Strategien der Individualisierung: Neue Konzepte und Befunde zur soziologischen Individualisierungsthese 9783839433478

The concept of individualization generally carries negative connotations: be it with respect to a growing separation and

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German Pages 304 Year 2016

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Inhalt
1. Einführung
1.1 Individualisierung als soziologische Denkfigur
1.2 Fragestellung der Studie
1.3 Gliederung des Vorhabens
2. „Die Menschen sind zur Individualisierung verdammt“ Neue Perspektiven auf Individualisierungsprozesse seit den 1980er Jahren
2.1 Die Individualisierungsthese nach Ulrich Beck und ihre Folgen
2.2 Individualisierung als konstitutive Grundstruktur der Moderne
2.3 Soziologische Debatten im Anschluss an die Individualisierungsthese
2.3.1 Individualisierung und Analysen sozialer Ungleichheit
2.3.2 Individualisierung und biografische Lebensführung
2.3.3 Individualisierung als sozialstrukturelles und kulturelles Phänomen
2.4 Konzeptioneller Ausgangspunkt und Fragestellung der Arbeit
3. Die theoretische Grundstruktur der Individualisierungsthese nach Niklas Luhmann
3.1 Der Mensch als Individuum und Subjekt
3.2 Individuum und Individualität als Zugang zum Weltgeschehen
3.3 Individuum, Individualität und Individualismus bei Niklas Luhmann
3.3.1 Luhmanns Kritik am Individualisierungstheorem
3.3.2 Das Verhältnis Individuum und Gesellschaft als logisches Problem
3.3.3 Das Individuum und sein System-Umwelt-Verhältnis
3.3.4 Vom Ende des Individuums zur Individualität ohne Ende – Luhmanns Beitrag zum Individualisierungstheorem
3.4 Strategien der Individualisierung – Ausblick über die theoretischen Grundlagen der Arbeit
4. Anlage der Untersuchung
4.1 Die subjektorientierte Soziologie als kritische Ausrichtung der explorativen Untersuchung
4.2 Allgemeine Überlegungen zur Operationalisierung der Individualisierungsthese
4.3 Die Operationalisierung der Forschungsthese
4.4 Die wissenschaftliche Methode: narrative Interviews
4.5 Die Auswahl der Interviewpartnerinnen und Interviewpartner
4.6 Die Datenerhebung
4.7 Die Datenauswertung
5. Darstellung der empirischen Ergebnisse
5.1 „Große Wahlmöglichkeiten hatte ich nicht“ – Individualisierung im Rahmen familiärer Traditionen
5.2 „Ich hatte selbst überhaupt keinen Plan“ – Individualisierung als Prozess der Selbstfindung
5.3 „Das Leben selbst hat mich gelehrt“ – Individualisierung als offensiver Anpassungsprozess
5.4 „Die Wahrnehmung der eigenen Freiheit ist eine Frage des Bewusstseins“ – Individualisierung als subjektive Freiheit
5.5 Exemplarische Beispiele für Individualisierung: Eine Zwischenbetrachtung
6. Die blinden Flecken der Individualisierungsdebatten Ergebnisse aus der empirischen Untersuchung
6.1 Selbstbegegnung als Ausgangspunkt von Individualität
6.2 Die blinden Flecken der Individualisierungsdebatten
6.2.1 Soziologische Individualisierung und das psychologische Konzept Individuation
6.2.2 Rückbindung des Individuums in familiäre Institutionen
6.2.3 Entscheiden und Handeln im Rahmen von Individualisierungsprozessen
6.2.4 Therapeutische Praxis als reflexives Handlungsmodell
7. Individualisierung revisited: Vorschläge für eine konzeptionelle Erweiterungen des soziologischen Begriffs der Individualisierung Eine Schlussbetrachtung
8. Literatur
Danksagung
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Strategien der Individualisierung: Neue Konzepte und Befunde zur soziologischen Individualisierungsthese
 9783839433478

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Bettina-Johanna Krings Strategien der Individualisierung

Gesellschaft der Unterschiede | Band 31

Bettina-Johanna Krings (M.A. Politische Wissenschaft, Soziologie, Ethnologie; Dr. phil. in Soziologie), leitet den Forschungsbereich »Wissensgesellschaft und Wissenspolitik« des Instituts für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Ihre Forschungsschwerpunkte sind Technische Innovationen und Auswirkungen auf Arbeitsstrukturen, Theorien und Methoden der Technikfolgenabschätzung, Mensch-Maschine-Interaktionen sowie Soziologische Theorien zur Entwicklung moderner Gesellschaften.

Bettina-Johanna Krings

Strategien der Individualisierung Neue Konzepte und Befunde zur soziologischen Individualisierungsthese

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld

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Inhalt 1. Einführung   | 9 1.1 Individualisierung als soziologische Denkfigur  | 11 1.2 Fragestellung der Studie  | 14 1.3 Gliederung des Vorhabens  | 16

2. „Die Menschen sind zur Individualisierung verdammt“ Neue Perspektiven auf Individualisierungsprozesse seit den 1980er Jahren   | 19 2.1 Die Individualisierungsthese nach Ulrich Beck und ihre Folgen  | 20 2.2 Individualisierung als konstitutive Grundstruktur der Moderne  | 25 2.3 Soziologische Debatten im Anschluss an die Individualisierungsthese  | 35 2.3.1 Individualisierung und Analysen sozialer Ungleichheit  | 37 2.3.2 Individualisierung und biografische Lebensführung  | 46 2.3.3 Individualisierung als sozialstrukturelles und kulturelles Phänomen  | 57 2.4 Konzeptioneller Ausgangspunkt und Fragestellung der Arbeit  | 66

3. Die theoretische Grundstruktur der Individualisierungsthese nach Niklas Luhmann   | 71 3.1 Der Mensch als Individuum und Subjekt  | 74 3.2 Individuum und Individualität als Zugang zum Weltgeschehen  | 85 3.3 Individuum, Individualität und Individualismus bei Niklas Luhmann  | 90 3.3.1 Luhmanns Kritik am Individualisierungstheorem  | 91 3.3.2 Das Verhältnis Individuum und Gesellschaft als logisches Problem  | 96 3.3.3 Das Individuum und sein System-Umwelt-Verhältnis  | 104 3.3.4 Vom Ende des Individuums zur Individualität ohne Ende – Luhmanns Beitrag zum Individualisierungstheorem  | 112 3.4 Strategien der Individualisierung – Ausblick über die theoretischen Grundlagen der Arbeit  | 116

4. Anlage der Untersuchung   | 121 4.1 Die subjektorientierte Soziologie als kritische Ausrichtung der explorativen Untersuchung  | 122 4.2 Allgemeine Überlegungen zur Operationalisierung der Individualisierungsthese  | 126 4.3 Die Operationalisierung der Forschungsthese  | 132 4.4 Die wissenschaftliche Methode: narrative Interviews  | 135 4.5 Die Auswahl der Interviewpartnerinnen und Interviewpartner  | 138 4.6 Die Datenerhebung  | 140 4.7 Die Datenauswertung  | 144

5. Darstellung der empirischen Ergebnisse   | 151 5.1 „Große Wahlmöglichkeiten hatte ich nicht“ – Individualisierung im Rahmen familiärer Traditionen  | 155 5.2 „Ich hatte selbst überhaupt keinen Plan“ – Individualisierung als Prozess der Selbstfindung  | 177 5.3 „Das Leben selbst hat mich gelehrt“ – Individualisierung als offensiver Anpassungsprozess  | 194 5.4 „Die Wahrnehmung der eigenen Freiheit ist eine Frage des Bewusstseins“ – Individualisierung als subjektive Freiheit  | 213 5.5 Exemplarische Beispiele für Individualisierung: Eine Zwischenbetrachtung  | 229

6. Die blinden Flecken der Individualisierungsdebatten Ergebnisse aus der empirischen Untersuchung   | 233 6.1 Selbstbegegnung als Ausgangspunkt von Individualität  | 233 6.2 Die blinden Flecken der Individualisierungsdebatten  | 239 6.2.1 Soziologische Individualisierung und das psychologische Konzept Individuation  | 240 6.2.2 Rückbindung des Individuums in familiäre Institutionen  | 249 6.2.3 Entscheiden und Handeln im Rahmen von Individualisierungsprozessen  | 256 6.2.4 Therapeutische Praxis als reflexives Handlungsmodell  | 262

7. Individualisierung revisited: Vorschläge für eine konzeptionelle Erweiterungen des soziologischen Begriffs der Individualisierung Eine Schlussbetrachtung   | 271 8. Literatur   | 279 Danksagung   | 299

„Ein Individuum ist also jetzt die Mannigfaltigkeit, die sich als Einheit sieht. Es ist die Welt, gesehen von einem Punkt aus, in sich realisiert und dadurch anderen zugänglich gemacht. Es kann sich selbst, das liegt in dieser Idee zwingend begründet, nur im Reiche der Freiheit realisieren; sonst wäre es weder selbstständig dargestellt noch einzigartig. Daraus ergeben sich Forderungen an Institutionen und Praktiken der Erziehung und der Politik.“ (Niklas Luhmann 1998:214)

„Weil jeder Mensch aufgrund des Geborenseins ein initium, ein Anfang und Neuankömmling in der Welt ist, können Menschen Initiative ergreifen, Anfänger werden und Neues in Bewegung setzen. […] Der Neuanfang steht stets im Widerspruch zu statistisch erfassbaren Wahrscheinlichkeiten, er ist immer das unendlich Unwahrscheinliche; er mutet uns daher, wo wir ihm in lebendiger Erfahrung begegnen […], immer wie ein Wunder an.“ (Hannah Ahrendt 1996:215)

1. Einführung

In modernen Gesellschaften ist die Verwendung des Begriffspaares Individuum und Individualität zu einer grundlegenden Kategorie der Selbstbeschreibung des Menschen geworden. Diese Verwendung blickt auf eine lange Tradition in der Philosophie zurück, in der es schon seit der Antike leidenschaftliche Reflexionen über die ontologische Bedeutung von Individuum gibt. So geht hier der Begriff auf das lateinische Wort individuare zurück, das im wörtlichen Sinne das „Unteilbare“ sowie das „Untrennbare“ meint. Die Idee, die kognitive Vorstellung, die mit diesem Begriff verbunden war, bezog sich auf eine kleinste mögliche Einheit, die nicht weiter differenziert werden kann. Das Individuum war demnach die kleinste Einheit eines Ganzen. Diese Einheit selbst erschien als ein Einzelnes und konnte von anderen (kleinsten) Einheiten unterschieden werden. Vor diesem Hintergrund definierte die Philosophie den Begriff des Individuums als „Existenz einzelner Seiender, die voneinander unterschieden sind“ (Bösch 2011:1227). Als methodologisch problematisch erschien in den philosophischen Denkfiguren regelmäßig die Frage nach dem Verhältnis dieser kleinsten Einheit zu einem großen Ganzen und – was noch wesentlich zentraler schien – wie dieses Verhältnis überhaupt beschrieben werden kann. Im Verlauf der philosophischen Diskurse wurden über die Jahrhunderte hinweg phänomenologische und sprachtheoretische Konzepte vorgelegt, die dieses Verhältnis logisch zu ergründen suchten. Trotz dieser Bemühungen hat sich an der ursprünglichen Einschätzung wenig geändert, nämlich dass sich der Zusammenhang zwischen dem Individuum und dem Ganzen rational nicht begreifen lässt (ebd., S. 1228). Dennoch scheint diese Frage bis in die heutige Zeit stimulierend für weitere wissenschaftliche Anstrengungen zu sein, die logischen Probleme dieses Verhältnisses vor neuen Parametern und Beobachtungen auszuloten. Ausgangspunkt dieser Bemühungen ist hierbei die grundsätzliche Frage nach der „ontologischen oder anthropologisch-existentiellen Kategorie“ (ebd., S. 1227; Eberlein 2000) geworden. Das bedeutet, die reflexiven Anstrengungen richten sich nun verstärkt auf die Identifikation der Einzigartigkeit des Individuums. Während sich diese Bemühungen in historisch frühen Phasen nicht notwen-

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Strategien der Individualisierung

digerweise auf Menschen, sondern auch auf Ordnungs- und Gattungsverhältnisse äußerer Phänomene bezogen, änderte sich dies mit Beginn der Neuzeit grundlegend. Das Individuum wurde vor den Ideen der Aufklärung zu einem „einzelnen Mensch[en], der seine Eigenheit als prozesshafte Einigung und Zuschreibungen“ (ebd., S. 1277; Geisen 2011) erkennen musste. Weniger vor der Perspektive der Einzigartigkeit des Menschen als vielmehr eines praktisch-expressiven Verständnisses zur Entstehung moderner Gesellschaften stehen auch die Arbeiten aller Gründungsväter der Soziologie in diesen philosophischen Traditionen (vgl. etwa Simmel 1984; Kippele 1998; Schroer 2001a). So wurde vor der Beobachtung fundamentaler Veränderungen des Übergangs von Agrar- zu Industriegesellschaften ebenfalls der Versuch unternommen, das Verhältnis Individuum und Gesellschaft auszuloten und (neu) zu beschreiben. Soziale Prozesse der Individualisierung wurden hierbei von allen Gründungsvätern als eines der wesentlichen Charakteristika der Entstehung moderner Gesellschaften beschrieben. Unter dem Eindruck und der kulturellen Wucht der historischen Umbruchsituationen entwickelten sie modernisierungstheoretische Perspektiven, die diese Prozesse schon früh als höchst widersprüchlich und komplex beschrieben. Gleichzeitig prägten sie kognitive Konzepte zu sozialen Individualisierungsprozessen, die die „Freisetzung“ der Individuen aus traditionellen Strukturen und sozialen Restriktionen betonten. Das zunächst positiv konnotierte Bild der „Freisetzung“ wurde allerdings von ihnen selbst differenziert, umfassend und höchst kritisch beschrieben. Diese Denkfiguren prägen bis in die heutige Zeit die soziologische Perspektive auf Individualisierungsprozesse obgleich sich die empirische Ausgangslage fundamental verändert hat. So wurden die strukturellen und kulturellen Folgen dieser Freisetzungsprozesse auch in jüngeren soziologischen Debatten vielfältig thematisiert und bewertet und als „Wertewandel“, „Strukturwandel“ bis hin zur „Versklavung“ (Kron 2002:271; Kippele 1998; Junge 2002) des Individuums interpretiert. Diese Interpretationen haben auch Eingang in die weitere modernisierungstheoretische Entwicklung von Individuum und Individualität innerhalb der soziologischen Disziplin gefunden (Luhmann 1997, 1998). Obgleich sich die Soziologie als diejenige Disziplin konstituierte, die das Verhältnis von Individuen und der Gesellschaft systematisch empirisch untersuchte, geriet bei diesen Beschreibungen die (subjekt)philosophische Fragestellung nach der Einzigartigkeit des Individuums aus dem Blickfeld und damit auch die Differenzstruktur des Individuums (Luhmann 1998). Das Begriffspaar Individuum und Individualität wurde vor dem Anliegen, Transformationsprozesse von Gesellschaften zu beschreiben, in eine historische Perspektive überführt. Individualisierungsprozesse als soziale Phänomene wurden so zunehmend mehr aus einer makrosoziologischen Perspektive betrachtet, was eine auf diese Dynamiken bezogene Vorstellung von Individualität hervor-

1. Einführung

brachte (Luhmann 2008b; Bösch 2011; Eberlein 2000). Diese Sichtweise prägt bis in die heutige Zeit den deutschsprachigen Diskurs von Individualisierung.1

1.1 I ndividualisierung als soziologische D enkfigur Deutungsmuster im Hinblick auf gesellschaftliche Prozesse der Individualisierung sind inzwischen als explizite und ausgewiesene Forschungsperspektiven in der soziologischen Disziplin angelegt und unterliegen hierbei den unterschiedlichsten Bewertungen.2 Diese wurden in einer neuerlichen Diskussionsphase durch verschiedene Arbeiten von Ulrich Beck in den 1980er Jahren in Deutschland angeregt und durchliefen leidenschaftlich geführte Diskussionen innerhalb der Disziplin, die sich auch in öffentlichen Diskursen niederschlugen (vgl. Kap. 2). Obgleich diese Diskussionen im Laufe der letzten Jahrzehnte durchaus konjunkturellen Schwankungen unterlagen, bleibt die theoretische und empirische Relevanz von Individualisierungsprozessen für die soziologische Disziplin umstritten. Dies reicht von der Einschätzung, dass „es mit der Aktualität der Individualisierung in der soziologischen Theorie vorbei ist“ (Kron, Horáček 2009:7) bis hin zu der Auffassung, dass Individualisierung keineswegs nur „[…] ein Phänomen unserer Tage [sei]. Sie ist das Programm des menschlichen Lebens – im Sinne sowohl der Menschwerdung jedes Individuums als auch der Befreiung der Menschheit von den Fesseln vorgegebener Lebensweisen“ (Nollmann, Strasser 2004a:9).

Allerdings erscheinen diese polarisierten Diskurse wenig zielführend, wenn es darum gehen soll, den theoretischen Gehalt und die empirische Relevanz des Individualisierungstheorems für die soziologische Disziplin auszuweisen. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Prozessen der Individualisierung ist jedoch – und das macht gerade ihre Schwierigkeit aus – komplex und umfassend, denn die Implikationen dieser Prozesse deuten darauf hin, dass sie auf der theoretisch-analytischen Ebene das „Konstituens soziologischer Theoriebildung“ (Giddens 1995:60) schlechthin bilden. Die intensive Beschäftigung mit dem Theorem zeigt, dass hier spezifische Grundprobleme moderner Vergesellschaftung verhandelt werden, nämlich „die Versöhnung von individuel1 | Die vorliegende Arbeit bezieht sich aufgrund der Fülle des Materials auf den deutschsprachigen Diskurs und bezieht lediglich internationale Arbeiten mit ein, die diesen Diskurs nachhaltig geprägt haben (vgl. z. B. Kron 2002). 2 | Eine umfassende Darstellung der Literatur zu dieser Debatte findet sich in Kap. 2 und 3 der vorliegenden Arbeit.

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Strategien der Individualisierung

len und sozialen Ansprüchen bei gleichzeitiger Anerkennung ihrer Differenz“ (Giddens 1995:60). Ob diese Beziehung zwischen individuellen und sozialen Erwartungshaltungen nun als Versöhnung oder aber als ein Dauerkonflikt interpretiert wird und wie dieses Verhältnis allgemein zu bewerten ist, sind Fragen, die auf eine Vielzahl methodologischer Probleme und Spannungsfelder hinweisen, in der sich die Soziologie mit ihrer Forschungsperspektive auf die Gesellschaft, bzw. auf soziale Phänomene per definitionem befindet.3 Diese methodologischen Probleme bestehen insbesondere im Hinblick auf Individualisierungsprozesse, da das Individuum in seinem Verhältnis zur Gesellschaft weitgehend unbestimmt bleibt. Dieses Defizit wurde vor allem von Niklas Luhmann in seinen Arbeiten zu Individuum, Individualität und zu Prozessen der Individualisierung formuliert und kritisiert. Nach Luhmann hat dieses Defizit im Rahmen der soziologischen Theoriebildung schon früh dazu geführt, dass der Gegensatz von Individuum und Gesellschaft in ein „Konditionierungs- und Steigerungsverhältnis“ (Luhmann 1998:150) übersetzt wurde und lange Zeit die Differenzen zwischen Individuum und Gesellschaft verschleiert haben (vgl. Kap. 3).4 Das Konditionierungs- und Steigerungsverhältnis bezog sich schon früh in der soziologischen Begriffsbildung auf die Metapher der „Freisetzung der Gesellschaftsmitglieder von traditionalen Bindungen und stereotypisierenden Zwängen“ (Honneth 2002a:141; Schroer 2008) und verweist historisch auf die wirtschaftlichen Umwälzungen sowie die kulturgeschichtlichen Entwicklungen im 19. und 20. Jahrhundert in Europa. Tatsächlich kann im Lau3 | Die Soziologie hat sich als eigenständige wissenschaftliche Disziplin Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts in Europa ausgebildet und sich von benachbarten Disziplinen wie der Nationalökonomie, Geschichtswissenschaft und der Philosophie abgegrenzt, indem neue Sichtweisen auf gesellschaftliche Phänomene und Entwicklungen entwickelt wurden. „Spätestens seit dieser Zeit stellen sich zentrale Fragen der Theoriebildung immer wieder neu: Fragen nach dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, Fragen nach dem wechselseitigen Einfluss gesellschaftlicher Strukturen und des Handelns von Menschen sowie Fragen nach angemessenen Regeln der empirischen Sozialforschung […]“ (Baur et al. 2008:7; Schimank 2002). 4 | Freilich haben, wie vor allem Schroer sehr anschaulich zeigt, die Gründungsväter der Disziplin Max Weber, Georg Simmel, Emile Durkheim u. a. keine einheitliche Sicht auf diese Prozesse entwickelt. Im Gegenteil, sie analysieren und bewerten den empirischen Gegenstand „Freisetzung aus traditionalen sozialen Strukturen” sehr unterschiedlich (Schroer 2001a, 2001b). Darüber hinaus weisen gerade die „Klassiker” auf eine hohe Sensibilität, was die Komplexität des Themas anbelangt. So zitiert beispielsweise Honneth Max Weber, der an einer Stelle davon spricht, dass „mit dem Ausdruck ‚Individualismus‘ das ‚denkbar Heterogenste‘ gemeint“ (Weber 1972:92 zitiert in: Honneth 2002a:142) sei. In der Tat hat sich diese Einschätzung bis heute gehalten.

1. Einführung

fe dieser gesellschaftlichen Veränderungen eine Steigerung sozialer Freisetzungsprozesse beobachtet werden. Diese umfassen empirisch vor allem eine zunehmende Liberalisierung religiöser Glaubensvorstellungen und ihrer Praxis, eine zunehmende Freisetzung aus ständischen und sozialen Bindungen sowie die Öffnung der Lebensgestaltung auf der Basis institutioneller sozialer Sicherungssysteme. Im historischen Verlauf ermöglichten diese den Individuen, sukzessive eigene Vorstellungen ihrer Lebensführung zu entwickeln. Diese Dynamik ist längst noch nicht abgeschlossen, sondern prägt kontinuierlich die Entwicklung der institutionellen Rahmenbedingungen moderner Gesellschaften ebenso wie die normativen Konzepte der Selbstauslegung des modernen Individuums. Nicht zuletzt durch die einschlägigen Arbeiten von Zygmunt Baumann veränderte sich (auch) in der deutschsprachigen Soziologie die Perspektive auf Individualisierungsprozesse von Menschen in aktuellen Gesellschaften. Inspiriert von der Frage nach der Moralentwicklung des Menschen befasst sich Baumann mit der Einbettung der Menschen in gesellschaftliche Strukturen und beschreibt diese in einem weiten Sinne als ein „Mitsein“ (Baumann 2000a:203; Taylor 1996, 2009). Auf einer übergeordneten Ebene existiert für ihn das Individuum als „Einzelwesen“ im Rahmen des menschlichen Zusammenlebens nicht (mehr) (ebd., S. 203). Die Ausbildung der Individualität wird für ihn zu einer notwendigen Lebensform, die sich durch Sprech- und Handlungsakte konstant und immerzu Ausdruck verleiht. So kann das Individuum und seine Handlungspraxis gar nicht als vereinzelter Akt dargestellt werden. Im Gegenteil: Individualisierungsprozesse vollziehen sich auf einer Zeitachse, die wegen ihrer Unendlichkeit „niemals als Ganzheit, sondern nur als „Fragment“ (Bösch 2011:1234) zu bestimmen seien. Die (reflexive) Ausbildung der Individualität wird hier zur notwendigen Voraussetzung, um sich in sozialen Strukturen einzubringen; sie werden gleichsam zum Vollzug sozialer Interaktionen und Strukturen (Baumann 2000b). Obgleich Baumann – ähnlich wie der Sozialphilosoph Charles Taylor – hierbei die Frage nach dem moralischen Verhalten von Individuen in den Vordergrund stellt, eröffnet er mit seinen Thesen neue Beschreibungsformen des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft in aktuellen Gesellschaften. Auf der Basis dieses Perspektivenwechsels könnten sich wieder die Kreise zu den methodologischen Fragen schließen, die schon früh in der Philosophie formuliert wurden: Wie lässt sich der Zusammenhang zwischen Individuum und dem Ganzen begreifen? Ist mit dem Ganzen die Gesellschaft gemeint oder welche zeitlichen und räumlichen Begrenzungen werden hier gesetzt? Welche ontologischen Annahmen zu Individuum, Individualität und zu Gesellschaft werden von der Soziologie gesetzt? Wie kann Individualität als einzigartige Wesenseinheit begriffen werden? Wie kann die Selbstauslegung menschlicher Individualität in einen generalisierenden Kontext transformiert werden?

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Strategien der Individualisierung

Obgleich diese Fragen regelmäßig implizit oder explizit in den soziologischen Debatten zu aktuellen Individualisierungsprozessen aufgegriffen und ihre Bearbeitung angemahnt werden, gab es bisher wenig Versuche, diesen Fragen theoretisch und empirisch nachzugehen. Wie die Arbeit zeigen wird, scheint jedoch ein Perspektivenwechsel im Hinblick auf das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft notwendig, um einen Zugang zu neuen Formen der Vergesellschaftung zu finden. Diesen Perspektivenwechsel für weitere Debatten um Individualisierung fruchtbar zu machen, ist das Anliegen dieser Studie.

1.2 F r agestellung der S tudie In der vorliegenden Studie werden Individualisierungsprozesse auf der Basis einer empirischen Untersuchung untersucht mit dem Ziel, die relevanten methodologischen Probleme von Individualisierungsprozessen vor einer gesellschaftstheoretischen Perspektive zu eruieren. Die Arbeit setzt hierbei konzeptionell bei den Arbeiten Ulrich Becks bzw. bei der Debatte um die Individualisierungsthese an und geht zunächst der übergeordneten Frage nach, wie Individuen ihre Individualisierungsprozesse wahrnehmen und welche Handlungsbezüge daraus für sie entstehen. So beobachtete Beck in seinen Studien seit Beginn der 1980er Jahre neue institutionelle Strukturen, mit denen sich die Menschen – bewusst oder unbewusst – auseinandersetzen (müssen). Individualisierungsschübe werden für ihn zu „riskanten Freiheiten“ (Beck, Beck-Gernsheim 1994a) für die Menschen, denn „[…] Unsicherheiten, die früher im Familienverbund, in der dörflichen Gemeinschaft, im Rückgriff auf ständische Regeln oder soziale Klassen definiert waren, müssen nun von den einzelnen selbst wahrgenommen werden […]“ (ebd., S. 15).

Berufswahl, Lebensform, Erziehungsfragen, Konsumentenentscheidungen würden nun, vor dieser neuen Betrachtung, für die Individuen zu persönlichen Entscheidungen, mit denen sie sich Tag für Tag konfrontieren müssten. Äußere Aspekte wie Normen und Institutionen, so Beck, fallen als Orientierungsrahmen zunehmend weg und böten kaum mehr Anhaltspunkte für Entscheidungen. So erscheine das Motiv der Freisetzung als Chance und Bürde zugleich und erzwinge den reflexiven Blick auf sich selbst. Dieser Selbstbezug und die notwendige Auseinandersetzung mit sich und seinen Lebenskontexten seien vor diesem Hintergrund fundamental für das Wahrnehmen und den Vollzug der eigenen Individualität (Beck, Beck-Gernsheim 1994a; Beck, BeckGernsheim 1994b).

1. Einführung

Empirische Untersuchungen, die der Frage nachgehen, wie Individualisierungsprozesse von den Menschen wahrgenommen werden bzw. welche Freiheitsgrade und welche Risiken in „individualisierten“ Gesellschaften entstehen, sind bisher nicht systematisch untersucht worden (vgl. etwa Poferl 2010; Burzan 2011b). Es gibt eine Reihe empirischer Studien, die die Individualisierungsthese im Rahmen konkreter Forschungsfelder der Soziologie untersucht haben, wie etwa der Ungleichheitsforschung und der Biografieforschung (vgl. Kap. 2 und 3). Die empirische Überprüfung der Individualisierungsthese im Rahmen gesellschaftstheoretischer Diagnosen steht jedoch noch aus. Dieses Defizit aufgreifend verfolgt die vorliegende Arbeit das Ziel, einen ersten Versuch vorzulegen. Auf der Basis einer empirischen Untersuchung soll geprüft werden, wie Individuen selbst ihre eigenen Individualisierungsprozesse wahrnehmen und vor welche Herausforderungen sie hierbei gestellt werden. Die leitende These dieses Vorhabens ist, dass die bewusste Wahrnehmung und die Betonung der eigenen Individualität zu Handlungsstrategien von Menschen in aktuellen Gesellschaften geworden sind. Durch die explizite Verwendung des Begriffs der Strategie soll hierbei auf die Notwendigkeit des ständigen Ausbalancierens von externen Erwartungen mit der Wahrnehmung auf die eigene Bedürfnislage hingewiesen werden. Diese Form der Reflexion muss von den Individuen aktiv entschieden, übernommen und auf Dauer gestellt werden. Dieses Vorgehen nimmt die eigenen Lebensprozesse hierbei verstärkt in den Blick. Eine Bewertung, ob diese Strategie nun zu einer „Ego-Gesellschaft“ (Beck, Beck-Gernsheim 1994a:27) führt oder Teil raffinierter Strategien der „Selbst-Ökonomisierung“ (Koppetsch 2011:11) von fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaften ist, denen die Individuen ausgeliefert sind, steht hierbei nicht im Zentrum der Überlegungen. Es geht vielmehr darum, neue Elemente der Vergesellschaftung zu benennen, die jenseits der kausal angelegten Ausrichtung von Individualisierungskonzepten ihre Kraft entwickeln (können). Welche Freiheitsgrade hierbei für die Menschen entstehen oder welche Risiken konkret von den Menschen in Kauf genommen werden müssen, wird hierbei im individuellen Kontext untersucht und in einen spezifischen historischen Kontext gestellt. So soll die Arbeit selbst als ein Fragment der Diskussion um Individualisierung wirken, und die konzeptionelle Auseinandersetzung mit dem Begriffspaar Individuum und Individualität soll hierbei lediglich als ein interpretatorisches Konstrukt angesehen werden, das selbst den ständigen hermeneutischen Verschiebungen und Veränderungen im weiteren Verlauf von Individualisierungsprozessen unterliegt.

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Strategien der Individualisierung

1.3 G liederung des V orhabens Wie oben dargestellt, knüpft die vorliegende Arbeit an der intensiven Rezeption der Arbeiten Ulrich Becks in der soziologischen Debatte an. So zeichnet Kapitel 2 den Stand der Forschung seit den 1980er Jahren nach und bezieht sich dabei auf die Diskussionen, die im deutschsprachigen Raum geführt wurden. Die Darstellung dieser Diskussionen konzentriert sich zum einen auf die fachliche Ausdifferenzierung der These, zum anderen aber auch auf die spezifisch historische Konstellation der Debatte, um das Verhältnis von Individuum und Individualität verstärkt in den Blick soziologischer Theorieentwicklung nehmen zu können. Diese Diskussionen weisen implizit oder explizit auf methodologische Probleme im Hinblick auf die soziologische Bearbeitung von Individualisierungsprozessen hin. Ausgehend von diesen breit geführten Debatten werden in Kapitel 3 die theoretischen Grundlagen des Individualisierungstheorems anhand der kritischen Interventionen Niklas Luhmanns offengelegt und für die theoretische Ausrichtung der Arbeit fruchtbar gemacht. Diese können als Perspektivenwechsel in der wissenschaftlichen Bearbeitung von Individualisierungsprozessen betrachtet werden und bilden die konzeptionelle Basis für die empirische Ausrichtung der Arbeit. Ausgehend von dem wissenschaftlichen Erkenntnisinteresse, die „Einzelhaftigkeit“ und „Eigen-Sinnigkeit“ (Poferl 2010:300) von Individualisierungsprozessen in den Blick zu nehmen, wird in Kapitel 4 die methodische Vorgehensweise der Arbeit vorgestellt. Die empirische Untersuchung wird hierbei auf der Basis qualitativer Methoden der Sozialforschung durchgeführt und geht der übergeordneten Frage nach, wie und innerhalb welcher Deutungsspielräume die Menschen ihre „individualisierte“ Lebenssituationen wahrnehmen, interpretieren und bewältigen. Diese Fragen zielen auf die subjektive Ebene der Befragten ab und unternehmen den Versuch, die Vielfalt der individuellen Verarbeitungsstrategien in einer spezifischen historischen Phase der bundesdeutschen/deutschen Gesellschaft – von 1980 bis 2010 – auszuloten. Hierbei wird das Augenmerk auf die alltäglich zu fällenden Entscheidungen in der individuellen Alltagspraxis gelegt. Das bedeutet, es wird empirisch untersucht, ob die Zunahme gesellschaftlicher Optionen und Erwartungen zu Ambivalenzen in der Entscheidungsfindung von Individuen führt. Hierbei wird implizit die Frage erörtert, mit welchen Restriktionen, aber auch mit welchen neuen Freiheitsgraden die Individuen konfrontiert werden. Exemplarisch werden in Kapitel 5 vier biografische Beispiele aus dem Sample vorgestellt, die ergebnisorientiert dargestellt werden. Diese Beispiele vermitteln einen Eindruck davon, wie vielfältig sich individualisierte Lebensläufe von Menschen darstellen können und wie sehr sie sich – aus einer mikrosoziologischen Perspektive – einer typisierenden Bewertung entziehen. Gemäß der

1. Einführung

Methode des narrativen Interviews werden die Auswertungsergebnisse so dargestellt, dass sowohl die Perspektiven der Innenwahrnehmung (Interviewpartnerin, Interviewpartner) als auch die Perspektiven der Außenwahrnehmung (Autorin) auf Individualisierungsprozesse ausgearbeitet werden. Mithilfe dieses subjektorientierten Vorgehens zeigt sich eindeutig, dass die Bezugnahme auf Entscheidungen und Handlungen an räumliche, zeitliche und individuelle Gegebenheiten des Untersuchungsgegenstandes geknüpft ist. Diese im Grunde wenig überraschende Erkenntnis wird abschließend in Kapitel 6 an die theoretisch-konzeptionelle Diskussion um die Individualisierungsthese in der soziologischen Disziplin rückgebunden und kritisch diskutiert. Hierbei betonen die Ergebnisse, dass Positionierungen von Individuum und Individualität und Individualisierungsprozessen heutzutage auf mehr als gesellschaftlicher Status, Bildung oder Lebensform hinweisen können. Im Gegenteil: Es scheint, als ob raum-zeitliche Gegebenheiten (wieder) verstärkt in die wissenschaftliche Betrachtung einfließen sollten. Vielleicht könnte eine solche Reflexion von Prozessen der Individualisierung in modernen Gesellschaften Anlass dafür geben, das Eingebundensein des Menschen in gesellschaftliche Strukturen neu zu definieren. Mögliche Ansatzpunkte für diese Überlegungen werden abschließend in Kapitel 7 zusammengefasst.

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2. „Die Menschen sind zur Individualisierung verdammt“

1

Neue Perspektiven auf Individualisierungsprozesse seit den 1980er Jahren

Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, dass die Individualisierungsthese in der deutschsprachigen soziologischen Diskussion mit einer spezifischen Debatte verbunden ist. Diese geht auf die Publikationen Ulrich Becks in den 1980er Jahren sowie seine weiterführenden wissenschaftlichen Arbeiten in den 1990er Jahren zurück. Der Erfolg dieser These liegt hierbei in der breiten Rezeption, die in viele soziologische Teildisziplinen hineingeführt und die theoretischen Annahmen ihrer Konzepte falsifiziert hat. Mit den vielfachen Versuchen, diese Rezeption zu strukturieren und auf ihre theoretische und empirische Relevanz hin zu überprüfen, „hat die These der Individualisierung begonnen, ein Eigenleben zu führen“ (Friedrichs 1998a:7; Berger, Hitzler 2010), und die Debatte um die Individualisierungsthese nahm ihren Lauf. Auf einer zeitlichen Achse umfasst sie streng genommen die Diskussionen der 1980er und 1990er Jahre, aber auch spätere Publikationen zu Individualisierung beziehen sich noch auf diese Debatte (Junge 2002; Kalupner 2003; Honneth 2004). Die folgende Darstellung bezieht sich auf die Rezeption der Individualisierungsthese und nicht auf die allgemeine soziologische Diskussion des Individualisierungstheorems. Diese ist freilich in spezifische historische Rahmenbedingungen eingebunden, die die Debatte stark geprägt haben und auf diese gesellschaftlichen Bedingungen implizit und explizit verweist. Gleichzeitig weist diese Rezeption wieder auf die theoretischen Grundprobleme des Individualisierungstheorems in der Soziologie, die sowohl in ihrer methodologi1 | Die Überschrift stammt aus einem in der Literatur viel zitierten Satz von Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim, dem aufgrund seiner Radikalität in der Literatur viel Beachtung geschenkt wurde (Beck, Beck-Gernsheim 1994a).

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Strategien der Individualisierung

schen Problematik als auch in ihrer hohen inhaltlichen Relevanz Spannungsfelder aufzeigen.

2.1 D ie I ndividualisierungsthese nach U lrich B eck und ihre F olgen Gemessen an „der Zahl ihrer Widerlegungsversuche“ (Berger, Hitzler 2010, Vorwort) gab es in der deutschen Nachkriegsgeschichte keine These, über die so leidenschaftlich diskutiert wurde, wie die sogenannte Individualisierungsthese. Diese These, die Ulrich Beck 1983 in seiner Publikation „Jenseits von Stand und Klasse? Soziale Ungleichheiten, gesellschaftliche Individualisierungsprozesse und die Entstehung neuer sozialer Formationen und Identitäten“ erstmals vortrug (Beck 1983)2 und 1986 in der „Risikogesellschaft“ (Beck 1986) in einem thematisch veränderten Kontext weiter ausarbeitete, hat in der soziologischen Debatte in den darauffolgenden Jahren zu kontroversen Stellungnahmen geführt. Neben der vielseitigen und teilweise harschen Kritik, die an Becks Intervention(en) geübt wurde, herrschte jedoch relativ früh Einigkeit darüber, dass Beck „[…] nicht nur brachliegende Erkenntnisse der Soziologie zu ungeahntem Leben erweckt, sondern zugleich auch eine gesellschaftliche Bewusstseinslage auf eine eingängige Formel gebracht [hat]“ (Honneth 1994:21; vgl. auch Neckel 1993; Friedrichs 1998b; Schroer 2001a).

So wurde vielfach ihre Offenheit als Grund dafür gewertet, dass sie sich als „eine einflussreiche Diagnose der gegenwärtigen Gesellschaft durchgesetzt“ (Friedrichs 1998a:7) hat. Gleichzeitig war in der breiten Rezeption der These gerade dieser thematisch offene Charakter der zentrale Kritikpunkt, der sich

2 | Der Artikel Ulrich Becks erschien in dem Band „Soziale Ungleichheiten“, der von Reinhard Kreckel im Jahre 1983 herausgegeben wurde. Peter A. Berger stellt dazu fest, dass allein der Titel dieses Bandes in der damaligen soziologischen Debatte große Aufmerksamkeit erregte. Denn schon die Pluralform des Titels signalisierte, „dass Muster sozialer Ungleichheiten in zeitgenössischen Gesellschaften sowohl mit Blick auf Ursachen (Determinanten und Mechanismen) als auch auf Konsequenzen (Dimensionen und Erscheinungsformen) vielfältiger und vielschichtiger sind als die vorherrschenden erwerbsarbeitszentrierten Klassen- und Schichtmodelle“ (Berger 2010:11). Diese Perspektive auf plurale Phänomene brach mit der vorherrschenden Sicht auf die soziale Schichtung der BRD. Dass der Band „eine Art Klassikerstatus“ (Berger 2010:11; Kreckel 1983) erlangte und insgesamt sehr kontrovers diskutiert wurde, verdankte er jedoch nicht zuletzt dem Beitrag von Ulrich Beck.

2. „Die Menschen sind zur Individualisierung verdammt“

bis in die heutige Zeit wie ein roter Faden durch die Literatur zieht.3 Besonders prägnant zeigt sich beispielsweise der unbestimmte Ausdruck in der assoziativen Beschreibung des „Individualisierungs-Tohuwabohu“ bei Thomas Kron (Kron 2000a:8). Tatsächlich wurde von Anfang an nahezu einhellig kritisiert, dass die Thesen, in der von Beck vorgebrachten Form analytisch wenig ausdifferenziert und auch in den nachfolgenden Präzisierungen ungenau blieben (Friedrichs 1998b; Schroer 2001a; Burzan 2011b). In einer Reihe von Arbeiten wurde deshalb versucht, eine Systematisierung und konzeptionelle Rekonstruktion der These vorzunehmen (vgl. etwa Lau 1988; Wohlrab-Sahr 1992; Ebers 1995; Kippele 1998; Zinn 2002). Daneben gab es Bemühungen, die gesamte Debatte in ihrer Komplexität und Vielschichtigkeit einzufangen, zu strukturieren und in die soziologischen Diskurse zum sozialen Wandel einzuordnen (Friedrichs 1998b; Beck, Beck-Gernsheim 1994b; Beck et al. 1996; Junge 2002; Berger, Hitzler 2010) und zu bewerten (vgl. etwa Schroer 2001a, 2010; Kalupner 2003). Die Theorie der Individualisierung als Strukturprinzip der Moderne wurde freilich nicht von Beck entwickelt. Gemäß seiner eigenen Darstellung formulierte er seine Thesen auf den „Schultern der Riesen“ (Merton 1980), im Fall von Individualisierung erklärtermaßen auf den Schultern der klassischen Modernisierungstheoretiker Max Weber und Karl Marx (Beck 1983; Schroer 2001a).4 Dies wurde auch in einer Reihe von Arbeiten im Rahmen der jüngeren Individualisierungsdebatte dokumentiert und weiter präzisiert (vgl. etwa Kippele 1998; Schroer 2001a, 2001b; Kron, Horáček 2009).5 Was allerdings als ein großes Verdienst Becks zu sehen ist, ist seine historisch angeglegte Diagnose eines weiteren Individualisierungsschubs, den er bereits in den 1980er Jahren für die damalige Bundesrepublik diagnostiziert hat. Dieser Schub setzte vor dem spezifischen historischen Hintergrund des starken Wirtschaftswachstums und der wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung in der Bundesrepublik seit den 1950er/1960er Jahren ein und stellt den em3 | Für einen umfassenden Überblick über deutschsprachige Monographien, Sammelbänder und Aufsätze zur Individualisierungsthese seit den 1990er Jahren vgl. auch Berger, Hitzler 2010:12. 4 | Nach Michael Vester bezieht sich Beck zwar streng genommen auf die Schriften von Karl Marx, grenzt sich gleichzeitig aber auch von Marx in der Frage der historischen Erfahrung der Arbeiterklasse durch die Entwicklung von Wohlfahrtsgesellschaften ab, indem er sozio-kulturelle Aspekte von Veränderungsprozessen in den Vordergrund stellt (Vester 2010; Vester et al. 2001; vgl. auch Kap. 2.2). 5 | Nicole Burzan weist zudem darauf hin, dass Perspektiven auf Individualisierungsprozesse auch im Rahmen jüngerer Modernisierungstheorien verhandelt wurden, wie beispielsweise in den Arbeiten von Anthony Giddens und Zygmunt Baumann (Burzan 2011b:419).

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pirischen Gegenstand der These dar (Burzan 2011b:419; Zinn 2002).6 Diese empirische Ausrichtung mit ihren vielseitigen sozialen und kulturellen Folgeerscheinungen hat die inhaltliche Ausrichtung der Individualisierungsthese seit den 1980er Jahren in besonderem Maße geprägt. Der Versuch einer Kategorisierung dieser Debatte nach einheitlichen Strukturprinzipien kann heute fast nicht mehr gelingen, so ausdifferenziert und vielfältig ist die Debatte zur Individualisierungsthese selbst schon geworden.7 In dieser breiten und langen Rezeption liegt für einige Autorinnen und Autoren der Grund dafür, dass der theoretische Diskurs dieser These keine inspirierende Unternehmung mehr darstelle, da die „[…] Hochzeit des Streits und der Auseinandersetzungen, etwa um die Frage, inwieweit Individualisierung mit Standardisierung oder Kollektivierungen einhergeht“ (Kron, Horáček 2009:6)

vorbei sei. „Individualisierung ist theoretisch und gegenwartsdiagnostisch zugeordnet“ (ebd., S. 6). Im Hinblick auf die spezifische historische Auslegung der Individualisierungsthese mag diese Aussage zutreffen. Mit Blick auf den eigentlichen Kern der These – nämlich die Beschreibung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft – ist diese Aussage kaum nachvollziehbar. Prozesse der Individualisierung betreffen immer die Grundstruktur gesellschaftlicher Entwicklungen. Damit verweisen sie regelmäßig auf das Verhältnis, das Individuen zu ihrer gesellschaftlichen Umwelt haben und bleiben notwendigerweise offen und unabgeschlossen. Im oben erwähnten Beitrag von Thomas Kron und Martin Horáček vermittelt das Bild des permanenten „raus und rein“ der Individuen in eine neue soziale „Sphäre“ (Kron, Horáček 2009:20) im Grunde genau diese Vorstellung des sozialen Wandels. Das Bild soll zum Ausdruck bringen, dass der Mensch im Laufe seiner Individualitätsentwicklung Prozesse durchläuft, in denen er 6 | Der theoretische Kern der Individualisierungsthese wird – auf der Basis der „klassischen“ Traditionen – mithilfe von drei Dimensionen beschrieben (nach Burzan 2011b:419 ff.): (a) Freisetzung, womit die Herauslösung aus traditionellen Herrschaftsund Versorgungszusammenhängen gemeint ist; (b) Entzauberung des Handlungswissens und kollektiv leitender Normen im Laufe der historischen Phasen gesellschaftlicher Entwicklungen; (c) Reintegration in neue Formen der sozialen Einbindung und institutionelle Kontexte (vgl. Beck 1986: 206 ff.; vgl. Kap. 3). 7 | Die Debatte wurde nicht nur in den einzelnen soziologischen Teil-Disziplinen aufgegriffen und behandelt, sondern hat hier zu einer Reihe empirischer Arbeiten geführt, in denen einzelne Aspekte der These aufgegriffen und untersucht wurden (vgl. z.B. Kron, Horáček 2009:6 ff.; vgl. auch Burzan 2011b).

2. „Die Menschen sind zur Individualisierung verdammt“

„Entbettung und Wiedereinbettung“ (ebd., S. 12) in gesellschaftliche Strukturen erlebt und in seinen persönlichen Entwicklungsprozess integrieren muss. Dies erfolge, so die Autoren, aktiv, aber auch passiv in unzähligen sozialen Prozessen von Geburt an (ebd., S. 12 ff.; vgl. Kap. 3). Obgleich dieses Bild – wie noch zu zeigen sein wird – nicht der Einbettung von Individuen in soziale Kontexte entspricht, deuten die Autoren mit der Metapher des „rein und raus“ (ebd., S. 20) die Grundstruktur von Individualisierung an, nämlich in dem Versuch, das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft zu beschreiben. So ist die Analyse des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft im weitesten Sinne noch immer die klassische Perspektive der Soziologie. Veränderungen in den Prozessen der „Individualisierung“ können noch immer als paradigmatische Ausgangspunkte für die gesellschaftstheoretischen Entwürfe und Diagnosen seit Beginn der Entstehungsgeschichte der Soziologie betrachtet werden. Methodologisch problematisch ist jedoch in diesem Verhältnis, dass die Konstruktion dieser Beziehung eine Trennung der beiden Entitäten als einander gegenüberstehende ontologische Einheiten voraussetzt. Diese Trennung ermöglicht auf der einen Seite Theorien, die die Verbindung zwischen der individuellen Welt und der sozialen Welt auch in benachbarten Disziplinen wie z. B. der Psychologie konstituieren. Auf der anderen Seite verhindert diese Sichtweise die Rekonstruktion einer „Synthese“ zwischen den Individuen und ihrer sozialen Welt. In der moderneren Entwicklung soziologischer Theorien drückt sich diese Dichotomie in den Begriffen Handlung und Struktur bzw. in den zugeordneten Handlungstheorien und Systemtheorien aus (Ebers 1995:22; Giddens 1995; vgl. im Hinblick auf die Individualisierungsthese Zinn 2002; Schimank 2002). Dieses methodologische Problem wird auch in den weiterführenden Arbeiten im Rahmen der „Theorie der reflexiven Modernisierung“ (Beck et al. 1996; Beck, Bonß 2001) deutlich. Tatsächlich hat sich die Individualisierungsthese im Laufe der Jahre (und der intensiven Debatten) von teils plakativen Aussagen über das Leben in „individualisierten Gesellschaften“ (Beck 1986) wegbewegt und in der jüngeren Entwicklung wird das Verhältnis Individuum und Gesellschaft auf einer eher konzeptionellen Ebene interpretiert. So wirft die Individualisierungsthese in den weiterführenden Arbeiten generelle Fragen nach der „Subjekt-Struktur-Schnittstelle“ (Beck et al. 2001:56; Beck, Bonß 2001) in modernen Gesellschaften auf. Durch diese Leseart wird der historisch konkrete Rahmen der Individualisierungsthese verlassen und Individualisierungsprozesse werden weitgehend als institutionelle Grundstruktur der fortgeschrittenen Moderne betrachtet (Poferl 2010; Beck 2008, 2010; Schroer 2001a, 2001b; vgl. Kap. 2.2).8 8 | Im Jahre 1999 wurde der Sonderforschungsbereich „Reflexive Modernisierung“ (SFB 536) eingerichtet mit der Ludwig-Maximilian Universität München (LMU) als Spre-

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Trotz der Intensität der Diskussionen sowie ihrer konstruktiven disziplinären Interventionen im Laufe des „Vierteljahrhundert[s], jenseits von Stand und Klasse‘“(Berger, Hitzler 2010)9, kann rückblickend festgehalten werden, dass die Beck’sche Lesart von Individualisierungstrends in der damaligen BRD eine neue Perspektive auf Prozesse der Vergesellschaftung entwickelt hat. Von der anfangs dominierten „kulturtheoretischen Wende der Ungleichheitsforschung“ (Junge 2002:57) im Rahmen der Aussagen zu Individualisierungstrends haben sich die Arbeiten sukzessive auf sozialstrukturelle Implikationen innerhalb der Forschungsfragen verlagert und wichtige theoretische Impulse für die Betrachtung heutiger Gesellschaften geliefert. Der Individualisierungsschub und seine Folgen (Beck 1986), wie sie von Beck für die bundesrepublikanische Nachkriegszeit gefasst wurden, hatte, nach Schroer, in Becks frühen Publikationen den Charakter von „work in progress“ (Schroer 2001a:382). Erst in den Folgearbeiten zur Theorie der Reflexiven Modernisierung wurde die These konstituiert und in einen gesellschaftstheoretischen und später auch globalen Kontext gestellt. Der besondere Wert dieser Arbeiten – die im In- und Ausland große Popularität erlangten – liegt darin, dass sie nicht nur die Lebensbedingungen von Menschen in den Blick nahmen. Becks Darstellung bezog die Alltagspraxis und die subjektiven Erfahrungen der Menschen im Rahmen dieser Praxis mit ein (Vester 2010:30).10 So wurden in die soziologische Debatte neue wissenschaftliche Parameter eingeführt, die das Gelingen und/oder das Scheitern der Lebensumstände von Menschen in ihrer Alltagspraxis reflektierten und bewerteten.

cheruniversität. Der SFB erhielt insgesamt eine zweite und dritte (kürzere) Förderperiode bis 2009. Im Rahmen des Sonderforschungsbereichs (B-Bereich) wurden auch Auswirkungen von Individualisierungsprozessen auf der Subjektebene erforscht (vgl. Beck, Bonß 2001). Ulrich Beck argumentiert jedoch bis heute „schwerpunktmäßig auf der ‚objektiven‘ Seite des Analyseschemas“ (Zinn 2002:29; Poferl 2010). 9 | So der Titel des von Peter A. Berger und Ronald Hitzler 2010 herausgegebenen Sammelbandes. 10 | Diese Wahrnehmung steht im Einklang mit der subjektorientierten Soziologie, die von Karl Martin Bolte initiiert und gemeinsam mit Ulrich Beck und Elisabeth BeckGernsheim in einem erweiterten Kollegenkreis weiterentwickelt wurde. Vgl. Arbeiten zum Konzept der Münchner Subjektorientierten Soziologie, z. B. Voß, Pongratz (1997a).

2. „Die Menschen sind zur Individualisierung verdammt“

2.2 I ndividualisierung als konstitutive G rundstruk tur der M oderne In der Literatur besteht Konsens darüber, dass die Stärken der frühen Arbeiten von Beck zur Individualisierungsthese weniger in einer präzisen analytischen Begriffsverwendung liegen als vielmehr in der Aussagekraft seiner These selbst. Diese beschreibt die allmähliche Auflösung industriegesellschaftlicher Sozialstrukturen, die Beck auf der Basis der westdeutschen Modernisierungsdynamik seit den 1950er/1960er Jahren vorgelegt hat. Der Perspektivenwechsel bezieht sich hierbei auf die qualitativ neue Handlungs- und Planungsstruktur von Menschen, die sich auf veränderte Umweltbedingungen einstellen müssen. „[…] In der individualisierten Gesellschaft muss der einzelne entsprechend bei Strafe seiner permanenten Benachteiligung lernen, sich selbst als Handlungszentrum, als Planungsbüro, in Bezug auf seinen eigenen Lebenslauf, seine Fähigkeiten, Orientierungen, Partnerschaften usw. zu begreifen.“11 „Gesellschaft“ muss unter den Bedingungen des herzustellenden Lebenslaufs als eine „‚Variable‘ individuell gehandhabt werden“ (Beck 1986:217).

Die Metapher des Individuums als „Planungsbüro“ (ebd., S. 217) steht in dieser Perspektive für einen neuen Modus der Vergesellschaftung (Zinn 2000; Neckel 2000), der in der soziologischen Debatte eine hohe Resonanz fand. In dem oben genannten Zitat bezieht sich Beck auf zwei Bezüge der These: erstens, auf den klassischen Bezug im Hinblick auf die physische und die psychische Freisetzung von gesellschaftlichen Strukturen, in denen Menschen in traditionellen, vormodernen Gesellschaften weitgehend festgelegt waren. Die Bedeutung der psychischen Freisetzung liegt dabei auch in dem Verlust normativer Verbindlichkeiten dieser traditionellen Strukturen. Ein anschauliches Beispiel hierfür ist die veränderte Bedeutung der Ehe in modernen Gesellschaften, deren Sinngebung sich deutlich von der objektiven auf die subjektive Ebene verlagert hat (Wallerstein, Blakeslee 1994; Esser 2004). Zweitens bezieht sich Beck auf die neue Rolle der Individuen im Hinblick auf die reflexive und aktive Gestaltung und Planung ihrer eigenen Lebenswege. Kernpunkt dieser Aussage ist der Zwang zur Individualisierung, der in dem viel zitierten Satz von Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim gipfelt: „[…] Die Menschen sind zur Individualisierung verdammt. Individualisierung ist ein Zwang, ein paradoxer Zwang allerdings, zur Herstellung, Selbstgestaltung, Selbstinsze11 | Zu Diskussionen und Kritik im Rahmen dieser Beobachtungen und Beschreibungen vgl. Kap. 3.3.

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Strategien der Individualisierung nierung nicht nur der eigenen Biographie, sondern auch ihrer Einbindungen und Netzwerke, und dies im dauernden Wechsel der Präferenzen, Lebensphasen und unter dauernder Abstimmung mit anderen und den Vorgaben von Arbeitsmarkt, Bildungssystem, Wohlfahrtsstaat usw.“ (Beck, Beck-Gernsheim 1994a:14).

Die Perspektive und die Wucht dieser Aussage wurde in der Literatur vielfach kommentiert und kritisiert, da sie – in Anlehnung an die Philosophie JeanPaul Sartres (1905-1980) – einen signifikanten Widerspruch für das Leben der Menschen in modernen Gesellschaften deklariert. Sartres berühmter Ausspruch, dass die Menschen zur Freiheit verdammt seien, wird hier von Beck und Beck-Gernsheim übernommen und in den Zwang zur Individualisierung umgemünzt. Der Vergleich zwischen den Möglichkeiten menschlicher Freiheit und den Möglichkeiten zur Individualisierung erscheint auf den ersten Blick weit hergeholt. Was auf den zweiten Blick jedoch auffällt, ist, dass es in beiden Aussagen letztlich um die Frage geht, „wie wir uns je nach Situation verhalten und dieses Verhalten dann interpretieren“ (Nollmann, Strasser 2004a:12, Hervorh. im Original). So werden Fragen nach den Bedingungen der Selbstreflexion der Menschen auf ihr Tun grundsätzlich ausgelotet und in beiden Kontexten – Freiheit und Individualisierung – als Paradoxien vorgestellt. Während jedoch die Philosophie des Existentialismus den Menschen und die Bedeutung seines Bewusstseins in den Mittelpunkt seiner Betrachtung stellt,12 legen Beck und Beck-Gernsheim zunächst ihren Schwerpunkt auf die Analyse der gesellschaftlichen Strukturen, die auf die Individuen Einfluss ausüben und ihnen zunehmend mehr Reflexion, Urteilskraft und Aktivität für die eigene biografische Planung abverlangen.

12 | Ganz im Zeichen der Tradition der Phänomenologie Edmund Husserls (1859-1938) sowie Martin Heideggers (1889-1976) betrachtet Jean-Paul Sartre das Bewusstsein des Menschen als Ursprung und letztmögliche Ursache der menschlichen Freiheit. Hierbei wird die Eingebundenheit des Menschen in seine soziale und materielle Umgebung zwar als ein Ineinander der von Sartre beschriebenen Leiblichkeit des Menschen und seine konkreten zwischenmenschlichen Beziehungen anerkannt. Im Konzept der Freiheit zeigt sich jedoch eine der Grundthesen Sartres, dass „Freiheit keine Eigenschaft, keine Sache, kein Vermögen des menschlichen Seins ist, sondern zunächst sein Wesen ausmacht: Der Mensch ist keineswegs zunächst, um dann frei zu sein, sondern es gibt keinen Unterschied zwischen dem Sein des Menschen und seinem ‚Frei-sein‘“ (Kampits 2004:45 ff., Hervorh. im Original). Die hier beschriebene Relevanz des Bewusstseins als grundsätzliche Möglichkeit subjektiver Seins- und Ausdrucksformen wird – wie noch zu zeigen sein wird – im weiteren Verlauf der Arbeit zur Individualisierung an Bedeutung gewinnen (vgl. auch Voß, Pongratz 1997a; Voß, Pongratz 1997b).

2. „Die Menschen sind zur Individualisierung verdammt“ „[…] Vom Rentenrecht bis zum Versicherungsschutz, vom Erziehungsgeld bis zu den Steuertarifen: all dies sind institutionelle Vorgaben mit dem besonderen Aufforderungscharakter, ein eigenes Leben zu führen“ (Beck, Beck-Gernsheim 1994a:12).

So seien die Menschen dazu gezwungen, sich zu individualisieren, das bedeutet, den eigenen biografischen Ablauf, das eigene Leben permanent mit den äußeren Rahmenbedingungen in Einklang zu bringen. Was bedeutet jedoch der Zwang zur Individualisierung konkret? Wie individualisieren sich Menschen in modernen Gesellschaften? Worin besteht der Zwang und worin besteht der Umkehrschluss, dass dieser Zwang paradox sein, sich also kontraproduktiv für die Menschen auswirken kann oder sogar muss? Die Kernaussage bei Beck und Beck-Gernsheim bezieht sich zunächst auf die wachsenden „Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten in modernen und postmodernen Gesellschaften“ (Schroer 2001a:420), die – in welcher Form auch immer – von den einzelnen Menschen bewältigt werden müssen. Individualisierung wird vor dieser Lesart mehr und mehr ein „Zurechnungsmechanismus“ (Neckel 1993:171) in modernen Gesellschaften, das heißt, jeder und jede muss für sich ständig und immerfort Entscheidungen treffen: Entscheidungen im Hinblick auf Ausbildungsform und Qualifikation, Entscheidungen im Hinblick auf Heirat oder andere Lebensformen, Entscheidungen im Hinblick auf die Form der zu pflegenden Angehörigen, Entscheidungen im Hinblick auf das eigene Wohlergehen, um nur einige wenige Möglichkeiten zu nennen. Der Zwang entsteht vor dieser Lesart also genau darin, dass die Menschen auf der Basis einer „aktiven Eigenleistung“ (Beck, Beck-Gernsheim 1994a:14) ihr Leben in die Hand nehmen müssen. „[…] Die Folgen – Chancen wie Lasten – verlagern sich auf Individuen, wobei diese freilich, angesichts der hohen Komplexität der gesellschaftlichen Zusammenhänge, vielfach kaum in der Lage sind, die notwendig werdenden Entscheidungen fundiert zu treffen, in Abwägung von Interesse, Moral und Folgen“ (ebd., S. 15).

Ob und wie diese Veränderungen zu einer Situation der Überforderung bei den Individuen führt, soll an dieser Stelle offengehalten werden. Entscheidend hierbei ist jedoch, dass der Einzelne und die Einzelne aufgrund struktureller Rahmenbedingungen in modernen Gesellschaften zunehmend mehr in die Verantwortung der Ausgestaltung des eigenen Lebens genommen werden. Die Planung der (eigenen) Lebensführung wird so jedoch mehr und mehr der kognitive Raum für eine Vielzahl von Entscheidungen. Diese beziehen sich zunächst auf institutionelle Rahmenbedingungen der biografischen Planung, wie beispielsweise Bildungserwerb, Erwerbsarbeit oder Familiengründung. Sie beziehen sich in der Folge dieser Entscheidungen jedoch auch auf eine

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sinnstiftende Gestaltung des Lebensverlaufs. Durch die grundsätzliche Zukunftsoffenheit dieser Entscheidungen entstehen nach Beck und Beck-Gernsheim allerdings Zweifel und Unsicherheiten, die ihrerseits wieder kognitiv bewältigt werden müssen. „Nachdenken, Überlegen, Planen, Abstimmen, Aushandeln, Festlegen, Widerrufen (und alles fängt wieder von vorne an): Das sind die Imperative der ‚riskanten Freiheiten‘, unter die das Leben mit Fortschreiten der Moderne gerät“ (Beck, Beck-Gernsheim 1994a:18).13

Die strukturelle Dynamik der „riskanten Freiheiten“ (ebd., S. 18) innerhalb der Lebensbezüge von Menschen ist in der Soziologie mit der Perspektive auf die funktionale Differenzierung von Gesellschaften hinreichend verankert und nachvollzogen.14 Vor dieser Lesart haben sich moderne Gesellschaften im historischen Prozess in hochgradig spezialisierte Elemente funktional ausdifferenziert, die jedoch vielfältig in Beziehung stehen. Diese Differenzierungsdynamik hatte großen Einfluss auf die wachsende Vielfalt der sozialen Rollen von Menschen, mit deren funktionalen Anforderungen sich die Individuen tagtäglich auseinandersetzen müssen (vgl. Kap. 3). Inwieweit diese (historische) Entwicklung individualisierende Effekte entwickelt hat, kommt in dem folgenden Auszug sehr schön zur Geltung: „[…] An die Stelle einer für die meisten Gesellschaftsmitglieder recht ähnlichen, kaum trennbaren Gemengelage weniger diffuser Rollen tritt in der funktional differenzierten Gesellschaft ein Ensemble vieler funktional differenzierter Rollen; und dieses Ensemble sieht bei jeder Person anders aus […] So wird es zur alltäglichen Erfahrung eines jeden, dass ein anderer zwar vielleicht den gleichen Beruf ausübt wie man selbst, womöglich auch in derselben Gewerkschaft ist und offenbar ähnliche politische Präferenzen hat, aber einer anderen Religionsgemeinschaft angehört, ledig anstatt verheiratet, Sport13 | Entscheidungsfindung unter den Bedingungen von Unwissenheit ist ein Topos, der in der Ausgestaltung der Theorie der reflexiven Modernisierung einen großen Raum einnimmt. Sowohl „die ökologische Krise als auch die ‚biotechnologische Verheißung‘ inklusive Nebenfolgen begründen einen unmittelbaren Entscheidungsbedarf, für den es auf absehbare Zeit keine eindeutigen Lösungen gibt, die auf wissenschaftlichen oder kulturellen Konsens gründen können. Die Vielzahl unterschiedlicher Formen der Grenzpluralisierungen verweist in diesem Zusammenhang auf einen gesellschaftlichen Lernprozess, an dessen Ende eine Umgestaltung der gesellschaftlichen Naturverhältnisse stehen könnte“ (Viehöver et al. 2004:93). Diese neuen Sichtweisen beinhalten relevante wissenssoziologische Probleme und Forschungsfragen, die, nach Ansicht der Autoren, nur mit einer Neuausrichtung methodologischer Forschungsprämissen eingelöst werden können (Beck, Lau 2004; vgl. auch Beck 2002). 14 | Vgl. insbesondere Parson 1972; Luhmann 1984, 1991.

2. „Die Menschen sind zur Individualisierung verdammt“ fan und kein Opernliebhaber, Mieter und nicht Eigenheimbesitzer ist usw.“ (Schimank 2000:108 ff.).

Ohne dass sich Beck konzeptionell auf die Theorie der funktionalen Differenzierung sowie der Ausdifferenzierung der sozialen Rollen und Funktionen bezieht, pointiert jedoch auch er, dass sich die Menschen unablässig in Situationen befinden, in denen sie Entscheidungen treffen müssen. Die Wahlfreiheit und/oder der Zwang zur Wahl entsteht demnach dadurch, dass sich die Menschen tatsächlich zunehmend mehr in individuell ausgeprägten Lebensentwürfen befinden und aus einem Gesamtspektrum von Möglichkeiten die eigene biografische Gestaltung buchstäblich in die Hände nehmen müssen. Diese Perspektive setzt freilich an den Vorstellungen von (rationaler) Planung des Lebensverlaufs an, die nun, gemäß der Individualisierungsthese, auf den eigenen Lebensentwurf übertragen werden müssen (vgl. insb. Kap. 2.3 und 3). Mit dieser These wurde insgesamt eine Sichtweise auf die Individuen eröffnet, die Fragen in den Vordergrund rücken, wie Individuen mit diesen (neuen) Herausforderungen umgehen. Hierbei sind bei diesen Fragen zwei Ebenen zu unterscheiden: erstens die konkreten Handlungsstrategien auf einer phänomenologischen Ebene und zweitens die Wahrnehmung und Interpretation dieser Handlungsstrategien durch die Individuen selbst (vgl. Kap. 4). Erschwerend kommt hinzu, dass eine Abgrenzung dafür fehlt, „welche Strukturen mit Individualisierung vereinbar sind und welche nicht“ (Burzan 2011b:425; vgl. Kap. 2.3).15 Gegenstand heftiger Debatten waren in den vergangenen Jahrzehnten jedoch weniger die methodologischen Probleme, die der Individualisierungsthese zugrunde liegen, sondern eher die Bewertungen und Interpretationen, die der Diagnose der Individualisierung folgten. So übte Beck in seinen frühen Ausführungen zu den Individualisierungstrends der BRD heftige Kritik an den klassischen Sozialstrukturanalysen, wie sie bis weit in die 1980er Jahre in der deutschen Soziologie vorzufinden waren.16 Hierbei trug er mit seinen Arbeiten 15 | Die methodologischen Probleme für eine empirische Erfassung sind ohne Zweifel – neben der „Mehrdimensionalität des Individualisierungskonzepts“ (Burzan 2011b:428) – beachtlich. Je nach Fragestellung reichen sie jedoch weit in die subjektive Ebene der Individuen und münden in die Frage, wie Individuen ihre eigene Individualität in offenen, pluralen und liberalen Gesellschaftsordnungen entwickeln. Die Frage nach den externen gesellschaftlichen Veränderungen kreuzt sich hier wie in einem Kristallisationspunkt mit Fragen nach subjektiven Einschätzungen und Handlungsstrategien (vgl. insbes. Kap. 3 und 4). 16 | Tatsächlich scheint Beck diese Kritik sehr bewusst lanciert zu haben. Während er sich im Artikel „Jenseits von Stand und Klasse“ (Beck 1983) – ganz in der Tradition des Industriesoziologen – auf konkrete empirische Arbeiten bezieht, richtet er in der „Risiko-

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maßgeblich dazu bei, dass diese Perspektive auf soziale Schichtung in den Sozialstrukturanalysen in den Hintergrund geriet, während das Individuum mit seinem Zwang zur „Stilisierung, Selbsterfindung und Inszenierung“ (Schroer 2001a:424) in vielfältigen sozialen Kontexten stärker in den Blickpunkt rückte (vgl. Kap. 2.2.). Dieser Perspektivenwechsel rührte jedoch an einem Tabu der Soziologie und forderte seinen Tribut in Form der „Aufhebung der lebensweltlichen Grundlagen eines Denkens in traditionalen Kategorien von Großgruppengesellschaften“ (Beck 1986:117; Schroer 2001a; vgl. Kap. 2.3). So wurde der soziologische Blick in den 1990er Jahren in Deutschland mehr und mehr von „[…] einer durch Klasse und Stand auferlegten Standardbiographie zu einer individuell zusammenzustellenden ‚Wahlbiographie‘, einer ‚reflexiven Biographie‘ oder einer ‚Bastelbiographie‘“ (Esser 2000a:132)

gelenkt.17 Jedoch machten es diese Sichtweisen auf die Gesellschaft nicht leichter, Individualisierungsprozesse „als Kräfte, Formen und Entwicklungen der Vergesellschaftung“ (Simmel 2008b in: Soeffner 2010:46) zu verstehen, und ihre Bewertungen entzogen sich häufig dem wissenschaftlichen Anspruch, generalisierende Aussagen über Individualisierungsprozesse zu treffen.18 gesellschaft“ (1986) seine Kritik direkt an die eigene Disziplin: „Der Schichtungsbegriff ist in diesem Sinne ein liberalisierter Klassenbegriff, ein Klassenbegriff im Abschiedszustand, ein Übergangsbegriff, dem die soziale Realität der Klassen bereits unter den Händen verschwimmt, der sich aber die eigene Ratlosigkeit noch nicht einzugestehen wagt […]“ (ebd., S. 140, Hervorh. im Original). Temperamentvolle Reaktionen auf diese Kritik ließen nicht auf sich warten, wie beispielsweise Geißlers Erwiderungen in „Kein Abschied von Klasse und Schicht“ (Geißler 1996) und die heftige Gegenkritik in jüngsten Debatten (vgl. etwa Atkinson 2007, vgl. auch Schroer 2001a). 17 | Bahnbrechend für die soziale Ausdifferenzierung von Klasse und Stand waren in den 1980er Jahren die Arbeiten des französischen Sozialphilosophen Pierre Bourdieus (1930-2002), der mit der Unterscheidung von ökonomischem, sozialem, kulturellem und symbolischem Kapital die Interaktionen der Individuen in ihrer Alltagspraxis in den Vordergrund rückte. Durch die Entwicklung einer kultursoziologischen Perspektive auf die Alltagswelt der Menschen zeigte er auf, dass die Reproduktion von und die Mobilität in sozialen Schichten nicht nur vom ökonomischen Kapital abhängt (Bourdieu 1982; vgl. Arbeiten zur Sozialstrukturanalyse angelehnt an Bourdieu: Vester et al. 2001; Vester 2010). 18 | Hartmut Esser beschreibt dieses Narrativ in besonders prägnanter Weise: „Das Konzept der Individualisierung behauptet also in seinem Kern die Auflösung der deutlichen Konturen von Klasse und Stand als kategoriale Merkmale, durch die die alltägliche Situation der Akteure verhältnismäßig eindeutig festgelegt war, die Auflösung der daran

2. „Die Menschen sind zur Individualisierung verdammt“

Während die Individualisierungsthese den Bereichen der Sozialstrukturanalysen sowie der Lebenslaufforschung innovative Impulse verlieh, entwickelte Beck seine These(n) weiter und stellte diese in seinen weiteren Arbeiten in den Kontext der „Gegenwartsdiagnose einer (Welt-) Risikogesellschaft“ (Burzan 2011b:419; Kron, Horáček 2009; Beck 2002, Beck 2007c). Mit dem Ansatz der Zweiten oder Reflexiven Moderne, der die Betonung auf Paradoxien und weitreichende Selbstgefährdungen in modernen Gesellschaften legt, wurde ein neuer gesellschaftstheoretischer Entwurf vorgestellt, in dem „[…] Risiken (neben biographischen etwa ökologische, finanzielle oder Terrorrisiken) auftreten, die unter anderem Eindeutigkeiten der Ersten Moderne (z. B. Fortschrittsglauben oder die Institution der Kernfamilie) in Frage stellen“ (ebd., S. 419).

Dieser Ansatz stellt einen Epochenwandel zwischen klassischen Industriegesellschaften und der Zweiten Moderne fest und konstatiert, „[…] dass die leitenden Ideen der westlichen Moderne aufgrund der Dynamik der Nebenfolgen fragwürdig geworden sind“ (Beck et al. 2001:25).19

Für gesellschaftlich induzierte Individualisierungstrends werden zwar weiterhin die von Beck, Wolfgang Bonß und Christoph Lau entwickelten Prämissen zugrunde gelegt. In den theoretischen Ausführungen zur Reflexiven Moderne werden diese jedoch weiterentwickelt und in einen veränderten sozialen Kongebundenen Verkehrskreise und die Ablösung bestimmter kultureller Muster von diesen Zugehörigkeiten. Dadurch entstehe für die Individuen ein Zwang zur Wahl eigener Entscheidungen […]“ (Esser 2000a:132). 19 | Die Prämissen der Ersten Moderne lehnen sich an Struktur- und Systemunterstellungen soziologischer Modernisierungstheorien an und zielen auf folgende Charakteristika (Punkte nach Beck et al. 2001:20 ff.; vgl. erweiterte Diskussion Poferl, Sznaider 2004b): (1) Moderne als territorial gebundene Nationalstaatsgesellschaften; (2) programmatische Individualisierung, d. h. Individuen gelten als frei und gleich, diese Freiheit findet jedoch innerhalb eines Rahmens statt, wie z. B. im Rahmen der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung; (3) Kapitalistisch geprägte Erwerbsgesellschaften, die Statuszuweisung, Konsummöglichkeiten und soziale Absicherung anbieten (historisch männlich konnotiert); (4) Naturkonzept, das auf Ausblendung und Ausbeutung der Natur beruht; (5) Fortschritt entfaltet sich auf der Grundlage eines wissenschaftlich definierten Rationalitätskonzepts; (6) Gesellschaftliche Entwicklung wird nach dem Prinzip der funktionalen Differenzierung vorangetrieben. Diese Aspekte scheinen ihre Wirksamkeit in der Zweiten oder Reflexiven Moderne zunehmend zu verlieren, was, nach Ansicht der Autoren, zu einem epochalen Bruch mit dem Konzept der Industriegesellschaften oder der Ersten Moderne führt.

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text gestellt. So reproduzieren Individuen ihre Individualität immer weniger nach den vorgegebenen Mustern von „Beruf, Betrieb, Familie, Geschlecht, Nachbarschaft und Nation“ (ebd., S. 43), denn genau die Grenzen dieser sozialen Räume heben sich nun, nach Ansicht der Autoren, in der Reflexiven Moderne, auf. Aufgrund technischer, wirtschaftlicher, politischer und kultureller Prozesse der Modernisierung gebe es „keine festen Subjektgrenzen mehr“ (ebd., S. 43). Entsprechend dieser Vorgaben sei „[…] das Individuum nicht mehr als festes, unverwechselbares Subjekt zu begreifen, sondern als ‚Quasi-Subjekt‘, das Resultat und Produzent seiner Vernetzung, Situierung, Verortung, Gestalt ist“ (ebd., S. 44).

Allerdings bleibe das Individuum, trotz dieser vernetzten und entgrenzten Situationen, „mehr denn je der fiktive Entscheider, Autor seiner selbst und seiner Biographie“ (ebd., S. 44).20 Die zentralen Argumente der Individualisierungsthese haben allerdings auch vor dieser neuen Ausrichtung Bestand: Die Menschen sind zur Individualisierung gezwungen, allerdings in der fortgeschrittenen Moderne nun verstärkt in Anbetracht kontingenter und unsicherer Zukünfte. Die Entscheidungen müssen nun vor der Perspektive reflexiver Anstrengungen in einer großen Zahl ambivalenter Situationen getroffen werden. Wie schon in der Ersten Moderne bleibt der Doppelcharakter dieser Situation bestehen, denn die Individuen sind darüber hinaus aufgefordert, auch die Möglichkeit des Scheiterns in ihre Überlegungen einzubeziehen. Angesichts dieser neuen Implikationen hat die Kontingenz der Lebensentwürfe zur Folge, dass „das Leben als Chance, aber auch als Zwang zur Gestaltung des eigenen Lebens“ (ebd., S. 57, Hervorh. im Original) wahrgenommen wird. Diese Gestaltung muss gegen „die neuen Unbestimmtheiten von Raum und Zeit“ (ebd., S. 57) von den Individuen flexibel hergestellt und aufrechterhalten werden. Dies gelingt, nach Ansicht der Autoren, nicht mehr alleine auf der Basis einer reflexiven Unterscheidung von „Rollenerwartung und distanziertem Ich“ (ebd., S. 45) wie in Zeiten der Industriegesellschaften, sondern kann nur ge20 | Interessanterweise wird in dieser Publikation der Subjektbegriff im Wechsel mit dem Begriff des Individuums verwendet, was in eigentümlichem Widerspruch zu der Aussage der Darstellung steht. Wird der Begriff des Subjekts in die Tradition der Subjektphilosophie oder auch der subjektorientierten Soziologie verortet, so erhalten Aspekte wie Autonomie, Unabhängigkeit, Freiheit eine philosophisch tradierte Konnotation und stehen normativ in einem widersprüchlichen Verhältnis zum Begriff des Individuums, wie er in der Perspektive der Soziologie verwendet wird. Beide Begriffe können so kaum gleichgesetzt werden (vgl. auch. Kap. 3).

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lingen, wenn die Menschen begreifen, „Teil eines selbstkonstruierten Netzes von Beziehungen und Kommunikationen und damit auch Objekt der Entscheidungen und Wahlen anderer zu sein“ (ebd., S. 45).21 Obgleich die Autoren diese Situation als eine Art „fiktiver Subjektautonomie“ (ebd., S. 45) beschreiben und deshalb als ambivalent bewerten, erscheint dieser Aspekt für die vorliegende Arbeit von großer Bedeutsamkeit (vgl. Kap. 3). Denn das Sich-als-Teileiner-Lebenswelt-Begreifen, das auch in Metaphern von Vernetzungen oft zum Ausdruck kommt, scheint hier eine Wirksamkeit zu entfalten, die weit über kausal angelegte Modelle von Entscheidungsbezügen reichen. Hier wird das Verhältnis Individuum und Gesellschaft als Grundstruktur von Individualisierungsprozessen reformuliert, ohne jedoch die neue Qualität des Verhältnisses auszuweisen. Diese bleibt leider auch in den weiteren Beschreibungen der Theorie der Reflexiven Moderne weitgehend unbestimmt. „Individualisierung non stop? Von der Lust an Optionen, der Last der Entscheidung und der List der Individuen“ (Schroer 2001a:420, Hervorh. im Original), so beschreibt Markus Schroer in seinem Standardwerk der vergleichenden Individualisierungskonzepte den Ansatz Becks und rückt ihn in die Nähe postmoderner Gesellschaftsentwürfe. „[…] Sie [die Individuen] versuchen, alle sich bietenden Alternativen gleichzeitig zu leben, und stöhnen unter der Belastung, nicht alles gleichzeitig erleben zu können. Oder aber sie entgehen der Last des Entscheidungsterrors durch die Flucht in die Nichtentscheidung, die Nichtaktivität, treten den Rückzug an, lassen sich auf nichts mehr ein, weil die Enttäuschung bereits antizipiert wird, dass auch die neue realisierte Möglichkeit eben nur eine Möglichkeit unter vielen ist und zu ebenso unerwünschten wie unkontrollierbaren Nebenfolgen führen könnte“ (Schroer 2001a:422, Hervorh. im Original).

In dieser treffenden Zusammenfassung wird deutlich, dass Beck und Kollegenkreis Individualisierungstrends in ihrem Gesellschaftsentwurf insgesamt kritisch bewerten; sie betrachten den Zwang und die Last der (nahezu aussichtslosen) Entscheidungen als zentrale Bewertungsparameter von Individualisierungsprozessen in modernen Gesellschaften. Ganz in der klassischen Tradition beschreiben sie den Dreiklang Freisetzung, Entzauberung, Reintegration der Individualisierungsthese als Freisetzung und Entzauberung aus den Strukturen der Industriegesellschaft 21 | Mit den Metaphern des „surfers“ und des „drifters“ werden hier beispielsweise Verhaltensweisen beschrieben, die sich aus diesem Lebensmodus ergeben haben (ebd., S. 45). So akzeptiert der „surfer“ rasche Kontextveränderungen, reagiert flexibel und (pro) aktiv auf Ungewissheiten und seine Zukunftsoffenheit. Dies gelingt dem „drifter“ hingegen gar nicht. Er erlebt die Kontingenz der Verhältnisse als Bedrohung und als Verlust und verfällt eher in eine passive Haltung (Beck et al. 2001:45).

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Strategien der Individualisierung „[…] hinein in eine vor allem ökonomisch diktierte Gesellschaft. Diese macht die freigesetzten Individuen arbeitsmarktabhängig […] und damit bildungsabhängig, konsumabhängig, abhängig von sozialrechtlichen Regelungen und Versorgungen, von Verkehrsplanungen, Konsumangeboten, Möglichkeiten und Moden in der medizinischen, psychologischen und pädagogischen Beratung und Betreuung“ (Beck 1986 in: Kron, Horacék 2009:132, Hervorh. im Original).

Gleichzeitig wird durch die Unsicherheiten und Offenheit der Zukunft der Zwang zur Gestaltung des eigenen Lebens initiiert. Auch der neuerliche Blick auf eine „kosmopolitische Moderne“ (Beck 2010) hat an diesem Grundverständnis von Individualisierung, wie es von Beginn an entwickelt wurde, wenig gerüttelt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Individualisierungsthese schon sehr früh als ein zentraler Beschreibungsmodus der Theorie der Reflexiven Moderne angelegt war und im Laufe der Arbeiten konsequent zu einem wichtigen Ausgangspunkt eines neuen gesellschaftstheoretischen Entwurfs weiterentwickelt wurde. Trotz großer Unterschiede in der Bewertung derselben besteht Übereinstimmung darin, dass die Individualisierungsthese einen „neuen Modus der Vergesellschaftung“ (Beck 1986:205; Zinn 2002; Honneth 2002b; Keupp 2010) heutiger (westlich geprägter) Gesellschaften beschreibt. Dieser neue Modus setzt eine stärkere Selbstwahrnehmung der Individuen voraus, um die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen mit den eigenen Erwartungen, Wünschen und Bedürfnissen in Übereinstimmung zu bringen. Im Verlauf der Arbeiten zur Theorie der Reflexiven Moderne wurde jedoch der Fokus von der subjektorientierten Betrachtung zunehmend auf die objektiven Lebenslagen von Individuen gelenkt, die zu o. g. Entscheidungszwängen und Ambivalenzen für die Individuen führen.22 22 | „Entgrenzung und Entscheidung“ (Beck, Lau 2004) ist dann auch der Titel des zweiten Sammelbandes, der die Ergebnisse der gesellschaftstheoretischen Diskussionen des Sonderforschungsbereichs „Reflexive Modernisierung“ (SFB 536, Projektlaufzeit 6/1999–6/2009) zusammenfasst. Der Ansatz der „reflexiven Modernisierung“ wurde im Rahmen des SFB mit dem Ziel entwickelt, neue soziologische Kategorien jenseits eines „begriffssteifen Konstruktivismus“ (Beck et al. 2004:45) zu entwickeln. Hierbei sollte das Forschungsprogramm „Fenster und Türen der erfahrungstauben Gesellschafts- und Systemtheorien aufreißen, um den Hunger nach Wirklichkeit zu befriedigen“ (ebd., S. 45). Drei „Einwände“ (ebd., S. 45) gegen aktuelle institutionalisierte Denkfiguren der Soziologie wurden hierbei erhoben, die gleichzeitig die Ausrichtung des Programms beschreiben: (1) Konzeptionelle Stärkung und Reformulierung der Begriffe „Ambivalenz, Nebenfolge und Krise“ (ebd., S. 46) moderner Gesellschaften. Diese wurden schon von den soziologischen Gründervätern in vielseitiger Ausführung dargestellt, sollten jedoch, nach Ansicht der Autoren, das aktuelle soziologische Denken verstärkt

2. „Die Menschen sind zur Individualisierung verdammt“ „Individualisierung meint [so] ein makrosoziologisches Phänomen, das sich möglicherweise – aber eben vielleicht auch nicht – in Einstellungsveränderungen individueller Personen niederschlägt. Das ist die Krux der Kontingenz: Es bleibt offen, wie Individuen damit umgehen“ (Beck 2008:303, Hervorh. im Original; vgl. auch Poferl 2010).

Nicht nur im Rahmen der Theorie der Reflexiven Moderne hat die Indivi-dualisierungsthese prägnante inhaltliche Akzente in der Beschreibung gesellschaftlicher Konstellationen gesetzt. Weitaus einflussreicher war ihre Wirkung in einigen Teildisziplinen der Soziologie, wo sie intensive und kontroverse Diskussionen auslöste. Diese Debatten werden im Folgenden skizziert mit der Intention, die inhaltliche Logik der These einerseits, aber auch die historischen Rahmenbedingungen der Debatten andererseits zu vergegenwärtigen. Dabei werden grundlegende methodologische Probleme des Individualisierungstheorems deutlich (Kap. 4). Diese werden für die theoretische und empirische Ausrichtung der Arbeit fruchtbar gemacht.

2.3 S oziologische D ebat ten im A nschluss an die I ndividualisierungsthese Die Individualisierungsthese bezieht sich inhaltlich auf die Beschreibung von „Lebenslagen, Lebensformen und Lebenswegen in fortgeschrittenen Gesellschaften“ (Berger 2004:98) und berührt eine Vielzahl von sozialen Themenbereichen in einer Reihe von soziologischen Teildisziplinen (Burzan 2011a, 2011b:419). Diese Themenvielfalt, wie beispielsweise der Wandel der Geschlechterrollen, die veränderte Einbindung von Menschen in berufliche Kontexte oder die Veränderung von Ungleichheitseffekten in sozialen Schichten, weist auf zweierlei Aspekte hin: (1) Die These lenkt das Augenmerk auf das Individuum und seine Handlungskonstellationen in den vielfältigsten sozialen Kontexten. (2) Die These lenkt das Augenmerk auf die Alltagsgestaltung, bzw. scheint „allein schon wegen des Bezugs auf das Individuum dem Alltag näher zu sein“ (Berger 2004:98, Hervorh. im Original). Der Mensch, das Individuum genauso wie seine vielfältige Alltagspraxis, rückt vor dieser Lesart als Erkenntnisgegenstand verstärkt in den Mittelpunkt der soziologischen Betrachtung.

beschäftigen. (2) Inhaltliche Anlehnung an „postmoderne“ Denkfiguren, das heißt an gesellschaftliche Betrachtungsweisen, die kausale Zusammenhänge sowie eindeutige Grenzziehungen vor dem Thema „Strukturverflüssigung“ (ebd., S. 46) diskutieren. (3) Die Zweite Moderne wird hierbei lediglich als „simplifiziertes“ Bild, als „Kontrastfolie“ (ebd., S. 46) zur Ersten Moderne angeboten. Es wird jedoch klar formuliert, dass es sich dabei um ein Modell und nicht um eine historische Realität handeln soll.

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Strategien der Individualisierung

Wie an vielen Stellen der Debatten nachvollzogen wurde, ist die Perspektive auf das Individuum bei den Gründervätern der Soziologie wie beispielsweise Georg Simmel und Max Weber konstituierend und die Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft wurde hier historisch neu und programmatisch für die Disziplin gestellt.23 Der Blick auf das Individuum im Verhältnis zur gesellschaftlichen Umwelt wird in der Literatur vielfach beschrieben und basiert auf dem Narrativ einer über Jahrhunderte reichenden Entwicklung westlich geprägter Gesellschaften. Diese setzt „[…] die kulturelle Erfindung des Individuums voraus. Erfindung meint in diesem Fall, dass die Idee des Individuums […] schrittweise entwickelt wird“ (Junge 2002:30, Hervorh. B.-J. Krings; vgl. auch Junge 1996 sowie Kap. 3).

Nicht umsonst spricht Beck im Rahmen der Individualisierungsthese von einem weiteren Individualisierungsschub (Beck 1986), der aufgrund sich verändernder Rahmenbedingungen ausgelöst wurde und einen langen historischen Prozess der Individualisierung kontinuierlich fortsetzt. Die vielfältigen „Anstrengungen zur Bestätigung und Widerlegung der Individualisierungsthese“ (Berger 2010:12) der letzten Jahrzehnte umfassend darzustellen, kann hierbei kaum gelingen. Im Folgenden soll auch nicht der Versuch unternommen werden, die Individualisierungsthese zu widerlegen oder zu bekräftigen. Ohne Zweifel hat die (kritische) Rezeption der letzten drei Jahrzehnte die theoretischen und konzeptionellen Gehalte der Individualisierungsthese bereichert und dazu beigetragen, ihre Relevanz für die Disziplin insgesamt zu erhöhen. Es werden hierbei drei Dimensionen dieser reichen Debatte(n) in Augenschein genommen, die durch die These in besonderem Maße beeinflusst und stimuliert wurden. Ähnlich wie in diesen Diskursen können diese Dimensionen nicht trennscharf dargestellt werden, sondern ihre Inhalte wirken in die jeweils benachbarten Dimensionen hinein. Denn diese haben die Auseinandersetzung

23 | Rainer M. Lepsius hat bsw. diese Perspektive im Werk Max Webers deutlich herausgearbeitet. Webers Methodologie (die verstehende Methode, der Idealtypus sowie das Postulat der Werturteilsfreiheit) entstand im „Kontext von Webers Angriffen auf die Wissenschaftsgestalt seiner Zeit: sein Kampf gegen den Essentialismus und die Substanzbeschreibung bei Kollektivbegriffen und sein Eintreten für den methodologischen Individualismus und den Begriffsnominalismus, sein Kampf gegen den Historismus und sein Eintreten für eine systematische und empirisch vergleichende Sozialwissenschaft, sein Kampf gegen den Kathedersozialismus […]. Webers Methodologie ist zeitgenössische Wissenschaftskritik in der Absicht, sein eigenes Forschungsprogramm zu rechtfertigen und den Sozialwissenschaften wissenschaftspolitisch größere Autonomie zu verschaffen“ (Lepsius 1990a:23; vgl. auch Kippele 1998 sowie Kap. 3).

2. „Die Menschen sind zur Individualisierung verdammt“

mit der These in besonderem Maße geprägt. Folgende drei Dimensionen werden diskutiert:24 1. Individualisierung und Analysen der Ungleichheiten 2. Individualisierung und biografische Lebensführung 3. Individualisierung als sozialstrukturelles und kulturelles Phänomen

2.3.1 Individualisierung und Analysen sozialer Ungleichheit Der erste Themenbereich – Individualisierung und Analysen sozialer Ungleichheit – stieß von Anfang an auf große Resonanz im Rahmen der soziologischen Debatten um die Individualisierungsthese. Die kritische Auseinandersetzung bezog sich hierbei vor allem auf die „Makrobeobachterperspektive“ (Berger 2010:13) und die weitreichenden Schlussfolgerungen, zu denen Beck in seinen frühen Darstellungen von Individualisierungsprozessen gelangte. Vor allem im Bereich der Analyse sozialer Ungleichheit: „[…] Wir leben trotz fortbestehender und neu entstehender Ungleichheiten heute in der Bundesrepublik bereits jenseits der Klassengesellschaft, in denen das Bild der Klassengesellschaft nur noch mangels besserer Alternative am Leben erhalten wird“ (Beck 1986:121, vgl. auch Schroer 2001a:397, Hervorh. im Original).

Bedeutsam in dieser Diagnose ist hier der sogenannte „[…] Fahrstuhl-Effekt: die Klassengesellschaft wird insgesamt eine Etage höher gefahren. Es gibt – bei allen sich einpendelnden oder durchgehaltenen Ungleichheiten – ein kollektives Mehr an Einkommen, Bildung, Mobilität, Recht, Wissenschaft, Massenkonsum. In der Konsequenz werden subkulturelle Klassenidentitäten und -bindungen ausgedünnt oder aufgelöst“ (Beck 1986:122, Hervorh. im Original).

Durch diese Dynamik würden Lebenslagen und Lebensstile ausdifferenziert und das Hierarchiemodell sozialer Klassen und Schichten weitgehend unterlaufen. Anhand der sozialstrukturellen Variablen „Lebenszeit, Arbeitszeit, Arbeitseinkommen“ beschreibt Beck den „Fahrstuhl-Effekt“ (ebd., S. 124) als 24 | Diese Untergliederung lehnt sich an die von Berger und Hitzler (2010) vorgeschlagene Strukturierung ihres Buches sowie an die Strukturierung des Einführungsbandes von Matthias Junge (2002) an. Der vor allem in der Theorie der Reflexiven Moderne sehr prägnant herausgearbeitete „Wandel des Politischen“ (Junge 2002) findet in der folgenden Ausarbeitung allerdings wenig Berücksichtigung, da dieser Aspekt als kritische Dimensionen der Individualisierungsthese eher implizit in den Debatten postmodern inspirierter Deutungsmuster thematisiert wird.

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denjenigen Effekt, der die Veränderungen der Klassenstrukturen in großem Maße beeinflusst hat. „[…] Die neuen materiellen und zeitlichen Entfaltungsmöglichkeiten treffen zusammen mit den Verlockungen des Massenkonsums und lassen die Konturen traditionaler Lebensformen und Sozialmilieus verschwinden“ (ebd., S. 124; Beck 1983).

Klassenidentitäten und Schichten würden aufgelöst und gleichzeitig ein Prozess „der Individualisierung und Diversifizierung von Lebenslagen und Lebensstilen in Gang gesetzt“ (ebd., S. 122). Dieser Perspektivenwechsel rührte jedoch noch in den 1980er Jahren an einem Tabu der Soziologie schlechthin und forderte seinen Tribut in Form der Aufhebung „eines Denkens in traditionalen Kategorien von Großgruppengesellschaften“ (Beck 1986:158; Burzan 2011a) und sozialen Klassen.25 Die Reaktion der Kolleginnen und Kollegen auf diesen Aufruf zum Perspektivenwechsel blieb nicht aus. Wie Ute Volkmann aus einer historischen Perspektive nachvollzieht, ging die deutsche Soziologie bis Anfang der 1980er Jahre zwar von dem „Minimalkonsens“ (Müller 1992 in: Volkmann 2002:227) aus, dass die Entwicklung moderner „westlicher“26 Gesellschaften auf der Basis von Sozialstrukturanalysen adäquat zu beschreiben sei. Dieser Konsens wurde jedoch seit Beginn der 1980er Jahre „von einem Großteil der Forscher und Forscherinnen aufgekündigt“ (ebd., S. 227). Nicht zuletzt durch die empirische Evidenz der Veränderung der Sozialstruktur in westlichen Gesellschaften seit dem Zweiten Weltkrieg (in der BRD) und vor allem seit den 1960er Jahren wurden zunehmend soziokulturelle Unterschiede als Faktoren für soziale Ungleichheit herangezogen (Hradil 1987; Berger, J. 1996).

25 | Wie von Matthias Junge knapp und prägnant in seinem Einführungsband zu „Individualisierung“ formuliert, wurde diese Kritik schon vor Becks Interventionen in der deutschsprachigen Soziologie eingeläutet. So entwickelte z.B. Theodor Geiger (18911952) Ende der 1940er Jahre eine umfassende Kritik an einer marxistisch orientierten Klassentheorie. So habe der Anteil der Angestellten als Lohnabhängige schon sehr früh zugenommen und eine „neue Mittelklasse“ mit weiteren sozialen Differenzierungen nach innen gebildet. Die von Marx angenommene Zunahme und Verschärfung von Klassenkonflikten sei ausgeblieben, da es nicht zu einer Verelendung des Proletariats kam. Gleichzeitig habe das Klassenbewusstsein für die Menschen als identitätsstiftendes und einigendes Moment an Bedeutung verloren (Junge 2002:48). 26 | Die Beschreibung eines „westlichen“ Modernisierungsparadigmas vor der kosmopolitischen Konstellation „Ost-West-Konflikt“ (1945-1990) ist für diese Zeit prägend und wird in der weiteren Beschreibung der soziologischen Debatten dieser Zeit ebenfalls diskutiert.

2. „Die Menschen sind zur Individualisierung verdammt“

So geriet das Modell der Klassengesellschaft als eine analytische Perspektive zur Beschreibung moderner westlicher Gesellschaften in die „Krise“, was zu Beginn der 1980er Jahre im Rahmen eines Soziologentages kontrovers und prominent verhandelt wurde (Matthes 1983). Vor der Perspektive soziokultureller und sozialstruktureller Veränderungen erschien der Begriff der Klassengesellschaft immer weniger geeignet, „den Strukturtyp der Gegenwartsgesellschaft zu erfassen“ (Lepsius 1990b:117). Diese Auffassung wurde in gesellschaftstheoretische Debatten um (neue) Begriffsbildungen wie „postindustrielle Gesellschaft“ oder „Spätkapitalismus“ (ebd., S. 117) eingebunden und kritisch diskutiert (Bell 1973; Matthes 1983; Offe 1983). Wenn man diese Debatten aus heutiger Sicht betrachtet, wird deutlich, dass Beck als ein Soziologe der „jüngeren Generation“ (Volkmann 2002) einen Perspektivenwechsel in der Soziologie vorschlug, der theoretisch und normativ bereits eingeläutet worden war. Diese Neuausrichtung kommt beispielsweise in Claus Offes Worten anlässlich des o.g. Kongresses prägnant zum Ausdruck: „[…] Dass die Fabrik nicht [mehr] das Zentrum von Herrschaftsbeziehungen und Schauplatz der wichtigsten sozialen Konflikte sei; dass ‚metasoziale‘, etwa ökonomische, Parameter der gesellschaftlichen Entwicklung von einer ‚Selbstprogrammierung der Gesellschaft‘ abgelöst worden sind; dass es sinnlos geworden ist, zumindest für westliche Gesellschaften eine Kontinuität von Entwicklung der Produktivkräfte und Emanzipation zu unterstellen – das sind Annahmen und Einsichten, die sich im Gefolge der Rezeption vor allem französischer Theoretiker wie Foucault, Touraine und Gorz auch bei uns so weitgehend durchgesetzt haben […]. Symptomatisch dürfte für den hier auftretenden Bedarf an begrifflicher Neuorientierung auch die steile Karriere sein, welche die Kategorie der ‚Lebensweise‘ (anstelle der orthodoxeren ‚Produktionsweise‘) bzw. des ‚Alltags‘ […] erlebt“ (Offe 1983:58). 27

27 | Claus Offe rekurriert hier auf den Begriff der „Lebenswelt“, den Jürgen Habermas in seiner Theorie des kommunikativen Handelns (1981) theoretisch verortet hat. So betont Offe, dass Habermas in „entschiedener und anhaltend kontroverser Abwendung von klassentheoretischen Paradigmen, die Struktur und Dynamik nicht als einen in der Produktionssphäre selbst wurzelnden Antagonismus, sondern als die Kollision zwischen den durch Geld und Macht vermittelten ‚Subsystemen zweckrationalen Handelns‘ und einer von ihnen ‚eigensinnig‘ abgekoppelten ‚Lebenswelt‘ andererseits“ (Offe 1983:58) begreift. Obgleich Offe diese von Habermas vorgeschlagene Trennung nachvollzieht, weist er auf die methodologischen Probleme hin, die sich für die Soziologie bei der Analyse der „Lebensweise“ (ebd., S. 59) stellen. Darüber hinaus gibt er zu bedenken, dass die empirische Beweislast noch aussteht genauso wie die soziologische Erarbeitung des Begriffs der „Lebenswelt“ als einem „politischen Paradigma der Verteilung“ (ebd., S. 59 ff). Diese Position wurde von einer Reihe von Kollegen geteilt (vgl. Geißler 1992,

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Dieser Perspektivenwechsel bezog sich zunächst auf den gesellschaftstheoretischen Ausgangspunkt der Disziplin, Arbeit als „Schlüsselkategorie“ (Offe 1983; Zapf 1991) für klassentheoretische Denkfiguren heranzuziehen. Diese normative Ausrichtung prägte weite Teile der deutschsprachigen Soziologie und basierte weitgehend auf dem Klassenbegriff bei Karl Marx.28 Die Berücksichtigung der „Lebenswelt“ (Habermas 1981, 1985) als empirischer Ausgangspunkt der soziologischen Betrachtung wurde noch vielfach zurückgewiesen. Zentrale empirische Beobachtungen, die, bis weit in die 1980er Jahre hinein, prinzipiell Anlass zu neuen Forschungsperspektiven gaben, bezogen sich auf die rasante Zunahme „reflexiver Dienstleistungsarbeit“ (ebd., S. 47; Berger, Offe 1983)29, die „dramatische Verkürzung der Lebensarbeitszeit in den letzten hundert Jahren“ (Dahrendorf 1983:30)30 sowie das Entstehen „sozialer Bewegungen“ (Touraine 1983:94), die im Spannungsfeld von neuen kulturellen

1996) und scheint vor allem in der jüngsten Entwicklung in der Industrie- und Arbeitssoziologie wieder an Aktualität zu gewinnen (Krings 2007, Voß 2010). 28 | Der Klassenbegriff wurde hierbei auf die empirischen Analysen von Gesellschaften bei Karl Marx (1818-1883) zurückgeführt, deren Strukturmerkmale den wissenschaftlichen Fokus bildeten. Somit sind beispielsweise nach Lepsius „Klassen […] also soziale Gebilde, deren Angehörige durch gleiche ökonomische Bedingungen in ihrer Lebenslage, ihren Interessen und Wertorientierungen homogenisiert werden und sich dadurch von den Angehörigen anderer Klassenlagen unterscheiden und zu diesen in Konflikte treten. Wir haben also bestimmte Elemente zu beachten: die ökonomisch bestimmte Lebenslage, die Interessensformierung und ihre Vermittlung mit anderen Interessenslagen sowie die Wertorientierungen. Die Klassenlage wird auch für Marx sozial und politisch erst dann strukturdominant, wenn sie zur durchschlagenden Organisationsdimension mit hohem Konfliktpotential wird“ (Lepsius 1990b:118). 29 | Wesentliche Merkmale des Arbeitstypus der „Dienstleistungsarbeit“ werden in diesem Kontext von Claus Offe beschrieben als „Tätigkeiten wie die des Lehrens, Heilens, Planens, Organisierens, Vermittelns, Kontrollierens, Verwaltens, Beratens [...]. Es ist diese Differenzierung innerhalb des Arbeitsbegriffs, die mir – sowohl im Blick auf das quantitative Gewicht der Dienstleistungsarbeit in ‚nachindustriellen‘ Gesellschaften wie im Blick auf die Art der sie regierenden Rationalitätskriterien – den wichtigsten Anhaltspunkt dafür zu bieten scheint, dass heute, selbst jenseits empirischer Vielgestaltigkeit von Arbeitssituationen, von einer zugrundeliegenden Einheit eines alle Arbeit organisierenden und regierenden Rationalitätstyps nicht mehr gesprochen werden kann“ (Offe 1983:47 ff.; vgl. kritisch zur neueren Rationalitätsdebatte Siegel 1991). 30 | Ralf Dahrendorf bezieht sich hier nicht nur auf die sukzessive Verkürzung der institutionalisierten (Erwerbs-)Arbeitszeit, sondern auch auf die steigende Zahl von Arbeitslosen, längere Ausbildungszeiten, frühere Pensionierungen, Frauen in unbezahlten Tätigkeiten innerhalb der Familien etc. seit den 1970er Jahren (Dahrendorf 1983).

2. „Die Menschen sind zur Individualisierung verdammt“

Orientierungen und sozialen Organisationsformen standen.31 Diese Orientierungen stärkten den Blick auf zivilgesellschaftliche Prozesse genauso wie auf die Liberalisierung der Lebensformen. Die zentrale Frage, die sich für die Soziologie aufgrund dieser Debatten stellte, wurde von M. Rainer Lepsius für diese Zeit formuliert. Für ihn ging es prinzipiell nicht mehr um die Frage: „[…] Gibt es noch eine Klassengesellschaft oder befinden wir uns in einer ‚nivellierten Mittelstandsgesellschaft‘, sondern um Fragen wie: Welche Strukturprinzipien bestimmen die gegenwärtige Gesellschaft, und welche Rolle kommt dabei dem Strukturprinzip der Klassenbildung zu?“ (Lepsius 1990b:118).

