Streit um den Nouveau Roman: Eine andere Literatur und ihre Leser [Reprint 2021 ed.] 9783112481363, 9783112481356


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Streit um den Nouveau Roman: Eine andere Literatur und ihre Leser [Reprint 2021 ed.]
 9783112481363, 9783112481356

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Brigitte Burmeister

Streit um den Nouveau Roman

Literatur und Gesellschaft Herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften der DDR Zentralinstitut für Literaturgeschichte

Brigitte Burmeister

Streit um den Nouveau Roman Eine andere Literatur und ihre Leser

Akademie-Verlag • Berlin 1983

Erschienen im Akademie-Verlag, DDR - 1086 Berlin, Leipziger Straße 3—4 Lektor: Jutta Kolesnyk © Akademie-Verlag Berlin 1983 Lizenznummer: 202 • 100/182/83 Gesamtherstellung: IV/2/14 VEB Druckerei „Gottfried Wilhelm Leibniz", 4450 Gräfenhainichen/DDR • 6041 Bestellnummer: 754 137 3 (2150/82) • LSV 8051 Printed in GDR DDR 8,50 M

Inhalt

Umleitung Umrisse einer Literaturkonzeption Nathalie Sarraute: Der Roman im Zeitalter des Argwohns Michel Butor: Der Roman als Suche Alain Robbe-Grillet: Argumente für einen neuen Roman

7 13 23 27 31

Reaktionen der Literaturkritik Die „konservative" Kritik Die „neue" Kritik „Am Nullpunkt der Literatur": Roland Barthes' Begriff der écriture Barthes als Leser Robbe-Grillets

38 38 48

Probleme des Engagements Drei Diskussionen: Leningrad 1963. Havanna 1964. Paris 1964 Abkehr von der „littérature engagée" Die Leningrader COMES-Tagung 1963 „Formalismus oder literarisches Engagement" - Goytdsolos Kritik an Robbe-Grillet Was kann die Literatur? Der „neue Realismus" Kontroversen um den Wirklichkeitsbezug des Nouveau Roman Befunde der Kritik: ein reduzierter Realismus Einstellungswechsel: die Schreibweise als Aussage über die Welt Bezug auf einen philosophischen Kontext: Der „phänomenologische Realismus" des Nouveau Roman Das Streben nach Unabhängigkeit vom Realitätsprinzip: am Beispiel Robbe-Grillets 5

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61 62 66 69 70 82 85 96 107 118

]ean Ricardous Theorie des Nouveau Roman Literarische Modernität contra bürgerliche Literaturideologie: Zu theoretischen Grundannahmen Ricardous . . . . Aspekte einer „textuellen" Leseweise Ankündigungen der Modernität: Valéry und Flaubert Sinn und Beschreibung Der Prozeß des Berichts im Nouveau Roman . . . . Ricardous Ziel einer „écriture en masse"

127 130 138 140 142 145 147

Konsolidierung und neue Widersprüche Zum Bild des Nouveau Roman in den siebziger Jahren . . . Versuch einer Bilanz: Cérisy 1971 Anregung einer neuen Rezeption Wer liest die nouveaux romans?

152 152 163 175

Anmerkungen

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Personenregister

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Einleitung

Gegen Mitte der fünfziger Jahre begannen in Frankreich einige Bücher aufzufallen, die sich als Romane darboten und doch keine, zumindest keine echten, zu sein schienen. Obwohl ihre Verfasser unabhängig voneinander arbeiteten und sich zunächst gegenseitig kaum kannten, verstärkte sich der Eindruck, eine neue literarische Richtung oder Schule sei entstanden. Deren Besonderheit ließ sich nicht an gemeinschaftlich unterzeichneten Manifesten, einem gemeinsamen Programm, einer eigenen Zeitschrift ablesen; denn im Unterschied etwa zu den Surrealisten oder zu der in den sechziger Jahren entstehenden Gruppe Tel Quel gab es all das nicht. Vielmehr wurden einzelne Schriftsteller von außen her, durch die Literaturkritik, die in ihren Werken Gemeinsamkeiten entdeckte, miteinander in Verbindung gebracht. Als Gemeinsames trat zunächst das hervor, was den Romanen fehlte oder was sie nicht taten. Weder erzählten sie eine bemerkenswerte Geschichte, noch gestalteten sie Personen mit ihren Erlebnissen und Konflikten. Sie lieferten keine großen Zeitgemälde und keine minutiösen Bewußtseinsanalysen. Sie zu lesen war weder spannend noch amüsant. Sie bereiteten Mühe, erzeugten Gefühle der Ratlosigkeit, Enttäuschung, auch Langeweile. Für die Mehrzahl der Zeitungskritiker und des Publikums handelte es sich um Romane, „die der Verlag 'Editions de Minuit' herausbrachte und die entschlossen waren, mit der westeuropäischen Romantradition reinen Tisch zu machen, durch Abschaffung des Romanhelden und seiner Psychologie, durch Zerbröselung der Handlung, durch äußerst ungereimte Konstruktionen und endlose zwanghafte Beschreibungen vollkommen uninteressanter Objekte" 1 . Unter den freigebig verteilten Sammelbezeichnungen für diese eigenartigen Produkte - Anti-Romane, weiße Romane, tabula-rasa-Romane, Schule des Blicks, Schule der Verweigerung - setzte sich schließlich der Name „Nouveau Roman" (Neuer Roman) durch. 2 * Er bezog sich auf den Anspruch der 7

Autoren, den Roman durch Auflösung erstarrter, verbrauchter, stereotyp und Routine gewordener Erzählformen zu erneuern. Nun war das Phänomen, daß sich neue Romane den vorangegangenen als AntiRomane entgegensetzen, keineswegs neu, eher ist es für die Romanentwicklung typisch. Zudem wollten die nouveaux romanciers nicht mit jeglicher Vorgeschichte brechen. In ihrer Auflehnung gegen das Diktat der Tradition beriefen sie sich ausdrücklich auf Vorgänger, deren Arbeit sie weiterführen wollten. Augenfällig in der Linie des (im engeren Sinne) modernen bürgerlichen Romans stehend, wurde der Nouveau Roman in Frankreich dennoch vielfach als massiver Einschnitt empfunden, als Anzeichen für den baldigen Tod oder für eine Revolution der Romangattung. Dies lag einmal daran, daß bestimmte Veränderungen der Erzählweisen nunmehr entschiedener und bewußter weitergeführt wurden. Zum anderen traten die Schriftsteller selbst mit radikaleren Argumenten auf. Beides provozierte anhaltende, heftige und kontroverse Diskussionen über „fundamentale Probleme" 3 der zeitgenössischen Romanentwicklung. Der Nouveau Roman wurde zu einem Ereignis, das auch international „eine ungeheure Flut von kritischen Essays und Betrachtungen" auslöste. „Eine Bibliographie über den 'nouveau roman'", stellte Werner Krauss 1966 fest, „würde schon heute ein bandfüllendes Unternehmen sein." 4 Das so reichlich bekundete Interesse galt (und gilt) einer Literatur, die keineswegs einen großen und enthusiastischen Leserkreis gefunden hat und von der noch nicht zu sagen ist, ob ihre „Wirkungsgeschichte sich im großen und ganzen . . . auf die Literaturwissenschaft und Literaturhistorik beschränken" wird oder ob sie „zu jener Gruppe von Werken gehört, die, je historischer sie werden, ein desto breiteres Publikum in Bann schlagen" 5 *. Bisher läßt sich zumindest eine allmähliche Integration feststellen. Das heißt: Die seinerzeit als Sensation und Provokation aufgenommenen Bücher sind mittlerweile etabliert. Sie haben ihren Platz in Literaturgeschichten und in Unterrichtsprogrammen an den Universitäten, in den Taschenbuchreihen großer Verlage, auch in einem anderen Medium - dem Film - und, durch Übersetzungen, in den Literaturen einiger anderer Länder gefunden. Auch die in der D D R publizierten, aus der ersten Entwicklungsphase des Nouveau Roman stammenden Werke 6 * werden wohl kaum noch als besonders schwierig oder unlesbar empfunden. Das Leserproblem dürfte eher in einer gewissen Ratlosigkeit darüber bestehen, was solche Romane uns zu sagen haben, was man mit ihnen anfangen soll. Bei einer Begegnung mit 8

neueren, aus der zweiten Entwicklungsphase - dem sogenannten Nouveau Nouveau Roman - stammenden Werken stellte sich diese Frage verschärft, nun sicher wieder verbunden mit dem Eindruck der Unleserlichkeit. Denn der Nouveau Roman hat nicht aufgehört, die Erfindung neuer Erzählformen und die Enttäuschung bestehender Lesererwartungen und -gewohnheiten zu seiner wesentlichen Aufgabe zu machen. Dieser ausgeprägte Innovationsdrang, die Sucht nach Selbstüberbietungen sind nicht einfach Anpassung an irgendein Diktat der Mode und an den kapitalistischen Literaturmarkt, der ständig Neues und Neuestes verlangt (dagegen spricht z. B., daß sich formal weniger experimentierfreudige Texte weitaus besser verkaufen). Vielmehr haben sie mit der Wirkungsstrategie des Nouveau Roman zu tun, die diese Literatur als eine besondere geschichtliche Ausprägungsform des Phänomens der „Moderne" ausweist. Als während des 19. Jahrhunderts die im Zeitalter bürgerlicher Emanzipation entstandene, an „der 'Aufklärung' der Menschen, am 'Vorschreiten des Menschengeschlechts', an den sozialen Kämpfen" orientierte Literatur in die Krise kam, mußte dort, wo deren „Wirkungs- und Funktionsprogramm nicht mehr bewahrt oder neu begründet werden konnte, die Frage nach der Verwendung des literarischen Wirkungspotentials zum Problem werden" 7 . Zu den unterschiedlichen Antworten auf diese Problematik gehört - in der Lyrik eher und deutlicher ausgebildet als im Roman - das Streben, die Literatur dem utilitaristischen Gebrauch des „bourgeois" zu entziehen, sie von ihrer Vereinnahmung durch die ideologischen Apparate der herrschenden Klasse zu befreien und ihr eine ästhetische Autonomie zu erobern, die sie davor schützen soll, von der kapitalistischen Gesellschaft - und freilich ebenso von antikapitalistischen revolutionären Bewegungen - in Dienst genommen zu werden. Solchem Autonomiestreben entspricht die Rückwendung der Literatur auf sich selbst, genauer, auf die Sprache als ihr „Material". Verbunden ist dies mit einer deutlichen Veränderung des Gegenstands- und des Adressatenbezuges, mit der Negation einer objektiv sinnvollen, geordneten und erkennbaren Realität sowie mit der Weigerung, literarische Texte als Mittel gesellschaftlicher Verständigung und sozialer Aktivierung einzusetzen. Statt dessen dominiert eine ästhetische Strategie, die „auf das Heuristische von Formexperimenten, von forcierten, buchstäblich versuchsartigen sprachlichen und strukturellen Konsistenzbildungen" eingeschworen ist und die den „Begründungszusammenhang des Dargestellten" so weit wie möglich in das Werk selbst verlegt, immanent macht, so daß der

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Leser „nur ein Minimum an werkexternen Haltepunkten hat", die sich weit weniger im Bereich einer zum Gegenstand der Abbildung genommenen gesellschaftlichen und/oder individuellen Realität finden als vielmehr in der Reflexion „auf die Sprache als Matrix der Weltaneignung und Konsistenzbildung" 8 . Das Realitätsproblem dieser Literatur manifestiert sich als (und in ihrem) Kommunikationsproblem. Die Sinn-Offenheit, die Unbestimmtheit der Bedeutungen in Texten, die eher auf „Strukturmitteilung" als auf „Botschaftsübermittlung" angelegt sind, führt zu den bekannten Rezeptionsschwierigkeiten und schränkt den Leserkreis stark ein, übt andererseits auf Spezialistenleser eine unverkennbare Faszination, einen anhaltenden Analyse- und Deutungszwang aus. Die Tatsache, daß sie nur ein kleines Publikum haben, daß ihre Bücher als Literatur für Eingeweihte gelten und breite Bedürfnisse nicht befriedigen, hat die nouveaux romanciers wenig irritiert, nach der Devise: desto schlimmer für die Tatsachen. Diese Ungerührtheit stärkt sich an einem Begriff von literarischer Evolution, der die eigene Praxis und ihr verwandte Neuerungen an die Spitze des Fortschritts stellt. Die Weiterentwicklung des Nouveau Roman zum Nouveau Nouveau Roman in den sechziger Jahren empfanden diejenigen Autoren, die sie mitvollzogen, als den eigentlichen Einschnitt, an dem sie erst richtig zum Bewußtsein ihrer Modernität gelangt seien. Diese Modernität bedeutet, wie gesagt, weder Neuerung um ihrer selbst noch um des Markterfolges willen, wohl aber den verfehlten Anspruch, das Gesicht, das man selbst dem zeitgenössischen Roman gegeben hat, sei sein eigentliches oder wahres. Mit solchem Absolutheitsanspruch, der allein die Evolution der Formensprache und die Durchbrechung automatisierter ästhetischer Wahrnehmung als literarisches Entwicklungsgesetz anerkennen will, verschließt sich der Nouveau Roman dem Bewußtsein seiner geschichtlichen Entstehungsund Existenzbedingungen (als Symptom der Funktionskrise bürgerlicher Literatur) ebenso wie dem Bewußtsein der spezifischen Funktions- und Wirkungsverluste, die mit seinem Streben zur Immanenz, zur Unabhängigkeit vom „Realitätsprinzip" und vom gesellschaftlichen Engagement verbunden sind. Die marxistische Literaturtheorie und Literaturkritik hat besonders diesen Aspekt und zugleich die wirkungsästhetische Überlegenheit realistischer Schreibweisen - in der kritisch-realistischen Literatur der bürgerlichen Gesellschaft wie dann auch in der sozialistischen Literatur - herausgestellt. Hier soll nun versucht werden, eine Stelle

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auszufüllen, die in bisherigen Analysen und Bewertungen, ob sie a l l gemein dem Phänomen der M o d e r n e oder speziell dem N o u v e a u R o m a n 9 galten, nicht bzw. k a u m vorkommt. J e n e Auseinandersetzungen mit „modernistischer" Literatur beziehen sich v o r w i e g e n d auf den allgemeinen Literaturprozeß, auf Werkeigenschaften und Autorenäußerungen, nicht aber auf die Rezeptions- und W i r k u n g s g e schichte. Sie aber m u ß man einrechnen, wenn es d a r u m geht, den geschichtlichen Ereignischarakter einer literarischen Erscheinung w i e der des Nouveau R o m a n zu erfassen. E r ist nicht auf Strukturveränderungen und den in sie eingezeichneten Funktionswandel b z w . -Verlust reduzierbar. So objektiv die Textstrukturen sind, ihre W a h r n e h m u n g bleibt an die Disposition der Rezipienten gebunden. Nicht in d e m , w a s die Romane letztlich, unabhängig von den jeweiligen A n eignungsweisen durch ihre Leser, erneuern oder v e r w e r f e n , liegt ihre objektive geschichtliche Leistung und Grenze, sondern in der Art, w i e sie auf bestehende Erwartungshorizonte einwirken, in w e l che Richtung sie sie verändern. D i e in (pauschal und unscharf ges a g t ) objektivistischer Auffassung als Interpretations- und B e w e r tungsgegenstände „gegebenen" nouveaux romans haben derart zu Verständnisschwierigkeiten, zu Spaltungen des lesenden Publikums, izut Konfrontation von Werturteilen und zu einem W a n d e l in den Ansichten über Literatur geführt, d a ß sich die Beteiligung der Leser und der Leseweisen am literarischen Prozeß nicht übersehen läßt. D i e außerordentlich starken Reaktionen, die der N o u v e a u R o m a n auslöste, sind e r k l ä r b a r nur, wenn man den Provokationseffekt dieser Literatur erkennt: Sie z w a n g dazu, den Vorstellungskomplex „Eigenschaften und A u f g a b e n des Romans" erneut zu diskutieren, indem sie i h m widersprach. D a s Interesse dieser Arbeit gilt der A u f n a h m e und W i r k u n g des N o u v e a u Roman in Frankreich von Mitte der fünfziger J a h r e an. Untersucht w i r d das kulturelle und ideologische M i l i e u , in d e m diese Literatur entstand, sich veränderte und das ihr unmittelbares gesellschaftliches Bezugsfeld bildete. Ausgeklammert bleiben d i e gesondert zu untersuchende literaturpraktische W i r k u n g des N o u v e a u Roman als „formale Schulung für Romane nach ihm" 1 0 , die V e r w e n d u n g und Umfunktionierung von Verfahren der nouveaux romans in W e r ken mit anderer Wirkungsstrategie 1 1 * sowie die Beziehungen zwischen dem Nouveau R o m a n und anderen Kunstgattungen, vor allem dem Film. D e n Vorgang, der untersucht w e r d e n soll, verstehe ich nicht als eine lose Folge von Echos auf eine Folge von W e r k e n , son-

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dem als Prozeß mit innerer Entwicklungslogik, der die Komplexität und Widersprüchlichkeit des literarischen Phänomens Nouveau Roman zum Vorschein bringt, indem er sie erst eigentlich realisiert 12 *; als einen Prozeß, der die Beteiligung der literarischen Öffentlichkeit an der Konstituierung einer bestimmten Literatur (nicht: an den jeweiligen Texten) deutlich macht. Zunächst soll gezeigt werden, wie die Autoren selbst auf das in der Öffentlichkeit entstehende Bild eines neuen Romans reagierten, indem sie, recht vorsichtig, „gemeinsame Punkte" anerkannten, eine „Übereinstimmung darin, bestimmte Konventionen zu verwerfen, die den traditionellen Roman beherrschen" 13 , und indem einige von ihnen - Nathalie Sarraute, Michel Butor und Alain Robbe-Grillet - , zum Teil recht vehement, ihre literarischen Ansichten darlegten und begründeten. Es entstand - nicht eine kohärente Theorie, auch keine verbindliche Doktrin des Nouveau Roman, sondern ein bewegliches Ensemble von Reflexionsgegenständen und Denkmustern, von Uberzeugungen, Absichtserklärungen und Zielstellungen - etwas, das ich die „Ideologie des Nouveau Roman" nennen möchte. Sie ist eine wesentliche Komponente in dem Zusammenhang von Tätigkeiten, die den Nouveau Roman hervorgebracht haben. In den folgenden Kapiteln werden dann thematische Schwerpunkte und Fragestellungen, unter denen einzelne Romane wie auch die Richtung als Ganzes; immer wieder diskutiert worden sind, an ausgewählten Beispielen ihrer Aneignung und Verarbeitung durch die literarische Öffentlichkeit untersucht. Die Arbeit will über einen zeitgenössischen, in der D D R weitgehend unbekannten (und auch in der so überaus reichlichen Sekundärliteratur kaum aufgearbeiteten) literarisch-ideologischen Umbruchsprozeß informieren, um dessen spezifische Problematik sichtbar zu machen. Dies geschieht - und hierin besteht die Grenze des gewählten Verfahrens - im Rahmen einer wesentlich immanenten Darstellungsweise, die auf die Rekonstruktion der inneren Bewegung und Widersprüchlichkeit eines literarischen Horizontwandels gerichtet ist. Eine solche Rekonstruktion erscheint mir jedoch alsnötige Voraussetzung für weiterreichende, systematisch vertiefte Untersuchungen - für Untersuchungen, die das erschlossene Material auf seinen hier nur punktuell erfaßten kunstgeschichtlichen, ideologischen und gesellschaftlichen Zusammenhang beziehen und damitdas beschriebene literaturgeschichtliche Ereignis erst wirklich im Geschichtsprozeß situieren.

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Umrisse einer Literaturkonzeption

Das Phänomen Nouveau Roman gewann seine Konturen im Verlauf kontroverser Interpretationen und Stellungnahmen. Von den einen als Revolution des französischen Romans und als Beginn einer neuen Literatur verteidigt, von den anderen als sicheres und alarmierendes Anzeichen der Erschöpfung des Romans beargwöhnt oder zurückgewiesen - die befremdlichen Bücher aus den Editions de Minuit gerieten bald unter Legitimationsdruck. Ihre Verfasser meldeten sich in Zeitschriften, in Interviews und öffentlichen Diskussionen zu Wort. Ihre literaturkritischen Essays wurden gesammelt und in Buchform veröffentlicht. Es kamen so Argumente in Umlauf, die wesentlich an der Konstitution des Nouveau Roman als literaturgeschichtlichem Ereignis beteiligt waren. Denn die Begründungsversuche einer neuen Romanliteratur durch die Autoren wurden ebenso zum Gegenstand der Auseinandersetzung wie die Werke selbst, sei es, daß diese auf das sehr bewußt vorgetragene Selbstverständnis der nouveaux romanciers bezogen (mit ihm verglichen) wurden oder daß die in den programmatischen Äußerungen erkennbare literarische Strategie direkt, d. h. unabhängig von ihrer Umsetzung in den Romanen, diskutiert wurde. Die Aufsätze von Nathalie Sarraute, Michel Butor und Alain RobbeGrillet liefern keine Erklärungen ihrer Werke, antworten nicht auf die Frage, warum dieser oder jener Roman so gemacht wurde, wie er ist, auch nicht auf die Frage, wie er gemacht ist - sie geben Auskunft über Absichten und literarische Überzeugungen der Verfasser. Es handelt sich dabei nicht um systematisch entfaltete Theorien, wohl aber um ein Material, das genügend reich und vollständig ist, um den gemeinsamen Umriß einzelner, unabhängig voneinander entstandener Romankonzeptionen hervortreten zu lassen. Zunächst seien einige ihrer charakteristischen Züge genannt. Sie bilden zugleich das Auswahlprinzip, das der anschließenden Referierung der Autorenstandpunkte zugrundeliegt. 13

1. Die Argumente der nouveaux romanciers wirkten radikal und provozierend. Unter dem Leitwort der Erneuerung schienen sie die gesamte Romantradition zu verwerfen und somit letzten Endes den Roman überhaupt in Frage zu stellen. In der Tat wurde das Neue, dessen Notwendigkeit sie zu begründen suchten, nicht von bestimmten Richtungen und Werken abgehoben, sondern vom „traditionellen" Roman schlechthin, auch „Roman des 19. Jahrhunderts" oder „Balzacroman" genannt. Dabei galt der Kampf freilich nicht Balzac. Wenn sich die nouveaux romanciers gegen das Diktat der Tradition auflehnten, meinten sie den nach Mustern der großen realistischen Romane des 19. Jahrhunderts gearbeiteten - den „gut geschriebenen" und „gut lesbaren" - Durchschnittsroman, in dem einstmals kühne Eroberungen romanesken Erzählens zu Rezepten und Klischees einer romanhaften Schreibweise heruntergekommen sind. 14 Die Leichtigkeit, mit der solche Romane produziert, und die Selbstverständlichkeit, mit der sie erwartet und aufgenommen wurden, erschienen den genannten Autoren - dies verband ihre Stellungnahmen mit früheren Romandiskussionen, namentlich in den zwanziger Jahren 15 - als Indiz für die Krise und Erneuerungsbedürftigkeit der Romangattung. Traditionelle Erzählformen gerieten in Gestalt ihrer routinemäßigen Reproduktion zum Objekt des Mißtrauens und der Ablehnung. Diese bezog sich dann allerdings nicht mehr nur auf den zeitgenössischen „Roman mit leichtem Erfolg" (Butor), sondern auf jenen Vorrat an Erzählkonventionen, aus dem er mehr oder weniger bewußt schöpfte. 2. Der Vorsatz, mit der Tradition zu brechen, war seinerseits keineswegs traditionslos. Die nouveaux romanciers verstanden sich als Fortsetzer „einer ständigen Entwicklung der Romangattung": „Flaubert, Dostojewski, Proust, Kafka, Joyce, Faulkner, Beckett . . . Weit davon entfernt, mit der Vergangenheit aufzuräumen, sind wir uns über unsere Vorgänger am leichtesten einig geworden; und unser Ehrgeiz besteht einzig darin, ihr Vorhaben fortzuführen. Wir wollen es nicht besser machen, das wäre sinnlos, sondern wir wollen ihre Nachfolge antreten, jetzt, in unserer Zeit." 16 In dieser Nachfolge ging es immer noch um den R o m a n . Der Geist der Gattung wurde gegen ihre erstarrten Formen aufgerufen. In Frage gestellt waren substantielle Elemente herkömmlichen Erzählens, wie die Geschichte, der Held, die psychologische Stimmigkeit der Charaktere, die Erzählerrolle selbst - gültig blieb das Prinzip, daß der Roman als Instrument zur Entdeckung und Mitteilung erlebter Wirklichkeit nur dann tauge, wenn er verbrauchte, automatisierte Aneignungsmuster 14

abstreife und neue suche. Traditionelle Erzählschemata sollten also nicht deshalb verändert werden, weil sie alt waren, sondern weil sie die Leistungsfähigkeit eingebüßt hätten, veränderte Realitäten in den Blick zu bringen. Dem Experiment, der Suche nach neuen Ausdrucksformen, kam nach der ausdrücklichen Absicht der nouveaux romanciers eine enthüllende (entmystifizierende) und didaktische Funktion zu: D i e Romane sollten eine veränderte Welt neu sehen lehren. D i e Kritik an einer bestimmten Art des realistischen Romans geschah im Namen des Realismus. Dieser wurde, jenseits der Stile und Verfahren, als gleichsam moralisches Prinzip der Romanproduktion aufgefaßt und verteidigt. Die „Absicht der Wirklichkeitsnähe", so Roland Barthes (1956), definiere die Beziehung des Schriftstellers zum Wirklichen als „eine ethische" und nicht als „technische Beziehung" 1 7 als Widerstand gegen Lüge, Täuschung, illusionär gewordene, dogmatisch erstarrte Wirklichkeitsvorstellungen, falsche Ideale, Beschränkung und Reglementierung neuer Erfahrungen, Verschleierung etc. Für Robbe-Grillet stand (1955) fest: „Man versteht . . . sehr leicht, warum die literarischen Revolutionen sich immer im Namen des Realismus vollzogen haben . . . Die Entdeckung der Realität schreitet nur dann weiter voran, wenn man die verbrauchten Formen aufgibt." 1 8 Innovationswille und Kritik „am Modus der traditionellen Illusionserzeugung" blieben „jenem authentischen Grundsatz . . . des Romans" verpflichtet, „der seine Entwicklung von der Entwicklung der Wirklichkeit des Lebens abhängig gemacht hat" 1 9 . 3. Die veränderte Realität, auf die der Roman mit der Erfindung neuer Erzählformen zu antworten habe, besaß in den Essays der nouveaux romanciers nicht die Konturen einer konkreten, auf wissenschaftliche Untersuchungen gestützten Gesellschaftsanalyse. Sie äußerte sich als Lebensgefühl - im Empfinden einer fortwährenden Veränderlichkeit, Vielfalt und Diskontinuität der wahrgenommenen Welt. Wie bereits in den kunsttheoretischen Diskussionen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als Kubismus und Futurismus „unter dem Begriff des Simultaneismus die einschneidenden Veränderungen der technisierten Zivilisation für die Kunst" 2 0 * reklamierten, wurde nun auch die Komplexität gleichzeitig ablaufender Lebensprozesse zu einem Argument gegen das zeitliche und räumliche Kontinuum, die Sinn-Einheit und Transparenz des im traditionellen Romanbericht dargebotenen Geschehens. Die scharf empfundene Diskrepanz zwischen eigenem Erleben und der auf herkömmliche Weise dargestellten Welt bestimmte das Projekt, den neuen Roman zu einer „kriti15

sehen Untersuchung der Wirklichkeitskenntnis" zu machen21. Deren ideologische Voraussetzung war gerade nicht Erkenntnisgewißheit, sondern das Gefühl, „durch einen Schirm degradierter oder falscher Werte von der lebendigen Wirklichkeit g e t r e n n t zu sein" 22 . Das Erlebnis der Inauthentizität der Existenz und Degradierung der Kommunikation zum Geschwätz (Sarraute), der Rückzug auf die e i g e n e Erfahrung (Claude Simon: „Ich kann nur über mich sprechen" 23 ), der Wille, die alltäglichen Dinge ihres „falschen Zaubers zu entledigen" (Robbe-Grillet) und im Laboratorium des Romans zu untersuchen, auf welche Weise „die Wirklichkeit uns erzählt wird" (Butor), verwiesen allesamt auf ein Verhältnis zur Welt, dem Vertrautheit und Selbstverständlichkeit abhanden gekommen waren. Sie waren Anzeichen vor allem dafür, daß bürgerliche Schriftsteller das Einverständnis mit bestimmten, die Weltaneignung ihrer Klasse organisierenden Normen aufkündigten, daß sie nicht mehr zu deren Bekräftigung beitragen wollten. Jene Äußerungen der nouveaux romanciers, die an das Jahrhundert der Aufklärung und seine Angriffe auf die Herrschaft der Vorurteile erinnern, meinten mit den Illusionen und Vorurteilen, von denen die Wahrnehmung gereinigt werden sollte, ebendie im siècle des lumières erstrittenen Gewißheiten, in einer erkennbaren und beherrschbaren Welt zu leben, über die Mittel zur Entdeckung ihres Laufes und zur Entschlüsselung ihres Sinnes zu verfügen. All dies fiel unter die Kritik an der „Metaphysik" des bürgerlichen Rationalismus, in dessen Allmachtsanspruch für die Vernunft das (nicht nur ökonomische) Besitzdenken einer aufstrebenden und in ihrer Macht unangefochtenen Klasse seinen Ausdruck gefunden habe. Anti-Rationalismus war die Pointe der oft zitierten Bemerkung von Robbe-Grillet: „ . . . wir sehen die Welt nicht mehr als unser Gut oder unser P r i v a t e i g e n t u m , als etwas Zähmbares an . . .' ,24 Der für den Nouveau Roman beanspruchte „neue Realismus" opponierte somit nicht nur gegen Erzählformen des realistischen Romans des 19. Jahrhunderts. Er widersprach auch dessen weltanschaulichen Prämissen. Denn die Realität, auf die sich die nouveaux romanciers als Überprüfungsinstanz für die Gültigkeit literarischer Formen beriefen, war nicht der objektive Zusammenhang einer als Totalität erfaßbaren Welt und einer als Prozeß erkennbaren Geschichte. Ebensowenig bezogen sie sich auf ein kraft kollektiven Konsenses als wahr geltendes Bild vom Sinn des menschlichen Lebens und der Geschichte, denn gerade aus der Brüchigkeit solcher Sinnvorstellungen zogen sie einen wesentlichen Impuls für ihre Neue16

rungsbestrebungen. Annäherung an - oder Entsprechung zur Wirklichkeit ließen sich daher streng genommen nur in bezug auf die jeweils als inauthentisch und klischeehaft empfundenen, mit eigener Lebenserfahrung nicht mehr übereinstimmenden literarischen und ideologischen Aneignungsweisen postulieren. Realitätserschließung konnte ihr Kriterium allenfalls dann in der Wirklichkeit selbst ansetzen, wenn die Leistung neuer Schreibweisen darin gesehen wurde, einen bislang unbekannten Aspekt oder Bereich - einen T e i l tatsächlicher Gegebenheiten und Verhältnisse zu entdecken - so z. B. die vorsprachlichen inneren Regungen, die der Rede vorangehen bzw. sie ständig stumm begleiten und die, bis dahin noch nicht dargestellt, in Nathalie Sarrautes Romanen eine literarische Existenz erhielten. 25 * Nicht um die Aufdeckung von Wesen, Wahrheit, objektiver Ordnung der Welt ging es dem neuen Realismus, sondern um Erkenntnis, Kritik und Veränderung der gewohnten Art, die Welt wahrzunehmen und zu erzählen. Solche Wendung erhielt die Eigenschaft eines Appells an das Subjekt, der Wirklichkeit einen Sinn zu geben durch das, was es an ihr bemerkt, und dadurch, wie es über sie spricht - gewissermaßen auf den Sinn der Welt zu wetten. Diese phänomenologische Einstellung, derentwegen der neue Realismus des Nouveau Roman auch als phänomenologischer Realismus bezeichnet worden ist (vgl. S. 108), band die Konstituierung von Sinn an das perspektivisch und intentional bestimmte Urteil des auf die Welt gerichteten Subjekts. Hiermit befand sich der Nouveau Roman „am Gegenpol traditioneller mimetischer Vorstellungen". Dadurch, daß die vorgegebene Wirklichkeit lediglich als „Da-Sein der Dinge" (Robbe-Grillet), als „gleichsam unvoreingenommene chaotische Materialität" angesehen wurde, der gegenüber erst die fiktionale Konstruktion (und ihre Sinnauffüllungen durch die Leser) „Möglichkeiten der lebensweltlichen Zusammenhangsbildung . . . zum Vorschein" bringen sollte, wich „das Problem der literarischen Objektivität" einem „konsequenten Subjektivismus" 26 . Nicht das, w a s der Roman darstellte, sondern w i e er es tat, wurde zu seinem eigentlichen Sujet. In der écriture, der Gestaltungsweise, erblickten die nouveaux romanciers die wesentliche Aussage, die ein Schriftsteller über die Welt machen kann. 4. Aus dieser Überzeugung sprach ein Krisenbewußtsein, dem das Erzählen selbst zum Problem geworden war. Auch wenn sich die nouveaux romanciers vor allem mit den Formen - der Sprache des Romans auseinandersetzten, lag ihrer Romankritik eine ähnliche 2

Burmeister, Nouveau Roman

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Erfahrung zugrunde wie, dort freilich schärfer artikuliert, der sprachreflektorischen Literatur der „konkreten Poesie" (Helmut Heißenbüttel, Franz Mon, Ror Wolf). Diese war durchdrungen von der Vorstellung, „es mit einer beschädigten Sprache zu tun zu haben". Im Vordergrund stand die elementare Frage, „wie und ob nach Auschwitz zu schreiben sei . . . ; nichts schien mehr ungebrochen, ohne Kritik am bisher Gesprochenen, ohne Zweifel am Aussprechbaren, sagbar" 27 . Weniger explizit, und wohl weniger schmerzhaft, beherrschte das Bewußtsein eines Sprachproblems auch die nouveaux romanciers - etwa so, wie Umberto Eco es beschrieben hat: „ E i n g e r i c h t e t in e i n e r S p r a c h e , d i e s c h o n so v i e l g e r e d e t h a t , das ist es. Der Künstler bemerkt, daß die Sprache sich im Sprechen an die Situation, aus der sie als deren Ausdruck entstand, entfremdet hat; er bemerkt, daß er, wenn er diese Sprache akzeptiert, sich selbst an die Situation entfremdet; er versucht dann, diese Sprache von innen her aufzubrechen, um Abstand von der Situation zu gewinnen und über sie urteilen zu können . . ,"28 Sprachskepsis, verbunden mit dem Verlust des Gefühls, in einer „stabilen, kohärenten, kontinuierlichen, eindeutigen, voll und ganz entzifferbaren Welt" 29 zu leben, führte die nouveaux romanciers zur kritischen Reflexion der Erzählmittel selbst. „Als die Intelligibilität der Welt nicht in Frage stand, war Erzählen kein Problem. Die Schreibweise konnte unschuldig sein. Doch schon bei Flaubert beginnt alles ins Wanken zu geraten. Hundert Jahre später ist das ganze System nur noch eine Erinnerung . . . Erzählen im eigentlichen Sinne des Wortes ist unmöglich geworden." 30 Statt sich weiterhin im Erzählen der Welt vergewissern zu können, müsse der Roman seine eigenen Voraussetzungen überprüfen. Eben darin sollte er, dem Prinzip der Gattung treu, die Veränderungen der wirklichen Welt widerspiegeln, daß er die herkömmlichen Praktiken ihrer romanesken Inszenierung anzweifelte, nach neuen suchte - kurz, daß er sich selbst zum Gegenstand der Kritik und Veränderung wurde. 5. Die Beobachtung, daß Romanleser und Literaturkritiker bereit sind, den erfundenen Geschichten zu glauben - daß sie sie für Abbilder des Lebens nehmen, sich in ihnen wiedererkennen, von ihnen Lebenshilfe erwarten und bekommen - , führte, wie Winfried Wehle hervorgehoben hat, zu der Frage, „wie das lesende Publikum überhaupt dazu kommt, in das Blendwerk gerade eines 'traditionellen Romans' noch Wirklichkeit zu investieren". Den Grund sahen die nouveaux romanciers - am deutlichsten Butor - darin, „daß sich 18

traditionelle literarische Überzeugungskraft weit weniger aus einem Vergleich mit der umgebenden Wirklichkeit, als vielmehr aus der 'Wirklichkeit' bereits bekannter Romane konstituiert . . . Der Roman im besonderen gilt, wie Literatur allgemein, als eine der lange Zeit privilegierten 'Sprachen', mit denen wir unsere Alltagswelt besprechen. In dem Maße, wie wir in Romanlektüren nach und nach eine romaneske - Fiktionskompetenz erwerben, erzeugt die Vertrautheit mit ihren Erzählmustern eine eigenständige Wahrnehmungsperspektive, mit der wir unsere Welt auch nach dem Bild und Gleichnis des Romans zu bearbeiten und auszulegen vermögen." 31 Diese Wirkungsweise des Romans wollte der Nouveau Roman bewußtmachen, zunächst dadurch, daß er sie in ihrem selbstverständlichen Funktionieren zu stören und außer Kraft zu setzen suchte. Seine Erzählstrategie zielte darauf, das Zustandekommen einer „illusion réaliste" gemeint ist der Eindruck, es mit einem Stück Leben zu tun zu haben statt mit einem literarischen Text - fortlaufend zu sabotieren und die Fiktion gezielt zu irrealisieren. Der „Unverwechselbarkeit von erlebter und dargestellter Wirklichkeit", der sich der Nouveau Roman „hartnäckiger als frühere Modernitätsphasen des Romans verschreibt", wurde zugetraut, die erwähnte didaktische und erkenntnisstiftende Funktion freizusetzen. Die Wirklichkeit „neu zu sehen" bedeutete daher: gewahr zu werden, daß und in welchem Maße ihre Wahrnehmung durch vorgefertigte und verfestigte Aneignungsmuster organisiert wird. Die Rückbesinnung des Romans auf seine eigenen Anteile an der Konstitution der das gesellschaftliche Denken und Handeln beeinflussenden Wirklichkeitsbegriffe führte den Nouveau Roman zu einer „narzißtischen Selbstbefragung", in der er „seinen 'Spiegel' von der Welt abwendet, um ihn sich selbst vorzuhalten" 32 . Auf diese Weise machte er nicht „das Leben" zum Gegenstand seiner Entdeckungen, sondern das Feld von Möglichkeiten, aus sprachlichem Material fiktive Welten herzustellen und damit Formen der Zusammenhangsbildung durchzuspielen. Die Weiterentwicklung des Nouveau Roman zum sogenannten Nouveau Nouveau Roman in den sechziger Jahren ist markiert durch eine zunehmende Verlagerung des Interesses vom Wirklichkeitsstoff, der abbildend gestaltet wird, auf die Sprache als „Material", das in einem durchaus handwerklichen und technischen Sinn „bearbeitet" und auf seine kreative Verwendbarkeit hin „exploriert" wird. Im Ansatz erkennbar ist diese Tendenz bereits in den frühen Essays der Autoren, insofern dort „Konstruktion", „Erfindung neuer Formen", „starke Strukturen", eine „Umfassende

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Stilisierung", die dem Roman „die ganze Kraft der Poesie" zu integrieren vermöchte (Butor), als Grundlage seiner neu zu befestigenden Autonomie - das hieß: der Eigenständigkeit, Unverwechselbarkeit und Unersetzlichkeit seiner ästhetischen Erfahrung - angesehen wurden. Die Konkurrenz anderer Disziplinen und Medien (Soziologie, Psychologie, Journalismus, Film und Fernsehen) im Berichten über die wirkliche Welt und das Leben der Menschen empfanden die Romanciers als Entlastung bzw. als produktiven Druck auf den Roman, sich von seiner angestammten Aufgabe, Geschichten zu erzählen und Figuren zu gestalten, zu befreien (Sarraute) und den Hauptvorzug der Schrift, dem Worte Dauer zu verleihen, zur Geltung zu bringen (Butor). Es ging ihnen nicht um die Abschaffung des Romans, sondern um die Neubestimmung dessen, was er, im Unterschied zu anderen kulturellen Praktiken, über die Wirklichkeit aussagen könne. Die Antwort bestand in der Selbstreflexion und Selbstkritik des Romans auf der Ebene seiner Erzählformen (sowie dann später in der wachsenden Konzentration auf die Verfahren, mit denen aus einer geringen Anzahl von sprachlichen Ausgangselementen ein Romantext erzeugt werden kann). Die Privilegierung der Schreibweise vor den Themen und Inhalten war freilich nicht, wie die Autoren meinten, von veränderten Realitäten in der Weise erzwungen, daß sie als d i e Antwort des Romans auf seine Krise und damit als d e r Weg seiner Weiterentwicklung gelten könnte. Es handelte sich vielmehr um eine Antwort bestimmten geschichtlichen Typs, die den Nouveau Roman eindeutig der Moderne unterstellt und die nun für den Roman eine ähnliche Freiheit von außerästhetischen Zwecken und Diensten beanspruchte wie lange Zeit vor ihm die poésie pure des l'art pour l'art. 6. Ob sie die Idee einer Kunst um der Kunst willen als Lüge (Butor) oder als ein gültiges, zu Unrecht verachtetes und mit „Spiel, Gaukelei, Dilettantismus" verwechseltes Kunstprinzip (Robbe-Grillet) begriffen - die nouveaux romanciers waren sich einig darin, daß die Notwendigkeit, der ein Kunstwerk folgt, nichts mit Nützlichkeit zu tun habe. In ihren politischen Äußerungen einer linksgerichteten Opposition zugehörig, lehnten sie es gleichwohl ab, sich als Schriftsteller, mit ihren Büchern, zu engagieren. Sie wiesen nicht nur einen politisch-sozialen Auftrag im engeren Sinne (mit der Feder dem Fortschritt zu dienen) zurück, sondern generell den Anspruch, ein Schriftsteller müsse sich dadurch ausweisen, daß er etwas zu sagen habe, daß in seinen Werken die Absicht deutlich werde, Bewußt20

sein zu bilden, bestimmte Weltanschauungen und Leitbilder zu verteidigen oder anzugreifen, moralische Haltungen der Leser zu verändern . . . Den Widerstandsgeist, die Fähigkeit zur Kritik, die sie der Literatur - und ihren eigenen Romanen - zutrauten, sahen sie allein darin verbürgt, daß diese sich in der Neuorganisation ihrer Ausdrucksmittel der jeweils bestehenden „literarischen Ordnung" widersetzt, sie überschreitet und die ihr entsprechenden Lesererwartungen aufbricht. Dahinter steht ein Modernebegriff, demzufolge die Literatur in der entwickelten bürgerlichen Gesellschaft sich gegen ihren objektiv reaktionären Status, Institution der herrschenden Klasse zu sein, auflehnt, ohne ihn von sich aus überwinden zu können. Sie existiere in dem ständigen Dilemma, sich dem Zusammenhang der herrschenden Kultur entziehen zu wollen, in den sie doch, als Literatur, eingebunden bleibt. Im Unterschied zu den historischen Avantgardebewegungen (Futurismus, Dadaismus, Surrealismus) rebelliert der Nouveau Roman nicht gegen die Institution der Kunst, mit dem Ziel, sie in „Lebenspraxis" zu überführen. 33 E r ist vielmehr eine Opposition gegen die Ordnungen der Lebenspraxis u n d der Literatur - eine Opposition freilich, die sich im Spiel, in der Erfindung, in der „Literarizität" zu artikulieren und zu behaupten sucht. Mit diesem Gestus bleibt der Nouveau Roman früheren Avantgarden, namentlich dem Surrealismus, zwar in der Ansicht verbunden, daß eine „Befreiung von Sachzwängen . . . über eine Befreiung von Sprachzwängen" erreicht werde. 3 4 E r operiert aber mit einem Geschichtsbewußtsein, dem die Situation des Übergangs - die Existenz in einer andauernden Spannung zwischen „Ordnung und Unordnung, wobei wir letztlich weder das eine noch das andere ertragen können" 3 5 - absolut geworden ist. Die Kritik an der (bestehenden) Ordnung wird allein aus deren Horizont, nicht aus einer geschichtlichen Perspektive ihrer Aufhebung entwickelt. Daher eine Haltung der Negativität, der Verweigerung und des forcierten Autonomiestrebens. 7. In ähnlicher Weise, wie es die russischen Formalisten (deren Texte in Frankreich erst Mitte der sechziger Jahre einem größeren Publikum zugänglich wurden) zu Beginn der zwanziger Jahre sahen, hatte Literatur für die nouveaux romanciers nicht die Aufgabe, „eine ihr historisch vorgelagerte Wirklichkeit zum I n h a l t zu machen und diese m i t z u t e i l e n , sondern vermittels einer besonderen F o r m ein vorgelagertes (automatisiertes) Wirklichkeitsverständnis und damit bestimmte Rezeptionsgewohnheiten zu v e r ä n d e r n " 3 6 . Mit einem Wort Schklowskijs: „Ziel der Kunst ist es, ein Empfinden des Gegen21

standes zu vermitteln, als Sehen, und nicht als Wiedererkennen." 37 Den außerliterarischen Erkenntniseffekt, den innerliterarische Formveränderungen produzieren sollten, begriffen die nouveaux romanciers als Ergebnis einer Differenz zwischen der „literarischen Ordnung" und dem „ All tags bewußtsein". Voraussetzung ist dabei allerdings, daß es sich nicht schlechthin um eine a n d e r e Struktur handelt, sondern um eine, die als Kritik im genannten Sinne wirken kann, weil sie sich auf die alltägliche Realität bezieht, mit ihr „en communication" ist (Butor). Erst die Erkennbarkeit einer solchen Beziehung ermöglicht es, die durch neue Formen vorgeschlagene Änderung der Wahrnehmung und des Bewußtseins mitzuvollziehen. Nun wurde, wie gesagt, eine gezielte, nach Gegenstand und Richtung definierte Kritik gegebener Bedeutungen abgelehnt. Die Erfahrung, daß ihre Romane durchaus „ideologisch verrechnet" werden konnten, daß die Literaturkritik sie interpretierend auf bestimmte Aussagen und Sinngehalte festlegte, nahmen die Autoren zum Antrieb, solche Verèinnahmung durch wiederum neue Konstruktionen zu vereiteln. Die Permanenz der Innovationen hatte gewissermaßen sicherzustellen, daß durch eine fortlaufend erschwerte ästhetische Wahrnehmung bei den Lesern das Bewußtsein erzeugt und wachgehalten wurde, es mit einem „kreativen Kontrastprogramm zur Alltagslogik" (Wehle) sprachlicher Kommunikation zu tun zu haben, ohne daß sich dieser Kontrast jedoch inhaltlich eindeutig bestimmen ließe. Die Funktion des Neu-sehen-Lehrens, die die nouveaux romanciers der „écriture" aufgaben, koexistierte - und kollidierte - mit ihrer Neigung, den „starken Formen" und der erschwerten ästhetischen Wahrnehmung eo ipso eine kritische und emanzipatorische Wirkung beizumessen. Das hieraus entstehende Problem für die literarische Kommunikation ist nicht allein soziologischer Natur - das kleine, literarisch erfahrene Publikum, in dem der Nouveau Roman seine Leser gefunden hat. Sicher setzen seine Exklusivität, sein Eingesperrtsein im „kulturellen Ghetto" der Literaten (Robbe-Grillet) 38 * dem emphatischen Anspruch, der neue Roman verlange vom (neuen) Leser, „daß er seinerseits das Werk - und die Welt - erfinde und damit lerne, sein eigenes Leben zu erfinden" 39 , bereits sozial sehr enge Grenzen. Dem Wirkungsideal, den Roman, wie Butor sagte, zu einem Instrument der Neuheit u n d f o l g l i c h der Befreiung zu machen, erwuchs eben aus dieser Kopplung ein Risiko, von dem die Rezeptionsgeschichte des Nouveau Roman zeugt. Es besteht, grob gesagt, in einer doppelten Nichtrealisierung der den Formerneuerungen abzu22

gewinnenden Vorschläge, die „Art, in der wir die Welt sehen und erzählen" 40 , zu verändern. Da die Werke in ihrer Sinn-Offenheit und Vieldeutigkeit nicht aussprechen, was sie „zu sagen haben", fällt es ihrem Leser zu, sie mit Bedeutungen zu füllen, je nachdem welche ihrer internen Beziehungen er zu realisieren und auf welche (literarischen und außerliterarischen) Kontexte er sie kontrastierend zu beziehen vermag. Diese Freiheit der Lektüre ist jedoch an die Voraussetzung gebunden, daß die ästhetische Strategie der Texte (die Investierung ihrer möglichen Botschaften in das Arrangement der Wörter und Sätze, die „Logik" ihrer Verknüpfungen und Brüche, die Konstruktion des Ganzen, kurz: in die Formensprache) erkannt und mitvollzogen wird. Geschieht dieser Einstellungswechsel der Leseweise nicht - und kein Roman kann ihn erzwingen - , wird die Neuheit zur Barriere, nicht zum Appell: Die Lektüre, sofern sie überhaupt stattfindet, erbringt allenfalls die Aufrechnung dessen, was die Romane den Sinnerwartungen ihrer Leser schuldig blieben. Umgekehrt dann, wenn eine nur auf Formerfassung fixierte Leseweise sich den Verfahren zuwendet, mit denen traditionelle Formen des Romanberichts demontiert und gewohnte Rezeptionsmuster durchkreuzt werden, ohne mehr nach dem Widerspiegelungscharakter und den möglichen außerliterarischen Funktionen solcher poetologischen Maßnahmen zu fragen (vgl. S. 138) - so als wäre das Zusammenspiel von Neuheit und Befreiung prinzipiell verbürgt. Beide - um es nochmals zu vergröbern: die frustrierte „realistische" wie die raffinierte „formalistische" Lesart - verdeutlichen die spezifische Schwierigkeit im Umgang mit einer Literatur, deren Produzenten „bemerkt hatten, daß ihr Spiel mit den Erzählstrukturen die einzige ihnen zur Verfügung stehende Form war, in der sie über die Welt sprechen konnten, und daß die Probleme, die auf der Ebene der Individualpsychologie und Biographie Bewußtseins- und Gewissensprobleme sein können, auf der Ebene der Literatur nur als Probleme der Erzählstrukturen im Sinne der Widerspiegelung einer Situation oder eines Widerspiegelungsfeldes verschiedener Situationen auf unterschiedlichen Niveaus erscheinen können"41.

Natbalie Sarraute: Der Roman im Zeitalter des Argwohns42* „Für uns hat das Zeitalter des Mißtrauens begonnen" 43 : Der Glaube an den Roman ist ins Wanken geraten. Zwar gilt bei vielen Kritikern immer noch als „letzte Wahrheit . . . , daß der Roman vor allem 23

'eine Geschichte' sei, 'in der Personen leben und handeln', und dies auch immer bleiben werde". Dennoch sei dieser Überzeugung, seit geraumer Zeit schon, der Boden entzogen worden durch die Veränderungen, die der Roman in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts erfahren hat. D e r traditionelle Held ist dem „einen, allmächtigen 'Ich'" gewichen. D e r Leser hat „Joyce, Proust und Freud kennengelernt, das Rieseln des inneren Monologs, das sich nach außen durch nichts verrät, das unendliche Anschwellen des Psychologischen und die riesigen und noch kaum entzifferten Bereiche des Unbewußten . . . E r hat mit angesehen, wie die Zeit aufhörte, ein rascher Fluß zu sein, der die Verwicklungen des Romans vorantrieb, und statt dessen ein stilles Wasser wurde, auf dessen Grunde sich langsame und sehr subtile Auflösungsprozesse vollziehen." 4 4 Kurz: D e r Leser 4 5 * habe Veränderungen bemerken können, die der gängigen Auffassung vom Roman widersprechen, wie sie in Erwartungen und Urteilen des größten Teils der Literaturkritik zum Ausdruck kommen. „Es ist erstaunlich, mit welcher Wohlgefälligkeit" die Kritiker „sich über Anekdotisches verbreiten, eine 'Geschichte' erzählen, Charaktere erörtern, deren Wahrscheinlichkeit sie beurteilen und deren moralischen Wert sie genau untersuchen" 46 , und mit welcher Hartnäckigkeit man darauf besteht, daß der Romancier seine G e schichte „gut schreibt", d. h. entsprechend den Normen klassischer französischer Erzählliteratur. 4 7 * Weder die Geschichte noch der Held im traditionellen Sinn hielten noch einer gewandelten Wirklichkeitserfahrung stand. Gegenüber der Geschichte, die sich wirklich ereignet habe, wirkten die erfundenen Geschichten läppisch. Welche von ihnen könnte es „mit den Berichten aus den Konzentrationslagern oder von der Schlacht um Stalingrad" aufnehmen? 4 8 Zudem werde die angeblich eigentliche Domäne des Romans, wahrscheinliche Geschichten zu erzählen und lebendige Figuren zu gestalten, durch die Konkurrenz anderer Gattungen - so durch den Journalismus und den Film - fraglich. 4 9 * Diese von manchen als bedrohlich empfundene Entwicklung sei für den Roman jedoch heilsam, weil sie ihn für die Suche nach neuen Ausdrucksformen freimache. Mehr noch als die Geschichte ruft der Held für Nathalie Sarraute das Mißtrauen von Autor und Leser hervor, an ihm werde die Unglaubwürdigkeit des der Tradition verhaftet gebliebenen Romans am deutlichsten. Im Roman des 19. Jahrhunderts war der Held ein Typ, ein Charakter, eine „unvergeßliche Gestalt", reich ausgestattet mit Eigentum und Eigenschaften 5 0 *, die den Leser auf die Fährte setz-

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ten, ihr Wesen zu erkennen, um sie dann dem geräumigen Wachsfigurenkabinett einzuordnen, in das alle literarischen Typen über kurz oder lang wandern. Die Lebendigkeit oder Natürlichkeit der Charaktere, als Effekt bestimmter literarischer Techniken, war einmal eine kühne Eroberung, eine „dichte neue Materie, die den Anstrengungen Widerstand leistete und die Forscherleidenschaft entfachte." 51 * Mittlerweile büßte sie ihren großen Atem ein und wurde zum Klischee dergestalt, daß heute das Verlangen nach - und die Herstellung von - wahrscheinlichen Charakteren eine durch die Geschichte überholte, b e g r e n z t e Wirklichkeitserfassung im Roman verfestige. Dabei habe er bereits neue Realitäten erschlossen, sei es durch neue Methoden, die Figuren zu gestalten (so bei Dostojewskij) 52 , sei es durch sein Vordringen in die „dunklen Bereiche der Psychologie" (V. Woolf, Proust, Joyce). Bei ausdrücklichem Vorbehalt gegen „Psychologie"53*, d. h. gegenüber der psychologischen Introspektion von Bewußtseinszuständen mit dem Ziel, deren Gesetze oder Prinzipien zu erklären, sieht Sarraute in der Weiterentwicklung der psychologischen Analyse die Chance eines Erfahrungszuwachses für den Roman. Dabei bezieht sie sich auf Proust, genauer auf die von ihm nicht entdeckten, nicht beachteten „unzähligen und winzig kleinen Bewegungen, die den Dialog vorbereiten" 54 . Das ständig vor, unter, neben dem Gespräch herlaufende „Infragespräch" („ein schier unüberschaubares Anwachsen von Empfindungen, Bildern, Gefühlen, Erinnerungen, Impulsen, von winzigen versteckten Handlungen, die keine innere Sprache auszudrücken vermag: Sie drängen sich an der Schwelle des Bewußtseins, fügen sich zu dichten Gruppen und tauchen ganz plötzlich empor, lösen sich wieder auf, kombinieren sich auf andere Weise und erscheinen wieder in neuer Form, während in uns der ununterbrochene Strom der Worte a b l ä u f t . . ,"55) ist für Sarraute die noch kaum entdeckte Zone, die von der menschlichen Existenz mehr zu erkennen gäbe, als die psychologische Analyse im Roman bisher zeigen konnte, da sie - so Sarrautes Kritik an Proust - nur die aus großer Distanz sichtbaren Züge beschrieben und klassifiziert habe, um aus diesen Beobachtungen dann allgemeine Prinzipien abzuleiten. 56 * Der von Sarraute geforderte und in ihren Romanen vollzogene - Wechsel der Perspektive impliziert die Absage an ein bestimmtes („klassisches" oder „essentialistisches") Menschenbild, demgemäß die individuellen Charaktere ihre letzte Erklärung in den Gesetzen d e r menschlichen Natur finden, als deren jeweils unterschiedlich kombinierter, eben konkreter, indi25

vidueller Ausdruck sie gelten. Wenn Sarraute von der „Entdeckung . . . dieser anonymen Materie, die sich in allen Menschen aller Gesellschaftsordnungen wiederfindet" 5 7 , spricht, geht sie nicht von der Annahme einer universellen menschlichen Natur aus, sondern - im Sinne der existentialistischen Philosophie, der sie hierin offensichtlich folgt - von der „metaphysischen conditio" des Menschen 5 8 * und von seiner „Inauthentizität" 5 9 *. E s geht Nathalie Sarraute weder in ihren Essays noch in ihren Romanen darum, Personen und Handlung aus dem Roman zu vertreiben. Ihre Kritik an einer auf diese Pfeiler gegründeten Romankonzeption ist vielmehr gebunden an die Absicht, neue Wirklichkeit zu entdecken. Dem entspricht ihre Auffassung vom Roman als einer ernsthaften Arbeit mit Erkenntnisanspruch (sofern es dem Schriftsteller „gelingt, der Wirklichkeit einen winzigen Bruchteil zu entreißen und ihn ans Licht zu fördern") und emanzipatorischer Funktion (Der Roman, der „sich von allem zu lösen versucht, was . . . aufgezwungen, was konventionell und tot ist, um sich dem zuzuwenden, was frei, aufrichtig und lebendig ist, wird unvermeidlich früher oder später zum Sauerteig der Befreiung und des Fortschritts werden." 6 0 ) Für Sarraute ist jeder Roman, der diese Funktionen wahrnimmt, realistisch. Und Realist ist ein Schriftsteller, „dem es vor allem darauf ankommt, so aufrichtig wie möglich und mit größtem Scharfblick das ins Auge zu fassen und festzuhalten, was ihm als Wirklichkeit erscheint; und zwar indem er sich bemüht, so wenig wie möglich zu täuschen, abzurunden und zu beschönigen, um etwa die Widersprüche und die Komplexheit der Erscheinungen aufzuheben, und ganz unabhängig davon, ob er seine Zeitgenossen amüsieren oder reformieren, sie belehren oder für ihre Unabhängigkeit kämpfen will." 6 1 Aufrichtigkeit, Scharfblick, Erkenntniswille, d. h. ein „radikal anderes Verhalten dem Gegenstand gegenüber . . . und in der Folge auch eine von Grund auf andere Methode" zeichnen die guten Romanautoren aus; man spüre dies auch durch veraltete Ideen und überholte Formen früherer Romane hindurch „als etwas, was jeder wiedererkennt, was sich aber nur mit ungenauen Wendungen bezeichnen läßt, wie etwa: 'Wahrheit' oder 'Leben'" 6 2 . Jedoch: Nicht das realistische Prinzip, das zum Bruch mit herrschenden Regeln und zur Erfindung neuer Formen führt, bestimme die Romangattung, sondern die erdrückende Herrschaft von Konventionalität und Formalismus (verstanden als Festhalten an alten - „klassischen" - Formen, auch wenn diese zur Entdeckung neuer Wirklichkeit nicht mehr 26

taugen), weswegen „der Roman unter allen Künsten am meisten im Nachteil ist". Der Konservatismus der Literaturkritik, die Formbarkeit und die Willigkeit der Leser, sich auch „in den allergröbsten Abbildern wiederzuerkennen", hätten dem Roman „die Befriedigung außerliterarischer Wünsche . . . wie Ratschläge, Beispiele, moralische und soziale Erziehung" als seine „wesentliche Daseinsberechtigung" auferlegt und einen falschen Begriff von Volkstümlichkeit befestigt, demzufolge die Form des Romans „gar nicht banal, gar nicht •simpel und geläufig genug sein (kann), denn das sind Qualitäten, die ein Buch der breiten Masse zugänglich machen und es ihr erleichtern, diese kräftige Nahrung hinunterzuschlingen, die man sich verpflichtet fühlt, ihr anzubieten. So kommt man schließlich im Namen moralischer Imperative zu einer Art von Immoralität, die in der Literatur auf ein nachlässiges und konformistisches, ein unaufrichtiges und unredliches Verhalten gegenüber der Wirklichkeit hinausläuft." 6 3 Als Kontrast und Alternative zu diesem erstarrten Roman zeichnet sich in Sarrautes Aufsätzen eine Literatur ab, die nicht jegliche außerästhetische Funktion abweist, wohl aber im Widerspruch zu jenen gesellschaftlichen Ansprüchen und Erwartungen 64 * steht, die die Zurückgebliebenheit der Romangattung verschuldet hätteft - und dies ebenso in den Ländern, wo der Roman ein mehr oder weniger gehobenes Divertissement sei, wie in jenen, wo gerade das, „was den Roman einer akademischen und schwerfälligen Form unter•wirft", benutzt werde, „um aus ihm eine revolutionäre Waffe zu machen"65. Sarraute hegt die Uberzeugung, daß der Roman der Gesellschaft dann am dienlichsten sein wird, wenn die Schriftsteller ihre eigentliche. Aufgabe wahrnehmen (können), auf dem Terrain der Literatur Neues zu entdecken. Der Roman werde um so heilsamer wirken, je selbstbewußter er wird, je mehr er sich der Verheißung versichert, die Sarraute aus seiner bisherigen Geschichte hervorleuchten sieht: durch die Entdeckungen der Schriftsteller vom Schein zur Wahrheit, von einer durch Unaufrichtigkeit und Mißtrauen verzerrten Kommunikation zwischen Autor und Leser zur .gemeinsamen Wahrheitssuche vorzudringen.

