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German Pages 410 [418] Year 2019
Ulrike Kröpfl
Leopoldo Maréchal oder die Rückkehr der Geschichte
Editionen der Iberoamericana Ediciones de Iberoamericana Serie A: Literaturgeschichte und -knúk/Historia y Crítica de la Literatura Serie B: Sprachwissenschaft/Lmgüísííca Serie C: Geschichte und Gesellschaft/Z/wtor/a y Sociedad Serie D: Bibliographien/flíWiogra/í&r Herausgegeben von¡Editado por : Walther L. Bernecker, Frauke Gewecke, Jürgen M. Meisel, Klaus Meyer-Minnemann
A: Literaturgeschichte und -kxiúklHistoria y Crítica de la Literatura, 7
Ulrike Kröpfl
Leopoldo Marechal oder die Rückkehr der Geschichte Eine Untersuchung um den hispanoamerikanischen Roman
Vervuert Verlag • Frankfurt am Main 1995
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme [Iberoamericana / Editionen / A] Editionen der Iberoamericana = Ediciones de Iberoamericana. Serie A, Literaturgeschichte und -kritik = Historia y crítica de la literatura. - Frankfurt am Main : Vervuert. Hervorgegangen aus: Iberoamericana / Editionen / 03 Reihe Editionen, Serie A zu: Iberoamericana NE: Iberoamericana / Ediciones / A; Editionen der Iberoamericana; Ediciones de Iberoamericana; HST
7. Kröpfl, Ulrike: Leopoldo Marechal oder die Rückkehr der Geschichte. -1995 Kröpfl, Ulrike: Leopoldo Marechal oder die Rückkehr der Geschichte : eine Untersuchung um den hispanoamerikanischen Roman / Ulrike Kröpfl. - Frankfurt am Main : Vervuert, 1995 (Editionen der Iberoamericana: Serie A, Literaturgeschichte und -
kritik ; 7) Zugl.: Erlangen, Nürnberg, Univ., Diss., 1994 ISBN 3-89354-859-9
© Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 1995 Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Michael Ackermann Printed in Germany: Prisma Druck, Frankfurt
The end of history will be a very sad time. The struggle for recognition, the willingness to risk one's life for a purely abstract goal, the worldwide ideological struggle that called forth daring, courage, imagination, and idealism, will be replaced by economic calculation, the endless solving of technical problems, environmental concerns, and the satisfaction of sophisticated consumer demands. In the post-historical period there will be neither art nor philosophy... Francis Fukuyama
M
^ Richard Wagner
Vorwort
Was zog unsere Aufmerksamkeit zu den Autoren Lateinamerikas? Ihre Verneinung der Geschichte, die Sehnsucht nach dem Paradies. Das damals sprechende Wort läßt im Laufe der Zeit nach und verstummt. Was vernimmt der heutige Leser bei Leopoldo Marechal? Das unausgesprochene Wort. Gegen 1988 hatte ich einen Hang zur Geschichtsverneinung in der lateinamerikanischen Literatur bemerkt. Daß hier ein Trend vorliegen könnte, bestätigte mir, schneller als erwartet, der Aufsatz „The End of History?" von Francis Fukuyama. Marechal schien auf den ersten Blick fugenlos in diesen Trend zu passen. Die herkömmliche Forschung lehrt: er ist ein christlicher Autor, der Himmel von Hölle trennt, vom Irdischen sich zum Himmlischen erhebt, den Blick auf das Ende der Zeiten gewandt. Ich stellte fest, daß unter der christlichen Schicht der Romane etwas anderes lag. Um Klarheit zu schaffen, habe ich wissenschaftliche Werkzeuge benutzt, aber die Spuren des Vergangenen sind oft verwittert, vielleicht zielstrebig verwischt. Der Nachlaß Marechals mag unterdrückt, unvollständig, unzugänglich sein; das Werk zeigt dennoch genug. Wenn ich die Fäden entwirrte, würde Ungeahntes ans Licht kommen, hatte mir Marechals Freund Rafael Squirru prophezeit - und hat recht behalten. Da ist Marechals Spurensuche in den Kreisen des florentinischen Dantedeuters Valli, da sind seine kargen Aussagen über Geheimbünde und Initiation. Und hatte der Dichter nicht Zweifel geäußert an einer christlichen Aufhebung der Zeit, hatte er nicht Fingerzeige gegeben auf eine Wiederkehr ohne Ende, ohne Paradies? Solchen Überlegungen kann sich ein Forscher nicht entziehen, mag man seinen Fragen zuweilen auch ausweichend begegnen. Und doch... Diese Auslassungspunkte will das Buch erörtern, denn das Unausgesprochene kann in Entstellung enden. Wenn Marechal Labyrinthe durchlief, waren es keine Labyrinthe von Ausflüchten: er hat versucht, ins Zentrum zu dringen; ihm ist geglückt, ein Theseus zu sein.
Allen Begleitern dieses geistigen Abenteuers spreche ich meinen Dank und meine Anerkennung aus: Carlos Dufour, Christian Thiel, Hinrich Hudde, Carlos Mendoza, Alicia Quinodoz. Der Beitrag derer, die - in Argentinien und England - mir ihre Zeit widmeten, um von Marechal zu berichten, ist hier festgehalten. Hilfe und Förderung verdanke ich der Hanns-Seidel-Stiftung, Juan José Leano (Guadalajara), Rudolf Kötter sowie dem Hochschulprogramm II. Die Philosophische Fakultät der FriedrichAlexander-Universität Erlangen-Nürnberg hat die Untersuchung als Dissertation angenommen. Ich danke Professor W. Fischer und manch unsichtbarer Hand, die ihr Erscheinen ermöglicht haben.
Erlangen, im März 1995
Ulrike Kröpfl
Inhalt Abkürzungen
7
Einleitung
9
Kampf der Ideen
9
Aufgabe und Folgerungen
12
Bemerkung zur Struktur
13
I Gestalt d e r G e s c h i c h t s b e w e r t u n g
17
1. Die Fragestellung 2. Geschichtsbewertung: Komplexität, Gradation, Trend 3. Begriffsanalyse und Kriterien der Geschichtsbewertung
17 20 23
Definition
23
Merkmalskriterium
27
Toposkriterium
27
Erzähltechnisches Kriterium
28
4. Geschichtsverneinung als Eigentümlichkeit? II M a r e c h a l : d a s Rätsel u n d die S p u r e n 1. Gegen den Strom 2. Das kryptische Buch 3. Der Verlust des Heiligen III D e r K a m p f v o n G e s c h i c h t e u n d P a r a d i e s 1. Schrecken und Anziehungskraft der Geschichte
29 33 33 35 38 41 41
Paradiessuche
41
Gefährliche Idylle
46
Geschichte und Identität
47
Die Anziehungskraft der Geschichte in Adán Buenosayres
50
Politische Deutung der Kastenlehre
51
Kastenverfall und Erneuerung in Megafón o la Guerra
56
2. Christentum gegen Heidentum Zusammenprall der Weltbilder
61 61
2 Hierarchie und Gleichheit
73
Die Deutung des Wissens
74
Die Deutung des Krieges
76
Die Deutung der Zeit
78
Eine zweite Waffe
79
IV Die Zeichen der Initiation
83
1. Symbolum
Ghibellinum,
Gral und O s i r i s - M y t h o s
83
Marechal und die initiatische Tradition
83
Der Einfluß der Fedeli d'Amore
85
Vernetzung traditionalistischer Autoren
89
Vernetzung der Traditionen
92
Die Rettung des verlorenen Reiches
98
2. A l c h i m i e , G e s c h i c h t e , H e l d e n t u m
100
Eine werkexterne Bestätigung
100
Alchimistisches Königtum
101
Die Eroberung der Unsterblichkeit
104
Männliches und Weibliches
105
Alchimistische Bedeutung der Geschichte
107
Das alchimistische opus in den Romanen Marechals
110
Traum und Schlaf
116
Die Spur des Christentums: eine alchimistische Chiffre
118
Das verlorene Zentrum
119
Alchimie und Geschichtsbejahung bei Marechal
120
Marechals Umdeutung des Christentums als initiatisches Heldentum
125
Initiatische Deutung des Martín Fierro
127
3. Ergebnis: Marechal, e i n initiatischer Autor
V Geschichtsbewertung und Erzähltechnik
128
133
1. M a r e c h a l s Spiel mit der A u t o b i o g r a p h i e
133
2. Körperlichkeit d e s Erzählers u n d I c h - E r - B e z u g
135
3. Erzähler und G e s c h i c h t s b e w e r t u n g
138
4. R ü c k b l e n d e und o n t o l o g i s c h e Struktur der R o m a n e
151
Symbolisierung der Struktur von Adán Buenosayres
15 3
Symbolisierung der Struktur von El Banquete de Severo Arcàngelo
154
Symbolisierung der Struktur von Megafón o la Guerra
156
3
5. Anfang und Ende von Adán Buenosayres
157
Eine strukturelle Frage
159
Eine Patchwork-Hypothese
160
6. Anfang und Ende von Banquete und Megafón VI Literaturkritische Würdigung 1. Marechals Piatonismus der Planung 2. Zeit und Raum 3. Marechal und Joyce 4. Piatonismus von Bildern und Handlung 5. Interfiktionale Wanderungen 6. Triumph des Wortes 7. Piatonismus des Konflikts 8. Piatonismus der Charaktere 9. Das gefilterte Tragische 10. Theatralität, Tragik und Geschichte 11. Bildhaftigkeit 12. Dreitakt-Zuspitzung im Dialog 13. Die Gedichte als Keimzelle der Romane 14. Zusammenfassung VII Kontroverse Bewertung der Geschichte: Tendenzen in der hispanoamerikanischen Literatur 1. Alte Welt - Neue Welt: Neue Ideen?
166 169 169 170 175 181 183 184 186 187 195 199 202 205 207 213
215 215
Die Gegenposition zu Marechal
215
Das Spiegelbild
215
Warum das Paradies?
217
2. Geschichtsverneinung in der hispanoamerikanischen Literatur
217
Carpentier: Mestizaje, Mutter Erde und Krieg gegen die Zeit
218
Rulfos Totendorf
223
García Márquez: Die Einsamkeit der Macht
225
Fuentes: Utopie und Wiederkehr
233
Borges: Erstaunen, nicht Wahrheit - Zaudern, nicht Handeln
239
Cortázars negative Metaphysik
245
3. Figur und Gegenfigur
253
Inhaltlicher Kontrast: Marechal und die Autoren der nueva novela
253
Formaler Kontrast
257
4. R e z e p t i o n
258
Cuba
258
Drei strukturelle Übereinstimmungen
259
Wechselwirkung der Erwartungen
260
Die Multiplikatoren der nueva novela
263
Marechal und der Boom
267
5. A u s b l i c k
270
Eine letzte Zusammenfassung
270
Eine Koinzidenz
271
Ende des Booms und mögliche Umorientierungen
275
Materialien zu Marechal (A) Leben und Werk 1. M a r e c h a l s Werk als Transkription d e s L e b e n s
279 279
Alte und neue Ruinen?
280
Auf der Suche nach Eigenem
281
Religiöser und politischer Glaube
283
Zwei Fragezeichen: der Nachlaß und die erste Seite von Megafön
286
2. R e s ü m e e : » A d á n B u e n o s a y r e s « ( 1 9 4 8 )
293
3. R e s ü m e e : »El B a n q u e t e de S e v e r o A r c à n g e l o « ( 1 9 6 5 )
295
4. R e s ü m e e : » M e g a f ó n o la Guerra« ( 1 9 7 0 )
298
(B) Dokumente und Interviews 1. S t e l l u n g n a h m e n und B r i e f e Literaten zu Marechal 2. Interviews.
301 301 301 307
Elbia Rosbaco
308
Federico Ibarguren
311
Fernando Demaria
312
José Maria Castiñeira de Dios
312
Rafael Squirru
313
Catherine Ward Kavanagh
317
5
(C) Literaturwissenschaftliche Diskussion 1. Der religiöse Ansatz
321 322
Vertreter
322
Würdigung
336
2. Der erzähltechnische Ansatz
337
Erste Gruppe: die Homogenitätsthese
339
Zweite Gruppe: Ruptur und Modernität
355
Dritte Gruppe: Duplikationen und Kryptogramme
357
Würdigung
366
3. Der esoterische Ansatz
370
Vertreter
370
Exkurs zur Anwendbarkeit nichtliterarischer Deutungssysteme
370
Würdigung
381
Literatur
383
Quellen
383
Sekundärliteratur
387
Abbildungsverzeichnis
401
Personenregister
403
Sachregister
406
Abkürzungen
GB
Geschichtsbejahung
GV
Geschichtsverneinung
AB
Adán Buenosayres (nach der Ausgabe von Editorial Sudamericana, Buenos Aires: 1966)
BSA
El Banquete de Severo Arcàngelo (nach der Ausgabe von Editorial Sudamericana, Buenos Aires: 1987)
MG
Megafón o la Guerra (nach der Ausgabe von Editorial Sudamericana, Buenos Aires: 1988)
DA
Descenso y Ascenso del Alma por la Belleza (nach der Ausgabe von Ediciones Citerea, Buenos Aires: 1965)
CN
Cuaderno de Navegación (nach der Ausgabe von Editorial Sudamericana, Buenos Aires: 1966)
Maréchal", Bronze von José Fioravanti
Einleitung In unserem Haupt, in unserer Brust sind die Arenen, in denen die alten Mächte sich begegnen in den Verkleidungen der Zeit.
Ernst Jünger
Kampf der Ideen Ist unsere Erfahrung verarmt und entzaubert? In den Wäldern hausen keine Fabelwesen mehr, die Handlungen verlieren ihre sakrale Kraft, die Götter ziehen sich aus der Welt zurück. Gewiß, aber heute nehmen Ideen den Platz der Götter ein, die, verkleidet in den Taten und Phantasien der Menschen, ihren Kampf ausfechten und die Geschichte prägen. Literatur ist einer der Schauplätze, wo rivalisierende Weltanschauungen und Werte aufeinandertreffen. Literatur nimmt geistige Strömungen auf und strahlt sie verdichtet auf eine Kultur zurück. So registrierten Dostojewskis Romane eine Zeit, die dem Christentum einen Totenschein ausstellte, eindrucksvoller als eine kulturgeschichtliche Abhandlung oder ein politisches Manifest. Mit der nueva novela Lateinamerikas entsteht ab den sechziger Jahren eine Literatur, die durch ihre Bewertung der Geschichte eine geistig-kulturelle Strömung anschwellen läßt. Diese Literatur wuchs explosionsartig, sie wurde Boom1 genannt, sie faszinierte europäische Leser ähnlich wie der Existentialismus oder der Surrealismus. Warum? Die Einstellung der nueva novela zur Geschichte drückt die Hoffnung auf ein Ende der Geschichte aus: die Sehnsucht nach dem Paradies ist nur eines ihrer Symptome. Hinter dem abstrakten Begriff „Geschichtsverneinung" verbirgt sich ein komplexes Phänomen, das die neuere hispanoamerikanische Literatur in einem Ostinato obsessiver Ideen beschwört. Die literarischen Anzeichen des Wunsches, aus der Geschichte „auszusteigen", lassen sich im übergeordneten Rahmen eines außerliterarischen, geistig-kulturellen Phänomens verstehen.
Als Kern des sogenannten Booms der hispanoamerikanischen Literatur wird eine Schaffensphase (die Jahre zwischen 1960 und 1970) bezeichnet, in der hochwertige Romane entstanden. Bestimmend für den Boom sind aber auch Vorläufer- und Nachfolgewerke. Von José Donoso, der auf die Schwierigkeit seiner Eingrenzung und Definition hinweist, wird er humorvoll als strittiges Phänomen charakterisiert, dessen Existenz sich hauptsächlich jenen verdanke, die ihn negierten. Donoso 1972: 11,13f.
10
Einleitung
Die Erforschung der literarischen Geschichtsverneinung bildet hier den Hintergrund und das komplementäre Ziel: der Neigung, Geschichte abzulehnen, steht ihre Bejahung gegenüber. Diese Haltung nimmt der argentinische Autor Leopoldo Marechal (1900-1970) ein. Im Mittelpunkt unserer Betrachtung der Geschichtsbewertung stehen Marechals drei Romane Adán Buenosayres (1948), El Banquete de Severo Arcàngelo (1965) und Megafón o la Guerra (1970). In ihnen wird mit ansteigender Kraft Geschichte bejaht. Wie der Umriß einer Figur die Grenzlinien ihres Hintergrunds ausschneidet, kann Marechals Werk, hier Zentralfigur, nur im Kontrast zum Hintergrund ganz verstanden werden. Die Grenze, die Marechal zieht, ist die Gestalt der Boomautoren, die Grenze der Boomautoren umreißt die Gestalt Marechals. In Figur und Gegenfigur der Geschichtsbewertung werden Marechals Geschichtsbejahung und die Geschichtsverneinung der Literatur Hispanoamerikas sichtbar. Diese ist vertreten mit ausgewählten Werken von Julio Cortázar, Gabriel García Márquez und Carlos Fuentes, aber auch mit Werken der erratischen Gestalt Juan Rulfos und der „Väter" des Booms, Alejo Carpentier und Jorge Luis Borges. 2 Literaturkritiker und Literaturwissenschaftler besaßen unbestrittenen Anteil daran, den Schneeballeffekt des Booms zu vergrößern. Es wäre eine Reduktion, dieses Phänomen nur durch Verlagsstrategien zu erklären. Die Interpreten müssen auf ein, wenn auch nur dunkel geahntes, fiindamentum in re in der Aussage der betreffenden Werke gestoßen sein, das dem Zeitgeist zu entsprechen schien. Dieses dunkel erahnte Fundament explizit zu machen heißt aber, das Wesen des Booms und, spiegelverkehrt, das Wesen seines Gegensatzes zu erfassen. Denn: bei Marechal fanden die Interpreten dieses Element offenbar nicht, und aus ebenso dunkel verspürten, aber nicht weniger wichtigen Gründen hatte Marechal nie Anteil am Boom. Dabei wurden wohl die christlichen Elemente seines Werks zum Anlaß genommen, um ihn als harmlos einzustufen und die politischen, um ihn zum Schweigen zu verurteilen. Ich behaupte nicht, die Kritik habe sich geirrt, als sie Marechal ausgrenzte, im Gegenteil: ihr Gefühl ist, wie sich zeigen wird, kohärent und entspringt denselben Motiven, die sie dazu führten, die Boomautoren zu akzeptieren. Um die Literatur Hispanoamerikas zu charakterisieren, sprach man vereinzelt von Identitätssuche, Zirkularität der Zeit, Paradiesessehnsucht, Indigenismus, Kultursynkretismus oder Mestizentum und erhob damit isolierte Motive zur Eigentümlichkeit dieser Literatur. Dabei übersah man das Wesentliche: eine Grundeinstellung zur Geschichte, die diese komplexen Merkmale umfaßt und in eine Bejahung oder Ver-
2
Mit der alternativen Bezeichnung Boomautoren bzw. Autoren der neueren Literatur Hispanoamerikas versuche ich der Tatsache gerecht zu werden, daß Carpentier und Borges strenggenommen zeitlich nicht zum Kern des Booms gehören. Wie Donoso sagt, Lebensdauer und Grenzen des Booms sind umstritten, dennoch scheinen mir alle hier ausgewählten Werke ein Abbild seines Wesens zu vermitteln.
Kampf der Ideen
11
neinung der Geschichte mündet. Da dieser Ansatz neu ist, stelle ich Definitionen und Anwendungskriterien der Begriffe auf. Man könnte gegen die Hypothese der Geschichtsverneinung in der Literatur Hispanoamerikas einwenden, es scheine in dieser doch genau das Gegenteil eines Ausstiegs aus der Geschichte vorzuliegen. Der geistige Raum der nueva novela zeichne sich durch ein ausgesprochen politisches Engagement der Autoren aus, das sich ursprünglich an der Begeisterung für Cuba entzündet habe. Dagegen werde ich zeigen, daß gerade dieses Paradox die Relevanz der hier vertretenen These erhärtet. 3 Ein anderer Einwand 4 könnte lauten: die nueva novela ist nicht ausschließlich politisch, sondern Abbild einer vielschichtigen Wirklichkeit. In der Tat ist die hispanoamerikanische Literatur nicht nur politisch, doch sie drückt eine Weltanschauung aus, die diese komplexe Wirklichkeit bewertet. Eine Untersuchung der Auffassungen von Raum, Zeit, Kausalität, Identität, Mensch und Gesellschaft ermöglicht, die komplexen, aber zielgerichteten Bewertungen der nueva novela adäquat zu erfassen. Das Ende der Geschichte ist eine beunruhigende Idee. Auf dem Hintergrund des heute zusammengebrochenen Gegensatzes der politischen Blöcke - auch ein Kampf der Ideen und Ideologien - hat die These vom Ende der Geschichte und einer ideologiefreien Ära mit Francis Fukuyamas Überlegungen 5 eine repräsentative Formulierung auch für die Geschichtsverneinung der Literatur Lateinamerikas gefunden. Doch ausgehend von denselben Prämissen gelangt man zum Kern von Marechals gegenläufigen Überlegungen: warum sollte die Geschichte zu Ende gehen? Gibt nicht die Unausrottbarkeit ihrer wesentlichen Merkmale, etwa von Konflikten in ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen, zu denken? Und ließ nicht zuletzt Nietzsches Vernichtung der teleologischen Konzeption eine Denkalternative hervortreten? Alles geht, alles kommt zurück; ewig rollt das Rad des Seins. Alles bricht, alles wird neu gefügt; ewig baut sich das gleiche Haus des Seins. Alles scheidet, alles grüßt sich wieder; ewig bleibt sich treu der Ring des Seins. In jedem Nu beginnt das Sein, um jedes Hier rollt sich die Kugel dort. Die Mitte ist überall. Krumm ist der Pfad der Ewigkeit.6 Auch heute, einige Jahre nach seinem vieldiskutierten Aufsatz und dem Buch The End ofHistory and the Last Man (1992), sieht sich Fukuyama gezwungen, Theorien zu diskutieren, für die Konflikte und Kriege zur Zukunft der Menschheit gehören: Samuel Huntingtons makroskopischen Zusammenprall von Zivilisationen und Hans
3
Siehe unten, Kap. VII § 4: 258ff.
4
So argumentiert etwa Schopf 1984: 201.
5
Der Aufsatz „The End ofHistory?" erschien 1989 in The National Interest, das Buch The End of History and the Last Man ist hier aufgeführt als Fukuyama 1992. Siehe auch unten, Kap. VII § 5: 271 ff.
6
Nietzsche, „Der Genesende", 2, in Also sprach Zarathustra, III; Nietzsche 1979: II, 463.
Einleitung
12
Magnus Enzensbergers „molekulare Bürgerkriege". 7 Dahinter steht die Frage nach Geschick und Geschichte, auf die unterschiedliche Antworten gegeben werden. Zwei Ideen prallen aufeinander: das Ende der Geschichte, die Geschichte ohne Ende. Die erste lassen die lateinamerikanischen Autoren hervortreten, die andere Leopoldo Marechal, der eine Geschichte ohne Ende für möglich hält. Aufgabe und Folgerungen Unter der Hypothese, die nueva novela besitze eine Tendenz zur Geschichtsverneinung, springt das schlagartig anwachsende europäische Interesse an der Literatur Hispanoamerikas ins Auge. Welcher Zusammenhang besteht zwischen Geschichtsverneinung und Verbreitung? Als sich die Annahme einer Geschichtsverneinung am Werk Marechals bestätigen sollte, stieß ich - hinter der glatten Oberfläche eines poeta doctus - auf eine andere Haltung: Krieg und Tod werden hier, keineswegs als Selbstzweck, als unvermeidliche Insignien der Geschichte angenommen. Geschichte als Möglichkeit eines Schicksals ist hier ein Erkenntnisspiegel, durch den sich Individuen und Völker betrachten. 8 Diese unerwartete Aussage wird auf besondere Weise gestützt durch die Funktion der Initiation und Alchimie in Marechals Romanen. Die Verbreitung von Marechals Werk war bis vor kurzem bezeichnenderweise prekär bis nichtexistent. Aus dieser Beobachtung ergibt sich ein allgemeines und ein spezielles Ziel: allgemein, eine literaturwissenschaftliche Bestätigung zu finden für die Hypothese der Geschichtsverneinung an ausgewählten Werken der nueva novela und, im besonderen, eine Bestätigung der Geschichtsbejahung bei Leopoldo Marechal. Dieser Aspekt wird in den Mittelpunkt gestellt und dann mit der Geschichtsbewertung der Boomliteratur konfrontiert. Das Rätsel Marechals zeigt erst dann seine Umrisse, wenn man den Kontrast verschiedener Ebenen im Werk zur Kenntnis nimmt. Christliche Metaphorik wandelt sich zur Chiffre und erhält durch Symbole der heidnischen Tradition eine subtile inhaltliche Umdeutung. Welche Anhaltspunkte rechtfertigen diese Behauptung? Marechals eigene Kommentare über sein Werk deuten vorsichtig dessen hermetischen, nichtchristlichen Charakter an. Unter der Schicht christlicher Symbolik werden Vorstellungen postuliert, die mit der christlichen Konzeption nicht vereinbar sind: eine kriegerische Mystik verbindet sich mit einem Geschichtsbild der Wiederkehr, eine
7
„Die Zukunft des Krieges", in Fukuyama 1994: 16-23.
8
Der Einwand: „Marechals Position ist tendenziös" liegt nahe, doch die seiner Antagonisten ist es ebenfalls. Werke, die Werturteile übermitteln, haben diese Eigenschaft an sich. Eine ausgewogene Einschätzung, wie Hispanoamerika in seiner Literatur die Geschichte begreift, ist nur möglich, wenn beide Tendenzen gleichermaßen zu Wort kommen. Daher soll die bis jetzt vernachlässigte Haltung untersucht werden, die das Werk Marechals offenbart.
Bemerkung zur Struktur
13
Atmosphäre entsteht, die nicht dem christlichen Gnadenprinzip folgt, sondern einem initiatischen Auswahlprinzip. Die bisherigen Positionen der Marechalforschung haben andere Akzente gesetzt. Entweder haben sie den christlichen Charakter des Werks unkritisch behauptet oder inquisitorisch als nicht dogmentreu getadelt. Die initiatische und alchimistische Dimension Marechals wurde entweder nicht zur Kenntnis genommen oder nur im sicheren Rahmen des Christentums bagatellisiert bzw. umgedeutet. Gezeigt wurde von den besten Studien allenfalls die Existenz einer solchen Dimension, aber nicht ihr Sinn. Dagegen können wir die initiatisch-alchimistischen Elemente als Schlüssel zu Marechals Werk verstehen und sie in einen umfassenden, aussagekräftigen Zusammenhang stellen, der seine Bedeutung durch die Geschichtsbewertung erhält. Die inhaltliche Deutung bestätigt sich durch eine erzähltechnische Analyse, die zeigt, wie formale Merkmale die Aussage der Geschichtsbejahung stützen. Flankiert wird dies von einer Übertragung der philosophischen Theorien Héctor-Neri Castañedas auf die Erzähltechnik. Literatur verhilft dem Unausgesprochenen zur Sprache. Wird ein literarischer Trend zu explizit, weil er das schon Gezeigte nochmals ausspricht, wie es in den Nachfolgewerken des Booms der Fall ist, verliert er seine Anziehungskraft. Aus dieser Betrachtung ergibt sich, daß ein Wandel, eine Umorientierung des Charakters der hispanoamerikanischen Literatur nötig ist. Was kann man von der Erforschung des Phänomens der bejahenden und verneinenden Geschichtsbewertung erwarten? Durch die Einordnung des literarischen Symptoms in einen übergeordneten geistig-kulturellen Zusammenhang wird nach einer eingehenden Analyse deutlich, daß das literarische Phänomen den Schnittpunkt von Fiktion und Wirklichkeit ausmacht: Glaube, Einstellungen, Wünsche und Handlungen von Menschen manifestieren sich hier; Ideologie, Geschichtsbewertung, Literaturproduktion und Rezeption prallen hier zusammen. Diese Perspektive bietet auch eine Erklärung für die Anziehungskraft der nueva novela ab den sechziger Jahren: der spezifische Charakter hispanoamerikanischer Literatur und die Erwartungen des westeuropäischen Lesers bzw. Kritikers wirken aufeinander. Das zu Erklärende, Marechals Werk einerseits und die Literatur des Booms andererseits, scheint dabei an Explosivität noch übertroffen zu werden durch die Erklärung, die Bejahung oder Verneinung der Geschichte. Bemerkung zur Struktur Der erste, methodologische Teil, Kapitel I: Gestalt der Geschichtsbewertung, legt die Fragestellung fest. Zunächst definiere ich die zentralen Begriffe der Geschichtsbejahung und Geschichtsverneinung und erläutere sie an Beispielen der lateinamerikanischen Literatur. Dabei zeigt sich die Erschließung der latenten Bedeutungen als
14
Einleitung
eine der Aufgaben der Literaturwissenschaft und die geschickte Nutzung des SeinSollen-Gefälles als eine der Möglichkeiten der Literatur. Der zweite, interpretative Teil führt mit Kapitel II: Marechal - das Rätsel und die Spuren die Vermutung einer esoterischen Ebene im Werk ein. Kapitel III: Der Kampf von Geschichte und Paradies weist nach, daß der Kontrast zwischen geschichtsbejahenden und geschichtsverneinenden Elementen im ersten Roman Marechals in den folgenden Romanen zu einer Akzentuierung der Geschichte durch nichtchristliche Symbolik führt. Dieser Kontrast ist übertragbar auf eine allgemeine Ebene, in der sich Christentum und Heidentum gegenüberstehen. Der Standpunkt Marechals in dieser Konfrontation wird abgesteckt. Kapitel IV: Die Zeichen der Initiation knüpft den Zusammenhang nichtchristlicher oder nur teilweise christlicher Symbolik mit der kriegerisch-initiatischen Tradition: die Rückkehr der Geschichte zur Rettung der verlorenen patria. Eine Untersuchung der alchimistischen Ebene ergibt: als initiatisches Paradigma im Netz dieser Traditionen interpretiert Marechal auch die Alchimie im Rahmen der Geschichtsbejahung. Der dritte, erzähltechnische Teil zeigt mit Kapitel V: Geschichtsbewertung und Erzähltechnik, zunächst in einem deskriptiven, analytischen Abschnitt, eine wesentliche Funktion der Erzähltechnik. Die Form unterstützt den Inhalt: die Bejahung der Geschichte. Schließlich verdeutlicht eine symbolische Transkription der Romanstruktur die in der Forschung umstrittene Frage nach Kohärenz bzw. Inkohärenz des Romans Adán Buenosayres. Eine genetische Erklärung (Patchwork-Hypothese) wirft Licht auf diese Diskussion. In Kapitel VI: Literaturkritische Würdigung tritt eine erzähltechnische Eigenart des Autors hervor: nach einer detaillierten Kritik von Marechals erzählerischem „Piatonismus" argumentiere ich dafür, daß dieser Schematismus die geschichtsbejahende Botschaft letztlich nicht angreift. Eine wichtige Stütze ist dabei die Beurteilung von Marechals Humor und dichterischem Ingenium. Der abschließende vierte Teil, Kapitel VII: Kontroverse Bewertung der Geschichte — Tendenzen in der hispanoamerikanischen Literatur, wendet sich der literarischen Gegenposition Marechals zu. An aussagekräftigen Werken von Alejo Carpentier, Juan Rulfo, Gabriel García Márquez, Carlos Fuentes, Jorge Luis Borges und Julio Cortázar entsteht eine Erklärungsskizze des Phänomens der Geschichtsverneinung. Marechals Standpunkt wird im Kontrast zu diesen Autoren gewürdigt, ein Erklärungsversuch für die unterschiedliche Rezeption beider Pole unternommen und ein prognostischer Ausblick gewagt. Der Abschnitt Materialien zu Marechal kommt verschiedenen Interessen entgegen: ein erster Teil erleichtert den Einstieg in das Werk Marechals durch biographisch-kulturelle Hintergrundinformationen, nicht zuletzt zur ungeklärten Frage des Nachlasses und der ersten Seite von Megafón o la Guerra, und durch Resümees der drei Romane. Ein zweiter Teil umfaßt Dokumente und Interviews mit Marechals engsten Vertrauten, die wertvolle Fakten zu der alchimistisch-esoterischen Botschaft
Bemerkung zur Struktur
15
des Autors beisteuern. In einem dritten Teil stelle ich die Positionen der Marechalforschung dar und diskutiere sie. Alle Teile sind gewissermaßen unabhängig. Sie beleuchten verschiedene Aspekte und können mit den in Kapitel I aufgestellten Definitionen unabhängig voneinander gelesen werden. Ihren inneren Zusammenhang gewinnen sie durch die Analyse der bejahenden und veraeinenden Geschichtsbewertung. Zusammenfassend: unser Weg führt also von einer methodischen Einfuhrung über die Deutung der Geschichtsbejahung Marechals und einer Betrachtung seiner Erzähltechnik bis hin zur Ortsbestimmung der Boomautoren und ihrer Geschichtsverneinung.
Kapitel I Gestalt der Geschichtsbewertung 1. Die Fragestellung Man hat einmal gesagt, man könne das Denken und Fühlen Hispanoamerikas nicht aus seinen philosophischen Abhandlungen, sondern aus seinen Romanen ablesen. Aber wie? Eine Lektüre ohne Fragestellung wäre blind. Ich versuche zuerst zwei Probleme zu lösen: (1.)
Was ist unter Geschichtsbewertung literarisch?
zu verstehen, und wie äußert sie sich
(2.)
Ist Marechals Einstellung zur Geschichte
bejahend?
Marechal schreibt nicht im luftleeren Raum, sein Bild wird erst verständlich, wenn wir es zusammen mit der Literatur Hispanoamerikas betrachten. Daher frage ich ergänzend: (3.)
Wie manifestiert sich die Position der
Geschichtsverneinung?
(4.)
Kann die Anziehungskraft der »nueva novela« bzw. die spärliche Bekanntheit Marechals außerhalb Argentiniens durch die Hypothese des Trends zur Geschichtsverneinung erklärt werden?
Wenn sich die Annahme bestätigt und bei Marechal eine geschichtsbejahende Position vorliegt, kann für sie und ihre Gegenfigur, die Geschichtsverneinung der Autoren des Booms, 1 ein Erklärungsversuch unternommen werden, der sich auf Hypothesen über rationales Verhalten und unbewußte Motivation stützt. Einstellungen (Glaube, Absichten), welche die Geschichte bejahen oder verneinen, können offengelegt werden, insofern sie explizite oder der Deutung zugängliche Spuren in der Literatur hinterlassen haben. Was das letzte betrifft, kann es in einem literarischen Werk eine Ebene geben, die ich Ebene der latenten Bedeutungen nennen will. Das sind Bedeutungen, die dem Autor bewußt sein können, aber nicht notwendigerweise bewußt sein müssen, und die sich durch eine Exegese erhellen lassen.
1
Siehe unten, Kap. VII.
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I. Gestalt der Geschichtsbewertung
Man kann sagen, daß eine der Aufgaben des Literaturwissenschaftlers im Auffinden und Entschlüsseln latenter Bedeutungen eines Textes besteht. Wie sind diese „latenten Bedeutungen" näher zu charakterisieren? Jede Bedeutung, die sich einem kompetenten Sprecher in der Betrachtung der Zeichen (Sätze, Absätze etc.) erschließt, ist eine offensichtliche Bedeutung. In ihr sind auch Metaphern enthalten, denn wir würden niemanden einen „kompetenten Sprecher" nennen, der nicht eine metaphorische Rede verstehen könnte. Es gibt jedoch Bedeutungen, die sich nicht allein dadurch erschließen, daß man ein kompetenter Sprecher/Leser ist. Zwei Fälle können hier auftreten: der Leser begreift, daß der Text eine Botschaft enthält, kann sie aber nicht entziffern, oder der Leser ahnt nicht, daß der Text eine Botschaft birgt. Die Literaturwissenschaft kann in beiden Fällen ansetzen, da sie Zugriff zu Kenntnissen hat, welche die bloße Sprachkompetenz übersteigen. So kann sie die Hypothese erstellen, daß ein Textfragment eine verborgene (nicht nur eine metaphorische oder moralische) Bedeutung hat. Sie ist ferner in der Lage, Hypothesen darüber aufzustellen, worin diese latente Bedeutung bestehen könnte. Und sie kann schließlich die Methode der auf verschiedene Erkenntnisarten gestützten Erklärungsskizze2 anwenden, um diese Hypothesen zu überprüfen. Es lassen sich Situationen denken, wo die normale sprachliche Kompetenz überfordert ist und trotzdem kein literaturwissenschaftliches Problem im strengen Sinn vorliegt. Entziffert etwa ein Nachrichtendienst im Krieg die Botschaft der Gegenseite „die Ameisen rücken vor", ist es sicher vernünftig, hier eine militärische Bedeutung anzunehmen. Dies zu bestimmen und zu überprüfen ist zwar nicht Aufgabe der Literaturwissenschaft, doch es gibt fließende Grenzen: würde zum Zeitpunkt eines militärischen Angriffs auf strategisch wichtige Ziele ein Zitat aus Borges' „El Jardin de Senderos que se Bifurcan" durch den Militärfunk übermittelt, ist es wegen der spezifischen Aussage dieser Erzählung nicht ausgeschlossen, daß literaturwissenschaftliche Kenntnisse eine weitere Entzifferung ermöglichen. 3 Ist man jedoch auf einen rein literarischen Kontext konzentriert, eröffnet sich in der Erforschung latenter Bedeutungen ein weites - sicher nicht ein ausschließliches - Aufgabengebiet für die Literaturwissenschaft. Ist nun „latent" mit „unbewußt" gleichzusetzen, und was bedeutet das für unsere Fragestellung? Die Überlegungen Kims und Brandts über den Willen weisen nach: wir können Dinge wollen, ohne es zu wissen. 4 So kann der Schriftsteller etwa die Figur des „Helden" oder eine heroische Geschichtsauffassung durch die Schaffung
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Siehe unten § 2: 21 f.
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Diese Erzählung handelt von der verschlüsselten Übermittlung eines Angriffziels.
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Dargestellt in Stegmüller 1983: 452-467.
1. Die Fragestellung
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eines „Antihelden" und anderer geschichtsverneinender Elemente angreifen oder sie durch geschichtsbejahende Mittel befürworten, ohne sich dessen bewußt zu sein. Doch möglich ist auch das Gegenteil. Latente Bedeutungen können auch teilweise oder völlig bewußt eingesetzt werden, daher sind sie keine Basis für eine psychoanalytische Literaturdeutung. Der Schriftsteller kann beispielsweise die Apokalypse literarisch in ihrer wörtlichen Bedeutung als Ende der Zeit darstellen und latent bewußt oder teilbewußt - die Hoffnung auf den endgültigen Ausstieg aus der Geschichte durchscheinen lassen. Ich werde daher untersuchen, welche Auswirkungen die latenten Bedeutungen auf das Werk Marechals besitzen. 5
Der Begriff der latenten Bedeutungen soll nun analysiert werden. Latente Bedeutungen setzen sich aus zwei Komponenten zusammen: die erste Komponente ist intern gerichtet und besteht aus Eigenschaften O eines Textes x: es handelt sich dabei um Eigenschaften, deren Entdeckung mehr erfordert als einen kompetenten Sprecher oder Autor. Die Relevanz oder Nicht-Relevanz der latenten Eigenschaften eines Textes hängt von der Fragestellung ab. Zum Beispiel: eine Untersuchung über Abb. 1: Latente Bedeutungen , _ ^ . . „ , den Prozentsatz an Zeitwortern in Goethes Faust II ist für eine Symbolik-Interpretation irrelevant, für einen Stilvergleich des Alters- und des Jugendwerks hingegen relevant. Im folgenden werde ich diese intern gerichteten Eigenschaften als Textattribute oder attributive latente Bedeutungen bezeichnen. Die zweite, nicht intern, sondern extern gerichtete Komponente latenter Bedeutungen wird gebildet von festen Relationen zwischen den Textattributen und gewissen impliziten Aussagen, Aufforderungen, Einstellungen etc., die hier mit A abgekürzt werden. Dabei müssen die Eigenschaften nicht latent sein, aber ihre Relationen mit den impliziten Aussagen schon. Wiederum sind diese Relationen nicht einfach dadurch erkennbar, daß der Interpret selbst ein kompetenter Sprecher oder Autor ist. Ein Beispiel: um die alchimistische Ebene in Faust II zu erkennen, benötigt man Zusatzwissen. Wenn es heißt: Es leuchtet! seht! - Nun läßt sich wirklich hoffen, Daß, wenn wir aus viel hundert Stoffen Durch Mischung, denn auf Mischung kommt es an, Den Menschenstoff gemächlich komponieren, In einen Kolben verlutieren Und ihn gehörig kohobieren, 5
Ein treffendes Beispiel für die Anwendung latenter Bedeutungen liefert García Márquez. Wenn er die Ideen seiner Interpreten zunichte macht, erweckt er den Eindruck, als gäbe es keine latenten Bedeutungen. Andererseits entdeckt García Márquez spielend dann latente Bedeutungen, wenn er andere Autoren interpretiert. Siehe unten VII § 1: 232f.
I. Gestalt der Geschichtsbewertung
20 So ist das Werk im stillen abgetan. [... ] Das Glas erklingt von lieblicher Gewalt, Es trübt, es klärt sich; also muß es werden! Ich seh in zierlicher Gestalt Ein artig Männlein sich gebärden. 6
so spielt Goethe hier auf Begriffe und Vorgänge der Alchimie an. Mit „Mischung" sind die chemischen Elemente des alchimistischen Werks (opus) gemeint, mit „Kolben" das Alchimistengefaß (Athanor), mit „Werk" das alchimistische opus, mit „artig Männlein" der Homunculus, jenes Symbol des opus, das den „Sohn der Philosophen" darstellt. Die Relation zwischen den Textattributen (Mischung, Werk, Kolben, Männlein) und der Aussage (alchimistische Transformation) ist latent. Im folgenden werde ich diese Komponente als Textimplikationen oder implikative latente Bedeutungen bezeichnen. Mit dieser Begriffsbestimmung wird auch deutlich, wie sich latente Bedeutungen auf Literatur auswirken. Vermutlich herrscht ein gewisser Parallelismus zwischen den intern gerichteten Textattributen und der innerliterarischen Betrachtungsweise. Die Komponente der Textimplikationen kann dagegen sowohl innerliterarisch als auch außerliterarisch betrachtet werden. 7
2. Geschichtsbewertung: Komplexität, Gradation, Trend In einer ersten Annäherung an den Begriff der Geschichtsbewertung in bejahender und verneinender Form (im folgenden auch GB für „Geschichtsbejahung" und GV für „Geschichtsverneinung") können drei Charakteristika hervorgehoben werden. Zum einen ist das Prädikat „geschichtsbejahend" (bzw. „geschichtsverneinend") kein schlicht (konjunktiv) zusammengesetztes Prädikat, wie das logische Prädikat „... ist ein Mensch", das sich per genus proximum et differentiam specificam (nach dem Muster: „... ist ein vernünftiges Lebewesen") definieren läßt. „Geschichtsbejahend" und „geschichtsverneinend" sind vielmehr Prädikate einer gewissen logischen Komplexität. Zum anderen sind Geschichtsbejahung oder Geschichtsverneinung unscharfe Begriffe, denn es handelt sich bei ihnen weder um klassifikatorische noch metrische Begriffe: sie sind graduell und komparativ. Literarische Werke können in stärkerem oder schwächerem Maße GB oder GV ausdrücken. Weiter sind fast alle Terme, die Aspekte der GB oder GV beschreiben, auch komparativ. Trotzdem bedeutet die Unscharfe der Begriffe nicht, daß ihre Behandlung ungenau sein muß. Sie teilen diese
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Goethe, Faust II, 2. Akt, Laboratorium.
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Die Betrachtung von Marechals Textimplikationen wird in Kap. II—IV durchgeführt, die Untersuchung der Textattribute in Kap. V-VI.
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2. Geschichtsbewertung: Komplexität, Gradation, Trend
Eigenschaft mit allen unscharfen Begriffen, etwa der Psychologie oder der Ökonomie (z. B. Konzentration, Gestaltwahrnehmung, Angst, Geld, Gebrauchswert, Konkurrenz etc.), die wissenschaftlich behandelt werden können. Auch wenn in literarischen Werken nicht alle Aspekte der Geschichte positiv oder negativ bewertet werden, kann man immer ein Quorum ausmachen. 8 Schließlich handelt es sich bei den Phänomenen der Geschichtsbejahung und Geschichtsverneinung um Merkmalskomplexe, die sich als Trend ausdrücken. Ein Trend, wie z. B. eine Mode, ist ein Vorgang in einer Gesellschaft, bei dem mehrere Personen, mit oder ohne gegenseitige Beeinflussung, eine bestimmte Handlung vollziehen oder unterlassen. Ein Trend liegt also vor, wenn es mehrere Träger eines Hanges oder einer Handlung gibt. Das bedeutet: ein Trend ist zwar ein kollektiver, aber kein universeller Sachverhalt. Wir geben mit einem Trend daher kein Gesetz und keine Ursache an, die das Explanans einer strengen (gesetzesartigen) wissenschaftlichen Erklärung bilden könnte. Aus der Eigenschaft der Komplexität von Geschichtsbejahung und Geschichtsverneinung ergibt sich die Notwendigkeit einer behutsamen Begriffsanalyse, die dieser komplexen Struktur gerecht wird. Der graduelle Charakter von GB und GV zeigt, daß es nicht um die Etikettierung oder Klassifikation durch diese Begriffe, also um Ja/Nein-Fragen, geht. Man muß daher auf die Ergebnisse der Begriffsanalyse zurückgreifen und Kriterien bzw. Begriffsunterscheidungen einführen, die dem graduellen Charakter gerecht werden. Für unseren Fall heißt das: weder ist Marechal (oder die Autoren der lateinamerikanischen Literatur) durchweg geschichtsbejahend bzw. geschichtsverneinend noch ist es ein Werk in allen seinen Aspekten. Der Trendcharakter von GB und GV, der an verschiedenen Autoren bestätigt werden muß, erfordert schließlich ein realistisches Bild davon, welche Art von Erklärung die Natur des Trendbegriffs erlaubt. Ich beanspruche nicht, mit den Begriffen GB und GV ein Gesetz zur Erklärung einer Literatur gefunden zu haben. Welche Art von Erklärung kann man also vernünftigerweise von Literatur geben? Literaturforschung hat als Ersatz einer gesetzesartigen Erklärung die Möglichkeit, Erklärungsskizzen9 anzufertigen. Sie sind wesensmäßig unvollständig, d. h. gewisse Elemente der Erklärung stehen zwar prinzipiell zur Verfugung, werden aber aus Gründen der Einfachheit, Kürze etc. weggelassen oder sind vorläufig unbekannt und müssen durch künftige Forschungen ergänzt werden. Ich grenze mich daher ab von 8
Aufgrund dieser Unscharfe könnte man die Terme geschichtsbejahend nend als fuzzy terms bezeichnen. Vgl. Haack 1978: 164-69.
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Vgl. Stegmüller 1983: 400-406, der die Rolle von Erklärungsskizzen für die Geschichtsforschung zeigt. Man kann beispielsweise die Handlung einer Person recht gut erklären, indem man angibt, was die Person beabsichtigte, wie sie ihre Situation einschätzte - kurz, durch das, was sie glaubt bzw. wünscht. Doch damit stellt man keine gesetzesartigen Aussagen auf. Dennoch können wir nicht (oder noch nicht) auf solche Hypothesen verzichten. Erklärungsskizzen sind für manche Gebiete, wie Geschichts- oder Literaturwissenschaft, unerläßlich.
und
geschichtsvernei-
I. Gestalt der Geschichtsbewertung
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manchen „strukturalistischen" Erklärungsversuchen, 10 die den Eindruck erwecken, als hätten sie die Erklärungsskizze durch etwas Exakteres ersetzt. Eine Erklärungsskizze des Trends der GB (bzw. GV) ist allein wegen der Breite der dadurch erklärten Daten fruchtbar, aber auch wegen der Möglichkeit, Fragestellung und Ergebnisse auf Literatur im allgemeinen zu übertragen. GV ist sicher kein auf die hispanoamerikanische Literatur begrenztes Phänomen und GB nicht nur der Gegenpol dieser speziellen Literatur. Eine Erklärungsskizze des Phänomens der Geschichtsbewertung kann daher als Richtungsweiser und Anreiz zu weiterer Forschung wirken. Ich beschränke mich hier auf eine Leitidee, die positive und negative Geschichtsbewertung, und auf für die Problemstellung relevante und ergiebige Autoren, zu deren Einordnung ich mich methodologisch auf innerliterarische und außerliterarische Daten stütze. Obwohl der Hauptakzent nicht auf externen (soziologischen, psychologischen oder biographischen) Hypothesen liegt, wird externe Information dann berücksichtigt, wenn sie für die interne Interpretation unmittelbare Wichtigkeit besitzt. 11 Diese Sowohl-als-auch-Betrachtungsform entspricht der Eigenschaft der latenten Bedeutungen, innerliterarisch (Kapitel V-VI), d. h. intern, und außerliterarisch (II-IV), d. h. extern, gerichtet zu sein. Die Leitidee einer positiven Einstellung zur Geschichte in Gestalt von Marechals Romanwerk läßt Rückschlüsse auf ihre Gegenposition zu. Daher wird auch eine Erklärungsskizze der GV bei den Autoren des Booms unternommen. Dies läßt die beiden Formen von Geschichtsbewertung in ihrer Komplementarität noch deutlicher hervortreten und bestätigt andererseits die Ausgangshypothese über die hispanoamerikanische Literatur. 12 Literarische Symptome der positiven oder negativen Geschichtsbewertung lassen aber auch Rückschlüsse auf „Reales" zu, und sie sollen letztlich durch die der literarischen GB oder GV entsprechenden „realen" Phänomene erklärt werden. Nun könnte man aber - mit Blick auf eine mögliche Zirkularität - einwenden: es muß zuerst bewiesen werden, daß das Phänomen GB bzw. GV außerliterarisch als geistig-politisches existiert, bevor man es als innerliterarisches behauptet. Sonst würde etwa GV
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Siehe unten, Materialien (C) § 1: 331 ff.
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So ist beispielsweise die externe Information, daß die Werke des Ossian eine Fälschung von James Macpherson darstellen, wichtig flir die Beurteilung der Rezeption durch Goethe, Hamann, Herder oder Hölderlin. Für die Interpretation von Goethes Faust ist es z. B. nicht unerheblich zu wissen, daß Goethe - seit seiner Heilung von einer schweren Krankheit durch den alchimistisch interessierten Arzt J. F. Metz - selbst alchimistische Experimente durchführte, die er in den Ephemerides fixierte. Ähnlich gewinnen für eine Bewertung von Marechals Esoterik die außerliterarischen Hinweise Rafael Squirrus und Catherine Kavanaghs Bedeutung (siehe Kap. IV § 2: 101, Materialien (B) § 2: 313ff).
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Siehe Einleitung und Kap. VII.