Diese Frage stelle sich für ihn als prinzipiell offen dar und müsse empirisch geprüft werden. Hierbei sei es zentral, die folgenden Analyseebenen auseinanderzuhalten: die „[…] Ebene der Beschreibung der Lebenslage, die Ebene der Untersuchung von Prozessen der Interessensformierung und institutionalisierten Interessensvermittlung und die Ebene der Wertorientierungen und ihrer Bedeutung für die Legitimation und Verfahrenskonformität der Prozesse der Interessenvermittlung“ (ebd., S. 119; vgl. auch Berger, J. 1986).

Was hier neben methodologischen Vorschlägen ebenfalls in den Mittel-punkt gerückt wird, ist die allgemeine thematische Ausrichtung auf soziale Prozesse mit dem Ziel, aktuelle soziokulturelle Veränderungen einzufangen. Ruft man diese Debatten der 1980er Jahren in Erinnerung, so wird im Rückblick deutlich, dass Beck in seinen Analysen die Lebenslagen als „individualisierte Existenzformen und Existenzlagen“ (Beck 1986:116) in den Vordergrund der Betrachtung rückte, während die oben genannten Ebenen in den Hintergrund gerieten. So bezieht sich Beck in seiner Individualisierungsthese lediglich auf den subjektiv wahrgenommenen „Verlust der Klassenidentität“ (Beck 1986)32 bei einem Großteil der Menschen seit den 1960er Jahren, ohne jedoch einen methodologischen Zusammenhang zu den anderen oben ge31 | So löst beispielsweise Alain Touraine die sozialen Bewegungen ebenfalls aus dem Kontext des Klassenbegriffs marxistischer Prägung, ohne jedoch seine soziale Relevanz zu negieren: „Der Begriff der sozialen Bewegung kann nicht von dem der sozialen Klasse losgelöst werden. Was jedoch die soziale Bewegung von der Klasse unterscheidet, ist, dass diese als Situation aufgefasst werden kann, während die soziale Klasse historisches Subjekt ist“ (Touraine 1983:98). 32 | Vgl. auch Schroer 2001a:399, Fußnote 96; Volkmann 2002; kritisch hierzu: Geißler 1992, 1996.

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nannten Ebenen herzustellen. Gleichzeitig hält er an den „fundamentalen Bestimmungen der Lohnarbeit“ (ebd., S. 116) als die Tiefenstruktur der Ungleichheit in modernen Gesellschaften fest, ohne jedoch deren Strukturprinzipien theoretisch und empirisch auszuweisen.33 Dennoch oder vielleicht gerade wegen dieser Unschärfen hat sich im Anschluss an die Individualisierungsthese eine „enorme Konjunktur mit theoretischen und empirischen Beiträgen zum Thema der sogenannten neuen, sozialen Ungleichheit […]“ (Esser 2000b:168; Burzan 2011a) gebildet. Die Kernfrage dieser Bewegung war tatsächlich, „ob die Thesen von der Entstrukturierung und Individualisierung wirklich stimmen“ (ebd., S. 168; vgl. etwa Berger, Hradil 1990; Berger 1996; Berger, Vester 1998). Darüber hinaus begann eine „zweite Konjunktur von empirischen Beiträgen zur weiteren Entstrukturierung der ‚alten‘ Klassengesellschaft“ (Esser 2000b:168). Durch diese Arbeiten wurde besonders die Milieu- und Lebensstilforschung gestärkt, die den Fokus auf soziale Ungleichheit verstärkt integrierten.34 Es entstand eine Reihe von Arbeiten, die sich, im Anschluss an die Individualisierungsthese, intensiv mit den Effekten von Ungleichheit auseinandersetzten.

33 | So versteht beispielsweise Gerhard Schulze seine vielbeachtete Studie zur „Erlebnisgesellschaft“ (1982) durchaus als eine Weiterentwicklung von Becks Interpretation und Auslegung der Individualisierungsthese, in der er eine beim „Subjekt ansetzende[n] Sozialstrukturanalyse“ (Schroer 2001a:399, Fußnote 96) vorlegt (Schulze 1992). Hier wird deutlich, dass „bei Schulze nicht die soziale Lage, sondern in erster Hinsicht der persönliche Stil als das Kriterium angesehen wird, wonach sich die Zugehörigkeit eines Einzelnen zu einem sozialen Kontakt definiert. Ausschlaggebend für soziale Vergemeinschaftung sind in der Erlebnisgesellschaft also nicht die objektiven Lebensbedingungen, sondern subjektive Werthaltungen“ (Volkmann 2002:229). 34 | Im Rahmen seiner Interpretation des Begriffs des Lebensstils bezieht sich Beck auf die Arbeiten von Max Weber und dessen Vorstellung von „Lebensführung“ als das charakteristische Merkmal eines sozialen Standes (Beck 1983, 1986). Bei Weber ergibt sich die Klassenlage aus „Maß und Art der Verfügungsgewalt (oder des Fehlens solcher) über Güter oder Leistungsqualifikationen und aus der gegebenen Art ihrer Verwertbarkeit für die Erzielung von Einkommen oder Einkünften innerhalb einer gegebenen Wirtschaftsordnung“ (Weber 1975 in: Lepsius 1990b:119). So unterscheidet Weber nach der Verwertung von Besitz oder Erwerbschancen zwischen „Besitzklassen“ und „Erwerbsklassen“ (ebd., S. 119). Diese Differenzierung wird dann relevant, wenn Versorgungsansprüche gegenüber den Sozialversicherungssystemen oder gegenüber öffentlichen Gütern formuliert werden. So entwickelt diese Differenzierung beispielsweise im Falle knapper öffentlicher Kassen oder durch institutionelle Vererbungsstrukturen von Vermögen unterschiedliche soziale Dynamiken (vgl. für die BRD Berger, Hradil 1990).

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So verließ beispielsweise Peter A. Berger die makrostrukturelle Perspektive und plädierte für eine „Dynamisierung oder Verzeitlichung der Sozialstrukturanalyse“ (Berger 1996:12, Hervorh. im Original). Damit wendete er sich von einer Perspektive auf „statische Großgliederungen einer Gesellschaft“ (ebd., S. 13) ab und richtete sein Augenmerk auf die „Mikrodynamiken von Individuen (und Familien)“ (ebd., S. 13). Durch die Innensicht sollten subjektive Erfahrungsräume soziostruktureller Rahmenbedingungen eingefangen werden. Diese Erfahrungsräume waren wiederum nicht statisch erfasst, sondern eingebunden in biografische Lebensverläufe, die auf einer Zeitachse angelegt waren. Der soziologische Blick auf die „Lebenslagen“ und „Statusverläufe“ ging dabei der Frage nach, „[…] welche Kraft ökonomischen Einflüssen und der Stellung im Erwerbsleben zukommt, verglichen mit anderen, möglicherweise gegenläufigen Faktoren, wie etwa dem Wohlfahrtsstaat, dem Geschlecht, der Familien- oder Haushaltsform oder auch der Region“ (ebd., S. 60 ff.; Berger, Hradil 1990; Schulze 1992; Burzan 2011a).

Andere Ansätze hielten, im Gegensatz dazu, an einer vertikal angelegten Ungleichheitsstruktur fest und interpretierten die Individualisierungsthese nicht als Auflösung, sondern als „Pluralisierung der Klassengesellschaft“ (Vester 2010:29), der Rechnung getragen werden müsse. Michael Vester, dessen Arbeiten exemplarisch für diese Ausrichtung stehen, hat sich beispielsweise intensiv mit der Individualisierungsthese und ihrer Bedeutung für die Analyse von Ungleichheitsstrukturen in der deutschen Gesellschaft auseinandergesetzt.35 Hierbei wendet er sich hauptsächlich gegen den Anspruch der „Allgemeingültigkeit“ (Vester 1997:99), der den Trends der Individualisierung in der Gesamtbewertung gesellschaftlicher Dynamik vielfach zugeschrieben wird. Zum einen wirken diese Trends für ihn nicht „eindimensional“, sondern sehr vielfältig im „Feld der sozialen Ungleichheit“ (ebd., S. 99). Zum anderen sind für ihn diese Trends aus einer historischen Perspektive nicht neu und müssten im Rahmen der Entwicklung moderner Gesellschaften relativiert werden. So 35 | Anna Schröder hat die Auseinandersetzung mit der These für Großbritannien aufgearbeitet, wo sie „im Kontext der Sozialstrukturanalyse und Mobilitätsforschung zur ‚death-of-class‘-Hypothese beflügelte“ (Schröder 2010:99; vgl. auch Atkinson 2007). Trotz kritischer Distanz zu den Schwächen der These verteidigt Schröder den Individualisierungsansatz gegen strikte klassentheoretische Ansätze. Sie betont hierbei vor allem die Möglichkeit, Veränderungen und Beharrungskräfte von Mobilitäts- und Karrieremustern darzustellen, die in der britischen Mobilitätsforschung bislang kaum im Fokus der Aufmerksamkeit standen. Darüber hinaus unterstreicht sie die Bedeutung der „individuellen Erfahrungen intragenerationeller Mobilität für die ‚lebensweltliche‘ Evidenz“ (ebd., S. 102) in unterschiedlichen sozialen Kontexten.

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habe die spezifische historische Entwicklung der bundesrepublikanischen Gesellschaft in den 1950er und 1960er Jahren eine „interessenbewusste Arbeitnehmergesellschaft“ (Lepsius 1974 in: ebd., S. 102) mit einer breiten Teilhabe am Wirtschaftswunder herausgebildet, die zu einer „historisch neuartige[n] „Öffnung des sozialen Raums“ (Merleau-Ponty 1965 in: ebd., S.102) geführt habe. Diese Öffnung habe, nach Vester, seit den 1960er Jahren zu einer „neuen Stufe der Mentalitätsentwicklung“ auf der Basis der Werte der „Selbstbestimmung, der Selbstverwirklichung und auch der sozialen Mitverantwortung“ (ebd., S. 102) geführt. Im Anschluss an das Konzept des sozialen Raums von Pierre Bourdieu führten er und Kollegenkreis umfangreiche Untersuchungen durch, die der Frage nachgingen, wie sich Individualisierungstrends auf Milieus und Lebensstile ausgewirkt haben (Vester 1997; Vester et al. 2001).36 Die Ergebnisse dieser Untersuchungen erbrachten ein differenziertes Bild innerhalb der verschiedenen Milieus, die durch eine horizontale und vertikale Ungleichheitsstruktur gekennzeichnet waren. Bemerkenswert erschien hier, dass sich vertikale Ungleichheitsstrukturen kaum verändert hatten und auch im Hinblick auf den kulturellen Ausdruck dieser Milieus wenig strukturelle Veränderungen innerhalb der sozialen Klassen (und ihrer Distinktionen) diagnostiziert wurden. Die horizontale Milieudifferenzierung hatte sich hingegen signifikant verändert. Hier hatten sich vor allem die mittleren und jüngeren Generationen in moderneren Berufen und Ausbildungen individualisiert, d. h. „durchschnittliche Standards in Bildung, Geselligkeit, sozialer Solidarität, politischer Partizipation und der Bereitschaft für Eigenverantwortung“ (Vester 1997:115; Vester et al. 2001) ausgebildet. Diese wirkten zwar nicht klassenübergreifend, bezogen jedoch sehr stark neben Milieus der „Avantgarde“ auch Arbeitnehmermilieus der „modernen Mitte“ mit ein (Vester et al. 1993).37 36 | Wie Michael Vester betont, fand in der deutschen Soziologie der „Durchbruch“ vom Denken „in Großgruppen“ (Beck 1986) hin zu einem Denken in ausdifferenzierten Berufs- oder Klassenmilieus mit den Arbeiten Pierre Bourdieus statt. Allerdings fand dieser Traditionsbruch mit den theoretischen Linien erst nach 1980 statt und konnte sich „dauerhaft an den Universitäten verankern“ (Vester 2010:42). Mit dem Konzept des sozialen Raums hat Bourdieu einen Theorierahmen vorgelegt, der sowohl Klassenmodelle als auch Lebensstile in einem gemeinsamen Konzept vorsieht. Hervorzuheben ist hier vor allem „die Ausweitung des Kapitalbegriffs. An zentraler Stelle in seinen Analysen der Ungleichheitsstruktur moderner Gesellschaften berücksichtigt Bourdieu nicht allein ökonomisches, sondern auch kulturelles und soziales Kapital“ (Burzan 2011a:125; Bourdieu 1982). 37 | Die Durchführung dieser empirischen Untersuchungen (1988-1991) und anschließender Projekte war, nach Vester, sehr aufwendig und umfangreich. Zunächst galt es, einen Analyseansatz für die soziale Gesamtstruktur Deutschlands zu finden. Deren

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Fasst man diese Ergebnisse und die Ergebnisse der Diskurse um neue Formen sozialer Ungleichheit zusammen, stimmen, so Vester, die „festgestellten Erscheinungen individualisierter und differenzierter Lebensweise weitgehend mit den Beschreibungen Becks überein“ (Vester 2010:46). Vor allem durch die berufliche Ausdifferenzierung durch das Ansteigen der Berufsqualifikation, die starke Zunahme von Dienstleistungsberufen sowie die steigende Erwerbstätigkeit von Frauen seit den 1960er Jahren haben sich horizontale Strukturverschiebungen ergeben, die kulturelle Veränderungen herbeigeführt haben. Diese betreffen, nach Vester, vor allem „die wachsenden Ansprüche der Selbstund Mitbestimmung“ (ebd., S. 47) in unterschiedlichen sozialen Kontexten. Allerdings zeige sich auch, und hier bleibt Vester der jüngeren Rezeption marxistisch geprägter Ungleichheitsanalysen treu, dass höhere Ansprüche der individualisierten Milieus sehr schnell „zur steigenden Unzufriedenheit mit den wieder steiler gewordenen Verteilungs- und Autoritätshierarchien unserer Gesellschaft“ (ebd., S. 47) beitragen. Dadurch bleibe die Klassenstruktur nach wie vor virulent für soziale Dynamiken und dürfe nicht aus der kritischen Beobachtung verschwinden. Das zeige sich gerade in der jüngsten Entwicklung sozialstruktureller Bewegungen. Diese Einschätzung wird geteilt von Autoren, die Ungleichheitsstrukturen mit den „klassischen“ Kategorien „Bildung“ und „soziale Mobilität“ korreliert haben und vor allem der Frage nachgegangen sind, inwieweit sich die Auflösung von Klassenstrukturen im sozialen Bewusstsein niedergeschlagen habe (Becker, Hadjar 2010). Ähnlich wie oben, kommen die Autoren zu dem Ergebnis, dass die „Fahrstuhl-Metapher für die Entwicklung von Bildungschancen und sozialer Mobilität […] eher irreführend“ (ebd., S. 67) sei und vor allem keine lineare historische Entwicklung anzeigen könne. Auf der Ebene empirischer Beobachtungen konnte ausgehend von dieser Hypothese „in der Zeit von 1984 bis 1994 zunächst eine Abnahme, aber bis 2004 wieder eine Zunahme dieser individuellen Sicht von sozialer Ungleichheit“ (ebd., S. 65) festgestellt werden. Obgleich postmaterialistische Werte deutlich im Rahmen bestimmter Milieus zugenommen haben, lassen sich Werthaltungen und ihr Wandel durch die Zuordnung von Klassenlagen erklären (Hadjar, Becker 2006; Hadjar, Becker 2010; Mayer 1990). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Individualisierungsthese sowohl den soziologischen Debatten um Ungleichheitsstrukturen in der BRD (und nach 1989) als auch gesellschaftstheoretischen Ansätzen einen Implikationen mussten jedoch erst noch herausgearbeitet werden, da sich Bourdieus Arbeiten auf die französische Sozialstruktur bezogen. Der Mehrebenenansatz, der hierbei entwickelt wurde, verband schließlich Daten- und Berufsfeldanalysen mit typologischen Habitusanalysen und örtlichen Milieuanalysen (Vester 2010:45; Vester et al. 2001).

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enormen Schwung verliehen hat. Es scheint, als ob sie beim Zeitpunkt der Veröffentlichung sensible Themen angesprochen und den Nerv eingefahrener Diskussionen getroffen hat. Dies betrifft einerseits das Thema der sozialen Ausdifferenzierung der soziologischen Kategorie „Klasse“ nach Lebensstilen, es bezieht sich jedoch auch auf den normativen Ausgangspunkt der soziologischen Ungleichheitsforschung, kapitalistisch induzierte Ungleichheiten lediglich in der Arbeitswelt zu verorten. Jüngere theoretische und empirische Entwicklungen im Rahmen der letzten zwei Jahrzehnte zeigen allerdings, dass sozialstrukturelle Polarisierungen wieder zugenommen haben, was die These in ihrer Ausrichtung auf Ungleichheitsstrukturen (in Deutschland) geschwächt hat.38 Der implizite Gehalt der These, dass individuelle Erwartungen sowie die externen Anforderungen nach einer aktiven Gestaltung der Biografie sukzessive in die Lebenswelt der Menschen verlagert werden, kann dennoch als wichtige Weiterentwicklung der Ungleichheitsforschung angesehen werden.

2.3.2 Individualisierung und biografische Lebensführung Eine weitere Dimension, die im Rahmen der Individualisierungsthese beachtliche Resonanz gefunden hat, ist die Dimension der biografischen Lebensführung. Empirischer Ausgangspunkt ist auch hier die These vom „FahrstuhlEffekt“ (Beck 1983), der in der BRD sowie in der DDR gleichermaßen zu einer Erosion der Klassenstrukturen geführt habe, die in ihrer Tragweite längst noch nicht als abgeschlossen gelten könne. „[…] Individualisierung meint zum einen die Auflösung vorgegebener sozialer Lebensformen – zum Beispiel das Brüchigwerden von lebensweltlichen Kategorien wie Klasse und Stand, Geschlechtsrollen, Familie, Nachbarschaft usw., oder auch, wie im Fall der DDR und anderer Ostblockstaaten, der Zusammenbruch staatlich verordneter Normalbiographien, Orientierungsrahmen und Leitbilder“ (Beck, Beck-Gernsheim 1994a:11, Hervorh. im Original). 38 | Dennoch sei hier angemerkt, wie überraschend „aktuell“ Becks Szenarien im Hinblick auf die heutige Arbeitsmarktsituation anmuten, wenn er beispielsweise im Jahre 1986 schreibt: „Das, was bisher antithetisch gegenübergestellt wurde – formelle und informelle Arbeit, Beschäftigung und Arbeitslosigkeit –, wird in Zukunft zu einem neuartigen System flexibler, pluraler, risikovoller Formen von Unterbeschäftigung verschmolzen. Diese Integration der Arbeitslosigkeit durch eine Pluralisierung von Erwerbsarbeitsverhältnissen wird das bekannte Beschäftigungssystem nicht vollständig verdrängen, es aber überlagern oder besser: unterhöhlen und angesichts des insgesamt schrumpfenden Erwerbsarbeitsvolumens unter permanenten Anpassungsdruck setzen“ (Beck 1986:228, vgl. Boltanski, Chiapello 2003).

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Erosion bedeutet in dieser Denkfigur, dass die Menschen im Laufe dieser spezifischen historischen Entwicklung aus ihren festgelegten Rollen entlassen werden, was besondere Erwartungen an sie und ihre Handlungsstrukturen stellt. Diese Erwartungen betreffen vielfältige Fähigkeiten, die erforderlich sind, um reflexiv und mitbestimmend mit der eigenen biografischen Offenheit umgehen zu können. Darüber hinaus entfalten sich diese Fähigkeiten weniger am Arbeitsplatz, als vielmehr im Rahmen der individuellen Lebensführung. Für Beck und Beck-Gernsheim eröffnen diese Fähigkeiten jedoch nicht unbedingt freiheitliche Räume, sondern sind insgesamt ambivalent zu bewerten. „[…] Kennzeichnend sind Mischformen, Widersprüche, Ambivalenzen (abhängig von politischen, wirtschaftlichen, familialen Bedingungen). Kennzeichnend ist die ‚Bastelbiographie‘, die – je nach Konjunkturverlauf, Bildungsqualifikation, Lebensphase, Familienlage, Kohorte – gelingen oder in eine Bruch-Biographie umschlagen kann. Scheitern und unverzichtbare Freiheit wohnen nah beieinander, mischen sich vielleicht sogar (z.B. in der ‚gewählten‘ Single-Existenz)“ (ebd., S. 19).

Biografische Planung oder das „Leben als individuelle[s] Projekt“ (Geissler, Oechsle 1994:139) wird nach Beck und Beck-Gernsheim zunehmend wichtiger für die Menschen, die diese Planung unter Bedingungen von Unsicherheit und Offenheit durchführen müssen. Als zentraler Aspekt erscheint hierbei die „biographische Selbststeuerung“ (ebd., S. 141), die zweierlei voraussetzt: zum einen, das „Leben als eigenständige Biographie (als ‚Projekt‘) zu entwerfen“ (ebd., S. 141), zum anderen aber auch die Fähigkeit, institutionelle Rahmenbedingungen „wahrzunehmen“ (ebd., S. 141), um diese mit den eigenen Erwartungen in Beziehung zu setzen. Allerdings – und dies betont den dritten Aspekt von Individualisierung – entstehen in diesen Prozessen neue Formen von Standardisierungen, womit Beck die „institutionelle Strukturierung von Lebensläufen“ (Beck 1986:211 ff.) meint. Im Mittelpunkt dieser neuen Standardisierungsformen steht der Arbeitsmarkt, der, nach Beck, einen wesentlichen Motor der jüngsten Individualisierungsschübe darstellt. Mit der (wachsenden) Institutionenabhängigkeit, die sich nun genau über den Arbeitsmarkt vermittle, wachse so wiederum die „Krisenanfälligkeit der entstehenden Individuallagen“ (Wohlrab-Sahr 1993:39; Beck 1986). Die Institutionen des Wohlfahrtsstaates seien jedoch nicht in der Lage, diese Krisenanfälligkeit aufzufangen, sondern würden zu „Verschwörern und Verfechtern der ehemaligen Sicherheiten“ (Beck 1986:215). Ähnlich wie in der Ungleichheitsforschung ist die Individualisierungsthese auch auf eine bemerkenswerte Resonanz in der soziologischen Lebenslaufforschung gestoßen. Allerdings kamen auch hier Becks Thesen nicht überraschend, denn Dynamiken des sozialen Wandels hatte zu Beginn der 1980er Jahre schon Eingang in diese Forschungsrichtung gefunden. So wurde bei-

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spielsweise „Kohlis Verständnis von Individualisierung ungefähr zur gleichen Zeit entwickelt wie der Beck’sche Individualisierungsbegriff“ (Scherger 2007:32; Wohlrab-Sahr 1993). Martin Kohli, ein prominenter Vertreter der deutschsprachigen Lebenslaufforschung hatte in den 1970er und 1980er Jahren das Konzept der „Institutionalisierung des Lebenslaufs“ (Kohli 1985) entwickelt und gegen seine Kritiker verteidigt (Kohli 1985, 1986).39 Auf der Basis subjektiv konstruierter Biografien betrachtete Kohli die Individualisierungsthese als genauso evident wie die Theorie der De-Institutionalisierung des Lebenslaufs (Kohli 1985), da beide Ansätze das „Verhältnis von Subjekt und Gesellschaft neu beleuchtet haben“ (Kohli 1994:219). Im Mittelpunkt dieser Betrachtung steht die Vorstellung, dass – ähnlich wie bei Beck – gerade der Erfolg des bundesrepublikanischen Wohlfahrtsstaatsmodells zu de-institutionalisierenden Bewegungen des biografischen Verlaufs von Menschen geführt hat. So beschreibt Kohli das Ausgangsmodell, die Institutionalisierung des Lebenslaufs, als „[…] die Gewährleistung einer kontinuierlichen Lebensspanne sowie der sequentiellen Ordnung und chronologischen Normalisierung von Verhaltensabläufen“ (ebd., S. 220).

Das Konzept der Institutionalisierung des Lebenslaufs habe sich im Rahmen der bundesdeutschen Entwicklung des Wohlfahrtsstaates auf der Basis des „Arbeitsmarktes“ als der zentralen Institution des Lebenslaufs herausgebildet. Die Erwerbsarbeit, die sich historisch von einer „[…] Haushaltsökonomie zu einer Ökonomie (formal) freier Arbeit [entwickelt hat], bringt nicht nur eine Ausdifferenzierung der Erwerbsarbeit [mit sich], sondern auch die Ausdifferenzierung einer entsprechenden Lebensphase, die der Erwerbsarbeit gilt […]“ (ebd., S. 222).

Die „Dreiteilung des Lebenslaufs um die Erwerbsarbeit herum“ (ebd., S. 222) wird nach Kohli mit den drei Lebensphasen Vorbereitungsphase, Erwerbsphase und Ruhestand beschrieben, die von den Sozialversicherungssystemen flankiert würden.40 So habe sich die Erwerbsarbeit als der „strukturelle Kern“ 39 | Vgl. ausführliche Literatur über die Arbeiten Kohlis in Wohlrab-Sahr 1993:49, Fußnote. 40 | Dieses Drei-Phasen-Modell wurde aus einer geschlechtersensiblen Perspektive vehement kritisiert, da das Modell nur die männliche (Standard-)Biografie abbilden und weibliche Biografien nicht berücksichtigen würde (vgl. Born, Krüger 2001). Kohli verteidigte seinen Ansatz gegen diese Vorwürfe mit dem Argument, dass die Frauen in diesen institutionalisierten Lebensläufen über ihre Ehemänner, bzw. über deren Erwerbstätigkeit, vergesellschaftet seien, was die These eher stärken würde. Später bezog er die empirische Relevanz von weiblichen Biografien in das Modell mit ein

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herausgebildet, an dem sich „die übrigen sozialen Systeme anlagern und auf den sie zugeschnitten sind“ (ebd., S. 222).41 De-institutionalisierende Aspekte dieses Modells treten nun seit Mitte der 1970er Jahre in vielerlei Hinsicht auf: Sukzessive Verkürzung der allgemeinen Arbeitszeit, Zunahme von dienstleistungsorientierter Arbeit, die selbstbestimmte Arbeitsabläufe erforderlich machen, Veränderung der Phasen außerhalb der Erwerbszeit. Die Trends zur Verlängerung des Ruhestands für viele Menschen bei guter Gesundheit sowie die zunehmenden Phasen der Erwerbslosigkeit von jungen Menschen am Beginn ihres Arbeitslebens werden hier als Phasen beschrieben, deren „emanzipatorische“ Bedeutung zunimmt. Das heißt, „[…] sie sind bedeutungsvoll als kulturelle Modelle, in denen sich Ansprüche bündeln, die aus den Deutungsgrundlagen des modernen Individualitätsregimes entstanden sind“ (ebd., S. 231; Kohli 1985, 1986).

Es entstehen zunehmend Situationen und Kontexte, in denen die Men-schen, zunächst losgelöst von institutionellen Vorgaben, auf sich zurückgeworfen werden und mit diesen verschiedenartigen Situationen umgehen müssen. Deinstitutionalisierende Effekte deuten vor diesem Hintergrund darauf hin, „[…] dass (biographisches) Handeln und (Lebenslauf-)Struktur nur analytisch trennbar und de facto immer ineinander verschränkt sind. […] Auf diese Weise gibt es eine Wechselwirkung zwischen biographischer Konstruktion und subjektiven Deutungsmustern“ (Schergen 2007:40).

Zentral im Konzept der Institutionalisierung des Lebenslaufs ist die zeitliche Dimension, die generell in allen Lebenslaufkonzepten eine entscheidende Rolle spielt. In modernen Kontexten impliziert diese – auf der Basis wohlfahrtsstaatund betonte diese als „entscheidende dynamische Faktoren in der Entwicklung individueller Lebenslaufmuster“ (Schergen 2007:52; Kohli 1994). 41 | Kernstück seines Konzepts ist die Annahme, dass sich die „Entwicklung zur Moderne als ein Prozess der Verzeitlichung des Lebens“ (Kohli 1986:184) darstelle. Während in der Vormoderne der soziale Ablauf des Lebens an chronologische Ereignisse (Heirat, Familie, Alter) geknüpft war, hat sich in der Moderne der Lebenslauf als soziale Institution entwickelt. Das bedeutet, der Lebenslauf ist in der Moderne um das Erwerbssystem organisiert. „Die Verzeitlichung […] ist ein Teil des umfassenderen Prozesses der Freisetzung der Individuen aus den (ständischen und lokalen) Bindungen der vormodernen Lebensform, d. h. ein Teil des neuen Vergesellschaftungsprogramms, das an den Individuen als eigenständig konstituierten sozialen Einheiten ansetzt (Individualisierung)“ (ebd., S. 184; Kohli 1985).

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licher Sicherungssysteme – eine „standardisierte“ oder festgelegte Abfolge der Ereignisse. Diese ermöglicht „[…] die Antizipation von wahrscheinlichen Ereignisabfolgen und erlaubt es, auf der Grundlage von Sicherheitsfiktionen Festlegungen zu treffen: den Hausbau zu planen aufgrund der Annahme einer lebenslangen Erwerbstätigkeit zumindest des Ehemannes, die Geburt von zwei Kindern aufgrund der Annahme einer langen Ehe […]“ (WohlrabSahr 1993:63, Hervorh. B.-J. Krings).

Die vorgesehene und feste Abfolge des Lebenslaufs vermittelt auf der Ebene der Planung zunächst Sicherheit und erlaubt überhaupt erst, Wünsche und Bedürfnisse in die Zukunft zu formulieren. In dem Maße, in dem diese Form der institutionellen Verbindlichkeit schwindet, müssen zeitliche Diskontinuitäten „durch eine Kette von Entscheidungen“ (ebd., S. 63) verbunden werden, um einen Sinnzusammenhang des eigenen Lebenslaufs zu konstruieren. So wird in dieser Abfolge die „biografische Selbststeuerung“ als qualitativ neuer Vergesellschaftungsmodus verständlich, der sich aber nach wie vor im Spannungsfeld zwischen strukturellen Vorgaben und subjektiven Deutungsmustern bewegt. Diese Selbststeuerung wird im Rahmen der soziologischen Lebenslaufforschung genauso wie im Rahmen der Individualisierungsthese als ein Spannungsfeld beschrieben. Hier wurde, ebenfalls vor beiden Forschungsperspektiven, besonders die Frage nach der grundsätzlichen Entscheidungsoffenheit von Biografien seit den 1980er Jahren intensiv diskutiert. Indirekt, aber scharf kritisiert wurde Beck in diesem Aspekt beispielsweise von Karl U. Meyer, der in seinem Konzept der „Sozialstruktur des Lebenslaufs“ (Mayer 1981) eine andere Richtung eingeschlagen hat als Kohli. Auf der Basis des fortschreitenden Prozesses der funktionalen Differenzierung von Gesellschaften entwirft er ein Modell, das die ausdifferenzierten gesellschaftlichen Bereiche im Lebenslauf als diachronisch geordnete Segmente abbildet.42 Diese sind in einer „Sequenz von Ereignissen und Zuständen in institutionell definierten Lebensbereichen“ (Mayer 1981:493) angeordnet. Die Möglichkeiten der individuellen Einflussnahme schätzt er hierbei als eher gering ein, vor allem in der Ausbildung umfassender Lebensentwürfe und Lebensoptionen. In seinen Publikationen bewertet er Darstellungen von Individualisierungstrends und die Sozialstruktur des Lebenslaufs als sich konträr gegenüberstehende 42 | Wie Schergen beschreibt, hat sich Meyer zur Individualisierungsthese lange gar nicht geäußert und Individualisierung „allenfalls als biographische Illusion“ (Schergen 2007:33) betrachtet: „Zunächst einmal ist es erwähnenswert, dass die Individualisierungsdebatte in vielen Veröffentlichungen Mayers überhaupt nicht thematisiert wird […], obwohl sie in der sonstigen Diskussion um Lebensläufe allein gemessen an der Zahl ihrer Erwähnungen eine wichtige Rolle einnimmt“ (ebd., S. 33).

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Interpretationsmöglichkeiten eben dieser Lebenslaufregime (Mayer 1981; Mayer, Müller 1989). Aufgrund struktureller Bedingungen – vor allem der staatlichen Einflussnahme – misst er individuellen Handlungsspielräumen keinen nennenswerten Einfluss auf die Lebensgestaltung zu. Darüber hinaus können Entscheidungen, die zu einem frühen Zeitpunkt getroffen werden, wie beispielsweise Entscheidungen im Hinblick auf Bildungswege‚ auch bedeutsame Implikationen für den Lebenslauf haben. „[…] Der endogene Kausalzusammenhang im Lebenslauf wird […] deutlich ausgeprägter. Die vergangene Lebensgeschichte bestimmt in einem zunehmend höheren Ausmaß, welche Lebenschancen sich später eröffnen. Die Mechanismen der sozialen Selektion werden rigider, die Sozialstruktur wird […] zunehmend geschlossener und immobiler“ (Mayer, Blossfeld 1990:311; Mayer, Müller 1989).

Monika Wohlrab-Sahr hat sich ebenfalls intensiv mit wichtigen Implikationen (Selbststeuerung, Unsicherheit) der Individualisierungsthese im Rahmen der Lebenslaufforschung auseinandergesetzt und zu Beginn der 1990er Jahre eine für diesen Diskurs relevante Arbeit vorgelegt (vgl. auch Kap. 2.1). Der theoretische Rahmen ihrer empirischen Arbeit basiert auf Kohlis theoretischem Konzept der Institutionalisierung des Lebenslaufs und verbindet die „handlungstheoretische und kultursoziologische Perspektive“ (Wohlrab-Sahr 1993:61, 1992, 1997). So arbeitete sie heraus, dass die Gemeinsamkeit von Kohlis und Becks Ansatz darin besteht, Individualisierung und die Institutionalisierung des Lebenslaufs als „eng verkoppelte Prozesse zu denken“ (Wohlrab-Sahr 1993:61). Vor allem in Anlehnung an Niklas Luhmanns (1927-1989) Begriff der „Karriere“ und seine Implikationen plädiert sie dafür, die Institutionalisierung des Lebenslaufs als eine universelle Lebensform zu verorten. „Karrieren“ entstünden in modernen Gesellschaften dadurch, „[…] dass Geburt, häusliche Sozialisation und schichtmäßige Lage nicht mehr ausreichen, um den Normalverlauf des Lebens erwartbar zu machen. Unberechenbarkeiten und Schicksalsschläge hatte es immer schon gegeben, aber sie lagen nicht primär im gesellschaftlich kontrollierten Bereich“ (ebd., S. 61).

So wird konsequenterweise im Modernisierungsprozess der Übergang zur funktionalen Ausdifferenzierung von Gesellschaften das individuelle Schicksal nicht mehr als „Problem der Selbsterhaltung gegen äußere, unter anderem soziale Gefährdungen“ gedacht, sondern muss in einer Mischung aus „Selbstselektion und Fremdselektion“ betrachtet werden, welche Luhmann in seinen Arbeiten auf einer Zeitachse anlegt (ebd., S. 61 ff.). Diese Kombination von Ereignissen in funktional ausdifferenzierten Gesellschaften kann nicht mehr auf rein sozialstrukturelle Festlegungen zurück-

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geführt werden, sondern muss um Aspekte individueller Selbstzurechnung ergänzt werden. In dieser Diagnose stimmt Wohlrab-Sahr völlig mit Luhmann überein und bindet sie konsequenterweise in das Konzept der Institutionalisierung des Lebenslaufs ein (Wohlrab-Sahr 1993, 1997). Die Zunahme von Selbstund Fremdselektion in biografischen Abläufen wertet sie als analog zu dem, was in der Individualisierungsthese durch Beck als „Zurechnungsschema“ beschrieben wird (ebd., S. 62 ff.). „[…] Eine durch die höhere Bildungspartizipation forcierte stärkere Orientierung an ‚achievement roles‘ gehört dazu ebenso wie der Prozess der Biographisierung, den Brose und Hildebrand als ‚institutionalisierte Dauerreflexion lebensgeschichtlich relevanter Ereignisse‘ beschreiben“ (ebd., S. 62).

Wohlrab-Sahr unterstützt Becks These der Individualisierung und übersetzt sie nicht nur in die theoretischen Konzepte der Lebenslaufforschung, sondern auch in methodologische Themenbereiche, wo sie Eingang in vielfältige soziologische Denkfiguren fand (vgl. Kap. 3; Zaman, Wohlrab-Sahr 1997, 2010). Biografie als reflexiver Prozess der Lebensführung wurde in einer Reihe von Arbeiten seit den 1980er Jahren intensiv diskutiert. Vor dem Hintergrund des Vernetzungsprozesses „zwischen Marktvergesellschaftung, Wohlfahrtsproduktion, Wertewandel und privater Lebensführung, wie er sich in der Bundesrepublik seit den 1980er Jahren abzuzeichnen begann“ (Vetter 1991:57), entstand, aus Sicht der Biografieforschung, eine moderne Erwerbsbiografie auf der Basis reflexiver Prozesse. Befruchtet durch Kohlis Arbeiten zu einer Institutionalisierung des Lebenslaufs bzw. gerade durch die Betonung der deinstitutionalisierenden Elemente in modernen Lebensläufen beschrieb diese Forschungsperspektive Biografie mehr und mehr als reflexiven Prozess, der an die Individuen neue Anforderungen stellt. So haben moderne Biografien eine Grundstruktur entwickelt, die prinzipiell durch zwei Tendenzen charakterisiert ist: Erstens durch die verbindliche Struktur der modernen Erwerbsbiografie, die eine Standardisierung von Lebensläufen vorsieht. Zweitens durch eine von den Individuen zu konstruierende Lebensführung, die von kurzen und langen Phasen außerhalb und innerhalb der Erwerbsbiografie begleitet wird. Diese Struktur sei, so Vetter, durch strukturelle Ambivalenz geprägt, da hier einerseits durch die Institutionalisierung des Lebenslaufs eine große Anpassungsleistung durch die Menschen erforderlich würde. Andererseits entstünden durch die offenen Räume Erwartungen an eine höhere „Eigenautonomie in der Regulation von Lebensphasen und wichtigen Lebenszielen“ (ebd., S. 57). Die Ambivalenz der „doing biography“ (Dausien 2000:101 ff.) ist wohl am markantesten im Rahmen weiblich strukturierter Lebensläufe herausgearbeitet worden, vor allem vor der Perspektive einer „doppelten Vergesellschaftung“

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(Becker-Schmidt 1987), wie sie in den 1980er Jahren und darüber hinaus in einer Vielzahl von Arbeiten empirisch erforscht wurde (z. B. Becker-Schmidt et al. 1985; vgl. Becker, Kortendiek 2004). Diese Sichtweise auf weibliche Biografien und ihren Ambivalenzen war in vielerlei Hinsicht bahnbrechend für die soziologischen Bewertungen biografischer Verläufe in ihrer gesellschaftlichen Dynamik. Darüber hinaus betonten diese Beiträge in kritischer Weise die Unsichtbarkeit von Frauen in der Kulturgeschichte westlicher Modernisierung und formulierten geschlechtsbasierte Ungleichheit(en) als Grundstruktur moderner Gesellschaften (Becker-Schmidt 2004; Becker-Schmidt, Knapp 1995). „Angelegt auf Traditionsbruch“ (Knapp, Wetterer 1999:10) hinterfragte die entstehende Frauenforschung die dominierenden wissenschaftlichen Denkfiguren und nahm „Kurskorrekturen und Akzentsetzungen“ (ebd., S. 10 ) vor, was in den 1980er Jahren und darüber hinaus zu massiven Angriffen auf etablierte disziplinäre Denkfiguren führte (vgl. etwa Beer 1989; Daly 1985; Harding 1991).43 Am Beispiel der biografischen Lebensplanung junger Frauen haben beispielsweise Mechthild Oechsle und Birgit Geissler in einer Studie herausgearbeitet, dass die Institutionalisierung des Lebenslaufs (Kohli) historisch früh mit der „Trennung von Öffentlichkeit und Privatleben“ eingesetzt habe (Geissler, Oechsle 1994:139, 1996).44 Diese Unterscheidung sei jedoch gerade für weibliche Lebensläufe heutzutage noch virulent. Diese wurden als Resultat eines langen, historischen Prozesses dem privaten Bereich – Ehe, Hausarbeit und Kindererziehung – zugeordnet, welcher der öffentlichen Sphäre – der institutionalisierten Erwerbsarbeit – gegenüberstehe. Frauen wurde in diesem Prozess nicht nur die Partizipation verwehrt, sondern sie wurden auch sukzessive in ihrem Arbeitsvermögen abgewertet. So hat sich zwar der arbeitszentrierte Wohlfahrtsstaat mit einer Erwerbskontinuität als Kern institutionalisiert. Er bildete jedoch den Kern des männlichen Lebenslaufmodells schlechthin. Im Gegensatz dazu galt im Changieren zwischen diesen beiden Welten für Frauen 43 | Studien zur feministischen Theorie und Praxis stießen in den 1980er Jahren in der BRD auf eine hohe Resonanz in akademischen Räumen. Diese befassten sich nicht nur mit weiblich konnotierten Arbeits- und Lebensverhältnissen und/oder gesellschaftlichen Verhältnissen, sondern entwickelten auch eine eigene Perspektive auf den „männlich konnotierten“ Blick der Forschung und Wissenschaft (Scheich 1996; Krings 2002). 44 | Dieses Projekt ist im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 186: „Statuspassagen und Risikolagen im Lebensverlauf“ durchgeführt worden, der am 1. Juli 1988 an der Universität Bremen eingerichtet wurde. Insgesamt umfasste der SFB fünf Förderperioden, die letzte wurde von 1999 bis 2001 durchgeführt. Hypothesen und Fragen, die Beck vor dem Hintergrund der Individualisierungsthese entwickelte, sind als Teilperspektiven in die Ausgangsfragen des SFB eingeflossen, allerdings im disziplinären Rahmen der Lebenslaufforschung.

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auch noch in Zeiten der Reflexiven Moderne: „alles geht, aber für nichts gibt es institutionelle Unterstützung“ (Oechsle, Geissler 1991:61, 1994; vgl. auch Born et al. 1996).45 So lässt sich zwar nach Ansicht von Oechsle und Geissler eine biografische Kontinuität auch für junge Frauen feststellen. Der soziale Wandel mit seinen sozialen und kulturellen Veränderungen hat jedoch die Kontinuität in beiden Bereichen für die jungen Frauen brüchig werden lassen. So „[…] wird die traditionelle Ehe ohne regelmäßige Erwerbsarbeit nicht mehr propagiert, wenn sie auch vielen politischen Regelungen noch zugrunde liegt. – Auch die Angleichung an die männliche Lebensform ist institutionell nicht gesichert: auf dem Arbeitsmarkt sind Frauen nicht gleichberechtigt. – Die neue Norm des doppelten Lebensentwurfs schreibt Frauen vor, in Beruf und Familie engagiert zu sein, aber diese Norm wird von den Institutionen nach wie vor negativ sanktioniert“ (ebd., S. 61).

Die Autorinnen erarbeiteten ein Konzept von Lebensplanung, das als loser Zusammenhang von „Handlungsorientierungen, Leitbildern, Lebensentwürfen, Antizipation von Chancenstrukturen, Bilanzierung und Planung“ (ebd., S. 61) gelten könne.46 Diesen Zusammenhang definierten sie auf der Basis erhöhter Risiken, denen die Frauen ausgesetzt seien. Diese Risiken ergäben sich aus dem „[…] Auseinanderfallen von innerer und äußerer Kontinuität, die den jungen Frauen erhöhte Eigenleistung im Hinblick auf die Planung ihres Lebenslaufs abverlangt“ (ebd., S. 63). 45 | Vor dieser stark verkürzten Perspektive hat sich die Frauen- und Geschlechterforschung in Deutschland gebildet und seit den 1980er Jahren in unterschiedlichen Disziplinen an den Universitäten in Deutschland etabliert. Allerdings stand dieses „Narrativ“ damals noch im Lichte feministischer Kritik am dominierenden „Zwangssystem der Zweigeschlechtlichkeit als Ordnungsmacht“ (Becker-Schmidt 2004:63). Die Kritik vollzog sich im Laufe der Jahre vor vielfältigen disziplinären Perspektiven und auch innerhalb der Disziplinen etablierte sich allmählich das „Geschlechterverhältnis als Gegenstand der Sozialwissenschaften“ (Becker-Schmidt, Knapp 1995). Freilich kann dieser Prozess auch heute noch nicht als abgeschlossen gelten, sondern stellt einen wichtigen Teil der Analyse gesellschaftlicher Prozesse dar (vgl. etwa Becker, Kortendiek 2004). 46 | Dieses Konzept beinhaltet die folgenden Muster: a) Kontinuität durch lebenslange Erwerbsarbeit (z. B. Ausrichtung auf Erwerbsarbeit, Strukturiertheit, Interesse an ökonomischer Selbstständigkeit, Beruf und Kind(er) sollen gegebenenfalls vereinbart werden); b) Kontinuität über Partnerbeziehung/Familie; c) Doppelte Kontinuität in Beruf und Familie; d) Orientierung am eigenen Selbst (Oechsle, Geissler 1991; vgl. auch Geissler, Oechsle 1996).

2. „Die Menschen sind zur Individualisierung verdammt“

Diese Eigenleistung unterscheide die jungen Frauen qualitativ von den jungen Männern, die die Orientierung an der Erwerbsarbeit als grundlegende Logik ihres Lebenslaufs konstruierten. Andere Studien kommen zu ähnlichen Ergebnissen, wie etwa die Studie von Claudia Born, Helga Krüger und Dagmar Lorenz-Mayer, die das „Dilemma von Struktur und Norm“ (Born et al.1996:15) weiblicher Lebensverläufe grundlegend untersucht haben. Sie greifen Becks Vorstellung auf, dass jeder lernen müsse, „sich selbst als Handlungszentrum, als Planungsbüro in Bezug auf seinen eigenen Lebenslauf […]“ (Beck 1986 in: ebd., S. 300) zu begreifen, und überprüfen diese auf der Basis einer großangelegten empirischen Studie.47 Im Hinblick auf die Aussage Becks nehmen sie ebenfalls eine geschlechtsspezifische Differenzierung vor, da sich für Frauen Becks Hypothese in der Lebenslaufplanung völlig anders darstelle als für Männer. „[…] Auch unter dieser Perspektive zeigt sich der weibliche Lebenslauf durchaus als gesellschaftlich institutionalisiert, aber lebensbiographisch, d.h. diachronisch betrachtet als ein Chamäleon zwischen einerseits dominanter Orientierung am sich durchsetzenden männlichen Lebenslaufprogramm der individualisierten Leistungs- und Planungsverantwortung und andererseits faktischer Rückbindung der eigenen Perspektive an ein weibliches Masterstatus-Prinzip mit erwartetem Unterordnungsverhältnis der eigenen Perspektive unter die Belange anderer“ (ebd., S. 300).

Durch das Changieren zwischen diesen zwei Welten werden Frauen ge-zwungen, eine deutlich aktivere Rolle im Rahmen ihrer biografischen Pla-nung einzunehmen als Männer (vgl. auch Diezinger, Rerrich 1998; Notiz 1990).48 Die Individualisierungsthese ist besonders im Hinblick auf eine Reihe empirischer Arbeiten der Frauen- und Geschlechterforschung seit Ende der 1980er Jahre ein „inspirierender Ausgangspunkt“ (Oechsle, Geissler 2004:200) gewesen. Diese haben vor unterschiedlichen Fragestellungen Veränderungen in 47 | Die Studie: „Statussequenzen von Frauen zwischen Erwerbsarbeit und Familie (1988-1991) war ebenfalls ein Teilprojekt des o. g. Sonderforschungsbereichs 186: „Statuspassagen und Risikolagen im Lebensverlauf. Institutionelle Steuerung und individuelle Handlungsstrategien“ der Universität Bremen. Das Projekt wurde unter der Leitung von Helga Krüger in Zusammenarbeit mit C. Born und M. Scholz durchgeführt (Born et al. 1996). 48 | Interessant scheint hier auch der Generationenwechsel zu sein, da die gesellschaftlichen Konsequenzen zwischen den Generationen different sind. Während den Ausbruchsversuchen der Muttergeneration mit dem Vorwurf der Vernachlässigung familiären Pflichten begegnet wurde, führt in der Tochtergeneration der sich auftuende Widerspruch zwischen Erwerbsarbeit und Familie zur grundsätzlichen Infragestellung der Institution Familie per se (Born et al. 1996).

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weiblichen Lebensentwürfen, im Lebenslauf sowie im Selbstverständnis von Frauen untersucht. „[…] Bereits 1983 hat Elisabeth Beck-Gernsheim in ihrem zum Klassiker gewordenen Aufsatz Vom ‚Dasein für andere‘ zum Anspruch auf ein eigenes Stück Leben Individualisierungsprozesse im weiblichen Lebenszusammenhang analysiert und war maßgeblich an der Formulierung der Individualisierungsthese beteiligt“ (ebd., S. 200).

Der Großteil dieser Arbeiten war in der Lebenslaufforschung bzw. der Biografieforschung angesiedelt, hatte jedoch in der Folge einen signifikanten Einfluss auf die Theoriebildung in der Frauen- und Geschlechterforschung.49 Der in der Individualisierungsthese formulierte neue Vergesellschaftungsmodus wurde hierbei einer geschlechterkritischen Revision unterzogen. Es zeigte sich, dass der „Anspruch auf ein eigenes Leben“ (Beck-Gernsheim 1983) sich vor allem bei den Frauen durch die sukzessive Eingliederung in den Arbeitsmarkt vollzog und soziostrukturelle und kulturelle Veränderungen in der gesellschaftlichen Geschlechterordnung nach sich zog. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Individualisierungsthese seit den 1980er Jahren zum Anlass genommen wurde, die theoretischen Konzepte und Implikationen der Lebenslauf- und Biografieforschung im Lichte neuer sozialer Entwicklungen zu diskutieren. Auch hier kam sie nicht überraschend, sondern ihre empirische Ausgangslage – sozioökonomische und sozialstrukturelle Veränderungen der bundesdeutschen Gesellschaft seit den 1970er Jahren – hatte bereits Eingang in die Arbeiten gefunden und konzeptionelle Fragen aufgeworfen. Während die Auseinandersetzung mit der These im Feld der Sozialstrukturanalyse einen gewissen provokativen „bias“ aufwies, ist dies für die Biografie- und Lebenslaufforschung kaum festzustellen. Trotz vereinzelter kritischer Äußerungen hatte die These eher eine inspirierende Wirkung auf die Debatten und trug zur Entwicklung neuer theoretischer Perspektiven und empirischer Arbeiten bei. Dies trifft in besonderem Maße für die Aufarbeitung weiblicher Formen von Lebensläufen zu. Hier wurden signifikante Unterschiede zum Modell der „institutionalisierten“ Erwerbsarbeit als Lebenslauf von 49 | Die Individualisierungsthese und in der Folge die Grundannahmen der Theorie der Reflexiven Modernisierung werden innerhalb der Frauen- und Geschlechterforschung kontrovers diskutiert. Neben analytischen Unschärfen und mangelnder empirischer Evidenz – eine Kritik, die auch von anderer Seite an Beck herangetragen wurde – wurde Beck die Vernachlässigung nach wie vor bestehender Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern vorgeworfen. Darüber hinaus wird im Rahmen der These betont, „sie leiste der Illusion über die Machbarkeit und Steuerbarkeit des eigenen Lebens Vorschub“ (Oechsle, Geissler 2004:200; vgl. z. B. Meurer 1991). Dieser Illusion könnten sich jedoch gerade Frauen am wenigsten hingeben.

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Männern herausgearbeitet, die darauf hinwiesen, dass vor allem Frauen mit dem in der Individualisierungsthese konstatierten neuen Vergesellschaftungsmodus konfrontiert wurden. Durch asymmetrische Erwerbs- und Familienkontinuitäten wurden besonders an die Frauen „spezifische Anforderungen hinsichtlich ihrer biographischen Flexibilität“ (Oechsle, Geissler 1991:63) gestellt. Probleme, die hierbei für die Frauen identifiziert wurden, bezogen sich hauptsächlich auf die „Konkurrenzstrukturierung“ (Born et al. 1996:298) der gesellschaftlichen Sphäre Familie und Arbeitsmarkt. Diese Situation führte – neben vielseitigen Benachteiligungen in der männlich geprägten Arbeitskultur – zu individuell zugeschnittenen Lebensführungen von Frauen. Deren „Programm-, Zeit- und Organisationsstrukturen“ (ebda., S. 301) verhinderten jedoch geradezu die Selbstgestaltung der Lebensführung, was die kritische Aufarbeitung dieser individuellen Lebenssituationen in der Frauenforschung förderte und konstituierte. Diese empirischen Ergebnisse wurden auch von der Frauen- und Geschlechterforschung aufgegriffen und für deren theoretische Weiterentwicklung genutzt.

2.3.3 Individualisierung als sozialstrukturelles und kulturelles Phänomen Die Erfahrung des Zuwachses von materiellem Wohlstand und sozialer Sicherheit in den meisten westlichen Gesellschaften wurde, wie oben beschrieben, in der Soziologie schon seit den 1950er Jahren auf Basis der These der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ (Schelsky 1979) im Kontext sozialstruktureller Überlegungen intensiv und kontrovers geführt. Später, seit den 1980er Jahren, standen auch kulturelle Beobachtungen im Vordergrund: Der spürbare technische „Fortschritt“ im Alltagsleben, Demokratisierungsschübe, die mit erweiterten Handlungsmöglichkeiten für eine große Zahl von Menschen einhergingen, sowie die Zunahme von Gestaltungsoptionen trugen zur fortschreitenden „Enttraditionalisierung“ aus sozialen Strukturen bei und überkommene „Ligaturen“ oder Bindungen lösten sich allmählich auf (Dahrendorf 1979; Giddens 1995). Diese empirischen Beobachtungen basierten explizit auf Annahmen einer veränderten Sozialstruktur der bundesrepublikanischen Gesellschaft. Diese Veränderungen führten als „beschleunigte Wandlungen, temporale Statusunbestimmtheiten und Strukturbrüche“ immer deutlicher zu „vermehrten Erlebnismöglichkeiten“ (Berger 1996:11) und boten die Arena für eine größere „Vielfalt von Lebensverläufen und Biographien“ (ebd., S. 12). Trends der Individualisierung fanden vor diesem Hintergrund auch Eingang in kultursoziologische Debatten. Mit dem prägnanten Slogan „test the west“ beschreibt beispielsweise Thomas Kron in diesem Kontext die Dynamik kultureller Elemente aus den USA, die schon weitaus früher, nämlich ab 1945 das Alltagsbild der Bundesrepublik

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Deutschland grundlegend veränderten. Die positiven Effekte des in den 1950er Jahren einsetzenden „Wirtschaftswunders“ bestanden für eine große Anzahl von Menschen zunächst schlicht darin, nicht mehr zu hungern. Sukzessive Lohnanstiege folgten in Verbindung mit einer schnellen Ausweitung der Konsumoptionen. Über die „Amerikanisierung von unten“ (Kron 2002:238) importierte Deutschland wesentliche Merkmale westlich geprägter Modernisierung.50 Diese Dynamik prägte vielseitige kulturelle Ausdrucksformen in der Musik und im Lebensstil, die besonders für die jüngere Generation eine große Ausstrahlungskraft besaßen. Dieser sozialen Dynamik mit ihrer Gemengelage von sozialstrukturellen und kulturellen Phänomenen wurde lange Zeit von der deutschsprachigen Soziologie wenig Beachtung geschenkt. Ein wesentliches Verdienst Becks war es, diese Dynamik zu erkennen und in irgendeiner Form zu benennen. So interpretierte Beck diese als Herauslösung aus traditionalen Strukturen und leitete daraus normative Implikationen der Individualisierungsthese ab, wie sie beispielsweise von Peter A. Berger herausgearbeitet wurden: „[…] Die von Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim vorgetragene Individualisierungsthese verweist jedoch gleichzeitig auf die Herausbildung neuer Institutionen, die an zusätzlicher Definitions- und Gestaltungsmacht gewinnen: Es zeichnen sich andersartige, eher indirekte und hochkomplexe Kontrollmechanismen und Statuszuschreibungsprozesse ab […]. Dazu kommen noch die manchmal sanfteren, aber bisweilen auch härteren Restriktionen durch die ‚materielle Alltagskultur‘ (vgl. Brock 1993; Brock, Junge 1996) und durch Lebensstilangebote, die im Zuge der medialen Dauerberieselung durchaus Zwangscharakter annehmen können […]“ (Berger 1996:13).

Während Berger diese Entwicklungen und Trends in seine konzeptionellen Arbeiten zur Sozialstrukturanalyse integriert hat, scheint dies im Hinblick auf die empirische Relevanz der Individualisierungsthese und ihre konkreten kulturellen Ausdruckformen noch auszustehen (Scherger 2010). Empirische Arbeiten, die sich mit der These der Erosion von Klassenstrukturen auseinandersetzen, wurden in den 1990er Jahren vorgelegt und vor allem in der soziologischen Ungleichheitsforschung intensiv diskutiert (vgl. Kap. 2.3.2). Dennoch besteht bis in die jüngste Zeit eine unscharfe Trennung von sozialstrukturellen und kulturellen Implikationen des diagnostizierten Individua50 | Interessant an dieser Stelle scheint, dass die deutschsprachige Soziologie auf diese Entwicklungen teilweise wenig reagierte. „Doch während ein großer Teil von ihnen sich noch lange Zeit am Nationalsozialismus abarbeitete […], entdeckte die ‚jüngere Generation‘ der Soziologen den neuen Trend. Ulrich Beck (1986) gab ihr […] den Namen ‚Individualisierung‘. Und es wundert nun auch nicht, dass dieser damit verbundene ‚Kulturbruch‘ fast nur in der deutschen Soziologie heftige Diskussionen auslöste […]“ (Kron 2002:283).

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lisierungsschubes (Beck 1986), was die Komplexität, bzw. die Ungenauigkeit des Konzeptes signifikant erhöht. Dies zeigte sich auch in den Folgearbeiten der Arbeiten von Beck und Kollegenkreis. Obgleich die in den frühen Arbeiten pointiert subjektive Darstellung einer Betrachtung objektiver Einflussgrößen gewichen ist (Beck 2001, 2007a; Poferl 2010), stehen vielfach kulturelle Aspekte von Individualisierungsprozessen im Fokus der Bewertung von Individualisierungsprozessen: „[…] Kennzeichnend ist die ‚Bastelbiographie‘, die – je nach Konjunkturverlauf, Bildungsqualifikation, Lebensphase, Familienlage, Kohorte – gelingen oder in eine Bruchbiographie umschlagen kann. Scheitern und unverzichtbare Freiheit wohnen nah beieinander, mischen sich vielleicht sogar“ (Beck, Beck-Gernsheim 1994a:19).

So liegt auch heute noch in unzähligen gesellschaftlichen Momentaufnahmen wie etwa den Veränderungen im Heirats- und Scheidungsverhalten, den demografischen Verschiebungen oder den Veränderungen des Familienlebens der Schwerpunkt der Bewertung auf Individualisierungsprozesse. Sie werden Projektionsfläche schlechthin für die kulturelle Vielfalt der Lebensverläufe der Individuen. Die Fülle an Themen, die sich unter dem Begriff der Individualisierung versammeln, führen jedoch lediglich dazu, dass die konzeptionelle Struktur der These weitgehend unbestimmt bleibt. Damit wird eine analytische Unterscheidung zentral, die von Monika Wohlrab-Sahr schon früh angemahnt und im Rahmen der „festgefahrenen“ (Wohlrab-Sahr 1992:1) Debatte um die Individualisierungsthese ausgeführt wurde: sozialstrukturelle und kulturelle Implikationen der These analytisch zu trennen. Diese Trennung führe dazu, strukturelle Phänomene vom kulturellen Wertewandel sichtbar zu machen und zu unterscheiden (Wohlrab-Sahr 1992, 1993; Junge 2002; Scherger 2010; Poferl 2010). Auf der Basis des von Karl U. Mayer und Kollegenkreis ausgearbeiteten Konzeptes der „Sozialstruktur des Lebensverlaufs“, das er selbst als pointiertes Gegenmodell zu Becks Thesen versteht, beleuchtet Wohlrab-Sahr in seinen Arbeiten das Verhältnis von kulturell ausgeprägter Individualisierung und der sozial normierten Strukturierung moderner Lebensläufe. So verknüpfe Mayer sein Verständnis des individuellen Lebenslaufs mit der Theorie sozialer Differenzierung und erkenne in der zunehmenden Ausdifferenzierung von Lebensläufen eine „[…] große Heterogenität von Handlungslogiken […], die die Ausbildung umfassender Lebensentwürfe unwahrscheinlich werden lässt […]“ (Mayer, Müller 1989:54 in: Wohlrab-Sahr 1992:3; vgl. Kap. 2.3).

Die Zunahme der Vielfalt von Lebensentwürfen werde durch die Etablie-rung staatlicher Dienstleistungen sowie durch die Schaffung individueller Anreiz-

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systeme weiter gesteigert. Diese würden so zu einer größeren Bedeutung struktureller Einflüsse im Lebensverlauf beitragen. Das heißt auf der einen Seite, die Mechanismen der sozialen Selektion eben durch diese Anreizsysteme würden rigider (vgl. Kap. 2.3.2), andererseits sinke „[…] die Wahrscheinlichkeit eines auf der Bedeutungs- und Sinnebene zusammenhängenden und integrierten Lebens“ (ebd., S. 3).

Hier zeige sich, dass es kausale Verbindungen zwischen strukturellen Einflüssen und der Veränderung kultureller Werte gebe, diese – beide Seiten – müssten jedoch konkret ausgewiesen werden. So betont Wohlrab-Sahr die Notwendigkeit der Bestimmung des Verhältnisses von Individualisierung und Institutionalisierung im Lebenslauf. Dieses müsse jedoch nicht, wie beispielsweise bei Mayer, als Gegensatzpaar von Struktur versus Handlung konstruiert werden, sondern könne, durchaus dialektisch, auf der Basis biografischer Sinnzusammenhänge entwickelt werden (Wohlrab-Sahr 1993; vgl. Kap. 2.3.3). Sie verteidigt Becks Thesen gegen Mayers Kritik insofern, als hier nicht die prinzipielle Entscheidungsoffenheit von Individualisierungstrends zur Debatte stehen würde, sondern dass „[…] aus der Freisetzung aus kollektiven Bindungen bei gleichzeitiger verstärkter Abhängigkeit von institutionellen Vorgaben ein verändertes Zurechnungsschema resultiert“ (Wohlrab-Sahr: 1992:6 ff., Hervorh. im Original).

Aber gleichzeitig kritisiert sie auch Becks schnelle Bewertungen im Hinblick auf einen kulturellen Wandel. So wird bei Beck das Individuum zum „Planungsbüro in Bezug auf seinen Lebenslauf, seine Fähigkeiten, Orientierungen, Partnerschaften […]“ (Beck 1986:217 in: ebd., S. 7). Die individuelle Verfügbarkeit des Lebenslaufes […] würde bei Beck darüber hinaus auch als ‚Bewusstseinsform‘ (Beck 1986:211) definiert“ […] und würde zum „Spielball von Moden, Verhältnissen, Konjunkturen und Märkten“ (Beck 1986:211 in: ebd., S. 7, Hervorh. im Original). Das Individuum erscheint hier als weitgehend hilflos und überfordert, bzw. betrachtet sich zunehmend als Mittelpunkt des Geschehens. Diese Hinwendung zu einem „Kult des Individuums“ (ebd., S. 7) ist nach Wohlrab-Sahr kontraproduktiv und weist in die falsche Richtung. Was ihr jedoch in der Denkfigur der Individualisierungsthese als Zurechnungsschema relevant und qualitativ neu erscheint, ist die schwindende Möglichkeit, „sich am – unterstellten – Konsens über den ‚normalen‘ Verlauf des Lebens zu orientieren […]“ (ebd., S. 7).51 51 | Tatsächlich formulieren Beck und Kollegen im Laufe der Entwicklung der Theorie der Reflexiven Moderne die vom Individuum selbst hergestellte „fiktive Subjektautonomie“

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Der interessante und auch für diese Arbeit relevante Unterschied zu Becks Ansatz ist für Wohlrab-Sahr, dass der reflexive Umgang mit den zahlreichen Optionen und Möglichkeiten des Lebensentwurfs nicht einzeln verhandelt werden kann, sondern dass diese als eine Grundlage von Entscheidungen für den Gesamtentwurf eines Lebens betrachtet werden sollten. Sie plädiert daher für eine ganzheitliche Sichtweise auf den Lebensentwurf und diese wäre „[…] als Freisetzung von Zeitlichkeit zu definieren, die sich auch in ganz anderen Formen als in denen linearer, teleologischer Entwicklung artikulieren könnte“ (Wohlrab-Sahr 1992:12; vgl. Kap. 3).

Diese Vorstellung bedeutet, im Gegenzug zu Beck, dass individuelle Einzelentscheidungen weniger relevant werden als die soziale und kulturelle Logik, die der Gestaltung einer Biografie zugrunde liegt. Diese Vorstellung scheint auch zentral für die Bewertung der Folgen von Individualisierungsprozessen zu sein. In Anlehnung an die Arbeiten von Niklas Luhmann hebt WohlrabSahr hier den zeitlichen Verlauf von Biografien hervor und fragt eher nach kulturellen und sozialen Normen: Was darf in modernen Gesellschaften noch als eine „normale“ Biografie betrachtet werden? Wie relevant sind traditionale biografische Formen angesichts der zunehmenden Vielfalt von Lebensformen? Gibt es überhaupt noch „normale“ Biografien? Welche Strahlkraft haben diese auf die Individuen? Überraschend an Wohlrab-Sahrs Interpretation erscheint – wie auch in der soziologischen Debatte vielfach gewürdigt –, dass die Vorstellung eines neuen „Zurechnungsschemas“ (ebd., S. 7) Veränderungen impliziert, die sowohl auf der strukturellen als auch auf der kulturellen Ebene anzusiedeln sind. Die Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Systeme mache „[…] die Durchsetzung eines „Deutungsmusters“ erforderlich, das beispielsweise Selbstkontrolle, Selbstverantwortung und Selbststeuerung akzentuiert“ (Wohlrab-Sahr 1997:28).

Dieses (kulturelle) Deutungsmuster müsste jedoch theoretisch und empirisch herausgearbeitet werden, um Individualisierungsprozesse besser zu verstehen.

(Beck et al. 2001:45). Dieser Subjektbegriff bleibt jedoch eher unbestimmt und wird auf die strukturelle Offenheit moderner Gesellschaften bezogen. „Die Fiktion eines handelnden, entscheidenden Subjektes wird als De-jure-Fiktion gepflegt, weil sonst keine Entscheidungen mehr getroffen werden können, während gleichzeitig die Unmöglichkeit und Unwirklichkeit des ‚souveränen Subjekts‘ de facto akzeptiert wird“ (Beck et al. 2001:43; vgl. zur Rolle des Subjekts ausführlich Kap. 3 sowie Ergebnisteil dieser Arbeit).

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Als Beispiele für diese Intervention werden in der Literatur vielfach die Veränderungen weiblicher Lebensverlaufsmuster angeführt, die in den letzten Jahrzehnten stattgefunden haben. Hier wurden Individualisierungsbewegungen geradezu provoziert, da es für Frauen zunehmend schwerer wurde, sich an einer „Normalform des Lebens“ (ebd., S. 7) auszurichten. Seit den 1970er Jahren hat sich die gesellschaftliche Norm weiblicher Biografien stark gewandelt und wurde als „Modernisierung des Frauenlebens“ (Geissler, Oechsle 1994:144, 1996) hinreichend beschrieben. Diese – zum Teil hart erkämpften – Prozesse wurden über die Leitideen der rechtlich konstituierten Gleichheit sowie die Möglichkeit der materiellen Unabhängigkeit vorangetrieben. Diese gesellschaftlichen Veränderungen wurden von Frauen selbst in vielerlei Hinsicht als Auflösung traditionaler Einbindung und Eröffnung neuer Handlungsspielräume beschrieben, gleichzeitig aber auch als „Verlust objektiver wie subjektiver Sicherheiten“ (ebd., S. 145). Wie von der Frauenforschung in empirischen Studien umfassend aufgearbeitet, berühren diese Veränderungen strukturelle und kulturelle Trends gleichermaßen und können vielfach analytisch kaum unterschieden werden. Dennoch ist es aus einer methodologischen Perspektive unerlässlich, beide Ebenen getrennt zu betrachten. Die Veränderung der Geschlechterverhältnisse, die Herausbildung einer spezifisch weiblichen Form der Integration in den Arbeitsmarkt sowie neue Rollenanforderungen an Frauen basieren einerseits auf rechtlichen Gleichheitspostulaten, andererseits aber auch auf kulturellen Leitbildern von Frauen, die sich in spezifischen historischen Konstellationen in ihren Wechselwirkungen durchgesetzt haben. So war das Leben mitteleuropäischer Frauen in den letzten Jahrzehnten beispielsweise in besonderem Maße von der Leitidee der „doppelten Lebensführung“ bestimmt (ebd., S. 147) – die Bemühung, für die Erfordernisse der Familie zur Verfügung zu stehen und die Erwartungen im Berufsleben gleichermaßen zu erfüllen (vgl. Kap. 2.3.3). Beiträge zu den Debatten der späten 1980er und der 1990er Jahre, die explizit kulturelle Aspekte und Implikationen in den Fokus ihrer Betrachtungen nahmen, waren – ausgelöst durch die Individualisierungsthese – durch starke Bewertungen geprägt.52 Befürchtungen im Hinblick auf einen „Kult des 52 | Darüber hinaus wurden diese Diskussionen durch kultursoziologische Ansätze aus US-amerikanischen Diskursen stark beeinflusst. Helmut Dubiel bringt diese Diskurse auf den Punkt: „nämlich mit der in der neueren soziologischen Kulturkritik durchgehaltenen These, dass wir Zeitgenossen des zwanzigsten Jahrhunderts in kultureller Hinsicht bereits die Entwicklungsphasen der bürgerlichen Gesellschaft verlassen hätten. Daniel Bell, Philip Rieff, Richard Sennett, Peter Berger, Christopher Lasch, Robert Bellah u. a. sind Vertreter einer liberalen Krisentheorie insofern, als sie in den Symptomen veränderter Selbstverhältnisse, der Abkehr von einer puritanischen Arbeitsethik und verbreiteter utilitaristischer Einstellungen den Verlust eines spezifischen bürgerlichen

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Individuums“ (Durkheim 1988 in: Wohlrab-Sahr 1992:7) schlugen sich in zwei viel diskutierten Denkfiguren nieder. Zum einen gab es die Vorstellung, der gesellschaftliche Zusammenhalt sei durch die fortschreitenden Individualisierungstrends in Gefahr (vgl. etwa Franz 1999): „[…] Klagen über den Verfall gesellschaftlicher Solidarität und die Zunahme egoistischer Orientierungen werden gegenwärtig in privaten und öffentlichen Debatten wieder häufig geäußert“ (Junge 2002:80).

Diesen kritischen Befürchtungen lag die Vorstellung zugrunde, Individualisierungstrends würden zum Selbstzweck für die Individuen. Das heißt, die Ausrichtung der individuellen Bedürfnisse auf die Mehrung des eigenen Wohlstands führe zur Schwächung gemeinschaftlicher Bindungen und Interaktionen. Verstädterungstrends sowie die Ausdifferenzierung der Konsumangebote wurden darüber hinaus als strukturelle Phänomene herangezogen, um den Anstieg von Entsolidarisierungstrends innerhalb moderner Gesellschaften zu diagnostizieren (Berger, J. 1986). Zum anderen entstand die Vorstellung, dass durch den Verlust verbindlicher gesellschaftlicher Normen die Menschen zunehmend gezwungen würden, ihre eigenen Lebensläufe zu generieren und so zu „Bastlern“ ihres Lebensvollzugs zu werden (vgl. etwa Hitzler 1988, 1998, 1999). Diese Sichtweise wurde in den 1990er Jahren in einer Reihe von soziologischen Arbeiten ausgearbeitet, die sich mit „individualisierungsbedingten Problemen des Alltagsvollzugs“ (Hitzler 1999:224) befassten.53 Das vielzitierte Bild der „Bastelexistenz“ (ebd., S. 224; Hitzler 1988) unterstreicht die Vorstellung, dass die Menschen für ihre Lebensentwürfe selbst verantwortlich sind und sich nicht (mehr) auf sinnstiftende Normen stützen können. Doch das Dasein unter Individualisierungsbedingungen sei, nach Hitzler, ein Dasein, das eine „Sehnsucht nach

Wertrepertoirs oder einer bürgerlichen Rationalität vermuten“ (Dubiel 1986:264; vgl. auch Kap. 6). 53 | Der Blick auf das Individuum und seine Alltagswelt prägte die (deutschsprachige) soziologische Debatte der 1990er Jahre und wurde in verschiedenen Publikationen pointiert dargestellt. Ronald Hitzler fasste sie kurz und prägnant zusammen: „Gerhard Schulze (1992) thematisiert vor allem das Moment der ‚Erlebnisorientierung‘. Peter Gross (1994 und 1999) spricht über ‚Multioptionalität‘ und ‚Ich-Jagd‘. Heiner Keupp (1988 und 1994) präferiert den Begriff ‚Patchwork-Identität‘“ (Hitzler 1999:224). All diesen Ansätzen liegt die Beobachtung zugrunde, dass „sich das Individuum selber als kontingent erfährt und setzt“ (Gross 1999:221), was allerding zu unterschiedlichen Bewertungen geführt hat (Schroer 2001a, 2001b).

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Gemeinschaft“ entwickele (ebd., S. 226). Durch selbstreflexives Ausloten der jeweils situativ unterschiedlichen Lage suche der Existenzbastler daher „[…] Gesinnungsfreunde. Diese findet er aber typischerweise eben nicht in schicksalhaft auferlegten Traditionsmilieus, sondern weit eher in single-issues-and-lifestyleGruppierungen: in Arbeitslosen-Selbsthilfe-Sportvereinen, in Sado-Maso-Netzwerken, in Senioren-Bodybuilding-Studios, in gewalttätigen Fußball-Fanclubs, in Gesprächskreisen schwangerer Frauen (oder schwängernder Männer), in Nichtraucher-Batik-Gruppen […]“ (ebd., S. 226, Hervorh. im Original).

Vielseitige empirische Beobachtungen der zunehmenden Ausdifferenzie-rung von Lebensstilen sowie der Durchmischung moderner Lebens- und Alltagswelten stellten das Individuum vor diesen Perspektiven in den Fokus der Betrachtung und wiesen auf die notwendige Funktion des Individuums, als „Entscheidungszentrum“ (Gross 1999:221) zu fungieren. Flankiert von vielfachen kulturellen Bewertungen, wurden hier wiederum sozialstrukturelle Veränderungen angeführt (Hitzler 1999), auf die diese Veränderungen zurückzuführen sind. Wie zentral die analytische Trennung zwischen der kulturellen und der sozialstrukturellen Ebene ist, wurde vor einer wissenssoziologischen Perspektive von M. Rainer Lepsius auf der Basis der Arbeiten von Max Weber entwickelt. So basieren, nach Lepsius, alle sozialen Entscheidungen auf der Bestimmung einer Idee, einer kulturellen Ausprägungen, deren Sozialwirksamkeit empirisch untersucht werden kann und soll (Lepsius 1990a:33). Dies scheint in besonderem Maße für die Individualisierungsthese zuzutreffen.54 Nach Lepsius gelingt Freisetzung aus spezifischen sozialen Strukturen immer am besten „im Namen traditionell akzeptierter Wertvorstellungen, auch wenn die Neuerung die tradierte Wertvorstellung auflöst“ (Lepsius 1990a:39, Lepsius 1982). Hierbei gehe es freilich auch nicht um schnelle, flächendeckende Veränderungen, sondern um die Diffusion von Ideen, die sich zunächst im Rahmen spezifischer sozialer Gruppen durchsetzen. Die langsame Veränderung der Geltungskraft traditionaler Normen ist „dann nicht Ausdruck eines Kulturverfalls, sondern der erfolgreichen Diffusion“ (ebd., S. 40) eben dieser neuen Ideen. Problematisch an der Identifikation von Ideen ist allerdings hierbei die komplexe Verschränkung zwischen 54 | Auf der Basis kultursoziologischer Annahmen analysiert M. Rainer Lepsius die Zurechnungsproblematik bei Max Weber. In diesem Zusammenhang bestehe die Aufgabe der Kultursoziologie vor allem darin, „die Logik der Handlungsstruktur und die Logik der Sinnkonstruktion auf das Verhalten von Menschen zu beziehen“ (Lepsius 1990a:31). Vor allem in der jüngeren Literatur wird die Bedeutung kultursoziologischer Ansätze für die Erklärung sozialer Phänomene wieder betont (vgl. etwa Soeffner 2010).

2. „Die Menschen sind zur Individualisierung verdammt“ „[…] der Struktur einer Idee und der durch diese geprägten konkreten Verhaltensweisen […]. Ideen können in irgendeinem Zusammenhang entstehen und Ausdruck von psychischen Bedürfnissen und sozialen Interessen unterschiedlichster Art sein“ (ebd., S. 33).

Diese Verschränkung trifft in besonderem Maße auf Individualisierungsprozesse zu. Um diese als soziales Phänomen verstehen zu können, scheint es jedoch unumgänglich zu sein, seine kulturellen Leitbilder für spezifische soziale Gruppen in spezifisch historischen Kontexten zu benennen und zu beschreiben. Nur so ist es möglich, die Entwicklung des Wechselverhältnisses der Menschen und ihrer gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu verstehen, sie in ihren spezifischen Kontexten zu verorten und diese vor spezifischen Fragestellungen zu bewerten. Die Formulierung dieser Ideen scheint jedoch eine zentrale Voraussetzung zu sein, um diese Veränderungen in ihrem weiteren Verlauf theoretisch und empirisch überprüfen zu können. Simone Scherger beschreibt die Individualisierungsthese ebenfalls als einen komplexen Mehrebenenprozess. Diesen methodologisch zu erfassen und zu verstehen, sei ähnlich aussichtslos, wie „den Pudding an die Wand [zu] nageln“ (Scherger 2010). Dennoch plädiert sie, ähnlich wie Lepsius, vehement für die analytische Präzisierung der kulturellen Ebene in weiteren Diskussionen um Individualisierung: „[…] Ohne die kulturelle Ebene, d. h. ohne sich aufs Individuum beziehende Deutungsmuster, wird der Individualisierungsbegriff jedoch seines Sinnes beraubt und wäre mit Differenzierung oder Pluralisierung gleichsetzbar: Es ist gerade der auf der Deutungsebene erfolgende Bezug auf den individuellen, als autonom gedachten Akteur, der Differenzierungs- und Pluralisierungsprozesse zu Individualisierungsprozessen machen kann“ (Scherger 2010:123, Hervorh. B.-J. Krings).

Hier wird deutlich zum Ausdruck gebracht, dass erst die Eruierung subjektiver Deutungsstrukturen es ermöglicht, Individualisierungsprozesse in einem spezifischen historischen Kontext zu betrachten und zu bewerten. Denn erst die subjektiven Deutungsstrukturen vermitteln Erkenntnisse darüber, welche sozialen Ausdrucksformen im Rahmen von Individualisierungsprozessen zur Disposition stehen. So geht es auf der subjektorientierten Ebene darum, festzustellen, welche kulturellen Normen sich in spezifischen sozialen Gruppen durchsetzen und welche Geltungskraft diese für weitere soziale Dynamiken entfalten können (Lepsius 1990b). Obgleich die analytische Trennung der sozialstrukturellen und der kulturellen Ebene seit Jahren als eine Grundanforderung an weitere konzeptionelle Arbeiten der Individualisierungsthese formuliert wird (vgl. etwa Kron 2002; Poferl 2010), gibt es nur wenige empirische Arbeiten, die dieser Anforderung gerecht werden (vgl. Kap. 3). Vor allem vor einer modernisierungstheoretischen

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Strategien der Individualisierung

Perspektive wären diese Arbeiten relevant, um aktuelle Individualisierungsprozesse besser verstehen und historisch einordnen zu können.

2.4 K onzep tioneller A usgangspunk t und F r agestellung der A rbeit Neue Perspektiven auf Individualisierung, wie sie in den 1980er Jahren am prägnantesten durch Beck formuliert wurden, beziehen sich empirisch auf die sozialstrukturellen Veränderungen der bundesrepublikanischen Gesellschaft seit den 1960er Jahren. Diese Veränderungen wurden in der soziologischen Debatte breit diskutiert und leiteten, nach Beck, einen „weiteren Individualisierungsschub“ (1986)55 ein. Im Rahmen dieser Bewegung lösen sich im historischen Verlauf kollektive Lebensformen auf und dominante Wertmuster verändern sich. Hierbei werden drei Entwicklungslinien besonders hervorgehoben (vgl. Brose, Hildenbrand 1988:15 ff.): • Erosion traditional geprägter sozialer Milieus als kollektive Großgruppen, die identitätsstiftend nach innen wirken können (z. B. Arbeiterschaft); • Sozioökonomische und sozialstrukturelle Veränderungen (Industrialisierung der Landwirtschaft, Zunahme des Dienstleistungssektors, soziale Mobilität, gestiegene Prosperität, gestiegene Bildungsansprüche etc.); • Gesteigerte Tendenz zur Verrechtlichung und Konkurrenzförmigkeit von Sozialbeziehungen auf verschiedenen Aggregationsniveaus (Sozialstaat, Familie etc.). Diese Befunde wurden in den soziologischen Debatten und in bestimmten Teildisziplinen umfassend nachvollzogen, allerdings aus unterschiedlichen theoretischen Perspektiven und mit unterschiedlichen Bewertungen. Der Rückblick auf die Anfänge dieser Debatte in den 1980er Jahren zeigt, dass Beck den Aspekt der individuellen Selbststeuerung als qualitativ neuen Vergesellschaftungsmodus im Rahmen dieser Entwicklung stark gemacht und betont hat. Zentral ist hierbei, dass er den Blick auf das Individuum und seine Lebenslagen richtet und aus dieser Perspektive seine Thesen formuliert, welche in eine spezifische historische Phase der bundesrepublikanischen Entwicklung eingebunden sind. Ihre Kernaussage ist, dass das Individuum bei abnehmender Orientierungsverbindlichkeit der institutionellen Rahmenbedingungen gezwungen ist, sich unermüdlich des eigenen Ortes sowie der 55 | Die historische Dimension von Individualisierungsschüben wurde mit Blick auf den Wandel von Institutionen besonders von Matthias Junge herausgearbeitet (vgl. Junge 1996, 2002).

2. „Die Menschen sind zur Individualisierung verdammt“

eigenen Situation (zumindest) reflexiv zu vergewissern. Diese Vergewisserung sei notwendig geworden, um sich in einer Gesellschaft zurechtzufinden, die vielfältig, unübersichtlich und in die Zukunft offen geworden sei. Allerdings entstünden aus dieser Situation nur bedingt und lediglich für bestimmte soziale Klassen Freiheitsräume und somit eine Zunahme an Lebensqualität. Im Gegenteil, diese „riskanten Freiheiten“ (Beck, Beck-Gernsheim 1994b) wirkten dahingehend, dass das Individuum zur permanenten Selbststeuerung gezwungen sei. „[…] Das Leben verliert seine Selbstverständlichkeit […]. Das dadurch überforderte Individuum sucht, findet und produziert zahllose Instanzen sozialer und psychischer Interventionen, die ihm professionell-stellvertretend die Frage nach dem ‚Was bin ich und was will ich‘ abnehmen und damit die Angst vor der Freiheit mindern“ (Weymann 1989 in: ebd., S. 18 ff.).

Beck manövriert das Individuum konzeptionell in eine relativ unsichere Position, in der sich vielfältige gesellschaftliche Probleme implizit und explizit zuspitzen. „[…] Wie wachsen Kinder auf, wenn es in den Familien immer weniger klare Vorgaben und Zuständigkeiten gibt? Lassen sich Zusammenhänge zur wachsenden Gewaltbereitschaft unter Jugendlichen aufzeigen? Läuft mit der Pluralisierung der Lebensformen das Zeitalter der Massenproduktion und des Massenkonsums aus […]?“ (ebd., S. 32 ff.).

Wie bereits ausgeführt, wendet sich Beck in seinen weiterführenden Arbeiten mehr und mehr von einer subjektorientierten Perspektive ab. Er widmet sich zwar weiterhin der Beschreibung von gesellschaftlichen Entgrenzungsprozessen, seine Fragestellung ist jedoch, welche generellen Veränderungen in den Entscheidungsstrukturen der Reflexiven Moderne durch diese Prozesse ausgelöst werden. Diese sieht Beck mehr und mehr auf der institutionellen Ebene angesiedelt (Beck, Lau 2004). Die vorliegende Arbeit knüpft in ihrem konzeptionellen Ausgangspunkt an den Diskussionen um die Individualisierungsthese an, grenzt sich von der negativen Bewertung von Individualisierungsprozessen ab, wie sie teilweise in diesen Debatten vorgenommen wurde. Hierbei geht sie zunächst der übergeordneten Frage nach, ob und wie Menschen diesen diagnostizierten „Zwang zur Individualisierung“ selbst wahrnehmen, bewerten und in ihre biografische Planung integrieren. Diese Frage wird anschließend auf der Basis einer empirischen Überprüfung in der vorliegenden Arbeit untersucht. Die Arbeit nimmt zunächst keine Bewertung im Hinblick auf die gesellschaftlichen Auswirkungen von Individualisierungsprozessen vor. Im Gegenteil, ihr liegt zunächst lediglich die Annahme zugrunde, dass Individualisie-

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Strategien der Individualisierung

rung ein Wechselverhältnis zwischen objektiven und subjektiven Lebenslagen, also zwischen sozialer Struktur und Individuum, beschreibt. So unterliegen Individualisierungsprozesse den historischen Wandlungsdynamiken von Gesellschaften und stellt ein konzeptionelles Instrumentarium dar, um dieses Wechselverhältnis zu beschreiben. Die Analyse von „Individualisierungsschüben“ (Beck 1983; Junge 1996, 2002) ist in dieser Sichtweise in die Entwicklungsschritte moderner Gesellschaften eingebettet und eröffnet ein tieferes Verständnis soziostruktureller und kultureller Aspekte im Rahmen dieser Dynamiken. In Anlehnung an Flavia Kippele wird Individualisierung vor diesem Hintergrund als eine soziologische Beschreibungskategorie wie folgt definiert: „[…] Individualisierung ist ein Prozess, bei dem sich die Art des Eingebundenseins des Individuums in die Gesellschaft verändert. Der Individualisierungsprozess ist in diesem Sinne die Veränderung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft im Verlauf der Zeit“ (Kippele 1998:15, Hervorh. B.-J. Krings).

Diese Definition betont zunächst weniger die qualitativen und quantitati-ven Prozesse, die in der Regel unmittelbar mit Individualisierung verknüpft werden, wie etwa Prozesse der „Freisetzung“ von Individuen oder der zunehmenden „Überforderung“ von Individuen. Sie zielt, im Gegenteil, zunächst auf das grundlegende Strukturprinzip der These, nämlich auf die Beschreibung des Verhältnisses von Individuum und gesellschaftlichen Strukturen. Die Analyse und Beschreibung dieser Prozesse bergen bekanntlich fundamentale methodologische Herausforderungen, die in der vorliegenden Arbeit freilich nicht gelöst werden können, jedoch in ihrer theoretischen Relevanz reflektiert werden. So hat Beck, wie oben dargestellt, im Laufe seiner Arbeiten die Seite der Strukturdeterminanten von Individualisierungsprozessen stark gemacht, während er die kulturellen Dynamiken sowie die Analyseebene zur Begriffsbildung einer „Soziologie des Individuums ausgeklammert“ hat (Kalupner 2003:13). Besonders letzterem Aspekt wird in der vorliegenden Arbeit besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Die Definition zielt zunächst auf die historischen Veränderungen, die diesen Prozessen und deren Bewertungen qualitativ und quantitativ zugrunde liegen. Gleichzeitig beschreibt diese Definition den historischen Wandel in den Bewertungen von Begriffen wie zunehmende „Freiheit“ oder „Autonomie“ des Individuums, wenn von Individualisierung die Rede ist. Hier distanziert sich die Arbeit in ihrer normativen Ausrichtung von der Vorstellung einer Entbindung oder gar Befreiung von (traditionellen) gesellschaftlichen Strukturen, sondern legt die These zugrunde, dass

2. „Die Menschen sind zur Individualisierung verdammt“ „[…] Individualisierung folglich nicht Entbindung der Individuen aus der Gesellschaft [und ihrer Institutionen, Einfüg. B.-J. Krings] bedeutet, sondern eine neue Form der sozialen Einbindung“ (Kippele 1998:246, Hervorh. B.-J. Krings).

Fragen nach neuen Formen der sozialen Einbindung von Individuen in heutigen Gesellschaften werden auch von Angelika Poferl als wichtiger theoretischer Ansatzpunkt der Individualisierungsthese gesehen. Sie ist der Auffassung, dass nach drei Jahrzehnten heftiger Debatten um die Individualisierungsthese weit reichende methodologische Ansätze und empirische Arbeiten zur Ergründung der Denkfigur der Individualisierung noch ausstünden (Burzan 2011b; Zinn 2002; Poferl 2010; vgl. Kap. 3 und 4). Die zentralen methodologischen Herausforderungen für die soziologische Disziplin könnten, nach Poferl, zur Ausbildung eigener theoretisch-konzeptioneller Forschungsstränge führen, die auf folgenden Ebenen angesiedelt sein könnten (vgl. Poferl 2010:295): • Analyse der Wechselwirkung zwischen Institutionen bzw. Institutionalisierungsprozessen und sozialer Praxis bzw. dem, was „als Soziales begriffen wird“ (Greshoff 2009:445; vgl. Esser 2000d; vgl. Kap. 3); • Entwicklung eines Subjektkonzepts, das die subjektiven Wahrnehmungen, Erwartungen und Umsetzungen von Individuen in ihren vielfältigen sozialen Kontexten rekonstruiert und vor allem die Frage nach „Freiheitsgraden“ sowie „Restriktionen“ menschlichen Handelns von Individualisierungsprozessen in den Blick nimmt (Poferl 2010; Volkmann, Schimank 2002, insb. Teil II; vgl. Kap. 3 und 4). Die vorliegende Arbeit verortet sich hierbei als ein Beitrag im zweiten Forschungsansatz und geht auf einer operativen Ebene der strukturierenden Frage nach, welche „Freiheitsgrade“ und/oder „Restriktionen“ die Individuen in diesen gesellschaftlichen Prozessen erfahren (können). Dieses polarisierend bewertende Schema wird jedoch im Laufe der Arbeit verlassen, um die Fragen zu eruieren, wie Individualisierungsanforderungen subjektiv wahrgenommen werden und welche Handlungsstrategien in der Alltagspraxis hierbei notwendig sind. Im Vordergrund des Erkenntnisinteresses steht – aus einer subjektorientierten Perspektive – die Frage, welche subjektiven Aneignungsprozesse und Handlungsorientierungen erforderlich sind, um den Anforderungen in individualisierten Gesellschaften gerecht zu werden. Der Titel der Arbeit „Strategien der Individualisierung“ ist vor diesem Hintergrund dem normativen Ansatz geschuldet, dass das Leben der Menschen in modernen Gesellschaften mehr und mehr zu einem „Leben aus dem Wurzelpunkt“ (Nunner-Winkler 1985) wird, was von der Soziologie bei der Betrachtung der individualisierten Lebensgestaltung verstärkt in den Blick genommen werden sollte. Der Erkenntnisgewinn soziologischer Bewertungen

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von Individualisierungsprozessen weist vor dieser Lesart weit über die Analyse „neuer Standardisierungen“ und „rigider Abhängigkeiten“ (Poferl 2010:295) der Individuen durch ihre gesellschaftliche Umwelt hinaus. In der vorliegenden Arbeit sollen vor allem diejenigen qualitativen Dimensionen von Individualisierung erschlossen werden, die das Individuum, seine Individualität sowie deren Wirksamkeit in gesellschaftlichen Prozessen als Lebensvollzug begreifen. Diese Sichtweise rückt das „Individuum der Gesellschaft“ (Schroer 2001a, 2001b) wieder stärker in den Mittelpunkt der Betrachtung und erhöht damit die Notwendigkeit, die theoretische Grundstruktur von Individualisierungsprozessen einer tieferen Analyse zu unterziehen.

3. Die theoretische Grundstruktur der Individualisierungsthese nach Niklas Luhmann

Im Zentrum des Topos der Individualisierung1 steht die Beobachtung der „Freisetzung“ des Menschen aus traditionellen gesellschaftlichen Strukturen im Laufe der historischen Entwicklung. Dies trifft auch auf die Debatte um die Individualisierungsthese zu, die den historisch jüngsten „Individualisierungsschub“ mit seinen sozialen Folgen als ambivalent für das Individuum selbst, aber auch für gesellschaftliche Dynamiken beschreibt (vgl. Kap. 2). Die positiven und negativen Bewertungen dieser Freisetzungsprozesse werfen bekanntermaßen das methodische Ausgangsproblem auf, was mit „Freisetzung“ und somit neuen „Freiheitsbezügen“ menschlicher Existenzbedingungen gemeint sein könnte (Honneth 2002a, 2004). Die Beantwortung dieser Fragen ist alles andere als trivial, da hierbei beides, ein subjektiver und ein objektiver Standpunkt, eingenommen werden muss. Denn es können einerseits – aus einer beobachtenden „objektiven“ Perspektive – vielfältige empirische Phänomene im Rahmen historischer Individualisierungsphasen identifiziert werden, die die Entwicklung der neuzeitlichen Individualität beeinflusst und geprägt haben (Taylor 1996). Andererseits kann nur aus einer „subjektiven“ Perspektive bewertet werden, ob und wie neue gesellschaftliche Gestaltungs- und Handlungsräume von den Individuen als qualitativ neue Freiheiten wahrgenommen werden können. Fragen nach den Bedingungen menschlicher Freiheit des sich selbst erkennenden Menschen im Laufe der Jahrhunderte sind wesentlicher Gegenstand der europäischen Philosophietradition, insbesondere der Subjektphilosophie. Aus diesem Grund knüpft der Topos der Individualisierung an Denkfiguren

1 | In diesem Kapitel ist nicht mehr von der Individualisierungsthese die Rede, da nun allgemeiner auf das soziologische Theorem von Individuum, Individualität und Individualisierung verwiesen wird und nicht mehr explizit auf die oben dargestellte Debatte.

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der europäischen Subjektphilosophie an,2 die das erkennende Subjekt in der Betrachtung seiner Lebensumstände in den Mittelpunkt ihres Erkenntnisinteresses gestellt hat (Frank 1991). Obgleich in der ausgreifenden Debatte zur Individualisierungsthese häufig auf diese Traditionen verwiesen wird, gibt es kaum Betrachtungen und weiterführende Arbeiten, die den Topos der Individualisierung konzeptionell auf dessen theoretische Traditionen hin befragen und für heutige soziologische Diskussionen fruchtbar machen (vgl. kritisch im Hinblick auf dieses Anliegen: Nassehi 2000, 2008; Poferl 2010).3 Dies begründen einige Autoren nicht zuletzt damit, dass diese Tradition der soziologischen Betrachtungsweise auf moderne Phänomene nicht mehr entspreche. Wie oben schon ausgeführt, wurde Individualisierung auf eine Prozessebene gehoben, die weitgehend historische Entwicklungen beschreibt. Methodologische Fragen nach Individuum und Individualität gerieten hierbei in den Hintergrund, bzw. ihr theoretischer Beitrag für die Soziologie wurde als gering eingeschätzt. So plädiert Armin Nassehi beispielsweise in diesem Kontext dafür, den Begriff Individualisierung „[…] nicht zu den soziologischen Grundbegriffen [zu zählen]. In der Tat, Individualisierung ist nur eine Diagnose, eine erfolgreiche Diagnose […]. Individualisierung verweist im soziologischen Sinne zunächst auf nichts anderes als auf eine Zurechnungsfrage – nach dem, was ich in der zweiten Vorlesung entwickelt habe, also auf Handlungen“ (Nassehi 2008a:140; vgl. auch Kalupner 2003; vgl. Kap. 2).

Aber auch durch die bloße Analyse von Handlungsstrukturen in individualisierten Gesellschaften wurde der Begriff der Individualisierung mit einer Vielzahl von Forschungsperspektiven und Themen verknüpft, die zu großer Offenheit und Beliebigkeit geführt und damit wenig zur theoretischen Klä2 | Vgl. z. B. Honneth 2002b; Kalupner 2003; Nassehi 2008a. 3 | Sybille Kalupners Arbeit bildet hier eine Ausnahme. Sie untersucht das soziologische Konzept der Individualisierung nach seinen handlungstheoretischen Implikationen auf der Basis einer historischen und systematisierenden Analyse. Sie kommt hier zu dem Ergebnis, dass die Entstehung des Konzepts im Rahmen modernisierungstheoretischer Arbeiten „mit einem grundlegenden Wandel des sozialtheoretischen Denkens über den sozialen Akteur und die Prinzipien sozialen Handelns verknüpft war“ (Kalupner 2003:2005). Zwei starke Denkfiguren der Individualisierungsthese müssten hierbei nach ihrer Einschätzung auf den Prüfstand gestellt werden: Die eine Denkfigur ist die einer „historischen Zerfallsbewegung“ (ebd., S. 206), die andere Denkfigur ist die „gegenwärtige Unsicherheit in der Beschreibung neuer Gemeinschaftsformen“ (ebd., S. 207), die sich noch immer an den traditionellen Begriffen wie Klasse etc. orientieren (vgl. Individualisierung als Handlungsbegriff bei Nassehi 2008a, 2008b; Nassehi 2000).

3. Die theoretische Grundstruktur der Individualisierungsthese

rung beigetragen haben (vgl. Kap. 2). Es bleibt im Hinblick auf die theoretische Grundstruktur weiterhin offen, was unter dem „Prozess einer wachsenden, unumkehrbaren Freisetzung der Gesellschaftsmitglieder von traditionellen Bindungen und stereotypisierenden Zwängen“ (Honneth 2002a:141) zu verstehen ist und welche theoretische Relevanz diese sozialen Prozesse für die soziologische Perspektive auf Modernisierungsprozesse haben könnten. Allein vor einer modernisierungstheoretischen Fragestellung erscheint die Analyse von Individualisierungsprozessen jedoch besonders relevant, da ihre theoretische und empirische Überprüfung Hinweise zum Verständnis moderner Gesellschaften und ihren sozialen Prozessen geben kann. Besonders die „Klassiker“ der Soziologie wie beispielsweise Georg Simmel, Max Weber, Emile Durkheim u.a. haben sich nicht nur intensiv mit Individualisierungsprozessen in den entstehenden Industriegesellschaften auseinandergesetzt (vgl. etwa Ebers 1995; Eberlein 2000; Schroer 2001a). Auch in den nachfolgenden Generationen soziologischer Theoriebildung gibt es kaum profilierte Autorinnen und Autoren, die sich nicht mit dem Theorem der Individualisierung auseinandergesetzt haben. Beispielsweise hat sich Norbert Elias ebenfalls intensiv mit Individualisierungsprozessen befasst vor allem vor der Überzeugung, dass „man Individuum und Gesellschaft nicht trennen kann, dass sie lediglich zwei verschiedene Beobachtungsebenen darstellen“ (Elias 1990:82; Schroer 2001a). Der Versuch diese Erkenntnis darstellbar und soziologisch fruchtbar zu machen, durchzieht wie ein roter Faden sein Gesamtwerk. Hierbei teilt er die modernisierungstheoretische Perspektive seiner Vorgänger, dass Individualisierung als Freisetzung aus traditionalen Rollen ein wesentliches Charakteristikum des Zivilisationsprozesses darstellt (Elias 1987). Auf der Basis einer großen Fülle von sozialen und kulturellen Entwicklungen weist er unermüdlich darauf hin, dass die steigende Handlungs- und Lebensoptionen ein Merkmal moderner Gesellschaften geworden ist, dies jedoch nicht im Umkehrschluss bedeuten muss, dass der Freiheitsgrad für das Individuum ebenfalls linear ansteigt. „[…] Es liegt in der Natur von Gesellschaften, die von dem Einzelnen eine mehr oder weniger hohe Spezialisierung fordern, dass er eine Fülle von ungenützten Alternativen, von Leben, die er nicht gelebt, von Rollen, die er nicht gespielt, von Erlebnissen, die er nicht gehabt, und Gelegenheiten, die er verpasst, am Wegrande liegenlässt“ (Elias 1987:179).

Diese Auffassung schien auch Niklas Luhmann zu teilen. Obgleich sein Erkenntnisinteresse in seinen systemtheoretisch ausgelegten Arbeiten weniger subjektiven Wahrnehmungsformen von Individuen galt, hob er die Bedeutung und Relevanz des Individualisierungstheorems für gesellschaftliche Prozesse in hohem Maße hervor. Wie kein anderer in der jüngeren deutschsprachigen Diskussion mahnte er das theoretische Defizit von Individualisierungspro-

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zessen kritisch an. So wurde er in seinen Arbeiten nicht müde zu betonen, dass nicht nur das theoretische Konzept von Individualisierung, sondern auch seine Aussagekraft in den soziologischen Diskussionen theoretisch unbestimmt geblieben sei. Wie im Folgenden noch zu zeigen sein wird, plädierte er dafür, das Konzept des Individuums und seine Individualität wieder zusammen zu denken und an subjekttheoretische Traditionen anzuknüpfen (vgl. Kap. 3.2). Diese (neuerliche) Forderung der konzeptionellen Zusammenführung von Individuum und seiner Individualität bezieht sich auf das bekannte philosophische Grundproblem, das Individuum als etwas Getrenntes von der Gesellschaft und gleichzeitig als einen immanenten Teil der Gesellschaft zu betrachten. Hier schließt sich wieder der Kreis zu dem schon früh in der Philosophie formulierten Paradoxon, dass das Individuum einerseits als einzigartiges Phänomen, andererseits jedoch auch als integrativer Teil der Gesellschaft zu betrachten ist. Den konzeptionellen Interventionen Luhmanns folgend wird in diesem Kapitel das Individuum in der Gesellschaft und in seinem Verhältnis zur Gesellschaft erneut in Augenschein genommen. Ein zugegebenermaßen verkürzter Blick auf einzelne Aspekte der „Erbmasse der klassischen Sozialphilosophie“ (Honneth 2002a:141; Schroer 2001a) ruft zunächst in Kap. 3.1 die „klassischen“ Grundprobleme des Begriffs des „Individuums“ und seiner „Individualität“ in Erinnerung. Die Klärung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft wird hier freilich kaum erfolgen können. Basierend auf den Arbeiten Luhmanns werden anschließend jedoch einige Annahmen formuliert, die für das theoretische und empirische Verständnis dieser Arbeit von einschlägiger Bedeutung sein werden.

3.1 D er M ensch als I ndividuum und S ubjek t 4 Wie im einleitenden Kapitel kurz angerissen, beschäftigte der Begriff des „individuum“ schon die Philosophen der Antike und der Frühscholastik. Hier erscheint das „individuum“ als Einfaches, Unteilbares, Nicht-Zusammengesetztes, das auf materieller wie auch auf nichtmaterieller Ebene die grundlegende Frage aufwarf, wie dieses „individuum“ ontologisch zu fassen sei: als weiterer Gattungsbegriff oder als „[…] individuelle[s], selbstständige[s] und abgetrenntes Sein […], dessen besonderes Merkmal es ist, zum Bereich dessen zu gehören, auf das man zeigen kann“ (Borsche 1976:302; vgl. Luhmann 1997). 4 | Vgl. gleichnamiger Titel einer Unterüberschrift in dem Buch: „Arbeit in der Moderne. Ein dialgue imaginaire zwischen Karl Marx und Hannah Arendt“ von Thomas Geisen (2011, S. 61, Hervorh. im Original).