Michel Butor: Der Roman als Suche Unter Butors zahlreichen Aufsätzen zu Problemen des Romans 66 * ist keiner, den man als Manifest des Noveau Roman lesen könnte, wie •dies den Artikeln Alain Robbe-Grillets öfters widerfahren ist. Auch 27

keiner hat einen ähnlich programmatischen Charakter wie Nathalie Sarrautes Zeitalter des Argwohns. Gleichwohl läßt sich aus ihnen der Umriß einer Romanpoetik erschließen, mit der Butor den Ort seiner eigenen Arbeiten zu bestimmen sucht. Seine Überlegungen folgen dabei implizit den Fragen, die Sartre in Was ist Literatur? (1947) gestellt hatte: Was ist schreiben? Warum schreibt man? Für wen schreibt man? In seinem Aufsatz Roman und Poesie stellt Butor fest, daß es im französischen Literaturunterricht üblich sei, die Literatur in eine Reihe streng getrennter Gattungen einzuteilen, unter denen der Roman und die Lyrik als die stärksten Gegensätze gelten. Im Namen des Poetischen habe man wiederholt mit dem Roman abgerechnet.. So attackierte André Breton in seinem ersten Manifeste du Surréalisme (1924) den Roman als die literarische Gattung, in der sich stets das Gesetz der geringsten Anstrengung durchsetze. In diesem Zusammenhang tauchte die seitdem vielzitierte Bemerkung Paul Valérys (d. h. die von Breton Valéry zugeschriebene Bemerkung) auf: Was ihn betreffe, würde er sich immer weigern zu schreiben: „La marquise sortit à cinq heures." (Die Marquise ging um fünf Uhr aus.) Die Kritik am Roman, wie Butor sie resümiert, bezieht sich auf dessen „Realismus", d. h. die Darstellung „des alltäglichen Lebens in alltäglicher Sprache" - wogegen die Poesie immer einem Impuls folge,, der sie gegen das Alltägliche, Gewöhnliche, Gegenwärtige, zum Ergreifen des b e s o n d e r e n Moments, zu seiner Rettung durch eine unantastbare Sprache bewegt. „ . . . die Verwendung einer strengen Form kann jenem üblen Hang der Alltagssprache entgegenwirken, durch den die Wörter ihren Sinn verlieren, die Wörter ebenso wie die Dinge, die Ereignisse, die Gesetzmäßigkeiten . . . " Kraft der Prosodie „kritisiert die Poesie das alltägliche Leben und schlägt uns seine Veränderung vor." 67 * Mit Berufung auf die anerkanntermaßen „poetischen" Passagen,, die in allen großen Romanen vorkommen, entwickelt Butor sein Programm der Generalisierung der „Prosodie" im Roman, d. h. der bewußten und umfassenden „Stilisierung" : „ . . . der Stil ist nicht nur ein Auswahlverfahren für Wörter auf der Ebene des Satzes, sondern die Art, in der die Sätze, die Abschnitte und die Episoden miteinander verbunden werden. Auf allen Ebenen dieser enormen Struktur, die ein Roman darstellt, kann es Stil geben, d. h. Form, Reflexion der Form und folglich Prosodie" 68 . „ . . . wenn man sich genügend starker Strukturen bedient, vergleichbar denen des Verses oder ver28

gleichbar mit geometrischen und musikalischen Strukturen, wenn man systematisch Verbindungen zwischen den einzelnen Elementen durchspielt, bis sie das offenbaren, was der Dichter von seiner Prosodie erwartet, dann kann es gelingen, einer Beschreibung, die von der plattesten Banalität ausgeht, die ganze Macht der Poesie zu integrieren." 69 Hierin sieht Butor die Chance und die eigentliche Aufgabe des gegenwärtigen Romans: Als Literatur, die sich an der alltäglichen Realität inspiriert, kann der Roman durch „starke Formen" diese Wirklichkeit auffällig oder befremdlich machen, sie neu zu sehen lehren und damit unsere Wahrnehmung der Realität verändern. 70 Diese wird ja zum großen Teil über das vermittelt, was man von ihr erzählt. Der Roman als erfundener Bericht arbeitet mit diesen Formen des Erzählens. Während der Tatsachenbericht sich auf Sachverhalte bezieht, an denen er im Prinzip überprüft werden kann (überprüfbar sein muß), stelle der Roman das Erzählen selbst auf die Probe: „Deshalb ist der Roman die phänomenologische Domäne par excellence, jener Ort, an dem man untersucht, auf welche Weise die Wirklichkeit uns erscheint oder uns erscheinen kann; deshalb ist der Roman das Laboratorium des Berichts." 71 In dem Maße wie es den Romanen gelänge, sich als „neue Sprache", als „neue Grammatik", als neue Art der Verknüpfung von Informationen und der Auswahl des für uns Belangvollen aufzuerlegen, veränderten sie „die Art, in der wir die Welt sehen und erzählen und verändern sie folglich die Welt". 72 Diese Überzeugung impliziert, daß die Versuche im Labor des Romans nicht schlechthin eine andere Ordnung konstituieren, sondern eine, die als Korrektiv oder Kritik der täglichen Erzählungen über Wirklichkeit fungieren kann - eine Ordnung, deren Strukturen mit denen der Wirklichkeit „en communication" sind. Der Romanbericht, sofern er wahrscheinlich sein will, nimmt Objekte der täglichen Wahrnehmung sowie Strukturen des täglichen Berichtens auf. Sein Realismus im engeren Sinne besteht darin, „daß er die Illusion erzeugt, ein Stück Alltagswirklichkeit zu präsentieren" 73 (hierauf zielte die surrealistische Kritik an der Banalität der Gegenstände und der Sprache des Romans). Zugleich verwandelt der - gute - Roman diese Alltagswirklichkeit durch die integrative Kraft seiner Form in etwas Einzigartiges und Unersetzliches, „das die eigenartige Fähigkeit hat, etwas kenntlich zu machen (désigner), ein Beispiel zu sein, und ein 'Wort' für die Dinge, dank dessen man über sie sprechen und sie verstehen können wird". 74 Wenn es auf allen seinen Ebenen Anstrengungen der Form gibt, 29

kann der Roman zur Schule der Wirklichkeitserfahrung werden. In diesem Sinne jedenfalls spricht Butor davon, „daß jede wirkliche Veränderung der Romanform, jede fruchtbare Suche auf diesem Gebiet bei einer Veränderung des Begriffs vom Roman ansetzen muß, der sich sehr langsam, aber unweigerlich (alle großen Romane des 20. Jahrhunderts beweisen das) zu einer neuen Art epischer und zugleich d i d a k t i s c h e r Poesie entwickelt", daß jede wirkliche Veränderung der Romanform den Begriff von Literatur verändert, indem diese „nicht mehr als einfache Entspannung oder als Luxus: erscheint, sondern in ihrer für die Gesellschaft wesentlichen Funktion, als m e t h o d i s c h e E r f a h r u n g " 7 5 (Hervorhebungen B. B.). Gegenstand dieser Erfahrung sind für Butor menschliche Grundfunktionen wie sehen und hören sowie die Verarbeitung und Organisation von Wahrnehmungen durch die Formen der täglichen Rede. Den neuen Roman begreift er nicht als Antwort auf b e s t i m m t e , historisch determinierte Sehgewohnheiten, konkrete gesellschaftliche Kommunikationsformen und Ideologien 76 *, die die täglichen Erfahrungen und deren Artikulation steuern, sondern allgemeiner, als ein Mittel zur Orientierung und Selbstbehauptung des Menschen „in einer gleichsam wütenden Welt, die einen von allen Seiten her anfällt". Somit nimmt für Butor der neue Roman, auf einer bestimmten Stufe der literarischen Entwicklung, den transhistorischen Impuls der Menschheitskultur auf, diesem Leben einen Sinn zu verleihen. Butors Vertrauen in die verändernde Kraft des Romans richtet sich auf an seinen persönlichen Erfahrungen als Schriftsteller, für den das Schreiben „eine fundamentale Ausübung seiner Existenz" ist: „Ich schreibe nicht Romane, um sie zu verkaufen, sondern um meinem Leben eine Einheit zu geben; das Schreiben ist mein Rückgrat . . ,"77* Die Entwicklung anderer Medien empfindet Butor als begrüßenswerten Druck auf das Buch, „immer 'schöner' und dichter zu werden" und den Hauptvorzug der Schrift, „dem Worte Dauer zu verleihen", auf neue Weise zur Geltung zu bringen. Durch den auf immer rapidere Konsumtion, auf Verschleiß und Austauschbarkeit drängenden Buchmarkt bedroht, sich zu einem Schatten zu verflüchtigen, müsse das Buch „vom Gebrauchsgegenstand im trivialsten Sinn des Wortes" emanzipiert werden zu einem „Gegenstand des Studiums und der Kontemplation, der speist, ohne sich zu verbrauchen, und der die Weise verändert, in der wir die Welt erkennen und bewohnen"78. Diese Emanzipation des Buches werde zugleich die des Lesers sein - vom manipulierten Konsumenten zum Mitschöpfer. Der 30

Roman sucht seinen Leser; nicht indem er sich auf einen bestimmten Adressaten, eine bestimmte Leserschicht einstellt (dies lehnt Butor als marktangepaßtes Verhalten oder als falsch verstandene Volkstümlichkeit ab 79 *), sondern indem er ein bestimmtes L e s e n nahelegt und stimuliert, dessen künftige Qualität Butor sich so vorstellt: Die Polyvalenz („Mobilität") der Romanelemente erfordert „verschiedene Durchgänge der Lektüre", „wobei der Leser für das, was im Mikrokosmos des Werkes geschieht, verantwortlich wird, zum Spiegel unserer condition humaine - sicher auch hier großenteils, ohne dies zu wissen - , indem jeder seiner Schritte und seiner Entscheidungen, mit denen er Sinn empfängt und verleiht, ihn über seine Freiheit aufklärt." 80 Aus dem Roman solcherart ein „Instrument der Neuheit und folglich der Befreiung zu machen", heißt für Butor, ihn - jenseits „der Lüge des Tart pour l'art', in die immer noch so viele Schriftsteller flüchten" und jenseits der „Abdankung vor dem eigenen Beruf, die sich meistens so dürftig unter dem schönen Wort Engagement verbirgt" - dafür einzusetzen, „das Leben zu verändern".81

Alain Robbe-Grillet: Argumente für einen neuen Roman „Irritation, Frustration, Faszination: Robbe-Grillet ist ohne Zweifel der umstrittenste der Neuen Romanciers. Kaum einer hat wie er im Nachkriegsfrankreich seine Leser schockiert, Stellungnahmen provoziert und die Meinungen polarisiert. Kaum einer hat nachdenklichere Parteigänger und Interpreten oder gar heftigere Gegner gefunden." 82 Robbe-Grillets Romane und besonders seine Essays haben Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre das Bild vom Nouveau Roman in Frankreich so stark bestimmt, daß dieser öfters als Robbe-GrilletSchule etikettiert und mit der von Robbe-Grillet entwickelten Beschreibungstechnik sowie einigen seiner spektakulärsten Thesen identifiziert wurde. Die wichtigsten Zeitschriftenaufsätze Robbe-Grillets aus den Jahren 1955-1963 erschienen 1963, teils in überarbeiteter Form, unter dem Titel Pour un nouveau roman (dt. Argumente für einen neuen Roman. Essays. München 1965) 83 *. Die Aufsätze intendieren keine Romantheorie; sie sind, wie der Titel der deutschen Übersetzung zutreffend angibt, Argumente für einen neuen - und das heißt in erster Linie: gegen den „alten" - Roman. Ihr rigoroser Zug ergibt 31

sich aus zwei Grundannahmen Robbe-Grillets: In der Geschichte der Romangattung habe sich eine „einzige heute noch gültige Romankonzeption" durchgesetzt, die „im Grunde die Balzacs" sei. (Danach ist „ein g u t e r Roman die Studie einer Leidenschaft - oder des Zusammentreffens mehrerer Leidenschaften oder des Fehlens von Leidenschaften - in einem gegebenen Milieu" 84 .) Die Ausformung der wesentlichen Elemente des traditionellen Romans sei verbunden mit der Ideologie seiner Aufstiegs- und Blütezeit. Mit dem alten Roman brechen heiße, mit der ihm entsprechenden Ideologie brechen und umgekehrt. Beides sei notwendig. Diese Ideologie, die Robbe-Grillet der Epoche zuordnet, in der die Bourgeoisie den Höhepunkt ihrer Macht erreicht hatte, erscheint unter verschiedenen Schlagworten: bürgerlich-christlicher Humanismus, Anthropozentrismus, Rationalismus, Mythen der Tiefe, kurzum als mächtiger Nebelschleier, der daran hindere, zu sehen, was ist: „ . . . die Welt ist weder sinnvoll noch absurd. Ganz einfach: sie ist. Jedenfalls ist das ihr bemerkenswertestes Zeichen. Und plötzlich stößt uns diese Evidenz mit einer Kraft, gegen die wir ohnmächtig werden. Auf einmal bricht die schöne Konstruktion zusammen: als wir unversehens die Augen öffneten, erlitten wir den Stoß dieser hartnäckigen Wirklichkeit, die wir als überwunden betrachtet haben wollten. Um uns herum, den Schwärm unserer seelenspendenden oder häuslichen Beiwörter herausfordernd, s i n d die Dinge d a . Ihre Oberfläche ist säuberlich und glatt, u n b e r ü h r t , aber ohne zweideutigen Glanz und ohne Durchsichtigkeit. Unserer ganzen Dichtung gelang es noch nicht, sie auch nur eine Spur anzuritzen oder die kleinste ihrer Krümmungen abzuändern." 85 Der traditionelle Roman habe unter dem Diktat der „sakrosankten psychologischen Analyse" die objektive Existenz der Dinge in eine Fülle von Bedeutungen verflüchtigt, so daß sie zur „unbestimmten Widerspiegelung der unbestimmten Seele des Helden" verkümmert seien: „ . . . der leere Stuhl war nur noch Abwesenheit oder Warten, die die Schulter drückende Hand war nur noch Sympathiezeichen, das Fenstergitter war nur noch die Unmöglichkeit zu entfliehen." 86 Anstatt die Dinge in Bedeutungen für den Menschen aufzulösen (zur Kritik an dieser Prämisse vgl. S. 118), sollte man zuerst ihre Existenz wahrnehmen, sollten die Gegenstände und Gebärden „allmählich ihre Flüchtigkeit und ihre 'Heimlichkeit' verlieren, auf ihren falschen Zauber verzichten, auf diese verdächtige Innerlichkeit, die Roland Barthes 'der Dinge romantisches Herz' genannt hat". Die alten „Mythen der 32

Tiefe", auf denen die Romankunst bisher beruhte, hätten abgedankt. Der Schriftsteller, der ihnen absagt, sei einer, der sich weigert, das Universum in die Falle der Vorstellungen seiner Tiefe zu locken, um es dann „der Gesellschaft auszuliefern". Er sei zugleich jemand, der mit dem für die Bourgeoisie typischen Besitz- und Eroberungsdenken gebrochen habe wir sehen die Welt nicht mehr als unser Gut oder unser P r i v a t e i g e n t u m , als etwas Zähmbares an." 87 Verfechte man dergestalt die Emanzipation der Dinge, müsse man d e n Menschen (bzw. d a s Individuum) von jenem Thron stoßen, auf dem er das Maß aller Dinge war. Der Held dürfe im Roman nicht „voller oder mächtiger erscheinen", als es das Individuum heute in einer durch Kollektivität und Anonymität charakterisierten Gesellschaft („Vielleicht ist das kein Fortschritt, aber es ist sicher, daß die gegenwärtige Epoche die der Kenn-Nummern ist.") tatsächlich sei. „Der Roman mit Helden gehört der Vergangenheit an, er kennzeichnet eine Epoche: jene, die das Individuum auf dem Höhepunkt seiner Macht sah . . . Ein Familienname war zweifellos zur Zeit der Balzacschen Bourgeoisie sehr wichtig. Ein Charakter war wichtig, um so mehr, als er eine Waffe im Nahkampf, Hoffnung auf Erfolg und Ausübung der Herrschaft darstellte. Es bedeutete etwas, in einer Welt ein Gesicht zu haben, in der Persönlichkeit zugleich Mittel und Zweck allen Suchens darstellte." 88 Vor dem „bescheideneren", „weniger anthropozentrischen Bewußtsein" der Gegenwart hätten weder die früher geglaubte Übereinstimmung zwischen Mensch und Welt noch ein Gefühl der Tragik angesichts ihrer Trennung Bestand. Im Namen dieses Bewußtseins kritisiert Robbe-Grillet, auch hier in Übereinstimmung mit Barthes, den existentialistischen Roman (Sartre und Camus). Dort lebe der alte Humanismus nun in Gestalt eines tragischen Weltgefühls fort. Zwar werde der Abstand hervorgehoben, der den Menschen von sich selbst, den anderen und der Welt trenne, aber nur, um ihn als Schmerz - im Gefühl des Ekels oder der Absurdität - zu empfinden und „diesen Schmerz dann auf die Höhe einer sublimen Notwendigkeit zu erheben" 89 . Robbe-Grillets Kritik am Tragischen zielt auf Sartre? Axiom von dem zur Freiheit verurteilten Menschen. Das Leiden daran, daß der Mensch sich in der Welt nicht wiedererkenne, bewahre die humanistische Grundidee „einer allen Dingen gemeinsamen, das heißt h ö h e r e n Natur . . . " , deren Zentrum der Mensch sei. „Die gemeinsame Natur wird . . . nichts anderes als die ewige Antwort auf die e i n z i g e F r a g e unserer griechisch-christlichen 3

Buimcister, Nouveau Roman

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Kultur sein können; die Sphinx ist vor mir, sie befragt mich, ich brauche gar nicht zu versuchen, die Worte des Rätsels, das sie mir aufgibt, zu begreifen, es gibt nur eine mögliche Antwort, eine einzige Antwort auf alles: der Mensch!" 90 Für Robbe-Grillet führt die Anerkennung der D i s t a n z zwischen Mensch und Dingen zur Auslöschung dieser „einzigen Frage" und zum Versiegen fortwährender anthropozentrischer Bedeutungsverleihung. 91 * Übrig bleibt der instrumentale Kontakt mit der Welt; ein Instrument jedoch habe, außerhalb seines Gebrauchs, keine „tiefere Bedeutung", es sei einzig Form, Materie und Verwendungszweck, nicht aber Bestandteil einer „Komplizenschaft" oder „Kommunion". Das „Fehlen von Bedeutung empfindet der Mensch von heute (oder von morgen . . . ) nicht mehr als einen Mangel oder gar als einen Riß. Vor einer solchen Leere hat er hinfort keinerlei Schwindelgefühl. Sein Herz braucht keinen Abgrund mehr, um darin zu wohnen. Denn, wenn er die Übereinstimmung ablehnt, lehnt er auch die Tragödie ab." 92 Robbe-Grillets radikale Absage an die „menschliche Dimension" der Dinge, an eine bedeutungsvolle Welt trifft auch die bisherige Romanfunktion, Bedeutungen zu stiften und zu vermitteln. Wozu dann noch Romane? Immerhin geht Robbe-Grillet ja mit Elan daran, den Startplatz für einen neuen Roman freizuräumen, und scheint ihm die Sinn-Freiheit der Welt die Chance zu bieten, „den Roman zu erfinden, d. h., den Menschen zu erfinden" 93 . Auf der Ausgangsbasis eines von allen „metaphysischen" Deutungen gereinigten, nüchternen Verhältnisses zur Welt - Devise: Sehen, was i s t - sei neu anzufangen, seien Entwürfe, Konstruktionen, Erfindungen möglich und gefordert (dies ein Nachhall des um seine geschichtsphilosophische Dimension gekürzten Existentialismus Sartres). D a der Mensch nicht wisse, welchen Sinn sein Dasein hat, erprobe er seine Beziehungen zur Welt, indem er sie neu entwirft und auf der Suche nach möglichen Bedeutungen seines Tuns ist. Der neue Roman repräsentiere dieses Bewußtsein - nicht, indem er es abbilde bzw. gestalte, sondern indem er sich als Experimentierfeld, als Suche (recherche) verstehe. Dies charakterisiert für Robbe-Grillet den „neuen" Realismus seiner (und anderer) Romarie. 94 * „Die akademische Kritik im Westen ebenso wie in den kommunistischen Ländern gebraucht das Wort Realismus, als ob die Realität beim Auftreten der Schriftsteller bereits voll und ganz konstituiert wäre (sei es für immer oder nicht). Daher ist sie der Meinung, daß seine Rolle sich darauf beschränke, die Realität seiner Epoche zu 'erfor34

sehen' oder sie 'auszudrücken'. In dieser Sicht würde der Realismus vom Roman nur verlangen, daß er die Wahrheit respektiere. Die Qualitäten des Autors wären insbesondere Scharfsinn bei der Beobachtung und die ständige Bemühung um Offenheit (verbündet zumeist mit freimütiger Rede) . . . Nun hat das alles kaum noch einen Sinn von dem Augenblick an, da man erkennt, daß nicht nur jeder in der Welt seine eigene Realität sieht, sondern daß der Roman gerade etwas ist, wodurch sie geschaffen wird. Die Schreibweise des Romans ist nicht darauf angelegt zu informieren, wie es die Chronik, der Augenzeugenbericht oder der wissenschaftliche Bericht tut, sie k o n s t i t u i e r t die Realität. Sie weiß niemals, was sie sucht, sie weiß nicht, was sie zu sagen hat; sie ist Erfindung, Erfindung der Welt und des Menschen, ständige Erfindung und unaufhörliche Infragestellung." 95 Ähnlich wie Nathalie Sarraute begreift Robbe-Grillet die Ablösung alter und die Erfindung neuer Romanformen als Antwort auf veränderte Wirklichkeitserfahrungen. Daher nimmt er z. B . in Anspruch, dem unverbildeten Leser leicht verständliche, weil mit den eigenen Erfahrungen übereinstimmende, Erzählformen zu schaffen: „Unsere Bücher sind mit den allgemein üblichen Wörtern und Sätzen, in der Sprache des Alltags geschrieben. Sie zu lesen, bedeutet keine besondere Schwierigkeit für diejenigen, die auf das Klischee einer veralteten . . . Interpretation verzichten. Man kann sich sogar fragen, ob nicht gerade . . . ganz einfache Leute, die Kafka vielleicht nicht kennen, deren Blick aber auch nicht von den Balzacschen Formen getrübt ist, sich in vollem Einverständnis befinden mit Büchern, in denen sie die Formen ihres Denkens und der Welt, in der sie leben, erkennen, Büchern, die, anstatt ihnen einen sogenannten Sinn ihrer Existenz vorzutäuschen, ihnen zu klarer Sicht verhelfen." 96 Passagen wie diese, die den Gedanken der Abbildung von Realität (Entsprechung zwischeii den Strukturen des Romans und denen der alltäglichen Wirklichkeitserfahrung) nahelegen, korrigiert Robbe-Grillet jedoch mit der Bemerkung, daß seine „Absichten woanders liegen. Ich übersetze nicht, ich konstruiere. Das war schon Flauberts alter Ehrgeiz: von nichts aus etwas bauen, das sich ganz allein aufrecht erhält, ohne sich auf etwas außerhalb des Werkes Liegendes stützen zu müssen. Heute ist das der Ehrgeiz des gesamten Romans." 97 Der Argumentationsstrang „Realismus" bzw. „Realitätsbezug des Nouveau Roman" ist bei Robbe-Grillet verflochten mit der Verteidigung der Unabhängigkeit der Literatur gegenüber der Forderung, 3*

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sie solle sich engagieren. Robbe-Grillet wendet sich nicht nur gegen die engagierte Literatur Sartrescher Prägung, nicht nur gegen die „Anhänger des sozialistischen Realismus" 98 *, sondern generell gegen den Anspruch, die Literatur müsse sich durch wie auch immer bestimmte Intentionen der Bewußtseinsbildung legitimieren, eine Weltanschauung oder deren Kritik vermitteln, erzieherisch wirken, der Revolution dienen . . . All dies lehnt Robbe-Grillet als Unterordnung der Literatur unter ihr äußerliche oder fremde Zwecke ab. „Die Erfahrung hat gezeigt, . . . sobald die Sorge auftaucht, etwas bedeuten zu wollen (etwas außerhalb der Kunst Liegendes), beginnt die Literatur zurückzuweichen und zu verschwinden. Geben wir also dem Begriff des Engagements den einzigen Sinn zurück, den er für uns haben kann. Das Engagement ist für den Schriftsteller nicht politischer Natur, sondern das volle Bewußtsein der aktuellen Probleme seiner eigenen Sprache, die Überzeugung ihrer außerordentlichen Wichtigkeit und der Wille, sie von innen zu lösen. . . . L'art pour l'art hat keine gute Presse: man denkt dabei an Spiel, Gaukelei, Dilettantismus. Aber die N o t w e n d i g k e i t , an der man das Kunstwerk erkennt, hat nichts zu tun mit der Nützlichkeit. Es ist eine ganz und gar innere Notwendigkeit, die natürlich als Unverbindlichkeit erscheint, wenn das Bezugssystem von außen festgelegt wird: gegenüber der Revolution zum Beispiel kann . . . die höchste Kunst als ein sekundäres, ja lächerliches Unterfangen erscheinen. Hier liegt die Schwierigkeit - man könnte versucht sein zu sagen, die Unmöglichkeit - des Schaffens: das Werk muß sich dem Aufnehmenden als notwendig aufzwingen, aber notwendig f ü r n i c h t s ; seine Architektur verfolgt keinen Zweck, seine Kraft ist eine nutzlose Kraft. Wenn diese evidenten Wahrheiten heute im Falle des Romans als Paradoxe gelten, während sie doch jeder für die Musik gelten läßt, so nur wegen des Umstands, den man wohl oder übel die E n t f r e m d u n g der Literatur in der modernen Welt nennen muß." 99 Eine nicht entfremdete Literatur wäre autonom (das bedeutet hier: kein Instrument, kein Mittel im Dienste irgendeiner Sache), nicht aber wirkungslos. Ihre Wirkung wäre ein nicht zu planendes, auf unvorhersehbare Weise sich herstellendes Resultat der Suche und Erprobung neuer Formen, die „auf dem Wege einer dunklen und fernen Konsequenz eines Tages vielleicht für etwas nützlich . . . sein [können] - vielleicht sogar für die Revolution" 100 . Weil nicht eine bestimmte Wirkungsabsicht die Schreibweise steuere, sondern einzig 36

das Interesse an der Erfindung von Formen, ist die der Zukunft anheimgestellte Wirkung des neuen Romans für Robbe-Grillet eine Sache des Appells an den Leser und des Vertrauens in die Literatur,101* eine Wette auf den möglichen Sinn, den sie erzeugen werde. „Hat die Wirklichkeit einen Sinn? Der heutige Künstler kann auf diese Frage keine Antwort geben: er weiß es nicht. Daß diese Wirklichkeit vielleicht einen Sinn haben wird, nachdem er dagewesen, das heißt, nachdem das Werk einmal zu Ende geführt ist: das ist alles, was er sagen kann . . . wir setzen unsere ganze Hoffnung auf den Menschen: Die Formen, die er schafft, können der Welt Bedeutung geben."102

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Reaktionen der Literaturkritik

Der erste publizierte Roman von Robbe-Grillet ( Les Gommes. 1953) wurde von der Kritik, sofern sie ihn beachtete, im allgemeinen freundlich, der erste Roman von Butor {Fassage de Milan. 1954) mit Zurückhaltung aufgenommen. Man war wenig irritiert und stellte Ähnlichkeiten mit Bekannten fest: Bezüge zu Dickens, Balzac, James, Proust in Passage de Milan oder zu K a f k a , Simenon und Graham Greene in Les Gommes. Robbe-Grillet versuchte zwar in Interviews, die Aufmerksamkeit auf das Unähnliche in seinen Romanen zu lenken, jedoch vor Roland Barthes* Artikel Littérature objective (1954) dachte niemand daran, die Heraufkunft einer neuen Poetik des Romans zu diagnostizieren. Erst mit Le Voyeur (1955), der RobbeGrillet einem breiteren Publikum bekanntmachte, begannen die eigentlichen Erklärungsversuche der Kritik und die Stellungnahmen zu dem immer häufiger so genannten „neuen Realismus" der immer häufiger miteinander in Verbindung gebrachten Autoren Beckett, Butor, Sarraute, Robbe-Grillet, Claude Simon. Die nunmehr deutlich werdende Andersartigkeit einer bestimmten Richtung, und nicht nur einzelner Werke, sowie der von einigen Autoren erhobene Anspruch, der dahinsiechenden Romangattung neue Perspektiven i u öffnen, waren dazu angetan, grundsätzliche Stellungnahmen zu provozieren.

Die nikonservative" Kritik Zunächst sollen Kritiker zu Wort kommen, die dem Nouveau Roman ihre Zustimmung verweigerten. Sie sind konservativ genannt worden. Diese Bezeichnung zu erläutern, wird Angelegenheit der im folgenden versuchten Positionsbeschreibung sein. Ihr Sinn ist es zu zeigen, welches Bild vom Roman den literarischen Erwartungshorizont der Kritiker bestimmte. Denn mit diesem Bild hat man das Gattungs38

muster, dem die Angriffe der nouveaux romanciers unmittelbar galten, wenn sie den Roman ä la Balzac oder, allgemeiner, den auf der Romangattung besonders hart lastenden Druck der Tradition ins Feld führten. Daß Sarraute, Butor und Robbe-Grillet in ihren Essays keine wissenschaftlich objektive Beschreibung des „alten" Romans gaben, sondern mit den Erfahrungen argumentierten, die sie als französische Romanleser, Empfänger einer bestimmten Schulbildung und als Beteiligte an der literarischen Öffentlichkeit ihres Landes gemacht hatten, dies eben soll, punktuell wenigstens, an den Reaktionen angesehener Literaturkritiker auf die neuen Romane illustriert werden. Zugleich könnten die Stellungnahmen der konservativen Kritik verdeutlichen, in welchem Maße die genannten Begründungen einer anderen Art, Romane zu schreiben, dem verhaftet waren, was sie zurückwiesen. Denn Reduzierung der Geschichte, Entpsychologisierung der Helden, Mißtrauen gegenüber der Unschuld von Erzählformen bezogen ihre Form und ihre Brisanz nicht zuletzt aus der scheinbar unangefochtenen, selbstverständlichen Geltung, die der Roman als gut erzählte Geschichte bei Lesern und Kritikern genoß. Im Namen eines Publikums, das „einfache Verdammungsurteile gegenüber der Dekadenz" ebenso zurückwies wie eine „modische Gläubigkeit" und das, stark verwirrt, mit sich zu Rate ging „über das, was man ihm anbietet und über die Gründe seines Befremdens"103, waren die Kritiker zunächst bemüht, einen Zugang zu der neuen, auf Verständlichkeit so wenig bedachten Literatur zu finden. Nicht ein vorgefaßter Entschluß, nur die großen Romane der Vergangenheit und ihnen Nahekommendes gelten zu lassen, lenkte das Verständnis und die Urteile der Kritik. Ausschlaggebend war eher die beim Lesen gemachte Erfahrung, sich zu langweilen oder zu ärgern, ungeduldig zu werden, beim besten Willen nicht zu verstehen. Enttäuschungen einer Lektüre, bei der man nicht auf seine Kosten kam, gaben den Anstoß zur Ablehnung. Konfrontiert mit „schwierigen" oder „langweiligen" Werken, ging die Kritik freilich nicht an die Durchsicht ihrer eigenen Leseweise. Diese konnte um so mehr als selbstverständlich, „unschuldig" vorausgesetzt werden, als sie unmittelbares, nur von Aufnahmebereitschaft und Geschmack gelenktes Echo auf einen Text zu sein schien. Langeweile und Nichtverstehen galten daher ohne weiteres als Argumente gegen die Werke. In ihnen Symptome einer Nichtübereinstimmung zwischen Rezeptionsvorgaben und Erwartungshorizont zu sehen, nach den Gründen dieser Störung auf der Ebene der Werke und auf der ihrer 39

Aneignung durch die Leser zu fragen, nach möglichen neuen Zugängen zu den Texten zu suchen, lag nicht im Blickfeld der konservativen Kritik. Dies hing sicher mit ihrer Orientierung an Romanen zusammen, deren Kunst ja gerade darin bestand, fiktive Welten so zu organisieren, daß sie als natürliche - wie ein Stück Leben - aufgenommen werden konnten. Es machte jedoch noch etwas anderes sichtbar: Solange sich der Kontakt zwischen Werken und ihren Lesern relativ problemlos und daher unauffällig herstellte, lag es nahe, die Bedingungen seines Zustandekommens nicht zu reflektieren, sie vielmehr als natürliche Eigenschaften der Produkte (literarische Qualitäten) und ihrer Konsumenten (Sensibilität, Geschmack, Urteilsfähigkeit) hinzunehmen. Auf ein solches Funktionieren der Romanrezeption im Frankreich der Nachkriegsjahre verweist meines Erachtens die Tatsache, daß ein immerhin repräsentativer Teil der literarischen Öffentlichkeit den Nouveau Roman nicht anders denn als eine Entgleisung begreifen konnte, die die Autoren zu verantworten hatten. Sie mußten etwas falsch gemacht haben. Die Kritiker sagten auch deutlich, was da verkehrt, schlecht oder schädlich war und wovor sie den Roman bewahrt sehen wollten. In dem Maße, wie sie die neuen Schreibweisen als Angriffe, als Verletzungen einer unantastbaren Ordnung empfanden, wurde ihre Liberalität (ihr Bemühen um Verständnis, ihre Aufgeschlossenheit) brüchig und ihr Ton aggressiv. Das die Lektüre leitende Gattungsmuster wurde nun ausgesprochen: Seinem Wesen nach sei der Roman eine Geschichte. In ihr kämen Personen vor, deren Individualität interessiere und die, im Unterschied etwa zum Theater, nicht an der „Oberfläche" der geäußerten Worte, der ausgeführten Handlungen, sondern in der „Tiefe" ihrer Beweggründe und Gedanken dargestellt würden. Im gelungenen Roman wirke die fiktive Welt genügend intensiv und genügend wahrhaftig, um den Leser Zeit und Wirklichkeit vergessen zu lassen, vollziehe sich der „Triumph des Imaginäfen" 104 . Diese Bestimmung, von der die gesamte konservative Kritik mehr oder weniger klar ausging, zeigt, daß noch und gerade in den destruktiven Prozeduren des Nouveau Roman die Fülle der „alten" Romane stumm am Werke war. Sie postierte die Literaturkritik mit strengen Worten als Bewährungsinstanz. Ob sie von der „Geschmeidigkeit" und „Regellosigkeit" der Gattung ausging oder, seltener, von ihrer allzu rigiden Reglementierung,105 die Erneuerungs- oder Umwälzungsbestrebungen wurden gemessen an dem, was sie antasteten. Im Roman habe „der Mensch der abendländischen Kultur" alles ein-

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gebettet, „was er erfand, und alles, was ihn übersteigt, also sein Schicksal". „In den Romanen findet man etwas für alle Geschmäcker, alle Lebenslagen, alle Philosophien. Der Romancier verleiht jeglichem seine Stimme, den Lebewesen ebenso wie den Dingen; der Materie schenkt er eine Seele und der Seele eine Wirklichkeit." Als „Roman des Individuums" oder als „Roman der Gesellschaft", als Roman im Stil der klassischen französischen Erzählung (die „ein Minimum an Zeit für ein Maximum an Wirkung" benötigt) oder als großer realistischer Roman des 19. Jahrhunderts (der „über die Zeit in der Weise der Natur selber" verfügt) - die Gattung lebte von einer unverzichtbaren Substanz: „Ob er sich auf das Schicksal eines einzelnen beschränkt oder ob er eine ganze Gesellschaft wiedererstehen lassen will, ganz gleich, wie groß seine Kunstfertigkeit oder sein Talent, sein Wille, etwas zu beweisen, oder sein Bemühen zu unterhalten auch seien, der Romancier e r z ä h l t e i n e G e s c h i c h t e : klar, logisch, packend genug, um sich dem Leser unmittelbar, ohne Abstand aufzudrängen." 106 D a ß das Erzählen, als Arrangement von Sätzen, unauffällig bleiben, daß etwas kunstvoll Hergestelltes sich dem Leser unmittelbar und mächtig, wie ein Stück Leben, auferlegen solle, daß der Romanautor Inhalt und Form in einem glücklichen Gleichgewicht halte - all dies wurde unter dem Kennzeichen „der Roman erzählt eine Geschichte" als ästhetische Struktur der Gattung begriffen und verteidigt. Eben dies definierte auch den Spielraum, innerhalb dessen Neuerungen von der Kritik akzeptiert wurden. Die nouveaux romanciers machten sich der Übertretung schuldig, denn sie führten geradezu exemplarisch vor, was geschehe, wenn man das Nachdenken über „technische Fragen", das ja an sich keineswegs neu sei, übertreibe, wenn die Romanfiguren ihre reiche psychologische Ausstattung verlören, wenn der Autor seine Funktion als Schöpfer eines Universums mit der eines beschreibenden Beobachters vertausche. Das, wovor das Genie einen Proust oder Joyce bewahrt habe, mache die neuen Romane - deren Verfassern, insbesondere Butor, Talent mitunter bescheinigt wurde - ungenießbar: die „Inflation" der Form und die „Auszehrung" des Inhalts.1107 Die harte Arbeit beim Lesen der überlangen Sätze, der enervierenden Wiederholungen und Verschachtelungen werde nicht belohnt durch die Entdeckung eines wichtigen Inhalts. Genaue Beschreibungen z. B . seien legitim, wenn sie, wie bei Balzac, die Lebenswelt des Helden präsentierten und diesen dadurch erklärten. 108 Nichts dergleichen geschehe in den neuen Romanen. 41

Wenn die konservative Kritik schon nicht durchweg zu dem Schluß kam, daß die Romanciers nichts zu sagen hätten und dies auch noch schlecht sagten, so war doch der einhellige Befund der einer schreienden Diskrepanz zwischen Inhalt (banal, simpel, uninteressant) und Form (überkompliziert), womit der Anspruch, einen neuen Realismus zu begründen, als ungerechtfertigt abgewiesen wurde. „Ich fürchte, daß bei diesen komplizierten Techniken, die angeblich die Wirklichkeit besser wiedergeben sollen, das Instrument und die Scharfsinnigkeit der Beobachtung mehr interessieren als die beobachtete Realität. Ich fürchte, daß diese Biologen ihr Mikroskop mehr lieben, als das, was sie dadurch sehen." Und was an Wirklichkeit durch die neuen Romane in den Blick gerate, seien „einige der trübsten und demütigendsten Momente unserer Existenz", das Banale, das Geschwätz, die „Inauthentizität" oder vielmehr „die authentische Mittelmäßigkeit". Diese würden getreulich kopiert, die eigentlichen Möglichkeiten literarischer Wirklichkeitsaneignung somit verfehlt. „Ebenso wenig wie die Malerei noch bestrebt sein kann, es an exakter Ähnlichkeit mit der Fotografie aufzunehmen, ebenso wenig kann der heutige Roman in der visuellen Darstellung mit dem Film und in der Getreulichkeit der Mitschrift mit stenographierten Protokollen und anderen Dokumenten konkurrieren." 109 Der Vorwurf an den Nouveau Roman, platte Kopie zu sein, ging eine offenbar nicht als widersprüchlich empfundene Verbindung ein mit dem Haupteinwand, die neuen Romane seien eben keine Abbilder von Wirklichkeit, sondern bewußt konstruierte Artefakte, die ihre „Gemachtheit" entschlossen ausstellten. Dieser aufwendige Beweis für die Konventionalität von Erzählformen wäre nicht nötig gewesen. Als Kunst sei der Roman, für jedermann einsichtig, eben nicht natürlich, sondern stets konventionell. Dann doch lieber die alten Konventionen. 1 ' 10 * Für die zitierten Kritiker stand fest, daß die im Nouveau Roman zerstörten Konventionen wertvoller waren als jene, die dem Publikum oktroyiert werden sollten. Mit den Angriffen auf die bisherige Romanform werde eine ganze Kultur getroffen und somit auch eine Moral. „Nun also ist die Literatur ihrer Werte, aller Moral, aller Philosophie, aller Gefühle und Schicklichkeiten entledigt." 111 * Durch die Reduktion des Wirklichkeitsausschnittes, den sie zeigten, durch die Auflösung der Persönlichkeit im Roman und durch die Verselbständigung der Technik verschuldeten die nouveaux romanciers eine wachsende Entfremdung zwischen Literatur und Leben, verschleuderten sie das Erbe der Romantradition und beraubten die literari42

sehe Kommunikation ihres eigentlichen Sinnes: auf dem Wege des Imaginären die Wirklichkeit individueller Existenz mitteilbar zu machen und zu erhellen (im doppelten Sinne: sie aufzudecken und zu verschönern). „Das wesentliche Problem des Romans ist nicht eine Frage der Darstellung, sondern eine inhaltliche Frage. Es geht darum, die Barrieren des Einzelbewußtseins zu durchbrechen. Wenn der Ttoman außer dem Vergnügen einen Nutzen bringt, dann eben den, zur Wiederherstellung der schwierig gewordenen Kommunikation von Bewußtseinsinhalten beizutragen."112 „Diejenigen, die die Politik, die Liebe, die Moral, Gott, den Menschen und die Welt aus dem Roman ausgesiedelt haben, müssen sich damit abfinden, niemals jenes immense Publikum zu erobern, das von den Werken der Phantasie nicht die Aufforderung erwartet, an allem zu verzweifeln, sondern eine Kraft, die zu leben hilft." 113 Nicht „Formalismus" - so wie Nathalie Sarraute ihn ihren Kritikern zum Vorwurf machte: als stures Festhalten an einstmals bewährten, klassisch gewordenen Formen - kennzeichnete die konservative Kritik. Sie verteidigte nicht Formen, sondern eine komplexe Literaturkonzeption. Die Argumente der Literaturkritik markierten genau den Punkt, an dem Selbstverständnis und Terminologie der nouveaux romanciers querstanden zu den eigenen Texten, ebenso wie zu herrschenden Ansichten über Literatur. Denn indem Sarraute, Butor, Robbe-Grillet einen neuen Realismus für sich beanspruchten, ließen •sie sich ein auf den Sinn, den dieser Begriff aus einer traditionellen und zeitgenössischen Praxis des Schreibens, des Lesens und der Rede über Literatur bezog. Fabel, Chronologie, reich ausgestattete Individuen, unauffällige (dem Inhalt „angepaßte") Form wollte die Kritik erhalten wissen wegen der dieser Substanz des Romans zugeordneten Funktionen. Sie waren das Objekt, das die Geste des Schützens und Bewahrens meinte. In Paraphrase der zitierten Äußerungen lassen sich mindestens drei solcher Funktionen erschließen. Zu ihnen gehört erstens die Eigenschaft des Romans, Tabernakel einer Kultur zu sein: In den Roman „hat der Mensch der abendländischen Kultur . . . sein Schicksal" eingebettet. Immenses Reservoir und Buch seiner Abenteuer, spiegelte der Roman „dem abendländischen Menschen" die Bilder zurück, die er entwarf und deren er bedurfte, als er Geschichte machte. Der Roman trug dazu bei, daß eine Kultur sich bildete und sich erkannte an der Weise, wie die sie tragende Klasse „die Politik, die Liebe, die Moral, Gott, den Menschen und die Welt" in Geschichten ansiedelte und erzählte. Angebahnt im 43

18. Jahrhundert, erfuhr diese Funktion des Romans ihre Glanzperiode, ihr goldenes Zeitalter, im 19. Jahrhundert. (Die nouveaux romanciers meinten denselben Sachverhalt, als sie es dem Roman zum entscheidenden Nachteil rechneten, daß er die mit Aufstieg und Herrschaft der bürgerlichen Klasse am engsten verbundene Gattung sei.) Zweitens vermag der Roman, auf den Leser zu wirken als „eine Kraft, die zu leben hilft": Dies kann er unter der Bedingung, daß seine packende Geschichte sich dem Leser auferlegt wie ein wirkliches Erlebnis, wodurch vermittelt die imaginäre Welt, in der er während des Lesens lebt, auf vielfältige Weise in seine alltägliche Welterfahrung eingeht - als Erklärung, Vorweis eines Sinnes seiner Existenz, als Bekräftigung, Trost, Kontrast und Zufluchtsort, als Angebot von Handlungs- und Verhaltensmöglichkeiten, als Fundus beeindruckender, einleuchtender, anwendbarer Sätze und anderes mehr. (Diese Funktion des Romans attackierten die nouveaux romanciers, weil sie an Illusionserzeugung gebunden sei. Damit meinten sie zunächst gleichermaßen ideologische Illusionen - eine mystifizierende Darstellung von Wirklichkeit, durch die Geschichte um Kredit und Verbindlichkeit gebrachte Sinn-, Wert- und Ordnungsvorstellungen, die in Romaninhalten und Erzählstrukturen jedoch konserviert wurden - wie auch das Funktionieren ästhetischer Wahrnehmung vermittels der, nun freilich bewußt vollzogenen und gewollten Illusion, mit einem Stück Leben konfrontiert zu sein.) Drittens schließlich sei der Roman Modellfall einer geglückten Verständigung und könne somit „zur Wiederherstellung der schwierig gewordenen Kommunikation von Bewußtseinsinhalten" beitragen. Daß „der abendländische Mensch" sich im Roman gestalten und wiederfinden konnte, daß der Romanleser eine imaginäre Welt wie seine alltägliche Wirklichkeit erfährt und beantwortet, setzt - auf j e besondere Weise - einen kollektiven Konsens voraus. Daß literarische Abbilder als solche aufgenommen und anerkannt werden, schließt immer ein Moment des Wiedererkennens ein. Die Kommunikation von Bewußtseinsinhalten wird dann nicht „schwierig" sein, wenn die ideologische Übereinstimmung, die Möglichkeiten des Wiedererkennens und die Bereitschaft zur Anerkennung weitreichend sind. Diese Bedingungen, die offensichtlich als nicht mehr gegeben erkannt werden, soll der Roman (will er „außer dem Vergnügen einen Nutzen bringen") wiederherstellen helfen. Im Zusammenhang mit den anderen beiden Funktionen muß das heißen: Einer bedrohten Kultur haben die Schriftsteller zu Hilfe zu eilen, indem sie im Rahmeß 44

dieser Kultur entstandene und zur Blüte gelangte Mechanismus sowie Inhalte ästhetischer Kommunikation bewahren und beleben. (Diesen Dienst verweigerten die nouveaux romanciers. Sie lehnten es ab, sich mit dem existierenden Publikum in der erwarteten Weise zu verständigen. Die „schwierig gewordene Kommunikation von Bewußtseinsinhalten" betrachteten sie als Chance, über die Erprobung neuer Erzählstrategien - wie Robbe-Grillet sagte - neue Leser zu erfinden.) In der Kritik am demonstrativen Gemachtsein der neuen Romane wurde die Konventionalität aller Kunst unterstrichen. Dabei handelte es sich nicht um ein bloßes Zugeständnis an den Nouveau Roman, das sich alsbald gegen ihn kehren sollte („Er hat bloß die Konventionen und Konfusionen gewechselt" 114 ). Vielmehr wurde ein entscheidender Punkt berührt. Nicht der Gedanke der Historizität/Relativität im Unterschied zu Naturgegebenheit/Überzeitlichkeit bestimmte diesen Begriff von Konventionalität, sondern der der Übereinkunft, des stillschweigenden Vertrages: Die Romane (Autoren) geben dem Publikum, was es braucht, und dieses wiederum wünscht und versteht, was man ihm anbietet. Die Auffassung von literarischer Kommunikation nach dem Bilde korrekter Vertragserfüllung (beide Seiten respektieren und erfüllen die gemeinsamen Bedingungen, die jeweils zu erbringenden Leistungen) trägt nicht nur den Abdruck eines Grundmusters bürgerlicher Ideologie, sie verweist auch deutlich auf ihre eigene realhistorische Basis. Mit den alten Konventionen verteidigte die konservative Kritik einen wie auch immer idealisierten oder ideologisierten, so doch nicht erfundenen Zustand der Verständigung zwischen bürgerlichen Romanautoren und bürgerlichem Publikum, in dem der literarische Austausch - vermittelt durch gemeinsame Weltbilder, Sprache/Codes, ästhetische Normen, Gattungsmuster etc. - weithin ungestört funktionierte, so daß Literaturkritiker ohne übertriebene Anmaßung im Namen eines großen Publikums und daher mit Vorliebe im Plural sprechen konnten: Wir wollen hören . . . , wir wollen nicht erfahren, wie . . . D a ß die zitierten Kritiker des Nouveau Roman an diesem Modell festhielten, obwohl sie sahen und begriffen, daß es sich in einem schon lange währenden, durch die Erschütterungen der bürgerlichen Gesellschaftsordnung bedingten Auflösungsprozeß befand, - eben dies machte ihre Position, nun auch im politischen Sinne, zu einer konservativen. Dem Nouveau Roman wurden zwar historische Gründe ebensowenig abgesprochen wie ein echtes Anliegen. Aber das waren Konzes45

sionen ohne Gewicht angesichts des erdrückenden Befundes über den Ertrag seiner Neuerungen. Mochte das Gros der zeitgenössische» Romanliteratur seicht, mochten die Zweifel an der Erzählbarkeit einer durch Kriege und Konzentrationslager veränderten Welt noch so berechtigt sein - die Krise des Romans hätte der Pferdekur durch den Noveau Roman nicht bedurft. Die neumodischen Doktoren könnten den Patienten von seiner wirklichen Krankheit nicht heilen: Es gäbe keine großen Romanschriftsteller mehr. Mit dieser traurigen Feststellung gewann die Kritik jedoch festen Boden. Sie konnte dem Schauspiel einer zerrissenen Welt und dessen düsterem Widerschein in literarischen Revolten getrost den Rücken kehren, um auf die Geburt neuer Genies zu hoffen. Gewißheiten, die eine Analyse literarischer Entwicklung hätte verweigern müssen, wurden durch Bekundungen von Glauben und Zuversicht, auch durch mutige Prophezeiungen kompensiert. Boisdeffre, für den die aktuelle Erschöpfung des Romans den hohen Perfektionsgrad der Gattung bestätigte, formulierte sein Credo („ich für meinen Teil glaube weiter an den Roman") in Abhängigkeit von der Weigerung zu glauben, „daß dieses Jahrhundert - das Jahrhundert des beschleunigten Geschichtsablaufes, der Einigung der Welt, der Befreiung der sogenannten unterentwickelten Rassen und bald auch der Eroberung des Weltraums - der Romanschöpfung keinen Stoff mehr zu bieten hätte" 115 . Alberes gab den „Geduldsspielen" der neuen Romane 1960 eine Lebenschance von vier bis fünf Jahren. 116 Sein historisches Schicksal, Produkt einer Krise zu sein 117 *, mußte den Nouveau Roman, nach Überzeugung seiner Kritiker, einem baldigen Ende zuführen. Für sie besaß er, als Intervall zwischen vergangener und künftiger Größe des Romans, als „Revolution", deren wichtigste Errungenschaft darin bestand, das Ausmaß der durch sie verursachten Verluste spürbar zu machen, eine derart prekäre Existenz, daß im Appell, er möge sich selbst ein Ende bereiten, nicht nur polemische Schärfe ihre Worte fand, sondern auch die Zuversicht, der Roman werde, über diese Entgleisung oder Erschöpfung hinweg, zu seiner eigentlichen Bestimmung zurückfinden. „Ihre Romane, Robbe-Grillet, haben stets nur auf dem Papier existiert. Ihre Personen haben niemals gelebt . . . verbrennen Sie ihre Bücher . . . befreien Sie uns von diesem Schimmel, der sich, jedes Jahr mehr, über unsere Literatur breitet . . . Sparen Sie Ihre und unsere Zeit. Studieren Sie das System der Maße und Gewichte, denn das ist Ihre Leidenschaft! Stille, die Welt dreht sichl Schweigen Sie! Wir wollen die Musik des Universums hören." 118 *

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Es hätte schon sphärischer Klänge bedurft, um den Kampflärm vergessen zu machen, den die Begegnung zwischen konservativer Kritik und neuen Romanen verursachte. Daß diese „stets nur auf dem Papier existiert" hätten, war kein so unsinniger Vorwurf, wie es scheinen kann. E r enthielt die Kriegserklärung an eine Literatur, die vor allem „literarisch" sein wollte und die sich weigerte, dem Leben weiterhin jenen Spiegel vorzuhalten, in dem sich das Publikum wiedererkennen konnte. Die Kluft zwischen Literatur und Leben, Schriftstellern und Lesern durch Rückbesinnung auf die „eigentlichen" Werte und Möglichkeiten der Romangattung zu schließen, die gestörte Einheit bürgerlicher Kultur wiederherzustellen und den Roman aufs neue zum privilegierten gesellschaftlichen Verständigungsmittel zu machen - diese von der einen Seite erhobenen Ansprüche an die zeitgenössischen Schriftsteller wies die andere zurück. Dabei konnte es letzterer übrigens leichtfallen, auch nationalistische Töne in bestimmten Reaktionen auf den Nouveau Roman zu vernehmen. 119 * Es sind gerade die politischen Inhalte des durch den Nouveau Roman provozierten Literaturstreits, die die Schärfe der Polemiken, die Bannflüche der einen („Verbrennen Sie Ihre Bücher . . . " ) und das selbstbewußte Ketzertum der anderen Partei hervortrieben. Die nouveaux romanciers empfanden die Illusion der Einheitlichkeit bzw. die Realität des Gespaltenseins jener „einen und unteilbaren Kirche" (s. Anm. 119) um so deutlicher, als sie ja an seiner Vertiefung bewußt mitarbeiteten. Daß sich freilich nicht alle Argumente gegen den proklamierten „neuen Realismus" des Nouveau Roman und seine Blockierung traditioneller literarischer Kommunikationsformen auf einen „typisch bürgerlichen", ideologisch und politisch konservativen, geschweige denn auf einen nationalistischen Standpunkt zurückführen lassen, wird noch zu zeigen sein. Es handelt sich dabei um das Problem, daß die nouveaux romanciers Romanfunktionen wie die der Organisation sozialer Erfahrung (der Durchbrechung der „Barrieren des Einzelbewußtseins", der Lebenshilfe . . .) z u s a m m e n mit den Erzählformen und der Romanauffassung, die sie bekämpften, als schlechthin bürgerlich verwarfen, statt den Versuch zu machen, sie praktisch und theoretisch neu zu definieren. Der Alp der Tradition und die herrschenden Ansichten über den Roman bewiesen darin noch ihre Macht, daß sie dem aus der Negation sich bildenden Literaturkonzept des Nouveau Roman vorstanden als Inbegriff dessen, was er n i c h t s e i n wollte. 47

Die neue" Kritik „ . . . die Rede des Schriftstellers sagt, was sie sagt - aber auch, daß sie Literatur ist." 120 Der Stellenwert und die Auslegung, die dieser Gedanke in Roland Barthes' berühmt gewordenem, 1953 erschienenem Essayband Le degré zéro de l'écriture (dt. Am Nullpunkt der Literatur) erhielt, machten dessen Literaturkonzeptiqn zu einem wichtigen Bezugspunkt für den Nouveau Roman. Barthes hat keine Romantheorie, auch keine Theorie des neuen Romans, entwickelt; sein literaturkritisches Interesse galt einigen Werken Robbe-Grillets. Von ihm stammen aber Thesen, Begriffe und die Skizze einer historischen Ableitung literarischer Moderne, die den geschichtlichen Sinn und die Funktion bestimmter neuer Schreibweisen zu benennen suchten. Damit erfuhr die modernité 121 * eine positive, d. h. eine nicht am traditionellen Roman als Norm oder als Gegenstand der Negation orientierte, Bestimmung. Sie stand im Gegensatz zur Auffassung einer einheitlichen Substanz der Romangattung, wie sie etwa die konservative Literaturkritik vertrat. 122 * Sie unterschied sich aber auch vom Traditionsverständnis der nouveaux romanciers, die sich in eine, im wesentlichen durch Namen gekennzeichnete, Linie des modernen europäischen und amerikanischen Romans stellten, zugleich aber recht undifferenziert von der Rückständigkeit der Romanentwicklung in Frankreich ausgingen. Wenn Barthes' kleines Buch, das erschien, als noch niemand von einem Nouveau Roman sprach, dessen Ideologie 'und Rezeption später spürbar beeinflußt hat, dann vor allem wegen seines Begriffs der „écriture" (Schreibweise) und seiner Funktionsbestimmung der „écriture moderne". Beides sind Schlüsselbegriffe einer Konzeption, die das Phänomen der beschleunigten Innovationen und der verstärkten Formbewußtheit im französischen Roman seit Flaubert zu erklären suchte und die (meines Wissens als erste im Nachkriegsfrankreich) ein kohärentes Deutungsmuster für die vielbesprochene Krise des bürgerlichen Romans vorschlug. Dieser Vorschlag ist in seiner Produktivität und seiner Begrenztheit für das Verständnis der mit dem Nouveau Roman verschärft hervortretenden Literaturproblematik wesentlich. E r soll daher im Mittelpunkt der Darstellung stehen. Die im engeren Sinne auf den Nouveau Roman bezogenen Thesen - Barthes' Lesart einiger Romane von Robbe-Grillet - werden in diesem Fall als Annex behandelt, der illustrieren mag, wie Barthes' Begriff der „écriture moderne" als Lektüreraster funktionierte. 123 48

„Am Nullpunkt

der Literatur": Roland Barthes' Begriff der écriture

Die Literatur - so hieß es in der Einleitung zur ersten Ausgabe — signalisiert etwas, „das sich von ihrem Inhalt und ihrer jeweiligen individuellen Form unterscheidet, nämlich ihre eigene Umgrenzung, durch die sie sich als Literatur kenntlich macht. Daher ein Ensemble von Zeichen, die ohne Bezug zur Idee, zur Sprache (langue) oder zum Stil (style) existieren und die dazu bestimmt sind, innerhalb der Dichte aller möglichen Ausdrucksweisen die Einsamkeit einer rituellen Sprache zu umgrenzen. Diese sakrale Ordnung geschriebener Zeichen setzt die Literatur als Institution ein-und tendiert offensichtlich dazu, sie aus def Geschichte herauszuziehen, denn keine Abgeschlossenheit wird ohne die Idee ewiger Dauer begründet. Jedoch, gerade dort, wo die Geschichte zurückgewiesen wird, wirkt sie am deutlichsten. Es ist also möglich, eine Geschichte der Literatursprache (langage littéraire) aufzuzeichnen, die weder die Geschichte der Sprache (langue) noch die der Stilarten ist, sondern allein die Geschichte der Zeichen, mit denen sich die Literatur als solche signalisiert. Man kann damit rechnen, daß diese Formengeschichte auf ihre - und das ist nicht die am wenigsten deutliche - Wejse die Verbindung (der Literatur - B. B.) mit dem Grund der Geschichte (l'histoire profonde) bekundet." 124 Die Literaturhaftigkeit eines Textes - seine Eigenschaft, die Zugehörigkeit und den Bezug zur Institution der Literatur formal zu signalisieren - beschrieb Barthes mit dem Begriff der écriture, der, systematisch gesehen, seine Bedeutung durch die Unterscheidung von langue und style erhielt. Unter langue verstand Barthes, im Anschluß an Saussure, ein System von Konventionen, das j e d e m Mitglied einer Sprachgemeinschaft vorgegeben ist und vom einzelnen weder geschaffen noch verändert werden kann. Den style definierte er, im Unterschied zur traditionellen Stilistik, nicht als bewußte, absichtsvolle Auswahl sprachlicher Mittel im Hinblick auf ästhetische Zwecke, sondern als „eine prärationale, unreflektierte Emanation der unbewußten Schichten des Individuums" 125 *; als eine an Körper und individuelle Vergangenheit gebundene „autarke Sprache (langage), die allein in der persönlichen und geheimen Mythologie des Autors wurzelt, . . . wo sich ein für allemal die großen verbalen Themen seiner Existenz einnisten"126. Die Sprache als der allgemeine, unpersönliche Horizont, auf den sich der Schriftsteller ganz selbstverständlich bezieht, und der Stil als Vertikale, als der „private Teil des 4

Burmeister, Nouveau Roman

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Rituals", hinabreichend in die Geheimnisse einer „in den Körper eingeschlossenen Erinnerung" 127 , können beide nicht die Ebene sein, auf der der Schriftsteller eine Wahl trifft, Verantwortung übernimmt, sich engagiert. „ . . . zwischen der Sprache und dem Stil gibt es Raum für eine andere formale Realität: die écriture. In jedweder literarischen Form findet man die allgemeine Wahl eines Tones oder, wenn man so will, eines Ethos und genau hierin individualisiert sich der Schriftsteller auf deutliche Weise, weil er hier sich engagiert. Sprache und Stil sind Gegebenheiten, die jeder Sprachproblematik vorausliegen; Sprache und Stil sind das natürliche Produkt der Zeit und der biologischen Person. Jedoch die formale Identität des Schriftstellers wird wirklich befestigt erst außerhalb der Einrichtung grammatikalischer Normen und außerhalb der Konstanten des Stils, dort, wo das geschriebene Kontinuum, zunächst gesammelt und eingeschlossen in einer vollkommen unschuldigen Sprachnatur, schließlich zu einem totalen Zeichen, zur Wahl eines menschlichen Verhaltens, zur Bejahung eines bestimmten Gutes wird, den Schriftsteller somit in die Offenbarung und die Mitteilung von Glück oder Unglück einbindet und die normale und zugleich besondere Form seiner Rede mit der immensen Geschichte der anderen verbindet. Sprache und Stil sind blinde Kräfte; die Schreibweise ist ein Akt geschichtlicher Solidarität." 128 In dieser Fassung war die écriture kein theoretischer Begriff, der etwa analog zur „literaturnost" der russischen Formalisten - die Entwicklung eines methodischen Instrumentariums zur Beschreibung und Klassifizierung eines reichen empirischen Materials angeleitet hätte. Seine Leistung bestand vielmehr darin, daß er eingefahrene Vorstellungen und Reden über die Rolle literarischer Formen (insbesondere ihre Beziehung zum Inhalt) sowie eine noch frische Theorie des literarischen Engagements - in Sartres Was ist Literatur? (1947) - zu d r e h e n versuchte, indem er eine neue (hierin dem damals in Frankreich noch nicht rezipierten russischen Formalismus verwandte) Perspektive vorschlug: die einer Literaturgeschichtsschreibung, welche zeigen könnte, daß und wie in den Permanenzen, den Umgruppierungen und Brüchen literarischer Formen die Geschichte einer Gesellschaftsformation oder einer Übergangsperiode arbeitet. Der üblichen Geschichte der Werke, Strömungen, Schulen, Autoren, Einflüsse wäre - dies Barthes' Forderung eine Geschichte der Schreibweisen an die Seite zu stellen. Barthes' eigener Beitrag zu einer solchen Geschichtsschreibung trug Züge einer 50

spekulativen und schematisierenden Konstruktion. Er bezeichnete die Mitte des 19. Jahrhunderts als den Zeitpunkt, an dem die seit 1650 unangefochten dominierende „écriture classique" in eine Vielzahl von Schreibweisen aufgesplittert sei. Das Bild einer vollkommen einheitlichen, in ihrer Grundstruktur zwei Jahrhunderte hindurch unveränderten klassischen Schreibweise war nicht das Ergebnis einer eingehenden historischen Analyse (und könnte literaturgeschichtlicher Überprüfung auch schwerlich standhalten). Dasselbe gilt für Barthes' Prämisse, Grundlage der intakten Einheit der écriture classique sei der homogene Fortbestand bürgerlicher Ideologie „ohne jede Spaltung, bis 1848" 129 gewesen. Obwohl also seine Bewährung in konkreten Untersuchungen noch ausstand, hatte Barthes' Entwicklungsschema einen unmittelbaren Wert dadurch, daß es Breschen in eine Ideologie schlug, die unbeirrt an der Einheit und Unteilbarkeit der „République des Lettres" festhielt, die den Roman als Depot universeller Wesenskräfte des abendländischen Menschen ansah, die Formen nur unter dem Aspekt ihrer instrumentalen und ornamentalen Funktion für die Aussage, den Ideengehalt, das Anliegen der Werke reflektierte und die daher für alle diesem Raster nicht gefügigen Erscheinungen streng genommen keinen Begriff hatte. In bezug auf diesen Kontext besaß Barthes' Versuch, den historischen und moralischen Einsatz der „écriture moderne" seit Mitte des 19. Jahrhunderts zu bestimmen, einen deutlichen heuristischen Wert. Er schlug eine neue Problemstellung vor. Den Essays aus Am Nullpunkt der Literatur lag unausgesprochen die These zugrunde: Der zu beobachtende literaturgeschichtliche Einschnitt um 1850 trennt eine alte von einer neuen literarischen Problematik. Der veränderten Konstellation Rechnung zu tragen, erfordert eine neue Art, über sie zu reden, erfordert neue - bzw. den veränderten Gebrauch geltender - Begriffe, in erster Linie des Literaturbegriffs selbst. Barthes' Ausführung dieser (impliziten) These soll im folgenden kurz referiert werden, wobei ich mich auf seine Kennzeichnung des institutionellen Charakters von Literatur und des Konfliktes zwischen Schriftstellern und Literatur in der Moderne sowie auf seine Bestimmung der modernen Literatur als „Sprachproblematik" konzentriere. Daß ein Werk seinen Bezug zur Institution der Literatur signalisiert - dieser Gedanke hat bei Barthes einen anderen Sinn als etwa die (im vorangehenden Abschnitt zitierte) Feststellung, alle Kunst folge selbstverständlich gesellschaftlichen Konventionen. Steht hier das Modell einer zwanglosen Übereinkunft, eines „Vertrages" unter 4*

