtheoretisch definiert. Tatsache ist, dass Csikszentmihalyis Modell zwar Kreativität in einen soziologischen und domänenspezifischen Kontext setzt, das Individuum mit seinen Handlungs- und Denkweisen jedoch vernachlässigt. Dennoch liefert seine Untersuchung vielfältige Forschungsimpulse, nicht nur für die Analyse der Kreativität als Prinzip gesellschaftlicher Entwicklung, sondern auch für die Kreativität als Wert innerhalb einer gestalterischen Handlung. 2.8.2 Kreativitätsdispositiv von Reckwitz Reckwitz verfolgt im Rahmen dieses Untersuchungsfeldes eine andere These. In seiner Theorie ist die Kreativität nicht nur ein grundsätzliches Prinzip der gesellschaftlichen Entwicklung, sondern eine mittlerweile „allgegenwärtige ökonomische Anforderung“188. Er betrachtet Kreativität aus einer soziologischen Perspektive, bei der sie innerhalb eines sozialen Kriterienkatalogs in den letzten Jahrzehnten zum prägenden Prinzip des gesellschaftlichen Fortschritts, der dem Imperativ permanenter Innovation unterliegt, geworden ist. 189 Seine Leitthese besteht in der _________________________________________________________________ 185 Csikszentmihalyi, Mihaly: Dem Sinn des Lebens eine Zukunft geben. Klett-Cotta: Stuttgart 1995. S.164. 186 Csikszentmihalyi, 1997. S.42. 187 Vogt, 2010. S.122. 188 Reckwitz, 2012. S.9. 189 Vgl. ebd.: S.10 f.

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Ausprägung eines ebenso heterogenen wie wirkungsmächtigen Kreativitätsdispositivs. „[Das Kreativitätsdispositiv] betrifft verschiedenste gesellschaftliche Sektoren und ihre Praktiken – von der Erziehung bis zum Konsum, vom Sport bis zum Beruf und zur Sexualität. Sie alle werden gegenwärtig Imperativen der Kreativität entsprechend umgeformt.“ 190

Die Kreativität ist in seiner Theorie als natürliches Potential schon immer vorhanden, aber erst jetzt wird vermehrt „systematisch dazu angehalten, sie zu entwickeln, und zugleich wird sehnsüchtig gewünscht, kreativ zu sein.“ 191 Dispositive sind keine universellen, evolutionären Prinzipien, sondern zeitlich auf eine spezifische Gesellschaft beschränkte Phänomene, die durch einen Missstand, ein Defizit oder eine Problemlage entstanden sind. Das Defizit, das mit dem Kreativitätsdispositiv zusammenhängt, sieht Reckwitz in der systematischen Verknappung von Affekten in der heutigen Gesellschaft. In seiner Theorie ist das ästhetisch Neue maßgeblich für den Affekt- und Sinnhaushalt des Menschen verantwortlich. Das ästhetisch Neue erzeugt Erregung und Faszination und dient als Quelle, aus der Individuen persönliche Motivation und Befriedigung schöpfen können. Durch den beschleunigten Austausch und die quantitative Zunahme ästhetischer Reize innerhalb der aktuellen Gesellschaft nehmen die als neu bewerteten Reize quantitativ ab. Daraus entsteht innerhalb der Gesellschaft die Wahrnehmung eines Mangels eben dieser affektfördernden, neuartigen Reize. Der Affektmangel wird dadurch an die Zunahme ästhetischer Reize gekoppelt, da nur durch das Defizitbewusstsein des Kreativitätsdispositivs die Produktion und Rezeption von Neuem als ästhetisches Ereignis in allen erdenklichen Bereichen gefördert wird. Für Reckwitz ist die Ästhetik dabei nicht die Gesamtheit der sinnlichen Wahrnehmung, sondern diejenigen eigendynamischen Prozesse der sinnlichen Wahrnehmung, die sich vom zweckrationalen Handeln abgelöst haben. „Ihr Spezifikum ist ihre Sinnlichkeit um der Sinnlichkeit willen, ihre Wahrnehmung um der Wahrnehmung willen – genau dies soll mit der Eigendynamik sinnlicher Wahrnehmung gemeint sein.“192

_________________________________________________________________ 190 Ebd.: S.15. 191 Ebd.: S.17. 192 Reckwitz, 2012. S.23.

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Luhmann nennt das einen „zweckentfremdeten Gebrauch von Wahrnehmung“ 193. Mit diesem Ästhetik-Verständnis haben auch die daran geknüpften Affekte eine spezifische Ausrichtung. Die Affizierung eines Subjekts erfolgt der Affizierung selbst wegen. Als Beispiele nennt Reckwitz Handlungen und Betätigungsfelder, die zunächst zweckgebunden erscheinen, jedoch auch, um ihres Affizierungspotentials wegen betrieben werden, wie freundschaftliche Interaktionen, Pflanzenanbau oder sogar kriegerische Aktivitäten. „In allen Fällen sind die Wahrnehmungen und Affekte möglicherweise nicht bloß dem rationalen Handeln untergeordnet, sie wirken auch eigendynamisch und selbstreferenziell. Letztlich wird die gesamte Kulturgeschichte dann als eine Geschichte von Formaten des Ästhetischen rekonstruierbar, die weit über das, was die Moderne als zweckfreie Kunst versteht, hinausgehen und in verschiedenste – naturbearbeitende, kommunikative, politische, religiös-spirituelle etc. – Praktiken integriert sind.“194

Für die Entwicklung dieses Kreativitätsdispositivs ist in der Theorie von Reckwitz das soziale Feld der Kunst verantwortlich. „Nicht die technische Innovation des Erfinders, sondern die ästhetische Kreation des Künstlers liefert […] das soziale Modell für Kreativität.“195 Dabei ist die Kreativität als ästhetisches Prinzip des künstlerischen Feldes in die dominanten Segmente der Kultur, wie Arbeits-, Konsum- und Beziehungsformen vorgedrungen. Als Vorreiter für diese Entwicklung nennt Reckwitz die in den 1920er Jahren auftauchenden creative industries. Dabei handelt es sich um Branchen, wie Mode, Werbung oder Design, die nicht Dinge oder Güter, sondern Symbole und sinnliche Eindrücke erschaffen. Sie gewährleisten, dass das Publikum nach den Vorgaben des Kreativitätsdispositivs von ästhetisch Neuem überrascht wird. Während diese Branchen zunächst den anderen industriellen Zweigen untergeordnet gewesen sind, haben sie sich zu kulturellen Leitformaten der Ökonomie entwickelt und zu den dominierenden Branchen des ästhetischen Kapitalismus aufgeschwungen.196 In einer Gesellschaft, die dem Diktum permanent ästhetisch Neues zu schaffen unterworfen ist, gibt es nach Reckwitz vier aneinander gekoppelte Instanzen, die auf der einen Seite von der Kreativität abhängig und auf der anderen Seite für die _________________________________________________________________ 193 Luhmann, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft. Suhrkamp: Frankfurt am Main 1995 (1). S.41. 194 Reckwitz, 2012. S.29. 195 Ebd.: S.17. 196 Vgl. ebd.: S.164 f.

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Entstehung dieser maßgeblich verantwortlich sind: das kreative Subjekt als Kreateur, ein ästhetisches Publikum, ästhetische Objekte oder Leistungen und eine institutionalisierte Regulierung der Aufmerksamkeit über Medien wie Film, Werbung und Internet. Die Instanzen entsprechen den von Csikszentmihalyi genannten Faktoren Individuum, Feld und Domäne, die für die Generierung kreativer Leistung verantwortlich sind. • Die kreative Person als Erzeuger des ästhetisch Neuen formiert sich zunächst

im Kunstfeld als Figur des Künstlers. Sie tritt hier durch die Subjektivierung des Künstlers als Originalgenie auf, dem besondere Kompetenzen zukommen. Diese Exklusivfigur des Künstlers wird durch die Normalisierung kreativer Prozesse verdrängt. Daraus resultiert eine Abkehr vom klassisch-modernen Künstlermythos und die Kreativität wird für Individuen in anderen Domänen verfügbar gemacht.197 • Die zweite Instanz ist das Publikum oder das Feld als eine Ansammlung von Rezipienten, die am ästhetisch Neuen interessiert und dafür auch sensibilisiert sind. Auf der einen Seite will es durch das Unbekannte, Irritierende und Verstörende überrascht werden, auf der anderen Seite ist es für die Zertifizierung kreativer Akte verantwortlich.198 • Der Kreateur und das Publikum sind über das kreative Produkt miteinander verbunden. Csikszentmihalyi spricht in diesem Fall von der kreativen Leistung, auf welche die anderen drei Instanzen ausgerichtet sind. Im Kunstfeld wird sie als klassisches Kunstwerk oder Kunstereignis produziert und rezipiert.199 Durch diverse Grenzüberschreitungen werden Objekte und Kompetenzen anderer sozialer Praktiken künstlerisch angeeignet, „zum Beispiel Techniken und Gegenstände der Massenmedien, Methoden des Wissenschaftlers oder Gegenstände der Natur.“200 Aus diesem Grund entstehen Grauzonen zwischen dem Kunstfeld und anderen Domänen, wie der Mode, der Musik oder dem Design. Es entwickeln sich auch Vernetzungen zwischen den Domänen, die dem Kreativitätspositiv den Übergang in andere Bereiche des sozialen Lebens ermöglicht. • Diese drei Instanzen sind in einen institutionellen Rahmen eingebettet, dessen Aufgabe die Aufmerksamkeitsregulierung ist. Marktförmige, mediale oder akademisch-staatliche Institutionen arrangieren die Aufmerksamkeit des Publikums _________________________________________________________________ 197 Vgl.: Reckwitz, 2012. S.57. 198 Vgl. ebd.: S.125. 199 Vgl. ebd.: S.58. 200 Ebd.: S.123.

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auf kreative Objekte und ihre Erzeuger. 201 Bei Csikszentmihalyi entspricht das der Domäne mit ihren spezifischen Regeln, Mechanismen und Handlungsweisen. Alle Faktoren sind im Kreativitätsdispositiv an einen kreativen Imperativ gekoppelt, bei dem es gilt „kreativ zu werden und es auch auf Dauer durch fortgesetztes Bemühen zu bleiben.“202 Diese vier Komponenten initiieren durch ihr Zusammenspiel ein endloses Streben nach ästhetisch Neuem, das „zunächst nur in der Kunst [existiert], bevor es sich mit dem Kreativitätsdispositiv in verschiedenste gesellschaftliche Felder hinein ausbreitet.“203 Auch Welsch beschreibt die Kunst als einen beispielhaften Bereich von Kreativität mit Vorbildcharakter. 204 Das bedeutet, dass sich das Verständnis der Kreativität weg von einer exklusiven, nur wenigen Menschen und Objekten vorbehaltenen Fähigkeit hin zu einer für jeden verfügbaren jedoch knappen Ressource wandelt. Durch diese Begriffsveränderung ist es der Kreativität als Phänomen möglich, sich auf andere Domänen und Felder auszubreiten. Die Theorien von Csikszentmihalyi und Reckwitz etablieren zwar beide die Kreativität als Prinzip gesellschaftlicher Entwicklung, jedoch sind die Ziele der Untersuchungen und die Herangehensweisen äußerst unterschiedlich. Csikszentmihalyi hat den Anspruch ein universelles, systemisches Modell zu formulieren, das die Interaktionen der Instanzen, die an der Entstehung kreativer Leistung beteiligt sind, offenlegt. Dabei bezieht er sich auf einen Kreativitätsbegriff, den er selbst als die große Kreativität benennt und mit dem er Handlungen, Ideen oder Sachverhalte bezeichnet, welche eine Domäne oder die Kultur in einem wichtigen Gebiet verändern oder sie in eine neue verwandeln. Reckwitz bezeichnet dieses von Csikszentmihalyi formulierte Kreativitätsverständnis als exklusiv und erarbeitet in seiner Studie eine Theorie der Begriffsverschiebung von Kreativität. Dabei geht es ihm nicht wie Csikszentmihalyi um die grundlegenden gesellschaftlichen Mechanismen, die an der Entstehung beteiligt sind, sondern um eine historisch soziologische Analyse der Entwicklung eines gesamtgesellschaftlichen Kreativitätsdispositivs, bei dem Kreativität nicht mehr nur in großen kulturellen Leistungen, sondern in jeder alltäglichen Handlung auftreten kann. Durch diese von Reckwitz beschriebene Bedeutungsverschiebung, die der Begriff Kreativität erfahren hat, zeigt sich zudem, dass die Kreativität unmittelbar _________________________________________________________________ 201 Vgl. ebd.: S.58. 202 Reckwitz, 2012. S.346. 203 Ebd.: S.55. 204 Vgl.: Welsch, 2012. S.252.

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mit einem Wert verknüpft ist. Während Csikszentmihalyi bei der Bestimmung des Wertes einer kreativen Leistung von drei unterschiedlichen Arten von Kreativität ausgeht (kleiner, individueller und großer Kreativität), beschreibt Reckwitz die kontinuierliche Generalisierung und die damit verbundene stufenlose, qualitative Abwertung kreativer Handlungen und Leistungen in einem sozialhistorischen Kontext. In Bezug auf die Entstehung der Wertigkeit einer kreativen Leistung sind sich beide Autoren einig. Die Kreativität ist mit einem qualitativen Geltungsanspruch verbunden, „der nur vor dem Hintergrund sozialer Normierung und kollektiv akzeptierter Wertstandards verständlich ist.“205 In den Untersuchungen, bei denen die Kreativität nicht nur als Fähigkeit, sondern implizit als Prinzip gesellschaftlicher Entwicklung, beschrieben wird, ist diese nicht nur von den Faktoren Feld, Domäne, Individuum und Leistung abhängig, sondern ebenso von einer evaluativen Größe, einem Wert, der sich wiederum an Merkmalen wie Neuartigkeit und Nützlichkeit orientiert. Wie in der Einleitung bereits erwähnt, spielt der Wert der Kreativität in dieser Untersuchung eine zentrale Rolle. Reckwitz und Csikszentmihalyi implizieren zwar, dass die Kreativität einen Wert hat, liefern jedoch keine Antwort, wie dieser in einem konkreten Fall zustande kommt, ob er objektiven Kriterien folgt oder ob er überhaupt bestimmbar ist. Sie beschreiben Mechanismen und Instanzen, die an der Entstehung der Kreativität und der Beurteilung ihrer Qualität beteiligt sind. Der Fokus dieser Arbeit liegt jedoch nicht auf den gesamtgesellschaftlichen Mechanismen, sondern auf der Definition von Kreativität mithilfe der systemtheoretischen Ausdifferenzierung des künstlerischen Gestaltungsprozesses. Aus diesem Grund werden in Kapitel 4.2 die verschiedenen Handlungen im künstlerischen Gestaltungsprozess systemtheoretisch beschrieben und in Kapitel 6.4 ausgeführt, wie innerhalb einer solchen Handlung der Kreativität ein Wert beigemessen wird. Zusammenfassung Kapitel 2.8 Im Forschungsfeld der Kreativität als Prinzip gesellschaftlicher Evolution wird ihr Begriffsverständnis aus der Evolutionstheorie abgeleitet. Damit bezeichnet die Kreativität entweder die Fähigkeit zur Evolution oder das grundlegende Prinzip, wie aus Variation und Selektion entwicklungsrelevante Informationen entstehen. Wenn man dieses Prinzip auf die kulturelle Entwicklung einer Gesellschaft anwendet, wird die Kreativität zur gesamtgesellschaftlichen Fähigkeit der kulturellen Evolution und gleichzeitig auch zu deren ökonomischer Anforderung. An der kreativen Leistung oder dem Produkt sind maßgeblich _________________________________________________________________ 205

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drei Instanzen beteiligt, die als Individuum, Feld und Domäne bezeichnet werden. Sie entscheiden über den Wert einer kreativen Leistung, der an den Merkmalen Neuartigkeit und Nützlichkeit gemessen wird.

2.9 FÜNF REFERENZBEDINGUNGEN DES KREATIVITÄTSBEGRIFFS Ein genauerer Blick auf die verschiedenen Untersuchungsfelder der interdisziplinären Kreativitätsforschung hat gezeigt, dass ein Großteil der Theorien nicht die Kreativität selbst, sondern in erster Linie damit verbundene Phänomene wie Prozesse, Handlungen oder Situationen analysieren. Eine Annäherung an den Begriff Kreativität findet meist implizit oder über Umwege statt und kommt zu sehr unterschiedlichen Definitionen. Im psychometrischen Erklärungsansatz der kreativen Person ist Kreativität eine Fähigkeit von Subjekten, die sich aus einem Eigenschaftsgefüge zusammensetzt. Im Untersuchungsfeld des kreativen Produktes ist die Kreativität eine an bestimmte Merkmale geknüpfte Eigenschaft von Ereignissen oder Objekten. In den Evolutionstheorien hingegen avanciert die Kreativität zum grundsätzlichen Prinzip der genetischen und kulturellen Entwicklung. Eine gültige Definition der Kreativität auf Basis aller Theorien ist dementsprechend nicht möglich. Zudem hat die Bedeutungsveränderung des Begriffs nicht nur unterschiedliche, sondern auch komplementäre Erklärungsansätze hervorgebracht. Ziel dieser Arbeit ist es den Begriff der Kreativität im Hinblick auf den künstlerischen Gestaltungsprozesses zu definieren. Dabei soll keine Neudefinition des Kreativitätsbegriffs stattfinden. Die angestrebte Definition basiert sowohl auf einer Analyse der vielfältigen Theorien und Untersuchungsfelder als auch auf den komplexen Erscheinungsformen der Kreativität. Was sich gezeigt hat, ist, dass die Kreativität selbst sowie ihre Entstehung ein multikausales Phänomen ist, bei dem die äußeren Einflüsse dieselbe Relevanz besitzen wie die inneren Prozesse der kreativen Person. Aus diesem Grund formuliert Stein: „Es ist deshalb notwendig, wenn man von Kreativität spricht, zwischen internem und externem Bezugsrahmen zu unterscheiden. Wir nehmen in bezug auf die Charakteristika des kreativen Erlebens oder des kreativen Prozesses und der Persönlichkeit des kreativen Individuums einen bipolaren Standpunkt an, daß eine Interaktion zwischen dem Individuum und

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dem Problem, an dem es arbeitet, stattfindet; oder, umfassender ausgedrückt, der Umwelt, in der es lebt.“206

Was Stein zusammengefasst als Umwelt bezeichnet, wird von anderen Autoren weiter ausdifferenziert. In Anlehnung an Csikszentmihalyis Individuum-Feld-Domäne-Modell werden auf Basis der bereits erörterten Untersuchungsfelder zwingende Referenzbedingungen für das Zustandekommen von Kreativität formuliert. Diese Bedingungen sind notwendig, damit die Merkmale der Kreativität bestimmt werden können. Mit jeweils unterschiedlicher Gewichtung in den Forschungsfeldern kristallisieren sich fünf Referenzen heraus: Subjektreferenz, Sozialreferenz, Produktreferenz, Fachbereichsreferenz und Zeitreferenz. • Subjektreferenz: Die Theorien der bisher genannten Untersuchungsfelder gehen

grundsätzlich davon aus, dass die Kreativität ein Phänomen ist, das auf ein Subjekt zurückzuführen ist. Egal, ob in den Erklärungsansätzen der kreativen Person, in den Theorien zur kreativen Situation oder dem kreativen Prozess, die Kreativität geht immer von einem Autor oder mehreren Autoren aus. Auch wenn die Kreativität als Eigenschaft kreativer Produkte oder als Prinzip gesellschaftlicher Entwicklung verstanden wird, braucht es mindestens ein Individuum, das ein kreatives Produkt aktiv hervorbringt. Die Rolle des Subjekts ist dabei sowohl aktiv als auch passiv belegt. Zum einen muss das Subjekt psychisch, motorisch und sozial aktiv werden und zum anderen ist es den Wechselwirkungen zwischen Sozialreferenz, Produktreferenz, Fachbereichsreferenz und Zeitreferenz unterworfen. Die Subjektreferenz bezeichnet die Abhängigkeit der Kreativität von den Fähigkeiten und Eigenschaften sowie dem aktiven Agieren einer Person oder mehrerer Personen. • Sozialreferenz: Das Individuum ist Teil eines sozialen Gefüges, das es nicht nur aktiv beeinflusst, sondern durch das es auch passiv gelenkt wird. Sobald das Ziel eines kreativen Aktes ein kreatives Produkt ist, ist die Kommunikation als unverzichtbare Art und Weise des kreativen Agierens zwingend notwendig, um das kreative Produkt oder die kreative Leistung einer Gruppe oder der Gesellschaft zu präsentieren. Die kreative Person muss nicht nur psychisch und physisch, sondern auch sozial handeln, damit die Kreativität, egal ob als Fähigkeit, Leistung oder Eigenschaft, eine soziale Wirkung entfalten kann. „Insofern findet Kreativität nicht [nur] im Kopf des Individuums statt, sondern in der Interaktion zwischen dem individuellen Denken und einem soziokulturellen Kontext.“ 207 _________________________________________________________________ 206 Stein, 1973. S.66. 207 Csikszentmihalyi, 1997. S.41.

Forschungsfelder des Kreativitätsbegriffs | 77

Hinzu kommt, dass das soziale Umfeld diejenige Instanz ist, die das kreative Produkt für eine bestimmte Domäne oder in einer bestimmten Situation verifiziert. Die Sozialreferenz ist notwendig, da ohne sie eine Rezeption und Bewertung des kreativen Produktes und dessen Merkmale nicht stattfinden könnte. • Produktreferenz: Das kreative Produkt basiert auf einem Medium, mit dem sich die kreative Person ausdrücken kann. Dabei reicht es eben nicht aus, lediglich einen Gedanken oder eine Idee zu fassen. Grundsätzlich ist der kreative Akt darauf ausgelegt, ein kreatives Produkt hervorzubringen, das von anderen Menschen als solches erkannt werden kann. Dieses kreative Produkt fungiert als sinnlich wahrnehmbare Vermittlerinstanz, wie einem sichtbaren Bild, einem geschriebenen Wort oder einem hörbaren Laut. Das kreative Potential eines Produktes kann sich erst in der Auseinandersetzung mit der Vielfalt der Umweltreize entfalten. Dabei muss das kreative Produkt bestimmte Bedingungen erfüllen, da es sich ansonsten nicht von herkömmlichen Ereignissen, Handlungen oder Produkten unterscheiden ließe. Es muss für andere sowohl sinnlich wahrnehmbar als auch neuartig sein und im Rahmen des spezifischen Anwendungsbereichs als nützlich oder sinnvoll gelten. Die Produktreferenz ist die Abhängigkeit der Kreativität von einem sinnlich wahrnehmbaren Produkt, an dem sich Merkmale wie Neuartigkeit, Originalität, Nützlichkeit, Sinnhaftigkeit usw. ablesen lassen. • Fachbereichsreferenz: Die Kreativität hängt immer vom jeweiligen Fachbereich oder der Domäne ab. Sie ist ein spezieller kultureller Rahmen in dem sich spezifische, symbolische Regeln und Verfahrensweisen etabliert haben. Das Subjekt ist bei der Erbringung kreativer Leistung stark von der jeweiligen Domäne abhängig, da es nicht nur die Verfahrensweisen und Regeln kennen muss, sondern auch die darin verhandelten Inhalte. Nur mit einem entsprechenden Wissen über das Fachgebiet kann ein Subjekt entscheiden, ob ein kreatives Produkt darin neuartig oder nützlich ist. In einem Fachbereich erreichen nur diejenigen kreativen Produkte eine kulturelle Relevanz, die nicht nur neu sind, sondern sich über die Zeit hinweg als nützlich und produktiv erweisen. Hinzu kommt, dass in einem Fachbereich nicht nur das Subjekt über die Kreativität bestimmt, sondern auch der domänenspezifische institutionelle Rahmen, der den Zugang zur Domäne überwacht. Die Fachbereichsreferenz entscheidet über die Relevanz des kreativen Produkts in einer Domäne. • Zeitreferenz: Jedes kreative Produkt ist auf einen speziellen Zeitpunkt und eine spezifische Situation bezogen. Das kreative Produkt wird vom Subjekt selbst und vom sozialen Umfeld im Hinblick auf Vergangenheit und Zukunft bewertet. Neu, originell, bedeutend und nützlich ist ein kreatives Produkt nur zu einer bestimmten Zeit, für eine bestimmte Gruppe innerhalb einer kreativen Situation.

78 | Kreativität im künstlerischen Gestaltungsprozess

Das Produkt kann für das soziale Umfeld bezüglich eines Fachbereichs nicht immer neu sein. Die kreative Situation ist dabei ein zeitlich einmaliges Beziehungsgefüge aus äußeren physischen Einflüssen, inneren biologischen Mechanismen, psychischen Operationen und sozialen Interaktionen. Die Zeit bestimmt, welche domänenspezifischen Fähigkeiten zum Tragen kommen und ob kreativitätsrelevante Prozesse überhaupt möglich sind. Die Zeitreferenz kennzeichnet die Abhängigkeit der Kreativität von einem bestimmten Zeitpunkt. Diese fünf Aspekte werden für den weiteren Verlauf der Untersuchung als verbindliche Referenzbedingungen der Kreativität definiert. Sie bestimmen nicht nur, wie Kreativität zustande kommt, sondern werden im weiteren Verlauf dieser Arbeit maßgeblich dazu beitragen, den Bedeutungskern der Kreativität zu ermitteln. In Kapitel 3 wird im Hinblick auf diese Referenzen nicht nur geprüft, ob der künstlerische Gestaltungsprozess eine hinreichende Grundlage darstellt, um darauf eine gültige Definition von Kreativität zu formulieren, sondern ob es auch gemeinsame Merkmale gibt. Im Anschluss werden in Kapitel 4 und 5 die genannten Referenzbedingungen systemtheoretisch aufeinander bezogen, indem der künstlerische Gestaltungsprozess in seine beteiligten Subsysteme ausdifferenziert wird. Aus einer systemtheoretischen Perspektive wird in Kapitel 6 die Kreativität als das Element oder der Sachverhalt im Gestaltungsprozess definiert, in dem sich alle notwendigen und hinreichenden Referenzen und Merkmale überschneiden. Zusammenfassung Kapitel 2.9 Die Untersuchung der interdisziplinären, kreativitätstheoretischen Forschungsliteratur und den damit verbundenen Forschungsfeldern des Kreativitätsbegriffs hat ergeben, dass ein allgemein gültiges Verständnis von Kreativität nicht existiert. Bei dem Bild von Kreativität, das sich aus den verschiedenartigen Theorien ergibt, handelt es sich um ein multikausales Phänomen, das an unterschiedlichste Referenzen gebunden ist. In dieser Studie werden die fünf Referenzbedingungen bestimmt, um auf deren Grundlage eine gültige Definition von Kreativität zu formulieren. Die Subjektreferenz bezeichnet die Abhängigkeit der Kreativität von den Fähigkeiten und Eigenschaften sowie dem aktiven Agieren einer oder mehrerer Personen. Die Produktreferenz ist die Abhängigkeit der Kreativität von einem sinnlich wahrnehmbaren Produkt, an dem sich Merkmale wie Neuartigkeit, Originalität, Nützlichkeit, Sinnhaftigkeit usw. ablesen lassen. Die Sozialreferenz ist notwendig, da ohne sie eine Rezeption und Bewertung des kreativen Produktes und dessen Merkmale nicht stattfinden könnte. Die Fachbereichsreferenz entscheidet über Relevanz des kreativen

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Produkts in einer Domäne und die Zeitreferenz kennzeichnet die Abhängigkeit der Kreativität von einem bestimmten Zeitpunkt.

3

Künstlerischer Gestaltungsprozess als Anlass für Kreativität

Die Definition des Kreativitätsbegriffs erfolgt in dieser Arbeit am Fall des künstlerischen Gestaltungsprozesses. Das hat zwei Gründe. Zum einen wird der künstlerische Gestaltungsprozess dazu benutzt, um Prozesse und Sachverhalte rund um den Kreativitätsbegriff zu veranschaulichen. Zum anderen wird aus Sicht der Kunstpädagogik ein Kreativitätsbegriff definiert, der sämtlichen Anforderungen des künstlerischen Gestaltungsprozesses gerecht wird. In diesem Kapitel wird untersucht, ob sich der künstlerische Gestaltungsprozess dazu eignet, eine gültige Definition der Kreativität zu formulieren. In der vorliegenden Theoriebildung muss er dieselben Referenzbedingungen aufweisen wie die Kreativität. Um das zu gewährleisten, werden Analogien, Parallelen und Differenzen zwischen den Referenzbedingungen der Kreativität und des künstlerischen Gestaltungsprozesses aufgezeigt. Aus den Referenzbedingungen resultieren Merkmale, die sowohl für die Kreativität als auch für den künstlerischen Gestaltungsprozess notwendig sind. In Kapitel 3.1 erfolgt auf Basis der kunsttheoretischen und kunstpädagogischen Forschungsliteratur eine erste Begriffsdefinition des künstlerischen Gestaltungsprozesses. Das Kapitel 3.2 zeigt, dass es mit dem Untersuchungsfeld des kreativen Prozesses bereits eine Verbindung zwischen den Theorien zum künstlerischen Gestaltungsprozess und zur Kreativität gibt. Dabei werden die kreativitätstheoretischen Phasenmodelle benutzt, um die Abläufe und Mechanismen im künstlerischen Gestaltungsprozess zu beschreiben. In Kapitel 3.3 wird untersucht, ob der künstlerische Gestaltungsprozess sämtliche in Kapitel 2.9 beschriebenen Referenzbedingungen der Kreativität erfüllen kann, um als Grundlage für eine Definition der Kreativität zu fungieren. Das Kapitel 3.4 beschreibt die Begriffe Neuartigkeit und Nützlichkeit als notwendige Merkmale sowohl für den künstlerischen Gestaltungsprozess als auch für die Kreativität.

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3.1 DEFINITION KÜNSTLERISCHER GESTALTUNG Ähnlich wie der Kreativitätsbegriff hat sich das Verständnis vom künstlerischen Gestaltungsprozess in den letzten Jahrzehnten gewandelt. Ab der Postmoderne setzt neben dem beschleunigten Prozess der Entgrenzung des Kunstbegriffs auch eine damit verbundene Diversifizierung der Gestaltungspraktiken ein. Reckwitz beschreibt in seiner soziologischen Studie der Kreativität eine unmittelbare Parallele in der Veränderung der beiden Begriffe.1 Dabei definiert er vier zentrale Mechanismen, die das Verständnis des künstlerischen Gestaltungsprozesses nachhaltig verändert haben. • Die Prozeduralisierung im Bereich der Kunst bewirkt, dass der Künstler nach

aktuellem Verständnis nicht mehr der Schöpfer einzigartiger Dinge ist, sondern zu einem Zufallsmanager degradiert, der nur mehr die Unberechenbarkeit im Umgang mit Dingen und Ideen fördert.2 Einen Auslöser für diese Entwicklung sieht Reckwitz in Namuths Kurzfilm über Jackson Pollock3. Darin wird gezeigt wie Pollock seine Drip-Paintings anfertigt. Zum ersten Mal wird das Medium Film dazu benutzt, einen Künstler im Akt der Gestaltung zu präsentieren. Gleichzeitig wird durch die szenische Darstellung des Malakts eben dieser banalisiert. Das Tropfen, Klecksen und Ziehen von Farbspuren auf die am Boden liegende Leinwand wirkt wie ein rein körperlicher Automatismus, der auf erlernbaren Kompetenzen und Prozeduren basiert und dadurch mit einer alltäglich zu verrichtenden Arbeit vergleichbar wird. Der in Namuths Video gezeigte Gestaltungsprozess ist kein intendiertes Handeln der präzisen Gestaltgebung, sondern vielmehr ein unbewusster Akt, bei dem der Künstler nur noch ausführendes Subjekt zu sein scheint.4 • Durch die Materialisierung innerhalb der Kunst ist das gestaltete Produkt nicht mehr einzigartiges Original, sondern besteht aus der Neustrukturierung und dem Arrangement von bereits vorhandenen Dingen. Das künstlerische Produkt besticht lediglich durch die Qualität der vorangegangenen Selektion und Modifikation.5 Ein Beispiel dafür ist die Appropriation Art, bei der es nicht mehr darum _________________________________________________________________ 1

Vgl.: Reckwitz, 2013. S.470.

2

Vgl. ebd.: S.470.

3

„Jackson Pollock ‘51“. R.: Namuth, Hans. T.: Namuth, Hans; Pollock, Jackson. Gedreht 1951. East Hampton 1951. Fassung: https://www.youtube.com/watch?v=6cgBvpjwOGo (Stand 06.06.2016).

4

Vgl.: Reckwitz, 2012. S.90 ff.

5

Vgl.: Reckwitz, 2013. S.470 f.

Künstlerischer Gestaltungsprozess als Anlass für Kreativität | 83

geht, ein grundsätzlich neues Kunstwerk zu schaffen, sondern in Form von Enviroments oder Readymades die existierende Objekt- oder Bedeutungswelt zu erweitern, indem man sich bereits vorhandener Dinge bedient und sie in einen neuen Kontext setzt. Auch die Multiples oder die Minimal Art greifen auf bereits bekannte Objekte zurück. Durch die serielle Produktion einer immer wieder identischen Form, die nicht vom Künstler entworfen worden ist, besteht die gestalterische Leistung nur mehr in der Selektion, welche Gegenstände durch industrielle Verfahren vervielfältigt werden. Auch Warhols Siebdrucke zählen zu der Materialisierung, da auch hier bekannte Motive durch die Reproduktion als Zitate auf einen neuen Kontext bezogen werden.6 • Die Konzeptualisierung bezeichnet die Entwicklung des künstlerischen Produkts, weg von einer sinnlich wahrnehmbaren Äußerung, hin zu einer bestimmten Idee, einem Konzept oder einem Gedanken. Dieses Prinzip scheint der Materialisierung entgegenzulaufen. Jedoch sind sie nur zwei unterschiedliche Phänomene ein und derselben Entwicklung. Es geht nicht mehr um ein Produkt, sondern um das Finden einer kommunikativen Relation, die bei den Rezipienten einen entsprechenden Effekt erzielt. Dadurch wird die tatsächliche Produktivität der kreativen Person auf ein Minimum reduziert.7 An die Stelle eines Kunstwerks als wahrnehmbares Objekt tritt die Konzeptkunst. Die Ausführung des Kunstwerks ist darin von untergeordneter Bedeutung und muss nicht durch den Künstler selbst erfolgen. Im Vordergrund stehen Konzept und Idee, die für die künstlerische Arbeit als gleichwertig erachtet werden. Die Ziele dieser Bewegung sind die Entmaterialisierung des Kunstwerks und die Einbeziehung des Betrachters, der selbst zum Gestalter werden muss, um sich anhand von Skizzen, Schriftstücken, Anleitungstexten oder Künstlerbüchern seine eigene Vision des Kunstwerks zu schaffen. • Die Performativitäts-Orientierung in der Kunst löst den Akt der Gestaltung vom künstlerischen Objekt oder Kunstwerk vollständig ab und implementiert ihn im gestaltenden Subjekt, das selbst als Kunstprodukt, als öffentliche Figur, wahrgenommen wird. Der Künstler avanciert zum Teilelement eines massenmedialen Systems, in dem sein Auftreten und seine Performanz wichtiger sind als die künstlerische Leistung selbst.8 Als Beispiel für diese Entwicklung kann wiederum Namuths Video herangezogen werden. Neben der Prozeduralisierung der Kunst löst das Video selbst das Drip-Painting als fertiges, materielles Kunstwerk ab. An dessen Stelle tritt die Aufführung des Künstlers vor einem Publikum. Es _________________________________________________________________ 6

Vgl.: Reckwitz, 2012. S.111.

7

Vgl.: Reckwitz, 2013. S.471.

8

Vgl. ebd.: S.471 f.

84 | Kreativität im künstlerischen Gestaltungsprozess

gibt genügend Künstler, die vor Pollock die Selbstinszenierung durch Selbstdarstellung zum zentralen Thema ihrer Kunst gemacht haben. Aber erst durch das Video lässt sich die Performativität der künstlerischen Praxis zugleich als Performativität des künstlerischen Selbst lesen. Der Künstler wird zu seinem eigenen Kunstwerk.9 Diese performativen, konzeptuellen oder prozeduralen Tendenzen im Kunstfeld weisen zwar über die klassischen Kunstgattungen und ihre Gestaltungsprozesse hinaus, aber dennoch handelt es sich bei den Kunstwerken der Konzeptkunst, der Appropriation Art oder der Performancekunst um sinnlich wahrnehmbare Produkte oder Ereignisse, die für ein Publikum zugänglich sind und somit auch gestaltet werden mussten. Der gestalterische Akt in der Bildenden Kunst äußert sich durch die von Reckwitz beschriebenen Entwicklungen auf so vielfältige Weise, dass es schwer fällt, eine übergeordnete Definition dafür zu finden. In der kunstpädagogischen Forschung ist der künstlerische Gestaltungsprozess eine Handlungsabfolge, bei der durch die Arbeit des Gestaltenden etwas erschaffen, verändert oder entwickelt wird und sie dadurch eine bestimmte Form oder ein bestimmtes Erscheinungsbild verliehen bekommt oder annimmt. 10 Aus den kunstwissenschaftlichen und kunstpädagogischen Theorien der Forschungsliteratur zum künstlerischen Gestaltungsprozess ergeben sich vier Merkmale, die in sämtlichen Definitionen zu finden sind. • Der künstlerische Gestaltungsprozess geht immer von einem gestaltenden Sub-

jekt aus. Die Kunstpädagogik lenkt bei der Untersuchung des Gestaltungsprozesses den Fokus in erster Linie auf das Zusammenspiel von psychischen und physischen Prozessen dieses Subjekts. Diese Prozesse äußert das Subjekt in einem künstlerischen Werk. Das heißt, dass ein geistig und körperlich agierender Gestalter einen bewussten Eingriff in seine Umwelt vornimmt, um diese in eine bestimmte Richtung zu verändern.11 Der künstlerische Gestaltungsprozess resultiert aus einer aktiven Durchdringung von physischer Produktion und psychischer Reflexion.12 _________________________________________________________________ 9

Vgl.: Reckwitz, 2012. S.93 f.

10 Vgl.: Regel, 1986. S.21. 11 Vgl.: Brodbeck, 1995. S.19. 12 Vgl.: Leber, Hermann: Über künstlerisches Sehen und Hervorbringen. In: Fachdidaktik zwischen Fachdisziplin und Erziehungswissenschaft. Hrsg.: Zenner, M. S.45-70. Universitätsverlag Dr. N. Brockmeyer: Bochum 1990. S.51.

Künstlerischer Gestaltungsprozess als Anlass für Kreativität | 85

• Der künstlerische Gestaltungsprozess ist grundsätzlich produktorientiert. Dabei

wird vor allem der sinnlich wahrnehmbare Charakter der Gestaltung hervorgehoben, der in den unmittelbar visuell, akustisch oder haptisch wahrnehmbaren Phänomenen nachvollziehbar wird. Der künstlerische Gestaltungsprozess ist eine „Realisationsweise“13 von sinnlich wahrnehmbaren Sachverhalten, Ereignissen und Objekten. • Der künstlerische Gestaltungsprozess ist ein Vorgang der Strukturierung und Ordnung. Dabei werden sämtliche dem Gestalter zur Verfügung stehenden künstlerischen Mittel in Hinblick auf das spätere Kunstwerk strukturiert. 14 Im Gegensatz zum umfassenden Produzieren, das auch chaotisch ablaufen kann, wird im Gestaltungsprozess eine Art der Ordnung geschaffen.15 • Der künstlerische Gestaltungsprozess wird als kreativ charakterisiert. Kreativität fungiert in den meisten Definitionen als Hinweis darauf, dass der Prozess entweder in Bezug auf die eingesetzten Mittel oder in Bezug auf das spätere Ergebnis als neuartig gewertet werden kann. Vor allem der letzte Punkt ist für diese Untersuchung interessant. Ob die Kreativität der gestaltenden Person als Fähigkeit oder dem Prozess als Merkmal zuzuschreiben ist, kann auf Basis der Forschungsliteratur nicht eindeutig beantwortet werden. Jedoch beschreiben sowohl Meyers, Brodbeck, Kirchner, Kirschenmann, Zülch als auch Otto den künstlerischen Gestaltungsprozess mit dem Adjektiv kreativ, ohne die Rolle der Kreativität im künstlerischen Gestaltungsprozess zu erörtern.16 Diese Gegebenheit kann man auf zwei Gründe zurückführen.

_________________________________________________________________ 13 Meyers, 1973. S.208. 14 Vgl. ebd.: S.208. 15 Vgl.: Brodbeck, 1995. S.19. Vgl.: Eiglsperger, Birgit: Differenziertes Raumwahrnehmen im plastischen Gestaltungsprozess. Eine Untersuchung zur Anwendung des ‚Cognitive-Apprenticeship-Ansatzes‘ beim Modellieren eines Selbstporträts. Herbert Utz Verlag: München 2000. S.36. 16 Vgl.: Kirchner, Constanze; Otto, Gunter: Praxis und Konzept des Unterrichts. In: Kunst + Unterricht. Heft 223/224. S.4-11. Friedrich Verlag: Seelze 1998. S.5 f. Vgl.: Kirschenmann, Johannes: Zwischen den Bildern pendeln! In: Kunst + Unterricht. Heft 268. S.37-38. Hrsg.: Kirschenmann, Johannes. Friedrich Verlag: Seelze 2002. S.37. Vgl.: Leber, 1990. S.46.

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1. Zum einen wird aus historischer Sicht das traditionelle Verständnis der Kreativität aus der Kunst und dem künstlerischen Gestaltungsprozess abgeleitet. Das Bündnis von Kreativität und künstlerischer Gestaltung erwächst aus einem Schöpfer- und Geniekult, der unmittelbar mit der Sonderposition des Künstlers innerhalb der Gesellschaft zusammenhängt. Kreativität wird vor allem den großen Künstlern und Denkern zugesprochen. Leonardo Da Vinci gilt hierfür als Musterfall, da er nicht einfach nur Neues geschaffen, sondern durch seine Ideen, Forschungsergebnisse und Kunstwerke unterschiedlichste Domänen, wie die Kunst oder die Naturwissenschaften, maßgeblich geprägt hat. In seiner Arbeit verschmelzen naturwissenschaftliche Studien und künstlerisches Gestalten, mit dem Zweck neue Erkenntnisse zu gewinnen. Die Verbindung zwischen der künstlerischen Gestaltung und dem kreativen bzw. schöpferischen Prozess scheint bei Da Vinci wie eine Analogie.17 Wenn man wie er künstlerisch gestaltet, ist man zugleich kreativ. Diese traditionelle Verbindung von künstlerischem Tun und Kreativität wird aber immer häufiger in Frage gestellt. Der Kunstpädagoge Sowa führt in seiner Theorie diese Gleichsetzung auf ein paar wenige Künstlerpersönlichkeiten und Epochen zurück, die exemplarisch dafür scheinen. Eine grundsätzliche Verbindung von Gestaltung und Kreativität lässt sich für ihn daraus jedoch nicht ableiten. 18 Deshalb stellt er die Frage, ob man nicht gerade in der Kunstpädagogik einem „romantischen Verständnis“19 von kreativer Gestaltung nachhängt. _________________________________________________________________ Vgl.: Zülch, Martin: Die Welt der Bilder – ein konstitutiver Teil der Allgemeinbildung. In: BDK-Materialien. Band 7. Hannover 2001. S.43. 17 Eiglsperger belegt die Verbindung zwischen naturwissenschaftlichem Studium und künstlerischer Gestaltung in da Vincis Arbeit am Beispiel seiner Wasserstudie W. 12660. In den kleinen Zeichnungen erreicht da Vinci durch sein intensives Beobachten und das tiefe Eindringen in das Wesen des Gegenstandes eine nahezu naturwissenschaftlich und objektiv anmutende Darstellung der Bewegungen an der Wasseroberfläche. Die große Zeichnung weist jedoch über die reine Beobachtung hinaus. Die „zarte Darstellung von Wellen, Wirbeln und Blasen zeigt ein transparent wirkendes, bewegtes Wassergefüge“ und gewährt einen Blick auf die Kräfte, die unter der Oberfläche stattfinden. Damit stellt Da Vinci nicht mehr nur, wie in den kleinen Zeichnungen, die Erkenntnisse über eine rein sinnlich wahrnehmbare Umwelt dar, sondern ergänzt das Sichtbare durch seine Imagination. In seinem Gestaltungsprozess vereint er sinnlich Wahrnehmbares mit der subjektiven Imagination und verleiht ihm eine sichtbare Gestalt. „Er bringt etwas hervor.“ Vgl.: Eiglsperger, 2000. S.26 ff. 18 Vgl.: Sowa, 2009. S.82. 19 Ebd.: S.82.

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2. Ein zweiter Grund für die enge Verbindung der Kreativität mit dem künstlerischen Gestaltungsprozess in der kunstpädagogischen Forschung besteht darin, dass in der Kunstpädagogik Theorien der interdisziplinären Kreativitätsforschung zur Erklärung des Gestaltungsprozesses in der Bildenden Kunst herangezogen werden. Die Psyche wird in den interdisziplinären Kreativitätstheorien als die Quelle für Kreativität beschrieben. Das bildnerisch künstlerische Gestalten wird analog zum kreativen Prozess als Brücke verstanden, welche das Innen (Vorstellung, Fantasie und Traumwelt) mit dem Außen (Umwelt) verbindet.20 Durch dieses Verständnis rückt in der kunstpädagogischen Forschung vor allem der prozesshafte Übergang, der sich in der künstlerischen Gestaltung äußert, ins Zentrum der Untersuchung von Kreativität. Wie in Kapitel 2.5 beschrieben, hat man im Forschungsfeld des kreativen Prozesses diesen Vorgang in einzelne Phasen aufgesplittet. Das gängigste Modell unterscheidet zwischen fünf Phasen21: Vorbereitung, Inkubation, Illumination, Realisierung und Verifikation.22 Diese Phasenmodelle werden in der kunstpädagogischen Forschung herangezogen, um den bildnerisch künstlerischen Gestaltungsprozess zu analysieren. Eiglsperger beispielsweise analysiert damit den plastischen Gestaltungsprozess beim Modellieren eines Selbstporträts23 und Corvacho del Toro benutzt die Phasen als Grundlagentheorie für ihre empirische Befragung von Künstlern zu deren malerischem Gestaltungsprozess.24 Somit wird der künstlerische Gestaltungsprozess mit dem kreativen Prozess gleichgesetzt. Neben den Phasenmodellen werden für die kunstpädagogische Forschung auch Erkenntnisse aus der psychologischen Kreativitätsforschung herangezogen. Dazu gehören vor allem die Erkenntnisse zu den Fähigkeiten kreativer Personen. Kirchner und Peez benutzen beispielsweise die Studien von Torrance, in denen er sieben Merkmale kreativer Personen nennt. Diese Merkmale werden von Kirchner und Peez benutzt, um fachspezifische Kompetenzen zu formulieren, die Individuen zum künstlerischen Gestalten befähigen.25 Die historisch begründete Zusammenführung von künstlerischer Gestaltung und Kreativität sowie die in der kunstpädagogischen Forschung erfolgte Theorie_________________________________________________________________ 20 Vgl.: Kirchner, Constanze: Spiel und Kreativität. Parallelen, Analogien und Differenzen. In: Kunst + Unterricht. Kreativität; Heft 331/332; S. 44-46. Hrsg.: Johannes Kirschenmann. Erhard Friedrich Verlag GmbH: Seelze 2009. S.44 f. 21 Vgl.: Kapitel 3.2. 22 Vgl.: Holm-Hadulla, 2010. S.54 ff. 23 Vgl.: Eiglsperger, 2000. S.37 ff. 24 Vgl.: Corvacho del Toro, 2007. S.15 ff. 25 Vgl.: Kirchner; Peez, 2009. S.11.

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verknüpfung von künstlerischen und kreativen Prozessen belegen eine enge begriffliche Verbindung. Im nächsten Kapitel wird am Beispiel des kreativitätstheoretischen Phasenmodells von Csikszentmihalyi gezeigt, ob eine Gleichsetzung von künstlerischem Prozess und kreativem Prozess ohne Einschränkungen möglich ist.

3.2 KÜNSTLERISCHER GESTALTUNGSPROZESS ALS KREATIVER PROZESS Vornehmlich wird in der kunstpädagogischen Forschung die Kreativitätstheorie benutzt, um den künstlerischen Gestaltungsprozess zu erklären. Günter Regel beispielsweise bezieht sich in seiner Theorie des künstlerischen Gestaltungsprozesses auf die Phasenmodelle von Wallas und Guilford.26 Die vorliegende Arbeit geht den umgekehrten Weg und versucht die Kreativität am Fall des künstlerischen Gestaltungsprozesses zu definieren. Das erfolgt über die systemtheoretische Ausdifferenzierung des Gestaltungsprozesses. Um zu verstehen, was die Systemtheorie gegenüber traditionellen Analysewerkzeugen wie dem Phasenmodell leisten kann, muss erst geklärt werden, was diese nicht leisten können. Besonders die Phasenmodelle der Kreativitätsforschung sind in der Vergangenheit oft herangezogen worden, um den künstlerischen Gestaltungsprozess in seine Abläufe und Mechanismen zu gliedern. Das wohl bekannteste ist das FünfPhasen-Modell von Csikszentmihalyi, in dem sämtliche Referenzen der Kreativität, die in Kapitel 2.9 benannt worden sind, berücksichtigt werden. Da das Modell die Denk- und Handlungsprozesse eines Individuums beim Lösen einer spezifischen Problemsituation beschreibt, besitzt es automatisch sowohl eine Subjektreferenz als auch eine Zeitreferenz. In der Verifikationsphase zeigt sich die Abhängigkeit des Subjekts vom sozialen Umfeld, wodurch eine Sozialreferenz entsteht. Während sich die Produktreferenz erst gegen Ende des Gestaltungsprozesses in der Realisierungsphase zeigt, beginnt die Fachbereichsreferenz bereits in der Vorbereitungsphase und begleitet den gesamten Gestaltungsprozess durch alle Phasen hindurch. In den Beschreibungen der einzelnen Phasen wird gezeigt, welche Rolle die einzelnen Referenzen im Gestaltungsprozess übernehmen und ob sie helfen, den Gestaltungsprozess besser erklären zu können. Weiterhin wird in den einzelnen Phasen geprüft, ob das Phasenmodell zu einem kreativitätstheoretischen Erkenntnisgewinn beitragen kann. _________________________________________________________________ 26 Vgl.: Regel, 1986. S.173 ff.

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3.2.1 Vorbereitungsphase Die Vorbereitungsphase wird bei Hemmer-Junk als ein „Konzentrat aus Problemdefinition, -analyse und Informationsbeschaffung“27 beschrieben. Bevor ein Problem definiert werden kann, muss jedoch eine intensive Auseinandersetzung mit der Domäne, in der das Problem auftritt, stattgefunden haben. Aus diesem Grund setzt Regel in seiner Theorie des künstlerischen Gestaltungsprozesses vor die Vorbereitungsphase eine prä-produktive Phase, in der bewusst oder unbewusst Erfahrungen und Erlebnisse innerhalb einer Domäne gewonnen werden, die für die Lösung eines spezifischen Problems Bedeutung erhalten, auch wenn sich ihr Nutzen erst abzeichnet, wenn das Problem erkannt worden ist. Der tatsächliche künstlerische Gestaltungsprozess beginnt in Regels Theorie erst nach der prä-produktiven Phase, wenn der Künstler bereits ein Anliegen entwickelt hat, auch wenn er es noch nicht gleich zu formulieren vermag.28 „Alles das, was in der Vorphase [oder prä-produktiven Phase] zur Entstehung eines Werkes hinführt, gewinnt […] eine neue Qualität, wenn der Künstler das Vorliegen einer bildnerischen Aufgabe erfährt und erlebt, sich davon betroffen fühlt, sich aus einer inneren Notwendigkeit heraus zur Auseinandersetzung mit ihr gedrängt sieht und sich endlich entschließt, ihre Lösung zu versuchen. Wir wollen annehmen, daß dies der Beginn des eigentlichen Schaffensprozesses ist.“29

Regel gliedert die Vorbereitungsphase darüber hinaus in eine Problem- und eine Suchphase. Auch bei Schuler und Görlich findet man diese Ausdifferenzierung. Sie unterscheiden zwischen der Problementdeckung und der Informationssuche.30 In der Phase der Problementdeckung erfolgt zunächst eine bewusste oder unbewusste Beschäftigung mit unterschiedlichen, problematischen Fragen, die bei dem Individuum Interesse und Neugier wecken. 31 Ein Künstler beispielsweise erfährt und erlebt das Vorhandensein einer bildnerischen Aufgabe oder eines gestalterischen Problems als Anspannung oder Herausforderung und entschließt sich, es in Angriff zu nehmen.32 Eine solche Aufgabe oder ein derartiges Problem existieren _________________________________________________________________ 27 Hemmer-Junk, 1995. S.61. 28 Vgl.: Regel, 1986. S.173. 29 Regel, 1986. S.178. 30 Vgl.: Schuler; Görlich, 2007. S.29 ff. 31 Vgl.: Csikszentmihalyi, 1997. S.141. 32 Vgl.: Regel 1986. S.173.

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nicht einfach, sie müssen vom Künstler in einer Art Problembewusstsein geschaffen werden. Ulmann verweist darauf, dass ein Problem einen Menschen braucht, der es nicht nur erkennt, sondern auch formuliert.33 Durch eine Interaktion mit der Umwelt entwickeln sich im Bewusstsein des Subjekts die Wahrnehmung einer Problemstellung und der damit verknüpfte Wunsch, das Problem zu lösen.34 Csikszentmihalyi beschreibt diese Problemstellung als Stimulus oder wahrgenommene Spannung. Dieser Stimulus resultiert aus den Erfahrungen und dem Wissen eines Subjekts, das durch öffentlichen Druck oder externen Anregungen Ungereimtheiten oder eine fehlende Übereinstimmung bezüglich der Erklärung eines Phänomens bemerkt. Das Subjekt wird vom Stimulus zu einer Reaktion gezwungen.35 Schuler und Görlich merken an, dass „ein Problem zu formulieren […] oft entscheidender [ist], als seine Lösung zu finden.“36 Für sie hängt die Phase der Problementdeckung maßgeblich mit dem Wert der zu erbringenden kreativen Leistung zusammen. Je größer das Problem ist und je schwieriger seine Lösung fällt, desto größer ist auch der Wert der kreativen Leistung. Die Problementdeckung wächst hinüber in den zweiten Teil der Vorbereitungsphase, die Informationssuche. „Im Gedächtnis gespeicherte Kenntnisse und Erkenntnisse, Vorstellungen und Erlebnisse werden erinnert, neue Eindrücke und Kenntnisse werden gesucht und beigezogen. Es beginnt eine intensive, auf die Problemsituation bezogene Informationsaufnahme und -verarbeitung.“37

Regel beschreibt hier, dass es in dieser Phase nicht nur um das Sammeln von Informationen, sondern gleichzeitig auch um das Prüfen der Informationen bezüglich der Zielvorstellung geht. Ein Künstler beispielsweise muss für das, was ihm zum Problem geworden ist, einen adäquaten bildnerischen Ausdruck finden. Das heißt, dass Informationen nicht nur gesichtet und beschafft werden, sondern auch eine Bewertung dieser vorgenommen wird. Csikszentmihalyi, Holm-Hadulla, Ulmann sowie Schuler und Görlich sind sich darin einig, dass die Informationssuche an eine Profession in der jeweiligen Domäne geknüpft sein muss. Erst eine hohe

_________________________________________________________________ 33 Vgl.: Ulmann, 1973. S.21. 34 Vgl.: Holm-Hadulla, 2010. S.54. 35 Vgl.: Csikszentmihalyi, 1997. S.141. 36 Schuler; Görlich, 2007. S.29. 37 Regel, 1986. S.184.

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Expertise im betreffenden Fachgebiet erlaubt eine zielgerichtete Analyse und führt zu brauchbaren Ergebnissen.38 Meyers zeichnet in seiner Theorie der künstlerischen Gestaltung diese bereits erläuterte Differenzierung der Vorbereitungsphase nach, indem er drei Arten von geistiger Leistung eines Künstlers in diesem Ablauf unterscheidet. Als erstes steht die Intentionalität, die künstlerische Grundmotivation, die vom Niveau und der Intensität variieren kann und nicht zwingend vom Bewusstsein abhängig ist. 39 Darauf folgt die Imagination, die künstlerische Einbildungskraft. Sie ist mit der Informationssuche vergleichbar. Meyers beschreibt sie als Aktivierung, Klärung und Bereicherung der inneren Bildwelt.40 Der letzte Schritt ist Konzeption oder Initiation. Sie steht für den ersten Vorentwurf einer Werkabsicht. Bei einem Vergleich der unterschiedlichen Definitionen der Vorbereitungsphase fällt auf, dass sich die meisten Autoren zwar auf die beiden Kernaspekte der Problementdeckung und Informationssuche konzentrieren, eine genaue Eingrenzung dieser Phase jedoch schwierig ist. Während bei Schuler und Görlich beispielsweise die Vorbereitungsphase erst mit der Entdeckung eines Problems beginnt,41 sieht sie Csikszentmihalyi bereits in der bewussten oder unbewussten Auseinandersetzung mit individuell empfundenen und ungeklärten Fragen innerhalb einer Domäne.42 Ähnlich verhält es sich mit dem Ende der Phase. Während Csikszentmihalyi, Schuler und Görlich bereits die Informationssuche als Ende der Vorbereitungsphase definieren, folgt bei Hemmer-Junk und Holm-Hadulla noch eine Formulierung der Zielvorstellung durch freie Assoziationen und das Erkennen von Zusammenhängen. Wie schwierig es ist die Vorbereitungsphase einzugrenzen, zeigt sich, wenn man das Phasenmodell auf einen spezifischen Fall anwendet. Corvacho del Toro benutzt in ihrer kunsttheoretischen Untersuchung das VierPhasen-Modell von Guilford und Wallas, um den malerischen Gestaltungsprozess in der Bildenden Kunst zu analysieren. Dabei wertet sie Interviews mit sieben Künstlern aus und gliedert die Aussagen zu deren individuellen Arbeitsprozessen _________________________________________________________________ 38 Vgl.: Csikszentmihalyi, 1997. S.141. Vgl.: Holm-Hadulla, 2010. S.54. Vgl.: Ulmann, 1973. S.21. Vgl.: Schuler; Görlich, 2007. S.31. 39 Vgl.: Meyers, 1973. S.211. 40 Die innere Bildwelt ist bei Meyers ein mentales Konstrukt, das durch kognitive Leistungen erst konzipiert werden muss. Vgl.: Meyers, 1973. S.212. 41 Vgl.: Schuler; Görlich, 2007. S.31. 42 Vgl.: Csikszentmihalyi, 1997. S.141.

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in die unterschiedlichen Phasen. Bei der Frage nach der Vorbereitung nannten die Künstler unterschiedlichste Aspekte, die für ihre gestalterische Tätigkeit wichtig sind. Darunter sind allgemeine Faktoren zu finden, wie die Kunstausbildung oder die Gesamtheit der im Laufe des Lebens wahrgenommenen Dinge, aber auch Einflüsse, die einen speziellen Gestaltungsprozess betreffen. Die Künstler nennen Aspekte, wie eine situative, sinnliche Anregung, eine konkrete Vorstellung, formale Entscheidungen, eine erhöhte Sensibilität oder ausreichend Zeit. 43 Mit diesen Ergebnissen kommt Corvacho del Toro zu dem Schluss, dass das gesamte vorherige Leben einer Person zur Vorbereitungsphase eines spezifischen Malakts zählen kann.44 Die Differenzierung des kreativen Prozesses in einzelne Phasen wird vorgenommen, um die Abläufe darin besser beschreiben und verstehen zu können. Corvacho del Toros Untersuchungen demonstrieren, dass eine konkrete Anwendung des Phasenmodells innerhalb eines domänenspezifischen Ablaufs, wie dem der künstlerischen Gestaltung, schwierig ist, da die Zuordnung von Handlungen zu den einzelnen Phasen vielfältige Ungenauigkeiten offenbart. Wenn das gesamte vorherige Leben als Vorbereitung gezählt werden kann, muss man nicht nur fragen, wann der kreative Prozess beginnt, sondern ob die Phasendifferenzierung der Kreativitätsforschung tatsächlich dazu beiträgt, diesen besser beschreiben und verstehen zu können. Ob diese Unschärfe lediglich auf die Vorbereitungsphase zutrifft oder auch in den anderen Phasen vorliegt, wird ein Blick auf deren Definitionen und Anwendungsmöglichkeiten klären. 3.2.2 Inkubationsphase Die Inkubationsphase nimmt innerhalb des Phasenmodells eine Sonderstellung ein. Zum einen ist sie der spekulativste und rätselhafteste Abschnitt und wird von Hemmer-Junk gar als „faszinierendes Kuriosum“45 bezeichnet, zum anderen gilt sie für viele als der kreativste Teil des Prozesses.46 Der Begriff leitet sich vom lateinischen incubatio ab und bedeutet auf etwas liegen oder brüten.47 In der Biologie bezeichnet er eine entwicklungsfördernde Erwärmung und in der Medizin _________________________________________________________________ 43 Vgl.: Corvacho del Toro, 2007. S.120 ff. 44 Vgl. ebd.: S.20. 45 Hemmer-Junk, 1995. S.62. 46 Vgl.: Csikszentmihalyi, 1997. S.146. 47 Vgl.: Holm-Hadulla, 2010. S.54.

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die Zeitspanne zwischen der Ansteckung mit einer Krankheit und dem ersten Auftreten krankheitsbedingter Symptome.48 Im kreativen Prozess ist das die Phase, in der, wie Csikszentmihalyi es nennt, die „Ideen unterhalb der Schwelle der bewußten Wahrnehmung in heftige Bewegung“49 geraten. Nachdem in der Vorbereitungsphase eine Aufgabe zur Lösung eines Problems festgelegt worden ist, wird diese in der Inkubation einer eigenständigen und unbewussten Bearbeitung überlassen, um ungewöhnliche Verknüpfungen zwischen der Wahrnehmung und dem impliziten und expliziten Wissen zu erzeugen. Dieser intensive Austausch zwischen inneren Mechanismen und äußeren Einflüssen erfordert eine Öffnung der Aufmerksamkeit. Das Bewusstsein soll in dieser Phase ohne Bewertung und Beurteilung neue Strukturen ausbilden, damit sich bekannte Konzepte mit neuen Aspekten flexibel kombinieren.50 Im Bereich der künstlerischen Gestaltung beschreibt Corvacho del Toro das als Verbindung von Gedächtnisinhalten mit Ausdrucksmöglichkeiten.51 Sämtliche Autoren betonen den un- oder vorbewussten Charakter dieser Phase. Inhalte des bewussten Denkens werden vom Unterbewusstsein aufgegriffen, um dort neu strukturiert zu werden und anschließend wieder im Bewusstsein aufzutauchen.52 Matussek merkt an, dass durch den Fokus auf das Unbewusste die Natur der Inkubation schwer durchschaubar ist. „Es ist die einzige Phase des Kreationsprozesses, die dem bewussten Zugriff weitgehend entzogen ist.“53 Er vergleicht die Inkubation mit dem bei Goethe beschriebenen Phänomen der Eingebung oder Erleuchtung. Goethe nennt es die „Aufnahme eines göttlichen Einflusses“ oder das „Werkzeug einer höheren Weltregierung“54. Nach diesen Aussagen wäre die Inkubation eine Phase, bei welcher der tatsächliche Akt nicht vom Individuum selbst kommt, sondern ein Moment ist, bei dem es von außen etwas empfängt oder erhält. Matussek interpretiert diesen äußeren Einfluss als etwas Fremdes, „das nicht identisch mit dem bewußten Ich“ 55 ist und somit auch dem Unterbewusstsein entsprungen sein kann. Diese rational _________________________________________________________________ 48 Vgl.: Hemmer-Junk, 1995. S.62. 49 Csikszentmihalyi, 1997. S.146. 50 Vgl.: Schuler; Görlich, 2007. S.31. 51 Vgl.: Corvacho del Toro, 2007. S.21. 52 Vgl.: Csikszentmihalyi, 1997. S.149. 53 Matussek, 1974. S.264. 54 Das Zitat entstammt einem Brief vom 11. März 1828 von Johann Wolfgang Goethe an Johann Peter Eckermann. Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Hrsg.: Bergmann Fritz. Insel-Verlag: Wiesbaden 1995. S.631. 55 Matussek, 1974. S.307.

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nicht nachvollziehbare Komponente in dieser Phase trägt auch in der aktuellen Kreativitätsforschung zu einer Mystifizierung des kreativen Prozesses bei. Matussek, der in seinen Untersuchungen den kreativen Prozess mit dem künstlerischen Gestaltungsprozess gleichsetzt, beschreibt die Rolle der Inkubation wie folgt: „Dieser Vorgang, der, vom Standpunkt des Bewußtseins gesehen, vollkommen unerklärlich ist und der dem Künstler selbst vollkommen rätselhaft bleibt, gibt uns die Gewähr dafür, daß wir nicht fehlgehen, wenn wir annehmen, daß die Quelle, aus der das künstlerische Schaffen hervorsprudelt, im unbewußten Seelenleben des Menschen entspringt.“ 56

Eine ähnliche Beschreibung des künstlerischen Gestaltungsprozesses ist auch bei Holm-Hadulla zu finden: „Der Künstler ist in der kreativen Phase offener für unbewusste Eingebungen als schöpferische Menschen in anderen Arbeitsfeldern. Er befreit sich von der Klarheit des Alltagsverstandes und überlässt sich oft ohne Kontrolle unbewussten Prozessen.“57

Was während dieser unbewussten Phase im Gestaltungsprozess passiert, bleibt unbekannt. Es entzieht sich dadurch einer beschreibenden Analyse. Auch Corvacho del Toros empirische Untersuchung des Malprozesses liefert keine Ergebnisse, was genau in der Inkubationsphase passiert. Die Antworten der von ihr befragten Künstler lassen sich dabei in drei verschiedene Kategorien einordnen: allgemein kognitive, konkret physische und affektive Aspekte. • Die kognitiven Aspekte werden, wie bereits erwähnt, als eine unbewusste Be-

schäftigung mit der gestalterischen Umsetzung beschrieben, welche durch eine besondere Art der Wahrnehmung herbeigeführt, jedoch nicht genauer klassifiziert wird. • Der physische Aspekt bezieht sich auf das physische Kunstwerk, bei dem die Künstler durch intensives Ausprobieren, stetiges Verändern, Überlagern vieler Schichten oder dem Zerstören bisheriger Erfolge zu einer befriedigenden Lösung kommen. Die von den Künstlern beschriebenen Handlungen überschneiden sich stark mit den Handlungen, die in der Verifikations- oder der Realisierungsphase stattfinden. Eine exakte Phasenzuordnung der einzelnen Handlungen fällt auf Basis der Künstleraussagen schwer. _________________________________________________________________ 56 Matussek, 1974. S.265. 57 Holm-Hadulla, 2010. S.20.

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• Die affektive Komponente wird in dieser Phase als Schaffenskrise oder Frustra-

tion beschrieben. Sie resultiert aus der Diskrepanz zwischen dem eigentlichen Werk und der Vorstellung. Die hier benannte Frustration der Künstler muss aus einer vorangegangenen Verifikation erfolgen, da ohne Bewertung des bereits getätigten Gestaltungsprozesses eine derartige emotionale Reaktion nicht erklärbar wäre. Auch in diesem Fall ist eine exakte Phasenzuordnung nicht möglich. Csikszentmihalyi und Holm-Hadulla verweisen zwar darauf, dass die Abfolge der fünf Phasen nicht linear, sondern rekursiv verläuft und sich die Phasen in einem Rückkopplungskreislauf stetig durchdringen, überschneiden und wiederholen, 58 jedoch ist unklar, welche Handlungen den einzelnen Phasen tatsächlich zuzuordnen sind. Das liegt vor allem an der Inkubationsphase, die wie eine Black-Box beschrieben wird. Die Tatsache, dass es innerhalb eines Erklärungsmodells eine Phase gibt, deren Wesen eine Erklärung unmöglich macht, berechtigt die Frage, ob man mit dem Phasenmodell überhaupt kreative Prozesse gewinnbringend beschreiben kann. Diese Unklarheit über die Abläufe innerhalb der Inkubationsphase sowie die Schwierigkeit konkrete Handlungen einer empirischen Untersuchung dieser Phase zuzuordnen, erschweren die Analyse des künstlerischen Gestaltungsprozesses. 3.2.3 Illuminationsphase Während die Vorbereitung und die Inkubation nicht klar voneinander und von anderen Phasen trennbar sind, ist die Illumination scheinbar ein konkret terminierbares Ereignis. Sie markiert den Durchbruch auf der Suche nach der Lösung eines Problems. Auch Regel spricht in seiner Theorie des bildnerischen Gestaltungsprozesses von einem „‚prägnanten Punkt‘, von dem aus sich vieles für die weitere Arbeit ergibt – sei es ein Bildeinfall oder eine bildhafte Grundidee, die sich auf die Formstruktur, auf den Formrhythmus, die Farbigkeit oder eine andere Komponente der Form beziehen kann“59. Für ihn erreicht der Suchprozess ab diesem Punkt eine neue Qualität, bei der das Suchen in ein Finden umschlägt und eine Gestaltungsabsicht als bildnerisch realisierbare Lösung empfunden wird.60 Das in der Inkubationsphase angesammelte Material verwandelt sich zu einer deutlichen _________________________________________________________________ 58 Vgl.: Csikszentmihalyi, 1997. S.121. Vgl.: Holm-Hadulla, 2010. S.57. 59 Regel, 1986. S.173. 60 Vgl. ebd.: S.199.

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und sinnvollen Erkenntnis, die maßgeblich die Lösung des Problems beinhaltet.61 Wenn sämtliche strukturellen Aspekte eines Problems erkannt und bewusst oder unterbewusst umstrukturiert worden sind, beginnt die Illumination, in der die Probleme, Lücken und Störungen an einem Sachverhalt oder einer Struktur geschlossen oder behoben werden. Dieser Vorgang geht meist mit einem Evidenzerlebnis einher. Das bedeutet, dass das Subjekt bewusst wahrnimmt, dass die passende und richtige Lösung gefunden worden ist.62 Auch wenn die Illumination im klaren Bewusstsein stattfindet und somit eindeutig von den anderen Phasen abgegrenzt werden kann, können „in der Praxis […] mehrere Einsichten mit Phasen der Inkubation, Bewertung und Ausarbeitung durchsetzt sein.“63 Bei Schuler und Görlich wird die Inkubation sogar in die Illumination integriert. In der Phase, die bei ihnen Ideenfindung heißt, ist die Inkubation als vorausgehender Prozess untrennbar mit der Illumination verbunden.64 Die Idee oder Lösung zu einem Problem wird jedoch auch bei ihnen als spontane oder plötzliche Einsicht dargestellt. Diese Spontanität legt einen Vergleich mit der Inspirationsmythologie nahe.65 Man denke an Isaac Newton, der laut Legende die bedeutende Einsicht zur Gravitationstheorie erhalten hat, als ihm ein Apfel auf den Kopf gefallen ist. Während die Illumination bei Csikszentmihalyi noch als Aha- oder Heureka-Erlebnis mit einer spontanen Eingebung verglichen wird,66 distanzieren sich aktuelle Untersuchungen von dem spontanen Charakter dieser Phase. Holm-Hadulla beschreibt sie als „eine komplexe Wahrnehmungsgestalt, die sich schrittweise entwickelt.“67 Diese Beschreibung der Illumination lässt sich auch besser mit dem kreativen Gestaltungsprozess in der Bildenden Kunst vereinbaren, da auch hier die Fertigstellung eines Werkes nicht schlagartig, sondern meist schrittweise erfolgt. Meyers bezeichnet diese Phase als Objektivation, in welcher der Künstler das Werk qualitativ anhand objektiver Kriterien prozessual optimiert. Das erfolgt durch den wechselseitigen „Übertritt[…] von Geist zu Materie und Materie zu Geist.“68 Eine mentale Projektion findet in der Gestaltung einen physischen Ausdruck und wird über die Wahrnehmung wiederum reflektiert. Das vorher beschriebene Evidenzerlebnis bestätigt den Künstler _________________________________________________________________ 61 Vgl.: Guilford 1973. S.37. 62 Vgl.: Hemmer-Junk, 1995. S.64. 63 Csikszentmihalyi, 1997. S.119. 64 Vgl.: Schuler; Görlich, 2007. S.33. 65 Vgl.: Hemmer-Junk, 1995. S.63. 66 Vgl.: Csikszentmihalyi, 1997. S.119. 67 Holm-Hadulla, 2010. S.55. 68 Meyers, 1973. S.213.

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in seiner Bestrebung nach Optimierung durch das Gefühl, die richtige Form des Ausdrucks gefunden zu haben.

Abb. 3: Auguste Rodin, „L’homme au nez cassé“, 1863-64, Bronze mit brauner Patina, Höhe: 25,5 cm, Bowman Sculpture Gallery. In Corvacho del Toros Untersuchung fällt auf, dass viele Künstler diesen Durchbruch als Zufall oder Versehen wahrnehmen. Fehler im Arbeitsprozess oder unerwartete Störungen können überraschend zu positiven Lösungen führen. 69 Diese Beschreibungen der befragten Künstler passen zu dem Beispiel von Rodins Gestaltungsprozess an der Plastik L’homme au nez cassé (Abb. 3). Durch einen Fehler oder besser ein Ungeschick fällt die Plastik zu Boden. Der Sturz erzeugt durch Zufall eine spezielle Deformation der Nasen und Wangenpartie, die Rodin bis zum Ende des Gestaltungsprozesses bewahrt. Die titelgebende gebrochene Nase ist auf diesen Zufall zurückzuführen. Man könnte diesen Zufall nun mit dem Beispiel von Newtons Apfel vergleichen und beides als Inspirationsmythos abtun. Fakt ist jedoch, dass in beiden Fällen die Lösung für das jeweilige Werk durch einen physischen Einfluss der äußeren Umwelt gefunden wurde. Rodin und Newton haben _________________________________________________________________ 69 Vgl.: Corvacho del Toro, 2007. S.127.

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ihn zwar reflexiv in ihr Werk eingebunden, jedoch kann eine solche Form der Illumination nicht mit dem hier dargestellten Phasenmodell beschrieben werden, da das Modell von einer aktiv agierenden kreativen Person ausgeht. Die Illumination erfolgt zwar aktiv in der Reflexion und dem Evidenzerlebnis eines Individuums, jedoch ist für den ausschlaggebenden Reiz die äußere Umwelt verantwortlich. Um den künstlerischen Gestaltungsprozess mit all seinen Facetten zu erklären, benötigt man ein Erklärungsmodell des kreativen Prozesses, das den Zufall als wichtigen Faktor innerhalb des Gestaltungsprozesses berücksichtigt. Das Phasenmodell hingegen lässt sich auf ein psychologisches Denkmodell zur Lösung von Problemen zurückführen. Aus diesem Grund wird die Illumination als aktive Denkleistung erklärt. 3.2.4 Verifikationsphase Die Phase der Verifikation kennzeichnet die Momente der Bewertung und Evaluation des Lösungsansatzes innerhalb des kreativen Prozesses. Hier wird von der kreativen Person überprüft und bestätigt, ob eine Lösung oder Einsicht lohnend, wertvoll oder tauglich ist.70 Die Verifikation entscheidet über die Akzeptanz, Revision oder Verwerfung einer solchen Erkenntnis. Das kann intern durch eine individuelle Prüfung oder extern über eine Gruppe von Interessierten oder eine Fachgemeinschaft erfolgen. Csikszentmihalyi und Holm-Hadulla verweisen auf die unmittelbare Abhängigkeit der Verifikation von dem jeweiligen Feld und der entsprechenden Domäne.71 Denn eine Bewertung kann nur über Kriterien und Maßstäbe erfolgen, die innerhalb einer Domäne durch die partizipierenden Personen aufgestellt werden. Hemmer-Junk beschreibt den Vorgang folgendermaßen: „Nach befriedigendem Abschluß der individuellen Prüfung sowie günstiger Einschätzung von Umweltreaktionen wird die Erkenntnis in ein Kommunikationssystem übersetzt. Dabei liefert die gewählte Form der Kommunikation ein zusätzliches Mittel für die Prüfung und Bewährung der gewonnenen Idee. Mit der Publikation einer Idee wird die Kommunikation zwischen Schaffendem, Werk und sozialer Umwelt eröffnet. […] Ohne Kommunikation und Realisierung mag eine Idee für ein Individuum subjektiv befriedigend sein, eine direkte gesellschaftliche Relevanz hätte sie nicht.“72

_________________________________________________________________ 70 Vgl.: Guilford, 1973. S.37. 71 Vgl.: Csikszentmihalyi, 1997. S.154. Vgl.: Holm-Hadulla, 2010. S.57. 72 Hemmer-Junk, 1995. S.65 f.