3. Die theoretische Grundstruktur der Individualisierungsthese

Die aristotelische Tradition beispielsweise bestritt allerdings den eigen-ständigen, ontologischen Charakter eines kleinsten Substrats, da – auf einer rein begrifflichen Ebene – dieses Substrat seine konzeptionelle Einheit mit dem substanziellen Gegenstand, also dem Ganzen, offenbaren müsste. Grundsätzlich ging man hier zunächst davon aus, dass sich der Zusammenhang zwischen dem „individuum“ und einem Ganzen logisch nicht begreifen lasse. Diese Unterscheidung bzw. die damit verknüpften Bewertungen des Verhältnisses dominierten bis zur Spätscholastik die Denkfiguren des „individuum“.5 Die Vorstellung eines eigenständigen Gattungsbegriffs des „individuum“ änderte sich in der Scholastik von Grund auf. So entwickelte beispielsweise Thomas von Aquin (1225-1274) die These, dass die „individuelle Einheit als ein transzendentales Attribut zu verstehen [sei]“ (Borsche 1976:306). Das „individuum“ und somit seine „Eigenart“ (Individualität) würden vor diesem Hintergrund zu einer „faktischen Ungeteiltheit des Seienden in sich“ (ebd., S. 306), was jedoch der Auffassung des „individuum“ als kleinste unteilbare „Seiendheit“ (ebd., S. 306) eines göttlichen Ganzen nicht widerspräche. Kleinste Einheiten, die in einer göttlichen Natur transzendieren, waren vor dieser Perspektive dennoch als „individuum“ zu begreifen. Dies wurde nicht als Gegensatz betrachtet, sondern das „individuum“ vollzog sich nach seiner spezifischen „Eigenart“, seiner „Individualität“ gemäß den Regeln des allgemeinen „Seinsaktes“ (ebd., S. 307). „Eigenart“ und „Seinsakt“ wurden dabei nicht in einem strikten Über- und Unterordnungsverhältnis verstanden, sondern standen auf einer Ebene mit Gattungsbegriffen wie „Menschen, Tiere, Engel, Quellen, Städte etc.“ (ebd., S. 304), die ihrem je eigenen, individuellen Entwicklungsverlauf folgten und dennoch in ihre wesenseigenen Bestimmungen des Entwicklungsverlaufes eingebunden waren.6 Das Individuum und seine „Wesensart“, 5 | Freilich handelt es sich hier nicht um eine einheitliche Denkfigur, sondern es zeigen sich auch hier große Unterschiede in der wissenschaftlichen Erfassung und Ein-ordnung des Erkenntnisgegenstands. So wendete sich beispielsweise Plotins Lehre gegen die aristotelische Lehre von den als Individuen verstandenen ersten Substanzen, die den ontologischen Vorrang vor den Arten und Gattungen haben. Diese wurden hier auf einer ideellen Ebene angesiedelt und verwiesen nicht notwendigerweise auf materielle oder nichtmaterielle Phänomene (Borsche 1976). 6 | Wie lange Gattungsbegriffe wie Engel, Quellen, Steine etc. für die Auslegung und Erklärung der Welt als gleichrangig betrachtet wurden, wurde u. a. von der Wissenschaftshistorikerin Lorraine Daston untersucht. In ihren empirisch höchst kreativen Arbeiten weist sie darauf hin, dass die sukzessive Ausweitung der Methode der „wissenschaftlichen Beobachtung“ ein historisch langwieriger Prozess war, der einerseits das physische und psychische Durchhaltevermögen und die Ideen einzelner Wissenschaftler (und Wissenschaftlerinnen) erkennen ließ und andererseits im buchstäblichen Sinne zur „Entzauberung der Welt“ (Max Weber) beigetragen habe (Daston, Lunbeck 2011).

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die „Individualität“ waren in diesen Denkfiguren fest in religiöse Vorstellungen und Glaubenssätze eingebettet, was innerhalb der Gesellschaften wenig Raum für die Ausprägung der Individualität von Menschen ließ. So ging es für den Einzelnen darum, die ständischen, familiären und geschlechtsspezifischen Normen und Erwartungen zu erfüllen, um ein gottgewolltes Leben zu führen. Die Ausbildung und Betonung der eigenen „Wesensart“, die „Individualität“, war in diesem Leben (noch) nicht vorgesehen.7 Mit der Entwicklung neuzeitlicher Naturwissenschaften sowie neuzeitlicher philosophischer Konzepte zur Stellung des Menschen in der Welt und im Kosmos wurde das Konzept des „individuum“ einer vollständigen Revision unterzogen. An vorderer Stelle wird hier in der Literatur regelmäßig der Universalgelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) genannt, der das Verhältnis von „individuum“ und „specias infima“ als „logisch inkommensurabel“ (ebd., S. 310) bezeichnete und Begriffsbestimmungen der „individuellen Substanz, wie sie beispielsweise in der von ihm verfassten Monadologie zusammengefasst sind“ (ebd. S.311), neu formulierte.8 Leibniz vermittelte hierbei zunächst innerwissenschaftlich zwischen Logik und Metaphysik und löste das ungeklärte Verhältnis zwischen „individuum“ und (s)einer spezifischen Wesenheit, der „Individualität“, auf einer begrifflichen Ebene auf. Er entwickelte ein rationales Konzept, indem er das „individuum“ als Dieser Prozess scheint noch nicht abgeschlossen, wie neueste Erkenntnisse beispielsweise im Rahmen der aktuellen Gehirnforschung zeigen. 7 | Luhmann hat vor dieser Perspektive die kulturellen Ausprägungen dieser Denkfiguren historisch-empirisch nachvollzogen. So beschreibt er anschaulich, dass im europäischen Mittelalter die Gesellschaft in hohem Maße durch „segmentäre Differenzierungen nach Familien, Häusern, Herrschafts- und Klientelverhältnissen des Adels erhalten geblieben [sei]. […] Die Individuen waren in ihnen durch ihre Familien platziert, ihr ‚Stand‘, ihre ‚Qualität‘, ihre ‚condition‘ war dadurch festgelegt, so dass auch die Differenzierung der Schichten nicht als Anlass für individuelle Ansprüche wirken konnte. […] Ansprüche, etwa im Sinne von standesgemäßer Lebensführung, setzten gerade eine nicht-individuelle Legitimation voraus: die Einordnung in die gegebene Ordnung“ (Luhmann 1998:167). 8 | Vgl. beispielsweise die sehr eindrücklichen §§ 1-15 der Monadologie von Leibniz in Borsche 1976:322: „Es ist ihr [der individuellen Substanz] Wesen, eine Vielheit in der Einheit auszudrücken (perception), sie ist nichts anderes als individuelle Repräsentation des ganzen Universums. Entsprechend dem Universum, das sie darstellt, aber aufgrund ursprünglicher Selbsttätigkeit ist sie in kontinuierlicher Veränderung begriffen (appetition), sie folgt einer von außen nicht beeinflussbaren individuellen Tendenz als ihrem inneren Gesetz; so ist sie ‚fensterlose‘ Entelechie. Der jeweilige Grad der Distinktheit der Perzeptionen und der Kraft der Appetitionen macht den individuellen Standpunkt aus, durch den sich eine bestimmte Monade von jeder anderen unterscheidet.“

3. Die theoretische Grundstruktur der Individualisierungsthese „[…] einen unendlichen Prozess deutete, durch den das Ganze der Welt perspektivisch in den individuellen Substanzen, den ‚Monaden‘ konzentriert [wird]“ (Bösch 2011:1228).

Individualität des Einzelnen und Ganzheit wurden bei ihm in einen expliziten Zusammenhang gestellt und über ein Verständnis von zeitlicher Unendlichkeit konzeptionell verbunden. Danach besteht jede „individuelle Substanz“ aus „allen Relationen der Welt und sie erlangt ihre Individualität durch die besondere Bewegungsrichtung, mit der sie die Relationen realisiert“ (ebd., S. 1228). Die Perspektive auf die Unendlichkeit führte bei Leibniz zwar ebenfalls zu einer Pluralität an Perspektiven, die sich dem Individuum nicht erschließen kann. Aufgrund der Absage an eine metaphysische Sichtweise des Holismus „[...] wandelt sich [jedoch] das Unendlichkeitskonzept von einem Bestimmungsgrund zu einem Entzugsgrund“ (ebd., S. 1228).

Dieser Perspektivenwechsel war grundlegend, da er den Status des „individuum“ auf einer begrifflichen Ebene veränderte. So wurde einerseits das „individuum“ zu einer historisch einzigartigen Ausprägung eines als unendlich angelegten Vollzugs von Weltrelationen. Andererseits wurde das „individuum“ gleichgesetzt mit seiner „Individualität“, was allerdings die Frage nach dem Ort dieses Vollzugs aufwarf. Basierend auf den Schriften von Leibniz resümiert Bösch ein Verhältnis zwischen dem Individuum und (s)einer Gesetzmäßigkeit des Ganzen, was eine erstaunliche Nähe zu den inhaltlichen Ausprägungen der Transzendentalphilosophie erkennen lässt: „[…] Das Individuum ist eine kontingente, nicht notwendig aus den Gesetzmäßigkeiten des Ganzen herzuleitende Konzentration von Weltrelationen. Es ist das Konstrukt einer jeweiligen Ganzheit von Ereignisverdichtungen, durch die die Wirklichkeit als strukturiertes Geschehen erkennbar, wenn auch nicht in seiner Totalität erfassbar ist. Es ist ein interpretatorischer Prozess, die Ereignisse zu bestimmbaren Einheiten zu verdichten, sie narrativ zu strukturieren“ (Bösch 2011:1228; vgl. Borsche 1976). 9 9 | In diesem Zitat zeigt sich auch eine deutliche Nähe zu den Arbeiten Alfred Schütz (1899-1959), der in seinen frühen Werken auf die Schriften des Philosophen Edmund Husserls (1859-1938) rekuriert. Während allerdings Schütz in seinem späteren Wirken zur sozialen Konstruktion von Wirklichkeit jegliche bewusstseinstheoretischen Ansätze ablehnt, widmet sich Husserl eben diesem Zusammenhang von Subjekt und Objekt als einem sinnstiftenden Akt der Bewusstwerdung (Noesis). Dieser ist bei Husserl durchaus historisch eingebettet, wie beispielsweise von Ströker herausgearbeitet wurde. Bewusstsein als strukturierendes Moment für die Wahrnehmung von Wirklichkeit bleibt jedoch als Grundprinzip bestehen. „Gezeigt wird dies an verschiedenen Stadien der Husserlschen Analyse des Bewusstseins. Denn kraft seiner Intentionalität konstituie-

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Diese Beschreibung stellte eine notwendige Verbindung zwischen der Ausdrucksform einer individuellen Struktur und einer jeweiligen Ganzheit her. Die Verbindung dieser beiden – individuelle Struktur und Ganzheit – wurde als ein abhängiges, durchlässiges Verhältnis gedeutet, das allerdings logisch schwer zu begreifen war. Die Ganzheit wurde als zeitlicher, unendlicher Strom des Weltgeschehens betrachtet, der in seinen Formen und Möglichkeiten offen war und sich damit jeglichen ontologisch konstruierbaren Gesetzmäßigkeiten entzog. Die Bezugnahme auf das Individuum bzw. eine individuelle Struktur in diesem Strom der Schöpfung konnte nur durch einen sprachlichen (Selbst-) Bezug hergestellt werden, da sich die Plausibilität einer solchen Interpretation einerseits induktiv aus der Selbsterfahrung und deduktiv aus der Beobachtung analoger Prozesse bei lebendigen Organismen herstellen ließ (Bösch 2011).10 Für die klassische Philosophie war diese Sichtweise problematisch, da die ontologische Begriffsentwicklung an der „Selbstauslegung menschlicher Individualität“ (ebd., S. 1229) anknüpfen musste. Ob und wie durch diese Methode eine „objektive“ Begriffsbildung möglich war, wurde, wie oben schon ausgeführt, schon in der klassischen Philosophie kontrovers verhandelt (Bösch 2011). Über sprachphilosophische sowie geschichtsphilosophische Weiterentwicklungen wurden allerdings vielfältige Wege gefunden, um den „Vollzugscharakter der Selbstbeschreibung“ (ebd., S. 1230) nachzuvollziehen.11

ren sich Gegenstände in ihm durch synthetische Akte der Identifizierung, deren jeder darin auch sich selbst als werdende zeitliche Einheit konstituiert. Insgesamt bilden sie den Bewusstseinsstrom und bringen in ihrer zeitlichen Abfolge in eins damit dessen Zeitlichkeit hervor“ (Ströker 1996:XXVII; vgl. kritisch: Nassehi 2000). 10 | Luhmann interpretiert das Zusammenfallen des Individuums und seiner Individualität bei Gottfried Leibniz u.a. folgendermaßen: Das Individuum „verdankte seine Individualität der Schöpfung und trug das Prinzip seiner Individualisierung, die ‚individualisierende Differenz‘ in sich selbst. Es ist eine einfache, unteilbare Einheit, und gerade darin wird der Grund dafür gesehen, dass es sich selbst liebt. […] Selbstreferenz in diesem Sinne hieß ‚Selbstliebe‘, und als Grund der Selbstliebe wurde eben die Identität, die Einheit des Selbst mit dem Selbst angegeben. […] Erfüllung findet diese Selbstliebe nur in der eigenen Tugend und Perfektion, denn nur dies garantiert ihr auf Dauer der Vereinigung mit ihrem Objekt.“ (Luhmann 1998:176 ff.). 11 | So steht beispielsweise in der Geschichtsphilosophie das Subjekt für ein „Individuum, ein Kollektiv oder eine metaphysische Substanz, die als Ursache der geschichtlichen Entwicklung angenommen wird“ (Geisen 2011:66). Wichtige Weiterentwicklungen dieser Perspektive verweisen auf die Bedeutung von Sprache als die Möglichkeit einer „Ich-Referenz“, d. h. die sprachliche Trennung von Subjekt und Objekt in der Selbstwahrnehmung (vgl. vor allem die Arbeiten von Ludwig Josef Johann Wittgenstein (18891951) in: Bösch 2011).

3. Die theoretische Grundstruktur der Individualisierungsthese

In der Philosophie der Moderne rückt der Mensch sukzessive als „Monade“, als kleinste, unabhängige Einheit in den Mittelpunkt des Interesses. Seine Position in der Welt und im Kosmos wird mehr und mehr losgelöst und unabhängig von gemeinschaftlichen und religiösen Zügen verortet. Diese Denkfiguren finden bekanntermaßen ihre Entsprechungen in der Entstehung der modernen Wissenschaft, deren Erkenntnisfortschritte zunehmend auf der Erhebung und Systematisierung von einzelnen, individuellen Anstrengungen und Erfahrungen beruhen (Daston, Lunbeck 2011). Nach Geisen sind für die Entstehung der modernen Wissenschaften zwei Momente von großer Bedeutung: „[…] erstens der Bruch mit der christlichen Tradition und der Annahme, dass sich Gott in der Welt offenbart […], zweitens, die Ablösung einer Kontinuität von Fortschritt und Entwicklung durch die Offenbarung Gottes in der Welt durch den radikalen Zweifel“ (Geisen 2011:61).

Begleitet wurden diese zwei Entwicklungslinien von einer neuen Bestimmung des Verhältnisses von Subjekt und Objekt, die ein zentrales Paradigma der europäischen Philosophietradition wurde.12 Der Begriff des „individuum“ wird in der Auf klärung durch den Begriff des „Subjekts“ ersetzt bzw. ergänzt.13 So entwickelt sich der Begriff des Subjekts „als Bezeichnung für ein mit Bewusstsein ausgestattetes, erkennendes und handelndes Wesen“ (ebd., S. 62) zum zentralen Kern der europäisch geprägten Subjektphilosophie. Im Gegensatz zum „individuum“ als eine Zustandsbeschreibung wird das Subjekt zu einem zunächst begrifflichen Konzept, das 12 | Manfred Frank weist in diesem Zusammenhang auf den Begriff des Subjekts als neuzeitliche „Erfindung“: „Der Schritt zur Subjektivierung der Philosophie wird getan, sobald man die Vorstellung als selbstreflexiv (z. B. als Leibnizsche ‚aperception‘) oder sie einem Subjekt als Eigentümer zuschreibt. Diesen Schritt habe vor allem René Descartes [1596-1650, Einfüg. B.-J. Krings] vollzogen. Ihm ist Vorstellen (cogitare) die Tat eines Vorstellenden, eines Ich, welches vorstellt. Das Vorstellen erwirbt die ihm zuerkannte Evidenz überhaupt erst in der Flexionsform der ersten Person Singular: cogito. Noch für Kant sind ‚denken‘ und ‚Vom-Ich-begleitet-sein-können‘ Synonyme. So avanciert das Subjekt […] zum Grund der Einsichtigkeit von Welt […]“ (Frank 1986 in: Geisen 2011:66; vgl. zu Wissenschaftsgeschichte etwa Rheinberger 2007). 13 | Dieser Paradigmenwechsel wird auch von Luhmann in seinen Arbeiten herausgehoben: „Dass jene Gleichsetzung von Individuum und Subjekt ein neuer Gedanke war, muss eigens betont werden. Wenn vorher vom Einzelnen die Rede war und sein Wert und seine Steigerungsfähigkeit (Perfektibilität) betont wurden, hatte man an den Einzelnen als Menschen gedacht und sich damit gegen überkommene ständische Differenzierungen gewandt“ (Luhmann 1998:207; Luhmann 1984, 2008b).

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den Menschen zu sich selbst, zu anderen Menschen und zur Natur als handelndes Wesen beschreibt. Der Mensch gerät in eine beobachtende Distanz zu seiner ihm umgebenden Welt, was ihm allerdings ermöglicht, in dieses äußere Geschehen reflektierend und handelnd einzugreifen. Das Werk von Immanuel Kant (1724-1804) spielt in dieser Tradition eine bedeutsame Rolle. Die Einführung und Verwendung des Subjekt-Begriffs in den philosophischen Debatten wird hauptsächlich auf ihn zurückgeführt.14 So beschreibt er beispielsweise in der Kritik der reinen Vernunft (1. Auflage 1781) das Verhältnis von „Ich“ und dem „Körper“ als ein Gegensatzverhältnis. Das Denken als ein schöpferischer Akt wird bei ihm gleichgesetzt mit der Seele und somit abgekoppelt von äußeren religiösen oder weltanschaulichen Bezügen. „[…] Ich, als denkend, bin ein Gegenstand des inneren Sinnes und heiße Seele. Dasjenige, was ein Gegenstand äußerer Sinne ist, heißt Körper“ (Kant 1995a in: ebd., S. 71).

Das Subjekt wird bei Kant auf einer begrifflichen Ebene zu einem Akt, den ein denkendes Wesen auf sich selbst anwendet, und zwar in einem doppelten Sinne, wie das folgende Zitat zeigt: „[…] Ich existiere denkend, ist nicht bloß logische Function, sondern bestimmt das Subjekt (welches auch zugleich Objekt ist) in Ansehung der Existenz und kann ohne den inneren Sinn nicht stattfinden, dessen Anschauung jederzeit das Object nicht als Ding an sich selbst, sondern bloß als Erscheinung an die Hand giebt. In ihm ist also nicht mehr bloße Spontaneität des Denkens, sondern auch Receptivität der Anschauung, d. i. das Denken meiner Selbst auf die empirische Anschauung eben desselben Subjects angewandt“ (Kant 1995a in: ebd., S. 71).

Durch diesen Akt, nämlich durch „die empirische Anschauung eben desselben Subjects“ (ebd., S. 71), gewinnt das Subjekt eine spezifische Unabhängigkeit 14 | Tatsächlich spricht auch Günter Rager von der „kopernikanischen Wende“ durch das Wirken Immanuel Kants. Kant „untersucht nicht primär die Gegenstände, sondern wie die Erkenntnis von Gegenständen a priori möglich ist […] (Rager 2012:64, Hervorh. B.-J. Krings). So nimmt der Verstand über die Sinne Umwelteindrücke auf, die die Menschen aktiv und passiv wahrnehmen. „Der Stoff der Empfindungen wird sodann durch unsere aktiven und spontanen Vermögen geformt und so zu Erkenntnis gebracht. Mit den a priori Anschauungsformen von Raum und Zeit werden die Sinnesempfindungen zu Wahrnehmungen (transzendentale Ästhetik). Durch die a priori Denkformen oder Kategorien des Verstandes werden die Wahrnehmungen zu Erkenntnissen gemacht (transzendentale Logik). Im Kernstück der Kritik der reinen Vernunft, nämlich der transzendentalen Deduktion, leitet Kant dann konsequenterweise die Kategorien aus ihrer ‚Quelle‘, der transzendentalen Einheit der Apperzeption ab“ (ebd., S. 64 ff.).

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vom denkenden Ich. Es wird bei Kant zu einer „aktiven, dynamischen Instanz, die in die sie umgebende Welt eingreift“ (ebd., S. 71). Der Verstand erscheint hierbei als eine synthetisierende Instanz, die eine verbindende Funktion zwischen Subjekt, Körper und der äußeren Welt einnimmt. Mit dieser Perspektive erfolgt eine „zeitliche und räumliche Verortung des Subjektes“ (ebd., S. 71) und gleichzeitig eine „völlige Freiheit des Handelns“ (ebd., S. 71), die nur noch dem freien Willen und der Entscheidungsfreiheit des Einzelnen unterliegen. Kant entwickelte ein rationalistisches Konzept der logischen Bestimmbarkeit des Subjekts, das er bekanntermaßen mit einem Konzept von menschlicher Freiheit verknüpfte. Über die Konstruktion der Subjekt-Objekt-Beziehung(en) können hier, nach Bösch, in der Folge zwei Lernprozesse formuliert werden: Erstens, der praktische Selbstbezug, das „Sich-zu-sich-Verhalten“ (Bösch 2011:1232), begründete eine von anderen nicht nachvollziehbare Referenz. Dieser sprachlich auszudrückende Bezug war von anderer Art als „eine objektive Referenz auf singuläre Entitäten“ (ebd., S. 1232). Zweitens, über diese Perspektive wurde unmissverständlich formuliert, „dass wir die Welt ‚an sich‘ nicht kennen“ (Brück 2012:165), sondern lediglich in unseren Modellen und Konstruktionen „[…] nachvollziehen. Diese weitgehende Erkenntnis stand konträr zu dem Objektivitätsanspruch der Naturwissenschaften und formulierte dennoch das ‚reine Denken‘, den Akt des Erkennens als eine ‚produktive, schöpferische Kraft‘“ (Bartels 1999:1550; Brück 2011).

Der Akt des Erkennens wird als sinnstiftender Akt für den einzelnen Menschen interpretiert, der auf der Basis sinnlicher und geistiger Wahrnehmungen stattfindet. Als prüfende und denkende Instanz vermittelt diese Wahrnehmung zwischen der äußeren und inneren Welt. In kritischem Rückgriff auf die Arbeiten Immanuel Kants betrachtete Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) das Subjekt-Objekt-Verhältnis in einem neuen Licht. Hegel relativiert das starre Verhältnis Subjekt-Objekt, indem er es „weiter systematisiert und innerhalb eines dialektischen Bezugsrahmens entfaltet“ (Geisen 2011:63). Im Mittelpunkt steht hier die „dialektische Bewegung als die Vermittlung von Gegensätzen“ (ebd., S. 72). So löst er den Gegensatz zwischen Subjekt und Objekt weitgehend auf, indem er ihm eine „zeitliche Bedingtheit“ zuschreibt. Er löst damit das „[…] Denken in Absoluta, wie beispielsweise unveränderliche Substanzen, auf und setzt an deren Stelle das veränderliche Paradigma von Veränderlichkeit und Zeitlichkeit. […] Bezogen auf das Bewusstsein bedeutet dies die Aufhebung von Einheit und Unterscheidung, der ‚inneren‘ und ‚äußeren‘ Substanz. Die Einheit der inneren Substanz, des Bewusstseins, entzweit sich damit in Subjekt und Objekt“ (ebd., S. 72).

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Berühmt wurde Hegels Metapher des Herr-Knecht-Verhältnisses, die die Aufteilung des Bewusstseins in ein „reines“ Selbstbewusstsein“ (Subjekt) und in ein „seiendes Bewusstsein oder Bewusstsein in der Gestalt der Dingheit“ (Objekt) (ebd., S.72) zum Ausdruck bringt. „[…] Beide Momente sind wesentlich; – da sie zunächst ungleich und entgegengesetzt sind, und ihre Reflexion in die Einheit sich noch nicht ergeben hat, so sind sie zwei entgegengesetzte Gestalten des Bewusstseins; die eine das selbstständige, die andere das unselbstständige, dem das Leben oder das Sein für ein anderes das Wesen ist; jenes ist der Herr, dies ist der Knecht“ (Hegel 1988 in: ebd., S. 72).

Diese „Dialektik der Selbstkonstitution“ (Bösch 2011:1232) bezieht die realen Lebensverhältnisse von Menschen mit ein und wertet sie im Verhältnis zu den Handlungsstrukturen. Die „Tat“ ist das „wahre Sein“ des Menschen, „in ihr ist die Individualität wirklich“ (Hegel 1969 in: ebd., S. 1233). Tatsächlich richtet sich bei Hegel das Handeln, die Tat, auf „den Leib, der das ‚Nichtgetanhaben‘ der Individualität darstellt“ (ebd., S. 1233). Das Individuum ist bei Hegel hierbei nicht nur auf einer abstrakten Begriffsebene angesiedelt, sondern ist als eine Auseinandersetzung dieser unterschiedlichen Bewusstseinszustände konzipiert. Erst durch die Integration dieser Prozesse in umfassende Freiheitszusammenhänge, die Hegel mit „[…] dem ‚Geist‘-Begriff als wirhafte Allgemeinheit des Selbstbewusstseins zu bestimmen versucht, erweist sie sich – und damit auch die Individualität – als bloßes Moment der absoluten Ganzheit“ (ebd., S. 1233).

Bei Hegel als einem der Hauptvertreter des deutschen Idealismus zielt die Auflösung dieser Auseinandersetzung immer auf „eine gerichtete Bewegung, deren Ergebnis sich als Synthese vermittels der ‚bestimmten Negation‘ realisiert“ (Geisen 2011:64). Ausschlaggebend für das zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte soziologische Verständnis des Individuums waren die Arbeiten von Karl Marx (1818-1883), die an dieser Tradition anknüpften. Marx verlässt noch deutlicher als Hegel die geistige(n) Bewusstseinsebene(n) und verortet die Stellung des Individuums – auf der Basis seiner empirischen Beobachtungen – in seinen konkreten Lebensverhältnissen. „[…] Somit ist ‚das menschliche Wesen‘ ‚in seiner Wirklichkeit‘, eben in der faktisch aufgenommenen Individualität, bestimmt als ‚das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse‘“ (Borsche 1976:321; Geisen 2011)15 . 15 | G. Günther Voß teilt diese Einschätzung und (re)formuliert sie für das soziologische Konzept von „Arbeit“: „Von diesem [Marx von Hegel, Einfüg. B.-J. Krings] übernimmt er

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Gleichzeitig rückt er von der Individualität als geistiger Entität weitgehend ab. „[…] „Die Gesellschaft besteht nicht aus Individuen, sondern drückt die Summe der Beziehungen, Verhältnisse aus, worin diese Individuen zueinander stehen“ (Marx 1953 in: Borsche 1976:322).

Aus der Analyse dieser Verhältnisse leitet Marx einen „kategorischen Imperativ“ ab, einen Aufruf, „diese Verhältnisse umzuwerfen“ (ebd., S. 322), um bessere, menschenwürdigere Verhältnisse zu schaffen. Die Konzentration auf die materiellen Verhältnisse der Menschen findet bei Karl Marx und Friedrich Engels (1820-1895) ihren Niederschlag in der Darstellung der gesellschaftlichen Verhältnisse im 19. Jahrhundert, wonach die „Lage der arbeitenden Klasse“ (Engels [1845] 1972) an sozialem Elend kaum zu überbieten war.16 Vor dem Hintergrund dieser gesellschaftlichen Entwicklungen war der Blick auf die soziostrukturellen Veränderungen der europäischen Gesellschaften in der Übergangsphase von agrarisch strukturierten Gesellschaftsformationen zu industriell organisierten Produktionsweisen die zentrale Perspektive der Gründungsväter der Soziologie (Honneth 2002b). Dabei standen die materiellen Verhältnisse, in denen die Individuen lebten, sowie die radikalen kulturellen Veränderungen weitgehend im Vordergrund (vgl. etwa Simmel 1984, 1992; Radkau 2005). Das Themenfeld „Freisetzung“ von Menschen aus traditionellen Strukturen wurde hierbei von allen Gründungsvätern formuliert und im Rahmen unterschiedlicher Bewertungsparameter diskutiert (vgl. Ebers 1995; Nassehi 2000; Schroer 2000, 2001a; Honneth 2002b). Diese konstituierten die Forschungsperspektive auf das Individuum der sich zu Beginn des 20. Jahrhun-

zentrale Elemente der Subjektphilosophie, wonach der Mensch ein sich in einem dialektisch komplexen Prozess der handelnden Auseinandersetzung mit der ihm gegebenen Welt selbst formendes, dabei seine Potentiale entfaltendes und dadurch entwickelndes (sich ‚bewährendes‘) und praktisch entäußerndes lebendiges Wesen ist“ (Voß 2010:32). Wie im Folgenden noch zu zeigen sein wird, plädiert Voß für eine Öffnung des soziologischen Konzepts der „Arbeit“ vor allem im Hinblick auf seine subjektbezogenen Traditionen, die, nach Voss, bei Karl Marx schon konsequent ausgearbeitet wurden. In der historischen Weiterentwicklung wurde diesen Inhalten, nach Voss, allerdings wenig Aufmerksamkeit geschenkt, weshalb der soziologisch geprägte Arbeitsbegriff „mit ambivalenten Offenheiten und impliziten Engführungen“ (ebd., S. 31) verbunden war. Diese Engführungen treten für ihn in aktuellen modernen Gesellschaften mehr denn je zutage (Krings 2013). 16 | Vgl. beispielsweise die umfassende historische Studie über den „Kampf um weibliche Individualität“ in Deutschland Anfang des 20. Jahrhunderts von Bührmann (2004).

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derts entwickelnden Disziplin.17 Nicht zuletzt um eine Abgrenzung zu Nachbardisziplinen wie der Philosophie und der Nationalökonomie vorzunehmen, setzte diese Perspektive das Individuum in Beziehung zu seinen gesellschaftlichen Bedingtheiten. „[…] Die soziologische Selbstbeschreibung der Gesellschaft scheint also von Beginn an – mit je unterschiedlicher Konnotation – die Selbstbeschreibung des modernen Menschen als autonomes Subjekt zu dekonstruieren“ (Nassehi 2000:47, Hervorh. im Original).18

Mit dem allmählichen Wegfall der subjektphilosophischen Traditionen im Hinblick auf den Menschen als sich erkennendes Subjekt generierte die Soziologie empirisch fundierte Methoden und Theorien zur Analyse der Veränderungen der materiellen und soziokulturellen Arbeits- und Lebensbedingungen der Individuen. Mit dem Anspruch der empirischen Nachweisbarkeit grenzte sie sich methodisch von der Philosophie und anderen Disziplinen ab und generierte spezifische wissenschaftliche Perspektiven auf den Wandel gesellschaftlicher Verhältnisse. Durch diese Neuausrichtung gerieten Fragen nach einer (transzendentalen) Einheit in der Vielheit sozialer Phänomene sowie die Frage nach der Wesensbestimmung des Menschen hierbei weitgehend in den Hintergrund. Die Freisetzung von Menschen aus ihren institutionellen Zusammenhängen wurde vor einer makrosoziologischen Perspektive in Konzepte sozialer Trans17 | Die Entwicklung dieser Disziplin war ihrerseits ein umfassender und zäher sozialer Prozess, wie die folgende Anekdote anschaulich zeigt: „Das Thema Gemeinschaft war zu [Max] Webers Zeiten längst mit einem Standardwerk besetzt, einem Gründeropus der deutschen Soziologie: dem zuerst 1887 erschienenen Buch von Ferdinand Tönnies (1855-1936) Gemeinschaft und Gesellschaft, das den Untertitel trug: ‚Grundbegriffe der reinen Soziologie‘. Aus späterer Sicht eine Pionierarbeit, war das Buch doch zunächst, als es herauskam, ‚schwer zu fassen‘: selbst für Max Weber, der sich damit, wie er Tönnies 1910 gestand, ‚tüchtig zu plagen‘ hatte (II/6, 703 f.). Erst 1912 kam die zweite Auflage, der bis 1935 sechs weitere folgten. Es war ein Literaturtyp, wie es ihn bis dahin noch nicht gab: zu abstrakt für die damals vorherrschenden historischen Schulen, jedoch zu konkret für die Philosophie. Tönnies kontrastierte die naturhafte, warmblütige, urtümliche Gemeinschaft zu der kalten, modernen, von Geldbeziehungen beherrschten Gesellschaft“ (Radkau 2005:655; Hervorh. im Original) und schuf – ähnlich wie Engels in seiner 1845 erschienenen Studie – eine neue Sichtweise auf gesellschaftliche Verhältnisse. 18 | In Anlehnung an Luhmann betont hier Nassehi den Charakter des Steigerungsverhältnisses in der Dynamik der funktionalen Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften und den daraus resultierenden Abhängigkeiten bzw. Unabhängigkeiten der Menschen in diesen Konstellationen. Dennoch scheint ein wichtiger Punkt zu sein, dass soziolo-gische Denkfiguren in ihren Anfängen Menschen im Verhältnis zu ihren materiellen und kulturellen Lebensbedingungen bewertet haben.

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formationsprozesse überführt. Die quantitative und qualitative Beschreibung von Individualisierung erhielt fortan einen Prozess-charakter.

3.2 I ndividuum und I ndividualität als Z ugang zum W eltgeschehen Die philosophischen Debatten um das „Individuum“ bzw. um seine „Individualität“ zeigen, dass das „Individuum“ als etwas Einzigartiges, Unteilbares ontologisch nur im Verhältnis zu einem großen Ganzen beschrieben werden konnte. Die Beschreibung des Verhältnisses zwischen dieser kleinsten unteilbaren „Substanz“ und einer großen Einheit wurde schon in der klassischen Philosophie als ein grundlegendes methodologisches Problem erkannt und vielfach erörtert. Grundsätzlich wurde „Individuum“ hier als ein Zustandsbegriff verstanden, der auf einer begrifflichen Ebene als Gattungsbegriff formuliert wurde. Dieses Verhältnis wurde seit der Spätscholastik nicht mehr als ein Widerspruch betrachtet, sondern „Individualität“, die Wesenheit eines Menschen, wurde begrifflich in eine Einheit mit der Schöpfung überführt. Diese Vorstellung wurde strikt mit Religion und Moral verbunden. So fände sie nur Erfüllung in der eigenen „Tugend und Perfektion, denn nur dies garantiere ihr die Dauer der Vereinigung mit ihrem Objekt“ (Luhmann 1998:177; Taylor 1996, 2009). Wie oben ausgeführt wurde, kam es mit der Einführung und Verwendung des Begriffs des „Subjekts“ im 18. Jahrhundert zu einem fundamentalen Wandel in der Bedeutung von „Individuum“ und „Individualität“. Fragen nach den Relationen zwischen „Individuum“ und „dem Ganzen“ traten in den Hintergrund zugunsten eines dynamischen Begriffs, der die Möglichkeiten des Erkennens und des Handelns von Menschen hinterfragte. Die Bezeichnung des „Subjekts“ wurde hierbei in einer großen Anzahl von Modellen und Konzepten interpretiert, grundsätzlich liegt jedoch allen Konzepten die Annahme zugrunde, dass das „Subjekt“ in all seinen Erscheinungsformen räumlich und zeitlich festgelegt sei 19 und fortan über

19 | Ein fundamentaler Aspekt im Übergang zur Moderne ist die Entwicklung eines neuen „objektiven“ Zeitbewusstseins. „Eine Konsequenz der Objektivierung ist die Entwicklung des Gedankens einer ‚homogenen und leeren‘ Zeit, der physikalischen Zeit, deren Ereignisse diachronisch nur durch wirkursächliche Beziehungen und synchronisch durch wechselseitige Bedingtheiten zusammenhängen. Das hat dazu geführt, dass sich eine unvermeidliche, aber zuweilen offenbar auch unbeantwortbare Frage stellt nach dem eigenen Leben und dieser Zeit“ (Taylor 1996:510, Hervorh. im Original). Aus diesem Verständnis ergibt sich nach Taylor auch, dass das eigene Leben „auch erzählt werden muss, als etwas angesehen [wird], das sich durch die Ereignisse entfaltet (ebd., S. 511).

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die Fähigkeit verfüge, sein Denken auf sich und sein konkretes Handeln zu beziehen. 20 Wichtig für diesen Übergang vom „Individuum“ zum „Subjekt“ erscheint in diesem Lichte die Zuschreibung, dass das „[…] Individuum seine Handlungen aufgrund mehr oder weniger freier Entscheidungen selbst bestimmen kann. Das Subjekt kann zu eigenen ebenso wie zu fremden Handlungen und Meinungen zustimmend oder ablehnend Stellung beziehen“ (Tugendhat 1979:30 ff.).

Diese philosophischen Debatten konstituierten das Konzept des „Subjekts“ auch als Handlungsbegriff. So betonte der „Subjektbegriff“ den Menschen sowohl als „[…] aktives, gestaltendes Moment innerhalb des weltlichen Zusammenhangs […], als auch als ein sich selbst gestaltendes Wesen (Kalupner 2003).

Die normative Ausrichtung dieser Denkfigur(en) für die heutige Verwen-dung des Begriffs des „Individuums“ bzw. des „Subjekts“ wurde von Geisen prägnant zusammengefasst: „[…] Damit wird der Mensch Mittel und Zweck, Subjekt und Objekt seines eigenen Tuns. Von ihm geht nunmehr die Kontrolle und Entwicklung seiner eigenen Subjektivität aus, die ihn nicht nur als aktives, gestaltendes Moment innerhalb von Geschichte beschreibbar macht, sondern auch die Basis für die Entstehung von Individualität bildet, also von Einzigartigkeit, die den einzelnen Menschen von allen anderen Menschen unterscheidbar macht. Während Begriff und Konzept von Individuum und Individualität all das benennen, was den einzelnen Menschen in besonderer Weise charakterisiert und zu einem einzigartigen Wesen macht, legt der Subjektbegriff den Schwerpunkt auf die konkreten Tätigkeiten“ (Geisen 2011:77). 21 20 | Luhmann formuliert dieses Zusammenfallen von „Individuum“ und „Subjekt“ folgendermaßen: „Der Deutsche Idealismus liefert dafür die philosophische Formulierung: Das Individuum wird als einmaliges, einzigartiges, am Ich bewusst werdendes, als Mensch realisiertes Weltverhältnis begriffen; und Welt (oder sozial gesehen: Menschheit) ist eben das, was im Individuum ‚selbsttätig‘ zur Darstellung gebracht wird. Seitdem ist es unmöglich (obwohl viele das nicht einsehen!), das Individuum als Teil eines Ganzen, als Teil der Gesellschaft aufzufassen“ (Luhmann 1998:2012). 21 | In seinem beeindruckenden „dialogue imaginaire“ zwischen Karl Marx und Hannah Arendt hat Thomas Geisen den Topos „Arbeit und Subjektwerdung“ in der Moderne eben bei diesen beiden Philosophen einer vergleichenden Analyse unterzogen. Für Geisen standen die theoretischen Ausgangsbedingungen von Marx und Arendt bisher unver-

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Dieses Zitat macht deutlich, welch vielfältige Denkfiguren historisch an den Begriff des „Individuums“ bzw. in der Folge an den Begriff des „Subjekts“ geknüpft wurden. Die Rekonstruktion der jüngeren Debatte um die Individualisierungsthese zeigt, wie überraschend lebendig diese Konnotationen in den heutigen Bewertungen noch sind. Die Frage, ob „Individuum“ und die daran anknüpfende „Individualität“ als Zustands- oder aber als Handlungsbeschreibungen zu betrachten sind, hängt stark von der analytischen Perspektive ab, aus der gesellschaftliche Prozesse beobachtet werden. Im Rahmen der Debatte kann darauf hingewiesen werden, dass analytische Trennungslinien zwischen Zustand (Struktur) und Handlung lediglich semantisch aufrechterhalten werden (vgl. Kap. 2), eine analytische Trennung jedoch kaum vorgenommen wird. Wie die vorausgehenden Überlegungen gezeigt haben, stellt sich die Frage, ob diese Trennung konsequent aufrechterhalten werden kann, da sich der gesellschaftliche Wandel als Zustand (Struktur) und die daraus entstehenden sozialen Phänomene (Handlung) innerhalb und außerhalb des Individuums vollziehen. So erzeugt Individualisierung als historisch neuer Vergesellschaftungsmodus einen steigenden Entscheidungsdruck auf die Individuen und in den Individuen. Sie sind zunehmend aufgefordert, einerseits biografische Entwürfe reflexiven Kontrollmechanismen zu unterziehen, andererseits die daraus folgenden Handlungen durchzuführen und individuell zu verantworten. Um diesen Anforderungen gerecht zu werden, müssen die Individuen in modernen Gesellschaften in der Lage sein, sich selbst als Subjekt und Objekt zu begreifen, das heißt, sie werden selbst zum Gegenstand ihrer eigenen Erwartungen und biografischen Umsetzungen.22 So erfordern die Phänomene der äußeren Welt eine konstante Vermittlungsleistung zwischen den inneren Wahrnehmungen und Ansprüchen und den sozialen Erwartungen, die von außen an söhnlich nebeneinander, da beide konzeptionell unterschiedliche Standpunkte eingenommen haben. In einem Vergleich arbeitet er sorgfältig heraus, dass Arendt von einer Zustandsbeschreibung und Marx von einer Handlungsbeschreibung des Konzepts von Arbeit ausgehen. Anschließend fragt der Autor nach den Ähnlichkeiten in diesen beiden Konzepten, die auch in der philosophischen Literatur bisher als konzeptionell unvereinbar bewertet wurden. Darüber hinaus wirft er in diesem Vergleich die Frage nach der Handlungsfähigkeit von Menschen in aktuellen, auf Arbeit zentrierten Gesellschaften auf und legt durch seine Arbeit nahe, diese Frage wieder neu zu bearbeiten (Geisen 2011). 22 | Philosophisch wird der „Vollzugscharakter der Selbstgegebenheit“ (Bösch 2011: 1230) als physisches und psychisches Erleben interpretiert, das unterschiedlich ausformuliert wird: einerseits über sprachliche Äußerungen, andererseits über eine Differenzstruktur der „Ich-Referenz“ (z. B. bei Castañeda), in der das Individuum sich selbst in verschiedenen Verhältnissen zu anderen setzen kann (ebd., S. 1230).

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die Menschen gestellt werden. Dies bedeutet, dass es immer zwei Ebenen der Beschreibung gibt: eine Innenperspektive und eine Außenperspektive (Nunner-Winkler 1985:467). In der Beschreibung der „höchsten Stufe der Individualitätserfahrung“ (ebd., S. 467) werden sogar beide Ebenen für das Individuum erfahr- und lernbar (vgl. Kap. 5). Die Notwendigkeit der individuellen Wahrnehmung als Zustands- und Handlungsbeschreibung wurde aus einer soziologischen Perspektive besonders von Niklas Luhmann in seinen wissenssoziologischen Arbeiten betont. Eingebunden in seine systemtheoretischen Überlegungen formuliert er diese Notwendigkeit als eine Dauerreflexion, die das Individuum auf sich, seine Individualität und seine Handlungen einnehmen muss. Wie und auf welcher konzeptionellen Basis die soziologische Theorie diese Zustands- und Handlungsbeschreibung betrachten kann, wurde von ihm wie folgt beschrieben: „[…] Selbstbeobachtungen und Selbstbeschreibungen können sich jetzt nicht mehr, oder jedenfalls nur äußerlich, an sozialen Positionen, Zugehörigkeiten, Inklusionen halten. […] Das heißt aber nicht zuletzt: sich selbst in einer Welt zu verstehen, die für ein Leben und Handeln in pluralen, nicht integrierten Kontexten geeignet ist. Ihm bleibt als Gegenüber, als Identitätskorrelat, dann nur noch die Welt“ (Luhmann 1998:215).

Wie im Folgenden noch zu zeigen sein wird, sieht Luhmann ein wesentli-ches Problem darin, dass durch diese neue qualitative Situation jegliche „Begriffsbasis“ entfalle, um die Vergleichbarkeit von Menschen in ihrer Individualität herzustellen. Um diese dennoch zu gewährleisten, trete das „[…] Verfahren der Konstitution von individualisierten Identitäten im transzendentalen Bewusstsein [ein], das unter bestimmten, ihm selbst zugänglichen Bedingungen allen Syntheseleistungen die Identität garantiert. Spricht man solches Bewusstsein jedem Menschen zu, so wird der Mensch eben damit zum Garant aller Identitäten, zum einzigen Individuum, das Identitäten identifizieren kann“ (ebd., S. 213).

Das Individuum, der Mensch, ist so zunehmend aufgefordert, sinnstiftende Denkstrukturen und Konzepte selbst zu generieren. Für Luhmann fallen vor diesem Hintergrund Individuum und Individualität auf einer begrifflichen Ebene zusammen. Betont wird in der Moderne, der Zusammenhang zwischen „innere[r] Unvergänglichkeit und deren Artikulationsbedarf“ (ebd., S. 214). So dreht sich, nach Luhmann, dieses Verhältnis um. Während sich früher, in nachmittelalterlichen Gesellschaften, einzelne Facetten des Weltgeschehens im Individuum zeigten, wird das Individuum in der Moderne zur Einheit, in der sich die Mannigfaltigkeit des Weltgeschehens realisiert. Das Individuum ist

3. Die theoretische Grundstruktur der Individualisierungsthese „[…] die Welt, gesehen von einem Punkte aus […]. Es kann sich selbst, das liegt in dieser Idee zwingend begründet, nur im Reich der Freiheit realisieren, sonst wäre es weder selbständig dargestellt noch einzigartig“ (ebd., S. 214).

Für Luhmann kommt deshalb der Begriff der „Freisetzung“ als grundlegende Aussage des Individualisierungstheorems nicht ohne eine konzeptionelle Vorstellung des Begriffspaares Individuum/Individualität aus. Ähnliche begriffliche Probleme zeigen sich in der Positionierung des Individuums in der Gesellschaft als Weltgeschehen, das den Referenzrahmen für die Ausbildung seiner Individualität, seiner Einzigartigkeit, bildet. Diese Ausführungen decken sich durchaus mit den Definitionen von Individualität wie sie beispielsweise bei Nunner-Winkler ausgeführt werden. Basierend auf der Unterscheidung von Identität und Individualität entwickelt sie jeweils eine Innen- und eine Außenperspektive, die zwar analytisch getrennt werden können, sich aber gleichzeitig – aus einer Innenperspektive – auf ein und dieselbe Person beziehen. So wird für das Verständnis von Individualität aus einer Außenperspektive die physisch-raumzeitliche Ebene bestimmt durch einmalige Körpermerkmale wie Daumenabdruck, Gesichtsschnitt, Körperstatur oder spezifische Raum-Zeitpunkte (Geburtsort, -zeit) (Nummer-Winkler 1985:467). Auf der „[…] sozialstrukturellen Ebene kann eine Person eindeutig identifiziert werden durch die Angabe ihres spezifischen Ortes in einem sozialen Beziehungssystem“ […]. „Aus der Innenperspektive ist der Ausgangspunkt die natürliche Erfahrung des Selbst als abgegrenztes und bestimmtes Zentrum der Verarbeitung des Erfahrungsstroms: Ich bin es, der empfindet, sieht, hört. Ebenso unzweifelhaft ist die nächste Stufe einer sozial definierten Individualität, die mit der Erkennung des eigenen Namens und dem Begreifen der eigenen Position in einem überschaubaren Feld sozialer Beziehungen eingeleitet wird: Kind von, Geschwister von, Freund von“ (ebd., S. 467, alle Hervorh. im Original).

Diese analytische Trennung vermag jedoch die Tatsache nicht zu verschleiern, dass aus einer Innenperspektive alle Beschreibungsebenen zusammenfallen und „die Gewissheit der eigenen Einzigartigkeit […] in der Erfahrung des Selbst als Subjekt“ (ebd., S. 470.) gründet. Diese Erkenntnis ist aus einer soziologischen Perspektive nicht trivial und stellt die Disziplin in der Intention, diese Erfahrungsebene zu erforschen, vor beachtliche methodologische Probleme (vgl. Kap. 4 und 6). Analytische Offenheit und Ungenauigkeiten des Individualisierungstheorems wurden in der soziologischen Theoriebildung vor allem von Luhmann angemahnt, der zunächst für eine konsequente analytische Trennung der drei Begriffsebenen „Individuum, Individualität und Individualismus“ (Luhmann

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1998) plädierte.23 Durch „Luhmanns differenzierungstheoretischen Zugang zur Individualisierungsproblematik“ (Schroer 2001a:225) kam es in der theoretischen Debatte der jüngeren Zeit allerdings zu einer Zuspitzung, denn Luhmann positionierte den Menschen als Individuum vor seinen systemtheoretischen Ansätzen gleich außerhalb der Gesellschaft (vgl. Kap. 3.3, Schroer 2001a). Das heißt, das Individuum wird vor seiner Lesart als Strukturprinzip im Rahmen von Kommunikationsprozessen betrachtet, was der subjektorientierten Ausrichtung der vorliegenden Arbeit diametral gegenüber steht. Denn gerade aus einer subjekttheoretischen Perspektive soll hier der innere Zusammenhang zwischen Zustand (Individualität) und Handlung (Entscheidungsstrukturen) empirisch ermittelt werden. Die von Nunner-Winkler ausgewiesenen psychologischen Prozesse werden hier in soziologische Perspektiven und Fragestellungen übersetzt, da diese die Schnittstelle zwischen der Außen- und der Innenperspektive der Beobachtung bilden. Dennoch wird die Kritik Luhmanns an der deutschsprachigen Individualisierungsdebatte sowie seine Vorschläge zu einer theoretischen Grundstruktur von Individualisierung zum Ausgangspunkt genommen, um die theoretische und empirische Konzeptionierung dieser Arbeit zu entwickeln.

3.3 I ndividuum , I ndividualität und I ndividualismus bei N ikl as L uhmann Für das begriffliche Verständnis des Individualisierungstheorems sind die Arbeiten von Luhmann von besonderer Bedeutung, da er die Beschreibung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft auf seine logische Grundproblematik zurückgeführt und Wege eröffnet hat, die zu einer Klärung sowie einer theoretischen Weiterentwicklung derselben führen können. Diese Arbeiten sind eingebettet in sein Gesamtwerk – der Konstituierung einer Gesellschaftstheorie der Soziologie (Luhmann 1997, insbes. Bd.1, Kap. 1). Für Luhmann wurde die Stellung des Individuums für die Konstituierung der soziologischen Disziplin schon seit ihren Anfängen zum „[…] Zentralproblem – gewissermaßen zum Bezugsproblem, von dem aus die Gesellschaft insgesamt skeptisch beurteilt und nicht mehr ohne weiteres als fortschrittlich gewertet werden kann“ (ebd., S. 19).

23 | “Individuum, Individualität, Individualisierung“ ist der Titel eines Kapitels in seinen wissenssoziologischen Studien, der nahezu einen ‚Klassikerstatus‘ innehat. So wird der Titel regelmäßig - auch in veränderter Form - verwendet wie beispielsweise bei H.-P. Müller 2012: „Rationalität, Rationalisierung, Rationalismus“ u. a.

3. Die theoretische Grundstruktur der Individualisierungsthese

Die Abgrenzung zwischen Individuum und Gesellschaft übernimmt, nach Luhmann, fortan eine „theorietragende Funktion“ für die Disziplin, wobei allerdings die beiden zentralen Probleme nicht einmal als methodologische Probleme anerkannt seien. Diese beinhalten für ihn zum einen die „historische Differenz“ des Verhältnisses Individuum und Gesellschaft, zum anderen die Frage nach der „Einheit der Differenz von Individuum und Gesellschaft“. In der Folge hätten sich in der Disziplin Begriffe wie „Sozialisation“ und „Rolle“ von Individuen durchgesetzt, die lediglich den „Bedarf einer theoretischen Vermittlung“ (ebd., S. 19) widerspiegelten. Diese seien jedoch längst nicht ausreichend, um eine Gesamtbeschreibung von Gesellschaften und den daraus entstehenden Individualisierungsprozessen vorzunehmen.24 Im Folgenden werden diejenigen Aspekte herausgearbeitet, die sich theoretisch auf eben diese Grundprobleme im Rahmen des Indvidualisierungstheorems beziehen. Vor allem die Klärung der Schnittstelle zwischen Individuum und Gesellschaft wird für den weiteren Verlauf der Arbeit als relevant erachtet, da hier im Anschluss konzeptionelle Annahmen im Hinblick auf die empirische Ermittlung von Individualisierungsprozessen formuliert werden.

3.3.1 Luhmanns Kritik am Individualisierungstheorem In seinem vielbeachteten Kapitel zur soziologischen Semantik von „Individuum, Individualität und Individualismus“ (Luhmann 1998) beklagt Luhmann die Vernachlässigung der entstehungsgeschichtlichen Verschränkung der Begriffe des „Individuums“ und des „Subjekts“ im Rahmen der soziologischen Theorie und unterzieht ihre „nachmetaphysische“ Verwendung einer radikalen Kritik.25 So war nach Luhmann die Beschreibung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft für die Anfänge der Soziologie zwar konstituierend und das Individuum wurde „schon als Erhebungseinheit der empirischen Sozialforschung“ von der Disziplin „nie aus den Augen verloren“ (ebd., S. 149). Damit waren allerdings, nach seiner Einschätzung, die Anstrengungen zu einer weitreichenden Erklärung des Begriffs des Individuums schon 24 | In seiner Einschätzung zur theoretischen Gesamtentwicklung der Disziplin schreibt Luhmann relativ unverblümt: „Seit den Klassikern, seit etwa 100 Jahren also, hat die Soziologie in der Gesellschaftstheorie keine nennenswerten Fortschritte gemacht. In der Nachfolge des Ideologiestreites des 19. Jahrhunderts, den man eigentlich vermeiden wollte, wurde die Paradoxie der Kommunikation über Gesellschaft in der Gesellschaft in Theoriekontroversen aufgelöst mit Formeln wie strukturalistisch/prozessualistisch, Herrschaft/Konflikt, affirmativ/kritisch oder gar konservativ/progressiv“ (Luhmann 1998:20). 25 | Die Grundgedanken dieses Kapitels wurden bereits in früheren Publikationen formuliert und intensiv rezipiert (vgl. Luhmann 1984,1991,1994a,1997).

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erschöpft. Besonders problematisch erscheint Luhmann, dass Individuum und Gesellschaft von allen Gründervätern als begrifflicher Gegensatz konstituiert wurde, der auch in der Folge theoretisch kaum hinterfragt wurde. Diese Gegenüberstellung sei für ihn zwar historisch nachvollziehbar, da sie im Lichte der zeitgeschichtlichen Ereignisse stand – in „einer Zeit ideologischer und politischer Kontroversen um Individualismus (Liberalismus) und Kollektivismus (Sozialismus)“ (ebd., S. 149), in der jede „Option für die eine oder andere Seite […] als sinnlos oder naiv dargestellt werden“ musste (ebd., S. 149). Von diesen starken inhaltlichen Besetzungen der Begriffe habe sich die Debatte in der Folge jedoch nicht mehr lösen können, und somit sei das soziologische Verständnis von Individuum, Individualität und Individualismus noch stark von ihnen geprägt.26 Die einzige Möglichkeit der soziologischen Debatte, das Verhältnis Individuum und Gesellschaft „anspruchsvoll“ (ebd., S. 150) zu gestalten, sah Luhmann darin, dieses in ein „Konditionierungs- oder Steigerungsverhältnis zu übersetzen“ (ebd., S. 150; Luhmann 1994a; vgl. Schroer 2000, 2001). So beinhalten, nach Luhmann, diese Narrative zur Beschreibung moderner Gesellschaften eine Reihe von Steigerungsverhältnissen, die in der Folge problematisch geworden sind. Beispielhaft im Rahmen der Beobachtung von Individualisierungsprozessen werden regelmäßig die Zunahme der Selbstbestimmung sowie die Zunahme freiheitlicher Räume in modernen Biographien genannt. Die theoretische Konstatierung dieser Steigerungsverhältnisse ist jedoch, nach Luhmann, grundsätzlich problematisch und führt lediglich zu einer ideologisch-normativen Aufladung der Debatten um Individualisierung und um Modernisierung. Tatsächlich ist die Annahme von Steigerungsverhältnissen ein wichtiger Aspekt in aktuellen Betrachtungen von Individualisierungsprozessen geworden. Diese Sichtweise wurde jedoch nicht nur von Luhmann kritisiert, sondern stieß auch in der Ungleichheits- oder Lebenslauffforschung auf heftige Kritik. Zunächst wurde hier jedoch lediglich gefordert, Individualisierungsprozesse von normativen Erwartungen zu entkoppeln (Wohlrab-Sahr 1993; Schroer 2001a).27 26 | Markus Schroer bringt diesen Konflikt wunderbar auf den Punkt: „In dieser Konstellation sieht Luhmann die Ausgangslage der Soziologie, als sie sich als Fach zu formieren beginnt: zwei widerstreitende Lager, die entweder für die Rechte des Individuums oder für die Rechte der Gesellschaft optierten […]. Aber erst Durkheim bricht nach Luhmann aus dem unfruchtbaren Dualismus von hier Individualismus und dort Kollektivismus, indem er das Bedingungsverhältnis von Individuum und Gesellschaft umkehrt: nicht die Individuen konstituieren die Gesellschaft, sondern die Gesellschaft konstituiert die Individuen“ (Schroer 2001a:259). 27 | Schroer arbeitet hier den wichtigen Aspekt heraus, warum dieses Steigerungsverhältnis für die soziologische Theorie so wichtig war: „Damit besteht zwischen Indivi-

3. Die theoretische Grundstruktur der Individualisierungsthese

Mit der Zurückweisung der Steigerungsverhältnisse, die implizit und explizit Bewertungen über Individualisierungsprozesse mit sich führen, verlegt Luhmann seinen Ausgangspunkt der Überlegungen zunächst auf das Konzept der funktionalen Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften. „[…] Zunehmende Differenzierung wird damit zur Zentralaussage der soziologischen Theorie, zu ihrer Charakterisierung der modernen Gesellschaft; und daraus erklärt sich, dass diese Gesellschaft mehr Individualität verspricht und erzeugt als jede Gesellschaft vor ihr“ (Luhmann 1998:151, Hervorh. B.-J. Krings; Luhmann 1991, 1994a, 1994b).

So ist, nach Luhmann, die zunehmende Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Bereiche zunächst der wichtigste Anhaltspunkt, um die Neuartigkeit der Erwartungen darzustellen, die qualitativ und quantitativ an das Individuum in der Moderne gestellt werden. Dies sei jedoch nicht mit der Zunahme von Individualität gleichzusetzen, was häufig in den soziologischen Debatten geschehen würde (Luhmann 2008b). Diese Vorstellung sei eine Paradoxie, denn höhere gesellschaftliche Komplexität könne nicht per se mit der Zunahme von Individualität aufseiten der Individuen verbunden werden. Darüber hinaus könne es auch auf der Ebene der Individualität keine Steigerung geben. So sei die Betonung der Einzigartigkeit von Individuen in einer paradoxen Sichtweise angelegt. Denn diese Steigerungssemantik impliziere kurz gesagt: je moderner die Gesellschaften, desto individualisierter bzw. freier die Individuen.28 duum und Gesellschaft nicht länger ein Summenkonstanzverhältnis , indem der Individualismus stets davon ausging, dass die Errichtung der sozialen Ordnung nur durch die Beschneidung der sozialen Ordnung zu erreichen ist, während der Kollektivismus davor warnte, dass die Gewährung individueller Freiheiten und Rechte notwendig zu Lasten der politischen Ordnung geht“ (Schroer 2001a:259, Hervorh. im Original). Durch dieses von Georg Simmel eingeführte Verhältnis konnten Gewinne auf beiden Seiten nachvollzogen werden (Schroer 2001a, Simmel 1984). 28 | Wie im zweiten Kapitel schon dargestellt, wurde in der soziologischen Debatte auf der Basis empirischer Beobachtungen in den 1970er und 1980er Jahren ein Steigerungsverhältnis im Hinblick auf die materiellen und ideellen Lebensbedingungen der Nachkriegsgenerationen beobachtet und durchaus auch als solches diskutiert (Zunahme von Handlungsoptionen im Hinblick auf bestimmte soziale Schichten). Obgleich diese normativ ebenfalls in den wirtschaftlichen Wachstumsprinzipien moderner Gesellschaften angelegt sind, bezieht sich Luhmann hier in einem eher übergeordneten Sinne auf normative Freiheitsversprechen, die moderne Gesellschaften konstituieren. „Erst die Durchsetzung der Menschenrechte macht deutlich, dass Freiheit auch zu bedeuten hat: anders sein zu können als andere, und sei es auf eine skurrile, unvernünftige und später sogar unmoralische Weise. Gleichwohl bleibt das Individuum Parasit der Differenz von Allgemeinem und Besonderem“ (Luhmann 1998:207 ff.).

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Das Individuum und seine Individualität seien in jeder historischen Phase gesellschaftlicher Entwicklung auf sich und ihre Seinsformen verwiesen. Steigerungsformen könnten lediglich aus einer übergeordneten Perspektive des historischen Entwicklungsverlaufs beobachtet werden. Nach Luhmann ist diese Entwicklung durch eine zweite Denkfigur flankiert, die sich hartnäckig in den Debatten halte, nämlich durch den „Argumentationszusammenhang Kultur und Sozialisation“ (ebd., S. 152). Dieser werde sehr stark durch die Perspektive auf das oben genannte Steigerungsverhältnis geprägt. So müssten die Individuen in modernen Gesellschaften lernen, mit der steigenden Komplexität von sozialen Rollen umzugehen. Die Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Sphären gehe vor der Perspektive der Ausdifferenzierung von sozialen Rollen einher, in denen die Individuen zunehmend aufgefordert seien, in diesen Rollen unterschiedliche Handlungsstrukturen einzunehmen. Alle kulturellen Sphären der Gesellschaft wie beispielsweise Wirtschaft und Politik würden in dieses „Theorieprogramm“ einbezogen. Die Zunahme der Rollen und deren Anforderungen sei das entscheidende Merkmal in der biografischen Ausgestaltung der Individuen. Diese Vielzahl an Rollenerwartungen stellt, nach Luhmann, die eigentliche Herausforderung für die Individuen und für soziale Institutionen dar. Denn die Einhaltung sozialer Ordnung sei vor diesen Entwicklungen nur durch spezifische Erwartungen an die Sozialisation von Individuen möglich. Diesen Erwartungen könnten die Individuen, nach Luhmann, nur durch das „Problem der Selbstbeobachtung bzw. Selbstbeschreibung“ (ebd., S. 152) begegnen. Als Problem wird es, bei ihm, allerdings deswegen formuliert, weil die Fähigkeit der Selbstbeobachtung sowie die Fähigkeit, die eigene Biografie reflexiv in einem Narrativ zu verorten, eine notwendige Voraussetzung darstellt, um mit diesen veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen umzugehen. Diese beiden Aspekte – Steigerungsverhältnisse im Hinblick auf soziale Rollen zwischen dem Individuum und der Gesellschaft sowie die Probleme der Selbstbeobachtung und -beschreibung – haben sich für Luhmann schon sehr früh als die konstituierenden Denkfiguren des Individualisierungstheorem im Rahmen der soziologischen Disziplin herauskristallisiert. Diesen beiden Aspekten seien jedoch in den Debatten wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden. Aus diesen Gründen seien sie sowohl in ihrer theoretischen Unbestimmtheit als auch in ihrer mangelnden theoretischen Durchdringung weitgehend offen geblieben. Darüber hinaus seien die Begriffskategorien des „Individuums“ und der „Individualität“ auf diese problematischen und theoretisch ungeklärten Denkfiguren reduziert worden“ (ebd., S. 152). Diese elementare Kritik kommt in dem folgenden Zitat deutlich zum Ausdruck:

3. Die theoretische Grundstruktur der Individualisierungsthese „[…] Das Individuum, das sozialisiert wird, lernt, sich selbst von sozialen Anforderungen zu unterscheiden. Es doppelt sich in I and me, in personal and social identity. Es findet sich genötigt, mit sich selbst zu kommunizieren und jene Ganzheit zu werden, die es im fragmentarischen, sprunghaften Verlauf seines eigenen Vorstellungslebens zunächst gar nicht ist. Simmel und Mead steuern hier die traditionsbildenden Formulierungen bei – und blockieren damit zugleich Rückgriffe auf transzendentaltheoretisch oder psychologische Bewusstseinsanalysen“ (ebd., S. 152). 29

In diesen Ausführungen schwingt – neben der Kritik an der „Doppelung“ der individuellen Identität – das Grundproblem der soziologischen Methode selbst mit, nämlich das Problem der „fraglosen Bindung an das Subjekt-Objekt-Schema“, in das die Forschenden als handelnde Personen selbst involviert sind. Einer der soziologischen Gründerväter, Georg Simmel (1858-1918), hatte nach Luhmann dieses methodologische Problem durchaus erkannt. Allerdings habe er das Phänomen Individualisierung als soziales Phänomen betrachtet und daher versucht, das Problem mit einer „seltsamen Verbindung von Trans-zendentalismus und Sozialpsychologie“ (Luhmann 1997:18; Luhmann 1998) zu lösen.30 Dies sei ihm allerdings nicht gelungen, so Luhmann, da die theoretische Auflösung des Subjekt-Objektbezugs erst im historischen Rückblick möglich geworden sei. Denn erst die historische Differenz habe es ermöglicht, diese Zirkel aufzulösen (Luhmann 1998).31 29 | Luhmann geht an anderer Stelle der historischen Entwicklung des „Subjekt“Begriffs nach und betont, dass moderne Gesellschaften darauf angelegt sind, dass „Individuen als Individuen beobachtet werden können – durch sich selbst oder durch andere“ (Luhmann 1997:1027). Ähnlich wie in der klassischen Philosophie argumentiert er, dass „Soziales vom Subjekt aus nicht zu begreifen“ sei, da die Definition von „Subjekt“‘ genau darauf beruhe, dass „sie die Frage nach der Gesellschaft als einer Sozialordnung effektiv ausschloss oder doch umging“ (ebd., S. 1030). Konsequenterweise habe sich die Soziologie vom „Subjekt“-Begriff weitgehend gelöst, obgleich der Begriff noch immer als Alternativbegriff für „Individuum, Mensch, Person“ im Sinne des Menschen als „erkennendes, denkendes und handelndes Individuum“ verwendet würde (ebd., S. 1030). Als eine paradoxe Entwicklung betrachtet Luhmann die Versuche seit den 1980er Jahren, das „Subjekt“ für die Disziplin wieder zu „entdecken“, sei es in handlungstheoretischen Ansätzen oder in Ansätzen von Verinnerlichungsstrategien der Welt im Individuum (ebd., S. 1031 ff.; Schroer 2001a; vgl. Kap. 2). 30 | Vgl. Ausführungen zum theoretischen Konzept des Individuums bei Georg Simmel, Flavia Kippele (1998:62-82) sowie Schroer (2001a:284-327). 31 | Trotz dieser Kritik ist in Luhmanns systemtheoretisch ausgerichteter Perspektive die Subjekt-Objekt-Differenz wirksam, insofern als er zwischen psychischen und physischen Systemen unterscheidet und damit zwischen einer Innen- und einer Außenwelt

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Eine Konsequenz dieser Betrachtungen ist, nach Luhmann, dass sich diese Differenz ebenfalls im Innern des Individuums spiegelt. Dies sei von größter Relevanz für die Beschreibung von Individualität, da die nach innen verlegte Differenz des Individuums in eine Vielzahl von Identitäten zerspringt. So seien die Individuen aufgefordert, diese unterschiedlichen Rollenanforderungen in ihrem Innern wahrzunehmen, auszubilden und widerstreitende Konflikte zu bearbeiten. Um diese Balance innerhalb der unterschiedlichen Rollenanforderungen herzustellen, sei die Ausbildung einer Differenz zu einem „ursprünglichen“ Ich von großer Bedeutsamkeit. Das heißt für Luhmann, dass das Ich, das äußeren Erwartungen genügt, einerseits mit den unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen in Kommunikation stehe. Andererseits müsse jedoch das Individuum auch ein Ich ausbilden, das Einheit in der Differenz erzeuge. Für die Soziologie ergebe sich im Anschluss an diese Beobachtung die wichtige Frage, wie diese Einheit dargestellt werden könne (Luhmann 1998, 2008b). Damit rührt Luhmann an das „alte“ logische Problem des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft und entwickelt, angelehnt an die Arbeiten Talcott Parsons, eine eigene Sicht auf das Verhältnis Individuum und Gesellschaft.

3.3.2 D as Verhältnis Individuum und Gesellschaft als logisches Problem Wie Schroer und andere herausgearbeitet haben, ist Luhmann in seinen Ausführungen zum Verhältnis von Individuum und Gesellschaft weit davon entfernt, selbst Rückgriffe auf die Transzendentalphilosophie oder auf die Psychoanalyse vorzunehmen. Im Gegenteil fordert er sehr dezidiert das „[…] Ende des altehrwürdigen Subjekts, das vom Geist des Humanismus und der Aufklärung zur Grundlage und zum Zentrum aller Dinge erhöht wurde“ (Schroer 2001a:231; Nassehi 2000; Kneer 1996).

Dennoch fordert er in diesem Kontext die theoretische Anerkennung von Individualität als eine notwendige Reflexion auf das Handeln der Individuen, denn des Individuums. „Der Mensch mag für sich selbst oder für Beobachter als Einheit erscheinen, aber er ist kein System. Erst recht kann aus einer Mehrheit von Menschen kein System gebildet werden. Bei solchen Annahmen würde übersehen, dass der Mensch das, was in ihm an physischen, chemischen, lebenden Prozessen abläuft, nicht einmal selbst beobachten kann. Seinem psychischen System ist sein Leben unzugänglich, es muss jucken, schmerzen oder sonst wie auf sich aufmerksam machen, um eine andere Ebene der Systembildung, das Bewusstsein des psychischen Systems, zu Operationen zu reizen“ (Luhmann 1984:555).

3. Die theoretische Grundstruktur der Individualisierungsthese

diese stelle den Individuen „Bewältigungsressourcen“ (ebd., S. 235) zur Verfügung. Die Ausbildung dieser Ressourcen sei in funktional ausdifferenzierten Gesellschaften mit ihrer „Indifferenz der Systeme“ (ebd., S. 235) als eine der prinzipiellen Herausforderungen zu betrachten, mit denen das Individuum konfrontiert werde. So zeige sich die Komplexität bzw. die „neue Unübersichtlichkeiten“ (Habermas 1985) moderner Gesellschaften gerade in dieser Indifferenz und könne durchaus Verunsicherungen und Konflikte bei den Individuen auslösen (Luhmann 1994a, 1994b). Allerdings würden diese Verunsicherungen nicht dadurch gelöst, dass die soziale Komplexität in einer steigenden Anzahl von Erwartungen an das Individuum dargestellt würde. Und umgekehrt könnten die Individuen dieser Indifferenz nicht mit einer ansteigenden Individualität begegnen. Dennoch ist für ihn die Komplexität der „Beschreibung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft“ (Luhmann 1997:1035) theoretisch anspruchsvoll, da ihre semantische Besetzung noch immer von subjektphilosophischen Implikationen zehre.32 Die Beschreibung dieses Verhältnisses knüpft bei ihm jedoch keineswegs an die Figur eines autonomen Subjekts oder an die Vorstellung einer Letztbegründung im Subjekt an (vgl. 3.1). Es geht ihm vielmehr darum, die Einbindung des Subjekts als Teilnehmer von kommunikativen Prozessen zu identifizieren und darzustellen.33 Auf diese Art und Weise 32 | Wie von Schroer kreativ formuliert, hat sich Luhmann mit seinem plakativen Bild der „Vertreibung aus dem Paradies“, mit dem er den Menschen aus der „Mitte der Gesellschaft in das Abseits der Umwelt [rückt, Einfüg. B.-J. Krings] den Vorwurf des ‚methodischen Antihumanismus‘ (Habermas 1985:436) eingehandelt. Und in der Tat: Entgegen einer bis zu Aristoteles reichenden Tradition, in der der Mensch immer wieder zum Ausgangs- und Mittelpunkt erklärt wurde, weil er durch seine Handlungen soziale Ordnung schafft und aufrechterhält, stößt Luhmann König Mensch vom Thron, indem er ihm diesen exklusiven Stellenwert streitig macht und damit dem anthropozentrischen Modell die Gefolgschaft versagt. Für den Menschen ist kein Platz mehr vorgesehen, weder auf der Seite der sozialen noch auf der Seite der psychischen Systeme. Er ist im radikalen Sinn utopisch, ortlos geworden“ (Schroer 2001a:232). 33 | Trotz des Hinweises auf die Notwendigkeit des „kommunikatives Handelns“ als Darstellungsmerkmal von Individuen in modernen Gesellschaften grenzt sich Luhmann von den Arbeiten Jürgen Habermas strikt ab. So breche auch Habermas mit der Vorstellung des autonomen Subjekts. Allerdings würde dieser bei Habermas „durch einen normativ eingeführten Begriff der Vernunft ersetzt. Das Individuum erscheint als Subjekt, sofern es den Anspruch begründet geltend machen kann, eigenes Verhalten (inklusive die eigene Anerkennung des Verhaltens anderer) an vernünftigen Gründen zu orientieren. Die Unterscheidung von transzendental/empirisch wird durch die Unterscheidung dieses Vernunftanspruchs von den real vorfindlichen gesellschaftlichen Gegebenheiten ersetzt“ (Luhmann 1997:1031).

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könnten Krisensymptome im Verhältnis „psychischer und sozialer Systeme“ durch die alleinige Beschreibung des „Menschen als Subjekt“ nicht mehr erfasst werden. „[…] Themen wie Inkommunikabilität des Individuellen, Sinn- und Identitätssuche, Indifferenz gegenüber jedem Schema von Konformität und Abweichung, das die Gesellschaft zu oktroyieren sucht, sind [allerdings] seit langem im Gespräch“ (ebd., S. 1035).

Im Rahmen einer neueren allgemeinen Systemlehre, die er als Sozialtheorie verabschiedete, löste sich Luhmann dezidiert von Modellen eines „Teil-GanzesSchemas“ und führte eine „System-Umwelt-Differenz“ ein, die Ausgangsbasis für eine umfassende Theorie sozialer Systeme wurde (Ziemann 2009:469 ff.; Kneer, Nassehi 1993). Mit der Beschreibung des Individuums als voneinander getrennte psychische und physische Systeme, die „autopoetisch“, agieren, hat Luhmann schon früh – in den 1980er Jahren – leidenschaftliche Debatten zum systemtheoretischen Konzept des Individuums in der soziologischen Debatte ausgelöst.34 Vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung des Übergangs von einer stratifikatorischen zu einer funktionalen Ausdifferenzierung von modernen Gesellschaften entwickelte Luhmann die These, dass die Menschen nicht mehr in einer einzigen gesellschaftlichen Ordnung eingebunden sind, sondern sich in unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilsystemen integrieren müssen. So könnten sich Personen zwar in ausdifferenzierten Gesellschaften innerhalb deren unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilbereichen wie Wirtschaft, Recht, Politik oder dem Bildungsbereich professionell entwickeln, sie 34 | Im Hinblick auf das Individualisierungstheorem sind diese Debatten anschaulich von Schroer aufgearbeitet und dargestellt worden. In seinem unnachahmlichen Stil beschreibt Schroer zunächst, wie Luhmann in seinen theoretischen Entwürfen mit dem traditionellen Bild des Menschen, der als lebendiges Wesen in der Gesellschaft angesiedelt ist, radikal bricht und damit in der soziologischen Debatte einen Sturm der Empörung lostritt. So positioniert Luhmann den Menschen gleichsam außerhalb der Gesellschaft und dort wird er „nicht mehr als unteilbares Ganzes angesehen, sondern als Individuum vorgestellt, das einerseits als psychisches System und andererseits als Selbstbeschreibungsfolie fungiert […]“ (Schroer 2001a:226 ff., Hervorh. B.-J. Krings). Gleichzeitig verteidigt Schroer Luhmann gegen seine vielfachen Kritiker, indem er die Kommunikation zwischen psychischem und sozialem System, die bei Luhmann als „strukturelle Kopplung“ dargestellt wird, ihrer Zuspitzung beraubt. „Übersehen wird [von den Kritikern] in dieser Lesart, dass soziale Systeme zwar autonom, aber nicht autark sind, dass psychische Systeme und soziale Systeme zwar entkoppelt, aber nicht – gleichsam wie Quecksilberperlen – völlig verschlossen sind“ (ebd., S. 229; Kneer, Nassehi 1993; Ziemann 2009).

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könnten jedoch nicht in diesen Funktionssystemen leben. Es könne ihnen nicht mehr gelingen, sich in einem dieser gesellschaftlichen Teilsysteme zu beheimaten, um verlässliche Lebensorientierungen daraus zu gewinnen. Die moderne Gesellschaft biete, so Luhmann, dem Individuum keinen Ort (mehr) an, „wo er als ‚gesellschaftliches‘ Wesen existieren kann“ (Luhmann 1998:158; Luhmann 1997). Das Individuum müsse als „sozial ortlos vorausgesetzt werden“ (Luhmann 1995:16; Luhmann 1997, 1998). Selbst die Institution Familie als letzte einheitsstiftende Institution verliere ihre zentrale Rolle bei der Regelung und Gewährleistung der sozialen Integration, da die Individuen nicht mehr über Familienhaushalte verbindlich in gesellschaftliche Prozesse integriert seien (Luhmann 1994b, 1997).35 Diese „Exklusionsindividualität“ (Nassehi 2000) stelle spezifische Herausforderungen an das Individuum und zwinge es, sich über eine „Semantik der Individualität“ (Luhmann 1998) wieder zu integrieren. Diese ist nach Luhmann mit einer individuellen Strategie der Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung zu belegen, die sich darin zeige, „[…] sich in mehrere Selbst, mehrere Identitäten, mehrere Persönlichkeiten zu zerlegen, um der Mehrheit sozialer Umwelten und den Unterschiedlichkeiten der Anforderungen gerecht werden zu können. Was ihm für sich selbst bleibt, ist das Problem seiner Identität“ (Luhmann 1998:223). 36

Qualitativ neue Probleme im Hinblick auf das Individuum und die Ausbildung seiner Individualität stellen sich für Luhmann jedoch nicht in der Zerlegung seiner Individualität in mehrere Identitäten oder Persönlichkeitsprofile, die erforderlich ist, um den Anforderungen der Vielzahl sozialer Umwelten gerecht zu werden. Diese Problematik erscheint ihm in den wissenschaftlichen Debatten eher überbetont und sei „später in ein ‚wissenschaftliches‘ (psychiatrisches, sozialpsychologisches, soziologisches) Normalrezept“ (ebd., S. 223) 35 | Diese Ortlosigkeit hat für die begriffliche Bestimmung des Individuums eine große Relevanz. „Für den Begriff des Individuums heißt dies unter anderem: dass die alte Spezifikationsrichtung: Lebewesen > Mensch > Angehöriger einer Schicht > Bewohner einer Stadt bzw. eines Landes > Angehöriger eines Berufs > Angehöriger einer Familie > Individuum, ihren Sinn verliert und gerade die Individualität, früher das Konkreteste, jetzt das Allgemeinste am Menschen wird“ (Luhmann 1995:16/ Fußnote 4, Hervorh. im Original). 36 | Luhmann nennt in diesem Zusammenhang zwei Strategien, um diesen Herausforderungen gerecht zu werden: (1) aus der Perspektive des Individuums im Versuch, Individualität im Copierverfahren zu gewinnen, das heißt, sich permanent mit anderen zu vergleichen; (2) aus der Theorieentwicklung, dem Individuum eine Mehrheit von Selbsts zu unterstellen und damit ein Identitätsproblem zu generieren (Luhmann 1998:220).

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überführt worden. Hier würden in großer Regelmäßigkeit innerhalb unterschiedlicher Disziplinen die Zerrissenheit und Selbstentfremdung des Individuums im Rahmen der Dynamik moderner Gesellschaften herausgestellt. „[…] Das Individuum wird durch Teilbarkeit definiert. Es benötigt ein musikalisches Selbst für die Oper, ein strebsames Selbst für den Beruf, ein geduldiges Selbst für die Familie“ (ebd., S. 223).

Diese Vorstellung stehe in einer langen historischen Tradition, die für das Individuum Probleme aufwerfe. Der historischen Beobachtung der Ausdifferenzierung von Rollen und deren unterschiedlichen Erwartungen an das Individuum schließt sich Luhmann zwar an, er geht jedoch mit seiner Problemdiagnose einen Schritt weiter. So liegt die neue Qualität des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft (hier: psychisches und soziales System) für Luhmann eher in der „Distanz zu religiös-dogmatischen Vorgaben“ (ebd. S. 224), die sich in der Moderne durchgesetzt habe, und somit für das Individuum und seine Individualität in der „schwierigen Operation der Wahrheitsfindung“ (ebd., S. 224) resultieren. Die soziale Umgebung biete dem Individuum kaum noch relevante sinnstiftende Referenzen an. Diese müssen vom Individuum in Selbstreflexion selbst hergestellt werden. „[…] Die Gesellschaft zeichnet nicht mehr die Lösungsrichtung vor, sondern nur noch das Problem; sie tritt dem Menschen nicht mehr als Anspruch an moralische Lebensführung gegenüber, sondern nur als Komplexität, zu der man sich auf individuelle Weise kontingent und selektiv zu verhalten hat“ (ebd., S. 225). 37

Erfahrungen von komplexen Gesellschaften weisen so dem Individuum, nach Luhmann, eine Vielzahl an biografischen Verläufen und Lebensmöglichkei37 | Wie treffsicher diese Diagnose für moderne Gesellschaften ist, lässt sich am Beispiel vielfältiger technischer Entwicklungen und ihrer moralischen und ethischen Bewertungen feststellen. So sind beispielsweise im Bereich der Fortpflanzungsmedizin an die Stelle eines einzigen moralisch verbindlichen Konzepts der „Würde des Lebens“ zahlreiche wissenschaftlich differenzierte Konzepte zur „Würde des Lebens“ getreten. Der Bereich der In-Vitro-Fertilisation, einer Technologie, die inzwischen weite Verbreitung gefunden hat, werden Entscheidungen und ihre Konsequenzen im Hinblick auf moralische Fragen auf die Individuen verlagert. Umgekehrt fördern diese Entwicklungen allerdings auch die Durchsetzung individueller Interessen entgegen gültiger moralischer Normen. Ein prägnantes Beispiel ist ein taubstummes, homosexuelles Paar in den USA, das entschieden hat, sich den Samen von einem taubstummen Samenspender einsetzen zu lassen, um sich gegen gesellschaftliche Vorstellungen von Differenz (Behinderung) zu wehren (vgl. kritisch Sandel 2007).

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ten auf: Berufswahl, Partnerwahl, Lebensorte und vieles mehr scheinen der eigenen Disposition freigestellt. Jedem Individuum wird eine andere Biografie zugeschrieben, die eine „[…] andere Verteilung von Zufällen, Chancen und Verdiensten zuteilt. Ebenso sicher ist, dass jetzt eine andere Profession am Werk ist, um das Individuum zu betreuen: nicht mehr Beichtväter oder theologische Lebensberater, sondern zunächst die „education sentimentale“ des Romans und sodann Psychiater und Therapeuten“ (ebd., S. 225).

Während in stratifikatorischen Gesellschaftsformationen die Leitdifferenz „Heil/Verdammnis“ die orientierende Norm für soziales Handeln gewesen sei, würden sich nach Ansicht Luhmanns in ausdifferenzierten Gesellschaften die Differenz „bewusste/unbewusste“ und „personale/soziale Identität“ für soziales Handeln durchzusetzen (ebd., S. 225 ff.). Die individuelle Wahrnehmung und Verarbeitung der vielfältigen äußeren Impulse, Erwartungen und Ereignisse zu einem Gesamtgeschehen findet bei Luhmann im Individuum statt. Wie oben schon dargestellt, fallen hier Individuum und Individualität zusammen. Selbst die erhöhte Anforderung an die Individuen in modernen Gesellschaften verschiedene Rollenidentitäten auszubilden und diese in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen (hier: Teilsystemen) auszufüllen, können nach Luhmann das Individuum zwar vor Probleme stellen, die Einheit des Individuums könne allerdings dadurch nicht gesprengt werden. „[…] In diesem Sinne lassen sich auch psychische Systeme [also Individuen, Einfüg. B.J. Krings] als autopoietische Systeme charakterisieren, das heißt als Systeme, die die Elemente, aus denen sie bestehen, durch die Elemente, aus denen sie nicht bestehen, reproduzieren. Die Individualität ist nichts anderes als die Autopoiesis selbst, nämlich die zirkuläre Geschlossenheit der Autoregeneration des Systems“ (ebd., S. 228).

Das Individuum und seine Individualität erscheinen hier als ein geschlossenes „System“, das alle Umwelteindrücke in ein (sinnstiftendes) Geschehen über Bewusstseinsprozesse und psychische Prozesse integriert. So ist nach Luhmann die individuelle Existenz in einen einzigartigen Vollzug eingebettet, der anderen in dieser einzigartigen Form verschlossen bleibt. „[…] Das Individuum sowie der Ausdruck seiner Individualität können allerdings selbst nur als interpretatorische Konstrukte betrachtet werden, die ständig hermeneutischen Veränderungen unterliegen (Luhmann 1997:1232).

Diese Vorgänge seien hochindividuell, da sie in derselben Form nicht von einer zweiten Person durchgeführt werden könnten. Durch die (theoretisch ange-

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nommene) Geschlossenheit des Systems (hier: des Individuums) wird hierbei schnell die Frage aufgeworfen, wie diese internen Prozesse in die Welt überführt werden?38 „Wie enttautologisiert sich das System (hier: das Individuum) in der Welt?“ (Luhmann 1998:228; Luhmann 1997). Die Schnittstelle zwischen Individuum und der Gesellschaft, und damit das logische Problem der Selbstreflexion, wird bei Luhmann in Anlehnung an George Spencer Brown beleuchtet. Es gibt zwei „evolutionär erzwungene Gegebenheiten“ (ebd., S. 228; Luhmann 1984, 1994b), die den Eintritt in die Umwelt konstituieren: erstens die oben schon angesprochene Zeitlichkeit als „Irreversibilität der Zeit“ und zweitens die „Überkomplexität der Umwelt“ (ebd., S. 228), durch die das Individuum gezwungen wird, eine Unterscheidung zwischen innen und außen vorzunehmen (Luhmann 1984, 1985, 1998). Diese Unterscheidung verhilft dem Individuum – auf einer begrifflichen Ebene zunächst trivial – wiederum eine Unterscheidung zwischen der äußeren Umwelt und der inneren Wahrnehmung herzustellen. Das Gewahr-Werden dieser Differenz wird so zum Ausgangspunkt der „logischen Entfaltung seiner Selbstreferenz“ (Luhmann 1998:229; Luhmann 1984). Erst durch die Herstellung dieser Differenz zwischen den äußeren sozialen Erwartungen und den inneren vielfältigen Wahrnehmungs- und Verarbeitungsformen kann eine Selbstreferenz, ein eigener Standpunkt, gedanklich, sprachlich und handlungsstrategisch hergestellt werden. Das Gewahr-Werden und das reflexive Aushandeln der äußeren mit der inneren Welt und vice versa werden so zur Schnittstelle zwischen dem Individuum und der Gesellschaft. Dieses deutliche Bekenntnis zur Selbstwahrnehmung und Beschreibung von Menschen im Hinblick auf ihre gesellschaftlichen Freiheitsräume steht in eigentümlichen Kontrast zu Luhmanns systemtheoretischem Konzept, „[…] Menschen nicht als Wesen aufzufassen […], sondern den Menschen in der Umwelt sozialer Systeme anzusiedeln“ (Schroer 2001a:225 u. 228). 39 38 | Luhmann verweist hier auf Edmund Husserls Analysen der Zeitlichkeit des Bewusstseins, und übersetzt diese kurz und knapp in die „Sprache der Theorie autopoietischer Systeme“ (Luhmann 1998:228, vgl. auch Schimank 1988). So sind bei Husserl alle (sinnlichen) Erfahrungen in einen zeitlichen Ablauf eingebunden. Diese Eingebundenheit in einen zeitlichen Strom verändert, nach Husserl, auch die innere Wahrnehmung: „Die Zeitspezies der Vergangenheit und Zukunft haben das Eigentümliche, dass sie die Elemente der sinnlichen Vorstellung, mit denen sie sich verbinden, nicht so, wie dies sonstige hinzutretende Modi tun, determinieren, sondern alterieren“ (Husserl 2000:11). 39 | Zum Verständnis soll hier nochmals betont werden, dass für Luhmann das Individuum in seinen Arbeiten als psychisches System dargestellt wird, das in Kommunikation mit der Außenwelt tritt. Diese Kommunikation kann empirisch erhoben und beobachtet

3. Die theoretische Grundstruktur der Individualisierungsthese

Dies ist für Luhmann dann auch der entscheidende Punkt seiner Theorie: das Individuum wird in modernen Gesellschaften nicht mehr durch „Inklusion“, sondern durch „Exklusion“ bestimmt (Luhmann 1997, 1998; Ziemann 2009).40 „[…] Der Zusammenhang, der für das Individuum selbst zwischen seinen verschiedenen sozialen Funktionen besteht, kann nicht als Element einer gesamtgesellschaftlichen Kommunikation verstanden werden. Individualität erscheint [bei Luhmann] als das Nicht-Kommunizierbare“ (Bösch 2011:1232).

Das Individuum kommuniziert und handelt zwar in den jeweiligen gesellschaftlichen Bereichen, kann sich jedoch in einem Ort der Sinnstiftung innerhalb der Gesellschaft nicht mehr verorten. Er wird auf sich selbst verwiesen. Mit dieser Beschreibung knüpft Luhmann theoretisch wieder an das alte logische Problem an, wie die Selbstgegebenheit des Individuums rationalisierbar gemacht werden kann. Die Lösung dieser methodologischen Frage erscheint vor seiner Perspektive des Inklusion-Exklusion-Schemas von Individuen allerdings wenig relevant. Damit bürdet er der Darstellung der Individuen keine Dramatik auf, sondern empfiehlt, im Gegenteil, der soziologischen Disziplin einen veränderten Umgang damit. „[…] Wirkliche Individuen, die heute leben, pflegen ihre Individualität recht locker zu handhaben, und dafür müsste eine zeitgemäße Semantik entwickelt werden, die unnötige Insuffizienzgefühle abräumt. Es gibt, realistisch gesehen, keine andere Möglichkeit, als den Individuen zu konzedieren, dass Individualität ihre eigene Angelegenheit sei“ (Luhmann 1998:229).

werden. Da die Ebene der Beobachtung kaum zulässt wahrzunehmen, wie jemand erkennt, sondern nur, was jemand erkennt, bleibt die Art und Weise des Erkennens dem Beobachter verschlossen. „Es wäre daher kaum angemessen zu sagen, dass das Bewusstsein aus sich selbst heraus bestimmt, was es in die Kommunikation eingibt. Die Kommunikation spezifiziert sich selbst in der Beschränkung durch das, was jeweils bewusstseinsmöglich ist. Eben deshalb geht es an den Realitäten vorbei, wenn man das Bewusstsein zum Subjekt der Kommunikation und des Wissens erklärt“ (Luhmann 1984:649). Zentral bleibt für ihn das psychische System als eine Möglichkeit, den Bewusstseinsfluss in seiner Komplexität zu ordnen und zu strukturieren. 40 | Schroer arbeitet hier ein eingängiges Bild für das Wechselverhältnis Individuum und Gesellschaft heraus: „Gefordert ist eher eine anpassungsgeschickte Flexibilität bei sich permanent verändernden Bedingungen und Verhältnissen. Die Situationen und Ereignisse, denen sich Individuen in modernen Gesellschaften gegenübersehen, wechseln zu schnell und sind zu vielfältig, als dass es noch funktional wäre, die Individuen auf ein lebenslang gültiges Wertemuster zu verpflichten“ (Schroer 2001a:235).

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Hier schließt sich für ihn ein Kreis, denn es geht in erster Linie darum, die Autonomie der Individualität von Individuen anzuerkennen.41 Diese könnte dem „Individuum weder konzediert noch zugemutet werden. Sie ist die Form seiner Existenz“ (ebd., S. 230) und als das Unteilbare, als das Einzigartige einer Person schlicht anzuerkennen. Wichtig sei hier allerdings – im Umkehrschluss – zu analysieren, wie gesellschaftliche Bedingungen auf das Individuum und seine Individualität einwirken. Die Darstellung dieser Wechselwirkungen könnten jedoch nicht ermittelt werden, ohne das Verhältnis Individuum und Gesellschaft einer Überprüfung zu unterziehen.

3.3.3 Das Individuum und sein System-Umwelt-Verhältnis Im Rahmen des Individualisierungstheorems scheint für Luhmann die Frage weitaus relevanter zu sein, welchen Einfluss die gesellschaftlichen Strukturprinzipien (hier: das soziale System) auf die Individuen haben und welche Dynamiken daraus entstehen.42 Die Differenz sozialer Identitäten spielt für ihn hierbei eine besondere Rolle, da sie die Anpassungsleistungen des Individuums an sein System-Umwelt-Verhältnis bestimme. Dieses sei – gemäß der Dynamik funktionaler Differenzierung in modernen Gesellschaften – gezwungen, multiple Identitäten auszubilden, um in der Lage zu sein, mit diesen ausdifferenzierten gesellschaftlichen Systemen in Kommunikation zu treten. Die Ausdifferenzierung sozialer Systeme steht so in einem direkten Zusam-

41 | Diesen Aspekt betonen in besonderem Maße Georg Kneer und Armin Nassehi in ihrer Auseinandersetzung mit einer „systemtheoretischen Revision der Hermeneutik“. Ausgehend von einer hermeneutischen Konzeption von Individualität in den Arbeiten Manfred Franks unternehmen Kneer und Nassehi den Versuch, den Verstehensbegriff im Rahmen der Kommunikationstheorie von Niklas Luhmann anzuwenden. Sie plädieren hierbei für eine neue Perspektive auf das System-Umwelt-Verhältnis bei Luhmann, das nicht als Gegenmodell zur Hermeneutik zu verstehen sei. Allerdings bekomme man, nach Kneer und Nassehi, „mit der Umstellung von Hermeneutik auf Soziologie in den Blick, dass jene Sinnzusammenhänge keine Entitäten an sich sind, sondern je Ergebnisse geschlossener kommunikativer Systemoperationen, die sich und ihre Umwelt beobachten und sich erst durch weitere Kommunikationsversuche reproduzieren“ (Kneer, Nassehi 1991:352). 42 | Wie bereits in Kap. 2 dargestellt, wird diese Perspektive auch explizit von Beck vor allem in der Auseinandersetzung mit der Individualisierungsthese betont. So entfernt er sich im Laufe der Diskussionen immer mehr von Aussagen über mögliche Annahmen auf der subjektiven Ebene der Individuen und setzt im Laufe der weiteren Arbeiten den Schwerpunkt auf die Veränderung institutioneller Rahmenbedingungen und deren Auswirkungen auf soziale Individualisierungsprozesse (vgl. etwa Beck 2007; vgl. Kap. 2).

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menhang mit der Ausbildung vielfältiger Identitäten in der Individualitätsentwicklung der Individuen. „[…] Erst in dem Moment, da Individuen […] als ‚extrasozietal gedacht werden‘ (Luhmann1993c:160) müssen, kann die Gesellschaft in unterschiedlicher Weise auf die Individuen zugreifen, sie etwa in ihrer Rolle als Wähler, Väter, Touristen, Organspender, Konsumenten etc. wahrnehmen“ (Schroer 2001a:248). 43

Dieses „Leben einer Mischexistenz“ (ebd., S. 248) setzt voraus, rechtlich befähigt zu sein, in diese gesellschaftlichen Bereiche überhaupt inkludiert zu werden. Das Leben einer Mischexistenz erinnert hier spontan an die moderne Lebensform der „Bastelexistenz“ (Hitzler, Honer 1994; vgl. Kap. 2), die im Rahmen der Rezeption der Individualisierungsthese formuliert wurde. Vor derselben Diagnose, nämlich dass sich im Laufe der historischen Entwicklung der Moderne sinnstiftende Institutionen auflösten und die Individuen „zwinge“, selbst Antworten auf Lebensfragen zu finden, wird der Begriff der „Bastelexistenz“ eingeführt. So sei es hier für den individualisierten Menschen charakteristisch, dass er „[…] von Gruppenorientierung zu Gruppenorientierung wechselt, dass er bei den meisten Umorientierungen in neue soziale Rollen schlüpft, dass er in jeder dieser Rollen nur einen Teil seiner persönlichen Identität aktualisiert und thematisiert, und dass dieses Sinnbasteln ästhetisch überformt werde […]“ (ebd., S. 310).

Bei Luhmann wird der Begriff der „Mischexistenz“ als Anpassungsleistung, als ein Vollzug, der innerhalb des Individuums angelegt ist, interpretiert (Luhmann 1998). Dieser Vollzug entzieht sich hierbei zunächst jeglicher Bewertung. Dies ist beim Begriff der „Bastelexistenz“ (Hitzler, Honer 1994, vgl. 43 | Freilich stehen die vielschichtigen und komplexen Prozesse der Inklusion und der Exklusion von Individuen in Luhmanns Systemtheorie im Mittelpunkt seiner Ausführungen und wurden entsprechend in der Literatur rezipiert (Kneer, Nassehi 1993). Mit Inklusion ist hier ein „Minimalprogramm formuliert, das es dem Einzelnen ermöglichen soll, an den Leistungen der ausdifferenzierten Funktionssysteme partizipieren zu können“ (Schroer 2001a:249). Dieses Minimalprogramm steht nach Luhmann allen Gesellschaftsmitgliedern zu. „Jede Person muss danach Zugang zu allen Funktionskreisen erhalten können je nach Bedarf, nach Situationslagen, nach funktionsrelevanten Fähigkeiten oder sonstigen Relevanzgesichtspunkten. Jeder muss rechtsfähig sein, eine Familie gründen können […]. Das Prinzip der Inklusion ersetzt jene Solidarität, die darauf beruhte, dass man einer und nur einer Gruppe angehörte (Luhmann 1993a in: Schroer 2001a:251/Fußnote).

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Kap. 2.3.3) nicht der Fall. Hier weist der Begriff zwar inhaltlich auch auf einen Vollzug innerhalb des Individuums hin, die Betrachtung dieser Sinnsuche erstreckt sich jedoch weitgehend auf Phänomene außerhalb des Individuums. So gleiche der Vollzug in den Bastelexistenzen “eher einem Vagabunden (oder allenfalls einem Nomaden) auf der Suche nach geistiger und gefühlsmäßiger Heimat“ (ebd., S. 311; vgl. Schroer 2000, 2001a). Diese starken Wertungen entziehen sich ganz und gar den Vorstellungen Luhmanns. Dieser betont mit die Metapher der „Mischexistenz“ auf einer theoretischen Ebene – wie oben schon ausgeführt – die Exklusion des Individuums aus den sozialen Systemen. Das Individuum wird so gezwungen, seine Individualität als „Bewältigungsressource“ auszubilden, um den Erwartungen der vielfältigen sozialen Systeme Genüge zu leisten. Durch diese Erwartung verfällt das Individuum bei Luhmann jedoch nicht automatisch in eine Orientierungslosigkeit, sondern muss über Sinnverstehen und sprachliche Kompetenz eigene Ansprüche der Anschlussfähigkeit an das soziale System entwickeln (Luhmann 1997, 1998). Dies geschehe über Reflexion, die in den Individuen per se angelegt sei. Ähnlich wie bei der Schnittstelle von Individuum und Gesellschaft rekurriert Luhmann hier auf das Phänomen des Bewusstseins als Grundlage menschlicher Reflexion. Vor diesem Hintergrund erkennt beispielsweise auch Uwe Schimank in Luhmanns Konzept der „Person als einem autopoietischen System“ (Luhmann 1984, 1985 in: Schimank 1988) eine bedeutsame Parallele zu den subjektphilosophischen Arbeiten Edmund Husserls. So identifiziere Luhmann für die Konstruktion moderner Biografien zwei differenzierende Bewusstseinsströme, die zwei unterschiedliche Qualitäten aufweisen: „[…] ein basales Selbstbewusstsein sowie ein aktives reflexives Selbstbewusstsein, das eine Selbstbeobachtung vornimmt. Diese Reflexionen können im je Aktuellen verhaftet bleiben und dann mit diesem verschwinden: ich ärgere mich beispielsweise über etwas und frage mich, einen Augenblick lang innehaltend, warum mich dieses Ereignis in dieser Weise betrifft. Die Reflexion kann sich aber auch über eine längere Spanne der Biographie erstrecken, resümierend auf einen bestimmten Lebensabschnitt“ (ebd., S. 61 ff.).

Laut Schimank geht es Luhmann hier um die Vorstellung, dass Gesell-schaftsstrukturen sich nicht einfach nur blank in den Individuen widerspiegeln, sondern dass die Außenwelt für die Individuen immer die „Außenwelt der Innenwelt“ darstelle: „jeder Kontakt zur Umwelt ist primär ein Kontakt zu sich selbst“ (ebd., S. 59; Luhmann 1997).44 Die Individuen seien vor diesem 44 | Das Individuum gleicht hier einem Spiegel seiner Umwelt, da es kontinuierlich eigene Ansprüche, Erwartungen, aber auch Enttäuschungen und Frustrationen abgleicht und überprüft. Dieses Bild erinnert stark an psychoanalytische Denkfiguren, was von

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Hintergrund aufgefordert, über eine Eigenleistung ihre Lebensverläufe selbst zu gestalten und dies umso mehr, je ausdifferenzierter und offener die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen (hier: soziale Systeme) mit den Individuen (hier: psychische Systeme) in Kommunikation treten. So entsteht die Selbstbeobachtung als bewusster und unbewusster Akt zwischen der Innen- und Außenwelt, wird jedoch dann relevant und funktional, wenn das Individuum (hier: psychisches System) strukturiert und selektiv Intentionen kommuniziert und Handlungen vollzieht. Typisch für moderne, also funktional differenzierte Gesellschaften sind für Luhmann sogenannte „Karrieren“, Zeitverläufe des Lebens, die sich durch eine Kombination von „Selbstselektion und Fremdselektion“ auszeichnen (Luhmann 1998:232). So zeichneten sich in vormodernen Gesellschaften Lebensverläufe durch äußere Unsicherheiten wie beispielsweise Kriege oder Hungersnöte aus. Das Lebensschicksal war, nach Luhmann, durch die existenzielle Selbsterhaltung in Reaktion auf Widrigkeiten geprägt und die Menschen waren gezwungen, diese Widrigkeiten, so gut es eben ging, abzuwehren. Die biografische Konstruktion war in eben diese Form der Existenzbedingung eingebunden. Diese Situation habe sich jedoch in modernen Gesellschaften grundlegend verändert. Hier hätten sich die gesellschaftlichen Verhältnisse so transformiert, dass ehemals äußere Widrigkeiten zu einem sehr großen Teil in „gesellschaftlich kontrollierten Bereichen“ (ebda. S. 323) angesiedelt seien. Die Individuen durchlaufen hier Karrieren, welche durch institutionelle Strukturen charakterisiert seien, wie beispielsweise das Durchlaufen von Ausbildungsstationen und festgelegte berufliche Pfade. „[…] Aber auch an Reputationskarrieren, auch an Krankheitskarrieren ist zu denken und natürlich an Karrieren der Kriminalität“ (ebd., S. 233).

Individuelle Lebensläufe (hier: Karrieren) sind bei Luhmann vielfältig angelegt und beziehen Schicksalsschläge wie Krankheiten, Unfälle oder andere Lebensereignisse in die „Institutionalisierung moderner Lebensläufe“ (Kohli 1985, 1986; vgl. Kap. 2) mit ein.45 Diese Karrieren sind demnach dem Individuum in Luhmann auch formuliert wird. Was für eine soziologische Sichtweise hier interessant scheint, ist zunächst die Vorstellung, dass das Individuum in seiner Entwicklung nicht statisch gedacht werden kann, sondern sich in einem fortwährenden Transformationsprozess befindet. Was sich jedoch dieser Sichtweise entzieht, sind Handlungsstrukturen, die im Unterbewusstsein angelegt sind und Bewusstsein sowie das aktive Handeln prägen (können). Diese Fragestellungen sind in dieser Form in der Psychologie und der Psychoanalyse angelegt. 45 | Die systemtheoretischen Arbeiten Luhmanns wirkten, wie implizit in Kap. 2 ausgeführt, seit den 1980er Jahren inspirierend auf die deutschsprachige soziologische

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Form von Ausbildungs- und Berufsstrukturen und kulturell geprägten Wertkonstellationen teilweise vorgegeben. Das Individuum bekommt seinerseits über die Sozialisation Möglichkeiten und Formen an die Hand, die vielfältigen gesellschaftlichen Erwartungen in seine Vorstellungen (erfolgreich oder auch nicht) zu integrieren. „[…] Dem erwachsenen Individuum bietet die Gesellschaft Einkommen, Arbeit oder Arbeitslosigkeit und auf dieser Basis hochgradig individualisierte Kaufentscheidungen (mit der charakteristischen Folge, dass Individualerwerb höher geschätzt wird als Teilhabe an Gütern, die allen zur Verfügung stehen […]“ (Luhmann 1998:247).