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Gleichgesinnten im Hintergrund, wird dort gerade der Zwangscharakter des gegen die Alltagskommunikation abgeschlossenen Rituals einer „écriture de classe" betont. Während die konservative Kritik dazu tendiert, den institutionellen Status von Literatur zu übersehen oder zu naturalisieren, legt Barthes ihn eindeutig fest. Literatur als Institution - das sei das überkommene Normensystem der französischen Literatursprache, im Ursprung basierend auf einer von allen volkstümlichen, spontanen Momenten gereinigten, auf Klarheit fixierten, minoritären Sprechweise, die mit Aufstieg und Herrschaft der Bourgeoisie universellen Geltungsanspruch und gesamtgesellschaftliche Geltung erlangt habe. („Politische Autorität, Dogmatismus des Geistes und Einheitlichkeit der klassischen Sprache sind . . . Gesichter ein- und derselben Bewegung." 130 ) Für Barthes entsteht die écriture moderne aus einem Konflikt zwischen d e m Schriftsteller und d e r Literatur. Mit dem Aufbrechen der Klassenwidersprüche innerhalb der bürgerlichen Gesellschaftsordnung sei der bis dahin mehr oder weniger problemlos angenommene „Gebrauchswert" der überlieferten Formen in die Krise geraten. Auf den Verlust der universellen Repräsentanz bürgerlicher Weltanschauung habe der Schriftsteller mit einem schlechten Gewissen reagiert, mit dem Gefühl, an einem geschichtlich kompromittierten Ritual teilzunehmen. „Bisher hatte die bürgerliche Ideologie selbst das M a ß des Universellen geliefert und es unbestritten erfüllt. Der bürgerliche Schriftsteller, einziger Richter des Unglücks der anderen Menschen, war, da sich ihm gegenüber niemand befand, der ihn hätte mustern können, noch nicht zwischen seiner sozialen Stellung und seiner geistigen Berufung zerrissen. Von nun an aber erscheint diese Ideologie nur noch als eine unter möglichen anderen; das Universelle entgleitet ihr, sie kann nicht über sich hinausgehen, ohne sich zu verurteilen; der Schriftsteller wird zur Beute einer Doppeldeutigkeit, da sein Bewußtsein sich nicht mehr vollständig mit seiner Stellung deckt." 131 Die Erfahrung von Literatur als besonderer Einrichtung, mit eigener Sprache, eigenen Regeln und eigener Tradition, erzeuge fortan ein permanentes Problem: Widerstand gegen die Institution (wie er sich in den unterschiedlichen Versuchen äußere, mit der écriture classique zu brechen) könne nur in deren Grenzen, also wiederum als Literatur, stattfinden - es sei denn, die Schriftsteller hörten auf zu schreiben. „Jeder neue Schriftsteller eröffnet in sich den Prozeß der Literatur; wenn er sie auch verdammt, gewährt er ihr doch immer einen Aufschub, den die Literatur benutzt, um ihn zurückzuerobern; mag er 52

auch eine freie Sprache schaffen, man reicht sie ihm als fabriziertes Produkt wieder zurück, denn der Luxus ist niemals unschuldig: E s ist diese abgelagerte, alte, durch den Druck all derer, die sie nicht sprechen, abgeschlossene Sprache, die er weiterbenutzen muß." 1 3 2 Während sich die Formprobleme früherer Schriftsteller allein auf die Rhetorik bezogen hätten, d. h. auf „die Ordnung der geplanten Rede zum Zweck einer Überredung" 1 3 3 , sei die seit Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzende Pluralität der Schreibweisen das Indiz einer anhaltenden Funktionskrise der bürgerlichen Literatur. Die von Barthes allgemein gehaltene These, die écriture sei jene Ebene, auf der ein Schriftsteller Verantwortung übernimmt, wurde formulierbar erst von einer bestimmten geschichtlichen Erfahrung und Sicht her: „Seit hundert Jahren haben Flaubert, Mallarmé, Rimbaud, die Goncourts, die Surrealisten, Queneau, Sartre, Blanchot oder Camus Wege der Integration, der Aufsprengung oder der Naturalisation der Literatursprache gezeichnet und zeichnen sie noch; aber der Einsatz ist nicht irgendein Abenteuer der Form, irgendein Gelingen der rhetorischen Arbeit oder eine besondere Kühnheit des Vokabulars." Weil gegen die Institution der Literatur (im genannten Sinn) gerichtet, wird jede neue Schreibweise zu einem Bekenntnis, dem Barthes die Bedeutung einer grundsätzlichen sozialen Stellungnahme zuordnet. „Von nun an will jede (Schreibweise B . B.) - die fein ziselierte, die volkstümliche, die gesprochene - der Initialakt sein, durch den der Schriftsteller seine bourgeoise Stellung auf sich nimmt oder deren Verachtung bekundet." 1 3 4 D e r Konflikt des bürgerlichen Schriftstellers mit seiner Klasse - verinnerlicht in seinem „unglücklichen Bewußtsein" - und dessen jeweiliger B e wältigungsversuch manifestieren sich als Form- oder Sprachproblematik (die für Barthes das Signum moderner Literatur schlechthin ist), als ein Dilemma. E s erwachse aus dem Verlangen des Schriftstellers nach Aufrichtigkeit, Spontaneität, Frische, Neuheit der Mitteilung einerseits und dem Zwang andererseits, ein bereits ausgebildetes Instrumentarium literarischer Formen in jedem Fall benutzen zu müssen, dessen Anspruch auf Geltung als Ausdruck allgemeiner menschlicher Wesenskräfte und Bedürfnisse geschichtlich hinfällig geworden ist. E i n Versuch, diesem Dilemma zu entgehen, sei im Roman eine demonstrative Artifizialität, durch erklärte und besessene handwerkliche Arbeit, dank deren der Schriftsteller sich selbst für die Form verantwortlich fühlen und das Gewicht seiner Arbeitsleistung (Mühe,

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Fleiß, Disziplin, Sorgfalt) an die leergewordene Stelle ästhetischer und moralischer Rechtfertigungen seines Tuns setzen könne (dies die „flaubertisation" der écriture). Eine andere Variante läge vor in den Versuchen, der Literatursprache ihre „Künstlichkeit" und „Besonderheit" auszutreiben durch Annäherung an die gesprochene Sprache (dies auf unterschiedliche Weise bei Proust, Céline, Queneau) ; auf diesem Terrain werde die Literatur dann nicht mehr nur mit ihrem eigenen, sondern mit einem sozialen Sprachproblem konfrontiert. 135 * Als widerspruchsvoll und prekär empfindet Barthes die Situation der modernen Literatur, die sich zu behaupten suche zwischen den Polen einer verlorenen Einheit und eines festgehaltenen Ideals: Literatur müsse universal sein; der Dichter soll für alle, zu allen, wie alle sprechen. Dieser Konflikt erzeuge und bestimme die doppelte Funktion der écriture moderne. Sie führe einen ständigen Prozeß gegen ihren eigenen Status, Literatur zu sein, und sie verkünde, im Aufbegehren gegen ihre Entfremdung, die Sehnsucht nach einem Gesellschaftszustand, in dem mit der Spaltung der Klassen auch die der Sprache aufgehoben sei: „Die Vervielfältigung der Schreibweisen setzt eine neue Literatur ein in dem Maße, wie diese ihre Sprache nur erfindet, um ein Projekt zu sein: die Literatur wird zur Utopie der Sprache." 136 Die écriture, verstanden als Austragungsort der seit hundert Jahren andauernden Funktionskrise der französischen Literatur, erhielt in Barthes' Überlegungen die Aufschlußkraft eines Symptoms. Barthes betrachtete die Weise, in der geschrieben wird, als die erste zugleich als die wesentliche - Information literarischer Texte. Besonderheit und historische Wandlungen der literarischen Aneignungsweise von Realität sollten am materiellen Bestand ihrer Sprachformen und an dessen Transformationen erkannt, abgelesen werden. Dieser - in bezug auf den ideologischen Kontext, in den er traf, neue und produktive - Vorschlag barg seinerseits Restriktionen, die schon angedeutet wurden: Erstens blieben die „formalen Realitäten", an denen der jeweils besondere Duktus von Schreibweisen zu fixieren wäre, unbestimmt. Barthes' écriture-Konzeption enthielt keine Spezifizierung von Textstrukturen oder von Strukturen einer bestimmten literarischen „Reihe". Für die Romangattung beschränkte sich Barthes auf die Ausdeutung einzelner - freilich fundamentaler Elemente, so des passé simple und der dritten Person Singular. Das Postulat von Individualisierung/Pluralisierung der modernen gegenüber Einheitlichkeit der klassischen Schreibweise verblieb im Rang

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einer anregenden Hypothese, auf der Basis intuitiver Beobachtung. (Dieser Mangel war situationsbedingt, und er ist gewissermaßen vorläufig, insofern Barthes zu den Anregern einer in den sechziger und siebziger Jahren entwickelten strukturalen Poetik gehört, deren jeweiliger theoretischer und methodologischer Ansatz sich freilich nicht unmittelbar und nicht allein aus dem Impuls von Am Nullpunkt der Literatur herleiten läßt.) Zweitens - und' dies prägte Barthes' Vorschlag einer Theorie der literarischen Moderne - wurde die besondere Bedeutung von écriture faktisch zum Synonym für Literatur (dem entspricht genau der Titel der deutschen Ausgabe). Barthes reduzierte Literatur als Institution auf: geltende Normen der Literatursprache/tradiertes Arsenal literarischer Formen und Konventionen. Die Funktionskrise bürgerlicher Literatur erhielt die Gestalt eines Konfliktes zwischen dem (Gewissen und Bewußtsein der) Schriftsteller und seinem Medium. In letzterem besteht meines Erachtens die Nähe der Literaturauffassung Barthes' zu Sartres Theorie einer engagierten Literatur (in Was ist Literatur?), als deren Gegenentwurf Le degré zéro de l'écriture ja konzipiert war. Im Unterschied zu Sartre versuchte Barthes jedoch, den genannten Konflikt zu objektivieren, d. h., an die literarischen Gestaltungsweisen selbst zu binden. Nicht die Moral und die Entscheidungen der Schriftsteller, im Sinne von Bewußtseinsvorgängen, sondern das Ethos, das ihre Schreibweisen zu erkennen geben, sobald man sie als Vergegenständlichung sozialer Stellungnahmen dechiffriert, wurde der Ausgangspunkt für Barthes' Überlegungen. Er transponierte die von Sartre als Konflikt zwischen Schriftsteller und Gesellschaft gefaßte Problematik auf die Ebene der écriture als den eigentlichen Austragungsort gesellschaftlicher Widersprüche in der Literatur. Mit dieser Verlagerung wollte Barthes, wie er später sagte, dem Sartreschen Engagement eine marxistische Begründung geben.137* In der Tat enthielt sein Projekt, die Geschichtlichkeit von Literatur an den Schreibweisen abzulesen, prinzipiell die Aufgabenstellung, das Ensemble von Bedingungen zu rekonstruieren, die gewissermaßen die Tiefengeschichte der beobachtbaren Veränderung von Schreibweisen konstituieren und auf die bezogen die écriture ihren symptomatischen Charakter und ihre Funktion als „Akt geschichtlicher Solidarität" bekommt - so daß ihre Formen weder als wechselnde Gefäße eines Wandlungsprozesses der Inhalte aufzufassen wären noch als materielle Gegebenheiten, die nur ihren eigenen Evolutionsmechanismen unterliegen, sondern eben als Realitäten, deren Organisationsweise 55

auf die Realität der gesellschaftlichen Verhältnisse verweist, unter denen sie hervorgebracht, gebraucht und verändert werden. Die Schwierigkeiten, eine solche Aufgabe - die einer materialistischen Formengeschichte - zu bewältigen, sind offenkundig. In Am Nullpunkt der Literatur hat Barthes sie dadurch gelöst, auch: umgangen, daß er der ecriture moderne eine einheitliche Literaturproblematik und dieser wiederum einen pauschal bestimmten Basisprozeß - d i e Krise der bürgerlichen »Gesellschaft seit 1850 - als Korrelat zuordnete. Daß hier die Zuordnung den Versuch einer materialistischen Ableitung, einer Rekonstruktion der tatsächlichen Beziehungen zwischen dem Symptom und seinem Entstehungszusammenhang ersetzt und daß in Barthes' Konzeption generell die Relation des Verweises, nicht aber die der Bedingtheit und gerichteten Abhängigkeit vor-, herrscht, führt zu einer Verkürzung seines materialistischen Ansatzes. In s e i n e m R a h m e n brauchen, stehen die Formeln zur Entzifferung des Phänomens der Moderne einmal zur Verfügung, keine wirklichen Fragen, also. Fragen mit unbekannter Antwort, mehr gestellt zu werden. Wenn von einer neuen Schreibweise im Prinzip gewußt wird, daß sie-Symptom einer zerrissenen Literatur ist, die sich gegen ihre eigene Entfremdung auflehnt, ohne sie anders aufheben zu können als im Vorgriff auf einen „absolut homogenen Gesellschaftszustand", „wo die Sprache nicht mehr, entfremdet wäre"138, dann ist für die moderne Literatur die Frage nach der Verbindung der Formengeschichte mit dem „Grund der Geschichte" und die Frage nach dem Inhalt der geschichtlichen Solidarität, die sie zum Ausdruck bringt, bereits geklärt und stillgelegt. Die Beobachtung neuer Formen entfaltet sich dann, relativ selbständig, auf der Folie eines schon etablierten Deutungsmusters und nicht im Hinblick auf dessen weitete Ausarbeitung; das Interesse gilt der Leistung neuer Schreibweisen vor dem Hintergrund von Gattungstraditionen, also ihrer Innovationsleistung innerhalb der literarischen „Reihe". Ebendies erscheint mir auch als charakteristisch für Barthes' einflußreiche Lektüre der frühen Romane von Alain Robbe-Grillet.

Barthes als Leser

Robbe-Grillets

Die Leistung der Schreibweise Robbe-Grillets bestand für Barthes in deren destruktiver Geste: Sie schreite zur Ermordung des Objekts und zur Vernichtung der Fabel. Daß Barthes ihren Vorzug gerade hierin sah, wirkte als Herausforderung, insofern er gewohnte (und 56

auch automatisierte) Wertungen mit einer anderen Sicht konfrontierte. D i e s e machte sich Robbe-Grillet dann teilweise zu eigen, und sie spielte in der späteren, durch Dans le Labyrinthe ( 1 9 5 9 ; dt. Die Niederlage von Reichenfels 1960) und L'année dernière à Marienbad (1961; dt. Letztes Jahr in Marienbad 1 9 6 1 ) 1 3 9 * ausgelösten D e b a t t e über die humanistische oder subjektivistische Wende des Autors eine Rolle als Gegenstand der Kontroverse. 1 4 0 * A n den beiden früheren Romanen Le Voyeur (1955; dt. Der Augenzeuge 1957) und La Jalousie (1957; dt. Die Jalousie oder Die Eifersucht 1959) faszinierte Barthes die Technik des Beschreibens und ihre Wirkung a u f s E r zählen. Robbe-Grillets Art zu beschreiben „ist ohne Alibi, ohne Dichte und ohne T i e f e , sie bleibt an der Oberfläche des Objektes und durchläuft diese gleichmäßig, ohne diese oder jene Eigenschaft zu bevorzugen. E i n e solche Schreibweise stellt also ganz das Gegenteil einer dichterischen Art zu schreiben dar . . . D i e Sprache ist hier nicht die Vergewaltigung eines Abgrundes, sondern direktes Sichanschmiegen an eine Oberfläche, sie hat zur A u f g a b e , das Objekt zu 'malen', das heißt, es zu liebkosen und allmählich längs seines R a u m e s eine ganze K e t t e von aufeinanderfolgenden N a m e n abzulagern, von denen kein einzelner es erschöpfen s o l l . " 1 4 1 D i e s e Beschreibungstechnik unterscheide sich von veristischer Genauigkeit durch die Privilegierung einer einzigen Wahrnehmungsweise : das Sehen. Ihre Funktion sei die einer Reduzierung der D i n g e . Sie besitzen nicht mehr eine Fülle sinnlicher Q u a l i t ä t e n - Aussehen, Gerüche, Tastbarkeit - , sie evozieren weder Erinnerungen noch Vergleiche, sie bedeuten nichts. E i n z i g optische Resistenz, bergen sie weder Geheimnis noch T i e f e . D i e Genauigkeit der Beschreibung funktioniere daher nicht als Annäherung, als Erschließung des Wesens der D i n g e . Sie konstituiere das O b j e k t als Phänomen, Erscheinung, Oberfläche. Veränderungsprozesse werden aufgelöst in eine additive F o l g e jeweils vollständiger, intakter Abschnitte einer in jedem erfaßten M o m e n t bereits vollzogenen Variierung. Dieses Verfahren w u r d e für BartHes bedeutungsvoll durch seinen realistischen und ideologiekritischen E f f e k t : E s entspreche dem tatsächlichen Funktionieren visueller Wahrnehmungen und es widerspreche einer bestimmten Z e i t a u f f a s sung. „ D a s optische Instituieren des Objektes ist . . . die einzige Form, die in das Objekt eine vergessene Zeit einbeziehen kann, die durch ihre Wirkungen, nicht durch die D a u e r , erfaßt wird, d a s heißt die des Pathetischen beraubt ist." 1 4 2 Robbe-Grillets Angriff auf das 57

„klassische" und „romantische" Objekt tangierte, nach Barthes, vor allem die Organisation des Raums, der „letzten Bastion" des traditionellen Romans. Als „Erfahrung einer Tiefe" habe der Roman sein Betätigungsfeld „immer in der Innerlichkeit des Menschen oder der Gesellschaft gesucht, ein Umstand, dem für den Romancier eine Mission des Ausgrabens und Zutage-Förderns entspräche. Diese endoskopische Funktion, die von dem gleichzeitig herrschenden Mythos vom 'menschlichen Wesen' unterstützt wurde, ist für den Roman immer so natürlich gewesen, daß man versucht ist, die Ausübung dieser Kunst (Schöpfung sowohl als Verbrauch) als ein Genießen des Abgrunds zu definieren. Der Versuch Robbe-Grillets . . . zielt darauf ab, den Roman auf der Oberfläche zu gründen, die Innerlichkeit ist ausgeklammert, die Objekte, die Räume und die Bewegung des Menschen darin sind in den Rang von Sujets erhoben. Der •Roman wird zur direkten Erfahrung der Umgebung des Menschen, . . . er ist irdisch, er lehrt, die Welt nicht mehr mit den Augen des Beichtvaters, des Arztes oder Gottes zu betrachten, Erscheinungsformen des klassischen Romanciers, sondern mit denen eines Mannes, der durch die Stadt wandert, ohne einen anderen Horizont zu haben als das Bild, das sich ihm bietet, ohne andere Macht als die seiner Augen." 143 Barthes' Plädoyer für einen Roman an der „Oberfläche" richtete sich gegen den sogenannten Essentialismus des Realismus des 19. Jahrhunderts und das mit ihm verbundene Erkenntnismodell, ohne daß freilich dieser Zusammenhang benannt und analysiert wurde. E r war in herrschenden Ansichten über Wesen und Aufgaben des Romans kompakt gegeben und wurde in dieser Gestalt als Ideologie zurückgewiesen. Der Vorgang der Ideologiekritik durch den Roman erschien bei Barthes als Reinigung, Entfernung, Entzug. Dieselbe Vorstellung fand sich in den Essays von Robbe-Grillet. Während dieser jedoch so argumentierte, als werde nach Abzug der „alten Mythen der Tiefe" ein leeres Terrain hervortreten, das neuen, unvorhersehbaren Sinnkonstruktionen und Entwürfen frei zur Verfügung stünde (daher die Zuversicht, eine neue Kunst werde dazu beitragen, „den neuen Menschen zu erfinden"), begriff Barthes das Streben zu einem Null-Zustand der Bedeutung als ein notwendiges und zugleich utopisches Projekt der modernen Literatur. Beiden gemeinsam war, daß sie die kritische und emanzipatorische Funktion neuer Schreibweisen in deren Versuch sahen, den Roman von Ideologie überhaupt zu befreien. 58

In dem Aufsatz Littérature littérale (1955) konstatierte Barthes die tendenzielle Vernichtung der Fabel in Le Voyeur. „So erscheint die Fabel in Le Voyeur: eines gesellschaftlichen und moralischen Inhalts beraubt, ausgesetzt an der Außenseite der Dinge, gelähmt in einer unmöglichen Bewegung auf ihre eigene Vernichtung hin, denn die Absicht Robbe-Grillets ist immer, daß die Welt des Romans sich endlich allein durch ihre Objekte aufrecht erhalte. Wie in jenen halsbrecherischen Übungen, bei denen der Equilibrist sich immer weiter aller Hilfsmittel entledigt, wird die Fabel allmählich immer mehr reduziert." 144 Dies begrüßte Barthes als den ersten Versuch, im Roman das zu erreichen, wofür die Lyrik Mallarmés ein großes Beispiel gäbe - „den Ausdruck von Negativität, d. h. für die Literatur die Quadratur des Kreises" 145 *. Mit Robbe-Grillet könnte der Roman in jene „tödliche Randzone" vordringen, „wo die Literatur sich zerstören will, ohne es zu können", im riskanten Versuch, „reine Feststellung", „Buchstabe", „buchstäblich" zu sein, sich jeder Deutbarkeit zu versperren und sich damit gegen ihre Vereinnahmung durch die „entfremdete Gesellschaft", gegen ihren eigenen „konstitutiv reaktionären Status" aufzulehnen. Robbe-Grillets Schreibweise ordnete Barthes die Funktion zu, das Romangeschehen zu entsymbolisieren und das Lesen von dem „Vorurteil" zu befreien, „demzufolge -wir dem Roman einen wesentlichen Inhalt zuordnen, den nämlich der Wirklichkeit, u n s e r e r Wirklichkeit; wir begreifen das Imaginäre immer als Symbol des Realen" 146 . Diese Entsymbolisierung nahm Barthes ihrerseits als Zeichen. Seine Bedeutung war durch die Theorie der écriture moderne bereits entschlüsselt. An Robbe-Grillets Schreibweise stellte Barthes einmal mehr die Bewegung der modernen Literatur zu jener Randzone fest, in der sie nur noch „in Gestalt ihres eigenen Problems existieren" 147 könne und sich damit ein reiches Reservoir erschließe - „die Exploration der irrealen Realität der Sprache" 148 . Dieser Befund hat die spätere Beschäftigung mit dem Nouveau Roman orientiert und dort zugleich (das wird an Jean Ricardous Theorie und Leseweise zu zeigen sein) eine spezifische Verkürzung erfahren: Das Interesse an Prozeduren der „Sprachexploration" im „modernen Text" wird sich außerhalb jener geschichtlichen - sozialen und moralischen - Problematik entfalten, die Roland Barthes' frühen Literaturbegriff bestimmte und seine Auffassung der écriture davor bewahrte, zu einem produktionstechnischen Begriff, Synonym für „Verfahren der Texterzeugung", 2u schrumpfen. Gleichwohl hat Barthes eine solche Entwicklung be59

günstigt. Dadurch, daß er die „Negativität" als wesentlichen Gestus der modernen Literatur begriff, legte er diese auf das, und sei es utopische, Streben nach gesellschaftlicher (ideologischer) Unverfügbarkeit fest. Ideologische Auffüllungen ihrer „reinen Feststellung" erhielten so den Charakter von zwar in der literarischen Kommunikation unvermeidlichen, aber im Grunde gegen den Geist der Texte gerichteten kulturellen Praktiken. Außerhalb der Entzifferung des Sprach- und Literaturproblems, das allen authentisch neuen Schreibweisen zugrunde liegt, gäbe es dann keine den Texten adäquaten Prozeduren der Bedeutungsermittlung mehr. Barthes' Entscheidung, die Rekonstruktion von Wirklichkeitsbezügen als „Vorurteil" zu betrachten, riskierte, mit der Zurückweisung einer Interpretationsart, die auf die Wiedergabe oder die Aufdeckung der „eigentlichen" Wirklichkeit durch deren literarische Modellierungen fixiert war, zugleich die Frage nach der Sinnbildung in modernen Texten zu eliminieren, genauer: sie allein unter dem Aspekt des Sinn-Entzuges, der Entideologisierung, der „rein literarischen" Bedeutung des Geschriebenen zu stellen. Literaturtheorie und Textanalyse wiederholen damit die Grundfigur, die sie ihren Gegenständen zuordnen: Sie existieren „in Gestalt ihres eigenen Problems". Das Methodenbewußtsein, das auf diese Weise gewonnen wird, geht einher mit der Tendenz, die Formengeschichte von ihren außerliterarischen Bedingungen und Funktionen abzulösen.

Probleme des Engagements Drei Diskussionen: Leningrad 1963. Havanna 1964. Paris 1964

Mit der Erneuerung des Romans, seiner Lösung aus konventioneller Erstarrung oder Routine, beabsichtigten die nouveaux romanciers, aus ihm wieder eine „ernsthafte Sache" zu machen. Damit tauchte ein Thema auf, mit dem schon in früheren Debatten um die Krise des Romans (so gegen Ende des 19. Jahrhunderts und in den zwanziger Jahren) ein drohender Funktionsverlust der Gattung - ihr Absinken in „Frivolität" - signalisiert worden war. Die Kontroversen um Krise, T o d , Revolution des Romans, die den Nouveau Roman von seiner Entstehung bis in die sechziger Jahre begleiteten, bezogen ihre Brisanz aus dem Konflikt gegensätzlicher Vorstellungen über die Aufgaben und Wirkungsmöglichkeiten von Romanen in der bestehenden Gesellschaftsordnung, zum Zwecke ihrer Verbesserung oder ihrer Kritik oder ihrer grundlegenden Umwandlung. So lag der Hoffnung auf eine Renaissance des Romans durch einen neuen Balzac oder einen neuen Proust sowie dem Vorwurf, der Nouveau Roman verrate d i e Kunst und verlasse d e n Menschen, das Interesse an bestimmten Leistungen der Literatur zugrunde, die, in Praxis und Theorie schon geraume Zeit vor dem Nouveau Roman in Frage gestellt, dennoch weiterhin Leitvorstellungen blieben und somit anzeigten, daß Wege zur Rettung des Romans als bereits vorgezeichnet und immer noch gangbar betrachtet wurden. Umgekehrt gaben die Plädoyers für einen neuen Roman zu verstehen, daß die Krisen der bürgerlichen Gesellschaftsordnung und ihrer Kultur zum Funktionsverlust von einstmals effektiven, d. h. als Formen der Weltaneignung wirksamen, Schreibweisen geführt hatten, daß somit die Erprobung neuer Erzählformen den Schauplatz eines nötigen Funktionswandels der Romanliteratur abgab. In den die Romanproduktion begleitenden theoretischen und programmatischen Äußerungen wurde dieser Funktionswandel unter Aspekten diskutiert, die sich grob in zwei Gruppen teilen lassen: Die einen betrafen Wirklichkeit (im weitesten 61

Sinne) als Feld der Erkenntnistätigkeit und der Entdeckungen von Literatur. Dort lieferte der Anspruch des Nouveau Roman, einen „neuen" Realismus zu begründen, das Stichwort für die Diskussion. Die anderen betrafen soziale und politische Wirklichkeit als Feld der Interventionen von Literatur. Dort knüpften sich die Auseinandersetzungen an die von den nouveaux romanciers entschieden vorgetragene Ablehnung, in ihren Romanen ein politisches Engagement einzugehen. Beiden Diskussionszusammenhängen ist gemeinsam, daß die nouveaux romanciers Bestimmungen für ihre eigene Praxis zunächst auf dem Wege der Umfunktionierung von Begriffen gewannen, mit denen sie weiterhin operierten, deren Bedeutung sie aber verkürzten. Denn gemessen an den Vorstellungskomplexen, gegen die sie vorgingen, war die von ihnen lancierte neue Auslegung der Begriffe gleichbedeutend mit deren Aushöhlung. Um dies für das Engagement zu verdeutlichen, soll knapp die Position umrissen werden, die den Anstoßpunkt bildete - die von Jean-Paul Sartre entwickelte Theorie der „littérature engagée".

Abkehr von der nlittérature engagée" In Was ist Literatur? (1947) 149 vertrat Sartre die These: Der Schriftsteller weiß, daß die Prosa, im Unterschied zur Poesie, Instrument der Enthüllung und Sinngebung ist. In der Prosa fungieren die Wörter als Zeichen (in der Poesie dagegen seien sie, analog dem Material der Musik und der bildenden Kunst, Objekte). Indem sie also auf etwas verweisen - auf Dinge, Situationen, Absichten etc., kurz: auf das, was sie bezeichnen - , werden sie zum Instrument der Vermittlung oder Mitteilung dieses anderen. Der Schriftsteller bediene sich der Wörter wie ein Sprecher, in kommunikativer Absicht. Er hat dem Leser etwas zu sagen, und er wählt dafür die Tätigkeit, einen Roman zu schreiben. Sein Engagement entspricht seinem Bewußtsein, daß er im Akt des Bezeichnens die Dinge sichtbar macht, enthüllt - und zwar in ihrer Veränderbarkeit und Veränderungswürdigkeit. Über einen bestimmten Ausschnitt der Wirklichkeit zu schreiben, bedeute somit, sich für seine Veränderung einzusetzen. Die Unabhängigkeit von Mäzenatentum und klerikaler Kontrolle, die die Literatur im Jahrhundert der Aufklärung erworben habe und kraft deren sie als Instrument der Emanzipation, als moralische und politische Kritik wirken konnte, müsse vom Schriftsteller im Nachkriegsfrankreich in 62

der Weise verteidigt und benutzt werden, daß die Literatur ein revolutionäres Bewußtsein erzeugen hilft. Für wen aber soll der bürgerliche Schriftsteller schreiben? Seiner eigenen Klasse könne er nichts geben als das Spiegelbild ihres Untergangs, vom Proletariat seinem virtuellen Publikum - sei er abgeschnitten durch die Kommunistische Partei, die von ihm den Verzicht auf seine Unabhängigkeit und Freiheit zur Kritik verlange. So hat für Sartre der engagierte Schriftsteller durch seine Werke ein neues Publikum heranzubilden (aus den kleinbürgerlichen Schichten und den nicht-kommunistischen Arbeitern), das er über das ästhetische Erlebnis der Lektüre zu der Erkenntnis führen werde, daß Humanität ohne sozialistische Revolution nicht möglich und daß eine sozialistische Revolution ohne die Erhebung des Menschen zum obersten Zweck nichts ist. In Sartres Theorie ist die Literatur als freie Schöpfung Modell für die Aufhebung von Verdinglichung und Entfremdung, ist sie auf Grund ihrer kommunikativen Kraft privilegiertes Mittel der Bewußtseinsbildung und ist das Engagement der Literatur Ausdruck und Kriterium der Moral des Schriftstellers, der mit seinem Werk eine Botschaft, einen Appell an den Leser richtet. Damit werden die Schriftsteller zur eigentlichen politischen Avantgarde (nicht zufällig ist für Sartre das verlorene Paradies die Situation der Schriftsteller im 18. Jahrhundert, allerdings die Situation so, wie sie sich in der Ideologie der Aufklärung selbst darstellte 150 ). Mit der Einschränkung nur, daß ihre Wirksamkeit abhängt vom freien Entschluß der Leser, den Angeboten der Literatur zu folgen. Wird die Literatur nicht gehört (oder erhört), hat sie nicht (den von Sartre ihr zugetrauten) Einfluß, wird der Schriftsteller, sofern er an seinen politischen Zielen festhält, das literarische mit dem direkten politischen Engagement vertauschen, wird er aufhören, Romane zu schreiben. Indem die nouveaux romanciers, zweifellos orientiert an Barthes' ecriture-Konzeption, für sich als Schriftsteller allein ein Engagement der Schreibweise gelten lassen wollten, wurde der Engagement-Begriff Sartres aufgespalten und zum größten Teil negiert. Namentlich Robbe-Grillets Auffassung vom Engagement besiegelte die Trennung zwischen objektiver Engagiertheit des Schriftstellers als Individuum (d. h. seinem Eingebundensein in die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen er lebt 1 5 1 *), seinem politischen Engagement (d.h. seiner Verantwortung als Staatsbürger) und seiner Arbeit als Schriftsteller. 152 * Der Begriffswandel via Aushöhlung signalisiert Umbrüche inner63

halb einer Literaturideologie, die ihrerseits den Druck der geschichtlichen Situation zu erkennen geben, auf die sie antworten. Eine Analyse des historischen Kontextes, in dem die kontroversen Ansichten über das, was Literatur kann und soll, ihren spezifischen Sinn erhielten - nämlich als unterschiedliche Arten, auf die erlebte Situation zu reagieren, sie zu verarbeiten - , eine solche Analyse kann hier nicht vorgelegt werden. Es sei aber wenigstens auf einige Merkmale hingewiesen, die für die geschichtliche Entwicklung im Nachkriegsfrankreich als charakteristisch gelten können. In seinem Buch Politische Mythen im Roman versucht Jacques Leenhardt - ausgehend von der Annahme, daß „eine wesentlich negative Erscheinung" nicht von einer „Zeit des Gleichgewichts" hervorgebracht werde - , jene Phase zu kennzeichnen, die als „soziales Korrelat" für den zunächst vorwiegend negierenden bzw. destruierenden Gestus des Nouveau Roman anzusetzen ist.153 Die fünfziger Jahre - politisch gesehen die Zeit des Kalten Krieges, politökonomisch die der Entfaltung des staatsmonopolistischen Kapitalismus in allen industriell hochentwickelten imperialistischen Ländern - bezeichnet Leenhardt für Frankreich als Knotenpunkt einer „Reihe von Erscheinungen", „die bis dahin eine relative Selbständigkeit oder zumindest weiterhin deren Anschein besessen hatten, die sich nun aber gegenseitig derart verstärkten, daß sie zu einer Wende der französischen Sozialgeschichte führten. Der verlorene Krieg (d. h. die Niederlage 1940 und das Fehlen von Vertretern Frankreichs in Jalta), die Auflösung des nationalen Sozialgefüges, Kollaboration, Kluft zwischen Sozialisten und Kommunisten, Aufstieg eines modernen Kapitalismus auf Kosten der kleinen und mittleren Unternehmen, der soziale und politische Brüche innerhalb der Bourgeoisie selbst zur Folge hatte, zwielichtige politische Rolle der Armee, fortschreitender Verlust des Kolonialreiches, all diese Erscheinungen trafen nun zusammen und besiegelten den Untergang eines politischen Systems, das in seinen Routinen zu sehr verhärtet war, um solchen Erschütterungen standhalten zu können."154 Das politische System der III. und IV. Republik brach mit dem Machtantritt de Gaulies' (1958) zusammen. Die soziale Basis dieses Systems war freilich schon seit langem geschwächt. Namentlich „die traditionell republikanische Ideologie", „die republikanische Treue" jener Teile der Bourgeoisie, die „das Regime seit der Verfassung von 1875 unterstützt hatten", war geschwunden. Die mittlere und kleine städtische und ländliche Bourgeoisie hatte bereits 1914 bis 1918 mit hohen 64

Opfern „ihren eingefleischten Patriotismus . . . bezahlt. Der zweite Weltkrieg sollte sie ein weiteres Mal hart treffen, nachdem sie durch den Geldwertschwund in den dreißiger Jahren bereits beträchtlich verarmt war. Das genügte ihr, um mit der Republik zu brechen, sei es, daß sie ihre Kapitalien im Ausland deponierte, sei es, daß sie, als es darauf ankam, Hitler Léon Blum vorzog. Durch die Kollaboration entscheidend kompromittiert, blieb von diesem wesentlichen Träger republikanischer Ideologie nach Kriegsende fast nichts mehr", auch wenn die dieser Klassenfraktion zugehörigen Individuen weiter existierten. „ . . . die IV. Republik krankte politisch am Fehlen dieser sozialen Basis. Deren ideologischer Auflösungsprozeß prägte das Denken der Nachkriegsjahre . . ." 155 Die thematischen Vokabeln der nouveaux romanciers -.Erfindung, Freiheit, Suche, Fragen, Erneuerung, Experiment - artikulierten das Erlebnis einer Phase gesellschaftlicher Umstrukturierung, in der die herrschende Klasse nicht mehr - und noch nicht wieder - in der Lage war, ihre Hegemonie mit Hilfe der Intellektuellen als ihrer „organischen" Ideologen zu sichern, auf die sie einen im Vergleich zu den gegenwärtigen Klassenkämpfen geringeren ökonomischen und politischen Druck ausüben konnte.156 Die den Pioniergeist eines Robbe-Grillet mitbestimmende Illusion, von leergefegtem Platze aus wären neue Wege zu suchen, unbehindert und unberaten durch die alten, verschwundenen oder verstellten Wegweiser, nährte sich auch aus einem spezifischen Empfinden von Geschichtslosigkeit oder geschichtlicher „Nullsituation". Die Hoffnung vieler, nach Kriegsende werde die Solidarität der Résistance in gemeinsame soziale Aktionen übergehen, mit dem Ziel, „die französische Gesellschaft zu verändern"157 (eine Hoffnung, von der Was ist Literatur? noch stark durchzogen war), hatte sich nicht erfüllt. Diejenigen Intellektuellen, die wie Bernard Pingaud, einer von ihnen, sagte - die bestehende Ordnung ablehnten und zugleich eine sozialistische Perspektive für ihr Land nicht sahen, erlebten damals die Geschichte als „blockiert", als vorläufiges „Vakuum"166. Rückblickend sahen sie in Slartres Entwurf einer „littérature engagée" „eine letzte Anstrengung, der Existenz und damit dem Roman als ihrer kritischen Widerspiegelung - einen globalen Sinn zu verleihen, dem sie sich verweigert. Das Engagement der Schriftsteller war mit der Befreiung einhergegangen. Ihr Rückzug folgt dem Umschlag in die Politik des Kalten Krieges. Als 1951 Samuel Becketts Molloy erscheint, kann man sagen, daß die Wende bereits vollzogen ist." 159

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Burmeister, Nouveau Roman

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Die Entscheidung der nouveaux romanciers, das Schreiben von Romanen weder als Handlung zu begreifen, die vom Projekt gesellschaftlicher Veränderung bewegt wird, die Literatur also nicht im Sartreschen Sinne zu engagieren, noch sie überhaupt in den Dienst einer progressiven geschichtlichen Bewegung zu stellen, war - das sollte hier gezeigt werden - eben auch davon abhängig, wie die geschichtliche Situation erfahren wurde. Ihr Bewußtsein, in einem „reduzierten Zustand der Geschichte" (Barthes) zu leben, ist ein vom Klassenbewußtsein bedingter, ideologischer - und einer Ideologiekritik unterziehbarer - Reflex der angedeuteten Situation. Jedenfalls ist er in Rechnung zu stellen, wenn über den Wandel von Funktionsauffassungen diskutiert wird. Zu Beginn der sechziger Jahre, als der Nouveau Roman zum Exponent der Modernität - oder, mit negativem Akzent: des Modernismus - im zeitgenössischen Roman arriviert und damit Gegenstand auch internationaler Literaturdiskussionen geworden war 160 *, provozierte sein Desengagement immer wieder Auseinandersetzungen um die Art der gesellschaftlichen Verantwortung, die Schriftsteller übernehmen können und sollen, um den Nutzen und das Wirkungsvermögen von Literatur. Es sollen drei Beispiele solcher Funktionsdebatten vorgestellt werden. An ihnen fällt auf, daß die Kontroversen, d. h. die gegenseitigen Vorhaltungen von „stets gültigen" oder „absolut überholten" literarischen Formen dort am schärfsten waren, wo die Frage nach den geschichtlichen Bedingungen ihrer Geltung bzw. ihrer Ablösung nicht gestellt wurde.

Die Leningrader COMES-Tagung

1963m*

In Leningrad trat Robbe-Grillet mit der These auf: „Der Schriftsteller weiß, per definitionem, nicht, wohin er geht, und er schreibt, weil er zu verstehen versucht, warum er schreibt." Deshalb sei es absurd, ihn zu fragen, weshalb und wofür er schreibe. „Wenn ich unbedingt auf die Frage antworten müßte: 'Warum schreiben Sie?', würde ich nur antworten: 'Ich schreibe, weil ich verstehen möchte, warum ich Lust habe zu schreiben.'" 162 Was heute allein zähle, sei die Veränderung der Romanformen, die notwendigerweise einen Bruch mit dem realistischen Roman des 19. Jahrhunderts einschließe. Wer an den traditionellen Formen festhalte, übernehme das von ihnen repräsentierte Weltbild. Der sozialistisch-realistische Roman 66

tue dies, also sei er rückständig. Im übrigen sei es ein Skandal, daß man „im sozialistischen Lager und in der bürgerlichen Welt dieselben Illusionen über die politische Macht der Kunst, dieselbe Verehrung für veraltete künstlerische Formen, dasselbe Vokabular der Kritik und letzten Endes dieselben Werte" 163 antreffe. Wurde von Robbe-Grillet ein universeller Weg des modernen Romans unterstellt, so verfuhr die Kritik am Modernismus zum Teil analog. Der Nouveau Roman sei gegenüber dem klassischen bürgerlichen Roman Rückschritt, Verfall, primitiv. E r beraube „die Gesellschaft realer und für sie bedeutsamer Werte" - Widerspiegelung der „realen Wirklichkeit", Inspiration durch „die Ideale des Humanismus, des Friedens und des Glücks", „Treue" dem Leben gegenüber und „Wahrheitstreue" als „Geheimnis des ewigen Erfolges, des Welterfolges", der „Roman spiegelt seinem ureigensten Wesen nach den breiten Strom des Daseins wider". Aufgabe des Romans sei es, die Totalität seiner Epoche auszudrücken. Der erkenntnistheoretische Skeptizismus und der ethische Nihilismus des Nouveau Roman verhinderten die literarische Aneignung der Welt und führten den Roman in eine tiefe Krise. 164 Die Konfrontation der Standpunkte - in einer Weise, die Ehrenburg zu der Bemerkung veranlaßt haben soll, er hätte bisweilen den Eindruck gehabt, einem Dialog unter Gehörlosen zu folgen 165 suchten einige Diskussionsteilnehmer zu überwinden, indem sie vorschlugen, die Fragen anders zu stellen. So versuchten z. B. Guido Piovene, Bernard Pingaud und Jean-Paul Sartre, die Wirklichkeitserfahrung bzw. die Situation der Schriftsteller in ihren Ländern genauer zu beschreiben und von dorther zu begründen, warum sie einen einheitlichen Weg des Romans und eine über die gesellschaftlichen Unterschiede hinweg gültige gemeinsame ästhetische und ideologische Basis des Romans heute nicht mehr für möglich hielten. „ . . . Unser Problem ist der Bruch mit der Geschichte" 166 . „Zwei Hauptmerkmale scheinen 'unsere Wirklichkeit' zu charakterisieren . . . Es ist eine Wirklichkeit, der wir unsere Zustimmung verweigern und die uns auf etwas anderes hindrängt. Bisher galt es als selbstverständlich, daß Kunst dann begann . . . , als man zu einer 'religiösen' Zustimmung zur Realität gelangt war, im Lichte ästhetischer Kontemplation. Wir spüren heute, daß gerade die Zustimmung die Kunst wenig voranbringt, ein bestimmter Grad von Verweigerung ist Bestandteil des dichterischen Impulses . . . die Realität, die auf Ulis Druck ausübt, trägt ihre Negation in sich."167 „ . . . eine Gesellschaft 5*

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im Verfall stellt dem Schriftsteller neue Probleme. Sie stellt sein Selbstbewußtsein und seine schöpferische Aktivität auf eine schmerzliche Probe . . . Diese Gesellschaft, die den Künstler einschließt und hervorbringt, prägt ihn gewiß, aber wir sind keineswegs dazu gehalten, diesen Autor deshalb als Dekadenten zu begreifen . . ,"168 Aus dieser Sicht führte die Differenzierung des zeitgenössischen Romans zum Vorschlag, nach den Bedingungen der Vielfalt von Schreibweisen zu fragen, statt das Unterschiedene der Zensur einer fiktiven Einheit zu unterwerfen. Die dominierenden Wörter der Leningrader Diskussion, Verantwortung und Wirklichkeit, konnten wie der in ihrem Namen ausgefochtene Streit zeigte - keine selbstverständliche und allgemeine Geltung beanspruchen. Das gemeinsame Vokabular diente der Rede über unterschiedliche Realitäten und unterschiedliche Weisen ihrer literarischen Verarbeitung. Wo dies erkannt und geltende Wertvorstellungen und Normen nicht schlechterdings relativiert, sondern in ihrem funktionalen Bezug zu den jeweiligen gesellschaftlichen (und im engeren Sinne: den Literatur-) Verhältnissen gesehen wurden, erwies sich die Auseinandersetzung als produktiv. „Weil der sowjetische Intellektuelle eine andere Realität erlebt, bindet ihn seine Verantwortung an ein Publikum, dessen allgemeinste Interessen er teilt, und nicht nur an sich selbst oder, wie wir sagen würden, an die Literatur. Ich habe bulgarische Schriftsteller sehr erstaunt, als ich ihnen erklärte, daß die französischen Schriftsteller nicht aus perversen Neigungen oder aus Verachtung versäumen, sich ans Volk zu wenden. Sie glaubten allen Ernstes, daß in Frankreich jedermann bereit wäre, uns zu lesen, daß nichts unsere Bücher hinderte, jeden zu erreichen, so als ob alle Franzosen in ein und derselben Welt lebten und das Wort 'wirklich' denselben Sinn für den Intellektuellen, den Arbeiter und den Bauern hätte."169 Ähnlich Nathalie Sarraute: „Unsere schriftstellerischen Bemühungen haben von meinen Freunden und auch von mir . . . kein sehr großes Opfer verlangt. Denn als wir zu schreiben begannen, wußten wir, daß unsere Werke, wie auch immer sie sein werden, nur eine begrenzte Anzahl von Lesern erreichen würden. Wir wußten, daß die, an die wir uns gerne gewandt hätten, keine Bücher lesen."170 Umgekehrt verwies Ehrenburg darauf, daß „der wesentliche Erfolg" der sowjetischen Literatur „weniger im Erfolg dieses oder jenes einzelnen Werkes besteht, als vielmehr darin, daß es ihr gelungen ist, mehrere Zehnmillionen intelligenter und anspruchsvoller Leser heranzuziehen. So werden die, die uns folgen - unsere jungen Schriftsteller 68

es sehr viel leichter haben, eine echte und große Literatur zu schaffen." 171 Im Rückblick hob Bernard Pingaud als wichtigen Ertrag der Leningrader Tagung hervor, daß sich die in Frankreich verbreitete und durch weitgehende Unkenntnis der Literaturen sozialistischer Länder unterstützte - Auffassung vom Rückstand der sozialistischen Literatur als korrekturbedürftig erwiesen habe. „ . . . die Idee eines Rückstandes entspricht nicht der Wirklichkeit. Sie setzt voraus, daß es einen einzigen Weg der Literatur gäbe, auf dem die westlichen Schriftsteller als Pioniere, die sozialistischen als Nachzügler erscheinen."172 Mit der heute vielleicht trivial anmutenden Einsicht, daß es nicht nur einen einzigen Weg der Literatur gibt, wurde die Aufmerksamkeit auf einen Umstand gelenkt, den namentlich Robbe-Grillets spektakuläre Diskussionsbeiträge ignorierten: daß nämlich die Komplexität der Bedingungen, unter denen neue Schreibweisen - und damit neue Funktionssetzungen - möglich und nötig werden, nicht zu reduzieren ist auf den Innovationsdruck, der von automatisch oder selbstverständlich gewordenen formalen Standards ausgeht. Unter der Voraussetzung nur dieses Entwicklungsantriebs muß eine politisierte oder eine sozial engagierte Literatur in der Tat als Ergebnis eines von außen herangetragenen Auftrages an die Schriftsteller erscheinen.

„ Formalismus oder literarisches 'Engagement"— Goytisolos Kritik an Kobbe-Grillet Die kubanische Zeitschrift Casa de las Americas veröffentlichte 1964 zwei Artikel173, in denen die Konfliktzone der damaligen Engagement-Debatten womöglich noch deutlicher wurde als auf der Leningrader Tagung. In Die von der Politik verfolgte Literatur wiederholte Robbe-Grillet seinen Protest gegen den fortgesetzten Druck auf die Schriftsteller, ihre Arbeit politisch zu rechtfertigen. Die für ihn skandalöse Tatsache, daß Schriftsteller, wo auch immer sie zusammenkämen, kaum über ihre Arbeit redeten, aber desto mehr über Politik und in der trivialsten Weise, kann er nicht anders als psychologisch erklären. Die Schriftsteller lebten „in der ständigen Furcht, daß man ihnen vorwerfe, welche zu sein"174. Goytisolo kritisierte in Formalismus oder literarisches Engagement Robbe-Grillets Literaturkonzeption als einen Frankozentrismus, dem offenbar verborgen bliebe, daß in vier Fünfteln der Welt die Literatur „ein Mittel des Trostes, eine 69

Orientierung für das Bewußtsein . .., eine Verteidigung gegen die Beleidigungen durch das Leben"175 sei. Robbe-Grillets Unterscheidung zwischen künstlerischem und politischem Engagement sei für die Länder Lateinamerikas und für ein Land wie Spanien sinnlos; wenn Analphabetismus, soziale Ungerechtigkeit und Undemokratie die normale Ausübung der Bürgerrechte verhinderten, wenn es keine politische Freiheit gäbe, dann „ist alles Politik, und dann verschwindet die Unterscheidung zwischen Schriftsteller und citoyen. In diesem Fall wird Literatur eine politische Waffe oder hört auf, Literatur zu sein, und verwandelt sich in einen Abklatsch von Literaturen anderer Gesellschaftsordnungen, die auf einem anderen Entwicklungsniveau stehen"176 - wie das Wuchern mäßiger Robbe-Grillets und zuvor die Flut mäßiger Faulkners und Kafkas in Lateinamerika gezeigt hätten. Goytisolos Kritik machte die blinde Stelle der Argumente RobbeGrillets gegen eine politisierte Literatur sichtbar: Während RobbeGrillets Zurückweisung des traditionellen Romans einen wie auch immer verkürzten Ansatz von Geschichtsbewußtsein einschloß, reduzierte seine Polemik gegen das soziale und politische Engagement der Literatur sowie gegen den sozialistisch-realistischen Roman als dessen Paradebeispiel Literaturgeschichte auf einen aktuellen Antagonismus zwischen neuen und veralteten Formen, künstlerischer Selbstbehauptung und äußerem Druck. Geriet dabei die eine Seite Suche nach neuen Formen - unter der Hand zur universellen Norm, fiel die andere - soziales und politisches Engagement der Literatur unter deren Zensur. Nicht gesehen wurden eben die politischen Bedingungen der Entpolitisierungstendenzen im Nouveau Roman und die gesellschaftlichen Bedingungen der forcierten literarischen Autonomiebestrebungen im Frankreich der fünfziger und sechziger Jahre, kurz: die Geschichtlichkeit des Vorsatzes, mit der bisherigen Geschichte zu brechen und „von nichts aus" etwas zu bauen.

Was kann die Literatur? „Gegenüber einem Kind, das stirbt, fällt La Nausee nicht ins Gewicht", so Sartre in einem Interview 1964.177* Ein traumatischer Satz; viele Sätze wurden gebraucht, um die Wunde zu besprechen. Die heftigen Weigerungen Robbe-Grillets, mit seinem Schreiben irgend jemandem oder irgendeiner Sache zu dienen und zu nützen, 70

hatten etwas von Beschwörungsformeln gegen das schlechte Gewissen von Schriftstellern, gegen ihre Neigung, sich durch die Gewichtlosigkeit der für sie wichtigsten Sache bedrücken zu lassen. Barthes' These, daß die gegenwärtig wichtige Literatur nur „in Gestalt ihres eigenen Problems"178 existieren könnte, fand ein Echo in Literaturdebatten, die bezeugen, auf welche Weise die Literatur zum Problem geworden war. Alte Fragen wurden erneut gestellt, weil alte Antworten in Frage gestellt wurden: ob und wie Literatur sich engagieren könne, wofür sie notwendig sei, was sie bewirke. 1964 organisierte die kommunistische Studentenzeitschrift Ciarte in Paris eine öffentliche Veranstaltung, auf der sechs Schriftsteller unterschiedlicher Richtungen (Simone de Beauvoir, Yves Berger, Jean-Pierre Faye, Jean Ricardou, Jean-Paul Sartre, Jorge Semprun) auf die Frage „Was kann die Literatur?" antworteten. Eingangs begründete Yves Buin, der damalige Chefredakteur von Clarté, das Interesse der Kommunisten an einer solchen Diskussion: Der Dialog mit den Schriftstellern sollte dazu beitragen, eine - unter dem Titel „Shdanowismus" angezielte - dogmatische, d. h. den tatsächlichen Bewegungen der literarischen Produktion gegenüber enge und unbewegliche Kunstauffassung innerhalb der Partei zu überwinden.179* Die Initiative von Clarté gehört in den Zusammenhang der Politik der „Öffnung", also der Erarbeitung jener bündnis- und kulturpolitischen Strategie der FKP, die auf der ZK-Tagung 1966 in Argenteuil ihre programmatischen und richtungweisenden Formulierungen erfahren hat.180* Die dort formulierten Prinzipien, Ziele und Aufgaben haben auch der Entwicklung marxistischer Literaturtheorie in Frankreich starke Impulse gegeben, wie u. a. die beiden - ebenfalls von einer kommunistischen Zeitschrift (La Nouvelle Critique) veranstalteten - Kolloquien Literatur und Linguistik (1968) und Literatur und Ideologien (1970) zeigten. Während dort literaturwissenschaftliche bzw. literaturtheoretische Fragen zur Diskussion standen, ging es den Veranstaltern der Debatte Was kann die Literatur? darum, mit der Anhörung unterschiedlicher Schriftstellermeinungen ein elementares Prinzip der „Öffnung" zur Geltung zu bringen: eine marxistische Literaturauffassung kann es nur geben, insofern eine Literatur existiert, eine Literatur mit eigener Dynamik . . . Der Revolutionär wendet sich der Wirklichkeit zu, er kämpft für ihre Veränderung, gewiß - aber ausgehend von den wirklichen Verhältnissen . . . Eingreifen in das, was in Bewegung ist, was geschaffen wird." 181 71

Im Unterschied zur Leningrader COMES-Tagung, auf der die Differenzen zwischen den französischen Teilnehmern hinter dem Versuch zurücktraten, die Bedingungen literarischer Produktion in ihrem Land zu erklären, wurden in der Pariser Debatte Richtungsunterschiede nicht nur deutlich, sondern auch zum Gegenstand der Auseinandersetzung, wofür das Arrangement der Diskussionsrunde sorgte : Jean-Pierre Faye und Jean Ricardou gehörten zur Gruppe Tel Quel, die ihre - in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre einflußreiche - „Theorie der textuellen Produktivität" zum Teil direkt als Kritik an Sartres Engagement-Konzeption entwickelte. Wir beziehen uns im folgenden nur auf die Partien der Debatte, in denen mit dem Nouveau Roman verbundene Funktionsauffassungen den ausdrücklichen Bezugspunkt bilden (Sempruns Kritik an RobbeGrillet) und sich eine Veränderung der Literaturtheorie abzeichnet, die, u. a. durch den Nouveau Roman stimuliert, dessen weiteren Konstituierungsprozeß mitbestimmen wird. (Diese Veränderung wird an der Kontroverse zwisohen Ricardou und Sartre/Beauvoir sichtbar.) Jorge Semprun knüpft seinen Diskussionsbeitrag an die Beobachtung, daß Schriftsteller auf die Frage, was die Literatur könne, oft ausweichend oder abweisend antworteten. Auch solche, deren Werke als wichtig oder interessant aufgenommen worden seien, zögerten nicht zu beteuern, die Literatur vermöge nichts. Als aktuelles Beispiel einer kurzentschlossenen Zuflucht zur „abenteuerlichen, aber bequemen Auffassung, die Kunst sei1 f für nichts' da",182 nennt Semprun RobbeGrillet, auf den er sich ausdrücklich nicht als Verfasser von Romanen, sondern als Theoretiker des Nouveau Roman bezieht.183* RobbeGrillets Kritik an einer utilitären Kunstauffassung könnten Marxisten nur teilen ; sie brauchten sich nicht „in der Verteidigung der Haltungen und Modelle zu verkrampfen, die Robbe-Grillet so sehr irritieren"184*. Sie werden aber die von ihm aufgerichteten bzw. übernommenen Trennungen nicht akzeptieren, d. h. „diese Spaltung zwischen dem Menschen und dem Bürger (citoyen), . . . zwischen Privatem und Öffentlichem, die eine . der Hauptquellen jeder Entfremdung ist"185. Für Semprun schließt der Begriff „Engagement" gerade die Momente zusammen, die Robbe-Grillet voneinander trennt. Engagement bezeichne — eine tatsächliche Situation: Der Intellektuelle ist niemals losgelöst (dégagé) von der Welt, so extrem der Formalismus seiner Arbeiten auch sein mag; - eine bestimmte Einstellung zum objektiven „Engagiertsein", so72

bald dieses bewußt wird: den Willen, Einfluß zu nehmen. (Die faktische Situation werde somit zur Quelle schöpferischer Aktivität: „Durch sein Engagement hört der Schriftsteller auf, von der Welt 'gegriffen' zu werden, er bekommt sie in den Griff." 186 ); ; - eine Problematik, „die nur die soziale Schicht der Intellektuellen betrifft". (Während der Arbeiter sich nicht in seiner täglichen, entfremdeten Arbeit engagieren könne, sondern nur auf anderer Ebene, in den Gewerkschaften und politischen Parteien, engagiere sich der Künstler unmittelbar in dem, was er produziert.187) Durch seine Begriffsdefinition postuliert Semprun einen Zusammenhang, dessen reale Existenzformen allerdings undeutlich bleiben: Jedes literarische Werk, in dem sich das Bewußtsein des Schriftstellers, nicht losgelöst von der Welt zu leben, und der daraus entspringende Impuls, auf sie (in irgendeiner Weise) verändernd einzuwirken, (irgendwie) ausdrücken, ist engagiert. Diese Ausuferung des Engagement-Begriffs ist, als Kontrast zu dessen Aushöhlung bei Robbe-Grillet, operativ, insofern sie eine Kritik an den genannten Trennungen intendiert. Vor allem unterstreicht sie, daß die Ablehnung einer zu engen Auffassung der (insbesondere politischen) „Aufgaben" von Literatur nicht dazu führen darf, die Frage nach ihren Wirkungsmöglichkeiten und ihren Wirkungen innerhalb der existierenden Gesellschaftsordnung überhaupt auszusetzen. Unter diesem Gesichtspunkt benutzt Semprun Robbe-Grillet als schlagendes Beispiel und läßt sich nicht auf die spezifische Wendung der Engagementproblematik bei Robbe-Grillet ein, der dem „Engagement in den und für die Formen" eine globale Funktion (den „neuen Menschen schaffen") und eine prinzipielle, nicht steuerbare Wirksamkeit zuschrieb (die neuen Formen könnten irgendwann einmal, auf unvorhersehbare Weise, Nutzen bringen - vielleicht sogar für die Revölution). Nach Sempruns Überzeugung kommt der Literatur in den Kämpfen um eine neue „Kultur der Leser" - die allein garantieren könne, daß es in Zukunft überhaupt noch Literatur geben wird eine unverwechselbare und unersetzbare (eben: eine „spezifische") Rolle zu, jedoch in Abhängigkeit von Aktivitäten anderer Ordnung. Die Bourgeoisie, die der Kritik durch die Literatur mißtraue, habe gelernt, sie zu entschärfen. „Die Literatur scheint tatsächlich ihre frühere Fähigkeit, Skandale hervorzurufen, eingebüßt zu haben. Alle literarischen, individuellen Revolten stranden, nach einigen Monaten oder Jahren, auf der Sandbank der öffentlichen Billigung. Aber eine Sache, eine einzige, erträgt die Bourgeoisie nicht: daß man ihr die 73

