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German Pages 363 Year 2017
Strafrechtliche Abhandlungen Neue Folge · Band 280
Strafzwecke und Strafzumessung bei der Steuerhinterziehung Von
Marc-Robin Rastätter
Duncker & Humblot · Berlin
MARC-ROBIN RASTÄTTER
Strafzwecke und Strafzumessung bei der Steuerhinterziehung
Strafrechtliche Abhandlungen · Neue Folge Begründet von Dr. Eberhard Schmidhäuser (†) em. ord. Prof. der Rechte an der Universität Hamburg
Herausgegeben von Dr. Dres. h. c. Friedrich-Christian Schroeder em. ord. Prof. der Rechte an der Universität Regensburg
und Dr. Andreas Hoyer ord. Prof. der Rechte an der Universität Kiel
in Zusammenarbeit mit den Strafrechtslehrern der deutschen Universitäten
Band 280
Strafzwecke und Strafzumessung bei der Steuerhinterziehung
Von
Marc-Robin Rastätter
Duncker & Humblot · Berlin
Zur Aufnahme in die Reihe empfohlen von Professor Dr. Wolfgang Frisch, Freiburg Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg hat diese Arbeit im Wintersemester 2016/2017 als Dissertation angenommen.
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© 2017 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde Druck: buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0720-7271 ISBN 978-3-428-15334-3 (Print) ISBN 978-3-428-55334-1 (E-Book) ISBN 978-3-428-85334-2 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
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Meinen Eltern in tiefer Dankbarkeit und
meinen Großeltern in liebevoller Erinnerung
Vorwort Diese Arbeit wurde der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Freiburg im Wintersemester 2016 / 2017 als Dissertation vorgelegt. Sie berücksichtigt die Literatur und Rechtsprechung bis zum Sommer 2016. Mit ihr wird der Versuch einer deliktsspezifischen Ausarbeitung des Strafzumessungsrechts unternommen. Sie versteht sich insoweit als Beitrag zum „Besonderen Teil“ des Strafzumessungsrechts. Ein weiterer Schwerpunkt der Arbeit wurde dabei auf die Besonderheiten gelegt, die sich aus der Befugnisverlagerung von der Staatsanwaltschaft auf die Finanzbehörden im Strafbefehlsverfahren ergeben. Hierzu enthält die Arbeit eine empirische Erhebung sowie eine ausführliche Darstellung und Würdigung der Verwendung sogenannter Strafzumessungstabellen seitens der Finanzbehörden. Bedanken möchte ich mich allen voran bei meinem verehrten Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Dres. h. c. Wolfgang Frisch. Er hat die Arbeit maßgeblich unterstützt und mir in wertvollen Diskussionen den Weg gewiesen. Darüber hinaus wäre diese Arbeit ohne die fundamentalen Beiträge von Prof. Frisch zu den Grundlagen des Strafzumessungsrechts nicht möglich gewesen. Ein besonderer Dank gilt ferner Herrn Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Hans-Jörg Albrecht sowie den Mitarbeitern des Max-Planck-Instituts für Strafrecht, insbesondere Herrn Dr. Michael Kilchling, für die Unterstützung bei der Planung und Durchführung der Datenerhebung. Der empirische Teil dieser Arbeit profitierte ganz erheblich von der Erfahrung und dem Zuspruch, die das Max-Planck-Institut mir hierbei zuteilwerden ließ. Bedanken möchte ich mich bei Prof. Albrecht auch für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Besonderer Dank gilt des Weiteren Prof. Dr. Henning Radtke, der mir im persönlichen Gespräch als Mitglied des für das Steuerstrafrecht zuständigen 1. Strafsenats des BGH wertvollen Einblick in die höchstrichterliche Rechtsprechung gegeben hat. Ich bedanke mich ferner bei Herrn Prof. Dr. Dres. h. c. Friedrich-Christian Schroeder und Herrn Prof. Dr. Hoyer für die Aufnahme in die Reihe der ‚Strafrechtlichen Abhandlungen, N.F.‘. Ein herzlicher Dank gilt auch meinen ehemaligen Kollegen am Institut für Strafrecht und Strafprozessrecht, Abt. 1, allen voran Frau Margot Nostadt sowie Herrn Dr. Dominik Stahl, der meine Gedanken in zahlreichen Gesprä-
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Vorwort
chen geduldig ertragen und – selbst mit einer Dissertation aus dem Bereich der Strafzumessung beschäftigt – wertvolle Anregungen gegeben hat. Schließlich möchte ich mich bei meiner gesamten Familie und meiner Freundin Monika bedanken, ohne deren Unterstützung diese Arbeit nie möglich gewesen wäre. Karlsruhe, im Oktober 2017
Marc-Robin Rastätter
Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Der „Besondere Teil“ des Strafzumessungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die §§ 38 ff. StGB und das Jugendstrafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Steuerstrafrechtliche Besonderheiten i. S. v. § 369 Abs. 2 AO . . . . . . . 3. Verfahrensrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Sonstige rechtliche Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17 17 18 19 20 21 22 22
1. Teil
Schuldprinzip und Strafzwecke im Steuerstrafrecht 24 1. Kapitel
Schuldprinzip – Strafbegründungsschuld und Strafzumessungsschuld 25
A. Unrechtskonzept und Strafzumessungsschuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 B. Schuldvorwurf und Strafzumessungsschuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 C. Strafzwecke und Strafzumessungsschuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 2. Kapitel
Die Strafzumessungsschuld der Steuerhinterziehung
A. Struktur des Unrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Erfolgsunrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rechtsgut der Steuerhinterziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Kein Rechtsgut? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Steuerliche Mitwirkungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Vermögen des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Gerechte und gleichmäßige Lastenverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Qualität der Rechtsgutsbeeinträchtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Differenzierungskriterium: Vermögensschaden . . . . . . . . . . . . . . . . b) Fälle eines „echten“ Vermögensschadens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Fälle der Vermögensgefährdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
32 33 33 33 34 35 35 36 40 40 41 42
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Inhaltsverzeichnis aa) Fälle zu geringer, endgültiger Festsetzung (§ 370 Abs. 4 S. 1 HS 1 Alt. 2 AO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 bb) Fälle zu geringer, vorläufiger Festsetzung und Festsetzung unter Vorbehalt der Nachprüfung, § 370 Abs. 4 S. 1 HS 2 AO 44 cc) Fälle der Nicht- und nicht rechtzeitigen Festsetzung, § 370 Abs. 4 S. 1 HS 1 Var. 1, 3 AO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 dd) Fälle abstrakter Vermögensgefährdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 II. Handlungsunrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 1. Verhältnis zum Erfolgsunrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 2. Gleichstellung von Tun und Unterlassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 3. Gedanke der Selbstschädigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 4. „Opfer“ der Steuerhinterziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52
B. Bedeutungsrang des Deliktstypus: Strafwürdigkeit der Steuerhinter ziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 I. Normative Wertungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 1. Strafrahmenvergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 a) Sanktionsdrohungen Steuerhinterziehung / Betrug bis zur AO 1977 57 b) Bundesrat im Gesetzgebungsverfahren zur AO 1977 . . . . . . . . . . . 61 2. Systematische Stellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 3. Selbstanzeigevorschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 4. Richterrechtliche Konkretisierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 a) Strafverfolgungsstatistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 b) Höchstrichterliche Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 5. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 II. Strafwürdigkeit aus Sicht der Bevölkerung – Ergebnisse empirischer Sozialforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 1. World Values Survey (WVS) und European Values Study (EVS) . . . . 69 2. Allbus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 3. Studien der Forschungsstelle für empirische Sozialökonomik . . . . . . . 74 4. Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 3. Kapitel
Präventive Strafzwecke im Steuerstrafrecht
76
A. Die Bedeutung der Spezialprävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 I. Negative Spezialprävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 II. Positive Spezialprävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 B. Die Bedeutung der Generalprävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Abschreckungsidee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Positive Generalprävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Relativierungen generalpräventiver Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
81 81 83 85
Inhaltsverzeichnis11 1. § 371 AO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Steuerrecht und sein Ruf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Steuerverschwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das Deliktsdunkelfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
85 87 88 89 91
C. Das Antinomieproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 4. Kapitel
Die Wertung des § 371 AO: Relevanz von „außerstrafrechtlichen“ Zwecküberlegungen? 92
A. Strafzwecktheorie: Die Selbstanzeigevorschrift als spezielle Strafzumes sungsregelung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 B. Die Selbstanzeigevorschrift als Ausdruck besonderer Zwecksetzung . . . . 96 I. Die Ermöglichung der „Rückkehr in die Steuerehrlichkeit“ – spezialoder generalpräventive Schwerpunktsetzung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 II. Die Fiskaltheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 C. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 2. Teil
Grundlagen der Strafzumessungsentscheidung bei Steuerhinterziehung 104 1. Kapitel
Strafrahmenfindung 104 A. § 370 Abs. 3 AO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Auswirkungen des § 376 AO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 AO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die BGH-Rechtsprechung zu § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 AO . . . . . . . . . . 2. Kritische Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Anlehnung an den Betrug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Differenzierung in der Sache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) BGH vom 15.12.2011 und Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Denkbare Differenzierungsansätze des BGH . . . . . . . . . . . . . . (1) Differenzierung Gefährdungsschaden – echter Vermögensschaden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Differenzierung nach Art des angegriffenen Rechtsgutsobjekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Differenzierung nach Qualität der Rechtsgutsbeeinträchtigung: Gefährdung – Verletzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
105 105 107 108 109 109 112 113 114 114 115 118 119
12
Inhaltsverzeichnis c) Die Differenzierung im Betrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Addition der Hinterziehungsbeträge bei Tateinheit . . . . . . . . . . . . . III. § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 AO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 3 AO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 4 AO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 5 AO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
120 123 124 128 129 130
B. Schmuggel, § 373 AO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 C. Strafrahmenmilderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 2. Kapitel Strafhöhenbemessung A. Strafzumessungstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Nach Natur der Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Nach Zweck der Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Nach formalen Aspekten der Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
137 138 138 139 140
B. Strafzumessungstraditionen zur Strafhöhenentscheidung bei der Steuer hinterziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 I. Richterrecht der Instanzgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 1. Empirische Untersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 a) Meine I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 b) Meine II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 2. Richterliche Strafrahmen und Straftaxen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 a) Kritik und Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 b) Strafmaßtabellen bei Steuerhinterziehung – bisheriger Kenntnisstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 c) Strafmaßtabellen – Ergebnisse eigener Forschung . . . . . . . . . . . . . 160 aa) Koblenzer Tabellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 bb) Mecklenburg-Vorpommern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 cc) Sachsen-Anhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 3. Exkurs: Die U.S. Sentencing Guidelines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 II. Die BGH-Rechtsprechung zur Strafhöhe bei Steuerhinterziehung . . . . . . 166 1. Abwägung und Umwertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 2. Der Umwertungsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 3. Präventionswertung und Antinomieproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 III. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173
Inhaltsverzeichnis
13
3. Kapitel
Weitere Aspekte der Strafzumessungsentscheidung
173
A. Strafartwahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 B. Strafaussetzung zur Bewährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 C. Doppelverwertungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 D. Strafzumessung bei Tatmehrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Dogmatische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Rechtsprechung des BGH zur Strafzumessung bei Tatmehrheit bei Steuerhinterziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Kritische Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Einzelstrafzumessung bei Tatmehrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Berücksichtigung des Gesamtschadens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Berücksichtigung wiederholter Tatbegehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Gesamtstrafenzumessung bei Tatmehrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Berücksichtigung wiederholter Tatbegehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Berücksichtigung des Gesamtschadens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
180 180 183 184 184 184 185 186 186 187 189
3. Teil
Die strafzumessungsrelevanten Umstände 191
Der Hinterziehungsbetrag 191
1. Kapitel
A. Inhaltliche Aspekte des „Hinterziehungsbetrages“ als Strafzumessungs merkmal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Erfolgs- und Handlungsunrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Art der Rechtsgutsbeeinträchtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Realisierung des Gefährdungsschadens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Verspätungsschaden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Die Hinterziehung „auf Zeit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die einzelnen Konstellationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Behandlung im Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Behandlung in der Rechtsprechung des BGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die bisherige Rechtsprechung des BGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Rechtsprechung vom 17.03.2009 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Kompensationsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
192 192 193 196 198 202 203 203 204 204 205 207 212 213
B. Die Bedeutung des Hinterziehungsbetrages im Gefüge der Strafzumes sungsumstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215
14
Inhaltsverzeichnis 2. Kapitel
Weitere Tatumstände
217
A. Staatliche Mitverursachung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 B. Vorsatzform und Wille zur Rechtsgutsbeeinträchtigung . . . . . . . . . . . . . . . 220 C. Gefährliche Tatbegehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 D. Eigennutz, Fremdnutz und weitere subjektive Tatumstände . . . . . . . . . . . 224 E. Besondere Pflichtenstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 F. Das Rechtsgutsobjekt: „Griff in die Kasse“ oder „Prellen der Zeche“ . . . 227 G. Art der Steuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 H. Verhältnis zwischen gezahlten und hinterzogenen Steuern . . . . . . . . . . . . . 232 3. Kapitel Vorleben
234
4. Kapitel
Schadenswiedergutmachung durch Nachzahlung
236
A. Erfolgswert der Schadenswiedergutmachung durch Nachzahlung . . . . . . 237 B. Handlungswert der Schadenswiedergutmachung durch Nachzahlung . . . 238 C. Nichtwiedergutmachung und Verhinderung der Wiedergutmachung . . . . 241 5. Kapitel Geständnis A. Grundsätzliche strafzumessungsrechtliche Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . I. Schadenswiedergutmachung durch Geständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Verfahrenserleichterung durch Geständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Beitrag zur Tataufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
243 244 244 245 246
B. Unwirksame Selbstanzeige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 C. Absprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Gegenstand und Entwicklung der Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Strafzumessungsrechtliche Probleme bei Absprachen . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Schuldprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Problemaufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die rechtliche Bewertung von Geständnissen bei Absprache . . . . . 2. Nemo tenetur und § 136a StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Legalitätsprinzip und Untersuchungsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
249 249 252 252 252 254 256 257
Inhaltsverzeichnis15 III. Absprachen in Fällen der Steuerhinterziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Abspracheanfälligkeit der Steuerhinterziehung . . . . . . . . . . . . . . . a) Ursache: Steuerrecht – rechtliche Schwierigkeiten . . . . . . . . . . . . . b) Ursache Steuerrecht – tatsächliche / faktische Schwierigkeiten . . . . aa) Kooperationsmaxime im Steuerrecht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Aufklärungspflicht im Steuerstrafverfahren . . . . . . . . . . . . (1) Auswirkungen des Zweifelgrundsatzes . . . . . . . . . . . . . . . (2) Eigene Sachverhaltsermittlung des Gerichts und Darstellung in den Urteilsgründen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Die tatsächliche Verständigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Täterkreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Fiskalische Ausrichtung des Steuerstrafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Behördenorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Grenzen der fiskalischen Ausrichtung des Steuerstraf verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Leitlinien für den Rechtsanwender in der Strafzumessung . . . . . . . . . a) Keine Schuldunterschreitung für Verfahrenserleichterungen . . . . . b) Keine Schuldunterschreitung aus Fiskalinteressen . . . . . . . . . . . . . c) Keine Schuldunterschreitung durch Verletzung des Unter suchungsgrundsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
259 260 260 262 262 264 264 266 267 270 271 271 273 274 274 275 276
6. Kapitel
Überlange Verfahrensdauer
277
A. Der Zeitfaktor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 B. Belastungen des Verfahrens für den Täter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 7. Kapitel
Sonstige täterbelastende Tatfolgen und allgemeine Strafempfindlichkeit 281 4. Teil
Die Finanzbehörden als Rechtsanwender 284 1. Kapitel
Die Verlagerung staatsanwaltschaftlicher Befugnisse auf die Finanzverwaltung 284
A. Nutzen der Befugnisverlagerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 B. Probleme der Befugnisverlagerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 C. Bedeutung der Befugnisverlagerung für die Strafzumessung . . . . . . . . . . . 290
16
Inhaltsverzeichnis 2. Kapitel
Die Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren
293
3. Kapitel
Die Anweisungen für das Strafverfahren und Bußgeldverfahren (Steuer) 295 4. Kapitel
Strafmaßvorgaben der Finanzbehörden für die Strafhöhenbemessung
297
A. Bisheriger Kenntnisstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 B. Ergebnisse eigener Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zur Anwendung derzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zur rechtlichen Form, Autorenschaft und inhaltlichen Orientierung der Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
299 299 300 300 302 303
Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360
Einleitung I. Der „Besondere Teil“ des Strafzumessungsrechts Das Strafzumessungsrecht unterliegt – wie kaum ein anderes Gebiet des Strafrechts – noch immer einem „Prozess der ‚Verrechtlichung‘ und ‚Verwissenschaftlichung‘ “.1 Von einer Vernachlässigung oder Rückständigkeit des Strafzumessungsrechts kann schon seit geraumer Zeit keine Rede mehr sein.2 Seit den ersten umfassenden Systematisierungen des Strafzumessungsrechts von Bruns3 1967 und 1974 trug eine ständig steigende Vielzahl an Beiträgen und monographischen Untersuchungen zur Dogmatisierung4 des Strafzumessungsrechts bei, stets begleitet vom Voranschreiten auch der sanktionsorientierten Kriminologie und ihrem Teilgebiet der Pönologie. Von der tiefgehenden Durchdringung des Strafzumessungsrechts zeugen die mittlerweile in regelmäßigen Neuauflagen erscheinenden Gesamtdarstellungen von Streng5, Meier6 sowie das an Praktiker gerichtete Werk von Schäfer, Sander und van Gemmeren7. Im Zentrum der wissenschaftlichen Diskussion standen dabei bislang stets Fragen von allgemein-dogmatischer Bedeutung, gleichsam der Allgemeine Teil des Strafzumessungsrechts. Die beträchtliche Ausarbeitung und zunehmende Konsensfindung in den Grundlagen gestattet es inzwischen, den Blick auf deliktspezifische Besonderheiten im Bereich der Strafzumessung zu werfen.8 Einen solchen Beitrag zum „Besonderen Teil“9 des Strafzumessungsrechts zu leisten, ist das Anliegen dieser Arbeit. 1 Streng,
Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 2. ZStW 99 (1987), 349. 3 Bruns, Strafzumessungsrecht; Bruns, Strafzumessungsrecht, 2. Aufl.; Bruns, Leitfaden des Strafzumessungsrechts. Zu nennen sind freilich auch die bereits zuvor geleisteten, bahnbrechenden Arbeiten von Dreher, Über die gerechte Strafe, und Spendel, Zur Lehre vom Strafmaß. 4 Siehe insbesondere Frisch, ZStW 99 (1987), passim; ders. in: Wolter, 140 Jahre Goltdammer’s Archiv für Strafrecht, passim. 5 Streng, Strafrechtliche Sanktionen. Die Strafzumessung und ihre Grundlagen. 6 Meier, Strafrechtliche Sanktionen. 7 Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung. 8 Siehe hierzu etwa die Darstellung bei Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 1598 ff. Monographische Arbeiten sind bislang vorwiegend auf die empirische Erfassung gerichtet, vgl. H.-J. Albrecht, Strafzumessung bei schwerer Kriminalität; Hoppenworth, Strafzumessung beim Raub; Meine, Die Strafzumessung bei der Steuerhinterziehung; Schöch, Strafzumessungspraxis und Verkehrsdelinquenz. 2 Frisch,
18
Einleitung
Dass die Wahl dabei mit der Steuerhinterziehung auf ein Delikt des Nebenstrafrechts fiel, mag auf den ersten Blick überraschen. Wie sich im Verlaufe der Untersuchung jedoch zeigen wird, machen die spezifische Unrechtsstruktur sowie vor allem die ergiebige höchstrichterliche Rechtsprechung zur Strafzumessung die Steuerhinterziehung zum idealen Delikt für das hiesige Unterfangen. Hinzukommt, dass neben schweren Sexual- und Tötungsdelikten es vor allem Fälle der Steuerhinterziehung sind, die im Hinblick auf die Strafzumessungsentscheidung immer wieder auch in die breite öffentliche Diskussion geraten10 und damit Auslöser und Orientierungspunkt für Fragen nach der Gerechtigkeit des Strafsystems insgesamt sind. Das Verständnis der Arbeit als Beitrag zum „Besonderen Teil“ des Strafzumessungsrechts ist indes nicht im Sinne einer lehrbuchartigen Zusammenstellung eines Teilrechtsgebiets zu verstehen. Ziel der Arbeit ist daher weniger die Systematisierung vorhandener Erkenntnisse, als vielmehr problemorientiert die wichtigsten Fragestellungen zu erörtern und einer Lösung zuzuführen. Dass dabei eine Schwerpunktsetzung erfolgen muss und manche Einzelfragen nur am Rande diskutiert werden können, versteht sich von selbst. Im Folgenden soll der Untersuchungsgegenstand daher weiter eingegrenzt werden und schließlich ein Überblick über den Gang der Untersuchung gegeben werden.
II. Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes Grundvoraussetzung für die Untersuchung eines Rechtsgebiets ist zunächst die Klärung der Frage, welche rechtlichen Vorgaben diesem Rechtsgebiet zuzuordnen sind oder mit diesem in einem – bei systematischer Betrachtung des Rechtsgebietes – direkten Zusammenhang stehen. Damit einher geht zugleich die Frage, an wen sich diese rechtlichen Vorgaben richten, wer also Rechtsanwender des zu untersuchenden Gegenstandes ist. Im Strafzumessungsrecht ist dabei zunächst an das Gericht zu denken. Neben dem Gericht kann auch die Staatsanwaltschaft mit Fragen der Strafzumessung von Gesetzeswegen konfrontiert sein, so im Falle des Strafbefehlsverfahrens, in dem die Staatsanwaltschaft den Strafbefehlsantrag auf bestimmte Rechtsfolgen zu richten hat, § 407 Abs. 1 S. 3 StPO. Im Steuerstrafrecht ergibt sich zudem 9 Begriff übernommen von Bruns, Das Recht der Strafzumessung, S. 6 f.; vgl. auch Dreher, JZ 1968, S. 209 (2010). 10 Dies vor allem dann, wenn der Täter prominent ist: Vgl. nur die medienwirksamen Fälle Hans Friderichs und Otto Graf Lambsdorff (sog. „Flick-Affäre“), Peter Graf, Paul Schockemöhle, Boris Becker, Patrick Lindner, Ludwig-Holger Pfahls, Freddy Quinn, Andreas Schmid, Klaus Zumwinkel, Ulrich Hoeneß, Theo Sommer und Alice Schwarzer.
Einleitung19
eine Besonderheit, die eine dritte Institution mit der Aufgabe der Strafzumessung betraut: In §§ 386, 399 ff. AO werden Aufgaben des Strafbefehlsverfahrens von der Staatsanwaltschaft auf die Finanzbehörden übertragen. Somit sehen sich sowohl Richter als auch Staatsanwälte und Finanzbeamte mit der gesetzlichen Pflicht der Strafzumessung betraut. Welche rechtlichen Vorgaben dabei gelten, hängt daher möglicherweise auch von der Perspektive des Rechtsanwenders ab. 1. Die §§ 38 ff. StGB und das Jugendstrafrecht Die Steuerhinterziehung ist ein Delikt des Nebenstrafrechts und als solches außerhalb des StGB in § 370 AO geregelt. Die Vorschriften über die Rechtsfolgen der Tat in §§ 38 ff. StGB gelten gem. Art. 1 Abs. 1 EGStGB jedoch ebenso wie der gesamte Allgemeine Teil des StGB auch für die Vorschriften des Nebenstrafrechts. In § 369 Abs. 2 AO wird für Steuerstraftaten zudem auf die allgemeinen Gesetze über das Strafrecht verwiesen, soweit die Strafvorschriften der Steuergesetze nichts anderes bestimmen. Damit wird auch auf die materiellen Vorschriften des JGG verwiesen. Das Recht der Rechtsfolgen im Jugendstrafrecht unterscheidet sich grundlegend von dem des allgemeinen Strafrechts. Bei Steuerstraftaten ist die Anwendung des Jugendstrafrechts jedoch eher selten.11 Dies zeigt ein Blick auf die Strafverfolgungsstatistik: So wurden in den Jahren 2012–2014 nur etwa 0,63 % aller Abge urteilten in Fällen der Steuer- und Zollzuwiederhandlungen12 nach Jugendstrafrecht abgeurteilt, bei den Verurteilungen ist die Zahl mit nur etwa 0,53 % sogar noch geringer.13 Vergleicht man dies mit den Zahlen beim Betrug – etwa 4,56 % der Urteile und 3,62 % der Verurteilungen ergingen nach Anwendung des Jugendstrafrechts14 – wird die geringe Bedeutung des JGG in 11 A. A.
Joecks/Jäger/Randt/Joecks, § 369 Rn. 150. fallen hierunter nicht nur Fälle der Steuerhinterziehung, sondern jedenfalls auch Fälle des Bannbruchs (§ 372 AO) und der Steuerhehlerei (§ 374 AO); unklar ist, ob auch Fälle der Steuerzeichenfälschung (§§ 269 Abs. 1 Nr. 3, 148 StGB) und der Begünstigung einer Steuerstraftat (§§ 369 Nr. 4 AO, 257 StGB) eingerechnet sind. Jedoch macht die Steuerhinterziehung den ganz überwiegenden Anteil aus, was sich durch die Heranziehung der bis für das Jahr 2002 vom Bundesfinanzministerium veröffentlichten Ergebnisse der Steuerstrafsachenstatistiken der Länder und der Bundesfinanzverwaltung ergibt. Diese weisen die Anzahl der rechtskräftig gewordenen Urteile und Strafbefehle, die auf eine Steuerhinterziehung zurückgehen einerseits und die auf Bannbruch, Steuerhehlerei und Steuerwertzeichenfälschung zurückgehen andererseits, aus. Für die Jahre 1999, 2000, 2001, 2002 lag der Anteil der Steuerhinterziehungen danach bei 78,8 %, 78,5 %, 79,9 %, 82,4 % der insgesamt rechtskräftig gewordenen Urteile und Strafbefehle. 13 SVS 2012–2014, Fachserie 10 Reihe 3. Eigene Berechnungen. 14 SVS 2012–2014, Fachserie 10 Reihe 3. Eigene Berechnungen. Miteinbezogen wurden Straftaten nach §§ 263 Abs. 1, 3 und 5 StGB. 12 Freilich
20
Einleitung
Fällen der Steuerhinterziehung deutlich. Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden auf die gesonderte Erörterung der Besonderheiten des Strafzumessungsrechts im Jugendstrafrecht gänzlich verzichtet. Aber auch für die allgemeinen Vorschriften der §§ 38 ff. StGB und die mit diesen zusammenhängende Fragestellungen müssen im Rahmen dieser Untersuchung notwendigerweise Einschränkungen gemacht und Schwerpunkte gesetzt werden. So kann eine Arbeit zur Strafzumessung auf den Bereich schuldindifferenter Sanktionen nur am Rande eingehen. Außen vor bleiben muss auch der – gerade für die Steuerhinterziehung – praxisrelevante Bereich informeller Sanktionen (§§ 153a ff. StPO). Der Schwerpunkt dieser Untersuchung ist auf das Herzstück des Strafzumessungsrechts, der sog. Strafzumessung im engeren Sinne, zu legen. Es ist das Verdienst der Strafzumessungslehre, die über die Vorschrift des § 46 StGB hinaus bestehenden, rechtlichen Bindungen in diesem Bereich herausgearbeitet zu haben.15 Diesen Einsichten Rechnung tragend weiten auch die Revisionsgerichte die Rechtskontrolle über die Strafzumessung im engeren Sinne zunehmend aus. Für das Delikt der Steuerhinterziehung praktiziert dies der 1. Senat des BGH in bislang beispielloser Weise.16 Auf die Rechtsprechung des BGH wird daher ein besonderes Augenmerk zu richten sein. 2. Steuerstrafrechtliche Besonderheiten i. S. v. § 369 Abs. 2 AO Steuerstrafrechtliche Besonderheiten i. S. v. § 369 Abs. 2 AO finden sich in den §§ 371, 375, 376 AO. Die Selbstanzeige gem. § 371 AO ist nach ganz herrschender Meinung ein besonderer persönlicher Strafaufhebungsgrund und als solcher keine Regelung des Strafzumessungsrechts. Möglicherweise können aber, oder müssen gar, bestimmte Wertungen des Gesetzgebers, die im Rahmen des § 371 AO getroffen werden, auch bei der Strafzumessung berücksichtigt werden.17 § 376 AO enthält eine Verlängerung der Verjährungsfrist für Steuerhinterziehung in einem besonders schweren Fall gem. § 370 Abs. 3 AO. Die als „vollständig missglückt“18 bezeichnete Regelung verleiht der Strafrahmenwahl in Fällen der Steuerhinterziehung eine besondere Bedeutung und wirkt sich damit zwangsläufig auch auf die Auslegung und Handhabung des § 370 Abs. 3 AO aus.19 15 SK-StPO/Frisch,
§ 337 Rn. 147 m. w. N. Jung, in: FS: Samson, S. 55 (59 f.). 17 Hierzu 1. Teil, 4. Kapitel. 18 MünchKomm/Schmitz, § 369 AO, Rn. 25. 19 Hierzu 2. Teil, 1. Kapitel, A., I. 16 Ähnlich
Einleitung21
Im Gegensatz zu §§ 371, 376 AO, die „originäre Besonderheiten“ darstellen,20 nutzt das Gesetz in § 375 AO die bereits in den allgemeinen Vorschriften vorgesehene Möglichkeit der besonderen Regelung von Nebenfolgen. So kann das Gericht bei Freiheitsstrafen wegen Steuerhinterziehung von mindestens einem Jahr gem. § 375 Abs. 1 AO entsprechend § 45 Abs. 2 StGB das aktive und passive Wahlrecht für die Dauer von zwei bis fünf Jahren aberkennen. Bei Steuerhinterziehung und Schmuggel können ferner gem. § 375 Abs. 2 AO entsprechend § 74 Abs. 4 StGB bestimmte Gegenstände eingezogen werden. 3. Verfahrensrecht Das Strafzumessungsrecht wird nicht nur durch die materiell-rechtlichen Vorgaben, sondern in nicht unerheblicher Weise auch durch das Verfahrensrecht geprägt. Komplementär zum materiell-rechtlichen Verweis in § 369 Abs. 2 AO verweist § 385 Abs. 2 AO für das Verfahrensrecht auf die „allgemeinen Gesetze über das Strafverfahren“.21 Die Bedeutung des Verfahrensrechts zeigt sich besonders in dem bereits angesprochenen Strafbefehlsverfahren. Zwar muss auch hier der Richter eine eigenständige Beurteilung der Rechtsfolgen der Tat vornehmen.22 Will er diese entgegen der auf ihrer Beurteilung beharrenden Staatsanwaltschaft durchsetzen, ist er allerdings gezwungen eine Hauptverhandlung anzuberaumen, § 408 Abs. 3 S. 2 StPO. Die Staatsanwaltschaft hat somit die Initiative und das letzte Wort, was eine Beurteilung der Rechtsfolgen der Tat im Rahmen des Strafbefehlsverfahrens angeht. Vor dem Hintergrund einer nicht geringen Arbeitsbelastung der Gerichte sowie des „Anlehnungsbedürfnisses“ der Richter an Strafmaßvorstellungen der Staatsanwaltschaft23 ist daher die praktische Relevanz des Strafbefehlsantrags der Staatsanwaltschaft für die Rechtsfolgenentscheidung als hoch zu bewerten. Strafbefehlsanträge werden nur selten zurückgewiesen.24 Aufgrund dieser Bedeutung des Strafbefehlsverfahrens wird die Befugnisverlagerung im Ermittlungsverfahren auf die Finanzbehörden gem. §§ 386 Abs. 2, 399 f. AO genauer zu untersuchen sein. Sie stellt eine im deutschen Strafverfahrensrecht einzigartige Betrauung von Verwaltungsbehörden mit staatsanwaltschaftlichen Befugnissen dar. Daraus ergeben sich zwangsläufig schwierige Rechtsfragen, was das Verhältnis von Justiz- und Finanzverwal20 MünchKomm/Schmitz,
§ 369 AO, Rn. 24. verunglückten Gesetzesformulierung Hübschmann/Hepp/Spitaler/Rüping, § 385 AO, Rn. 8. 22 KK/Maur, § 408 Rn. 15. 23 Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 497. 24 Vgl. Heinz, in: FS Müller-Dietz, S. 371 (279 ff., 292). 21 Zur
22
Einleitung
tung angeht: Welchen Finanzbehörden werden die Befugnisse übertragen? Wer ist innerhalb der Finanzbehörde zur Wahrnehmung der staatsanwaltschaftlichen Befugnisse berechtigt? Wessen Weisungen unterliegt ein Finanzbeamter, der solche Rechte wahrnimmt? Ein weiteres wichtiges Anwendungsbeispiel für die Bedeutung des Verfahrensrechts im Strafzumessungsrecht ist die Problematik der Verfahrensabsprachen. Dieses vom Gesetzgeber nach eingehender Diskussion normierte und vom BVerfG vorläufig bestätigte25 Institut wird gerade in Steuerhinterziehungsfällen häufig praktiziert. Neben der grundsätzlichen Kontroverse um die strafmildernde Wirkung eines Geständnisses im Rahmen einer Verfahrensabsprache wird in diesem Zusammenhang auch auf die strafzumessungsrechtliche Bewertung einer unwirksamen Selbstanzeige einzugehen sein. 4. Sonstige rechtliche Vorgaben Das Strafzumessungsrecht – sowohl das materielle wie das Verfahrensrecht – wird auch durch Rechtssätze unterhalb der Ebene formeller Gesetze bestimmt. Zu nennen sind hier verwaltungsinterne Vorschriften wie etwa die RiStBV, RiVASt sowie die AStBV (St). Auch die Strafmaßtabellen der Oberfinanzdirektionen fallen in diesen Bereich. Probleme ergeben sich auch hier durch die Zuständigkeitsverlagerung der Strafzumessung auf die Finanzbehörden. So stellt sich die Frage, inwieweit ein Finanzbeamter die RiStBV zu beachten hat und ob die Finanzverwaltung zur Regelung des Strafverfahrens und der Strafzumessung überhaupt ermächtigt ist.26
III. Gang der Untersuchung Im Folgenden sollen die einzelnen Fragestellungen nicht dem soeben zur Eingrenzung verwendeten rechtssystematischen Aufbau folgend, sondern problemorientiert dargestellt und diskutiert werden. Hierfür werden im ersten Teil der Arbeit einige Grundlagen zur Schuld und den Strafzwecken für das Delikt der Steuerhinterziehung zu erarbeiten sein. Im zweiten Teil werden die relevanten Einzelprobleme der Strafzumessungsentscheidung in Fällen der Steuerhinterziehung entlang des herkömmlichen Ablaufs der Entscheidung dargestellt. Beginnend mit der Strafrahmenwahl wird vor allem auf die umstrittene Rechtsprechung des 1. Senats zu § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 AO einzugehen sein. Sodann ist die Strafzumessung 25 BVerfGE 26 Hierzu
133, 168. 4. Teil, 1. und 2. Kapitel.
Einleitung
23
im engeren Sinne zu untersuchen, wobei der Schwerpunkt hier zunächst auf die Zusammenstellung und Analyse der geltenden Strafzumessungstradition gelegt wird. Anschließend werden weitere Einzelprobleme der Strafzumessung im weiteren Sinne (Strafartwahl, Strafaussetzung zur Bewährung, Doppelverwertungsverbot), sowie der Gesamtstrafenzumessung erörtert. Im dritten Teil wird sodann vertiefend auf die Strafzumessung im engeren Sinne eingegangen. Die wichtigsten Strafzumessungsumstände für das Delikt der Steuerhinterziehung sollen hier anhand der zuvor herausgearbeiteten Einsichten moderner Strafzumessungsdogmatik eingeordnet und bewertet werden. In einem vierten und letzten Teil ist schließlich auf die Besonderheit der Befugnisverlagerung auf die Finanzbehörden einzugehen. Welchen rechtlichen Bindungen unterliegen die Finanzbehörden im Bereich der Strafzumessung? Und welche Auswirkung hat die Befugnisverlagerung auf die Strafzumessungstradition? Zur Beantwortung dieser Frage war eine empirische Erhebung unumgänglich, die zugleich den Abschluss der vorliegenden Arbeit bildet.
1. Teil
Schuldprinzip und Strafzwecke im Steuerstrafrecht Der Rechtsanwender in der Strafzumessung wird sich auch bei der Steuerhinterziehung zwangsläufig – bewusst oder unbewusst – immer die Frage stellen, welchem Zweck die zuzumessende Strafe dienen soll. Der Gesetzgeber schweigt zu dieser Frage. Hier öffnet sich das weite Feld unterschiedlicher Strafzweckkonzepte, deren Aufarbeitung im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich aber auch nicht nötig ist. Denn mit dem Schuldprinzip, also der Anknüpfung an die Schuld statt an die Gefährlichkeit des Täters für die Bestimmung der Strafe,1 ermöglichte der Gesetzgeber eine straftheorieübergreifende Verständigung über die praktischen Grundlinien der Strafzumessung.2 Einzig der Spezialprävention ist mit der Anknüpfung an die Schuld eine klare Absage als (alleiniges) Strafzweckkonzept erteilt.3 Es bedarf daher für die Untersuchung der Strafzumessung bei der Steuerhinterziehung der Festlegung auf ein bestimmtes Strafzweckkonzept nicht. Ohnehin sind die praktischen Unterschiede zwischen den auf Grundlage des Grundgesetzes vertretbaren4 sog. „präventiven“ Theorien und „absoluten“ Theorien moderner Prägung marginal.5 Wichtig ist allerdings ein klares Ver1 Jung,
Was ist Strafe?, S. 33; s. auch Frisch, GA 2009, S. 385 ff. in: ders., Grundfragen, S. 3 (7); dort auch zur internationalen Durchsetzungskraft dieses Anknüpfungsmodells. 3 S. ebda. 4 Zur Auswirkung der zunehmenden Beurteilung staatlichen Handelns an einer den einzelnen Menschen in den Mittelpunkt rückenden Verfassung, insbesondere für die Strafzweckkonzepte der Sühne, Vergeltung und des Schuldausgleichs, vgl. Frisch, in: Koslowski, Endangst und Erlösung, S. 53 (70 ff.). Die klassische Vergeltungstheorie ist mit geltendem Verfassungsrecht ebenso wenig vereinbar wie instrumentell präventionsorientierte Theorien (insbesondere die negative Generalprävention), die den Menschen gleich einer Sache behandeln und damit dessen Würde als Träger von Grund- und Menschenrechten missachten. 5 So spricht Streng lediglich von einer „unterschiedlichen begrifflichen Kategorisierung desselben Phänomens“, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 10. Gemeinsam ist diesen Theorien die Erkenntnis, dass Strafe eine irdisch verortete Notwendigkeit ist, wobei sich diese Notwendigkeit nicht auf eine instrumentelle Einwirkung auf die Mitglieder der Gesellschaft, sondern auf einen im weitesten Sinne kommunikativen bzw. expressiven Akt der Verständigung bezieht. Nachweise zu den unterschiedlichen Ausprägungen dieser Theorien etwa bei Bloy, in: FS Frisch, S. 59 (68 ff.); Kalous, Positive Generalprävention durch Vergeltung; Pawlik, in: FS Jakobs, S. 469 (482 f.). 2 Frisch,
1. Kap.: Schuldprinzip – Strafbegründungsschuld und Strafzumessungsschuld25
ständnis der Inhalte des Anknüpfungssachverhalts „Schuld“ für die Strafzumessung, welches dem begrenzten Rahmen der Arbeit geschuldet zwar nicht in allen Einzelheiten ausgeführt aber doch immerhin grob skizziert werden soll. 1. Kapitel
Schuldprinzip – Strafbegründungsschuld und Strafzumessungsschuld Die Schuld, an welche das Gesetz für die staatliche Reaktion in Form von Strafe anknüpft, erfüllt zwei Funktionen: zum einen ist sie Bedingung für die Legitimität von Strafe (sog. Schuldidee), zum anderen fungiert sie als Maßprinzip des zulässigen Umfangs der Strafe (sog. konstitutive und straflimitierende Funktion).6 Infolge dieser Doppelfunktion wird zwischen Strafbegründungsschuld einerseits und Strafzumessungsschuld andererseits unterschieden.7 Die beiden Schuldbegriffe sind, ihren unterschiedlichen Funktionen folgend, auch inhaltlich nicht deckungsgleich. Im Gegensatz zur Strafbegründungsschuld als im Sinne der Verbrechenslehre dem Unrecht lediglich nachgeschalteter Kategorie schließt die Strafzumessungsschuld das Unrecht der Tat ein.8 Als durchsetzungsfähig in der Strafzumessungsdogmatik hat sich jedoch eine enge Verschränkung der Strafzumessungsschuld mit Begrifflichkeiten und Kategorien der Straftatlehre erwiesen (Erfolgsunrecht, Handlungsunrecht, Vermeidemacht).9 Das (Tat‑)Unrecht wird dabei zum zentralen Bezugspunkt der Strafzumessungsschuld gemacht, die dann als „verschuldetes Unrecht“ verstanden wird. Die Strafzumessungsschuld (i. w. S.) ist als Maßprinzip damit einzig abhängig vom Ausmaß des Unrechts einerseits und dem Ausmaß der Schuld andererseits.10 6 MünchKommm/Radtke,
Vorbem. §§ 38 ff. StGB, Rn. 14. Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen der strafrechtssystematischen Schuldlehre, S. 2 ff.; ebenso Bruns, Das Recht der Strafzumessung, S. 145; Frisch, in: FS Müller-Dietz, S. 237 ff.; Roxin, Strafrecht AT, Band I, § 19 Rn. 18 ff. 8 Vgl. Bruns, Strafzumessungsrecht, 2. Aufl., S. 392 ff.; Frisch, in: ders., Zur Bedeutung von Schuld, Gefährlichkeit und Prävention im Rahmen der Strafzumessung, S. 3 (16). 9 Grundlegend hierzu Frisch, in: Wolter, 140 Jahre Goltdammer’s Archiv für Strafrecht, passim; ders., ZStW 99 (1987), 349 (386 ff.); ders. zuletzt, GA 2015, 65 (78 ff.). 10 Die konsequenteste Ausprägung dieses Ansatzes sieht die Strafzumessung als reine Fortschreibung der Kategorien der Verbrechenslehre in das Komparative und Quantitative – also eines Übergangs des Straftatsystems als klassifikatorischem System im Rahmen der Strafbegründung zu einem quantifizierend komparativen System 7 Grundlegend
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1. Teil: Schuldprinzip und Strafzwecke im Steuerstrafrecht
Das so skizzierte Verständnis der Strafzumessungsschuld ist freilich noch immer recht unbestimmt, da es vom zu Grunde gelegten Unrechtskonzept und Wesen des strafrechtlichen Schuldvorwurfs abhängig ist. Praktische Bedeutung kommt dabei weniger dem Determinismusstreit als vielmehr den in unterschiedlichsten Schattierungen vertretenen Schuldbegriffen zwischen Charakter- und Lebensführungsschuld auf der einen über präventionsorientierte Schuldlehren bis hin zu der reinen Tatschuld auf der anderen Seite zu.11 Präventionsorientierte Schuldlehren verweisen schließlich auch auf die Notwendigkeit, das Verhältnis der (Strafzumessungs‑)Schuld zu den Strafzwecken offenzulegen. Die herrschende Strafzumessungsdogmatik geht insoweit von einer retributiven Schuldstrafe aus, die einen Rahmen für die Berücksichtigung präventiver Strafbedürfnisse absteckt.12
A. Unrechtskonzept und Strafzumessungsschuld Die Frage, was strafrechtliches Unrecht im Kern ausmacht (sog. Substrat des Unrechts13), ist letztlich auch eine Frage nach dem Verbrechensbegriff überhaupt. Gegenüberstellen lässt sich hier bekanntlich ein Unrechtsverständnis, das auf der gegenständlichen Rechtsgutsverletzung aufbaut, einerseits,14 sowie ein Konzept des sog. Normgeltungsschadens andererseits, welches die durch die Tat bewirkte Rechtsfriedensstörung zum Substrat des
im Rahmen der Strafzumessung – an, vgl. hierzu Frisch, in: Wolter, 140 Jahre Goltdammer’s Archiv für Strafrecht, S. 1 ff.; ders., ZStW 99 (1987), 349 (385 f.); ders, in: FS Müller-Dietz, S. 237 ff.; Maurer, Komparative Strafzumessung, S. 94 ff. In der Strafzumessungslehre wird derzeit aber wohl überwiegend noch von einer Eigenständigkeit des Strafzumessungsrechts ausgegangen, vgl. zur Gegenüberstellung von Eigenständigkeitsthese und Fortschreibungsthese m. w. N., Frisch, GA 2015, 65 ff. 11 Vgl. Hörnle, Tatproportionale Strafzumessung, S. 40 ff. 12 Vgl. Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 828; Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 626 m. w. N. Der Rechtsanwender soll bei der Strafzumessung demnach zunächst den Rahmen bzw. Spielraum vertretbarer Schuldstrafen bestimmen, um anschließend anhand der präventiven Strafbedürfnisse die Endstrafe innerhalb dieses Spielraums zu bestimmen (sog. Spielraumtheorie), s. ebda. 13 MünchKomm/Radtke, Vorbem. §§ 38 ff. StGB, Rn. 16. 14 Vgl. Hörnle, Tatproportionale Strafzumessung, S. 211 ff.; MünchKomm/Radtke, Vorbem. §§ 38 ff. StGB, Rn. 16 f.; weitere Nachweise bei Frisch, GA 2015, 65 f.; s. auch bereits Birnbaum, Neues Archiv des Criminalrechts, Band 15 (1834), S. 149 (175 f.): „[…], was meiner Ansicht nach bei Bestimmung der Natur des Verbrechens das Wesentliche ist, […], daß, wenn man das Verbrechen als Verletzung betrachten will, dieser Begriff naturgemäß nicht den eines Rechtes, sondern auf den eines Gutes bezogen werden muß.“
1. Kap.: Schuldprinzip – Strafbegründungsschuld und Strafzumessungsschuld 27
(ideell gedachten) Unrechts macht.15 Für ein solches Unrechtskonzept wird angeführt, dass ein bloßes auf die gegenständliche Rechtsgutsbeeinträchtigung abstellendes Unrechtsverständnis dem Sinn staatlicher Strafverhängung nicht gerecht werde. Auf eine gegenständliche Rechtsgutsbeeinträchtigung eine weitere folgen zu lassen, ließe sich ohne die ideelle Rechtsgutsverletzung als eigentliches Substrat des Unrechts nicht legitimieren, jedenfalls sofern man eine rein vergeltungstheoretische oder instrumentell präventionstheoretische Begründung der Strafe ablehnt.16 Die Replik gegenüber diesem Vorwurf liegt auf der Hand. Sie besteht in dem Verweis auf die (erhofften) präventiven Wirkungen der Strafe samt dahinterstehender legitimatorischer Theorie.17 Allerdings wird damit auf eine Kompatibilität zwischen Straftheorie und Straftatlehre, die als „unaufgebbares Postulat einer wissenschaftlichen Straftatlehre“ gilt, verzichtet.18 Denn wenn man mit den heute überwiegend vertretenen und vertretbaren Theorien19 den Zweck der Strafe in einem kommunikativen bzw. expressiven Akt (über die Verständigung der Normgeltung) sieht, setzt dies denklogisch voraus, dass auch die Straftat selbst über die gegenständliche Rechtsgutsverletzung hinaus ein kommunikativer Akt – häufig20 und auch im Folgenden als „Infragestellung des Rechts“ bezeichnet – ist. Es zeigt sich also, dass der Streit um das Substrat des Unrechts von der Konzeption des straftheoretischen Begründungszusammenhangs der Schuldstrafe bzw. dessen vorausgesetzten Verhältnis zur Straftatlehre abhängt. Hierauf wird zurückzukommen sein. Die Bedeutung der Streitfrage relativiert sich jedenfalls, wenn man sich vor Augen führt, dass die Unrechtskonzepte im Wesentlichen übereinstimmen: Auch das Ausmaß des Geltungsschadens soll sich zentral nach dem Umfang der intendierten und bewirkten Rechtsgutsbeeinträchtigung bestimmen.21 Praktische Relevanz kommt dem Unrechtskonzept allenfalls für die Lozierung bestimmter Strafzumessungssach15 Frisch, GA 2015, 65 (67 f., 81 ff.), mit Nachweisen zur historischen Entwicklung der unterschiedlichen Straftatverständnisse; Kern, ZStW 64 (1952), 255 (277); Köhler, Zusammenhang, S. 51 ff.; Lampe, Das personale Unrecht, S. 210 ff.; Montenbruck, Abwägung und Umwertung, S. 76 ff.; Schünemann, in: ders. (Hrsg.), Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, S. 191. 16 Frisch, in: FS Müller-Dietz, S. 237 (252 f.). 17 Vgl. MünchKomm/Radtke, Vorbem. §§ 38 ff. StGB, Rn. 17. 18 Frisch, GA 2015, 65 (81); ders., in: FS Beulke, S. 103 (104); Pawlik, Person, Subjekt, Bürger, S. 53; Pawlik, in: FS Jakobs, S. 469 (481); zur vorgelagerten Kontroverse über Eklektizismus oder axiologischer Geschlossenheit der Straftheorie, s. Pawlik, Unrecht des Bürgers, S. 85 f. 19 Vgl. Fn. 4. 20 Vgl. nur Frisch, in: FS Müller-Dietz, S. 237 (253 f.) m. w. N. 21 Frisch, in: FS Müller-Dietz, S. 237 (254).
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1. Teil: Schuldprinzip und Strafzwecke im Steuerstrafrecht
verhalte in der Schuldwertung zu. So lassen sich etwa Beweggründe des Täters oder das Vor- und Nachtatverhalten leicht über deren Bedeutung für eine insoweit offenere Kategorie der Infragestellung des Rechts integrieren. Dieselben Ergebnisse lassen sich jedoch ebenso über von der reinen Tatschuld abweichende Schuldverständnisse erzielen, wie sogleich zu zeigen ist. Zunächst soll jedoch das Unrecht noch im Hinblick auf seine Struktur präzisiert werden. In der Straftatlehre wird ganz überwiegend ein dualistisches Unrechtskonzept vertreten, wonach das Unrecht der Tat in eine Erfolgs- und eine Handlungskomponente geteilt wird.22 Nach der Gegenposition einer monistisch-subjektiven Lehre soll hingegen einzig das Handlungsunrecht das Unrecht der Tat konstituieren.23 Eine dezidierte Auseinandersetzung der gegenläufigen Positionen kann auch insoweit aus Raumgründen nicht erfolgen. Es lohnt jedoch, sich zumindest einen der guten Gründe, die gegen die monistisch-subjektive Lehre sprechen, zu vergegenwärtigen, um den Stellenwert des Erfolgsunrechts für das Unrecht nicht zu verkennen, sondern vielmehr in seiner Gewichtigkeit richtig einzuordnen.24 Dieser wesentliche Einwand verweist dabei auf die hinter dem Unrechtskonzept stehende Annahme über das Verhältnis von Individuum und strafender Staatsgewalt. Denn hinter einem die Regulierung menschlicher Handlungen anstatt die Vermeidung von Erfolgen betonenden Strafrechtsverständnis steht ein sozialautoritäres Bild des Staates.25 In einem liberalen Rechtsstaat muss es jedoch dem Individuum grundsätzlich selbst überlassen sein, seine Lebensführung zu organisieren. Nur soweit das Ergebnis der autonomen Gestaltung von Lebenskreisen inakzeptabel ist, darf menschliches Verhalten staatlicher Regulierung unterstehen.26 Diese Schwerpunktsetzung muss sich auch bei der wertenden Beurteilung des Unrechts im Rahmen der Strafzumessung wiederspiegeln, soweit der Tatbestand hierfür Raum lässt.
B. Schuldvorwurf und Strafzumessungsschuld Die herrschende Meinung sieht den Schuldvorwurf der Straftatbegründung in der unrichtigen Entscheidung trotz der gegebenen Fähigkeit zum richtigen nur Roxin, Strafrecht AT, § 10 Rn. 88 ff. Handlungs- und Erfolgsunwert, passim. 24 So warnt Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 557, im Gegenzug vor einer Überbewertung des Erfolgsunwerts mit einem Verweis auf die Vertreter der monistisch-subjektiven Lehre. 25 Hörnle, Tatproportionale Strafzumessung, S. 205; dort auch m. w. N. zu den strafrechts-systematischen, normtheoretischen und pragmatischen Defiziten der monistisch-subjektiven Lehre. 26 Schünemann, in: FS Schaffstein, S. 159 (174); Mylonopoulus, Handlungs- und Erfolgsunwert, S. 83. 22 Vgl.
23 Zielinski,
1. Kap.: Schuldprinzip – Strafbegründungsschuld und Strafzumessungsschuld29
Handeln.27 Teils ersetzend, teils ergänzend zu diesem Vorwurf des AndersHandeln-Könnens wird das Wesen der Schuld auch häufig in der unrechtlichen Gesinnung des Täters gesehen.28 Hierdurch lassen sich unschwer die Motive des Täters, das Vorleben sowie (über eine Indizkonstruktion) auch Umstände des Nachtatverhaltens in die Strafzumessungsschuld integrieren und gleichzeitig ein Gleichlauf von Strafbegründungsschuld und Strafzumessungsschuld (i. e. S.) wahren.29 Weitere – wohl bereits den präventionsorientierten Schuldverständnissen zuzuschreibende – Versuche, bestimmte Strafzumessungssachverhalte über ein erweitertes Verständnis des Schuldvorwurfs zu integrieren, bilden etwa die Lehren von der Charakterschuld, Persönlichkeitsschuld oder Lebensführungsschuld. Da es diesen vorwiegend um die Berücksichtigung von Aspekten spezialpräventiver Strafbedürfnisse geht, werden sie heute zu recht ganz überwiegend abgelehnt.30 Weniger deutlich fällt die Ablehnung gegenüber solchen präventionsorientierten Schuldbegriffen aus, die sich im Bereich der vertretbaren Straftheorien bewegen. Die bekannteste und wohl konsequenteste Ausprägung eines solchen Konzepts stellt das funktionale Schuldverständnis Jakobs dar. Die von Jakobs für unumgänglich „zweckbestimmt verstandene Schuld“ stellt sich dann nur noch als bloßes Derivat der positiven Generalprävention dar.31 Es ist leicht ersichtlich, dass auch ein solches Schuldverständnis geeignet ist, Motive, Vorleben, Nachtatverhalten sowie alle anderen Umstände, die die Erschütterung des Normvertrauens betreffen, als schuldrelevant auszuweisen. Und tatsächlich kommt eine der Kompatibilität mit der Straftheorie verschriebene Straftatlehre ohne eine gewisse Funktionalität32 im Verbrechensbegriff nicht aus. Bedenken – dann freilich gegen die Richtigkeit der Straftheorie – bestünden jedoch, wenn diese Funktionalität zur Folge hätte, dass es auf die Fähigkeit zum richtigen Handeln nicht mehr ankäme. Diese ist richtigerweise auch in einem kommunikativ / expressiven Straftatverständnis eine unverzichtbare Voraussetzung, um ein Verhalten als Infragestellung des Rechts zu werten.33 Es bietet sich daher an, den Schuldvorwurf auf diesen vieler m. w. N. Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 12. Gallas, ZStW 67 (1955), 1 (55 f.); Schmidhäuser, in: FS Jeschek, S. 485 (490 ff.); Jeschek/Weigend, Strafrecht AT, S. 421 f. 29 Frisch, in: FS Müller-Dietz, S. 237 (244 f.). 30 Vgl. Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 524. 31 Jakobs, Schuld und Prävention, S. 8, 31 f. 32 Funktional hier verstanden im Sinne einer Ausrichtung auf die Einhaltung der straftheoretischen Prämissen. In diesem Sinne benennen die Kategorien der klassischen Straftatlehre mit (gegenständlichem) Unrecht und Schuld auch genau die Voraussetzungen, die funktional zur Herbeiführung gerechter Vergeltung notwendig sind. 33 Freilich lässt sich darüber streiten, ob die Fähigkeit zum Anders-Handeln-Können – angesichts ihrer empirischen Unbeweisbarkeit – nicht eine normative Setzung 27 Statt 28 Vgl.
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1. Teil: Schuldprinzip und Strafzwecke im Steuerstrafrecht
mit dem Schuldverständnis der klassisch vergeltungstheoretisch geprägten Straftatlehre identischen Kern zu reduzieren und den Streit um die Funktionalität des Verbrechensbegriffs und deren Auswirkungen auf der Ebene des Bezugspunktes des Anders-Handeln-Könnens – dem Unrecht – zu diskutieren.34 An dieser Stelle gilt es nun die im Rahmen des Unrechtskonzepts zunächst zurückgestellte Frage nach der Konzeption der Straftheorie und deren Verhältnis zur Straftatlehre zu vertiefen.
C. Strafzwecke und Strafzumessungsschuld Trotz Ablehnung der Vergeltungstheorie hält die herrschende Meinung noch immer an einer am Vergeltungsgedanken orientierten Schuldstrafe fest: Die aus präventiven Aspekten notwendige Strafe müsse durch die unter retributiven Aspekten zulässige Strafe begrenzt werden (Prävention im Rahmen der Repression).35 Dahinter steht die Vorstellung, dass nur diese die straflimitierende Funktion der Schuldstrafe erfüllen könne. Den funktionalen Schuldverständnissen hingegen wird vorgehalten, zu einer Aufladung der Strafzumessungsschuld mit präventiven Zweckmomenten zu führen, deren Begrenzung gerade Aufgabe der Strafzumessungsschuld sei36 – ein Vorwurf, der gegenüber Auswüchsen eines (spezial-)präventiv funktionalisierten Schuldverständnisses wie in den Fällen der Lebensführungs- oder Charakterschuld seine Berechtigung findet.37 Die heute entscheidende Frage ist hingegen, ob der Einwand auch gegenüber funktionalen Strafzumessungs(!)-Schuldverständnissen, die auf den überwiegend vertretenen kommunikativ / expressiven Theorien aufbauen, berechtigt ist. Unerheblich für die Beantwortung dieser Frage ist dabei, ob die Funktionalität38 der Strafzumessungsschuld dabei auf Ebene der Schuld oder – wie hier – nur auf Ebene des Unrechts verortet wird. In jedem Fall ist einer solch funktionalen Strafzumessungsschuld ein ideelles Unrechtsversei, was dann schließlich die Unterschiede des klassischen Schuldverständnisses mit einem auf Normbestätigung gerichteten funktionalen Schuldverständnis inhaltlich nivelliert. 34 Das bedeutet nicht, dass damit auch sämtliche Umstände, die für die Findung der mit dem tragenden Strafzweck der Wiederherstellung des Rechts kompatiblen Strafe relevant sind, bereits auf Ebene des Unrechts zu verorten sind. Vielmehr lassen sich eine ganze Reihe von Umständen, die die Zurückweisungsbedürftigkeit des Normbruchs durch Strafe betreffen, erst auf einer der Schuld nachgeschalteten Ebene ansiedeln, s. Frisch, GA 2015, 65 (84 f.); ders., in: FS Beulke, S. 103 (111 ff.). 35 Siehe Fn. 12. 36 Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 15. 37 Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 524 f. 38 S. Fn. 32.