So gibt es, nach Luhmann, nichts, was moderne Gesellschaften den Individuen nicht anbieten würden, allerdings zum Preis der Indifferenz, das bedeute, „nicht einheitliche Prinzipien oder Gesetze wie der kategorische Imperativ“, sondern lediglich die Möglichkeit „Ansprüche zu haben“ (ebd., S. 246 ff.). Wie oben schon dargestellt, muss diese Offenheit des gesellschaftlichen Systems, bei Luhmann, nicht automatisch in eine Orientierungslosigkeit, Leere und/ oder eine Überforderung der Individuen münden. Im Gegenteil schließe diese Situation „Orientierung, Lernen und Selbstidentifikation“ keineswegs aus, sie werfe das Individuum allerdings auf sich selbst zurück und lege ihm nahe, „[…] die eigenen Ansprüche an sich selbst und an andere als Sonde zu benützen, mit der es feststellen kann, was der Fall ist, auch wenn es die Welt und sich selbst nicht kennt“ (ebd., S. 246). 46

Sinnstiftung über Selbstreflexion und Kommunikation blieben demnach die einzigen Möglichkeiten, die dem Individuen zur Verfügung stehen. Dies habe allerdings zur Folge, dass „entsprechende Individualität bereitgehalten werden muss. Individuum-Sein wird zur Pflicht“ (ebd., S. 251).47 Biografieforschung und haben die Perspektive auf individuelle Lebensläufe nachhaltig geprägt (vgl. insbes. Mayer 1989, 1990). 46 | Allerdings betont Luhmann hier sehr deutlich, dass durch das Grundprinzip der Gleichheit ein gewisses Steigerungsverhältnis im Hinblick auf bestimmte Eigenschaften in modernen Gesellschaften angelegt sei. Denn die Individuen orientieren sich über Differenz und auch über „Copierverhalten“ an anderen Menschen. Und alles „Insistieren auf Chancengleichheit kann diese Differenzerfahrung, die sich gegen eine angenommene Gleichheit profiliert, nur steigern“ (Luhmann 1998:247, Luhmann 1997). 47 | Schroer arbeitet hier einen wichtigen Unterschied zu Becks Individualisierungsbegriff heraus. Luhmann und Beck treffen sich in ihren Einschätzungen, dass moderne Gesellschaftskonstellationen Individualität als eine notwendige Bewältigungsressource bei den Individuen hervorrufen. Doch während Beck diese auf das Ansteigen einer Viel-

3. Die theoretische Grundstruktur der Individualisierungsthese

Die Individuen werden aufgefordert, sich in einen Selbstbeobachtungsprozess zu begeben, um ihr System-Umwelt-Verhältnis kontinuierlich auszuloten und darauf zu reagieren. Dieser Prozess scheint für Luhmann historisch nicht abgeschlossen und beinhaltet wichtige Aspekte, die auf das theoretisch relevante Problem des Individualisierungstheorems hinweisen. Diese beziehen sich auf je mehr individualisierte Ausgangspunkte in den gesellschaftlichen Teilbereichen für das Individuum zur Disposition stehen, desto mehr Individualität müsse das Individuum bereitstellen, um diesen Erwartungen gerecht zu werden. So müsse das Individuum in der Lage sein, Strategien zu entwickeln, um Konsistenz und Erwartungssicherheit für sich und für andere zu erzeugen. Es ginge einerseits darum, die eigene Individualität im Rahmen des zeitlichen Vollzugs der eigenen Biografie zu reflektieren. Es ginge aber auch andererseits darum, Sinn und Logik dieses Vollzugs nach außen zu kommunizieren und nach außen – in die gesellschaftlichen Bereiche hinein – zu vertreten. Diese Doppelfunktion bringt Luhmann ironisch treffend auf den Punkt: „Es [das Individuum] muss dann auch in der Lage sein, bei Nachforschungen, die es selbst betreffen, helfen zu können. Es muss die Probleme, die es mit sich selbst und mit anderen hat, exponieren, sie zum Beispiel in Gruppensitzungen auf Nachfrage offenlegen können“ (ebd., S. 252).

In diesem Zitat wird deutlich, dass die Ausbildung von Individualität eine Form der Selbstvergewisserung für das Individuum selbst darstellt. Sie stellt dadurch aber auch eine zunehmend wichtige Form der sozialen Integration in die gesellschaftlichen Bereiche dar.48 Die Reflexion, die Thematisierung (und zahl alltäglicher Entscheidungen, die dem Einzelnen überlassen werden, zurückführt, ist dies für Luhmann kein Zeichen für eine „Zunahme von Individualisierung, sondern vielmehr ein Zeichen für die ‚Nichtregulierbarkeit dieser Fragen‘, die in ‚Form von Freiheitskonzessionen ausgedrückt werden‘“ (Luhmann 1995 in: Schroer 2001a:252). 48 | In seiner vergleichenden Übereinstimmung der drei Autoren Ulrich Beck, Niklas Luhmann und Michel Foucault zur „ambivalenten Erfahrung“ von Individualisierung, interpretiert Schroer dieses Zitat von Luhmann in eine andere Richtung. Für ihn sind diese Selbstbeschreibungen Hinweise darauf, dass der gesellschaftliche Anspruch Individuum zu sein, hier gegen das Individuum gerichtet wird. Dieser Hinweis zeige sich auch deutlich in den Arbeiten Foucaults, in denen sich das durch Bekenntnisse und Geständnisse (Foucault 1991a u. a.) erst konstituierende Individuum im Vordergrund, das mit dem Grad der Selbstentblößung an Individualität gewinnen scheint, sich dadurch aber beobachtbar und damit vergleich- und typisierbar macht, wodurch der Anspruch auf Einzigartigkeit empfindlich gestört wird“ (Schröer 2001a:446, Hervorh. im Original). Formen der medialen Selbstentblößungen wie beispielsweise in Shows mögen durchaus diese kritischen Aspekte beinhalten, diese starke Bewertung wird jedoch hier nicht

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gegebenenfalls die Verteidigung) der eigenen Individualität werden eine wichtige Voraussetzung der Integration des Individuums in die Gesellschaft. Die Entwicklung eines auf sich bezogenen „Narrativs“ als eine Form der Selbstvergewisserung ermöglicht es, sich im Rahmen gesellschaftlicher Erwartungen und Anforderungen zu verhalten. Dies geschieht in Übereinstimmung und/ oder Distanz zu diesen Erwartungen und wird freilich nicht nur in „Gruppensitzungen“ relevant, sondern weist eher auf die Notwendigkeit einer reflexiven Grundhaltung im individuellen Alltagsgeschehen hin. Interessanterweise vollzieht hier Luhmann den Umkehrschluss zur Frage nach der Einheit dieser Integration: „[…] In diesem Sinne muss es nicht nur Individuum, es muss auch Person sein. In gewissem Sinne kommt man so auf die basale Einheit von Recht und Pflicht zurück, an die das 18. Jahrhundert geglaubt hatte“ (ebd., S. 251, Hervorh. B.-J. Krings).

Diese theoretische Zusammenführung von Individuum und Person er-scheint hier überraschend und für die vorliegende Arbeit bedeutsam, da Luhmann wieder beide Positionen zusammenführt. Das Individuum, bzw. das psychische System als Ausdruck von Kommunikation erscheint hier als die kleinste unteilbare Einheit der Gesellschaft einerseits, andererseits bleibt es aufgefordert, sich zur Gesellschaft, bzw. zu den gesellschaftlichen Bereichen zu bekennen und dementsprechend verantwortungsvoll zu handeln.49 Freilich knüpft Luhmann in diesem Anspruch nicht an die Vorstellungen der Subjektphilosophie an, die das Subjekt in den Mittelpunkt von normativen Erwartungen und der Weltbetrachtung insgesamt stellt. Im Gegenteil, diese Position hat es vor seinem Exklusion-Inklusion-Schema längst eingebüßt. Dennoch scheint die Synthese von Individuum und Person (hier: Subjekt) als zwei untrennbare Begriffsübernommen. Der Akzent wird, im Gegenteil, auf die Notwendigkeit einer reflexiven Distanz zu sich selbst gelegt. 49 | In allen jüngeren Arbeiten zu Individuum, Individualität und Individualisierungsprozessen wird die Offenheit gesellschaftlicher Prozesse mit Fragen nach der Moral sozialen Handelns verknüpft. Hierbei wird bei allen Autoren auf die Arbeiten des Sozialphilosophen Charles Taylor zurückgegriffen. Es drängt sich ein wenig die These auf, dass die bis in die 1980er Jahre vorherrschende Erwartungen an soziale Klassen nun auf die Individuen übertragen werden. „Wir können nicht ohne eine Orientierung auf das Gute auskommen, und jeder von uns ist wesentlich durch seinen diesbezüglichen Standort geprägt (d. h. wir definieren uns zumindest unter anderem im Sinne dieses Standorts). Was es heißt, ein solches Selbst oder eine solche Person zu sein, ist für bestimmte moderne Richtungen der Philosophie schwer zu begreifen, vor allem für diejenigen, die ihren Ort in der Psychologie und Sozialwissenschaft vorherrschen Trends gefunden haben“ (Taylor 1996:66).

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kategorien bedeutsam für die Beschreibung von Individualisierungsprozessen zu sein. Zustands- und Handlungsbeschreibung von Individualisierungsprozessen werden in einen begrifflichen Zusammenhang gestellt: Prozesse der Individualisierung führen immer auch zu Impulsen auf der Handlungsebene. Wie eindrücklich die Synthese von Zustands- und Handlungsbeschreibung historisch nachvollzogen werden kann, kommt abschließend in dem folgenden Zitat zur Geltung, das vor ca. 100 Jahren verfasst wurde. Vor der Perspektive der fundamentalen sozialen Umbrüche im Laufe der Industrialisierungsprozesse formuliert die Frauenrechtlerin Helene Lange (1848-1930) im Jahre 1914 ihre Beobachtungen zu Individualisierungsprozessen. Es scheint überraschend, wie präzise sie die Prozesse der Freisetzung aus ländlich geprägten Haus- und Arbeitsgemeinschaften beschreibt und eine Vielzahl von soziokulturellen Institutionen benennt, die eine funktionale Bedeutung für die Bedingungen dieser Freisetzung für das Individuum übernehmen. Was Helene Lange ebenfalls sehr eindrücklich beschreibt, sind die im Entstehen begriffene Räume der Willens-„Freiheit“, die aus dieser Freisetzung entstehen (können) und neue Handlungsspielräume für die Individuen eröffnen. Gleichzeitig macht sie in dem Zitat deutlich, dass individuelle Möglichkeiten von freien Entscheidungen auch bestimmten „Lebensgesetzen des Ganzen“ (Zitat s. o.) unterworfen sind (Helene Lange 1914:18 ff., zitiert in: Bührmann 2004:120): „[…] In dem Maße als die soziale Gemeinschaft in der Form der Gewerbe, des Handels, der Wissenschaft, der Kirche, die Funktionen der Familie übernimmt, gibt sie also Einzelnen die Freiheit über sich selbst. Ein immer größeres Stück seines Lebens wird ihm nicht mehr ohne sein Zutun durch äußere Notwendigkeiten gestaltet, sondern tritt unter die Herrschaft seiner eigenen Entscheidung. Und je mehr die Macht seines eigenen Willens und der Spielraum seiner eigenen Neigungen wächst, umso mehr wird diese Freiheit ihm bewusst, umso mehr wird sie ihm Bedürfnis und Anspruch. Ein Anspruch, der sich auf den Rest der unerlässlichen allgemeinen Verpflichtungen insofern erstreckt, als sie der Mensch nach wie vor erfüllen will, aber nicht mehr willenlos und ungefragt, sondern indem er ihre Notwendigkeit innerlich selbstständig bejaht und sich aus ihrer Einsicht in die Lebensgesetze des Ganzen beugt“.

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3.3.4 Vom Ende des Individuums zur Individualität ohne Ende 50 – Luhmanns Beitrag zum Individualisierungstheorem Zusammenfassend hat Niklas Luhmanns in der jüngeren deutschsprachigen Debatte um die theoretische Grundstruktur von Individualisierung kritisch auf deren methodologische Probleme für die soziologische Theorie aufmerksam gemacht. Als einer der wenigen Autoren hat er diese Probleme nicht nur angemahnt, sondern auch versucht, sie im Rahmen seiner langjährigen wissenssoziologischen und theoretischen Arbeiten zu berücksichtigen und in (s) eine Theorie der Gesellschaft einzuarbeiten. Obgleich er seinen inhaltlichen Schwerpunkt auf die „Dezentrierung des Subjekts“ (Kalupner 2003:65; Schimank 1996) im Rahmen der Theorie funktional differenzierte (moderne) Gesellschaft gelegt hat, beinhalten seine Arbeiten eine Reihe von Annahmen im Hinblick auf das Individualisierungstheorem, die als theoretische Prämissen der vorliegenden Arbeit zugrunde gelegt und für die Fragestellungen und Hypothesen des empirischen Teils fruchtbar gemacht werden. Diese sind bei Luhmann, wie oben dargestellt, in das Konzept eines systemtheoretisch ausgerichteten Gesellschaftsentwurfes angelegt, welche in der vorliegenden Arbeit allerdings nicht übernommen werden. Luhmann vertritt in seinen Arbeiten die modernisierungstheoretische Denkfigur, dass das Individuum im Verlauf der Entwicklung der funktionalen Differenzierung moderner Gesellschaften zunehmend mehr in diese Vielfalt gesellschaftlicher Funktionsbereiche integriert wurde. Diese Vielfalt hat dazu geführt, dass das Individuum unterschiedliche Rollenerwartungen und -handeln ausbilden musste. Vor allem durch das Entstehen bürgerlicher Gesellschaften wurde beispielsweise das (hier: männliche) Individuum Bürger, ging einer Profession nach, war Familienvater und eventuell Mitglied in einem politischen Verein. Und dies alles gleichzeitig. Im Rahmen dieser Rollen bildete er unterschiedliche Identitäten aus, je nachdem welche kulturellen und sozialen Vorgaben im Rahmen dieser Rollenerwartungen an ihn herangetragen wurden. Diese unterschiedlichen Rollen bildeten zum einen seine Identität(en), zum anderen bildeten sie in der Gesamtheit seine Einzigartigkeit als Individuum. Diese Individualität war innerhalb eines spezifisch historisch-gesellschaftlichen Kontexts eingebettet, nämlich der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft und kann in ihrer Eigenheit auf einer zeitlichen und räumlichen Achse beschrieben werden. Diese Entwicklung zeigt in ihrem historischen Verlauf für Luhmann insofern ein Steigerungsverhältnis an, in dem „immer mehr Verknüpfungsmöglichkeiten zwischen individuellem Handeln und funktionalen System50 | Vgl. gleichnamiger Titel der Publikation von Hans-Georg Brose und Bruno Hildenbrand aus dem Jahre 1988.

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erfordernissen bestehen“ (ebd., S. 67). Das bedeutet aus der Perspektive des Individuums zunächst lediglich, dass es vielseitige Handlungsräume kognitiv einnehmen und diese auch ausfüllen musste. Dadurch wurde es aufgefordert, multiple Identitäten auszubilden, beispielsweise die Identität eines Bürgers, der ein bestimmtes Verständnis (hier: Identität) von sich als Bürger entwickelt hat und auf dieser (bewussten oder weniger bewussten) Basis seinen Pflichten nachgeht.51 Wichtig scheint hier die Gleichzeitigkeit und Überlagerung von Rollen und Erwartungen zu sein, die im Laufe der historischen Entwicklung zur Moderne zunahmen und die Freisetzung aus traditionell festgelegten Rollenstrukturen, die Individualisierungsprozesse, auslösten. Qualitativ neu im Rahmen dieser akteurszentrierten Sichtweise ist jedoch für Luhmann nicht das Erkennen der bloßen Zunahme von Rollen im Rahmen dieser gesellschaftlichen Dynamik. Neu daran und gleichzeitig das Verdienst der systemtheoretischen Perspektive ist das „[…] Bemühen, die Konsequenzen der so genannten Rollendifferenzierung für die innere Konstitution bzw. die Bedingungen der innerpsychischen Handlungskoordination zu beschreiben“ (ebd., S. 63, Schimank 1996).

Dieses Verdienst ist für das theoretische Verständnis von Individualisierungsprozessen von hoher Relevanz, denn hier – in der Konfrontation vielseitiger, sozialer Anforderungen mit der Psyche des Individuums – hat Luhmann das „reentry“, das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft verortet. Er bezieht er sich auf die wechselseitige Durchdringung von Persönlichkeitsstruktur und sozialem System, deren Verarbeitung als Bewusstseinsströme im Individuum stattfinden (Luhmann 1997, Schimank 1988). Durch die „‚Internalisierung‘ sozialer Objekte und kultureller Normen in die Persönlichkeit des Individuums“ (Kalupner 2003:64) kommt dieser Durchdringung eine besondere Bedeutung zu.52

51 | Das Thema „Aufstieg und Ende des Individuums“ ist eng an die Entwicklung des bürgerlichen Individuums geknüpft. „Die Entwicklung des „(städtischen) Bürgertums aber treibt erst jene Gestalt des autonomen Individuums hervor, dessen doppelte Selbstständigkeit als Produzent und Eigentümer von Waren auf dem Markt und als Individuum in der Familie Bezugspunkt der Rede vom Aufstieg bzw. Ende des Individuums ist. […] Öffentlichkeit und Privatheit beginnen auseinander zu treten, bleiben aber zunächst aufeinander bezogen.“ (Brose, Hildebrand 1988:13). 52 | Sybille Kalupner macht hier auf den Einfluss Talcott Parsons auf das Werk Luhmanns aufmerksam, der diese Entwicklungslogik von Parsons zu weiten Teilen übernommen hat (Kalupner 2003, Schimank 1996).

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Strategien der Individualisierung

Luhmann erkennt die schon früh formulierten methodologischen Probleme um das Verhältnis Subjekt und Gesellschaft an und beschreibt sie ebenfalls als zentral für die soziologische Theoriebildung. Er verabschiedet sich jedoch entschieden von dem, aus der Aufklärungsphilosophie stammenden Subjekt als alles integrierende Idee und positioniert das Individuum (hier: psychisches und physisches System) als autopoietisches System konzeptionell außerhalb der Gesellschaft (hier: soziales Systeme). Vor seiner systemtheoretischen Perspektive beschreibt er Kommunikation als zentrale soziale Interaktionen und verortet das Individuum als „[…] in der Entwicklung zur Moderne freigesetzte und real mächtig gewordene Gestalt des (bürgerlichen) Individuums“ (Brose, Hildenbrand 1988:12).

Diese Verschiebung beinhaltet für Luhmann jedoch signifikante qualitative Veränderungen der Integration von Individuen in die Gesellschaft. So sind moderne Gesellschaften, aufgrund der Vielzahl von Teilsystemen für ihn nicht mehr in der Lage, den „ganzen“ Menschen zu beherbergen. Das heißt konkret, die Gesellschaft und ihre Teilsysteme können dem Individuum keine einheitliche, sinnstiftende Ordnung mehr zur Verfügung stellen. Diese partizipieren lediglich mit einem Teil ihres Selbst in diesen ausdifferenzierten Strukturen und können verbindliche moralische Regeln nicht mehr auf unmittelbare und ganzheitliche Handlungskontexte beziehen. Gesellschaft als einheitliche und autoritäre Instanz zur Vermittlung von Moralvorstellungen und Normen löst sich auf. Die gesellschaftlichen Teilsysteme bilden zwar ihre je spezifischen Erwartungen und Normen aus, diese können sich jedoch nicht auf das Ganze des Menschen, bzw. seine Lebenszusammenhänge beziehen. Notwendige Handlungsentscheidungen müssen von den Individuen durch den Verlust von Verbindlichkeit „auf Grund abstrakterer, von sozialen konkreten Kontexten zunehmend abgelöster, normativer Regeln“ (ebd., S. 66) getroffen werden. Die Individuen sind dadurch aufgefordert, selbstständig und längerfristig stabile Wertorientierungen im Rahmen ihrer Lebensläufe (hier: Karrieren) zu entwickeln. Den Individuen wird vor diesem Hintergrund mehr und mehr auferlegt, aus der Pluralität sozialer Erwartungen individuelle und sinnstiftende Lebensentwürfe zu generieren. Dieses grob dargestellte Narrativ stellt weitgehend Konsens im Rahmen soziologischer Denkfiguren zur Entwicklung und Relevanz von Individualisierungsprozessen dar (vgl. Kap. 2). Luhmann verabschiedet sich hier allerdings von zwei theoretischen Denkfiguren, die im Diskurs um Individualisierung implizit und explizit noch vielfach lebendig sind: • Erstens die Vorstellung, die Steigerungsdynamik im Hinblick auf die Zunahme von Handlungsoptionen beziehe sich notwendigerweise auf die Zu-

3. Die theoretische Grundstruktur der Individualisierungsthese

nahme von Freiheitsgraden der Individuen. Hier betont er die Indifferenz, das heißt, dass sich das Steigerungsverhältnis in gleichwertigen Wahloptionen für die Individuen zeigt. Diese Wahloptionen stellen nicht notwendigerweise Freiheitgrade und/oder Restriktionen für dieselben dar. Die Entwicklungen sind für ihn zunächst offen. • Zweitens wendet er sich gegen die starke Bewertung, dass die gestiegenen Rollenerwartungen sowie deren neuen Formen der Integration automatisch zu einer Überforderung oder Überlastung der Individuen in ihren Lebenskontexten führen. Für ihn führen diese Bewegungen auch nicht automatisch zu Wertmustern wie hedonistischen oder gar egoistischen Verhaltensweisen wie vielfach angenommen. So ist er auch weit davon entfernt, gesellschaftliche Desintegrationsprozesse oder gar gesellschaftliche Anomalien in diesen Entwicklungen zu konstatieren. Dennoch sind Individualisierungsprozesse für ihn paradoxe Gebilde, da sie eine Eigendynamik entwickelt haben, die ihrerseits diese Dynamik wieder in Gang setzen. So ist beispielsweise Unsicherheit für die Individuen immer allgegenwärtig, vor allem im Hinblick auf die Notwendigkeit, Sinnstrukturen und Handlungsentscheidungen im Rahmen biografischer Lebensentwürfe herzustellen. Ohne normativ verbindliche Sicherheiten sind die Individuen aufgefordert, „[…] social beglaubigte Modelle für Individualisierung – etwa Modelle der Excellenz oder des Maßes, der Tüchtigkeit oder der Formbeherrschung“ (Luhmann 1998:245)

zu entwickeln, für deren Beglaubigung es jedoch keine Instanz oder Autorität (mehr) gibt. Aus der Perspektive der Individuen fällt seine Diagnose dann auch nicht sonderlich optimistisch aus, er akzentuiert eher den ambivalenten Charakter von Individualisierungsprozessen.53 Die moderne Gesellschaft kann dem Individuum nichts anderes entgegenhalten, als „[…] Ansprüche zu haben und Ansprüche als Abtastinstrument für individualisierende Erfahrungen zu benutzen […]. Sie kann nur enttäuschende Erfahrungen bieten und eine entsprechende Justierung der Ansprüche nahelegen. Sie muss daher den Anspruch, Ansprüche zu haben, anerkennen, aber sie kann dies im Laufe der Evolution allmählich 53 | In seiner vergleichenden und typisierenden Arbeit zu Individualisierungsprozessen beschreibt Schroer eine „positive Individualisierung“ bei Luhmann. Diese Typisierung ist vor seinen akzentuierten Einschätzungen von „negativen“, „positiven“ und „ambivalenten“ Individualisierungsprozessen zu bewerten. Dennoch, und dies steht nicht im Widerspruch zu Schroers Darstellung von Individualisierung bei Luhmann, entwickelt dieser durchaus eine ambivalente oder paradoxe Lesart auf diese Prozesse.

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Strategien der Individualisierung tun, indem sie die Zumutbarkeitsschwellen senkt, innerhalb derer Individuen sich selbst anderen vorstellen und anbieten können“ (ebd., S. 246).

Allerdings betont Luhmann auch lange zeitliche Anpassungsmöglichkeiten, die dem Individuum erlauben, langfristig ein „Stabilisierungsprogramm“ (Kohli 1988) zu entwickeln, um diesen (neuen) Anforderungen gerecht zu werden. Wie dieses Stabilisierungsprogramm aussieht, steht bei Luhmann nicht im Mittelpunkt seines Erkenntnisinteresses. Im Rahmen seiner strikt makrosoziologischen Sichtweise steht die sich wandelnde Lage des Individuums angesichts einer sich zunehmend ausdifferenzierten Gesellschaft. Vor dieser Perspektive geht Luhmann davon aus, „[…] dass Stellung und Lage der Individuen dem jeweiligen Differenzierungsgrad der Gesellschaft folgen […]. Insofern werden die jeweiligen Möglichkeiten der Individuen jeweils im Hinblick auf die von der Gesellschaft bereitgestellten Möglichkeiten hin gedacht und nicht umgekehrt […]“ (Schroer 2001a:275).

Diese Perspektive gilt es zu berücksichtigen, um Luhmanns Denkfigur von Individualisierung gerecht zu werden. Trotz seiner wissenssoziologischen Arbeiten zum Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, ist er seiner makrosoziologischen Perspektive treu geblieben und hat nach Formen sozialer Ordnung(en) gesucht. Hier stand die Frage nach Kommunikationsformen in der Behandlung von Individualität im Vordergrund (Luhmann 1994a, 1994b).

3.4 S tr ategien der I ndividualisierung – A usblick über die theore tischen G rundl agen der A rbeit Die theoretische Grundstruktur des Individualisierungstheorems berührt in besonderem Maße das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, was für die soziologische Disziplin als Erkenntnisgegenstand konstitutiv wurde. Die Gründungsväter der Disziplin haben sich hierbei bewusst vom Erbe der klassischen Philosophie abgesetzt mit der Intention, eine „nicht-philosophische“ (Kippele 1998:182), aber dennoch wissenschaftlich positivistische Methode zur Erfassung sozialer Phänomene zu generieren. Dennoch setzten sich alle Klassiker mit dem logischen Problem des Gegenstandes, dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft intensiv auseinander. Dieses Verhältnis bildete nicht nur den „Gegenstand“ der neuen Disziplin, sondern die Disziplin be-schäftigte sich auch mit der „Erfassung des Gegenstandes (Erkenntnis und Methode)“ (ebd., S. 183). Nach Kippele waren diese Auseinandersetzungen dennoch

3. Die theoretische Grundstruktur der Individualisierungsthese

sehr stark von erkenntnistheoretischen Fragestellungen und von Themen geprägt, die die philosophische Tradition vielerorts anzeigten. So wurden von ihr verschiedene Dimensionen der Individualisierung herausgearbeitet, wie beispielsweise „Individualisierung als Emanzipation von traditionellen Bindungen“, „Individualisierung als Autonomie“ oder etwa „Individualisierung als Freiheit“ (ebd., S. 200 ff.). Diese Dimensionen weisen in ihrer Tragweite auf philosophische Begriffe und Auseinandersetzungen ihrer Zeit, gleichzeitig setzten die Gründungsväter auch neue Akzente, die aus den empirischen Arbeiten entwickelt wurden. So war beispielsweise der Begriff der „Freiheit“ ein dominantes Thema der deutschen Philosophie und hat in der Überführung in die soziale Wirklichkeit eine große Anzahl von neuen „Bedeutungen und Konnotationen erhalten“ (ebd., S. 214).54 Neuere Deutungen bezogen sich vor dieser neuen Sicht auch auf neue Themen wie etwa „Individualisierung als soziale Vernetzung“ oder etwa „Individualisierung als Rückzug ins Private“ (ebd., S. 217 ff.) und setzten hierbei neue Akzente in der Betrachtung der sozialen Welt. Eine weitere Erblast ist, wie oben beschrieben, das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft als Zustands- und als Handlungsbeschreibung. So hat der Begriff in seiner philosophischen Tradition viele Phasen durchlaufen. Das in-dividuum, also die letzte kleinste Einheit galt in der klassischen Philosophie als Gattungsbegriff (Mensch oder Ding) als das Elementare, das nicht mehr Teilbare. Später wurde das in-dividuum in ein Verhältnis zu einer Einheit gesetzt, das heißt, es wurde sein Status des Getrennt-Seins in den Vordergrund gehoben, wodurch die Vorstellung einer Einheit akzentuiert wurde. Die Einheit in einer Einheit durchlebte dann Phasen der stärkeren und der schwächeren gegenseitigen Bindung und Abhängigkeit bis – seit der Renaissance – das in-dividuum „als eine Welt für sich, als eine ihren eigenen Prinzipien folgende Einheit verstanden wurde“ (ebd., S. 218, Hervorh. im Original). Auf der Ebene von Zustandsbeschreibungen (Struktur) stand hier jedoch das logische Prob54 | Kippele hat in ihrer historischen Rekonstruktion eine Ordnung von Kategorien gebildet, wie diese Begriffe im Rahmen des Phänomens der Individualisierung verwendet wurden. Sie unterscheidet hierbei nicht nur Konnotationen innerhalb der deutschsprachigen Philosophie, sondern vergleichend innerhalb der europäischen Traditionen. Eindrucksvoll erscheinen hier beispielsweise die unterschiedlichen Konnotationen im Rahmen des Begriffs der Freiheit: „Allen Bedeutungen ist gemeinsam, dass Freiheit als ein erwünschtes – wenn nicht sogar als das erwünschte – Ziel der Menschen, als Gruppe oder als einzelne, angesehen wird. Für Freiheit lohnt es sich zu sterben, […]“. Doch was ist damit gemeint? Es gibt metaphysische Freiheit, soziale Freiheit und auch die politische Freiheit. „Bei der ersten geht es um den Menschen in seiner Qualität als Mensch (gegenüber dem Tier); bei der zweiten geht es um das Individuum in seiner Qualität als soziales Wesen (gegenüber der Gesellschaft); bei der dritten geht es um die Person in ihrer Qualität als Bürger“ (Kippele 1998:214 ff, Hervorh. im Original).

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lem im Vordergrund, wie dieses Verhältnis erkenntnistheoretisch verknüpft werden könnte. Das Subjekt löste – auf einer begrifflichen Ebene – das Individuum ab und wurde mit Attributen wie Vernunft und Emanzipation belegt. Diese Zuschreibung erlangte ihren Höhepunkt in der Aufklärung, wo die Säkularisierung den Gottesbegriff als letzten Grund a priori verdrängte, das Subjekt/das Individuum diese Position jedoch nicht einnehmen konnte. Die „Unergründlichkeit“, bzw. die Erfahrung, dass „die für den menschlichen Verstand allein mögliche Analyse der individuellen Begriffe unendlich ist und daher unerfüllt bleibt“ (Borsche 1976:312) wurden zu einer Ausgangsituation einer neuen Weltanschauung. Das Subjekt wurde zu einem begrifflichen Konzept, das den Menschen zu sich selbst, zu anderen Menschen und zur Natur als handelndes Wesen beschreibt. Mit dem Anspruch eines mit „Bewusstsein“ ausgestattetem Individuums/Subjekts sowie eines (moralisch) handelnden Anspruchs werden – auf einer konzeptionellen Ebene – Handlungsorientierungen formuliert. Diese Gemengelage von starken thematischen Konnotationen sowie der Beschreibung von Individualisierungsprozessen als Zustands- und Hand-lungsbeschreibung scheint in zeitgenössischen soziologischen Analysen zu Individualisierungsprozessen noch immer regelmäßig zum Ausdruck zu kommen (vgl. Kap. 2). Ein Grund des Problems scheint zum einen in „theoretisch unzureichend geklärten Begriffen und Unterscheidungen“ (Kalupner 2003:14) des Individualisierungstheorems zu liegen. Zum anderen gibt es wenig empirische Arbeiten, die diese Begriffe und Unterscheidungen in aktuellen konkreten sozialen Kontexten operationalisieren. Diese Diagnose wurde zwar – vor allem in der Auseinandersetzung mit Ulrich Becks Individualisierungsthese – regelmäßig bestätigt (vgl. Kap. 2). Dennoch gibt es wenig empirische Arbeiten, die das Spannungsfeld von Individuum und Gesellschaft nach innen ausloten. Wie in Kapitel 2 dargestellt, geht die vorliegende Arbeit der Frage nach, wie die zunehmenden Individualisierungserwartungen von den Individuen wahrgenommen werden und welche Handlungsstrategien hierbei von ihnen ausgebildet werden. Hierbei steht im Vordergrund die Frage, welche subjektiven Aneignungsprozesse und Handlungsorientierungen notwendig sind, um den Anforderungen in individualisierten Gesellschaften gerecht zu werden. Wie vielfach in der Literatur formuliert, wirft die Betrachtung von aktuellen Individualisierungsprozessen Fragen nach der „Subjekt-Struktur-Schnittstelle“ (Beck, Bonß, Lau 2001:56) auf. Das heißt, das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft wird (erneut) als methodologisch zentrales Problem benannt und wird in der Arbeit einer genaueren Betrachtung ausgesetzt. Als einer der wenigen Autoren hat Niklas Luhmann dieses logische Problem beschrieben und im Rahmen der soziologischen Disziplin fruchtbar gemacht. So hat er in seinen wissenssoziologischen Ausführungen – auf der Basis seiner philo-

3. Die theoretische Grundstruktur der Individualisierungsthese

sophischen Studien – das Subjekt-Struktur-Verhältnis als eine Bewusstseinsformation identifiziert. Hierbei vollziehen sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen als die äußere Welt im Bewusstseinsstrom, der inneren Welt, des Individuums. Diese Sichtweise ist, nach Luhmann, das Ergebnis eines langen historischen Prozesses. Vor der Perspektive fortschreitender funktionaler Differenzierungen moderner Gesellschaften betrachtet er das Individuum mehr und mehr mit der Notwendigkeit konfrontiert, steigende gesellschaftliche Optionen inklusive ihren vielfältigen sozialen Erwartungen in Übereinstimmung mit dem inneren Erleben des Individuums zu bringen. Dies geschieht bei ihm auf der Basis einer inneren Instanz, eines zunächst Gewahr-Werdens der Differenz einer inneren und äußeren Welt. Erst durch die Herstellung dieser Differenz zwischen den äußeren sozialen Erwartungen und den inneren vielfältigen Wahrnehmungs- und Verarbeitungsformen kann eine Selbstreferenz, ein eigener Standpunkt, gedanklich, sprachlich und handlungsstrategisch vom Individuum hergestellt werden. Das Gewahr-Werden und das reflexive Aushandeln der äußeren mit der inneren Welt und vice versa werden so zur Schnittstelle zwischen dem Individuum und der Gesellschaft. Gleichzeitig wird das reflexive Aushandeln zur „Bewältigungsressource“ für das Individuum in der modernen Gesellschaft, da dies zunehmend der einzige Ort wird, wo Sinnstiftung stattfinden kann. Prozesse der Individualisierung sowie das Individuum fallen bei Luhmann zusammen, das Individuum kann sich, im Rahmen seiner Seinsform nicht in mehrere Selbst aufteilen. Es wird aufgefordert, seine unterschiedlichen Rollenanforderungen (Identitäten) in ein Gesamtkonzept (Individualität) zu überführen. Obgleich die vorliegende Arbeit einen subjekttheoretischen Ansatz verfolgt, übernimmt sie das von Luhmann theoretisch herausgearbeitete „entry“ der Schnittstelle Individuum-Gesellschaft für das theoretische Verständnis von Individualisierungsprozessen. Wie oben nachvollzogen wurde, erweist sich die Identifikation dieser Schnittstelle als grundlegend, um die innere mit der äußeren Ebene, das heißt Struktur und Handlung, konzeptionell zu verbinden. Auf diese Art und Weise kann eine soziologische Perspektive auf das Individuum und seine Individualität generiert werden. Vor dieser konzeptionellen Ausrichtung nimmt der Forschungsfokus die Frage in den Blick, wie gesellschaftliche Individualisierungsanforderungen von den Individuen selbst wahrgenommen werden und wie diese in Handlungsanforderungen übersetzt werden (können). Die Beantwortung wird hierbei – wie auch im Sinne Luhmanns – offen gehandhabt, das heißt, es werden zunächst keine Bewertungen oder Einschätzungen vorgenommen. Im Rahmen dieses Vorgehens liegt der Arbeit die Vorstellung zugrunde, dass sozialstrukturelle Anforderungen „individualisierter Gesellschaften“ von den Individuen in vielfältiger Weise in ihre Lebensverläufe integriert und auf der Basis

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Strategien der Individualisierung

von Handlungsstrategien umgesetzt werden. Ganz im Sinne Luhmanns ist die soziologische Theorie hier aufgefordert, die reflexive Aufarbeitung von Individuen, ihre „Bewältigungsressource“ in Augenschein zu nehmen, will sie Individualisierungsprozesse deutend verstehen. Hierbei kann eine Bewertung dieser Prozesse in einem ersten Schritt nur von den Individuen selbst hergestellt werden. In einem zweiten Schritt können diese Bewertungen interpretativ ausgelegt und in einen gesellschaftlichen Deutungsrahmen gestellt werden. Dieses Vorgehen könnte durchaus beinhalten, benachbarte Disziplinen wie die Philosophie oder die Psychologie in diese methodologischen Vorgehensweisen einzubinden, um die soziologische Perspektive um weitere Sichtweisen zu vertiefen. Die Ermittlung dieser Prozesse stellt die Selbstbeschreibung und Selbstwahrnehmung der Individuen im Rahmen gesellschaftlicher Entwicklungen in den Vordergrund. Gleichzeitig eröffnet sie einen Einblick in die Art des Eingebundenseins in jene soziokulturellen Prozesse, die spezifische historische Prozesse beschreiben. Mit diesem Vorhaben ist jedoch eine Problemstellung eigener Art verbunden. Hier rücken „Phänomene einer ‚Einzelhaftigkeit‘ und ‚Eigen-Sinnigkeit‘ menschlicher Existenzweisen“ (Poferl 2010:300] in den Blick. Diese Problemstellung für die Soziologie fruchtbar zu machen, ist die Intention dieser Arbeit.

4. Anlage der Untersuchung

Ausgehend von den theoretischen Annahmen der vorliegenden Arbeit wird in der explorativen Untersuchung der Frage nachgegangen, ob und wie soziostrukturelle Erwartungen individualisierter Gesellschaften von Individuen wahrgenommen und in ihre Lebensverläufe integriert werden. Hierbei wird der besondere Fokus auf die Frage gelegt, wie wachsende gesellschaftliche Optionen von diesen umgesetzt werden: als freiheitliche Bezüge, die den Individuen neue Entfaltungs- und Entscheidungsmöglichkeiten eröffnen, oder aber, im Gegenteil, als mühsame Entscheidungsprozesse, die die Individuen in schwierige und aufwendige Situationen hineinmanövrieren. Der Entscheidungsbezug wird vor diesen Fragen das zentrale Motiv, um empirisch zu ermitteln, in welchem Ausmaß die Vielfalt gesellschaftlicher Optionen die Ausbildung der eigenen Individualität sowie die Gestaltung des eigenen Lebensverlaufs beeinflussen. Hierbei wird freilich unterstellt, dass wachsende gesellschaftliche Optionen als Entscheidungsgrundlage – ganz im Sinne modernisierungstheoretischer Konzepte – für die Individuen überhaupt zur Verfügung stehen. Von hoher Relevanz ist hierbei, dass diese Fragestellung offengehalten und keiner Wertung unterzogen wird. Die Einbindung der Arbeit in die wissenschaftlichen Ansätze einer subjektorientierten Soziologie macht vor diesem Hintergrund deutlich, dass es zunächst darum gehen soll, Vermittlungsinstanzen zwischen Gesellschaft und dem Individuum zu identifizieren. Diese Einbindung wird an den Anfang dieses Kapitels gestellt und ihre Ausrichtung kurz erläutert. Anschließend werden allgemeine Überlegungen zur empirischen Operationalisierung der Individualisierungsthese, wie sie in der Literatur vorzufinden sind, erörtert und für die Anlage dieser Untersuchung fruchtbar gemacht. Im Anschluss daran werden die Auswahl der empirischen Methode, die Datenerhebung, die Datenauswertung sowie das Sample ausführlich dargestellt.

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Strategien der Individualisierung

4.1 D ie subjek torientierte S oziologie als kritische A usrichtung der e xplor ativen U ntersuchung Nach Uwe Schimank hat die soziologische Betrachtung des Verhältnisses von Gesellschaft und Individuum genau zwei Perspektiven entwickelt (Schimank 2002:368): • Das Individuum als Opfer gesellschaftlicher Dynamiken: Es überwiegt eine Bewertung, die eine mehr oder weniger gravierende Negativbilanz der gesellschaftlichen Zustände und Tendenzen für die „Lebenschancen“ der einzelnen Gesellschaftsmitglieder verzeichnet. • Das Individuum als Gestalter gesellschaftlicher Dynamiken: Zugleich wird aber auch zumeist das einzelne Gesellschaftsmitglied als Ausgangspunkt und Träger von zielgerichteten Aktivitäten ausgemacht, die die Gesellschaft so verändern können, dass eine positive Bilanz vorstellbar wäre. Markus Schroer hat im Rahmen seiner vergleichenden Studie von Individualisierungsprozessen die Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft ebenfalls einer Bewertung unterzogen. So entspräche die erste Kategorie, das Individuum als Opfer, seiner Kategorie des „gefährdeten Individuum[s]“ (Schroer 2001a:124 ff.). Unter „gefährdet“ versteht er, ausgehend von der Interpretation der Theoretiker Max Weber, Max Horkheimer, Theodor W. Adorno und Michel Foucault, dass die Individuen angesichts des restriktiven „Apparates Gesellschaft“ zu einem bloßen „Rädchen“ im Getriebe verkommen (Foucault 1977a in: ebd., S. 125). Hier erscheint die Gesellschaft dem Individuum als ein Gegenüber, das es in hohem Maße diskriminiert, „verbietet und unterdrückt“ (ebd., S. 125) und ihm keinerlei Möglichkeiten der Entfaltung lässt.1 Die zweite Kategorie des Gestalters spiegelt sich in Schroers „gefährlichem Individuum“ (ebd., S. 274 ff.), wie er es in Anlehnung an die soziologischen 1 | Schroer arbeitet im Rahmen der idealtypischen Konstruktion des „gefährdeten Individuums“ interessanterweise heraus, dass sich diese negativen Haltungen bei den Autoren nicht durchhalten lassen. Zwar erscheinen die Individuen als „Opfer“ in diesen Konstellationen; dieses Verhältnis berge allerdings auch die Möglichkeit, sich diesen Anforderungen zu verwehren. Beispielsweise zeugten die späten Schriften Foucaults vom Aufruf zur individuellen Abwehr dieser gesellschaftlichen Restriktionen. „Diese Haltung zu einem Ethos zu erheben ist das Thema seiner späten Schriften. Ihr Zentrum bildet das Konzept der Selbstsorge, das beides umfasst: Widerstand gegen gesellschaftlich oktroyierte Subjektivierung und die Erfindung von anderen, selbstgewählten Subjektformen. Es geht um die Erfindung eines Selbst als permanenter Prozess.“ (Schroer 2001a:131; Adorno 1972). Diese Abwehrhaltung findet allerdings zunächst auf einer individuellen Ebene statt, das heißt auf der Basis subjektiver Entscheidungsprozesse von Individuen.

4. Anlage der Untersuchung

Theoretiker Emile Durkheim, Talcott Parsons und Niklas Luhmann formuliert. Allerdings wird nach seiner Lesart weniger die Gestaltung als vielmehr die Möglichkeit von Handlungsoptionen in den Vordergrund der Betrachtung gestellt. Er betont hier vor allem, dass moderne Gesellschaften keine Integration mehr durch „gemeinsam geteilte Werte und Normen“ sicherstellen können. Dieser Umstand münde allerdings in eine „gefährliche“ Situation im Hinblick auf die Integrationsfähigkeit von Gesellschaften nach innen und außen. So würden die Individuen zwar nicht mehr, wie oben beschrieben, in ein restriktives Schema gezwungen oder auf bestimmte Verhaltensweisen festgelegt, wie dies in der Kategorie „gefährdet“ beschrieben wird. Dies wäre, nach Schroer, auch wenig effektiv angesichts des schnellen sozialen Wandels, in dem sich die Individuen aufgrund des konstanten Wandels in modernen Gesellschaften befinden. Hier sei es vielmehr so, dass die sozialen und institutionellen Mechanismen auf „lernbereit-kognitive Erwartungsstrukturen umstellen“, d.h. Individuum-Sein wird hier schlicht zur „notwendigen Bedingung für das Funktionieren gesellschaftlicher Ordnung“ (ebd., S. 281 ff.; vgl. Kap. 3.3). Dieser Mechanismus führe dazu, dass strukturelle Anpassungsleistungen dem Individuum nicht bloß aufgezwungen werden können. Es wird hier eher ein Wechselspiel zwischen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und individuellen Anpassungsleistungen zwischen den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und den Individuen beschrieben, die sich gegenseitig beeinflussen und bedingen. Diese Beschreibung lässt dennoch weitgehend offen, wie und ob den Individuen in diesem Wechselspiel Möglichkeiten der Einflussnahme auf gesellschaftliche Prozesse eröffnet werden oder nicht. Schroer hat im Rahmen seiner idealtypischen Rekonstruktionen noch eine dritte Kategorie hinzugefügt, nämlich die des „selbstbezogenen“ Individuums (ebda. S. 438), die er mit Bezug auf die Arbeiten von Michel Foucault, Niklas Luhmann und Ulrich Beck entwirft. Diese lässt, streng genommen, im Sinne des Opfermotivs wieder stark restriktive Züge für das Individuum erkennen: In modernen Gesellschaften entstünde die Notwendigkeit der Selbstfindung und der Selbstdarstellung für die Individuen, was allerdings letztlich dazu führe, „dass das Individuum immer besser erkennbar, klassifizierbar und damit beherrschbar wird“ (ebd., S. 446). Allerdings komme das Individuum trotz gesellschaftlicher Vorgaben nicht darum herum, eine Lebensweise zu generieren, die den eigenen Bedürfnissen nach einem sozialen Beziehungs- und Handlungsgefüge gerecht würde. Hier wird trotz restriktiver Bewertung gesellschaftlicher Vorgaben die Notwendigkeit des individuellen Auslotens eigener Handlungs- und Gestaltungsräume betont (Schroer 2001a, 2001b, 2010).2 2 | Freilich bewertet Schroer hier auf der Basis von zugespitzten Idealtypen. Das eigentliche Verdienst seiner vergleichenden Studie, die aufwendige inhaltliche Aufarbeitung des Individualisierungstheorems im Rahmen ausgewählter soziologischer Theoretiker, zeigt in beeindruckender Weise, wie schwierig eine abschließende Bewertung dieser Prozesse ist.

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Bewertende Sichtweisen auf Individualisierungsprozesse weisen darauf hin, dass es in der soziologischen Debatte eine inhärente Logik gibt, das Verhältnis Individuum und Gesellschaft qualitativ zu bewerten. Dies trifft umso mehr auf gesellschaftstheoretische Entwürfe zu, die diese Prozesse aus einer makrosoziologischen Perspektive beschreiben und entsprechende Thesen generieren. Die Perspektive der subjektorientierten Soziologie3 greift in ihren methodologischen Grundüberlegungen das Bewertungsproblem des Verhältnisses Individuum und Gesellschaft auf und formuliert den normativen Anspruch, sich den bekannten methodologischen Fragen zu stellen, „ohne [allerdings] eine Vorentscheidung zu treffen“ (Voß, Pongratz 1997:14). Diese Vorentscheidungen beziehen sich hier genau auf das Vermeiden von Bewertungen im Hinblick auf soziale Handlungsstrukturen. „[…] Es ging ihr mehr oder minder explizit von Anfang an darum, gegen objektivistische Vereinseitigungen, die in den siebziger Jahren den Mainstream der Soziologie bildeten, Position zu beziehen - zugleich aber ein Abgleiten in subjektivistische Positionen (und damit ein Aufgeben des spezifischen Aufklärungsanspruchs der Soziologie) zu vermeiden und statt dessen, trotz der Reklamation des Subjektiven, ‚soziologisch ausgerichtet‘ zu bleiben“ (ebd., S. 14).

Was vor der Perspektive der subjektorientierten Soziologie relevant wird, ist die Frage nach der „Vermittlung“ (ebd., S. 15; vgl. Kap. 3) des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft. Institutionen, Prozesse und soziale Strukturen vermitteln bekanntermaßen dieses Verhältnis und haben eigene Forschungs3 | Arbeiten zur subjektorientierten Soziologie sind inzwischen seit nahezu vierzig Jahren in Deutschland etabliert und haben eine große Fülle empirischer Untersuchungen hervorgebracht. Die subjektorientierte Perspektive wurde insbesondere in dem Sonderforschungsbereich 333 (Entwicklungsperspektiven von Arbeit 1986-1996) ausgearbeitet und weiterentwickelt. Dieser schloss überlappend an den Sonderforschungsbereich 101 (Theoretische Grundlagen der Berufs- und Arbeitskräfteforschung 1972-1986) an, der sich schon sehr früh mit konzeptionellen Ansätzen der subjektorientierten Soziologie befasste. Wie G. Günter Voß beschreibt, entstand diese neue Sichtweise in München in einer Zeit, „als sich die rigiden Alleinvertretungsansprüche der damals herrschenden Großtheorien (insbesondere von Struktur-Funktionalismus und Marxismus) systematisch zu delegitimieren begannen. Die Folge war, dass man von vornherein bei den theoretischen und empirischen Arbeiten objektivistische wie subjektivistische Einseitigkeiten und Imperialismen vermeiden wollte, was die Bereitschaft für eine differenziertere Betrachtung des Subjekt-Struktur-Problems öffnete und den Blick für jene Momente schärfte, die konkret zwischen ‚Individuum‘ und ‚Gesellschaft‘ vermitteln“ (Voß 1997:204).

4. Anlage der Untersuchung

perspektiven im Rahmen der Disziplin ausgebildet (Esser 2000c). Tatsächlich geht es jedoch auch darum, die konkreten Ebenen der Vermittlung zu identifizieren und zu analysieren. Am Ende steht hierbei die Frage, wie „Personen und Sozialität“ in die jeweils spezifischen gesellschaftlichen Verhältnisse integriert werden und wie diese „Verbindungsstellen“ (nach beiden Seiten) thematisiert und konzeptualisiert werden können (ebd., S. 15). Die subjektorientierte Perspektive der deutschsprachigen Soziologie wird in der vorliegenden Arbeit übernommen, um genau diese Verbindungsstellen im Rahmen des Topos „Individualisierung“ herauszuarbeiten. Vor der Perspektive der theoretischen Annahmen dieser Arbeit wird das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft ausgelotet und soll um theoretische Positionen im Rahmen des Individualisierungstheorems ergänzt werden. Diesem Vorgehen liegt die Überzeugung zugrunde, dem subjekttheoretischen Defizit im Rahmen der theoretischen Diskussionen um Individualisierungsprozesse verstärkt Ausdruck zu verleihen und Vorschläge für eine Erweiterung derselben vorzulegen. Je nach Fragestellung könnte diese Erweiterung auch die Einbeziehung benachbarter Disziplinen wie Philosophie und Psychologie ermöglichen und somit als eine Erweiterung des Themas um interdisziplinäre Ansätze. So scheint gerade die sensible Eruierung subjektiver Positionen in aktuellen modernen Gesellschaften immer wichtiger zu werden, um soziale Prozesse in ihren konkreten und zugleich vielschichtigen Kontexten zu verstehen (Junge 1996). Erst auf der Basis dieser Einblicke können gesamtgesellschaftliche Phänomene in ihrer Differenziertheit betrachtet und bewertet werden. Letzterer Aspekt wird ebenfalls von Voß und Pongratz für die Ansätze einer subjektorientierten Soziologie hervorgehoben. Hierbei wird auch der Anspruch soziologischer Kritik in den Vordergrund gerückt. Allerdings sei diese in erster Linie nicht darauf ausgerichtet, „[…] die Abhängigkeiten der Menschen von sozialen Strukturen und Zwängen auszuweisen, die (frei nach Marx) ‚ohne ihr Wissen und Wollen‘ und ‚unter nicht selbst gewählten Verhältnissen‘, wenn nicht gar ‚hinter ihrem Rücken‘ wirksam sind“ (Voß, Pongratz 1997:15, Hervorh. im Org.).

Diese Sichtweise auf das Individuum als „Opfer“ gesellschaftlicher Verhältnisse wird für die Analyse aktueller gesellschaftlicher Verhältnisse abgelehnt. Dennoch verfolge diese Forschungsperspektive die Intention der „gesellschaftlichen ‚Aufklärung‘“ (ebd., S.15), denn sie frage konsequent danach, wie Individuen auch unter restriktiven Bedingungen autonom handeln könnten. Darüber hinaus wird sie als ein Ansatz betrachtet, die nach dem potentiellen subversiven Charakter von Menschen suche, die den

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Strategien der Individualisierung „[…] Gesellschaftsprozess (z.B. Arbeitsverhältnisse) letztlich notorisch kontingent oder unberechenbar und damit problematisch machen würden. Gleichzeitig stelle sich vor dieser Ausrichtung die Frage nach der sozialen Kreativität und Innovativität von Menschen, durch die Gesellschaft sich weiterentwickeln kann“ (ebd., S.15 ff.; Blättel-Mink, Ebner 2009). 4

Diese kommen freilich umso mehr zum Ausdruck, je mehr soziale Frei-räume für die Entfaltung individueller Kreativität entstehen können. Wie Kreativität bzw. die steigende Vielfalt gesellschaftlicher Optionen von den Individuen in ihre Lebensentwürfe integriert werden, ist hierbei ebenfalls Gegenstand der vorliegenden Untersuchung. Die empirische Operationalisierung von Individualisierungsprozessen ist ein methodisch anspruchsvolles Unterfangen. Die zentralen Herausforderungen dieser Operationalisierung werden im Folgenden auf der Basis von zwei relevanten Arbeiten exemplarisch diskutiert.

4.2 A llgemeine Ü berlegungen zur O per ationalisierung der I ndividualisierungsthese Wie in den vorangegangenen Kapiteln dargestellt, gibt es bereits eine Reihe von Arbeiten, die Prozesse der Individualisierung vor spezifischen Fragestellungen empirisch untersucht haben. Diese Arbeiten wurden in den letzten drei Jahrzehnten vor allem in der Biografieforschung und im Bereich der Sozialstrukturanalysen durchgeführt und haben die Diskussionen in diesen Teildisziplinen enorm bereichert (vgl. etwa Vester 1997; Zinn 2002; Becker, Hadjar 2010; vgl. Kap. 2). Vor einer modernisierungstheoretischen Perspektive gibt es in der deutsch­ sprachigen Soziologie bisher keine empirischen Arbeiten, die Individualisierungsprozesse untersucht haben. Diese Beobachtung wird auch von Nicole Burzan geteilt, die sich im Rahmen der soziologischen Ungleichheitsforschung intensiv mit Individualisierungsprozessen beschäftigt hat. Sie bestätigt ebenfalls, dass auf Basis der Debatten um die Individualisierungsthese5 zwar eine Vielzahl empirischer Arbeiten in soziologischen Teildisziplinen entstanden sei, dennoch suche man in der empirischen Forschung noch vergebens nach einem „überzeugend umgesetzte[n] Prüfungskonzept“ (ebd., S. 431; Zinn 2002; Poferl 2010) der These. Unterziehe man diese Beispiele einer genaueren 4 | Die Autoren berufen sich hierbei auf den Begründer der subjektorientierten Soziologie in Deutschland, Karl Martin Bolte (1925-2011), der schon zu Beginn der 1980er Jahre diese spezifische Kritikhaltung formuliert hatte. 5 | Burzan bezieht sich in ihren Ausführungen auf die soziologischen Debatten im Rahmen der Individualisierungsthese (vgl. Kap. 2).

4. Anlage der Untersuchung

Untersuchung, so würden sich methodologisch relevante Unterscheidungen – unabhängig von der spezifischen Fragestellung – zunächst auf anwendbare Unterscheidungen wie „Makro-/Mikroebene, Struktur/Kultur oder objektive/ subjektive Aspekte“ (Burzan 2011b:420; vgl. auch Zinn 2002) beziehen. Diese Unterscheidungen seien zwar in einem ersten Schritt wichtig und hilfreich, würden der Komplexität der Individualisierungsthese jedoch nicht gerecht. Burzan plädiert aus diesen Gründen für eine umfassende Operationalisierung der Individualisierungsthese, die quantitative Untersuchungselemente genauso miteinschließe wie qualitative. Ein erster Schritt müsse hier die definitorische Klärung sein, was überhaupt unter Individualisierung zu fassen sei. Hier bezieht sich Burzan zunächst auf die drei „klassischen“ Dimensionen, die folgende Prozesse beschreiben (ebd., S. 419 ff.; vgl. auch Kap. 2): (a) Prozesse der „Freisetzung“ der Individuen aus traditionellen Strukturen, (b) Prozesse der „Entzauberung“ von kollektiv leitenden Normen und Orientierungsmustern sowie (c) Prozesse der „Reintegration“ in neue Formen der sozialen Einbindung. Die theoretische Herausforderung besteht für sie nun darin, alle drei Dimensionen gleichermaßen zu berücksichtigen sowie die empirischen Kriterien, die noch unterhalb dieser Ebenen liegen, in Beziehung zueinander zu setzen. Beispielsweise wäre hier zu klären, wie Handlung mit Wahrnehmung in ein Verhältnis gesetzt werde könne oder wie subjektive Wahrnehmungsformen ermittelt und mit gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, also den objektiven Kriterien, in Einklang gebracht werden könnten. Allein die Klärung dieser Fragen sei außerordentlich komplex und erfordere, so Burzan, eine systematische Erarbeitung der übergeordneten Fragestellungen (ebd., S. 423 ff.). Vor diesen konzeptionellen Überlegungen beziehen sich bei Burzan die zentralen Probleme der Operationalisierung der Individualisierungsthese auf zwei methodische Herausforderungen. Zum einen nennt sie hier die Falsifizierbarkeit, das heißt die Reflexion darüber, was als Befunde für und was als Befunde gegen Individualisierung gewertet werden könnten. Diese Frage wird von ihr an dem prägnanten Beispiel erörtert, „[…] ob Kinderlosigkeit von Akademikerinnen als schichtspezifisches Phänomen oder als Restrukturierung im Sinne von Individualisierung einzuordnen“ (ebd., S. 428)

sei. Zum anderen auf die Gültigkeit von Indikatoren/Indizes, die in subjektiv nachvollziehbarer Weise Individualisierung anzeigen müssten (ebd., S. 424). Beide Aspekte weisen eindrücklich auf die Notwendigkeit hin, die „Probleme des zeitlichen Vergleichs und der räumlichen Geltungsreichweite“ (ebd., S. 429) mit zu berücksichtigen. So müssten im Grunde, nach Burzan, „objektive“ Implikationen (sozialstrukturelle Veränderungen) mit „subjektiven“ Implikationen (subjektive Wahrnehmungen) korreliert werden, und diese Über-

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prüfung müsste in einem weit gefassten Vorher-Nachher-Schema angelegt werden. Die Überprüfung der These auf dieser zeitlichen Achse sei jedoch eng verknüpft mit „[…] den Problemen der Datenbeschaffung […], etwa ob Quellen für einen Zeitvergleich der Handlungsorientierungen existieren und ob sie – seien es retrospektive Interviews, Tagebücher, Briefe etc. – eindeutig interpretierbar sind“ (ebd., S. 427).

Ähnliche methodische Ansprüche formuliert Jens Zinn an eine Operationalisierung im Rahmen der „Erforschung von Individualisierungsprozessen“ (Zinn 2002:22).6 Ausgehend von der allgemeinen Frage, wie Individualisierungsprozesse auf der Akteursebene erfasst werden könnten, ruft er zunächst die bekannten methodologischen Probleme des „Verhältnis[ses] von Akteur und Struktur auf oder genauer: von Individuen, Institutionen und Sozialstruktur“ (ebd., S. 27; vgl. Kap. 3). Im Laufe seiner Ausführungen bezieht er sich dann konkret auf die Debatte im Rahmen der Individualisierungsthese und kritisiert an den Ausführungen Becks, dass insgesamt „die subjektive Seite der Individualisierung theoretisch-konzeptionell unterbelichtet“ (ebd., S. 30; Poferl 2010) geblieben sei. Diese Diagnose bewertet er nicht nur als theoretisches Defizit, sondern plädiert vehement dafür, dass diese Dimension auch im Rahmen konzeptioneller Ansätze zur empirischen Umsetzung der These langfristig mehr Aufmerksamkeit findet. Vor diesen Überlegungen betont er – ähnlich wie Burzan – die Notwendigkeit, die „objektive Sozialstruktur“ mit seinen allgemeingültigen Strukturvorgaben „wie sie etwa in Scheidungs-, Arbeitslosen- oder Fertilitätsraten zum Ausdruck kommen“ (ebd., S. 27) mit der subjektiven Seite, also mit den subjektiven Einstellungen der Individuen, zu korrelieren. Diese subjektive Seite entfalte sich für ihn in „[…] gängigen Deutungsmustern bezüglich des Erwerbslebens, Familie, Partnerschaft oder Geschlechtsrollen“ (ebd., S. 27)

und müsse unbedingt in die empirische Erfassung aufgenommen werden. Auch er bewertet die Korrelierung der objektiven mit der subjektiven Seite als die methodische Herausforderung der empirischen Umsetzung der Individualisierungsthese, was er auf der Basis unterschiedlicher Vorgehensweisen wie beispielsweise der quantitativ ausgerichteten Sozialstrukturanalyse sowie der qualitativ ausgerichteten Biografieforschung exemplifiziert.7 6 | Zinn bezieht sich hier auf Individualisierungstrends im Bereich der Lebenslaufforschung im Rahmen der (deutschsprachigen) Soziologie. 7 | Zinn führt die strikte „Trennungslogik zwischen objektiv und subjektiv“ auch auf die traditionelle Arbeitsteilung in der deutschen Sozialforschung zurück, die sich mit die-

4. Anlage der Untersuchung

Um dieses Problem offensiv anzugehen, schlägt Zinn das Modell der „situationsübergreifenden Handlungslogik“ (ebd., S. 38) vor. Dieses Modell beziehe sich im Rahmen der Untersuchung auf die Abfrage von konkreten Handlungen und nicht nur auf Wünsche, Vorstellungen und kognitive Lebensentwürfe der Individuen. „[…] Mit dem simultanen Bezug auf den Handlungssinn soll gleichzeitig die Unauflöslichkeit der Verbindung von Handlung und Handlungssinn gesichert werden. Dementsprechend sind nicht nur Handlungsresultate, sondern auch Handlungslogiken nur unter Bezug auf den individuell zugeschriebenen Sinn verstehbar, bzw. ableitbar“ (ebd., S. 39). 8

Ein interessanter Aspekt des Modells der „situationsübergreifenden Handlungslogik“ (Zinn 2002) erscheint hierbei, dass objektive und subjektive Implikationen von Individualisierungsprozessen in Übereinstimmung gebracht werden können, indem sie in eine bestimmte Zeitenabfolge angelegt werden. So betont Zinn gerade den Zeitaspekt als eine relevante Komponente der Untersuchung, da nur über einen zeitlichen Verlauf hinweg Individualisierungsprozesse überprüft werden könnten. Die Forschungsfragen, die nach Zinn auf der Basis seines Modells relevant werden, beziehen sich in erster Linie auf Veränderungen in den Handlungslogiken der Individuen. Die vergleichende Perspektive der konkreten Handlung sowie der Ermittlung der Sinnbezüge, die dieser Handlung zugrunde liegt, hebt methodische Gegensätze zunächst auf und versucht beides, Handlung und Sinn, in ein soziologisches Erklärungsmodell zu überführen. So könnten zentrale Fragen lanciert werden wie sie, nach Zinn, exemplarisch schon früh bei Beck formuliert wurden: „[…] liegt der Kern in einem ‚aktiven Handlungsmodell des Alltags‘ und einem ‚ich-zentrierten Weltbild‘ (Beck 1986, S. 217)? Sind ganz neue Umgangsweisen mit Strukturerfahrungen zu beobachten, die sich von allem bisher Dagewesenen unterscheiden? sen unterschiedlichen Konzepten geradezu institutionalisiert habe. Während sich die Sozialstrukturanalyse an formalen Indikatoren (z. B. Geschlecht, Berufsstatus, Familienstatus) abarbeite, beziehe sich die Biografieforschung auf die Innenperspektive der Akteure (Identität, Deutungsmuster etc.). Die Frage sei nun, wie man „von Handlungsresultaten und Deutungsmustern zu allgemeinen Handlungs- und Strukturierungslogiken des Lebenslaufs“ komme (Zinn 2002:37 ff.). Problematisch bleibt für ihn auf jeden Fall immer die Gefahr des Fehlschlusses zwischen institutionellen Rahmenbedingungen mit der personalen Individualisierung. 8 | Nach Zinn handelt es sich bei den ‚übersituativen Handlungslogiken‘ um Kons-trukte zweiter Ordnung, da sie das eigene Tun aus einer übergeordneten Instanz bewerten und interpretieren (Zinn 2002).

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Strategien der Individualisierung Oder handelt es sich eher um eine Modifikation von Bekanntem, während sich an der Handlungslogik nicht Grundlegendes ändert?“ (ebd., S.40).

Diese und ähnliche Fragen sind bei Zinn eindeutig auf der Akteursebene angesiedelt, die mit dem Ziel untersucht werden sollten, eine spezifische „individualisierte Handlungspraxis zu identifizieren“ (ebd., S. 41), die den zeitlichen Wandel sichtbar macht. Was Zinn in seinem Vorgehen betont, ist so das Sichtbarmachen von konkreten Handlungen sowie der Sinnstruktur, die diesen Handlungen zugrunde liegt. Es wird hierbei deutlich, dass Zinn die Erhebung von Individualisierungsprozessen auf einer akteurszentrierten Ebene ansiedelt und den methodischen Fokus auf qualitative Untersuchungsmethoden legt. Die methodischen Überlegungen von Burzan und Zinn weisen signifikant auf die methodischen Herausforderungen im Rahmen der Operationalisierung von Individualisierungsprozessen hin. Ihre Betrachtungen zeigen, wie komplex sich diese Operationalisierung gerade durch die Gegenüberstellung des Verhältnisses Individuum versus Gesellschaft gestaltet. Denn so entsteht die Notwendigkeit der Differenzierung und der Harmonisierung „objektiver“ und „subjektiver“ Implikationen von Individualisierungsprozessen. Am Ende kann dieser Gegensatz im Rahmen beider Vorschläge nicht aufgehoben werden, denn es bleibt fraglich, wie die Auswahl derjenigen sozialen Implikationen, was als Individualisierung anzuerkennen sei und was nicht, kaum zu überblicken scheint. Zinn reagiert auf dieses Problem, indem er ein akteurszentriertes Modell vorstellt, das diese Implikationen aus Sicht der Akteure ermitteln lässt und überführt diese Methode in einen zeitlichen Verlauf. Dieses Vorgehen wird als methodische Grundstruktur für die vorliegende Arbeit ebenfalls vorgeschlagen. Gleichzeitig wird jedoch auf der Basis der konzeptionellen Ausrichtung der Arbeit die Gegenüberstellung von „objektiv“ und „subjektiv“ methodisch aufgehoben. So entfalten sich äußere, also „objektive“ Aspekte durch die inneren, also „subjektiven“ Wahrnehmungsformen der Individuen und vice versa. Das re-entry zwischen Gesellschaft und Individuum findet so auf der Bewusstseinsebene derselben statt und wird zunächst nicht als Gegensatz konstruiert. Zusammenfassend lassen sich folgende methodische Implikationen für die empirische Ausrichtung formulieren: • Inhaltliche Implikationen des Individualisierungstheorems: (a) Prozesse der „Freisetzung“ der Individuen aus traditionellen Strukturen, (b) Prozesse der „Entzauberung“ von kollektiv leitenden Normen und Orientierungsmustern sowie (c) Prozesse der „Reintegration“ in neue Formen der sozialen Einbindung. Dieser „klassische“ Dreiklang von Individualisierung ist in der Literatur idealtypisch dargestellt und beschreibt historische Prozesse aus einer makrosoziologischen Perspektive. Werden diese Prozesse auf einer mikrosoziologischen Ebene nachvollzogen, verweisen sie erstens

4. Anlage der Untersuchung

auf spezifische historische Rahmenbedingungen gesellschaftlicher Verhältnisse und zweitens auf eine große Vielfalt sozialer Prozesse, die als Individualisierungsprozesse ausgewiesen werden müssen. Darüber hinaus beinhalten sie immer beide Betrachtungsweisen: eine Innenperspektive sowie eine Außenperspektive, die in Übereinstimmung gebracht werden müssen. • Zeitliche Reichweite als Überprüfungsbasis für Individualisierungsprozesse: die Frage, wie und ob Freisetzungsprozesse stattgefunden haben, kann nur in einem Schema der zeitlichen Reichweite beantwortet werden; dies muss allerdings nicht notwendigerweise in einem strikten Vorher-Nachher-Schema stattfinden, sondern kann ebenso anhand eines zeitlich definierten Ablaufschemas rekonstruiert werden. • Korrelation von „objektiven“ und „subjektiven“ Implikationen: die Vorstellung von Individualisierungsprozessen legt die Idee nahe, dass äußere (sich wandelnde) Faktoren einer „objektiven“ Sozialstruktur (Sozialbeziehungen, Qualifikationsstruktur, Geschlechterbeziehung etc.) auf die Individuen einwirken und auf der „subjektiven“ Ebene die Wünsche, Einstellungen und langfristig die Handlungsebene der Individuen beeinflussen können und vice versa. Dieses Zusammentreffen ist in dieser Vorstellung als ein kausaler Prozess angelegt, der beispielsweise (aus einer Außenperspektive) darüber entscheidet, ob Kinderlosigkeit als ein Merkmal für eine individuelle Entscheidung einzuschätzen ist oder aber als spezifischer Ausdruck weiblicher Professionalisierungstrends. Eine kausale Strukturlogik zwischen „objektiven“ und „subjektiven“ Bedingungen wird hier nicht übernommen. Individualisierungsprozesse werden auf einer individuellen Ebene als vielschichtige, dynamische und widersprüchliche Prozesse betrachtet, die aus Sicht der (Selbst-)Wahrnehmung von Individuen generiert werden. Die „Objektivierung“ der Daten wird im Anschluss an diese Erhebung durchgeführt, in dem Rückschlüsse auf die gesellschaftlichen, also „objektiven“ Verhältnisse gezogen werden. Das Phänomen „Kinderlosigkeit“ könnte vor diesem Vorgehen beispielsweise als Ausdruck einer individuellen Entscheidung in einem spezifischen sozialen Kontext verstanden werden. Gleichzeitig könnte diese Entscheidung auch, generalisiert betrachtet, Ausdruck aktueller Entwicklungen sein, die von einer Vielzahl hochqualifizierter Frauen in unterschiedlichen Kontexten gleichermaßen getroffen wird. Es zeigt sich hierbei, dass das soziale Phänomen die beiden Seiten derselben Medaille anzeigt und eine Entscheidung über den Charakter des Phänomens gar nicht erst getroffen werden muss. Die „objektiven“ Rahmenbedingungen wirken in unterschiedlichen Formen auf die individuellen Lebensbedingungen der Menschen ein und kreieren eine Vielzahl an individuellen sozialen Entscheidungsund Handlungsstrukturen, deren Sinnstruktur jedoch empirisch erschlossen

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Strategien der Individualisierung

werden muss. Diese soziale Vielfalt in generalisierende soziologische Perspektiven gesellschaftlicher Prozesse zu überführen, soll hierbei auch ein Ergebnis der Analyse von aktuellen Individualisierungstrends sein.

4.3 D ie O per ationalisierung der F orschungsthese Der vorliegenden Arbeit liegt die These zugrunde, dass soziostrukturelle Anforderungen individualisierter Gesellschaften von den Individuen in vielfältiger Weise in ihre Lebensverläufe integriert und auf der Basis von Handlungsstrategien umgesetzt werden. Die Bewertung von Risiken und/oder möglichen Freiheitsgraden im Rahmen von Individualisierungsprozessen muss vom Individuum selbst vorgenommen werden. Diese Anforderungen haben Konsequenzen für die Selbstwahrnehmung und die Selbstbeschreibung der Individuen auf ihre Lebensprozesse. Aus einer Außenperspektive weisen sie gleichzeitig auf die Formen des Eingebundenseins der Individuen in spezifischen historischen Kontexten moderner Gesellschaften. Hierbei werden Strategien der Selbstwahrnehmung sowie der Reflexion auf die eigene Individualität als Bewältigungsressource unerlässlich, um aktuellen gesellschaftlichen Erwartungen Genüge leisten zu können. Diese Forschungsperspektive wird im Rahmen der folgenden Untersuchung überprüft, wobei sich die übergeordnete Frage dezidiert an die Formulierung der These anlehnt: wie gehen Individuen mit der Erwartung und/oder der Anforderung steigender Individualisierungstrends tatsächlich um und welche Strategien entwickeln sie hierbei, um mit diesen Anforderungen umgehen zu können. Freilich beinhaltet die Beantwortung dieser Leitfrage eine Reihe von untergeordneten Fragen, die sich auf diesen Kontext konkret beziehen: Wie nehmen Individuen die Pluralität sowie die Offenheit ihrer Lebensoptionen wahr? Welche Erwartungen werden angesichts dieser Pluralität und Offenheit aus Sicht der Individuen an die Lebensentwürfe gestellt? Wie wird die alltagsweltliche Praxis bzw. wie werden Handlungsstrategien nach diesen Formen ausgerichtet? Wie werden Misserfolge, beispielsweise das Scheitern einer Ehe oder etwa Abbrüche in der Erwerbsbiografie, bewertet? Wie wirkt sich die Vielfalt des Lebens auf die Selbstwahrnehmung der Individuen bzw. auf die Wahrnehmung des eigenen Lebensvollzugs aus? Die Kriterien der Untersuchung sind hierbei an die Vorstellung geknüpft, dass Prozesse der institutionalisierten Freisetzung an Prozesse der Selbstreflexion der Individuen gekoppelt werden. Es geht hier also weniger um die bloße empirische Beobachtung, dass Freisetzungsprozesse über lange historische Zeiträume stattfinden, sondern dass Individuen mehr und mehr aufgefordert werden, Freisetzungsprozesse reflexiv wahrzunehmen und langfristig (aktiv) in ihrer biografischen Planung und somit in ihrem Alltagshandeln umzusetzen.

4. Anlage der Untersuchung

Dieses Alltagshandeln kann sich auf vielseitige biografische Themen beziehen. Es berührt vor allem langfristige Entscheidungen wie etwa Berufs- und Partnerwahl im Rahmen der eigenen biografischen Gestaltung. Es kann aber durchaus auch Einfluss auf schwerwiegende Entscheidungen wie Scheidungen von Eheverhältnissen, berufliche Abbrüche oder biografische Neuorientierungen haben, die die Individuen mit den „institutionalisierten Lebensverläufen“ (Kohli 1985) konfrontieren. Es können jedoch auch Entscheidungen sein, die die Individuen immer häufiger in die Lage versetzen, die eigenen Lebensvisionen zu überprüfen, wie etwa bei der Entscheidung zu künstlichen Befruchtungsverfahren oder der Entscheidung, die eigenen Eltern im Alter zu pflegen und vieles mehr. Die Anzahl der Entscheidungen scheint hierbei freilich nicht das Entscheidende zu sein. Entscheidend ist die Frage, ob die Individuen tatsächlich in die Lage gebracht werden, über die individuelle Gestaltung ihres Lebens zu entscheiden und wie sie diese Formen der Entscheidung tatsächlich wahrnehmen. Im Vordergrund soll hier neben der Ermittlung subjektiv wahrgenommener Individualisierungsprozesse auch die Beantwortung der Frage stehen, welche Handlungsstrategien notwendig werden, um den Erwartungen einer individuellen Ausrichtung des Lebens zu genügen. Das Aufeinandertreffen der äußeren sozialen Welt mit der inneren, der subjektiv wahrgenommenen Sicht auf die Welt, wird zur Schnittstelle zwischen dem Individuum und der Gesellschaft rekonstruiert und zum „Ort“, an dem sich Individualität konstituiert. Hierbei wird auch die Frage eine besondere Rolle spielen, in welchem Maße die Individuen den Verlauf ihrer Biografie zunehmend selbst verantworten müssen und/oder wollen. Die Einschätzung dieser Frage berührt den Ausblick auf mögliche Freiheitsgrade individuellen Entscheidens in besonderem Maße. Denn diese Perspektive fragt danach, „[…] wo überhaupt im Handeln von Menschen innerhalb bestimmter gesellschaftlicher Strukturen jene Momente liegen, die zur Reproduktion dieser Strukturen führen, und wo Spielräume individueller Autonomie bleiben“ (Bolte 1983 in: Voß, Pongratz 1997:16)

können. Es geht also auch um die Eruierung derjenigen gesellschaftlichen Strukturen, die die Impulse zu individuell wahrgenommenen Freiheitsgraden geben und auf einer äußeren Ebene „objektiviert“ werden können. So wird ein dynamisches Wechselverhältnis zwischen sozialen Strukturen und den Ausdrucksmöglichkeiten der Individuen kreiert, das, neben der Beschreibung sozialstruktureller Institutionen und Regulative, auch Raum für „weitere Vermittlungsinstanzen“ (Voß 1997:214) zwischen Individuum und Gesellschaft entstehen lassen kann. Wie oben ausgeführt liegt der Arbeit die theoretische Annahme zugrunde, dass das Individuum und seine Individualisierungsprozesse konzeptionell zu-

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sammenfallen und analytisch nicht getrennt betrachtet werden können. Die im Rahmen der Literatur vielbeachtete Frage, wie sich die „objektive“ mit der „subjektiven“ Seite von Individualisierungsprozessen in Einklang bringen lässt, stellt sich vor dieser Perspektive auf der konzeptionellen Ebene zunächst nicht. Das Individuum und seine Individualität werden hier als eine Einheit verstanden, die die „‚objektive“ Seite, also alle Umwelteinflüsse, in einen zeitlichen Vollzug übersetzt und diese über Bewusstseins- und Reflexionsprozesse in ein „subjektiv“ sinnstiftendes Geschehen, in den eigenen biografischen Lebensvollzug, integriert. Vor diesem methodischen Anliegen wird die empirische Überprüfung „subjektiver“ Wahrnehmungen und Handlungen auf der Basis der Methoden qualitativer Sozialforschung durchgeführt. Hierbei geht es nicht um die empirische Überprüfung des quantitativen Anstiegs biografischer Entscheidungsoptionen, also der bloßen Beobachtung von pluralen Lebensformen. Es geht im Gegenteil darum zu untersuchen, inwieweit diese Optionen einer Reflexion unterzogen werden und inwieweit diese Überprüfung im Rahmen eigener Lebenskontexte sinnhaft integriert wird. Ob diese Prozesse als „Zunahme von Freiheitsgraden“ oder aber als „Zunahme von subjektiven Belastungen“ wahrgenommen werden, soll hierbei weitgehend offen, das heißt ohne vorläufige Bewertungen, untersucht werden. Wie Küsters betont, sollen Forschungsfragen der qualitativen Sozialforschung „tendenziell offen gehalten“ (Küsters 2006:39) werden. „[…] Grundsätzlich gesprochen ist die Offenheit ein Konstituens von qualitativen Forschungsprozessen. In der Auseinandersetzung mit dem erhobenen empirischen Material kann sich im Fortgang der Untersuchung sogar die Fragestellung verschieben“ (ebd., S. 39; Flick 1995).

Der explorative und der qualitative Charakter der Untersuchung betonen hier explizit die Erhebung der Sinnstruktur individuellen Handelns. Gemäß den Methoden qualitativer Sozialforschung werden die Daten zunächst auf einer subjektiven Ebene generiert, um sie, in verschiedenen Auswertungsphasen, auf einer aggregierten Ebene zu verallgemeinern. Gleichzeitig wird eine qualitative Methode ausgewählt, die mit den zentralen methodischen Herausforderungen der Operationalisierung des Individualisierungstheorems korres-pondiert: dem Vergleich auf einer Zeitachse sowie der räumlichen Geltungsreichweite des Untersuchungsgegenstandes. Dies erscheint umso wichtiger, da Individualisierungsprozesse auf einer individuellen Ebene erst über teilweise lange Zeitverläufe wahrgenommen werden können. Aus diesen Gründen wurde die wissenschaftliche Methode des narrativen Interviews ausgewählt, um den besonderen Herausforderungen der empirischen Untersuchung gerecht zu werden.

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4.4 D ie wissenschaf tliche M e thode : narr ative I ntervie ws Die empirische Umsetzung der Forschungsthese wird auf der Basis der qualitativen Methode der narrativen Interviews durchgeführt.9 Der Einsatz dieser Methode erscheint im Rahmen der Analyse von Individualisierungsprozessen besonders sinnvoll, da sie zum einen erlaubt, in retrospektiven Verfahren die zeitlichen und räumlichen Dimensionen von Individualisierungsprozessen abzubilden. Zum anderen ist sie eine Methode, die in der Lage ist, das Verhältnis von Sinnstruktur und Handlungsstruktur von sozialen Phänomenen retrospektiv auf einer Zeitachse darzustellen. Vor diesem Hintergrund bietet sich diese Methode in der Überprüfung der Individualisierungsthese in besonderem Maße an, da die „Erzählung – und zwar die nicht vorbereitete Stegreiferzählung – am ehesten die Orientierungsstrukturen des faktischen Handelns reproduziere“ (Przyborksi, Wohlrab-Sahr 2010:93, Hervorh. im Original; Hermanns 1995). Als Stegreiferzählungen werden in diesem Kontext „spontane Erzählungen“ (Hermann 1995:183) verstanden, die mit Hilfe eines „Einlasses“ wie beispielsweise einer Behauptung initiiert werden und von den Erzählenden „aus dem Stegreif“ entwickelt werden. Diese Erzählungen basieren in der Regel auf einer selbsterlebten Geschichte, die „erzählend“ nachvollzogen wird. So ermöglicht dieser Erzählakt, dass „vergangene Erfahrungen rekonstruiert und in einen Zusammenhang gebracht [werden]“ (ebd., S. 183). Die zeitlichen Zusammenhänge und Handlungsstrukturen werden von dem Erzählenden selbst sinnhaft gedeutet und nachvollzogen. Nach Küsters ging der Begründer dieser Methode, Fritz Schütze, davon aus, dass die Erzählung der erlebten Geschichte dem Schema der Sachverhaltsdarstellung am nächsten kommt.

9 | Die Methode der narrativen Interviews „gehört wohl zu den prominentesten und zu den grundlagentheoretisch fundiertesten Erhebungsverfahren im Bereich der qualitativen Sozialforschung“ (Przyborski, Wohlrab-Sahr 2010:92). Die ausgearbeiteten Verfahren beziehen sich in der Regel auf die „Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen“ und hier insbesondere auf Fritz Schütze. Die Methode wurde in Deutschland seit Mitte der 1970er Jahren entwickelt und beruft sich konzeptionell auf die Arbeiten der phänomenologisch orientierten Soziologie (Alfred Schütz), der Ethnomethodologie, des Symbolischen Interaktionismus (George Herbert Mead) sowie der Grounded Theory (Anselm Strauss und Barney Glaser). Die Auswertung der Daten basiert meist auf konzeptionellen Annahmen der Sprachsoziologie und der Psychoanalyse (Küsters 2006, WohlrabSahr 1999, kritisch etwa Bude 1985, Überblick über das Verfahren Maindok 1996).

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Strategien der Individualisierung „[…] Die Struktur der Erfahrung – so seine These – reproduziert sich in der Struktur der Erzählung, während andere Formen der Sachverhaltsdarstellung – wie das Beschreiben oder das Argumentieren – in größerer Distanz zu dieser Erfahrung stehen“ (ebd., S. 93).

Das Grundprinzip dieser Methode basiert auf der Annahme, dass die soziale Wirklichkeit mit ihren Tatbeständen nicht „außerhalb des Handelns der Gesellschaftsmitglieder ‚existiert‘, sondern jeweils im Rahmen kommunikativer Interaktionen hergestellt wird“ (Küsters 2006:18). In diesem Prinzip schwängen in besonderem Maße die Grundideen der phänomenologischen Soziologie mit, in denen sozialer Sinn, Handlungsstrukturen und Subjektivität konzeptionell verbunden würden (vgl. Schütz 1974). Charakteristisch für die Methode des narrativen Interviews ist die autobiografische Erzählung, die im Rahmen einer Interviewsituation zwischen Befragten und Fragenden hergestellt und durchgeführt wird. Wie Przyborski und Wohlrab-Sahr herausgearbeitet haben, werden diese Erzählungen durch eine „temporale Verknüpfung“ sowie durch einen „strukturellen Auf bau der Erzählung“ charakterisiert (Przyborski, Wohlrab-Sahr 2010:224 ff.). Der erste Aspekt bezieht sich „auf temporale Verknüpfungen, in denen eine bestimmte zeitliche Abfolge zum Ausdruck kommt“ (ebd., S. 224). Auf diese Weise werden Biografie und Ereignisse in eine soziale und kausale Beziehung gesetzt. Im zweiten Aspekt – dem strukturellen Auf bau der Erzählung – werden „strukturelle Merkmale der Erzählung herausgearbeitet“, die in unterschiedliche Sequenzen eingeteilt sind. Diese haben „teils referentielle, teils evaluative Funktionen“ (ebd., S. 225 ff.).10 Die Methode der narrativen Erzählung überlässt hierbei dem Befragten weitgehend die Ausgestaltung dieser Erzählung, da der Befragte nicht in distanzierter Weise und in Dialogform zu einem Geschehen befragt wird, sondern, im Gegenteil, dazu aufgefordert wird, das vergangene Geschehen in einem Erzählstrang zu rekonstruieren und dadurch selbst wieder zu durchleben. Dieses Vorgehen soll dazu führen, „seine Erinnerung daran möglichst umfassend in einer Erzählung zu reproduzieren“ (Küsters 2006:21; Wohlrab-Sahr 1999; Hermanns 1995), um so die Orientierungsstruktur dieses Geschehens nachzuvollziehen. Vor diesem spezifischen Hintergrund ist diese Methode als Erhebungsverfahren freilich nur dort geeignet, „wo selbst erlebte Prozesse erzählt werden können“ (Przyborski, Wohlrab-Sahr 2010:96), wo also subjektive und objektive Darstellungsformen zusammen erhoben werden sollen. 10 | Przyborksi, Wohlrab-Sahr nennen hier folgende Sequenzen: Abstrakt, Orientierung, Handlungskompilation, Evaluation, Resultat und Koda. Die Koda ist diejenige Sequenz, die den Bogen zur Gegenwart der Erzählsituation schlägt. Diese findet sich jedoch nicht in allen Erzählungen (Przyborksi, Wohlrab-Sahr 2010:228; Küsters 2006; Schütze 1983).

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In ihrer idealen Form basiert diese biografische Nacherzählung auf drei zentralen „Darstellungsformen: Erzählen, Beschreiben und Argumentieren“, die allerdings „in ein zusammenhängendes Geschehen“ (Hermanns 1995:183) eingebunden sind. Die dominante Form der Darstellung ist vor diesem Hintergrund die Erzählung selbst, schließt allerdings das Reflektieren über Entwicklungsprozesse im Rahmen dieser Erzählung nicht aus, sondern lässt den Strom der Ereignisse in einer spezifischen Bewusstheit an sich vorbeiziehen.11 Generell kann die Methode des narrativen Interviews vielseitig angelegt werden. So ermöglicht sie beispielsweise, nur ein einziges Interview sorgfältig zu erheben und auf der Basis dieses Einzelfalles Daten zu generieren. Ebenso ist es mit Hilfe eines „besonders konturierten Falles oder durch die Kon-trastierung von zwei, gegebenenfalls extrem unterschiedlichen Fällen [ist es] möglich, zu verallgemeinerbaren Aussagen und zu Grundstrukturen des untersuchten sozialen Prozesses vorzustoßen“ (Küsters 2006:41; Schütze 1977). Um allerdings „theoretische Repräsentativität“ (Herrmanns 1992 in: ebd., S. 41) herzustellen, das heißt eine gewisse Vielfalt an „Varianten eines sozialen Phänomens“ (ebd., S. 41) zu erheben, sollte man mehrere Fälle rekonstruieren und vergleichend auswerten. Dieses Vorgehen erschien in der vorliegenden Arbeit notwendig, um überhaupt erste Schlussfolgerungen über Form und Gestalt von Individualisierungsprozessen ziehen zu können. Die vergleichende Perspektive auf die unterschiedlichen biografischen Narrative erschien aus diesen Gründen besonders aufschlussreich, um analysieren zu können, wie sich ähnliche „objektive“ Rahmenbedingungen auf die „subjektive“ Wahrnehmung auswirken könnten. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Methode des narrativen Interviews in der vorliegenden Arbeit als besonders geeignet betrachtet wird, um die Frage zu untersuchen, wie Individuen „Freisetzungsprozesse“ wahrnehmen und wie sie Handlungsstrukturen danach ausrichten bzw. in ihren biografischen Verlauf integriert haben. Durch die Form der autobiografischen Erzählung, die notwendigerweise retrospektiv angelegt wird, wurde ein zeitlicher und räumlicher Handlungsverlauf generiert, der Individualisierungsprozesse aus einer subjektiven Perspektive darstellen konnte. Ausgangspunkt und Stimuli dieser Erzählung war die prägnante Definition Becks (vgl. Kap. 4.3) zu Individualisierung, die die Interviewpartnerinnen und Interviewpartner aufforderte, in einem erzählenden Rückblick der Frage nachzugehen, 11 | Die Methode des narrativen Interviews ist nur dort sinnvoll und ergiebig, wo der Untersuchungsgegenstand ein Prozessgeschehen darstellt. Küsters gibt hierbei zu bedenken, dass „sich Untersuchungen mit dem narrativen Interview immer in der Zeitebene der Retrospektive bewegen. Mit dem narrativen Interview kann man also nicht erheben, wie Singles jetzt leben, wohl aber, welche Bedingungen und biographische Entscheidungen dazu geführt haben, dass sie jetzt Singles sind“ (Küsters 2006:40).

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inwieweit sie sich im Verlauf ihres Lebens selbst als die „Auslöffler der Suppe“ betrachten, die sie sich „eingebrockt haben“ (Beck 1983:58 ff.). So sollten sie der Frage nachspüren, wie „entscheidungsoffen“ bzw. wie „entscheidungsverschlossen“ sie selbst ihre eigene biografische Entwicklung wahrnehmen und aus einer ex-post-Perspektive bewerten. Diese Erzählperspektive wurde über einen Zeitraum von mindestens dreißig Jahren angelegt und eröffnete zwei wichtige Aspekte: erstens wurde durch diese Methode sorgfältig eruiert, welche Vorstellungen über „entscheidungsoffene“ bzw. „entscheidungsverschlossene“ Optionen aus einer subjektiven Perspektive bei den Interviewpartnerinnen und -partnern tatsächlich existierten und diese wurden von denselben semantisch nachvollzogen. Zweitens konnte über diese Erzählform rekonstruiert werden, welchen handelnden Einfluss die Individuen tatsächlich auf diese Entscheidungsstrukturen hatten und welche konkreten Individualitätsanforderungen über längere Zeiträume aus diesen Anforderungen erwachsen sind.

4.5 D ie A uswahl der I ntervie wpartnerinnen und I ntervie wpartner Das Kernstück der empirischen Untersuchung bildeten die narrativen Interviews, die einen Einblick in vielfältige Individualisierungsprozesse von konkreten Einzelfällen eröffneten. Die oben umrissene soziologische Debatte der Individualisierungsthese wurde als methodischer Rahmen gewählt, um der zeitlichen Entwicklungsgeschichte der These zu folgen und sie gleichzeitig empirisch nachzuvollziehen. Es wurden daher Interviewpartnerinnen und -partner ermittelt, die in den 1980er Jahren am Beginn ihres biografischen Erwachsenenlebens standen (ca. 20-25 Jahre) und nun, nach dreißig Jahren, aufgefordert wurden, ihren biografischen Lebenslauf vor oben genannten Fragestellungen zu resümieren. Die Auswahl der Interviewpartnerinnen und -partner lehnte sich konsequent an diesen zeitlichen Ablauf an. Vor diesem Hintergrund wurden willige Interviewpartnerinnen und -partner zunächst nach dem Kriterium „Alter“ eruiert. Es wurden Männer und Frauen ausgesucht, die im Zeitraum zwischen 1956 und 1962 in der damaligen Bundesrepublik Deutschland geboren wurden und zum Zeitpunkt der empirischen Erhebung (Oktober 2011 bis Oktober 2012) zwischen 49 und 56 Jahre alt waren. Neben dem strengen Kriterium „Alter“ gab es zwei weitere, eher „weiche“ Kriterien, nämlich „Geschlecht“ sowie „Qualifikation“, die im Auswahlprozess der Interviewpartner eine Rolle spielten. Im Hinblick auf „Geschlecht“ existiert bereits eine Reihe von qualitativen Studien in der Biografie- und Genderforschung, die vor allem in den 1990er Jahren den Fokus auf spezifisch weibliche Individualisierungsprozesse gelegt haben. Sie zeigten, dass die Ana-

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lyse dieser Prozesse für die soziologische Perspektive auf weibliche Lebensläufe für die Ausdifferenzierung der soziologischen Theoriebildung von großer Relevanz war. Insgesamt konnte man feststellen, dass die Verlaufsform weiblicher Lebensläufe seit den 1980er Jahren durch die stetige Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt geprägt war. Da sie jedoch aufgrund der Vereinbarkeitsproblematik von Beruf und Familie keinen „standardisierten“ institutionalisierten Mustern folgen konnten, waren Frauen in besonderer Weise aufgefordert, eigene, individualisierte Handlungsstrategien auszubilden, um den Anforderungen der Existenzsicherung sowie den familiären Rollenzuweisungen gerecht zu werden (vgl. Kap. 2.3). Die qualitative Eruierung fand im Rahmen dieser geschlechtsspezifischen Untersuchungen ausschließlich im Rahmen weiblicher Individualisierungsprozesse statt, was zur Folge hat, dass es wenig Arbeiten zu männlich geprägten „Individualisierungsprozessen“ gibt. Aus diesen Gründen war in der vorliegenden Arbeit vorgesehen, Männer und Frauen gleichermaßen zu interviewen, nicht zuletzt auch deshalb, um weibliche und männliche Narrative vergleichend zu kontrastieren.12 Ein weiterer „weicher“ Indikator war die „Qualifikation“, die eine zusätzliche Rolle bei der Auswahl der Interviewpartnerinnen und -partner spielte. Besonders im Hinblick auf individuelle Fähigkeiten der „Reflexion“ sowie der „Ausdrucksfähigkeit“ von eigenen Wahrnehmungen sollte der Frage nachgespürt werden, ob reflexive Ausdrucksmöglichkeiten an akademische Ausbildungsformen geknüpft seien (vgl. kritisch Bittlingmayer, Bauer 2006). Aus diesen Gründen wurden auch Interviewpartnerinnen und -partner rekrutiert, die nicht über einen Hochschulabschluss verfügten, sondern eine Berufsausbildung oder ähnliche Weiter- und Fortbildungen absolviert haben.13 Die Qualifikation bildete, ähnlich wie das Kriterium „Geschlecht“, kein „hartes“

12 | Allerdings stellte sich bei diesem Vorgehen heraus, dass es ungleich schwerer war, Männer für diese Fragestellung und für diese Methode zu rekrutieren als Frauen. Während bei den Frauen das Thema sowie die „erzählende Methode“ insgesamt auf großes Interesse stießen, schien bei Männern genau das Gegenteil der Fall zu sein; hier stieß die Autorin eher auf Skepsis und Ablehnung. Dementsprechend war die Rekrutierung der Männer im Sample ein weitgehend schwieriges und langwieriges Unterfangen. 13 | Im Rahmen der Methode gibt es zur Frage der „narrativen Kompetenz“ (Küsters 2006:30 ff.) unterschiedliche Positionen. „Schütze und seine Schüler gehen davon aus, dass die Fähigkeit zum Stegreiferzählen selbst erlebter Geschichten als menschliche Basiskompetenz unabhängig von Schichtungs- und anderen Merkmalen nahezu von allen beherrscht wird […]. Andere Autoren sind hier skeptischer und weisen auf eine möglicherweise schichtgebundene Ausprägung dieser Fähigkeit hin“ (Fuchs-Heinritz 2005:181, in: ebd., S. 31). Im Rahmen des vorliegenden Samples konnten allerdings keine qualitativen Unterschiede abhängig von der Qualifikation festgestellt werden.

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Strategien der Individualisierung

Kriterium des Auswahlverfahrens, dennoch sollten auch hier unterschiedliche Daten kontrastiert werden. Insgesamt umfasste das Sample zwölf Personen, jeweils sechs Männer und sechs Frauen. Die Lebensbedingungen der Auswahlpersonen unterlagen keinen spezifischen Kriterien. Gemessen an der Anzahl der Personen ergab die Auswahl jedoch ein erstaunlich vielseitiges Sample mit sehr unterschiedlichen Lebensumständen. Es umfasste Frauen und Männer mit und ohne Kinder, in Eheverhältnissen, nach Scheidungen in neuen Beziehungen oder als Single lebend. Zwei Personen waren zum Zeitpunkt der Erhebung arbeitslos.

4.6 D ie D atenerhebung Das spezifische Forschungsinteresses sowie die ausgewählte wissenschaftliche Methode der Datenerhebung definierte die Felderschließung in Form des direkten Zugangs zu den Interviewpartnerinnen und -partnern (Przyborski, Wohlrab-Sahr 2010). Das heißt konkret, dass sich die Hauptaktivität der Felderschließung darauf konzentrierte, solche Männer und Frauen zu finden und für ein narratives Interview zu gewinnen, die den Auswahlkriterien des Erkenntnisinteresses der Untersuchung entsprachen. Die Rekrutierung erfolgte auf Anfrage im erweiterten Bekanntenkreis, also über Kontaktpersonen der Autorin. Dieses Vorgehen führte allerdings dazu, dass sich der geographische Rahmen des Feldes großflächig auf den süddeutschen Raum erstreckte. Die Kontaktaufnahme mit potentiellen Interviewpartnern erfolgte in den meisten Fällen über elektronische Medien (Telefon, E-Mail). Im Falle einer Zusage führte die Autorin dann ein persönliches Gespräch mit den Teilnehmern.14 Der Großteil dieser Interviews fand bei den Befragten zu Hause statt. Ein Interview wurde am Arbeitsplatz eines Befragten geführt, in zwei Fällen suchten die Interviewpartner die Autorin in ihrer häuslichen Umgebung auf. Aufgrund sorgfältiger Vorabinformationen räumten die Befragten lange Interviewzeiträume ein, so dass die Interviews alle – mit Vor- und Nachgespräch

14 | Qualitative Differenzen im Hinblick auf die drei Interviews, die nicht in der häuslichen Umgebung der Interviewpartner geführt wurden, konnten nicht festgestellt werden. Hier musste allerdings auf die Eindrücke der Wohnumgebung der Befragten verzichtet werden. Diese hatten sich allerdings im Auswertungsprozess als wenig relevant für die Datenerhebung herausgestellt. In allen Fällen waren die Interviewbedingungen hervorragend, das heißt, die Gespräche fanden in einer ruhigen Umgebung statt und es gab keine „störenden“ Interventionen von außen (vgl. Przyborski, Wohlrab-Sahr 2010; Flick et al. 1995).

Soziologin, Sozialarbeiterin, 53 Jahre

promovierter Chemiker, 52 Jahre

Hauswirtschaftsschule, 50 Jahre

Abitur, abgebrochenes Studium, 55 Jahre

Interview 1

Interview 2

Interview 3

Interview 4

verheiratet

verheiratet

geschieden

allein stehend

Hausfrau und Teilzeitbeschäftigung

fünf erwachsene Kinder

promovierter Chemiker, 50 Jahre

Interview 7



Interview 6

wissenschaftlichen Institut

arbeitet (befristet) in einem

Kunsthistorikerin, 55 Jahre

lebt alleine

keine Kinder

Wirtschaftsingenieur, 49 Jahre

Interview 10

Physiotherapeutin, 51 Jahre

Designer, 49 Jahre

Interview 11

Interview 12 verheiratet

geschieden

arbeitet in einer Forschungseinrichtung

Oberfinanzdirektion

zwei Kinder

keine Kinder

eine Tochter

arbeitet selbstständig

arbeitet selbstständig

in einem großen Konzern

Leiter IT-Abteilung (Concept & Strategy)

zwei erwachsene Kinder arbeitet selbstständig in eigener Praxis

zwei Kinder



verheiratet

Krankenschwester, Heilpraktikerin, 50 Jahre verheiratet

Interview 9

verheiratet

Fremdsprachensekretärin, 49 Jahre

Interview 8

leitende Anstellung in einer

(Gestalt, Achtsamkeit)

Kurse als Meditationslehrer

eine erwachsene Tochter Therapeut in eigener Praxis,

verschiedene Ausbildungen

Geograph, promovierter Psychologe, 56 Jahre lebt in 2. Ehe







in einer Fernbeziehung

und deren Sohn

lebt mit Partnerin







Interview 5

in einem Geschäft für Ökotextilien

Altenpflegerin

arbeitslos

arbeitslos

keine Kinder

ein erwachsener Sohn

keine Kinder



Darstellung des Samples

Tab. 1

4. Anlage der Untersuchung

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Strategien der Individualisierung

– drei bis vier Stunden in Anspruch nahmen.15 Der Erhebungszeitraum erstreckte sich von Oktober 2011 bis Oktober 2012. Keiner der Interviewpartner steht in einem persönlichen Verhältnis zur Autorin. Ebenso wenig kannten sich die befragten Personen untereinander. Gemäß den Regeln der Methode des narrativen Interviews wurden die Interviews offen gestaltet und lediglich in der dritten Interviewphase durch ein Wechselspiel von Fragen und Antworten strukturiert. So gliederten sie sich in drei Phasen, die konsequent in allen Fällen eingehalten wurden: den „Erzählstimulus“ (Küsters 2006:55),16 der als Einstieg in die narrative Erzählung fungierte (Einstiegsphase), der Erzählung der Geschichte (Haupterzählung) sowie einen Dialog zwischen Interviewerin und Befragtem, in dem Themen oder Einschätzungen nochmals vertieft und konkretisiert werden konnten (Bilanzierungsphase) (Hermanns 1995:184 ff., Küsters 2006:54 ff.).17 Am Ende des eigentlichen Interviews wurde eine soziodemographische Abfrage durchgeführt, die Personendaten wie Geburtsjahr, Bildungsabschluss 15 | Eine Ausnahme bildete das Interview 10, das in der beruflichen Umgebung des Interviewpartners stattfand. Dieses Interview lag deutlich unter drei Stunden. 16 | Aus Gründen der bildhaften Darstellung wurde die Definition Becks zu Individualisierung als Erzählstimulus herangezogen. Der genaue Wortlaut lautet folgendermaßen: „Individualisierung bedeutet in diesem Sinne, dass die Biographie der Menschen aus vorgegebenen Fixierungen herausgelöst, offen, entscheidungsabhängig und als Aufgabe in das individuelle Handeln jedes einzelnen gelegt wird. Die Anteile der prinzipiell entscheidungsverschlossenen Lebensmöglichkeiten nehmen ab und die Anteile der entscheidungsoffenen, selbst herzustellenden Biographie nehmen zu. Individualisierung von Lebensläufen heißt also hier, dass Biographien ‚selbstreflexiv‘ werden, sozial vorgegebene Biographie wird in selbst hergestellte und herzustellende transformiert und zwar so, dass der einzelne selbst zum ‚Gestalter seines eigenen Lebens wird‘ und damit auch zum ‚Auslöffler der Suppe, die er sich selbst eingebrockt hat‘. Entscheidungen über den Beruf, die Ausbildung, den Wohnort, den Ehepartner, die Kinderzahl etc. mit all ihren Unter- und Unterentscheidungen können nicht nur, sondern müssen getroffen werden und keiner kann diese Entscheidungen einem anderen letztlich abnehmen“ (Beck 1983:58 ff., Hervorheb. im Original). 17 | Wichtig bei diesem Ablauf ist, dass der Erzähler in seine „freie“ Erzählung auch hineinfindet und in seinem Redefluss nicht unterbrochen wird. Die Interviewerin befindet sich hier strikt in der Rolle der Zuhörerin und signalisiert eher durch etwaige Zeichen ihre Aufmerksamkeit und ihr Verständnis zum Gesagten. Ebenso wichtig ist auch, dass diese Phase durch den Erzähler beendet wird. In den meisten Fällen wird dieses Ende mit einer Koda deutlich gemacht („das war’s dann so im Großen und Ganzen“ o.ä.) (Hermanns 1995:184). Wenn die Geschichte ungestört zu Ende erzählt wird, erhält diese eine „Gestalt“. Mit dieser „Gestalt“ (Pryzborksi, Wohlrab-Sahr 2010:94) wird die Geschichte geschlossen und ihre Relevanzen sind mit dieser Schließung festgelegt.