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Das bedeutet, dass die Einsicht, die in der Illumination gewonnen wurde, in eine kommunikative Information übersetzt werden muss. Durch Sprechen, Zeigen, Zeichnen oder Formen wird die kreative Leistung für andere Menschen nachvollziehbar. Somit ist in der Bewertung die Ausarbeitung bereits enthalten, da ohne Transformation eines Einfalls in eine sinnlich wahrnehmbare Information dieser nicht mitgeteilt werden kann. Aus diesem Grund teilen Schuler und Görlich die Verifikation in die Phasen Ausarbeitung und Ideenbewertung auf. In der Ausarbeitung werden Möglichkeiten, Bedingungen und Grenzen der Realisierbarkeit erwogen und ausprobiert.73 Auch Ulmann fordert als Bedingung für die Verifikation einen „Realitätstest“74, um zu prüfen, welche Prämissen einer Lösung des Problems am besten genügen. Die Kommunikation ist in dieser Phase ein notwendiger Aspekt des kreativen Prozesses. Demnach sind sowohl die Kreativität selbst als auch der kreative Gestaltungsprozess an eine, wie auch immer geartete, Form der Sozialreferenz gebunden. Mit Blick auf den künstlerischen Gestaltungsprozesses scheint die Sozialreferenz selbstverständlich zu sein, da am Ende immer das sinnlich nachvollziehbare Kunstwerk steht. Egal, ob man eine Performance in seiner Bewegung, eine Skulptur in seiner physischen Präsenz oder ein Konzept in seiner mündlichen oder schriftlichen Darbietung wahrnimmt, die Verifikation kann ausschließlich durch die sinnliche Wahrnehmung eines Rezipienten am Kunstwerk erfolgen. Selbst die Idee eines Konzeptkünstlers muss in eine wahrnehmbare Form gebracht werden, da sie sonst im Bewusstsein des Künstlers verbleibt und als Kunstwerk für den Rezipienten oder die Gesellschaft nicht existiert. Eine Verifikation durch Rezipienten findet jedoch meist erst nach Abschluss des Gestaltungsprozesses statt, wenn das Kunstwerk der Öffentlichkeit überlassen wird. Zuvor ist der Künstler bei der Bewertung seiner gestalterischen Einzelleistungen auf sich allein gestellt. Das unvollendete Werk oder die Idee dazu muss von ihm als wertvoll genug erachtet werden, um daran weiter zu arbeiten. Dabei werden nach Sachse im künstlerischen Gestaltungsprozess zwei Arten des Hervorbringens unterschieden. Auf der einen Seite gibt es eine Materialisierung oder sinnlich wahrnehmbare Fixierung der Gestaltungsleistung, wie in der Malerei oder dem plastischen Gestalten, und auf der anderen Seite gibt es Darstellungshandlungen ohne Fixierungen, wie im Tanz oder im Schauspiel.75 Unabhängig davon, um _________________________________________________________________ 73 Vgl.: Schuler; Görlich, 2007. S.34. 74 Ulmann, 1973. S.21. 75 Vgl.: Sachse, Pierre: Idea Materialis. Entwurfshandeln und Darstellungshandeln. Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Skizzieren und Modellieren. Logos: Berlin 2002. S.2.

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welche Art der künstlerischen Gestaltung es sich handelt, die kreative Leistung wird retrospektiv vom Künstler selbst bewertet. Die von Corvacho del Toro interviewten Künstler bestätigen das. Sie beschreiben, dass eine Verifikation der eigenen Arbeit auf Basis individueller Bewertungskriterien erfolgt. In manchen Fällen ist es auch nur ein Gespür oder ein Gefühl, ob etwas richtig oder falsch ist.76 Meyers merkt jedoch an, dass der Künstler im kreativen Gestaltungsprozess niemals abgelöst von der Gesellschaft und der Domäne eine Meinung bildet.77 Somit findet eine indirekte Bewertung des Werkes vom Publikum statt, auch wenn dieses im Gestaltungsprozess nicht anwesend ist. Die Definition der Verifikationsphase eröffnet einen Einblick in das Kreativitätsverständnis, das die Phasenmodelle implizieren. Das kreative Produkt unterliegt mindestens einer Bewertung, die sowohl sozial als auch subjektiv erfolgen kann. Während im kreativen Prozess die subjektive Bewertung notwendig ist, um ihn abschließen zu können, ist die soziale Bewertung fakultativ. Jedoch kann sich der Gestalter von den Maßstäben und Kriterien seines sozialen Umfeldes schwerlich befreien. Die Kreativität ist demnach über das kreative Produkt immer an einen sozial gebildeten Wert gebunden, der im kreativen Prozess bemessen wird. 3.2.5 Realisierungsphase Die Realisierung oder Ausarbeitung hängt, wie bereits erwähnt, eng mit der Verifikation zusammen. Auch Regel beschreibt, dass während der gesamten Realisierungsphase die Bewertung eine wichtige Rolle einnimmt und die entweder bewusste oder unbewusste Bewertung sich permanent auf die Fortführung der Arbeit auswirkt. Während die Relation zwischen Form und Formwirkung beim Schaffensprozess permanent anhand von Einzelentscheidungen geprüft wird, intensiviert sich die Bedeutung der Bewertung gegen Ende der Realisierungsphase und richtet sich verstärkt auf das Werk als Ganzes.78 Csikszentmihalyi und Holm-Hadulla koppeln sie dennoch ab, da sie direkt an die Vollendung des Prozesses oder den endgültigen Abschluss eines Problems gebunden ist. In dieser Phase, die nicht nur als die längste und aufwendigste beschrieben wird, spielt die subjektiv empfundene Perspektive, welche die Realisierung einer Lösung bietet, eine große Rolle. Holm-Hadulla verweist auf den motivationalen Aspekt in dieser Phase, der ein Individuum dazu veranlasst, seine Pläne _________________________________________________________________ 76 Vgl.: Corvacho del Toro, 2007. S.128. 77 Vgl.: Meyers, 1973. S.214. 78 Vgl.: Regel, 1986. S.212.

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bezüglich der Lösung eines Problems in die Tat umzusetzen.79 Auch Csikszentmihalyi unterstreicht den affektiven Charakter dieser Phase, der auf die eigenen Gefühle und Ziele fokussiert ist.80 Schuler und Görlich teilen die Realisierung ebenfalls in zwei Phasen auf. Die Umsetzungsphase verweist dabei rekursiv auf die Bewertungsphase, welche dafür verantwortlich ist, ob die Lösung eines Problems durchgeführt oder verworfen wird. Die Implementierungsphase definiert den Teil des Prozesses, in dem die Lösung oder das Produkt innerhalb der Domäne einem Publikum vorgeführt wird. Sie ist von einem positiven Abschluss des kreativen Prozesses abhängig. Das bedeutet, dass die Lösung eines Problems oder das kreative Produkt bereits umgesetzt wurden. Auch Csikszentmihalyi beschreibt diesen Aspekt der Realisierungsphase. Bei ihm sind Domäne und Feld Faktoren, die über den Erfolg eines kreativen Produktes entscheiden. Die Domäne gibt spezifische und aktuelle Techniken, Informationen und Theorien vor und das Feld eröffnet die Möglichkeit das kreative Produkt zu verbreiten. 81 Das kreative Subjekt ist nicht mehr damit beschäftigt eine Lösung zu finden und zu optimieren, sondern die Domäne und das Feld genau zu beobachten, um das kreative Produkt zwischen den aktuell diskutierten Ideen, Problemen und Einsichten platzieren zu können. Nach Schuler und Görlich erfordert das Überzeugungskraft, Realitätssinn, unternehmerisches Denken und Machtausübung.82 Der hier beschriebene Aspekt des kreativen Prozesses weist über den tatsächlichen Gestaltungsprozess hinaus. Regel nennt das im Bereich der Bildenden Kunst die post-produktive Phase, in der das beendete Werk der Öffentlichkeit überantwortet wird. „Es beginnt eine von seinem Schöpfer unabhängige Werk- und Wirkungsgeschichte, auf die dieser in der Regel keinen wesentlichen Einfluß ausüben kann.“ 83 Das Werk, egal ob Gemälde, Installation, Performance oder Landart wird einem neuen Kontext zugeführt, in dem der Künstler wie jeder andere auch nur noch als Rezipient agiert. Gleichgültig, ob das Werk einfach im Rahmen einer Ausstellung an einer Wand hängt oder von den Rezipienten wiederum einen gestalterischen Umgang abverlangt, der Künstler selbst hat keinen bildnerischen Einfluss mehr darauf, womit der kreative Prozess abgeschlossen ist.

_________________________________________________________________ 79 Vgl.: Holm-Hadulla, 2010. S.56. 80 Vgl.: Csikszentmihalyi, 1997. S.155. 81 Vgl. ebd.: S.155. 82 Vgl.: Schuler; Görlich, 2007. S.35 f. 83 Regel, 1986. S.173.

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In der Beschreibung der Realisierungsphase wird der Fokus im Phasenmodell auf ein kreatives Produkt ausgerichtet. Egal ob als Objekt oder Handlung, die Kreativität äußert sich am Ende des kreativen Prozesses nach dem Verständnis der Phasenmodelle immer in Form eines sinnlich wahrnehmbaren Ergebnisses. 3.2.6 Phasenmodell als Analysewerkzeug Die Untersuchung der einzelnen Phasen hat gezeigt, dass es schwierig ist, die unterschiedlichen Handlungen und Denkleistungen im künstlerischen Gestaltungsprozess den Phasen zuzuordnen. Das liegt vor allem, wie Eiglsperger anmerkt, an der „starken Vereinfachung und Verallgemeinerung eines komplexen Vorgangs.“84 Ein Beispiel dafür sind die Ergebnisse von Corvachio del Toros Interviews, die zeigen, dass eine Übertragung und Einordnung der von den Künstlern gesammelten Daten in das Phasenmodell zu unstrukturierten und ungenauen Ergebnissen führt. Gerade im künstlerischen Gestaltungsprozess sind eine gegenseitige Durchdringung und eine ungeordnete sowie sich wiederholende Abfolge der Phasen kennzeichnend. Die unterschiedlichen Arten und Herangehensweisen der künstlerischen Gestaltung lassen es kaum zu, von verschiedenen Phasen zu sprechen, da ihre Abfolge meist chaotisch verläuft. Ein so komplexer Sachverhalt wie der künstlerische Gestaltungsprozess wird durch das Phasenmodell gewaltsam gegliedert und in Teilabschnitte zerlegt. Die Frage ist, ob ein derart komplexer Ablauf überhaupt mit einem Modell beschrieben werden kann. Wie Schulze anmerkt, dient das „sprichwörtliche ‚kreative Chaos‘ […] vielen als Beleg für die Unvorhersehbarkeit und Nicht-Analysierbarkeit kreativer Prozesse.“85 Ebert begreift die künstlerische Gestaltung als einen Prozess, „in dem die Intentionen, Aspekte und Verhaltensweisen, wie sie für die einzelnen Phasen als signifikant angesehen werden, alternierend, sich ganz oder teilweise auch periodisch wiederholen und mit unterschiedlichem Gewicht in Erscheinung treten können.“86 Hinzu kommt, dass der Moment, in der die tatsächliche kreative Leistung stattfindet, mit dem Phasenmodell nicht erklärt wird. Die Inkubation ist die Phase in _________________________________________________________________ 84 Eiglsperger, 2000. S.37. 85 Schulze, Frank: Umgangsweisen mit Kreativität. Gegen die Kanalisierung von Kreativität und die Inflation des Kreativitätsbegriffs. In: Kunst + Unterricht. Kreativität; Heft 331/332; S. 4-9. Hrsg.: Johannes Kirschenmann. Erhard Friedrich Verlag GmbH: Seelze 2009. S.6. 86 Ebert, Wilhelm: Kreativität und Kunstpädagogik. Aloys Henn Verlag: Ratingen, Kastellaun, Düsseldorf 1973. S.42.

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der nach Guilford divergierende und konvergierende Denkweisen eines Subjekts aufeinandertreffen und durch die Neustrukturierung und Neukontextualisierung der Gedankeninhalte eine kreative Idee oder Leistung entstehen kann. Da diese Prozesse jedoch zum größten Teil unbewusst ablaufen, kann mit dem Phasenmodell ähnlich einer Black-Box nicht erklärt werden, welche Mechanismen im Inneren ablaufen und letztendlich zum kreativen Produkt führen. Aus diesem Grund erachtet Guilford die Erklärungen der Inkubationsphase aus einem psychologischen Standpunkt aus als sehr oberflächlich.87 Ulmann ergänzt: „Soweit sich die amerikanischen Kreativitätsforscher nicht damit begnügten, den kreativen Prozeß als ‚Mysterium‘ zu erklären, orientierten sie sich bei der Erforschung dieses Prozesses vorzüglich an Autobiographien berühmter Wissenschaftler.“88

Diese Anwendungspraxis findet man auch bei Holm-Hadulla, der beispielsweise Werke des Künstlers Pablo Picasso und des Schriftstellers Gabriel García Márquez zur Validierung des Phasenmodells heranzieht.89 Die Einordnung der biografischen Fakten in den kreativen Gestaltungprozess bleibt jedoch sehr oberflächlich und verallgemeinernd, da eher die Werke als die zugrundeliegenden Prozesse beschrieben werden. Einen künstlerischen Gestaltungsprozess anhand eines konkreten Beispiels zu erklären, ist auf Basis eines Phasenmodells kaum möglich. Matussek ist der Ansicht, dass „Phaseneinteilungen dieser Art [nur] ihren Sinn [haben], wenn sie als Hervorhebung einiger Aspekte des Kreationsprozesses verstanden werden.“90 Die einzelnen Phasen, wie die Illumination, dienen dazu, markante Handlungsweisen innerhalb des Gestaltungsprozesses herauszustreichen. Der künstlerische Akt erweist sich jedoch als weitaus komplexer. Wenn mithilfe des Phasenmodells lediglich bestimmte Aspekte der künstlerischen Gestaltung hervorgehoben werden können und die Entstehung kreativer Ideen und Leistungen in der Inkubationsphase unklar ist, ist das Phasenmodell weder dazu geeignet, den künstlerischen Gestaltungsprozess aufzuschlüsseln, noch als Grundlage für die Definition von Kreativität zu dienen.

_________________________________________________________________ 87 Vgl.: Guilford, 1973. S.37. 88 Ulmann, 1973. S.19. 89 Vgl.: Holm-Hadulla, 2010. S.153 ff. 90 Matussek, 1974. S.263.

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Zusammenfassung Kapitel 3.2 Auch wenn mit dem kreativitätstheoretischen Phasenmodell sämtliche Referenzen und Merkmale der Kreativität in einem Prozess erklärt werden können, hat die Untersuchung der einzelnen Phasen gezeigt, dass es sich nicht eignet, den künstlerischen Gestaltungsprozess zu erklären. Das liegt zum einen am ungeordneten und nicht linearen Ablauf des künstlerischen Gestaltungsprozesses, der eine Einteilung in Phasen nicht zulässt und zum anderen am Erklärungsmangel bezüglich der Inkubationsphase, in der die Bestimmung der Kreativität vollkommen ins Unbewusste verlagert wird.

3.3 FÜNF REFERENZEN DER KREATIVITÄT IM KÜNSTLERISCHEN GESTALTUNGSPROZESS Das Phasenmodell von Csikszentmihalyi vereint zwar alle Referenzbedingungen der Kreativität in einer Prozesstheorie, jedoch ist es nicht in der Lage die komplexen Abläufe und Erscheinungsformen der künstlerischen Gestaltung zu beschreiben. Das wirft die Frage auf, ob der künstlerische Akt überhaupt die Voraussetzungen erfüllt, um als Grundlage für eine Definition des Kreativitätsbegriffs zu dienen. Aus diesem Grund wird in diesem Kapitel erörtert, ob der künstlerische Gestaltungsprozess die Bedingungen des Kreativitätsbegriffs erfüllen kann. In den Kapiteln 3.3.1 bis 3.3.5 wird gezeigt, in welcher Art und Weise die einzelnen Referenzbedingungen der Kreativität im künstlerischen Gestaltungsprozess verankert sind. 3.3.1 Subjektreferenz zu einem künstlerischen Gestalter Ein künstlerischer Gestaltungsprozess ohne eine Subjektreferenz ist kaum denkbar, da jeder Gestaltungsakt auf die Autorschaft eines Künstlers angewiesen ist. Gibt es dennoch eine Form der künstlerischen Hervorbringung, die ohne die Beteiligung eines Subjekts ablaufen kann? Gibt es Kunst ohne Künstler? Eine solche Fragestellung ist mit dem Blick auf immer selbstständiger und differenzierter arbeitende, künstliche Intelligenzen berechtigt. Gerade die zeitgenössische Kunst verhandelt die neuen Paradigmen eines beispielsweise Technologie gesteuerten Kreierens. Netzbasierte Kunst kann oft auf keinen benennbaren Autor zurückgeführt werden und verwischt somit die Vorstellung eines Verfassers oder geistigen Urhebers. Dabei ist die Autorschaft trotzdem meistens auf eine nicht näher defi-

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nierbare Gruppe oder Gemeinschaft von Usern begründet. Wenn die Subjektreferenz des künstlerischen Gestaltungsprozesses tatsächlich in Frage gestellt werden soll, muss es Gestaltung von Kunstobjekten oder Kunstereignissen geben, ohne dass es einen Impuls seitens eines Künstlers stattgefunden hat. Auch wenn es Theorien gibt, in denen sich das Werk vom Autor löst oder emanzipiert,91 gibt es keine Theorie, in welcher der Gestaltungsprozess vollkommen abgelöst von einem Subjekt stattfindet. Obwohl es aus Perspektive der zeitgenössischen Kunst genügend Anlässe gäbe, dieses Thema zu vertiefen, würde eine entsprechende Diskussion zu weit von der Fragestellung dieser Arbeit wegführen. Aus diesem Grund wird aus Ermangelung gegenteiliger Positionen dem künstlerischen Gestaltungsprozess eine verbindliche Subjektreferenz zugesprochen. 3.3.2 Produktreferenz zu einem Kunstwerk Ähnlich wie bei der Subjektreferenz scheint die Produktreferenz für den künstlerischen Gestaltungsprozess selbstverständlich zu sein. Kunstwerke können im klassischen Sinne als Produkte des Gestaltungsprozesses verstanden werden. Jedoch ist nicht jedes Kunstwerk, so wie es der Produktbegriff impliziert, auf ein physisches Objekt beschränkt. Gerade im Bereich der Bildenden Kunst hat sich das Verständnis, was als Träger von Kunst und somit als kreatives Medium in Frage kommt, stark erweitert. Damit muss für diese Untersuchung definiert werden, was man unter dem Begriff Produkt überhaupt versteht oder subsumieren kann. Handelt es sich dabei um Ereignisse, Handlungen oder Objekte? Reicht es aus, wenn das Produkt eine mentale Repräsentation ist oder muss die Idee oder der Gedanke in die äußere Umwelt überführt werden? Neben den Objekten, wie Skulpturen und Bildern, gibt es Werke, die sich auf den Prozess beziehen, wie beispielsweise in der Performance Kunst oder dem Happening. Aber auch Ideen und Bedeutungen der Konzeptkunst oder die rein materialästhetischen Werke der

_________________________________________________________________ 91 In der Literaturtheorie gibt es Diskussionen, in denen die Funktion der Autorschaft in Frage gestellt und verhandelt wird. Vgl.: Barthes, Roland: Der Tod des Autors. In: Texte zur Theorie der Autorschaft. Hrsg.: Jannidis, Fotis. S. 185-193. Reclam: Stuttgart 2000. S.185 ff. Vgl.: Foucault, Michel: Schriften zur Literatur. Suhrkamp: Frankfurt 2003. S.234 ff.

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Body Art, Land Art oder objets trouvés können als künstlerische Produkte begriffen werden.92 Das Verständnis des Kunstwerks als dinglich abgeschlossene, einzigartige Einheit hat sich seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts aufgelöst.93 Da im künstlerischen Gestaltungsprozess je nach Kunstgattung und Anliegen sowohl physische als auch psychische Produkte geäußert werden, braucht man ein Produktverständnis, das sowohl performative Akte, konzeptuelle Ideen oder fertige Kunstwerke in einem Begriff vereint. Wenn man der Argumentation in der Kreativitätsforschung folgt und Kunstwerke als kreative Produkte versteht, findet man bei Brodbeck und Wollschläger den Begriff Information, der sämtliche Arten kreativer Produkte einschließt.94 Holm-Hadulla definiert die Kreativität selbst als „Neuformierung von Information.“95 Diese Bezeichnung wurde aus der Kommunikationstheorie in die Kreativitätstheorie überführt und impliziert, dass sämtliche kreativen Produkte Informationen sind, die als Ausdrucks- oder Kommunikationsmittel fungieren.96 Traditionell wird der Informationsbegriff nach dem StoffForm-Modell verstanden. „Ein Stoff wird in-formiert, das heißt nimmt Form an.“97 Beispielsweise wird akustisches Material durch das Spielen eines Instruments zu einer Melodie. Visuelles Material kann durch das Schreiben zu einem Zeichen geformt werden und als Sprachzeichen in einem Gedicht fungieren. Durch das Malen können Bilder entstehen und durch die Bewegung ein Tanz. Der Gestaltungsprozess bringt Produkte hervor, die als Information zwischen der Form als Sinn, Bedeutung, Botschaft oder Referenz und dem Stoff als materiellem Träger oder Medium unterscheiden.98 Die theoretische Anbindung des künstlerischen Produkts an eine kommunikative Funktion weist zurück auf die Subjektreferenz und eröffnet über den Verweis auf einen oder mehrere Rezipienten eine Sozialreferenz. Das führt zu der Frage, ob ein Gedanke, der als Idee nur im Bewusstsein existiert, überhaupt ein Kunstwerk sein kann. Oder kann der Gedanke erst dann zum Kunstwerk werden, wenn er in eine Information transformiert und anderen vermittelt wird? Die Antwort

_________________________________________________________________ 92 Vgl.: Reckwitz, 2012. S.330. 93 Vgl. ebd.: S.97. 94 Vgl.: Brodbeck, 1995. S.49. 95 Holm-Hadulla, 2012. S.232. 96 Vgl.: Wollschläger, 1971. S.12. 97 Krieger, David J.: Kommunikationssystem Kunst. Passagen: Wien 1997. S.102. 98 Vgl. ebd.: S.102.

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lautet, dass jedes Kunstwerk als eine sinnlich wahrnehmbare Information existieren muss. Jedes Kunstwerk braucht im Sinne eines kreativen Produktes eine kulturelle Bestätigung und eine soziale Bewertung.99 Regel ergänzt: „Als psychisches Phänomen kann das bildnerische Kreieren als solches anderen Individuen nicht übermittelt werden. Es muß, um überhaupt kommunizierbar […] zu sein, in ein Medium übertragen, mit bildnerischen Mitteln sichtbar vergegenständlicht und damit in eine [sinnlich wahrnehmbare] Existenzform gebracht werden.“ 100

Dabei liegt die Trennung zwischen Subjektreferenz und Produktreferenz im künstlerischen Gestaltungsprozess nicht immer klar auf der Hand, da in vielen Fällen der performative Akt des Künstlers selbst das Kunstwerk ist. Egal, welche Form das künstlerische Produkt annimmt, ob als Geste, Verhalten, Objekt oder akustisches Signal, es muss stets in einen für andere Personen sinnlich wahrnehmbaren Zustand gebracht werden. Das Kunstfeld ist ein kultureller Bereich des gesellschaftlichen Lebens. Ein künstlerisches Produkt ist darin ein Phänomen, das nur über die Anbindung an einen kulturellen Diskurs eine Bedeutung und einen Sinn als Kunstwerk erhält. Diese Anbindung setzt voraus, dass das Kunstwerk als Information wahrgenommen werden kann. 3.3.3 Sozialreferenz als visuelle Kommunikation Da jedes künstlerische Produkt eine sinnlich wahrnehmbare Form benötigt, um sowohl eine soziale als auch kulturelle Relevanz zu erlangen, verweist die Produktreferenz des künstlerischen Gestaltungsprozesses bereits auf dessen Sozialreferenz. In diesem Kapitel wird erörtert, ob jeder künstlerische Gestaltungsprozess eine kommunikative Komponente besitzt. Dabei kann kaum ausgeschlossen werden, dass es im künstlerischen Gestaltungsprozess eine wie auch immer geartete Beziehung des Gestalters zu seinem sozialen Umfeld gibt. Es muss jedoch unterschieden werden, ob der Gestalter das Kunstwerk bewusst als kommunikatives Artefakt erzeugt, oder ob er sich automatisch, egal ob bewusst oder unbewusst, durch sein Aktivwerden als Gestalter in einem sozialen Kontext bewegt. Eine klassische Theorie der Sozialreferenz der künstlerischen Gestaltung, bei welcher der Künstler als bewusster Gestalter kommunikativer Artefakte beschrieben wird, ist die der visuellen Kommunikation. In der Kunstpädagogik wird die _________________________________________________________________ 99

Vgl.: Csikszentmihalyi, 1997. S.19.

100 Regel, 1986. S.35.

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visuelle Kommunikation als Theorie diskutiert, die eine sachgerechte Kommunikation mit ästhetischen Objekten gewährleisten soll.101 Grundsätzlich bezeichnet die visuelle Kommunikation im Rahmen der zwischenmenschlichen Kommunikation die nonverbale Übermittlung von Informationen an das menschliche Auge.102 Die Kommunikationspartner treten nicht zwingend in direkten Kontakt. Der Sender benutzt als Mittler ein visuelles Nachrichtenmedium, von welchem der Empfänger die Nachricht erhält.103 Diese Art der Kommunikation operiert mit der Nachbildung von Wirklichkeit und ist die Basis vieler semiotischer Kommunikationsmodelle. Als wissenschaftliches Sachgebiet gehört die visuelle Kommunikation zu dem Bereich Umweltgestaltung und umfasst sämtliche visuellen Medien, wie Grafikdesign, Foto, Film oder Fernsehen.104 In den Diskurs der Kunstpädagogik wird sie in den 1960er Jahren aufgenommen und resultiert aus der curricularen Einbeziehung alltäglicher Bildwelten aus der Popkultur und der Werbung in den Kunstunterricht. Sie hat ihre Wurzeln in den Bestrebungen der Reformpädagogik, welche die Verbindung von Schule und außerschulischem Leben angestrebt hat.105 Bei der visuellen Kommunikation als curricularer Fachinhalt des Kunstunterrichts geht es um die auf Kommunikation und Manipulation forcierte Gestaltung visueller Medien und die Lehre von bildnerischen Gestaltungsmitteln als syntaktisch aufeinander bezogene, kommunikative Strukturen, die wie ein Text gelesen werden können, wenn man die Regeln dieser Sprache versteht. Die Theorien der visuellen Kommunikation sind eng mit den Bereichen Architektur, Design und der Mode verknüpft. Aus kunstpädagogischer Sicht wird die visuelle Kommunikation zwiespältig diskutiert. Auf der einen Seite avanciert die Kunstpädagogik durch die visuelle Kommunikation zu einer Domäne, deren Inhalte unmittelbar mit den _________________________________________________________________ 101 Vgl.: Otto, Gunter: Nachwort über Kommunikation. In: Kunstunterricht. Planung bildnerischer Denkprozesse. Hrsg.: Breyer, Herbert; Otto, Gunter; Wienecke, Günter. Schwann: Düsseldorf 1970. S.169. 102 Vgl.: Ebert, 1973. S.99. 103 Vgl.: Braun, Gerhard: Grundlagen der visuellen Kommunikation. Bruckmann: München 1993. S.160. 104 In den 1960er Jahren sind die Inhalte und Begriffe der visuellen Kommunikation als Sachgebiet für die Kunstpädagogik weder neu noch ungewöhnlich gewesen. Teil der visuellen Kommunikation als Unterrichtsinhalt ist die politische Bildung, „deren Zielsetzung in der Entlarvung von Herrschaftsstrukturen und in der Emanzipation von diesen (und von repressiver Manipulation, die sie ausüben) [bestanden hat].“ Ebert, 1973. S.99. 105 Vgl.: Meyers, 1973. S.233.

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Möglichkeiten der Manipulation durch Massenmedien verbunden sind. Auf der anderen Seite rücken die künstlerischen Inhalte des Faches aus dem curricularen Fokus und die Kunst erhält einen allzu starken Warencharakter. Das liegt daran, dass in der Theorie der visuellen Kommunikation zwischen Werken der Kunst und den Produkten der Massenmedien qualitativ nicht unterschieden wird.106 Die visuelle Kommunikation beruht auf der sowohl einflussreichsten als auch folgereichsten Kommunikationstheorie, dem klassischen Übertragungsmodell von Shannon und Weaver. Ihr Modell bildet die theoretische Grundlage der aus der Kybernetik hervorgegangenen Informationstheorie. Diese beschäftigt sich mit dem Aufbau, den Methoden des Messens und Übertragens sowie den Beeinflussungsmöglichkeiten von Information. Sie wird von Shannon und Weaver benutzt, um technische Phänomene wie Rundfunk- und Fernsehübertragungen zu beschreiben.107 Dabei ist das Ziel der Informationstheorie ein Modell zu entwerfen, das die Grundlage für jegliche Art der Kommunikation bietet. Verschiedenste wissenschaftliche Domänen, wie Physik, Biologie, Psychologie oder Medienforschung, nutzen Mechanismen und Begriffe des Übertragungsmodells, um domänenspezifische Kommunikationstheorien zu formulieren. „Man kann heute nicht über Kommunikation reden, ohne auf dieses Modell Bezug zu nehmen.“ 108 Im Prinzip handelt es sich bei dem Modell um einen Zeichenaustausch zwischen einem Sender und einem Empfänger (Abb. 4). Eine typische Kommunikationssituation darin lässt sich schematisch in Form einer Kette darstellen, deren Glieder über einen Code verbunden sind. Man geht davon aus, dass eine Nachricht, die aus Zeichen besteht, aus einem Repertoire desselben Codespektrums ausgewählt wird. Ein Sender übersetzt dann durch einen Codierungsvorgang die ausgewählten Zeichen in eine dynamische Signalform, die über ein Medium weitergeleitet werden, damit ein Empfänger durch einen Decodierungsvorgang eine Botschaft extrahieren und diese nutzbar machen kann.109 Diese traditionelle Vorstellung der Kommunikation kann mit einem Lern- und Lehrprozess gleichgesetzt werden, denn es wird dabei

_________________________________________________________________ 106 Vgl.: Ehmer, Hermann: Zum Thema. In: Visuelle Kommunikation. Beiträge zur Kritik der Bewußtseinsindustrie. Hrsg.: Ehmer, Hermann. S.7-9. DuMont: Schauberg, Köln 1971. S.7. 107 Vgl.: Shannon, Claude E.: The Mathematical Theory of Communication. In: The Mathematical Theory of Communication. Hrsg.: Shannon, Claude E.; Weaver, Warren. S.29-125. University of Illinois Press: Urbana, Chicago (1949) 1998. S.31. 108 Krieger, 1997. S.53. 109 Vgl.: Shannon, 1998. S.33 ff.

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vom Sender Wissen weitergegeben, welches der Empfänger dann speichert.110 Günter Kerner und Rolf Duroy fassen in ihrem Lehrbuch Bildsprache 1 diesen Kommunikationsbegriff in seinem Kern zusammen: „Kommunikation ist Zeichenaustausch. Voraussetzungen dafür sind: Sender und Empfänger, Bedeutungsabsprache durch einen Code, Zeichen, die eine Nachricht vermitteln, ein Kanal, über den die Nachricht geleitet wird. Alle Faktoren, welche die Kommunikation bestimmen, sind wechselseitig voneinander abhängig.“111

Dieses klassische Sender-Empfänger-Modell bildet die theoretische Basis der visuellen Kommunikation. Durch diese Theoriegrundlage impliziert die visuelle Kommunikation, dass die Sozialreferenz im künstlerischen Gestaltungsprozess ein bewusst ablaufender Akt ist, der auf ein erfolgreiches und gegenseitiges Verständnis zwischen Künstler und Rezipient abzielt.

Abb. 4: Schematisches Diagramm eines klassischen Kommunikationsmodells nach Shannon (leicht modifiziert). Ein derartiges Kommunikationsverständnis ist aus Sicht der zeitgenössischen Kunst und dem damit verbundenen künstlerischen Gestaltungsprozess kaum mehr denkbar, da es sämtliche Erscheinungsformen der Bildenden Kunst, deren Entstehungsprozesse unbewusst, unreflektiert, experimentell oder ziellos ablaufen, ganz und gar ausschließen würde. Dabei ist für das Zustandekommen der Sozialreferenz weder ein fertiges oder abgeschlossenes Kunstwerk noch dessen Zertifizierung durch einen Rezipienten notwendig. Der künstlerische Prozess ist im Sinne _________________________________________________________________ 110 Vgl.: Kerner, Günter; Duroy, Rolf: Bildsprache 1. Don Bosco Verlag: München 1977. S.39. 111 Ebd.: S.41.

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Watzlawicks eine „Verhaltenseinheit“112. Jedes Verhalten und damit jedes paralinguistische Phänomen hat, egal ob es richtig oder falsch verstanden wird, in einer zwischenpersönlichen Situation Mitteilungscharakter. Das gilt gleichermaßen für den künstlerischen Akt vor Publikum und dem Gestaltungsprozess alleine im Atelier. „Man kann sich nicht nicht verhalten.“113 Demnach wird jeder sinnlich wahrnehmbare Gestaltungsakt zur Kommunikation. 3.3.4 Zeitreferenz und Zeitabhängigkeit Die Zeitreferenz des künstlerischen Gestaltungsprozesses darf in Zusammenhang mit dieser Untersuchung nicht als klassische Epochenabhängigkeit der Kunst verstanden werden, wie es beispielsweise im Manifest des Dadaismus der Fall ist: „Die Kunst ist in ihrer Ausführung und Richtung von der Zeit abhängig, in der sie lebt, und die Künstler sind Kreaturen ihrer Epoche. Die höchste Kunst wird diejenige sein, die in ihren Bewußtseinsinhalten die tausendfachen Probleme der Zeit präsentiert, der man anmerkt, daß sie sich von den Explosionen der letzten Woche werfen ließ, die ihre Glieder immer wieder unter dem Stoß des letzten Tages zusammensucht.“114

Dieser Bedeutungszusammenhang impliziert ein kunsthistorisches Verständnis der Zeitlichkeit von Kunst. Im Sinne des Kunsthistorikers Riegl würde das bedeuten, dass jede Gestaltung in der Lage ist, das Wesen der Zeit bzw. den jeweiligen Zeitgeist bei der Entstehung des Werkes zu veranschaulichen.115 Dieser kunstgeschichtliche Kontext der Zeitlichkeit von Kunstwerken eröffnet einen Diskurs, der über den Begriff der Zeitreferenz hinausweist und den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde. Die Zeitreferenz bezeichnet in der Theorie dieser Arbeit die Einmaligkeit und Irreversibilität des Zeitpunktes, in dem der künstlerische Gestaltungsprozess stattfindet. Durch die Zeitreferenz ist der Gestaltungsprozess ein performativer Akt, _________________________________________________________________ 112 Watzlawick, Paul: Man kann nicht nicht kommunizieren. Verlag Hans Huber: Bern 2011. S.13. 113 Ebd.: S.13. 114 Huelsenbeck, Richard: Dadaistisches Manifest. In: Dada Almanach. Hrsg.: Huelsenbeck, Richard. S. 36–41. Erich Reiss Verlag: Berlin 1920. S.37. 115 Vgl.: Riegl, Alois: Die spätromantische Kunstindustrie nach den Funden in Österreich-Ungarn. 1. Teil. Berlin (1901) 2000. S.2.

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der nicht wiederholbar, temporär limitiert und auf eine singuläre Situation beschränkt ist. Der künstlerische Gestaltungsprozess ist ein Ereignis, das in seiner spezifischen Konstellation aller beteiligten Faktoren nur ein einziges Mal zustande kommt.116 Anders als ein Kunstwerk, das in der Gestalt eines physischen Trägers die Zeit überdauern kann, ist der Gestaltungsprozess an einen Moment gebunden. Wie das von Arnheim beschriebene künstlerische Ereignis breitet sich der Gestaltungsprozess in einer geordneten Reihenfolge sukzessiv im Raum aus.117 Auch wenn aus dem künstlerischen Gestaltungsprozess ein dauerhaftes Artefakt hervorgeht, entsteht dieses in einer einmaligen Situation, die in der jeweiligen Art und Weise einzigartig ist. Die Zeitreferenz legt den künstlerischen Gestaltungsprozess auf einen speziellen Zeitpunkt und eine spezifische Situation fest. Das ist für diese Studie wichtig, denn wie die Kreativität hängt der künstlerische Gestaltungsprozess von dem Kriterium Neuartigkeit ab. Neuartigkeit ist nach Luhmann und Reckwitz ein zwingendes Merkmal künstlerischer Gestaltung.118 Die künstlerische Tätigkeit wird vom Subjekt selbst und vom sozialen Umfeld im Hinblick auf dieses Merkmal bewertet. Neu, originell, innovativ sind Werte, die ein Kunstwerk nur zu einer bestimmten Zeit, für eine bestimmte Gruppe innerhalb einer speziellen Situation besitzt. Da jeder Gestaltungsakt als ein Handlungsakt eine gewisse Ausdehnung in der Zeit beansprucht und somit auf einen speziellen Zeitpunkt zurückgeführt werden kann, ist die Zeitreferenz ein zwingendes Merkmal des künstlerischen Gestaltungsprozesses. 3.3.5 Fachbereichsreferenz als Gestaltungsanlass Die Fachbereichsreferenz des künstlerischen Gestaltungsprozesses ist schlichtweg als Kunstreferenz zu verstehen. Jeder künstlerische Akt bezieht sich auf die Domäne Kunst. Wenn man Kunst wie Wirtschaft oder Politik als Domäne begreift, dann handelt es sich dabei um eine relativ autonome, von besonderen Regeln bestimmte Handlungssphäre vergesellschafteter Menschen mit spezifischen Qualifikationen, Praktiken und Strategien sowie einer ausgeprägten Hierarchie von _________________________________________________________________ 116 Vgl.: Reckwitz, 2012. S.113. 117 Vgl.: Arnheim, Rudolf: Kunst und Sehen. Eine Psychologie des schöpferischen Auges. Walter de Gruyter: Berlin, New York 1978. S.375 f. 118 Vgl.: Luhmann, Niklas: Schriften zu Kunst und Literatur. Suhrkamp: Frankfurt am Main 2008. S.17.

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Machtpositionen.119 Das Subjekt ist bei der künstlerischen Gestaltung stark von den Verfahrensweisen und Regeln der Kunstdomäne abhängig. Nur mit genügend Erfahrung und einem entsprechenden Wissen über das Fachgebiet kann ein Subjekt entscheiden, ob ein Kunstwerk darin neuartig oder nützlich ist. Dabei muss die Fachbereichsreferenz im künstlerischen Gestaltungsprozess nicht immer die gesamte Kunstdomäne als Bezugspunkt haben. Innerhalb der Domäne können sich spezifizierte Fachbereiche ausbilden, die eigene Mechanismen und Regeln aufweisen, dabei jedoch immer auf ihre übergeordnete Domäne verweisen. Der Fachbereich Kunst kann sowohl auf den internationalen Kunstmarkt ausgerichtet sein, als auch auf ein Gestaltungsthema im Kunstunterricht. Der fachspezifische Kontext wird immer von den gegenwärtigen Regeln und Konventionen sowie der Zusammensetzung der beteiligten Personen bestimmt. Ohne diesen Kontext, könnte ein künstlerischer Gestaltungsprozess der Domäne Kunst nicht zugeordnet werden.120 Zusammenfassung Kapitel 3.3 Die fünf Referenzbedingungen der Kreativität finden sich als Voraussetzungen im künstlerischen Gestaltungsprozess wieder. Die Subjektreferenz beschreibt die Abhängigkeit des künstlerischen Gestaltungsprozesses von einem Subjekt. Die Produktreferenz ist für den Gestaltungsprozess die Notwendigkeit einer sinnlich wahrnehmbaren Information. Durch die Sozialreferenz entspricht der künstlerische Gestaltungsprozess einer Verhaltenseinheit, die ein kommunikatives Potential in sich trägt. Die Zeitreferenz besagt, dass jeder Gestaltungsakt als ein Handlungsakt eine gewisse Ausdehnung in der Zeit beansprucht und somit auf einen speziellen Zeitpunkt zurückgeführt werden kann. Die Fachbereichsreferenz des künstlerischen Gestaltungsprozesses bestimmt seine Anbindung an die Domäne der Bildenden Kunst mit ihren spezifischen Regeln und Verfahrensweisen.

_________________________________________________________________ 119 Vgl.: Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Suhrkamp: Frankfurt am Main 1992. S.83 ff. 120 Vgl.: Reckwitz, 2012. S.155.

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3.4 MERKMALE DES KREATIVEN UND DES KÜNSTLERISCHEN GESTALTUNGSPROZESSES Kreative Produkte, Leistungen oder Prozesse lassen sich anhand von zwei notwendigen Merkmalen von herkömmlichen Objekten und Ereignissen unterscheiden. Um etwas als kreativ zu klassifizieren, müssen die Merkmale Neuartigkeit und Nützlichkeit erfüllt sein.121 In diesem Kapitel wird nicht nur erörtert, dass die Merkmale Neuartigkeit und Nützlichkeit zwingende Bedingungen sowohl für Kreativität als auch für den künstlerischen Gestaltungsprozesses sind, sondern dass die beiden Merkmale maßgeblich von der Subjekt-, Produkt-, Sozial-, Fachbereichs- und Zeitreferenz abhängig sind. Im Folgenden wird zunächst erklärt, wie die Merkmale Neuartigkeit und Nützlichkeit mit dem Gestaltungsprozess zusammenhängen, um im Anschluss die Merkmale getrennt voneinander auf die Referenzbedingungen der Kreativität hin zu untersuchen. Die Psychologen Schuler und Görlich sehen die beiden entscheidenden Merkmale kreativer Produkte in der Originalität, die sie auch als Neuartigkeit bezeichnen, und in der Wirkung, deren wesentliches Attribut die Nützlichkeit ist. Dabei gehen sie von einem zweidimensionalen Koordinatensystem aus, in das man kreative Leistungen einordnen kann. Während die eine Achse die Neuartigkeit definiert, bestimmt die andere das Ausmaß ihrer Nützlichkeit. Sie attestieren beispielsweise der Erfindung der Zwölftonmusik eine hohe Originalität mit einer geringen Wirkung, während eine betriebliche Reorganisation eine geringe Originalität mit einer hohen Wirkung verbindet. Das Automobil dient als Beispiel, bei dem auf beiden Achsen ein Höchstwert erreicht wird.122 Die in der Kreativitätsforschung verwendeten Begriffe, wie Neuartigkeit, Originalität, Bedeutsamkeit, Ungewöhnlichkeit, Angemessenheit, Brauchbarkeit oder Nützlichkeit, stammen alle aus Definitionen, bei denen es um die Merkmale kreativer Leistungen, Prozesse oder Produkte geht. Der künstlerische Gestaltungsprozess wird bei diesen Definitionen in der Regel nicht bedacht. Bei Brodbeck findet man ein Modell des kreativen Gestaltungsprozesses, das sich auf den künstlerischen Gestaltungsprozess anwenden lässt. Die theoretische Grundlage bilden wiederum die beiden Merkmale Neuartigkeit und Nützlichkeit. Brodbeck unterscheidet in seinem Modell zunächst zwischen dem Produzieren und dem Gestalten.123 Während bei ihm das Produzieren das grundsätzliche Hervorbringen von _________________________________________________________________ 121 Vgl.: Kapitel 2.4.2. 122 Vgl.: Schuler; Görlich, 2007. S.9. 123 Vgl.: Brodbeck, 1995. S.5 f.

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Produkten oder Ereignissen darstellt, ist die Gestaltung eine spezielle Art des Produzierens. Die Unterscheidung besteht bei der Gestaltung in der Erzeugung von Ordnung. Die Produktion hingegen kann auch chaotisch und nicht zielgerichtet ablaufen. Das definierende Merkmal für den Gestaltungsprozess ist somit die Ordnung. In dieser Arbeit wird der Begriff Ordnung mit dem Begriff Nützlichkeit, wie man ihn in der Kreativitätsforschung findet, in Beziehung gebracht. Ob eine solche Paraphrasierung zulässig ist, wird in Kapitel 3.4.2 über Nützlichkeit genauer erörtert. Brodbeck nimmt in seiner Definition eine weitere Unterscheidung vor. Er grenzt die kreative Gestaltung von der einfachen Gestaltung durch das Merkmal der Neuartigkeit ab. Das bedeutet, dass der Gestaltungsprozess dann kreativ ist, wenn das entstandene Produkt oder Ereignis als neu gewertet werden kann. Brodbeck bindet in seiner Theorie das Merkmal der Ordnung (oder Nützlichkeit) an den Gestaltungsprozess und die Neuartigkeit an die Kreativität. Mit diesem Modell lässt sich das bereits erwähnte Kreativitätsmodell von Schuler und Görlich, das die Merkmale Nützlichkeit und Neuartigkeit als Achsen in einem Koordinatensystem verwendet, erweitern (Abb. 5).

Abb. 5: Achsen-Diagramm kreativer Produkte (Neuartigkeit und.Nützlichkeit) Sie beschreiben mit ihrem Modell die graduierbaren Eigenschaften von kreativen Produkten. Wenn man nun die Achsen ihres Modells ins Negative verlängert, entstehen vier Quadranten und somit vier Arten der Produktion. Im ersten Quadranten sind Neuartigkeit und Nützlichkeit positiv belegt. Das heißt, dass es sich hierbei um den kreativen Gestaltungsprozess handelt, da beide Merkmale vorhanden

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sind. Im zweiten Quadranten fällt die Neuartigkeit weg. Somit handelt es sich lediglich um das ordnende Gestalten. In Quadrant drei ist kein Merkmal vorhanden. Es definiert eine Art der Produktion in der chaotisch oder nutzlos Veraltetes oder bereits Bekanntes produziert wird. Der Quadrant vier weist lediglich das Merkmal der Neuartigkeit auf. Es kann sich hierbei jedoch nicht um eine kreative Produktion handeln, da nicht nur der kreative Gestaltungsprozess, sondern die Kreativität an sich das Merkmal der Nützlichkeit aufweisen muss. Es handelt sich somit um ein chaotisches Produzieren von Neuem. Diese Anwendung der Merkmale ermöglicht es nicht nur den kreativen Gestaltungsprozess von den anderen Arten der Produktion abzugrenzen, sondern definiert die Merkmale zugleich als graduierbare Werte, die sowohl positiv als auch negativ sein können. Man kann festhalten, dass sich der kreative Gestaltungsprozess durch die beiden Merkmale Neuartigkeit und Nützlichkeit von sämtlichen anderen Formen der Hervorbringung von Produkten unterscheidet. Diese Festlegung auf die zwei Merkmale sowie die modellhafte Einordnung in ein Koordinatensystem wird sich bei der systemtheoretischen Studie des künstlerischen Gestaltungsprozesses als äußerst nützlich erweisen, da die beiden Merkmale in dem Modell bereits als Wert verstanden werden. Bei der Reduktion auf zwei basale Merkmale treten jedoch verschiedene terminologische Probleme auf. Sowohl beim Aspekt der Neuartigkeit als auch beim Aspekt der Nützlichkeit findet man in der Fachliteratur der interdisziplinären Kreativitätsforschung alternative Bezeichnungen. Deshalb muss geprüft werden, ob es Unterschiede in den Bedeutungen gibt, oder ob es sich um ähnliche Konzepte handelt, die lediglich anders genannt werden. Im Folgenden werden die beiden Merkmale nicht nur genauer bestimmt, sondern auch ihre Abhängigkeit von den fünf Referenzbedingungen der Kreativität und des künstlerischen Gestaltungsprozesses erörtert. 3.4.1 Merkmal der Neuartigkeit In Bezug auf das Merkmal Neuartigkeit sind bereits unterschiedlichste Begriffe gefallen, die alle verschiedene Schwerpunkte ein und desselben Kriteriums fokussieren. Unabhängig davon, ob die Rede von Innovation, Originalität, Einzigartigkeit oder Ungewöhnlichkeit ist, es geht immer darum, dass etwas als neu in Erscheinung tritt. Wie Jackson und Messick feststellen, „ist die Verbindung von

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Neuheit und Kreativität so tief verwurzelt in unserem Denken, daß die beiden Begriffe manchmal wie Synonyme behandelt werden.“124 Auch Reckwitz charakterisiert die Kreativität unmittelbar mit dem Begriff des Neuen. Für ihn ist sie „die Fähigkeit ästhetisch Neues zu fabrizieren.“125 In Ermangelung einer einheitlichen Terminologie in der Kreativitätsforschung, wird in dieser Untersuchung mit der Bezeichnung Neuartigkeit operiert. In diesem Kapitel werden Bedeutungsüberschneidungen und -abweichungen der verschiedenen Bezeichnungen ausdifferenziert. In Grimms Wörterbuch gibt es eine detaillierte Auflistung der Bedeutungsnuancen des Adjektivs neu. Dort finden sich acht semantische Variationen des Begriffs, deren Anwendbarkeit auf die Kreativität im Folgenden aufgezeigt werden soll. 1. Neu kann in Bezug auf Objekte oder Ereignisse als „erst oder unlängst entstanden, geschehen, gemacht [oder] beginnend“126 umschrieben werden. Damit sind Produkte oder Ereignisse gemeint, die vorher in dieser Form noch nicht existiert haben. Der Bezug zur Bildenden Kunst scheint hier klar auf der Hand zu liegen. Die Neuartigkeit wird auf das spezifische Werk zurückgeführt, das der Künstler gestaltet. Dabei wird dem Neuen die Möglichkeit der „creatio ex nihilo“ grundsätzlich abgesprochen. Wie Stein anmerkt, formiert sich das Neue durch die „Reintegration von bereits bestehenden Materialien und Kenntnissen“ (Stein, 1973. S.65), deren daraus resultierende Produkte oder Ereignisse Elemente enthalten, die neu sind. Das bedeutet, dass der Künstler die Werke, die er gestaltet, nicht aus dem Nichts zum Vorschein bringt, sondern, dass er in seinem Schaffen stets an einen Kontext gebunden ist. Dieser Kontext entspringt aus der Fachbereichsreferenz und besteht aus den Erfahrungen, den gegenwärtigen Regeln und Konventionen und der Zusammensetzung der Rezipienten innerhalb einer Domäne. Auch wenn die Dadaisten und Futuristen das Neue nicht als variantenreiche Fortführung von Traditionen, sondern als deren quasi-revolutionäre Durchbrechung begreifen,127 bedarf es einer Basis, auf die sich das Neue beziehen kann. Ohne diese Basis oder den Kontext könnte das Werk der Domäne Kunst nicht zugeordnet werden. Nach Reckwitz entsteht das Neue demnach durch Auswahl, Modifikation, Kombination oder Präsentation.128 Mahrenholz beschreibt das als _________________________________________________________________ 124 Jackson; Messick, 1973. S.95 f. 125 Reckwitz, 2012. S.40. 126 Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. http://woerterbuchnetz.de/DWB/ Stichwort: neu (Stand 18.11.2015). 127 Vgl.: Müller, 2001. S.118. 128 Vgl.: Reckwitz, 2012. S.155.

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Ineinander von „Innovation [und] Tradition – die reine Abweichung, der reine Bruch ist logisch nicht möglich.“129 Der Soziologe Groys ergänzt, dass das Neuartige zwar über den Bezug zum Traditionellen definiert wird, dass diese Anpassung jedoch sowohl positiv als auch negativ ausfallen kann. Ein Kunstwerk kann zum einen im Sinne der traditionellen Vorbilder als eine Variation des Bekannten gestaltet werden und als positive Anpassung gelten oder zum anderen als Brechen mit den Traditionen gewertet und somit als negative Anpassung von den Mitmenschen empfunden werden.130 Gleichgültig, ob positiv oder negativ, das Neue besteht nicht nur in seiner Differenz zu bekannten oder vorangegangenen Ereignissen oder Produkten, sondern auch in seiner Abhängigkeit von diesen. Das Neue ist das Andere, die „Abweichung vom Üblichen.“131 2. Beschränkt man den Zusatz neu nur auf Objekte, können diese als noch ungebraucht, nicht abgenutzt, unverletzt oder frisch eingestuft werden.132 Hier bezeichnet neu eine reine Objekteigenschaft, die losgelöst von Zeit und Rezipient einem Gegenstand anhaften kann. Wenn ein Auto ungebraucht, ein Messer nicht abgenutzt, die verletzte Haut nach einer Wunde gesundet oder ein Apfel frisch vom Baum gefallen ist, kann man diese Dinge als neu klassifizieren. Man würde jedoch nicht auf die Idee kommen, sie als kreativ zu bezeichnen. Es fehlt die Innovationserfahrung. Dieses Verständnis von neu beschränkt sich zu stark auf die Produktebene und bezieht sich in der Bildenden Kunst nur mehr auf die Objekteigenschaften, wie die eines Bildes, dessen Farbe noch feucht ist, oder einer Bronzeplastik, die noch nicht verwittert ist und damit noch keine natürliche Patina entwickelt hat. Die gestalterische Leistung spielt nach diesem Verständnis keine Rolle. Damit Neuartigkeit als Merkmal für den kreativen Gestaltungsprozess definiert werden kann, reicht es nicht aus, damit lediglich materielle Eigenschaften zu beschreiben. 3. In Bezug auf das Alte, kann neu die Bedeutung „des verjüngten, besseren, feineren, frischeren, kräftigeren“133 erhalten. Die komperativen Formen der Adjektive verweisen hier wieder auf einen Zustand des Neuen, der aus etwas Altem abgeleitet wird. Die Eigenschaften, die sowohl auf Produkte als auch auf Ereignisse bezogen werden können, schränken den Aspekt des Neuen zwar auf ein spe-

_________________________________________________________________ 129 Mahrenholz, 2011. S.21. 130 Vgl.: Groys, 1992. S.19. 131 Reckwitz, 2012. S.45. 132 Vgl.: Grimm, St.: neu. 133 Grimm, St.: neu.

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zielles Kriterium, wie die Frische oder die Kraft, ein, untermauern aber die Aussage aus Punkt eins, dass sich Neuerungen immer auf eine ältere bzw. bekannte Basis beziehen müssen. 4. Wird das Adjektiv auf die Zeit bezogen, fungiert sie als Gegenteil von vorher, früher oder bisher.134 Der Zeitaspekt spiegelt die Zeitreferenz der Kreativität wider und spielt bei dem Merkmal der Neuartigkeit eine wichtige Rolle, da das Neue ohne das Bewusstsein des Vergangenen, in dem das Neue noch nicht existiert hat, kaum gedacht werden kann. „Das Neue ist neu im Verhältnis zum Alten.“135 Es muss ein Zeitschema existieren, das die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft voneinander unterscheidet. Ereignisse und Produkte gelten auch nur für eine bestimmte Zeitspanne als neu. Neuartigkeit hat ein Verfallsdatum. Sobald das Neue im kollektiven Bewusstsein einer Gruppe als bekannt eingestuft wird, verliert es dieses Prädikat. 5. Unter dem Aspekt des Fremden und Unbekannten kann das Neue auch als ungewöhnlich, unerwartet und seltsam bezeichnet werden. 136 Matussek sieht im Neuen das Ungewohnte und oft das Unverstandene.137 Neue Handlungen und Objekte führen meist dazu, dass Personen, die anders operieren als erwartet, und somit Regeln und Erfahrungen durchbrechen, ihre Mitmenschen überraschen. Da ihre Handlungen nicht vorhersehbar sind, erfüllen sie nicht den Erwartungshorizont ihres Gegenübers. Damit wird das Neue an die Erwartungen und das Urteil eines Publikums und somit an eine Sozialreferenz gebunden. Jackson und Messick nennen zwei Schritte, die das Publikum vollziehen muss, damit etwas als neu gewertet werden kann. Zunächst erfolgt die Einordnung einer Handlung oder eines Produktes in eine Gruppe vergleichbarer Handlungen oder Produkte. Im Anschluss werden Merkmale, die anders, ähnlich oder identisch zu bereits existierenden Handlungen oder Produkten sind, aufgezählt und verglichen. 138 Wie Reckwitz sagt, ist „das Neue das Andere gegenüber dem Gleichen“ 139. Das bedeutet, dass eine Differenz entsteht zwischen dem Neuen und dem Normalen bzw. dem von einer Gruppe normativ Erwarteten. Lediglich über die Sozialreferenz kann beurteilt werden, ob etwas neu ist oder bereits bekannt. Erstmaligkeit und Einzigartigkeit können demnach als generelle Merkmale für Kreativität nicht herangezogen _________________________________________________________________ 134 Vgl. ebd.: St.: neu. 135 Groys, 1992. S.11. 136 Vgl.: Grimm, St.: neu. 137 Vgl.: Matussek, 1974. S.317. 138 Vgl.: Jackson; Messick, 1973. S.96. 139 Reckwitz, 2012. S.43.

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werden, da sie zu absolut sind und nicht von dem Urteil einer Gruppe abhängen. Dabei sind die Art und Beschaffenheit der Gruppe mit ihrem ganz spezifischen Erwartungshorizont der ausschlaggebende Bewertungsmaßstab für die Einstufung von etwas Neuem. „‚Das Neue‘ als objektives Faktum gibt es nicht.“140 Jackson und Messick nennen hier beispielsweise die Zeichnung eines Kindes, das eine ungewöhnlich korrekte Wiedergabe eines dreidimensionalen Raumes beinhaltet, ohne dass man dem Kind vorab eine Anleitung oder Hilfestellung gegeben hat. Wenn man nun den Maßstab einer Gruppe bestehend aus Erwachsenen anlegt, von denen man erwarten kann, dass sie einen dreidimensionalen Raum auf einer zweidimensionalen Fläche zeichnen können, kann das nicht überraschen. Vergleicht man das Ergebnis aber aus der Perspektive eines Gleichaltrigen mit den Zeichnungen anderer Kinder, beispielsweise innerhalb einer Schulklasse, kann die Zeichnung als überraschend und neu beurteilt werden.141 Dieses Beispiel veranschaulicht den kommunikativen Aspekt der Neuartigkeit, der für die systemtheoretische Studie dieser Arbeit maßgeblich zur begrifflichen Definition von Kreativität beiträgt. Neues kann nie allgemeingültig gewertet werden, sondern immer nur innerhalb und für eine Gruppe mit einem vergleichbaren Erfahrungshorizont bezüglich des Bekannten, auf das sich das Neue bezieht. Sowohl der Produzent des Neuen als auch das Neue selbst benötigen zur Zertifizierung ihrer Neuartigkeit ein Publikum bzw. eine Sozialreferenz, welche die erbrachte Leistung, das Neue, auch in Anspruch nimmt.142 6. Das Neue kann nach einer Unterbrechung im Hinblick auf Ereignisse und Handlungen auch als Fortsetzung, Wiederholung oder erneutes Auftreten verstanden werden.143 Dieser von den Gebrüdern Grimm aufgezeigte Aspekt kommt zwar im alltäglichen Sprachgebrauch vor, spielt jedoch als Merkmal für Kreativität kaum eine Rolle. Das liegt daran, dass die Wiederholungen eines Ereignisses oder Produkts für ein und dieselbe Zielgruppe keinerlei neue Informationen bereit halten. Solange keine Abweichungen oder Veränderungen von bekannten Ereignissen oder Produkten auftreten, können Mitmenschen schwerlich überrascht werden. Die Wiederholung eines Ereignisses kann im Sinne der Kreativität nur dann als neu gelten, wenn das Ereignis einer Gruppe widerfährt, die damit noch nicht

_________________________________________________________________ 140 Ebd.: S.41. 141 Vgl.: Jackson; Messick, 1973. S.96. 142 Vgl.: Reckwitz, 2012. S.41. 143 Vgl.: Grimm, St.: neu.

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vertraut ist. Es gibt Sonderfälle wie den kollektiven Verlust des kulturellen Gedächtnisses.144 Dadurch „wird [es] einfacher, von der Gegenwart überrascht zu werden, wenn man das Alte nicht mehr kennt.“145 7. Eine weitere Bedeutungsnuance, die man in Grimms Wörterbuch findet, bezieht sich auf Personen, die unerfahren, fremd oder mit einer Materie nicht vertraut sind. Sie werden als Neulinge bezeichnet.146 Diese Bedeutungsnuance eröffnet zwei Lesarten des Begriffs neu, die unmittelbar mit der Betrachterperspektive zusammenhängen und auf die Subjektreferenz verweisen. Aus der Sicht einer Gesellschaft oder Gruppe, die sich auf einem Gebiet spezialisiert hat, ist der Neuling selbst das Neue. In diesem Sinne ersetzt eine Person das neue Produkt oder Ereignis und hat das Potential durch sein eigenes Auftreten, die Gruppe zu überraschen. Der Neuling ist dabei im doppelten Sinne fremd. Für die Gruppe ist er ein Fremder und in der Domäne ist er fachfremd. Das ändert sich erst, wenn er sich sowohl mit dem Personenkreis als auch mit der Domäne vertraut gemacht hat. Die zweite Perspektive geht vom Neuling selbst aus. Er bezieht den Aspekt des Neuen nicht auf sich selbst, sondern auf die Gruppe und die Domäne. Als Neuling ist er ein unkundiger Rezipient, für den jegliche Information innerhalb der Domäne und der Gruppe als neu erscheint. Aus beiden Perspektiven ist der Aspekt des Neuen an ein Publikum gebunden. Zum einen umfasst das Publikum sämtliche Teilnehmer einer Domäne und zum anderen besteht das Publikum lediglich aus dem Neuling selbst. 8. Anders hingegen verhält es sich mit Personen, die neuerungssüchtig oder reformfreundlich sind. Die Gebrüder Grimm bezeichnen solche Personen als die Neuen.147 Dabei liegt der Fokus auf der Denkart einer Person, deren Motivation die Erneuerung von etwas Bestehendem ist. Ulmann würde in diesem Fall wohl von kreativen Persönlichkeiten sprechen, Individuen, die etwas Neues erschaffen.148 Auch bei Reckwitz findet man eine zwingende Zurechnung des ästhetisch Neuen auf einen Produzenten, da es immer jemanden braucht, der eine kreative Handlung vollzieht und somit das Neue in die Welt setzt.149 Jedoch ist der Produzent nicht die einzige Person, die bei der Schaffung von Neuem eine zentrale Rolle _________________________________________________________________ 144 Reckwitz erkennt in der aktuellen Gesellschaft eine „Abnahme der Sensibilität für das in der Vergangenheit Neue“. Dadurch entsteht eine Gesellschaft aus Rezipienten, der die Vergleichsmöglichkeiten abhanden gekommen sind. Vgl.: Reckwitz, 2012. S.332. 145 Ebd.: S.332. 146 Vgl.: Grimm, St.: neu. 147 Vgl. ebd.: St.: neu. 148 Vgl.: Ulmann, 1973. S.16. 149 Vgl.: Reckwitz, 2012. S.39 f.

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spielt. Reckwitz beschreibt in seiner Kreativitätstheorie die Neuartigkeit als einen Wert, bei dem es zwei Instanzen gibt, die darüber entscheiden: die Rezipienten und die Produzenten. Das Neue ist eine Evaluierungsfrage, da sowohl Produzenten als auch Publikum über die Neuartigkeit eines Produktes oder Ereignisses entscheiden müssen. Nicht alle Bedeutungsnuancen des Wortes neu, die man in Grimms Wörterbuch findet, spielen eine tragende Rolle als Merkmal für das Verständnis des kreativen Gestaltungsprozesses. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Neue zeitgebunden, universalästhetisch, reintegrativ, fachbereichsspezifisch, überraschend, von einem Produzenten stammend und auf eine bestimmte Rezipientengruppe bezogen sein muss. Das heißt, dass sämtliche Referenzbedingungen der Kreativität erfüllt sein müssen, damit man von Neuartigkeit sprechen kann. Sowohl Produzenten als auch Publikum entscheiden über den Grad der Neuartigkeit. Dieses Verständnis von Neuartigkeit dient zum einen als basales Merkmal der Kreativität an sich und sagt zum anderen bereits viel über die Abläufe und Mechanismen des künstlerischen Gestaltungsprozesses aus. Jedoch ist „der Grad der Neuheit als solcher […] noch keine Garantie für die Produktivität einer Idee“ 150, eines Ereignisses oder eines Objektes. Damit etwas als kreativ gelten kann, reicht es nicht, wenn es einfach nur neu ist. Es muss im Rahmen des Bezugsfeldes nützlich sein. Groys sagt, dass das Neue nicht bloß das Andere und somit die reine Differenz zum Bekannten sein kann, sondern auch immer „als wertvoll genug befunden [werden muss], um aufbewahrt, erforscht, kommentiert und kritisiert zu werden, um nicht im nächsten Augenblick wieder zu verschwinden.“151 Würde sich der kreative Gestaltungsprozess lediglich einem „Regime des Neuen“152 unterwerfen, ginge es nicht mehr darum Nützliches, Passendes oder Besseres, sondern nur noch darum Anderes zu produzieren. Läge das Streben nach Kreativität alleine in der Erzeugung neuer Ereignisse und Produkte, wäre das Befüllen eines _________________________________________________________________ 150 Matussek, 1974. S.22. 151 Groys ordnet in seiner Theorie des Neuen das Merkmal des Wertvollen, Bedeutsamen und Nützlichen der Neuartigkeit unter, während in der Kreativitätsforschung beide Merkmale, Nützlichkeit und Neuartigkeit, gleichwertig nebeneinander stehen. In dieser Arbeit werden die beiden Merkmale ebenfalls als gleichwertig behandelt. Vgl.: Groys, 1992. S.43. 152 Die Formulierung „Regime des Neuen“ von Reckwitz basiert auf seiner These, dass unsere Gesellschaft einem Kreativitätsdispositiv unterliegt. Kreativität ist darin eine knappe Ressource, deren enorme Nachfrage in einer wachstumsorientierten Gesellschaft kaum gesättigt werden kann. Vgl.: Reckwitz, 2012. S.327.

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Feuerzeuges mit Wasser statt mit Benzin vielleicht innovativ, jedoch leider sinnlos. Hentig ist sogar der Ansicht, dass aus pädagogischer Sicht der Kreativitätsbegriff im Sinn der reinen Erfindung für die Schule keinen Wert hat. Für ihn muss die Kreativität einen Zweck erfüllen, der sich in Handlungen wie Erkennen, Prüfen, Verstehen und Durchhalten widerspiegelt.153 Krautz erkennt in dem Paradigma, die kreative Gestaltung lediglich auf das Neue oder die Innovation auszurichten, auch ein Problem für den Kunstunterricht. Denn wenn das Denken und Fühlen der Schüler lediglich auf das Suchen nach Neuem gelenkt wird, besteht die Gefahr, dass die Förderung und Lehre von Kreativität und die Gestaltung von Neuem zum Selbstzweck verkommen und einem nachhaltigen, für die Gesellschaft relevanten Verständnis von kreativer Gestaltung entgegenwirken.154 Deshalb braucht sowohl die Kreativität als auch die künstlerische Gestaltung ein weiteres regulatives Merkmal, das in dieser Arbeit als Nützlichkeit bezeichnet wird. 3.4.2 Merkmal der Nützlichkeit Neben der Neuartigkeit wurde bereits ein zweites Merkmal für den kreativen Gestaltungsprozess definiert, das Nützlichkeit oder Brauchbarkeit genannt wird. Dieses Merkmal hängt eng mit dem Untersuchungsfeld des kreativen Prozesses zusammen, der ursprünglich als Problemlösungsprozess konzipiert worden ist.155 Um ein Problem zu beheben, reicht es eben nicht aus, dass eine Lösung lediglich neuartig ist. Sie muss in Bezug auf die Problemstellung auch nützlich sein. Dabei stellt sich die Frage, vor allem aus einer künstlerischen Perspektive, inwieweit kreative Prozesse überhaupt Problemlösungsprozesse sind, oder nützlich sein müssen.156 Denn gerade das bildnerisch künstlerische Gestalten muss nicht zwingend auf das Erkennen, Analysieren und Lösen eines existierenden Problems bezogen sein, sondern kann ebenso spontan erfolgen. Auch wenn der kreative Gestaltungsprozess nicht mit einem allgemeinen Problemlösungsprozess gleichgesetzt werden kann, muss es über die Neuartigkeit hinaus ein weiteres Merkmal _________________________________________________________________ 153 Vgl.: Hentig, 2000. S.77. 154 Vgl.: Krautz, Jochen: Kreativität zwischen Person und Funktion. Aktuelles und Grundsätzliches zur Kritik des „schwachen Begriffs“. In: Kunst + Unterricht. Kreativität; Heft 331/332; S. 75-81. Hrsg.: Johannes Kirschenmann. Erhard Friedrich Verlag GmbH: Seelze 2009. S.81. 155 Guilford bezieht sich bei der Untersuchung des kreativen Prozesses auf die Arbeit von Dewey, der in seinem Buch „How we think“ Denkprozesse analysiert und ein erstes Phasenmodell für Problemlösungsprozesse erstellt. Vgl.: Dewey, 1910. S.72 ff. 156 Vgl.: Schulze, 2009. S.7.

124 | Kreativität im künstlerischen Gestaltungsprozess

geben, das dem Gestaltungsprozess eine Orientierung ermöglicht und nicht einfach nur sinnloses, chaotisches und unnützes Produzieren von neuen Produkten oder Ereignissen ist. Bei Brodbeck und Regel wird dieses Merkmal der Gestaltung mit Blick auf die Bildende Kunst Ordnung genannt. Im alltäglichen Sprachgebrauch hat der Begriff unterschiedlichste Bedeutungsnuancen. Zum einen kann er allgemein das Resultat oder den Zustand nach Prozessen des Sortierens oder Aufräumens beschreiben. Zum anderen kann er als Reihenfolge oder mit Wertung auch als Rangfolge von Lebewesen oder Objekten verstanden werden. Er kann aber auch räumlich genutzt werden und beispielsweise Abstände und Größenrelationen im Sinne einer Anordnung bezeichnen. Regel verwendet den Begriff darüber hinaus gleichbedeutend mit der bildnerischen Komposition. Damit meint er die sinnlich wahrnehmbare Anordnung unterschiedlicher Formen und Formgruppierungen innerhalb eines Kunstwerks als Ganzes. Dieses Beziehungsgeflecht von Formen wird zur Ordnung, wenn sie als sinnfällig und schlüssig empfunden wird.157 Bei Regel ist die Ordnung als eine Art sinnhafte Strukturierung demnach ein wesentliches Merkmal der künstlerischen Gestaltung. Brodbeck versteht den Begriff der Ordnung in Bezug auf den Gestaltungsprozess ebenfalls als eine Strukturierung. Diese Strukturierung versteht er als eine aktive, zielgerichtete Handlung, durch welche die Umwelt sinnvoll geordnet wird. Der von Brodbeck und Regel gebrauchte Ordnungsbegriff erfüllt im Gestaltungsprozess dieselbe Aufgabe, wie der Nützlichkeitsbegriff im Problemlösungsprozess. Beide Begriffe dienen dem jeweiligen Prozess als Merkmal für ein intendiertes, zielorientiertes und wertvolles Handeln. Demnach handelt es sich bei dem Verständnis der beiden Begriffe mit Blick auf den künstlerischen Gestaltungsprozess um ähnliche Konzepte, die lediglich anders bezeichnet werden. Bei Jackson und Messick findet man hingegen das Kriterium der Angemessenheit, da auch für sie die reine „Ungewöhnlichkeit oder Originalität nicht ausreichend ist.“158 Der Unterschied der Angemessenheit gegenüber der Nützlichkeit liegt in der wertneutralen Erweiterung der optionalen Ereignisse und Produkte. „Um angemessen zu sein, muß ein Produkt [oder ein Ereignis] in seinen Kontext passen.“159 Während die Nützlichkeit ein Ziel verfolgt, nämlich ein Problem zu lösen, schließt die Angemessenheit im Rahmen eines Kontextes deutlich mehr Möglichkeiten für kreative Produkte oder Ereignisse mit ein. Das liegt daran, dass der Begriff Nützlichkeit eine generelle Verbesserung einer Situation oder eines _________________________________________________________________ 157 Vgl.: Regel, 1986. S.122. 158 Jackson; Messick, 1973. S.95. 159 Ebd.: S.96.

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Zustandes suggeriert, während die Angemessenheit wertfrei die bloße Veränderung innerhalb eines Kontextes markiert. Das bedeutet nicht, dass die Angemessenheit völlig ohne Beurteilungsmaßstäbe auskommt. Jackson und Messick fordern auch für das Kreativitätsmerkmal der Angemessenheit bestimmte Wertmaßstäbe. Ereignisse und Produkte müssen „sowohl psychologisch als auch logisch interpretiert werden und sollte[n] sowohl die Absichten des Produzenten als auch die Erfordernisse der Situation mit berücksichtigen.“160

Die Nützlichkeit kann hier synonym mit der Angemessenheit verwendet werden, da ein angemessenes Handeln nach diesem Zitat ebenso einem intendierten, zielorientierten und wertvollen Handeln entspricht. Nützlichkeit, Ordnung und Angemessenheit bezeichnen demnach aus Sicht der Kreativitätsforschung ähnliche Konzepte. Hinzu kommt, dass alle drei Begriffe denselben Referenzbedingungen der Kreativität unterliegen wie die Neuartigkeit. Die Nützlichkeit ist über die Produktreferenz an eine Leistung oder ein Produkt gebunden, da es ansonsten nichts gäbe, das als nützlich bewertet werden könnte. Ebenso benötigt die Nützlichkeit eine Subjekt- und eine Sozialreferenz. Ohne Subjekte könnte Nutzen weder konstituiert noch evaluiert werden.161 Die Nützlichkeit erfordert somit, wie die Neuartigkeit, sowohl einen Produzenten als auch einen Rezipienten. Der Produzent generiert Produkte oder Ereignisse, die als nützlich bezeichnet werden können, und das Publikum entscheidet über die tatsächliche Nützlichkeit oder Nutzlosigkeit. Hinzu kommt die Zeitreferenz. Nützlichkeit kann kein absolutes und endgültiges Merkmal für ein kreatives Produkt oder Ereignis sein. Es unterliegt „der Unhaltbarkeit seines Aktualitätskerns.“162 Nützlich ist etwas „für eine Gruppe zu einem bestimmten Zeitpunkt [und] nicht für alle und für immer“ 163. Auch eine Fachbereichsreferenz ist notwendig. Ohne einen fachspezifischen Kontextrahmen könnte eine kreative Leistung oder ein künstlerischer Akt gar nicht als nützlich bewertet werden. Der Kontext, in dem etwas nützlich sein kann, ist in dieser Studie der bildnerisch künstlerische Gestaltungsprozess. Die Kreativität muss im _________________________________________________________________ 160 Ebd.: S.97. 161 Vgl.: Luhmann, Niklas: Einführung in die Systemtheorie. Carl Auer Systeme Verlag: Heidelberg 2002 (2). S.224. 162 Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Suhrkamp: Frankfurt am Main 1996. S.100. 163 Ulmann, 1973. S.14.

126 | Kreativität im künstlerischen Gestaltungsprozess

Rahmen des künstlerischen Gestaltungsprozesses nicht nur neuartig, sondern auch nützlich sein. Sämtliche Referenzbedingungen der Kreativität und des künstlerischen Gestaltungsprozesses gelten demnach nicht nur für die Neuartigkeit, sondern auch für die Nützlichkeit. Auch Rodin muss in dem bereits herangezogenen Beispiel von L’homme au nez cassé den Sturz der Plastik vom Modellierbock auf seine Nützlichkeit geprüft haben (Abb. 3; S. 97). Leber beschreibt, dass das Tonmodell der Plastik im Atelier zu Boden gefallen ist und dieses vermeintliche Unglück die vordere Gesichtshälfte so verformt hat, dass der glaubwürdige Eindruck einer gebrochenen Nase entstanden ist.164 Dieses vermeintliche Unglück hat durch die daraus resultierende Deformation in Rodins Augen zu einer unerwarteten Bereicherung der Formensprache geführt. Denn Rodin hat den Zufall nicht nur bewahrt, sondern ihm das ganze Werk gewidmet. Das bedeutet, dass Rodin das Ergebnis dieses Zufalls nicht nur als neuartig, sondern auch als nützlich eingestuft hat. Jedoch wurde der in dem Beispiel beschriebene Zufall von Rodin nur deshalb in den Gestaltungsprozess aufgenommen, da die Plastik zu einem bestimmten Zeitpunkt mit einem bestimmten Winkel auf dem Boden aufgeschlagen ist und zu einer spezifischen Gestalt geführt hat. Wer kann sagen, ob Rodin den Zufall bewahrt und als nützlich eingestuft hätte, wenn die Plastik in einem früheren oder späteren Werksstadium gefallen wäre? Ebenso wahrscheinlich hätte der Sturz die gesamte Gesichtspartie derart deformieren und ruinieren können, dass Rodin die Plastik hätte verwerfen müssen. Natürlich sind das Spekulationen, da zum einen die Entscheidung über die Nützlichkeit eines solchen Ereignisses in erster Linie vom Gestalter getragen wird und zum anderen die optionalen Möglichkeiten, die einem Künstler während des Gestaltungsprozesses offen stehen, schier unendlich erscheinen. Aber dieser eine Zufall hat zu einer asymmetrischen Variation geführt, welche das Formgefüge des Porträts spannungsreich gesteigert hat. Rodin hat das erkannt und bewahrt.165 Obwohl in diesem Beispiel der Zufall als maßgebliches Gestaltungsmittel dient, zeigt es, dass neben der Neuartigkeit ein weiteres Kriterium erforderlich ist, das innerhalb des Gestaltungsprozesses Ereignisse und Produkte als passend oder nicht passend auszeichnet. Die beiden Merkmale Neuartigkeit und Nützlichkeit, die aus der interdisziplinären Kreativitätsforschung abgeleitet sind, erweisen sich im Rahmen dieser Studie als sehr wichtig, da sie sowohl den kreativen Prozess als auch das künstlerische Gestalten vom allgemeinen Produzieren abgrenzen und Bedingungen für ein systemtheoretisches Modell des künstlerischen Gestaltungsprozesses _________________________________________________________________ 164 Vgl.: Leber, Hermann: Entstehung und Gestalt des Kunstwerks bei Cézanne und Rodin. Universitätsverlag: Regensburg 2012. S.64. 165 Vgl.: Leber, 2012. S.64.