3. Begriffsanalyse und Kriterien der Geschichtsbewertung
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in der Literatur zirkulär durch eine angebliche außerliterarische GV erklärt und diese wiederum durch die Literatur nachgewiesen. Doch die befürchtete Zirkularität besteht keineswegs. Ebenso, wie das Symptom des Fiebers als Erkenntnisgrund dafür dient, daß eine Krankheit vorliegt, ist das innerliterarische Symptom GB oder GV Erkenntnisgrund für die Existenz des außerliterarischen Phänomens. Jemand, der dessen Existenz bezweifelt, kann für seine Behauptung, das außerliterarische Phänomen existiere nicht, keine Gründe völlig anderer Art anführen als derjenige, der behauptet, es existiere und werde durch innerliterarische Phänomene impliziert. Bejahung und Verneinung der Geschichte, ob sie nun innerliterarisch oder außerliterarisch vorkommen, sind keine im herkömmlichen Sinne „realen" oder „irrealen" Dinge. Beide haben Anteil am Reich der Ideen, aus dem sich Fiktion und Realität gleichermaßen speisen. Wenn ein Interpret Anna Karenina oder Madame Bovary untersucht, wird er auf eine innerliterarische Erscheinungsform der Liebe stoßen, die er gewiß auch aufgrund seines Wissens über das außerliterarische Phänomen verstehen wird. Zu kulturhistorischen Phänomenen haben wir, anders als zu Naturphänomenen, keinen direkten Zugang: wir erkennen sie nicht durch Hinsehen, sondern wir erschließen ihre Existenz aufgrund ihrer Symptome und analysieren diese. Nicht anders verhält es sich mit der Geschichtsbewertung als innerliterarisches und außerliterarisches Phänomen. Wenn das außerliterarische Phänomen die Ursache sein soll, können wir diese Ursache erst aus ihren verschiedenen Wirkungen - darunter eben literarische - erkennen. Dem Verfahren kann somit keine Zirkularität vorgeworfen werden. Fassen wir zusammen: der komplexe Charakter der Begriffe Geschichtsbejahung und Geschichtsverneinung erfordert eine Begriffsanalyse bzw. Definition, ihre graduelle Natur die Einführung von Begriffsunterscheidungen bzw. Anwendungskriterien der Definition. Die dynamische Natur der Phänomene GB und GV, die sich als Trend ausdrückt, erlaubt eine Erklärungsskizze, aber keine gesetzesartige Erklärung. Die ersten beiden Forderungen nach Definition, Unterscheidungen und Anwendungskriterien erfüllt der folgende Abschnitt I § 3, die Erklärungsskizze der Geschichtsbejahung wird in den Kapiteln II-VI ausgeführt, eine Erklärungsskizze der Geschichtsverneinung in Kapitel VII.
3. Begriffsanalyse und Kriterien der Geschichtsbewertung Definition Da es sich bei dem Begriff „Geschichtsbejahung" um ein eher ungebräuchliches Wort handelt, ist eine Definition nötig, die bei entsprechender Umkehrung der „Vor-
I. Gestalt der Geschichtsbewertung
24 zeichen" auch für die Geschichtsverneinung durch drei Anwendungskriterien.
gilt. Danach erweitere ich die Definition
Im folgenden definiere ich die Termini Geschichtsbejahung bzw. Geschichtsverneinung in zwei Stufen, um damit die praktisch-explizite und theoretisch-implizite Seite des jeweils bezeichneten Phänomens zu berücksichtigen. „Implikationen der Geschichte" sind demnach diejenigen Tatsachen oder Propositionen, die aus der Tatsache folgen, daß es Geschichte gibt, aber auch diejenigen, aus denen folgt, daß es Geschichte gibt. Daher: (GBl)
Geschichtsbejahung im ersten Sinn ist die praktische Bejahung von fast allen Implikationen der Geschichte, also ihren notwendigen oder hinreichenden Bedingungen.
Krieg, Konflikt, Aggression, Schmerz, Tod, Ungleichheit, Macht, Hierarchien, Normen etc. sind solche Implikationen der Geschichte. Mit „praktischer Bejahung" ist eine bejahende Einstellung zu diesen Merkmalen der Geschichte gemeint. Einstellungen drücken sich in Werturteilen, nicht in Tatsachenurteilen aus, und sie sind in ihrer Geltung vom Glauben und Willen des Urteilenden abhängig. (GV1)
Geschichtsverneinung im ersten Sinn ist daher die praktische von fast allen Implikationen der Geschichte.
Verneinung
Die negative Einstellung zur Geschichte drückt sich in der Ablehnung fast aller oder aller der oben genannten Momente aus, z. B. in wertenden Propositionen wie: „alle Menschen sollten gleich behandelt werden", „Hierarchie ist ungerecht" etc. (GB2)
Geschichtsbejahung im zweiten Sinn ist die theoretische Bejahung von fast allen notwendigen, relevanten Bedingungen der Existenz von Geschichte.
Raum, Zeit oder Kausalität stellen solche notwendigen, relevanten Bedingungen der Existenz von Geschichte dar. Mit „theoretischer Bejahung" ist ein positives (bejahendes) Tatsachenurteil gemeint. Wenn wir etwa an García Márquez' sogenannte zyklische Zeitauffassung denken, könnte es etwa folgende Form annehmen: „Es ist der Fall, daß die Zeit so und so ist." Bei Marechal konkretisiert sich (GB2) in der Wahl einer linearen Erzählchronologie und einer herkömmlichen Behandlung des Raums. (GV2)
Geschichtsverneinung im zweiten Sinn ist analog die theoretische nung von fast allen hinreichenden, relevanten Bedingungen der von Geschichte.
VerneiExistenz
Das negative (verneinende) Tatsachenurteil „Es ist nicht der Fall, daß Zeit so und so ist" äußert sich konkret in einer Brechung herkömmlicher Vorstellungen der Zeit, des Raums und der Kausalität durch das real maravilloso oder das Phantastische in der hispanoamerikanischen Literatur.
3. Begriffsanalyse und Kriterien der Geschichtsbewertung
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Man könnte hier einwenden: offensichtlich ist die Bejahung oder Verneinung von Zeit, Raum und Kausalität (GB2 oder GV2) eher ein Problem der Philosophie, das keinen unmittelbaren Einfluß ausübt auf die praktische Annahme oder Ablehnung der Geschichte (GBl oder GV1). Doch wenn etwa (GV2) in literarischen Werken als bevorzugtes Sujet auftritt, und das ist in der Literatur des Booms der Fall, dann verschwimmen die Grenzen von (GV2) und (GV1). Ursache dieser Vermischung ist der fließende Übergang von Beschreiben und Bewerten in der Literatur, den ich das Sein-Sollen-Gefälle der Literatur nennen möchte. Wozu dient die Unterscheidung zwischen theoretischer und praktischer Bejahung bzw. Verneinung? Sie trägt der emotiven Wirkungskomponente, der Appellfunktion der Literatur Rechnung. Während in anderen Bereichen Sein und Sollen klar geschieden ist, tritt in der Literatur eine Grenzverwischung auf, ein Gefalle, das vom Sein zum Sollen fuhrt. Ein Autor kann eine bewertende Einstellung allein durch eine beschreibende Aussage hervorrufen. Er kann ein Werturteil durch ein Tatsachenurteil andeuten, den Appell zu einem Sollen durch die Beschreibung eines Seins. Schriebe er, was unwahrscheinlich ist, ganz explizit: „Alle Menschen sollten gleich sein", wäre der Leser vermutlich gelangweilt. Suggeriert er es aber implizit durch eine unter die Haut gehende Beschreibung von Ungleichheit, wird er die Anteilnahme des Lesers schnell auf seine Seite ziehen. Hier veranlaßt das Sein-Sollen-Gefalle der Literatur eine wertende Deutung durch den Leser. Als Beispiel der Spannung von Bewerten und Beschreiben in der Literatur diene ein Gedankenexperiment. Ein Schriftsteller könnte eine Geschichte folgender Art konstruieren: ein europäischer Angestellter einer Computerfirma, ein mittelalterlicher Mönch, ein karibischer Sklave und ein Hauptmann eines beliebigen modernen Heeres kommen mit einem Talisman in Berührung, der ihnen magische Kräfte über andere Menschen verleiht. Die Protagonisten unterschiedlicher Herkunft benutzen den Talisman auch in unterschiedlicher Weise: der Angestellte, um sich schöne Frauen gefugig zu machen, der Mönch, um Reichtümer anzuhäufen, der Sklave zum Heilen, der Hauptmann, um General zu werden. Der Leser schließt unwillkürlich: „Wir können alle noch etwas von dem karibischen Sklaven lernen", und damit hat er den Graben vom Sein (der Tatsachenbeschreibung) zum Sollen übersprungen. Doch Vorzeichen sind austauschbar - ein anderer Autor könnte zeigen, daß die Handlungsweise der Personen trotz unterschiedlicher Herkunft dieselbe ist. Alle Figuren, auch der Sklave, benutzen den Talisman, um ihren Willen zur Macht durchzusetzen. Der Leser schließt jetzt: „Die menschliche Natur ist dieselbe, trotz ethnischer, sozialer und zeitlicher Unterschiede - die Unterschiede werden immer dieselben bleiben", vielleicht folgert er auch: „Es lohnt sich nicht, dagegen anzugehen." Bei unseren beiden Experimentalgeschichten handelt es sich jedesmal um dieselbe Figurenkonstellation, jedesmal um eine Beschreibung der Vorgänge, und doch unterscheiden sich Botschaft und Bewertung
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I. Gestalt der Geschichtsbewertung
tiefgreifend. Wir haben mit Hilfe des Sein-Sollen-Gefalles sozusagen unter „Experimentalbedingungen" die Entstehung zweier weltanschaulicher Gegensätze aus demselben Material konstruiert. Je nach Bewertungsabsicht des Autors kann aus ein und demselben Werkstoff eine Apotheose der Unterdrückten oder eine Apologie der ewig gleichen menschlichen Natur entstehen und vom Leser als solche erkannt werden. Betrachten wir zwei Beispiele aus der hispanoamerikanischen Literatur. Wenn Ti Noel aus Carpentiers El Reino de Este Mundo aus der Sklaverei befreit in seine Heimat zurückkehrt und feststellt, daß die Welt der französischen Herren jetzt zu einer Welt schwarzer Herren geworden ist, daß die Feldarbeiter wie immer schwarz, aber jetzt auch die Aufseher schwarz sind, folgt für den Leser aus dieser rein beschreibenden Information die bedrückende Tatsache, daß die Ungleichheit nun von denen ausgeübt wird, die sie ehemals erlitten haben. Es folgt aber auch die appellierende Wertung, daß es nicht so sein sollte. Wenn Marechal in Megafón o la Guerra den in die Politik verstrickten Klerus der Fronleichnamsprozession von 1955 beschreibt, die Gewaltanwendung des Generals González Cabezón, die Haltung des Aristokraten Igarzábal, die Veranlagung des Creso als Paradigma des Bürgertums und den namenlosen Arbeiter, so geht aus der Beschreibung dieser Zustände deutlich hervor, daß es nicht so sein sollte. Die Beschreibung des Bischofs „Frazada" oder des Generals Juan José Valle dagegen suggerieren das Werturteil, daß diese Figuren exemplarisch sind. In diesen Beispielen sahen wir das Sein-Sollen-Gefalle in seiner reinen Form als Übergang von Tatsachenbeschreibungen zu Werturteilen. Aber dieses Gefalle kann noch eine andere Form annehmen: auch Eigenschaften der Zeit-, Raum- oder Kausalitätsdarstellung, wie sie für die hispanoamerikanische Literatur charakteristisch sind, können in ihrer besonderen deskriptiven Form (dem Sein) eine Bewertung (ein Sollen) im Leser auslösen. Eine nicht linear progressive, sondern „zirkuläre" Erzählform, wie schon bei García Márquez angesprochen, die den Eindruck einer „anderen" Zeit (Stehenbleiben der Zeit, Wiederholung in der Zeit) erweckt, kann eine negative Bewertung der Geschichte provozieren: „Alles wiederholt sich, alles bleibt gleich - Elend, Tyrannei und Leid der Geschichte hören nie a u f . Wie dieser Übergang von der Verneinung der Zeit zu einer Verneinung der geschichtlichen Merkmale (von GV2 zu GV1) illustriert, kann gerade in der Literatur die theoretische Verneinung oder Bejahung Einfluß auf die praktische ausüben: eine bestimmte Auffassung von Raum oder Zeit kann eine praktische Verneinung oder Bejahung der Geschichte implizieren. Die konzeptuellen Elemente dieser Beschreibung der GB bzw. GV lassen sich im Hinblick auf eine literaturwissenschaftliche Anwendung in drei griffige Kriterien entfalten. Konkret: worauf richten wir unsere Aufmerksamkeit, um zu entscheiden,
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ob ein Text/Werk unter den Begriff der GB bzw. GV fällt? Hier gibt es drei Aspekte, die, je nach Betonung, Merkmale, Topoi oder Erzähltechnik erfassen. Merkmalskriterium Das Wesen der Geschichte besteht in der Präsenz bestimmter Merkmale wie Unterschiede, Hierarchien, Gesetze, Konflikte, Normen, Gewalt, Krieg, Leid, Schöpfung und Untergang. Bejahung bzw. Verneinung der Geschichte liegt zum Beispiel dann vor, wenn diese Attribute der Geschichte explizit bewertet werden. Charakteristisch für die verneinende Haltung ist in der hispanoamerikanischen Literatur die Dämonisierung der Macht, des Staates, des Militärs, des Kollektiven, der Technik, der ethnischen und sozialen Unterschiede, der traditionellen Normen etc. Das Merkmalskriterium der GB zeigt dagegen, daß geschichtliche Merkmale wie Krieg, Leid, Tod etc. bewältigt und in gewissem Sinne bejaht werden. Marechals kriegerisch-initiatische Konzeption der mors triumphalis kann demnach als Annahme der Merkmale von Geschichte, als Geschichtsbejahung gelten. In beiden Fällen handelt es sich um bewertende Einstellungen zu Phänomenen, die aus der Tatsache entstehen, daß es Geschichte gibt. In beiden Fällen muß die Ablehnung oder Annahme nicht aus Pessimismus, Konformismus oder naivem Optimismus erfolgen, sondern kann tragischer Einsicht erwachsen. Geschichte zu bejahen oder zu verneinen entspringt letztlich einer Entscheidung, die nicht im herkömmlichen Sinn als richtig oder als falsch bezeichnet werden kann. Teilt die Mehrheit eines Volkes die positive oder ablehnende Einstellung, kann man sagen, daß es die Geschichte bejaht oder verneint. Analoges gilt für Individuen. Werden diese Phänomene und die entsprechenden Einstellungen thematisch in die Literatur aufgenommen, können wir diese Werke als explizit geschichtsbejahend bzw. explizit geschichtsverneirtend bezeichnen. Toposkriterium In sensu allegorico kann Geschichtsbewertung in der Literatur auch die Vorliebe für bestimmte Topoi bedeuten. Figuren, wie der Edle Wilde, der Verrückte („es sind die Normalen, die verrückt sind") oder der Naive, das Kind, das Bild der Kindheit und der Topos des mestizaje können im Rahmen der Geschichtsverneinung vorbildhaft, ja symbolhaft werden für die zu erstrebende Aufhebung sozialer, ökonomischer, politischer und ethnischer Unterschiede. Der letztgenannte Topos begegnet uns etwa in der Gestalt Rosarios aus Los Pasos Perdidos von Alejo Carpentier. Als Beispiele geschichtsbejahender Topoi können epische oder anonyme Helden gelten, wie der verwegene Eroberer, der hartnäckige Erfinder, der risikofreudige Unternehmer, der unbeirrbare Forscher oder Figuren, wie sie in Marechals Romanen die namenlosen Leute des campo oder der kämpferische Megafön verkörpern. In beiden Fällen handelt es
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sich um Topoi im Sinne von (GV1) oder ( G B l ) und um eine implizite Form der Geschichtsbewertung. Aber entsprechende Topoi finden sich auch im Sinne von (GV2): eine der Zentralideen der hispanoamerikanisehen Literatur ist die angesprochene „Verneinung" bzw. Brechung herkömmlicher Identitäts-, Kausalitäts-, Raum- oder Zeitvorstellungen. Die besondere Anwendung dieser Grundstrukturen im Spiel mit der Richtung der Zeit, mit linearen oder zyklischen Erzählformen verweist auf den gleitenden Übergang dieser GV2-Topoi zum erzähltechnischen Kriterium. Wie die Romane Terra Nostra von Fuentes oder La Guerra del Fin del Mundo von Vargas Llosa vorführen, mündet die Idee eines Endes der Zeit, ein GV2-Topos, in die Vision der Apokalypse, des Antichristen und der Milleniumserwartung, aber auch in den Topos der Utopie. Die Utopie wiederum verschmilzt in der nueva novela mit dem ahistorischen Mythos, 1 3 der als von der Geschichte abgetrennter Raum empfunden wird. Als manichäischer Gegenpol der Geschichte tritt der Topos des Paradieses und seiner Implikationen auf: Fall, Sünde, Reinigung, Erlösung. Dieser Topos ist in der hispanoamerikanischen Literatur latent z. B. in den „gefährdeten Paradiesen", die durch den Druck der politischen oder finanziellen Macht, der Gesellschaft, der Zivilisation, der gefallenen menschlichen Natur etc. unzugänglich gemacht wurden oder überhaupt unrealisierbar sind. Die hier genannten Topoi sind GV2-Topoi und damit implizite Formen der Geschichtsverneinung. Topoi im Sinne einer GB2-Konzeption liegen immer dann vor, wenn Zeit, Raum, Kausalität nicht als Bedrohung, sondern als Herausforderung interpretiert werden. Erzähltechnisches
Kriterium
In formaler Hinsicht können gewisse Charakteristika der Erzähltechnik die Geschichtsverneinung im Sinne von (GV1) und (GV2) unterstützen, etwa die Vorliebe für Rückblenden, zirkuläre oder regressive Erzählformen. Sie verstärken die Einstellungen, die von Merkmals- und Toposkriterien erfaßt werden. In dieselbe Reihe gehören Kunstgriffe - die Aufhebung oder Modifikation der Naturgesetze, etwa der zeitlichen, kausalen oder räumlichen Dimension (Ausdehnung, Schrumpfung des Raumes) und der Einbruch des Magisch-Phantastischen in die Alltagswelt - , wie wir sie in den Werken des realismo mägico eines Asturias oder Carpentier bemerken, den phantastischen Erzählungen eines Borges und Bioy Casares oder den surrealen Situationen Cortazars. Auch bei diesen erzähltechnisehen Mitteln handelt es sich um implizite Formen der GV. Ein erzähltechnisches Kriterium, das Rückschlüsse auf eine geschichtsbejahende Haltung zuläßt, wird z. B. von Marechals epischer bzw. linear-progressiver Erzähl-
'3
Siehe Kap. VII § 3: 263ff.
4. Geschichtsverneinung als Eigentümlichkeit?
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weise erfüllt. Dieses Kriterium tritt besonders dann in Kraft, wenn ein realistischer Standpunkt eingenommen und damit der Sprache zugetraut wird, die Realität widerzuspiegeln. „Realismus" sei hier als epistemologischer Gegensatz zu Idealismus verstanden, nicht als ontologischer zu Nominalismus. Im Idealismus zeigt sich dagegen ein erkenntnistheoretischer Pessimismus, dessen Pendant die Überzeugung ist, die Sprache sei unfähig, die Realität wiederzugeben. Marechal hat zunächst eine idealistische Position im Gedicht „De la Rosa Bermeja" erwogen: Pero nunca sabremos lo que la rosa es fuera de nosotros: la rosa emancipada de tu color y el mío, la flor en su tremenda soledad. Porque la rosa roja se aprieta, y es un nudo que guarda su secreto. [...] ¡Pero no descubramos lo que la rosa es fuera de nosotros! 14
Diese Position hat Marechal - im Gegensatz zu der Sprachskepsis Cortázars - später zugunsten eines erkenntnistheoretischen Optimismus verlassen. In Rayuela dagegen ist der erkenntnistheoretische Pessimismus klar: Cortázar mißtraut den Sinnen und der Sprache; er beschimpft die Wörter als „perras negras" und „proxenetas relucientes", die die Wirklichkeit verfalschen. Die implizit und explizit geschichtsverneinenden Merkmale lassen bereits in diesem allgemeinen Abriß erkennen, daß sie Zentralideen der hispanoamerikanischen Literatur sind und die Sehnsucht nach Erlösung von der Geschichte ausdrücken. Die Begriffsklärung von GB und GV gibt uns das geeignete Werkzeug an die Hand, um diese Hypothese konkret zu bestätigen. Die Definition von GB bzw. GV im ersten und zweiten Sinn legte fest, wann diese Phänomene in einem Werk zutreffen, Merkmal skriterium, Toposkriterium und erzähltechnisches Kriterium lieferten Parameter für die Anwendung der Begriffe. Die Definitionen mußten naturgemäß abstrakt gehalten, die einzelnen Kriterien stichwortartig aufgeführt werden. Mit dem erarbeiteten theoretischen Gerüst kann jedoch eine Analyse der Geschichtsbewertung zustande kommen, die die Phänomene der Geschichtsbejahung und Geschichtsverneinung im einzelnen belegt und eine adäquate Interpretation erlaubt.
4. Geschichtsverneinung als Eigentümlichkeit? Durch die hispanoamerikanische Literatur zieht sich eine Reihe von Leitmotiven: Gedanken über die Grenzen von Wissen, Sprache und Mitteilbarkeit, Meditationen über Welt und Überwelt, das Motiv der Zeit und der Geschichte, die Frage nach Indi-
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Aus Odas Para el Hombre y la Mujer (1929), VIII, in Marechal 1984: 108f.
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I. Gestalt der Geschichtsbewertung
viduum und Gemeinschaft, die Suche nach einem Maßstab der Identität und der Abgrenzung oder Öffnung gegenüber anderen. Gewiß werden diese Fragen nicht nur von der hispanoamerikanischen Literatur, sondern von Literatur überhaupt gestellt. Diese Fragen werden aber ebenso von anderen Disziplinen aufgeworfen: Als Betrachtungsgegenstand von Philosophie und Einzelwissenschaften haben sie universellen Charakter. Nun wird deutlich, woran der Universalitätsanspruch der hispanoamerikanischen Literatur, von dem die Forschung gebannt scheint, festgemacht werden kann. Die Interpreten bemerken das Universelle dieser Literatur und versuchen gleichzeitig, getrieben von der Frage nach dem Eigentümlichen, den Fuß zwischen den schwankenden Polen Regionalismus und Universalität auf festes Land zu setzen. Man bemüht sich, das Besondere, das Proprium, der lateinamerikanischen Literatur im Indigenistischen anzusiedeln, in der Wunderbaren Wirklichkeit oder dem real maravilloso, in der Mahn- und Protestfunktion gegen die politische Unterdrückung der Dritten Welt oder im Wahlspruch eines geistigen mestizaje, der Dichter solle einem Mischkontinent eine Mischseele verleihen. Wird zur Bestimmung der Eigentümlichkeit der hispanoamerikanischen Literatur ein einziger Faktor oder eine Kombination von Faktoren herangezogen, drängen sich die Fragen auf: ist eine solche Vereinfachung zulässig? Und: ist eine solche Kombination von Faktoren überhaupt noch aussagekräftig? Nicht jeder hispanoamerikanische Autor läßt sich schließlich mit dem mestizaje oder dem magischen Realismus identifizieren. Eine derartige Kennzeichnung der hispanoamerikanischen Literatur würde nur an der Oberfläche schürfen. Gänzlich falsch wäre aber die gegenteilige Reaktion, die eine willkürliche Synthese von Faktoren vorschlägt: „Dann ist es eben alles zusammen (oder Punkt eins und zwei etc.), was das Typische an der neueren hispanoamerikanischen Literatur ausmacht". Damit wäre aber nur eine Ansammlung von Merkmalen aufgezählt und keine befriedigende Erklärung für sie gefunden. Eine Annahme dagegen, die von einer kohärenten Merkmalssynthese wie der Geschichtsbejahung oder Geschichtsverneinung ausgeht, kann sich auf einen präzise definierbaren Begriff von Geschichtsbewertung stützen, der an Merkmalen, Topoi und Erzähltechnik überprüfbar ist. Die Hypothese der GB bzw. GV stellt somit nicht den Anspruch, ein Proprium der hispanoamerikanischen Literatur aufzuzeigen. Was die Erforschung dieses Phänomens ergiebig macht, sind die Antworten, die aus einem klar abgesteckten Fragenhorizont entstehen. Von der Literatur erwarten wir eine andere Stellungnahme zum Phänomen der Zeit oder des Raumes als von der Physik, von der hispanoamerikanischen Literatur nicht exakt dieselbe Bewertung der Geschichte wie von der deutschen. Doch bei genauerem Hinsehen sind überraschende Entsprechungen gerade in der Literatur immer möglich, denn in einer Zeit, in der die Teile der Welt durch die Technik und die Kraft von Ideen enger zusammenwachsen, besitzt das Phänomen der Geschichtsverneinung zwar eine bedeutungsvolle, doch
4. Geschichtsverneinung als Eigentümlichkeit?
31
keine spezifische Relevanz für die hispanoamerikanische Literatur. Seine übergreifende Erforschung bietet der Literaturwissenschaft einen fruchtbaren Anwendungsbereich.
Kapitel II Maréchal: das Rätsel und die Spuren 1. Gegen den Strom Manche Autoren wissen ihr Geheimnis zu verbergen, andere bevorzugen im Gegenteil, es zu lüften. Bei Leopoldo Marechal spricht einiges dafür, daß er zum ersten Typ gehört. Die Fragen beginnen bereits bei der Werkgeschichte. Atlasfiguren des argentinischen Booms waren Jorge Luis Borges, Julio Cortázar und Ernesto Sàbato. Keineswegs augenfällig für den Literaturwissenschaftler ist jedoch die Stellung Marechals in der argentinischen Literatur. In Argentinien war Marechal lange Zeit wegen seines Bekenntnisses zum Peronismus verfemt. Seine Romane - Adán Buenosayres (1948, im folgenden: AB), El Banquete de Severo Arcàngelo (1965, im folgenden: BSA) und Megafón o la Guerra (1970, im folgenden: MG) - deren Bedeutung für die argentinische Literatur Cortázar und Sàbato hervorhoben, blieben, von spärlichen Ausnahmen abgesehen, in Europa unbekannt. 1 Ähnliches gilt für das dichterische, dramatische und essayistische Schaffen. Marechal war Träger einer emanzipatorischen Etappe der argentinischen Literatur und entwickelte sich künstlerisch in demselben Milieu wie Borges: beide gehörten in den zwanziger Jahren der Gruppe der Martinfierristas an, beide waren fasziniert von Fragen des Raums, der Zeit und der Geschichte. Doch es bleibt unübersehbar: Borges wurde bekannt, Marechal nicht. Die frühe Kritik ignoriert entweder den Roman AB oder bemängelt ihn. González Lanuza bedauert die Freiheit der Sprache Marechals und die maliziöse Haltung gegenüber seinen früheren Freunden, den Martin-
Aus diesem Grund befindet sich in Materialien (A) ein Resümee der Romane Marechals sowie ein biographischer Abriß, der gleichzeitig einen gesellschaftlich-kulturellen Einblick vermittelt. In der Zeit unmittelbar nach Marechals Tod erschien nur eine einzige Übersetzung: die italienische Fassung des Banquete de Severo Arcàngelo 1976 bei Rusconi in Mailand. Erst in diesen Jahren erfahrt Marechals Werk späte Anerkennung: Das Banquete erschien in der französischen Übersetzung von Anny Amberni 1993 bei Gallimard (Le banquet de Severo Arcàngelo), im Februar 1995 soll Adán Buenosayres bei Grasset erscheinen. Im September 1994 wurde Descenso y Ascenso del Alma por la Belleza von P. L. Barcia neu herausgegeben. Ebenfalls 1994 erschien, von Barcia herausgegeben, Adán Buenosayres bei Castalia in Madrid.
34
II. Maréchal: das Rätsel und die Spuren
fierristas. 2 Anderson Imbert beklagt den „bodrio de fealdades y aun obscenidades que no se justificarán de ninguna manera" 3 und Noe Jitrik kritisiert den nacionalismo literario (al »uso nostro«) que es una forma del hispanismo o del tomismo en las novelas. Nada que ver con lo argentino porque no tiene nada que ver con el hombre que vive aquí. 4 Es liegt nahe, Gründe für den reibungslosen Zugang des einen Autors zur Öffentlichkeit und den erschwerten des anderen in der Macht der Medien und ihrer Promotionsmechanismen zu suchen. Kommunikationsmedien, Kritik und Publikum sprechen ein gewichtiges Wort mit: sie nehmen Einfluß durch Publikationsbereitschaft und Nachfrage. 5 Eine mindestens ebenso wesentliche Rolle spielt neben der Qualität eines Werkes seine weltanschauliche oder politische Aussage: seine Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit mit dem Weltbild oder Ideensystem einer Gesellschaft. „Vereinbarkeit" mit dem Weltbild einer Gesellschaft heißt, daß ein literarisches Werk das Bild, das eine Gesellschaft von sich hat, bestätigt oder erweitert: ungeachtet der Frage, ob dieses Bild treu ist oder nicht, ob es ruhig oder skandalös, harmonisierend oder provozierend präsentiert wird, es trifft „den Nerv der Zeit". Im anderen Fall teilt das Werk - vielleicht wie die Aussagen großer Häretiker - Dinge mit, für die der Zeitgeist weder reif noch aufnahmebereit ist: es schwimmt „gegen den Strom der Zeit". Dem Leser, auch dem argentinischen, erscheint Marechal zunächst als schwer zugänglicher Autor. Ist einmal ein Zugang gefunden, bleibt seine Einordnung dennoch erstaunlich einseitig: manche Interpreten geben gerade noch den christlichen Traditionalismus zu und deuten Marechal entsprechend als zeitlos klassischen, christlichen Autor, andere sehen ihn als zeitgemäße Antwort auf die existentielle Problematik, wiederum im christlichen Rahmen. Dennoch besteht ein Unterschied zwischen dem Eindruck, den ein Autor von sich selbst erwecken will - damit hätten diese Interpreten recht - und dem, was er in seinem Werk tatsächlich zum Ausdruck bringt. In den Augen dieser Mehrheit von Interpreten würde Marechal trotz klarer politischer Aussage für Perón, trotz Kastenlehre, heidnischer und initiatischer Elemente im Werk immer noch mit dem Strom schwimmen. Marechal dagegen kennt seinen Weg: sólo me quedaban dos recursos: o morir (abandonar la corriente del siglo en un gesto suicida), o nadar contra la corriente, vale decir, iniciar un »retroceso« en relación con la marcha del rio.6 Der Interpret, der den Spuren der Erudition Marechals nachforscht, bewegt sich in jedem Fall auf unsicherem Grund: entweder er erfaßt nicht hinreichend viele konzep2 3 4 5
«
In Sur 169, nach Maturo 1960: 54. In Historia de la Literatura Hispanoamericana, 1954: 326, nach Prieto 1959: 57. In Contorno 2(1955: 42), nach Prieto 1959: 57. Siehe auch Marechal in Andrés 1968: 72. CN140.
35
2. Das kryptische Buch
tuelle Elemente des Werks, dann ist sein Bild unvollständig und führt zu einseitigem Urteil - oder er erfaßt sie nicht hinreichend tief und bleibt in aussagelosen Wiedergaben stecken. Angesichts der Fülle traditioneller Elemente, die Marechal in seinen Romanen entfaltet, fuhrt nur eines aus diesem Dilemma heraus: den Sinn jener Elemente zu bestimmen. Das Rätsel Marechals muß die Neugier des Literaturwissenschaftlers anstacheln. Gewiß gründet es sich nicht darauf, daß der Roman AB eine novela clave der Martinfierro-Bewegung der zwanziger Jahre von Buenos Aires ist und sich hinter Adán Buenosayres Leopoldo Marechal selbst verbirgt, hinter Luis Pereda unverkennbar Jorge Luis Borges, hinter dem petizo Bernini klar Raúl Scalabrini Ortiz, hinter dem Astrologen Schultze Xul Solar (eigentlich Schulz-Solari) und hinter Samuel Tesler zugleich Jacobo Fijman und Macedonio Fernández. Diese Entschlüsselung bleibt jedoch Nebensache. Das tatsächliche Rätsel ist vielschichtig und spielt mit Bedeutungen von Bedeutungen: Hypothesen zu seiner Erklärung müssen die Ebenen der Geschichte, Weltsicht und Politik einbeziehen. Daher analysiert Kapitel III Marechals Auffassung und Bewertung der Geschichte. Hier werden innere Spannungen von christlichen und heidnischen Elementen sichtbar, die Literatur als Ort der Auseinandersetzung von Ideen ausweisen. Diese konzeptuellen Spannungen gehören bereits zu einer latenten Bedeutungsschicht, zum Kern des Rätsels, und fordern eine weitere Bestätigung im Werk. Kann die Bestätigung nicht erbracht werden, dürfte man hinter diesen Spannungen keine tiefere und vom Autor intendierte Bedeutung annehmen. Daher werde ich in Kapitel IV zeigen, daß es unter der Oberfläche der ersten Bedeutung noch eine tiefere Bedeutung gibt, deren Sinn Marechal verschlüsselt andeutet. Marechal stellt seinem letzten Roman MG eine bezeichnende Einleitung voran: »lo preferible«, si bien acosa y urge al narrador con sus instancias, ha de morder el freno de la Oportunidad cuyas razones escucha el narrador si es de los que visten sin desdoro el mameluco de la prudencia.7 Daß Marechal zu jenen gehört, die sich in ihrem Werk teils klug zurückzuhalten, teils geschickt zu enthüllen wissen, ahnt man angesichts dieser Worte.
2. Das kryptische Buch Der traditionelle Roman und sein metaphysisches Weltbild eröffneten dem Leser einen Zugang zur Welt. Der moderne Roman aber ist getragen von der Rebellion gegen herkömmliche Ordnungsprinzipien und Denkkategorien sowie einer Auseinandersetzung mit der Sinnfrage, die nicht selten in einer Kapitulation vor dem Absur-
7
MG 7.
II. Maréchal: das Rätsel und die Spuren
36
den endet. Marechal dagegen verbindet das Irdische wieder mit dem Überirdischen. Seine Helden werden zwar von dem Gefühl einer absurd gewordenen, entheiligten Welt bedrängt, doch keiner bleibt in der Sinnlosigkeit gefangen: um die Eroberung von Welt und Überwelt wird gekämpft. Marechals Traditionalismus ist nicht bloß Antimodernismus, sondern Erkenntnis der Kontinuität der menschlichen Natur und ihrer Konflikte. Daher ist der Autor trotz seines Hermetismus keine vieldeutige Sphinx, die zuletzt ohne Geheimnis bleibt. Dennoch wirft dieser Traditionalismus eine Frage auf: gibt es eine Ordnung in der Vielfalt seiner Elemente und, wenn ja, was bezweckt sie? Hier ist die Überlegung hilfreich, daß ein Romancier eine Botschaft haben kann, die er mit der Vielfalt der Welt konfrontiert. Diese eine Botschaft gilt es, bei Marechal zu entdecken. Das Bild des kryptischen Buches leitet die Suche ein. Mittelalterliche Harmonisierungsversuche der Kluft zwischen Theologie und Philosophie arbeiteten mit einem ausdrucksvollen Bild Augustins: da alles Interpretierbare ein Text sein muß, kann auch die Welt in Analogie zur schriftlichen Offenbarung als Buch verstanden werden. Die Welt als Uber vivus ist ein zu entzifferndes Kryptogramm, neben der Bibel, dem liber scriptus, ein zweites, nicht minder gültiges Buch Gottes. Die Allegorie des kryptischen Buches macht die hermeneutische Lehre des mehrfachen Sinns plausibel. Thomas von Aquin unterscheidet in der Summa Theologica zwei Bedeutungen der Schrift: den wörtlichen und den geistigen Sinn (sensus literalis, sensus spiritualis). 8 Bei dem geistigen Sinn können die durch Ausdrücke bezeichneten Dinge wiederum Ausdruck von etwas anderem sein. In dieser, bereits von der Patristik (Augustin) und jüdischen Theologie (Philo) bei der Allegorese verwendeten Unterscheidung, wird die stoische Trennung von corpus und pneuma der Schrift sichtbar: der wörtliche Sinn gilt für die Masse, der pneumatische für den geistigen Menschen. Wie Thomas von Aquin postuliert Marechals Vorbild Dante eine mehrfache Auslegung der Schriften: die wörtliche, philosophisch-theologische, politisch-soziale und initiatische. 9 Auch bei Marechal deutet sich die Existenz eines pneumatischen Sinns an. Nicht umsonst läßt er den Gießer Severo Arcàngelo nach einem rätselhaften Monolog in El Banquete de Severo Arcàngelo sagen: Feliz el que interprete un dia este Monòlogo del Fundidor.10
8
S. Th. I, q.l, a. 10. Unter den sensus spiritualis fallen der allegorische, der moralische (tropologische) und der anagogische Sinn. Der parabolische Sinn, also die Metapher, gehört bei Thomas zum wörtlichen Sinn.
9
Vgl. Guénon 1925: 2f. Zum Verhältnis Marechals zu Guénon, siehe unten, Kap. IV § 1: 60, 62, 64, 66f.
10
BSA 148.
37
2. Das kryptische Buch
In Analogie zur Offenbarung besitzen auch die Erscheinungen der Welt einen wörtlichen und einen symbolischen Sinn. Im Judäo-Christentum vollzieht sich - mit Anklängen an Heraklits Logoslehre - eine Umdeutung des Logos zu Christus als Mittler und Messias. Eine der wichtigsten Quellen Marechals für die Auslegung der Tradition, René Guénon, bemerkt, die Natur sei Ausdruck des Logos: Le Verbe, le Logos, est à la fois Pensée et Parole: en soi, Il est l'Intellect divin, qui est le »lieu des possibles«; par rapport à nous, Il se manifeste et s'exprime par la Création, où se réalisent dans l'existence actuelle certains de ces mêmes possibles qui, en tant qu'essences, sont contenus en Lui de toute éternité. La Création est l'œuvre du Verbe; elle est aussi, et par là même, sa manifestation, son affirmation extérieure; et c'est pourquoi le monde est comme un langage divin pour ceux qui savent le comprendre... 11 Die Natur als Abbild einer übernatürlichen Realität besitzt symbolischen Charakter: Si le Verbe est Pensée à l'intérieur et Parole à 1' extérieur, et si le monde est l'effet de la Parole divine proférée à l'origine des temps, la nature entière peut être prise comme un symbole de la réalité surnaturelle. 12 Auch für Maréchal ist das nach Maß und pythagoreischer Schöpfungszahl geordnete Universum Symbol und Sprungbrett zum Überirdischen. 1 3 Marechals Romankosmos zeigt in seinem neuplatonischen Aufbau, daß der Dualismus Welt - Überwelt
14
überwindbar ist, da die Schöpfung als Stufenleiter des
Seienden und hierarchisch geordnete Einheit die tiefsten und höchsten Geschöpfe gleichermaßen umspannt: la realidad se manifiesta en planos y gradaciones diferentes que van desde la »realidad relativa« del universo manifestado hasta la »realidad absoluta« de su admirable Manifestador. 15 Der Mensch vermittelt zwischen Welt und Überwelt. Der Mikrokosmos Mensch, analoges Bild des Makrokosmos, übernimmt diese Brückenfunktion, da er in sich Entsprechungen der drei makrokosmischen Reiche des Körperlichen, Psychischen und Geistigen vereint.
16
In dieser Tradition begreift Maréchal den Dichter als Mittler
des symbolischen Sinns von Welt und Geschichte. Man ahnt, daß es um einen esoterischen Sinn der Romane geht, wenn Maréchal das Bankett und die rätselhafte Cuesta del Agua seines zweiten Romans B S A als „secreto en forma de almendra, el 11
Guénon 1962: 17f. Von diesem Sachverhalt zeugen in Marechals AB die Anagramme des Namens Adán Buenosayres oder die „potenciales" im Infierno. Marechal selbst bestätigt seine Kenntnis des Werks Guénons in Andrés 1968: 35f.
12
Guénon 1962: 18.
13
AB 14: „la flor ceñida a su número abstracto", AB 400: „y con los mismos elementos (bien que salvados ya de la materia) volví a reconstruirla en mi alma según peso, número y medida".
14
Diesen Dualismus ergänzen Paare wie Urbild-Abbild, Einheit-Vielheit, Uranisches-Chthonisches, Materie-Geist, Inneres-Äußeres, Auflösung-Rekonstruktion etc.
15
MG 8. Bei Thomas von Aquin ist dies der Leitgedanke der quarta via. 16 Vgl. Marechals CN 31.
II. Maréchal: das Rätsel und die Spuren
38
cual de nadie será conocido" und als „higo de la tuna, dulce y mañero entre sus espinas" charakterisiert oder wenn er noch deutlicher sagt: ¿O cree usted que, sin poseer una buena dentadura, se puede morder la cáscara de los símbolos? 17
3. Der Verlust des Heiligen Marechal verdichtet in seinen Romanen die Entfernung des Menschen von einem übernatürlichen Prinzip, den Bruch der Einheit von visibilia und invisibilia. Die Ursache des Dualismus liegt für ihn im Verlust des Heiligen, der dem Protagonisten von AB, Adán Buenosayres, bewußt wird: Desde hacía tiempo dos maneras de angustia se alternaban en sus despertares: o bien sentía la impresión indecible de abrir los ojos en un mundo extraño cuyas formas, hasta la de su cuerpo, le resultaban tan absurdas que lo sumían de pronto en un pavor de antiguas metamorfosis; o bien daba en este mundo como en un bazar de objetos manoseados hasta la desesperación.18 Den Verlust der übernatürlichen Dimension hält C. A. Disandro in einem Bild fest: Welt und Überwelt - die zwei Naturen der visibilia und invisibilia - sind konzentrischen Kreisen vergleichbar, die im Verlauf der Geschichte auseinanderdriften. 19 Die Welt, anfangs in der Überwelt geborgen, verliert allmählich jede Berührung mit dem Überirdischen. Während die zwei Naturen in Antike und Mittelalter noch im Einklang standen, setzt der Prozeß des Auseinanderstrebens am Ende des Mittelalters und mit der Renaissance ein, an deren Ausklang im Barock die Verbindung endgültig zerrissen ist. Die Dinge verlieren das Numinose und werden zu Marken eines irdischen Labyrinths. Im barocken Menschen ist die Harmonie der zwei Naturen zerbrochen: die Angst läßt ihn immer neue Formen und Ornamente erfinden („acumulación expresiva"), um den Abgrund des Nichts zu bedecken. Marechal und Disandro erkennen unabhängig voneinander die Ursache der Vermassung des Menschen im Verlust des Heiligen. Marechals Nummernmenschen im Infierno von AB, Colofón aus dem BSA, der als hijo de la nada den Punkt größter metaphysischer Leere darstellt, und der horror vacui der zwei „Konzilien" des BSA über Raum und Zeit setzen dies in Szene. Die Konzilien des Banketts offenbaren die Verlorenheit des Menschen angesichts einer Materie, die auf das Nichts zusteuert, aber auch angesichts einer Zeit, die eine Katastrophe erwarten läßt. Lateinamerika, erklärt Disandro, ist geboren aus dem zerbrochenen Geist und horror vacui des ba-
'7
BSA 75.
i»
AB 18.
"
Vgl. Disandro 1967: 164f.
39
3. Der Verlust des Heiligen
rocken Menschen, 20 der nicht von einem acto creativo histórico bewegt werde. Lateinamerika, ein Kontinent vor dem Zusammenbruch, besitze nicht einmal die tragische Größe eines Torsos. Mangel an Authentizität, Unreife und das zerrissene Band zwischen Welt und Überwelt hätten Lateinamerikas geschichtliche Kraft erlöschen lassen. 21 Mircea Eliade erweitert die Perspektive Disandros ins Allgemeine: es ist nicht abwegig, sich eine nicht sehr ferne Zukunft vorzustellen, in der die Menschheit, um ihr Fortleben zu sichern, sich gezwungen sehen könnte, nicht mehr »Geschichte zu machen«, wie sie es in diesem Sinne seit der Schaffung der ersten großen Reiche getan hat. Sie mag sich dann vielleicht damit zufriedengeben, die vorgeschriebenen archetypalen Handlungen zu wiederholen, und sich bemühen, jede spontane Handlung als bedeutungslos und gefahrlich zu vergessen, die möglicherweise »historische« Konsequenzen nach sich ziehen könnte. Es wäre sogar von Interesse, die antihistorische Lösung der zukünftigen Gesellschaften mit den paradiesischen oder eschatologischen Mythen vom Goldenen Zeitalter am Anfang oder am Ende der Welt zu vergleichen.22 Einer Endzeitvision verleiht auch das indische Vishnu-puräna Ausdruck: Von Ungläubigen irregeführt, werden die Menschen fragen: Welche geistige Autorität besitzen die traditionalen Texte? Wer sind diese Götter, was ist das geistige Übermenschentum (brähmana)? Die Achtung vor den Kasten, vor der Ordnung und den (traditionalen) Einrichtungen wird im Dunklen Zeitalter verschwinden [...] Man wird glauben, daß jedermann auf jedem Weg den Zustand des Wiedergeborenen wird erreichen können [... ] Das Volk wird mehr als je zuvor Angst vor dem Tode haben und die Armut fürchten: nur deshalb wird es (dem Schein nach) den Himmel belassen. 23 Marechal, der sich eingehend mit indischen Lehren befaßte, 24 will dagegen, daß sich sein Land eine Geschichte schaffe. Und wie die indischen Lehre kennt seine Zeitauffassung Zyklen. Marechal setzt der Endzeit die Fortsetzung der Geschichte entgegen, dem Kastenverfall eine Erneuerung von Spiritualität und Kriegertum und der Exoterisierung der Lehren die initiatische Wiedergeburt Auserwählter. Er teilt die initiatische Auffassung, daß nicht jeder Zutritt zur Einweihung habe. Eine Seele zu besitzen, das zeigen Marechals Protagonisten des BSA und MG, ist ein Vorrecht, das erkämpft werden muß. Anders als für Eliade ist für Marechal das letzte Wort der Geschichte noch nicht gesprochen. Dem Gang in die Ungeschichtlichkeit kann die Umkehr folgen. Marechals Kosmos - die Welt als Symbol, der neuplatonisch überwindbare Dualismus offenbart, daß der Autor dem „wörtlichen" Sinn der Welt einen „geistigen" zurücker-
20
Vgl. Disandro 1967: 165, 176, 182f und Disandro 1960: 27f.
21
Vgl. Disandro 1960:41,59.
22
Eliade 1986: 166.
23
In Evola 1982: 422, nach der englischen Übersetzung des Vishnu-puräna Bd. IV: Kap. 24 und VI: Kap. 1) von H. H. Wilson.
24
Vgl. „Las Cuatro Estaciones del Arte", in CN 112-120 und Rosbaco 1973: 48, 88f.
(London, 1868,
40
II. Maréchal: das Rätsel und die Spuren
stattet, den invisiblia wieder ihren Raum schafft. Doch der letzte Roman, Megafön o la Guerra, wird diese Brücke zwischen Welt und Überwelt durch die geschichtliche Tat schlagen.
Kapitel III Der Kampf von Geschichte und Paradies Marechals Geschichtsbewertung tritt explizit in Form metahistorischer Betrachtungen auf, in Diskussionen oder Exkursen, aber auch implizit in weltanschaulicher Form. In I § 1 stellten wir fest, daß die Haltung, die ein literarisches Werk zur Geschichte aufweist, bewußt oder teilweise bewußt vom Willen des Autors mitbestimmt wird. Diesen Sachverhalt erfassen die attributiven und implikativen latenten Bedeutungen. Ezra Pound unterstreicht, daß ein Kunstwerk keine politische, soziale oder philosophische Überzeugung zum Ausdruck bringen müsse, sie jedoch fast stets implizit enthalte. Der künstlerische Kern, sagt Pound, ist nicht in den objektiven, theoretischen Schichten des Menschen zu suchen, sondern in seinem Wollen und Fühlen. 1 Um diesem Wollen auf die Spur zu kommen, erforsche ich im Romanwerk Marechals die Haltung zu Raum, Zeit, Identität, Geschichte, um die irritierende Spannung von Paradiesessehnsucht und Geschichtsbejahung zu erhellen. Damit klärt sich die Frage nach dem Sinn dieser explosiven Ideenmischung im Werk des Autors, für die der Begriff „Synkretismus" allzu harmlos wäre. 2
1. Schrecken und Anziehungskraft der Geschichte Paradiessuche Schrecken und Anziehungskraft bestimmen gleichermaßen die Haltung des Menschen zur Geschichte. 3 Der Ausstieg aus der Zeit durch die Kraft einer Idee, einer religiösen Eschatologie oder einer Utopie, ist das Aufbegehren gegen eine unumstößliche Tatsache: der Mensch muß die geschichtliche Zeit durchqueren, um an ihr Ende zu gelangen.
1
„Credo", in Pound 1987: 9.
2
Siehe unten, Materialien (C) § 1: u. a. 328ff.
3
Vgl. Eliade 1954: 520f.
42
III. Kampf von Geschichte und Paradies
In Adán Buenosayres, Marechals erstem Roman, vollzieht sich der Kampf von Geschichte und Paradies im Protagonisten selbst, dem Dichter Adán Buenosayres. Sein Drang nach Erlösung konkurriert mit der Bewunderung für seine Vorfahren, die ihren Namen heroisch und anonym in das Buch der Geschichte eingeschrieben haben. Adán weiß um die Notwendigkeit, das eigene Schicksal zu wählen. Doch seine politische Haltung reflektiert die Frustration seines Volkes: No pudiendo solidarizarme con la realidad que hoy vive el país, estoy solo e inmóvil: soy un argentino en esperanza. 4
Der Schrecken der Geschichte durchzieht den Roman: Raum und Zeit sind für Adán „terror", „devastación", „pena" 5 - geschichtsverneinende Merkmale im Sinne von (GV2). Ohne Raum, Zeit und Kausalität gibt es keine Geschichte. Die Ablehnung des „terror del Tiempo" und des „terror del Espacio" fuhrt zur theoretischen Verneinung notwendiger Bedingungen der Existenz von Geschichte. Der Mensch ist in Raum und Zeit gefangen, zu Bewegung, Irrfahrt, Werden und Tod verurteilt, doch die Seele, die weder zeitlich noch räumlich ist, kann Raum und Zeit überwinden. 6 Das Streben der Seele, dem Labyrinth der Vielheit zu entgehen und zur Einheit zurückzukehren, beweise ihren göttlichen Ursprung. Marechals „Filosofía de Amor" im Cuaderno de Tapas Azules (Buch VI des AB) und die Ars Poética der GlorietaSzene in AB sind - im Sinne von (GV2) - Wege der Auslöschung von Raum und Zeit, Wege der Rückkehr ins Paradies, die Sehnsucht de algún mundo en cuya estabilidad se durmiera el Tiempo y quebrara el Espacio. 7
Ein Faktor für die Betrachtung von Marechals Werk ist die Präsenz philosophischer, obgleich eher ästhetisierend interpretierter, Ideen. Anders nimmt sich das Werk Borges' aus, das der philosophischen Idee eigenen Raum in fast unverfälschter Klarheit einräumt. Eine Marechal-Studie mit soziologischem Interesse sollte in erster Linie die sozialen Bedingungen im Buenos Aires der ersten Jahrhunderthälfte analysieren. Eine Studie, die Literatur als Träger von Ideen oder als Schauplatz ihrer Auseinandersetzung begreift, wird eher den konzeptuellen Hintergrund des Werks und seine Funktion berücksichtigen. Daher entsteht die Frage: welche philosophischen Ideen bestimmen AB und in welchem Zusammenhang stehen sie mit der Geschichtsbewertung? Marechal zeigt in AB drei philosophisch inspirierte Wege der Flucht aus der Geschichte: die Liebe, die Schönheit und die Kunst. Wie sein philosophischer Vorläufer Descenso y Ascenso del Alma por la Belleza (erste Fassung 1933, endgültige, von Marechal bearbeitete Fassung 1965; im folgenden: DA) verdeutlicht Cuaderno de «
AB 144.
s
AB 29, 371f.
6
AB 29.
7
AB 371.