4. Anlage der Untersuchung

und Familienstand erhob. Diese wurden zu einem späteren Zeitpunkt mit den Daten im Interview abgeglichen. Alle Interviews wurden mit Einverständnis der Gesprächspartner aufgenommen und im Anschluss transkribiert.18 Generell wurde das Grundprinzip dieser Methode in allen Fällen durchgehalten. Das jeweilige Eingangsstatement motivierte alle Befragten zu einer ausholenden Erzählung, die in unterschiedlichen Phasen ihres Lebens einsetzte und der Frage nachging, inwieweit sie sich im Rückblick als „Bastler“ bzw. „Bastlerin“ ihres Lebens wahrnehmen und welche Rahmenbedingungen sie als begünstigend und welche sie als hemmend einschätzen würden.19 Dieser Redefluss blieb ungestört und wurde nicht unterbrochen, bis die Interviewpartner selbst die Erzählung beendeten und selbstständig das Ende einleiteten. So entstanden geschlossene Narrative, die als eine Gestalt eines Individualisierungsprozesses ausgewertet werden konnten. In keinem der Interviews kam es zu Komplikationen oder Störungen. Allerdings entstanden in den meisten Erzählungen viele Momente der emotionalen Intensität und Tiefe. Dies war zum einen dem Verfahren geschuldet, zum anderen jedoch auch dem Themenbereich, da hier grundsätzliche Fragen der Lebensbewältigung angesprochen wurden, die individuelle Erfolge und individuelles Scheitern in der narrativen Darstellung gleichermaßen zur Sprache brachten.20 Diese Erzählungen waren insgesamt überraschend, da sie vielseitige soziale und individuelle Aspekte in die Datenauswertung einbrachten, die 18 | Das Transkribieren sah vor, dass die mündliche Rede in ihrer Originalgestalt dokumentiert wurde. Grammatikalische Ungenauigkeiten, Versprecher, Räuspern, Pausen etc. wurden im Text festgehalten und nicht „versäubert“ (Küsters 2006:73). Gleichzeitig wurde bei der Erstellung der Transkriptionen darauf geachtet, dass Äußerungsformen wie beispielsweise Lachen, Traurigkeit, Zaudern etc. in der betreffenden Textstelle zum Ausdruck kamen. Diese Äußerungsformen wurden in Klammern gesetzt. Die Zeichensetzung folgte der Sprachdynamik der Erzählung, das heißt, die Kommaführung entsprach mehr dem Redefluss als den grammatikalischen Regeln. Alle Zeilen und Seiten wurden nummeriert, um zu gewährleisten, dass alle Textstellen exakt aufzufinden sind. Im Prozess der Transkription wurden alle Namen anonymisiert (Flick et al. 1995). 19 | Interview 3 bildete eine kleine Abweichung: hier war die zweite Phase, die Erzählung, vergleichsweise kurz (eine knappe Stunde), so dass die Bilanzierungsphase dafür ausgeweitet wurde. So wurde die Autorin im Rahmen dieses Interviews in eine eher aktivierende Rolle versetzt, um der Grundfrage retrospektiv nachzuspüren. 20 | Die Intensität der Gespräche zeigte sich ebenfalls an der Kontinuität des Kontaktes zwischen Interviewpartnern und Autorin im Nachgang der Interviews. So bekam die Autorin noch regelmäßig E-Mails von einem Großteil der Partnerinnen und Partner, in denen hauptsächlich inhaltliche Ergänzungen zum Gesagten und Gefühlszustände vertrauensvoll nach dem Interview („das Gespräch hat mich sehr aufgewühlt“) mitgeteilt wurden. So entstand ein regelrechter Bedarf an „Nachbetreuung“, der für den Grad der

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Strategien der Individualisierung

aus der soziologischen Perspektive auf Individualisierung zunächst nicht vorgesehen sind.

4.7 D ie D atenauswertung Die Auswertung der Daten wurde auf der Basis des von Schütze entwickelten Analyseschemas (1983) vorgenommen, indem die Abfolge der vorgeschlagenen Phasen der Auswertung weitgehend eingehalten wurde. Als relevant erwies sich hierbei die Herausarbeitung eines strikten zeitlichen Erzählverlaufs, der als empirische Grundlage der Datenerhebung fungierte. Gleichzeitig wurde, gemäß der narrativen Methode, die Herausarbeitung unterschiedlicher Perspektiven auf diesen Erzählverlauf notwendig, um eine „subjektive“ und „objektive“ Perspektive auf diesen Verlauf zu generieren. So wurde bei jeder Erzählung eine kausale Verknüpfung der inneren mit den äußeren Prozessen der Erzählung konstruiert, auf deren Basis kohärente Narrative über den jeweiligen Individualisierungsprozess entworfen werden konnten. Hierbei wurde darauf geachtet, dass diese Narrative weitgehend in Übereinstimmung mit den eigenen Einschätzungen der Interviewpartnerinnen und -partner rekonstruiert wurden. Diese Einschätzungen wurden vor der wissenschaftlichen Fragestellung aus einer Außenperspektive interpretiert und dargestellt. Die Datenerhebung sowie die Datenauswertung stellten sich auf Grund der Dichte des Materials als sehr komplex und psychologisch tiefgehend dar. Die Datenauswertung hätte im Rahmen eines üblichen Projektkontextes der unbedingten Spiegelung einer Forschergruppe bedurft. Aus diesen Gründen wurde der Prozess der Datenauswertung um eine „psychoanalytische Spiegelung“ der basalen Datenauswertung durch die Supervision einer professionellen Psychoanalytikerin ergänzt.21 Diese „analytische Überprüfung“ fand nach der Intensität der Interviews spricht. In vielen Fällen wurden auch kleine Geschenke im Nachgang ausgetauscht. 21 | An dieser Stelle sei nochmals ausdrücklich Frau Dr. Huber-Schaffrath (Ärztin für Psychoanalyse, Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Lehranalytikerin mit eigener Praxis in Mönchen-Gladbach) gedankt, die diese umfangreiche Supervision höchst kompetent und engagiert übernommen hat. Die Zusammenarbeit gestaltete sich hierbei folgendermaßen: die Autorin wertete die Interviews nach den ersten vier Auswertungskriterien nach Schütze (1983) aus. Diese Auswertungen wurden als Grundlage herangezogen, um die bewussten und unbewussten Anteile der Autorin in dieser Auswertungsform weitgehend offenzulegen und gemeinsam zu diskutieren. Aufgrund der psychologischen Tiefe der Interviews informierte sich Frau Dr. Huber-Schaffrath im Vorfeld intensiv und ausgiebig über die zwölf Interviews, d. h. sie las alle Transkriptionen aufmerksam und hörte sich teilweise auch in den Originalton der Aussagen

4. Anlage der Untersuchung

Erarbeitung der ersten drei Analyseschritte der Erzählungen statt und wurde auf der Basis der Interpretationsschritte vollzogen. Nach dieser Überprüfung wurde das Analyseschema im Rahmen des vierten Analyseschrittes erneut überarbeitet. Insgesamt wurde der Verlauf der vorliegenden Datenauswertung in sechs Arbeitsschritten vollzogen, die sich weitgehend an die Schemata der Auswertung von narrativen Interviews in der Literatur orientierten (Punkte nach Küsters 2006:77ff.; vgl. auch Przyborski, Wohlrab-Sahr 2010; Schütze 1983; Hermanns 1995): • 1. Formale Textanalyse: in einem ersten Schritt wurde durch die formale Textanalyse zwischen den nicht-narrativen (biographischen Beschreibungen) und narrativen Teilen (Argumentationsstrukturen, Darstellung von Befindlichkeiten etc.) der Erzählung unterschieden.22 Durch die Identifikation des narrativen Teils wurden alle Erzählungen in eine zeitliche Verlaufsstruktur gebracht, die in einzelne Ereigniseinheiten (hier: Lebensphasen) unterteilt wurden. Diese Verlaufsstruktur verhielt sich im Rahmen der meisten Erzählungen analog zum Prozessgeschehen, das im Verlauf der Auswertung weitgehend in Übereinstimmung gebracht wurde. Dennoch variierte die Verlaufsstruktur innerhalb der Erzählungen beträchtlich, was auf die unterschiedliche Akzentuierung der Erzählungen zurückzuführen ist. So wurden im Rahmen der Erzählungen einzelne Themen unterschiedlich stark betont wie beispielsweise die Sequenz der Kindheit und Jugend in der Herkunftsfamilie oder etwa die Beschreibung des Qualifikationserwerbs. Das Thema „Erwerbsstätigkeit“ stellte jedoch, mit einer Ausnahme23, den Hauptstrang aller Erzählungen dar. Insgesamt wurden alle Erzählungen in einen übergreifenden zeitlichen Zusammenhang gestellt und als „objektive“ Verlaufsform der Erzählung ausgewiesen. • 2. Strukturelle inhaltliche Beschreibung: im zweiten Analyseschritt wurden die einzelnen Erzählsegmente im Rahmen einer Erzählung analysiert, wobei besonderes Augenmerk auf das Verhältnis zwischen den dargestellten Inhalten und der spezifischen Perspektive ihrer Darstellung gelegt wurde. Bei diesem Vorgehen musste die Argumentation, die – aus der Sicht des hinein, um diese „Spiegelung“ vornehmen zu können. Nach diesen intensiven Prozessen wurden die Auswertungen einer neuerlichen Überarbeitung unterzogen. Insgesamt war diese Arbeit selbst ein intensiver Prozess für die Autorin, von dem sie in großem Maße profitiert hat. Dem Dank für diese hervorragende Supervision sowie dem großen Zeitaufwand kann in der Tat kaum Ausdruck verliehen werden. 22 | Diese sowie alle Kennzeichnungen an den Texten wurden nichttechnisch durch-geführt, das heißt, die Autorin hat auf die Nutzung von Auswertungssoftware verzichtet. 23 | Diese Ausnahme bildet Interview 4.

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Strategien der Individualisierung

Erzählenden – in diese Erzählketten eingebettet war, verstanden werden, um sie aus einer gewissen Distanz analysieren zu können. Diese Argumentationslogik entstand in diesem Stadium aus den Interpretationen und Darlegungen der Erzählenden selbst, das heißt, die Erzählenden selbst führten auf einer semantischen Ebene „objektive“ Rahmenbedingungen mit den inneren, also ihren eigenen „subjektiven“ Reaktionen und Deutungsmustern zusammen und stellten die Erzählung in ihren eigenen Sinnzusammenhang. So wurden in diesem Schritt die Erzählsegmente einer Erzählung in ihrem funktionalen Zusammenhang nachvollzogen und in einer „exemplarischen Erzählung verdichtet“ (Küsters 2006:79).24 Diese Verdichtung wurde von der Autorin semantisch nachvollzogen und in die Darstellungsform „subjektive Interpretation auf den eigenen Individualisierungsprozess“ überführt. • 3. Analytische Abstraktionen: Im dritten Analyseschritt wurden die Ergebnisse der strukturell inhaltlichen Bearbeitung der Erzählungen deskriptiv und analytisch zusammengeführt. Diese Zusammenführung beinhaltete die systematische Verknüpfung der unterschiedlichen Erfahrungsebenen der Interviewpartner im Rahmen des erzählten Prozessverlaufs. Auf diese Weise entstand ein „Strukturplan“ eines gesamten Prozesses, der sich abstrahierend von der ursprünglichen Erzählung abhob und neue Prozesskategorien bildete. Diese Kategorien wurden vor der forschungsleitenden These gebildet, die nach Entscheidungsräumen im Rahmen der Erzählungen fragte. Im Mittelpunkt stand hier das spezifische Erkenntnisinteresse, wie und ob die befragten Menschen ihre Handlungsstrategien nach gesellschaftlichen Erwartungen im Hinblick auf Individualisierung ausrichten. Die Kategorien, die hier implizit gebildet wurden, bezogen sich auf die üblichen biografischen Rahmenbedingungen wie „Ursprungsfamilie“, „Qualifikation“, „Berufsweg“ und „Familiengründung“ etc. Diese Kategorien wurden in allen Erzählungen identifiziert, obgleich sie unterschiedlich intensiv beschrieben waren. Dennoch bildeten sie den gesellschaftlichen Rahmen, also die „objektiven“ Bedingungen, unter denen die untersuchten Individualisierungsprozesse stattfanden. • 4. Wissensanalyse: Auf der Basis der ersten drei Analyseschritte wurden in dieser Auswertungsphase die „eigentheoretischen, argumentativen Einlas24 | Dieser Analyseschritt ist von außerordentlicher Bedeutung, da hier eine „Verlaufsstruktur“ rekonstruiert wird. Dies formuliert auch Küsters, wenn sie im Rahmen dieses Schrittes festhält: „Die gefundenen Lesarten selbst werden auf einer weiteren Ebene der Analyse auch daraufhin betrachtet, wie sie durch den Text, aber auch durch dem Text Externes evoziert wurden und welche perspektivische Verankerung, welche Standortgebundenheit des Interpreten (Bohnsack 2003:185) in ihnen zum Ausdruck kommt“ (Küsters 2006:80).

4. Anlage der Untersuchung

sungen des Informanten zu seiner Lebensgeschichte und zu seiner Identität […] systematisch auf ihre Orientierungs-, Verarbeitungs-, Deutungs-, Selbstdefinitions-, Legitimations-, Ausblendungs- und Verdrängungsfunktion hin“ (Schütze 1983:286 in: ebd., S. 82) interpretiert. Wie Küsters richtig feststellt, wird dieser Analyseschritt nicht in allen Forschungsprojekten vollzogen, da er sehr stark von den Inhalten der Forschungsfrage abhängt. In der vorliegenden Arbeit hat sich jedoch gezeigt, dass die Analyse der Verarbeitungs-, Deutungs- und auch Verdrängungsaspekte im Großteil der Erzählungen notwendig war, um diese zu verstehen bzw. um überhaupt einen „Strukturplan“ zu rekonstruieren. Vor diesem Hintergrund, aber auch aufgrund der emotionalen Tiefe, die im Rahmen der Erzählungen teilweise entstanden war, wurden diese Überprüfungen auf der Basis einer psychoanalytischen Supervision vorgenommen. Diese sah allerdings weniger vor, die Selbstwahrnehmung der Interviewpartner zu analysieren, als vielmehr die Bewertungen der Autorin im Rahmen ihrer Interpretationen zu spiegeln und mit den Erzählungen in ein (selbstkritisches) Verhältnis zu setzen. Dieses Verfahren erschien sinnvoll, da keine analytischen Bewertungen vorgenommen wurden. Außerdem war es – auch aus einer soziologischen Perspektive – wichtig, Widersprüche im Rahmen der Erzählebenen und psychologischen Grundstrukturen der Erzählenden aufzugreifen und in die Darstellungsformen aufzunehmen. So entstanden ausgewiesene interpretative Erzählformen auf ein und dieselbe Erzählung, die den dritten Teil der Interviewdarstellung bildeten. Dieser Auswertungsprozess wurde für das komplette Sample (zwölf narrative Interviews) durchgeführt. • 5. Kontrastive Vergleiche unterschiedlicher Interviewtexte: Wie in Forschungszusammenhängen im Rahmen der Methode des narrativen Interviews üblich, orientierte sich auch das vorliegende Sample am Prinzip des „Theoretical Sampling“ (Schütze 1983:284), das heißt, es konnten sich Abläufe ergeben, die eine ähnliche äußere Struktur aufweisen, allerdings in den subjektiven Entwicklungsmustern unterschiedlich ausfallen. Und umgekehrt: innere Verlaufsstrukturen können Ähnlichkeiten mit untersuchten Verlaufsstrukturen aufweisen, sind allerdings in völlig verschiedenartigen sozialen Kontexten situiert. Die kontrastierenden Vergleiche im vorliegenden Sample erfolgten nach dem Prinzip des „maximalen Kontrast[s]“ (ebd., S. 239), in dem gemeinsame Elementarkategorien herausgearbeitet wurden, die in nahezu allen Erzählungen eine Rolle spielten. Diese wurden im Ergebnisteil der Arbeit im Hinblick auf die Auswertung und Diskussion der Thesen der Arbeit erörtert und diskutiert. • 6. Konstruktion eines theoretischen Modells: Wie Przyborski und Wohlrab-Sahr in ihren methodischen Ausführungen betonen, richtet sich die Konstruktion theoretischer Modelle im Rahmen des narrativen Interviews unter anderem auf die „Herausarbeitung allgemeiner Prozessstruk-

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Strategien der Individualisierung

turen“ (ebd., S. 240; Hermanns 1995). Hierbei könne es um bestimmte Personengruppen gehen, die Untersuchung spezifischer Phasen innerhalb von Biografien oder auch um die Analyse der „Konstitution sozialer Wirklichkeit“ (ebd., S. 240). Dieser Ausgangspunkt scheint auch für die Untersuchung von Individualisierungsprozessen von großer Wichtigkeit zu sein, da es auch hier um die Abbildung von Prozessstrukturen geht. Ausgehend von der Forschungsfrage, wie offen und/oder wie restriktiv die Entscheidungslast auf Individualisierungsprozesse einwirken, wurden die Ergebnisse des empirischen Teils mit den theoretischen Diskussionen um die soziologische Bewertung von Individualisierungsprozessen verglichen und einer umfassenden Bewertung unterzogen. Hierbei konnten Aspekte identifiziert werden, die in den konzeptionellen Diskussionen um Individualisierungsprozesse insgesamt wenig berücksichtigt werden. Diese wurden im Anschluss an die empirische Auswertung dargestellt und diskutiert. Wie die gesamte Auswertung gezeigt hat, war die Rekonstruktion dieser einzelnen Phasen vor den oben beschriebenen methodischen Herausforderungen relevant, da die Identifikation der unterschiedlichen Ebenen der Erzählung den Prozesscharakter der biografischen Gestaltung sowie die Vielfalt der sozialen Kontexte der Individuen betont und herausstellt. Alle zwölf Interviews wurden diesen Auswertungsphasen unterzogen. Die empirische Darstellung der Ergebnisse bildet die Bearbeitung bis zur fünften Phase. Was bis einschließlich dieser Phase explizit herausgearbeitet wurde, sind die unterschiedlichen Perspektiven auf ein und denselben Gegenstand, nämlich die Verlaufsstruktur der biografischen Gestaltung der Interviewpartner. „Subjektiv“ und „objektiv“ benennen zunächst lediglich die unterschiedlichen Perspektiven auf diese Verlaufsform. Während die „subjektive“ Perspektive die innere Erlebenswelt der Erzählenden darstellt, meint die „objektive“ Perspektive eine betrachtende Sichtweise, die die individuellen Verlaufsstrukturen aus einem spezifischen Erkenntnisinteresse heraus betrachtet und herausarbeitet. In einem kurzen Fazit wurde im Anschluss jeder einzelnen Erzählung die soziale Einbettung dieser Erzählungen nachvollzogen. Die übergreifenden Ergebnisse wurden auf der Basis kontrastierender und vergleichender Aspekte ausgearbeitet. Hierbei wurden Themen identifiziert, die als relevant für die konzeptionelle Diskussion von Individualisierungsprozessen erschienen. Diese wurden als „blinde Flecken“ der soziologischen Perspektive auf Individualisierungsprozesse und auf der Basis der relevanten soziologischen Diskurse dargestellt. Hierbei zeigte sich, dass diese „blinden Flecken“ Themenfelder benennen, die im Rahmen der Debatte um die Individualisierungsthese wenig Berücksichtigung finden. Diese Themenfelder werden in aktuellen Diskursen vor allem im Rahmen modernisierungsstheoretischer

4. Anlage der Untersuchung

Konzepte verhandelt. Aus diesen Gründen wurde im Rahmen dieser Ausführungen diese Literatur (neu) eingeführt und in den Vorschlag einer konzeptionellen Erweiterung der Individualisierungsthese integriert (vgl. Kap. 6).

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5. Darstellung der empirischen Ergebnisse

Insgesamt umfasst die Untersuchung zwölf narrative Interviews, die alle nach einem mehrstufigen Verfahren ausgewertet wurden (vgl. Kap. 4). Im Folgenden werden anhand von drei Betrachtungsebenen Beispiele aus der empirischen Untersuchung vorgestellt. Diese Ebenen umfassen (a) „Objektive“ Darstellung der biografischen Abfolge, die sich an den „institutionalisierten“ (Kohli, Robert 1984) Abläufen der bundesdeutschen Verhältnisse seit 1980 orientiert und Familienstruktur, Qualifikation, Erwerbsarbeit und weitere biografische Ereignisse umfasst; (b) „Subjektive“ Perspektive auf diesen biografischen Verlauf, der die Beschreibung der inneren Wahrnehmungsebene der Interviewpartner miteinbezieht sowie (c) „Interpretative“ Darstellung der beschriebenen Prozesse im Hinblick auf die Frage, wie individuelle Entscheidungen getroffen werden und welche Ambivalenzen/Freiheitsgrade hierbei entstehen. In einem kleinen abschließenden Fazit werden alle drei Dimensionen in einen soziohistorischen Kontext gestellt. Zunächst wurde eine grobe numerische Selektion anhand der Kriterien „Geschlecht“ und „Qualifikation“ vorgenommen, um eine gleiche Anzahl von männlichen und weiblichen Interviewpartnern sowie eine ausgewogene Mischung im Hinblick auf Qualifikationsstrukturen zu gewährleisten. Hier sollten nicht diejenigen Interviewpartnerinnen und -partner überwiegen, die über einen Hochschulabschluss verfügen (vgl. Kap. 4.5). Weitaus schwieriger gestaltete sich allerdings die Selektion der Fallbeispiele und somit die Auswahl der Darstellung von Individuum und Individualität in ihrem prozesshaften Geschehen. Gemäß den standardisierten Regeln der qualitativen Sozialforschung ist es notwendig und sinnvoll, diese Selektion nach kontrastierenden Aspekten vorzunehmen. Diese Grundanforderung hat sich allerdings im Sample als äußerst schwierig dargestellt, da die Vielfalt und Eigendynamik jeder einzelnen Erzählung dieses Vorgehen geradezu konterkariert hat. So folgt zwar einerseits jede Erzählung den sozio-kulturellen Verlaufsstrukturen der spezifisch gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, andererseits ist die individuelle Vielfalt jeder einzelnen Erzählung so eindrücklich,

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Strategien der Individualisierung

dass es wirklich problematisch war, „kontrastierende“ Elemente der Vergleichbarkeit zu identifizieren. Alle Erzählungen weisen darauf hin, dass die Individualisierungsprozesse – trotz gesellschaftlicher Vorgaben – höchst unterschiedlich und vielfältig sind und ihre Verlaufsstruktur viele unerwartete Überraschungen und Konstellationen beinhaltet. Diese Unterschiedlichkeit wird durch die soziale Konstellation der Familienstrukturen und ‑kulturen, der individuellen Charaktere und Eigenschaften der Protagonisten, aber auch durch die zahlreichen und völlig unerwarteten Ereignisse des Lebens hervorgerufen. So können in den einzelnen Erzählungen eher „Lebensthemen“ identifiziert werden, mit denen sich die entsprechenden Interviewpartner auseinandersetzen (müssen). Beispielsweise wurde die Protagonistin im Interview 4 schon sehr früh aufgefordert, sich mit den Themen „Krankheit und Tod“ auseinanderzusetzen. Ihre Mutter erkrankt an Krebs, als sie noch sehr jung ist, so dass viele Jahre ihrer Kindheit und Jugend unter dem Eindruck der kranken Mutter stehen. Als junge Frau heiratet sie einen Mann, der plötzlich und unerwartet stirbt, als sie mit dem zweiten Kind schwanger ist. Beide Verlusterfahrungen haben sie, nach eigenen Angaben, sehr geprägt. Als ihr zweiter Ehemann an einer schleichenden Krankheit erkrankt, die mit einem starken Zwangsverhalten verbunden ist, schlittert sie mit vierzig Jahren in eine schwere Krise. Sie erlebt einen Zusammenbruch und wird über lange Zeiträume depressiv. Der Ausweg aus dieser Krise erfolgt völlig unerwartet und überraschend: „[…] da habe ich nur noch gebetet, lieber Gott, schicke mir doch einen Engel, das schaffe ich diesmal nicht ohne Hilfe. Und ich habe einen Engel bekommen auf vier Pfoten (lacht)…..Und ich bin an einen Hund geraten und habe mir so viel von der Seele gelaufen und das war meine Rettung in der Zeit“ (Interview 4, 528-532).

Vielfach bergen die Erzählungen dramatische Verläufe, mit denen die Protagonisten konfrontiert werden. In Interview 7 berichtet die Erzählende beispielsweise davon, dass beide Elternteile in einem Abstand von zwei Jahren sterben, als sie erst 12 bzw. 14 Jahre alt ist. Weil sich aus der weiteren Familie niemand findet, der sie – im Gegensatz zu ihren sechs Geschwistern – aufnimmt, wird sie mit 14 Jahren von einer „Nachbarsfamilie genommen, die selbst sieben eigene Kinder hat“ (Interview 7, 182-183). Dort wächst sie als Pflegekind auf, hat in der Familie jedoch den Status eines Dienstmädchens. Diese Jahre sind sehr schwer für sie, was sie durch Errichtung einer inneren Distanz zu ihrer äußeren Umgebung kompensiert. „[…] Aber als ich […] sie hatten vorher auch immer Dienstmädchen, so aus irgendwelchen Waisenhäusern, die da geholfen haben und irgendwie war ich so/wollten sie mich,

5. Darstellung der empirischen Ergebnisse war ich so/das war nicht so klar, was sie eigentlich von mir wirklich so wollten und was ich da eigentlich wirklich sein sollte“ (Interview 7, 188-191).

Dank ihrer großen Klugheit und vielen schicksalshaften Begegnungen mit Menschen in ihrem Umfeld, die sie fördern, holt sie das Abitur nach, studiert Ethnologie und Volkskunde und schafft es, sich erfolgreich als Akademikerin im öffentlichen Bereich zu etablieren. Dennoch bleibt ihr Lebensthema die „soziale Integration“ in allen sozialen Kontexten, in denen sie sich befindet. Trotz äußerer Erfolge verbleibt sie – auf einer inneren Ebene – sozial immer in der Position der „Beobachterin“. Sie hat große Mühe, sich in soziale Gruppen hineinzubegeben und empfindet sich immer als Außenstehende. Selbst im Hinblick auf ihre eigene Familie befindet sie sich in einer Beobachterposition: „[…] irgendwie ist so … ja und das ist, was für mich auch … eigenartigsten, ich komme jetzt gerade darauf, ich weiß auch nicht warum, aber ich bin die Einzige in dieser ganzen, in dieser riesenbreiten Familie, ich bin die Einzige, nee, noch ein Cousin, ein Cousin, der hatte Abitur, der ist aber, kaum nachdem er das Abitur hatte, gestorben (lacht) …, ja, das ist der Einzige, ein ganz toller Kerl war das, der ist/war Motorrad gefahren und ist von einem Auto überfahren worden – und alle anderen haben das nicht, das ist weit entfernt für die. Das ist… […] Und dennoch hat es mich irgendwie ein wenig isoliert auf eine/aber wahrscheinlich wäre es auch anders gewesen, weil ich schon immer so ein bisschen anders war…“ (Interview 7, 818-827).

Ihre Beziehungen zu Männern scheitern und sie muss sich im Laufe ihres Lebens von dem Wunsch verabschieden, eigene Kinder zu haben. Dies ist für sie ein schmerzhafter Prozess, genauso wie die Tatsache, dass sie alleine lebt. Durch Anbindungen an religiös-spirituelle Traditionen vermag sie es, nach eigenen Angaben, jedoch immer besser, sich in der Welt zu verorten und sich heimisch zu fühlen. Eine andere Erzählung ist ebenso eindrücklich und weist darauf hin, dass individuelle biografische Verläufe durch die Kategorie „soziale Klasse“ nicht notwendigerweise festgeschrieben werden müssen. Der Erzähler verbringt weite Teile seiner frühen Kindheit in einem Kinderheim, worunter er selbst, nach eigenen Angaben, sehr gelitten hat. Obgleich er keine konkreten Angaben zu seinem familiären sozialen Kontext macht, bleibt aufgrund der Informationen zu vermuten, dass er in einem prekären sozialen Umfeld aufwächst. Die Beziehung zu seiner Mutter bleibt in der Erzählung – trotz der schmerzhaften Abwesenheit im frühkindlichen Stadium – sehr bewundernd und wenig distanziert. Er beschreibt seine Mutter als „nicht wertend, eher hilfsbereit“ (393), beispielsweise berichtet er, wie sie „Knackis“ (396), die am Wochenende Freigang haben, engagiert, um auf ihn, ihren Sohn, aufzupassen. Dabei entsteht eine enge Freundschaft zwischen dem Protagonisten und einem dieser

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Strategien der Individualisierung

Häftlinge. Diese Freundschaft wird sehr wichtig für ihn, da sie ihn vor den bissigen und aggressiven Angriffen seiner Tante schützt. „[…] Die Tante war immer so böse zu mir, das weiß ich noch und das hat mir natürlich gut gefallen, dass ich dann endlich mal einen Beschützer hatte. Der dann auch mal gesagt hat, wenn du mir den Bub anrührst – also es ging sehr herb damals zu – dann schlage ich dich krankenhausreif. Und ich wusste, das macht der, weil, der hatte null Hemmungen. Aber das war schön …“ (Interview 5, 406-410).

Trotz aller sozialen Widrigkeiten macht er Abitur und studiert Chemie, arbeitet einige Jahre in der Wirtschaft, promoviert in Chemie und beginnt danach in einem wissenschaftlichen Institut zu arbeiten. Dort befindet er sich bis dato in der Position eines wissenschaftlichen Angestellten, allerdings mit befristetem Arbeitsvertrag. Seine berufliche Lauf bahn interessiert ihn wenig, genauso wenig entwickelt er Ambitionen im Hinblick auf eine Karriere. Er ist froh, dass er sich ernähren kann. Aus seiner heutigen Sicht spielt für ihn die materielle Situation seiner Familie keine Rolle mehr, zentral ist jedoch das emotionale Angenommensein, das er als Kind „nie erfahren hatte“ (290), weil er immer „funktionieren, gehorchen“ (291) musste. Individualität ist für ihn schon immer im Menschen angelegt. Die Bearbeitungsform, das heißt, das Ergründen und das Nachdenken über sich, über seinen Platz in der Welt, ist für ihn jedoch in spezifische historische Kulturen eingebettet. Es gelte, sie im Laufe des Lebens zu entdecken, was gleichzusetzen sei mit „dem Wunsch nach Autonomie“ (619). Diese Reflexionen sind für ihn grundlegend geworden und tragen ihn durch sein Leben. Welche Tragweite diese Sichtweise für ihn und seine Bewertungen hat, zeigt er anschaulich an einem Beispiel, das im Folgenden vollständig abgebildet wird: „[…] Am Samstag oder Sonntag habe ich meine Nachbarin getroffen und sie war ganz stolz, dass ihr Bub das Abitur mit eins Komma – jetzt muss ich lügen – hat er es mit 1,4 oder 1,5 gemacht, ich weiß es nicht. Und dann musste ich mich wieder bremsen, um Himmels willen habe ich gedacht, das interessiert doch kein Schwein, hab ich gesagt, so ungefähr, wen interessiert denn das? Wen interessiert denn das in fünf, sechs Jahren, ob du eine 1,5, eine 1,3 oder 1,4 hast, das würde mich nie interessieren. Noch nicht einmal ob er es hat oder nicht, das würde mich überhaupt nicht interessieren. Ich habe aber begriffen, dass es für die Mutter und für ihn zu dem Zeitpunkt, nämlich in seinem jetzigen Individualisierungsprozess, was ganz, ganz Wichtiges ist, dass sie vielleicht darüber lernt, irgendwann mal begreift, dass das Abitur ein Stück in seinem Leben ist, ihm vielleicht zu helfen, zu begreifen, seinen Weg zu finden. Aber bei ihm weiß ich, er hat es gemacht, weil er es machen musste. Er hat das noch nicht aus der freien Entscheidung getroffen und viele machen es meiner Meinung nach auch aus beruflicher Angst, weil sie halt die Angst haben, sie werden in der Gesellschaft nicht

5. Darstellung der empirischen Ergebnisse etabliert, sie werden mal nicht so gut verdienen und das ist eigentlich das, was ich sehr schade finde, weil das nimmt natürlich ganz immens den Individualisierungsprozess“ (Interview 5, 772-786).

Diese Beispiele zeigen, wie einzigartig die Erzählverläufe des vorliegenden Samples sind. Der explizite Blick auf das Individuum und seine Individualität weisen darauf hin, dass die Themenstellungen, Einstellungen sowie die familiären und sozialen Kontexte unendlich viele Möglichkeiten an Lebensverläufen eröffnen. Wichtig scheinen die Wahrnehmung sowie die Offenheit dieser Unendlichkeit zu sein. Am Ende scheinen es Beschreibungen des Lebens selbst zu sein, das in seiner unendlichen Fülle aus jeder einzelnen Erzählung spricht. Exemplarisch werden nun im Folgenden vier Erzählungen detailliert dargestellt. Wie oben erläutert, stellen diese vier Beispiele keine Idealtypen im Rahmen des Samples dar. Auch stellte es sich als problematisch heraus, kontrastierende Methoden anzulegen. Jede individuelle Erzählung steht für sich allein. Die Auswahl der Erzählungen in den folgenden Darstellungen hat sich an den Kriterien des methodischen Auswahlverfahrens des Samples orientiert. So werden zwei männliche und zwei weibliche Erzählungen vorgestellt als ausgewogenes Verhältnis des Kriteriums „Geschlecht“. Im Hinblick auf „Qualifikation“ wurden zwei Erzählungen ausgewählt, in denen die Protagonisten ein Hochschulstudium, während zwei Erzähler nach dem Schulabschluss berufliche Ausbildungen durchlaufen. Alle vier Erzählungen geben jedoch Aufschluss darüber, wie sie durch ihre gesellschaftlichen Lebensbedingungen auffordert werden, sich mit ihrer Individualität auseinanderzusetzen.

5.1 „G rosse W ahlmöglichkeiten hat te ich nicht “ – I ndividualisierung im R ahmen familiärer Tr aditionen Einführung Annerose Falter1 ist 56 Jahre alt, alleinstehend, lebt in einer süd-deutschen Stadt und hat keine Kinder. Sie hat Soziologie und Psychologie studiert und ihr Erwerbsleben steht zweifellos im Mittelpunkt ihrer Erzählung. So schaut sie auf eine lange Biografie der Phasen der Erwerbstätigkeit, Erwerbsarbeit in Teilzeit und selbstständig organisierter Arbeit sowie regelmäßiger Phasen der Arbeitslosigkeit zurück, über die sie bereitwillig erzählt. Das Interview findet bei ihr zu Hause im Wohnzimmer statt und dauert ungefähr drei Stunden. Annerose Falter hat für dieses Interview alle für 1 | Alle Interviews wurden streng anonymisiert; alle Namen wurden durch Pseudonyme und geographische Bezeichnungen durch ein X ersetzt.

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sie wichtigen Informationen sorgfältig vorbereitet: sie hat jede berufliche Tätigkeit in dem vorgegebenen Zeitrahmen dokumentiert, eine Übersicht erstellt und diese vor sich auf dem Tisch ausgebreitet. Diese fügt sie in ihrer Erzählung wie ein großes Puzzle zusammen. Hierbei hat sie im Rückblick einen klaren Schwerpunkt auf ihre beruflichen Tätigkeiten gelegt. Der Aufforderung, auch persönliche und familiäre Aspekte in ihrem Rückblick mit aufzunehmen, kommt sie bereitwillig nach und integriert diese spontan in ihre Erzählung. Sie spricht sehr konzentriert und öffnet sich zunehmend. Die Erzählung ist dicht und tiefgehend und auch als die Rede auf für sie emotional berührende Themen kommt, stockt sie nicht, sondern gibt sich diesen schmerzhaften Erinnerungen hin. Auf dem Tisch stehen Tee und Kuchen. Während des Gespräches gibt es nur eine kleine Pause. Annerose Falter ist nicht nur aus eigenem fachlichen Interesse an der Fragestellung der Arbeit interessiert, sondern hält die empirische Überprüfung von Individualisierungsprozessen insgesamt für hoch relevant. Aus diesen Gründen hat sie spontan zugesagt, an diesem Vorhaben mitzuwirken und empfindet ihren eigenen Werdegang als äußerst aussagekräftig, um den inhaltlichen Dimensionen dieser Prozesse nachzuspüren.

(1) Biografische Erzählung Annerose wird als uneheliches Kind geboren und hat ihren Vater nie kennengelernt. Ihre Mutter trennt sich noch vor Anneroses Geburt von ihm und kehrt mit dem Kind zunächst für sechs Jahre zu ihren Eltern zurück. Dort hat Annerose mit ihrer Mutter „in so einem kleinen Kämmerchen“ (1252) weite Teile ihrer Kindheit verbracht. Ihr leiblicher Vater, zu dem sie keinen Kontakt unterhält, stirbt, als sie acht Jahre alt ist. Nach einigen Jahren findet ihre Mutter einen neuen Partner, heiratet und zieht mit ihrem neuen Mann zusammen, eine weitere Tochter wird geboren. Mit ihrer Halbschwester versteht sich Annerose bis heute sehr gut. Als Jugendliche nehmen die Konflikte mit der Mutter und vor allem dem Stiefvater in solchem Maße zu, dass Annerose während der gymnasialen Oberstufe wieder zu ihren Großeltern mütterlicherseits zurückkehrt. Dort verbringt sie die restlichen Jahre bis zum Abitur. Diese Zeit ist zwar ebenfalls nicht frei von Konflikten, aber im Haus der Großeltern herrscht auch eine lebhafte Diskussionskultur über gesellschaftliche Belange, die Annerose sehr schätzt und auch genießt. Diese diskursive Atmosphäre, aber auch das Zusammenleben mit ihren Großeltern in deren Haus, das sie als ihr „Elternhaus“ (26) empfindet, haben sie in vielerlei Hinsicht geprägt.

5. Darstellung der empirischen Ergebnisse „[…] ich bin natürlich auch geprägt durch mein Elternhaus. Also auch das ökonomische, also das Denken, das politische und das ökonomische. Ich bin zum Beispiel bis heute noch das einzige Familienmitglied, was studiert hat, ja …“ (26-28). 2

Die Möglichkeit, einen höheren Bildungsweg einzuschlagen und zu studieren, führt sie auf die Einführung des BAföG3 zurück sowie auf ihr „aufgeschlossene[s] Elternhaus“ (30), denn sowohl ihr Großvater als auch ihre Mutter wären selbst gerne auf eine weiterführende Schule gegangen. Die Tatsache allerdings, dass sie dem Arbeitermilieu angehörten und sich dieser sozialen Kultur auch zugehörig fühlten, hat zumindest den Großvater davon abgehalten, auf die höhere Schule zu gehen; „… also das Klassendenken, das war bei meinen Großeltern schon ziemlich stark …“ (35-36). Für die Mutter kam dieser Weg als junges Mädchen ebenfalls nicht in Betracht. Vor diesem sozialen Hintergrund wird die Möglichkeit eines höheren Bildungswegs für Annerose aus der Familie heraus in großem Maße unterstützt. Gleichzeitig ist die Notwendigkeit der körperlichen Arbeit und das Arbeiten per se von Anfang an Bestandteil ihres Lebens und erscheint ihr auch völlig normal. „[…] Ja, ich hatte, während ich Schülerin war, also während der Oberstufe in X, wo ich bei meinen Großeltern die Oberstufe verbracht habe, immer in den Schulferien gearbeitet. Also von Anfang an war klar, irgendwie gehört die Arbeit dazu und wenn es nur stückweise, also das hat so im Laufe meines Lebens mir einen Erfahrungsschatz an Arbeitsstellen gebracht, die wirklich beachtlich ist. Sei es von der Schokoladenfabrik, wo ich mit 15 schon war oder ich habe im Hafen Rohkaffee sortiert, bin hingefahren extra an den Überseehafen, wo der Kaffee angeliefert wurde. War gar nicht ungefährlich wie mir hinterher klar war, aber eine Schulkameradin von mir […] hatte Connections und wir sind zu zweit da und haben Kaffee sortiert, wir ganz alleine durch so ein Sieb geschüttelt und dann in Säcke gefüllt …“ (386-395).

2 | Im Folgenden wird zur Veranschaulichung aus den Erzählungen zitiert. Da drei „Perspektiven“ auf denselben Erkenntnisgegenstand konstruiert werden, werden Zitate auch mehrfach verwendet. Diese mehrfache Verwendung ist erwünscht und soll den Perspektivenwechsel auf den Gegenstand erhöhen. 3 | Das Bundesausbildungsförderungsgesetz (kurz: BAföG) trat am 26. August 1971 in der Bundesrepublik Deutschland als Vollzuschuss für individuell bedürftige Schüler und Studenten in Kraft. Es wurde unter der Kanzlerschaft von Willy Brandt eingeführt und hatte zum Ziel, die Erhöhung der Chancengleichheit im Bildungswesen in den einkommensschwächeren Bevölkerungsschichten zu verbessern. In der Folge wurden die Bedingungen für die Inanspruchnahme des Darlehens vielfach verändert (http://de.wikipedia.org/wiki/Bundesausbildungsf%C3%B6rderungsgesetz vom 31. Juli 2013).

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Nach dem Abitur weiß Annerose nicht so recht, was sie studieren soll. Sie wäre sehr gerne für ein Jahr als Au-pair nach Frankreich gegangen, dies wurde ihr jedoch von der Familie nicht gestattet. „[…] Nee, nee, nee das geht nicht! Mit 18 habe ich zu hören bekommen, du musst an deine Rente denken. Es darf kein Zwischenraum geben zur Schule, du musst’ … nee, so … Das versteht man nur … (lange Pause) … das tut mir leid, das versteht man nur, wenn man weiß, was für eine harte Zeit meine Großeltern mitgemacht haben, ja? Also das ist nicht einfach so … dass das nur rigoros war, ja …“ (58-62).

Annerose beugt sich ohne Konflikte dem Willen der Großeltern (Großvater) und verzichtet auf ihren großen Wunsch, ins Ausland zu gehen. Sie hat jedoch durch „das ganze Diskutieren“ (65) um mögliche Lebenskonzepte die „soziale Frage“ (65) für sich entdeckt und möchte gerne Sozialarbeit studieren. „[…] sozusagen Interesse für, ja für die soziale Frage eigentlich entdeckt und hatte mir überlegt, eigentlich könnte ich Sozialpädagogik oder Sozialarbeit studieren und dann bin ich in die Berufsberatung gegangen, da sagte man mir: ‚Ja wie? Mit Abitur Sozialarbeit? Nee, da studiert man Soziologie.’ Und damals war das ein Fachhochschulstudium und irgendwie schien dem Menschen in der Berufsberatung irgendwie ein Abitur zu schade zu sein, ich weiß auch nicht (lacht) … für Sozialarbeit“ (65-70).

Auch hier beugt sie sich dem externen Erwartungsdruck und verfolgt nicht ihre eigenen Interessen. Sie studiert sieben Jahre lang die Disziplinen „Soziologie“ und „Psychologie“, „etwas Theoretisches“ (71) an einer Universität in der BRD und verzichtet auf das, was sie eigentlich gerne gemacht hätte: die Sozialarbeit. Ihr gefällt jedoch das Studium und sie genießt ihre Studentenzeit „als Freiheit“ (80). Sie ist durch das BAföG finanziell unabhängig, engagiert sich politisch in der Fachschaft ihrer Fakultät und lässt ihre Familie an ihrem Studentenleben teilhaben, „[…] immer dann, wenn ich in den Semesterferien nach Hause gefahren bin, dann gingen also nächtelange Diskussionen los, mit meiner Mutter, mit meinen Großeltern, überhaupt, ja …“ (83-85).

Allerdings empfindet sie sich schon während der Studentenzeit nicht so richtig an ihrem Platz. Von Anfang an ist ihr bewusst, dass sie mit anderen Startbedingungen in das Studium gegangen ist als viele ihrer Kommilitonen mit einem anderen sozialen Hintergrund. Das Bewusstwerden der sozialen Differenz fördert bei Annerose allerdings die Identifikation mit ihrer sozialen Herkunft, der sie innerlich bewusst treu bleiben möchte.

5. Darstellung der empirischen Ergebnisse „[…] nie so mit einem super Selbstbewusstsein gesegnet, das hat mir zwischendrin auch in meinem Berufsleben, ja das war schon so eine Art Stolperstein, kann ich nicht anders sagen. Denn dieser Bewusstseinswerdungsprozess oder Politisierungsprozess während meines Studiums, der hat mir also/der hat mir eins klargemacht/… nie zu vergessen, wo ich herkomme …” (88-93).

Trotz der Wahrnehmung der sozialen Unterschiede sowie der gefühlten Unsicherheiten im Universitätskontext macht ihr das Studium sehr viel Spaß und sie empfindet es als eine „Herausforderung an den Geist“ (95). Schon früh ahnt sie, dass sie mit der Fächerkombination „Soziologie“ und „Psychologie“ keine guten Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben wird, hat es aber dennoch nie bereut, sich für diese Kombination entschieden zu haben. Während des Studiums hat sie ihre erste längere Beziehung zu einem Mann. Ihr Freund studiert auch Soziologie, das Paar zieht in eine gemeinsame Wohnung und lebt sieben Jahre zusammen. „[…] Also er war zwei Semester über mir und hat dann in der Zeit, wo ich noch nicht fertig war, sein Diplom gemacht und hat auch ein Superdiplom gemacht und auch gleich, gleich sofort im Anschluss eine Stelle gefunden als Soziologe. Also ja, bei dem hat das geklappt, der ist bis jetzt – ich habe noch Kontakt zu dem – durchgängig beschäftigt gewesen …“ (110-114).

Im Gegensatz zu ihrem Freund hat Annerose große Schwierigkeiten, das Studium mit einem guten und zufriedenstellenden Abschluss zu beenden. „[…] ich habe auch eine empirische Arbeit geschrieben und das ging und ging und ging, wurde also/wurde ich immer kleiner, hab dann immer mehr gezweifelt. Hab dann hinterher ein Dreierdiplom gemacht, war dann richtig froh, hatte auch während der Prüfung dann also tatsächlich Blackouts, also in einem Fach ganz weg, da hatte ich eine Vier. Und hinterher hatte ich nur gedacht, ok, du hast das Studium fertig, jetzt seh’ mal zu, was du mit einer Drei machst, ja …“ (124-129).

Nach dem Diplom in Soziologie beginnt das, was Annerose selbst einen „Patchworklebenslauf“ (131) nennt, wenn sie über ihre berufliche Biografie spricht. „[…] Ja, also Zeiten der Erwerbstätigkeit haben sich abgewechselt mit Zeiten der Erwerbslosigkeit, mit Zeiten, wo ich Arbeitslosengeld bekommen habe, aber nebenbei immer noch Nebeneinkommen hatte, immer was gemacht habe. Und ich habe mir das für heute, weil ich ja wusste, dass das Interview kommt, mal zusammengeschrieben. Ich war in den 31 Jahren, 12 Jahre vollerwerbstätig, 11 Jahre arbeitslos mit Nebenerwerbstätigkeit, dann war ich, ich weiß gar nicht wie viel, aber unheimlich/ich schau jetzt mal auf meinen Zettel … dreieinhalb Jahre hatte ich eine Halbtagsbeschäftigung,

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Strategien der Individualisierung war aber als Wissenschaftlerin beschäftigt und konnte von diesem Halbtagslohn, von dieser Halbtagsstelle leben“ (131-139).

Nach dem Studium hat sie sich das „Erstbeste“ (144) gesucht und bei einer Versicherung als „einfache Bürokraft“ (145) gearbeitet. Mithilfe dieser formalen Anstellung kann sie sich ein „Anrecht auf Arbeitslosengeld“ (146) erwirtschaften und schon von Anfang ihrer Berufstätigkeit an wechseln sich Phasen der Erwerbsarbeit mit Phasen der Arbeitslosigkeit ab. Obgleich sie nach dem Studium noch mit ihrem Partner zusammenlebt, ist es für sie sehr wichtig, dass sie ihr Leben finanziell unabhängig von ihm gestaltet. Obwohl er ein geregeltes Einkommen hat, organisieren sie ihr Zusammenleben mit strikt getrennten Kassen und beide zahlen den gleichen Anteil an den Unkosten. Dieses Modell ist ihr enorm wichtig und sie behält es auch konsequent in den nachfolgenden Partnerschaften bei. Die materielle Unabhängigkeit von ihren Partner vermittelt ihr ein sicheres Gefühl, „[…] war ich aus der Zeit her gewohnt, nicht daran zu denken, dass eine Partnerschaft für mich eine Alimentation bedeutet …“ (155-156).

Sie bekommt vom Arbeitsamt diverse Unterstützungen für Weiter- und Fortbildungen und nimmt eine vom Arbeitsamt geförderte Stelle in einem Marktforschungsinstitut an. Hier verbringt sie jedoch nur eine sehr kurze Zeit, da sie nach eigener Einschätzung nicht das nötige Ausbildungsprofil für die Tätigkeit mitbringt. Nach dieser Erfahrung arbeitet sie als Teilzeitkraft im Büro einer Fahrschule, was ihr gut gefällt. Dort lernt sie auch ihren zweiten Partner kennen, mit dem sie in eine Kleinstadt im süddeutschen Raum zieht, in der sie die nächsten zwanzig Jahre lebt. In diesem Kontext wird ihr – wieder vermittelt vom Arbeitsamt – eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme (ABM-Stelle)4 als So4 | Allgemeine Maßnahmen zur Arbeitsbeschaffung (ABM) verweisen in Industriegesellschaften inzwischen auf eine lange Tradition. Um den Problemen der Verfestigung der Arbeitslosigkeit zu begegnen, wurden vielfältige, staatliche Instrumente der Arbeitsbeschaffung entwickelt. Beispielhaft sind Steuererleichterungen für Unternehmen, direkte Subventionen oder aber qualifizierende und beschäftigungsschaffende Maßnahmen für (Langzeit-)Arbeitslose, die den Übergang vom zweiten in den ersten Arbeitsmarkt erleichtern sollen. „Nach § 91 ff. des AFG sollen im Rahmen von ABM Arbeiten bezuschusst werden, die im öffentlichen Interesse liegen. Es sollen zusätzliche Beschäftigungsmöglichkeiten für Arbeitslose geschaffen werden, besonders für Schwervermittelbare (Langzeitarbeitslose, jüngere Arbeitslose ohne beruflichen Abschluss, Schwerbehinderte, ältere Arbeitnehmer), um ihre Eingliederungschancen in den ‚ersten‘ Arbeitsmarkt zu verbessern. Bei den in ABM vermittelten Personen handelt es sich um Arbeitslose, die ‚Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe beziehen und min-

5. Darstellung der empirischen Ergebnisse

zialarbeiterin angeboten. Annerose nimmt diese Stelle an, wird im Anschluss an die Maßnahme von dem kommunalen Arbeitgeber im Rahmen eines Projektes auch fest übernommen. Nach Konflikten mit ihrem Arbeitgeber unterschreibt sie einen Auflösungsvertrag, nimmt eine einmalige Abfindung an und gibt ihre feste Anstellung wieder auf. „[…] Ja, da habe ich aufgehört, ja das war ganz komisch, das war eine Mischung aus … ja, aus politischen Gründen und ja … beruflichen Gründen“ (208-209).

Danach beginnt sie eine Ausbildung als Familientherapeutin, die sie jedoch wieder abbricht. Nach diesem Versuch arbeitet sie – ebenfalls in einem festen Arbeitsverhältnis – in einem Mädchenheim in einer benachbarten größeren Stadt. Nach fünfzehn Monaten kündigt sie auch diese Stelle, weil sie ihr psychisch zu anstrengend wird. Nach zwei Jahren geht auch die Beziehung mit ihrem Partner in die Brüche und das Paar trennt sich. Danach beginnt Annerose im Bereich Lokaljournalismus tätig zu sein und schreibt kleine Artikel zu unterschiedlichen Themen, was ihr große Freude bereitet. „[…] für die habe ich lange als freie Mitarbeiterin gearbeitet, in verschiedene Redaktionen gekommen, auch dann noch weiterhin ins kleine XX, ich habe es praktisch von der Pike auf gelernt. Und das hat mir wahnsinnig Spaß gemacht, ich habe gemerkt, so wie auch im Studium, war zwar was Theoretisches, was mir Spaß gemacht hat, die Interviews, die praktische Arbeit, das Rausgehen, die Empirie, der Kontakt zu den Leuten …“ (333-338).

Mit einer kleinen Gruppe von Kolleginnen und Kollegen arbeitet sie am Aufbau eines Radiosenders, über den auch mehrere ABM-Stellen geschaffen werden können. Annerose arbeitet hier als Redakteurin, spendet jedoch „exakt die Hälfte meines Lohns“ (404) an das Radio, damit die Unkosten des Senders gedeckt werden können. Parallel zu ihren unterschiedlichen beruflichen Tätigdestens zwölf Monate in den letzten 18 Monaten arbeitslos waren.‘ (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, o. A.; S. 7) Die BA führt die ABM nicht selbst durch, sondern bedient sich hierzu sogenannter Maßnahmenträger, die mit den Geförderten arbeitsrechtliche Verträge abschließen. Diese Arbeitgeber erhalten für die zugewiesenen Arbeitnehmer Zuschüsse in Höhe von 50 bis 75 % des berücksichtigungsfähigen Arbeitsentgelts, das höchstens 90 % des Arbeitsentgelts für vergleichbare Arbeiten betragen darf, die nicht gefördert werden“ (http://www.wirtschaftsgeografie.com/Arbeit/ ABM/body_abm.html vom 02.08.2013). Die Ausrichtung dieser Maßnahmen hat sich vor allem nach 1989 verändert und neue Formen (Ein-Euro-Job) der Arbeitsbeschaffung hervorgebracht, die auch kritisch diskutiert werden.

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keiten ist Annerose in der Politik engagiert. Sie ist aktives Mitglied der Partei DIE GRÜNEN5 und arbeitet im Kreisvorstand. Sie engagiert sich auch im Bundestagswahlkampf der Partei und lernt über diese Tätigkeit viele Menschen kennen, die ihr interessante berufliche Möglichkeiten eröffnen. Es fehlen ihr jedoch der Mut und das Selbstbewusstsein, um diese sozialen Kontakte produktiv für sich zu nutzen. „[…] Also ich kannte einen Soziologen, der in X beschäftigt war, in X, und trotzdem im Entwicklungsdienst war und der hatte mir gesagt, ich gehe dann und dann nach Afrika, du könntest mitkommen. Du müsstest dir sozusagen vorher bei verschiedenen Zeitschriften Aufträge besorgen und könntest mich begleiten, das ist eine einmalige Sache, du könntest eine Reportage schreiben und Fotos machen. Fotografieren ist ja mein Hobby. Ich habe mich nicht getraut“ (427-433).

Nachdem die staatlichen Zuschüsse eingestellt werden, kann sie von der Arbeit am Radiosender nicht mehr leben, so dass sie gezwungen ist, sich wieder nach neuen Tätigkeitsfeldern umzusehen. Gleichzeitig beginnt sie eine feste Partnerschaft mit einem Lehrer. Sie wünscht sich Kinder, was er jedoch strikt ablehnt. Die Beziehung geht nach zwei Jahren wieder auseinander und Annerose beginnt nochmals eine Partnerschaft mit einem Lehrer, von dem sie glaubt, dass er „keine Altlasten“ (469) mitbringt. Aber darin täuscht sie sich.

5 | Am 6. März 1983 schaffte die Partei DIE GRÜNEN erstmals mit 5,6 % den Sprung in den Bundestag, nachdem sie seit 1980 in verschiedene Landtage eingezogen war. Der Großteil der Gründerinnen und Gründer der Partei kam als aktiv Engagierte aus den sogenannten Neuen Sozialen Bewegungen (Frieden, Umwelt und Geschlechtergleichheit), das politische Programm der Partei wurde aufbauend auf deren Forderungen entwickelt. Diese sollten nicht nur inhaltlich, sondern auch institutionell, als neue Form der politischen Praxis, umgesetzt werden. Beispielsweise wurde im Rahmen der Außerordentlichen Bundesversammlung in Sindelfingen das Rotationsprinzip für Bundestagsabgeordnete beschlossen. Dieses beinhaltete: Wechsel der/des Abgeordneten nach zwei Jahren, die Abgeordneten der ersten und der zweiten Hälfte der Legislaturperiode sollten gemeinsam die Fraktion bilden. Von ihren Diäten sollten Bundestagsabgeordnete 1.950 plus 500 Mark für jede zu unterhaltende Person behalten (Orientierung am Facharbeiterlohn). Außerdem wurde beschlossen, dass der Bundesvorstand mit männlichen und weiblichen Personen besetzt werden sollte. In der Folge schaffte es die Partei, ihre Quoten sowohl in den Landtagen, als auch im Bundestag sukzessive zu erhöhen. Im Laufe des Institutionalisierungsprozesses der Partei haben sich die Inhalte sowie die organisatorischen Prinzipien stark verändert (http://www.gruene.de/partei/ vom 01.08. 2013).

5. Darstellung der empirischen Ergebnisse „[…] Was ich mit dem Mann mitgemacht habe, unglaublich. Ich habe ihn irgendwann mal besucht in seiner Schule und da habe ich ihn erlebt, als Mensch wie er mit Grundschülern umgeht, mit Kindern und ich habe gedacht, das ist ein anderer Mensch. Wahnsinnig, er konnte wahnsinnig gut mit Kindern umgehen, hat aber immer gesagt, ‚daheim will ich das Geschrei nicht‘. Er konnte sich das nicht vorstellen, daheim jetzt auch noch/ ja mit Kindern, das war also gar nichts. Ja, nachdem diese Beziehung dann auseinander war/das ging eine ganze Weile, ich habe meine eigene Wohnung beibehalten, da hatte ich immer noch diese Einzimmerwohnung, er hat nebenbei ein Haus gebaut, ich hatte in dem Haus/habe das Haus mitgeplant, habe meine eigene Wohnung geplant, also das war schon heftig eigentlich“ (471-480).

Nach einiger Zeit geht auch diese Beziehung in die Brüche. Annerose gibt den Wunsch nach eigenen, leiblichen Kindern auf, verfolgt jedoch die Idee, ein Kind aus einem fernen Entwicklungsland zu adoptieren. Über eine längere Zeitspanne hinweg informiert sie sich und versucht diesen Traum umzusetzen. Sie erfüllt jedoch die materiellen Voraussetzungen für eine formale Adoption in Deutschland nicht und muss langsam auch diesen Traum aufgeben. Der Abschied von der Möglichkeit der eigenen Mutterschaft ist für sie emotional sehr schwer zu verarbeiten und es dauert lange, bis sie diesen Verlust akzeptieren kann. „[…] Also das war sozusagen auch ein Abschied auf Raten, mir klarzumachen, die Lebensuhr tickt, das wird nichts. Das wird weder was mit einem leiblichen Kind, noch wird das was mit einem adoptierten Kind, ja und außerdem, das mit den Partnerschaften, also irgendwie war ja klar, also ob ich jetzt einen Partner habe oder nicht, ob das jetzt/ mittlerweile war man ja soweit, dass man nur noch von Lebensabschnittspartner sprach und dann hab ich irgendwann aufgegeben…“ (531-536).

Diese großen Enttäuschungen versucht sie über verschiedene Formen der Sinnstiftung in der Erwerbstätigkeit, aber auch in politischen Tätigkeiten zu verarbeiten. Sie ist nach wie vor parteipolitisch engagiert bei den GRÜNEN und in einer gewerkschaftlichen Vereinigung aktiv. Hier wird ihr die Position der Sprecherin für „Erwerbslose“ (555) angeboten, was sie jedoch ablehnt, da sie sich nicht mit dieser Rolle identifizieren kann. Dennoch versteht sie ihr zivilgesellschaftliches Engagement in der Politik als eine Art Kompensation und Wiedergutmachung für die „Alimente“ (562), die sie vom Staat in Form von Arbeitslosengeld und diversen Unterstützungen bisher bekommen hat. Nach diesen Ereignissen wird ihr eine ABM-Stelle als Soziologin in einem wissenschaftlichen Institut angeboten, das mehr als 100 km von ihrem Wohnort entfernt liegt. Sie mietet sich vorübergehend ein kleines Zimmer und nimmt dieses Angebot an. Im Rahmen dieser neuen Arbeitsstelle werden ihr darüber hinaus zahlreiche Weiterbildungsseminare angeboten, die sie eben-

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falls engagiert absolviert. Nach einem Jahr wird sie befristet weiterbeschäftigt und verlegt ihren Wohnort in die Nähe dieser Arbeitsstelle. Nach Ablauf dieser Befristung (zwei Jahre) wird sie jedoch nicht übernommen. Danach bewirbt sie sich auf eine hochdotierte Referentenstelle bei einer gewerkschaftlichen Vereinigung, erhält diese Stelle nach einem langen und anstrengenden Auswahlverfahren und wird nach der Probezeit ebenfalls nicht übernommen. Es fällt ihr nach diesen Misserfolgen wieder schwer, eine neue Perspektive zu entwickeln. „[…] Da muss ich sehen, wo ich bleibe, also ich habe nachdem das mit der Gewerkschaft nicht lief, da bin ich also wirklich/ich habe gesagt, ich muss mich mal wieder neu erfinden, was mache ich jetzt? Was mach’ ich jetzt? Hab‘ wirklich mich beworben, mich beworben, mich beworben und die Zeit lief dahin und ich wusste, mittlerweile hatte sich die Sozialgesetzgebung geändert, man bekommt nur noch ein Jahr Arbeitslosengeld und danach nur noch Arbeitslosenhilfe, davon kann kein Mensch leben …“ (638-643).

Sie macht sich selbstständig und erhält einen so genannten Gründungszuschuss vom Arbeitsamt, für den sie einen „‚Businessplan“ erstellen muss. Im Rahmen des Vorhabens als Selbstständige bietet sie die Durchführung von Interviews, die Betreuung von sozial schwachen Familien sowie jedwede Bürotätigkeit an. Darüber hinaus entwickelt sie weitere Konzepte für ihre Selbstständigkeit. Sie hat die Idee, als Selbstständige in einem Lektorat zu arbeiten, was jedoch scheitert; auch ihre Erwerbstätigkeit als Selbstständige stößt relativ schnell an Grenzen und sie muss sehr kämpfen, um zu überleben. „[…] Also ich habe mich anschließend beworben, beworben, beworben, weiter im Bereich als Dozentin, aber es war nichts. Und ich bewerbe mich weiträumig, so von wegen, das was das Arbeitsamt, wenn man sich arbeitslos meldet, kriegt man ja so/muss man ja unterschreiben, was man alles willig ist zu tun, ja, was ich früher als Knebelung empfunden hatte, mache ich freiwillig gerne“ (802-806).

Beruflich ist sie momentan6 in einer Sackgasse angekommen. Sie weiß, dass sie nur noch wenige Monate Arbeitslosengeld erhalten wird und nicht in der Lage sein wird, ihre Unkosten mit Hartz IV-Bezügen zu decken. Inzwischen verfügt sie in ihrem neuen Wohnort allerdings über ein soziales Netz, das ihr einen gewissen Halt gibt. Sie versucht jedoch, nicht zu klagen, da sie Menschen kennen gelernt hat, denen es noch schlechter geht als ihr. „[…] Das war die Frau, die mich beim Radio eingewiesen hat, mit der ich angefangen habe, das Radio aufzubauen, als Redakteurin, Barbara, werde ich nie vergessen. Be6 | Diese Zeitangabe bezieht sich auf den Zeitpunkt des Interviews.

5. Darstellung der empirischen Ergebnisse wundernswerte Frau. Die nebenbei das Kind großgezogen hat bei einem Vollerwerb mit ganz wenig Geld. Ich habe immer wieder solche Leute kennengelernt. Mutmacher eigentlich, Vorbilder, Weggefährten …“ (963-967).

Insgesamt lebt sie sehr bescheiden von der Hand in den Mund. Diese Lebensweise macht ihr wenig aus, da sie viel Erfahrung im effizienten Lebensmanagement hat. Sie ist engagierte Anhängerin der politischen Forderung eines bedingungslosen Grundeinkommens und engagiert sich auch politisch für die Umsetzung dieses Modells. Sie weiß aus eigener Lebenserfahrung, wie wichtig es wäre, einen gewissen Grundbetrag zu erhalten, der wenigstens die materielle Grundversorgung sichert. Mit 56 Jahren macht sie sich derzeit große Sorgen, wie es im Alter weitergehen und auf welcher materiellen Basis sie leben wird. Aber sie will und kann die Hoffnung nicht aufgeben, beruflich noch Fuß zu fassen in den zehn Jahren, die ihr noch bleiben bis zum gesetzlich festgelegten Rentenalter und vielleicht darüber hinaus.

(2) Subjektive Einschätzung des eigenen Individualisierungsprozesses Annerose stimmt der Individualisierungs-Theorie intuitiv nur teilweise und mit vielen Einschränkungen zu. „[…] Ja, stimmt teilweise, ja. Kann ich sozusagen ein Stück mitgehen. Und gleich danach kam ‚aber, aber, aber’, so einfach ist das ja nun wirklich nicht …“ (21-23).

Im Hinblick auf ihre eigene individuelle Entwicklung betont sie in besonderem Maße ihre Prägungen durch ihr Elternhaus bzw. die sozialen und ökonomischen Rahmenbedingungen, in denen sie aufgewachsen ist. Ihr sind diese Bedingungen und auch die Begrenzungen, die dieses Elternhaus für ihre Biografie bedeuten, sehr bewusst und in ihrer Erzählung präsent. Sie hat eine Ahnung davon, dass ihr sozialer Hintergrund der Grund dafür ist, dass sie keine Leichtigkeit im Leben entwickeln konnte und ihr viele Dinge – wie beispielsweise das Studium – sehr schwer gefallen sind. „[…] Ja, so … von wegen Wahlmöglichkeiten im Leben, wie oft habe ich sie ergriffen. Was ist kulturell bedingt, was ist/bin ich wirklich mein Biografiegestalter und was ist sozusagen […], ich habe ja am Anfang gesagt, dem Beck kann ich nur teilweise zustimmen, weil ich gleich das ‚Aber‘ im Kopf hatte. Aber … sorry, aber ich bin nicht mit goldenen Löffeln im Mund auf die Welt gekommen, das ist übertrieben gesagt, aber ich weiß, dass es anderen Leuten, die einen anderen familiären Hintergrund haben, denen es einfach anders geht. Wo dann/wo es dann heißt, na ja, du brauchst dir keine Sorgen zu machen, also wenn du mal irgendwie eine trockene Zeit hast, können wir da schon überbrücken,

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Strategien der Individualisierung können wir dir helfen. Das ist bei meiner Familie nur sehr, sehr bedingt möglich. Das geht einfach nicht…” (848-856).

Sie ist die erste in der Familie, die Abitur macht und die Universität besucht, was in ihrer Familie mit dem ausgeprägten Klassenbewusstsein (Arbeiterklasse) auf große Beachtung stößt. Der Zugang zu Bildung und Studium wird von den Familienmitgliedern hoch geschätzt und sie selbst empfindet ihre akademische Bildung als einen zentralen Pfeiler ihrer Individualität. Bildung erscheint in ihrer Erzählung als ein normatives Gut, das eine intellektuelle Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen ermöglicht. Gleichzeitig empfindet sie diesen Pfeiler im Hinblick auf ihre materiellen Lebenschancen als „Luxus“ (934), den sie jedoch „nie bereut“ hat (936-937). Diese Bewertung führt sie zunächst auf die Wahl ihrer Disziplinen zurück, da diese schon früh den Ruf hatten, in die akademische Arbeitslosigkeit zu führen. „[…] absoluter Luxus etwas zu studieren, wo von am Anfang an feststand, wirst wahrscheinlich dein Lebensunterhalt nicht bestreiten können. Ich habe mir diesen Luxus geleistet und ihn nie bereut, ja“ (934-937).

Allerdings kennt sie in ihrem Umfeld auch Personen, die sich mit dieser Fächerkombination eine solide berufliche Basis geschaffen haben, so dass im Rückblick das Motiv des „Luxus“ (934) in zwei weiteren Aspekten betont wird: erstens im Aspekt der Bildung als „Schlüssel“ (1194) zu individuellen Formen der Reflexion auf das Leben. Die Beantwortung von Fragen wie beispielsweise „Wo ist mein Standpunkt?“ (1197) ermöglichen es ihr, die Unwägbarkeiten des Lebens zu verstehen und Handlungsstrategien zu entwickeln. Zweitens zeigt sich, wie oben schon angedeutet, dass sie eine familiäre Denkfigur verinnerlicht hat, die ihr aus zwei Generationen übertragen wurde (Mutter/Großeltern). „[…] Muss aber sagen, dass meine Mutter sozusagen schon bildungsorientiert war. Also meine Mutter ist/hat Hauptschule und wollte dann noch mal studieren, das hat sie nicht geschafft, aber meiner Mutter war klar, wie wichtig Bildung ist im Leben und hat das auch gefördert“ (1178-1190).

Sie fühlt sich diesen Botschaften ihrer sozialen Herkunft innerlich stark verpflichtet, was sich auch in ihrem kontinuierlichen politischen Engagement zeigt. Die Inanspruchnahme höherer Bildungswege und vor allem das politisch proklamierte „Recht auf Bildung“ erscheint ihr eine zentrale politische Forderung zu sein, um Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen zu erlangen. Insbesondere das „Recht auf Bildung“ versinnbildlicht für sie die Chance auf soziale Gleichheit, was sie unmittelbar mit sozialer Gerechtigkeit in unterschiedlichen Gesellschaftsschichten gleichsetzt. Hier fühlt sie sich von den

5. Darstellung der empirischen Ergebnisse

Aussagen aktueller politischer Programme angesprochen und ideologisch bestätigt. „[…] Also ich fand den Ausspruch so schön: ‚Es wird in Zukunft wirklich auf jeden Menschen ankommen.’ Also auf den/bestimmte politische Richtungen haben das auch schon erkannt, dass Bildung das A und O ist, dass keiner durchs Netz fallen darf, kein Kind und sei es noch so mit Startschwierigkeiten behaftet, Migration, sei es grundsprachlich schlecht, geistig, körperlich, es wird auf jedes Kind ankommen. Also das ist ein Gebiet, das bleibt, wird mir bleiben“ (903-908).

Dennoch hat ihr der eigene Bildungsweg einen beruflichen Werdegang beschert, der viele Risiken und Unsicherheiten mit sich brachte. „Risiko, aber voll, kann ich nur sagen…” (917). Sie empfindet ihren hohen Bildungsgrad dennoch als geistige Ressource, die ihr viele Möglichkeiten eröffnet und sie mit einem offeneren Blick durch das Leben führt. Sie hat mit diesen Fähigkeiten immer „spannende Sachen“ (958) gefunden, die sie für sich nutzen konnte. Allerdings knüpft sie keine konkreten Lebenserwartungen und keine sozialen Ansprüche an ihren Bildungsgrad, sondern sie betont eher die kognitive Offenheit und die neuen Sichtweisen, die ihr diese Bildung beschert hat. Darüber hinaus bewertet sie diese Fähigkeiten nicht als Grundlage einer Lebenskunst, die sie durch viele Schwierigkeiten, viele Hochs und Tiefs, im Leben geführt hat. Im Gegenteil, sie wertet ihre kognitiven und geistigen Fähigkeiten eher ab, obgleich diese es ihr kontinuierlich ermöglicht haben, sich an neue Situationen anzupassen. In dieser Abwertung vergleicht sie sich im Verlauf der Erzählung mit verschiedenen (weiblichen) Personen, deren Fähigkeiten sie Bewunderung schenkt. „[…] Aber wenn ich mein Leben vergleiche, vielleicht mit dir oder mit dem von meiner Schwester. Mutter von zwei Kindern und Teilzeit beschäftigt und hat einen Haushalt und einen Mann, der keinen Handschlag tut, weil er auch selbstständig ist, weil die/ich weiß noch, die Ehe ist fast zu Bruch gegangen in der Zeit, wo er seinen Meister gemacht hat. Da musste sie wirklich alles abdecken und hatte zwei absolut kleine Kröpfe, ja, wenn ich mir solche Frauen angucke, dann denke ich, die sind aktiver als ich, deren Tag sieht anders aus als meiner. Die machen mehr…” (1046-1052).

Im Rückblick hat sie den Eindruck, dass sie „streckenweise“ (1081) nicht viele Wahlmöglichkeiten hatte, um ihr Leben anders zu gestalten. Im Nachhinein resümiert Annerose, dass es in den jeweiligen Entscheidungssituationen sicherlich auch andere Möglichkeiten der Entscheidung gegeben hätte. Diese konnte sie jedoch in der jeweiligen Situation und bezüglich ihrer Relevanz für die weitere Entwicklung nicht erkennen. Selbst aus heutiger Sicht fällt es ihr sehr schwer, eigene Konzepte oder ihre jeweiligen Entscheidungen zu hinter-

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fragen, die ihr damals den Weg gewiesen haben, obgleich sie aus dem Rückblick heraus manches anders sieht. „[…] Während mein Onkel mir zu Studienzeiten die Studentenjobs in den Semesterferien verschafft hat und ich damals noch gedacht habe ‚Igitt, Vitamin B, darauf will ich nicht angewiesen sein!’, habe ich im Laufe meines Lebens gemerkt, dass das/dass es das ist. Ohne das du überhaupt nicht kannst, ja, dass man dazu übergeht, wo es diese Netzwerke nicht gibt, sie jetzt sich künstlich aufzubauen und selber zu schaffen…“ (1271-1275).

Obgleich sie sich in einer Perspektive wahrnimmt, die in den unterschiedlichen Situationen immer von äußeren Ereignissen beeinflusst war, hadert sie nicht mit ihrem Leben. Sie hat sich im Rückblick mit ihren individuellen Entscheidungen in ihrem Leben arrangiert und reflektiert diese – eher positiv – kontrastierend mit anderen Lebensentwürfen, die ihr verwehrt geblieben sind. „[…] konnte ich mir auch gar nicht vorstellen, wenn ich so Leute getroffen habe, die gesagt haben, so wie mein Stiefvater, 25 Jahre bei der Bank, 25 Jahre beim gleichen Arbeitgeber…“ (1121-1122).

Sie bleibt auch im Rückblick ihren Entscheidungen, die sie distanziert resümiert, weitgehend treu und glaubt insgesamt nicht, dass ihr eine Vielzahl an Optionen für die Gestaltung ihres Lebensentwurfs zur Verfügung standen. Im Gegenteil, in ihrer Wahrnehmung waren weniger die Anzahl der Optionen das Problem, als vielmehr mangelnde (gute) Möglichkeiten, sich eine feste materielle Lebensbasis zu schaffen und langfristig aufzubauen. So beschreibt sie auch mehrfach ihren „Patchworklebenslauf“ (131) als Bastelbiografie, die ihr unfreiwillig beschert wurde und auf die sie sich notgedrungen einlassen musste. So gelingt es ihr immer wieder aufs Neue, sich den Herausforderungen zu stellen und sich diesen anzupassen. Beispielsweise wurde sie in diesem Verlauf nie müde, eine große Zahl von Fortbildungsmöglichkeiten zu ergreifen und ihre berufliche Kompetenz zu erweitern. Allerdings zeichnet sich die Positionierung ihrer beruflichen Tätigkeiten im Bereich der Sozialarbeit immer mehr ab, einem Bereich, den sie von Beginn an dem Studium an einer Hochschule vorgezogen hätte. Dies wurde ihr aber damals von ihrer sozialen Umwelt verwehrt, mit dem Argument, sie solle mit Abitur doch an einer Universität studieren. Aber auch im Bereich der Sozialarbeit muss sie mit vielen Unsicherheiten umgehen und hat es nicht geschafft, sich eine sichere materielle Basis aufzubauen. Dieser Kampf um das Überleben sowie das ständige Auf und Ab haben ihre Individualität und ihr Selbstverständnis in besonderem Maße geprägt. Allerdings kann sie diese Form der Existenz, ihre vielseitigen Fähigkeiten, sich immer wieder neue Möglichkeiten der Aktion sowie beruflicher Tätigkeiten

5. Darstellung der empirischen Ergebnisse

zu erschließen, nicht anerkennen. Sie vermag hierin keine individuelle Stärke und Befähigung zu sehen. Dies mag auch daran liegen, dass sie es bisher nicht geschafft hat, diesen Fähigkeiten in Form einer soliden materiellen Lebensbasis Ausdruck zu verleihen. Ihr Wunsch ist eher, diesen fortwährenden Kampf um das Überleben aufgeben zu können. Obgleich ihr dies (noch) nicht geglückt ist, hadert sie nicht mit ihrem biografischen Verlauf. Sie sieht sich eher auf der Verliererseite der gesellschaftlichen Umstände und hätte einfach gerne ein wenig mehr Glück gehabt.

(3) Interpretativer Blick auf den Individualisierungsprozess 7 In der Außenwahrnehmung erscheint Anneroses Erzählung atemlos in ihrem jahrzehntelangen Versuch, ihren Platz sowohl in der Arbeitswelt als auch in ihrem Privatleben zu finden. Dies will ihr jedoch nicht gelingen: ihre biografische Erzählung ist bis heute gekennzeichnet durch Abbrüche und Neuanfänge sowie den selbsterklärten Versuch, ihre materielle Existenz auf ein sicheres Fundament zu stellen. Aus einer erklärenden Außenperspektive wirkt die Erzählung geprägt von Konflikten zwischen den eigenen kognitiven Vorstellungen und der Realität auf einer äußeren Ebene, die bis zum Ende nicht aufgelöst werden. Wie von ihr selbst beschrieben, erwartet nicht nur die Elterngeneration (Mutter), sondern auch die Großelterngeneration aufgrund ihrer Bildung einen sozialen Aufstieg. Diese Erwartungen sind fest eingebettet in normative Diskurse, die den Rahmen der Familienkultur bilden und von Annerose handlungsleitend verteidigt werden. Diese Familientradition scheint bei Annerose besonders zu greifen und sie bekennt sich explizit zu ihren familiären Wurzeln. „… Nie zu vergessen, wo ich herkomme“ (92-93), was zu einer bestimmten Widerspenstigkeit gegen die Freisetzung aus dieser traditionellen Rolle führt. Diese Widerspenstigkeit zieht sich wie ein roter Faden durch ihre Erzählung. Gleichzeitig entspricht Annerose dem Wunsch der Familie, den „Schlüssel“ (1194) zu sozialen Aufstiegsmöglichkeiten zu ergreifen, und wird mit der Erfüllung dieses Wunsches zur Projektionsfläche des „bewunderten“ Kindes. Dies führt bei ihr zu inneren Ambivalenzen zwischen einem hohen Erwartungsdruck und ihren tatsächlichen Leistungen. Dies wird in der gespaltenen Darstellung ihrer Biografie deutlich, in der sie verbal immer hin und her pendelt zwischen einem hohen Selbstideal und der Unfähigkeit, Ressourcen zu nutzen und diese für sich einzusetzen. So schwankt sie beispielsweise zwischen der 7 | In dieser Erzählung, aber auch in den folgenden Erzählungen werden in den unterschiedlichen Perspektiven teilweise auf dieselben Interviewsequenzen verwiesen. Dieses Vorgehen ist bewusst gewählt und soll den Perspektivenwechsel auf den biografischen Verlauf betonen.

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Vorstellung, in Soziologie ein „Einserdiplom“ (119) zu machen, und ihren tatsächlichen Umsetzungsmöglichkeiten. Hier hat sie „[…] während der Prüfung dann also tatsächlich Blackouts, also in einem Fach ganz weg, da hatte ich eine Vier“ (127-129).

Diese gespaltene Darstellung zieht sich als Konflikt zwischen den eigenen Vorstellungen, Wünschen und der praktischen Umsetzung durch die beschriebenen Versuche, sich in ein akademisch ausgerichtetes Arbeitsverhältnis zu integrieren. Es fällt auf, dass sie es mit den meisten Bewerbungen vermag, sich intellektuell Eintritt in qualifizierte und hochqualifizierte Tätigkeitsfelder zu verschaffen. Allerdings scheint es, als könne (und wolle) sie diesen Anforderungen auf einer inneren Ebene nicht entsprechen. So „generiert“ sie regelmäßig Konflikte in diesen Konstellationen: „[…] ich war damals bei der Stadt schon Personalrätin und wusste, ich bin unkündbar, die Höhergruppierung kam einfach nicht, ich musste auf Höhergruppierung klagen …“ (217-219).

Sie entwickelt stets die Kraft und die Willensanstrengung, einen sozialen Aufstieg erneut anzugehen, schafft es jedoch letztlich nicht, eigene Vorstellungen und eine eigene Lebenspraxis in ein kohärentes und nachhaltiges Modell zu überführen. „[…] Das war das längste Bewerbungsverfahren meines Lebens, unglaublich. Ich glaube, ich musste an vier oder fünf verschiedenen Stellen antanzen, jede Ebene hat für sich entschieden, alle haben zusammen entschieden, also es war langwierig. Ich habe die Stelle dann bekommen und es war eine Probezeit und am Ende der Probezeit bin ich nicht übernommen worden“ (610-614).

Der Konflikt zwischen Anspruch und Wirklichkeit, die sich in dem wiederkehrenden Rhythmus der reellen Chancen und der Abbrüche zeigt, erweist sich als Grundstruktur ihrer biografischen Erzählung, die aus einer psychoanalytischen Perspektive als ein kontinuierliches Scheitern interpretiert werden kann.8 Die soziologische Perspektive bewertet diese Prozesse auf der per8 | Das Motiv des sich ständig wiederholenden Scheiterns weist möglicherweise auf eine nicht aufgelöste psychologische Struktur Anneroses hin, die einer sorgfältigen analytischen Binnenperspektive bedürfte, um konkrete Hinweise für ihre Handlungslogik zu erlangen. Dies würde allerdings den disziplinären Rahmen dieser Arbeit sprengen. Dennoch erscheint es hier sinnvoll, denjenigen Motiven nachzuspüren, die handlungsleitend für die normative Ausrichtung ihrer Erzählung sind und somit zur Grundlage ihrer

5. Darstellung der empirischen Ergebnisse

sönlichen Ebene zunächst nicht, dennoch weist der wiederkehrende Verlauf dieser Prozesse auf eine spezifische Form der individuellen Widerspenstigkeit hin, die zu einem zentralen Motiv der Handlungsstruktur Annerose Falters wird. Diese Struktur kann in all ihren Beschreibungen nachvollzogen werden. Charakteristisch ist beispielsweise die selbst gewählte Beendigung eines unbefristeten Arbeitsverhältnisses zu Beginn ihrer Berufstätigkeit, die eigentlich ihren selbst formulierten Idealen entspricht. „[…] Und da hatte ich zwar Vorgaben, aber auch relativ viel Freiheit, das zu gestalten. Das war gut. Ich war zuständig für das Jugendhaus, wir hatten auch einen Jugendhausmitarbeiter, der hörte dann irgendwann auf, ich hatte die Leitung, war teilweise im Jugendhaus, war zuständig für die Vereinsarbeit, für die sogenannte verbandliche Jugendarbeit, für die Planung, Jugendplanung, für das Kinderferienprogramm, so das war alles …“ (203-207).

Gleichwohl ihr die eigenen Motive für die Kündigung dieser Stelle selbst nicht ganz klar sind, führt sie diese dann auf gesellschaftliche Rahmenbedingungen zurück, in denen sie sich stets behaupten muss. „[…] das war ganz komisch, das war eine Mischung aus … ja, aus politischen Gründen …“ (208-209).

Es scheint, als ob sich – vor allem im beruflichen Kontext – ihre Widerspenstigkeit aus den eigenen normativen Überzeugungen im Hinblick auf soziale Gerechtigkeit nährt, die sie veranlassen, ihre Stellen wieder aufzugeben. Diese Konsequenzen betreffen vor allem sie selbst, werden allerdings – auch im Rückblick – nicht in Frage gestellt, sondern strikt verteidigt. Diese Haltung erinnert ein wenig an die des Großvaters, der die höhere Schule verweigerte, weil er keine Schuluniform tragen wollte, aber dennoch die politische Forderung nach sozialer Gerechtigkeit zu einem zentralen Thema in seinem Leben machte. „[…] eine Schuluniform, das konnte er sich damals schon gar nicht vorstellen und dann mit dem, also das Klassendenken, das war bei meinem Großvater schon ziemlich stark“ (34-36).

Dennoch gibt es, trotz der rationalen und flüssigen Darstellung der biografischen Erzählung, auch kleine Momente des Selbstzweifelns, die darauf hinEntscheidungen werden, die auch für eine soziologische Perspektive von Relevanz sein könnten. Aus letzterer Sicht wird, weniger bewertend, von einem Scheitern gesprochen, sondern hier werden eher die Konfliktfelder betont, die diese Erzählung prägen.

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deuten, dass Annerose spürt, dass sie ihren Platz im Leben noch nicht gefunden hat. Hier wird die Sprache brüchig, sie stockt und räumt einen inneren „Mechanismus“ (1092) ein, dem sie in ihrem Lebenslauf gefolgt ist, der ihr jedoch weitgehend verschlossen geblieben ist. Dieser „Mechanismus“ (1092) wird als Grundstruktur ihrer Handlungsstrategien von ihr kaum hinterfragt, obwohl er möglicherweise den Ausgangspunkt für die kontinuierliche Herstellung entscheidungsoffener Situationen im Rahmen ihres beruflichen Wegs bildet. Aus ihrer Wahrnehmung fühlt sie sich den Rahmenbedingungen dieser Situationen ausgeliefert, ohne konkrete Möglichkeiten der Einflussnahme für sich zu erkennen. „[…] Da habe ich gedacht, mehr oder weniger gar nicht anders zu können, dass es da noch andere Möglichkeiten neben dran gab, ja, habe ich da nicht so gesehen …“ (1092-1094).

Dieser Konflikt zwischen Anspruch und Wirklichkeit durchzieht in ähnlicher Weise den persönlichen Lebensweg von Annerose, allerdings geht es hier um das Motiv der Versorgung. Annerose erzählt, dass sie das erstgeborene Kind in einer von Anfang an enttäuschenden Beziehung zwischen der Mutter und dem Vater ist. Sie hat ihren leiblichen Vater nie kennen gelernt, außerdem stirbt er schon sehr früh, als sie erst acht Jahre alt ist. Ihre Mutter entscheidet sich schon in ihrer Schwangerschaft gegen das Zusammenleben mit dem leiblichen Vater von Annerose. Es gibt keine konkreten Informationen über die elterliche Beziehung, es scheint jedoch in der Darstellung so, dass sich Anneroses Mutter frei und unabhängig gegen die normativen Gepflogenheiten der Gesellschaft stellt und die Erziehung der Tochter alleine übernimmt. Von Annerose wird diese Entscheidung ihrer Mutter im Rückblick sehr bewundert. „[…] Da hat sich meine Mutter aktiv gegen eine Ehe entschieden, obwohl sie schon verlobt war. Das war 1955, glaube ich, heroisch, kann ich nicht anders sagen“ (1227-1229).

Die Bewunderung der mütterlichen „Freiheit“ wird auch zum Motiv ihres persönlichen Freiheitsempfindens im Rahmen ihrer Partnerschaften. So lehnt sie es hier konsequent ab, materiell versorgt zu werden. Es ist ihr – trotz der eigenen materiellen Unsicherheit – nicht möglich, Ansprüche im Hinblick auf ihre eigene Versorgung an einen Partner zu stellen. Was sie als Freiheit für sich in ihrem persönlichen Lebensentwurf definiert, fällt mit den spezifischen frauenpolitischen Forderungen der 1970er und 1980er Jahre in der BRD zusammen, mit denen Frauen sich bessere Zugangsrechte zu gesellschaftlichen Ressourcen erkämpfen. Diese Kämpfe beziehen sich allerdings nicht nur auf institutionelle Zugänge (z. B. zu Erwerbsarbeit und Bildung), sondern auch auf

5. Darstellung der empirischen Ergebnisse

autarke Lebens- und neue Beziehungsformen zwischen den Geschlechtern.9 Im Zuge dieser gesellschaftlichen Debatten geht es vielfach darum, traditionell geprägte Machtstrukturen in den Geschlechterbeziehungen bewusst zu machen und auf einer gesellschaftlichen Ebene zu verändern. „[…] Da hatte ich Kommilitoninnen, die sagten: ‚Och ich habe drei oder vier Männer gleichzeitig.’ Ich habe nur gestaunt, das geht? Ich habe gedacht, das muss man ausprobieren und hab/ich habe gemerkt, ich schaffe maximal zwei (lacht) … und dann eigentlich ist das eigentlich auch nur seriell und nicht gleichzeitig, aber ich wollte das alles ausprobieren, das hat diese Beziehung natürlich ziemlich belastet …“ (282-286).

Ähnlich wie in der beruflichen Entwicklung sind auch Anneroses Partnerschaften von häufig wiederkehrenden Beziehungsabbrüchen und Enttäuschungen geprägt. Es gelingt ihr nicht, eine verlässliche Vertrauensebene mit einem Mann auf bauen. „[…] Von da an hatte ich kein Vertrauen mehr in mich, dass ich überhaupt noch ein Gespür dafür finden würde, was für mich der richtige Mann sein würde. Also es ging schon aus bestimmten Gründen zu Ende, es waren mehr oder weniger Männer, die nicht frei waren oder die sich nicht binden wollten“ (455-458).

Da Annerose sich sehnlichst Kinder wünscht, sind diese gescheiterten Erfahrungen sehr bitter für sie und bringen sie an den Punkt, an dem sie sich auch von dieser Lebensvision verabschieden muss. „Ja, Familie habe ich dann langsam aufgegeben“ (485). Dieser Prozess des Loslassens fällt ihr unendlich schwer

9 | Wenn in der Literatur die Rede von der Frauenbewegung ist, so unterscheidet man im historischen Verlauf zwischen der ersten und der zweiten Frauenbewegung. Beide Bewegungen, also die Frauenbewegung als Ganzes, waren „Motor und Teil der Demokratie- und Emanzipationsbewegungen des 19./20. Jahrhunderts“ (Gerhard 1999:13). Die erste oder historische Frauenbewegung wird in das 19. Jahrhundert datiert, ihre Inhalte bezogen sich auf die politische Teilhabe an Wahlen, Bildung und Erwerbsarbeit von Frauen in modernen Gesellschaften. Die zweite Frauenbewegung hatte die „Subjektwerdung von Frauen“, wie es in den 1970er und 1980er Jahren hieß, zum politischen Ziel: die politische Anerkennung/Inklusion von „Frauen als Subjekte[n], als Individuen mit eigener Stimme, als vollberechtigte Menschen“ (Benhabib, Nicholson 1987:516 in: Niekant 2009:100). Charakteristisch für diese feministische Bewegung war in den 1980er Jahren, dass gesellschaftliche Räume wie beispielsweise Frauencafés, Frauenbuchläden oder etwa Sommeruniversitäten für Frauen entstanden, die wirklich nur für Frauen zugelassen waren. So sollten die Frauen die Möglichkeiten erhalten, in „geschützten“ Räumen ihre Identität und Individualität zu entwickeln.

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und die Idee, ein Kind zu adoptieren, macht ihr nochmals deutlich, dass sie etwas herbeisehnt, was sie selbst nie erlebt hat. „[…] Ich wollte dem Kind unbedingt eine heile, also vollständige Familie bieten, habe gedacht, das Kind hat ein Anrecht auf Mann und Frau. Ich habe gemerkt, ich selber kann es nicht leisten“ (502-504).

Diese heile Welt hat sie nie gelebt, denn ihre Mutter entscheidet sich gegen eine Partnerschaft mit Anneroses Vater, kehrt vermutlich aus existenziellen Gründen in ihr Elternhaus zurück und lebt dort acht Jahre mit Annerose zusammen „in so einem kleinen Kämmerchen. Da hat meine Mutter gearbeitet und meine Oma mich versorgt“ (1252). Diese Form der Versorgung möchte sie gerne einem Kind aus einem Entwicklungsland bieten. Sie schöpft aus ihren eigenen Erfahrungen und empfindet die fehlende materielle Basis für eine Adoption als wenig problematisch. „[…] Zu diesem Zeitpunkt hatte ich immer noch diese Einzimmerwohnung und habe nur gedacht, ok, ich werde es vielleicht irgendwie schaffen“ (494-496).

Ihre Lebensumstände erfüllen allerdings nicht die formalen Anforderungen einer Adoption, so dass sie sich auch von diesem Wunsch verabschieden muss, was ein sehr schmerzhafter Prozess für sie ist. „[…] Habe danach nochmal geträumt. Irgendwann mal weiß ich noch, habe von einem farbigen Kind geträumt, was zu mir Mama sagt, ja …“ (516-518).

Auch hier muss sie einen Herzenswunsch langsam aufgeben und widmet sich wieder dem, was ihr vertraut ist. „Blieb jetzt die Erwerbsarbeit“ (545). Die Arbeit und das Arbeiten als tägliche Herausforderung hat sie buchstäblich in die Wiege gelegt bekommen. Für Herzenswünsche oder tiefe Sehnsüchte bleibt wenig Raum in ihrer Erzählung. Dies zeigt sich schon früh, als sie nach dem Abitur ein Jahr in Frankreich als Au-pair-Mädchen verbringen möchte. Dieser Wunsch wird ihr vom Großvater mit dem Argument nicht gewährt, dass sie an ihre „Rente denken“ (59) soll. Sie beugt sich dieser Erwartung ohne Konflikte mit den Großeltern einzugehen. Es scheint jedoch, als sei sie ihr Leben lang in einem inneren Widerstand zu diesem Motiv der Grundsicherung geblieben, denn genau die Sicherstellung eines materiellen Auskommens gelingt nicht, wie sie selbst auch anerkennen muss. „[…] Rente, ich werde unter Garantie, unter dem und das was man Altersarmut nennt, fallen, kann ich mir jetzt schon ausrechnen. Ich krieg ja jetzt schon Bescheid, jetzt habe ich 500 Euro soundso viel erwirtschaftet“ (925-927).

5. Darstellung der empirischen Ergebnisse

Ihr Wunsch nach und ihr politisches Engagement für ein bedingungsloses Grundeinkommen spiegeln vor diesem Hintergrund den Konflikt auf der inneren und äußeren Ebene wider: Während das Thema auf einer äußeren Ebene als rationales „Begründungsmuster“ für ihr politisches Engagement sowie ihre politischen Überzeugungen herangezogen und (anderen gegenüber) verteidigt wird, könnte der Wunsch nach einem bedingungslosen Grundeinkommen auf einer tiefen inneren Ebene die Sehnsucht danach offen legen, anerkannt, geliebt und versorgt zu werden. Diese Sehnsucht erkennt sie allerdings in sich nicht an, sondern identifiziert sich in ihrer inneren Reflexion mit der familiären Tradition und deren weiblichen Lebenskonzepten. Beispielhaft steht hierfür das Leben ihrer Großmutter. „[…] Also das Leben damals war sehr viel härter und sie musste auch immer kämpfen, kämpfen, kämpfen. Mit der kleinen Rente danach hat sie mit 50 noch mal angefangen, hat noch einen Job gekriegt im Kontor, heißt es in X, hat auch – wie soll man es sagen – so was wie eine Buchhaltung gemacht, als ungelernte Kraft immer gekämpft, immer“ (1296-1300).

Eine Möglichkeit der Interpretation von Anneroses Erzählung weist darauf, dass sie diesen Kampf auch zu führen scheint, allerdings zwei Generationen später in einer Zeit, in der sich die gesellschaftlichen Optionen für bestimmte gesellschaftliche Gruppen erweitert haben. Sie unterstützt die normative Forderung nach mehr gesellschaftlicher Teilhabe für sozial Schwache aktiv und engagiert. Ihr selbst gelingt es allerdings nicht, diese Balance in ihren Lebensumständen herzustellen, sie erkennt aber im Rückblick auch nicht, dass es konkrete Situationen gab, die ihr diese Balance eventuell ermöglicht hätten. So bleibt sie in ihrem eigenen Kampf als kontinuierliche Anstrengung um materielle Sicherheit und Versorgung verhaftet. Dieser Kampf entspricht den Lebensstrukturen derjenigen Menschen, denen sie auf einer inneren Ebene treu geblieben ist und die sie mit großem Stolz erfüllen.

Fazit Annerose Falters biografische Erzählung ist ein gelungenes Beispiel für die spezifisch historische Situation gesellschaftlicher Individualisierung der 1980er Jahre. Angespornt von den Bildungsidealen ihrer Familie und den politischen Botschaften dieser Zeit, ergreift sie als junge Frau aus der Arbeiterschicht die Möglichkeit, über den Besuch der höheren Schule einen hohen Qualifikationsgrad zu erwerben, und absolviert im Anschluss ein Studium. Die Öffnung von Bildungswegen und die Liberalisierung in Subkulturen auch für Frauen werden von ihr weitgehend in Anspruch genommen, auf einer kulturell-ideellen Ebene wird es für sie möglich, eine weitreichende gesellschaft-

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liche Selbstverortung ihres Lebens zu entwickeln. Aspekte wie Bildung, freie Entfaltung und Selbstbestimmung werden vor diesem ideologischen Hintergrund zentral für die Ausbildung ihrer Individualität. Allerdings gelingt es ihr nicht, diese Ideale in eine stofflich konkrete Form zu überführen. Die biografische Rekonstruktion von Annerose Falter zeigt, dass sowohl die Verfügbarkeit als auch die Inanspruchnahme qualifizierter Arbeitsmöglichkeiten nicht alleine von den formalen Möglichkeiten abhängen. Im Gegenteil, die wiederkehrenden Handlungsmuster des Auf baus und Abbruchs der Optionen auf einer äußeren Ebene in Anneroses Erzählung können auf ungelöste innere Spannungsfelder Anneroses weisen. Es bleibt zu vermuten, dass diese es auf einer persönlichen Ebene nicht zulassen, verlässliche Bindungen in Anneroses Umfeld aufzubauen. Diese in ihrer Logik zu ergründen, bedürfte allerdings einer disziplinären Erweiterung um psychologische und psychoanalytische Aspekte. Es wird hier jedoch deutlich, dass gesellschaftliche Bedingungen in Korrespondenz mit den inneren psychologischen Dispositionen der Menschen stehen und diese Synthese die tatsächlichen gesellschaftlichen Chancen und Optionen beschreibt. Gleichzeitig wird hier auch deutlich, dass gesellschaftliche Öffnungsprozesse biografische Bewegungen anstoßen, anregen und in Resonanz mit diesen stehen. Wie Anneroses Erzählung allerdings anschaulich beschreibt, war diese Resonanz schon in der Großeltern- und Elterngeneration angelegt und findet erst in der politischen Kultur der 1980er Jahre ihren transformativen Ausdruck. Aufgrund einer spezifischen Handlungslogik gerät Anneroses Lebenslauf zu einer selbst formulierten Patchworkbiografie, die durch den Konflikt zwischen Anspruch und Wirklichkeit gekennzeichnet ist. Der Prozess der Individualisierung wird für sie zu einem „Risiko, aber voll“ (917) sowohl auf der beruflichen als auch auf der persönlichen Ebene. Allerdings entsteht dieses Risiko nicht durch die Vielfalt an Optionen oder gar durch Entscheidungszwänge. So schafft sie es über viele Jahre, sich Zugang zu aussichtsreichen beruflichen Positionen zu schaffen, die jedoch kontinuierlich von ihr abgebrochen oder beendet werden. Ihre Erzählung eröffnet Spannungsfelder, die sich darin zeigen, dass sie sich auf einer inneren Ebene wenig von familiären Traditionen und Denkfiguren befreit hat. Diese wirken als innere Verpflichtung weit in ihre Lebensverhältnisse hinein. Die drei „Motive“ von Individualisierungsprozessen „Freisetzung aus traditionellen Strukturen“, „Entzauberung von normativen Vorgaben“ und „Einbettung in neue Strukturen“ finden im Rahmen ihrer Erzählung gerade nicht statt. Ein bedingungsloser Arbeitsethos, der Kampf um das Überleben, aber auch Durchhaltevermögen und eine große mentale Befähigung prägen ihre Individualität, die handlungsleitend für ihren Lebenslauf wird. Der auf Dauer gestellte Konflikt zwischen eigenen Ansprüchen und der sozialen Wirklichkeit verhindert, dass sie auf soziale Strukturen zugreifen und diese konstruktiv für sich umsetzen kann. Das, was sie am meisten

5. Darstellung der empirischen Ergebnisse

anstrebt, eine materielle Grundsicherung, bleiben ihr dauerhaft verwehrt. Sie ist allein auf sich gestellt, was sie mit zunehmendem Alter als riskant und mühevoll empfindet. Die gesellschaftlichen Bedingungen erscheinen in ihren basalen Bedürfnissen gegen sie gerichtet und sie siedelt sich eher als Verliererin im Rahmen dieser politischen Veränderungen an. Sie setzt sich zwar politisch engagiert für wachsende Optionen für breite gesellschaftliche Gruppen ein, diese scheinen jedoch aus einer inneren Perspektive für ihre Erfahrungen nicht zu gelten. Aus ihrer inneren Wahrnehmung heraus bewertet sie sich kaum als „Bastlerin“ ihrer Lebensmöglichkeiten. Sie erkennt jedoch auch nicht an, dass ihre vielseitigen Interventionen und Abbrüche Konsequenzen für sie und ihren Lebensweg hatten. Sie hätte einfach gerne mehr Glück gehabt, gibt jedoch die Hoffnung nicht auf, dass sie ihre Ziele, nämlich Sicherheit und Glück, noch erreichen kann.

5.2 „I ch hat te selbst überhaup t keinen P l an “ – I ndividualisierung als P rozess der S elbstfindung Einführung Udo Faber ist 49 Jahre alt, verheiratet und lebt zusammen mit seiner Frau in einer mittelgroßen süddeutschen Stadt. Das Paar hat keine Kinder. Udo Faber arbeitet als Designer, seit einigen Jahren auf freiberuflicher Basis. Diese Arbeitsform beschreibt er als das Ergebnis eines langen Selbstfindungsprozesses. Das Interview findet am späten Morgen im Besprechungsraum seines Büros statt. Nach einer offenen und freundlichen Begrüßung, bei der man sich spontan und unkompliziert auf die Duzform einigt, werden die Fragen der Forschungsarbeit erläutert, in deren Rahmen das Interview eingebettet ist. Udo Faber bringt hier zweifelnd zum Ausdruck, dass er seinen biografischen Werdegang als wenig relevant für diese Arbeit einschätzt, da er ziemlich „chaotisch“ gewesen sei. Gleichzeitig könne jedoch genau das auch interessant sein, da dieser, sein Lebenslauf, alles andere als gewöhnlich sei. Nachdem er die Wassergläser gefüllt hat, beginnt das Gespräch. Die Atmosphäre ist über Stunden hochkonzentriert, lediglich eine kleine Pause wird eingelegt, um kurz austreten zu können. Udo Faber redet schnell, spricht leise und sein Blick geht immer mehr nach innen. Die Erzählungen gestalten sich retrospektiv auf zwei Ebenen, das bedeutet, er stellt häufig zwei Sichtweisen dar: die Sichtweise, die er als junger Mensch auf seine damalige Umgebung hatte und seine heutige Sichtweise im biografischen Rückblick. In den letzten Jahren hat er seine Geschichte auch im Rahmen von diversen Therapien und Coachings „aufge-

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arbeitet“, so dass er eine gewisse Routine in diesen diskursiven Formen der Retrospektive gewonnen hat. Individualisierungsprozesse hält Udo Faber im Hinblick auf seinen Werdegang insofern für aussagekräftig, da er glaubt, dass heutzutage große individuelle Anstrengungen unternommen werden müssen, um herauszufinden, was das wirklich Richtige für einen selbst sei. Der Weg dahin sei – im Gegensatz zur soziologischen These – alles andere als planbar und könne gerade bei ihm eher als Trial-and-Error-Prozess beschrieben werden.

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Biografische Erzählung

Udo Faber wächst als ältestes Kind der Familie in einer mittelgroßen süddeutschen Stadt auf. Er hat eine fünf Jahre jüngere Schwester, mit der er auch heute noch in gutem Kontakt steht. Sein Vater konzentriert sich auf seinen Beruf, leitet eine Abteilung in einem großen Unternehmen und ist praktisch „nie da“ (571). In der Regel kommt er abends sehr spät nach Hause und widmet sich weitestgehend seiner Erwerbsarbeit. Seine Mutter arbeitet halbtags als Sekretärin in demselben Unternehmen und kommt während der Woche erst nach Udo nach Hause. „[…] dann habe ich halt schon das Essen vorbereitet, so gut es ging bis sie kam und ja … also … aus heutiger Sicht wirklich viel gelernt, aber damals empfand ich das schon als Stress. Warum muss ich so was machen, die andere haben es gut, die mussten nichts tun …“ (576-578).

Er bezeichnet sich selbst in vielerlei Hinsicht als „Spätzünder“ (17), was meint, dass er über lange biografische Phasen in seinem Leben nicht zu dem gekommen ist, was ihn selbst und seine Interessen betrifft. Dies beginnt für ihn schon beim Wechsel von der Grundschule auf die weiterführende Schule. Sein Vater besteht darauf, dass er auf ein humanistisch ausgerichtetes Gymnasium wechselt, was er zunächst akzeptiert. „[…] Als ich in der Grundschule war, war ich gut und sehr begeistert, hatte eine tolle Lehrerin, das hat mich damals halt sehr geprägt und ich hatte viel Spaß an der ganzen Sache. Aber dann war mein Vater damals so drauf, dass er gesagt hat, na ja humanistische Bildung wäre ganz wichtig und ich sollte doch unbedingt aufs Gymnasium gehen“ (18-21).

Den weiteren Verlauf der Schulzeit beschreibt Udo Faber als eine notwendige Rahmenbedingung in seinem Leben, die bei ihm ausschließlich „Abwehrhaltung und Druck“ (30) ausgelöst hat. Diesen Umstand führt er (auch) auf seinen Vater zurück, weil der diesen Druck erzeugt hat und sich nur eine humanistische Bildung für seinen Sohn vorstellen konnte. Er selbst wurde nie nach

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seinen Wünschen gefragt. Er schafft noch die fünfte Klasse im Gymnasium, muss die sechste Klasse wiederholen und bleibt dann nochmals „sitzen“ (35). Eine Realschule nimmt ihn „großzügigerweise“ (38) auf. Er schafft mit „Ach und Krach“ (42) die Mittlere Reife und steht wieder vor der Frage „Was soll ich denn jetzt tun?“ (43). Ohne große Orientierung wechselt er auf ein Wirtschaftsgymnasium, um das Abitur zu machen. Dort setzt sich die Odyssee für ihn allerdings fort, „[…] es war grässlich, ich weiß auch nicht. Ich war immer nur bei denen, die schlecht waren, die haben mich begeistert, die coolen Typen und Mädels, die haben mich interessiert, alles andere hat mich überhaupt nicht interessiert, also eine sehr destruktive Haltung meinerseits …“ (46-49).