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schaffen. In den Kapiteln 4 und 5 werden die Referenzbedingungen der Kreativität mithilfe der Systemtheorie im künstlerischen Gestaltungsprozess ausdifferenziert, um nachzuvollziehen, wie die beiden Merkmale Neuartigkeit und Nützlichkeit darin verankert sind. In Kapitel 6 werden die beiden Merkmale benutzt, um an ihrer Schnittstelle die Kreativität im künstlerischen Gestaltungsprozess zu definieren. Zusammenfassung Kapitel 3.4 Die beiden Merkmale Neuartigkeit und Nützlichkeit sind zwingende Merkmale der Kreativität und des künstlerischen Gestaltungsprozesses, die in ihrem Wert variieren können. Hinzu kommt, dass beide Merkmale von den Referenzbedingungen der Kreativität abhängig sind. Die Subjektreferenz ist zuständig für das Hervorbringen sowie für die Zertifizierung des Neuartigen und Nützlichen. In der Produktreferenz lassen sich die Merkmale an dem jeweiligen Sachverhalt oder Objekt beurteilen. Die Sozialreferenz zertifiziert nicht nur die beiden Merkmale, sondern organisiert auch die Zertifizierungsorientierung des Subjekts. Die Fachbereichsreferenz grenzt die Domäne ab, in der etwas neuartig und nützlich sein kann, und die Zeitreferenz macht die beiden Merkmale von einem Zeitpunkt abhängig.

4

Künstlerischer Gestaltungsprozess in der Systemtheorie

Das Zustandekommen der Kreativität hängt im künstlerischen Gestaltungsprozess von den Referenzbedingungen einer Person, eines Produktes, eines sozialen Umfeldes, eines speziellen Fachbereichs und eines bestimmten Zeitpunktes ab. Wenn alle Referenzbedingungen erfüllt sind, kann sich eine Leistung, ein Produkt oder ein Ereignis als neuartig und nützlich erweisen. Als Merkmale der Kreativität kennzeichnen Neuartigkeit und Nützlichkeit das Potential einer Leistung oder eines Produktes, um als kreativ gewertet werden zu können. Im bisherigen Verlauf der Studie sind lediglich Referenzbedingungen und Merkmale der Kreativität festgelegt worden. Die Definition des Begriffs selbst ist nicht erfolgt, da durch die unterschiedlichen Forschungsfelder und den damit verbundenen Verwendungen des Begriffs unklar ist, ob es sich dabei um eine subjektbezogene Fähigkeit, eine produktbezogene Eigenschaft, eine sozialbezogene Wertung oder ein evolutionstheoretisches Prinzip handelt. Bei der Begriffsbestimmung der Kreativität im künstlerischen Gestaltungsprozess wird im Folgenden die Systemtheorie von Luhmann herangezogen. Dazu wird zunächst ein systemtheoretisches Modell des künstlerischen Gestaltungsprozesses entworfen, um im Anschluss daran zu untersuchen, in welchem Element dieses Modells sich sämtliche Referenzen und Merkmale der Kreativität überschneiden, um auf dieser Basis zu einer gültigen Definition von Kreativität zu gelangen. In Kapitel 4.1 wird die Systemtheorie von Luhmann als Forschungsmethode vorgestellt. Dabei werden die grundlegenden Voraussetzungen und Mechanismen der Systemtheorie erläutert. Das darauffolgende Kapitel 4.2 zerlegt den künstlerischen Gestaltungsprozess in seine beteiligten Subsysteme. An der Ausdifferenzierung der psychischen, sensomotorischen und sozialen Systeme des Gestaltungsprozesses können die Subjekt-, Produkt- und Sozialreferenz der künstlerischen Gestaltung belegt werden. Die Zerlegung des Gestaltungsprozesses in

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seine einzelnen Subsysteme dient im weiteren Verlauf der Arbeit, die Mechanismen und Abläufe zwischen den Systemen zu erklären und die Rolle der Kreativität dabei zu bestimmen.

4.1 SYSTEMTHEORIE ALS UNTERSUCHUNGSMETHODE Die allgemeine Systemtheorie als Untersuchungsmethode ist in den 1970er Jahren in Deutschland als ein Gebiet der Regelungstheorie1 oder Thermodynamik2 bekannt geworden. Heute gilt sie als ein interdisziplinäres Erkenntnismodell, das Systeme benutzt, um mechanische, biologische oder soziale Phänomene zu beschreiben und zu erklären. Ihre Aufgabe besteht darin, allgemeine Prinzipien, die für alle Systeme gleichermaßen gelten, abzuleiten und zu formulieren,3 um zu einem besseren Verständnis des jeweiligen Untersuchungsgebietes wie beispielsweise der Gesellschaft zu gelangen. Anwendungsbereiche für die Systemtheorie findet man nicht in singulär auftretenden Ereignissen oder Phänomenen, sondern in vernetzten, sich selbst erhaltenden Einheiten, wie etwa der Gesellschaft, der Justiz oder sogar dem Haushalt. In dieser Untersuchung kommt in erster Linie die Systemtheorie von Niklas Luhmann zur Anwendung. Sie dient als begriffliche Architektur, um auf der einen Seite den künstlerischen Gestaltungsprozess auszudifferenzieren und auf der an_________________________________________________________________ 1

Vgl.: Bertalanffy, Ludwig von: Vorläufer und Begründer der Systemtheorie. In: Systemtheorie. Hrsg.: Kurzrock, Ruprecht. S. 17-28. Colloquium Verlag: Berlin 1972. S.17.

2

Die Thermodynamik ist eine Systemtheorie, die sich in zwei Hauptsätze gliedert. Der erste Hauptsatz besagt, dass in geschlossenen oder isolierten Systemen Energie nicht hergestellt und nicht verloren geht, sondern durch Umwandlung lediglich ihre Erscheinungsform verändert. Bleibt der Betrag an Energie und Materie bewahrt, resultiert daraus ein gleichmäßig fortschreitendes Wachstum. Der zweite Hauptsatz diktiert den Preis der Energieumwandlung. Er besagt, dass ein System durch die Umwandlung der Energie permanent Energie verbraucht, was als Entropie bezeichnet wird. Entropie ist dabei jene Energiemenge, die nicht mehr in vom System nutzbare Arbeitsenergie umgewandelt werden kann. Vgl.: Rifkin, Jeremy: Entropie. Ein neues Weltbild. Hoffmann und Campe: Hamburg 1982. S.45 f.

3

Vgl.: Bertalanffy, 1972. S.21.

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deren Seite den Bedeutungskern der Kreativität zu analysieren. Dabei werden Kriterien und Begriffe aus der Systemtheorie herangezogen aber auch verändert, wenn ein Konflikt mit den Inhalten und Begriffen der Domäne Kunstpädagogik entsteht. Im folgenden Kapitel soll geklärt werden, was ein System überhaupt ausmacht und wie mit einem solchen Theorierahmen der künstlerische Gestaltungprozess erklärt werden kann, um im Anschluss die Rolle der Kreativität darin zu ermitteln. Dabei muss von vornherein ausgeschlossen werden, dass es ein singuläres System gibt, das den kreativen Gestaltungsprozess erklären kann. Vielmehr gibt es eine Koppelung von motorischen, psychischen und sozialen Systemen, die an der künstlerischen Gestaltung beteiligt sind. Luhmann untersucht mit seiner Systemtheorie in erster Linie soziale Systeme. Seine Theorie basiert auf der Annahme, dass die moderne Gesellschaft funktionsbezogene autopoietische Teilsysteme ausgebildet hat. 4 Als eines dieser Teilsysteme untersucht Luhmann neben der Religion oder der Politik auch die Kunst. Mit Luhmann hat sich in den letzten Jahrzehnten die Kunstsoziologie als ein Teilgebiet der Soziologie entwickelt. Dabei geht es im Gegensatz zur Ästhetik, als Wissenschaft der sinnlichen Wahrnehmung und Erkenntnis, und zur Kunstphilosophie, als Lehre vom Wesen des Schönen und Erhabenen, um die soziokulturelle Einbettung der Kunst.5 Untersucht werden dabei die Bedingungen der Entstehung, Vermittlung, Aneignung und Wirkung von Kunst als ein kollektives, sozial konstruiertes Phänomen. Weiterhin werden die Einflussfaktoren der Gesellschaft und der historischen Einordnung auf den Künstler und sein Werk analysiert. Theorieübergreifend ist die Kunst in der Soziologie „ein gesellschaftliches „Produkt“ oder „Projekt“ […], das – bestehend aus Symbolen, Artefakten und Praktiken – menschlichen Interaktionen entspringt, mit anderen Worten, aus kommunikativen Handlungen vergesellschafteter Individuen hervorgeht, an nachfolgende Generationen weitergegeben wird und gesellschaftliche Effekte erzeugt.“6

_________________________________________________________________ 4 5

Vgl.: Luhmann, 2008 (2). S.246. Vgl.: Müller-Jentsch, Walter: Die Kunst in der Gesellschaft. Springer: Wiesbaden 2012. S.3 f.

6

Ebd.: S.13.

132 | Kreativität im künstlerischen Gestaltungsprozess

Namhafte Vertreter der Kunstsoziologie neben Luhmann sind beispielsweise Bourdieu mit seiner Kunstfeldtheorie7 oder Beckers Kunstwelttheorie8, auf die in dieser Arbeit nicht weiter eingegangen werden kann, da deren Theorien zu weit von dem vorliegenden Forschungsvorhaben wegführen würden. Im Vergleich zu Luhmanns Systemtheorie, die durch die funktionale Differenzierung9 ihren Fokus auf die Analyse von Operationen innerhalb von Teilsystemen der Gesellschaft legt,10 untersuchen Becker und Bourdieu in erster Linie die beteiligten Individuen und ihre Netzwerke.11 Da in dieser Studie nicht ein Netzwerkmodell des Kunstfeldes, sondern ein Denk- und Handlungsmodell des künstlerischen Gestaltungsprozesses zur Definition der Kreativität herangezogen wird, dient unter den kunstsoziologischen Theorien in erster Linie Luhmanns Systemtheorie als grundlegende Untersuchungsmethode. Luhmanns übergeordnetes Ziel ist mit dem von Bourdieu und Becker durchaus vergleichbar, da es darin besteht, ein soziales Feld als selbstreferentielles und selbstprogrammiertes Kunstsystem auszudifferenzieren. Jedoch ist seine Herangehensweise eine andere. Durch Luhmanns Fokus auf die vielfältigen Operationsweisen beteiligter Systeme und die Unterscheidung verschiedener Systemarten ist sein Modell geeignet, die Referenzbedingungen und Merkmale der Kreativität im künstlerischen Gestaltungsprozess zu beschrei-

_________________________________________________________________ 7

Bei Bourdieus Kunstfeld handelt es sich neben anderen Feldern wie Wirtschaft oder Politik um eine relativ autonome, von besonderen Regeln bestimmte Handlungssphäre vergesellschafteter Menschen mit spezifischen Qualifikationen, Praktiken und Strategien sowie einer ausgeprägten Hierarchie von Machtpositionen. Vgl.: Bourdieu, 1992. S.83 ff.

8

Das Kunstwerk innerhalb der Kunstwelt ist für Becker nicht das Produkt eines einzelnen Schöpfers, sondern eine Aktivität, die kollektiv und interaktiv ausgeübt wird. Kunstwelten konzipiert er als Netzwerke von mehreren Individuen, die miteinander arbeitsteilig kooperieren, um ein Kunstwerk hervorzubringen und es dem Publikum zu vermitteln. Sie sind ein Ensemble sozialer Praktiken und Konventionen, an denen der Künstler ebenso wie Märkte, Medien, Kritiker und Rezipienten teilnehmen. Vgl.: Becker, Howard S.: Art Worlds. University of California Press: Berkeley 1982. S.1 ff.

9

Funktionale Differenzierung bedeutet, dass einzelne Funktionsbereiche isoliert und auf sich selbst gestellt werden, indem man ihre Operationsweise mit den dazugehörigen und jeweils einzigartigen Codes definiert. Vgl.: Luhmann, 2008 (2). S.302.

10 Vgl.: Luhmann, 2008 (2). S.140. 11 Vgl.: Müller-Jentsch, 2012. S.25.

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ben und die Rolle der Kreativität darin zu bestimmen. Im Rahmen einer kunstpädagogischen Forschung kann die Systemtheorie helfen, grundsätzliche Vorgänge im Gestaltungsprozess aufzuschlüsseln und die Bedingungen und Beziehungen der einzelnen Denk- und Handlungsakte zu konkretisieren. In dieser Arbeit dient die Systemtheorie als begriffsanalytische Forschungsmethode, um anhand des künstlerischen Gestaltungsprozesses den Begriff der Kreativität zu definieren. 4.1.1 System und Umwelt Systemtheoretische Modelle werden in unterschiedlichsten wissenschaftlichen Domänen angewendet, da mit ihnen komplexe Zusammenhänge strukturiert und erklärt werden können. Ein System ist dabei grundsätzlich ein „Komplex von Elementen, die miteinander verbunden und voneinander abhängig sind und insofern eine strukturierte Ganzheit bilden [...]; ein geordnetes Ganzes, dessen Teile nach bestimmten Regeln, Gesetzen oder Prinzipien ineinandergreifen. In dieser allgemeinen Bedeutung steht [System] in den Einzelwissenschaften für eine Vielzahl unterschiedlichster Zusammenhänge“12. Zum Beispiel sind Atome Elemente in einem System physikalischer Elementarpartikel. Lebende Zellen bilden als System organische Verbindungen und Individuen bilden eine Gesellschaft.13 Nach Luhmann beispielsweise „gibt [es] Maschinen, chemische Systeme, lebende Systeme, bewußte Systeme [und] sinnhaft-kommunikative (soziale) Systeme.“14 Als Systemtheoretiker, der komplexe Zusammenhänge durch allgemeine Theorien zur Funktionsweise von Systemen beschreibt, steht Luhmann in der Tradition von Ludwig von Bertalanffy, der als einer der ersten um 1950 Systeme als Interaktionszusammenhänge, die sich von ihrer Umwelt abgrenzen, definiert.15 Das heißt, dass die Grenze, die ein System von seiner Umwelt trennt, das System als solches markiert.16 Die abgegrenzte Umwelt besteht wiederum aus anderen Interaktionszusammenhängen. Sie ist die nicht erfassbare Komplexität aus der _________________________________________________________________ 12 Hügli, Anton; Lübcke, Poul: Philosophielexikon. 1. Auflage. Rowohlt Verlag: Reinbek bei Hamburg 1991. St.: System. 13 Vgl.: Bertalanffy, 1972. S.18. 14 Luhmann, 1996. S.67. 15 Vgl.: Bertalanffy, Ludwig von: An Outline of General Systems Theory. In: The British Journal for the Philosophy of Science. Ausgabe 1950 I/2. S. 134-165. Oxford University Press: Oxford 1950. S.143. 16 Vgl.: Luhmann, Niklas: Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen? GWV Fachverlage: Wiesbaden 2008 (1). S.17.

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Summe aller anderen Systeme. Die Umwelt kann also lediglich aus dem Blickwinkel eines Systems definiert werden. Wechselt man das System, ändert sich auch die Umwelt. Wenn man beispielsweise den Gestaltungsprozess als System begreift, grenzt man jegliche Handlung und Aktivität, die nichts damit zu tun hat, als Umwelt aus. Natürlich sind die Systeme partiell mit ihrer Umwelt, das heißt mit anderen Systemen, verbunden. Diese Verbindungen werden bei Luhmann Koppelungen genannt. Diese Koppelungen sorgen jedoch nicht dafür, dass Systeme untereinander interagieren oder kommunizieren können. Koppelung bedeutet lediglich, dass sich verschiedene Systeme durch Irritation und Resonanz überschneidungsfrei aneinander orientieren. Wie die einzelnen Systeme operieren, bzw. welche Handlungen sie vollziehen, wird von der Art des Systems diktiert. Denn eine Eigenart in Luhmanns Systemtheorie besteht darin, dass jedes System für sich operativ geschlossen ist. 4.1.2 Offene und geschlossene Systeme Bertalanffy unterscheidet traditionell zwischen offenen und geschlossenen Systemen. Der größte Unterschied besteht darin, dass offene Systeme im Gegensatz zu den klassisch geschlossenen Systemen fähig sind, einen Informationsüberschuss bzw. einen Informationsmangel zu vermeiden. Um das zu erreichen, werden vom System Materie, Energie oder Information aus der Umwelt entnommen und wieder abgegeben. Es muss also seine Umwelt so verändern, dass eine entsprechende Energie und Informationszufuhr gewährleistet wird, damit es als System existieren kann.17 Findet ein Informationsverlust statt, ist das System nicht mehr operationsfähig und erlischt oder es ändert seine internen Strukturen und Operationen, um den Austausch mit der Umwelt aufrecht zu erhalten und somit weiter existieren zu können. Diese interne Veränderung oder Neuanpassung von Strukturen kann auch als Lernprozess eines Systems begriffen werden, dessen Bedeutung für die Lebensdauer offener Systeme nicht unterschätzt werden darf.18 Weiterhin verfügt ein offenes System über variable, sich ständig verändernde Relationen seiner Elemente, die durch nicht vorhersehbare Umwelteinflüsse mit Hilfe von Kommunikation, Interaktion oder Transformation gesteuert werden. Sie befinden sich durch den dynamischen Austausch mit ihrer Umwelt in einem _________________________________________________________________ 17 Vgl.: Haseloff, Otto Walter: Kommunikation, Transformation und Interaktion bei lernfähigen Systemen. In.: Systemtheorie. Hrsg.: Kurzrock, Ruprecht. S. 57-81. Colloquium Verlag: Berlin 1972. S.57. 18 Vgl. ebd.: S.58.

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schwer greifbaren Zustand, da durch die Umweltabhängigkeit zwar eine Autonomie durch Selbstregulierung angenommen, aber meist nicht untersucht werden kann.19 Dadurch ist es schwierig, die Abläufe in einem System zu bestimmen, da meist nur bekannt ist, was in ein System aus der Umwelt eingespeist wird (Input) und was nachher wieder herauskommt (Output). Jedoch ist es auch hier möglich, dass ein offenes System mithilfe höherer Ordnungszustände erklärt werden kann. Bertalanffy nimmt den Stoffwechsel lebender Organismen als Musterbeispiel für ein offenes System, in dem der Organismus durch Materieaustausch eine Wechselwirkung mit der Umwelt vollzieht.20 Geschlossene Systeme hingegen interagieren nicht mit ihrer Umwelt, sie können ihre internen Strukturen und Operationen nicht verändern und sind somit auch nicht lernfähig. Sie sind in sich stabil und zeigen nur eine stark eingeschränkte Wechselwirkung mit ihrer Umwelt. Strenggenommen gibt es bei ihnen keine Organisation einer sich entwickelnden Komplexität, da sie durch die Abgrenzung zur Umwelt keine neuen Einflüsse in sich aufnehmen können. Das klassische Verständnis eines geschlossenen Systems stammt aus der Kybernetik, die man als Regelungs- oder Steuerungstheorie begreifen kann. Die Kybernetik ist eine mathematische Disziplin, die in erster Linie versucht, mechanisch geregelte Mechanismen in eine Systemtheorie zu fassen.21 Durch die strikte Trennung von Umwelt und System und das Fehlen einer Wechselwirkung sind kybernetische Modelle und Theorien hermetisch in sich geschlossen. Das ermöglicht, komplexe Mechanismen in einem System zu organisieren und eine interne Ordnung zu schaffen.22 _________________________________________________________________ 19 Bertalanffy differenziert offene und geschlossene Systeme auf Basis der Theorie, dass ein System immer im Gleichgewicht sein muss. Dabei unterscheidet er ein echtes Gleichgewicht und ein Fließgleichgewicht. Ein echtes Gleichgewicht stellt sich in geschlossenen Systemen ein, die weder Materie noch Energie mit ihrer Umgebung austauschen. Das System kann also keine Arbeit mehr verrichten. Alle makroskopischen Zustandsgrößen sind konstant, auch wenn mikroskopische Prozesse weiterlaufen (Beispiel: Chemisches Gleichgewicht). Ein Fließgleichgewicht stellt sich in offenen Systemen ein, die mit ihrer Umgebung Materie oder Energie austauschen. Es ist durch die Konstanz einer Größe charakterisiert, die durch primäre Regulation bewirkt wird. Vgl.: Bertalanffy, Ludwig von: General System Theory. Foundations, Development, Applications. George Braziller Inc.: New York 1968. S.39 ff. 20 Vgl.: Bertalanffy, 1972. S.22. 21 Vgl.: Wiener, Norbert: Mensch und Menschmaschine. Kybernetik und Gesellschaft. Alfred Metzner Verlag: Frankfurt am Main: 1966. S.11. 22 Vgl. ebd.: S. 26.

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Bertalanffy hat bereits Mitte des 20. Jahrhunderts erkannt, dass der mechanische Ansatz der Kybernetik kaum in der Lage ist, lebendige Systeme oder soziale Phänomene adäquat zu beschreiben.23 Aus diesem Grund hat sich die allgemeine Systemtheorie von der Kybernetik abgewendet und sich mit offenen Systemtheorien beschäftigt, die den dynamischen Mechanismen sozialer Interaktionen gerecht werden können. Ein Beispiel für ein offenes System ist das black-box-Modell. Es funktioniert wie ein Behälter, dessen Inneres man nicht erkennen oder analysieren kann, wohl aber seine Eingangs- und seine Ausgangsbedingungen. Man muss sich das blackbox-System wie einen uneinsichtigen Kasten vorstellen, in den man ein Element aus der Umwelt einspeist.24 Dadurch verändert sich der Zustand im System und irgendein Mechanismus verarbeitet dieses neue Element. Nach der Verarbeitung erhält man eine Reaktion. Die Transformation, das, was genau im Inneren passiert, kann und soll nicht berücksichtigt werden. Untersucht wird die Beziehung zwischen dem Reiz aus der Umwelt, dem Input, und der darauf folgenden Reaktion, dem Output. Auf Basis dieses Vergleichs können Rückschlüsse auf die Zuverlässigkeit des Systems, die Berechenbarkeit und die Vorhersehbarkeit gezogen werden.25 Jedoch macht es die Offenheit dieser Systeme schwierig, eine interne und strukturelle Ordnung zu gewährleisten, da nicht geregelt ist, welche Elemente aus der Umwelt in das System eindringen können. Solche Systeme entfalten im Austausch mit der Umwelt eine Dynamik und sind gleichzeitig nicht kausal von außen beeinflusst. Man geht davon aus, dass sich ihre interne Organisation bei einer Veränderung der Umwelt selbst neu ausrichtet. Trotz dieser Flexibilität, ist das blackbox-Modell nicht geeignet die Rolle der Kreativität innerhalb des künstlerischen Gestaltungsprozesses zu erklären, da die Mechanismen und Abläufe innerhalb des Systems unklar bleiben. „Denn wenn man von offenen Systemen spricht, also von Transformationsmechanismen, von der Möglichkeit, Input in Output zu transformieren, […] ist noch nicht sehr viel darüber gesagt, was ein System denn eigentlich ist, sodass es dies leisten kann.“26

_________________________________________________________________ 23 Vgl.: Bertalanffy, 1972. S.25 ff. 24 Vgl.: Kowalski, Klaus: Die Wirkung visueller Zeichen. Analysen und Unterrichtsbeispiele für die Sekundarstufe 1. Ernst Klett Verlag: Stuttgart 1975. S.19. 25 Vgl.: Fuchs-Wegner, Gertrud: Verfahren der Analyse von Systemen. In.: Systemtheorie. Hrsg.: Kurzrock, Ruprecht. S. 82-89. Colloquium Verlag: Berlin 1972. S.85. 26 Luhmann, 2002 (2). S.58.

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4.1.3 Systemtheorie nach Luhmann Luhmann hat eine Systemtheorie entworfen, welche die Vorzüge aus geschlossenen und offenen Systemen vereint. Seine Systeme sind auf der einen Seite durch die operationale Geschlossenheit und die Autopoiesis in der Lage, interne Strukturen und Mechanismen zu beschreiben und auf der anderen Seite durch die strukturelle Koppelung fähig Umwelteinflüsse und Veränderungen der Umwelt zu berücksichtigen. Er teilt Systeme in vier unterschiedliche Kategorien auf: Maschinen, Organismen, psychische Systeme und soziale Systeme. 27 Letztere macht er zu seinem zentralen Untersuchungsgegenstand, wobei seine Theorie darauf ausgelegt ist, sämtliche Systeme erklären zu können. In dieser universellen Systemtheorie setzt Luhmann voraus, dass jedes System operativ geschlossen, autopoietisch und selbstreferent ist. Diese drei signifikanten Merkmale von Luhmanns Theorie werden im Folgenden näher beleuchtet. Operative Geschlossenheit Luhmann verabschiedet sich von der Theorie, dass einzelne Einheiten, wie zum Beispiel menschliche Individuen, ein System bilden und somit seine Grenzen zur Umwelt definieren. Sein Augenmerk liegt auf den Ereignissen, die er Operationen nennt. Jedes System prozessiert in dieser Theorie mit Operationen, auch wenn der Begriff eher auf Maschinen schließen lässt als auf biologische, psychische, sensorische oder kommunikative Systeme. Ein System entsteht nicht, wenn sich gleiche oder ähnliche Einheiten zusammenfinden und miteinander agieren, sondern wenn es aufeinanderfolgende, gleichartige Operationen gibt, die sich von andersartigen Operationen abgrenzen.28 Ein geschlossenes System nach Luhmann zeichnet sich dadurch aus, dass ein in sich geschlossener Fortlauf aus immer gleichartigen Operationen existiert.29 Unterschiedliche Operationsarten können nicht in einem System existieren. Sie können Systemgrenzen weder durchdringen, noch an anderen Operationen eines anderen Systems anschließen.30. Er sieht eine „Operation als

_________________________________________________________________ 27 Vgl.: Luhmann, 1996. S.16. 28 Vgl.: Luhmann, 2008 (1). S.17. 29 Vgl.: Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Suhrkamp: Frankfurt am Main 1997. S.65. 30 Vgl.: Luhmann, Niklas: Die Wissenschaft der Gesellschaft. Suhrkamp: Frankfurt am Main 1990 (2). S.23.

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die Reproduktion eines Elements eines […] Systems mit Hilfe der Elemente desselben Systems.“31 Das bedeutet, dass ein System, egal, wer daran teilnimmt, solange existiert, solange immer wieder die gleiche Art der Handlung bzw. Operation vollzogen wird. Wer diese Operationen hervorbringt oder durchführt ist zunächst nachrangig, da die Mitglieder eines Systems weitgehend austauschbar sind. Soziale Systeme operieren durch Kommunikation, psychische Systeme durch Gedanken und sensomotorische Systeme durch Bewegung. Da die Mechanismen im künstlerischen Gestaltungsprozess kaum auf eine einzige Handlungsart zurückgeführt werden können, muss man davon ausgehen, dass der Gestaltungsprozess aus mehreren miteinander gekoppelten Systemen besteht. Luhmanns gesamte Theorie fußt auf diesem Prinzip der operativen Geschlossenheit. Autopoiesis Wichtig neben der operativen Geschlossenheit ist die permanente Anschlussfähigkeit der Operationen. Das heißt, jede Operation muss in sich eine Konsequenz provozieren, die zu einer weiteren gleich gearteten Operation führt. Nur durch diese Verkettung ist der Fortbestand eines Systems gewährleistet. Luhmann bedient sich hier bei einem Begriff von Maturana, der Autopoiesis.32 Grundsätzlich ist Autopoiesis „die Selbstreproduktion des Lebens durch die Elemente, die im lebenden System selber produziert worden sind.“33 Auf Luhmanns Systemtheorie bezogen bedeutet das, dass alle Mechanismen in einem System auf ein und demselben Grundvorgang, demselben Typ von Operation beruhen, der durch ständige Reproduktion das System am Laufen hält. Durch diese Reproduktion wird nicht nur der Fortbestand eines Systems gesichert, sondern auch seine Abgrenzung von

_________________________________________________________________ 31 Luhmann, 1996. S.79. 32 Maturana entwickelt den Begriff aus dem Unterschied zwischen „práxis“ und „poiésis“. Während „práxis“ eine Tätigkeit darstellt, die ihren Sinn in sich selbst als Tätigkeit trägt und somit selbstreferentiell ist, definiert die „poiésis“ eine Handlung, die etwas außerhalb von sich selbst herstellt. Nicht die Tätigkeit an sich steht im Zentrum, sondern das Werk. In der „poiésis“ wird etwas getan, man handelt, nicht weil das Handeln selbst Erfüllung für den Handelnden darstellt oder in einer Form tugendhaft ist, sondern weil etwas produziert werden soll. Es ist die reine Produktion. Maturana fügt das Präfix „auto“ hinzu und definiert damit eine Produktion, die aus ihrem eignen Werk besteht. Vgl.: Maturana, Humberto R.: Autopoiesis. In: Autopoiesis. A Theory of Living Organizations. Hrsg.: Milan Zeleny. S. 21-32. North Holland: New York 1981. S.21 ff. 33 Luhmann, 2002 (2). S.64.

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den anderen Systemen seiner Umwelt gewährleistet. 34 Sie kann nur in geschlossenen Systemen existieren. Es darf keinen Import anderer Operationen geben. Eine Zerstörung der Geschlossenheit hätte unweigerlich den Zusammenbruch der Autopoiesis zur Folge,35 da die Reproduktion unterbrochen wäre und das System zum Erliegen käme. Selbstreferenz Eng mit der Autopoiesis ist ein weiteres Merkmal geschlossener Systeme verknüpft: die Selbstreferenz. Sie ist „die Organisation der Organisation“36. Jede Operation eines Systems bezieht sich selbst auf andere Elemente des eigenen oder eines fremden Systems und stellt somit wieder eine Beziehung zu sich selbst her.37 Das bedeutet, dass im Rahmen der Selbstreferenz ein Element, ein Prozess oder ein ganzes System eine Einheit bildet, die ihre Bedeutung oder Funktion aus sich selbst heraus generiert. Eine solche Einheit ist vollkommen unabhängig von externen Faktoren. Ihre Bedeutung oder Funktion kann nicht von außen zugeschnitten oder generiert werden. Ein System konstituiert somit selbst seine Operationen und Elemente, aus denen es besteht, als Funktionseinheiten. Elemente können je nach System Gedanken, Formen oder Informationen sein. Darüber hinaus lässt das System „in allen Beziehungen zwischen diesen Elementen eine Verweisung auf diese Selbstkonstitution mitlaufen“38, um nicht nur ihre Elemente, sondern auch ihre Selbstkonstitution laufend zu reproduzieren. Durch Selbstreferenz entsteht in einem geschlossenen System eine Art der Selbstbestimmung, die keine fremdartigen Operationen oder anderen Formen des Prozessierens in einem System zulässt.39 Ein System besteht somit aus Operationen, die sich nach dem Prinzip der Autopoiesis immer wieder selbst reproduzieren und nach dem Gesetz der Selbstreferenz auf Operationen der gleichen Art beziehen. Nur durch einen derartigen „Rückbezug auf sich selbst [können sich die Elemente eines Systems] miteinander verhaken und dadurch Zusammenhänge bzw. Prozesse ermöglichen.“ 40 Aber worin genau besteht nun eine solche Operation? Wenn man beispielsweise den künstlerischen Gestaltungsprozess heranzieht, verbindet man damit eine Vielzahl von Handlungen, wie produzieren, transformieren, kommunizieren, _________________________________________________________________ 34 Vgl.: Luhmann, 2008 (1). S.176. 35 Vgl.: Hemmer-Junk, 1995. S.39. 36 Ebd.: S.39. 37 Vgl.: Luhmann, 2008 (1). S.178. 38 Luhmann, 1996. S.59. 39 Vgl. ebd.: S.60. 40 Ebd.: S.67.

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rezipieren, reflektieren usw. Diese Handlungen sind dabei immer noch viel zu abstrakt, um einen konkreten Gestaltungsakt zu beschreiben. Und dennoch sind sie bereits so unterschiedlich, dass sie mit einem einzigen System nicht gefasst werden könnten. Das macht es scheinbar unmöglich sämtliche Operationsarten eines so komplexen und vielfältigen Ablaufs wie dem des Gestaltungsprozesses mit einem Systemmodell fassen zu können. Differenzierung Luhmanns Systemtheorie versteht den Operationsbegriff nicht als einen komplexen Handlungsablauf. Operationen in einem System sind bei ihm einzelne Akte des Agierens, deren Kern eine immer wieder gleichartige Form des Differenzierens ist. Jede Operation und damit jeder Denk- und Handlungsakt ist auf eine Unterscheidung zurückzuführen. Unabhängig von der Systemart hat jede Operation in Luhmanns Theorie neben der Autopoiesis und der Selbstreferenz eine basale Verfahrensweise. Jede Operation fungiert als ein spezieller Akt der Differenzierung. Dieser operative Akt eines Systems besteht stets in der Differenzierung von System und Umwelt. Dadurch werden zum einen die Beziehungen der Elemente41 innerhalb eines Systems unterschieden und zum anderen durch die selbe Unterscheidung Elemente der Umwelt ausgegrenzt. Jede systemrelevante Differenzierung ist eine Abgrenzung. Sie zieht eine Grenze zwischen dem Element, das in dem Moment der Operation differenziert wird, und allen anderen Elementen, die außerhalb dieser Grenze liegen.42 Die Differenzierung zwischen systemeigenen und systemfremden Elementen wird durch die System-Umwelt-Unterscheidung zur Funktionsprämisse von Operationen, da sie in diesem Sinne nicht nur die Grenze des Systems definiert, sondern das System selbst als selbstreferentielle und operativ geschlossene Einheit erhält.43 Das Fortschreiten und Fortbestehen eines

_________________________________________________________________ 41 Auch Luhmann benutzt den Begriff Element, wenn er über nicht weiter spezifizierte Systeme spricht. Im weiteren Verlauf dieser Untersuchung treten an die Stelle von Element systemspezifische Begriffe wie Form oder Information. Das kann jedoch erst erfolgen, wenn klar ist, über welche Art von System gesprochen wird. 42 Vgl.: Jongmanns, Georg: Bildkommunikation. Ansichten der Systemtheorie. transcript: Bielefeld 2003. S.241. 43 Aus dem Prinzip der operativen Geschlossenheit ergibt sich die Definition: „Systemdifferenzierung ist nichts weiter als Wiederholung der Systembildung in Systemen.“ Luhmann, 1996. S.37.

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Systems besteht in dem Erzeugen von internen System-Umwelt-Differenzierungen. Daraus entspringt die Konsequenz, dass ein System seine Operationen nicht benutzen kann, um mit der Umwelt in Verbindung zu treten.44 Neben der Unterscheidung von System und Umwelt erfüllt die Differenzierung auch die Unterscheidung der systemeigenen Elemente. Eine Operation besteht ebenso darin, ein systemrelevantes Element von einem anderen systemrelevanten zu unterscheiden. Am Beispiel des von Luhmann ausdifferenzierten Kunstsystems sieht das wie folgt aus: „Ein ausdifferenziertes, autonom operierendes Kommunikationssystem Kunst kommt […] zustande, wenn das einzelne Kunstwerk von anderen Kunstwerken unterschieden wird (und nicht etwa nur von anderen Waren, die man ebenfalls kaufen könnte).“45

Diese Differenzierung mag vielleicht in dem von Luhmann beschriebenen Weltkunstsystem ausreichen. In dieser Arbeit steht jedoch nicht die Weltkunst zur Untersuchung, sondern der künstlerische Gestaltungsprozess. In einer systemtheoretischen Untersuchung des künstlerischen Gestaltungsprozesses kann es nicht ausschließlich um die Unterscheidung abgeschlossener Kunstwerke gehen. Wie Luhmann selbst anmerkt: Jedes „Kunstwerk kombiniert eine Vielzahl von Unterscheidungen – wieviel, das ist eine Frage der noch zu bewältigenden Komplexität.“46

Wenn man das Prinzip der Differenzierung als operative Basis des künstlerischen Gestaltungsprozesses begreift, würde es sich bei jedem Denk- und Handlungsakt innerhalb des Gestaltungsprozesses um eine Unterscheidung handeln, die dem Kunstwerk eine weitere Differenzierung hinzufügt. Diese Differenzierung hebt sich dabei nicht nur von allen anderen bereits getroffenen Unterscheidungen ab, sondern aktualisiert zugleich die Grenze zur Umwelt. Luhmann fasst das Differenzierungsprinzip in Bezug auf den malerischen Gestaltungsprozess folgendermaßen zusammen. Er sagt:

_________________________________________________________________ 44 Vgl.: Luhmann, 2002 (2). S.92 f. 45 Luhmann, Niklas: Weltkunst. In: Unbeobachtbare Welt. Über Kunst und Architektur. Hrsg.: Luhmann, Niklas; Bunsen, Frederick D.; Baecker, Dirk. S.7-45. Verlag Cordula Haux: Bielefeld 1990 (1). S.15. 46 Ebd.: S.16.

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„Dies ist mein Kunstwerk, dies ist mein Strich, dies ist eine bestimmte Farbe im Unterschied zu irgend etwas anderem.“47

Mit dem Anderen ist nicht nur die Umwelt gemeint, sondern sämtliche möglichen, vorangegangenen oder nachfolgenden Differenzierungen in der jeweiligen Situation. Nach diesem Prinzip erzeugt beispielsweise ein Maler im Akt der Gestaltung Unterscheidungen, mit denen er seine Umwelt durch das Ziehen einer Grenze verändert, und damit andere Möglichkeiten weiterzuarbeiten reduziert, Komplexität einschränkt und der Umwelt Beliebigkeit entzieht.48 Dieser systemtheoretische Exkurs in die Malerei muss an dieser Stelle noch etwas vage bleiben, da die Subsysteme und Mechanismen des künstlerischen Gestaltungsprozesses noch nicht ausdifferenziert worden sind. Man kann dennoch festhalten, dass nach Luhmann eine Operation darin besteht, verschiedene Elemente in einem System zu differenzieren und gleichzeitig die Grenze zu ziehen, was zum System und was zur Umwelt gehört. Die Erläuterung der grundlegenden Funktionsweisen von Luhmanns Systemtheorie verraten noch nicht viel darüber, wie eine konkrete systemtheoretische Erklärung des künstlerischen Gestaltungsprozesses aussehen könnte. Das liegt daran, dass wichtige Begriffe, wie Form, Struktur, Komplexität und Selektion noch nicht angesprochen worden sind. Hinzu kommt, dass bevor mithilfe des systemtheoretischen Modells ein konkreter künstlerischer Gestaltungsprozess beschrieben werden kann, die unterschiedlichen, am Gestaltungsprozess beteiligten Systeme differenziert werden müssen. Zusammenfassung Kapitel 4.1 Der künstlerische Gestaltungsprozess wird mit Luhmanns Theorie operativ geschlossener Systeme erklärt. Ein System wird in dieser Theorie nicht über die beteiligten Elemente, sondern über die jeweilige Operationsweise definiert. Es grenzt sich von seiner Umwelt durch eine bestimmte Art des Prozessierens ab. Soziale Systeme operieren durch Kommunikation, psychische Systeme durch Gedanken und sensomotorische Systeme durch Bewegung. Jedes System operiert dabei autopoietisch. Das heißt, dass alle Mechanismen in einem System auf ein und demselben Grundvorgang, demselben Typ von Operation beruhen, der durch ständige Reproduktion das System am Laufen hält. Dadurch wird

_________________________________________________________________ 47 Luhman, 2008 (2). S.302. 48 Vgl.: Luhmann, 1990 (1). S.40.

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nicht nur der Fortbestand eines Systems gesichert, sondern auch die Abgrenzung von den anderen Systemen seiner Umwelt gewährleistet. Ein weiteres Merkmal operational geschlossener Systeme ist die Selbstreferenz. Ein System konstituiert demnach selbst seine Elemente, aus denen es besteht, als Funktionseinheiten. Dabei operiert jedes System auf eine spezifische Verfahrensweise, die auf einer Differenzierung basiert. Diese systeminterne Differenzierung hebt sich dabei nicht nur von allen anderen, bereits getroffenen Unterscheidungen ab, sondern aktualisiert zugleich die Grenze zur Umwelt.

4.2 SYSTEME DES KÜNSTLERISCHEN GESTALTUNGSPROZESSES Ein Ablauf wie der künstlerische Gestaltungsprozess mit seinen vielfältigen „Formungs- und Entscheidungsprozessen“49 ist so komplex, dass er aus Sicht der Systemtheorie aus verschiedenen Systemarten bestehen muss. Diese unterschiedlichen Systeme des Gestaltungsprozesses haben eigene Operationsweisen und damit eigene System-Umwelt-Grenzen ausgebildet. Das Anliegen dieses Kapitels besteht in der systemtheoretischen Ausdifferenzierung des künstlerischen Gestaltungsprozesses. Als Ausdifferenzierung bezeichnet Luhmann die analytische Unterscheidung funktionaler Subsysteme und ihrer Operationsweisen.50 Durch die Ausdifferenzierung ermöglicht die Systemtheorie die verschiedenen Operationsweisen und Mechanismen eines komplexen Vorgangs zu strukturieren und die Beziehungen zwischen den beteiligten Elementen zu erklären. Damit eine systemtheoretische Analyse des Gestaltungsprozesses vorgenommen werden kann, muss er demnach in seine verschiedenen Subsysteme zerlegt werden. Der Fokus in diesem Kapitel liegt auf den Denk- und Handlungsakten eines oder mehrerer Individuen im künstlerischen Gestaltungsprozess. Regel unterscheidet drei Grundaktivitäten in der künstlerischen Tätigkeit eines Menschen, die er als Erkennen (Wahrnehmen), Verändern und Kommunizieren bezeichnet.51 Luhmann differenziert im künstlerischen Gestaltungsprozess ebenfalls drei Operationsweisen, die denen von Regel entsprechen: psychische, sensomotorische und soziale Operationen. Da in Luhmanns Theorie ein System nur auf eine Art _________________________________________________________________ 49 Luhmann, 2008 (2). S.308. 50 Vgl.: Luhmann, 1996. S.84. 51 Vgl.: Regel, 1986. S.28.

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und Weise operieren kann, benötigt der Gestaltungsprozess verschiedene Systemtypen. Diese drei Grundformen des künstlerischen Agierens entsprechen jeweils einer eigenen Systemart. Das psychische System erkennt und nimmt wahr, das sensomotorische System verändert die Umwelt und das soziale System kommuniziert. Bautz und Stöger schlagen auf Basis ähnlicher Überlegungen in ihrem Buch Verstehen wir, wenn Kinder Zeichnen? eine vergleichbare Aufteilung des Gestaltungsprozesses in drei Systemarten vor.52 Sie unterscheiden zwischen dem Bewusstsein als psychisches System, dem Körper als sensomotorisches System und der Interaktion als soziales System. Alle drei werden abwechselnd oder gleichzeitig beim Gestalten aktiv. Die Dreiteilung der unterschiedlichen Handlungsweisen im künstlerischen Gestaltungsprozess deckt sich mit den unterschiedlichen Arten des Agierens beim kreativen Denken und Handeln, wie sie in Kapitel 2.7 beschrieben werden. Im kreativitätstheoretischen Untersuchungsfeld des kreativen Aktes werden ebenfalls Denken, Handeln und Kommunizieren als notwendige Akte für das Zustandekommen kreativer Leistungen beschrieben. • Das psychische System ist das Bewusstsein und operiert mit Gedanken, Vorstel-

lungen, Gefühlen und Plänen. „[Es] verarbeitet Wahrnehmungen ohne Rücksicht auf die körperliche (neuronale und stoffwechselaktive) Basis. Das würde die eigenen Prozesse überlasten. Und es verarbeitet sie auch unabhängig von der Bedeutung, die sie als Information innerhalb einer Kommunikation haben könnte.“53

• Das sensomotorische System ist der Körper und arbeitet mit Bewegungen und

Reizen. Es operiert mit Nervenimpulsen und Bewegungsabläufen, ohne sich mit _________________________________________________________________ 52 Bautz und Stöger schlüsseln in ihrem Buch den Gestaltungsprozess, speziell den von Kindern, nach den systemtheoretischen Vorgaben von Niklas Luhmann auf. Ihr Augenmerk liegt dabei jedoch nicht auf dem sozialen System, sondern auf dem psychischen und dem damit verbundenen Bewusstsein. Die hier erläuterte Differenzierung des Gestaltungsprozesses auf die drei beteiligten Systeme wird von Bautz und Stöger ebenso vorgeschlagen. Vgl.: Bautz, Timo; Stöger, Bernhard: Verstehen wir, wenn Kinder zeichnen? Der Prozess des Gestaltens aus systemtheoretischer Sicht. kopaed: München 2013. S.21 ff. 53 Ebd.: S.13.

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den Motivationen oder Absichten dahinter zu befassen.54 Im Gestaltungsprozess übernimmt die Sensomotorik die Realisierung von Formvorstellungen. • Das soziale System kommuniziert durch Mitteilung, Information und Verstehen ohne Zugriff auf die zwingend benötigten und permanent mitlaufenden psychischen und physischen Prozesse. Der künstlerische Gestaltungsakt ist eine Art kommunikatives Verhalten. Erst durch die Kommunikativität des Gestaltungsprozesses kann ein Kunstwerk mit einer Mitteilungs- oder Aussageabsicht bzw. mit einer Wertung verbunden werden. Für die Ausdifferenzierung des künstlerischen Gestaltungsprozesses wird diese Aufteilung in drei unabhängig voneinander agierende, operativ geschlossene Systeme übernommen. Jedes dieser Systeme arbeitet nach den von Luhmann gesetzten Prinzipien der Autopoiesis, der Selbstreferenz und der Differenzierung. Das heißt, dass alle Elemente oder Operationen, aus denen sie bestehen, nur aus sich selbst reproduziert werden und somit kein Transfer und keine Überschneidung zwischen ihnen besteht. Die drei Systeme sind ausschließlich als die Umwelt des jeweils anderen miteinander verbunden und können sich gegenseitig lediglich irritieren und strukturell koppeln. Diese Trennung der verschiedenen Handlungsarten soll nicht dazu dienen, spezielle Handlungen für den kreativen Gestaltungsprozess als besonders wichtig herauszuarbeiten. Leber warnt gerade im Bereich der künstlerischen Gestaltung, „die Seite des Denkens, der ‚Reflektion‘, von der Seite des Malens, Zeichnens, Plastizierens, als derjenigen der ‚Produktion‘ [abzutrennen].“55 Vielmehr muss es dabei um ein gleichwertiges und gleichzeitiges Ineinander der Denk- und Handlungsakte gehen. Dennoch hilft die Trennung, die einzelnen Subsysteme isoliert voneinander zu betrachten und zu analysieren, welche Referenzbedingungen der Kreativität die einzelnen Systeme im künstlerischen Gestaltungsprozess erfüllen. Je nachdem, aus welchem Blickwinkel bzw. aus welchem System heraus man den Gestaltungsakt betrachtet, verbinden sich mit ihm andere Referenzen, Kausalzurechnungen und Hypothesen.56 Es wird sich zeigen, dass für die Beschreibung der Kreativität, genau wie für die Erklärung des künstlerischen Gestaltungsprozesses, verschiedene Systeme notwendig sind.

_________________________________________________________________ 54 Vgl. ebd.: S.13. 55 Leber, 1990. S.51. 56 Vgl.: Bautz; Stöger, 2013. S.7.

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4.2.1 Psychische Systeme des künstlerischen Gestaltungsprozesses Das psychische System ist eines von drei Systemarten, das für die systemtheoretische Ausdifferenzierung des künstlerischen Gestaltungsprozesses zwingend notwendig ist. Das liegt daran, dass ausschließlich ein denkendes Bewusstsein die für den künstlerischen Gestaltungsprozess erforderliche Subjektreferenz erfüllen kann. In diesem Kapitel wird beschrieben, was in Luhmanns Verständnis ein psychisches System ist und welche Rolle es im künstlerischen Gestaltungsprozess übernimmt. Während in Abschnitt 4.2.1.1 die Wahrnehmung als eine von zwei Operationsweisen des Bewusstseins erörtert wird, erfolgt in den Abschnitten 4.2.1.2 und 4.2.1.3 eine Analyse des beobachtenden Denkens bevor in Kapitel 4.2.1.4 die bei Luhmann beschriebenen Denkweisen mit den psychologischen und philosophischen Denktheorien der Kreativitätsforschung verglichen werden. Ein psychisches System ist nach Luhmann das, was man gemeinhin als Bewusstsein bezeichnet. Elemente oder Prozesse, die innerhalb eines solchen Bewusstseins ablaufen und aus denen es sich reproduziert, nennt Luhmann Gedanken.57 Diese Gedanken müssen sich innerhalb eines geschlossen operierenden, psychischen Systems permanent selbst reproduzieren und dafür sorgen, „dass jeweils rasch genug neue Ereignisse [oder Operationen] hergestellt werden“ 58, da psychische Systeme zu den „endogen unruhigen, nur aus Ereignissen bestehenden Systemen“59 gehören. Wenn ein psychisches System aufhört zu prozessieren, hört es auf zu existieren. Außerdem müssen psychische Ereignisse, wie Gedanken, wieder zerfallen oder vergessen werden, da das System ansonsten überlastet würde. Das Bewusstsein kann selbst nichts speichern. Aus diesem Grund muss das Bewusstsein eine Balance aus Generierung und Zerfall von Gedankeninhalten bewahren. Es ist vor allem damit beschäftigt, seine Operationen durch den Aufmerksamkeitsfokus im Dienste einer stabilen Gedankenproduktion zu steuern. Da in Luhmanns Systemtheorie das Bewusstsein selbstreferentiell arbeitet und es durch die Autopoiesis keinen Austausch zwischen ihm und der Umwelt gibt, _________________________________________________________________ 57 „Was als bewusstes, sinnrepräsentierendes Ereignis fungiert, ob es Phantasien, Affekte, Gefühle, Vorstellungen, […] Absichten, Erinnerungen oder Reflexionen und Schlussfolgerungen sind, ist operativ gesehen egal. Luhmann bezeichnet all diese Bewusstseinselemente der Einfachheit halber als ‚Gedanken‘.“ Bautz; Stöger, 2013. S.73. 58 Luhmann, Niklas: Soziologische Aufklärung. Die Soziologie und der Mensch. Band 6. Westdeutscher Verlag: Opladen 1995 (2). S.57. 59 Ebd.: S.57.

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kann es vollkommen autonom operieren, auch wenn es vom Körper materiell und energetisch versorgt werden muss.60 Die Umwelt erscheint im Bewusstsein lediglich als „situative Submodalität“61, die durch Wahrnehmung und Beobachtung darin konstituiert wird. Das Nervensystem kennt keine externe Reizsituation, auf die es reagiert.62 Es gibt weder einen Input noch einen Output. Das Bewusstsein gibt keine Gedanken an die Umwelt ab, genauso wenig kann es Elemente der Umwelt in sich aufnehmen. „Alles was wir wahrnehmen, findet nur in unserem Kopf statt. Die Gehirnsprache ist eine quantitative elektrische Sprache, die mit Frequenzänderungen, mit Zeit, mit räumlichen Parallelen arbeitet, und dafür gibt es in der Umwelt kein Korrelat.“63

Eine Beeinflussung des Bewusstseins durch die Umwelt erfolgt lediglich über eine Irritation oder Störung. Diese Störung wird jedoch als systemeigenes Element, als Gedanke, nach den operativen Vorgaben des psychischen Systems – durch das Denken – selbst konstituiert und spezifiziert.64 Wenn das Bewusstsein beispielsweise seine Aufmerksamkeit auf ein wie auch immer geartetes, visuell wahrnehmbares Objekt richtet, dann irritiert das Objekt den Sehapparat und der Sehapparat irritiert wiederum das Bewusstsein. Weder kann das Objekt in den Sehapparat eindringen, noch können die neuronalen Reize des Sehapparats ins Bewusstsein eindringen. Das Bewusstsein verarbeitet keine neuronalen Reize, sondern ausschließlich Gedanken. Das geschlossene System eines Bewusstseins kann ebenso wenig seine systemeigenen Elemente mit dem Bewusstsein eines anderen Menschen austauschen, auch wenn beide Systeme denkend mit Gedanken operieren. „[U]ntereinander sind psychische Systeme nicht erreichbar. Nur über Kommunikation, [also durch die Koppelung an ein soziales System], ist eine indirekte Anbindung möglich.“65 Luhmann orientiert sich bei der Operationsweise des Bewusstseins an der philosophischen Abstraktions- und Denktheorie und verknüpft diese mit der Formtheorie von Spencer-Brown.66 Die grundlegende Operation eines Bewusstsein besteht in der Differenzierung. Sie ist eine Grundtätigkeit des Denkens. Luhmann versteht _________________________________________________________________ 60 Vgl.: Schmidt, 1988. S.42. 61 Brodbeck, 1995. S.249. 62 Vgl.: Hemmer-Junk, 1995. S.40. 63 Luhmann, 2008 (2). S.421. 64 Vgl.: Luhmann, 1995 (2). S.73 ff. 65 Bautz; Stöger, 2013. S.21. 66 Vgl.: Spencer-Brown, 1969. S.1.

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jede Bewusstseinsoperation bzw. jeden Gedanken eines Individuums als den Vollzug einer Unterscheidung. Dabei erfüllt jede Unterscheidung nach der systemtheoretischen Vorgabe der Selbstreferenz zwei Aufgaben. • Zum einen bezieht sich jede Unterscheidung auf vorangegangene Unterscheidungen.

Das Bewusstsein orientiert sich an seiner eigenen Operationsweise, dem Denken. • Zum anderen markiert jede Unterscheidung für das Bewusstsein den Unter-

schied zwischen System und Umwelt. Das Bewusstsein konstituiert durch das selbstreferentielle Denken seine eigene Grenze zur Umwelt. Alles, was nicht denkend durch Gedanken im Bewusstsein verarbeitet werden kann, liegt außerhalb der Systemgrenzen. Nach Luhmann ist jedes Subjekt vom selbstreferentiellen Denken abhängig. Nur so kann sich ein Bewusstsein ausbilden, das nicht nur laufend Unterscheidungen in der Umwelt vornimmt, sondern dabei gleichzeitig die Selbstwahrnehmung des Individuums aktualisiert. Da jedes Bewusstsein die Umwelt nur als das fassen kann, was außerhalb seiner Systemgrenzen liegt, ist es gezwungen eine individuelle Konstruktion oder Präsentation dieser Umwelt im Bewusstsein zu schaffen. Eine solche Konstruktion kann jedoch niemals ein umfassendes Abbild der Umwelt sein, da diese viel zu komplex ist, um vollständig von einem Bewusstsein erfasst zu werden. Wie Hemmer-Junk sagt: „Das, was als ‚Realität‘ erfahrbar wird, ist ein Prozeß der Bedeutungszuweisung und damit der Fertigung von Realität.“67

Das Bewusstsein erzeugt durch die Differenzierung ein eigenes Realitätskonstrukt der Umwelt. Bleibt zu klären, wie und in welchem Umfang ein derart operierendes Bewusstsein am künstlerischen Gestaltungsprozess beteiligt ist. Luhmann unterscheidet zwei Arten des Operierens in einem psychischen System: das Wahrnehmen und das Beobachten. Beide Operationsweisen spielen im künstlerischen Gestaltungsprozess jeweils eine zentrale Rolle. Wahrnehmung als grundlegender Akt des Bewusstseins Die Wahrnehmung als psychische Operation darf nicht mit den Aktivitäten der Sinnesorgane verwechselt werden. „Wir sehen nicht mit dem Auge, sondern mit

_________________________________________________________________ 67 Hemmer-Junk, 1995. S.40.

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dem Gehirn.“68 Augen und Ohren sind lediglich Reizempfänger, die je nach Ausrichtung auf die Umwelt aus dieser Informationen empfangen können. Über die Wahrnehmung des psychischen Systems wird die Ausrichtung der Reizempfänger gesteuert, was als Aufmerksamkeit bezeichnet wird. Dabei ist das Bewusstsein mit dem sensorischen System des jeweiligen Sinnesorgans gekoppelt. Eine Koppelung zweier Systeme bedeutet, dass sich ihre Operationen gegenseitig irritieren.69 Bei einem Subjekt haben sich beispielsweise das sensorische System des Sehapparats und das Bewusstsein durch unzählige gegenseitige Irritationen derart aneinander gewöhnt, dass bestimmte Irritationen des Sehapparats im Bewusstsein relativ zuverlässig immer wieder gleichartige Reaktionen bzw. Gedanken hervorrufen. Die Aufmerksamkeitsorientierung beim Wahrnehmen wird ausschließlich vom psychischen System übernommen. Es entscheidet darüber, was in den Blick kommt, was gehört oder was ertastet wird. Dabei wird das Wahrnehmen nicht von einer übergeordneten Instanz des Bewusstseins koordiniert. Jedes wahrnehmende System steuert seine Aufmerksamkeit selbst, da die Wahrnehmung als psychische Operation bereits ein Reize strukturierender Prozess ist.70 Aus Sicht der Systemtheorie wird die Aufmerksamkeit der Wahrnehmung durch eine energetische, informative, körperliche oder mentale Intensitäts- oder Reizschwellenüberschreitung ausgerichtet. Das bedeutet, dass eine Irritation aus der Umwelt das Bewusstsein derart stört, dass es zu einer Reaktion genötigt wird. Solche Reize, die beispielsweise über den sensorischen Apparat eines Subjekts das psychische System irritieren, rücken in den Aufmerksamkeitsfokus des Bewusstseins. Jongmanns nennt diese Reize „attentionale Attraktionen“71. Wie bereits beschrieben arbeitet das Bewusstsein autopoietisch und selbstreferentiell. Für ein wahrnehmendes Bewusstsein bedeutet das, dass es durch das Sehen beispielsweise keine Abbildungen der Außenwelt erzeugt, sondern sich ein Bild der Umwelt selbst erschafft. „Realität wird durch Handeln erzeugt.“ 72 Das Wahrgenommene ist demnach nicht identisch mit der Umwelt. Das liegt daran, dass durch die begrenzte Aufnahmefähigkeit des menschlichen Gehirns immer nur ein begrenzter Bereich von dem gesehen wird, was gesehen werden kann. Wenn nun jedes Bewusstsein über die Wahrnehmung seine eigene Realität konzipiert, _________________________________________________________________ 68 Luhmann, 2008 (2). S.421. 69 Vgl.: Gibson, James J.: Wahrnehmung und Umwelt. Der ökonomische Ansatz in der visuellen Wahrnehmung. Urban & Schwarzenberger: Wien, Baltimore 1982. S.263. 70 Vgl.: Kowalski, 1975. S.76. 71 Jongmanns, 2003. S.89. 72 Hemmer-Junk, 1995. S.46.

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hat jedes Individuum ein eigenes Bild von der Umwelt. Wenn beispielsweise mehrere Personen auf ein und dasselbe Objekt blicken, egal wie komplex es ist, darf man nicht davon ausgehen, dass alle das gleiche sehen. Wahrnehmungen verschiedener Individuen an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit können in der Theorie von Luhmann durch die operative Geschlossenheit des Bewusstseins niemals identisch sein. Lediglich der informative Ort zu einer bestimmten Zeit mit seinen Oberflächenanordnungen kann identisch sein.73 Aber das ist aus der Perspektive der menschlichen Wahrnehmung höchst spekulativ, da dieser Ort ein Teil der Umwelt ist. Wenn unser Bewusstsein jedoch ausschließlich durch Wahrnehmung operieren würde, hätte es keine Möglichkeit aus der Umwelt objektivierbare Fakten zu generieren. Das liegt daran, dass ein Individuum zwar eine Vorstellung von der Umwelt generieren kann, jedoch weiß es nicht, wie seine Mitmenschen diese Umwelt wahrnehmen. Dieses Dilemma überwindet ein Subjekt durch die Externalisierung von Wahrnehmungsleistungen. Eine Externalisierung ist in der Psychologie eine Verlagerung innerer Gedanken, Gefühle oder Absichten, die prinzipiell nur Einzelindividuen zugänglich sind, nach außen. Sie ist eine sinnlich wahrnehmbare Reaktion auf das Wahrgenommene und demnach der erste Schritt zur Kommunikation.74 Auch soziale Systeme, die mittels Kommunikation operieren, sind an das Bewusstsein gekoppelt. Diese irritieren das Bewusstsein auf ähnliche Weise, wie die sensorischen Systeme. Wie diese Koppelungen im Detail ablaufen, wird in Kapitel 5.2 geklärt. Wichtig an dieser Stelle ist, dass die Möglichkeit einer Koppelung zwischen Kommunikation und Bewusstsein besteht und durch diese Koppelung das Bewusstsein sein individuelles Bild der Umwelt durch soziale Systeme verifizieren kann. Erst durch den Austausch mit anderen kann das Subjekt Gemeinsamkeiten in der Wahrnehmung finden und eine stabile Sicht auf die Außenrealität entwickeln. Das gibt ihm nicht nur eine gewisse Form der Sicherheit, wie er seiner Umwelt begegnen kann, sondern ermöglicht es auch in Bezug auf diese Umwelt kriteriengestützte Wertmaßstäbe zu entwickeln. Mit der Operationsweise der Wahrnehmung ist aber bei weitem noch nicht geklärt, wie das menschliche Bewusstsein im kreativen Gestaltungsprozess agiert. Die Wahrnehmung ist in Luhmanns Systemtheorie lediglich die grundlegende Operationsweise des Bewusstseins, auf der alle anderen Operationsweisen aufbauen. Sie koordiniert die Aufmerksamkeit und schafft über ihre Koppelungen einen sensomotorischen Bezug zur Umwelt. Ebert erkennt bereits auf der Ebene _________________________________________________________________ 73 Vgl.: Jongmanns, 2003. S.89. 74 Vgl.: Luhmann, 2008 (2). S.423.

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der reinen Wahrnehmungsoperationen die Möglichkeit kreativ zu sein.75 Dem soll an dieser Stelle nicht widersprochen werden, jedoch bedarf es eines intensiveren Blicks auf die beteiligten Systeme, um die Kreativität im Gestaltungsprozess zu definieren. Beobachtung als Operationsweise des Bewusstseins Luhmann etabliert in Anlehnung an die klassische Abstraktionstheorie neben der reinen Wahrnehmung das abstrahierende Denken als weitere Operationsweise des Bewusstseins. Er nennt diese Art des Denkens Beobachtung. Während das Wahrnehmen ein grundlegender Modus des Bewusstseins ist, ist vom Beobachten im Rahmen der Systemtheorie nach Luhmann immer dann die Rede, wenn eine Operation eine Unterscheidung verwendet, um innerhalb dieser Unterscheidung die eine oder die andere Seite zu wählen.76 Der entscheidende Unterschied zwischen Wahrnehmung und Beobachtung ist nicht der Modus des Differenzierens, sondern das Treffen einer Wahl. Die Wahrnehmung trifft auch Unterscheidungen, jedoch nur im Modus der Beobachtung richtet das Bewusstsein seinen Fokus auf eine der beiden unterschiedenen Seiten, um diese zu bezeichnen. Wie und warum diese Bezeichnungen getroffen werden, ist aus der Perspektive der Wahrnehmung nicht nachvollziehbar. Der Sinn dieser Bezeichnung erschließt sich nur in der Beobachtung selbst. Verkürzt kann man sagen, dass eine Beobachtung lediglich die Handhabung von Unterscheidungen durch Bezeichnung ist. Ein psychisches System, welches beobachtet, kann nur etwas bezeichnen, wenn es zuvor das Bezeichnete von etwas anderem unterschieden hat. Das setzt wiederum ein Bewusstsein voraus, das durch Wahrnehmung unterscheidet.77 _________________________________________________________________ 75 Vgl.: Ebert, 1973. S.41. 76 Vgl.: Luhmann, 2008 (1). S.176. 77 Im Rahmen einer Untersuchung des künstlerischen Gestaltungsprozesses können die Begriffe Wahrnehmung und Beobachtung zunächst bedenkenlos akzeptiert werden, da die Gestaltung immer auf eine sinnlich-wahrnehmbare Form in der Umwelt ausgerichtet ist. Das Bewusstsein kann jedoch auch mit Gedanken operieren, die nicht im klassischen Sinne durch die Koppelung mit den entsprechenden Sinnesorganen wahrgenommen oder beobachtet werden. Luhmanns Terminologie nimmt in Bezug auf die Operationsweisen mit Gedanken keine Unterscheidung vor. Auch eine innerpsychische Überlegung wird von ihm als Beobachtung bezeichnet. In dieser Arbeit wird versucht die Begriffsanalyse parallel zu Luhmanns Bezeichnung aufzubauen, da die Begriffe Wahrnehmung und Beobachtung die tatsächlichen Operationsweisen im Gestaltungprozess veranschaulichen können. Vgl.: Luhmann, 1996. S.63.

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Eine Unterscheidung erzeugt durch das Ziehen einer Grenze eine „Zweiseitenform“78. Sowohl beim Herstellen als auch beim Betrachten eines Gegenstandes oder eines Ereignisses findet eine Differenzierung statt. In der Beobachtung wird durch diese Differenzierung eine der beiden Seiten als Form definiert. „Die jeweils benutzte Unterscheidung dient der Beobachtung als ‚Form‘“79. Die unbeobachtete Seite wird zwar konstituiert, bleibt jedoch für den Beobachter unsichtbare Umwelt.80 Der Formbegriff, der in dieser Arbeit noch eine zentrale Rolle bei der Definition von Kreativität spielt, wird in Kapitel 6.1 genauer ausgeführt. An dieser Stelle soll lediglich gesagt sein, dass die Form für das Bewusstsein eine Bezeichnung darstellt, die auf der Grundlage einer Unterscheidung eine der beiden dadurch entstandenen Seiten definiert. Das Bewusstsein misst durch die Bezeichnung der jeweiligen Form eine Bedeutung bei. Beispielsweise wird über das organische System Haut vom Bewusstsein die Temperatur wahrgenommen, ob sie jedoch zu hoch, zu niedrig oder genau richtig ist, muss erst durch eine Beobachtung bestimmt (bzw. bezeichnet) werden. Man muss hinzufügen, dass nicht nur die Bezeichnung, sondern auch die unterschiedene Form ausschließlich als Gedanke im Bewusstsein des Beobachters existiert. Die Form ist zwar in der Umwelt an einem Medium vom Bewusstsein beobachtet worden. Die Operation des Beobachtens hätte jedoch an demselben Ort der Umwelt am selben Medium zur selben Zeit auch zu einer anderen Form finden können. An diesem Punkt werden erste Parallelen zum künstlerischen Gestaltungsprozess ersichtlich. Wenn man die einzelnen Arbeitsschritte bei der Anfertigung des Kunstwerks als Formen begreift, ist der Gestalter sowohl beim Herstellen aus auch beim Betrachten mit der Handhabung von individuellen Unterscheidungen beschäftigt. Wie Luhmann sagt: „Aller Umgang mit Kunst ist zunächst ein unterscheidendes Beobachten, auch und gerade während des Prozesses, in dem die Herstellung des Kunstwerkes sich vollzieht.“ 81

Jede Unterscheidung und Bezeichnung einer Form am Kunstwerk kann sowohl rezeptive als auch produktive Folgen haben, je nachdem welche Beobachtungen der Gestalter daran anschließt und mit welchen sensorischen, motorischen oder _________________________________________________________________ 78 Luhmann, 2008 (2). S.306. 79 Ebd.: S.250. Der hier verwendete Formbegriff unterscheidet sich erheblich von dem Formbegriff der Ästhetik und der Kunstwissenschaft. Eine genauere Erörterung hierzu findet in Kapitel 6.1 statt. 80 Vgl. ebd.: S.306. 81 Luhmann, 2008 (2). S.210.

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kommunikativen Systemen diese Beobachtungen gekoppelt sind. Gerade im künstlerischen Gestaltungsprozess, egal welcher Art, eröffnet sich für den Gestalter mit jeder neuen Bezeichnung ein ganzer Kosmos an möglichen Folgeoperationen. Der Bildhauer fokussiert an seiner Skulptur eine bestimmte Kehlung oder Wölbung, um diese entweder zu ebnen oder zu verstärken. Ein Maler bestimmt die Intensität und Ausdehnung eines Farbflecks in seinem Bild, um ihn zu verwerfen oder daran weiter zu arbeiten. Ein Fotograf prüft in seinem Sucher den Anschnitt eines Bildobjekts, um zu entscheiden, ob er den Bildausschnitt ändern oder das Objektiv wechseln muss. Jeder Gestaltungsprozess, ob modellierend, performativ oder installativ erfordert unzählige, sorgfältig getroffene Beobachtungsoperationen. Dabei kann die Beobachtung eines psychischen Systems sowohl herstellend (handelnd) als auch betrachtend (erlebend) sein. In beiden Fällen basiert die Beobachtung auf einer Bezeichnung, welche wiederum auf eine Wahrnehmung zurückzuführen ist. Der Begriff Bezeichnen, den Luhmann benutzt, ist gerade aus der Perspektive des künstlerischen Gestaltungsprozesses etwas missverständlich, da er an einen sprachlichen Kontext denken lässt. Luhmann wählt diesen Begriff, da er seine Systemtheorie terminologisch so konzipiert hat, dass er damit kommunikative Prozesse und Systeme unserer Gesellschaft erklären kann. Diese kommunikativen Systeme, die er ausdifferenziert, operieren in erster Linie mit Sprache und Schrift. Auf einer rein sprachlichen Ebene ist das Bewusstsein gezwungen durch Abstraktion Bezeichnungen zu finden. In einem künstlerischen Gestaltungsprozess muss jedoch erst geklärt werden, ob der Gestalter, bevor er zu einer Form in seinem Kunstwerk findet, tatsächlich diese im Sinne einer Abstraktion bezeichnen muss oder auch ohne zu abstrahieren Formentscheidungen treffen kann. Diese Fragestellung wird in Kapitel 4.2.1.4 nochmal aufgegriffen, wenn die unterschiedlichen Denkweisen in Luhmanns Systemtheorie mit den aus der Kreativitätsforschung bekannten Denkweisen verglichen werden. Interessant an Luhmanns Theorie ist, dass er in Bezug auf die Bildende Kunst sowohl bei Gestaltern als auch bei Rezipienten die Bezeichnung als grundlegende Bewusstseinsoperation festlegt. Luhmann sagt, dass der Unterschied zwischen dem Gestalter und dem Rezipienten lediglich darin besteht, wie sie die getroffene Unterscheidung weiterverwenden, ob sie dadurch zu neuen Differenzierungen in der Herstellung des Kunstwerks finden oder ob sie beim Verstehen des Kunstwerks vorankommen.82 Das scheint logisch, da man beim Gestalten nur solche Differenzen herstellen kann, die man bereits in der Beobachtung erkannt hat. Das _________________________________________________________________ 82 Vgl.: Luhmann, 2008 (2). S.252.

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bedeutet, dass im Gestaltungsprozess auch das Naturstudium eine Beobachtungsleistung ist. Beim Beobachten der zu malenden Landschaft oder des zu modellierenden Aktmodells ist das Bewusstsein ununterbrochen mit der Differenzierung von Formen beschäftigt. Für einen Gestalter, der an seinem Aktmodell die Beinstellung beobachtet, bedeutet das, dass er sowohl den Durchbruch zwischen den Beinen als auch jeweils das linke oder das rechte Bein „bezeichnen“ kann. Sobald er sich jedoch für eine Seite der Form entschieden hat, hat er diese nicht nur bezeichnet, sondern im gleichen Moment die andere Seite für sich unsichtbar gemacht. Er kann sich entscheiden, auf welcher Seite der Unterscheidung er operieren will. In Luhmanns Theorie ist das Beobachten einer Form aus der Perspektive des operierenden Bewusstseins mit dem Bezeichnen dieser Form gleichzusetzten. Die Beobachtung bei Luhmann ist demnach immer eine Art des abstrahierenden Denkens. Eine zweite Art des Denkens, egal ob man es als bildnerisches oder analoges Denken bezeichnet, wird bei Luhmann nicht berücksichtigt. 83 Jede beobachtete Form führt zu einer Bezeichnung. Durch das Weglassen von bestimmten gegebenen, jedoch als unwesentlich erachteten Merkmalen eines Mediums wird nur das als Form bezeichnet, was der Beobachter für wichtig hält. Die einzige Möglichkeit, wie das Bewusstsein in Luhmanns Theorie, ohne eine Bezeichnung treffen zu müssen, operieren kann, besteht in der reinen Wahrnehmung. Ob in Luhmanns Theorie eine andere Form des Denkens als die reine Wahrnehmung und die bezeichnende Beobachtung integrierbar sind, wird in Kapitel 4.2.1.4 diskutiert. Da Luhmann jedoch dem Begriff der Beobachtung in seiner Theorie unterschiedliche Stufen der Abstraktion zuweist, wird zunächst erläutert wie ein Gestalter von der Bezeichnung einer Form zur Reflexion seiner Bezeichnung gelangt. Beobachtung zweiter Ordnung als Reflexionsvermögen Luhmann ergänzt in seiner Theorie das einfache Beobachten durch die Beobachtung zweiter Ordnung. Sie ist eine Art Rückmeldung an die Operationsweise des Systems. Dabei beobachtet man nicht wie bei der Beobachtung erster Ordnung mithilfe grundlegender Unterscheidungen und Bezeichnungen, sondern man nimmt eine Außenperspektive ein und beobachtet den Akt der Unterscheidung selbst. Das heißt, man beobachtet sich selbst oder andere beim Beobachten und damit beim Treffen von Unterscheidungen und beim Finden von Formen. Der Beobachter zweiter Ordnung kann die Unterscheidung, das heißt die vorangegangene Grenzziehung, nachvollziehen und damit erkennen, „daß der Beobachter erster _________________________________________________________________ 83 Vgl.: Mahrenholz, 2011. S.182 ff. Vgl.: Plaum, 2016. S.252 ff.

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Ordnung nicht sehen kann, was er nicht sehen kann.“84 Denn das, was der Beobachter erster Ordnung nicht sehen kann, ist die andere, die nicht bezeichnete Seite seiner Differenzierung, die Umwelt. Er unterliegt somit einer Beschränkung. Der Beobachter zweiter Ordnung ist in der Lage diese Beschränkung, die dem System durch seine eigene Operationsweise auferlegt ist, nachzuvollziehen.85 Er ist durch die höhere Abstraktions- bzw. Organisationsebene in der Lage andere Systeme zu beschreiben. „Die Beobachter erster Ordnung diskriminieren. Sie bezeichnen etwas mit Hilfe einer Unterscheidung. Dasselbe tun die Beobachter zweiter Ordnung. […] Aber sie richten sie auf andere Beobachter, die eine gleiche Operation vollziehen. Sie unterscheiden also Unterscheider.“86

Der Beobachter zweiter Ordnung ist damit fähig, reflexiv zu handeln. Das Bewusstsein muss nicht entlang seiner Wahrnehmung operieren, sondern kann die Referenz wechseln. Es ist in der Beobachtung zweiter Ordnung nicht gezwungen ausschließlich die Umwelt zu beobachten, sondern kann beginnen, über sich selbst und seine eigenen Beobachtungen etwas zu denken. Dieser Wechsel in die Rolle des Beobachters zweiter Ordnung erfolgt meist durch eine unerwartete oder überraschende Beobachtung erster Ordnung, welche die Operationsweise des Systems irritiert, in Frage stellt oder gar gefährdet. Die Reflexion endet dann, wenn durch die Beobachtung erneut eine Veränderung im System eingetreten ist. Das erfolgt über eine korrigierte Ausrichtung der Aufmerksamkeit, wenn beispielsweise eine dringlichere Außenbeobachtung ansteht.87 Man kann vereinfacht die Beobachtung erster Ordnung dem Handeln und die Beobachtung zweiter Ordnung dem Reflektieren zuweisen. In einem Gestaltungsprozess bedeutet das, dass der Künstler bei der Beobachtung erster Ordnung Formen am Kunstwerk unterscheidet. Ein Künstler beispielsweise tut das durch den Akt des Malens. Wenn der Künstler in die Beobachtung zweiter Ordnung wechselt, beobachtet er sich selbst beim Beobachten bzw. beim Malen. Das bedeutet mit anderen Worten, der Maler blickt im Gestaltungsprozess reflexiv auf sich selbst beim Malen.