1. Schrecken und Anziehungskraft der Geschichte
43
Tapas Azules den Wunsch nach dem Austritt aus der Welt des Kontingenten. Die Liebe Adáns zu Solveig steht im Zeichen einer Rückkehr in die Welt des Dauerhaften und Ewigen. Doch bereits DA zeigt Gefahr und Zwiespalt dieses Versuchs, den Marechal in AB im desengaño von Adáns Liebe dramatisieren wird. Das Hauptargument des Descenso, das in AB literarische Gestalt annimmt, läßt sich in syllogistischer Manier formulieren: alle Menschen streben nach Glück. Glück bedeutet, das zu besitzen, was man wünscht. Aber die Wünsche des Menschen sind potentiell unendlich, kein konkreter Besitz kann sie sättigen. 8 Daher ist das Streben nach dem Glück, dem Guten und Schönen zugleich echte Spur und trügerischer Ersatz des Unendlichen. Vom salomonischen Hohelied, den persischen Sufis, den Mystikern, den Fedeli d'Amore bis zu Marechal diente als dichterische Veranschaulichung dieser These die Metapher der Liebe und ihre Sprache. Der desengaño, den Adán durch die Ablehnung Solveigs erlitten hat, lehrt ihn die verräterische Illusion des Irdischen (vanitas, Maja), die den verblendeten Liebenden wie Thebens Sphinx verschlingt. 9 Begreift der Mensch dagegen die Dinge nicht als Endziel, sondern als Ausgangspunkt, kann er den Weg zum anderen finden. 10 So geben die irdischen Dinge dem Reisenden Rätsel auf, deren Lösung von der Vielheit zur Einheit fuhrt. 1 1 Die Seele ersteigt die Stufenleiter des Seienden von der relativen Glückseligkeit, die ihm die Kreaturen schenken, bis zur absoluten Glückseligkeit im Schöpfer. Aber Solveig kann nur dann die „puente de plata" für Adáns Seele werden, wenn sie durch einen symbolischen Tod ins Unvergängliche gewandelt wird. Adán schildert diese „extraña obra de alquimia y transmutación" im Cuaderno de Tapas Azules: die irdische Solveig, von der Kontingenz des Werdens befreit, wird zur ,,niña-que-ya-no-puede-suceder". 12 Die wahre Form, den wahren Namen von „Aquella" wird Adán erst kennen, wenn der Mensch über die Brücke des symbolischen Weiblichen zur wahren Quelle gelangt. 13
8
Vgl. Plato Symposion: 205d-206a.
»
DA 33ff.
10
Vgl. DA 34f. DA VII und X sind an Augustins Confessiones X, 6 inspiriert
12
AB 400f. Dort wird der Tod jener irdischen Solveig beschrieben: „seguido de cierta necesaria oposición entre la mujer de tierra, que se destruía, y la mujer celeste que iba edificando mi alma en su taller secreto. Y como la construcción de la una se hacía con los despojos de la otra, no tardé yo en advertir que, mientras la criatura espiritual adelantaba en crecimiento y virtud, la criatura terrena disminuía paralelamente, hasta llegar a su límite con la nada."
DA 34.
'3 AB 404.
Iii. Kampf von Geschichte und Paradies
44
Welchen Ort nimmt die ästhetische Kategorie der Schönheit in der Lehre Marechals ein? Marechal folgt der scholastischen Auffassung, wonach die Schönheit die Erfahrung des Universellen im Empirischen ermöglicht.14 Die Schönheit des Irdischen erschließt das Bild der Einheit in der Vielheit der Dinge, sie ist - wie die irdische Solveig - die Brücke des Intellekts zwischen den individuierten Formen und der Universalität ihres Schöpfungsprinzips. Daher kann der Mensch auf den Spuren der irdischen Dinge, denselben, die ihn von Gott entfernten, zu Gott zurückkehren. 15 Will man den Marechal des Descenso philosophisch einordnen, so ist er als Anhänger der Existenz von Ideen ein Ideen-Realist und damit antinominalistisch; als Vertreter der These, daß die Dinge unabhängig von einem Erkenntnissubjekt existieren, ist er erkenntnistheoretischer Realist und antiidealistisch. Die in DA ausgeführte Lehre des spiralförmigen Aufstiegs und Abstiegs der Seele wird für Marechal zum Muster aller Bewegung. Im Streben nach dem Absoluten zieht sich die Seele von der äußeren Vielheit auf sich selbst zurück und kreist um sich im Gedanken an die Einheit. Doch die Seele versteht die Idee der Einheit nicht und steigt in einer zentrifugalen, „direkten" Bewegung zu den Dingen herab, um sie zu befragen. Die Antwort der Dinge ist ein Bild der Einheit in der Vielheit, über das die Seele in einer „obliquen" Bewegung meditiert, bevor sie zentripetal wieder zur anfanglichen Kreisbewegung zurückkehrt. 16 Marechal hat es graphisch in Descenso 17 dargestellt:
14
Diese Erfahrung des universale in re wird erklärt, indem man sagt, die Form „übersteige" das principium individuationis, das im aristotelisch-thomistischen System in der Räumlichkeit der Materie gegeben ist. Auf diesem Hintergrund bezeichnet Marechal die Manifestation der Schönheit als Überlaufen (desbordamiento) der Form (DA 14f). Marechal ordnet die Liebe zum Wahren dem Intellekt zu, die Liebe zum Guten dem Willen; Schönheit wird so zur intuitiven Synthese des Erkennbaren (intelligibile) und des Wünschbaren (apeticibile). Da die Form mit mehr oder weniger Inkonsequenz dem Wesen eines Dinges gleichgesetzt wird und alle Formen einem Archtypus in der Anschauung Gottes korrespondieren (idea oder causa exemplaris), kann man sagen, daß eine Form - gemessen an Gott - wahr ist. Daher spricht Marechal platonistisch von splendor veri und setzt die Wahrheit eines Gegenstandes, seine pythagoreische Schöpfungszahl und seine Form gleich (DA 13f).
15
DA 7ff führt in diesem Zusammenhang die Sentencias von Isidoro de Sevilla an.
"
DA 55-60.
17
Die folgende Abbildung 2 (Quelle: Marechal, DA 57) zeigt die spiralförmige Seelenbewegung.
1. Schrecken und Anziehungskraft der Geschichte
45
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Abb. 2: Die Spirale der drei Seelenbewegungen
Nur wenigen gelingt der „metaphysische Sprung" in die Einheit; die Seele verläßt dann ihre Form, um die des Amado, des eigentlichen Ziels, anzunehmen: Moriría en ella para vivir en el Otro: he ahí la muerte gananciosa. 18 Der Aufstieg und Abstieg, erinnert Marechal, ist jedoch der „paso normal" der Seele des Menschen in dieser Welt, ein ständiges Fluktuieren zwischen oben und unten wie in den Bahnen des platonischen Pferdegespanns aus AB. Die geometrische Figur der Spirale ist ein sinntragendes Element, das Marechal einsetzt, sei es, um die seelische Konzentration und Dekonzentration seiner Helden Adán Buenosayres oder Lisandro Farías zu charakterisieren, sei es, um Örtlichkeiten wie den Infierno und Chäteau des Fleurs zu konstruieren oder um eine Symbolik der patria zu schaffen. Auch in der Kunstinterpretation des AB wird die Verbindung von philosophischem Gedanken und literarischer Umsetzung sichtbar. Marechal deutet in Descenso den Akt der Namengebung durch den ersten Menschen als Vermittlung der Dinge mit ihrem Schöpferprinzip. Der Mensch soll den niederen Kreaturen helfen, die ursprüngliche Einheit zurückzugewinnen. In seiner Ars Poetica 19 charakterisiert Adán Buenosayres die Dichtung dadurch, daß sie den Formen einen Schatten jener Einheit zurückerstatte, die sie im göttlichen Intellekt besitzen. Gemäß der Lehre, die auch René Guénon wiedergibt, zieht Marechal eine Analogie zwischen dem Akt des Dichters und dem kosmogonischen Akt des Verbum Divinum, das als Logos die Manife-
18
DA 59.
19
AB 262-274.
III. Kampf von Geschichte und Paradies
46
stationsform der Schöpfung darstellt. Der Dichter imitiert in zweifachem Sinne: dem Material und dem Schöpfungsakt nach. Der Dichter ist aber kein absoluter Schöpfer, da er mit Formen arbeitet, die vom göttlichen Schöpfer vorgegeben sind, und damit ist er Imitator in bezug auf das Material (die ewigen Ideen), das er verwendet. Er ahmt jedoch das Göttliche Wort auch nach, indem er benennend schafft („crea nombrando"), und damit ist er Imitator des Schöpfungsaktes. 20 Doch niemals kann der Poet - in der Art des Heiligen - Imitator des göttlichen Worts in bezug auf die Erlösung werden. Marechal unterscheidet hier den Weg des Dichters von dem des Heiligen. Was der Poet in seiner Inspiration erhält, muß er als „Instrumento del Primer Amor" in einem Akt der Liebe an die niederen Geschöpfe weitergeben. Deutlich wird in Marechals Ästhetik (DA und AB) die Emanationslehre Plotins sichtbar, die eine hierarchische Seinskette vom tiefsten bis zum höchsten Geschöpf annimmt. Jede Einzelseele trägt das ganze All in sich. Diese neuplatonische Idee macht sich Marechal in AB zu eigen: der Dichter, der sich im Moment der Schöpfung in sich selbst versenkt, erreicht die exakteste aller Kosmogonien. 21 Die Botschaft der hier vorgestellten Traktate - des Descenso bzw. des Cuaderno de Tapas Azules und der Ars Poética in AB - ist jener Pol der Geschichtsbewertung, den Marechal in seiner Entwicklung überwinden wird: die Sehnsucht der Seele nach Erlösung von der Welt durch das Schöne, die Kunst und die Liebe. In der hier benutzten Terminologie offenbaren diese Merkmale der Geschichtsverneinung im Sinne von (GV1) den Wunsch nach einem Ausstieg aus Raum, Zeit und Geschichte im Sinne von (GV2). Gefährliche
Idylle
Marechal beläßt es nicht bei der paradiesischen Botschaft: schon in Adán Buenosayres setzt er den geschichtsverneinenden Merkmalen Beispiele einer bejahenden Einstellung zur Geschichte entgegen. Adán Buenosayres verspürt den Gegensatz seines Lebens in Dichtung und Schönheit und eines Lebens, das sich sein eigenes Schicksal formt: Un jugador tramposo, un tejedor de humos, ¡eso había sido él y eso era! Más habría valido jugarse todo, como el abuelo Sebastián, en la gran ilusión que afuera tejía cada hombre y que se llamaba »un destino«: buena o mala, sublime o ridicula, de
20
AB 265. Zu René Guénon, siehe oben Kap II § 2. Auerbach äußert in seinem Aufsatz „Figura", Gott habe die exemplaria aller Dinge in sich: „Plenis his figuris est quas Plato ideas appellat inmortales." Vgl. Auerbach 1967: 55-92.
21
AB 265. Marechals Topos der Einheit in der Vielheit, das hen kai pan, findet sich außer bei Plotin auch in der upanischadischen Identifikation der Weltseele (Brahman) mit der Einzelseele (Atman), in der Logoslehre Philos, im omnia ubique des Nikolaus von Kues oder in der hermetisch-alchimistischen Lehre.
1. Schrecken und Anziehungskraft der Geschichte
47
cualquier modo, habría sido un gesto leal, una postura honrada frente a lo Absoluto. 22 Bereits AB thematisiert das Problem des würdigen Schicksals. Adán klagt sich an, Leben, Leiden, Triumph und Sterben nur in eingebildeten Schicksalen hunderter erdachter Spiegelbilder erlebt zu haben. Er weiß, daß er damit sein einziges reales Schicksal verfehlt hat. 23 Bedingung für eine geschichtliche, das Individuum übersteigende Existenz ist es aber, ein Schicksal zu besitzen. Der Protagonist wird von zwei Motivationen zerrissen. Adáns Zweifel an der irdischen Welt lassen ihn den „glückseligen Anfang aller Anfange" im Goldenen Zeitalter suchen und das Ende der Geschichte in der Vision Philadelphias, der Stadt der brüderlichen Liebe, in ekstatischen Erfahrungen und in der Idylle der „paradiesischen Gärten" (Maipú, Solveigs Reich). Doch wenn Adán an das heroische Leben seiner Vorfahren denkt, Ausdruck des amor fati und der Annahme auch der Härte der Geschichte, will er seinen Ahnen und ihren Werten folgen: En cuanto a mí mismo, la cosa varía: si al llegar a esta tierra mis abuelos cortaron el hilo de su tradición y destruyeron su tabla de valores, a mí me toca reanudar ese hilo y reconstruirme según los valores de mi raza. En eso ando. Y me parece que cuando todos hagan lo mismo el país tendrá una forma espiritual.24 Marechal kennt die Tücke der Idylle, die Schimäre der reinen Utopie und konfrontiert seinen noch unentschlossenen Protagonisten mit der Kraft der Geschichte, die geprägt ist von Konflikten und Krieg, von Liebe und Haß. Die „Völkerschlacht" in der Calle Warnes oder der „Religionskrieg" im Café Izmir zeigen, daß der Krieg in seinen vielfaltigen Erscheinungsformen aus der Geschichte nicht weggedacht werden kann: der Krieg der Völker, der Geschlechter, der Religionen und der Werte. 25 Hinter dieser Einsicht ist bereits in AB die Frage angelegt, die Marechal endgültig in seinem letzten Roman MG formuliert: wie ist für Argentinien ein geschichtliches Schicksal möglich? Geschichte und Identität Mit der Frage, welche Werte in seinem Land herrschen sollten, stellt Marechal in Adán Buenosayres zugleich die Frage der Identität Argentiniens, der ein abgründiger Zweifel an ihrem Besitz anhaftet. Die Einwanderungswellen um die Jahrhundertwende haben Buenos Aires zu einem Schmelztiegel der Völker gemacht. Der Astrologe Schultze, der zur humoristisch persiflierten Martinfierro-Gruppe um Adán gehört, entwirft den Neocriollo. Er ist monströses Endprodukt einer willkürlichen geneti-
22
AB 27.
«
AB 361.
24
AB 144.
"
Vgl. AB 13, 91f,94f, 97-103, 113.
III. Kampf von Geschichte und Paradies
48
sehen Alchimie, in der Marechal ironisch und schonungslos die Kehrseite des mestizaje enthüllt: Schultze propuso algunas combinaciones étnicas (españoles con tártaras; inglesas con chinos, italianos con esquimales) que favorecían el advenimiento de aquella estirpe destinada, según afirmó, a dar su quintaesencia en el Neocriollo... 26 Hinter der Ironie verbirgt sich die Sorge Marechals, ob Menschen unterschiedlichster Herkunft die neue Heimat als gemeinsames Ziel annehmen können. Eine Antwort sehen die seit Generationen ansässigen Argentinier im Rückzug auf das Eigene, im criollismo, wie er von Figuren aus der Martinfierro-Gruppe vertreten wird. Doch Marechal zieht diese Position ins Lächerliche: den literarischen criollismo eines Pereda-Borges mit seiner Mythologie der gauchos und compadritos del arrabal und den ethno-soziologischen eines Bernini-Scalabrini Ortiz mit seiner Genius-lociTheorie des espíritu de la tierra. 27 Adán vertritt dagegen die Ansicht, nicht die Einwanderer hätten das Land, sondern das Land habe die Einwanderer korrumpiert. Aus ihrer Heimat, ihrer heroischen Existenz, ihrem Glauben und ihren Wertesystemen herausgerissen, seien die Immigranten und ihre Nachkommen Opfer der zersetzenden Kraft des Materiellen und des Fortschritts geworden. Adáns Bilanz der argentinischen Identität ist zutiefst pessimistisch: eine Vielfalt von Völkern „sin arraigo en nada", die dem Land kein Schicksal geben können. 28 Ohne individuelle Identität kein Schicksal, ohne gemeinsame Identität keine Geschichte, so lautet die implizite Warnung des Autors. Der mestizaje ist kein Ausweg für Marechal, denn der Schmelztiegel Buenos Aires hat die Individuen unterschiedlicher Herkunft nicht zu einem Volk amalgamieren können. Hier wird Marechals Standpunkt zur Frage der Identität und Zukunft Argentiniens deutlich: die mehr oder weniger künstlichen martinfierristischen Mythen sind nostalgische Illusionen eines nie geschmiedeten Schicksals. Für Marechal ist das Schicksal nicht wehmütige Reminiszenz, sondern wird im Jetzt geformt. Der Mythos, der den Übergang in die Geschichte ermöglicht, muß ständig neu geschaffen werden. Er muß ein Leitbild darstellen, das weder criollos noch Immigranten ausschließt. Wie kann das erreicht werden? Etwa durch einen paradigmatischen Helden des mestizaje, wie ihn Carlos Fuentes in Terra Nostra herbeisehnt oder wie ihn Carpentier in der Figur der Rosario in Los Pasos Perdidos gestaltet? Dafür gibt es bei Marechal keine Anzeichen. Für ihn ist der einigende Faktor nicht, wie bei Fuentes oder Carpentier, die Vermischung der Verschiedenheit zur Einheit, sondern die Gewinnung der Gemeinsamkeit in der Verschiedenheit: der kontinuierliche Kampf aller um ihr persönliches
M AB 298. 27
AB 140f.
28
AB 323.
1. Schrecken und Anziehungskraft der Geschichte
49
und gemeinsames Schicksal, wie er von Megafón, dem Protagonisten des Romans MG, geführt wird. Was ist Identität? Bei ihrer Bestimmung können wir zunächst zwei Aspekte unterscheiden. Die Identität von Individuen und Völkern entsteht nach außen durch eine Unterscheidung von den anderen, nach innen durch Selbsterkenntnis. Introspektion kann hier aber nicht gemeint sein, denn durch Innenschau wird sich z. B. schwerlich erweisen, ob einer mutig ist. Erst wenn jemand einen Menschen aus einem brennenden Haus gerettet hat, statt zuzuschauen oder zurückzuschrecken, wird er wissen, wer er ist. Wir erkennen uns a posteriori,
daher ist die Handlung der treueste Spiegel
der Identität. Selbsterkenntnis, individuell und überindividuell, heißt, sich durch seine Handlungen und seine Geschichte kennenzulernen. Daß sich eine Gruppe durch gewisse Eigenschaften auszeichne, so C. Dufour, bedeutet nicht, daß sie diese nie ablegen werde: la dialéctica de nuestra identidad estará en ser lo que no somos y dejar de ser lo que fuimos. 29 Argentiniens Selbsterkenntnis ist wie die vieler Länder erschwert durch ausländische Hegemonie oder Wertekonflikte im Inneren. Marechal hat, im Unterschied zur kosmopolitischen Intelligenz Argentiniens, eine klare Vorstellung davon. In A B wird Mister Chisholm, dem Vertreter der „zivilisatorischen Mission" Großbritanniens, deutlich gemacht: England ist der Feind, von dem man die Rückgabe der MalvinenInseln fordert.
30
Die folgende Passage, die auch in ihrem ironischen Ton nicht an
Wahrheit verliert, entlarvt die Fremdbestimmung Argentiniens durch das Ausland: nos ha embarcado en una mística de la sensualidad y el vivir alegre, inventándonos mil necesidades que no teníamos, para vendernos, ¡claro está!, los cachivaches de su industria y rescatar el oro con que nos paga nuestra materia prima. 31 Argentinien, innerlich zerrissen und an das Ausland verkauft, hegt nach Marechal noch immer den Glauben an eine politische Figur, die die Hoffnung auf innere Einheit und äußere Unabhängigkeit personifizieren könnte. Für Marechal war dies Perón, dem er in MG in absentia
ein Denkmal setzt. In A B zeigen sich Anklänge an
eine solche Figur in der Episode mit Juan Manuel de Rosas. Mit der positiven Darstellung von Rosas und, implizit, der Peróns, führt Marechal zwei Figuren der argentinischen Geschichte in sein Werk ein, deren Name in Argentinien zu bestimmten Zeiten tabuisiert war. Für Marechal bedeutet es einen Unterschied, ob man Entdecker oder Entdeckter ist, und er weiß um die Lage eines Kontinents, der nicht zuletzt aufgrund koloniali-
29
Dufour 1992: 22.
30
AB 146.
31
AB 347.
50
III. Kampf von Geschichte und Paradies
stischer Interessen „Lateinamerika", „Amérique Latine", getauft wurde. 32 Eine Entdeckung ist immer auch Eroberung, Landnahme. Der Zusammenprall von Entdecker und Entdecktem kann daher nie eine „Begegnung" sein, sondern nur ein choque violento de dos razas, una sin destino ya, la otra con misión.33 Identität ist kein Zustand, sondern ein Prozeß. Ein Volk gewinnt oder verliert Eigenschaften im Laufe der Zeit; Eigenschaften aber treten zutage durch Tun. Ein Volk erkennt seine Eigenschaften durch seine Taten, es findet seine Identität a posteriori in seiner Geschichte. Dem Versuch, durch Schönheit, Liebe und Kunst aus Zeit und Geschichte auszutreten, steht die Kraft der Geschichte gegenüber: Maréchal macht es an Adáns Bewunderung des amor fati seiner Vorfahren greifbar, vor allem aber an den Taten Megafóns, durch die Argentinien ein Schicksal gewinnen kann.
Die Anziehungskraft der Geschichte in »Adán Buenosayres« Die bisherigen Ausführungen machen deutlich: in Adán Buenosayres kontrastiert Maréchal geschichtsverneinende und geschichtsbejahende Elemente. Als Merkmal der GV im Sinne von (GV2) tritt der Wunsch nach Vernichtung von Raum und Zeit auf; als Topos, in dem (GV1) und (GV2) verschmelzen, das Bild des Paradieses (Philadelphia, die Gärten). Hinter Begriffen wie Kunst, idealisierte Liebe, Schönheit, Welt der Ideen stehen geschichtsverneinende Merkmale im Sinne von (GV1). Sie werden konfrontiert mit einer Bejahung der Geschichte, die anerkennt, daß es Geschlechterkampf, Krieg, Konflikte und Leid gibt. Amor fati — Ausdruck der Bejahung von Zeit und Geschichte (GB2) - ist die Liebe zum Schicksal in der Annahme seiner Härten und nicht in passiver Ergebenheit. Die Geschichtsbejahung (GBl) äußert sich im anonymen Heroismus der Vorfahren Adáns, der Leute des campo oder der Fischer und, allgemein, in Begriffen wie Tradition und Herkunft, in der Erkenntnis des Krieges als wesentliche Erscheinungsform der Geschichte, in der deutlichen Absage an den mestizaje, in der Absage an den Materialismus der Fortschrittslehre (die egalitären Nummernmenschen des Infierno, die Position des Arztes Lucio Negri) oder in der dezidierten Haltung gegenüber Hegemonialmächten (England). Adán zweifelt an sich, wenn er seinem Leben als Dichter das heroische Schicksal seiner Vorfahren entgegenhält. Der Dichter muß seinen eigenen Erlösungsweg beschreiten, doch ihm wird als Interpreten des kryptischen Buches der Welt Zutritt zu jenen beiden Reichen gestattet, die sonst nur Helden und Heiligen offenstehen: zu Hölle und zu Paradies. Im Wunsch Adáns nach einem Schicksal kündigt sich bereits
32
Carlos Fuentes erklärt in der Zeitschrift La Prensa, Buenos Aires, 18 de febrero de 1990: „una civilización que yo no llamaría latinoamericana. Este es un concepto acuñado por los franceses del siglo XIX para incluirse a sí mismos." Vgl. Buela Lamas 1990: 98.
33 AB 183.
51
1. Schrecken und Anziehungskraft der Geschichte
in AB eine aktive Haltung an, die die Protagonisten der folgenden Romane von der Kontemplation zur Tat führen wird. Das Schwanken des Dichters Buenosayres zwischen Paradies und Geschichte kommt bereits in seinem Namen und dem Romantitel zum Ausdruck. Adán Buenosayres, der aus dem Paradies vertriebene Adam, tritt in die Geschichte ein, die Buenos Aires und Argentinien heißt. 34 Adán ist noch kein geschichtlicher Held. Er beobachtet - wie W. B. Berg es ausdrückt - mit einer „Mischung aus Angst und Faszination" eine vielgestaltige Gesellschaft. 35 Adán hofft auf ein mögliches Schicksal, doch die Zeit scheint dafür noch nicht reif: A tu regreso habían realizado aquella nueva confrontación de dos mundos. Volvías a tu patria con una exaltación dolorosa que se manifestaba en urgencias de acción y de pasión, y en un deseo de hacer vibrar las cuerdas libres de tu mundo según el ambicioso estilo que te habían enseñado las cosas de allende. Pero tu mundo escuchaba en frío aquel mensaje de grandeza; y en su frialdad no leías, ciertamente, una falta de vocación por lo grande, sino el indicio de que todavía no era llegada la hora... 36
Diese Hoffnung erfüllt sich nicht in der Zeit des Dichters Adán, sondern in der Zeit des Kämpfers Megafón, mit der sich Marechal von der intellektuell-beobachtenden Warte ablöst und ein persönliches mit einem überpersönlichen Schicksal zusammenfallen läßt. Politische Deutung der
Kastenlehre
Das Motiv des zyklischen Verfalls der Geschichte erscheint in den drei Romanen Marechals. Es leitet sich ab von der Lehre Hesiods und der indischen Kastenvorstellung, die Marechal - Kenner der Bhagavadgitä - mit hoher Wahrscheinlichkeit René Guénons Autorité Spirituelle et Pouvoir Temporel (1929) entnahm. Damit klärt sich eine Anspielung in Adán Buenosayres auf René Guénon. Marechal bemerkt gegenüber dem Astrologen Schultze, der die Kastenlehre im Infierno darlegt: Aunque su [Schultzes] exposición acuse lecturas recientes de cierto metafísico galo... 37
Doch es ist aufschlußreich für diese in der Zeit liegende Idee, daß bereits Julius Evolas Imperialismo Pagano (1927) noch vor Guénon eine Rückbildung der Kasten beschreibt in einer die indische Lehre übersteigenden Form, wie sie auch für Marechals AB charakteristisch ist. 38
34
Siehe auch Berg 1992: 227.
35
Berg 1992: 227.
36
AB 334f, Hervorhebung der Autorin. Marechal spielt wohl auf eine seiner Europareisen (19261927, 1929-1931, 1948-1949) vor 1948 an. AB 492.
37
38 Siehe auch Kap. IV § 1: 89.
52
III. Kampf von Geschichte und Paradies
Ein Element, das in dieser Form nicht zur indischen Tradition gehört, ist der Zusammenhang, den Marechal im Banquete zwischen den Zeitaltern und den Metallmenschen konstruieren wird, bzw. in Adán Buenosayres zwischen den Kastenarchetypen und dem zyklischen Zeitverfall: der Brahmane (Priester) wird vom Kshätriya (Krieger) entthront, der Kshätriya vom Vaiqya (Bürger) und dieser vom Qúdra (Arbeiter). Marechal schafft hier eine Mischform aus indischer Lehre und den Menschengeschlechtern Hesiods. 39 Doch zweifellos enthält auch die indische Lehre unabhängig voneinander die Dekadenz der Zeitzyklen vom Goldenen bis zum Dunklen Zeitalter - satyä-yuga oder krtä-yuga, tretä-yuga, dväpara-yuga und kaliyuga, 40 die ein Manvantara (Ära des Manu) bilden - und eine Dekadenz der Kasten, die ihre Funktionen nicht mehr angemessen erfüllen. Die indische Kastenlehre, die Marechal in den AB aufnimmt und die er in der „Autopsia de Creso" aus der Essay Sammlung Cuaderno de Navegación (1966, im folgenden: CN) analysiert, weist drei Charakteristika auf: das religiöse Supremat der Brahmanen in einem hierarchisch geordneten Staatswesen - in der Zeit des Kastenverfalls übernimmt bei Marechal die Kriegerkaste den Primat; eine Parallelität von gesellschaftlicher und kosmischer Ordnung - dem Kastenverfall entspricht der Verfall der Zeitalter; die Beziehung zwischen physischer und politisch-gesellschaftlicher Ordnung: die Unentbehrlichkeit jeder Kaste für das Staatswesen kommt in der Körpermetapher der Rig-Vèda zum Ausdruck, die Marechal von Guénon übernimmt: De Purusha, le Brahmano fut la bouche, le Kshatriya les bras, le Vaishya les hanches; le Shüdra naquit sous ses pieds. 41 Mit diesem traditionellen Bild erinnert AB an eine Gesellschaftsordnung, in der jede Kaste die Funktion im Staat ausübt, für die sie am besten geeignet ist. 42 Die Brahmanen bzw. Priester verkörpern die Welt des Seins. Sie sind die Hüter der sakralen Werte, des Ritus und der Überlieferung der traditionellen Lehre. Der Krieger oder Kshätriya, dem die Ausübung und Verteidigung der irdischen Regierung zufallt, beherrscht die Welt der Tat und der heroischen Werte. Vaigya, der die erwerbende Kaste des Bürgers vertritt, ist Schöpfer und Verteiler der materiellen Werte.
39
Gatz warnt vor einer Gleichsetzung von Goldenem Zeitalter und Paradiesesgedanken mit dem Metallmythos Hesiods. Gatz 1967: 5f.
40
Gatz fuhrt hierzu Mahâbhârata III. 12, 805ff an und Evola Mânavadharmaçâstra, I, 81ff. Vgl. Gatz 1967: 10 und Evola 1982: 217. Auch Coulson 1974: 55f gibt einen Abriß der indischen Lehre.
41
Dieses Rig-Vêda-Zitat, Rig-Vêda, X, 90, findet sich bei Guénon 1952: 195. Vgl. die Darstellung in AB 490. Dies spricht einmal mehr für Marechals breite Kenntnis der Werke Guénons.
42
Zur Darlegung der Kastentheorie bei Marechal, siehe AB 488-495. Vgl. auch Guénons Autorité Spirituelle et Pouvoir Temporel (1929), hier zitiert als Guénon 1930: 27-44, 103-122, sowie Guénon 1952: 195-198.
1. Schrecken und Anziehungskraft der Geschichte
53
Der Arbeiter oder Qüdra hat nur dienende Funktion und ist im Unterschied zu den Angehörigen der anderen Kasten von der „zweiten Geburt" ausgeschlossen. 43 Doch im kali-yuga, dem Dunklen Zeitalter, gibt es keine Harmonie mehr zwischen den Kasten. Die Ursache der Dekadenz, die zur Entmachtung der jeweils höheren Kaste durch die folgende führt, sieht Marechal in der Neigung zu einem charakteristischen Laster. Dieses Grundübel ist der jeweiligen Mystik der Kaste entgegengesetzt. Der Brahmane verfällt irdischen Gütern und Macht. Der Krieger stürzt den korrupten Brahmanen, vergißt das heroische vivir peligroso und endet als Despot. Der Faifya wiederum stürzt den Krieger und verfallt dem Egoismus und der Wucherei, bis ihn schließlich der Qúdra absetzt. 44 Wie bewertet Marechal die indische Lehre? Im Gegensatz zu dem, was eine zeitgenössische Position vermuten könnte, versteht er das Gesetz der Kasten nicht als diskriminierende Herrschaftsstruktur, sondern als Voraussetzung für Harmonie und Gerechtigkeit: Cuando todas las clases guardan fidelidad a su vocación y se mantienen en su jerarquía, el orden humano reina, y la justicia tiene la forma de un toro bien asentado sobre sus cuatro patas. 45 An diesem Punkt wird die moderne Position kritisch nachhaken. Kann eine derartige Theorie heute noch theoretischen Anklang finden bzw. praktische Bedeutung haben? Nach Marechal gewiß, denn er erkennt Unterschiede zwischen den Menschen an, und er glaubt, daß der Peronismus (Justicialismo) als Verwirklichung der literarisch vertretenen Kastentheorie diesen Unterschieden gerecht werden kann: el »justicialismo«, lejos de fomentar una »lucha de clases« en verdad suicida, trata de armonizar y jerarquizar las »clases« entre sí, para que cada una cumpla con la función que le es propia en el organismo social, porque cada »clase social« no es un conjunto de hombres agrupados arbitrariamente, sino una función necesaria e inalienable que debe jugar con las otras en armonía y sólo teniendo en cuenta la salud del organismo social.46 Marechal betont die Distanz des justicialismo vom marxistischen Konzept des Klassenkampfes und vertritt eine hierarchisierte Auffassung des Staates auf der Basis der Verschiedenheit seiner Individuen und ihrer spezifischen Funktion im Gemeinwesen. Vielleicht dachte der Autor hier an die natürlichen „Obliegenheiten", von denen die
43
Störig 1968: 15. Guénon 1930: 42 Anm. benutzt den Begriff des „dwija" bzw. „deux fois né".
44
AB 489.
45
AB 490, MG 334. Marechal spielt auf ein Bild des Mänavadharmafästra an, das den Übergang der Weltzeitalter illustriert: der Stier verliert mit jedem Zeitalter eines seiner Beine, was die Auflösung des Dharma, des Gesetzes, bei zunehmendem Verfall symbolisiert. Vgl. auch Evola 1982: 217. Die Berufung auf Gerechtigkeit im Zusammenhang mit Hierarchie entspricht Hesiods Goldenem Zeitalter, in dem Dike herrscht.
46
Marechal in Andrés 1968: 51.
III. Kampf von Geschichte und Paradies
54
Bhagavadgîtâ spricht, 4 7 wenn sie die Wichtigkeit der Aufgabenerfullung - und damit die Wichtigkeit aller Kasten - betont. Hier kontert die moderne Position zweifellos: „Hierarchie bedeutet Ungerechtigkeit." Doch es sollte keine Verurteilung von vornherein stattfinden, sondern Überlegung, was Maréchal sagt, und warum er es sagt. Es gibt keinen Grund anzunehmen, warum eine Hierarchie in allen Fällen ungerecht sein sollte oder immer schädliche Folgen nach sich ziehen müßte. Eine gerechte Ordnung kann Verschiedenheit und Individualität bewahren. Der kolumbianische Philosoph Gómez Dávila argumentiert in diesem Sinn: Damit eine Vielheit von mannigfaltigen Zuständen koexistiert, ist es nötig, sie auf verschiedenen Ebenen anzusiedeln. Die hierarchische Ordnung ist die einzige, die weder ausstößt noch unterdrückt. 48 Die Behauptung Gómez Dávilas und Marechals Rezeption der Kastenlehre verwirklicht sich in der biologischen Nischenbildung eines ökologischen Systems, die ein Zusammenleben verschiedener Arten ermöglicht. Vielfalt kann nur da existieren, wo nicht alle von demselben leben, wo nicht alle dasselbe tun oder wollen. Auch René Guénon ist sich des Affronts bewußt, den ein Mißverstehen der Kastenlehre für heutiges okzidentales Denken bedeuten muß, doch für ihn spiegelt sie natürliche Verschiedenheit wider: Le principe de l'institution des castes, si complètement incompris des Occidentaux, n'est pas autre chose que la différence de nature qui existe entre les individus humains, et qui établit parmi eux une hiérarchie dont la méconnaissance ne peut amener que le désordre et la confusion. C'est précisément cette méconnaissance qui est impliquée dans la théorie »égalitaire« si chère au monde moderne, théorie qui est contraire à tous les faits le mieux établis, et qui est même démentie par la simple observation courante, puisque l'égalité n'existe nulle part en réalité... 49 Marechals Rezeption der Kastentheorie scheint mir wegen ihrer historisch-kulturgeschichtlichen Anwendbarkeit wichtig. Dadurch verliert sie ihren scheinbar abgehobenen Charakter und wird zu einer Erklärung fur die Verlagerung der „Zentralgebiete" des gesellschaftlichen Lebens: die jeweils regierende Kaste prägt den Geist und die Grundausrichtung einer Epoche bzw. Gesellschaft. Mit dem Kshâtriya löst das Politische das Spirituelle ab, mit dem Vaiçya das Ökonomische das Politische und mit dem Çûdra das Proletarische das Ökonomische. In Deutschland, Frankreich,
47
Marechals Kenntnis der Bhagavadgitä ist belegt bei Rosbaco 1973: 48. Ferner erwähnt Marechal in CN 120, sein Freund Squirru habe sich mit der Bhagavadgitä beschäftigt; Squirru berichtete mir seinerseits, er habe sich oft mit dem Autor über die indischen Lehren unterhalten.
48
GomezDävila 1987: 17f.
«
Guénon 1930: 15.
55
1. Schrecken u n d Anziehungskraft der Geschichte
Italien und Argentinien gingen die Überlegungen Ernst Jüngers, René Guénons, Julius Evolas und Julio Meinvielles in dieselbe Richtung. 5 0 In den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts nahm Marechal an den Cursos de Cultura Católica
in Buenos Aires teil. Meinvielle, einer der Mentoren der Cursos, über-
trägt, wie Guénon, die vier Archetypen auf historische Revolutionen: der Revolution der absoluten Monarchie (Kshätriya), die sich vom Zepter der Kirche (Brahmane) löst, folgt die Französische Revolution (Vaifya)
und beseitigt die Monarchie. Die
Russische Revolution der Arbeiter (Qüdra) beendet schließlich den Zyklus des Bürgers.
51
Wahrscheinlich hat Meinvielle, der Guénon nicht nennt, diese historische
Projektion aus Guénons Studie von 1929 übernommen. 5 2 Es ist also kein Zufall, daß auch Marechal an eine historische Anwendung der Kastenlehre dachte. Eine Etikettierung Marechals als „reaktionär" grenzt das Sichtfeld zu sehr ein. Wer hätte ernsthaft die Existenz von Hierarchien in der marxistischen Gesellschaftsordnung leugnen können, die doch theoretisch die Gleichstellung der Individuen fordert? Wer könnte es für eine nichtmarxistische Gesellschaft behaupten? Diese Übereinstimmung hat Marechal erkannt. In „Autopsia de Creso" (CN) unternimmt er eine Analyse des homo oeconomicus,
die er in MG literarisch in
der Figur Salsamendi Leumans gestaltet. An diesem Krösus, der den Geist des Ökonomismus symbolisiert, unterstreicht Marechal in CN eine aufschlußreiche Konvergenz. Die (ehemaligen) ideologischen Gegner Kapitalismus und Marxismus treffen sich in einem auf das Materielle reduzierten Weltbild: Dije ya que la viciosa tendencia de Creso lo llevó a poner el acento de la vida en lo corporal y »material«. Su enemigo aparente Carlos Marx, no sólo aceptó ese »vicio« de Creso: lo convirtió, además en una »virtud« o en una filosofía. Por un rasgo de humor la tendencia »negativa« de Creso fue transmutada en una afirmación ideológica: si para Creso la materia fue un demonio tentador, para el marxismo y sus fieles es hoy algo así como una divinidad simplista que ordena el mundo y explica sus contradicciones. 53
50
Zum Beispiel Emst Jünger in seinem Roman Heliopolis. In der Theorie der „Drei Stufen zur Gleichheit" verlaufen die drei Revolutionen vom Religiösen über das Politische zum Technischen. Der Einzelne revoltiert gegen den Priesterstand für das Recht „unmittelbar zu Gott zu stehen". Bürgerliche Freiheit und Freiheit des Händlertums (Marechals dritte Kaste des homo oeconomicus) sind die Ziele jener Revolution, die die Aristokratie stürzt. Schließlich löst die „kinetische oder Arbeitswelt" die Epoche des Bürgertums ab, was Jünger folgendermaßen kommentiert: „In dieser Wandlung war die Freiheit dahingeschwunden; sie hatte sich in Gleichheit aufgelöst. Die Menschen glichen sich wie Moleküle." Jünger 1980: 280.
51
Vgl. J. Meinvielle 1961: 31-41.
52
Guénon 1930: 103-122. Freilich könnte Meinvielle Guénon in seinen Vorträgen in den Cursos erwähnt und Marechal zur Lektüre angeregt haben, womit geklärt wäre, wieso Marechals und Guénons Rezeption der Kastenlehre identisch sind. Unklar bleibt die Verbindung zu Evolas Schrift aus dem Jahre 1927, doch ist nicht auszuschließen, daß Marechal Evolas Werk kannte.
53
„Autopsia de Creso", in CN 89. Vgl. Heideggers Bemerkung unten, Kap. VII § 5: 271.
III. Kampf von Geschichte und Paradies
56
Auch im scheinbar letzten Zyklus, wo der vierte Stand des Proletariats herrschen sollte, erkennt Marechal die ungebrochene Macht des Krösus „muy bien disfrazado, en los Directores oficiales de empresas comunistas y en sus Jefes de Producción". Marechal stellt fest: wird der Stand des Bürgers im Kommunismus auch scheinbar von dem des Arbeiters abgelöst, so bleibt doch die Verfallserscheinung des bürgerlichen Geistes, der Ökonomismus. Darum spricht Marechal von der Kastenlehre und darin besteht sein Beitrag zu ihrer Interpretation: wir befinden uns immer noch in einer Epoche, die vom Geist des homo oeconomicus regiert wird. Die Diktatur des Proletariats war nur nominell, eine reine „enunciación teórica".54 Die Macht der Kastenhierarchien, in ihrer negativen Ausformung als ökonomische Oligarchie, war für Marechal weder im Osten noch im Westen beendet - die postulierte Gleichheit herrscht nirgendwo. Deshalb entlarvt Marechal in Cuaderno de Navegación und Megafón den Einfluß jener Kastenarchetypen wie Creso, die ihre ursprüngliche Pflicht vergessen haben. Eine Zusammenfassung der Anklage Marechals gegen den Kastenverfall und seine Machtusurpationen könnte so lauten: aus den Religionskriegen des Brahmanen und den politischen Kriegen des Kshätriya sind heute Handelskriege geworden. Errichtete die Kunst früher Kathedralen und Paläste, macht sie im Zeitalter des Bürgers Werbung. Herrschertum, Hierarchien, Krieg, Arbeit, Leid und Tod gehören zur Geschichte. Doch in der Moderne haben diese Merkmale ihre sakrale Kraft verloren und verwandeln sich in Unterdrückung, Vernichtungswahn und Ausbeutung. Leid und Tod werden ausgeklammert, wo es der Wohlstand einer Gesellschaft erlaubt. Dafür tauscht sie der Mensch gegen etwas anderes ein: er wird zum Gefangenen seiner Triebe, seiner Konsumgier, seines Unbewußten, kurz - er ist entfremdet durch die Geschichte und durch sich selbst. Marechal erkennt realistisch das (offenkundige oder weniger offenkundige) Weiterbestehen der Hierarchien, gerade dort, wo sie theoretisch ausgerottet sein sollten. 55 In einer Zeit, in der sich die Konfrontation zwischen argentinischem Militär und Guerilla anbahnt, will Marechal in seinem Roman Megafón o la Guerra die Legitimation jeder Hierarchie in einen uranischen Ursprung verlegen. Doch diese Rückkehr ermöglicht in MG nicht ein Mann der Kontemplation, sondern ein Mann der Tat. Kastenverfall und Erneuerung in »Megafón o la Guerra« Der posthum erschienene Roman MG ist die gesellschaftlich-politische Anwendung der Kastenlehre, eine Bestandsaufnahme der argentinischen Gesellschaft, die paradigmatisch für den Verfall der modernen Welt steht. Megafóns Ideal einer Wieder54
„Autopsia de Creso", in CN 89.
55
„Autopsia de Creso", in CN 89.
1. Schrecken und Anziehungskraft der Geschichte
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herstellung der zersplitterten Gesellschaft drückt sich aus in seinem Änderungsvorschlag der symbolhaften Architektur der Plaza de Mayo. 5 6 Um die Erneuerung der Kastenmystik und die Rettung der patria durchzusetzen, entfesselt Megafón einen „Krieg", der wie der islamische Heilige Krieg die zweifache Dimension des Kleinen und Großen Jihad aufweist: die irdische Schlacht um das Geschick des Vaterlands, die den Verantwortlichen das Drama der Nation bewußt macht, und die himmlische um die Eroberung der symbolischen Frau. Beide Schlachten sollen das verlorene Gleichgewicht zwischen himmlischer und irdischer Ordnung wiederherstellen. 57 Ein Name bedeutet Schicksal. Verrat am Namen ist Verrat am Schicksal, und Buenos Aires - so führt Marechal in MG aus - trägt nicht seinen wahren Namen, Ciudad de la Trinidad, sondern den verstümmelten Namen seines Hafens, Santa Maria de los Buenos Aires. Das Phantasma des zweiten Gründers von Buenos Aires, Juan de Garay, beklagt den Fall der Stadt, die ihr Schicksal verfehlt hat: Te vestí de hierro y te calcé de bronce para la gueiTa. 58 Die Stadt und die Kasten haben ihr Schicksal verleugnet. In verschiedenen „Operationen" zieht Megafón die Vertreter der drei oberen Kasten zur Verantwortung für das Schicksal des Landes. Der Priesterstand, geblendet von irdischen Begierden, 59 vergißt die Armen. Ihm stellt Marechal in der Figur des Bischofs „Frazada" einen Mann der Kirche entgegen, der für soziale Gerechtigkeit kämpft. 6 0 Dem Verfall der Priesterkaste entspricht jener der Kriegerkaste bzw. Patriziats. Major Troiani, Mitkämpfer Megafóns, fallt das lakonische Urteil über die zweite Kaste: die militärischen Tugenden sind Verwaltungsgewohnheiten geworden, es gibt keine Soldaten mehr, nur noch Streitkräfte: El soldado [...] es una estructura humana en la que funcionan a la vez el coraje militar y el coraje civil. Ahí está la madera del príncipe y del caballero andante: ¡sólo en esa madera se podría tallar un »héroe«! Por eso ya no existen héroes ni caballeros ni soldados.61 56
An der Plaza de Mayo stehen Regierungsgebäude, Kathedrale, Banco de la Nación und Finanzministerium. Megafón will das Regierungsgebäude rechts von der Kathedrale und links von einem Ministerio de las Armas flankiert wissen, MG 116.
"
MG 54, 105.
ss
MG 128.
59
Man vergleiche dies mit Vallis Darstellung der Ziele der Fedeli d'Amore. Siehe unten, Kap. IV §1:89.
60
Vgl. MG 127 und 281, wo sich Bischof „Frazada" - beim Kardinal wegen seines Engagements für die Armen in Ungnade gefallen - an die Fronleichnamsprozession 1955 erinnert: „Allá van todos" - grita en una suerte de alarma ¡El Corpus del Señor adelante, fijo en su lignum crucis; y detrás, en ordenadas columnas, esos hombres que se han escondido en la ropa sangrienta del Señor para tejer una maldad contra su Evangelio! [...] ¡son los mismos rostros que hace dos milenios empujaron al Señor hasta el monte de la calavera!" Diese Fronleichnamsprozession nahm den Charakter einer antiperonistischen Massendemonstration an, woraus sich das Urteil des Peronisten Marechal erklärt. MG 57.
58
III. Kampf von Geschichte und Paradies
Perón wurde im Jahre 1955 gestürzt. Noch zu Zeiten von Peróns Madrider Exil zieht Marechal, ein Exilierter im eigenen Land, unbeirrbar Bilanz: die Argentinier sind ein geschlagenes Volk: Desde fines de 1955 - les dije - , con un pueblo en derrota y su líder ausente, soy un desterrado corporal e intelectual. 62
El Psicoanálisis del General González Cabezón, eine weitere Aktion Megafóns, ist ein Requiem auf General Juan José Valle, der (angeblich auch im Hause Marechals) gegen die Militärdiktatur der sogenannten Revolución Libertadora konspirierte. 63 Megaton und Troiani brandmarken die unwürdige Erschießung Valles in einem Gefängnis und fordern Aufklärung über die Verstümmelung der Leiche Eva Peróns ein Motiv, das sich im zerstückelten Leichnam Megafóns wiederholen wird. Troiani entblößt in seiner Kritik an General González Cabezón 64 das Stigma der Militärs: der General habe sein Schwert im Subversionskrieg gegen seine eigenen Landsleute und damit gegen sich selbst erhoben. 65 Neben der militärischen Aristokratie hat sich auch die zivile Aristokratie Argentiniens aus ihrer Ordnung gelöst. In der Operation La Invasion al Oligarca wird Don Martín Igarzábal als Vertreter des korrupten Patriziats entlarvt. In Igarzábal verurteilt Marechal die kosmopolitische argentinische Intelligenz: sie verrät ihr eigenes Volk, indem sie sich zu einer lächerlichen Imitation alles Fremden herabwürdigt und doch einen Minderwertigkeitskomplex dem Ausland gegenüber entwickelt. 66 Mit seiner Nachahmung fremder Vorbilder vollzieht das Patriziat den geistigen Bruch mit dem eigenen Volk, mit seiner Auswanderung den physischen. 67 Diejenigen ihres Standes, die geblieben sind, verwandeln sich vom Gran Oligarca zum Gran Cipayo (Verräter), indem sie die Befreiung von der spanischen Metropole im Unabhängigkeitskampf rückgängig machen durch den Verkauf des Landes an andere Metropolen. 68 In Biopsia del Estúpido Creso, der folgenden Operation Megafóns, figuriert Krösus als Vertreter des Ökonomismus und jener dritten Bürger-Kaste, die nicht mehr ihr Land, sondern nur noch sich selbst bereichert. Die Geometrie der Macht spannt
«
MG 13.
63
General Lonardi, der 1955 die sogenannte Revolución Libertadora einleitete, mußte bald die Macht an General Aramburu (1955-58) abgeben, was Marechal in MG geringschätzig den Malambo de los Generales nennt. Zu Valle, vgl. die Behauptung Elbia Rosbacos 1973: 49 und Materialien (A) § 1: 290, Anm. 32. Die Unterhaltung in MG 14 spielt auf Valle an.
64
Vermutlich eine Verschmelzung der Generäle Ongania und besonders Aramburu. Auf Aramburu verweist Elbia Rosbaco im Gespräch mit Miguel Briante, vgl. Briante 1984.
«s MG 211. 66
MG 156. Marechals Analyse trifft sich mit jener Ramón Dolls in „El »Facundo«". Vgl. Doli 1966: 219-222.
«
MG 157.
«
MG 158f.
1. Schrecken und Anziehungskraft der Geschichte
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sich auf zwischen dem Pentagon und den argentinischen Machthabers dem Gran Oligarca, dem Präsidenten und dem Wirtschaftsminister Salsamendi Leuman alias Creso. Man sagt von ihm, er verkaufe heimische Produkte ebensogern ans Ausland wie eine heimische Provinz, und auch die Lösung für Argentiniens Probleme hole er sich bevorzugt dort. 69 Marechal charakterisiert diese Figur mit ätzendem Sarkasmus. Creso lädt die Gruppe um Megafón zu einer blasphemischen Ultima Cena ein, bei der in grotesker Abwandlung der wunderbaren Brot- und Fischvermehrung des Evangeliums Brotkrümel, Fischgräten und Coca Cola gereicht werden. Creso hat seine eigene Religion erfunden, die Liturgie besorgt der Banker-Klerus. Cresos Gott ist das Gold (Papiergeld fiir das gemeine Volk), sein Paradies die Geldwertstabilität, seine Hölle die Inflation. Niemand kennt Salsamendis tatsächliches Alter, es gab ihn schon im Mittelalter. In einer wundersamen Transformation enthüllt er sein wahres Gesicht: como si derrotase al tiempo y al espacio en una suerte de clisé inmóvil se transformó en el Creso abstracto de la fábula, intemporal como su mito y sin localización fija como su historia. 70
Im Zyklus des kali-yuga, den Megafón darstellt, sind die Kasten degeneriert, ist die Gerechtigkeit verloren - die zwei Schwerter des regnum und sacerdotium, der weltlichen und geistlichen Macht, sind nicht mehr vereint. Nur Creso mit seinem parodistischen Wahlspruch eines dämonischen Priesterkönigs - „¡Creso pontífice y Creso Rey!" - behauptet, die Welt durch eine gefälschte Kreuzigung zu erlösen. 71 Wie sieht Marechal die geschichtliche Entwicklung und das Ende der Geschichte? Ein mögliches Ende könnte Qúdra herbeiführen, wenn er sich tatsächlich gegen den Bürger erhebt und so das Ende des Eisernen Zeitalters oder kali-yuga einleitet. Andererseits können Kasten und Individuen wählen zwischen Untergang oder Wiederherstellung, Freitod oder Rückkehr zum Ursprung: Ahora estamos en la última de las edades, la de Hierro, que ya deploró Hesíodo en su época. [...] Naturalmente, como la inmovilidad es imposible a toda criatura forzada por la »condición temporal« y sometida, por ende, al movimiento, sólo me quedaban dos recursos: o morir (abandonar la corriente del siglo en un gesto
69
MG 126 und ab 242. Salsamendi ist eine Persiflage, die vermutlich eine Verschmelzung von zwei realen Personen darstellt. Einmal trägt Salsamendi unverkennbare Züge des liberalen argentinischen Politikers und ehemaligen Wirtschaftsministers Alvaro Alsogaray, dessen Durchhalteparole, „hay que pasar el invierno" (auf die Marechal in MG 245 anspielt), berüchtigt war, und der seit Dekaden die Wirtschaftspolitik Argentiniens mitbestimmt. Zum anderen läßt der Name „Salsamendi" die Spekulation zu, daß in die Figur auch Züge des Wirtschaftsministers Onganias, Salimei, eingegangen sein könnten.