1. Kap.: Schuldprinzip – Strafbegründungsschuld und Strafzumessungsschuld 31
ständnis zu Grunde zu legen. Nur dieses vermag in sich schlüssig das Substrat des Unrechts zu beschreiben, wenn die Strafe nicht der Vergeltung, sondern der Prävention durch Wiederherstellung des Rechts dienen soll. Läuft nun ein funktional auf diese präventive Zwecksetzung ausgerichtetes, ideelles Unrechtsverständnis per se Gefahr, zu einer Aufladung der Strafzumessungsschuld mit präventiven Zweckmomenten zu führen, und wäre deshalb ein Argument dafür, es bei dem vergeltungstheoretisch geprägten gegenständlichen Schuldverständnis zu belassen? Ich meine nein. Denn warum die Strafbedürfnisse einer anhand dieser kommunikativ / expressiven Theorien entwickelten Strafzumessungsschuld grundsätzlich nicht denselben Absolutheitsanspruch gewährleisten und damit die denkbare Grenzenlosigkeit der Funktionalisierung der Strafe zu bestimmten anderen Strafzwecken limitieren können sollen, wie eine auf die Vergeltung gerichtete Schuldstrafe, drängt sich mir nicht auf.39 Im Rahmen dieser Untersuchung kann eine tiefgreifendere und abschließende Diskussion dieser Kontroverse nicht geleistet werden. Es wird hier davon ausgegangen, dass die straflimitierende Funktion der Strafe auch unter Zugrundelegung eines ideellen Unrechtsverständnisses möglich ist. Diese Annahme hat immerhin den Charme, einen Eklektizismus in der Straftheorie sowie die Notwendigkeit, auf eine Kompatibilität von Straftheorie und Straftatlehre zu verzichten, überflüssig zu machen. Freilich mag ein ideelles Unrechtsverständnis für die unsachgemäße Aufladung der Strafzumessungsschuld mit präventiven Zweckmomenten anfälliger sein. Doch dieser Anfälligkeit lässt sich begegnen. Das wichtigste Mittel hierbei ist, das ideelle Unrecht begrifflich und in der Folge auch inhaltlich auf das Unrecht der Tat zu konkretisieren. Damit werden eine Reihe von Umständen – insbesondere das Nachtatverhalten, aber auch täterbelastende Folgen, Verfahrensbelastungen oder eine aus verschiedenen Gründen (Alter, Krankheit) erhöhte Strafempfindlichkeit – der Schuldwertung weitgehend entzogen, obwohl sie doch ersichtlich nicht unerheblichen Einfluss auf die Zurückweisungsbedürftigkeit der Infragestellung der Norm durch Strafe haben. Sie sind folglich auch bei der Strafzumessung zu berücksichtigen, nur eben nicht im Rahmen der Schuldwertung. Unterschreitungen der Schuldstrafe können daher aus Gründen, die außerhalb der (Tat-) Strafzumessungsschuld liegen, angezeigt sein.40 Überschreitungen der 39 Vgl. auch Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 16, für sein sog. „analytischfunktionales“ Schuldverständnis unter der Prämisse, dass das Schuldurteil schlicht „präventiv funktional“, und nicht im Sinne des Strafzwecks „funktionalisierbar“ verstanden wird. Zur Frage aus welcher Perspektive (Bürger oder Norm) die Strafbedürfnisse bei einer kommunikativen Straftheorie herzuleiten sind, s. u. 1. Teil, 2. Kapitel, B. 40 Zum Vorschlag, derlei Umstände entsprechend der Vollstreckungslösung bei rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerungen über eine Trennung zwischen Aus-
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1. Teil: Schuldprinzip und Strafzwecke im Steuerstrafrecht
Schuldstrafe aus solcherlei Gründen müssen hingegen ausscheiden, will man die straflimitierende Funktion der Schuldstrafe beibehalten. Für das Verhältnis der Strafzumessungsschuld zu den Strafzwecken lässt sich damit abschließend festhalten: Die herkömmliche Vorstellung einer vergeltungstheoretisch begründeten Schuldstrafe, die die auf unterschiedlichen präventiven Strafzwecken beruhenden Strafbedürfnisse begrenzt (sog. Prävention im Rahmen der Retribution), ist abzulehnen. An ihre Stelle tritt eine an den heute überwiegend vertretenen Straftheorien orientierte Schuldstrafe, die ebenfalls der straflimitierenden Funktion der Schuldstrafe nachzukommen im Stande ist. Die Limitierung der Schuldstrafe gilt jedoch nur nach oben hin. Schuldunterschreitungen können aus außerhalb der Tatschuld liegenden Gründen wegen mangelnder Zurückweisungsbedürftigkeit der Infragestellung der Norm durch Strafe angezeigt sein. Den übrigen präventiven Strafzwecken – insbesondere den instrumentell generalpräventiven Theorien und der Spezialprävention – kann im Einklang mit der Spielraumtheorie41 der herrschenden Meinung Rechnung getragen werden, soweit nach alldem noch eine Bandbreite vertretbarer Strafen verbleibt.42 Damit ist eine erste Eingrenzung des Anknüpfungssachverhalts Schuld erfolgt. Im Folgenden sollen die Besonderheiten dieses Anknüpfungssachverhalts für das Delikt der Steuerhinterziehung herausgearbeitet werden. 2. Kapitel
Die Strafzumessungsschuld der Steuerhinterziehung An dieser Stelle soll es noch nicht darum gehen, einzelne Strafzumessungsumstände und ihre Verknüpfung zu betrachten.43 Vielmehr soll die Strafzumessungsschuld der Steuerhinterziehung zunächst ganz grundlegend im Hinblick auf ihre deliktsspezifische strukturelle Ausgestaltung untersucht werden. Hierfür ist in einem ersten Schritt das Tatunrecht als zentraler Bezugspunkt der Strafzumessungsschuld zu beleuchten. In einem zweiten Schritt ist dann das deliktsspezifische Gewicht dieses Tatunrechts zu untersuspruch der Schuldstrafe als Ausdruck des Tadels und dem, was der Täter an Strafe noch zu tragen hat, zu behandeln, vgl. Frisch, in: ders., Grundfragen, S. 3 (25 f.). Zur Zurückweisungsbedürftigkeit der Infragestellung der Normgeltung als eigene Straftatvoraussetzung innerhalb eines konsequent umgesetzten ideellen Straftatverständnisses, s. Frisch, GA 2015, 65 (84 f.); ders., in: FS Beulke, S. 103 (111 ff.). 41 S. Fn. 12 sowie unten 2. Teil, 2. Kapitel, A, II. 42 Weitere Unterschreitungen der ggf. bereits unterschrittenen Schuldstrafe etwa wegen mangelnder spezialpräventiver Strafbedürfnisse sind jedoch grundsätzlich unzulässig, da sie den tragenden Strafzweck desavouieren würden. 43 Siehe hierzu 2. Teil, 2. Kapitel, A, III.; 3. Teil.
2. Kap.: Die Strafzumessungsschuld der Steuerhinterziehung
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chen. Es wird also zu fragen sein, wie sich das Tatunrecht der Steuerhinterziehung seiner Schwere nach zu anderen Unrechtstaten verhält.
A. Struktur des Unrechts Das Unrecht der Tat lässt sich nach dem hier zu Grunde gelegten dualistischen Unrechtskonzept44 in das Erfolgsunrecht und das Handlungsunrecht untergliedern.
I. Erfolgsunrecht Die Steuerhinterziehung ist ein Erfolgsdelikt, da sie entweder den Erfolg einer Steuerverkürzung oder den Erfolg der Erlangung eines nicht gerechtfertigten Steuervorteils voraussetzt. Zu beachten ist allerdings, dass der tatbestandlich vorausgesetzte Erfolg nicht zwingend mit einer Rechtsgutsbeeinträchtigung in Form einer Verletzung oder konkreten Gefährdung einhergehen muss. Ein Delikt kann Erfolgsdelikt „im weiteren Sinne“ und abstraktes Gefährdungsdelikt zugleich sein.45 Entscheidend für das Erfolgsunrecht eines Delikts ist daher nicht die Einteilung in die Kategorien Tätigkeits- / Erfolgsdelikt, sondern welche Qualität der Unrechtserfolg in Bezug auf das Rechtsgut aufweist.46 Dazu muss freilich zunächst einmal Klarheit über das vom Delikt geschützte Rechtsgut bestehen. 1. Rechtsgut der Steuerhinterziehung Wenn sich im Folgenden auf die Suche nach dem Rechtsgut der Steuerhinterziehung begeben wird, ist vorab eine – in der steuerstrafrechtlichen Literatur hierzu nicht selten zu vermissende – Klarstellung im Hinblick auf die Rechtsgutslehre zu treffen. Es muss sich hier auf ein systemimmanentes, positivistisches Rechtsgutsverständnis beschränkt werden.47 Ob das so bestimmte Rechtsgut auch eine systemkritische Funktion im Sinne einer materiellen Rechtsgutslehre erfüllen kann, bzw. ob der Rechtsgutsbegriff hierzu überhaupt in der Lage ist,48 muss dahinstehen. Es genügt, die Schutzaussage der Norm zu ermitteln. 44 Siehe
1. Teil, 1. Kapitel, A. Jeschek/Weigend, Strafrecht AT, S. 260, 263 f. 46 Vgl. Jeschek/Weigend, Strafrecht AT, S. 263. 47 Vgl. zum Begriffsverständnis SK-StGB/Rudolphi, Vorbem. § 1 Rn. 1 ff. 48 Kritisch BVerfGE 120, 224 (243 f.): „Strafnormen unterliegen von Verfassungs wegen keinen darüber (über den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, Anm. des Verf.) hinausgehenden, strengeren Anforderungen hinsichtlich der mit ihnen verfolgten 45 Vgl.
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1. Teil: Schuldprinzip und Strafzwecke im Steuerstrafrecht
Im Streit um das geschützte Rechtsgut der Steuerhinterziehung werden im Wesentlichen die im Folgenden dargestellten Positionen vertreten. a) Kein Rechtsgut? Zum Teil wird die Ansicht vertreten, § 370 AO sei mit dem Gedanken des Rechtsgüterschutzes nicht vereinbar. So meint Kohlmann, die Steuerhinterziehung stelle „nicht die Verletzung von Rechtsgütern und Wertvorstellungen unter Strafe, sondern die Zuwiderhandlung gegen den steuerlichen Gesetzesbefehl“ und schütze damit „nur die öffentliche Kasse, mehr nicht“.49 Zur Begründung führt er an, dass dem Rechtsgüterschutz dienende „Wertvorstellungen“ nicht zu erkennen seien, da es im Steuerrecht nicht nur um fiskalische Zwecke, sondern auch um wirtschafts-, sozial- und kulturpolitische Steuerung gehe. In diese Richtung gehend sind auch die Äußerungen Isensees zu deuten, der meint, die Steuerhinterziehung schütze im Gegensatz zum echten Kriminalstrafrecht „nicht Rechtsgüter, die dem Staat vorgegeben sind“, sondern „allein die positivrechtliche Ordnung des Steuerrechts in seiner jeweiligen, rasch veränderlichen Gestalt“.50 Wieso der „öffentlichen Kasse“ kein Rechtsgutcharakter, naheliegender Weise im Sinne eines Vermögensinteresses des Staates, zukommen kann, wird bei den Ausführungen Kohlmanns jedoch nicht ersichtlich. Welche Motivation zur Begründung des Vermögensinteresses seitens des Steuergesetzgebers geführt hat, spielt insoweit jedenfalls keine Rolle. Ebenso wenig legt Isensee dar, warum die positivrechtliche Ordnung des Steuerrechts nicht seinerseits dem Schutz von Vermögensinteressen dienen soll.51 Die Äußerungen sind wohl hauptsächlich als Zweifel an der Formulierung eines mit dem geltenden Steuerrecht kompatiblen, systemkritischen Rechtsguts für die Steuerhinterziehung unter Zugrundelegung einer monistisch personalen Rechtsgutslehre52 zu verstehen. Hierauf wird zurückzukommen sein. Zwecke. Insbesondere lassen sich solche nicht aus der strafrechtlichen Rechtsgutslehre ableiten.“ S. hierzu auch SK-StGB/Rudolphi, Vorbem. § 1 Rn. 1 ff. m. w. N.; ferner Frisch, in: FS Stree/Wessels, S. 69 ff.; ders., in: Hefendehl et al., Die Rechtsgutstheorie, S. 215 ff.; ders., NStZ 2016, 16 (22 f.). 49 Kohlmann, in: ders. (Hrsg.), Strafverfolgung, S. 5 (19). 50 Isensee, NJW 1985, 1007 (1008). 51 Ebenso MünchKomm/Schmitz/Wulf, § 370 AO, Rn. 2. Den Ausführungen Isensees ist jedenfalls dann nicht zu widersprechen, wenn man eine Unterscheidung zwischen Rechtsgut der Verhaltensnorm und Rechtsgut der Sanktionsnorm (i. e. die Geltungskraft der Verhaltensnorm) unterstellt, s. hierzu MünchKomm/Freund, Vorbem. §§ 13 ff. StGB, Rn. 69. 52 Siehe hierzu NK-StGB/Hassemer/Neumann, Vor § 1 Rn. 131 ff.
2. Kap.: Die Strafzumessungsschuld der Steuerhinterziehung
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b) Steuerliche Mitwirkungspflichten In der älteren Literatur wurde teilweise vertreten, Schutzgegenstand der Steuerhinterziehung sei die Pflicht der Steuerbürger zur Offenbarung aller steuererheblichen Tatsachen, also die steuerlichen Mitwirkungspflichten.53 Mit den steuerlichen Mitwirkungspflichten ist jedoch nicht das geschützte Rechtsgut, sondern lediglich das dem Straftatbestand zu Grunde liegende Verhaltensgebot beschrieben. Die Normierung des tatbestandlichen Erfolges „Steuerverkürzung“ oder „Erlangung eines nicht gerechtfertigten steuerlichen Vorteils“ wäre dann überflüssig.54 Dies zeigt, dass es bei der Steuerhinterziehung nicht um den Schutz der Mitwirkungs- und Offenbarungspflichten als Selbstzweck gehen kann. Hinzukommt, dass die Tatbestandsvariante des § 370 Abs. 1 Nr. 3 AO überhaupt keine Verletzung einer Offenbarungspflicht voraussetzt. Die steuerlichen Mitwirkungspflichten können daher nicht Rechtsgut der Steuerhinterziehung sein. c) Vermögen des Staates Die herrschende Meinung in Rechtsprechung55 und Schrifttum erblickt das Rechtsgut der Steuerhinterziehung in dem staatlichen Interesse am vollständigen und rechtzeitigen Aufkommen der einzelnen Steuern56 bzw. der Steuern im Ganzen.57 Diese Definition ist dabei richtigerweise nicht so zu verstehen, dass damit das Interesse an den einzelnen Steueransprüchen gemeint ist. Denn dass der Tatbestand der Steuerhinterziehung selbst dann erfüllt ist, wenn aufgrund unrichtiger Angaben für ein (existentes) Unternehmen Vorsteuererstattungen erlangt werden, ist auch in der Rechtsprechung längst an-
53 Etwa Ehlers, FR 1976, 504 (505); Ehlers/Lohmeyer, Steuerstraf- und Steuerordnungswidrigkeitenrecht, S. 4; Franzen/Gast, Einl. Rn. 8; Troeger/Meyer, Steuerstrafrecht, S. 8; w.N. bei Suhr, Rechtsgut der Steuerhinterziehung, S. 15. 54 Kohlmann/Sandermann, StuW 1974, 221 (230); Suhr, Rechtsgut der Steuerhinterziehung, S. 21 ff. 55 RGSt 72, 184 (186); BGHSt 43, 381 (403); BGHSt 53, 71, (80); ausgiebiger Nachweis auch zur entsprechenden Rechtsprechung des RG zu § 359 RAO (1919) und § 359 RAO (1931) bei Suhr, Rechtsgut der Steuerhinterziehung, S. 12. 56 Franzen, DStR 1965, 187 (188); Erbs/Kohlhaas/Hadamitzky/Senge § 370 AO Rn. 2; Henneberg, DStR 1972, 551; Rn. 43; Klein/Jäger, § 370 Rn. 2; Koch/Scholtz/ Scheuermann-Kettner, § 370 Rn. 8; Rolletschke/Kemper/Rolletschke, § 370 AO, Rn. 17; Schleeh, NJW 1971, 739. 57 So bereits Mattern, Steuer-Strafrecht, S. 81; ebenso Joecks/Jäger/Randt/Joecks, § 370 Rn. 29; Hardtke, Steuerhinterziehung durch verdeckte Gewinnausschüttung, S. 63 ff.; Kohlmann/Ransiek, § 370 Rn. 54 ff.; Suhr, Rechtsgut der Steuerhinterziehung, S. 28 ff.; Wannemacher/Kürzinger, Steuerstrafrecht, S. 91 ff.
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1. Teil: Schuldprinzip und Strafzwecke im Steuerstrafrecht
erkannt.58 In diesen Fällen ist ein Steueranspruch des Staates ersichtlich nicht gegeben. Das Rechtsgut der Steuerhinterziehung ist daher präziser formuliert das Vermögen des Staates, soweit es sich aus den Steuereinnahmen generiert.59 Der einzelne Steueranspruch ist hingegen als Tatobjekt / Rechtsgutsobjekt zu begreifen.60 Diese Bestimmung des Rechtsguts hat den Vorzug, dass sie die zusätzliche tatbestandliche Voraussetzung eines Erfolgseintritts erklärt. Dem kann auch nicht entgegnet werden, dass (möglicherweise) auch Fälle, in denen keine Vermögensverletzung vorliegt, vom Tatbestand erfasst werden. Auch dies wäre noch kein Grund, das Rechtsgut in der bloßen Erfüllung der Mitwirkungspflicht zu sehen.61 Das Delikt ist dann lediglich Erfolgsdelikt und abstraktes Gefährdungsdelikt zugleich. Die Steuerhinterziehung lässt sich damit als reines Vermögensdelikt qualifizieren. d) Gerechte und gleichmäßige Lastenverteilung Einen nur scheinbar abweichenden Ansatz zur Rechtsgutbestimmung legt Salditt vor, der meint, § 370 AO schütze die gerechte und gleichmäßige Lastenverteilung nach dem Grundsatz der Leistungsfähigkeit.62 Der dahinterstehende Gedanke fußt auf der Überlegung, dass die steuerliche Belastung ihre Rechtfertigung aus der Gleichheit der Lastenverteilung63 beziehe und die Steuerhinterziehung diese gefährde bzw. zerstöre. Salditt sieht daher in der Anknüpfung des Strafrechts an das Steuerrecht eine grundlegende Problematik, vor allem für den Fall ungerechter und verfassungswidriger Steuern. Deren Verteidigung könne nicht Aufgabe des Strafrechts sein. In Fällen der Verkürzung als verfassungswidrig festgestellter Steuern habe die Bestrafung daher zu unterbleiben, auch wenn nach den Regeln des Steuerrechts die Verfassungswidrigkeit für eine Übergangszeit geduldet werde.64 Und bei der Hinterziehung ungerechter Steuern erschöpfe sich das Tatunrecht im Unge58 BGHSt 36, 100; BGH wistra 1990, 58. Dies gilt sogar dann, wenn für ein nichtexistentes Unternehmen fingierte Umsätze angemeldet und für diese Vorsteuererstattungen begehrt werden oder für inexistente Personen Steuervorteile erlangt werden, vgl. BGHSt 40, 109; BGH wistra 2007, 388 f.; BGH wistra 2003, 20 f. 59 Müller-Horn, Tatbestand, S. 83; ebenso Samson, in: 50 Jahre BGH – Festgabe der Wissenschaft, S. 675; Schmitz, Unrecht und Zeit, S. 5; Wulf, Handeln und Unterlassen im Steuerstrafrecht, S. 262. 60 S. zu dieser Terminologie Schmidhäuser, Strafrecht AT, S. 85; grundlegend zum Steueranspruch als Tatobjekt auch Welzel, NJW 1953, 486 f. 61 A. A. aber Bilsdorfer, DStZ 1983, 447 (448). 62 Siehe hierzu und zum Folgenden Salditt, in: FS Tipke, S. 475 (479); ders., StraFo 1997, 65 (68); zustimmend Tipke, in: FS Kohlmann, S. 555 (560 ff.). 63 BVerfGE 84, 239.
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horsam gegenüber dem bloßen Steuerbefehl, ohne dass davon das geschützte Rechtsgut (die gleichmäßige Lastenverteilung) tangiert werde. Hier hält Salditt ein Absehen von Strafe im Wege von Opportunitätseinstellungen gem. §§ 153, 153a StPO, § 398 AO unabhängig von der verkürzten Steuersumme, sondern ausgerichtet an der Stärke des jeweiligen „Normdefekts“, d. h. dem fehlenden Gerechtigkeitswert der Steuernorm, für angemessen. Der Ansatz Salditts folgt Tendenzen in der Rechtsgutslehre, als Rechtsgut nicht statische Zustände, sondern den jeweiligen Funktionszusammenhang eines Zustandes zu benennen.65 Das Vermögen ist demnach nicht die rein rechnerische Summe aller geldwerten Güter einer Person, also nicht ein bestimmter Zustand, sondern eine konkrete Funktionseinheit, die Funktion nämlich, „als wirtschaftliche Lebensgrundlage der Person seines Trägers einen wirtschaftlichen Wirkungsbereich und Daseinsraum zu sichern“.66 Die Bereitstellung eines wirtschaftlichen Wirkungsbereichs des Staates ist allerdings kein Selbstzweck, sondern dient seinerseits der Verwirklichung unterschiedlichster Individual- und Allgemeininteressen. Wenn Salditt auf den Grundsatz der gleichmäßigen Lastenverteilung nach dem Prinzip der Leistungsfähigkeit als Rechtsgut verweist, bezeichnet er also kein gegenüber dem Staatsvermögen abweichendes Rechtsgut, sondern lediglich dessen funktionellen Zusammenhang. Das präzise Abstellen auf den Funktionszusammenhang des Vermögens ist allerdings unerlässlich, will man sich gewisse Unterschiede im Unrechtsgehalt der Steuerhinterziehung gegenüber sonstigen Vermögensdelikten erklären. Soweit diese das Vermögen einer Privatperson schützen, geht es beim Vermögensschutz funktionell um die Verwirklichung ihrer persönlichen Freiheiten. Im Gegensatz dazu geht es beim Vermögensschutz des Staates nicht um dessen persönliche Freiheiten – der Staat ist insoweit schon nicht grundrechtsfähig –, sondern mittelbar um die Verwirklichung unterschiedlichster Individual- und Allgemeininteressen am Leben innerhalb eines Rechtsstaats, Sozialstaats etc.67 Die Lasten68, die die Erfüllung 64 Anders BGHSt 47, 138 im Fall der Vermögenssteuer; ablehnend auch Hübschmann/Hepp/Spitaler/Hellmann, § 370 AO, Rn. 42; Kohlmann/Ransiek, § 370 Rn. 53; Rolletschke/Kemper/Rolletschke, § 370 AO, Rn. 19. 65 Vgl. SK-StGB/Rudolphi, Vor § 1 Rn. 17 m. w. N.; speziell zur Steuerhinterziehung auch bereits Terstegen, Steuer-Strafrecht, S. 81; v. d. Heide, Tatbestands- und Vorsatzprobleme, S. 58 ff; vgl. auch den Hinweis Salditts auf das preußische SteuerReglement des Jahres 1810, welches die Bestrafung der Defraudation damit begründet, jeder müsse durch seinen Anteil an den Abgaben „dazu beitragen […], die allgemeine Last seinen Mitbürgern zu erleichtern“, Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten 1810, 40, 60. 66 SK-StGB/Rudolphi, Vor § 1 Rn. 17. 67 Dies verkennt etwa Lemmer, Die Hinterziehung, S. 167, wenn er der Rechtsgutsbestimmung Salditts entgegenhält: „Der Steuerhinterzieher wird doch nicht deswegen bestraft, weil durch sein Steuerausfall andere Steuerpflichtige gezwungen sind,
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dieser Interessen mit sich bringen, sind gerecht auf die Mitglieder der Gesellschaft zu verteilen. Das Staatsvermögen repräsentiert die gerechte Lastenverteilung. Einem anderen (Haupt-)Zweck als der gleichmäßigen und gerechten Lastenverteilung dienen nach Salditt allerdings bestimmte Steuernormen mit lenkenden Zielen wie Zölle, Tabak- und Alkoholsteuer. Es sei verfehlt, bei der Hinterziehung solcher Steuern den sozialethischen Gehalt des Hauptzwecks außer Acht zu lassen und allein auf das geschädigte Vermögen abzustellen, welches ja nach dem Willen des Gesetzgebers am besten gar nicht und praktisch nur nebenbei anfallen soll.69 Diese Problematik des scheinbar abweichenden funktionellen Zusammenhangs bei lenkenden Steuernormen ist verantwortlich für die wesentlichen Unterschiede in der Diskussion um das Rechtsgut des § 370 AO. Definiert man lediglich das Vermögen als Rechtsgut, ohne dessen funktionellen Zusammenhang in den Blick zu nehmen, bestehen insoweit keine Schwierigkeiten, da sowohl Fiskal- als auch Lenkungssteuernormen auf das Ergebnis der Vermögensbildung hinauslaufen. Erst wenn man es für notwendig erachtet, dem funktionellen Zusammenhang des Rechtsguts Vermögen auf den Zahn zu fühlen, beginnen die Probleme im Bereich der Steuerhinterziehung. Teile der Literatur hat das Dilemma zur Resignation geführt.70 Andere wiederum meinen, die Lösung darin zu finden, das Besteuerungssystem als solches zum Rechtsgut der Steuerhinterziehung zu machen.71 Damit ist in der Sache allerdings wenig gewonnen. Das Rechtsgut Besteuerungssystem ist lediglich ein weiterer Oberbegriff für die Ansammlung möglicher unterschiedlicher funktioneller Zusammenhänge. Salditt selbst anerkennt neben der gerechten Lastenverteilung schlicht weitere Rechtsgüter des § 370 AO wie die Volksgesundheit oder die Sicherung der Umwelt als dann ausschließlich betroffene Rechtsgüter in den Fällen der Hinterziehung einer entsprechenden Lenkungssteuer.72 Dem kann nur im Ansatz zugestimmt werden. Richtig ist, dass die Lenkungssteuernorm selbst ausschließlich dem Schutz bestimmter Rechtsgüter dient. Ab dem Zeitpunkt der Verwirklichung des Steuertatbestandes dienen die auf die Durchsetzung des Steueranspruchs gerichteten Steuernormen jediese Lücke im Steueraufkommen auszufüllen, sondern weil er schlichtweg nicht dazu beiträgt, dass der Steuergläubiger seine ihm entstandenen Ansprüche eintreiben und bedarfsgerecht einsetzen kann.“ 68 Oder anders formuliert: die Solidaritätspflichten. Dazu, wann Solidaritätspflichten zu Rechtspflichten werden und als solche zur Legitimierung und Begrenzung von Strafnormen führen können, Frisch, GA 2016, 121 ff. 69 Salditt, in; FS Tipke, S. 475 (483). 70 S. o. 1. Teil, 2. Kapitel, A., I., 1., a). 71 Dannecker, Steuerhinterziehung, S. 144 ff., 174 ff. 72 Salditt, in: FS Tipke, S. 475 (483).
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doch in gleichem Maße der gerechten Lastenverteilung wie bei jedem anderen Steueranspruch auch. Unabhängig davon wie die Entstehung eines Vermögenswertes des Staates mittels Besteuerung zu rechtfertigen ist,73 würde der Ausfall eines einmal rechtmäßig entstandenen staatlichen Vermögenswertes zu einer überproportionalen Belastung der die öffentlichen Lasten im Übrigen tragenden Personen führen und damit die gerechte Lastenverteilung verletzen. Dem kann auch nicht entgegnet werden, die gleichmäßige Lastenverteilung wäre dann bei jedem Angriff auf das Staatsvermögen betroffen. Auch andere Rechtsgüter können durch unterschiedlichste Handlungen verletzt werden. Welche dabei unter Strafe zu stellen sind, ist Frage einer systemkritischen Handhabung des Rechtsguts. Ob die Hinterziehung von Lenkungssteuern vor diesem Hintergrund unter Strafe zu stehen hat, kann bei der hier anzustellenden systemimmanenten Betrachtung dahinstehen. Sie lassen sich jedenfalls unproblematisch in eine Rechtsgutsdefinition integrieren, die den Vermögensschutz vor dem funktionellen Hintergrund einer gerechten und gleichmäßigen Lastenverteilung als maßgebliche Schutzaussage des § 370 AO ansieht. Weitere funktionelle Hintergründe in Fällen der Lenkungssteuern treten allenfalls hinzu.74 Freilich ließe sich auch noch weitergehend nach dem funktionellen Hintergrund einer gleichmäßigen und gerechten Lastenverteilung fragen. Zu welchen Rechtsgutsdefinitionen man dabei gelangt, lohnt vor allem dann, wenn man es auf die systemkritische Potenz des Rechtsgutsbegriffs absieht, und soll daher hier nicht weiter vertieft werden.75 Es genügt für die Untersuchung im Folgenden festzuhalten, dass die Steuerhinterziehung dem Schutz des Staatsvermögens dient, soweit es sich aus den Steuereinnahmen generiert. Funktioneller Hintergrund dieses Schutzgutes ist in jedem Fall und abweichend zum 73 Gerechtfertigt sind nicht nur Lenkungssteuern, sondern auch verfassungswidrige Steuern, die unter einer Weitergeltungsanordnung stehen. Da dieser Terminierungsmodus nur zulässig ist, wenn ein regelungsfreier Zustand von der verfassungsmäßigen Ordnung noch weiter entfernt ist, sichern entsprechende Steuern eben zum Teil auch die gleichmäßige und gerechte Lastenverteilung, daneben vor allem den Ordnungsauftrag der vollziehenden Staatsfunktionen, die Rechtssicherheit der Rechtsunterworfenen sowie die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers, vgl. Maunz/SchmidtBleibtreu/Klein/Bethge/Bethge, § 31 Rn. 206a. 74 A. A. Müller-Horn, Tatbestand, S. 85 f., der meint, der Lenkungszweck würde sich in der Androhung der Steuern erschöpfen, sodass nach Entstehung nur noch der Fiskalzweck bestehe. Dies verkennt jedoch, dass die Durchsetzung einer Norm immer auch der Verdeutlichung ihrer Geltungskraft und damit auch ihrem (präventiven) Schutzzweck dient. 75 Das Ergebnis hängt dabei ab vom jeweiligen Standpunkt der Rechtsgutslehre zwischen Dualismus und Monismus und innerhalb der monistischen Position wiederum von der Entwicklung der Rechtsgüter vom Staat oder dem Individuum her. S. hierzu und auch zur „Verflüssigung“ des Rechtsgutbegriffs SK-StGB/Hassemer/ Neumann, Vor § 1 Rn. 122 ff.
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Schutz privaten Vermögens die Gewährleistung einer gerechten und gleichmäßigen Lastenverteilung nach dem Prinzip der Leistungsfähigkeit. 2. Qualität der Rechtsgutsbeeinträchtigung Besteht mittlerweile weitgehend Einigkeit über die Einordnung der Steuerhinterziehung als Vermögensdelikt, gehen die Auffassungen über die Deliktsnatur im Hinblick auf die Qualität der Rechtsgutsbeeinträchtigung nach wie vor stark auseinander. So wird § 370 AO einerseits als reines Verletzungsdelikt76 andererseits als konkretes und auch abstraktes Gefährdungsdelikt77 eingeordnet. Es sei an dieser Stelle vorweggenommen, dass der Streit um die Deliktsnatur der Steuerhinterziehung nur für einen zahlenmäßig äußerst kleinen Randbereich von Fällen relevant wird. Es soll daher in der Untersuchung im Folgenden nicht der Frage nachgegangen werden, ob denkbare Fälle abstrakter oder konkreter Gefährdungen vom Tatbestand der Steuerhinterziehung erfasst werden. Eine der Strafzumessung gewidmete Arbeit muss diese Vorfrage auch nicht zwingend beantworten. Es genügt vielmehr zu klären, welche vom Tatbestand der Steuerhinterziehung (möglicherweise) erfassten Fälle sich als abstrakte oder konkrete Gefährdung oder Verletzung des geschützten Rechtsguts darstellen. Die Beantwortung dieser Frage ist allerdings unerlässlich, denn die Qualität der Rechtsgutsbeeinträchtigung ist ein zentraler Gesichtspunkt bei der Bewertung des Erfolgsunrechts der Tat und damit der Strafzumessungsschuld. a) Differenzierungskriterium: Vermögensschaden Die Qualifizierung der Steuerhinterziehung als Vermögensdelikt eröffnet die Möglichkeit für die Abgrenzung von Gefährdung und Verletzung auf ein bekanntes Instrumentarium zurückzugreifen. Ein Blick auf diejenigen Delikte des Kernstrafrechts, die das Vermögen im Ganzen schützen (§§ 253, 263 und 266 StGB), zeigt ein einheitliches Differenzierungskriterium: den Vermögensschaden. Dem kann auch nicht der Einwand entgegnet werden, die Steuerhinterziehung schütze nicht das Staatsvermögen im Ganzen, sondern lediglich das Staatsvermögen, soweit es sich aus dem Steueraufkommen generiert. Denn entscheidend ist, dass § 370 AO einen umfassenden Vermögensschutz 76 Hübschmann/Hepp/Spitaler/Hellmann, § 370 AO, Rn. 57 ff.; ebenso Beckemper, NStZ 2002, 518 (520 f.); Rübenstahl, HRRS 2009, 93 (97 f.). 77 BGHSt 58, 50; Joecks/Jäger/Randt/Joecks, § 370 Rn. 53; Kuhlen, Grundfragen, S. 41; Lemmer, Die Hinterziehung, S. 177 ff.; Kohlmann/Ransiek, § 370 Rn. 59; Graf/ Jäger/Wittig/Rolletschke, § 370 AO, Rn. 9 f.; Samson, FS 50 Jahre BGH, S. 675 f.; MünchKomm/Schmitz/Wulf, § 370 AO, Rn. 11.
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gewährt und nicht auf bestimmte Vermögensgegenstände – etwa wie § 242 StGB: bewegliche Sachen – beschränkt ist. Das Prinzip zur Bestimmung der Rechtsgutsverletzung muss für das Vermögen im Ganzen und einen umfassenden Teil des Vermögens das gleiche sein.78 In der Diskussion um die Deliktsnatur der Steuerhinterziehung wird daher zu Recht ganz überwiegend auf die im Zusammenhang mit dem Vermögensschaden bekannten Begrifflichkeiten (schadensgleiche Vermögensgefährdung / Gefährdungsschaden, echter Vermögensschaden) zurückgegriffen. Auch wenn deren Inhalte freilich nicht unumstritten sind, besteht doch ein durch jahrzehntelange juristische Diskussion und Judikatur verfeinertes und ausgearbeitetes Begriffsbild. b) Fälle eines „echten“ Vermögensschadens Für eine systematische Untersuchung der Fallkonstellationen der Steuerhinterziehung ist es nicht sinnvoll, an die gesetzliche Differenzierung der Tatbestandserfolge Steuerverkürzung und Erlangung eines nicht gerechtfertigten Steuervorteils anzuknüpfen, da deren Abgrenzung in Schrifttum und Rechtsprechung uneinheitlich erfolgt.79 Zweckmäßiger ist eine Abgrenzung nach gesicherten objektiven Unterscheidungskriterien. So lässt sich trennen nach Steuerhinterziehungen im Erhebungs- und Vollstreckungsverfahren und solchen im Festsetzungsverfahren. Ein „echter“ Vermögensschaden in Fällen der Steuerhinterziehung im Erhebungs- und Vollstreckungsverfahren liegt zweifelsfrei dann vor, wenn der Täter ungerechtfertigte Zahlungen vom Finanzamt erhält. Dies ist etwa bei Steuervergütungen gegeben, die gem. § 370 Abs. 4 S. 2 AO Steuervorteile sind. Aber auch immer dann, wenn die Ist-Einnahmen hinter den Soll-Einnahmen zurückbleiben, liegt ein „echter Vermögensschaden“ des Fiskus vor. Denn das Steueraufkommen stellt den rechtzeitigen (also bei Fälligkeit) und vollständigen Erhalt der dem Staat zustehenden Geldsumme dar. Erhält der Staat einen geringeren als den ihm zustehenden Betrag, ist das Staatsvermögen, wie es sich aus dem Steueraufkommen generiert, unmittelbar geschädigt, das geschützte Rechtsgut somit verletzt. Grundsätzlich anders stellt sich die Situation im praktischen Regelfall der Steuerhinterziehung im Festsetzungsverfahren dar. Der Gesetzgeber bestimmt 78 Suhr, Rechtsgut der Steuerhinterziehung, S. 57, der auch darauf hinweist, dass beim Missbrauchstatbestand der Untreue nicht das Vermögen im Ganzen, sondern lediglich solche Vermögenspositionen geschützt werden, für die der Täter eine Verfügungsbefugnis besitzt. 79 Siehe MünchKomm/Schmitz/Wulf, § 370 AO, Rn. 74 ff.
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in § 370 Abs. 4 S. 1 AO ausdrücklich, dass Steuern namentlich dann verkürzt sind, „wenn sie nicht, nicht rechtzeitig oder nicht in voller Höhe festgesetzt werden“. Damit verlagert er die Strafbarkeit in ein Stadium vor, in dem noch nicht von einem „echten Vermögensschaden“ gesprochen werden kann. Denn ob das Vermögen, wie es sich aus dem Steueraufkommen generiert, unmittelbar geschädigt ist, entscheidet sich erst bei Fälligkeit und nicht bereits mit der Festsetzung der Steuer. Zu diesem Zeitpunkt besteht daher allenfalls eine Gefahr. Es wird im Folgenden zu klären sein, in welchen Konstellationen sich diese Gefahr als schadensgleich, als konkret oder lediglich abstrakt darstellt. c) Fälle der Vermögensgefährdung Eine schadensgleiche Vermögensgefährdung80 ist gegeben, wenn die Wahrscheinlichkeit eines endgültigen Verlusts eines Vermögensbestandteils zum Zeitpunkt der Vermögensverfügung so groß ist, dass dies schon jetzt eine objektive Minderung des Gesamtvermögens zur Folge hat.81 Um einer zu weiten Anwendung dieser Voraussetzung und damit einer unangemessenen Vorverlagerung der Vollendungsstrafbarkeit entgegenzuwirken, sieht es das BVerfG im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG seit seinem Beschluss vom 23.6.2010 als erforderlich an, dass die Höhe des Gefährdungsschadens vom Gericht jeweils konkret festzustellen und zu beziffern ist.82 Überträgt man diese Anforderungen auf die Steuerhinterziehung im Festsetzungsverfahren, ist zunächst einmal festzuhalten, dass die Aufgabe des (ungeschriebenen) Tatbestandsmerkmals der Vermögensverfügung, den für die Schadensbetrachtung relevanten Zeitpunkt zu fixieren, hier von dem Merkmal der Steuerfestsetzung übernommen wird. Dabei steht die Steuerfestsetzung strukturell einer Vermögensverfügung durch Unterlassen gleich. Eine solche weist die Besonderheit auf, dass für die zur Schadensfeststellung anzustellende Differenzbetrachtung nicht zwei reale Zustände, nämlich der Vermögenszustand vor und nach der Vermögensverfügung, miteinander zu vergleichen sind. Es ist vielmehr ein realer, nämlich der tatsächliche Zustand nach Verfügung mit dem hypothetischen Zustand bei vorgenommener Handlung zu vergleichen.83 Das Gesetz unterscheidet drei Tatbestandsalternativen der Steuerhinterziehung im Festsetzungsverfahren: die Fälle zu geringer Festsetzung, der nicht 80 Die treffendere Terminologie wäre eigentlich „schädigende Vermögensgefährdung“ oder „Gefährdungsschaden“, vgl. MünchKomm/Hefendehl, § 263 StGB, Rn. 622, die im Folgenden synonym verwendet wird. 81 BGHSt 48, 331 (346); 51, 165 (174 ff.). 82 BVerfGE 126, 170 (194 ff.). 83 Suhr, Rechtsgut der Steuerhinterziehung, S. 69 ff.
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rechtzeitigen und der gänzlich unterbliebenen Festsetzung, § 370 Abs. 4 S. 1 HS 1 AO. In § 370 Abs. 4 S. 1 HS 2 AO wird klargestellt, dass auch bei vorläufiger Festsetzung und Festsetzung unter Vorbehalt der Nachprüfung eine Steuerverkürzung gegeben ist. aa) Fälle zu geringer, endgültiger Festsetzung (§ 370 Abs. 4 S. 1 HS 1 Alt. 2 AO) In den Fällen zu geringer Festsetzung besteht bei der besagten Differenzbetrachtung der Unterschied zwischen realem und hypothetischem Vermögenszustand in einer in bestimmter Teilhöhe des Steueranspruchs nicht erfolgten Festsetzung. Damit ist in dieser Teilhöhe ein sonst vollstreckbarer Titel nicht gegeben. Der zugrundeliegende Steueranspruch besteht dennoch fort. Ausgehend vom Nominalwert der Forderung ist damit eine Differenz nicht zu verzeichnen. Allerdings ist bei wirtschaftlicher Betrachtung nicht mehr vom Nominalwert der Forderung auszugehen. Denn Steuerforderungen werden in Höhe der festgesetzten Steuern beigetrieben. Bei der endgültigen Festsetzung (§ 155 AO) treffen die Steuerbehörden aber regelmäßig die letzte maßgebliche Entscheidung über die Besteuerung des Sachverhalts, so dass eine Nichtbeitreibung in Höhe der zu geringen Festsetzung sehr wahrscheinlich ist. Die Realisierung dieser Gefahr ist auch derart wahrscheinlich, dass der Steueranspruch im Wert objektiv gemindert ist. Die Steuerhinterziehung in Fällen zu geringer Festsetzung stellt sich damit in der Regel als schadensgleiche Vermögensgefährdung dar. Hierüber besteht auch im Schrifttum Einigkeit.84 Der 1. Strafsenat des BGH könnte indes anders verstanden werden: „Die Steuerhinterziehung ist zwar Erfolgsdelikt, jedoch – wie die Vorschrift des § 370 Abs. 4 S. 1 AO zeigt – nicht notwendig Verletzungsdelikt (…). Die im Festsetzungsverfahren begangene Steuerhinterziehung ist vielmehr konkretes Gefährdungsdelikt (…)“.85 Allerdings verwendet der BGH nicht selten den Begriff der konkreten Gefährdung zur Beschreibung von schadensgleichen Vermögensgefährdungen.86 Dennoch erweckt die explizite Gegenüberstellung und Abgrenzung zum Verletzungsdelikt hier den Eindruck, der 1. Senat meine gerade keine Fälle des Gefährdungsschadens. Auf der anderen Seite geht der 1. Senat jedoch offensichtlich selbst von der Möglichkeit eines Gefährdungsschadens in Fällen der Steuerhinterziehung im Festsetzungsverfahren aus, wie in der Grundsatzentscheidung zur Strafzumessung vom 2.12.2008 deutlich wird: 84 Joecks/Jäger/Randt/Joecks,
§ 370 Rn. 53 m. w. N. 53, 221 (229 f.). 86 Vgl. bereits RGSt. 16, 1; BGH 33, 244 (246); 47, 160 (167); 48, 354 (355); 51, 100 (113 ff.); 52, 323 (338). 85 BGHSt
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bei der Auslegung des großen Ausmaßes gem. § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 AO sei „ähnlich wie beim Betrug (-) zwischen schon eingetretenem Vermögensverlust und einem Gefährdungsschaden zu differenzieren.“87 Damit setzt der BGH implizit Fälle des Gefährdungsschadens für die Strafzumessung im Festsetzungsverfahren voraus. Es ist daher davon auszugehen, dass der 1. Senat die Fälle der Steuerhinterziehung im Festsetzungsverfahren nicht grundsätzlich als bloße konkrete Gefährdungserfolge in Abgrenzung zu Verletzungserfolgen einordnet. Gemeint ist wohl vielmehr, dass bei Steuerhinterziehungen im Festsetzungsverfahren stets eine konkrete Gefahr vorliegt, was nicht ausschließt, dass sie ihrer Intensität nach auch einen Gefährdungsschaden darstellen kann. bb) Fälle zu geringer, vorläufiger Festsetzung und Festsetzung unter Vorbehalt der Nachprüfung, § 370 Abs. 4 S. 1 HS 2 AO Fraglich ist, ob sich die Vermögensgefährdung bei zu geringer Festsetzung auch noch in den Fällen der vorläufigen Festsetzung (§ 165 AO) und der Festsetzung unter Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 AO) als schadensgleich darstellt. Denn in diesen Fällen behält sich der Fiskus die letzte Entscheidung über die Besteuerung des Sachverhalts ausdrücklich vor. Bei der vorläufigen Festsetzung ist eine weitere Prüfung sogar sicher. Hier sind die zur lediglich vorläufigen Festsetzung führenden Ungewissheiten zu beseitigen, um dann die vorläufige Festsetzung aufzuheben, zu ändern oder für endgültig zu erklären, § 165 Abs. 2 S. 2 AO. Die Wahrscheinlichkeit einer Verwirklichung des Steueranspruchs in voller Höhe könnte dadurch größer und das Maß der Vermögensgefährdung geringer sein.88 Dies ist bei rein wirtschaftlicher Betrachtung im Hinblick auf den endgültigen Verlust des Vermögenswertes sicherlich richtig. Zu beachten ist allerdings, dass ein „echter Vermögensschaden“ des Fiskus bereits im Moment der zu geringen Beitreibung der Steuerschuld vorliegt. Die erneute Prüfung des Besteuerungssachverhalts bei vorläufiger Festsetzung oder Festsetzung unter Vorbehalt der Nachprüfung erfolgt jedoch in aller Regel erst lange nach Fälligkeit der Steuerschuld, häufig im Rahmen einer mehrere Veranlagungszeiträume umfassenden Betriebs- und Außenprüfung. Der zu diesem Zeitpunkt bereits herbeigeführte Vermögensschaden kann durch die geänderte Festsetzung lediglich wiedergutgemacht werden. Rechte, die der Schadenswiedergutmachung dienen, sind jedoch nach ganz überwiegender Auffas87 BGHSt
53, 71 (85). Joecks/Jäger/Randt/Joecks, § 370 Rn. 53, wobei unklar bleibt, ob das Maß der Gefahr damit für die Annahme eines Gefährdungsschadens zu gering sei. 88 So
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sung89 bei der Schadensermittlung außer Betracht zu lassen, ungeachtet ihrer Realisierungswahrscheinlichkeit und damit ihrer möglicherweise nicht unerheblichen bilanzierungsfähigen Werte. In den wohl sehr seltenen, aber dennoch denkbaren Fällen, in denen die Finanzbehörde die Nachprüfung noch vor Fälligkeit vornimmt, stellt sich diese Nachprüfung als Verhinderungsmöglichkeit der Gefahrrealisierung dar. Selbst dann ist die Berücksichtigung dieser Verhinderungsmöglichkeit als Gefahrminimierung zum relevanten Zeitpunkt der Gefahreinschätzung – nämlich den der Erstfestsetzung – aber nicht zwingend zu folgern. Es lässt sich nämlich auch in diesen Fällen in Frage stellen, ob eine nach den Grundsätzen der Schadensermittlung saldierungsfähige Position vorliegt. So ist etwa für den Eingehungsbetrug umstritten, ob die Möglichkeit über Gewährleistungsrechte, gesetzliche Ausgleichsansprüche oder ein Anfechtungsrecht den Schadenseintritt zu verhindern, bei der Schadensermittlung berücksichtigt werden kann.90 Es wird spätestens an dieser Stelle Fluch und Segen der Übertragung der aus der Diskussion im Kernstrafrecht um den Inhalt des Vermögensschadens bekannten Grundsätze deutlich. Zum einen bieten die Begrifflichkeiten keine sichere, konsensfähige Abgrenzung, da sie in ihren Einzelheiten – angefangen beim Vermögensbegriff selbst – nach wie vor umstritten sind. Auf der anderen Seite stehen hinter den Meinungsverschiedenheiten Überlegungen, die sich in ähnlicher Form auch ohne Anknüpfung an das Kernstrafrecht bei der Abgrenzung von Gefährdung und Verletzung des Rechtsguts bei der Steuerhinterziehung stellen würden. Sie haben wiederum Fragen der Strafwürdigkeit bestimmten Verhaltens überhaupt oder der Notwendigkeit der Strafbarkeit als Vollendungsdelikt zum Hintergrund, deren Beantwortung im Rahmen dieser Untersuchung für das Delikt der Steuerhinterziehung nicht geleistet werden kann. Es kann dennoch festgehalten werden, dass nach der herrschenden Meinung zur Schadensermittlung in den praktisch vorkommenden Fällen der vorläufigen Festsetzung und Festsetzung unter Vorbehalt der Nachprüfung ein Gefährdungsschaden vorliegt. Denn die Nachprüfung erfolgt erst deutlich nach Fälligkeit der Steuerforderung und vermag daher die Gefahr des Eintritts eines „echten Vermögensschaden“ nicht zu verringern. Sie stellt sich damit strukturell als Instrument der Schadenswiedergutmachung dar. Theoretisch denkbar ist daneben auch der Fall, in dem die Finanzbehörde die Nach89 Siehe hierzu MünchKomm/Hefendehl, § 263 StGB, Rn. 513 ff., unter Darlegung der abweichenden eigenen Auffassung. 90 Siehe hierzu MünchKomm/Hefendehl, § 263 StGB, Rn. 513 ff.; NK-StGB/Kindhäuser, § 263 Rn. 254; Lackner/Kühl/Kühl, § 263 Rn. 44.
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prüfung bereits vor Fälligkeit beabsichtigt. Hier stellt sich die Nachprüfung strukturell als Instrument der Schadensverhinderung dar. Ein nicht unerheblicher Teil des Meinungsspektrums zum Vermögensschaden würde dabei wohl in der Tat zu einer Berücksichtigung dieser Verhinderungsmöglichkeit im Rahmen der Gefahrbeurteilung gelangen, so dass sich das Rechtsgut der Steuerhinterziehung bei entsprechend hoher Entdeckungswahrscheinlichkeit als bloß konkret (und gegebenenfalls sogar nur abstrakt) gefährdet darstellt. cc) Fälle der Nicht- und nicht rechtzeitigen Festsetzung, § 370 Abs. 4 S. 1 HS 1 Var. 1, 3 AO Der Erfolg der Steuerverkürzung tritt bei der nicht rechtzeitigen Festsetzung nicht erst zum Zeitpunkt der verspäteten Festsetzung, sondern bereits zum Zeitpunkt der unterbliebenen Festsetzung ein.91 Daher wird die Nichtfestsetzung lediglich als ein Unterfall der nicht rechtzeitigen Festsetzung eingeordnet.92 Für die zu diesem Zeitpunkt bei der Schadensbestimmung anzustellende Differenzbetrachtung ergibt sich kein Unterschied zu den Fällen zu niedriger Festsetzung. Wiederum wird ein Steueranspruch – hier in voller Höhe – nicht festgesetzt und damit die Gefahr der Nichteintreibung der Forderung bei Fälligkeit geschaffen. Diese Gefahr stellt sich auch hier im Regelfall als so groß dar, dass sie als schadensgleich zu bewerten ist. Denn wird eine Steuer nicht rechtzeitig festgesetzt, hat dies meist den Hintergrund, dass ihr der Steuerpflichtige unbekannt ist, wie sogleich zu zeigen ist. In der kurzen Zeit zwischen rechtzeitiger Steuerfestsetzung und Fälligkeit der Steuer ist eine Aufklärung des Sachverhalts meist äußerst unwahrscheinlich, sodass ein Gefährdungsschaden auch hier regelmäßig vorliegen wird. Bei Anmeldesteuern erfolgt die Steuerfestsetzung bereits mit Einreichung der Anmeldung, da die Anmeldung einer Festsetzung unter Vorbehalt der Nachprüfung gleichsteht, § 168 AO. Solche Steuern werden üblicherweise durch zu geringe Festsetzung (nicht selten nur auf Zeit) hinterzogen. Unterlässt ein dem Fiskus bekannter Steuerpflichtiger eine Anmeldung gänzlich, wird dies in aller Regel nicht vorsätzlich geschehen, da er mit Entdeckung 91 Bei den Anmeldesteuern ist dieser Zeitpunkt genau bestimmbar, vgl. z. B. § 41a Abs. 1 EStG (Lohnsteuer), § 45a Abs. 1 EStG (Kapitalertragsteuer), § 18 Abs. 1 UStG. Bei den Veranlagungssteuern steht dagegen meist nur der Zeitpunkt fest, bis zu dem die Steuererklärung hätte abgegeben werden müssen. Deshalb ist mit der herrschenden Meinung der Erfolgseintritt in dubio pro reo auf das Ende der Veranlagungsarbeiten im zuständigen Finanzamt für den gegebenen Veranlagungszeitraum zu legen, vgl. MünchKomm/Schmitz/Wulf, § 370 AO, Rn. 85. 92 Joecks/Jäger/Randt/Joecks, § 370 Rn. 52.
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der Tat rechnen muss, sodass allenfalls § 378 AO zur Anwendung gelangt. Daher werden Hinterziehungen von Anmeldesteuern im Wege der nicht rechtzeitigen Festsetzung meist von dem Fiskus unbekannten Steuerpflichtigen begangen. Für Veranlagungssteuern wird der Fiskus bei bekannten Steuerpflichtigen zumindest einen Steuerbescheid nach Schätzung erlassen. Liegt die Schätzung unter der tatsächlichen Steuerschuld, ist eine Steuerhinterziehung durch zu geringe Festsetzung gegeben. Auch bei Veranlagungssteuern ist der Steuerpflichtige in Fällen der nicht rechtzeitigen Festsetzung dem Fiskus daher in der Regel unbekannt. Dennoch bleibt zu konstatieren, dass sicher auch Fälle der nicht rechtzeitigen Festsetzung denkbar sind, in denen die Wahrscheinlichkeit der rechtzeitigen Beitreibung der Steuerschuld hinreichend groß ist, so dass ein Gefährdungsschaden nicht mehr vorliegt. dd) Fälle abstrakter Vermögensgefährdung Versteht man § 370 AO nicht ausschließlich als Verletzungsdelikt, sind in folgenden Fallkonstellationen bloße abstrakte Gefährdungen denkbar. 1. Der vermögenslose Schuldner: Ist der Steuerschuldner vermögenslos, ist auch der Steueranspruch wirtschaftlich wertlos. Eine Steuerverkürzung kann dann von vornherein keinen Vermögensschaden verursachen. Für Steuerhinterziehungen im Festsetzungsverfahren sieht die Rechtsprechung93 und die überwiegende Auffassung im Schrifttum94 den Verkürzungserfolg dennoch auch bei vermögenslosen Tätern als gegeben an, was in der Konsequenz zur Erfassung von Fällen abstrakter Vermögensgefährdung führt. Im Vollstreckungsverfahren hingegen soll es für den Verkürzungserfolg nach einhelliger Auffassung auf die Werthaltigkeit der Forderung ankommen.95 2. Die Kenntnis der Finanzbehörde: Die Unkenntnis der Finanzbehörde vom wahren Besteuerungssachverhalt ist lediglich in der Unterlassensvariante der Steuerhinterziehung (§ 370 Abs. 1 Nr. 2 AO) geschriebene Tatbestandsvoraussetzung. Ob sie auch als Urt. v. 16.1.1962 – 1 StR 480/61, zit. nach Herlan, GA 1963, 97. § 370 AO, Rn. 144; Wannemacher/Kürzinger Rn. 269; Erbs/Kohlhaas/Senge, § 370 AO Rn. 37; MünchKomm/Schmitz/Wulf, § 370 AO, Rn. 79; wohl auch Joecks/Jäger/Randt/Joecks, § 370 Rn. 62; a. A. Suhr, Rechtsgut der Steuerhinterziehung, S. 135 ff. 95 BGH wistra 1998, 180 (184); Joecks/Jäger/Randt/Joecks, § 370 Rn. 62. 93 BGH
94 Hübschmann/Hepp/Spitaler/Hellmann,
48
1. Teil: Schuldprinzip und Strafzwecke im Steuerstrafrecht
ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal in die Begehungsvariante gem. § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO hineinzulesen ist, ist umstritten.96 Der BGH hat diese Rechtsfrage mittlerweile abschließend verneint.97 In der Literatur geht man überwiegend von der Notwendigkeit eines ungeschriebenen Tatbestandsmerkmals der Unkenntnis aus, um Spannungen zur Unterlassungsvariante zu vermeiden.98 Nimmt man hingegen eine Strafbarkeit auch bei Kenntnis der Finanzbehörde vom wahren Sachverhalt an, sind Fälle denkbar, in denen es zu einer bloßen abstrakten Gefahr kommt. So kommt es bei der Steueranmeldung bereits mit Einreichung der Anmeldung zu einer Steuerfestsetzung. Sind die Angaben in der Steueranmeldung derart offensichtlich falsch, dass die Finanzbehörden die Unrichtigkeit mit Sicherheit erkennen und die Steuer gem. § 167 Abs. 1 S. 1 AO richtig festsetzen wird, ist der Steueranspruch lediglich abstrakt gefährdet. 3. Das Kompensationsverbot, § 370 Abs. 4 S. 3 AO: Das Kompensationsverbot besagt, dass eine Steuerhinterziehung auch dann gegeben ist, wenn die Steuer aus anderen Gründen – also solchen, die der Steuerpflichtige nicht erklärt hat – hätte ermäßigt oder der Steuervorteil aus anderen Gründen hätte beansprucht werden können. Dies führt dazu, dass der Steuerverkürzungserfolg selbst dann eintreten kann, wenn der Täter tatsächlich nicht nur keine Steuern schuldet, sondern sogar ein steuerliches Guthaben bzw. eine Rückzahlung zu erwarten hat.99 Damit sind auch im Zusammenhang mit dem Kompensationsverbot Fälle bloß abstrakter Vermögensgefährdungen denkbar.100
96 Vgl.
nur MünchKomm/Schmitz/Wulf, § 370 AO, Rn. 257 ff. wistra 2011, 186; wistra 2013, 1, für die Kenntnis des zuständigen Veranlagungsbeamten. Der BGH stellte zuvor bereits fest, dass die Steuerhinterziehung im Gegensatz zum Betrugstatbestand jedenfalls keinen Irrtum voraussetze; auf die Kenntnis von übergeordneten Stellen der Finanzverwaltung (Ministerium in den Fällen der Parteispendenaffäre), komme es jedenfalls nicht an. Ob dies für den zuständigen Veranlagungsbeamten auch gelte, ließ der BGH offen, äußerte jedoch bereits Bedenken im Hinblick auf den sonst fragwürdigen Anwendungsbereich von § 370 Abs. 3 Nr. 2 und 3 AO, vgl. BGHSt 37, 266; BGHSt 34, 272; hierzu auch unten 2. Teil, 1. Kapitel, III. 98 Ausführlich Hilgers S. 89 ff.; Wulf, Handeln und Unterlassen im Steuerstrafrecht, S. 146 ff.; ebenso Joecks/Jäger/Randt/Joecks, § 370 Rn. 279 f.; Kohlmann/ Ransiek, § 370 Rn. 44; MünchKomm/Schmitz/Wulf, § 370 AO, Rn. 260. 99 BGH, wistra 1991, 107. 100 MünchKomm/Schmitz/Wulf, § 370 AO, Rn. 145; zu Versuchen den Anwendungsbereich des Kompensationsverbots so zu bestimmen, dass abstrakte Vermögensgefährdungen nicht erfasst sind, s. Hübschmann/Hepp/Spitaler/Hellmann, § 370 AO, Rn. 62 f., 189. 97 BGH,
2. Kap.: Die Strafzumessungsschuld der Steuerhinterziehung49
d) Zwischenergebnis Die Steuerhinterziehung ist in aller Regel Verletzungsdelikt. Denkbar sind aber auch Fälle bloßer konkreter und abstrakter Gefährdungen.