Macht nimmt. Also, Genossen, sorgen wir dafür, daß dieser Skandal eintritt."188 Sartres Was ist Literatur? enthielt einen Versuch, Literatur und Revolution als Einheit zu denken: Die engagierten Schriftsteller sollten Wegbereiter einer sozialistischen Gesellschaft, literarische und politische Avantgarde in einem sein. Semprun kritisiert an RobbeGrillet die Ausgrenzung politischer und sozialer Funktionen zugunsten der alleinigen „Revolutionierung" der Schreibweise. Während Semprun hierbei Engagement als B e g r i f f so bestimmt, daß der einen starken, quasi organischen Zusammenhang zwischen schreiben und die Welt verändern suggeriert, wird diese Einheit undeutlich, wenn nicht zweifelhaft, sobald das Engagement für die Veränderung der bestehenden Gesellschaft als aktuelle, unmittelbare, praktische A u f g a b e gestellt wird. Dieser Umschlag verweist auf ein Problem, das Semprun auch benennt und das seit Argenteuil unter französischen Marxisten verstärkt diskutiert und bearbeitet wird: die Rede von dem spezifischen Beitrag der Kunst und ihrer Unersetzbarkeit in der sozialistischen Revolution und Gesellschaft nicht nur als Parole oder als geheiligtes Prinzip zu behandeln, sondern theoretisch zu fundieren, damit „die P r a x i s " nicht „ P r a g m a t i s m u s sein oder bleiben wird" 189 . Sempruns Beitrag 1964 läßt - durch die letztliche Verlagerung der Frage: Was kann die Literatur? auf: Wird es überhaupt noch eine Literatur geben? - die Schwierigkeit erkennen, den Begriff des Engagements zum Eckstein des angestrebten theoretischen Fundamentes zu machen. Einen praktischen Wert hätte er aber auch hierbei, da er die Frage wachhält, wie denn das objektive Engagiertsein und das persönliche Engagement der Literaturproduzenten (oder dessen Ablehnung) in die Produkte hineinwirken und auf welche Weise diese wiederum den Lesern bestimmte Einstellungen zu ihrem eigenen Eingebundensein in gesellschaftliche Verhältnisse vermitteln können. Es ist im wesentlichen dieser, gegenüber der früheren Fassung (1947) veränderte, Sinn des Engagementbegriffs, den Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir in der Diskussion 1964 verteidigen, zum Teil in direkter Entgegnung auf die von der Gruppe Tel Quel (vertreten durch Jean-Pierre Faye und Jean Ricardou) vorgebrachte Kritik. Ricardou argumentiert - dies unterscheidet seine Position von den in dieselbe Richtung zielenden Attacken Robbe-Grillets - mit dem Anspruch, einen korrekten, wissenschaftlichen Begriff von Literatur 74

an die Stelle einer Auffassung zu setzen, die Tel Quel wenig später ausdrücklich als „typisch bürgerlich (sentimental, moralisch, nicht wissenschaftlich)"190 bezeichnen wird. Sich auf Roland Barthes' Unterscheidung zwischen Schreibenden (écrivants) und Schriftstellern (écrivains) berufend, definiert Ricardou Literatur als die Texte derjenigen, für die Schreiben nicht darin besteht, „eine im vorhinein gegebene Information mitzuteilen, sondern von der Absicht bestimmt ist, die Sprache als besonderen Raum" 191 zu erkunden. Während die „Schreibenden" Sprache als bloßes Vehikel der Informationsübertragung benutzten, sei sie für die Schriftsteller das Wesentliche: „ein Material, das sie mit unendlicher Geduld bearbeiten"192. Aus dieser Unterscheidung folgert Ricardou, daß der Gegenstand (sujet) eines literarischen Textes eben dessen Herstellung sei; der Schriftsteller schreibe nicht e t w a s , sondern er s c h r e i b t . Ricardous Literaturbegriff präjudiziert - in seiner Eingrenzung auf einen bestimmten Aspekt bzw. auf eine bestimmte Art von Literatur - seine Antwort auf die Frage: Was kann die Literatur? Die durch die „Ausübung der écriture" erzeugte „fiktive Welt" stelle ihre Struktur ( = die Struktur der Sprache) der Struktur der „realen Welt" entgegen und stelle diese somit auf die Probe, lehre sie neu sehen und „enthülle" sie. Diese kritische Funktion von Literatur ist für Ricardou verbürgt durch die Opposition unterschiedlicher Strukturen193*, sie ist die objektive und gewissermaßen zwangsläufige Leistung der écriture, unabhängig von den Intentionen des Autors, der gegenständlichen Bestimmtheit des Werkes und seiner Rezeption durch die Leser. Ricardou streicht damit nicht nur das die Sartresche Konzeption der „littérature engagée" beherrschende Problem: die Frage nach der gesellschaftsverändernden Wirksamkeit des über Literatur vermittelten politischen und moralischen Appells der Schriftsteller an ihr Publikum. Er reduziert das Lesen, die Realisierung der Textangebote, auf einen Nachvollzug der Bearbeitungen, die der écrivain am Material der Wörter und Sätze vorgenommen hat. Die Schwierigkeit, die die Engagement-Debatten signalisierten - in den veränderten Erzählweisen der nouveaux romans deren „Enthüllungen" und kritische „Urteile über die Welt" zu erfassen - , beseitigt Ricardou, indem er zu einem Apriori macht, was sich erst im Prozeß der literarischen Kommunikation herstellen kann: die Leistung von Schreibweisen. Dem vorausgesetzten Wesen von Kunst und Literatur fallen so gerade die Momente zu, die Ricardou dann an den Texten und ihrer Lektüre ausklammert. Die Literatur besäße, als Kunst, grundsätzlich eine 75

humanisierende und emanzipatorische Funktion:/ die Kunst ist jene d i f f e r e n t i e l l e Qualität, durch die ein bestimmtes höheres Säugetier M e n s c h wird." Schreiben hieße eo ipso „sagen, daß der Mensch existieren können soll . . . , das heißt: nicht verhungern darf"194. Durch ihre bloße Existenz sei die Literatur Protest gegen eine Welt, in der Hunger herrscht. Ricardou, der seine Position hier Stück um Stück aus der Negation Sartrescher Thesen entwickelt, läßt freilich dessen frühere Inthronisierung der Kunst unangetastet. In Was ist Literatur? sah Sartre „in der künstlerischen Tätigkeit und ihrem Produkt das Modell schlechthin für die Aufhebung der Verdinglichung qua Entfremdung"195. In der Debatte Was kann die Literaturl erklärt Ricardou: „Weit davon entfernt, sich' der Emanzipation des Menschen zu widersetzen, gibt die Literatur a l s K u n s t dieser Emanzipation i h r e n w a h r e n Sinn." 1 9 6 In Verkennung dieser grundsätzlichen Übereinstimmung (oder wenigstensÄhnlichkeit) argumentiert Ricardou so, als hätte Sartre mit seiner Theorie der engagierten Literatur die Reichweite von Literatur einengen wollen - etwa auf Propagierung fortschrittlicher Ideen im Dienste sozialer Veränderungen. Gleichwohl entstammt Ricardous Kritik nicht einem bloßen Mißverständnis und richtet sich ihre Energie nicht einfach gegen offene Türen. Die Reaktionen von Sartreund Beauvoir auf Ricardous Beitrag - sowie thematisch und zeitlich im Umkreis der Diskussion gelegene Äußerungen Sartres - lassen die tatsächlichen Differenzen genauer erkennen. Diese bestehen, umr es kurz und vereinfachend zu sagen, zwischen der Auffassung, Literatur sei wesentlich Arbeit an einem besonderen Material (Wortund Satzkörpern als Trägern von Bedeutungen), und der Auffassung,. Literatur sei wesentlich Mitteilung von Menschen an Menschen. Diese beiden Literaturbegriffe schließen einander nicht prinzipiell aus. Sie führen aber praktisch, auf Grund der unterschiedlich gesetzten Dominanzen, zur Ausblendung, Vernachlässigung, zum Ignorieren der jeweils als untergeordnet betrachteten Aspekte und somit im> konkreten Fall zu gegensätzlichen Positionen. Sartre hat nicht, wie Ricardou ihm unterstellt, die literarische Prosa als sekundäres „moment verbal", bloßes Transportmittel einer bereits fertigen Botschaft (auch nicht die Sprache als Ensemble von: Wörtern, die sich unvermittelt auf Sachen beziehen), aufgefaßt und behandelt. Wohl aber hat er die Organisationsweise sprachlicher Zeichen in literarischen Texten bzw. narrativer Formen im Roman. nicht zum Gegenstand seiner Fragen und Untersuchungen gemacht.. 76

Ihn interessierte an Literatur das, was auch seine eigene Haltung als Schriftsteller bestimmte: „Ich möchte etwas sagen, und ich möchte es anderen sagen, bestimmten Leuten, die für oder gegen Ideen oder Handlungen sind, zu denen ich selbst eine bestimmte Beziehung habe."197 Die „Doppelsinnigkeit" der Wörter - „einerseits sind sie nur Wörter - 'Literatur'; andererseits bezeichnen sie etwas und wirken in ihrer Art auf das, was sie bezeichnen, verändernd ein"198 müsse die Literatur ausnutzen, ausspielen, als Widerspruch aufnehmen, der ihren eigentlichen Antrieb darstellt. Diese Perspektive bedingte eine Konzentration auf das, was ein Text „zu sagen hat"; sie steuerte u. a. auch Sätze, die dem Vorwurf, Sartre betrachte die écriture als „unschuldig", als ein den jeweiligen Absichten anzupassendes, im Grunde beliebiges Mittel (als Hülle, Verpackung der Mitteilung), einen klaren Anhaltspunkt boten. Jedoch der Grund solcher Äußerungen war nicht Ahnungslosigkeit gegenüber der Formbestimmtheit literarischer Mitteilungen, sondern die in Sartres philosophischer Position begründete - und gegen die in den sechziger Jahren einflußreichen strukturalistischen Orientierungen verteidigte Auffassung von Literatur als Kommunikation. In der Debatte Was kann die Literatur? bezeichnet Simone de Beauvoir Literatur als „eine T ä t i g k e i t . . . , von Menschen für Menschen ausgeführt, um ihnen die Welt zu enthüllen, wobei diese Enthüllung eine H a n d l u n g ist". Eine unersetzliche Tätigkeit, weil „privilegierter Ort der InterSubjektivität". Es existiere eine selbe Welt für alle, aber jeder einzelne sei ihr gegenüber „en situation", auf je besondere Weise „bedingt" durch seine Vergangenheit, seine Klassenzugehörigkeit, seine soziale Lage, seine „Projekte", durch „die Gesamtheit dessen, was unsere Individualität ausmacht". Zur Kommunikation zwischen diesen individuellen Situationen, von denen jede einzelne die Totalität der Welt impliziert, verhelfe die Literatur. Sie ermögliche, „daß wir in dem kommunizieren, was uns trennt"199. Die Wichtigkeit des „Stils" - der für Beauvoir durchaus kein „sekundäres verbales Moment" ist - wird von dieser philosophischen Voraussetzung einer „detotalisierten Totalität" her begründet: „ . . . es gibt keine Literatur, wenn es keine Stimme gibt, wenn es also keine Sprache gibt, die irgend jemandes Merkmal trägt. Eine Sprache ist nötig, die jemandes Merkmal trägt. Ein Stil, ein Ton, eine Technik, Kunst und Erfindung sind nötig . . . ; der Autor muß mir seine Anwesenheit (présence) auferlegen; und indem er dies tut, erlegt er mir seine Welt auf", kommuniziert er mit mir.200 In ähnlicher Weise 77

argumentiert Sartre, vom Standpunkt des Lesers aus. Die Menschen, die lesen, suchen im Buch und geben dem Buch jenen einheitlichen, „totalen Sinn", den sie ihrem Leben nicht geben können, der ihnen in ihrem Leben ständig entgleitet. Die Literatur sei eine Aufforderung, diesen einheitlichen Sinn „in Freiheit, durch die Lektüre, zu realisieren". 201 Sartres Auffassung von Literatur als Kommunikation, wie er sie Mitte der sechziger Jahre vertritt, enthält Korrekturen seines früheren Begriffs von literarischem Engagement. Zwar gelte für ihn weiterhin, daß man nicht schreiben kann, „wenn man nicht meint, daß die Literatur a l l e s ist. Ich kenne keinen Schriftsteller, der jemals etwas anderes gedacht hätte. Zugleich ist aber offensichtlich - es sei denn, man glaubte, daß Hunger nichts anderes ist als das Wort Hunger - , daß die Wirklichkeit, daß jede Wirklichkeit die Literatur in Frage stellt und daß die Literatur in einer bestimmten Hinsicht n i c h t s ist. Ich möchte damit nicht sagen, daß es nicht zu allen Zeiten Bücher gegeben hat und Kinder, die sterben. Ich möchte nur sagen, daß zwischen dem Hunger des Kindes und dem Buch ein unüberbrückbarer Abstand besteht. Selbst wenn es die Erschütterung über den Hunger ist, die mich dazu drängt zu schreiben, werde ich doch niemals diese Kluft überbrücken. Um gegen den Hunger zu kämpfen, muß man das politische und ökonomische System verändern, und in diesem Kampf kann die Literatur nur eine sehr untergeordnete Rolle spielen. Eine untergeordnete Rolle, die jedoch nicht gleich null ist." 202 In dem Maße wie Sartre die der Literatur einst zugetraute Macht relativiert, wird sein Begriff des Engagements weiter, allgemeiner (in der Tendenz ähnlich wie bei Semprun) und dem genannten Verständnis von Kommunikation untergeordnet. In einem Interview gefragt, ob der Schriftsteller „seine Feder in den Dienst der Unterdrückten stellen" soll, antwortete Sartre, daß dies „die schlimmste, die verkehrteste und naivste Haltung" wäre: „ruhig in seinem Sessel sitzen und für die Ausgebeuteten Partei ergreifen". Was ein Schriftsteller jedoch tun müsse, „ist, die Wirklichkeit und die fundamentalen Probleme, die es gibt, nicht zu ignorieren. Der Hunger der Welt, die atomare Bedrohung, die Entfremdung des Menschen - ich finde es erstaunlich, daß sie nicht unsere gesamte Literatur prägen. Glauben Sie, daß man Robbe-Grillet in einem unterentwickelten Land lesen kann? Er fühlt sich nicht verstümmelt. Ich halte ihn für einen guten Schriftsteller, aber er wendet sich an die wohlsituierte Bourgeoisie. Ich wünschte, er würde sich dessen bewußt; 78

daß es Guinea gibt. In Guinea könnte ich Kafka lesen. In ihm finde ich mein Unbehagen wieder." 203 Die Forderung nach einer „littérature engagée" habe man oft falsch verstanden - so als solle sie sich mit allem beschäftigen, was ein soziales Problem darstellt, und den Leser zu politischen Aktionen bewegen. Es gehe jedoch nicht darum, den Leser „aufzuklären, sondern einfach darum, ihm eine Art totales Bewußtsein seiner selbst zu geben, zusammen mit der Empfindung, daß dahinter die Freiheit steht, daß er einen Moment der Freiheit erlebt hat, in dem er seinen gesellschaftlichen und anderen Bedingungen entschlüpft ist und sie mehr oder weniger deutlich begriffen hat. Wenn er diesen Moment der Freiheit erlebt hat, wenn er also während eines Augenblickes - durch das Buch - den Kräften der Entfremdung oder der Unterdrückung entkommen ist, dann wird er dies ganz gewiß nicht vergessen." 204 So unklar die Vermittlung dieses Freiheitserlebnisses mit dem Bewußtseinseffekt, den es provozieren soll, in Sartres Darlegungen auch bleibt - und bleiben muß, in Reflexionen über Vorgänge, die empirischer Beobachtung und rationaler Kontrolle weitgehend entzogen sind - , deutlich ist, gegen welche andere mögliche Rolle des Lesers Sartre sich wendet: Beschäftigt sich die literarische Suche nur noch mit sich selbst und enthält „das Werk alles, einschließlich seiner eigenen Ursache", habe der Leser nur noch die Freiheit, durch verschiedene Eingänge und in unterschiedlichen Richtungen dessen Linien zu folgen. Kritik und Reflexion finden dann allein im Werk statt als „Reflexion von bestimmten Zeichen über andere Zeichen". Seit Mallarmé habe die Literatur begonnen, sich selbst zu kritisieren. Diese „innere Kritik . . . , die ich im Nouveau Roman ausgezeichnet finde, dürfte uns aber nicht daran hindern, das in Betracht zu ziehen, was sie bedeutet. Denn die Veränderung von Bedeutungen geschieht nicht lediglich durch interne Modifikationen der Sprache, sondern auch durch die Wirkung der Bedeutungen aufeinander, was Ricardou zum Beispiel nicht berücksichtigt hat." 205 Sartre wendet sich gegen einen Literaturbegriff, der „schreiben" als intransitives Verb zugrunde legt und damit sowohl die Bezeichnungsfunktion der Sprache als auch den Adressatenbezug eliminiert. Wenn „alles im Werk" sein soll, wird dieses zum autonomen Objekt erklärt und der Leser zu dessen Mittel gemacht. Wird die Tätigkeit des Lesens darauf beschränkt, die inneren Bewegungen des geschriebenen Textes nachzuvollziehen oder zu entziffern, dann wendet sich die Literatur nicht mehr an den Leser, dann ist dieser nicht mehr Mitwirkender, Schöp79

fer zweiten Grades, derjenige, der die vom Autor geschriebene „Partitur ausführt", der das Werk erst realisiert. Was Sartre mit der Freiheit der Lektüre verteidigt, ist die Beteiligung des Lesers am Zustandekommen literarischer Kommunikation und damit einer Wirkung von Literatur. Simone de Beauvoir und Sartre begreifen Literatur als gesellschaftliches Verhältnis, wenngleich im Modus der Intersubjektivität und gebunden an die existentialistische Prämisse: Der Mensch macht die Geschichte, indem er die ihn bedingenden Verhältnisse durch das, was er produziert, verändert und überschreitet. „Der Mensch ist . . . das Produkt der Struktur, aber in dem Maße wie er sie überschreitet." In seiner Kritik am strukturalistischen Systemgedanken bekräftigte Sartre seine Überzeugung von der Freiheit des Menschen. „Das Wesentliche ist nicht das, was man aus dem Menschen gemacht hat, sondern d a s , w a s e r a u s d e m n a c h t , w o z u m a n i h n g e m a c h t h a t." Dieses Wesentliche, gleichbedeutend mit geschichtlicher Praxis, versteht Sartre als eine in ihrer Gesamtbewegung „vollständige Totalisation", die jedoch tatsächlich immer nur zu „partiellen Totalisationen" gelangt, die ihrerseits überschritten werden. Während die Literatur der Entstehungsort und die höchste Form der Kommunikation partieller Totalisationen sei, versuche die Philosophie, die ständige Bewegung der Totalisation zu d e n k e n und ihren „Sinn . . . immer aufs neue zu begreifen"206. Auf dem Hintergrund seiner Geschichtsphilosophie denkt Sartre Literatur immer unter der Idee der Universalität und Totalität, der Beziehung auf die Welt, die Epoche - was dem Prinzip der Intersubjektivität nicht widerspricht, insofern ja jedes Individuum die Totalität seiner Epoche impliziere. Ricardou dagegen repräsentiert eine Denkrichtung, die sich solch philosophischer Sicht verschließt und der großräumigen Bestimmung von Beziehungen zwischen Literatur und Welt die genaue, am Material der Texte gewonnene und überprüfbare Beobachtung von Operationen des Schreibens - der Erkundung und Kritik sprachlicher Möglichkeiten - entgegensetzt. Der sie charakterisierende Zug zur Verwissenschaftlichung und Objektivierung der Rede über Literatur geht jedoch einher mit einer deutlichen Beschneidung der Reflexionsgegenstände - statt literarischer Kommunikation: die Schreibweise - , die ihrerseits an einige, wie Ricardous Diskussionsbeitrag zeigt, recht problematische Vorentscheidungen über Wesen und Funktion von Literatur geknüpft ist: ein Vorgang, den Sartre in den damaligen Auseinandersetzungen als die Heraufkunft eines neuen Positivismus kritisiert hat. 80

In der Tat verengt eine Literaturtheorie, die sich mehr oder weniger darauf beschränkt zu untersuchen, wie Texte organisiert sind, auf drastische Weise den Problemkomplex, der mit dem Bewußtsein von der Verantwortung des Schriftstellers - und auch mit dem andersgearteten Postulat einer Verantwortlichkeit der Schreibweise aufgerufen ist. Die an narrativen Verfahren gemachten Entdeckungen bleiben in der von Ricardou praktizierten Lektüreweise (vgl. S. 138) eingeschlossen in die Bewegung von Kritik und Selbstkritik auf der Ebene der Texte. Ist der Bezug der Literatur zur Welt, zum Leser, zu gesellschaftlich wirksamen Bewußtseinsformen und Sinnsetzungen von vornherein als kritisch und emanzipatorisch bestimmt, stellt er dann im konkreten Fall kein Problem mehr dar. Die pauschal als typisch bürgerlich apostrophierte Literaturkonzeption Sartres wird, von solcher Position aus, zwar verworfen, nicht aber wirklich kritisiert. Ihr Ansatz, Literatur als Kommunikation zwischen Menschen zu denken, wird verlassen - fallengelassen somit auch der Impuls, jene Tätigkeit, die für Schriftsteller einen absoluten Wert haben mag, in ihren Bezügen auf andere - und auf anderes - als sich selbst erfassen zu wollen.

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Burmeister. Nouveau Roman

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Der „neue Realismus " Kontroversen um den Wirklichkeitsbezug des Nouveau Roman

Der eingangs beschriebenen Romankonzeption der nouveaux romanciers zufolge bildeten Formerneuerung und Wirklichkeitsentdeckung einen notwendigen Zusammenhang. Verworfen wurden bestimnite Weltbilder und Erzählweisen, nicht aber die Absicht, sich realen Vorgängen durch literarische Gestaltung anzunähern bzw. ihnen zu entsprechen. Daher das Bestehen auf Realismus. Für den Nouveau Roman war anfangs die Romanfunktion der D a r s t e l l u n g veränderter Realitätsbezüge und neuer Realitätsbereiche verknüpft mit dem Anspruch auf I d e o l o g i e k r i t i k (Austreibung der alten Mythen und Illusionen des humanistisch-rationalistischen Weltbildes), mit dem Anspruch auf E m a n z i p a t i o n (in der Formulierung Robbe-Grillets: den neuen Menschen schaffen) und auch mit der Hoffnung auf V o l k s t ü m l i c h k e i t . Nun waren jedoch alle diese Momente von Anfang an mit einer gegenläufigen Tendenz durchsetzt, so in der Abwehr eines politischen oder sozialen Auftrags der Literatur und vor allem im Streben, den Realismus des neuen Romans auf dessen Selbständigkeit gegenüber jeder nicht-literarischen Realität zu gründen. Für Robbe-Grillet war ein realistischer Autor „in der neuen Bedeutung, die wir zu definieren versuchen", der „Schöpfer einer materiellen Welt, mit visionärer Präsenz". 207 Materialität meinte hier den autonomen Status, die absolute Realität der geschriebenen Welt, ihre Unauflöslichkeit in einen anderen Sinn, dessen Symbol sie wäre, und ihre Unabhängigkeit vom „Realitätsprinzip". Die-an Robbe-Grillet besonders deutlich zu beobachtende Aushöhlung bis hin zur Verwerfung eines realistischen Programms war ein allmählicher, tastender und widersprüchlicher Vorgang, kein Vorsatz. Sicher ging es den nouveaux romanciers von vornherein nicht darum, zeitgenössische und gesellschaftliche Wirklichkeit literarisch zu übersetzen. Ihr Erkenntnisanspruch gründete sich auf die Überzeugung: Indem das literarische Werk seine Realität der ihm 82

vorausliegenden Wirklichkeit nicht nachahmend angleicht, sondern kreativ entgegensetzt, erzeugt es eine Perspektive, die zu Entdeckungen noch unerschlossener Realitätsaspekte, zu veränderten Wahrnehmungsweisen und Wirklichkeitsvorstellungen führt. „Die Entdeckung der Realität schreitet nur dann weiter voran, wenn man die verbrauchten Formen aufgibt." 208 In ihrer Eigenschaft als „Neuerer" verstanden sich die nouveaux romanciers als Realisten. Literaturgeschichtlich hatten sie damit (nur) insoweit recht, wie ja der Realismusbegriff ursprünglich - d. h. um die Mitte des 19. Jahrhunderts, als er in Kunsttheorie und Literaturkritik Einzug hielt - antithetisch gebraucht wurde und „der Anspruch, realistisch zu schreiben", sich seitdem immer auch auf „eine dichterische Gegenposition" bezog, „die die eigentliche, die wahre Wirklichkeit verfehlt habe". 209 Nun hatten aber die nouveaux romanciers den Bezug auf eine „eigentliche" Wirklichkeit ebenso aufgegeben wie das ästhetische Programm, „aus einer strukturell offenen Realität 'stimmige' Wirklichkeit zu formen" bzw. „eine 'Wahrheit' der Wirklichkeit" zu entdecken und zu gestalten. Gültig blieb für sie „Realismus" allein als „Methode der Wirklichkeitserfassung" 210 * auf dem Wege einer entmystifizierenden, desillusionistischen Demontage herkömmlicher Erzählformen, verstanden als „sprachliche Verfestigung von Perspektiven der Welterfassung". 211 Unter Berufung auf eine bestimmte Komponente des literarischen Realismus (des 19. Jahrhunderts) - die „Präzision der Beschreibung und im Gefolge davon die Tendenz des Bloßlegens und Enthüllens, den Impuls zur Desillusionierung und Entmythologisierung" 212 - opponierte der Nouveau Roman gegen das im 19. Jahrhundert dominant gewordene System literarischer Normen und Erzählkonventionen. Daher die Beanspruchung eines n e u e n Realismus. Die kontroversen Einschätzungen, die die nouveaux romans im Hinblick auf dieses Postulat erfuhren, zeigen recht deutlich seine Anfechtbarkeit. Als Name stand es über einer doppelten Veränderung des Werk-Wirklichkeits-Verhältnisses im Nouveau Roman; sie berührte sowohl.dessen erkenntnistheoretischen Aspekt, die Frage: „in welchem Sinn wird von Wirklichkeit gesprochen?", als auch den poetologischen Aspekt, die Frage: „in welchem Sinn wird von der Dichtung Wirklichkeit gefordert?" 213 Die Suche nach einer Wahrheit der Wirklichkeit war (sofern sie nicht überhaupt als Illusion abgewiesen wurde) ziellos geworden, durchdrungen vom Empfinden, daß eine solche Wahrheit nicht über Abbildungen vermittelt werden könne, sondern daß man nach ihr als nach etwas Unbekanntem und 6*

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Ungewissem tastend sucht, einen Schritt entwirft, einen neuen Entwurf macht und so fort, in einer unendlichen Annäherung, d. h. in einer absolut gewordenen Suche. D e r ideologischen Verunsicherung und Skepsis der nouveaux romanciers entsprach ihre Abkehr vom Ziel literarischer Wirklichkeitsnähe und Wesenserkenntnis: nicht Wahrheitsvermittlung, sondern Ermittlung dessen, wie Wirklichkeit erscheint i n A b h ä n g i g k e i t von der jeweils praktizierten Sicht. Hier setzte der für den Nouveau Roman charakteristische Verinnerungsprozeß an. Eingedenk des Anteils literarischer Wirklichkeitsbilder an der Formung und Einübung von Wahrnehmungsmustern, „deren verführerische Rückwirkungen auf die Weltsicht der Leser von Don Quijote bis Mme Bovary selbst wieder Literatur geworden sind" 214 , thematisierte der Nouveau Roman diese wirklichkeitsbildende Funktion des Romans, indem er seinen Realismus nicht auf die Spiegelung einer gegebenen Welt zu gründen suchte, sondern auf Selbstreflexion. Damit wurde - wie Wolfgang Preisendanz in einem Charakterisierungsversuch moderner Dichtung feststellt - in der T a t „das ganze Problem der Widerspiegelung, der 'dargestellten' Wirklichkeit auf eine andere Ebene verlegt. D i e Frage, was als/durch Dichtung gegenständlich wird, ist nicht mehr mit dem Blick auf das Verhältnis von Dichtung und präexistenter gegenständlicher Realität erörtert, sondern nur mehr mit Rücksicht auf die Sprache als Matrix der Weltaneignung und Konsistenzbildung. Dichtung wird bestimmt als Reflexion darauf, daß und wie der Mensch über Sprache verfügt, sie ist Reflexion auf die menschliche Welt als Sprachwelt; insofern ist sie ein Bilden von schon Gebildetem, Reflexion auf Reflexionsmöglichkeiten." 215 Sicher läßt sich diese auch für den Nouveau Roman wesentliche Ausrichtung nicht mit Urteilen wie „Realitätsbruch", „Abwendung von d e r Wirklichkeit", „Formalismus" und ähnlichem angemessen erfassen. Andererseits ist es aber auch problematisch, weiterhin von Realismus zu sprechen. Denn gleich welche Prädikate man hinzufügt - neu, phänomenologisch (vgl. S. 108), reflexiv 2 1 6 * - , immer entsteht die Schwierigkeit anzugeben, von welcher gemeinsamen Bezugsebene aus 'so unterschiedliche literarische Erscheinungen wie etwa das Romanwerk Balzacs und das von Robbe-Grillet ihrem Grundtyp nach als realistisch bestimmt werden können. Zumal sich der Nouveau Roman in der Negation jenes literarischen Systems herausbildete, das die mit dem bürgerlichen Realismus verbundenen Konnotationen selber geprägt hat. Diese Prägung wird gerade, im nichtspezialisierten und nicht auf literaturgeschichtliche oder ästheti-

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sehe Theoriebildung angelegten Umgang mit den Werken wirksam, in dem der Eindruck des Realistischen vom Vergleich und Urteil des Lesers abhängt und „Realismus dort registriert und anerkannt" wird, „wo sich Übereinstimmung mit der eigenen Wirklichkeitserfahrung, mit der eigenen, meist naiven, unreflektierten Wirklichkeitskonzeption zeigt - wobei einzuschieben ist, daß dieses Eigene weitgehend auf Dichtung als bewußtseinsbildenden Faktor zurückweisen kann". 217 Die Auseinandersetzungen um den Realismus der nouveaux romans sind Schauplatz der Konfrontation solch unterschiedlicher Literaturund Wirklichkeitserfahrungen. Sie zeigen, daß weder das Selbstverständnis der Schriftsteller noch literaturwissenschaftliche Klassifizierungen (im Sinne der Einrichtung neuer Realismusrubriken) das Problem auflösen können, das in der Ratlosigkeit und im Unbehagen von Lesern zum Vorschein kommt - daß nämlich Texte aus der Richtung des Nouveau Roman ebenso wie andere „unbehagliche Werke" der Literatur unseres Jahrhunderts „aufgehört haben, in einem bestimmten Sinn und d. h. für bestimmte Erwartungen realistisch zu sein" 218 .

Befunde der Kritik: ein reduzierter Realismus Ein häufiger Einwand gegen den „neuen Realismus" des Nouveau Roman bezog sich darauf, daß seinen Modellen der Wirklichkeit das Moment des Protestes, der Hoffnung, der Suche nach einem neuen Sinn fehlte. Geleitet vom Interesse an einer Veränderung bestehender Verhältnisse und vom Interesse an einer Literatur, die nicht davon abläßt, Instrument der Erkenntnis und Kritik zu sein, berief man sich auf das Wesen oder den Geist des Romans. Hierin äußerte sich nicht bloßer Traditionalismus, sondern der Wille, Funktionen des Romans zu erhalten, deren Bestimmung sich von der im einzelnen oftmals ähnlich argumentierenden „konservativen" Kritik unterschied. Diese verteidigte mit den Romankonventionen nicht nur literarische Spielregeln, sondern den ideologischen Sinn des Spiels: durch geschichtliche Umbrüche hindurch das unantastbare Bild d e s Menschen und den kulturellen Zusammenhang der bürgerlichen Gesellschaft zu bewahren. Eine andere Absicht leitete die Kritiker, die an den Roman die Erwartung knüpften, daß er seine seit jeher wesentliche Funktion weiter wahrnehmen werde - durch den Entwurf neuer Bilder eine „authentische" Sicht der Wirklichkeit, Widerstandsgeist und Antizi85

pation einer besseren Welt kommunizierbar zu machen. Den Roman als Umsetzung einer bestimmten Wirklichkeitserfahrung ins Medium der Literatur begreifend, richtete diese Kritik ihre Aufmerksamkeit - auf den Nachweis des Realitätsverlustes, d. h. der Begrenztheit der umgesetzten Wirklichkeitserfahrung im Nouveau Roman; - auf den Nachweis ästhetischer Verluste durch den reduzierten Zustand der Umsetzungsweisen: Die nouveaux romans seien bloßer Reflex (Neuauflage des Naturalismus) oder ästhetizistisches, von Realitätsbindungen zunehmend sich lösendes Spiel (l'art pour l'art); - auf die Ermittlung und die historische Erklärung der in den nouveaux romans zum Ausdruck gebrachten Wirklichkeitserfahrung, unter Voraussetzung einer gelungenen, adäquaten literarischen Umsetzung. In einem Essay mit dem Titel Literatur und Betrug beschrieb Jean Bloch-Michel die historische Situation, auf die die nouveaux romanciers mit resignativer Anpassung reagiert hätten: „Von den Enttäuschungen nach der Befreiung bis hin zur falschen Größe des Gaullismus, während der Kolonialkriege und in der übrigen Zeit, ganz zu schweigen vom Stalinismus und der Entstalinisierung, sind die Franzosen betrogen worden. Man hat sie belogen, und man hat sie zur Lüge gezwungen, sofern sie ihr nicht selber zustimmten. Einen falschen Sieg, eine falsche Revolution, falsche Größe und falsches Sendungsbewußtsein - das hat man ihnen angeboten, und in große Worte, die nichts mehr bedeuteten, eine Realität gekleidet, deren Wahrheit zu erkennen sie sich weigerten. Und eben dieser Situation . . . haben sich die Schriftsteller gebeugt."219 Hiermit war ein großes Thema der Kritik am „neuen Realismus" des Nouveau Roman eingeführt. Vom realistischen Roman wurde eine bestimmte Art des W i d e r s t a n d e s erwartet: Auf die Erfahrung, belogen worden zu sein, nicht mit dem Zweifel an jeglicher Wahrheit zu reagieren, den Zerfall der bürgerlichen Welt nicht mit dem Verlust einer sinnvollen und durchschaubaren Ordnung überhaupt zu identifizieren, sondern gegen die Krise der alten Gesellschaftsordnung den Roman als ein Zeichen aufzurichten, in dem sich der Widerstand gegen Entfremdung, Enthumanisierung, Irrationalismus mit der Hoffnung auf eine neue Gesellschaft, mit der Antizipation von Totalität und Sinn verbindet. Eine „Totalität ä la Balzac" wäre heute eine Lüge, aber dies hielt Bernard Dort den nouveaux romanciers entgegen - Totalität deshalb für unmöglich zu halten, käme einer prinzipiellen Dul86

dung der gegenwärtigen, zerrissenen Welt gleich, woran auch die ausdrückliche Weigerung, diese zu akzeptieren, nichts ändere. Der Nouveau Roman habe die Geschichtsangst und die privatistische Haltung der bürgerlichen Klasse, in der er sein Publikum findet, bekräftigt, und dieses bürgerliche Publikum habe ihm auch „eine Bedeutung gegeben: nicht die der Entdeckung eines neuen Realismus, sondern die der Errichtung einer bruchstückhaften, von der geschichtlichen Totalität abgeschnittenen Welt, die dem Zugriff der Zeit wie dem der geschichtlichen Bewegung entzogen ist". Als bloßer Reflex der Krise der bürgerlichen Gesellschaftsordnung übernehme der Roman deren Apologie, indem er es nicht vermag, „uns eine Welt zu zeigen, die im Begriff ist, neu zu werden, indem sie sich ihrer alten Haut entledigt . . . Von der Verweigerung zur Kritik und von der Kritik zur Einrichtung einer neuen Ordnung überzugehen: Das ist unsere gegenwärtige Aufgabe." 220 Auf ähnliche Weise kritisierte einige Jahre später die Schriftstellerin Catherine Claude das in den neuen Romanen zum Ausdruck kommende Weltbild. Diese Literatur „scheint sich damit zu begnügen, Reflex zu sein, und zwar Reflex einer als statisch aufgefaßten Situation, während die Wirklichkeit in Bewegung ist". 2 2 1 Hellsichtig für Erscheinungsformen von Entfremdung und Verdinglichung, seien die nouveaux romanciers blind gegenüber der geschichtlichen Bewegung, die zur Aufhebung der alten Verhältnisse drängt. Ihre phänomenologische Einstellung (vgl. S. 113), ihr Ich-Hier- und -Jetzt-Standpunkt, die dominierenden Themen des Scheiterns, des Umherirrens, des Labyrinthes, die Inkohärenz und Undurchschaubarkeit der dargestellten Beziehungen und Verhältnisse, die hoffnungslose Banalität der Ereignisse, der Personen und der Gespräche, die Fremdheit und Autonomie der Dingwelt etc. entsprächen einem Krisenbewußtsein, das den Blick auf die „Verheißungen und hoffnungsvollen Neuansätze" versperre. Dadurch seien die Erkenntnisse und das kritisch-emanzipatorische Potential der neuen Romane stark reduziert, ihr Realismus beschränke sich auf den passiven - d. h. resignierten - Reflex bestimmter Seiten der Realität. Diese Romane „könnten jedoch, trotz alledem, wirklich revolutionär sein", denn sie kennzeichne nicht nur ihr Pessismismus, sondern „auch, auf der Ebene der Form, der bewußte und übrigens von Erfolg gekrönte Wille, sich auf die Höhe des Kunstwerkes zu erheben" 222 . Mit dieser Unterscheidung zwischen ideologischem Gehalt und ästhetischem Wert wurde die Möglichkeit einer ambivalenten Funktion der nouveaux romans angedeutet. Von deren Einheit

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waren Edouard Lop und André Sauvage in ihrem 1961 - ebenfalls in der FKP-Zeitschrift La Nouvelle Critique - veröffentlichten umfangreichen Essgy über cten Nouveau Roman ausgegangen. Das Postulat eines neuen Realismus unterzogen sie einer kritischen Überprüfung, indem sie „die technischen Verfahren" der ersten Romane von Butor, Sarraute und Robbe-Grillet unter dem Gesichtspunkt des „Ausmaßes der angeeigneten Wirklichkeit" und des „Inhaltes der enthüllten Wirklichkeit", genommen als Kriterien für die „Tiefe des Realismus", diskutierten. Unter einem realistischen Roman verstanden Lop/Sauvage eine „tiefgreifende Analyse", die den Charakter der dargestellten Personen, die innersten Beweggründe ihrer Handlungen und die wahre Bedeutung der sozialen Kräfte, denen sie unterliegen, aufdeckt und zur Rückgewinnung des „wirklichen Menschen" und der „authentischen Bedeutung der Dinge" (die sie „überzeugend" und „verständlich", zu „Dingen für uns" macht) beiträgt. 223 Der von den nouveaux romanciers verteidigte „instrumentale" Wert der Formen wurde von Lop/Sauvage radikalisiert und damit abgeschwächt: Bei ihnen verschwand die Form - als unwesentlich, als „bloßes Mittel" - hinter dem durch sie vermittelten (im Sinne von „transportierten") Inhalt, d. h. der Weite und Tiefe der angeeigneten Realität. Der Roman sei wie jede andere Kunstart „essentialistisch", d. h., „daß, trotz der Erfordernisse künstlerischer Formung und welches auch immer diese Erfordernisse seien, sein-tieferer Inhalt, seine 'Essenz', seinen Wert ausmacht" 224 . Das Nicht-Zustandekommen einer interessanten Geschichte, überzeugender Charaktere und erhellender Beschreibungen, die Unverständlichkeit, Unordnung und Langeweile der neuen Romane kritisierten Lop/Sauvage im Namen eines vorausgesetzten Prinzips mit axiomatischer Gültigkeit - der Verpflichtung des Schriftstellers, „in seiner Darstellung der Welt die objektiven Gesetze, die sie beherrschen und die gleicherweise seine Schöpfungen beherrschen müssen, zu respektieren" 225 . Dementsprechend werteten sie die Verletzung dieses Prinzips als Akt der Willkür und des Subjektivismus, der im Falle des Nouveau Roman den Namen Ästhetizismus bekam. Das praktische Interesse daran, b e s t i m m t e Funktionen der Literatur - die gesellschaftlichen Verhältnisse durchschaubar zu machen, sie in ihrer Geschichtlichkeit und Veränderungswürdigkeit zu zeigen, der Stereotypisierung und „Inauthentizität" menschlicher Beziehungen Widerstand zu leisten - in der g e g e b e n e n S i t u a t i o n zu bewahren, wurde von Lop/Sauvage nicht als solches verteidigt, sondern mit Berufung auf ein normativ gefaßtes 88

Wesen des Romans a priori gesetzt. Die Enttäuschungen beim Lesen stellten daher kein echtes Problem dar. Denn einerseits wurden die Abweichungen der nouveaux romanciers sozialpsychologisch erklärt aus der Klassenlage der Schriftsteller, die als kleinbürgerliche Intellektuelle die Widersprüche ihrer Existenz nicht zu durchschauen vermochten oder sie resignierend hinnahmen, daher z. B. die Dominanz der „Dingbeschreibungen" 226 - , zum anderen erschienen sie als epigonale Ausbeutung der versiegenden Ader des Ästhetizismus, als vorübergehende Modeerscheinung, deren relative Bedeutungslosigkeit am wahrhaft realistischen Roman als einer „authentischen Sicht der Welt" 227 zu ermessen war. Während Lop/Sauvage im Namen einer a n d e r e n Literatur (des „echten realistischen Romans") und im Namen einer a n d e r e n Wirklichkeit (der „wirklichen", nicht durch die „literarischen Vorlieben, Traditionen und Klassenvorurteile" 228 des Autors deformierten Welt) dem Nouveau Roman Authentizität bestritten, wurde andernorts gerade die literarische Ausstellung des Verlustes authentischer Werte zum Kriterium seines Realismus gemacht. Lucien Goldmann legte seinen Untersuchungen in Pour une sociologie du romärt (1964) 229 * die These zugrunde: Eine so komplexe literarische Form wie der Roman, in der in verschiedenen Ländern „der Inhalt einer jahrhundertelangen Epoche" seinen literarischen Ausdruck par excellence gefunden habe, könne nicht entstanden sein, „ohne daß zwischen dieser Form und den wesentlichsten Strukturelementen des sozialen Lebens eine Homologie 230 * oder eine sinnhafte und verstehbare Beziehung bestünde. In Wirklichkeit besteht z w i s c h e n d e r S t r u k t u r der R o m a n f o r m ... und der S t r u k t u r des W a r e n t a u s c h s In d e r l i b e r a l e n M a r k t w i r t s c h a f t ...eine strenge Homologie."231 Goldmann ging davon aus, daß die Bedeutung eines literarischen Werkes nur ermittelt werden kann, wenn man seine - im Prozeß des Verstehens gewonnene - „globale Sinnstruktur" in übergeordnete Struktureinheiten eingliedert und sie somit erklärt. Solche übergeordneten Strukturen sind die Weltanschauung einer bestimmten „sozialen Gruppe" und die historische Situation, auf die das kollektive Bewußtsein eine „sinnvolle Antwort" zu geben sucht.232* Die großen literarischen Werke zeichnen sich dadurch aus, daß sie nicht dem tatsächlichen Bewußtsein der „sozialen Gruppe", aus der sie hervorgehen, entsprechen, sondern einem möglichen, „zugerechneten" Bewußtsein, 233 * d . h. dem Maximum an Realitätsentsprechung und innerer Kohärenz, das das Kollektivbewußtsein prinzipiell zu erreichen imstande ist, ohne seine Struktur zu

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verändern. Für den großen bürgerlichen Roman, von Cervantes bis Flaubert, postulierte Goldmann jedoch eine d i r e k t e Entsprechung zwischen der „Romanform" und der sozialökonomischen Struktur der „kapitalistischen Tauschgesellschaft", ohne Vermittlung durch das Kollektivbewußtsein. Die Romanform wurde dabei auf einige aus Lukäcs' Theorie des Romans übernommene Charakteristika beziffert, die sozial-ökonomische Struktur auf „Verdinglichung". Die Auflösung der alten - d. i. feudalen - persönlichen Beziehungen zwischen den Produzenten durch die kapitalistische Warenproduktion, die Dominanz des Tauschwertes über den Gebrauchswert, der quantitativen über die qualitativen sozialen Beziehungen, die Lösung des Individuums aus jeder unmittelbaren, konkreten und bewußten Bindung an die Gemeinschaft hätten zur Entstehung eines verdinglichten Bewußtseins geführt, das zum bloßen Reflex der ökonomischen Beziehungen verkümmert sei. Als Prozeß, der authentische menschliche Werte auflöst und zurückdrängt („implizit" macht), schaffe die Verdinglichung „problematische Individuen", die im kritisch-realistischen Roman wiederkehren, nicht aber im „expliziten" bürgerlichen Bewußtsein, in dem „Individualismus, Machtdurst, Erotik . . . über die alten feudalen Werte des Altruismus, des Dienstes an den Schwachen und der Liebe triumphieren . . ."23< Einzig im Werk Balzacs hätten die bewußten Werte der Bourgeoisie einen adäquaten und großen Ausdruck gefunden. Goldmanns These von der Strukturhomologie bzw. direkten Entsprechung zwischen Romanform und sozialökonomischer Struktur der kapitalistischen Gesellschaftsordnung ergab sich aus der Charakterisierung dieser Struktur als Enthumanisierungsprozeß und aus der Charakterisierung des (großen, wertvollen) Romans als einer - im Gegensatz zum verdinglichten Kollektivbewußtsein - intakt gebliebenen Form des wachen, unglücklichen Bewußtseins und des humanistischen Protestes gegen die Verdinglichung. D e n Nouveau Roman ordnete Goldmann einem fortgeschrittenen Stadium der Verdinglichung zu. D a s „Verschwinden des individuellen Helden" in den Romanen von Joyce, Kafka, Musil, Sartre, Camus und - „als eine der radikalsten Manifestationen dieser Periode" 235 - bei Nathalie Sarraute entspreche der Entwicklungsstufe des Imperialismus (von der Jahrhundertwende bis fcum zweiten Weltkrieg) und der für sie charakteristischen „Zerstörung aller wesentlichen Bedeutung des Individuums oder des individuellen Lebens in den Wirtschaftsstrukturen und daher auch in der Gesamtheit des sozialen Lebens". 236 D i e gegenwärtige Phase der Verdinglichung, beginnend in den fünfziger Jahren mit dem Übergang zum staatsmonopolistischen Kapitalismus, sei erst dabei, ihren literarischen Ausdruck zu finden - so im Werk Robbe-Grillets, das gekennzeichnet sei durch das „Erscheinen eines autonomen Universums der Objekte . . . , das seine eigene Struktur und seine eigenen Gesetze hat und durch das allein die menschliche Realität in einem gewissen

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Maße manchmal noch ihren Ausdruck finden kann"237. Goldmann verteidigte nicht nur Robbe-Grillets Romane gegen den Vorwurf des Formalismus oder Ästhetizismus. („Robbe-Grillet will etwas aussagen und sucht, wie alle bedeutenden Schriftsteller, seiner Aussage die adäquate Form zu geben."238) Er unterstrich auch den „radikalen Realismus" der nouveaux romans als literarischer „Weltschöpfung deren Struktur der gesellschaftlichen Wirklichkeit, in der das Werk geschrieben worden ist, entspricht" und die zugleich Äußerung von Protest, Widerstand gegen die Verdinglichung und Enthumanisierung sei. So werde Robbe-Grillets vierter Roman, Dans le labyrinthe (dt. Die Niederlage von Reichenfels), von einem „menschlichen Urteil"239 - nämlich Angst - durchdrungen, und der ciné-roman L'Année .dernière à Marienbad (dt. Letztes Jahr in Marienbad) habe „der Angst das Gesicht ihrer Gegenseite hinzugefügt, die allein erlaubt, der menschlichen Realität in der heutigen Welt ihre globale Dimension zu geben: die Hoffnung" 240 . Später hat Goldmann diese Ansicht revidiert.241 Der Realismus des Nouveau Roman entbehre die „Dimension des Möglichen", deren Entfaltung jede „authentische" Literatur auszeichne. Mit dieser Verarmung bestätige der Nouveau Ttoman die allgemeine Tendenz gegenwärtiger „kultureller Schöpfung" und die Reduktion „des Menschen in der modernen Gesellschaft" auf „Eindimensionalität". „Die zunehmende Einschnürung des Möglichen zugunsten des Realen" sei allerdings nicht den Schriftstellern anzulasten - und auch nicht durch die Literatur aufzuheben. Nur im Kampf um die Veränderung der „globalen gesellschaftlichen Reali•tät" könne „die Hoffnung auf eine freiere Menschheit und eine authentischere Kultur" verteidigt und vielleicht einmal verwirklicht werden. 242 Die Konsequenzen, die sich aus dieser Beobachtung für das in Pour une sociologie du roman entwickelte und auch auf den Nouveau Roman angewandte Romanschema ergeben müßten, hat Goldmann nicht gezogen. Denn seine These von der objektiv bedingten Eindimensionalität moderner Kultur führte weder zur Revision des ambivalenten Postulats der Strukturhomologie (das ja „Entsprechung" •und „Kritik" zusammenschloß) noch zur Revision des Grundsatzes, den (großen) „kulturellen Schöpfungen" komme das Privileg zu, die Eigenschaften à 11 e n menschlichen Verhaltens in exemplarischer Weise zu realisieren.243 Der historisch-materialistische Ansatz von •Goldmanns Theorie, die in der Geschichte des bürgerlichen Romans -das Wirken einer Sozio-Logik, d. h. einer durch die Produktionsver91

hältnisse bedingten Ausbildung ideologischer und künstlerischer Aneignungsweisen gesellschaftlicher Realität zu erkennen suchte, kollidierte mit dem Verfahren, die beobachteten kulturellen Phänomene anthropologisch zu begründen. Goldmanns Romansoziologie erbrachte den Vorschlag, die Art der Beziehungen zwischen Literatur und Wirklichkeit aus den Basisstrukturen der jeweiligen Gesellschaftsformation abzuleiten. Zugleich aber war sie mit deutlichen Reduktionen verbunden. Das in Nouveau roman und soziale Wirklichkeit berührte Realismusproblem schrumpfte auf: Entsprechung zwischen einer „globalen Bedeutung" der Romane und einer globalen Struktur der gesellschaftlichen Verhältnisse. Dabei blieb die Ermittlung literarischer Strukturen und ihrer globalen Bedeutung ein intuitiver Vorgang, in dem einzelne Werke (wie auch die Romanform insgesamt) auf I d e e n und deren Investierung in Themen und Figuren reduziert wurden, denen wiederum als letzter Grund die vorausgesetzte Eigenschaft aller authentischen kulturellen Schöpfungen innewohnte. Dabei hätten beispielsweise die Romane Robbe-Grillets, die Goldmann ja aus dieser Kategorie nicht ausschloß, gewisse Zweifel an der allgemeinen Gültigkeit seines Postulats wecken müssen, denn gerade sie bereiteten dem Verlangen der Leser, in ihnen sinnvolle Antworten auf eine gegebene Situation zu finden und die Tendenz der Negation/Überwindung zu entdecken, erhebliche Schwierigkeiten. Den Beziehungen zwischen literarischen Werken, Kollektivbewußtsein und sozialökonomischen Verhältnissen legte Goldmann einen einzigen Relationstyp zugrunde - Entsprechung/Nicht-Entsprechung. Aus dieser Perspektive tauchte wohl das Problem der Zurechnung auf, nicht aber die Frage nach den spezifischen Aneignungsweisen, nach der Transformation und Kritik von Ideologie in den literarischen Texten. Hierin besaß Goldmanns unbestreitbares Verdienst, einen Vorschlag soziologischer Bedeutungskritik in die französische Diskussion eingebracht zu haben, seine Grenze. Bei allen Unterschieden in den jeweiligen Wirklichkeitsvorstellungen und in der Bewertung der Realitätsbezüge trafen sich die zitierten Positionen im Befund eines Funktionsverlustes - sie vermißten im Geschehen und in der Atmosphäre der nouveaux romans den von der Romangattung erwarteten Widerstand gegen eine zunehmend undurchschaubar und unbeherrschbar erscheinende Welt, ein deutliches Urteil des Nicht-Einverständnisses mit der Welt, „wie sie ist". Dieses Empfinden eines Mangels erscheint mir als das Zentrum der Kritik am „neuen Realismus". Es ist auch der Punkt, an dem sie als Artiku92

lation von Erwartungen und Bedürfnissen anderer (nicht-professioneller) Leser absolut im Recht war, der Wendung literarischer Strategie im Nouveau Roman nicht zu folgen. Das Verlangen, in der Art, wie Romane über die Welt und zu den Menschen sprechen, ein bestimmtes menschliches Urteil vernehmen zu wollen, halte ich für den eigentlichen Ausgangspunkt der - und auch für ein stärkeres Argument gegen den Nouveau Roman als die - widersprüchlichen Einschätzungen hinsichtlich entsprechender oder inadäquater, wirklichkeitsgetreuer oder mystifizierender, das Wesen oder nur die Erscheinung widerspiegelnder Abbildung. Ist diesen Befunden doch (in dem hier untersuchten Material) die Eigenart gemeinsam, daß derjenige, der einen Romantext als mystifizierende Wirklichkeitsdarstellung diagnostiziert, offensichtlich in der Lage ist, von einem tieferen Verständnis, einem fortgeschritteneren Bewußtsein aus die Mystifikationen als solche zu erkennen. Somit wird er nicht" zu deren Opfer, sondern zum Kritiker der Ideologie des Textes (bzw. des Verfassers) und zum Anwalt derer, die die Täuschungen vermutlich nicht durchschauen, deren falsches Bewußtsein damit also noch verstärkt werden könnte. Insofern Mystifikation als Wirkung in bezug auf ein vorausgesetztes Leserbewußtsein befürchtet wird, stellt man sie als eine Realisation auf der Achse Werk-Leser in Rechnung, als Effekt, den Texte befördern oder erschweren, dessen Zustandekommen jedenfalls nicht allein auf der Achse (Autor -)Werk - Wirklichkeit liegt. Dies wird aber übersehen, wenn Realitätsnähe und Erkenntnisleistung ausschließlich als Texteigenschaften gelten sollen. An einer außerhalb des hier untersuchten Diskussionszusammenhanges entstandenen Arbeit läßt sich dies verdeutlichen. In seinem Aufsatz Zwei Brzäblsysteme des notweau roman. Sarraute und Robbe-Grillet (1975)244 argumentiert Horst Dieter Hayer in großen Zügen so: N . Sarraute und A. RobbeGrillet haben, indem sie den Realitätsbezug ihrer Fiktionen betonten, für ihre Texte eine Erkenntnisleistung in bezug auf die dargestellte Realität beansprucht. Daher liegt „es nahe, bei der Analyse der Erzählsysteme vom Modellbegriff Lotmans auszugehen"245. Das literarische Kunstwerk, verstanden als „originelles Modell" der Wirklichkeit, besitzt die Fähigkeit, bestimmte materielle Strukturen oder ein System von Relationen der Wirklichkeit zu reproduzieren, wobei durch Selektion und Abstraktion eine dem reproduzierten Objekt analoge, nicht aber identische, Struktur erzeugt wird. Diese Erzeugung ist gesteuert durch das Bewußtsein des Autors, durch seine (im Werk ablesbare) Wirkungsintention, und sie wird vermittelt durch das verwendete Gattungsschema (etwa: Roman) sowie das dominierende Textschema (etwa: Erzählen oder Beschreiben) als historisch gegebene Aneignungsschemata der Wirklichkeit. Unter-

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scheidet man, mit der strukturalen Erzählanalyse, die Textebenen d i i c o u r s und h i s t o i r e ,24641 so fungiert letztere als „Schema sowohl der Aneignungals auch der Modellierung der Wirklichkeit". Die aus dem Diskurs zu rekonstruierende Geschichte muß also daraufhin untersucht werden, wieweit (diepostulierte) Annäherung an Realität geleistet oder wieweit diese mystifziert wird. Erst die. „Einbeziehung dieser Fragestellung leitet die formale Analyse in eine ideologiekritische über"247. Ausgehend von diesen Prämissen untersucht Hayer den Text XXHI aus den Tropismen und den Roman Die goldenen Früchte von N. Sarraute sowie den Text Die Schneiderpuppe (aus: Momentaufnahmen) und den Roman Die Niederlage von Reichenfels von A. RobbeGrillet. Die Textanalyse (wir beschränken uns hier aus Platzgründen - und weil die angewandte Methode dieselbe bleibt - auf die Untersuchungen zu Sarraute) ergibt: In ihren kurzen Texten wie auch im Roman führt N. Sarraute die unbewußten, von ihr „Tropismen" genannten Regungen vor als Mechanismen der Interaktion zum Zwecke sozialer Anpassung. Von ihr nicht thematisiert, nicht dargestellt wird jedoch die historisch-gesellschaftliche Bedingtheit des (lediglich beschriebenen) Anpassungsmechanismus. Aus diesem Fehlen „ergibt sich": 1. Die „Tropismen" erscheinen als allgemeingültiges Prinzip; 2. Sie bekunden eine fatalistische Einstellung. Die nicht dargestellte Perspektive der Veränderbarkeit (geknüpft an die Erkenntnis von Ursachen und Bedingungen) „bedeutet", daß Sarraute den Aspekt der Wirklichkeit, den sie bewußt machen will, als ,,eine(r) prinzipiell unveränderliche(n) Wirklichkeit" ansieht.248 Damit entsteht als Gesamteffekt: Annäherung an die Wirklichkeit (weil „exakte Reproduktion der Entfremdung im Bereich zwischenmenschlicher Beziehungen") und zugleich Mystifikation (weil die „Tropismen" zu einer anthropologischen Konstante hypostasiert werden). Für die Ebene Werk-Wirklichkeit gilt somit: „Die Authentizität der Registrierung der t r o p i s m e s schließt die Verstellung des in ihnen erfaßten Sachverhalts nicht aus." Und: „Die Verkennung der historisch-gesellschaftlichen Bedingtheit der tropismes rückt die Möglichkeit ihrer Aufhebung aus dem Blick".249 Nicht gesagt wird, aus w e s s e n Blick. Zu vermuten ist, aus dem Blick der Autorin (denn das, was sie nicht zeigt, gilt ja als Indiz für das, was sie verkennt) und aus dem Blick auch von Lesern - nicht aber aus dem des Lesers Hayer, der somit in seiner eigenen Person die Alternative einer erkennenden, nicht mystifizierten Beziehung zur Botschaft des Textes vorführt. Seine Analyse - und einzig darauf bezieht sich der Einwand hier - unterscheidet nicht zwischen den beobachteten Texteigenschaften (Hayers Befund über das, was die Texte sagen und was ihnen „fehlt", ist vollkommen zutreffend) und der ihnen zugeordneten Wirkung. Aus der Beobachtung, daß nirgends in Sarrautes Texten die gesellschaftliche Bedingtheit der „Tropismen" thematisiert ist, kann auf eine fatalistisch-deterministische Auffassung der Autorin geschlossen werden (diese läßt sich eventuell auch direkt stützen durch theoretisch-programmatische Äußerungen von Sarraute), und diese Sicht kann - von einem ideologiekritischen Interesse aus m u ß sie kritisiert werden. Es läßt sich aber nicht mit dem gleichen Recht auf eine

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t a t s ä c h l i c h bewirkte Mystifikation schließen. Die fatalistische Perspektive, die Verdichtung von Undurchschaubarem sind Zuordnungen des Leserbewußtseins (bei Hayer in ideologiekritischer Absicht), die nun ihrerseits nicht zwangsläufig sind. Auch durch das, was ein Text nicht sagt (und/oder was dessen Autor nicht sieht), kann - in Konfrontation mit einem anderen Bewußtsein - ein Erkenntniseffekt entstehen. Auch Sarrautes Beschreibungen von „Mechanismen der Interaktion" unterbinden keineswegs die Frage nach deren Herkunft, Zwangsläufigkeit oder Veränderbarkeit. Die Erkenntnisleistungen eines Werkes, so wie es Hayer tut, daran zu binden, was es wie „modelliert", ist produktiv gegenüber den auf mehr oder weniger unkontrollierbaren Eindrükken basierenden Wertungen von (erkennender) Wirklichkeitsnähe oder (verkennender) Wirklichkeitsferne literarischer Texte, produktiv auch gegenüber der Ablehnung, Modellierung überhaupt in Betracht zu ziehen. Verkürzend wirkt das Verfahren jedoch dann, wenn nicht mit eingerechnet wird, daß Realitätsbeziehungen und Erkenntniseffekte nicht allein Leistungen der Werke-Modelle sind, sondern daß sie realisiert werden in der Lektüre, dadurch daß der Leser die rezipierten Textstrukturen seinem Modell von Realität ( u n d von LiteraturWirklichkeitsbeziehungen) integriert, wodurch ja recht unterschiedliche Entdeckungen an Werk- und Realitätsstrukturen hervorgebracht werden. 250 * Eingeschränkte Erkenntnis und Mystifikation von Wirklichkeit sind ein an literarische Kommunikation und nicht allein an die in Texten vergegenständlichte Abbildleistung gebundenes Problem. In diesem Sinn verstehe ich auch neuere Überlegungen zum Realismus: „Der Realismus eines Werkes kann nicht nur als eine auf eine bestimmte Widerspiegelungsqualität der Wirklichkeit reduzierte Dingeigenschaft definiert werden, sondern er muß als Beziehungsqualität definiert werden im Hinblick auf die gesamte Funktionalität des Werkes gegenüber der Wirklichkeit. . . . Was . . . in letzter Instanz zählt, ist nicht die wahrheitsgetreue Darstellung eines Gegenstandes an sich, sondern die mit der Art seiner Darstellung begründete Fähigkeit seines Weiterwirkens, seiner immer wieder erneuerten gesellschaftlichen Funktionalität, wobei diese beiden Momente allerdings eine dialektische Einheit bilden." Dabei wird zugleich in Rechnung gestellt, daß „der Realismus eines Werkes und die realistische Wirkung eines Werkes . . . nicht immer und nicht zu allen Zeiten Hand in Hand gehen müssen". D i e abgeleitete Aufgabenstellung für eine marxistische Literaturtheorie gilt einem Problem, dessen Ungeklärtheit und Dringlichkeit die an dieser Stelle untersuchten Kontroversen um den „neuen Realismus" bestätigen, ohne daß hier freilich schon ein Vorschlag zu seiner theoretischen Bearbeitung angeboten werden kann - dem Problem also, ob und wie sich eine „rea95

listische Lektüreweise" bestimmen läßt, „die mehr umfaßt als einfach eine ideologische marxistische Interpretation und die für die Frage des für die Arbeiterklasse relevanten Erbes von entscheidender Bedeutung sein kann" 251 .