70
MG 256.
71
MG 261. Marechal spielt mit „¡Creso pontífice y Creso Rey!" auf das Bild der Vereinigung der beiden Schwerter im Priesterkönigtum an, das, wie in Guénon 1956: 44-53 (Paris 1927) ausgeführt, von der Figur des Melchisedek (angeblich eine Präfiguration Christi, I Mos. 14, 1820 und Hebr. 7, 1-4) symbolisiert wird.
60
III. Kampf von Geschichte und Paradies suicida), o nadar contra la corriente, vale decir, iniciar un »retroceso« en relation con la marcha del rio. 7 2
Maréchal betont nämlich, es könne durch die Tat des Kriegers gelingen, zur ursprünglichen Ordnung der Kasten zurückzukehren. 73 Hier trennt sich Maréchal von Guénon in einer für das spätere Romanwerk folgenschweren Wahl. Für Guénon war bereits die Kastenunterscheidung ein Bruch der ursprünglichen Einheit, die den Kampf zwischen geistiger und zeitlicher Macht einleitete: Les hommes qui sont faits pour l'action ne sont pas faits pour la pure connaissance [...] Toute action qui ne procède pas de la connaissance manque de principe et n'est plus qu'une vaine agitation; de même, tout pouvoir temporel qui méconnaît sa subordination vis-à-vis de l'autorité spirituelle est pareillement vain et illusoire... 74
Für Maréchal ist es - in auffallendem Einklang mit Evola - nicht der Priester, sondern der Krieger Megafön, der den Akt der Wiederherstellung, der Vereinigung von Wissen und Tat, vollziehen wird und die Unsterblichkeit in der „connaissance intégrale" des symbolischen Weiblichen zurückerobert. Mit dieser Abgrenzung von Guénon begreift Maréchal den Helden als geschichtsschaffende Figur. Für Maréchal ist die patria wie die Geschichte ein Werden: findet sich niemand, der der patria ein Schicksal gibt, stagniert sie. Es ist bedeutsam, daß der Autor aus der indischen Tradition nicht die Upanischaden oder den Buddhismus wählt, sondern die Bhagavadgîtâ, Teil des MahâbhârataEpos. Übertragen auf die europäische Tradition bedeutet das die Option für Nietzsche und die Betonung des Willens gegen Schopenhauers Verneinung des Willens. Indem die Upanischaden eine Identität des Individuellen (.Atman) und der Weltseele (Brahmari) behaupten, beseitigen sie alle Unterschiede; der Buddhismus läßt analog die Kasten unwesentlich werden. 7 5 Maréchal bezieht sich dagegen auf die epische, geschichtsschaffende Tradition jener altvedischen Zeit, in der die Kriegerkaste den Primat vor der Priesterkaste besaß. Diese Zeit schildert im Mahâbhârata den Kampf zweier fremder Stämme bei der Eroberung Indiens und gibt in der Bhagavadgîtâ dem Kampf den Vorzug und nicht der Kontemplation. 76 Sowohl Marechals Quelle Hesiod als auch die indische Lehre kennen die erneuernde Kraft des Helden. Bei Hesiod, wo nichts über einen Neubeginn nach dem Eisernen Zeitalter ausgesagt ist, kann das Heroengeschlecht als teilweise Wiederher72
„Claves de Adán Buenosayres", in CN 140, bereits in anderem Zusammenhang zitiert in Kap. II § 1.
73
AB 495: „También es posible que Chatriya, regenerado en la penitencia, recuerde su vocación y reconstruya el orden primero."
74
Guénon 1930: 47, 52.
75
Vgl. Störig 1968: 31.
™ Störig 1968: 14.
2. Christentum gegen Heidentum
61
Stellung eines Goldenen Zeitalters gedeutet werden. 77 In der indischen Lehre - die dagegen den Neubeginn der Zyklen behauptet - symbolisiert der Avatára Kalki die heroische Figur, die die Rückkehr vom Dunklen Zeitalter zu den Anfangen und zu einer neuen Umdrehung des Rads einleitet.78 Marechals Rezeption der Kastenlehre ließ eine Geschichtsbejahung im Topos des Kriegers (GBl) erkennen. Nun stellt sich die Frage, ob der Autor auch Anlaß zu einer Deutung im Sinne von (GB2) gibt, also einer Bejahung von Zeit, Raum und Kausalität. Das wollen wir am Spannungsfeld christlicher und nichtchristlicher Tradition im Werk Marechals überprüfen.
2. Christentum gegen Heidentum Zusammenprall
der Weltbilder
Die Kastenlehre ist nicht nur ein theoretisches Einsprengsel im Infierno von Adán Buenosayres, dessen Bedeutung allenfalls in der Persiflage läge. Marechal greift in Banquete und Megafón auf die indische Lehre und Hesiods Metallgeschlechter zurück, verknüpft sie mit der Romanhandlung und ihrem Thema, der Geschichte. Damit wertet er jene Motive höher, deren Sinn die christliche Symbolik in Frage stellt. Im Roman BSA nimmt das Pentagon der Menschheit die Metallehre wieder auf: nach einer Ortung der Menschheit im Raum durch den Astrophysiker Frobenius unternimmt der Philosoph Bermúdez ihre Ortung in der Zeit. An den Ecken eines Pentagons sind Metallmenschen postiert, die die Verdunkelung und den Zeitenverfall symbolisieren: der Mensch des Goldenen, des Silbernen, des Bronzenen und des Eisernen Zeitalters (kali-yuga). In jedem Zyklus verwischt sich das Abbild des Göttlichen im Menschen stärker. Der fünfte Punkt des Pentagons bleibt unbesetzt: der Mensch des Blutes (hombre de sangre) muß die Endzeit überwinden und den Zyklus erneuern, indem er den Menschen des Eisernen Zeitalters zum Goldmenschen zurückverwandelt. Wer ist dieser hombre de sangre? Bermúdez betont, daß hier nicht Nietzsches Übermensch gemeint sei, und sein Hinweis, daß dieser Mensch bereits gekommen und „unter uns" sei, läßt zunächst an Christus denken. 79 Doch diese naheliegende Assoziation wird auf subtile Weise umgedeutet. Marechals Technik des mehrfachen
77
Vgl. Evola 1982: 217.
78
Vgl. auch Guénon 1962: 150 Anm. 1 und bes. 2: Vishnu erscheine als Kalkin-avatára in zyklischen Phasen der Geschichte. BSA 206. Mit Colofón fuhrt Marechal außerdem „una versión folklórica del Apocalipsis" ein. Colofón ist der willenlose Endzeit- und Nummemmensch, der den Antichristen verehrt und die verkehrte Ordnung einsetzt. Vgl. BSA 254.
79
62
III. Kampf von Geschichte und Paradies
Sinns 80 setzt ein: die erste, oberflächliche Assoziation verweist auf christliche Symbolik - der Kontext läßt dagegen andere Schlüsse zu. 81 Gegen diese Behauptung könnte man mit einem christlichen Synkretismus argumentieren, z. B. für den hombre de sangre: die traditionelle Figur des zurückkehrenden Retters - König Artus, König Barbarossa, Quetzalcóatl, Kalki - werde in Christus als der soteriologischen Figur par excellence ausgedrückt, daher vereinten sich im Christentum als oberster Instanz alle Traditionen synkretistisch. Dieser Weg ist jedoch bei Marechal nicht gangbar. Marechal drückt wie sein initiatisches Paradigma, die Alchimie (der Autor spricht von virtud alquímica des hombre de sangre), in christlicher Verkleidung nichtchristliche Inhalte aus. 82 Der Gepflogenheit initiatischer Traditionen, einen verborgenen Sinn einzusetzen, folgt Marechal in der Umdeutung des hombre de sangre. Diese Annahme unterstützt ein Kontext, der andernfalls nicht angemessen erklärbar wäre. Bezeichnenderweise schenkte die Forschungsliteratur den folgenden Passagen keine Beachtung. Nachdem Bermúdez die Assoziation des hombre de sangre mit Christus geweckt hat, nimmt er in seinen folgenden Äußerungen den christlichen Bezug wieder zurück: Frente a la catástrofe mundial que se avecina - dijo - , se nos plantea un interrogante lleno de interés. ¿Con ella terminará un Gran Ciclo del hombre o un Pequeño Ciclo? 83
Dies wird folgendermaßen erläutert: Un Gran Ciclo terminado en catástrofe [...] no deja memoria de sí en los escasos hombres que sobreviven: se produce así una »discontinuidad« en la conciencia histórica del género humano. Si lo que termina es un Pequeño Ciclo, entonces, pese a la catástrofe, los que sobreviven guardan memoria de lo anterior, y el nexo histórico no se rompe. 85
Der große Zyklus bedeutet das Ende der Geschichte im Bewußtsein der Menschen, der kleine hingegen bedeutet, daß das Band der Erinnerung nicht abreißt. 86 In beiden Fällen wird eine brisante Inkongruenz zum Christentum sichtbar. Für die Forschung scheint festzustehen, daß Marechal ein christlicher Autor ist. Welchen Grund hat Marechal, die Frage eines weiterlaufenden Zyklus und einer Fortdauer der Geschieh-
st
Siehe oben, Kap. II § 2.
81
Ähnliches geschieht in MG, wo sich Patricia Bell fragt, ob die christliche Maria identisch mit der Novia Olvidada sei und eine bejahende Antwort erhält. Vgl. MG 195.
82
Vgl. BSA 212. Dazu, siehe unten, Kap. IV § 2: 125f.
83
BSA 209.
84
BSA 209.
'5 BSA 209 86
Marechal hat sich eingehend mit der indischen Zyklentheorie in Form der vier Yugas und vierzehn Manvantaras beschäftigt. Vgl. MG 334 und Rosbaco 1973: 88f.
2. Christentum gegen Heidentum
63
te überhaupt aufzuwerfen, wenn nach christlicher Überzeugung mit der Apokalypse das absolute Ende der Geschichte gewiß ist? Die Tatsache, daß Marechal die Idee eines Zyklus, bei dem die Geschichte nicht abreißt, überhaupt ins Spiel bringt, ist nur erklärbar mit der Annahme einer Wiederkehr, wie sie etwa das indische Weltbild behauptet. Ein zyklisches Christentum, jene Schreckensvision Augustins, kann nicht gemeint sein: wenn der Kreis, in dem die Heiden gehen, nicht auf dem rechten, geraden Wege Christi durchbrochen wird, sollte man sich die Ungeheuerlichkeit vorstellen, Christus sei nicht nur das eine Mal für die Menschheit gestorben, sondern werde es unendlich oft tun müssen. 87 Damit bleibt die Möglichkeit der heidnischen Zyklen bestehen, und Bermúdez' Frage kann man jetzt so formulieren: da die Geschichte ewig rollt, welcher der Zyklen wird einsetzen? Marechal hat weiter als seine christlichen Interpreten gedacht. Bestünde er von vornherein auf dem Christentum, ist es unerklärlich, wieso er den christlichen Bildern relativierend nichtchristliche gegenüberstellt, wieso er eine ewige, zyklische Geschichte andeutet und, wie der weitere Verlauf zeigt, zum Haupträtsel des Romans macht. Dies stützt die Behauptung, der Autor habe etwas anderes als das Christentum gemeint. Wenn Marechal in einem Interview sagt: La presente humanidad no ha sido la primera. 88 so stimmt er zum einen mit Bermúdez' Anspielung auf die Fortdauer der Geschichte überein und trifft sich andererseits mit seinem Vorbild Guénon, der bemerkt, im Zusammenhang mit dem Wiederbeginn der indischen Zyklen solle man besser sprechen von dem fin d'un monde plutöt que de la fin du monde... 89 Gleichgültig, ob ein kleiner oder ein großer Zyklus aufhört, die Geschichte geht weiter. Warum spekuliert Marechal so, wenn nach christlicher Vorstellung die Geschichte ein Ende hat? Ziehen wir eine andere Stelle des Kontextes zu diesem Problem heran: Severo Arcángelos Arche. Hat er sie als ein neuer Noah gebaut? Wenn die von Bermúdez angekündigte Katastrophe eine neue Sintflut ist, dann ja. Dafür sprechen die Bibelverse einer anderen Figur (des Salmodiante) über den Archebau. Wenn aber, wie Marechal werkextern behauptet, die gegenwärtige Menschheit nicht die erste und die Katastrophe keine Apokalypse ist, sondern der Übergang in einen neuen Zyklus, dann hat die Arche eine andere, nichtchristliche Bedeutung. Gibt es im Banquete
87
Augustin, Civitas Dei, Buch XII cap. xiv.
88
„Conversación en Santiago, 1969", cinta magnetofónica inédita, en poder de Pedro Lastra y Graciela Coulson, zitiert nach Coulson 1974: 26. Um so mehr erstaunt Coulsons Einordnung von Marechals Werk in einen „optimismo eschatológico".
89
In Le Règne de la Quantité et les Signes des Temps, zitiert nach Cologne 1978: 90.
III. Kampf von Geschichte und Paradies
64
einen werkinternen Anhaltspunkt dafür? Farias, der Severo Arcàngelo mit dem hombre de sangre gleichsetzt, räsoniert: Una relación vital existía entre la maquette náutica de Severo Arcàngelo y la referencia bíblico-naval del Salmodiante nocturno. ¿Esperaba el Viejo Fundidor [Severo Arcàngelo] otro diluvio universal y construía una nave salvadora? Evidentemente, no. ¿Y por qué no? Porque la estructura náutica de la maquette ya tenía su raíz en tierra firme y en cierto lugar denominado la Cuesta del Agua. Entonces, ¿la idea de una embarcación refugio sólo guardaba un valor conmemorativo y simbólico? Naturalmente. Pero subsistía en ella la noción y amenaza de una catástrofe. ¿Y cuál? ¡Una de las que se había enunciado en el Segundo Concilio del Banquete y que determinaban, según Bermúdez, el tránsito de una edad a la otra! ¿Era que Severo Arcàngelo sabía o presentía un final de ciclo humano y el desastre correspondiente? 90
Hier zeigen sich nicht nur Fragen über die Natur des Banketts, sondern auch einige klare Antworten, die die Vermutung bestätigen: es handelt sich um keine Sintflut; die Figur der Arche erinnert nur scheinbar an die biblische Arche. Tatsächlich ist sie mit der Cuesta del Agua verbunden, die sich im Romanverlauf als initiatisches Zentrum erweist. Der rettende Charakter der Arche hat nichts mit der biblischen Sintflut, sondern mit dem Übergang zu einem neuen Zyklus zu tun. Welcher der beiden Zyklen ist gemeint? Offensichtlich jener kleine Zyklus, bei dem sich die Geschichte und das Gedächtnis der Menschen fortsetzen, sonst könnte die Arche ihre Botschaft nicht hinüberretten, denn beim großen Zyklus gibt es keine Überlieferung mehr. Das ist die Aussage, die Maréchal unter der Schicht der christlichen Metaphorik verbirgt. Damit aber steht der Autor weit vom Christentum entfernt: die Geschichte ist ewig. Was durch die Arche im Übergang zu einem neuen Zyklus hinübergerettet wird, ist nicht die christliche Botschaft, sondern das Wissen jener initiatischen Tradition, die Maréchal aus Guénons Aperçus sur l'Esotérisme Chrétien als „Urtradition" kennengelernt hat. Das Abbild dieses „verlorenen" Archetypus habe sich, laut Guénon, in einigen wenigen initiatischen Zentren erhalten. Marechals initiatisches Zentrum der Cuesta del Agua verrät eine literarische Umsetzung der Aperçus. 91 Die Symbolik der christlichen Arche weicht der Symbolik der Initiation. Guénon 92 fuhrt dazu aus: die Ritterorden seien Wächter der Heiligen Erde. Diese Heilige Erde als Heiliges Land bzw. Palästina zu deuten sei nur äußerlich (genauso wie Marechals christliche Metaphorik), viel eher entsprächen ihr die Synonyme Terre Pure, Terre des Saints, Terre des Bienheureux, Terre des Vivants, Terre d'Immortalité, die auf spirituelle Zentren angewandt würden. Alle heiligen Länder
*> BSA 220, H. d. A. 91
Maréchal in Andres 1968: 35f.
92
Ich zitiere die Aperçus als Guénon 1977. Vgl. hier Guénon 1977: 29-40 unter dem Titel „Les Guardiens de la Terre Sainte".
2. Christentum gegen Heidentum
65
seien Bilder jenes Urzentrums (Urtradition), das vom Anfang bis zum Ende des Zyklus verborgen sei und das Namen der hyperboreischen Tradition wie Thüle, Luz. Agarttha trüge. Marechal situiert im Banquete sein initiatisches Zentrum der Cuesta del Agua ausgerechnet in den Norden Argentiniens.93 Kehren wir zur Ausgangsfrage zurück: wer ist jener hombre de sangre, der das Ende des Zyklus mit dem Neuanfang der Geschichte verbindet? Wie könnte es Christus sein, zumal dessen Erscheinen das Ende der Geschichte einleitet? Die indische Bhagavadgitä zeigt zwei Wege zur Vollendung, den Weg der Erkenntnis (der Sämkhyas) und den Weg des Handelns (der Yogins). Die Tat, das Merkmal der Kriegerkaste, nicht die Kontemplation nimmt jedoch den ersten Rang ein. Das macht die Bhagavadgitä zu einem Buch des Krieges, und ihr Geist kennzeichnet die Entwicklung von Marechals Rezeption: Megafön stellt die Handlung über die Kontemplation des Banquete. In der Bhagavadgitä ermahnt jene Figur Krishna-Vishnus, die „der Erhabene" genannt wird, den unwilligen Arjuna zum Kampf. Er selbst, der Erhabene, der über der Zeit stehe, trete in die Geschichte ein, um zu handeln: Der Erhabene sprach: [...] Obwohl ich ungeboren und unvergänglichen Wesens bin, obwohl ich der Herr der Geschöpfe bin, werde ich [doch immer aufs neue] geboren, meiner Natur zufolge durch meine eigene Wunderkraft (mäyä). Denn jedesmal, wenn das Recht im Abnehmen ist, o Nachkomme des Bharata, und das Unrecht im Zunehmen, dann erschaffe ich mich selbst. Zum Schutze der Guten und zur Vernichtung der Bösen, um das Recht zu befestigen werde ich in jedem Menschenalter geboren. 94 Der Erhabene übernimmt hier die Rolle des Avatära Kalki. Kalki ist der Rächer des Unrechts, der wiederkehrt, das kali-yuga beendet und eine neue Zyklenfolge beginnen läßt. 95 In seiner Figur wird Zerstörung, Zeitlosigkeit und Welterhaltung eins, wiedergegeben im dreifachen Aspekt, der Trimurti Brahmas, Vishnus und Shivas. Auch der hombre de sangre verwandelt den Eisenmenschen wieder in den Goldmenschen zurück, damit die Zyklen von neuem beginnen können. Vom Kontext bestätigt, zeigt sich im Banquete latent hinter der Assoziation mit Christus eine Variante der Figur Kalkis. Marechals Doppelbödigkeit will unter der Schicht des Christentums auf eine Ebene anspielen, in der die heidnische Symbolik und der literarische Kontext eine Fortdauer der Geschichte andeuten. So ist es im Detail nicht verwunderlich, wenn Marechal in der initiatischen Teerkreuzszene 96 von Christus als dem hombre de sangre 93
BSA 292. Siehe unten, Kap. IV § 2: 119, 120 Anm. 153.
94
Bhagavadgitä, IV, 6-8, in Garbe 1988: 98f.
95
Vgl. Guénon 1962: 150 Anm. 1 u. 2, 222f Anm. 2 über die Avatäras und den Kalkin-avatära. BSA 274, 278.
66
III. Kampf von Geschichte und Paradies
und dem demócrata del Reino spricht. An letzter und entscheidender Stelle werden diese christlichen Motive mit der Behauptung einer fortdauernden Geschichte konfrontiert, die das Wesen der christlichen Konzeption trifft. Von diesem esoterischen Sinn wurde die Marechalforschung durch die eingängige christliche Assoziation abgelenkt, die Marechals Werk exoterisch bietet. Die Behauptung jener Interpreten, Marechal habe ein Christentum im weitesten Sinn des Wortes postulieren wollen, verliert jedes Gewicht angesichts dieser Zusammenhänge, denn auch das Christentum ist nicht beliebig weit. 9 7 Marechal formuliert den Sinn des Banketts im Kontrast zwischen Christentum und Heidentum als Frage, die offen sei „a las inquisiciones del alma". 98 Wäre das Banquete selbsterklärend und seine Botschaft eindeutig christlich, wäre die Frage nicht offen, sondern hinfällig. Bemerkenswert bleibt: warum hat Marechal die Frage gestellt? Gerade hinter den am christlichsten anmutenden Stellen, wie der Teerkreuz-Szene, in der Lisandro Farias Einblick in das Wesen der Geschichte gewährt wird, verbirgt sich eine initiatische Dimension. Farias wird vom Salmodiante Pedro im Embudo Gracioso de la Síntesis symbolisch gekreuzigt. Pedro lehrt Farias, daß Adam durch seinen Fall die Unbeweglichkeit des Zentrums verloren habe und durch das „Kreuz der Bewegung" irre: die Flucht des Menschen vom „kreisförmigen Garten" (Paradies) zur „quadratischen Stadt" (das Neue Jerusalem der Apokalypse) sei eine „Tragikomödie". Durch seine Kreuzigung habe Christus das Kreuz der Bewegung angehalten: er ist an Händen und Füßen mit Nägeln fixiert, doch sein Kopf weist in die Richtung, die noch offenbleibt - die Auferstehung. Auch der Kreis, fugt Pedro hinzu, sei eine Figur der Bewegung und das Quadrat eine Figur der Stabilität: La solución del teorema humano estaría, pues, en la cuadratura del círculo. 99 Hier scheint sich eine Synthese von Geschichte und Paradies, Linie und Kreis anzukündigen. Doch Marechals Bilder der Kreuzigung und der Quadratur des Kreises ermöglichen eine alchimistische Auslegung, die hier nur angedeutet sei: die Quadratur des Kreises ist Symbol der Vollendung des alchimistischen Großen Werks, der Vereinigung des männlichen und weiblichen Prinzips. Damit kommen wir auch der rätselhaften Beziehung der Gäste des Banketts zu der unbestimmten und vielgestaltigen Thelma Foussat näher. Da die nichtchristliche Interpretation einer einzigen Stelle, wie hier der Frage Bermúdez', noch nicht ausreichend ist, möchte ich im folgenden an BSA und MG zeigen, wie der Zweifel am Sinn von Marechals esoterischer Botschaft durch ein Tripel 97
Z. B. Maturo und Nünez Garcia, siehe unten, Materialien (C) § 1: 325, 328ff. Dies wäre nicht die erste Verbindung Marechals zu heidnischem Gedankengut: in Gedichten des jungen Marechal zeigt sich offen eine Haltung, die in den späteren Romanen in vorsichtiger Umhüllung auftritt. Siehe unten, Kap. VI § 13: 211.
9
BSA 291.
99
BSA 275. Vgl. auch die Ausfuhrungen zu Adäns Kugel-Traum, Kap. IV § 2: 116.
«
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latenter Bedeutungen ausgeräumt wird: Endlosigkeit der Geschichte, Initiation und Geschichtsbejahung. Das Bankett ist kein Ort, wo Tagespolitik verhandelt wird, es stellt metahistorische Fragen über Sinn und Ziel der Geschichte. Der Roman beschreibt die Vorbereitungen eines minuziös geplanten Gastmahls. Vom Bankett selbst erfährt man nur, daß es „vorbei ist". Daher könnte man BSA einen Roman der abwesenden Struktur nennen, nämlich der Abwesenheit des Endes. Wenn aber das Ende nicht das Entscheidende ist, weil es ein offenes Rätsel bleibt, dann gewinnt die Vorgeschichte an Gewicht. Für „Ende" setze man „Weltgericht", für „Vorgeschichte" setze man „Geschichte". In BSA verstärkt sich das geschichtsbejahende Element im Kontrast zum eschatologischen Gedanken. Ausgerechnet nach der initiatischen Teerkreuz-Szene mit ihrer christlichen Bildlichkeit betont Farias das geschichtsbejahende Element des Wegs vor dem Ziel: La inmovilidad no es del hombre: su destino es el viaje, la exploración o el buceo. Nacer y morir son dos instantes críticos de una sabrosa movilidad.100 Andere geschichtsbejahende Elemente unterstützen diese Tendenz. Im ersten „Konzil" des Banketts werden Raum und Zeit als schwindelerregende Bewegungen zum Nichts gedeutet. Doch Marechal stellt diesem Schreckensbild einen modernen Odysseus, Andrés Papagiorgiou, entgegen. Dieser definiert den Menschen als Existenz, die sich zwischen zwei vom Willen nicht beeinflußbaren Grenzen entwickle, nämlich Geburt und Tod. Doch im Gegensatz zu einer das Diesseits verneinenden Haltung mißt Papagiorgiou der vom Willen bestimmten Spanne, der Geschichte, die wichtigere Bedeutung bei. Er selbst versucht, die Welt zu umsegeln und die Malvinen im Alleingang zu besetzen, 1 0 1 denn für ihn ist der Mensch eine sinngebende, geschichtsschaffende Instanz: El Monstruo Humano ha nacido para el Conocimiento y la Expresión [...]. Quiero decir que nace para tomar conciencia de un mundo externo y a la vez conciencia de sí mismo [...] es un animal omnívoro que traga y asimila todo su mundo con el aparato digestivo de su cuerpo mortal y el aparato digestivo de su alma inmortal.102 Der Mensch ist Ausdruck des Willens, den er Zeit und Raum aufprägt, sein doppeldeutiges Wesen läßt ihn Götter, Höllen und Paradiese erschaffen, Krieg und Frieden begleiten ihn:
BSA 266. 101
1966, ein Jahr nach Erscheinen des Romans, erfüllt sich diese Vision Marechals mit dem Operativo Cöndor, in dem eine Handvoll Männer die Malvinen besetzte, um Argentiniens Aiispruch geltend zu machen.
'02 BSA 129f.
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III. Kampf von Geschichte und Paradies
el Hombre no deja de expresarse con la voz, el gesto y el ademán; con el trabajo y el ocio, con la guerra y la paz, con el sexo y la lira. 103
Dieser Ambiguität entspricht auf anderer Ebene die exoterische und die esoterische Bedeutung von Marechals Geschichtsbewertung: äußerlich herrscht der christliche, im Wesen aber der geschichtsbejahende und initiatische Aspekt. Farias glaubt zuerst, Severo Arcàngelo wolle mit dem Bankett ein christliches Endgericht in Szene setzen. Der Philosoph Bermúdez, den man hier als Sprachrohr Marechals sehen darf, wehrt sich energisch gegen eine solche Interpretation. Erzähltechnisch geschickt durchkreuzt Marechal die christliche Ebene durch eine Nebenfigur. Bermúdez besteht - unbeachtet von den Marechalinterpreten - darauf, daß das Bankett keine „Belohnung" wie das Paradies Mohammeds oder die christliche „ciudad cúbica del Apocalipsis" sei. 104 Das Bankett werde zwar eine Hölle sein, aber kein Endziel, sondern eine Reinigung, die es erlaube, den Weg ohne überflüssige Lasten fortzusetzen: ¿Quién le ha enseñado que un Infierno es un objetivo final? [...] Todo héroe clásico entra en el Infierno y vuelve a salir: el Infierno es una estación pasajera y muy útil, ¿sabe usted? Allí quema el héroe los últimos cartuchos de su indignidad, o las últimas astillas de sus posibles inferiores [...] Para retomar su itinerario sin equipajes fastidiosos. 105
Verdammnis im Sinne einer christlichen Hölle ist hier und auch im nichtchristlichen Infierno des AB nicht gemeint, wohl aber eine initiatische Reinigung. Tatsächlich ist das Bankett der Ort einer Initiation,106 seine Vorbereitungen die Katharsis, die vom sinnlos gewordenen Dasein zum salto metafisico führt. Die Grenzsituationen, an die Severo Arcàngelo und Lisandro Farias gelangt sind, entstanden durch eine sinnentleerte Beziehung zu Frauen und durch eine substanzzerstörende Arbeit. Das Bankett weist wie Adáns Cuaderno de Tapas Azules den Weg zur Vollendung über die symbolische Frau. Daß diese Symbolik als initiatische Wiedergeburt des Menschen zu verstehen ist, wird sich bei den Fedeli d'Amore zeigen. Das Bankett ist die alchimistische gran obra en laberinto 107 mit den Gefahren des alchimistischen Wegs und allen Gefahren einer falschen Deutung. Nicht umsonst sagt Severo Arcàngelo: la mía es una raza constructora de laberintos para héroes astutos que traen ya su carretel del hilo conductor, y para necios que deambulan estrellándose contra los muros y los enigmas. Yo prefiero salir con la hebra de Ariadna, y no con el dudoso BSA131. IM BSA 264. 105
BSA 265. Externe Bestätigung dafür, daß Marechal die Ansicht Bermüdez' teilt, ist seine Aussage in CN 132. Dort dementiert er eindeutig, daß seine Hölle etwas Endgültiges, wie die ewige Verdammnis der jüdisch-christlichen Tradition, sei. Siehe auch unten, Materialien (C) § 2: 353. 106 Alle Gäste sind zum Zeitpunkt ihrer Einladung an einer Grenzsituation ihres Lebens angelangt; alle bis auf einen, bestehen die Probe des Banketts. Vgl. BSA 290ff. 'C BSA 149.
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armatoste de Icaro. [...] Feliz el que interprete un dia este Monölogo del Fundidor. 1 0 8 Man könnte argumentieren, daß in dieser Passage kein einziger Hinweis auf die Alchimie enthalten sei. D o c h einen Fingerzeig zur Deutung des alchimistischen Geheimnisses geben die Worte des Alchimisten Artephius: Ist es vielleicht nicht bekannt, daß unsere Kunst eine kabbalistische ist, d. h. nur mündlich geoffenbart werden darf, und daß sie voll von Geheimnissen ist? Armer Narr! Bist Du so einfältig zu glauben, wir würden das größte und wichtigste aller Geheimnisse öffentlich und unverhüllt verkünden? Ich versichere Dir, daß jeder, der die Schriften der Alchimisten aus der gewöhnlichen und buchstäblichen Bedeutung der Wörter erläutert, sich in den Mäandern eines Labyrinths verirrt, von wo er niemals entkommen wird, weil er keinen Ariadnefaden hat, der ihn herausgeleiten könnte. 109
Abb. 3: Die Geste des Geheimnisses Marechals Anspielung auf den alchimistischen Ariadnefaden könnte Zufall sein. Doch die A n h ä u f u n g von vielen „Zufallen" kann schon als Ganzes kein Zufall mehr sein. Die Hypothese der Existenz einer initiatischen und alchimistischen Ebene im Werk Marechals, die einen solchen „Faden" darstellt, erklärt immer mehr Daten, gewinnt immer stärker an Plausibilität. Erinnern wir uns wieder an die Frage B e r m ü d e z ' : endet ein großer oder ein kleiner Zyklus? Marechal stellt die Frage des Endes der Geschichte überhaupt nicht. Der Paradiesgedanke in seinem W e r k tritt nie ohne seinen Gegenpart auf, die Geschichtlichkeit. D a ß Marechal gravierende Zweifel an der Idee des Paradieses hegte, zeigt sein Kommentar z u m B S A :
i°8 BSA 148, H. d. A. 109
Nach Evola 1989: 17f, H. d. A. Die Abbildung 3 (Quelle: Jung 1990: 548) aus dem Marechal wahrscheinlich bekannten Mutus liber (1702) zeigt den Artifex und seine soror mystica, die das opus mit der Geste des Geheimnisses abschließen: „Ora / Lege, Lege, Lege, Relege, Labora / et Invenies."
III. Kampf von Geschichte und Paradies
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De alguna manera, todas las metafísicas consideran que esta existencia es una especie de víspera preparatoria de un banquete final maravilloso - el Paraíso, para los cristianos; llenos de huríes para los musulmanes - y ésta es una idea que tuve muy en cuenta para la elaboración del libro. Espero que cuando se produzca ese otro banquete que las metafísicas anuncian, no nos decepcione, como nos decepcionan las fiestas.110
Welche werkinternen Anhaltspunkte für diesen Zweifel am Paradies liefert das Banquete? Am Romanende greift Marechal die zentrale Aussage der Teerkreuz-Szene nochmals auf und versieht sie mit einem endgültigen Sinn. Von Farias heißt es: „in Buenos Aires gestorben und in der Cuesta del Agua auferstanden". Doch dies ist, wie Guénons Werk zeigte, keine christliche Auferstehung, sondern die „zweite Geburt" der Initiation. Als Farias' Tod herannaht, liest er in den Augen des geheimnisvollen „Autors des Banketts", Pablo Inaudi: ¿Hay caminos bajo la luna menguante y en la etapa descendente del sol? ¡Hay caminos! 111
Bereits die rätselhafte Formulierung läßt vermuten, daß wieder die Frage nach Ende oder Fortbestand der Geschichte diese entscheidende Stelle am einleuchtendsten erklären kann. Zwar will der Chronist die Lösung dieses Rätsels, dessen Prämissen alle Menschen besäßen, offenlassen, doch die Aussage des sterbenden Farias bleibt unwiderruflich bestehen: ¡ Y todo recomienza! No por nada uno fue crucificado alguna vez, aunque sólo haya sido en una cruz pintada con alquitrán. 112
Wiederum ist zu fragen: wozu sollte alles wiederkehren, wenn die christliche Eschatologie den ewigen Sonntag der Kreaturen exaltiert? Und was bedeuten die geheimnisvollen Worte vom abnehmenden Mond und der untergehenden Sonne? Guénons Werk 113 gibt Anhaltspunkte zur Interpretation dieser Stelle, die auf die Symbolik der Sonnenwenden verweist. Guénon erklärt, je nach geistigem Grad der Vollendung trete der Mensch durch eine der beiden Türen des Solstitiums aus dem Kreis der Wiedergeburt aus. Die Türe des Sommersolstitiums führe zur Wiedergeburt, das Wintersolstitium - Zeitpunkt der Geburt des Avätara und Tür der Götter sei ein „endgültiger Austritt". Tatsächlich erfolgt in der jeweiligen Chronologie der Romane der Tod von Farias und Megafón um die Zeit der Sonnenwenden. 114 Die 110
Marechals Kommentar zum BSA in Confirmado, 21.1. 1967, in Andrés 1968: 64f, H. d. A. BSA281.
»2 BSA 291. 113
René Guénon, „Les Portes Solsticiales", 1938, in Guénon 1962: 221-225.
114
Farias stirbt in der Nähe des 21. Dezember, Megafón in der Nähe des 21. Juni. Das wirkt mißverständlich, denn dann würde Farias und nicht Megafón als Vollendeter durch die Tür der Götter und der Avätara aus dem Kreislauf austreten. Doch Marechals Datierung ist völlig kohärent für die Südhemisphäre der Erde. Er wollte mit dieser Symbolik andeuten, daß Megafón durch das Wintersolstitium und Farias durch das Sommersolstitium den Kreislauf verläßt. Sonst hätte die Aussage Farias' vor seinem Tod, daß es „Wege in der abnehmenden Phase der
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Tatsache, daß Guénon in diesem Zusammenhang vom Avätara spricht, wird aufschlußreich für die Deutung der Gestalt Megafóns (MG) und untermauert eine Interpretation des hombre de sangre (BSA) als Kalki. Doch warum, könnte man hier einwenden, sollte die Aussage der geschichtlichen Wiederkehr schwerer wiegen als die christliche Metaphorik, etwa die apokalyptische Assoziation des Banketts mit dem christlichen Weltgericht? Zwei erzähltechnische Gründe sprechen dafiir: einmal steht der entscheidende Passus der Wiederkehr an exponierter Stelle, nämlich am Romanende, und zum anderen wird die Aussage Farias' vom Chronisten/Autor nicht zurückgenommen oder relativiert. Er bestätigt sie vielmehr, indem er seinen Glauben an die reale Existenz der Cuesta del Agua ausdrückt. 115 Marechal sagt im Cuaderno: El conocimiento de las leyes cíclicas que gobiernan el desarrollo de »una humanidad« me ha hecho saber que, a partir de su origen, esa humanidad inicia un movimiento »descendente« a través de las cuatro edades del hombre que figuran en toda tradición auténtica. Ese descenso acelerado se traduce por una „oscuridad" creciente, a medida que se aleja el hombre de la luz primordial manifestada en el centro de su origen. Ahora estamos en la última de las edades, la de Hierro, que ya deploró Hesíodo en su época... 116
Wir erinnern uns, daß Marechal die gegenwärtige Menschheit nicht für die erste hält. Mit der bejahenden Haltung zu einer Geschichte ohne Ende entfernt sich Marechal von der christlichen Weltsicht, obwohl er sich äußerlich ihre Symbole zu eigen macht. Doch die Botschaft ist eindeutig: der Christ weiß, daß die Geschichte an ihr Ende kommt, er weiß, daß keinesfalls alles wiederbeginnt. In BSA und in MG wird somit unter der christlichen Schicht das bereits erwähnte dreifache Argument vertreten: Endlosigkeit der Geschichte, Initiation und Geschichtsbejahung. Artephius behält recht: ein Alchimist verkündet sein Geheimnis nicht öffentlich und unverhüllt. Für dieses Tripel latenter Bedeutungen in BSA finden sich Entsprechungen in Marechals drittem Roman. Auch in MG hat die Geschichte kein Ende, denn eine Wiederkehr bestimmter Ereignistypen und Menschentypen (Typenzyklizität, nicht: identische Wiederkehr des Gleichen) wird behauptet: los conflictos del hombre no son muchos en lo esencial y se repiten a través de las edades con el mismo común denominador pero con diferentes numeradores encar-
Sonne" gäbe, keinen Sinn. Gemeint ist, daß der Kreislauf für manche weitergeht, was Marechal seinen Helden im nächsten Satz - „todo recomienza" - bestätigen läßt. Noch deutlicher sagt es Farias am Beginn seiner Erzählung (BSA 17): „mi defunción ha de suceder con la luna menguante y en el semestre descendente del sol hacia el mediodía, según corresponde a las almas vulgares". Marechal scheint auch hier dem Werk Guénons zu folgen. 115
Vgl. BSA 292: „la ubicación de la Cuesta del Agua. Existe, no lo dudo, en alguna provincia del norte argentino."
"« CN 140, H. d. A.
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III. Kampf von Geschichte und Paradies
nados en los mismos paladines, ángeles o demonios, aunque bajo formas distintas y muchas veces despistantes en su modernidad.117 Sonst könnte man sich die Aussage des sterbenden Tesler in MG nicht erklären, die ebenfalls das absolute Ende verneint: En la existencia universal no hay puntos finales [...]: sólo hay puntos suspensivos. 118 Wie schon im hombre de sangre des Banquete ist in der initiatischen Figur des Kriegers Megafón eine Reminiszenz an Kalki zu verspüren: lo malo está en que soy un hombre de anteayer y un hombre de pasado mañana [...] Estoy entre dos noches: la de atrás, con un sol muerto, y la del frente con un sol que no asoma todavía. Y ahí está el problema de un guerrero [...] Un brujo de Atamisqui me dijo cierta vez: »La última vanguardia es útil cuando se relaciona con la primera retaguardia«. 120 Der Krieger hat - um im Bild Marechals zu bleiben - die Möglichkeit, Vorhut und Nachhut zum Kreis zu schließen und die Sonne wiederzuerwecken. Diese rätselhafte Stelle wird nur mit der schon im BSA angewandten Interpretation verständlich. Auch in Megafón scheint die Figur des Kalki durch, der den letzten Zyklus der „toten Sonne" und den ersten Zyklus „der noch nicht aufgegangenen Sonne" verbindet. Das Abbild des Kalki in Marechals beiden Romanen leitet die Rückkehr der Geschichte ein und dreht ihr Rad weiter. Die Ewigkeit der Geschichte wird jedoch nicht zum Anlaß, sie abzulehnen; Marechal setzt ihr in MG die stärkste Form der Geschichtsbejahung entgegen. Megafón verkörpert den sich immer neu inkarnierenden Typus des Ritters oder Kriegers (.Kshätriya), der die Geschichte auch in ihrer extremsten Erscheinungsform wählt: Entrar en una guerra es entrar en la Historia.121 Diese uneingeschränkte Bejahung der Geschichte (GBl) durch die Annahme ihres extremsten Merkmals, des Krieges, wird ergänzt durch eine Geschichtsbejahung im Sinne von (GB2), wo der zeitliche Neubeginn und Wiederbeginn imperativisch begrüßt wird: Sea como fuere, todo aquí está en movimiento y como en agitaciones de parto. ¡Entonces, dignos compatriotas, recomencemos otra vez! 122
117
MG 25. Von einer Typen-Wiederkehr (wie Maréchal hier andeutet), im Gegensatz zur identischen Wiederkehr, geht auch Guénon 1930: 103f aus, wenn er die „genres d'êtres" und „genres de faits" als mögliche, unterschiedliche Manifestationen desselben Gesetzes hervorhebt.
»8 MG 366. MG 305. 120
MG 305.
>2' MG 18. 122
MG 367.
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Ebensowenig wie im Banquete ist es Zufall, daß in Megafón die Aufforderung zum Wiederbeginn am Romanende steht: das Schicksal des Landes muß immer von neuem gestaltet werden. Hinter der geschichtsverneinenden christlichen Metaphorik im Werk gewinnt für Marechal die Geschichte eine größere Bedeutung als eine christliche Deutung je zulassen könnte. Das Lemma ist nicht zufallig: da heißt es, BSA richte sich nicht an „niños en tránsito hacia el hombre, por autoconstrucción natural", sondern an „hombres en tránsito hacia el niño, por autodestrucción simplificadora". 123 Auch wenn das zunächst christliche Assoziationen weckt, erfordert der Kontext des Werks wiederum eine initiatische Deutung, um den vollen Sinn zu erschließen: Todas las palabras han perdido ya su valor originario, su tremenda eficacia de afirmar o negar; todos los gestos han perdido su energía ritual o su fuerza mágica. Lo perdieron en nosotros; en nuestras bocas que hoy parecen duras cajas de ruidos y en nuestros pies de bailarines automáticos. No obstante, las palabras de vida están aún en nosotros [...] Sí, lo están, pero como en instrumentos grabadores que las repiten mecánicamente sin entenderlas ya, sin morder su vieja pulpa inteligible. ¿Qué hará Severo Arcàngelo? ¿Qué haría él para resucitar las muertas raíces del júbilo? Crear otras palabras, que digan lo mismo, pero sin lastres de cansancio: inventar otros gestos, que digan lo mismo, pero con fuerza de liturgia.124 Nun versteht man die Bemerkungen von II § 3 über den Verlust und die Wiedergewinnung des Heiligen. Kindheit heißt Neuanfang. Die Rückkehr zur Kindheit, die das Banquete vorschlägt, eröffnet sich in diesem Monolog Severo Arcángelos als Rückkehr zur Unschuld der Tat. Sie entspricht Nietzsches Rückkehr des Geistes über den jasagenden, alles tragenden Geist (das Kamel), der sich mit einem Nein von den alten Werten befreit (der Löwe) und schließlich zur schöpferischen Unschuld des Spiels, dem Ja des Kindes, findet. 125 Die geistige und kriegerische Initiation von Banquete und Megafón kehrt zurück zur Geschichte. Deren Dauer ist nicht erdrückend, sondern gibt immer wieder Anlaß zu neuer Schöpfung, die sich in der Intensität des gestalteten Augenblicks verwirklicht: sie verleiht dem Wort eine neue Reinheit und der geschichtlichen Tat die Unschuld des Werdens. Hierarchie und Gleichheit Ein Gegensatz kann auch eine Aussage sein. Die Untersuchung der drei Romane hat eine Spannung sichtbar gemacht zwischen der augenfälligen und scheinbar überzeugenden Ebene der christlichen Metaphorik einerseits und einer latenten Ebene andererseits, die die Behauptung einer wiederkehrenden Geschichte sowie initiatische und geschichtsbejahende Elemente einschließt. Marechals Aufhebung der christli123
BSA 9.
124
BSA 149.
125
Vgl. Nietzsche, Die erste Rede Zarathustras, Von den drei Verwandlungen, in Nietzsche 1979: II, 293f.
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III. Kampf von Geschichte und Paradies
chen Ebene in BSA und MG durch die esoterische und geschichtsbejahende zeigt, daß er eine allzu deutliche Akzentuierung vorgenommen hat, als daß man guten Gewissens von christlichem Synkretismus sprechen könnte. Wenn nun in synthetisierender und allgemeiner Form die Gegensätze der christlichen und nichtchristlichen Ebene im Werk Marechals hervortreten sollen, geht es dabei nicht um Lob oder Tadel der einen oder anderen Position, sondern um ihre Beschreibung. Als einen ersten Spannungsträger im Werk Marechals sehe ich jenen zwischen egalitären und hierarchisch-elitären Lehren. Offenkundig ist auch in Marechals Rezeption die Kastenlehre ihrem Wesen nach aristokratisch. Zwar in unterschiedlicher Weise „heldenhaft", sind Marechals Protagonisten doch immer Auserwählte, die um ihr Schicksal kämpfen. Das Christentum geht dagegen von der Gleichheit der Seelen vor Gott durch die Erbsünde und vom Gnadenprinzip aus. 126 Dieser Gleichheitsgrundsatz gibt sich im christlichen Allgemeinheitsanspruch zu erkennen, der sich in der Bezeichnung katholou (im ganzen, im allgemeinen) ausdrückt. Als allumfassende, kerygmatische Religion verzichtet das Christentum, anders als die initiatische Tradition, auf das Prinzip der Auswahl seiner Anhänger. 127 Die von Marechal rezipierten Traditionen der Kastenlehre, der Fedeli d'Amore und der Alchimie stützen sich aber auf dieses Prinzip. Der Name des Protagonisten, „Adán", wurde von Interpreten gemäß seiner biblischen Verwendung als Gattungsname („Mensch") und als Eigenname („Adam") so gedeutet, daß diese Figur die Suche aller Menschen nach Gott repräsentiert. 128 Beschränkt man sich auf eine solche Sicht, bleibt das aristokratische Erlösungskonzept Marechals völlig unbeachtet, das Adán in ekstatischdichterischen, Farias in initiatischen und Megafón in heroischen Erfahrungen ein besonderes Verhältnis zum Übernatürlichen gewährt. Diese Unzulänglichkeit der Marechalinterpretationen, die nichtchristliches Gedankengut bestenfalls in ihrer vom Christentum überlagerten Form wahrnehmen, 129 zeigt deutlich: die christliche Interpretation reicht nicht aus, um die Spannungen im Werk Marechals zu erfassen und zu erklären. Die Deutung des
Wissens
Ein zweiter Gegensatz nichtchristlicher und christlicher Vorstellungen ist die unterschiedliche Interpretation des Wissens und der Macht sowie eine abweichende Vorstellung von der Überwindung des Dualismus von Himmel und Erde. Das luziferi-
126 127
128 129
Gleichheit im Kern der christlichen Lehre, nicht als Prinzip der kirchlichen Institution. René Guénon verweist in den Aperçus darauf, daß das Christentum seinen ursprünglichen esoterischen Charakter verloren habe. Vgl. Guénon 1977: 6. Siehe Coulson 1974: 79. Siehe unten, Materialien (C ) § 1.
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sehe non serviam, das Entstehen der Sünde aus dem Baum der Erkenntnis einerseits und die prometheische Tat andererseits, sind analoge Figuren der Rebellion einer christlichen und einer nichtchristlichen Tradition - beide verknüpft mit der Idee der Macht und des Wissens. Die Strafen zeugen in beiden Fällen von der Tragweite des Vergehens, doch der Sachverhalt wird unterschiedlich bewertet: im einen Fall als sündhafte, von Hybris getriebene Erhebung wider Gottes Macht. Im anderen Fall als Rebellion des Abkömmlings eines alten, von Zeus entmachteten Göttergeschlechts, der den Willen zur Unabhängigkeit behauptet. Statt Sündengefiihl, schreibt Nietzsche in Die Fröhliche Wissenschaft, lag den Griechen „der Gedanke näher, daß auch der Frevel Würde haben könne - selbst der Diebstahl, wie bei Prometheus". 130 Für das Christentum ging das Böse vom Baum der Erkenntnis aus, die für die christliche Lehre wesentliche Berpredigt überhöht die „Armen im Geiste". In nichtchristlichen Konzeptionen werden dagegen Wissen und Macht nicht notwendigerweise mit Sünde gleichgesetzt oder bestraft. 131 Einen der Gründe dafür gibt Störig in seinem Kommentar zu der upanischadischen Identität von Weltseele und Einzelseele an, die bei Marechal im neuplatonischen Gewand 132 auftaucht. Störig schreibt, diese Ineinssetzung der indischen Religionen stehe in explizitem Kontrast zu Religionen wie etwa Islam und Judentum: Während in diesen Gott als der Herr und der Mensch als sein Diener und Knecht erscheint, betont der Inder die Wesensidentität beider.133 In christlicher Vorstellung ist die Strafe für die Eroberung des Wissens unausweichlich: der Himmel hat sich für immer von der Erde getrennt. Die initiatischen Helden Marechals erstreben jedoch die Eroberung des Baums der Erkenntnis in der Madonna Intelligenza (Lucia Febrero) - und des Baums der Unsterblichkeit in der Cuesta del Agua. Die Ursache des christlichen Dualismus liegt nicht, wie Coulson meint, 134 in der Korruption der Materie. Die Materie kann „als von Gott geschaffen an sich nicht böse sein" - die Ursache des Dualismus liegt vielmehr im Abfall der Geister vom Willen Gottes, im „Antagonismus des unendlichen und des endlichen Willens". 135 Überwunden wird diese Kluft in christlicher Sicht einzig durch die Gnade des höchsten Prinzips. Das steht aber im Kontrast zu Marechals initiatischem Auswahlprinzip, denn: 130
Nietzsche, Die Fröhliche Wissenschaft, III, 135. In Nietzsche 1979: II, 132.
131
In dem Zusammenhang führt Evola das Beispiel Wotans, Herakles', Jasons, Buddhas und Siegfrieds an.
132
Vgl. AB 265: „el poeta, estudiándose a sí mismo en el momento de la creación, puede alcanzar la más exacta de las cosmogonías".
133
Störig 1968: 18.
134
Coulson 1974: 26.
135
Windelband 1980: 216.