_________________________________________________________________ 84 Luhmann, 2008 (2). S.251. 85 Vgl.: Luhmann, 2008 (1). S.35. 86 Luhmann, 2008 (2). S.213 f. 87 Vgl.: Bautz; Stöger, 2013. S.80 ff.

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Bei den Beobachtern erster und zweiter Ordnung muss es sich nicht zwangsweise um zwei verschiedene Individuen handeln. Der Gestalter tut das eine und der Rezipient das andere. Ein Subjekt kann sprunghaft von der Beobachtung erster Ordnung in die Beobachtung zweiter Ordnung und damit in die Selbstbeobachtung wechseln.88 Luhmann erkennt gerade im Gestaltungsprozess die Notwendigkeit der Beobachtung zweiter Ordnung, da der Gestalter nur so sich und andere beim Beobachten beobachten kann. Luhmann bezieht sich in seiner Theorie zwar ausschließlich auf Kunstwerke wie Bilder oder Skulpturen, die als Objekt die Spuren des Gestaltens konservieren, jedoch können auch sämtliche performativen Gestaltungsakte vom Künstler reflexiv beobachtet werden. Die unterschiedenen Formen des Künstlers, die zu der äußeren Gestalt des Kunstwerks geführt haben, sind mittels der sinnlichen Wahrnehmung für Rezipienten beobachtbar. Über die Reaktion der Rezipienten kann ein Gestalter die Wirkung seines Kunstwerks reflektieren und weitere Entscheidungen im Arbeitsprozess treffen. Das Bewusstsein benötigt die Koppelung zu sozialen Systemen, da es sonst nicht in der Lage wäre, eine stabile und sozial verifizierte Sicht auf die Umwelt zu generieren. Nur über einen sozialen Abgleich der beobachteten Bezeichnungen und Formen kann ein Subjekt zu objektivierbaren Kriterien finden, die bei der Auswahl der zu treffenden Unterscheidungen helfen. Das Bewusstsein ist bei der Generierung eigener Gedankeninhalte auf das kommunikative Operieren sozialer Systeme angewiesen. Aus der Perspektive des Bewusstseins ist die Kommunikation die Beobachtung von Beobachtungen anderer Individuen. Ein Künstler muss jedoch nicht jedes Mal, wenn er über sein Werk reflektieren will, andere Subjekte beim Beobachten beobachten. Die Entscheidungen, welche Differenzierungen getroffen werden sollen, übernimmt der Gestalter im Hinblick darauf, wie seine vorangegangenen Unterscheidungen von sich und von anderen beobachtet worden sind. Durch die Erfahrungen, die er in seiner Domäne mit der Beobachtung zweiter Ordnung gesammelt hat, ist er in der Lage Wirkungen und Reaktionen durch die Beobachtung seiner eigenen Beobachtung zu reflektieren. Dieser Umstand kann für den Gestaltungsprozess gewinnbringend eingesetzt werden. Das Beobachten zweiter Ordnung diktiert dem Künstler anhand der getätigten Operationen am Werk das weitere Vorgehen.89 Es ermöglicht dem Gestalter, eine Distanz zwischen sich und dem Werk aufzubauen, um auf Basis seiner Erfahrung und seines „hochspezifizierten Unterscheidungsvermögens“ 90 bzw. seiner differenzierten Wahrnehmung den Prozess der Gestaltung voranzutreiben. Durch die _________________________________________________________________ 88 Vgl.: Luhmann, 2008 (2). S.215 ff. 89 Vgl.: Luhmann, 2008 (2). S.253. 90 Ebd.: S.217.

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im Werk vom Gestalter unterschiedenen Formen wird das Beobachten des Beobachtens erst möglich. Das heißt, ohne das Werk als Medium unzähliger bereits vollzogener Beobachtungen erster Ordnung würde es auch nicht zu kommunikativen Operationen mit anderen Individuen, den Rezipienten kommen. Und anders herum könnte der Gestalter ohne die Möglichkeit andere beim Beobachten zu beobachten, nicht zu seinen ganz individuellen bildnerischen Kriterien finden, die ihn im Gestaltungsprozess leiten. Der Gestaltungsprozess ist demnach eng an soziale Systeme gebunden. Erst die Kommunikation ermöglicht eine sozial angepasste Differenzierung der Wahrnehmung. Wie soziale Systeme operieren und welche Rolle sie im Gestaltungsprozess einnehmen, wird in Kapitel 4.2.3 erörtert. Doch bevor die anderen Systemarten und die Koppelungen untereinander in den Fokus der Untersuchung rücken, wird diskutiert, welche Arten des Denkens, die bereits im Forschungsfeld des kreativen Aktes in Kapitel 2.7 angesprochen worden sind, mit Luhmanns Systemtheorie erklärt werden. Nur so kann bestimmt werden, welche Bedingungen der Kreativität das psychische System im künstlerischen Gestaltungsprozess erfüllt. Unterschiedliche Arten des Denkens in Luhmanns Systemtheorie Luhmann unterscheidet mit dem Wahrnehmen und dem Beobachten zwei Typen des Denkens. Ein Bewusstsein kann demnach auf zwei verschiedene Arten operieren. Durch das Wahrnehmen trifft das Bewusstsein Unterscheidungen, die es zunächst nicht weiter verarbeitet. Beim Beobachten hingegen werden diese wahrnehmungsbasierten Unterscheidungen genutzt und das Bewusstsein entscheidet sich für eine der beiden unterschiedenen Seiten. Mit dieser Differenzierung der beiden Denkweisen des Bewusstseins schafft Luhmann eine hierarchische Ordnung seiner Denkarten. Das Wahrnehmen ist die grundlegende Operationsweise, ohne die keine Beobachtung erfolgen könnte. Dafür ist ein Subjekt, das ausschließlich wahrnimmt, nicht in der Lage, Formen und Informationen zu verarbeiten. Das kann erst im Akt der Beobachtung erfolgen, da nur hier im Sinne der Abstraktionstheorie eine bewusste Bezeichnung bzw. Formentscheidung stattfindet, mit der das Individuum komplexe Probleme lösen kann. Die reine Wahrnehmung hingegen ist zwar eine Operationsweise des psychischen Systems, jedoch ist sie eine Art des vorbewussten Agierens. Luhmann sagt, dass die Wahrnehmung auf ein gleichzeitiges Prozessieren mit der Umwelt angewiesen ist. „Das Unterschiedene muß simultan oder in unmittelbarem Nacheinander […] präsent sein, sonst verliert die Unterscheidung ihre Wahrnehmbarkeit.“91 Wenn das Bewusst_________________________________________________________________ 91 Luhmann, 1990 (2). S.233.

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sein hingegen beobachtend operiert, passiert das nicht in unmittelbarer Gleichzeitigkeit mit der Wahrnehmung, sondern immer zeitversetzt. Das Bewusstsein braucht den Bruchteil eines Momentes, um auf Basis der Unterscheidung eine Entscheidung zu treffen. Eine Entsprechung des beobachtenden Denkens, wie Luhmann es ausführt, findet man so oder so ähnlich in den meisten auf Abstraktion beruhenden Denktheorien. Die Denktheorien der Kreativitätsforschung machen da keine Ausnahme. Guilford nennt es das konvergierende Denken und Mahrenholz das digitale Denken.92 Alle diese Denktheorien beziehen sich auf die moderne Abstraktionstheorie, bei der ein bewusstes Denken nur durch das Bilden und Gebrauchen von Begriffen möglich ist. Begriffe selbst sind eine Abstraktion bzw. eine Vereinfachung oder Reduktion eines Gegenstandes oder Sachverhalts der Umwelt. Nach Kant sind Begriffe das grundlegende Instrumentarium des Denkens. Ohne sie wäre ein Denken nicht möglich. „Denken ist das Erkenntnis durch Begriffe.“93 Mahrenholz bezeichnet das mit Begriffen abstrahierende Denken als digital.94 Sie bezieht sich in ihrer Denktheorie auf die Semiotik von Goodman.95 Bei ihr arbeitet das konvergierende Denken nach einem digitalen Prinzip, das mithilfe von Bezeichnungen operiert. Diese Bezeichnungen oder Begriffe sind im Sinne Goodmans Denotationen. Denotation wird von Goodman als eine Beziehung zwischen Sprache und Welt verstanden. Ein Individuum denotiert ein bestimmtes Objekt oder Ereignis der Umwelt durch eine extensionale Bezugnahme. 96 Zu einer solchen Denotation bzw. Bezeichnung gelangt das Bewusstsein durch eine Prädikation oder Abstraktion. Das Bewusstsein folgt beim digitalen Denken dem Prinzip der endlichen Differenzierung und arbeitet dabei begriffsfindend und formalisierend. Mit der Zuweisung einer Bezeichnung auf einen Gegenstand oder ein Ereignis wird dem Differenzieren ein Ende gesetzt.97 Weitere Unterscheidungen werden vernachlässigt, um zu einem Begriff finden zu können. Diese Vorgehensweise entspricht dem Verfahren der beobachtenden Systeme bei Luhmann. Indem ein _________________________________________________________________ 92 Vgl.: Mahrenholz, 2011. S.30. 93 Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. In: Gesammelte Schriften. Akademie-Ausgabe. Abteilung I, Werke, Band 3, Kritik der reinen Vernunft. de Gruyter: Berlin 1911. Online-Ausgabe: http://korpora.zim.uni-due.de/Kant/aa03/ (Stand 11. 11. 2016). 94 Vgl.: Mahrenholz, 2011. S.30. 95 Goodman unterscheidet zwei grundlegende Arten der Bezugnahme von Zeichen: Denotation und Exemplifikation. 96 Vgl.: Goodman, 2012. S.16 f. 97 Vgl.: Mahrenholz, 2011. S.30.

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beobachtendes System in der Umwelt eine Form bezeichnet, legt sich das Bewusstsein durch die Orientierung der Aufmerksamkeit darauf fest. Nicht das Ziehen der Grenze ist dafür verantwortlich, dass das Bewusstsein konvergierend denkt, sondern die Bezeichnung einer der beiden Seiten, die durch das Ziehen der Grenze entstanden sind. Die Bezeichnung ist entweder das eine oder das andere. Sie ist klar einer Seite zugeordnet und damit auch semantisch disjunktiv. 98 Erst durch die Konzentration auf eine Seite entsteht die Möglichkeit, Wahrgenommenes zu kommunizieren. Die Bezeichnung des einen und nicht des anderen ermöglicht es beispielsweise mithilfe der Sprache Informationen zu kreieren. Kommunikation erfordert die Festlegung einer Form oder Bezeichnung, eine Entscheidung an einer Zweiseitenform, die erst dann im Rahmen eines sozialen Systems zu einer Information werden kann. Das würde aber auch bedeuten, dass jeder Gestaltungsprozess, jeder Akt, der zu einer Form findet, in letzter Konsequenz immer konvergierend sein muss, da die Entscheidung für die eine und nicht für die andere Seite einer Grenze erst zu dieser Form geführt hat. Man kann zusammenfassend wiederholen, dass das Bewusstsein, egal ob man es konvergierendes, beobachtendes oder digitales Denken nennt, im Sinne einer modernen Abstraktionstheorie mit Begriffen operiert. Während es in jeder der hier genannten Denktheorien eine Entsprechung für das abstrahierende Denken gibt, verhält es sich mit dem bei Luhmann als Wahrnehmen bezeichnete Denken anders. Man kann nicht einfach das von Mahrenholz als analog oder von Plaum als konkretisierend bezeichnete Denken mit Luhmanns Wahrnehmungsbegriff gleichsetzen. Der Unterschied liegt zum einen in dem jeweiligen hierarchischen Verhältnis zum abstrahierenden Denken, zum anderen im jeweiligen Ablauf des Denkprozesses. In der Literatur findet man unterschiedliche Erklärungsansätze, wie ein nicht abstrahierendes bzw. ein nicht begriffliches Denken zu verstehen ist. Dabei lassen sich nach Plaum vereinfachend zwei Tendenzen in den Theorien unterscheiden.99 • Die eine Richtung begreift das gesamte Denken, und damit auch das abstrahie-

rende Denken, als von der Wahrnehmung konstituiert. „Denken und Wahrnehmen werden nicht als getrennte Vermögen betrachtet, sondern als stark miteinander verknüpft oder sogar als ein zusammenhängendes Erkenntnisvermögen.“100 Dabei ist das konkretisierende Denken als Wahrnehmung eine notwendige Voraussetzung für abstraktes Denken. _________________________________________________________________ 98

Vgl.: Goodman, 2012. S.146.

99

Vgl.: Plaum, 2016. S.151 ff.

100 Ebd.: S.151.

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• Die andere Richtung definiert neben dem begrifflichen, bezeichnenden oder abs-

trahierenden Denken eine grundsätzlich andere Denkart. Das konkretisierende Denken existiert neben dem abstrahierenden Denken als eigenständiger Bewusstseinsakt. Das analoge Denken, das Mahrenholz beschreibt, zählt eindeutig zu der zweiten Richtung. Sie sagt, dass der Bewusstseinsakt neben dem digitalen Denken ein analoges, „nicht-endliche[s] [D]ifferenzieren“101 und damit eine unabschließbare, unendliche, unausschöpfliche und unwiederholbare Denkweise ist. 102 Mit dieser Definition gleicht ihre Theorie der von Plaum, die diese Art zu Denken als konkretisierend oder bildnerisch bezeichnet. Jeder Denkakt ist dabei absolut einzigartig, da jeder vom Bewusstsein wahrgenommene Unterschied lediglich in dem Moment des Denkaktes eine Rolle spielt. Mahrenholz beschreibt das Prinzip des analogen Denkens als ein „sowohl-als-auch“103. Im Gegensatz dazu operiert das digitale Denken nach dem Prinzip „entweder-oder“104. Die Unentschiedenheit in der Differenzierung ermöglicht es nicht, sich auf eine Bezeichnung festzulegen. Dadurch entstehen unendlich viele Differenzierungen. Diese Denkweise bezieht Mahrenholz auf die von Goodman definierte Exemplifikation. Die Exemplifikation ist nicht wie die Denotation auf eine syntaktisch disjunkte Bezeichnung reduziert, sondern fungiert als syntaktisch und semantisch dichte Information. 105 Die Exemplifikation bezieht sich auf die Umwelt, die wiederum eine syntaktische Fülle derartiger Informationen anbietet. Diese Art des Denkens existiert parallel zum abstrahierenden Denkvermögen. Es gibt keine hierarchische Ordnung zwischen analog und digital oder einen irgendwie gearteten Übergang. Sie sind vollkommen voneinander unterschieden, mit jeweils eigenen Operationsweisen. 106 Das reine Wahrnehmen im Sinne Luhmanns ist dagegen als Denkakt der Beobachtung untergeordnet. Es ist attentional ausgerichtet und trifft in der Umwelt Unterscheidungen, jedoch findet keine Entscheidung oder Bezeichnung statt. Durch den vorbewussten Charakter ist das Wahrnehmen mit dem divergierenden Denken von Guilford vergleichbar. Ähnlich wie bei Luhmanns Wahrnehmungsbegriff organisiert sich das divergierende Denken selbstständig. Dabei operiert es nicht wie das konvergierende Denken abstrakt und begrifflich, sondern strebt in die Breite und _________________________________________________________________ 101 Mahrenholz, 2011. S.268. 102 Vgl. ebd.: S.172. 103 Mahrenholz, 2011. S.268. 104 Ebd.: S.268. 105 Vgl.: Goodman, 2012. S.154. 106 Vgl.: Mahrenholz, 2011. S.30.

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schweift aus. Es ist vom Bewusstsein in der Regel nicht nachvollziehbar, welche Unterscheidungen gemacht werden und auf welcher Basis diese Unterscheidungen getätigt werden. Um zu zeigen, welche Rolle das Wahrnehmen oder das divergierende Denken im künstlerischen Gestaltungsprozess spielen kann, wird im Folgenden ein dokumentierter Gestaltungsakt im Hinblick auf die Bewusstseinsakte des ausführenden Künstlers interpretiert. Als Beispiel hierfür wird der bereits erwähnte Kurzfilm von Namuth über Pollocks Arbeitsprozess herangezogen. Der Gestaltungsprozess Pollocks ist zur Veranschaulichung besonders geeignet, da er nach eigener Aussage „besonders beeindruckt von [der] Auffassung des Unbewussten als der Quelle der Kunst“107 ist. Die Entscheidungen, die Pollock in dem Video trifft, wie beispielsweise die Wahl der Farbe, entspringen dem konvergierenden Denken, dem Beobachten. Bei der Farbwahl108 bzw. beim Farbenmischen109 trifft er eine Unterscheidung und entscheidet sich für die eine und nicht für die anderen Farben. Seine Pinselführung und seine Drippings hingegen wirken wie Automatismen, die keinem Ziel folgen.110 In einer endlos scheinenden Folge von tranceartigen Bewegungen trifft er auf der Leinwand Unterscheidungen in Form von Farbspuren. Um zu zeigen, dass auch das reine Wahrnehmen neben dem Beobachten als Denkweise im Gestaltungsprozess eine Rolle spielt, sollen Pollocks Drippings als Beispiel dienen. Es wird gezeigt, dass bei der Gestaltung von Formen nicht immer eine abstrahierende Beobachtung stattfinden muss. Pollocks Arbeitsprozess ist vorbewusst und im Sinne Luhmanns wahrnehmend. Das bestätigen auch die Aussagen die er im Kurzfilm macht. „When I am painting, I have a general notion.“111 Er spricht von einer allgemeinen Vorstellung, wie das Bild aussehen soll. Diese entwickelt sich jedoch erst während des Malens: „Because the painting has a life _________________________________________________________________ 107 Pollock, Jackson: Es gibt keine isolierte amerikanische Malerei. In: Theorien zeitgenössischer Malerei. Hrsg.: Jürgen Claus. Rowohlt: Reinbek bei Hamburg 1963 (1). S.62. 108 Vgl.: Namuth, Hans: Jackson Pollock ‘51. R.: Namuth, Hans. T.: Namuth, Hans; Pollock, Jackson. Gedreht 1951. East Hampton 1951. © 1991 Hans Namuth Estate. Courtesy Center for Creative Photography, University of Arizona. Fassung: https://www.youtube.com/watch?v=6cgBvpjwOGo (Stand 12. 11. 2016). 1:47 Min. 109 Vgl. ebd.: 1:51 Min. 110 Vgl. ebd.: 2:41 Min. und 2:50 Min. 111 Zitiert aus dem Video: Jackson Pollock ‘51. R.: Namuth, Hans. T.: Namuth, Hans; Pollock, Jackson. Gedreht 1951. East Hampton 1951. Fassung: https://www.youtube.com/watch?v=6cgBvpjwOGo (Stand 06.06.2016). 2:30 Min.

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of it’s own. I try to let it live.“112 Eine rein wahrnehmende Operationsweise würde bedeuten, dass er die einzelnen Farbspuren im Moment der Setzung nicht plant. Er trifft keine bewusste Entscheidung im Sinne einer Abstraktion. Demnach kann er auch, sobald es mit einer Drippingsession beginnt, die einzelnen Farbspuren nicht bewusst aufeinander beziehen. Er lenkt die Pinselspuren nicht auf Basis von beobachteten Entscheidungen, sondern aufgrund attentionaler Attraktion. Das heißt, wie er im Film sagt, das Bild lenkt seine Aufmerksamkeit. Diese These scheint folgendem Zitat zu widersprechen: „I can control the flow of the paint. There is no accident.“113 Die Kontrolle, von der er spricht, bezieht sich jedoch auf die technische Handhabung des Drippings.114 Er selbst bezeichnet diese technische Komponente seiner Arbeit als den „Malfluss“115. Das sind beobachtete Entscheidungen, die an das sensomotorische System gekoppelt sind. Die von Pollock benannte Kontrolle bezeichnet den Winkel des Pinsels oder die Geschwindigkeit der Armbewegung, was beides Auswirkungen auf die Fließgeschwindigkeit und die Menge der Farbe beim Dripping hat. Der Gestaltungsprozess selbst erfolgt nach eigener Aussage unbewusst: „Wenn ich in meinem Bild bin, bin ich mir nicht bewusst, was ich tue.“116 Die Spuren selbst sind im Akt der Entstehung, reine Unterscheidungen ohne Entscheidungen oder Bezeichnungen. Sie sind das Resultat unendlicher Differenzierung. „Just as there is no beginning and no end.“117 Die Beobachtung über die getroffenen Unterscheidungen findet erst statt, wenn er, wie man es im Video sieht, einen Schritt zurücktritt und das Resultat, die Spuren seines Drippings reflektiert.118 „Erst nach einer Periode des Vertrautwerdens sehe ich, was ich gemacht habe.“119 Dann trifft er auf Basis seiner Beobachtung weitere beobachtete Entscheidungen, in Form der Farbwahl oder der Positionierung seines Körpers beim Beginn des nächsten Drippings. Das Beispiel zeigt, dass nicht jeder Akt des künstlerischen Gestaltungsprozesses zwingend einem abstrahierenden Denken zugeordnet werden kann.

_________________________________________________________________ 112 Pollock; Namuth, 1951. 3:00 bis 3:05 Min. 113 Pollock; Namuth, 1951. 2:42 bis 2:47 Min. 114 Vgl.: Namuth, 1951. 6:05 Min. 115 Pollock, Jackson: Im Bild sein. In: Theorien zeitgenössischer Malerei. Hrsg.: Jürgen Claus. Rowohlt: Reinbek bei Hamburg 1963 (2). S.63. 116 Pollock, 1963 (2). S.63. 117 Pollock; Namuth, 1951. 2:47 bis 2:50 Min. 118 Vgl.: Namuth, 1951. 4:00 Min. 119 Pollock, 1963 (2). S.63.

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Während das vorliegende Beispiel lediglich aufzeigt, dass es im Gestaltungsprozess neben dem abstrakten Denken auch andere Denkarten geben kann, ist man sich in den Denktheorien der Kreativitätsforschung einig, dass ein konvergierendes Denken alleine nicht ausreicht, um kreative Produkte oder Leistungen hervorzubringen. Nach Guilfords Theorie entsteht die Kreativität genau in dem Moment des Gestaltungsprozesses, in dem der Gestalter zwischen konvergierendem und divergierendem Denken wechselt. Ebenso beschreibt Mahrenholz, dass Kreativität nur in einem Wechselspiel zwischen zwei verschiedenen Denkarten entstehen kann.120 Die psychologische sowie die philosophische Kreativitätsforschung sieht in der Dualität dieser beiden Denkweisen die Kausalität für die Entstehung von Kreativität. Um neuartige und unkonventionelle Perspektiven, die vom Üblichen, von „der scheinbar einzig möglichen Lösung“121 abweichen, zu entwickeln, benötigt das Bewusstsein eine Art des Denkens, das in die Breite strebt und ausschweift. Nur so kann nach Guilfords Argumentation eine selbst verursachte Umstrukturierung von Gedanken eingeleitet werden, um ungewohnte und unübliche Handlungs- bzw. Denkalternativen zu finden. Entsprechend der Merkmale kreativer Produkte versorgt das wahrnehmende oder divergierende Denken das Bewusstsein mit neuartigen Unterscheidungen, welche wiederum im konvergierenden oder beobachtenden Denken zu sinnhaften Entscheidungen oder Bezeichnungen führen. Durch die Hierarchisierung der Denkarten bei Luhmann, steht seine systemische Denktheorie der Kreativitätstheorie von Guilford nahe. Eine parallel zum Beobachten bzw. zum abstrahierenden Denken konkretisierende Denkweise, wie das analoge Denken von Mahrenholz, wird von Luhmann nicht angedacht. Das soll jedoch nicht heißen, dass eine derartige Denkweise nicht systemtheoretisch ausdifferenziert werden könnte. Da die vorliegende Arbeit jedoch vornehmlich die Definition des Kreativitätsbegriffs anstrebt und die Differenzierung zwischen wahrnehmenden und beobachtenden Bewusstseinsoperationen für dessen systemtheoretische Begründung ausreicht, werden an dieser Stelle keine weiteren systemtheoretischen Erklärungsversuche eines konkretisierenden Denkens unternommen. Was aus systemtheoretischer Perspektive genau an dem Übergang der zwei Denkweisen, Wahrnehmen und Beobachten, passiert, wird in Kapitel 6 dieser Arbeit beschrieben.

_________________________________________________________________ 120 Vgl.: Kapitel 2.7.1. 121 Reckwitz, 2012. S.224.

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Zusammenfassung Kapitel 4.2.1 Die Subjektreferenz des künstlerischen Gestaltungsprozesses kann sich ausschließlich in einem denkenden Bewusstsein erfüllen. Dieses Bewusstsein ist als psychisches System ein Subsystem des künstlerischen Gestaltungsprozesses. Luhmann unterscheidet zwei Arten des Operierens in einem psychischen System: das Wahrnehmen und das Beobachten. Das Wahrnehmen ist ein grundlegender Modus des Bewusstseins, der in der Umwelt Unterscheidungen vornimmt. Wie das divergierende Denken organisiert es sich selbstständig, strebt in die Breite und schweift aus. Das Beobachten basiert auf dem Wahrnehmen und ist eine Operation, die eine Unterscheidung verwendet, um innerhalb dieser Unterscheidung die eine oder die andere Seite zu wählen. Wie das konvergierende Denken reduziert und abstrahiert es Elemente der Umwelt, um zu einer Bezeichnung zu kommen. Das konvergierende Beobachten besitzt zudem mehrere Abstraktionsebenen. Mit der Beobachtung zweiter Ordnung ist das Bewusstsein fähig, reflexiv zu agieren, indem es die Referenz ändert. Es beobachtet nicht mehr entlang der Wahrnehmung, sondern beobachtet, was beobachtet wird bzw. beobachtet wurde. So kann das Bewusstsein beginnen über sich selbst und seine eigenen Beobachtungen etwas zu denken. 4.2.2 Sensomotorische Systeme des künstlerischen Gestaltungsprozesses Mit den sensomotorischen Systemen beschreibt Luhmann den menschlichen Körper, der aus unterschiedlichen Teil- und Subsystemen besteht. Da Luhmanns Augenmerk auf den sozialen und psychischen Systemen liegt, werden die sensomotorischen Systeme meist nur beiläufig erwähnt. Eine ausführliche Beschreibung der physischen Systeme findet man bei Bautz und Stöger, da der von ihnen beschriebene Prozess des Zeichnens eine enge Bindung des Bewusstseins an die Sensomotorik benötigt.122 Zunächst lassen sich unter den einzelnen Teilsystemen der Sensomotorik die Nerven- von den Muskelsystemen unterscheiden. • Nervensysteme wie beispielsweise die Sinnesorgane weisen eine enge Koppe-

lung mit den Systemen des Bewusstseins auf. Sie operieren sensorisch und können dabei sowohl die Wahrnehmungs- als auch die Beobachtungsoperationen des Bewusstseins irritieren. _________________________________________________________________ 122 Vgl.: Bautz; Stöger, 2013. S.21 ff.

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• Zu den motorischen Systemen zählt der Muskelapparat des menschlichen Kör-

pers. Auch diese Systeme arbeiten über diverse Koppelungen eng mit dem Bewusstsein zusammen. Damit eine Bewegung zustande kommen kann, muss es eine Erregung in Form eines neuronalen Impulses geben, der an den Synapsen als Spannungszustand zu einem Muskel weitergeleitet wird. Die psychischen Systeme liefern ein elektrisches Aktionspotential, das Neurit genannt wird. (Abb. 6) Es nimmt an der Synapse mit dem Dendrit des physischen Systems Kontakt auf, indem es durch die Aktivierung chemischer Transmitter einen Spalt zwischen präsynaptischer Endigung und postsynaptischer Membran überwindet.123 Dieser Spalt markiert die Systemgrenze. Das Bewusstsein kann die Motorik über diese Grenze hinaus nicht beeinflussen. Beide Systeme sind eng aneinander gekoppelt und irritieren sich gegenseitig durch ein elektrisches Aktionspotential. Jedoch prozessiert jedes System mit seinen eigenen Elementen und seinen eigenen Operationen. Während das psychische System Gedanken verarbeitet, operiert das physische System mit Bewegungsimpulsen.

Abb. 6: Schematische Darstellung einer Synapse. Nicht alle Systeme des menschlichen Körpers sind unmittelbar an psychische Systeme gekoppelt. Viele von ihnen laufen unter dem Radar des Bewussten, da sie _________________________________________________________________ 123 Vgl.: Moll, Karl-Josef; Moll, Michaela: Anatomie. Urban & Fischer: Elsevier (1978) 2006. S.123.

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sonst das menschliche Gehirn überlasten würden.124 Automatismen sind notwendig. Der Mensch kann nicht jeden Akt des vegetativen Nervensystems, wie beispielsweise jeden einzelnen Herzschlag, bewusst steuern. Nicht nur die organischen Systeme sind diesen Automatismen unterworfen, sondern auch die muskulären. Wenn der Mensch jeden Schritt beim Gehen oder jede Bewegung beim Zähneputzen gezielt durchdenken müsste, wäre das Pensum an Operationen, die das menschliche Gehirn durchführen kann, maßlos ausgereizt. Eine systemtheoretische Lösung für dieses Problem sieht Luhmann in der unbewussten Steuerung sensorischer und motorischer Operationen, die er genauso wie Bautz und Stöger nicht zum Bewusstsein, sondern zu den körpereigenen Systemen zählt. Das bedeutet, dass der Körper selbst durch wiederholt durchgeführte Bewegungen eine Art Erfahrungsstruktur aufbaut, die ihm als Orientierung dient.125 Die Struktur ermöglicht dem Körper Bewegungen zu lernen und sich weiterzuentwickeln. Darüber hinaus ist er deswegen in der Lage Bewegungsabläufe zusammenzufassen. Dadurch, dass das Bewusstsein mithilfe der sensorischen Systeme die Wahrnehmung des Bewusstseins auf die Bewegungen der Motorik richten kann, werden Sensorik und Motorik aufeinander bezogen und aneinander gekoppelt. Das Bewusstsein lernt so, bestimmte Bewegungen mit dazugehörigen Sinneseindrücken zu identifizieren, zu imaginieren und zu antizipieren.126 Die zu einem bestimmten sensorischen Impuls passende Bewegung kann dann vom Bewusstsein gezielt ausgelöst werden. Der Körper hingegen registriert die mit dem Impuls verbundenen Erregungsunterschiede an bestimmten Synapsen. Er ist somit in der Lage, den Impuls unmittelbar einer Bewegung zuzuordnen. Damit können sowohl die Sensomotorik durch die Wiederholung von Bewegungsmustern als auch das Bewusstsein durch die Beobachtung von Bewegungen Strukturen ausbauen, die komplexe und spezialisierte Werk- oder Gestaltungsprozesse möglich machen. Dazu sind sie jedoch nur gemeinsam über eine gegenseitige Koppelung fähig. Solche bewusst gesteuerten Bewegungsabläufe bestehen meist aus mehreren koordinierten Bewegungen, die jedoch als Einheit zusammengefasst werden. Unterschiedliche motorische Systeme sind dabei eng aneinander gekoppelt. Wenn ein Bewegungsmuster, wie das Laufen, durch genügend Wiederholungen so automatisiert worden ist, dass Knie-, Hüft- und Fußgelenke sensibel aufeinander abgestimmt sind, greift das Bewusstsein in einen aktiven Ablauf nur ein, wenn ein unvorhergesehener _________________________________________________________________ 124 Vgl.: Bautz; Stöger, 2013. S.21. 125 Vgl.: Bautz; Stöger, 2013. S.22. 126 Vgl. ebd.: S.22.

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Impuls, wie ein Stolpern, die motorischen Systeme irritiert. Durch solche Irritationen wird ein motorisches System dazu gezwungen seine Struktur zu korrigieren. Daraufhin differenziert das jeweilige System seine Leistungsfähigkeit. Es lernt. Für den künstlerischen Gestaltungsprozess stellen die sensomotorischen Systeme die Verbindung zwischen der Subjekt- und der Produktreferenz dar. Auch wenn ein künstlerischer Gestalter viele Möglichkeiten hat sich auszudrücken und nicht mehr an klassische Vorstellungen der handwerklichen Meisterschaft auf einem speziellen Gebiet festgelegt werden kann, sind die sensomotorischen Systeme zwingend notwendig, um das Kunstwerk, egal in welcher Erscheinungsform, sinnlich wahrnehmbar zu machen. Dabei ist der künstlerische Prozess, anders als Luhmann sagt, nicht ausschließlich an eine herausragende Beherrschung der Motorik gebunden. Nicht jeder Handgriff muss bis zu einer bewussten Automatik des Könnens beherrscht werden.127 Das gilt nur für Gestaltungsprozesse, bei denen ein handwerklich arbeitender Gestalter seine sensorischen Systeme (Auge, Ohr etc.) und seine motorischen Systeme (Hand, Finger, Beine etc.) mit dem Bewusstsein sensibel ausrichtet, um komplexe Zeichen- und Formengebilde zu erzeugen.128 Diese spezialisierte Art des Differenzierens von Grenzen und des Bezeichnens von Formen findet man beispielsweise in der Malerei und Bildhauerei sowie in den Bereichen Performance, Video und Tanz. Diese Bereiche der künstlerischen Gestaltung sind auf die Lernfähigkeit, die Automatismen und die Koppelungen der sensomotorischen Systeme angewiesen. Der Körper des Gestalters muss in irgendeiner Weise aktiviert werden, da der künstlerische Gestaltungsprozess durch die Produktreferenz immer ein sinnlich wahrnehmbares Kunstwerk hervorbringen muss. Auch wenn die Handlung des Künstlers nur darin besteht, einem ausführenden Handwerker zu sagen, was er tun soll oder eine Idee wie in der Konzeptkunst zu dokumentieren. Er muss seiner Idee oder seinen Gedanken einen Ausdruck verleihen. Zusammenfassung Kapitel 4.2.2 Mit den sensomotorischen Systemen beschreibt Luhmann den menschlichen Körper, der aus unterschiedlichen Subsystemen besteht, die sich in Nerven- und Muskelsysteme unterscheiden lassen. Nervensysteme wie die Sinnesorgane operieren sensorisch und können dabei sowohl die Wahrnehmungs- als auch die Beobachtungsoperationen des Bewusstseins irritieren. Zu den motorischen

_________________________________________________________________ 127 Vgl.: Luhmann, 2008 (2). S.210. 128 Vgl.: Bautz; Stöger, 2013. S.58.

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Systemen zählt der Muskelapparat, der die vom Bewusstsein intendierten Bewegungsabläufe ausführt. Die sensomotorischen Systeme des Körpers bauen selbst durch wiederholt durchgeführte Bewegungen eine Art Erfahrungsstruktur auf, die ihnen als Orientierung dienen. Die Struktur ermöglicht dem Körper Bewegungen zu lernen und Bewegungsabläufe zusammenzufassen. Für den künstlerischen Gestaltungsprozess und die Kreativität sind die sensomotorischen Systeme die Verbindung zwischen der Subjekt- und der Produktreferenz, da sie in der Lage sind Bewusstseinsinhalte zu externalisieren und für andere sinnlich wahrnehmbar zu machen. 4.2.3 Soziale Systeme des künstlerischen Gestaltungsprozesses Luhmann versteht unter Kommunikation ganz allgemein die Operationsweise von sozialen Systemen.129 Die Begriffe soziales System und Kommunikation sind bei ihm so eng miteinander verbunden, dass sie eigentlich synonym verwendet werden können. Auf der einen Seite handelt es sich immer, wenn jemand oder etwas kommuniziert, um ein soziales System. Auf der anderen Seite muss ein soziales System kommunizieren, um existieren zu können. Dabei wird eine Kommunikation durch eine andere Kommunikation fortgesetzt. Wie alle Systeme bei Luhmann prozessieren auch die sozialen durch die autopoietische und selbstreferentielle Reproduktion ihrer Operationen. „Was als Einheit einer Kommunikation angesehen und behandelt wird, kann nicht durch die Umwelt vorgegeben werden, sondern ergibt sich aus dem Zusammenhang mit anderen [systemeigenen] Kommunikationen.“130 Kommunikation ist bei ihm nicht einfach eine sprachliche Ausdrucksweise, wie Reden und Schreiben, oder eine auf Mimik und Gestik basierende Interaktion. Sie ist die operative Basis nicht nur jeder zwischenmenschlichen Interaktion, sondern aller sozialen Systeme, wie der Wirtschaft oder des Rechtswesens. Soziale Systeme formieren sich, wenn sich eine bestimmte Art und Weise der Kommunikation entwickelt. Während klassische Kommunikationstheorien die Kommunikation von „Sender und Empfänger, Bedeutungsabsprache durch einen Code, Zeichen, die eine Nachricht vermitteln, [und einem] Kanal, _________________________________________________________________ 129 Vgl.: Luhmann, Niklas; Huber, Hans-Dieter: Gibt es Kunst außerhalb der Kunst? In: Was tun, Herr Luhmann? Vorletzte Gespräche mit Niklas Luhmann. Hrsg.: Hagen, Wolfgang. S.80-98. Kadmos: Berlin 2009. S.84. 130 Luhmann, 2008 (2). S.140.

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über [welchen] die Nachricht geleitet wird“131, abhängig machen, steht im Zentrum von Luhmanns Systemtheorie vor allem die Operationalität der Kommunikation. Traditionelle Kommunikationstheorien basieren auf einem klassischen Übertragungsmodell. Luhmann grenzt sich mit seiner systemischen Kommunikationstheorie in drei zentralen Aspekten von diesen traditionellen Übertragungsmodellen ab. • In der Theorie des Übertragungsmodells geht man davon aus, dass zwischen

dem Sender und dem Empfänger durch Encodierung und Decodierung Informationen weitergegeben oder transportiert werden. Dabei entsteht zwischen den beiden eine Verbindung über einen Kanal bzw. ein Medium. Kerner und Duroy beschreiben diese Verbindung folgendermaßen: „der Sender kann seine Nachrichten nur mit Rücksicht auf den Empfänger weitergeben, der Empfänger wiederum ist von der Nachrichtenübertragung des Senders abhängig.“ 132 Luhmann hingegen lehnt ein Modell, in dem zwischen zwei Instanzen irgendetwas übertragen wird, grundsätzlich ab. Durch die Übertragung wird impliziert, dass ein Sender etwas abgibt, das ein Empfänger erhält. Die gesamte Metaphorik einer Übertragung mit ihren Attributen des Besitzens, Habens, Gebens und Erhaltens weist Luhmann für den Gebrauch in einer Kommunikationstheorie zurück, da ein Absender im Sinne einer Dingmetaphorik nichts weggibt bzw. im Rahmen einer kommunikativen Handlung nichts verliert. 133 • Im Übertragungsmodell muss der Empfänger dasselbe Coderepertoire besitzen wie der Sender, damit ein Bedeutungsabgleich einer Information stattfinden kann. Kommunikation beinhaltet in dieser Theorie immer auch eine Art von Verständigung, in dem Sinne, dass die abgegebene mit der aufgenommenen Information übereinstimmt und so in identischer Form auf beiden Seiten vorliegt.134 Wenn das Coderepertoire des Senders mit dem des Empfängers nicht übereinstimmt, kommt es zwangsläufig zu Missverständnissen. „Diese sind um so größer, je weniger das Repertoire des einen mit dem des anderen übereinstimmt.“135 Neue Informationen sind in dieser Theorie grundsätzlich inkommunikabel, da sie in einen Code erst implementiert werden müssen, bevor sie ver-

_________________________________________________________________ 131 Kerner; Duroy, 1977. S.41. 132 Kerner; Duroy, 1977. S.35. 133 Vgl.: Luhmann, 1996. S.193. 134 Vgl.: Kowalski, 1975. S.15. 135 Kerner; Duroy, 1977. S.38.

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standen werden können. In Luhmanns Systemtheorie ist jede Information kommunikativ, sobald sie als Mitteilung eines Senders verstanden wird. Was verstanden wird, ist immer dem Empfänger vorbehalten. Die Faktoren Verständigung und Code spielen bei Luhmann für das Zustandekommen von Kommunikation keine Rolle. • Beim Übertragungsmodell geht man davon aus, dass eine Kommunikation nur dann valide ist, wenn die Frage, „wer sagt was zu wem, mit welchen Mitteln, unter welchen Umständen, mit welcher Absicht und mit welchem Erfolg“136, vom Empfänger beantwortet werden kann. Diese Frageformel impliziert, dass Kommunikation nur zustande kommt, wenn der Sender seine Mitteilung auch geplant hat. Die Auffassung, dass jede Kommunikation einen intendierten, kommunikativen Akt erfordert, ist aus Sicht der zeitgenössischen Kommunikationsforschung nicht haltbar. Luhmanns Theorie der sozialen Systeme entspricht in diesem Aspekt Watzlawicks Kommunikationstheorie, bei der jedes menschliche Verhalten als kommunikativer Akt interpretiert werden kann. 137 Jeder sinnlich wahrnehmbare Handlungsakt eines Menschen sowie jedes von Menschen gestaltete Ereignis oder Produkt hat einen Mitteilungscharakter und das Potential, als kommunikativ verstanden zu werden. Dementsprechend kann ein künstlerischer Gestalter kommunikativ agieren, ohne es zu intendieren. Luhmanns Theorie der sozialen Systeme entkoppelt die Kommunikation von einer Aussageabsicht oder einem Ausdruckswillen. Wenn in einem sozialen System nichts übergeben oder übermittelt wird, ein einheitlicher Code nachrangig ist und ein Sender seine Mitteilung gar nicht intendieren muss, worin besteht eine Kommunikation dann. Luhmann definiert den Kommunikationsbegriff ganz allgemein als „Verknüpfungsprozess[…] zwischen Bewusstseinssystemen“138. Das heißt, dass ein Austausch zwischen psychischen Systemen nur über den Umweg der sozialen Systeme stattfinden kann. Immer wenn von einem Bewusstsein etwas als Kommunikation verstanden wird, hat eine kommunikative Operation in einem sozialen System stattgefunden. Obwohl der Mensch mit seinem Bewusstsein eine notwendige Instanz für das Funktionieren sozialer Systeme ist, sind die Menschen und ihr Bewusstsein nicht Bestandteil der Kommunikation oder des sozialen Systems.

_________________________________________________________________ 136 Ebd.: S.11. 137 Vgl.: Watzlawick, 2011. S.13. 138 Luhmann; Huber, 2009. S.84.

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„Ein soziales System kommt zustande, wenn immer ein autopoietischer Kommunikationszusammenhang entsteht und sich durch Einschränkung der geeigneten Kommunikation gegen eine Umwelt abgrenzt. Soziale Systeme bestehen demnach nicht aus Menschen, auch nicht aus Handlungen, sondern aus Kommunikationen.“139

Die Kommunikation mit ihren Strukturen und Operationen hat nach Luhmann keine physische oder psychische Entsprechung im oder am Menschen. Aus diesem Grund können auch Menschen nicht kommunizieren, das ist den sozialen Systemen vorbehalten. Da die Kommunikation für das Bewusstsein ein Teil der Umwelt ist, kann nicht jeder Mensch uneingeschränkt an jeder Kommunikation teilnehmen. Das hängt immer davon ab, wie eng das Bewusstsein mit der jeweiligen Kommunikation gekoppelt ist, bzw. wie vertraut ein Mensch mit den Strukturen und Sinnzusammenhängen des jeweiligen sozialen Systems ist. Subjekte kommunizieren nicht direkt miteinander. Ihr Bewusstsein ist an diverse soziale Systeme gekoppelt. In diesen Systemen wird kommuniziert, entweder durch gemeinsames Wahrnehmen oder durch gegenseitiges Beobachten. Es kann weder eine direkte Übertragung von Gedanken geben, noch kann der Mensch direkten Einfluss auf den Verlauf der Kommunikation nehmen. Da nach Luhmanns Verständnis der Akt der Kommunikation keine Handlung ist, die von einem Subjekt ausgeht, weicht die Theorie der sozialen Systeme stark von den klassischen Theorien wie dem Sender-Empfänger-Modell ab, auch wenn die ablaufenden Prozesse zum Teil zu vergleichbaren Ergebnissen kommen. Wenn zwei psychische Systeme gegenseitig das Verhalten des jeweils anderen beobachten, kommt es fast zwangsläufig zur Kommunikation. Aus diesem Grund kommt auch Watzlawick zu dem Schluss, dass es unmöglich ist, nicht zu kommunizieren.140 Sobald zwei Personen sich gegenseitig wahrnehmen können, kommunizieren sie miteinander, da jedes Verhalten kommunikativen Charakter hat. Während jedoch Watzlawick jegliches Verhalten bereits als aktive Kommunikation begreift, ist die Kommunikation bei Luhmann nicht an das handelnde oder nicht handelnde Subjekt gebunden. Kommunikation nach Luhmann entsteht erst dann, wenn jemand oder etwas eine Form, eine Handlung, ein Verhalten, ein Ereignis usw. als Mitteilung versteht. In einer direkten menschlichen Interaktion ist das der Fall, wenn das Bewusstsein eines Individuums das Verhalten des anderen als Reaktion auf das eigene Handeln versteht. Somit ist der Einzelne in der Lage, die

_________________________________________________________________ 139 Luhmann, 2008 (1). S.269. 140 Vgl.: Watzlawick, 2011. S.13.

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Handlungen des anderen als Antwort auf sein vorangegangenes Verhalten zu beziehen und sein eigenes Handeln in Abstimmung mit dem anderen zu planen. „Wenn Verhalten kommunikativ interpretiert und verstanden wird, muss es mit einer darauf spezialisierten Unterscheidung beobachtet werden, der von Information und Mitteilung.“141 Die in dieser Untersuchung relevanten sozialen Systeme des künstlerischen Gestaltungsprozesses sind sämtliche sozialen Subsysteme des von Luhmann, Bourdieu oder Becker als Weltkunst, Kunstfeld oder Kunstwelt bezeichneten Kunstsystems,142 die mit der Herstellung der darin verhandelten Kunstwerke zu tun haben. Alle ihre kommunikativen Operationen sind strukturell daran ausgerichtet, Kunst zu schaffen. Dabei möchte Luhmann eine kommunikative Operation grundsätzlich nicht als Handlung oder Verhalten definieren. Zum einen erfolgen Handlungen isoliert, ohne kommunikativ zu sein, und zum anderen können Elemente der Umwelt kommunikativ sein, die weder eine Handlung noch ein Verhalten zur Basis haben oder gehabt haben. Eine Handlung erlangt nur eine soziale Relevanz, wenn sie als Mitteilung verstanden wird.143 Jedoch kann der bildnerisch künstlerische Gestaltungsakt schwerlich nicht als Handlung gesehen werden, da ein Kunstwerk immer ein sinnlich wahrnehmbares Medium benötigt, das wiederum von jemandem gestaltet werden muss. Luhmann selbst beschreibt das Herstellen von Kunstwerken als Kommunikation. Für ihn ist der Gestaltungsprozess die Verlagerung von Kommunikation ins Wahrnehmbare. Ein Gestalter erzeugt durch eine sinnlich wahrnehmbare Handlung ein sinnlich wahrnehmbares Kunstwerk und ein Rezipient nimmt das Kunstwerk wiederum durch einen bewussten Akt der Beobachtung wahr. Künstlerische Gestaltung ist demnach eine über Wahrnehmung handelnde Kommunikation.144 Jede sinnlich wahrnehmbare Handlung hat das Potential beobachtet zu werde. Aus dieser Beobachtbarkeit ergeben sich zwei Umstände, die für den Gestaltungprozess unerlässlich sind. Die Beobachtbarkeit gewährleistet sowohl eine Sozialreferenz als auch eine Produktreferenz. Die Tatsache, dass ein Kunstwerk eine sinnlich wahrnehmbare Relation braucht, um überhaupt kommunikativ werden zu können, macht die Handlung zu einem unerlässlichen Baustein des sozialen Systems als Teil des künstlerischen Gestaltungsprozesses.

_________________________________________________________________ 141 Bautz; Stöger, 2013. S.23. 142 Vgl.: Kapitel 3.3.5. 143 Vgl.: Luhmann, 2008 (2). S.420. 144 Vgl. ebd.: S.420.

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Luhmann unterscheidet in sozialen Systemen drei Einheiten, die auch als Handlung begriffen werden können: Mitteilung, Information und Verstehen. Nur wenn alle drei Komponenten zusammen auftreten, kann im Sinne Luhmanns von einer Kommunikation gesprochen werden.145 Diese Dreiteilung stützt sich auf die Differenz von Mitteilung und Information. Im Akt des Verstehens wird diese Differenz beobachtet und erkannt. Das Verstehen ist notwendig, um eine kommunikative Operation zu vervollständigen und den Anschluss einer weiteren zu gewährleisten. Die Mitteilung eines Subjekts wird erst dann zur Mitteilung, wenn sie von jemandem erkannt wird, und die Information erst zur Information, wenn sie in Bezug auf die Mitteilung von ihr unterschieden und interpretiert wird.146 Durch die Schwerpunktsetzung auf das Verstehen und die Tatsache, dass das Zustandekommen von Kommunikation von ihr abhängt, erhält die gesamte Kommunikation eine Richtung von einem Mitteilenden zu einem Verstehenden. Dabei beansprucht die gleichzeitige Verbindung und Trennung von Information und Mitteilung das Bewusstsein eines Individuums derart, dass es weitere Beobachtungen an die Kommunikation koppelt und die Aufmerksamkeit seiner Wahrnehmung auf das Fortlaufen der Kommunikation richtet. Sobald die Aufmerksamkeit an eine spezielle Kommunikation geknüpft worden ist, prozessieren die Elemente des psychischen und des sozialen Systems parallel zueinander. 147 Sie sind aneinander gekoppelt. Die Rolle von Mitteilung, Information und Verstehen kann im künstlerischen Gestaltungsprozess folgendermaßen verstanden werden. Ein künstlerischer Gestalter trifft auf Basis seines Bewusstseins eine Entscheidung, die durch die Koppelung an ein motorisches System eine sinnlich wahrnehmbare Handlung auslöst. Diese Handlung hat das Potential von anderen Menschen als Mitteilung verstanden zu werden. Die kommunikative Information, welche die Handlung des Künstlers beinhaltet, wird wiederum vom Rezipienten generiert und hat auch ausschließlich für ihn eine Bedeutung. Der Gestalter kann zwar eine kommunikativ relevante Entscheidung fällen, die im Falle eines Kunstwerks durch ihn zu einer Gestalt führt, jedoch hat er keinen direkten Einfluss darauf, ob und was mögliche Rezipienten daran beobachten. Vom Gestalter aus gesehen, besteht das Kunstwerk aus sichtbar gemachten oder vergegenständlichten Entscheidungen und Formen

_________________________________________________________________ 145 Vgl.: Luhmann, 1996. S.196. 146 Vgl.: Bohn, Cornelia: Schriftlichkeit und Gesellschaft. Kommunikation und Sozialität der Neuzeit. Westdeutscher Verlag: Opladen, Wiesbaden 1999. S.124 f. 147 Vgl.: Bautz; Stöger, 2013. S.24.

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seines eigenen Handelns. Für den Rezipienten „ist [das Kunstwerk] Anlaß, Ursache und in gewisser Weise auch Vorgabe und Katalysator seines bildnerischen Erlebens“148 und somit eines kommunikativen Verstehens. Erst durch das Verstehen des Rezipienten, wird die vom Künstler geschaffene Gestalt zu einer Information innerhalb eines sozialen Systems. Dabei ist es egal, ob sich der zwischen Gestalter und Rezipient vollziehende kommunikative Prozess als soziale Interaktion, wie in der Performance oder im Tanz oder mithilfe eines kommunikativen Mediums in Gestalt eines Kunstobjekts, stattfindet. Wichtig ist nur, dass jede Geste und jede Bewegung, die innerhalb des Gestaltungsprozesses zu einer Form findet, als kommunikative Handlung verstanden werden kann und nicht erst das abgeschlossene Kunstwerk. Kunstwerke „fallen nicht vom Himmel, sie sind zwar ästhetische Gebilde sui generis, aber zugleich […] faits sociaux – Objekte, die ihre wie immer geartete Bindung an die menschliche Sozietät nicht abstreifen können.“149 Im Folgenden wird erklärt, wie die kommunikative Einheit aus Mitteilung, Information und Verstehen im künstlerischen Gestaltungsprozess zusammenwirkt. Mitteilung und Mitteilungsabsicht Die Mitteilung ist der Ausgangspunkt einer jeden Kommunikation. Dabei ist sie nicht identisch mit der tatsächlichen Mitteilungsabsicht bzw. den Gedanken des Senders. Die Mitteilung wird zwar über dessen Handlung vermittelt, jedoch besteht ihre Bedeutung innerhalb des sozialen Systems ausschließlich in ihrer Unterscheidung von der Information und den daraus resultierenden Anschlusswerten.150 Die Auswahl der kommunikativen Intention findet im Bewusstsein des Senders statt. Die ursprüngliche kommunikative Intention kann nicht über die Grenzen des psychischen Systems in ein soziales System überführt werden. Sie ist als Nervenimpuls an ein sensomotorisches System gekoppelt und führt dort zu einer Bewegung. Diese Bewegung wird von einem anderen beobachtenden Bewusstsein _________________________________________________________________ 148 Regel, 1986. S.48. 149 Müller-Jentsch, 2012. S.13 f. Der Ausdruck faits sociaux stammt von Durkheim und wird mit sozialer Tatbestand übersetzt. Ein sozialer Tatbestand ist eine „mehr oder minder festgelegte Art des Handelns, die die Fähigkeit besitzt, auf den Einzelnen einen äußeren Zwang auszuüben; oder auch, die im Bereiche einer gegebenen Gesellschaft allgemein auftritt, wobei sie ein von ihren individuellen Äußerungen unabhängiges Eigenleben besitzt.“ Durkheim, Émile: Regeln der soziologischen Methode. Hermann Luchterhand Verlag: Neuwied und Berlin (1961) 1980. S.114. 150 Vgl.: Bautz; Stöger, 2013. S.24.

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als Verhalten wahrgenommen. Wenn dieser Beobachter das Verhalten auf sich selbst bezieht, wird die Bewegung oder Form zur Mitteilung. Das passiert jedoch erst, wenn der Beobachter die Mitteilung von der Information differenziert. Die Mitteilung innerhalb eines sozialen Systems basiert somit nicht auf der Aussageabsicht eines Senders. Der Sender hat vielleicht eine auf einer Unterscheidung basierende Bezeichnung getroffen, die zu einer Form geführt hat. Diese Form ist jedoch nur ein Platzhalter und wird erst dann zur Mitteilung, wenn sie ein außenstehender Beobachter als Mitteilung erkennt. Eine direkte Übertragung oder ein „‚richtiges‘ Verstehen, im Sinne von genau das gleiche denken, ist somit zwar nicht ausgeschlossen, aber eher selten und kaum bemerkbar,“151 da die Intention des Senders immer den Umweg über die gekoppelten physischen und sozialen Systeme gehen muss. „Keine Mitteilung, weder eine sprachliche noch eine bildliche, kann so genau, so ausdrucksstark, oder auch so intim sein, dass sie die Elemente des einen Bewusstseins in ein anderes Bewusstsein implantiert oder überträgt.“152 Die Mitteilung als kommunikatives Element ist vor allem Anlass bzw. Anstoß zu weiteren Handlungen in einem sozialen System. Sie veranlasst den Beobachter durch eine Anschlussoperation in Form einer weiteren Mitteilung zu reagieren. Die am stärksten etablierten, kommunikativen Darstellungsmittel der Gesellschaft sind Sprache, Schrift und Bild. Sobald die Aufmerksamkeit eines Beobachters auf ein entsprechendes Medium trifft, vermutet er nahezu automatisch eine Mitteilung dahinter und beginnt sie im Hinblick auf eine Information zu verstehen. Die Sprache und die Schrift haben dabei lange Zeit ihre Vormachtstellung im soziokulturellen Wettstreit gegenüber den Bildern behaupten können, da sie in der Exaktheit der Zeichen einen Bestimmungsvorteil haben und die Möglichkeit besitzen, Zusatzinformationen durch besonderen Ausdruck in die Mitteilung einzubinden. Durch die elektronischen und vernetzten Privat- und Massenmedien und die Omnipräsenz interaktiver und hochauflösender Displays scheint sich die Dominanz zugunsten der Bildmedien zu verschieben.153 Da der künstlerische Gestaltungsprozess eine Vielzahl an Strukturmedien hervorbringen kann und nicht nur auf Schrift und Bild beschränkt ist, stellt sich die Frage, wie eine Mitteilung im künstlerischen Gestaltungsprozess aussieht und zustande kommt. Man kann ganz allgemein sagen, dass die Mitteilung immer auf den Zeitpunkt bezogen ist, an dem der Gestalter handelt. Wenn die Handlung in einem Moment erfolgt und nicht als Mitteilung erkannt wird, kann sie das auch zu _________________________________________________________________ 151 Ebd.: S.24. 152 Bautz; Stöger, 2013. S.24. 153 Vgl. ebd.: S.41.

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keinem späteren Zeitpunkt, da die Handlung nur in diesem Moment existiert hat. Die Mitteilung besitzt demnach eine Zeitreferenz. Sie wird als sinnlich wahrnehmbare Geste, Handlung oder Form realisiert und bietet in diesem Moment die Möglichkeit, dass eine zweite Person oder ein Publikum diesen Akt als Gestaltungsanlass, Ausdruckswillen oder kommunikative Absicht versteht. Diese Zeitreferenz gilt für den künstlerischen Gestaltungsakt. Das künstlerische Produkt hingegen kann sein Mitteilungspotential erhalten, wenn es als Artefakt in der Umwelt fortbesteht. Bilder oder Skulpturen können ihr Mitteilungspotential über Jahrhunderte bewahren. Immer wenn ein Rezipient ein Kunstwerk als solches begreift, erkennt er es automatisch als Mitteilung.

Abb. 7: Richard Long, „connemara sculpture“, 1971, Ireland. In der Bildenden Kunst findet man etliche Beispiele, welche die Mitteilung als eine Form, die auf den Ausdruckswillen eines Gestalters zurückgeführt werden kann, in Frage stellen. Ein Beispiel dafür sind die Werke des Landartkünstlers Richard Long. Seine Arbeiten bewegen sich stets an der Grenze zur Mitteilung. Er spielt mit der Tatsache, dass die Umwelt durch Zufall Phänomene erzeugt, die wie Mitteilungen anderer Menschen wirken. Seine Kunstwerke werfen die Frage auf, ob hinter dem, was man sieht, die Mitteilung eines Gestalters steht oder ob es lediglich eine durch Zufall entstandene Anomalie der Umwelt ist. Während man bei connemara sculpure (Abb. 7) oder bei circle in alaska (Abb. 8) als Beobachter den bewussten Eingriff eines Individuums in die Natur problemlos als Mitteilung erkennt, verschwimmen die Grenzen bei a line made by walking (Abb. 9) und a snowball track (Abb. 10).

Künstlerischer Gestaltungsprozess in der Systemtheorie | 177

Abb. 8: Richard Long, „circle in alaska“, 1977, Treibholz der Beringstraße.

Abb. 9: Richard Long, „a line made by walking“, 1967, England.

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Abb. 10: Richard Long, „a snowball track“, 1964, Bristol. Die Werke sind zwar immer noch als Spuren eines Subjekts wahrnehmbar, jedoch fällt es schwer, als Beobachter darin eine Mitteilung zu erkennen. Long thematisiert über die Frage nach der Erkennbarkeit einer Mitteilung die Merkmale eines bewussten Gestaltungsaktes. Denn wie im Falle von a snowball track können die Spuren als Nebenprodukt beim Bau eines Schneemanns verstanden werden. Mit dieser Beobachtung würde ein Betrachter der Spur keine Beachtung beimessen, da sie in seinem Bewusstsein nicht die Mitteilung des Gestalters wiederspiegelt. Der bewusste Gestaltungsakt hinter der Mitteilung hätte zum Schneemann und nicht zu der Spur geführt. Erst durch die Fotografie und die Kontextualisierung der Werke im Rahmen einer Ausstellung wird die Spur für einen Rezipienten eindeutig zu einer Mitteilung. In Luhmanns Theorie der sozialen Systeme kommt es erst zur Kommunikation, wenn etwas als Mitteilung verstanden wird. Im Umkehrschluss kann das auch bedeuten, dass eine bewusste Intention für eine Kommunikation gar nicht notwendig ist. Sobald ein Rezipient die Differenzierung zwischen Information und Mitteilung beobachten kann, kommt es zur Kommunikation, auch wenn keine Mitteilungsabsicht eines Senders vorliegt.154 Die Mitteilung ist somit, egal ob beabsich_________________________________________________________________ 154 Vgl.: Luhmann, 1996. S.208.

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tigt oder nicht, immer die Einführung einer kommunikativen Operation. Die Mitteilung darf dabei nicht mit dem Ausdruckswillen gleichgesetzt werden. Der Ausdruckswille ist als Gedanke Teil des psychischen Systems und die Mitteilung als kommunikatives Element Teil des sozialen Systems. Information als kommunikatives Produkt Traditionell wird Information als etwas Gleichbleibendes und Dinghaftes definiert, durch das eine Botschaft von einem Sender zu einem Empfänger übertragen wird. Diese Definition erschließt sich auch aus der Wortherkunft. Das Wort Information kann man entweder vom lateinischen Verb informare ableiten, was mit gestalten, bilden oder Gestalt geben übersetzt werden kann, oder vom lateinischen Substantiv informatio, was so viel heißt wie Bildung oder Belehrung.155 Diese Herleitung des Wortes zeigt, dass für eine Information ein aktiver Sender gebraucht wird, der jemanden bildet, belehrt oder etwas Gestalt gibt. Auch die Ausrichtung auf eine praktische Handlung ist charakteristisch für den Begriff. Sowohl der Subjektbezug als auch die Handlungsausrichtung sind Merkmale, die in die traditionelle Informationswissenschaft eingegangen sind. Der wohl wichtigste Beitrag zur Informationstheorie stammt von Shannon und Weaver. In ihrem Kommunikationsmodell übernimmt die Information eine rein operationale Funktion. Die Information trägt für den Empfänger keine erfahrbare Bedeutung oder eine Botschaft in sich, sondern hat lediglich einen kommunikativen Wert. Um die Theorie von der Information als Wert zu veranschaulichen, wird Ecos viel zitiertes Beispiel eines Wasserspeichers herangezogen.156 Ein Wasserspeicher ist mit einem Kontrollmechanismus ausgestattet, der anzeigt, ob ein kritischer Wasserstand überschritten wird oder nicht. Der Speicher liefert als Informationsquelle über seinen Wasserstand eine Botschaft an einen Schwimmer, der, wenn er einen bestimmten Punkt erreicht, ein elektrisches Signal über einen Kanal an ein Empfängergerät aussendet. Dieses Gerät wandelt das Signal in eine Botschaft um, wie das Aufleuchten eines roten Warnlämpchens, das von einem Empfänger verstanden wird. Der gesamte Mechanismus ist binär codiert. Ein brennendes Lämpchen bedeutet, dass der kritische Punkt überschritten worden ist, ein dunkles Lämpchen bedeutet, dass der Wasserstand unterhalb der Grenze liegt. _________________________________________________________________ 155 Vgl.: Meyers Kleines Lexikon. Kunst. Hrsg: Redaktion für Kunst des Bibliographischen Instituts. 1. Auflage. Meyers Lexikonverlag: Mannheim, Wien, Zürich 1986. St.: Information. 156 Vgl.: Eco, Umberto: Das offene Kunstwerk. Suhrkamp: Frankfurt am Main (1977) 2012. S.91 ff.

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Wenn eine Person erfährt, dass eines der beiden Ereignisse eintritt, ergibt sich daraus eine Information. Diese Information darf jedoch nicht mit der Bedeutung gleichgesetzt werden, die damit übermittelt wird. Die Information ist lediglich der Wert, der sich aus der Anzahl der Alternativen, die zur eindeutigen Beschreibung des Ereignisses erforderlich sind, ergibt.157 Um das Wesen der Information in dieser Theorie zu verdeutlichen, wird der Mechanismus aus dem Beispiel etwas komplexer gemacht. Mit nur einem kritischen Punkt und nur einem Lämpchen, wird auch nur eine Information ausgesendet. Es wird angenommen, dass der Schwimmer sechs Positionen des Wasserstandes differenziert: Überflutet, Hochwasser, Gefahr, Normal, Niedrig, Dürre. Damit gibt es sechs Botschaften und sechs mögliche Zustände, die über drei binäre Wahlen durchgeführt werden.158 Die Botschaft, dass das Becken überflutet ist, hat im Rahmen des Apparats eine Wahrscheinlichkeit von 1 zu 6, dass sie kommuniziert wird. Nach Shannon und Weaver werden zwei Botschaften binär zu einem Bit zusammengefasst.159 Die Botschaft einer Überflutung setzt sich demnach aus drei Bits zusammen. Je mehr Bits benötigt werden, um eine Botschaft zu übermitteln, desto höher ist ihr Informationswert. Das bedeutet, dass die Information aus dem einfachen Apparat mit nur einer Lampe und zwei möglichen Botschaften einen geringeren Wert hat als die aus dem Apparat mit drei Lampen und sechs möglichen Botschaften. „Die Information ist weniger das, was gesagt wird, als das, was gesagt werden kann. Die Information ist das Maß für die Wahlmöglichkeiten bei der Auswahl einer Botschaft.“ 160

Hinzu kommt, dass es in dem Apparat mit sechs Botschaften eine größere Unsicherheit gibt, welche Botschaft als nächstes übermittelt wird. Da in dieser Theorie davon ausgegangen wird, dass das Eintreten jeder Wahlmöglichkeit gleich wahrscheinlich ist, liegt die Wahrscheinlichkeit beim komplexen Apparat bei 1 zu 6 und beim einfachen bei 1 zu 2. Der Informationswert resultiert aus der Zahl der Wahlmöglichkeiten, die gesendet werden. Je höher demnach ein Informationswert _________________________________________________________________ 157 Vgl.: Eco, 2012. S.98. 158 Vgl.: Krieger, 1997. S.55. 159 Vgl.: Weaver, Warren: Some Recent Contributuions to the Mathematical Theory of Communication. In: The Mathematical Theory of Communication. Hrsg.: Shannon, Claude E.; Weaver, Warren. S.3-28. University of Illinois Press: Urbana, Chicago (1949) 1998. S.9. 160 Eco, 2012. S.98.

Künstlerischer Gestaltungsprozess in der Systemtheorie | 181

ist, desto unwahrscheinlicher ist er auch, da er aus vielen möglichen Botschaften ausgewählt werden muss. „Information ist deshalb […] nichts anderes als das Maß der Freiheit der Wahl innerhalb bestimmter Wahrscheinlichkeitssysteme“161.

Wenn ein System oder Mechanismus jedoch zu viele Wahlmöglichkeiten hat, besteht die Gefahr, dass die Wahrscheinlichkeit des Eintreffens einer bestimmten Botschaft gegen Null geht. Dieser Zustand wird in der Thermodynamik Entropie genannt. „Entropie beschreibt das […] Phänomen der Verringerung nutzbarer Energie durch Zerstreuung. Ein Höchstmaß an Entropie, an Unordnung, […] charakterisiert einen Zustand der Ruhe und Spannungslosigkeit.“ 162 Damit das nicht eintritt, benötigt ein System Regeln und Strukturen, welche die Wahlmöglichkeiten und damit den Informationswert korrigieren. Jede Information ist eine Art Ordnung, deren Wert bei wachsender Komplexität bzw. Unordnung zwar zunimmt, deren Wahrscheinlichkeit im gleichen Zug abnimmt.163 In Shannons und Weavers Theorie164 ist die Information eine Art Maßgröße für die „Unwahrscheinlichkeit des Eintretens eines zufälligen Ereignisses. Je unwahrscheinlicher das Eintreten eines Ereignisses ist, desto größer ist sein Informationsgehalt, kurz die Information.“165 Luhmann entwickelt auf Basis der Informationstheorie von Shannon und Weaver eine eigene, an seine Systemtheorie angepasste Vorstellung von Information. Wenn Gedanken die Elemente sind, mit denen psychische Systeme operieren, dann sind Informationen die Elemente der sozialen Systeme. Wie Gedanken können auch Informationen ihr System nicht verlassen. Information ist für Luhmann weder Energie, Materie noch Zeichen, sondern ein einmaliges, unwiederholbares und einzigartiges Element innerhalb eines sozialen Systems.166 Wie ein Gedanke in einem psychischen System ist auch die Information Resultat einer Art Selektion, bei der eine mögliche Unterscheidung ausgewählt wird. Die gewählte Information ist eine

_________________________________________________________________ 161 Kowalski, 1975. S.20. 162 Hemmer-Junk, 1995. S.35. 163 Mit Blick auf Brodbecks Theorie des kreativen Gestaltungsprozesses würde die Tatsache, dass jede Information eine Art Ordnung darstellt, bedeuten, dass das Schaffen von Information immer ein Resultat der Gestaltung ist. Vgl.: Kapitel 3.4. 164 Vgl.: Weaver, 1998. S.11 f. 165 Meyers, 1986. St.: Information. 166 Vgl.: Luhmann, 2008 (1). S.30; Luhmann, 1996. S.102.

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von vielen möglichen Informationen, die bei der Differenzierung zwischen Mitteilung und Information entstehen kann. Luhmann sagt, die Information ist „ein Ereignis […], das Systemzustände auswählt.“167 Die Information ist nicht die Handlung, das Verhalten oder der künstlerische Gestaltungsprozess selbst. Sie wird auch nicht vom Sender gewählt oder selektiert. Die Information steckt in dem jeweiligen Ereignis oder Sachverhalt, an dem der Empfänger sie von einer Mitteilung unterscheidet. Ein Künstler gestaltet bewusst ein Kunstwerk, indem er verschiedene Unterscheidungen und Entscheidungen an einem Medium trifft. Der Künstler entscheidet sich jedoch nicht für die Informationen, die ein potentieller Rezipient an seinen gestalterischen Handlungen oder dem Kunstwerk erkennt. Er tut das nur indirekt. Ein Künstler kann sich lediglich auf Basis seiner Erfahrung daran orientieren, wie Rezipienten seine vorangegangenen Formentscheidungen als Information verstanden haben. Der gestalterische Akt ist als Ereignis eine mögliche Information für ein soziales System. Das Verständnis von Shannon und Weaver, dass eine Information ein Wahrscheinlichkeitszustand ist, wird von Luhmann übernommen. Auf die mathematische Ableitung des Informationsbegriffs aus binär codierten Bits wird im Folgenden verzichtet, da die Anzahl und das Zustandekommen der möglichen Informationen im künstlerischen Gestaltungsprozess so komplex ist, dass sie schwerlich mithilfe von Bits veranschaulicht werden können. Eine Information kommt in einem künstlerischen Gestaltungsprozess immer dann zustande, wenn ein Rezipient beobachtet, wie ein Künstler auf Basis einer Unterscheidung eine Entscheidung trifft. Dieses beobachtete Ereignis wirkt im sozialen System selektiv und verändert den Systemzustand.168 Die Veränderung erscheint dem sozialen System dann als Information. Durch diese selektierte Information werden in ein undifferenziertes Medium Unterschiede eingeführt. Das heißt, dass ein Kunstwerk Gestalt annimmt. Mit jeder Handlung des Gestalters wird dem Kunstwerk eine zusätzliche mögliche Information hinzugefügt. Jede Unterscheidung führt zu einer weiteren, jede Information bedingt die nächste. Das heißt, dass eine Information wie im Sinne Batesons „ein Unterschied [ist], der einen Unterschied macht.“169 Eine Information erzeugt in einem Medium durch den Akt der Selektion eine ganze Welt von Bezügen und Verweisen zwischen dieser und den bereits getätigten Informationen. Eine Information ist nicht nur der Unterschied im Medium, sondern zugleich der Unterschied zu den vorangegangenen

_________________________________________________________________ 167 Luhmann, 1996. S.102. 168 Vgl. ebd.: S.68. 169 Bateson, Gregory: Ökologie des Geistes. Suhrkamp: Frankfurt am Main 1985. S.488.

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Informationen.170 Wenn ein wichtiger Teil des künstlerischen Gestaltungsprozesses ein soziales System ist, ist die Information darin das, was Rezipienten in den einzelnen Gestaltungsakten verstehen können. Die Information basiert zwar auf der bewussten Unterscheidung des Künstlers. Sie ist jedoch weder die Entscheidung oder der Gedanke, den der Gestalter äußert, noch die Bedeutung, die ihr der Beobachter beimisst. Sie ist aus der Perspektive eines Bewusstseins lediglich ein Möglichkeitsspielraum, eine Irritation, die im Kunstwerk oder im Gestaltungsakt steckt und innerhalb eines psychischen Systems zu einer Bedeutung werden kann. Verstehen als sozialer Akt Der letzte Schritt einer kommunikativen Operation ist das Verstehen. Dieser von Luhmann benutzte Begriff lädt jedoch dazu ein, dass man ihn nicht den sozialen, sondern den psychischen Systemen zuordnet. Der Begriff Verstehen impliziert als genuin psychische Handlung einen gedanklichen, geistigen oder kognitiven Akt, der in einem Bewusstsein abläuft. Hinzu kommt, dass der Begriff in der philosophischen Tradition der Hermeneutik als Erkenntnisform für das Erfassen von Sinn und Bedeutung definiert wird.171 Da eine umfassende Begründung des Begriffs an dieser Stelle zu weit führen würde und für diese Untersuchung in erster Linie die kommunikativen Aspekte des Verstehens relevant sind, wird zunächst beschrieben, welche Bedeutung das Verstehen im traditionellen Sender-Empfänger-Modell einnimmt. In der Informations- und Kommunikationsforschung geht man davon aus, dass die Übermittlung einer Nachricht und somit auch das Verstehen durch Zeichen erfolgen. Die mitgeteilten Zeichen müssen zu einem gemeinsamen Code gehören, den sowohl Sender als auch Empfänger kennen.172 Damit Sender und Empfänger einen gemeinsamen Code haben, brauchen sie nach Kowalski vergleichbare Erfahrungen, die von der gesellschaftlichen Anbindung des einzelnen, seinen ethnologischen, temporären, sozialen und psychologischen Daten abhängig sind. 173 Dieses Modell ist in der Vergangenheit oft auf den künstlerischen Gestaltungsprozess angewendet worden. Regel beispielsweise beschreibt das Verstehen eines Kunstwerks sowohl als Übertragung codebedingter Zeichen sowie als sinnliche Wahr-

_________________________________________________________________ 170 Vgl.: Krieger, 1997. S.103. 171 Vgl.: Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Dritter Band. SCI-Z. 4. Auflage. Mittler & Sohn: Berlin 1930. St.: Verstehen. 172 Vgl: Kowalski, 1975. S.38 ff. 173 Vgl: Kowalski, 1975. S.76 f.