'Einsteilungswechsel: die Schreibweise als Aussage über die Welt Unterwerfung unter die Geschichte, Anpassung an Entfremdung und Eindimensionalität der spätkapitalistischen Gesellschaft statt Protest, Widerstand, Veränderungswille: mit diesen, im vorigen Abschnitt zitierten Wertungen wurde die vom Nouveau Roman beanspruchte Erneuerung der Romangattung entweder bestritten oder, häufiger, als verlustreicher Weg und Ausdruck einer tiefgreifenden Kulturkrise begriffen. Der Befund von Funktionsverlusten hatte eine den dargestellten Positionen bei allen Unterschieden gemeinsame Voraussetzung: daß ein (realistischer) Roman versucht, eine „'Wahrheit' der Wirklichkeit" zu konstruieren, 252 daß der Romanautor nicht darauf verzichten kann, das Wesen von Erscheinungen seiner (oder anderer) Zeit aufdecken zu wollen, indem er sie mit seinem Entwurf „künstlerischer Wahrheit" konfrontiert. Diese Voraussetzung war deutlich zugegen in allen Prozeduren des Vergleichens, in den Fragen: Was zeigen die Romane (bzw. deren „globale Sinnstruktur", Goldmann) von der Wirklichkeit (bzw. der Gesellschaftsstruktur), wie aber ist sie wirklich? Was verdecken oder verkennen die Romane an einer reicheren, widersprüchlicheren, an einer mit ihren Darstellungen jedenfalls nicht übereinstimmenden Wirklichkeit? Die unter der Leitidee der Realitätsentsprechung operierende Kritik am „neuen Realismus" ging im wesentlichen von einer Beziehung zwischen zwei Größen aus: der Wirklichkeit, als dem, was abzubilden ist - in der doppelten Dimension des Gegebenen u n d des Möglichen - , und dem literarischen Werk, als mehr oder minder tiefem, erkennendem Abbild. Zwischen diesen beiden Seiten vermittelte die Ideologie als Faktor, der die Perspektive der Welterfassung - d. h. des Bewußtseins des Schriftstellers - determiniert, so daß das Romangeschehen letztlich als Ausdruck des Welt- und Menschenbildes seines Erfinders betrachtet und gewertet wurde. Erzählformen, Romangattung, Literatur als Institution tauchten „zwischen" Werk und Wirklichkeit sozusagen nicht ernsthaft, in ihrer historisch-konkreten Existenzform und Problematik, auf, sondern allenfalls in der flüchtigen Gestalt pau-

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schaler Bestimmungen des Wesens (bei Lop/Sauvage) oder der Form (bei Goldmann) des Romans, nebst den ihnen zugeordneten Grundfunktionen. Anders lagen die Dinge dort, wo die Lesererfahrung, daß die nouveaux romans nicht wie gewohnt funktionierten, daß es schwierig war, ihren Sinn zu erfassen etc., den Anstoß gab, Veränderungen der Schreibweise als den Ort anzusehen, an dem sich die Beziehungen literarischer Texte zur wirklichen Welt artikulieren und an dem eine geschichtliche Situation den romanesken Fiktionen ihre stärksten, die Erzählformen selbst verändernden Spuren eindrückt - Spuren, die es zu entziffern gilt. Bevor am Material damaliger Diskussionen gezeigt wird, wie sich dieser Perspektivewechsel positiv (d. h. in dem, was er implizierte, erbrachte und ausschloß) äußerte, wollen wir ihn zunächst negativ umreißen, also sagen, worum es sich nicht handelte. Hierfür ein Beispiel. In seinem Essay über Die Verantwortung des modernen Romans verteidigte der Schriftsteller Raymond Jean den Nouveau Roman gegen den Vorwurf, er habe sich der Wirklichkeit entzogen253* oder sich ihr resignierend unterworfen.254 Gerade in jenen Beschreibungen, die die Welt als unverständlich, als dem Menschen äußerlich und fremd erscheinen lassen, sei der Roman dabei, die dominante Beziehung des Menschen zur heutigen Wirklichkeit - seine Entfremdung - zu reflektieren und damit die gegenwärtig wesentliche „Ausdrucksform menschlicher Realität" literarisch zu gestalten. Dabei sei „diese Operation . . . weit davon entfernt, einfach die Tragweite eines Zeugnisses zu haben. So wichtig in der Tat die Widerspiegelungsfunktion des Romans ist, liefe sie, wörtlich genommen, doch Gefahr, besonders einschränkend zu sein. Nein, die genannte Operation hat eine echt literarische Bedeutung. Indem der Romanautor der Wirklichkeit - so wie er sie individuell und doch in einer allen Zeitgenossen gemeinsamen Konjunktur antrifft, kennt, wahrnimmt - Form und Ausdruck verleiht, verhilft der Romancier der Wirklichkeit zu jener Präzision, jener ästhetischen Wahrheit, die sie einem gewichtlosen (d. h. einem entfremdeten, fließenden, aller Authentizität beraubten) Universum entreißen werden, um ihr eine b e l a n g v o l l e Existenz zu verleihen." Auf diese Weise widersetzte sich der Nouveau Roman einer Realität, die dem einzelnen immer weniger Wert, Gewicht und Spielraum zumißt. Durch seine „Erfindungen", durch sein „Schöpfertum" „gibt er dem Menschen eine der wenigen e c h t e n Chancen, die ihm noch geblieben sind, und Robbe-Grillet hat vollkommen recht, wenn 7

Burmeister, Nouveau Roman

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er den Nouveau Roman als eine Schule der Freiheit bezeichnet." 255 Als Manifestation von Formwillen ebenso wie als Ausdruck einer bestimmten geschichtlichen Krisensituation besaß der Nouveau Roman für Raymond Jean Gültigkeit, d. h. die aller wahren künstlerischen Schöpfung eigene kritische und emanzipatorische Kraft. Nicht in bezug auf d i e Wirklichkeit oder d i e Kunst erschien ihm der Nouveau Roman als eine problematische Entwicklung, sondern im Hinblick auf die Verständigung mit einem großen Publikum. Die vom Roman erreichte „universelle Repräsentanz" war gefährdet. Raymond Jean empfand - dies eine damals öfter auftauchende Diagnose - als das eigentliche Problem des zeitgenössischen Romans die neue Art seiner Aufspaltung: Das Interesse für Sprache/Schreiben (in einem „Typ des Romans, dessen bester Konsument der Autor - oder die Gemeinschaft der Autoren - bleibt" 256 ) trennte sich von dem oder stellte sich sogar gegen das Anliegen, sich in literarischen Texten mit der „Wahrheit seiner Zeit" und den „großen Problemen der Menschen" auseinanderzusetzen und sich in dieser Auseinandersetzung zu engagieren. Erst wenn es gelänge, die Trennung von Engagement und literarischer Kritik an „entfremdenden, routinemäßigen, also entstellenden Formen der Sicht auf die wirkliche Welt" in einer neuen Synthese aufzuheben, werde der Roman „im gleichen Zuge seine universelle Berufung und das Gespür für seine wahren Verantwortlichkeiten" wiederfinden. Auch wenn Jean davon ausging, daß die Operationen, durch die die Schriftsteller die „Strukturen des Werkes" an die der wirklichen Welt „anpassen", sich in den vielfältigen „Erprobungen von Sprache, die eine neue Realität entlassen" 257 , vollziehen, blieb für ihn letztlich die Thematik, die Auseinandersetzung mit großen menschlichen Lebensfragen oder gesellschaftlichen Problemen und blieb deren Relevanz für allgemeinmenschliche oder gesamtgesellschaftliche („universelle") Bedürfnisse d i e Domäne des Romans und zugleich die wichtigste Art, jene Verantwortung gegenüber der Öffentlichkeit zu übernehmen, zu der Schriftsteller aufgefordert sind. Hiermit war ein zentrales Problem berührt. Raymond Jean verdeutlichte (ähnlich wie Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir in der Debatte „Was kann die Literatur?"), daß mit der Verlagerung schriftstellerischen Engagements in die Erprobung und Veränderung von Erzählformen ein Strukturwandel des Romans stattfand, dessen Reichweite sich nicht darin erschöpfte, auf die allzuoft übersehene Wichtigkeit von Formfragen aufmerksam zu machen und somit vor allem literatur-theoretische und textanalytische Probleme 98

aufzuwerfen. Es handelte sich vielmehr um einen Wechsel der Dominanzen (von der Thematik zur Technik), der nicht nur zu formalen Neuerungen führte, sondern zu einem neuen „ästhetischen System", da der Roman seine Rede über die Welt und die Möglichkeiten seiner gesellschaftlichen Nutzung wesentlich veränderte. Um die damit verbundenen Kommunikationsschwierigkeiten und Funktionsverluste ging es Raymond Jean. In seinem Verlangen nach einer „neuen Synthese" äußerte sich das von der modernen Kunst immer wieder provozierte Unbehagen - der Verdacht, sie „verzichte, wenn sie so die Aufmerksamkeit auf Strukturprobleme hinwendet, darauf, vom Menschen zu reden, und verliere sich in ein abstraktes Sprechen auf der Ebene der Form"258. Diesem Verdacht hielt Umberto Eco entgegen - und dies ist gleichsam die Formel für den oben genannten Einstellungswechsel - : die erste Aussage, die die Kunst macht, macht sie vermittels ihres G e s t a l t u n g s m o d u s : die erste Behauptung, die die Kunst über die Welt und den Menschen aufstellt, diejenige, die sie rechtens aufstellt und die einzige, die einen wirklichen Sinn hat, stellt sie auf durch eine bestimmte Disposition ihrer Formen und nicht dadurch, daß sie vermittels ihrer eine Reihe von Urteilen über einen bestimmten Gegenstand ausspricht. S c h e i n b a r über die Welt reden, dadurch, daß man ein bestimmtes 'Sujet' erzählt, das unmittelbar mit unserem konkreten Leben zusammenhängt, kann die offenkundigste und zugleich unauffälligste Art sein, sich vor dem Problem, das interessiert, zu drücken, nämlich durch die Reduktion einer aktuellen Problematik auf den Bereich eines Kommunikationssystems, das an eine andere geschichtliche Situation gebunden ist, womit man dann de facto gar nichts über uns sagt. . . . Der eigentliche I n h a l t des Kunstwerkes wird somit s e i n e A r t , d i e W e l t z u s e h e n und zu beurteilen, ausgedrückt in einem G e s t a l t u n g s m o d u s , und auf dieser Ebene muß dann auch die Untersuchung der Beziehungen zwischen Kunst und Welt geführt werden."259 Das hier formulierte Prinzip stand im Hintergrund jener Reaktionen auf den Nouveau Roman, die feststellten u n d akzeptierten, daß dort die Botschaft im Gestaltungsmodus aufzusuchen war, daß der Roman nicht mehr direkt über den Menschen und seine Situation in der Welt redete (indem er sie zum Gegenstand der Darstellung, zu einem Thema machte), sondern indirekt: dadurch, daß er sich selbst - d. h. eine besondere Form menschlicher Tätigkeit und Beziehung zur Welt, nämlich: erzählen - zum Gegenstand von Fragen und Entdeckungen machte. 99

In einer dem Nouveau Roman gewidmeten Nummer der Zeitschrift Esprit aus dem Jahre 1958 fügte Bernard Pingaud den damals freigiebig verteilten Namen für die neue Richtung einen weiteren hinzu : Nicht „école du regard" (Schule des Blickes), sondern „école du refus" (Schule der Verweigerung) müsse sie heißen. In der den neuen Romanen gemeinsamen Zurückweisung von „psychologischen, moralischen oder ideologischen Anliegen, die dem traditionellen Roman seine Perspektive und seine Tiefe gaben" 260 , sah Pingaud nicht nur die Absage an ein überholtes Menschen- und Geschichtsbild, sondern auch und vor allem das Indiz für einen Funktionswandel des Romans, der, in ein neues Stadium der Selbstreflexion gekommen, seine Mittel der Kritik unterziehe und weder überzeugen, noch versichern, sondern in einem gänzlich unspektakulären Sinn verunsichern, d. h. scheinbare Selbstverständlichkeiten in Zweifel ziehen wolle. „Man könnte sagen, daß das, was die nouveaux romanciers beschreiben oder erzählen, eben das ist, was geschieht, bevor der Roman im klassischen Sinn beginnt, bevor es Personen und eine Geschichte gibt . . . Es geht alles in allem darum, zu erfahren, ob ein scheinbar so einfaches Unternehmen wie das, einen Roman zu schreiben, möglich ist oder nicht." Aus diesem Grunde wirkten die nouveaux romans „oft so künstlich und elaboriert, was sie irritierend und anziehend zugleich macht . . . Noch nie hat man so sehr der Inspiration mißtraut und so sehr auf dem handwerklichen Aspekt der literarischen Schöpfung bestanden. Noch nie hat man soviel überlegt." 261 Der von vielen Kritikern gerügte „Laborcharakter" der nouveaux romans entsprach - so Dina Dreyfus in derselben Nummer von Esprit - ihrer Strategie, gerade den der traditionellen Erzählweise anhaftenden Schein der Natürlichkeit zu zerstören und den Romanbericht als Produkt menschlicher Tätigkeit, als Resultat bestimmter Operationen auszustellen; sei doch das Labor gewissermaßen ein Ort wider die Natur, insofern diese „einerseits nicht das hervorbringt, was wir eventuell gern erzeugt haben würden, und uns andererseits zwar Produkte liefert, nicht aber die Mittel oder die Triebkräfte ihrer Produktion präsentiert" 262 . Die Verlagerung der Botschaft des Romans in die Technik wurde in der Folgezeit - und im Zusammenhang mit der zu Beginn der sechziger Jahre aufkommenden ideologischen Konstellation des Strukturalismus - als die eigentliche „Trennungslinie" zwischen den „Repräsentanten des Nouveau Roman . . . und dem traditionellen Roman" begriffen. „Zweifellos definieren sie selber ihre Position ausschließlich durch die Beziehung zum Roman Balzacschen Typs. Aber wenn 100

wir bei dieser Interpretation bleiben, die sie selbst vornehmen, und bei den oft trivialen Unterscheidungen, die sie treffen, müßten wir schließlich annehmen, daß der Nouveau Roman sich damit begnügt, die alten Themen des Schicksals, die ewigen Probleme der menschlichen Seele in neuen Formen darzubieten, daß er sich damit begnügt, typische Figuren in der Art Balzacs, aber unter einem neuen gesellschaftlichen Blickwinkel zu zeichnen."263 Deutlich wurde der Unterschied zur Argumentation der Essays von Sarraute, Butor und Robbe-Grillet, in denen sie ihre Distanz zur Tradition des realistischen Romans und die „Reduktionsformen" von Fabel und Helden in ihren eigenen Romanen mit Hinweisen auf die Veränderung der Wirklichkeit selbst gerechtfertigt hatten. Nunmehr galt das Interesse den Veränderungen in den literarischen Aneignungsschemata von Wirklichkeit und der Frage, welche sprachlich verfestigten Perspektiven der Welterfassung die nouveaux romans mit ihrer praktischen Kritik am literarisch-ästhetischen System des klassischen realistischen Romans (und der von ihm geprägten Vorstellungen über die Beziehungen zwischen Literatur und Leben) auflösten und in Bewegung brachten, welche Wirklichkeitssicht sie damit problematisierten. Als eine wesentliche Funktion des Nouveau Roman wurde betrachtet, daß er der durch bestimmte Verfahren im traditionellen Roman erreichten realistischen Illusion entgegenarbeitete und diese als Resultat literarischer Konventionen kenntlich machte. In einer mit der kulturellen Situation in Frankreich am Anfang der sechziger Jahre befaßten Nummer der Lettres nouvelles wurde in dem Aufsatz Themen und Tendenzen der Avantgarde im Roman heute die bei Romanautoren, Lesern und Kritikern vorherrschende, und vom „avantgardistischen" Roman im 20. Jahrhundert kontinuierlich destruierte Ansicht über das Wesen des Romans folgendermaßen resümiert: „Eine Geschichte zu erzählen, eine Person in ihrem Milieu anzusiedeln, menschliche - psychologische oder andere - Konflikte spürbar zu machen, bedeutet vor allem das Bemühen, das Erlebte selbst wiederzugeben, es fühlen und sehen zu lassen, letztendlich seine Wiederholung zu versuchen. Der Roman ist demnach nur eine Frage der Seele und der Kunstfertigkeit. Während die erste überhaupt kein Problem darstellt - ist sie doch von vornherein, mehr oder weniger 'groß', vorhanden - , ist die 2weite kein schwerwiegendes Problem: Bei der Bemühung des Romanciers, die Wirklichkeit, die er sich vorstellt, Sprache (discours) und im gleichen Zuge Bewußtseinsinhalt des Lesers werden zu lassen, steht nur die Wirksamkeit der angewandten

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Mittel zur Diskussion, wobei es sogar möglich ist, eine bestimmte Anzahl von Wertkriterien für die Qualität dieser Mittel aufzustellen. Ein überschaubares Gebiet, in dem es eine Welt gibt, einen Geist, der sie erfährt und ausspricht und notfalls eine Ästhetik, die den Wert dieser Rede begründet. Dieses Schema behält für viele Romane, die gegenwärtig erscheinen, seine Gültigkeit - Romane, die sich nur durch ihren Inhalt von den alten Vorlagen unterscheiden . . . Sie gehen von ein und derselben biologischen Auffassung des Kunstwerkes aus. Es muß lebendige Totalitäten, beseelte Ensembles schaffen; der Roman ist eine zweite Natur, deren Gesetze übereinstimmen mit denen der Mutter Natur, an der der Romanschöpfer teilhat. Aus dieser Sicht gesteht man den guten Romanciers gern mehr Seele und Temperament als Intelligenz zu, die verdächtigt wird, wie schon der Bergsonismus lehrte, durch die . . . Strenge diskursiven Denkens lebendige Ganzheiten zu zerstückeln und den Geist der Dinge zu zerstören. Dem Schöpfer gleich, b e l e b t der gute Romancier die Materie des Romans, während der intelligente zwar interessante Maschinen fabriziert, denen leider jedoch, so vollendet sie sein mögen, immer die Seele fehlen wird. Kurzum, Legitimationsinstanz ist das Leben, und die Bezeichnung 'lebendig' hat für den Roman denselben Stellenwert wie die Bezeichnung 'ähnlich' in der Bildenden Kunst. Letzten Endes ist der Geist, der in diesen Werken wehen soll, der Geist Gottes und nicht der des Menschen."264 Eine fortgesetzte Mystifizierung (hier: „Vitalisierung" und „Sakralisierung") des literarischen Schöpfungsaktes wurde jener Literaturkritik vorgeworfen, die den damaligen „Avantgarderoman" im Namen der lebendigen Wirklichkeit oder der großen Literatur als lebensfremd, konstruiert und gekünstelt ablehnte. Der Unterschied zwischen dem realistischen Roman des 19. Jahrhunderts und dem modernen Roman - so Maurice Mouillaud auf einem Kolloquium 1965265* - sei nicht der zwischen einer „natürlichen" und einer „künstlichen" Art zu schreiben. Der vom realistischen Roman produzierte Effekt - eine Welt erstehen zu lassen - werde ermöglicht durch ein bestimmtes „ästhetisches System", in welchem „das ästhetische Objekt funktioniert, indem es sich auslöscht, indem es sich schlicht als Öffnung auf eine Welt darbietet" 266 . Diese sogenannte realistische Illusion komme nicht einfach über einen Kontakt Auge in Auge mit der Wirklichkeit zustande, sondern vermittelt durch literarische Konventionen, denen zufolge der Romanbericht so geschrieben wird, daß in der Vorstellung des Lesers ein Geschehen, Situationen, Personen, kurz: eine Welt erste102

hen kann und daß somit, umgekehrt, die romaneske Fiktion als Umsetzung eines wirklichen oder möglichen Lebensausschnittes geglaubt werden kann. Die Verfahren, dank denen diese öffnungs- bzw. Evokationswirkung einer „transparenten" Schreibweise entstehe, müssen selber unauffällig bleiben, also weder verfremdet noch besonders ausgestellt werden; vielmehr müsse die Schreibweise als natürlicher Ausdruck des literarischen Projektes erscheinen. Diese summarische Beschreibung der Transparenz und Evokationswirkung realistischer Erzählweisen spart ein bestimmtes Problem aus. Daß nämlich jene Romane für realistisch - im Sinne von lebensnah, wirklichkeitstreu gehalten werden, läßt sich nicht allein aus ihrer besonderen Art der Illusionserzeugung, auch nicht aus der Orientierung eines geläufigen Realismusverständnisses am literarischen Normensystem des 19. Jahrhunderts erklären; es muß mit der Kontinuität in den Wirklichkeitsvorstellungen selbst zu tun haben. „Denn allem Gerede von den 'neuen Wirklichkeiten' zum Trotz: noch fühlen wir uns beim Lesen der großen, kapitalen Romane des 19. Jahrhunderts vom selben Horizont umgeben, noch müssen wir uns nicht auf eine andere Optik, ein anderes Sensorium, eine andere Bewußtseinslage einspielen, wenn wir darin lesen. Noch haben wir keine bemerkliche Grenze zu überschreiten, beanspruchen uns Thematik, Werkstruktur und Aussage unmittelbar. Noch bedarf es nicht des dolmetschenden historischen Bewußtseins, um das 'tua res agitur' zu akzeptieren. Und eben dieser Sachverhalt wirkt ganz erheblich mit bei den Hemmnissen und Schwierigkeiten der Aneignung solcher Dichtungen, die man in einem engeren Sinne modern nennt - obwohl diese enger begrenzte Modernität nun doch ein halbes Jahrhundert zurückreicht und also von ganz ungewöhnlich langwierigen Akklimatisierungsschwierigkeiten begleitet ist." 267 Daß dieser Prozeß allerdings das im Zitat gesetzte „wir" der Leser gespalten, daß er einen fremden, distanzierten Blick auf die „Natürlichkeit" überkommener Realitätsdarstellungen hervorgebracht hat - dies zumindest bezeugt die mit der literarischen Modernität einhergehende Veränderung der Rezeptionsweisen. 'In dem hier behandelten Diskussionsausschnitt ist sie im wesentlichen auf den Versuch beschränkt, aus der Differenz alter und neuer Verfahren recht pauschal Unterschiede zwischen den jeweiligen ästhetischen Systemen abzuleiten: Um die „Begrenzung des ästhetischen Ereignisses zusammenfallen zu lassen mit den Grenzen dessen, was innerhalb dieses Ereignisses geschieht", ersetzt der Nouveau Roman die lineare Zeitkurve durch eine zirkuläre Struktur, „dergestalt, daß das Ende uns 103

nötigt, den Anfang wiederzulesen". Der Romanbericht kann nicht überschritten werden etwa durch die Frage am Schluß, was wohl weiter aus den Personen geworden sein mag. Ebenso unterbindet er die Vorstellung von Anfängen (der Geschichte, der Personen), die vor dem Anfang des Textes liegen. Wenn eine Person aus dem Romantext verschwindet, lebt sie nicht irgendwo weiter, sondern ist fort, vernichtet, und wenn sie erscheint, hat man den Eindruck, daß sie gerade soeben ins Leben tritt. „Als existent gilt nur, was uns gezeigt wird", daher der Eindruck einer „Welt ä la Berkeley" 268 . An diesen und anderen Eigenschaften - der Silhouettenhaftigkeit der Figuren, der häufigen NichtUnterscheidbarkeit von fiktionalem Realgeschehen und fiktionalen imaginären Szenen, der tendenziellen Liquidierung von Geschehen und Ereignissen durch einen Satz von Elementen, die im ganzen Roman dieselben bleiben (wobei die Geschichte des Romans die ihrer Verschiebung und Umgruppierung ist) - bemerkte man einen der realistischen „Öffnung auf eine Welt" entgegengesetzten Zug: das Bestreben, diese zu erschweren oder zu verhindern, den Leser strikt auf das ästhetische Objekt zu verweisen und „eine unerschöpfliche Befragung über mögliche Sinnhaftigkeiten (des sens)" zu provozieren. Während im traditionellen Roman „Sinn . . . als etwas gesetzt wurde, was in der Welt und in den Personen enthalten war", lehrten die nouveaux romans, daß es ein Problem der Sinn-Konstituierung gibt, daß man diese nicht als „eine getreue Widerspiegelung des Realen" (soll heißen: der Objektwelt) auffassen könne, sondern eher als „eine Wette", in deren Verlauf das Subjekt in seiner Umgebung Indizien ausfindig mache, von denen aus es entscheide, welche Eigenschaften es den Objekten seiner Wahrnehmung zuerkennen kann und muß. Wird der Sinnbildung jede Objektivität abgesprochen, können Aufnahme und Bewertung der in literarischen Texten dargebotenen Weltsicht als purer Entscheidungsakt der Leser gelten: Die neuen Romane seien an sich weder langweilig noch interessant, vielmehr „hängt es von uns ab, uns . . . zu Lesern des Nouveau Roman zu machen" 269 . In .den verschiedenen Verfahren, mit denen der Nouveau Roman das ästhetische System des ^Realismus zu destruieren suchte, erblickte die mitgehende Literaturkritik eine gemeinsame Grundeinstellung: eine „antivitalistische Parteinahme", eine „Distanzierung von naiver Realitätsauffassung und von der realistischen Konzeption des Romanberichtes", eine klare „Priorität, die der Ausarbeitung des Geschriebenen selbst vor dem Dargestellten oder dem Gefühlten eingeräumt 104

wird" 2 7 0 . In diesem Zug literarischer Modernität überhaupt sah sie den Ausdruck eines Krisenbewußtseins, der weder vom Standpunkt der negierten alten noch aus der Perspektive einer erkennbaren neuen Ordnung zu begreifen und zu kritisieren wäre, der vielmehr als Moment und als Chiffre eines weitgreifenden Auflösungs- und Übergangsprozesses (mit unbekanntem Ziel) nach immer neuen Deutungen verlangte. D i e Interpretationen wurden genauer (d. h, aufmerksamer gegenüber den Texten, den Leseweisen und den Analysemethoden der Literaturkritik) und zugleich tastender, weil die Kritik sich, ebenso wie die von ihr reflektierte Literatur, involviert sah in den Vorgang des Traditionsbruches und des Evidenzverlustes von überkommenen Überzeugungen, Wertvorstellungen und Weltanschauungen. Ihr Relativismus und ihre Skepsis, die sich mitunter auch in einem erkenntnistheoretischen Agnostizismus äußerten, 271 glichen dem Weltgefühl der nouveaux romanciers und bezogen einen guten Teil ihrer Virulenz aus frischen geschichtlichen Erfahrungen mit einem „Wissen von der Welt", das seine soziokulturelle Verbindlichkeit und Orientierungskraft eingebüßt hatte. „Heute gibt es keine allgemeingültigen Schlußfolgerungen und Gewißheiten mehr, die man sich aneignet, um sich an ihnen zu nähren und mit ihnen umzugehen. E s gibt fortwährende Erkundungen, die ihre vorläufigen Ergebnisse rasch hinter sich lassen, Untersuchungen, die untrennbar gebunden sind an ihre eigenen Voraussagefähigkeiten. E s gibt eine provisorische und von allen Seiten umstellte Ungewißheit. Des Wissens beraubt, ist die Literatur heute eine Literatur des Nicht-Wissens, also eine unmögliche Literatur und folglich auf der Suche nach ihrem Möglichsein . . ." 2 7 2 Die in den angedeuteten ideologischen Kontext eingelassenen Veränderungen des Romans wurden erkannt als eine besondere, durch die Situation der französischen Intelligenz der fünfziger Jahre bedingte Ausbildungsform der schon länger währenden Tendenz bürgerlicher Literatur, „eine Literatur des Sprachproblems" 2 7 3 zu sein, eine Literatur, die „an der Sprache zweifelt, sie einer Revision unterzieht, sie umwertet, neu schafft, an ihr verzweifelt oder dazu neigt, aus ihr d i e Wirklichkeit zu machen". Diese Bestimmung führte u. a. dazu, daß die im Nouveau Roman praktizierte Selbstkritik des Romans in Beziehungen zum Surrealismus und dessen Aufwertung der écriture gebracht wurde. Eine beide Richtungen verbindende Tendenz sah man darin, daß die Literatur nicht mehr die objektive „Vernunft dessen, was wir Natur nennen" 274 , zu erfassen und in Sprache auszudrücken suchte, sondern daß ihr zugetraut wurde, 105

eine „neue Vernunft" zu finden, nach der die Wörter sich verbinden ufltì eine Realität eigener Ordnung erzeugen könnten: die poetische Bedeutung. „André Breton stellte als erster mit Genauigkeit der Schreibweise . . . ein U n m ö g l i c h e s zum Ziel : die Ermittlung jenes berühmten geistigen Punktes, von dem aus Leben und Tod, Reales und Imaginäres, Vergangenheit und Zukunft, Kommunizierbares und Unkommunizierbares, Hohes und Niedriges aufhören, als Gegensätze aufgefaßt zu werden." 275 Jedoch während die Surrealisten „das Leben ändern" wollten, ging es der „Avantgarde" der fünfziger Jahre „nicht darum zu h a n d e l n (agir), sondern darum, etwas zu m a c h e n (faire); sie wollten nicht e t w a s a n d e r e s sagen, sondern a u f a n d e r e W e i s e ; wichtig ist für sie nicht d a s , w a s man sagt, sondern d a ß man sage" 276 . Die Verlagerung der „ersten Behauptung . . . über die Welt und den Menschen" in die „Disposition der Formen" (Eco) machte diese zu Symptomen oder Indizien, die erkannt werden müssen, auch und gerade vor dem Hintergrund des literarischen Systems oder der Codes, gegen die die neuen Formen opponierten. Die Strategie der Texte verlangte eine Änderung der Leseweise, indem sie Bedeutungszuordnungen nicht selber anboten, sondern zum Problem machten, sei es in vorwiegend destruktiver Absicht, sei es in Richtung auf mögliche neue Praktiken der Sinn-Konstitution. Das (unterschiedlich komplexe) Dechiffrierungsspiel, das die nouveaux romanciers suggerierten, schloß (int unterschiedlichen Proportionen) die Mehrzahl der an der literarischen Kommunikation Beteiligten aus. Die im Gestaltungsmodus selbst angelegten „Behauptungen über die Welt" riskierten somit, in der Rezeption nicht realisiert zu werden, zumal gerade die auf Form-Erkennung bedachte Lektüre dazu neigte, diese ihrem Verständnis nach - jenseits der Texte liegende Dimension zu suspendieren. Das, was dem neuen Realismus des Nouveau Roman, genauer: den Werken und den Autoren, in Termini wie „Realitätsverlust" oder „Abwendung von der Welt und der historischen Situation des Menschen" als spezifische Problematik zugerechnet wurde, ließe sich meiner Meinung nach treffender charakterisieren als literarischer Struktur- und Funktionswandel, dessen spezifische Opposition zum ästhetischen System des Realismus dazu führte, daß die Möglichkeiten der Leser, Realitätsbezüge der Texte und deren Urteile über die Welt zu erfassen, erheblich erschwert wurden. Denn dem Gestus dieser Opposition ist „die Negation jeder etablierten Wirklichkeitskonzeption und Konsistenzbildung" inhärent. Ihr Eingeschworensein 106

„auf das Heuristische von Formexperimenten, von forcierten, buchstäblich versuchsartigen sprachlichen und strukturellen Konsistenzbildungen" macht den „Begründungszusammenhang des Dargestellten . . . so weit wie möglich immanent, so daß der Rezipierende nur «in Minimum an werkexternen Haltepunkten hat". Genauer gesagt: Solche „Haltepunkte" finden sich weit weniger im Bereich einer zum Gegenstand literarischer Abbildung genommenen gesellschaftlichen und/oder individuellen Realität als vielmehr in der Reflexion „auf •die Sprache als Matrix der Weltaneignung und Konsistenzbildung". 277 Das Realitätsproblem des Nouveau Roman manifestiert sich als Kommunikationsproblem.

Be^ug auf einen philosophischen Kontext: Der „phänomenologische Realismus" des Nouveau Roman Mit dem beschriebenen Einsteilungswechsel in der Rezeption der nouveaux romans verschwand die Frage nach der Wahrheit, der Weite und Tiefe der dort zum Ausdruck gebrachten Realitätssicht. Genauer gesagt: Nicht der kritische Vergleich zwischen Romanwelt und wirklichem Leben, sondern der Vergleich zwischen unterschiedlichen ästhetischen Systemen und den in ihren Erzählformen jeweils verfestigten bzw. in Frage gestellten Perspektiven der Welterfassung stand im Vordergrund, wenn über Realismus geredet wurde; das Interesse galt der im Nouveau Roman erkennbaren „Distanzierung von naiver Realitätsauffassung und von der realistischen Konzeption des Romanberichts" (J. Howlett). Die Kennzeichnung „naiv" bezog sich ebenso auf die Vorstellung einer konsistent und verbindlich vorerschlossenen Wirklichkeit, die die Literatur dann mit ihren Mitteln abbildet und bespricht, wie auf die Selbstverständlichkeit, mit der das ästhetische System realistischer Romane des 19. Jahrhunderts als gewissermaßen natürliche Art literarischer Realitätsdarstellung vorausgesetzt und akzeptiert wurde. Dementgegen führte - und dies gilt überhaupt für den Umgang mit moderner Dichtung, auch außerhalb Frankreichs (und außerhalb der Nouveau-Roman-Diskussionen) - die Auffassung von der „Vieldeutigkeit, Offenheit und Funktionalität dessen, was gleichsam immer neu heuristisch oder perspektivisch Wirklichkeit genannt werden kann", dazu, die „Unerschöpflichkeit und Unabgeschlossenheit der Konsistenzbildungen" 278 als wichtigstes 107

Operationsfeld der Literatur zu begreifen. Aus dieser Perspektive rückte die organisierende, eine eigenartige und eigengesetzliche Realität erzeugende Funktionsweise des literarischen Gestaltungsmodus ins Zentrum der Überlegungen, wobei der dem beobachteten Traditionsbruch zugeordnete Verlust an Realitätsgewißheit in allgemeinen Termini, als „zeitgenössisches Lebensgefühl" - ähnlich wie in den Essays der nouveaux romanciers selbst - zur Sprache kam. Seine ideologischen Prämissen erhielten dort schärfere Umrisse, wo der „neue Realismus" des Nouveau Roman als „phänomenologisch" charakterisiert wurde. Die Herstellung eines Bezuges zwischen dem Gestus der Beschreibungstechniken der nouveaux romanciers — ihrer Hinwendung zu den „Dingen selbst" - und Grundeinstellungen der philosophischen Strömung der Phänomenologie beruhte im wesentlichen darauf, daß die Reduktionsformen des Nouveau Roman den Prinzipien phänomenologischer Reduktion sowie der phänomenologischen Kritik an rationalistischen und idealistischen Vorstellungen von Bewußtsein, Erfahrung, Sinnbildung als literarische „Entsprechungen" zugeordnet wurden. Hiermit schien der Punkt gefunden, an dem sich die in die Schreibweisen investierten „Behauptungen über die Welt" philosophisch übersetzen und die erkenntnistheoretischen Implikationen bzw. die Weltsicht des in ein „Labor des Berichts", ein Instrument zur „kritischen Untersuchung der Wirklichkeitskenntnis" umfunktionierten Romans bestimmen ließen. In den diesbezüglichen Versuchen - die hier im Unterschied zu den vorangegangenen Abschnitten nicht einzeln, sondern in ihrer gemeinsamen Grundrichtung diskutiert werden sollen279 - lieferte die Beobachtung von Ähnlichkeiten zwischen programmatischen Äußerungen der nouveaux romanciers und philosophischen Thesen insbesondere von Sartre und Merleau-Ponty den Ansatzpunkt, um literarische Verfahren des Nouveau Roman mit bestimmten Aspekten der phänomenologischen Methode zu parallelisieren. Sofern ein solches Vorgehen dazu diente, dem Nouveau Roman Realismus zu attestieren, war es bereits in der Voraussetzung anfechtbar, daß der phänomenologischen Erkenntnismethode eben jene „Verbindung äußersten Subjektivismus und äußersten Objektivismus" (Merleau-Ponty) geglückt sei, mit der sie die jeweiligen Grenzen von Idealismus und Materialismus überschritten zu haben glaubte. Nicht in seiner unkritischen Übernahme des philosophischen Anspruchs der Phänomenologie - deren subjektiv-idealistischer Grundzug von marxistischer Seite herausgearbeitet worden ist - , sondern als Hinweis auf das ideologische Milieu, 108

in dem sich der Nouveau Roman herausbildete, ist das Postulat eines „phänomenologischen Realismus" hier von Interesse. Es ermöglicht eine genauere Bestimmung der weltanschaulichen Voraussetzungen des Nouveau Roman - nicht in dem Sinn, daß die Romane als Illustrationen philosophischer Sätze oder als Produkte einer Anwendung der Phänomenologie auf die Literatur aufzufassen sind. Mit Ausnahme von Butor, der Philosophie studiert hat (und unbeschadet der freundschaftlichen Beziehungen zwischen Claude Simon und Maurice Merleau-Ponty), waren die nouveaux romanciers wohl kaum intime Kenner etwa von Sartres Das Sein und das Nichts oder von MerleaU-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung oder hatten sie zumindest keine systematische Kenntnis der phänomenologischen Philosophie. Das Zustandekommen von Übereinstimmungen und Parallelen ist eher so zu denken, wie Merleau-Ponty dies 1945 für die Beziehungen zwischen Film und Philosophie formuliert hat: „Der Film ist zunächst eine technische Erfindung, an der die Philosophie keinen Anteil hat. Ebensowenig dürften wir sagen, daß die Philosophie . . . den Film auf die Ebene der Ideen überträgt . . . Wenn sich die Philosophie und der Film einig sind, wenn die Reflexionen und die technische Arbeit in dieselbe Richtung gehen, dann deshalb, weil der Philosoph und der Cineast eine bestimmte Seinsweise, eine bestimmte Weltsicht gemeinsam haben, die die einer Generation ist." 280 Mit der Festellung, daß „seit Beginn des Jahrhunderts . . . viele große Bücher die Revolte des unmittelbaren Lebens gegen die Vernunft zum Ausdruck gebracht" hätten und daß in der Kunst sichtbar geworden sei, „mit welchem Risiko Ausdruck und Mitteilung verbunden sind" 281 , waren Gemeinsamkeiten der Weltsicht von Nouveau Roman und Phänomenologie benannt. Dabei bedarf die Rede von der Phänomenologie einer Präzisierung. Von Husserl als philosophische Methode im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts entwickelt, stand die Phänomenologie im Zusammenhang mit der Abkehr der spätbürgerlichen deutschen Philosophie vom Neukantianismus und dessen rationalistisch orientierter Erkenntnismethode. Husserls Schüler (Max Scheler, Martin Heidegger, Moritz Geiger, Oskar Becker und andere) und Anhänger (vor allem Nicolai Hartmann) verschafften der zunächst rein akademischen Angelegenheit eine Breitenwirkung, indem sie sie zum Aufbau eigner philosophischer Lehren benutzten oder in einzelnen Disziplinen (Ethik, Logik, Ästhetik) und Wissenschaften (Mathematik, Soziologie, Psychologie) zur Anwendung brachten. Während es der Phänomenologie „vornehmlich um die Entwicklung einer neuen philosophischen Methode ging", wobei Weltanschauungsfragen eine un-

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tergeordnete' Rolle spielten, wurden die in ihr enthaltenen Aspekte einer Weltanschauung „von den sie ablösenden und von ihr stark beeinflußten philosophischen Richtungen, der n e u e n O n t o l o g i e und dem E x i s t e n t i a l i s m u s , übernommen und weitergeführt." 282 Es handelt sich also um eine in sich differenzierte Strömung und im französischen Kontext um die durch den Existentialismus (wiederum recht unterschiedlich) verarbeitete Husserlsche Phänomenologie. Als gemeinsamer Ansatz kann das gelten, was die Bezeichnung „Phänomenologie" meint: Untersuchung der „Phänomene", d. h. dessen, was dem Bewußtsein als Erscheinung gegeben ist. Diese „Gegebenheiten" gelte es zu untersuchen, so wie sie sich dem wahrnehmenden Subjekt unmittelbar darbieten, wie es sie sieht, erlebt, erinnert, über sie spricht. Den philosophischen Rückgang auf die „Dinge selbst", auf die Welt „wie sie ist" (das bedeutet: so wie sie vor aller Reflexion und wissenschaftlichen Analyse im „naiven Weltbezug" des Subjekts erscheint), meinte Husserls Forderung: Es gilt zu beschreiben, nicht zu analysieren und zu erklären. Indem die Bildung von Hypothesen über „den Bezug, der das Phänomen mit dem Sein verbindet, d e s s e n Erscheinung es ist, und über die Beziehung, die es mit dem Subjekt verbindet, f ü r d a s es Erscheinung ist", vermieden wird, soll die natürliche, vorprädikative Einheit der Welt und des erlebenden Subjekts in den Blick geraten, auf die „sich die Reflexion, die Wissenschaft stützt und die sie immer ausblendet, wenn sie sich selbst begründen will". Daher die beiden Aspekte der Phänomenologie: einerseits ein starkes Vertrauen in die Wissenschaft und der daraus entspringende Wille, deren Umgrenzung solide abzustecken, „um ihr ganzes Gebäude zu stabilisieren und eine neue Krise zu verhindern". Um dies zu erreichen, andererseits, ein Verlassen der Wissenschaft, der Erkenntnis im eigentlichen Sinn, und Hinwendung zur „Intuition", zur „geistigen Schau", um des präreflexiven Verhältnisses zwischen „Welt" und „Bewußtsein" innezuwerden, auf dem die Erkenntnis ihrerseits unreflektiert, „selbstverständlich" aufbaut. „In rationalistischer Absicht begibt sich Husserl ins Vor-Rationale". Jedoch zeigt die Geschichte der Phänomenologie, von Husserl zu Heidegger, daß dieses Vor-Rationale ins Anti-Rationale verbogen und die „Phänomenologie zur Bastion des Irrationalismus" werden konnte. 283 Die eigentliche phänomenologische M e t h o d e beschrieb Maurice Merleau-Ponty im Vorwort zu seiner Phénoménologie de la perception (1945; dt. Phänomenologie der Wahrnehmung) als Versuch, die unmittelbare, gelebte Welterfahrung des Menschen zu verstehen. Weil die Subjekte nach phänomenologischer Auffassung „durch und durch Verhältnis zur Welt sind, ist die einzig uns mögliche Weise, dessen gewahr zu werden, die, diese Bewegung aufzuheben, ihr unsere Teilnahme zu entziehen . . . , sie 'außer Spiel zu setzen'". Das ist der Sinn der phänomenologischen Reduktion, deren Impuls man, Merleau-Ponty zufolge, am treffendsten „als das 'Erstaunen' angesichts einer Welt" bezeichnet hat. Der Rückgang auf „die Dinge selbst" zielte demnach nicht auf eine «kennende Rekonstruktion objektiver Existenz, sondern auf die philoso-

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phische Reflexion des im „unreflektierten Bewußtseinsleben unmittelbar gegebenen Bezuges zur Welt", auf die „Besinnung auf Raum, Zeit und Welt des 'Lebens'". Daher stellt sich für die Phänomenologie nicht die Frage, „ob wir eine Welt denn auch wirklich wahrnehmen, vielmehr ist zu sagen: Die Welt ist das, was wir wahrnehmen." Wobei unter der Evidenz von Wahrnehmung „nicht . . . die eines adäquaten Denkens, noch apodiktische Evidenz" verstanden wurde, sondern die „unzweifelhafte Kommunikation mit der Welt". Die unablässige Richtung des Bewußtseins auf die Welt (nach Husserl: Intentionalität) erscheine „deutlicher als in objektiver Erkenntnis . . . in unserem Wünschen und Schätzen und in unserer Umwelt", gleichsam als „Grundtext . . . , den unser Erkennen in eine exakte Sprache zu übersetzen sucht". Mit dem Begriff der Intentionalität grenzte die Phänomenologie ihre Methode des „Verstehend' ab von „klassischer 'Einsicht'", die sich „allein an die 'wahre und unwandelbare Natur' der Dinge gehalten" und Phänomenologie nur als die. der Genesis ermöglicht hätte. „Wahrgenommene Dinge, Ereignisse in der Geschichte oder philosophische Lehren 'verstehen' heißt die Totalintention erfassen: nicht allein das, was etwas in der Vorstellung ist, die 'Eigenschaften' der wahrgenommenen Dinge, die Masse 'historischer Fakten', die 'Ideen' der philosophischen Lehren, sondern die einzigartige Weise des Seins, die je sich ausdrückt in den Beschaffenheiten des Kiesels, des Glases oder des Wachsstückes, in all den Tatsachen einer Revolution, in all den Gedanken des Philosophen." In ihrem „Begriff von Welt und Vernunft" war der Phänomenologie nach eigener Überzeugung die „Verbindung äußersten Subjektivismus und äußersten Objektivismus" geglückt: „Der Philosoph sucht die Welt, die Anderen und sich selbst zu denken und ihre Bezüge zu fassen. Das meditierende Ich jedoch, ein 'uninteressierter Zuschauer', hat nicht eine schon gegebene Rationalität lediglich aufzufassen, er 'etabliert sich' vielmehr und etabliert diese Rationalität kraft einer Initiative, deren Erfolg nicht im Sein gewährleistet ist, deren Recht vielmehr ausschließlich darauf beruht, daß sie wirklich uns das Vermögen gibt, die Geschichte zu übernehmen. Die phänomenologische Welt ist nicht Auslegung eines vorgängigen Seins, sondern Gründung des Seins; die Philosophie nicht Reflex einer vorgängigen Wahrheit, sondern, der Kunst gleich, Realisierung von Wahrheit." 284 In marxistischer Kritik an der Phänomenologie wurde hervorgehoben, daß deren Grundwiderspruch aus der Trennung von Sein und Sinn resultiert. „Der Sinn verweist ausschließlich auf die konstituierende Subjektivität. Diese Subjektivität verweist jedoch ihrerseits auf eine neutrale Welt, die selbst im Werden begriffen ist und in der sich alle Sinnaspekte der Realität als Sinngenesis konstituieren." 286 * Diese „neutrale Welt", die den Sinn aller Realität wie ein Sediment in sich birgt, als materielle Welt in ihrer dialektischen Bewegung zu begreifen und die Sinnhaftigkeit der materiellen Formen, unabhängig vom „transzendentalen Bewußtsein", anzuerkennen - diese materialistische Konsequenz hat die Phänomenologie nicht gezogen. Ihre philosophische

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Haltung charakterisierte Lukács (in Existentialismus oder Marxismus? 1951) als Versuch, den Kategorien des subjektiven Idealismus eine Pseudo-Objektivität zu verleihen. Ihr Streben nach einem „dritten Weg" - weder idealistisch noch materialistisch (in Husserls Diktion: weder „objektivistisch" noch „psychologistisch") - war Reaktion auf die mit Ausbruch der ersten großen Krise des Imperialismus entstandene Krisensituation der bürgerlichen Philosophie, eine Reaktion, die mit der scheinbaren Aufhebung der Gegensätze von Materialismus und Idealismus den tatsächlichen, nun aber indirekt geführten Kampf gegen den dialektischen Materialismus verband.

Der Bezug auf die Phänomenologie ermöglicht es, Voraussetzungen der Kritik zu bestimmen, die die nouveaux romanciers am „Essentialismus", den „Mythen der Tiefe", den „Hinterwelten" im traditionellen Roman übten und von der aus sie ihre eigene Hinwendung zum Beschreiben, zur „Oberfläche" der wahrgenommenen Welt als realistisch verteidigten. Was sie an den zurückgewiesenen Erzählformen als verfestigte Täuschung, an den eigenen als Entmystifizierung begriffen, deckte sich weitgehend mit der phänomenologischen Auffassung von Wesen und Erscheinung. Diese bildete die gnoseologische Komponente des für den Noveau Roman charakteristischen AntiEssentialismus, d. h. seiner Ablehnung einer Literaturkonzeption und Romanpraxis, die anhand der Entwicklung realistischer Literatur in Deutschland (nach 1848) genauer untersucht worden ist 286 und an der wir nur den hier unmittelbar interessierenden Punkt berühren wollen. Die Vorstellung vom Wesen bzw. dem Essentiellen als dem im „Inneren", in der „Tiefe" der Erscheinungen verborgenen Kern, den das erkennende Denken lediglich hervorholt (aus der Umhüllung des Unwesentlichen „herausschält", unter der äußeren Schicht, der Oberfläche der Erscheinungen „aufdeckt") und den die Literatur dann mit den ihr eigenen Mitteln (Bildern) darstellt - diese Vorstellung verführte dazu, den Erkenntnisvorgang (wie andrerseits auch die Schreib- und Lektüreweisen) als Produktionsakt, in seiner vom Gegenstand unterschiedenen strukturellen Eigenart nicht zu reflektieren. Die sprachphilosophisch-literaturtheoretische Kritik an dieser Vorstellung begleitete die Konstitution des Nouveau Roman, von Barthes' écriture-Begriff bis zu Ricardous Auffassung von Schreiben als Produktion. Sie war, wie simplifiziert auch immer, zugegen in allen Polemiken gegen die Reduktion der literarischen Sprache auf ein an sich neutrales („unschuldiges"), allenfalls wirkungsvoll oder ungeschickt eingesetztes Mittel zum Ausdruck dessen, was der Schriftsteller an der Wirklichkeit entdeckt und über sie zu sagen hat. 112

Philosophisch bestärkt wurde der Nouveau Roman durch die Phänomenologie auch insofern, als er deren „Versuch einer direkten Beschreibung aller Erfahrung, so wie sie ist, ohne Rücksicht auf Probleme genetischer Psychologie oder Kausalerklärung" auf der programmatischen Ebene mitvollzog, im Geiste jener „Revolte des unmittelbaren Lebens gegen die Vernunft" (Merleau-Ponty), der vorgehalten wurde, „an die Stelle der erlebten Welt in ihrer Inkohärenz, ihrer spürbaren Undurchdringlichkeit (opacité), ihrer passionellen Färbung die intelligible Welt eines diskursiven Universums" 287 zu setzen. Die eingangs beschriebene Rationalismus-Kritik der nouveaux romanciers (vgl. S. 16) führte zu einer Literaturkonzeption, die der Phänomenologie darin analog ist, daß in ihr „das Problem der literarischen Objektivität seine Brisanz" verliert und daß die Wirklichkeit, wird sie „nicht mehr als Vorgabe, sondern erst als Ergebnis einer - fiktionalen - 'Gedankenarbeit' (Dilthey) angesehen . . . , im Grunde nur als Ausdruck eines konsequenten Subjektivismus möglich" ist. 288 Gemeinsamkeiten zwischen dem NouveUu Roman und der Phänomenologie (als Komponente des intellektuellen Klimas, in dem der Nouveau Roman sich entwickelte) herauszuarbeiten, kann also nicht den Sinn haben, eine neue Spielart des Realismus aus der Taufe zu heben, wohl aber den zu zeigen, welche Weltsicht der Kritik der nouveaux romanciers am traditionellen realistischen Roman und ihrem Selbstverständnis, den Realismus zu erneuern, zugrunde lag. Unter diesem Aspekt erscheint mir das Postulat eines phänomenologischen Realismus erhellend. Es trug unter anderem dazu bei, die Opposition der nouveaux romanciers gegen Sartres Konzeption engagierter Literatur und namentlich RobbeGrillets Abrechnung mit dem „tragischen Weltgefühl" des Existentialismus als nur einen Aspekt der Beziehungen zwischen Existenzphilosophie und Nouveau Roman zu erkennen und die Kontinuität im Bruch zu unterstreichen, so daß auch dessen besondere „Einsatzstellen" genauer sichtbar wurden. Damit geriet zugleich in den Blick, daß bestimmte literarische Verfahren und poetologische Positionen der ersten Phase des Nouveau Roman bereits im Werk Sartres angelegt waren. Hierzu einige Stichpunkte: Der Aufsatz M. François Mauriac et la liberté (1939) lieferte ein exemplarisches Beispiel der Kritik Sartres am klassischen französischen Roman. Mauriac, der seine Personen von innen und außen sieht, ihre Vergangenheit ebenso kennt, wie er ihr künftiges Schicksal weiß, schreibe vom Standpunkt der absoluten Wahrheit, d. h. vom Standpunkt „göttlicher Allwissenheit und Allmacht. Ein Roman aber ist von einem Menschen für 8

Burmeister, Nouveau Roman

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andere Menschen geschrieben. Gott ist kein Künstler. Herr Mauriac auch nicht." In Verbindung philosophisch-ethischer und poetologischer Argumente erklärte Sartre den „Klassizismus" des französischen Romans für gattungswidrig: „Jeder weiß, daß unser Klassizismus der Rhetorik (l'éloquence) und dem Theater angehört." 289 Die wichtigsten Elemente der von Sartre dagegengesetzten Romankonzeption (entstanden zu Beginn der dreißiger Jahre, als Sartres „Entdeckung Husserls mit der intensiven Lektüre Faulkners und Kafkas einherging"290) waren: Eliminierung eines privilegierten Beobachters und Relativität der Erzählstandpunkte; Indétermination der Personen; Beobachtung von Verhalten, Sprache und Gebärden statt psychologischer Introspektion und Analyse (damit war gemeint: die Fixierung des Charakters bzw. des Wesens der Romanpersonen durch „einleuchtende Erklärungen" und Konstruktion psychischer Kausalzusammenhänge) ; Erlebnis der Zeit als Dauer und der Dinge als „opake" Widerstände; Genauigkeit und Ausführlichkeit des Erzählens, statt (wie an Mauriac bemerkt) auf kürzestem Wege zum „Wesentlichen" zu kommen; Auffassung des Bewußtseins als nicht-thetische, nicht-reflektierte (und auch sich selbst nicht - wie in einem Spiegel - in der Welt reflektierende) Intervention, als „Blick" auf die kompakte Realität der Dinge. Am zuletzt genannten Element, der Rolle des Blickes als Instanz der Wahrnehmung, 291 wollen wir das oben genannte Verhältnis von Kontinuität und Bruch verdeutlichen. „Diese Welt ist eine Welt von Aufgaben", heißt es in Das Sein tmd das Nichts. Die normale Wahrnehmung betrachte daher die Dinge als Instrumente, in jeder Hinsicht: Gegenstände sind anzufassen oder zu meiden, Entfernungen sind zu durchmessen, Zeichen sind zu verstehen. In berühmt gewordenen Szenen aus Der Ekel wird dieser normale Bezug dadurch auffällig gemacht, daß er außer Kraft tritt, indem Roquentins Blick die Dinge ihrer gewohnten Bedeutung entkleidet. Unter diesem Blick schwindet das dünne, harte Häutchen ihrer Besonderheit und Individualität oder, wie Sartres Metapher lautet, es schmilzt ihr Firnis: „Die Verschiedenartigkeit der Dinge, ihre Individualität waren nur Anschein, Firnis. Dieser Firnis war geschmolzen, es blieben monströse und weiche Massen, in Unordnung - nackt, von erschreckender und obszöner Nacktheit." 292 Die Offenbarung der Dinge als pures, durch keinerlei „Umhüllung" mehr abgegrenztes und definiertes Da-Sein, sobald ihre gewohnte, durch Gebrauch vertraute Erscheinung sich unter dem entfremdenden Blick auflöst, diese provozierend neue Wahrnehmung der Fremdheit, des Abstands zu den Dingen, führt Roquentin in den Ausnahmezustand eines Erlebnisses, das ihn von den anderen unterscheidet. Auf diesem Hintergrund sind die Dingbeschreibungen in den ersten Romanen Robbe-Grillets als „Normalisierung" der „phänomenologischen Erfahrung" Roquentins interpretiert worden, die nun nicht wieder zu der von Sartre vorausgesetzten „normalen" Wahrnehmung zuruckführt, sondern die die Trennung zwischen Mensch und Dingen dergestalt etabliert, daß ihr Erlebnis nicht mehr den Status des Skandalösen, Außergewöhnlichen, Exzentrischen besitzt. Daher stellt, nach Auffassung von Renato Barilli, Robbe-

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Grillets Beschreibungstechnik eine konsequente Fortführung - vom Ausnahmezustand hin zur Normalität - des Sartreschen Ansatzes dar. 293 Was in dieser Deutung zu kurz kommt, ist das intendierte (und wie die Aufnahme von RobbeGrillets Romanen zeigt, auch realisierte) Moment des Bruches. Bei RobbeGrillet wurde der Blick keineswegs, wie öfter angenommen, namentlich unter Berufung auf dessen theoretische Selbstdarstellung, zu einer bloßen Registratur und Vermessung, mit dem Ziel, die Dinge in ihrer reinen Äußerlichkeit zu zeigen, „so wie sie sind", wenn sie unbeteiligter Beobachtung sich bieten. Die Beschreibungen hatten vielmehr die Funktion - und daher rührte ihre skandalisierende und irritierende Wirkung - , aus dem Abstand zwischen den Objekten und dem sie musternden Subjekt das Gefühl der Entfremdung, des tragischen oder ekelerregenden Verlustes einer vertrauten Beziehung zu vertreiben. Das Erlebnis des Da-Seins der Dinge sollte nicht mehr zu jenem Schwindelgefühl führen, das Roquentin erfaßte, als er die Wurzel des Kastanienbaums ansah. „Normalisierung" also schon, aber verbunden mit der Austreibung eben des für Sartres existentialistischen Roman konstitutiven Weltgefühls. Robbe-Grillets „Blick" tilgte mehr als nur den Ausnahmezustand Roquentins. Seine Beschreibungen waren die literarische Einlösung seiner Humanismuskritik. Zugleich mit der Idee einer Natur- und Objektwelt, die dem Menschen immerfort sein Bild zurückwirft, verweigerte Robbe-Grillet den Schmerz über den Verlust dieser Einheit. Hatte Sartre an Mauriac den Gottesstandpunkt kritisiert und den Beobachterstandpunkt des Menschen/Romanautors unterstrichen, so wollte Robbe-Grillet die Beobachtung von ihren humanistischen Konnotationen reinigen, sie freimachen für neue, nicht mehr tragische Zuordnungen - dies wiederum in einem phänomenologischen Verständnis: Von Situation, Perspektive und Intentionalität des perzipierenden Bewußtseins sei abhängig, welchen Sinn das Subjekt seinen Wahrnehmungen gibt. Zu den strukturierenden Elementen und Verfahren in den nouveaux romans, deren Ideologiehaltigkeit durch den Bezug auf die Phänomenologie „geortet" werden konnte, gehört die Abwendung von einer psychologischen Analyse, die davon ausging, daß sich im Verhalten - den Handlungen, Reden und Gebärden - eines Menschen sein eigentliches Wesen manifestiert, so daß dieses Verhalten dann zur Kennzeichnung eines Charakters dient, der individuell ist und doch typisch, einzig und repräsentativ zugleich. (Nathalie Sarraute kritisierte die psychologischen Analysen Prousts, weil dieser die beobachteten psychischen Zustände der Personen zu klassifizieren und kausal zu verknüpfen suchte, um die „großen Linien", die „innere Logik" ihrer Verhaltensweisen durchsichtig zu machen, anstatt sich auf die genaue Beschreibung all dessen, was er beobachten konnte, einzulassen. Diese Kritik deckte sich mit Sartres Einwänden gegen Proust in Das Sein und das Nichts,294) D e r nur beschreibenden Beobachtung 8*

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von: (hei Sarraute zumeist verbalem) Verhalten ließ sich die phänomenologische Auffassung zuordnen, daß nichts unwesentlich ist, denn das Wesen steckt nicht im Innern der Erscheinung, das Wesen i s t der Sinn, vielmehr die Pluralität realisierter oder möglicher Sinne, die ein Phänomen für das Subjekt hat oder haben kann. Aus dieser Perspektive erschienen die minutiösen Beschreibungen nicht als „zu viel", unvernünftig, unselektiv, sondern als unerläßlich. Wird das Bewußtsein verstanden als „Bewußtsein v o n etwas", als „universelle Präsentationsebene der Dinge", dann wird es durch die Totalität seiner Inhalte konstituiert. „Weil sie ignoriert, daß alles in allem steckt, ist die traditionelle Kritik absolut außerstande zu begreifen, daß einen Kiesel einfach als Kiesel zu beschreiben, mit seinen Abplattungen, seiner Glätte oder seiner Rauheit, bedeutet, ein Teilchen einer menschlichen Kenntnis zu beschreiben."295 Für die nouveaux romänciers hatte die Beschreibung einen anderen Sinn als im traditionellen Roman, bzw. sie eroberte sich ihren Sinn gegen ihn, z. B. durch Destruktion des „bedeutungsvollen Dekors", den Butor in Philosophie der Möblierung so charakterisierte: „Wenn Balzac uns die Einrichtung eines Salons beschreibt, dann beschreibt er uns die Geschichte der Familie, die ihn bewohnt."296 Allgemeiner hieß es bei Robbe-Grillet: „Früher diente die Beschreibung dazu, die großen Linien eines Dekors nachzuzeichnen, sodann ein paar besonders aufschlußreiche Elemente zu beleuchten . . Z'297 Die Beschreibungstechniken im Nouveau Roman installierten - dies wurde als ihre spezifische Funktion hervorgehoben - eine Beziehung zur Welt, die vorwiegend die des Sehens war (Merleau-Ponty: „Sehen, das' ist die Erlaubnis, die Sache nicht zu denken, weil wir sie sehen.298). Weil ein wertender Bezug a priori nicht gesetzt wird, ist alles wichtig, gerade das Kleine, Unbedeutende, das Banale, das Detail. Gilt die Welt als unvermittelter und unmittelbarer Bewußtseinsinhalt eines immer „in Situation" befindlichen Subjektes, dann entfällt eine Werthierarchie ebenso wie eine panoramische Sicht und chronologische Kontinuität. Es herrschten der Standpunkt des Ich-Hier-und-Jetzt, eine aus Momentbildern achronologisch und akausal zusammengesetzte Folge von Beschreibungen, die im Prinzip unausschöpfbar sind, weil jedes Ding in unendlich vielen „Abschattungen" wahrgenommen werden kann. Daher die auffälligen Wiederholungen - ähnlich, aber unterschieden. Die Herausarbeitung von Parallelen oder Ubereinstimmungen zwischen phänomenologischen Thesen und Erzähltechniken in den 116

nouveaux romans verließ - dies ihre Grenze - den Rahmen wechselseitiger Bestätigungen nicht. So war ihr positiver Ertrag verbunden mit einer in doppelter Hinsicht unkritischen Haltung: gegenüber der Phänomenologie und gegenüber dem phänomenologischen Realismus des Nouveau Roman selbst. Gedeutet als Entsprechungen zur phänomenologischen Methode, „naivem Weltbezug" mit Hilfe bestimmter Prozeduren („Ausklammerung", „Reduktion") philosophisch nachzugehen, erhielten Verfahren des Nouveau Roman zwangsläufig einen analogen Erkenntniswert. E s entfiel die Frage, welche kritische Leistungsfähigkeit die i n R o m a n e n praktizierte „Ausklammerung" vorgefundener Sinnsetzungen und Erklärungen im Hinblick auf ebendiese Bewußtseinsinhalte tatsächlich besaß, prinzipiell besitzen konnte oder aber verschenkte. Mit anderen Worten, nicht reflektiert wurde die R e l a t i v i t ä t der Realitätsannäherung durch die in Erzählverfahren des Nouveau Roman vollzogene Problematisierung phänomenaler Wirklichkeit. Dies nicht im Sinne des Bezugs auf eine verbindlich vorgegebene Wirklichkeitsauffassung und eine allgemeingültige Norm von Realismus oder künstlerischer Wahrheit, sondern als Reflexion über die oben (S. 85) thematisierten Funktionen literarischer Realitätsaneignung und Kommunikation, die der Roman abstreifte, indem und insoweit er sich als „phänomenologische D o mäne" (Butor) etablierte. D e r Versuch, den Nouveau Roman durch Anschluß an die Phänomenologie als realistisch zu begreifen, fand zudem seine natürliche Grenze im Widerstand der Texte, genauer: an der Beschreibungstechnik Robbe-Grillets. Gerade sie hatte dazu herausgefordert, dem verbreiteten Urteil einer falschen Unparteilichkeit, einer rein dingbezogenen, objektivistischen Perspektive die phänomenologische Interpretation entgegenzustellen: Robbe-Grillets B e schreibungen seien realistisch, weil sie die Dinge nicht an sich, gelöst vom subjektiven Bezug, darboten, sondern als Inhalte subjektiver Wahrnehmung, als Bewußtseinsgegenstände. D a ß sich diese -Auffassung nicht durchhalten ließ, daß gerade sie mit der antirealistischen, auf „Unabhängigkeit vom Realitätsprinzip" gerichteten Schreibweise Robbe-Grillets kollidierte, soll abschließend gezeigt werden.