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die Auswahl der Begnadeten [erfolgt] nicht nach ihrer Würdigkeit (denn solche gibt es vor der Gnadenwirkung nicht), sondern nach einem unerforschlichen Ratschlüsse Gottes. [...] In der Prädestinationslehre erstickt somit [...] die absolute Kausalität Gottes den freien Willen des Individuums. Dem letzteren wird mit der metaphysischen Selbständigkeit auch alle Spontaneität des Tuns abgesprochen; entweder bestimmt ihn seine Natur zur Sünde oder die Gnade zum Guten.136 Nach der indischen Lehre kann der „Dualismus" aktiv durch den Übergang auf eine höhere Ebene überwunden werden: der Initiierte erschafft den Gott in sich selbst. 137 Das ist der alchimistisch-initiatische Weg des BSA und des hermetischen Heldentums Megafóns, ein Weg, der Wissen und Tat, aber nicht die Gnade voraussetzt. Die Deutung des Krieges Die Entfernung von christlichen Vorstellungen wird noch verstärkt durch Marechals initiatische Konzeption des Krieges, mit der sich ein dritter Gegensatz zu christlichem Gedankengut auftut. Zwar besitzt auch Christus die doppelte Natur des Priesters und Königs und bringt das Schwert, doch er bringt es um des ewigen Friedens willen - zur Erreichung des Paradieses, des Ausstiegs aus der Geschichte. Marechal begreift, anders als das Christentum, Krieg und Geschichte nicht als notwendige Übel, die es zu bestehen gilt, um am Ende der Zeiten davon befreit zu werden. Wie Evola, sieht Marechal die Liebe zur symbolischen Frau als Element der heroischkriegerischen Initiation und versteht die geistige Ritterschaft 138 als Synthese von Wissen und Tat. In der Gestalt des Kshätriya Megafön, der künftige Schlachten einleitet, 139 zeigt sich der Krieg als notwendige Bedingung der Geschichte (GBl). Bereits in Adán Buenosayres schreibt Marechal dem Krieg eine Kraft mit jenen Worten zu, die er bei Megafóns Tod wiederholt:
136
Windelband 1980: 244. Das Urteil Windelbands mag hart klingen und vom populären Verständnis des Christentums (Belohnung - Strafe) abweichen. Doch die Lehre ist tatsächlich so, und Windelband hätte manchen klassischen Theologen anfuhren können, der diese Lehre fast übereinstimmend wiedergibt. So z. B. Thomas von Aquin S. Th. I, q. 23 a. 5 ad 3: „Voluit igitur deus in hominibus, quantum ad aliquos, quos praedestinat, suam repraesentare bonitatem per modum misericordiae, parcendo; et quantum ad aliquos, quos reprobat, per modum iusticiae, puniendo. Et haec est ratio quare deus quosdam eligit, et quosdam reprobat [...] Sed quare hos elegit in gloriam, et illos reprobavit, non habet rationem nisi divinam voluntatem. [...] Sicut etiam in rebus naturalibus [...] quare haec pars materiae est sub ista forma, et illa sub alia, dependet ex simplici divina voluntate, sicut ex simplici voluntate artificis dependet, quod ille lapis est in ista parte parietis, et ille in alia, quamvis ratio artis habeat quod aliqui sint in hac, et aliqui sint in illa." Thomas von Aquin lehrt hier, daß Gott prädestiniert, ohne zu berücksichtigen, welche Handlungen der Mensch vollziehen wird. Genauso wie ein Baumeister in einem Gebäude Ziegelsteine oben oder unten plaziert, ohne daß sich die Ziegelsteine zuvor irgendwie unterscheiden, werden die Menschen zu Gnade oder Ungnade bestimmt, unabhängig davon, wie ihr Verhalten sein wird. Das Verhalten hängt von der Prädestination ab, nicht umgekehrt. Dies belegt Windelbands Bemerkung. Wäre dem nicht so, könnte man den größten Teil des spanischen Teatro Religioso nicht verstehen.
i " Vgl. Eliade 1961: 81ff und Tejada 1977: 47. 138 Evola 1977: 187f. 139
MG 350 („germen que anime las futuras batallas").
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El mundo se renueva por la lanza de Marte [...] Es la lanza que destruye para reconstruir. 140 In Marechals Gedicht „A Belona", das er seine Figur Megafón bedeutungsvoll in MG zitieren läßt, heißt es: Varones hijos de varón, seguimos tu bandera y tu idioma: tu bandera de sal y tu idioma sin agua. Y en tu idioma la guerra vestida de metales y pura como el viento cuando rompe la rosa nos lava de pavor y nos peina de fuego. [...] Y a tu paso crecían las armas como hierbas, y detrás de tu paso cabalgábamos todos, varones hijos de varón, ayer, y hoy, y mañana, y siempre, bajo el perfil sabroso de la muerte. 141 In „La Patriótica", dem José María Castiñeira de Dios gewidmeten Zyklus aus Heptamerón, wägt Marechal die Geschichtslosigkeit Argentiniens gegen die initiatische Kriegserfahrung geschichtsschaffender Völker ab: Generaciones hubo más dignas que la nuestra. ¿Qué nos pasó a nosotros, Josef, que nos legaron un tiempo sin destino que merezca un laurel, un puñal que no sale de su vaina y un día sin talones de castigar la tierra, o una estúpida noche de soldados vacantes? [... ] Entretanto, los pueblos que aventaba la historia dos veces conocieron el sabroso pavor de las batallas. No me importa, Josef, el tenor de su guerra: ellos caían bajo la implacable legislación del ciclo: se miraban desnudos en el espejo claro de la muerte; sentían retemblar bajo sus pies la cubierta del mundo, navio castigado, y abrirse arriba todos los pasajes del cielo. 142 Marechal steht einem initiatischen Kriegertum näher als der christlichen Lehre, die durch den Mund Augustins jene verdammt, die nach den Scheinwerten des irdischen Reiches und der irdischen Macht streben. Bei Marechal dagegen geht die Geschichte
140
AB 183, MG 350 („la lanza de Marte que a la vez hiere y cura").
"» Marechal 1950: 35f. 142
Marechal 1966c: 67f, H. d. A.
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weiter. Im Zeichen einer ghibellinischen Deutung des Liebeskults der Fedeli d'Amore unternimmt Megafön die Rettung der verlorenen patria. In Megaföns Schicksal kristallisiert sich das Schicksal Argentiniens, in seinem Handeln, das nicht von nur persönlichen Motiven bestimmt wird, vollzieht sich ein Wandel der Bewußtseinsebene: das Ich wird zum Wir. Diese Ebene des „Wir", die sich in Megafön ausdrückt, besitzt nicht den naiv-patriotischen Sinn, mit dem jemand sein eigenes Land bevorzugen könnte, nur weil er dort geboren ist, aus klimatischen oder sonstigen Gründen. Megaföns Kampf um die patria deutet auf etwas, das nicht so gestaltlos ist wie die leere Form eines auf sich selbst zurückgezogenen, isolierten Ichs und nicht so abstrakt wie der universelle Begriff der Menschheit. Die Deutung der Zeit Die Bewertung von Krieg und Geschichte ist untrennbar von der Einstellung zur Zeit und Zeitlichkeit. Christentum und Heidentum enthüllen in einem vierten Gegensatz eine kontroverse Vorstellung, die sich daraus ergibt, wie sie die Zeit aus der Geschichte heraus, eben als Zeitlichkeit, verstehen: Außerhalb des Judentums hat keine vorchristliche Religion die Geschichte als unmittelbare und nicht umkehrbare Kundgebung Gottes in der Welt und den Glauben [...] als einziges Mittel des Heiles gewertet. 143
Wenn die Geschichte so sein soll, muß die Zeitlichkeit entsprechend einen absoluten Anfang (creatio) und ein absolutes Ende (Apokalypse als kosmisch-geschichtliche Auflösung) haben. Das Christentum versteht die Zeit als Möglichkeit für die Rettung aus der Geschichte, das indoeuropäische Heidentum versteht die Zeit als Möglichkeit für eine Versenkung in die Geschichte.144 So gehen die Traditionen Griechenlands oder Indiens von einer Zeitlichkeit aus, die im ewigen Spiel der Vernichtung und Wiederkehr verläuft. Für den Christen „schuf Gott am Anfang die Welt", für Aristoteles ist ein Anfang der Bewegung widersprüchlich. Für den Christen hat die Passion und der Tod Jesu das Ende der Geschichte vorgezeichnet, für den Heiden dreht sich das Rad der Geschichte weiter und wird kein Ende haben. Mit dem Christentum, schreibt Windelband, triumphieren die singulären Ereignisse, die religiöse Ethik, über die kosmologische Metaphysik. Diese war in der griechischen Konzeption einzig auf die Erkenntnis des Dauerhaften in einem ewigen Weltprozeß ausgerichtet.145 Christlicher Sinn der Geschichte ist es, das Szenario zum Fall des Menschen abzugeben und - in ihrer Aufhebung - zur Erlösung zu fuhren. 143
Eliade 1961: 28.
144
Man vergleiche Aristoteles' Physik, Buch IV und besonders VIII, Kap. 1, 250b lOff sowie 251a 17-30, wo Zeit und Bewegung nie einen Anfang besaßen und nie enden werden, mit der Schrift des Thomas von Aquin De aeternitate mundi contra murmurantes, wo für das Gegenteil argumentiert wird. Windelband 1980: 218, 224.
79
2. Christentum gegen Heidentum
Überlegen wir: eine übernatürliche, endgültige Rettung verlangt ein Ende der Zeit oder mindestens die Sicherheit, nie wieder ins Irdische, in die Geschichte, zu fallen. Deshalb wäre eine Verbildlichung dieser Idee das Segment einer Linie mit fester Orientierung, wo Früher und Später, Anfang und Ende absolut sind. Dagegen erlaubt eine Versenkung in die Geschichte, die in ewiger Wiederkehr verläuft, eine Verbildlichung durch ein Symbol, bei dem kein Anfang und kein Ende sichtbar ist, bei dem eine Orientierung auf- und absteigend sein kann, bei dem sich die Wiederholung von selbst ergibt. Ist dafür nicht das Bild des Kreises - oder der Kugel - naheliegend? Das bedeutet nicht, daß die vorchristlichen Indoeuropäer eine andere philosophisch-wissenschaftliche Auffassung der Zeit (etwa im physikalischen Begriff der Metrik) besessen hätten, wohl aber eine andere kulturphilosophische Auffassung der Zeit als Zeitlichkeit, insofern sie die Bedingung der Möglichkeit für eine bestimmte Geschichtsform schafft. Man sollte daher scharf zwischen diesen zwei Aspekten der Zeitauffassung, dem kulturphilosophischen und dem philosophisch-wissenschaftlichen, unterscheiden. Die Symbole von Kreis und Linie finden nur dann eine gewisse Berechtigung, wenn man sie auf die kulturphilosophische Dimension begrenzt. Marechal schuf in seinem Werk nicht nur Raum für eine kosmologische Metaphysik, sondern auch für die Möglichkeit der Wiederkehr. Einen Hinweis darauf ergab die Umdeutung der äußerlich christlichen Figur des hombre de sangre zu einer Repräsentation Kalkis, der den Fortgang der geschichtlichen Zyklen gewährleistet. Marechal meint, wie gesagt, nicht eine identische Wiederkehr des Gleichen: das Unterschiedliche inkarniert sich immer wieder in unzerstörbaren Typen von Personen und Ereignissen. Wir werden bei Marechal die Wiederkehr der Geschichte jedoch nie, wie in manchen Formen der indischen Tradition, mit Resignation und Hoffnungslosigkeit verknüpft finden. Die Dauer der Geschichte wird bei Marechal nicht zur Bedrückung, sondern zur Bedingung für die Intensität der Tat. Eine zweite Waffe Die hier erarbeiteten Spannungen heidnischer und christlicher Weltanschauung verdeutlichen, daß Marechals Werk im Zeichen eines Kampfes von Geschichte und Paradies steht. Nehmen wir die Existenz dieser Spannungen - die kontroverse Deutung von Hierarchie, Wissen, Krieg und Zeit - zur Kenntnis, ist die Frage nach ihrem Sinn unvermeidlich. Entweder sie bedeuten nur, daß sich Marechal unbewußt in Widersprüche verwickelt hat, was bei der Fülle der Daten ausgeschlossen scheint, oder aber, und das versuchte ich plausibel zu machen, sie verweisen auf die Existenz einer latenten Bedeutung. Jene Interpreten, die darauf bestehen, aus Marechal einen Mystiker, einen flammenden Katholiken oder den Autor eines synkretistischen Christentums zu machen, wählen die Harmlosigkeit als Verschleierung des Gefährlichen, jenes „vivir peligroso", das Marechals literarisches und politisches Zeugnis vollzog.
III. Kampf von Geschichte und Paradies
80
Diese Interpretationen übersehen das, was man mit dem Bild einer „zweiten Waffe" beschreiben könnte. Die Entdeckung einer Waffe bei einer gefahrlichen Person und deren Entwaffnung bedeuten noch keine Sicherheit - die Person könnte eine zweite, noch tödlichere Waffe verbergen. Bei Marechal scheint es, als habe seine ausführliche Selbstinterpretation der „Claves de Adán Buenosayres" in Cuaderno de Navegación auch den Zweck, dem Interpreten eine erste Waffe zuzuspielen, damit er die Existenz der zweiten übersieht. So bemerkt man in den Romanen nur die christliche Symbolik, so verweist man auf den Einfluß Dantes, ohne Bedeutung oder Zusammenhang zu begreifen. In einem offenkundigen Sinn besitzen solche Lesarten ihre Berechtigung, doch sie bewegen sich auf dem Niveau der „ersten Waffe": sie laufen Gefahr, mit anderen Worten das zu formulieren, was der Autor selbst schon gesagt hat. Und sie scheinen zu glauben, die deskriptive Darlegung dieser Lehren sei bereits die Erklärung ihrer weltanschaulichen Bedeutung. Aufschlußreicher ist der Versuch, das zu formulieren, was der Autor nicht gesagt, aber gezeigt hat. Gezeigt hat Marechal - das ist die latente Bedeutung seines Werks - welches Gewicht der Geschichte zukommt. In allen hier beschriebenen Gegensätzen hat er der christlichen Vorstellung eine nichtchristliche gegenübergestellt und die heidnische Option nicht ausgeschlossen oder dementiert, sondern auf subtile Weise unterstrichen. Gesagt hat Marechal, der gute Romancier verberge niemals seine Symbolik und seine geistigen Itinerarien 146 - gezeigt hat er uns hinter deren Widersprüchlichkeiten ein Rätsel: »El mundo se conserva por el secreto«, afirma el Zohar. Y no a todos es útil conocer el verdadero nombre de las cosas.147 Marechals Kommentar über das Banquete beweist, daß das Diktum aus Adán Buenosayres kein Ornament ist: Ya es bastante maravilloso que un critico advierta que mi libro [gemeint ist BSA] tiene un sentido oculto, más allá del manifiesto. Indudablemente, la medida de su importancia está dada por el sentido oculto. Pero, como dice Goethe - que no por casualidad era ocultista - , no todos los caminos son para todos los caminantes.148 Nicht alle Wege sind für alle Wanderer, Worte umspielen das Rätsel. Die beste Art, ein Geheimnis für wenige zu bewahren, ist zuzulassen, daß ein anderes „Geheimnis" von vielen entdeckt wird. In welchem Grade Marechal selbst initiatische Praktiken durchführte, kann hier nicht entschieden werden. Daß er auch über sein Werk hinaus den Weg zur Initiation eingeschlagen haben könnte, deutet sich an: Buenos Aires es una ciudad trascendente. Usted no tiene idea de hasta qué punto nos rodean y manejan fuerzas misteriosas. Y en nuestro país, particularmente. Sorpresas del tipo de la Orden de los Caballeros del Fuego, que la SIDE recién empieza a conocer, hay varias y más asombrosas. Yo conozco algunas; claro que no se las
146
Marechal, „Novela y Método", in Andrés 1968: 103.
147
AB 157.
'"8 Marechal, Confirmado, 21.10.1965, in Andrés 1968: 63, H. d. A.
2. Christentum gegen Heidentum
81
voy a decir. El personaje Pablo Enaudi [sie], por ejemplo, existe, y me honro con su conocimiento. Por supuesto, no se llama así. Se trata de un altísimo Iniciado. También existe el individuo que inspiró al Salmodiante de la Ventana; opera en Ciudadela, y a él sí puedo presentárselo. Y le aseguro que una ceremonia iniciática como el banquete es menos improbable de lo que usted piensa. 149 Marechal spricht in BSA von den „maestros" - über die „Unsichtbaren Meister" sagt Evola, Kopf der initiatischen Gruppe Ur: Der Eingeweihte ist schon per definitionem ein verborgenes Wesen, und sein Weg ist weder sichtbar noch durchschaubar. Er entzieht sich und läßt nicht Maß an sich legen. Er kommt genau von der entgegengesetzten Seite, wo niemand seine Blicke hinrichtet, und kann als Mittel seiner übernatürlichen Tat das erwählen, was am allernatürlichsten erscheint. Ihr könnt sein enger Freund, sein Gefährte sein, seine Geliebte; ihr könnt glauben, sein ganzes Herz zu besitzen, sein gesamtes Vertrauen. Und doch bleibt er ein anderer, neben dem, den ihr kennt. Ihr werdet euch dieses »anderen« erst bewußt, wenn auch ihr sein Reich betretet. Dann werdet ihr vielleicht das Gefühl haben, daß ihr vorher gleichsam an einem Abgrund entlanggegangen seid. 150 Marechals Werk enthüllt in seiner latenten Bedeutung eine Bejahung der Geschichte, die über das Christentum hinausweist. Damit zeichnet sich hinter der ersten Waffe des Christentums der Schatten einer zweiten ab.
149
150
Marechal in Confirmado, 21.10.1965, in Andrés 1968: 64, H. d. A. SIDE - die Abkürzung für „Secretaría de Información del Estado" - war der argentinische Geheim- und Nachrichtendienst. Evola 1989: 247. Die Worte Elbia Rosbacos über die Unbeeinflußbarkeit und das Schweigen ihres Mannes scheinen dies zu bestätigen. Siehe unten, Materialien (B) § 2: 310.
Kapitel IV Die Zeichen der Initiation 1. Symbolum Ghibellinum, Gral und Osiris-Mythos Marechal und die initiatische
Tradition
Gnosis, Neuplatonismus, Christentum, Mystik, Alchimie, griechische Epik und Mythen, ägyptische Kulte, Gralssage und die indische Lehre sind die wichtigsten traditionellen Elemente im Werk Marechals. Wer sich mit ihrer enzyklopädischen Beschreibung nicht zufriedengibt, weil er deren Aussagekraft für die Botschaft des Autors vermißt, stellt die Frage: welche Verbindungen zieht Marechal zwischen diesen Elementen, und was ist der Grund, der diese Traditionsvernetzung im literarischen Werk motiviert? Nun müssen wir die Schicht von Marechals Werk beleuchten, in der dieses Netz traditioneller Symbolik angelegt ist. Betont sei aber, daß nicht ich die wechselseitigen Verbindungen zwischen Symbolen und Lehren ziehe: ich behaupte nicht, Marechal sei so zu interpretieren, sondern ich stelle die Hypothese auf, Marechal selbst habe diesen Zusammenhang in den jeweiligen Traditionen gesehen bzw. aus anderen Quellen übernommen. Diese Verbindung traditioneller Symbole und Lehren geht zurück auf die Forschungen René Guénons (1886-1951) und Julius Evolas (1898-1974) ab der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts, aber auch auf die Erkenntnisse Carl Gustav Jungs. Damit entstand ein Boden, der für Literatur und Literaturinterpretation ebenso fruchtbar war wie für die Psychoanalyse. Man kann nicht umhin, die Zuwendung Europas Anfang dieses Jahrhunderts zu östlichen Lehren und Praktiken als Symptom eines geistigen Bedürfnisses ernstzunehmen. Daher wäre es verfehlt, die Beschäftigung Marechals und der genannten Forscher als neookkultistische Phantasien à la Blavatsky oder als Vorläufer einer populären «ew-age-Esoterik abzutun. Julius Evola war ein Kenner der Werke Nietzsches, Husserls, Heideggers, Sartres und bemühte sich nicht nur um eine theoretische Darstellung initiatischer Lehren, sondern auch - als Gründer der Gruppe Ur - um ihre Ausübung. In seinen Anfangen betrachtete Evola René Guénon als maßgebliches Vorbild. Marechal, als geistiger Schüler Guénons, fühlte sich zweifellos zu initiatischem Gedankengut hingezogen - in welchem Ausmaß, wird hier zu erläutern sein. Wir werden eine noch unbekannte Spur verfolgen, die Marechals Beeinflussung durch solches Gedankengut auch biographisch erhärtet.
84
IV. Zeichen der Initiation
Es geht ferner nicht darum, einen Autor in ein esoterisches Schema zu pressen, das ihm nicht entspricht. Es wäre verfehlt anzunehmen, man könne alles und jeden esoterisch auslegen. Das würde zu der irrwitzigen Verpflichtung fuhren, die Esoterik etwa von Vargas Llosas Pantaleon y las Visitadoras aufzudecken. Marechals Fall liegt anders. Bei der Argumentation stütze ich mich auf traditionalistische Forschungen, die Marechal zum Teil nachweislich bekannt waren. Die Übereinstimmung dieser Forschungen mit Marechals Werk ist zu zeigen und dort die Vernetzung der traditionellen Lehren und ihres geistigen Gehalts sichtbar zu machen. Dann können wir den Grund dieser Vernetzung aufdecken und erkennen, was Marechal mit ihr sagen will. Ich unterscheide dabei zwischen meiner Deutung, der Darstellung einer Deutung (anderer Interpreten) und einer Deutung, die vom Autor selbst stammt. Die scheinbar zusammenhanglosen traditionellen Elemente des literarischen Kosmos - das kann in der Zusammenschau von Marechals Werk gesagt werden - vereinen sich in der initiatischen Grundfigur von Fall und Aufstieg, von Kampf, Tod und Unsterblichkeit. Das Göttliche ist gefallen und in der Materie gefangen, weil es sich mit dem Menschlichen vermischt hat. Die biblische Variante dieses traditionellen Motivs spricht von den Gottessöhnen, die Gefallen an den Töchtern der Menschen fanden. 1 Das Streben nach der verlorenen Einheit, dem wahren Wissen (Gnosis) und der Vergöttlichung, fuhrt durch das Selbstopfer zum Erwachen, zu Unsterblichkeit und zur Wiedergeburt des „neuen" aus dem „alten" Menschen. Das symbolische Kreuz, das Adán Buenosayres auf seiner Reise durch Buenos Aires zieht - horizontal durch seinen Auszug und seine Heimkehr, vertikal durch descensus und ascensus ist Marechals geometrische Ikone jenes Opfers, das den Menschen und den zum Mensch gewordenen Gott wieder ins Göttliche erhebt. Etwas Wesentliches wurde von der Forschung zu wenig beachtet: das Schicksal aller Protagonisten Marechals ist der Tod. Adán geißelt seine „tödlich verwundete Seele" und stirbt, Farias läutert sich und wird symbolisch gekreuzigt, Megafón stirbt den initiatischen Tod. Das esoterische Christentum der Fedeli d'Amore wandelt sich im Werk Marechals zu der über das Christentum hinausweisenden Tradition des initiatisch-alchimistischen Heldentums. Wie Dante verschiedene Sinnstufen seines Werks unterscheidet, bergen auch Marechals Romane eine Schicht, die erst offenbar wird, wenn wir ihre traditionellen Motive verknüpfen. Daher werde ich die von Marechal ins Heroische gedeutete Bewegung von Fall und Aufstieg zunächst an der Lehre der Fedeli, der Tradition des Grals und des ägyptischen Osiris-Mythos erläutern. Das Besondere an Marechals Behandlung dieser traditionellen Elemente - einschließlich der dann zu untersuchenden Alchimie - liegt in ihrer Aussagekraft für eine Geschichte, die kein Ende besitzt.
i
I Mos. 6:1-4.
1. Symbolum Ghibellinum, Gral und Osiris-Mythos Der Einfluß der Fedeli
85
d'Amore
In der Symbolik des Weiblichen, die alle Romane Marechals durchzieht, folgt der Autor den Spuren Dantes. Schon im Adán Buenosayres ging es ihm weniger um den Dante der Divina Commedia als um den der Vita Nuova und der Fedeli d'Amore: En su estudio, amigo Prieto, reduce usted la importancia del influjo que Dante Alighieri haya podido ejercer en mi novela. Sin embargo, ese influjo es tan grande como „definitorio"; y mi terrible maestro lo ejerce, no como autor de la Commedia, sino como integrante y jefe de los „Fedeli d'Amore". 2 Maréchal selbst gibt uns den Hinweis, daß ihm trotz Kenntnis der Danteforschungen von Rossetti und Aroux erst Luigi Vallis II Linguaggio Segreto di Dante e dei »Fedeli d'Amore« (1928) die Bedeutung der „Getreuen der Liebe" eröffnet habe: Pero el enigma no se me reveló entonces, sino muchos años después, cuando la viuda del malogrado profesor Luigi Valli me regaló el libro de su marido II linguaggio segreto di Dante e dei Fedeli d'Amore [...] y cuando confronté su texto con los elogios y objeciones que le hace René Guénon en sus Aperçus sur l'ésotérisme chrétien. [...] todo ese proceso está muy vinculado a mi vida y por consiguiente a mi obra, y vuelvo a remitirme a las Claves de Adán Buenosayres. 3 Die Fedeli d'Amore sind, laut Valli, nichts weniger als eine Geheimorganisation italienischer Dichter, Dante eines ihrer Häupter. Über das Ziel dieses Bundes mutmaßt die Forschung. Der Ansatz Vallis ist gewiß nur eine von vielen Dantedeutungen, doch es ist diejenige Sicht, die sich Maréchal zu eigen machte und anderen vorgezogen hat; als solche soll sie hier gewürdigt werden. Bereits in seiner Schrift Autorité Spirituelle et Pouvoir Temporel (1929), noch vor den Aperçus aus dem Jahre 1954, weist Guénon auf Vallis Arbeit hin. 4 Über dieses Buch Guénons, das Marechals Kastenlehre in der spezifischen Form des Romans AB vorwegnimmt, spricht Maréchal in seinen „Claves" nicht, obwohl er bereits in AB (1948) Guénons geistige Urheberschaft andeutet: manche Schlüsselwerke behält Maréchal fur sich. Zunächst muß die Verbindung Marechals zu den Auffassungen der Fedeli geklärt werden. Eine erste Gemeinsamkeit tritt in der Existenz des mehrfachen Sinns der Schrift hervor. Die Hauptthesen Vallis lauten: die Fedeli sind eine initiatische Gruppe, 5 und ihre Liebesdichtung ist eine Geheimsprache, Chiffre einer antipapistischen Haltung. Tatsächlich hat Dante auf einen Schriftsinn verwiesen, der nur dem Einge-
2
Marechal in Andres 1968: 125.
3
Marechals Hinweis auf Guénon und Valli (dessen Werk von Auerbach 1967: 315ff besprochen wurde) findet sich in Andres 1968: 35f, Hervorhebung der Autorin.
4
Ich zitiere dieses Werk als Guénon 1930, vgl. hier Guénon 1930: 128. Im Jahre 1929 reist Marechal nach Europa, verbringt ein Jahr in Paris und kehrt 1931 nach Buenos Aires zurück. Eine frühe Rezeption der Schrift Guénons durch Marechal ist wahrscheinlich, dafür sprechen Übereinstimmungen in der Interpretation der Kastenlehre.
5
Valli 1928: 23-27. Dante, so Valli, spricht in Vita Nuova XIV von verschiedenen Graden der Fedeli (siehe auch unten, S. 89) und Dino Compagni sagt von „le donne", den Adepten, sie säßen um die Madonna geschart „per settimi gradi".
IV. Zeichen der Initiation
8ó
weihten zugänglich ist. 6 Marechal übernimmt von Dante die verschiedenen Sinnebenen und den Code der Sprache der Liebe, dessen sich nicht nur die Fedeli bedienten. 7 Ein zweiter Berührungspunkt zwischen Fedeli und Marechal liegt in der häufig wiederkehrenden Invokation des weiblichen Prinzips, die den Gestus der Minnesänger wiederholt, obschon nun die Züge komplexer werden. Die verschiedenen Frauen der Fedeli (Dantes Beatrice, Cavalcantis Giovanna, Cino da Pistoias Selvaggia etc.) bedeuten nach Valli eine einzige Frau, mit der die Heilige Weisheit und ihre Verehrer, die Gruppe der Fedeli selbst (le donne), symbolisiert werden. 8 Über die Rolle dieses Weiblichen können wir nur Vermutungen anstellen. So können die Fedeli, wenn sie von der Madonna Intelligenza sprachen, eine andere Kirche, eine andere Lehre, eine andere Wahrheit gemeint haben als die, die sie, verkörpert in der Kirche Roms, vor Augen hatten. In seiner alchimistisch-esoterischen Konzeption des Weiblichen übersteigt Marechal selbst die Grenzen des angeblichen „christlichen Synkretismus". C. G. Jung verdeutlicht den Gegensatz von Christentum und Alchimie: die Alchimie habe immer wieder Anlaß gegeben zur „Projektion jener Archetypen, welche sich in den christlichen Prozeß nicht reibungslos einfügen konnten". 9 Jung unterstreicht: Die großen Ereignisse unserer Welt, die von Menschen beabsichtigt und hervorgebracht sind, atmen nicht den Geist des Christentums, sondern des ungeschminkten Heidentums. Diese Dinge stammen aus einer archaisch gebliebenen seelischen Verfassung, welche vom Christentum auch nicht von ferne berührt worden ist. 10
Die Symbolik des Weiblichen umkreist die Symbolik der Liebe und des Wissens die Fedeli identifizierten die Madonna mit dem aristotelischen intellectus activus, 11 dessen Grundproblem lautet: wie kann die Erkenntnis, die vom Konkreten ausgeht, Allgemeinbegriffe erfassen? In anderer Form trat dieses Problem bereits in Marechals Descenso auf, wo es um die Erkenntnis des universale in re ging. 12 Valli erläutert die aristotelische Theorie: im Geist befinde sich ein Spiegel der universellen Ideen, der intellectus possibilis. 13 Um aktiviert zu werden, benötige er - wie das
6
Valli 1928:63.
7
AB 58f: „las antiguas literaturas orientales y occidentales, en las que hablar del amor divino con el lenguaje del amor humano era cosa frecuente hasta el galimatias". Valli erklärt, die Verhüllung initiatischer Ideen in der Sprache der Liebe sei bereits in der muslimischen Mystik und bei den persischen Sufis bekannt gewesen und über die Manichäer, Katharer und Templer zu den Provenzalen und an den Hof Friedrichs II. sowie zu den bologneser und toskanischen Dichterkreisen gelangt. Vgl. Valli 1928: 20f, 101, bes. 427.
«
Valli 1928: 23f, 158.
«
Jung 1990: 50.
10
Jung 1990: 25.
11
Vgl. Valli 1928: 54, 82-99, wo die Theorie des intellectus activus dargestellt wird.
'2 Siehe oben, Kap. III § 1:44. 13 Valli 1928: 83f.
1. Symbolum Ghibellinum, Gral und Osiris-Mythos
87
Auge das Licht - ein Stimulans oder Medium. Dieses Stimulans, der intellectus activus, der sich zum intellectus possibilis wie die Form zur Materie verhalte, wird als Licht bezeichnet, das es dem geistigen Auge erlaube, jene universellen Ideen zu sehen, die nach Aristoteles den Menschen göttlich machen. Die Vereinigung von intellectus possibilis und intellectus activus wurde bei den Scholastikern als Liebesakt bezeichnet. Valli fuhrt dessen transzendierende Kraft aus: Questa ultima idea è particolarmente preziosa per intendere il mistero della poesia d'amore e comprender como sotto le sue formule si celebrasse appunto questo connubio con la suprema intelligenza nel quale l'amante si assimilava con l'amata, e finiva col dire como Cecco d'Ascoli: »Dunque io son Ella«. 14
In die lange Reihe der Traditionen, die die Liebe zum Göttlichen in Metaphern fleischlicher Liebe vortrugen, fügt sich Leo Hebraeus ein (i.e. Leone Ebreo oder Jehuda Abravanel, um 1465 bis um 1525). Marechal zählt ihn in „Claves de Adán Buenosayres" (CN) zu den Quellen seiner Liebestheorie. Leo Hebraeus' Dialoghi d'Amore (1535) übertragen die These, die Liebe setzte Kenntnis des Geliebten voraus, auf ein irdisch beschriebenes Verhältnis zum Göttlichen: Este amor y deseo tan grande hace que seamos abstraídos en tanta contemplación que nuestro entendimiento viene a levantarse de tal manera que alumbrado de una singular gracia divina, sube a conocer más alto que al humano poder y a la humana especulación conviene, y llega a una tal unión y copulación con el Sumo Dios que nuestro entendimiento se conoce ser antes razón y parte divina que entendimiento en forma humana. 15
Im zweiten der Dialoghi zwischen Philo und Sophia findet sich eine Spur, die zeigt, unter welchem Aspekt der Liebe Marechal Leo Hebraeus und vielleicht die Fedeli verstanden haben könnte: Philos Ausfuhrungen über die Liebe unter den Elementen als Entstehungsursache aller Dinge besitzen klare alchimistische Implikationen: La tierra es el cuerpo de la materia prima, receptáculo de todas las influencias de su macho, que es el cielo. 1 6
Die Tragweite von Marechals Rezeption der Alchimie wird erst mit der anschließenden Deutung abschätzbar. Bereits Guénon äußerte aber, daß amor nicht nur in Verbindung mit der Religion, sondern auch mit der Initiation zu sehen sei: on constate que les applications traditionelles de l'idée de l'amour ne sont pas bomée au domaine exotérique et surtout religieux, mais qu'elles s'éntendent également au domaine ésotérique et initiatique... 17
Nochmals soll unterstrichen werden, daß keine subjektiven Eindrücke diese Interpretation veranlassen, sondern daß Marechal selbst diese Verbindungen zieht. Der
14
Valli 1928: 85 und Guénon 1977: 62.
15
Hebreo 1985: 43f.
16
Hebreo 1985: 66.
17
Guénon 1962: 393.
IV. Zeichen der Initiation
88
Autor kannte sie aus anderen Quellen, besonders Guénons Aperçus. 18 In der Vereinigung des männlichen und weiblichen Prinzips, im Dunque io son Ella der Fedeli und in der aristotelisch-scholastischen Liebesmetaphorik, wird sich die Verbindung von Liebe, Wissen, Alchimie, Initiation und Geschichte enthüllen. Dann zeigt sich auch Marechals zweite Waffe, die angesichts der christlichen Ebene unbemerkt oder unverstanden geblieben ist. Für eine Untersuchung von Marechals alchimistischem Gedankengut spricht aber nicht nur die Verwandtschaft gewisser Bilder der Fedeli mit der Alchimie und Marechals Verbindung zu den Fedeli, sondern zahlreiche werkimmanente Spuren alchimistischer Symbolik. Wenn der Strahl des intellectus activus den intellectus possibilis vom Tod zum Leben erweckt, erwacht der Geist, aber das Herz stirbt - „Quella parte delP uomo che ama le cose basse e transitorie" - , und der Adept erfahrt den initiatischen Tod. 19 Megafön empfängt den initiatischen Gruß Lucia Febreros, einem Abbild der Madonna Intelligenza, und stirbt den Tod der Eingeweihten. 2 0 Die Verwandtschaft der Fedeli zu alchimistischen Symbolen scheint bei Cino da Pistoia durch, der von „l'unica fenice che con Sion congiunse l'Appennino" spricht. Die Alchimie kennt das Auferstehungssymbol des Phönix und den Androgyn (Rebis, d. h. res bina, doppeltes Ding), das Symbol der Vereinigung der Gegensätze von männlichem und weiblichem Prinzip, als Bilder für die Endphase des alchimistischen Werks. Eine Zeichnung des Fedele Francesco da Barberino, eines flammenden Ghibellinen, krönt den Androgyn mit dem berittenen Amor, der Pfeile und Rosen trägt. Der Androgyn, das siebte, zentrale Paar, ist spiegelbildlich umgeben von sechs weiteren Paaren. Sie sind von den Speeren Amors versehrt und bedeuten sieben Stadien des geistigen Lebens, in zunehmenden Graden von der Liebe erweckt. Das sechste Paar, links und rechts neben dem Androgyn, trägt bereits die Rosen der Auferstehung, und, wie Valli ausführt, sehen wir links die Witwe, vedova, und rechts den cavalier meritato. Der Androgyn selbst bildet Mitte und Gipfel des Verwandlungsprozesses: Moglier e mariro, 21 Mann und Frau.
18
Die Beziehung zum Gral, die Verbindung der Fedeli zu Initiation und Alchimie, ihr Ziel, die Rekonstruktion des Androgyns, die im folgenden erläuterte „inverse Geburt" bzw. das io son Ella und die initiatische Bedeutung des Grußes finden sich bereits in Guénons Aperçus. Vgl. Guénon 1977: 33, 45 Anm., 62ff.
!» Valli 1928: 151. 20
Vgl. hierzu Marechals Ausfuhrungen über die Madonna Intelligenza in Rosbaco 1973: 200 und MG 343: „Y es aqui donde Megafön, que ha triunfado, recibe de la Novia primera »la mirada«, en seguida »el saludo« y finalmente »la voz«." Guénon schreibt seinerseits über die „sieben Grade" der Einweihung bei den Fedeli: im „dritten Grad" erhalte der Eingeweihte den saluto, vgl. Guénon 1977: 45 Anm.
21
Valli 1928: 60, 64, besonders 247-250. Die Abbildung 4 (Quelle: Valli 1928: 247) des Erweckers Amor stammt aus dem Tractatus amoris et operum eius (Glosse zu den Documenti d'Amore) des Fedele Francesco da Barberino.
1. Symbolum Ghibellinum, Gral und Osiris-Mythos
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Die dritte wesentliche Übereinstimmung der Fedeli mit GED Marechal besteht in der Opposition zur römischen Kirche. Die Madonna Intelligenza oder Heilige Weisheit ist für die Fedeli die Gegnerin der korrupten Lehre der römischen Kirche, die sich durch ihr Streben nach weltlicher Macht und Gütern beirren ließ. Valli deutet den Körper Beatrices als corpus einer Abb. 4: Amor, Androgyn und die sieben Stufen der Erweckung verlorenen Lehre, die von der institutionellen Kirche „begraben" wurde. 22 Die Erbsünde hat die ursprüngliche Gerechtigkeit außer Kraft gesetzt. Eine Wiederherstellung des imperium bedeutet für die Fedeli auch eine Rettung der Kirche. 23 Daher begreife Dante Kreuz und Adler als Heilmittel gegen die menschlichen Sünden im kontemplativen und aktiven Bereich: per crucem et aquilam ad rosam. 24 Der Ghibellinismus, so D. Cologne, unterscheide zwar, aber spalte nicht die geistliche von der weltlichen Macht, denn er erkenne ihre gemeinsame übernatürliche Quelle. 25 Mit diesem Standpunkt decken sich Marechals Kritik des Priesterstandes in Megafón und seine Analyse des Kastenverfalls in „Autopsia de Creso" (CN). Vernetzung traditionalistischer
Autoren
Untersucht man die Verbindung der traditionalistischen Forscher, ergibt sich ein weiterer Zusammenhang. Es zeigt sich nicht nur eine Vernetzung von Motiven, sondern auch von Autoren: Marechal wird von Valli und Guénon entscheidend beeinflußt, 26 Evola wiederum kommentiert Valli und untersucht dessen Forschungsge22
„Ho ricordato come già il Buti stesso intendesse per quelle »belle membra« di Beatrice »le scriture« lasciate in terra, scritture, si può aggiungere ora, che tra le mani della Chiesa corrotta erano state usate ad opera di corruzione come il corpo estemo della Sapienza santa che era sepolto, che era diventato morte nella corruzione della dottrina. Lo spirito vero del Cattolicismo, però, l'anima, era immortalmente vivo e offerto all' amore dei fedeli e si chiamava Beatrice." Valli 1928: 387.
«
Valli 1928: 90f,378f.
24
Valli 1928:379, 394.
25
Cologne 1978: 29.
26
Die Verbindung Marechals zu Guénon wird auch von R. H. Raffaelli herausgestellt: „Aunque poco conocido entre nosotros [...], no ha dejado Guénon por eso de ejercer en la Argentina una influencia a veces singular. Naturalmente fue frecuentado, ya en la década del treinta, por el nacionalismo católico [...] En cuanto a Marechal, no parece haber sido suficientemente advertida la señalada influencia de Guénon sobre la totalidad de su obra, y especialmente sobre »Adán
IV. Zeichen der Initiation
90
genstand. Guénon kommentiert Valli und widmet sich denselben Themen wie Valli und Evola. Evola seinerseits wird von Guénon geprägt, entfernt sich aber später von ihm. Guénon verschafft trotz der Differenzen dem Werk Evolas, das er teilweise als Manuskript kannte, in Frankreich Geltung. Mircea Eliade lernt Evola kennen, liest seine Schriften, ist mit dem Werk Guénons vertraut und befaßt sich aus religionswissenschaftlicher Sicht mit jenen Symbolen, die Evola und Guénon behandeln. Eliade trifft C. G. Jung bei den Eranos-Kongressen in Ascona, Jung seinerseits erwähnt in Psychologie und Alchemie Evolas La Tradizione Ermetica.27 Maréchal aber scheint, nach Catherine Kavanagh, das Werk Jungs gekannt zu haben. Und nicht zuletzt: Luigi Valli erwähnt Ur, die Zeitschrift und Gruppe Evolas, in seinem Dantebuch. Es steht nicht fest, daß Maréchal Evola oder sein Werk kannte, obwohl ich das wegen starker inhaltlicher Übereinstimmungen für möglich halte. Maréchal könnte während seiner Europareisen in Italien oder Frankreich direkt oder indirekt in Kontakt mit Evolas Werk gekommen sein, zumal er, auf den Spuren Dantes, auch die Schrift Vallis entdeckte. Für eine Annäherung Marechals an die Ideen Evolas ist eine direkte Kenntnis Evolas nicht nötig; sie ist aber auch nicht auszuschließen. Zwei Möglichkeiten fur Maréchal, Evola indirekt kennenzulernen, sind belegbar. Einmal ist der Einfluß Evolas auf Valli klar: Valli verweist in seinem Dantebuch auf Evolas Zeitschrift Ur (die Aktivitäten der dahinter stehenden initiatischen Gruppe datieren um 1927) und auf Arturo Reghini, der unter dem Pseudonym Pietro Negri schrieb. Der Florentiner Reghini (1878-1946), Dante-Kenner und Gründer des Rito Filosofico Italiano, war ein bedeutendes Mitglied des Kreises. Valli erwähnt „Pietro Negri" im Zusammenhang mit der eben erläuterten Figur des Androgyns, die bei Maréchal eine besondere Rolle spielt. 2 8 Maréchal bezeichnet Vallis Buch als einen seiner geistigen Schlüssel. Zum anderen erwähnt Guénon Reghini und dessen L'Allegoria Esoterica di Dante ausgerechnet in dem Werk, Autorité Spirituelle et Pouvoir Temporel (1929), das die Kastenlehre auf historische Revolutionen projiziert. 29 Maréchal überträgt gleichermaßen die Kastenlehre auf die historischen Revolutionen und spielt auf Guénon in diesem Zusammenhang im Roman Adán Buenosayres an. Noch auffallender ist, daß Evola diese Idee bereits zwei Jahre vor Guénon in seinem Werk Imperialismo Pagano (1927) behandelt hatte, das in Rom Buenosayres«. Todo en esta novela metafísica, desde la »peregrinación« del protagonista y su »descenso a los infiernos« hasta el lugar simbólico de la mujer en »Cuaderno de Tapas Azules«, revela en el poeta una sabiduría seguramente aprendida en Guénon [...] A ello hay que agregar la »Autopsia de Creso«, filosofia de la historia de cuño netamente guenoniano." Raffaelli 1980: 70. 27
Zu den Beziehungen Eliades mit Evola und Jung, vgl. Eliade 1988: 152f und 146f, 162. Jung erwähnt Evola in 1990: 267.
28 Siehe Valli 1927: 249 Anm. 29
Siehe Guénon 1930: 140 Anm. und Guénon, König der Welt (Le Roi du Monde), MünchenPlanegg, Barth-Verlag, 1956: 82, Anm. 3. Reghini hatte Guénons L'Esotérisme de Dante und Le Roi du Monde ins Italienische übersetzt, dazu auch Evola 1985: 11.
1. Symbolum Ghibellinum, Gral und Osiris-Mythos
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erschienen war. Später sollte sich Evola kritisch mit der Schrift Guénons in Ur auseinandersetzen. 30 Fassen wir die Daten zusammen, die bis jetzt für eine initiatische Deutung Marechals sprechen. In Florenz trifft Marechal mit der Witwe Luigi Vallis zusammen, dessen Buch über die Fedeli er in Buenos Aires vergeblich gesucht hatte. Ich halte dieses Treffen für bedeutungsvoll, da es zeigt, daß Marechal mit einem ausdrücklichen Ziel nach Italien kam - von Florenz schreibt er „me dediqué a buscar las huellas de Dante Alighieri en aquella ciudad predilecta de la gloria". Zum anderen läßt diese Zusammenkunft vermuten, daß Marechal in Italien in Kreisen verkehrte, die ihm den Kontakt zu Vallis Frau erst einmal ermöglichten. Der Kontakt kam um 1930 zustande, während der zweiten Europareise Marechals. Der Autor hielt sich in Frankreich auf, in Belgien, Holland und Italien. Vergleichen wir dazu die literarische Version dieser Reise im Adán Buenosayres, die tatsächliche Stationen Marechals beschreibt - Paris, Sanary sur Mer, Rom. In Amsterdam aber... El invierno te había sorprendido en Amsterdam [...] Tu régimen de vigilia y de sueño no acataba ley ninguna, como no fuese la que le imponían aquellas lecturas dolorosas: eran libros de ciencias olvidadas, herméticos y tentadores como jardines prohibidos; [...] soñabas que una cadena infinita de muertes y de nacimientos conducía tus pasos a través de mundos en los cuales tu ser cobraba mil formas absurdas; o que te hallabas en la Ciudad Alquímica, trasponiendo sus veinte puertas del error y vagando en tomo de su muralla inaccesible sin dar con la puerta única que conduce al secreto del Oro; y es así como tu cuerpo y tu alma se consumían en aquel universo abstracto. 31
Hier wird die Europareise in einen direkten Zusammenhang mit initiatischer Lektüre gebracht. In Rom aber war der Sitz von Evolas Gruppe Ur, aber es wurden, wie R. del Ponte schreibt, nach den „Anweisungen für magische Ketten" offenbar auch Untergruppen in anderen Städten, darunter Genua, gebildet. 32 Bevor Marechal nach Florenz reiste, hatte er, laut Crespo de Amaud, im Jahre 1930 Genua, Pisa und Rom besucht. Alles spricht dafür, daß Marechal ebenso in Roms (oder Genuas?) kulturelles Leben eintauchte, wie er der Spur Dantes zu Valli nach Florenz folgte. Es ist unwahrscheinlich, daß jemand, der wie Marechal damals mit einem entschiedenen Interesse an esoterischer Thematik nach Italien kam, nicht auf die einflußreiche Zeitschrift Ur, auf Evola oder zumindest auf die Diskussion dieser Themen stieß. 33
30
Vgl. Evola 1985: 20.
31
AB 333. Siehe Crespo de Arnaud in Cátedra Marechal 1986: 205, wo u. a. Marechals Hollandreise erwähnt wird.
32
R. del Ponte in Evola 1985: 12. Siehe auch die Biographie Bárbara Crespo de Amauds in Cátedra Marechal 1986: 205.
33
Evola veröffentlichte sein Werk über Alchimie, La Tradizione Ermetica, im Jahre 1931. Marechal kehrte im Frühjahr 1931 nach Buenos Aires zurück. Evola publizierte 1937, etwa sieben Jahre, nachdem Marechal AB begonnen hatte und elf Jahre vor dessen Erscheinen, das Werk II Mistero del Graal e la Tradizione Ghibellina dell'Impero, in dem er Vallis Position bewertet und ausführlich kommentiert (hier zitiert als Evola 1977). Femer waren die Aperçus sur
IV. Zeichen der Initiation
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Der Nachweis einer tatsächlichen Verbindung Marechals zu Evola, etwa durch eine Aufzeichnung des Autors, konnte bis jetzt nicht erbracht werden. 34 Ein noch zwingenderer Beleg wäre bedeutungsvoll, denn der von Marechal in seinen zugänglichen Schriften nie genannte Evola erweist sich als maßgebend für eine initiatische Deutung. Letztlich gibt aber die Übereinstimmung den Ausschlag: Marechal teilt Evolas charakteristische Abkehr von der Position Guénons und behauptet den Primat des initiatischen Kriegers, nicht den Primat des Priesters. Vernetzung der Traditionen Die Ideen des Kampfes, der Eroberung und des Heldentums verknüpfen die Traditionen der Fedeli, des Grals, des Osiris-Mythos und der Alchimie. Der Provenzale Jacques de Baisieux prägte die Unsterblichkeits-Chiffre der „Getreuen der Liebe": amor, gedeutet als a-mors, das heißt ohne Tod.35 Rückwärts gelesen, offenbart amor den Namen des Gegners: roma, die römische Kirche. Jacques de Baisieux erklärte auch, die ersten und höchsten Getreuen der Liebe seien die Ritter des König Artus und des Grals gewesen. 36 Der Alchimist Fulcanelli - argentinischen Schriftstellern wie Cortázar und Sábato bestens bekannt - bezeichnet den Gral als höchstes Geheimnis der Ritterschaft. 37 Und Arturo Reghini erwähnt die „falsche, aber bedeutungsschwere Etymologie", die ein alter französischer Alchimist vom Saint Graal gibt: sang real, das königliche Blut. 38 Der Gral ist also kein Symbol der kontemplativen Ebene des Priestertums, sondern ein Emblem der Ritter, Krieger und Könige. Diesen Geist verspürt man, wenn Guido Cavalcanti, vermutlich eines der Häupter der Fedeli, sagt, Amor stamme nicht aus dem Himmel der Venus, sondern aus dem des Mars, 39 und wenn ein anderer Bundesbruder vorschlägt: A suon di trombe innanzi che di corno vorria di fin amor far una mostra d'armati Cavalier di Pasqua il giorno...
40
l'Ésotérisme Chrétien (1954), in denen Guénon das Werk Vallis beurteilt, Marechal und Evola bekannt. Zu einer überraschenden Koinzidenz zwischen Marechals Megafón und Evolas Ausführungen, siehe unten S. 122. 34
Leider machte mir Elbia Rosbaco die Bibliothek des Autors nicht zugänglich. Doch das Fehlen der Werke Evolas dort wäre nicht beweiskräftig - Marechal könnte ihn, wie gesagt, auf anderen Wegen, auf seinen Reisen, vom Hörensagen, kennengelernt haben. Evola und Marechal könnten aber auch, unabhängig voneinander, dieselben Quellen studiert haben.
35
Siehe Evola 1977: 240. MG 315: „ ¡El Amor y la Muerte secogende la mano!"
«
Evola 1977: 244.
37
Fulcanelli 1973: 231.
38
Pietro Negri (= Arturo Reghini) in Evola 1985: 112. Evola 1962: 339.
40
Valli 1928: 48. Chiesi 1986: 112 verweist darauf, daß sich die Ereignisse in AB und BSA während der Osterwoche abgespielt hätten. Dies erscheint mir, zumindest für BSA, unklar, denn das Bankett findet laut Roman am 18. November statt.
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1. Symbolum Ghibellinum, Gral und Osiris-Mythos
Hier beschwöre der Dichter nicht das Bild einer fröhlichen Jagd, sondern die Stimme der Trommeln, die die Ritter zum Krieg rufen, erklärt Valli, denn die Fedeli seien uomini di azione, dilotta, diguerra, diparte...
41
Das initiatische Kriegertum stellt eine Beziehung zwischen Gral und Fedeli her, die auch Maréchal andeuten wird. Der Gral kann nach traditioneller Überlieferung ein Stein, ein strahlendes Juwel (Smaragd, Jaspis) und Sonnensymbol sein, ein Lichtstein, ein luziferinischer Stein, ein Buch (gradale, graduale), ein Kelch oder eine Schale (grasale). Wolfram von Eschenbach sagt im Parzival (II, 9) von ihm: „er heizet lapsit exillîs". Der Gral ist verborgen an einem schwer zugänglichen oder von Wassern umgebenen Ort: einem Gebäude kriegerisch-königlichen Charakters, einem Schloß oder einer Burg. 42 In Megafôn taucht der Name „Gral" zwar nicht wörtlich auf, doch der Gral selbst wird unverwechselbar mit seinen Begleitattributen Juwel, Wasser, Schloß und Jungfrau (Trägerin des Grals) umschrieben: Lucia Febrero, die symbolische Novia Olvidada, als „Juwel" in Gestalt einer Frau bezeichnet, wird im Château des Fleurs gefangengehalten, das nur über das Wasser erreichbar ist. 43 Marechals Château des Fleurs verrät seine Quelle, den Fedele Dino Compagni: In una ricca e nobile fortezza, istà »lafior« d'ogni bieltà sovrana;
in un palazzo ch' è di gran bellezza, fu lavorato alla guis 'indiana...44 Diese fior ist nach Valli die Madonna Intelligenza, die eingeschlossen ist in der Burg, umgeben von „ricca fiumana". In Megafons Suche nach dem Gral, der Frau, verdichtet Maréchal die ritterlichinitiatische militancia de amor der Fedeli, und es ist die Gralssage, die einen Zugang zur blutigen Symbolik von Megaföns Zerstückelung und Entmännlichung eröffnet. Die heidnische Deutung versteht die Gralsschüssel als weiblichen Schoß und die blutende Lanze (Longinus-Lanze), die zusammen mit dem Gral an geheimem Ort aufbewahrt wird, als Phallus. Im Banquete findet sich die Koinzidenz mit der Gralssage im Bild der Runden Tafel. 45 Die runde Drehtafel - die mesa giratoria des Banketts -
41
Valli 1928: 48.