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nehmung von Informationen. Die Bedeutung eines bildnerischen Kunstwerks besteht für Regel in den „gegebenen bildnerische[n] Sachverhalte[n, deren] Formen und Farben und deren vielfältige[n] Wirkungen“174. Diese Sachverhalte haben für jedes rezipierende Subjekt eine eigene Bedeutung. Wirklich verstehen tut sie ein Rezipient jedoch nur, wenn er entsprechendes Wissen über Codes und ikonographische Bedeutungen aus Titeln, Künstlerbiografien sowie Texten über Epoche, Ort und Zeit hat.175 Regels Begriff des Verstehens leitet sich demnach aus dem klassischen Übertragungsmodell der Informationstheorie ab. Er geht davon aus, dass Bedeutungen über als Zeichen verpackte Informationen von einem Bewusstsein an ein anderes übertragen und dort verstanden werden. Diese Auffassung vom Verstehensbegriff ist nicht kompatibel mit der Systemtheorie von Luhmann. Zum einen gibt es im sozialen System kein Bewusstsein, das einen rein psychischen Verstehensakt leisten kann, und zum anderen wird in der Systemtheorie weder eine Information noch eine Bedeutung von einem Sender zu einem Empfänger übertragen. Wenn ein soziales System keine Entsprechung im Bewusstsein der kommunizierenden Personen besitzt, stellt sich die Frage, wer oder was dann versteht. Eine eindeutige Antwort auf diese Frage findet man in Luhmanns Systemtheorie nicht. Wenn man jedoch die Theorie der geschlossenen Systeme im Fall des künstlerischen Gestaltungsprozesses zu Ende denkt, muss es zwei Arten des Verstehens geben, eine soziale und eine psychische. Im Gestaltungsprozess sind die sozialen Systeme maßgeblich von der Existenz psychischer Systeme abhängig. Genauso wie jedes Bewusstsein von Kommunikation abhängig ist. Das führt dazu, dass beide Systemarten eine gemeinsame Art des Verstehens ausgeprägt haben. Jedes System versteht auf seine eigene Art, wobei das eine Verstehen maßgeblich vom anderen abhängig ist. Durch die enge Koppelung von sozialen und psychischen Systemen im künstlerischen Gestaltungsprozess laufen die beiden Arten des Verstehens in einer kommunikativen Situation parallel zueinander. • Verstehen als psychische Operation ist eine Form der Beobachtung. Sie ist das

inhaltliche Begreifen eines Sachverhalts. Es besteht nicht nur in der bloßen Wahrnehmung, sondern vor allem in der intellektuellen Erfassung des Zusammenhangs, in dem der Sachverhalt steht. • Verstehen als soziale Operation ist die Differenzierung von Mitteilung und Information im Rahmen einer Kommunikation. Das kommunikative Verstehen ist

_________________________________________________________________ 174 Regel, 1986. S.48. 175 Vgl. ebd.: S.48.

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in diesem Sinne keine psychische Handlung, da es dabei nicht um Bewusstseinsinhalte geht. Das soziale Verstehen ist eine Zustandsveränderung des sozialen Systems. Da das Verstehen bei Luhmann eine weder auf das Bewusstsein noch auf die Kommunikation beschränkte Bedeutung besitzt und im künstlerischen Gestaltungsprozess sowohl psychisches als auch soziales Verstehen relevant ist, werden im Folgenden beide Arten erörtert. 1. In einem psychischen System ist das Verstehen ein Akt der Beobachtung. Es ist eine abstrahierende Bezeichnung auf der Grundlage einer Unterscheidung. Im künstlerischen Gestaltungsprozess kommt hinzu, dass das psychische Verstehen von der Wahrnehmung abhängig ist, da dafür nicht nur Erfahrungen, sondern auch akute Sinneseindrücke notwendig sind.176 Ein Individuum benutzt wahrgenommene Sinneseindrücke nicht nur zur unmittelbaren Verhaltensorientierung, sie führen auch immer wieder zu einer reflexiven Verarbeitung von Gedankeninhalten. Bestimmte Reize aus der Umwelt veranlassen den Beobachter über seine eigene Beobachtung nachzudenken und das Individuum beginnt einen Akt des Verstehens.177 Das psychische Verstehen ist anders als das soziale nicht unmittelbar von einer Koppelung der beiden Systeme abhängig. Eine Person kann auch ohne zu kommunizieren verstehen. Diese psychische Art des Verstehens lässt sich auch auf den Gestaltungsprozess übertragen. Wie Regel sagt, ist der Gestalter damit beschäftigt, Formen so und nicht anders in Beziehung zu setzen und mit Bedacht zu einem Ganzen zu organisieren. Nur er kennt zunächst die Entscheidungen und Bezeichnungen, die zu den Formen, welche der werkinternen Ordnung zugrunde liegen, geführt haben.178 Diese Ordnung muss er sich jedoch, je komplexer das Werk ist, durch den Akt des psychischen Verstehens immer wieder vergegenwärtigen. Das bedeutet, dass das Subjekt im Gestaltungsprozess seine eigenen Entscheidungen durch die Beobachtung zweiter Ordnung immer wieder unterscheidet und dabei seine nächste Unterscheidung reaktualisiert. Dieses Verstehen hat aber noch nichts mit Kommunikation zu tun. Dieser Verstehensbegriff ist im Sinne der psychischen Systeme lediglich eine andere Bezeichnung für das Beobachten zweiter Ordnung. Es handelt sich dabei nicht um Kommunikation. 2. Das soziale Verstehen nach Luhmann kann am anschaulichsten an einer direkten Interaktion erklärt werden. Es beginnt mit der Beobachtung des Senders _________________________________________________________________ 176 Vgl.: Bautz; Stöger, 2013. S.44. 177 Vgl. ebd.: S.44. 178 Vgl.: Regel, 1986. S.46.

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durch den Empfänger. Das ermöglicht dem Empfänger das Mitteilungsverhalten von dem tatsächlich Mitgeteilten, der Information, zu unterscheiden. „Der bewusst wahrgenommene Kontext in einer Interaktion konturiert den Mitteilungscharakter und den Informationswert eines Verhaltens meistens relativ leicht. Das ermöglicht es, unter Anwesenden schnell zu verstehen und zu reagieren, so dass der andere versteht, dass man verstanden hat.“179

Dabei läuft das soziale Verstehen parallel zum psychischen Verstehen. Während in der sozialen Operation geklärt wird, wer mit welcher Absicht, welche Information aussendet, bezeichnet der Empfänger in der psychischen Operation am Medium die Bedeutung. Nicht nur beim Kommunizieren mit Sprache, Gesten, Mimik oder Schrift, sondern auch beim Rezipieren von Kunstwerken ist die strukturelle Koppelung von kommunikativem Verstehen und bewusstem Beobachten unabdingbar. Ohne die Wahrnehmung eines Kunstwerks durch ein Bewusstsein kann es in einem sozialen System weder kommuniziert noch verstanden werden. Ein Rezipient leitet über Wahrnehmung und Beobachtung einen Akt des Verstehens ein, bei dem im sozialen System Mitteilung und Information differenziert werden und im psychischen System aus einem Medium eine Bedeutung extrahiert wird. Nach Luhmann müssen bei einer kommunikativen Operation drei Fragen beantwortet werden: wer, was und wann. Er teilt diese Fragen in drei Dimensionen auf: eine soziale, eine sachliche und eine zeitliche. Der Empfänger kann ein Kommunikationsangebot nur übernehmen und daran anschließen, wenn er verstanden hat, „warum jemand mir (sozial) – das (sachlich) – jetzt (zeitlich) sagt, sendet oder zeigt“180. Die Frage nach der Zeit richtet sich nach dem Zeitpunkt des sozialen Verstehens, die Frage nach dem wer wird im sozialen System anhand der Mitteilung entschieden und die Frage nach dem was mit der Information beantwortet. Demnach vereint die Sozialreferenz des künstlerischen Gestaltungsprozesses im sozialen System die Subjekt-, die Zeit- und die Produktreferenz. Die Beantwortung dieser drei Fragen, erfolgt durch das psychische Verstehen. Nur das Bewusstsein kann eine Frage beantworten, indem es der Antwort durch eine Bezeichnung eine Bedeutung zuweist. Erst dann kann das sozial Verstandene mit einer kommunikativen Reaktion sinnvoll erwidert werden. Bei einer kommunikativen Interaktion ist es nicht wichtig, dass diese drei Fragen vom Sender und Empfänger mit

_________________________________________________________________ 179 Bautz; Stöger, 2013. S.24. 180 Ebd.: S.24.

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den gleichen Antworten versehen werden. Kunstwerke sind „von unterschiedlichen Personen auf verschiedene Weise erkenn-, begreif-, und interpretierbar.“181 Die Kommunikation kommt zustande, wenn der Empfänger durch die Differenzierung von Mitteilung und Information zu irgendeiner Beantwortung dieser Fragen kommt. Diese Unverbindlichkeit ist besonders im künstlerischen Gestaltungsprozess von großer Bedeutung, da das psychische Verstehen von Kunstwerken meist durch ein Interpretieren ersetzt werden muss. Die Information bleibt am Werk ersichtlich, das dahinterliegende organisierende Prinzip ist jedoch meist so komplex, dass es nur der Gestalter selbst kennt.182 Hinzu kommt, dass die Mitteilung, anders als bei einer zwischenmenschlichen Interaktion, bei Kunstwerken nicht an eine unmittelbar wahrnehmbare Person geknüpft ist, sondern erahnt werden muss. Gedrucktes oder Gesendetes kann zwar eine interaktionsunabhängige Kommunikation ermöglichen, die Motivation des Senders etwas mitzuteilen muss jedoch wegen der räumlichen und zeitlichen Distanz rekonstruiert werden. Mitteilung und Verstehen sind hier an einen eigens dafür ausdifferenzierten und kulturell institutionalisierten Rahmen gebunden.183 Das Erfassen der Intention, des Zwecks oder des Verwendungskontextes sowie das Zurechnen einer Handlung ist bei Kunstwerken zum Teil höchst spekulativ. Auch für den Künstler ist der Gestaltungsprozess eine schwierige Kommunikationssituation, da man erst am Anschlussverhalten der Rezipienten prüfen kann, ob man sozial verstanden worden ist oder nicht. Gerade diese vom sozialen Verstehen des Adressaten abhängige Beobachtung zweiter Ordnung kann vom Sender genutzt werden, um seine eigenen kommunikativen Strategien zu verbessern.184 Für den Gestalter ist demnach die eigene Erfahrung von großer Bedeutung. Nur mit genügend Erfahrung kann er die Kommunikation so einrichten, dass er erwarten kann, verstanden zu werden.185 Da die Unterscheidung von Mitteilung und Information nicht von der Person gemacht werden kann, von der die Mitteilung stammt, wird ein Kunstwerk oder ein Gestaltungsprozess erst dann an ein soziales System gekoppelt, wenn ein oder mehrere Rezipienten die Gestaltung oder das Werk beobachten. Das schließt aus, dass ein Künstler, der beispielsweise alleine in seinem Atelier gestalterisch tätig ist, an einem sozialen System teilnimmt. Dementsprechend kann er alleine nicht _________________________________________________________________ 181 Jongmanns, 2003. S.238. 182 Vgl.: Regel, 1986. S.46. 183 Vgl.: Bautz; Stöger, 2013. S.24. 184 Vgl.: Luhmann, 1996. S.198. 185 Vgl. ebd.: S.199.

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kommunizieren. Bedeutet das nun, dass es sowohl kommunikative als auch unkommunikative Gestaltungsakte gibt? Wenn man die Frage an dieser Stelle einfach mit ja beantwortet, wäre die stets notwendige Sozialreferenz der Kreativität und des künstlerischen Gestaltungsprozesses aus systemtheoretischer Sicht widerlegt. Die in dieser Arbeit angestrebte Definition von Kreativität baut jedoch auf dieser Bedingung auf. Da für eine umfassende systemtheoretische Erklärung der Frage die Theorie der strukturellen Koppelung notwendig ist, wird die Beantwortung aufgeschoben und in Kapitel 5.2.2 nochmal aufgegriffen, wenn die Koppelungen zwischen sozialen und psychischen Systemen diskutiert werden. Am Gestaltungsprozess sind vielfältige Systemarten beteiligt und manche Operationen können nicht ohne die Koppelung an andere Systeme erklärt werden. In den vorangegangenen Kapiteln sind die autopoietischen und selbstreferentiellen Operationsweisen der drei Systemarten isoliert voneinander betrachtet worden. Ein vollständiges Verständnis eines systemtheoretisch ausdifferenzierten Gestaltungsprozesses kann jedoch nur erfolgen, wenn die Koppelungen der einzelnen Systeme untereinender analysiert werden. Was man unter einer Koppelung versteht und wie die Systeme im gesamten Gestaltungsprozess ineinandergreifen, wird im nächsten Kapitel geklärt. Zusammenfassung Kapitel 4.2.3 Die sozialen Systeme im künstlerischen Gestaltungsprozess entsprechen der Sozialreferenz bei der Bestimmung des Kreativitätsbegriffs. Ihre Operationsweisen sind jegliche Form der Kommunikation. Das menschliche Bewusstsein ist zwar eine notwendige Voraussetzung für soziale Systeme, jedoch ist es kein Bestandteil davon. Kommunikation besteht nach Luhmann aus der Unterscheidung von Mitteilung und Information durch das Verstehen. Die Mitteilung darf nicht mit der Mitteilungsabsicht verwechselt werden. Die Mitteilung hängt ausschließlich vom Erkennen des Empfängers ab. Sobald ein Rezipient die Differenzierung zwischen Information und Mitteilung beobachten kann, kommt es zur Kommunikation, auch wenn keine Mitteilungsabsicht eines Senders vorliegt. Informationen sind die operativen Elemente der sozialen Systeme. Wie Gedanken können auch Informationen ihr System nicht verlassen. Informationen basieren zwar auf sinnlich wahrnehmbaren Objekten oder Ereignissen, sie sind jedoch ausschließlich das Maß der Wahlmöglichkeiten bei der Differenzierung von Botschaften innerhalb eines sozialen Systems. Jede Information ist ein Wert, der aus der Zahl der Wahlmöglichkeiten, die gesendet werden, resultiert. Beim Verstehen in sozialen Systemen geht es nicht um Bewusstseinsin-

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halte oder um das Begreifen eines Sachverhalts. Anders als das Verstehen psychischer Systeme ist das soziale Verstehen eine Zustandsveränderung des sozialen Systems. Psychisches Verstehen und soziales Verstehen sind in sozialen Operationen meist nicht voneinander trennbar. Im sozialen Verstehen muss für den Empfänger geklärt sein, warum jemand ihm (sozial) – das (sachlich) – jetzt (zeitlich) sagt, sendet oder zeigt. Damit verbindet das soziale System die Sozialreferenz des künstlerischen Gestaltungsprozesses mit der Subjekt-, der Produkt- und der Zeitreferenz.

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Systemtheoretische Analyse des künstlerischen Gestaltungsprozesses

Aus systemtheoretischer Perspektive sind am künstlerischen Gestaltungsprozess drei unterschiedliche Systemarten beteiligt: psychische, sensomotorische und soziale Systeme. Diese Systeme operieren in sich geschlossen. Das bedeutet zum einen, dass Operationen eines Systems keinen direkten Einfluss auf andere Systeme nehmen können. Zum anderen ist es den Elementen (Gedanken, Bewegungen oder Informationen) eines Systems nicht möglich, in einem anderen System verarbeitet zu werden. Das Prinzip der operativ geschlossenen Systeme scheint eine gegenseitige Beeinflussung der Systeme im Gestaltungsprozess zu verhindern. Dabei ist es für den künstlerischen Gestaltungsprozess zwingend notwendig, dass sich psychische, sensomotorische und soziale Systeme fortlaufend durchdringen und aufeinander beziehen. Ohne die Beteiligung aller drei Systemarten wären die für die Kreativität und den künstlerischen Gestaltungsprozess zwingend notwendigen Referenzbedingungen nicht erfüllt. Das psychische System garantiert die Subjektreferenz, das sensomotorische System wird für die Produktreferenz benötigt und das soziale System vereint Subjekt- und Produktreferenz mit der Sozial-, Zeit- und Fachbereichsreferenz. In diesem Kapitel wird erörtert, wie sich die verschiedenen Systeme des künstlerischen Gestaltungsprozesses trotz ihrer operativen Geschlossenheit untereinander verständigen können. Die gegenseitige Beeinflussung und Abhängigkeit wird in der Systemtheorie strukturelle Koppelung genannt. Mit der Theorie der strukturellen Koppelung können die einzelnen am künstlerischen Gestaltungsprozess beteiligten Systeme zusammengeführt werden. Das ist notwendig, da sich die Produkt- und Leistungsmerkmale der Kreativität (Neuartigkeit und Nützlichkeit) nur ausbilden können, wenn sämtliche Referenzbedingungen erfüllt sind. Im strukturell gekoppelten Operieren aller drei Systeme entsteht die Grundlage für Kreativität.

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Doch bevor das Zusammenwirken der einzelnen Systeme untersucht werden kann, muss ein Begriff geklärt werden, der eine strukturelle Koppelung erst ermöglicht: die Struktur. In Kapitel 5.1 wird die Struktur als zwingendes Merkmal eines jeden Systems vorgestellt. Daraufhin werden in Kapitel 5.2 die unterschiedlichen Arten der strukturellen Koppelung im künstlerischen Gestaltungsprozess analysiert, bevor in Kapitel 5.3 auf Basis der strukturellen Koppelung die unterschiedlichen Formen der Kommunikation im künstlerischen Gestaltungsprozess thematisiert werden.

5.1 ENTSTEHUNG EINER SYSTEMINTERNEN STRUKTUR In Luhmanns Systemtheorie ist die Struktur der Orientierungshorizont eines Systems. Die Struktur eines Systems koordiniert die Operationen im Hinblick auf einen bestimmten Sinn, ein Ziel oder allgemein auf einen speziellen Sachverhalt innerhalb einer Domäne. Sie gewährleistet, dass ein System seine Operationen nicht vollkommen willkürlich reproduziert und variiert, sondern eine Art Regelmäßigkeit ausbildet. Die Struktur macht Operationen (mehr oder weniger) planbar, indem sie den Möglichkeitsspielraum für Anschlussoperationen einschränkt. Wenn eine bestimmte Operation in einem System immer wieder zu ähnlichen Einschränkungen führt, entsteht daraus eine systeminterne Struktur. Die Reproduktion von Operationen ist in einem System an eine sich bestätigende Struktur gebunden.1 Der Begriff Struktur bedeutet in diesem Zusammenhang, dass eine bestimmte Operation einige Anschlussoperationen in den Fokus rückt und andere ausschließt. Die Struktur gibt dem System ein Wahrscheinlichkeitsspektrum an möglichen Operationen. Auf jede Operation folgt auf Basis der vorangegangenen Operationen eine weitere Operation. Durch diese Operationszusammenhänge kann ein System eine individuelle Operationsgeschichte entwickeln, indem es sich zu seiner Umwelt so abgrenzt, dass vieles möglich, aber bei Weitem nicht alles relevant ist.2 Der Aufbau einer Struktur hängt maßgeblich von den systemeigenen Elementen, wie Gedanken und Informationen, ab. Diese elementaren Ereignisse eines Systems verändern eine Struktur nicht einfach nur, sondern aktualisieren sie lau_________________________________________________________________ 1

Vgl.: Jongmanns, 2003. S.219.

2

Vgl.: Luhmann, 1996. S.185.

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fend. Ein einzelner Gedanke oder eine Information hinterlässt immer einen Struktureffekt und ändert damit den Systemzustand. 3 „Das bedeutet, daß Differenzen als solche zu wirken beginnen, wenn und soweit sie in selbstreferentiellen Systemen als Informationen [oder Gedanken] behandelt werden können.“4 Jeder aktualisierte Systemzustand verändert auch die Möglichkeiten, wie ein System weiter operieren kann. Die Struktur bietet einen Ausblick auf die folgenden Operationen. Das heißt, dass eine Operation mithilfe der Struktur nicht nur Aufschluss über die Vergangenheit, sondern auch über die Zukunft eines Systems bereitstellt. Jedoch ist die Struktur dabei kein Rezept, nachdem eine Operation eine konkrete Reaktion hervorruft. Jeder Strukturmoment ist lediglich ein Möglichkeitszustand. In einem sozialen System ist die Struktur die Einschränkung des Möglichkeitsspielraums. Die Struktur begrenzt durch die Erfahrung aus den bisherigen Operationen die Möglichkeiten für weitere kommunikative Operationen. Die Kommunikation wird über den gegenseitigen Erwartungshorizont der beteiligten Kommunikationspartner gesteuert. Dieser Vorgang ist äußerst komplex. Ein Sender richtet seine Erwartungen nicht nur an die darauffolgende Reaktion des Empfängers, sondern ebenso auf die Erwartungen des Empfängers an seine Person. Andersherum kann der Empfänger erwarten, dass der Sender bestimmte Erwartungen an ihn richtet, um sein eigenes Verhalten abzustimmen. Eine Struktur koordiniert diese Erwartungen, welche die Beziehung zwischen Sender und Empfänger bestimmen.5 Auch psychische Systeme bilden Strukturen aus. Dabei handelt es sich um Unterscheidungsmuster, mit denen ein Bewusstsein operiert und Gedankenelemente wiederholt verknüpft.6 Diese Unterscheidungsmuster orientieren sich nicht an gesetzten Regeln, sondern sind, wie in den sozialen Systemen, Möglichkeitsorientierungen des Operierens, die sich durch Erfolg und Misserfolg bewährt und etabliert haben. Anders als in sozialen Systemen kann man jedoch nicht von Erwartungen sprechen, da ein Bewusstsein seine eigenen Erwartungen weder erfüllen noch enttäuschen kann. Wenn ein Kunstwerk das Resultat unzähliger Entscheidungen eines psychischen Systems ist, dann ist aus der Sicht Luhmanns die Struktur die Instanz, an der sich diese Entscheidungen orientieren. Der künstlerische Gestaltungsprozess ist in diesem Sinne ein Entscheidungsprozess, der durch die jeweilige psychische _________________________________________________________________ 3

Vgl. ebd.: S.102.

4

Ebd.: S.68.

5

Vgl.: Jongmanns, 2003. S.38.

6

Vgl.: Bautz; Stöger, 2013. S.76.

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Systemstruktur koordiniert wird. Damit ein Künstler eine derartige Struktur ausbilden und gezielt operieren kann, „braucht das Bewusstsein ein Gedächtnis, mit dessen Hilfe es frühere Inhalte […] erinnern und wiedererkennen kann.“ 7 Die Struktur psychischer Systeme ist demnach von den kognitiven Eigenschaften des Bewusstseins abhängig. Meyers nennt das mit Blick auf den künstlerischen Gestaltungsprozess „imaginative Übersicht“8. Sämtliche Erinnerungsbilder früherer Wahrnehmungen und Beobachtungen sowie die ihnen zugrundeliegenden sinnlichen Erfahrungen konstituieren eine sensibel ausdifferenzierte Systemstruktur, 9 die einen Künstler zu kriteriengestützten Entscheidungen befähigen und in einem Gestaltungsakt bestimmte Operationen wahrscheinlicher machen als andere. Sämtliche Denkoperationen eines Bewusstseins sind auf einer Struktur aufgebaut, die aus den Erfahrungen vorangegangener Denkakte begründet ist. Jedes wahrnehmende und beobachtende System arbeitet entlang einer internen Struktur, die aus bereits getätigten Operationen und Unterscheidungen gebildet wird. Sie gibt dem System eine Orientierung und koordiniert nicht nur weitere Unterscheidungen, sondern bestimmt auch den erreichten Grad der Differenzierungmöglichkeiten. Sowohl psychische, sensomotorische als auch soziale Systeme können lernen und ihre Differenzierungsmöglichkeiten immer weiter verfeinern. Das geschieht, wenn die Strukturen dieser Systeme durch äußere Vorgänge deformiert oder irritiert werden. „Systeme lernen, wenn sie ihre Strukturen auf- und umbauen.“10 Die Strukturierung übernimmt das System selbst. Lernen ist in einem System kein von außen gezielt verursachter Prozess, sondern eine Neuordnung der Wahrscheinlichkeitszustände, die von einem anderen System im besten Falle angeregt werden kann. Die Neuordnung erfolgt in der Regel über eine indirekte Ausweitung oder Einengung der Strukturkomplexität. Informationen und Gedanken können eine Struktur durch das Schließen oder Aktivieren von Möglichkeiten aktiv beeinflussen und somit Komplexität nicht nur reduzieren, sondern auch erhöhen. 11 Die damit verbundene Veränderung der Struktur kann dann als Lernprozess eines Systems verstanden werden. Mithilfe sozialer Systeme beispielsweise können Informationen dazu benutzt werden, die Komplexität psychischer Systeme zu erweitern

_________________________________________________________________ 7

Ebd.: S.79.

8

Meyers, 1973. S.175.

9

Vgl.: Leber, 1990. S.47.

10 Bautz; Stöger, 2013. S.76. 11 Vgl.: Luhmann, 1996. S.103.

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und das Wissen sowie die Reaktionstendenzen einer anderen Person zu verändern.12 Wenn eine Information nicht nur erwartet worden ist, sondern sich durch ihre Reproduzierbarkeit erwartbar gemacht hat, dann hat eine Veränderung in der Struktur bzw. eine Strukturierung stattgefunden. Hinzu kommt, dass sich eine neue Variation im Denken oder Handeln in einem bestimmten Zusammenhang als Lösung bewähren muss, um sich gegenüber etablierten Strukturen zu bewähren.13 In einem solchen Fall kann man durch die Neustrukturierung des Wahrscheinlichkeitszustandes bei psychischen und sozialen Systemen von einem Lernen sprechen.14 Der Mensch selbst hat dabei keinen direkten Zugriff auf die Struktur eines Systems. Er kann die Anschlüsse von Operationen lediglich beobachten und Reaktionen als wahrscheinlich bzw. unwahrscheinlich einstufen. Ein System operiert mit seiner mehr oder weniger variantenreichen Struktur. Es kann dadurch die Möglichkeiten und Variationen seiner erreichbaren Zustände kalkulieren und erhält somit die Fähigkeit zur Reproduktion. Darüber hinaus bestimmt die Struktur, welche Elemente und Operationen zum jeweiligen System gehören. Durch sich ständig bestätigende Erwartungsstrukturen (soziale Systeme) und Unterscheidungsmuster (psychische Systeme) bildet sich nicht nur ein Sinnhorizont (Kapitel 5.1.2) des jeweiligen Systems heraus, dieser wird auch noch laufend aktualisiert.15 Die regelmäßige Sinnorientierung eines Systems und die Zuordnung der Operationen und Elemente erfolgt dabei über eine Codierung (Kapitel 5.1.1). 5.1.1 Code als Strukturorientierung Für psychische Systeme ist es leicht ihre systemeigenen Operationen und Elemente zu erkennen. Jeder Gedanke, der in einem Bewusstsein auftaucht, ist ein Teil davon. Soziale Systeme hingegen haben das Problem, dass jedes Element der Umwelt eine systemrelevante Information sein könnte. Aus diesem Grund benötigen soziale Systeme einen Code, um relevante Informationen zuordnen zu können. Der Begriff Code wird bei Luhmann aber nicht wie in der traditionellen Kommunikationstheorie verwendet. In der Kommunikationstheorie ist ein Code eine Vereinbarung über eine Menge von Zeichen wie Icons, Symbole oder Bedeu_________________________________________________________________ 12 Vgl.: Haseloff, 1972. S.66. 13 Vgl.: Bautz; Stöger, 2013. S.112. 14 Vgl.: Jongmanns, 2003. S.230. 15 Vgl. ebd.: S.219.

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tungsträger jeglicher Art, zum Zweck Informationen auszutauschen, zu verarbeiten oder zu übertragen.16 Jede Information muss in der Theorie des Übertragungsmodells in irgendeiner Weise in ein Zeichen verpackt sein, das zu einem Codesystem gehört. Ein Code ist demnach die Verpackung einer Information, in der die Information als Zeichen syntaktischen, semantischen und pragmatischen Regeln unterliegt. Der Codebegriff wird in den unterschiedlichsten Domänen benutzt, um darin relevante Zeichensysteme zu beschreiben. In der Biologie gibt es genetische Codes, in der Computer-Informatik gibt es binäre Codes, in der Warenwirtschaft gibt es Strich-Codes und in der zwischenmenschlichen Kommunikation gibt es Sprache und Schrift. Während der Strukturbegriff auf alle Systemarten von Luhmann anwendbar ist, ist im Vergleich dazu der Codebegriff vor allem auf die sozialen Systeme beschränkt. Im Folgenden wird geklärt, was Luhmann unter Code versteht und wie sich Luhmanns Codebegriff von einem kommunikationstheoretischen Verständnis abgrenzt. Code im Übertragungsmodell In der traditionellen Kommunikationstheorie nach Shannon und Weaver geht man davon aus, dass jegliche Information, die kommuniziert werden soll, in irgendeiner Form codiert werden muss. Das heißt, es muss eine Möglichkeit geben, mithilfe eines Codes die Übertragung einer Information zwischen einer Sender- und Empfängerinstanz zu ermöglichen. Das geschieht über die Encodierung einer Nachricht durch den Sender und die Decodierung einer Botschaft durch den Empfänger. Sender und Empfänger sind in diesem Modell über ein Medium verbunden. Ein Medium wiederum setzt sich zusammen aus dem Zeichenträger und dem Zeichenrepertoire. Dementsprechend ist der Zeichenträger ein sinnlich wahrnehmbares Objekt oder Ereignis und die Zeichen die verabredete Information. 17 Nach dem Verständnis des Übertragungsmodells benötigt ein System, das mit Medien kommuniziert, symbolisch generalisierte Kommunikationscodes, die eine minimale Übertragung von Informationen zwischen Sender und Empfänger sicherstellen. Das heißt, dass Sender und Empfänger einer Gruppe angehören müssen, in der sich ein bestimmter Code etabliert hat. Der Fokus von Shannons und Weavers Theoriemodell liegt auf dem Prozess des Nachrichtenaustausches. Für sie sind ausschließlich die Funktionen relevant, die der Code dabei übernimmt. Wie ein solcher Code zustande kommt und wie

_________________________________________________________________ 16 Vgl.: Dorsch, 2014. St.: Code. 17 Vgl.: Kowalski, 1975. S.36.

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sich seine komplexe Beziehungsstruktur entwickelt, wird von ihnen nicht beantwortet.18 Der Codetheoretiker Stuart Hall führt aus diesem Grund in sein Kommunikationsmodell den Begriff der Struktur ein, an der sich der Code orientieren und entwickeln kann. Dabei beruft er sich bei der Theoriebildung immer wieder auf das Regelwerk der Sprache, da auch sie durch eine generative Struktur aus Regeln geformt wird. Nach seinem Verständnis werden Nachrichten in Form von Zeichenträgern mit Hilfe von Codeoperationen zu syntagmatischen Ketten arrangiert.19 Damit eine solche Kette entstehen kann, muss eine diskursive Zirkulation des Codegebrauchs stattfinden. Das heißt, dass eine vollständige und effektive Kommunikation nur möglich ist, wenn sich bestimmte Zeichen durch mehrfaches sowie erfolgreiches encodieren und decodieren in einer Codestruktur etablieren. Die Bedeutung eines Zeichens entsteht dabei durch eine doppelte Übersetzung. Ein Sender hat eine Mitteilungsabsicht, die er in ein Zeichen transformiert und dieses an einen Empfänger abgibt. Ein Empfänger nimmt das Zeichen auf und transformiert es zurück in eine Bedeutung.20 Die Abgabe eines Zeichens entspricht dem Encodieren und die Aufnahme dem Decodieren. Da es sich bei den Vorgängen des Encodierens und Decodierens um relativ autonome und somit determinierte Einzelmomente handelt, kann durch einen einfachen Übertragungsvorgang kein Code entstehen. Die in dem Zeichen verpackte Nachricht muss durch wiederholte Codiervorgänge in die Codestruktur aufgenommen werden. Hall nennt diesen Prozess Zirkulation. Nur durch die Zirkulation kann eine Codestruktur entstehen, die eine verlässliche Informationsübertragung gewährleistet und sich stetig weiterentwickeln kann. Hat sich ein Code einmal etabliert, übernimmt er im Übertragungsmodell verschiedene Funktionen bei der Übermittlung von Botschaften. Eco beispielsweise differenziert drei Funktionen, die er als Subcodes bezeichnet: Syntax, Semantik, Pragmatik.21 • Auf der syntaktischen Ebene werden die Strukturen und Beziehungen der Zei-

chen untereinander festgelegt. Das Grundprinzip auf dieser Ebene ist die Unter_________________________________________________________________ 18 Vgl.: Hall, Stuart: Kodieren/Dekodieren. In: Cultural Studies. Grundlagentexte zur Einführung. Hrsg.: Bromley, Roger; Göttlich, Udo; Winter, Carsten. S.92-110. Dietrich zu Klampen Verlag: Lüneburg 1999. S.92 f. 19 Vgl.: Hall, 1999. S.93. 20 Vgl. ebd.: S.93. 21 Vgl.: Eco, Umberto: Semiotik. Entwurf einer Theorie der Zeichen. Fink: München 1991. S.64.

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scheidbarkeit der einzelnen Zeichen. Eine Information wird syntaktisch relevant, wenn sie von anderen Informationen unterschieden werden kann und eine Beziehung zu ihnen aufgebaut hat. • Die semantische Ebene verhandelt den jeweiligen Inhalt von Informationen. Eine Information wird erst verwertbar, wenn sie verstanden und interpretiert werden kann. Damit eine Information Bedeutung erlangt, muss es ein semantisches Bezugssystem geben, in das die Information eingegliedert werden kann. • Die pragmatische Ebene bestimmt die Auswirkungen auf den Empfänger einer Information. Die Pragmatik gewährleistet, dass jede Information, die ein Subjekt aufnimmt, dieses Subjekt oder sein Verhalten verändert. Mit der Festlegung eines pragmatischen Subcodes impliziert Eco, dass am Ende einer codebasierten Kommunikation etwas ausgelöst oder verändert wird. Eine codierte Botschaft oder Nachricht hat einen Effekt. Damit eine Nachricht „einen ‚Effekt‘ (wie auch immer definiert) haben kann, ein ‚Bedürfnis‘ befriedigen oder einen ‚Nutzen‘ bringen kann,“22 muss nach Hall zwischen dem Encodieren und Decodieren eine Art Äquivalenzverhältnis entstehen. Hall spricht hier von verschiedenen Graden der Symmetrie im Bereich des Verstehens bzw. Missverstehens zwischen dem encodierenden Produzenten und dem decodierenden Empfänger.23 Wie im Übertragungsmodell ist auch bei Hall der Code ein System von Zeichen, das durch vorherige Verabredung und Übereinkunft dazu bestimmt ist, eine Information mit einer Botschaft zu übermitteln. Um einen effektiven kommunikativen Austausch zu ermöglichen, muss bei den Nutzern eines Codes eine gewisse Übereinkunft zwischen Sender und Empfänger herrschen. Diese Übereinkunft wird in der Gesellschaft durch die Erfahrungen (Hall spricht von Gewöhnung), die eine Codestruktur sammelt, gewährleistet. In gewissen Punkten überschneidet sich Halls Code-Theorie mit Luhmanns Systemtheorie, da beide Modelle auf einer sich entwickelnden Struktur beruhen. Ohne ständig fortschreitende und sich wiederholende kommunikative Operationen, die sich evolutionär bedingen, kann weder eine Code-Struktur (Hall) noch ein soziales System (Luhmann) entstehen. Jedoch kann Halls Codebegriff nicht uneingeschränkt auf Luhmanns Systemtheorie übertragen werden. Luhmann lehnt das Modell einer einfachen Übertragung von Information grundsätzlich ab. Es suggeriert, dass der Absender etwas übergibt, was der Empfänger erhält. 24 Außer_________________________________________________________________ 22 Hall, 1999. S.96. 23 Vgl. ebd.: S.97. 24 Vgl.: Luhmann, 1996. S.193.

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dem würden durch ein Codierungs-Modell zwei Systeme entstehen: ein durch Encodierung mitteilendes und ein durch Decodierung verstehendes. Dadurch würde man die von Luhmann zugrundeliegende Einheit einer kommunikativen Operation aus Mitteilung, Information und Verstehen zerschlagen. In Luhmanns Systemen kann es somit kein Codeverständnis geben, das auf einem Informationstransfer beruht, weder innerhalb eines Systems noch zwischen verschiedenen Systemen.25 Code in der Systemtheorie In Luhmanns Systemtheorie erfüllt der Codebegriff anders als im kommunikativen Übertragungsmodell keine Verständigungs- oder Transferfunktion, sondern eine Zuordnungsfunktion. Bei Luhmann sind alle sozialen Systeme durch einen speziellen Code gekennzeichnet. Der Code erzeugt für das jeweilige System die Differenz zwischen seinen eigenen Elementen und denen der Umwelt. Der Code ist die Grenze zwischen den systeminternen und den systemexternen Elementen und schafft die System-Umwelt-Differenz.26 Luhmann orientiert sich bei dem Gebrauch des Begriffes Code nicht wie Hall an der Sprache oder Linguistik, sondern an der Biogenetik. Ein Code stellt im Sinne der biogenetischen Duplikationsregel für singulär auftretende Ereignisse immer zwei mögliche Ausprägungen bereit. Die „Duplikationsregel beruht auf der Wert/Unwert-Dichotomisierung von Präferenzen.“27

Das heißt, dass alle Ereignisse, Handlungen oder Informationen der Umwelt aus der Perspektive eines Systems auf den systemeigenen Code hin als beispielsweise wahr oder unwahr, stark oder schwach, recht oder unrecht, schön oder hässlich geprüft werden. Dieser Dualismus, der jedes Ereignis und jeden Sachverhalt aus der Perspektive eines Systems kennzeichnet, äußert sich in zwei eng miteinander verbundenen, aber gegensätzlichen Codewerten. Für ein juristisches System wären es beispielsweise die Codewerte recht und unrecht und für ein Marktwirtschaftssystem die Werte billig und teuer. Für ein Kunstsystem schlägt Luhmann die Codewerte schön und hässlich vor.28 In Luhmanns Kunstsystem sind demnach sämtliche Operationen und Elemente relevant, die der binären Codierung von _________________________________________________________________ 25 Vgl.: Jongmanns, 2003. S.29. 26 Vgl.: Krieger, 1997. S.76 f. 27 Luhmann, Niklas: Soziologische Aufklärung 2. Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft. Springer: Wiesbaden 1975. S.175. 28 Vgl.: Luhmann, 2008 (2). S.16.

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schön und hässlich zugeordnet werden können. Dabei ist die Wortwahl zunächst zweitrangig. Sie sollte jedoch repräsentativ für das jeweilige System sein. Luhmanns Verwendung des Begriffs Code ist wohl der umstrittenste Aspekt seiner Systemtheorie. Das liegt vor allem an zwei Gründen. • Die Orientierung an einer binären Codierung schöpft nicht alle Möglichkeiten

und Variablen einer kommunikativen Situation aus. Informationen oder andere aus der Umwelt stammende Elemente können nicht nur gegensätzlich als beispielsweise wertvoll oder wertlos für ein System codiert werden. Zwischen den beiden Polen gibt es eine Grauzone, die ebenfalls eine Zuordnung ermöglicht.29. Luhmann ist sich dieser Limitierung in seinem Codeverständnis bewusst. Um diese Lücke in seiner Theorie zu schließen, kommt es in unterschiedlichen Publikationen zu Teils widersprüchlichen Aussagen. Auf der einen Seite forciert er seine binäre Codetheorie und bezeichnet das traditionelle Codeverständnis mit seinen vielen Grauzonen und definitorischen Lücken als „theoretisch nahezu unbrauchbar[…]“30. Auf der anderen Seite weicht er seinen strikt binären Codebegriff auf, indem er selbst eine Grauzone zwischen den komplementären Codewerten anbietet. Im Falle des Kunstsystems beispielsweise schlägt er einen neutralen Codewert vor, falls nicht entschieden werden kann, ob eine Form oder Information stimmig oder unstimmig ist.31 An einer anderen Stelle spricht er von einem Codebegriff, der es einem System ermöglicht eine System-Umwelt-Differenz zu generieren, indem es keinen binären Code, sondern eine Reihe von Direktiven und Regeln ausbildet.32 Das würde bedeuten, dass der Code und damit die Zuordnung der Operationen nicht aus einem abstrakten Begriffspaar, sondern aus bestimmten Regeln besteht. Barben unterstützt aus soziologischer Perspektive ein derartig gelockertes Codeverständnis. Auch er hält einen der Genetik formal entlehnten, binären und rigiden Codebegriff für ein sozialwissenschaftliches Phänomen (wie die interpersonale Kommunikation) für zu unflexibel und nicht ausbaufähig.33 _________________________________________________________________ 29 Vgl.: Barben, Daniel: Theorietechnik und Politik bei Niklas Luhmann. Grenzen einer universalen Theorie der modernen Gesellschaft. Westdeutscher Verlag: Opladen 1996. S.95 f. 30 Luhmann, Niklas: Soziologische Aufklärung 4. Beiträge zur Funktionalen Differenzierung der Gesellschaft. Westdeutscher Verlag: Opladen 1987 (1). S.13. 31 Vgl.: Luhmann, 2008 (2). S.25. 32 Vgl.: Luhmann, 1987 (1). S.13. 33 Vgl.: Barben, 1996. S.98.

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• Ein weiterer Punkt ist, dass die binären Codierungen, die Luhmann für die gro-

ßen sozialen Systeme, wie Ökonomie, Justiz oder Kunst vorschlägt, in den bezeichneten Disziplinen auf Gegenwehr stoßen, da sie die jeweiligen in einer Domäne verhandelten, spezifischen Sachverhalte zu sehr vereinfachen oder gar verfälschen. Als Beispiel soll das Kunstsystem dienen, bei dem Luhmann die Codewerte schön und hässlich vorschlägt. Er begründet diese Codierung damit, dass ein solches Begriffspaar erst den operativen Zugang zu den darin verhandelten Codewerten eröffnen würde.34 Der abstrakte Begriff Schönheit als Gegensatz zur Hässlichkeit ist zwar in Anbindung an das Untersuchungsfeld der Ästhetik eng mit kunsttheoretischer und kunstgeschichtlicher Theoriebildung verbunden,35 jedoch wird darin seit der Moderne die Kategorie der Schönheit für die Kunst kritisch angefochten. Das Schöne ist nicht mehr wie bei Augustinus Aurelius der Glanz der Wahrheit, sondern im Gegenteil das Schöngemachte, Geschminkte und daher Unwahre.36 Alternative ästhetische Theorien rücken deshalb das Erhabene, das Hässliche oder das Authentische in den Fokus und ersetzen in der Bildenden Kunst der Moderne zunehmend das Schöne als oberstes Leitmotiv.37 Hinzu kommt, dass aus Sicht der Bildenden Kunst eine systemische Ausrichtung der Kunstproduktion an derartigen Codewerten wie eine operative Vorgabe oder ein Programm wirkt und eine Orientierung an der Dialektik zwischen schön und hässlich eine massive Einschränkung bedeuten würde.38 Eine solche Verengung auf einen binären Code mag aus einer rein systemtheoretischen Perspektive Sinn machen, ist jedoch aus dem Blickwinkel der jeweiligen Domäne nicht nur eine Vereinfachung, sondern auch eine Verzerrung der darin verhandelten Informationen und Inhalte. In Bezug auf das Kunstsystem räumt Luhmann in einer späteren Publikation ein, dass ein Code nur zu gewährleisten hätte, „daß für jede Operation innerhalb des Systems, für Herstellen und für Betrachten, eine kunstspezifische Orientierung an

_________________________________________________________________ 34 Vgl. ebd.: S.222. 35 Vgl.: Zimmermann, Jörg: Das Schöne. In: Philosophie. Ein Grundkurs. Hrsg.: Martens, Ekkehard, Schnädelbach, Herbert. Band 1. S. 348–394. Rowohlt: Reinbek 2003. S.349 f. 36 Vgl.: Chandrasekhar, Subrahmanijan: Truth and beauty. Aesthetics and motivations in science. University of Chicago Press: Chicago 1987. S.59 ff. 37 Vgl.: Most, Glenn W.: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg.: Gründer, Karlfried. Band 8. R-Sc. 1. Auflage. Schwabe: Basel 1992. St.: Schöne, das. 38 Vgl. ebd.: S.87.

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stimmig/unstimmig, so-statt-anders, förderlich/störend oder wie immer (alle Verbalisierungen sind unzulänglich) möglich ist.“39 Damit weicht er nicht nur die strikte Binärcodierung auf, sondern auch die konkrete Festlegung auf ein gegensätzliches Begriffspaar. Da die von Luhmann aus der Biogenetik entlehnte bipolare Codierung für die spezifischen Mechanismen der Bedeutungsproduktion und Sozialregulation40 im künstlerischen Gestaltungsprozess zu limitierend sind, wird in dieser Arbeit ein gelockertes systemtheoretisches Codeverständnis verwendet. Wie Luhmann selbst vorschlägt, hat zwar jeder Code zwei gegensätzliche Ausrichtungen, diese können jedoch in einem fließenden Übergang besetzt werden. So gibt es nicht nur das Entweder-Oder (richtig oder falsch; gut oder schlecht), sondern auch Operationen und Handlungen, deren Einordnung irgendwo zwischen den Extremwerten stattfindet. Damit berücksichtigt man auch neutral codierte Elemente. Hinzu kommt, dass der Code in komplexen Systemen wie dem künstlerischen Gestaltungsprozess nicht auf ein abstraktes Begriffspaar festgelegt werden kann, da sich der Code meist aus mehreren Direktiven konstituiert. Die Lockerung von Luhmanns Codeverständnis ändert jedoch nichts an der Funktion, die der Code in einem System einnimmt. Der Code reguliert als Leitdifferenz eines Systems die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Domäne. Ohne einen Code könnten soziale Systeme die eigenen Operationen nicht von Ereignissen der Umwelt trennen und somit keinen systeminternen oder fachspezifischen Diskurs entwickeln. Der Code ermöglicht demnach erst die Fachbereichsreferenz, die für das Zustandekommen der Kreativität und des künstlerischen Gestaltungsprozesses benötigt wird. Durch eine Codierung können Operationen und Elemente auf ein spezifisches System bezogen werden. Jedes Element der Umwelt, das in einer Operation mit dem systemspezifischen Code differenziert werden kann, wird somit ein potentieller Teil des Systems. Durch den Code werden Formen und Informationen einer bestimmten Struktur zugeordnet, die es dem System ermöglicht, entlang des Codes Operationen koordinierbar zu machen. Das soziale System des künstlerischen Gestaltungsprozesses besitzt einen spezifischen Code, der es allen Produzenten und Rezipienten, die mit demselben Code operieren, ermöglicht, am Gestaltungsprozess zu partizipieren. Die Benennung des Codes oder die Festlegung auf ein bestimmtes Codepaar, wird in dieser Untersuchung bewusst vermieden, da es für die Theoriebildung irrelevant ist und den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde. Hinzu kommt, dass unterschiedliche _________________________________________________________________ 39 Ebd.: S.172. 40 Vgl.: Barben, 1996. S.96.

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künstlerische Gestaltungsprozesse nicht zwangsläufig die gleiche Codierung aufweisen müssen. Wichtig für diese Studie ist die Funktion des Codes und diese besteht in der Zuordnung der Systemelemente. Jedes soziale System, das mit Medien operiert, baut mithilfe eines Codes eine Struktur auf, die gewisse Reaktionen und Operationen erwartbar macht.41 Während die Struktur das weitere Vorgehen bestimmt, hilft der Code dem System bei der Zuordnung, welche Operationen für das weitere Vorgehen in Frage kommen. Der künstlerische Gestaltungsprozess beispielsweise fordert von den Beteiligten, eine Vielzahl an Entscheidungen. Ein Gestalter benötigt dabei über den Code konstituierte Anhaltspunkte und hinreichende Kriterien, die das Fortschreiten der Operationen und damit die Anschlussfähigkeit gewährleisten. Diese Kriterien manifestieren sich als Erfahrungen und Erwartungen in der jeweiligen Struktur des sozialen Systems.42 Diese Erfahrungen haben nicht nur die Struktur, sondern auch den systemspezifischen Code hervorgebracht, an dem sich sämtliche gestalterischen Akte orientieren. Jeder Gestalter agiert mithilfe seiner eigenen codegestützten Kriterien, mit denen er bestimmte Optionen im Gestaltungsprozess bejaht oder verneint, zuordnet oder verwirft. Die Struktur bestimmt dabei, wie der Gestaltungsprozess weiterläuft und der Code bestimmt, was zur Wahl steht. Man kann festhalten, dass eine erfolgreiche Codierung auf eine systeminterne Strukturbildung angewiesen ist und im Umkehrschluss, ein System, das mit Medien operiert, eine funktionierende Codierung voraussetzt. In jedem System muss es „mindestens eine, wenn auch noch so abstrakte Ebene identisch gehaltener Codewerte und Kriterien geben.“43 5.1.2 Sinn als Voraussetzung für Strukturierung Eng mit dem Codebegriff verbunden ist bei Luhmann der Sinnbegriff. Während der Code die Leitdifferenz eines Systems vorgibt und sämtliche systemrelevanten Elemente definiert, ist der Sinn eines Systems der stets aktualisierte Möglichkeitsspielraum, der dem System vorgibt, welche Operationen zu einem bestimmten Zeitpunkt zur Verfügung stehen. Die Sinnorientierung begrenzt in einem operationalen Verständnis das aktuelle Möglichkeitsrepertoire eines Systems. Mithilfe der Sinnorientierung werden aus den codierten Elementen diejenigen herausgenommen, die für das jeweilige System in einem bestimmten Moment zur Wahl _________________________________________________________________ 41 Vgl.: Luhmann, 2008 (2). S.15 f. 42 Vgl.: Luhmann, 2008 (2). S.20. 43 Ebd.: S.36.

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stehen. Der Gebrauch des Sinnbegriffs ist in diesem systemtheoretischen Verständnis weder wahrnehmungstheoretisch, theologisch noch philosophisch.44 Bei Luhmann ist der Sinn das laufende Aktualisieren des Möglichkeitsspielraums aller psychischen und sozialen Systeme.45 Er ist eine Verweisung auf sämtliche möglichen Entscheidungen, Beobachtungen und Bezeichnungen, die in einem System zu einem bestimmten Zeitpunkt erfolgen können. Aus diesem Grund hängt der Sinnbegriff eng mit der Struktur eines Systems zusammen. Die Struktur vereint nicht nur alle bereits getätigten Operationen als Erfahrungsschatz, sondern aktualisiert über die Sinnorientierung laufend den Erwartungshorizont. Mechanische oder biologische Systeme bilden keine Sinnorientierung aus, da ihre limitierten Operationsmöglichkeiten das nicht notwendig machen. Ein menschliches Herz beispielsweise kann als operative Einheit lediglich die Fließgeschwindigkeit des Blutkreislaufes durch schnelleres bzw. langsameres Schlagen verändern. Die Gedanken, die in einem psychischen System verarbeitet werden können, sind hingegen so zahlreich und vielfältig, dass das System gezwungen ist, einen Sinnhorizont zu entwickeln, um die eigene Systemkomplexität zu bewältigen. Neben den psychischen Systemen sind auch die sozialen Systeme von einer Sinnorientierung abhängig. Der Sinn ist in diesen Systemen „etwas Künstliches, etwas Konstruiertes.“46 Das heißt, dass jedes Bewusstsein und jedes soziale System seinen eigenen Sinn selbst erschaffen muss. Der Sinn ist für psychische und soziale Systeme eine bindende und unerlässliche Orientierungsform, um über evolutionäre Strukturierung die systemeigene Komplexität zu organisieren. „Nicht alle Systeme verarbeiten Komplexität und Selbstreferenz in der Form von Sinn; aber für die, die dies tun, gibt es nur diese Möglichkeit.“47

Das bedeutet sowohl für soziale als auch für psychische Systeme, dass sie ohne eine Sinnorientierung weder erleben noch handeln können. Der Sinn konstituiert sich in diesen Systemen als eine Art Prinzip oder Grundsatz, nach dem innerhalb

_________________________________________________________________ 44 Der Sinnbegriff bezeichnet im Rahmen dieser Arbeit weder einen psychischen Reizempfänger, noch einen Inhalt, eine Bedeutung oder einen Zweck. Vgl.: Eisler, 1930. St.: Sinn. 45 Vgl.: Krause, Detlef: Luhmann-Lexikon. Eine Einführung in das Gesamtwerk von Niklas Luhmann. 4. Auflage. Lucius & Lucius: Stuttgart 2005. S.223 f. 46 Krieger, 1997. S.21. 47 Luhmann, 1996. S.95.

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des Systems ein Überschuss an Verweisungen auf weitere Möglichkeiten des Operierens gegeben ist.48 Das heißt, die Sinnorientierung gibt einem System ein Programm an die Hand, das die weiteren Differenzierungen und Operationen nicht direkt vorgibt, sondern lediglich verwendbare Operationsmöglichkeiten bereitstellt. Ein solches Prinzip ist für ein System notwendig, da die Umwelt viel zu komplex ist, um vollständig von einem System erfasst zu werden. Jedes Sinnsystem (sozial oder psychisch) operiert immer mit einem verringerten Komplexitätsgefüge oder einer vereinfachten Vorstellung der Umwelt. Diese Systeme reduzieren die grenzenlose Komplexität der Umwelt auf ein für sich jeweils überschaubares Maß und erzeugen eine innere Ordnung mithilfe der Systemstruktur. Das bedeutet nicht, dass durch das sinnorientierte Operieren die Umwelt aus der Perspektive eines Systems schrumpft, vielmehr kann das System lernen sich in einer komplexen Umwelt einzurichten, indem es seine interne Struktur ausbaut.49 Dieses Komplexitätsgefälle zwischen Sinnsystem und Umwelt wird in der Form eines systemeigenen Weltentwurfs, der die Umwelt reduziert, kompensiert. Das jeweilige System interpretiert die Welt selektiv und reduziert damit die Komplexität auf das ihm zugängliche bzw. verarbeitbare Maß hin.50 Wichtig für ein Sinnsystem ist es, dass die Sinnorientierung den Möglichkeitsspielraum auf einem konstanten Level hält. Sie stattet jede aktuell vollzogene Operation mit redundanten Möglichkeiten aus. Dabei darf der Möglichkeitsspielraum weder zu komplex noch zu eng werden. Um das zu gewährleisten, verfährt ein Sinnsystem auf zwei Arten. • Zum einen braucht jede getätigte Operation zwangsläufig anschließbare Mög-

lichkeiten für Nachfolgeoperationen, da ansonsten das System erlischt oder verschwindet. Die Sinnorientierung zwingt durch ihre Verweisungsstruktur das System zur nächsten Operation, auch wenn sie keine garantierte Anschlusssicherheit geben kann.51 • Zum anderen müssen Operationen instabil sein und im System wieder verblassen. Wenn ihre Aktualität erhalten bleibt, würde ein System die Menge an im Moment zu bewältigenden Operationen nicht verarbeiten können. Es würde zu komplex werden.

_________________________________________________________________ 48 Vgl. ebd.: S.93. 49 Vgl.: Luhmann, 1996. S.94. 50 Vgl.: Kapitel 6.2.1. 51 Vgl.: Luhmann, 1996. S.93.

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Die Sinnorientierung organisiert demnach ein Mittelmaß aus expandierenden und retrahierenden Operationsmöglichkeiten.52 Ohne Sinn würde keine Operation und somit keine Differenzierung von systemeigenen Elementen stattfinden und ohne Elemente könnte sich keine Struktur entwickeln. Während psychische Systeme ihre Operationen mithilfe der Sinnorientierung und der Systemstruktur planen, gibt es in sozialen Systemen drei Faktoren, welche künftige Operationen koordinieren. • Der Code trennt als Leitdifferenz sämtliche für das System verarbeitbaren Ele-

mente von der Umwelt. • Der Sinn verweist als stetig aktualisierter Möglichkeitsspielraum auf die zu ei-

nem bestimmten Zeitpunkt wählbaren Operationen. • Die Struktur macht als systeminterner Erfahrungsschatz bestimmte Operationen

des Möglichkeitsspielraums erwartbarer als andere. Bei sozialen Systemen, die mit sinnlich wahrnehmbaren Formen operieren, gibt es bezüglich der Koordination künftiger Operationen eine Besonderheit. In diesen Systemen kann die Sinnorientierung über ein Trägermedium erfolgen. Da der künstlerische Gestaltungsprozess durch seine Produktreferenz mithilfe von sinnlich wahrnehmbaren Elementen operieren muss, kann nach Luhmann die Aktualisierung des Möglichkeitsspielraums über ein sinnlich wahrnehmbares Medium erfolgen. 5.1.3 Medium als Voraussetzung für Strukturierung Es gibt soziale Systeme, die ausschließlich auf der Basis eines sinnlich wahrnehmbaren Mediums kommunizieren können. Das soziale System des künstlerischen Gestaltungsprozesses gehört zu diesen Systemen. Die Produktreferenz ist dafür verantwortlich, dass der künstlerische Gestaltungsprozess an eine sinnlich wahrnehmbare Form gebunden ist. Ohne Formen kann das Kunstwerk von anderen Rezipienten nicht als solches erkannt werden. Diese Formen werden aus Perspektive der Systemtheorie an einem sinnlich wahrnehmbaren Medium differenziert. Das Medium ist bei Luhmann „ein zeitbeständiger unverbrauchter Vorrat von Elementen, in denen sich bestimmte vergängliche Formen einzeichnen lassen.“53 Mit Medien meint Luhmann beispielsweise Sprache, Schrift oder Gesten. Im künstlerischen Gestaltungsprozess können darüber hinaus auch Malerei, Performance, _________________________________________________________________ 52 Vgl. ebd.: S.200. 53 Krause, 2005. S.193.

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Bildhauerei etc. als Medien fungieren. Der künstlerische Gestaltungsprozess sowie alle anderen Systeme, die gezwungen sind mithilfe von Medien zu operieren, benutzen das Medium als Sinnorientierung. Ohne das Medium könnte ein Künstler im Gestaltungsprozess das, was er meint oder thematisiert, nicht bezeichnen.54 Aus einer systemtheoretischen Perspektive ist im künstlerischen Gestaltungsprozess die Funktion des Mediumbegriffs mit der Funktion des Sinnbegriffs identisch. Das bedeutet, dass im Rahmen eines bestimmten Gestaltungsprozesses alle Operationen auf ein sinnlich wahrnehmbares Medium bezogen sein müssen. Das Medium eröffnet und schließt in jedem Moment dieses Gestaltungsprozesses einen bestimmten Möglichkeitsspielraum für Operationen. Werden in einem künstlerischen Gestaltungsprozess die unterschiedenen Formen durch das Medium der Malerei fixiert, dann ist jede Differenzierung einer Form – ob Pinselstrich, Klecks, Spritzer, Verlauf oder Punkt – innerhalb des Mediums eine sinnhafte Operation. Wenn die Operationen den Bereich des Mediums verlassen, machen sie keinen Sinn mehr. Sie liegen außerhalb des operativen Möglichkeitsspielraums des Systems und werden dementsprechend nicht als systemeigene Operationen erkannt. Die am Gestaltungsprozess beteiligten Systeme verlieren in diesem Falle die Möglichkeit, die differenzierten Formen zu beobachten und zu bezeichnen.55 Die Bestimmung, dass eine Operation für ein Kunstwerk aus systemtheoretischer Sicht sinnhaft ist oder nicht, sagt dabei nichts über die Qualität einer Operation aus. Das Medium steckt lediglich die Sinngrenzen ab. Es definiert den Möglichkeitsspielraum, in dem Formen differenziert werden können. Ob ein Pinselstrich im Medium das Anliegen des Gestalters vorantreibt oder nicht, wird nicht anhand des Mediums oder des Sinns eines Systems bestimmt. Welche Mechanismen für die qualitative Beurteilung von Operationen zuständig sind und wie die verschiedenen, am künstlerischen Gestaltungsprozess beteiligten Systeme mit dem Medium umgehen, wird in Kapitel 5.2 beschrieben. Zusammenfassung Kapitel 5.1 In sozialen Systemen gibt es drei Faktoren, welche künftige Operationen koordinieren: den Code, den Sinn und die Struktur. Der Code trennt als Leitdifferenz sämtliche für das System verarbeitbaren Elemente von der Umwelt, der Sinn verweist als stetig aktualisierter Möglichkeitsspielraum auf die wählbaren Operationen und die Struktur macht als systeminterner Erfahrungsschatz bestimmte Operationen des Möglichkeitsspielraums erwartbarer als andere. Alle _________________________________________________________________ 54 Vgl.: Luhmann, 2008 (2). S.398. 55 Vgl.: Luhmann, 2008 (2). S.398.

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drei Faktoren sind notwendig, damit soziale Systeme ihre künftigen Operationen nicht nur erkennen, sondern auch koordinieren können. Durch die jeweilige Codierung und Sinnorientierung erhält die Struktur eines sozialen Systems die Möglichkeit bestimmte Operationen für die Zukunft erwartbar zu machen. Die Struktur ist jedoch kein Rezept, nachdem eine Operation eine konkrete Folgeoperation hervorruft. Sie ist ein Wahrscheinlichkeitszustand, der lediglich festlegt, wie ein System weiter operieren kann. Über die Codierung und die Strukturierung eines Systems bildet sich eine Fachbereichsreferenz aus. Sämtliche sozialen Systeme, die mit einem bestimmten Code und mithilfe eines bestimmten Mediums operieren, können durch die Struktur einem Fachbereich oder einer Domäne zugeordnet werden. Auch psychische Systeme bilden eine systeminterne Struktur aus. Sie benötigen jedoch keine Codierung, da ihre Elemente ausschließlich als Gedanken existieren können und eine zusätzliche Komplexitätsreduktion über einen Code nicht notwendig wäre.

5.2 STRUKTURELLE KOPPELUNGEN DER SYSTEME Der Mensch als physikalisch-chemisch-biologisches Wesen ist aus Sicht der Systemtheorie ein Gefüge aus biologischen, sensorischen und motorischen Systemen, die zentral über ein psychisches System gesteuert werden. Dabei kann kein Element der sensorischen und motorischen Systeme in das Bewusstsein eindringen. Das Bewusstsein weiß zwar über die neuronalen und vegetativen Prozesse des Körpers Bescheid, kann sie jedoch nicht unmittelbar nachvollziehen. Ebenso wenig können Elemente der Umwelt in das Bewusstsein eindringen. Ein wahrgenommenes Objekt kann als Gedanke im Bewusstsein verarbeitet werden, jedoch kann es nicht in das Bewusstsein direkt gelangen. Ebenso verhält es sich mit der Kommunikation. „Psychische Systeme sind trotz Teilnahme an Kommunikation unerreichbar.“56 Kommunikation existiert für das Bewusstsein lediglich als Umwelt und trotzdem kann das eine ohne das andere nicht existieren. Die operative Geschlossenheit der Systeme macht es für die einzelnen Systeme unmöglich Elemente, wie Gedanken, Informationen, Impulse oder Reize, untereinander auszutauschen. Da die unterschiedlichen Systeme jedoch unmittelbar voneinander abhängig sind, muss es einen Mechanismus geben, der sie miteinander in Verbindung bringt. Dafür hat Luhmann von Maturana den Begriff der _________________________________________________________________ 56 Bautz; Stöger, 2013. S.25.

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Koppelung übernommen. Er bezeichnet eine überschneidungsfreie Verbindung zwischen zwei operativ geschlossenen Systemen,57 durch welche die Autonomie der Systeme nicht beeinträchtigt wird. Bautz und Stöger beschreiben die Koppelung folgendermaßen: „Gekoppelte Systeme tauschen nichts aus, sie beobachten ihre Umwelt (und andere Systeme) in einem bestimmten wahrnehmbaren Medium und verarbeiten die Information auf eine für sie strukturbildende Weise.“58

Das bedeutet, dass Systeme sich gegenseitig lediglich als Teil der Umwelt betrachten und sich untereinander nur indirekt beeinflussen können. Die einzige Möglichkeit der Kontaktaufnahme eines Systems über die Systemgrenzen hinaus ist die gegenseitige Irritation. Luhmann bezeichnet dieses Phänomen als Resonanz. Ein System kann „durch [diverse] Faktoren der Umwelt irritiert […] werden“59. Ein System wird durch Resonanz immer dann irritiert, wenn es durch seine Umwelt angeregt wird. Ein wahrnehmendes oder beobachtendes System kann eine entsprechende Anregung registrieren und sie gemäß seiner Operationsweise als systeminternes Element verarbeiten und daraus Rückschlüsse auf die Umwelt ziehen.60 Da die Umwelt eines Systems immer auch aus sämtlichen anderen Systemen besteht, ist der Auslöser einer Irritation immer ein anderes System. „Kleine Veränderungen in einem System können per Resonanz immense Veränderungen in einem anderen System auslösen.“61 Wenn diese Resonanzen eine gewisse Regelmäßigkeit aufweisen, kann man von einer Koppelung sprechen. Das bedeutet dann, dass die Resonanz nicht mehr beliebig ist, sondern durch Wiederholung zu einer Regelmäßigkeit geführt hat. Vor allem das menschliche Bewusstsein ist in der Lage, Operationsweisen anderer Systeme zu beobachten, eine Regelmäßigkeit zu erkennen und sein eigenes Operieren mit den beobachteten Systemen zu koordinieren. Die Irritation des Bewusstseins erfolgt dabei über einen Reiz, der sinnlich wahrnehmbar sein muss. Die Elemente, welche der Reiz für jedes der beiden gekoppelten Systeme bereithält, werden auf die jeweils systemeigene Operations-

_________________________________________________________________ 57 Vgl.: Maturana, Humberto R.: Erkennen. Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit. Springer: Braunschweig 1982. S.143 ff. 58 Bautz; Stöger, 2013. S.28. 59 Luhmann, 2008 (1). S.27. 60 Vgl. ebd.: S.34. 61 Ebd.: S.145.

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weise verarbeitet. Das Bewusstsein verarbeitet Reize als Gedanken und ein soziales System als Informationen. Koppelungen kann es zwischen den unterschiedlichsten Systemarten geben. Da der künstlerische Gestaltungsprozess in dieser Theorie über die Subjektreferenz unmittelbar von einem ausführenden Individuum abhängig ist, werden in dieser Arbeit sämtliche Koppelungen auf das psychische System eines Individuums bezogen. Durch die operative Geschlossenheit kann eine solche Koppelung lediglich strukturell sein.62 Das bedeutet, dass ein System seine Struktur, die Art und Weise wie es operiert, an der Struktur eines anderen Systems ausrichtet. Wenn nun ein System ausdrücklich nur interne, strukturdeterminierte Irritationen verarbeiten kann und es unmöglich ist, dass ein System seine Umwelt direkt beeinflusst, muss es im Laufe seiner Evolution Strukturen gebildet haben, die auf Resonanzen und Irritationen des gekoppelten Systems derart ausgerichtet sind, dass es sich ohne sie nicht reproduzieren könnte.63 Das Bewusstsein als psychisches System ist beispielsweise ohne seine strukturellen Koppelungen an organische, sensomotorische oder sinnhaft-kommunikative Systeme nicht in der Lage, operativ zu prozessieren. Dabei verletzt das gekoppelte System die Autopoiesis des anderen Systems nicht. Die Operationsweise des einen Systems ist auch nicht die operative Erfordernis des anderen. „Auf dem Bildschirm der beteiligten Systeme werden sie nur als Ir-

_________________________________________________________________ 62 Man darf strukturelle Koppelungen nicht mit den kausal determinierten Koppelungen der Organisationstheorie nach Weick verwechseln. Weick differenziert im Rahmen eines systemtheoretischen Erklärungsmodells zwischen losen und festen Koppelungen von Organisationen. Weick geht von Variablen aus, die zwei Systeme miteinander verbinden. Wenn es zwischen zwei Systemen nur wenige Variablen gibt oder die gegenseitige Beeinflussung durch die Variablen schwach ist, spricht er von einer losen Koppelung. Im Gegensatz zu losen Koppelungen, deren Verbindungen plötzlich, unregelmäßig und gelegentlich auftreten und einen zu vernachlässigenden und indirekten Einfluss ausüben, haben feste Koppelungen eine gleichmäßige und ständige Verbindung mit einem sofortigen, direkten und bedeutenden Einfluss. Von einer festen Koppelung ist dann die Rede, wenn Variablen regelmäßige und vorhersehbare Auswirkungen auf beide Systeme haben. Eine feste Koppelung ist somit eine kausal determinierte Verbindung zwischen zwei Systemen. Vgl.: Weick, Karl E.: Der Prozeß des Organisierens. Suhrkamp: Frankfurt am Main 1985. S.163 ff. 63 Vgl.: Bautz; Stöger, 2013. S.26.

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ritationen erkennbar, und zwar als Irritationen, die mitbestimmen, was darauf geschieht.“64 Oliver Jahraus beschreibt die strukturelle Koppelung von Bewusstsein und Kommunikation mit der Metapher zweier nebeneinander gestellter Uhren, die so ausgestattet sind, dass jede für sich nur dann tickt, wenn sie mittels eines Sensors ein Ticken der anderen Uhr registriert.65 Da der kreative Gestaltungsprozess unterschiedliche Systemarten einschließt und die Systeme sich nicht gegenseitig ersetzen können, begünstigen und belasten sie sich untereinander. Sie stehen in einem stetigen Spannungszustand zwischen gleichzeitiger Unabhängigkeit und Abhängigkeit, der die beteiligten Systeme äußerst komplex macht.66 Aus diesem Grund werden im Folgenden die verschiedenen Koppelungsverhältnisse des Gestaltungsprozesses und ihre Auswirkungen auf die beteiligten Systeme unter die Lupe genommen. Dazu gehören die Koppelungen zwischen Bewusstsein, Sensorik und Motorik, die in Kapitel 5.2.1 untersucht werden, sowie die Koppelung von Bewusstsein und Kommunikation, die in Kapitel 5.2.2 beleuchtet wird. Die Verbindung zwischen Kommunikation und sensomotorischen Systemen kann vernachlässigt werden, da eine derartige Koppelung immer über das Bewusstsein stattfindet. 5.2.1 Sensomotorik und Bewusstsein im Gestaltungsprozess Das menschliche Bewusstsein ist sowohl von den motorischen als auch von den sensorischen Systemen abhängig, da sich die jeweiligen Systemstrukturen, an denen sich ihre Operationen orientieren, gemeinsam entwickeln. Die motorischen Systeme sind an die psychischen gekoppelt, mit deren Hilfe sie sich überhaupt erst lernend strukturieren können. Das psychische System schafft über die Motorik ein Körpergefühl und ein Bewusstsein von innen und außen. Bereits als Baby beginnen die sensorischen, motorischen und psychischen Systeme des Menschen ihre Strukturen parallel zueinander zu entwickeln. Das geschieht beispielsweise, wenn ein Baby die Hand-Augen-Koordination erlernt und ausdifferenziert oder wenn es beginnt, seine Wahrnehmung am Aufmerksamkeitsfokus zu orientieren und diesen zu präzisieren. Je öfter ein Prozess oder ein komplexer Handlungsablauf, an _________________________________________________________________ 64 Ebd.: S.26. 65 Vgl.: Jahraus, Oliver: Bewusstsein und Kommunikation. Zur Konzeption der strukturellen Koppelung. In: Bewusstsein – Kommunikation – Zeichen. Hrsg.: Jahraus, Oliver; Ort, Nina. S.23-48. Niemeyer: Tübingen 2001 (1). S.38. 66 Vgl.: Luhmann, 2008 (1). S.137.

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dem mehrere Systeme beteiligt sind, getätigt wird, desto enger werden die jeweiligen Erfahrungen und Erwartungen der Systeme aneinander angepasst und desto unmittelbarer werden Irritationen des jeweils anderen Systems verarbeitet. Strukturelle Koppelung zwischen Systemen entsteht dann, wenn Erfahrungsstrukturen und Routinen aufgebaut werden, welche die gekoppelten Systeme für bestimmte Irritationen sensibler machen.67 Das Bewusstsein eines Menschen hört niemals auf, seine Strukturen an der Sensorik und der Motorik zu orientieren. Das Gleiche geschieht auch im künstlerischen Gestaltungsprozess. Als Beispiel wird der gestalterische Akt des Malens herausgegriffen, der an Giacomettis Malprozess beleuchtet wird. Die folgende Beschreibung Giacomettis gestalterischer Tätigkeit ist nicht als Beleg für die systemtheoretische Ausdifferenzierung des künstlerischen Gestaltungsprozesses zu verstehen. Sie soll lediglich die systemtheoretischen Abläufe beim Malen veranschaulichen, da darin aus systemtheoretischer Sicht sowohl sensorische, motorische als auch psychische Systeme aktiv sind und alle drei Systemarten ihre Strukturen parallel zueinander differenzieren müssen. Der Gestaltungsprozess beim Malen eignet sich zudem als anschauliches Beispiel, da die Spur der Bewegung und Formdifferenzierung visuell erhalten bleibt. Bei dem untersuchten Gestaltungsprozess handelt es sich um einen Malakt, der als Videoaufzeichnung festgehalten worden ist. Im Jahr 1965 besucht der Fotograf und Maler Ernst Scheidegger Alberto Giacometti in seinem Atelier in Paris und filmt den Künstler bei der Gestaltung eines Porträts des Schriftstellers und Kunstkritikers Jaques Dupin. Einen Teil dieser Aufnahmen veröffentlicht Scheidegger in seinem Film Alberto Giacometti – Ein Portrait, die dieser Untersuchung zugrunde liegen.68 In dieser Arbeit werden die Videoaufnahmen von den Ausführungen James Lords ergänzt. Lord schildert in seinem Buch Alberto Giacometti – Ein Portrait die Erfahrungen, die er während der achtzehn Modellsitzungen bei Giacometti gesammelt hat. Diese Schilderungen decken sich mit den Beobachtungen, die man Scheideggers Videoaufzeichnung entnehmen kann.

_________________________________________________________________ 67 Vgl.: Jahraus, 2001 (1). S.25. 68 Giacometti, Alberto: Ein Porträt. R.: Scheidegger, Ernst. Text: Scheidegger, Ernst; Dupin, Jacques. Gedreht 1965, erweitert 1968. © Scheidegger & Spiess: Zürich 1998. Fassung: https://www.youtube.com/watch?v=I69Mcd19sK8 (Stand 06.06.2016).

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Abb. 11: Giacometti beobachtet Dupin. „Alberto Giacometti“, 1968, Photograph by Ernst Scheidegger.

Abb. 12: Giacometti beginnt zu malen. „Alberto Giacometti“, 1968, Photograph by Ernst Scheidegger.

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Das Video zeigt, wie Giacometti vor einer Staffelei sitzt, auf der sich eine weiße Leinwand befindet. In der rechten Hand hält er einen Pinsel und in der linken eine Palette. Ihm gegenüber sitzt Dupin. Giacometti beginnt die Porträtsitzung mit einer visuellen Beobachtung seines Modells (Abb. 11). Auch Lord beschreibt, dass ihn Giacometti intensiv beobachtet, bevor er beginnt, ihn zu malen.69 In diesen ersten Minuten fixiert Giacomettis Blick ausschließlich sein Modell. Dabei nimmt sein Bewusstsein nicht nur wahr, sondern trifft bereits sensible Formentscheidungen bei der Differenzierung des zu malenden Gesichts. Sein Bewusstsein kreiert sich ein individuelles Bild von dem Modell. Nach Giacomettis eigenen Aussagen ist sein Weltbild konstruktivistisch. „Der Raum existiert nicht, man muß ihn erst schaffen, aber er existiert nicht.“70 Das bedeutet für ihn, dass er sich die Umwelt oder den Raum in seinem Bewusstsein durch Beobachtungen erst bilden muss, genauso wie die Objekte, die sich darin befinden.71 Aus einer konstruktivistischen Perspektive sind die Beobachtungen und Unterscheidungen, die er trifft, bereits gestalterisch.

Abb. 13: Giacometti malt die Augenpartie. „Alberto Giacometti“, 1968, Photograph by Ernst Scheidegger. _________________________________________________________________ 69 Vgl.: Lord, James: Alberto Giacometti. Ein Portait. Athenäum Verlag: Königsstein 1982. S.12. 70 Giacometti, Alberto: Ich sehe nicht mehr viel weiter. 1949. In: Alberto Giacometti. Gestern, Flugsand. Schriften. Hrsg.: Palmer, Mary L.; Chaussende, Francois. Scheidegger & Spiess: Zürich 1999 (1). S.198. 71 Vgl.: Küster, Ulf: Alberto Giacometti. Raum, Figur, Zeit. Hatje Cantz: Ostfildern 2009. S.74.

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Abb. 14: Unvollendetes Porträt von Dupin. „Alberto Giacometti“, 1968, Photograph by Ernst Scheidegger. Nach dem ersten Beobachten des Modells, beginnt Giacometti den Malprozess. Mit schwarzer Farbe und einem dünnen Pinsel zeichnet er auf der Leinwand zunächst die senkrechte Mittelachse des Gesichts, bevor er die Stirn, das obere Schädelende und das Kinn ergänzt (Abb. 12). Damit legt er die Ausdehnung des Gesichts fest und bestimmt, welche Größe und Position das Porträt in der Bildfläche einnimmt. Im Anschluss folgt die Skizzierung der Nasenwurzel und der vom Betrachter aus linken Augenbraue (Abb. 13). Giacometti konzentriert sich in seinen Porträts in erster Linie auf die Augen und den dazugehörigen Blick.72 Er verdichtet mit vielfach übereinandergelegten Linien die Nasenwurzel und die Augenpartie. Alle anderen Bildelemente dienen ausschließlich der Zentralisierung des Blicks. Von der Augenpartie aus werden die Bildelemente zum Bildrand hin immer diffuser und detailärmer (Abb. 14).73

_________________________________________________________________ 72 Vgl.: Giacometti, Alberto: Warum ich Bildhauer bin. Interview mit Parinaud, André. 1962. In: Alberto Giacometti. Gestern, Flugsand. Schriften. Hrsg.: Palmer, Mary L.; Chaussende, Francois. Scheidegger & Spiess: Zürich 1999 (2). S.264. 73 Vgl.: Schneider, Angela: Wie aus weiter Ferne. Konstanten im Werk Giacomettis. In: Giacometti. Skulpturen, Gemälde, Zeichnungen. Hrsg.: Schneider, Angela. S.71-75. Prestel: München, Berlin, London, New York 2008. S.75.