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Das Streben nach Unabhängigkeit vom Kealitätsprin^ip : am Beispiel Robbe-Grillets Robbe-Grillets Romane Les Gommes, Le Voyeur, La Jalousie wurden zunächst vorwiegend als objektivistischer Neo-Realismus aufgenommen: abschätzig als „Objektlitaneien", warnend als „Flut der Objektivität" (Italo Calvino). In ihnen sah man eine autonome Welt der Objekte erstehen, aus der der Mensch vertrieben ist - eine Welt, die nicht mehr erlebt, sondern, in geometrische Flächen und Figuren zerlegt, vermessen wird. Diese Deutung unterstützte Robbe-Grillet mit seinen Polemiken gegen ein humanistisch-anthropozentrisches Weltbild, gegen die anthropomorphe Metapher im Roman. Er unterstützte sie auch durch programmatische Sätze wie jene vielzitierten: Die „Welt ist weder sinnvoll noch absurd. Ganz einfach: sie ist."299 Dem zunächst auf Realismus beharrenden Selbstverständnis von Robbe-Grillet waren Irrtümer leicht nachzuweisen, so eine falsche Auslegung phänomenologischer Thesen300* und ihre Verbiegung in einen „Neo-Positivismus", dem die „Vermessung des Sichtbaren" als der einzig sichere Beobachtungsvorgang galt.301 Namentlich RobbeGrillets Anspruch, durch die Auslöschung aller bedeutungsgebenden Beziehungen der Menschen zu den Dingen diese in ihrem reinen, wirklichen Dasein erreichen zu wollen, reizte zur Widerrede. Zu deutlich war die Illusion solchen Vorsatzes. Die „Prätentionen gewisser literarischer Bewegungen, eine Ästhetik der Nicht-Bedeutung zu begründen", bezeichnete A. J. Greimas unter semantischem Aspekt als naiv. „Wenn Alain Robbe-Grillet . . . die Anwesenheit zweier nebeneinandergestellter Stühle gefährlich erscheint, da sie infolge ihrer evokativen Macht mystifizierend wirkt, vergißt man, daß die Anwesenheit eines einzigen Stuhls wie ein sprachwissenschaftliches Paradigma funktioniert und gleichermaßen bedeutungsvoll (signifikant) sein kann, insofern sie die Abwesenheit voraussetzt."302 Auch für Jean Bloch-Michel verstieß die Absicht, mit einer „Literatur des Blickes" die Objekte an sich zu erreichen, gegen den Geist der Sprache. Das Bestreben, den Wörtern „ihre kulturelle Aufladung, jenen Komplex ungenauer Bedeutungen, den ein fortwährender Gebrauch seit Jahrhunderten in ihnen abgelagert hat", auszutreiben, könne nur bis an jene Grenze führen, wo die literarische Sprache „homolog dem Minimum an repräsentativer Funktion eines jeden Wortes" sei. Mit der Sehnsucht nach einer solchen Regression wende sich die Literatur gegen die Kultur.303 Ähnliche Beschreibung, aber 118

andere Bewertung bei Barthes: Der theoretische Irrtum Robbe-Grillets und sein Mißverständnis den eigenen Texten gegenüber läge einzig darin, „anzunehmen, es gäbe ein der Sprache vorausgehendes und äußerliches Da-Sein der Dinge, das die Literatur in einem äußersten realistischen Aufschwung . . . wiederzufinden hätte. Dabei sind, anthropologisch gesehen, die Dinge sofort, immer und mit vollem Recht bedeutungsvoll. Eben weil die Bedeutung gewissermaßen ihre 'natürliche' Bedingung darstellt, kann die Literatur sich als bewundernswertes Kunststück dartun: Wenn nämlich die 'Natur' bedeutungsvoll ist, kann es ein Gipfel an 'Kultur' sein, sie ihrer Bedeutungen zu entledigen."304 Wurde hier, mit unterschiedlichem Akzent, das Programm RobbeGrillets, seine eigne Auffassung dessen, was seine Texte leisten sollten, bestritten, erwuchs der objektivistischen Interpretation ein massiver Widerspruch durch Lesearten, die den Subjektivismus der Erzählperspektive in Robbe-Grillets Büchern hervorhoben. Der Umschwung erfolgte nach Dans le labyrinthe (1959) und L'année ¡dernière à Marienbad (1961). Beide führten zu einer veränderten Sicht auch auf die vorangegangenen Romane. Der Geometer erschien nun als Träumer und Fantast, als Schöpfer einer nur in der Imagination möglichen, subjektiven Welt. Auch diese Deutung unterstützte Robbe-Grillet: In seinen Romanen seien die Beobachtungen zwar auf das Objekt gerichtet, aber nicht objektiv, im Sinne von subjektunabhängig oder neutral. Denn immer gebe es einen Beobachter, und zwar einen, der weder teilnahmslos noch unparteiisch sei, sondern ein Besessener, ein Kranker, ein Verrückter - vom Standpunkt der Objektivität aus also ein sehr schlechter Beobachter. Weil die Beschreibungen in seinen Romanen immer radikal perspektivisch seien, könne man leicht zeigen, daß sie „subjektiver sind als beispielsweise selbst diejenigen von Balzac". 305 Exemplarisch und tonangebend in der Leseart von Bruce Morrissette,306 erschien nunmehr die realistische Intention Robbe-Grillets auf die Darstellung subjektiver Wahrnehmung gerichtet. Die entstandene Kontroverse und die Konfrontation zweier Robbe-Grillets wurden, wie erwähnt, aus phänomenologischer Sicht für gegenstandslos erklärt. Weder objektivistisch noch subjektivistisch untersuchten Robbe-Grillets Romane - eben hierauf beruhe ihr Realismus - die sichtbare Welt, so wie sie dem „perzipierenden Bewußtsein", ohne Zuhilfenahme von Erklärungen und Einordnungsvorschlägen, unmittelbar gegeben ist. Die widersprüchlichen Ansätze, Robbe-Grillets Schreibweise als 119

konsequent realistisch plausibel zu machen, kollidierten nun insofern mit den Texten, als diese, unübersehbar, den Eindruck des Irrealen, Traumhaften, Halluzinatorischen hervorriefen. In einer 1964 veranstalteten Diskussion über den Nouveau Roman machte eine Teilnehmerin darauf aufmerksam, daß Robbe-Grillets Beschreibungen desto irrealer wirkten, je genauer („realistischer") sie zu sein versuchten.307 Ein später angestellter Vergleich zwischen Beschreibungen bei Butor und Robbe-Grillet konnte diesen Eindruck erhärten. Bei näherem Hinsehen auf die Texte erwiesen sich die prinzipiellen Gemeinsamkeiten beider Autoren - ihre Opposition zu den vertrauten Verfahren suggestiver Beschreibung, die das Milieu einer Handlung, den Habitus einer Person präsentiert - als poetologischer Hintergrund durchaus gegensätzlicher Verfahrensweisen. In ihrer Untersuchung von Michel Butors La Modification (dt. Paris - Rom oder die Verwandlung) zeigte Françoise van Rossum-Guyon, daß dort die Beschreibungen die Funktion haben, einen alltäglichen Ort wiedererstehen zu lassen, ihn durch Hinzufügung immer reicherer Details zu konsolidieren und zu erweitern. Dabei werden jedoch Objekte nicht einfach reproduziert, sondern auffällig gemacht, ihrer praktischen Bedeutung entkleidet, für neue Assoziationen verfügbar, zu einem Universum sui generis geordnet - im Sinne der Erzeugung jener „Poetik der Banalität", die nach Butor den Sinn des Romanschreibens ausmacht. Malerische Präzision und bedeutungsreiche Wörter betten die von Butor beschriebenen Dinge (auch die normalerweise kaum beachteten: Regentropfen an einer Fensterscheibe, zertretene Apfelkerne, Tabakfasern) in eine erlebte und erlebbare zeitliche und räumliche Umgebung.308 Anders bei Robbe-Grillet. Geometrische Präzision und Neutralität der Beschreibungssprache lösen die Dinge aus der Bewegtheit und Instabilität erlebter Zeit. Sie weiden fixiert - in einer Weise, die Ungewißheit erzeugt. Diese Wirkung kommt zustande u. a. durch die Vergrößerung des Details und die Anhäufung von Präzisierungen, durch unterschiedliche Beschreibungen ganz ähnlicher (oder derselben) und analoge Beschreibungen ganz verschiedener Objekte. In La Jalousie z. B. erlaubt die periodische Erwähnung einer Bananenpflanzung dem Leser nicht, aus den Veränderungen des Objektes auf den Zeitablauf zu schließen, denn die Hinweise auf Beginn, Ende oder Bevorstehen der Ernte sind achronologisch und bieten somit keinen Anhaltspunkt, sich in der Zeit des Geschehens zu orientieren. „Während die Bananenernte rückwärts geht, hat der Bau einer Brücke aus Baumstämmen, der ebenfalls 120

periodisch erwähnt wird, Fortschritte gemacht!"309 Unterschiedliche Objekte - z. B. alle möglichen Arten von Flecken - erhalten dasselbe Aussehen und ähneln ihrer Form nach einer Reihe anderer beschriebener Gegenstände oder Gesten (dem Tausendfüßler, dem Fehler im Glas der Fensterscheiben, einer in ein Tischtuch oder ein Bettlaken verkrampften Hand . . .) • „Zudem verwandeln sich die Gegen- < stände ineinander und ziehen die Schauplätze der Handlung in ihre Metamorphose hinein. Von mittlerem Wuchs auf S. 62, ist der Tausendfüßler riesig auf S. 163. Wird er auf S. 62 an der Wand, des Eßzimmers zerdrückt, so S. 64 auf den Fliesen und S. 166 auf dem Fußboden des Schlafzimmers. Bei der letzten Darstellung der Tötung des Tausendfüßlers verwandelt sich das Eßzimmer unmerklich in das Schlafzimmer, das Tischtuch in ein Bettlaken . . . " Fazit: „Auf der Ebene realistischer Schilderung wird der Leser jedenfalls desorientiert. Er taucht in eine fließende, traumhafte Welt, die sich ständig in Auflösung befindet."310 Auf diesen Aspekt hatte schon zur Zeit der Kontroverse um den „subjektivistischen" oder „objektivistischen" Zug in Robbe-Grillets Romanen Gérard Genette aufmerksam gemacht. Sein Aufsatz Über Robbe-Grillet (1962)311* unterstrich jene Aushöhlung realistischer Schreibweise, die als Tendenz auch in den Essays von Robbe-Gjrillet angelegt war und die die innere Widersprüchlichkeit (die prekäre Koexistenz von zwei gegensätzlichen literarischen Begründungszusammenhängen) in seinem Realismusbegriff erzeugte.512* Robbe-Grillets eigene Vorstellungen sowie sein „öffentlicher Mythos" verwiesen, nach Genette, auf eine Divergenz der Interpretationen, die sich in die Frage fassen läßt: „Muß man in Robbe-Grillets Werk eine realistische Absicht suchen (d. h. den Willen, die Wirklichkeit, so wie sie ist oder so wie sie erscheint, zu übersetzen) oder aber einen (ihr äußerlichen, von fiktionaler Willkür zeugenden) fantastischen Vorsatz?"313 Aus vielen Äußerungen Robbe-Grillets sprach deutlich eine realistische Absicht. Im Hinblick auf die Ungewißheit, die seine Beschreibungen auslösten, erklärte er, daß man sich nur fragen müsse, ob diese Ungewißheit „übertrieben ist verglichen mit der, die uns täglich umgibt, oder ob sie nicht gleichen Ranges ist. Ich für meinen Teil glaube, daß sich die Dinge tatsächlich so abspielen . . . Wenn die Welt tatsächlich so komplex ist, dann muß man ihre Komplexität aufspüren. Wiederum, um des Realismus willen . . ,"314 Robbe-Grillets Intention beim Wort nehmend, versuchte man zu ergründen, ob ihr Anwendungsfeld die vom Bewußtsein der Roman121

figuren unabhängige oder die durch ihre Wahrnehmungen, Erinnerungen, Vorstellungen etc. vermittelte, „gebrochene" Realität war. D i e Antworten gingen in zwei Richtungen auseinander. W e r hatte recht? Genette kam zu dem Schluß: beide. Hier in großen Zügen seine Argumentation: Im ersten Teil von Le Voyeur lassen sich vier Zeitebenen unterscheiden - reale Gegenwart, vorgestellte Zukunft, weit zurückliegende Vergangenheit (Kindheitserinnerungen), gerade erst Vergangenes. Außer den Kindheitserinnerungen, die im Präsens und Imperfekt geschrieben sind, werden die anderen Zeitebenen in der traditionellen Erzählzeit, dem passé simple, wiedergegeben. Diesem Tempusgebrauch ordnet Genette zwei Schreibhaltungen zu: die „klassische", welche die Zeitebenen und Objektivitätsgrade grammatikalisch unterscheide, und Robbe-Grillets eigene, die zur Verschmelzung der Zeitebenen im Gebrauch eines einzigen Tempus tendiert. Gegenwärtiges Geschehen, Erinnertes und in der Vorstellung Vorweggenommenes sind durch kein grammatikalisches Zeichen mehr unterschieden. Am narrativen und deskriptiven Stil Robbe-Grillets stellt Genette fest, daß reale und vorgestellte (geträumte, erlogene, gewünschte ) Dinge und Handlungen mit derselben Deutlichkeit und in demselben, auf jede affektive oder poetische Expressivität verzichtenden, „kalten", objektiven Erzählton dargeboten werden. Sie sind wie in ein gleichmäßiges Licht getaucht.315 „ . . . 'wahr' oder 'falsch', reihen sich die Gesten aneinander, Seite um Seite." Was die Romanfiguren auch sehen, was immer sie tun, „wir sind a u ß e r h a l b , so wie sie selbst es sind, vollständig, mit ihren Erinnerungen, ihren Wünschen und Zwangsvorstellungen, die rings um sie ausgebreitet liegen . . . , so daß man an jene Verse aus dem Plain-Cbant (1923 erschienener Gedichtband von Jean Cocteau - B. B.) denken muß, wo eine ganze Traumbesetzung sich v e r w i r k l i c h t und sich folglich zerstört : 'So möchte ich dir folgen sehen, außer deiner Spur, die Tierwelt deines Traums, verwundert, da zu sein.'" 316 All dies scheint die „objektivistische" Interpretation zu bestätigen. Zugleich aber ist sicher, daß es in Robbe-Grillets Romanen immer einen (oder mehrere) Beobachter gibt, der die Dinge sieht, sich an Ereignisse erinnert oder sie sich vorstellt. Deutliches Anzeichen hierfür ist die Erzählperspektive (Beschneidungen des Blickfelds, Unkenntnis und Unsicherheiten, gewollte Ignoranz, einseitige Darstellungen etc.). Die widersprüchlichen Lesarten könnte man folgendermaßen erklären: Die Genese verschiedener Episoden ist in der Tat subjektgebunden, weil Rückblenden, Widersprüche, Varianten, Vorwegnahmen durch eine innere Geschichte der Figuren motiviert sind. Zugleich aber ist Robbe-Grillets Stil so beschaffen, daß die Rekonstruktionsversuche dieser inneren Zustände - und die durch sie ermöglichte Unterscheidung zwischen erlebten und vorgestellten Ereignissen - gegen den Gestus der Texte vorgehen müssen, denn dort sind ja die unterschiedlichen Handlungen und Bewußtseinslagen „auf derselben Ebene angesiedelt, der des Wirklichen h i e r u n d j e t z t , kraft einer rigorosen écriture, die nur 'Reales' und Gegenwärtiges ausdrücken kann und will" 317 . Was also logisch möglich ist - und diese Mög122

lichkeit nutzte z. B. Bruce Morrissette in seinen Analysen - , nämlich die Erlebnisstruktur der Protagonisten zu rekonstruieren, ihr die einzelnen Sequenzen zuzuordnen und diese somit als Artikulationen subjektiven Bewußtseins wahrscheinlich zu machen, eben dieses Verfahren setzt voraus, „daß man die einzige unbestreitbare Realität des Romans, sein einziges Material, die écriture, für null und nichtig hält. Man überträgt also die eine Seite in den Konjunktiv, eine andere in den Optativ, ein ganzes Kapitel ins vollendete Futur. Wie eine gute Hausfrau zählt man die Eisstückchen im Glas und schlußfolgert, daß diese oder jene Szene, obwohl sie später kommt, uns nach vorne zurückführt. Man vergißt ganz einfach, daß tatsächlich aber alles hier und jetzt ist und daß jede andere Lektüre als die im Präsens nur eine Schulübung ist, gerade gut geeignet, um sichtbar zu machen, was Robbe-Grillets Erzählen n i c h t i s t . Einen Roman von Robbe-GriUet zu 'rekonstruieren' bedeutet, ihn a u s z u l ö s c h e n." 318 Die Werte und Strukturen, die die psychologische Romananalyse entdeckt, sind eben die, die der Roman implizit enthält, um sie explizit zurückzuweisen. Von diesen Beobachtungen her antwortet Genette auf die eingangs formulierte Frage: „Realistisch und subjektiv in ihrer Absicht und Genese, sind Robbe-Grillets Romane im Ergebnis total objektiv und hochgradig irreal, eben aufgrund ihrer Objektivität." 319

Genettes Aufsatz zeigt - und das macht ihn wichtig - auf die Grenzen einer realistischen Auslegung der Romane Robbe-Grillets. Diese als Untersuchung gelebter Realitätsbeziehungen - oder der Wirklichkeit, „wie sie uns erscheint", „wie wir sie wahrnehmen" - aufzufassen (bzw. die Texte an dieser Vorstellung zu messen und ihr Ungenügen festzustellen), führt in die Irre, sofern Untersuchung als eine abbildende, auf Entsprechung zielende Relation zwischen Strukturen des Werkes und solchen der Realität begriffen wird. Die Subjektivität, die Robbe-Grillet seinen Personen beigibt - dies machte Genette deutlich - , ist nicht Gegenstand der Erkundung, sondern „Vehikel", genauer gesagt: ein morphologisches Prinzip, das gestattet, die äußere Welt nach Analogiebeziehungen zu ordnen, die im Prinzip der inneren Welt angehören; sowie ein Mittel „rationaler" Erklärung der Unwahrscheinlichkeiten, die Robbe-Grillets Romanform mit sich bringt. Robbe-Grillet selbst versuchte übrigens, Elemente seiner Werke durch deren Entsprechung zu Abläufen der Wahrnehmung und der Imagination zu begründen. Für seine Technik, das Zeitspektrum auf das Präsens zu reduzieren, bemühte er eine „wissenschaftliche" Erklärung: Jede lebhafte Vorstellung sei „au présent"; man glaube, das Erinnerte unmittelbar zu erleben. Diese Erklärung ordnete Genette der alten empiristischen Theorie der Imagination zu, •die - von Hume bis Taine - eine „genügend lebhafte Vorstellung" als tatsächliche Wahrnehmung angesehen hat; „eine Theorie, die aus 123

der Vorstellung jegliches Bewußtsein des Vorstellens entfernt, aus der Erinnerung jegliches Bewußtsein von Vergangenheit, aus dem Traum jedes Traumgefühl, und die das psychische Erleben auf einen Vorbeimarsch 'mentaler Bilder' reduziert, die alle gleichwertig sind, bis auf gewisse Unterschiede in ihrer Intensität". Dabei brauche man nur auf die naive Erfahrung zurückzugreifen, um festzustellen, „daß eine Erinnerung immer in der Vergangenheit erlebt wird, eine Vorstellung als Abwesenheit, und daß der Traum nicht von einem R e a l i tätsgefühl begleitet wird". 3 2 0 Den verschiedenen „Bewußtseinseinstellungen" versucht die realistische Literatur mit ihrem Zeitspektrum zu entsprechen. Robbe-Grillet, der mit dieser Technik brach, suchte dafür eine realistische Begründung, „indem er, zweifellos guten Glaubens, auf eine .falsche' Psychologie zurückgreift, und zwar aus dem einfachen Grund, weil sein Werk u n m ö g 1 i c h ist; was sicher ärgerlich für den Realismus, aber höchst gleichgültig für die Literatur ist" 3 2 1 Wenn nun weder das Vordringen zu „den Dingen selbst", noch d i e Reproduktion von Mechanismen der Wahrnehmung und Vorstellung als Projekt gelten können, dem die Erzählstrukturen in Robbe-Grillets Romanen tatsächlich entsprechen und von dem her sie Sinn und Funktion erhalten, wenn „Realismus" ihre Begründungsinstanz nicht sein kann, wie sind sie dann zu verstehen; wie laufen die Fäden, die sie mit der wirklichen Welt verknüpfen? Genettes Antwort hierauf ist weder die einzige noch gar die einzig „richtige". Sie verweist vielmehr auf den S p i e l r a u m möglicher Antworten, indem sie mit einer Lektüre verbunden ist, die a) mit Aufmerksamkeit dem Textaufbau folgt und die dominanten strukturierenden Verfahren zu erkennen sucht. Hier herrscht wenig Freiheit, denn beobachtet wird strikt das, was geschrieben steht, wasdie Texte „sagen" - und nicht das, was sie „zu sagen haben" oder „bedeuten möchten"; b) die Funktion der beobachteten Strukturen ( d . h . hier: die Welt,, die sie erstehen lassen, die Effekte, die sie erzeugen) beschreibt und „situiert". Hier herrscht große Freiheit, denn es handelt sich umZ u o r d n u n g e n , um die Konstruktion einer „Umgebung" (d. h.: nicht eines Objektbereiches, den das Werk „modelliert", sondern einer Situation, auf die es reagiert und in der es den Status eines zudechiffrierenden Hinweises erhält), um Bestimmungen, die nicht beliebig, aber auch nicht durch die Texte „vorgegeben", sondern eben die Leistung des Lesers sind und die darüber entscheiden, welchen Sinn er dem Gelesenen gibt. 124

In dem zitierten Aufsatz von Genette sieht das so aus: •a) Das strukturbildende Verfahren der Romanwelt Robbe-Grillets sei augenfällig in einigen der kurzen Texte aus Instantanés (Momentaufnahmen) ausgebildet. Dort sind die dargebotenen Elemente der Realität - beschriebene Dinge, Personen, Räume, Landschaftsstücke - nach Beziehungen der Ähnlichkeit (zwischen Ungleichem) und der Abänderung, Verwandlung (des Gleichen) miteinander verknüpft. Diese erscheinen in den Romanen in den Varianten: reale Verdoppelung, spiegelbildliche Wiederholung, Ähnlichkeit und Metamorphose, auf (grob unterschieden) drei Ebenen: - Analogien in der Natur (Ähnlichkeit aller Straßen, Häuser und Kreuzungen in Les Gommes und erst recht im Labyrirtthe, aller Gehöfte, Möwen und Schnüre in Le Voyeur etc.) ; - künstliche Reproduktionen (die reichlich vorkommenden Fotos, Plakate, Drucke, der Roman in La Jalousie und das Theaterstück in L'année dernière à Marienbad, welche die Handlung des „Haupttextes" gerafft „wiederholen" oder spiegeln) ; - Wiederholungen und Varianten der Erzählung selbst (die „die Form des Romans mit ebensolchen Analogien ausstatten, wie sein Inhalt sie aufweist. Die Handlung entrollt sich nicht, sie rollt sich in sich zusammen, sie vervielfältigt sich per Variation, in einem komplexen System reflektierender und blinder Spiegel . . . Daher könnte man sagen, daß der gesamte .Stoff' des Voyeur auf der Schiffsbrücke versammelt ist, noch bevor Mathias den Fuß auf die Insel setzt . . . Alle Personen des Labyrinthe entsteigen einem Bild, das, scheint es, im Zimmer des Erzählers hängt, und der Roman könnte gut und gern als Träumerei über dieses Bild gelten, so wie Resnais in Marienbad einen .Dokumentarfilm über eine Statue' sieht. Und was geschieht in Les Gommes oder in La Jalousie, was nicht in gewisser Weise schon geschehen wäre? Ist das Thema einmal gesetzt, ist das übrige nur Variation.") 322 . b) Für Genette weisen (erste Zuordnung) die Bewegungen in Robbe-Grillets Texten und die Faszination, die sie auf ihn ausüben, in jene Gegend, die schon die Dichter des Barock angezogen hat, „eine verwirrende Region des Seins, in der sich die doppeldeutigen Zeichen des Unterschieds und der Identität wiedertreffen, gewissermaßen in einer strengen Verwechslung, die den Unsicherheiten und Verwirrungen des modernen Bewußtseins wohl angemessen ist . . . Mit seinen immer wiederkehrenden Analogien, seinen falschen Wiederholungen, seinen erstarrten Zeiten und parallelen Räumen ist dieses monotone und verwirrende, dieses beinah vollkommene Romanwerk, in dem das Universum sich selbst resorbiert, auf seine Weise - nach einem Wort von Rimbaud ein .erstarrter' . . . , also ein zugleich verwirklichter und unterdrückter Taumel (un vertige fixé)." 323 Im Gestus von Robbe-Grillets Romanen erblickt Genette (zweite Zuordnung) ein Bild und in der poetologischen Position des Autors - „der kein Realist ist, sich dazu aber nicht entschließen kann" - den Ausdruck der „buchstäblich u n h a l t b a r e n Stellung", in der sich die zeitgenössische Literatur befinde, 125

angesichts des „reduzierten" Zustands der Geschichte in einer Gesellschaftsordnung, „die sie weder zurückweisen noch akzeptieren kann" 324 .

Genettes Aufsatz enthält Elemente einer, wenn man so sagen kann, „nicht-realistischen Leseart" des Nouveau Roman, die sich im Zusammenhang literaturtheoretischer und -praktischer Entwicklungen — so auch der Herausbildung des Nouveau Nouveau Roman - konsolidiert und in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre tonangebend wird.

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Jean Ricardous Theorie des Nouveau Roman

In einem 1973 gesendeten Rundfunk-Dialog kamen Georges Raillard und Jean Ricardou unter anderem auf die Fortentwicklung des Nouveau Roman der fünfziger Jahre zum sogenannten Nouveau Nouveau Roman zu sprechen: „Der frühe Nouveau Roman hat sich in der Umgebung, in den Randzonen des Sartrismus - und auch als Reaktion gegen ihn - entwickelt: Damals sprach man ständig von der Rückkehr zur Realität, von einem neuen Realismus. 1960 geht es dann nur noch um formale Verfahren . . . Ab 1960, wenn man diesen Einschnitt annimmt, scheint sich der Nouveau Roman verlagert, scheint er seine Wahrheit und sein Vokabular entdeckt zu haben. RobbeGrillet hat gesagt, daß man früher zwar bestimmte Sachen dachte, aber noch kein Instrumentarium besaß, um sie zu beschreiben." 325 An dieser Stelle interessiert nicht das Problem der Datierung, 326 * sondern die heute im allgemeinen akzeptierte Feststellung eines Phasenunterschieds und seine Charakterisierung. Die seit Beginn der sechziger Jahre zu beobachtenden Veränderungen in den nouveaux romans wie auch im Vokabular der Literaturkritik verweisen darauf, daß die Ablösung traditioneller Erzählformen in einen neuen Kontext rückte: vom Existentialismus zum Strukturalismus. . Die strukturalistische Prägung von Erkenntnisinteressen und Problemstellungen äußerte sich auch - wie an der Realismuskontroverse gezeigt wurde - in einem Einstellungswechsel gegenüber dem Nouveau Roman. Die Orientierung darauf, „die sprachliche Gegebenheit des literarischen Textes zum Ausgangspunkt einer konsistenten Wissenschaft von der Literatur zu machen" 327 , verband sich in Frankreich mit scharfen Auseinandersetzungen zwischen neuer und traditioneller Literaturkritik. An letztere erging aus strukturalistischer Sicht der Vorwurf eines fundamentalen theoretischen und methodologischen Mangels. Anstatt Methoden zu entwickeln, um die Strukturierung eines literarischen Textes als Zeichen- bzw. Bedeutungssystem zu 127

untersuchen, habe man sich damit begnügt, „den Leser den Text genießen zu lassen (ästhetische Dimension) und ihm den .tieferen Sinn' des Werkes, so wie es ist, zu enthüllen (philosophische Dimension) . . ." D a es dem Interpreten oblag, „dank einer persönlichen und ein wenig inspirierten Lektüre die .Wahrheit' des Werkes zutagezufördern", habe die „traditionelle Krjtik" ihre Lesepraktiken und deren erkenntnistheoretische Implikationen nicht reflektiert. 328 Die Stellungnahmen der konservativen Kritik sowie verschiedene Positionen aus der Diskussion um den neuen Realismus können, im Fall des Nouveau Roman, das Begründete dieser (und ähnlicher) Pauschaleinschätzungen belegen. Angesichts eines tatsächlichen Defizits erbrachte das mit dem Strukturalismus verbundene Interesse an formalen Verfahren auf der Ebene der Textanalyse und ihrer methodologischen Fundierung einen Gewinn. Dies galt insbesondere für Texte, die sich einer intuitiven und auf traditionelle Erzählkonventionen eingestellten Sinnerfassung gegenüber recht unzugänglich zeigten. Andererseits führte aber der strukturalismustypische Ansatz, die Spezifik von Literatur formal bzw. strukturell zu definieren, zu einem Dilemma. Es erwuchs aus dem Versuch einer positiven und zugleich nicht-inhaltlichen Begründung der Strukturiertheit literarischer Phänomene. Dieses Problem wurde „gelöst" durch die Annahme einer, im einzelnen unterschiedlich angesetzten, „idealen Instanz", wie etwa des Systemcharakters bzw. der „Literarizität" von Literatur. Um das postulierte Primat der Struktur aufrechtzuerhalten, mußten die realen Existenzweisen von Literatur ihrem Wesen nach als Manifestationen der im (idealen) literarischen System angelegten Realisierungsmöglichkeiten aufgefaßt werden. Es ist auf den Zusammenhang zwischen der Negation konkreter Inhalte (bzw. der Hypostasierung der Bedeutungsvielfalt und Unbestimmtheit literarischer Werke zur „Leere", die dann ihr Inhalt wäre), als Voraussetzung strukturaler Analysen, und der strukturalistischen Ansiedlung des Wesens von Literatur außerhalb ihrer realen Geschichtlichkeit verwiesen worden. „Die Differenzqualität von Literatur gegenüber den übrigen Phänomenen wird als Wesen der Literatur hypostasiert. D a ß die Literatur nichts Bedingtes und damit Bestimmbares sei, ist die Voraussetzung für die Behauptung, ihr Wesen liege in ihrer Struktur. Die Legitimation der strukturalen Analyse der Literatur wird geliefert durch das Postulat der Unbestimmbarkeit als ihres Wesens. Die erkenntnistheoretische Aussage der Unbestimmbarkeit wird verkehrt zur ontologischen Aussage der Unbedingtheit von Literatur. Damit tritt die Be128

Stimmung dessen, was Literatur sei, in Widerspruch zu ihren konkreten Erscheinungsformen." 329 Trotz seiner unverkennbaren Nähe zum Strukturalismus kann Jean Ricardou, dessen Literaturbegriff im Zusammenhang mit der Debatte Was kann die Literatur'? bereits angedeutet wurde, nicht einfach als Beispielfall strukturalistischer Tätigkeit begriffen werden. Denn Ricardous Art, die Modernität des Nouveau Roman zu definieren und an den Texten herauszuarbeiten, hat komplexere Voraussetzungen. An der Entstehung dessen, was im folgenden der Kürze halber Rirardous „Theorie des Nouveau Roman" genannt wird, sind seine eigene Arbeit als Schriftsteller 330 * und die Werke und Autoren, die deren Bezugspunkte bilden, ebenso beteiligt wie die Konzeption einer revolutionären Schreibpraxis, die die Gruppe Tel Quel (zur ihr gehörte Ricardou von 1962 bis 1971) ab Mitte der sechziger Jahre entwickelte. 331 * Vermutlich war gerade die von Tel Quel vollzogene rasche Adaption und Verschmelzung verschiedener, damals aktueller theoretischer Neuansätze ein Grund auch für die Durchsetzung Ricardous - womit nicht das allgemeine Einverständnis mit seinen Ansichten, sondern seine Geltung als maßgeblicher Theoretiker des Nouveau Roman und die zumindest zeitweilige Dominanz des von ihm geprägten Rezeptionsmusters gemeint sind. Bei seiner Theorie handelt es sich um eine fortlaufend erweiterte und verfeinerte Erhebung, Beschreibung und Klassifizierung von Texteigenschaften der nouveaux romans, auf der Basis eines ziemlich kohärenten Thesensatzes über das Funktionieren moderner literarischer Texte. 332 * Ricardou ist bestrebt, objektive Gemeinsamkeiten der unter dem Sammelnamen Nouveau Roman vereinigten Werke aufzudecken und damit auch eine klare Antwort auf die oft gestellte Frage nach der realen Existenz eines von der Literaturkritik erfundenen - Phänomens zu geben. Den Nouveau Roman als „collectivité" zu denken, heißt für Ricardou zunächst, die im französischen Literaturunterricht vorherrschende Fixierung auf Originalität und Individualität (auf die besondere Schriftstellerpersönlichkeit) aufzuheben und „ E n s e m b l e s in Betracht zu ziehen", um in ihnen „ein Epochenphänomen zu erfassen" und „auf begrenztem Gebiet zur K o n s t r u k t i o n e i n e s h i s t o r i s c h e n E r e i g n i s s e s zu gelangen". Die Materialbasis solcher (Re-)Konstruktion sei die „textuelle Arbeit" 3 3 3 : „Man muß das Problem streng stellen: Wenn der Nouveau Roman existiert, so bedeutet dies, daß auf der Ebene der Texte, zwischen einer bestimmten Anzahl von Schreibpraktiken eine bestimmte Verwandt9

Burmeister, Nouveau Roman

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schaft von Strategie und Technik besteht."334 Die Formulierung eines der schulischen „explication de texte" (Texterklärung)335* gegenüber kritischen, auf die Erkenntnis objektiver Zusammenhänge gerichteten Interesses und dessen gleichzeitige Beschränkung auf „Schreibpraktiken" stellt eine für Ricardous Denken insgesamt charakteristische Verbindung dar. Im folgenden sollen das Grundinventar seiner Theorie beschrieben und deren Aporien herausgearbeitet werden.

Liter arische Modernität contra bürgerliche Literaturideologie: Zu theoretischen Grundannabmen Ricardous Auffallend an Ricardous Denkstil ist die Etablierung einer systematischen Opposition zwischen herrschender bürgerlicher Literaturideologie einerseits, Theorie und Praxis des „modernen Textes" andererseits. Seine theoretischen Grundsätze erhalten, über die Präzision der Formulierungen hinaus, Klarheit und Einfachheit dadurch, daß sie größtenteils von der Gegenüberstellung zweier Seiten (Ideologien, Haltungen, Strategien des Schreibens und Lesens) aus konzipiert sind. Ricardous Theorie hat deutlich polemischen Geist; ihre Vorschläge f ü r sind immer auch Kampf g e g e n . Streben nach gedanklicher Strenge (nach klaren und distinkten Begriffen) und praktisches Interesse an einer tiefgreifenden Veränderung literarischer Kommunikation verbinden sich in einem Argumentieren, dessen Konsequenz, Rigorosität und Deutlichkeit in reduzierenden Problemzuschnitten und einer um die Widersprüchlichkeit konkreter Erscheinungen wenig bekümmerten Schematisierung seinen Preis, wo nicht seine Bedingung, besitzt. Ricardous Engagement für den modernen Text, d. h. für einen Typ literarischer Produktion, den er als Schriftsteller mitrepräsentiert, ist verbunden mit der Ablehnung von Realismus, der unter den beiden Aspekten: Romanpraxis und Doktrin zum direkten, nahezu symmetrischen Gegenstück der Moderne stilisiert wird. In ihrer Eigenschaft als Produzentenideologie vermittelt Ricardous Theorie keine Beschreibung und keinen Begriff von der Herausbildung einer Ästhetik der Moderne, sie ist vielmehr selber Teil dieses Prozesses. Sie gibt nicht, obgleich Ricardous prägnante Definitionen dies suggerieren, das Wesen realistischer bzw. traditioneller und der sich ihr entgegenstellenden modernen Romanliteratur zu erkennen, wohl aber Prämissen, Zielsetzung und Selbstverständnis einer be130

stimmten, gegen die Tradition des realistischen Romans und gegen herrschende Umgangsweisen mit literarischen Texten gerichteten (neo-) avantgardistischen Position. In Übereinstimmung mit Tel Quel hegt Ricardou die Überzeugung, daß das fundamentale Dogma - und die wichtigste Angriffsfläche bürgerlicher Literaturideologie darin besteht, literarische Texte als Manifestationen von etwas anderem, sei es als Abbildung bzw. Darstellung (représentation) objektiver Realität .oder als Ausdruck (expression) von Subjektivität, aufzufassen und zu behandeln. Der Angriff auf das von Ricardou so genannte „dogme de la représentation/expression" gilt unterschiedslos dem Kunstwerk als Symbol (das etwas repräsentiert ohne sinnlich erfaßbare Ähnlichkeit zwischen dem Zeichen und seinem Bedeuteten), wie auch der Ikonizität, der Abbildung im eigentlichen und engeren Sinn. Dabei legt die Bezeichnung „Dogma" nahe, daß etwas für wahr gehalten oder glauben gemacht wird, das sich in Wirklichkeit aber anders verhält, und daß die Aufrechterhaltung einer zum Glaubenssatz geronnenen Täuschung mit einem bestimmten Herrschaftsinteresse verknüpft ist. Worin sollen, nach Ricardou, der Irrtum oder die Illusion bestehen? In der Annahme folgender Beziehung: Ein gegebenes „Objekt" Idee, Empfindung, Ereignis, Erlebnis, Dinge oder Verhältnisse objektiver Realität, Sinnstrukturen etc. - wird durch den literarischen Text abgebildet oder ausgedrückt, wobei die Sprache lediglich als Medium der Übertragung, als „verbales Moment" der Mitteilung fungiert. In dieser Annahme erblickt Ricardou das bis heute wirksame Basispostulat des Realismus des 19. Jahrhunderts wie auch der Romantik. „Darstellung/Abbildung" - der Roman, „für Stendhal ein Spiegel, den man an einer Straße entlangführt" - und „Ausdruck" „das Gedicht als Spiegel der Seele, für Hugo" - seien „die beiden Seiten derselben Medaille". 336 Die Illusion, die im Umgang mit Romanliteratur walte, äußere sich nicht in der tatsächlichen Gleichsetzung, d. h. Verwechslung von Romanfiktion und Leben, sondern einerseits in einer verbreiteten „naiven" Rede über Romane, als wären sie ein Stück Leben („in jenen unzähligen Urteilen, in denen man z. B . über die Romanpersonen redet, als bestünden sie aus Fleisch und Blut, als könnten wir ihnen auf der Straße begegnen. ,An seiner Stelle', sagt man, ,hätte ich genauso gehandelt."' 337 ), andererseits in einem „listigen" Realismus (als Belege dienen Äußerungen von Valéry und Breton), welcher „in Rechnung stellt, daß die Eigenschaften fiktonaler Wesen (êtres de fiction) von der Natur der 9*

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Zeichen abhängen, durch die sie etabliert werden. Er zieht daraus jedoch eine ärgerliche Schlußfolgerung: Er klassifiziert die fiktionalen Wesen entsprechend dem Abstand, der sie von den Dingen selbst trennt, und bemißt ihren Wert nach der Verringerung dieser Distanz." Damit werde eine Hierarchie der Zeichen errichtet, nach dem Kriterium der durch die Darstellung erreichten Annäherung an einen „vorgegebenen Inhalt". 338 Ob naiv oder listig, die „illusion réaliste", fixiert auf Entsprechungen (zwischen Leben und Literatur, Abgegebildetem und Abbild), verleite dazu, die produktive Tätigkeit des Schreibens gleichsam zu überspringen und damit zu übersehen. „Im Versuch, die Sprache auf eine pure, harmlose Transparenz" zwischen einem „vorgegebenen Sinn, von dem aus der Text interveniert" und den neuen Bedeutungen, die er hervorbringt, „zu reduzieren, tendiert die Ideologie des Ausdrucks/der Darstellung dahin, das Material", d. h. die Sprache mit „ihren e i g e n e n G e s e t z e n (namentlich im lautlichen und graphischen Bereich)" 339 , zu verschleiern. Ricardous Argumentation ist stichhaltig, soweit sie sich gegen eine tatsächliche und verbreitete Reduzierung literarischer Sprache auf ein mehr oder minder gekonnt gehandhabtes Mittel zum Ausdruck von Botschaften richtet. Durch einen die besonderen Eigenschaften sprachlichen „Materials" und die Art seiner „Bearbeitung" oder „Organisation" überspringenden, scheinbar direkten Vergleich zwischen der Aussage des Werkes und d e r Wirklichkeit lassen sich Zustandekommen und Wirkungsweise literarischer Abbildungen in der Tat nicht erfassen. Nun operiert aber Ricardou seinerseits mit einem reduzierten Begriff von realistischer Abbildung, eben um diese zurückzuweisen. Sichtbar wird die Verkürzung bereits an der zugrunde gelegten zweistelligen Beziehung: Text — realer Objektbereich. Sie berücksichtigt nicht, daß in der realistischen Literatur die Abbildung von Wirklichkeit im wesentlichen auf zwei Ebenen geschieht: durch eine „über den literarischen Text vermittelte anschaulich-bildhafte Darstellung von fiktiven Personen, Sachverhalten, Gegenständen, Ereignissen usw. und auf einer über die Darstellung vermittelten Bedeutungsebene, auf der Ebene dessen, was Hegel die 'Idee' des Werkes genannt hat". Der von Ricardou unterstellte und bekämpfte Abbildbegriff spart des weiteren aus, daß literarische Abbilder erst in der Rezeption realisiert werden. „In dem an die Darstellung anknüpfenden Sinnbildungsprozeß vollendet der Leser die ( R e k o n struktion des im Werk angelegten Abbildes als eine Projektion des Dargestellten auf den Horizont des eigenen Bewußtseins, seines Vor132

wissens und seiner Erfahrungen im Umgang mit der Literatur wie der Wirklichkeit." 340 Die Symptome der angenommenen literarischen und ideologischen Grundstruktur untersucht Ricardou nicht (oder in den seltensten Fällen) in ihrer jeweiligen konkreten Erscheinungsform und Kontextgebundenheit, geschweige denn in ihren geschichtlichen Veränderungen. Sie werden vielmehr sogleich identifiziert, d. h. allesamt über den Leisten des einmal fixierten Musters geschlagen: Der herrschenden Literaturideologie zufolge „muß, wer schreiben will, etwas zu sagen haben - das, was wir einen instruierten, vor dem Akt des Schreibens festgelegten Sinn nennen. Dem Text obläge es demnach, dessen Manifestation zu sichern. Wenn der instituierte Sinn das Ich betrifft, wäre diese Manifestation ein A u s d r u c k ; betrifft er die Welt, handelte es sich um eine D a r s t e l l u n g . Das Gelingen des Schreibaktes wäre also gekennzeichnet durch die Übereinstimmung zwischen ausgedrückten oder dargestellten Bedeutungen und dem, was gesagt werden sollte."341' Entscheidend hierbei ist nicht, ob die so charakterisierte Auffassung existiert und die literarische Kommunikation beeinflußt - sicher tut sie das - , sondern warum und mit welchen Konsequenzen ebendiese Version zum Exponent des herrschenden Literaturverständnisses und damit zum wesentlichen Abstoßpunkt für eine neue Romankonzeption gemacht wird. Zu deren Voraussetzungen gehört zweifellos Jacques Derridas Kritik am traditionellen Begriff vom Zeichen als Repräsentant bzw. Substitut dessen, worauf es verweist: „aliquid stat pro aliquo". In seiner Grammatologie entwickelte Derrida die These vom Zusammenhang zwischen der Privilegierung der gesprochenen Sprache gegenüber der Schrift und der spezifisch abendländischen Ausprägung des Denkens als „Metaphysik", d. h. als Ontologisierung der „Idee" bzw. des „Logos" zum transzendentalen Signifikat des Wortes. Dieser „Logozentrismus" habe, von Aristoteles bis. Saussure', den Zeichenbegriff und die mit ihm gesetzte Trennung von Signifikat (Idee, Begriff) und Signifikant (Lautbild) bestimmt. In deutlicher Parallele zu diesem Grundgedanken Derridas sieht Ricardou im „dogme de la représentation" das Kernstück der herrschenden Literaturideologie. Die Idee („das zu Sagende") suche ihren Ausdruck im literarischen Werk, das sie repräsentiert, wobei der Übereinstimmungsgrad beider als Wertkriterium fungiere (in diesem Sinn kennzeichnete Ricardou auch die vorn genannte „naive" und „listige" Spielart realistisch orientierter Romanrezeption); die Schreibweise besäße nur eine dienende, vermittelnde Rolle - sie 133

sichert den Ausdruck und den Transport der Botschaft. Dieses als Fundament des Realismus angenommene Schema kehrt Ricardou in seiner Definition literarischer Modernität um. Triumphieren traditionellerweise Idee und Ausdruck, so im „modernen Text" das „Material" und die Verfahren seiner „Bearbeitung": Während unter der Dominanz des Prinzips Darstellung/Ausdruck literarische Werke als Wiedergabe eines bestimmten Realitätsbereiches oder einer bestimmten Realitätssicht gälten, seien sie, will man diese Denkfigur verlassen, als produktive Akte aufzufassen. Produzieren heißt für Ricardou, „ein spezifisches Material (die Sprache) durch eine bestimmte Tätigkeit (die Verfahren der Bearbeitung) zu verändern, bis ein bestimmtes Resultat (der Text und seine Sinneffekte) erlangt ist" 342 *. Weil das Material schriftstellerischer Produktion nicht nur lautliche oder graphische Komplexe, sondern Bedeutungsträger sind, führt der „Prozeß, der dieses Material organisiert" dazu, „daß Sinn erzeugt wird" 343 . Dieser sei dann allein als „Effekt" der Arbeit am Material aufzufassen. Während dem Prinzip Darstellung/Ausdruck eine Einstellung zur Sprache korrespondiere, die diese als „ein Mittel" nimmt, „geeignet, ein Zeugnis, eine Erklärung und Unterrichtung zu übertragen", wobei sich das Interesse „ausschließlich auf die zu vermittelnde Botschaft" richtet, ist unter dem Gesichtspunkt der „Produktion" „das Wesentliche die Sprache selbst, . . . entspricht schreiben nicht dem Anspruch, ein vorgängiges Wissen mitzuteilen, sondern dem Projekt, die Sprache als besonderen Raum zu erkunden" 344 . Dominiere im ersten Fall das Interesse an der „Information" - an dem, was oder worüber jemand schreibt - , ist im zweiten Fall die „Exploration" von Möglichkeiten der Sprache („die sehr weit davon entfernt sind, bekannt zu sein"345) das Wesentliche, ist „schreiben", nach dem Wort von Roland Barthes, ein intransitives Verb. Der Schriftsteller wäre somit nicht jemand, der „etwas zu sagen hat", sondern einer, der Lust verspürt, „etwas zu machen", auszuprobieren, herzustellen. Beruhe Darstellung/Ausdruck auf der bürgerlichen Idee des Privateigentums - des inneren Reichtums an Erlebnissen, Wissen und Gefühl, der „besonderen Gaben" des Schriftstellers - , so postuliere „Produktion", „daß i m P r i n z i p alle Schriftsteller w e r d e n können" 346 . Mit ihrer Betonung des Materials und des Produzierens verweist diese Konzeption auf frühere künstlerische Neuerungsbewegungen, namentlich in den historischen Avantgarden, wie auch auf andere (gehaltvollere) Modernetheorien, auf die sie sich jedoch nicht aus134

drücklich bezieht. Die Argumentation Ricardous spricht ihre eigene literarische und theoretische Vorgeschichte nicht aus, sie muß erschlossen werden. Zu ihr gehört als wesentliches Moment offenbar die Herausbildung eines Werktyps, der „offen" bzw. „montiert" und dem „klassischen" Typ des „organisch" gedachten, „geschlossenen" Werkes entgegengesetzt ist. Während das organisch gedachte Kunstwerk „ein lebendiges Bild der Totalität geben" möchte, wird das „avantgardistische" aus Fragmenten zusammengefügt, „mit der Intention der Sinnsetzung (wobei der Sinn sehr wohl der Hinweis darauf sein kann, daß es keinen Sinn mehr gibt)". Das klassische Kunstwerk will als natürlich, lebendig erscheinen und „sucht die Tatsache seines Produziertseins unkenntlich zu machen", das „avantgardistische" hingegen „gibt sich als künstliches Gebilde, als Artefakt zu erkennen. Insofern kann die Montage als Grundprinzip avantgardistischer Kunst gelten." 347 Ohne diese von Peter Bürger entwickelte und an Walter Benjamins Allegoriebegriff anknüpfende Charakterisierung selbst zum Gegenstand der Diskussion zu machen, soll sie hier als Grobraster dienen, um die Beziehung zwischen Ricardous Theorie des modernen Textes und dem in den historischen Avantgarden ausgebildeten Werktyp zu verdeutlichen. Ricardou versteht Schreiben als Bearbeitung sprachlichen Materials, das nach bestimmten, dem Produzenten nicht immer bewußten, an den Texten jedoch erkennbaren Regeln selektiert, transformiert und kombiniert wird. Die Entdeckung und Nutzung solcher Möglichkeiten der Montage - in Ricardous Terminologie: „élaboration" oder „génération" - des Textes bilden den Inhalt schriftstellerischer Arbeit. Dementsprechend konzentrieren sich auch Lektüre und Textanalyse auf die Erkennung formaler Verfahren. Diese Auffassung basiert insofern auf dem avantgardistischen Werktyp, als dessen Strategie darin besteht, den Herstellungsvorgang auffällig zu machen. In der Funktion jedoch, die Ricardou dieser Strategie zuordnet, nämlich: die Möglichkeiten von Sprache zu erkunden, „die weit davon entfernt sind, bekannt zu sein", kommen weniger die historischen Avantgarden als vielmehr zeitgenössische Wissenschaftsentwicklung zu Wort. Deutlich ist hier die Affinität zur strukturalistischen Bestimmung gewisser Spezifika poetischer Sprache ü b e r h a u p t . Verwiesen sei auf Überlegungen, die den „unbestimmten Eindruck, daß literarische Sprache 'dichter' sei als die Alltagsrede", etwas genauer zu fassen suchten: „Die poetischen Sekundärstrukturen ebenso wie die gezielten Abweichungen prägen der Sprache auf allen Ebenen ihrer Struktur Beziehungen und 135

Konstellationen auf, die die reguläre Grammatik nicht ermöglicht. . . . D i e . . . Strukturen literarischer Sprache füllen das Reservoir unerprobter Denk- und Anschauungsmodelle, aus dem der allgemeine Erkenntnisprozeß unablässig schöpft. Sie werden oft zur Quelle für die Veränderung der Sprache selbst." 3 4 8 D a ß Ricardou eine der literarischen Sprache prinzipiell zukommende Wirkungsmöglichkeit für den modernen Text (und für die nouveaux romans a l s moderne Texte) monopolisiert, bringt seine Theorie in eine gewisse Schwierigkeit. Die Art, sie zu beseitigen, rückt Ricardous Begriff von Literaturgeschichte in die N ä h e des eingangs genannten Lösungsversuchs des strukturalistischen Dilemmas. „Einerseits", sagt Ricardou, „ist die Modernität an eine P e r i o d e gebunden: die Texte, die mit der herrschenden Ideologie brechen, mehren sich seit E n d e des 19. Jahrhunderts. Aber vor allem betrifft sie T e x t e : In der modernen Periode entspricht eine große Anzahl von Texten weiterhin den herrschenden Ideen, in der vorangehenden Periode wirken ihr schon bestimmte Texte sporadisch entgegen. Andererseits äußert sich die eventuelle Modernität eines Textes nicht in Form von A u s s c h l i e ß l i c h k e i t , sondern als V o r h e r r s c h e n bestimmter Aspekte. Sie ist jeweils abhängig von der strategischen Verteilung zweier gegensätzlicher Verfahrensweisen, die immer beide im Verlauf der Texterarbeitung wirksam sind. D a s Vorherrschen von Prozeduren der Reproduktion von Sinn definiert den Paläo-Typ des Textes. D a s Vorherrschen von Prozeduren der Produktion von Sinn definiert den Neo-Typ des Textes oder vielmehr . . . eine erste Etappe der Modernität." 3 4 9 Während die Annahme einer darstellenden und expressiven Funktion literarischer Werke in Ricardous ideologiekritischer Polemik als fundamentale Verkennung der écriture, des literarischen Produktionsaktes, gilt, wird deren Existenz jedoch, historisch gesehen, anerkannt, indem Ricardou' die D o m i n a n z der „Reproduktion von Sinn" und die Erzeugung einer „illusion réaliste" zum Merkmal eben der Tradition erklärt, aus der und gegen die sich die Moderne herausbildet. Daß, analog dazu, „Produktivität" einerseits die von der herrschenden Ideologie verkannte und unterdrückte, wesentliche Funktion a l l e r Literatur, zum anderen jenes Moment sein soll, das den schmalen Sektor des modernen Textes vom immensen Kontinent des Traditionellen abtrennt, führt zu Widersprüchen, die Ricardou dadurch beseitigt, daß er die beiden vorausgesetzten Grundtypen der Texterarbeitung in die Bewegung eines eindimensionalen Kunstfortschritts stellt: „ E s gibt . . . 136

eine ständige Evolution; bestimmte Bücher verhindern, daß man andere schreibt. Natürlich ist es niemandem verboten, solche anderen Bücher zu schreiben. Aber um so schlimmer für die, die sie schreiben. Denn in ihrem Fortschreiten l ä ß t die Literatur alles, was akademisch ist, v e r a l t e n Z'350 Der moderne Text wäre dann die Entfaltung, und zugleich der Schlüssel zum Verständnis, der im alten Text erst keimhaft angelegten, noch wenig ausgebildeten „productivité" als der eigentlichen literarischen Dimension literarischer Werke. Auch wenn Ricardou in einem neueren Aufsatz (1978) betont, daß er Modernität nicht nach einem evolutionären Fortschrittsmodell denken will, sondern als revolutionären Einschnitt, als Umwälzung, bleibt das ahistorische Denkmuster erhalten. Ob die kontinuierliche Entfaltung einer Tendenz oder der einschneidende Dominanzwechsel innerhalb eines Beziehungsgefüges angenommen werden die Moderne erscheint jedesmal als Resultat einer (quantitativ oder qualitativ) veränderten Konstellation innerhalb der unabhängigen, allein ihre immanenten Realisierungsmöglichkeiten entfaltenden literarischen Reihe. Der strukturalistische Ansatz ist bei Ricardou mit einem kulturrevolutionären Zug verbunden, der auch dem Marxismus entlehnte Begriffe für seine Zwecke präpariert. So erhält z. B. die Praxis und Theorie des modernen Textes das Kennzeichen materialistisch, mit der Begründung, daß dort für die Literatur „der Primat des Materiellen" vor dem Ideellen verfochten wird - , wobei allerdings materiell nicht von Materie, sondern von Material kommt und dieses wiederum die Ricardousche Bedeutung von „Wortmaterial" - lautlichen und graphischen Komplexen als Bedeutungsträgern (matière signifiante) hat. In dieser Version erscheint dann die Moderne deshalb als antibürgerlich, weil sie genetisch mit den Erschütterungen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts „verbunden" ist und weil sie „mit einer materialistischen Praxis und Theorie schwanger" 351 geht. Im Unterschied zu den vorwiegend aus der Negation operierenden Begründungsversuchen für eine neue Art, Romane zu schreiben - wie sie in den frühen Essays von Sarraute, Butor und Robbe-Grillet vorgebracht wurden - , rückt Ricardou den Nouveau Roman in ein positives Muster der Modernität, verstanden als literaturgeschichtliches Ereignis, das per se die Tradition realistischer Schreibweisen obsolet macht und den Verfall bürgerlicher Klassenherrschaft auf dem Gebiet der Literatur eingeleitet hat. Der Nouveau Roman erhält somit einen in solcher Ent137

schiedenheit bis dahin nicht erhobenen ideologiekritischen Anspruch als Literatur, die sich einem bestimmten Überbaubereich der kapitalistischen Gesellschaftsordnung (den herrschenden Literaturverhältnissen) widersetzt und ihn kraft dessen unterminiert, d. h. zu Reaktionen herausfordert, die die Widersprüche im Inneren der „ideologischen Apparate" verschärfen. Kennzeichnend für Ricardous Theorie und deren Entstehungszusammenhang ist es, daß ihr revolutionärer Gestus einhergeht mit einem rigoros materialorientierten Literaturbegriff. Ricardou geht es darum, „der Bemerkung Mallarmes, derzufolge ein Gedicht nicht mit Ideen, sondern m i t W ö r t e r n gemacht wird, ihre ganze Tragweite zu geben"352, nämlich sie auf den Roman auszudehnen (was die Verabschiedung bestimmter Auffassungen vom Unterschied zwischen Poesie und Prosa einschließt); in jenen Texten, auf die Mallarmes Satz zutreffe, die Heraufkunft und das Wesen literarischer Modernität zu diagnostizieren sowie den Primat der „materiellen" Seite in modernen Texten bzw. in den nouveaux romans als modernen Texten nachzuweisen.

Aspekte einer Mtextuellen" Leseweise Ricardous Textuntersuchungen führen eine bestimmte Art zu lesen vor. Die Tätigkeit dieses Lesens besteht in der Aufdeckung und Beschreibung dessen, was Ricardou - generalisierend - die „spezifischen Gesetze der écriture" nennt und was er - spezifizierend - als jene Gemeinsamkeiten der „textuellen Arbeit" betrachtet, die den Nouveau Roman zu einem kollektiven Phänomen machen. Ricardou lehrt insofern die nouveaux romans lesen, als er sich gerade mit solchen Verfahren beschäftigt, die es dem Leser erschweren oder unmöglich machen, die Romane in gewohnter Weise als Berichte eines Geschehens aufzunehmen, nach der Absicht der Mitteilung und der Bedeutung des Dargestellten zu suchen und sich a u f d i e s e r E b e n e mit den Texten auseinanderzusetzen. Ricardou untersucht, wie die nouveaux romans funktionieren, d. h., er schärft den Blick für das Spiel textinterner Beziehungen und für die Konstruktionsprinzipien der Romane. Hiermit scheiden freilich alle nicht auf Sprachexploration und das spezifische Funktionieren der Texte gerichteten Interessen am Lesen von Romanen aus. Zudem unterbindet Ricardous Konzentration auf die Verfahren die Frage nach dem Gesamtprozeß der Bedeutungskonstitution in den untersuchten Texten. Deren Status 138

als nicht-organische, offene Werke wird auf radikale Weise realisiert. Das Interesse gilt nicht einem einzelnen Roman als Ganzem, sondern Prozeduren der „Materialbearbeitung" in verschiedenen Texten. So gelingt es Ricardou in der Tat, Gemeinsamkeiten der nouveaux -romans sichtbar zu machen. Sie betreffen die Techniken ebenso wie ihre Strategie der Illusionszerstörung. Im Gegensatz zu Romanen, die sich dem Leser auferlegen, als wären1 sie ein Stück Leben, stellen die nouveaux romans ihr Gemachtsein bewußt aus. Daß die Welten, die sie präsentieren, weder im herkömmlichen Sinn als Abbilder der realen Lebenswelt noch als Symbole innerer Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Wirklichkeit aufgenommen werden wollen noch können, führt Ricardou zu der Konsequenz, die fiktionalen Personen, Räume, Dinge, Geschehnisse etc. allein als „Effekte der Arbeit des Textes" anzusehen. In dieser Ausschließlichkeit liegt die Problematik seiner „textuellen" Leseweise. Ricardou unterbietet das Angebot der Texte, d. h., er beschneidet das Spektrum der Aktivitäten, die die nouveaux romans zu stimulieren vermögen, indem sie den Leser dazu auffordern, sich am Vollzug ihrer möglichen Intentionen zu beteiligen.353 Aus dem Lesevorgang eliminiert Ricardou das Moment der Deutung, der Sinngebung. Verdrängt wird jene Leseerfahrung, die sozusagen den empirischen Boden für die Erarbeitung neuer, statt nur der Negation alter, Auffassungen des Werk-WirklichkeitsVerhältnisses in den nouveaux romans darstellt, die Erfahrung nämlich, daß gerade deren Art „der sprachlichen Textkonstitution und -strukturierung . . . eine zuweilen überwältigende 'vision du monde', stark ausgeprägte affektive Verhaltensmuster gegenüber der Welt des Wahrgenommenen und im Text fragmentarisch Resümierten"354 trägt. Daß Ricardou sich solcher Faszination verschließt, entspricht seiner Weigerung, Momente des Wiedererkennens und der Identifizierung g e m e i n s a m mit dem Empfinden von. Neuheit als eine den nouveaux romans adäquate Rezeptionshaltung anzuerkennen und nach deren Korrelaten auf der Textebene zu suchen. Der Vorherrschaft von „Produktivität" unterstellt, müssen die Romane (und ihre Lektüre) alles abstreifen, was als Relikt der traditionellen Strategie der „Reproduktion" gelten kann. Mit einem Wort: Ricardous Untersuchungen der nouveaux romans folgen recht genau seiner Bestimmung von Traditionalität und Modernität im Roman, wie sie in •einer relativ frühen und seither vielzitierten Formulierung vorliegt traditionell ist alles, was darauf hinausläuft, aus dem Roman d e n B e r i c h t e i n e s A b e n t e u e r s 139

(le récit d'une

aventure) zu machen; modern ist alles, was darauf hinausläuft, aus dem Roman d a s A b e n t e u e r d e s B e r i c h t e n s (l'aventured'un récit) zu machen. D e r erste bemüht sich, den Leser zu faszinieren: Es sind die Leidenschaften, die Ideen, die Ereignisse, das Auf und Ab des Lebens selbst oder eines Fantasielebens, die den Leser beeindrucken, während sich die Seiten wie von allein umdrehen und' der Text, in seiner Durchsichtigkeit (transparence), gewissermaßen verschwunden ist. D e r zweite hingegen legt es darauf an, den Leser aufzuwecken. Indem er eine fortwährende Distanz errichtet, präsentiert er die Leidenschaften, die Ideen, die Ereignisse, die Wechselfälle der Fiktion als Effekte der Arbeit des Textes. D e n modernen Text lesen heißt, nicht einer Illusion von Wirklichkeit anheimzufallen, sondern der Wirklichkeit des Textes Aufmerksamkeit zu zeigen. Es heißt, Zugang zu einer neuen Einsicht zu gewinnen: in die Gesetze der Produktion des Textes, in die Prinzipien seiner Erzeugung und seiner Organisation." 355 Im folgenden sollen Aspekte der „textuellen" Leseweise und der Romankonzeption, die-ihr zugrunde liegt, an Beispielen aus Ricardous Analysen vorgestellt werden.

Ankündigungen der Modernität: Valéry und Flaubert Ricatdou versteht Paul Valéry als eine Gestalt des Übergangs, seine Texteais Schauplatz des Konfliktes zwischen Traditionalität und Modernität. D e r moderne Roman arbeite in eben der Weise, die Valéry für den Vorzug der Poesie hielt und die er seinerzeit im Roman vermißte. Daher seine negativen Urteile über die Romanliteratur.356* Auf der Seite der Poesie sah Valéry Sprache, Form, Notwendigkeit herrschen, im Roman dagegen: Ereignisse, Unordnung, Willkür. „POESIE: Ich suche ein Wort (sagt der Dichter), dieses Wort soll sein: weiblich, zweisilbig, P oder F enthaltend, auf einen stummen Vokal endend und Synonym für Bruch, Auflösung, und nicht gelehrt, nicht selten, sechs Bedingungen - zum mindesten."