42
Man denke an Wolfram von Eschenbachs Munsalvaesche und an Montségur, die Katharerfestung im französischen Ariège.
43
MG 294: „ la espiral del edificio a construirse debía conducir a los visitantes que la recorrieran hacia un dormitorio rigurosamente »central«, donde ocultaría él cierta joya de valor incalculable [...] ¡Naturalmente, una mujer!" Und MG 298: „Si el Château es inaccesible por tierra, no lo es por el agua."
44
Maréchal hat sich zu dem Namen Château des Fleurs an Valli 1928: 175 inspiriert, der das Gedicht Dino Compagnis vorstellt und kommentiert, siehe auch Evola 1977: 246.
45
Der Topos der Tafel oder des Gastmahls verbindet christliche und nichtchristliche Tradition: das Gastmahl des Trimalchio, Piatos Symposion, das christliche Abendmahl, die Tafelrunde von König Artus.
IV. Zeichen der Initiation
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kopiert die Bewegung und Rotation der Erde, 46 die Runde Tafel der Gralssage wurde von Merlin „als Gleichnis für die runde Gestalt der Welt" hergestellt. 47 Worum ging es Maréchal, wenn er diese Elemente einsetzte? Wie in III § 1 erwähnt, sind nach Guénons Aperçus sur l'Esotérisme Chrétien alle heiligen Länder der Traditionen und ihre Symbole Abbilder einer Urtradition, die von Beginn bis zum Ende des Zyklus verborgen bleibt. Das heilige Land wird von Kriegern (Templern) bewacht. 48 Hier zeichnet sich eine für die Deutung Marechals wichtige Unterscheidung ab: wir sahen bereits, daß sich in Marechals Geschichtsverständnis in BSA nicht die christliche, sondern eine initiatische und geschichtsbejahende Deutung durchsetzt. Mit der Anlehnung an die Fedeli und mit dem Tatendrang Megafóns tritt im Werk klar der kriegerische Charakter der Initiation hervor - nicht ein religiöser oder mystischer. In der Mystik geht es darum, das Wissen abzustreifen, um ganz im anderen aufzugehen. Die Initiation dagegen besitzt Eroberungscharakter und richtet sich auf die Gewinnung der Weisheit (gnostische Sophia). 4 9 Dies ist das verbindende Thema aller Romane Marechals, in denen die Eroberung der symbolischen Frau aktive Prägung besitzt. Nun erkennt man den Grund für Marechals Interesse, die Tradition der Fedeli und des Grals in sein Werk aufzunehmen, nun zeichnet sich der Zusammenhang ab zwischen Liebe, Wissen, Initiation und Geschichte: die Traditionen der Fedeli und des Grals betonen das Kriegerisch-Initiatische und koinzidieren so mit der Richtung, die Maréchal seinem Werk gab. Im Symbol des Weiblichen treffen sich Fedeli, Gralszyklus und, wie wir sehen werden, die Alchimie. Damit wird die Behauptung gestützt, Maréchal selbst habe den Zusammenhang der Traditionen bewußt eingesetzt. Guénon und Evola verweisen darauf, daß traditionell jedes transzendente männliche Prinzip von einem weiblichen - Athene, Maria, Sophia, shakti - begleitet ist. 50 In der Gralssage ist es eine Jungfrau, die den Gral trägt, und in der Alchimie eine soror mystica, die dem Alchimisten beisteht. Maréchal setzt das in seinen Romanen um. Mit Evolas und Vallis Ausfuhrungen können wir uns dem Begriff der viuda annähern, einer Erscheinungsform der symbolischen Frau, nicht zuletzt bei Maréchal. Die Witwe verkörpert oder
46
BSA 222.
47
Thomas Malory, König Artus. Die Geschichten von König Artus und den Rittern seiner Tafelrunde: Buch XIV, Kap. 2.
48
Von der Forschung werden Beziehungen zwischen den Templern und den Fedeli angenommen, siehe Valli 1928: 114, Guénon 1977: 39f. Maréchal weiß natürlich um diese Verbindung, siehe CN 136. Ein Hinweis ist der Templer-Titel Kadosh, den Valli und Guénon in seinem L'Esotérisme de Dante erwähnt, den aber auch Maréchal in seinen Roman aufnimmt, MG 99: „el kadosh de la secta".
49
So Guénon in Aperçus sur l'Ésotérisme Chrétien, Guénon 1977: 46, 51.
50
Siehe Evola 1982: 271, Guénon 1977: 49. Maréchal spielt also nicht zufallig auf die indische shakti in MG 22 an: „el Oscuro se me antojó una divinidad hindú con su principio femenino sentado en las rodillas".
1. Symbolum Ghibellinum, Gral und Osiris-Mythos
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hütet bei Maréchal das Verlorene, sie ist die Trägerin oder Begleiterin des Grals, dem die Suche des Helden gilt, und sie kann alchimistisch gedeutet werden; bei den Fedeli bedeutet die vedova die verlorene reine Lehre, 51 die ihren Retter erwartet wie in der Divina Commedia Italien den allegorischen Veltro. Die Witwe, die ihren Mann verloren hat, erwartet einen neuen Helden - Marechals Novia Olvidada erwartet Megafón. Evola erklärt, die Frau als Lebensprinzip und Symbol der Weisheit oder Macht vermindere nie den männlichen Charakter des Helden, sondern ergänze ihn auf höherer Ebene. Mit Hilfe der Frau erschafft der Mann sich selbst, den „neuen, ganzen Menschen", in einer „inversen Geburt". Im Unterschied zu dieser initiatischen Betrachtungsweise ist in der Symbolik der christlichen Mystik die erlebende Seele weiblich und das Ziel, der Geliebte, männlich. 52 Wenn Maréchal sich auf die Tradition der Fedeli beruft, meint er nicht die mystische, sondern die heroisch-initiatische Auffassung: die erlebende Seele ist männlich, die Geliebte, als Brücke zum eigentlichen Ziel, ist weiblich. Die Beziehung zur symbolischen Frau markiert hier den Übergang von der irdischen zur geistigen Ritterschaft. Wir haben bereits die Beziehung Maréchal und Fedeli betrachtet und Kampf, Heldentum, symbolische Frau als wesentliche Motive in Marechals Werk erkannt. Die Verbindung zwischen Gralssage und Osiris-Mythos, die Guénon zieht und Maréchal literarisch ausfuhrt, ist eine weitere Bestätigung dafür, daß die Vernetzung der Traditionen bewußt von dem Autor eingesetzt wird. Es ist in der Maréchalforschung bekannt, daß der Eigentümer des Château des Fleurs in MG, Tifoneades, einen symbolträchtigen Namen besitzt. 53 Nicht gesehen wurde die Verbindung, die aus traditioneller Sicht zwischen Osiris-Mythos und Gral besteht, die Maréchal aber dem Werk Guénons entnehmen konnte: dort wird der griechische Typhon als äquivalent zum ägyptischen Seth begriffen, der Osiris ermordete und zerstückelte. 54 Maréchal wiederholt dieses Motiv: Tifoneades läßt Megafón ermorden und zerstückeln. Doch Seth, als Sohn Adams, kann der Legende nach in das irdische Paradies eindringen und in den Besitz des Grals gelangen. 55 Analog bemächtigt sich Tifoneades in Marechals Roman Lucia Febreros. Mit der Parallele Tifoneades - Seth, Lucia Febrero Gral bestätigt sich wiederum die Konvergenzhypothese, Maréchal habe eine Reihe 51
Evola 1977: 40, 242 und Valli 1928: 249, die die Bedeutung der Witwe bei Francesco da Barberino ausfuhren. Die Forschung verweist zwar auf die initiatische Bedeutung des Begriffs „Witwe" (Chiesi 1986: 111 auf den freimaurerischen Ausdruck „hijos de la viuda" und Lojo de Beuter 1983: 47 auf den alchimistischen Sinn als materia prima), doch sie geht nicht ihrer spezifischen Bedeutung bei Marechal im Kontext der geschichtsbejahenden Traditionsvemetzung nach.
52
Siehe auch Evola 1962: 339.
53
Coulson 1974: 114 erwähnt zwar die Beziehung von Marechals Tifoneades zu Typhon-Seth, zieht aber keine weiteren Verbindungen zum Netz der Traditionen.
«
Guénon, „Sheth" ( 1931 ), in Guénon 1962: 139ff. Guénon 1962: 23. Vgl. auch Evola 1977: 122.
IV. Zeichen der Initiation
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analoger traditioneller Motive bewußt in sein Werk eingebaut. Zu diesem Netz initiatischer Traditionen gehört, neben den Fedeli und der Gralslegende, jetzt auch der ägyptische Mythos. Was die Alchimie betrifft, sei hier schon vorweggenommen: Tod und Auferstehung des Osiris besaßen für die Alchimie zentrale Bedeutung. Osiris wird jener tote Zustand des gefallenen Körpers genannt, aus dem die edlen Substanzen (das Göttliche) wiederauferweckt werden müssen. Evola verbindet Gral und Alchimie: Ya hemos visto que el acceso al castillo del Grial - donde, según Titurel, figura el Arbol áureo - se conquista con las armas en la mano. La »materia« buscada en la tradición hermética se identifica a menudo con la piedra (en Wolfram y en otros autores, la piedra es el Grial); y la segunda operación descrita por Basilio Valentín tiene por objeto encontrar en esta materia, junto con las cenizas del Aguila, la sangre del León, [...] característicos también en el ciclo gibelino-caballeresco. 56 Osiris-Mythos und Gralssage rücken das uranische Motiv der Königs- und Unsterblichkeitssymbolik in den Vordergrund. Das Gralsmotiv des zerbrochenen Schwerts ist Symbolen wie dem des verwundeten Helden oder des toten Königs verwandt. Das Schwert zusammenzuschweißen bedeutet in traditioneller Bildersprache die Wiedererweckung des Königtums. Symbole sind oft mehrdeutig. Neben dem Fruchtbarkeitsaspekt besitzen die Mythen des Grals und des Osiris auch den königlichen Unsterblichkeitscharakter. Diese Bedeutung verbirgt sich auch hinter dem Osirismotiv in MG: dem ägyptischen Mythos des zerstückelten Osiris folgend, kann in MG das männliche Glied der zerstückelten Leiche Megafóns nicht mehr gefunden werden, und damit ist das vollständige Zusammenfugen des Körpers unmöglich. 57 Evola deutet die ägyptische Symbolik nicht in erster Linie als Fruchtbarkeitsritual, sondern als Symbol der Auferstehung, die erst erfolgen kann, wenn das Zerstreute vollständig zusammengefügt ist: In dieser Welt versucht das uranfangliche Wesen sich im Menschen wieder zusammenzusetzen. Dem Menschen fehlt jedoch noch der phallus, nicht im Sinn des physischen, sondern des transzendenten Mann-Seins, ihm fehlt die schöpferische oder magisch-göttliche Kraft. Er wird den Phallus wiederfinden - und vollständig sein - nur als Eingeweihter und als der »Osirifizierte«: Das Motiv des Osirisphallus zeigt sich also als eine Variante des allgemeinen Motivs, daß etwas verlorengegangen ist und wiedergefunden werden muß, z. B. das verlorene oder verges-
se Evola 1977: 263. 57
MG 366. Patricia Bell, die soror mystica Megafóns, weiß um die Bedeutung der Vollständigkeit: wie die Isis des ägyptischen Mythos setzt sie die Glieder Megafóns zusammen, anstelle des verlorenen Phallus fügt sie einen Ersatz aus Terrakotta ein. Auch die Marechal direkt und über Guénon vertraute vedische Tradition kennt das Zerstückelungs- und Vollkommenheitsmotiv: aus den zerstreuten Gliedern Purushas (das männliche Prinzip im Zustand der Zerstreuung, i. e. Nichtmanifestation) entstehen die Dinge der Erscheinungswelt (vgl. Guénon 1962: 283ff). Die Wiederherstellung des Purusha entspricht, so Guénon, der Rückkehr zur ursprünglichen Einheit. Marechal übernimmt, wie erwähnt, das Purushamotiv wörtlich aus Guénon 1952 bzw. der Rig-Véda (siehe oben, Kap. III § 1: 52). Ferner benutzt Marechal in BSA und MG im entsprechenden Kontext die Begriffe manifestación und no manifestación bzw. spricht von „reconstruir el andrógino".
1. Symbolum Ghibellinum, Gral und Osiris-Mythos
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sene heilige Wort; der wahre, nicht mehr bekannte himmlische Trank; auch der Gral, der unsichtbar geworden ist... 58
Die imitatio von Osiris' Tod durch die ägyptischen Herrscher bedeutete den Weg in die Unsterblichkeit. Marechal läßt mit dem Einfügen des Verlorenen und der Vervollständigung des Körpers Megafóns erkennen, daß der Held als Osirisnachfolger den königlichen Weg der Unsterblichkeit antritt - nicht den chthonischen regressus ad uterum. Die Figur des Verlorenen deutet auf das Ideal der Ganzheit, Vollkommenheit, Unsterblichkeit. Wir begegnen seinen Abbildern bei Marechal in der Vereinigung der Gegensätze von Gut und Böse (Severo Arcàngelo), Bewegung und Unbeweglichkeit (Geschichte und Paradies) oder in der hierogamen Rekonstruktion des Androgyns, wenn der Held sich mit der symbolischen Frau vereinigt in Analogie zur „chymischen Hochzeit" von männlichem Schwefel und weiblichem Mercurius. Das Motiv des verlorenen Phallus gehört in eine Reihe mit anderen Figuren des Verlorenen im Werk Marechals: der Gral, die hermetische Blume (in MG: „el jardín secreto donde Juan de Meung ocultó su rose y el italiano Durante su fior enigmática" sowie in AB: „la rosa evadida de la muerte"), die symbolische Frau, die verlorene Lehre oder Tradition, das Paradies, das verlorene Wort. 59 Daher nennt Marechal Lucía Febrero la Novia Olvidada und imagen de la Rosa perdida, 60 und daher heißt es über die Cuesta del Agua des BSA: una heredad perdida y olvidada, en cuyo descubrimiento y restauración estarían trabajando ahora competentes arqueólogos. 61
Das Netz der Verbindungen im Werk Marechals ist fast geknüpft. In den Traditionen der Fedeli, des Grals und des Osiris-Mythos kristallisiert sich das Gemeinsame heraus: der esoterische Charakter dieser Traditionen, der Unberufene ausschließt, der Eroberungscharakter, die solare Symbolik des Heroischen und Königlichen, die Notwendigkeit der Teilnahme der Frau, das Geheimnis der Wiederherstellung, das Zusammenfugen des Getrennten, die Erweckung des Göttlichen, das Streben nach Unsterblichkeit. In diesen Motiven tritt die Spur der latenten Bedeutung im Werk Marechals hervor. 62 Es bleibt noch, dieses Ergebnis in den Rahmen der Spannung von christlichem und heidnischem Gedankengut zu stellen.
58
Evola 1962: 244, 245 (Zitat).
59
Vgl. Guénon 1962: 287, Marechal MG 289, AB 404.
60
MG 289.
61
BSA 137.
62
Die Wichtigkeit des Heroischen hat Marechal bereits auf der Ebene der literarischen Gattungen betont: nach dem Absterben der Epik sei der Roman ein „Exilkosmos" der epischen Helden und ihrer Schicksale. Als Vorbilder des AB nannte er die Odyssee und die Aeneis - in Megafóns Revolution ist der Kampf der Ilias transponiert.
98
IV. Zeichen der Initiation
Die volle Bedeutung von Marechals „verlorener Lehre", der viuda, verrät die Symbolik der Cuesta del Agua (BSA) und Lucía Febreros (MG). Für beide Ziele gilt, was Marechal von der Cuesta sagt, beide sind kein paraíso teórico regalado a los ensueños de la imaginación, sino una realidad tangible que podía merecerse y alcanzarse. 63 Damit spielt Marechal wieder die Grundspannung zweier gegensätzlicher Welten aus: die christliche Auffassung, die das Paradies als Wirkung der Gnade verspricht, und die heroische, die es durch eigenes Verdienst erreicht. Im geschichtlichen Kontext Marechals bewahren diese beiden Erscheinungsformen der integralen Weisheit auch das Wissen um die verlorene, wiederzugewinnende patria und um die Lehre der geschichtlichen Wiederkehr: die Cuesta ist das initiatische Zentrum einer verlorenen Lehre, das immer wieder gesucht werden muß, Lucia ist die gefesselte patria, die immer von neuem befreit werden muß. Die Rettung des verlorenen
Reiches
Der Gegensatz zum Christentum äußert sich beim Gralszyklus und bei den Fedeli im königlichen Symbol des Reiches, der zu rettenden patria. Die keltischen Wurzeln des Grals reichen weit vor die Zeit zurück, in der das Christentum auf seine Darstellung Einfluß nahm. In dieser Zeit galt der Gral, der „Kessel der Fülle", als Fruchtbarkeitssymbol. 64 Danach wurde er als ein Emblem des Königtums und Rittertums interpretiert und die Christianisierung setzte ein, doch die Gralstradition wandte sich gegen die römische Kirche. 65 Die Kluft heidnischer und christlicher Tradition brach erneut auf. Evola betont: die katholische Kirche stamme direkt und ohne Unterbrechung vom ursprünglichen Christentum ab. Vom christianisierten Gral heißt es, daß er bis zur Gründung eines würdigen ritterlichen Ordens unsichtbar bleiben werde. Wenn es aber dem ritterlichen und nicht dem priesterlichen Stand zufallt, den Gral wieder sichtbar zu machen, so besage dies, daß neben der katholischen und apostolischen auch noch eine andere Tradition bestanden habe. Die Tatsache, daß Wolfram von Eschenbach die Templer (Templeisen) als Hüter des Grals betrachtet, zu einer Zeit, da die katholische Kirche den Templerorden zerschlug, 66 bestärkt die Argumentation Evolas. Für Evola ist der Kampf gegen die Templer, mit größerer Berechtigung als die Katharerverfolgung, ein Kreuzzug gegen den Gral. 67
«
BSA 136f.
64
Baumer 1991: 40, 42. Damit teilt der Gral als Fruchtbarkeits- und Auferstehungssymbol den doppeldeutigen Charakter des Osiris.
«
Evola 1982: 121 sowie Evola 1977: 107, 109, 253-255.
66
Baumer 1991: 51.
«
Vgl. Evola 1977: 219.
1. Symbolum Ghibellinum, Gral und Osiris-Mythos
99
König Artus ist eine jener Retterfiguren, die wie Kalki, Christus, Quetzalcóatl oder Barbarossa zurückkehren werden, um ein verlorenes imperituri wiederherzustellen. Die Fedeli und die Gralsritter treffen sich im Mythos des Verlorenen, und Marechal entwickelt sich von Adán Buenosayres und Banquete zu Megafón: war für AB und BSA das verlorene Wissen und die verlorene Lehre der Fedeli ausschlaggebend, so muß in MG die verlorene patria, das symbolum ghibellinum, gerettet werden. Der volle Sinn des Beinamens von Lucía Febrero erschließt sich: die Novia Olvidada ist nicht nur verlassene Braut, sie ist auch in einem anderen Sinn eine Verlassene, eine „Witwe" oder vedova, die auf den cavalier meritato wartet - als Verkörperung der verlorenen patria. Diese Entwicklung Marechals deckt sich mit Evolas Kritik, der die Fedeli trotz initiatisch-ghibellinischer Züge im Gegensatz zu den Gralsrittern als eine in Auflösung begriffene Form betrachtet. Bei der kontemplativen Ausrichtung der Fedeli auf das Wissen handle es sich, so Evola, eher um eine platonisierende Initiation als um eine königlich-kriegerische, die allein die zwei Schwerter, das kriegerische und das priesterliche, verbinden könne. In seiner Untersuchung über Guénon und Evola bemerkt Cologne dazu kritisch, Evolas Ghibellinismus und sein Primat des Kriegers seien bereits eine Umkehrung der traditionellen Norm, wie sie Guénon verkörpere, doch immerhin ein Ghibellinismus, da Evola die gemeinsame übernatürliche Quelle beider Kräfte und ihre notwendige Synthese erkenne. Die Rolleninversion der Fedeli - die Frau als Antriebsmoment des Mannes - sei die Entsprechung dieses heterodoxen Ghibellinismus. 68 Dante und die Fedeli sind noch dem Christentum verhaftet, die Alchimie ist es nicht mehr. Marechal hat neben die Fedeli die Alchimie gestellt und in der Figur Megafóns eine Entscheidung getroffen: es ist der Kshätriya oder Krieger, der die gestörte irdische und himmlische Ordnung versöhnt und nicht der Brahmane oder Priester. Der aktive Weg wird dem kontemplativen vorgezogen und Lucía Febrero, das weibliche Prinzip, treibt Megafóns Schlachten an. Damit hat sich Marechal gegen Guénons Supremat des Priesters 6 9 und für Evolas Supremat des Kriegers entschieden. Cologne urteilt ausgewogen, Heidentum und Christentum seien für Evola zwei Widerspiegelungen der einen traditionellen Geistigkeit, der Vorrang des Kriegertums sei letztlich - wie Evola selbst hervorhebe - eine Temperamentssache. Im Rahmen der weltanschaulichen Spannungen bei Marechal deutet sich eine ähnliche Entscheidung an: die Wahl einer nichtchristlichen Konzeption. In einer Zeit, wo „las aceleraciones del siglo parecen contraer ahora el Tiempo histórico del hombre", 7 0 fugt sich das Schicksal des Einzelnen und des Vaterlands in die Reihe der Motive des Verlorenen ein. Die patria wartet auf den uranischen re-
Cologne 1978: 84, 86. 69
Siehe Guénon, u. a. 1930: 157.
70
MG 8.
IV. Zeichen der Initiation
100
staurador, der ihr die irdische und himmlische Bestimmung zurückerstattet. Evola umreißt mit Kampfers Die deutsche Kaiseridee in Prophetie und Sage (1896) den danteschen Ghibellinismus in De Monarchia: Mit demselben überhistorischen Inhalt, als von der Vorsehung geschaffene, universale, übernatürliche Institution, als remedium contra infirmitatem peccati, um also die gebrechliche, menschliche Natur aufzurichten und die Menschen zum ewigen Heil zu führen, trat der Gedanke des Reiches im gibellinischen Mittelalter nochmals in Erscheinung... 71 Lucia Febrero ist die Freiheit in Ketten, „un canto a la libertad", Variante des in der Materie gefangenen Göttlichen. In ihrer Gestalt fließen die Traditionen zusammen: die verlorene Lehre der Fedeli, der „spirito vero del Cattolicismo", 72 der Gral, der nur berufenen Helden sichtbar wird, die symbolische Frau, die die Vollendung der Aufgabe des Helden bewirkt, das bedrängte Vaterland, das auf seine Wiederherstellung (Veltro, Kalki, Artus, Barbarossa etc.) wartet. Hier liegt der Grund für die Vernetzung von symbolum ghibellinum, Gral und Osiris-Mythos. Dante selbst zieht in Vita Nuova, die Marechal als einen seiner Schlüssel bezeichnete, die Verbindung zwischen verlorener Frau und verwitwetem (!) Gemeinwesen: Poi che fue partita [Beatrice] da questo secolo, rimase tutta la sopradetta cittade quasi vedova dispogliata da ogni dignitate; onde io, ancora lagrimando in questa desolata cittade, scrissi a Ii principi de la terra alquanto de la sua condizione, pigliando quello cominciamento di Geremia profeta che dice: Quomodo sedet sola civitas. 73 Wie einsam liegt die Stadt. So wie die Suche nach Lucia Febrero weitergeht, wie der unsichtbare Gral auf die Ankunft eines neuen, würdigen Geschlechts wartet und wie sich die Auferstehung des Osiris in den ägyptischen Herrschern fortsetzt, geht auch für Marechal die Geschichte nicht zu Ende.
2. Alchimie, Geschichte, Heldentum Eine werkexterne
Bestätigung
Zu den von Marechal gezielt einbezogenen esoterischen Traditionen gehört neben der Gralssage besonders die alchimistische Tradition. Marechal gibt gern seine Deutungsschlüssel preis - aber eben nicht alle. 74 Es gilt, das zu entschlüsseln, was der
71
Evola 1982: 57f.
72
Valli 1928: 387.
w
Vita Nuova XXX (in Dante 1988: 92).
74
Auch Marechals Hinweise auf Rabelais und Cervantes' Don Quijote (in „Claves", CN) können auf alchimistischem Hintergrund verstanden werden. Der Alchimist Fulcanelli (von Sábato und Cortázar in ihren Romanen erwähnt) zählt diese Autoren zu den Initiierten. Vgl. Fulcanelli 1973: 357.
2. Alchimie, Geschichte, Heldentum
101
Autor nicht ausspricht, aber zeigt. Bevor die Vernetzung der initiatischen Traditionen zu Ende geführt wird, möchte ich deren Bedeutung für Marechal objektivieren. Gibt es neben werkinternen Indizien andere, außerliterarische Fakten, die die Bedeutung der Alchimie für Marechal über die eines literarischen Ornaments hinausheben? Die Tragweite der alchimistischen Ebene erweisen biographische Belege, die der Forschung bis jetzt nicht bekannt sind: Marechal, berichtet Rafael Squirru, war bereits zur Zeit der Abfassung des AB mit einem schottischen Spezialisten für Alchimie, Michael Innes, befreundet, der eine umfangreiche Bibliothek alchimistisch-hermetischer Literatur besaß. 75 Catherine Kavanagh bestätigt diesen Sachverhalt, auch sie hat mit Innes - über Alchimie - gesprochen und die Bibliothek gesehen. 76 Marechals zielgerichtete Suche nach dem Buch Vallis, seine Beschäftigung mit esoterischen Lehren - eine, wie auch immer geartete, Verbindung zu Evola - werden nun plausibel. Marechal erwähnt die Alchimie bezeichnenderweise in seiner Selbstinterpretation der „Claves de Adán Buenosayres" (CN) nicht. Die subtilen Handlungsstränge und Symbole im Werk zeigen jedoch, daß die Spur genau hier verläuft. Die Hinweise Squirrus und Kavanaghs räumen, zusammen mit den esoterischen Andeutungen des Autors über sein Werk, extern jeden Zweifel an der alchimistisch-esoterischen Hypothese aus. Alchimistisches
Königtum
Der Sinn der Traditionsvernetzung von Fedeli, Gral und Osiris-Mythos hat sich im Bild der verlorenen und wiederherzustellenden patria, einem Zeichen der Geschichtsbejahung, erwiesen. Kann auch die alchimistische Ebene - als initiatisches Paradigma ersten Ranges im Werk Marechals - unter diesem Gesichtspunkt erfaßt werden? Damit wäre eine Konvergenz aller wesentlichen traditionellen Elemente Marechals nachgewiesen: die eine Botschaft, die mit der Vielfalt der Welt konfrontiert wird. Diese latente Botschaft bestünde in der Annahme einer Geschichte, die fortdauert und von geschichtsschaffenden Individuen gestaltet wird. Das Studium der alchimistischen Bezüge in den drei Romanen Marechals konzentriert sich daher auf den Aspekt des aktiven, heroischen Elements, das bereits bei den anderen Traditionen hervorgehoben wurde. Die Alchimie selbst, als geheimes Wissen von der Umwandlung der Metalle und der psychischen Verfassung des Alchimisten, kann hier weder in ihrer praktischen noch ihrer psychologischen Reichweite erörtert werden. Außerdem besitzen wir nur eine vage Vorstellung von den praktischen Versuchen, die vielleicht noch in chemischer Terminologie beschreibbar wären, deren theoretische Grundlage aber moderner Auffassung zuwiderläuft. Über die Ursachen und Me-
75
Siehe das Interview mit Rafael Squirru in Materialien (B) § 2: 313.
76
Siehe hierzu die Schilderung Catherine Kavanaghs in Materialien (B) § 2: 317.
IV. Zeichen der Initiation
102
chanismen der geistigen Veränderungen des Adepten gibt es noch weniger gesicherte Kenntnisse. Was uns als Zeugnis vorliegt, ist der Versuch der Alchimisten, diese Vorgänge in Worte zu fassen: wir kennen die Terminologie der Alchimie, ihre Bilder und Gleichnisse und deren Verknüpfungen. Und der Niederschlag der Alchimie in der Weltliteratur bezeugt die ungebrochene Anziehungskraft ihrer Symbolik. Gestützt auf das Material der alchimistischen Terminologie, Bilder und Gleichnisse im vorliegenden literarischen Werk, soll die Bedeutung der Alchimie bei Marechal geklärt werden. 77 Flüchtig betrachtet, mag die Verbindung Marechals zur Alchimie und Initiation gelegentlich assoziativ oder willkürlich erscheinen. Dieser irreführende Eindruck rührt daher, daß Marechal dem Leser die Resultate seiner alchimistischen Studien in literarisch verdichteter Form vorlegt. Der hier eingeschlagene Weg muß daher zu den alchimistischen Quellen zurückgehen, sie erläutern und von dort aus den Bogen zu Marechals Werk zurückschlagen. In der Phase der Erläuterung mag der irrtümliche Eindruck entstehen, daß es sich nur um entlegene Korrespondenzen handle. Die eindeutige Anwendbarkeit des alchimistischen Gedankenguts auf das literarische Werk wird aber nach jeder dieser Ausführungen belegt. Marechals Hang zur Esoterik und zur Verschlüsselung seiner Aussage - das sei vorweggenommen - ist so stark, daß er die Erzähltechnik, die Lebendigkeit der fiktiven Charaktere und des Konflikts beeinflußt. 78 Hätte Marechal nicht so intensiv an seine esoterischen Schlüssel gedacht, hätte sich die spezifische Erzähltechnik des Romans freier entwickelt - die sprachliche Kapazität und die nötige Schöpferkraft besaß der Autor. Umgekehrt verweist gerade die Unterordnung der Erzähltechnik auf das Übergeordnete: die Existenz einer initiatischen Ebene. Manche Deutungen der Alchimie verstehen die Metall-Symbolik vorwiegend materiell, wie Federmann oder Pauwels und Bergier, andere vorwiegend immateriell, ohne dabei den materiellen Aspekt auszuschließen, wie Evola. Ich stütze mich hier vorwiegend auf Evola, da es bei Marechals alchimistischen Spuren um den immateriellen Aspekt geht, und da mit dem Primat des Kriegers eine wesentliche Verwandtschaft zwischen Marechal und Evola vorliegt. Diese Polarisation Guenons und Evolas - Priester oder Krieger - überträgt sich auch auf ihre Interpretation der Alchimie. Evola, der den königlichen Charakter der Alchimie unterstreicht, scheint dabei die objektiveren Gründe auf seiner Seite zu haben. Heldentum und Alchimie begegnen sich im aktiven Charakter der Eroberung des Weiblichen und des lapis, des alchimistischen „Steins der Weisen". Die Alchimie zielt bereits in ihren Emblemen Sonne und Gold auf die Idee des Königtums und
77
Auf alchimistische Indizien sekundärer Bedeutung im literarischen Werk wird in Fußnoten verwiesen, Hinweise primärer Ordnung erscheinen in der üblichen Zitierweise.
7
Siehe unten, Kap. VI: §§ 7-8.
«
2. Alchimie, Geschichte, Heldentum
103
der Unsterblichkeit. Der königlich-kriegerische Zugang zur Alchimie entspricht nicht Guénons Konzeption. Hätte Guénon mit seinem Primat des Priesters recht, sollte das alchimistische Werk oder opus magnum in der weißen Stufe (albedo) enden, denn Weiß ist die Symbolfarbe des Priesters. Der höchste Zustand des Werks besteht aber in der sogenannten rubedo, dem königlichen Purpur des Roten Werks, und damit bestätigt sich Evolas Auffassung. 79 Nicht umsonst nannte sich die Alchimie ars regia und eines ihrer Bilder ist der Zugang zum verschlossenen Königspalast; sie versteht sich als „königliche Kunst", und wir werden sehen, daß auch Marechal die alchimistische Symbolik als königlich-heroische auffaßt. Der Ablauf des opus soll bei richtiger Handhabung natürlichen Gesetzmäßigkeiten gehorchen. Ein alchimistischer Spruch besagt: „Nur die Natur siegt über die Natur." Erst jetzt wird die deterministische Natur der Unternehmungen in BSA und MG, die „Rolle im Welttheater", das „vorgefertigte Libretto", der arithmetisch exakte „Plan der Meister", verständlich. Der Determinismus in Marechals Schicksalskonzeption erscheint unter der Interpretation eines natürlichen und notwendigen alchimistischen Prozesses nicht mehr ausschließlich im Lichte christlicher Prädestinationslehre. Das alchimistische Werk verschränkt den exoterischen chemischen Aspekt der Metalltransformation mit dem esoterischen der Selbstwerdung des Adepten, seiner Umwandlung in das Symbol eines göttlichen Mysteriums. Das Ziel des opus wird als „Stein der Weisen" (lapis), „Phönix", „Elixir", 8 0 „unser Gold" oder „unser König" bezeichnet. Der lapis muß aus der Materie, in der er latent ruht, erweckt werden. Die alchimistische Bildlichkeit vergleicht das mit einem totenschlafahnlichen Zustand, den sie Osiris oder Saturn (König des Goldenen Zeitalters) nennt. Die psychische Transformation des Alchimisten, die Vergöttlichung (deificatio), läuft parallel zur Metalltransformation: dem chemischen Prozeß der Auflösung und Neuzusammensetzung der Metalle entspricht Zerstückelung, Tod und Neugeburt eines Gottes. Die Alchimisten griffen hier auf den Mythos von Tod und Wiederauferstehung des Osiris zurück. 81 Die Parallele zu Marechal und sein bewußter Einsatz alchimistischer Bilder und Vorgänge ist eindeutig: der Autor überträgt den alchimistischen Trennungsprozeß auf die Zerstückelung und die Wiederauferstehung des Gottes in OsirisMegafón. Der alchimistische Held befreit sich durch Kampf und Tod aus der Gefangenschaft der Materie. Er gehört dann dem Geschlecht von Meistern an, die die hellenistischen Alchimisten als Königsfreie bezeichneten. Diese besitzen keinen König, weil sie selbst Könige sind. Die Alchimie versteht den Weg zur Vollendung des opus als Reise - bei Marechal fuhrt die Reise zur Suche nach dem Verlorenen. Jung erläutert die von den Alchi79
So das Argument H. T. Hansens im Vorwort zu Evola 1989: 13, 217.
80
Siehe Marechal AB 600: „fons juventutis".
81
Brockhaus Enzyklopädie, Bd. 1, Mannheim: F. A. Brockhaus, 1986: 328.
IV. Zeichen der Initiation
104
misten gezogene Analogie des lapis mit dem Kreuz und seinen vier Kardinalpunkten. Dieses Motiv werde, so Jung, in der alchimistischen Literatur häufig durch das der Reise ersetzt: die Wanderungen des Osiris, die Abenteuerzüge des Herakles, des Jason, Alexanders des Großen etc. 82 In Marechals BSA tritt die alchimistische Symbolik klar hervor: die Vorbereitungen des Banketts entsprechen der alchimistischen Reise durch das Labyrinth der Materie, und „El maestro" Pablo Inaudi und die anderen maestros aus Marechals Bankett sind die Königsfreien, die Meister der königlichen Kunst. Die Eroberung der
Unsterblichkeit
Es ging der Alchimie keineswegs nur darum, das „gemeine" Gold herzustellen. Die Transmutation unedler Metalle in tatsächliches Gold galt für den Eingeweihten vielmehr als Beweis dafür, daß er das geistige Gold, die Sonne und das Königtum in sich selbst vollbracht hatte. 83 Nach beendetem Werk hat er sich verwandelt: dem Gold entspricht der Zustand der Selbstwerdung, der stofflichen Vollkommenheit die geistige. Daher besteht Samuel Tesler in Megafón auf dem Zusatz der veram medicinam zur Chiffre VITRIOL, die bedeutet Visita Interiora Terrae: Rectificando Inventes, Occultum Lapidem, denn es geht natürlich auch Marechal um die echte, geistige Alchimie und ihre Arkansubstanz, die sogenannte vertías. 84 Das Motiv des Echten, Wahren und des Falschen wird folgerichtig für MG entscheidend. Marechal sagt nicht, er zeigt: die Entlarvung des falschen Alchimisten Siebel verweist auf die wahre Alchimie, die falsche Lucia Febrero (die Frau Siebeis) auf die wahre. 85 Auch die Gralssage spielt mit einer Variante des Wahr-Falsch-Motivs: Marechals falsche Lucia erinnert im Artuszyklus an die „falsche" Isolde, jene Isolde la Blanche Mains, die Tristan heiratet, ohne die wahre Isolde je vergessen zu können. 86 Die metaphysische Bedeutung der Alchimie kann man mit einem Bild Cesare della Rivieras veranschaulichen. Nachdem der Mensch des Paradieses die Erkenntnis erlangt hatte, erkannte er seine tragische Unvollkommenheit: den Verlust der Un-
82
Siehe Jung 1990: 421 f.
83 Evola 1982: 95, 229. 84
Marechal MG 175 und Jung 1990: 311. Die lateinische Chiffre, die Basilius Valentinus erklärt, wird von Evola 1989: 53 wiedergegeben: „Besuche das Innere der Erde (= Körper) und beim Rektifizieren (= Konzentration einer Flüssigkeit durch Destillation), findest Du den verborgenen Stein."
85 Marechal verdeutlicht den Unterschied zwischen echter und falscher Alchimie in MG 176. Dort entlarvt Tesler den falschen Alchimisten Siebel, der nur das gemeine Gold, nicht seine geistige Form, herstellen will: „¿Cree usted que la »piedra oculta« brotará de su caldo gallego? [...] ¡Si quiere la »piedra«, usted mismo ha de ser el mercurio, la sal y el azufre! [...] Que deberá meterse usted mismo dentro del vaso, achicharrarse, disolverse y coagularse hasta obtener la sublimación." Mit Merkur, Salz und Schwefel ist Geist, Körper und Seele gemeint. 86
Thomas Malory, König Artus. Die Geschichten von König Artus und den Rittern seiner Tafelrunde, Buch VIII, Kap. 36.
105
2. Alchimie, Geschichte, Heldentum
Sterblichkeit. Die Aufgabe des (alchimistischen) Helden ist die Eroberung des zweiten Baumes von Eden. Marechals Wahl des Kriegerischen vor dem Kontemplativen kann nun in ihrer ganzen Tragweite erfaßt werden. Cesare della Riviera schreibt 1603 in II mondo magico de gli heroi über das alchimistische Heldentum: Ma perche, corno riferisce Luciano ne' Dialoghi morali, gli Heroi, non essendo solo huomini, nè solo Dei, vengono ad essere e l'uno, e l'altro insieme, e però detti Semidei [...]; perciò vien dato loro un propio Orbe [...]; il quale sarà quel mistico, e secondo Giardino delle dilicie, che sopra s'è detto; e dal cui centro nasce il mistico nostro legno vitale [ . . . ] e solamente al felice Heroe magico si dimostra, e da lui è gloriosamente posseduto, godendo, e fruendo egli il salutifero legno della vita, nel centro di questo Orbe posto. 8 7
Das alchimistische Werk vollzieht eine stufenweise Reinigung und Vervollkommnung der gemeinen Elemente zu edlen. Der menschliche Körper dient als Ausgangspunkt für die Geburt eines neuen Leibes. 88 Somit könnte man das Ziel der Alchimie in Analogie zum verklärten Leib Jesu 89 als Rückeroberung der Unsterblichkeit und als Rückgabe eines sündenlosen, vergöttlichten Leibes an den Menschen umschreiben - eben als Eroberung des zweiten Baumes. 90 Männliches
und
Weibliches
Aus der aristotelischen Theorie der Elemente und ihrer Mischungen entnahm die Alchimie den Begriff der materia prima: die vier Elemente Wasser, Erde, Luft und Feuer sind Zustandsformen dieser eigenschaftslosen Urmaterie, in die jeder unedle Ausgangsstoff zunächst zurückgeführt werden muß. 91 In Marechals Werk ist es die Figur der symbolischen Frau, die als materia prima der Vollendung des Mannes dient. Nach alchimistischer Auffassung wird die materia prima von den Prinzipien des Männlichen (Schwefel) und Weiblichen (Mercurius, i.e. Quecksilber) beherrscht. Das männliche Element des Schwefels wurde assoziiert mit Feuer, Phönix, Geist, Gold, Osiris, König, Sonne und das weibliche Element des Mercurius mit Wasser, Adler, Seele, Silber, Isis, Königin, Mond. Diese Gegensatzbeziehung läßt sich auf das symbolische Paar Held und Frau übertragen, das sich bereits in IV § 1 bei der Untersuchung des Einflusses der Fedeli d'Amore auf Marechal zeigte. Wie die Frau der Fedeli ist auch das alchimistische
87
Deila Riviera 1603: 14.
88
Siehe Evola 1989: 185, 194.
89
Matth. 17: 1-13, Mark. 9: 2-13, Luk. 9: 28-36.
90
C. Thiel verweist in seinem Enzyklopädie-Artikel Alchemie darauf: als eigentliches Ziel des alchimistischen Prozesses „wird in der frühen chinesischen A. und der etwa gleichzeitigen indischen A. (ca. 8. Jh. v. Chr.) ausdrücklich die Schaffung eines unsterblichen »Diamantenleibes« genannt [...], den die spätere gnostische und christlich beeinflußte neuplatonische A. als den verklärten Auferstehungsleib bezeichnet". Siehe Thiel 1980: 71f.
91
Brockhaus Enzyklopädie, Bd. I, Mannheim: F. A. Brockhaus, 1986: 328.
106
IV. Zeichen der Initiation
weibliche Prinzip Prüfstein und Komplement des männlichen. 92 Daher benutzten besonders die mittelalterlichen Alchimisten, ebenso wie die Fedeli d'Amore, Bildhaftigkeit und Sprache der Liebe, um dahinter ihre eigenen Inhalte zu verbergen. Die Mischung der Stoffe, die chymische Hochzeit von Mercurius und Schwefel, erzeugt jenen Stein, dessen Namen - Elixir, Androgyn, Rebis, König und Königin - seine Wirkung andeuten: Unsterblichkeit und Einheit der Gegensätze, der magische Held, der den Baum des Lebens zurückerobert. Marechal hat dies literarisch transformiert: alle Gäste des Banketts erkennen in einer Variante der symbolischen Frau, der Witwe Thelma Foussat, die Frau ihrer Wünsche, und Lucía Febrero übermittelt Megafón den initiatischen Gruß, das io son Ella der Fedeli. Sind die zwei Prinzipien getrennt, beherrscht nach der alchimistischen Lehre das Männliche das Weibliche oder umgekehrt. Die Herrschaft des Männlichen, der Sonne, bedeutet uranisches Sein und Vollendung. Die Herrschaft des Weiblichen, des Wassers, bedeutet die Auflösung in der Welt des Werdens. Diese alchimistische Lehre wird bedeutungsvoll für das Geschichtsverständnis Marechals, denn die „Welt des Werdens" ist die Welt der Geschichte. Hier wird wieder die Kluft zwischen initiatischer und mystisch-religiöser Auffassung sichtbar. Den Unterschied zwischen Mystik (Religion) und Initiation macht Evola davon abhängig, ob die Auflösung als Überwundener erlebt wird, wie in der Mystik, wo die Seele in „ekstatischer Ununterschiedenheit" im anderen aufgeht, oder als Überwinder, wie in der hermetisch-alchimistischen Vorstellung. 93 In der alchimistischen Phase der Auflösung findet eine Umkehrung der Verhältnisse statt. Zuerst muß sich das Feste (Mann, Sonne, Feuer, Ich etc.) einer Auflösung in den weiblichen Wassern unterziehen. Diese Phase wird bildhaft ausgedrückt etwa durch den grünen Löwen, der die Sonne verschlingt. 94 Dann jedoch überwindet das Männliche wieder das Weibliche und beherrscht es. Wie in jeder Initiation ist das männliche Element erlebend und aktiv, nicht passiv, wie die weibliche Seele des Mystikers. Daß Marechal bereits im „katholischen" Roman AB alchimistische Symbolik, wie den grünen Löwen, bewußt einsetzte, bezeugt diese Stelle: Pero Abraham el Judío fabricó un oro auténtico, y vio en su athanor la gran obra cumplida: el León Verde y la Sangre del León. 95
In MG befragt Tesler den falschen Alchimisten über Sachverhalte der wahren Alchimie:
92
MG 182: „LaNovia Olvidada no es una mujer de la literatura [...] es una mujer de la filosofía." m Evola 1989: 96-99. 94 Zum grünen Löwen, einem Zustand bei der Transformation des Mercurius, vgl. Jung 1990: 380, 479, Evola 1989: 96-99 und Fulcanelli 1973: 356. 05 AB 307f, H. d. A.
2. Alchimie, Geschichte, Heldentum
107
dígame si alcanzó ya la excelencia del león verde, o si todavía está mortificando el mercurio vulgar unido a la sal común y al vitriolo! 96 Die konstante Betonung der wahren Alchimie durch Bilder und Embleme, die nur dem wahren Alchimisten zukommen, spricht dafür, daß die alchimistischen Zeichen Marechals mehr sind als nur atmosphärisches Beiwerk.
Alchimistische Bedeutung der Geschichte Der Kreis der traditionellen Elemente im Werk Marechals schließt sich. Der Mythos von Tod und AuferAbb. 5: Der grüne Löwe: die Verwandlung des Mercurius stehung des Osiris eröffnet den Sinn
der alchimistischen Operationen und der Metaphorik Marechals: die Befreiung des Göttlichen aus der Materie und die Wiedergeburt des Gottes aus dem Menschen kann nur durch die Welt des Werdens und der Geschichte erreicht werden. Die Auflösung in den weiblichen Wassern wird alchimistisch auch das Grab des Osiris genannt. Darin liegt für Marechal, der in Megaföns Zerstückelung das OsirisModell nachbildet, das Geheimnis jener Mythen, in denen Wesen zerstückelt werden, darin liegt aber auch die hermetische Bedeutung der Geschichte: die Auflösung im Werden ist notwendig, um an das Ziel zu gelangen. Nach den Alchimisten muß die Materie auf der Ebene der chemischen Elemente bzw. Metalle solange durch Reinigungen erschöpft werden, bis eine günstige Konstellation der Gestirne das Außergewöhnliche eintreten läßt. Im heroischen Kontext Marechals muß der Held (Farias, Megafön) durch seine Taten solange gereinigt werden, bis er der Initiation würdig ist. Auf der esoterischen Ebene geht daher der Wiederauferstehung der Tod voraus, die mors triumphalis, oder, wie Marechal sagt, „la muerte gananciosa". 97 Erst der 96
MG 173, H. d. A. Die Abbildung 5 (Quelle: Jung 1990: 380) aus dem Rosarium rum (1550) zeigt: „Der grüne Löwe, die Sonne fressend".
97
Trotz der Möglichkeit, Adäns noche oscura, sein Erbrechen bei der Gerberei, als mystische purgatio zu interpretieren, ginge die für das Gesamtwerk wesentliche alchimistische Dimension verloren, wiese man nicht auf die spezifisch alchimistische Bedeutung dieser Stelle hin. Fulca-
philosopho-
IV. Zeichen der Initiation
108
Eingang in das Grab (die Auflösung) ermöglicht die Rückkehr zur ursprünglichen Ordnung. Im Banquete lesen wir: „ solvemus, putrefacemus, sublimemus ". 98 Nach dem Tod (der grüne Löwe, das Grab des Osiris) im alchimistischen Schwarzen Werk und der Wiedergeburt im Weißen Werk wird sich die Ordnung in der letzten Stufe des Roten Werks wiederherstellen: das männliche herrscht wieder über das weibliche Prinzip. Erst jetzt wird der tiefere hinter dem mokanten Sinn von Megaföns Bemerkung verständlich: La mujer [...] es la substancia o lo que »estä debajo« (sub stare).99 Damit erklärt sich die eher passive Rolle, die Marechal der Frau zudenkt, aus der uralten Geschlechtersymbolik der Alchimie. Marechal übernimmt auch manche Züge der alchimistischen Metallsymbolik. Nach traditioneller Vorstellung halten die Alchimisten das Eisen für den wertvollsten Stoff, um Osiris, Saturn bzw. das latente Gold, die im Körper des Eingeweihten schlafen, zu erwecken und die Rückkehr zum Goldenen Zeitalter zu bewerkstelligen; nur das Metall des Kriegsgottes Mars berge die spirituelle und heroische Kraft, die das Gold entstehen läßt. 100 Marechal erwähnt mehrmals die „lanza de Marte [...] que destruye para reconstruir". 101 Das alchimistische Bild der Metallzeitalter erscheint in Marechals Metallmenschen im Banquete, die verschiedene Zeitzyklen vertreten. Die Alchimie setzt für diese Zyklen auch das Bild der Jahreszeiten (die Samen- und Erntesymbolik) oder das Bild des Abstiegs und Aufstiegs der Seele durch die Sphären der Planeten und ihre Rückkehr zur göttlichen Sphäre der Fixsterne. Diejenigen, die dorthin gelangen, haben den Strom in umgekehrter Richtung bezwungen. 102 Auf dieses Strombild aber spielt Marechal an: El surubi le dijo al camalote: »No me dejo llevar por la inercia del agua.
nelli 1973: 346f beschreibt die Reise Flamels, den Marechal in MG 173 erwähnt: „El buen guía, muere, víctima de los grandes vómitos que había sufrido en el agua [...] Estos vómitos del azufre son los mejores indicios de su disolución y mortificación" (H. d. A.) Es bestätigt sich nochmals: eindeutig alchimistische Bezüge gibt es bereits in dem gewöhnlich als christlich eingestuften AB. 98
BSA 144. Mit den Begriffen der solutio, putrefactio und sublimatio werden drei der sieben Stufen des opus bezeichnet.
99
MG 190.
100
Evola 1989: 118. Fulcanelli betrachtet ebenfalls das Eisen als einzigartig geeignet, um aus seinem sterilen und kalten Charakter das latente Feuer, den grünen Löwen, hervorzubringen. Fulcanelli 1973: 356. Ebenso Evola 1989: 206-214.
i°> AB 183, MG 350. 102
Vgl. Evola 1989: 83ff. Siehe auch das Evangelium des Gnostikers Valentinus, das den Fall der Sophia beschreibt. Marechal symbolisiert die Bewegungen der Seele als Spirale, siehe DA 57 und oben, Kap. III § 1, Abbildung 2: 45.
2. Alchimie, Geschichte, Heldentum
109
Yo remonto el furor de la corriente para encontrar la infancia de mi río«.103 Im Zustand kosmischer Unsterblichkeit befinden sich diese Meister oder Königsfreie jenseits des Paradieses, jenseits der Zyklen von Kosmogonie und Götterdämmerung in jener concentración definitiva, die Maréchal den Meistern der Cuesta del Agua zuschreibt. 104 Das Boot, mit dem Megafón das Château des Fleurs einnimmt, heißt in klarer Anspielung auf den Sinn des Strom-Gedichts „Surubi". Fall und Aufstieg, Auszug und Heimkehr, Vielheit und Einheit sind Konstanten in Marechals Werk. Die indische Lehre erfaßt diese Motivkette mit dem Bild der Wandlung vom Nicht-Manifestierten zur Manifestation. Maréchal bildet es wörtlich nach im „metaphysischen Erwachen" von Adán Buenosayres, Farias und Megafón. Die indische Lehre behauptet, aus der Zweiheit des männlichen und weiblichen Prinzips (Purusha und Prakriti) sei die Erscheinungswelt hervorgegangen, Megafón und Patricia wollen diese Bewegung rückwärts gehen und die Einheit des „ursprünglichen Androgyns" wiederherstellen. Die indische Lehre des Atems spricht von der Bewegung der Konzentration und Expansion, Maréchal setzt sie um in einen ascensus und descensus seiner Helden, in die concentración y desconcentración der Seelen seiner Protagonisten oder in die Theorie der Konzentration und Expansion der Galaxien in BSA. Weiter entspricht in der alchimistischen Jahreszeitensymbolik das Schwarze Werk dem Winter, das Weiße dem Frühling, das Rote dem Sommer und das Goldene als Endzustand des Roten Werks dem Herbst. Von Megafón heißt es, er habe bewußt die Jahreszeiten seiner Operationen ausgewählt, und sein Tod fallt in den Herbst, den Monat der Vollendung. 105 Das Gold ist der Samen des Goldes, sagten die Alchimisten und meinten, daß der Körper des Menschen alle Elemente enthält, die zur Vervollkommnung nötig sind. Maréchal sagt über Megafóns Körper, er trage den Samen künftiger geschichtlicher Veränderungen in sich: ¡Ciudad que recompensas a tus héroes quemados sólo con el destierro y el olvido de la muerte! Aquí está Megafón: sepultado en tu tierra, será el germen que anime las futuras batallas.106
103
Siehe CN 141. Hier zitiert Maréchal die Stelle aus seinem Heptamerón, Maréchal 1966c: 135. Vgl. auch Evola 1989: 85. In BSA 138 bemerkt Farias: „Es como si, de pronto, lo arrancasen a uno de las contingencias del siglo, para llevarlo a ciertas fuentes olvidadas, en un regreso matinal."