Er entwickelt einen großen Hang zu Mitschülerinnen und Mitschülern, die ebenfalls eine Haltung der Rebellion einnehmen und beginnt mit der politischen Hausbesetzerszene in seiner Heimatstadt zu sympathisieren, die in diesen Jahren in der Stadt sehr aktiv agiert. „[…] Und dann war natürlich hier auch die Hausbesetzerzeit, das hat mich viel mehr interessiert, als diese blöde Schule. Dann war ich da immer und habe mich da rumgetrieben, das hat mich alles sehr interessiert. Also ich war da nie so richtig dabei, aber trotzdem so in diesem ganzen Umfeld eben und man ist dann in die besetzten Häuser hinein und hat Party. Und es war einfach so, ja schon so diese Nullbockstimmung irgendwie …“ (60-64).

Die elfte Klasse besteht er wieder nicht und muss wiederholen. Die zwölfte Klasse schafft er mit katastrophalen Noten. Nun stellt sich vehement die Frage, was weiter mit ihm passieren soll. Seine Eltern sind mit dieser Situation völlig überfordert und wissen auch keinen Rat. In dieses Gemenge mischt sich sein Onkel, ein Grafikdesigner, ein und macht ihn darauf aufmerksam, dass ihm das Zeichnen doch immer gut gefallen habe. Udo Faber kann sich auf diesen Ratschlag einlassen und beginnt eine Lehre als Schriftsetzer in einem Verlag in derselben Stadt. „[…] und dann hab ich mich da so/ ach ich war begeistert, aber auch nicht so, dass ich da richtig gut war. Ich habe mich da so immer irgendwie durchgeschlängelt, geguckt, dass es einigermaßen passt und habe da meine Lehrzeit gemacht“ (78-80).

Er besteht die Lehre dann am Ende „mittelprächtig“ (94), obwohl er die Berufsschule kaum besucht hat. Er hat die Kurse „sausen lassen, habe mich halt irgendwo rumgetrieben (lacht)…“ (97), was zu organisatorischen Problemen geführt hat. Am Ende wird er dann doch zur Prüfung zugelassen und besteht sie auch.

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Nach der Lehre stellt sich wieder die Frage, was weiter mit ihm passieren soll und „[…] dann war halt die Sache, ok, ich mach jetzt einfach mal/ ich mach da weiter bei der Firma, Schichtarbeit war dann angesagt“ (102-103).

Im weiteren Verlauf kann er jedoch die nötige Disziplin nicht auf bringen, um geregelte Arbeitsabläufe in zwei Schichtdiensten (Früh- und Spätschicht) einzuhalten. Er widmet sich mehr seinen sozialen Kontakten und seinen Interessen, was dazu führt, dass er nicht pünktlich oder aber völlig übermüdet zur Arbeit kommt und seine Aufgaben nicht erfüllen kann. „[…] da gab es da auch wieder Ärger, und nach einem halben Jahr habe ich gesagt, also da habe ich keinen Bock drauf, so kann es nicht weitergehen“ (115-116).

Er gibt die Arbeit auf und muss sich nun aus Altersgründen mit der Frage konfrontieren, ob er zur Bundeswehr geht oder ob er diesen Dienst verweigert und alternativ diese Zeit in einem sozialen Kontext ableistet. Er entscheidet sich eindeutig für die Alternative: 24 Monate einen sozialen Dienst anzutreten. Das Verfahren geht ohne Komplikationen durch und er sucht sich selbstständig eine soziale Organisation, in deren Rahmen er diesen Dienst absolvieren kann, „[…] und dann bin ich blauäugig an die Arbeiterwohlfahrt – glaube ich – damals herangetreten“ (145-146).

Er meldet sich für die individuelle Schwerbehindertenbetreuung und bekommt auch eine Person zugewiesen, die er ganztägig betreuen soll. Hier handelt es sich um einen Mann, der seit einem Autounfall vollständig gelähmt ist und auf eine ganztätige Vollpflege angewiesen ist. Fachlich völlig unvorbereitet übernimmt Udo Faber diese Aufgabe, die sich als sehr anstrengend erweist, „weil er einfach gemeint hat, so ich bin sein Bediensteter …“ (160-161). Mit der Zeit wurde diese Arbeit immer schwieriger für ihn, weil auch die Familie der bedürftigen Person mehr und mehr die Ausführung von Hausarbeiten von ihm einfordert. Gleichzeitig empfindet er diese Form der Pflege als eine große psychische Herausforderung. „[…] Und dann, ja das gab Probleme und das wurde immer schlimmer. Und überhaupt auch mit so einem schwerkranken Menschen zusammen zu sein, der war menschlich, am Anfang dachte ich ganz ok, aber der wurde immer heftiger und dann hat sich so sein wahres Bild gezeigt, dass der einfach ein Riesenarschloch war auf gut Deutsch. Weil, er hat mich ziemlich drangsaliert und hat immer erzählt, wie toll er doch war …“ (168-172).

5. Darstellung der empirischen Ergebnisse

Er übernimmt die „Körperpflege komplett“ (185) so gut er kann, was auch Berührungspunkte im Schambereich beinhaltet. Aber dennoch gelingen viele Tätigkeiten nicht auf Anhieb und er wird von dem Patienten regelmäßig „zur Schnecke gemacht“ (202). Die Konflikte mit ihm und auch der Familie des Pflegebedürftigen nehmen zu und vieles ist ihm einfach sehr unangenehm. „[…] so, ja keine Pornohefte, aber Praline hieß das damals, so Sexhefte, da musste ich immer zum Kiosk und ihm da kaufen und dann nach Hause und die wurden auf den Tisch gelegt und dann musste ich immer umblättern und ich saß dann, oh Mann, was liest der denn für ein’ Schrott.“ (212-215).

Diese Pflege erfordert von seiner Seite „eine ganz schöne Verantwortung“ (226). Obgleich sich Udo Faber große Mühe gibt, eskaliert die Situation und er wendet sich an die verantwortliche Organisation und beantragt die „Trennung“ (229) von dieser Pflegesituation. Hierbei stellt sich heraus, dass vor ihm schon mehrere Zivildienstleistende diese Situation wegen Konflikten frühzeitig verlassen haben. Er bekommt einen neuen Fall zugewiesen, „[…] ein Tankwart und der hatte einen Schlaganfall und der konnte nicht sprechen und gar nichts, also vor allem nicht sprechen … […], ja, aber man konnte mit dem halt nichts reden, das ging alles nur über Zeichensprache … […], aber ich musste halt den ganzen Tag mit ihm verbringen, mit jemand, der nicht reden kann, wow, auch nicht so ganz einfach. Dann haben wir Mikado gespielt …“ (242-257).

Udo Faber absolviert die Zeit als Zivildienstleistender und bewertet diesen Einsatz aus heutiger Sicht als sehr prägend und wertvoll für sich „im positiven Sinne“ (262-263), da er „so viel Leid gesehen“ (260) hat. Diese Erfahrung hat ihm Einblicke in andere Lebenskontexte gegeben, was seine eigene Lebenssituation in gewisser Weise relativiert. Nach dem Zivildienst stellt sich erneut die für ihn noch offene Frage, wie er seinen Lebensweg gestalten möchte. „Und jetzt? Keine Ahnung“ (293). Er entscheidet sich für ein Grafikdesignstudium an einer privaten Hochschule und stellt mit der Unterstützung eines befreundeten Künstlers eine Bewerbungsmappe zusammen. In dieser Zeit trennen sich auch seine Eltern und es stellt sich auch für ihn die Frage „mit wem gehe ich wohin?“ (304). Er entscheidet sich am Ende dafür, alleine zu leben, bezieht ein kleines Appartement, das er sich mit der finanziellen Unterstützung seiner Eltern sowie kleinen Jobs leisten kann. Das Studium nimmt er wieder sehr leicht, „[…] habe mich da nicht so angestrengt, das zieht sich schon durchs Leben irgendwie (lacht) …“ (311-312).

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Das Motiv, sich in beruflichen Angelegenheiten nicht zu sehr zu engagieren führt, er heute auf das Berufsverhalten seines Vaters zurück, das er innerlich stark ablehnt. „[…] nur nicht zu werden wie dein Vater, der hat malocht, war nie für uns da – wobei, da habe ich auch sehr darunter gelitten, aus heutiger Sicht …“ (315-316).

Bis zum Auszug aus dem Elternhaus bewertet er die Beziehung zu seinen Eltern als nicht besonders gut. „[…] Sehr viel Streit gehabt auch mit meinen Eltern, mit meiner Mutter insbesondere, weil die war eigentlich/die hat immer zu mir gehalten irgendwo, aber ja, die war psychisch krank und nicht so richtig ansprechbar, schon ansprechbar, aber so sehr labil und sehr, sehr dünnhäutig, das hat mich alles genervt“ (581-584).

Aber auch das Verhältnis zu seinem Vater empfindet er als wenig hilfreich, weder für seine berufliche Orientierung noch für seine Lebensplanung. Im Gegenteil, er sieht den Wunsch seines Vaters nach einer umfangreichen Bildung als konträr zu seinen Interessen und fühlt sich vom Vater insgesamt wenig verstanden, „ich hätte etwas ganz anderes gebraucht“ (639-640). Er empfindet die Beziehung zu seinen Eltern aus „damaliger Sicht“ (838) als eine „[…] komische Sache. Man hat Eltern und hat sie doch nicht und die wollen was Gutes für einen und trotzdem kontrollieren sie mich sehr stark […] und diese Hilfeschreie und das gibt natürlich einen ganz komischen Mix“ (838-842).

Udo Faber besteht das Grafikdesignstudium als Bester seiner Gruppe mit einer fotografischen Abschlussarbeit, deren Gesamtkonzept er selbst entwirft und „mit selber gemachten Schwarzweißfotos“ (328) entwickelt. Danach macht er sich mit einem Kommilitonen aus dem Studium selbstständig und die beiden Designer bauen über einige Jahre eine prosperierende Werbeagentur auf. Diese geschäftliche Beziehung geht jedoch in die Brüche, nachdem Udo Faber sich einen Arm gebrochen hat und für mehrere Monate ausfällt. „[…] ich weiß nicht, was da passiert war, aber irgendwie fiel dem ein, er will jetzt doch nicht mit mir, er möchte eigentlich neue Wege gehen“ (898-899).

Dieser Bruch war für ihn eine sehr „schwierige Zeit, habe da dann auch Bluthochdruck bekommen …“ (90-907). Nach einiger Zeit tut er sich nochmals mit einem „alten Freund“ (916) zusammen, zunächst auf Distanz, nach einem Jahr jedoch mieten sie sich sehr große Räumlichkeiten mit „fünf, sechs, sieben Leuten insgesamt“ (924) und bauen eine große Werbeagentur auf. Diese Agentur ist

5. Darstellung der empirischen Ergebnisse

über einen Zeitraum sehr erfolgreich, was sich auch an einer guten finanziellen Bilanz zeigt. Nach einer Zeit ist „[…] uns ein großer Kunde weggebrochen, dann war das Chaos natürlich komplett …“ (933-934).

Und auch in dieser Konstellation gibt es „irgendwie einen Bruch“ (937) mit seinem Geschäftspartner. Aus diesem Bruch wurde ein regelrechter „Rosenkrieg“ (943), der nach einiger Zeit vor Gericht geführt und entschieden wurde. Udo Faber nimmt sich für seine Verteidigung einen Anwalt, was ihn „ein Schweinegeld“ (991) gekostet hat. Diese Auseinandersetzungen kosten ihn auch enorm viel Kraft und Anstrengung und er beschreibt diese Zeit als „Chaos hoch zehn“ (1015). Besonders die letzte Gerichtsverhandlung ist ein ausgesprochener Kraftakt für ihn „[…] der Anwalt mich da angemacht von der gegnerischen Seite, mein Anwalt hat zurückgeblafft, da wurde richtig rumgebrüllt, also ich habe gedacht, ich kriege einen Herzinfarkt da drin“ (1019-1021).

Udo Faber kommt ökonomisch einigermaßen glimpflich aus dem Verfahren heraus, allerdings empfindet er diesen Konflikt mit seinen Konsequenzen für ihn als höchst zermürbend und anstrengend. Er möchte aus diesen anstrengenden Ereignissen lernen und arbeitet diese Krisen in den folgenden fünf Jahren therapeutisch intensiv auf. Für ihn sind sie Ausdruck bewusster und unbewusster Denkstrukturen, die ihn regelmäßig in schwierige Situationen manövrieren und er möchte aus seinen eigenen Fehlern lernen. So wird die Arbeit an seinen inneren Handlungsstrukturen für ihn sehr wichtig, „ich habe jetzt einfach gemerkt, wie ich ticke“ (1068). Langsam und in kleinen, behutsamen Schritten versucht er seine Fähigkeiten und Talente besser zu erkennen und auf deren Basis zu handeln und zu leben. Er entwickelt einen eigenen Arbeitsstil, arbeitet auf selbstständiger Basis, ohne Angestellte, für die er Verantwortungsbereiche übernehmen muss. Er achtet auf eine gute Balance zwischen Arbeit und Freizeit und versucht, seine eigenen Bedürfnisse in den Mittelpunkt seiner Planungen zu stellen. In diesem selbstgesteckten Rahmen ist er beruflich erfolgreich und hat in den letzten Jahren „schon große Auszeichnungen“ (1091) für die Ergebnisse seiner Arbeit bekommen. Während der Trennung von seinem zweiten Geschäftspartner erkrankt seine Frau an einer schweren Depression. Er muss sich intensiv mit ihr und ihrer Krankheit auseinandersetzen, „jetzt hat man herausgefunden, dass sie manisch-depressiv ist“ (1134). Das Paar durchlebt sehr schwierige und anstrengende Phasen und Udo Faber sieht sich – vor allem in den Hochphasen ihrer Depression – mit dem Wunsch nach Trennung von seiner Frau konfrontiert. Doch

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auch diese schweren Zeiten überwindet er mit therapeutischer Hilfe und viel Zuversicht und beide versuchen nun, ihre Partnerschaft auf eine verlässliche und vertrauensvolle Ebene zu stellen. Hier gibt es viele Rückschläge, aber er gibt die Hoffnung nicht auf, dass sie einen gemeinsamen Weg finden können. Udo Faber hat nach eigener Einschätzung aus seinen Fehlern gelernt und sieht das „Leben heute schon mit anderen Augen“ (1158). Für ihn ist es heute wichtig, sich die „Lebensfreude“ (1169) zu erhalten und sich nicht „ständig zu verbiegen nur wegen dem blöden Geld“ (1170). Das Leben in seiner Vielfalt hat ihn hierbei gelehrt, mehr nach seinen eigenen Bedürfnissen und Neigungen zu leben und diese zu respektieren. Diese Erkenntnis war jedoch das Ergebnis eines schwierigen und anstrengenden Lernprozesses und er versucht heute konsequent nach diesen Erkenntnissen zu leben. So ist er beispielsweise bestrebt, sich kleine Auszeiten im Jahr einzuräumen, „[…] um mal wirklich zu überprüfen, ist man noch auf dem richtigen Weg oder was will man denn wirklich …“ (1207-1208).

Er hofft sehr, dass er diesen Lebens- und Arbeitsentwurf für die kommenden Jahre aufrechterhalten kann. Die schlechten Erfahrungen mit seinen Geschäftspartnern haben ihn sehr geprägt und er möchte ähnliche Situationen in Zukunft unbedingt vermeiden. Inzwischen empfindet er eine große Dankbarkeit für und Zufriedenheit mit dem, was er erreicht hat und wünscht sich, diesen Zustand beibehalten zu können.

(2) Subjektive Einschätzung des eigenen Individualisierungs-prozesses In seiner Erzählung widmet sich Udo Faber besonders dem Motiv der Orientierungslosigkeit. Hier beschreibt er die Haltlosigkeit in den verschiedenen sozialen Kontexten, in denen er sich seit seiner Kindheit bewegt. Diese Orientierungslosigkeit ist nach seiner Einschätzung schon auf einer inneren Struktur in seiner Familie angelegt, sie zieht sich durch seine Schulzeit, seinen Zivildienst und seinem beruflichen Werdegang, wo es zu zahlreichen Situa-tionen der Eskalation kommt. Nach außen zeigt sich das Motiv der Orientierungslosigkeit für ihn in seiner Identifikation mit der Protestbewegung (hier: Hausbesetzerszene) in seiner Heimatstadt, zu der er sich als junger Mensch über lange Zeit sehr hingezogen fühlt. „[…] Und so waren wir halt die absoluten Chaoten, aber je mehr es waren, desto besser und das hat mich echt stark geprägt. Ich war immer bei den Sitzenbleibern, immer die waren cool, die halt nichts auf die Reihe gekriegt haben und sich da auch – glaube ich – halt auch so gegen das System gewehrt haben …“ (403-406).

5. Darstellung der empirischen Ergebnisse

Beschreibende Details dieser Zeit bestimmen seine biografische Erzählung sehr stark. Sie beziehen sich auf eine Vielzahl destruktiver Situationen, die die Haltung der Jugendlichen, und seine eigene, bezeugen. Diese Haltung wird von ihnen als „Freiheitsgedanke“ (410) gegen die Elterngeneration interpretiert, „die so spießig ihrer geregelten Arbeit nachgehen“ (409). Vor allem während der Schulzeit verkörpert diese Haltung für ihn Unabhängigkeit gegen den „Druck“ (429), dem er sich ausgesetzt fühlt. „[…] da war ein Chemielehrer, der war auch menschlich eine totale Niete. Dann haben wir, wir haben uns echt überlegt, dem das Auto anzuzünden, wir waren kurz davor, wir haben gesagt, der Typ geht uns so auf den Keks, dem zeigen wir jetzt wirklich mal, wie es abgeht“ (433-436).

Aus diesen subjektiven Erfahrungen und Gedanken heraus entwickelt er seine inhaltlichen Einschätzungen zu modernen Individualisierungsprozessen. Er bestätigt die soziologische Diagnose insofern, dass aus seiner Sicht aktuelle gesellschaftliche Rahmenbedingungen dem Einzelnen unübersichtliche Möglichkeiten bieten und auch zumuten. Diese multiplen Entscheidungsmöglichkeiten eröffnen den Menschen zwar „viel Freiheit“ (1309), was er als eine „tolle Sache“ (1310) anerkennt. Gleichzeitig wird für Udo Faber aber auch eine Unübersichtlichkeit geschaffen, die den Menschen insgesamt „nicht gut“ (1309) tut. Diese Möglichkeiten führen zu einer Beliebigkeit, da sie die Men-schen schlicht überfordern. Sie werden, nach seiner Einschätzung, noch flankiert von dominierenden gesellschaftlichen Werten wie Erfolg und der Überbetonung der materiellen Ausstattung in den Lebensentwürfen der Menschen. Überforderung und die Ausrichtung auf Leistung mache es dem Einzelnen immer schwerer, einen eigenen Lebensentwurf zu entwickeln, der zu Zufriedenheit und Glück führt. Diese Aspekte sind, nach Udo Faber, lediglich individuell erfahrbar, in derzeitigen Leistungsgesellschaften allerdings nicht primär als sozialer Wert angelegt. Die in der soziologischen Theorie postulierten entscheidungsoffenen Situationen in modernen Gesellschaften hat er auch erlebt. In seiner Selbstwahrnehmung und aufgrund seiner Erfahrungen bewertet er diese Entscheidungsmöglichkeiten jedoch aus zwei Gründen als ambivalent: erstens sieht er Probleme der Entscheidungskompetenz besonders im Hinblick auf die zentralen Werte, die für seinen Lebensweg relevant sein könnten. Zweitens erinnert er sich an viele Situationen, für die er sich nicht bewusst entschieden hat, sondern in die er irgendwie hineingeraten ist. Hier standen für ihn allerdings keine geregelten Entscheidungsprozesse zur Disposition, alles war für ihn ein „Wahnsinnschaos“ (1055). Um mit solchen Situationen überhaupt umgehen zu können, braucht man, so Udo Faber, ein klares Wertesystem, das den Menschen eine Orientierung

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vermitteln kann. Dieses Wertesystem sollte im Familienkontext, in der Familie, in die man hineingeboren wird, gebildet und gestärkt werden. Der „Grundstein“ (1320) für diese Werte wird, nach seiner Einschätzung, sehr früh gelegt, in einer Haltung der Achtung Kindern gegenüber, so dass diese den Mut entwickeln können, sich in ihrem Leben etwas zuzutrauen. „Zuneigung, Liebe und Zeit“ (1322) sind für ihn der „Ursprung für alles“ (1323) in der Familie und somit der Schlüssel für die Vermittlung von Werten. Im Rahmen seiner eigenen Geschichte bewertet er diese Vermittlung allerdings als sehr ambivalent: „… habe ich irgendwo schon mitbekommen, aber auch nicht“ (1312-1313). Mithilfe seiner Therapien hat er diese familiären Widersprüchlichkeiten aufgearbeitet und hat sich ein Bild davon gemacht, welchen Dynamiken er als Kind in seiner Familie ausgesetzt war. Diese sieht er im Nachhinein als Ursache für seine Phasen der Orientierungslosigkeit. Als zentrale Bezugsperson in seinen Aufarbeitungen nennt er seinen Vater, der ihm keine stabilen Werte und keine Vertrauensbasis in seinem Leben vermitteln konnte. Er erlebt seinen Vater als abwesend und von seiner Arbeit absorbiert, „… mein Vater war nie da, war immer nur am Arbeiten“ (571-572). Gleichzeitig versucht dieser jedoch, seine Vorstellungen vom Bildungsweg seines Sohnes durchzusetzen, der sich darin überhaupt nicht wiederfinden konnte. „[…] Aber das war halt so seine Vorstellung, und die wollte er halt auf mich übertragen irgendwie. Aber das hat mir eigentlich gar nicht gut getan, ich hätte etwas ganz anderes gebraucht“ (639-640).

Aus heutiger Sicht versteht er das Verhalten seines Vaters besser und erkennt, dass sein Vater seine eigene Geschichte hat, die ihn geprägt und zu dem gemacht hat, was ihn heute auszeichnet. „[…] Klar auch diese ganze Kriegsgeneration und so, der hat/war dann eigentlich das Oberhaupt der Familie in den Kriegszeiten und musste dann hamstern gehen da im Schwarzwald und hat halt wahnsinnig viel Verantwortung gehabt. Weil Vater im Krieg und er hat dann den Vaterersatz gespielt, für seine ganzen Brüder zuständig und im Endeffekt/also ich verstehe das heute“ (747-751).

Trotz des Verständnisses, das er inzwischen für seinen Vater auf bringen kann, lehnt er den Lebensentwurf seines Vaters innerlich noch immer ab. Dies zeigt sich insbesondere in Udos Distanz zu einer Leistungsbereitschaft und dem Streben nach Erfolg, was er bis heute ablehnt. „[…] Erfolg ist für mich was … das darf irgendwie nicht sein, das ist nicht gut, na ja und das muss ich halt jetzt erst lernen …“ (1097-1098).

5. Darstellung der empirischen Ergebnisse

Udo Faber ist überzeugt, dass seine Haltung der Opposition sehr stark dadurch gekennzeichnet ist, dass er sich bewusst und unbewusst von seinen Eltern und deren Lebenskonzept distanziert (hat). „[…] es war halt so eine komische Stimmung zwischen meinen Eltern und mir. Und halt auch wieder so, ich sehe das so als ein Mosaikstein diese Abwehrhaltung, zum einen gegen das System, aber halt auch gegen Eltern …“ (495-497).

Zu seiner Mutter hat er ebenfalls ein schwieriges Verhältnis. Für ihn konnte sie die Abwesenheit des Vaters nicht auffangen, da er sie als psychisch labil, überfordert und schwach erlebt hat. Darüber hinaus pflegte sie lange Zeit eine heimliche Beziehung zu einem anderen Mann, deren spontane Entdeckung in Udo Faber eine große Enttäuschung auslöst. „[…] ich war halt/ich habe da Bilder im Schrank gefunden, ich fand das total ätzend, dass meine Mutter da offensichtlich fremd geht und hat aber keiner gewusst“ (812-814).

Diese heimliche Situation war offensichtlich immer der Grund für „Ärger und Stress“ (816) zu Hause, obgleich sie nie offen gelegt wurde. Diese schmerzhafte Erfahrung wurde von Udo Faber in vielen therapeutischen Sitzungen aufgearbeitet und hat die Beziehung zu seiner Mutter und seinem Vater sehr geprägt. Im Vordergrund standen hier auf beiden Seiten große Enttäuschungen und selbst nach der Trennung der Eltern versteht er das Verhalten seines Vaters überhaupt nicht, „[…] das finde ich heute noch ganz seltsam, er trägt heute noch einen Ehering und so. Gut, der ist stark gläubig, aber, also der verdrängt das in meinen Augen auch“ (823-825).

Die einzige Person, von der er sich geliebt und gesehen fühlt, ist seine Großmutter, die Mutter seines Vaters, die ihn auch gegen den Vater verteidigt. Bei ihr fühlt er sich zu Hause und geborgen. Seine Großmutter ist zeitweise die einzige Person, die an ihn glaubt und ihm – auch in turbulenten Zeiten – ihre Liebe schenkt. „[…] da liefen wirklich die Fäden bei meiner Oma irgendwie zusammen. Ich war da sehr gerne, das war für mich immer ein Ort der Geborgenheit und Ruhe und eigentlich weg so aus dem Elternhaus, wo da immer so viel Ärger war“ (759-797).

Sein Onkel, ein „Künstlertyp“ (858) mit eigener Galerie, bot ihm darüber hinaus berufliche Orientierung, die ihm in den jeweiligen Situationen (nach der Schule, nach dem Studium) weitergeholfen und sein Leben geprägt hat. Beide Personen betrachtet er als sehr wichtig, da sie ihm jeweils in entscheidenden

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Situationen Orientierung und Zuversicht in der Ausgestaltung seines Lebensweges gegeben haben. Diese Unterstützung bewertet er im Rückblick als wegweisend für ihn und sein Leben. Die Unübersichtlichkeit der Familiendynamik setzten sich nach Udo Fabers Einschätzung als Handlungsstrategie (und Konflikte) in seinem beruflichen Leben fort und führen ihn in Situationen, die keine „vernünftige“ (1007) Lösung mehr zulassen. Er fühlt sich diesen Situationen völlig ausgeliefert und ist, auch im Rückblick, nicht in der Lage, konstruktiv einzuwirken. Beispielhaft ist für ihn der Konflikt mit seinem zweiten Geschäftspartner, der in einem „Rosenkrieg“ (943) endete, und für dessen Lösung er sich ebenfalls einen Anwalt nimmt. Sein Geschäftspartner ist nach seinen Angaben ein „totaler Choleriker im Grunde genommen und mein Anwalt war das auch“ (963-964), was sich im Nachhinein zwar als Vorteil herausstellt. Dennoch fühlt er sich dem Anwalt hilflos ausgeliefert. „[…] „Und der war/im Nachhinein habe ich auch wieder viel dabei gelernt, aber ich weiß noch, wir saßen da in der Kanzlei und er hat gesagt, Faber, Sie sind das Arschloch! Der hat mich so angeblafft, ich habe gedacht, hä, ist das jetzt mein Anwalt oder wer ist das? Der hat mich so zur Schnecke gemacht teilweise, aber ich meine, ich habe es mir auch gefallen lassen. Wobei aus heutiger Sicht war es gut, also er hat mich halt aufgerüttelt irgendwie“ (994-997).

Diese schmerzhaften Erfahrungen werden von ihm als Ursache für seine Orientierungslosigkeit und innere Entfremdung erkannt, aus denen er mit Hilfe von Prozessen der Selbsterkenntnis und der Selbstreflektion langsam in ein weitgehend konfliktfreies Leben hineinwachsen will. Diese therapeutischen Prozesse bewertet er als zentral für seine Individualität, da er hier (erstmals) lernt, zu seinen Begabungen und seinen innersten Wünschen zu stehen. Über diese Prozesse entwickelt er neue Formen der Wahrnehmung. „[…] „ Ja, ich glaube, ich merke da auch schon sehr stark die Probleme, wie die Welt da so tickt. Weil ich einfach glaube, ich bin sehr sensibel, das wusste ich zwar auch schon immer, aber hat sich jetzt durch diese ganzen Therapiegeschichten und das mit mir beschäftigen sehr stark herausgestellt und man kann es ja positiv sehen. Das ist ja eigentlich eine ganz tolle Gabe, also ich habe da ganz viele Antennen und merke da ganz viel …“ (1171-1175).

Im Nachhinein ist Udo Faber stolz auf sich, dass er diese schweren Zeiten und diese „ganzen Umwege“ (646) hinter sich gebracht und in ein zufriedenstellendes Leben überführt hat. Für ihn stellt sich sein Lebenslauf als ein Verlauf voller Zufälle dar. Eine aktive Lebensgestaltung im Sinne des bewussten Wahrnehmens von Entscheidungen beginnt für ihn mit einem veränderten

5. Darstellung der empirischen Ergebnisse

Bild von sich selbst, „ich bin halt mehr der künstlerische Typ, ich bin nicht der kaufmännische, knallharte Geschäftsführer“ (1086-1087), das langsam seine Lebensführung bestimmt. Das Motiv der Selbstverantwortung im Rahmen seines eigenen Individualisierungsprozesses korrespondiert mit Udo Fabers Vorstellung eines selbstbestimmten Lebens. Diese Selbstverantwortung wird für ihn ein zentrales Thema im Laufe dieses Prozesses. Dies kann jedoch für ihn nur auf der Basis einer weitreichenden Selbsterkenntnis funktionieren, das heißt, das Wissen über die eigenen Bedürfnisse, Talente und Fähigkeiten wird immer wichtiger, um sich in der Welt zurechtzufinden. Dieses Wissen ist für ihn als ein Weg nach innen angelegt, den er selbst vollzogen hat. Allerdings sei das Leben selbst – und hier widerspricht er vehement der Individualisierungsthese – offen und von vielen Zufällen und Begegnungen geleitet. Er glaubt nicht, dass Entwicklungen stringent angelegt werden könnten. Im Gegenteil, offene oder verschlossene Entscheidungen richteten sich nach den situativen Möglichkeiten der Individuen, diese erstens wahrnehmen und zweitens umsetzen zu können.

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Interpretativer Blick auf den Individualisierungsprozess

Es scheint geradezu, dass die Sequenz: „… der Einzelne wird zum Gestalter seines eigenen Lebens und damit auch zum Auslöffler der Suppe, die er sich selbst eingebrockt hat“ (Beck 1983:58), ohne Weiteres auf Udo Fabers Erzählung übertragen werden könnte. Das gilt auch für die viel diskutierte Annahme, dass in individualisierten Gesellschaften „Biografien selbst reflexiv werden“ (ebd., S. 58). Aber bezieht man die innere Erlebensebene von Udo Faber gleichbedeutend in die Analyse mit ein, dann zeigt sich schnell, dass singuläre Individualisierungsprozesse in komplexe soziale Dynamiken und familiäre Konstellationen eingebettet sind. Diese Perspektive trifft auf Udo Fabers Erzählung in besonderem Maße zu. Er selbst beschreibt seinen eigenen Individualisierungsprozess (Freisetzung, Entzauberung, Einbettung) als einen mühsamen Weg nach innen, „… es heißt einfach gnadenlos mit sich selber ehrlich zu sein“ (1214), um die Optionen entscheidungsoffener Entscheidungen für sich tatsächlich umsetzen zu können. Dieser Weg wird für ihn lebensnotwendig, nachdem er wiederholt nichtkontrollierbare und schmerzhafte Erfahrungen durchlebt, die sich letztlich als destruktiv für ihn selbst und seine vitale Lebensbasis herausstellen. In seiner Wahrnehmung stürzen die Ereignisse in regelmäßigen Abständen ohne sein Zutun auf ihn ein, was ihn zutiefst verunsichert und veranlasst, seine eigenen Denk- und Handlungsstrategien reflexiv zu überprüfen. Dieser Prozess führt ihn allerdings tief in seine Familiengeschichte hinein und zu existenziellen Fragen des eigenen Lebensvollzugs.

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Udo Faber wird in stabile materielle Verhältnisse hineingeboren. Sein Elternhaus sowie die erweiterte Familie (Großmutter, Onkel) agieren eher unterstützend im Hinblick auf eine gute Schulausbildung, eine solide Berufsausbildung und/oder den Start ins Leben. Obgleich er mehrere Male die Klassen „wiederholt“, wird ihm hier die Unterstützung nicht entzogen und er wächst im Hinblick auf die materiellen Optionen in einer fördernden Familie auf. Gesellschaftlich-historische Ereignisse der 1980er Jahre prägen in besonderem Maße seine Erlebnisse als Schüler und Zivildienstleistender. Oppositionelle Subkulturen eröffnen ihm eine Plattform, um seiner „Nullbockstimmung irgendwie“ (64) Ausdruck zu verleihen. Obgleich er sich eher als Mitläufer und weniger als Initiator dieser Bewegungen sieht, wendet sich sein Protest auch gegen gesellschaftliche Strukturen, „… wussten wir, man ist auch gegen das ganze System irgendwie“ (66). Dieser Protest spiegelt seine innere Haltung in dieser Zeit. So beschreibt er sich selbst seit Beginn der weiterführenden Schule als „sehr orientierungslos“ (45). Alle Versuche der Eltern (des Vaters), ihm eine höhere Schulbildung anzutragen, machen ihn „nur aggressiv“ (58). Seine Haltung erzeugt vielseitige Konflikte im sozialen Umfeld, die auf einer inneren Ebene auf ein psychologisch-dynamisches Muster verweisen könnten.10

10 | Aus einer psychoanalytischen Perspektive verweist die Erzählung auf ungelöste Konflikte auf der psychologisch-dynamischen Ebene: das prägende Erlebnis in der Kindheit könnte hierbei das Liebesverhältnis der Mutter zu einem anderen Mann sein, das lange Zeit unterschwellig die Familiendynamik bestimmt. Dieser Mann verdrängt den Vater von seinem „angestammten“ Platz und vereinnahmt die Mutter, die innerlich für die Kinder (und vermutlich auch für den Mann) nicht zur Verfügung steht. Der Vater geht nicht in den Konflikt, sondern nimmt die Rolle des „abwesenden“ Vaters ein. Diese Vaterrolle musste er schon als ältester Sohn in seiner eigenen Familie einnehmen und seine Geschwister versorgen, da sein Vater im Krieg gefallen war. Diese Familiendynamik wird lange Zeit nicht offengelegt, sondern prägt in ihrem latenten „Chaos“ die Familiensituation. Udo Faber entwickelt eine ambivalente Haltung zu seinem Vater: er lehnt ihn und sein Lebensmodell als das dominante gesellschaftliche Modell (männliches Ernährermodell) rigoros ab. Gleichzeitig entwickelt er eine Hemmung, die aktive männliche Rolle zu besetzen. Aggressive Impulse werden abgewehrt und nach außen projiziert. Die Besetzung der Opferrolle im Lebenslauf wird zur endlosen Geschichte, verlangt jedoch auch nach narzisstisch geprägter Bewunderung, was sich in der Detailliertheit der Beschreibung zeigen könnte. Diese Möglichkeit der Betrachtung weist in der Interpretation der Erzählung auf eine disziplinäre Erweiterung hin, die im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht weiter verfolgt wird. Dennoch zeigt diese Form der Betrachtung in anschaulicher Weise, wie sehr soziale Prozesse mit psychischen Prozessen der Individuen und ihren Kontexten verknüpft werden können.

5. Darstellung der empirischen Ergebnisse

Eine Sichtweise auf diese Muster kann im weiteren Verlauf der Erzählung mit dem Handlungsmotiv „Abwehr von Chaos“ beschrieben werden. So zeigt sich in den detailgetreuen Beschreibungen meist ein und dasselbe Motiv: Udo Faber löffelt scheinbar eine Suppe aus, die ihm wohl von anderen in seinem Umfeld eingebrockt wurde. Die Vorstellung, dass er selbst der Gestalter seines Lebens wird, scheint lange Zeit – in seiner Selbstwahrnehmung – nicht einlösbar zu sein. Dramatische und unglückliche Ereignisse scheinen immer von außen auf ihn einzubrechen, exemplarisch ist hier der Konflikt, den er mit seinem zweiten Geschäftspartner durchsteht. Dieser Konflikt endet in einem „Bruch“ (937), der für ihn zu einem „Rosenkrieg“ (951) wird. Der aggressive Charakter dieser Auseinandersetzung wird von der Gegenseite symbolisiert, aber auch durch seinen „cholerischen“ (936) Anwalt, der ihm regelmäßig zusetzt. Udo Faber selbst sieht seine eigene Rolle in diesen Konflikten nicht, sondern erlebt sich als unschuldiges Opfer dieser Situationen. „[…] ich war der Einzige auch, der die Tür immer offen gelassen hat, obwohl alle Türen um mich verschlossen waren“ (985-986).

Diese bewusste Wahrnehmung scheint sich in hohem Maße mit einer idealisierten Form seines Daseins zu identifizieren und verkennt auf einer unbewussten Ebene die eigene Rolle sowie die eigenen Beiträge im Rahmen dieser Konflikte. Diese Vermutung zeigt sich beispielsweise in der Tatsache, dass er keine schriftlichen Abmachungen oder Vereinbarungen mit seinem zweiten Geschäftspartner trifft. Trotz der schlechten Erfahrungen mit seiner ersten Kooperation lässt er sich mit seinem zweiten Geschäftspartner wieder auf die selben Bedingungen ein. „[…] und dann bin ich an einen alten Freund geraten, in Anführungszeichen aus heutiger Sicht …“ (916-917).

Auch diese Zusammenarbeit scheitert, für Udo Faber wieder völlig überraschend, nach einiger Zeit und katapultiert ihn in eine große Verunsicherung im Hinblick auf zukünftige Handlungsstrategien hinein. Er sieht keine andere Möglichkeit, als sich diesen Verunsicherungen reflexiv und emotional zu stellen und begibt sich in therapeutische Behandlung. Auf der Basis dieser Prozesse vermag er es langsam und in kleinen, behutsamen Schritten, einen Perspektivenwechsel auf sich und sein Leben zu vollziehen. Er beginnt seine Biografie reflexiv zu gestalten, wobei er seine eigenen Denk- und Handlungsstrukturen radikal hinterfragt. So findet er beispielsweise heraus, dass sein individuelles Problem der Orientierungslosigkeit auch an ein profundes Gefühl der Wertlosigkeit gebunden ist, das ihn daran gehindert hat, Möglichkeiten, die ihm dargeboten wurden, für sich mit Gewinn umzusetzen.

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Strategien der Individualisierung „[…] ich habe teilweise auch Probleme gehabt, mich für etwas zu entscheiden“ (1310-1311).

Die „gezwungenermaßen“ (1157) reflexive und emotionale Aufarbeitung seiner Individualität zeigt ihm die Ursachen dieser Konflikte, die im familiären Kontext angesiedelt werden. Hier wird deutlich, dass sich für ihn der Rahmen für entscheidungsoffene und entscheidungsverschlossene Prozesse als von derselben Qualität herausstellt. In seiner inneren Abwehrhaltung, dem Lebens- und Arbeitsmodell seines Vaters als dem sozial anerkannten männlichen Lebensmodell zu folgen, kann er seine Möglichkeiten nicht für sich erkennen. Im Gegenteil, subkulturelle Räume eröffnen ihm die Möglichkeit, seiner innerer Abwehrhaltung Ausdruck zu verleihen und sich mit Gleichgesinnten zu verbinden. Sein realer Gestaltungsspielraum bezüglich Entscheidungs- und Handlungsstrukturen wächst erst (wieder) mit der reflexiven Wahrnehmung seiner Bedürfnisse, seiner Talente sowie der schrittweisen Veränderung seiner Lebens- und Arbeitsform. Diese Veränderungen beinhalten auch die mühsam erlernte Praxis veränderter Wahrnehmungen. „[…] und die Kopfentscheidungen sind eigentlich für mich nicht gut. Ich muss eigentlich eher meinen Bauch sprechen lassen, und ja, ich merke da auch mittlerweile, wenn ich das Gefühl habe, uh irgendwas stimmt da nicht, dann lasse ich die Finger davon“ (1176-1180).

Auf Basis dieser Selbsterfahrungen gelangt er sehr langsam in eine Balance des Lebens zurück, in der er konsequent seinen vielseitigen Bedürfnissen Raum gibt und diese auch – häufig mit therapeutischer Begleitung – reflektiert. Rückblickend schaut er mit Dankbarkeit auf diese schweren Prozesse, „[…] also eigentlich müsste ich heute Danke sagen und denen fast schon einen Strauß Blumen schicken und sagen, super, was ich alles dazu gelernt habe durch euch“ (1191-1192).

Individualisierung heißt für ihn, Wandlungsprozesse zu durchlaufen, die zunächst auf einer inneren, reflexiven Ebene stattfinden. Erst durch diese Form der Innenschau können reflexive Prozesse entstehen, die ihn befähigen, einen individuellen Weg einzuschlagen. Dieser beinhaltet vor allem die Freiheit, sich von dominierenden gesellschaftlichen Vorgaben zu lösen und andere Lebensmodelle umzusetzen. Diese Form der „Freiheit“ (1309) beinhaltet zunächst die Umsetzung einer Lebens- und Arbeitsform, die auf der Basis seiner individuellen Bedürfnisse wie flexible und selbstbestimmte Zeitregime, Raum für Kreativität und Abwehr von monetär ausgerichteten Leistungsparametern ent-

5. Darstellung der empirischen Ergebnisse

steht. Dies ist ihm bisher gelungen und er versucht, diesen Lebensstandard zu halten.

Fazit Udo Fabers Erzählung eröffnet Einblicke in spezifische gesellschaftliche Verhältnisse der 1980er Jahre, in denen in vielfacher Weise junge Menschen gegen die Elterngeneration als Repräsentanten der dominanten Kultur- und Wertvorstellungen auf begehren. Im Falle Udo Fabers entlädt sich dieser Widerstand zunächst in der strikt oppositionellen Haltung zu den bildungsbürgerlichen Vorstellungen seines Vaters und zum männlichen Modell der gesellschaftlichen Integration. Seine Handlungsstrategien orientieren sich stattdessen an einem Gegenentwurf zum Lebensmodell des Vaters, der jedoch viele Jahre hindurch unbestimmt und offen bleibt. Diese Haltung findet in jungen Jahren Ausdruck in gesellschaftlichen Subkulturen, die sich – teilweise auf der Basis von gewalttätigen Auseinandersetzungen – gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse richten. In ihnen kann er seinem Protest Nachdruck verleihen und opponiert aktiv gegen die gesellschaftliche Orientierung von Leistung und die Betonung der materiellen Ausrichtung westlicher Lebensverhältnisse. Aus dieser Haltung wird ein individueller Suchprozess, der ihn über viele Jahre hinweg viel Anstrengung kostet. Er selbst wächst in einer materiell versorgenden Familie auf, die ihm ihre Unterstützung im Hinblick auf seine berufliche Entwicklung bis zum Einstieg in sein Berufsleben nicht entzieht. Auch in gravierenden Konflikten, in denen staatliche Behörden involviert sind, wird er von seiner Familie (Vater) unterstützt. Diese und ähnliche Konflikte durchziehen die äußere Ebene seiner Erzählung und weisen auf ein Motiv hin, das er selbst in der Rückschau als Orientierungslosigkeit im Sinne von Haltlosigkeit bewertet. Einzig bei seiner Großmutter väterlicherseits erlebt er das tiefe Gefühl der Geborgenheit, was ihn sehr geprägt hat. Gleichzeitig kann die Erzählung als eine kraftvolle Beschreibung der Lebensverhältnisse betrachtet werden, die auf einer inneren Ebene mit dem Motiv der „Abkehr vom Chaos“ interpretiert werden kann. Ohne im Einzelnen auf tiefenanalytische Aspekte dieser Dynamik einzugehen, scheint diese Ebene jedoch schon früh – mit Eintritt in das Gymnasium – die äußere Ebene zu dominieren. Charakteristisch hierbei ist die Tatsache, dass er anstehende Entscheidungen selbst nicht treffen kann oder will, sich treiben lässt oder diese Entscheidungen an seine Umwelt weitergibt. Daraus entstehen unberechenbare und unkontrollierte Umstände, die ihn selbst in riskante Situationen katapultieren, denen er sich meist völlig hilflos ausgeliefert fühlt. Schmerzhafte und sich wiederholende Prozesse des Scheiterns im Rahmen seiner beruflichen Lauf bahn und auch in seiner Ehe bewirken die (freiwillige)

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Strategien der Individualisierung

reflexive Aufarbeitung der Handlungs- und Denkstrukturen, in denen Udo Faber bisher agiert hat. Diese Aufarbeitung findet auf Basis der Analyse seiner familiären Situation statt. Über eine intensive Reflexion dieser Strukturen beginnt Udo Faber das reale Leben mit den inneren Seinszuständen in einen Zusammenhang zu bringen. Vorsichtig und in kleinen Schritten vollzieht er therapeutisch begleitete Selbstfindungsprozesse, die ihn dazu befähigen, seine inneren Bedürfnisse und Wünsche wahrzunehmen und in neuen Arbeitsund Lebensmodellen umzusetzen. Hier versucht er zunehmend, immaterielle Werte wie Kreativität, Freundschaften oder die Verwirklichung von Visionen in seinen Alltag zu integrieren und konsequent zu verfolgen. Dies führt zu einer Stabilisierung seiner materiellen Lebensumstände und zu einer Abkehr von bisherigen Vorstellungen über seine Berufs- und Lebenskonzepte. Sein Individualisierungsprozess kann vor dieser Perspektive als ein Entwicklungsprozess interpretiert werden, der auf einer inneren Ebene angelegt ist. Durch eine konstruktive Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Werten und Phänomenen entsteht hier die Basis für verlässliche Entscheidungsund Handlungsstrukturen. Auf dieser Basis entwickelt er in kleinen Schritten (s)eine individuelle Lebensform als eine Abkehr vom väterlichen Lebens- und Arbeitsmodell. Im Rahmen dieses Suchprozesses entwickelt er vielfältige Visionen und Ideen für die weitere Zukunft. Hier gelingt es ihm immer mehr, seine inneren Bedürfnisse mit den äußeren Rahmenbedingungen in eine Balance zu bringen.

5.3 „D as L eben selbst hat mich gelehrt “ – I ndividualisierung als offensiver A npassungsprozess Einführung Ruth Bischoff, 51 Jahre alt, hat eine hauswirtschaftliche Ausbildung absolviert und war bisher bei sehr unterschiedlichen Arbeitgebern beschäftigt. Seit einigen Jahren hat sie eine 50 %-Stelle in der Altenpflege, wo es ihr gut gefällt. Sie ist seit vielen Jahren mit Rolf Bischoff, einem Ingenieur, verheiratet. Das Paar wohnt in einem eigenen Haus am Rande einer mittelgroßen Stadt, in der beide auch geboren sind. Das Paar hat keine Kinder. Das Interview findet am frühen Nachmittag im Hause der Autorin statt und dauert mit Vor- und Nachgesprächen ca. 2½ Stunden. Zu Beginn des Interviews gibt es eine längere Unterhaltung über Individualisierungsprozesse und wie diese in der Soziologie diskutiert werden. Ruth lässt sich genau erklären, warum dieses Thema für die soziologische Debatte von Relevanz ist und welche Themen und Bewertungen damit verbunden sind. Dann gibt sie sich plötz-

5. Darstellung der empirischen Ergebnisse

lich einen Ruck und möchte gerne beginnen. Sie erzählt zügig und schnell, nimmt in ihrer Erzählung kein Blatt vor den Mund, sondern stellt auch intime Angelegenheiten aus ihrem Privatleben offen und knapp dar. Nach etwa einer Stunde ist sie am Ende ihres Rückblicks angelangt. Im Anschluss daran stellt die Autorin noch Nachfragen, was zu einem intensiven Dialog führt, in dem Eindrücke ihrer Darstellung erörtert und neue Informationen hinzu gewonnen werden. Die Getränke und die Speisen auf dem Tisch bleiben nahezu unberührt, Ruth Bischoff tritt in eine Phase hoher Konzentration ein, die sie alles um sich herum vergessen lässt. Auf die Anfrage im Vorfeld, ob man sie für ein narratives Interview zum Thema „Individualisierung“ gewinnen könnte, hat sie spontan zugesagt. Bei den Vorgesprächen stellte sich heraus, dass sie ihre Lebenserfahrungen und ihren Lebensverlauf als extrem relevant für empirische Untersuchungen im Rahmen von Individualisierungstrends empfindet. So ist sie gerne bereit, ihre „Geschichte“ für wissenschaftliche Erkenntnisse zur Verfügung zu stellen.

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Biografische Erzählung

Ruth wächst am Rande einer mittelgroßen Stadt auf und hat nach eigenem Empfinden eine normale Kindheit in einer normalen Familie verbracht. Sie hat eine jüngere Schwester, die auch heute noch in ihrer Nähe lebt. Sie hat schon immer einen großen Bewegungsdrang, so dass sportliche Aktivitäten „eigentlich immer so groß im Vordergrund“ (18) stehen. So treibt sie nicht nur als Kind, sondern auch als Jugendliche viel Sport (Fußball, Jazztanz) und ist in einem örtlichen Fußballverein sehr engagiert. Ihr Vater geht mit ihr regelmäßig auf den Fußballplatz und ist „immer ganz stolz, die Tochter spielt Fußball“ (546). Sie bewertet ihre Kindheit und Jugend als ausgeglichen, „[…] ich durfte alles machen, ich habe ein Motorrad gleich/so ein Moped gekriegt gleich, also wenn ich was gewollt habe, habe ich es gekriegt oder wenn Ferien, Urlaub und so, das haben wir immer gemacht“ (628-630).

Sie absolviert die Hauptschule und würde eigentlich gerne ihre Lust an der Bewegung in einem Beruf unterbringen, aber dies gelingt ihr nicht. Nach einem gescheiterten Versuch einer „Ausbildung zur Konditorin“ (24) beginnt sie eine „Hauswirtschaftsausbildung“ (33). Diese Ausbildung ist unterteilt in drei Jahre praktische Arbeit, die sie, neben dem Besuch der Berufsschule, in einem Individualhaushalt (zwei Jahre) und in einer Großküche (ein Jahr) absolvieren soll. Die praktische Arbeit bei dieser Familie stellt sich jedoch als sehr unbefriedigend für sie heraus.

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Strategien der Individualisierung „[…] hab’ mit 16 war das – 15, 16 ja – bin dann dort nur ausgenutzt worden, vom Nachbar den Rasen mit mähen müssen, vom Obstbaum die Äpfel runter machen müssen, vom Nachbar die Kinder über Nacht betreuen, Wochenende einspringen müssen, bis dann meine Eltern gesagt haben, nein, das mache ich nicht mehr, da holen sie mich raus …“ (37-41).

Sie beendet mit der Unterstützung ihrer Eltern dieses Ausbildungsverhältnis und beginnt in der Filiale einer Handelskette eine Ausbildung zum „Einzelhandelskaufmann“ (45). Ihre Eltern forcieren diesen Schritt in besonderem Maße, damit sie eine abgeschlossene Berufsausbildung hat, „[…] dann kam so von meinen Eltern der Einwurf, jetzt lernst du einmal was, Hauptsache du hast mal einen Beruf“ (42-43).

Diese Ausbildung schließt sie erfolgreich ab und wird im Anschluss auch von derselben Handelskette übernommen. An dieser Arbeitsstelle arbeitet sie dann insgesamt 22 Jahre, hat aber immer wieder das Gefühl, dass sie beruflich noch nicht an ihrem Platz ist, „[…] aber immer noch mit dem Hintergrund, irgendwie das kann es nicht sein, das will ich nicht, irgendwie habe ich gedacht, da fehlt mir noch irgendwie was so in dem ganzen Ding“ (47-48).

Mit 22 Jahren lernt sie über eine Kontaktanzeige ihren Mann kennen, der zwei Jahre älter ist und Ingenieurwissenschaft studiert. Sie verlieben sich ineinander und heiraten „relativ schnell“ (352). „[…] und haben auch wirklich noch so das alte Schema dann gemacht, man durfte erst zusammen schlafen, wenn man verheiratet war, man durfte erst zusammen in die Wohnung ziehen, wenn man verheiratet war. Also ich habe praktisch geheiratet, bin daheim raus und bin dann in eine Wohnung, war dann zum ersten Mal von den Eltern weg“ (352-356).

Das junge Paar lebt „anderthalb Jahre“ (364) in einer Mietswohnung bis Rolfs Großmutter stirbt. Rolf, ein „Bastler“ (367), übernimmt das Haus der Großmutter, ein Zweifamilienhaus, und renoviert es in Eigenarbeit. Im Anschluss an die Renovierung zieht das Paar dort ein. Später zieht seine Mutter in die Wohnung unter ihnen. Neben der Ausbildung und der Arbeit macht sie weiterhin viel Sport und engagiert sich als Trainerin der Mädchenmannschaft im Fußballverein, bis es „mit den Krankheiten losging“ (52). In beiden Kniegelenken wird Arthrose

5. Darstellung der empirischen Ergebnisse

diagnostiziert und sie muss den Fußball und auch das Tanzen aufgeben. Mit diesen Veränderungen hadert sie sehr. Der erste bedeutsame „Wendepunkt“ (55) in ihrem Leben ist jedoch die schwere Krebserkrankung ihres Vaters, sie stellt sich erstmals die Sinnfrage. „[…] sag ich mal, wo ich auf einmal angefangen habe zu denken, das/einfach über den Sinn des Lebens nachzudenken. Wie viel eigentlich sinnlos ist, was man gerade macht und dann hab ich gedacht, nee ich würde gerne was machen, ich hab dann halt auch/ mein Opa war dann parallel noch im Altenpflegeheim und dann hab ich mitgekriegt, was da alles schief läuft und so, und wo die Herzlichkeit halt auch fehlt so …“ (54-59).

Ruth pflegt zusammen mit der Mutter ihren Vater, bis er mit 59 Jahren an Lungenkrebs stirbt. Die Betreuung des Vaters prägt sie sehr und sie verspricht ihm am Sterbebett, immer für ihre „Mutter da zu sein“ (583). Ihre Mutter hat „psychische Probleme“ (595) und wird regelmäßig ärztlich betreut. Nach dieser intensiven Erfahrung tritt sie als ehrenamtliche Mitarbeiterin in das Rote Kreuz ein und absolviert die unterschiedlichen Grade der Rettungssanitäter, „San A, San B und das Ganze“ (67). Diese Tätigkeit übt sie intensiv und lange aus und eröffnet sich auf diese Art und Weise einen neuen Tätigkeitsbereich, der sie interessiert und den sie auch für sehr relevant im Umgang mit Menschen erachtet. „[…] also so medizinisch gekoppelt mit, ja Umgang mit, wie soll ich sagen/wie drück ich mich da jetzt aus? Ja, der medizinische Hintergrund halt, aber auch der Umgang mit den Menschen halt so, die Herzlichkeit halt da rein zu bringen“ (62-64).

Nach den vielen Jahren Erwerbsarbeit bei der Handelskette schließt diese relativ überraschend und Ruth Bischoff muss ungewollt ihre Arbeitsstelle wechseln. Sie findet eine Anstellung in einer großen Kantine. „[…] und ich muss sagen, das hat mir dann auch richtig Spaß gemacht, einfach so die Kocherei und so, auch der Umgang mit den Leuten. Hab das dann auch sieben Jahre gemacht und hatte dann halt das Pech, dass ich wieder nicht bleiben konnte, weil die nach Berlin gezogen sind. Dann war das so schon wieder ein Punkt, wo ich gedacht habe, eh das kann jetzt nicht sein, irgendwie fange ich immer von vorne an und krieg jedes Mal irgendwie einen Schub in die andere Richtung, wo ich eigentlich hin will …“ (78-83).

Mit 45 Jahren erkrankt Ruth an Hautkrebs, was sie als einen zweiten großen Einschnitt in ihrem Leben empfindet. Die Krankheit versetzt sie psychisch in große Angstzustände.

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Strategien der Individualisierung „[…] dann kam so der erste Denkzettel – sag ich mal – mit dem Hautkrebs, wo ich da im Kopf hatte, wo ich da operiert worden bin und da dachte ich dann, ja, jetzt ist eh alles gelaufen …“ (84-86).

Sie überlebt die Krankheit, macht sich nun jedoch intensive Gedanken über ihren Lebensentwurf und über zukünftige Pläne, bespricht diese auch mit ihrem Mann und möchte gerne etwas beginnen, was ihr Freude macht. Sie beginnt mit einem intensiven Hobby, dem Reitsport. „[…] Und ja, dann hab ich Rolf mal bequatscht so, ich habe gesagt, ich hätte eigentlich gerne ein eigenes Pferd, was er dazu meint so. Und dann hat er gemeint, ja das ist doch ein Haufen Verantwortung und so, wie willst du das machen? Und dann hab ich halt gesagt, ich hätte es halt gerne, das war schon immer mal mein Wunsch so, auch als Kind …“ (101-104).

Sie kauft sich ein Pferd und spürt, dass ihr das Pferd und der Reitsport als ausgleichendes Hobby sehr gut tun, weil sie sich durch diese Abwechslung von ihrer großen Anspannung ein wenig distanzieren kann. Seit geraumer Zeit wünscht sich das Paar ein eigenes Kind, was jedoch nicht klappt. Ruth wird nicht schwanger, worauf sich das Paar auf die Verfahren der künstlichen Befruchtung einlässt, unter denen Ruth jedoch physisch und psychisch sehr leidet. „Ja, wir haben fünf künstliche Befruchtungen gemacht, zwei in X, drei in X und damals vor – vor 30 Jahren, nicht ganz 30 Jahren war das ja auch noch nicht so einfach wie heute. Heute kriegst ja die Eizelle punktiert und mit Vollnarkose und da hast ja damals gar nichts, ein paar Schmerztropfen und gut. Dann hatten sie ja/gut, ich hatte ein Haufen Eizellen, 15 Stück und es kam auch zum Einsetzen, aber es hat sich halt nicht eingenistet. Und dann haben sie noch ein Haufen, in X war das dann, haben sie noch ein Haufen eingefroren und da haben wir bis heute noch keine Rechnung gekriegt, weil der Gefrierschrank kaputt war und alles kaputt gegangen ist“ (115-122).

Trotz vieler Versuche bekommt das Paar keine Kinder und findet sich langsam damit ab. Eine Adoption kommt für Rolf nicht in Frage. Für beide ist dieser Abschied ein sehr schmerzlicher Prozess, als „Kinderersatz“ betrachten sie inzwischen ihren gemeinsamen Hund und Ruths Pferd. Nach einem Jahr Arbeitslosigkeit beginn Ruth eine Tätigkeit als Hauswirtschafterin in einem Altenpflegeheim. Sie arbeitet in der Küche, bereitet das Essen vor, organisiert den Einkauf und betreut im Rahmen dieser Tätigkeiten auch alte Menschen. Diese Aufgabe macht ihr nach anfänglichen Schwierigkeiten sehr viel Spaß.

5. Darstellung der empirischen Ergebnisse „[…] also dass das wirklich so ein Gebiet ist, wo ich meine ganzen Interessen, was ich habe, ja da reinbringen kann. Ob das jetzt das Kochen ist, was mir Spaß macht, ob das in der Pflege ist, dass ich sage/also wenn mich meine Kollegen darauf aufmerksam machen, der und der hat jetzt das und das, weil ich es einfach kenne auch vom Rettungsdienst her oder ob ich mich mit den Demenzkranken beschäftige, ob ich/auch der Umgang mit dem Tod, wo ich ein Riesenproblem mit hatte vorher immer, das war für mich, also seit mein Vater gestorben war, …“ (136-141).

In diesem Tätigkeitsbereich fühlt sie sich nach und nach in ihrer Berufung angekommen, da sie hier alle ihre Fähigkeiten und Neigungen einbringen kann. Sie arbeitet „Teilzeit, 50 Prozent“ (156), möchte ihre Arbeitszeit auch nicht erhöhen, da die Arbeit insgesamt, vor allem auf der psychischen Ebene, sehr belastend für sie ist. Die immer wiederkehrende Konfrontation mit dem Tod setzt ihr in manchen Fällen sehr zu, besonders wenn es um Menschen geht, die ihr über längere Zeiträume ans Herz gewachsen sind. Eines der zentralen Anliegen ihrer Arbeit ist es, eine menschliche Komponente in ihre Arbeit hineinzubekommen, wofür sie sich sehr einsetzt. Dies gelingt ihr nach eigenem Ermessen auch ganz gut. „[…] Ich koche, ich beschäftige die Bewohner, zum Teil mache ich leichte Pflegearbeiten, ich mache die Wäsche, ich teile die Getränke aus, ich mache eigentlich fast alles, also ich setze die Bewohner auch mal auf die Toilette, wenn es pressiert, so sämtliche Belange halt, ich bin da Ansprechpartner wie jetzt eine Mutter für ihr Kind oder so …“ (209-213).

Ruth möchte gerne weiterhin an dieser Arbeitsstelle bleiben und vorerst keinen Wechsel mehr vornehmen. Für sie steht vorerst fest, dass dies ihr „letzter Job“ (231) sein wird, obgleich die Arbeitsbedingungen anstrengend und auch psychisch sehr anspruchsvoll sind. Seit zwei Jahren durchlebt Ruth eine schwere Krise, die zunächst als „Burnout-Syndrom“ diagnostiziert wird und die sie als einen weiteren Einschnitt in ihrem Leben empfindet. Sie kommt in eine Klinik und muss danach für viele Wochen in Rehabilitation. Hier muss sie lernen, sich besser zu beobachten und frühzeitig auf „Warnzeichen“ (277) der Überforderung zu hören. Dieses Nach-innen-Lauschen muss sie mühsam, in vielen therapeutischen Sitzungen lernen. Es hat ihr inzwischen jedoch enorm geholfen, im Alltag besser mit ihren Kräften zu haushalten. Darüber hinaus helfen ihr der Reitsport und vor allem ihr Pferd sehr, kleine mentale Auszeiten zu nehmen und sich von ihrem anstrengenden Berufsalltag zu erholen. Diese Krise spült jedoch auch viele Themen hoch, die sie sehr beschäftigen und denen sie sich widmen muss.

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Strategien der Individualisierung „[…] ganz komisch. Wobei meine Mutter mir immer versucht einzureden, es wäre für mich Stress, mein Pferd …“ (294-295).

Ruth ist nun schon 26 Jahre mit Rolf verheiratet. Die beiden haben sich auf Anhieb gut verstanden, obgleich es schon zu Beginn diverse Probleme mit Rolfs Eltern gab, „[…] weil er halt streng katholisch erzogen worden ist und ich halt evangelisch bin. Der Vater war Mesmer, er Ministrant und ich als Evangelische eigentlich in der Familie nichts zu suchen hätte“ (341-343).

Rolf arbeitet seit dem Ende seines Studiums in derselben Firma und hat einen Beruf, der ihn sehr beansprucht und phasenweise auch sehr stresst. Einen beruflichen Wechsel kann er sich jedoch nicht vorstellen. Seit einigen Jahren befindet sich das Paar latent in einer Krise und Ruth und Rolf beginnen eine Paartherapie. In der Therapie kommt zur Sprache, dass Rolf als katholischer Messdiener vom Mesmer viele Jahre sexuell missbraucht wurde. Ruth wurde mit 18 Jahren vergewaltigt. Beide wussten jeweils nichts vom Schicksal des anderen. „[…] Und dann hat meine Therapeutin gesagt, also das hat sie im Nachhinein zu mir gesagt wo wir dann alleine waren, sie hat es noch nie erlebt, dass ein Paar praktisch beide das gleiche Schicksal erlebt hat nur auf eine andere Art und Weise. Und es spiegelt sich auch in unserem ganzen Leben, die ganzen 26 Jahre …“ (431-434).

Im Rahmen ihrer Tätigkeit als Altenpflegerin hatte Ruth wieder große Angstattacken, was sie auf ihre Vergewaltigung mit 18 Jahren zurückführt. Diese Problematik gepaart mit Rolfs Problematik belastet die Ehe inzwischen ungemein, da diese Erfahrungen die sexuelle und die emotionale Ebene des Paares sehr berührt. „[…] Das ist echt der Hammer mit dem gleichen Schicksal. Also das ist voll krass, das ist voll krass. Es war auch so/ja es war auch kurz davor, dass ich gesagt habe, ich mache dem ganzen Scheiß jetzt ein Ende. Weil mir einfach alles zu viel war …“ (451-453).

Mehrfach muss sie sich Auszeiten nehmen und begibt sich in verschiedene Rehabilitationen, die ihr gut tun und wo sie ihre innersten Bedürfnisse auf einer reflexiven Erlebensebene spürt und überprüft. Inzwischen verfügt Ruth schon über viele Therapieerfahrungen und kann, nach eigener Einschätzung, besser mit schwierigen Situationen umgehen. Dennoch glaubt sie von sich und auch von ihrem Partner, dass sie sich beide noch in großen Abhängigkeitsstruktu-

5. Darstellung der empirischen Ergebnisse

ren von ihren Eltern befinden, was, aus ihrer Sicht, einer völligen Fremdbestimmung gleichkommt. „[…] Also er muss für seine Eltern funktionieren, schon immer und ich muss für meine funktionieren, schon immer …“ (443-444).

Sie selbst reflektiert diese seit einiger Zeit und überprüft auf der Basis ihrer Erkenntnisse ihre eigenen Denk- und Handlungsstrukturen. Sie erwartet von Rolf, dass er sich dieser Arbeit ebenfalls widmet. Der lehnt dieses Vorgehen jedoch strikt ab. Vor dieser familiären und persönlichen Situation identifiziert Ruth gerade eine „Krise“ (668), von der sie nicht weiß, was sich daraus entwickelt und wie es weitergehen wird. Eine Trennung von Rolf kommt für sie jedoch derzeit nicht in Frage, da sie schon viele Jahre miteinander leben, was sie mit ihm sehr verbindet. Von einer übergeordneten Warte hat sie aufgrund ihres bewegten Lebens inzwischen das Gefühl, dass sie viel gelernt hat, vor allem aber hat sie, aufgrund ihrer reflexiven Arbeit, einen Zugang zu ihrer eigenen Kraft und ihrer Lebensenergie gefunden. Diese Momente haben sie innerlich sehr gestärkt und ihr eine neue Perspektive auf das Leben vermittelt. „[…] Also ich habe erkannt für mich, dass ich eigentlich stärker bin, als ich geglaubt habe, dass ich oft am Boden war und immer wieder aufgestanden bin“ (684-685).

In ihren inzwischen vielseitigen Therapien hat sie viel gelernt und Augenblicke der Kraft und des Glücks für sich entwickelt. Sie würde sehr gerne diese Gefühle mit ihrem Mann teilen, was derzeit jedoch nicht möglich ist. Dennoch fühlt sie sich häufig von einem tiefen Gefühl der Zuversicht getragen. „[…] Und dann irgendwann platzt der Knoten halt und dann kannst dich öffnen und dann geht’s, also. Und dann eben der Karl-Heinz [ein Therapeut, Anm. B.-J. Krings] hat mich auch mal in den Arm genommen und mich getröstet und dann ist mir eigentlich bewusst geworden, dass das eigentlich ist, was ich von meinem Mann immer erwarte habe. Mit so Sachen habe ich dann so viel für mich erkannt, eigentlich sollte der Rolf auch mal in so eine Klinik gehen“ (830-834).

Heutzutage ist sie sehr froh und auch dankbar, dass sie diese (enttäuschten) Erwartungen kennt und damit umgehen kann. Manchmal gelingt ihr dies besser, manchmal weniger gut, aber sie schätzt sehr, dass sie durch ihren Mann eine gute, materielle Versorgung erhält, die ihr erlaubt, nur halbtags zu arbeiten und ein Pferd zu halten. Dies möchte sie in naher Zukunft nicht aufgeben. Sie hofft, dass ihr Leben ruhig verläuft und sie es langfristig schafft, nach ihren Bedürfnissen und Vorstellungen zu leben.

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(2) Subjektive Einschätzung auf den Individualisierungsprozess Ruth Bischoff beschreibt in ihrer Erzählung ihren bisherigen Lebensweg als einen langen Lernprozess, der sie langsam befähigt, ihr Leben bewusst und aktiv im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu gestalten. Dieser Anspruch ist für sie in ihrem Elternhaus zunächst nicht angelegt. Bis zum Tod ihres Vaters beschreibt sie sich als eine Person, die den Erwartungen der Umwelt – Eltern, Ehepartner, Vorgesetzte – Genüge leistet, ohne eigene Vorstellungen über ihre Bedürfnisse oder insgesamt ihren individuellen biografischen Verlauf zu entwickeln. So war sie, nach eigenen Angaben, als junge Frau gar nicht in der Lage, Entscheidungen selbstständig zu treffen, sondern folgt einem gesellschaftlich vorgegebenen Pfad, der ihren familiären Verhältnissen entspricht. Ruth wächst in traditionell geprägten Familienstrukturen auf, absolviert die Hauptschule, weder ihre Eltern noch sie erwägen eine höhere Schulbildung. Im Gegenteil, ihre Eltern erwarten, dass sie schnell „einen Beruf“ (43) ergreift. Dieser Forderung kommt sie nach und begibt sich umgehend in eine berufliche Tätigkeit. Bis zur Heirat mit 22 Jahren wohnt sie bei den Eltern, die bei der Ausgestaltung ihres Lebensweges ihren Einfluss geltend machen. Sie heiratet, wechselt von ihren Eltern zu ihrem Ehemann, mit dem sie einen Hausstand gründet. Relativ schnell bezieht das Paar ein eigenes Haus und Ruths individuelle Entscheidungen werden entlang eines traditionell geprägten Lebenslaufes gefällt. Was sie jedoch, nach eigener Einschätzung, in besonderem Maße aus dieser materiell und emotional empfundenen Sicherheit geradezu hinauskatapultiert, sind schicksalshafte Ereignisse, mit denen sie sich im Laufe ihres Lebens regelmäßig konfrontiert sieht. Die Auseinandersetzung mit dem Verlust geliebter Menschen sowie mit der eigenen Endlichkeit verändern sie, und sie wird aufgefordert, sich mit dem Leben per se auseinanderzusetzen. So beschreibt sie beispielsweise den Tod ihres Vaters als einen „extreme[n] Wendepunkt“ (55) in ihrem Leben, da sie beginnt, „über den Sinn des Lebens nachzudenken“ (56). Ähnliches gilt für ihre Krebserkrankung, mit der sie sich auseinandersetzen muss und die ihr die Grenzen der eigenen Kontroll- und Handlungsfähigkeit in ihrem Leben aufzeigen. Diese Ereignisse gehen nicht spurlos an ihr vorbei, sondern bewirken, dass sie sich einer bewussten Gestaltung ihres Lebens zuwenden möchte. „[…] Ja und das war dann/ja dann war das und dann hatte ich viel, viel, viel Zeit zum Nachdenken so. Und ich wusste, XX (derzeitiger Arbeitgeber, Anm. B.-J. Krings) geht nach Berlin, was machst du jetzt? Jetzt hast du das am Kopf gerade hinter dir, die Knie waren beide schon operiert und dann kam so, jetzt musst du irgendwas mal für dich finden.“ (89-92).

5. Darstellung der empirischen Ergebnisse

Ähnlich einschneidend für Ruth ist die Tatsache, dass sie nach vielen zermürbenden Versuchen künstlicher Befruchtung akzeptieren muss, dass sie und ihr Partner kein Leben mit eigenen Kindern haben werden. Diese Erkenntnis ist für sie ebenfalls ein schmerzhafter Prozess, der ihr die Grenzen ihrer Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten aufzeigt. „[…] Beim Rolf war der Wunsch unheimlich stark nach einem Kind, bei mir war er unheimlich stark. Und du hast ja auch deinem Körper ziemlich viel zugemutet mit diesen ganzen Hormonen und so, das war schon heftig, bis ich dann gesagt habe, so jetzt ist gut. Jetzt soll es nicht sein, das kann’s nicht sein, jetzt muss es halt auch ein Leben ohne Kinder geben …“ (125-128).

Eine Alternative wäre die Adoption eines Kindes. Diese Möglichkeit wird von ihrem Mann nicht mitgetragen und das Paar gibt den Wunsch nach Kindern endgültig auf. Ein wichtiger Bereich, in dem sie, nach eigener Einschätzung, ihren eigenen Handlungsraum langsam erweitert, ist ihr Beruf. In ihrer aktuellen Tätigkeit als Hauswirtschafterin in der Altenbetreuung fühlt sie sich mit ihren vielseitigen Fähigkeiten angekommen und bringt sich engagiert ein. Besonders die soziale Komponente ihrer Arbeit gefällt ihr gut, die alten Menschen wachsen ihr ans Herz und sie versucht, Freude in den Alltag dieser Menschen zu bringen. Hierbei betont sie vielfach, dass sie viel Zuneigung und Anerkennung zurückbekommt. „[…] weil mein Herr Schulze, der ist hundert Jahre alt geworden letztes Jahr, der wird jetzt im Juli hunderteins, der ist im Zimmer ausgerutscht auf dem frisch gewischten Boden und dann hab ich ihn mit dem Martin [ein Kollege, Anm. B.J. Krings] zusammen hochgehoben, dann sagt er zu mir mit seinen hundert Jahren, Frau Ruth, sie dürfen mich doch gar nicht hoch lüpfen mit ihrem künstlichen Knie …“ (225-228).

Aber besonders hier ist sie mit den Grenzen des Lebens konfrontiert und sie stößt durch regelmäßige Sterbefälle unter den alten Menschen oft an ihre eigenen Grenzen. In diesen Situationen lernt sie mehr zu sich und ihren Bedürfnissen zu stehen und dies auch umzusetzen. „[…] Und das war der Punkt, wo ich mich entschieden habe, so, wenn meine Entscheidung steht, dann steht sie. Und dann geh ich auch nicht mehr rein und guck mir das auch nicht mehr an, weil ich merke, ich komme mit diesen krassen Bildern nicht mehr klar“ (269-271).

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Nach vielen Jahren der Arbeit in unterschiedlichen Tätigkeitsbereichen machen ihr die Aufgaben im Rahmen der Betreuung alter Menschen großen Spaß und sie hat das Gefühl, ihre Berufung gefunden zu haben. „[…] Das ist ganz seltsam, also es hat lange gedauert, aber es ist jetzt ja, der dritte Job, vierte Job fast, wo ich sage, das ist jetzt das, wo ich das, was ich alles kann und was ich gelernt habe, reinbringen kann“ (150-152).

Durch ihre eigenen Erfahrungen in der Pflege und Betreuung von Menschen (Vater, Schwiegermutter, Mutter) sowie ihre Sichtweisen auf diese Prozesse hat sie eigene Vorstellungen über den Umgang mit Menschen entwickelt. Diese verteidigt sie inzwischen in ihrem Berufsfeld leidenschaftlich, stößt jedoch häufig an ihre Grenzen, die sie kritisch reflektiert. „[…] ist eine Frau, die liegt jetzt im Sterben, schon länger im Sterben und die kenne ich schon als kleines Mädchen. Und das belastet mich halt schon ein bisschen irgendwie so, weil ich halt auch sehe, normalerweise sage ich mir/also sie hat zu mir gesagt, Ruth, ich will nicht mehr. Und dann habe ich auch mit ihr darüber gesprochen, ich kann das verstehen und die kann aber nicht sterben, weil sie einen Herzschrittmacher hat und künstliche Herzklappen“ (168-172).

Häufig hat sie jedoch, nach eigenem Ermessen, keine Handhabe, um Veränderungen im Hinblick auf eine humane Lebens- und Sterbeform durchzusetzen, was sie in ihrem Arbeitsumfeld oft deprimiert und frustriert. Diese Frustration basiert häufig auf dem Gefühl der Ohnmacht bzw. auf dem Gefühl, selbst auf kleine Veränderungen einzuwirken. „[…] dann liegt sie drin und hat einen richtig dick entzündeten grünen Nagel, total vereitert, dann sage ich, da gehört ein Entlastungsschnitt rein, da muss das ja ablaufen können. Ja, wir geben es weiter, wenn die Ärztin kommt und jedes Mal, wenn ich komme, ist der Nagel immer noch dick, noch nichts rein geschnitten und das sind dann halt so Sachen …“ (173-177).

Dennoch hat Ruth langsam zu ihrer Kraft und einer Kreativität im beruflichen Umfeld gefunden, die ihr, nach eigener Einschätzung, auch soziale Anerkennung bringt. Als problematisch empfindet sie allerdings den „Personalmangel“ (217) in der Einrichtung, der dazu führt, dass sie selbst häufig „zwei, drei Wohngruppen betreuen muss und dann wird es halt heftig“ (218). Die psychischen (Abschied von alten Menschen) und physischen Herausforderungen ihres Berufes haben, nach Ruth, unter anderem dazu geführt, dass sie in eine Krise geschlittert ist, die von Ärzten als schwerer Erschöpfungszustand diagnostiziert wurde. Auf Grund dieser Erkrankung und voran-

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gegangenen Angstattacken muss sie sich in diverse Therapien und Rehabilitationen begeben. Dort lernt sie mühsam, nach innen zu hören und ihren eigenen Wünschen und Bedürfnissen mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Diese Strategie beschreibt sie noch immer als eine große Herausforderung für sich selbst. Sie übt, ihre „körperliche Grenze“ (276) zu erkennen, um Krisen vorzubeugen und „Warnzeichen“ (277) ihres Körpers und ihrer Seele ernst zu nehmen. Was ihr jedoch besonders schwer fällt, ist die Erwartungen ihrer Umwelt mit ihren inneren Bedürfnissen in Einklang zu bringen. Dies gelingt ihr vor allem in der Beziehung mit ihrer Mutter manchmal mehr, manchmal weniger gut. „[…] mhmm (ja) … Mädchen für alles. Wenn sie zum Arzt muss, zum Arzt fahren und wenn es ihr nicht gut geht, dann ruft sie mich an, du, ich habe das und das, was soll ich machen? Und dann entscheide ich, ob sie ins Krankenhaus muss, muss zum Arzt gehen oder so. Das ist ja … und wenn sie jetzt drei, viermal anruft und man ist nicht daheim, dann heißt es, wo bist du denn gehockt, ich hätte dich gebraucht, und dann habe ich gesagt, Mutter ich kann nicht immer vor dem Telefon sitzen und warten, dass du anrufst …“ (559-564).

Sie erkennt, dass sie eine große Verantwortung ihrer Mutter gegenüber hat. Diese hat sie schon ihrem Vater „auf dem Sterbebett versprochen“ (582) und dieses Versprechen möchte sie auch halten. „[…] und ich habe ihm das Versprechen gegeben und zwei Stunden später ist er gestorben“ (586-587).

Aber auch in ihre Partnerschaft ist in den letzten Jahren sehr viel Bewegung hineingekommen, was sie selbst, aber auch ihren Mann, sehr erschüttert hat. Die Erkenntnisse, die sie beide im Rahmen einer Paartherapie erarbeitet haben, bewertet Ruth als eine „Krise“ (668) für das Paar, deren Aufarbeitung noch offen ist. Da Ruth inzwischen mehr Erfahrungen in therapeutischen Hilfestellungen hat, ist es für sie naheliegend, sich diesen Prozessen zu stellen. Ihr Mann kann diesen Weg für sich nicht erkennen, was für Ruth bedeutet, dass sie alleine diese Schritte gehen möchte. „[…] Und von daher versuche ich halt immer irgendwie einen Weg zu finden, dass wir das irgendwie gemeinsam gebacken kriegen. Ich versuche jetzt halt gerade in der Beziehung drin doch irgendwie mein Leben zu leben, weil Zärtlichkeit und so ist im Moment Null …“ (506-508).

Für Ruth sind die letzten Jahre entscheidend, da sie sich aufgemacht hat, ihren Lebensweg bewusst zu gehen und immer genau zu überprüfen, wie sie leben

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möchte. Vor diesem Hintergrund betrachtet sie individuelle Entscheidungen in ihrem Leben als sehr relevant, da sie diese immer mit den Erwartungen ihrer Umwelt ausbalancieren muss. Diese neue Haltung wird auch in ihrer Umgebung positiv wahrgenommen, was Ruth wiederum mit Stolz erfüllt. „[…] Ich würde ganz anders durchs Leben gehen, hat mir gerade eine Kollegin gesagt vor vierzehn Tagen und so, ich würde viel aufrechter durch den Gang gehen“ (695-696).

Entscheidungsfreiheit, bzw. die Fähigkeit, Entscheidungen überhaupt treffen zu können, entsteht für Ruth mehr und mehr aus einer inneren Stärke heraus, die sie sich jedoch mühsam erarbeiten musste und was noch immer sehr schwierig für sie ist. „[…] dass ich auch mehr für mich einstehe und versuche, meine Interessen durchzusetzen und mich nicht immer nur versuche anzupas-sen oder das zu machen, was von mir verlangt wird. Dass ich auch mal sage, nein, jetzt ist gut und jetzt mache ich das, was ich denke, was für mich richtig ist“ (691-694).

Diese Stärke ist für sie erst die Grundlage, um Entscheidungen frei treffen können und den Mut zu haben, Neues auszuprobieren, das Leben zu genießen. Lebensstiftende Elemente sind für Ruth Geborgenheit in der Familie, soziale Harmonie und ein intakter Freundeskreis. Ein harmonisches soziales Umfeld, das ihr Geborgenheit und Ruhe vermittelt, sind für Ruth entscheidend, um sich wohl und mit sich im Reinen zu fühlen. „[…] Einfach um die Geborgenheit zu spüren halt, da gehöre ich hin und da weiß ich, da bin ich und das tut mir gut und das hat einen Sinn, was ich hier mache und dass nicht alles so schwammig ist oder so. Einfach den Sinn darin zu sehen ... Das ist ja ...“ (679-681).

Im Rückblick war das Leben für Ruth eine vitale Herausforderung, mit dessen Härten und Kanten sie sich konfrontieren musste. In ihrer Wahrnehmung hat sie das Leben nicht geschont und sie durchlebt auch Phasen der Verzweiflung und der Aussichtslosigkeit. Um mit diesen Herausforderungen überhaupt umgehen zu können, setzt sie sich reflexiv und bewusst mit den Fragen auseinander, die durch diese Ereignisse in ihr entstehen. Fragen nach dem Sinn des Lebens, aber auch Fragen im Hinblick auf ihre Individualität und Möglichkeiten der Einflussnahme auf individuelle Entscheidungen stehen hierbei stark im Vordergrund. Sie betont vielfach den Weg der Selbsterkenntnis, der ihr hilft, sich selbst wahrzunehmen und gleichzeitig hilft, sich von äußeren Erwartungshaltungen und „Zwängen“ zu befreien. Dies musste sie in einer „nachholenden Entwicklung“ mühsam lernen.

5. Darstellung der empirischen Ergebnisse „[…] Da habe ich unheimlich viel gelernt über mich. Auch so das freie Reden in der Gruppe [therapeutische Gruppensitzungen, Anm. B.-J. Krings] und so, am Anfang habe ich ja nie was gesagt, bis sie dann so richtig zu mir gesagt haben, Frau Bischoff, entweder Sie beteiligen sich jetzt oder das ganze Ding bringt nichts“ (822-824).

Dies gelingt ihr beispielsweise im Hinblick auf ihren Arbeitsplatz immer besser. In ihrem persönlichen und familiären Umfeld fällt es ihr noch schwer, eigene Positionen zu beziehen und durchzusetzen. Wenn sie über ihren Rückblick nachdenkt, so hat sie ein Bild vor Augen, das sie im Rahmen des letzten Klinikaufenthaltes gemalt hat. Dieses Bild beschreibt für sie auf sehr berührende Weise den Zustand, wie sie sich und ihr Leben momentan wahrnimmt und was sie sich für ihre Zukunft wünscht. „[…] Dann habe ich gemalt, einen Kreis, ich mittendrin und um mich herum lauter Hände, ich kann nicht sagen, warum, ich habe einfach losgemalt. Lauter Hände, die nach mir greifen und in einem anderen, gegenüber in einem anderen Kreis, eine Bank, ein Pärchen, ein Hund, Bäume und Sonnenschein. Und dann hat der Therapeut das analysiert und dann hat er gesagt – ohne dass er was von mir wusste – gell, Frau Bischoff, jeder will was von Ihnen. Jeder greift nach Ihnen, für jeden müssen Sie greifbar sein. Dann habe ich gesagt, ja, das stimmt, das ist das Bild. Und da wollen Sie hin. Und dann sage ich, wieso da will ich hin? Ja, Sie wollen in Harmonie mit Ihrem Mann, mit Ihrem Hund, schönes Wetter, das wollen Sie genießen, die Ruhe. Dann habe ich überlegt, sag ich, ja, ja, das stimmt“ (793-800).

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Interpretativer Blick auf den Individualisierungsprozess

Die Suche nach individuellen Entscheidungsräumen im Rahmen der biografischen Erzählung wird von Ruth entschieden entlang der schicksalshaften Ereignisse sowie ihrer persönlichen Krisen beschrieben. Ihre Entscheidungsmöglichkeiten im Hinblick auf ihre Lebenskontexte sind auf einer äußeren Ebene zunächst durch diese Gegebenheiten geprägt, die in ihrer Wucht einen bedeutsamen Einfluss auf die Entwicklung ihrer Individualität haben. So wird sie durch einschneidende Verlusterfahrungen (Tod, Verzicht auf eigene Kinder, schwere Krankheiten) gezwungen, sich mit der Endlichkeit des Lebens sowie den Grenzen der eigenen Handlungsmöglichkeiten auseinanderzusetzen. Dieser Auseinan-dersetzung stellt sie sich reflexiv und beginnt, „über den Sinn des Lebens nachzudenken“ (57). Der Beginn dieser Überlegungen markiert dann auch ein Thema ihres Lebens, das sich wie ein roter Faden durch ihre Erzählung zieht und wofür sie sich aktiv einsetzt, „[…] aber auch der Umgang mit Menschen halt so, die Herzlichkeit halt da rein zu bringen“ (63-64).

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Strategien der Individualisierung

Der Umgang mit Menschen, die Sorge um und die Pflege von Menschen setzt sie engagiert in vielen Aktivitäten innerhalb und außerhalb ihres beruflichen Umfeldes um. Dieses Interesse, das sie selbst als ihre Berufung beschreibt, birgt jedoch – auf einer inneren Ebene – ein Spannungsverhältnis, das sich ebenfalls wie ein roter Faden durch ihre Erzählung zieht. In diesem Spannungsverhältnis agiert sie einerseits sehr entschieden und lebendig, andererseits wirkt sie sehr schwach und den äußeren Erwartungen hilflos ausgeliefert. Ruths Erzählung weist auf zwei Seiten in ihr: eine stabile, selbstbewusste und kräftige Seite, die Wünsche entwickeln und auch umsetzen kann – wie beispielsweise den Wunsch, ein Pferd zu besitzen. Gleichzeitig zeigt sie eine labile Seite, die an sich zweifelt und sich klein und ausgeliefert fühlt. Beide Seiten werden von ihr gleichermaßen reflektiert und im Interview vorgetragen. Ruth wächst als älteste von zwei Töchtern in einem eher traditionellen Umfeld auf, besucht die Hauptschule und erfüllt offensichtlich umstandslos die familiären Erwartungen, mit denen sie in ihrem Elternhaus aufgewachsen ist. So beugt sie sich bei ihrer Berufswahl dem Wunsch der Eltern, schnell einer Arbeit nachzugehen, „… Hauptsache du hast mal einen Beruf …“ (43). Sie ist als älteste Tochter, nach eigenen Beschreibungen, ein Vaterkind und hat immer versucht, für ihren Vater den „Bub“ (544) zu ersetzen. Sie spielt Fußball, geht mit ihrem Vater auch auf den „Fußballplatz“ (546). „… dann war er immer ganz stolz, die Tochter spielt Fußball“ (546) und auch als Jugendliche liebt sie es, mit dem „Moped herumfahren“ (628) und sportlich hochaktiv zu sein. Nicht nur als Kind und Jugendliche, sondern auch als Erwachsene orientiert sich Ruth an der gesellschaftlich männlich assoziierten Rolle. Auch die Ausrichtung ihres Lebens nach beruflicher Erfüllung zeigt, dass sie sich biografisch am väterlichen Lebenskonzept orientiert und weniger an der weiblichen Rolle, was im Rahmen der eher traditionell angelegten Familienkultur nahe liegen könnte. Es wird deutlich, dass sie innerlich tief gebunden an den Vater ist, dem sie auf dem Totenbett versprochen hat, immer für die Mutter da zu sein. „[…] und ich habe es halt meinem Vater, das ist ja auch so ein Ding, auf dem Sterbebett versprochen, dass wenn er mal nicht mehr ist, dass ich immer für meine Mutter da bin und das Versprechen muss ich ihm halt irgendwo halten“ (582-584).

So überträgt ihr der Vater kurz vor seinem Tod seine große Sorge um seine Frau, also Ruths Mutter. Diese Sorge beruht auf der seit Jahren gelebten familiären Situation, dass Ruths Mutter „so ein bisschen, ja psychische Probleme“ (595) hat, die sich in Form von „Angst und Panikattacken“ (605) zeigen. So ist die Mutter über lange Zeiten nicht in der Lage, ihre unterschiedlichen Rollen in der Familie voll und ganz auszufüllen und steht unter der Obhut und der

5. Darstellung der empirischen Ergebnisse

Fürsorge des Vaters.11 Ruth zeigt großes Verständnis für die Situation ihrer Mutter. Diese kam „kurz vor dem Mauerbau“ (602-604) vom östlichen Teil Berlins in den Westen, hat Ruths Vater geheiratet und ihre Schwiegereltern bis zum Tode gepflegt. Besonders als Ruth noch klein war, litt sie unter großen Panikattacken und die Familie musste lernen, damit umzugehen. Diese Attacken schreibt Ruth nun sich zu und identifiziert sich mehr und mehr mit dem Bild ihrer Mutter. „[…] Ich merke also immer öfters, manchmal denke ich, he, jetzt reagiere ich gerade so wie meine Mutter reagiert, eigentlich will ich gar nicht so reagieren, so schnell oben raus gehen und so, dann denke ich, jetzt Donnerwetter. Aber ich erkenne es wenigstens, sie hat es nicht erkannt“ (609-611).

Den Beginn der eigenen Panikattacken datiert Ruth genau mit dem Beginn ihres Arbeitsverhältnisses in der Altenpflege. Es ist hierbei davon auszugehen, dass es sich um eine transgenerative Weitergabe der Symptome ihrer Mutter handelt, was Ruth selbst auch als solches deutet. So führt sie selbst ihre Symptome der Angst auf diejenigen Lebensumstände zurück, die sie nun, mit Beginn ihres Arbeitsverhältnisses, mit der Mutter teilt. „[…] Weil sie hat es praktisch mit ihren Schwiegereltern so gehabt wie ich mit meinen. Also es wiederholt sich irgendwo in dem ganzen Ding und die Angst und Panikattacken, denke ich mal, also zu dem Zeug zu neigen, komme ich jetzt mal so langsam auf den Trichter, dass das eigentlich ein ganzes Stück Vererbung von meiner Mutter her ist“ (604-607).

11 | Viele Aussagen aus der Erzählung könnten vor einer psychoanalytischen Deutung darauf hinweisen, dass Ruth als Kind emotional die Rolle der Partnerin des Vaters eingenommen hat. Diese Haltung ist emotional mit einer großen Schuld im Hinblick auf die Mutter belegt, die kompensiert werden „muss“. Hinweise hierfür könnten sein, dass sie immer versucht hat, dem Vater ein „Bub“ (544) zu sein und typische Interessen von Jungen (Fußball, Moped fahren) entwickelt und sich dem Vater nie als Mädchen präsentiert hat. Gleichzeitig gibt es zahlreiche Hinweise dafür, dass sie sich noch immer in einer „Abwehrkonstruktion“ gegenüber der Mutter befindet und mit Schuldgefühlen kämpft. Sie hat große Probleme, sich von den Wünschen der Mutter abzugrenzen, identifiziert sich gleichzeitig zunehmend mehr mit ihren „Angst- und Panikattacken“ (605). Diese Perspektive erscheint hilfreich, um die Spannungsfelder im Rahmen der Erzählung besser zu verstehen, die sich in ihrer Vehemenz teilweise konträr gegenüberstehen. Es zeigt sich auch bei diesem Beispiel, wie sinnvoll die Integration der psychologischen Perspektive in die Analyse des Individualisierungsprozesses ist, da innere und äußere Ebene eines Individuums in einem engen Wechselverhältnis stehen.

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Obgleich sich Ruth am äußeren Bild des Vaters orientiert, übernimmt sie auf einer inneren Ebene viele Verhaltensweisen der Mutter. So hat beispielsweise ihre Mutter beide Schwiegereltern bis zu deren Tod gepflegt. Ruth hat sich die Altenpflege als berufliche Erfüllung ausgesucht, auch deswegen, weil sie die Pflege ihres krebskranken Vater – zusammen mit ihrer Mutter – sehr geprägt hat. Diese Erfahrung wurde für sie in ihrem Lebenslauf zu einer Schlüsselerfahrung. Im Hinblick auf das Motiv der Pflege ihrer Eltern treffen sich Ruth und ihr Mann in einer korrespondierenden Beziehung. Während Ruth, zusammen mit der Mutter, den Vater bis zu seinem Tod gepflegt hat, pflegt ihr Mann nun seine 91-jährige Mutter, ebenfalls in einer symbiotischen Beziehung. So lebt ihre Schwiegermutter im gleichen Haus wie das Paar und lässt sich vom Sohn, also Ruths Mann, jeden Abend eine Windel (im Genitalbereich) anlegen. Ruth steht diesem Windelritual sehr kritisch gegenüber, duldet es aber letztlich dann doch. „[…] Und sie lässt sich jetzt zum Beispiel vom Rolf jeden Abend eine frische Windel anlegen, macht aber in die Windel nicht rein, zieht sie sich runter und geht aufs Klo. Das ist wieder um ein Stück Sohn bei sich zu haben. Und die Zeit fehlt halt uns wieder, weil er geht um halb elf runter, bringt sie ins Bett und ich geh dann in der Zeit bis er hochkommt/lieg ich dann meistens schon wieder im Bett“ (462-466).

Diese intimen Beziehungen zu ihren Eltern (Vater und Mutter) sind Ruth absolut bewusst und sie hat diese Konstellation in ihren Therapien schon kritisch reflektiert, was sie sich von ihrem Mann auch wünschen würde. Neben dem gemeinsamen Thema der Elternbetreuung fällt ein zweiter Aspekt auf, der von Ruth dargestellt wird und in einer Außenbetrachtung als stark korrespondierend zwischen ihr und Rolf interpretiert werden kann. Während Ruth als kleines Mädchen zum Buben wurde, wurde Rolf „immer angezogen wie so ein Mädchen“ (638). Ruth beschreibt, wie ihr Mann, ein Einzelkind, von seinen Eltern zum Mädchen gemacht wurde. „[…] und dann hab‘ ich gedacht, dass kann nicht sein, er hat Hosen angehabt mit weitem Schlag und dann gab es doch früher die Damenblusen, so polomäßig, das zieht ja kein Kerl an. Und das haben die ihm angezogen und dann hat er da immer so eine Locke gehabt, dann haben sie ihm da so eine Bocklocke reingedreht. Da habe ich gedacht, das kann nicht sein, echt!“ (638-642).

Durch diese Beschreibung entsteht im Hinblick auf die Geschlechteridentität des Paares als Mann und Frau eine umgekehrte Verleugnung in der Kindheit: Ruth wird als Junge und Rolf wird als Mädchen ausgestattet. So bleibt zu vermuten, dass Ruth tief gebunden in ihrer Vaterbeziehung ist, während Rolf

5. Darstellung der empirischen Ergebnisse

in seiner Mutterbindung verbleibt und die beiden sich in dieser Ausrichtung stark ergänzen.12 Nicht zuletzt durch eine Paartherapie, die die beiden auf Initiative von Ruth beginnen, kommt eine dritte korrespondierende Komponente von Ruth und Rolf ans Licht, die das Zusammenleben der beiden auf eine harte Probe stellt. Beide Partner haben traumatische sexuelle Erfahrungen durchlebt, die sie bisher – aus unterschiedlichen Gründen – verdrängt und sich nicht gegenseitig anvertraut haben. „[…] Dann hat er gesagt, dann sagen Sie es ihr halt und dann hat sie mir das gesagt. Und dann ist es mir heiß und kalt geworden, dann hab ich gesagt, jetzt weiß ich bald selber nicht mehr, was ich sagen soll, weil ich nämlich das Gleiche fast auch erlebt habe, nur dass ich nicht missbraucht worden bin, sondern dass ich mit 18 vergewaltigt worden bin“ (427-430).

Ruth ist sich des Ausmaßes der Krise mit ihrem Ehemann bewusst, hat sich jedoch in ihrer jetzigen Situation eindeutig für ihren Mann und für ihre Ehe entschieden und möchte sich da „durchkämpfen“ (739). Dieser Entschluss fällt ihr nicht leicht, aber sie möchte auch diese Krise nutzen, um zu reflektieren und ihre Kraftquelle in sich zu finden. „[…] Ja, klar. Weil ich weiß, wenn ich wirklich was will und wirklich darum kämpfe, dass ich es wirklich auch erreiche“ (739-740).

Im Rückblick zeigt sich, dass Ruth ihre traumatischen Erlebnisse, sei es der Tod des Vaters, schwere Krankheiten oder Krisen, genutzt hat, um sich nach innen zu reflektieren und sich zu fragen, was „man wirklich selber will“ (843). Dies herauszufinden und zu leben ist für Ruth nicht trivial und sie nimmt diese Fragen im Laufe ihres Lebens immer ernster. Sie möchte sich auch keine Begrenzungen mehr auferlegen lassen, sondern versuchen, das Leben in seiner Fülle und in seinen Möglichkeiten wahrzunehmen.

12 | Als ein weiterer psychoanalytischer Aspekt kann hier vermutet werden, dass Ruth und Rolf eine so genannte „Geschwisterehe“ führen, in der sich beide Partner noch in unaufgelösten Elternverbindungen befinden und sich nicht auf die Ebene eines Ehepaars begegnen können. Für diese Vermutung spricht Ruths formulierte Enttäuschung darüber, dass zwischen den beiden keine Zärtlichkeit stattfindet. Darunter leidet Ruth sehr, was sie auch formuliert: „Und dann eben der Karl-Heinz (Therapeut, Anm. B.-J. Krings) hat mich auch mal in den Arm genommen und mich getröstet und dann ist mir eigentlich bewusst geworden, dass das eigentlich ist, was ich von meinem Mann immer erwartet habe“ (831-833).

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Strategien der Individualisierung „[…] Also ich habe erkannt für mich, dass ich eigentlich stärker bin, als ich geglaubt habe, dass ich oft am Boden war und immer wieder aufgestanden bin“ (684-685).

Immer dann, wenn sie den Zugang zu ihrer individuellen Kraftquelle spürt, ist sie zuversichtlich und überzeugt, dass sie die Krisen in ihrem Leben meistern kann.

Fazit Die Inhalte der Individualisierungsthese, so wie sie in den 1980er Jahren vorgetragen und diskutiert werden, scheinen völlig an der Erzählung von Ruth Bischoff vorbeizuziehen. Ruths Biografie verläuft in traditionellen Bahnen, ohne dass sie von den gesellschaftlichen Umbrüchen dieser Zeit signifikant berührt wird. Allerdings bezieht sich diese traditionelle Lebensform zunächst nicht auf ihre Rolle als Frau. Ruth verfolgt im Rahmen ihres Lebensweges zunächst konsequent das männlich geprägte Lebensmodell und verbringt viele Jahre in vollzeitiger Erwerbstätigkeit. Es gibt keine Hinweise darüber, dass sie oder ihre Eltern spezifisch höhere Bildungswege für sie in Betracht ziehen, sie selbst hat in dieser Hinsicht offensichtlich auch keine Ambitionen, sondern identifiziert sich stark mit der familiär vorgegebenen Notwendigkeit zu arbeiten und Geld zu verdienen. Später heiratet sie einen Akademiker, was jedoch bei ihr keine besondere Erwähnung im Hinblick auf sozialstrukturelle Veränderungen in ihrem Leben findet. Allerdings schätzt sie die materielle Basis der Ehe, die ihr erlaubt, nach vielen Jahren der Berufstätigkeit Teilzeit zu arbeiten und dem Reitsport nachzugehen. Zentral scheint jedoch ihr Individualisierungsprozess entlang der psychischen und physischen Krisen zu sein, die sie im Laufe ihres Lebens durchlebt und denen sie sich intellektuell und emotional stellt. Hier handelt es sich um schicksalhafte Ereignisse, auf deren Verlauf sie schlicht keine Einflussmöglichkeiten hat. Im Gegenteil, sie muss sich hier mit existenziellen Verlusterfahrungen auseinandersetzen und wird aufgefordert, eine innere Haltung zu diesen Erfahrungen zu entwickeln. Sie nutzt diese, um sich und ihr bisheriges Leben auf der Basis von Sinnfragen zu reflektieren. Diese Reflektionen werden unterstützt durch therapeutische Begleitungen, die ihr langsam ermöglichen, ihre Bedürfnisse wahrzunehmen und eigene Lebensvorstellungen zu entwickeln. So werden individuelle Entscheidungen für sie nur möglich, wenn ein Reflexionsprozess beschritten wird, der nach „innen“ führt und ihre Autonomie als Mensch/Frau in ihrer sozialen Konstellation stärkt („eigene Kraft wahrnehmen“). Im Laufe dieses Prozesses entstehen für sie neue Formen individueller Entscheidungsmöglichkeiten, d. h. sie lernt, mehr und mehr auf ihre innere Bedürfnisstruktur zu hören und diese nach außen nicht zu verleugnen. Aus

5. Darstellung der empirischen Ergebnisse

dieser neuen Wahrnehmung heraus gewinnt Ruth einen neuen Blick auf ihre Lebenskraft und ihre Stärken und versucht immer mehr, diese konstruktiv und gemäß ihrer eigenen Überzeugungen einzusetzen. So bekommt sie Möglichkeiten und Instrumente an die Hand, um mit den Krisen konstruktiv umzugehen. Vor allem im beruflichen Umfeld gelingt ihr dies immer mehr. Ruths Erzählung macht deutlich, dass diese Formen der reflexiven Aufarbeitung in einer spezifisch historischen Gesellschaftsform möglich werden, in der diese Krisen offengelegt werden können und therapeutische Unterstützung von den Betroffenen in Anspruch genommen werden kann. Die in der Erzählung offengelegten Traumata, ihre eigene Vergewaltigung als junge Frau und auch der sexuelle Missbrauch ihres Mannes im Rahmen seiner Tätigkeit als Messdiener in der katholischen Kirche, wurden viele Jahre unter dem Siegel der Verschwiegenheit und der eigenen Scham verleugnet. Erst viele Jahre später, ausgelöst durch Öffnungsprozesse im Hinblick auf die Ausrichtung neuer gesellschaftlicher Diskurse, können diese Traumata öffentlich gemacht und therapeutisch bearbeitet werden. Ruths Lebensentwurf zeigt darüber hinaus signifikant das Eingebundensein in eine Familiengeschichte, die familiäre Verpflichtungen mit sich bringt, denen Ruth sich nicht entziehen kann und will. Schon ihre Mutter hat ihre alten Schwiegereltern gepflegt, Ruth selbst hat die Pflege ihrer Eltern übernommen, ihr Mann ist in die Pflege seiner Mutter involviert, was auf die Ebene der Kinder verweist, die innerlich zutiefst mit ihren Eltern verbunden sind. Die Pflege der Eltern erscheint hier zwar auch als eine persönliche Herausforderung im Alltag, gleichzeitig macht sie auch deutlich, dass der Wunsch, die eigenen Eltern zu versorgen, auf einer inneren Ebene angelegt wird. Gesellschaftliche Diskurse, die sich lediglich auf die ökonomische Bedarfslage der Pflege konzentrieren, werden diesem menschlichen Grundbedürfnis kaum gerecht. Das Beispiel zeigt, wie sehr Ruths Individualität mit diesem Grundbedürfnis geprägt ist.