II. Handlungsunrecht 1. Verhältnis zum Erfolgsunrecht Während das Erfolgsunrecht sich maßgebend nach der Intensität der Rechtsgutsbeeinträchtigung bestimmt, steht beim Handlungsunrecht die Gefährlichkeit der Handlung für das Rechtsgut im Zentrum.101 Im deliktssystematischen Vergleich ist hier vor allem die Weite der Tatbestandsfassung auffallend. Eine Gegenüberstellung mit den übrigen Vermögensdelikten des Kernstrafrechts zeigt, dass die Steuerhinterziehung sowohl im objektiven wie im subjektiven Bereich wenige Voraussetzungen an die Gefährlichkeit der Handlung stellt. Das tatbestandsmäßige Verhalten liegt lediglich in einem Verstoß gegen die steuerlichen Mitwirkungspflichten. Es wird weder eine Bereicherungsabsicht gefordert, noch ist ein Irrtum oder eine Täuschung des Opfers objektiv notwendig – im Regelfall wird freilich all dies gegeben sein. Lediglich in § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 bis 5 AO sowie § 372 AO finden sich einige Normierungen von besonderen Umständen des Handlungsunrechts.102 Es fragt sich, ob sich hieraus Rückschlüsse auf das deliktsspezifische Verhältnis von Erfolgs- und Handlungsunrecht ziehen lassen. Man könnte zunächst daran denken, dem Handlungsunrecht der Steuerhinterziehung aufgrund seiner großen Bandbreite denkbarer Fälle eine vergleichsweise starke Bedeutung zukommen zu lassen. Während das Vorliegen einer Bereicherungsabsicht oder einer Täuschung an sich bei anderen Vermögensdelikten dem Doppelverwertungsverbot (§ 46 Abs. 3 StGB) unterliegt, kann und muss dies bei der Steuerhinterziehung in der Strafzumessung berücksichtigt werden. Die größere Bandbreite denkbarer Fälle könnte insoweit auch auf einen stärkeren Einfluss des Handlungsunrechts hindeuten. So ist etwa bei Tötungsdelikten, die im Erfolg nicht abstufbar sind, die Bedeutung des Handlungsunrechts für die Strafzumessung vergleichsweise hoch.103 Doch ist die große Bedeutung des Handlungsunrechts bei Tötungsdelikten wohl weniger der geringen tatbestandlichen Konkretisierung des Handlungsunrechts als vielmehr dem völligen Fehlen einer Abstufbarkeit des ErfolgsHörnle, Tatproportionale Strafzumessung, S. 215 ff. hierzu 2. Teil, 1. Kapitel, A., III.–VI. 103 Vgl. Frisch, in: ders./v. Hirsch/Albrecht, Tatproportionalität, S. 155 (176). 101 Vgl.
102 Siehe
50
1. Teil: Schuldprinzip und Strafzwecke im Steuerstrafrecht
unrechts zuzuschreiben. Hinzukommt, dass mit der Kodifikation von Mordmerkmalen eine tatbestandliche Konkretisierung des Handlungsunrecht durchaus vorgenommen wird. In gleicher Weise verfährt der Gesetzgeber auch in anderen Deliktsbereichen, indem er durch Qualifikationen, Regelbeispiele oder systematisch nahestehende Tatbestände den Unterschieden im Handlungsunrecht Rechnung trägt. Solche gesondert normierten Merkmale sind bei der Strafzumessung dann gerade von gesteigertem Gewicht, wobei der Rückschluss naheliegt, dass ihnen auch bei der Strafzumessung im Grunddelikt eine gesteigerte Bedeutung zukommt. Ein Beispiel: Für den Raub finden sich neben der Erfolgsqualifikation des § 251 StGB zahlreiche Qualifikationen in § 250 StGB, die sich auf die Gefährlichkeit der Tathandlung (für Leib und Leben) beziehen. Dies legt den Schluss nahe, dass der Gefährlichkeit der Tathandlung (für Leib und Leben) bei der Strafzumessung auch beim Grunddelikt neben dem Erfolg eine nicht unerhebliche Bedeutung zukommen kann. Eine zurückhaltende Normierung von Merkmalen, die das Handlungsunrecht der Tat im Tatbestand oder systematischen Umfeld eines Delikts konkretisieren, dürfte somit eher gegen deren besondere Bedeutung für die Strafzumessung sprechen. Für die Steuerhinterziehung lässt sich damit festhalten, dass das Verhältnis von Handlungsunrecht und Erfolgsunrecht in der Strafzumessung im deliktssystematischen Vergleich zu anderen Vermögensdelikten stärker zugunsten des Erfolgsunrechts ausfällt. Doch kann sich aus diesem systematischen Aspekt insoweit nicht viel mehr als eine Tendenz ergeben. 2. Gleichstellung von Tun und Unterlassen Als deliktsspezifische Besonderheit im Handlungsunrecht lässt sich weiter festhalten, dass das Unterlassen in § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO dem aktiven Tun gleichgestellt wird, sodass eine Strafrahmenmilderung nach §§ 13 Abs. 2, 49 Abs. 1 StGB nicht in Betracht kommt.104 Dies bedeutet jedoch nicht, dass auch bei der Strafzumessung im engeren Sinne eine unterschiedliche Unrechtsgewichtung der Begehungsarten zu unterbleiben hat.105 In der Begehungsvariante werden über die Nichtangabe der richtigen Tatsachen hinaus entweder (unvollständige) Restangaben oder unrichtige Angaben gemacht.106 104 Zur Konstruktion denkbarer Anwendungsfälle einer Steuerhinterziehung durch Unterlassen gem. §§ 370 Abs. 1 Nr. 1 AO, 13 Abs. 1 StGB, s. Joecks/Jäger/Randt/ Joecks, § 370 Rn. 161 ff. 105 So aber wohl Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 1852; anders Meine, Strafzumessung bei Steuerhinterziehung, S. 14; Kohlmann/ Schauf, § 370 Rn. 1029.16. 106 Kohlmann/Ransiek/Schauf, § 370 Rn. 204 ff.
2. Kap.: Die Strafzumessungsschuld der Steuerhinterziehung51
Beides muss nicht zwangsläufig eine gegenüber der bloßen Nichtangabe der richtigen Tatsachen gefährlichere Vorgehensweise in Bezug auf das Rechtsgut bedeuten. Denkbar ist sogar, dass die unvollständigen oder unrichtigen Restangaben dazu führen, dass die Fehlerhaftigkeit der Angaben insgesamt eher auffällt als dass sie zur Verschleierung geeignet sind. In der Regel werden die zusätzlichen Angaben jedoch gerade darauf abzielen, Zweifel der Finanzbehörde in Bezug auf den richtigen Besteuerungssachverhalt (also die nicht angegebenen richtigen Tatsachen) auszuräumen, und stellen daher ein gefährlicheres Vorgehen für das geschützte Rechtsgut dar. Dies ist im Einzelfall dann in der Strafzumessung auch entsprechend zu berücksichtigen. 3. Gedanke der Selbstschädigung Zum Teil wird ein wesentlicher Unterschied zwischen Steuerhinterziehung und anderen Vermögensdelikten darin gesehen, dass die Steuerhinterziehung strukturell den Charakter einer unterlassenen Vermögensmehrung zugunsten des Fiskus bzw. einer Nichtmitwirkung an einer „erzwungenen Selbstschädigung“ habe und kein täuschungsbedingter Eingriff in fremdes Vermögen sei.107 Dieser strukturelle Unterschied spräche gegen eine Gleichbehandlung mit anderen Vermögensdelikten und für eine diesen gegenüber mildere Bestrafung der Steuerhinterziehung. Doch liegt dieser Ansicht eine klare Fehlannahme zu Grunde. Denn natürlich stellt auch die Steuerhinterziehung einen Eingriff in fremdes Vermögen dar. Der Steueranspruch des Staates entsteht bereits mit Verwirklichung des Steuertatbestandes. Wird er zur Zeit der Fälligkeit nicht beglichen, entsteht dem Fiskus ein Schaden. Der Steuerhinterzieher, der auf den Steueranspruch des Staates nicht zahlt, wirkt damit ebenso viel oder wenig an einer „erzwungenen Selbstschädigung“ mit wie der Betrüger, dem es mittels Täuschung gelingt, den gegen ihn gerichteten Kaufpreisanspruch nicht zu erfüllen. Freilich wird in der Regel ohne eine Eigenleistung des Steuerpflichtigen der Steueranspruch nicht entstehen. Der hinter der Vorstellung einer „erzwungenen Selbstschädigung“ stehende richtige Gedanke betrifft den Umstand, dass der Staat für das Generieren seines Vermögens auf die Leistungen des Einzelnen angewiesen ist, während sich das Vermögen des Geschädigten beim Betrug auf andere Weise generieren konnte. Dem schädigenden Verhalten des Täters geht somit in der Regel eine Leistung im weitesten Sinne voraus, die der Staat nicht erzwingen kann, von der er aber profitiert, wenn sie 107 Wulf, DStR 2009, 459 (465); ebenso Schwedhelm, in: FS Streck, S. 561 (565 f.); vgl. auch bereits Kohlmann, in: ders., Grundfragen des Steuerstrafrechts heute, S. 5 (18 f.).
52
1. Teil: Schuldprinzip und Strafzwecke im Steuerstrafrecht
erfolgt, und ohne die ein späteres schädigendes Verhalten nicht denkbar wäre. Möchte man also die Erfüllung der Steuerpflicht als Selbstschädigung begreifen, wäre nicht der Gedanke einer erzwungenen, sondern vielmehr der einer freiwilligen Selbstschädigung zutreffend. Es fragt sich aber, ob dies ein strukturelles Charakteristikum des Unrechts der Steuerhinterziehung ist. Das Bild der verweigerten Mitwirkung an einer „freiwilligen Selbstschädigung“ deckt bei genauerer Betrachtung nicht alle Fälle der Steuerhinterziehung ab. Gerade in den oben beschriebenen Fällen einer eindeutigen Rechtsgutsverletzung durch Erlangung von Zahlungen des Fiskus (etwa in Fällen der Umsatzsteuerkarusselle, in denen nicht nur Umsatzsteuer verkürzt, sondern über Steuervergütungen Staatsgelder ausgezahlt werden) werden Vermögenswerte angegriffen, die nicht auf einer Eigenleistung des Täters beruhen, sondern dem Staat auf anderen Wegen zugeflossen sind. Es besteht dann ein qualitativer Unterschied im angegriffenen Rechtsgutsobjekt: einmal ein durch Eigenleistung selbst zur Entstehung verholfener Steueranspruch; einmal das auf sonstige Weise – nämlich durch Leistungen der Allgemeinheit – generierte Staatsvermögen.108 Ob dieser qualitative Unterschied im angegriffenen Rechtsgutsobjekt im Rahmen des Erfolgsunrechts oder des Handlungsunrechts oder bei beiden zugleich verortet wird, und in welchem Maße er sich als in der Strafzumessung zu berücksichtigender Umstand auswirkt, wird noch zu erörtern sein.109 Es bleibt an dieser Stelle festzuhalten, dass der Angriff gegen auf Eigenleistung beruhende Rechtsgutsobjekte keine strukturelle Besonderheit der Steuerhinterziehung darstellt. Denn auch bei Betrug, Untreue und Erpressung kann der betroffene Vermögensgegenstand dem Opfer zuvor unentgeltlich zugewendet worden sein. Lediglich das Regel-Ausnahme-Verhältnis der diese Struktur betreffenden Straftaten dürfte sich bei den genannten Delikten von der Steuerhinterziehung unterscheiden. 4. „Opfer“ der Steuerhinterziehung Die Steuerhinterziehung zeichnet sich gegenüber Betrug, Untreue und Erpressung des Weiteren im Bereich des Rechtsgutsträgers aus. „Opfer“ einer Steuerhinterziehung kann ausschließlich der Staat in Gestalt der jeweiligen Rechtsträger (Gemeinde, Land, Bund) werden. Die genannten Vermögensdelikte des Kernstrafrechts schützen hingegen auch natürliche und juristische 108 Ob dabei der fiktive, in Wahrheit nicht bestehende Zahlungsanspruch des Täters gegen den Staat als Tatobjekt bezeichnet wird oder das Staatsvermögen selbst, kann dahinstehen. In jedem Fall stellt sich das Tatobjekt als eine nicht durch eine tatsächlich erbrachte Eigenleistung des Täters generierte Vermögensmasse dar. 109 Siehe 3. Teil, 2. Kapitel, F.
2. Kap.: Die Strafzumessungsschuld der Steuerhinterziehung
53
Personen des Privatrechts. Damit ist zunächst einmal festzuhalten, dass die Begehungsweise der Steuerhinterziehung sich insofern sehr viel einheitlicher darstellt. Von Mitverantwortlichkeiten für die Tatbegehung in Einzelfällen abgesehen,110 tritt dem Täter hier ein Opfer gegenüber, das in seiner Verletzlichkeit und Schutzbedürftigkeit keine maßgeblichen Varianzen aufweist. Eine darüber hinaus gehende Aussage zum Unrechtsgehalt der Steuerhinterziehung im Vergleich zu anderen Vermögensdelikten lässt sich hieraus jedoch nicht ableiten. Insbesondere lässt sich nicht sagen, dass der Staat gegenüber einzelnen natürlichen Personen finanzielle Einbußen leichter wegstecken könnte und die Tat aus diesem Aspekt ein geringeres Unrecht darstellt. Von der grundsätzlichen Problematik der Berücksichtigung von Partikularinteressen im Unwerturteil abgesehen,111 erscheint schon die Annahme des für finanzielle Einbußen „dickhäutigeren“ Staates vor dem Hintergrund stetig steigender Staatsverschuldung112 und den Erfahrungen der Schuldenkrisen europäischer Staaten nicht recht überzeugend. Mit solcherlei Überlegungen zum Unrechtsgehalt wird auch bereits der Bereich der Strafwürdigkeit angeschnitten. Denn wie gesehen hat der Vermögensschutz einen grundsätzlich anderen funktionellen Hintergrund, wenn der Staat „Opfer“ ist. Ob sich aus diesem Aspekt eine Abweichung im Hinblick auf die Schwere des Unrechts ergibt, ist eine Frage der Strafwürdigkeit der Steuerhinterziehung.
B. Bedeutungsrang des Deliktstypus: Strafwürdigkeit der Steuerhinterziehung Schuld kann nur relativ zu einem gegebenen Strafensystem ein Maßprinzip abgeben.113 Diese Relation zum Strafensystem konkretisierend unterscheidet Köhler114 überzeugend zwischen dem Kontext der Taten innerhalb 110 Hierzu
3. Teil, 2. Kapitel, A. Hörnle, Tatproportionale Strafzumessung, S. 219 f. 112 Der Öffentliche Gesamthaushalt (Bund, Länder, Gemeinden/Gemeindeverbände und gesetzliche Sozialversicherung einschließlich aller Extrahaushalte) in Deutschland war zum Jahresende 2014 beim nicht-öffentlichen Bereich mit 2.049,0 Milliarden Euro verschuldet. Seit 1950 ist die Staatsverschuldung mit Ausnahme des Jahres 2013 jedes Jahr gestiegen, s. Statistisches Bundesamt, Schulden des Öffentlichen Gesamthaushalts beim nicht-öffentlichen Bereich insgesamt, abrufbar unter:
[Stand: 31.07.2016]. 113 Jakobs, Schuld und Prävention, S. 4; bereits v. Liszt, ZStW 3, 1 (24). 114 Köhler, Zusammenhang, S. 52 ff. 111 Hierzu
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1. Teil: Schuldprinzip und Strafzwecke im Steuerstrafrecht
eines Deliktstypus nach Erfahrung von Tatschwere, dem Bedeutungsrang des Deliktstypus, dem sie angehört im Gesamtzusammenhang der Rechtsgüter, und dem Grad der Geltungsstabilität der Rechtsallgemeinheit als Ganzer. Je höher der Grad der Geltungsstabilität der Rechtsallgemeinheit ist, desto geringer sei die Negationskraft der einzelnen Tat, womit sich – jedenfalls zum Teil – der historisch stetige Zug hin zu einer Milderung des Strafrechts als Pendant zur verbesserten Durchsetzungskraft des modernen, souveränen Staates erklären lasse.115 Der erste Relationszusammenhang betrifft die Einordnung der Tat in den gesetzlichen Strafrahmen und wird im 2. und 3. Teil dieser Arbeit ausführlich zu untersuchen sein. Im Folgenden ist dem zweiten Relationszusammenhang, der Frage des Bedeutungsrangs des Deliktstypus im Gesamtzusammenhang der Rechtsgüter nachzugehen. Die Steuerhinterziehung wird häufig als klassisches Kavaliersdelikt bezeichnet. Soweit damit nicht auf den Täterkreis Bezug genommen wird, sondern die Strafwürdigkeit116 des Verhaltens an sich gemeint ist, hätte dies Auswirkung auf die zu verhängende Schuldstrafe. Ein per se nur in geringerem Maße tadelnswertes Verhalten kann und darf auch nur in entsprechend geringerem Maße mit einer Schuldstrafe bedacht werden. Die Einordnung der Strafwürdigkeit eines bestimmten deliktischen Verhaltens im Gesamtzusammenhang des Strafensystems ist damit Grundvoraussetzung für die Bestimmung der Schuldstrafe. Dieser Frage kann grundsätzlich auf zwei verschiedenen Ebenen nachgegangen werden. Zum einen können die normativen Vorgaben des Gesetzgebers bzw. deren Konkretisierung durch den Rechtsanwender auf eine Wertung hinsichtlich der Schwere des Deliktstypus untersucht werden. Zum anderen kann aus der Perspektive der Bevölkerung – in dessen Namen Strafurteile ergehen – die Strafwürdigkeit des Deliktstypus untersucht werden. Nach dem hier zugrunde gelegten Schuldverständnis können für den Rechtsanwender in der Strafzumessung nur die normativen Wertungen Grundlage der Rechtsfindung sein. Ein anderes Ergebnis wäre hingegen bei konsequenter Anwendung eines psychologisierend funktionalen Schuldverständnisses vorstellbar. Dabei wird die Schuldzuweisung – und damit der in der Schuldstrafe zum Ausdruck kommende sittliche Tadel – nicht aus Könnens-Unterstellungen, sondern gerade aus den psychologisch fassbaren Selbststabilisierungsbedürfnissen der 115 Köhler,
Zusammenhang, S. 54. wird hier im Sinne einer Bezugnahme auf das Wesen der Strafe als ein besonders tadelnswertes Verhalten bzw. eines gewichtigen sozialethischen Vorwurfs verstanden, vgl. zu diesem herrschenden Verständnis der Strafe etwa BGHSt 5, 28 (32); 11, 263 (266); BVerfGE 22, 49 (79); 25, 269 (286); 27, 18 (29); 43, 101 (105); Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, S. 50 f. Zu Inhalt und kritischer Potenz des Begriffs der Strafwürdigkeit, s. Altpeter, Strafwürdigkeit und Straftatsystem, S. 28 ff.; Frisch, in: FS Stree/Wessels, S. 59 (79 ff.); Volk, ZStW 97 (1985), 871 ff. 116 Strafwürdigkeit
2. Kap.: Die Strafzumessungsschuld der Steuerhinterziehung55
einzelnen Mitbürger hergeleitet.117 Die (scheinbare) Attraktivität dieses Schuldverständnisses im Bereich der Strafzumessung liegt darin, dass hier die normativen Prinzipien noch immer dürftig positiviert sind und sich nur schwer konkretisieren lassen.118 Das Füllen dieser Lücken über den Kurzschluss von psychologischen Schuldzuschreibungen bietet insoweit eine bequeme Lösung. Zweifel an der Richtigkeit dieses Schuldkonzepts kommen – von Legitimationsfragen bei Verzicht auf den Vorwurf des Anders-HandelnKönnens abgesehen – jedoch bei Betrachtung der Grenzfälle auf, in denen sich eine normative Wertung entnehmen lässt. Gehen diese etwa über die psychologischen Schuldwertungen der Allgemeinheit hinaus, wären sie in letzter Konsequenz wegen Verstoßes gegen das Schuldprinzip verfassungswidrig. Noch problematischer erscheinen die Fälle, in denen die aktuelle Einstellung der Bevölkerung eine deutlich schärfere Strafe fordern würde als dies die normativen (Vefassungs-)Prinzipien erlauben.119 Umgehen ließe sich dieses Ergebnis nur dann, wenn man den normativen Wertungen als „normative gesellschaftliche Verständigung“ insoweit stets Vorrang vor den aktuellen Gerechtigkeitsvorstellungen der Bevölkerung einräumte.120 Auch bei diesem Schuldkonzept wäre man dann schlussendlich wieder bei den normativen Wertungen als Ausgangspunkt der Schuldwertung angekommen.121 Dennoch soll der Blick auch auf die aktuelle Einschätzung der Bevölkerung zur Strafwürdigkeit der Steuerhinterziehung geworfen werden, da diese jedenfalls für die Verfolgung generalpräventiver Zwecke strafzumessungsrelevant ist.
I. Normative Wertungen Wie bereits bei der Bestimmung des Rechtsguts der Steuerhinterziehung muss die Betrachtung nun auch bei der Analyse der normativen Wertungen hinsichtlich der Strafwürdigkeit der Steuerhinterziehung auf eine systemim117 Streng,
Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 16. zur geringen normativen Präzision des Strafzumessungsrechts Bruns, Strafzumessungs-recht, 2. Aufl., S. 8 ff.; Frisch, ZStW 99 (1987), 349, 751, (789 ff.); Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 16 ff. 119 Als Beispiele seien hier nur die Einstellung der Bevölkerung zur Todesstrafe (und der steile Anstieg ihrer Befürwortung im „deutschen Herbst“), s. Kaiser, Kriminologie, § 118 Rn. 5, sowie die Einstellung zur geringen Bestrafung oder Straffreiheit bei vermindert schuldfähigen oder gar schuldunfähigen Triebtätern, vgl. Frisch, in: Schünemann/v. Hirsch/Jareborg, Positive Generalprävention, S. 125 (137), angeführt. 120 Vgl. Hart-Hönig, Gerechte und zweckmäßige Strafzumessung, S. 113; Hassemer, Theorie und Soziologie, S. 160 ff., 221 ff. 121 Vgl. hierzu auch Stahl, Strafzumessungstatsachen zwischen Verbrechenslehre und Straftheorie, S. 74 ff. 118 Vgl.
56
1. Teil: Schuldprinzip und Strafzwecke im Steuerstrafrecht
manente Betrachtung beschränkt werden. Ob der so herausgearbeitete Bedeutungsrang des Delikts auch der sich (möglicherweise) aus Verfassungsprinzipien oder rechtsphilosophischen Erwägungen herleitbaren Stellung im Verhältnis zu anderen deliktischen Verhaltensweisen entspricht, bleibt dabei offen. Selbst wenn dem nicht so sein sollte, wäre die geleistete Arbeit aber nicht vergebens. Denn ob und wenn ja welche Konsequenzen aus einer systemkritischen Perspektive zu ziehen sind, lässt sich nur bei Kenntnis der systemimmanenten Lage beurteilen.122 1. Strafrahmenvergleich Der Gesetzgeber ist verpflichtet, in den für die einzelnen Straftatbestände eröffneten Strafrahmen eine grundsätzliche Werteordnung zumindest grob nachzuzeichnen. Anschaulich formuliert das BVerfG: „Der gesetzlich bestimmte herkömmliche Strafrahmen vermittelt einen verbindlichen Eindruck des Unwertgehalts, den der Gesetzgeber mit einem unter Strafe gestellten Verhalten verbunden hat (vgl. BVerfGE 25, 269, 286); er gibt dem Richter damit eine normative Orientierung […].“123
Dem Gesetzgeber wird dabei jedoch ein weiter Gestaltungspielraum zugestanden.124 Ein Rangverhältnis der Rechtsgüter und Deliktsschweren wird – insbesondere aufgrund der oft zu weiten oberen Strafrahmengrenzen – nur begrenzt deutlich.125 Für die Steuerhinterziehung hat der deutsche Gesetzgeber126 jedenfalls mit einem Strafrahmen von Geldstrafe bis zu fünf Jahren 122 Beispielhaft ist etwa die Neunormierung von § 265 StGB a. F. durch das 6. StrRG 1998, der unter anderem wegen seiner überzogen empfundenen Strafandrohung (als klarer Ausdruck der systemimmanenten Lage) in die Kritik geraten war, vgl. Frisch, in: FS Stree/Wessels, S. 69 (89); Geerds, in: FS Welzel, S. 841 (853 f.); zur Reformdiskussion vor dem 6. StrRG, vgl. BT-Drucks. IV/650, S. 427 und BTDrucks. 13/9064, S. 19. 123 BVerfGE 105, 135 (164). Zudem BVerfGE 25, 269 (286): „Einerseits richtet sich die Strafhöhe nach dem normativ festgelegten Wert des verletzten Rechtsgutes und der Schuld des Täters. Andererseits läßt sich das Gewicht einer Straftat, der ihr in der verbindlichen Wertung des Gesetzgebers beigemessene Unwertgehalt, in aller Regel erst aus der Höhe der angedrohten Strafe entnehmen. […] Jede Strafnorm enthält ein mit staatlicher Autorität versehenes, sozial-ethisches Unwerturteil über die von ihr pönalisierte Handlungsweise. Der konkrete Inhalt dieses Unwerturteils ergibt sich aus Straftatbestand und Strafandrohung“. 124 BVerfGE 50, 125 (140); 45 (187, 260, 267 f.); vgl. auch Kau, in: FS Kriele, S. 761 (764 ff., 774 f.). 125 Dazu, dass die Strafrahmenobergrenze nicht etwa dem denkbar schwersten Einzelfall zugeordnet werden kann Frisch, 140 Jahre GA, S. 1 (31); Freund, GA 99, S. 509 (519 f.). 126 Im internationalen Vergleich stellt sich die Ahndung von Steuerhinterziehung in Deutschland damit sowohl der Höhe als auch dem Grunde nach als eher streng dar.
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Freiheitsstrafe im Grundtatbestand (§ 370 Abs. 1 AO) derzeit denselben Spielraum eröffnet wie bei einigen anderen Delikten (§§ 223 Abs. 1, 242 Abs. 1, 253 Abs. 1 StGB), vor allem den vergleichbaren Vermögensdelikten des Kernstrafrechts (§§ 263, 263a, 264, 266, 266a StGB). Einen diesen gegenüber verringerten Unwertgehalt bringt das Gesetz gegenwärtig im Gegensatz zu anderen Delikten (§§ 248b, 264a, 265, 265a, 265b, 266b StGB) jedenfalls nicht durch eine verringerte Obergrenze der Strafandrohung zum Ausdruck. Dass sich dieses Bild in der Vergangenheit anders dargestellt hat, wie der folgende kurze Überblick über die Sanktionsdrohungen von Betrug und Steuerhinterziehung zeigen wird, belegt, dass die derzeitige gesetzgeberische Wertung kein Zufall, sondern Teil einer Entwicklung hin zu einer ansteigenden normativen Strafwürdigkeitsbewertung der Steuerhinterziehung ist.127 a) Sanktionsdrohungen Steuerhinterziehung / Betrug bis zur AO 1977 Bei Einführung des RStGB 1871128 wurde der Betrug in § 263 Abs. 1 RStGB „mit Gefängniß bestraft, neben welchem auf Geldstrafe bis zu eintausend Thalern, sowie auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden“ konnte.129 Bei mildernden Umständen konnte gem. § 263 Abs. 2 RStGB auch nur auf Geldstrafe erkannt werden. Zum 1.6.1933 wurde in § 263 Abs. 4 RStGB die Sanktionsdrohung für besonders schwere Fälle So sieht etwa das österreichische Recht ein abgestuftes System der Strafbarkeit von bloßer (vorsätzlicher) Abgabenhinterziehung (§ 33 FinStrG) einerseits, das mit „Geldstrafe bis zum Zweifachen des für den Strafrahmen maßgeblichen Verkürzungsbetrages“ geahndet wird, sowie dem Abgabenbetrug (§ 39 FinStrG) andererseits vor, der im Grundtatbestand „mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren zu bestrafen“ ist, s. hierzu ferner Leitner/Toifl, in: dies., Steuerstrafrecht International, S. 45 ff. Ähnlich das schweizerische Recht, das zwischen strafloser, lediglich mit einer Geldbuße in Höhe des maximal Dreifachen des hinterzogenen Betrages zu ahndender Steuerhinterziehung (Art. 175 Abs. 2 DBG, Art. 56 Abs. 1 StHG) und strafbarem Steuerbetrug (Art. 186 DBG, Art. 59 StHG), der „mit Freiheitsentzug bis 3 Jahre oder einer Geldstrafe“ bestraft werden kann, unterscheidet. Mildere Gesetzeslagen bestehen auch in den Niederlanden, s. hierzu Asbreuk, in: Leitner/Toifl, Steuerstrafrecht International, S. 34 ff., und in Spanien, hierzu Bacigalupo, in: Leitner/Toifl, Steuerstrafrecht International, S. 74 ff.; Garcia, in: FS Kohlmann, S. 367 (369 f.); zum englischen Recht Menzel, Steuerhinterziehung im deutschen und englischen Recht, S. 101 ff., 167 ff. 127 Ebenso Goetzeler, in: FS Mezger, S. 383 (397 ff.). 128 Gesetz betreffend die Redaktion des Strafgesetzbuches für den Norddeutschen Bund als Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich (RStGB 1971), 15.05.1871, RGBl. 1871, Nr. 24, S. 127–205. 129 Später galt eine Geldstrafe bis zu „dreitausend Mark“, s. Art. I der Bekanntmachung, betreffend die Redaktion des Strafgesetzbuchs für das Deutsche Reich, 26.02.1876, RGBl. 1876, Nr. 6, S. 39–120.
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1. Teil: Schuldprinzip und Strafzwecke im Steuerstrafrecht
auf Zuchthaus bis zu zehn Jahren erhöht.130 Diese Strafrahmen galten bis zum 31.3.1970. Danach wurde im Grundtatbestand der bis heute gültige Strafrahmen des § 263 Abs. 1 StGB geschaffen.131 Für besonders schwere Fälle galt der erhöhte Strafrahmen von mindestens einem Jahr bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe.132 Zum 1. April 1998 wurde mit dem 6. StrRG die Mindeststrafe auf sechs Monate herabgesetzt.133 Für Steuerdelikte gestaltet sich die Entwicklung der Sanktionsdrohung weniger übersichtlich. Erst 1919 wurde mit § 359 RAO eine allgemeine Vorschrift über vorsätzliche Steuerhinterziehung eingeführt.134 Zuvor enthielt jedes einzelne Steuergesetz der Länder und des Reiches entsprechende Strafvorschriften. Die Strafdrohungen waren dabei ursprünglich auf Geldstrafen beschränkt. Vereinzelt war sogar die Umwandlung nicht eintreibbarer Geldstrafen in Ersatzfreiheitsstrafe ausgeschlossen, z. B. nach § 64 OldenbStempelStG v. 12.5.1906135 sowie nach § 76 S. 2 SächsEStG vom 24.7.1900136. Es galt das sogenannte Multiplarstrafensystem, wonach die Geldstrafen in einem Vielfachen der verkürzten Steuer zu bemessen waren.137 Falls der verkürzte Steuerbetrag nicht ermittelt werden konnte, waren teilweise zahlenmäßig begrenzte Höchstbeträge, z. B. 5000 Mark gem. Art. 74 Abs. 4 S. 2 BayEStG vom 14.8.1910138, teilweise Mindestbeträge, z. B. 100 Mark gem. § 66 Abs. 1 PreußEStG vom 24.6.1891, bestimmt. Mit Gefängnis bis zu sechs Monaten enthielten erstmals § 57 Abs. 1 WehrbeitragsG sowie § 77 BesitzStG vom 3.7.1913139 die fakultative Anordnung einer Freiheitsstrafe für 130 Artt. I Nr. 17, IV Abs. 2 S. 1 Gesetz zur Abänderung strafrechtlicher Vorschriften, 26.05.1933, RGBl. Teil I 1933, S. 295–298. 131 Artt. 1 Nr. 76a, 105 Nr. 2 Erstes Gesetz zur Reform des Strafrechts (1. StrRG), 25.06.1969, BGBl. Teil I 1969, S. 645–682. 132 Artt. 1 Nr. 76c, 105 Nr. 2 1. StrRG. 133 Artt. 1 Nr. 58a, 9 Sechstes Gesetz zur Reform des Strafrechts (6. StrRG), 30.01.1998, BGBl. Teil I 1998, S. 164–188. 134 Reichsabgabenordnung (RAO), 13.12.1819, RGBl. Teil I 1919, S. 1993–2100. 135 Gesetzblatt für das Herzogtum Oldenburg, 36. Band, S. 793 ff. 136 GVBl. für das Königreich Sachsen, 1900, S. 562 ff. 137 So betrug die Geldstrafe bei Hinterziehung gem. § 63 SächsEStG v. 22.12.1874 „je nach dem Grad der dabei an den Tag gelegten Böswilligkeit“ das Vier- bis Zehnfache des hinterzogenen Steuerbetrages, GVBl. für das Königreich Sachsen, 1874, S. 471 ff., 489; ebenso § 66 Abs. 1 PreußEStG v. 24.6.1891, s. Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten, 1891, S. 175 ff., 197 f.; gem. Art. 70 Abs. 1 WürttEStG v. 8.8.1903 das Sieben bis Zehnfache, s. Regierungsblatt für das Königreich Württemberg, 1903, S. 261 ff.; gem. § 43 PreußErgänzungsStG v. 14.7.1893 sogar das Zehn bis 25-fache, s. Gesetzsammlung für die Königlich-Preußischen Staaten, 1893, S. 134 ff., 147 f. 138 Gesetz- und Verordnungs-Blatt für das Königreich Bayern, 1910, S. 493 ff. 139 RGBl. 1913, S. 505–521, 524–543.
2. Kap.: Die Strafzumessungsschuld der Steuerhinterziehung59
den Fall, dass der gefährdete Steuerbetrag nicht weniger als zehn Prozent der geschuldeten Steuer, mindestens aber 300 Mark ausmachte, oder der Steuerpflichtige wegen Besitzsteuerhinterziehung bereits vorbestraft war. In § 34 Abs. 1 KriegsStG vom 21.6.1916140 wurde neben Geldstrafe auch Gefängnisstrafe bis zu einem Jahr angedroht, sowie die fakultative Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte. Die Gefängnisstrafe wurde zwingend erstmals in § 22 Abs. 1 SteuerfluchtG vom 26.7.1918141 (nicht unter 3 Monaten) vorgeschrieben. Auch § 359 RAO 1919142 verwies zunächst auf die „in den einzelnen Gesetzen (für Hinterziehung) angedrohten Strafen“, wobei er den Mindestbetrag einer Geldstrafe von 20 Mark vorsah. Nach mehrfacher Änderung dieses Mindestbetrages durch die Gesetzgebung der Inflationszeit wurde die Strafdrohung in § 359 RAO 1919 gem. Art. VIII Nr. 1 der 3. StNotV vom 14.2.1924143 wie folgt gefasst: „[…] wird wegen Steuerhinterziehung mit Geldstrafe bestraft. Der Höchstbetrag der Geldstrafe ist unbeschränkt. Bei Zöllen und Verbrauchsteuern ist die Geldstrafe mindestens auf das Vierfache des hinterzogenen Betrags zu bemessen, falls der Betrag der Steuerverkürzung oder des Steuervorteils festgestellt werden kann. Neben der Geldstrafe kann auf Gefängnis bis zu zwei Jahren erkannt werden.“ Für Rückfalltäter sollte gem. § 369 RAO 1919144 auch Gefängnisstrafe bis zu fünf Jahren (in Fällen mildernder Umstände fakultativ allein Geldstrafe) verhängt werden können. Die nationalsozialistische Gesetzgebung verschärfte mit dem Gesetz gegen Verrat der Deutschen Volkswirtschaft vom 12.6.1933145 die Sanktionsdrohung für bestimmte Fälle der Steuerflucht ins Ausland deutlich. Nach § 8 war „wegen Verrats der Deutschen Volkswirtschaft“ mit Zuchthaus nicht unter drei Jahren zu bestrafen, und auch bei mildernden Umständen reichte die Sanktionsdrohung noch bis zu zehn Jahren Zuchthaus. Gemäß Art. I Nr. 12 des Gesetzes vom 4.7.1939146 wurde Absatz 1 S. 3 des § 396 RAO 1931147 (= § 359 RAO 1919) über die Bemessung der Geldstrafe bei Hinter140 RGBl. 1916,
S. 561–572. S. 951–958. 142 RGBl. 1919, S. 1993–2100. 143 RGBl. 1924 Teil I, S. 74. 144 Bis zum 14.2.1924 sah § 369 RAO lediglich die Verhängung der Geldstrafe in doppelter Höhe vor. Fakultativ hierzu konnte eine Gefängnisstrafe bis zu zwei Jahre verhängt werden; falls für die einzelne Tat eine Gefängnisstrafe bereits zugelassen war, konnte auch diese bis zur doppelten Länge der dortigen Strafandrohung, nicht aber über fünf Jahre hinaus verhängt werden. 145 RGBl. 1933 Teil I, S. 360. 146 RGBl. 1939 Teil I, S. 1181. 147 RGBl. 1931 Teil I, S. 161. 141 RGBl. 1918,
60
1. Teil: Schuldprinzip und Strafzwecke im Steuerstrafrecht
ziehung von Zöllen und Verbrauchsteuern gestrichen und damit die letzten Reste des Multiplarstrafensystems beseitigt. Durch das 2. Gesetz zur vorläufigen Neuordnung von Steuern vom 20.4.1949148 wurde für den Bereich des Vereinigten Wirtschaftsgebietes der amerikanischen und britischen Besatzungszone149 in Abschn. III unter der Überschrift „Verschärfung der Steuerstrafen“ § 396 Abs. 1 RAO 1931 neu gefasst. Steuerhinterziehung war nun (ebenso wie der Betrug) in erster Linie mit Gefängnis, daneben mit Geldstrafe zu bestrafen und nur bei mildernden Umständen war allein auf Geldstrafe zu erkennen. Die Strafdrohung des § 404 RAO 1931 (= § 369 RAO 1919) wurde bereits für den ersten Rückfall auf Gefängnis nicht unter drei Monaten verschärft. Ziel dieser Strafschärfungen bei gleichzeitiger Erleichterung der Voraussetzungen der strafbefreienden Selbstanzeige war es „die Steuermoral zu heben“.150 Doch bereits mit dem Gesetz zur Änderung des Dritten Teiles der Reichsabgabenordnung vom 11.5.1956151 wurden die genannten Strafschärfungen wieder revidiert. Die Strafdrohung gem. § 396 RAO wurde auf Geldstrafe mit fakultativer Verhängung einer zusätzlichen Gefängnisstrafe herabgesetzt. § 404 RAO wurde zudem um die Möglichkeit der Verhängung einer Gefängnisstrafe auch unter drei Monaten oder ausschließlich Geldstrafe in leichten Fällen erweitert. Im Rahmen der überfälligen Überarbeitung des Verwaltungsstrafrechts der RAO im AOStrafÄndG vom 10.8.1967152, 2. AOStrafÄndG vom 12.8.1968153 sowie OWiG und EGOWiG vom 24.5.1968154 wurde die Steuerhinterziehung gem. §§ 396, 404 RAO als Kriminalstrafrecht mit unveränderten Strafdrohungen beibehalten. Erst die Reform der RAO mit Einführung der Abgabenordnung (AO 1977) vom 16.3.1976155 brachte wieder eine Änderung der Strafrahmen mit sich, die bis heute in § 370 Abs. 1, 3 beibehalten wurde. 148 Gesetzblatt der Verwaltung des Vereinigten Wirtschaftsgebietes, S. 69. Die geänderten Vorschriften der RAO wurden mit Verabschiedung des GG gem. Art. 125 Abs. 1 GG partiell geltendes Bundesrecht. In Berlin, Baden u. Württemberg-Hohenzollern blieb es bei dem früheren Wortlaut der §§ 396, 404 RAO, denn von der Überleitungsmöglichkeit des Art. 127 GG wurde kein Gebrauch gemacht. 149 In Rheinland-Pfalz wurden gleichlautende Änderungsvorschriften gem. Abschn. 2 und 3 des Landesgesetzes zur vorläufigen Neuordnung von Steuern v. 6.9.1949 erlassen, s. GVBl. für das Land Rheinland-Pfalz, S. 469–474. 150 BT-Drucks. I/2395 S. 2. 151 BGBl. Teil I 1956, S. 417–418. 152 BGBl. Teil I 1967, S. 877. 153 BGBl. Teil I 1968, S. 953. 154 BGBl. Teil I 1968, S. 481, 503. 155 BGBl. Teil I 1976, S. 613.
2. Kap.: Die Strafzumessungsschuld der Steuerhinterziehung61
Der historische Vergleich der Sanktionsdrohungen für Steuerhinterziehung und Betrug zeigt: Die relative Schwere der Sanktionsdrohung für Steuerhinterziehung hat über die Jahre hinweg fast stetig zugenommen. Doch – abgesehen von einer Zwischenperiode der Gleichstufigkeit zu Beginn der 50er Jahre – waren erst mit Einführung der AO 1977 die angedrohten Strafrahmen (nahezu)156 identisch. Dass hierbei im Gegensatz zum 2. Gesetz zur vorläufigen Neuordnung von Steuern vom 20.4.1949 nicht generalpräventive Zwecküberlegungen, sondern die richtige Bewertung des Delikts in seiner Gefährlichkeit und Strafwürdigkeit im Vordergrund standen, belegen entsprechende Äußerungen im Gesetzgebungsverfahren zur AO 1977. b) Bundesrat im Gesetzgebungsverfahren zur AO 1977 Ein explizites Bekenntnis zur Einschätzung der Schwerebewertung der Steuerhinterziehung findet sich in den Gesetzesmaterialien zur AO 1977. Zur Begründung der Einführung der Regelbeispiele in § 370 Abs. 3 AO führt der Bundesrat an: „hierdurch soll deutlich gemacht werden, dass […] die Steuerhinterziehung hinsichtlich ihrer Gefährlichkeit und ihrer Strafwürdigkeit nicht geringer zu bewerten ist als der Betrug“.157 Zwar überraschen die Aussagen vor dem Hintergrund, dass gerade im Bereich der besonders schweren Fälle die Mindeststrafandrohungen der beiden Delikte noch divergierten; dies mag seinen Grund jedoch auch in den unterschiedlichen Regelungsinhalten der besonders schweren Fälle zu diesem Zeitpunkt gehabt haben.158 Die Ausführungen beziehen sich auch nicht lediglich auf die besonders schweren Fälle, sondern beinhalten eine allgemeine Aussage: Die Steuerhinterziehung ist grundsätzlich nicht weniger gefährlich und strafwürdig als der Betrug. Man kann Argumenten aus einer solchen historischen und genetischen Gesetzesauslegung aus methodischer Sicht skeptisch gegenüberstehen.159 Dennoch erscheint auch bei rein objektiver Gesetzesauslegung die Gleichstellung der Strafrahmen von Steuerhinterziehung und Betrug mit der AO 1977 – trotz gesetzgeberischer Vagheit in die156 Dies galt noch nicht für die Mindeststrafe in besonders schweren Fällen; allerdings wurde hier auch erst durch das 6. StrRG vom 26.1.1998 (BGBl. Teil I 1998, S. 164) die Regelbeispielsmethode eingeführt, die in § 370 Abs. 3 AO 1977 bereits verwendet wurde. 157 BR-Drucks. 23/71 S. 194. 158 Siehe Fn. 132. 159 Zur Kontroverse darüber, welchen Stellenwert die historische Auslegung im Verhältnis zu den übrigen Auslegungsargumenten besitzt, Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 108 ff., 112 ff.; Kramer, Juristische Methodenlehre, S. 116; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 137 ff., 149 ff.; Zippelius, Das Wesen des Rechts, S. 81: „keine streng rationale Rangordnung“.
62
1. Teil: Schuldprinzip und Strafzwecke im Steuerstrafrecht
sem Bereich – Ausdruck einer bewussten Wertentscheidung bezüglich der deliktsspezifischen Strafwürdigkeit der Steuerhinterziehung vor dem Hintergrund einer bislang hiervon abweichenden Bewertung zu sein. 2. Systematische Stellung Die Steuerhinterziehung ist als Vorschrift des Nebenstrafrechts nicht im StGB, sondern in der AO geregelt. Es fragt sich, ob damit die gesetzgeberische Wertung zu verbinden ist, dass das Delikt weniger bedeutsam und weniger strafwürdig ist. In der Literatur wird teilweise die Auffassung vertreten, eine Verlagerung der Steuerstraftaten in das StGB würde deren Sozialschädlichkeit unterstreichen und der Einschätzung als Kavaliersdelikt entgegenwirken.160 Ein entsprechender Vorschlag der von der Bundesregierung eingesetzten Kommission zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität, die Steuerstraftatbestände in das StGB zu übernehmen,161 wurde verworfen. Ob eine Vorschrift im Neben- oder Kernstrafrecht geregelt ist, hat jedoch in der Regel weniger etwas mit deren geringerer Strafwürdigkeit zu tun als vielmehr mit der sinnvollen Normierung in einem systematischen Regelungszusammenhang. So liegen die Dinge auch bei der Steuerhinterziehung. Es ist schlicht zweckmäßig die materiell-rechtliche Strafnorm des § 370 AO in den unmittelbaren Regelungskontext der besonderen Verfahrensvorschriften des Steuerstrafrechts zu stellen. Ein prägnantes Beispiel für die enge Verknüpfung von materiellem Strafrecht und Strafverfahrensrecht ist der Regelungskontext um die Selbstanzeigevorschrift, der mittlerweile sowohl die Rechtsfolge der Strafaufhebung (§ 371 AO) als auch die eines Verfahrenshindernisses (§ 398a AO) vorsieht. Der systematischen Stellung der Steuerhinterziehung in der AO ist daher keine Wertung bezüglich der Strafwürdigkeit des Verhaltens zu entnehmen. 3. Selbstanzeigevorschrift Die Möglichkeit der Selbstanzeige gem. § 371 AO stellt eine Besonderheit des Steuerstrafrechts dar.162 Ein ganz bestimmtes, wiedergutmachendes Nachtatverhalten nach Vollendung der Tat wird mit Straffreiheit belohnt. Sie wird systematisch ganz überwiegend als persönlicher Strafaufhebungsgrund eingeordnet.163 Die Rechtsfolge besteht damit in einer materiellen Straffrei160 Joecks/Jäger/Randt/Joecks,
Einleitung, Rn. 117. BT-Drucks. VII/3441. 162 MünchKomm/Kohler, § 371 AO, Rn. 14 ff.: „Ausnahmestellung“. 163 BGH JurionRS 1957, 14920; BayObLG NJW 1954, 244 f.; OLG Hamburg NJW 1970, 1386; OLG Celle DStZ/B 1971, 406; OLG Karlsruhe NJW 1974, 1577; 161 Vgl.
2. Kap.: Die Strafzumessungsschuld der Steuerhinterziehung
63
heit, die sich gegenüber der lediglich unter Strafzumessungsaspekten wirkenden Rechtsfolge vergleichbarer Vorschriften der tätigen Reue darin auszeichnet, dass sie zu einem konträren Urteilsspruch führt.164 Während bei einem Absehen von Strafe der Täter schuldig gesprochen wird, lautet der Urteilstenor beim Vorliegen eines persönlichen Strafaufhebungsgrunds auf Freispruch. Eine Modifikation bewirkte die Einführung von §§ 371 Abs. 2 Nr. 3, Nr. 4, 398a AO und deren jüngste Verschärfung zum 1.1.2015.165 Für Hinterziehungsbeträge ab 25.000 € gilt statt der persönlichen Strafaufhebung ein Verfolgungshindernis, sofern eine Geldbuße gezahlt wird. Die Geldbuße stellt zwar eine hoheitliche Reaktion auf das begangene Unrecht dar und trägt mit ihrer Staffelung nach der Höhe des Hinterziehungsbetrages (§ 398a Abs. 1 Nr. 2 AO n. F.) auch der Schwere des Unrechts Rechnung. Ihr fehlt jedoch der mit der Strafe verbundene persönliche Tadel. Damit bleibt es beim Privileg des Steuerhinterziehers – unabhängig von der Schwere der Tatbegehung – durch Wiedergutmachung Straffreiheit zu erlangen – sei es durch vollkommene Strafaufhebung im unteren Schwerebereich (weniger als 25.000 €), sei es durch zusätzliche Zahlung einer Geldbuße in schwereren Fällen. Die hiermit verbundene gesetzgeberische Wertung scheint auf den ersten Blick eindeutig: Die Steuerhinterziehung ist ein weniger tadelnswertes Verhalten. Denn während beim strukturähnlichen Betrugstatbestand die Notwendigkeit des Ausspruchs des mit der Strafe verbundenen persönlichen Tadels noch immer gegeben ist, fällt diese bei der Steuerhinterziehung bei einem bestimmten wiedergutmachenden Nachtatverhalten weg. Natürlich ließe sich noch einwenden, dies sei nicht auf Aspekte der Strafwürdigkeit, sondern eher auf Aspekte der Strafbedürftigkeit im Sinne kalkulierter Zweckmomente zurückzuführen,166 die sich für die Steuerhinterziehung bei entsprechendem Nachtatverhalten schlicht anders darstellen würden. Doch gerade im Vergleich zum Betrug, der nicht nur starke Ähnlichkeiten im beschriebenen tatbestandsmäßigen Verhalten sondern auch im verletzten Rechtsgut sowie dessen Eignung zur Wiedergutmachung aufweist, überzeugt dies nicht. Warum bei der Steuerhinterziehung zur Wiederherstellung der verletzten Rechtsordnung in Fällen der Selbstanzeige eine Strafe nicht erforderlich ist, während dies bei entsprechendem Nachtatverhalten beim Betrug noch immer der Fall sein sollte, ist nicht ersichtlich. Joecks/Jäger/Randt/Joecks, § 371 Rn. 39; Hübschmann/Hepp/Spitaler/Rüping, § 371 AO, Rn. 27; Kohlmann/Schauf, § 371 AO, Rn. 52; a. A. (Strafausschließungsgrund) noch BGH NJW 1953, 476; OLG Celle DStZ/B 1953, 516; BFH HFR 1964, 183; ebenso Lohmeyer, ZfZ 1972, 174; Tiedemann, JR 1975, 387. 164 MünchKomm/Kohler, § 371 AO, Rn. 16. 165 BGBl. 2014 Teil I, S. 2415. 166 Zur Differenzierung zwischen Strafbedürftigkeit und Strafwürdigkeit in diesem Sinne vgl. Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 7.
64
1. Teil: Schuldprinzip und Strafzwecke im Steuerstrafrecht
Die Selbstanzeigevorschrift indiziert damit eine geringere Strafwürdigkeit der Steuerhinterziehung im Vergleich zu anderen Vermögensdelikten, die eine entsprechende Regelung nicht enthalten. Diese gesetzgeberische Wertung ließe sich nur dann anders interpretieren, wenn der Grund der Selbstanzeigevorschrift nicht in der hinreichenden Befriedigung der Strafzwecke, sondern mit der herrschenden Meinung im Schrifttum (zumindest auch) in etwas anderem zu finden wäre.167 4. Richterrechtliche Konkretisierungen Aufgrund der verbleibenden Vagheit der gesetzgeberischen Wertung ist es sinnvoll, deren Konkretisierung durch das Richterrecht genauer in den Blick zu nehmen. a) Strafverfolgungsstatistik Anhand der Strafverfolgungsstatistik lässt sich die durchschnittlich verhängte Strafhöhe der verschiedenen Delikte nachvollziehen. Ein Rückschluss auf den Bedeutungsrang eines Deliktstypus im Gesamtzusammenhang der Rechtsgüter ist damit allerdings nur begrenzt möglich. So kann eine niedrigere durchschnittliche Strafhöhe damit zusammenhängen, dass die Anzahl der leichten Deliktsbegehungen gegenüber den mittleren und schweren naturgemäß höher ist als bei anderen Delikten. Auch die Strafverfolgungs- und Einstellungspraxis der Gerichte und Staatsanwaltschaften wirkt sich auf die durchschnittliche Strafhöhe aus. Werden etwa leichte Deliktsbegehungen vermehrt gegen Auflage eingestellt, ändert sich die Zusammensetzung der abgeurteilten Fälle. Problematisch ist vor allem auch die Aufnahme lediglich des schwersten Delikts und der Endstrafe über die SVS. Die mangelnde Differenzierung nach Tateinheit und Tatmehrheit führen hier zu Verzerrungen. Die Abbildung zeigt, dass Steuerdelikte168 im Durchschnitt schärfer bestraft werden als der Betrug. Im Bereich von sechs Monaten und darunter liegen etwa zehn Prozentpunkte weniger der Fälle, die sich dann auf den Bereich von sechs bis zwölf und zwölf bis 24 Monaten verteilen. Gründe hierfür können zum einen eine naturgemäße Häufung von Fällen im unteren Schwerebereich beim Betrug, zum anderen die bereits genannte Erledigungspraxis der Strafverfolgungsbehörden sein. Denkbar ist etwa, dass im Rahmen von Gesprächen im Besteuerungsverfahren auch ein etwaiges Strafverfahren 167 Hierzu
1. Teil, 4. Kapitel, B. Anteil der Steuerhinterziehung an den in der SVS erfassten Steuerdelikten, s. Fn. 12. 168 Zum
2. Kap.: Die Strafzumessungsschuld der Steuerhinterziehung65
100 90 80 70
89,92 78,17 68,56
60 50 40 30
20,17 14,64
20
5,41
10 0
6 Monate und weniger
mehr als 6 bis einschließlich 12 Monate Betrug
10,72 6,02 3,72 mehr als 12 bis einschließlich 24 Monate Untreue
0,9 0,551,09 mehr als 2 bis einschließlich 5 Jahre
0,05 0 0,08 mehr als 5 Jahre
Steuerdelikte
Abb. 1: Steuerdelikte, Anteil an den Strafhöhenkategorien in Prozent, 2014169
im Blick gehalten wird und hier vermehrt Gelegenheit zu Absprachen besteht, die dann zu einer Einstellung gegen Auflage führen.170 Hinzu kommt, dass bei Steuerdelikten wohl vergleichsweise häufig keine Einzelstrafen, sondern Gesamtstrafen verhängt werden. Denn in der Regel werden mehrere Steuerarten und / oder Veranlagungszeiträume von dem delinquenten Verhalten erfasst sein. Die Strafverfolgungsstatistik nimmt aber lediglich die Endstrafe auf. Ein Indiz dafür, dass die durchschnittlich mildere Bestrafung des Betrugs nicht unmittelbar auf eine geringere Strafwürdigkeit zurückzuführen ist, ergibt sich insbesondere unter Heranziehung der Zahlen für die Untreue, die – bei gleicher normativer Schwerebewertung – eine erheblich schärfere durchschnittliche Ahndung erfährt. Diese lässt sich wohl ebenfalls mit den genannten Gründen erklären. Wenn auch eine Aussage über die absolute Schwerebewertung angesichts dessen nur begrenzt möglich ist, sind die Daten der Strafverfolgungsstatistik für die Beurteilung des Bedeutungsranges eines Delikts dennoch nicht gänzlich ohne Wert. So lässt sich immerhin durch eine Auswertung der Daten im Längsschnitt eine Veränderung der relativen Schwerebewertung feststellen. Freilich können auch insoweit die oben genannten Aspekte für Entwick169 Quelle SVS Fachserie 10 Reihe 3, 2014. Eigene Berechnungen. Geldstrafen wurden nach ihren Tagessätzen 1:1 umgewandelt und in die Berechnung miteinbezogen. Für den Betrug wurden Taten nach § 263 Abs. 1, 3 und 5 StGB erfasst. 170 Hierzu ausführlich 3. Teil, 5. Kapitel, C., III., 1.
66
1. Teil: Schuldprinzip und Strafzwecke im Steuerstrafrecht
lungsunterschiede verantwortlich sein, jedoch dürfte eine Längsschnittanalyse hier weniger anfällig sein. Die Daten von Abb. 2 (Steuerdelikte 1976–2014)171 zeigen einen klaren Trend zur schärferen Ahndung von Steuerdelikten bis zur Jahrtausendwende. Seitdem stagniert das Strafniveau in etwa. Ein leichter Trend zur Milderung bis zum Jahr 2008 wurde wieder korrigiert. Deutlich zu sehen ist, dass mit der Schärfung des Strafrahmens für die Steuerhinterziehung 1977 keine Strafschärfung ad hoc einherging, sondern diese sich vielmehr über eine Zeitdauer von etwa 20 Jahren hinzieht. Auch die Untreue172 erfuhr etwa bis zur Jahrtausendwende eine Tendenz zur Strafschärfung. Jedoch fiel diese weit weniger deutlich aus als im Bereich der Steuerdelikte. Der Anteil der Strafhöhen von mehr als fünf Jahren zwischen 1976 und 2001 stieg bei Steuerdelikten von 0,01 % auf 0,14 %, und fiel bei Untreue von 0,14 % auf 0 %; der Anteil der Strafhöhen von zwei bis fünf Jahren stieg bei Steuerdelikten von 0,12 % auf 1,31 %, bei der Untreue von 1,51 % auf 2,15 %; der Anteil der Strafhöhen von zwölf bis 24 Monaten stieg bei Steuerdelikten von 0,55 % auf 8,59 %, bei der Untreue von 3,37 % auf 14,04 %. Der Anteil von Strafhöhen von sechs bis zwölf Monaten stieg bei Steuerdelikten von 3,06 % auf 15,78 %, bei der Untreue von 20 % auf 23,94 %; der Anteil der Strafhöhen von sechs Monaten und weniger fiel bei Steuerdelikten von 96,26 % auf 74,81 %, bei der Untreue von 74,98 % auf 59,87 %. Während die Sanktionsschärfe der Steuerdelikte etwa auf dem Niveau von 2001 verblieb, ist bei der Untreue seitdem ein klarer Trend zur Milderung erkennbar. Noch deutlicher fällt der Vergleich der Entwicklung der Strafhöhen gegenüber dem Betrugstatbestand aus.173 Dort geht der Trend seit 1976 sogar insgesamt eher in Richtung einer Milderung der Sanktionierung. Die Längsschnittanalyse zeigt somit, dass die Schwerebewertung der Steuerhinterziehung im Verhältnis zu vergleichbaren Vermögensdelikten zugenommen hat.
171 Quelle: SVS Fachserie 10 Reihe 3, 2013. Eigene Berechnungen. Die Jahre vor 1976 lassen sich aufgrund unterschiedlicher Einteilung in Strafhöhenkategorien in der SVS nicht mehr im hier gewählten Format erfassen. 172 Siehe Anhang, Anlage A. 173 Siehe Anhang, Anlage B.