104
Evola 1989: 216f, Maréchal BSA 170.
105
MG 288: „elegí una primavera y un otoño para desarrollar las escaramuzas terrestres que han integrado mi combate". Vgl. Evola 1989: 238.
106
MG 350.
IV. Zeichen der Initiation
110
Marechal bleibt nicht bei einer einmaligen und endgültigen Überwindung der Welt des Werdens, wie sie sich in einem individuellen initiatischen Schicksal vollziehen kann, denn er ist von der Rückkehr der Geschichte überzeugt. Die Romane MG und BSA bekräftigen: immer wieder entbrennt der Kampf, immer wieder ziehen Dichter und Helden zur Suche nach Lucía Febrero aus, und immer wieder vollzieht sich das Geheimnis der „zweiten Geburt": Al cerrar mi novena rapsodia, también doy fin al relato de los hechos que atañen a la Novia Olvidada y al Amante Perdido, cuya leyenda no terminó aquí. Tres mundos en superposición o tres barrios en escalada integran a Buenos Aires la ciudad de la paloma. En alguno de los tres vive aún y vivirá Lucía Febrero al alcance de los poetas que la busquen. 107
Auf dem Hintergrund alchimistischer Symbolik behauptet Marechal den Fortbestand der Tat, des Kampfes und der Geschichte. Das alchimistische »opus« in den Romanen
Marechals
Viele Hinweise Marechals deuten darauf, daß Vorgänge der drei Romane dem Ablauf des opus entsprechen. Der alchimistische Ansatz erweist sich somit als fruchtbare Hypothese, um eine Vielzahl von Bezügen aufzudecken, die ohne ihn verborgen bleiben würden und ein einseitig-verzerrendes Verständnis Marechals bedeuteten. So kann schon Adán Buenosayres als opus magnum und mortificado des autobiographischen Helden verstanden werden. Adán gesteht einem Freund, er kämpfe seit einiger Zeit mit einem Engel. Der Kampf Jakobs mit dem Engel aber wurde von den Hermetikern als Kampf um den lapis gedeutet, dessen flüchtige Beschaffenheit sie in der Bezeichnung „Engel" zum Ausdruck brachten.108 Diese Detailübereinstimmungen allein wären jedoch zu wenig, um Marechals alchimistische Ebene nachzuweisen. Gibt es noch aussagekräftigere Anhaltspunkte? Die Darstellung von Adáns Lektüre hermetischer Bücher in Holland ist die eines leidenschaftlichen Kampfes um die Initiation eines Wissens, das nicht unbedingt das christliche ist: Tu régimen de vigilia y de sueño no acataba ley ninguna, como no fuese la que le imponían aquellas lecturas dolorosas: eran libros de ciencias olvidadas, herméticos y tentadores como jardines prohibidos; y te habían revelado ya la noción de un universo cuyos límites dilatábanse hasta lo vertiginoso, en una sucesión de mundos ordenados como las vueltas de una espiral infinita. 109
Der Adept gerät an den Rand des Nichts, der Todesphase des Schwarzen Werks:
107
MG 345. le» Evola 1989: 181. 109
AB 333. Zum Teil bereits in IV § 1 im Zusammenhang mit Marechals Hollandreise zitiert. Hat Marechal hier die Einweihung in derartige Studien durch Michael Innes nachvollzogen? Vieles spricht dafür.
2. Alchimie, Geschichte, Heldentum
111
Pero tu razón trastabillaba en aquella floresta de símbolos que no se habían trazado para ella; y disminuía tu ser, en progresivo aniquilamiento, a medida que la noción de aquel macrocosmo gigante se dilataba frente a tus ojos.110 Er verzweifelt über der Suche nach Befreiung: Cierto es que se te proponía una ruta de liberación, mediante la cual tu ser abandonaba el círculo de las formas; pero las vías eran tan oscuras y tan indescifrables los itinerarios, que tu razón acababa por desmayar sobre los libros.111 Die Befreiung ist das nur dem Eingeweihten zugängliche alchimistische Geheimnis: A veces una iluminación inesperada se producía en el vértice de tu entendimiento, y era el gusto sabroso de aquellas intuiciones lo que te sostenía y alentaba en el áspero camino de tus lecturas. [...] soñabas que una cadena infinita de muertes y de nacimientos conducía tus pasos a través de mundos en los cuales tu ser cobraba mil formas absurdas; o que te hallabas en la Ciudad Alquímica, trasponiendo sus veinte puertas del error y vagando en torno de su muralla inaccesible, sin dar con la puerta única que conduce al secreto del Oro... 112 Dieser Passus verdeutlicht, wie eingehend sich Marechal mit der Alchimie beschäftigt hat. Der Ton erklingt bekenntnishaft wie im Cuaderno de Tapas Azules. Selbst in scheinbar bedeutungslosen Beschreibungen blitzen Anspielungen auf. Adán bringt die Steine der Insel Madeira mit einem Satz aus Piatons Kritias in Verbindung: »De la isla central sacaron la piedra que necesitaban: había piedra blanca, negra y roja« y cuando al fin desciendes al embarcadero, observas que las olas arrastran en la orilla pedruscos negras, rojos y blancos.1,3 Handelte es sich hier nur um einen wörtlichen Sinn, wäre die Anspielung auf Plato bei einer idyllischen Naturbeschreibung zwar die eines poeta doctus, aber ansonsten überflüssig. Alchimistisch interpretiert ist diese Stelle ein Signal für die drei Phasen des alchimistischen Werks: nigredo, albedo, rubedo.
110
AB 333.
i" AB 333. 112
AB 333f.
"3 AB 334, H. d. A.
IV. Zeichen der Initiation
112
Eine alchimistische Erklärung greift auch bei Marechals mythischem Paleogogo, dem Untier, das sich in der gran hoya des Infierno von Adán Buenosayres befindet. Gestützt auf Ausführungen Jungs, läßt sich eine Verbindung des Paläogogen und der materia prima ziehen, jener Substanz, die im Gefäß (Athanor) der Alchimisten der Transformation ausgesetzt wird: die gran hoya wäre so ein alchimistischer Athanor. Damit würden in dem angeblich „katholischen Roman" AB sowohl der Paläogoge des Infierno als auch die symbolische Frau des Cuaderno de Tapas Azules auf den Ausgangszustand
{materia
prima) des alchimistischen Werks Abb. 6: Mercuriusschlange,
Anfang und Ende des »opus«
deuten.
Marechal beschreibt das rätselhafte Wesen als animal gelatinoso. Konfrontieren wir dieses Monstrum mit einer Trauminterpretation Jungs: Es handelt sich im Traume wohl um eine Lebendig- (Wirklich-) Machung der »Mitte«, sozusagen um ihre Geburt. Daß diese Geburt aus einer amorphen Masse hervorgeht, hat eine Parallele in der alchemistischen Vorstellung der »prima materia« als einer chaotischen, von Lebenssamen geschwängerten »massa informis« [...] Wie wir gesehen haben, wird ihr die Eigenschaft des Gummi arabicum und des Leims zugeschrieben, oder sie wird als »viscosa« und »unctuosa« (zähflüssig) bezeichnet. (Bei PARACELSUS ist der »Nostoc« Arkansubstanz.) Obschon dem »gelatinös« zunächst moderne Anschauungen von Nährböden, gallertartigen Wucherungen und ähnlichem zugrunde liegen, so bestehen doch auch die Rückverbindungen zu den viel älteren alchemistischen Ideen... 114 In Marechals alchimistischer Bedeutungsschicht bleibt nichts dem Zufall überlassen. Auch bei Evola finden wir die Bestätigung dafür: der Mercurius werde bei den Alchimisten als Uroboros bezeichnet, als Schlange oder Drache, und:
114
Jung 1990: 210f, H. d. A. Die Abbildung 6 (Quelle: Jung 1990: 294) aus Barchusens Elementa chemicae (1718) zeigt die Mercurius-Schlange, die sich selbst verschlingt.
2. Alchimie, Geschichte, Heldentum
113
Pernety [...] spricht von einer »klebrigen Nässe«, die der »Merkur der Philosophen« ist und die Grundlage »für alle Wesen der drei Reiche der Natur« darstellt. »5 Jetzt wird Marechals Symbolik des Paleogogo ganz einsichtig: Volví a contemplar el monstruo, y aunque no le noté forma de maldad alguna, me pareció que las reunía todas en la síntesis de su masa ondulante, y que las abominaciones del Infierno schultziano tomaban origen y sentido en aquel animal gela-
tinoso que se retorcía en la gran Hoya. ' >6
Mercurius ist das Rad, mit dem alles beginnt und alles endet, er ist die materia prima, der Uroboros des begonnenen und vollendeten Werks. Mit der alchimistischen Deutung verliert der offene Schluß des Romans, der auf dem Bild des Paläogogen verweilt, etwas von seinem provokanten Ad-hoc-Charakter. Ein inhaltliches Motiv hat dann wesentliche erzähltechnische Implikationen: ein Symbol der Alchimie, der Mercurius-Drache als Anfang und Ende des opus, beendet den Roman AB mit seinem Erscheinen im wörtlichen Sinn. Aber dennoch bleiben, wie die erzähltechnische Analyse zeigen wird, die strukturellen Probleme erhalten. Der Roman Banquete gibt in einem Spiel manichäischer Doppelungen zu verstehen, daß es nicht um die Werte des Guten und Bösen im Sinne einer christlichen Deutung geht. Vom Bankett selbst und von seinen Teilnehmern gibt es eine positive und eine negative Einschätzung, eine leyenda negra und eine leyenda blanca. Ist man versucht, Severo Arcàngelo nur als den „Bösen" und Pablo Inaudi als den „Guten" zu betrachten, so eröffnet die Namenssymbolik eine aufschlußreiche Ambiguität: der letzte Teil des Namens Severo Arcàngelo, ,,-ángelo", enthält das Wort „ángel". Pablo Inaudi, der jenseits aller leyendas fur das Gute zu stehen scheint, enthält in seinem Namen, (Inau)Di (P)ablo, anagrammatisch das Wort „diablo" und aus Lucía Febrero, Luci(a)fe(b)r(ero), ergibt sich „lucifer". Doch auch wenn man von diesen syntaktischen Kombinationen absieht, verlieren Gut und Böse im BSA ihre moralische Bedeutung. Wie ist das aber vereinbar mit der Interpretation des Banketts als Parabel des christlichen Weltgerichts, von dem wir wissen, daß es eine strikte Trennung von Gut und Böse herbeifuhrt? Gut und Böse verkörpern im BSA gemeinsam den Zustand der Ganzheit. Übertragen auf das höchste Wesen, zielt das ab auf die Vorstellung einer Gottheit, die Gut und Böse oder, alchimistisch gesehen, Männliches und Weibliches in sich vereint. Jung erklärt: der moralisch zweideutige Jahwe wurde zu einem ausschließlich guten Gott, dem gegenüber der Teufel alles Böse in sich vereinigte. [...] Diese eigentümliche Entwicklung wurde hauptsächlich dadurch verursacht, gaß das Christentum, erschreckt
"5 Evola 1989: 61, H. d. A., auch 57f. "« AB 644, H. d. A.
IV. Zeichen der Initiation
114
durch den manichäischen Dualismus, mit aller Macht seinen Monotheismus zu wahren suchte. 117
Severo Arcàngelo, Besitzer der „Gießerei Arcàngelo" und Organisator des Banketts, ist - im Gegensatz zum Protagonisten des lateinamerikanischen Diktatorenromans - zwar mächtig, aber auch gut, denn er wird trotz getrübter Vergangenheit der empresa trascendente des Banketts für würdig erachtet. Marechal entnimmt die Attribute seiner Figur der metallurgischen Symbolik: Severo ist der Viejo Fundidor, der Quemado Absoluto. Das zeigt auch seine Assoziation mit den Pelasgern, den Titanen, der estirpe de Cain (Erfinder der Metallurgie) und den Bergwerks-Minen (wo alchimistischer Vorstellung zufolge in der Erde die Embryonen des Goldes reifen), mit dem Verbrannten, dem Diamanten oder dem Phönix, 118 der aus der Asche ersteht: Severo Arcàngelo me llaman, o el Quemador de Hombres: deberían saber que sólo yo fui el quemado absoluto, y que sólo importa el bello monstruo que nacerá de mi ceniza. 119
Severo Arcángelos heroisch-initiatische Aufgabe ist das alchimistische Werk, bei dem die menschlichen Schlacken von den Auserwählten weggebrannt werden. Das infernalische Orchester, das zu Beginn des Banketts spielt, erinnert an die Rückkehr zum Chaos (den Wassern der Auflösung) vor einer neuen Kosmogonie. Sprach das alchimistische Corpus Hermeticum von einer „einfachen Vision", die dem Eingeweihten im Weißen Werk zuteil wird, so benutzt Marechal dieses Bild in der Verkleidung christlicher Terminologie, wenn er sagt, daß sich das Bankett an Personen richte, die in sich den Zustand des Kindes wiederherstellen konnten: wieder verbirgt sich unter der christlichen Metaphorik Marechals das opus, das die Alchimisten mit der Geburt und dem Wachstum eines Kindes verglichen. 1 2 0 Die Hypothese, die Unternehmungen der Romane seien Abbilder des alchimistischen Werks, wird von der Symbolik des Weiblichen und der materia prima zusätzlich gestützt. Die materia prima ist das nicht-differenzierte Prinzip ohne Form und Individuation [...], das über und gleichzeitig vor dem Grundgegensatz zwischen Ich und Nicht-Ich, Körperlichkeit und Geistigkeit steht. 121
» 7 Jung 1976: 116. 118
BSA 148. Zu beachten ist auch die Verbindung zum Gral, in einer seiner Erscheinungsformen ein Smaragd, der aus der Stirn Luzifers fiel und von Engeln zu einem Kelch geformt wurde. Dieses Motiv wird von Guénon und Evola mit dem dritten Auge Shivas (Unsterblichkeit) in Verbindung gebracht. BSA 45: Severo Arcàngelos Vorfahren sind die Pelasger, die in den Minen arbeiteten bzw. die Zyklopen, die ein Auge auf der Stirn tragen. BSA 148f.
120
BSA 168 und BSA Vorwort. Vgl. Evola 1989: 98. '21 Evola 1989: 235.
2. Alchimie, Geschichte, Heldentum
115
In Adán Buenosayres findet sich dies klar in der irdischen Solveig, von der gesagt wird, sie sei die materia prima für eine alchimistische Transformation. 1 2 2 Andeutungen zeigen sich auch in der Figur der Iova, la bestia de mil formas y de ninguna, la nada en traje de Iris. Besonders aber Thelma Foussat im Banquete 123 bzw. Patricia Bell 1 2 4 und Lucía Febrero in Megafón können als materia prima verstanden werden. In Thelma Foussats absoluter Unbestimmtheit erkennen die Gäste des Banketts die jeweils für sie wichtige Frau - doch wie bei den Fedeli d'Amore stellen diese Frauen eine einzige dar: El sujeto [Thelma Foussat], desprovisto ya de casi todas las diferenciaciones individuales, está muy cerca de reducirse a la substancia pura que necesitamos presentar en el Banquete. Hay que despojar al Sujeto de sus últimos vestigios esenciales, para que la substancia ya en estado absoluto de »no determinación« adquiera su máximo de receptividad.125
Die Bedeutung der Figur des Verlorenen erwies sich bereits an dem Symbol der Witwe. Thelma Foussat, Patricia Bell nach Megafóns Tod und Lucía Febrero sind Witwen im wörtlichen und übertragenen Sinn: soñé que Thelma Foussat era pulverizada en un mortero gigante, sometida luego a enérgicas disoluciones y destilada por fin en un alambique monstruoso: cuando me angustiaba en espera de la nueva forma que tomaría la Viuda, estallaba el alambique, y la operación se repetía obstinadamente una vez y otra... 126
Megafóns irdische und himmlische Schlacht um den Lapis-Gral ist die alchimistischheroische Suche nach dem Verlorenen: zu Beginn seiner Operationen betrachtet der Protagonist sich nackt im Spiegel, Zeichen des bevorstehenden initiatischen Prozesses. 127 Lucía Febrero, das Ziel des Großen Werks, verbindet gleichermaßen die Fesseln und die Befreiung: das verlorene und wiederzufindende Wissen, die unterjochte und zu befreiende patria, den in der Materie gefangenen Helden, der die deificatio erstrebt. Daher liegt Lucia paradoxerweise in Ketten, obwohl sie ein „canto a la libertad y una risa de libertad y una danza caliente de la libertad" 128 ist.
122
AB 112,400.
123
BSA67.
>24 MG 28. i " BSA143. 126
BSA 144, H. d. A.
127
Nach Chiesi 1986: 102 wird dadurch der Beginn des opus signalisiert, da die materia prima auch als Spiegel der Kunst bezeichnet wurde. Chiesi 1986: 107 verweist außerdem auf eine mögliche Quelle des Namens „Megafón" im Mutus Uber, das der Franzose Pierre Dujols unter dem Pseudonym Magophon veröffentlicht habe. Marechal selbst erwähnt einen Ursprung des Namens in MG 9: „os magna sonaturum, una de las tres condiciones que el poeta Horacio exige al arte en su Epístola famosa". Chiesis Bemerkung deutet jedoch an, daß Marechal möglicherweise den Mutus Uber kannte.
'28 MG 343.
IV. Zeichen der Initiation
116
Das spiralförmige Château wird von einer Figur in MG mit alchimistischer Terminologie als Destillierkolben für Auserwählte charakterisiert, und tatsächlich bedeutet der Weg durch die Spirale zu Lucía Febrero eine Auswahl unter den Suchenden, die nur Megafón und im gewissen Sinn Tesler bestehen. 129 Maréchal verwendet auch hier die traditionelle initiatische bzw. freimaurerische Symbolik der spiralförmigen Treppe, die zur zentralen Kammer führt. 130 Der Stein, schreibt Jung, sei wie der Gral das schöpferische Gefäß selber, das elixir vitae, umgeben von der Spirale, dem Symbol der umkreisenden, indirekten Annäherung. 131 Jung, der Evolas alchimistisches Werk kennt, präzisiert die Verbindung des hermetischen lapis mit dem Gral: Arnaldus de Villanova nenne den Gralsstein lapis exilis und Wolfram von Eschenbach lapsit exillîs. 132 Auch Evola vertritt die Ansicht, Wolframs Gral könne als hermetischer lapis elixir gedeutet werden. 133 Die Suche nach dem verlorenen lapis bei Maréchal deutet sich bereits an, wenn Megafón den Androgyn wiederherstellen will. Patricia Bell steht als soror mystica dem Alchimisten zur Seite, begleitet unbeirrbar manche „Operationen" Megafóns. 134 Die symbolische Dimension des Weiblichen bei Maréchal ist unbezweifelbar. Jede naturalistische Interpretation widerspräche seinem idealen, abstrakten Charakter und seiner Zugehörigkeit zum Kontext des Heldentums und der Alchimie. Traum und Schlaf Die Verbindung von Alchimie und literarischem Werk besteht in ungeahnter Tiefe. In allen Romanen benutzt Maréchal die alchimistische Chiffre des Traums und Schlafes. 135 Adán träumt von einer nackten Frau, deren Extremitäten die Himmelsrichtungen in einer durchsichtigen Kugel markieren. Diese Grundfigur - ein Abbild der alchimistischen Quadratur des Kreises (i.e. der lapis) - erscheint auch in der Kreuzigung Farias', in der Teerkreuz-Szene des BSA. Dort wird Farias enthüllt, die Lösung des menschlichen Rätsels sei die Quadratur des Kreises. Das Quadrat im Kreis oder der Kreis im Quadrat symbolisiert aber, wie schon ausgeführt, die Vereinigung der gegensätzlichen Prinzipien Himmel - Erde, Mann - Frau, Schwefel Mercurius und den Endzustand des alchimistischen Werks. 136 Wenn Adán in seinem Traum bemerkt, daß die Frau nicht aus sich selbst leuchtet, sondern ihr Licht von IM MG 338. 130
MG 338. Vgl. Guénon 1962: 369 Anm. über die Spiraltreppe und die „Chambre du Milieu".
'3! Jung 1990: 21 lf. 132
Jung zu Evolas Werk (hier als Evola 1989) 1990: 267, Jung zum /opii-Gral: 1990: 212 Anm.
'33 Evola 1977: 265. 134
Wie mir Elbia Rosbaco mitteilte, sei der Name Patricia Bell ein Pseudonym aus den Zeiten ihrer frühen schriftstellerischen Tätigkeit.
135 Evola 1989: 181f und Federmann 1964: 37. >36 Diese Verbindung ziehen auch Chiesi 1986: 109, Lojo de Beuter 1983: 40, Coulson 1974: 126.
2. Alchimie, Geschichte, Heldentum
117
einer unsichtbaren Sonne bezieht, deren Mond oder Spiegel sie sei, unterstreicht das die alchimistische Hierarchie von Gold und Silber, Sonne und Mond, männlichem und weiblichem Prinzip. 137 Farias träumt von Thelma Foussat als materia prima. 138 Megafóns alchimistischer Traum, der die Entwicklung der Handlung vorwegnimmt, bedeutet das Schwarze und das Weiße Werk: am Ende der schwarzen Nacht erscheint Megafón das Licht Lucias. Der Rabe, den der Träumer sieht, ist eine der alchimistischen Allegorien des Dämonischen und symbolisiert die nigredo, den Opfertod der ersten Stufe des opus. 139 Das Licht, das der Protagonist wahrnimmt, erinnert an die Symbole der höchsten Stufe: an die Sonne, das Gold, den Androgyn.140 Der Schlaf ist alchimistisches Symbol des „Todes" und damit der Verfassung des nicht erweckten Menschen. Die Alchimisten und auch Marechal wollen andeuten, daß die Initiation nur derjenige erreichen kann, der wach ist. Für Farias haben die Meister des BSA als Einstieg in die Welt des Banketts einen tiefen Schlaf, „un pasaje a la no manifestación", vorgesehen, bevor er in der Welt Severo Arcángelos und Pablo Inaudis erweckt werden kann. Auf den „Schlaf' folgt das Erwachen, das hier im initiatischen Sinn einer erhöhten geistigen Präsenz zu deuten ist. Megafóns Erwachen faßt Marechal in MG wieder in die Terminologie einer Reise von der „NichtManifestation" des tiefen Schlafes zur „Manifestation". In den Objekten der mineralischen, der Pflanzen- und Tierwelt, die Megafón bei seinem Erwachen berührt, spiegelt sich die Zusammensetzung des Menschen und des Kosmos aus dem rationalen, animalischen, vegetativen und mineralischen Element.141 Darüber hinaus finden bekannte Träume der alchimistischen Tradition ihren Niederschlag in den Motiven Marechals. Der Alchimist Zosimos berichtet einen Traum von einem Männchen, das aus dem Zustand des Bleis und Kupfers zum Silber übergeht, dann feuerrote Attribute erhält und zum Schluß golden wird. 142 Diese Metallsymbolik wiederholt sich in den Metallmenschen des BSA. Der Traum, in dem Zosimos 143 seine Zerstückelung erlebt, entspricht dem Tod Megafóns, der in der Tradition der Zerstückelungsmythen (Attis, Adonis, Osiris und Orpheus) steht. 144
137
AB 382ff.
138
BSA 33, 65.
13
* Jung 1990: 269.
140
MG 167f.
'"1 MG 27ff. ' « Federmann 1964: 37f. 143
Federmann 1964: 39f.
144
Marechal setzt die Zerstückelungssymbolik in MG auch ein, um auf die Schändung des Leichnams von Eva Perön aufmerksam zu machen. Dem Leichnam von Juan Domingo Perön (t 1974) wurden bei einer Grabschändung (1987) beide Hände abgetrennt und geraubt.
IV. Zeichen der Initiation
118
Die Spur des Christentums:
eine alchimistische
Chiffre
Die initiatische Gruppe der Fedeli benutzte eine geheime Sprache. Dante sagt in der Vita Nuova-, Vero è che tra le parole dove si manifesta la cagione di questo sonetto, si scrivono dubbiose parole, cioè quando dico che Amore uccide tutti li miei spiriti, e li visivi rimangono in vita, salvo che fuori de li strumenti loro. E questo dubbio è impossibile a solvere a chi non fosse in simile grado fedele d'Amore; e a coloro che vi sono è manifesto ciò che solverebbe le dubitose parole: e però non è bene a me di dichiarare cotale dubitazione, acciò che lo mio parlare dichiarando sarebbe indarno, o vero di soperchio. 1 4 5
Dem zu erklären, der nicht versteht, ist nutzlos, dem, der versteht, überflüssig. Marechal kennt die Vita Nuova. Durch ihre Worte wird die Annahme verständlich, der offensichtliche Sinn der christlichen Bedeutungsebene im Werk Marechals könne einen initiatischen Sinn bergen. Für die Gnostiker war das Neue Testament nur eine Allegorie. 146 Für die Beziehung der Alchimie zum Christentum gilt etwas Ähnliches. Jung wies in Psychologie und Alchemie auf die alchimistische Analogie zwischen Christus und dem lapis hin, Evola auf die alchimistische Verwendung des Kreuzsymbols. 147 Daraus schließen Evola und auch Jung zu Recht, daß die Alchimie Bilder und Terminologie anderer Lehren zu eigenen Zwecken verwendete. Die Existenz des „mehrfachen Sinns" 148 bestätigt sich: Und so nehmen die Alchimisten die einzelnen Vorgänge der Schöpfung nach Hesiod oder nach der Bibel als Grundmuster, ja sie dehnen die Analogie sogar noch auf die Episoden des Lebens Christi und vor allem auf die Taten des Herakles und Jason aus, die für sie ebenfalls nicht »historische Tatsachen« oder »Märchen« sind, sondern als Hinweise auf außerzeitliche, spirituelle Zustände und Handlungen gelten. 1 4 9
Jung unterstreicht die heidnischen Wurzeln unter der christlichen Metaphorik: Es ist nicht verwunderlich, daß sich schon ziemlich früh bei den Lateinern die Analogie Christus-Lapis hervorgedrängt hat, indem der alchemistische Symbolismus mit kirchlicher Allegorik durchtränkt ist. Obschon in dieser Hinsicht kein Zweifel besteht, daß die Allegorien der Kirchenväter die alchemistische Sprache bereichert haben, ist es meines Erachtens recht unsicher, inwiefern das »opus alchemicum« mit seinen verschiedenen Formen als Umgestaltung kirchlicher Riten (Taufe, Messe) und dogmatischer Vorstellungen (Zeugung, Geburt, Leiden, Tod und Auferstehung) verstanden werden kann. Es ist zwar nicht zu bestreiten, daß immer wieder aufs neue Anleihen bei der Kirche gemacht wurden; aber bei den ursprüng-
'"5 Vita Nuova XIV (in Dante 1988: 40). 146
Federmann 1964: 23.
( G 2 ) ] > In der Aufschlüsselung ergeben sich die folgenden Aspekte des Textes:
ERZÄHLER
TEIL
MODUS
STOFF
m (Marechal)
GJ:S. 7-26
Rahmen
Introito
m (Marechal)
G j : S. 27-366
aukt./Ich
Raps. I - X
m (Marechal)
G3: S. 366-367
Rahmen
Raps. X
Es sei p := mG2[q] r:=mG 3 [ Cavallari 1981b: 129. 162
Cavallari 1981b: 116.
i«3 Cavallari 1981b: 55, 141. im Cavallari 1981b: 87. i« Cavallari 1981b: 128. 166
Cavallari 1981b: 23-26. Cavallari unterstreicht treffend Marechals Vorstellung einer Geschichte ohne Ende: „Ningün final es, por tanto, definitivo: la concepción judeo-cristiana de un unico
2. Der erzähltechnische Ansatz
361
er letztlich in den Kontext einer Fortschrittskonzeption, die - in dialektischer Spannung zwischen Altem und Neuem - in die Utopie des kommunistischen Paradieses mündet. Marechals Bild des retrógrado, der gegen die Stromrichtung zur Quelle zurückkehrt, 167 vor allem aber seine Bejahung einer ewigen Geschichte mit all ihren Spannungen spricht dagegen. Wegen der positiven Worte Marechals über Castro will Cavallari den Autor in die Linie der „izquierda justicialista" rücken, obgleich klar sein sollte, daß positive Aspekte eines Systems hervorzuheben noch nicht heißt, Anhänger des Systems zu sein. Hätte Cavallari recht, sollte Marechal die linksrevolutionäre Neuinterpretation des Peronismus billigen, was ausgeschlossen ist. Diese Neuinterpretation ersetze, so Cavallari, das peronistische Konzept des Gleichgewichts durch das des „conflicto antagónico insuperable". 168 Marechal verstand jedoch den Peronismus als politische Realisierung der indischen Kastenlehre. 169 Die hierarchische indische Konzeption des Staatswesens ist freilich unvereinbar mit der marxistischen Utopie einer klassenlosen Gesellschaft. Marechals ideales Zusammenspiel der Kasten (wie die Rig-Védá) betont gerade das Gleichgewicht: der Stier, der auf vier Beinen steht. Diese Vorstellung der Kastenharmonie ist nur schwer mit der Konzeption eines unüberwindbaren Klassen-Antagonismus im Sinne Cavallaris zu vereinbaren. Cavallaris scheint Marechals Konzept des Krieges in MG als revolutionären Aufruf zur Gewalt und implizit als ideologisches Bekenntnis zu den Montoneros zu deuten: el texto marechaliano [...] constituye una incitación a la lucha popular contra las fuerzas reaccionarias que oprimen, explotan y degradan al país. 170 La alusión simbólica a la Edad de Hierro y a los ciclos macrocósmicos de la »manifestación universal del Absoluto« permiten al autor proclamar la intrínseca necesidad y justicia de una lucha que no puede ni debe retroceder ante los peligros y amenazas de la violencia.171 Diese Deutung Marechals suggeriert, Marechal habe den bewaffneten Kampf der Montoneros unterstützt und geht auf jene Stelle in MG zurück, wo der Autor zu der initiatischen Suche nach dem Phallus Megafóns auch die Jugend einlädt. Erinnern wir uns: proceso (Génesis-Apocalipsis) sólo denota, para Marechal, el ciclo particular que hoy vivimos en sus instancias postreras, representando sólo uno de los »días de Brahma«." Vgl. Cavallari 1981b: 114 Anm. 167
Marechal in CN 140, siehe oben, Kap. II § 1: 34.
'«» Cavallari 1981b: 156. 169
Marechal in Andrés 1968: 51, siehe oben, Kap. III § 1: 53.
170
Cavallari 1981b: 129. Cavallari 1981b: 156. Soweit die deutlich gemildetere Version von Cavallaris Buch, im Aufsatz Cavallari 1979: 30 lautete es noch unverhüllt: „que no puede ni debe retroceder ante la posibilidad de la lucha armada".
171
(C) Literaturwissenschaftliche Diskussion
362
las nuevas y tormentosas generaciones que hoy se resisten a este mundo con rebeldes guitarras o botellas Molotov, dos instrumentos de música... 172 Gewiß, Marechal liebäugelt in der Gestalt des Bischofs „Frazada", für den Bischof Jerónimo Podestá aus La Plata Modell gestanden haben dürfte, mit einem Sozialrevolutionären Christentum, doch widerspricht seine Geschichtsphilosophie, wie ausgeführt, einer linksrevolutionären Deutung. Marechal verwendet den Begriff „Krieg" weder in einem nur symbolischen und verharmlosenden Sinn noch als blutlüsterner Rambo. Die Worte, die der Autor dem Historiker Cifuentes in den Mund legte, waren deutlich. Cifuentes bezeichnet den Krieg zwischen Militärs und Guerilla als Bruderkrieg, bei dem sich der Militär selbst das Schwert in die Brust stoße. 173 Was wir nicht ausschließen können, ist, daß Marechal vorhatte, Einfluß auf einen militanten Peronismus auszuüben, dessen marxistische Konturen - im Gegensatz zu dem trotzkistischen ERP - bis 1972 nicht klar ausgebildet waren. Eigentlich hätte gerade Cavallari die Ungereimtheiten der ersten Seite von Megafón entdecken müssen. 174 Daß er es übersah, zeigt, wie oft man versäumte, literaturwissenschaftliche Kriterien auf Marechals Werk anzuwenden. Dennoch hat Cavallari mehr wahrgenommen als andere. Gegensätze werden da unwichtig, wie schon zu Cortázar bemerkt, wo sich bestimmte Werte treffen. Die semiotische Studie von Valentin Cricco, Nora Fernández, Nilda Paladino und Nidia Piñeyro, Marechal, el Otro. La Escritura Testada de »Adán Buertosayres«, betont den Aspekt der „Ruptur", den Experimentalismus des Romans. Für die Interpreten lösen sich die strukturellen Widersprüche des Romans mit einer auf semiotischer Ebene verborgenen Botschaft. Dieser Aspekt sei durch den Reduktionismus verschüttet worden, den ideologische Marechaldeutungen einer objektiven Darstellung in den Weg gestellt hätten. 175 Unter ideologischer Reduktion verstehen die Interpreten metaphysische Interpretationen, die den theologischen oder heroischintellektuellen Gehalt des Romans hervorheben, aber auch anti-theologische Positionen einer liberalen oder marxistischen Ästhetik. 176 Der Reduktionismus habe subestimado el constructivismo y experimentalismo de la novela [...] Tampoco se ha explicado la lógica abierta y el gesto de fractura e innovación que Adán Buenosayres introduce en nuestra narrativa... 177 Auch die symbolisch gestützte Interpretation - und damit mein Ansatz - wird von den Interpreten kritisiert:
172
MG 366.
i " MG 211. 174
Siehe oben, Materialien (A) § 1: 286ff. Cricco et alii 1985: 13.
™ Cricco et alii 1985: 9. 177
Cricco et alii 1985: 9.
2. Der erzähltechnische Ansatz
363
Esta interpretación ciñe al texto del Adán dentro del discurso clásico en el que se abre un espacio referencial al que los simbolismos místicos, iniciáticos o alquímicos pretenden denotar, revistiendo a sus representaciones de una objetividad de verificación imposible, al ser requerida su verdad como garantía del valor semiótico del significante. 178 Die Interpreten suchen nicht nach einem esoterischen Schlüssel, sondern sehen den Roman als Zeichencode, der dechiffriert werden kann. Sie behaupten: El deslizamiento que cumple Adán Buenosayres desde el simbolismo del Cuaderno hacia la escritura paragramática de los Cinco Libros reproduce el proceso semiótico que parte del siglo XIII y evoluciona a través del nominalismo y el barroco hacia la teoría moderna del signo. 179 Marechal sei ein Vorläufer Cortázars, denn der Leser könne die Lesart des Romans selbst wählen. Unter anderem biete sich eine Lektüre an, die das Cuaderno in das Zentrum des Romans versetzt: una lectura convergente y a bustrofedón, en forma simultánea desde el comienzo y el final hacia el centro y otro a la inversa del centro - el Cuaderno - hacia las periferias. 180 Dadurch vollziehe Marechal auf der Ebene der Zeichen eine Destruktion der mittelalterlich-christlichen Weltauffassung: El texto de Adán Buenosayres es mediador entre el discurso teológico-metafísico arcaico y el discurso poético-onírico del habla comunitaria; su estructura lingüística ambivalente los comprende a ambos y genera un nuevo texto que es confrontación y parodia de los discursos precedentes. 181 Durch die Rabelaissche Komik Marechals vollziehe sich eine Sinnentleerung: Este deslizamiento de sentido, al no permitir un centrismo privilegiado en la cosmovisión teológica y su adherencia a modelos ontológicos, introduce un descentramiento irónico y paródico que pasa por el relativismo del signo hasta alcanzar el carácter cómico y burlón que Marechal toma de su maestro Rabelais. Porque, según trataremos de demostrarlo, Adán Buenosayres no es un arquetipo ni la encarnación simbólica de un modelo ontológico, sino, más bien, su vaciamiento. Sin embargo, no es como gesto nihilista que el vaciamiento del arquetipo se cumple en el Adán, sino como oclusión y fractura del proceso lógico-lingüístico iniciado a partir del realismo metafísico, cuyo texto teológico el ciclo mítico de la novela toma y desvía hasta su transgresión. 182
178
179
Cricco et alii 1985: 20. Das ist eine abstruse Behauptung. Bedeutet valor semiótico del significante das gleiche wie Sinn eines Zeichens, versteht man nicht, warum die verificación imposible ein Problem sein sollte. Auch die Anhänger des Verifikationsprinzips würden die Sinnhaftigkeit von falschen Aussagen zulassen. Bei dem Zitat vermischt man ein Leitmotiv des früheren logischen Positivismus (etwa A. Ayer, 1936) mit dem Jargon des französischen Strukturalismus der 70er Jahre, was häufig vorkommt. Cricco et alii 1985:46.
i»» Cricco et alii 1985: 13. 181
Cricco et alii 1985: 13.
182 Cricco et alii 1985: 12, H. d. A.
364
(C) Literaturwissenschaftliche Diskussion
Wie sieht die Begründung im einzelnen aus? In der „reduplicación gratuita" jenes Fragments im Prolog, in dem zweimal davon gesprochen wird, daß Adáns Sarg einem poema concluido gleiche, glauben die Interpreten ein Paradigma der Wiederholung, einen Algorithmus zur Entschlüsselung des Romans gefunden zu haben: Representativo de las técnicas estilísticas del Adán Buenosayres, este fragmento inicial se propone como algoritmo que muestra la superposición de los semas, así como se van a dar en la novela, ya sean éstos bíblicos, homéricos, místicos o metafísicos. Trascripciones literales de sí mismos, los fragmentos paralelos ponen al descubierto el acto originante de la escritura, su retrascripción textual, mimesis de sí misma. 1 8 3
Der erste Satz des Cuaderno: Mi vida en sus diez primeros años, nada ofrece que merezca el honor de la pluma o el ejercicio de la memoria... 184
sei das hypothetische, satzgenerierende Zentrum des Romans. 185 Angeblich nach de Saussures Methode konstruieren die Interpreten dazu auf rätselhaft-assoziative Weise eine „Antiphrase", die lautet: Mi vida en sus diez de últimas nada ofrece que merezca el honor al pedo o el desperdicio de una lápida... 186
Die Suche nach weiteren Kryptogrammen - wie den Anagrammen von „Adán Buenosayres" - fuhrt sie zum Namen des Protagonisten. In A D Á N erkennen sie das Palindrom NADA; wenn Adán denkt, die Welt sei eine „granada", dechiffrieren die Autoren das als „großes Nichts", als GRANNADA. 187 In Wortspielen Marechals, wie dem Ausdruck garlipitajadura, enthüllen sie die obszönen Wurzeln. 188 Diese humoristische und ludische Absicht der Umgangssprache bei Marechal, so Cricco, übersehe sowohl die lectura culta als auch die lectura ingenua.189 Die Position der Gruppe um Cricco ist zwar originell, doch nicht zwingend - ja sogar willkürlich. Einerseits will diese Interpretation nicht auf das Unbewußte rekurrieren, andererseits suggeriert sie es doch: Marechal wolle die theologisch-metaphysische Dimension ad absurdum führen, daher habe er seine Meinung in Kryptogrammen versteckt. Argumente für die Annahme, ein Autor habe nicht gesagt, was er gemeint habe, sind meist schwer zu finden. 190 Bei Cricco gibt es keine guten Gründe für die Vermutung, die zweite, gegen das Christentum gerichtete Sinnebene würde 183
Cricco et alii 1985: 27f.
>8-» AB 369. '85 Cricco et alii 1985: 58. 186
Cricco et alii 1985: 79.
187
Cricco et alii 1985: 55.
' 88 Cricco et alii 1985: 140. Cricco et alii 1985: 140. 190
Das trifft auf meinen Ansatz nicht zu, siehe unten S. 369.
2. Der erzähltechnische Ansatz
365
ausgerechnet (und nur) über die Zeichen oder Anagramme erreicht. Die Rede von „Algorithmus" suggeriert zudem, die Autoren hätten ihrer literaturwissenschaftlichen Deutung eine mathematische Präzision und Berechenbarkeit verliehen, die sie nicht besitzt. Die Gruppe scheint stärker von der eigenen Methode beeindruckt zu sein als von Marechal selbst: schwache Begründungen werden durch einen formalen Apparat kompensiert, der nicht klar ausgedrückt werden kann. Die Interpreten behaupten etwa, die Anfechtung der Metaphysik stelle vor allem den „centralismo del poder", den „discurso unívoco autoritario" in Frage, wobei la escritura usurpa la posición heliocéntrica, el lugar del Padre y del sol...
191
und schließen den Heliozentrismus daraus, daß in „Solveig" das Wort „SOL" steckt: Aquella-escritura ocupa el lugar solar: su nombre es Aquella-SOL-veig. Al ocupar ésta el lugar heliocéntrico, el sitio del Padre y de la Causa Primera, conmueve la concepción metafísica de las prioridades entre la idea y el amor, entre la imagen materna y la paterna en la gestación del signo.192 Doch Wortspiele sind vieldeutig. Wenn ich nun argumentierte, statt SOL-veig müsse es SOLVE-ig heißen, und nicht „ SOL" sei gemeint, sondern die alchimistische Devise Solve et coagula, wären die Autoren mit ihren eigenen Waffen geschlagen. Bei Anwendung ihrer eigenen Methodik ergibt sich eine Bedeutungsebene, die alchimistische, die die Autoren entschieden ablehnen. Für die These der Autoren spräche, wenn Marechal auch in seinen Folgeromanen einen geheimen Sinn in Anagrammen hinterlassen hätte. Ich habe folgendes Buchstaben-Experiment unternommen, bei dem die Buchstabenreihe „Severo Arcàngelo Pablo Inaudi" wegen der unbestrittenen Bedeutung der Namensträger als Ausgangspunkt fungiert. Ergäbe die Umstellung der einzelnen Buchstaben nur einen einzigen Satz mit einer sinnvollen Botschaft, dürfte man annehmen, daß Marechal eine wichtige Botschaft in seinen Anagrammen verborgen hat. Nun wird man aber aus dieser Buchstabenkombination wie beim I Ging eine Vielzahl aufregender Möglichkeiten gewinnen. Doch sie sind meist nur Teilanagramme, erschöpfen also nicht die gesamte Buchstabenanzahl. Die Tatsache, daß es viele (zu viele!) sinnvolle Botschaften gibt, spricht natürlich gegen eine aussagekräftige, eindeutige Botschaft. So ergeben sich - nach einigen Umstellversuchen - manche vollständige Anagramme: Va ángel, diablo irá, pues no creo no creo en la iglesia, va por Buda Doch aus diesen Anagrammen ist keine eindeutige Botschaft abzuleiten; es könnte nämlich auch heißen:
191
Cricco et alii 1985:99.
192
Cricco et alii 1985:99.
(C): Literaturwissenschaftliche Diskussion
366
diablo no va ángel irá, pues creo Ferner gibt es eine Unmenge von Teilanagrammen wie no creo en dios, creo en el diablo; un pagano reveló el diablo etc., aber der Buchstabenrest läßt sich nicht befriedigend auflösen. Der Weg, über Anagramme bzw. die semiotische Ebene eine verborgene, das Christentum relativierende Botschaft abzuleiten, ist wegen dieser Vielfältigkeit nicht annehmbar. Darüber hinaus hat unser Weg gezeigt, daß es nicht nötig ist, sich dafür auf die Mikro-Ebene der Zeichen zu begeben. Würdigung Das eingangs geschilderte strukturelle Problem des Romans AB verursacht drei Reaktionen innerhalb der erzähltechnischen Deutung. Betrachten wir nochmals die Graphik zu Adán Buenosayres:
Vorwort »L. M.«
Leser Autor
Bücher l-V
r=A
AB,
Abb. 10: Fiktionale
Ebenen
Die scheinbare Kompliziertheit der Struktur muß keine beabsichtigte Subtilität bedeuten: wir stehen vor einer Geschichtsverschachtelung und vor Figuren unterschiedlichen fiktiven Grades. Die äußere Umrahmung ist die totale Geschichte, die in sich geschachtelt die Geschichten in der Geschichte enthält. Das Vorwort G j schlägt die Brücke zwischen G2 und G3. Autor des Romans ist Leopoldo Marechal, Autor des
2. Der erzähltechnische Ansatz
367
Vorworts G j und der Bücher I - V (G2) ist „ L . M . " , Autor von G3 ist Adán Buenosayres.
193
Diese Pseudokompliziertheit soll aber nur den Sachverhalt verschleiern, daß Marechal zwischen sich und der Fiktion einige erzähltechnische Spiegel einbaut, um den autobiographischen Charakter des Romans zu verbergen. Was die Verwirrung der ersten Gruppe um die Identität Adáns betrifft, so ist klar, daß keine Identität zwischen A B , und A B 2 herrscht, also auch kein Widerspruch und keine Inkohärenz. Leopoldo Marechal schreibt eine Art Autobiographie, in der Adán Buenosayres sein fiktives Spiegelbild ist. A B ] ist die Fiktion eines realen Schöpfers und damit eine Fiktion ersten Grades. Adán Buenosayres seinerseits schreibt eine autobiographische Erzählung, in der sein fiktives Spiegelbild A B 2 im Infierno bleibt. Da A B 2 die Fiktion einer fiktiven Gestalt ist, handelt es sich um eine fiktive Figur zweiten Grades. Es besteht kein Widerspruch zwischen dem bekehrten Adán A B , und dem in der Hölle festsitzenden A B 2 , denn sie sind verschiedenen fiktiven Grades: die fiktive Figur A B , läßt ihr Spiegelbild A B 2 im Infierno zurück. 1 9 4 Leopoldo Marechal dagegen beschreibt A B , in B u c h V zu einem Zeitpunkt, an dem Adán angeblich erlöst ist, und der einige Monate vor seinem T o d zu datieren ist. A B , w e i ß nichts von dieser Erlösung, nur der Autor, daher kann A B , getrost eine Dichtung verfassen, in der er sich selbst als A B 2 im Infierno zeigt. Die zweite Gruppe sieht den Autor im Zeichen der Ruptur, sei es wegen des offenen Schlusses von A B oder weil sie eine auf Zeichenebene verborgene Botschaft annehmen. Hier ist es wieder hilfreich, sich die ontologischen Ebenen der Fiktion klarzumachen. Der Schluß des Romans ist ein fiktiver Schluß zweiten Grades, also der Schluß einer Fiktion in der Fiktion. V o n Marechal wird das im Vorwort seines nächsten Romans B S A verschleiert. Er sagt: „Ich habe meinen Helden in der Hölle sitzen lassen." Der Fiktion A B nach tat dies aber der Dichter Adán. En passant widerlegt diese Gleichsetzung Marechals mit dem Dichter A d á n die Unterscheidung Cavallaris (dritte Gruppe) zwischen der Weltanschauung des Autors und des Protagonisten. Warum vermischt Marechal die Ebenen? Warum sagt er nicht, A d á n selbst, der Held seines Romans, habe sich so in seiner Infierno-Fiktion
gezeigt? Warum hat der fin-
gierte Herausgeber „ L . M . " , der so große Stücke auf die Manuskripte Adáns hält,
193
Der Roman wird geschrieben in einer Zeitspanne von ca. 18 Jahren zwischen 1930 und der Veröffentlichung 1948. Das Vorwort G] wird laut Fiktion nach dem Tod der Figur Adán Buenosayres, der im Oktober in den zwanziger Jahren stirbt, verfaßt. G2, Buch I-V, wird ebenfalls nach dem Tod Adáns geschrieben und erzählt die Ereignisse des 28. und 29. April. G3, d. h. der erste Teil des Cuaderno (Buch VI) wird vor dem 28. geschrieben, der zweite Teil nach dem 28. April. G3, El Viaje a la Oscura Ciudad de Cacodelphia, wird von Adán zu einem unbekannten Zeitpunkt geschrieben, nach dem 30. April, denn es erzählt die Ereignisse des 30. April.
194
Bzw. der Autor schreibt A B j diese Handlung zu.
368
(C) Literaturwissenschaftliche Diskussion
nicht darauf hingewiesen, daß sein Freund Adán wegen seines unerwarteten Todes nicht mehr dazu kam, den Aufstieg nach Calidelphia zu vollenden? Mehr als hintersinnige Subtilität enthüllen diese Fragen ein strukturelles Problem, das der Autor nicht mehr ohne großen Schaden beheben konnte. Unter diesem Blickwinkel werden die gequälten Sätze des Vorworts von AB und die findige Ad-hocEhrenrettung Marechals im Vorwort von BSA verständlicher. Erinnern wir uns an das Eingeständnis des Autors über den „cien veces postergado Adán Buenosayres", bei dessen Abfassung er nicht über die geeigneten Ausdrucksmittel verfugt hätte, den er nach dem Tod seiner ersten Frau wiederaufnahm und von dem er sagt: „lo rehice casi todo y le di fin". 195 Hätte Marechal Calidelphia ausgeführt, wäre der Roman, wie erwähnt, aus den Fugen geraten, und zudem die Gefahr entstanden, daß der Stil Calidelphias allzu sehr dem des Cuaderno de Tapas Azules geähnelt hätte. Wiese Marechal andererseits als fiktiver Herausgeber darauf hin, daß Adán Buenosayres vor der Ausführung Calidelphias gestorben ist, gibt er sich leicht dem unangenehmen Verdacht preis, er selbst, und nicht die vorgeschobene Romanfigur, sei nicht mit dem Roman fertig geworden. Die erste Lösung ist zu gefahrlich und hätte den Abschluß des Romans noch länger verzögert, die zweite zu plump. So entschied sich Marechal für das geringere Übel eines Abbruchs bzw. offenen Schlusses, über dessen Abruptheit sich wenigstens noch die Exegeten den Kopf zerbrechen mußten, und für das Eingeständnis, er selbst habe Adán in der Hölle sitzengelassen. Doch unabhängig davon, ob man sagt, es sei Marechal gelungen, Einheit in seinem Roman AB zu schaffen oder nicht - das strukturelle Problem des Schlusses bleibt - trotz Homogenitätsthese. Der Grund dafür ist, wie schon betont, daß die Geschichtsverschachtelung des AB sich nicht organisch in die Rahmenhandlung einfügt, wie etwa das play-yvithin-the-play von Gonzagos Ermordung in Hamlet, und daß ihre Länge nicht im Verhältnis zum Umfang der Bücher I-V steht. Nach dieser Bestandsaufnahme scheint die werkgenetische Patchwork-Hypothese eine realistischere Erklärung für die strukturellen Ungereimtheiten des AB als die verallgemeinernde Lösung, Marechals Modernität oder seinen Willen zur „Ruptur" dafür verantwortlich zu machen. Cavallaris Taktik, die Weltanschauungen von Autor und Protagonist in Adán Buenosayres und Megafón strikt zu trennen, läßt sich nicht aufrechterhalten. Marechal billigt erzähltechnisch und inhaltlich die Einstellungen seiner Figuren (Empathie). Sonst hätte es keinen Sinn, daß Marechal, der unter seinem eigenen Namen in MG auftritt, sich eindeutig mit Adán Buenosayres identifiziert: Yo soy, ¡mea culpa!, quien ha embarcado esta noche al Oscuro de Flores en una segunda excursión a Saavedra la misteriosa, treinta y cinco años después de la primera en que una generación de folkloristas alborotó a los ángeles y a los demonios de "5 Siehe oben, Kap. V § 5: 163.