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„[W]enn der Blick, also das Leben, das wichtigste wird, zählt zweifellos einzig der Kopf wirklich. Die übrigen Körperteile spielen nur noch die Rolle von Antennen, die das Leben der Person ermöglichen – das Leben, das im Gehäuse des Kopfes konzentriert ist.“74

Aus dem Interesse am menschlichen Blick resultiert Giacomettis zentrales Gestaltungsthema: das Porträt. Gerade in der Malerei seines Spätwerkes finden sich bis auf einige Stillleben und Interieurs vor allem Bildnisse einzelner Menschen, die im räumlichen Kontext seines Ateliers in nahezu monochromer Farbigkeit und grafischem Duktus gemalt sind.75 Dabei interessiert ihn ausschließlich die Frontalansicht, in der sich der Blick konzentriert. Für Giacometti besitzt diese Ansicht die stärkste Ausdruckskraft, da es immer die Frontalansicht ist, „wenn man einen Menschen betrachtet oder sich überlegt, wie er aussieht.“76 Giacometti beschreibt seinen Malakt als konstruierendes Gestalten, da er das Gesicht als eine Art Architektur begreift.77 Die intensive Auseinandersetzung mit der Porträtmalerei hat bei Giacometti dazu geführt, dass in die Erfahrungsstruktur seines Bewusstseins unzählige Beobachtungen der menschlichen Physiognomie eingeflossen sind. Daraus hat sich eine erhöhte Sensibilität bei der Beobachtung von Modellen entwickelt, die wiederum zu einer stark ausdifferenzierten Vorstellung eines stereotypen, menschlichen Gesichts mit seinen Proportionen und Volumina geführt haben. Dazu gehört auch ein intensiviertes Wissen über die menschliche Anatomie, wie den Aufbau des Schädels und die Verteilung der Muskeln.78 Die Entstehung von Stereotypen und normierte Vorstellungen sind in Giacomettis Gestaltungsprozess keine Besonderheit, da vor allem ab 1935 die intensiven und langfristigen Studien an ein und demselben Modell seine bevorzugte Arbeitsweise darstellen. Sein wichtigstes Modell ist sein Bruder Diego, der ihm _________________________________________________________________ 74 Giacometti, Alberto:. Was ich suche. Zwei Gespräche mit Georges Charbonnier. Hrsg.: Schifferli, Peter. Arche: Zürich 1973. S.29 f. 75 Vgl.: Grisebach, Lucius: Die Malerei. In: Giacometti. Skulpturen, Gemälde, Zeichnungen. Hrsg.: Schneider, Angela. S.77-83. Prestel: München, Berlin, London, New York 2008. S.79. 76 Lord, 1982. S.80. 77 Vgl.: Yanaihara, Isaku: 30. Oktober. Alberto Giacometti. 1957. In: Alberto Giacometti. Gestern, Flugsand. Schriften. Hrsg.: Palmer, Mary L.; Chaussende, Francois. Scheidegger & Spiess: Zürich 1999. S.254. 78 Vgl.: Giacometti, Alberto: Gespräch mit Georges Charbonnier. 1959. In: Alberto Giacometti. Gestern, Flugsand. Schriften. Hrsg.: Palmer, Mary L.; Chaussende, Francois. Scheidegger & Spiess: Zürich 1999 (3). S.231.

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„länger und öfter als jeder andere Modell gesessen“79 hat. Lord schildert in seinem Buch folgende Aussage von Giacometti: „Wenn ich aus dem Gedächtnis einen Kopf modelliere oder male, wird stets mehr oder weniger Diegos Kopf daraus, da ich keinen Kopf so oft wie den seinen nach einem lebenden Modell gemacht habe.“80

Im Fall von Giacometti, können die Studien einer bestimmten Physiognomie so intensiv ausfallen, dass sich sein stereotypes Bild eines menschlichen Gesichts verschiebt. Giacometti beschreibt, dass er sich in der Phase, in der er das Gesicht des japanischen Philosophen Yanaihara studiert hat, durch die intensive Auseinandersetzung und Konzentration auf dessen Physiognomie diese für ihn zur Norm geworden ist.81 Er selbst bemerkt, dass sich durch die Studien an Yanaiharas Gesicht seine Wahrnehmung gegenüber Diegos Anblick verschoben hat. Diegos Physiognomie weicht in dieser Phase stärker von seiner normierten Vorstellung des menschlichen Gesichts ab als zuvor. Im Vergleich zu Yanaiharas schmalem und kantigem Gesicht empfindet Giacometti Diegos Gesicht als rund und rosig mit vollen Lippen.82 Die ausdifferenzierte Struktur seines psychischen Systems im Bereich der menschlichen Physiognomie ermöglicht es Giacometti, nicht nur Abweichungen davon als Irritationen in der Wahrnehmung besser zu beobachten, sondern auch die Motorik in der Gestaltung daran auszurichten. Was tatsächlich gemalt wird, resultiert aus der Koppelung zwischen den psychischen und den motorischen Operationen. Die malende Bewegung und das gemalte Motiv kommen durch die Koppelung der beteiligten Systeme zustande „und nicht durch Überschneidungen im Sinn einer gemeinsamen Nutzung gleicher Elemente.“83 Giacomettis Koppelung von Sensorik, Motorik und Bewusstsein haben über die jahrelange Tätigkeit als bildender Künstler zu einer stark ausdifferenzierten Hand-Augen-Koordination geführt. Nur durch die stetige Wiederholung über das Sehen beobachteter Pinselbewegungen, haben sich in der Motorik Automatismen entwickeln können, bei denen eine einzige Irritation über das Bewusstsein ausreicht, um komplexe Bewegungsabläufe durchzuführen, die nicht über das Se-

_________________________________________________________________ 79 Lord, 1982. S.51. 80 Ebd.: S.51 f. 81 Vgl. ebd.: S.47. 82 Vgl. ebd.: S.47. 83 Bautz; Stöger, 2013. S.23.

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hen orientiert werden müssen. „Das Bewusstsein steuert die motorischen Aktivitäten, aber muss lernen, die Bewegungen über Körperempfindungen zu identifizieren, um sie dann mit eigenen Unterscheidungen zu beobachten und mit Rückkoppelungen reagieren zu können.“84 Die Strukturen der Systeme sind so eng aneinander gekoppelt und ausdifferenziert, dass Giacometti, während er am Modell Unterscheidungen beobachtet, gleichzeitig auf der Leinwand diese Unterscheidungen durch eine komplexe motorische Bewegung in Form einer malerischen Spur hinterlassen kann (Abb. 15). Natürlich wechselt der Fokus auch auf die Leinwand, wo er die als Form unterschiedenen Pinselstriche beobachtet, um zu entscheiden, wo er die nächste Pinselspur ansetzen wird. Hinzu kommt, dass beim Malen die Orientierung der Aufmerksamkeit freier von statten geht, da die automatisierten Bewegungsabläufe nicht unterbrochen werden müssen, wenn das wahrnehmende oder beobachtende Bewusstsein seine Aufmerksamkeit anderen Attraktionen widmet oder gar in reiner Wahrnehmung abschweift.

Abb. 15: Giacometti malt ohne auf die Leinwand zu blicken. „Alberto Giacometti“, 1968, Photograph by Ernst Scheidegger.

_________________________________________________________________ 84 Ebd.: S.66.

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Abb. 16: Giacometti überarbeitet die Augenpartie. „Alberto Giacometti“, 1968, Photograph by Ernst Scheidegger. Das Bewusstsein pendelt durch die Ausrichtung seiner Aufmerksamkeit zwischen dem Modell, der ausführenden Motorik oder der hinterlassenen Spur. Beispielsweise bei der Ausführung von Details, wie dem rechten Auge, beobachtet er nicht nur die Unterscheidungen am Modell und auf der Leinwand, sondern auch die korrekte motorische Bewegung seines Armes und seiner Hand (Abb. 16).85

_________________________________________________________________ 85 Womit sich das Bewusstsein von Giacometti in dieser Situation tatsächlich befasst, was er beobachtet und worauf er seine Aufmerksamkeit richtet, ist höchst spekulativ. Die strukturelle Koppelung im Speziellen sowie die systemtheoretische Ausdifferenzierung des Gestaltungsprozesses im Allgemeinen kann mit Giacomettis Gestaltungsprozess weder belegt noch verifiziert werden. Er dient an dieser Stelle lediglich als Illustration einer abstrakten Theorie.

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Abb. 17: Giacometti beobachtet das Modell. „Alberto Giacometti“, 1968, Photograph by Ernst Scheidegger.

Abb. 18: Giacometti blickt auf die Leinwand. „Alberto Giacometti“, 1968, Photograph by Ernst Scheidegger .

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Bei der intensiven Beobachtung Dupins sind die Sensorik seiner visuellen Wahrnehmung und die Beobachtung seines Bewusstseins über den Aufmerksamkeitsfokus auf das Gesicht von Dupin gerichtet. Die Wahrnehmung trifft beim Sehen etliche Unterscheidungen, bis sie an der Physiognomie des Gesichts an einer Unregelmäßigkeit, einer Irritation, einer attentionalen Attraktion hängen bleibt. Diese Irritation wird vom Sehen an das Bewusstsein weitergeleitet. Durch die Ausdifferenzierung der Strukturen beider Systeme, kann das Bewusstsein diese Unterscheidung als Unregelmäßigkeit erkennen. Die Störung der Aufmerksamkeit durch die Irritation markiert bereits den Wechsel von der reinen Wahrnehmung hin zur Beobachtung. In diesem Moment wird die Wahrnehmung von der Beobachtung abgelöst und Giacometti unterscheidet und bestimmt den individuellen Verlauf von Dupins Augenbraue oder die relationale Länge und Breite seiner Nasenwurzel. Der Aufmerksamkeitsfokus wird unmittelbar nach der Formerkennung am Modell auf die Leinwand gerichtet, um die getroffenen Beobachtungen mit dem Pinsel auf die Leinwand zu übertragen. Man erkennt im Film wie Giacomettis Aufmerksamkeit permanent zwischen Leinwand und Modell wechselt (Abb. 17 und 18). Dieser permanente Fokuswechsel zwischen Bild und Modell wird ebenso bei Lord beschrieben. „Während er arbeitet, betrachtet er mich und auch meine ganze Umgebung beständig.“86 Das stete Wechseln zwischen Gestaltung und Naturbeobachtung erstreckt sich über den gesamten Prozess. Sowohl bei Lord als auch bei Dupin arbeitet Giacometti ausschließlich am Modell.87 Die Aufmerksamkeit kann im Gestaltungsprozess auch abgelenkt und durch einen unerwarteten Reiz irritiert werden. Dadurch entsteht eine Unterbrechung der strukturellen Koppelung und der Reiz aus der Umwelt veranlasst beide Systeme ihre Struktur durch neue Erfahrungen zu verändern. Später im Video sieht man, wie Giacometti seine Aufmerksamkeit auf den Hintergrund im Bild richtet, obwohl auf der Leinwand Teile des Gesichts noch nicht entschieden sind (Abb. 19). Durch die Ablenkung erfolgen mehrere Unterscheidungen und Formentscheidungen an anderen Objekten der Umwelt, bis wieder eine Beobachtung des Modells stattfindet. Sowohl die Sensorik als auch das Bewusstsein differenzieren ihre systemeigenen Strukturen parallel zueinander, um den Aufmerksamkeitsfokus zu kontrollieren und Beobachtungen zu spezifizieren.

_________________________________________________________________ 86 Lord, 1982. S.12. 87 Vgl. ebd.: S.90.

222 | Kreativität im künstlerischen Gestaltungsprozess

Abb. 19: Giacometti konstruiert den Hintergrund. „Alberto Giacometti“, 1968, Photograph by Ernst Scheidegger. Meist nähert sich Giacometti durch zwei bis drei übereinander gelegte Striche an die beobachtete Form an. Diese Überlagerungen bekräftigen nicht nur die Kontur des Gesichtes, sie verunklären auch den tatsächlichen Verlauf der Kontur. Da die gesetzten Linien und Formen über den reinen Bewegungsablauf hinaus es ermöglichen, diese genauer zu beobachten und zu einem späteren Zeitpunkt nachzuvollziehen, können die Impulse und Resonanzen zwischen Bewusstsein und Motorik gezielter wiederholt, ergänzt, verstärkt, variiert, korrigiert oder in mehreren Stufen aufeinander abgestimmt werden. Giacometti benutzt die zeitbeständigen Spuren der Malerei, „um sich ein wenig darüber klar zu werden, was [er sieht].“88 Das führt nicht nur dazu, dass die Beobachtungen differenziert werden, sondern auch zu einer intensivierten Koppelung der beteiligten Systeme.89 Hinzu kommt, dass durch das Sichtbarbleiben der Bewegungsspur auf der Leinwand jeder Strich und jeder Fleck auf ein komplexeres Formganzes hin ausgerichtet werden kann. Diese gemalten Flächen und Linien werden im Bewusstsein als sinnstiftende Formen beobachtet, während sie für die motorischen Systeme in erster Linie Krafteinsatz und Bewegung bedeuten. _________________________________________________________________ 88 Giacometti, 1999 (2). S.269. 89 Bautz und Stöger beschreiben einen ähnlichen Prozess, wenn sie das Zeichnen von Kindern systemtheoretisch analysieren. Vgl.: Bautz; Stöger, 2013. S.70.

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Auch wenn das Bewusstsein gerade im malerischen Gestaltungsprozess über die Ausrichtung der Aufmerksamkeit viel mit der Koordinierung der Sensorik und Motorik beschäftigt ist, muss im nächsten Schritt geklärt werden, wie das psychische System im künstlerischen Gestaltungsprozess mit den sozialen System gekoppelt ist. Jede gestaltete Form hat das Potential, als Mitteilung innerhalb eines sozialen Systems zu fungieren. Vorausgesetzt, sie wird von einem Rezipienten einem Gestalter zugerechnet. In diesem Fall erhält die gestaltete Form als Information einen sozialen Sinn und der Gestaltungsprozess muss aus Sicht der Systemtheorie auch eine Koppelung zwischen Bewusstsein und Kommunikation aufweisen. 5.2.2 Bewusstsein und Kommunikation im Gestaltungsprozess Die Rolle, welche die Kommunikation im künstlerischen Gestaltungsprozess übernimmt, erschöpft sich nicht in der Kommunikation über die Werke. Vielmehr müssen die Koppelungen der psychischen und sozialen Systeme untersucht werden, die bereits bei der Gestaltung selbst aktiv sind. Soziale Systeme sind seit jeher an psychische Systeme und psychische an soziale angepasst. Aus diesem Grund können sowohl die Interaktionsunfähigkeit der psychischen Systeme als auch die Wahrnehmungsunfähigkeit der sozialen Systeme erklärt werden. Wie Luhmann sagt, kann Kommunikation selbst „keine Wahrnehmungen produzieren oder anderen zugänglich machen. Sie kann natürlich über Wahrnehmung kommunizieren […], aber das, was [die Wahrnehmung] bezeichnet, bleibt für die Kommunikation unzugänglich.“90 Auf der einen Seite liefert das Bewusstsein sämtliche notwendigen Voraussetzungen, um Kommunikation sinnlich wahrzunehmen und sinnlich wahrnehmbar zu machen, und auf der anderen liefert die Kommunikation durch die Koppelung mit anderen psychischen Systemen eine Orientierung dieser Wahrnehmung.91 Kommunikation „kann nur in einer (gemeinsam) wahrnehmbaren Umwelt stattfinden.“92 Im Gestaltungsprozess kümmert sich das Bewusstsein um die Realwerdung und die Kommunikation um die Kriterienbildung innerhalb des Werkprozesses. Die strukturelle Koppelung von psychischen und sozialen Systemen erfolgt wie bei den psychischen und sensomotorischen Systemen über Irritationen zwischen den strukturell gekoppelten Systemen. Das Bewusstsein wird von Informa_________________________________________________________________ 90 Luhmann, 1995 (2). S.21. 91 Vgl.: Jongmanns, 2003. S.51. 92 Bautz; Stöger, 2013. S.46.

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tionen irritiert. Diese Informationen veranlassen das psychische System seine weiteren Operationen und damit die interne Struktur daran anzupassen. Umgekehrt trifft das Bewusstsein durch die Koppelung an ein sensomotorisches System eine Bezeichnung in der Umwelt. Wenn diese Bezeichnung von einer zweiten Person im Rahmen eines sozialen Systems als Differenz zwischen Mitteilung und Information verstanden wird, hat die Bezeichnung das soziale System irritiert und dessen interne Struktur angepasst. Dabei ist der Zugriff sozialer Systeme auf Kunstwerke ein völlig anderer als der psychischer Systeme. Die reine Wahrnehmung eines Kunstwerks ist noch nicht kommunikativ, genauso wenig wie die reine motorische Leistung der Pinselführung. Und dennoch sind Kommunikation und Wahrnehmung im Gestaltungsprozess untrennbar aufeinander bezogen. Diese Verbindung ist wie bei allen operativ geschlossenen Systemen überschneidungsfrei und strukturell gekoppelt. Wie Jongmanns aus Sicht der Systemtheorie formuliert: Man „muss das Sehen [oder die Wahrnehmung im Allgemeinen] und die Kommunikation sowohl in ihrer Eigenständigkeit als auch in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit begreifen.“93

Um diese gegenseitige Abhängigkeit und das Zustandekommen kommunikativer Akte im Gestaltungsprozess zu präzisieren, wird nochmal Scheideggers Film über Giacomettis Arbeitsprozess untersucht. Wenn Giacometti zunächst auf der Leinwand das obere Kopfende und das Kinn von Dupin mit schwarzer Farbe anlegt, bestimmt er damit die Kopfgröße und die Position in der Bildfläche (Abb. 12). Mit diesem Akt hat er über Beobachtungsoperationen des Bewusstseins bereits einige Formentscheidungen getroffen. Die Begrenzung der Kopfgröße mit den schwarzen Linien ist nicht nur die Unterscheidung zwischen Kopf und Hintergrund, sondern auch die Entscheidung der vertikalen Ausdehnung des Kopfes. Durch den Malakt überführt Giacometti diese Entscheidung auf ein sinnlich wahrnehmbares Medium und wird dadurch für das Bewusstsein anderer Individuen beobachtbar. Sobald nun eine andere Person, beispielsweise Scheidegger, der hinter der Kamera den aktuellen Stand des Porträts beobachtet, die Striche ebenfalls als eine Bezeichnung erkennt, kommt Kommunikation zustande. Dabei muss Scheidegger die Striche nicht einmal als Kopfbegrenzungen erkennen. Es reicht aus, wenn er eine Mitteilung von einer Information differenzieren kann. Die Mitteilung ist in diesem Fall lediglich die Erkenntnis, dass Giacometti diese Striche nicht ohne Grund gemacht hat und die Information besteht in den beobachtbaren Farb_________________________________________________________________ 93 Jongmanns, 2003. S.8.

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spuren, die Giacometti auf der Leinwand hinterlassen hat. Sobald die Unterscheidung von Mitteilung und Information stattgefunden hat, kann man im Kontext sozialer Systeme von einem Verstehen und somit von Kommunikation sprechen. Was und wie verstanden wird, hängt nicht nur von der Kommunikation ab, sondern von dem beobachtenden Bewusstsein. Das heißt, dass durch die strukturelle Koppelung zwischen Kommunikation und Bewusstsein im künstlerischen Gestaltungsprozess in erster Linie Formen und Bedeutungen aneinander orientiert werden. Die Linie auf dem Kunstwerk ist im sozialen System reine Information. Durch die Beobachtung über ein Bewusstsein wird diese Information zu der Differenz zwischen Medium und Bedeutung. Die Kommunikation kann keine Bedeutungen verstehen – das bleibt den psychischen Systemen vorbehalten. Sie entwickelt lediglich mit Blick auf die einzelnen Informationen und durch die an die Beobachtung gekoppelten Artikulationen und Wahrnehmungen eine Sinnorientierung.94 Das heißt, dass jeder Pinselstrich den Giacometti auf der Leinwand hinterlässt für zwei Systemarten eine Relevanz besitzt. Für soziale Systeme ist er die Unterscheidung zwischen Mitteilung und Information und für psychische Systeme ist er die Unterscheidung zwischen Medium und Bedeutung.95 Das beobachtende Prozessieren des Bewusstseins darf nicht mit dem kommunikativen Operieren der sozialen Systeme fusioniert werden. Jede Systemart operiert mit ihren eigenen Elementen. Diese jeweils unterschiedlichen Operationen sind strukturell aneinander gekoppelt und laufen in der Regel parallel zueinander ab. Bautz und Stöger erklären die strukturelle Koppelung aus der Perspektive des Bewusstseins folgendermaßen: „Einerseits ist es an das zentrale Nervensystem, an die Sinneswahrnehmung und an die Kommunikation strukturell gekoppelt. Ohne Nervenimpulse und ohne Wahrnehmung kann es nicht operieren. Über die Verwendung von Sprache in der Kommunikation bildet es mit der Zeit Strukturen aus, die es von dieser Sprache mehr und mehr abhängig macht, selbst dann, wenn es längere Zeit auf eine Teilnahme an Kommunikation verzichtet.“96

_________________________________________________________________ 94 Vgl.: Kapitel 5.1.2. 95 Die Frage, ob die Repräsentation der Bedeutung im Bewusstsein über Bilder oder Sprache stattfindet, würde den Rahmen dieser Untersuchung sprengen. Für die systematische Erklärung würde das auch keinen Unterschied machen, da in jedem Fall jegliche Bedeutung eine Bezeichnung und damit eine Beobachtungsleistung ist. 96 Bautz; Stöger, 2013. S.26.

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Dasselbe, das Bautz und Stöger hier am Beispiel der Sprache beschreiben, geschieht auch bei sämtlichen Ausdrucksmöglichkeiten und Medien der künstlerischen Gestaltung. Das Bewusstsein ist derart an die Kommunikation gekoppelt, dass nicht nur Giacomettis Pinselspuren auf der Leinwand, sondern sämtliche graphischen und malerischen Spuren auf unterschiedlichsten Malgründen und Materialien als Mitteilung und Information verstanden werden können. Sobald Giacomettis Pinselstrich in der spezifischen Nuancierung der Farbtöne, in seiner Linienführung und in seiner Figürlichkeit als Mitteilung erkannt wird, sobald die malerische Spur als gestalthaft und gestaltet erscheint, beginnt seine Rolle als Information in einem sozialen System.97 Da Giacomettis Malprozess sehr bedacht und langsam von statten geht, pendelt sein Aufmerksamkeitsfokus des Bewusstseins permanent zwischen Dupin, dem Werk und seiner Motorik. Als vierten Pendelausschlag muss nun die Kommunikation ergänzt werden. Durch das eigenständige Erzeugen von Unterscheidungen und Bezeichnungen beginnt das beobachtende Bewusstsein den aktuellen Zustand des Kunstwerks durch die Koppelung mit dem sozialen System auch kommunikativ zu aktualisieren. Dieser Vorgang wird an Giacomettis Gestaltungsprozess nochmal verdeutlicht.

Abb. 20: Giacometti fügt dem Porträt Licht und Schatten hinzu. „Alberto Giacometti“, 1968, Photograph by Ernst Scheidegger. _________________________________________________________________ 97 Vgl.: Jongmanns, 2003. S.183.

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Abb. 21: Giacometti mischt auf der Palette Farbe. „Alberto Giacometti“, 1968, Photograph by Ernst Scheidegger. Im Video kann man verfolgen, wie Giacometti das grafische Gerüst von Dupins Porträt flächig mit Farbe ausmalt. Er beginnt die vom Betrachter aus linke Seite des Gesichts mit schwarzer Farbe zu füllen (Abb. 20). Im Anschluss trifft er auf der Palette die Entscheidung mit Schwarz, Weiß, Ocker und Rot einen farbigen Grauton zu mischen, mit dem er dann die rechte Gesichtshälfte färbt(Abb. 21 und 22). Dann sieht man, wie er mit einem größeren Pinsel den Hintergrund mit einem neutralen dunklen Grauton anlegt, der dem farbigen Grau in seiner Tonwertigkeit stark ähnelt (Abb. 23). Giacometti droht der Verlust der vorher sorgfältig herausgearbeiteten Physiognomie. „Der ganze scharfe Umriß des Kopfes und seine räumliche Fülle waren verschwunden; beides schien in einer Art von grauer Wolke verloren.“98

Lord beschreibt dieses Vorgehen von Giacometti als einen sich ständig wiederholenden Zyklus in seiner Arbeitsweise. Als erstes skizziert und konstruiert Giacometti den Kopf seines Modells mit grafischen schwarzen Linien auf der Leinwand. Daraufhin ergänzt er ebenfalls mit einem schmalen Pinsel mit hellen Grau- und _________________________________________________________________ 98 Lord, 1982. S.20.

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Ockertönen Details und schafft durch Glanzpunkte und helle Konturen eine räumliche und voluminöse Wirkung des Kopfes. Als Abschluss jeder Zyklusphase benutzt er einen größeren Pinsel, um den Umraum des Kopfes und Körper zu entwickeln und zu gestalten. Dabei verbindet er mit locker gesetzten Pinselstrichen das Porträt mit dem Hintergrund und übermalt dabei nahezu sämtliche Details des Gesichtes, die er zuvor herausgearbeitet hat.99 Dieser Ablauf wiederholt sich immer wieder aufs Neue.

Abb. 22: Giacometti malt die rechte Gesichtshälfte mit heller Farbe. „Alberto Giacometti“, 1968, Photograph by Ernst Scheidegger. „Die Art, in der das Bild zu kommen und zu gehen scheint, ist wirklich schwindelerregend.“100 Diese zyklische Form des Arbeitens aus Konstruieren und Verwerfen resultiert bei Giacometti aus einem besonderen Blick auf die Wirklichkeit. Dieser ist das Resultat einer mehrere Jahre andauernden Schaffenskrise zwischen 1935 und 1945. In dieser Krise geht es vornehmlich um die Konfrontation von Gestaltung bzw. Wahrnehmung und Wirklichkeit. 101 Das individuelle und konkrete Erleben der Wirklichkeit ist für Giacometti so komplex, dass es ihn überfordert und verwirrt. Er verliert sich beim genauen Beobachten in Details. Bereits Teilaspekte eines Gegenstandes erweisen sich für ihn als so vielfältig, dass sie sich einer schlüssigen Erfassung entziehen. _________________________________________________________________ 99

Vgl.: Lord, 1982. S.67.

100 Ebd.: S.31. 101 Vgl.: Grisebach, 2008. S.78.

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Abb. 23: Giacometti malt mit einem breiten Pinsel den Hintergrund. „Alberto Giacometti“, 1968, Photograph by Ernst Scheidegger.

„Die Form löste sich auf, es waren nur noch Punkte da, die sich vor einer tiefen schwarzen Leere bewegten, […] keine Grenzen, nichts ließ sich festhalten, alles entglitt einem.“ 102

Daraus ergibt sich für Giacometti das kaum zu bewältigende Dilemma, die Wirklichkeit nicht in ihrer Komplexität wiedergeben zu können.103 Immer wieder betont er, dass er nicht in der Lage sei, das wiederzugeben, was er sieht.104 Diese Unmöglichkeit hemmt ihn zunächst in seiner Produktivität, jedoch nicht in seinem Forschungsdrang. „Seit jeher waren Bildhauerei, Malerei oder Zeichnung für mich Mittel, um mir über meine Sicht der äußeren Welt klar zu werden […]. Die Wirklichkeit ist für mich nie ein Vorwand für das Schaffen von Kunstwerken gewesen, sondern die Kunst ein notwendiges Mittel, um mir ein wenig besser darüber klar zu werden, was ich sehe.“ 105

_________________________________________________________________ 102 Giacometti, Alberto: Brief an Pierre Matisse. 1948. In: Alberto Giacometti. Gestern, Flugsand. Schriften. Hrsg.: Palmer, Mary L.; Chaussende, Francois. Scheidegger & Spiess: Zürich 1999 (4). S.66. 103 Vgl.: Grisebach, 2008. S.78. 104 Vgl.: Lord, 1982. S.34. 105 Giacometti, Alberto: Sie fragen mich, welches meine künstlerischen Absichten sind. 1959. In: Alberto Giacometti. Gestern, Flugsand. Schriften. Hrsg.: Palmer, Mary L.; Chaussende, Francois. Scheidegger & Spiess: Zürich 1999 (5). S.125.

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Giacometti beschreibt diese Krise als zentralen Antrieb für seine Arbeit, als eine Art Verlangen, herauszufinden, warum er nicht das wiedergeben kann, was er sieht.106 Er empfindet die Ergebnisse seiner Studien, die Gemälde und Plastiken, als schwache Abbilder dessen, was er sieht.107 Er versucht die Dinge so zu zeigen, wie sie sich ihm darstellen.108 „Gewiss mache ich Bilder und Plastiken, und das seit jeher, seit ich zum erstenmal gezeichnet und gemalt habe, um die Wirklichkeit zu fassen zu kriegen, um […] das, was mich umgibt, besser zu sehen und […] die Dinge besser zu verstehen“109.

Gerade wenn er seinen Blick in Modellsitzungen auf eine Person konzentriert, verliert sich in seiner Wahrnehmung die Gesamtheit des Gesichts. Je intensiver er sich mit dem Modell befasst, desto fremder wird ihm die Person, die ihm gegenüber sitzt. Er erkennt nur mehr eine unfassbare Masse an Details. 110 Alle Bestandteile befinden sich in einer „fortwährende[n] innere[n] und äußere[n] Bewegung [und] setzen sich ununterbrochen neu zusammen […]. Sie sind eine in Bewegung befindliche Masse, […] eine sich verändernde und nie ganz greifbare Form.“ 111 Dieses Ringen um die Wahrnehmung der äußeren Umwelt haben nicht nur seine Formensprache bereichert,112 sondern auch sein Reflexionsvermögen gesteigert.

_________________________________________________________________ 106 Vgl.: Lord, 1982. S.96. 107 Vgl.: Giacometti, 1999 (5). S.125. 108 Vgl.: Lord, 1982. S.96. 109 Giacometti, Alberto: Meine Wirklichkeit. 1957. In: Alberto Giacometti. Gestern, Flugsand. Schriften. Hrsg.: Palmer, Mary L.; Chaussende, Francois. Scheidegger & Spiess: Zürich 1999 (6). S.118. 110 Vgl.: Giacometti, 1999 (2). S.267. 111 Giacometti, Alberto: Ich weiß nicht mehr. 1960. In: Alberto Giacometti. Gestern, Flugsand. Schriften. Hrsg.: Palmer, Mary L.; Chaussende, Francois. Scheidegger & Spiess: Zürich 1999 (7). S.213. 112 Vgl.: Eiglsperger, Birgit: Formprinzipien in der Plastik. Analyse von Formentwicklungen bei C. Brancusi und A. Giacometti. In: Werkanalyse. betrachten, erschließen, deuten. Hrsg.: Eiglsperger, Birgit et al. S.55-74. Universitätsverlag: Regensburg 2011. S.62.

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Abb. 24: Giacometti konstruiert erneut Dupins Gesicht. „Alberto Giacometti“, 1968, Photograph by Ernst Scheidegger. Aus Lords Ausführungen erfährt man, dass sich Giacometti in den Sitzungen immer wieder zurücklehnt und „die Leinwand mit zusammengekniffenen Augen [studiert].“113 Aus systemtheoretischer Sicht wechselt er in diesen Phasen in die Beobachtung zweiter Ordnung und reflektiert über das Gemalte. Er kann die Entscheidungen, die er zuvor getroffen hat wiederum unterscheiden, um neue Entscheidungen einzufügen. Das ist nur möglich, da sein Bewusstsein über die Koppelung an soziale Systeme im Laufe der Jahre gestalterische Kriterien herausgebildet hat. Diese Kriterien basieren auf Beobachtungen, wie er und auch andere auf seine malerischen Unterscheidungen und Entscheidungen reagieren. Die Beobachtung der Beobachtung ermöglicht es ihm zu reflektieren. Er erkennt, dass er im Bild durch die Übermalung nicht nur die Orientierung, sondern auch die Plastizität des Kopfes verloren hat und beginnt erneut seine Konstruktionslinien mit schwarzer Farbe auf die Übermalung zu setzen (Abb. 24). Durch das Übereinanderlegen vieler Farbschichten kann man nachvollziehen, wie Giacometti versucht, das Gesehene darzustellen. Man erkennt aber auch an den Phasen der Übermalung und der darauffolgenden erneuten Formfindung, dass er im Prozess Unterscheidungen trifft und diverse Gedanken verfolgt, die er später wieder verwirft oder aufgreift. Die Beobachtung zweiter Ordnung hilft dem Bewusstsein, seinen Aufmerksamkeitsfokus neu auszurichten, sich zu ordnen und zu _________________________________________________________________ 113 Lord, 1982. S.12.

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strukturieren. Im Prinzip führt jeder neue Pinselstrich mit seiner eigenen Information und Bedeutung zu einem anderen Bildgefüge, das in seiner Gesamtheit ebenfalls als Information und Bedeutung verarbeitet werden kann.114 Giacometti ist der Auffassung, dass jeder Pinselstrich, der einem Gemälde hinzugefügt wird, dieses im Ganzen verändert.115 Das Kunstwerk ist im Gestaltungprozess ein dynamisches Arrangement, das durch Unterscheidungen, die auf sozialen und psychischen Operationen beruhen, weiterentwickelt wird. Dabei kann durch die Beobachtung zweiter Ordnung auf Basis der verstandenen Unterscheidung von Mitteilung und Information, das bisher gemalte uminterpretiert werden, weil der Gestalter entweder mit der aktuellen Erscheinung unzufrieden ist, oder weil andere attentionale Attraktionen das Bewusstsein in eine ganz andere Richtung gelenkt haben. Das Bewusstsein kann auf Basis dieser Koppelung nicht still halten, bis das Werk fertig ist. Die Frage, die sich nun stellt, ist, ob die Beobachtung zweiter Ordnung und damit die Reflexion des Gestalters über sein Werk an eine kommunikative Operation gekoppelt sind. In Giacomettis Fall kann durch die Anwesenheit der Kamera jeder einzelne Pinselstrich als Kommunikation gewertet werden, da jedes Werkstadium als Film visuell konserviert worden ist. Wie jedoch ist der Fall gelagert, wenn ein Künstler alleine in seinem Atelier, ein Werk anfertigt, das bis zur Vollendung von niemand anderem beobachtet wird. Ist in diesem Fall auch jede Unterscheidung einer Form automatisch eine Unterscheidung zwischen Mitteilung und Information? Ist jeder Gestaltungsprozess kommunikativ? Zusammenfassung Kapitel 5.2 Operativ geschlossene Systeme sind nicht in der Lage ihre Elemente, wie Gedanken, Informationen, Impulse oder Reize, untereinander auszutauschen. Um miteinander in Kontakt zu treten, können sie sich nur aneinander koppeln. Eine Koppelung ist eine überschneidungsfreie Verbindung zwischen zwei operativ geschlossenen Systemen. Diese Koppelungen können nur strukturell erfolgen. Das bedeutet, dass ein System seine Struktur, die Art und Weise wie es operiert, an der Struktur eines anderen Systems ausrichtet. Je öfter ein Prozess, an dem mehrere Systeme beteiligt sind, abläuft, desto enger werden die jeweiligen Operationsweisen aneinander angepasst und desto unmittelbarer werden Irrita-

_________________________________________________________________ 114 „Formen, die in einem Medium als spezifische Veränderung desselben wahrgenommen werden, können ihrerseits zu Medien werden, wenn in ihnen noch dichtere Formen wahrgenommen werden können.“ Jongmanns, 2003. S.117. 115 Vgl.: Lord, 1982. S.130.

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tionen des jeweils anderen Systems verarbeitet. Strukturelle Koppelung zwischen Systemen entsteht dann, wenn das beteiligte System Strukturen aufbaut, die es für bestimmte Irritationen sensibler macht. Da im künstlerischen Gestaltungsprozess sämtliche Systeme an das Bewusstsein eines Gestalters oder einer Gruppe von Gestaltern gekoppelt sind, sind vor allem die Koppelungen zwischen psychischen und sensomotorischen sowie psychischen und sozialen Systemen relevant für diese Untersuchung.

5.3 FORMEN DER KOMMUNIKATION IM KÜNSTLERISCHEN GESTALTUNGSPROZESS Die Untersuchung der verschiedenen strukturellen Koppelungen im künstlerischen Gestaltungsprozess hat die Frage aufgeworfen, ob ein Künstler, der alleine ohne Anwesenheit anderer Personen ein Kunstwerk gestaltet, aus einer systemtheoretischen Sicht kommunikativ sein kann. Bei den bisherigen Beispielen über die Koppelungen von Bewusstsein und Kommunikation sind Situationen herangezogen worden, bei denen eine Kamera den Gestaltungsprozess aufgezeichnet hat. Das ermöglicht es anderen, außer dem Gestalter selbst, den Akt der Gestaltung nachzuvollziehen. Alleine durch die stattgefundene Videoanalyse in dieser Arbeit sind Pollocks und Giacomettis Gestaltungsprozesse kommunikativ geworden.116 Wie jedoch ist der Fall gelagert, wenn keine Kamera oder andere Personen anwesend sind? Die angestrebte Definition von Kreativität ist maßgeblich von der Sozialreferenz abhängig, da ohne eine Anbindung an eine Gruppe oder die Gesellschaft die Merkmale kreativer Leistungen, Neuartigkeit und Nützlichkeit, gar nicht bestimmt werden könnten. Ein künstlerischer Gestaltungsprozess ohne Sozialreferenz könnte demnach auch nicht zu Kreativität führen. Ein soziales System nach Luhmann kann jedoch nur zustande kommen, „wenn mehr als ein Bewusstsein beteiligt ist.“117 Das bedeutet für den Gestaltungsprozess, dass er im Sinne der Systemtheorie nur kommunikativ sein kann, wenn mindestens eine zweite Person diesen mitverfolgt. Die Sozialreferenz der Kreativität, die das Zustandekommen kreativer Leistungen von einer beteiligten Gruppe oder der Gesellschaft abhängig macht, wäre bei künstlerischen Gestaltungsprozessen ohne Publikum nicht gegeben. _________________________________________________________________ 116 Vgl.: Kapitel 4.2.1.4, 5.2.1 und 5.2.2. 117 Luhmann, 2008 (2). S.248.

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Es gibt unterschiedlichste Arten und Situationen, in denen ein Gestalter künstlerisch tätig sein kann. Darunter gibt es viele, bei denen Rezipienten anwesend sind und somit eine Art der Kommunikation über das Kunstwerk entsteht. Man denke dabei nur an sämtliche performativen Kunstwerke oder Happenings. Ebenso gibt es Werke, die nicht nur durch die Hand eines einzelnen Künstlers, sondern in Kooperation mit mehreren Individuen entstehen. Wenn in dieser Arbeit die Definition der Kreativität an eine Sozialreferenz des Gestaltungsprozesses geknüpft werden soll, muss jeder Gestaltungsprozess die Möglichkeit haben kommunikativ zu sein. Das schließt einen Künstler, der sein Werk erst nach Abschluss der Schaffensphase dem Publikum präsentiert, ebenso mit ein, wie jemanden, der seine Arbeiten niemals der Öffentlichkeit preisgibt. Im Anschluss wird der kommunikative Aspekt des Gestaltungsprozesses aus Sicht des Künstlers (Kapitel 5.3.1) und aus Sicht der Rezipienten (Kapitel 5.3.2) erörtert. Die Analysen der sozialen Konstellationen, die im Folgenden besprochen werden, konzentrieren sich nicht auf eine vollständige Aufschlüsselung sämtlicher Personalzusammensetzungen, welche in einem Gestaltungprozess möglich sind. Der Aspekt der Kooperation oder Kollaboration mehrerer Künstler wird beispielsweise nicht berücksichtigt, könnte jedoch ebenfalls systemtheoretisch ausdifferenziert werden. 5.3.1 Kommunikation zwischen Kunstwerk und Künstler Für eine Kommunikation werden in Luhmanns Systemtheorie mindestens zwei interagierende Personen benötigt. Ein einzelnes Individuum ist nach seinem Verständnis nicht in der Lage alleine vor dem Werk in einem sozialen System zu agieren. Ohne eine zweite Person, die eine Mitteilung des Gestalters von einer Information unterscheidet, kann keine kommunikative Operation vollzogen werden. Das bedeutet jedoch nicht, dass sich das Bewusstsein des Künstlers und die Kommunikation nicht vorher bereits eng aneinander gekoppelt haben. Der Gestalter ist sich bewusst, dass seine unterschiedenen Formen ein kommunikatives Potential aufweisen. Ebenso hat die Koppelung zwischen Kommunikation und Bewusstsein, je nachdem wie lange ein Gestalter schon in seiner Domäne tätig ist, zu einem differenzierten Spektrum an bildnerischen Kriterien geführt. Jongmanns schildert das folgendermaßen: „Die Produktion und Rezeption sind also nicht deswegen kommunikativ, weil sie die Operation sozialer Systeme vollziehen, sondern allein weil sie die strukturelle Koppelung der […] Aufmerksamkeitsorientierung angeben.“118

_________________________________________________________________ 118 Jongmanns, 2003. S.203.

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Damit ist gemeint, dass das Bewusstsein seine Aufmerksamkeit auch ohne eine unmittelbar ablaufende Interaktion an sozialen Systemen orientieren kann. Die Strukturen von psychischen und sozialen Systemen entwickeln sich in einer stetigen Abhängigkeit zueinander. Aus diesem Grund sind psychische Systeme daran gewöhnt, ihre Aufmerksamkeit anhand von kommunikativen Kriterien zu strukturieren, selbst dann, wenn das Individuum gar nicht kommuniziert. Wenn nun ein Künstler im Gestaltungsprozess sein eigenes Bild betrachtet, tut er das nach sozial strukturierten Kriterien. Die Reflexion des Kunstwerks durch den Gestalter ist eine parallel zur Kommunikation strukturierte Beobachtung zweiter Ordnung. Bautz und Stöger untermauern diese Aussage. „Solange [das Bewusstsein] nicht an Kommunikation teilnimmt, kann [es] seine gedankliche Reproduktion ohne soziale Risiken steuern. Engagiert es sich in [einer Form der] Kommunikation, dann operiert es unter engeren selektiven Anschlussbedingungen.“ 119

Bautz und Stöger unterscheiden die Art und Weise, wie das Bewusstsein im künstlerischen Gestaltungsprozess operiert, je nachdem, ob ein Publikum anwesend ist oder nicht. Die grundsätzliche Orientierung an kommunikativen Kriterien findet in beiden Fällen statt. Der Unterschied besteht lediglich darin, dass der Gestaltungsprozess durch die Teilnahme von Rezipienten engeren Anschlussbedingungen und Beschränkungen unterliegt. Wenn der Gestalter in einem Atelier alleine agiert, operiert das Bewusstsein zwar kommunikationsnah, jedoch ohne den unmittelbaren Erwartungshorizont, wie er in zwischenmenschlichen Interaktionen entsteht.120 Er gewinnt dadurch eine größere Freiheit beim Treffen seiner Unterscheidungen, da er durch keine unmittelbaren Reaktionen und Beobachtungen Dritter in seinem Gestaltungsprozess irritiert und somit in seinen Unterscheidungen limitiert wird. Der Gestalter unterliegt bei der Anwesenheit der Rezipienten viel stärkeren Strukturierungsangeboten, da er stets beobachten kann, wie die Rezipienten beobachten. Diese Möglichkeit koppelt das Bewusstsein stärker an das soziale System, da die Reaktionen auf den eigenen Gestaltungprozess laufend aktualisiert werden können. Im Atelier hingegen fehlt dieses unmittelbare soziale Korrektiv. Das heißt jedoch nicht, dass er ohne kommunikative Kriterien arbeiten muss. Der Gestalter ist in der Lage über die Beobachtung zweiter Ordnung eine soziale Bezugnahme zu simulieren. Die Reflexion seiner eigenen Arbeit ist demnach eine simulierte Kommunikation. Man könnte sagen, dass sich der Gestalter _________________________________________________________________ 119 Bautz; Stöger, 2013. S.39. 120 Vgl. ebd.: S.40.

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in die potentielle Rolle eines Rezipienten versetzt und dem Werk als Kritiker begegnet, um daraus Schlüsse oder Korrekturen für das weitere Vorgehen zu ziehen.121 Das bedeutet, dass eine gestalterische Tätigkeit nicht zwingend an ein Publikum gerichtet sein muss, jedoch im weitesten Sinne darauf bezogen ist. Durch die parallele Strukturierung von Bewusstsein und Kommunikation ist eine Gestaltung ohne kommunikativen Hintergrund gar nicht möglich. Man kann sich nicht für oder gegen ein kommunikatives Gestalten entscheiden, da es ein Gestalten mit einem isolierten Blick in das eigene Innere, wie es Matussek beschreibt,122 gar nicht gibt. Man muss ebenfalls ausschließen, dass der Gestalter und sein Werk mit den Rezipienten über einen verzögerten Kommunikationsprozess verbunden sind. Kommunikation findet nur dann statt, wenn ein Empfänger eine Mitteilung von einer Information unterscheidet. Ist der Gestalter alleine, kann diese Unterscheidung nicht stattfinden. Das Zustandekommen von Kommunikation hängt sowohl vom Gestalter als auch vom Produzenten ab. Während die kommunikative Operation in erster Linie über den Empfänger erfolgt, liefert der Gestalter lediglich ein Kommunikationsangebot. In dem Moment, in dem das Bewusstsein durch die Differenzierung von Formen gestaltet, erfolgen diese Entscheidungen auf der Basis einer Struktur, die sich in einer Koppelung mit dem sozialen System ausdifferenziert hat. Selbst wenn ein Gestalter ausdrücklich und bewusst nur für sich arbeitet und seine gesamte Aufmerksamkeit der Wahrnehmung und Rezeption im psychischen Inneren unter Zurücknahme der Körperempfindungen und sämtlicher sozialer Verbindungen und Zwänge auf das Werk richtet, kann er sich nicht von der Struktur seines Bewusstseins lossagen. „Indirekt wirkt dagegen die Gesellschaft auf vielfältig vermittelte Weise immer an der Entstehung der Kunstwerke mit, indem nämlich der Künstler – ob er das will oder nicht und unabhängig davon, ob ihm das bewußt ist – gleichsam als ihr Instrument, ihr Sprecher, als Vollstrecker ihrer Vorstellungen von der Welt, als derjenige, der ihre oft unklaren Ahnungen, ihre Wünsche, Hoffnungen und Ängste, die im Allgemeinbewußtsein der Menschen stecken, sichtbar macht. Der Künstler kalkuliert bewußt oder unbewußt die Reaktionen auf sein Werk ein – ob er ihnen Rechnung trägt oder nicht, ist eine ganz andere Frage –, selbst dann, wenn er ganz für sich zu schaffen meint.“123

_________________________________________________________________ 121 Vgl.: Regel, 1986. S.212. 122 Vgl.: Matussek, 1974. S.315. 123 Regel, 1986. S.67.

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Wenn ein Gestalter sein Werk beobachtet und reflektiert, tut er das auf dieselbe Operationsweise wie ein Betrachter. Auf beiden Seiten müssen die Formen wahrgenommen und unterschieden werden. Das erfolgt vielleicht nicht in der gleichen Intensität und dem gleichen Maß an Differenzierungsmöglichkeiten. Jedoch beobachtet der Künstler, wenn er Formentscheidungen trifft, sein Werk genauso, wie es ein Rezipient beobachten würde. Dabei muss er sich nicht vorstellen, wie ein anderer auf sein Bild reagiert. Er muss nicht das beobachten, was möglicherweise ein anderer beobachtet, wenn er das Kunstwerk sieht. Seine eigene Reaktion, sein eigenes reflektiertes Fortfahren im Gestaltungsprozess, beruht auf bereits getätigten Beobachtungen und Beobachtungen von Beobachtungen, die Erfahrungen und Erwartungen in einer Struktur vereinen. In diesem Sinne ist der künstlerische Gestaltungsprozess auch kein Selbstgespräch. Das Bewusstsein des Gestalters kann zwar durch die sinnlich wahrnehmbare Fixierung der getroffenen Unterscheidungen in einem Medium seine Entscheidungen nachvollziehen, reflektieren und strukturieren, es kann jedoch nicht mit sich selbst kommunizieren. Denn wie Bautz und Stöger anmerken, wird das durch die operative Schließung der Systeme verhindert. 124 „Denn weder behandelt das Ich sich selbst als jemand, der noch nicht weiß, was er weiß, noch als jemand, der möglicherweise ablehnt, was er vorschlägt; noch als jemand, der nur über Zeichengebrauch erreichbar ist.“125 Gestalter, die für sich ein Bild malen, ein Raumkonzept entwerfen, eine Skizze zeichnen, eine Fotographie bearbeiten oder ein Video schneiden, handeln immer kommunikativ. Sie tun das nicht in dem Sinne, dass sie durch die Gestaltung mit sich selbst kommunizieren oder das Gestaltete bereits auf mögliche Rezipienten projizieren. Sie tun das alleine aus dem Grund, weil sie in einer Gesellschaft sozialisierte Individuen sind. Das Kunstwerk ist dabei eine Art „Kompaktkommunikation“ 126. Der Gestalter integriert in das Kunstwerk unzählige Unterscheidungen, die als Komponenten einer Komposition aneinandergebunden sind, sich ineinander verschränken und aufeinander verweisen.127 Luhmann und Jongmanns verwenden den Begriff der Kompaktkommunikation, da es sich dabei um gebündelte Formentscheidungen handelt, die erst nach Vollendung veröffentlicht werden und erst in einem zweiten _________________________________________________________________ 124 Vgl.: Bautz; Stöger, 2013. S.48. 125 Luhmann, 1995 (2). S.51. 126 Jongmanns, 2003. S.244. 127 Vgl.: Stanitzek, Georg: Was ist Kommunikation? In: Systemtheorie und Literatur. S.21-55. Hrsg.: Fohrmann, Jürgen; Müller, Harro. Wilhelm Fink Verlag: München 1996. S.45.

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Schritt den Rezipienten und damit einem sozialen System zugeführt werden. In diesem Fall bleiben die Unterscheidungen, die der Gestalter während des Prozesses treffen musste, seine Irrwege, Umwege, Experimente und Erfolge in der Formgewinnung weitestgehend uneinsichtig. Das Werk präsentiert sich bei seiner Premiere als komplexes Gebilde, dessen Unterscheidungen zwar auf der Basis von kommunikationsnahen Bewusstseinsoperationen getroffen worden sind, jedoch erst im Anschluss zum ersten Mal in einem sozialen System als Differenzierungen zwischen Mitteilung und Information verstanden werden können. Die Sozialreferenz im künstlerischen Gestaltungsprozess bezeichnet demnach nicht das Zustandekommen einer tatsächlichen Kommunikation oder Interaktion, sondern die parallel ablaufende und strukturell gekoppelte Entwicklung von Bewusstsein und Kommunikation. Das eine System ist ohne das andere nicht denkbar. Diese grundsätzliche Abhängigkeit von sozialen und psychischen Systemen fungiert als Sozialreferenz im künstlerischen Gestaltungsprozess. 5.3.2 Rolle des Publikums im künstlerischen Gestaltungsprozess In den letzten Jahrzehnten hat sich die Bedeutung der Rolle, welche die Rezipienten im künstlerischen Gestaltungsprozess einnehmen, drastisch verschoben. Das Publikum distanziert sich seit den 1960er Jahren immer weiter von dem Selbstverständnis, lediglich als Empfänger von Informationen oder Verbraucher von Gütern zu fungieren. Es nimmt am Kunstdiskurs nicht einfach nur Teil, sondern partizipiert am Gestaltungsprozess. Das Publikum soll das Kunstwerk mitkreieren.128 Duchamp formuliert es 1957 wie folgt: „In summa ist der Künstler nicht der einzige, der den Schöpfungsakt vollzieht, denn der Betrachter stellt den Kontakt des Werkes mit der Umwelt her, indem er seine tieferen Eigenschaften entziffert und deutet und dadurch seinen Beitrag zum schöpferischen Prozess liefert.“129

Die bei Duchamp beschriebene Betrachtereinbeziehung findet nicht nur im Bewusstsein des Künstlers statt, sondern lässt den Betrachter am Gestaltungsprozess _________________________________________________________________ 128 Vgl.: Reckwitz, 2012. S.113. 129 Duchamp, Marcel: Der schöpferische Prozess. 1957. In: Marcel Duchamp. Von der Erscheinung zur Konzeption. Hrsg.: Lebel, Robert. S.165-167. DuMont: Köln 1972. S.167.

Systemtheoretische Analyse des künstlerischen Gestaltungsprozesses | 239

teilhaben. Die Rolle des Rezipienten erschöpft sich nicht darin, das Kunstwerk sinnlich zu erleben.130 Er soll, sich wie Kaprow fordert, beim Betrachten selbst aktiv werden und sein Erleben des Kunstwerks mitgestalten. 131 In diesem Sinne ist auch das oft missverstandene Beuys-Zitat zu begreifen, dass „[j]eder Mensch ein Plastiker […] [j]eder Mensch ein notwendiger Mitschöpfer“132 ist. Dieses Zitat ist im Sinne der Rezeptionsästhetik nach dem Literaturwissenschaftler Jauß einzuordnen, bei dem der „Betrachter selbst an der Konstitution des ästhetischen Gegenstands beteiligt [ist und] der Rezipient zum Mitschöpfer des Werks wird.“133 Dieses Rezeptionsverständnis entspricht der Theorie von Luhmann, bei welcher der Betrachter dieselben psychischen Operationen am Werk vornimmt wie der Gestalter. Durch die Beobachtungen am Werk findet der Rezipient eigene Unterscheidungen und Formen, die er in seinem Bewusstsein als Bedeutungen versteht und die er durch die eigenständige Differenzierungsleistung selbst schafft. Dabei laufen soziales Verstehen und bewusstes Verstehen parallel zueinander. Das soziale System versteht, dass jemand etwas mitteilt und es in Form einer Information darbietet. Das psychische System versteht die Form als Bedeutung, die an einem Medium unterschieden worden ist. Beide Systeme sind eng aneinander gekoppelt und durch das gemeinsame Operieren wird eine willkürliche Bedeutungszuweisung verhindert. Dennoch ist der Rezipient durch die operationale Geschlossenheit seines psychischen Systems dazu gezwungen, durch eigene Unterscheidungen am Werk ein individuelles Verständnis zu erlangen. Durch sein Verständnis werden Reaktionen auf das Werk angeregt, die von Dritten dann wiederum als Mitteilung und Information verstanden werden können. Der Rezipient ist somit nicht mehr nur der Verarbeiter von Information, sondern gleichzeitig Publikum und Produzent sinnlich wahrnehmbarer Unterscheidungen. Reckwitz sieht darin die Abschwächung oder gar Nivellierung des Unterschieds zwischen dem gestaltenden Künstler und dem empfangenden Publikum. „Die Kunstpraxis adressiert das Publikum nun als eine Ansammlung von Subjekten, die selbst ‚kreativ‘ und aktiv sind, indem sie Deutungen erfinden“134. Für Reckwitz besteht die kreative Arbeit _________________________________________________________________ 130 Vgl.: Dreher, Thomas: Konzeptuelle Kunst in Amerika und England zwischen 1963 und 1976. Peter Lang: Frankfurt am Main 1992. S.149. 131 Allan Kaprow ist amerikanischer Künstler, der in seinen Happenings das Publikum anregt, selbst gestalterisch tätig zu werden. Vgl.: Dreher, 1992. S.149. 132 Beuys, Joseph: Zitat nach Reckwitz. Reckwitz, 2012. S.113. 133 Jauß, Hans Robert: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik. Suhrkamp: Frankfurt am Main 1991. S.117 f. 134 Reckwitz, 2012. S.107.

240 | Kreativität im künstlerischen Gestaltungsprozess

bereits in der „Entschlüsselung der Werke“ 135, da dieser Prozess ein Experiment darstellt, bei dem der Rezipient aktiv untersucht, „was die Konfrontation mit den Werken sinnlich und emotional in einem selbst auslöst.“136 Diese systemtheoretische Perspektive auf den Gestalter und den Rezipienten vergegenwärtigt die grundlegende Fragestellung dieser Untersuchung. Was ist die Kreativität im künstlerischen Gestaltungsprozess? Besonders dann, wenn sie nicht mehr dem Künstler, der das Werk gestaltet, vorbehalten ist, sondern auch der Rezipient am Kunstwerk kreativ agiert? Die Antwort liegt in der operativen Trennung von sozialen und psychischen Systemen. Während Gestalter und Rezipient in ihrem jeweiligen Bewusstsein vom Typ her vergleichbare Operationen am Kunstwerk ausüben, verkörpern sie im sozialen System unterschiedliche Rollen. Der Gestalter ist und bleibt derjenige, der die Information bereitstellt. Der Betrachter hingegen operiert nur mit vorselektierten Informationen. Hinzu kommt, dass der Gestalter im Vergleich zum Betrachter meist eine intensivere und länger andauernde Auseinandersetzung nicht nur mit dem Werk, sondern allgemein mit der jeweiligen gestalterischen Tätigkeit vorzuweisen hat. Das profiliert ihn in seiner jeweiligen gestalterischen Tätigkeit derart, dass er die Strukturen und Kriterien in seinem Schaffen durch ständige Ausdifferenzierung des Gestaltungsprozesses verfeinern und spezialisieren kann. Ein Landschaftsmaler differenziert im Himmel mehr und spezifischere Blautöne, um eine Morgenstimmung zu malen, als ein Laie. Ein Plastiker erkennt an seiner figürlichen Plastik kleinste Unregelmäßigkeiten in der Oberfläche, um die Spannung eines abgewinkelten Beines darzustellen. Der Rezipient hingegen differenziert Formen im Kunstwerk lediglich auf der Basis seiner bisherigen Differenzierungsleistungen. Sein Differenzierungsniveau unterscheidet sich von dem des Gestalters. Jedes Bewusstsein, nicht nur das zwischen Gestalter und Rezipient, hat eine individuelle Struktur, die sich durch Beobachtungen auf einem bestimmten Gebiet verfeinern lässt. Durch die operationale Gleichschaltung von Gestalter und Rezipient bei gleichzeitiger Trennung von Bewusstsein und Kommunikation erhält der Rezipient im künstlerischen Gestaltungsprozess aus systemtheoretischer Perspektive eine Doppelrolle. • Auf der einen Seite dient er dem Gestalter als Reflexionshilfe. Durch die Be-

obachtung der Reaktionen des Rezipienten auf das eigene gestaltete Kunstwerk kann der Gestalter seine Beobachtungen im Gestaltungsprozess enger an ein soziales System koppeln und gleichzeitig Formen gezielter ausdifferenzieren. _________________________________________________________________ 135 Ebd.: S.108. 136 Ebd.: S.108.

Systemtheoretische Analyse des künstlerischen Gestaltungsprozesses | 241

• Auf der anderen Seite ist ein spezialisierter Rezipient in der Lage, durch Be-

obachtungen am Kunstwerk selbst eine kreative Gestaltungsleistung zu erbringen. Gerade in der postmodernen Kunst sind die Betrachter oft Teil des Arrangements und sie bestimmen mit, wie sich das Kunstwerk entwickelt. Diese Entwicklung über die Einbeziehung des Rezipienten in den Gestaltungsprozess lässt sich nachvollziehen bis zu aktuellen Werken der Netzkunst, bei denen die Autorschaft eines Gestalters, grundlegend in Frage gestellt wird. Diese Überlegungen führen jedoch zu weit weg von der Ausdifferenzierung des Gestaltungsprozesses und der Definition von Kreativität. Durch die operative Trennung von sozialen und psychischen Systemen haben sich nicht nur die Zuständigkeiten bei der Bearbeitung von Form und Information verschoben, auch die Rollenverteilung von Gestalter und Rezipient hat sich verändert. Auf der psychischen Seite sind sie bezüglich der Operationsweise näher zusammengerückt, auf der sozialen ergibt sich jedoch eine klare Trennung der beiden. Zusammenfassung Kapitel 5.3 Die angestrebte Definition von Kreativität ist unter anderem auf einer Sozialreferenz begründet, da ohne eine Anbindung an ein Publikum die Merkmale kreativer Leistungen, Neuartigkeit und Nützlichkeit nicht bestimmt werden könnten. Ein künstlerischer Gestaltungsprozess ohne Sozialreferenz könnte demnach auch nicht zu Kreativität führen. Da für ein soziales System mindestens zwei Personen benötigt werden und ein einzelnes Individuum nicht in der Lage ist, eine kommunikative Operation zu vollziehen, kann die Sozialreferenz des künstlerischen Gestaltungsprozesses nicht unmittelbar von einer kommunikativen Situation abhängig sein. Die Sozialreferenz im künstlerischen Gestaltungsprozess bezeichnet nicht das Zustandekommen einer tatsächlichen Kommunikation, sondern die strukturell gekoppelte Entwicklung von Bewusstsein und Kommunikation. Die Entwicklung des einen Systems ist nicht ohne das andere denkbar. Jeder gestalterische Akt wird von einem Subjekt vollzogen, dessen Bewusstsein sich parallel zu sozialen Systemen entwickelt und strukturiert hat und die soziale Wirkung immer mitdenkt. Auch der Rezipient wird in der Systemtheorie zum Mitgestalter des Kunstwerks, da er dieselben psychischen und teils sogar sozialen Operationen am Werk vornimmt, wie der Künstler. Durch das Beobachten des Werks findet er Formen, die er durch die eigenständige Differenzierungsleistung selbst schafft. Der Unterschied zwischen Gestalter und Rezipient liegt lediglich in der Quantität und Qualität der Differenzierungsmöglichkeiten.

6

Kreativität als Wert im künstlerischen Gestaltungsprozess

Die systemtheoretische Ausdifferenzierung des künstlerischen Gestaltungsprozesses hat gezeigt, dass darin sämtliche Referenzbedingungen zusammenwirken, die auch für das Zustandekommen von Kreativität notwendig sind. • Die Subjektreferenz erfüllt sich im wahrnehmenden und beobachtenden Be-

• • •



wusstsein des Künstlers bei gleichzeitiger struktureller Koppelung an seine sensorischen und motorischen Systeme. Die Sozialreferenz erfolgt über die strukturell gekoppelte Entwicklung der am Gestaltungsprozess beteiligten, psychischen und sozialen Systeme. Das Element, auf das alle beteiligten Systeme ausgerichtet sind, ist ein sinnlich wahrnehmbares Produkt, das als kreativ bezeichnet werden kann. Es sind nur diejenigen Operationen und Elemente für den Gestaltungsprozess relevant, die im Sinne der Fachbereichsreferenz über einen spezifischen Code den beteiligten Systemen zugeordnet werden können. Sämtliche Operationen und Elemente des künstlerischen Gestaltungsprozesses sind zeitreferent, da sie die Struktur des jeweiligen Systems nur in dem Moment beeinflussen, in dem sie zum ersten Mal auftreten.

Diese fünf Referenzbedingungen sind notwendig, damit die beiden zwingenden Merkmale der Kreativität, Neuartigkeit und Nützlichkeit, als Eigenschaften kreativer Produkte im Gestaltungsprozess entstehen und zugeordnet werden können. Im Folgenden werden diese fünf Referenzbedingungen und die beiden Merkmale als notwendige Grundlage benutzt, um eine Definition des Kreativitätsbegriffs zu formulieren. Dies geschieht auf der Basis der systemtheoretischen Ausdifferenzierung des künstlerischen Gestaltungsprozesses. Zunächst wird in Kapitel 6.1 die Form als das Element im künstlerischen Gestaltungsprozess vorgestellt, auf das alle Prozesse und Systeme ausgerichtet sind. In Kapitel 6.2 wird erklärt, wie eine

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Form von der Kontingenz beeinflusst wird und wie wichtig der Kontingenzbegriff für die Definition der Kreativität ist. Die Begründung der Kreativität als Wert einer Form im künstlerischen Gestaltungsprozess erfolgt in Kapitel 6.3. Die Ermittlung des kreativen Wertes wird in Kapitel 6.4 erläutert und abschließend wird in Kapitel 6.5 gezeigt, welche Rolle der Zufall beim Zustandekommen von Kreativität spielt.

6.1 FORM ALS TRÄGER VON KREATIVITÄT Sämtliche Systeme und Mechanismen des künstlerischen Gestaltungsprozesses laufen in einem Punkt zusammen: in der sinnlich wahrnehmbaren Differenzierung einer Form. Formen können auch rein psychisch als Gedanken differenziert werden. Der künstlerische Gestaltungsprozess erfordert jedoch das sinnlich wahrnehmbare Differenzieren einer Form. Diese Form wird von einem psychischen System unterschieden, von einem sensomotorischen System realisiert und als potentielle Differenz zwischen Mitteilung und Information in einem sozialen System verstanden. Sie ist zudem zeitabhängig und an den jeweiligen Fachbereich gebunden. Das bedeutet, dass sämtliche Referenzen der Kreativität notwendig sind, damit im künstlerischen Gestaltungsprozess eine Form differenziert werden kann. Die Form selbst kann jedoch nicht ohne weiteres als kreativ bezeichnet werden, da es ebenso Formen gibt, die nicht kreativ sind. Um zu klären, wie die Kreativität mit dem Formbegriff in Verbindung zu bringen ist, wird in Kapitel 6.1.1 Luhmanns Formverständnis erörtert. In Kapitel 6.1.2 folgt eine systemtheoretische Einordnung des Gestaltbegriffs mit Blick auf die psychologische Gestalttheorie. Kapitel 6.1.3 erklärt dann, wie die Form auf einen Inhalt Bezug nimmt. 6.1.1 Form und Information Der Formbegriff muss im Rahmen dieser Arbeit aus zwei Gründen genauer analysiert werden. Zum einen spielt er in der Theoriebildung der Definition von Kreativität eine zentrale Rolle und zum anderen gibt es unzählige Bedeutungen, die mit dem Begriff verbunden werden, je nachdem aus welcher wissenschaftlichen Domäne man darauf blickt. Da eine intensive Untersuchung aller Bedeutungsvarianten des Formbegriffs zu weit von dem Ziel dieser Studie wegführen würden, wird im Folgenden in erster Linie Luhmanns Formverständnis erläutert und auf seine Bezugstheorien verwiesen. Luhmann definiert die Form als eine Art der Unterscheidung. Jede Differenzierung ist gleichzusetzen mit dem Ziehen einer

Kreativität als Wert im künstlerischen Gestaltungsprozess | 245

Grenze. Diese Grenze bestimmt die Form, sobald man sich für eine Seite entschieden hat. Luhmann orientiert sich bei seinem Formverständnis an den Erkenntnissen von Spencer-Brown. Spencer-Browns Theorie zur Form aus dem Jahr 1969 umfasst Aspekte der philosophischen Logik, der Kybernetik sowie der Erkenntnistheorie und basiert in ihrem Kern auf einer konstruktivistischen Weltsicht. Spencer-Brown geht davon aus, dass die Welt vollkommen inhaltsleer ist, wenn man die Dinge darin nicht bezeichnen würde. Eine solche Bezeichnung kann nur erfolgen, wenn man etwas von allem anderen differenziert.1 Die Form ist in dieser Theorie eine Differenzierung, bei der etwas zunächst Unbestimmtes mittels einer geschlossenen Grenze von der Umwelt abgetrennt wird. Man könnte nun denken, dass die Grenze die Form lediglich definiert, jedoch besteht für Spencer-Brown die Form in der Grenze selbst. Die geschlossene Grenze umschließt das bezeichnete Objekt oder den bezeichneten Sachverhalt und markiert somit die Differenz von innen und außen. Luhmann benutzt Spencer-Browns Formtheorie, um damit die grundlegende Operationsweise seiner psychischen und sozialen Systeme zu erklären. Wenn ein Bewusstsein keine Formen unterscheidet, hat es auch nichts zu beobachten.2 Jede Form ist aus Sicht des Bewusstseins ein Eingriff in seine Umwelt. Die in seiner unfassbaren Komplexität niemals vollständig fassbare Umwelt erfährt „einen Einschnitt, eine Verletzung eines unbestimmten Bereichs von Möglichkeiten durch eine Unterscheidung“3. Das bedeutet, dass die Form als Unterscheidung einen Teil der Umwelt bestimmbar macht, indem sie festlegt, was innerhalb und was außerhalb ihrer Grenze liegt. Mit der Festlegung auf ein Innen und ein Außen hat das Bewusstsein eine Entscheidung gefällt und eine Form festgelegt. Diese Form ist im Sinne einer systemtheoretischen Unterscheidung immer nur asymmetrisch nutzbar, da durch die Entscheidung nur das Innere der Grenze bezeichnet wird. Trotz des Ungleichgewichts, das zwischen innen und außen herrscht, ist jede Form immer eine Zweiseitenform.4 Die Außenseite ist zwar für das Bewusstsein unsichtbar, das heißt aber nicht, dass sie nicht existiert. Das psychische System ist sich der Außenseite bewusst. Aus dem Wissen über die Außenseite und dem Un-

_________________________________________________________________ 1

„We take as given the idea of distinction and the idea of indication, and that we cannot make an indication without drawing a distinction.” Spencer-Brown, 1969. S.1.

2

Vgl.: Luhmann, 2008 (2). S.424.

3

Ebd.: S.195.

4

Vgl.: Luhmann, 1990 (1). S.10.

246 | Kreativität im künstlerischen Gestaltungsprozess

vermögen, sie wahrnehmen zu können, entsteht eine Spannung. Das Ausgeschlossene regt das psychische System zu Anschlussoperationen an. Die Außenseite ist der Möglichkeitsbereich für weitere Differenzierungen und Formentscheidungen. Während die Innenseite die Bezeichnung der Form ist, ist die Außenseite die garantierte Anschlussfähigkeit weiterer Operationen.5 Die Form ist in Luhmanns Verständnis nicht das tatsächliche Objekt oder ein bestimmter Sachverhalt. Sie ist kein Ding und auch kein Teil oder eine Eigenschaft eines Gegenstands. Die Form ist lediglich „das Einsetzen einer Markierung in einen zunächst leeren Raum“6. Dieses Zitat darf nicht wörtlich verstanden werden. Die Markierung existiert nur für das System, das die Differenzierung vorgenommen hat. Außerdem ist der Raum nicht wirklich leer. Leer bedeutet, dass das System oder das Bewusstsein darin noch keine Form gefunden hat. 7 Eine Form existiert nur für das System, das eben diese differenziert hat. Sie hat keine tatsächliche Entsprechung in der Umwelt. Selbst wenn jemand etwas sinnlich Wahrnehmbares formt, existiert die Form nur für das formende System. Ein anderes Bewusstsein würde an dem geformten, sinnlich wahrnehmbaren Objekt oder Ereignis eine andere Form differenzieren. Dieses Verständnis von Form steht im Widerspruch zum Formbegriff, wie er in der Bildenden Kunst verwendet wird. Aus der Perspektive der Bildenden Kunst wird der Begriff Form mit der äußeren Gestalt oder dem Umriss umschrieben.8 Dementsprechend hat jede gestaltete Form eine tatsächliche Entsprechung in der Umwelt. Ursprünglich wird der Formbegriff genauso wie der Gestaltbegriff von der griechischen Bezeichnung eidos abgeleitet, wodurch eine semantische Trennung zwischen Gestalt und Form schwerfällt.9 Aristoteles trennt die natürliche Materie (hyle) als eine Art Substanz oder Werkstoff von der Gestalt (eidos), die das Wahrnehmbare nach außen hin kennzeichnet.10 Eidos ist somit die endliche, sinnlich wahrnehmbare Ausgestaltung von hyle11 und dadurch an einen physi-

_________________________________________________________________ 5

Vgl. ebd.: S.10 f.

6

Luhmann, 2008 (2). S.194.

7

Vgl.: Luhmann, 1990 (1). S.10 f.

8

Vgl.: Meyers, 1986. St.: Form.

9

Vgl. ebd.: St.: Form.

10 Vgl.: Frede, Michael; Patzig, Günther: Aristoteles ‚Metaphysik Z‘. Text, Übersetzung und Kommentar. Band 2. C. H. Beck: München 1988. S.211 ff. 11 Vgl.: Marx, Werner: Einführung in Aristoteles' Theorie vom Seienden. Meiner: Freiburg 1972. S.40.

Kreativität als Wert im künstlerischen Gestaltungsprozess | 247

schen Träger gebunden. Auch wenn in anderen philosophischen und kunstwissenschaftlichen Theorien die Form als gedankliches Konstrukt beschrieben wird, das aus dem Bewusstsein eines Subjekts in die sinnlich wahrnehmbare Welt überführt wird, kann in der Bildenden Kunst die Form nicht losgelöst von der Materie gesehen werden.12 Auch in Luhmanns Systemtheorie kann die Form im künstlerischen Gestaltungsprozess nicht ohne Verbindung zu einem sinnlich wahrnehmbaren Gegenstand oder Sachverhalt existieren. Jedoch bezeichnet die Form nicht das Kunstwerk selbst oder einen Teil davon, sondern ausschließlich die getroffene Differenzierung am Kunstwerk.13 Form existiert immer nur aus der Perspektive eines Systems. Der Gestalter differenziert beim Gestalten andere Formen als der Rezipient. Wenn mehrere Rezipienten beispielsweise ein Bild betrachten, kann nicht davon ausgegangen werden, dass alle das gleiche sehen. Jeder Rezipient findet zu ganz individuellen Formen im Kunstwerk. Das liegt unter anderem daran, dass jeder Rezipient mit einer anderen Motivation oder Zielsetzung an ein Kunstwerk herantritt. Jedes Subjekt trägt die autonome Entscheidungsfreiheit, welche Formen es differenzieren will. 14 Wenn ein Gestalter in seinem Werk Formen differenziert, dann beobachtet er bereits getroffene Formentscheidungen und findet zu neuen. Formen werden in der Regel im Bewusstsein unterschieden. Über die strukturelle Koppelung des Bewusstseins an die sensomotorischen Systeme finden diese Formen zu einer sinnlich wahrnehmbaren Ausführung. Die Form ist dabei nicht der tatsächliche runde, viereckige, große oder kleine Fleck, sondern die Produktion einer Differenz als Grenzlinie. Die Form ist aus Sicht des Bewusstseins ein bestimmter Fleck, eine bestimmte Farbe, eine bestimmte Bewegung, die jeweils einen Unterschied ausmacht. Der Unterschied besteht immer in der Differenz zwischen Innen- und Außenseite der Form. Die jeweilige Außenseite enthält die übrigen Flecken, Farben und Bewegungen als mögliche Formen für spätere Differenzierungen bereit. Der _________________________________________________________________ 12 Da in der Bildenden Kunst mit dem Begriff Form unterschiedliche Bedeutungen und Konzepte bezeichnet werden, differenziert man in der Kunstwissenschaft unterschiedliche Arten von Formen. Hildebrandt beispielsweise unterscheidet drei Arten von Formen. Die Daseinsform entspricht der physikalischen Form von Gegenständen, die Wirkungsform ist die Erscheinungsweise der Gegenstände und die Vorstellungsform ist die künstlerische Werkform, die aus Daseins- und Wirkungsform gewonnen wird. Vgl.: Hildebrand, Adolf von: Das Problem der Form in der bildenden Kunst. Heitz & Mündel: Straßburg (1893) 1901. S.30 f. 13 Vgl.: Spencer-Brown, 1969. S.1. 14 Vgl.: Haseloff, 1972. S.79.

248 | Kreativität im künstlerischen Gestaltungsprozess

Gestalter ist durch die Zweiseitenform angehalten, immer neue Formen zu differenzieren und ist in der Lage neue Formen in bereits gestalteten Bereichen seines Werks zu beobachten. Er erkennt neue Flecken, die sich zu einer Fläche verbinden, oder er realisiert einen Farbeffekt, der durch eine benachbarte Kontrastfarbe erzeugt wird. Die Form ist demnach nicht das tatsächliche Erscheinungsbild eines Gegenstands oder einer Sache, sondern lediglich das Bild, das sich ein Betrachter davon macht. Sobald der Betrachter eine andere Form unterscheidet, ist die vorangegangene verschwunden. Das bedeutet, dass mit Luhmanns Verständnis nicht nur in performativen Gestaltungsprozessen, sondern auch in der Malerei, der Bildhauerei oder der Fotografie die Form ein flüchtiges Phänomen ist. „Die Einheit der Form verschwindet im Gebrauch oder in der Beobachtung.“ 15 Da der Begriff Form aus Luhmanns Sicht kein tatsächliches Merkmal eines Objekts ist, sondern lediglich von einem System an einem Objekt unterschieden wird, ist der Formbegriff an kein spezielles Medium gebunden. Maler differenzieren mit Farben und Flächen auf einer Leinwand Formen, Tänzer differenzieren mit ihren Körperbewegungen im Raum Formen und Musiker differenzieren mit Tönen in der Lautlosigkeit Formen. Die Form ist eine Unterscheidung im Medium, wobei das Medium die Art der Form vorgibt. Das Medium dient demnach nicht nur der Sinnorientierung,16 sondern auch der Differenzierung von Form. Zwischen Form und Medium existiert sogar eine gegenseitige Abhängigkeit. Ohne ein Medium könnten daran keine Formen unterschieden werden und ohne eine differenzierte Form würde das Medium, zumindest aus der Perspektive eines Systems, nicht existieren. Ein Medium ist bei Luhmann ein komplexer zeitbeständiger Sachverhalt der Umwelt mit einem unverbrauchten Vorrat von Elementen.17 An einem Medium kann ein Bewusstsein bestimmte vergängliche Formen einzeichnen, um die Komplexität des Mediums auf eine Größe zu reduzieren, die das Bewusstsein verarbeiten kann. Dieses konstruktivistische Formverständnis verbindet Luhmann mit der Abstraktionstheorie des menschlichen Denkens. In einem psychischen System erzeugt das Bewusstsein durch das Beobachten der Umwelt Formen, die durch eine Entscheidung zu einer Bezeichnung führen. Durch die Form als Einschnitt in die Umwelt wird für das operierende System eine Bezeichnung hervorgehoben. 18 Wie in Kapitel 4.2.1 über psychische Systeme des künstlerischen Gestaltungsprozesses _________________________________________________________________ 15 Luhmann, 2009. S.81. 16 Vgl.: Kapitel 5.1.3. 17 Vgl.: Luhmann, 2008 (2). S.125. 18 Vgl. ebd.: S.430.