1985
1986
1987
1988
1989
1990
1991
1992
1993
1994
1995
1996
1997
1998
1999
0,02
2000
1,35
2001
0,14
8,59
0,01
0,05
0,64
3,71
0
0,13
0,69
4,13
0
0,15
0,93
4,28
0
0,17
0,98
4,56
0,01
0,13
0,91
4,7
0,01
0,26
1,24
4,95
0,02
0,23
1,64
6,35
0,01
0,24
2,09
7,09
0
0,29
2,66
7,61
0
0,22
2,67
7,87
6 Monate und weniger
0,02
0,35
2,13
6,24
0
0,31
2,83
8,31
0
0,2
2,92
7,91
0,01
0,32
3,15
7,64
6-12 Monate
0
0,22
3,11
8,14
0,02
0,23
3,21
7,7
2002
78,8
2003
2005
2006
2007
2008
2009
2010
0,1
13,49
2011
6,22
79,39 80,14 79,32 82,28 83,23 81,15 79,39 79,07
2004
0,05
0,49
5,28
10,96
83,23
78,1
78,1
2012
1,15
14,56
78,1
2013
78,17
2014
0,08
1,09
6,02
14,64
78,17
0,01
0,45
4,16 0,02
0,47
5,26 0,06
0,71
5,81
0,02
0,83
7,02
2-5 Jahre
0,04
0,98
6,93
0,03
1,35
7,53
7 0,13
1,2
6,49 0,09
1,17
mehr als 5 Jahre
0,14
1,31
8,59
0,06
0,9
6,66
0,06
0,61
6,45
0,05
0,8
6,49
0,07
0,64
5,34
0,05
0,49
5,28
0,05
0,83
5,28
0,1
0,97
6,04
0,1
1,07
6,22
0,05
1,15
6,14
0,11
1,1
6,18
0,08
1,09
6,02
11,73 12,78 14,04 13,69 15,57 15,95 15,78 13,04 13,44 12,98 12,75 13,33 11,66 10,96 12,69 13,49 13,54 14,56 14,52 14,64
12-24 Monate
0,03
0,36
3,41
9,37
0,61
12,75
Abb. 2: Steuerdelikte, Anteil der Strafhöhenkategorien in Prozent, 1976–2014
0
0,14
1,22
4,85
0,01
1984
0,98
7,02
mehr als 5 Jahre
1983
0,03
0,06
5,81
0,12
1982
0,2
4,16
13,04
0,55
1981
0,31
9,37
15,95
2-5 Jahre
1980
2,66
3,11
7,64
14,04
74,18
12-24 Monate
1979
0,02
0,35
2,13
8,31
88,88
3,06
1978
0,17
0,98
6,35
7,09
88,52
96,26 95,59 95,05 94,63 94,29 94,25 93,79 93,53 91,76 91,26 90,58 89,46 89,23 88,56 88,52 88,97 88,88 88,85 86,84 83,65 81,47 79,38 78,35 76,56 75,14 74,18 78,64
1977
0,05
0,13
0,69
4,13
95,05
6-12 Monate
1976
0,01
0,12
0,55
3,06
96,26
6 Monate und weniger
0,01
0,1
1
10
100
2. Kap.: Die Strafzumessungsschuld der Steuerhinterziehung 67
68
1. Teil: Schuldprinzip und Strafzwecke im Steuerstrafrecht
b) Höchstrichterliche Rechtsprechung Ergiebiger als eine Auswertung der Strafverfolgungsstatistik ist eine Analyse der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur Strafwürdigkeit der Steuerhinterziehung. Der BGH findet hierzu klare Worte. So greift der 1. Senat in seiner Rechtsprechung zum „großen Ausmaß“ i. S. v. § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 AO auf das entsprechende Merkmal des § 263 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 Alt. 1 StGB in Höhe von 50.000 € zurück und begründet dies explizit mit der bereits erwähnten Einschätzung des Bundesrats im Gesetzgebungsverfahren zu § 370 Abs. 3 AO 1977.174 Der BGH macht sich damit die Vorstellung zu eigen, die Steuerhinterziehung sei in ihrer Gefährlichkeit und Strafwürdigkeit nicht geringer zu bewerten als der Betrug, und setzt diese bei der Konkretisierung strafzumessungsrelevanter unbestimmter Rechtsbegriffe konsequent um. Darüber hinaus zieht er entsprechende Konsequenzen im Bereich des Verfahrensrechts. Denn auch die Möglichkeit der schriftlich-formularmäßigen Erledigung einer Straftat im Strafbefehlsverfahren besagt etwas über die Strafwürdigkeit des Verhaltens.175 Steuerhinterziehungsfälle eignen sich in besonderem Maße für eine Entscheidung nach Aktenlage. Hinzukommt, dass durch die Einengung der Möglichkeiten einer Absprache im Hauptverfahren das Ausweichen auf das insoweit geringeren Anforderungen unterliegende Strafbefehlsverfahren noch attraktiver geworden ist. Der BGH macht in seiner Leitentscheidung zur Strafzumessung indes deutlich, dass die Anwendung des Strafbefehlsverfahrens in schweren Fällen nicht in Betracht kommt und trägt damit zugleich deren Strafwürdigkeit Rechnung: „Schon deswegen wird bei der letztgenannten Fallgestaltung (Millionenbetrag) ein Strafbefehlsverfahren regelmäßig nicht geeignet erscheinen (vgl. § 400 AO i. V. m. § 407 StPO). Hinzu kommt, dass bei Steuerverkürzungen in dieser Größenordnung in der Regel auch das Informationsinteresse der Öffentlichkeit an der Wahrung der Gleichbehandlung vor Gericht – das eine öffentliche Hauptverhandlung am besten gewährleistet – nicht gering zu achten ist“.176
5. Zwischenergebnis Die normativen Wertungen machen deutlich, dass die Steuerhinterziehung kein Kavaliersdelikt (mehr) ist. Im Gegenteil: Ein Blick auf die historische 174 BGHSt 53, 71 (84); wie zu zeigen sein wird, stellt diese Rechtsprechung allerdings eine Verschärfung gegenüber dem bis dahin geltenden „Üblichen“ dar, ausführlich hierzu u. 2. Teil, 2. Kapitel, B., II., 2. 175 Vgl. Frisch, in: FS Stree/Wessels, S. 69 (103 f). 176 BGHSt 53, 71 (86).
2. Kap.: Die Strafzumessungsschuld der Steuerhinterziehung69
Entwicklung der Strafrahmen zeigt die Entwicklung hin zu einer Gleichstellung der Steuerhinterziehung mit vergleichbaren Delikten des Kernstrafrechts. Im Verhältnis zum strukturähnlichen Betrug formuliert dies der Bundesrat explizit und die höchstrichterliche Rechtsprechung hat sich dem angeschlossen. Auch die Daten der Strafverfolgungsstatistik bestätigen diesen Befund. Die Selbstanzeigevorschrift widerspricht dem nur, sofern man eine strenge Strafzwecktheorie zu ihrer Begründung vertritt.
II. Strafwürdigkeit aus Sicht der Bevölkerung – Ergebnisse empirischer Sozialforschung Die Steuerhinterziehung mag ihren normativen Wertungen nach seit geraumer Zeit den Vermögensdelikten des Kernstrafrechts gleichgestellt sein. Der Ruf als Kavaliersdelikt wurde mit der AO 1977 jedoch nicht beseitigt. Wie das Unrecht der Steuerhinterziehung seiner Schwere nach in den Augen der Bevölkerung bewertet wurde und wird, soll im Folgenden untersucht werden. Hier können Ergebnisse empirischer Sozialforschung aufschlussreiche Erkenntnisse liefern. Zu dem Delikt der Steuerhinterziehung sind vor allem drei größere Studien zu nennen. 1. World Values Survey (WVS) und European Values Study (EVS) Die European Values Study ist eine umfangreiche, empirische Langzeitstudie zu Einstellungen und Werten der Menschen in Europa.177 Das Forschungsprojekt wurde in den späten 1970er Jahren von der European Value System Study Group (EVSSG) initiiert, gegenwärtig wird die Studie von der EVS Foundation verantwortet. Die Erhebungen werden in regelmäßigen Abständen von neun Jahren (sogenannten „Wellen“) wiederholt, sodass ein Wertewandel nachvollzogen werden kann. Bislang wurden im Rahmen der European Values Study von 1981 bis 2008 vier Erhebungen durchgeführt. Ansatz und Methode der EVS aufgreifend werden seit 1981 im Rahmen der World Values Survey die Einstellungen und Werte der Menschen weltweit erhoben.178 Die World Values Survey kann dabei mittlerweile auf Daten von sechs Erhebungswellen zwischen 1981 und 2014 zurückgreifen. Die Daten beider Studien werden im Open Access Wissenschaftlern zur Analyse frei zugänglich gemacht.
177 Website der EVS, abrufbar unter: [Stand: 31.07.2016]. 178 Website der WVS, abrufbar unter: [Stand: 31.07.2016].
70
1. Teil: Schuldprinzip und Strafzwecke im Steuerstrafrecht
Die EVS und WVS erheben Daten mittels standardisierter Fragebögen in persönlichen Interviews von Bürgern über 18 Jahre. Die Grundgesamtheiten variieren je nach Erhebungswelle zwischen 1305 und 3380 Befragten. Die Harmonisierung von Erhebungsmethode und Aufbau der Fragebögen erlaubt es die Datensätze von EVS und WVS zusammenzufassen.179 Im Rahmen der Studien wird nach der Beurteilung unterschiedlicher Verhaltensweisen gefragt auf einer Skala von eins („das darf man auf keinen Fall tun“) bis zehn („ist in jedem Fall in Ordnung“), darunter auch: „Steuern hinterziehen, wenn man die Möglichkeit hat“; „Ein Auto, das einem nicht gehört, öffnen und damit eine Spritztour machen“; „Wenn jemand Schmiergelder annimmt“; „Drogen wie Marihuana oder Haschisch nehmen“; „Staatliche Leistungen in Anspruch nehmen, auf die man keinen Anspruch hat“; „Kein Fahrgeld in öffentlichen Verkehrsmitteln zahlen, schwarzfahren“; „Wenn verheiratete Männer / Frauen ein Verhältnis haben“; „Für den eigenen Vorteil lügen“; „Sich scheiden lassen“. Interessant für die Analyse der Ergebnisse ist dabei das Nebeneinander von strafrechtlich, ordnungswidrigkeitenrechtlich und lediglich moralisch relevanten Verhaltensweisen. Der Vergleich der Mittelwerte der jeweiligen Erhebungsjahre in Abb. 3 zeigt: Eine Verbesserung der Steuermoral seit Erhebung 1981 ist mit Ausnahme eines zwischenzeitlichen Anstiegs 1997 erkennbar. Die Steuerhinterziehung wird – wie Abb. 4 zeigt – jedoch im Vergleich zu anderen (insbesondere den strafbaren) Verhaltensweisen noch vergleichsweise milde beurteilt. So wird sie als weniger schlimm bewertet als eine „Schmiergeldannahme“, die – soweit sie überhaupt unter Strafe steht – vom Gesetzgeber in den meisten Fällen bereits mit einem geringeren Strafrahmen versehen ist als die Steuerhinterziehung.180 Das unbefugte Gebrauchen eines Kraftfahrzeugs (§ 248b StGB – Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren) wird als deutlich schwerwiegenderer Verhaltensverstoß empfunden. Auch der straflose181 Konsum von Marihuana / Haschisch wird als schlimmer bewertet. Zum Vergleich bietet sich auch der seit 2013 im Fragebogen der WVS mitaufgenommene Diebstahl an, der dort einen Wert von 1,32 erreicht. Eine Erklärung für die geringe Schwerebewertung der Steuerhinterziehung könnte darin zu finden sein, dass die Befragten möglicherweise bei der Steuerhinterziehung an geringe Schadensbeträge dachten. 179 Anleitung zur Erstellung der sog. Integrated Values Surveys 1981–2014 data file, abrufbar unter: [Stand: 31.07.2016]. 180 Siehe §§ 299, 331 Abs. 1 StGB, schärfer hingegen §§ 332, 335 StGB (Bestechlichkeit). 181 Freilich wird man davon ausgehen müssen, dass in die Bewertung der mit dem Konsum regelmäßig einhergehende strafbewerte Besitz von Marihuana (§ 29 Abs. 1 Nr. 3 StGB: Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahre) miteingeflossen ist.
2. Kap.: Die Strafzumessungsschuld der Steuerhinterziehung
71
10
ist in jedem Fall in Ordnung 9 8 7 6 5 4
darf man unter 3 keinen 2 Umständen tun 1
2,69
1981
2,99
2,57
1990
1997
2,37
2,2
1999
2006
1,97
2008
Abb. 3: Steuermoral in Deutschland nach EVS und WVS 1981–2008182 Unbefugter Gebrauch eines Fahrzeugs
1,48
Schmiergeldannahme
1,85
Mariuana/Haschisch konsumieren
1,87
Steuerhinterziehung
1,97
Erschleichen staatlicher Leistungen
2,04
Schwarzfahren
2,4
Ehebruch
2,79
Zum eigenen Vorteil lügen
2,95
Ehescheidung
6,24 1
2
darf man unter keinen Umständen tun
3
4
5
6
7
8
9
10
ist in jedem Fall in Ordnung
Abb. 4: Bewertung von Verhalten, Deutschland nach EVS 2008183 182 Die Daten stammen aus der European Values Study 1981–2008 Longitudinal Data File, EVS (2011), GESIS Data Archive, Cologne, Germany, ZA4804 Data File Version 2.0.0 (2011-12-30) und der World Value Survey 1981–2014 official aggregate v.20150418, 2015, WVS (2015), World Values Survey Association, Aggregate File Producer: JDSystems, Madrid, abrufbar unter: und [Stand: 31.07.2016]. Eigene Berechnungen. 183 S. ebda.
72
1. Teil: Schuldprinzip und Strafzwecke im Steuerstrafrecht
4 3,62
3
2
3,19 3,03 2,69 2,572,62 2,47 2,42 2,42 2,49 2,32 2,15 2,252,26 2,33 2,17 1,97 2 2,042,06 1,85 1,911,92 1,81 1,87 1,63
Brasilien
Indien
Belgien
Polen
Luxemburg
Österreich
Frankreich
Tschechien
Spanien
Griechenland
Schweden
Norwegen
Italien
Niederlande
Schweiz
USA
Portugal
China
Australien
Deutschland
Kanada
Finnland
Bulgarien
Dänemark
Großbritann…
Türkei
1
Ungarn
1,29
Abb. 5: Steuermoral international nach EVS 2008 und WVS 2006184
2. Allbus Die Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS) ist eine langfristig angelegte, multithematische Umfrageserie zu Einstellungen, Verhaltensweisen und Sozialstruktur der Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland.185 In den seit 1980 durchgeführten Erhebungen wird in persönlichen Interviews jeweils ein repräsentativer Querschnitt der bundesdeutschen Bevölkerung befragt. Unter der Kategorie „abweichendes Verhalten“ sollen verschiedene Verhaltensweisen als „sehr schlimm“, „ziemlich schlimm“, „weniger schlimm“ oder „gar nicht schlimm“ bezeichnet werden, darunter: „Ein Arbeitnehmer macht absichtlich beim Lohnsteuerjahresausgleich falsche Angaben und erhält dadurch 500 Euro zu viel Lohnsteuerrückerstattung“;186 „Ein Mann zwingt seine Ehefrau zum Geschlechtsverkehr“; „Ein verheirateter Mann hat mit einer anderen Frau ein Verhältnis“; „Jemand raucht mehrmals in der Woche Haschisch“; „Jemand 184 S. ebda.
185 Website der Gesellschaft Sozialwissenschaftlicher Infrastruktureinrichtungen (GESIS) – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften, abrufbar unter: [Stand: 31.07.2016]. Das ALLBUS-Programm ist 1980–86 und 1991 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert worden. Die weiteren Erhebungen wurden von Bund und Ländern über die GESIS finanziert. 186 Im Jahr 1990 und 2000 wurde nach Lohnsteuerverkürzung in Höhe von 1000 DM gefragt.
2. Kap.: Die Strafzumessungsschuld der Steuerhinterziehung
100 93,8
98,4
96,6
94,1
73
90 85,4 80 70 60
73,4
72,2
68
59,7
56,3
50
50,3
40
39,5
30 1990
1992
53,2
1994
1996
1998
2000
72,6 68,8
72,5 67,2 64,8
55,4 50,8
55,1
2002
2004
2006
2008
Vergewaltigung in der Ehe
Kaufhausdiebstahl 50 DM
Lohnsteuerhinterziehung
Ehebruch
Haschisch
Schwarzfahren
2010
2012
Abb. 6: Bewertung von Verhalten als „sehr schlimm“ bzw. „ziemlich schlimm“ in Prozent nach ALLBUS in Deutschland (für 1990 nur Westdeutschland)
fährt mit öffentlichen Verkehrsmitteln, ohne einen gültigen Fahrausweis zu besitzen“; „Jemand nimmt in einem Kaufhaus Waren im Wert von 50 DM mit, ohne zu bezahlen“. Die Bewertungskategorien der Allbus bieten damit zwar im Vergleich zur WVS / EVS-Studie weniger Differenzierungsmöglichkeiten. Dafür sind die beschriebenen Verhaltensweisen in ihrem Unrechtsgehalt deutlich präziser beschrieben. Abb. 6187 zeigt den Anteil der Befragten, die das jeweilige Verhalten als entweder sehr schlimm oder ziemlich schlimm einordnen von 1990 bis 2012. Im Längsschnitt lässt sich ein Trend zur schwereren Bewertung der Steuerhinterziehung erkennen. Während im Jahr 1990 noch 50,3 % der Befragten eine Lohnsteuerhinterziehung als ziemlich schlimm oder sehr schlimm bewerteten, liegt der Anteil im Jahr 2012 bei 67,2 %. 187 Die in diesem Beitrag benutzten Daten entstammen der „Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften“ (ALLBUS 1980–2012). GESIS – LeibnizInstitut für Sozialwissenschaften (2014): Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften ALLBUS – Kumulation 1980–2012. GESIS Datenarchiv, Köln. ZA4578 Datenfile Version 1.0.0, abrufbar unter: [Stand: 31.07.2016]. Eigene Berechnungen.
74
1. Teil: Schuldprinzip und Strafzwecke im Steuerstrafrecht
Der Vergleich der Steuerhinterziehung mit den übrigen beschriebenen Verhaltensweisen zeigt: Die Steuerhinterziehung hat einen schlechteren Ruf als die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel ohne gültigen Fahrausweis und (mittlerweile) auch als der regelmäßige Haschischkonsum. Eine außereheliche Affäre wird von der Mehrheit der Deutschen allerdings als schlimmeres Verhalten empfunden. Dabei muss man zwar berücksichtigen, dass der in der ALLBUS-Umfrage geschilderte Fall einer Steuerhinterziehung i. H. v. 500 € an der unteren Grenze der Strafbarkeit zu verorten ist.188 Dennoch zeigt sich eine deutliche Diskrepanz zum eindeutig strafrechtlich relevanten Verhalten wie der Vergewaltigung. Soweit erfasst, wird auch der ebenfalls nur im unteren Bereich der Strafbarkeit geschilderte Fall eines Kaufhausdiebstahls im Wert von 50 DM als deutlich schlimmer bewertet. Die Steuerhinterziehung ordnet sich eher im Bereich der Bagatelldelikte bzw. der lediglich moralisch fragwürdigen Verhaltensweisen ein. 3. Studien der Forschungsstelle für empirische Sozialökonomik Die von Schmölders in der Finanzwissenschaft etablierte Disziplin der Steuerpsychologie verfolgt mit Methoden der empirischen Sozialforschung, aufbauend auf empirisch fundierten Theorien der Sozialpsychologie, den Ansatz der Erklärung von Verhalten, Einstellungen, Emotionen und Motivationen der Steuerzahler gegenüber der Besteuerung. Dabei trennt Schmölders begrifflich Steuermentalität und Steuermoral. Während die Steuermentalität die allgemeine Einstellung zur Steuer betrifft, sei unter Steuermoral die Haltung zu steuerdeliktischen Verhaltensweisen zu verstehen.189 Operationalisiert wird die Steuermoral aus der moralischen Beurteilung des Steuersünders und der Bewertung ausgewählter Steuerdelikte.190 Auf dieser theoretischen Fundierung aufbauend untersucht die Forschungsstelle für empirische Sozialökonomik (Fores) die Steuermoral in mehreren Studien. Die einheitliche Fragestellung in den jeweiligen Erhebungsjahren lässt auch hier eine Längsschnittanalyse zu.
c).
188 Vgl.
insbesondere die Werte der Strafmaßtabellen, 2. Teil, 2. Kapitel, B., I., 2.,
189 Außerhalb der Finanzwissenschaft wird hingegen der Begriff „Steuermoral“ i. S. der von Schmölders definierten Steuermentalität verwendet, vgl. Klein, Steuermoral und Steuerrecht, S. 36. 190 Als Maß für die Steuermoral gilt der sog. Steuermoralindex, der sich aus fünf Indikatoren zusammensetzt und einen Wert von 1 (niedrig) bis 7 (hoch) annehmen kann. Seit 2008 hat sich die Steuermoral erheblich verbessert von 4,28 auf 4,80 im Jahr 2014, Forschungsstelle für empirische Sozialökonomik, Ausgewählte Ergebnisse, S. 7.
2. Kap.: Die Strafzumessungsschuld der Steuerhinterziehung
% 90 Z u s t i m m u n g
82
80 70 55
60
62
67
50
74 76 59 62
62 52
48
1997
40
1999
30
20
20
2008 2014
10 0
75
Hinterziehung ist generell unmoralisch
Unmoral wird durch kleine Hinterziehung ist geringer als Ungerechtigkeit aufgehoben Verschwendung
Umfrage Steuermoral191
Die Abbildung der Fores zeigt einen deutlich erkennbaren Trend zu einer strengeren moralischen Bewertung der Steuerhinterziehung. Bemerkenswert – auch für die Interpretation der Ergebnisse der vorgenannten Studien – ist, dass sich dieser Trend in besonderem Maße im Zeitraum zwischen 2008 und 2014 fortgesetzt hat. Die erhebliche Steigerung, die die moralische Verbindlichkeit der Norm an sich in der öffentlichen Wahrnehmung erfahren hat, tritt noch deutlicher hervor, wenn man den Rückgang der Bereitschaft zur Relativierung der Normbindungskraft unter normativ relevanten Aspekten beachtet, obwohl die den Relativierungen zugrunde liegenden Lebenssachverhalte (ungerechtes Steuersystem, Steuerverschwendung) in der Wahrnehmung der Bevölkerung noch problematischer geworden sind.192 Bis zum Jahr 1999 wurde in der Studie auch eine Frage zur Einordnung des Steuerhinterziehers im Vergleich zu anderen Verhaltensweisen gestellt. Auf die Frage: „Geben Sie mir bitte einmal an, mit welcher Person Sie am ehesten einen Steuersünder oder Steuerhinterzieher auf eine Stufe stellen 191 Forschungsstelle
für empirische Sozialökonomik, Ausgewählte Ergebnisse, S. 8. 1. Teil, 3. Kapitel, B., III., 2., 3. Weshalb die moralische Bewertung der Steuerhinterziehung seit 2008 trotz Steigerung der sie üblicherweise relativierenden Parameter sich so deutlich verbessert hat, kann auch von den Forschern der Fores nur vermutet werden. Franzen geht von einer erhöhten kognitiven Auseinandersetzung mit der Frage der Steuermoral bedingt durch die öffentliche Debatte rund um die Ankäufe von Steuer-CDs, medienwirksame Steuerfälle prominenter Täter wie Hoeneß und Schweizer aber auch durch die sog. Finanz- und Eurokrise, die eine „partielle Renaissance“ des Staates gefördert habe, aus. 192 S.u.
76
1. Teil: Schuldprinzip und Strafzwecke im Steuerstrafrecht
würden?“ antworteten 35,5 % mit dem „raffinierten Geschäftsmann, 29,4 % „Betrüger“, 29,1 % „gerissener Typ“, 6,9 % „Lebenskünstler“, 4,4 % „Dieb“ und je 2,4 % „Verbrecher“ oder „Verkehrssünder“.193 Damit stellten nur 35,9 % der Befragten den Steuerhinterzieher auf eine Stufe mit einem Straftäter. 4. Zwischenbilanz Die Gesamtschau der betreffenden Studien zeigt: Der Ruf der Steuerhinterziehung als „Kavaliersdelikt“ scheint zwar noch nicht gänzlich überwunden. Eine Verbesserung der Steuermoral in den letzten Jahren ist allerdings klar erkennbar. Dennoch verbleibt eine Diskrepanz zu der normativen Wertung. Die Steuerhinterziehung ist damit aus normativer Perspektive ein unterbewertetes Delikt. Diese Erkenntnis ist bei der Präventionswertung im Rahmen der Strafzumessung zu berücksichtigen. 3. Kapitel
Präventive Strafzwecke im Steuerstrafrecht Im Einklang mit der Spielraumtheorie lassen sich präventive Strafzwecke innerhalb des Rahmens schuldangemessener Strafen berücksichtigen.194 Und auch außerhalb der Strafhöhenentscheidung spielen die Präventionsbedürfnisse vor allem bei der Wahl der Strafart und der Frage der Strafaussetzung zur Bewährung eine gewichtige Rolle. Es soll daher im Folgenden der Frage nachgegangen werden, in wie fern den einzelnen Präventionszwecken Bedeutung für das Delikt der Steuerhinterziehung zukommt, ob aufgrund kriminologischer und deliktsspezifischer Besonderheiten bestimmte Strafzwecke mehr oder weniger wirkungsvoll sind oder entsprechende Strafbedürfnisse besonders stark ausgeprägt sind und deshalb diese auch mehr oder weniger stark zu berücksichtigen sind.
A. Die Bedeutung der Spezialprävention Dass bei Steuerstraftätern ein gesteigertes Risiko der wiederholten Tatbegehung besteht und damit Spezialprävention grundsätzlich sinnvoll ist, zeigen die Ergebnisse verschiedener Befragungsstudien. So konnte anhand der All193 Forschungsstelle für empirische Sozialökonomik, Steuermentalität, Steuermoral und Einstellungen zur Steuerreform 1999. 194 S. o. 1. Teil, 1. Kapitel, C.C. Strafzwecke und Strafzumessungsschuld.
3. Kap.: Präventive Strafzwecke im Steuerstrafrecht
77
bus-Daten des Jahres 2000 eine Korrelation195 von γ = 0,90 zwischen selbstberichteter Hinterziehungserfahrung und Deliktsbereitschaft für das Delikt der Steuerhinterziehung nachgewiesen werden.196 Die Korrelation ist damit stärker als bei Ladendiebstahl, Alkohol am Steuer oder Schwarzfahren. Bei denjenigen, die angaben, noch nie Steuern hinterzogen zu haben, erklärten sich nur 12 % deliktsbereit. Unter den Befragten, die zugaben, einmalig Steuern verkürzt zu haben, können sich dies hingegen bereits 51 % auch künftig vorstellen. Bei den mehrmaligen Steuerstraftätern liegt der Anteil der Deliktsbereiten sogar bei 87 %.197 Der Zusammenhang bestätigt sich auch anhand der von der Forschungsstelle für empirische Sozialökonomik (Fores) selbst erhobenen Daten. Der Anteil der Deliktsbereiten, wenn die Entdeckung der Tat mehr kostet als die bloße Nachzahlung, ist unter den selbstberichteten Mehrfachtätern fast doppelt so hoch wie unter den einmaligen Steuerhinterziehern und sogar mehr als drei Mal so hoch wie unter den Befragten mit „weißer Weste“.198 Die Daten geben damit Grund zu der Annahme, dass bei Steuerhinterziehern eine gesteigerte Gefährlichkeit zur erneuten Tatbegehung besteht. Zu vermuten wäre daher eine hohe Rückfallquote. Ein Blick auf die Strafverfolgungsstatistik zeigt jedoch, dass Täter von Steuerdelikten vergleichsweise selten Vorstrafenbelastungen aufweisen: 2013 wurden lediglich 28,38 % der Täter zuvor bereits wegen einem Verbrechen oder Vergehen verurteilt, während dies beim Betrug in 34,33 %, bei der Untreue in 52,59 % und bei allen Straftaten insgesamt sogar in 53,62 % der Fälle gegeben war.199 Dass Steuerstraftäter durch eine Verurteilung schlicht umsichtiger und effektiver in ihrer Tatbegehung werden, scheint keine plausible Erklärung für den geringen Anteil an Wiederholungstätern, zumal aus der Strafverfolgungsstatistik das Delikt der Vorstrafe nicht hervorgeht. Vielmehr dürfte – auch unter Berücksichtigung des erhöhten Durchschnittsalters der Täter – die Erfahrung mit der Strafjustiz hierfür verantwortlich sein, so dass von einer nicht unerheblichen spezialpräventiven Wirksamkeit der Strafe in Fällen der Steuerhinterziehung auszugehen ist.200 195 Das Maß γ der Korrelation nimmt einen Wert zwischen –1 und +1 an, wobei der stochastische Zusammenhang zwischen zwei Variablen umso höher ist, je weiter sich der Wert +1 oder –1 nähert, Bortz, Statistik, S. 157. 196 Hierzu und zum Folgenden Franzen, Steuermoral und Steuerhinterziehung, S. 40 f. 197 Franzen, Steuermoral und Steuerhinterziehung, S. 41. 198 Franzen, Steuermoral und Steuerhinterziehung, S. 45. 199 Quelle: SVS Fachserie 10 Reihe 3, 2013. Eigene Berechnungen. Es wurde hierfür als Divisor die Anzahl der Verurteilungen mit Angaben über frühere Verurteilungen verwendet. 200 Verstärkt wird der Abschreckungseffekt sicherlich auch durch die Erhöhung des subjektiven Entdeckungsrisikos künftiger Straftaten, da der Steuerstraftäter mit
78
1. Teil: Schuldprinzip und Strafzwecke im Steuerstrafrecht
I. Negative Spezialprävention Der negativen Spezialprävention werden die Zwecke spezialpräventiver Abschreckung einerseits und Sicherung des Täters durch Strafvollzug andererseits zugeordnet. Beide werden vom Gesetzgeber zwar nicht genannt, sind jedoch nach einhelliger Auffassung im Rahmen des Schuldangemessenen verwertbar.201 Die Relevanz des Sicherungszwecks tendiert über die ohnehin begrenzte Tragfähigkeit im Rahmen des Schuldstrafrechts202 hinaus für das Delikt der Steuerhinterziehung gegen null. Denn zum einen kann durch den Strafvollzug eine Steuerhinterziehung nicht in jedem Fall verhindert werden. So kann ein Täter auch problemlos aus der Strafvollzugsanstalt heraus Kapitalerträge etwa auf geheimen Auslandskonten erzielen und diese nicht versteuern. Zum anderen wird der Staat in der Regel aber auch gar kein Interesse daran haben, den Täter durch Strafvollzug an einer künftigen Steuerhinterziehung zu hindern, wenn dies bedeutet, dass der Täter durch Nichtbeteiligung am Wirtschaftsleben gar keinen Steuertatbestand erfüllt. Aus Sicht des zu schützenden Rechtsguts des Staatsvermögens lässt sich dies durchaus prägnant mit der Metapher auf den Punkt bringen, dass „man eine Kuh nicht schlachtet, solange der Milchertrag höher ist als die Schlachtprämie“.203 Größere Bedeutung könnte hingegen dem spezialpräventiven Abschreckungsgedanken zukommen. Dieser führt nach herkömmlicher Handhabung vor allem dann zu Strafschärfungen, wenn der Täter deliktische Vorbelastungen aufweist.204 Hintergrund ist die Überlegung, dass es für die Abschreckung eines bereits straffällig gewordenen Täters einer höheren Strafe bedürfe. Ein solcher Täter sei für die Strafe durch seine Erfahrung mit der Strafjustiz weniger empfänglich. Es stellt sich also die Frage, ob Besonderheiten im typischen Täterbild des Steuerhinterziehers hinsichtlich der Strafempfänglichkeit205 bestehen. Die Steuerhinterziehung wird, von einigen Zollvergehen abgesehen, kriminologisch den psychisch-intellektuellen Straftaten zugeordnet.206 Diese intensiveren Prüfungen seitens der Finanzbehörden zu rechnen hat. Freilich sind die Daten der SVS hier unter dem Aspekt zu relativieren, dass nicht nur einschlägige Vorstrafen erfasst sind. 201 Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 540 m. w. N. 202 Hierzu Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 541. 203 Reiß, in: FS Grünwald, S. 495 (497); ähnlich Tipke, in: FS Kohlmann, S. 555 (576). 204 Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 540 m. w. N. auch zu Bedenken gegenüber diesem Ansatz des „mehr von demselben“. 205 Zum Begriff Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 569. 206 Rolletschke/Kemper/Dietz, Einf. Rn. 4.
3. Kap.: Präventive Strafzwecke im Steuerstrafrecht
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zeichnen sich gegenüber den physischen Straftaten dadurch aus, dass nicht der Einsatz körperlicher Kraft, sondern das nach außen an sich unauffällige, im Falle der Steuerhinterziehung intellektuell auf Täuschung im weitesten Sinne angelegte Verhalten des Täters das Tatgeschehen bestimmt.207 Die Steuerhinterziehung wird demnach auch als Intelligenzdelikt bezeichnet.208 Dies lässt vermuten, dass die Täter einen erhöhten Bildungsstand aufweisen. Soziologisch kommen als Täter ferner überwiegend nur diejenigen in Betracht, die mit der Finanzbehörde in Berührung kommen, also etwa ein geregeltes Einkommen haben und Einkünfte zu versteuern haben. Es steht daher zu vermuten, dass der Täterkreis der Steuerhinterziehung sich im Durchschnitt aus Angehörigen höherer Schichten zusammensetzt als der Täterkreis anderer Deliktsbereiche. Die bisherigen kriminologischen Untersuchungen zur Steuerhinterziehung bestätigen diese Vermutungen.209 Die Aktenanalyse Mönchs hat ergeben, dass Steuerhinterzieher im Vergleich zu Bankräubern und dem Bevölkerungsdurchschnitt eine höhere Berufsausqualifikation aufweisen.210 Er kommt auch nach Zugrundelegung des Schichtmodells von Scheuch (Bildung, Einkommen, Beruf) zu dem Ergebnis, dass Steuerhinterziehung regelmäßig von Personen mit höherem sozialem Status begangen wird.211 Auch Seckel bilanziert vorwiegend geordnete soziale Verhältnisse bei Steuerhinterziehern.212 Nach dessen Aktenanalyse setzt sich der Täterkreis mit einer Quote von 89,5 % überwiegend aus Angehörigen selbstständiger Berufe zusammen.213 Dies überrascht nicht, da die Möglichkeiten zur Steuerhinterziehung gegenüber Angestellten ungleich höher sind. Die wirtschaftlichen Verhältnisse der Täter sind durchschnittlich bis gut.214 Zwar sind die Untersuchungen bereits älteren Datums. Die Ergebnisse jüngerer Befragungs-Studien indizieren jedoch, dass das Täterbild sich seit dem nicht wesentlich geändert haben dürfte.215 Auch diese legen nahe, dass Steuerhinterziehung – jedenfalls jenseits der Bagatell- und Kleinkriminalität – ein „white collar crime“ begangen von „white collar criminals“ aus der Mittel- und Oberschicht ist. 207 Rolletschke/Kemper/Dietz,
Einf. Rn. 4. Wirtschaftskriminalität, S. 997. 209 Zur leicht abweichenden Tätertypologie bei Zolldelikten s. Müller, Zolldelikte, S. 143 ff. 210 Mönch, Steuerkriminalität und Sanktionswahrscheinlichkeit, S. 107. 211 Mönch, Steuerkriminalität und Sanktionswahrscheinlichkeit, S. 139. 212 Seckel, Steuerhinterziehung, S. 185. 213 Seckel, Steuerhinterziehung, S. 170. 214 Seckel, Steuerhinterziehung, S. 171. 215 Vgl. Franzen, Steuermoral und Steuerhinterziehung, S. 49 ff., der anhand der Allbus-Daten selbstberichtete Deliktsbegehung mit Bildungsstand, subjektiver Schichteinschätzung und Nettoeinkommen korrelierte. 208 Zirpins/Terstegen,
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1. Teil: Schuldprinzip und Strafzwecke im Steuerstrafrecht
Geht man davon aus, dass solche Täter aufgrund ihrer guten Sozialisation für Strafen besonders empfänglich sind, ist anzunehmen, dass dem spezialpräventiven Abschreckungsgedanken für das Delikt der Steuerhinterziehung gesteigerte Wirksamkeit zukommt. Die hohe Quote an Ersttätern kann als Beleg hierfür gewertet werden.
II. Positive Spezialprävention Die positive Spezialprävention kann in ihrer bessernden / therapeutischen Ausprägung – abgesehen von den grundsätzlichen Zweifeln an der Wirksamkeit eines solchen Ansatzes216 – gerade bei einem Delikt wie der Steuerhinterziehung, welches der Massendelinquenz zugerechnet werden kann und bei dem ein großes Dunkelfeld vermutet wird, als unrealistische Zwecksetzung bezeichnet werden.217 Ohnehin wird nach einhelliger Auffassung die wahre Bedeutung der Resozialisierungsklausel in § 46 Abs. 1 S. 2 StGB in der straflimitierenden Funktion gesehen.218 Die anderen Zwecken dienende Strafe soll möglichst wenig entsozialisierend ausfallen.219 Je besser ein Täter sozialisiert ist, desto härter trifft ihn die Strafe. Es kann an dieser Stelle auf die vorangehenden Ausführungen zum Täterbild der Steuerhinterziehung verwiesen werden. Angesichts der überwiegend guten Sozialisation des Täterkreises kommt der Resozialisierungsklausel in § 46 Abs. 1 S. 2 StGB in ihrer straflimitierenden Funktion bei der Steuerhinterziehung vergleichsweise große Bedeutung zu. Es lässt sich damit festhalten, dass in Steuerhinterziehungsfällen die spezialpräventiven Strafbedürfnisse häufig nur sehr gering ausfallen bzw. eine Orientierung am unteren Rahmen des Schuldangemessenen in besonderem Maße fordern. Dies gerade weil die Individualabschreckung besonders effektiv ist und es nach bisherigen Erkenntnissen hierfür nicht auf die Schwere der Sanktion ankommt.220
Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 268, 317 ff., 542. Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 52. 218 Frisch, in: FS Kaiser, S. 765 (784) m. w. N. 219 Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 31. 220 Zur (nicht nur unter dem Aspekt der Spezialprävention propagierten) These der „Austauschbarkeit der Sanktionen“ s. Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 542, 331 ff. 216 Vgl.
217 Streng,
3. Kap.: Präventive Strafzwecke im Steuerstrafrecht81
B. Die Bedeutung der Generalprävention Es gilt, im Rahmen der Generalprävention die Abschreckungsidee von dem Aspekt der Normbestätigung zu trennen. Welche Bedeutung den jeweiligen Teilaspekten im Rahmen der Strafzumessung zukommt, sollte in erster Linie von ihrer jeweiligen Wirksamkeit abhängen.221 Die Rechtsprechung lässt eine Strafschärfung zwecks Abschreckung im Rahmen des Schuldangemessenen unter einschränkenden Voraussetzungen zu.222 Kritisch wird dies vor allem vor dem Hintergrund der geringen empirisch nachgewiesenen Effizienz der Abschreckung durch Strafschärfung beurteilt. Im Folgenden soll daher der Frage nachgegangen werden, ob sich Besonderheiten für das Delikt der Steuerhinterziehung für die Wirksamkeit der Abschreckungsidee einerseits und unter dem Aspekt der Normbestätigung andererseits ergeben.
I. Die Abschreckungsidee Untersuchungen zur generalpräventiven Effizienz verwenden überwiegend die Methode der Befragung.223 Dabei werden die Probanden nach selbst begangener Kriminalität bzw. Tatneigung gefragt und diese Daten mit Aussagen zur Einschätzung der Strafrechtsnomen und der Normdurchsetzung korreliert. Die Ergebnisse solcher Untersuchungen zeigen, dass die erwartete Schwere der Strafe für die meisten Taten irrelevant ist.224 Das subjektive Entdeckungsrisiko war lediglich bei einigen leichteren Delikten von Bedeutung. Als wichtigster Erklärungsfaktor für Normkonformität erwies sich die moralische Verbindlichkeit der Strafnorm. Dies bedeutet freilich nicht, dass dem Abschreckungsgedanken jede Wirkung abzusprechen wäre. Denn innerhalb der Untersuchungsdesigns war die Existenz eines Strafrechts mit entsprechenden Strafdrohungen selbstverständliche Basis der Aussagen. Die Ergebnisse sol221 Zum Zusammenhang von Effektivität und Legitimität der Generalprävention, vgl. Hassemer, in: ders./Lüderssen/Naucke, Hauptprobleme der Generalprävention, S. 29 (39, 50 f.). 222 BGHSt, 7, 28; 20, 264 (267); 28, 318 (326); zulässig u. a. bei einer „gemein schaftsgefährliche[n] Zunahme“ solcher oder ähnlicher Straftaten, wie sie zur Aburteilung stehen, BGHSt 6, 125 (127). 223 Beispielhaft die Untersuchungen von Dölling, in: Kerner/Kury/Sessar, Deutsche Forschungen zur Kriminalitätsentstehung und Kriminalitätskontrolle, S. 51–85; Schöch, in: FS Jescheck, S. 1081–1105; Schumann, Karl F./Berlitz, Claus/Guth, HansWerner et al, Jugendkriminalität; Hermann, Werte und Kriminalität; H.-J. Albrecht, in: Forschungsgruppe Kriminologie am MPI Freiburg, Empirische Kriminologie, S. 305–327; zur Methodenalternative der kriminalstatistischen Studie, s. Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 62. 224 Siehe hierzu und zum Folgenden Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 59 ff.
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1. Teil: Schuldprinzip und Strafzwecke im Steuerstrafrecht
cherlei Untersuchungen betreffen daher vielmehr den „Grenznutzen zusätzlicher Abschreckungsdeterminanten“.225 Für das Delikt der Steuerhinterziehung ließe sich vermuten, dass der Abschreckungsidee eine gesteigerte Effizienz zukommt. Denn die Tat ist ähnlich dem Feld der klassischen Wirtschaftskriminalität in der Regel geprägt von einem betriebswirtschaftlichen Kalkül und damit weitgehend rationalem Täterverhalten.226 Hierfür sprechen zunächst Ergebnisse der Befragungsstudie der Fores.227 Es wurde danach gefragt, welche Gründe am ehesten gegen die Begehung einer Steuerhinterziehung sprechen (Mehrfachnennung möglich). Am häufigsten mit rund 55,8 % wurde Entdeckung / Strafe als Grund genannt,228 gefolgt von 42,4 % der Befragten, die ethische oder moralische Erwägungen nannten.229 Eine Effizienz der Abschreckung durch schärfere Strafen indizieren die Ergebnisse der Studie auf die Frage: „Stellen Sie sich nun bitte einmal vor, Sie hätten eine Möglichkeit gefunden, Steuern zu hinterziehen, bei der das Risiko der Entdeckung zwar relativ gering, aber dennoch vorhanden wäre. Welches Risiko wären Sie bereit zu tragen?“. Hierauf antworteten 68,3 %: „niemals“; „wenn Entdeckung nicht mehr kostet als…“ „die Nachzahlung“ 28,5 %, „das Doppelte“ 2,3 %, „das Fünffache“ 0,7 %, „das Zehnfache“ 0,3 %.230 Ob dieser erkennbare Nachlass an Deliktsbereitschaft auch noch auf den Bereich realistischer Strafhöhenunterschiede und Strafschärfungen im Bereich des Schuldangemessenen übertragbar ist, ist allerdings fraglich. Hiergegen sprechen die Ergebnisse multivariater Diskriminanzanalysen231 einer Befragungsstudie der Stiftung Marktwirtschaft. Diese kommen zu dem Ergebnis, dass die Abschre225 Streng,
Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 61. Richter, Geplante Steuerhinterziehung und ihre effiziente Bestrafung, S. 9 ff., der bei modelltheoretischer Betrachtung zu dem Ergebnis kommt, dass sich Steuerhinterziehung in weiten Bereichen, insbesondere dem unteren Bereich von Hinterziehungsbeträgen, lohnt und deshalb kühl ökonomisch kalkulierende Täter nicht abzuschrecken vermag. 227 Vgl. Forschungsstelle für empirische Sozialökonomik, Steuerkultur und Steuermoral in Deutschland 2014. 228 Forschungsstelle für empirische Sozialökonomik, Steuerkultur und Steuermoral in Deutschland 2014, S. 100. 2008 lag dieser Wert noch bei knapp 48 %. 229 Forschungsstelle für empirische Sozialökonomik, Steuerkultur und Steuermoral in Deutschland 2014, S. 100. 2008 lag dieser Wert noch bei 36,4 %. Weitere Nennungen waren der Gelegenheitsmangel (25,3 %), das Begnügen mit legalen Steuersparmodellen (20,9 %), ein zu hoher Aufwand (16,9 %), soziale Sanktionen (7,7 %), gar kein Grund für legales Verhalten (3,3 %). 230 Forschungsstelle für empirische Sozialökonomik, Steuerkultur und Steuermoral in Deutschland 2014, S. 93. 231 Mit einer Diskriminanzanalyse lässt sich die relative Bedeutung verschiedener erklärender Variablen (sog. Prädiktoren, gemessen mit dem Standardisierten kanoni226 Ebenso
3. Kap.: Präventive Strafzwecke im Steuerstrafrecht
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ckungswirkung im Wesentlichen über eine Erhöhung der Kontrollintensität funktioniert.232 Die Höhe des Strafmaßes hatte in dieser Studie keinen eindeutigen signifikanten Einfluss. Dies steht im Einklang mit ausländischen Studien zur Steuerhinterziehung233 und Studien zu anderen Deliktsbereichen, in denen sich ebenfalls die Entdeckungsgefahr und nicht die Strafhöhe als relevante Komponente der Abschreckungswirkung gezeigt hat.234 Auch die wellenartige Anhäufung von Selbstanzeigen235 in Folge von Ankäufen sogenannter „SteuerCDs“ durch den Staat indiziert, dass die Wirksamkeit der Abschreckung primär von der Entdeckungsgefahr ausgeht.
II. Positive Generalprävention Der empirische Nachweis der Effizienz positiver Generalprävention begegnet besonderen Schwierigkeiten – ein Nachweis wird zum Teil gar für unmöglich gehalten.236 Dennoch bestehen Anhaltspunkte für deren Relevanz. Insbesondere der in allen Studien als wichtigster Erklärungsfaktor für Normkonformität zu Tage getretene Faktor der moralischen Verbindlichkeit einer Norm weist in diese Richtung.237 Trotz der im Verhältnis zu anderen Delikten geringen absoluten Moralbindung238 zeigt sich auch für die Steuerhinterziehung dieser Zusammenhang. Die Fores-Studie von 2008 belegt eine hohe Korrelation (γ = 0,67) von Steuermoral und Deliktsbereitschaft.239 Eine Diskriminanzanalyse240 mit selbstberichteter Steuerhinterziehung als abhängiger Variable weist die Steuermoral als wichtigste erklärende Variable (SKD241 = –0,74) aus.242 Diese schen Diskriminanzkoeffizienten [SKD]) für die abhängige Variable messen, vgl. Bortz, Statistik, S. 487 ff. 232 Feld/Schneider, Steuerunehrlichkeit, S. 11. 233 Alm/Jackson/McKee, National Tax Journal, Band 45, 1992, 107–114; Spicer/ Becker, National Tax Journal, Band 33, 1980, 171–175; Friedland, Journal of Applied Social Psychology, Band 12, 1982, 54–59; Webley/Morris/Amstutz, in: H. Brand staetter/E. Kirchler, Economic psychology, S. 233–242; Webley/Robben/Elffers et al., Tax evasion. 234 Siehe Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 64 m. w. N. 235 Vgl. Forschungsstelle für empirische Sozialökonomik, Steuerkultur und Steuermoral in Deutschland 2014, S. 119 ff. 236 Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 66. 237 Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 59. 238 Vgl. o. 1. Teil, 2. Kapitel, B., II. 239 Franzen, Steuermoral und Steuerhinterziehung, S. 33. 240 Siehe Fn. 231. 241 Standardisierter kanonischer Diskriminanzkoeffizient. Die Bedeutung der erklärenden Variable für die abhängige Variable ist umso größer, je höher der positive oder negative Wert des SKD ist, vgl. Bortz, Statistik, S. 490.
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Ergebnisse wurden allerdings trotz deutlicher Zunahme der Steuermoral in der Studie von 2014 nicht im gleichen Maß bestätigt. Die Steuermoral erreicht hier nur noch einen SKD von –0,228; die Variable „ethische, moralische, politische Überzeugungen“ (s. o.) erreichte immerhin einen Wert von –0,283 und lag damit auf Platz 4 hinter Familienstand (–0,292), Berufsgruppe (–0,332) und Ortsgröße (–0,386).243 Eine weitere von der Fores durchgeführte Diskriminanzanalyse anhand der Allbus-Daten von 2000 mit selbstberichteter Steuerhinterziehung als unabhängige Variable zeigt, dass die „strikte Gesetzestreue“244 einen höheren SKD (0,388) aufweist als etwa die subjektive Entdeckungswahrscheinlichkeit (–0,349).245 Auch eine Befragungsstudie der Stiftung Markwirtschaft kommt mittels multivariater Analysen mit Steuerunehrlichkeit als unabhängiger Variable zu einem eindeutigen Ergebnis: je größer die Akzeptanz des Hinterziehungsverhaltens, umso wahrscheinlicher ist das Verhalten selbst.246 Im Bereich der Steuerhinterziehung bestünde insofern jedenfalls – trotz Besserung in den letzten Jahren – noch Potenzial. Gerade der internationale Vergleich zeigt: die Steuermoral der Deutschen ist zwar nicht schlecht, aber noch immer ausbaufähig.247 Unklar bleibt jedoch, ob sie über das Strafrecht im Wege der positiven Generalprävention durch Androhung, Verhängung und Vollstreckung von Strafen verbessert werden kann. Denn der Zusammenhang von moralischer Verbindlichkeit einer Norm und Deliktsbereitschaft ist noch kein Nachweis für die Wirksamkeit positiver Generalprävention.248 Noch weniger Klarheit besteht in der Frage, in wie weit das Strafrecht für positive Generalprävention funktionalisiert werden kann, ihr also eine „sittenbildende Kraft“249 zukommt. So ist Streng der Auffassung, dass vom 242 Franzen,
Steuermoral und Steuerhinterziehung, S. 46. für empirische Sozialökonomik, Steuerkultur und Steuermoral in Deutschland 2014, S. 110, dort auch zu Erklärungsansätzen und Interpretation dieser überraschenden Ergebnisse. 244 Die Fragestellung in der Umfrage lautete: „An die Gesetze muß man sich immer halten, egal ob man mit ihnen einverstanden ist oder nicht.“ Freilich wird hiermit weniger an eine moralische als an eine rein gesetzespositivistische Verbindlichkeit der Norm angeknüpft. 245 Franzen, Steuermoral und Steuerhinterziehung, S. 64. Auch die ausländische Studie von Schwartz/Orleans, On legal Sanctions, zur Steuerhinterziehung indiziert die stärkere Wirksamkeit positiver Generalprävention gegenüber negativer Generalprävention, vgl. hierzu Müller-Tuckfeld, Integrationsprävention, S. 116. 246 Feld/Schneider, Steuerunehrlichkeit, S. 11 f. 247 S. o. Abb. 5. 248 S. o. Fn. 236. 249 Mayer, Strafrecht AT, S. 21. 243 Forschungsstelle
3. Kap.: Präventive Strafzwecke im Steuerstrafrecht85
„Strafrecht und seinen Sanktionen […] unter dem Gesichtspunkt positiver Generalprävention nicht mehr erwartet werden (kann) als die Abstützung von Werten und Normen, welche die Bürger von vornherein zu akzeptieren bereit sind.“250 Wie bereits gezeigt, bleibt die Deliktsbewertung durch die Allgemeinheit hinter den normativen Wertungen zurück.251 Davon zu sprechen, die normativen Wertungen zur Strafwürdigkeit der Steuerhinterziehung befinden sich bereits jenseits dessen, was die Bürger noch zu akzeptieren bereit sind, würde das Ausmaß der Bewertungsdiskrepanz aber wohl überschätzen. Für die Präventionswertung im Rahmen der sog. Spielraumtheorie wäre unter dem Aspekt der positiven Generalprävention – sofern man von deren Wirksamkeit ausgeht – daher folgende Konsequenz zu ziehen: Es ist nicht nur die Verhängung schuldunterschreitender Strafen sondern womöglich auch die Verhängung von Strafen am unteren Ende des Schuldangemessenen252 nicht geeignet die notwendige präventive Wirkung zu erreichen. Denn je niedriger die Strafe, desto eher wird die Allgemeinheit in ihrer geringeren Bewertung der Strafwürdigkeit des Delikts bestätigt. Unter dem Aspekt positiver Generalprävention wäre dann die Strafe wohl zumindest aus der Mitte des „Spielraums“ zu entnehmen.
III. Relativierungen generalpräventiver Wirkung Die generalpräventive Wirksamkeit des Steuerstrafrechts wird durch verschiedene Faktoren relativiert. Einige dieser Faktoren haben ihre Ursache im Normativen, andere im Faktischen. 1. § 371 AO Die strafbefreiende Selbstanzeige eröffnet dem Täter die Möglichkeit, trotz Vollendung der Tat Straffreiheit zu erlangen. Damit wird zum einen die abschreckende Wirkung des § 370 AO relativiert. Der Täter trägt nicht mehr das sog. Vollendungsrisiko, sondern letztlich nur noch das Entdeckungsrisiko.253 In das Kalkül einer Abwägung zwischen Vorteilen der Tatbegehung und möglichen Nachteilen wird er einbeziehen, dass er durch Schadenswiedergutmachung zu jedem Zeitpunkt bis zur ihm bekannt gewordenen Entdeckung der Tat noch vollkommene Straffreiheit erlangen kann. Der Täter kann daher noch lange Zeit nach der Tatbegehung auf ein verändertes Entde250 Streng,
Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 66. 2. Kapitel, B., II. 252 Viel hängt hierbei ersichtlich davon ab, wie weit man den Rahmen des Schuldangemessenen zieht, s. hierzu Hörnle, Tatproportionale Strafzumessung, S. 27. 253 Hoffschmidt, Rechtfertigung Selbstanzeige, S. 185. 251 1. Teil,
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ckungsrisiko reagieren. Dieser Umstand muss sich vor allem aufgrund der Erkenntnis negativ auf die Präventionskraft des § 370 AO auswirken, dass die Abschreckung bei der Steuerhinterziehung in erster Linie über die subjektive Entdeckungswahrscheinlichkeit funktioniert. Weiß der Täter aber, dass er auf ein gesteigertes Entdeckungsrisiko jederzeit reagieren kann, wird er zur Begehung der Tat eher bereit sein als wenn ihm diese Möglichkeit mit Vollendung der Tat abgeschnitten ist. Auch die positiv generalpräventive Wirkung des § 370 AO wird durch die Selbstanzeigeregelung relativiert und zwar unabhängig davon welche Theorie man zur Begründung der Vorschrift vertritt.254 Das Gesetzesprivileg kann entweder nur auf eine gegenüber vergleichbaren Delikten geringere Bewertung der Sozialschädlichkeit und Strafwürdigkeit des Verhaltens zurückgeführt werden oder auf eine Einschränkbarkeit der Normbewährung zugunsten anderer Ziele. Auch in diesem Fall relativiert sich aber die in der Strafandrohung des § 370 AO enthaltene Aussage über die Strafwürdigkeit des Verhaltens. Als empirisches Indiz für die relativierende Wirkung der Selbstanzeigevorschrift können auch die Ergebnisse der Fores-Umfrage von 2014 gewertet werden. 62 % der Befragten mit einem hohen Steuermoralindex stimmten der Aussage zu, die Selbstanzeige gehöre abgeschafft, während bei den Befragten mit einem niedrigen Steuermoralindex nur 14 % dieser Ansicht waren.255 Die Richtigkeit des Rückschlusses, dass die Existenz der Vorschrift Ursache für eine verminderte Steuermoral und dass diese wiederum Ursache für eine erhöhte Deliktsbereitschaft ist, ist damit freilich noch nicht erbracht. Von der Unbewiesenheit der Herabsetzung der generalpräventiven Wirksamkeit des § 370 AO durch § 371 AO geht auch die Bundesregierung aus.256 Allerdings sind gerade die parallel zur steigenden Steuermoral kontinuierlichen Verschärfungen der Selbstanzeigevorschrift Anhaltspunkt dafür, dass der Gesetzgeber sich der relativierenden Wirkung der Norm sehr wohl bewusst ist. Vor allem für die jüngste Reformierung ist der Zusammenhang zur intensiv geführten öffentlichen Debatte über die Gerechtigkeit des Selbstanzeigeprivilegs, ausgelöst durch wiederholte Ankäufe von Steuer-CDs und medienwirksame Steuerstrafverfahren, kaum zu leugnen. Wenn Bundesregierung und Bundesrat als Ziel der Verschärfungen der Selbstanzeigeregelung angeben, die Steuerhinterziehung soll damit konsequent bekämpft werden,257 ist dies 254 Siehe
hierzu 1. Teil, 4. Kapitel. für empirische Sozialökonomik, Steuerkultur und Steuermoral in Deutschland 2014, S. 118. 256 Vgl. die Antwort auf eine kleine Anfrage im März 2014, BT-Drucks. XVIII/826, S. 2. 257 BT-Drucks. XVIII/3018; BR-Drucks. 431/14. 255 Forschungsstelle
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nur plausibel, soweit von einer Verbesserung der Präventionskraft der Strafandrohungsnorm ausgegangen wird. 2. Das Steuerrecht und sein Ruf Eine normativ bedingte Relativierung der positiv generalpräventiven Wirkung der Strafnorm des § 370 AO findet auch bei defizitärer Ausgestaltung der steuerrechtlichen Anknüpfungssachverhalte statt. Ungerechte Steuern werden ungerne bezahlt, auch wenn dies unter Strafe steht.258 Es lohnt sich insoweit den funktionellen Zusammenhang des Rechtsguts der Steuerhinterziehung zu vergegenwärtigen. Es geht bei der Mehrung des Staatsvermögens durch Besteuerung darum, eine gesellschaftlich gerechte Lastenverteilung zu erreichen. Nur solange und soweit das Besteuerungssystem zur Erfüllung dieser Aufgabe geeignet ist, vermag eine Strafnorm im Wege der positiven Generalprävention hierzu einen Beitrag zu leisten.259 Die Normierung eines gerechten Steuersystems ist allerdings nur der erste Schritt. Hinzukommen muss, dass das Steuersystem auch als gerecht wahrgenommen wird. Auch das gerechteste Steuersystem wird Einbußen in der generalpräventiven Wirksamkeit der schützenden Strafnorm hinzunehmen haben, wenn es – aus welchen Gründen auch immer – als ungerecht empfunden wird. Die Studien der Fores zeigen insofern erhebliches Verbesserungspotenzial in Deutschland auf. So stimmen 2014 20 % der Aussage zu, die Ungerechtigkeit der Steuergesetze legitimere die Hinterziehung.260 Dieser Wert lag in der Vergangenheit allerdings deutlich höher. So waren 2008 noch 48 % und 1999 sogar 69 % der Befragten dieser Ansicht. Diese Entwicklung erstaunt umso mehr vor dem Hintergrund, dass sich die Steuermentalität seitdem verschlechtert hat. Die subjektive Steuerbelastung hat 2014 seit Ende der achtziger Jahre einen neuen Höchststand erreicht: 85 % halten ihre Steuern für zu hoch.261 Zum Besteuerungssystem als solchem befragt, ergibt sich ein ähnlicher Wert: Nur 15 % halten die Besteuerung in Deutschland für „im Großen und Ganzen eher gerecht“.262 Zudem ist das relative Steuerbelastungsgefühl gestiegen. Fast drei Viertel der Bürger sind 2014 davon über258 Zum Gerechtigkeitsgefühl der Bürger und deren Einflussfaktoren ausführlich Klein, Steuermoral und Steuerrecht, S. 90 ff., 100 ff. 259 Kritisch unter diesem Gesichtspunkt Böneker, in: Menne/Dreßler, Schwarzbuch Wirtschaftskriminalität, S. 70 (71 f.). 260 S. o. 1. Teil, 2. Kapitel, B., II., 3. 261 Forschungsstelle für empirische Sozialökonomik, Steuerkultur und Steuermoral in Deutschland 2014, S. 67. 262 Forschungsstelle für empirische Sozialökonomik, Steuerkultur und Steuermoral in Deutschland 2014, S. 63.