2. Der erzähltechnische Ansatz
369
la ciudad. Naturalmente, Megafón, ocupado sólo en un posible reclutamiento de batalladores, ignora con qué sobresaltos de corazón, esperanzas y dudas me dirijo yo al campo de mis gestas antiguas. [...] Por las dudas, llevo mis notas e itinerarios de ayer, a fin de localizar la topografía de mi primer viaje a Saavedra. ¡Si nos acompañase al menos el astrólogo Schultze, guía ideal en esta suerte de inquisiciones! 196 Das macht nur Sinn, wenn Adán ein Selbstportrait Marechals ist. Die Annahme einer weltanschaulichen Differenz wird auch durch Marechals Zeugnis hinfallig. Was die Lösung der Gruppe um Cricco betrifft, so erscheinen die kabbalistischen Kombinationen auf semiotischer Ebene kein verläßlicher Weg, um eine weltanschauliche Botschaft „algorithmisch" nachzuweisen. Dagegen untermauere ich inhaltlich und erzähltechnisch die These einer zweiten Sinnebene. Ich behaupte nicht wie Cricco, Marechal habe nicht gesagt, was er gemeint habe. Marechal hat es gesagt, doch - ähnlich wie bei dem Brief in Poes Kriminalgeschichte The Purloined Letter besteht Marechals bestes Versteck darin, seine Aussage vor aller Augen zu stellen. Andernfalls hätte man längst die Bedeutung der von Marechal offen angegebenen Werke Guénons und Vallis erkennen müssen. Die Existenz der christlichen Schicht lenkt die Aufmerksamkeit von der Geschichtsbejahung ab. Die Gruppe um Cricco gewinnt dagegen einen relativ geringen Sinn bei einem starken methodologischen Aufwand. Marechals Botschaft, die inhaltliche Ebene, erscheint reduziert auf die semiotische Ebene - die Autoren verfallen selbst dem von ihnen kritisierten Reduktionismus. Cricco macht nichts anderes als diejenigen Autoren, die er wegen ihrer ideologischen Bewertung kritisiert, nämlich selbst ideologisch zu bewerten. Seine These von der Auflösung der theologisch-metaphysischen Dimension erklärt Marechals Motivation nicht - die These der Geschichtsbejahung dagegen zeigt einen Grund. Die Ungereimtheiten der gängigen Marechalinterpretationen verweisen auf eine Lücke bei der Deutung: sie haben die esoterische Ebene nicht als solche erkannt. Man könnte nun fragen, warum Marechal nicht noch deutlicher wurde, die Konventionen nicht ebenso offen brach wie ein Flaubert oder ein D. H. Lawrence. Eine Antwort habe ich schon angedeutet: ein Schriftsteller, der aus politischen Gründen zehn Jahre lang totgeschwiegen wurde, wird nicht eine weitere Ächtung, nun aus religiösen Gründen, in Kauf nehmen. Eine andere könnte lauten: Marechal war sich bewußt, nicht mehr gegen Normen zu verstoßen, die im Privaten wurzeln - wie es bei Flauberts und Lawrences Themen Liebe, Ehe, Sexualität der Fall ist - , sondern Normen in Frage zu stellen auf der Ebene einer Deutung von Welt, Leben und Sinn.
'96 MG 58, H. d. A.
(C) Literaturwissenschaftliche Diskussion
370
3. Der esoterische Ansatz Vertreter Die Erforschung des esoterischen Aspekts bei Marechal - die Arbeiten von Foti, Chiesi, Lojo de Beuter, Coulson - ist für ein umfassendes Verständnis Marechals ebenso wichtig, wie der weltanschauliche Ansatz Cavallaris. Doch bei ihm ist die Weltanschauung ohne Esoterik leer, und bei erstgenannten Autoren die Esoterik ohne Weltanschauung blind. Dabei hatte bereits Rafael Squirru die heroisch-geschichtsbejahende Aussage Marechals interpretiert: Hoy nos toca recuperar el presente. Hoy nos toca sacralizar el presente que es la única forma de recuperarlo, y no hay otra forma de sacralizar el presente que creando. Sin duda que el arte es una de las formas de la creación; el arte representa la avanzada de los héroes pero no se agota allí su misión; el heroísmo debe extenderse a todos los horizontes de la actividad humana; en todos los órdenes la salvación exige una actitud creadora.197 Jorge A. Fotis 198 Leistung besteht darin, die initiatisch-alchimistische Bedeutung des BSA offenzulegen. Dennoch bleibt der Versuch im Anfangsstadium stecken, da er diese Dimension ausschließlich im christlichen Rahmen begreift. Die entscheidende Frage nach dem Warum der esoterischen Elemente stellt sich Foti nicht. Er nimmt lieber eine harmonisierende Verdoppelung von Weltsichten in Kauf: die Symbolik des BSA ist bereits christlich 199 und die alchimistische Schicht ist eben noch einmal christlich - ergo: Marechal ist ein christlicher Autor. Dazu gelten die früher formulierten Einwände. Exkurs zur Anwendbarkeit
nichtliterarischer
Deutungssysteme
Foti begreift die Alchimie mit Mircea Eliade im Rahmen eines chthonischen regressus ad uterum.200 Doch fast alle hier untersuchten Vertreter der alchimistischen, esoterischen oder symbolischen Richtung folgen dem, da sie die Alchimie ausschließlich im Rahmen der Systeme Jungs und Eliades rezipiert haben. Diese aber machen nur die paradiesisch-eskapistische Seite der Alchimie deutlich. Die uranisch-königliche Symbolik des magischen Helden und seine Verbindung zur Geschichtsauffassung Marechals schlüpft durch die Maschen eines zu grob geknüpften Erkenntnisnetzes. Jung rekurriert auf das Unbewußte zur Erklärung alchimistischer Symbolik, für Eliade steht das archaische Wissen durch rituelle Wiederholung und Rückkehr in die Zeit der unberührten Anfange im Zeichen des Geschichtsausstiegs.
>9? Squirru 1961:21. Foti 1986: 97-109. 199
Foti 1986: 109. Das Bankett sei die Messe, der Salmodiante und seine Schlüssel Pedro-Petrus, die schifförmige Arche die Kirche, Pablo Inaudi vielleicht Paulus etc.
200
Foti 1986:99-101.
371
3. Der esoterische Ansatz
Maréchal dagegen spricht von einem initiatischen Erwachen und wählt die Möglichkeit einer Fortsetzung der Geschichte. Aus Gründen der Objektivität und adäquaten Interpretation ist es notwendig, zu untersuchen, ob es noch andere Bewertungen der Alchimie gibt. Mit den Deutungen Cesare della Rivieras II mondo mágico de gli Heroi (1603) und Evolas (von Guénons zu unterscheidende) wird die Bewertung des alchimistischen Aspekts im Werk Marechals adäquat zur Bewertung seines Kernthemas, der Geschichte, erfaßt. *
Kehren wir zurück zur Argumentation Fotis: auf der Basis der traditionellen Parallelisierung von Christus mit dem alchimistischen lapis oder Stein der Weisen interpretiert Foti Marechals hombre de sangre als Christus bzw. Opus Alchymicum 201 und zieht folgende Schlüsse: El Banquete de Severo Arcángelo anuncia la restitución del hombre agobiado por la terrenalidad, al equilibrio original del renacer, a través de la unión mística (misteriosa) con Cristo.202 Leopoldo Maréchal novelista, dramaturgo, poeta, alquimista y sobre todo Homo Religiosus, nos lega en esta novela »dramático-poética«, El Banquete de Severo Arcángelo - entre otras - , la siguiente enseñanza: la literatura puede constituirse en acceso privilegiado al ámbito de la experiencia mística... 203 Hier zeigt sich auf knappem Raum eine häufig in der Fachliteratur anzutreffende Vermengung von Religion, Initiation (z. B. Alchimie) und Mystik. Guénon hat das bereits an Valli kritisiert: Ce défaut, c'est la confusion constante des points de vue »initiatique« et »mystique«, et l'assimilation des choses dont il s'agit à une doctrine »religieuse«, alors que l'ésotérisme même s'il prend sa base dans des formes religieuses (comme c'est le cas pour les Soufis et pour les »Fidèles d'Amour«), appartient en réalité à un ordre tout différent. Une tradition vraiment initiatique ne peut pas être »hétérodoxe«; la qualifier ainsi [...], c'est renverser le rapport normal et hiérarchique entre l'intérieur et l'extérieur. L'ésotérisme n'est pas contraire à 1'»orthodoxie« [...], même entendue simplement au sens religieux; il est au-dessus ou au-delà du point de vue religieux, ce qui, évidemment, n'est pas du tout la même chose; [...] l'ésotérisme se superpose à l'exotérisme, mais ne s'y oppose pas, parce qu'il n'est pas sur le même plan, et il donne aux mêmes vérités, par transposition dans un ordre supérieur, un sens plus profond.204 Dieser wichtige Passus aus dem Maréchal wohlbekannten Buch spricht nicht nur gegen die Begriffsvermischung. Man könnte kein besseres Argument dafür finden,
201
Foti 1986: 105.
202
Foti 1986: 106. Dagegen das Urteil Jungs über die heidnischen Wurzeln der Alchimie, siehe oben, Kap. IV § 2 : 118.
203
Foti 1986: 107.
204
Guénon 1977: 46f, H. d. A.
372
(C) Literaturwissenschaftliche Diskussion
warum die Interpreten Marechals irren, die die initiatische Dimension der Alchimie („l'intérieur") ausschließlich im Christentum („l'extérieur") auffangen wollen. Das Esoterische steht auf einer anderen Ebene. Beim Banquete zählt die virtus des Einzelnen und nicht die Gnade. Foti aber übersieht diese Spannung zwischen Christentum und Initiation und will die Gleichheitskonzeption zur Anwendung bringen: Entendemos que el Banquete y la ascension a la Cuesta del Agua, no están reservados únicamente a una élite de tan solo treinta y tres »elegidos«. [...] La Redención no está circunscripta a unos pocos. Cristo murió por lodos, y se ofrece misericordiosa y amorosamente en las especies de pan y vino del Banquete Eucaristico, »sin hacer acepción de personas«.205 Gegen die Einschätzung einer unterschiedslos zugesprochenen Gnade wiegen die Daten des Werks: der Tod des Gastes im Banquete, der die Prüfung nicht bestanden hat, und die Tatsache, daß Farías „el único desertor del Banquete" ist. Ähnliche Hinweise auf den Charakter des Auserwähltseins finden sich in Megafón. Warum gibt es eine christliche Schicht im Werk Marechals und warum Elemente, die die christliche Botschaft in eine andere Richtung lenken? Nur eine initiatische Interpretation unter dem Blickwinkel der Geschichtsbewertung konnte diese Frage umfassend klären. Bernardo Chiesis an Jung orientierter Aufsatz 206 ist wohl einer der ersten, der die Tragweite der initiatischen Lehren für Maréchal erkennt. Dennoch trifft eine ähnliche Kritik wie bei Foti zu. Chiesi versteht die Alchimie als spannungslos vereinbar mit der Mystik, sie seien zwei verschiedene Wege zum selben Ziel. Chiesi trägt zwar wichtige Hinweise zur Erforschung der esoterischen Elemente bei, etwa des alchimistischen Verklärungsleib, „el cuerpo sutil" bei Maréchal, 207 doch er ist darauf bedacht, daß daraus keine Disharmonien zur christlichen Tradition entstehen. 208 Chiesis Beitrag wirft einen Einwand gegen meinen Ansatz auf: wie ist die offensichtlich mystische Bildlichkeit 209 bei Maréchal (Adáns Abtötung der Sinne in der Nachfolge von San Juan de la Cruz, die „moradas" des Château des Fleurs in der Nachfolge des „castillo interior" Teresa de Avilas), die Abkehr von der Welt und den Sinnen, mit einer geschichtsbejahenden Deutung vereinbar? Aber: ist das überhaupt ein Widerspruch? Ich meine, daß hier kein Widerspruch vorliegt: die Opposition zwischen kontemplativem und aktivem Leben, wie sie auch Guénon behauptet, ist nicht aufrechtzuerhalten. In einer traditionellen Weltsicht, wo alles, vom Vogelflug
ms Foti 1986: 106f. 206 Chiesi 1986: 95-115, verfaßt bereits Juni 1981. 207 Chiesi spricht vom alchimistischen Verklärungsleib, „el cuerpo sutil", in MG 366: „Allí Samuel abandonó su forma corporal y tomó una esencia luminosa que también era un vehículo." 208 Zum Beispiel Chiesi 1986: 98, 100, 102, 11 lff. 209 Daraufhat besonders Fernando Demaría aufmerksam gemacht. Siehe oben, Materialien (B) § 2.
3. Der esoterische Ansatz
373
bis zum Ort einer Stadtgründung, eine symbolische Bedeutung hat, soll ausgerechnet der Kampf und der Krieg keinen sakralen Wert besitzen? Der materielle physische Krieg ist nach einer solchen Auffassung vielmehr die Widerspiegelung einer heiligen Haltung. Durch das äußere Erlebnis gelangt man zum inneren, wie es der Prophet Mohammed verkündete: wir sind vom kleinen heiligen Krieg zurückgekehrt zum großen heiligen Krieg. Auch der Weg der äußeren Askese, des Kampfes, fuhrt zu etwas, was über dem Leben und über dem Tod steht. 210 Marechal will eine solche Erfahrung mit dem geschichtlichen Schicksal Argentiniens verbinden. Besonders im Roman MG ordnen sich die Elemente der inneren Askese der äußeren Askese einer vita activa unter oder tragen zu ihr bei: nur der kann das Schwert gut führen, der völlige innere Ruhe und Selbstlosigkeit besitzt. Marechals Auserwählter besteht Prüfungen, ähnlich wie der Mystiker im Aufstieg, aber nicht, um sich religiös-missionarischen Taten hinzuwenden, sondern geschichtlichen. Die Auffassung Chiesis, Alchimie und Mystik sei vereinbar, muß nach den Betrachtungen über den königlich-kriegerischen Charakter der Initiation bei Marechal verneint werden. 2 , 1 Die von Chiesi erkannten traditionellen Bezüge sind erhellend: er weist wie Lojo de Beuter 212 auf die symbolische Frau hin. Die Frau in der Kugel aus Adáns Traum deutet er wie Lojo de Beuter als alchimistisches Abbild des opus. Er erläutert den amor der Fedeli, bemerkt die metallurgische Symbolik Severo Arcángelos und den initiatischen Charakter der Cuesta del Agua. Damit wird die Frage geklärt, was diese Bezüge in der jeweiligen Tradition bedeuten; nicht geklärt wird allerdings, was es bedeutet, daß Marechal diese Bedeutungen in seinem Werk einsetzt. Doch das war nicht das Ziel Chiesis, der seine Arbeit auf den esoterischen Aspekt des eros eingegrenzt hat, und klarsichtig eine Forschungslinie aufzeigt: Como vimos, los símbolos han sido manejados por Marechal con precisión y talento; nada dejó librado al azar. Ello indica sin duda un conocimiento esotérico que muy raras veces se da en el campo de la creación. Existen otros aspectos de suma importancia en su obra que esperan ser explorados; no nos propusimos ser exhaustivos, sino determinar una línea de investigación. Su obra, de características tan singulares, ha sido injustamente relegada, salvo para un pequeño grupo de fieles amigos. Solo resta esperar que las generaciones futuras no cometan el mismo error.213
210
Mehrere Traditionen, wie die germanische oder iranische, bestehen auf ähnlichen Deutungen man vergleiche auch die von Yukio Mishima herausgegebene Samurai-Lehre des Hagakure. So ist zum Beispiel „Paradies" in jenen Traditionen ein Zustand der Überwindung der Todesangst und zugleich eine Überwindung des gewöhnlichen Lebens.
211
Siehe oben, Kap. IV § 1: 94.
212
Lojo de Beuter wurde 1983 veröffentlicht, Chiesis Aufsatz 1981 geschrieben, aber erst 1986 veröffentlicht.
213
Chiesi 1986: 114, H. d. A.
374
(C) Literaturwissenschaftliche Diskussion
Die Alchimie steht weder als Selbstzweck noch als Mittel christlicher Erlösung im Werk Marechals da. Ihre Einbindung in ein Netz von Traditionen im Sinne des Heldentums und der Geschichtsbejahung deckt in der Marechalforschung bisher nicht erkannte Bezüge auf. Auch Maria Rosa Lojo de Beuters Untersuchung über die Esoterik Marechals setzt sich ein präzises Ziel: die Interpretation der weiblichen Symbolik. Dabei bedient sie sich der Methode der „Amplifikation", 214 die Jung auf psychologischem Gebiet anwandte, und charakterisiert sie folgendermaßen: se trata de conectar los símbolos estudiados con los símbolos de la tradición universal - alquimia, mito, cábala, gnosis, misterios, etc. - que les sean afines, que implícita o explícitamente les estén vinculados, en busca, no de meras analogías externas, sino, justamente, de coincidencias en la orientación espiritual que puedan iluminar de alguna manera su sentido. 215 Die Fülle der von Lojo de Beuter dabei aufgespürten Beziehungen zur Universaltradition und ihre sichere Erkenntnis des alchimistischen Bezugs der Romane beeindruckt ebenso, wie sie nachdenklich macht: gibt es auch einen Sinn in der Fülle? In der Aufgabenstellung werden Verdienst und Nachteil dieser Arbeit deutlich: Lojo de Beuter wendet sich dem Aspekt des weiblichen Prinzips kompetent zu - andererseits muß sie sich, gemäß ihrem Forschungsziel, darauf beschränken. Doch in diesem Fall ist das Weibliche untrennbar von seiner Beziehung zum männlichen Prinzip des Helden. Die Einengung auf das weibliche Prinzip zeigt nur eine Seite der „Medaille", nicht das Ganze bzw. dessen Sinn. Besonders wenn die Autorin das Geschichtsbild Marechals streift, muß die programmatische Einschränkung notgedrungen zu einer unvollständigen, manchmal verzerrenden Darstellung führen. Die Frau kann beides sein: Führerin zur Unsterblichkeit oder - wie Evola es nannte - saugende, zerstörende Kraft des Männlichen. In alchimistischen Termini: das Männliche muß das Weibliche überwinden, um zur vollkommenen Einheit des alchimistischen Rebis oder Androgyns zu gelangen. Daher hebt Lojo de Beuter treffend die Ambiguität des Weiblichen hervor: Como ella [Thelma Foussat], también puede llevar al hombre hacia la intuición de lo Uno (no hombre ni mujer, ni padre, ni madre, sino inefable andrógino), o bien, envolverlo en la malla del deseo y de la violencia... 216 Lojo de Beuter betont die Unbestimmtheit der weiblichen materia prima, die die weitgespannten Kennzeichnungen von der Mutter, Braut, kosmischen Jungfrau bis zur doncella-prostituta 217 erfüllen kann: 214
Nach Jung ist Amplifikation die Anreicherung, Vermehrung bzw. Verdeutlichung eines dunklen Erlebnisses durch den psychologischen Kontext, Jung 1990: 333. Lojo de Beuter 1983: 17. 21< > Lojo de Beuter 1983: 55. 217 Lojo de Beuter 1983: 76. 215
3. Der esoterische Ansatz
375
Todas estas calificaciones aluden al inmenso vacío capaz de llenar todas las formas, que es la tragedia y a la vez la salvación del Eterno Femenino. 218 Die Frage, warum Lucía Febrero ausgerechnet in einem Bordell gefangen ist, erklärt Lojo de Beuter mit dem traditionellen Ritus der Heiligen Prostitution, etwa den licencias sexuales der Kleinen Eleusinischen Mysterien, 219 und sie schlägt den Bogen zum amor der Kriegerkaste: El budismo mahäyäna, por su parte, contempla al acto sexual como un medio de reintegración en la Unidad Trascendente, como » Via Crucis por la cual el individuo experimenta el misterio de la cosmogónica manifestación de la compasión« [Zimmer, Filosofías de la India], Este misticismo erótico parece provenir de la casta de los ksatriya o Guerreros, cuya vinculación por afinidad con el sufismo, con las cortes provenzales de amor, con los Templarios (también guerreros) hasta llegar a Dante y los Fedeli d'Amore (aunque el amor ha pasado aquí por el tamiz neoplatónico) no puede desconocerse. 220 Bereits Evola hatte diesen amor der Fedeli d'Amore auf die Sexualmagie bezogen. 221 Damit hat Lojo de Beuter einen wesentlichen Gesichtspunkt angesprochen: das Weibliche ist Prüfstein des Helden. Wegen der Aussparung des männlichen, kämpferischen Aspekts, deutet Lojo de Beuter Marechal allerdings (wie Foti) im Sinne eines chthonischen regressus ad uterum: pero Megafón realiza, con todo, una trayectoria semejante a lo que Mircea Eliade llama »la iniciación heroica« en la cual el héroe desciende, con grave riesgo de su vida, hacia el origen femenino del mundo, hacia la Gran Madre ctónica... 222 Doch Marechal will das Tellurische überwinden, daher gelten auch für Lojo de Beuter meine Einwände gegen Foti. Die Interpretin wird unsicher, wenn es um die Initiation geht: der Tod Megafóns sei „en cierto sentido" dem initiatischen Heldentod vergleichbar. 223 Warum nur „in gewissem Sinn"? Weil Lojo de Beuter aus einem Protagonisten, der zum chthonischen Mutterschoß zurückkehrt, kohärenterweise nicht das Heldische und Geschichtsbejahende erschließen kann, sondern nur die Paradiesessehnsucht. Damit ist aber eine vollständige Erfassung von Marechals Geschichtsauffassung ausgeschlossen. Zwar führt der chthonische Blickwinkel zur Erkenntnis des zyklischen Charakters mancher Symbole, doch schimmert hinter dem Zyklus bei Lojo de Beuter der Paradiesesgedanke hervor, wie sich das auch bei Coulson zeigen wird. Das bestätigt die Kritik im Exkurs: man kann nicht mit beliebigen außerlite-
218
Lojo de Beuter 1983: 82.
219
Lojo de Beuter 1983: 63 und 96.
220
Lojo de Beuter 1983:96.
221
Evola 1962: 330-341, „Über die initiatorischen Erfahrungen der Getreuen der Liebe". bes. 340. Evola versteht amor also weder rein realistisch (reale Frauen) noch rein symbolistisch (Frau als Gnosis und Heilige Weisheit).
222
Lojo de Beuter 1983: 60f, 98.
221
Lojo de Beuter 1983: 63.
376
(C) Literaturwissenschaftliche Diskussion
rarischen Interpretationssystemen an Marechal herangehen. Die Suche des Göttlichen durch die Frau, so Lojo de Beuter: obedecería - según Eliade - al intento humano de superar las desgarrantes oposiciones que se presentan en nuestro cotidiano mundo relativo, y trascender hacia la esfera del Absoluto, hacia el misterio de la Unidad donde el Bien y el Mal, lo Masculino y lo Femenino, la Paz y la Guerra dejan de oponerse y se contemplan »como los dos tiempos necesarios de una misma bondad« (M, pág. 168) en la Beatitud intemporal que todo lo trasciende. 224 Die Offenbarung der Totalität und Gegensatzlosigkeit durch Lucía Febrero sei la respuesta a la búsqueda del Paraíso en la Tierra que han emprendido Megafón y sus compañeros, y constituye una promesa. Lucía es la estrella indicadora de la nueva edad que sucederá a las edades hesiódicas del ciclo antiguo... 225 Die Anwendung von Eliades Bewertungen gibt den Schritt zu einer christlicheschatologischen Geschichtsdeutung bei Marechal vor, und die Spannungen, die auf die Rückkehr und Fortdauer der Geschichte deuten, bleiben unbemerkt oder lösen sich in Harmonie auf: Todo es finalmente aceptado - pues todo tiene un papel que jugar en el secreto plan divino - y todo es finalmente comprendido y redimido en la certeza de una beatitud donde la culpa y los conflictos no existen, o existen como superados. 226 Auf dieser Basis scheint der alchimistische Rebis mit Christus vereinbar, ohne daß man die chiffrierte Sprache der Alchimisten berücksichtigt, die Muttergottes und Lucia Febrero gehen ineinander über, die religiöse, metaphysische und initiatische Suche lösen sich in UnUnterscheidbarkeit auf. 227 Die Vereinigung des Helden mit der Frau wäre demnach eine Wiederherstellung des Paradieses, von dem der Mensch durch die Geschichte getrennt sei, und die Offenbarung durch Lucia Febrero weise auf ein irdisches Paradies, eine Überwindung der Gegensätze und Übersteigung der Natur. 2 2 8 Doch meint Marechal das so? Hat er es literarisch ausgeführt? Marechal ging es nicht um das Paradies im herkömmlichen Sinn, sondern um den Übergang zu einem immateriellen Krieg gegen die Fesseln des Ichs: die Ängste und die Todesfurcht. Megafóns Tod wird begriffen als „germen que anime las futuras batallas". Marechal setzt auch nicht literarisch um, was Lojo de Beuter aufgrund ihrer kulturphilosophischen Studien über die Dämonie des Weiblichen sagt. Der Tod Megafóns geschieht nicht wegen der doppeldeutigen dämonisch-verschlingenden Seite des Weiblichen, sondern er setzt den initiatischen saluto, den Gruß der symbolischen Frau, und die
224
Lojo de Beuter 1983:93.
22
5 Lojo de Beuter 1983: 100, H. d. A.
226
Lojo de Beuter 1983: 16.
227
Vgl. Lojo de Beuter 1983: 85, 87, 93.
228
Vgl. Lojo de Beuter 1983: 58f, 97.
3. Der esoterische Ansatz
377
mors triumphalis in Szene. So kommt das umfassende Wissen Lojo de Beuters über Symbole und Archetypen dem näher, was Jung das kollektive Unbewußte nannte, als Marechals spannungsgeladener Frage nach Ende und Rückkehr der Geschichte. Die Geschichte findet bei Marechal kein Ende, auch wenn einem Auserwählten der Aufstieg zur Einheit gelungen ist. Aus keinem anderen Grund macht Marechal mit Farias eine Figur zum Helden, die nicht die „concentración definitiva" in der Cuesta del Agua erreicht, der vielmehr sterbend das Geheimnis der Wiederkehr enthüllt wird. Deshalb findet Megafón Lucía Febrero, befreit sie aber nicht endgültig und wird ermordet. Nach Lojo de Beuter muß Lucia nicht mehr befreit werden, weil sie selbst die Freiheit ist 229 - ich meine, Lucía Febrero muß immer von neuem befreit, der Kampf um die symbolische Frau und das Schicksal der patria von immer neuen Suchern fortgeführt werden. 230 Die Arbeit Graciela Coulsons, Marechal. La Pasión Metafisica, 231 hat im Werk Marechals verdienstvoll die Existenz nichtchristlicher Quellen (die gnostischen, platonischen und neuplatonischen Elemente, die Bhagavadgltä, die indische Kastenund Zeitvorstellung) erkannt. Coulson resümiert als Ziel der Studie: estudiar la vision de mundo conformada por la obra de Leopoldo Marechal. El estudio ha demostrado una relación intensa con el esoterismo y con la filosofía platònica, que, tanto como su fe cristiana, justifican el fundamento esencialista y el optimismo escatològico del autor.232 Die Interpretin ordnet die genannten traditionellen Elemente im Werk Marechals jedoch als „sincretismo filosofico" ein und bewertet ihn im Rahmen eines christlicheschatologischen Optimismus, einer auf das Jenseits gerichteten Endzeiterwartung. Trotz der Vorzüge der Arbeit, sehe ich daher folgende Probleme: a)
Coulson tut sich schwer, ihre Sachkenntnis der traditionellen Elemente auf das literarische Werk anzuwenden. So kommt es im einzelnen zu Unterlassungen, Mißverständnissen und Fehldeutungen.
b)
Trotz der Belesenheit fehlt das Wesentliche: Coulson zieht keine Folgerungen aus der Existenz der nichtchristlichen Traditionen für einen weltanschaulichen Sinn. Daher bleibt es bei einem unverfänglichen, schwammigen Synkretismus, der die Verlegenheit darüber offenbart, sich darüber zu äußern, was Marechal eigentlich sagen wollte.
229
Lojo de Beuter 1983: 66.
230
MG 25 und 345. Diese Stellen über die Typenzyklizität begründen die Fortsetzung der Suche nach Lucia Febrero.
231
Coulson 1974.
232
Coulson 1974: 137.
(C) Literaturwissenschaftliche Diskussion
378
c)
Coulson nimmt Spannungen von christlichen und heidnischen Elementen nicht zur Kenntnis. Wie Núñez García bleibt sie im sicheren Hafen einer Marechaldeutung, die ein - wenn auch nicht strikt orthodoxes - Christentum behauptet.
d)
Coulsons Bestimmung der Weltanschauung Marechals muß daher im Rahmen eines „optimismo escatológico" bleiben, der nicht problematisierte christliche Tenor überdeckt alle anderen Daten.
Betrachten wir das gründlicher. Wenn Coulson über Zirkularität und Zyklizität des indischen oder griechischen Geschichtsbilds spricht, bleibt sie unscharf. Einerseits meint sie, Marechal habe diesen „Mechanismus" benutzt, andererseits zieht sie aus der Stelle über die „Wiedergeburten Teslers" den Schluß, Marechal mache sich hier über etwas lustig, an das er nicht glaube. 233 Coulson führt dazu ein Interview an, in dem Marechal sagte, er glaube nicht an die Reinkarnation, eine unnütze Wiederholung, die die Natur niemals begehe. Marechal verwehrt sich hier gegen die Idee einer identischen Wiederkehr des Gleichen. Eine derartige Ansicht Marechals habe ich nicht behauptet, sondern vielmehr eine Wiederkehr von Ereignis- und Menschentypen. Coulson gibt zwar die bedeutungsvolle Äußerung Marechals aus demselben Interview wieder, daß er die gegenwärtige Menschheit nicht für die erste halte, 234 will sich aber nicht festlegen, welche Schlüsse der Autor aus diesen nichtchristlichen Zeitvorstellungen zieht. Coulson jedenfalls entscheidet sich für die christliche Eschatologie. Die Aussage sterbender Personen hat für Marechal eine unantastbare Bedeutung. Der sterbende Tesler verkündet in Megafón im Kontext indischer Lehren, daß es in der universellen Existenz keine Endpunkte, sondern nur „puntos suspensivos" gäbe. Auch die Weltanschauung des Erzählers von MG ist vom Glauben an die Typenzyklizität geprägt. Farias erkennt sterbend, daß alles wiederkehrt. 235 Bei Coulson fehlen diese Daten, aber ihre Ortung und Auswertung wäre entscheidend für das Ziel der Interpretin gewesen, die Weltanschauung Marechals zu beurteilen. Coulson erkennt ferner die Notwendigkeit des Krieges, verharmlost jedoch seine grausame und leidvolle Bedeutung: Pero sólo muchos aftos después [d. h. viele Jahre nach „A Belona"] se confirma su significado no cruento... 236 Coulson begründet diese Behauptung mit einem Zitat Marechals in einem Interview:
«3 Coulson 1974: 25f, Marechal AB 36. Siehe oben, Kap. III § 2 : 6 3 . 235 BSA 291 und MG 25, 366. Coulson 1974: 28.
379
3. Der esoterische Ansatz
Existen las guerras justas. Claro que la guerra no tiene que ser cruenta. En mi próxima novela (Megafón) hay una guerra, precisamente. Una lucha que señala culpables y modifica conciencias... 237 Was Marechal an dieser Stelle behauptet, ist, daß Kriege nicht notwendigerweise blutig und ungerecht sein müssen (sie können es sein), was im normalen Sprachgebrauch impliziert, daß es andererseits auch blutige und gerechte Kriege gibt. Marechal sagt nicht 'tiene que ser incruenta'. Der Krieg M e g a f ó n s war nicht gewalttätig, er stellte nur Verantwortliche zur Rede, doch M e g a f ó n s Ende war blutig. Coulson schreibt Marechal keinen „strikten T h o m i s m u s " oder Katholizismus zu, sondern verweist darauf, daß der Autor selbst die Bezeichnung „cristiano católico" in einem Interview mit Nelson Osorio abgelehnt und sich als „cristiano sin aditamentos" bezeichnet habe.
238
Doch f ü r die Interpretin, der manchmal Zweifel gekommen
sein mögen, ist damit alles im Lot: der hombre
de sangre
darf Christus bleiben,
das B S A „es la entrada a una secta que aspira al conocimiento de Dios",
240
239
und
Lucía Febrero darf gefahrlos als „espíritu de D i o s " abgehakt w e r d e n . 2 4 1 Andererseits - wohl unter dem Eindruck einer Äußerung R a y m o n d de Beckers
242
- stellt sie Lu-
cia Febrero in eine Reihe mit der Gran Prostituta, la imagen denigrada, demoníaca y destructora que sintetiza la oscura corriente negativa inmanente en el hombre. En esta segunda proyección caben no sólo personajes como Irma, Thelma-Foussat-Cybeles y las pupilas sino también Lucía Febrero. 243 Coulson harmonisiert die Ambiguität des Weiblichen in einer allumfassenden christlichen Interpretation. Ähnliches geschieht mit der Alchimie, dem Heldentum und dem Geschichtsbild, was zur Fehleinschätzungen des R o m a n s Megafón
fuhrt:
No se trata sólo de buscar la esencia nacional, sino de crearla. A tal proyecto creador contribuye Adán por medio de un claro deslinde, una cuidadosa selección de elementos, rechazando algunas figuras y gestos, y aceptando otros. La contribución de Megafón en este sentido es menor; la de El banquete, nula. 2 4 4
237
Coulson 1974: 28.
238
Coulson 1974: 96.
239
Coulson 1974: 57, 100.
24
° Coulson 1974: 97.
241
Coulson 1974: 119.
242
Raymond de Becker, L'Hinduisme et la Crise du Monde Moderne, Paris Éditions Planete, 1970; in Coulson 1974: 36.
243
Coulson 1974: 36.
244
Coulson 1974: 51, H. d. A.
380
(C) Literaturwissenschaftliche Diskussion
Die offene Anklage des Kastenverfalls der Priester, Krieger und Bürger in MG sowie das Ziel eines esoterischen Schicksals der patria nach dem Paradigma von Marechals Martin-Fierro-Deutung, sind der Interpretin entgangen. 2 4 5 Zu dem Begriff des „Helden" schöpft Coulson aus Quellen wie Otto Rank oder Joseph Campbell, die sie referiert, 246 aber nicht auf das literarische Werk anwendet. Widersprüche lassen nicht auf sich warten: einerseits erklärt Coulson richtig, der Held sei ein Auserwählter, 247 andererseits will sie an Adán erkennen, daß jedermann ein (potentieller) Held ist: Pero Adán ha sido »elegido« por la Providencia [...] para ejemplarizar una verdad: la salvación está al alcance de todos [...] Desde el momento en que Adán encarna el concepto genérico del »ser humano«, es lícito concluir que en todo hombre existe potencialmente el heroísmo. 248 Der ansteigend geschichtsbejahende Charakter der folgenden Romane und der Begriff des initiatischen Heldentums kommt hier nicht zum Tragen. Marechal weiß, daß nicht jeder ein Held ist: viele, die die Initiation anstreben, scheitern - eben, weil sie nicht vermögen, Helden oder Eingeweihte zu werden. 2 4 9 Das Geschichts- und Weltbild, das Coulson Marechal zuschreibt, ist ähnlich verzerrt. So gilt für Banquete und Megafön in gleicher Weise der ,juiciofinalismo", 2 5 0 das Bankett nennt sie u. a. eine „profecía apocalíptica" und „visión negativa de la historia universal". 251 Dabei liefern Coulsons Quellen, etwa das Buch von Cirlot, 2 5 2 wichtige Hinweise, die in ihr einen zutreffenden Verdacht entstehen lassen: Según Cirlot, »la espiral, el caracol (emblema lunar), la mujer, el agua, el pez, pertenecen constitutivamente a ese mismo simbolismo de la fecundidad que aparece en todos los planos cósmicos«. Estas cinco figuras [...] podrían pues indicar un anhelo de renovación de la vida relacionado con los ritos cíclicos y una exaltación de la existencia terrestre muy contraria a la actitud de El banquete, aunque sugerida ya por la primavera de Adán. 253 Leider hat Coulson diese richtige Intuition nicht weiterverfolgt und das Geschichtsbild Marechals im christlichen „optimismo escatológico" eingeebnet. 2 5 4
245
Siehe oben, Kap. IV § 2: 127ff.
246
Coulson 1974: 76.
247
Coulson 1974: 77.
248
Coulson 1974: 79.
249
Der Gast des BSA, der Selbstmord beging, weil er die Probe nicht bestanden hat, die Gefährten Megafóns, die in den Spiralen des Château hängenblieben.
2
so Coulson 1974: 57.
251
Coulson 1974: 107.
252
Juan Eduardo Cirlot, Diccionario
2
53 Coulson 1974: 135.
254
Coulson 1974: 137.
de Símbolos,
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3. Der esoterische Ansatz
381
Würdigung Gemeinsam ist den esoterischen Deutungen Marechals, daß sie nicht über eine christlich-eschatologische Deutung hinausgehen. Die Verbindung von Esoterik, heidnischen Elementen und geschichtlicher Botschaft im Werk Marechals wird nicht geklärt. Auch wenn zum Beispiel Coulson nichtchristliche Elemente aufzeigt, bleibt die Frage offen: was verbindet diese Elemente? Was bedeuten sie für Marechal? Coulson und Lojo de Beuter haben wichtige Voraussetzungen erfüllt: sie haben Quellen über die Traditionen (u. a. Cirlot, Festugière, Guénon, Jung, Eliade) einbezogen und auf nichtchristliche Elemente im Werk Marechals aufmerksam gemacht. Doch Marechal ist kein Verfasser eines Handbuchs der Symbolik. Das literarische Netz traditioneller Elemente ist weder Selbstzweck noch enzyklopädisches Quiz für findige Exegeten. Der Autor wollte eine Botschaft übermitteln, die nicht mit jeder Optik, nicht mit jedem Interpretationssystem erfaßt werden kann. Die Elemente der Tradition haben für Marechal wohl eine ähnliche Bedeutung wie für Arnold Gehlen, der in Moral und Hypermoral gesteht: Der Verfasser hat in seinen Schriften seit jeher gern von Zitaten anderer Autoren Gebrauch gemacht und auch hier [...], umso lieber, als er aus den Stimmen aus manchen Jahrhunderten und Ländern immer wieder die Ermutigung schöpfen konnte, sich nicht in abwegigen Geländen zu bewegen. Er hofft, daß in diesen Stimmen wie seinen eigenen Gedanken sich das alte Wort bewährt: Inter folia fructus.255 Graciela Coulson und Lojo de Beuter gebührt das Verdienst, die Umrisse einer „zweiten Waffe", der traditionellen, nichtchristlichen Elemente Marechals, wahrgenommen zu haben - doch da sie, wie Foti und andere, die Alchimie im Werk Marechals dem christlichen Geschichtsbild unterordnen, erkannten sie nicht, daß es eine Waffe war. Im Unterschied zu diesen esoterischen Deutungen spürt der hier vorgestellte Ansatz die Vernetzung der Traditionen im Werk Marechals auf und erklärt ihren Sinn: die Entfesselung eines Kampfes zwischen christlicher und heidnischer Weltdeutung. Hinter der angelehnten Tür, die uns das Werk Marechals zeigt, wird seine Wahl der Geschichte sichtbar.
2SS
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Abbildungsverzeichnis
Abb. 1:
Latente Bedeutungen
19
Abb. 2:
Die Spirale der drei Seelenbewegungen
45
Abb. 3:
Die Geste des Geheimnisses
69
Abb. 4:
Amor, Androgyn und die sieben Stufen der Erweckung
89
Abb. 5:
Der grüne Löwe: Verwandlung des Mercurius
107
Abb. 6:
Mercuriusschlange, Anfang und Ende des »opus«
112
Abb. 7:
Die gekreuzigte Schlange der Alchimisten
122
Abb. 8:
Das Siegel des heiligen Servatius
123
Abb. 9:
Fiktionale Ebenen
337
Abb. 10: Fiktionale Ebenen
366
Personenregister
244 Alazraki, J. 306 Alonso, F. 262 Andersch, A. 305 Antin, M. 36; 176; 180 Aquin, Th. v. Aristóteles 78; 87; 148, 176; 180 Arlt, R. 305; 307 Aronne Amestoy, L. 264; 265 Asturias, M. A. 28; 216; 280 Augustin 32; 59; 77; 282 B Berenguer C., A. 305 Berg, W. B. 51; 114; 122; 321; 338; 340 Bernanos, G. 192; 303; 355 Bernárdez, F. L. 304; 311 Bioy Casares, A. 28 Bloy, L. 139; 192; 355 Borges, J. L. 14; 18; 28; 33; 35; 42; 48; 149; 161; 182; 189; 200 239-245; 253f; 256ff; 262; 265 268; 272; 281f; 285; 301; 305ff 311; 315ff; 332
Carpentier, A. 14; 26; 27; 48; 186; 216; 218-223; 231; 238; 253-258; 265; 267; 280 Casalla, M. Castañeda, H.-N. 13; Castellani, L. 302; 304;
141; 246; 327 139 311
Castiñeira de Dios, J. 77; 285; 301; 312f; 315 Cavallari, H. 321; 338f; 345; 357-362; 367f Centro 335f Cervantes 137; 140; 200; 254; 358 Chesterton, G. K. 177; 182; 186 Chiesi, B. 321; 370; 372ff Claudel, P. 193;302ff Cologne, D. 89; 99 Corro, G. P. del 338; 355ff Cortázar, J. 10; 14; 28f; 92; 133 141; 146; 159; 161; 163; 165 189f; 194; 200; 232; 245-253 254; 257f; 265-270; 306; 311 321; 338ff; 342; 345; 347f; 358 362f Corti, E. 331-335 Coulson, G. 75; 199; 321; 328; 338; 346f; 355; 370; 375; 377381 Cricco, V. 321; 338f; 344; 362-366; 369 Croce, B. 182 D Dante 36; 80; 84ff; 89ff; 99f; 118; 130; 182; 314; 317f; 327; 340f; 348-354; 375 Darío, R. 280f Demaría, F. 285; 301; 312; 315; 317 Disandro, C. A. 38; 244 Doli, R. 192f; 261; 309; 328
404
Register
Donoso, J. Dostojewski, F. M. Dufour, C. Dürrenmatt, F.
9 9 186; 267f 49 186
E Eliade, M. 39; 90; 356; 370; 375f; 381 Enzensberger, H. M. 12; 262 Evola, J. 51; 55; 60; 76; 81; 83; 89-92; 94ff; 98ff; 106 112; 116; 118; 122; 125; 132; 328; 350; 371; 374f F Felgueras, E. Fernández, M. Flaubert, G. Foti, J. A. Freud, S. Friedell, E. Fuentes, C. 233-238; 253f; Fukuyama, F. Fulcanelli
323 164; 203; 282; 362 358; 369 321; 370-372; 375 268; 356 277 10; 14; 28; 48; 133; 256f; 265ff; 272f 11 ; 273fF 92 G
García Caffarena, E. 321-325 García Márquez, G. 10; 14; 24; 26; 151; 187; 225-233; 236; 238; 254; 256ff; 264-267; 276 Gehlen, A. 225; 381 Ghiano, J. C. 306 Gil, N. N. 303; 325 Goethe, J. W. v. 19f, 80; 147; 189ff; 232 Gómez Dávila, N. 54 Granata, M. 324; 327
Green, G. 191; 355 Grossmann, R. 276; 321; 338; 340ff; 346 Guénon, R. 37; 45; 51; 54f; 60; 63f; 70; 83; 85; 89-92; 94f; 99; 102f; 119; 131; 188; 284; 309; 318; 327f; 350; 355; 369; 371f; 381 H Hebraeus, L. 87 Heidegger, M. 83 Heise, H.-J. 272 Hernández, J. 189; 282; 309 Hernández, P. 305 Hesiod 52; 60f; 118; 124; 129 Hudde, H. 216; 246 I Ibarguren, F.
301; 311 J
Jauretche, A. 127; 285 Jitrik, N. 34; 321 Joyce, J. 133; 175-181; 268; 270; 282; 302; 355 Jung, C. G. 83; 86; 90; 103f; 112f; 116; 118; 123; 125; 280; 303; 356; 370; 372; 374; 381
K Kavanagh, C. 90; 101; 130; 301; 308; 317-319 Kierkegaard, S. 191 Kleist, H. v. 261 Kojéve, A. 273f
405
Personenregister
Kuon, P.
R
321; 338; 347-354 L
Lafforgue, J. Lojo de Beuter, M. 374-377; 381 Lugones, L.
305 321 ; 347; 370; 28 lf
Riviera, C. della 104f; 371 Rosbaco, E. 148f; 163; 283; 286f; 292; 308-310 Rössner, M. 216f; 274 Rulfo, J. 10; 14; 137; 223-225; 254; 256f; 265
M Maeztu, R. de 200 Mann, H. 334 Mann, K. 225 Mann, T. 141; 187; 201; 246; 358 Maréchal, Ma. de los A. 286f Maturo, G. de Sola 264; 265; 321; 325ff; 338; 343f Meinvielle, J. 55; 287; 310 Meyrink, G. 132 Mujica Lâinez, M. 306 N Nietzsche, F. 11; 60f; 73; 83; 202; 230; 267ff Nossack, H. E. 262 321; 326; 328-331; Nunez G., F. 338; 342f; 378
Sàbato, E. 33; 92; 141; 150; 190; 267; 269f; 281; 306; 311; 313;347 Sarrocchi C., A. C. 327 Sartre, J.-P. 83; 188; 267ff; 355 Scalabrini Ortiz, R. 35; 48; 309 Schiwy, G. 272 Siebenmann, G. 266 Silvetti Paz, N. 305 Sola González, A. 324 Squirru, R. 101; 130; 160; 192; 285; 301; 313-317, 319; 370
Tell, E. Thiel, C. Tiempo, C.
324 105 301ff U
Paternain, A. 324 Pauwels, L. 102 Paz, O. 234; 265; 267; 273; 275; 305; 376 Pérez, J. R. 324 Pol, O. 324 Pollmann, L. 217 Pórtela, J. G. 327f Pound, E. 41; 256 Prieto, A. 85; 321; 338f; 352
Unamuno, M. de
200; 283 ; 318 V
Valdivieso, J. u. L. T. 338,345 Valli, L. 85-91; 93f; 101; 316; 327; 369; 371 Vargas Llosa, M. 28; 84; 155; 194; 229f; 239; 273; 276 Vittori, J. L. 324
406
Register
Sachregister
Alchimie 12; 14; 62; 69; 74; 86; 307; 313f; 370; 381 118; 125
Siehe auch Stil
amorfati Androgyn
Siehe Erzähltechnik
Ende der Geschichte
Siehe auch Kap. IV § 2
Allegorie
Empathie
47; 50; 129
Siehe Symbolik
Auktoriale Erzählung Siehe Erzähler
B Bedeutungen
Siehe Geschichte
Epos 181; 201f; 213f; 239; 245; 276f Erklärungsskizze 14, 18; 21 ff; 130; 253; 271 Erzähler 133f; 136; 171; 191; 358 Auktoriale Erzählung
137
Ich-Erzählung
137
Periphere Ich-Erzählung
135
Personale Erzählung
133
Rahmenerzählung
Siehe Latente B.
Bhagavadgitä 51; 54; 60; 65; 125; 129; 250; 334f; 377 Brahmane 52f; 55f; 99
Erzähltechnik
136
13f; 27f; 133
Siehe auch Kap. V Empathie Ich/Er-Bezug
136; 139 138
Zirkuläre Erzählform 26; 28; 227; 257
Christentum 13f; 61-81; 84; 86; 118; 259; 309; 321 Cuba 11; 258f; 275; 285; 292f Cursos de Cultura Católica 55; 176; 193; 283; 301f; 310f; 313; 316
Fedeli d'Amore
84ff
Siehe auch Kap. IV § 1
Geschichte Ende der G.
Dualismus
9; 273
Fortdauer der G. 14; 65; 72; 110; 227
D 37f; 74ff
Geschichtsbejahung
24
Sachregister
407
Geschichtsvemeinung
24
Geschichtliches Schicksal Geschichtsbewertung
124
Siehe Symbolik
Erzähltechnisches Kriterium 28; 136 Merkmalskriterium
27
Toposkriterium
27
Ghibellinismus
78; 316; 328
Siehe auch Kap. IV § 1
Gral
Latente Bedeutungen 17-20; 35; 41; 67; 79; 81; 130; 133; 169; 232; 279 attributive
19
implikative
20
Linie und Kreis Literaturkritisches
Siehe Symbolik
Handlung 238; 253; 254 Heidentum
49; 65; 219;
Spannungen zwischen
Chri-
stentum und H.
Homogenitätsthese
338; 339-355
Siehe auch Patchwork-Hypothese
I Ich-Erzählung Siehe Erzähler
Identität Initiation
10; 30; 47 12; 64; 70; 80; 83
Siehe auch Kap. IV
M Madonna Intelligenza 93; 208; 303; 354 Marechal-Deutungen
Kalki
337
Esoterischer Ansatz
370
Religiöser Ansatz
322
Martin-Fierro-Deutung 127 Martinfierrismo 281 36; 62; 85; 126 Mehrfacher Sinn Mythos 236; 255; 264; 266f N Nachlaß
14; 284-286 O
Osiris
Siehe Symbolik
Kastenlehre 27; 34; 51-61; 85; 90 Kontemplation 51; 60; 129 Siehe auch Handlung, Tat
Krieg 12; 47; 57; 67; 76ff; 210; 219; 256 Krieger Siehe
75; 86;
Erzähltechnischer Ansatz
K
Kshätriya
124
Siehe Kap. VI
H
Siehe
lapis
Kshätriya
52-56; 60f; 72; 99
Siehe Symbolik
Paradies 41; 217; 276f Patchwork-Hypothese 160-165; 213; 321 patria 98ff; 128 Periphere Ich-Erzählung Siehe Erzähler
408
Register
Peronismus 4; 49; 58; 138; 283-286; 289; 292f Personale Erzählung
Symbolik (das) Verlorene Androgyn
Siehe Erzähler
Quadratur des Kreises Quellenproblem
Kalki
61 146
lapis
102ff 116
Osiris
83 103 Quadratur des Kreises 66; 116 124
Siehe Symbolik
14; 284-286
Spirale Uroboros Witwe
R Rahmenerzählung 97; 221; 223; 238; 254; 267; 370; 375 uterum
S
Schicksal 47 Sein-Sollen-Gefalle 14; 25ff; 218; 257; 262 Spannungen zwischen Christentum und Heidentum 35; 126; 128; 131; 321 Siehe auch Kap. III 6 2
Allegorie
182;186
Detaillierung
204
Dreitakt-Zuspitzung
205 195; 204
Hyperbole
136; 195
Stilbruch
Strukturalismus
Traditionalismus 36; 65; 83; 131 Traditionsvernetzung 83; 101 Transkription der Romanstruktur 14 Transkription des AB
153
Transkription des BSA
154
Transkription des MG
156
Typenzyklizität
71; 124; 129; 200 U
Siehe Traditionalismus
Utopie 28; 216; 219; 233; 250; 259; 263f; 267
199; 201; 315
Hypallage
Rückblende
52; 56; 60; 65; 334 Siehe auch Handlung
Urtradition
Stil
Piatonismus
Tat
Siehe Symbolik
Siehe Symbolik
Metapher
112 121 88; 94f; 99f; 106 115
Uroboros
Spirale
Humor
45 116
T
Siehe Erzähler ad
88; 97 109 83 116
Gral
Q
regressus
95; 97-100 119
203 169; 181; 187
V activa Siehe auch Handlung
151 157; 188; 196
22; 273; 331-336
55 373
Vaiçya vita
w Wissen
60; 74
Sachregister
409
Witwe Siehe Symbolik
Z Zeit
78 Zeitgestaltung Zeitlichkeit
Zirkuläre Zeit
170 78 24; 2 2 7