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Unter den zu erfüllenden Bedingungen eine einzige semantischer Art - so die Poesie; der Roman aber sei ganz beschäftigt mit Bedeutungen und fiktiven Abenteuern. „Der Roman wird nicht durch eine Form bestimmt, sondern durch den Durst ¡nach Ereignissen." „Der Anteil von Sätzen, die nicht arbeiten, ist enorm im Roman." „Romane: - Es wird nie vorkommen, daß ein Romancier für eine bestimmte Stelle seines Werkes eine bestimmte verbale Form vorsieht - i n g l e i c h e r W e i s e wie er das für ein bestimmtes Abenteuer tut." „Das Geschick eines Romans hängt nicht von einem Wort ab - wird es gefunden oder nicht. Das ist gravierend, da es sich um ein literarisches Werk bandelt. Das verleugnete M a t e r i a l etc." 357 In Valérys Romankritik liest Ricardou einen Vorgriff auf den Nouveau Roman. ,„Die schönen Werke sind Töchter ihrer Form, die v o r i h n e n e n t s t e h t . ' Könnte dieses berühmte Postulat (Valérys' - B. B.) nicht in gewisser Weise als Motto für die strengen Direktiven dienen, die die Ausarbeitung des modernen Romans leiten?" 358 In DE NATURA ficTIONis entwickelt Ricardou wesentliche Elemente seiner Romankonzeption aus der Lektüre eines Satzes aus Madame Bovary. Dort beschreibt Flaubert eine Hochzeitstorte: „Unten war zunächst ein Viereck aus blauer Pappe, das einen Tempel darstellte, mit Säulenhallen, Kolonnaden und kleinen Statuen aus Zuckerguß ringsum in Nischen, die mit Sternen aus Goldpapier geschmückt waren; im zweiten Stockwerk erhob sich dann ein Schloßturm aus Biskuit, umgeben von zierlichen Befestigungsanlagen aus Zuckerzeug, Mandeln, Rosinen und Apfelsinenscheiben, und auf der obersten Plattform schließlich, einer grünen Wiesenlandschaft, wo es Felsen gab mit Seen aus Konfitüre und Schiffchen aus Haselnußschalen, sah man einen kleinen Amor auf einer Schokoladenschaukel, deren Pfosten oben statt mit Kugeln mit zwei natürlichen Rosenknospen abschlössen."359* An dieser Beschreibung hebt Ricardou hervor: Eine Torte, die man auf den Tisch stellt, wird von den Anwesenden als „simultanes Ensemble ihrer Teile" wahrgenommen. Dem widerspricht „die eigenartige Hartnäckigkeit der Temporaladverbien: .zunächst', ,dann', .schließlich'." Diese Angaben verweisen offensichtlich nicht auf das Objekt in der Gleichzeitigkeit seiner Präsenz. Ricardou sieht in ihnen eine Selbstbezeichnung der Beschreibung. Denn sie besteht „in der Tat aus einer Aufeinanderfolge von Elementen, sagen wir der Folge der Wörter auf dem Papier, und man braucht eine bestimmte Zeit, um sie zu durchlaufen. Dort, wo ein traditioneller Leser von Ungeschicklichkeit sprechen würde, . . . muß man im Gegenteil, einmal mehr, die moderne Aktivität einer Beschreibung, die auf sich selbst hinweist, hervorheben."360 Das beschriebene Objekt hat einen paradoxalen Status, gekennzeichnet durch den Widerspruch zweier Tendenzen. Die eine - „la tendance référentielle" ist aufs Objekt gerichtet (auf den Kuchen in der Simultaneität seiner Teile),

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die andere - „la tendance littérale" - auf die Bedingungen des Beschreibens (Zerlegung und Temporalisierung des Objektes). „Auf dieser Opposition besteht Flaubert methodisch, indem er die räumlichen Präzisierungen, die hier referentiell orientiert sind, und die zeitlichen Präzisierungen, die hier die literarische Dimension bezeichnen, paarweise zusammenstellt."361 Die genannten beiden Tendenzen oder Dimensionen stehen umgekehrt proportional zueinander. Wenn die Aufmerksamkeit des Lesers die eine bevorzugt, dann auf Kosten der anderen. Achtet man nur auf die Wortfolge, geht der Sinn verloren. Übersieht man die Anordnung der Wörter, entsteht die „illusion naturaliste", eine „ständige Konfusion . . . zwischen der hypostasierten Summe der Wortbedeutungen (signifiés) und dem, worauf sie verweisen (le reférent) ; das Buch wird für das Leben selbst genommen. Bekanntlich ist es diese Illusion, die uns in jedem Augenblick bedroht." 362 Ricardou hält Flauberts Satz deshalb für entscheidend, weil er den Konflikt zwischen referentieller und textueller („littérale") Dimension enthüllt und somit zu erkennen gibt, „daß in der Literatur nichts Natürliches ist, das nicht immer schon ein Effekt präziser Kunstgriffe (artifices) wäre". Hätte Flaubert die Künstlichkeit seines Vorgehens - und den Widerspruch zwischen Wahrnehmen und Beschreiben - verhüllen wollen, statt sie zu signalisieren, hätte er zu einer klassischen Lösung greifen können: die Zerlegung des Objektes im Prozeß der Beschreibung dadurch zu umgehen, daß sie in eine Handlung überführt wird, in diesem Fall etwa in „die eines Bäckers, in irgendeiner Küche, der nach und nach die verschiedenen Etagen des montierten Stückes aufschichtet". 363 Daß Flaubert, im zitierten Beispiel, nicht die Fiktion einsetzt, um Probleme des „discours" (hier: der Beschreibungstechnik) unsichtbar zu machen, sondern daß er sie zu lesen gibt - eben hierin erblickt Ricardou „eines der Zeichen beginnender Modernität". 364 * Sinn und Beschreibung Die Dominanz des Beschreibens gegenüber dem Erzählen und vor allem die Art der Beschreibungen hatten zu kontroversen Urteilen über den Realismus der nouveaux romans geführt. Die am Beispiel Flauberts herausgestellte kategoriale Differenz - Simultan ei tat des wahrgenommenen Gegenstandes; Zerlegung/Temporalisierung des beschriebenen Objektes - führt Ricardou an anderen Stellen weiter aus, so auch im Aufsatz Die schöpferische Beschreibung: ein Rennen gegen den Sinn (La description créatrice: une course contre le sens). Dort heißt es, daß der reale Gegenstand auf Grund der Vielzahl und Komplexität seiner Eigenschaften im Prinzip „unausschöpfbar ist", immer wieder neu gesehen werden kann, daß die Beschreibung hingegen „eine g e s c h l o s s e n e Konstellation von Eigenschaften" herstellen muß. 365 Des weiteren kann sie ihre Gegenstände nicht integral reproduzieren; sie muß auswählen. Ein traditionelles Verfahren - hierauf verwiesen schon Sarraute, Butor und R.obbe-Grillet am Beispiel

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Balzacscher Beschreibungstechnik - besteht in der Selektion nur jener Aspekte, die als charakteristische angesehen werden, d. h., die eine vom Autor beabsichtigte Bedeutung (in Ricardous Terminologie: einen- „vorgegebenen Sinn") illustrieren, um sie gewissermaßen zu demonstrieren. Etwa: Die Kleidung einer Person, die der Leser als eleganten Parvenü erkennen soll (bzw. die ihm als solcher bereits angekündigt wurde), wird so beschrieben, daß der „Erkennungseffekt" eintritt, der Sinn der Beschreibung erfaßt wird. Diese Technik interpretiert Ricardou als e i n e Art, den „ständigen Konflikt zwischen Sinn und Beschreibung" zugunsten des ersteren zu entscheiden. Als Illustration der vorweg angekündigten Bedeutung eines Objektes tendiert die Beschreibung zur Redundanz. Besteht ihre Funktion darin, auf die „unabweisliche Bedeutung" des Beschriebenen hinzuführen, wird sie so knapp wie möglich gehalten und sowie ihr Ziel erreicht ist, beendet: „Sie bildet dann eine bloße Etappe auf dem Weg zum Sinn." Wenn die Beschreibung jedoch von einer Bedeutung ausgeht, die „ihrerseits diskret bleibt, so daß sie den Status einer Hypothese nicht überschreitet", vermag sich die Beschreibung - die hierfür das Merkmal „hergestellt", „geschaffen" bekommt („description créée"366) - in einem gewissen Schwebezustand zu halten, zwischen dem Exzeß des Konkreten (einer wuchernden Ausführlichkeit und Detailfülle, die die Bedeutung des Beschriebenen unkenntlich zu machen droht) und der Vernichtung des Konkreten (dessen Darbietung überflüssig wird, sobald die Bedeutung des Objektes evident ist). Gegenüber diesen Varianten, in denen der „vorgegebene Sinn" des Beschreibungsgegenstandes die Kohärenz der Beschreibung sichert (also verhindert, daß sie in beliebige Phantasien ausschweift), sieht Ricardou einen anderen, den eigentlich modernen, für den Nouveau Roman charakteristischen Weg der Beschreibung darin, daß nicht der Sinn, sondern „formale Direktiven" das Auswahlkriterium und Organisationsprinzip bilden. In diesem Fall bekommt die Beschreibung das Merkmal „herstellend", „schöpferisch" (..description créatrice", in späterer Diktion: „productrice"). „Sie erfindet, in aller Kohärenz, ein Universum und tendiert dazu, einen Sinn hervorzurufen, gegen den sie zu kämpfen beginnt. Manch zeitgenössisches Werk kann als ein Rennen gegen den Sinn gelesen werden." 367 Ricardou postuliert, daß in modernen Texten das Erzählte, im Sinne von Handlung, Geschichte („histoire"), immer auf das Erzählen, im Sinne von sprachlicher Strukturierung („discours"), - auf die „Abenteuer des Schreibens" - verweist. Daraus folgt, daß eine in der Fiktion sich konstituierende Bedeutung nicht als Bezug auf Ordnungen anderer Art, auf Sinnstrukturen außerhalb des Werkes, verstanden wird, sondern als Selbstbezeichnung - Metapher bzw. A l l e gorie - des Produktionsprozesses. Ricardou erklärt die Thematisierung des Schreibaktes, nachweisliche Tendenz der nouveaux romans (und beherrschendes poetologisches Prinzip in bestimmten Tel-Quel^Romanen), zum Wesensmerkmal „produktiver" Texte überhaupt. D a h e r 143

praktiziert er Sinndeutung (nicht nur an den nouveaux romans, sondern auch an früheren Werken, z. B. von E . A. Poe) als eine Allegorese, die die „histoire" als eine Figur erfaßt, in der sich der „discours" selbst darstellt, versinnbildlicht. 368 * Die Funktion eines derart auf sich selbst verweisenden literarischen Universums beschränkt sich letztlich darauf, dem Leser stets aufs neue bewußt zu machen, daß er es mit einer Ordnung sui generis zu tun hat, die ihre eigenen Möglichkeiten und Gesetze darbietet, um diese den Strukturen der vorgegebenen Realität e n t g e g e n z u s t e l l e n . Die Opposition zwischen „dimension littérale" und Wirklichkeitsbezug („dimension référentielle") bestimmt auch Ricardous Auffassung vom „Prozeß des Berichts" im Nouveau Roman. Unter einem Bericht (récit) versteht Ricardou 369 * eine „narrative Äußerung, mündliche oder schriftliche Rede, die die Übermittlung eines Ereignisses oder einer Folge von Ereignissen übernimmt". Der Doppelaspekt von „reférentialité" und „littéralité" komme bereits in der unterschiedlichen Wortverwendung zum Ausdruck. Denn zum einen bedeutet Bericht: „die Folge realer oder fiktiver Ereignisse, die den Gegenstand der Rede bilden, sowie die Beziehungen (Verknüpfung, Opposition, Wiederholung etc.) der Ereignisse untereinander. A n a l y s e d e s B e r i c h t e s meint dann die Untersuchung eines Ensembles von Handlungen und Situationen, die als solche betrachtet werden, ohne Ansehung des sprachlichen oder andersgearteten Mediums, das sie uns vermittelt." 370 Zum anderen bezeichnet récit jenes Ereignis, das in der Handlung des Berichtens selbst, im „Erzählakt, für sich genommen" besteht. Diese beiden Aspekte („Einerseits ist der Bericht eine Rede oder ein Text; andererseits betrifft er Ereignisse oder eine Welt") gehen ein in Ricardous eigene Definition des Romanberichtes als „Enarration, welche die Fiktion in ihrer Wörtlichkeit (littéralité) herstellt, mit Bezug (reférence) auf das, was wir, der Einfachheit halber, bisweilen das tägliche Leben (le quotidien) nennen" 371 . An diese Definition ist eine Funktionsbestimmung angeschlossen, die den „Normalfall" der Wirksamkeit der genannten beiden Aspekte des Berichtes (bzw. die „normale" Lösung des vorausgesetzten permanenten Konfliktes zwischen ihnen) postuliert und beschreibt. „Insgesamt ähnelt der Bericht einer Maschine oder einem Körper. Gut funktionieren bedeutet für ihn, es zu verstehen, unauffällig zu bleiben. Daher belauert ihn Gefahr von zwei Seiten: Mangel und Exzeß. Im Fall des Mangels wird der Bericht durch seine Verschlechterung sichtbar; im Fall des Exzesses verrät 144

ihn seine Exhibition. Zwangsläufig stellt die Ausschweifung die Versuchung des Berichtes dar. Denn wenn das Natürliche bewirkt, daß man glaubt, führt das Künstliche dazu, daß man sich interessiert. Wenn der Roman will, daß sein Bericht nicht allzu sehr ins Auge fällt, muß er seiner Neigung zum Raffinement (sophistication) und seiner Tendenz, z u s c h ö n , u m w a h r z u s e i n , widerstehen, dann muß er allzu gewollte Stimmigkeiten und allzu kalkulierte Konstruktionen von sich weisen."372 Das „gute Funktionieren" des Romanberichtes, das es dem Leser ermöglicht, den dargestellten Geschehnissen zu folgen, als erlebe er sie mit, und die Folge der Wörter, die er liest, zu vergessen, nennt Ricardou die Euphorie des Berichtes. Der Nouveau Roman verfährt umgekehrt. Er setzt den Bericht in Gang, um ihm zugleich den Prozeß zu machen. Damit solle die Aufmerksamkeit des Lesers vom Nachvollzug des fiktiven Geschehens auf den Text selber gelenkt werden: auf seine Konstruktionsprinzipien, das interne Spiel seiner Wörter und namentlich jene Prozeduren, die das Zustandekommen einer Fiktionsgewißheit sabotieren. Die dem Nouveau Roman immer wieder vorgeworfene Künstlichkeit nimmt Ricardou als Indiz dafür, daß der récit nun nicht (mehr) einer Logik der Ereignisse, sondern „formalen Direktiven" (einer „Logik der Form") untersteht. Der Prozeß des Berichts im Nouveau Roman Aus der Vielzahl der von Ricardou in Le Nouveau Roman (1973) gesammelten, analysierten und klassifizierten Verfahren, die das „gute Funktionieren" des Berichts angreifen, seien hier, stichpunktartig, genannt: 1. Die Häufung von Ähnlichkeiten Hierunter fallen die diversen Arten textinterner Reime und Analogien, von der Verwandtschaft der Orts- und Personennamen, der ständigen Wiederkehr einer bestimmten Form verschiedenster Gegenstände oder einer bestimmten Farbe, über die Ähnlichkeit der Sätze, mit denen unterschiedliche Objekte, Personen und Situationen beschrieben werden, bis hin zu einer strikten Symmetrie im Ablauf der Handlung. Hierzu gehört auch das Verfahren, den Hiatus zwischen zwei Sequenzen nicht durch eine überleitende Formel (etwa in der Art von: „acht Tage später") zu überbrücken. Der Übergang wird nicht auf der Ebene der Ereignisse vermittelt; er bleibt handlungslogisch ein Bruch. „Textlogisch" wird er durch Analogien hergestellt, indem ein Wort der letzten Sequenz einem anderen der nächsten Sequenz ähnelt oder gleicht - sei es auf der Ebene der Signifikanten (durch Homonymien und Paronymien) oder auf 10 Burmeister, Nouveau Roman

145

der der Signifikate (selten: strikte Synonymien, sehr häufig: annähernde Synonymien). All diesen „textuellen Analogien" ordnet Ricardou die Funktion zu: „Sobald Orte, Ereignisse, Personen aufhören, jeweils eme Besonderheit zu zeigen, die mit der vergleichbar ist, die ,das Leben selbst' bietet, und sich stattdessen anschicken, einander zu ähneln, wird die Aufmerksamkeit des Lesers, die dann nicht mehr der illusion de représentation unterworfen ist, auf die Art und Weise gelenkt, in der diese Orte, diese Ereignisse, diese Personen voneinander abstammen, erzeugt sind. Was dann ins Auge fällt, ist . . . ein Verfahren der Erzeugung (opération génératrice), in diesem Fall das deutlich lesbare Verfahren der Ähnlichkeit. D i e F a s z i n a t i o n , d i e d i e A b e n t e u e r in e i n e m B e r i c h t a u s ü b e n , i s t u m g e k e h r t p r o p o r t i o n a l d e r Z u r s c h a u s t e l l u n g i|hrer Erzeugungsverf a h r e n . Anders gesagt . . . : ein Bericht degeneriert, wenn er zeigt, wie er erzeugt (generiert) wird." 3 7 3 Ein besonderer Fall des Analogieprinzips ist die fiktionsimmanente Verdoppelung der Fiktion - die Geschichte in der Geschichte - , nach einem von André Gide stammenden Vergleich „mise en abyme" 3 7 4 * genannt. Dieses alte Verfahren - das schon Victor Hugo an Shakespeares Dramen faszinierte („Der Geist des 16. Jahrhunderts gehörte den Spiegeln" 3 7 5 *) - ist im Nouveau Roman häufig, wobei sich die „Makrofiktion" nicht nur in der „Mikrofiktion" eines in den Roman eingeschlossenen anderen Romans, sondern oft in einer ihrer Szenen oder in einer Reproduktion (Bild, Stich, Plakat, Statue . . .) spiegelt. Ricardou unterstreicht, daß die mise en abyme dabei nicht als bloße Verkleinerung und Verkürzung des „Großgeschehens", als dessen thematische Antizipation fungiert, sondern als „Matrix" oder „Funktionskatalog" zu lesen ist: Die in die Fiktion eingelassene Fiktionsspiegelung „hat um so besser über das künftige Geschehen informiert, als dieses, zur Peripherie geworden, jene bestätigt, indem es sich ihr angleicht" 376 . 2. Die Häufung der Varianten Die nouveaux romans sind reich an Passagen, in denen ein zunächst gesetzter Sachverhalt (z. B. ein einmal beschriebenes Objekt) geringfügig oder stark verändert wieder erscheint - ähnlich, aber verschieden. Diese Technik erfuhr eine realistische Begründung aus phänomenologischer Sicht: Sie trage der perspektivischen Gebundenheit realer Wahrnehmung Rechnung und sei methodisch mit der phänomenologischen „Abschattung" vergleichbar. Die Schwierigkeit, eine solche Plausibilisierung durchzuhalten, erweist sich dann, wenn die Varianten in der Weise differieren, daß sie einander eigentlich ausschließen, und wenn der Text keine Anhaltspunkte bietet, um zu entscheiden, welcher Realitätsgrad den konkurrierenden Versionen zuzuordnen ist - welche von ihnen tatsächliche Wahrnehmung, welche dagegen Erinnerung, Vermutung, Träume, Fantasien repräsentieren soll. Die Tatsache, daß eine Hierarchie der verschiedenen Ebenen anhand des Textes meistens nicht (zweifelsfrei) zu etablieren ist, versteht Ricardou als eine Herrschaft der Varianten, die den Romanbericht selbst angreift und mit ihm wiederum eine Illusion: Sind die fik-

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tionalen Varianten

im Bericht „solide verankert", d. h., alle mit demselben

Realitätswert ausgestattet, kann in jedem einzelnen Fall „der Bericht nur unter der strikten Bedingung Zugang zum Realen erlangen, daß er ihn an anderer Stelle - dort, wo er unklugerweise andere Varianten integriert hat - in Zweifel zieht. So wird der Bericht gewissermaßen g e g e n s i c h s e l b s t gisch.

Paradoxales

Bündnis von

Einschluß

und Ausschluß.

aller-

Unmöglicher

Bericht: Bericht, weil eine Serie von Ereignissen aufeinanderfolgt: unmöglich, weil sich diese Ereignisse

wechselseitig ausschließen. Tödlich getroffen, ist

der Bericht nicht mehr in der Lage, seine wesentliche Rolle zu spielen: die Illusion

von

Totalität

zu erreichen." In einigen nouveaux romans

der zweiten Phase wird das Spiel mit den „variierten Realitäten" noch weiter getrieben, generalisiert. Dort verwandelt sich der Bericht in eine „VariantenMaschine", die nach bestimmten Kombinationsregeln arbeitet, welche die handlungslogische Verknüpfung erweist sich

der Fiktionselemente

durchkreuzen. D e r

als „Resultante unverträglicher Forderungen:

Bericht

Aufrechterhaltung

einer Wahrscheinlichkeit der Ereignisse und Logik der Kombination" 3 7 7 , womit der Nouveau Roman einmal mehr den Doppelstatus

des récit bloßlegt und

ihn zu lesen gibt. 3. Die Metamorphosen Den brüsken, oft mitten im Satz stattfindenden Übergängen der Fiktion vom Bereich des Realgeschehens in den der Bilder (und anderer Reproduktionen) oder in Fantasievorstellungen und umgekehrt; den plötzlichen Verwandlungen eines Raumes in einen anderen, eines Protagonisten in einen

anderen

-

all diesen

unwahrscheinlichen

(auch eines Erzählers) Metamorphosen

ordnet

Ricardou wiederum die Funktion zu, auf die „textuelle Arbeit" selbst zu verweisen, in diesem Fall auf die immer wieder „ausgelöschte Evidenz, daß das, was in einem Text real zu sein vorgibt, stets im gleichen Grade Fiktion ist wie das, was dort fiktiv sein soll. Das Pferd aus Marmor ist ebenso wie das Pferd aus Fleisch und Blut einzig und allein Effekt einer organisierten Sprache. D i e Metamorphose berührt also nicht die Fiktion als solche: man wechselt stets nur von einer Fiktion zur anderen. Sie betrifft lediglich die referentielle Dimension der Fiktion. Sie weckt brutal oder -

noch wirkungsvoller -

mit

allerhand Subtilitäten den Leser auf, der so intensiv über dem Text träumt, daß er die Fiktionen für Realitäten nimmt." 378

Kicardous Ziel einer "écriture en masse" Daß die nouveaux romans keine Texte sind, über denen man träumen, Ort und Stunde vergessen kann, „während sich die Seiten wie von allein umdrehen" - welcher ihrer Leser hätte dies nicht selbst erfahren. Was die fantasierenden Ausflüge jenseits der Zeilenränder 10«

147

so kurz hält, auch so unergiebig macht - wohl kein Leser bisher hat es gründlicher beschrieben und nachdrücklicher begrüßt als Ricardou. Seine Lektüre könnte all jene instruieren, die an den nouveaux romans tadelten, was sie nicht zu lesen vermochten - eben „die Kehrseite der Kunstgriffe", die im „gut funktionierenden" Roman so natürlich wirken, daß sie nicht mehr ins Auge fallen. Wäre also der Nouveau Roman, nach Ricardou, wiederum eine „Schule des Blicks" - diesmal eine, die Texte sehen lehrt und dazu helfen kann, daß Leser fürderhin mit wenigstens einem wachen Auge das Terrain kontrollieren, auf dem die hinreißenden Illusionen der alten Romane ihre diskreten materiellen Wurzeln besitzen? Solcher Nutzung steht nichts entgegen. Freilich ist nicht sie es, der Ricardou Vorschub leisten will. Nicht die Kenntnis von Mechanismen der Illusionserzeugung zu fördern (auf die man bei der Lektüre dann zurückgreifen oder sie absichtsvoll, dem Träumen zuliebe, ignorieren kann) und dem Nouveau Roman somit zu einer literaturkritisch-didaktischen Wirkung zu verhelfen, ist eigentliches Ziel der Interventionen Ricardous. So minutiös seine Analysen sind - Ricardou ist kein bloßer Beobachter, sondern ein Verfechter des Nouveau Roman. Ihm geht es nicht allein darum, daß Realitätsdarstellung und Sinnvermittlung im Roman anders rezipiert werden, als es die „herrschenden literarischen Ansichten" zulassen, sondern er tritt dafür ein, daß sie unterbleiben zugunsten einer anderen Literatur, die, grob gesagt, nicht mehr Ansichten der Welt kommuniziert, sondern sich diesen mit Effekten widersetzt, die sich allein den unerhörten Möglichkeiten von Sprachspielen großen Stils, in Ausdehnung und Komplexität eines Romantextes, verdanken. Den modernen Texten wird von Ricardou eine kritische, subversive Aktivität zuerkannt sowohl in bezug auf die bürgerliche (Literatur-) Ideologie als auch im Hinblick auf die bestehenden Weisen literarischer Produktion und Rezeption. E s ist sicher nicht zu bestreiten, daß die nouveaux romans „ihrem Leser ein Wahrnehmungsverhalten auf (zwingen), das in seinen reflexiven und kombinatorischen Qualitäten wie in seiner prinzipiellen Offenheit für Ungewohntes, Überraschendes, auch Spielerisches nicht nur auf den Bereich der ästhetischen Aneignung von Texten und Sachverhalten beschränkt bleibt" 3 7 9 , daß sie also prinzipiell eine gegenüber herrschenden Verhaltens-, Rede- und Denkzwängen kritische Einstellung fördern können - dann nämlich, wenn der Leser die im Umgang mit den Texten und ihrer „Einübung in das literarische Spiel von der sprachlichen Neuverteilung der Welt" erworbene „neue 148

Kompetenz vom ästhetischen in den pragmatischen Bereich seines Lebens überträgt und die Poetik der Transformation . . . auf dem Felde derjenigen Sprachpraxis zur Anwendung bringt, die kommunikativen Verabredungen gehorcht" 380 . Zu bestreiten ist jedoch die radikale ideologische Subversivität, die die „écriture" der nouveaux romans Ricardou zufolge entfaltet. Er bleibt auch selbst einen Beweis für sein Postulat schuldig. Denn zum einen ist nicht ersichtlich, wieso die Romane, indem sie ihre Struktur der der „vorgegebenen Realität" entgegensetzen, diese damit auch schon kritisieren. Weil sich Ricardou mit Inhalten nicht befaßt, kommt er über den formalen Befund der Andersartigkeit bzw. Strukturdifferenz nicht hinaus. Zum anderen treten Analogien an die Stelle eines Versuches, den praktischen Umgang mit ideologischen Mustern in den Werken zu verfolgen. So genau Ricardou die Unterwanderung traditioneller Darstellungsformen im Nouveau Roman analysiert - es kann kaum überzeugen, wenn den Verfahren als solchen die ideologiekritische Hauptleistung zufällt, zumal das, was sie vermeintlich unterwandern, bei Ricardou generell so unkonkret bleibt wie in diesem Beispiel: „Der Nouveau Roman hat auf seiner Ebene das ideologische System Ausdruck-Darstellung in Frage gestellt, das auf der Vorstellung eines gegebenen Sinns beruht, dessen Eigentümer der Romanautor in gewisser Weise ist. Nun ist es aber gerade die Aneignung eines Landes durch ein anderes, auf der der Kolonialismus beruht. Indem der Nouveau Roman Texte hervorbrachte, an denen eine an Ausdruck-Darstellung orientierte Lektüre scheiterte, war er in der Lage, auf seine Art Denkweisen in Frage zu stellen, die zur Eigentumsideologie gehören." 381 Die Veränderungen, die gégenwârtiges Leserbewußtsein durch die Produktion eines neuen Typs literarischer Texte erfahren soll, denkt Ricardou jedoch noch in einem anderen Zusammenhang - als grundlegende Umwandlung der literarischen Kommunikation durch eine künftige „massenhafte Schreibpraxis" (écriture en masse), in einer Gesellschaftsordnung, die mit der vertikalen Arbeitsteilung auch die zwischen Kunstschaffenden und Kunstkonsumenten aufgehoben hätte. Als Vorarbeit hierzu begreift er auch die von ihm propagierte Leseweise. „Wir wissen es: Lesen heißt, die spezifischen Beziehungen zu explorieren, durch die die Elemente des Textes verbunden sind." 382 Explorieren bedeutet sowohl: die Prinzipien der Textkonstruktion nachvollziehen (statt das Werk zu interpretieren), erkennen, wie man einen Text herstellt (statt das Werk zu konsumieren), a l s 149

a u c h : selbst ausprobieren, wie man schreibt, der als allgemeines Grundbedürfnis vorausgesetzten Lust an einer Tätigkeit nachgeben, die kein höheres Geheimnis, kein Privileg von Talentierten mehr sein soll. Die Kluft zwischen Autoren und Lesern zu überwinden, die übliche Trennung zwischen „Literatur machen" und „über sie Bescheid wissen" durch einen neuen Literaturunterricht aufzuheben, der Theorie und Praxis zusammenschließt - dies sind die praktischen Ziele einer Theorie, die im Nouveau Roman und in anderen Texten das Wirken der „textuellen Produktivität", und nur dieses, sichtbar zu machen sucht. Dem Nouveau Roman wird von Ricardou revolutionäre Wirksamkeit zugesprochen oder zugetraut. Was gegenwärtig als Literatur für Literaten eine marginale Existenz fristet, wäre ein Totengräber bürgerlicher literarischer Kultur - und der Gesellschaftsordnung, die sie trägt. „Was ich zu tun versuche, das wird mir immer deutlicher, ist, kurz gesagt, den Leser in einen Schriftsteller zu verwandeln." 383 „Jedem zu zeigen, daß er schreiben kann, mündet letzten Endes in Ablehnung der gesellschaftlichen Ausbeutung." 384 Auch wenn man mit der Vorstellung einer „massenhaften Schreibpraxis" sympathisiert, in der sich das Verlangen nach einer neuen Gesellschaftsordnung ausdrückt, bleibt doch das Problem, daß Ricardous Entwurf dieselben Reduktionen aufweist, die seine Position insgesamt kennzeichnen. Denn wiederum ersetzt die Behauptung einer „letztendlichen" Gleichgerichtetheit von modernem Text und antikapitalistischen politischen und ideologischen Bewegungen den Versuch, die Zonen ihrer tatsächlichen Übereinstimmung genauer zu erkennen und Widersprüche zwischen ihnen auch nur in Erwägung zu ziehen. Und wiederum führt, womöglich deutlicher als in anderen Zusammenhängen, der auf Material und Techniken fixierte Produzentenstandpunkt Ricardous hier zu einem Bild literarischen Verkehrs, das eben gerade das Moment der Kommunikation - der Mitteilung, Verständigung, der Auseinandersetzung mit Sinnvorschlägen - ausschließt und nur ein verallgemeinertes (wenngleich ein breit praktiziertes) Wissen davon, „wie Text erzeugt wird", übrig läßt. Gerade im Hinblick auf eine Demokratisierung der Kunst und, bescheidener, irn Interesse eines breiteren gesellschaftlichen Umgangs mit zeitgenössischen Texten, die als schwerverständlich, unzugänglich, nichts-sagend erscheinen, ist der Nutzen einer Theorie zweifelhaft, die unter dem Titel der Produktivität wesentliche Möglichkeiten literarischer Produktion und Rezeption entschlossen verwirft. Dies betrifft den angeblich nur reproduzierenden Charakter 150

von Darstellung, Ausdruck und Sinnkohärenz ebenso wie den angeblich nur konsumptiven Charakter einer interpretierenden, das Werk als Gegenstand der Reflexion und des Genusses aufnehmenden Lektüre. Jedenfalls setzt Ricardous Art, die nouveaux romans zu lesen, weder andere Leseweisen und Leserbedürfnisse außer Kraft, noch macht sie sie überflüssig. Jenseits seiner anfänglichen, mitunter spektakulären Neuheit hat der Nouveau Roman nicht aufgehört, seine Leser herauszufordern. Wenn sich einerseits feststellen läßt, daß die neuen Romane neue Leser gefunden haben, so bleibt es gleichzeitig eine Tatsache, daß sehr viele Leser ihren Appellen nicht gefolgt sind. Hieraus allein auf die Unverdaulichkeit des modernen Textes für die herrschende bürgerliche (Literatur-)Ideologie zu schließen, heißt, eine Problematik abzuwehren, nicht aber, sie zu begreifen. Jedoch, um es mit und gegen Ricardou zu sagen: Die Tatsachen, nicht weniger als die Texte, sind hartnäckig; ihre nichtreflektierten Probleme bleiben weiter bestehen. 385 *

Konsolidierung und neue Widersprüche Z u m Bild des N o u v e a u R o m a n in den siebziger Jahren

Versuch einer Bilan^:

Cérisj

1971

Unter dem Titel Nouveau Roman: gestern, heute fand 1971 das erste große, ausschließlich dem Nouveau Roman gewidmete Kolloquium statt.386* Die dort geführten Diskussionen zwischen Romanautoren und ihren Lesern (vorwiegend Literaturwissenschaftlern, Lehrern und Studenten387*) bilden ein Material, das bei aller Diversität und zum Teil recht polemischen Gegensätzlichkeit der Standpunkte doch eine Reihe deutlicher Gemeinsamkeiten aufweist. Sie zeigen die Richtung und einige - vorläufige - Resultate des literarisch-ideologischen Veränderungsprozesses, der sich seit und mit der Herausbildung bestimmter neuer Romanformen im Frankreich der fünfziger Jahre vollzogen hat. Françoise van Rossum-Guyon, die zusammen mit Jean Ricardou das Kolloquium leitete, stellte in ihrem Schlußwort fest: „Der Nouveau Roman existiert, wenigstens dessen können wir jetzt sicher sein, aber gerade weil er existiert, und in vielfältigen Formen, wird er weiterhin zu Fragen herausfordern . . . Wenn es also nicht darum gehen kann, eine abschließende Folgerung aus einem in voller Suche befindlichen Nouveau Roman zu ziehen, so ist doch der Versuch möglich, die Begriffe, die wir von ihm gewonnen haben, zu bilanzieren und die Aufmerksamkeit auf wesentliche Probleme zu lenken, die er aufzuwerfen scheint."388 Die in diesem Sinn vorgenommene Bilanz nannte als wichtigste Gemeinsamkeiten: „1. das Erkennen einer gewissen Anzahl von Verfahren der Komposition und Schreibweise, die neu und zugleich spezifisch sind, 2. das Bewußtwerden einer Evolution und, mehr noch, einer Veränderung des Nouveau Roman durch die Herausbildung dessen, was mit der Formel .Nouveau Nouveau Roman' bezeichnet worden ist, 3. eine zumindest im wesentlichen gemeinsame ideologische Einstellung." 389 Die erste Rubrik umfaßte die in der Mehrzahl der Beiträge hervorgehobenen und untersuchten Eigenschaften des Nouveau Roman, die seine Besonderheiten und Unterschiede in bezug auf die Romantradition be152

gründen.390* Die Pauschalvorstellung von d e m alten Roman wurde in der Diskussion mitunter als zu undifferenziert und daher korrekturbedürftig empfunden („Denn es gibt mehrere Arten des alten Romans"391) - mit dem Resultat çiner recht vagen Einigung darüber, daß sich der Nouveau Roman vor allem gegen „die romantischrealistische Romankonzeption" richtet, „weil sie es ist, die im gegenwärtigen akademischen Roman noch aktiv ist", und daß er „engere Beziehungen zum Roman des 18. Jahrhunderts als zu dem des 19. Jahrhunderts unterhält"392. Jedoch wurden diese Beziehungen nicht näher untersucht. Vorherrschend blieb das Interesse an Verfahren bzw. Besonderheiten in Texten, deren wesentlicher Gestus gegenüber der Tradition mit Ricardous Diktum, der moderne Roman sei weniger „le récit d'une aventure que l'aventure d'un récit" (s. S. 139 f.), zutreffend erfaßt zu sein schien. Während sich die Romanuntersuchungen früher mit dem Wechsel der Erzählperspektive, des Figurenaufbaus, mit den Beschreibungstechniken im Nouveau Roman beschäftigt hätten, mit Verfahren also, „die es nur ermöglichten, bestimmte Texte als neu in bezug auf den traditionellen Roman zu charakterisieren"393, habe sich nunmehr der Akzent verlagert. Dies infolge der „radikalen Umkehrung" (einsetzend mit Werken wie La Maison de Rendez-vous, Mobile, La Bataille de Pharsale, Passacaille, Navettes, La Prise de Constantinople39i), durch die „der Nouveau Roman mit jeder realistischen Motivierung bricht, statt dessen seine kompositionsbedingte Motivierung ausstellt und sich so als reine Textproduktion darbietet. Während der Nouveau Roman der ersten Phase, zu Recht, als letzte Inkarnation des erkenntniskritischen (épistémologique) Romans betrachtet werden konnte und großenteils einem phänomenologischen Realismus verpflichtet ist, präsentiert sich der Nouveau Roman der zweiten Phase . . . als S p i e 1 oder, wie genauer gesagt wurde, als K o n s t r u k t i o n s s p i e l."395 Die Übereinstimmung dieser Sicht mit Ricardous Theorie des Nouveau Roman ist unverkennbar. Ohne die organisierende und prägende Kraft zu unterschätzen, die von einer entschiedenen, d. h. deutlich profilierten und in sich weithin schlüssigen Reflexion ausgehen kann — • es hieße wahrscheinlich, die Dinge vereinfachen, nähme man die genannte Übereinstimmung allein als Zeichen dafür, daß es individueller Rede gelungen sei, das Denken einer Gruppe zu bestimmen oder zu beherrschen. Daß das Cérisy-Kolloquium eine Konsolidierung der Ansichten im Sinne der von Ricardou vertretenen Position erkennen läßt, verweist auf tatsächliche Übereinstim153

mung von Meinungen und Interessen. Die Durchsetzungsfähigkeit der „neuen Auffassung von Literatur, verstanden als P r o d u k t i o n ' ,396 , liegt mindestens darin begründet, daß sie den Schriftstellern ein Instrumentarium zur Verfügung stellt, welches den Wandlungen innerhalb des Nouveau Roman Rechnung trägt (sie durch Verfahrensanalysen zu erfassen sucht), und daß sie den Lesern/Kritikern einen Zugang zu Texten vorschlägt, die sich bislang geübten Prozeduren der Sinnentschlüsselung, des Verstehens und Erklärens sperren. 397 * Die tendenzielle Verdrängung der anfänglichen programmatischen Vokabeln der nouveaux romanciers durch das Leitwort „production" - von Robbe-Grillet übersetzt mit: „existieren lassen, was noch nicht existiert" 398 - geht einher mit der Zurückweisung der „traditionellen Konzeption von Literatur als Darstellung, Ausdruck und Mitteilung (communication). An die Stelle der abbildenden Darstellung einer vorgegebenen (wirklichen) Welt tritt somit die Darbietung einer (fiktiven) Welt, an die Stelle des Ausdrucks von Individualität (eines originären, persönlichen Ichs) tritt die durch Regeln geleitete Konstruktion eines Textes, und an die Stelle der Mitteilung einer Botschaft tritt die Aufforderung, mit dem Sinn zu spielen." 399 Scheinbar klar und gesichert, weist der Gegensatz von „production" und „représentation/expression/communication" jedoch in den Cérisy-Diskussionen diesselbe Mehrdeutigkeit auf wie schon bei Ricardou. Er dient zur begrifflichen Unterscheidung und zur Abgrenzung des modernen vom traditionellen Roman - hier insbesondere zur Charakterisierung der neuen Qualität des Nouveau Nouveau Roman - , und er wird gleichzeitig ideologiekritisch besetzt, im Sinne der Ablösung illusionärer durch adäquate Vorstellungen von literarischer Praxis. Diese Verquickung unterschiedlicher Aspekte besitzt sicher einen praktischen Wert für jene Autoren (Robbe-Grillet, Simon, Pinget, Ollier, Ricardou), die Schreiben immer entschiedener als „jeu de construction" begreifen und betreiben. Andersgeartete Intentionen - so bei Sarraute und Butor - machen freilich sichtbar, in welchem Maße die Auffassung vom Roman als „production" nur auf bestimmte Schreibweisen zugeschnitten ist und wie daher ihr weiterreichender theoretischer und ideologiekritischer Anspruch Gefahr läuft, eher eine neue Orthodoxie zu begründen, als die Erkenntnis der vielfältigen Formen und Möglichkeiten literarischer Tätigkeiten zu fördern. Die internen Auseinandersetzungen der nouveaux romanciers belegen, daß mit der Herausbildung des Nouveau Nouveau Roman eine Differenzierung der literarischen Positionen verbunden 154

ist. Sie lassen aber auch erkennen, wie wenig das Antinomien-Muster: „Ausdruck/Darstellung einer vorgegebenen Welt" auf der einen, „Produktion/konstruktives Spiel/Arbeit des Textes" auf der anderen Seite die tatsächlichen Unterschiede zu erfassen vermag. Diese Inkongruenz können zwei Beispiele aus den Diskussionen in Cerisy

-veranschaulichen. 1. Im Bewußtsein der veränderten Konstellation des Nouveau Roman und ihrer eigenen teilweisen Isolierung legte Nathalie Sarraute in ihrem Kolloquiumsbeitrag (Was ich zu tun versuche)400 die wesentlichen, konstant gebliebenen Überzeugungen dar, die ihre literarische Arbeit leiten. Sie unterstrich erneut, daß „die Sprache des Romans kein bloßes Instrument ist noch sein kann, keine reine Transparenz, die man in aller Eile durchblickt, um zu sehen, was dahinter steckt . . . Ich habe nie zwischen Roman und Poesie eine Grenze ziehen können. Mallarmes - heute schulüblich gewordene - Unterscheidung zwischen ,Sprache im Rohzustand' (langage brat) und wesentlicher Sprache' scheint mir ganz offensichtlich auch auf den Roman anwendbar. Wie die Sprache der Poesie, ist die des Romans eine wesentliche Sprache." 4 0 1 Sarraute wehrte sich jedoch gegen die im Gefolge des Strukturalismus aufgekommene Hypostasierung der Sprache und die damit verbundene Reduzierung der Literatur darauf, „nur Sprache zu sein . . . Nichts existiere außerhalb der Wörter. Nichts gäbe es vor ihnen. Diejenigen, die, wie auch ich selbst, es wagten, schüchtern zu bemerken, daß es im Geist eines jeden von uns Vorstellungen gibt, unmittelbare und globale Wahrnehmungen, Empfindungen . . . , daß also etwas außerhalb der Wörter existiert, wurden hart angefahren." 4 0 2 Gegen diese „Terrorwelle" behauptete Sarraute den zentralen Impuls ihrer Arbeit: die Hinwendung zu den „schweigsamen und dunklen Regionen, in die noch kein Wort eingedrungen ist, auf die die Sprache noch nicht ihre austrocknende und versteinernde Wirkung ausgeübt hat, hin zu dem, was nur erst Beweglichkeit, Virtualität, vage und allgemeine Empfindung ist, hin zu -diesem Unbenannten, das den Wörtern Widerstand leistet und sie dennoch ruft, denn es kann ohne sie nicht existieren . . . Zwischen diesem Unbenannten und der Sprache, die nur ein, äußerst vereinfachtes, System von Konventionen ist, ein grob etablierter Code zum Zwecke der Verständigung, muß eine Fusion •stattfinden, damit sie beide - einer auf den anderen zugleitend, miteinander verschmelzend und sich umarmend in einer stets bedrohten Vereinigung einen Text hervorbringen." 403 Auf Sarrautes Darlegungen reagierte Alain Robbe-Grillet mit einer Art Verhör, dessen Wittern nach Spuren des alten expressiv-darstellenden Irrglaubens die oben genannte Tendenz belegt. Deshalb sei die ganze Passage zitiert: „Alain Robbe-Grillet: . . . Sie haben einerseits gesagt, daß Literatur und Leben zwei grundlegend verschiedene Dinge sind, und andererseits haben Sie in Ihrem Beitrag ständig Wörter gebraucht wie: bestimmte Eindrücke, bestimmte Empfindungen wiedergeben . . . Natbalie Sarraute-. Das überrascht mich, ich habe gesagt . . .

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A. R.-G.: Jedenfalls ähnliche Wörter, die doch in gewisser Weise eine Abbildung (représentation) voraussetzen. N. S.: Was noch nicht im Leben war, weil man es nicht kannte, wird, wenndie Literatur es einmal erfaßt hat, zu einem Bestandteil gewöhnlicher Realität und kann deshalb von anderen nicht einfach übernommen werden. E s gibt immer eine Austrocknung durch die Sprache . . . A. R.-G.: Also nehmen Sie an, daß etwas dem Schreiben vorausliegt . . . N. S.: Für mich gibt es, das sagte ich schon, etwas Vorsprachliches: Empfindung, Wahrnehmung, etwas, das nach der Sprache sucht und das ohne Sprachenicht sein kann, da bin ich einverstanden, aber . . . A. R.-G.: Wenn Sie anfangen zu schreiben, haben Sie dann den Eindruck, daß diese Welt schon vollständig existiert, oder wollen Sie durch Ihre Sprache,, durch Ihr Wort dieser Welt etwas neu hinzubringen? D a s ist eine Frage, diemir wichtig erscheint. N. S.: Ich habe das Wort .Ausdruck' (expression) nicht gebraucht, Gott bewahre! Ich weiß genau, welche Falle Sie mir stellen wollen. Das existiert nicht ohne Sprache, aber die Sprache kann ohne es nicht existieren. Deshalb, wennich einen Text öffne, ist das, worauf ich achte - ohne zu wissen, worum es; dort geht eine bestimmte Atmung, wie das Atmen einer Haut, eine Art unmerklicher Vibration, die von dorther kommt. So etwas gäbe es nicht, dasversichere ich Ihnen, wenn das (Schreiben - B. B.) einzig und allein von denWörtern ausginge. Eines kann ohne das andere nicht sein. A. R.-G.: Interessieren Sie sich hauptsächlich fSr das, was Sie untersuchen,, oder ist dies für Sie ein beliebiges Alibi, um Sprache ausüben zu können? N. S.: E s ist ein Material, das für mich den enormen Wert besitzt, noch nicht umgewandelt, nicht bereits Sprache zu sein . . . { Für mich geht es darum, daß sich etwas in der Dunkelheit bewegt und daff ich es in Sprache existieren lassen möchte, weil ich die Sprache liebe. Wenn ich Maler wäre . . . A. R.-G.: Nein, ich versichere Ihnen, es gibt zwei grundlegend verschiedeneHaltungen des Künstlers zur Welt. Der eine betritt eine Welt, die schon existiert und von der zu sprechen er sich anschickt, und der andere kommt in eineWelt, die noch nicht existiert und die er durch seine eigene Sprache schaffen wird. Für mich ist der Schriftsteller eben jemand, der seine eigene Sprache (parole) gewählt hat als die einzige Wahrheit und der diese Wahrheit zur Welt beitragen will. Ich kann Ihre Bücher sehr wohl unter diesem Gesichtspunkt lesen, aber ich finde, daß Sie sich oft in Ihren Erklärungen auf schwankenden Boden begeben, daß Sie fortwährend zur einen oder zur anderen Seiteneigen, während ich in Ihren Romanen spüre, daß das, was Sie, ebenso wie mich, eigentlich interessiert, die Herstellung einer Welt ist, die noch nicht existiert. N. S.: Das schon, aber woraus wird denn diese Welt geschaffen, doch nicht einzig und allein von der Sprache aus? A. R.-G.: Am Anfang war das Wort, und das Wort war . . .*' 404

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2. Michel Butor war auf dem Kolloquium nicht anwesend. Sein Beitrag mit dem auf Roussel anspielenden Titel Wie sieb einige meiner Bücher geschrieben habend* - wurde verlesen. An das darauf folgende Exposé de« Butor-Spezialisten Georges Raillard (Bezug zur bildenden Kunst und literarischer Diskurs bei Michel ButorA(i6) knüpfte sich eine Diskussion: Dort äußerten Robbe-Grillet, Ricardou und Claude Ollier das Empfinden einer deutlichen Differenz, ja Gegensätzlichkeit zwischen dem Roman Butorscher Prägung und ihrer eigenen, der Konstellation des Nouveau Nouveau Roman zugerechneten literarischen Arbeit. Die von Ricardou mit einiger Vorsicht, von Robbe-Grillet sehr entschieden bekundete Gegensätzlichkeit - „Butors Versuche, beinahe das Negativ der unsrigen"407 - versuchte Ollier zu präzisieren. „Claude Ollier : Ich . . . will erklären, worin wir uns Butor entgegensetzen müssen. Dem, was Ricardou über Butors Haltung zur Kultur und über seine Art, verschiedene Kulturebenen in die Texte zu integrieren, gesagt hat, wären einige Bemerkungen hinzuzufügen. Sie hängen mit dem zusammen, was ich die Einschreibung von Konflikten (inscriptions conflictuelles) genannt habe. 406 Ich habe dabei zwei Arten der Einschreibung unterschieden: die von persönlichen Konflikten und die von Konflikten, mit denen man sich in der Sprache konfrontiert sieht - das sind Konfliktinschriften der überkommenen Gesellschaft, zwingend und unausweichlich für jeden. Es ist klar, daß diese sozialisierten Einschreibungen genau dieselben für Ricardou, für Robbe-Grillet, für Butor oder für mich sind. Es gäbe also eher Unterschiede in der Art der persönlichen Konfliktinschriften, durch die der Zusammenstoß mit den sozialisierten Konfliktinschriften jeweils grundlegend anders verläuft. Bei Butor, scheint mir, fügen sich die persönlichen und die gesellschaftlichen Einschreibungen von Konflikten vollkommen ineinander. Nach meiner Meinung gibt es da kein dramatisches Aufeinandertreffen. Butors Schreibweise scheint im Schoß der verschiedenen kulturellen Einschreibungen zu operieren, ohne diesen Riß, diesen Bruch, der, wenigstens was mich betrifft, das Hauptereignis des Schreibens ist. Vielleicht liegt dort der tiefe Unterschied: eine gewisse, gleichsam natürliche Harmonie beim einen und Zusammenstoß, relativ katastrophale Situation, die zu bewältigen ist, bei anderen, möglicherweise genau bei uns. Daher kommt es vielleicht, daß alle Projekte von Butor mich außerordentlich interessieren (er steckt voller Ideen) und daß ich jedoch bei der Lektüre regelmäßig enttäuscht bin, besonders von der Textur seiner Sätze, in denen mir Kraft und Brutalität, Aggressivität und Erotik fehlen. Alain Robbe-Grillet : Vielleicht hat Raillard das gemeint, als er von Butor sagte, daß er stets eine mögliche Übereinstimmung zwischen dem Ich und der Welt wiederzufinden sucht, während das für uns kaum noch einen Sinn hat. Es freut mich, daß Ollier vom spürbaren, ja sinnlichen Kontakt mit dem Satz gesprochen hat. Das ist etwas, worüber auf diesem Kolloquium überhaupt nicht geredet wurde, weil das noch schwieriger zu analysieren ist als die Erzählstrukturen; aber es stimmt, daß es eine Körperlichkeit, ein Fleisch des Textes gibt, die gleich von den ersten Zeilen an, die man bei einem Schrift-

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steller liest, ein quasi physisches Empfinden hervorrufen . . . Hört man Butors: Sätze, findet man das 'schön', und allein schon dieses Schöne klingt für uns wie eine glückliche Übereinstimmung, eine Kommunion, eine Euphorie . . . In der glänzenden Lektüre, die Raillard von Texten Butors gemacht hat, spürt man ständig den Begriff von einer höheren Wahrheit, die richtet und herrscht. Man bemerkt also, daß ein Wort wie Polysemie zwei völlig verschiedene Bedeutungen hat, je nachdem, ob da eine höhere, also einzige Wahrheit existiert oder nicht. Die Polysemie des Textes ist bei Butor nur das Verstreutsein einer globalen Präsenz, während bei uns diese Polysemie eine Opposition zwischen irreduziblen Bedeutungen errichtet. Jean Alter: Mit anderen Worten, das Wesen dessen, was hinter Butors Texten steht, ist von seiner philosophischen oder vielleicht sogar religiösen Grundlage her anders als bei Ihnen. Und wenn Ollier findet, daß Butors motorischer Impuls zu wenig aggressiv ist, versteht er das als Wirkung einer Übereinstimmung mit der Welt und folglich als Resultat einer wohlgeschlossenen (bien intégrée), sich womöglich auf ein erzeugendes Prinzip des Universums beziehenden Weltanschauung. Die Unterschiedlichkeit der Auffassungen vom Schreiben ist im Grunde ein weltanschaulicher Unterschied." 409

Damit ein gemeinschaftlicher Gebrauch von Denkmustern und Leitbegriffen stattfinden kann, muß es Entsprechung zwischen ihnen und dem (Selbst-) Verständnis geben, das sich durch sie artikuliert und in ihnen wiedererkennt. Damit die Übereinstimmung von Ansichten, Intentionen und Praktiken wechselseitig bestätigt oder aber, in bestimmten Fällen, angezweifelt werden kann, muß es eine „zumindest im wesentlichen gemeinsame ideologische Einstellung" (van Rossum-Guyon) geben. So gesehen ist die in Cérisy dominierende neue Auffassung von Literatur als Produktion Widerspiegelung eines realen Prozesses, genauer: Sie ist die Form, in der zu einem bestimmten Zeitpunkt bestimmte „Praktiker" und „Theoretiker" des Nouveau Roman die Spezifik seiner Neuerungen denken und verteidigen. Nun ist jedoch die Form dieses Denkens nicht bloßer Ausdruck einer konkreten Schreib- und Lesepraxis, sondern ein ideologisches Raster. Die ausformulierten Bestimmungen benennen nicht nur, sie verschweigen auch. Ihr Nicht-Gedachtes wird beredt und kehrt sich gegen sie, sobald sich das Denkmuster über Probleme legt, die es sich nur um den Preis der Verdrehung (des Mißverständnisses, der Unterstellung) angleichen kann - siehe die Zwiesprache Robbe-Grillets mit Nathalie Sarraute - oder aber die ihm entgleiten und die es damit als zu „eng" erweisen - siehe den Ausschnitt aus der Butor-Diskussion. In solchen Vorgängen kommt die Inkongruenz zwischen verhandeltem Sachverhalt und den Formeln zum Vorschein, die als Ausdruck 158

seiner „Quintessenz" Geltung erlangt haben. Das konsolidierte Begriffsystem wird hierdurch, im Prinzip, dem Druck ausgesetzt, sich zu verändern. Auf dem Kolloquium 1971 gab es keine wirkliche Kritik von „außen", wohl aber die Feststellung, daß die Bearbeitung einer Reihe von Widersprüchen, Problemen und Fragen aussteht und dringlich geworden ist. Damit öffnete sich die Perspektive einer „inneren Kritik", eines erneuten Überganges der Ideologie von Konsolidierung in Bewegung. Die Bilanz machte dies an mehreren Stellen deutlich. Sie verwies z. B. auf das offene Problem, den Nouveau Roman innerhalb der Romangattung zu „situieren", d. h. die Art u n d die geschichtliche Bedeutung seiner Kritik an vorangegangenen und weiterhin praktizierten - Erzählweisen zu bestimmen, womit das vorläufige Unterscheidungsschema zwischen alten und neuen Romanen durch genauere Untersuchungen von Form- und Funktionsveränderungen der (französischen) Romanliteratur überprüft und korrigiert werden kann. Der diesbezügliche Vorschlag von Françoise van Rossum-Guyon (in ihrem Beitrag: Der Nouveau Roman als Kritik des Romans410) beschränkte sich allerdings auf die Ebene der „narrativen Codes". Sie wurden definiert als Regeln der Gattung, deren Existenz sich im Moment der Abweichung, des Regelverstoßes offenbart. Die Romanentwicklung erschien aus dieser, auf den russischen Formalismus zurückgehenden Perspektive als Abfolge von Verletzungen der jeweils geltenden Codes. „Es ist wohlbekannt, daß jeder neue Roman sich als Anti-Roman, d. h. als Zurückweisung des Romanesken, das ihm vorangeht, konstituiert hat. Die Verletzungen des Codes in den zeitgenössischen Werken sind dadurch besonders interessant, daß es sie bisher noch nicht gab und daß sie folglich neue Modalitäten aufzeigen. Was . . . in dieser Hinsicht als ein radikal neues Phänomen erscheint, ist die in den jüngeren Produktionen immer deutlicher hervortretende Tendenz, aus den Codeverletzungen selbst das Prinzip der Textproduktion zu machen." 411 Gegen das Vorgehen, Veränderungen des Bedeutungsaufbaus (der Codierungen) im Roman durch die Inventarisierung neuer Verfahren vor dem Hintergrund bestimmter Regeln - die sie „verletzen" bzw. „kritisieren" erfassen zu wollen, wurden in der Diskussion Einwände erhoben. Einige richteten sich gegen das Prinzip reihenimmanenter Betrachtung selbst und verwiesen auf die Komplexität des Situierungsproblems neuer Schreibweisen, auf die Notwendigkeit, über partielle Formund Verfahrensvergleiche hinauszugehen. 412 * Solche Einwäride zeigten auch auf die Grenzen einer „textuellen" 159

Leseweise, wie sie von Ricardou und anderen praktiziert und von Françoise van Rossum-Gayon als adäquate Antwort der Literaturkritik auf die Akzentverlagerung in der modernen Romanproduktion herausgestellt wurde. 413 Die Leistung dieser Leseweise - darin war man sich relativ einig - bestand in ihrer Abkehr von einem Umgang mit Texten, der Neues, Unbekanntes, auch Unverständliches durch Angleichung an schon Bekanntes zu verstehen sucht und damit, wie Nathalie Sarraute sagte, den Text gerade zu dem hinzieht, wovon er sich unter großer Anstrengung entfernen will. 414 „Das ist der Fall bei Kritikern, die verzweifelt bemüht sind, in einem Roman ohne Helden und ohne Handlung erstere zu identifizieren und letztere zu rekonstruieren. Oder bei Kritikern, die die völlig neuen (inédits) Beziehungen zwischen Mensch und Welt, die ein Roman vorschlägt (Beziehungen, die in den neuen Romanen ebenso die Erotik wie Politik, Kultur, Geschichte, Gesellschaft, Zeit und Raum betreffen), auf jene reduziert, die zu erkennen und als die einzig möglichen zu akzeptieren die traditionelle Literatur und die Alltagserfahrung (expérience commune) sie gelehrt haben." 415 Die „völlige Neuheit" solcher Beziehungen einmal dahingestellt: Spürbar und verständlich waren die Sympathie, der stellenweise geradezu glücklich anmutende Kontakt der Romanautoren mit Literaturkritikern, die Lesen auf den Grundsatz verpflichteten: „Dem Text treu sein" und „ihn befreien". 416 Zunächst und vor allem sollte die Lektüre mit Aufmerksamkeit dem folgen, was geschrieben steht, den Text wörtlich nehmen, seine spezifische Organisation als den Träger von Bedeutungen erfassen, um dann aus den Beziehungen seiner Elemente untereinander - und aus der Differenz dieser Elemente und Beziehungen zur „erwarteten" Gestalt (dem „Code") - die Bedeutungen zu entziffern, die er anbietet, und somit seine Neuheit freizusetzen. („So trägt die Kritik nicht nur zur Wirksamkeit des Werkes bei, indem sie dem Publikum hilft, besser zu lesen, sondern sie kann sogar dem Schriftsteller helfen, der ja selbst nicht immer genau weiß, worin die Neuheit und die Reichtümer seines eigenen Textes bestehen. Bestimmte Lesearten, das hat Robbe-Grillet anerkannt, ermöglichen es den Romanautoren, ihre Arbeitsweise zu verändern [déplacer le lieu de leur travail] . 417 ") Als Achillesferse der „textuellen" Leseweise erwies sich der Übergang vom „Wörtlichnehmen" zum „Entziffern". Das Ungenügen „rein technischer Analysen einzelner Werke" zeigte sich am „kapitalen und nicht gelösten Problem der Sinnhaftigkeit (l'investissement du sens) der Texte und ihrer möglichen Entschlüsselung . . . Wenn es eine 160

Neuheit des Nouveau Roman gibt, dann ist sie nicht nur formaler, ja nicht einmal nur literarischer Art. D i e s e N e u h e i t s c h r e i b t s i c h e i n in e i n e V e r ä n d e r u n g d e r Problematik u n s e r e r Z e i t . . . Für die nouveaux romanciers geht es nicht allein darum, von der herrschenden Ideologie nicht .vereinnahmt' zu werden, sondern gut und gerne darum, sie umzuwälzen. Wie? Diese Frage bleibt bestehen, und niemand scheint bisher in der Lage, die Wirksamkeit der eingesetzten Verfahren abschätzen zu können. Aber . . . es ist klar, daß man die auf den ersten Blick rein formalen, auf der Ebene der Texte stattfindenden ,winzigen Revolutionen' 418 * in diese weiterreichende revolutionäre Perspektive stellen muß. Es handelt sich nicht einzig darum, vorgegebene Bedeutungen (des sens préalables) zurückzuweisen, sondern neue zu produzieren. D a , wie Robbe-Grillet gesagt hat, die Revolution, die der Nouveau Roman bewirken kann, die des Sinns ist, geht es für die Schriftsteller also darum, e i n e V e r ä n d e r u n g i n d e r u n d d u r c h die S c h r e i b w e i s e vorzunehmen."419 Für diesen Befund gilt, was am Schluß des Kolloquiums vom Nouveau Roman festgestellt wurde: Er „gibt mehr Fragen auf als er Antworten bringt". 420 Vor allem macht er sichtbar, daß mit der Destruktion eines mimetischen Verhältnisses zwischen Romanfiktion und vorgegebener Wirklichkeit die Aufgabe entstand, nunmehr die andersgearteten Beziehungen zu erkennen, die die neuen Schreibweisen an die Problematik ihrer Zeit binden. Daß die auf Mechanismen der Texterzeugung fixierte Literaturkonzeption (Ricardouscher Prägung) hierauf keine befriedigende Antwort zu geben vermochte, hat das vorangegangene Kapitel zu zeigen versucht. Die offenen Fragen der Cérisy-Bilanz, bestätigen dies indirekt. Sie verweisen ferner auf die außerliterarische Dimension der Wirksamkeit literarischer Verfahren, also gerade auf den von der „textuellen" Leseweise ausgeklammerten oder auf Kritik am Abbild-Dogma reduzierten Funktionsaspekt. Auch damit ist die Leistungsgrenze einer Theorie und Analysetechnik markiert, die neben „Darstellung/Ausdruck" auch „Kommunikation" zu den Leitbegriffen bürgerlicher Literaturideologie rechnet, die durch die neue Auffassung von Literatur als Produktion überwunden werden soll. Vom Bewußtsein der mit solcher Überwindung zurückgelassenen, nicht aber erledigten Probleme zeugt das Fazit des Kolloquiums, wenn es feststellt, daß die bisherige Arbeit „keinen Endpunkt, sondern einen Ausgangspunkt" bildet. 421 Während sich, grob gesagt, die Kluft zwischen Produktion und Rezeption 11

Burmeister, Nouveau Roman

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in der ersten Phase des Nouveau Roman vor allem in Widersprüchen zwischen Intentionen der Autoren, Erzählstrategien der Werke und Erwartungen der Leser-Kritiker, zwischen neuen Werkstrukturen und einer sie gleichsam überspringenden Sinndeutung manifestierte, scheint nunmehr eine andere Art der Asymmetrie zwischen Rezeptionsvorgaben und Leseweisen vorherrschend. Die Treue gegenüber den Texten bewährt sich in der Aufdeckung ihrer (semiotisch gesehen) syntaktischen Relationen; sie ist jedoch noch kaum erprobt im Versuch, ihren „Sinn freizusetzen" 422 und damit die ihnen zugetraute bzw. beim Lesen gespürte transformatorische Kraft, über die rein „textuelle" Ebene hinaus, diskursiv anzueignen. So bleiben die Kritik an bestehenden und die Vorschläge ganz neuer Beziehungen zwischen Mensch und Welt, wie sie die nouveaux nouveaux romans nach Absicht ihrer Autoren und Ansicht (einiger) ihrer Leser/Theoretiker anbieten, im Stadium der Virtualität - einerseits soweit fühlbar oder ahnbar, daß sie immerhin postuliert werden können, andererseits so chiffriert, offen, vieldeutig (man könnte auch sagen: undeutlich), daß sie, den Autoren selber unbekannt, 423 auf die „Entzifferung", d. h. die Konkretisierung und Realisierung durch neue Leser angewiesen sind. Ricardous Texttheorie, die dahin strebt, den Leser in einen Textproduzenten zu verwandeln, würde zwar - ließe sich ihr Ziel erreichen - die genannte Kluft oder Asymmetrie aufheben, jedoch um den Preis der Reduktion der Lektüre auf Entdeckung des spezifischen Funktionierens eines Textes. Dies wäre eine Lösung der Kommunikationsschwierigkeiten moderner Texte, mit der die Aufhebung des gegenwärtigen Charakters literarischer Kommunikation intendiert ist, da Lesen und Schreiben als die beiden komplementären Seiten oder Tätigkeitsformen einer massenhaften literarischen Textproduktion zusammenrücken sollen. Gegenüber der herrschenden Praxis besitzt solch ein Modell nicht nur einen produktiv-kritischen Wert, sondern auch eine deutliche Begrenztheit. Liegt es doch gewissermaßen „neben" und nicht „auf" der besonderen Problematik einer Literatur, die nicht kommunikativ, im Sinne von mitteilsam und verständlich, ist noch sein will, die wohl aber nach wie vor g e l e s e n werden möchte. Die von den nouveaux romanciers in Cerisy erneut bekräftigte Ablehnung eines „l'art pour l'art" impliziert ja eine Wirkungsabsicht, somit ein Angewiesensein auf Leser, die in der Lage sind, die chiffrierten „Konfliktinschriften" der Romane aufzunehmen - nicht, um sie in einen neuen literarischen Text zu verwandeln, sondern um ihr mögliches kulturkritisches Potential aus 162

seiner spezifischen literarischen Existenzform in die ideologischen und praktischen Kämpfe um eine andere Kultur einzubringen. Auf Grund der Schwierigkeiten, die der Nouveau Roman solcher Umsetzung bereitet, muß er sich weiterhin die Frage gefallen lassen: „Wem und wozu dient der Nouveau Roman?"424 und ist er angewiesen auf die Vermittlung durch Lesearten, die dazu beitragen, die „Bindungen eines polymorphen ästhetischen Collagesystems an seine geschichtliche Außenwelt"425 sichtbar zu machen.