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zeugt, dass sie im Vergleich mit anderen zu viele Steuern bezahlen.263 Die Menschen halten das Steuersystem also für noch ungerechter, sind gleichzeitig aber weniger bereit die Ungerechtigkeit als Rechtfertigung für die Steuerhinterziehung heranzuziehen. Darin zeigt sich erneut die erhebliche Steigerung, die die moralische Verbindlichkeit der Norm an sich in der öffentlichen Wahrnehmung erfahren hat. 3. Steuerverschwendung Nur bedingt durch normative Setzung zu beeinflussen ist die sinnvolle Verwendung des durch Steuern generierten Staatsvermögens.264 Dass auch dies ein die positiv generalpräventive Wirksamkeit des § 370 AO relativierender Faktor sein kann, wird wiederum deutlich vor dem funktionellen Hintergrund des Rechtsguts der Norm. Die Gerechtigkeit der Lastenverteilung hängt nicht nur von der relativ gerechten Verteilung auf die Mitglieder der Gesellschaft ab, sondern auch von der absolut gerechten Höhe der zu verteilenden Last. Eine in der Höhe ungerechte Steuerlast bleibt ungerecht, auch wenn sie gerecht verteilt wird.265 Kann der Bürger nicht erwarten, dass der von ihm zu erbringende Beitrag in gerechter Weise und überhaupt zur Erfüllung der staatlichen Aufgaben verwendet wird, wird seine Akzeptanz für die Erbringung seiner Leistungspflicht zu Recht sinken. Diesen Zusammenhang belegen auch die Studien der Fores. 52 % der Befragten stimmen 2014 der These zu, dass die Hinterziehung des „kleinen Mannes“ im Vergleich zur öffentlichen Verschwendung relativ unbedeutend sei.266 Der Wert ist gegenüber 2008 (62 %) und 1999 (76 %) allerdings deutlich gesunken. Dies obwohl das Problem der öffentlichen Verschwendung als gravierender empfunden wird: 95 % der Befragten sind der Ansicht, dass der Staat viel zu verschwenderisch mit dem ihm anvertrauten Geld umgeht – 2008 waren 91,8 % dieser Meinung.267 Und 85 % sind 2014 gegenüber 80 % im Jahr 2008 der Ansicht, dass Steuerehrlichkeit „von niemandem honoriert“ 263 Forschungsstelle für empirische Sozialökonomik, Ausgewählte Ergebnisse, Einl. S. 2. 264 Lesenswert: Bund der Steuerzahler e. V., 43. Schwarzbuch des Bundes der Steuerzahler – Die öffentliche Verschwendung 2015, abrufbar unter: [Stand: 31.07.2016]. 265 Vgl. BVerfGE 91, 186 (202): Die Vollständigkeit des Haushaltsplans ist ein Verfassungs-grundsatz, weil sie „den fundamentalen Grundsatz der Gleichheit der Bürger bei der Auferlegung öffentlicher Lasten“ aktualisiert. 266 S. o. Fn. 191. 267 Forschungsstelle für empirische Sozialökonomik, Ausgewählte Ergebnisse, S. 6.
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werde.268 Die Bereitschaft, die Steuerverschwendung zur Rechtfertigung von Steuerhinterziehungen heranzuziehen, hat in den letzten Jahren damit trotz verschärfter Wahrnehmung des Problems abgenommen. Auch hierin kommt die erhebliche Steigerung, die die moralische Verbindlichkeit der Norm an sich in der öffentlichen Wahrnehmung erfahren hat, zum Ausdruck. 4. Das Deliktsdunkelfeld Für Steuerdelikte wird einhellig von einem verhältnismäßig großen Deliktsdunkelfeld ausgegangen.269 Dies hat seine Ursachen in der besonderen Schwierigkeit der Aufklärung von Steuerstraftaten, was teilweise zur Einschätzung eines „dauernden Notstandes des Staates“ geführt hat.270 Das große Deliktsdunkelfeld ist aus generalpräventiver Sicht unproblematisch, solange die Bevölkerung darüber nicht richtig informiert ist.271 Die verbreitete Vorstellung eines großen Deliktsdunkelfelds bewirkt allerdings eine Relativierung sowohl der positiv als auch der negativ generalpräventiven Wirkung des § 370 AO.272 Eine Strafvorschrift deren Zuwiderhandlung weitestgehend ungeahndet bleibt, wirkt wenig abschreckend. Auch zur Einübung der Normtreue vermögen die Strafdrohung und deren punktuelle Durchsetzung schlechter beizutragen, wenn von einer weitgehend ungestraften Nichtbeachtung der Norm auszugehen ist. Gerade im Bereich der Steuerhinterziehung besteht weitgehend Kenntnis des „Notstands des Staates“ und der Ubiquität der Deliktsbegehung. Dies belegen verschiedene Studien. Auf die Frage der Stiftung Marktwirtschaft nach dem vermuteten Entdeckungsrisiko antworteten über 50 % „ziemlich klein“ oder „sehr klein“.273 In der Allbus 2000 wurde nach der Entdeckungswahrscheinlichkeit gefragt, wenn bei der Einkommensteuererklärung oder 268 Forschungsstelle für empirische Sozialökonomik, Steuerkultur und Steuermoral in Deutschland 2014, S. 64 f. 269 So geht u. a. Streck, BB 1984, 2205 m. w. N. davon aus, dass etwa 90 % der Bevölkerung Steuern hinterziehen. Was den durch Steuerhinterziehung jährlich verursachten Steuerschaden in Deutschland anbelangt, belaufen sich die Schätzungen auf Werte zwischen 100 Mrd. € (so Unger von der Hans Böckler Stiftung, abrufbar unter: [Stand: 31.07.2016]) und 215 Mrd. € (Murphy, The Cost of Tax Abuse, abrufbar unter: [Stand: 31.07.2016]). 270 Firnhaber, Die strafbefreiende Selbstanzeige im Steuerrecht, S. 22; Löffler, Selbstanzeige, S. 23. 271 Popitz, Über die Präventivwirkung des Nichtwissens, S. 9 ff., 20. 272 Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 50. 273 Feld/Schneider, Steuerunehrlichkeit, S. 4. Weitere Antwortmöglichkeiten waren „sehr groß“ (11,5 %) und „ziemlich groß“ (36,81 %).
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beim Lohnsteuerjahresausgleich falsche Angaben gemacht werden. Es antworteten 10,44 % „sehr unwahrscheinlich, 22,39 % „eher unwahrscheinlich“, 25,16 % „ungefähr 50 zu 50“, 24,74 % „eher wahrscheinlich“ und 17,28 % „sehr wahrscheinlich“.274 Damit wird das Risiko etwas höher eingeschätzt als noch in der Studie von 1990. Ähnliche Ergebnisse ergaben auch die Umfragen der Fores. In der Studie von 1997 meinten 41 % der Befragten, dass weniger als 20 % der Steuerhinterziehungen aufgedeckt werden, weitere 30 % der Befragten sehen die Aufklärungsquote bei 20–40 %.275 Die Bürger gehen jedoch nicht nur von einer geringen Entdeckungswahrscheinlichkeit, sondern auch von einer weiten Verbreitung der Steuerhinterziehung aus. 2014 stimmten 38 % der Befragten der Aussage zu: „Heutzutage hinterzieht jeder Steuern – der eine mehr, der andere weniger“.276 In der EVS-Welle von 1999 wurden die Befragten gefragt wie viele Deutsche „Steuern hinterziehen, wenn man die Möglichkeit hat“. Es antworteten 12 % „so gut wie alle“, 48,9 % „viele“, 36,1 % „einige“ und nur 3,1 % „so gut wie niemand“.277 Auch wenn zu berücksichtigen ist, dass diese Zahlen sicherlich auch delinquentes Verhalten im Bagatellbereich also unterhalb der Strafbarkeitsschwelle betreffen, verdeutlichen sie zweifelsfrei, dass den Bürgern die Schwierigkeiten der Feststellung von Steuerhinterziehungen bewusst sind und sie infolge dessen auch von einem großen Deliktsdunkelfeld ausgehen. Dass die Vorstellung der Ubiquität der Steuerhinterziehung die positiv generalpräventive Wirkung der Norm relativiert, indizieren auch die Ergebnisse einiger Studien, die diese Vorstellung in Zusammenhang mit der Steuermoral setzen. Die Berechnungen des Instituts für angewandte Wirtschaftsforschung (IAW) anhand der Primärdaten der EVS zeigen, dass im internationalen Vergleich, die Bürger Steuerhinterziehung für umso weniger schlimm erachten, je stärker sie davon ausgehen, dass ihre Mitbürger Steuern hinterziehen.278 Und der in den Studien der Fores formulierten These: Wenn „so viele andere 274 GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften (2014): Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften ALLBUS – Kumulation 1980–2012. GESIS Datenarchiv, Köln. ZA4578 Datenfile Version 1.0.0. 275 Forschungsstelle für empirische Sozialökonomik, Steuermentalität und Steuermoral der bundesdeutschen Bevölkerung und deren Einstellungen zur Steuerreform 1997. 276 Forschungsstelle für empirische Sozialökonomik, Steuerkultur und Steuermoral in Deutschland 2014, S. 105. 277 European Values Study 1981–2008 Longitudinal Data File, EVS (2011), GESIS Data Archive, Cologne, Germany, ZA4804 Data File Version 2.0.0 (2011-12-30), abrufbar unter: [Stand: 31.07.2016]. 278 Strotmann/Körner, in: Bundesministerium der Finanzen, BMF Monatsbericht März 2005, S. 49 (53).
3. Kap.: Präventive Strafzwecke im Steuerstrafrecht91
Steuern hinterziehen, ist der ehrliche Steuerzahler letztlich der Dumme“ stimmten im Jahr 2008 45 % der Befragten zu.279 Die Vorstellung der großen Verbreitung der Steuerhinterziehung führt nicht nur zur Senkung der eigenen Steuermoral, sondern sogar soweit, dass die Nichtbegehung der Straftat mit Spott belegt wird. So ist im Jahr 2008 eine relative Mehrheit von 38 % der Deutschen der Auffassung, wer nicht mogelt, verdient nur Mitleid.280 Im Jahr 2014 ist auch in Bezug auf diese Einstellungen eine Verbesserung zu verzeichnen: Nur noch 19 % halten den Ehrlichen für den Dummen und nur noch 30 % haben mit ihm Mitleid.281 Dieser Rückgang kann anders als die übrigen Relativierungen der positiv generalpräventiven Wirkung des § 370 AO wohl aber zumindest auch auf den Rückgang des zugrundeliegenden Parameters (also hier der Vorstellung über die Ubiquität der Steuerhinterziehung) zurückgeführt werden. Hierzu dürften im Zeitraum zwischen 2008 und 2014 entscheidend die Ankäufe von Steuer CDs282 und die anschließenden Wellen von Selbstanzeigen beigetragen haben. 5. Zwischenergebnis Der Abschreckungsidee kommt für das Delikt der Steuerhinterziehung eine messbare Wirkung zu. Ob eine Strafschärfung im Rahmen des Schuldangemessenen ebenfalls wirksam ist, konnte nicht festgestellt werden. Die Ergebnisse entsprechender Studien deuten eher darauf hin, dass eine solche Wirkung nicht besteht. Die Abschreckungswirkung geht vorwiegend von der subjektiven Entdeckungswahrscheinlichkeit aus. Ein eindeutiger Zusammenhang ließ sich nachweisen zwischen Steuermoral und Deliktsbereitschaft, auch wenn dies freilich kein Nachweis für die Wirksamkeit positiver Generalprävention ist. Dies zeigt zugleich wo die kriminalpolitischen Potenziale zur Prävention liegen: einerseits in der Erhöhung des (subjektiven) Entdeckungsrisikos, andererseits in der Steigerung der Steuermoral. Angesetzt werden könnte aber auch an den Relativierungen der generalpräventiven Wirkung durch die allgemeine Vorstellung eines großen Deliktsdunkelfelds sowie der Selbstanzeigevorschrift.
279 Forschungsstelle für empirische Sozialökonomik, Steuerkultur und Steuermoral in Deutschland 2014, S. 86. 280 Franzen, Steuermoral und Steuerhinterziehung, S. 21. 281 Forschungsstelle für empirische Sozialökonomik, Steuerkultur und Steuermoral in Deutschland 2014, S. 86. 282 Seit 2009 wurden bundesweit insgesamt zehn Daten-CDs erworben, wie die Bundesregierung im März 2014 auf Anfrage mitteilte: drei im Jahr 2010, eine in 2011, vier in 2012 und zwei in 2013, BT-Drucksache 18/826, S. 8 f.
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1. Teil: Schuldprinzip und Strafzwecke im Steuerstrafrecht
C. Das Antinomieproblem Die vorstehende Betrachtung der Präventionszwecke macht deutlich: Spezialpräventiv besteht bei Steuerhinterziehern regelmäßig ein geringes Strafbedürfnis. Gleichzeitig bestehen zur Bekämpfung der Bewertung der Steuerhinterziehung als „Kavaliersdelikt“ besondere generalpräventive Bedürfnisse. Es zeichnet sich daher unausweichlich das herkömmliche Antinomieproblem zwischen positiver Spezialprävention und Generalprävention ab. Es wird hierauf vor allem in den Phasen der Strafzumessungsentscheidung, in denen den Präventionsbedürfnissen Rechnung getragen wird, zurückzukommen sein. 4. Kapitel
Die Wertung des § 371 AO: Relevanz von „außerstrafrechtlichen“ Zwecküberlegungen? Die Möglichkeit der Selbstanzeige enthält für den Steuerhinterzieher ein besonderes Privileg. Er kann – unabhängig von der Schwere der Tatbegehung – durch Wiedergutmachung Straffreiheit erlangen, sei es durch vollkommene Strafaufhebung im unteren Schwerebereich (weniger als 25.000 €) gem. § 371 Abs. 1 S. 1 AO, oder sei es durch zusätzliche Zahlung einer Geldbuße in schwerwiegenderen Fällen gem. § 398a Abs. 1 AO. Das entsprechende Nachtatverhalten würde aber auch ohne dieses besondere, der eigentlichen Strafzumessung vorgelagerte Privileg im Rahmen der Strafzumessung honoriert werden.283 Daher stellt sich die Frage, ob dem Privileg der (strafbefreienden) Selbstanzeige eine gesetzliche Wertung zu entnehmen ist, die bei der Strafzumessung zu berücksichtigen ist. Die Beantwortung dieser Frage hängt entscheidend von dem Vorverständnis der Selbstanzeigevorschrift ab. Je nachdem worin man den Grund der Straflosigkeit in den Fällen der Selbstanzeige erblickt, sind unterschiedliche Rückschlüsse auf die Strafzumessung denkbar. Dabei kann es im Folgenden nicht darum gehen das Für und Wider der einzelnen Theorien zur Ratio Legis der Selbstanzeige und naheliegenderweise in diesem Zusammenhang auch zur Ratio Legis des Rücktritts ausführlich darzustellen und zu bewerten.284 Es soll vielmehr der Frage nachgegangen werden, welche Wertungen für die Strafzumessung den jeweiligen Verständnissen der Selbstanzeigevorschrift zu entnehmen ist. 283 Zu einem solchen Ansatz des Hinwegdenkens der Strafaufhebungsvorschrift MünchKomm/Herzberg/Hoffmann-Holland, § 24 StGB, Rn. 9 f. 284 Siehe hierzu etwa Hoffschmidt, Über die Rechtfertigung der strafbefreienden Selbstanzeige, S. 42 ff., 134 ff.; Löffler, Selbstanzeige, passim.
4. Kap.: Die Wertung des § 371 AO
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A. Strafzwecktheorie: Die Selbstanzeigevorschrift als spezielle Strafzumessungsregelung? Zum einen wird der Grund für das Selbstanzeigeprivileg ausschließlich in einer hinreichenden Befriedigung der Strafzwecke gesehen. Dieselbe Sichtweise findet sich auch bei der parallelen Diskussion zur Ratio Legis des Rücktritts.285 Spezial- und generalpräventive Bedürfnisse bestünden nicht mehr, da der Täter in die Legalität zurückgekehrt ist und sich so als rechts treu erwiesen hat. Auch ein Schuldausgleich sei überflüssig, da der Täter die Schuld wiedergutgemacht oder ausgeglichen hat.286 Die Rechtsfolge der Straffreiheit wäre bei einem solchen Verständnis dann der konkrete gesetzgeberische Ausdruck der Bewertung eines bestimmten Verhaltens (inklusive Nachtatverhalten) im Hinblick auf dessen Strafbedürftigkeit287. Die Straflosigkeit findet ihren Grund dann in denselben Erwägungen, die in anderen (strafbedürftigen) Fällen der Steuerhinterziehung die Strafe legitimieren. Die getroffene gesetzgeberische Wertung im Falle des § 371 AO wäre dann: Das in § 371 AO beschriebene Nachtatverhalten führt dazu, dass die eigentlich in einer bestimmten Höhe zu verhängende Strafe nicht mehr erforderlich ist. Es ließe sich anhand des im Tatbestand der Selbstanzeige phänomenologisch konkret beschriebenen wiedergutmachenden Nachtatverhaltens genau untersuchen, welche Auswirkungen auf welche normativen Kategorien der Gesetzgeber als besonders gewichtig bewertet, so dass sich der Rechtsanwender in der Strafzumessung an dieser gesetzlichen Vorwertung orientieren könnte.288 Eine solche direkte Wertungsübernahme für die Strafzumessung setzt allerdings darüber hinaus voraus, dass die Berücksichtigung der Strafzwecke in demselben inneren Beziehungs- und Gewichtungsverhältnis erfolgt wie dies im Rahmen der Strafzumessung der Fall ist.289 Anders formuliert: § 371 AO müsste sich letztlich als gesetzliche Strafzumessungsvorschrift darstellen. Nur dann lässt sich dem in § 371 AO beschriebenen Nachtatverhalten eine gesetzgeberische Wertung für die Strafzumessung sonstigen Nachtatverhaltens im oben beschriebenen Sinne entnehmen. 285 Vgl.
MünchKomm/Herzberg/Hoffmann-Holland, § 24 StGB, Rn. 8 ff. § 24 StGB, Rn. 32 m. w. N. 287 Zum Begriff s. Fn. 166. 288 Zur Bewertung von Strafzumessungsumständen anhand ihrer Auswirkung auf normative Kategorien, s. u. 2. Teil, 2. Kapitel, A., III. 289 Freilich ist hier – schon aufgrund der unterschiedlichen Strafzweckkonzepte – vieles im Streit. Bereits das von der herrschenden Meinung mit den Vereinigungslehren und der darauf aufbauenden Spielraumtheorie proklamierte hierarchische Verhältnis (Stichwort: Prävention im Rahmen der Repression) kann nur für die obere Grenze des „Rahmens“ als konsentiert gelten, s. o. 1. Teil, 1. Kapitel, C. 286 MünchKomm/Herzberg/Hoffmann-Holland,
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1. Teil: Schuldprinzip und Strafzwecke im Steuerstrafrecht
Gegen ein solches Verständnis des § 371 AO als spezielle gesetzliche Strafzumessungsvorschrift könnte zunächst ganz formal die abweichende Rechtsfolge sprechen. Die Selbstanzeige führt nicht lediglich zur Reduzierung der Strafe auf null, sondern vielmehr zu einer Strafaufhebung oder einem Strafverfolgungshindernis. Jedoch stellen die unterschiedlichen gesetzgeberischen Ausgestaltungen der Gewährung von Straflosigkeit in Form von Strafaufhebungs- und Strafausschließungsgründen, Strafverzicht oder über prozessuale Wege (§ 153 ff. StPO, Privatklageverfahren) kein in sich kohärentes System dar. Gemeinsam ist allen Fällen lediglich, dass ein Strafbedürfnis aus dem einen oder anderen Grund nicht mehr gegeben ist. So wird etwa das Privileg der Strafaufhebung in den Fällen des Rücktritts überwiegend mit einer besonderen Nähe zur Tat begründet, während diese bei sonstigem Nachtatverhalten nicht mehr gegeben ist und daher in diesen Fällen nur noch ein bestehendes Strafbedürfnis gemildert werden könnte.290 Zwar ist das verletzte Rechtsgutsobjekt der Steuerhinterziehung vollständig reparabel. Eine besondere Nähe zur Tat ist bei der Selbstanzeige dennoch nicht mehr gegeben und hängt schon gar nicht von der Schwere der Tatbegehung ab, wie man aus der Regelung des § 371 Abs. 2 Nr. 3 AO dann zu folgern hätte. Angesichts der Inkonsistenzen des Systems der Vorschriften, die auf eine Straflosigkeit des Täters hinauslaufen, ist die Tatsache, dass § 371 AO keine originäre Strafzumessungsvorschrift ist, lediglich ein Indiz dafür, dass sich die Maßstäbe der Strafbedürftigkeit hier an anderen Zwecküberlegungen orientieren. Gegen das Verständnis als spezielle Strafzumessungsvorschrift spricht jedoch – ganz ähnlich wie bei der parallelen Diskussion zum Rücktritt291 – dass dies für bestimmte, von der Formulierung des Gesetzes erfasste Einzelfälle mit den herkömmlichen Bewertungen der Strafbedürftigkeit auf dieser Ebene nur schwer zu vereinbaren wäre. Während man beim Rücktritt glaubt, diesem Umstand mit einer entsprechend engen Auslegung des Merkmals der Freiwilligkeit begegnen zu können, ist dieser Weg für die strafbefreiende Selbstanzeige vom Gesetzgeber (bewusst)292 nicht eröffnet worden. Es sei hier nur an den Steuerhinterzieher gedacht, dessen Tat bereits entdeckt ist, ohne dass er dies wissen müsste, und der dennoch aus bloßem Kalkül, weil er mit der sicheren Entdeckung und mit der damit einhergehenden zwangsweisen Entrichtung der Steuerschuld rechnet – und nicht etwa aus Reue oder Schuldeinsicht – seinen steuerlichen Erklärungs- und Zahlungspflichten nachkommt. Ein solches Nachtatverhalten hat nach den herkömmlichen Maßstäben als Geständnis und Schadenswiedergutmachung weder unter dem 290 MünchKomm/Herzberg/Hoffmann-Holland,
§ 24 StGB, Rn. 2. insoweit kritisch Jakobs, ZStW 104 (1992), S. 82 ff. (89 ff., 98 ff.). 292 Joecks/Jäger/Randt/Joecks, § 371 AO, Rn. 19. 291 Vgl.
4. Kap.: Die Wertung des § 371 AO95
Aspekt (der nachträglichen Aufhebung) des Erfolgsunrechts noch unter dem Aspekt des Handlungsunrechts besonderen Wert.293 Würde man diese gesetzgeberische Wertung in die Strafzumessung übertragen, müssten konsequenterweise eine Vielzahl von Fallgestaltungen, die im Nachtatverhalten die Voraussetzung einer wirksamen Selbstanzeige nicht erfüllen, aber dennoch in ihren mildernden Auswirkungen auf diese normativen Kategorien höher zu bewerten sind, a fortiori ebenfalls mit Straffreiheit bedacht werden. Dass die Gerichte in solchen Fällen nicht selten zu Recht anders judizieren,294 lässt Zweifel an der Übertragbarkeit einer entsprechenden Wertung aufkommen. Der Vergleich mit den Maßstäben der Bewertung eines solchen Nachtatverhaltens bei anderen Delikten mehrt diese Zweifel noch. Man stelle sich einmal einen Betrugsfall vor, bei dem der Täter sein Opfer um mehrere Millionen € erleichtert hat, dessen Tat bereits entdeckt ist und der kurz vor Festnahme die Tat offenbart und den Vermögensschaden wiedergutmacht, weil er ohnehin damit rechnet den Schaden in Kürze ersetzen zu müssen und hofft so seine Strafe wenigstens mildern zu können. Ein solcher Täter könnte wohl kaum mit einem Strafverzicht oder gar einer Einstellung des Verfahrens gegen Auflage rechnen. Geht man mit dem Gesetzgeber und BGH von einer nicht geringeren Strafwürdigkeit der Steuerhinterziehung aus,295 ist der Schluss naheliegend, dass auch in entsprechenden Fällen der Steuerhinterziehung noch Strafbedürftigkeit nach den in der Strafzumessung geltenden Maßstäben besteht. Die fehlende Strafbedürftigkeit in Fällen der Selbstanzeige muss sich dann anhand abweichender Maßstäbe bestimmen oder es wird aus sonstigen („außerstrafrechtlichen“) Zwecken auf ein bestehendes Strafbedürfnis verzichtet. In beiden Konstellationen wäre die Selbstanzeige dann Ausdruck einer gegenüber der Strafzumessung andersartigen Zwecksetzung. Es gilt zu klären, inwieweit eine solche besondere Zwecksetzung eine Wertung enthält, die auch in der Strafzumessung berücksichtigt werden kann.
293 Ausführlich
hierzu 3. Teil, 5. Kapitel. ist etwa der bekannte Fall Hoeneß (Urteil abrufbar unter: [Stand: 31.07.2016]): hier war die Selbstanzeige zwar unwirksam, da der Angeklagte damit rechnen musste, dass die Tat bereits entdeckt war. Das spätere, ausführlichere Geständnis des Angeklagten zeugte jedoch von Reue und Schuldeinsicht und führte darüber hinaus dazu, dass die Tat in einem nicht unerheblichen Maße zusätzlich aufgeklärt und wiedergutgemacht werden konnte. Freilich ist eine solche Argumentation mit Vergleichsfällen in gewisser Weise immer dem Vorwurf des Zirkelschlusses ausgesetzt, da das, was vorausgesetzt wird – nämlich die stärker mildernde Wirkung des Vergleichsverhaltens auf die normativen Kategorien – ja gerade zu beweisen wäre. 295 Siehe 1. Teil, 2. Kapitel, B., I., 1., b), 4., b). 294 Beispielhaft
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1. Teil: Schuldprinzip und Strafzwecke im Steuerstrafrecht
B. Die Selbstanzeigevorschrift als Ausdruck besonderer Zwecksetzung Von den Überlegungen zum Zweck der Selbstanzeigevorschrift sind vor allem zwei Ansätze in diesem Zusammenhang zu nennen: zum einen die „Ermöglichung der Rückkehr in die Steuerehrlichkeit“, zum anderen die sogenannte „Fiskaltheorie“.
I. Die Ermöglichung der „Rückkehr in die Steuerehrlichkeit“ – spezialoder generalpräventive Schwerpunktsetzung? Allgemein anerkannt ist, dass der Selbstanzeige zumindest auch die kriminalpolitische Funktion zukommt, dem Steuersünder die „Rückkehr in die Steuerehrlichkeit“ zu ermöglichen.296 Die Figur macht damit deutliche Anleihen bei der Rücktritts-Theorie Feuerbachs, die später zur Theorie von der „goldenen Brücke“ weiterentwickelt wurde. „Läßt der Staat den Menschen nicht ungestraft die schon unternommene That bereuen, so nöthigt er gewissermaßen, das Verbrechen zu vollenden. Denn der Unglückliche, der sich zu einem Versuche fortreißen ließ, weiß ja sonst, dass er schon Strafe verschuldet hat, dass er nichts Großes mehr durch Reue zu gewinnen und durch Vollendung der That nichts Bedeutendes mehr zu verlieren hat“.297
Der Nötigungsgedanke298 dieser Theorie sei in bestimmten Konstellationen der Steuerhinterziehung besonders ausgeprägt. Mehr noch als beim Rücktritt sei es dem Steuerstraftäter in manchen Fällen nicht möglich, einfach auf die Fortführung der strafbaren Handlung zu verzichten.299 So könne angesichts der Kontrollmechanismen in der Finanzbehörde etwa derjenige, der bislang ein eher bescheidenes Einkommen erklärt hatte, Kapitalerträge aus unversteuerten Honoraren nicht ordnungsgemäß erklären, ohne dass von Seiten der Finanzverwaltung die bereits begangene Verkürzung entdeckt würde.300 Wer die Quelle der Erträge dem Finanzamt nicht offenbart hat, sei gezwungen, künftig die Erträge dieser Quelle dem Finanzamt zu verschwei296 Joecks/Jäger/Randt/Joecks, § 371 Rn. 28 ff.; Kohlmann/Schauf, § 371 Rn. 40; Hübschmann/Hepp/Spitaler/Beckemper, § 371 AO, Rn. 19. 297 v. Feuerbach, Kritik, S. 102 f.; zur Metapher der „goldenen Brücke“ vgl. die Nachweise bei Ulsenheimer, Grundfragen des Rücktritts vom Versuch, S. 42 f. 298 Zur Kritik hieran vgl. nur MünchKomm/Herzberg/Hoffmann-Holland, § 24 StGB, Rn. 25. 299 Löffler, Selbstanzeige, S. 69. 300 Joecks/Jäger/Randt/Joecks, § 371 Rn. 31; Löffler, Selbstanzeige, S. 69.
4. Kap.: Die Wertung des § 371 AO
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gen, will er sich nicht mit einer wahrheitsgemäßen Erklärung selbst belasten. Der Grundsatz der Bilanzkontinuität zwinge den Steuerpflichtigen damit, entweder seine Straftat zu offenbaren oder das strafbare Verhalten fortzusetzen.301 In dieser Situation könne der Gesetzgeber der verfassungsrechtlich garantierten Selbstbelastungsfreiheit entweder durch ein Verwertungs- oder gar Verwendungsverbot Rechnung tragen oder aber schlicht darauf verzichten, in diesen Fällen die Nichterfüllung von Erklärungspflichten zu sanktionieren.302 Mit der strafbefreienden Selbstanzeige habe er sich für letzteres entschieden. Allerdings wird der Anwendungsbereich solcher Konstellationen des nemo tenetur über den Grundsatz der Bilanzkontinuität überschätzt. So ist niemand gezwungen aus einmal verheimlichten Steuerquellen weitere Kapitalerträge zu erwirtschaften, die ihn dann erst zu einer erneuten Steuerhinterziehung zwingen. Für die große Mehrheit der Hinterziehungsfälle, die nicht im Anwendungsbereich des nemo tenetur-Grundsatzes liegen, gilt die strafbefreiende Selbstanzeige ebenfalls. Hier bleibt vom Gedanken der „goldenen Brücke“ lediglich der (erhoffte) Anreizeffekt zur Nichtbegehung weiterer Steuerstraftaten durch Gewährung von Straffreiheit und „Rückkehr in die Steuerehrlichkeit“ übrig. Dieser Anreizeffekt und welche Wertung ihm entnommen werden kann, wird sogleich näher zu untersuchen sein. Er wird auch im Rahmen der sog. Fiskaltheorie in Bezug auf die Wiedergutmachung des bereits eingetretenen Steuerschadens geltend gemacht. Zunächst ist festzuhalten: Die Ermöglichung der „Rückkehr in die Steuerehrlichkeit“ ist, soweit sie auf die Verhinderung eines weiteren Schadens durch den Steuerstraftäter gerichtet ist, eine spezialpräventive Zwecksetzung. Damit wäre die Begründung der Straffreiheit auch nicht außerhalb des Kanons der gängigen Strafzwecke gegeben, ihr läge lediglich eine abweichende innere Gewichtung (Schwerpunkt auf der Spezialprävention) zu Grunde. Eine Übertragung dieser Wertung in die Strafzumessung ist jedoch nicht möglich. Denn der Rechtsanwender ist verfassungsrechtlich mit dem Schuldprinzip an einen anderen Anknüpfungssachverhalt als die Gefährlichkeit des Täters und damit auch an eine andere Schwerpunktsetzung gebunden.303 Allenfalls denkbar wäre der Spezialprävention in dem Rahmen, in dem sie berücksichtigt werden kann, eine stärkere Bedeutung zukommen zu lassen. Doch verfolgt die Selbstanzeige mit dem beabsichtigten Anreizeffekt Spezialprävention in einer ganz bestimmten Ausprägung. Ein genereller Rück301 Terstegen, Steuer-Strafrecht, S. 119 ff.; ebenso Firnhaber, Die strafbefreiende Selbstanzeige, S. 35; Hoffschmidt, Über die Rechtfertigung der strafbefreienden Selbstanzeige, S. 119 ff.; Joecks/Jäger/Randt/Joecks, § 371 Rn. 31. 302 Joecks/Jäger/Randt/Joecks, § 371 Rn. 31. 303 S. o. 1. Teil, 1. Kapitel.
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1. Teil: Schuldprinzip und Strafzwecke im Steuerstrafrecht
schluss auf die Relevanz der Spezialprävention pauschaliert die unterschiedlichen Ansätze zur Spezialprävention. Eine Wertung kann allenfalls für den konkreten Ansatz der Spezialprävention entnommen werden. Die „Rückkehr in die Steuerehrlichkeit“ ist dabei ein resozialisierender Ansatz der Spezialprävention. Indem dem Täter der Weg zurück in die Legalität bereitet wird, sollen künftige Straftaten vermieden werden. Ihn durch Bestrafung als Kriminellen zu behandeln, ist diesem Ziel in aller Regel eher abträglich, weshalb – wie gezeigt – der positiven Spezialprävention vorwiegend straflimitierende Wirkung innerhalb der Strafzumessung zukommt. Erblickt man somit in der Ermöglichung der „Rückkehr in die Steuerehrlichkeit“ den maßgeblichen Grund für die Vorschrift der Selbstanzeige und beschränkt sich dabei nicht nur auf die Konstellationen, in denen die Selbstbelastungsfreiheit dieses Privileg ermöglicht, ist § 371 AO normativer Ausdruck einer positiv spezialpräventiven Zwecksetzung im Steuerstrafrecht. Jedoch erlaubt dies noch nicht den Rückschluss, dass auch innerhalb der Präventionswertung in der Strafzumessung diese Zwecksetzung besonderer Berücksichtigung bedarf. Denn zum einen hat die Selbstanzeigeregelung mit der „Rückkehr in die Steuerehrlichkeit“ lediglich die Verhinderung eines ganz bestimmten Schadens im Blick, während in der Strafzumessung unter spezialpräventiver Perspektive die Gefahr der künftigen Begehung einer Steuerhinterziehung durch den Täter ganz allgemein – nicht nur im Hinblick auf bilanzrechtlich geschuldete Folgetaten – zu beurteilen ist. Schwerer noch wiegt ein grundsätzlicher Einwand: Die Bedeutung präventiver Zwecke im Rahmen des Schuldstrafrechts sollte in erster Linie von deren tatsächlichen Wirksamkeit abhängig gemacht werden.304 Eben dies ist auch der Grund, weshalb aus der Selbstanzeigevorschrift keine gesetzgeberische Wertung für die besondere Berücksichtigung der Abschreckungsprävention bei der Strafzumessung übernommen werden kann. Denkbar wäre ein solcher Ansatz, wenn man mit der Fiskaltheorie einen Anreizeffekt in Bezug auf die Wiedergutmachung des bereits verursachten Steuerschadens annimmt. Das Versprechen der Straffreiheit für die Wiedergutmachung der Rechtsgutsverletzung korrespondiert mit der Strafandrohung vor Rechtsgutsverletzung. In beiden Fällen geht man von einem verhaltenssteuernden Effekt zum Schutz des konkreten Rechtsgutsobjekts aus. Nimmt der Gesetzgeber an, den Täter nach der Tat durch das Versprechen von Straffreiheit zur Wiedergutmachung der Tat motivieren zu können, muss er gleichermaßen davon ausgehen, dass bereits die Strafandrohung geeignet ist, ihn von der Tat abzuhalten. In diesem Sinne könnte aus der Selbstanzeige der Rückschluss auf die besondere Relevanz der Abschreckungsprävention gezo304 Vgl.
Nachweis in Fn. 221.
4. Kap.: Die Wertung des § 371 AO99
gen werden. Auch insoweit gilt jedoch, dass in erster Linie nicht normative Wertungen, sondern die empirische Realität über die präventive Wirksamkeit bestimmter Maßnahmen für deren Bedeutung im Rahmen des Schuldstrafrechts entscheidend sein kann. Gerade an der Wirksamkeit des beabsichtigten Anreizeffekts in der Praxis, kann aber gezweifelt werden, und zwar sowohl in Bezug auf die Prävention künftiger Taten als auch in Bezug auf die Wiedergutmachung bereits eingetretener Steuerschäden.305 Auch wenn eine verhaltenssteuernde Wirkung der Strafandrohung für das Delikt der Steuerhinterziehung nachweisbar ist, geht diese doch im Wesentlichen von der Entdeckungswahrscheinlichkeit und nicht von der Höhe der Strafe aus,306 sodass ein brauchbarer Rückschluss für die Strafhöhenbemessung gerade nicht möglich ist. Dass auch der Anreizeffekt der strafbefreienden Selbstanzeige hauptsächlich von der subjektiven Entdeckungswahrscheinlichkeit ausgeht, indizieren die auffälligen Wellen der Selbstanzeigen bei Ankäufen von Steuer-CDs durch den Staat oder medienpräsenter Begleitung von großen Steuerprozessen.307 Für die Übertragung einer entsprechenden Wertung in die Strafzumessung kommt erschwerend ein Weiteres hinzu: Der Anreizeffekt der Selbstanzeigevorschrift wirkt auf einer der Strafandrohung vergleichbaren Ebene. Bei der Strafzumessung befindet sich der Rechtsanwender hingegen auf der Ebene der Strafverhängung, die, was ihre präventive Wirksamkeit anbelangt, prinzipiell anderen Paradigmen unterliegt.308 Eine Zwitterstellung nimmt insoweit die Situation einer Verfahrensabsprache über die Rechtsfolgen ein. Hier werden dem Täter unterschiedliche Strafmaße je nach Nachtatverhalten, insbesondere Prozessverhalten, aufgezeigt. Die weite Strafandrohung des gesetzlichen Strafrahmens wird konkretisiert, wobei sich – ebenso wie vor Tatentdeckung durch die Selbstanzeigevorschrift – erneut die Möglichkeit ergibt, durch konkrete Strafmilderungen einen Anreiz zu dem gewünschten Nachtatverhalten zu setzen. Es gilt damit festzuhalten: Dem Gedanken der Ermöglichung der „Rückkehr in die Steuerehrlichkeit“ bzw. dem dahinterstehenden Konzept eines Anreizeffektes lässt sich keine Wertung im Hinblick auf die Relevanz spezial- oder generalpräventiver Zwecke für die Strafzumessung entnehmen.
305 Löffler,
Selbstanzeige, S. 35 ff. 1. Teil, 3. Kapitel, B., II. 307 S. o. Fn. 235. 308 Vgl. MünchKomm/Radtke, Vorbem. §§ 38 ff. StGB, Rn. 8. 306 Siehe
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1. Teil: Schuldprinzip und Strafzwecke im Steuerstrafrecht
II. Die Fiskaltheorie Überwiegend wird der Grund für die strafbefreiende Selbstanzeige (zumindest auch) in einer steuerpolitischen Zielsetzung erblickt: Sie soll der nachträglichen Erfüllung der steuerlichen Pflichten und der „Erschließung bisher verheimlichter Steuerquellen“ dienen.309 Dies soll über den psychologischen Anreizeffekt der Straffreiheitsgewährung bewirkt werden.310 Der Anreiz der Straffreiheit soll dabei im Wesentlichen nicht auf die Verhinderung einer künftigen Rechtsgutsverletzung, sondern auf die Wiedergutmachung einer bereits eingetretenen Rechtsgutsverletzung abzielen. Nach der Fiskaltheorie bezweckt die Selbstanzeige damit nicht Prävention, sondern Restauration. Zwar besteht bei Vermögensdelikten wie der Steuerhinterziehung die Besonderheit, dass die Rechtsgutsbeeinträchtigung in vollem Umfang reparabel ist. Eine die endgültige Rechtsgutsverletzung verhindernde Verhaltenssteuerung ist daher trotz deliktssystematischer Vollendung noch immer sinnvoll. Von präventivem Rechtsgüterschutz kann allerdings nach Deliktsvollendung nicht mehr die Rede sein.311 Dies dürfte wohl auch der Grund dafür sein, dass die herrschende Meinung bei der Fiskaltheorie von einer „außerstrafrechtlichen“ Zwecksetzung spricht.312 309 RGSt 57, 313 (315); RGSt 70, 350 (351); BGHSt 12, 100 (111); Bilsdorfer, wistra 1984, 93; Joecks/Jäger/Randt/Joecks, § 371 Rn. 21 f.; Koch/Scholtz/Scheurmann-Kettner, § 371 Rn. 3; Kohlmann/Schauf, § 371 Rn. 30 ff.; Hübschmann/Hepp/ Spitaler/Beckemper, § 371 AO, Rn. 15; MünchKomm/Kohler, § 371 AO, Rn. 19; Wassmann, Selbstanzeige, S. 23; Wannemacher/Vogelberg, Rn. 1381. 310 RGSt 57, 313 (315); 61, 118; BGHSt 3, 373 (375); 12, 100 (101); Bilsdorfer, wistra 1984, 93; Brauns, wistra 1987, 233; Kohlmann/Schauf, § 371 Rn. 31; Streck, DStR 1985, 9; MünchKomm/Bearbeiter, § 371 AO, Rn. 19. 311 Anders wäre dies allerdings für die nach herrschende Meinung ebenfalls vom Tatbestand der Steuerhinterziehung erfassten Fälle zu beurteilen, in denen keine Rechtsgutsverletzung, sondern eine bloße Rechtsgutsgefährdung gegeben ist, s. o. 1. Teil, 2. Kapitel, A., 2., c). 312 Die Etikettierung als „außerstrafrechtliche“ Zwecksetzung ist jedoch insofern unglücklich, als sie indiziert, dass es bei der Fiskaltheorie um etwas anderes als den Schutz der auch der Verhaltensnorm zugrundeliegenden Rechtsgüter geht (zur klaren Unterscheidung von Strafzwecken und Strafrechtszwecken siehe Kilchling, NStZ 2002, 57 (61), mit Verweis auf die in Österreich gebräuchliche Trennung in dieser Terminologie; Löschnig-Gspandl, Die Wiedergutmachung im österreichischen Strafrecht, S. 73 ff.; ebenso MünchKomm/Radtke, Vorbem. §§ 38 ff. StGB, Rn. 8. Dies wäre etwa dann der Fall, wenn ein blankes Interesse an der Mehrung des Staatsvermögens losgelöst von dessen funktionellen Hintergrund der gerechten und gleichmäßigen Lastenverteilung gemeint wäre. Dass dies keine verfassungslegitime Zwecksetzung für die Einschränkung des staatlichen Schutzauftrages zum präventiven Rechtsgüterschutz sein kann, ist offensichtlich, vgl. hierzu auch Frick, Die Fiskalisierung des Strafverfahrens, S. 13 ff., 246.
4. Kap.: Die Wertung des § 371 AO101
Wenn von Vertretern der Fiskaltheorie behauptet wird, die Straffreiheit in Fällen der Selbstanzeige lässt sich nicht mit einer Strafzwecktheorie, sondern nur über das „außerstrafrechtliche“ Fiskalinteresse rechtfertigen,313 liegt dem daher folgende Annahme zu Grunde: Auf die Ausübung des staatlichen Auftrages im Wege der Androhung, Verhängung und Vollstreckung von Strafe präventiv Rechtsgüter zu schützen wird zugunsten der Opferinteressen (konkret: das Interesse des Fiskus auf Schadenswiedergutmachung), deren Wahrung ebenfalls in die staatliche Pflicht des Rechtsgüterschutzes fällt, verzichtet. In der Strafzumessung würde dies mit der Verhängung schuldunterschreitender Strafen zugunsten der Opferinteressen korrespondieren. Zwar können (nach dem hiesigen Konzept) und werden Schuldunterschreitungen entgegen dem Postulat der höchstrichterlichen Rechtsprechung in vielen Fällen vorgenommen, nämlich dann wenn die Verhängung auch der niedrigsten Schuldstrafe vor ihrem straftheoretischen Begründungszusammenhang nicht notwendig erscheint.314 Die Verhängung einer Strafe, die auch das Mindestmaß jener notwendigen Strafe noch unterschreitet, kann jedoch nicht im Belieben des Rechtsanwenders stehen. Er ist, will er eine solch schuldunterschreitende Strafe verhängen, auf eine gesetzliche Legitimation angewiesen.315 Denkt man den Ansatz der Fiskaltheorie in diesem Sinne weiter, hätte der Gesetzgeber für ganz besondere Fallkonstellationen in § 371 AO dies legitimiert. Eine Übertragung dieser Wertung in die Strafzumessung etwa per Analogieschluss ist jedoch nicht möglich. Sinnvoll wäre dies für die Strafzumessung ohnehin nur, wenn hier auch die Möglichkeit besteht, das Ziel der Schadenswiedergutmachung effektiv zu verfolgen. Der beabsichtigte Anreizeffekt lässt sich aber wie gezeigt in vergleichbarer Weise allenfalls in Situationen der Verfahrensabsprache erreichen. Warum hier nicht einfach mit Verweis auf § 371 AO der Anreiz einer schuldunterschreitenden und das Maß des straftheoretisch Erforderlichen unterschreitenden Strafe gesetzt werden darf, ist jedoch augenscheinlich: Es wäre das Versprechen eines gesetzlich nicht vorgesehen Vorteils und damit ein Verstoß gegen § 136a StPO.316 Berücksichtigt werden könnte das Fiskalinteresse auf Schadenswiedergutmachung allerdings innerhalb der Bandbreite vertretbarer Schuldstrafen. Es stellte sich dann die Frage in wie weit dies neben den Präventionsbedürfnissen, die nach der sog. Spielraumtheorie auf dieser Bewertungsebene für die Findung der endgültigen Strafhöhe entscheidend sein sollen, überhaupt mög313 Vgl.
nur MünchKomm/Kohler, § 371 AO, Rn. 19. 1. Teil, 1. Kapitel, C. 315 Zur weitergehenden Frage, ob die gesetzliche Legitimation auch verfassungsmäßig ist, s. für die Selbstanzeige Joecks/Jäger/Randt/Joecks, § 371 Rn. 37; die Frage verneinend AG Saarbrücken, wistra 1983, 84. 316 S.u. 3. Teil, 5. Kapitel, C., II., 2. 314 S. o.
102
1. Teil: Schuldprinzip und Strafzwecke im Steuerstrafrecht
lich wäre. Doch besteht insoweit kein Zielkonflikt, der wiederum im Sinne eines hierarchischen Verhältnisses (Restauration nur im Rahmen der Prävention oder anders herum) aufzulösen wäre. Die Schadenswiedergutmachung trägt vielmehr zur Befriedigung von Präventionsbedürfnissen bei, so dass in entsprechenden Fällen häufig (auch zur Erhaltung des Rechtsbewusstseins) sogar die Verhängung der niedrigsten Schuldstrafe nicht mehr notwendig sein wird. Der Fiskalzweck kann bei diesem Schuldverständnis über die Bandbreite vertretbarer Schuldstrafen hinaus bis zur Grenze317 der niedrigsten straftheoretisch notwendigen Strafe berücksichtigt werden. Damit ist die der Selbstanzeigevorschrift zu entnehmende Wertung für die Strafzumessung auch unter Zugrundelegung eines fiskalischen Erklärungsansatzes der Norm begrenzt. Im Grunde besagt sie nicht mehr, als dass der Rechtsanwender bei der Strafzumessung in Steuerstrafsachen, soweit es ihm möglich ist, besonders stark auf eine Wiedergutmachung hinwirken sollte. Effektiv besteht hierzu nur in Situationen der Verfahrensabsprache Gelegenheit. Seine Möglichkeiten werden dabei beschränkt durch feste Bewertungsgrundsätze, die sich auch auf die strafzumessungsrechtliche Beurteilung der Wiedergutmachung beziehen.
C. Ergebnis Für die Frage, welche Wertung dem § 371 AO für die Strafzumessung zu entnehmen sind, lässt sich damit abschließend festhalten: die Strafzwecktheorie ist nur begrenzt in der Lage, die Straflosigkeit im Falle der Selbstanzeige zu erklären. Eine direkte Wertungsübernahme in Bezug auf schadenswiedergutmachendes Verhalten muss daher scheitern. Allerdings zeigt die Privilegierung, insbesondere in Form der Strafaufhebung im unteren Schwerebereich, eine enge Verschränkung von Tatverhalten und taterfolgsbezogenem Nachtatverhalten, wird doch die Strafaufhebung beim Rücktritt überwiegend gerade mit dieser Einheit begründet. Zurückführen lässt sich dies wohl als Reflex auf die Struktur des Unrechts mit ihrer Besonderheit der vollkommenen Reparabilität des Rechtsgutsobjekts. Ob die Verschränkung eine Strafaufhebung rechtfertigt oder ob es nicht treffender wäre auch im unteren Schwerebereich die Straflosigkeit über eine prozessuale Lösung herbeizuführen, muss hier nicht diskutiert werden und hängt im Übrigen davon ab, dass überhaupt klare Kriterien für die unterschiedlichen systematischen Konstrukte der Straflosigkeit318 bestehen. Als Wertung für die Strafzumessung 317 S. o.
1. Teil, 1. Kapitel, C. hierzu grundsätzlich Bloy, Die dogmatische Bedeutung der Strafausschließungs- und Strafaufhebungsgründe, S. 13 ff., 147 ff., 212 ff., 254 f.; zweifelnd auch Hellmann, in: FS Beulke, S. 405 (414). 318 Vgl.
4. Kap.: Die Wertung des § 371 AO
103
lässt sich dennoch entnehmen, dass der Gesetzgeber mit der Selbstanzeigevorschrift der Besonderheit der Unrechtsstruktur insofern Rechnung trägt und dem taterfolgsbezogenem Nachtatverhalten besondere Bedeutung für die Strafbedürftigkeit zukommt. Die Selbstanzeigevorschrift lässt sich jedoch nicht restlos mit der verringerten Strafbedürftigkeit erklären. Der Gesetzgeber verfolgt erkennbar das Ziel, den Opferinteressen Rechnung zu tragen.319 Der nicht selten fiskalischen Erwägungen ohnehin zugängliche Rechtsanwender kann die Vorschrift daher zum Anlass nehmen, in Steuerhinterziehungsfällen auf die Wiedergutmachung in besonderem Maße hinzuwirken. Er darf dabei jedoch nicht das Maß der auch nach Berücksichtigung des entsprechenden Nachtatverhaltens noch verbleibenden Strafbedürftigkeit unterschreiten. Effektiv möglich ist ihm dies lediglich in den ohnehin problematischen Fällen der Verfahrensabsprache. Auch von der beabsichtigten Wirkweise des Anreizeffektes lässt sich nicht etwa auf eine besondere Bedeutung der negativen Generalprävention oder positiven Spezialprävention schließen. Die Ebenen der Strafandrohung und Strafverhängung unterliegen hier unterschiedlichen Paradigmen, ganz abgesehen davon, dass sich die Relevanz der einzelnen Präventionszwecke in erster Linie nach deren tatsächlicher Wirksamkeit zu richten hat.
319 Auffällig ist in der Tat, dass der Staat der Forderung, den Opferinteressen stärker Rechnung zu tragen, gerade dort wo er ausschließlich selbst Opfer ist, nachkommt. S. hierzu auch den Antrag des AG Saarbrücken, wistra 1983, 84, wegen Ungleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 1 GG sowie dessen Verwerfung als unzulässig, BVerfG, wistra 1983, 251. Zu beachten ist allerdings, dass der mit dem Strafverzicht zugunsten des Opferschutzes einhergehende Mangel an präventivem Rechtsgüterschutz auch zulasten eben desselben Opfers geht.
2. Teil
Grundlagen der Strafzumessungsentscheidung bei Steuerhinterziehung Bevor der Rechtsanwender über Strafart und Strafhöhe (sogenannte Strafzumessung im engeren Sinne) entscheidet, hat er zunächst den gesetzlichen Strafrahmen zu bestimmen.1 Diesem Vorgehen entsprechend folgt die Gliederung der nachstehenden Untersuchung. In einem ersten Schritt gilt es zunächst die Besonderheiten der Strafrahmenwahl bei der Steuerhinterziehung herauszuarbeiten. Sodann wird die Strafzumessung im engeren Sinne, insbesondere die außergewöhnlich intensive Revisionsrechtsprechung zu den Phasen der Abwägung und Umwertung bei der Steuerhinterziehung, zu beleuchten sein. In einem dritten Schritt wird schließlich noch auf einige weitere spezielle Aspekte der Strafzumessungsentscheidung einzugehen sein, wie die Strafartwahl, die Strafaussetzung zur Bewährung, die Anwendung des Doppelverwertungsverbots sowie die Strafzumessung bei Tatmehrheit. 1. Kapitel
Strafrahmenfindung Die Steuerhinterziehung ist gem. § 370 Abs. 1 AO im Grundtatbestand mit Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren zu bestrafen. Die Geldstrafe beträgt dabei mindestens fünf und höchstens 360 Tagessätze, § 40 Abs. 1 StGB. Die zeitige Freiheitsstrafe beträgt mindestens 1 Monat, § 38 Abs. 2 StGB. Strafrahmenverschiebungen sehen §§ 370 Abs. 3 und 373 AO vor, wobei jeweils die Mindeststrafe sechs Monate Freiheitsstrafe und die Höchststrafe zehn Jahre Freiheitsstrafe beträgt. Des Weiteren können die im Mindestmaß erhöhten Strafrahmen wiederum nach §§ 49 Abs. 1, 2 StGB gemildert werden. Die Frage, ob von einer Strafrahmenverschiebung auszugehen ist, kann im Einzelfall erhebliche Probleme bereiten. 1 Zum Vorgang der Strafzumessung allgemein Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 650, sowie nachfolgend unten 2. Teil, 2. Kapitel, A.; zum Streit um die Eigenständigkeit des Schrittes der Strafrahmenwahl, s. Frisch in: FS Spendel, S. 381 (382 ff.) m. w. N.
1. Kap.: Strafrahmenfindung105
A. § 370 Abs. 3 AO In der AO 1977 führte der Gesetzgeber mit § 370 Abs. 3 AO die Regelbeispielstechnik, die bereits zwei Jahre zuvor erstmals im StGB Anwendung fand, auch für die Neuregelung der Steuerhinterziehung ein. Die Regelbeispielstechnik im Rahmen der Strafzumessung2 verknüpft dabei das Prinzip der unbenannten Strafschärfung mit der tatbestandlichen Bestimmtheit von Qualifizierungen. Dies bedeutet, dass die Verwirklichung eines Regelbeispiels nur ein Indiz für das Vorliegen eines besonders schweren Falls darstellt, das entkräftet werden kann. So kann die Indizwirkung des verwirklichten Regelbeispiels durch sonstige Milderungsgründe beseitigt werden, aber andererseits auch durch Strafschärfungsgründe verstärkt werden. Daneben kann, wenn keines der gesetzlich aufgezählten Regelbeispiele erfüllt ist, ein sog. unbenannter besonders schwerer Fall vorliegen.3
I. Die Auswirkungen des § 376 AO Eine Besonderheit des Steuerstrafrechts stellt § 376 AO dar, der eine Verjährungsverlängerung für die in § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 1–5 AO genannten besonders schweren Fälle auf 10 Jahre vorsieht. Dies stellt einen Bruch mit der allgemeinen Vorschrift in § 78 Abs. 4 StGB dar, wonach die Frist „sich nach der Strafdrohung des Gesetzes, dessen Tatbestand die Tat verwirklicht, ohne Rücksicht auf Schärfungen oder Milderungen, die nach den Vorschriften des Allgemeinen Teils oder für besonders schwere oder minder schwere Fälle vorgesehen sind“ richtet.4 Aufgrund dieser Regelung gewinnt die Frage, ob ein besonders schwerer Fall nach § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 1–5 AO vorliegt, bei der Steuerhinterziehung zusätzlich an Bedeutung. Denn die genannten Regelbeispiele haben nicht mehr nur Indizwirkung für die Annahme eines erhöhten Strafrahmens, sondern werden zu Tatbestandsmerkmalen einer Verjährungsnorm „transformiert“.5 Damit steigern sich die Anforderungen an deren inhaltliche Bestimmtheit einerseits und aufgrund der weitreichenden 2 Zur Frage der Einordnung der „besonders schweren“ oder „minder schweren Fälle“ als Strafzumessungsregelung oder als unselbständige Qualifikationstatbestände, BVerfG NJW 08, 3628; BGHSt 23, 254 (256); 26, 104 f.; 33, 370 (374); Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 516. 3 BGH NJW 1984, 1365; vgl. auch BGH wistra 1989, 190 wonach der BGH das Einreichen unechter Belege zur zeitgerechten Erreichung eines Vorsteuerabzugs dem Fall des § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 4 AO gleichstellte. 4 Zu den erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken an § 376 Abs. 1 AO Kohlmann/Schauf, § 376 Rn. 27 ff. 5 MünchKomm/Wulf, § 376 AO, Rn. 5.
106
2. Teil: Grundlagen der Strafzumessungsentscheidung
Rechtsfolgen des § 376 AO auch an deren Gerechtigkeit im Einzelfall andererseits. Zudem verschärfen sich die Problemkreise der Regelbeispiele im Allgemeinen, wie etwa die Diskussion um die Versuchsstrafbarkeit. Es sind hier drei Versuchskonstellationen voneinander zu unterscheiden. Bei versuchtem Grunddelikt und erfülltem Regelbeispiel ist nach einhelliger Auffassung von der Regelwirkung auszugehen.6 Wurden sowohl Grunddelikt als auch Regelbeispiel nur versucht, ist nach Ansicht des BGH ebenfalls der Strafrahmen des besonders schweren Falls anzuwenden, wenn der Täter zur Verwirklichung des Regelbeispiels unmittelbar angesetzt hat.7 Dies hat der BGH in einer Entscheidung zu § 370 Abs. 3 Nr. 1 AO ausdrücklich auch für den Tatbestand der Steuerhinterziehung entschieden.8 Ist das Grunddelikt vollendet und das Regelbeispiel versucht, ist hingegen grundsätzlich nicht von der Regelwirkung auszugehen.9 Die Verweisung des § 376 AO bereitet jedoch auch Probleme im Hinblick auf ihren Anwendungsbereich. Während Fälle eines unbenannten besonders schweren Falles nach § 370 Abs. 3 S. 1 von der Verweisung des § 376 AO eindeutig nicht erfasst werden, ist umstritten, ob dies auch für die Widerlegung der Indizwirkung eines Regelbeispiels gilt.10 Hierfür wird geltend gemacht, der Gesetzeswortlaut verlange einen besonders schweren Fall.11 Doch ist der Gesetzeswortlaut nicht so eindeutig, dass er nicht auch eine andere Auslegung zulassen würde.12 Nimmt man die Fälle einer Widerlegung der Indizwirkung der Regelbeispiele von der Anwendung des § 376 AO aus, bestehen jedenfalls erhebliche Bedenken im Hinblick auf die Gesetzesbestimmtheit der Verjährungsvorschrift.13 Der BGH wendet daher § 376 AO 6 Fischer, § 46 StGB, Rn. 103; zu § 370 AO: Joecks/Jäger/Randt/Joecks, § 370 Rn. 586; Kohlmann/Schauf, § 370 Rn. 1095; zu § 243 StGB: Schönke/Schröder/Eser/ Bosch, § 243 Rn. 44. 7 BGHSt 33, 370; ebenso bereits BGH NStZ 84, 262; Zipf, JR 81, 121; zum Ganzen Zipf, in: Dreher-FS, S. 389 (392 f.). 8 BGH wistra 2010, 449; ebenso Joecks/Jäger/Randt/Joecks, § 370 Rn. 588; krit. Rolletschke/Kemper/Rolletschke, § 370 AO, Rn. 185; Steinberg/Burghaus, ZIS 2011, 578 (579). 9 So der BGH in einem Fall zu § 177 Abs. 2 Nr. 1 StGB, BGH NJW 2003, 602; ebenso Schönke/Schröder/Eser/Bosch, § 243 Rn. 44; Fischer, § 46 StGB, Rn. 102; zu § 370 Abs. 3 AO: Lübbersmann, PStR 2010, 256 (258); a. A. Joecks/Jäger/Randt/ Joecks, § 370 Rn. 586; Zipf, JR 81, 121 zu § 243 StGB. 10 MünchKomm/Wulf, § 376 AO, Rn. 6 m. w. N. 11 Bender, wistra 2009, 215 ff.; Pelz, NJW 2009, 470 ff.; Kohlmann/Schauf, § 376 Rn. 20. 12 MünchKomm/Wulf, § 376 AO, Rn. 6. 13 Vgl. MünchKomm/Wulf, § 376 AO, Rn. 6, der meint, eine dem Richter überlassene Entscheidung im Einzelfall sei verfassungswidrig.