Kreativität als Wert im künstlerischen Gestaltungsprozess | 249

erörtert wird, impliziert das Wort Bezeichnung eine begriffliche Abstraktionsleistung durch das Bewusstsein. Im künstlerischen Gestaltungsprozess ist dieser Terminus missverständlich, da nicht jede Form zu einer begrifflichen Benennung des Unterschiedenen führt. Aus diesem Grund wird im Folgenden nicht von Bezeichnungen gesprochen, sondern von Formentscheidungen. Bisher ist der Formbegriff in erster Linie aus Sicht der psychischen Systeme beschrieben worden. Ein soziales System hingegen behandelt eine Form als Information. Das kann jedoch nur geschehen, wenn das soziale System die Information von einer Mitteilung unterscheiden kann. Eine Form wird in diesem Sinne nur kommunikativ, wenn sie gleichzeitig als kommunikatives Element erkannt wird. Eine kommunikative Form gibt es in diesem Sinne nur, wenn psychische und soziale Systeme durch eine strukturelle Koppelung parallel zueinander operieren. Da der Gestalter seine eigenen, am Medium differenzierten Formen nicht als Informationen von einer Mitteilung unterscheiden kann, kann streng genommen lediglich der Rezipient eines Kunstwerks die unterschiedene Form als Element einer Kommunikation verstehen. Der Gestalter kann die Formenentscheidungen lediglich durch seine Erfahrungen über die strukturelle Koppelung zwischen sozialen und psychischen Systemen auf ein mögliches Verstehen eines Rezipienten hin anpassen. Auch als Information erhält die Form keine physische Entsprechung in der Umwelt. In psychischen Systemen ist die Form ein Gedanke und in sozialen Systemen ist die Form eine Information. Da Kommunikationen auf Ereignissen beruhen, können ihre Elemente keine Objekte sein.19 Diese Festlegung scheint der Existenz zeitbeständiger Medien wie der Schrift oder einem Bild zu widersprechen. Denn diese Medien halten Kommunikation relativ zeitresistent fest.20 Das ändert aus Sicht der Systemtheorie jedoch nichts an der Tatsache, dass eine kommunikative Operation dennoch ein Ereignis ist. Die im Medium gesicherte Kommunikation wird von jedem Rezipienten immer wieder aufs Neue verstanden. Das Bewusstsein der Rezipienten differenziert am Medium eine Form und im sozialen System wird parallel dazu die Information von der Mitteilung unterschieden. Für den Künstler ist sein gestaltetes Kunstwerk ein Arrangement von Formen, die er durch eine Koppelung an seine sensomotorischen Systeme in das Werk hinein komponiert. Er trifft im Medium Unterscheidungen, die er physisch fixiert. Aus Sicht des Rezipienten ist dasselbe Kunstwerk ebenfalls ein Arrangement von Formen. Jedoch sind es nicht die Formen des Künstlers, sondern seine eigenen, _________________________________________________________________ 19 Vgl.: Luhmann, 2008 (2). S.146. 20 Vgl. ebd.: S.152.

250 | Kreativität im künstlerischen Gestaltungsprozess

die er am Kunstwerk differenziert. Wenn die Form demnach nur aus der Perspektive des beobachtenden Systems aus existiert, wie können dann die tatsächlich getätigten Unterscheidungen im sinnlich wahrnehmbaren Medium benannt werden? Luhmann versteht das Kunstwerk als Kompaktkommunikation. 21 Das heißt, es ist ein Programm an dem zahllose kommunikative Operationen erfolgen können. Das vom Künstler gestaltete Formenarrangement hat zu einem sinnlich wahrnehmbaren Objekt oder Sachverhalt geführt, das eine komplexe interne Struktur besitzt. Diese Struktur sorgt dafür, dass Unterscheidungen am Objekt nicht vollkommen willkürlich sind, sondern einen Möglichkeitsspielraum vorgeben. Im folgenden Kapitel wird diese Struktur als Gestalt bezeichnet und erklärt. 6.1.2 Form und Gestalt In dieser Studie erfolgt für den künstlerischen Gestaltungsprozess eine klare terminologische Trennung zwischen dem Form- und dem Gestaltbegriff. Diese Trennung ist in Bezug auf die Bildende Kunst notwendig, da mit dem systemtheoretischen Formbegriff keine gestalteten, sinnlich wahrnehmbaren Objekte oder Elemente der Umwelt bezeichnet werden. Die physische Relation der beobachteten Formen wird in dieser Arbeit als Gestalt bezeichnet. Während die Form eine Unterscheidung an einem Medium ist, ist die Gestalt die äußere Erscheinung des Mediums. Diese Gestalt kann nur beobachtet werden, wenn man daran Formen unterscheidet.22 Ein Kunstwerk ist nach Luhmann ein Medium mit einem Programm oder einer Struktur, das die Möglichkeiten der daran zu vollziehenden Unterscheidungen einschränkt. Dieses Programm ist die Gestalt, welche von einem Gestalter realisiert wird. Jeder Pinselstrich beispielsweise verändert die Struktur und damit die äußere Erscheinung eines Bildes. Alleine für das Zustandekommen einer Gestalt ist es im künstlerischen Gestaltungsprozess nachrangig, ob eine Form bewusst oder unbewusst, geplant oder experimentell gesetzt wird. Die Form besitzt nur für das System, das diese Unterscheidung trifft, eine Bedeutung. Die Gestalt hingegen ist ein Komplex aller Markierungen und Unterscheidungen, die ein Gestalter vorgenommen hat. Selbst die Umwelt kann die Gestalt verändern. Die Form hingegen ist stets dem System vorbehalten, das diese differenziert. Dieses systemtheoretische Verständnis von Gestalt entspricht weitgehend dem allgemeinen philosophischen Gestaltbegriff: _________________________________________________________________ 21 Vgl.: Luhmann, 2008 (2). S.146. 22 Vgl.: Luhmann, 2008 (2). S.424.

Kreativität als Wert im künstlerischen Gestaltungsprozess | 251

Die Gestalt ist eine „besondere Verbindungsart, die eine Mannigfaltigkeit zu einem einzigartigen Ganzen macht, dessen Teile oder Glieder eine bestimmte Anordnung aufweisen.“23

Brodbeck formuliert aus Sicht der Bildenden Kunst eine ähnliche Definition des Gestaltbegriffs. Er bezeichnet die Gestalt als eine Einheit, die aus einzelnen Formen besteht. Dieses Gestaltverständnis könnte für diese Untersuchung uneingeschränkt übernommen werden, wenn Brodbeck nicht ein anderes Verständnis von Form hätte. Bei ihm sind Formen reale Aspekte an einer Gestalt und nicht, wie bei Luhmann, Ereignisse in einem System. 24 Brodbecks Verständnis des Gestaltbegriffs entspricht dem der Wahrnehmungs- und Gestaltpsychologie, bei denen die Gestalt „ein Ganzes [ist], das zu seinen Teilen in bestimmter Relation steht.“25 Das Kunstwerk besitzt eine strukturierte Gestalt, an der im Gestaltungsprozess sinnlich wahrnehmbare Formen eingeprägt werden. Die Gestalt ist aus Sicht der Wahrnehmungspsychologie eine Organisation des Wahrnehmens und Beobachtens. Das bedeutet, dass die Rezeption eines Kunstwerks durch bestimmte Gestaltfaktoren an die Regeln der Wahrnehmung gebunden ist.26 Der Wahrnehmungspsychologe Rudolf Arnheim differenziert beispielsweise zwei Arten der Gestalt: die physische Gestalt und die Wahrnehmungsgestalt. Die physische Gestalt wird durch die Grenzen eines Gegenstandes bestimmt. Die Wahrnehmungsgestalt hingegen ist das Resultat einer Verbindung aus dem physikalischen Gegenstand und einem Transportmedium, wie beispielsweise dem Licht. Das Licht dient dem Nervensystem des Betrachters als Transportmedium für visuelle Informationen. Es übermittelt die physischen Grenzen des Gegenstands an das Auge. Auch wenn Arnheim die Wahrnehmungsgestalt von der physischen Gestalt unterscheidet, werden beide von den physischen Grenzen des Objekts definiert. Unser Sehapparat und das daran gekoppelte Bewusstsein können nur über die äußere und nicht über die innere Beschaffenheit eines Gegenstandes Formen erkennen.27

_________________________________________________________________ 23 Eisler, 1927. St.: Gestalt. 24 Vgl.: Brodbeck, 1995. S.101. 25 Dorsch, 2014. St.: Gestalt. 26 Zu diesen Gestaltfaktoren gehören beispielsweise der Faktor der Einfachheit oder der Faktor der Ähnlichkeit. Vgl.: Goldstein, E. Bruce. Wahrnehmungspsychologie. Spektrum Akademischer Verlag: Heidelberg, Berlin 2002. S.192 f. 27 Vgl.: Arnheim, 1978. S.93.

252 | Kreativität im künstlerischen Gestaltungsprozess

Was sowohl die wahrnehmungspsychologischen als auch die systemtheoretischen Gestalttheorien miteinander verbindet, sind zwei zentrale Aspekte des Gestaltbegriffs. • Jede Gestalt besteht aus mehreren Einzelteilen oder Formen, die darin struktu-

riert und geordnet werden. Diese Strukturierung koordiniert durch bestimmte Regeln, wie ein Subjekt die Gestalt wahrnehmen kann. • Jede Gestalt basiert auf einem realen Objekt oder Sachverhalt, der über die Sinnesorgane wahrgenommen werden kann. Das beispielsweise von den Augen aufgenommene Wahrnehmungsmaterial wird von der Gestaltstruktur geordnet und informiert uns über die äußere Erscheinung der Dinge sowie ihre spezifischen Eigenarten. Diese beiden Aspekte bilden auch die theoretischen Säulen des Gestaltbegriffs, der in dieser Studie verwendet wird. Darüber hinaus wird mit Blick auf die systemtheoretische Ausdifferenzierung des künstlerischen Gestaltungsprozesses die Gestalt als Struktur eines sozialen Systems definiert. Bildnerische Kunstwerke sind als Gestalten „ästhetisch dauerhafte Strukturen [, an denen] Formaspekte analytisch unterschieden“28 werden können. Als Struktur ist die Gestalt eine zeitbeständige Organisation von Formentscheidungen. Wie in Günther Regels Theorie des bildnerischen Prozesses ist das Werk eine Gestalt mit einem zeitgerichteten Aufbau und einer strukturellen Gliederung.29 Diese Gliederung koordiniert den Akt des Wahrnehmens, der daran vollzogen wird. Das heißt, dass die Gestalt die Differenzierungsmöglichkeiten des Bewusstseins organisiert und auf bestimmte Formunterscheidungen eingrenzt. Die Gestalt besteht demnach aus „funktionale[n] Beziehungen, Zusammenhänge[n] und Wechselwirkungsverhältnisse[n] […] zwischen den Teilen sowie den Teilbeziehungen […] dem Werkganzen und seiner Umgebung“.30 Ein soziales System kann das Medium als Sinnorientierung und die Gestalt als Struktur der möglichen Operationen nutzen. Die an einer Gestalt vollzogenen kommunikativen Operationen sind gekoppelt an psychische Operationen. Die psychischen Operationen wiederum unterscheiden am Medium Formen, die von der Gestalt koordiniert werden. Die Gestalt wird über die Sinnesorgane und das Bewusstsein als Form erfahrbar gemacht. Diese Trennung zwischen Gestalt und _________________________________________________________________ 28 Müller, 2001. S.20. 29 Vgl.: Regel, 1986. S.120. 30 Ebd.: S.120.

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Form ist für die angestrebte Erklärung der Kreativität wichtig. Denn die Kreativität bezeichnet im Rahmen dieser Theoriebildung einen Wert, der sich auf die Form und nicht die Gestalt bezieht. Trotz der Produktreferenz der Kreativität ist sie kein tatsächliches Merkmal eines Gegenstandes oder eines Sachverhalts. Die Kreativität wird nicht anhand der zeitbeständigen Eigenarten einer Gestalt bemessen. Sie ist, wie noch erläutert wird, an die Form gebunden, an den Akt der Differenzierung. Das kreative Produkt ist aus systemtheoretischer Sicht nicht die sinnlich wahrnehmbare Gestalt, sondern die einmalige Differenzierung einer Form, welche die Gestalt verändert. 6.1.3 Form und Inhalt Durch das für die Bildende Kunst ungewöhnliche Formverständnis von Luhmann und Spencer-Brown, welches in der vorliegenden Arbeit verwendet wird, ändert sich auch das Verhältnis zwischen Inhalt und Form. Traditionell geht man in der Kunstwissenschaft, wie in der Wahrnehmungspsychologie davon aus, dass die Form die sinnlich wahrnehmbare Erscheinung eines darauf festgelegten Inhalts ist.31 Die Form kann aus Sicht eines Subjekts nicht losgelöst von seinem Inhalt betrachtet werden. Form und Inhalt sind nach Arnheim über die Wirkung untrennbar aufeinander bezogen.32 Ein Subjekt kann eine Form nicht ohne Inhalt und einen Inhalt nicht ohne Form denken. Die Form ist ein Träger sinnlich wahrnehmbarer Eigenschaften, die von einem Menschen als Inhalt verstanden werden. Sie steht als inhaltlicher Repräsentant beispielsweise für Rundheit oder Eckigkeit, Nähe oder Ferne, Dynamik oder Stillstand.33 Regel überträgt dieses klassische Verständnis von Inhalt und Form in seine Theorie des bildnerischen Gestaltungsprozesses und beschreibt, dass jede sinnlich wahrnehmbare Form für das Kunstwerk inhaltliche Funktionen übernimmt. 34 Er nennt zwei Arten des Inhalts, die sich an einer Form unterscheiden lassen. Der realisierte Inhalt ist derjenige, welcher der sinnlich wahrnehmbaren Form innewohnt und der rezipierte Inhalt bezeichnet denjenigen, den das Subjekt aus der Form herausliest. 35 _________________________________________________________________ 31 Vgl.: Vischer, Friedrich Th.: Über der Verhältnis von Inhalt und Form in der Kunst. Meyer und Zellers Verlag: Zürich 1858. S.7 f. 32 Vgl.: Arnheim, 1978. S.93. 33 Vgl. ebd.: S.93. 34 Vgl.: Regel, 1986. S.37. 35 Vgl. ebd.: S.41 f.

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Eine derartige Trennung ist aus Sicht der Systemtheorie nicht notwendig. Zum einen kann aus einem konstruktivistischen Weltverständnis, das Luhmanns Theorie zugrunde liegt, ein Objekt der Umwelt ohne das Zutun eines Bewusstseins keinen Inhalt besitzen. Ein Inhalt konstituiert sich ausschließlich in einem Bewusstsein. Zum anderen ist die Form kein Element der Umwelt, sondern eine Differenzierung, mit der ein System die Komplexität der Umwelt für das System verarbeitbar macht. Luhmann lehnt aus diesem Grund die Unterscheidung von Form und Inhalt an einem Werk ab.36 Der Begriff Inhalt spielt in Luhmanns Systemtheorie keine Rolle. Er benutzt stattdessen den Begriff Bedeutung. Die psychischen Systeme in seiner Theorie gelangen zu der Bedeutung einer Form über den Akt der Differenzierung. Jede Unterscheidung einer Form ist gleichzeitig die Bezeichnung einer der beiden unterschiedenen Seiten. Dieser Bezeichnung misst das Bewusstsein eine Bedeutung bei. So gesehen sind, ähnlich wie Form und Inhalt, Form und Bedeutung bei Luhmann untrennbar miteinander verbunden. Das besondere an Luhmanns Form und Bedeutungsverständnis ist, dass beide nicht als sinnlich wahrnehmbare Elemente in der Umwelt existieren, sondern von einem Bewusstsein generiert werden und nur für dieses Bewusstsein relevant sind. Wenn jedoch jedes Bewusstsein seine eigenen Formen und Bedeutungen generiert, wie können sich dann verschiedene Subjekte untereinander kommunikativ verständigen? Die Antwort lautet: durch die strukturelle Koppelung. Eine Verständigung erfolgt über die strukturelle Koppelung zwischen sozialen und psychischen Systemen. Kapitel 5.2.2 beschreibt, dass sich durch die parallel laufenden Operationen und die gegenseitigen Irritationen eine Regelmäßigkeit entwickelt, wie die beiden Systeme aufeinander reagieren. Durch die wiederholte Irritation, die eine bestimmte kommunikative Operation hervorruft, wird eine passende Bedeutungszuweisung durch das Bewusstsein erwartbar gemacht. Form und Information erhalten für das Bewusstsein eine verlässliche Bedeutung. Zusammenfassung Kapitel 6.1 Sämtliche Systeme und Mechanismen des künstlerischen Gestaltungsprozesses laufen in der sinnlich wahrnehmbaren Differenzierung einer Form zusammen, die von einem psychischen System unterschieden wird, von einem sensomotorischen System realisiert wird und als potentielle Differenz zwischen Mitteilung und Information in einem sozialen System existiert. Die Form ist zudem zeitabhängig und an den jeweiligen Fachbereich gebunden. Somit erfüllen sich in der Form alle Referenzbedingungen der Kreativität. Die Form ist in dieser _________________________________________________________________ 36 Vgl.: Luhmann, 2008 (2). S.194 f.

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Theorie kein Teil oder eine Eigenschaft eines Gegenstands. Sie ist die Differenzierungsleistung eines Systems, bei der etwas zunächst Unbestimmtes mittels einer geschlossenen Grenze von der Umwelt abgetrennt und damit für das System bestimmbar gemacht wird. Jede Form existiert nur für das System, das eben diese in einem Medium differenziert hat. Die Form ist nicht das tatsächliche Erscheinungsbild eines Gegenstands oder einer Sache, sondern lediglich das flüchtige Bild, das sich ein Betrachter davon macht. Jede Unterscheidung einer Form ist gleichzeitig eine Bezeichnung dieser Form. Dieser Bezeichnung misst das Bewusstsein eine Bedeutung bei. Eine Form kann von einem sozialen System auch als Information behandelt werden, wenn ein soziales System an der Form eine Information von einer Mitteilung unterscheiden kann. Während die Form eine Unterscheidung an einem Medium ist, ist die Gestalt die äußere Erscheinung des Mediums. Ein Kunstwerk ist ein Medium mit einer Gestalt. Jede Gestalt besteht aus mehreren Einzelteilen, die durch sie strukturiert werden. Diese Strukturierung koordiniert, wie ein Subjekt an der Gestalt Formen differenzieren kann. Als Struktur ist die Gestalt eine sinnlich wahrnehmbare, zeitbeständige Organisation von Formentscheidungen. Kreativität bemisst sich nicht an den zeitbeständigen Eigenarten der Gestalt eines Kunstwerks, sondern an den einmaligen Differenzierungen von Formen.

6.2 KONTINGENZ UND KREATIVITÄT Damit aus systemtheoretischer Sicht im künstlerischen Gestaltungsprozess eine Form entstehen kann, müssen sämtliche Referenzbedingungen der Kreativität erfüllt sein. Würde die Kreativität jedoch lediglich von den einzelnen Referenzbedingungen abhängig sein, wäre jede Form, die im künstlerischen Gestaltungsprozess differenziert wird, als kreativ zu klassifizieren. Das würde den Begriff der Kreativität aus systemtheoretischer Sicht für den künstlerischen Gestaltungsprozess überflüssig machen. Die Kreativität ist jedoch nicht nur von ihren Referenzbedingungen abhängig, sondern auch von den Merkmalen Neuartigkeit und Nützlichkeit. Diese Merkmale lassen sich ebenfalls an der Differenzierung einer Form beobachten. Ihr Zustandekommen hängt dabei von der Kontingenz der jeweiligen Form ab. Dieses Kapitel erklärt, was Kontingenz aus systemtheoretischer Sicht bedeutet, wie sie in einem System zustande kommt und welche Funktion sie bei der Definition des Kreativitätsbegriffs übernimmt. Kontingenz bedeutet in Luhmanns Systemtheorie, dass eine bestimmte Differenzierung oder Operation nur

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eine mögliche Variante aus vielen anderen ist.37 In Kapitel 6.2.1 wird erklärt, wie in einem System Komplexität entsteht und wie sie mit dem Kontingenzbegriff in Verbindung steht. Das Zustandekommen von Komplexität ist, wie Kapitel 6.2.2 beschreibt, zeitabhängig und zwingt ein System, wie Kapitel 6.2.3 erörtert, diese Komplexität durch Selektionen zu reduzieren. Kapitel 6.2.4 zeigt, welche Rolle der Kontingenzbegriff bei der Selektion einer Form übernimmt und warum Kontingenz notwendig ist, damit Kreativität entstehen kann. 6.2.1 Komplexität als die Vielzahl möglicher Differenzierungen Komplexität bezeichnet aus systemtheoretischer Sicht den Zustand eines Systems, dessen viele Komponenten und Elemente auf verschiedenste Weise miteinander interagieren und dessen Vielzahl an Möglichkeiten aus der eingeschränkten Perspektive des Systems nicht überschaut werden können. In der Regel sind sämtliche sozialen und psychischen Systeme komplex. Luhmann definiert Komplexität folgendermaßen: „Unter Komplexität soll hier und im folgenden die Gesamtheit der Möglichkeiten des Erlebens und Handelns verstanden werden“38.

Soziale wie psychische Systeme differenzieren lediglich Formen, die im Rahmen der systemeigenen Operation verarbeitet werden können. Da die Umwelt für ein psychisches System beispielsweise deutlich mehr differenzierbare Formen bereithält, als das System verarbeiten kann, spricht man von einem komplexen System. Demnach ist Komplexität ein charakteristisches Merkmal sozialer und psychischer Systeme. Luhmann differenziert zwei Arten der Komplexität. 39 • Die Umweltkomplexität beschreibt das Komplexitätsgefälle zwischen einem

System und der Umwelt. Dadurch, dass ein System nur Grenzen zieht bzw. Formen bildet, die im Rahmen der systemeigenen Operation verarbeitet werden können, gibt es ein starkes Komplexitätsgefälle zwischen System und Umwelt. Wenn für ein System die Umwelt aus unendlich vielen anderen Systemen besteht, ist die Umwelt in Relation zu einem System immer komplexer als es _________________________________________________________________ 37 Vgl.: Luhmann, 1996. S.152. 38 Luhmann, Niklas: Rechtssoziologie. Westdeutscher Verlag: Opladen 1987 (3). S.6. 39 Vgl.: Krause, 2005. S.178.

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selbst.40 Jedes System kann nur seine systemspezifischen Formen differenzieren. Die Differenzierungsmöglichkeiten werden vom System vorgegeben und sind damit deutlich begrenzter als das Differenzierungsangebot der Umwelt. • Die systemeigene Komplexität entsteht in einem System, wenn bei einer Zunahme an verschiedenen möglichen Formen in einem System nicht mehr jede Form zu jeder anderen in Beziehung gebracht werden kann. 41 Die Komplexität eines Systems steigt mit der Anzahl an Elementen, der Anzahl an Verknüpfungen zwischen diesen Elementen und der Funktionalität dieser Verknüpfungen. Beide Arten der Komplexität sind gegenseitig voneinander abhängig. Wenn ein System die Umweltkomplexität durch Formdifferenzierungen reduziert, erhöht sich damit gleichzeitig die systeminterne Komplexität. Jede aktuelle Möglichkeitsauswahl durch das System vervielfältigt die nicht gewählten Möglichkeiten des Systems.42 Die systeminterne Komplexität ist zugleich der Verweis auf eine systeminterne Ordnung, da sie den Möglichkeitsbereich sinnvoller Operationen bestimmt.43 Komplexität gibt es nur, wenn sie von einem System beobachtet wird. Das System ist ein eingeschränkter Bereich, aus dessen Perspektive weniger Möglichkeiten bearbeitet werden können, als in der Welt existieren. Aus der Perspektive des jeweiligen Systems ist Komplexität ein beobachteter oder beobachtungsabhängiger Sachverhalt, der jedoch vom beobachtenden System nicht bewältigt werden kann.44 Jede tatsächlich differenzierte Form ist nur eine mögliche Operation aus einem Kosmos von Operationen, den das System selbst durch seine Struktur, seinen Code und seinen Sinnhorizont vorgibt.45 Im künstlerischen Gestaltungsprozess wird die Komplexität vom Medium bestimmt. Das Medium ist nicht nur der Bereich der Umwelt, der für mögliche Formdifferenzierungen bereitsteht, sondern zugleich die Sinngrenze. 46 Für den Gestaltungsprozess ist alles, was sich im Medium befindet relevant und was außerhalb liegt irrelevant. Komplexität bedeutet für ein System, dass jede Operation und jede differenzierte Form kontingent ist. Kontingenz ist in diesem Sinne der Möglichkeitsspielraum aller in einem Moment differenzierbaren Formen. _________________________________________________________________ 40 Vgl.: Luhmann, 1996. S.47. 41 Vgl. ebd.: S.46. 42 Vgl.: Krause, 2005. S.178. 43 Vgl.: Krieger, 1997. S.58. 44 Vgl.: Krause, 2005. S.178. 45 Vgl.: Kapitel 5.1. 46 Vgl.: Kapitel 5.1.3.

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6.2.2 Zeit als Bedingung für Selektionen Komplexität entsteht durch die Unmöglichkeit, eine Form permanent mit allen anderen in Beziehung zu setzten. Der Grund für diese Unmöglichkeit ist die Zeit. Gäbe es keine Zeit oder gäbe es unendlich viel Zeit, hätte ein System kein Problem, alle möglichen Beziehungen und Relationen einer Form im Auge zu behalten. Es könnte jede Differenzierung mit allen vergangenen, künftigen oder möglichen Differenzierungen abstimmen. Die Zeit ist der Grund dafür, „daß immer, wenn etwas Bestimmtes geschieht, auch etwas anderes geschieht“47. Somit ist eine Operation niemals in der Lage sämtliche, sogar systeminternen, parallel laufenden Operationen zu berücksichtigen, um eine Art der Kontrolle zu erreichen. Zeit heißt aber nicht nur, dass ein System in einem Moment gezwungen ist, ohne die Berücksichtigung aller Formrelationen zu handeln, es bedeutet auch, dass sich das System ständig verändert.48 Luhmann nennt dieses Phänomen die „Temporalisierung der Komplexität“ .49 Diese Temporalisierung erzeugt nicht nur für jeden Zeitpunkt, sondern auch für jede Differenzierung eine Vergangenheit und eine Zukunft. Daraus resultieren zwei Charakteristika einer Form: sie ist durch ihren Zeitbezug einmalig und zugleich irreversibel. Die Temporalisierung regelt die Einmaligkeit50 und die Irreversibilität der Differenzierung.51 In psychischen Systemen sind Gedanken irreversibel und in sozialen Systemen sind Informationen irreversibel. Wird eine Form differenziert, kann sie nicht mehr zurückgenommen werden. Dieses Prinzip ermöglicht in einem System, Formen als neuartig zu klassifizieren. Wenn ein Maler beispielsweise das Bild eines anderen oder eines seiner eigenen ohne Abstriche kopieren würde, wäre die Operation der Kopie eine andere als die Operation der Neuschöpfung, allein aus dem Grund, weil die Kopie in einem anderen Moment gezeitigt wurde. Die Kopie wird auch immer eine Kopie bleiben, da der Akt der Neuschöpfung nicht zurückgenommen werden kann. Eine Form ist nur neuartig, wenn sie von einem System das erste Mal differenziert wird. Jedes System, das einer temporalisierten Komplexität unterworfen ist, ist auf einen ständigen Zerfall angewiesen, da ein komplexes System nicht in der Lage _________________________________________________________________ 47 Luhmann, 1996. S.70. 48 Vgl.: Luhmann, 1996. S.70. 49 Ebd.: S.77. 50 Vgl. ebd.: S.131. 51 Vgl. ebd.: S.77.

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ist, sämtliche Differenzierungsmöglichkeiten gleichzeitig zu vollziehen. Die Unmöglichkeit, immer alles in einem System zu berücksichtigen, zwingt das System zwangsläufig Platz zu schaffen, da es einen permanenten Bedarf an neuen Folgeoperationen und neuen Differenzierungen hat. Diesen Zerfall garantiert das autopoietische Prinzip eines Systems, das auf Reproduktion systemeigener Operationen angewiesen ist.52 In einem psychischen System, in dem die Operationen Gedanken sind, ist das nachvollziehbar. Auch soziale Systeme, deren Medien flüchtig sind, wie die Sprache, der Tanz oder die Musik, sind dem Zerfall unterworfen. Es gibt jedoch Medien, deren Gestalt zeitbeständig ist. Schrift, Bilder oder Skulpturen sind kommunikative Medien, welche die Zeit überdauern können. Sie können unabhängig von Interaktionsteilnehmern oder jeglicher psychischer Interaktion existieren.53 Jemand, der beispielsweise ein Bild gestaltet, tut dies nicht nur für den unmittelbaren Zeitpunkt, sondern für eine unabsehbare Zukunft. Wenn das Medium Bild nun die Zeit überdauert, kann auf den ersten Blick dieser Zerfall gar nicht stattfinden. Jedoch geht es bei dem ständigen Zerfall oder bei der Temporalisierung der Komplexität nicht um das Medium oder die Gestalt eines Kunstwerks, sondern um die Systeme und die darin differenzierten Formen. Jede tatsächlich getätigte Differenzierung ist einmalig und irreversibel. Jegliche andere Möglichkeit des Operierens geht in diesem einen Moment verloren. Die Kontingenz des aktuellen Systemzustands wird zur Gewissheit. Die Gegenwart wird zur Vergangenheit.54 Weder das bereits angesprochene Kopieren eines Bildes, noch das wiederholte Betrachten eines Bildes führt zu derselben Differenzierung von Form, wie sie vorher stattgefunden hat. Die Art der Operation bleibt die gleiche, nur die Differenzierung führt zu einer anderen Form. Die Zeit zwingt ein System eine Auswahl zu treffen. Sie zwingt zur Selektion. Jede Differenzierung eines psychischen oder sozialen Systems ist ein Umgang mit Komplexität und damit auch immer eine Art der Selektion.55 6.2.3 Selektion als Reduktion von Komplexität Selektion ist ein grundlegendes Operationsprinzip komplexer Systeme. Jede Operation in einem psychischen oder sozialen System organisiert seine Differenzierungen selektiv. Das Bewusstsein selektiert durch Wahrnehmen und Beobachten _________________________________________________________________ 52 Vgl. ebd.: S.78. 53 Vgl.: Luhmann, 1996. S.127 f. 54 Vgl.: Jongmanns, 2003. S.229 f. 55 Vgl.: Luhmann, 1990 (1). S.33.

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und die Gesellschaft selektiert durch Kommunikation.56 Sobald die Fülle und Variation an differenzierbaren Formen nicht mehr überblickt werden kann und eine Auswahl der zur Verfügung stehenden Formen voraussetzt, resultiert daraus eine Selektionsnotwendigkeit. Alle Formen, die in einem System differenziert werden, sind die Folge einer Selektion. Die Begriffe Differenzierung und Selektion können in Bezug auf komplexe Systeme synonym verwendet werden. Aus der Gesamtheit aller möglichen Formdifferenzierungen wird eine Auswahl getroffen. Nicht alles und somit auch nicht jede mögliche Form eines Systems kann zu jedem Zeitpunkt vom System verarbeitet werden. Die Komplexität wird immer von dem Prozess der Reduktion begleitet. Die Reduktion erfolgt durch die Selektion von Formen. Sie schließt vorläufig jede andere Möglichkeit der Formrealisierung in diesem Moment aus. 57 Die anderen, nicht realisierten Selektionen verschwinden nicht einfach. Sie werden „potentialisiert“58 und im System für eine Reaktivierung bereitgehalten. Eine Selektion wählt eine Form nicht nur aus, sie differenziert sie und qualifiziert sie im Rahmen des Systems für weitere Anschlussmöglichkeiten. 59 Nur so kann von einem Prozess gesprochen werden. „Prozesse kommen dadurch zustande […], daß konkrete selektive Ereignisse zeitlich aufeinander aufbauen, aneinander anschließen, also vorherige Selektionen bzw. zu [bestimmten] Selektionen als Selektionsprämisse in die Einzelselektion einbauen.“60 Wenn sämtliche differenzierten Formen eines Systems keine Möglichkeit bieten, weitere Formen auszubilden, kommt das System durch einen Komplexitätsverlust zum Erliegen. Dieses Problem kann durch eine „besser organisierte Selektivität [...] aufgefangen werden.“61 Die Organisation der Selektionen in einem System übernimmt die Struktur. Indem sich in einem System bestimmte Selektionen bewährt und zu zuverlässigen Anschlüssen geführt haben, wird die Struktur angepasst und es können sich Selektionszusammenhänge ausbilden, die einen Komplexitätsverlust verhindern. Jeder künstlerische Gestaltungsprozess besteht aus einer Reihe von Selektionen. Durch den Akt der Differenzierung wird die Komplexität der Umwelt selektiv reduziert. Gleichzeitig wird die Komplexität des Kunstwerks bzw. der künstlerischen Gestalt gesteigert. Der Künstler ist gezwungen eine Auswahl zu treffen. _________________________________________________________________ 56 Vgl.: Luhmann, 1996. S.56 f. 57 Vgl.: Luhmann, 2008 (1). S.177. 58 Ebd.: S.150. 59 Vgl.: Luhmann, 1996. S.47. 60 Ebd.: S.74. 61 Ebd.: S.49.

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Er kann nicht alle Elemente der Umwelt mit der Differenzierung einer Form fassen. Er kann sie auch nicht alle in einem Kunstwerk fassen. Er muss von der Umwelt etwas ausklammern.62 Und dennoch steigt durch jede Selektion die Komplexität des Kunstwerks. Das Kunstwerk erhält eine komplexe Gestalt und wird mit Luhmanns Worten zu einem „Träger außergewöhnlicher Selektionen, die es in andere Selektionshorizonte zu vermitteln gilt.“63 Diese von ihm erwähnten Selektionshorizonte sind andere Systeme, die an der komplexen Gestalt eigene selektive Formdifferenzierungen vornehmen. Der Künstler kann die Gestalt des Kunstwerks strukturieren und dadurch das Erleben des Rezipienten führen. Die Struktur der Gestalt lenkt bis zu einem gewissen Grad die Beobachtungen und Wahrnehmungen der Rezipienten. Der Künstler macht durch das Kunstwerk und seine Gestalt bestimmte Möglichkeitsspielräume erlebbar. 64 Jedes soziale und psychische System koordiniert seine Selektionen entlang einer Struktur. Die Struktur macht durch die Erfahrungen aus vergangenen Selektionen künftige Selektionen koordinierbar. Bei jeder psychischen und sozialen Operation entsteht ein Möglichkeitsbereich, „in dem [...] sich eine bestimmbare Zahl von Alternativen mit deutlichen Tendenzen für bestimmte Optionen abzeichnen.“65 Die Existenz von möglichen Alternativen – dass etwas so ist, aber auch anders sein könnte – nennt Luhmann Kontingenz. 6.2.4 Kontingenz einer Form Der Begriff Kontingenz (lat. contingentia = Zufälligkeit) wird in der ontologischen Philosophie als Gegensatz zur absoluten Notwendigkeit benutzt. Mit ihm wird die Unwägbarkeit eines Zustandes bezeichnet: das „Andersseinkönnen“66. In einer kontingenztheoretischen Vorstellung der Welt sind sämtliche Elemente, Dinge und Sachverhalte in ihrer Existenz und ihrer Art und Weise keine kausalen Notwendigkeiten. Alles was existiert, hätte auch anders oder gar nicht existieren können.67 Luhmann benutzt den Kontingenzbegriff, um den Zustand der Selektionsoffenheit in komplexen Systemen zu beschreiben. _________________________________________________________________ 62 Vgl.: Luhmann, 2008 (2). S.192. 63 Ebd.: S.17. 64 Vgl.: Luhmann, 2008 (2). S.17. 65 Luhmann, 1996. S.188. 66 Eisler, 1927. St.: Kontingenz. 67 Vgl. ebd.: St.: Kontingenz.

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„Kontingent ist etwas, was weder notwendig ist noch unmöglich ist; was also so, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch anders möglich ist. Der Begriff bezeichnet mithin Gegebenes (Erfahrenes, Erwartetes, Gedachtes, Phantasiertes) im Hinblick auf mögliches Anderssein; er bezeichnet Gegenstände im Horizont möglicher Abwandlungen. Er setzt die gegebene Welt voraus, bezeichnet also nicht das Mögliche überhaupt, sondern das, was von der Realität aus gesehen anders möglich ist.“68

Das bedeutet für alle komplexen Systeme, dass sämtliche Operationen, die sie vollziehen, kontingent sind. Jeder beobachtete Sachverhalt, jede differenzierte Form kann vom Bewusstsein in einem Moment so aber auch immer anders beobachtet werden. Die Kontingenz ist in sozialen Systemen beispielsweise dafür verantwortlich, dass Operationen und Formen erwartungsgemäß oder wider Erwarten eintreten können. Erwartungen orientieren sich in einem sozialen System an der systemeigenen Struktur.69 Sie können durch die Kontingenz bestätigt oder enttäuscht werden.70 Die theoretische Unberechenbarkeit und Offenheit des Denkens und Handelns von Individuen führt in den psychischen Systemen zu Komplexität und Kontingenz. Diese Unberechenbarkeit wird in Luhmanns Systemtheorie durch Kommunikation überwunden. Soziale Systeme sind durch die strukturelle Koppelung an psychische Systeme in der Lage Komplexität zu reduzieren und bestimmte Anschlussoperationen erwartbarer zu machen als andere. Durch die gegenseitige Irritation und Beobachtung der psychischen Systeme entsteht eine Art der Ordnung und Struktur, die Luhmann soziale Systeme nennt. Eine besondere Form der Kontingenz ist die doppelte Kontingenz. Sie erweitert den Kontingenzzustand und bezeichnet die wechselseitige Unbestimmtheit und Unbestimmbarkeit zwischen psychischen Systemen in einem sozialen System. „Sie steht für die Universalität kontingent-selektiver Möglichkeiten des Erlebens und Handels“71 in kommunikativen Situationen und beschreibt den Zustand, wenn zwei Individuen ihre kontingenten Handlungen jeweils von den kontingenten Handlungen des Gegenübers abhängig machen. Soziale Systeme können nur entstehen, wenn alle Beteiligten in einer Situation die doppelte Kontingenz erleben und diese überwinden, indem sie die Handlungen und Gesten des Anderen mit Bedeutungen versehen und eine kommunikative Struktur ausbilden.72 _________________________________________________________________ 68 Luhmann,1996. S.152. 69 Vgl.: Kapitel 5.1. 70 Vgl.: Luhmann, 1987 (3). S.31. 71 Krause, 2005. S.139. 72 Vgl.: Luhmann, 1996. S.154.

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„In sozialen Systemen trägt jeder Teilnehmer der Tatsache Rechnung, daß andere auch anders handeln können. Jeder kann sein Verhalten also erst festlegen, wenn er weiß, wie andere ihr Verhalten festlegen; aber das Umgekehrte gilt ebenso.“73

Das bedeutet, dass soziale Systeme und die daran gekoppelten psychischen Systeme permanent Kontingenz bewältigen müssen, da sie permanent „im Modus selbsterzeugter Unbestimmtheit und entsprechender Unsicherheit operier[en].“74 „Doppelte Kontingenz wird so zum Katalysator von sozialen Systemen, weil damit der Zwang entsteht, Kontingenz abzubauen und Komplexität zu reduzieren.“75 Das Verstehen in sozialen Systemen hängt demnach nicht nur von der Differenzierung von Mitteilung und Information ab, sondern ebenso davon, Erwartungen erwartbar zu machen. Das Handhaben von Kontingenz ist gleichzeitig das Aufbauen, Bestätigen und Widerlegen von Erwartungen. Dabei können sie sowohl erfüllt als auch enttäuscht werden. Wenn eine Erwartung in einem sozialen System bestätigt wird, stärkt das die systeminterne Struktur und führt zu einer Sicherheit in den gekoppelten psychischen Systemen. Wird eine Erwartung im sozialen System enttäuscht, werden die gekoppelten psychischen Systeme verunsichert oder überrascht und sie müssen ihre Strukturen reorganisiseren. Jedes Bewusstsein verarbeitet Erwartungen an das soziale System im Rahmen seiner operativen Möglichkeiten anders76 und bildet dabei eine individuelle Struktur aus. Wenn Erwartungen in einem Moment bestätigt oder enttäuscht werden, sind sie im nächsten Moment bereits eine Erfahrung und damit Teil der Struktur. Auch das Gestalten eines Kunstwerks ist ein kontingenter Prozess. Jede differenzierte Form entstammt einem komplexen Möglichkeitsspielraum. „Das Material lässt sich auch anders verwenden, Worte lassen sich auch anders benutzen, Geräusche anders sequenzieren. Gerade gegen diese anderen Möglichkeiten beweist das Kunstwerk seine unwahrscheinliche Ordnung.“77

_________________________________________________________________ 73 Luhmann, Niklas: Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Suhrkamp: Frankfurt am Main 2002 (1). S.31. 74 Luhmann, 2002 (1). S.33. 75 Jahraus, Oliver: Zur Systemtheorie Niklas Luhmanns. In: Niklas Luhmann. Aufsätze und Reden. Hrsg.: Jahraus, Oliver. S.303-314. Reclam: Stuttgart 2001 (2). S.307. 76 Vgl.: Jongmanns, 2003. S.43. 77 Luhmann, 2008 (2). S.253.

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Jede Selektion bezieht sich auf die Erfahrungen, die durch vorangegangene Differenzierungen generiert worden sind. Gleichzeitig erzeugt eine Selektion im Rahmen eines sozialen Systems neue Erwartungen, die wiederum erfüllt oder enttäuscht werden können. Jede Formentscheidung, die am Werk mit anderen Formen kontextualisiert wird, bewältigt und produziert Kontingenz gleichermaßen.78 Jedes Kunstwerk ist eine strukturierte Gestalt, die nicht nur kontingent entstanden ist, sondern auch wieder kontingent rezipiert wird. Das kontingente Erleben eines Rezipienten an einem Kunstwerks ist jedoch nicht vollkommen willkürlich. Durch die Bewältigung der Kontingenz im künstlerischen Gestaltungprozess ist eine Gestalt entstanden, die das Erleben des Rezipienten manchmal loser, manchmal enger führt.79 Kontingenz ist ein wesentlicher Aspekt für die systemtheoretische Erklärung der Kreativität. Ohne operative Kontingenz könnten sich geschlossene Systeme nicht entwickeln. Sie könnten keine neuen Formen differenzieren und ihre Struktur nicht verändern. Operativ geschlossene Systeme wären gezwungen sich permanent selbst mit den immer gleichen Differenzierungen zu wiederholen. Durch das Unvermögen Neues zu verarbeiten, wären sie nicht in der Lage kreativ zu sein. „Kreativität ist ein lebendiger Prozess mit einer Vielzahl an Strategien, die je nach Kontext und Individuum zu kreativen Ergebnissen führen. […] Kreativität erfordert Vielfalt, weshalb es das Ziel ist, neue Wahlmöglichkeiten hinzuzufügen, um die Flexibilität zu erhöhen.“80

Aus systemtheoretischer Sicht können lediglich komplexe Systeme kreativ sein. Kreativität kann nur entstehen, wenn ein System neuartige Differenzierungen zulässt und seine Kontingenz durch Erwartungshaltungen organisieren kann. Zusammenfassung Kapitel 6.2 Alle sozialen und psychischen Systeme sind komplex. Das bedeutet, dass die Umwelt für ein System mehr differenzierbare Formen bereithält, als das System verarbeiten kann. Die Zeit zwingt ein komplexes System seine Differenzierungen zu selektieren. Das System kann zu einem bestimmten Zeitpunkt nur eine von vielen anderen möglichen Formen differenzieren. Das bedeutet, dass _________________________________________________________________ 78 Vgl. ebd.: S.425. 79 Vgl.: Luhmann, 2008 (2). S.19. 80 Pricken, Mario: Kribbeln im Kopf. Kreativitätstechniken & Denkstrategien für Werbung, Marketing & Medien. Schmidt: Mainz 2007. S.9.

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das System kontingent ist. Der Kontingenzbegriff beschreibt den Zustand der Selektionsoffenheit in komplexen Systemen, wobei jede Formentscheidung so, aber auch immer anders stattfinden kann. Alle komplexen Systeme sind gezwungen, ihre Kontingenz durch fortwährende Operationen zu bewältigen. Die Bewältigung der Kontingenz erfolgt durch das Prinzip der Selektion und die damit verbundene Reduktion von Komplexität. Über soziale Systeme werden Erwartungen aufgebaut, bestätigt oder widerlegt, um so die Erwartungen zu einer Struktur zu organisieren. Die operative Kontingenz ermöglicht es einem geschlossenen System sich zu entwickeln. Nur durch kontingente Operationen können neue Formen differenziert und die systeminterne Struktur verändert werden. Kreativität kann nur entstehen, wenn ein System neuartige Differenzierungen erlaubt und seine Kontingenz durch Erwartungshaltungen organisieren kann.

6.3 WERTE EINER KREATIVEN FORM Jede Form, die in einem komplexen System differenziert wird, ist durch die Kontingenz an zwei Merkmale gebunden: Erwartbarkeit und Anschlussfähigkeit. Zum einen wird jede Formdifferenzierung über die Struktur für ein System zu einem bestimmten Grad erwartbar gemacht. Zum anderen weist jede Form über sich hinaus und bestimmt über ihren Grad der Anschlussfähigkeit, wie ein System weiter operieren kann. Beide Merkmale haben gemeinsam, dass sie im Wert variieren können. Eine Form kann durch die Anzahl an wiederholten Differenzierungen mehr oder weniger erwartbar sein. Ebenso kann eine Form mehr oder weniger Anschlussmöglichkeiten bieten. Da in dieser Studie die Kreativität als Wert einer Form definiert werden soll, wird im Folgenden erörtert, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit man von einem Wert sprechen kann, und wie sich die Kreativität als Wert zusammensetzt. Ein Wert besteht grundsätzlich in der beurteilbaren Beziehung eines Objekts oder Sachverhalts zu einer Bedürfnislage oder eines Zweckes. Diese Bedürfnislage wird von einer oder mehreren Personen bestimmt. Aus einer erkenntnistheoretischen oder konstruktivistischen Sicht ist jeder Wert extrinsisch. Das bedeutet, dass Werte durch ein Bewusstsein generiert werden müssen und somit immer subjektiv und relativ sind.81 Ein extrinsischer Wert ist in der Systemtheorie ein Wert, der sich nur innerhalb eines Systems entfalten und dieses nicht verlassen kann. _________________________________________________________________ 81 Vgl.: Eisler, 1930. St.: Wert.

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Jeder extrinsische Wert ist von einem System abhängig, das diesen bestimmt. Außerhalb des Systems mag es Werte geben, diese sind jedoch für das jeweilige System irrelevant. Vom Standpunkt des Systems aus existieren lediglich konstruktivistisch generierte Werte. Intrinsische oder absolute Werte haben für das System keine Bedeutung. Da die Werte, die im Rahmen dieser Studie Relevanz besitzen, extrinsisch sind, wird eine Diskussion über die Existenz intrinsischer Werte vernachlässigt. Extrinsische Werte sind keine Eigenschaften von Dingen oder Sachverhalten, sie konstituieren sich erst im Akt der Wertung. Eine Wertung bezeichnet eine positive, neutrale oder negative Stellungnahme zu konkreten Sachverhalten.82 Darüber hinaus ist ein Wert ein Anzeichen für einen Mangel, der das Bedürfnis erzeugt, diesen Mangel zu überwinden. Nach Heid haben extrinsische Werte aus pädagogischer Sicht zwei Komponenten: • Die deskriptive Komponente bestimmt den Mangel und definiert, welche Ele-

mente gefordert werden. • Die präskriptive Komponente bewertet die Elemente und bestimmt, welche davon in welcher Abstufung als gut gelten.83 Die Differenzierungsmerkmale Erwartbarkeit und Anschlussfähigkeit erfüllen sämtliche Voraussetzungen, um als Werte fungieren zu können. Beide Merkmale beziehen sich auf die Operationsweise eines Systems und haben auch nur in Bezug auf dieses System eine Bedeutung. Sie sind demnach sowohl subjektiv als auch relativ. Hinzu kommt, dass sie die Funktion haben menschliches Handeln zu ordnen und zu strukturieren.84 Sowohl die Erwartbarkeit als auch die Anschlussfähigkeit dienen sozialen und psychischen Systemen über die gegenseitige Koppelung bei der Ausbildung einer Struktur. Auch die in Heids Theorie genannten deskriptiven und präskriptiven Komponenten weisen diese beiden Merkmale auf. • Die Erwartbarkeit einer Form als Wert erwächst aus dem Mangel, dass ein sozi-

ales System ohne die Ausbildung von Erwartungen seine Komplexität nicht handhaben könnte. Die deskriptive Komponente beschreibt die Erwartbarkeit als ein Gut, das auf eine aus Erfahrungen konstituierte Struktur zurückgreift. Die _________________________________________________________________ 82

Vgl.: Heid, Helmut: Über einige theoretische und empirische Voraussetzungen der Werteerziehung. In: Regensburger Beiträge zur Fachdidaktik. Interdisziplinäre und fachspezifische Untersuchungen. Band 2. Hrsg.: Zenner, Maria. S.215-228. Universitätsverlag Brockmeyer: Bochum 1990. S.222.

83

Vgl. ebd.: S.221.

84

Vgl. ebd.: S.223.

Kreativität als Wert im künstlerischen Gestaltungsprozess | 267

präskriptive Komponente bewertet die Erwartbarkeit einer Form, je nachdem für wie wahrscheinlich das Zustandekommen der jeweiligen Form in einem sozialen System eingestuft wird. • Die Anschlussfähigkeit einer Operation als Wert wird über den Mangel bestimmt, da ein System ohne anschlussfähige Operationen aufhören würde zu existieren. Für die deskriptive Komponente ist die Anschlussfähigkeit ein Gut, das sowohl aus dem Erfahrungshorizont der Struktur generiert wird als auch aus den unmittelbar vorangegangenen Operationen. Die präskriptive Komponente bewertet die Anschlussfähigkeit einer Operation, je nachdem wie viele Anschlussoperationen ermöglicht werden. Erwartbarkeit und Anschlussfähigkeit sind Merkmale einer Form, die aus der Sicht des jeweiligen Systems als Werte behandelt werden können. Diese beiden Werte dürfen nicht mit dem Wert einer Information verwechselt werden, der in Kapitel 4.2.3.2 erörtert wird. Es gibt genügend Parallelen zwischen dem Informationswert und den Formwerten Erwartbarkeit und Anschlussfähigkeit. Sowohl die Formwerte als auch der Informationswert beziehen sich auf Wahrscheinlichkeiten und alternative Operationsoptionen. Jedoch gibt es zwei gravierende Unterschiede. Zum einen ist nicht jede Form gleichzeitig eine Information und zum anderen generieren sich Formwerte nicht einfach wie beim Informationswert aus der Anzahl der operativen Alternativen. Formwerte sind maßgeblich von den Erfahrungen abhängig, die als Struktur Erwartbarkeit und Anschlussfähigkeit koordinieren. Der Informationswert hingegen ergibt sich ausschließlich aus der Anzahl der Wahlmöglichkeiten, die in einem System zur Verfügung stehen. Je komplexer ein System ist, desto höher ist der Wert einer einzelnen Information. Der Wert errechnet sich aus der mathematischen Wahrscheinlichkeit, mit der ein Ereignis als Information eintreffen kann. Je unwahrscheinlicher, desto höher der Wert. Der Informationswert ist demnach unmittelbar mit der Kontingenz verbunden. Sobald die Anzahl der möglichen Alternativentscheidungen steigt, steigt auch der Informationsgehalt, da ihr Zustandekommen dadurch immer unwahrscheinlicher wird. Diese Art des Informationswertes ist lediglich ein Faktor für die Bestimmung der Formwerte: Erwartbarkeit und Anschlussfähigkeit. Viel wichtiger für die Bestimmung dieser Werte sind die Struktur eines Systems und die Erfahrungen, die darin eingegangen sind. Im Folgenden wird die Kreativität als der Wert einer differenzierten Form definiert. Um diese Definition systemtheoretisch zu stützen, wird gezeigt, dass die beiden Merkmale der Kreativität, Neuartigkeit und Nützlichkeit, von den Merkmalen einer differenzierten Form, Anschlussfähigkeit und Erwartbarkeit, abhän-

268 | Kreativität im künstlerischen Gestaltungsprozess

gig sind. Die Anschlussfähigkeit bestimmt den Nutzen einer Form und die Erwartbarkeit gibt vor, wie neu eine Form für das jeweilige System ist. Wie die beiden Merkmale der Form sind die Merkmale der Kreativität als Werte begreifbar. Schuler und Görlich benutzen, wie Kapitel 3.4 zeigt, die beiden Merkmale der Kreativität als skalierbare Achsen in einem Koordinatensystem. Nach diesem Modell hat das kreative Produkt einen kreativen Wert, der sich aus zwei Einzelwerten zusammensetzt. Je neuartiger und nützlicher etwas ist, desto kreativer ist es.85 Jackson und Messick gehen ebenfalls davon aus, dass die Kreativität in ihrer Qualität variieren kann. „Unter den Produkten die sowohl als ungewöhnlich als auch als angemessen angesehen werden, haben gewiß einige ein höheres Niveau kreativer Güte als andere.“ 86

Die kreative Güte wird auch bei ihnen über die Neuartigkeit und Nützlichkeit bestimmt. Die beiden Merkmale werden im Folgenden nicht nur als Kriterien festgelegt, die dabei helfen, kreative Produkte zu erkennen, sondern als Werte beschrieben, welche die kreative Güte einer differenzierten Form bestimmen. In Kapitel 6.3.1 wird die Neuartigkeit als Wert einer kreativen Form bestimmt. Die Neuartigkeit hängt dabei unmittelbar von der Erwartbarkeit einer Form ab. Kapitel 6.3.2 beschreibt, wie sich die Nützlichkeit als Wert einer kreativen Form aus den Anschlussmöglichkeiten eben dieser ergibt. 6.3.1 Neuartigkeit und Erwartbarkeit Wenn eine Form als kreativ bewertet werden soll, muss sie von dem System, welches diese Form differenziert, als neu eingestuft werden und dementsprechend unerwartet sein. Aber wie baut ein System Erwartungen auf und wie können diese erfüllt oder enttäuscht werden? Die Erwartung bezeichnet in der Systemtheorie eine Haltung, die sich auf das kontingente und zukünftige Operieren in einer Kommunikation richtet. Sie kann als eine Art der Intentionalität verstanden werden, die das Agieren und Erleben in einem sozialen System koordiniert.87 Über die in der Struktur gesammelten Erfahrungen bezieht die Erwartung die Vergangenheit immer auf die Zukunft. _________________________________________________________________ 85 Vgl.: Schuler; Görlich, 2007. S.9. 86 Jackson; Messick, 1973. S.98. 87 Vgl.: Jongmanns, 2003. S.40.

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„Das Erwarten ist eine gerichtete, temporale Disposition, in der man darauf wartet, dass das Warten in dem Moment zu einem Ende findet, in dem etwas geschieht, das dann zufrieden stellt, enttäuscht oder gar überraschend gewesen sein wird.“ 88

Eine Erwartung repräsentiert die Gliederung oder Strukturierung möglicher Formdifferenzierungen, die von einem psychischen System in einer kommunikativen Situation als mögliche Reaktion erachtet werden. Diese Gliederung kann jedoch nur über eine Koppelung zwischen einem psychischen und einem sozialen System wirksam werden. Obwohl ausschließlich psychische Systeme Erwartungen aufbauen können, ist es ihnen nicht möglich diese Erwartungen gegen sich selbst zu richten. Das eigene Denken und Handeln, kann aus einer systemtheoretischen Sicht, nicht erwartet werden, da ein Subjekt in den Erwartungen an sein eigenes Agieren weder zufriedengestellt, noch enttäuscht werden kann. Erwartungen dienen sämtlichen an einem sozialen System beteiligten Subjekten die Komplexität der Operationsmöglichkeiten zu reduzieren. Sie schaffen in einem sozialen System eine spontane und einzigartige Form der Ordnung. Die Ordnung in sozialen Systemen ist kein Zustand, der allmählich entsteht. Jede soziale Ordnung ist eine spontane und zugleich flüchtige Ordnung, die immer dann zustande kommt, wenn sich aus dem unüberschaubaren Möglichkeitsspielraum eines komplexen Systems eine bestimmte Art und Weise herauskristallisiert, wie das System sinnvoll weiter operieren kann.89 Soziale Systeme bilden ihre Struktur über Erfahrungen aus, mit der sie über Erwartungen das zukünftige Operieren koordinieren. Man kann in einem sozialen System zwei Arten des Erwartens unterscheiden, die auch auf den künstlerischen Gestaltungsprozess übertragbar sind. • Die einfache Erwartung richtet sich nicht an das eigene Denken und Handeln,

sondern an das des Gegenübers. Ein Gestalter generiert eine Erwartung, wie ein Rezipient auf eine bereits differenzierte Form oder einen bestimmten Sachverhalt reagiert. Der Rezipient antwortet dem Künstler, indem er durch sein Verhalten selbst eine Form differenziert. Das führt dazu, dass die Erwartung des Künstlers über die Reaktion des Rezipienten entweder bestätigt oder enttäuscht werden kann. • Die Erwartungserwartung ist eine logische Konsequenz der doppelten Kontingenz. Dabei handelt es sich um Erwartungen, bei denen vom Gegenüber erwartet

_________________________________________________________________ 88 Ebd.: S.40. 89 Vgl.: Jahraus, 2001 (2). S.307 f.

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wird, was dieser wiederum von einem selbst erwartet.90 Die Erwartungserwartung ist selbstreflexiv, da sie zurück auf das Subjekt verweist, das diese generiert hat. Im künstlerischen Gestaltungsprozess kann die Erwartungserwartung dafür genutzt werden, die Differenzierung von Formen konsequent darauf abzustimmen, ob die Erwartungen des Rezipienten erfüllt oder enttäuscht werden sollen. Der künstlerische Gestaltungsprozess ist aus Sicht der Systemtheorie eine fortlaufende Transformation von Erwartungen in Realisierungen. Diese Realisierungen erfolgen über die Differenzierung von Formen. Die Erwartung einer bestimmten Form oder eines Formspektrums kommt dabei einer Bewertung gleich. Bei einer einfachen Erwartung werden die Chancen für das Eintreten einer bestimmten Reaktion der Rezipienten geprüft. Bei der Erwartungserwartung wird hingegen geprüft, wie groß die Chance ist, dass eine bestimmte Form die Erwartungen des Rezipienten erfüllt. Das führt zu dem Schluss, dass ein Gestalter durch die Erwartungserwartung koordinieren kann, ob er durch seine Formdifferenzierung die Erwartungen eines Rezipienten bestätigt oder enttäuscht. Wenn es sein Ziel ist, die Erwartungen seines Gegenübers zu enttäuschen, kann er ihn mit etwas Neuartigem überraschen. Nur wenn differenzierte Formen von einem externen Beobachter als unerwartet erkannt und bewertet werden, können sie von eben diesem in Bezug auf seine Erwartungsstandards als neu oder sogar kreativ erfahren werden.91 Die Überraschung konstituiert sich in einem psychischen System als Haltung, die entsteht, wenn eine Erwartung im gekoppelten sozialen System enttäuscht wird. Ein Bewusstsein kann nur überrascht werden, wenn es sein Ziel ist Strukturen aufzubauen, Komplexität zu reduzieren und Erwartungen erwartbar zu machen. Nur so entstehen über die Zeit normierte Identifikationen, kausale Abhängigkeiten, soziale Mechanismen oder Gewohnheit, die das Auftauchen von Unerwartetem ermöglichen und somit das psychische System überraschen können. Erst wenn Erwartungsstrukturen, die das Bewusstsein mit der Zeit gebildet hat, durch eine Formdifferenzierung nicht erfüllt werden, kann man von einer Überraschung sprechen. Wenn ein Subjekt von einer Form überrascht wird, heißt das, dass die Form aus Sicht des Subjekts von den bekannten Formen abweicht und somit für das Subjekt neu ist. Die Neuartigkeit einer Form ist charakteristisch für das Überraschende, das Abweichende.92 Die Neuartigkeit ist damit eng an die Erwartbarkeit _________________________________________________________________ 90 Vgl. ebd.: S.308. 91 Vgl.: Schmidt, 1988. S.45. 92 Vgl.: Luhmann, 2008 (2). S.148.

Kreativität als Wert im künstlerischen Gestaltungsprozess | 271

gebunden. Sie existiert in einem sozialen System als das Gegenteil des Erwartbaren. Neuartigkeit und Erwartbarkeit sind gegensätzliche Ausprägungen einer Formdifferenzierung. Damit ein soziales System langfristig existieren kann, müssen sich die beiden Werte Neuartigkeit und Erwartbarkeit und die daran gemessenen Formen gegenseitig die Waage halten. Auf der einen Seite muss jede Form, die in einem sozialen System kommuniziert wird, in einem gewissen Grade erwartbar sein, da sie sonst die Kontingenz nicht überwinden würde und für die Kommunikationspartner nicht als Information erkannt werden könnte. Auf der anderen Seite muss eine Form auch immer einen Grad der Neuartigkeit aufweisen, da ein soziales System sonst seine Kontingenz nicht bewahren könnte und damit die Kommunikation im eigentlichen Sinne aufhört.93 Wenn es nichts Neues zu sagen gibt, gibt es keinen Grund für Kommunikation. Deshalb setzt die Kommunikation immer eine minimale Neuartigkeit der Form voraus.94 „Nur über Neues kann man kommunizieren, denn schließlich kann sich Kommunikation nicht in einer bloßen Wiederholung des schon Bekannten erschöpfen.“ 95

Das liegt unter anderem daran, dass das Neue keine Zukunft hat. Jedes System hat einen ständigen „Neuheitsschwund“96. Keine Form kann dauerhaft neu bleiben. „Es kann nur als Neugewesenes verehrt werden.“97 Die Erwartbarkeit überholt die Neuartigkeit. Die Abweichung wird als Erfahrung in die Struktur aufgenommen und nach mehrmaliger Wiederholung als Wissen etabliert. Jede neuartige Formdifferenzierung verliert in einem sozialen System irgendwann die Möglichkeit zu überraschen. Die Neuartigkeit ist aber nicht einfach nur der negative Wert der Erwartbarkeit. Neuartigkeit ist immer etwas Wertvolles, das eine bestimmt Form hervorhebt und auszeichnet.98 Jede Differenzierungsmöglichkeit eines sozialen Systems bewegt sich auf einer Abstufung zwischen zwei gegensätzlichen Werten, Neuartigkeit und Erwartbarkeit. Neuartigkeit wäre ohne einen gewissen Grad der Erwartbarkeit gar nicht kommunizierbar. Das Neue ist immer ein gradueller Unterschied in der Umgestaltung und Veränderung des Vorhandenen und Erwartbaren. Die Neuartigkeit zielt dabei auf die Wiederverwendbarkeit des Neuen. Das _________________________________________________________________ 93 Vgl.: Krieger, 1997. S.26. 94 Vgl.: Reckwitz, 2012. S.46. 95 Luhmann, 2008 (2). S.225. 96 Ebd.: S.149. 97 Ebd.: S.149. 98 Vgl.: Groys, 1992. S.30.

272 | Kreativität im künstlerischen Gestaltungsprozess

Neue wird in die Struktur des Systems als bekannt und erwartbar eingeordnet und kann nicht mehr überraschen. Wenn das primäre Ziel eines Subjekts darin besteht, in einem sozialen System kreativ zu sein, muss es diejenigen Differenzierungsmöglichkeiten favorisieren, die in dem System als neuartig gewertet werden können. „Kreativität […] hängt […] damit zusammen, daß sie auf irgendeine Weise unsere Erwartungen übertrifft oder überrascht.“99 Das heißt, man muss die Situation in einem sozialen System derart verändern, dass die Erwartungen der anderen Kommunikationspartner enttäuscht werden. Damit aus einer systemtheoretischen Sicht Kreativität zustande kommen kann, muss die Erwartbarkeit zugunsten der Neuartigkeit reduziert werden. Neuartigkeit ist ein Wert, der bei jeder Differenzierung im künstlerischen Gestaltungsprozess durch den Grad der Erwartbarkeit bestimmt werden kann. Gleichzeitig ist die Neuartigkeit ein zwingendes Merkmal der Kreativität. 6.3.2 Nützlichkeit und Anschlussfähigkeit Damit ein System prozessieren kann, muss eine differenzierte Form nicht nur erwartbar, sondern auch anschlussfähig sein. Mit Anschluss wird in Luhmanns Systemtheorie eine künftige Selektion bezeichnet, die auf eine bereits stattgefundene Selektion folgt. Die Anschlussfähigkeit beschreibt in einem psychischen oder sozialen System das Potential einer selegierten Form mit einer Auswahl an Folgeselektionen anknüpfen zu können. Jede Einheit eines Systems muss anschlussfähig sein. Wenn eine Selektion keine Anschlussfähigkeit besitzt, brechen die Operationen ab und das System hört auf zu existieren.100 „Strukturell determinierte Systeme orientieren sich stets an früheren Operationen desselben Systems, etwa dem Anschluss von Kommunikation an Kommunikation (soziale Systeme) oder von Gedanken an Gedanken (psychische Systeme).“101

Wenn ein System aus ganz bestimmten Formdifferenzierungen besteht und diese Formen nur im Anschluss an vorangegangene selegiert werden können, muss das _________________________________________________________________ 99

Brodbeck, 1995. S.19.

100 Vgl.: Plönges, Sebastian: Anschlussfähigkeit. In: Shift. #Globalisierung #Medienkulturen #Aktuelle Kunst. Hrsg.: Heil, Christiane; Kolb, Gila; Meyer, Torsten. S.98-100. kopaed: München 2012. S.98. 101 Ebd.: S.98.

Kreativität als Wert im künstlerischen Gestaltungsprozess | 273

System dafür sorgen, dass genügend Selektionen bereitstehen, um weiter prozessieren zu können. In diesem Prozess baut das System bei der Generierung von Anschlussfähigkeit auf die Erfahrungen, die ein System durch stetiges Operieren bereits gesammelt hat. Wie die Erwartbarkeit ist die Anschlussfähigkeit von den kondensierten Erfahrungen der Systemstruktur abhängig. „Die operative Fortsetzung wird durch Strukturen […] gestützt, die die Auswahl für das nächste Element vorselegieren.“102 Luhmann bezeichnet die Anschlussfähigkeit als einen Prozess, aber eigentlich ist sie der Wert einer Selektion, der das Reduzieren und Öffnen der Anschlussmöglichkeiten reguliert.103 Jongmanns benutzt die Begriffe Anschlussfähigkeit und Anschlusswert synonym. 104 Die Anschlussfähigkeit ist damit nicht nur eine notwendige Bedingung für dynamische Stabilität psychischer und sozialer Systeme, sie kann auch über die Quantität der Anschlussmöglichkeiten in ihrem Wert variieren. Ein System ist einem permanenten Anschlussproblem ausgesetzt, das es dadurch löst, dass die Anschlussstellen weder zu weit geöffnet noch zu weit geschlossen sein dürfen. Anschlussstellen sind künftige Formen, die vom System als möglich bzw. als sinnvoll akzeptiert werden. Sie müssen im Sinnbereich oder im Medium des Systems liegen und über den systemspezifischen Code zugeordnet werden können. Gibt es zu viele Anschlussstellen besteht die Gefahr, dass sich das System in seiner Komplexität verirrt und keine sinnvolle Folgeform differenzieren kann. Gibt es zu wenige, kann es passieren, dass die Möglichkeiten abebben und irgendwann gar keine Form mehr gefunden werden kann. Als anschlussfähig werden nicht die künftigen Anschlussstellen bezeichnet, sondern diejenigen Formen, die in einem Moment tatsächlich selegiert werden. Der Sinn einer Form liegt aus Sicht des Systems in der Generierung von Möglichkeiten an diese Form weitere Formen anzuschließen. „Der Sinn eines Aktes [sozial oder psychisch] ist die Mannigfaltigkeit der Anschließbarkeit, die er eröffnet.“ 105 Differenzierte Formen können mehr oder weniger anschlussfähig sein. Das hängt davon ab, wie viele Anschlussoptionen durch sie limitiert oder geöffnet werden. Die Anschlussfähigkeit kennzeichnet für eine Form die möglichen Zustandswechsel, die sie in einem System hervorrufen kann. Da für die Bestimmung von Kreativität das Merkmal der Neuartigkeit alleine nicht ausreicht, braucht die Kreativität „signifikante und hinreichend relevante _________________________________________________________________ 102 Bautz; Stöger, 2013. S.115. 103 Vgl.: Luhmann, 1995 (2). S.41. 104 Vgl.: Jongmanns, 2003. S.245. 105 Frese, Jürgen: Sprechen als Metapher für Handeln. In: Das Problem der Sprache. Hrsg.: Gadamer, Hans-Georg. Fink Verlag: München 1967. S.51.

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Neuheit“106. Diese Relevanz wird über das zweite Merkmal der Kreativität, die Nützlichkeit, bestimmt. Die Nützlichkeit eines Ereignisses, eines Produkts oder einer Form hängt wiederum von der Anschlussfähigkeit des jeweiligen Sachverhalts ab. Genauso wie im vorherigen Kapitel 6.3.1 erklärt wird, wie die Erwartbarkeit als Wert die Neuartigkeit einer differenzierten Form bestimmen kann, wird in diesem Kapitel erörtert, wie die Anschlussfähigkeit als Wert die Nützlichkeit einer Form festlegt. Anschlussfähigkeit ist ein Wert, der anders als die Erwartbarkeit sowohl in sozialen als auch in psychischen Systemen eine Rolle spielt. Im Folgenden wird die Anschlussfähigkeit ausschließlich auf soziale Systeme bezogen. Das hat zwei Gründe, die unmittelbar voneinander abhängig sind. • Zum einen wird mit dem Prinzip der systemtheoretischen Anschlussfähigkeit

das kreativitätstheoretische Merkmal der Nützlichkeit erklärt. Da die Kreativität von einem sozialen Umfeld abhängig ist, das sie zertifiziert, muss auch ihr bedingendes Merkmal, die Nützlichkeit, davon abhängig sein. Die Gesellschaft „definiert […] bestimmte Verschiedenheiten als neu und relevant und andere als trivial und irrelevant.“107 • Zum anderen gibt es den Wert der Erwartbarkeit lediglich in sozialen Systemen. Wenn beide Werte (Erwartbarkeit und Anschlussfähigkeit) notwendig sind, um differenzierte Formen als kreativ zu klassifizieren, muss auch die Anschlussfähigkeit aus Sicht der sozialen Systeme betrachtet werden. Die Anschlussfähigkeit gibt in einem sozialen System die Quantität an, wie viele Möglichkeiten eine differenzierte Form schafft, daran anzuknüpfen. Dieser Anschlusswert entspricht dem Nutzen, den eine bestimmte Form in ein soziales System einbringt. Je mehr sinnvolle Anschlusswerte eine Formdifferenzierung ermöglicht, desto nützlicher ist sie auch. Der hohe Nutzen einer Form schlägt sich darin nieder, dass die Kommunikationspartner unzählige Möglichkeiten bekommen, mit der informativen Form sinnvoll umzugehen. Die Verbindung zwischen Anschlussfähigkeit und Nützlichkeit lässt sich auch auf den künstlerischen Gestaltungsprozess übertragen. Jede von einem Bewusstsein differenzierte Form muss für ein soziales System im Allgemeinen und für den künstlerischen Gestaltungsprozess im Speziellen in eine wahrnehmbare Gestalt gebracht werden. Sobald eine Form differenziert wird, führt das zu einer Veränderung der Gestalt. Die Anschlussmöglichkeit einer Form bestimmt, wie viele _________________________________________________________________ 106 Schmidt, 1988. S.47. 107 Groys, 1992. S.31.

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mögliche Differenzierungen ein Kommunikationspartner durch die Veränderung an der Gestalt vornehmen kann. An einem Kunstwerk werden somit nicht nur die Erwartungen strukturiert, sondern auch die operativen Anschlusswerte. 108 Natürlich ist es in Bezug auf den künstlerischen Gestaltungsprozess schwierig, von einer nützlichen Form zu sprechen, da die Nützlichkeit von Kunst grundsätzlich in Frage gestellt wird. Sie hat weder eine klar festgelegte Funktionalität, noch dient sie in irgendeiner Form einem Zweck.109 So wie die Nützlichkeit aus einer systemtheoretischen Sicht zu verstehen ist, könnte man sie auch mit Begriffen wie Bedeutsamkeit oder Wirkung umschreiben. Das macht für die Theoriebildung in dieser Studie keinen Unterschied, da Bedeutsamkeit110 und Wirkung111 bei manchen Autoren in der Kreativitätsforschung wiederum als Paraphrasen für Nützlichkeit benutzt werden. Da im Zentrum dieser Arbeit die Definition des Kreativitätsbegriffs steht und die beiden Merkmale Neuartigkeit und Nützlichkeit bereits festgelegt worden sind, wird auch im Rahmen dieser Arbeit in Bezug auf den künstlerischen Gestaltungprozess von der Nützlichkeit einer Form gesprochen. Beide Werte, sowohl Neuartigkeit als auch Nützlichkeit, können bei der Differenzierung einer Form über deren Erwartbarkeit und Anschlussfähigkeit bemessen werden. Die Kreativität ist demnach nicht ein exklusives „Entweder-Oder-Phänomen“112, wie Seiffge-Krenke anmerkt. Stattdessen impliziert sie als Wert alle möglichen Abstufungen. Zusammenfassung Kapitel 6.3 Die Begriffe Neuartigkeit und Nützlichkeit sind charakteristisch für die Beschreibung des Kreativitätsbegriffs. Beide Begriffe, sowohl Neuartigkeit als auch Nützlichkeit, können bei der Differenzierung einer Form über deren Erwartbarkeit und Anschlussfähigkeit bemessen werden. Die Neuartigkeit einer Formdifferenzierung hängt von ihrer Erwartbarkeit ab und die Nützlichkeit von ihren Anschlussmöglichkeiten. Wenn das Subjekt in einem sozialen System kreativ sein will, muss es diejenigen Differenzierungsmöglichkeiten favorisieren, die in dem sozialen System

_________________________________________________________________ 108 Vgl.: Jongmanns, 2003. S.245. 109 Vgl.: Luhmann, 2008 (2). S.429 f. 110 Vgl.: Torrance, 1973. S.126. 111 Vgl.: Schuler; Görlich, 2007. S.9. 112 Seiffge-Krenke, Inge: Probleme und Ergebnisse der Kreativitätsforschung. Verlag Hans Huber: Bern, Stuttgart, Wien 1974. S.188.

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nicht erwartet werden und als neuartig gelten. Kreativität muss die Erwartungen übertreffen oder überraschen. Erst wenn die Erwartungsstrukturen, die das Bewusstsein mit der Zeit gebildet hat, durch eine Formdifferenzierung enttäuscht werden, kann man von einer Überraschung sprechen. Die Nützlichkeit einer differenzierten Form hängt von ihrer Anschlussfähigkeit ab. Anschlussfähigkeit ist der Wert einer Selektion, der das Reduzieren und Öffnen der Anschlussmöglichkeiten reguliert. Dieser Anschlusswert entspricht dem Nutzen, den die Form in ein soziales System einbringt. Ein hoher Nutzen schlägt sich darin nieder, dass die Kommunikationspartner viele Möglichkeiten bekommen, mit der Form sinnvoll weiter zu operieren. Kreativität entsteht in einem System, wenn eine Form selegiert wird, die nicht oder kaum erwartet wird, und, die viele Anschlussmöglichkeiten bietet. Diese Form kann dann als neuartig und nützlich charakterisiert werden.