Anregung einer neuen Rezeption Ein unter dem zuletzt genannten Aspekt wichtiger Versuch ist Jacques Leenhardts Politische Mythen im Roman. Am Beispiel von Alain Robbe-Grillets „Die Jalousie oder die Eifersucht". An einem einzelnen - und aus der frühen Phase des Nouveau Roman stammenden Romantext durchgeführt, besitzt und beansprucht Leenhardts Analyse nicht den Rang einer Theorie des Nouveau Roman. Sie folgt jedoch theoretischen Prämissen und methodischen Prinzipien, deren Anwendbarkeit sich nicht auf das untersuchte Werk beschränkt und die meines Erachtens geeignet sind, eine neue Rezeption anzuregen. Gegenüber einer Leseweise, die Texte als Produkte einer „skripturalen Logik" und die Lektüre als Aufdeckung der Gesetze dieser Produktionslogik auffaßt, verficht Leenhardt den Grundsatz: das Wesen der a posteriori entdeckten Logik des Textes kann selber nicht im eigentlichen Sinne logischer Natur sein. Im Gegenteil, sie (diese Logik - B. B.) führt uns dazu, ihren Sinn in dem zu suchen, was ich die Logik einer Situation des Schreibens genannt habe, d. h. in den Beziehungen zwischen Texten und in deren Bindung an den historischen und ideologischen Prozeß. Die Logik des Textes ist durch und durch eine Sozio-Logik . . ." 426 Leenhardt knüpft an die Arbeiten seines 1970 gestorbenen Lehrers Lucien Goldmann (dem das Buch gewidmet ist) an und modifiziert zugleich dessen Soziologie des Romans an einem entscheidenden Punkt. Während Goldmann eine direkte „Homologie" zwischen der Struktur der Romangattung und der sozialökonomischen Struktur der kapitalistischen Tauschgesellschaft postulierte, unter Wegfall der Vermittlung durch das zum passiven Reflex der ökonomischen Beziehungen verkümmerte („verdinglichte") „Kollektivbewußtsein" (vgl. S. 89 f.), thematisiert Leenhardt gerade die Vermittlung „zwischen sozialer und literari11*

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scher Ordnung" durch die von der herrschenden Klasse als der „organisierenden Kraft der Kultursphäre" installierte „ideologische Ordnung des Diskurses". 427 Den Überlegungen von Roland Barthes (in: Am Nullpunkt der Literatur) folgend, betrachtet Leenhardt die Schreibweise als die Ebene, auf der ein Schriftsteller und sein Werk ihren Bezug zur Institution der Literatur bekunden. Anstatt aber die Botschaft, die eine bestimmte Schreibweise - so gesehen - ausdrückt, nur auf der Ebene der literarischen Codes und der Codeverletzungen zu entziffern, und folglich Literatur durch Literatur zu erklären, versteht Leenhardt den ausgestellten Literaturbezug moderner Schreibweisen als eine besondere, geschichtlich bedingte Form der Mitteilung, die den Charakter literarischer Kommunikation verändert und der die Werkanalyse Rechnung tragen muß. Indem Leenhardt für seine Untersuchung des Bedeutungsaufbaus in La Jalousie das Goldmannsche Instrumentarium durch semiologische Analysepraktiken erweitert, reagiert er auf den öfters und zu Recht erhobenen -Vorwurf, Goldmanns Romansoziologie habe die narrativen Formen zugunsten von Themen und Inhalten vernachlässigt. Dabei bleibt Leenhardts Textanalyse jenem (Goldmannschen) Postulat verpflichtet, das ihre Distanz und, wie ich meine, ihre Überlegenheit gegenüber der im vorangehenden Abschnitt beschriebenen neuen Auffassung von Literatur als Produktion begründet: „Der Schreibakt produziert Bedeutungen, er ist deren Ausgangspunkt, . . . aber die notwendigen Bedingungen dieser Produktion gehen ihm voraus. Um literarische Werke als Produktionen zu begreifen, ist es deshalb erforderlich . . . , sie in den Rahmen jener notwendigen Bedingungen der Gedankenordnung einzufügen, die wir W e l t a n s c h a u u n g (vision du monde) nennen. Jede Weltanschauung hat ihrerseits eine Existenz im eigentlichen Sinne nur als integraler Bestandteil gesellschaftlicher Funktionen. Ein Werk verstehen heißt somit, seinen Bezug zu einer Weltanschauung zu erhellen, und es erklären heißt, die Funktion dieser Weltanschauung in der gesellschaftlichen Gesamtstruktur aufzuzeigen." 428 Leenhardt knüpft seine Untersuchung von La Jalousie an die in der Sekundärliteratur nur wenig genutzte Beobachtung, daß der Roman in einem Kolonialmilieu spielt. Ein französischer Plantagenbesitzer in einem afrikanischen Land verfolgt aus dem Inneren seines Hauses, durch die Zwischenräume einer Jalousie, die Bewegungen seiner Frau, A. genannt, und ihre Gespräche mit einem öfter zu Besuch kommenden jüngeren Nachbarn. Die zwanghafte Intensität, mit 164

der der Erzähler (der „Ehemann"429*) die Beziehung zwischen A. und Franck belauert, hat die Interpretation des Romans als Geschichte einer Eifersucht (jalousie) motiviert. Leenhardt liest La Jalousie als einen Kolonialroman, genauer: als einen Roman, der sich kritisch auf die französische Kolonialideologie und speziell auf deren „besonders aufschlußreichen Partialbereich des Afrika-Romans"430 bezieht. In einem „mythologischen Hors-d'oeuvre" stellt Leenhardt ein Textbeispiel für die Grundform des kolonialen SchwarzafrikaMythos vor, entsprechend seiner These, daß der Kolonialmythos die Möglichkeitsbedingungen der literarischen Übertretungen oder Transformationen in La Jalousie synthetisiert. Daß die Kenntnis dieses oder eines vergleichbaren Textes, den auf den ersten Blick nichts mit Robbe-Grillets Roman verbindet, dennoch für die Ermittlung seiner Bedeutungen wichtig ist, belegt dann Leenhardts Untersuchung, die im einzelnen nachweisen kann, daß La Jalousie mit den als Beispiel zitierten Elementen der Kolonialideologie arbeitet. Leenhardt untersucht zunächst die Erzählperspektive, ausgehend von der Funktion des Blickes, mit dem der Erzähler auf so auffällige und befremdliche Weise die Realität zu registrieren und zu ordnen sucht. Er zeigt, d^ß dieser Blick nicht, wie z. B. Goldmann annahm, ein autonomes Universum von Objekten konstituiert, sondern daß die Sehweise selbst ideologisch ist, daß sie eine spezifische, durch die Ideologie diktierte Einteilung und Verzerrung der Realität vornimmt. Den auf Übersicht, Unterscheidung, Distanz und Herrschaft bedachten Blick des Erzählers deutet Leenhardt als Perspektive eines regressiven Kolonialismus, als „morbiden Geometrismus" und „Zeichen der Verwirrung der cartesianischen Macht angesichts einer rebellierenden Realität, die sich der Erfassung entzieht"431. Von Thema zu Thema kehrt die gleiche Problematik wieder: Bei den Repräsentanten der Kolonialordnung degeneriert der Blick, der ihnen „noch eine Art der Weltbeherrschung ermöglicht", zum Wunsch, „die in Bewegung befindliche Umgebung in feste Raster zu zwingen, sie einzukreisen, um sie am Entgleiten zu hindern". Dem Blick des Kolonialisten, dem die Themen des Lichtes, der weißen Farbe, der Ordnung und Vernunft zugeordnet sind, steht das gegenüber, was seine „verzweifelte Anstrengung rechtfertigt, was sie aber gleichzeitig auch als rückständige und verwerfliche Ideologie erscheinen läßt: die Dichtung, die lebendige Natur und die warme, unförmige Nacht", die dem Universum der Schwarzen assoziiert sind.432 An der Art, wie diese Themen aus der Perspektive des Erzählers zur Sprache 165

kommen, spürt Leenhardt bis ins Detail „die grundlegende Option" des Textes auf: Die Sicht des Erzählers liefert „keine wirklichkeitsgetreue Beschreibung der Welt", sondern konstruiert „von ihr ein Bild . . . , das die aus der Situation des Erzählenden erwachsende Angst erstickt" 433 Die Erklärung für diesen „pathologischen Diskurs" sucht Leenhardt nicht in der Psyche des „Ehemanns". E r wendet sich gegen psychologische Interpretationen (von Didier Anzieu und Bruce Morrissette), die die Organisation der Erzählung als Ausdruck der Seelenregungen (der Besesssenheit, der krankhaften Eifersucht) des Erzählers auffaßten. „Diese Argumentationen verfehlen ein Werk, dessen Gehalt nicht auf die Psychologie eines Erzählers reduziert werden kann. In La Jalousie ist nämlich die Sprache (langage) im Ganzen krank oder eifersüchtig; und die mit Krankheit und Eifersucht beladenen Personen sind nur bleiche Komparsen, die auf ihren schwachen Schultern die erdrückende Last eines alles einbeziehenden Prozesses nicht länger zu tragen vermögen." 434 Rückt solchermaßen die prägende Kraft der Struktur aufs Individuum die Subjekte aus dem Zentrum des Geschehens, muß die psychologische Interpretation ihrerseits „dezentriert" werden, kann sie keine allumfassende, sondern nur eine abgeleitete Stellung als Erklärungsmoment beanspruchen. Sie muß „in einen umfassenderen Rahmen der Untersuchung von Bewußtseinsbedingungen integriert werden. Diese Bedingungselemente des Bewußtseins sind . . . primär ideologische und soziologische."435 In einer Aufarbeitung der französischen Kolonialgeschichte und -ideologie - als der Struktur, „in deren Rahmen La Jalousie situiert werden muß, wenn sie fruchtbar analysiert werden soll" 436 - bestimmt Leenhardt die Entwicklungsphase (die Periode der Entkolonialisierung 1945-1960) und den Typ der Kolonialideologie, auf die sich der Roman bezieht. Aus der Beobachtung, daß „die Schilderung der Kolonialisten in La Jalousie in jeder Hinsicht eine getreue Kopie des traditionellen Stereotyps vom Neger" darstellt, schließt Leenhardt auf eine perspektivische Umkehr, die durch die geschichtliche Entwicklung selbst bedingt sei: Die Kolonialisten sind „im Schlepptau einer Welt gefangen, die ihre ehemaligen Ketten gesprengt hat" 437 . Auf allen Ebenen des Romans, bis hin zur Lexik, zur metonymischen Ausrichtung des Diskurses und zu den Wortspielen, finde ein „Kampf gegen den institutionalisierten Sinn" 438 , d. h. eine „Perversion" des Kolonialmythos statt. Diese charakterisiert Leenhardt als Ersetzung „des mythologischen Begriffs herrschender Kolonialität" (auf der Ebene des „sekundären semiologischen Systems", hier: der „Grund166

form" des kolonialen Schwarzafrika-Mythos) durch eine „verängstigte Kolonialität" 4 3 9 (auf der E b e n e des Romans als „tertiärem semiologischem System"). In der v o m Text ständig produzierten Enttäuschung der Sinnerwartungen des Lesers erblickt Leenhardt die kritische Funktion jenes „Abenteuers der Sprache", das im Werk Robbe-Grillets „niemals seinen Grund in sich selbst hat; es verweist auf die Realität einer außersprachlichen Umwälzung" 4 4 0 . D a ß der Roman auf eine bestimmte geschichtliche Realität verweist, sie nicht aber benennt oder zum Gegenstand der Gestaltung macht, erzeugt eben das Problem, dem Leenhardts Analyse Rechnung zu tragen sucht: Erst die Einfügung von La Jalousie in den Kontext der französischen Kolonialideologie und ihrer literarischen Zeugnisse ermöglicht, die Beziehungen zwischen Text und Geschichte aufzudecken. Erst dadurch, d a ß dem Roman etwas hinzugefügt wird - hier: die Aufarbeitung von Kolonialgeschichte und -literatur - , kann an ihm eine Bedeutungsdimension erschlossen werden, die er besitzt, ohne sie auszusprechen. Dies soll an einem einzelnen Beispiel verdeutlicht werden, obwohl natürlich dee Witz der Leenhardtschen Untersuchung im Aufweis einer kohärenten Bedeutungssttuktur des Gesamttextes besteht. In La Jalousie taucht immer wieder ein in Afrika spielender Roman auf, den die Personen lesen und kommentieren. Seine Handlung wird einmal folgendermaßen resümiert: „Die Hauptperson des Buches ist ein Zollbeamter. Die Person ist kein Beamter, sondern ein höherer Angestellter einer alten Handelsgesellschaft. Die Geschäfte dieser Gesellschaft gehen schlecht, sie arten bald in Betrügereien aus. Die Geschäfte der Gesellschaft gehen sehr gut. Bei der Hauptperson - so erfährt man - handelt es sich um einen unehrlichen Menschen. Er ist ehrlich und versucht, eine durch seinen Vorgänger gefährdete Lage zu retten, der bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Er hat keinen Vorgänger gehabt, da die Gesellschaft gerade erst gegründet wurde; es war auch kein Unfall. Es ist übrigens die Rede von einem Schiff (einem großen, weißen Schiff) und nicht von einem Auto." 441 Diese Passage, die „den Interpreten ihrer systematischen Brüche und Widersprüchlichkeiten wegen keine Ruhe gelassen"442 hat, ließe sich im Sinne Ricardous als planvolle Zerstörung einer illusion réaliste deuten, als Subversion, die eine traditionelle Handlungslogik erfahre, wenn sie in die Transformationsmaschine eines modernen Textes gerät. Die Aufmerksamkeit gälte dann der „skripturalen Logik" (so der Rolle des „afrikanischen Romans" als fiktionsimmanenter Spiegelung des Romanberichts) und den „formalen Direktiven", nach denen die Anordnung der Elemente zu einem widersprüchlichen, keinem einheitlichen Sinn subsumierbaren Ensemble erfolgt. - Im Rahmen einer psychologischen Erklärung wurde die zitierte Passage als Ausdruck der Verunsicherung und Verwirrung 167

der Person des Erzählers interpretiert, „die nicht mehr weiß, woran sie ist, und die in jedem Sachverhalt die Möglichkeit von zumindest zwei Wahrheiten sehen zu müssen meint. Ebenso gut aber könnte diese Inkohärenz auch einfach die Erregung eines Mannes ausdrücken, der mit seinen Nerven am Ende ist und in Gedanken ein verhaßtes Buch zerreißt." 443 * Dieser Auslegung hält Leenhardt entgegen, daß sie, auf das Thema der Eifersucht fixiert, „die Besonderheit der Tatsache" unterschlägt, daß es sich nicht um irgendein „verhaßtes Buch", sondern „um den von den Personen gelesenen a f r i k a n i s c h e n R o m a n handelt". 444 Ihn bestimmt Leenhardt als „eine Art Synthese aller während der beiden ersten Perioden des Kolonialismus" („Koloniale Eroberungen": 1860-1920; „Wertabschöpfung": 1920-1945) 445 entstandenen Afrikaromane, genauer: als den „Roman der Zwischenkriegszeit" (zwischen den beiden Weltkriegen), „des Übergangs von der goldenen Zeit der Pioniere zu einer Epoche, die ihren ursprünglichen Missionseifer verloren hat". 446 An den einzelnen Themen (Zollbeamter - alte Handelsgesellschaft; Betrügereien gut gehende Geschäfte; Vorgänger - kein Vorgänger; Auto - Schiff) führt Leenhardt seine Zuordnung durch und kommt zu dem Schluß, daß die zitierte Sequenz die „Geschichte der Kolonie bis zum aktuellen Zeitpunkt" darbietet, an dem „sie in die der Jalousie eigenen Dialektik einmündet. Es ist nicht zu übersehen, daß die letzte der in diesem Resümee beschriebenen Perioden des Kolonialismus die der erzählten Zeit in La Jalousie ist. In der Tat sind die Analogien . . . frappant: der Autounfall, die unlängst gegründete Handelsgesellschaft (Franck ist erst seit drei Jahren in der Kolonie) und das große weiße Schiff. So ist La Jalousie als Kolonialroman mit zwei Perioden befaßt, zu denen sich die beiden dargestellten Kolonialisten - der ,Ehemann' und Franck - wie emblematische Figuren verhalten. Der eine, der ,Ehemann', gehört gleichsam schon der Vergangenheit an; er ist gewissermaßen schon gestorben, defunktionalisiert . . . Dies wird daran deutlich, daß er nie in Ausübung seiner Tätigkeit und seiner Funktion als Direktor einer Plantage dargestellt wird, obwohl er doch in seiner Position als Siedler in ständigem Kontakt mit den Eingeborenen stehen sollte. Der andere, Franck, wird als dynamischer Mensch vorgestellt, der . . . in konkretem Kontakt mit den schwarzen Arbeitern steht." 447 Die fiktionsimmanente Spiegelfunktion des „afrikanischen Romans", von dessen erster Erwähnung an „der Leser . . . dazu verhalten" wird, „in ihm ein Äquivalent" der Romanwelt von La Jalousie zu sehen, 448 versteht Leenhardt als ein Verfahren, das Romangeschehen mit der Kolonialgeschichte zu verweben und diese auf subtile Art im Roman präsent zu machen. „Wir haben feststellen müssen, daß die Rekonstruktion einer linearen Chronologie in La Jalousie sich als unmöglich erweist. Sobald man dessen innewird, daß im Roman zwei Welten u n d zwei Zeiten gleichzeitig dargestellt werden, ist der Grund dafür einsichtig. Tatsächlich gehören Franck und der .Ehemann' verschiedenen Epochen des Mythos an. Es gibt also keine wirkliche Chronologie, die auf der Ebene individueller Lebenszeit verrinnt, sondern eine Metachronologie, die dem Text eine tiefgreifende Ungleichzeitigkeit einschreibt.

168

D i e Zeit mit ihren Brüchen erscheint in La Jalousie

als apriorische Bedingung

der Erzählung, obwohl sie nie eigens thematisiert wird. So gäbe es z. B . keine Möglichkeit, die unterschiedlichen

Meinungen Francks

und des

.Ehemanns'

im Hinblick auf die Fähigkeit der Schwarzen, neue Maschinen zu bedienen, zu erklären, d. h. in ein übergeordnetes System zu integrieren, wenn wir nicht wüßten, daß ihre Differenz keine bloße Meinungsverschiedenheit,

sondern

eine Differenz der Bezugssysteme ist, die in deren geschichtlichem Abstand begründet liegt. D e r .Ehemann' .denkt' in den Kategorien von 1920, während Franck in denen von 1950 .denkt'. B e i d e aber äußern sich innerhalb des K o n tinuums einer Erzählung im Präsens. D i e Brüche auf jeglicher E b e n e -

im

Wertsystem, im Text, in der Chronologie - verweisen auf die genannte geschichtliche Ungleichzeitigkeit. N u r eine Metachronologie erlaubt,

das

Aus-

einandergebrochene zusammenzusehen. D i e Geschichte . . . schreibt sich dem Roman als jener Erklärungsgrund und Bezugspunkt ein, der erst ein Sinnverständnis ermöglicht." 4 4 9

Erst durch einen Arbeitsaufwand wie den, der in Leenhardts Untersuchung steckt, kann mit einiger Beweiskraft gezeigt werden, daß das „Abenteuer des Erzählens" in La Jalousie mit der „Realität einer außersprachlichen Umwälzung" verbunden ist und daß ideologische und literarische Muster bearbeitet („pervertiert") werden, die durch die Geschichte selbst „pervertiert" worden sind. In der destruktiven Verarbeitung des Kolonialmythos sieht Leenhardt die ideologiekritische Leistung von La Jalousie. E r geht über diesen Befund nicht hinaus, d. h. er unterzieht die Art der Mythenzerstörung in RobbeGrillets Roman nicht ihrerseits der Kritik. D a die Romanerzählung im Inneren des Mythos arbeitet, produziert sie selber keinen Blick, der ihn von außen erfaßt, keine Perspektive, die ihn überschreitet, die als Erkenntnis und Kritik seiner realgeschichtlichen Bedingungen im Roman gegenwärtig ist. Diesen Sachverhalt zum Gegenstand einer „soziologischen Bedeutungskritik" zu machen, ist eine Aufgabe, die sich Leenhardts „politische Lektüre" nicht gestellt hat. 4 5 0 * Auf dem Nouveau-Roman-Kolloquium 1971 bezeichnete Leenhardt jedoch selbst den Punkt, an dem weitere Untersuchungen anzusetzen hätten - Untersuchungen, denen es gelänge, das vorn genannte Prinzip des Erklärens auf die im destruktiven Gestus der nouveaux romans implizierte Weltanschauung anzuwenden, nämlich deren „Funktion . . . in der gesellschaftlichen Gesamtstruktur" aufzuzeigen. „ D i e Funktion des Erzählens (narration) hat sich radikal gewandelt . . . D i e Bedeutung dieses Umbruchs bleibt jedoch noch unklar, in dem Maße wie man nicht recht weiß, wohin sich unsere Gesellschaft orientiert und folglich auf welche Formen ideologischer Kristallisation sie sich

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hinbewegt. Man sieht heute sehr genau, was nicht mehr ist; man sieht -weniger genau, was im Begriff ist, sich herauszubilden." 451 Die Unsicherheit, die sich hier verrät, läßt sich nicht durch beherzte Einordnungen der neuen Schreibweisen aus der Welt schaffen. Sie wäre besser in dem produktiv zu machen, was sie anbietet: ein Problembewußtsein - „Wissen von einem Nicht-Wissen" - , somit auch einen Antrieb, über bisherige Antworten (Lektürepraktiken, Wertungen und Theorien) hinauszugehen, mit denen Leser auf den Vorgang •eines literarischen Struktur- und Funktionswandels reagiert haben. Hierzu leistet Leenhardts Arbeit einen bestimmten, vor allem methodisch wichtigen Beitrag. Zeigt sie doch an Robbe-Grillets Roman, d a ß dieser weder eine „auto-représentation" (im Sinne Ricardous) ist, noch daß die Demontage realistischer Darstellungsweisen gleichbedeutend mit einer Lösung von allen Realitätsbezügen wäre (wie verschiedentliche Aussprüche Robbe-Grillets es suggerieren). D a ß der Nachweis solcher Beziehungen „nur um den Preis von . . . immer komplexer werdenden Interpretationsmodellen noch möglich ist", wurde als Indiz für den vergeblichen Versuch gewertet, die Wandlung des „fiktionalen Schreibens" im Nouveau Roman unter die immer gleiche Idee vom Roman „als mehr oder minder komplexe Umsetzung individueller Wirklichkeitserfahrung in das Medium der Literatur" unterzuordnen. 452 Vielleicht ist aus meiner Referierung und ganz sicher ist aus Leenhardts Buch - zu entnehmen, daß es dort nicht um „die immer gleiche Idee" der „Umsetzung" geht, wohl aber um den Versuch, die „Eirftchreibung" von Geschichte in einen Text, der sie scheinbar evakuiert, aufzuspüren und damit gerade die Veränderung der Beziehungen zwischen „Literatur" und „Wirklichkeit" im Nouveau Roman zu begreifen. Ein anderer kritischer Einwand bezieht sich darauf, daß Leenhardt „die produktive Fragestellung . . . nach der Beziehung zwischen Autor und Erzähler, zwischen Autor und Kunstwerk" zurückweist und sie „durch die Bezugsetzung der 'structure narrative' zu einer 'situation historico-sociologique' . . . und ihren ideologischen Ausdrucksformen" ersetzt hat. „So nach einer schematischen 'homologie rigoureuse' auf ideologischer Ebene .suchend, muß Leenhardts Interpretation am eigentlichen Kunstwerk vorbeigehen. Dabei ist es kennzeichnend, daß er Einzelphänomene aus dem Funktionszusammenhang im Kunstwerk herausreißt und in die verschiedensten ideologischen Zusammenhänge einbezieht. Die strukturalistische Abtrennung des Kunstwerks vom Autor ist hierbei um so schwerwiegender, als Leenhardt bei seiner Interpretation der 170

Elemente theoretische Äußerungen von Autoren anderer Konvenienz bzw. eigene ideologische Auffassungen heranzieht, die den Auffassungen Robbe-Grillets nicht entsprechen. So schafft seine 'Lektüre' ein sehr subjektivistisches neues Kunstwerk, das mehr auf den Kritiker verweist als auf den Roman selbst." 453 Über Willkür („Herausreißen") und Schematismus wäre am Material des Romantextes und der Analyse zu diskutieren, die von solchen Mängeln keineswegs frei, aber meines Erachtens doch nicht durch sie charakterisiert ist. Was an dieser Stelle interessiert, ist der Vorwurf des Subjektivismus. E r erscheint mir nicht stichhaltig - nicht allein deshalb, weil die Objektivität, an der er festgemacht wird, in Gestalt der nicht weiter ausgeführten Voraussetzung des „eigentlichen Kunstwerks" und der Berufung auf die „Auffassungen" des Autors auftritt, sondern vor allem aus folgendem Grund: Sicher schafft Leenhardts Lektüre ein neues Kunstwerk, indem sie ein explizit gehaltenes Deutungsmuster an deij Text legt. Auf diesem Wege entsteht eine Interpretation, die kein Spiegelbild der Absichten des Autors (als er den Roman schrieb) oder seiner bei anderen Gelegenheiten geäußerten Auffassungen sein muß, die ihnen auch direkt widersprechen kann, die aber gleichwohl eine kontrollierte - und wegen der Offenlegung ihrer Verfahrensschritte auch kontrollierbare - Ermittlung einer Bedeutungsdimension des W e r k e s ist. Im Modus einer sehr ausgearbeiteten und weitgreifenden Untersuchung führt Leenhardt, nach meiner Ansicht, Operationen jeder Lektüre vor: Die Bedeutung des Werkes wird realisiert durch die Konfrontation/Integration seines Universums mit dem/in das des Lesers. Das Empfinden einer gewaltsamen Interpretation (so jedenfalls verstehe ich die zitierten Kritiken) rührt vielleicht daher, daß der zur Bedeutungsermittlung herangezogene und erschlossene Kontext wirklich eine Zutat des Interpreten ist, noch dazu eine von beträchtlichem Format. D a ß die Erhellung der „chiffrierten Bindungen" eines Romans wie La Jalousie an seine „geschichtliche Außenwelt" 454 nur um den Preis eines derart komplexen Interpretationsmodells zu leisten ist, spricht nicht gegen den, der die Kosten auf sich nimmt. Es macht allerdings die Schwierigkeiten deutlich, die die nouveaux romans einer spontanen, weniger instruierten Lektüre bereiten. „Die Leser . . . , die unvorbereitet auf einen nouveau roman stoßen, . . . sind im wahrsten Sinne orientierungslos, denn um sich zurechtzufinden, haben sie nicht mehr die traditionellen Anhaltspunkte: eine bestimmte Interpunktion und Syntax, klar gezeichnete Charaktere, eine Handlung mit kleinen 171

Signalen . . . , die den Weitergang der Geschichte ahnen lassen und doch so tun, als würden sie ihn verschweigen. Wenn diese Leser das Buch nicht achselzuckend wieder zuklappen, haben sie die Wahl zwischen zwei Haltungen: sich entweder der Unsicherheit auszuliefern, wie man sich dem Schwindelgefühl auf einer Achterbahn hingibt - denn das Schauspiel der Inkohärenz erzeugt einen besonderen Rausch . . . - oder eine Sicherheit aus der Unsicherheit selbst zu ziehen, indem man soweit wie möglich deren Regelmäßigkeiten aufdeckt. Dieses Verhalten gefällt den Akademikern (universitaires), und es erscheint legitim, selbst wenn es den Nouveau Roman festlegt . . . Im Grunde bekunden beide Leserhaltungen Vertrauen in den Nouveau Roman, und mehr kann er nicht verlangen. Hingegen würde man weniger gern akzeptieren, daß er jeden referentiellen Bezug verwirft . . . oder anders gesagt, daß er sich weigert, etwas über die Welt mitzuteilen. Denn eine rein narzißtische Kunst, eine Kunst, die sich nur für ihre eigenen Verfahren interessiert, hätte man bald satt." 455 In diesem Schema möglicher Zugänge zum Nouveau Roman findet Leenhardts Untersuchung Platz als eine „universitäre" Leseweise, deren Bemühen sich darauf richtet, die von einer nur auf Formerkennung bedachten Lektüre ausgeblendeten und von einer an „traditionelle Anhaltspunkte" gewohnten Leseweise nicht erfaßbaren Realitätsbeziehungen eines noveau roman zu entdecken und zu erkennen, welcher Art seine Mitteilungen über die Welt sind. Ein solches Bemühen kann die Rezeptionsschwierigkeiten nicht beheben, auf die sein eigner Interpretationsaufwand hindeutet. Sein Wert besteht aber darin, auf der Ebene der Spezialisten-Lektüre einen Ansatz vorzuschlagen (und diese Intention leitet auch andere,, hier nicht diskutierte Lesarten), die Neuheit der nouveaux romans nicht darin zu sehen, daß sie „Bedeutung - Darstellung - Ausdruck . . . eliminiert . . . , sondern daß sie andere Systeme von Bedeutung — Darstellung - Ausdruck auf anderen Ebenen erfunden haben" 450 . Die Annahme und der Gebrauch dieser Erfindungen durchlaufen wie die bisherige Rezeptionsgeschichte des Nouveau Roman in Frankreich zeigt - einen wechselvollen und widerspruchsreichen Prozeß. E r ist in den siebziger Jahren an einen Punkt gelangt, wo die Aufgabe der Bestimmung der nouveaux romans als besonderer Systemevon Bedeutung - Darstellung - Ausdruck in den Blick gerät. Einen noch ganz thesenhaften Umriß dieser Aufgabe entwickelteYves Eyot, indem er die Richtung angab, in die die Kritik an Ricardous dominant gewordener Theorie des Nouveau Roman zu gehe« 172

hätte. Auf einem vom CERM (Zentrum für marxistische Studien und Forschungen) 1975 veranstalteten Kolloquium über die Situation der Literatur, des Buches und der Schriftsteller, an dem auch Ricardou teilnahm, zitierte Eyot „einige Sätze von Jean Ricardou", um sie dann „in die eigene Sprache zu übersetzen", 457 * soll heißen: um ihnen zu widersprechen. „/. R.: [Durch den Nouveau Roman] in Frage gestellt, konnten Raum, Zeit und Personen nicht mehr ohne weiteres die I l l u s i o n erzeugen, A b b i l d u n g e n zu sein. Sie tendierten dazu, das hervorzukehren, was sie in einer Fiktion tatsächlich sind: die E f f e k t e einer bearbeiteten Sprache: . . . So wurde eine Bresche in die alte, wie mir scheint i d e a l i s t i s c h e , Illusion einer bestimmten Leseweise geschlagen, einer Leseweise, die die Materie des Textes (sagen wir die Zeichen der Schrift und die Charakteristika der Sprache mit ihren Gesetzmäßigkeiten) vergißt vor lauter Faszination durch eine bestimmte Art von Beseelung (einen bestimmten sichtbar werdenden Sinn). Y. E.: In Frage gestellt, tendierten Raum, Zeit und Personen dazu, das hervorzukehren, was sie tatsächlich im Nouveau Roman sind: Effekte einer durch die geschriebene Sprache vollzogenen Arbeit der Gedanken-Gefühle in bezug auf die Wirklichkeit, und im wesentlichen in bezug auf jenen Teil der Wirklichkeit, den die 'alten' Romane und ihre Darstellung von Raum, Zeit und Personen bilden . . . Wir müssen eine Bresche in die relativ neue, wie mir scheint idealistische, Illusion einer bestimmten Leseweise schlagen, einer Leseweise, die die Materie des Textes: die Gedanken-Gefühle in bezug auf die Wirklichkeit (die kein Seelenausdruck, sondern in bestimmter Weise materiell sind) leugnet oder zu leugnen vorgibt, vor lauter Faszination durch die Zeichen der Schrift und die (namentlich lautlichen und graphischen) Charakteristika der Sprache, oder vielmehr vor lauter Faszination durch eine Art Seele, die sie ihnen zuspricht (einen bestimmten, sichtbar werdenden Sinn: der Buchstabe 'i' ist phallisch, der Buchstabe 'o' ist vaginal . . . 458 *). Die Illusion (die Fiktion) einer Nicht-Repräsentation, Anti-Repräsentation, Auto-Repräsentation ist tatsächlich nur eine Neu-Repräsentation. Die Illusion (die Fiktion) eines Nicht-Ausdrucks ist nur ein Ausdruck mit neuen Mitteln." 459 Obschon die theoretische Ausarbeitung dieser „Umkehrung" der Position Ricardous noch aussteht - ihr Prinzip wird hier benannt. Es geht darum, die undialektische und durch ihren eingeschränkten Begriff von der Materialität der Texte auch unmaterialistische Literaturkonzeption zu überwinden, die sich als Antithese 173

zu einer bestimmten Auffassung vom Spiegelcharakter literarischer Werke herausgebildet hat. Während diese dazu tendierte, die Sprachgebundenheit und Formbestimmtheit literarischer Mitteilungen zu „übersehen" und sich vorwiegend für „Ideen" (Empfindungen, Vorstellungen, Urteile, Erkenntnisse . . . ) zu interessieren, die durch das Medium der Werke eine bestimmte Weltsicht ausdrücken und vermitteln, betonte die ihr widersprechende Ideologie den Produktionscharakter literarischer Texte - nun aber so, als seien Empfindungen, Vorstellungen etc. nicht an der literarischen Arbeit beteiligt, sondern lediglich deren „Sinneffekte", hervorgegangen aus einer „spezifischen Logik" der Kombinations- und Transformationsmöglichkeiten von Wörtern und Sätzen. Diese Sicht verabsolutierte den anderswo vernachlässigten Aspekt der Bindung von Bedeutungen (Signifikaten) an ihre materiellen Träger (Signifikanten) dergestalt, daß sie das „Signifikantenmaterial" (matière signifiante) in seiner lautlichen und graphischen Gestalt - nicht aber die Wörter in ihrer Bedeutungsgeladenheit und Evokationsmacht - zum primären Bearbeitungsgegenstand und zum Ursprungsort neuer (nicht „vorgegebener", sondern erst durch die „Sprachbearbeitung" erzeugter) Bedeutungen erklärte. Mit der Autonomisierung der sogenannten Arbeit der Sprache (der écriture, des Textes) wurden zwar lineare, vereinfachte Relationssetzungen abgewiesen - etwa die Idee vom Autor als Ursprung des Werkes, das auf ihn zurückweist wie eine Wirkung auf ihre Ursache, oder die Vorstellung vom Werk als ledigliche „Übersetzung" eines ihm vorausliegenden Realitätsausschnittes oder eines gedanklichen und emotionalen Inhalts, dessen mehr oder weniger adäquate Ausdrucksform es wäre. Dabei wurde aber so verfahren, als hätte sich mit der Ablehnung solcher Auffassungen das Problem der Beziehungen zwischen Autor und Werk, Werk und Wirklichkeit überhaupt erledigt oder, genauer gesagt, als wäre es fürderhin nur „von den Texten" aus zu denken. Ricardous rigorose Durchführung solchen Denkens bis zum Postulat einer „auto-génération" (Selbsterzeugung) des Textes offenbart dessen Dilemma. Ein Ausweg - dies machten Eyots Ausführungen auf dem CERM-Kolloquium 1975 deutlich kann nicht auf Positionen zurückführen, welche die Determinationen ignorieren, die literarische Tätigkeit durch die Sprache als ihr „Material" (und nicht nur als „Instrument" der Mitteilung) erfährt, und welche die Abbild- und Ausdrucksfunktion literarischer Werke von der sie tragenden Struktur eines in bestimmter Weise gearbeiteten Textes abheben. Vielmehr wird es nötig sein, durch einen dialekti174

sehen Begriff von „Sinnproduktion" - verstanden als Tätigkeit, ausgehend von (und als Veränderung an) „instituierten" Sinnvorstellungen, und somit immer als eine Beziehung zur „äußeren Welt" 460 — die reduzierten Begriffe vom Material der Literatur und vom innovierenden Charakter literarischer Produktion zu überschreiten, die während der sechziger Jahre in Frankreich entwickelt wurden und dort den Umgang mit den Angeboten neuer Schreibweisen (in modernen Texten) beherrschten.

Wer liest die nouveaux romans? „Die Schriftsteller müssen sich damit abfinden: Allem Anspruch auf Universalität zum Trotz, schreiben sie faktisch für den, der sie liest." 461 Auf dem Nouveau-Roman-Kolloquium 1971 fragte ein einziger Beitrag nach dem tatsächlichen Publikum der neuen Romane. Davon ausgehend, daß Literatur „ihrem Wesen nach ein Austausch-, also ein gesellschaftlicher Akt" 462 ist, daß nicht die Herstellung neuer Formen, sondern die Art ihres Gebrauches durch die Leser die konkrete Existenz der Werke begründet, interessierte sich Denis SaintJacques für die Rezeption des Nouveau Roman. Er diskutierte nicht die Leistung unterschiedlicher Leseweisen als Arten der „Texterkennung" (nach dem Prinzip: „Zwar sind alle Arten von Lektüre möglich, doch sind sie nicht alle gleichwertig") 463 , sondern er betrachtete die Ausbildung und den Wandel bestimmter Lektüreeinstellungen als Indikator für den eigentlichen Leserkreis des Nouveau Roman. Dabei kam er, beiläufig, auch auf Zahlen zu sprechen: „Die normale Auflagenhöhe eines Romans beträgt in Frankreich 2 000 Exemplare, und der Verkauf von 20 000 erscheint als unbestreitbarer buchhändlerischer Erfolg. Ein nouveau roman erreicht diese Höhe sehr selten. Man darf also sagen, daß diese Art von Werken marginal ist . . ."464 Dieser Sachverhalt offenbare eine Diskrepanz zwischen dem Angebot der Texte und den Interessen der Mehrheit des lesenden Publikums. Die Ablehnung des Nouveau Roman durch „Publikum und . . . konservative Kritik" dürfe man nicht bagatellisieren, indem man etwa behauptet, „daß die negativen Buchbesprechungen in der Presse die Leute daran gehindert haben, die neuen Bücher zu lesen. Die Debatte, die das Erscheinen der nouveaux romans auslöste, stellte eine mehr als ausreichende Reklame dar, um deren Umlauf zu sichern. Wenn das Publikum sie nicht liest, dann deshalb, 175

weil es sich nicht dafür interessiert." Wer also sind die tatsächlichen Leser? „Nehmen wir an, daß die nouveaux romanciers die nouveaux romans lesen, . . . gleichfalls die Literaturkritiker, sei es aus Pflicht oder aus Neigung, fügen wir noch die Literaturprofessoren und die Studenten der höheren Studienjahre hinzu, und wir kommen leicht auf die einigen tausend Leser, die die Auflagenhöhen indizieren. Der Nouveau Roman erwiese sich somit als eine Literatur für die Intellektuellen, was gewiß niemanden überrascht. Ich behaupte nicht, daß man keine Ausnahmen nennen könnte. Die meisten Schriftsteller erzählen eine einschlägige Anekdote von einem Arbeiter, der Leser und, selbstverständlich hellsichtiger, Kommentator ihrer Werke ist. Man begreift, warum sie diese neue Fiktion erfinden - um ihre wirklichen Leser zu vergessen, die sie kennen." 465 Wo liegt das Problem? Nicht dort, wo die Argumentation mit Zahlen und sozialer Zusammensetzung der Leserschaft es vermuten läßt, im Widerspruch zwischen der Hoffnung auf Breitenwirkung und einer tatsächlichen Marginalität. Von den Anekdoten 466 * und bestimmten frühen Argumenten Robbe-Grillets (s. S. 35) abgesehen, hegten die nouveaux romanciers in dieser Hinsicht weder Ambitionen noch Illusionen. Die Begrenztheit des Gebrauchs der nouveaux romans wird jedoch dann zu einem Problem, wenn man sie mit den Ansprüchen auf Ideologiekritik und kulturrevolutionäre Wirksamkeit konfrontiert, wie sie ja für die modernen Texte erhoben werden. Diejenigen bürgerlichen Intellektuellen und Schriftsteller, die sich gegen ihre Funktion, die ideologischen „Werte der herrschenden Klasse zu produzieren und zu verteidigen", auflehnten, die sich der Vereinnahmung ihrer Produkte durch die herrschende Ideologie widersetzten, müßten erkennen, daß sie nicht die einzigen sind, die „die bürgerlichen Werte zurückweisen . . . Sartre war sich seinerzeit dessen bewußt geworden, vor ihm die Surrealisten und viele andere mehr: Es gibt auch das Proletariat. Von Nutzlosigkeit bedroht, versucht der avantgardistische Intellektuelle oft, seine Revolte in den Dienst der Revolution zu stellen, mit den bekannten Schwierigkeiten . . . Die Revolution schreiben erscheint als eine virtuelle gesellschaftliche Aktion, deren Realisierung mit dem Lesen beginnt." 467 Hiermit berührte Saint-Jacques jene neuralgische Stelle, die die mit dem Nouveau Roman verbundene Literaturideologie kontinuierlich abzusichern versucht hat, indem sie das kleine Publikum und die gesteigerte Schwierigkeit der Aneignung von Botschaften, die nicht mitgeteilt werden, sondern in komplizierten Prozeduren erschlossen 176

werden müssen, zu Bedingungen u n d Beweisen für eine effektive Kritik der herrschenden Ideologie erklärt, nicht aber bereit ist, sie als ernstliches Risiko wahrzunehmen. Denn immerhin sind es nicht allein die Absichten der Schriftsteller und die Ansichten der Theoretiker, die über die Produktivität und Wirksamkeit literarischer Neuerungen entscheiden. Daß die Auffassung von Literatur als Produktion dazu angetan ist, bestimmte, im Begriff von Literatur als gesellschaftlicher Verkehrsform (Kommunikation) implizierte Problemstellungen zu verdrängen, ist ihr entscheidender Mangel. Die Diskussion, die der Beitrag von Saint-Jacques auslöste, ist in dieser Hinsicht aufschlußreich. Claude Ollier und Alain RobbeGrillet reagierten ausgesprochen verärgert und so, als hätte SaintJacques nichts anderes getan, als auf der Basis unexakter Zahlenangaben eine vulgäre Soziologie der Leserschaft des Nouveau Roman zu entwickeln.468* Jean Ricardou wiederholte in aller Ruhe seine bekannte Position,469* und die Diskussion hakte sich an der Frage fest, wie das allmähliche, doch spürbare Eindringen des Nouveau Roman in den universitären Literaturunterricht470* zu bewerten sei. Die Antworten blieben kontrovers, denn das Phänomen ist, für sich genommen, beliebig (genauer gesagt: je nach vorgefaßter Meinung) interpretierbar: als Indiz für die subversive Wirksamkeit der modernen Texte oder gerade als Beweis für deren Assimilierbarkeit durch die ideologische Instanz Universität und somit für die Verträglichkeit von nouveaux romans und bestehender bürgerlicher Kultur. (Ähnliches gilt, wenn die Präsenz des Nouveau Roman im universitären Literaturunterricht als nach wie vor schwach eingeschätzt wird. Dann ist diese Minorität eben entweder ein Beweis für die Nichtverdaulichkeit der Texte durch die herrschende Literaturideologie oder ein Anzeichen für ihre tatsächliche Folgenlosigkeit.) Solche Art von Gegensätzen ist meines Erachtens nur entscheidbar, wenn man sie auflöst, d.h. die 'Probleme anders stellt; wenn man also - die Kurzformel „herrschende Ideologie" und „Umwälzung der herrschenden Ideologie" in i n h a l t l i c h e Bestimmungen überführt, die erkennen lassen, w e l c h e ideologischen Aneignungsmuster von Realität durch bestimmte neue Schreibweisen angegriffen werden. Voraussetzung wäre eine ideologiekritische Lektüre, die zu genaueren und differenzierteren Aussagen über ideologische Korrelate der strukturell-funktionalen (einschließlich der thematischen) Besonderheiten in den nouveaux romans käme, als 12 Burmeister, Nouveau Roman

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das Ricardousche Unterscheidungsschema zwischen Traditionalität und Modernität sie aufweist oder .auch als die Goldmannsche Suche nach Homologien zwischen (globaler) Romanstruktur und Struktur der kapitalistischen Tauschgesellschaft sie ermöglicht; - den konstatierbaren Veränderungen von Schreib- und Leseweisen nicht auf Grund formaler Kriterien den Status einer „revolutionierenden Praxis" zuspricht bzw. ihnen auf Grund fehlender Massenwirksamkeit Folgenlosigkeit bescheinigt, sondern wenn es gelingt, die Bewertung der Funktion literarischer Neuerungen auf eine komplexere Grundlage zu stellen. Saint-Jacques' Frage nach den tatsächlichen Lesern des Nouveau Roman (und ihre Beantwortung) liefert nicht schon diese Grundlage, sie besitzt aber den Wert, auf eine ihrer Komponenten zu verweisen (wer liest?) und damit eine Realität in den Blick zu bringen, die durch den Produktions- bzw. Textzentrismus Ricardouscher Prägung an den Rand des Interesses gedrängt worden ist. Ricardou zufolge erfährt der Rezeptionsvorgang allerdings insofern eine Verlängerung, als ihm bestimmte Folgen - d. h. Wirkungen auf das Leserbewußtsein und Leseverhalten - zuerkannt werden: Erziehung von Sprachbewußtsein, geschärfte Kritikfähigkeit gegenüber Zwängen und Überredungen in der Alltagskommunikation (Reklame, Presse, politischer Diskurs), Veränderung des Begriffs und des Umgangs mit Literatur (erleichterter Zugang zu modernen Texten und neuer Blick auf traditionelle Schreibweisen), bis hin zur Verwandlung des instruierten Lesers in einen, der selber probiert zu schreiben. Es handelt sich hier um eben die Wirkungsmöglichkeiten des Nouveau Roman, die innerhalb seines von Saint-Jacques bezeichneten Leserkreises realisiert werden (können). Verbleibt das Denken in diesem enggezogenen Erfahrungsraum erfolgreicher Kommunikation, muß es sich nicht beunruhigt fühlen durch das, was außerhalb seiner Grenzen liegt - jene rund fünfzig Prozent der Franzosen, die überhaupt nicht lesen; das Publikum, das sich für die nouveaux romans nicht interessiert oder nichts mit ihnen anzufangen weiß; diejenigen Schriftsteller und Leser, die auf Alternativen zum modernen Text und zur textuellen Leseweise bestehen. Die Bindung des Nouveau Roman an eine minoritäre und zugleich elitäre Leserschaft erscheint daher - sofern sie reflektiert wird - nicht als eine Problematik, die die Schriftsteller tangieren und die Produktivität ihrer Neuerungen in Frage stellen könnte. Für die Kluft zwischen einer Literatur der Wenigen und den Vielen, denen sie unzugänglich bleibt, wird die bestehende Gesell178

schaftsordnung verantwortlich gemacht, die die Mehrzahl ihrer Mitglieder daran hindert zu lesen, d. h. im weiteren Sinne: von den kulturellen und intellektuellen Produktionsmitteln Besitz zu ergreifen. So unbestreitbar das ist, die Frage bleibt, w i e die Erfahrung dieser Kluft in die literarische Tätigkeit und ihre kritische Reflexion hineinwirkt. Hier scheiden sich die praktischen Strategien wie auch die theoretischen Optionen. Frühere und gegenwärtige Stellungnahmen zum Engagement der Literatur bezeugen es. Für Ricardou ist die „Praxis des modernen Textes" auf objektive Weise engagiert, d. h. einbezogen in das Ensemble unterschiedlicher Aktivitäten, die - jede auf ihrem Niveau und mit ihren spezifischen Mitteln - an der Veränderung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung arbeiten. „ . . . keine Veränderung auf der Ebene des Textes vermag, für sich allein, entscheidend zu sein. Keine Veränderung der sozialen Beziehungen vermag, für sich allein, entscheidend zu sein . . . Alle Ebenen des Transformationsprozesses sind also nötig, keine ist, für sich genommen, ausreichend. Voneinander getrennt, werden sie relativ wirkungslos bleiben. Erst gemeinsam, und das geht nicht ohne Probleme, werden sie entscheidend sein." 471 Ein Zusammenwirken, das als unabdingbar erkannt, jedoch in seinen Modalitäten - seinen Vermittlungen und Widersprüchen - nicht gedacht wird, schafft den nötigen Freiraum für Veränderungen bzw. Neuerungen auf dem Einzelgebiet; ist doch deren Wert a l s s o l c h e immer zugleich Garantie für ihren Beitrag zum kulturellen und sozialen Veränderungsprozeß. Eine für die nouveaux romanciers glückliche Lösung, insofern sie mit einer Reihe von alten Skrupeln des „zwischen seiner sozialen Stellung und seiner geistigen Berufung zerrissenen" bürgerlichen Schriftstellers (Barthes; s. S. 52) abschließt. Eine nicht so glückliche Lösung, insofern ein gutes Gewissen dazu geeignet ist, die moderne Literatur gegen Selbstkritik zu immunisieren - wenn man darunter etwas anderes versteht als die fortlaufende Kritik von Texten an Texten: das wachgehaltene Bewußtsein der gesellschaftlichen Widersprüche, die ein Phänomen wie den literarischen Avantgardismus (in seinen verschiedenen Spielarten) hervorgetrieben haben und deren Male er trägt. In einer Zustandsbeschreibung der gegenwärtigen französischen Literatur vermerkte Roland Barthes - während eines Rundfunkgesprächs mit Maurice Nadeau (1973) 472 - die immer schärfere Trennung „zwischen einer weithin geläufigen Produktion, die die alten Modelle wiederholt, oft mit Talent, oft mit einer spürbaren Fähig12*

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keit, aktuelle Probleme der Gesellschaft aufzugreifen, und einer sehr aktiven, sehr marginalen, sehr wenig lesbaren, aber sehr experimentierfreudigen Avantgarde auf der anderen Seite . . .473* Warum haben wir gegenwärtig neben den Grenztexten, den Experimentiertexten, keine eigentlich realistische Literatur, die auf kritische, enthüllende Weise die Gesellschaft schildert, in der wir leben und die wir nicht wollen? . . . Die zeitgenössischen Romane, selbst die traditionsverhafteten, besitzen nicht mehr diese Wucht der Zeugenschaft", die Unerbittlichkeit der Gesellschaftskritik, wie der französische Roman des 19. Jahrhunderts sie kannte. „So gesehen bleibt Zola weit über dem, was wir tun." 474 Darauf Nadeau: „Das stimmt vielleicht für die Literatur in Frankreich. In der lateinamerikanischen Literatur, zum Beispiel, erleben wir heute gleichzeitig die Erneuerung der Romantechniken und die Infragestellung sozialer Realitäten. Das heißt: das primäre Engagement auf der Ebene der Schreibweise (l'engagement dans l'écriture) geht in ein totales Engagiertsein ein." 475 Die Frage nach den Gründen solch unterschiedlicher Entwicklung blieb ungestellt. Das Interesse galt der Bewertung des Aufspaltungsprozesses innerhalb der eigenen Literatur. Ihn verteidigte Barthes als einen Vorgang, in dem unterschiedliche Möglichkeiten und Funktionen des Schreibens sich differenzieren und notwendigerweise auseinanderstreben. „Man muß die Vorstellung einer mittelbaren, einer vermittelten Praxis akzeptieren. Es ist denkbar, sich in der Geschichte zu engagieren durch eine Arbeit auf der Ebene der écriture, aber dann engagiert man sich auf lange Sicht und nicht in der gegenwärtigen, unmittelbaren Geschichte. Denn wollte man sich durch die écriture in der gegenwärtigen und unmittelbaren Geschichte, in den Krisen, die wir erleben, engagieren, träfe man auf sehr große Schwierigkeiten, wäre man doch auf die Zwischenschaltung einer stereotypisierten Sprache angewiesen . . . An diesem Punkt verteidige ich eine pluralistische Einstellung, derzufolge man sich als Subjekt spalten, einen bestimmten Teil von sich selbst . . . im unmittelbar gegenwärtigen Geschehen und einen anderen Teil in einer Aktivität der écriture engagieren kann, die auf einer anderen geschichtlichen Wellenlänge liegt, aber dennoch eine geschichtliche, auf die Zukunft gerichtete Aktivität bleibt, bewegt von einem progressiven Befreiungsdrang." 476 Unter écriture versteht Barthes hier ein Sprachverhalten, dem es nicht primär um die Übermittlung von Aussagen geht, sondern zuallererst um den Genuß am Aussagen; sie ist der nichtinstrumentale, der erotische - d. h. auch: aggressive - Kontakt eines Subjekts mit seiner 180

Sprache. Die frühere Bestimmung der écriture als „Akt geschichtlicher Solidarität" (s. S. 50) erfährt somit einen Wandel, genauer eine Aufspaltung. Die unmittelbare Solidarität - das soziale, politische ideologische Engagement - rückt zusammen mit der „écrivance" (dem auf Mitteilung gerichteten, die ausgebildeten Sprachmuster als Mittel der Verständigung benutzenden Sprachgebrauch477) und trennt sich von der écriture, die als Akt der sprachlichen Produktionsentfaltung und Selbsterfahrung von Subjekten nur mittelbar und auf lange Sicht mit dem emanzipatorischen Inhalt der Kämpfe gegen Ausbeutung und Unterdrückung, für eine neue Gesellschaftsordnung, verbunden ist. Mit der Entgegensetzung von écrivance und écriture, von politischem Engagement des Schriftstellers und lustbetontem, allem unmittelbaren ideologischen Nutzen entzogenem Schreiben werden Entwicklungstendenzen der französischen Literatur nachvollzogen und zugleich begrifflich verfestigt. Denn wenn auch die Gegensätze als Produkte eines geschichtlichen Prozesses aufgefaßt werden - das Interesse gilt nicht ihren geschichtlichen Entstehungs- und Existenzbedingungen, sondern der Bestimmung ihrer Differenzqualitäten. Diese erhalten so, unter der Hand, einen ontologischen Status. Barthes wünschte zwar die Überwindung der beobachteten Polarisierung („Ich möchte nur dies : daß wir eines Tages, und zwar bald, in Frankreich Romane hätten, die dem Theater Brechts entsprechen" 478 ), aber er zeichnete sie als so wesentlich, so zwangsläufig, daß reale Alternativen nicht in den Blick kamen. Die Existenz literarischer Werke, die die Lust an der écriture und der Erfindung neuer Formen mit der Absicht einer Mitteilung, mit einer engagierten Stellungnahme zu Problemen der Welt zu verbinden suchen, blieb unerwähnt. Was nichts anderes heißen kann, als daß sie entweder der einen Seite (Reproduktion der alten Modelle) zugerechnet oder als Kompromißformen gewertet werden, die den Zwangscharakter der Polarisierung nur unterstreichen. Symptomatisch ist in diesem Zusammenhang die Nichtnennung eines Autors wie Aragon. Die Perspektive einer anderen Literatur, wie Barthes sie entwarf, rechnete dann auch nicht mit der Aufhebung der Gegensätze in einem „totalen Engagement". Sie präsentierte sich als Projekt einer entinstitutionalisierten Textzirkulation. Dieses Projekt greift Entwicklungsmomente und Widersprüche der gegenwärtigen literarischen Kommunikation auf. Es basiert u. a. auf der Beobachtung, daß das Gesamtbild der französischen Literatur 181

heute - wenn man es mit dem vor dem Zweiten Weltkrieg vergleicht - durch das Schwinden der großen bürgerlichen Literatur und der großen literarischen Führerschaften geprägt ist gegenwärtig hat kein Schriftsteller den Platz inne, den seinerzeit Leute wie Valéry, Gide, Claudel, ja auch Malraux einnahmen." Stattdessen gibt es „wesentlich chaotischere, viel bewegtere, viel weniger ruhige Führerschaften, die aber im Grunde intellektuellen und nicht eigentlich literarischen Charakter tragen." 479 Die Veränderung des Platzes der Literatur im ideologischen Überbau, ihre Spaltung in einen breiten, traditionellen, und einen schmalen, experimentellen, Sektor, der Druck des literarischen Marktes auf die Schriftsteller („die drakonische Alternative", entweder „zu wiederholen, was schon gemacht wurde, oder das Schreiben aufzugeben" 480 ), die Scheidung zwischen einer kleinen Zahl von Schreibenden einerseits und einer breiten Schicht von nur Lesenden andererseits („Man lehrt die Kinder, richtig zu lesen, aber man lehrt sie im Grunde nicht zu schreiben" 481 ) diese von Barthes diagnostizierten Merkmale der Institution Literatur im heutigen Frankreich bilden den Erfahrungshorizont für Barthes' „utopische Idee . . . einer glücklichen écriture" : „Ich stelle mir . . . eine Art Utopie vor, in der die Texte, im Genuß geschrieben, außerhalb jeder merkantilen Instanz zirkulieren könnten und folglich nicht das besäßen, was man - mit einem ziemlich schrecklichen Wort einen breiten Vertrieb n e n n t . . . Diese Texte würden in kleinen Gruppen, in Freundeskreisen . . . zirkulieren. So könnten wirklich der Wunsch zu schreiben, der Genuß am Schreiben und der Genuß am Lesen die Runde machen und ineinandergreifen, außerhalb jeder Institution und ohne wieder auf diese Kluft zwischen Lesen und Schreiben zu treffen . . . Denn das große Problem heutzutage ist das: aus dem Lesenden einen Schreibenden zu machen. Wenn es eines Tages gelingt, den Leser in einen virtuellen oder potentiellen Schriftsteller zu verwandeln, wird das ganze Problem der Verständlichkeit verschwinden. Wenn man nämlich einen Text, der anscheinend unlesbar ist, in der Bewegung seiner écriture aufnimmt, versteht man ihn sehr gut. Offensichtlich ist eine vollständige Veränderung - ich würde fast sagen eine Umerziehung - zu leisten. Dafür ist eine Veränderung der Gesellschaft nötig." 482 Weil Barthes' hedonistische Zukunftsvision ausgeführter ist als Ricardous vergleichsweise karge Vorstellung einer „écriture en masse", gibt sie die Stelle klarer zu erkennen, die den kritischen Geist und die emanzipatorische Sehnsucht solcher Utopien mit dem verklammert, 182

was sie nicht sehen oder unverändert lassen wollen. In beiden Fällen ist eine Kulturrevolution anvisiert, die zur Umverteilung der sprachlichen, literarischen Produktionsmittel führen soll. Das Modell für die Veränderung ist dabei jedesmal ein bestimmter Aspekt der gegenwärtigen literarischen Produktion - bei Barthes die „écriture", bei Ricardou der „moderne Text" - , dessen Ausdehnung oder Verallgemeinerung das jeweilige Projekt bestimmt, sei es als massenhafte Verfügung über Techniken der Texterzeugung oder als Aufhebung jener markt- und bildungsbedingten Schwierigkeiten, auf die die Ausübung und Rezeption der écriture in den „experimentellen Grenztexten" heute stoßen. In einem wahrhaft großen Sprung wird die Lösung eines doppelten Problems entworfen : die institutionalisierte Trennung von Literaturproduzenten und Buchkonsumenten aufzuheben und im gleichen Zuge die gegenwärtigen Kommunikationsbarrieren zu überwinden, so daß es die Kluft zwischen einer auf Neuerung bedachten Avantgarde und den an bekannten Mustern orientierten Erwartungen und Lesegewohnheiten des Massenpublikums nicht mehr gäbe. Dafür sei eine Veränderung der Gesellschaft nötig - gewiß. Soll diese aber nicht als mehr oder weniger konkrete Utopie nur vorgestellt, sondern praktisch vollzogen werden, ist die Frage nach der Art der Beteiligung und den Wirkungsmöglichkeiten von Literatur (Produktion, Zirkulation und Rezeption) in diesem Prozeß unabweislich. Hier versagen Überlegungen, die auf den Gegensatz zwischen politischem und literarischem Engagement, Innovation und Reproduktion ausgebildeter Muster, Traditionalität und Modernität, écriture und écrivance fixiert sind. Denn von solcher Fixierung aus kann es nur darum gehen, die Seite des Gegensatzes zu stärken und zu entwickeln, der die Qualität authentischer, produktiver, spezifisch literarischer Aktivität zuerkannt wird. Sie liefert dann auch das in die Zukunft projizierte Funktionsmodell, also jene Elemente, die VQn der geforderten Umwandlung literarischer Kommunikation nicht mitergriffen werden, vielmehr als deren Richtungsweiser fungieren. Um es zugespitzt zu sagen : Solange die Repräsentanten einer neuen oder avantgardistischen Literatur daran festhalten, daß ein Schriftsteller sich allein in der Exploration sprachlicher Möglichkeiten, 483 * in der Revolutionierung der Formen wirklich engagieren kann, ist die Frage nach der Mitwirkung der modernen Texte ausgeklammert, weil a priori entschieden. Nicht deren Interventionsstrategien wären zu überprüfen, sondern die ihrer Wirksamkeit entgegenstehenden Verhältnisse müssen umgewälzt werden. Die Forderung nach einer neuen Kultur, in der literarische - wie auch 183

andere künstlerische - Tätigkeiten nicht mehr das Privileg einer kleinen Schicht sind, wird dann um so sicherer Utopie bleiben, wenn sie allein von bestimmten Schreibweisen aus entworfen, nicht aber als eine komplexe geschichtliche Aufgabe gesehen wird, deren Bewältigung auch die Literaturproduzenten und -ideologen direkt, in ihrer spezifischen Tätigkeit, betrifft, herausfordert und in Frage stellt. Dabei kann es nicht darum gehen, die unterschiedlichen Dimensionen und Vermittlungsgrade eines literarischen Engagements in der Geschichte zu verkennen oder die Möglichkeit und die Legitimität der „Aufspaltung" eines Subjekts in unterschiedliche Aktionsweisen zu bestreiten. Was jedoch zu bestreiten ist, sind die zum Prinzip erhobenen Gegensätze zwischen literarischem und politischem Engagement, zwischen avantgardistischen Innovationen und stereotyper Massenliteratur. Ein Denken in solchen Antinomien verfällt dem Schein ihrer Zwangsläufigkeit und ist außerstande, sie als ideologischen Reflex eines geschichtlich bedingten und veränderbaren literarischen Funktionszusammenhangs zu durchschauen. Auf dem bereits erwähnten CERM-Kolloquium 1975 sagte Robert Escarpit - namentlich mit Bezug auf den dortigen Beitrag Ricardous (Die Literatur anders denkent484) - in der Diskussion: Zweifellos seien in der Literatur „Neuerungen notwendig. Demgegenüber gibt es eine andere . . . sehr wichtige Notwendigkeit: die der massenhaften Verbreitung (massification) .'