1. Kap.: Strafrahmenfindung
107
auch auf diese Fälle an.14 Dies erscheint sachgerecht, soweit die Zurückstellung der Einzelfallgerechtigkeit zugunsten der Gesetzesbestimmtheit an anderer Stelle hinreichend kompensiert wird. In Betracht kommt hier zum einen, der geringen Strafwürdigkeit einer über fünf Jahre zurückliegenden Tat durch die Regelungen der Verfahrenseinstellungen nach §§ 153 ff. StPO im Einzelfall Rechnung zu tragen. Effektiver noch ist der Weg, die Einzelfallgerechtigkeit über eine präzise Bestimmung der Merkmale der Regelbeispiele zu verwirklichen. Hierzu ist die höchstrichterliche Rechtsprechung berufen, die den Anwendungsbereich für in ihrer Indizwirkung widerlegbare Regelbeispiele klein halten kann, indem sie die Regelbeispiele selbst konkretisiert. Für die Auswirkungen des § 376 AO auf die Norm des § 370 Abs. 3 AO ist damit festzuhalten: Die Anforderungen an Gesetzesbestimmtheit und Gesetzeskonkretisierung durch höchstrichterliche Rechtsprechung sind gegenüber vergleichbaren Regelungen von Regelbeispielen in der Strafzumessung gesteigert. Gleichzeitig besteht auch ein gegenüber anderen Regelungen erhöhtes Bedürfnis an der Herstellung von Einzelfallgerechtigkeit über die genannten Regelbeispiele selbst. Denn selbst wenn man der Auffassung ist, eine Widerlegung der Regelbeispielswirkung im Einzelfall auch innerhalb des § 376 AO berücksichtigen zu können, so muss es doch Ziel von Gesetzgeber und Rechtsprechung sein, den Entscheidungsspielraum des Richters insofern möglichst klein zu halten. Unbestimmten Rechtsbegriffen sind daher möglichst klare Konturen zu verleihen.
II. § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 AO Der bis 1.1.2008 geltende § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 AO a. F. forderte, zusätzlich zu dem Merkmal der Steuerverkürzung „in großem Ausmaß“, ein Handeln „aus grobem Eigennutz“. Das Merkmal „in großem Ausmaß“ wurde nicht an einem konkreten Geldbetrag festgemacht.15 Für das Merkmal des groben Eigennutzes hatte es indizielle Bedeutung.16 Anzustellen war daher eine Gesamtbetrachtung, die quantitative wie qualitative Aspekte zu beachten hat, insbesondere die vom Täter gezogenen Vorteile, Art, Intensität und Häufigkeit der Begehung, Verwendungszweck der hinterzogenen Beträge und der Grad der zutage getretenen Gewinnsucht.17 Infolgedessen verneinte der BGH einerseits bei Steuerverkürzungen im Millionen-DM-Bereich das 14 BGH
wistra 2013, 471.
15 MünchKomm/Schmitz/Wulf,
§ 370 AO, Rn. 424. der Rechtspraxis spielte der Nachweis des Beweggrundes „aus grobem Eigennutz“ allerdings nur eine untergeordnete Rolle, s. Rüping/Ende, DStR 2008, 13 (16). 17 BGH NStZ 1990, 497. 16 In
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2. Teil: Grundlagen der Strafzumessungsentscheidung
Vorliegen des Regelbeispiels und ließ andererseits für eine Einzeltat bei einer Reihe von Taten bereits eine Verkürzung von rund 50.000 DM ausreichen.18 Mit der Streichung des Merkmals „aus grobem Eigennutz“ zum 1.1.2008 hat der Gesetzgeber den Weg für eine Orientierung des Regelbeispiels an festen Betragsgrenzen frei gemacht. In der Literatur fanden sich hierzu zahlreiche Vorschläge.19 Welche Lösung der BGH wählte, soll im Folgenden dargestellt und gewürdigt werden. 1. Die BGH-Rechtsprechung zu § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 AO In seiner Grundsatzentscheidung zur Strafzumessung vom 2.12.200820 lehnt sich der 1. Strafsenat des BGH explizit an die Rechtsprechung21 zum „Vermögensverlust großen Ausmaßes“ beim Betrug an. Er unterscheidet danach, ob es zu einer bloßen Gefährdung oder einem „Vermögensverlust“ gekommen ist.22 Hat der „ ‚Steuerbetrug‘ “ zu einem „ ‚Vermögensverlust‘ “ geführt, indem die Finanzbehörde etwa ungerechtfertigte Erstattungen oder Vergütungen geleistet hat, ist ein Schwellenwert von 50.000 € anzusetzen. Bleibt es bei einer bloßen Gefährdung des Steueranspruchs, könne das „große Ausmaß“ höher angesetzt werden. Dies sei der Fall, wenn eine Steuer gar nicht oder zu niedrig festgesetzt wurde, § 370 Abs. 1, 4 S. 1 Halbsatz 1. Der Senat hält hierbei eine Wertgrenze von 100.000 € für angemessen. Diese Betragsgrenzen sollen grundsätzlich für jede Tat im materiellen Sinne gesondert gelten. Eine Addition der Taterfolge hat jedoch bei tateinheitlicher Verwirklichung zu erfolgen. Die Rechtsprechung soll auch und gerade für Verständigungen gelten, da im Zuge einer Verständigung keine Sanktion vereinbart werden könne, die nicht schuldangemessen sei. 18 Vgl.
BGH wistra 2004, 185. Franzen/Gast/Joecks/Joecks, § 370 Rn. 270; Kühn/v. Wedelstädt/Blesinger, § 370 AO, Rn. 114; Koch/Scholtz/Scheuermann-Kettner, § 370 Rn. 59; vgl. auch Kohlmann/Schauf, § 370 Rn. 1099.2 (Stand 38. Lieferung August 2008), der eine Anlehnung an die Rechtsprechung zu § 263 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 StGB mit deren Betragsgrenze von 50.000 € für geboten hielt. 20 BGHSt 53, 71. 21 BGHSt 48, 360; BGH wistra 2007, 111; BGH wistra 2009, 236 (23). Der BGH knüpft hierbei wiederum an seine Rechtsprechung zum ähnlich gefassten Regelbeispiel eines besonders schweren Falls des Subventionsbetruges (§ 264 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 StGB), sowie die sich hierauf beziehende Gesetzesbegründung zu § 263 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 StGB n. F. an, die jeweils das „große Ausmaß“ erst ab einem Wert von 100.000 DM als erfüllt ansahen, BGH BeckRS 1990, 31084951; BT-Drucks. XIII/8587 S. 43. 22 BGHSt 53, 71 (85). 19 Vgl.
1. Kap.: Strafrahmenfindung109
Diese Grundsätze hat der BGH in der Folgezeit mehrfach bestätigt und erweitert. So hat er im Beschluss vom 15.12.201123 in Ergänzung zu dieser Rechtsprechung festgestellt, dass die Betragsgrenze von 50.000 € auch dann gilt, wenn der Täter „steuermindernde Umstände vortäuscht, indem er etwa tatsächlich nicht vorhandene Betriebsausgaben vortäuscht oder nicht bestehende Vorsteuerbeträge geltend macht.“ Werden sowohl Einkünfte verheimlicht als auch steuermindernde Umstände vorgetäuscht, und hat letzteres „noch nicht zu einer Steuerverkürzung von mindestens 50.000 € geführt, verbleibt es für die Tat insgesamt beim Schwellenwert von 100.000 €.“ „Eine nachträgliche ‚Schadenswiedergutmachung‘ hat für die Frage, ob eine Steuerhinterziehung ‚in großem Ausmaß‘ vorliegt oder nicht, keine Bedeutung“, sondern vermag allenfalls „die Indizwirkung des Regelbeispiels im Einzelfall“ zu widerlegen. Zuletzt korrigierte der 1. Senat seine Rechtsprechung dahingehend, dass er auf eine betragsmäßige Differenzierung zwischen bestimmten Fällen, in denen das große Ausmaß bei einem Schwellenwert von 50.000 € und bestimmten anderen Fällen in denen das große Ausmaß erst bei einem Schwellenwert von 100.000 € erreicht ist, aufgibt.24 Es gilt seitdem eine einheitliche Wertgrenze von 50.000 €. 2. Kritische Würdigung Diese Rechtsprechungslinie des BGH wurde aus diversen Gründen kritisiert, die im Folgenden systematisiert und um eine eigene kritische Würdigung ergänzt werden sollen. a) Die Anlehnung an den Betrug Gegenstand der Kritik ist bereits der Ausgangspunkt der Entscheidung, die eine Anlehnung an die Rechtsprechung zum „Vermögensverlust großen Ausmaßes“ beim Betrug vorsieht. Im Hinblick auf die strukturellen Unterschiede zwischen Betrug und Steuerhinterziehung sei der Rechtssicherheit mit einer eigenständigen Definition des „großen Ausmaßes“ besser gedient.25 Einige dieser „strukturellen Unterschiede“ benennt der BGH in seiner Entscheidung sogar selbst. So erkennt er beispielsweise, dass der Steuerschaden bei der Steuerhinterziehung immer in Relation zum Umfang der Geschäftstätigkeit zu sehen ist und insoweit keinen unmittelbaren Rückschluss auf die krimi23 BGH
NStZ 2012, 331. NStZ 2016, 288. 25 Wulf, DStR 2009, 459 (465). 24 BGH
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2. Teil: Grundlagen der Strafzumessungsentscheidung
nelle Energie ermöglicht; dass der Tatbestand der Steuerhinterziehung in der Variante der Steuerverkürzung regelmäßig bereits bei Gefährdung des Steueraufkommens vollendet ist; dass das Delikt keine Bereicherung oder Bereicherungsabsicht voraussetzt und dass bereits die bloße Untätigkeit den Straftatbestand erfüllen kann (§ 370 Abs. 1 Nr. 2 AO).26 Hinzu komme, dass die Steuerhinterziehung den Charakter einer unterlassenen Vermögensmehrung zugunsten des Fiskus hat, indem der Steuerpflichtige dafür bestraft wird, dass er durch seine Steuererklärung nicht ordnungsgemäß an der Herbeiführung eines gegen ihn selbst gerichteten Titels mitwirkt, während beim Betrug ein durch Täuschung begangener Eingriff in fremdes Vermögen vorliege, was von der Struktur des Unrechts her einen gravierenden Unterschied darstelle.27 Die aufgezeigten Unterschiede im Unrechtsgehalt sind durchaus nicht von der Hand zu weisen. Es handelt sich dabei allerdings lediglich um Unterschiede im unteren Bereich des Unrechtsgehalts im Sinne einer größeren Spannweite der von der Strafbarkeit erfassten Fälle. So kann und wird in der Regel auch bei der Steuerhinterziehung Bereicherungsabsicht und Täuschung vorliegen. Der von Wulf beschriebene Charakter einer „unterlassenen Vermögensmehrung“ bzw. „erzwungenen Selbstschädigung“ ist in der Formulierung unzutreffend.28 Der dahinterstehende richtige Gedanke betrifft das der Tat vorausgehende rechtsgutfördernde Verhalten des Täters, bzw. eine hieraus resultierende besondere Motivlage bei Begehung der Tat.29 Ob dies einen „gravierenden Unterschied“ in der Schwere des Unrechts darstellt, wird noch zu untersuchen sein. Der Unterschied ist jedenfalls nicht bei jeder Steuerhinterziehung gegeben.30 In Fällen der Erlangung von ungerechtfertigten Zahlungen vom Finanzamt liegt gleich dem Regelfall des Betrugs ein „Eingriff in fremdes Vermögen“ vor. Es zeigt sich also, dass Steuerhinterziehung und Betrug nicht nur strukturelle Ähnlichkeiten aufweisen, sondern auch in der Reichweite des Unrechtsgehalts vergleichbar sind. Lediglich im „unteren Bereich“ des Unrechtsgehalts enthält die Steuerhinterziehung vom Betrug nicht umfasste Konstellationen und weist damit eine größere Spannweite auf. Letztlich handelt es sich bei den angeführten „strukturellen Unterschieden“ um Konstellationen (abstrakte oder konkrete Gefährdung, fehlender Irrtum oder Bereicherungsabsicht) seltener Ausnahmefälle, die bei einer ganzheitli26 BGHSt 53, 71 (84); deutlich zuletzt in BGH NStZ 2016, 288 (290): „Steuerhinterziehung und Betrug sind nicht uneingeschränkt vergleichbar […], weil die Steuerhinterziehung gegenüber dem Betrug ‚strukturelle Unterschiede‘ aufweist“. 27 Wulf, DStR 2009, 459 (465); ebenso Schwedhelm, in: FS Streck, S. 561 (565 f.). 28 Siehe 1. Teil, 2. Kapitel, A., II., 3. 29 Siehe 1. Teil, 2. Kapitel, A., II., 3. 30 Siehe 1. Teil, 2. Kapitel, A., II., 3.
1. Kap.: Strafrahmenfindung111
chen Betrachtung der Unrechtsstruktur der Delikte nur geringfügig ins Gewicht fallen können. Wollte man einen maßgeblichen Unterschied im Unrechtsgehalt benennen, kommt daher weniger dessen Struktur als dessen Substrat in Betracht. Der abweichende funktionelle Hintergrund des Vermögensschutzes31 für das Delikt der Steuerhinterziehung könnte für eine eigenständige Definition des „großen Ausmaßes“ streiten. Doch scheint es gerade die Überzeugung des Senats zu sein, dass sich insoweit keine Unterschiede in der Gefährlichkeit und der Strafwürdigkeit ergeben. Er kann sich dabei auf die normativen Wertungen bzw. eine legitime Konkretisierung dieser Wertungen berufen.32 Anerkennt man die strukturelle Vergleichbarkeit von Betrug und Steuerhinterziehung und geht gleichzeitig von einer vergleichbaren Strafwürdigkeit aus, ist es nicht nur sinnvoll, sondern vom Gleichheitssatz gefordert, eine gleichmäßige Bestrafung herbeizuführen. Deutlich wird dies anhand der aus der Tatproportionalitätslehre stammenden, die Postulate des Gleichheitssatzes konkretisierenden Kategorien der kardinalen und ordinalen Proportionalität.33 Ist ein stimmiges Abstufungsverhältnis der Reaktionen im Verhältnis zum Gewicht der Taten einmal gefunden (kardinale Proportionalität), müssen auch die Taten relativ zueinander im rechten Verhältnis bestraft werden (ordinale Proportionalität).34 Zum „Vermögensverlust großen Ausmaßes“ gem. § 263 Abs. 3 StGB ist durch eine gefestigte Rechtsprechung eine konkrete Strafzumessungstradition und damit ein kardinaler Richtwert gefunden. Bei der Festlegung kardinaler Richtwerte für das Delikt der Steuerhinterziehung ist die Anlehnung an diese Strafzumessungstradition für strukturell ähnliche und von der Tatschwere vergleichbare Fälle der Steuerhinterziehung im Hinblick auf eine Gleichmäßigkeit der Sanktionspraxis sehr überzeugend. Sie bietet zugleich einen Fixpunkt für die Einordnung strukturell abweichender Fallkonstellationen. Ob der zwischenzeitliche Versuch des BGH dem durch abweichende Betragsgrenzen Rechnung zu tragen, geglückt ist, soll sogleich untersucht werden. Eine Anlehnung an den Betrug ist aber vor allem vor dem Hintergrund der besonderen Präventionsbedürfnisse35 der Steuerhinterziehung sinnvoll. Es steht auch zu vermuten, dass der Bundesrat mit seinen Ausführungen bei Einführung der Regelbeispiele des § 370 Abs. 3 ebendies im Blick hatte. 31 Siehe
1. Teil, 2. Kapitel, A., I., 1., d). 1. Teil, 2. Kapitel, B., I. 33 Siehe hierzu v. Hirsch/Jareborg, Strafmaß und Strafgerechtigkeit, S. 25. 34 Die Begriffe der ordinalen und kardinalen Proportionalität treffen damit in der Sache keine der herkömmlichen Strafzumessungsdoktrin unbekannten Punkte, vgl. Frisch, in: ders./v. Hirsch/Albrecht, Tatproportionalität, S. 1 (20). 35 Siehe 1. Teil, 3. Kapitel, B., C. 32 Siehe
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2. Teil: Grundlagen der Strafzumessungsentscheidung
Auch dem Senat geht es bei der Anlehnung an den Betrug wohl in erster Linie darum die Strafwürdigkeit der Steuerhinterziehung expressiv deutlich zu machen. So weist der 1. Senat in der genannten Entscheidung auf Ausführungen des 5. Strafsenats36 hin. Dort hält es der 5. Strafsenat für geboten, „dem drohenden Ungleichgewicht zwischen der Strafpraxis bei der allgemeinen Kriminalität und der Strafpraxis in Steuer- und Wirtschaftsstrafverfahren entgegenzutreten und dem berechtigten besonderen öffentlichen Interesse an einer effektiven Strafverfolgung schwerwiegender Wirtschafts-kriminalität gerecht zu werden“.37
Im Ergebnis ist damit festzuhalten, dass der Anlehnung an den Betrug bei der Auslegung des Begriffs des „großen Ausmaßes“ die vorhandenen Unterschiede im Unrechtsgehalt nicht entgegenstehen. Da Steuerhinterziehung und Betrug strukturelle Ähnlichkeiten aufweisen und im Unrechtsgehalt vergleichbar sind, ist die Verknüpfung der Strafzumessungstraditionen sinnvoll. Sie kann zugleich als Fixpunkt für die Fälle struktureller Abweichung dienen. Die verbreitete Wahrnehmung der Steuerhinterziehung als „Kavaliersdelikt“ gibt zudem Anlass zur Verdeutlichung der mit dem Betrug durchaus vergleichbaren potenziellen Strafwürdigkeit einer Steuerhinterziehung. Die Anlehnung an den Betrug bei Auslegung des Merkmals „in großem Ausmaß“ kann hierzu beitragen. b) Die Differenzierung in der Sache Lange Zeit war der 1. Senat bemüht den verschiedenen Konstellationen unterschiedlichen Gewichts über eine betragsmäßige Differenzierung im Rahmen des „großen Ausmaßes“ Rechnung zu tragen. Hiervon ist der Senat zuletzt wieder abgerückt.38 Es fragt sich, ob die teilweise Abkehr von der eigenen Rechtsprechung überzeugt. Zur Beantwortung dieser Frage, muss allerdings zunächst Klarheit darüber bestehen, wovon der Senat teilweise wieder abgerückt ist – mithin welche Differenzierung in der Sache überhaupt vorgenommen werden sollte. Eine genaue Analyse dieser Rechtsprechung des Senats wurde in der Literatur bislang vernachlässigt und dürfte nach der Entscheidung vom 29.10.2015 wohl auch nicht mehr zu erwarten sein. Sie ist allerdings schon deshalb unerlässlich, weil der Senat in der genannten Entscheidung nicht gänzlich auf seine bisherigen Differenzierungsansätze verzichtet, sondern lediglich auf die praxisrelevante Folge unterschiedlicher Betragsgrenzen. In der Sache soll den relevanten Konstellationen im Einzel36 BGHSt
50, 299 (308 f.). sieht der 5. Strafsenat das richtige Mittel hierzu nicht in einer „bloßen Gesetzesverschärfung“, sondern in der Stärkung der justiziellen Ressourcen, BGHSt. 50, 299 (308 f.). 38 BGH NStZ 2016, 288. 37 Allerdings
1. Kap.: Strafrahmenfindung
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fall auf Ebene der Widerlegung der Indizwirkung des § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 AO oder der Strafzumessung im engeren Sinne Rechnung getragen werden.39 aa) BGH vom 15.12.2011 und Kritik Mit der Anknüpfung an den Begriff des Vermögensverlusts in der Grundsatzentscheidung vom 2.12.2008 schien die Betragsgrenze von 50.000 € jedenfalls für Fälle eines echten Vermögensschadens zu gelten. In seiner Entscheidung vom 15.12.201140 sah sich der BGH dann veranlasst seine Rechtsprechung zum „großen Ausmaß“ zu verdeutlichen. Er nahm zunächst Bezug auf die Entscheidung vom 2.12.2008 in der er feststellte ein „Vermögensverlust“ liege namentlich dann vor, „wenn der Täter ungerechtfertigte Zahlungen vom Finanzamt erlangt hat, etwa bei Steuererstattungen durch Umsatzsteuerkaruselle, Kettengeschäfte oder durch Einschaltung von sog. Serviceunterneh men“.41 „Beschränkt sich das Verhalten des Täters indes darauf, die Finanzbehörden pflichtwidrig über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis zu lassen“ oder begeht der Steuerpflichtige eine Steuerhinterziehung durch aktives Tun, „indem er eine unvollständige Steuererklärung abgibt, er dabei aber lediglich steuerpflichtige Einkünfte oder Umsätze verschweigt“, könne dies lediglich zu einer Gefährdung des Steueranspruchs führen.42 Der BGH führt sodann weiter aus: „Anders ist die Sachlage, wenn der Täter steuermindernde Umstände vortäuscht, indem er etwa tatsächlich nicht vorhandene Betriebsausgaben vortäuscht oder nicht bestehende Vorsteuerbeträge geltend macht. Denn in einem solchen Fall beschränkt sich das Verhalten des Täters nicht darauf, den bestehenden Steueranspruch durch bloßes Verschweigen von Einkünften oder Umsätzen zu gefährden. Vielmehr unternimmt er einen „Griff in die Kasse“ des Staates, weil die Tat zu einer Erstattung eines (tatsächlich nicht bestehenden) Steuerguthabens oder zum (scheinbaren) Erlöschen einer bestehenden Steuerforderung führen soll.“43
Diese Entscheidung wird in der Literatur kritisiert, weil es für die Art der Rechtsgutsbeeinträchtigung keinen Unterschied machen könne, ob wegen der Geltendmachung zu hoher Betriebsausgaben oder zu geringer Einkommensdeklarierung eine zu niedrige Steuer festgesetzt wird.44 Entscheidend sei allein, ob ein „Vermögensverlust analog zu § 263 Abs. 3 Nr. 2 eintritt oder 39 BGH
NStZ 2016, 288 (290). NStZ 2012, 331. 41 BGH NStZ 2012, 331, m.V.a. BGHSt 53, 71. 42 BGH NStZ 2012, 331. 43 BGH NStZ 2012, 331. 44 Kohlmann/Schauf, § 370 Rn. 1099.1; Wulf, Stbg 2012, 366 (371). 40 BGH
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2. Teil: Grundlagen der Strafzumessungsentscheidung
nicht.“45 Dem ist zuzustimmen. Wird durch unrichtige Angaben in Bezug auf eine Steuerart und einen Veranlagungszeitraum eine zu niedrige Steuer festgesetzt, ist dieser einzelne Steueranspruch und damit auch das Vermögen des Staates gefährdet, gleich ob die unrichtigen Angaben die Betriebsausgaben oder das Einkommen betreffen. Auch im Falle des Vortäuschens steuermindernder Umstände kommt es daher nur zu einem „(scheinbaren) Erlöschen“ der Steuerforderung, wie der BGH selbst anerkennt. Wenn der Steueranspruch aber nach wie vor besteht und der Fiskus diesen lediglich aufgrund der fälschlichen Annahme steuermindernder Umstände voraussichtlich nicht durchsetzen wird, liegt noch kein „Vermögensverlust“ im Sinne eines „echten Vermögensschadens“ vor, sondern eine (i. d. R. schadensgleiche) Gefährdung des Steueranspruchs. Die Entscheidung zum „Griff in die Kasse“ entspricht damit nicht mehr der noch in BGH vom 2.12.2008 genannten Voraussetzung für die Anwendung der 50.000 € Betragsgrenze, nämlich des Vorliegens eines „Vermögensverlusts“. bb) Denkbare Differenzierungsansätze des BGH Spätestens die Entscheidung vom 15.11.2011 wirft die – in der Literatur bislang nicht diskutierten – Fragen auf, ob der BGH in der Sache überhaupt nach der Art der Rechtsgutsbeeinträchtigung differenziert und wenn ja, welche Arten der Rechtsgutsbeeinträchtigung er unterscheidet. Bereits die Entscheidung vom 2.12.2008 hätte bei genauerer Betrachtung zu beiden Fragen Anlass geben müssen. Denkbar sind drei Differenzierungsansätze. (1) Differenzierung Gefährdungsschaden – echter Vermögensschaden Der 1. Senat scheint zunächst ausdrücklich zwischen „Vermögensverlust“ und „Gefährdungsschaden“ differenzieren zu wollen.46 Auch in seiner Entscheidung vom 27.10.2015 spricht der BGH unter Bezugnahme auf seine vormalige Rechtsprechung von einer Unterscheidung „zwischen Gefährdungsschaden und eingetretenem Schaden“.47 Er lehnt an dieser Stelle eine solche Unterscheidung vor dem Hintergrund ab, dass das Gesetz „in § 370 AO nicht zwischen der Gefährdung des Steueranspruchs und dem Eintritt des Vermögensschadens beim Staat“ differenziere.48 Die betragsmäßige Differenzierung zwischen Vermögensverlust und Gefährdungsschaden er45 Wulf,
Stbg 2012, 366 (371). 53, 71 (85). Er spricht jedoch sodann bei Exemplifizierung seiner Differenzierung nur noch von „Gefährdung“. 47 BGH NStZ 2016, 288 (289). 48 BGH NStZ 2016, 288 (290). 46 BGHSt
1. Kap.: Strafrahmenfindung115
scheint hingegen vor allem vor dem Hintergrund fragwürdig, dass es gerade der 1. Senat ist, der die Unterscheidung zwischen „echtem Vermögensschaden“ und „Gefährdungsschaden“ für entbehrlich hält.49 Zwischen „echtem Vermögensschaden“ und „Gefährdungsschaden“ besteht jedenfalls nach gefestigter Rechtsprechung und herrschender Meinung kein qualitativer, sondern lediglich ein quantitativer Unterschied.50 Dem würde eine betragsmäßige Differenzierung jedoch gerade widersprechen. Denn wenn kein qualitativer Unterschied besteht, ist nicht ersichtlich, warum bei Gefährdungsschäden das „große Ausmaß“ erst ab 100.000 €, bei „echten Vermögensschäden“ hingegen bereits bei 50.000 € erreicht sein soll.51 Es ist auch nicht wahrscheinlich, dass die Aussagen des 1. Senats in seiner Entscheidung vom 2.12.2008 derart zu verstehen sind, dass mit 100.000 € nicht der Gefährdungsschaden, sondern der gefährdete Betrag insgesamt gemeint ist. Denn dann würde der Senat eine pauschale bilanzmäßige Bewertung vorschlagen in Höhe von 50 %. Spätestens seit der Entscheidung52 des BVerfG ist jedoch klar, dass eine konkrete Bestimmung des Schadensbetrages im Einzelfall zu erfolgen hat. Eine betragsmäßige Differenzierung zwischen Gefährdungsschaden und „echtem Vermögensschaden“ ist somit gerade nach den eigenen Maßstäben des Senats nicht haltbar. Hinzu kommt, dass der 1. Senat offensichtlich auch selbst die Fälle bloßer konkreter Gefährdungen sieht, in denen keine Rechtsgutsverletzung gegeben ist.53 Es stellte sich die Frage, welche Betragsgrenze er in diesen Fällen für das „große Ausmaß“ für angemessen hielt, wenn die Betragsgrenzen von 50.000 € und 100.000 € dem „echten Vermögensschaden“ und dem „Gefährdungsschaden“ vorbehalten wären. (2) Differenzierung nach Art des angegriffenen Rechtsgutsobjekts Spätestens seit der Entscheidung vom 15.12.201154, in der der 1. Senat zur Differenzierung das Bild vom „Griff in die Kasse“ bemüht, muss grundlegend in Frage gestellt werden, ob der Senat überhaut nach der Art der Rechtsgutsbeeinträchtigung differenzieren will, oder ob die Unterscheidung in der Sache nicht möglicherweise einen anderen Hintergrund hat. Schon bei Betrachtung der vom Senat beispielhaft genannten Fälle in seiner Leitentscheidung vom 2.12.2008 hätte Anlass zum Zweifel bestehen müssen, ob 49 BGHSt
53, 199 f. 53, 199 f.; Schönke/Schröder/Perron, § 263 Rn. 143 m. w. N. 51 Vgl. zu diesem Argument im Rahmen des § 263 Abs. 3 Nr. 2 StGB als Beleg, dass auch Gefährdungsschäden erfasst werden, MünchKomm/Hefendehl, § 263 StGB, Rn. 849 ff. 52 BVerfGE 130, 47. 53 BGHSt 53, 221 (229 f.). 54 BGH NStZ 2012, 331. 50 BGHSt
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ihm in der Sache tatsächlich eine Abgrenzung nach der Art der Rechtsgutsbeeinträchtigung vorschwebte. Denn bei Umsatzsteuerkarussellen erfolgen die Steuererstattungen ebenso wie in allen anderen Fällen der Vorsteuererstattung im Festsetzungsverfahren und lösen damit einen Gefährdungsschaden aus.55 Den Fall des Umsatzsteuerkarussells verwendet der Senat in diesem Zusammenhang allerdings nur, um ein Beispiel für die Erlangung von ungerechtfertigten Zahlungen vom Finanzamt zu nennen. Das Spezifikum solcher Fälle liegt darin, dass das angegriffene Rechtsgutsobjekt / Tatobjekt ein Vermögenswert ist, der seine Existenz nicht einer Eigenleistung des Täters verdankt. Noch einmal sei daran erinnert, dass im Regelfall der Steuerhinterziehung der Täter einen Steueranspruch des Staates als Tatobjekt angreift, zu dessen Entstehung er zuvor freiwillig durch Erfüllung des Steuertatbestandes beigetragen hat. Zielt der Steuerhinterzieher allerdings auf ungerechtfertigte Zahlungen des Fiskus ab, wie im Falle der Umsatzsteuerkarusselle, greift er als Tatobjekt Vermögenswerte an zu deren Entstehung nicht er, sondern die Allgemeinheit beigetragen hat.56 Als Indiz, dass dem Senat womöglich dieses Spezifikum für die Differenzierung vorschwebt, kann auch die teilweise Abkehr in der Terminologie der Differenzierung gewertet werden. So spricht der Senat in seiner Entscheidung vom 15.12.2011 nicht mehr von „Vermögensverlust“ und „Gefährdungsschaden“, sondern prägt mit dem Bild vom „Griff in die Kasse“ des Staates einen eigenständigen Begriff. Welche Eigenheit der unter die 50.000 €-Schwelle zu fassenden Fallkonstellationen soll mit diesem Bild beschrieben werden? Nimmt man das Bild wörtlich, läge ein Vergleich zum Diebstahl nahe. Doch sind die Tatbestände zu unterschiedlich, als dass sich hieraus Parallelen ziehen ließen, die im vom Senat beschriebenen Zusammenhang Sinn ergäben. Die Bedeutung des Bildes ist demnach weniger im Wort „Griff“ und mehr im Wort „Kasse“ zu suchen. Die „Kasse“ (oder präziser: das in ihr befindliche Vermögen) wird als angegriffenes Tatobjekt beschrieben. Das logische Gegenbild zum „Griff in die Kasse“ bildet dann das „Nichteinzahlen in die Kasse“ oder im Duktus des Senats plastischer formuliert: die „Zechprellerei des Steuerzahlers“57. Hier ist das angegriffene Tatob55 Joecks/Jäger/Randt/Joecks, § 370 Rn. 53; MünchKomm/Schmitz/Wulf, § 370 AO, Rn. 125. 56 S. o. 1. Teil, 2. Kapitel, A., II., 3. 57 Ein diesen Anleihen entsprechender Fall der „Zechprellerei“ beim Betrug muss freilich dergestalt liegen, dass nicht bereits bei Vertragsschluss über die Zahlungsbereitschaft getäuscht wird (dann ist die Leistung selbst Angriffsobjekt), sondern erst im Anschluss die Geltendmachung der Forderung täuschungsbedingt Unterlassen wird. Ein Unterschied zur Steuerhinterziehung besteht auch dann noch: während das Opfer beim Prellen der Zeche zur Entstehung der Forderung gleichermaßen beigetragen hat,
1. Kap.: Strafrahmenfindung
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jekt ein Anspruch des Opfers. Das Bild des „Griffs in die Kasse“ legt somit nahe, dass es dem Senat nicht mehr um die Art der Rechtsgutsbeeinträchtigung geht, sondern um das angegriffene Tatobjekt. Der Annahme eines solchen Verständnisses des „Griffs in die Kasse“ durch den Senat könnte allerdings eine Analyse der weitreichenden Exemplifizierung in der betreffenden Entscheidung entgegenstehen. Der Senat sieht einen „Griff in die Kasse“ immer dann, „wenn der Täter steuermindernde Umstände vortäuscht, indem er etwa tatsächlich nicht vorhandene Betriebsausgaben vortäuscht oder nicht bestehende Vorsteuerbeträge geltend macht“.58 Das Vortäuschen steuermindernder Umstände kann nur dazu führen, dass ein bestehender Steueranspruch – etwa die Einkommensteuer – zu gering festgesetzt oder durchgesetzt wird. Dann ist aber Tatobjekt auch lediglich der einzelne Steueranspruch und damit ein Vermögensgegenstand, der auf der Eigenleistung des Täters beruht. Diese Ausführungen des Senats sind somit nicht mit einer Differenzierung nach Art des Rechtsgutsobjekts in Einklang zu bringen. Anders lag der Fall indes in der zugrunde liegenden Entscheidung. Hier wurden vom Täter keine steuermindernden Umstände geltend gemacht, sondern ein nicht bestehendes Umsatzsteuerguthaben mit anderen Steuerschulden, insbesondere der Lohnsteuer, verrechnet. Durch (vermeintliche) Verrechnung wird eine Steuerschuld aber nicht vermindert, sondern (vermeintlich) beglichen. Auf den ersten Blick mag dies für das angegriffene Tatobjekt keinen Unterschied machen. So könnte man meinen, dass auch im Falle der vermeintlichen Verrechnung mit anderen Steuerschulden der Steueranspruch nicht in voller Höhe beigetrieben wird, und damit am Ende lediglich ein Vermögensgegenstand, der auf Eigenleistung des Täters beruht, betroffen ist. Jedoch ließe dies unberücksichtigt, dass die Tat bereits mit Festsetzung des ungerechtfertigten Umsatzsteuerguthabens vollendet ist. Entscheidend ist also, wie sich die Gefährdungslage zu diesem Zeitpunkt beurteilt. Steht eine Auszahlung des Guthabens zu erwarten, ist das Vermögen des Staates, wie es sich aus den Leistungen der Allgemeinheit generiert, betroffen. Ist hingegen eine Verrechnung mit Steueransprüchen gegen den Steuerschuldner wahrscheinlich, sind diese Tatobjekt. In aller Regel ist diese Verrechnung bereits zum Zeitpunkt der Festsetzung zu erwarten, da die Steuererklärungen zeitgleich beim Finanzamt eingereicht werden. Auch die der Entscheidung des beruht die Entstehung der Steuerforderung auf einer einseitigen Leistung des Täters. Dies mag auch der Grund sein, warum eine entsprechende Diskussion beim Betrug nicht geführt wird. Ein Betrugsfall müsste – reichlich realitätsfremd – dergestalt liegen, dass die täuschungsbedingt nicht geltend gemachte Forderung auf einer Schenkung des Täters beruht. 58 BGH NStZ 2012, 331.
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2. Teil: Grundlagen der Strafzumessungsentscheidung
BGH zugrunde liegende Fallkonstellation lässt sich damit mit einer Differenzierung nach Art des Rechtsgutsobjekts nicht in Einklang bringen. Gegen eine Differenzierung nach Art des Rechtsgutsobjekts sprechen, neben den insoweit unstimmigen Ausführungen des Senats, auch sachliche Gesichtspunkte, die der Senat in seiner Entscheidung vom 27.10.2015 auch selbst benennt. So ist das „große Ausmaß“ seiner Natur nach ein erfolgsbezogenes Merkmal. Für dessen Anwendung kann deshalb nur der Umfang des Taterfolgs und nicht „die Art und Weise der Hinterziehung“ maßgeblich sein.59 Wie noch zu zeigen sein wird, betrifft die Art (oder besser: die Vorgeschichte) des Tatobjekts jedoch das Handlungsunrecht der Tat.60 Die Anwendung des Regelbeispiels hiervon abhängig zu machen, überzeugt nicht. Es ist somit festzuhalten, dass die Abkehr von der bisherigen Anlehnung an den „Vermögensverlust“ und die gleichzeitige Neuschöpfung der Kategorie des „Griffs in die Kasse“ des Staates eine Differenzierung nach Art des Tatobjekts vermuten ließen. Die vom Senat genannten Fälle eines „Griffs in die Kasse“ decken sich hiermit jedoch nicht. Auch die dem Senat zur Entscheidung vorgelegte Fallkonstellation wird sich regelmäßig als bloßes „Prellen der Zeche“ des Steuerzahlers darstellen. Das Vortäuschen steuermindernder Umstände führt auch nicht zu einem „echten Vermögensverlust“, sondern allenfalls zu einem „Gefährdungsschaden“, sodass sich der „Griff in die Kasse“ auch nicht als Fortschreibung der Anlehnung an die Auslegung des „Vermögensverlusts“ gem. § 263 Abs. 3 Nr. 2 StGB darstellt. (3) Differenzierung nach Qualität der Rechtsgutsbeeinträchtigung: Gefährdung – Verletzung Damit bleibt als der Rechtsprechung des BGH zu Grunde liegendes, einzig plausibles sachliches Differenzierungskriterium eine Unterscheidung nach Qualität der Rechtsgutsbeeinträchtigung. Gerade hier erscheint eine betragsmäßige Differenzierung auch notwendig, um den gravierenden Unterschieden im Erfolgsunrecht zwischen bloßer Gefährdung und Verletzung Rechnung zu tragen. In den Formulierungen des Senats sowie den Exemplifizierungen finden sich allerdings keine Hinweise darauf, dass dem Senat eine Abgrenzung nach der Qualität der Rechtsgutsbeeinträchtigung vorschwebte. Vielmehr bezieht sich der Senat zuletzt wieder deutlich auf eine Unterscheidung „zwischen Gefährdungsschaden und eingetretenem Schaden“.61 59 BGH
NStZ 2016, 288 (290). 3. Teil, 2. Kapitel, F. 61 BGH NStZ 2016, 288 (290). 60 Siehe
1. Kap.: Strafrahmenfindung119
Auch könnte einer Differenzierung nach der Qualität der Rechtsgutsbeeinträchtigung entgegengehalten werden, die Fälle lediglich konkreter Vermögensgefährdungen seien so selten,62 dass der 1. Senat ein anderes – praxisrelevanteres – Differenzierungskriterium im Auge gehabt haben muss. Die Betragsgrenze von 100.000 € hätte bei einer Differenzierung nach der Qualität der Rechtsgutsbeeinträchtigung praktisch kaum einen Anwendungsbereich. Der große Anwendungsbereich konkreter Vermögensgefährdungen wird jedoch offenkundig, wenn man die Sichtweise nicht lediglich auf das vollendete Delikt beschränkt. Beim Versuch der Steuerhinterziehung liegen typischerweise konkrete Vermögensgefährdungen vor, beim untauglichen Versuch freilich nur abstrakte. Diesem qualitativen Unterschied in der Art der Rechtsgutsbeeinträchtigung trägt der Gesetzgeber bei der Strafrahmenwahl im Allgemeinen durch die fakultative Strafrahmenmilderung nach § 23 Abs. 2 StGB Rechnung.63 Im Falle der Strafrahmenverschärfung aufgrund des Ausmaßes der Rechtsgutsbeeinträchtigung, wie in § 370 Abs. 3 Nr. 1 AO, besteht jedoch keine Notwendigkeit, die Entscheidung über die Anwendung dieses verschärften Strafrahmens in das Ermessen des Rechtsanwenders zu stellen. Lässt sich das zu einer erhöhten Mindeststrafe führende Ausmaß einer Rechtsgutsbeeinträchtigung für den Fall einer Rechtsgutsverletzung (betragsmäßig) bestimmen, muss dies auch für den Fall der bloßen Rechtsgutsgefährdung gelten. Der Vorteil der Differenzierung nach Qualität der Rechtsgutsbeeinträchtigung im Begriff des „großen Ausmaßes“ ist damit unschwer ersichtlich: die mit der Ermessensvorschrift des § 23 Abs. 2 StGB verbundene gesetzliche Unbestimmtheit, kann für die Fälle des § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 AO vermieden werden, was insbesondere im Hinblick auf die besonderen Anforderungen an Bestimmtheit und Verhältnismäßigkeit aufgrund des § 376 AO in den Regelbeispielen des § 370 Abs. 3 AO bedeutsam ist. Die Betragsgrenze von 100.000 € stellt dann klar, dass von der fakultativen Strafrahmenmilderung nach § 23 Abs. 2 StGB in den Fällen des § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 AO kein Gebrauch zu machen ist, da dieser Aspekt bereits über die Anwendung des tatbestandsähnlichen Merkmals des „großen Ausmaßes“ berücksichtigt ist. (4) Zwischenergebnis Welche Differenzierung dem 1. Senat bei der zwischenzeitlichen Aufstellung unterschiedlicher Betragsgrenzen für die Anwendung des Regelbeispiels 62 S. o.
1. Teil, 2. Kapitel, A., I., 2., c). zur Ratio der fakultativen Strafmilderung beim Versuch sowie zu den maßgeblichen Aspekten der Ermessensentscheidung Frisch, in: FS Spendel, S. 381 (385 ff., 390 f., 395 f., 399 ff., 404 ff., 407), der eine deliktsspezifische Anwendung und Konkretisierung des Ermessensspielraums fordert. 63 Vgl.
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2. Teil: Grundlagen der Strafzumessungsentscheidung
in § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 AO vorschwebte, ist auch nach eingehender Analyse der Rechtsprechung nicht eindeutig zu klären. Am wahrscheinlichsten erscheint eine Differenzierung zwischen „echtem Vermögensschaden“ und „Gefährdungsschaden“. Sie lässt sich jedoch – wie der BGH zurecht erkennt – nicht rechtfertigen. Der Grund hierfür liegt weniger in der tatbestandsmäßigen Gleichstellung in § 370 AO. Entscheidend ist, dass der Unrechtserfolg in beiden Fällen qualitativ gleichwertig ist. Bei qualitativer Gleichwertigkeit darf kein quantitativer Unterschied gemacht werden. In seiner Entscheidung64 zum „Griff in die Kasse“ knüpfte der BGH für seine Differenzierung zeitweise an Modalitäten der Tathandlung an. Auch diese Anleihen wurden zurecht verworfen. Das „große Ausmaß“ ist ein erfolgsbezogenes Merkmal. Das Bild vom „Griff in die Kasse“ des Staates lässt sich jedoch für die Berücksichtigung einer weiteren Besonderheit in der Strafzumessung fruchtbar machen: die Art des Rechtsgutsobjekts / Tatobjekts. Wird das Vermögen, sowie es sich aus dem Steueraufkommen der Allgemeinheit generiert, betroffen, liegt ein „Griff in die Kasse“ vor. Dem ist das „Prellen der Zeche“ des Steuerzahlers durch den Angriff auf einen vom Täter selbst zur Entstehung verholfenen Vermögenswert des Staates gegenüberzustellen. In der Sache zu überzeugen vermag einzig eine Differenzierung zwischen Verletzung und bloßer Gefährdung des Rechtsgutsobjekts. Diese setzt am Erfolgsunrecht an und betrifft dort einen maßgeblichen Aspekt, nämlich die Qualität des Erfolgs. Damit steht freilich noch nicht fest, ob auch die Anwendung unterschiedlicher Betragsgrenzen bei der Anwendung des „großen Ausmaßes“ überzeugt. c) Die Differenzierung im Betrag Soweit die betragsmäßige Differenzierung kritisiert wurde, betraf dies nicht die Höhe der Beträge, sondern eine betragsmäßige Abstufung an sich. Gestützt auf gesetzessystematische, gesetzeshistorische und Praktikabilitätsüberlegungen wurde sich stattdessen teilweise für einen einheitlichen Schwellenwert von 50.000 € ausgesprochen.65 Der BGH ist diesen Forderungen mit teilweise übereinstimmender Argumentation nun gefolgt.66 Zum einen wird ein systematischer Vergleich mit den Regelbeispielen des Kernstrafrechts hierfür geltend gemacht. Die in den §§ 263 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 64 BGH
NStZ 2012, 331. wistra 2012, 216. 66 BGH NStZ 2016, 288. 65 Rolletschke/Roth,
1. Kap.: Strafrahmenfindung121
Alt. 1, 263a Abs. 2, 264 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 2. Alt, 266 Abs. 2, 300 S. 2 Nr. 1 StGB vorgenommene Differenzierung zwischen einem Vermögensverlust einerseits und einer Vermögensgefährdung, für welche die genannten Regelbeispiele nicht anzuwenden sind,67 andererseits sei auf das Steuerstrafrecht nicht übertragbar, da § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 AO erkennbar Fälle der bloßen Gefährdung miteinschließt.68 Darüber hinaus seien Regelbeispiele ohnehin grundsätzlich tatbestandsspezifisch auszulegen.69 Vor dem Hintergrund letzterer Erkenntnis fällt jedoch bereits die eigene Argumentation in sich zusammen. Denn wenn keinerlei Wertung übertragen werden kann, betrifft dies auch das argumentum e contrario.70 Aber auch ohne diesen Ansatz überzeugt es nicht, bei der Auslegung einer Norm eine Differenzierung zu versagen, nur weil bei systematisch vergleichbaren Normen bereits der Gesetzgeber differenziert. Des Weiteren wird die Gesetzessystematik des Steuerstrafrechts angeführt. In §§ 371 Abs. 2 Nr. 3, 398a AO a. F. stellte der Gesetzgeber eine einheitliche Betragsgrenze von 50.000 € auf. Da die §§ 371 Abs. 2 Nr. 3, 398a AO ebenso wie § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 AO die Frage der Strafwürdigkeit des Täters und damit Gesichtspunkte der Strafe bzw. Strafzumessung beträfen, sei die dort vorgenommene eindeutige Betragsgrenze auch auf § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 AO zu übertragen.71 Der Übertragung von Wertungen der Selbstanzeigeregelung auf die Strafzumessung stehen jedoch die bereits genannten grundsätzlichen Bedenken entgegen.72 Zu Recht wurden die §§ 371 Abs. 2 Nr. 3, 398a AO a. F. für das Abstellen auf einen pauschalen Hinterziehungsbetrag von 50.000 € ohne Differenzierung nach Art der Rechtsgutsbeeinträchtigung oder Hinterziehung auf Zeit oder Dauer, mithin nach Intensität des Unrechts der Tat, kritisiert.73 Rechtfertigen lässt sich die Regelung deshalb auch nur vor dem Hintergrund der besonderen Zwecksetzung des § 371 AO. Von einer solchen Regelung kann kein gesetzessystematischer Rückschluss auf die Auslegung des § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 AO gezogen werden. Mit der Absenkung der Betragsgrenze des § 371 Abs. 2 Nr. 3 AO auf 25.000 € zum 1.1.2015 ist dies offensichtlich geworden. 67 Schönke/Schröder/Perron,
§ 263 Rn. 188c m. w. N. wistra 2012, 216 (217 f.); ähnlich der BGH NStZ 2016, 288 (290), wenn er darauf abstellt, dass das Gesetz „in § 370 AO nicht zwischen der Gefährdung des Steueranspruchs und dem Eintritt des Vermögensschadens beim Staat“ unterscheide. 69 Rolletschke/Roth, wistra 2012, 216 (217). 70 So wohl auch Pflaum, wistra 2012, 376 (377). 71 Rolletschke/Roth, wistra 2012, 216 (217 f.). 72 S. o. 1. Teil, 4. Kapitel, C. 73 Vgl. Klein/Jäger, § 371 Rn. 79. 68 Rolletschke/Roth,
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2. Teil: Grundlagen der Strafzumessungsentscheidung
Rolletschke / Roth führen weiter gesetzeshistorische Argumente ins Feld. Sie sehen in der Bezugnahme74 in der Beschlussempfehlung und dem Bericht des Finanzausschusses zu verschiedenen Gesetzesentwürfen, auf denen das Schwarzgeldbekämpfungsgesetz beruhte, auf das Urteil des BGH vom 2.12.2008 eine „gesetzeshistorische Legaldefinition“ des Merkmals „in großem Ausmaß“ mit einer Betragsgrenze von 50.000 €.75 Eine gesetzeshistorische Auslegung nur unter Berufung auf Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ist jedoch vom rechtsmethodischen Ansatz her problematisch. Das BVerfG vertritt in ständiger Rechtsprechung eine „objektive Gesetzesauslegung“, für die der „objektivierte Wille des Gesetzgebers maßgeblich ist.“76 Eine „gesetzeshistorische Legaldefinition“ des Merkmals „in großem Ausmaß“ durch die (inzwischen überholte) Neuregelung der Selbstanzeigevorschrift kann – auch vor dem Hintergrund des unterschiedlichen Sinnzusammenhangs der Vorschriften – daher weder in die eine noch in die andere Richtung77 gesehen werden.78 Für die Anwendung eines einheitlichen Schwellenwertes wird ferner der Gewinn an Rechtssicherheit geltend gemacht.79 Dem Argument mag im Hinblick auf § 376 AO Gewicht zukommen. Zu bedenken bleibt allerdings, dass hinter der Differenzierung auch gravierende sachliche Unterschiede im Erfolgsunrecht der Tat stehen. Eine einheitliche Betragsgrenze birgt die Gefahr, dass den Unterschieden im Unrechtsgehalt nicht hinreichend Rechnung getragen wird. Eine schematische Strafzumessung würde gefördert werden. Die Anknüpfung an unterschiedliche Betragsgrenzen fordert dem Rechtsanwender nur das ab, was er ohnehin bei Zumessung der schuldgerechten Strafe zu tun verpflichtet ist. Die Frage welche Qualität die Rechtsgutsbeeinträchtigung hat, ist auch keine richterliche Wertungsfrage, sondern eine – in manchen Grenzfällen freilich nicht ganz einfach einzuordnende – Tatsachenfrage. Die gewonnene Rechtssicherheit ist daher nur eine vordergründige. Da die Abgrenzung aber ohnehin durchzuführen ist, spricht letztlich nicht nur die Einzelfallgerechtigkeit – gerade auch im Hinblick auf die weitreichenden Rechtsfolgen nach § 376 AO – für die Berücksichtigung im Rahmen des 74 BT-Drucks.
XVII/5067, S. 20 ff. wistra 2012, 216 (218). 76 BVerfGE 11, 126 (130 f.): „Nachkonstitutioneller Betätigungswille“; vgl. auch BVerfGE 110, 226 (248). 77 Der BGH sieht in den Beratungen zu dem Entwurf des Schwarzgeldbekämpfungsgesetzes (BT-Drucks. XVII/4182 und XVII/4802) und der Beschlussempfehlung und dem Bericht des Finanzausschusses (BT-Drucks. XVII/5067 neu) eine Billigung des Gesetzgebers der „Auslegung des Regelbeispiels durch den Senat“, BGH NStZ 2011, 643. 78 Ebenso Pflaum, wistra 2012, 376 f. 79 BGH NStZ 2016, 288 (290); Rolletschke/Roth, wistra 2012, 216 (218) m. w. N. 75 Rolletschke/Roth,
1. Kap.: Strafrahmenfindung
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Merkmals „großen Ausmaßes“. Es stellt auch sicher, dass die Abgrenzung in schwierigen Fallkonstellationen aus Praktikabilitätserwägungen nicht gänzlich außer Acht gelassen wird und schärft ganz grundsätzlich das Bewusstsein für die Berücksichtigung dieser Unterschiede im Unrechtsgehalt der Tat. Zusammenfassend: Weder die Gesetzessystematik noch die Gesetzeshistorie sprechen gegen eine betragsmäßige Differenzierung nach der Qualität der Rechtsgutsbeeinträchtigung im Rahmen des Merkmals „großen Ausmaßes“. Sie ist vielmehr als grundsätzlicher Hinweis für dessen Relevanz für die Strafzumessung wichtig und im Hinblick auf die nicht unerheblichen Auswirkungen der Verwirklichung dieses Regelbeispiels (§ 376 AO) auch richtig. Einer Abkehr des BGH von seiner bisherigen Rechtsprechung hätte es nicht bedurft. Mit der betragsmäßigen Differenzierung im Rahmen des Regelbeispiels des „großen Ausmaßes“ hat der BGH den erfreulichen Versuch unternommen durch Kasuistik Rechtssicherheit und Einzelfallgerechtigkeit gleichermaßen Rechnung zu tragen. Eine Klar- oder Richtigstellung bezüglich des sachlichen Anknüpfungspunkts für die Differenzierung im Sinne einer Unterscheidung nach Qualität der Rechtsgutsbeeinträchtigung wäre die überzeugendere Lösung gewesen. d) Addition der Hinterziehungsbeträge bei Tateinheit „Der Senat ist der Ansicht, dass bei mehrfacher tateinheitlicher Verwirklichung des Tatbestandes der Steuerhinterziehung das ‚Ausmaß‘ des jeweiligen Taterfolges zu addieren ist, da in solchen Fällen eine einheitliche Handlung im Sinne des § 52 StGB vorliegt, die für die Strafzumessung einer einheitlichen Bewertung bedarf.“80
Dem wird zu Recht entgegengehalten, die Annahme des Regelbeispiels teilweise von Zufälligkeiten abhängig zu machen.81 Ursächlich hierfür ist die Schwierigkeit der Abgrenzung von Tateinheit und Tatmehrheit in Fällen der Steuerhinterziehung. Die Problematik besteht dabei darin, dass mit dem äußeren Verhalten der Abgabe oder Nichtabgabe einer Erklärung und dem rechtlichen Inhalt der Steuererklärung zwei unterschiedliche Anknüpfungspunkte gegeben sind. Der BGH ist der Ansicht Tateinheit liege nicht bereits dann vor, wenn die Abgabe mehrerer Steuererklärungen in einer äußeren Handlung zusammenfällt. Hinzukommen muss, dass die einzelnen Erklärungen auch inhaltlich übereinstimmende Falschangaben enthalten.82 In der Literatur wird hingegen vorgeschlagen es für die Beurteilung der Tateinheit bei der herkömmlichen Dogmatik zu belassen, und dem Kriterium der Recht80 BGHSt
53, 71 (85). § 370 Rn. 1099.3. 82 BGHSt 33, 163; BGH wistra 1989, 267; BGH wistra 1993, 222; BGH wistra 2008, 22 (25). 81 Kohlmann/Schauf,
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2. Teil: Grundlagen der Strafzumessungsentscheidung
sprechung erst auf Ebene des prozessualen Tatbegriffs Bedeutung zukommen zu lassen.83 Für die Frage des „großen Ausmaßes“ sei auch bei tateinheitlicher Begehung immer nur auf den Betrag jeder einzelnen Steuerart abzustellen.84 Denn andernfalls würde der Unterlassungstäter – bei dem hinsichtlich verschiedener Steuerarten stets Tatmehrheit anzunehmen ist85 – privilegiert. Hinsichtlich des Begehungstäters käme es auf die Zufälligkeit an, ob er mehrere Steuererklärungen zusammen oder getrennt voneinander abgegeben hat.86 Im Ausgangspunkt ist das Bestreben des BGH, bei der Strafzumessung eine einheitliche Handlung auch einheitlich zu bewerten, richtig. Der im Einzelfall gegebene inhaltliche Zusammenhang mehrerer Steuererklärungen würde bei der von der Literatur vorgeschlagenen strengen Einzelbetrachtung jeder Steuerart nicht hinreichend gewürdigt werden. Durch das Anknüpfen an die bei der Steuerhinterziehung problematische Abgrenzung von Tateinheit und Tatmehrheit ergeben sich jedoch unweigerlich die genannten Folgeprobleme. Während diesen grundsätzlich aufgrund der bloßen Indizfunktion eines Regelbeispiels noch hinreichend flexibel begegnet werden könnte, ergibt sich beim Delikt der Steuerhinterziehung durch § 376 AO das aufgezeigte Bedürfnis die Einzelfallgerechtigkeit bereits im Rahmen des Regelbeispiels selbst durchzusetzen. Daher ist es meines Erachtens sinnvoll, für die Berechnung des „großen Ausmaßes“ nicht an die Frage der Tateinheit anzuknüpfen, sondern (unabhängig von der äußeren Erklärungshandlung) einzig auf den inhaltlichen Zusammenhang der Erklärungen abzustellen.
III. § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 AO Nach § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 AO wird aus dem schärferen Strafrahmen auch bestraft, wer seine Befugnisse oder seine Stellung als Amtsträger missbraucht. Der Amtsträgerbegriff wird in §§ 11 Abs. 1 Nr. 2 StGB, 7 AO legaldefiniert. Der Streit, ob § 369 Abs. 2 AO i. V. m. § 7 AO als lex specialis § 11 Abs. 1 Nr. 2 StGB vorgeht, ist aufgrund des nahezu identischen Wortlauts wohl rein akademischer Natur.87 83 Joecks/Jäger/Randt/Joecks,
§ 370 Rn. 723 ff. § 370 Rn. 1099.3. 85 Klein/Jäger, § 370 Rn. 242. 86 Kohlmann/Schauf, § 370 Rn. 1099.3. 87 Für einen Vorrang des § 7 AO: Joecks/Jäger/Randt/Joecks, § 370 Rn. 576; MünchKomm/Schmitz/Wulf, § 370 AO, Rn. 429; für eine Anwendbarkeit des § 11 Abs. 1 Nr. 2 StGB: Hübschmann/Hepp/Spitaler/Engelhardt, § 370 AO, Rn. 378 (170. Ergänzungslieferung), mit dem richtigen Hinweis, dass § 7 AO nicht zu den Strafvorschriften der Steuergesetze gehört; ebenso Rolletschke/Kemper/Rolletschke, § 370 AO, Rn. 171. 84 Kohlmann/Schauf,
1. Kap.: Strafrahmenfindung125
Von größerer praktischer Relevanz ist die Frage, ob § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 AO auf Amtsträger der Finanz- oder sonst mit Steuerangelegenheiten befassten Behörden beschränkt ist, insbesondere also die Veranlagungssachbearbeiter und die entsprechenden Sachgebiets- und Dienststellenleiter. Hierfür spricht sich ein Teil der Literatur aus mit der Begründung, Sinn und Zweck des § 370 Abs. 3 AO erfordere eine entsprechend restriktive Anwendung des Regelbeispiels.88 In der Rechtsprechung finden sich Hinweise auf eine entsprechende Auslegung. So soll nach Auffassung des OLG Brandenburg ein Beamter des Bundesgrenzschutzes nicht nach § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 AO zu bestrafen sein, wenn er bei Dienstfahrten in Uniform und Dienstwagen Zigaretten unverzollt einführt.89 Dass der Amtsträgerbegriffs in § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 AO gegenüber systematisch vergleichbaren Regelbeispielen des Kernstrafrechts (§§ 263 Abs. 3 S. 2 Nr. 4, 264 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 StGB) im Steuerstrafrecht grundsätzlich einen geringeren Anwendungsbereich haben soll, muss jedoch bezweifelt werden. Das Argument des Telos der besonders schweren Fälle vermag bei genauerer Betrachtung jedenfalls nicht recht zu überzeugen. Die Strafschärfung des § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 AO ergibt sich im Wesentlichen aus der gesteigerten Gefährlichkeit der Tatbegehung unter Missbrauch der Amtsträgerstellung. Wie gefährlich die Tatbegehung dabei in concreto ausfällt, richtet sich nach den sich aus der Amtsträgerstellung ergebenden faktischen Einwirkungsmöglichkeiten. Diese sind bei Finanzbeamten in der Regel freilich höher als bei sonstigen Amtsträgern. Denkbar sind jedoch nicht unerhebliche Einwirkungsmöglichkeiten auch bei außerhalb der Finanzbehörden tätigen Personen. Wenn etwa ein Beamter des Bundesgrenzschutzes in Zusammenarbeit mit dem Zoll Kontrollen durchführt und gerade aufgrund seiner Amtsstellung von seinen Kollegen dabei nicht selbst kontrolliert wird, eröffnen sich ihm hieraus besondere Handlungsmöglichkeiten. Genügen die sich aus der Amtsträgerstellung ergebenden Handlungsmöglichkeiten nicht, um von einer hinreichend gesteigerten Gefährlichkeit des Verhaltens auszugehen, ist dies nicht über eine restriktive Auslegung des Amtsträgerbegriffs zu lösen, sondern über das Merkmal des „Missbrauchs“. Ein solcher Täter missbraucht nicht seine Amtsträgerstellung, sondern begeht die Tat unabhängig von selbiger. Das Missbrauchsmerkmal erfordert in diesem Sinne, dass die gesteigerte Gefährlichkeit der Tatbegehung (als ungeschriebener, besonderer Erfolg des § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 AO) der Amtsträgerstellung zurechenbar ist. Wo dies nicht der Fall ist, liegt kein Missbrauch vor. Eine besondere, restriktive Auslegung des Amtsträgerbegriffs in § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 AO wird damit entbehrlich. Die Lösung über 88 Joecks/Jäger/Randt/Joecks, § 370 Rn. 576; Kohlmann/Schauf, § 370 Rn. 1100; Tormöhlen, AO-StB 2011, 153 (155); Weyand, wistra 1988, 180 (181); a. A. MünchKomm/Schmitz/Wulf, § 370 AO, Rn. 429. 89 OLG Brandenburg wistra 2005, 315; ebenso LG Dresden NStZ-RR 1999, 371.
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2. Teil: Grundlagen der Strafzumessungsentscheidung
das Missbrauchsmerkmal verspricht darüber hinaus flexiblere Ergebnisse auch für Fälle der Tatbegehung durch Finanzbeamte. Ein weiterer Grund für die Strafschärfung des § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 AO wird ersichtlich, wenn man den Blick über die gegenständliche Rechtsgutsverletzung hinaus auf die ideelle Unrechtsbeeinträchtigung wirft: Die in der Straftat liegende Infragestellung des Rechts wiegt ungemein schwerer, wenn derjenige, der der Norm ihre Geltungskraft abspricht, eigentlich gerade mit ihrer Durchsetzung beauftragt ist. Denn eine solche Person stellt durch die Zuwiderhandlung nicht nur die Geltungskraft der Norm für die ihn als Steuerzahler betreffenden Fälle in Frage, sondern latent auch für die zahlreichen Fälle in denen er zur Durchsetzung beauftragt ist und damit gleichsam auf der anderen Seite der kommunikativen Verständigung über die Normgeltung steht. Die Infragestellung des Rechts durch eine solche Person ist in der Folge auch geeignet das Normvertrauen und damit die präventive Wirkkraft der Sanktionsnorm in besonderem Maße zu erschüttern. Wenn noch nicht einmal die Finanzbeamten selbst für eine gleichmäßige und gerechte Lastenverteilung eintreten, sinkt der Glaube an die allgemeine Durchsetzung dieses Normziels sowie die eigene Bereitschaft hierzu erheblich.90 Auch unter diesem Aspekt der Strafschärfung ist jedoch nicht für eine Einschränkung des Amtsträgerbegriffs auf Finanzbeamte zu plädieren. Vielmehr zeigt das durch das Besteuerungssystem geschaffene besondere Potenzial der Infragestellung des Rechts durch bestimmte Amtsträger lediglich deren gegenüber entsprechenden Strafschärfungsvorschriften anderer Delikte erhöhte Strafwürdigkeit in solchen Fällen auf. Bei der Begehung der Tat durch einen Finanzbeamten wirkt sich des Weiteren eine Grundsatzfrage der Tatbestandsmäßigkeit auf den Anwendungsbereich des § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 AO aus. Geht man vom ungeschriebenen Tatbestandsmerkmal der Unkenntnis der Finanzbehörde aus,91 ist das Regelbeispiel nicht durch den zuständigen Finanzbeamten zu verwirklichen. Ob dieses Verständnis der Tatbestandsmäßigkeit zutreffend ist, soll hier nicht entschieden werden. Es ist jedoch festzuhalten, dass sich – entgegen den Andeutungen des BGH92 – aus § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 AO kein Argument gegen das Erfordernis der Unkenntnis der Finanzbehörde entnehmen lässt. Denn sowohl der Alternative des Missbrauchs der Amtsträgerstellung als auch der Alternative des Befugnismissbrauchs verbleibt selbst bei entsprechend engem Tatbestandsverständnis ein denkbarer Anwendungsbereich. 90 Vgl. auch AG Lübeck wistra 2004, 77: „Generalpräventive Erwägungen wie das Interesse der Bevölkerung und der Finanzverwaltung an ehrlichen und zuverlässigen Bediensteten müssen im Vordergrund stehen […].“ 91 S. Nachweise in Teil 1 Fn. 98, S. 48. 92 Siehe Teil 1 Fn. 97, S. 48. Ebenso AG Lübeck wistra 2004, 77.
1. Kap.: Strafrahmenfindung
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Dazu sind die beiden Alternativen zunächst einmal voneinander abzugrenzen: Während ein Handeln innerhalb der Zuständigkeit als Missbrauch der Befugnisse gilt, stellt der Missbrauch der Amtsträgerstellung ein Ausnutzen sonstiger durch das Amt gegebener faktischer Handlungsmöglichkeit dar.93 In erster Linie ist beim Missbrauch von Amtsträgerbefugnissen an die Befugnisse des zuständigen Finanzbeamten zu denken. Doch können auch andere Finanzbeamte, etwa dem zuständigen Sachbearbeiter vorgesetzte Personen, im Rahmen ihrer Zuständigkeit (z. B. für die Erstellung von Dienstplänen und die allgemeine Behördenorganisation) Befugnisse zur Einwirkung auf eine bestimmte Veranlagung ausnutzen.94 Der Alternative des Befugnismissbrauchs verbleibt damit in jedem Fall ein denkbarer Anwendungsbereich. Zu beachten ist darüber hinaus die Rechtsprechung des BGH zum Konkurrenzverhältnis des Regelbeispiels in § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 AO zum regelmäßig in diesen Fällen mitverwirklichten Untreuetatbestand: „Zwar erfaßt das Regelbeispiel nach § 370 III Nr. 2 AO typischerweise den Unrechtsgehalt des Untreuetatbestandes. Da es sich aber insoweit nach der Systematik des Gesetzes lediglich um eine Strafzumessungsregel und nicht um eine tatbestandliche Änderung handelt, hat dies trotz der Annäherung der Regelbeispiele an Tatbestandsmerkmale keine Auswirkung auf die Frage der Konkurrenzen. Soweit dies teilweise – zum Beispiel im Rahmen des § 243 StGB im Verhältnis zu §§ 303 und 123 StGB abweichend beurteilt wird (vgl. dazu Tröndle aaO, § 243 Rdnr. 45) – kann daraus jedenfalls kein allgemeiner Grundsatz hergeleitet werden. Allerdings muss der Tatrichter bei einer Verurteilung aus dem erhöhten Strafrahmen des § 370 III Nr. 2 AO darauf Bedacht nehmen, dass damit regelmäßig das typische Unrecht des Straftatbestandes nach § 266 StGB abgegolten ist und nicht nochmals strafschärfend berücksichtigt werden darf.“95
Die Rechtsprechung ist angesichts der Stellung der besonders schweren Fälle als Strafzumessungsvorschriften aus dogmatischer Sicht zu begrüßen. Ist das Regelbeispiel erfüllt, verbleibt die Frage, ob das Indiz für einen besonders schweren Fall im Einzelfall widerlegt werden kann. Dem hohen Stellenwert des Hinterziehungsbetrages96 für die Strafzumessung entsprechend wird dies vorwiegend dann in Frage kommen, wenn eine Steuerverkürzung in geringem Umfang vorliegt. Ab welchem Betrag hier von einer 93 MünchKomm/Hefendehl, § 263 StGB, Rn. 782; NK/Kindhäuser, § 263 Rn. 398; LK/Tiedemann, § 263 Rn. 301; MünchKomm/Schmitz/Wulf, § 370 AO, Rn. 430 f. 94 Ähnlich MünchKomm/Schmitz/Wulf, § 370 AO, Rn. 430, die allerdings mit Verweis auf BGH wistra 1998, 64, folgendes Beispiel anführen: Der für die Veranlagungsentscheidung unzuständige Beamte fingiert unter Ausnutzung des EDV-Systems einen Steuererstattungsfall. Hierbei dürfte es sich wohl eher um das Ausnutzen faktischer Handlungsmöglichkeiten der Amtsträgerstellung handeln. 95 BGH NStZ 1998, 91. 96 Hierzu ausführlich 2. Teil, 2. Kapitel, B.; 3. Teil, 1. Kapitel.
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2. Teil: Grundlagen der Strafzumessungsentscheidung
Widerlegung der Indizwirkung des Regelbeispiels auszugehen ist, wird unterschiedlich beurteilt. Das LG Saarbrücken geht davon aus, dass dies bei Beträgen unter 1700 DM der Fall sei.97 Weyand hingegen schlägt vor, die Grenze deutlich niedriger (50 DM) zu ziehen und betont dabei die „Interessen der Finanzbehörde an zuverlässigen und gut arbeitenden Bediensteten“ sowie die „Notwendigkeit der Berücksichtigung generalpräventiver As pekte“.98 Soweit damit die beim Delikt der Steuerhinterziehung gesteigerte Bedeutung der ideellen Unrechtsbeeinträchtigung bei der Begehung durch Finanzbeamte gemeint ist, ist dem zuzustimmen. Für eine Widerlegung der Indizwirkung des § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 AO kann es meines Erachtens daher nicht genügen, dass sich die Hinterziehungsbeträge in einem Bereich bewegen, in dem üblicherweise keine Notwendigkeit der Bestrafung besteht, die mithin durch Einstellung des Verfahrens erledigt werden. Erst wenn es sich der Höhe nach um eine Bagatelle (ca. 50 €) handelt, ist der Fall nicht mehr als besonders schwer zu bewerten.
IV. § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 3 AO § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 3 AO stellt das Ausnutzen der Mithilfe eines Amtsträgers, der seine Befugnisse oder seine Stellung missbraucht, in der Regel unter eine erhöhte Strafdrohung, wobei der Amtsträger täterschaftlich als Mittäter oder Nebentäter99 sowie als Teilnehmer tätig werden kann. Voraussetzung ist damit zunächst, dass ein Fall des § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 AO vorliegt, womit die dortigen Fragen zum Anwendungsbereich auch für § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 3 AO relevant werden. Für ein „Ausnutzen der Mithilfe“ ist zwingende, aber auch hinreichende Voraussetzung, dass der Täter Kenntnis von dem Missbrauch durch den Amtsträger hat.100 Es wird allgemein angenommen, dass der Täter selbst nicht Amtsträger sein dürfe, sondern Außenstehender sein müsse.101 Diese Annahme erweist 97 LG
202.
Saarbrücken wistra 1988, 202; ebenso bereits AG Saarbrücken wistra 1988,
98 Weyand,
wistra 1988, 180 (184). nur schwer vorstellbare Konstellation wird in der einschlägigen Literatur nicht diskutiert. Solange der Täter allerdings Kenntnis von der Mithilfe des in Nebentäterschaft handelnden Amtsträgers hat, steht der Annahme des § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 3 auch hier nichts entgegen. Zur parallelen Problematik bei § 264 Abs. 2 Nr. 3 StGB mit gleichem Ergebnis NK/Hellmann, § 264 Rn. 148, LK/Tiedemann, § 264 Rn. 153; MünchKomm/Wohlers, § 264 StGB, Rn. 139; a. A. SK-StGB/ Hoyer, § 264 Rn. 93; Schönke/Schröder/Perron, § 264 StGB Rn. 78. 100 Kohlmann/Schauf, § 370 Rn. 1111. 101 Flore/Tsambikakis, § 370 AO, Rn. 580; Joecks/Jäger/Randt/Joecks, § 370 Rn. 577; Kohlmann/Schauf, § 370 Rn. 1111; MünchKomm/Schmitz/Wulf, § 370 AO, Rn. 432. 99 Diese
1. Kap.: Strafrahmenfindung129
sich jedoch bei genauerer Betrachtung zumindest als fraglich. Der Wortlaut der Norm gibt diese Auslegung jedenfalls nicht zwingend vor.102 Telos des § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 3 AO ist der gesteigerten Gefährlichkeit und Infragestellung des Rechts einer Tat Rechnung zu tragen, bei der – ebenso wie in § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 AO – die Befugnisse oder die Stellung eines Amtsträgers missbraucht wurden. Derjenige, der sich einen solchen Missbrauch bewusst zu Nutze macht, ist gleich dem missbräuchlich handelnden Amtsträger verschärft zu bestrafen. Ein in solcher Weise erhöhter Unrechtsgehalt ist erst Recht dann gegeben, wenn der ausnutzende Täter selbst ebenfalls Amtsträger ist. Dem kann auch nicht entgegnet werden, ein solcher Täter sei ohnehin bereits nach § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 AO zu bestrafen, denn damit würde gegebenenfalls dem doppelten Missbrauch der Befugnis oder Stellung einer Amtsträgerschaft und der damit einhergehenden gesteigerten Gefährlichkeit nicht hinreichend Rechnung getragen werden. Auch wäre ein Amtsträger gegenüber sonstigen Tätern besser gestellt. Zwar ist im Urteilstenor bei Vorliegen mehrerer besonders schwerer Fälle nur auf einen schweren Fall zu erkennen. Der Richter hat jedoch, will er etwa trotz Vorliegens eines Regelbeispiels nicht auf einen besonders schweren Fall erkennen, dies genau zu begründen, was bei Vorliegen der Indizwirkung eines weiteren Regelbeispiels schwerer fällt. Amtsträger aus dem Anwendungsbereich des § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 3 AO auszunehmen, vermag daher im Ergebnis nicht zu überzeugen.
V. § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 4 AO Nach § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 4 AO ist ein besonders schwerer Fall in der Regel auch dann gegeben, wenn unter Verwendung nachgemachter oder verfälschter Belege fortgesetzt Steuern verkürzt oder nicht gerechtfertigte Steuervorteile erlangt werden. Hierbei finden die Grundsätze der Urkundendelikte Anwendung.103 Belege i. S. v. § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 4 AO sind daher Urkunden, die zum Beweis über steuerlich erhebliche Tatsachen geeignet sind (vgl. § 147 Abs. 1 Nr. 4 und 5, § 143 Abs. 3 Nr. 5, § 144 Abs. 3 Nr. 5 AO)104 oder aber technische Aufzeichnungen105 wie Kassenzettel oder Lohnkonten i. S. d. Flore/Tsambikakis, § 370 AO, Rn. 580. wistra 1990, 26; Joecks/Jäger/Randt/Joecks, § 370 Rn. 578; MünchKomm/Schmitz/Wulf, § 370 AO, Rn. 434. 104 Insbesondere Buchungsbelege wie Quittungen, Rechnungen, Lieferscheine oder Warenbestandsaufnahmen, Rolletschke/Kemper/Rolletschke, § 370 AO, Rn. 178. 105 Offengelassen in BGH NStZ 1989, 272; vgl. auch MünchKomm/Schmitz/Wulf, § 370 AO, Rn. 430, mit dem zutreffenden Hinweis, dass bei technischen Aufzeichnungen jedenfalls die besonderen Voraussetzungen des § 268 StGB vorliegen müssen, so dass etwa die auf einer unvollständigen Eingabe der Bareinnahmen beruhenden Kassenbelege für eine Annahme des Regelbeispiels nicht ausreichend wären. 102 A. A.
103 BGH
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2. Teil: Grundlagen der Strafzumessungsentscheidung
§ 41 EStG. Nachgemacht oder verfälscht sind die Belege ausschließlich dann, wenn sie „unechte Urkunden“ i. S. d. § 267 Abs. 1 Var. 1 StGB darstellen.106 Hiervon zu unterscheiden ist die so genannte „schriftliche Lüge“, die etwa beim Erstellen von Scheinrechnungen vorliegt. Ein solcher inhaltlich unrichtiger Beleg erfüllt das Regelbeispiel des § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 4 AO nicht.107 Zu denken ist hier allerdings an die Annahme eines unbenannten besonders schweren Falles.108 Auch wenn die Erstellung von Scheinrechnungen kein eigenständig strafrechtlich relevantes Unrecht darstellt, vermag sie doch in gleichem Maße wie unechte Urkunden die Gefährlichkeit einer Steuerhinterziehung zu erhöhen. Für ein „Verwenden“ i. S. v. § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 4 AO ist erforderlich, dass der Täter die entsprechenden Belege seiner Steuererklärung beifügt.109 Finden die nachgemachten oder verfälschten Belege lediglich Eingang in die Buchführung und das Zahlenwerk der Steuererklärung, ist das Regelbeispiel nicht verwirklicht, wobei auch hier an einen unbenannten besonders schweren Fall zu denken ist.110 Der Täter muss die Steuern schließlich „fortgesetzt“ verkürzen oder nicht gerechtfertigte Steuervorteile erlangen. Hierfür muss er nach einhelliger Auffassung mindestens zwei Steuerhinterziehungen unter Vorlage unrichtiger Belege begangen haben.111 Ist das Regelbeispiel des § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 4 AO erfüllt, steht die Steuerhinterziehung in der Regel in Tateinheit mit einer Urkundenfälschung in Form des Gebrauchmachens von einer unechten Urkunde gem. § 267 Abs. 1 3. Alt. StGB. Entsprechend der Rechtsprechung des BGH112 zu § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 AO ist auch bei der strafzumessungsrechtlichen Bewertung der Urkundenfälschung zu berücksichtigen, dass deren typischer Unrechtsgehalt bereits über das Regelbeispiel des § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 4 AO erfasst ist.
VI. § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 5 AO Nach dem zum 1.1.2008 neu eingefügten § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 5 AO verwirklicht ein Regelbeispiel auch, wer als Mitglied einer Bande, die sich zur fortgesetzten Begehung von Taten nach § 370 Abs. 1 AO verbunden hat, 106 BGH
wistra 1990, 26. BGH NStZ 1989, 272; BGH wistra 1990, 26. 108 Ebenso Wannemacher/Welnofer-Zeitler, Rn. 1450. 109 BGH wistra 2005, 144. 110 Rolletschke/Kemper/Rolletschke, § 370 AO, Rn. 183. 111 BGHSt 35, 374 (376 ff.); BGH wistra 1998, 265; Joecks/Jäger/Randt/Joecks, § 370 Rn. 578; Rolletschke/Kemper/Rolletschke, § 370 AO, Rn. 183; Kohlmann/ Schauf, § 370 Rn. 1121. 112 S. o. Fn. 95. 107 Vgl.
1. Kap.: Strafrahmenfindung
131
Umsatz- oder Verbrauchsteuern verkürzt oder nicht gerechtfertigte Umsatzoder Verbrauchsteuervorteile erlangt. Was das Merkmal „als Mitglied einer Bande“ anbelangt, so knüpft § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 5 AO an den Wortlaut der §§ 244 Abs. 1 Nr. 2, 250 Abs. 1 Nr. 2, 263 Abs. 5 StGB an, weshalb insoweit Einigkeit bezüglich des Rückgriffs auf die dortigen Begriffsdefinitionen besteht.113 Demgegenüber wurden zum Merkmal der „bandenmäßigen Steuerhinterziehung“ in § 370a AO a. F. zum Teil noch einschränkende Ansichten vertreten. So wurde etwa gefordert, es müsse sich bei jedem Bandenmitglied um einen Steuerpflichtigen handeln.114 Dies hat der Gesetzgeber für § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 5 AO ausdrücklich abgelehnt.115 Auch die Frage, ob bei einem legalen Zusammenschluss mehrerer Personen – etwa bei Gründung einer Personengesellschaft – allein dieser Zusammenschluss den Bandenbegriff erfüllt, wenn innerhalb dieses Unternehmens dann Umsatz- oder Verbrauchsteuerhinterziehungen stattfinden, ist auf Basis des allgemeinen Bandenbegriffs zu beantworten.116 Der Gesetzgeber hat das Regelbeispiel des § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 5 AO auf Umsatz- und Verbrauchsteuern beschränkt. Es stellt sich damit die Frage, ob bei bandenmäßiger Hinterziehung anderer Steuerarten ein so genannter „unbenannter besonders schwerer Fall“ angenommen werden kann. Im Gegensatz zu Merkmalen bei Tatbestandsqualifikationen ist bei Regelbeispielen die „Analogiewirkung“ eines dem Regelbeispiel ähnlichen Falles anerkannt.117 Erreicht jedoch der Fall trotz Ähnlichkeit nicht den Unrechts- und Schuldgehalt des kodifizierten Regelbeispiels, ist der Rückgriff auf den Sonderstrafrahmen abzulehnen (sog. Gegenschlusswirkung der Regelbeispiele).118 In der Literatur wird ganz einhellig eine solche „Gegenschlusswirkung“ des § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 5 für alle übrigen Steuerarten angenommen.119 113 Flore/Tsambikakis, § 370 AO, Rn. 591 f.; Klein/Jäger, § 370 Rn. 298 f.; Joecks/ Jäger/Randt/Joecks, § 370 Rn. 579 ff.; Rüping/Ende, DStR 2008, 13; Kohlmann/ Schauf, § 370 Rn. 1124 ff. 114 Spatscheck/Wulf, DB 2002, 292 (394 f.); eine Übersicht aller sonstigen Vorschläge einschränkender Auslegungen des § 370a AO a. F. findet sich bei Schneider, Die gewerbs- oder bandenmäßige Steuerhinterziehung (370a AO), S. 85 ff. 115 BT-Drucks. XVI/5846, S. 75. 116 Vgl. Wulf, wistra 2008, 321, 322 ff., der unter Hinweis auf BGH NJW 1998, 2913 und BGH wistra 2000, 298 das Vorliegen einer „Bande“ in der Regel verneint, da der Zweck des Zusammenschlusses gerade in der Begehung von Steuerhinterziehungen bestehen müsse; zum Meinungsstand bei § 370a AO a. F. Schneider, Die gewerbs- oder bandenmäßige Steuerhinterziehung (370a AO), S. 93 ff. 117 Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 607. 118 Fischer, § 46 StGB, Rn. 93. 119 Kohlmann/Schauf, § 370 Rn. 1126.1 ff.; MünchKomm/Schmitz/Wulf, § 370 AO, Rn. 442.
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2. Teil: Grundlagen der Strafzumessungsentscheidung
Dem kann allenfalls im Ergebnis, nicht aber in der Begründung zugestimmt werden. Der Hinterziehung von Umsatz- oder Verbrauchsteuern kommt per se gegenüber der Hinterziehung anderer Steuerarten kein derart wesentlich erhöhter Unrechts- oder Schuldgehalt zu.120 Auch in anderen Regelbeispielen oder im Grundtatbestand wird in der Strafandrohung nicht nach der Art der Steuer unterschieden. Bei der Kodifizierung des § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 5 AO hatte der Gesetzgeber vielmehr einen ganz bestimmten Falltypus im Blick: die so genannten „Umsatzsteuerkarusselle“, für deren effektive Bekämpfung er nach der Aufhebung des § 370a AO a. F. weiterhin ein Bedürfnis sah.121 Vom Anwendungsbereich werden allerdings auch andere Fallkonstellationen erfasst. So kann schon die von zwei Geschäftspartnern gemeinsam mit einem Steuerberater begangene Umsatzsteuerhinterziehung eine bandenmäßige Begehung i. S. v. § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 5 AO darstellen. Wieso in einem solchen Fall der Unrechts- und Schuldgehalt gegenüber einer gleichgelagerten Einkommensteuerhinterziehung derart erhöht sein soll, dass eine Strafrahmenschärfung angezeigt wäre, vermag nicht einzuleuchten. Die Strafschärfung ist daher in erster Linie nicht der Steuerart, sondern einer bestimmten Begehungsweise geschuldet, die nur regelmäßig auf die Hinterziehung einer bestimmten Steuerart gerichtet ist. Eine Gegenschlusswirkung des § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 5 AO in Bezug auf die bandenmäßige Hinterziehung anderer Steuerarten ist damit zwar im Ergebnis zu bejahen. Dies hat seinen Grund jedoch nicht in einem unter Schuldaspekten bedeutsamen Spezifikum der Steuerart an sich. Die Strafschärfung findet ihren Grund auch nicht darin, dass eine bandenmäßige Begehungsweise bei dieser Steuerart per se gefährlicher ist als bei anderen Steuerarten. Bei sog. „Karussellgeschäften“ lässt sich allerdings aufgrund des spezifischen Vorgehens sehr wohl von einer außergewöhnlich gefährlichen Begehungsweise sprechen.122 Ihnen liegt eine gute Organisation mehrerer Beteiligter zu Grunde, wobei die einzelnen Glieder der Kette leicht 120 S.u.
3. Teil, 2. Kapitel, G. XVI/5846, S. 4. 122 Die typische Konstellation eines Umsatzsteuerkarussells stellt sich wie folgt dar (s. hierzu auch anschaulich Gehm, Kompendium Steuerstrafrecht, S. 147; Gehm, NJW 2012, 1257 ff.): Ein Händler im EU-Ausland liefert umsatzsteuerfrei (§§ 4 Nr. 1b; 6a UStG bzw. die vergleichbaren Vorschriften der anderen EU-Staaten) an einen Unternehmer im Inland (sog. „Missing Trader“). Dieser veräußert die Ware an einen dritten Unternehmer weiter. Dabei kommt der Missing Trader häufig seinen Erklärungspflichten, jedenfalls aber seinen Zahlungspflichten aus der umsatzsteuerpflichtigen Lieferung (§§ 1 Abs. 1 Nr. 5, 1a UStG) nicht nach. Der dritte Unternehmer (sog. „Distributor“) macht die Vorsteuer geltend (§ 15 UStG) und exportiert wiederum umsatzsteuerfrei ins EU-Ausland. In der Regel werden zwischen Missing Trader und Distributor noch ein oder mehrere Drittunternehmer (sog. „Buffer“) zwischengeschaltet. Diese nicht selten gutgläubigen Glieder der Lieferkette dienen der 121 BT-Drucksache
1. Kap.: Strafrahmenfindung
133
austauschbar sind, was die Organisation und damit auch die jeweiligen Taten vor allem im Hinblick auf ihre fortgesetzte Begehung besonders gefährlich macht. Bei „Umsatzsteuerkarussellen“ ist damit ein wesentlich erhöhter Unrechtsgehalt gegeben. Dass der Gesetzgeber gerade diesen Falltypus zum Anlass der Normierung eines gesonderten Regelbeispiels genommen hat, dürfte jedoch auch generalpräventiven Überlegungen123 im Hinblick auf deren wiederholtes Auftreten und erhebliche Schadensträchtigkeit für das Gesamtsteueraufkommen124 geschuldet sein. Betrachtet man die Materialien im Gesetzgebungsverfahren125 zu § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 5 AO genauer, wird jedoch erkennbar, dass es dabei weniger um die Ermöglichung einer angemessenen Bestrafung ging. Fälle von „Umsatzsteuerkarussellen“, die noch kein großes Ausmaß erreichen (und damit ohnehin nach § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 AO dem erhöhten Strafrahmen unterliegen), sind mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren ausreichend sanktionierbar. Der Gesetzgeber beabsichtigt primär bei der Verfolgung von „Umsatzsteuerkarussellen“ die Durchführung von Maßnahmen der Telekommunikationsüberwachung zu ermöglichen.126 Parallel zur Einführung des Regelbeispiels führt § 100a Abs. 2 Nr. 2a StPO seit dem 1.1.2008 die „Steuerhinterziehung unter den in § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 5 genannten Voraussetzungen“ als taugliche Vortat für eine Überwachung der Telekommunikation auf.127 Insoweit überrascht es auch nicht, dass die Bundesregierung eine Prüfungsbitte des Bundesrates auf Streichung der Beschränkung des § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 5 AO auf Umsatz- oder Verbrauchsteuerhinterziehungen mit der Begründung ablehnte, dass dadurch der Anwendungsbereich des § 100a Abs. 2 Nr. 2 StPO erheblich ausgedehnt würde und insbesondere auch Fallgestaltungen erfassen könnte, „in denen Ehepartner unter Mitwirkung eines Steuerberaters und damit in ggf. bandenmäßiger Weise beispielsweise Einkommensteuer verkürzen.“128 Es ist damit festzuhalten: Dem Regelbeispiel des § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 5 AO ist eine Gegenschlusswirkung für die bandenmäßige Hinterziehung weiteren Verschleierung der Hinterziehung. Die Missing Trader hingegen agieren häufig nur kurze Zeit und melden anschließend die Insolvenz an. 123 Vgl. auch Köhler, Zusammenhang, S. 54 ff., der Strafschärfungen für den Fall einer Häufung bestimmter Begehungsformen nicht nur über die Präventionswertung, sondern bereits im Rahmen der Schuldwertung für begründet ansieht. 124 Siehe hierzu die Zahlen bei Kühn/Winter, UR 2001, 478 ff.; Merk, UR 2001, 97 ff.; Kohlmann/Schauf, § 370 Rn. 1126.2. 125 BR-Drucks. 275/07, 6; BT-Drucks. XVI/5846, S. 1 ff., 4. 126 So auch MünchKomm/Schmitz/Wulf, § 370 AO, Rn. 438. 127 Gesetz vom 21.12.2007, BGBl. Teil I, 2007, S. 3198 ff.; auch § 393 AO wurde um einen Absatz 3 erweitert, der die steuerliche Verwertung der aus dem Strafverfahren stammenden Kenntnisse ermöglicht; zum Ganzen Wulf, wistra 2008, 321 (324 ff.). 128 BT-Drucks. XVI/5846, S. 97.
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2. Teil: Grundlagen der Strafzumessungsentscheidung
weiterer Steuerarten zu entnehmen. Jedoch sollte das Regelbeispiel auch bei Umsatz- und Verbrauchsteuerhinterziehungen auf sog. „Umsatzsteuerkarusselle“ oder diesen in ihrer Gefährlichkeit vergleichbaren Fallkonstellationen129 beschränkt werden. Bei von Ehe- oder Geschäftspartnern in Verbund mit ihrem Steuerberater begangenen Umsatz- und Verbrauchsteuerhinterziehungen wird die Indizwirkung des § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 5 AO daher regemäßig widerlegt werden können.
B. Schmuggel, § 373 AO § 373 AO stellt einen echten Qualifikationstatbestand zur Steuerhinterziehung einerseits und zum Bannbruch andererseits dar. Er sieht gegenüber dem Grundtatbestand einen erhöhten Strafrahmen von sechs Monaten bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe vor. Im Gegensatz zu den Fällen des § 370 Abs. 3 AO, bei dem sich der Gesetzgeber für die Regelbeispielstechnik entschieden hat, ist die Strafrahmenverschärfung beim Schmuggel zwingend, sofern die qualifizierenden Tatbestandsmerkmale erfüllt sind. Die Strafzumessungsvorschrift des § 373 Abs. 1 S. 2 AO lässt jedoch eine Rückkehr zum Strafrahmen des § 370 AO in minder schweren Fällen des Schmuggels zu. Die Vorschrift des § 373 AO enthält letztlich vier Qualifikationstatbestände der Steuerhinterziehung: den gewerbsmäßigen Schmuggel (§ 373 Abs. 1 S. 1 AO); den gewaltsamen Schmuggel mit Schusswaffen (§ 373 Abs. 2 Nr. 1 AO); den gewaltsamen Schmuggel mit Waffen oder sonstigen Werkzeugen oder Mitteln zur gewaltsamen Verhinderung oder Überwindung von Widerstand (§ 373 Abs. 2 Nr. 2 AO) sowie den bandenmäßigen Schmuggel (§ 373 Abs. 2 Nr. 3 AO). Bis zur Neufassung des § 373 AO durch das Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen sowie zur Umsetzung der Richtlinie 2006 / 24 / EG vom 21.12. 2007 war die dogmatische Einordnung des § 373 AO unklar.130 Dies lag an dem gegenüber der Strafzumessungsvorschrift des § 370 Abs. 3 AO a. F. verminderten Strafrahmen von drei Monaten bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe. Um Wertungswidersprüchen zwischen Steuerhinterziehung einerseits und Schmuggel andererseits zu vermeiden, hat die Rechtsprechung die Strafzumessungsregel des § 370 Abs. 3 AO für besonders schwere Fälle der Steuerhinterziehung auch auf den Tatbestand des Schmuggels angewen129 In Betracht kommen hier insbesondere sog. „Baumafia“-Fälle (s. hierzu Kohlmann/Schauf, § 370 Rn. 1127) sowie die organisierte Kriminalität beim Alkohol-, Zigaretten- und Mineralölschmuggel, die allerdings bereits von § 373 AO abgedeckt wird. 130 MünchKomm/Wegner, § 373 AO, Rn. 2.
1. Kap.: Strafrahmenfindung
135
det.131 Hierfür besteht bei § 373 AO n. F., der nun dem Strafrahmen des § 370 Abs. 3 AO angeglichen wurde, kein Bedarf mehr. Will der Richter allerdings von der Strafrahmenverschiebung des § 373 Abs. 1 S. 2 Gebrauch machen, so hat er wiederum zu berücksichtigen, ob ein besonders schwerer Fall nach § 370 Abs. 3 AO vorliegt. Ist dies gegeben – etwa im Falle eines Schmuggels „in großem Ausmaß“ – spricht der BGH § 370 Abs. 3 AO eine Sperrwirkung zu, die nur in Ausnahmefällen überwunden werden kann.132 Dogmatisch nunmehr widerspruchsfrei wendet der BGH entgegen seiner früheren Rechtsprechung nicht mehr den Strafrahmen des § 370 Abs. 3 AO direkt an, sondern sperrt die Strafrahmenverschiebung des § 373 Abs. 1 S. 2 und belässt es damit beim üblichen Strafrahmen des § 373 AO. Die vom BGH angesprochenen Ausnahmefälle müssen konsequenterweise solche sein, in denen trotz Vorliegen eines Regelbeispiels des § 370 Abs. 3 AO die Indizwirkung widerlegt werden kann. Ebenso konsequent ist es, dass der BGH seine Rechtsprechung zur Strafzumessung im engeren Sinne bezüglich der Steuerhinterziehung in Millionenhöhe auf den Qualifikationstatbestand des Schmuggels überträgt.133
C. Strafrahmenmilderungen Die Strafrahmen der Steuerdelikte können bzw. müssen beim Vorliegen so genannter „vertypter Strafmilderungsgründe“ gem. § 49 Abs. 1 StGB gemildert werden. Als obligatorischer Strafmilderungsgrund ist im Bereich der Steuerdelikte vor allem § 27 Abs. 2 S. 2 StGB zu beachten. § 30 Abs. 1 StGB kommt hier als obligatorischer Strafmilderungsgrund hingegen ebenso wenig in Betracht wie § 28 Abs. 1 StGB.134 Bei den fakultativen Strafmilderungsgründen ist in erster Linie an § 23 Abs. 2 StGB zu denken. Auch Fälle verminderter Schuldfähigkeit können eine Strafmilderung nach § 49 Abs. 1 StGB begründen.135 § 13 Abs. 2 StGB scheidet hingegen als fakultativer Strafmilderungsgrund aus, da Steuerhinterziehung durch Unterlassen nach überwiegender Auffassung nur in Form der echten Unterlassungsvariante des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO begangen werden kann.136 131 BGHSt 32, 95; BGH wistra 1987, 30 f.; BGH NStZ 2015, 285; zust. Hübschmann/Hepp/Spitaler/Engelhardt, § 373 AO, Rn. 126; abl. Montenbruck, wistra 1987, 7 (9 ff.). 132 BGH NStZ 2012, 637. 133 BGH NStZ 2012, 637. 134 Vgl. BGHSt 41, 1, wonach die tatbestandliche Erklärungspflicht nach § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO kein besonderes persönliches Merkmal darstellt; bestätigt durch BGHSt 56, 153 (155). 135 BGH NStZ 2013, 410; BGH StV 1989, 198. 136 S. o. Teil 1 Fn. 104, S. 50.
136
2. Teil: Grundlagen der Strafzumessungsentscheidung
Problematischer ist der Fall bei § 46a StGB.137 Vereinzelt wird die Anwendbarkeit des § 46a StGB bei der Steuerhinterziehung gänzlich abgelehnt.138 Der BGH stellte zunächst fest, dass ein Täter-Opfer-Ausgleich i. S. v. § 46a Nr. 1 StGB bei der Steuerhinterziehung nicht in Betracht kommt, da ein solcher sich vor allem auf den Ausgleich der immateriellen Folgen einer Straftat beziehe, was im Falle des Staates oder der Allgemeinheit als Opfer ausgeschlossen sei.139 Für § 46a Nr. 2 StGB hat der BGH die Anwendbarkeit „in ganz besonders gelagerten Ausnahmefällen“ bejaht.140 Wie ein solcher Ausnahmefall gelagert sein muss, lässt der BGH offen. Die Veranlassung mithaftender Schuldner zur Zahlung genügt jedenfalls nicht.141 Zu beachten ist allerdings, dass § 46a Nr. 2 StGB ohnehin mehr verlangt als nur eine bloße Geldzahlung. Den vom BGH geforderten besonderen Anforderungen sollte am besten durch eine entsprechend restriktive Handhabung der gesetzlichen Voraussetzung („Fall, in welchem die Schadenswiedergutmachung von ihm erhebliche persönliche Leistungen oder persönlichen Verzicht erfordert hat“) Rechnung getragen werden. § 46a Nr. 2 StGB wäre dann nicht nur in Ausnahmefällen, sondern grundsätzlich uneingeschränkt aber restriktiv auf Steuerdelikte anwendbar.142 Der durch das 43. StrÄndG vom 29.7.2009143 zum 1.9.2009 neu eingeführte § 46b StGB ist für die Steuerhinterziehung auf die besonders schweren Fälle nach § 370 Abs. 3 AO sowie auf den Schmuggel anwendbar. Die gemeinhin als „große Kronzeugenregelung“ bezeichnete Vorschrift ist auf Straftaten mit im Mindestmaß erhöhter Strafdrohung beschränkt. Von geringerer praktischer Bedeutung sind §§ 35 Abs. 1, 2 und § 17 S. 2 StGB sowie § 23 Abs. 3 StGB, der im Gegensatz zu den zuvor genannten Strafmilderungsgründen keine umfangsmäßig beschränkte, sondern eine Milderung nach Ermessen des Gerichts eröffnet (§ 49 Abs. 2 StGB). Liegt ein fakultativer Strafmilderungsgrund vor, hat das Gericht zu bestimmen, ob von der eröffneten Möglichkeit überhaupt Gebrauch gemacht wer137 Ausführlich hierzu Kespe, Täter-Opfer-Ausgleich und Schadenswiedergutmachung, S. 303 ff. 138 So Blesinger, wistra 1996, 90, der § 46a StGB durch § 371 AO verdrängt sieht; a. A. Kohlmann/Schauf, § 370 Rn. 1059.2. Vgl. auch Schabel, wistra 1997, 201 (204 f.), der die Opfereigenschaft des Staates ablehnt; a. A. v. Briel, NStZ 1997, 33 f.; Schwedhelm/Spatscheck, DStR 1995, 1449 (1450 f.); Brauns, wistra 1996, 214 (216 ff.). 139 BGH wistra 2001, 22 m. w. N.; ebenso bereits BayObLG NStZ 1997, 33; BGH NStZ-RR 2011, 315. 140 BGH NStZ-RR 2010, 147. 141 BGH NStZ-RR 2010, 147. 142 Ebenso MünchKomm/Maier, § 46a StGB, Rn. 5. 143 BGBl. Teil I 2009, S. 2288.
2. Kap.: Strafhöhenbemessung
137
den soll. Die Rechtsprechung und ein Teil der Lehre nehmen hierfür eine Gesamtbetrachtung aller Tatumstände vor.144 Auch eine mehrfache Milderung nach § 49 Abs. 1 StGB ist möglich, solange die verschiedenen Milderungsgründe nicht auf demselben tatsächlichen Umstand beruhen.145 Beispielsweise könnte bei Beihilfe zum Versuch der Steuerhinterziehung in einem besonders schweren Fall bei doppelter Milderung nach § 49 Abs. 1 Nr. 2, Nr. 3 StGB der Strafrahmen von Geldstrafe bis fünf Jahre und sieben Monaten Freiheitsstrafe reichen. Nahe liegender wird es in einem solchen Fall jedoch sein, das Vorliegen eines besonders schweren Falles im Rahmen der dort vorzunehmenden Gesamtabwägung aller strafzumessungsrelevanten Umstände zu verneinen. Es ist insoweit anerkannt, dass bereits das Vorliegen eines vertypten Milderungsgrundes statt einer Milderung nach § 49 StGB die Indizwirkung eines Regelbeispiels widerlegen146 oder zur Annahme eines minder schweren Falles (etwa bei § 373 Abs. 1 S. 2 AO) führen kann.147 2. Kapitel
Strafhöhenbemessung Nach Festlegung des gesetzlichen Strafrahmens muss die konkrete Strafe innerhalb dieses Rahmens gefunden werden. Welche Vorgehensweise hierbei die richtige ist, ist Gegenstand der sogenannten „Strafzumessungstheorien“,148 die im Folgenden skizziert werden. In einem zweiten Schritt ist sodann die Vorgehensweise in der Rechtspraxis bei der Strafhöhenbemessung in Fällen der Steuerhinterziehung darzustellen. 144 BGHSt 16, 351; BGH GA 1984, 374 f.; BGH NJW 1989, 3230 f.; BGH NJW 1998, 3068; BGH NStZ-RR 2010, 305 f.; Bruns, Das Recht der Strafzumessung, S. 172 f.; Goydke, in: FS Walter Odersky, S. 371 (377 f.); a. A. Bergmann, Die Milderung der Strafe nach § 49 Abs. 2 StGB, S. 54 ff.; Frisch, in: FS Spendel, S. 381 (385 ff.); Frisch/Bergmann, JZ 1990, 949 ff.; Meier, Strafrechtliche Sanktionen, S. 176 f. 145 BGHSt 26, 53 f.; SK-StGB/Horn/Wolters, § 50 Rn. 10 f.; Fischer, § 50 Rn. 7; LK/Theune, § 50 Rn. 12, der dieses Ergebnis im Gegensatz zu den vorgenannten nicht aus einer Analogie zu § 50 StGB herleitet. 146 Zu §§ 21, 266 StGB: BGH NStZ 1986, 312; zu §§ 31, 29 BtMG: BGH StV 1987, 345. 147 Siehe nur BGH NStZ-RR 1996, 228 zu § 21 StGB; zur spezifisch geordneten Prüfungsvorgehensweise beim Zusammentreffen eines minder schweren Falles oder besonders schweren Falles mit vertypten Milderungsgründen NStZ-RR 2008, 73; BGH NStZ 2012, 271. 148 Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 625.
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2. Teil: Grundlagen der Strafzumessungsentscheidung
A. Strafzumessungstheorien Die Theorien lassen sich grob danach unterscheiden, ob sie sich schwerpunktmäßig mit der äußeren Form, dem zu verfolgenden Zweck oder der Natur der bei diesem Vorgang vom Rechtsanwender zu leistenden Strafzumessungsentscheidung beschäftigen.149
I. Nach Natur der Entscheidung Insbesondere im Hinblick auf die praktisch bedeutsame Frage der Revisibilität der Strafzumessungsentscheidung, werden unterschiedliche Ansichten bezüglich dem Maß der rechtlichen Gebundenheit des Rechtsanwenders bei Festlegung der endgültigen Strafhöhe vertreten. Gegenpole bilden hier die Punktstrafetheorie auf der einen sowie die Theorien des tatrichterlichen Ermessens oder des sozialen Gestaltungsaktes auf der anderen Seite.150 Vertreter der Punktstrafetheorie betrachten die Strafzumessung als reine Rechtsanwendung, wobei die rechtlichen Bindungen so weitreichend sind, dass es für jede Tat nur eine richtige Strafe gibt. Genau diese Punktstrafe im Einzelfall auch aufzufinden, sei dabei jedoch nicht zwingend notwendig. Vielmehr ergebe sich aus den Grenzen der Erkenntnis eine Bandbreite vertretbarer Strafen. Die vor allem von Dreher vertretene Lehre vom sozialen Gestaltungsakt geht hingegen davon aus, dass „die gerechte Strafe das Resultat eines schöpferischen sozialen Aktes“ durch den Richter selbst sei.151 Zu praktischen Unterschieden für die Revisibilität der Strafzumessung gelangt man auf Grundlage dieser Lehre nur dann, wenn man der individuellen Entscheidung des Richters dabei einen pauschalen Vorrang gegenüber sonstigen Erwägungen und damit auch über die Grenzen objektiver Erkenntnis hinaus einräumen will.152 Ob man jenseits dieser Grenzen von mehreren richtigen Strafen oder lediglich vertretbaren Strafen ausgeht, ist hingegen nicht mehr von entscheidender Bedeutung. Gleiches gilt für das verschiedentlich postulierte tatrichterliche Ermessen im Rahmen der Strafzumessungsentscheidung. So149 In
diesem Sinne kategorisierend Maurer, Komparative Strafzumessung, S. 187. hierzu und zum Folgenden Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 649,
150 Vgl.
656.
151 Dreher, JZ 1967, S. 41 (43 f.); ders., JZ 1968, S. 209 (211); ders., in: FS Bruns, S. 141 (163 f.); dazu auch Bruns, Das Recht der Strafzumessung, S. 24, 299; Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 649. 152 Siehe hierzu und zum Folgenden Frisch, Revisionsrechtliche Probleme, S. 75 ff.; ders., NJW 1973, 1345 ff.; ders., ZStW 99 (1987), 751 (802); Maurer, Komparative Strafzumessung, S. 189 f.
2. Kap.: Strafhöhenbemessung
139
weit damit nur auf die – auch bei Annahme einer Punktstrafe nicht bestrittene – notwendige, persönliche Willensentscheidung des Rechtsanwenders verwiesen wird, ist lediglich das Phänomen begrenzter Erkenntnis selbst beschrieben. Ein darüber hinaus bestehender, dem verwaltungsrechtlichen Modell entsprechender Ermessens- oder Beurteilungsspielraum des Tatrichters lässt sich kaum begründen. Auch der für einen gewissen Beurteilungsspielraum sprechende Aspekt des persönlichen Eindrucks vom Angeklagten in der Hauptverhandlung ergibt sich nicht aus einer gesetzlichen Ermächtigung, sondern den praktischen und prozessualen Grenzen der Revision. Die Einsicht, dass Strafzumessung Rechtsanwendung ist, hat sich auch in der Rechtsprechung zunehmend durchgesetzt.153 Auch wenn der BGH noch immer betont, dass es „grundsätzlich Sache des Tatrichters“ sei die relevanten Strafzumessungsumstände festzustellen, zu bewerten und gegeneinander abzuwägen, relativiert sich dies durch die Anerkennung zahlreicher rechtlicher Bindungen, deren Nichtbeachtung zu einem revisiblen Rechtsfehler führt. Dies praktiziert der 1. Senat, wie noch zu zeigen sein wird, in besonderem Maße für das Delikt der Steuerhinterziehung.
II. Nach Zweck der Entscheidung Von ebenso grundlegender Bedeutung wie die Natur der Entscheidung ist die Frage nach deren Zweckausrichtung. Um eine rational zu bewältigende Strafzumessungsentscheidung bemüht, versuchen die Strafzumessungstheorien hierbei den Strafzwecken möglichst klar abgrenzbare Wirkungsbereiche zuzuschreiben. Am konsequentesten geht hierbei die sog. „Stellenwerttheorie“ vor, wonach den jeweiligen Zwecken eigene funktionale Wirkbereiche zukommen: die Strafhöhenbemessung für den Schuldausgleich, die Sanktionswahl für präventive Strafzwecke.154 De lege lata muss die strenge Ausrichtung der Strafzumessungsentscheidung an dieser funktionalen Trennung aber jedenfalls an § 46 Abs. 1 S. 2 StGB scheitern.155 Nach der Lehre tatproportionaler Strafzumessung sind, ähnlich der Stellenwerttheorie, präventive Aspekte aus der Strafhöhenentscheidung weitgehend 153 Siehe
hierzu SK-StPO/Frisch, § 337 Rn. 147 ff. Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 633, wobei der Schuldausgleich mit dem vergeltungstheoretischen Verständnis der Schuldstrafe der herrschenden Meinung eben diesem überkommenen Strafzweck dient. 155 Eine „spezialpräventiv modifizierte Stellenwerttheorie“, welche ausnahmsweise positiv-spezialpräventive Aspekte bei der Strafhöhenbemessung zulässt, gibt den Grundgedanken der Theorie auf, wobei die Nichtberücksichtigung anderer Strafzwecke nicht überzeugt, Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 635 m. w. N.; a. A. Hörnle, Tatproportionale Strafzumessung, S. 389. 154 Vgl.
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2. Teil: Grundlagen der Strafzumessungsentscheidung
auszuschließen.156 Mit der Orientierung an der Tatschwere soll der expressivkommunikativen Bedeutung der Strafe Rechnung getragen werden. Die Aufsplitterung der Strafhöhe in einen retrospektiven und einen präventiven Teil, sei wegen der Verbindung von Tadelszufügung und Übel nicht möglich.157 Die Tatproportionalitätslehre begegnet damit de lege lata ganz ähnlichen Schwierigkeiten im Hinblick auf § 46 Abs. 1 S. 2 StGB wie die Stellenwerttheorie.158 Am ehesten mit geltendem Recht in Einklang zu bringen, ist daher die sogenannte Spielraumtheorie. Nach hier vertretener Auffassung ist dabei allerdings die Schuldstrafe nicht am überkommenen Strafzweck der Vergeltung, sondern an den heute überwiegend vertretenen kommunikativen bzw. expressiven Straftheorien auszurichten.159 In Übereinstimmung mit der herrschenden Meinung sind jedoch die übrigen präventiven Strafzwecke innerhalb des so gefundenen Rahmens vertretbarer Schuldstrafen zu berücksichtigen. Die Spielraumtheorie bietet damit zugleich eine Lösung für das Erkenntnisproblem an, auch wenn freilich das Problem bleibt, wenn keine Präventionsbedürfnisse bestehen.160
III. Nach formalen Aspekten der Entscheidung Bemüht dem Rechtsanwender Leitlinien für den komplexen Vorgang der Strafzumessungsentscheidung an die Hand zu geben, versuchte die Strafzumessungslehre schon früh nach formalen Aspekten der Entscheidung zu trennen und diese in eine logische Reihenfolge zu bringen. Eine wichtige Etappe auf dem Weg zur Rationalisierung des Strafzumessungsvorgangs erfolgte dabei durch die Einteilung dieses Vorgangs in Phasen. Dabei wurde in Fortschreibung der klassischen Dreiteilung der Strafzumessungsgründe Spendels161 zunächst aufgeteilt in (1) die Bestimmung der relevanten gesetzlichen Strafzwecke bzw. der finalen Gründe, (2) die Ermittlung der relevanten 156 Hörnle,
Tatproportionale Strafzumessung, S. 389. Tatproportionale Strafzumessung, S. 389. 158 Im Hinblick auf § 46 Abs. 1 S. 2 noch eine Vereinbarkeit annehmend, jedenfalls aber bzgl. §§ 56, 59 eine Unvereinbarkeit einräumend, Hörnle, Tatproportionale Strafzumessung, S. 397, 191 ff. 159 S. o. 1. Teil, 1. Kapitel, C. 160 Frisch, in: ders., Grundfragen, S. 1 (20 f.); ders., in: 50 Jahre Bundesgerichtshof, S. 269 (276, 282 f.); ders., ZStW 99 (1987), S. 349 (362 f., 272 f.); zur Vereinbarkeit der Spielraumtheorie mit einer modernen kommunikativen Straftheorie s. auch Stahl, Strafzumessungstatsachen zwischen Verbrechenstheorie und Straftheorie, S. 148, 155 f. 161 Spendel, Zur Lehre vom Strafmaß, S. 191 ff. 157 Hörnle,
2. Kap.: Strafhöhenbemessung141
Strafzumessungstatsachen bzw. der realen Gründe, (3) die Festlegung der Bewertungsrichtung mit anschließender Gewichtung, (4) die Abwägung der Strafzumessungsumstände gegeneinander und (5) die Umwertung der relativen Größen in absolute Zahlen, also die Eingliederung des Falles in die Schwereskala des Strafrahmens.162 Mit dieser Aufgliederung wurden die neuralgischen Punkte des Strafzumessungsvorgangs offengelegt:163 nämlich zum einen die Gewichtung und sogenannte „Abwägung“ der Strafzumessungsumstände mit dem Ergebnis einer relativen Schwereeinschätzung der Tat und der Schuld; zum anderen die Zuordnung relativer Tatgewichtungen zu konkreten Strafgrößen (Strafquanten), sogenannte „Umwertung“164. Allerdings lässt sich – von Zweifeln an der Praxisrelevanz dieses klassischen Phasenmodells abgesehen – eine intersubjektiv nachvollziehbare Strafzumessungsentscheidung mit ihr nicht treffen. Moderne Varianten der Phasenmodelle165 tragen der Einsicht Rechnung, dass die komplexen Denkschritte der Abwägung und Umwertung nur im Rahmen eines schrittweisen Vorgehens sinnvoll geleistet und nachvollziehbar dargestellt werden können. Begründung und Herstellung der Strafzumessungsentscheidung können so stärker aufeinander bezogen werden. Abwägung und Umwertung sollen demnach nicht in je einem einzigen Vorgang geleistet, sondern in Teilschritte zerlegt werden, wobei häufig eine erste Einordnung des Falles anhand von typusprägenden „Zentralmerkmalen“ des Falles gefolgt von weiteren Präzisierungen der übrigen (nicht typusprägenden) Merkmale des Falles vorgeschlagen wird.166 Vor allem aber die Erkenntnis, dass die Strafzumessung ihre Eigenständigkeit betonend keiner autonomen Kategorisierung167 bedarf, sondern erst durch eine Orientierung an den Kategorien des Straftatsystems ihrer Verschränkung mit der Strafbegründung Rechnung zu tragen und in ihrer strukturellen Kohärenz zu überzeugen vermag,168 hat zu einer Weiterentwicklung des klassischen Phasenmodells geführt. 162 Dölling, in: Frisch, Grundfragen, S. 85 (91); Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 650. 163 SK-StPO/Frisch, § 337 Rn. 173. 164 Einführende Übersicht bei Meier, Strafrechtliche Sanktionen, S. 207 ff. 165 Übersicht bei Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 650 ff.; s. auch Maurer, Komparative Strafzumessung, S. 190 ff. 166 Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 653; vgl. ferner Maurer, Komparative Strafzumessung, S. 190 ff. 167 Vgl. noch die Dreiteilung Spendels in reale, finale und logische Strafzumessungsgründe Fn. 161. 168 Hierzu grundlegend Frisch, in: Wolter, 140 Jahre GA, S. 1 (passim); vgl. auch Stahl, Strafzumessungstatsachen zwischen Verbrechenslehre und Straftheorie, S. 34 ff.
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2. Teil: Grundlagen der Strafzumessungsentscheidung
So wird die Bestimmung der relevanten Strafzwecke richtigerweise nicht mehr als vom Rechtsanwender für jede Strafzumessungsentscheidung vorab zu leistender Arbeitsschritt gesehen. Der Zweck, an dem die Strafzumessung zu orientieren ist, ist der mit der Strafverhängung überhaupt verfolgte Zweck, welcher nicht erst bei der Strafzumessung relevant wird und erst recht nicht eine individuelle Entscheidung des Rechtsanwenders ist.169 Auch die Phase der Festlegung der Bewertungsrichtung eines Strafzumessungsumstandes konnte durch die Verschränkung mit dem Straftatsystem von einigen Problemen, wie etwa der Frage, ob das Fehlen eines Milderungsgrundes einen Strafschärfungsgrund bilden kann, befreit werden. Da Begriffe wie „schärfend“ oder „mildernd“ als Relationsbegriffe einen Bezugspunkt voraussetzen, wurde lange Zeit kontrovers um jenen Bezugspunkt gestritten. Von den Strafzumessungstatsachen als phänomenologischen Umständen ausgehend gerieten im Wesentlichen der „Regelfall“170 (als statistisch häufigster oder gewöhnlich vorkommender Fall) und der „normative Normalfall“171 in den Blickpunkt der Betrachtung.172 Die höchstrichterliche Rechtsprechung173 stellte – beide zu Recht als untauglich befindend – letztlich auf den „Einzelfall“ selbst ab, womit jedoch ein Bezugspunkt und damit die Aussagekraft der Relationsbegriffe „schärfend“ / „mildernd“ gänzlich aufgehoben wurde.174 Erst der Wechsel auf eine mit der Straftatsystematik korrespondierende normativsystematische Strafzumessungsdogmatik erlaubte es, einen Bezugspunkt widerspruchsfrei und in praktisch umsetzbarer Weise zu formulieren: Es ist dies der normative Ausgangspunkt innerhalb der normativen Kategorien (Handlungsunrecht, Erfolgsunrecht, Vermeidemacht), in die ein phänomenologisch 169 Frisch, in: Wolter, 140 Jahre GA, S. 1 (20). Natürlich ist die Strafzweckfrage – wie gezeigt – ebenso im Streit wie die Frage, an welchen Stellen der Strafzumessungsentscheidung bestimmten Strafzwecken Relevanz zukommen kann. Die Antwort auf diese Fragen kann vom Rechtsanwender jedoch (im Einklang mit Gesetz und höchstrichterlicher Rechtsprechung) nur einheitlich und nicht einzelfallabhängig gegeben werden. 170 So etwa Horn, StV 1986, 168; ähnlich auch wieder der BGH, NStZ 2006, 96: Es kommt bei der Strafzumessung darauf an, die Strafzumessungstatsachen i. S. d. § 46 Abs. 2 StGB konkret herauszuarbeiten, „die das Geschehen, orientiert am regelmäßigen Erscheinungsbild des Delikts […], milder oder schwerer erscheinen lassen“. 171 Vgl. Mösl, NStZ 1981, 131 (133); Neumann, StV 1991, 256 (258 f.); Theune, StV 1985, 162 (168); ders., StV 1985, 205. Der richtige Ansatz der Vertreter des „normativen Normalfalls“ liegt darin, die Festlegung der Bewertungsrichtung eines Strafzumessungsumstandes als Rechtsfrage zu begreifen, was zwingend zu Folge hat, dass der Bezugspunkt der Bewertung ein normativer sein muss, s. Niemöller, GA 2012, 337 (352). 172 Vgl. Hettinger, in: FS Frisch, S. 1153 (1164 ff.). 173 BGHSt 34, 345; ähnlich zuvor bereits Foth, JR 1985, 397 f. 174 Vgl. Nachweise bei Frisch, GA 1989, 338 ff.