5.4 „D ie W ahrnehmung der eigenen F reiheit ist eine F r age des B e wusstseins “ – I ndividualisierung als subjek tive F reiheit Einführung Wolfram Blumberg, 56 Jahre alt, hat Pädagogik, Philosophie und Psychologie studiert und in den folgenden Jahrzehnten seinen beruflichen Weg vielfach verändert. Er arbeitet heute als Psychotherapeut in eigener Praxis, gibt Kurse in Meditation und Achtsamkeitstraining und ist vielseitig engagiert in sozialen Organisationen. Er lebt in einem kleinen Dorf in der Mitte Deutschlands in

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zweiter Ehe mit einer Frau zusammen, die ebenfalls zuvor schon verheiratet war. Er selbst hat aus erster Ehe eine erwachsene Tochter, seine Frau hat drei erwachsene Kinder. Sie hat auch schon Enkelkinder. Das Interview findet in der gemütlichen Wohnküche der gemeinsamen Wohnung des Paares statt. Im Rahmen des kurzen Vorgesprächs über die wissenschaftliche Ausrichtung der Arbeit beginnt sofort eine lebhafte inhaltliche Diskussion, durch die es Wolfram Blumberg und die Autorin kurze Zeit später für naheliegend empfinden, sofort mit dem narrativen Interview zu beginnen. Das Gespräch ist ruhig und konzentriert und dauert etwa zwei Stunden. Wolfram erzählt detailliert und tiefgehend und es wird deutlich, dass er sich schon intensiv mit sich und seinem Lebensweg auseinandergesetzt hat. Darüber hinaus interessiert ihn die prinzipielle Frage der Individualisierungstheorie Unter welchen Umständen können Menschen frei entscheiden? in besonderem Maße und er reflektiert diese im Rahmen seiner Erzählung konsequent mit. Wolfram Blumberg hat im Vorfeld sofort und spontan seine Zustimmung für dieses Interview gegeben. Hierbei hat er zum Ausdruck gebracht, dass er die Fragestellung der Arbeit für sehr „spannend“ hält. Außerdem hat er selbst kurz zuvor eine empirisch angelegte Dissertation in Psychologie abgeschlossen und kennt die Probleme des Zugangs zum Feld und die Freude der Forschenden über Interviewzusagen aus eigener Erfahrung.

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Biografische Erzählung

Wolfram wächst als Sohn eines Schauspieldirektors und Regisseurs auf, was dazu führt, dass die Familie alle zwei bis drei Jahre den Wohnort wechseln muss. Diese Wechsel waren für ihn als Kind und Jugendlicher mühsam und haben ihn in vielerlei Hinsicht geprägt. „[…] Ich habe eine Art Offenheit gekriegt auf der einen Seite, dass ich überall zu Hause bin, aber auch eine gewisse Unverbindlichkeit, dass ich eben, wenn es an einem Ort nicht so gut war, gedacht habe, na gut, das geht vorbei …“ (24-26).

Aufgrund dieser ständigen Umzüge ist er jedoch „miserabel“ (33) in der Schule, was für ihn als Kind auch „schwierig“ (34) war. Gleichzeitig führt der dauernde Wechsel zu großen Problemen, da er sich innerhalb unterschiedlicher Schulsysteme zu Recht finden musste, was für ihn nicht leicht war. „[…] weil ich das nicht gepackt habe immer wieder/und damals waren auch die unterschiedlichen Einschulungszeiten, das heißt, ich bin dann gesprungen von früher nach den Sommerferien, das Schulende war unterschiedlich in den verschiedenen Bundesländern und dadurch habe ich dann Klassen übersprungen oder verloren“ (28-31).

5. Darstellung der empirischen Ergebnisse

So steht er in der Schule immer auf „der Kippe“ (31) und kämpft um die Versetzung. Diese fortwährende Situation prägt seine Schulzeit bis er schließlich 1972 Abitur macht, das ziemlich schlecht ausfällt. Diese Tatsache führt dazu, dass ihm sein großer Wunsch, nämlich Medizin zu studieren, um später zur Psychiatrie zu wechseln, verwehrt bleibt. Er schafft den Numerus Clausus als Voraussetzung für ein Medizinstudium nicht. Diese Situation fällt mit der Auseinandersetzung seiner „persönlichen Geschichte“ (43) mit den Eltern sowie durch das Eintauchen in die „Linke Schiene“ (44) in den Studentenstädten seit den 1970er Jahre zusammen. In dieser Zeit vollzieht er zwar seine „persönliche Revolution“ (44-45), macht aber vor allem die Erfahrung, dass er nicht das machen kann, was er gerne machen würde. „[…] Ich bin ein Mittelklassekind, aber … dass ich eingebunden bin schon in Umstände einfach, in Umstände, was mein Vater für eine Lebensweise uns mehr oder weniger aufoktroyiert hat und meine schlechten Noten und dann die politischen Umstände gerade zu dieser Zeit und meine persönliche Loslösung von meinen Eltern und … so dass ich da eher das Gefühl hatte, dass ich das nicht selbst bestimmen kann. Sondern also mein Wunsch war Medizin zu machen und Psychologie zu machen und genau das ging nicht …“ (49-54).

Als eine offene Alternative studiert er zunächst Philosophie, Psychologie und Pädagogik und genießt die „Freiheit“ (57) der Studentenzeit. Er ist vielseitig interessiert und macht „einfach viele, viele Sachen“ (57) ohne jedoch ein konkretes Ziel vor Augen zu haben. Ein Freund schlägt ihm nach einigen Jahren vor, über das Fach Geologie einen Quereinstieg in die Medizin vorzunehmen, was er selbst auch vorhat. Wolfram greift diese Idee auf, da er ziemlich orientierungslos in seiner Fächerkombination agiert, wechselt die Stadt und studiert Geologie. Den Wunsch, ein Medizinstudium zu absolvieren, gibt er allerdings allmählich auf. „[…] Und das war dann einfach, ja ich hing so ein bisschen in der Luft und bin nicht vorwärts gekommen mit meinen Studienwünschen und die anderen haben mich auch nicht so gereizt, die zu Ende zu machen, also ich wollte jetzt nicht Philosoph werden und …“ (62-65).

Das Fach Geologie interessiert ihn und er studiert es zu Ende, auch im Wissen um den großen Bedarf an Geologen im In- und Ausland. Dieser Bedarf basiert auf der „Ölkrise mit dem Wochenendfahrverbot“ (84) in der BRD, in der intensiv nach Öl gesucht wird. Nach Beendigung seines Studiums ist dieser Boom jedoch vorbei und es werden in Deutschland keine Geologen mehr eingestellt. Im Gegenteil: die Geologen werden entlassen und Wolfram findet keine Stelle.

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Strategien der Individualisierung „[…] Das war also auch wieder so was Schicksalhaftes, wo ich zwar irgendwie mir was wünschen konnte jetzt als Geologe einzusteigen, aber es hat nicht geklappt, also ich habe nie als Geologe dann gearbeitet, obwohl ich ein Diplom mit einer Eins gemacht habe“ (89-91).

Wolfram Blumberg muss sich wieder von seinen Vorstellungen und Wünschen verabschieden und gerät in den „EDV-Hype“ (93), in dem durch diesen rasant steigenden Bedarf „die ganzen Leute auf der Straße gesammelt“ (93) werden, die einen Hochschulabschluss oder einen anderen „interessanten Abschluss“ (94) haben. Er gerät in diesen Strudel, wird in dem Bereich „Elek-tronische Datenverarbeitung“ geschult und bekommt eine Stelle in einer großen Bank, wo er als „EDV-Spezialist“ (95) Projekte durchführt. „[…] aber das hätte ich mir zwei Jahre vorher auch nicht träumen lassen, dass ich dann plötzlich in der Bank lande und da EDV-Sachen mache“ (96-98).

Wolfram arbeitet nahezu 20 Jahre im Rahmen dieser Arbeitsstelle. Er genießt diese Arbeit vor allem in den ersten Jahren. Er heiratet eine Frau, das Paar bekommt eine Tochter und er kann seiner Familie einen relativ hohen Lebensstandard ermöglichen, was ihm auch selbst eine gewisse Befriedigung verschafft. Nach einigen Jahren verändern jedoch Globalisierungstrends, die die Organisationsstrukturen der Bank erfassen, signifikant die Qualität seiner Arbeit und der Freiräume, die er bisher im Rahmen dieser Arbeit genossen hat. „[…] Und man hat Chefs plötzlich gekriegt, eingeflogen aus Singapur, die überhaupt keine Ahnung hatten und weiß ich nicht, nur noch weggeduckt und es wurde immer schwieriger …“ (104-106).

Wolfram empfindet dies als zunehmend belastend für sich und seine Arbeitssituation. Darüber hinaus hat er Probleme in seiner Ehe, die ihn auch beschäftigen und innerlich in Anspruch nehmen. „[…] und dann habe ich mich aber in einer Falle empfunden. Und in der Falle, da war auch keine Freiheit. Ich hatte dann eine Frau und ein Kind und eine Wohnung, die bezahlt werden musste und ich war unglücklich in der Ehe und ich war unglücklich dann in der Bank und hatte das Gefühl, dass mein ganzes Leben eigentlich falsch ist. Das entspricht auch nicht gerade einer selbst gewählten Freiheit …” (108-112).

Er fühlt sich in dieser Situation verzweifelt und versucht, aus ihr herauszukommen. Sein alter Wunsch, Psychologe zu werden, wird durch diese Veränderungen wieder erweckt. Er fängt verschiedene Weiterbildungen im Bereich Psychotherapie an, beginnt mit Körperarbeit, vor allem der chinesischen Ener-

5. Darstellung der empirischen Ergebnisse

giearbeit Qigong sowie mit Meditationsübungen, die er intensiv betreibt. Im Rahmen dieser neuen Tätigkeiten lernt er eine verheiratete Frau kennen und die beiden beginnen eine heimliche und intensive Beziehung, die über viele Jahre hinweg anhält. Zu diesen Entwicklungen kommt nach einigen Jahren hinzu, dass er ein großzügiges Erbe von seiner Mutter erhält. Seine Mutter hat finanzielle Anteile in einem Unternehmen, das überraschenderweise verkauft wird und Wolfram erhält ein finanzielles Erbe, das ihm erlaubt, seine Stelle zu kündigen und seine Ausbildungen zu Ende zu führen. Darüber hinaus beginnt er eine Promotion in Psychologie. „[…] und dann hat sich eigentlich innerhalb von zwei, drei Jahren, habe ich so viele Sachen gemacht, die sich da alle aufgestaut hatten. Mein Leben ist dann ganz schnell geworden und … hat sich auf eine unglaubliche Weise beschleunigt und da sind ganz viele wichtige Sachen passiert. Ich habe mit meiner Promotion angefangen, habe die ganzen Ausbildungen gemacht und, und … (155-159).

Er trennt sich von seiner Frau und zieht mit seiner Liebesbeziehung in eine gemeinsame Wohnung. Nach den Trennungs- und Scheidungsphasen auf beiden Seiten heiratet das Paar. Wolfram baut eine eigene Praxis für Psychotherapie auf und beginnt, Kurse in Meditation und Achtsamkeitsübungen anzubieten. Er beendet seine Promotion in Psychologie erfolgreich und vergrößert sukzessive seinen Gestaltungsrahmen. Er reflektiert hierbei regelmäßig und mit großer Dankbarkeit erfüllt, dass auf einer äußeren Ebene alles sehr gut für ihn läuft. Dennoch bezweifelt er, dass die Entwicklungen auf der materiellen Ebene wirklich die Ursache für seine Zufriedenheit sind. Er glaubt eher daran, dass die Menschen stark geprägt sind durch ihre Familien, in die sie hineingeboren werden sowie in „[…] unsere Glaubenssätze und unsere Strukturen und Muster und Körpergefühle und Assoziationen und alles eigentlich da seinen Anfang gefunden hat“ (315-316).

Diese Prägungen gilt es für Wolfram Blumberg zu ergründen und gegebenenfalls auch zu überwinden, um letztlich „neue Perspektiven“ (330) zu gewinnen. Diesem Anliegen versucht er in seinem Leben konsequent treu zu bleiben und vergrößert vor dieser Perspektive sukzessive seinen Handlungs- und Entscheidungsspielraum.

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Interpretation der These (implizit)

Während seiner Erzählung diskutiert Wolfram Blumberg intensiv die Frage nach der menschlichen Freiheit von Entscheidungen als philosophische Fra-

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ge, und wendet diese Überlegungen im Laufe seines Rückblicks konkret auf seine eigenen Entscheidungskontexte an. Wolframs Ausgangspunkt für diese Überlegungen ist das Bewusstsein. Das Bewusstsein versteht er als den Urgrund, der allen sozialen und nichtsozialen Phänomenen einen Sinn verleihen kann. Die Suche nach Sinn im Leben mit all seiner Vielfalt und seinen – aus einer rationalen Sichtweise betrachtet – Paradoxien versteht er als eine originär menschliche Eigenschaft, die den Menschen erst als Menschen charakterisiert. Das aktive Fragen nach dem Sinn im Leben ist für den Menschen jedoch nur möglich, weil er über Bewusstsein verfügt. „Also auch da/ich glaube dass – das ist vielleicht mein Ding im Moment – aber ich glaube, dass die Frage des Sinnes, einen Sinn zu finden in einem größeren Kontext, dass das wirklich das Entscheidende ist. Wir sind doch immer/wir sind doch Sinnsucher als Menschen, ganz egal auf welcher Ebene“ (351-354).

So entscheidet, nach Wolfram, „im Grunde das Bewusstsein“ (342) eines jeden Menschen über die Wahrnehmung von Glück oder Zufriedenheit im menschlichen Leben. Die Wahrnehmung der Konstellation von Entscheidungen ist für ihn dann auch der Ausgangspunkt, um Ereignisse überhaupt zu bewerten und in eigene individuelle Entscheidungen zu überführen. Als exemplarisch für diese Vorstellungen und auch für die gelebte Haltung nennt er den Psychoanalytiker und Neurologen Viktor Frankl13, den er sehr verehrt. 13 | Viktor E. Frankl (1905-1997; Wien) gilt als der Begründer der Logotherapie und Existenzanalyse. Er studierte Medizin und absolvierte eine Dissertation in Medizin („Depression und Suizid“) als auch eine Dissertation in Philosophie („Der unbewusste Gott“). Er hatte engen Kontakt zu Sigmund Freud (1856-1939) sowie zu Alfred Adler (1870-1937), den Begründern der beiden Wiener Schulen der Psychotherapie. Während des Nationalsozialismus wurden er und seine Familie mit jüdischer Abstammung in verschiedene Konzentrationslager verschleppt. Frankl überlebte als Einziger seiner Familie. Seine Eltern, seine Frau, sein Bruder und dessen Frau wurden in Konzentrationslagern ermordet. Einer Schwester gelang es schon relativ früh, ins Ausland zu emigrieren. Nach dem Krieg suchte Frankl sowohl in seinen Arbeiten als auch in seinen Gesten stets eine Haltung der Versöhnung. 1946 wurde er zum Vorstand der Wiener Neurologischen Poliklinik berufen, diese Funktion hatte er bis zum Jahre 1971 inne. Die Logotherapie setzt sich aus philosophischen und psychologischen Grundgedanken zusammen und besteht aus drei Pfeilern: (a) Freiheit des Willens (definiert sich als der Gestaltungsfreiraum des eigenen Lebens gemäß der jeweils gegebenen Möglichkeiten. Diese setzen sich aus Psyche, Körper sowie der geistigen Dimension des Menschen zusammen); (b) Wille zum Sinn (Mensch ist nicht frei, sondern frei auf etwas hin. Seine Gestaltungsfähigkeit sucht nach Ausdrucksfähigkeit für sich in der Welt. Kann dieses Grundbedürfnis nicht umgesetzt werden, entstehen bedrückende Gefühle der Sinnlo-

5. Darstellung der empirischen Ergebnisse „[…] Also ich oute mich damit ein bisschen als Idealist vielleicht, aber gerade das Viktor Frankl Beispiel, das ist krass: Wie jemand im Konzentrationslager so was sagen kann, dass alles einen Sinn hat und das ist Bewusstsein. Und es gibt ja auch wirklich Untersuchungen über Folteropfer, die wenn sie das als persönlichen Affront, als feindlichen Angriff eines einzelnen Menschen empfunden haben, viel schwieriger damit umgehen konnten, als wenn sie das eingebettet in ein größeres Ganzes gesehen haben“ (345-350).

Ob und wie Entscheidungsfreiheit für ihn entstehen kann, ist auch von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen abhängig. Je nachdem, ob diese in einer Schließungs- oder Öffnungsdynamik wirken, können kognitive Freiräume für Menschen überhaupt erst entstehen. So bewertet er beispielsweise seine Studentenzeit als eine Zeit, in der er große individuelle Freiheiten erlebt hat. Alleine die Tatsache, dass er studieren konnte, weist auf neue Optionen, die für einen Großteil der Menschen erst in der Moderne entstanden sind. Gleichzeitig stellt sich ihm hier jedoch sofort die Frage, ob diese Optionen in anderen gesellschaftlichen Konstellationen überhaupt von Bedeutung gewesen wären. „[…] na gut, also ich merke, ich fange an, dieser These ein bisschen zu widersprechen. Klar, ich hätte natürlich in früheren Zeiten mit einer größeren Klassen/mit einer klarer definierten Klassenzugehörigkeit und so weiter, wäre ich/hätte ich gar nicht diese Freiheit gehabt. Und aber ich denke/also es kommt mir so vor, als ob ich innerhalb der Freiheit, die ich vielleicht durch die ... Moderne gewonnen habe, noch ganz viel gebunden bin und eigentlich finde ich, dass es dadurch erst klar wird, denn wenn ich wirklich beschränkt gewesen wäre durch Klasse, durch gesellschaftliche Enge und so weiter, so wie es in anderen Jahrhunderten war, dann wäre das nicht so offenbar gewesen, nicht …“ (66-73).

Für Wolfram ist sein Werdegang prinzipiell nicht durch rationale Entscheidungen geprägt, sondern es sind vielmehr „schicksalhafte“ (89) Wendungen, mit denen er sich regelmäßig konfrontiert sah. Diese schlossen in erster Linie die Möglichkeit, eigene Vorstellungen seiner Lebensplanung umzusetzen, schlicht aus. Als treffende Beispiele nennt er hier seine berufliche Integration. „[…] Und dann wieder war eigentlich was, was nicht meiner Planung entsprochen hat, dann kam der ganze EDV-Hype …“ (92-93).

sigkeit); (c) Sinn im Leben (Grundgedanke, dass Sinn nicht nur individuell hergestellt werden kann, sondern die Willensfreiheit soll so weit wie möglich hergestellt werden, um das Bestmögliche in sich und in der Welt zum Ausdruck zu bringen) (http://www. univie.ac.at/logotherapy/d/logotherapie.html, vom 07.08.2013).

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Strategien der Individualisierung

Auf einer äußeren Ebene stellt er zunächst nicht infrage, dass die Moderne Optionen eröffnet. Die Bandbreite möglicher Optionen, wie beispielsweise freie Berufswahl, freie Partnerwahl, Anzahl der Kinder etc., erweitern sich für die Individuen. Wolfram stellt jedoch infrage, ob diese Erweiterung eine faktische Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten für die Individuen darstellt. Denn dies ist aus seiner Sicht nur dann gegeben, wenn die Individuen diese Erweiterung – auf einer inneren Ebene – als neue Freiheiten für sich überhaupt kognitiv wahrnehmen können. Für ihn steht vor diesen Überlegungen zunächst die Frage, wie diese (neuen) Optionen von den Individuen wahrgenommen werden. „[…] Also vielleicht ist es so, dass die Möglichkeit, zumindest die theoretische Möglichkeit gesellschaftliche Offenheit zu wählen, ob man sich scheiden lässt, ob man den Beruf hinschmeißt und so weiter, hat mich natürlich in eine Situation gebracht, die mich gerade verzweifelt gemacht hat. Also wenn ich an meine Eltern denke, die haben das durchgehalten mit der Ehe, obwohl es weiß Gott nicht gut war“ (115-119).

Neue Möglichkeiten, zwischen Optionen zu wählen ist für ihn nicht konfliktfrei und deswegen nicht umstandslos als eine neue Form der Entscheidungsoder gar Handlungsfreiheit zu bewerten. Auch in der Moderne sind Entscheidungen, nach Wolfram, eingebunden in eine Struktur, in ein Ganzes und in einen bestimmten zeitlichen Ablauf, den man nicht außer Acht lassen kann. „[…] So habe ich es eigentlich eher empfunden, dass das in solchen Prozessen, die nicht in meinem eigenen Wollen liegen, sich Zeitfenster öffnen, die ich einfach wahrnehmen muss, wenn sie da sind, aber die ich auch nicht aufmachen und zumachen kann. Das auch nicht wiederum in meinem Wunsch liegt, obwohl das mein Prozess ist, der da … und das ist eigenartig, da habe ich dann auch was erlebt, was mich verblüfft hat, weil es hat gezeigt, dass diese Prozesse wirklich viel weiter gestrickt sind als mein persönliches Schicksal …“ (137-142).

Diese Einbettung in einen sozialen Kontext sowie die notwendige Reife für Entscheidungen per se werden, so Wolfram, häufig ausgeblendet. Eine Entscheidung kann zwar zunächst eine rationale Idee, ein rationaler Entschluss sein, das bedeutet jedoch für ihn noch längst nicht, dass die Zeit für diese Entscheidung reif ist. Als prägnantes Beispiel nennt er den Entschluss, sich von seiner Frau/Familie zu trennen, was jedoch auf der rationalen Ebene im ersten Versuch völlig missglückt ist. „[…] Und wir [er und seine Geliebte; Anm. B.-J. Krings] sind zurückgekommen aus den Sommerferien und da haben wir entschieden, so, wir werden jetzt unseren Partnern das sagen und nach den Sommerferien ziehen wir zusammen. Und das war ein eiserner Ent-

5. Darstellung der empirischen Ergebnisse schluss, ja, da gab es keinen Zweifel dran. Und wir sind zurückgekommen aus den Sommerferien und wir haben es unseren Partnern gesagt und es ging nicht, es ging einfach nicht. Aus verschiedenen Gründen, ich bin zu schnell mit dem Kopf gewesen, ich bin mit dem Kopf und habe gemerkt, mein ganzes emotionales System kann das nicht, ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, wie ich da ausziehen soll aus dieser Wohnung. Soll ich da irgendwie anfangen, die Bilder abzuhängen …“ (376-384).

Wie dieses prägnante Beispiel zeigt, ist für Wolfram auch der Mensch in seine eigene Entwicklung, in seine individuelle Geschichte eingebunden. Dazu gehört zunächst die Tatsache, dass der Mensch eingebettet ist in eine Ursprungsfamilie, das heißt, in erster Linie, eine „prozesshafte Einbindung in Umstände, die immer da sein werden“ (200). Das Eingebundensein in familiäre Strukturen gibt zunächst den Rahmen der eigenen Entwicklung vor. Dazu gehört nicht nur die Prägung durch die Strukturen der Ursprungsfamilie, sondern auch die Haltung, die man selbst zu diesen Rahmenbedingungen in jungen Jahren einnimmt. Berücksichtigt man alleine diese Form der individuellen Prägungen, müsste man, aus seiner Sicht, schon einen Perspektivenwechsel des Individualisierungstheorems vornehmen. Wird diese Grundstruktur durch weitere Formen der Prägungen erweitert, die die Individuen beeinflussen, so kann, nach Wolfram, die Vorstellung von (rational geprägter) Entscheidungsfreiheit kaum aufrechterhalten werden. „[…] nämlich, wie ist mein Vater, was hat der für Probleme? Was ist für eine Stimmung in unserer Familie? Wie geht es meiner Mutter? Haben die Geld, haben die kein Geld? In was für Kreise komme ich? Auch was habe ich für genetische Vorbedingungen? Was für Krankheiten habe ich? Und solche Geschichten. Und/also ich habe so das Bild gewonnen aufgrund dieser Geschichte, dass ich ganz eng verwebt bin und verknüpft bin und dass es einfach Millionen Parameter gibt, die auf mich einwirken und auf die ich wiederum einwirke und das ist eher, ja, ein prozesshaftes Fließen ist, was/wo ich eigentlich nicht wirklich die freie Wahl habe. Das ist ja auch das Thema mit der Freiheit des Willens …“ (200-207).

Für Wolfram trifft es durchaus zu, dass sich die Möglichkeiten im Leben der Menschen in den letzten zweihundert Jahren empirisch stark verändert haben. Dies ist eine Beobachtung eines historischen Prozesses, der durch das Individualisierungstheorem beschrieben wird. Im Rahmen des historischen Vergleichs können hier signifikant quantitative und qualitative Veränderungen beobachtet werden: die materiellen und immateriellen Möglichkeiten haben für die Menschen in westlichen Industriegesellschaften zugenommen. Dennoch gibt es Einschränkungen, die dem Einzelnen nicht erlauben, sich aus dem „Supermarkt“ (175) der Möglichkeiten das herauszunehmen, was er/sie gerade will. Das wäre für Wolfram auch nicht der entscheidende Aspekt der

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Bewertung dieser Entwicklungen. Entscheidend ist für ihn vielmehr, dass alle Menschen in Verhältnisse eingebunden sind, die diese Entscheidungsmöglichkeiten in großem Maße beeinflussen. „[…] Also ich glaube, das ist die Frage der Perspektive, wenn ich einen Menschen begrenzt anschaue, dann hat er natürlich einen freien Willen, aber wenn ich den in seinen Umständen anschaue und in seinen ganzen Bedingtheiten und den Einflüssen auf ihn und mit ihm, dann geht er einen Weg, den er einfach gehen muss und gut, dann kann man darüber diskutieren, wie viel dann noch eigene Entscheidungen stattfinden können. Aber selbst die Entscheidungen, die stattfinden finden, finden aus irgendwelchen Ursachen statt, die nicht unbedingt wieder was mit meinen Entscheidungen zu tun haben, sondern einfach nur mit meinen Erfahrungen wieder …“ (208-214).

Zentral ist für Wolfram vor diesem Perspektivenwechsel weniger der Blick auf das Individuum, sondern der Blick auf den Lebensfluss, in den dieser Mensch eingebettet ist. Wendet man hier die Metapher des Lebensflusses auf den historischen Vergleich an, so könnte sich hier zeigen, dass die Individuen in modernen Gesellschaften ein wenig langsamer vom Strom mitgezogen werden als dies vielleicht vor zweihundert Jahren der Fall gewesen ist. Die wichtige Frage in diesem Kontext ist für ihn konsequenterweise nicht, wie viel mehr Freiheit die Individuen haben, sondern wie Individuen mit Verantwortung umgehen, mit der sie in diesen Entscheidungsprozessen konfrontiert werden. Aus diesen Gründen sind „Sinnebenen“ (274) als Grundlage von Entscheidungen für ihn von grundlegendem Interesse. Hier knüpft er wieder an die Person Viktor E. Frankl an, der selbst im Konzentrationslager (s)eine Sinnebene für sich und sein Leben gefunden hat. Aber auch auf einer ethisch weniger belastenden Ebene ist die Bewusstwerdung der eigenen Positionierung im Rahmen dieser Entscheidungen von großer Bedeutung für Wolfram, denn die Reflexion auf jedwede Entscheidung zeigt, dass jede Entscheidung Konsequenzen hat, die vom Individuum reflektiert werden (können). „[…] Und so war es auch, also ich mich/als ich dann gegangen bin und habe mich scheiden lassen. Ich habe erkannt, dass alles Konsequenzen hat, also wenn ich geblieben wäre, hätte das auch eine Konsequenz gehabt. Dann hätte meine Tochter einfach das Gefühl, na ja, Paare lügen sich halt an und tun so als ob oder so was. Und gut, jetzt hat sie eine andere Prägung mitgekriegt, jetzt … Väter verpissen sich, wenn es heiß wird oder ich weiß nicht, das stimmt gar nicht, also ich habe eine gute Beziehung zu ihr“ (427-430).

Veränderungen können für ihn nur dadurch stattfinden, dass man die Konsequenzen der Entscheidungen bewusst wahrnimmt und reflektiert. Diese Wahrnehmung findet rational, emotional, körperlich und geistig statt und erst der Vollzug der Entscheidung auf all diesen Ebenen bringt die Entscheidung

5. Darstellung der empirischen Ergebnisse

zu ihrer Entfaltung. Denn erst durch diesen Vollzug wird deutlich, dass jede Entscheidung in einen zeitlichen Fluss von Handlungsstrukturen eingebettet ist, die bei jeder Entscheidung mitberücksichtigt werden müssen. Trotz und gerade wegen dieses Eingebundenseins in den eigenen Lebensfluss besteht für Wolfram ein unbegrenzter Raum der Freiheit, der entsteht, wenn man seinen Platz im Leben bewusst an- und einnimmt. Diese Haltung entscheidet letztlich darüber, wie die eigenen Lebensbedingungen und die eigene Freiheit subjektiv wahrgenommen werden können. Gleichzeitig entlastet sie das Individuum von dem Gefühl, für alles verantwortlich sein zu müssen und zu können. Für Wolfram entspricht das Annehmen der eigenen Lebensbedingungen einer ethischen Haltung, aus der Verantwortung für das Ganze entstehen kann. Diese Verantwortung kann jedoch nur entstehen, wenn man sich bewusst in Beziehung setzt zu den Menschen, zu der Umwelt, zu der Natur. Diese Perspektive betrifft auch die Wissenschaft, die, so Wolfram, weg sollte von den „vereinzelten Teiluntersuchungen“ (489) zugunsten der Verbundenheit der Teile. Die Aufforderung dieser Erkenntnisse und des Lebens schlechthin besteht für ihn letztlich darin, „lebendig“ zu sein, das heißt, das Leben in all seiner Bandbreite kennenzulernen und auszuprobieren. Die Bewusstmachung des eigenen Lebensflusses mit all seinen Möglichkeiten ist für ihn die Basis, um eigene Entscheidungen verantwortungsbewusst zu treffen. Hierzu gehört aber auch, den Mut zu haben, in dieses Leben einzutauchen. „[…] Meine Tochter zum Beispiel, die macht jetzt ein Praktikum in Argentinien, Buenos Aires, zwei Monate und hat sich jetzt gerade natürlich noch in einen Argentinier verliebt und finde ich toll. Also auch wenn mein Vaterherz denkt, oh Gott, und hoffentlich bleibt sie da nicht da und was wird da nur und Argentinien und lieber Himmel, dieses Moloch da. Aber auf der anderen Seite, klasse, und schau einfach was passiert und wenn du da bleibst und dich verliebst, dann bleibst du halt da und guck dann weiter oder vielleicht fährst du wieder zurück und lernst einen Chinesen kennen, weiß der Teufel, ist doch egal, mach einfach und freu dich und sei lebendig …“ (533-540).

Formen der individuellen Möglichkeiten basieren für ihn auf gesellschaftlichen Öffnungs- und Schließungsprozessen, also sie werden „auch getragen von einem Feld“ (363). Diese können fördernd, aber auch behindernd auf die Individuen einwirken und neue naturwissenschaftliche Erkenntnisse weisen, so Wolfram, inzwischen darauf hin, dass diese Felder einen großen Einfluss auf menschliche Denk- und Handlungsstrukturen haben.

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(3) Interpretativer Blick auf den Individualisierungsprozess Auffallend an Wolfram Blumbergs Erzählung sind die beiden diskursiven Ebenen, die er gleichermaßen einnimmt. Eine Ebene erzählt seinen biografisch angeordneten Werdegang, die andere Erzählebene diskutiert die Frage, ob und wie Entscheidungssituationen von Menschen in der Moderne wahrgenommen werden können bzw. wie Menschen ihre Lebensbedingungen wahrnehmen. Seine eigenen Erfahrungen dienen ihm hierbei als empirisches Anschauungsmaterial. In dieser Gegenüberstellung kommt er schnell zu seinem zentralen Motiv in der Erzählung: der Suche nach individuellen Entscheidungs- und Gestaltungsmöglichkeiten im eigenen Lebensentwurf, die zum eigenen Glück beitragen können. Diese Suche basiert auf seiner Überzeugung, „wie illusorisch die Vorstellung ist, ja, wenn ich das hätte, dann wäre ich glücklich“ (166).14 Die in der Moderne proklamierte Erweiterung von Entscheidungsoptionen lässt sich für ihn nicht umstandslos in die Erweiterung von Handlungsoptionen übersetzen. Ebenso wenig lässt sich die Erweiterung von Optionen mit der Vorstellung verbinden, dass die Individuen durch diese Erweiterung glücklich(er) und zufrieden(er) sind. Diese Überzeugung basiert auf seiner eigenen Erfahrung, dass – trotz der Erfüllung gesellschaftlich vorgegebener Ziele – sein Leben in eine Sackgasse geriet. Diese grundlegenden Erfahrungen haben ihn veranlasst, nach Lebens- und Arbeitsformen zu suchen, die seinem Leben einen Sinn geben. Diese Sinngebung kann nur er selbst für sich entwickeln, ihre Verwirklichung hängt jedoch wiederum von Konstellationen ab, die diese begünstigen können. Entscheidend ist für ihn die bewusste Haltung, die das Individuum im Rahmen seiner Lebensumstände einnimmt. Diese Haltung entscheidet letztlich darüber, wie Optionen wahrgenommen und umgesetzt werden können. Diese unterschiedlichen Ebenen diskutiert er entlang seiner Biografie, über die er im Rückblick sagt, dass sich sein Leben „schicksalhaft ergeben“ (161) hat. Wolfram argumentiert hierbei dezidiert, dass die Wendepunkte seines Werdegangs faktisch nie auf seinen eigenen Entscheidungen basierten. Im Gegenteil, Wendepunkte in seinem Lebenslauf entstanden eher dadurch, dass sich seine intendierten Konzepte gerade nicht realisiert haben.

14 | Diese Vorstellung wird als Mythos in den überlieferten Geschichten und Märchen aller Kulturen erzählt. Exemplarische Geschichten aus dem mitteleuropäischen Raum sind die Märchen der Gebrüder Grimm, in denen dieses Motiv immer und immer wieder erzählt wird. In diesen Geschichten wird der (hinterlistige) Wunsch nach materiellem Besitz, nach Macht und grenzenloser Freiheit dem Mut und der Authentizität einzelner Männer und Frauen gegenübergestellt, die sich diesen Vorstellungen individuell widersetzen und durch den Vollzug eines inneren und äußeren Bewusstwerdungsprozesses am Ende Glück und Zufriedenheit erlangen (Kast 2000).

5. Darstellung der empirischen Ergebnisse

Als Kind einer Künstlerfamilie ist er im relativ wohlhabenden Milieu aufgewachsen, allerdings mit dem Preis, dass er keine stabilen Strukturen in seinem Umfeld auf bauen kann, da die Familie „alle zwei bis drei Jahre umgezogen“ (19) ist. Als Kind und Jugendlicher macht er die Erfahrung, dass er eigentlich wenige Einflussmöglichkeiten auf den äußeren Verlauf seines Lebens hat. Er muss sich seinen spezifisch familiären Rahmenbedingungen beugen und hat regelmäßig für die Versetzung von Klasse zu Klasse „gekämpft“ (31). Als Student schließt er sich in den 1970er Jahren in einer Mischung „aus persönlichen Auf begehren und einem politischen Auf begehren“ (45-46) der politischen Studentenbewegung an und treibt, nach eigenen Angaben, über diese „linke Schiene“ (44) den Loslösungsprozess von seinen Eltern voran. Aufgrund seiner intensiven Auseinandersetzung mit sich selbst in späteren Jahren reflektiert er sein politisches Engagement während seiner Studentenzeit auch als „persönliche[s] Auf begehren“ (46), das mit den studentischen Protesten gegen Obrigkeiten zusammenfällt. Das politische Klima dieser Zeit sowie seine materiellen Rahmenbedingungen eröffnen ihm allerdings die Möglichkeit, „viele Sachen“ (57) zu machen und die „Freiheit“ (57) des Studentenlebens dieser Jahre zu genießen. Diese Freiräume bewertet er als sehr wichtig für seine Entwicklung, da sie die Möglichkeiten bieten, vielseitige Seiten des Lebens kennenzulernen. Er muss sich früh von seinen Plänen verabschieden, Medizin zu studieren und versucht, über Alternativen einen Weg zu seinem Wunschfach, der Psychiatrie, zu finden. Dies gelingt ihm jedoch nicht, er bewirbt sich für andere Disziplinen, die er auch abschließt. Aber auch mit diesen Fächern erlangt er zunächst nicht das, was er in seinen Plänen anvisiert. Über Umwege beginnt er seine berufliche Lauf bahn in einer großen Bank, wo er fast zwanzig Jahre EDV-Projekte bearbeitet. Er folgt den gesellschaftlich vorgegebenen Pfaden einer männlichen Biografie: beruflicher Aufstieg, Ehe und Familiengründung und empfindet dieses Leben für sich nach einigen Jahren als „Falle“ (107). „[…] und dann hab ich mich aber in einer Falle empfunden. Und in der Falle, da war auch keine Freiheit. Ich hatte dann eine Frau und ein Kind und eine Wohnung, die bezahlt werden musste und ich war unglücklich dann in der Bank und hatte das Gefühl, dass mein ganzes Leben eigentlich falsch ist“ (108-111).

Obgleich er die normativen gesellschaftlichen Erwartungen im Hinblick auf eine männliche Biografie in hohem Maße erfüllt, fühlt er sich auf einer inneren Ebene „verzweifelt“ (120) und von diesen Umständen gänzlich entäußert. Er fühlt sich aufgefordert, sich mit diesen Ambivalenzen auseinanderzusetzen und beginnt mit psychotherapeutischen Ausbildungen sowie Körperarbeit und stärkt auf diesem Wege seine Wahrnehmung für eigene Visionen sowie seine individuellen Bedürfnisse. Darüber hinaus lässt er sich auf eine außereheliche Beziehung mit einer verheirateten Frau ein, die er über viele Jahre führt. Aber

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diese Entscheidungen stellen keine langfristigen Lösungen seiner festgefahrenen Situation dar. Im Gegenteil, es wird hier deutlich, dass Entscheidungen und ihre Umsetzungen ebenfalls in einen sozialen Kontext eingebettet sind, die von den Menschen selbst nicht forciert werden können. So setzt er mit seinen Handlungen zwar eine Dynamik in Gang, ist jedoch außerstande, die Konsequenzen dieser Entscheidungen im Rahmen seiner kognitiven Lebensentwürfe nach außen umzusetzen, „und der Zug musste erst noch eine Weile fahren, bis das möglich war“ (386). Über viele Jahre führt er ein anstrengendes Doppelleben, was er selbst intensiv reflektiert und im Hinblick auf (s)eine Sinnstruktur aufarbeitet. Er erkennt auf einer tiefen Ebene für sich, dass jedes Individuum in seinem Leben einen Platz hat und jede Entscheidung in einen „Prozess“ (395) eingebettet ist. Diese persönliche Erfahrung ist für ihn Sinngebung und Kraftquelle gleichermaßen. „[…] und das ist mein Bild, also ich sehe mich – also das Thema Prozess ist für mich ganz wichtig – ich sehe mich als einen Prozess, das ist so wie ein – ja ich habe das so im Kopf, wie so eine Amöbe, die dann zwischen einer Million von anderen Amöben sich so bewegt und ja, ich kann einfach nur dahin gehen wo Platz ist und dann stoßen die mich auch an und dann kann ich nicht plötzlich woanders sein. Auch wenn ich mir das wünschen würde, also ich habe einfach immer einen bestimmten Platz zu einer bestimmten Zeit mit bestimmten Fähigkeiten …“ (394-399).

Dieses Bild versinnbildlicht in hohem Maße auch eine spirituelle Komponente für ihn, die in seinem Leben zunehmend an Bedeutung gewinnt. So ist die Stellung des Individuums in seinem eigenen Lebensfluss für Wolfram in gewisser Weise festgelegt, das heißt, das Individuum befindet sich in einer spezifischen gesellschaftlichen Konstellation, mit all seinen individuellen Fähigkeiten und Anlagen. „[…] Das ist für mich auch das Bild von Gott, wenn du so willst. Dass ich da einfach leben will, das sein Platz an diesem Ort hat und mit dem, was gerade ist …“ (401-402).

Das Individuum kann aus seiner Sicht zunächst nicht rational darüber entscheiden, ob es diesen Platz wechseln will oder nicht. Es kann jedoch eine innere, bewusste Haltung zu dieser Konstellation einnehmen. Genau diese Haltung macht es für das Individuum erst möglich, individuelle Freiheitsräume im Rahmen dieser Konstellation zu erkennen und sich in einen Veränderungsprozess hineinzubegeben. Gerade das Erkennen der eigenen Begrenzungen, aber auch der eigenen Möglichkeiten in diesem vorgegebenen Rahmen ist für Wolfram ausschlaggebend, um der Frage nach der sinnhaften Deutung des eigenen Lebens nachzuspüren.

5. Darstellung der empirischen Ergebnisse

Auf bauend auf seinen Perspektivenwechsel, den er in kleinen Schritten langsam vollzogen hat, bewegt er sich in seinen Veränderungsprozess hinein. Durch eine neuerliche Fügung, das Angebot eines großzügigen Erbanteils durch seine Mutter, beschleunigt sich dieser Prozess jedoch in ungeahntem Maße. Er kommt „plötzlich in eine finanzielle Freiheit“ (148) hinein, die es ihm erlaubt, seinen Perspektivenwechsel auch auf der äußeren Ebene zu vollziehen. Dieses Ereignis führt er nicht auf eine individuelle Entscheidung oder gar eine Befähigung zurück, sondern auf einen glücklichen Zufall. „[…] Und ich glaube, dass das einfach Glück ist und ich glaube, dass es Menschen gibt, die haben das Glück einfach nicht und denen ginge es genauso wie mir und die hatten das Glück nicht, ja …“ (181-190).

Wolfram Blumberg hat in einem reflexiven Prozess über sich, seinen Lebensweg, seine kognitiven Vorstellungen, aber auch das Prinzip des Leben selbst eigene Handlungsstrategien entwickelt und sich langsam aus denjenigen Lebensumständen befreit, die aus einer gesellschaftlichen Perspektive für Männer vorgesehen sind. Dabei betont er, dass diese Strategien nicht alleine auf rationaler Basis stattfinden können, sondern auch einer physischen, psychischen und geistigen Grundlage bedürfen. Die gleichmäßige Ausbildung dieser Grundlagen stellt für ihn den entscheidenden Entwicklungsprozess dar, aus dem heraus reelle Gestaltungsspielräume entstehen können. Hierbei ist von großer Relevanz, dass jede Entscheidung Konsequenzen nach sich zieht, die nicht nur aus einer Perspektive bewertet werden können. Der bewusste Umgang mit diesen Konsequenzen stellt für ihn die Grundlage der moralischen und ethischen Verantwortung der Menschen in ihrem Leben dar.

Fazit Wolfram Blumbergs Rückblick stellt auf einer äußeren Ebene ein gelungenes Beispiel für die inhaltlichen Implikationen des Individualisierungstheorems dar. Im Rahmen seines eigenen Individualisierungsprozesses ist er in der Lage, sich aus vorgegebenen Erwartungen und Rollen sowie deren normativen Konzepten zu lösen und langsam in eigene, selbstgewählte Lebensentwürfe und -visionen hineinzuwachsen. Diese Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten führt er auch auf die spezifisch historischen Rahmenbedingungen dieser Zeit zurück, die ihm vielfältige politische, soziale und kognitive Optionen in Aussicht stellen. Diese Optionen beziehen sich unter anderem auf vereinfachte Scheidungsmodalitäten, auf Berufs- oder Ortswechsel sowie die Ausbildung individueller religiöser Anbindungen. Sie stellen für ihn zunächst institutionalisierte Räume dar, die Wolfram die faktische Möglichkeit der Veränderung des eigenen Lebenskonzeptes in Aussicht stellen. Als exemplarisch

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werden hierbei für ihn die 1970er und 1980er Jahre, in denen die gesellschaftlichen Bedingungen durch Öffnungsprozesse im Hinblick auf liberale Lebensformen geprägt sind. Diese Öffnung zeigt sich für Wolfram Blumberg in besonderem Maße in seiner Studienzeit, in der er seine Freiheiten genießt und Auszeiten sowie offene Prozesse im Hinblick auf seine Interessen in Anspruch nimmt. Gleichzeitig war die Zeit „politisiert“, das heißt, er macht sich viele Gedanken um seine eigene Position sowie seine individuelle Verantwortung im gesellschaftlichen Gefüge. Dieses Interesse hat ihn nie verlassen und prägt seine neuen beruflichen Orientierungen. Wolframs Beispiel stellt aber auch einen radikalen Perspektivenwechsel der Individualisierungsthese dar. Er widerlegt entschieden die implizite Denkfigur der These, dass steigende Optionen in die rationale Entscheidungs- und Gestaltungsmacht von Individuen gelegt werden. Für ihn stellen diese Optionen lediglich die Rahmenbedingungen der conditio humana in modernen Gesellschaften dar. Diese unterscheiden sich zwar empirisch von vergangenen gesellschaftlichen Lebensbedingungen, zentral bleibt jedoch, ob und wie diese von den Individuen wahrgenommen werden (können). Seine Geschichte erzählt hierbei eindrücklich, wie wenig ihm die Erfüllung gesellschaftlicher Vorgaben Zufriedenheit vermittelt hat. Er fühlte sich durch die Erfüllung dieser männlich geprägten Rollen „entfremdet“ (Jaeggi 2005) und hat sich in einen langen Prozess der Reflexion und Selbsterfahrung hineinbegeben, um zu seiner Berufung zu finden. Allerdings – und hier widerspricht er ebenfalls vehement der Individualisierungsthese – sind die Möglichkeiten der Entscheidung und Gestaltung, ähnlich wie die Individuen selbst, in einen Lebensfluss eingebettet und können nicht forciert werden. Sie gelangen dann zu ihrer Entfaltung, wenn die Zeit für diese Entscheidungen gekommen ist. Sie unterliegen vielfältigen Prozessen, dem physischen, psychischen und geistigen Vollzug der Entscheider selbst sowie den Zufällen und Gegebenheiten, die den äußeren Rahmen dieser Entscheidungen bilden. Am eigenen Beispiel resümiert er, wie lange er für den Vollzug seines Perspektivenwandels in seinem eigenen Leben gebraucht hat. Dieser Prozess war einerseits von seinem kompromisslosen Engagement der Selbstbegegnung geprägt, am Ende jedoch auch von vielen Zufällen und Geschicken, auf die er selbst keinen Einfluss mehr hatte. Für ihn zählt im Rückblick, dass er sich aus familiären und gesellschaftlichen „Prägungen“ herausschälen konnte und das entwickeln konnte, was sein innerstes Anliegen ist: das Leben so gestalten zu können, dass er Zufriedenheit darin findet. In diesem Werdegang hat er „Glück“ gehabt, was nach seiner Ansicht viele andere Menschen nicht haben. In seiner neuen beruflichen Ausrichtung geht es ihm aus diesen Gründen genau um die Umsetzung seiner eigenen Lebenserfahrung: die bewusste Achtsamkeit seiner eigenen Denk- und Handlungsstrukturen so zu schulen, dass daraus Zufriedenheit

5. Darstellung der empirischen Ergebnisse

und Gestaltungsmacht für den eigenen Lebensentwurf entstehen kann. Zufriedenheit als Lebenskonzept stellt für ihn allerdings eindeutig eine kognitive und bewusste Ausrichtung dar, die unabhängig von äußeren, also objektiven Rahmenbedingungen stattfindet.

5.5 E xempl arische B eispiele für I ndividualisierung : E ine Z wischenbe tr achtung Sowohl die vier vorgestellten als auch alle weiteren Erzählungen im Sample stellen Beispiele für Individualisierungsprozesse dar, die sich im Rahmen der letzten drei Jahrzehnte vollzogen haben. Was auf einen ersten und flüchtigen Blick überrascht, ist die Vielfalt sowie die Komplexität der Individualisierungsprozesse, die sich im Rahmen dieser empirischen Beispiele nachvollziehen lassen. Tatsächlich scheint sich in allen Erzählungen auf der individuellen Ebene der ursprüngliche Gebrauch des lateinischen Begriffs „individuum“, das „Unteilbare“, die letzte kleinste Einheit in einem Ganzen, zu realisieren. So können das Individuum selbst sowie die Ausbildung seiner individuellen Lebensform in den Erzählungen auf einer basalen Ebene als die „Existenz einzelner Seiender, die voneinander unterschieden sind“ (Bösch 2011: 1227) betrachtet werden. Was bei dieser Unterscheidung tatsächlich modern ist, ist der Blick auf die Einzigartigkeit des Individuums, der sich im Rahmen sozialphilosophischer und religiöser Begründungen seit der Renaissance im mitteleuropäischen Raum deutlich verändert hat (Luhmann 1997, 1989; Weber 1976; Pott 1995). Mit diesen Veränderungen wird es möglich, das Individuum mit all seinen individuellen Fähigkeiten und seinen sozialen Bezügen als „einzigartig“ und als „unabhängig“ von seinen sozialen Einbettungen und Prägungen zu betrachten. Auf der Basis des Samples wird genau dies deutlich: trotz ähnlicher institutionalisierter Vorgaben für die Lebenswege können die individuellen Ausprägungen dieser Lebenswege sehr unterschiedlich sein. Gleichzeitig spiegelt die Entfaltung der Individualität als innere Ausrichtung der Individuen genau diese moderne Denkstruktur wider. Die Frage, ob und wie diese Ausrichtung durch gesellschaftliche Vorgaben wie beispielsweise durch eine steigende Vielfalt von Entscheidungsbezügen herausgefordert und beeinflusst wird, berührt eine Reihe von analytischen Ebenen. Diese erlauben es – basierend auf den vorliegenden empirischen Ergebnissen – allerdings zunächst kaum, strenge kausale Bezüge zwischen der „subjektiven“ und „objektiven“ Ebene herzustellen (vgl. Kap. 6). Gleichzeitig weist gerade die Vielfalt individueller Lebensbezüge auch auf basale Gemeinsamkeiten hin, die die Individuen sowohl in ihrer Eigenschaft als Menschen als auch in ihrem Eingebundensein in gesellschaftliche Strukturen verbindet. Alle Individuen werden in spezifisch familiäre Strukturen hin-

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eingeboren, wachsen in mehr oder weniger definierten Klassenstrukturen auf und müssen sich – im Rahmen aktueller Gesellschaftsformationen – durch Erwerbsarbeit eine materielle Existenzbasis auf bauen. Diese biografische Struktur gilt auch zunehmend für Frauen, wie die weiblichen Lebensentwürfe im Sample zeigen. Gerade für die 1970er und 1980er Jahre zeigt sich, dass soziale Umbrüche stattfinden und Frauen aus unterschiedlichen Gründen ihre Lebensentwürfe immer weniger im Rahmen patriarchal geprägter gesellschaftlicher Bedingungen entwickeln wollen und können.15 Freilich zeigen diese Umbrüche, wie in vielen Studien ebenfalls dargestellt, Veränderungen innerhalb der Geschlechterverhältnisse in der bundesdeutschen Gesellschaft (vgl. Kap. 2) auf. Neben dem biografisch institutionalisierten Ablauf in modernen Gesellschaften gilt es jedoch auch, Lebensphasen zu durchlaufen und sich mit vitalen Prozessen des Lebens – wie zum Beispiel Partnerschaften, Erfahrungen des Scheiterns, Krankheiten und Tod – auseinanderzusetzen. Diese Auseinandersetzung findet im Sample signifikant entlang der Themen „Selbstfindungsprozesse“ oder etwa „Suche nach den ‚eigenen‘ Lebensentwürfen“ statt. Die befriedigende und existenzsichernde beruflichen Positionierung steht hierbei bei nahezu allen Interviewpartnerinnen und -partnern im Vordergrund. Zwei Personen bilden im Sample eine Ausnahme: beide sind verheiratet und durch den Status als verheiratete Personen über ihre Ehegatten materiell abgesichert und arbeiten in Teilzeit.16 Dennoch spielt auch für sie die berufliche 15 | Wie in vorangehenden Kapiteln schon dargestellt, ist dieser soziale Wandel Gegenstand feministischer Forschung im Rahmen soziologischer Betrachtungen geworden. Ausgehend von den jeweils unterschiedlichen Sozialstrukturen in den verschiedenen Ländern haben sich hierbei auch unterschiedliche Fragestellungen im Hinblick auf weibliche Lebensbedingungen ausgebildet. Im angelsächsischen Raum sind dies Themen wie „Gender“, „Class“ und „Ethnicity“ während in der skandinavischen Debatte Themen wie „Social Policy and Work Life Balance“ in den Vordergrund gerückt wurden (vgl. etwa Becker-Schmidt, Knapp 2000; Gunnarsson et al. 2003). 16 | Die rechtliche Grundlage für diesen Status ist das wissenschaftlich und politisch umstrittene „Ehegattensplitting-Gesetz“. Der Begriff stammt aus dem „deutschen Einkommensteuerrecht und beschreibt den für Ehepaare zusammenveranlagt anwendbaren Steuertarif. Rechtsgrundlage ist § 32a, Abs. 5, EStG. Hierbei wird das folgende Verfahren angewendet: 1) Das zu versteuernde Einkommen (zvE) der Ehegatten wird ermittelt und halbiert (gesplittet); 2) Für das halbierte zvE wird die Einkommensteuer nach dem geltenden Einkommensteuertarif berechnet; 3) Die so errechnete Einkommensteuer wird verdoppelt. Dieses Splittingverfahren bewirkt, dass das zu versteuernde Einkommen (zvE) zu gleichen Teilen auf beide Ehegatten verteilt wird. Hierdurch wird das Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit nicht auf den einzelnen Ehegatten, sondern auf das Ehepaar als Wirtschaftsgemeinschaft angewendet. Welcher der

5. Darstellung der empirischen Ergebnisse

Verwirklichung im eigenen Lebensentwurf eine zentrale Rolle. Diese Themen repräsentieren vor diesem Hintergrund auch die spezifischen zeitlichen und räumlichen Dimensionen der gesellschaftlichen Entwicklung, in der diese Erzählungen stattfinden. Diese Beobachtungen sowie die Beziehungsstrukturen im Sample bestätigen zunächst die schlichte Definition des Individualisierungstheorems, dass es sich hier zunächst um die Einbindung des Individuums in eine historisch spezifische Zeitspanne handelt (vgl. Kap. 2). Individualisierungsprozesse spiegeln vor dieser Denkfigur die jeweils spezifischen historischen Rahmenbedingungen wider, mit denen sich die Individuen auseinandersetzen können und müssen. Diese Spiegelung findet im vorliegenden Sample auf der Basis der gesellschaftlichen Öffnungsprozesse statt, die sich vor allem im Bereich der Bildung, der Geschlechterbeziehungen sowie in der liberalen Lebenskultur vollziehen, die sich im Anschluss an die 1970er Jahre in der BRD herausgebildet hat. Diese gesellschaftliche Dynamik kann nach den Erzählungen durchaus als Öffnungsprozess beschrieben werden, da sie Raum und Zeit für individuelle Suchprozesse ermöglicht haben. Ein herausragendes Moment in allen Erzählungen ist die Reflexion auf den eigenen Lebensweg, den alle Interviewpartnerinnen und -partner im Rahmen ihres Rückblicks in unterschiedlicher Form und Tiefe praktizieren. In der Regel werden diese Reflexionsprozesse durch Krisensituationen ausgelöst, die genau dadurch gekennzeichnet sind, dass sich vermeintlich offene Entscheidungsbezüge im Hinblick auf Vorstellungen und Visionen gerade nicht realisiert haben. Diese Nicht-Realisierung von Entscheidungsbezügen führt notwendigerweise zu Suchprozessen, die den reflexiven Blick auf die eigene, individuelle Situation schärft. In den meisten Erzählungen vollzieht sich dieser Blick anhand der „Selbstbegegnung und Selbstbeschreibung“ (Luhmann 1998), was im Rahmen des empirischen Feldes die Auseinandersetzung mit den eigenen familiären Wurzeln, mit den eigenen Lebensbedingungen sowie der Konfrontation mit sich selbst meint. Konsequenterweise erweisen sich hier unterschiedliche Formen der psychologischen Begleitung als die adäquate Form, um diese reflexiven Prozesse anzustoßen und zu vollziehen. So wurde – bis auf eine Ausnahme im Sample – psychologische und therapeutische Begleitung in Anspruch genommen, um sich aus alten Bindungen zu lösen und Schritt für Schritt in neue kognitive und praktische Lebensvisionen und -strategien hineinzuwachsen (vgl. Kap. 6). Insgesamt weisen die Individualisierungsprozesse der empirischen Untersuchung auf eine Reihe von Aspekten hin, die im Rahmen makrosoziologischer Betrachtungen wenig berücksichtigt werden. Mit der Intention der konEhegatten wie viel zum ehelichen Gesamteinkommen beigetragen hat, ist unerheblich“ (http://de.wikipedia.org/wiki/Ehegattensplitting vom 09.09.2013).

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Strategien der Individualisierung

zeptionellen Erweiterung der Debatten zum Individualisierungstheorem wird diesen Aspekten auf der Basis der Ergebnisse der empirischen Untersuchung im Folgenden besondere Aufmerksamkeit geschenkt.

6. Die blinden Flecken der Individualisierungsdebatten Ergebnisse aus der empirischen Untersuchung

6.1 S elbstbegegnung als A usgangspunk t von I ndividualität Der konzeptionelle Ausgangspunkt der explorativen Untersuchung war die Frage, wie sozialstrukturelle Erwartungen individualisierter Gesellschaften von Individuen wahrgenommen und in ihre Lebensverläufe integriert werden. Hierbei wurde das Augenmerk auf die spezifische Frage gelegt, wie wachsende gesellschaftliche Handlungsoptionen von den Individuen wahrgenommen und in die Gestaltung ihrer Lebensläufe umgesetzt werden. Die Erwartung, dass die Befragten aufgrund steigender gesellschaftlicher Optionen eine Vielzahl von zu bewältigenden Entscheidungen wahrnehmen, leitete hierbei die empirischen Fragestellungen, wobei die Überprüfung der Arbeitsthese aus einer subjektorientierten Perspektive durchgeführt wurde. Dieser Ansatz wurde explizit offen und ohne vordefinierte Deutungsstrukturen angelegt und hatte zum Ziel, Individualisierungsprozesse in ihrer subjektiven Relevanz zu erkunden. Durch dieses Vorgehen wurde es möglich, zu „subjektiven Sinnkonstruktionen, zu Verarbeitungsmustern, Planungsentwürfen, Realitätskonstruktionen der handelnden Subjekte“ (Born et al. 1996:45) zu gelangen, die sich in den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen spiegeln. Während in der Literatur die Gegenüberstellung von „subjektiven“ und „objektiven“ Indikatoren die Grundidee eines Überprüfungskonzeptes von Individualisierungsprozessen darstellt, wurde im konzeptionellen Ansatz der vorliegenden Arbeit die Ausbildung der und die Reflexion über die Individualität als ein subjektiver Vollzug beleuchtet. Dieser findet im Individuum als ein Bewusstseinsprozess statt, bei dem auf die äußere Ebene – gesellschaftliche Rahmenbedingungen und Entscheidungsoptionen – mit den eigenen Erwartungen und Wünschen reagiert wird. Diese Prozesse sind in den ersten Entwicklungsphasen in die vielfältigen Sozialisationsprozesse der Individuen

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Strategien der Individualisierung

eingebettet und beinhalten bewusste Lernprozesse genauso wie unbewusste. Die Aneignung sozialer Rollen und Erwartungen werden im Lauf des Lebensvollzugs von den Individuen in ein subjektives Individualitätskonzept integriert, das in der Rückschau reflektiert wird. Die empirischen Ergebnisse bestätigen in hohem Maße die konzeptionellen Annahmen der Arbeit (vgl. Kap. 3). Individuelle Formen der Reflexion erscheinen in allen Interviews als die zentralen Strategien, um die äußere Welt mit den inneren Vorstellungen, Erwartungen, Enttäuschungen zu überprüfen, abzugleichen und gegebenenfalls in Handlungskonzepte umzusetzen. Strategien der Reflexion beziehen sich hierbei auf zwei Ebenen: erstens auf die Reflexion der eigenen Individualität, das heißt die Reflexion der Frage nach dem „Leben aus dem eigenen Wurzelpunkt“ (Nunner-Winkler 1985:471) beziehungsweise der eigenen Individualität. Zweitens beziehen sich Strategien der Reflexion auf die Harmonisierung der eigenen Individualität mit sozialen Strukturen, in die die Individuen eingebettet sind. Diese sind biografisch angeordnet und beziehen sich auf Familienstrukturen, Bildungsinstitutionen, Arbeitsmarkt, Freundeskreis und vieles mehr. Was jedoch in diesen Strukturen als relevant erscheint, ist die Frage, ob und wie die reflexive Wahrnehmung der eigenen Individualität den Individuen Gestaltungs- und Handlungsmöglichkeiten in diesen vielfältigen Kontexten eröffnet. Der Bezug auf die kognitive Wahrnehmung von Handlungsmöglichkeiten in den Erzählungen erscheint hierbei als Ausgangspunkt für die faktische Umsetzung von Handlungen. Es scheint also nicht entscheidend zu sein, welche mögliche Vielfalt an gesellschaftlichen Optionen den Interviewpartnerinnen und -partnern prinzipiell zur Verfügung steht, sondern welche Handlungsoptionen sie in ihren Lebensbezügen wahrnehmen und im Rahmen ihrer eigenen individuellen Möglichkeiten umsetzen können. Diese faktische Umsetzung ist von vielen Implikationen abhängig und reicht von sozialen, psychischen und geistigen Dispositionen der Interviewpartner bis hin zur schlichten Notwendigkeit „günstiger“ Umstände im Rahmen der biografischen Erwartungen und Ereignisse. Wie alle Erzählungen zeigen, entstehen die Impulse für Handlungsstrategien nicht notwendigerweise aus dem (Über-)Angebot gesellschaftlicher Optionen. Im Gegenteil entspringen in den meisten Erzählungen der Wunsch und das innere Bedürfnis, Entscheidungen und somit Handlungsstrategien zu vollziehen, gerade durch die faktische Nicht-Realisierung von kognitiven Entscheidungsmöglichkeiten (vgl. Kap. 5). Das heißt, Pläne, Intentionen und Vorstellungen über den weiteren Verlauf des Lebens realisieren sich aus unterschiedlichsten Gründen gerade nicht. Die Interviewpartnerinnen und -partner wurden hierbei aufgefordert, über Alternativen nachzudenken oder/und diese für sich zu entwickeln. In vielen Fällen spielten in diesen Entscheidungs-kontexten allerdings auch der Zufall oder unvorhergesehene Ereignisse eine große

6. Die blinden Flecken der Individualisierungsdebatten

Rolle, die dem Lauf des Lebens eine ungeplante Richtung verlieh. Darüber hinaus führten vielfältige Schicksalsschläge, Krisensituationen sowie die Erkenntnis eigener Unzulänglichkeiten in allen Erzählungen zu vielseitigen Formen des Nachdenkens über sich selbst und der Bewertung der eigenen „Lebensgeschichte“. Diese wurde in allen Fällen in einen größeren (Lebens-) Zusammenhang gestellt, der Fragen nach dem Sinn der Lebensgestaltung mit einbezog. Hierbei werden auch Themen angesprochen, die im Rahmen der Debatten um Individualisierungsprozesse nicht oder wenig berührt werden wie beispielsweise emotionale Wahrnehmungsformen von Individuen in der biographischen Gestaltung. Aus diesen Gründen wird im Folgenden auch auf aktuelle Literatur verwiesen, die diese Themen im Rahmen aktueller Gesellschaften bearbeitet, jedoch nicht unbedingt im Kontext von Individualisierungsprozessen. Auf einer äußeren Ebene spiegeln die Ergebnisse die historischen gesellschaftlichen Verhältnisse der 1980er Jahre wider und weisen auf politisch liberale Wendepunkte hin, die im Zuge der Neuen Sozialen Bewegungen entstanden. Was für diese gesellschaftliche Zeitspanne in einem Großteil der Erzählungen sehr deutlich zu Tage tritt, sind individuelle Suchprozesse nach Lebensformen, die sich von den gesellschaftlichen Normen und Vorgaben der Elterngeneration deutlich distanzieren.1 Diese Prozesse verlaufen in vielen Erzählungen über biografische Zeiten der Offenheit und des „Ausprobierens“ von Lebensweisen beispielsweise in Phasen der Ausbildung, auf Reisen oder durch gemeinschaftliche Wohnformen. Diese Suchprozesse nach „alternativen“ Lebensentwürfen, scheinen für die 1980er Jahre charakteristisch zu sein und wurden im Rahmen soziologischer Beobachtungen als postmoderne Bewegungen für diese Zeit charakterisiert (Eberlein 2000).2 Die gesellschaft1 | Es gibt zwei Ausnahmen im Sample: Die Lebensverläufe eines Mannes und einer Frau bleiben von diesem soziokulturellen Wandel nahezu unberührt. Hier vollziehen sich die Lebenswege weitgehend nach dem von der Elterngeneration vorgegebenen Lebensmodell über berufliche Verwirklichung, Ehe, Familiengründung etc. Allerdings „gelingt“ dieser Entwurf nur in einem dieser Fälle. Die weibliche Erzählung ist geprägt durch unvorhergesehene Ereignisse, die die Interviewpartnerin zu einer Überprüfung dieses Entwurfs auffordern und sie dazu veranlassen – ähnlich wie in vergleichenden Erzählungen im Sample – sich langfristig in offene Suchprozesse zu begeben (vgl. Kap. 5). 2 | Diese Debatten sind in ihrer Vielfalt sowie in ihren kritischen Einlassungen beispielsweise im Rahmen der Verhandlungen des 25. Deutschen Soziologentags in Frankfurt am Main dokumentiert. Schon die 1960er bzw. die 1970er Jahre in der BRD, die durch die Außerparlamentarische Opposition (APO) geprägt waren, wurden in soziologischen Debatten als „postmoderne“ Bewegungen diskutiert. Im Gegensatz zu den in den 1980er Jahren entstehenden Neuen Sozialen Bewegungen waren die sogenannten Studentenproteste jedoch durch eine „einheitliche Weltbeschreibung“ (Luhmann 1991:101) ge-

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lichen Öffnungsprozesse sowie die Vielfalt der Lebenserfahrungen, die die Interviewpartner im Laufe ihres Werdegangs durchlaufen, sind hierbei, nach eigenen Angaben, von der individuellen Ausrichtung nach „Selbstverwirklichung“ geprägt. Der Begriff der „Selbstverwirklichung“ wird hier in der Konnotation von individuellen Suchbewegungen verwendet, die als ultima ratio ermöglichen sollen, sich „moralisch, ethisch als Mensch zu entwickeln“ (Interview 9, 441, Hervorh. B.-J. Krings). Diese weitgreifende Vorstellung kann als Resümee bei nahezu allen Interviewpartnern festgehalten werden und entstand aus einer synthetisierenden Perspektive auf den biografischen Verlauf, der im Rückblick akzeptiert und innerlich angenommen wurde.3 Der reflexive Blick auf die eigene individuelle Entwicklung ist bei den Interviewpartnern nicht von Anfang an angelegt. In frühen Phasen der Erzählungen dominieren eher familiäre und gesellschaftliche Erwartungen, auf die die Interviewpartner, nach eigener Einschätzung, bewusst oder unbewusst reagieren und agieren. Erste Brüche, Frustrationen oder auch Fehlschläge im Rahmen dieser Auseinandersetzung führen allmählich dazu, dass sich eigene, individuelle Vorstellungen über Lebensentwürfe herausbilden. Diese „arbeiten“ sich häufig gerade an familiären und gesellschaftlichen Erwartungen ab, wie beispielsweise an dem Wunsch der Eltern nach der Erfüllung bestimmter Bildungsziele oder Lebensentwürfe. Der Vergleich der eigenen Leistungen und Fähigkeiten mit familiären und gesellschaftlichen Erwartungen ist in allen Erzählungen präsent und im Großteil der Fälle mit Konflikten verbunden, die prägt, die soziale Interessen und Referenzen der herrschenden Klassen definierte und sich dazu (kritisch) positionierte. Diese eindeutigen Positionen wurden in den 1980er Jahren nicht aufrechterhalten. Die Neuen Sozialen Bewegungen als postmoderne Bewegungen konzentrierten sich hier auf vielfältige gesellschaftliche Zielvorstellungen wie beispielsweise Geschlechtergleichheit, ökologische Balancen u. v. m. und suchten den „Gang in die Institutionen“, was sich beispielsweise an der Institutionalisierung der Grünen Partei zeigte. Von gesellschaftstheoretischem Interesse erscheint hierbei der „Einstellungswechsel, der sich im Übergang von der ‚Dialektik der Aufklärung‘ zur Theorie der ‚Postmoderne‘ vollzieht“ (Honneth 1991:169). Dieser ist dadurch geprägt, dass „er den menschlichen Lebensvollzug von jeder Bindung an eine übergreifende Zweckvorgabe abkoppelt […] an die Stelle der Idee der ‚Selbstverwirklichung‘, die ja stets den theoretischen Bezug auf irgendein Ziel des Lebens voraussetzt, tritt hier die Vorstellung der experimentellen Selbsterfindung des Menschen“ (ebd., S. 169). Diese kommt ohne Zweifel im Konzept der Individualisierung zum Tragen, wurde in soziologischen Untersuchungen theoretisch und empirisch jedoch kaum ausgelotet (vgl. Kap. 2). 3 | Eine Ausnahme bildet eine Erzählung, deren Protagonistin zwar nach eigenen Angaben wenig mit ihrem biografischen Verlauf hadert, jedoch angesichts ihrer aktuellen Probleme nicht sehr optimistisch in die Zukunft blickt (vgl. Kap. 5).

6. Die blinden Flecken der Individualisierungsdebatten

dazu führen können, sich im Lichte dieser Erwartungen (selbst)kritisch zu sehen.4 Allerdings wird die Selbstkritik in den meisten Erzählungen durch krisenhafte Situationen ausgelöst. Diese Situationen sind vielfältig und reichen von schicksalshaften Ereignissen wie der Tod eines geliebten Menschen über die eigene Erfahrung des Scheiterns bis hin zum allmählichen Gewahr werden der eigenen Lebenssituation, die wenig mit eigenen Idealvorstellungen des Lebens gemein hat. In den meisten Erzählungen kommen hierbei Formen der Selbstbeobachtung und des Selbsterlebens zutage, die in einer eigenen individuellen Vorstellung von Freiheit geäußert werden und diese in den jeweiligen spezifischen Lebenskontexten auch anstreben. Diese Möglichkeit des „Über-sich-Verfügen-Könnens“ (Jaeggi 2005:50) formuliert beispielsweise Jaeggi ebenfalls für moderne Lebenskontexte als eine Vorstellung von Freiheit, deren Bewusstmachung der eigenen Individualität als erster wichtiger Schritt gelten kann.5 Die 4 | Der Weg nach innen als Ausdruck der modernen Identität wird – neben der „Bejahung des gewöhnlichen Lebens“ – von Charles Taylor als ein zentrales Charakteristikum neuzeitlicher Identität beschrieben. In seiner umfassenden Studie verweist er (erneut) auf die kognitiven Denkstrukturen, die das Selbstverständnis der Menschen seit der Entstehung des neuzeitlichen Abendlandes geprägt haben. „In unseren Sprachen spielt der Gegensatz „innen/außen“ eine wichtige Rolle. Unsere Gedanken, Vorstellungen oder Gefühle sind nach unserer Auffassung „in“ uns, während die Gegenstände in der Welt, auf die sich diese geistigen Zustände beziehen „draußen“ sind. Außerdem meinen wir, unsere Fähigkeiten oder Möglichkeiten seien etwas „Inneres“, das auf die Entwicklung wartet, durch die dieses Potentielle in der öffentlichen Welt kundgetan oder verwirklicht wird“ (Taylor 1996:207, Hervorh. im Original). Auch Luhmann bezieht sich in seinen Arbeiten auf dieses historische Erbe, das er – ähnlich wie Taylor – auf klösterliche Praktiken im ausgehenden Mittelalter zurückverfolgt: „Auch diese Bestimmung des Menschen zur Selbstreferenz oder durch das Vermögen zur Selbstreferenz hat Tradition – eine Tradition, die freilich nicht unter dem Begriffstitel ‚Individuum‘ gelaufen ist, sondern eher institutionellen und praktischen Zusammenhängen entstammt. So hat die Klostertheologie seit dem 12. Jahrhundert, vor allem auf Grund von Anregungen durch Abaelard (1079-1142), in Glaubensfragen und in ethischen Fragen Konsens des Menschen mit sich selbst gefordert“ (Luhmann 2008:122). 5 | Rahel Jaeggi verfolgt in ihrer sozialphilosophischen Studie die Intention, den sozialphilosophischen Gehalt des Begriffs der „Entfremdung“ in aktuelle soziale und diskursive Bezüge zu übertragen. Diese Intention verfolgt sie in einer Rekonstruktion des Begriffs „in doppelter Hinsicht: Einerseits gilt es, den Entfremdungsbegriff überhaupt in seiner Bedeutung zu vergegenwärtigen. Andererseits muss dieser auf dem Hintergrund der sich hier andeutenden Probleme systematisch neu interpretiert und begrifflich transformiert werden“ (Jaeggi 2005:13, Hervorh. im Original). Dieses Anliegen kann – auch im Sinne der vorliegenden Arbeit – für das Ausloten (neuer) Bezüge der

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Reflexion über die eigenen Rahmenbedingungen des „Über-sich-VerfügenKönnens“ (ebd., S. 50) ist hochindividuell und kann nicht in generalisierter Form auf andere Lebenskontexte übertragen werden. Die Strategie der reflexiven Rückbesinnung auf den eigenen Zustand, auf die eigene Individualität, wird hierbei als Ausgangspunkt für Veränderungen herangezogen. Hierbei findet die Umsetzung dieser Rückbesinnung nicht nur auf einer „äußeren“ Handlungsebene, also in einer Aneinanderreihung von Handlungen (und Entscheidungen) statt, sondern zunächst auf einer „inneren“ Wahrnehmungsebene. Diese Ebene „bearbeitet“ mögliche Handlungen ebenso wie eigene Verlusterfahrungen, Zufälle, oder glückliche Fügungen und übersetzt diese in einen biografischen Vollzug. Die kognitive Wahrnehmung der eigenen Potenziale und Begrenzungen spielt in der Ausbildung der eigenen Individualität eine herausragende Rolle. Diese Beobachtung zeigt sich in allen Erzählungen des vorliegenden Samples. So ist Luhmanns Einschätzung durchaus zu folgen, wenn er Individualität als „Wesensnatur“ (Luhmann 2008a:122) des Individuums voraussetzt, auf die in den wissenschaftlichen Debatten rekurriert wird. Wie oben jedoch vor allem im Rahmen der philosophischen Debatten hervorgehoben wird, kann die Qualität der Wesensnatur aus einer disziplinären Perspektive nicht beschrieben werden. Dies hat nach Luhmann zwar historisch dazu geführt, dass „es mit dem ‚homme universel‘, mit dem Menschen im Menschen, mit dem Allgemeinen als Kriterium bergab gegangen“ ist (ebd., S. 123).6 Tatsächlich stellt jedoch die Einordnung der eigenen Individualität in einen übergeordneten „Sinn“ durchaus einen zentralen Erfahrungswert vieler Erzählungen dar, der in der rückblickenden Betrachtung zum Tragen kommt.

Widerständigkeit und Freiheit im Rahmen kapitalistischer Systeme nicht hoch genug eingeschätzt werden. 6 | Ohne diese starke Bewertung im allgemeinen zu teilen, spricht Luhmann hier ein zentrales Thema an, das bei all der Betonung auf die Einzigartigkeit des Individuums aus dem (soziologischen) Blickfeld geraten ist: Der „homme universel“ ist für Luhmann die andere Seite der Medaille im Hinblick auf die Einzigartigkeit der Individuen. Die Betonung der Einzigartigkeit generiert ein tautologisches Problem: Wenn alle Individuen einzigartig sind/sein sollen, hebt sich Einzigartigkeit als besonderes Charakteristikum auf, da die Aufforderung zur Einzigartigkeit erstens einen Allgemeinzustand generiert, der wiederum übertroffen werden muss. Zweitens wird „Einzigartigkeit“ über soziale Erwartungen (Karrieren) und kulturelle Muster entschieden. Individuen sind also aufgefordert, diesen Erwartungen im „Copierverfahren“ (Luhmann 1998:220) Genüge zu leisten. Im Falle des Scheiterns findet allerdings – das zeigen auch die Erzählungen – die Rückbesinnung auf Vorstellungen des Menschen als „homme universel“ statt, das heißt die (religiöse) Eingebundenheit in einen (universell) vorgegebenen Lebensrahmen.

6. Die blinden Flecken der Individualisierungsdebatten

6.2 D ie blinden F lecken der I ndividualisierungsdebat ten Insgesamt weisen die Ergebnisse der empirischen Auswertung auf „blinde“ Flecken in den jüngeren soziologischen Individualisierungsdebatten hin, die im Folgenden auf der Basis der empirischen Ergebnisse skizziert werden. Die Ergebnisse zeichnen sich insgesamt dadurch aus, dass sie Individualisierungsprozesse in ihrer Vielfalt und in ihrer Konkretheit darstellen. Diese Form der Darstellung erlaubt es kaum, einheitliche negative und/oder positive Bewertungen im Hinblick auf das Verhältnis zwischen dem Individuum und der Gesellschaft vorzunehmen. Im Gegenteil verweisen sie eher auf die Selbstkonstitution des Individuums in seinem biografischen Verlauf (Junge 1996). Dieser wird zunächst lediglich als subjektiver Vollzug betrachtet. Dieser Vollzug ist in spezifische soziohistorische Bedingungen eingebettet, was aus einer konzeptionellen Sicht die These dieser Arbeit im Hinblick auf Individualisierung bestätigt. So können Individualisierungsprozesse als soziale Prozesse identifiziert werden, bei denen sich die „Art des Eingebundenseins des Individuums in die Gesellschaft verändert“ (Kippele 1998:15; vgl. auch Kap. 2). Das Erkenntnisinteresse bei der Analyse von Individualisierungsprozessen richtet sich hierbei immer auf das „Verhältnis von Individuum und Gesellschaft im Verlauf der Zeit“ (ebd., S. 15). Um dieses Verhältnis zu spezifizieren, müssen weiterführende Untersuchungen den Wandel sozialer Phänomene genauso einbeziehen wie den Wandel des kulturellen Selbstverständnisses der Individuen selbst. Allerdings können mit dieser übergeordneten Perspektive die drängenden Fragen des Individualisierungstheorems nicht befriedigend beantwortet werden. Diese beziehen sich auf Fragen nach sozialen Ausdrucksformen und Bewertungen dieser Individualisierungsprozesse. Diese können auf der Basis der subjektiven Wahrnehmungen von Individuen eruiert werden und nehmen in der vorliegenden Arbeit die „Frage nach ‚Freiheitsgraden‘ und ‚Restriktionen‘ menschlichen Handelns in den Blick [nimmt] “ (Poferl 2010:295). Die subjektorientierte Perspektive, die auf einer mikrosoziologischen Ebene angelegt wird, eröffnet vor diesen Fragestellungen einen empirischen Zugang zu der Analyse der Selbstkonstitution des Individuums. Individuum und Individualität fallen als Kategorien hierbei zusammen und werden als dynamischer Entwicklungsprozess untersucht. Zusammenfassend werden sie hier als Prozess der „Selbsterfahrung“ (Taylor 1996:208) der Individuen selbst angelegt. Hierbei zeigt sich, dass die Individuen zunehmend mehr aufgefordert werden, sich individuell mit ihren spezifischen Lebensbedingungen auseinanderzusetzen. Diese Aufforderung beinhaltet die reflexive Überprüfung der eigenen Bedürfnisse und der eigenen Möglichkeiten in sozial und zeitlich festgelegten Kontexten. Diese wurden im Rahmen der empirischen Untersuchung nachvollzogen. Dabei wurde in allen Erzählungen die Suche nach einem „eigenen

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Strategien der Individualisierung

Standpunkt“ (ebd., S. 209) in den unterschiedlichen Kontexten der Interviewpartnerinnen und -partner deutlich. Dieser Standpunkt bildet sich auf der Basis des subjektiven Vollzugs der inneren und äußeren Wahrnehmungsebenen und bezieht rationale Gesichtspunkte genauso mit ein wie soziale und moralische Aspekte. Vor diesen Annahmen werden im Folgenden vier Themenbereiche formuliert, die aktuelle Spannungsfelder im Rahmen von Individualisierungsprozessen beschreiben. Diese beziehen sich auf: (1) Soziologische Individualisierung und das psychologische Konzept der Individuation; (2) Rückbindung des Individuums in familiäre Strukturen; (3) Entscheiden und Handeln in Individualisierungsprozessen; (4) Therapeutische Praxis als ein reflexives Handlungsmodell. So wird auf der Basis der empirischen Ergebnisse dieser Arbeit nachfolgend ein Perspektivenwechsel auf Individualisierungsprozesse vorgestellt, der Impulse und Anstöße für weitere theoretische Reflexionen im Rahmen des Individualisierungstheorems geben soll.7

6.2.1 S oziologische Individualisierung und das psychologische Konzept Individuation „Wenn es um die Angabe der besonderen Merkmale eines Individuums ging, griff man deshalb nicht auf seine Individualität, sondern auf seine Beziehungen zu anderen zurück, auf eine soziale Konstellation: auf seine Familie und die Schichtlage seiner Familie, auf geographische Bestimmungen, auf Nationalität, auf court oder country, cour oder ville oder ähnliche Unterscheidungen, auf Gefolgschaftszusammenhänge, Solidaritäten, Berufe […]“ (Luhmann 2008:122).

Die Beschreibung der Individualität von Individuen ist aus einer soziologischen Forschungsperspektive sperrig und komplex und wird in der Regel – wie von Luhmann eingangs beschrieben – in die Darstellung der sozialen „Merkmale“ (ebd., S. 122) des Individuums überführt. Die Analyse der Debatte um die Individualisierungsthese hat hierbei gezeigt, dass Individualisierung einerseits als Zustands-, andererseits als Handlungsbeschreibung verwendet wird, was dazu geführt hat, dass die Beschreibungen des Objekts (Individuum) sowie der Handlungen (Typus) von Individualisierungsprozessen weitgehend unbestimmt bleiben (vgl. Kap. 2. und Kap.3).

7 | Um die Fülle der Erzählungen auszuschöpfen, werden im Folgenden Zitate aus dem Sample zur exemplarischen Darstellung der Ergebnisse verwendet. Diese werden allerdings nicht in ihrem Kontext ausgewertet, sondern zur systematischen Darstellung der Ergebnisse herangezogen.

6. Die blinden Flecken der Individualisierungsdebatten

Als Zustandsbeschreibung weist der Begriff der Individualität aus modernisierungstheoretischen Perspektiven auf die Einzigartigkeit von Individuen hin, die aufgrund der historischen Ausdifferenzierung von sozialen Rollen mit ihren Erwartungen spezifische Konstellationen ausgebildet haben. Diese Konstellationen sind zeitlich und räumlich in ihrem (sozialen) Kontext festgelegt und charakterisieren ihren „Rollenträger“ (Junge 2002:29). Das bedeutet konkret, dass jede soziale Rolle „durch ihre Interpretation, durch die Rollenauffassung des Rollenträgers, zu einer individualisierten Darstellung [wird]. […] Kurz: Individualität ist ein sozialer Fingerabdruck“ (Junge 2002: 29 ff.; Hervorh. B.-J. Krings), der einzigartig ist. Die Einzigartigkeit der Individualität wird durch die Selbstwahrnehmung und Selbstinterpretation der Individuen im Hinblick auf den Vollzug ihrer verschiedenartigen sozialen Rollen mitgeprägt. Im Gegensatz zu vorindustriellen Gesellschaften sind die Individuen in modernen Gesellschaften aufgefordert, höchst unterschiedliche Rollenerwartungen und Rollen in ein integriertes Lebenskonzept zu überführen. Dies könne, so wird im Rahmen der Diskussionen um die Individualisierungsthese konstatiert, insgesamt zu Gefühlen der Überforderung und Überlastungen bei den Individuen führen. Diese Überlastung entstünde nicht zuletzt auch deshalb, weil jede Rolle für sich wiederum durch steigende Entscheidungserwartungen geprägt sei (vgl. Kap. 2 und 3). Als Handlungsbegriff wird Individualität bzw. werden Prozesse der Individualisierung beispielsweise bei Junge als „erweitert[e] und begrenzt[e] Handlungsmöglichkeiten“ (Junge 2002:7; vgl. Kap. 2) von Individuen zusammengefasst. Handlungsräume der Individuen entstehen hier im Rahmen von drei gesellschaftlichen historischen „Diagnosen“ (ebd., S.5).8 Wie oben ausgeführt, hat sich ein neuartiger Vergesellschaftungsmodus herausgebildet, der „den Einzelnen zur Handlungseinheit“ (Beck 1986 in: Kalupner 2003:13) in individualisierten Gesellschaften macht. Wie Kalupner jedoch herausarbeitet, gibt es in diesen soziologischen Debatten keine Antworten auf die Frage, „welche Bedeutung die historischen Veränderungen für die Lebensführung der Akteure haben – selbst wenn sie diese Frage explizit stellen“ (ebd., S. 13 ff.). Diese Fragestellung beinhaltet gleichzeitig die Frage nach neuartigen Handlungs-

8 | Diese beinhalten bei Junge die Themenfelder: (a) sozialstrukturelle Individualisierung (an die Stelle von Klassenzugehörigkeit treten „individualisierte Bestimmungsfaktoren wie Lebensstile oder Milieus“ (Junge 2002:43); (b) Lebenslauf, private Lebensführung und Identität (historisch biografische Veränderungen führen dazu, dass „das Individuum so zum Kern der Entwicklung seines Lebensverlaufs, seiner Identität und seiner privaten Lebensführung“ (ebd., S. 63) wird; (c) Solidarität und Individualisierung (kein Rückgang gesellschaftlicher Solidarität, sondern eher „Ansätze eines neuartigen Verständnisses von Solidarität“ (ebd., S. 80; vgl. auch Kap. 2).

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strategien, die von den Individuen im Zuge dieser Prozesse abverlangt werden (vgl. Kap.3). Werden diese konzeptionellen Überlegungen an den Ergebnissen der empirischen Untersuchung „gespiegelt“, so kann zunächst festgehalten werden, dass die subjektive Wahrnehmung der Interviewpartnerinnen und -partner der eigenen Individualität grundsätzlich dynamisch ist. Das bedeutet, sie wird – ähnlich wie in den soziologischen Debatten dargestellt – in einen biografischen Verlauf eingebunden und von allen als ein umfassender individueller Entwicklungsprozess betrachtet. Exemplarisch für diese zusammenfassende Betrachtung steht folgende Textpassage, die sich in einem Interview resümierend auf den Prozess der eigenen Individualisierung bezieht:9 „[…] Also ich fühle eine Gelassenheit, die ich in meinem Leben noch nie gespürt hab‘. Und ich bin jetzt, also ich hab jetzt/lebe ich die größte Ressource überhaupt von meinem bisherigen Leben. Also ich bin jetzt an einem Punkt, so gut ging es mir noch nie … Und das ist auch so, dass ich jetzt/ich hab‘ mich jahrelang, jahrzehntelang hab‘ ich mich mit Menschen verglichen, mit anderen Frauen, ach Gott … ganz schlimm, das ich zum Glück ablegen konnte. Ich vergleiche mich nicht mehr. Ich bin ich und es hat sich eine Gelassenheit eingestellt, ich muss auch mir nichts mehr beweisen, irgendwelche Prüfungen zu bestehen oder irgendwelche Qualifikationen. Ich hab jetzt irgendwie das Gefühl, ich hab zu mir gefunden und ich will mir auch keinen Stress mehr machen, ich will gut für mich sorgen, ich will genügend schlafen, ich will genügend Entspannung haben, ich will genügend Urlaub haben, mir Dingen auch mal/mal Zeit haben für Dinge, die nichts mit irgendwelchen Leistungen zu tun haben und von dem her gesehen … Ich hab‘ jetzt auch seit … einem Jahr, seit Januar eine spirituelle Lehrerin …“ (Interview 11, 691-702).

9 | Die Erzählung zeichnet sich durch eine Vielzahl von Berufsausbildungen und Ortswechsel aus, die die Interviewpartnerin im Laufe ihres Lebenslaufs absolviert: Sie wächst in einer „Großfamilie“ (17-18) auf, die einer spezifischen Glaubensgemeinschaft angehört und diese religiöse Ausrichtung auch engagiert in ihren Lebensmittelpunkt stellt. Mit 16 Jahren zieht sie aus dem autoritär wahrgenommenen Familienverband aus, absolviert ihr Fachabitur, geht auf eine Kunsthochschule, bricht nach vier Monaten ab, absolviert eine landwirtschaftliche Ausbildung im biologisch-dynamischen Bereich, absolviert eine Ausbildung als Hauswirtschafterin ebenfalls auf einem landwirtschaftlichen Hof in einer anderen Region, absolviert eine Ausbildung in Physiotherapie, durchläuft viele Zusatzqualifikationen in diesem Bereich (Manuelle Therapie, Craniosacrale Therapie etc.), absolviert eine Ausbildung als Heilpraktikerin, freie Arbeit, Tätigkeitsfelder als Angestellte, die zeitweise von großer materieller und emotionaler Unsicherheit geprägt sind. Zum Zeitpunkt des Interviews lebt sie in materiell „sicheren“ Bezügen.

6. Die blinden Flecken der Individualisierungsdebatten

In allen Erzählungen weist die Beschreibung der eigenen Individualität weit über die Wahrnehmung als Trägerin bzw. Träger von gesellschaftlichen Rollen hinaus.10 Im Gegenteil: Rollenkonstellationen und -erwartungen stehen weniger im Zentrum der Erzählungen.11 Im Mittelpunkt findet sich hingegen in allen Fällen die eigene Wahrnehmung wichtiger Ereignisse im Lebensverlauf, der anhand biografischer Ereignisse, Zufälle und Entwicklungsdynamiken beschrieben wird. Dieser wird von allen Interviewpartnerinnen und -partnern als „einzigartig“ wahrgenommen und auch – mehr oder weniger explizit – als „einzigartig“ dargestellt. Die Einzigartigkeit wird hierbei durchaus in der einmaligen Konstellation des jeweiligen Kontexts der Interviewpartner mit ihren mannigfaltigen Einflüssen auf die eigene Individualität im Laufe des eigenen biografischen Vollzugs gesehen. Die Erzählungen benennen jedoch auch, und dies scheint weit wichtiger zu sein, einen eigenen inneren Reife- und Wachstumsprozess, der als „einzigartig“ beschrieben wird. „Einzigartigkeit“ ist hierbei nicht als Endzustand zu betrachten, sondern wird in den Erzählungen ebenfalls dynamisch angelegt und meint individuelle Momente der Erfahrung einer kognitiven, emotionalen und seelischen Erweiterung der eigenen Seinsweise. Diese Erweiterung findet, gemäß den Erzählenden, auf der Bewusstseinsebene der Befragten statt und wird in den meisten Fällen durch unerwartete Ereignisse ausgelöst. Diese Erfahrungen werden in den Erzählungen in unendlich vielen Facetten dargestellt und ihre Ausdrucksform reicht von besonderen menschlichen Begegnungen in bestimmten Phasen des Lebens über schicksalshafte Ereignisse bis hin zu systematischen Formen therapeutischer Begleitung.

10 | Auf diesen Aspekt verweist auch Jaeggi in ihrer sozialphilosophischen Studie zum Begriff der „Entfremdung“: „Was hier entfremdet wirkt, so meine These, sind nicht die Rollen per se, sondern die Unmöglichkeit, sich in ihnen angemessen zu artikulieren“ (Jaeggi 2005:91, Hervorh. im Original). 11 | Ausnahmen bilden hierbei Erzählungen, in denen unerwartete Ereignisse die Interviewpartnerinnen in ihren Rollenkonstellationen besonders „in die Pflicht genommen haben“. Exemplarisch für diesen Tatbestand ist eine Erzählung, in dem der Ehemann der Protagonistin plötzlich und unerwartet stirbt und sie im schwangeren Zustand mit einem Kleinkind zurücklässt. Hier ist die Protagonistin in ihrer Rolle als Mutter besonders gefordert, dieser (schweren) Rollenanforderung gerecht zu werden. Gleichzeitig gibt ihr diese Rolle, nach eigenen Angaben, im Rückblick die Kraft und den Halt, diese erste, schwere Zeit des Verlustes und der Trauer durchzustehen (Interview 4). Dieses Beispiel kann freilich nicht als Ausdruck spezifischer Rollenkonstellationen in modernen Gesellschaften betrachtet werden. Gerade Verlusterfahrungen durch Krankheit oder Kriege haben – statistisch betrachtet – im Verlauf der letzten Jahrhunderte stark abgenommen (vgl. Imhof 1984).

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Insgesamt rückt der Prozess der Individualisierung als zunehmende Selbstwahrnehmung der eigenen Individualität bei allen Interviewpartnerinnen und -partnern auffallend in die Nähe des psychologischen Konzepts der Individuation.12 Diese Nähe scheint nicht überraschend, da die Prozesse auf der inneren Wahrnehmungsebene der Ort sind, an dem die Reflexion auf die eigene Individualität stattfindet. Darüber hinaus ist das Konzept der Individuation ebenfalls strikt dynamisch angelegt, was auch der Wahrnehmung der Interviewpartner entspricht. So wird, ähnlich wie beim Begriff der Individualisierung, Individuation auf das lateinische Wort individuare (unteilbar sein, sich unteilbar machen) zurückgeführt, bedeutet jedoch nach dem Psychoanalytiker Carl Gustav Jung (1875-1961)13, dass die Individuation derjenige Prozess ist, der die Men12 | In einer Erzählung ist diese Beobachtung besonders ausgeprägt. Hier beziehen sich sowohl die Semantik als auch die Inhalte sehr stark auf dieses Konzept: „Aber irgendwann habe ich festgestellt, mhmm … Alle waren auf der Suche. Alle. Aber jeder hat seine Biografie, sein Schicksal, seine Krankheit, alles mit rein gebracht und zum Teil waren das massive Lasten, die die Menschen auch von Generationen mitgenommen haben. Ich bin sogar der Meinung, dass manche auch sich psychische Muster abgeschaut haben von den Eltern, das heißt also, dass ihr Individualisierungsprozess ganz klar geprägt war von dem, was sie von ihren Eltern gelernt haben, aber auch wie sich Eltern in Situationen verhalten haben, wie sie gestritten haben, wie sie zum Beispiel auch mit Kummer umgegangen sind oder mit Ärger, dass man das übernimmt …“ (Interview 5, 355-361). 13 | Carl Gustav Jung gilt als der Begründer der Analytischen Psychoanalyse und entwickelte seine Theorien zunächst in Übereinstimmung mit den Erkenntnissen Sigmund Freuds (1856-1939), entwickelte jedoch seine eigenen analytischen Konzepte, die zum Bruch mit Freud führten. Jung hat mit seinen Arbeiten nicht nur die Psychotherapie, sondern viele andere Disziplinen wie etwa die Religionswissenschaft oder die Literaturwissenschaft beeinflusst. Die Entwicklung des menschlichen Individuationskonzeptes gehört zu den thematischen Schwerpunkten seines umfangreichen Werkes: „Im Zentrum seiner Persönlichkeitspsychologie steht das Selbst und die Individuation, die Entwicklung des Menschen auf ein erweitertes Bewusstsein, eine größere humanitäre Reife und soziale Verantwortlichkeit hin. Im Individuationsprozess soll der Mensch zu dem werden, der er von seinen Anlagen und Entwicklungsmöglichkeiten her ist. Er soll sich die verschiedenen Aspekte seines Wesens bewusst machen, verarbeiten und in sein Leben hinein nehmen. Hierzu gehören beispielsweise seine dunklen Seiten, die Jung unter dem Begriff des Schattens zusammenfasste und die im Gegensatz zu den nach außen dargestellten, gesellschaftlich erwünschten Aspekten stehen oder auch seine gegengeschlechtlichen Anteile (Animus = männliche Aspekte in der Frau; Anima = weibliche Aspekte im Mann). Er soll auch erfahren, dass er als Individuum eine körperlichseelische Einheit und Ganzheit ist, die Jung in Anlehnung an die indische Philosophie das Selbst nannte und die in einer unauflösbaren Abhängigkeit und Verbundenheit mit

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schen zum Einzelwesen, zum individuum, werden lässt. Jung definiert Individualität als die letzte, innerste unvergleichbare Einzigartigkeit, die am Ende eines lebenslangen Individuationsprozesses steht. Nach Jung ist der Mensch im Rahmen dieses Prozesses immer wieder aufgefordert, „[…] sich aktiv und bewusst den neu auftauchenden Problemen zu stellen und seine Entscheidungen vor sich selbst zu verantworten. Individuation bedeutet, sich nicht danach zu richten, ‚was man sollte‘ oder ‚was im Allgemeinen richtig wäre‘, sondern in sich hineinzuhorchen, um herauszufinden, was die innere Ganzheit (das Selbst) jetzt hier in dieser Situation ‚von mir oder durch mich‘ bewirken will“ (Jung 1968:163).

Dieses knappe Zitat beschreibt fast buchstäblich die Vorstellung aller Interviewpartnerinnen und -partner im Hinblick auf den eigenen Individua-lisierungsprozess. Auf der Grundlage der sozialen Strukturen, in die sie unwiderruflich hineingeboren werden, werden sie im Laufe ihrer Lebensphasen herausgefordert, eigene Vorstellungen über individuelle Lebensentwürfe zu entwickeln. Diese Herausforderung stellt sich, nach Ansicht aller Interviewpartnerinnen und -partner, durch auftauchende Probleme und Ereignisse, die überraschend und in der Regel nicht vorhersehbar sind. Die bewusste und aktive Auseinandersetzung mit diesen Problemen führt hierbei auch zu der Auseinandersetzung mit den eigenen Begabungen, Charaktereigenschaften und Grenzen, die zur Lösung dieser Probleme beitragen können. Strategien der „Selbstbegegnung und Selbstbeschreibung“ (Luhmann 1998, vgl. Kap. 3) erscheinen hierbei die aus soziologischer Sicht angemessene Form zu sein, um die Komplexität zwischen sozialen Erwartungen und den eigenen, individuellen Möglichkeiten zu bearbeiten. So werden, nach Aussage aller Interviewpartner, reflexiv angelegte Zustandsanalysen der eigenen Individualität notwendig, um eine Verbindung zwischen der inneren und äußeren Ebene herzustellen. Vor allem in Phasen der Orientierungslosigkeit, in denen dringliche Problemstellungen auftauchen oder die zukünftige Lebensgestaltung wenig greifbar scheint, wird die innere „Ortsbestimmung“ (Taylor 1996:209) unabdingbar, um einen „eigenen Standpunkt in diesem Raum ausfindig zu machen“ (ebd., S. 209).14 Gleichzeitig werden in vielen Erzählungen existenzielle Fragen der sozialen Mitwelt und Umwelt steht“ (http://www.cg jung-stuttgart.de/grundgedanken-ap.htm vom 23.10.2013). 14 | Innerlichkeit als (notwendiger) funktionaler Ausdruck moderner Identität beschreibt Taylor vor allem mit Blick auf moralisches Handeln: „Was wir hier ständig aus den Augen verlieren, ist der Umstand, dass das Dasein als Selbst nicht zu trennen ist von der Existenz in einem Raum moralischer Probleme, wobei es um die Identität geht und darum, wie man sein sollte. Ein solches Dasein heißt: imstande sein, den eigenen Standpunkt in diesem Raum ausfindig zu machen, heißt: imstande sein, in die-

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angesprochen, die Reflexionen über eine tiefere Logik des eigenen Lebens sowie den Sinn des menschlichen Lebens im weiteren Sinne reflektieren. Insgesamt scheint die Methode des „In-sich-Hineinhörens“ auf der individuellen Ebene der entscheidende Ausgangspunkt für eine reflexiv angelegte Entscheidungsgrundlage zu sein. Durch die Ausbildung und Stärkung der inneren Wahrnehmungsebenen können äußere Herausforderungen mit den eigenen Vorstellungen und Bedürfnissen besser abgeglichen werden. Diese Prozesse sind höchst individuell, was die zeitlichen und inhaltlichen Dimensionen der „Ortsbestimmung“ (Talyor 1996:209) anbelangt. Sie werden jedoch von allen Interviewpartnerinnen und -partnern als der Ausgangspunkt für konkrete Entscheidungen und Handlungen formuliert. Wie alle Erzählungen zeigen, sind diese Entscheidungen in den alltäglichen und biografischen Ablauf eingebettet. Sie beinhalten eine Fülle von empirischen Möglichkeiten, die jedoch als Phänomen für Individualisierungsprozesse kaum losgelöst von inneren Reflexionsebenen betrachtet werden können. So können diese beispielsweise die Entscheidung für das Absolvieren einer zusätzlichen Ausbildung genauso beinhalten wie den Entschluss, den Ehepartner zu verlassen oder sich eine längere Auszeit zu nehmen.15 Als individualisierte Handlungen können diese in ihrer Sinndeutung nur in ihrem zeitlichen und sozialen Kontext verstanden werden. Ihre Bedeutung für die Wahrnehmung der eigenen Individualität bemisst sich an der Problemformulierung, die von den Interviewpartnerinnen und -partnern selbst vorgenommen und reflektierend im Rahmen der eigenen Möglichkeiten bearbeitet wird. Diese Beobachtungen weisen darauf hin, dass die reflexiv ausgerichtete Wahrnehmung der eigenen Individualität der Ausgangspunkt für die daraus entstehenden Handlungen darstellt. Die Reflexion über Zustand und Handsem Raum eine Perspektive einzunehmen, ja eine solche Perspektive zu sein“ (Taylor 2009:209, Hervorh. im Original). 15 | Auf dieser Ebene setzen gesellschaftskritische Debatten im Hinblick auf die These zunehmend hedonistisch ausgerichteter Lebensformen von „individualisierten“ Entscheidungen und Handlungen an. Das eingangs eingeführte Zitat aus Interview 11 könnte mit der folgenden Sequenz eine solche Vermutung durchaus unterstützen: „… ich will mir auch keinen Stress mehr machen, ich will gut für mich sorgen, ich will genügend schlafen, ich will genügend Entspannung haben, ich will genügend Urlaub haben, mir Dingen auch mal/mal Zeit haben für Dinge, die nichts mit irgendwelchen Leistungen zu tun haben und von dem her gesehen …“ (691-700). Wie die Betrachtung des eigenen Individualisierungsprozesses der Interviewpartnerin zeigt, weist diese Aussage jedoch auf zweierlei hin: auf ihre eigenen, kontinuierlichen Anstrengungen in ihrem biografischen Prozess sowie auf die Reflexion ihrer Bedürfnisse und Vorstellungen im Hinblick auf ihre Lebensgestaltung. Eingebettet in diese zeitliche und soziale Sinnstruktur kann diese in einer Gesamtbetrachtung kaum als „hedonistisch“ bewertet werden.

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lung gleichermaßen prozessiert den Vollzug, und dieser Vollzug findet auch auf einer Bewusstseinsebene im Individuum statt. Die Logik dieser inneren Prozesse wird, wie oben dargestellt, in der psychologischen Betrachtungsweise als Individuationsprozess beschrieben.16 Zustand und Handlung erscheinen hier in einer dialektischen Wechselwirkung, die – als Entwicklung ausgerichtet – einen Zustand der „Einheit“ mit sich und den äußeren Erwartungen anstrebt. Der Begriff der „Einheit“ stammt hier aus der Analytischen Psychoanalyse. Er überführt diese Wechselwirkung auf einer konzeptionellen Ebene in einen idealen Endzustand. In der Wahrnehmung der Interviewpartner gibt es jedoch diesen Zustand nicht, sondern auch hier wird der dynamische und offene Charakter dieser Prozesse betont. Obgleich in soziologischen Debatten regelmäßig betont wird, dass individualisierte Handlungsstrategien nur im Rahmen ihrer subjektiven Deutungsstrukturen analysiert werden können, wird diese Vorstellung in theoretischen und empirischen Untersuchungen wenig operationalisiert. Dieser Mangel liegt vermutlich in der methodologischen Ausrichtung der Soziologie, einen Zugang zu den inneren Reflexions- und Bewusstseinsprozessen der Individuen zu finden und in ihre Forschungsausrichtung zu integrieren (Kap. 3). Das psychologische Konzept der Individuation könnte hier – neben interdisziplinären Ansätzen – zentrale Impulse für ein verändertes Verständnis von Individualisierungsprozessen eröffnen. Die Analyse der (aktiven) Wahrnehmung auf die eigene Individualität als Entwicklungsprozess ermöglicht hierbei auch neue Perspektiven auf das Individuum selbst. Neue Möglichkeiten der Betrachtung könnten durchaus in eine Theorie des Individuums (Luhmann 1997) münden, die das Individuum zwar in den eingeführten soziologischen Kategorien des homo sociologicus beschreibt, gleich-

16 | Diese Sichtweise hat C. G. Jung eindeutig formuliert: „Man kann hier die Frage aufwerfen, warum es denn wünschenswert sei, dass ein Mensch sich individuiere. Es ist nicht nur wünschenswert, sondern sogar unerlässlich, weil durch die Vermischung das Individuum in Zustände gerät und Handlungen begeht, die es uneinig mit sich selber machen. Von jeder unbewussten Vermischung und Unabgetrenntheit geht nämlich ein Zwang aus, so zu sein und zu handeln, wie man selber nicht ist. Man kann darum weder einig damit sein, noch kann man dafür Verantwortung übernehmen. Man fühlt sich in einem entwürdigenden, unfreien und unethischen Zustand […] Eine Erlösung aus diesem Zustand aber ergibt sich erst dann, wenn man so handeln kann, wie man fühlt, dass man ist. Dafür haben die Menschen ein Gefühl, zunächst vielleicht dämmerhaft und unsicher, mit fortschreitender Entwicklung aber immer stärker und deutlicher werdend […] Es muss allerdings anerkannt werden, dass man nichts schwerer erträgt als sich selbst“ (Jung 2004 in: http://www.cg jung-stuttgart.de/grundgedanken-ap.html vom 27.10.2013).