6.4 ERMITTLUNG DER KREATIVITÄT ALS WERT Jede Formdifferenzierung in einem sozialen System ist zu einem bestimmten Grad anschlussfähig und neuartig. Das gilt für alle Formdifferenzierungen eines Bewusstseins, die gleichzeitig als Differenz zwischen Mitteilung und Information verstanden werden. Aus diesem Grund hat jede Form, die als Information in einem sozialen System relevant ist, das Potential kreativ zu sein. Da aber nicht jeder Form differenzierende Akt in einer kommunikativen Situation als kreativ gewertet wird, muss der Grad der Neuartigkeit und Anschlussfähigkeit ein bestimmtes Niveau erreichen, welches kreative Formendifferenzierungen von normalen Formdifferenzierungen unterscheidet. Das Zustandekommen von Kreativität hängt von zwei wertvariablen Merkmalen ab, die in einem sozialen System von mindestens einem Subjekt positiv beurteilt werden müssen. Diese Abhängigkeit der Kreativität von der systembezogenen Beurteilung und Bewertung einer kommunikativen Form, führt zu dem Schluss, dass es sich bei der Kreativität selbst um einen Wert handeln muss. Dieser Wert bestimmt die Neuartigkeit und Nützlichkeit einer differenzierten Form. In der Differenzierung einer Form vereinen sich alle fünf Referenzbedingungen der Kreativität und durch die Merkmale Neuartigkeit und Nützlichkeit lassen sich normale Formen von kreativen Formen unterscheiden. Die Merkmale Neuartigkeit und Nützlichkeit sind notwendige Werte, die eine kreative Form in einem Mindestmaß aufweisen muss und die über die Erwartbarkeit und Anschlussfähigkeit der Form bestimmt werden können. Aus diesem Grund

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wird in dieser Arbeit Kreativität als ein Wert definiert, den eine Formdifferenzierung annehmen kann, wenn sie als neuartig und nützlich beurteilt wird. Im Folgenden wird erklärt, was man unter einer kreativen Form versteht und wie man die Kreativität als Wert ermittelt. Kreativität muss als Wert erkannt und entdeckt werden. Das Trägermedium der Kreativität wird in dieser Arbeit als Form oder Formdifferenzierung bezeichnet. Der Formbegriff, der in dieser Arbeit Verwendung findet, geht auf SpencerBrown und Luhmann zurück und bezeichnet ausschließlich den Akt einer Grenzziehung, bei dem sich das ausführende System für eine der beiden entstandenen Seiten entscheidet und damit die Form festlegt. Diese Form existiert nicht in der Umwelt, sondern ausschließlich für das System, das die Differenzierung vorgenommen hat.113 Das bedeutet, dass eine kreative Form keine physische Entsprechung in der Umwelt haben kann. Die Kreativität ist nicht der Wert einer tatsächlich geformten Gestalt, sondern der Wert einer Differenzierung, die daran vorgenommen werden kann. Wenn ein Subjekt „an einem […] Gegenstand etwas entdeckt, das für [das Subjekt] neu ist, das [das Subjekt] dann aber angemessen (in […] neue Zusammenhänge) einzuordnen versteht“114, dann ist das kreative Produkt nicht der Gegenstand selbst, sondern das bewertende Erkennen des Gegenstands. Kreativität existiert nur für das System, das sie beobachten kann. Sie ist keine beständige Eigenschaft eines Sachverhalts oder Objektes. Schmidt geht davon aus, dass in einem Kunstwerk bei ausreichender Komplexität dauerhaft und zeitbeständig Neues entdeckt werden kann. Die Kreativität ist in seinem Verständnis der Wert eines konkreten Gegenstandes, der „Ambiguität und Multistabilität auf Dauer“115 gewährleistet. Das bedeutet, dass ein Kunstwerk als kreatives Produkt für jeden Betrachter immer und immer wieder etwas Neues zu bieten hat. Die Kreativität ist in diesem Verständnis ein konservierbares Produkt. Nach Schmidt können kreative Produkte dauerhaft einen Zustand der Instabilität in sozialen und psychischen Systemen erzeugen. Das Produkt weist eine in sich instabile Ordnung auf, die zu immer wieder neuen Erfahrungen führt.116 Die Auffassung einer zeitbeständigen Kreativität widerspricht grundlegend dem zeitreferenten Kreativitätsbegriff dieser Studie. Soziale und psychische Systeme verändern sich mit jeder Operation. Ein dauerhaftes Aufrechterhalten von Instabilität in psychischen und sozialen Systemen bei niedriger Erwartbarkeit und hoher Anschlussfähigkeit wäre nicht möglich. Eine derartige Instabilität würde _________________________________________________________________ 113 Vgl.: Kapitel 6.1. 114 Ebert, 1973. S.100 f. 115 Schmidt, 1988. S.49. 116 Vgl. ebd.: S.47.

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dazu führen, dass das System irgendwann nicht mehr in der Lage ist, seine Kontingenz zu handhaben. Es würde aufhören zu existieren. In dieser Arbeit ist die Kreativität nicht der beständige Wert eines Objekts oder Gegenstands, sondern der flüchtige Wert einer Form, die als ein Akt der Unterscheidung keine tatsächliche Entsprechung in der Umwelt hat. Eine Form existiert lediglich aus der Perspektive des Subjekts, welches die zugrundeliegende Unterscheidung getroffen hat. Das bedeutet, dass die Kreativität den Wert eines Differenzierungsaktes beschreibt. Nur so kann eine Formdifferenzierung in einem System produktiv werden. Sie muss erkannt, ausgewertet und weiterbeurteilt werden, damit sie als Anlass für Umstrukturierungen und Neukombinationen im System genutzt werden kann. Die Kreativität besteht in der Veränderung der Systemstruktur. Ihre Größe oder ihr Wert bemisst sich aus der Verschiebung zwischen zwei Systemzuständen, einem Vorher und einem Nachher. Heckhausen unterscheidet im kreativen Akt zwei Prozessschritte. „Der erste generiert kreative Einfälle, der zweite filtert kritisch die meisten wieder aus und verwirft sie.“117 Nach Matussek ist der zweite Schritt, die Bewertung kreativer Produkte, selbst schon ein eigenständiger kreativer Akt. 118 Wenn die Kreativität ein Wert ist, besteht der kreative Akt nicht im Unterscheiden oder Gestalten einer Form, sondern im Erkennen und Erzeugen ihres Wertes. Kreativität existiert nicht als intrinsischer Wert einer Form, sie wird über einen zweiten Schritt retrospektiv der Form zugewiesen. Kreativität ist keine Fähigkeit Neues und Nützliches aktiv zu generieren, sondern ein Wert, der retrospektiv in differenzierten Formen erkannt wird.119 Eine differenzierte Form kann nicht kreativ sein, wenn ihre Neuartigkeit und Anschlussfähigkeit nicht erkannt werden. Eine kreative Form bezieht sich notwendigerweise auf eine Sozialreferenz. Das bedeutet nicht, dass die Kreativität unmittelbar an ein Publikum gebunden ist, das ihre Einzelwerte Neuartigkeit und Nützlichkeit zertifiziert. Die direkte Anwesenheit eines Publikums oder sozialen Umfelds ist gar nicht notwendig. Eine Zertifizierung der Kreativität kann auch derjenige leisten, der für die differenzierte Form verantwortlich ist. Es reicht bereits aus, wenn er die differenzierte Form auf ein soziales System bezieht.120

_________________________________________________________________ 117 Heckhausen, Heinz: Kreativität – ein verbrauchter Begriff? In: Kreativität. Ein verbrauchter Begriff? Hrsg.: Gumbrecht, Hans-Ulrich. S.21-32. Wilhelm Finke Verlag: München 1988. S.24. 118 Vgl.: Matussek, 1974. S.60. 119 Vgl.: Schuler; Görlich, 2007. S.24 f. 120 Vgl.: Kapitel 5.3.1.

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Wenn die Kreativität ein Wert ist, liegt der kreative Akt hauptsächlich in der Bemessung dieses Wertes. Eine ähnliche Theorie beschreibt Schmidt. Auch wenn er die Kreativität als konservierbare Eigenschaft von Produkten versteht, besteht in seiner Theorie der kreative Akt ebenfalls aus dem Erkennen der Kreativität. Für ihn ist die Kreativität ein Beobachterkonzept. „Die Frage, ob jemand kreativ ist, erscheint müßig. Relevant ist, ob eine Leistung […] als kreativ beobachtet und behandelt [wird].“121

Kreative Leistungen werden erst im Anschluss an ihre Hervorbringung als kreativ bewertet. Kreativität lässt sich nicht planen, sie wird beobachtet. Das muss nicht zwingend über das soziale Umfeld geschehen, jedoch muss es im weitesten Sinne darauf bezogen sein. Ein künstlerischer Gestalter beispielsweise kann bewusst eine Beobachterperspektive einnehmen und seine eigenen Leistungen mit Hinblick auf die Erwartbarkeit und Anschlussfähigkeit bei den Rezipienten beurteilen. „Kreativität ist […] ein Beobachterkonzept, und die Erkenn- und Bewertbarkeit dessen, worauf es referiert, kann nur in bezug auf einen kontingenten […] Status gesellschaftlicher Erwartungen bestimmt werden.“ 122

Das bedeutet aus systemtheoretischer Sicht, dass ein künstlerischer Gestalter, der durch die Wahrnehmung und Beobachtung Formen differenziert, die er in einem Medium als Gestalt fixiert, in die Beobachtung zweiter Ordnung wechseln muss, um zu erkennen, ob eine bestimmte differenzierte Form tatsächlich kreativ ist. Durch die Beobachtung zweiter Ordnung kann er über die differenzierte Form reflektieren. Er kann durch die Erwartungserwartung die doppelte Kontingenz handhaben und abschätzen, ob die Differenzierung von den Rezipienten als erwartbar oder als neuartig eingestuft wird. Zudem kann er über die in der Struktur gesammelten Erfahrungen abschätzen, wie viele Anschlussoperationen sich den Rezipienten bieten. Je ausdifferenzierter die Struktur eines Bewusstseins ist und je enger seine Koppelung an das jeweilige soziale System ausfällt, desto zuverlässiger kann ein Gestalter eine solche Prognose treffen. Matussek schreibt: „Es ist ein langer, mühseliger Prozeß, bis man das eigene Werk beurteilen kann.“ 123 Dieser Prozess ist aus systemtheoretischer Perspektive die Zeit, in der ein Gestalter in _________________________________________________________________ 121 Schmidt, 1988. S.40. 122 Schmidt, 1988. S.40. 123 Matussek, 1974. S.61.

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seinem Fachbereich Erfahrungen sammelt, indem er durch beständiges Gestalten, seine Beobachtungen ausdifferenziert und diese Beobachtungen über die strukturelle Koppelung an ein soziales System mit anderen Gestaltern und Rezipienten abgleicht. Um die Neuartigkeit und Anschlussfähigkeit einer Formdifferenzierung aus den in der Struktur kondensierten Erfahrungen abzuleiten, muss ein Gestalter seine eigenen Differenzierungen in der Beobachtung zweiter Ordnung beobachten. Nur wenn das Bewusstsein die aktuelle Differenzierung mit den Erfahrungen aus vergangenen Differenzierungen in Dialog bringt, kann der Gestalter eine Prognose für die Zukunft geben und bewerten, ob sie kreativ ist oder nicht. So wie Groys die Innovation beschreibt, kann in diesem Zusammenhang auch die Kreativität beschrieben werden. „[Kreativität] besteht nicht darin, daß etwas zum Vorschein kommt [oder gebracht wird], was verborgen war, sondern darin, daß der Wert dessen […] umgewertet wird.“124

Groys beschreibt genau diese reine Umwertung, die die Innovation auszeichnet, als Unterschied zur Kreativität. Ihm fehlt in der reinen Umwertung die aktiv schaffende Wirkung von Kräften, welche die Kreativität auszeichnet.125 Wenn man jedoch die Kreativität nicht als Akt oder Fähigkeit, sondern als Wert begreift, entsteht auch die Kreativität ausschließlich aus der Umwertung der Werte. Die Abhängigkeit des Kreativitätsbegriffs von Merkmalen verweist automatisch auf ein nachträgliches Erkennen. Das einfache Differenzieren einer Form, wie das Auftauchen eines Gedankens, das Bezeichnen eines Sachverhalts oder das Formen einer Gestalt, kann nicht der kreative Akt sein. Auch wenn sich die differenzierte Form als der Träger der Kreativität herausstellt, besteht der kreative Akt vor allem in der retrospektiven Bemessung der kreativen Form. Zusammenfassung Kapitel 6.4 Die Abhängigkeit der Kreativität von der systembezogenen Beurteilung und Bewertung einer kommunikativen Form als neuartig und anschlussfähig führt zu dem Schluss, dass es sich bei der Kreativität selbst um einen Wert handeln muss. Die Kreativität ist nicht der Wert einer tatsächlich geformten Gestalt, sondern der Wert der Differenzierung, die von einem Subjekt daran vorgenommen werden kann. Kreativität existiert nur für das System oder Subjekt,

_________________________________________________________________ 124 Groys, 1992. S.14. 125 Vgl. ebd.: S.66.

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das sie beobachten kann. Kreativität muss als Wert erkannt und entdeckt werden. Nur so kann eine Formdifferenzierung in einem System produktiv werden und als Anlass für Umstrukturierungen und Neukombinationen im System genutzt werden. Wenn die Kreativität ein Wert ist, besteht der kreative Akt nicht im Unterscheiden oder Gestalten einer Form, sondern im retrospektiven Erzeugen ihres Wertes. Die Kreativität entsteht ausschließlich aus der Umwertung der Werte.

6.5 ZUFALL ALS KATALYSATOR FÜR KREATIVITÄT Wenn die Kreativität der Wert einer Formdifferenzierung ist und der kreative Akt die reflexive Bewertung dieser Form ist, welche Relevanz für die Kreativität besitzt dann der Akt, der die zu bewertende Form hervorbringt? Welche Rolle spielt im künstlerischen Gestaltungsprozess der Akt, der die Gestalt des Kunstwerkes tatsächlich verändert? Die nachträgliche Bewertung einer Form gibt noch keinen Aufschluss darüber, wie die kreative Form zustande kommt. Die Rolle des psychischen und physischen Aktes der Formdifferenzierung für das Zustandekommen von Kreativität wird im Folgenden am Begriff des Zufalls erklärt. In Kapitel 6.5.1 wird erklärt, wie der Zufall aus systemtheoretischer Sicht ein kreativer Akt sein kann. Kapitel 6.5.2 zeigt, was ein bisoziativer Akt mit dem Zufall zu tun hat und in Kapitel 6.5.3 wird beschrieben, wie sich Zufälle durch experimentelle Handlungsweisen provozieren lassen. 6.5.1 Zufall als kreativer Akt Luhmann nennt die Kreativität ein Zufallsprodukt.126 Der Begriff Zufall bezeichnet entweder das Eintreten eines unvorhersehbaren Ereignisses oder das Zusammentreffen zweier in keinem erkennbaren Zusammenhang stehender Ereignisse.127 In der Systemtheorie wird der Zufall durch den Kontingenzbegriff bedingt. Die Kontingenz bezeichnet in komplexen Systemen die Möglichkeit, dass statt der tatsächlich getätigten Selektion auch andere Selektionen zur Verfügung

_________________________________________________________________ 126 Vgl.: Luhmann, 1988. S.18. 127 Vgl.: Eisler, 1930. St.: Zufall.

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gestanden wären. Sie bezeichnet das Andersseinkönnen128 einer Formdifferenzierung. Aus diesem Spektrum der Selektionen, die in einem bestimmten Moment zur Verfügung stehen, gelten diejenigen als zufällig, die sich durch ihre nicht bestimmbare Wahrscheinlichkeit, ihre Unvorhersehbarkeit und ihren Ereignischarakter von anderen kontingenten Möglichkeiten abheben.129 Jedoch ist der Zufall kein Ereignis, das aus dem Nichts auftaucht. Er ist keine ursachenlose, nichtdeterminierte Spontanität. Es gibt immer einen Grund für den Zufall. Das Auftreten eines Zufalls ist das Ergebnis von Vorgängen, die in der Philosophie als Kausalreihe bezeichnet werden.130 Das, was zufällig erscheint, beruht in Wirklichkeit auf Ursachen und Gesetzmäßigkeiten, die jedoch für denjenigen, der den Zufall als solchen wahrnimmt, nicht nachvollziehbar sind. Die eingeschränkte Sichtweise eines psychischen Systems, beispielsweise auf seine Umwelt, lässt Ereignisse, die nicht vorhersehbar gewesen sind, als Zufall erscheinen. Der Zufall ist lediglich ein „Perspektiveffekt“131. „Er bezeichnet einfach externe oder interne Ereignisse, die über die Strukturen des Systems weder produziert noch kontrolliert werden können.“132

Das macht den Zufall zu einem systemspezifischen Phänomen. Sobald ein Zufall von einem System registriert wird, hat eine Irritation stattgefunden. Das zufällige Ereignis ist meist ein Umwelteinfluss, der als externe Irritation im System eine Reizschwelle überschreitet, so dass das System auf den Zufall reagieren muss. Aus Sicht des Systems ist der Zufall eine überraschende Zustandsveränderung, die das System, zwingt seine Struktur daran anzupassen. Er wird als Erfahrung in die Struktur mit aufgenommen und verändert sie.133 Wie jede andere differenzierte Form ist auch der Zufall für das jeweilige System ein Element, das mit seinem Auftreten sofort wieder verschwindet. Der Zufall ist ein flüchtiges Umweltereignis, der das System betrifft und es zwingt zu reagieren. Er verändert die Grenzen des Systems und hinterlässt einen dauerhaften Struktureffekt.134

_________________________________________________________________ 128 Vgl.: Kapitel 6.2.4. 129 Vgl.: Welsch, 2012. S.253 f. 130 Vgl.: Eisler, 1930. St.: Zufall. 131 Welsch, 2012. S.254. 132 Luhmann, 1988. S.17. 133 Vgl. ebd.: S.17. 134 Vgl.: Luhmann, 2008 (2). S.227.

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Wenn die Erwartungsstruktur eines Systems durch einen Zufall irritiert wird, erscheint er für das System als neuartig und wird als Überraschung erlebt. Das System hat unterschiedliche Möglichkeiten auf einen Zufall zu reagieren. Wenn das System mit dem zufälligen Ereignis wenige oder keine Anschlussmöglichkeiten verbinden kann, könnte das Ereignis dazu führen, dass das System abbricht. Sobald das System auf den Zufall reagiert, ohne maßgeblich von seiner bisherigen Operationsweise abzuweichen, haben sich die Anschlussmöglichkeit durch das Ereignis kaum verändert. Falls das zufällige Ereignis dem System ein breites Spektrum an zusätzlichen Anschlussfähigkeiten bietet, kann der Zufall vom System als hoch informative Formdifferenzierung behandelt werden. 135 Die meisten Zufälle hinterlassen zwar einen Struktureffekt, erhöhen jedoch nicht die Anzahl der Anschlussmöglichkeiten. Sobald ein Zufall in einem System nicht nur anschlussfähig ist, sondern gleichzeitig die Anschlussmöglichkeiten erweitert, wird er vom System als nützlich empfunden. Das bedeutet, dass ein Zufall sowohl neuartig als auch nützlich sein kann und damit die beiden charakteristischen Merkmale der Kreativität aufweist. Demnach gibt es einen, zumindest aus einer systemtheoretischen Perspektive, hinreichenden Zusammenhang zwischen dem Zufall und der Kreativität. Mit Blick auf den künstlerischen Gestaltungsprozess müssen für diese Studie zwei Arten des Zufalls unterschieden werden. Es gibt zwei Theorien, die den Zufall aus zwei unterschiedlichen Betrachterstandpunkten beschreiben. In der einen Theorie geht es um den Zufall, der auf den Gestalter bezogen ist, und in der anderen um den Zufall, der das Werk selbst betrifft. • Der Zufall aus der Sicht des künstlerischen Gestalters ist ein Ereignis oder Phä-

nomen, dessen Zustandekommen vom Willen und Bewusstsein des Künstlers abgekoppelt ist. Der Künstler kann ein zufälliges Ereignis nicht als innere Notwendigkeit für den jeweiligen Gestaltungsprozess initiieren. Dementsprechend wird der Zufall vom Künstler selbst zunächst immer in irgendeiner Weise als Überraschung empfunden. Der Künstler kann den Zufall nicht initiieren, er kann lediglich darauf reagieren. Wie Regel erklärt: „Es ist also nicht die Frage, ob im Schaffensprozeß Zufälle wirken oder nicht, sondern wie der Künstler mit ihnen fertig wird, ob er sie lediglich hinnimmt und sich von ihnen forttragen läßt oder ob er sie bewußt aufnimmt, sie vielleicht sogar provoziert, um sie auszunutzen für sein künstlerisches Vorhaben.“136

_________________________________________________________________ 135 Vgl.: Jongmanns, 2003. S.48. 136 Regel, 1986. S.197.

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• Dieses Verständnis von Zufall beschreibt den Begriff aus der Perspektive des

Künstlers. Darin ist der Zufall eine Art Umwelteinfluss, der den Künstler im Gestaltungsprozess überrascht und am gestalteten Kunstwerk eine Strukturveränderung hinterlässt. • Der Zufall aus der Perspektive des Kunstwerkes, der von Luhmann und Welsch beschrieben wird, manifestiert sich mit der ersten Differenzierung einer Form im Werk. Beide Autoren gehen davon aus, dass der erste Schritt bei der Gestaltung eines Kunstwerkes immer einem Zufall entspricht. Die erste Unterscheidung einer Form im künstlerischen Gestaltungsprozess, die erste Markierung als Gestalt in einem Medium wird sowohl aus Sicht der Umwelt als auch aus der Perspektive des Werkes als Zufall verstanden, da der Akt für diese Systeme nicht absehbar gewesen ist.137 Diese Zufälligkeit ist für den Gestalter selbst nicht wahrnehmbar, da er durch sein eigenes Agieren nicht überrascht werden kann. Die Bezeichnung des ersten gestalterischen Aktes als Zufall ist ungewöhnlich, da man beim Auftreten des Zufalls in der Regel von einem Bewusstsein ausgeht, das von dem Zufall überrascht wird. Das Werk selbst kann keine Überraschung empfinden. Wenn jedoch das physische Werk als Struktur in einem sozialen System begriffen wird, kann es in diesem System Ereignisse geben, die nicht der Erwartungsstruktur entsprechen. Da jeder erste Gestaltungsakt in diesem Sinne systembildend ist, ist er aus Sicht des neu gebildeten Systems zufällig. „Jedes Werk bleibt von der Kontingenz seines Beginns gezeichnet.“138 Es hätte auch immer ein anderes Werk entstehen können. Luhmann und Welsch verstehen den anschließenden künstlerischen Gestaltungsprozess als „Umarbeitung von Zufall in zufallsabhängige Notwendigkeit“139. Bei ihnen geht es in der künstlerischen Gestaltungbildung vor allem um das Überwinden dieses anfänglichen Zufalls. Der Gestaltungsprozess wird aus dieser Sicht ein Prozess der Zufallsbewältigung.140 Im fertigen Kunstwerk sollen sich alle Formentscheidungen zu einem sinnvollen Ganzen vereinen. Jedes „Detail soll sich aus innerer Notwendigkeit ergeben.“141 In dieser Theorie ist der Zufall eine Problemsituation, ein Zustand der überwunden werden muss.

_________________________________________________________________ 137 Vgl.: Luhmann, 2008 (2). S.196. 138 Welsch, 2012. S.267. 139 Luhmann, 2008 (2). S.196. 140 Vgl.: Welsch, 2012. S.262 f. 141 Ebd.: S.263.

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Der Zufall, der in dieser Studie relevant ist, ist derjenige, der den Gestalter überrascht. Das liegt an der Subjektreferenz der Kreativität. Das Werk selbst kann einen Zufall nicht als neuartig und nützlich bewerten, da es durch eine Formdifferenzierung weder befriedigt oder enttäuscht noch überrascht werden kann. Die Bemessung der Kreativität ist eine Beobachtungsleistung und kann demnach lediglich von einem Subjekt erfolgen, das überrascht werden und Anschlussoperationen planen kann. Rodin beispielsweise hat systematisch kunsttechnisch bedingte und andere Zufälle im Laufe des Werkprozesses zugelassen und in seine Gestaltung einbezogen.142 Zu seiner Zeit haben Zufälle im künstlerischen Prozess als störend oder zerstörend gegolten und man hat versucht sie zu vermeiden. 143 Rodin hingegen beschreibt den Zufall selbst als künstlerisch: „Le hasard est très artiste“ 144. Leber geht davon aus, dass Rodins erstes Hauptwerk L’homme au nez cassé (Abb. 3; S. 97) maßgeblich vom Zufall mitgestaltet worden ist. Das Werk zeigt eine fragmentarische Darstellung eines alten Mannes mit schiefem Gesicht, tiefen Falten und gebrochener Nase, bei welcher der hintere Teil des Kopfes fehlt und somit der Eindruck einer Maske entsteht. Leber beschreibt, dass das Tonmodell von Rodins Plastik in seinem Atelier zufällig zu Boden gefallen ist. Diesen Zufall erklärt Leber als eine Kausalreihe. Der Werkstoff Ton muss zwischen den einzelnen Modellierphasen feucht gehalten werden und verpackt bleiben, damit das Material nicht austrocknet und formbar bleibt. Gleichzeitig zersetzt die Feuchtigkeit den bereits geformten Ton und macht ihn porös.145 Selbst wenn Rodin die Eigenheiten und Risiken des Werkstoffs Ton kennt, kann der Moment, wann das Material durch den Zersetzungsprozess sein eigenes Gewicht nicht mehr tragen kann, kaum abgeschätzt werden. Der Sturz der Plastik bleibt ein Zufall. Dieses vermeintliche Unglück hat die vordere Gesichtshälfte so verformt, dass der glaubwürdige Eindruck einer gebrochenen Nase entstanden ist.146 Ein solches zufälliges Ereignis kann durch Zerfall oder Deformation unerwartete Kehlungen und Wölbungen entstehen lassen und muss die Formensprache nicht zwangsläufig zerstören, sondern _________________________________________________________________ 142 Vgl.: Jarrassé, Dominique: Rodin. Faszination der Bewegung. Pierre Terrail: Paris 1993. S.39. 143 Vgl.: Leber, 2012. S.63. 144 „Der Zufall ist sehr künstlerisch“. Rodin, Auguste: Zitat nach Schnell. Schnell, Werner: Der Torso als Problem der modernen Kunst. Gebrüder Mann Verlag: Berlin 1980. S.36. 145 Vgl.: Leber, 2012. S.64. 146 Vgl. ebd.: S.64.

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kann sie auch bereichern. Im künstlerischen Gestaltungsprozess kann es immer wieder zu zufälligen Ereignissen und Konstellationen kommen, die eine zunächst nicht erwartete oder intendierte Fortsetzung als zielführend erscheinen lassen.147 Rodin hat sich im Fall von L’homme au nez cassé dafür entschieden, diesen Zufall nicht nur zu bewahren, sondern ihm das ganze Werk zu widmen. „Der Künstler ist in der Sicht Rodins letztlich immer der entscheidende Urheber der Form des Kunstwerks. Nur wenn er sich richtig verhält in der Wahl des Materials, im Erkennen des Ziels, in der Gestaltung der Form, treiben Zufall und Zeit den Gestaltungsprozess in seinem Sinn weiter.“148

Auch wenn der Zufall in der Gestaltung einen entscheidenden Schritt übernommen hat, ist es letztendlich Rodins Entscheidung gewesen, die diesen Zufall bewahrt hat. Rodin hat diesen Zufall bewertet. Er hat ihn als Form beobachtet und in die Struktur des Kunstwerkes aufgenommen. Er hat ihn sich somit zu eigen gemacht. Wie die gestalterische Leistung liegt auch die Kreativität nicht in der physischen Umformung der Gestalt, sondern im Erkennen der Qualitäten dieser Gestalt, im Beimessen eines Wertes. Der Beobachter erster Ordnung wird durch den Zufall überrascht. Der Beobachter zweiter Ordnung hat bereits die Überraschung überwunden und kann die Überraschung anderer erkennen und planen. 149 Er zertifiziert den Zufall im Rahmen seines Gestaltungsprozesses als kreativ wertvoll. Auch wenn das Zustandekommen der Gestalt ein Zufall ist, die Bemessung der Kreativität ist niemals zufällig oder beliebig. Das zeigt, dass der Zufall weder zum Gestalter des Kunstwerkes avanciert, noch als Urheber der Kreativität gelten kann. Es steht immer ein Künstler hinter dem Werk, der sich lediglich des Zufalls bedient.150 Zufälligkeit und Intentionalität müssen einander nicht ausschließen. „Sie können geradezu miteinander amalgamiert sein.“151 Der tatsächliche kreative Akt liegt demnach nicht im Akt des Gestaltens. Nicht das Ziehen einer Linie, das Setzen eines Fleckes, das rhythmische Bewegen oder das Erzeugen eines Tons sind der kreative Akt, sondern das reflexive Beimessen eines Wertes. Auch die Umwelt kann in einem Medium Linien, Flecken, Bewegungen und Töne generieren. Jedoch kann ausschließlich das Subjekt diese Dinge _________________________________________________________________ 147 Vgl.: Welsch, 2012. S.267. 148 Leber, 2012. S.63. 149 Vgl.: Luhmann, 2008 (2). S.226 f. 150 Vgl.: Welsch, 2012. S.280. 151 Ebd.: S.275.

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beobachten und sie als kreativ bezeichnen. Wie der Zufall ist die Kreativität nur aus der Perspektive eines Systems erfahrbar. 6.5.2 Bisoziation als systemtheoretischer Zufall Beim Zustandekommen von Kreativität kann man aus der Perspektive eines psychischen Systems grundsätzlich zwei aufeinanderfolgende Schritte unterscheiden. Zunächst findet eine spontane Veränderung im Bewusstsein statt. Diese erfolgt meist durch einen externen Reiz in der beobachteten Umwelt. Darauf wird diese Veränderung reflexiv über die Beobachtung zweiter Ordnung bewertet. Wenn diese als Form differenzierte Veränderung in Bezug auf das aktuell gekoppelte System neuartig und nützlich erscheint, ist sie kreativ. Im vorangegangenen Kapitel wird der erste Schritt, die spontane Veränderung, als zufälliges Ereignis beschrieben, das zugleich physische Auswirkungen sowohl auf das beobachtende Subjekt als auch auf die Umwelt hat. Jedoch kann ein Bewusstsein auch ohne das Stattfinden unerwarteter externer Ereignisse neuartige Gedanken und Ideen generieren. Das Bewusstsein kann aus einer systemtheoretischen Perspektive kreativ operieren, indem es seine Gedanken innerhalb alter Sinnhorizonte neu verknüpft oder mit einer neuen Sinndimension in Verbindung bringt.152 Als Sinndimensionen gelten in der Regel sämtliche Systemarten, zumeist soziale, an die sich ein psychisches System koppeln kann. Eine Verbindung unterschiedlicher Sinnhorizonte durch ein psychisches System wird von Koestler in Anlehnung an den Begriff Assoziation Bisoziation genannt. Die Bisoziation bezeichnet die Verknüpfung von mindestens zwei unterschiedlichen Fachbereichen, um etablierte Gewohnheiten und gedankliche Routinen zu überwinden.153 Das Generieren neuer Gedanken und Ideen erfolgt nach Koestler, indem Bilder, Begriffe oder Vorstellungen aus unterschiedlichen Domänen oder Bezugsrahmen miteinander verknüpft werden. Das Prinzip der Bisoziation besteht darin, ein bestimmtes Problem mit einem völlig anderen Fachbereich zu kontextualisieren. Dadurch, dass die Aufmerksamkeit des Bewusstseins auf einen anderen Fachbereich gelenkt wird, entfernt sich das Bewusstsein gedanklich vom Problem. In der Auseinandersetzung mit dem externen Bezugssystem gewinnt das Bewusstsein neue Impressionen und Gedanken, die es in einer Wiederannäherung auf das Problem beziehen kann. Der Unterschied zur Assoziation besteht darin, dass die Assoziation im selben Bezugssystem verweilt und in der Gedankenbildung eine gewisse Linearität aufweist. Die Bisoziation hingegen sucht _________________________________________________________________ 152 Vgl.: Bautz; Stöger, 2013. S.107. 153 Vgl.: Koestler, 1966. S.25 f.

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Verbindungen und Analogien zwischen zwei üblicherweise nicht zugeordneten Bezugssystemen. Systemtheoretisch gesehen, wird eine Beobachtung zu einem gekoppelten System durch eine zweite Beobachtung zu einem anderen gekoppelten System abgelenkt. Diese zweite Beobachtung wird jedoch auf das gekoppelte System des ersten Gedankens bezogen, da dieser darin ebenfalls Sinn macht. Die zweite Beobachtung erhält im ersten System eine herausgehobene Stellung, da sie zum einen relevant und anschlussfähig zu sein scheint und zum anderen für das System neuartig ist. Das Bewusstsein kann die Beobachtung schlagartig auf das erste System beziehen und einen bisoziativen Akt auslösen,154 der nachträglich als kreativ gewertet werden kann. Heckhausen nennt für diesen bisoziativen Akt das Beispiel von Archimedes, der für seinen König das Volumen von dessen Goldkrone berechnen soll. Dabei darf die Krone natürlich nicht zerstört werden. Die Lösung für dieses Problem entdeckt Archimedes nicht durch seine intensiven und konzentrierten Berechnungen, sondern durch eine Bisoziation während des Badens. Als er in seine Wanne gleitet, fällt sein Blick auf die Schmutzränder der Wanneninnenseite und er beobachtet, wie der Wasserspielgel in Relation zu seinem absinkenden Körper ansteigt.155 Durch die Überführung dieser Beobachtung auf die Problemstellung der Volumenberechnung hat ein kreativer Akt stattgefunden. Die Beobachtung des verdrängten Volumens erweist sich für das System der vorangegangenen Berechnungen als neuartig und nützlich und kann somit retrospektiv als kreativ gewertet werden. Archimedes braucht die Krone des Königs nicht einschmelzen, da er nun über die Verdrängung des Wassers das Volumen der Krone mit anderen Objekten vergleichen kann, von denen das Volumen bekannt ist. In einer gewissen Weise kann dieser bisoziative Akt auch als Zufall verstanden werden. Wie für den Zufall gibt es aus Sicht des Bewusstseins auch für die Spontangenese einer kreativen Beobachtung keine erkennbare Kausalität, sonst wäre sie als strukturbedingte Selektion vorhersehbar und planbar.156 Da Vinci beschreibt in einer Passage seines Malereitraktats einen solchen bisoziativen Akt im künstlerischen Gestaltungsprozess: „Ich werde nicht ermangeln, unter diesen Vorschriften eine neu erfundene Art des Schauens herzusetzen, die sich zwar klein und fast lächerlich ausnehmen mag, nichtsdestoweniger aber sehr brauchbar ist, den Geist zu verschiedenerlei Erfindungen anzuregen. Sie besteht darin, dass du auf manche Mauern hinsiehst, die mit allerlei Flecken bekleckst sind, oder

_________________________________________________________________ 154 Vgl.: Heckhausen, 1988. S.26. 155 Vgl.: Heckhausen, 1988. S.26. 156 Vgl.: Bautz; Stöger, 2013. S.107.

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auf Gestein von verschiedenem Gemisch. Hast du irgend eine Situation zu erfinden, so kannst du da Dinge erblicken, die diversen Landschaften gleich sehen, geschmückt mit Gebirgen, Flüssen, Felsen, Bäumen, großen Ebenen, Tal und Hügeln in mancherlei Art. Auch kannst du da allerlei Schlachten sehen, lebhafte Stellungen sonderbar fremdartiger Figuren, Gesichtsmienen, Trachten und unzählige Dinge, die du in vollkommene und gute Form bringen magst. […] Denn durch verworrene und unbestimmte Dinge wird der Geist zu neuen Erfindungen wach.“157

Welsch bezieht dieses Zitat auf seine Theorie der Kontingenz und des Zufalls. Die Zufallserscheinungen in der Oberfläche des Mauerwerks werden beobachtet und auf den künstlerischen Gestaltungsprozess bezogen. 158 Das Bewusstsein wechselt zwischen den externen Reizen des Mauerwerks, welche die Wahrnehmung des Beobachters irritieren und in einem anderen System zu neuen Formdifferenzierungen führen. Der externe Reiz kommt aus der Umwelt. Die verknüpfende Reaktion findet als Bisoziation in Bezug auf den Gestaltungsprozess statt. Dort verarbeitet der Gestalter die Formdifferenzierung des Reizes in der Gestaltung des Mediums.159 Die externen Reize werden so verknüpft, dass das Bewusstsein durch die Wahrnehmung irritiert und fasziniert wird. „Das Staunen über […] Formen in einem zweckentfremdeten Gebrauch der Wahrnehmung […] bezeug[t] den lustvoll kalkulierten bzw. erlebten Kontrast zu ihrer alltäglichen Zweckform.“ 160 Sobald eine durch einen externen Reiz ausgelöste Formdifferenzierung im Gestaltungsprozess Verwendung findet, kann sie mit Blick auf den Gestaltungsprozess als neuartig und anschlussfähig bestimmt werden. Die Reflexion und die Beobachtung zweiter Ordnung werden in diesem Fall durch eine Irritation in der Fremdreferenz ausgelöst. Bisoziation kann auch als eine Methode betrachtet werden, die bewusst Begriffe und Dinge miteinander in Verbindung bringt, die nach dem üblichen, routinierten Denken nicht zusammengehören. Eine intendierte Bisoziation kann wie eine Art Experiment beschrieben werden.

_________________________________________________________________ 157 Vinci, Leonardo da: Sämtliche Gemälde und die Schriften zur Malerei. Hrsg.: Chastel, André. Schirmer, Mosel: München 1990. S.53. 158 Vgl.: Welsch, 2012. S.286. 159 Vgl.: Koestler, 1966. S.415. 160 Bautz; Stöger, 2013. S.58.

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6.5.3 Experiment als simulierter Zufall Ein Experiment (lat. experimentum = Erfahrung, Versuch) ist eine isolierende und planmäßige Beobachtung unter künstlich hergestellten Bedingungen, um bestimmte Ursachen auf ihre Wirkung hin zu untersuchen.161 Aus Sicht der Wissenschaft ist ein Experiment eine empirische Untersuchungsmethode, um über eine Hypothese, die es zu prüfen gilt, neue Informationen und Erkenntnisse zu erlangen. Selbst wenn sich die Hypothese nicht bestätigen sollte, gilt das Experiment als gelungen, da man dennoch zu neuen Erkenntnissen gelangt. Mit Blick auf den künstlerischen Gestaltungsprozess, werden grundsätzlich zwei Arten des Experiments unterschieden: das künstlerische Experiment und die experimentelle Kunst. Während das künstlerische Experiment ein Äquivalent zum naturwissenschaftlichen Experiment darstellt und als eine Art Versuchsaufbau begriffen wird, ist die experimentelle Kunst ein aleatorisches Verfahren, bei der man durch eine bestimmte Handlung eine unvorhersehbare Wirkung erzeugt.162 • Das künstlerische Experiment beschreibt das künstlerische Gestalten im Ganzen

als eine Tätigkeit des Forschens. Diese Terminologie ist von Gombrich geprägt, der über die Vergleichbarkeit der künstlerischen Tätigkeit zum wissenschaftlichen Experiment die Kunstgeschichte analog zur Wissenschaftsgeschichte versteht.163 Gombrich begreift das gesamte Kunstwerk als eine Art wissenschaftliches Experiment, bei dem die gestalterischen Mittel als Ursache auf die sinnlich wahrnehmbaren Wirkungen hin untersucht werden.164 In diesem Sinne ist das künstlerische Gestalten mit dem Fokus etwas Neues zu kreieren an sich schon experimentell. Anders als das wissenschaftliche Experiment kann das künstlerische nicht immer reproduziert werden, da das dem künstlerischen Anspruch mancher Werke widersprechen würde. Da die Wiederholbarkeit neben der Planmäßigkeit und der Variierbarkeit ein wesentliches Charakteristikum naturwis_________________________________________________________________ 161 Vgl.: Eisler, 1927. St.: Experiment. 162 Vgl.: Schmücker, Reinhold: Künstlerisch Forschen. Über die Herkunft und Zukunft eines ästhetischen Programms. In: Wie verändert sich Kunst, wenn man sie als Forschung versteht? Hrsg.: Siegmund, Judith. S.123-144. transcript: Bielefeld 2016. S.139. 163 Vgl.: Gombrich, Ernst H.: Kunst und Illusion. Zur Psychologie der bildlichen Darstellung. Phaidon: Berlin (1967) 2002. S.29. 164 Vgl. ebd.: S.XI.

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senschaftlicher Experimente ist, gibt es zwar eine strukturelle Ähnlichkeit zwischen den beiden Experimentarten, jedoch sind sie nicht identisch.165 Das künstlerische Experiment dient dazu, neue Ausdrucksmöglichkeiten, im Rahmen eines bestimmten Mediums oder Bezugsfeldes zu finden oder Sachverhalte auf eine Art und Weise wahrzunehmen, wie sie zuvor nicht gesehen oder gehört worden sind. Wie das wissenschaftliche Experiment wird es als eine Art Grundlagenforschung verstanden, die das Kunstverständnis laufend erweitert oder überprüft.166 • Die experimentelle Kunst bezeichnet eine künstlerische Ausdrucksform, bei der im Rahmen eines Bezugsfeldes entweder ein unbekanntes Ereignis oder eine bis dahin noch nicht beobachtete Situation herbeigeführt wird, um sich vom Ergebnis überraschen zu lassen. In diesem Sinne ist das Experiment ein aleatorisches Verfahren. Unter Aleatorik versteht man in Kunst, Musik und Literatur Vorgehensweisen und Handlungen, die zu unvorhersehbaren, zufälligen Ergebnissen führen. Pfennig bezeichnet aleatorische Verfahren allgemein als das Handhaben von oder den Umgang mit Zufällen.167 Bei der Aleatorik handelt es sich um verschiedenste Arten des Zufalls, die im künstlerischen Prozess relevant werden können.168 Da der Zufall vor allem in der experimentellen Kunst eine Rolle spielt, wird im Folgenden der Terminus Experiment als aleatorisches Verfahren begriffen. Das Experiment ist in diesem Sinne eine Methode, die es ermöglicht für Zufälle offen zu sein und „das Unberechenbare in einen Gegenstand methodischer Berechenbarkeit [zu] verwandeln.“169 Vorreiter auf dem Gebiet der aleatorischen Verfahren in der Bildenden Kunst sind die Surrealisten gewesen. Um den Zufall gezielt einsetzen und nutzen zu können, haben die Surrealisten spezielle Techniken entwickelt, „wie z.B. Monotypie, Frottage, Grattage und Decollage, Fumage und Lavage. Auch das Tropfen, Gießen und Verlaufenlassen von Farben sowie das Zersetzen von Sand und Splitt sind hier zu nennen.“170 Reckwitz sieht in diesen Ver-

_________________________________________________________________ 165 Vgl.: Schmücker, 2016. S.139 f. 166 Vgl. ebd.: S.138. 167 Vgl.: Pfennig, Reinhard: Gegenwart der bildenden Kunst. Erziehung zum bildnerischen Denken. Isensee: Oldenburg 1967. S.310. 168 Vgl.: Ebert, 1973. S.61. 169 Reckwitz, 2012. S.100. 170 Regel, 1986. S.198.

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fahren einen Mechanismus des Zufalls, bei dem das aktive Subjekt hinter die Eigendynamik des künstlerischen Gestaltungsprozesses zurücktritt und dieser fast wie von selbst abläuft und den Künstler mitreißt. 171 Nicht der Gestalter sondern die Umwelt übernimmt die Führung des Gestaltungsprozesses. Durch den Zufall setzt sich das Werk selbst in die Welt. Das Kunstwerk wird geschaffen von unberechenbaren Ereignissen, die der Künstler nicht mehr aktiv gestaltet, sondern lediglich initiiert, zulässt und registriert. Wenn man diese Verfahren nicht ausschließlich als Verselbstständigungen des Zufalls betrachtet, sondern als Methoden, die der Intention eines Gestalters untergeordnet sind, kann man sie im Sinne der experimentellen Kunst als eine bestimmte Art des Experimentierens bezeichnen. Sie alle benötigen eine bestimmte Versuchsanordnung, wobei die Anordnung selbst schon als Experiment gelten kann. Aus den zufälligen Resultaten des Experiments können durch Reflexion und Schlussfolgerung Erkenntnisse über die Wirkung gewonnen werden. Wie bei der Bisoziation wird durch das Experiment aus der Perspektive des Bewusstseins eine Formdifferenzierung provoziert, deren Ursprung eine Irritation ist, die der Umwelt des Systems entspringt. In einem zweiten Schritt kann das Bewusstsein diese Irritation, die zu einer Formdifferenzierung geführt hat, als neuartig und anschlussfähig bewerten. Es gibt jedoch einen gravierenden Unterschied zwischen der Bisoziation und dem Experiment. Bei der Bisoziation agiert das Bewusstsein ausschließlich beobachtend mit einer sensorischen Koppelung. Die Irritation, welche die Bisoziation auslöst, existiert bereits in der Umwelt. Im Experiment hingegen wird diese Irritation bewusst provoziert. Das Experiment ist ein handelnder Eingriff in die Umwelt, bei dem vom Bewusstsein aus nicht alle Konsequenzen abgeschätzt werden können. Diese unüberschaubaren Konsequenzen können beispielsweise in einem künstlerischen Gestaltungsprozess die Gestalt des Kunstwerks derart verändern, dass der Künstler von den daraus resultierenden Formdifferenzierungen überrascht wird. Francis Bacon beschreibt solche aleatorischen Verfahren, die er im eigenen Gestaltungsprozess anwendet, um Zufälle zu provozieren. Zum einen benutzt er unkonventionelle Malwerkzeuge, wie Scheuerbürsten, Handfeger, Schwämme oder Mülldeckel, bei denen der Farbauftrag und der Malfluss kaum abschätzbar sind. Zum anderen erläutert er Phasen, in denen er die Farbe mit bloßer Hand gegen die Leinwand schleudert.172 _________________________________________________________________ 171 Vgl.: Reckwitz, 2012. S.99. 172 Vgl.: Bacon, Francis: Gespräche mit Francis Bacon. Hrsg.: Sylvester, David. Prestel: München 1997. S.92.

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„Durch die Art, wie ich arbeite, weiß ich tatsächlich sehr oft nicht, wie sich die aufgetragene Farbe verhalten wird.“173

Er benutzt Mechanismen der Umwelt, deren Ergebnisse er nicht prognostizieren kann, da ihr Möglichkeitsspielraum zu komplex ist. Für das Generieren von Zufällen benutzt er sämtliche malerischen Mittel, die ihm in seinem Atelier zur Verfügung stehen. Für Bacon übernimmt der Zufall eine zentrale Rolle in seinem künstlerischen Gestaltungsprozess. Der Zufall steuert die Farbe. „Sie macht [von selbst] vieles, das sehr viel besser ist, als das, wozu ich sie bringen könnte.“174 Auch wenn Bacon sich selbst in erster Linie als aufnahmebereites Medium für den Zufall begreift,175 ist der Zufall bei Bacon nicht von einer aktiven Handlung oder Gebrauchsmöglichkeit zu trennen. In Bacons Beschreibungen seines Arbeitsprozesses bezeichnet er mit dem Begriff Zufall keine Wahrscheinlichkeitszustände von Ereignissen, sondern in erster Linie eine Auswahl oder eine Handlungsweise,176 die unerwartete Farbspuren, Verläufe und Strukturen auf der Leinwand hinterlässt. Aus der Sicht Bacons ist das Experiment ein aleatorisches Verfahren, mit dem Zufälle manipuliert werden können. Das Bild Portrait of George Dyer in a mirror (Abb. 25) zeigt neben dem deformierten Körper im Zentrum des Bildes und dem verzerrten und zerteilten Profil eines Gesichtes im links von der Figur positionierten Spiegel eine weiße Farbspur. Die Spur verbindet das tragende Gestell des Spiegels mit dem Stuhl, auf dem die Figur sitzt. Sie ist das Resultat eines manipulierten Zufalls in Bacons Gestaltungsprozess. Wenn der Arbeitsprozess ins Stocken gerät oder sich die Bildvorstellung verflüchtigt, versucht Bacon die Maltätigkeit zu unterbrechen, indem er durch aleatorische Mittel die Bildoberfläche stört. Er versucht sich dadurch selbst zu überraschen, um nicht nur die Spannung im Arbeitsprozess aufrecht zu erhalten, sondern auch die im Bild.177 Der Zufall bewahrt nach Bacons Ansicht den Prozess der Bildgestaltung davor, von den Absichten des Künstlers dominiert zu werden, da

_________________________________________________________________ 173 Ebd.: S.17. 174 Ebd.: S.17. 175 Vgl.: Schmied, Wieland: Der authentische Zufall. Francis Bacon: Realismus ohne Illustration In: Zeit Online. 2. 10. 1984. Ausgabe 45. http://www.zeit.de/1984/45/derauthentische-zufall (Stand 17.08.2016). 176 Vgl.: Deleuze, Gilles: Francis Bacon. Logik der Sensation. Wilhelm Fink Verlag: München 1995. S.59. 177 Vgl.: Schmied, 1984.

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sonst die Gefahr besteht, dass das Bild klischeebelastet und banal wird. Jeder Zufall hat das Potential, dass das daraus entstandene Gemälde durch ihn organischer, unvermeidbarer und authentischer wird.178 Im vorliegenden Bild hat Bacon die weiße Farbe mehr oder weniger gezielt auf die Leinwand geschleudert. Er tut das in der Hoffnung, „daß das Schleudern von Farbe auf ein schon fertiges oder halb fertiges Bild es entweder neu gestalten wird oder [ihm] wenigstens Gelegenheit gibt, [sein] Malen in Richtung auf eine […] größere Intensität zu beeinflussen.“179

Abb. 25: Francis Bacon, „Porträt George Dyer im Spiegel“, 1968, Öl auf Leinwand, Museo Thyssen - Bornemisza, Madrid . _________________________________________________________________ 178 Vgl.: Schmied, 1984. 179 Bacon, 1997. S.92.

Kreativität als Wert im künstlerischen Gestaltungsprozess | 295

Er beobachtet das Resultat und entscheidet retrospektiv, wie das Resultat auf ihn wirkt. Es findet ein Auswahlprozess statt.180 Das Experiment hat die Gestalt des Kunstwerkes verändert und er prüft in der Beobachtung zweiter Ordnung, ob die Formdifferenzierungen, die er daran vornehmen kann, neuartig und anschlussfähig sind. Das Schleudern der weißen Farbe hat zu einer Farbspur geführt, die anders als die kompakten und in sich geschlossenen Flächen des dargestellten Körpers eine skelettartige Extremität ausbildet. Der dünne weiße Arm scheint mit seinen drei Fingern nach dem Standbein des Spiegels zu greifen. Die entstandene Farbspur erweist sich im Gestaltungsprozess sowohl als neuartig als auch als nützlich. Sie ist neuartig, da sie in ihrer Fremdartigkeit im Bild sowohl für Bacon als auch für den Rezipienten unerwartet ist. Ebenso erweist sie sich als anschlussfähig, da sie zum einen die Figur und den Spiegel im Bild verbindet und zum anderen den Blick durch ihre Kontraststärke auf sich zieht und damit den Fokus vom Gesicht im Spiegel zurück auf die Figur lenkt. Die Anschlussfähigkeit und die Neuartigkeit können von Bacon bereits vorab über die Erwartungsstruktur prognostiziert werden. Das hängt davon ab, wie stark ein Gestalter die unvorhersehbaren Mechanismen der Umwelt in sein Experiment miteinbezieht. Je stärker die Umwelt miteinbezogen wird, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Ergebnis neuartig ist und desto unwahrscheinlicher ist es, dass das Ergebnis anschlussfähig ist. Wenn ein derartiges Experiment aus Bacons Sicht erfolgreich gewesen ist, kann er es im Kunstwerk bewahren. Wenn das Ergebnis wenig bis keine Anschlussmöglichkeiten bietet, kann er den Fleck mit dem Messer wegkratzen oder mit dem Lappen verreiben. Bacon ist sich beim Einsatz aleatorischer Verfahren selbst nicht sicher „inwieweit es reiner Zufall ist und bis zu welchem Grad dessen Manipulation.“181 Er schwankt zwischen einem klug kalkulierten Einsatz des Zufalls und einer ungesteuerten Zufälligkeit. Die Ergebnisse können über die Art eines Experiments und über die Offenheit bzw. die Enge des Versuchsaufbaus koordiniert werden, je nachdem, ob man eher auf der Suche nach neuartigen oder nach anschlussfähigen Ergebnissen ist. Ebert unterscheidet bei den aleatorischen Verfahren in der Bildenden Kunst zwei Handlungsarten: das Experimentieren mit einem engen Versuchsaufbau und das reine Probieren mit einem ziemlich offenen Versuchsaufbau.

_________________________________________________________________ 180 Vgl.: Bacon, 1997. S.17. 181 Ebd.: S.54.

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• Das Probieren ist im Extremfall eine unkoordinierte Folge wahlloser Handlun-

gen und Beobachtungen mit einem planlosen Wechsel der Richtungen.182 Es ist ein konzeptloses, richtungsloses und ungesteuertes Verfahren, bei dem zufällige Ereignisse provoziert werden, die meist unerwartet aber nur selten als nützliche Entdeckungen zu gebrauchen sind. • Das Experiment wird in Bezug auf eine Fragestellung von einer Prognose koordiniert. Es ist ein Verfahren, das sich in eine mehr oder weniger konkrete Richtung bewegt und ein Ziel verfolgt. Es prüft einen sachlichen Zusammenhang bei den Ergebnissen, die zufällig entstanden sind. Es ist nicht in dem Maße vom Zufall abhängig wie das Probieren, dennoch ist es stark vom Zufall begünstigt.183 Die Ergebnisse sind im Vergleich zum Probieren zwar weniger neuartig, jedoch weisen sie eine deutlich höhere Anschlussfähigkeit auf. Sowohl das Probieren als auch das Experiment sind Verfahren, welche die unvorhersehbaren Mechanismen der Umwelt nutzen, um zufällige Ergebnisse zu erzeugen. Auch wenn das Experiment aus einer rein naturwissenschaftlichen Sicht nicht als aleatorisches Verfahren verstanden wird, ist es im Sinne der experimentellen Kunst eine Methode den Zufall in den Gestaltungsprozess einzubinden. Sowohl die Bisoziation als auch das Experiment sind aleatorische Methoden, die im Gestaltungsprozess auf zwei Arten die Systemgrenzen ausloten. Zum einen besteht die Gratwanderung in der Frage, wie neuartig eine Formdifferenzierung sein darf, bis sie nicht mehr als Teil des Systems erkannt wird, und zum anderen in der Frage, wie viele Anschlussmöglichkeiten in einem System erlaubt sind, bis das System seine Kontingenz nicht mehr bewältigen kann. Gerade das Experiment provoziert zufällige Ereignisse, die ein Subjekt nicht nur zwingen auf die entstandenen Irritationen zu reagieren, sondern das Subjekt gleichzeitig sensibilisieren, seine differenzierten Formen auf Neuartigkeit und Nützlichkeit zu prüfen. Bisoziation und Experiment sind Methoden, die kreative Bewertungsakte und damit die Kreativität als Wert wahrscheinlicher machen. Zusammenfassung Kapitel 6.5 Der Begriff Zufall bezeichnet das Eintreten eines unvorhersehbaren Ereignisses. Aus dem Spektrum von Selektionen, die in einem Moment zur Verfügung stehen, gelten diejenigen als zufällig, die sich durch ihre nicht bestimmbare

_________________________________________________________________ 182 Vgl.: Ebert, 1973. S.75 f. 183 Vgl.: Ebert, 1973. S.77.

Kreativität als Wert im künstlerischen Gestaltungsprozess | 297

Wahrscheinlichkeit von anderen kontingenten Möglichkeiten abheben. Der Zufall beruht auf Ursachen, die für den, der den Zufall als solchen wahrnimmt, nicht nachvollziehbar sind. Das macht den Zufall zu einem systemspezifischen Phänomen. Eine externe Irritation überschreitet im System eine Reizschwelle, so dass das System darauf reagieren muss. Ein Zufall kann sowohl neuartig als auch nützlich sein und damit die beiden charakteristischen Merkmale der Kreativität aufweisen. Beim Zustandekommen von Kreativität kann man grundsätzlich zwei aufeinanderfolgende Bewusstseinsschritte unterscheiden. Zunächst findet eine spontane Veränderung im Bewusstsein statt. Diese erfolgt meist durch einen externen Reiz (Zufall) in der beobachteten Umwelt. Darauf wird diese Veränderung reflexiv über die Beobachtung zweiter Ordnung mit Blick auf ein bestimmtes Bezugsfeld bewertet. Sowohl die Bisoziation als auch das Experiment sind aleatorische Methoden, mit deren Hilfe zufällig Formdifferenzierungen im Bewusstsein angeregt und in einem zweiten Schritt als kreativ gewertet werden können.

7

Resümee

Was ist Kreativität im künstlerischen Gestaltungsprozess? Auf Basis der vorangegangenen begrifflichen und systemtheoretischen Analyse lautet die Antwort: Die Kreativität ist der Wert einer im künstlerischen Gestaltungsprozess differenzierten Form. Um diese Definition formulieren zu können, werden in Kapitel 2 zunächst die Referenzbedingungen des Kreativitätsbegriffs bestimmt. Dies geschieht durch eine Analyse der verschiedenen Untersuchungsschwerpunkte der interdisziplinären Kreativitätsforschung.

Abb. 26: Referenzbedingungen und Merkmale der Kreativität.

300 | Kreativität im künstlerischen Gestaltungsprozess

Aus den Theorien der einzelnen Schwerpunkte werden die Bedingungen für das Zustandekommen von Kreativität abgeleitet (Abb. 26). Dabei zeigt sich, dass die Kreativität sowohl von fünf Referenzbedingungen als auch von den beiden Merkmalen Neuartigkeit und Nützlichkeit abhängig ist. Ob die Referenzbedingungen und Merkmale genügen, um von Kreativität sprechen zu können, wird in den Kapiteln 3 bis 5 am Fall des künstlerischen Gestaltungsprozesses analysiert. Dazu werden die psychischen, sozialen und sensomotorischen Akte im künstlerischen Gestaltungsprozess zunächst isoliert betrachtet, um ihr Zusammenspiel aus einer systemtheoretischen Sicht besser verstehen zu können. Diese Analyse legt nicht nur dar, wie der Gestaltungsprozess als komplexer systemischer Mechanismus abläuft, sondern auch, wie die einzelnen Referenzbedingungen der Kreativität im künstlerischen Gestaltungsprozess zusammenwirken. • Die Subjektreferenz entspricht dem Bewusstsein des Individuums, das im künst-









lerischen Gestaltungsprozess aktiv wird. Sowohl der künstlerische Gestaltungsprozess als auch die Kreativität sind von einem denkenden Subjekt abhängig. Nur ein Subjekt kann Entscheidungen treffen, die zum einen zu einer Gestaltung führen und zum anderen Kreativität als Wert bemessen. Die Produktreferenz zeigt sich in der Notwendigkeit, dass ein Kunstwerk sinnlich wahrnehmbar von einem sensomotorischen System in die Welt gesetzt werden muss. Wie das Kunstwerk braucht auch die Kreativität ein sinnlich wahrnehmbares Medium, an dem es beobachtet werden und damit eine gesellschaftliche Relevanz erlangen kann. Ohne ein wie auch immer geartetes Produkt wäre keine Kommunikation über dessen Kreativität möglich. Die Sozialreferenz äußert sich in der strukturell gekoppelten Entwicklung sozialer und psychischer Systeme, wodurch das reflexive Beobachten des eigenen Gestaltungsprozesses ermöglicht wird. Die Gesellschaft, in der ein Künstler sozialisiert worden ist, spiegelt sich auch immer in seinen Werken wider. Der Gestaltungsprozess eines Subjekts ist demnach immer sozial determiniert, genauso wie seine Fähigkeit Kreativität zu erkennen. Die Zeitreferenz resultiert aus dem operativen Ereignischarakter eines gestalterischen Aktes, in dem die Form anders als die Gestalt nur ein einmaliges und vergängliches Element ist. Kreativität ist wie die Form, der sie anhaftet, flüchtig. Nichts kann auf Dauer neuartig und nützlich sein. Man kann die Kreativität einer Form lediglich langfristig wertschätzen. Die Fachbereichsreferenz wird über einen spezifischen Code bestimmt, der dem jeweiligen Gestaltungsprozess zugrundeliegt und die Zuordnung gestalterischer

Resümee | 301

Akte koordiniert. Ein bestimmter Sachverhalt ist niemals uneingeschränkt neuartig oder nützlich. Erst aus dem Blickwinkel eines bestimmten Fachbereichs kann er aufgegriffen, verstanden und weiterverarbeitet werden. Alle fünf Referenzbedingungen sind miteinander verknüpft und gleichzeitig notwendig, damit die beiden Merkmale Neuartigkeit und Nützlichkeit zustande kommen können. Die systemtheoretische Untersuchung des Gestaltungsprozesses bringt zwei Ergebnisse. Zum einen wird gezeigt, dass die fünf Referenzbedingungen der Kreativität zwingende Elemente des künstlerischen Gestaltungsprozesses sind und zum anderen wird ersichtlich, in welchem Akt die Prozesse und Mechanismen der einzelnen Referenzen zusammenlaufen. Dies geschieht im Akt der selektiven Differenzierung einer Form (Abb. 27). Ein sozial determiniertes (Sozialreferenz) Individuum (Subjektreferenz) unterscheidet in einem zeitreferenten Akt (Zeitreferenz) an einem fachspezifischen Medium (Fachbereichsreferenz) eine sinnlich wahrnehmbare Form (Produktreferenz). Dieser Akt kann auf Basis dieser fünf Referenzen als neuartig und nützlich gewertet werden.

Abb. 27: Referenzbedingungen und Merkmale einer Form im künstlerischen Gestaltungsprozess.

302 | Kreativität im künstlerischen Gestaltungsprozess

In Kapitel 6 werden die vorangegangenen Befunde zusammengeführt. Die fünf Referenzbedingungen sind nicht nur für das Zustandekommen der Form verantwortlich, sondern bedingen auch die Bestimmung der Anschlussfähigkeit und Erwartbarkeit einer Form. Die Erwartbarkeit regelt, wie neuartig eine Form für ein System ist, und die Anschlussfähigkeit klärt die Nützlichkeit (Abb. 28). Je unerwarteter etwas zustande kommt, desto neuartiger ist es und je mehr Anschlussmöglichkeiten ein Sachverhalt oder ein Ereignis bietet, desto nützlicher ist er oder es. Somit können die Merkmale Neuartigkeit und Nützlichkeit als Werte an einer differenzierten Form beobachtet werden. Die Kreativität, welche an diese beiden Merkmale gebunden ist, muss demnach selbst als Wert betrachtet und definiert werden, da sie eine Form in Bezug auf Neuartigkeit und Nützlichkeit charakterisiert. Doch welche Erkenntnisse stecken in dieser Definition?

Abb. 28: Referenzbedingungen und Merkmale der Kreativität im künstlerischen Gestaltungsprozess. Die wichtigsten Ergebnisse dieser Arbeit lassen sich wie folgt kurz zusammenfassen.

Resümee | 303

• Die Kreativität wird in der vorliegenden Studie als Wert einer operativen Form

definiert, der ausschließlich retrospektiv bemessen werden kann. Sie äußert sich in einem zeitreferenten und sinnlich wahrnehmbaren Akt. Die Gründe dafür liegen in ihrer Abhängigkeit von den Merkmalen Neuartigkeit und Nützlichkeit. Wenn diese Merkmale an einer bestimmten Handlung nicht beobachtet werden, kann diese auch nicht als kreativ bezeichnet werden. Jemand muss die Kreativität in einer Form erkennen. Die Notwendigkeit einer Instanz, welche die Kreativität auf eine operative Form projiziert, ist der Grund, weshalb die Kreativität im Rahmen dieser Untersuchung als Wert bestimmt wird. Dieser Vorgang kann ausschließlich retrospektiv erfolgen. Das heißt, die Kreativität einer Sache kann lediglich nachträglich erkannt werden. Wenn der Kern des Kreativitätsbegriffs eine Fähigkeit bezeichnen würde, dann wäre es nicht die Fähigkeit Neuartiges und Nützliches hervorzubringen, sondern diese Merkmale an einer Form zu erkennen. • Der kreative Akt besteht in erster Linie aus dem Erkennen der Kreativität. Nicht das aktive Gestalten, sondern das retrospektive Bewerten bildet den operativen Kern, den tatsächlichen Akt einer kreativen Leistung. Ein Gestalter muss die Neuartigkeit und Nützlichkeit einer Form auf Basis ihrer Anschlussfähigkeit und Erwartbarkeit bestimmen können. Ohne das Bestimmen dieser Werte wird eine potentiell kreative Leistung gar nicht erst als solche verstanden. • Wie die Kreativität ist die Form, der sie beigemessen wird, sowohl fachbereichsals auch zeitabhängig. Im Sinne von Luhmann und Spencer-Brown wird eine Form zwar an einem Medium der Umwelt differenziert, jedoch besitzt sie keine objektivierbare oder allgemeingültige Entsprechung an dem Medium oder in der Umwelt. Sie existiert ausschließlich für das System (oder das Bewusstsein), das diese Form unterschieden (oder beobachtet) hat. Wenn nun die Kreativität der Wert einer solchen Form ist, kann sie kein Merkmal eines realen Objektes oder Ereignisses sein. Die Kreativität bezieht sich auf einen Akt der Formung, auf das Ziehen einer Grenze und die Entscheidung für eine Form. Dabei ist die Kreativität kein universell gültiger Wert eines solchen Aktes. Sie existiert wie die Form nur für das System, das sie erkannt und bestimmt hat. • Da die Kreativität über die Neuartigkeit an die Erwartbarkeit einer Form gebunden ist, können durch zufällig auftretende Ereignisse kreative Formdifferenzierungen entstehen. Durch aleatorische Verfahren wie dem Experimentieren oder der Bisoziation können im Gestaltungsprozess neuartige Formdifferenzierungen provoziert werden. Wenn diese neben ihrer Neuartigkeit gleichzeitig nützlich sind und das vom Gestalter erkannt wird, kann man von Kreativität sprechen. Der Zufall kann als gestalterisches Prinzip kreative Leistungen fördern.

304 | Kreativität im künstlerischen Gestaltungsprozess

Die hier aufgeführten Ergebnisse sind jedoch nur einzelne Bausteine des Theoriekonstrukts dieser Studie. Im Kern geht es darum, den Begriff der Kreativität besser erklären zu können. Diese Erklärung steckt jedoch nicht in der Darstellung voneinander isolierter Resultate, sondern in der Kontextualisierung sämtlicher in der Kreativität und in der künstlerischen Gestaltung enthaltenen Mechanismen, Referenzen und Bedingungen. Diese begriffsanalytische Verbindung der beteiligten Prozesse erfolgt in dieser Arbeit anhand der Systemtheorie von Luhmann. Als grundlegendes Analysewerkzeug dient sie der Konzeption eines Theoriemodells, bei dem mithilfe eines strengen Begriffskanons im künstlerischen Gestaltungsprozess die einzelnen Mechanismen und Abläufe ihre Verbindungen und Abhängigkeiten bestimmt und strukturiert werden. Der vorliegende Theorieentwurf soll helfen, den Begriff der Kreativität besser zu verstehen. Dabei werden terminologische Ungenauigkeiten nicht nur geklärt, sondern auch Begriffe angesprochen, die weitere Untersuchungen rechtfertigen. Vor allem die Kapitel zum Thema Form und Gestalt beleuchten die Begriffe vornehmlich aus einer systemtheoretischen Perspektive. Ein intensiver Vergleich mit den Erkenntnissen der Wahrnehmungsund der Kunsttheorie wäre notwendig, da der qualitative Aspekt einer künstlerischen Form in dieser Arbeit vollkommen ausgespart wird. Auch die Förderung oder Lehre von Kreativität wird in dieser Arbeit nicht untersucht. Um Kreativität fördern zu können, muss erst bestimmt werden, was Kreativität überhaupt ist, welche Bedingungen notwendig sind und welche Mechanismen und Faktoren an ihrem Zustandekommen beteiligt sind. Die in dieser Arbeit erfolgte systemtheoretische Begriffsbestimmung der Kreativität bietet eine definitorische Basis für pädagogische Folgestudien. Aus der vorliegenden Theorie lassen sich unterschiedlichste Forschungsansätze und -fragen ableiten, die aus Sicht der Kunstpädagogik weitere methodische Überlegungen ermöglichen. Ein fortführender Forschungsansatz besteht in der Frage, wie kreative Handlungen bewertet werden können. Wenn es sich bei der Kreativität um den Wert von Formentscheidungen handelt, geht es beim Erkennen der Kreativität nicht um die Bewertung eines Individuums als mehr oder weniger kreativ, sondern vielmehr um das Bewerten von sinnlich wahrnehmbaren Handlungen, die von Subjekten getätigt werden. Solche Handlungen werden unter Berücksichtigung des aktuellen Gestaltungsanlasses und der Zusammensetzung der Gruppe auf ihre Neuartigkeit und Nützlichkeit geprüft. Die beiden Merkmale sind gebunden an die Erwartungen und die Anschlussmöglichkeiten, die man aus Sicht der jeweiligen Gruppe und des entsprechenden Fachbereichs in der Handlung erkennen kann. Das Problem bei der Bewertung kreativer Handlungen besteht in der Vorgabe der Norm. Wer legt fest, was in einer Gruppe als neuartig oder nützlich gilt? Die Kreativität ist kein objektivierbares auf alle Gruppen anwendbares Merkmal einer Handlung oder eines

Resümee | 305

Objekts, sondern ein sich stets aktualisierender Wert aus der Perspektive eines bestimmten Beobachters bzw. einer Gruppe. Die vorliegende Definition der Kreativität als Wert versteht sich als theoretische Grundlage, um im Rahmen empirischer Anschlussstudien die Frage nach der Bewertung von Kreativität oder die Möglichkeiten der Kreativitätsförderung zu untersuchen.

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Abbildungen

Abb. 1: Vergleich der unterschiedlichen Phasenmodelle zum kreativen Prozess. Quelle: Archiv des Autors. (Kapitel 2.5; Seite 42) Abb. 2: Domäne-Feld-Individuum-Modell basierend auf Csikszentmihalyi und Vogt (leicht modifiziert). Vgl.: Csikszentmihalyi Mihaly: Implications of a Systems Perspective for the Study of Creativity. In: Handbook of Creativity. Hrsg.: Sternberg Robert. S.313-337. Cambridge University Press: Cambridge 1999. S.315. Vgl.: Vogt, Thomas: Kalkulierte Kreativität. Die Rationalität kreativer Prozesse. VS Verlag: Wiesbaden 2010. S.107. Quelle: Archiv des Autors. (Kapitel 2.8.1; Seite 68) Abb. 3: Auguste Rodin, „L'homme au nez cassé“, 1863-1864 (Abguss 19191923), Bronze mit brauner Patina, Höhe: 25,5 cm, Bowman Sculpture Gallery. © Foto: photo courtesy of Bowman Sculpture Ltd. (Kapitel 3.2.3; Seite 97) Abb. 4: Schematisches Diagramm eines klassischen Kommunikationsmodells nach Shannon (leicht modifiziert). Vgl.: Shannon, Claude E.: The mathematical theory of communication. In: The mathematical theory of communication. Hrsg.: Shannon, Claude E.; Weaver, Warren. S.29-125. University of Illinois Press: Urbana, Chicago 1998 [1949]. S.34. Quelle: Archiv des Autors. (Kapitel 3.3.3; Seite 110)

320 | Kreativität im künstlerischen Gestaltungsprozess

Abb. 5: Achsen-Diagramm kreativer Produkte (Neuartigkeit und Nützlichkeit). Vgl.: Schuler, Heinz; Görlich, Yvonne: Kreativität. Ursachen, Messung, Förderung und Umsetzung in Innovation. Hogrefe Verlag: Göttingen 2007. S.9. Quelle: Archiv des Autors. (Kapitel 3.4; Seite 115) Abb. 6: Schematische Darstellung einer Synapse. Vgl.: Jahn, Reinhard; Fasshauer, Dirk: Molecular machines govering exocytosis of synaptic vesicles. In: Nature. International weekly journal of science. S. 201-207. Ausgabe 490. 11. Oktober 2012. S. 202. Quelle: Archiv des Autors. (Kapitel 4.2.2; Seite 165) Abb. 7: Richard Long, „connemara sculpture“, 1971, Ireland. © VG Bild-Kunst: Bonn 2016. © Foto: Richard Long: 2016. Quelle: http://www.richardlong.org/Sculptures/2011sculptures/connemara.html (Stand 12.11.2016). (Kapitel 4.2.3.1; Seite 176) Abb. 8: Richard Long, „circle in alaska“, 1977, Treibholz der Beringstraße, Polarkreis Alaska. © VG Bild-Kunst, Bonn 2016. © Foto: Richard Long, 2016. Quelle: http://www.richardlong.org/Sculptures/2011sculptures/alaskacirc.html (Stand 12.11.2016). (Kapitel 4.2.3.1; Seite 177) Abb. 9: Richard Long, „a line made by walking“, 1967, England. © VG Bild-Kunst, Bonn 2016. © Foto: Richard Long, 2016. Quelle: http://www.richardlong.org/Sculptures/2011sculptures/linewalking.html (Stand 12.11.2016). (Kapitel 4.2.3.1; Seite 177)

Abbildungen | 321

Abb. 10: Richard Long, „a snowball track“, 1964, Bristol. © VG Bild-Kunst, Bonn 2016. © Foto: Richard Long, 2016. Quelle: http://www.richardlong.org/Sculptures/2011sculpupgrades/snowball.html (Stand 12.11.2016). (Kapitel 4.2.3.1; Seite 178) Abb. 11 bis 24: „Alberto Giacometti – Ein Film von Ernst Scheidegger“. R.: Scheidegger, Ernst. T.: Scheidegger, Ernst; Dupin, Jacques. Gedreht 1965, erweitert 1968. © Stiftung Ernst Scheidegger-Archiv: Zürich 2016. Fassung: https://www.youtube.com/watch?v=I69Mcd19sK8 (Stand 12.11.2016). Abb. 11: Giacometti beobachtet Dupin. Filmstill 6,27 Min. Abb. 12: Giacometti beginnt zu malen. Filmstill 6,53 Min. Abb. 13: Giacometti malt die Augenpartie. Filmstill 7,07 Min. Abb. 14: Unvollendetes Porträt von Dupin. Filmstill 11,31 Min. Abb. 15: Giacometti malt, ohne auf die Leinwand zu blicken. Filmstill 8,57 Min. Abb. 16: Giacometti überarbeitet die Augenpartie. Filmstill 9,47 Min. Abb. 17: Giacometti beobachtet das Modell. Filmstill 9,26 Min. Abb. 18: Giacometti blickt auf die Leinwand. Filmstill 9,27 Min. Abb. 19: Giacometti konstruiert den Hintergrund. Filmstill 9,38 Min. Abb. 20: Giacometti fügt dem Porträt Licht und Schatten hinzu. Filmstill 9,59 Min. Abb. 21: Giacometti mischt auf der Palette Farbe. Filmstill 10,10 Min. Abb. 22: Giacometti malt die rechte Gesichtshälfte. Filmstill 10,14 Min. Abb. 23: Giacometti malt mit breitem Pinsel den Hintergrund. Filmstill 11,05 Min. Abb. 24: Giacometti konstruiert erneut Dupins Gesicht. Filmstill 11,51 Min. (Kapitel 5.2.1 und 5.2.2; Seite 211-233) Abb. 25: Francis Bacon, „Porträt George Dyer im Spiegel“, 1968, Öl auf Leinwand, Museo Thyssen-Bornemisza, Madrid. © The Estate of Francis Bacon. A 11 rights reserved / VG Bild-Kunst, Bonn 2016. Foto: © Fundación Colección Thyssen-Bornemisza: Madrid 2016 . Quelle: http://www.museothyssen.org/en/thyssen/ficha_obra/764 (Stand 12. 11.2016). (Kapitel 6.5.3; Seite 294)

322 | Kreativität im künstlerischen Gestaltungsprozess

Abb. 26: Refernzbedingungen und Merkmale der Kreativität. Quelle: Archiv des Autors. (Kapitel 7; Seite 299) Abb. 27: Refernzbedingungen und Merkmale einer Form im künstlerischen Gestaltungsprozess. Quelle: Archiv des Autors. (Kapitel 7; Seite 301) Abb. 28: Refernzbedingungen und Merkmale der Kreativität im künstlerischen Gestaltungsprozess. Quelle: Archiv des Autors. (Kapitel 7; Seite 302)

Kunst- und Bildwissenschaft Julia Allerstorfer, Monika Leisch-Kiesl (Hg.)

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Horst Bredekamp, Wolfgang Schäffner (Hg.)

Haare hören – Strukturen wissen – Räume agieren Berichte aus dem Interdisziplinären Labor Bild Wissen Gestaltung 2015, 216 S., kart., zahlr. farb. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3272-9 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation ISBN 978-3-8394-3272-3

Heike Engelke

Geschichte wiederholen Strategien des Reenactment in der Gegenwartskunst – Omer Fast, Andrea Geyer und Rod Dickinson 2017, 262 S., kart. 32,99 € (DE), 978-3-8376-3922-3 E-Book: 32,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3922-7

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Kunst- und Bildwissenschaft Burcu Dogramaci, Katja Schneider (Hg.)

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