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zeitig jedoch auch seine Eigenständigkeit, seine Individualität, anerkennt.17 Diese Auslegung wird im Rahmen der Debatte um die Individualisierungsthese regelmäßig eingefordert. Vor allem in einer vagen Rückbesinnung auf den philosophischen Gehalt des Subjektbegriffs wird eine neuerliche Auslegung des Subjekts als Träger eines unabhängigen Willens vielfach für die soziologische Debatte thematisiert (vgl. Kap. 2). Das Anliegen einer theoretischen Formulierung eines Konzepts des Individuums wird jedoch selten so konkret formuliert wie von Peter Gross im Jahre 1999:18 „[…] Eine Individualisierungstheorie, die mit der Selbstbegegnung ernst machen würde, in der, wie es Arnold Gehlen vor bald einem halben Jahrhundert formuliert hat, das Individuum auf etwas stößt, was es nicht kennt, führt nicht unbedingt zu einer Aufhebung des alteuropäischen ‚Rettungsprogramms‘, das nach dem Zusammenbruch der göttlichen Ordnungen ein ‚Subjekt‘ erfunden hat. Aber das Subjekt oder das Individuum wird beschrieben werden müssen als komplexes System von Beziehungen nicht nur zwischen Bewusstsein und Organismus, zwischen Erlebnissen und Handlungen, sondern auch zwischen eigenen Möglichkeiten“ (Gross 1999:221).

Der Blick auf Zusammenhänge zwischen Bewusstsein und Organismus, zwischen Erlebnissen und Handlungen sowie zwischen eigenen Möglichkeiten ist ein Aspekt, der in allen Erzählungen im Hinblick auf die Dynamik des eigenen Individualisierungsprozesses betont wird. Die Wahrnehmung der Individualität als einzigartigem Möglichkeitsraum taucht hierbei als eine Form 17 | Wie in Kap. 3 dargestellt, versteht Luhmann das Individuum auch als „psychisches System“. Vor dem Hintergrund seines spezifischen Interesses an Strukturprinzipien des gesellschaftlichen Wandels galt sein Interesse weniger den inneren Reflexionsprozessen von Individuen, sondern vielmehr der Kommunikation als Ausdruck menschlicher Interaktion. Allerdings erkennt er an, dass diese Anstrengungen innerhalb der Disziplin gemacht werden sollten. „Vor allem wird zu klären sein, wie denn das Individuum zu sich selbst finden, sich selbst in seiner Individualität bestimmen und steigern kann“ (Luhmann 1998:219). 18 | Eine der wenigen Ausnahmen bildet Regina Becker-Schmidt, die dieses Anliegen für die Frauenforschung formuliert. Hierbei bezieht sie sich auch auf psychoanalytische Forschung, die sie in ihre soziologische Betrachtungen integriert: „[…] Sieht man einmal von der Foucault-Rezeption und der feministischen Psychoanalysediskussion ab, so gibt es in der Frauen- und Geschlechterforschung wenig dezidierte Auseinandersetzung mit diesem Begriff [mit dem Begriff des Subjekts, Anm. B.-J. Krings]. Wo sie stattfindet, wird das Gewicht auf den Zusammenhang von sozialer Ordnung, Subjekt und Geschlecht gelegt. Dabei spielt in der psychoanalytischen Debatte die Frage eine wichtige Rolle, ob Sozialisationsprozesse, in denen Individualität Gestalt annimmt, geschlechtsspezifisch verlaufen“ (Becker-Schmidt 2000:124).

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der (individuellen) Freiheit auf. Als Gegenentwurf zu Abhängigkeit(en) und äußeren sozialen Erwartungen entwickelt die Individualität Eigensinn und soziale Vielfalt, die vor einer standardisierten soziologischen Perspektive vielfach „unentdeckt“ (Born et al. 1996) bleiben. Dies ist umso bedauerlicher, da gerade hier „stabile“ Fähigkeiten zu sozialer Kritikfähigkeit und kritischem Handeln in gesellschaftlichen Zusammenhängen vermutet werden könnten.

6.2.2 Rückbindung des Individuums in familiäre Institutionen „[…] Die Liebe zwischen Mann und Frau rückte in den Mittelpunkt des Geschehens. Inzwischen haben wir die nächste Stufe des Individualisierungsprozesses erreicht. Traditionelle Bindungen sind weiter zerrieben worden. Und die Liebe zwischen Mann und Frau ist ebenfalls anfällig geworden, mehr denn je vom Scheitern bedroht. Was bleibt, ist das Kind. Es verheißt eine Bindung, die so elementar, umfassend, unauflösbar ist wie sonst keine in dieser Beziehung“ (Beck-Gernsheim 1986:228).

Soziologische Perspektiven auf Individuen und ihre Individualisierungsprozesse scheinen häufig losgelöst von den Wirkkräften sozialer Beziehungsstrukturen dargestellt, wie sie in sozialen Kontexten, etwa in Familien, entstehen und für die weiteren Handlungsstrukturen der Individuen auf einer inneren und äußeren Ebene aussagekräftig werden. Freilich entfaltet sich diese Perspektive – wie oben im Zitat pointiert formuliert – vor der Intention der Beschreibung makrosoziologischer Wandlungsprozesse von Gesellschaften. Diese Intention ist charakteristisch für die Debatte um die Individualisierungsthese, um diese als neu bewerteten Trend der Gesellschaftsbildung auszuweisen (vgl. Kap. 2). Auch oder gerade die Frage nach neuen Formen des Vergesellschaftungsmodus von Individuen in modernen Gesellschaften kann jedoch nicht darüber hinweg täuschen, dass die Individuen zunächst Mitglieder von Familienstrukturen sind, in die sie hineingeboren werden und durch deren Ausdrucksformen und kulturellen Werte sie maßgeblich sozialisiert werden. Und umgekehrt bilden familiäre Strukturen in Gesellschaften ein wesentliches „integrales Element der sozialen Struktur einer Gesellschaft“ (Huinink, Konietzka 2007:12), auch wenn sich die Familien- und Lebensformen im historischen Verlauf stark verändert haben. Die funktionale Bedeutung des soziokulturellen Konzepts der „Familie“ wird in der Soziologie erkannt und umfassend beschrieben19 und 19 | Der gesellschaftliche und technische Wandel hat in den letzten Jahrzehnten enorme Veränderungen des soziokulturellen Konzepts „Familie“ verursacht. Mühling und Rupp nennen hier neben den „Inseminationsfamilien“ die vielzitierte „Patchwork-familie“ als Ausdruck dieses Wandels (Mühling, Rupp 2008:77): Eine „Variante der Stieffamilie ist die Patchworkfamilie, die sich dadurch auszeichnet, dass leibliche Kinder beider Partner vorhanden sind. Weiterhin ist heute auch die Frage nach der biologischen El-

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hat eine eigene Forschungsrichtung gegründet. Gemäß der soziologischen Familienforschung lassen sich heutzutage drei Dimensionen beschreiben, die das Konzept „Familie“ „[…] kultur- und zeitübergreifend strukturieren: Basis für Familie ist stets das Vorhandensein von (mindestens) zwei Generationen. Als weiterer zentraler Aspekt wird die sogenannte ‚biologisch-soziale‘ Doppelnatur erachtet, welche jedoch – wie gezeigt wurde – an Bedeutung eingebüßt hat. Zudem ist Familie gekennzeichnet durch ein spezifisches Beziehungs- und Solidaritätsverhältnis (vgl. Nave-Herz 2004:30). Der Begriff ‚Familie‘ steht demnach für Eltern-Kind-Gemeinschaften in sehr unterschiedlichen Lebens- und Beziehungsformen“ (Mühling, Rupp 2008:78).

Prägende Wirkkräfte des Beziehungs- und Solidaritätsverhältnisses werden vor allem durch mikrosoziologische Perspektiven der Familiensoziologie untersucht. Diese betrachtet die Familie als „eigenständiges Sozialgebilde“ und untersucht unter anderem „[…] Fragen von Macht und Autorität in der Familie, die innerfamilialen Kommunikationsstrukturen, Rollenverteilungen und die Emotionalität der Paar- wie der Kind-ElternBeziehungen“ (ebd., S. 79).

Dieser Bereich ist teilweise inhaltlich eng mit der Sozialpsychologie und der Psychoanalyse verbunden, die die Beziehungsdynamiken der Familienmitglieder untereinander sowie deren Einflüsse auf die kognitiven und psychischen Entwicklungs- und Handlungsbedingungen von Individuen untersucht. Darüber hinaus sind neue Erkenntnisse in der Gehirnforschung zunehmend mehr in der Lage, Beziehungsstrukturen im Rahmen der Gehirnentwicklung nachzuvollziehen und zu visualisieren. So können schon vorgeburtliche und frühkindliche Störungen oder Traumata der Mutter-Kind-Beziehung zu bedeutsamen Einschränkungen der psychischen und emotionalen Ausstattung von Individuen führen, die den Lebensweg derselben nachhaltig prägen.20 Aber ternschaft zu stellen. Bei den Inseminationsfamilien entsteht durch evtl. Beziehungen zum Samenspender möglicherweisen ein spezifisches Beziehungsgeflecht. Wachsen Kinder bei zwei gleichgeschlechtlichen Partner(inne)n auf, spricht man von Regenbogenfamilien“ (ebd., S.77). 20 | Vor allem aufgrund technischer Fortschritte in der Neurophysiologie ist man inzwischen in der Lage, „psychische und seelische“ Entwicklungen auch bildhaft darzustellen. So lassen sich heutzutage die „psychoanalytischen Konzepte von Margret Mahler, die Konzepte der Dual-Union oder Dual-Einheit, neurophysiologisch bestätigen: Die Gehirnwellen der stillenden Mutter und des Säuglings kommen tatsächlich in Einklang, um nur ein Beispiel zu nennen. Ein Entwicklungstrauma kann entstehen, wenn der

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nicht nur im Hinblick auf die emotionale und psychische Entfaltung wirken bekanntermaßen Familienstrukturen in besonderem Maße auf die Individuen ein. Der Familie als soziale Institution kommt „[…] eine soziale Platzierungsfunktion zu, denn der Status einer Person, ihre Bildungsund Einkommenschancen hängen maßgeblich vom sozialen Kapital der Herkunftsfamilie ab“ (ebd., S.79). 21

Soziologische sowie benachbarte disziplinäre Perspektiven auf Familienstrukturen weisen in vielfältiger Art und Weise darauf hin, dass Familienstrukturen bzw. diejenigen sozialen Strukturen, in die Individuen hineingeboren werden, einen großen Einfluss auf die individuelle Ausbildung jedes einzelnen Menschen nehmen. Diese Einflüsse sind auf der geistigen, emotional-psychischen und physischen Ebene der Individuen angelegt und prägen vor allem in den (frühen) Kinderphasen nicht nur den Blick auf die Welt, sondern auch die faktischen Einfluss- und Handlungsmöglichkeiten in der Welt. 22 In späteren Phasen erweitert sich diese Wahrnehmung durch den Einfluss weiterer sozialer InstiSäugling zum Beispiel folgende Erfahrungen wiederholt macht: ‚Mir wird nicht geholfen, meine Affektivität, meine Aufregung, meine Gereiztheit zu regulieren, und sie müssen deswegen von mir selbst gedämpft werden. Chaotische Aufregung, die ich selbst nicht regulieren kann, erschreckt mich zutiefst.‘ Der Säugling macht die Erfahrung von chaotischer Wahrnehmung und Empfindung im Körper, gekoppelt mit dem Gefühl, unfähig zu sein, sie selbst zu regulieren. Das Kleinkind lernt die Aufregung zu unterdrücken, aber nicht zu integrieren. Die Unterdrückung der Empfindungen wird so zur Lebensgewohnheit“ (Beaumont 2011:57 ff.). 21 | Mühling und Rupp berufen sich in der theoretischen Tradition der Familiensoziologie auf René König (1906-1992), der zwei grundlegende Perspektiven der Familiensoziologie einführte: „die Analyse der Familie als eine soziale Institution und die Betrachtung der Familie als soziale Gruppe“ (Mühling, Rupp 2008:78). Erstere betont das Verhältnis von Gesellschaft und Familie bzw. den funktionalen Charakter von Familienstrukturen im Rahmen von Gesellschaften (makrosoziologische Perspektive). Letztere analysiert die innere Ordnung und Struktur der Familie als soziale Gruppe (mikrosoziologische Perspektive). 22 | Eva Illouz bestätigt diese Sichtweise im Hinblick auf die historische Positionierung des Selbst in seinem Verhältnis zu seiner eigenen Vergangenheit: „Erstens ist im psycho-analytischen Verständnis die Kernfamilie der Ort, an dem das Selbst entsteht, der Ort also, an dem und von dem aus die Erzählung und Geschichte des Selbst ihren Anfang nimmt. Bot die Familie bis dahin die Möglichkeit, sich ‚objektiv‘ in einer langen chronolo-gischen Kette und in der sozialen Ordnung zu situieren, wird sie nun ein biografisches Ereignis, das symbolisch das ganze Leben begleitet und auf unverwechselbare Weise die eigene Individualität ausdrückt“ (Illouz 2006:17, 2009).

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tutionen sowie durch eine Vielzahl von Begegnungen, Interaktionen mit Menschen und anderen Dynamiken. Die Sozialisation der Individuen in ihren je spezifischen sozialen Kontexten entscheidet vor dieser Entwicklungsdynamik maßgeblich über ihre Denk- und Handlungsstrukturen sowie über den Radius der Entscheidungsmöglichkeiten, die die vorgegebene Welt zur Verfügung stellt. Die besondere Prägung durch ihre Ursprungsfamilie(n) und deren Bedeutung für die eigene individuelle Entfaltung wird von allen Interviewpartnerinnen und -partnern in vielfältiger Art und Weise betont. Auffallend erscheint hierbei in allen Erzählungen die starke Verwurzelung der eigenen Individualität in familiären Strukturen, wie die folgende Sequenz sehr eindrucksvoll zeigt: „[…] Und so war meine Kindheit schon geprägt von diesem kranken Vater und von der Mutter, die halt die ganze Last im Grunde getragen hat. Und ich so als die Mittlere hatte es aber doch relativ gut, also ich war nicht besonders im Blick, nicht so wie die Erste und war auch nicht dieser kleine Bruder, der dann auch so den Abschluss bildete. Aus dieser Position hat sich für mich, wenn ich heute hinblicke, doch eine gewisse Freiheit ergeben. Freiheit in dem Sinne auch von Unabhängigkeit, auch so ein bisschen, wenn ich jetzt sage emotional unabhängig …“ (Interview 9, 42-46).

Dieses Beispiel weist allein durch die besondere Konstellation der inneren Struktur der Familie (kranker Vater, versorgende Mutter, Geschwisterfolge) für die Erzählende auf eine Konstellation hin, die sie, nach eigener Einschätzung, in der Entwicklung ihrer Individualität geprägt hat. Schon durch ihre Position in der Geschwisterfolge war sie in einer Situation, die ihr in diesem Kontext die Möglichkeit einer emotionalen Unabhängigkeit eröffnete und ihr – nach eigener retrospektiver Einschätzung – erlaubte, zügig aus dem Elternhaus auszuziehen und sich von der einnehmenden Familiensituation abzunabeln. Dies war gerade bei der älteren Schwester nicht der Fall, die als Erstgeborene von der Mutter stärker für die Familie in die Pflicht genommen wurde. Das Beispiel zeigt idealtypisch, welche Relevanz die innere soziale Ordnung der familiären Verhältnisse für die Individuen und ihre (vorläufige) Ausrichtung auf das Leben hat. Wie nahezu alle Erzählungen zeigen, sind die ersten Schritte „ins Leben“ von einer dialektischen Haltung zur Familie als dem eigenen sozialen Ursprung geprägt, die sich in vielen Erzählungen in einer „Antihaltung“, in wenigen Fällen auch in einer „angepassten“ Haltung zum sozialen Familienumfeld äußert.23 23 | In zwei Erzählungen konnten die Kinder nicht die ganze Zeit – Kindheit und Jugend – in ihrer Herkunftsfamilie verbringen. In der ersten Erzählung sterben beide Elternteile relativ rasch hintereinander und die Tochter (Erzählende) und ihre fünf Geschwister werden in verschiedene Pflegefamilien gegeben. In ihrer Pflegefamilie lebt die Tochter mehr

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Sowohl die innere soziale Ordnung der Ursprungsfamilie als auch die kulturellen Einflüsse derselben haben einen großen Einfluss auf die Ausrichtung der Individuen bezüglich der eigenen biografischen Gestaltung und somit auf ihren konkreten Entscheidungs- und Handlungsrahmen. Gerade im Hinblick auf die Fragestellung nach der individuellen Entscheidungsfreiheit von gesellschaftlichen Optionen und Restriktionen spielt diese Ebene eine signifikante Rolle, da genau auf dieser (inneren) Ebene zunächst die von den Individuen in Betracht gezogenen Möglichkeiten geplant und entschieden werden. So weisen alle Erzählungen in besonderem Maße auf diese Ebene, die als das „Tor“ zum Leben dargestellt werden kann.24 Die Einbettung der Individuen in die soziokulturellen Bedingungen (alleine) ihres familiären Umfeldes zeigt, dass Individuen biografische Entscheidungen nicht losgelöst von diesen sozialen Strukturen treffen können. Wird diese Sichtweise in ihrer analytischen Tiefe ernst genommen, erscheint die Frage nach der Relevanz zunehmender gesellschaftlicher Optionen für die Individuen in einem anderen Licht. So zeigen alle Erzählungen, dass diese Relevanz lediglich aus dem spezifischen Möglichkeits- und Handlungsraum der Individuen erschlossen wird. Die Gesamtheit aller möglichen Optionen taucht in diesem Handlungsraum nicht auf, auch nicht als hypothetische Möglichkeit. Individuelle Entscheidungen sind in allen Erzählungen zunächst in die sozio-kulturellen Muster der familiären Strukturen eingebettet, die im Laufe der biografischen Gestaltung auf der Basis institutioneller Kontexte und sozialer Interaktionen erweitert werden (können). Freilich scheinen diese Beobachtungen in gewisser Weise trivial, dennoch zeigen gerade die soziologischen Debatten um die Individualisierungsthese, wie oder weniger in der Rolle einer Bediensteten, bis sie auszieht, um eine Berufsausbildung zu durchlaufen. Der Tod der Eltern, der Verlust der Geschwister sowie die Lebenssituation in ihrer „Pflegefamilie“ haben sie auf einer inneren und äußeren Ebene für ihren Lebensweg stark geprägt. Sie ist auf einer materiellen Ebene in der Lage, versorgende Strukturen für sich aufzubauen. Auf der Beziehungsebene lebt sie zum Zeitpunkt des Interviews nach mehreren gescheiterten Paarbeziehungen alleine. Sie hat keine Kinder (Interview 7). Im zweiten Fall verbringt der Sohn (Erzählender) die ersten sechs Jahre im Waisenhaus, was er selbst als eine Zeit der inneren Leere und Hoffnungslosigkeit be-schreibt. Diese Lebensphase hat ihn ebenfalls auf einer inneren Ebene für seinen Lebensweg geprägt. Auch er schafft es, verlässliche Strukturen auf einer äußeren Ebene aufzubauen, was ihm jedoch im Hinblick auf die Familiengründung nicht gelingt. Zum Zeitpunkt des Interviews lebt er in einer Fernbeziehung (Interview 5). 24 | Ein Zitat aus einer Erzählung veranschaulicht diesen Gedanken in besonders schöner Weise: „Also meine Tochter nennt uns selber, wir sind Drachen, die Frauen in unserer Familie, sind Drachen (lächelt) … nicht, weil wir so böse sind, sondern weil wir so viel Kraft haben und so stark sind und alt werden“ (Interview 9, 35-37).

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losgelöst deren Annahmen im Hinblick auf konkrete individuelle Entscheidungsräume verhandelt werden. Als einer der wenigen Autoren hat Karl Otto Hondrich dieses Problem angemahnt und einen Perspektivenwechsel vollzogen: „[…] Obwohl Individualisierungen überall zu beobachten sind, ist die Vorstellung, die moderne Sozialwelt individualisiere sich immer mehr, irreführend. Individualisierung ist kein säkularer Prozess, der Gemeinschaftsbildung fortwährend zurückdrängt oder vernichtet, sondern ein Teil von elementaren Grundprozessen, die miteinander und gegeneinander wirken“ (Hondrich 1999:255).

Diese Beschreibung ist für alle Erzählungen hoch relevant: alle Erzählungen machen in besonderem Maße deutlich, dass die individuellen Entscheidungsund Handlungsmöglichkeiten in die soziokulturellen Kontexte der Interviewpartnerinnen und -partner eingebettet sind. Sie werden nicht losgelöst vom sozialen Kontext und der jeweiligen soziokulturellen Entscheidungssituation getroffen, sondern repräsentieren genau diesen spezifischen sozialen Kontext: sie sind dieser spezifische soziale Kontext.25 Auf der Basis und als Folge dieser Entscheidungs- und Handlungskontexte entstehen soziale Rahmenbedingungen, die neue Formen von Vergesellschaftungsprozessen generieren. Besonders im Vergleich zu den Eltern- und Großelterngenerationen mit ihren jeweils spezifischen Lebenskontexten werden in allen Erzählungen soziale Prozesse der Freisetzung aus tradierten Rollen formuliert.26 Gleichzeitig wer25 | Mit Verweis auf die Arbeiten des Philosophen Martin Heidegger (1889-1976) beschreibt Charles Taylor das erkenntnistheoretische Problem, das hinter dieser Feststellung steht: „Die wirkliche Schwierigkeit ist, die menschlichen Universalien und die historischen Konstellationen auseinanderzuhalten, ohne die letzteren verkürzend mit den ersteren gleichzusetzen, so dass wir der ständigen Verlockung anheimfallen, unsere spezifische Art und Weise als etwas für die Menschen als solche Unausweichliches anzusehen“ (Taylor 1996:209). 26 | Alle Interviewpartnerinnen und -partner betonen ihre soziale und individuelle Einbettung in einer Generationenfolge, die zunächst ihre Identität beschreibt: Mann oder Frau, Staatsbürgerschaft, Tochter oder Sohn jener Eltern mit jenem sozialen Status bzw. mit jener sozialen Geschichte etc. Diese Beschreibungen werden als diejenigen sozialen Voraussetzungen angegeben, in die die Interviewpartner hineingeboren werden und die als Ausgangsort des eigenen Lebens verstanden werden. Diese Familienbeschreibungen bilden auch das Narrativ, um sich zu beschreiben (vgl. Illouz 2009), wie der folgende Auszug prägnant zeigt: „Tja, dann fangen wir mal an … Es ist so die Grundlage – glaube ich – von meinem Wesen, es hat sicher viel mit der Erziehung zu tun und mit der Herkunft meiner Eltern. Meine Eltern, vor allem mein Vater war ein Vertriebener … kam – das passt ganz gut, weil ich am Donnerstag und Freitag in der Tschechei war – also aus

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den die Interviewpartnerinnen und -partner jedoch in neue soziale Kontexte und Rollen hineingeboren, die spezifische soziale Konstellationen bereithalten. Diese werden als Ursprungsort für den eigenen Individualisierungsprozess nicht nur herangezogen, sondern dieser bildet für alle Interviewpartner den Referenzrahmen für die Bewertung des eigenen individuellen Prozesses. Auffallend scheint hier – im Vergleich zu den vorausgehenden Generationen – die positive Einschätzung der eigenen Optionen, vor allem im Hinblick auf die materielle Versorgung und die berufliche Selbstverwirklichung. Dennoch beinhalten diese Vergleiche längst nicht, dass „individualisierte“ Kontexte losgelöst von jeglichen familiären und sozialen Rahmenbedingungen stattfinden. Im Gegenteil betonen alle Interviewpartner, dass an die Stelle der traditionellen Strukturen ihrer Vorfahren neue Formen sozialer Kontexte getreten sind, deren sozio-kulturelle Vorgaben ihre aktuellen individuellen Entscheidungsund Handlungsmöglichkeiten bilden. Ob Vergesellschaftungsprozesse nun im hierarchisch strukturierten Familienverband oder aber in der „Patchworkfamilie“ oder auch im Bodystudio stattfinden, entscheidet vor diesem Hintergrund die Form der Einbindung in die eigenen soziokulturellen Verhältnisse. Dies weist umso mehr darauf hin, dass die Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten der Individuen in der Gesellschaft zu suchen sind und dass die metaphorische Gegenüberstellung von Gesellschaft und Individuum der alltäglichen Erfahrung der Individuen widerspricht, in die „elementaren Grundprozesse“ (ebd., S. 255) von Vergesellschaftung immerfort eingebettet zu sein. Unabhängig von ihrer eigenen Auslegung entscheiden und gestalten sie durch ihre Vorstellungen und ihre Handlungen die quantitativen und qualitativen Bedingungen des sozialen Wandels kontinuierlich mit. Diese Sichtweise erlaubt darüber hinaus keine Einordnung des Individuums in „Opfer- und Täter-Kategorien“ (Schimank 2000; vgl. Kap. 4) im Rahmen der Individualisierungsdebatten. Aus der subjektorientierten Perspektive weisen hier die Ergebnisse entschieden darauf, dass diese Unterscheidungen kaum den individualisierten Entscheidungs- und Handlungsmustern entsprechen. Entscheidungsstrukturen selbst sind in die Biografie der Individuen eingebettet und weisen vor dieser analytischen Tiefe auf zeit- und raumübergreifende Strukturen. Eine Abkehr von Bewertungen über das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft bedeutet vor diesem Hintergrund jedoch keinesfalls den Verzicht auf gesellschaftliche Kritik. Diese sollte jedoch auf neuen Formen gesellschaftder Tschechei und hat dann eine Lehre gemacht, hat wenig Ausbildung gehabt in den Kriegsjahren, eine Lehre gemacht im Großraum München, dort auch dann meine Mutter kennengelernt und sind dann quasi mit der Oma, ohne viel zu besitzen, irgendwann nach X gekommen. Und haben quasi von der Pieke auf zunächst mal als Koch, sie – ich glaube hier im Kaufhaus X angefangen zu arbeiten […]“ (Interview 10, 16-23).

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licher Selbstverständigung basieren, die sich auf die reflexiven Fähigkeiten der Individuen stützt und nicht (mehr) eine „epistemisch privilegierte Position voraussetzt“ des Forschers (Celikates 2009:37). Angelehnt an gesellschaftliche Pluralität und Vielseitigkeit geht es vor diesen Perspektiven eher darum, der „Mehrdimensionalität“ (ebd., S. 245) von Kritik Raum zu verschaffen, die sozialwissenschaftliche Konzepte der Kritik genauso konsequent einbezieht wie die Ergebnisse empirischer Sozialforschung.

6.2.3 Entscheiden und Handeln im Rahmen von Individualisierungsprozessen „[…] Allgemeiner gesprochen sind hier durchweg Risiken und Chancen am Werke. Mit der Zunahme an Handlungsmöglichkeiten und Entscheidungsautonomie sind eben immer auch Risiken der Fehlentscheidung und damit des selbstverschuldeten Restrisikos verbunden. Wer doch die Ehe eingeht, obwohl auch nicht-eheliche Lebensformen zur Alternative standen, kann sich im Falle der Fehlentscheidung und Scheidung finanziell ruinieren. Aber auch das Gelingen ist riskant und kann den Einzelnen ebenfalls in den finanziellen Ruin stürzen. Somit wird deutlich, dass das aus traditionalen Beschränkungen befreite Individuum grundsätzlich mehr Handlungsspielraum gewinnt. Zugleich nehmen aber auch die (Kommunikations-)Zwänge in einer Welt totaler Kommunikation zu“ (Kron 2002:263 ff.).

Dieses Zitat macht den engen Zusammenhang zwischen der Zunahme gesellschaftlicher Entscheidungsoptionen und modernen Individualisierungsprozessen deutlich. Der historische Wandel gesellschaftlicher Prozesse entlässt das Individuum, so die jüngere modernisierungstheoretische Variante, in offene gesellschaftliche Räume, die es mehr und mehr auffordern, Entscheidungen im Hinblick auf seinen biografischen Verlauf zu fällen (vgl. Kap. 2). Charakteristisch für diese soziologische Sichtweise ist die Vorstellung, dass diese Freiheiten „riskant“ (Beck, Beck-Gernsheim 1994) sind und zu neuartigen Ambivalenzen und Unsicherheiten für die Individuen führen. Die Interpretation dieser These beruft sich zum einen auf mögliche zukünftige Unwägbarkeiten dieser zu fällenden Entscheidungen mit all ihren möglichen positiven und negativen Konsequenzen. Zum anderen bezieht sie sich auf das Problem der Selbstzuschreibung, was bedeutet, dass Entscheidungen zurechenbar werden und die Individuen mehr denn je in der moralischen Verantwortung ihrer eigenen Lebensentwürfe stehen (vgl. Kap. 2). Diese Perspektive zeigt sich schön in der Metapher des „Auslöffelns der eigenen Suppe“, die als semantischer Stimulus in den Erzählungen einiger Befragter auftaucht (vgl. Kap. 4). Zusammenfassend kann vorweggenommen werden, dass beide Problemtypen – die (steigende) Ambivalenz von Entscheidungsstrukturen sowie die moralische Zuschreibung im Hinblick auf eigene Lebensentwürfe – in den Er-

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zählungen kaum als Grundkonflikt des eigenen Individualisierungsprozesses thematisiert werden. Zwar wird auf einer räsonierenden Ebene erstere Problematik durchaus als Charakteristikum moderner Gesellschaften erkannt, was, aus Sicht einiger Interviewpartner, zu Orientierungsverlusten bei jüngeren Menschen führen könne. Auf der Ebene der eigenen Erfahrung werden beide Problemstellungen jedoch kaum zum Ausdruck gebracht.27 Exemplarisch für die Ausrichtung der Erzählungen scheint eher die folgende Sequenz zu sein: „Also ich denke immer an die Ehen unserer Eltern und Großeltern, wo Scheidung einfach kein Thema war und wenn irgendetwas kein Thema ist, dann hat man eine andere Haltung demgegenüber, als wenn man mit dem Gedanken spielen kann, soll ich gehen, soll ich nicht gehen. Also mich hat das auch in Not gebracht, einfach weil ich plötzlich gemerkt habe, mein Leben ist falsch und vielleicht hätte ich unter engeren Einschränkungen oder begrenzteren Bedingungen da nicht so viel drüber nachgedacht. Ich habe das Glück gehabt, dass ich sozusagen mir aus dem Supermarkt herausnehmen konnte, was ich wirklich wollte, aber nicht wiederum, weil ich es entschieden habe, selber, sondern einfach, weil es sich ergeben hat. Und ich glaube, dass es einfach Glück ist und ich glaube, es gibt Menschen, die haben dieses Glück einfach nicht …“ (Interview 6, 181-189).

Individuelle Entscheidungs- und Handlungsstrukturen sind faktisch eingebettet in die jeweiligen sozialen und historischen Kontexte. Diese Kontexte bilden den konkreten Rahmen für die individuelle Wahrnehmung der konkreten Optionen und Möglichkeiten. Allerdings weisen alle Erzählungen auf die Relevanz sozialpolitischer Rahmenbedingungen hin, die sich in der individuellen Wahrnehmung dieser Optionen spiegeln. Die für die 1980er Jahre charakteristische Öffnung der Bildungsinstitutionen im Hinblick auf die unteren sozialen Schichten spiegelt sich beispielsweise signifikant in den Optio27 | Eine Ausnahme bildet Interview 6, in dem der Interviewpartner die erstgenannte Problematik aus eigener Erfahrung beschreibt, allerdings nicht als Grundkonflikt seiner biografischen Entscheidungen: „Ja. Ich meine, vielleicht den Punkt der Verantwortung noch, das ist mir gerade eingefallen noch, die Sache mit der Suppe, die man auslöffeln muss. Das ist vielleicht noch ein Aspekt, der wichtig ist … Es stimmt schon, also ich habe das zum Beispiel bei der Erziehung meiner Tochter ganz stark empfunden, dass dadurch, dass ich nicht mehr auf einer bestimmten Schiene fahren kann, wie man eben seine Kinder erzieht, dass ich da überfordert war, schon. Weil es so nur noch aus dem Bauch geschehen musste und eben vom Kopf her viele Sachen lesen, aber da gab es auch von ganz reaktionären Ansätzen bis hin zu ultraliberalen Laissez-faire-Ansätzen, ja was ist da nun das, was ich will? Und es stimmt schon, dass da diese Verantwortung selber zu übernehmen, die nicht mehr eingebettet ist in einem gesellschaftlichen Kontext, also zumindest nicht mehr in dem Maße, schon, schon schwierig, das habe ich schon als Überforderung zum Teil empfunden, auch“ (Interview 6, 235-244).

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nen und Entscheidungsstrukturen aller Interviewpartnerinnen und -partner wider. Dasselbe gilt für die kulturelle Öffnung von Lebensformen, was die Entscheidungs- und Handlungsräume der Interviewpartner im Vergleich zu der Eltern- und Großelterngeneration – aus einer übergeordneten Perspektive – signifikant erweitert hat. Vor allem in den Erzählungen der Interviewpartnerinnen finden sich eine Reihe empirischer Anhaltspunkte, die den sozialen Wandel gesellschaftlicher Verhältnisse als erweiterte Entscheidungsbezüge beschreiben.28 Diese sind in der wissenschaftlichen Literatur zu weiblichen Individualisierungsprozessen hinreichend bearbeitet worden, vor allem in der soziologischen Frauen- und Biografieforschung der 1980er und 1990er Jahre, und weisen auf ein „grundlegende[s] Dilemma moderner weiblicher Identitätsfindung“ hin (Wohlrab-Sahr 1993:341 ff.; vgl. Kap. 2). Diese Beobachtungen entsprechen in vielerlei Hinsicht den Erzählungen im Sample. So sind auch hier weibliche Lebensläufe in besonderem Maße durch die Notwendigkeit geprägt, individuelle Lebensmodelle zu entwickeln, die sich weitgehend von den Lebensentwürfen der Muttergenerationen unterscheiden (Krings 2003). Konzepte traditionaler Familienarrangements geraten durch den eigenen Wunsch und die existenzielle Notwendigkeit der Erwerbstätigkeit so sehr unter Druck, dass der Großteil der Interviewpartnerinnen aufgefordert ist, sich individuell diesen neuen Herausforderungen zu stellen. So bleibt beispielsweise die Mehrheit der Frauen im Rahmen dieser Prozesse gegen ihren Willen kinderlos, was für alle Frauen signifikante psychische Zäsuren in ihren biografischen Verläufen darstellt. Auch wenn individuelle Suchprozesse bei Männern in der soziologischen Betrachtungsweise wenig betrachtet sind (vgl. kritisch Bude et al. 2011), können diese im Sample bei Männern gleichermaßen identifiziert werden. Im Gegensatz zu den Interviewpartnerinnen kreist bei ihnen das Thema der 28 | Sehr eindrücklich beschreibt die folgende Sequenz einer Erzählerin die kulturelle Aufbruchsstimmung dieser Zeit: „… mit 20 nach Australien gegangen, also wo meine Schwester dann gerade da gelandet war, weil ihr zweites Kind auf die Welt kam und ich ihr dabei oder ihnen dabei helfen wollte und war dann auch so acht Monate auch weg. War so sieben Monate in Australien, davon die Hälfte bei meiner Schwester, die Hälfte bin ich gereist und habe unterschiedliche Sachen gemacht. Ich habe mal einen Monat auf einer Ziegenfarm am Ende der Welt gearbeitet, also so einsam war ich noch nie (lächelt) … wie da. Ich bin viel herumgetrampt, habe dann auch zwei Freundinnen dort gefunden und bin mit denen auch getrampt … Habe auf der Weinernte gejobbt. Habe mich sehr unabhängig gefühlt, so dass ich entscheiden kann, wo ich hingehe, was ich mache, war immer wieder auch bei meiner Familie, fand das auch total nett mit den zwei Kleinen, also mit Baby und meinem anderthalb jährigen Neffen. Habe aufgehört zu rauchen dort und habe mir auch so Gedanken gemacht, was ich für einen Beruf machen will“ (Interview 8, 64-74).

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„Selbstverwirklichung“ jedoch eher um die Abgrenzung von der Vätergeneration. Die traditionale Fokussierung auf die soziale Rolle des Ernährers und somit auf die berufliche Karriere wird von fast allen Männern im Sample im Laufe ihres Individualisierungsprozesses infrage gestellt.29 Weitere Erfahrungen, wie beispielsweise das Scheitern von Paarbeziehungen oder berufliche Einbrüche, führen darüber hinaus bei allen Interviewpartnern zur reflexiven Überprüfung der eigenen Individualität als kognitivem Ankerpunkt des eigenen Lebensentwurfs. In allen Fällen führt diese Überprüfung zu neuen Entscheidungsstrukturen und zu neuen Formen von Lebens- und Arbeitskonzepten, die als Suche nach einer individuellen Selbstverwirklichung angelegt sind.30 Entscheidend scheint allerdings im Rahmen dieser Beobachtungen zu sein, dass bei keinem der Interviewpartnerinnen und -partner die Vorstellung vorherrscht, der Verlauf des eigenen Lebens unterliege der prinzipiellen Rationalität menschlicher Willens- und Entscheidungsfreiheit. Diese Aussage trifft sowohl für die (rekonstruierte) Ex-ante- als auch für die Ex-post-Perspektive zu. Aus der dezidierten Ex-post-Perspektive erscheint der Lebenslauf bei allen Interviewpartnerinnen und -partnern eher als ein Gewebe, „eine Matrix“ (Interview 6, 44), in die die Individuen eingebunden sind. Rationale Entscheidungen und Handlungen sind in dieses Gewebe genauso eingebettet wie Ereignisse, Zufälle oder Schicksalsschläge. Den Denkfiguren der Rationalität menschlicher Willens- und Entscheidungsfreiheit liegen explizit soziologische Denkfiguren der Entscheidungsautonomie von Individualisierungsprozessen zugrunde. Diese Entscheidungsautonomie steht in einer subjekttheoretischen Tradition wie sie beispielsweise Kalupner im Hinblick auf Individualisierungsprozesse bei Max Weber herausgearbeitet hat.31 Mit seiner berühmten „Typologie sozialen Handelns“ unter-

29 | Die Ausnahme bildet Interview 10. 30 | Diese Aussage kommt prägnant in folgendem Zitat zum Ausdruck: „… ich hab gesagt, Mensch, beruhig dich, du siehst das vielleicht in ein paar Jahren anders und lass dich aber nicht so auf Abhängigkeiten ein, dass du dir einen großen Luxus erlaubst und später musst du auch dafür arbeiten und dann hat man dich in der Hand. Sondern schau, dass du dir einen Freiraum verschaffst, mach das, vor allem mach das, was dir Spaß macht. Guck, möglichst das zu machen, was dir Spaß macht und mach da was draus. Und mach es nicht, um Geld zu verdienen“ (Interview 2, 937-942). 31 | So zeigt Kalupner in ihrer Arbeit zu den handlungstheoretischen Grundlagen von Individualisierungsprozessen, dass Max Weber in seinen Arbeiten zur menschlichen Handlungsfreiheit an eine Grundunterscheidung von Immanuel Kant anknüpft, nämlich die „Unterscheidung zwischen dem Reich der Freiheit und dem Reich der Natur […]. Freiheit einer Handlung liegt demzufolge immer in dem Maße vor, in dem der ‚Entschluss‘ des Handelnden … auf Grund ‚eigener‘, durch ‚äußeren‘ Zwang oder unwiderstehliche

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scheidet Weber, nach Kalupner, zwischen zweckrationalem Handeln einerseits und wertrationalem Handeln andererseits. „[…] Beide Fälle sind durch das (Selbst-)Bewusstsein des Handelnden über die Inhalte seines Handelns gekennzeichnet: In beiden Fällen weiß der Handelnde, was er tut – auf die Frage eines Beobachters hin könnte er eine Erklärung formulieren – und sein Handeln ist die Ausführung eines vorab gefassten Handlungsplans. Im Falle zweckrationalen Handelns ist der Handelnde sich bezüglich der angemessenen Mittel zur Erreichung eines intendierten Zwecks bewusst, im Falle werthaften Handelns hinsichtlich der Realisierung bestimmter Wertorientierungen. Die Sinnhaftigkeit beider Handlungsformen be-ruht auf Rationalität im Sinne eines durch Vorsätze und Bewusstsein geprägten Handlungsentwurfs“ (ebd., S. 142; vgl. Lepsius 1990b; Schluchter 1996).

Trotz seines eindeutigen Bekenntnisses zu „vernunftgemäßem“ Handeln (ebd., S.144) betont Weber in seinen Arbeiten jedoch den besonderen Zusammenhang von einzelnen Handlungen und dem „Verständnis des Lebens als Ganzem“ (ebd., S. 143). So sind alle Entscheidungs- und Handlungsprozesse in einen Lebensvollzug eingebettet. Diesen Aspekt hat auch Schroer in seiner Darstellung zu „Individualisierung und Rationalisierung“ (Schroer 2001a:15) bei Max Weber stark gemacht.32 Nach Schroer hat Weber historisch früh die Pluralität der Wertsphären in der Entstehung moderner Gesellschaften erkannt und auf seine Probleme hingewiesen. So beschreibe Weber das (moderne) Leben der Menschen „[…] als eine Aneinanderreihung von Entscheidungen, die deshalb nicht einfach zu treffen sind, weil sie niemals nur eine Wahl für etwas sind, sondern immer auch eine Entscheidung gegen etwas implizieren“ (Schroer 2001a:34).

Aus diesen Gründen würden Formen der „methodischen Lebensführung“ (ebd., S. 34, Hervorh. im Original) für ihn in modernen Gesellschaften umso dringlicher, als die Individuen aufgefordert seien, „nach dem Verlust eines einheitlichen religiösen Weltbildes jene zerbrochene Einheit in der Lebensfüh‚Affekte‘ nicht getrübter ‚Erwägungen‘, einsetzt“ (Kalupner 2003:140 ff., Hervorh. im Original; vgl. auch Kap. 3). 32 | Schroer interpretiert Max Webers Arbeiten als „negative Individualisierung“ (Schroer 2001a:15), das heißt, er betont in seiner Darstellung Webers These vom Freiheitsverlust der Individuen. Diese These basiert auf Webers Beobachtung der Säkularisierung und Rationalisierung der entstehenden modernen Gesellschaften. Besonders „mächtig ist dabei die kapitalistische Wirtschaftsordnung, die zur Rationalisierung und Bürokratisierung aller Lebensbereiche sowie zur Disziplinierung und Domestizierung des Individuums beiträgt“ (ebd., S. 17 ff.; vgl. Kap. 4).

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rung je für sich wieder herzustellen“ (ebd., S. 32). Diese Lebensführung wird nach Ansicht Webers notwendig, um eine Art Balance zwischen den einzelnen Wertsphären und ihren unterschiedlichen „Anforderungen herzustellen, eingedenk der unvermeidlichen Konflikte zwischen ihnen“ (ebd., S. 32). Das Charakteristische dieser Lebensführung sei, so Weber, dass es keinen verbindlichen Referenzrahmen mehr gebe, auf dessen Basis die Individuen verlässliche Entscheidungs- und Handlungsanweisungen treffen können. Diese seien daher von „[…] Fall zu Fall, je nach Sachlage, von jedem einzelnen selbst zu entscheiden. Statt eine der Wertordnungen über die andere zu stellen oder aber ihre unschlichtbaren Widerstreite zu leugnen, muss man die Spannung zwischen ihnen ‚aushalten‘“ (ebd., S. 33).

Schroer beschreibt diesen Akt des „Aushaltens“ als „ständig wiederkehrender Topos in Webers Schriften“ (ebd., S.33), dem er sich selbst auch in seinem eigenen biografischen Verlauf bewusst ausgesetzt habe. Diese Einschätzung deckt sich durchaus mit der jüngeren Literatur zu Max Weber, in der regelmäßig betont wird, wie sehr sich dieser selbst der Prozedur unterworfen hat, „optisch, logisch oder moralisch“ (ebd., S. 577) (s)eine Form einer rationalen Lebensführung zu generieren (Schluchter 1996, Radkau 2005). Rational meint vor diesem Hintergrund das „[…] konstante innere Verhältnis, das eine Person zu bestimmten letzten ‚Werten‘ und Lebens-‚Bedeutungen‘ in einem Bildungsprozess gewinnt, der dadurch zum Schicksalsprozess wird“ (Schluchter 1996:61).

Dieser Lebensführung folgend sowie eingebettet in die soziokulturellen Rahmenbedingungen seiner Epoche distanzierte sich Weber dezidiert von einer der klassischen Denkfiguren der Aufklärung, nämlich dass dem „Menschen eine natürliche Vernunft eingeboren sei“ (Radkau 2005:577). Im Gegenteil ginge es darum, sich dem tagtäglichen Ringen um eine „methodische“ Lebensführung auszusetzen (Schluchter 1996). Das individuelle „Aushalten“ konkurrierender Wertmaßstäbe in unterschiedlichen Lebenssituationen und Rollenkonstellationen wird auch von Luhmann als eine notwendige Haltung in modernen Gesellschaften betont (vgl. Kap. 3). Dieses „Aushalten“ bezieht sich auf eine reflexive Position, die äußere und innere Phänomene lediglich wahrnimmt ohne zunächst Bewertungen vorzunehmen und Handlungen einzuleiten. Während Luhmann diese Aktivität jedoch als eine rein geistige Aktivität identifiziert, wird diese Position von den Interviewpartnerinnen und -partnern auch als physische, emotionale und reflexive Haltung beschrieben. Diese von allen Gesprächsteilnehmers für notwendig erachtete Fähigkeit des „Aushaltens“ wird als eine spezifische Form

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der Wahrnehmung beschrieben, die sich zeitlich auf den gegenwärtigen Moment bezieht. Besonders in Zeiten der Krisen geraten hier physische und emotionale Zustände verstärkt in den eigenen Wahrnehmungsraum und prägen die Wahrnehmung auf die eigene Individualität. Diese Zeiten werden als individuelle Bewusstseinszustände beschrieben, die häufig das Alltagsgeschehen außer Kraft setzen. Sie können als Schnittstelle von Vergangenheit und Zukunft beschrieben werden und vereinen äußere Zustände mit den inneren Empfindungsebenen in besonderen Momenten der Konzentration.33 So wird das Gewahr-Werden der Gegenwart zu einem tiefgehenden Bewusstseinsprozess der Individuen, der eine integrative Kraft entfalten (kann). Dieses Gewahr-Werden wird – wie die Erzählungen zeigen – weitgehend auf der Basis von vielseitigen Lebenserfahrungen generiert. Diese Erfahrungen werden durch Lebensgesetze generiert, die als conditio vitae das Gesetz des Lebens, des Sterbens, des Auf blühens und des Scheiterns darstellen. Alle Individuen sind hier per se aufgefordert, diese nicht zu kontrollierenden Prozesse „auszuhalten“ (Abram 2012) und Strategien der eigenen Lebensführung zu entwickeln. Die soziologische Betrachtung fokussiert im Rahmen der Vorstellung einer prinzipiellen Rationalitäts- und Entscheidungsfreiheit von Individuen ebenfalls auf die mentale Ebene (Abram 2012). Diese Sichtweise scheint jedoch, wie der Großteil der Erzählungen zeigt, verkürzt zu sein und sollte um physische, emotionale und ästhetische Aspekte erweitert werden, die auch das innere Wagnis beinhalten, sich individuell auf Lebensvollzüge einzulassen. Max Webers Wirken stellt vor dieser Perspektive sicherlich ebenfalls ein prägnantes Beispiel dar.

6.2.4 Therapeutische Praxis als reflexives Handlungsmodell „[…] Ansgar Weymar verweist auf die Anstrengungen, die das Individuum unternimmt, um dieser ‚Tyrannei der Möglichkeiten‘ (Hannah Arendt) zu entkommen – z. B. durch Flucht in Magie, Metaphysik. Das überforderte Individuum ‚sucht, findet und produziert 33 | Der Religionswissenschaftler Michael von Brück beschreibt die Logik dieser Haltung folgendermaßen: „Gegenwart ist ein Bewusstseinszustand. Man ist mit dem identifiziert, was gerade ist. Zum Beispiel mit dem Einatmen jetzt in diesem Augenblick oder mit dem Blick zwischen uns oder dem Licht, das durch das Fenster fällt und für das ich mich öffne. Durch diese Konzentration entspanne ich mich, die psychosomatische Motorik kommt vorübergehend zur Ruhe. Sie ist nicht gezwungen, immer neue Eindrücke von außen zu verarbeiten, sondern kann bei einer Eindrucksverknüpfung, einem Bild, bleiben. Und genau darin liegt die kreative Kraft des Geistes. Passivität bedeutet, Eindrücke von außen und Erinnerungen an Vergangenes, die gespeichert sind, miteinander zu verknüpfen – im gegenwärtigen Moment“ (Brück 2011:31).

6. Die blinden Flecken der Individualisierungsdebatten zahllose Instanzen sozialer und psychischer Interventionen, die ihm professionell-stellvertretend die Frage nach dem ‚Was bin ich und was will ich‘ abnehmen und damit die Angst vor der Freiheit mindern.’ Hier haben die Antwort-Fabriken, der Psychoboom, die Ratgeber-Literatur ihren Markt, jene Mischung aus Esoterik, Urschrei, Mystik, Yoga und Freud, die die Tyrannei der Möglichkeiten übertönen soll und im Wechsel der Moden weiter bestärkt“ (Beck, Beck-Gernsheim 1994:19).

Therapeutische Praxis als Methode individueller Lebensbetrachtung und Lebensberatung hat seit den 1980er Jahren eine erstaunliche Abwertung in soziologischen Diskussionen erfahren.34 Dies gilt insbesondere für die Debatte um die Individualisierungsthese, wo der „Psychoboom“ (ebd., S.19) in der Regel als sozialer Ausdruck für ein „unreflektiertes Konsumverhalten“ (Höllinger, Tripold 2012:19) interpretiert wird. Diese Interpretation beruht – wie oben im einführenden Zitat formuliert – in der Regel auf der Vorstellung eines „überforderten“ Individuums, das „die mehr oder weniger, meist weniger originelle Verarbeitung von vorgefertigten Sinn-Elementen zu einem Sinn-Ganzen“ (Hitzler 1994b:84) zusammenbringen möchte. Der Versuch der individuellen Problemlösung auf der Basis therapeutischer Verfahren wird in der Betrachtung von Individualisierungsprozessen größtenteils als „Irrweg“ (Höllinger, Tripold 2012:11) bewertet. Diese empirischen Beobachtungen können in besonderem Maße für die Debatten der 1980er und 1990er Jahre formuliert werden, aber auch in der jüngsten Literatur zur Individualisierungsthese finden sich diese Formen der Interpretationen. Die Kritik an der therapeutischen Praxis ist, nach Illouz, vor allem in der US-amerikanischen Diskussion intensiv rezipiert und aufgearbeitet worden. So haben hier „[…] Konsumorientierung und therapeutische Praxis zu einer nahtlosen Integration des Selbst in die Institutionen der Moderne geführt, in deren Folge die Kultur ihre Kraft verloren hat, die Gesellschaft zu transzendieren und ein Widerstandspotential gegen sie zu entfalten […] Nachdem das Selbst nicht mehr dazu fähig ist, Helden, verpflichtende

34 | Obgleich Eva Illouz aus einer kulturtheoretischen und historischen Perspektive die funktionale Bedeutung von Therapien und der „Kultur der Selbsthilfen“ für moderne Gesellschaften analysiert, teilt sie diese Bewertung. „Wie ich zu zeigen hoffe, erscheinen sowohl die Analyse als auch die Kritik des therapeutischen Ethos in einem neuen Licht, wenn sie nicht auf apriorischen politischen Annahmen darüber beruhen, wie soziale Beziehungen beschaffen sein sollten. Ich fühle mich vielmehr der Einsicht des Pragmatismus verpflichtet, dass wir Bedeutungen und Ideen als nützliche Werkzeuge verstehen sollten, Werkzeuge also, die es uns ermöglichen, bestimmte Dinge im alltäglichen Leben zu erreichen“ (Illouz 2009:15 ff.).

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Strategien der Individualisierung Werte und kulturelle Ideale hervorzubringen, hat es sich in sein leeres Schneckenhaus zurückgezogen“ (Illouz 2009:11).

Einer der radikalsten Kritiker therapeutischer Praxis ist der Sozialphilosoph Michel Foucault. „[…] Berühmt-berüchtigt ist der Schlag, den Foucault der Psychoanalyse versetzte, als er ihr glorreiches Projekt der Selbstbefreiung als eine Form von Disziplin und Unterwerfung unter die Macht der Institutionen ‚mit anderen Mitteln‘ bloßstellte“ (ebd., S. 12; vgl. auch Höllinger, Tripold 2012).

Wie in Kap. 2 ausgeführt, können diese eher negativ konnotierten Bewertungen in einem Perspektivenwechsel auf moderne Gesellschaften vermutet werden, der in den ausgehenden 1970er und in den 1980er Jahren stattgefunden hat. Die kontrovers geführten Debatten um die Bestimmung spätkapitalistischer oder postmoderner Gesellschaftsformationen sind geprägt von der Idee eines neuen „Sozialcharakters“, der die Produktionsverhältnisse des Spätkapitalismus in seiner (neuen) funktionalen Dimension spiegelt (vgl. Kap. 2). Kultursoziologische Studien aus den USA haben seit den 1960er Jahren diese Debatten in Westdeutschland enorm bereichert und dem Bild eines „aufrichtigen“ Individuums das Bild eines „authentischen“ Individuums gegenübergestellt (Dubiel 1986:266; Illouz 2009).35 Diese Arbeiten prägten auch die Debatten um die Individualisierungsthese und weisen in ihrem Duktus auf starke Bewertungen im Hinblick auf die Funktionalität der therapeutischen Praxis hin. So hätten sich „[…] die Individuen der Moderne auf die richtungslose Suche nach ihrem privaten Selbst begeben. Ihre Subjektivität behandeln sie wie eine magische Frucht, die sie einzig in der vergeblichen Hoffnung schälen, auf deren nichtexistenten Kern zu stoßen“ (ebd., S. 267).

Die Bedeutung des sozialen „Phänomen[s] der Therapie“ (Illouz 2009:9) für die Entdeckung und Förderung der eigenen Individualität erhält im Sample einen herausragenden Stellenwert.36 Obgleich die vielseitigen Formen der 35 | Nach Dubiel wird vor dieser zeitgenössischen Sichtweise das „aufrichtige“ Individuum im „Moment einer moralischen Entscheidung prinzipiell im Einklang mit dem Codex, der das Verhalten in der Gesellschaft bestimmt […] beschrieben. Das ‚authentische Individuum‘, hingegen, begreift sich in ästhetischen Kategorien. Es ist angetrieben von dem Motiv, in seinem expressiven Handeln ein getreues Abbild seines inneren Selbst darzustellen“ (Dubiel 1986:266; vgl. auch Illouz 2009). 36 | Die einzige Ausnahme bildet Interview 10, dessen Erzähler keine therapeutische Unterstützung in Anspruch genommen hat.

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Praxis sowie die Prozesse der therapeutischen Praxis nicht notwendigerweise im Mittelpunkt der Erzählungen stehen, wird der kognitive Perspektivenwechsel auf sich und das eigene Leben mithilfe dieser Praxis betont und herausgestellt. Konfrontiert mit Problemen erscheint sie für die Interviewpartner zunächst als „nützliches Werkzeug“ (ebd., S. 16), um diese Probleme zu bearbeiten sowie mit dringenden Lebensfragen umzugehen. „[…] Also die Beziehung ist gescheitert an all dem, an der Familie vom Uli und das wir das nicht irgendwie gut lösen konnten oder er nicht gut lösen konnte. Und ich bin dann mit meinen Fehlgeburten dann gleichzeitig, es war der Wahnsinn und wir gingen auseinander, ich bin in der Wohnung geblieben, er ist dann ausgezogen. Das war eine furchtbare, schmerzhafte, schwierige Geschichte und da bin ich dann eben erstmals alleine geblieben und habe dann nochmals so überlegt, irgendwas, ich weiß nicht was, was kann ich tun? Und habe dann erst so eine Gruppentherapie, so eine Gruppe gesucht. Das fand ich eigentlich total spannend, ich habe wahnsinnig viel gelernt in der Zeit …“ (Interview 7, 651-658).

Dieser Ausschnitt weist eindringlich auf die besondere biografische und zeitliche Konstellation hin, in der sich fast alle Interviewpartner therapeutischen Prozessen zuwenden (vgl. auch Höllinger, Tripold 2012). Auf einer inhaltlichen Ebene wird zunächst der Wunsch an die therapeutische Praxis herangetragen, Konflikte zu lösen, Zustände der Orientierungslosigkeit zu überwinden sowie Lebens- und Sinnfragen zu formulieren und zu bearbeiten. Interessanterweise verweist diese Intention mit großem Nachdruck auf die zentrale Erfahrung aller Interviewpartner, dass Lebensläufe nicht als kausal strukturierte Prozesse betrachtet werden können. Sie bestehen, im Gegenteil, aus Ereignissen, deren Vielfalt, Überraschungen und Unübersichtlichkeit die Interviewpartnerinnen und -partner auffordern, sich der Lebendigkeit und der Offenheit des Lebens zu stellen (vgl. 6.2.1). Diese Einschätzung beruht in vielen Erzählungen auf schmerzhaften Erfahrungen, die Phasen der persönlichen Krisen nach sich gezogen haben. In allen Erzählungen werden die Interviewpartner mithilfe dieser Praxis in die Techniken der „Introspektion oder Selbstbeobachtung“ (Illouz 2009:17) eingeführt, die es ihnen ermöglichen, neue Bezüge zu sich selbst und zu ihrem Selbstverständnis herzustellen (vgl. 6.2.1).37 Diese werden insgesamt als hilfreich im Hinblick auf die eigene Entwicklung eingeschätzt, 37 | Der kulturelle Wandel, den die therapeutische Praxis in modernen Gesellschaften ausgelöst hat, ist nach Illouz kaum hoch genug einzuschätzen. Obgleich sie sich in dieser Beobachtung auf die US-amerikanische Gesellschaft und deren Rezeption stützt, können durchaus Hinweise für die funktionale Bedeutung dieser Praxis in deutschen Gesellschaften identifiziert werden. „Der therapeutische Diskurs hat die scheinbar undurchlässigen Sphären der Moderne durchdrungen, ihre Grenzen verwischt und ist auf

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schließen jedoch auch eine kritische Distanz zu bestimmten Methoden der therapeutischen Praxis mit ein. Die Vielfalt dieser Praxis steht weniger im Mittelpunkt der Erzählungen, sondern es wird vor allem die funktionale Bedeutung der therapeutischen Praxis für den eigenen Individualisierungsprozess betont. Konfliktmanagement, konkrete Lebensberatung, aber auch die Beantwortung sinnstiftender Fragen werden von den Interviewpartnerinnen und -partnern als die initiierenden Erwartungen genannt, die über den Beginn einer therapeutischen Praxis entscheiden. Die therapeutische Praxis wird hierbei nicht als statisch beschrieben, sondern als Prozess, der neue Impulse der individuellen Problembearbeitung eröffnet. Diese Impulse finden in den Erzählungen auf der physischen, psychischen und geistigen Ebene der Interviewpartner gleichermaßen statt und unterstützen diese in der Revision der eigenen Normen, Werte und Handlungsmuster.38 Was gleichzeitig mit diesem Vorgehen verbunden wird, ist die Fähigkeit, Entscheidungen und Handlungen „autonom“, das bedeutet hier in stabiler Rückbindung zu den eigenen individuellen Bedürfnissen und Vorstellungen, aufzubauen. Besonders im Hinblick auf die Verbindung von Psychoanalyse und Selbstreflexion werden ähnliche Anforderungen im Rahmen der Kritischen Theorie hinreichend beschrieben. Auf der Suche nach der „avisierte[n] Mündigkeit und Autonomie der Subjekte“ (Celikates 2009:198) stellt die Psychoanalyse seit den Anfängen der Kritischen Theorie eine wichtige Methode dar, um den Wesenszustand der Individuen und ihre Handlungen in Übereinstimmung zu bringen. So wird hier ein „interne[r] Zusammenhang zwischen der Mündigkeit und der Reflexions- sowie Kritikfähigkeit des Individuums“ (ebd., S.198) konstatiert, der über die „Arbeit“ am Individuum gefördert werden kann und diesem Wege zu einem der wichtigsten Kodes geworden, um das Selbst auszudrücken, zu gestalten und anzuleiten“ (Illouz 2009:17; vgl. auch Höllinger, Tripold 2012). 38 | Die vielfältigen Methoden der therapeutischen Praxis werden von Höllinger und Tripold in ihrer Studie als „holistisches Milieu“ bezeichnet, das heißt, es handelt sich hier nicht lediglich um sprachanalytisch zentrierte Verfahren, sondern sie beziehen sich auf „Praktiken zur Verbesserung des körperlichen und seelischen Wohlbefindens“ (Höllinger, Tripold 2012:9). Hierbei handelt es sich um Praktiken, die „im Verlauf des Modernisierungsprozesses der letzten 100 bis 200 Jahre wiederentdeckt, aus anderen Kulturen übernommen oder neu entwickelt wurden“ (ebd., S. 9). Das Spektrum reicht hier von der klassischen Psychotherapie über Chinesische Medizin bis hin zu Yoga, Shiatsu u. v. m. Im Sample liegt der Schwerpunkt der therapeutischen Praxis im psychotherapeutischen Bereich (Gesprächs- und Gestalttherapie, nicht jedoch Psychoanalyse), gleichzeitig kann jedoch eine große kognitive Offenheit im Hinblick auf „alternative“ Methoden konstatiert werden, die Eingang in alltägliche Abläufe und Handlungsroutinen der Interviewpartner gefunden haben.

6. Die blinden Flecken der Individualisierungsdebatten

soll.39 Mithilfe der Technik der Introspektion als Selbstreflexion soll das Individuum ebenfalls befähigt werden, „[…] sich die eigenen, immer in konkreten sozialen Kontexten ausgebildeten Wünsche, Meinungen und Verhaltensweisen zu vergegenwärtigen und sich zu ihnen in ein reflektiertes Verhältnis zu setzen. Autonom zu sein heißt dann nicht, tatsächlich ganz unabhängig von externen oder nicht bewusst kontrollierten internen Einflüssen zu sein, sondern sich zu diesen (internen oder externen) Einflüssen in ein Verhältnis zu setzen, eine Perspektive zweiter Ordnung auf sie einnehmen zu können, die dann allerdings auch konkrete praktische Folgen haben muss, soll die Person nicht in ein dissoziiertes Verhältnis zu ihren Handlungen und Wünschen geraten“ (ebd., S. 199).

Die Herausbildung einer Perspektive zweiter Ordnung auf den eigenen Individualitätsprozess kann, nach Einschätzung aller Interviewpartner, als Ziel der therapeutischen Praxis formuliert werden. Ähnlich wie in der psychoanalytischen Praxis knüpfen auch hier die Verfahren der therapeutischen Praxis am Problembewusstsein (Leiden) der Individuen an und entwickeln in kontinuierlichen Verfahren einen Perspektivenwechsel auf die eigene Handlungsstruktur. Dieses zum Teil langwierige Verfahren ist nur erfolgreich – das wird von allen Interviewpartnern betont –, wenn sich diese auf einer inneren Ebene auf diesen Prozess einlassen können. Auf der anderen Seite steht die emphatische Haltung der Therapeutinnen und Therapeuten, die als Grundvoraussetzung in diesen Prozessen gilt. Diese sollten idealerweise darauf verzichten, sich auf „substantielle Werte und Normen (oder Vorstellungen des guten und richtigen Lebens)“ (ebd., S.202) zu berufen, sondern sollten sich lediglich an der individuellen Ausgangssituation der Interviewpartner orientieren und an der „konstitutiven Dimension“ (ebd., S.202) der Individualität arbeiten.40 39 | Celikates zitiert in seiner Studie beispielsweise Theodor W. Adorno, der Kritikfähigkeit des Individuums wie folgt beschreibt: „Mündig ist der, der für sich selbst spricht, weil er für sich selbst gedacht hat und nicht bloß nachredet; der nicht bevormundet wird. Das erweist sich aber in der Kraft zum Widerstand gegen vorgegebene Meinungen und, in eins damit auch gegen nun einmal vorhandene Institutionen, gegen alles bloß Gesetzte, das mit seinem Dasein sich rechtfertigt. Solcher Widerstand, als Vermögen der Unterscheidung des Erkannten und des bloß konventionell oder unter Autoritätszwang Hingenommenen, ist eins mit Kritik, deren Begriff ja vom griechischen krino, Entscheiden, herrührt“ (Adorno 2003 in: Celikates 2009:198 ff.). 40 | Gemäß der psychoanalytischen Ausrichtung ist das Verfahren dadurch gekennzeichnet, dass es „an der unter Leidensdruck preisgegebenen, ‚letztendlich objektiv beschädigenden‘ Struktur ansetzt, – dass der Analytiker nicht mit Annahmen ‚richtigen Lebens‘ in das hermeneutische Feld eintritt, – dass die psychoanalytische Theorie sich als ‚kritische Theorie‘ beweist, indem sie ihren Erkenntnisgegenstand, nämlich

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In langsamen Schritten wird auf diese Weise eine Befähigung zur Selbstreflexion aufgebaut, die, auch nach Aussage der Interviewpartner, vielseitige Auswirkungen auf die eigene Handlungsstruktur habe. Diese Auswirkungen äußern sich in einer stärkeren Wahrnehmung der eigenen Individualität als einzigartiger Persönlichkeitsstruktur. Dies wiederum ermöglicht die stetige Entwicklung einer eigenen Positionsbestimmung im Lebenskontext, die durchaus „individualisierte“ Handlungsstrategien zur Folge hat. Diese sollten im Dienste des Wohlergehens der Interviewpartner stehen und beziehen sich auf konkrete soziale Konstellationen. Beispielsweise gibt es im Rahmen der Erzählungen eine Reihe von „Wendepunkten“ im biografischen Ablauf, an denen auch gegen normativ dominierende Erwartungen entschieden und gehandelt wird. Diese werden im Rückblick als „Schlüsselsituationen“ bewertet, da sie, aus Sicht der Interviewpartnerinnen und -partner, dem Leben eine individuelle Wendung hin zum Besseren ermöglicht haben.41 Diese „authentischen“ Handlungsstrategien entstehen in der Regel in Übereinstimmung mit den emotionalen, kognitiven und physischen Bedürfnissen der Individuen. So ist Luhmann, auf der Basis der empirischen Ergebnisse, durchaus zuzustimmen, wenn er konstatiert, dass „[…] jetzt [in modernen Gesellschaften] eine andere Profession am Werk ist, um das Individuum zu betreuen, nicht mehr Beichtväter oder theologische Lebensberater, sondern […] Psychiater und Therapeuten“ (Luhmann 1998:225).

Diese Bestimmung trifft insofern auf das Sample zu, als Psychiater und Therapeuten als diejenigen Professionen beschrieben werden, die in erster Linie für die drängende Beantwortung von Lebensproblemen herangezogen werden. So werden im Rahmen der Erzählungen auf der Basis der Introspektion Prozesse in Gang gesetzt, die vielfältige Impulse setzen. Diese finden nicht notwendigerweise nur auf der rationalen Ebene statt, sondern beziehen die emotionale und physische Erlebensebene mit ein (Illouz 2006, 2009). Darüber hinaus werden – neben individuellen, religiösen Vorstellungen – existenzielle Fragen aus einer Ex-post-Perspektive in die Erzählungen integriert. Besonders individuelle Einflussnahmen auf den eigenen Lebensablauf werden in allen Erzählungen stark relativiert zugunsten allgemeiner Vorstellungen über die

die beschädigte Persönlichkeitsstruktur auflöst und nicht wie ‚traditionelle Theorie‘ als Datenkomplex hinnimmt und verrechnet“ (Lorenzer 1977:135). Freilich beschreibt dieses Verfahren einen idealen Zustand, der in der Praxis häufig komplexer und problematischer verläuft (vgl. beispielsweise kritisch zur Rolle des Analytikers bei Apel 1971). 41 | So ist dies in den Interviews 2, 3, 4, 5, 6, 7, 11 und 12 auf sehr unterschiedliche Weise der Fall.

6. Die blinden Flecken der Individualisierungsdebatten

Einbettung des Lebens in den „Einfluss ‚höherer‘ Mächte“ (Höllinger, Tripold 2012:21). Wie Höllinger und Tripold in ihrer Studie herausarbeiten, wird die Methode der Introspektion als Reflexion des eigenen Standpunkts von der Soziologie „häufig unterschätzt“ (ebd., S. 20). Angesichts steigender gesellschaftlicher Optionen und Offenheit würde im Rahmen soziologischer Sichtweisen insgesamt wenig anerkannt, dass die Individuen die „[…] Fähigkeit zur aktiven interpretativen Arbeit leisten müssen, um ihre Identität und ihre Position in der Gesellschaft neu zu bestimmen, wenn diese infrage gestellt werden“ (ebd., S. 20, Hervorh. B.-J. Krings).

Diese Anforderungen können besonders für die Debatten der Individualisierungsthese formuliert werden. Gerade die Erosion religiöser Konzepte habe historisch dazu geführt, dass die Individuen mehr und mehr dazu aufgefordert seien, „die erodierten traditionellen Werthorizonte neu zu definieren. Hier ist kreatives Handeln besonders gefordert“ (ebd., S. 20). Eine wichtige Rolle nimmt vor diesem Hintergrund die Erfahrung der Selbsttranszendenz von alltäglichen Situationen ein, die sich weniger auf (traditionelle) normative und religiöse Konzepte beruft, sondern vor allem auf den Erfahrungsgehalt des gelebten Alltags (Joas 1999, 2004). Auf der Basis der Selbstbeobachtung, aber auch des direkten emotionalen Erlebens entstehen hier Orientierung und Werthaltungen, die (nur) im Rahmen der individuellen Reflexion und Wahrnehmung entstehen können (Eberlein 2000). Diese sind zunächst individuell angelegt und beziehen sich auf spezifische Entscheidungsstrukturen. Dieser Typus von Entscheidungsstruktur kann vor allem in Phasen der Krisen und Orientierungslosigkeit externe Unterstützung erforderlich machen. Die Erfahrungen und Prozesse einer therapeutischen Praxis zielen so auf der einen Seite auf die Selbstreflexion und die daraus entstehende Möglichkeit autonomen Handelns der Individuen. Auf der anderen Seite bilden diese Handlungsstrukturen die Voraussetzung für weitergehende soziale Transformationen, die auf die soziale Umwelt sowie auf die Nachwelt der Individuen ausstrahlen (können). Wie die Erzählungen zeigen, ist die therapeutische Praxis ein wichtiges Instrumentarium im Alltagshandeln geworden, um den Anforderungen an reflexive Handlungsstrategien in aktuellen Gesellschaften gerecht zu werden.

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7. Individualisierung revisited: Vorschläge für eine konzeptionelle Erweiterungen des soziologischen Begriffs der Individualisierung Eine Schlussbetrachtung

„[…] Soziologie als Wissenschaft der Wechselwirkungen zwischen den Individuen einerseits und zwischen Individuum und Gesellschaft andererseits ist somit die Analyse von Umwegen. Dementsprechend steht sie in einer konstitutiven Distanz sowohl zur jeweiligen Einzigartigkeit, Erlebniswelt und Unersetzbarkeit eines Individuums als auch zur Gesellschaft als einer abstrakten Vorstellung, die allerdings ihre Lebenskraft aus den Handlungen eben jener Individuen zieht, denen sie sich als objektive Faktizität entgegenstellt“ (Soeffner 2010:47).

In der vorliegenden Arbeit wurde die übergeordnete Fragestellung untersucht, ob und wie sozial strukturelle Handlungsmöglichkeiten und Anforderungen individualisierter Gesellschaften von den Individuen wahrgenommen und in ihre biografische Planung integriert werden. Hierbei wurde das besondere Augenmerk auf die Frage gelegt, wie sich der Anstieg gesellschaftlicher Optionen in diesen Lebensverläufen zeigt: als eine neue historische Phase der Freisetzung, die den Individuen qualitativ und quantitativ neue Entfaltungs- und Entscheidungsmöglichkeiten eröffnen? Oder aber, eher im Gegenteil, weisen sie auf mühsame Entscheidungsprozesse hin, die die Individuen in Situationen hineinmanövrieren, die sie in ihrer Lebensgestaltung überfordern und zusätzlich belasten? Vor diesen Fragestellungen wurde der Entscheidungsbezug als Anlass genommen, um empirisch zu ermitteln, in welchem Ausmaße die Vielfalt gesellschaftlicher Optionen die aktive Gestaltung des eigenen Lebensverlaufs beeinflusst. Der Aspekt des Entscheidungsbezugs, aber auch die weitgehend pessimistischen Bewertungen hinsichtlich der gesellschaftlichen Folgen von Individua-

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Strategien der Individualisierung

lisierungsprozessen knüpften hierbei an eine kontroverse Debatte der deutschsprachigen Soziologie an, die durch Arbeiten von Ulrich Beck in den 1980er Jahren ausgelöst wurde. Die Rezeption der Individualisierungsthese setzte in den darauffolgenden Jahren in einigen Teildisziplinen der Soziologie wichtige und innovative Akzente und hat sich bis heute ihr „Eigenleben“ in der deutschsprachigen Debatte erhalten. Trotz großer Unterschiede in der Betrachtung von Individualisierungsprozessen für die soziale Dynamik von Gesellschaften besteht in diesen Debatten insgesamt Übereinstimmung darin, dass konzeptionelle Arbeiten zur Individualisierungsthese bis in die heutige Zeit weitgehend ausstehen, vor allem solche, die eine empirisch ausgerichtete Forschungsperspektive einnehmen. Diesem Defizit hat sich die vorliegende Arbeit gestellt. Ausgehend von den inhaltlichen Annahmen der oben genannten Dis-kussion(en) bildet die Individualisierungsthese den Untersuchungsrahmen dieser Arbeit. Es wurde mit der Arbeitsthese begonnen, dass sozialstrukturelle Anforderungen individualisierter Gesellschaften von den Individuen in vielfältiger Weise in ihre Lebensentwürfe integriert und in Handlungsstrategien umgesetzt werden. Die Bewertung neuer Risiken sowie neuer Freiheitsgrade im Rahmen dieser Individualisierungsprozesse muss von den Individuen selbst hergestellt werden. Vor dieser Forschungsperspektive wurde Individualisierung zunächst als ein historischer Prozess definiert, bei dem sich die Art des Eingebundenseins des Individuums in die Gesellschaft verändert (nach Kippele 1998). Individualisierungsprozesse stellen dabei zunächst lediglich die Veränderung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft dar. Diese Sichtweise betont zum einen den historischen Wandel in den Bewertungen der Implikationen dieses Prozesses. Zum anderen distanziert sich die Arbeit von der Vorstellung einer Entbindung oder gar Befreiung von (traditionellen) gesellschaftlichen Strukturen und verfolgt die Annahme, dass Individualisierungsprozesse neue Formen der sozialen Einbindung in gesellschaftliche Strukturen darstellen. Die Operationalisierung dieser These im Hinblick auf die empirische Untersuchung wies schnell auf die methodologischen Probleme hin, die dem soziologischen Konzept der Individualisierung zugrunde liegen und in der Literatur vielfach erörtert werden. Aus diesen Gründen wurde die theoretische Grundstruktur von Individualisierung einer genaueren Betrachtung unterzogen. Diese orientierte sich zunächst an der ursprünglich philosophischen Bedeutung von Individualität und Individuum, welche im wörtlichen Sinne auf das „Unteilbare“, also die kleinste Einheit eines großen Ganzen verwies. Die Vorstellung der Identifizierung einer kleinsten Einheit im Verhältnis zu einem Ganzen wurde seit der Aufklärung auch auf Menschen übertragen, sodass das Augenmerk auf einzelne Personen gelenkt wurde, die ihre Eigenheiten zunehmend „als prozesshafte Einigung und Zuschreibungen“ (Bösch 2011:1277) erkennen mussten. Die (rationale) Selbsterkenntnis des Menschen wurde vor

7. Individualisierung revisited

dieser Vorstellung einerseits eine Zustandsbeschreibung des Individuums, andererseits wurde sie auch eine Aufforderung an die Menschen zum Handeln. So wurde die Ausbildung der eigenen Individualität im Verhältnis zur Umwelt als ein aktiver Bewusstwerdungsprozess konstituiert und damit auch als ein wesentliches Charakteristikum zur Beschreibung moderner Gesellschaften. Alle Gründungsväter der soziologischen Disziplin beschrieben Individualisierungsprozesse als historisch beobachtbare Freisetzungsprozesse aus traditionellen sozialen Strukturen, deren enorme soziale Dynamik von ihnen jedoch unterschiedlich bewertet wurden (Schroer 2001b). Allerdings wurde hier – im Anschluss an philosophische Traditionen – den logischen Problemen des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft besonderes Gewicht verliehen und in vielfältige methodologische Probleme der Disziplin übersetzt. Das Augenmerk auf diese Probleme hat sich in der jüngsten, oben angesprochenen Literatur zu Individualisierungsprozessen weitgehend verflüchtigt zugunsten der Akzentuierung zeitdiagnostischer Themen wie beispielsweise die Beobachtung abnehmender Klassen- und Schichtorientierungen, die Zunahme von individuellen Lebensentwürfen oder die Zunahme individueller Risiken u.v.m. Diese Akzentuierungen und negativen Bewertungen der Implikationen in der soziologischen Debatte um die Individualisierungsthese wurden unter anderem von Niklas Luhmann kritisiert. So plädierte Luhmann stringent dafür, die theoretische Grundstruktur von Individualisierung wieder verstärkt in die Betrachtung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft einzubeziehen und methodologisch an philosophische Diskurse anzuknüpfen. Auf der Basis seiner wissenssoziologischen Arbeiten zu Individualität, Individuum und Individualisierung stimmte Luhmann zwar mit aktuellen Zeitdiagnosen darin überein, dass die Notwendigkeit der aktiven Aneignung von Individualität ein zentrales Merkmal ausdifferenzierter Gegenwartsgesellschaft darstelle. Die soziologische Debatte über diese Perspektive sei jedoch in zweierlei Hinsicht paradox: Erstens sei diese Aneignung weder als historisch angelegter Prozess noch als Zustandsbeschreibung des Individuums steigerbar (Luhmann 1994a, 1994b, 1997). Freisetzungsprozesse könnten nicht unendlich fortgeführt werden, sondern es müsste für die verschiedenen historischen Phasen empirisch ausgewiesen werden, was mit der Zunahme von freiheitlichen Räumen überhaupt gemeint sei. Zweitens könnten die Individuen die Thematisierung der eigenen Individualität als etwas Einzigartiges nur im Vergleich zu anderen Individuen herstellen. Dies setze allerdings eine soziale Dynamik des gegenseitigen „Copierverfahrens“ (Luhmann 1998:220) in Gang, durch die die Grundintention, Einzigartigkeit zu erlangen, weitgehend obsolet werde. Er wies in diesem Kontext darauf hin, dass sozialstrukturelle Erwartungen als aktive Handlungsstrategien selbst hergestellt werden müssten und – vice versa – seien diese Handlungsstrategien in ausdifferenzierten Gesellschaften

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zunehmend erforderlich. Denn diese erzeugten komplexe soziale Umgebungen, die das Individuum mit vielfältigen sozialen, moralischen und ethischen Anforderungen konfrontierten. Traditionelle, einheitsstiftende Institutionen und Autoritäten wie beispielsweise die Kirche hätten diese Funktionen weitgehend verloren. Deshalb entstünde aufseiten der Individuen die Notwendigkeit, Gewissheiten, Orientierungen in ihren Lebensentwürfen individuell herzustellen. Die Strategien, die den Individuen zur Verfügung stünden, seien hierbei Formen der „Selbstbeobachtungen und Selbstbeschreibung“ (Luhmann 1998:215). Das heißt, äußere, „objektive“ Phänomene, müssten permanent mit der inneren, „subjektiven“ Wahrnehmungsebene des Individuums in Übereinstimmung gebracht werden. Dieser Vollzug könne nur innerhalb der Individuen auf der Bewusstseinsebene stattfinden und bilde, nach Luhmann, eben das re-entry zwischen Gesellschaft und Individuum. Da sich das „moderne“ Individuum im historischen Verlauf zunehmend weniger über soziale Stratifikationen in gesellschaftliche Strukturen integrieren ließe, sei es nun immer mehr aufgefordert, sich in einen kontinuierlichen Reflexionsprozess zu begeben. Als eine andauernde historische Entwicklung neuzeitlicher Formen von „Innerlichkeit“ (Taylor 1996) bildete diese Denkfigur seine empirische Ausgangsbasis von Individuum und Individualität. Vor diesem Hintergrund plädierte Luhmann auch explizit für die Ausbildung einer Theorie des Individuums innerhalb der soziologischen Disziplin. Diese methodologischen Grundanforderungen im Hinblick auf Individualisierungsprozesse wurden in der vorliegenden Arbeit als konzeptioneller Ausgangspunkt für die empirische Untersuchung übernommen und fruchtbar gemacht. Auf der Basis der Methode der narrativen Interviews wurde ein subjektorientiertes, qualitatives Verfahren ausgewählt, das den Blick auf die Reflexion der Befragten über ihre Individualität erlaubte sowie die Möglichkeit bot, historische Dimensionen dieser Reflexionen herauszuarbeiten. Wie schon eingangs formuliert, stand hierbei die Frage im Mittelpunkt, ob und wie sich die Zunahme gesellschaftlicher Optionen sowie der damit verbundenen Entscheidungsbezüge auf die biografische Gestaltung der Interviewpartnerinnen und -partner auswirkt. Die Ergebnisse waren in ihrer individuellen Vielfalt überraschend und in ihren Ausprägungen eindrucksvoll und bestärkten weitgehend die konzeptionellen Annahmen der Untersuchung. So führte der Anstieg gesellschaftlicher Optionen und Entscheidungsbezüge bei den Interviewpartnerinnen und -partnern nicht notwendigerweise zu negativen Situationen der Überforderung und des Entscheidungszwanges. Relevant war offenbar auch nicht das Anwachsen der Vielfalt gesellschaftlicher Optionen, die den Individuen hypothetisch zur Verfügung stehen. Weitaus relevanter schien die Frage, ob die Interviewpartnerinnen und -partner Entscheidungen in ihren konkreten Lebensbezügen de facto

7. Individualisierung revisited

ins Auge fassen und realisieren konnten. Dies hing von vielen Faktoren ab und reichte von sozialen, politischen, psychischen und materiellen Dispositionen der Interviewpartnerinnen und -partner bis hin zur Einschätzung, im Rahmen der biografischen Gestaltung einfach Glück gehabt zu haben. Signifikant war hier jedoch, dass die Entscheider und ihre Entscheidungen nicht losgelöst von ihren Kontexten betrachtet werden konnten, sondern, im Gegenteil, sie selbst Teil dieses Kontextes darstellten. Das heißt, Entscheider und Entscheidungen mussten als integrativer Teil von diesen sozialen Konstellationen betrachtet werden und bildeten vor diesem Hintergrund eine konkrete zeitliche und räumliche Konstellation ab. Eine Vielzahl von Entscheidungsoptionen trat in diesen Konstellationen nicht auf. Gleichzeitig wurde in den Erzählungen der Blick auf die eigene Individualität gerade durch die faktische Nicht-Realisierung von Entscheidungen hervorgerufen. Das heißt, Pläne, Visionen und Vorstellungen über die biografische Gestaltung realisierten sich aus unterschiedlichen Gründen gerade nicht und die Interviewpartnerinnen und -partner wurden im Laufe dieser Prozesse aufgefordert, Alternativen zu entwickeln oder sich „einfach“ dem Lebensfluss anzuvertrauen. In vielen Erzählungen spielten hier unvorhergesehene Ereignisse wie plötzliche Todesfälle oder Krankheiten eine wichtige Rolle, die dem Lauf des Lebens eine ungeplante und überraschende Richtung verliehen. Besonders diese unvorhersehbaren Ereignisse, Schicksalsschläge oder persönlichen Krisensituationen führten zu vielfältigen Formen der Selbstbeobachtung und Selbstbegegnung der befragten Interviewpartnerinnen und -partner. Diese Selbstbeobachtungen wurden hierbei in narrative Darstellungen einer eigenen, individuellen Geschichte eingeflochten, die in der Regel in zeitgeschichtliche Familienbezüge eingebettet wurde. Die Reflexion über sowie die Gestaltung der eigenen Individualität wurden hierbei als aussichtsreiche Handlungsstrategie bewertet, um mit diesen Ereignissen umzugehen. In den meisten Fällen wurden diese auch in einen größeren Lebenszusammenhang gestellt, die Einschätzungen zu einem sinngebenden Ganzen im Hinblick auf die eigene Individualität berührten. Diese bezogen sich neben Sinnfragen auch auf Fragen einer gelingenden Lebensführung und Alltagspraxis (Joas 1999, 2004). Diese Handlungsstrategien bezogen sich auf zwei Ebenen: erstens auf die Reflexion der eigenen Individualität, das heißt auf den Ansatz, Fragen nach dem „Leben aus dem eigenen Wurzelpunkt“ (Nunner-Winkler 1985:471) auszuloten. Zweitens basieren diese Strategien auf einer Auseinandersetzung mit der eigenen Individualität sowie den sozialen Strukturen, in die die Interviewpartnerinnen und -partner konkret eingebettet waren. Diese waren in der Regel biografisch angeordnet und bezogen sich auf Familienstrukturen, Bildungsinstitutionen, Arbeitsmarkt, Freundeskreis und vieles mehr. Freisetzungsprozesse aus eben diesen Strukturen und das Austarieren neuer freiheitlicher Räume ließen sich hierbei als individuelle Suchprozesse beschreiben.

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Die Mehrheit der Interviewpartnerinnen und -partner hatte im Rahmen dieser Handlungsstrategien therapeutische Begleitung in Anspruch genommen. Dies deutet auf die Notwendigkeit hin, solche Suchprozesse auf einer inneren Ebene auszukundschaften sowie Konflikte bei der Umsetzung in konkrete Lebensentwürfe zu bewältigen. Was signifikant in Erscheinung trat, ist, dass das Erkunden der eigenen Individualität einerseits als dynamischer Entwicklungs- und Lebensprozess, andererseits als Prozess des Gewahrwerdens auf sich selbst beschrieben wurde. Beides, der aktive Entwicklungsprozess sowie das Gewahrwerden der eigenen Individualität wurden implizit und explizit als „einzigartig“ dargestellt. Diese Einzigartigkeit bezog sich hierbei einerseits auf die sozialen Konstellationen, in die die Interviewpartner hineingeboren wurden und die sie, nach eigenen Angaben, selbst signifikant geprägt haben. Sie bezog sich jedoch auch auf die Wahrnehmung eines eigenen inneren Reife- und Wachstumsprozesses. „Einzigartigkeit“ kann hierbei nicht als statischer Zustand betrachtet werden, sondern wird in allen Erzählungen dynamisch angelegt und meint individuelle Erfahrungen einer kognitiven, emotionalen und seelischen Erweiterung der eigenen Seinsweise. Diese Erweiterung fand immer auf der Bewusstseinsebene der Interviewpartner statt und wurde in unendlich vielen Facetten dargestellt. Vor allem in krisenhaften Lebensphasen der Orientierungslosigkeit und der Offenheit schienen diese Prozesse besonders wichtig, um eine innere „Ortsbestimmung“ (Taylor 1996:209) herzustellen und einen „eigenen Standpunkt in diesem Raum ausfindig zu machen“ (ebd., S. 209). Im Rückblick wurden diese Prozesse in allen Erzählungen als Auslöser für aktive Veränderungen der eigenen Lebenssituationen bewertet, aber auch für die Veränderung der inneren kognitiven Vorstellungen im Hinblick auf die Bewertung von Lebensprozessen. Freisetzungsprozesse erfolgten über diese individuelle Erfahrungsebene, die die intellektuelle Ebene genauso miteinbezog wie emotionale, geistige und körperliche Aspekte. Das (aktive) Gewahrwerden der eigenen Individualität als einzigartigem Möglichkeitsraum tauchte hierbei als eine Form individueller Freiheit auf. Ob dieser Raum als individuelle Freiheit wahrgenommen wird, kann nur vom Individuum selbst bewertet und beschrieben werden. Allerdings können aus der Außenperspektive diese Räume sorgfältig eruiert und beschrieben werden. Der Blick auf den individuellen Kontext, auf die Einzigartigkeit des Individuums weist hierbei darauf, wie und ob Freiheit entsteht. Das Individuum wird vor dieser Sichtweise zur Vermittlungsebene zu den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, was neue Anforderungen an eine konzeptionelle Erweiterung der Individualisierungsthese stellt. Vor diesem Hintergrund beschrieb beispielsweise auch Gross das Individuum

7. Individualisierung revisited „[...] eingebettet in ein komplexes System von Beziehungen nicht nur zwischen Bewusstsein und Organismus, zwischen Erlebnissen und Handlungen, sondern auch zwischen eigenen Möglichkeiten“ (Gross 1999:221).

Die Reflexion der eigenen Individualität ist zu einer wichtigen Handlungsstrategie „moderner“ Individuen geworden. Selbstbeobachtung und Selbstbegegnung werden hierbei als diejenigen Handlungsstrategien genannt, die geeignet sind, neue Formen von Orientierung zu finden. Diese „Kultur des Selbst“ (Taylor 1996, 2009) entzieht sich aus einer makrosoziologischen Perspektive zunächst jeglichen Bewertungen und ist als ein über Jahrhunderte dauernder Entwicklungsprozess moderner Gesellschaften angelegt. Seine kulturellen und sozialen Ausprägungen sind in spezifisch historische Kontexte eingebettet. Diese Ausprägungen weisen in ihrer großen Vielfalt auf neue Formen der Aneignung soziostruktureller Bedingungen, die das Verhältnis Individuum und Gesellschaft im Laufe dieses Prozesses quantitativ und qualitativ verändert haben und noch immer verändern. Die Interpretation dieser Prozesse im Hinblick auf Freisetzungsprozesse der Individuen aus traditionalen Strukturen wurde zu einer der zentralen Denkfiguren der soziologischen Disziplin. Hierbei trat die in der Philosophie schon angelegte Frage nach der Einzigartigkeit des Individuums im Verhältnis zu einem größeren Ganzen in den Hintergrund. Dennoch wurde das Verhältnis Individuum und Gesellschaft als methodologisches Problem im Rahmen dieser Diskussionen implizit und explizit mitgeführt (Schroer 2001a, 2001b). Als originäre Forschungsperspektive der Soziologie wurde sie jedoch in unterschiedliche wissenssoziologische Konzepte überführt und aus diesem Kontext abgelöst. In der jüngeren deutschsprachigen Debatte um die Individualisierungsthese spielt die Denkfigur der Freisetzung von Individuen mit ihren soziokulturellen Folgen beispielsweise eine große Rolle. Es besteht zwar weitgehend Übereinstimmung darüber, dass es aufgrund von Individualisierungsprozessen nicht zu einem „globalen Solidaritätsschwund, einer ersatzlosen Streichung aller Gemeinschaftsformen“ (Schroer 2001a:455) kommen wird. Im Anschluss an die Beobachtungen dieser Arbeit wird hier jedoch lediglich vorgeschlagen, die soziologische Analyse um neue Formen „sozialer Zusammenhänge“ (ebd., S. 455) zu vertiefen. Im Hinblick auf die Ergebnisse der empirischen Untersuchung scheint die bisherige Perspektive den konzeptionellen Grundanforderungen von Individualisierungsprozessen nicht mehr gerecht zu werden. Die Ergebnisse weisen deutlich darauf hin, dass die inhärenten Denkfiguren der Individualisierungsthese konzeptionell verändert werden müssten. Die nötigen Veränderungen wurden in der vorliegenden Arbeit als die „blinden Flecken“ der aktuellen soziologischen Perspektive auf Individualisierungsprozesse identifiziert und werden als zentrale Themen für eine konzeptionelle Erweiterung der Indivi-

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dualisierungsthese benannt. Diese Themen weisen in einem erweiterten Verständnis darauf hin, dass die Reflexion der eigenen Individualität den permanenten Versuch der inneren Ausrichtung im Rahmen der Gestaltung des Lebens darstellt. Diese Ausrichtung wurde von den Interviewpartnerinnen und -partnern selbst als integrativer Bestandteil ihres biografischen Prozesses betrachtet. Er wurde von Luhmann als eine Bewältigungsressource (Luhmann 1997, 1998) bezeichnet, die sich gerade in Zeiten der Krisenhaftigkeit und Orientierungslosigkeit als hochrelevante Handlungsstrategie äußere. Wie sich hierbei im Sample gezeigt hat, ist die Reflexion über Individualität und als Zustands- und Handlungsbeschreibung in einen als einzigartig wahrgenommenen Lebensfluss eingebettet. Das Gewahrwerden dieser Einzigartigkeit, aber auch das Gewahrwerden der vorgegebenen Begrenzungen in der Gestaltung des Lebens wird als lebenslanger Prozess verstanden. Beides, die Einzigartigkeit des Individuums wie auch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen können in letzter Instanz freilich nicht (nur) als soziale und kulturelle Kategorien gedeutet werden. Wie die Erzählungen zeigen, öffnen sie den Raum für das Transzendieren dieser Spannungsfelder. Und es scheint, als ob genau hier Freisetzungsprozesse ihren Anfang nehmen. Diese Prozesse offenzulegen, zu interpretieren und zu stärken sollten auch zukünftige Forschungsperspektiven der soziologischen Sichtweise auf das Individualisierungstheorem sein.

8. Literatur

Abram, Adam (2012): Im Bann der sinnlichen Natur. Die Kunst der Wahrnehmung und die Mehr-als-Menschliche Welt. 1. Dt. Ausgabe, Klein Jasedow: thinkoya. Adorno, Theodor W. (1972): Individuum und Organisation, in: Adorno, Theodor W. (Hrsg.): Gesammelte Schriften, Bd. 8, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 441-456. Ahrendt, Hannah (1996): Vita activa oder Vom tätigen Leben, München: Beck. Apel, Karl-Otto (1971): Szientistik, Hermeneutik, Ideologiekritik. Entwurf einer Wissenschaftslehre in erkenntnisanthropologischer Sicht, in: Apel, Karl-Otto von Bormann, Claus; Bubner, Rüdiger (Hrsg.): Hermeneutik und Ideologiekritik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 7-44. Atkinson, Will (2007): Beck, Individualization and the Death of Class: a Critique, in: British Journal of Sociology, 58. Jg., H. 3, S. 349-366. Bartels, Jeroen (1999): Subjekt, in: Sandkühler, Hans-Jörg (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie, Hamburg: Meiner Verlag, S. 1548-1554. Baumann, Zygmunt (1995): Ansichten der Postmoderne, Hamburg, Berlin: Argument Verlag. Baumann, Zygmunt (1997): Flaneure, Spieler und Touristen. Essays zu postmodernen Lebensformen, Hamburg: Hamburger Edition. Baumann, Zygmunt (2000a): Ethics of Individuals, in: Kron, Thomas (Hrsg.): Individualisierung und soziologische Theorie, Opladen: Leske & Budrich, S. 203-218. Baumann, Zygmunt (2000b): Liquid Modernity, Cambridge: Polity Press. Baumann, Zygmunt (2010): Wir Lebenskünstler, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Baur, Nina; Korte, Hermann; Löw, Martina; Schroer, Markus (2008): Vorwort, in: Baur, Nina; Korte, Hermann; Löw, Martina; Schroer, Markus (Hrsg.): Handbuch Soziologie, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaft, S. 7-9. Beaumont, Hunter (2011): Auf die Seele schauen. Spirituelle Psychotherapie, München: Kösel. Beck, Ulrich (1983): Jenseits von Klasse und Stand? Soziale Ungleichheiten, gesellschaftliche Individualisierungsprozesse und die Entstehung neuer

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Strategien der Individualisierung

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Danksagung

Die Studie ist eine Dissertation, die im Jahre 2015 abgeschlossen wurde. Damit diese erfolgreich gelingen konnte, gebührt eine große Zahl von Personen, die in diesen Forschungsprozess involviert waren, großer Dank. Von institutioneller Seite ist das Vorhaben im Rahmen der wissenschaftlichen Tätigkeiten der Autorin am Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) entstanden. Ganz besonderer Dank gilt hier Armin Grunwald, der grundsätzlich Räume für intrinsisch motivierte Themen im „Institutsbetrieb“ eröffnet. So wurde das Vorhaben nicht nur ideell, sondern auch materiell von Leitungsseite des Instituts großzügig unterstützt, was den Forschungsprozess erheblich erleichtert hat. Dank gilt hier ebenfalls dem stellvertretenden Leiter des ITAS Michael Decker. Ein ganz besonderer Dank gilt Birgit Blättel-Mink, die dem Vorhaben nicht nur eine akademische Beheimatung an der Johann-Wolfgang-Goethe Universität Frankfurt a.M. gewährleistete, sondern in der Funktion der wissenschaftlichen Betreuerin den Forschungsprozess fachlich höchst anspruchsvoll, kontinuierlich kritisch und persönlich engagiert begleitete. Die Funktion der zweiten wissenschaftlichen Betreuerin übernahm Tilla Siegel, die in ihrer analytischen Betrachtung – wie immer – tief „einstieg“ und die Arbeit um kreative Räume wissenschaftlicher Analyseformen erkundete und erweiterte. Auch ihr gilt ein besonderer Dank. Eingebettet waren diese Diskussionen in das regelmäßig abgehaltene DoktorandInnenkolloquiums des Instituts für Gesellschaftswissenschaften der Universität Frankfurt, das sich durch eine engagierte, lebhafte und inspirierende Diskussionskultur auszeichnete. Hier sei ganz herzlich den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Kolloquiums für wichtige Impulse und kritische Anregungen gedankt: Raphael Menez, Christina Kapaun, Ingrid Katz, Torsten Noack, Dirk Dalichau, Karsten Kassner, Winfried Köppler, Daniel Kahnert, Christian Dehmel sowie Monika Buchsbaum. Ohne den kritischen Blick auf und das geduldige Räsonieren über Textfragmente von Außenstehenden kann eine solche Arbeit nicht gelingen. So gab es eine Reihe von Kolleginnen und Kollegen im eigenen Arbeitskontext, denen

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hier für Ihr Mitlesen und Mitdenken großer Dank gebührt. An erster Stelle sei hier Linda Nierling genannt, die schon erste Ideen des Vorhabens bereitwillig diskutierte und im Laufe des Forschungsprozesses für anregende Diskussionen und auch für das Lesen der ersten Manuskripte stets zur Verfügung stand. Darüber hinaus gebührt besonderer Dank Stefan Böschen, Christoph Schneider, Patrick Sumpf und Oliver Parodi, die ihre Expertise unermüdlich zur Verfügung stellten und weite Teile der Arbeit einer gründlichen und kritischen Revision unterzogen. Dank auch an Carsten Orwat, der mich vor allem in der letzten Phase im Rahmen meiner Funktion im ITAS entlastete. Ein ganz besonderer Dank gilt allen Interviewpartnerinnen und -partner, die sich bereit erklärten, für den empirischen Teil der Arbeit zur Verfügung zu stehen. Diese Interviews waren von großer Offenheit geprägt und teilweise emotional sehr bewegend für alle Beteiligten. Roswita Huber-Schaffrath hat in ihrer Funktion als Psychoanalytikerin die Supervision für die empirische Auswertung der Narrativen Interviews übernommen. Ihre interdisziplinäre Sichtweise auf soziale Prozesse hat der soziologischen Perspektive in der Arbeit anregende und wichtige Impulse verliehen. Dem Dank an diesem intensiven Prozess kann hier kaum Ausdruck verliehen werden. Sabine Krings hat die sorgfältige Transkription der Interviews sowie die Bearbeitung des redaktionellen Layouts des gesamten Buches übernommen. Sylke Wintzer, Miriam Miklitz und Silvia Krings haben den Text einer genauen sprachlichen und inhaltlichen Korrektur unterzogen. Gabi Petermann und Monika Zimmer haben mir bei der technischen Durchführung der Arbeit tatkräftig zur Seite gestanden. Uli Kaiser hat das Design des Buchcovers generiert. Ihnen allen für ihren großen Einsatz, aber auch für Ihr großes Interesse an der Arbeit ein herzliches Dankeschön. Darüber hinaus möchte ich gerne folgende Personen würdigen, die mir in diesem Prozess über viele Jahre ermutigend und stets positiv zur Seite gestanden haben: Waldtraud Schöneberg, Beate Garms, Rotraud Kusterer, Barbara Tewes-Heiseke, Karin Becker-Grindler, Bärbel Hocher und Bettina Kaufmann. Meine Familie hat den Prozess auf unterschiedliche Weise mitgetragen. António Moniz ließ nie den geringsten Zweifel aufkommen, dass dem Erfolg des Vorhabens irgendetwas im Wege stehen könnte. Seine unerschütterliche Zuversicht und (auch) seine leise Ungeduld in den letzten Jahren förderten auf konstruktive Weise, den Prozess zügig zu Ende zu bringen. Dasselbe gilt für unsere Tochter Aloe, deren kindliche Liebe durch die Höhen und Tiefen des Alltags trägt. Einfach so! Ihnen Beiden einen großen Dank . Vielseitige Möglichkeiten der Reflexion und Wege, den eigenen Entscheidungs- und Handlungsrahmen zu beeinflussen, ist ein Merkmal unserer heutigen Zeit. Unseren Vorfahren waren diese Möglichkeiten vielfach verwehrt. Noch im Jahre 1944 wurde im nationalsozialistischen Deutschland mein Vater, Franz Krings, als siebzehnjähriger Mann an die französische Front beor-

Danksagung

dert, die er überlebte. Diese Erfahrung sowie die traumatische Zeit der französischen Kriegsgefangenschaft haben ihn - wie viele andere Menschen auch – in der Gestaltung seines biographischen Lebenslaufs in jener Zeit schicksalshaft geprägt. Ihm ist diese Arbeit gewidmet.

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Gesellschaft der Unterschiede Projektgruppe »Neue Mitleidsökonomie« (Hg.) Die neue Mitleidsökonomie Armutsbekämpfung jenseits des Wohlfahrtsstaats? November 2016, ca. 250 Seiten, kart., ca. 24,99 €, ISBN 978-3-8376-3158-6

Lothar Böhnisch, Wolfgang Schröer Das sozialpolitische Prinzip Die eigene Kraft des Sozialen an den Grenzen des Wohlfahrtsstaats September 2016, ca. 200 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3459-4

Daniela Neumann Das Ehrenamt nutzen Zur Entstehung einer staatlichen Engagementpolitik in Deutschland Februar 2016, 508 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3278-1

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Gesellschaft der Unterschiede Ilka Sommer Die Gewalt des kollektiven Besserwissens Kämpfe um die Anerkennung ausländischer Berufsqualifikationen in Deutschland 2015, 412 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3292-7

Verena Rothe, Gabriele Kreutzner, Reimer Gronemeyer Im Leben bleiben Unterwegs zu Demenzfreundlichen Kommunen 2015, 288 Seiten, kart., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2996-5

Tina Denninger, Silke van Dyk, Stephan Lessenich, Anna Richter Leben im Ruhestand Zur Neuverhandlung des Alters in der Aktivgesellschaft 2014, 464 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2277-5

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Gesellschaft der Unterschiede Johanna Muckenhuber, Josef Hödl, Martin Griesbacher (Hg.) Normalarbeit Nur Vergangenheit oder auch Zukunft?

Laura Glauser Das Projekt des unternehmerischen Selbst Eine Feldforschung in der Coachingzone

November 2016, ca. 300 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3462-4

März 2016, 266 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3421-1

Carolin Freier Soziale Aktivierung von Arbeitslosen? Praktiken und Deutungen eines neuen Arbeitsmarktinstruments

Leiv Eirik Voigtländer Armut und Engagement Zur zivilgesellschaftlichen Partizipation von Menschen in prekären Lebenslagen

November 2016, ca. 260 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3548-5

Claudia Stöckl, Karin Kicker-Frisinghelli, Susanna Finker (Hg.) Die Gesellschaft des langen Lebens Soziale und individuelle Herausforderungen Oktober 2016, ca. 250 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3426-6

Sandra Meusel Freiwilliges Engagement und soziale Benachteiligung Eine biografieanalytische Studie mit Akteuren in schwierigen Lebenslagen April 2016, 264 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-3401-3

Therese Garstenauer, Thomas Hübel, Klara Löffler (Hg.) Arbeit im Lebenslauf Verhandlungen von (erwerbs-)biographischer Normalität

2015, 322 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3135-7

Monika Windisch Behinderung – Geschlecht – Soziale Ungleichheit Intersektionelle Perspektiven 2014, 232 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2663-6

Hannes Krämer Die Praxis der Kreativität Eine Ethnografie kreativer Arbeit 2014, 422 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2696-4

Franz Schultheis, Berthold Vogel, Kristina Mau (Hg.) Im öffentlichen Dienst Kontrastive Stimmen aus einer Arbeitswelt im Wandel 2014, 296 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2770-1

März 2016, 212 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3373-3

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