2. Kap.: Strafhöhenbemessung
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beschriebener Strafzumessungsumstand einschlägt.175 In die an phänomenologische Beschreibung gewohnte Terminologie lässt sich dieser normative Ausgangspunkt als „Regeltatbild“176 bezeichnen, wobei das „Regeltatbild“ nach dem hier zu Grunde gelegten Verständnis im Gegensatz zum auch inhaltlich phänomenologisch geprägten „normativen Normalfall“ oder „Regelfall“ sehr viel merkmalsärmer ist.177 Es vermag insbesondere für all jene Deliktsmerkmale, die – wie etwa die Höhe der hinterzogenen Steuern – in unterschiedlichen graduellen Ausprägungen begegnen, denklogisch keinen eindeutigen normativen Ausgangspunkt zu formulieren. Dies ist freilich kein Mangel des Regeltatbildes, sondern trägt lediglich der spezifischen Funktion solcher Umstände im Rahmen des Strafzumessungsvorgangs, nämlich der Einrasterung des Falles in die Skala denkbarer tatbestandsmäßiger Geschehen, Rechnung.178 Das Regeltatbild beinhaltet Festlegungen nur für jene Umstände, „die bei oder im Falle der Verwirklichung eines bestimmten Deliktstatbestandes so sehr typisch und mitgegeben sind, dass sie adäquaterweise als stillschweigende Basisannahmen der Bewertung fungieren und man sie daher sinnvollerweise nicht mehr neben den wirklich individuellen Umständen als den Einzelfall charakterisierend und seine Bewertung erklärend verwenden kann.“179 Es wird im dritten Kapitel genauer zu untersuchen sein, welchen Umständen sich für das Delikt der Steuerhinterziehung ein solcher normativer Ausgangspunkt zuordnen lässt und gegebenenfalls wo sich dieser befindet. An dieser Stelle gilt es, die bislang entwickelten dogmatischen Hilfestellungen in den Phasen der Abwägung und Umwertung noch weiter auszuführen. Zu nennen ist hier zunächst die Vorstellung einer sogenannten „relativen Schwereskala“ von Fällen,180 die mit dem gesetzlichen Strafrahmen korrespondiert und so die Zuordnung von Strafgrößen ermöglichen soll. Doch sind für die Verteilung der einzelnen Schweregrade über den gesetzlichen Strafrahmen unterschiedliche Zuordnungsansätze denkbar.181 Ein Fall mittlerer Frisch, GA 1989, 338 (353 ff.). hierzu Nachweise bei Frisch, GA 1989, 338 (361 Fn. 92). Der Begriff des „Regeltatbildes“ wird in der Sache nicht immer einheitlich verwendet, vgl. BGH bei Holtz, MDR 1978, 985; Hettinger, Das Doppelverwertungsverbot, S. 155; ders., GA 1993, S. 21 Fn. 100; s. auch Fahl, Bedeutung des Regeltatbildes, S. 132 ff. 177 Hierzu und zum Folgenden Frisch, GA 1989, 338 (353 ff.). 178 Frisch, GA 1989, 338 (372); s. zur Kontroverse zuletzt auch Hettinger, in: FS Frisch, S. 1153 (1164 ff.); Niemöller, GA 2012, S. 537 (550 f.). 179 Frisch, GA 1989, 338 (361); ebenso Albrecht, Strafzumessung bei schwerer Kriminalität, S. 112 f. 180 Vgl. hierzu BGHSt 27, 2 ff.; OLG Stuttgart MDR 1961, 343; Bruns, Strafzumessungsrecht, 2. Aufl., S. 81 f.; Dreher, Über die gerechte Strafe, S. 61 ff.; Frisch, Revisionsrechtliche Probleme, S. 161 ff. 181 Frisch, ZStW 99 (1987), 751 (789 ff.); ders., in: ders., Grundfragen, S. 1 (19). 175 Ausführlich 176 Siehe
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2. Teil: Grundlagen der Strafzumessungsentscheidung
Schwere könnte bei gleichmäßiger Verteilung der Schweregrade etwa mit einer Strafe aus der Mitte des Strafrahmens bedacht werden. Will man die Zuordnung gedrungener Staffeln, um den oberen Bereich des Strafrahmens für besonders schwere Fälle zu reservieren, wäre ein Fall mittlerer Schwere hingegen mit einer Strafe aus der unteren Hälfte des Strafrahmens zu entnehmen. Bei der Entwicklung solcher und darüber hinausgehender Zuordnungsregeln können zwar begrenzt Vernunftsüberlegungen – wie etwa, dass der praktisch vorkommende Durchschnittsfall eher leichterer Art sein wird und deshalb auch eher im unteren und nicht im mittleren Bereich des gesetzlichen Strafrahmens anzusiedeln ist – weiterhelfen.182 Von klaren Maßstäben ist man damit jedoch noch weit entfernt. Die Strafzumessungslehre wie auch die Praxis haben in dieser Situation das Richterrecht bzw. den Fallvergleich als sachgerechteste Lösung der Schwierigkeiten in diesem Bereich erkannt.183 So sind es vor allem bereits entschiedene Fälle bzw. der sogenannte richterliche Wertungskonsens, an dem sich der Richter bei der Umwertung orientiert. Auch wenn man einer inhaltlichen Begründung dafür, dass das in vergleichbaren Fällen verhängte Strafmaß auch das gerechte ist, noch kritisch gegenüberstehen kann,184 vermag das Richterrecht doch zweifellos eine starke „Indizwirkung […] für die richtige Entscheidung“185 zu liefern. Die Anerkennung der Bedeutung des Fallvergleichs für die Strafhöhenbestimmung zeigt sich nicht zuletzt in der gängigen Praxis der Revisionsgerichte, die Strafzumessung der Tatgerichte an dem in vergleichbaren Fällen „Üblichen“ zu messen.186 Nicht nur bei der Zuordnung von Strafgrößen im Rahmen der Umwertung, sondern auch bei den zentralen Fragen der „Abwägung“ hilft die Anlehnung an das Richterrecht. Will man einen konkreten Fall in eine relative Schwereskala einordnen, ergibt sich der Stand des konkreten Falles – der Natur der Relation entsprechend – nur relativ zu anderen Fällen, wobei es naheliegt, auf bereits abgeurteilte Fälle zurückzugreifen. Aber auch die Frage welches Gewicht einzelnen Strafzumessungsumständen in Relation zu anderen zukommt, lässt sich durch Heranziehen des richterlichen Wertekonsenses beurteilen. Hier können insbesondere Varianzanalysen aufschlussreiche Ergebnisse liefern. Frisch, in: ders., Grundfragen, S. 3 (19). Fallvergleich im Rahmen der Strafzumessung Frisch, Revisionsrechtliche Probleme, S. 164 ff., 194 f.; Hörnle, Tatproportionale Strafzumessung, S. 361 ff. 184 Maurer, Komparative Strafzumessung, S. 201 ff., 207 f.; Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 662. 185 Esser, Rechtsfindung, S. 192; Schöch, Strafzumessungspraxis und Verkehrsdelinquenz, S. 76; Seebald, GA 1974, 193 (206); Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 645; Theune, StV 1985, 205 (207, 209). 186 Häufig in einen Begründungsmangel gekleidet, vgl. SK-StPO/Frisch, § 337 Rn. 175. 182 Vgl.
183 Zum
2. Kap.: Strafhöhenbemessung145
B. Strafzumessungstraditionen zur Strafhöhenentscheidung bei der Steuerhinterziehung Angesichts der aufgezeigten Bedeutung des Richterrechts im Vorgang der Strafzumessung, muss es Ziel einer Untersuchung zum Besonderen Teil des Strafzumessungsrechts sein, die geltenden Strafzumessungstraditionen zum betreffenden Delikt so präzise wie möglich herauszuarbeiten. Sinnvollerweise ist dabei das Richterrecht der Instanzgerichte von der Rechtsprechung der Revisionsgerichte, die sich im Wesentlichen darauf beschränken Leitlinien vorzugeben, zu unterscheiden. Für die Steuerhinterziehung finden sich hierzu erfreulicherweise nicht nur eine Reihe empirischer Daten zur instanzgerichtlichen Rechtsprechung, sondern auch eine vergleichsweise ergiebige höchstrichterliche Rechtsprechung.
I. Richterrecht der Instanzgerichte Möchte man sich einen aussagekräftigen Überblick über das intanzgerichtliche Richterrecht zur Strafzumessung verschaffen, ist man auf empirische Untersuchungen angewiesen. Für das Delikt der Steuerhinterziehung liegen hierzu einige Daten vor. Daneben können auch sogenannte richterliche Strafrahmen, Strafmaßtabellen oder Straftaxen Auskunft über die geltende Strafzumessungstradition geben. 1. Empirische Untersuchungen Im Bereich empirischer Untersuchungen zur Strafzumessung bei Steuerhinterziehung in Deutschland sind vor allem die beiden Arbeiten des Praktikers Meine zu nennen, die sich ausschließlich diesem Themenbereich widmen. a) Meine I Meines erste Untersuchung untergliedert sich in drei Teiluntersuchungen für die Jahre 1977 / 78, 1980 und 1983.187 Die Forschungsfrage begrenzte sich dabei darauf, ob eine unmittelbare Abhängigkeit der Höhe der verhängten Strafen von der Höhe der hinterzogenen Steuern besteht. 187 Meine, MSchriftKrim MSchrKrim 1980, 129; ders., 1982, 342; ders., MSchrKrim 1985, 238.
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2. Teil: Grundlagen der Strafzumessungsentscheidung
Hierzu wurden Aktenanalysen188 von Verurteilungen wegen Steuerhinterziehung im OLG-Bezirk Hamburg für die genannten Jahrgänge durchgeführt. Die Datenerhebung erstreckte sich dabei auf Geburtsdatum, Geschlecht, Familienstand, allgemeine Berufsangabe, eigen- oder fremdnützige Begehung oder Beihilfe, Vorstrafen, Steuerart, Zeitraum der Steuerforderung, Begehungsstufe, Hinterziehung auf Zeit und Dauer, Verkürzungsbetrag, vorausgegangener Strafbefehlsantrag und Strafe. Nicht erfasst werden konnte die Schadenswiedergutmachung. Untersucht werden sollte aufgrund der zu Grunde liegenden Forschungsfrage allerdings nur der Zusammenhang von Verkürzungsbetrag und Strafmaß auf das Vorliegen einer Korrelation189 und auf die Möglichkeit einer linearen Regression.190 Dem Einfluss anderer Faktoren wurde – den begrenzten Arbeitsressourcen geschuldet – nicht über die Bildung multipler Korrelationen bzw. einer Faktorenanalyse191 Rechnung getragen. Er wurde stattdessen über die Bildung von Fallgruppen zu homogenisieren versucht. Dadurch musste die Auswertung auf unbestrafte Täter bei vollendeter, eigennütziger Steuerhinterziehung begrenzt werden, um signifikante192 Ergebnisse zu gewährleisten. Diese Fälle wurden sodann (teilweise) in folgenden Untergruppen getrennt untersucht: Hinterziehung auf Zeit und Dauer; Urteil und Strafbefehl; Strafbefehl durch Finanzamt und Strafbefehl durch Hauptzollamt; Ertragssteuer, Umsatzsteuer und Lohnsteuer; Freiheitsstrafe und Geldstrafe.193 188 Zum grundsätzlichen Ertrag sowie zur Überlegenheit der Aktenanalyse gegenüber anderen Methoden empirischer Forschung zur Strafzumessung wie etwa die teilnehmende Beobachtung oder die Befragung (unter Verwendung fiktiver Fälle), s. Albrecht, Strafzumessung bei schwerer Kriminalität, S. 167, 214 ff. 189 S. o. Teil 1 Fn. 195, S. 77. Für die Berechnungen wurde aufgrund der intervallskalierten, nicht normalverteilten Werte mit angenähert linearer Beziehung der Maßkorrelationskoeffizient r verwendet, Meine, MSchrKrim 1980, 129 (136). Ein dem Maßkorrelationskoeffizienten r vergleichbarer statistischer Wert ist der korrigierte Kontingenzkoeffizient C-Korr, vgl. Martens, Statistische Datenanalyse, S. 113. 190 Die lineare Regression ist ein auf der Differentialrechnung beruhendes statistisches Verfahren, welches ermöglicht eine Zielgröße (etwa das Strafmaß) ausgehend von einer bestimmten Einflussgröße (etwa dem Hinterziehungsbetrag) bei bestehender Korrelation zu schätzen, vgl. Bortz, Statistik, S. 183. Als Maß für die Güte dieser Schätzung kann das Quadrat des Korrelationskoeffizienten, das sog. Bestimmtheitsmaß r2, herangezogen werden, Bortz, Statistik, S. 192. Ein Wert r2 = 0,74 bedeutet, dass sich die Zielgröße zu 74 % mit der Regressionsgleichung beschreiben lässt und nur zu 26 % auf nicht erklärbaren Varianzen beruht. 191 Hierzu Bortz, Statistik, S. 385 ff. 192 Das Signifikanzniveau (p) beschreibt die Wahrscheinlichkeit, dass das gefundene Ergebnis auf Zufälligkeit beruht, vgl. Bortz, Statistik, S. 101, 107. 193 Auf eine Umrechnung der Freiheitsstrafe in Geldstrafe wurde angesichts des umstrittenen Umrechnungsmaßstabs verzichtet, vgl. hierzu Schöch, Strafzumessungspraxis und Verkehrsdelinquenz, S. 106, 137.
2. Kap.: Strafhöhenbemessung
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Der Verzicht auf eine multiple Regressionsrechnung ist bedauerlich, erlauben die standardisierten Regressionskoeffizienten (BETA) doch einen unmittelbaren Vergleich des Einflusses der einzelnen unabhängigen Variablen.194 Eine Erkenntnis die gerade im Hinblick auf die Verknüpfung unterschiedlicher Strafzumessungsumstände von besonderem Interesse ist. Anhand des von Meine angewandten Kontrollgruppenverfahrens lässt sich über den bloßen bivariaten Zusammenhang von Hinterziehungsbetrag und Strafhöhe hinaus ein Rückschluss auf die Bedeutung des Hinterziehungsbetrages im Verhältnis zu anderen Strafzumessungsumständen für die Strafhöhenentscheidung nur sehr begrenzt ziehen. Ein hoher Anteil erklärter Varianz für eine bestimmte unabhängige Variable bei linearer Regressionsrechnung indiziert jedoch auch deren relativ große Bedeutung gegenüber anderen Faktoren, die nicht als unabhängige Variablen in die Regressionsrechnung aufgenommen wurden. Auch lassen unterschiedliche Bestimmtheitsmaße in gewissem Umfang Rückschlüsse auf die Bedeutung der Merkmale zu, in denen sich die einzelnen Fallgruppen unterscheiden. Es wurden hohe Korrelationen zwischen Hinterziehungsbetrag und Strafmaß in den einzelnen Untergruppen festgestellt und dementsprechend auch hohe Bestimmtheitsmaße bei Durchführung der linearen Regressionsrechnung. So liegt der Maßkorrelationskoeffizient r bei der Gesamtauswertung aller Teiluntersuchungen für die einzelnen Untergruppen zwischen 0,62 und 0,86 und das Bestimmheitsmaß r2 zwischen 0,39 und 0,74 bei durchweg hochsignifikanten Ergebnissen (p ≤ 0,1 %).195 Für die 16 durch Strafbefehl der Hauptzollämter erledigten Verfahren einer eigennützigen Hinterziehung auf Dauer des Jahrgangs 1977 ergab sich sogar ein Maßkorrelationskoeffizient von r = 0.9987 und ein Bestimmtheitsmaß von 99,74 %.196 Hier fand offensichtlich eine bedenklich schematische Strafzumessung statt. Zur Verdeutlichung des durch die Untersuchungen Meines belegten, großen Einfluss des Hinterziehungsbetrages auf die Strafzumessung in Steuerstrafsachen lohnt es, auch die Ergebnisse ähnlicher Untersuchungen zu anderen Delikten heranzuziehen. Nennenswert ist hier vor allem die Habilitationsschrift Albrechts zur Strafzumessung bei schwerer Kriminalität, die im Gegensatz zu anderen Untersuchungen nicht unmittelbar auf die Feststellung von Ungleichmäßigkeiten ge194 Vgl. Bortz, Statistik, S. 346, 360; Urban/Mayerl, Regressionsanalyse, S. 75, 80 ff., 103. 195 Meine, MSchrKrim 1985, 238 (240 f.). 196 In den weiteren Teiluntersuchungen sanken die Korrelationswerte für diese Fallgruppe – wie Meine vermutet infolge der Besprechung der Ergebnisse mit Vertretern der Finanzbehörde – auf die Werte r = 0,54 im Jahr 1980 und r = 0,83 im Jahr 1983.
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2. Teil: Grundlagen der Strafzumessungsentscheidung
richtet ist, sondern über die Ermittlung der relevanten Strafzumessungsfaktoren sowie deren Gewicht Gemeinsamkeiten von Strafzumessungsentscheidungen aufzuzeigen versucht.197 Hierzu wurden im inländischen Teil der Untersuchung198 Aktenanalysen zu Verurteilungen aus den Delikten Raub, Vergewaltigung und Einbruchsdiebstahl aus 5 Landgerichtsbezirken199 BadenWürttembergs der Jahrgänge 1979–1981 durchgeführt und über multiple Regressionsanalysen ausgewertet. Albrecht konnte mittels weniger unabhängiger Variablen einen hohen Anteil erklärter Varianz für die betreffenden Delikte aufzeigen. So gelang es in den Fallgruppen täterschaftlichen, vollendeten Einbruchsdiebstahls bei voller Schuldfähigkeit 58 % der Strafmaßvarianzen über die Variablen Anzahl der Diebstähle, Schadenshöhe, Vorstrafenbelastung und Wiedergutmachung nachzuweisen. Dabei erwies sich die Anzahl der Diebstähle als einflussreichster Faktor mit einem Bestimmheitsmaß von r2 = 0,31 und einem Beta-wert von 0,5668, während die Schadenshöhe lediglich einen Beta-Wert von 0,3734 erreichte.200 Für die Delikte des schweren Raubes konnten in den homogenisierten Fallgruppen der täterschaftlichen Begehungsweise nur eines einzelnen Raubdelikts durch die Heranziehung von sieben Variablen201 sogar ein Varianzanteil von 68 % erklärt werden.202 Im Bereich der Vergewaltigungsdelikte konnte für die Fallgruppe der täterschaftlichen, vollendeten Begehung eines einzelnen Delikts über die Heranziehung von fünf Variablen203 immerhin noch 50 % der Varianzen erklärt werden.204 Einen Erklärungsanteil von über 50 % erreichte Albrecht auch in seiner Untersuchung zur Strafzumessung und Vollstreckung bei Geldstrafen205 für 197 Albrecht, Strafzumessung bei schwerer Kriminalität; ähnlicher Ansatz Rolinski, Die Prägnanztendenz im Strafurteil, S. 15 ff., 21, der bei Auswertung von 350 Urteilen zu Vermögensdelikten aus dem Landgerichtsbezirk Wiesbaden die signifikant häufige Verhängung von Freiheitsstrafen in Vierteljahrsstufen feststellte (sog. „Prägnanztendenz“). 198 Der (auch) rechtsvergleichend angelegten Studie lagen zudem Daten aus Österreich vor, Albrecht, Strafzumessung bei schwerer Kriminalität, S. 238, 245 ff., 399 ff. 199 Stuttgart, Mannheim, Heilbronn, Karlsruhe und Freiburg, Albrecht, Strafzumessung bei schwerer Kriminalität, S. 238. 200 Albrecht, Strafzumessung bei schwerer Kriminalität, S. 337. 201 Minder schwerer Fall (0,5644), Versuch (0,4503), Verminderte Schuldfähigkeit (0,2815), Schadenshöhe (0,2092), Gewaltausmaß (0,1685), Drohungsintensität (0,1567) und Vorstrafenbelastung (0,1152), Albrecht, Strafzumessung bei schwerer Kriminalität, S. 340. Die Angaben in Klammern beziehen sich auf den Beta-wert. 202 Albrecht, Strafzumessung bei schwerer Kriminalität, S. 340. 203 Minder schweres Delikt, Verletzungen, Vorstrafenbelastung, Schwere des sex. Eingriffs, Drohungsintensität; Albrecht, Strafzumessung bei schwerer Kriminalität, S. 342. 204 Albrecht, Strafzumessung bei schwerer Kriminalität, S. 342. 205 Albrecht wertete hierfür Strafverfahrensakten aus sämtlichen Landgerichtsbezirken Baden-Württembergs der Jahrgänge 1972 und 1975, die eine Verurteilung
2. Kap.: Strafhöhenbemessung149
die Verkehrsunfallflucht.206 Hierfür waren fünf Variablen nötig. Für den Betrug konnten etwa 31 % bei Verwendung von vier Variablen erklärt werden.207 Dabei erzielte die Schadenshöhe einen Betawert von 0,23. Für Diebstahlsdelikte erzielte die Schadenshöhe einen Beta-Wert von 0,34, während weitere Variablen keine nennenswerte Steigerung der erklärbaren Varianz erbrachten.208 Die ausgewerteten Verurteilungen zum Nebenstrafrecht betrafen neben Vergehen gegen das Lebensmittelgesetz und das Waffengesetz zu etwas mehr als 90 % Vergehen gegen die Abgabenordung.209 Für den Jahrgang 1972 ermittelte Albrecht hier einen Korrelationswert von Schadenshöhe und Geldstrafenhöhe von C-Korr.210 = 0.3 bei einem Sigkinfikanzniveau von p = 0,02. Ähnliche Werte wie Albrecht zur schweren Kriminalität konnte auch Hoppenworth für Raubdelikte nachweisen. Für das allgemeine Strafrecht ermittelte sie mittels mulitvariater Regressionsanalyse einen Anteil von 61 % erklärter Varianz bei Verwendung von fünf211 unabhängigen Variablen.212 Dem Beutewert kam dabei ein Betawert von 0,3307 zu. Auch wenn ein Quervergleich der vorgenannten Untersuchungen mit den Ergebnissen Meines, den unterschiedlichen Untersuchungsdesigns, Auswertungsmethoden sowie Fallgruppenhomogenisierungen geschuldet, freilich nur begrenzt möglich ist,213 indiziert die gegenüberstellende Betrachtung angesichts der erklärten Varianzanteile in den Studien Meines von bis zu 74 % anhand nur einer Variablen doch die vergleichsweise hohe Bedeutung der Schadenshöhe bei der Steuerhinterziehung für die Strafhöhenbemessung. Ein Befund, der für sich noch nicht zu überraschen vermag und – wie noch zu zeigen sein wird214 – durchaus seine Berechtigung in der deliktsspezifischen Struktur des Strafzumessungsunrechts findet. Erstaunlicher sind hingegen einige Ergebnisse bei vergleichender Betrachtung der Kontrollgruppen. männlicher erwachsener Straftäter wegen Straßenverkehrs-, Körperverletzungs- Eigentums- oder Vermögensdelikten oder Delikten des Nebenstrafrechts mit Ausnahme von Wehrstrafsachen zum Gegenstand hatten, per Zufallsstichprobe aus, Albrecht, Strafzumessung und Vollstreckung bei Geldstrafen, S. 53 ff. 206 Albrecht, Strafzumessung und Vollstreckung bei Geldstrafen, S. 190. 207 Albrecht, Strafzumessung und Vollstreckung bei Geldstrafen, S. 188. 208 Albrecht, Strafzumessung und Vollstreckung bei Geldstrafen, S. 187. 209 Albrecht, Strafzumessung und Vollstreckung bei Geldstrafen, S. 119 Fn. 34. 210 Siehe Fn. 189. 211 Strafrahmen, Beutewert, Haftbefehl, örtlicher/überörtlicher Täter, Vorbelastungen, Hoppenworth, Strafzumessung beim Raub, S. 258. 212 Hoppenworth, Strafzumessung beim Raub, S. 258. 213 So wird in den Auswertungen Meines etwa die Vorstrafenbelastung bereits über die Fallgruppenhomogenisierung berücksichtigt; die Anzahl der Steuerhinterziehungen sowie die Schadenswiedergutmachung wird hingegen nicht erfasst. 214 Siehe 3. Teil, 1. Kapitel, B.
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2. Teil: Grundlagen der Strafzumessungsentscheidung
Bemerkenswert ist etwa, dass Meine für die Untergruppen der Steuerhinterziehung auf Zeit fast durchweg höhere Korrelationen und Bestimmtheitsmaße feststellte als für die Untergruppen der Steuerhinterziehung auf Dauer.215 Selbst wenn als tatbestandlicher Verkürzungsbetrag der Zinsschaden und nicht der Nominalbetrag der auf Zeit verkürzten Steuer zu Grunde gelegt wurde, müsste die Korrelation von Hinterziehungsbetrag und Strafmaß aufgrund dem zusätzlichen vorübergehenden Hinterziehungsschaden in unbestimmter Höhe eher geringer sein.216 Ebenfalls außergewöhnlich ist, dass das Bestimmtheitsmaß für die Untergruppe der Freiheitsstrafen höher ist als für die der Geldstrafen.217 Sofern das Gericht auf Freiheitsstrafe erkannte, orientierte es sich also noch stärker am Hinterziehungsbetrag, was vor dem Hintergrund verwundert, dass bei Freiheitsstrafen bestimmten spezialpräventiven Bedürfnissen nicht – wie bei der Geldstrafe – über die Höhe der Tagessätze Rechnung getragen werden kann. Ebenfalls verwundert, dass das niedrigste Bestimmtheitsmaß mit 39 % bei Strafbefehlen durch das Finanzamt auftritt,218 da gerade hier eine besonders starke Orientierung an Tabellenwerten vermutet wird. b) Meine II In seiner zweiten empirischen Untersuchung zur Strafzumessung bei der Steuerhinterziehung widmete sich Meine der Frage nach der „üblichen Strafe“ im Sinne des Maßstabes der revisionsgerichtlichen Kontrolle auf Vertretbarkeit einer Strafzumessungsentscheidung. Hierzu wertete er alle Revisionsakten des BGH in Steuerstrafsachen für die Jahre 1986–1988 aus, wobei Gegenstand der Erhebung nicht die Revisionsentscheidungen des BGH, sondern die Strafzumessungen der Landgerichte waren, die nach Ab215 Für die Gruppe der Geldstrafen bei Hinterziehung auf Zeit, die durch Strafbefehl der Finanzämter abgehandelt wurden, konnte für die Gesamtuntersuchung von 1977–1983 ein Varianzanteil von 53 % erklärt werden, während dies nur für 39 % der Hinterziehungen auf Dauer gelang, Meine, MSchrKrim 1985, S. 238 (241). Auch bei den durch richterliches Urteil abgehandelten Verfahren, die eine Geldstrafe zur Folge hatten, konnte in den Fällen der Hinterziehung auf Zeit im Erhebungszeitraum 1977/1978 mit 48,68 % ein höherer Anteil der Strafmaßvarianzen erklärt werden als für die Fälle der Hinterziehung auf Dauer (42,61 %), Meine, MSchrKrim 1980, 129 (138). In den Untersuchungszeiträumen 1980 und 1983 konnten für letztere keine signifikanten Ergebnisse mehr erzielt werden, Meine, MSchriftKrim 1982, 342 (348), MSchrKrim 1985, 238 (240). 216 Zur Behandlung der Hinterziehung auf Zeit s. u. 3. Teil, 1. Kapitel, A., V. 217 Freiheitsstrafen durch Urteil wegen Hinterziehung auf Dauer: 74 %, Geldstrafen durch Urteil wegen Hinterziehung auf Dauer: 45 %, Meine, MSchrKrim 1985, 238 (240). 218 Meine, Strafzumessung bei Steuerhinterziehung, S. 240.
2. Kap.: Strafhöhenbemessung151
schluss der Revisionsverfahren der Aktenzeichenjahrgänge 1986–1988 beim Bundesgerichtshof rechtskräftig wurden.219 Die Eignung über die gewählte Grundgesamtheit ein repräsentatives Bild für die „übliche Strafe“ zu erhalten, unterliegt jedoch – wie Meine zum Teil einräumt220 – einigen Bedenken. So ist der BGH gem. §§ 135 Abs. 1, 121 Abs. 1 Nr. 1 GVG lediglich zuständig für die Revisionen gegen in erster Instanz ergangene Urteile der Landgerichte. Damit ist bereits die große Mehrzahl der Steuerstrafsachen nicht erfasst, die in erster Instanz von den Amtsgerichten abgeurteilt wird. Auch ist zu berücksichtigen, dass mit den Verfahren, die zu einer Revision geführt haben, eine Stichprobe von Fällen genommen wurde, die nicht selten gerade untypisch gelagert sind. Die Revisionsfälle dürften daher auch keine repräsentative Auswahl der in erster Instanz vor den Landgerichten abgeurteilten Steuerstraftaten sein. Schließlich gilt es bei der Bewertung der Ergebnisse auch zu beachten, dass die vom BGH bestätigten Strafzumessungsentscheidung nicht das aus seiner Sicht optimale Strafmaß darstellen, sondern lediglich für im Rahmen des Vertretbaren befunden werden. Bei der Auswertung beschränkte sich Meine erneut auf die Beschreibung bivariater Zusammenhänge durch Korrelations- und lineare Regressionsrechnungen. Das Datenmaterial wurde jedoch im Unterschied zur vorherigen Untersuchung in eine größere Vielzahl von Fallgruppen221 unterteilt und in Schaubildern, die stets das Strafmaß in Abhängigkeit von der Höhe des Hinterziehungsbetrages aufzeigen, einer deskriptiven Analyse unterzogen. Diese, ersichtlich an Bedürfnisse in der Rechtspraxis auf Findung der Einstiegsstelle in den Strafrahmen und deren schrittweise Konkretisierung durch Abgleich von weiteren Vergleichsmerkmalen ausgerichtete Darstellung,222 weist gegenüber einem multivariaten Analyseverfahren223 jedoch die genannten Schwächen in der Aussagekraft der Ergebnisse auf. Insbesondere die Rückschlüsse Meines auf die Bedeutung einzelner Strafzumessungsmerkmale wie etwa die Vorstrafenbelastung, die fremd- oder eigennützige Begehungsweise sowie die Schadenswiedergutmachung unterliegen dem methodischen Einwand der Nichtberücksichtigung der Einflüsse von Drittvariablen und Interdependenzen. Bewertet man die Ergebnisse der Untersuchung im Einzelnen, ist zunächst die herausgehobene Bedeutung des Hinterziehungsbetrags als Strafzumes219 Meine,
Strafzumessung bei Steuerhinterziehung, S. 66. Strafzumessung bei Steuerhinterziehung, S. 68. 221 Meine, Strafzumessung bei Steuerhinterziehung, S. 76 f. 222 Meine, Strafzumessung bei Steuerhinterziehung, S. 69; zu bemängeln ist auch der Verzicht auf die Angabe der Signifikanzniveaus. 223 Vgl. hierzu Bortz, Statistik, S. 346 ff.; Urban/Mayerl, Regressionsanalyse, S. 75, 80 ff. 220 Meine,
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2. Teil: Grundlagen der Strafzumessungsentscheidung
sungsmerkmal festzuhalten. Für nahezu alle Fallgruppen wurden hohe Korrelationswerte zwischen Hinterziehungsbetrag und Strafmaß errechnet. Der Maßkorrelationskoeffizient r nahm etwa bei Einzelfreiheitsstrafen aus dem Regelstrafrahmen für vollendete eigennützige Hinterziehungen auf Dauer nicht einschlägig vorbestrafter Täter einen Wert von 0,61 und bei wegen Steuerdelikten Vorbestraften einen Wert von 0,84 ein, bei Geldstrafen für vollendete eigennützige Hinterziehung auf Dauer nicht einschlägig vorbestrafter Täter einen Wert von 0,83 und bei entsprechenden Fällen fremdnütziger Begehungsweise sogar einen Wert von 0,97 ein.224 Der mit Abstand geringste Korrelationswert von 0,36 wurde in den Fällen einer Verurteilung aus dem Sonderstrafrahmen des § 370 Abs. 3 AO a. F. bei vollendeter eigennütziger Hinterziehung auf Dauer einschlägig vorbestrafter Täter ermittelt.225 Eine Erklärung hierfür könnte darin zu finden sein, dass die Regelbeispiele des § 370 Abs. 3 Nr. 1–4 AO a. F. gerade Konstellationen erfassten, in denen (auch) andere Umstände als das Ausmaß der Hinterziehung von gewichtiger Bedeutung sind. Im Gegensatz zur ersten Untersuchung Meines ergaben sich bei den Verurteilungen zu einer Geldstrafe höhere Korrelationswerte als bei den Verurteilungen zu einer Freiheitstrafe.226 Die Möglichkeit spezialpräventive Bedürfnisse im Rahmen der Höhe des Tagessatzes zu berücksichtigen, könnte ein plausibler Grund für diese Divergenz sein. Erstaunlich sind wiederum die Ergebnisse Meines zur Bedeutung der Vorstrafenbelastung. Bei Einzelfreiheitsstrafen für vollendete eigennützige Hinterziehung auf Dauer ergibt gegenüber unbestraften Tätern weder die Gruppe der nicht einschlägig vorbestraften Täter noch die der einschlägig vorbestraften Täter eine Veränderung des Strafenniveaus.227 Lediglich der Streuungsbe224 Meine,
Strafzumessung bei Steuerhinterziehung, S. 79 f., 89. Strafzumessung bei Steuerhinterziehung, S. 85; vgl. zu dieser Fallgruppe allerdings Fn. 227. Für die Fallgruppe der nicht einschlägig Vorbestraften beträgt der Korrelationswert hingegen 0,8. 226 Vgl. die Werte von r = 0,83 und r = 0,61 bei vollendeter eigennütziger Hinterziehung auf Dauer nicht einschlägig vorbestrafter Täter, oben Fn. 217; dem Wert von r = 0,97 bei fremdnütziger Hinterziehung auf Dauer nicht einschlägig vorbestrafter Täter steht ein Wert von r = 0,64 in der entsprechenden Fallgruppe der Freiheitsstrafen gegenüber, Meine, Strafzumessung bei Steuerhinterziehung, S. 81. 227 Meine, Strafzumessung bei Steuerhinterziehung, S. 79 f. Bild 5–8. Für Verurteilungen aus dem Sonderstrafrahmen des § 370 Abs. 3 AO a. F. ist sogar ein Abfall des Strafenniveaus für die Gruppe der einschlägig vorbestraften Täter zu verzeichnen, Meine, Strafzumessung bei Steuerhinterziehung, S. 83 ff., Bild 13–15. Angesichts der geringen Anzahl von Fällen (12) in der Gruppe der einschlägig vorbestraften Täter sowie dem außergewöhnlich niedrigen Korrelationswert von nur r = 0,36 ist anzunehmen, dass hier „Ausreißer“ das Gesamtbild trügen (Meine vermutet gar „Wertungsfehler“, S. 84). 225 Meine,
2. Kap.: Strafhöhenbemessung
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reich der verhängten Strafen wird bei einschlägigen Vorstrafen enger, so dass der Schaden als Strafzumessungsmerkmal offensichtlich stärker in den Vordergrund tritt.228 Erst bei den Gesamtfreiheitsstrafen, die aus Einzelstrafen für vollendete eigennützige Hinterziehungen auf Dauer gebildet wurden, ergibt sich für die Gruppe der einschlägig vorbestraften Täter eine Strafschärfung gegenüber der Gruppe der nicht einschlägig vorbestraften Täter.229 Dass die Vorstrafenbelastung zu keiner Strafschärfung bzw. die Freiheit von Vorstrafenbelastung nicht zu Strafmilderungen bereits bei der Bemessung der Einzelstrafe führt, lässt sich auch vor dem Hintergrund des möglichen Einflusses von Drittvariablen und Interdependenzen kaum erklären, gilt dieses Strafzumessungsmerkmal doch allgemein230 und insbesondere auch ausweislich der richterlichen Strafzumessungsbegründungen231 als wichtiger mildernder / schärfender Faktor bei der Strafhöhenbestimmung. Bemerkenswert sind auch die Ergebnisse Meines zur Bedeutung der Schadenswiedergutmachung. Es wurden hier Einzelfreiheitsstrafen für vollendete eigennützige Hinterziehung auf Dauer nicht einschlägig vorbestrafter Täter in den Untergruppen der ausgebliebenen Wiedergutmachung, der Wiedergutmachung bis zu 50 % des Hinterziehungsbetrages, der Wiedergutmachung von mehr als 50 % sowie der vollständigen Wiedergutmachung einander gegenübergestellt. Der Vergleich zeigt, dass erst bei hohen Hinterziehungsbeträgen (ab ca. 500.000 DM) eine Strafmilderung eintritt, die umso stärker ausfällt je höher der wiedergutgemachte Anteil am Hinterziehungsschadens ist.232 Im Hinblick darauf, dass in den Fällen einer Schadenswiedergutmachung nicht selten auch ein Geständnis vorliegen wird, kritisiert Meine die vorgefundenen geringfügigen Milderungen als schuldunangemessene Bewertung des Strafzumessungsmerkmals Wiedergutmachung.233 Wie noch zu zeigen sein wird, kann die Schadenswiedergutmachung im Einzelfall jedoch von ganz unterschiedlichem Gewicht sein, womit sich die Ergebnisse Meines durchaus erklären lassen.234 Ähnlich der Schadenswiedergutmachung ergeben sich auch bei Differenzierung nach der Art der Steuer Unterschiede erst ab hohen Hinterziehungs228 Meine, Strafzumessung bei Steuerhinterziehung, S. 78 ff. Der Korrelationskoeffizient für die Fallgruppe der einschlägig Vorbestraften beträgt r = 0,76, für die Gruppe der wegen Steuerdelikten Vorbestraften r = 0,84, Meine, Strafzumessung bei Steuerhinterziehung, S. 80. 229 Meine, Strafzumessung bei Steuerhinterziehung, S. 85 f., Bild 16, 17. 230 Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 565 m. w. N. 231 Meine, Strafzumessung bei Steuerhinterziehung, S. 78. 232 Meine, Strafzumessung bei Steuerhinterziehung, S. 92 ff. Bild 26–29. 233 Meine, Strafzumessung bei Steuerhinterziehung, S. 100. 234 Hierzu 3. Teil, 4. Kapitel.
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2. Teil: Grundlagen der Strafzumessungsentscheidung
beträgen. Ab einem Hinterziehungsbetrag von etwa 500.000 DM werden Lohn- und Umsatzsteuerhinterziehungen dann allerdings deutlich schärfer bestraft als die Hinterziehung von Ertragssteuern.235 Eine eindeutige Tendenz zu milderen Strafen ist auch für die Fälle einer fremdnützigen Begehungsweise festzustellen. Sowohl im Bereich der Einzelfreiheitsstrafen vollendeter Hinterziehungen auf Dauer, als auch im Bereich der Geldstrafen sinkt das Strafenniveau, wenn der Täter fremd- statt eigennützig handelte.236 Unterschiedlich stellt sich das Bild für die Fälle der Strafrahmenverschiebungen dar. Während bei Beihilfe und Versuch eine deutliche Absenkung des Strafenniveaus gegeben ist,237 konnte eine solche für Verurteilungen aus dem Sonderstrafrahmen des § 370 Abs. 3 AO a. F. nicht festgestellt werden.238 Interessant ist auch, dass die 29 Fälle einer Einzelfreiheitsstrafe für vollendete eigennützige Hinterziehung auf Dauer nicht einschlägig vorbestrafter Täter aus dem Sonderstrafrahmen des § 370 Abs. 3 AO a. F. Hinterziehungsbeträge von mindestens 300.000 DM betreffen und damit deutlich über der vom BGH festgestellten Betragsgrenze für die Anwendung eines besonders schweren Falles liegen. Die Unterscheidung nach regionaler Herkunft der Entscheidungen ergab letztlich auch ein erkennbares Nord-Süd-Gefälle des Strafenniveaus.239 2. Richterliche Strafrahmen und Straftaxen Da der Fallvergleich in der Praxis der Strafzumessung eine zentrale Rolle einnimmt, sind inoffizielle Maßstäbe, die die örtlichen Maßstäbe und Traditionen wiedergeben, an Gerichten sowie bei Staatsanwaltschaften für einige Deliktsbereiche zu finden. Je nachdem wie weitreichend und inhaltlich bestimmt solche Richtwerte sind, werden sie als richterliche Strafrahmen oder Straftaxen bezeichnet.240 Die Existenz und Bedeutung solcher Orientierungshilfen belegen Richterbefragungen. In einer Studie Albrechts gaben 90 % von 93 in Baden-Württemberg befragten Richtern an, dass für nahezu alle an 235 Meine,
Strafzumessung bei Steuerhinterziehung, S. 95 f. Bild 30–32. Strafzumessung bei Steuerhinterziehung, S. 79 ff. Bild 6 und 9, S. 88 f. Bild 20 und 21. 237 Für die Beihilfe vgl. S. 79 ff. Bild 11 und 6 im Bereich der Freiheitsstrafen und S. 89 f. Bild 20 und 22 im Bereich der Geldstrafen; beim Versuch vgl. S. 79 ff. Bild 6 und 12. 238 Meine, Strafzumessung bei Steuerhinterziehung, S. 79 ff. Bild 6 und 14. 239 Meine, Strafzumessung bei Steuerhinterziehung, S. 99 ff. 240 Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 645. 236 Meine,
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Amtsgerichten verhandelten Deliktsbereiche Straftaxen existierten.241 In einer weiteren Untersuchung Strengs hielten schließlich 94,4 % der befragten Richter Straftaxen für strafzumessungsrelevant.242 Die allgemeine Vermutung, dass entsprechende Orientierungshilfen im Bereich der Steuerhinterziehung von den Rechtsanwendern besonders intensiv genutzt werden, wird durch die insgesamt noch immer rigide, aber vergleichsweise doch rege Veröffentlichung solcher interner Arbeitsmaterialien gestützt. Das hierzu bislang veröffentlichte Material, das freilich wohl nur die Spitze des Eisberges darstellt, soll im Folgenden zusammengetragen und analysiert und schließlich um die Ergebnisse eigener Forschung ergänzt werden. Vorab bedarf es allerdings noch einer kritischen Würdigung der Verwendung entsprechender Richtwerte an sich. Die sich aus der Verlagerung staatsanwaltschaftlicher Befugnisse auf Finanzbehörden ergebenden Probleme im Zusammenhang mit der Autorenschaft solcher Straftaxen werden im vierten Teil der Arbeit gesondert zu behandeln sein. a) Kritik und Würdigung Was die Verwendung von Straftaxen in der Strafzumessung anbelangt, werden im Wesentlichen drei Kritikpunkte geltend gemacht, die zum Teil für das Delikt der Steuerhinterziehung durchaus ihre Berechtigung finden. In erster Linie wird auf eine unzulässige Schematisierung der Strafzumessungsentscheidung verwiesen, die vor allem auf eine mangelnde Berücksichtigung des inneren Tatbildes in der Phase der Abwägung einzelner Strafzumessungsumstände hinausläuft.243 In der Diskussion um die Strafmaßtabellen für das Delikt der Steuerhinterziehung wird sogar noch umfassender die schematische Strafzumessung rein nach Hinterziehungsbetrag bei unzulänglicher Berücksichtigung aller anderen Strafzumessungsumstände bemängelt; ein Vorwurf der im Besonderen auf die Strafzumessung durch die Finanzbehörden zutreffen soll.244 So konstatiert Birmanns, die Anwendung 241 Albrecht, in: Kerner/Kury/Sessar, Deutsche Forschungen zur Kriminalitätsentstehung und Kriminalitätskontrolle, Band 2 S. 1297 (1324). 242 Streng, Strafzumessung und relative Gerechtigkeit, S. 75 ff.; s. auch ders., NStZ 1989, 393: bejaht wurde dies „grundsätzlich“ von 16,9 %, „nur für die häufig vorkommenden Delikte“ von 30,1 % und für „leichte Delikte, die auch häufig vorkommen“ von 47,4 %. 243 Maurer, Komparative Strafzumessung, S. 177 m. w. N. 244 Birmanns, DStR 1981, S. 647 (648); Blumers, wistra 1987, 1 (5); Blumers/ Göggerle, Handbuch des Verteidigers im Steuerstrafverfahren, S. 413 Rn. 957; Blumers/Kullen, Praktiken der Steuerfahndung, S. 224; Bornheim, Steuerstrafverteidigung, S. 144; Burkhard, Der Strafbefehl im Steuerstrafrecht, S. 166; Göggerle, DStR 1981, 308 (309); Gräfe/Lenzen/Rainer, Steuerberaterhaftung, Rn. 1940 ff.; Minoggio,
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2. Teil: Grundlagen der Strafzumessungsentscheidung
von Strafmaßtabellen „fördert die subalterne Gedankenlosigkeit und hat mit den Grundsätzen der StrZ nicht mehr viel zu tun“.245 Andere kritisieren zwar die schematische Anwendung, betonen aber den positiven Nutzen solcher Tabellen bei richtiger Anwendung.246 Die Tabellen böten noch genügend Raum für die Einzelfallbeurteilung,247 die übrigen Strafzumessungsumstände seien lediglich hinreichend zu berücksichtigen.248 Die Tabellen seien so in der Lage der Findung der „Einstiegsstelle“ in den Strafrahmen zu dienen.249 Die Verwendung von Strafmaßtabellen sei daher im Hinblick auf die großen Fallzahlen, die von den Verwaltungsbehörden zu bewältigen seien, unter dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung unerlässlich.250 Das Problem liege daher nicht in der Existenz der Strafmaßtabellen, sondern in deren schablonenhafter Anwendung.251 Dem ist zuzustimmen. Eine Individualisierung der Strafe lässt sich sinnvoll nur dann erreichen, wenn für die Bewertung unproblematisch generalisierbarer Kriterien einheitliche Maßstäbe verwendet werden.252 Hierzu können Strafmaßtabellen einen nützlichen und notwendigen Beitrag leisten. Darüber hinaus ist gerade mit Blick auf die Strafzumessung durch Vertreter der Finanzbehörde zu beachten, dass die Möglichkeit, der Individualisierung über eine Varianz in der Rechtsfolge Rechnung zu tragen, abnimmt, je näher man an die Untergrenze der Strafbarkeit gelangt.253 Für den unteren Schwerebereich, den die Finanzbehörden vorwiegend abdecken, wird man der Bildung und auch Anwendung von Straftaxen daher großzügiger zu begegnen haben als im mittleren und oberen Schwerebereich. PStR 2003, 212 (216); Peter/Kramer, Steuer und Studium 2008, 544 (546); Rolletschke/Kemper/Rolletschke, § 369 AO, Rn. 56; Kohlmann/Schauf, § 370 Rn. 1078; MünchKomm/Schmitz/Wulf, § 370 AO, Rn. 451. 245 Birmanns, DStR 1981, S. 647 (648). 246 Göggerle, DStR 1981, 309 f.; Peter/Kramer, Steuer und Studium 2008, 544 (546). 247 Göggerle, DStR 1981, 309 f. 248 Blumers/Göggerle, Handbuch des Verteidigers im Steuerstrafverfahren, S. 413 Rn. 957. 249 So auch Kohlmann/Schauf, § 370 Rn. 1078; insoweit plädierte bereits Köpp, DStR 1984, 363 die Strafmaßtabellen nicht i. S. d. Strafzumessungstatsache „verschuldete Auswirkungen“ zu verstehen, sondern i. S. eines allgemeinen typ. Schuldvorwurfs. 250 Göggerle, DStR 1981, 309 f.: „Einzelfestsetzungen würden zu willkürlichen Gewichtungen und Wertungen der einzelnen Bearbeiter führen, ohne dass noch einigermaßen gleichliegende Beurteilungen gewährleistet wären.“ 251 Blumers/Göggerle, Handbuch des Verteidigers im Steuerstrafverfahren, S. 415 Rn. 962. 252 Maurer, Komparative Strafzumessung, S. 177. 253 Vgl. Maurer, Komparative Strafzumessung, S. 177 f.
2. Kap.: Strafhöhenbemessung
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Neben dem Schematisierungsargument wird auch geltend gemacht, dass durch die Verwendung von Strafmaßtabellen Gleichheiten in der Strafzumessung sich nur auf lokaler Ebene bilden und deshalb regionale Unterschiede gefördert werden.254 Die Existenz teilweise erheblicher regionaler Unterschiede in der Strafzumessung der Steuerhinterziehung offenbarte nicht nur die Untersuchung Meine II, sondern wird auch durch die Analyse der Strafmaßtabellen bestätigt.255 Regionale Disparitäten sind daher ein Problem der Gleichmäßigkeit der Strafzumessung gerade im Bereich der Steuerhinterziehung, wozu die Verwendung von Strafmaßtabellen beitragen kann. Auch dieser Vorwurf trifft bei genauerer Betrachtung jedoch nicht die Existenz von Strafmaßtabellen an sich, sondern nur eine bestimmte Art der Verwendung. Gelingt es die Inhalte der Tabellen bundesweit dauerhaft anzugleichen, würden Strafmaßtabellen gerade zu einer Verhinderung regionaler Strafzumessungsauswüchse beitragen. Für die Ausgabe entsprechender Orientierungswerte kommen freilich nur Instanzen in Betracht, die bundesweit zuständig sind. In erster Linie ist hier an die höchstrichterliche Rechtsprechung zu denken. Und tatsächlich steht zu vermuten, dass die BGH-Rechtsprechung zu einer gewissen Nivellierung der Unterschiede geführt hat. Daneben bietet es sich aus meiner Sicht an, Strafmaßempfehlungen in Verwaltungsvorschriften zu erlassen, deren Inhalt in Zusammenarbeit von Bundes und Landesbehörden erstellt und einheitlich erlassen wird.256 Der letzte Einwand gegen die Verwendung von Strafmaßtabellen ist auf die Zementierung der Rechtsprechungspraxis gerichtet.257 Die Gefahr einer solchen Erstarrung des Systems im Längsschnitt besteht jedoch nur dann, wenn der Rechtsanwender die Bedeutung der fixierten Rechtsprechungsmaßstäbe verkennt, indem er sich überobligatorisch an diese bindet.258 Gerade im Bereich der Vermögensdelikte ist der Rechtsanwender zur kontinuierlichen Überprüfung und Anpassung fixierter Umwertungsergebnisse berufen. Denn die der Bewertung der Rechtsgutsbeeinträchtigung zu Grunde gelegte Einheit unterliegt inflationsbedingt einem ständigen Wandel. Die Hinterziehung einer 254 Blumers/Göggerle, Handbuch des Verteidigers im Steuerstrafverfahren, S. 413 Rn. 956. 255 Siehe 2. Teil, 2. Kapitel, B., I., 2., c), d). 256 Siehe hierzu unten 4. Teil, 2. Kapitel, 3. Kapitel sowie Ausblick. Anregungen in diese Richtung gingen für den Bereich der Verkehrsdelikte auch bereits vom Deutschen Verkehrsgerichtstag aus, der Empfehlungen für die Sanktionierung bestimmter Falltypen erarbeitete, vgl. Händel, NJW 1970, 417 ff.; Jagusch, NJW 1970, 401 ff.; vgl. auch Frisch, Revisionsrechtliche Probleme, S. 203 f. 257 Vgl. Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 648 m. w. N. 258 Maurer, Komparative Strafzumessung, S. 177, der ganz zutreffend darauf hinweist, dass es sich dabei lediglich um eine, der Umsetzung des Maßstabs der Üblichkeit grundsätzlich innewohnenden Gefahr handelt.
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2. Teil: Grundlagen der Strafzumessungsentscheidung
bestimmten Vermögenssumme wiegt weniger schwer, wenn die Kaufkraft des Vermögens abnimmt. Dieser Umstand wird meines Erachtens in der Rezeption von Strafmaßtraditionen stark vernachlässigt. Exemplifiziert an den Schwellenwerten des BGH: Ein Betrag mit dem Wert von 50.000 € (bzw. 100.000 €) zu Beginn des Jahres 2008 hatte zu Beginn des Jahres 2016 bereits nur noch eine Kaufkraft von 44.949 € (89.897 €) unter Annahme der tatsächlichen Inflation in Deutschland.259 Dies entspricht einem Kaufkraftverlust von 10,10 %. Anders gerechnet: Waren mit einem Preis von 50.000 € zu Beginn des Jahres 2008 haben zu Beginn des Jahres 2016 einen Preis von 55.619 €. Wendet man die Strafrahmenrechtsprechung des BGH inflationsbereinigt an, ist das „große Ausmaß“ gem. § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 AO im Jahr 2016 demnach erst bei ca. 55.600 € bzw. 112.000 € erreicht. Auch wenn das Rechenbeispiel nach 8 Jahren noch zu einer vernachlässigbaren Größe führt,260 wird dennoch deutlich: Strafmaßvorgaben, die bestimmte Schwellenwerte betreffen, müssen nicht lediglich auf veränderte Strafwürdigkeitsbewertungen, sondern gegebenenfalls auch auf die schleichende Veränderung der eigenen Bezugsgröße reagieren.261 b) Strafmaßtabellen bei Steuerhinterziehung – bisheriger Kenntnisstand Als „Urvater“262 tabellarischer Zusammenstellung wird die so genannte „Leise-Tabelle“ genannt.263 Es handelt sich dabei um dieselbe Tabelle einer Strafsachenstelle aus dem Bezirk der OFD-Düsseldorf, die Birmanns bespricht.264 Diese sei „im Bundesgebiet ziemlich verbreitet angewendet“ wor259 Rechnung abrufbar unter [Stand: 31.07.2016]. 260 Vgl. allerdings für erhebliche Abweichungen die inflationsbereinigten Werte für die bei Schäfer geführte Tabelle, die Ergebnisse der Untersuchung Meine II sowie eine prognostische Berechnung der Schwellenwerte des BGH für die Jahre 2025 und 2045, Anhang Anlagen I und J. 261 Nicht ganz unerheblich erscheint daher die Tatsache, dass der Schwellenwert von 50.000 € letztlich auf eine Rechtsprechung des BGH aus dem Jahr 1990 (!) zurückgeht, vgl. oben Fn. 21. 262 Minoggio, PStR 2003, 212 (215). Bereits zum alten Recht wurden freilich Tabellen oder Richtwerte verwendet, vgl. OLG Hamm BB 1964, 871 (872): „Als Strafmaß wenden die Finanzämter Rahmensätze an, die sich im Falle der Steuerhinterziehung von 50 bis auf 100 % des hinterzogenen Betrages belaufen. Diese Rahmensätze können einen gewissen Anhalt für eine Gleichbehandlung bieten.“ Vgl. auch Kopacek, NJW 1957, 1223 (1224), der von „Mittelwerten“ der Finanzbehörden berichtet, die auch für die Justiz orientierungswert hätten. 263 Bezeichnet nach dem Herausgeber des Kommentars „Steuerverfehlungen“ Horst Leise, heute: Steuerstrafrecht. 264 Birmanns, DStR 1981, 647 (648).
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den.265 Sie sieht ein lineares Verhältnis von Steuerschaden und Hinterziehungsbetrag vor und nennt neben der Schadenshöhe noch weitere Strafzumessungsumstände, die zu berücksichtigen sind. Göggerle266 berichtet zur selben Zeit von einem Strafrahmenkatalog, der fünf bis zehn Tagessätze bei einem Verkürzungsbetrag von 1000–2000 DM vorsah und 360 Tagessätze bei etwa 100.000 DM. Blumers / Kullen267 veröffentlichten eine Strafmaßtabelle aus dem Raum Baden-Württemberg sowie eine Tabelle und eine Rechenformel aus Bayern. Bei der Tabelle aus Baden-Württemberg wurden konkrete Strafmaße für den „Normalfall ohne Besonderheiten“ (N) sowie für den Sonderfall „S = Täter geständig, Steuern nachbezahlt oder Bemühen ersichtlich, hinterzogene Steuern nachzuentrichten“ aufgestellt. Die Rechenformel aus Bayern lautete: (Hinterzogene Steuer):10.000 × F = Zahl der Tagessätze. Dabei war der Faktor F der Anlage des Erlasses zu entnehmen und berücksichtigte die Begehungsform sowie besondere Strafmilderungs- und Schärfungsgründe. Weitere Tabellen finden sich bei Göggerle / Müller268 (1987), Kawlath269 (1990), Schäfer270 und Joecks271 (1997). Die Zeitschrift Praxis für Steuerrecht veröffentlichte 1998 und 2001 Strafmaßtabellen für fast alle OFD-Bezirke in Deutschland.272 Dabei traten erhebliche regionale Unterschiede zu Tage. Offen blieb allerdings woher die Angaben stammten. Bei Schäfer / Sander / van Gemmeren273 findet sich eine Mittelwertsrechnung dieser Tabelle und Umrechnung in Euro. Ein Vorschlag für eine bundeseinheitliche Tabelle machen auch Peter / Kramer.274 265 Leise/Dietz, Steuerverfehlungen, § 369 Rn. 64, zitiert nach Kawlath, in: Dumke/Marx, Steuerstrafrecht, S. 205 (240); auch Mester, PStR 1998, 71 (75) berichtet noch von der Anwendung der sog. „Leise-Tabelle“. 266 Göggerle, DStR 1981, 308 (309). 267 Blumers/Kullen, Praktiken der Steuerfahndung, S. 226 f. 268 Göggerle/Müller, Steuerstrafrecht, S. 229 ff. 269 Kawlath, in: Dumke/Marx, Steuerstrafrecht, S. 240 ff.: Tabellen für Niedersachsen, OFD-Bezirk Koblenz, Hamburg. In Koblenz wurde etwa für Hinterziehung auf Zeit ein prozentualer Abschlag in Höhe von 20 Prozent auf das Strafmaß vorgenommen. 270 Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 1879 ff., ebenso bereits in Schäfer, Praxis der Strafzumessung, 1. Auflage, Rn. 744 ff., der aus einem nicht veröffentlichen Erlass einer OFD zitiert. Danach sei im Falle der Steuerhinterziehung auf Zeit aufgrund des geringeren Unrechtsgehalts bei Anwendung der Tabelle nur vom „Hinterziehungsgewinn (Zinsvorteil)“ auszugehen. 271 Joecks, StraFo 1997, 2 (4). 272 Praxis Steuerstrafrecht, PStR 1998, 224 f.; ders., PStR 2001, 18 f. 273 Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 1896. 274 Peter/Kramer, Steuer und Studium 2008, 544 (546).
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Schäfer / Sander / van Gemmeren berichten ferner von der Auskunft einer Steuerstrafsachenstelle, der keine entsprechende Dienstanweisung vorliegt, die aber „in Übereinstimmung mit der zuständigen Staatsanwaltschaft, Amtsund Landgericht ‚im Allgemeinen‘ ohne degressive Rabatte für höhere Hinterziehungsbeträge linear von vier bis sechs Tagessätzen pro 500 € hinterzogener Steuern“ ausgehen.275 Zum Teil wird davon ausgegangen die BGH-Rechtsprechung habe zu einer Modifizierung der Strafmaßtabellen geführt. So wird vermutet die Finanzbehörden könnten die vom BGH genannten Betragsgrenzen (50.000 € / 100.000 €) linear heruntergerechnet haben und so von einem Tagessatz à 140 € / 280 € ausgehen.276 c) Strafmaßtabellen – Ergebnisse eigener Forschung Im Zuge der eigenen Forschung277 zur Strafzumessungspraxis der Finanzbehörden wurden von einigen Behörden Strafmaßtabellen übersendet, die sich zur Zeit der Erhebung in Verwendung befanden. aa) Koblenzer Tabellen Das Landesamt für Steuern in Koblenz übersendete zwei Tabellen.278 Die Koblenzer Tabelle stammt vom Landgericht und enthielt ursprünglich lediglich die mittlere Kurve. Die beiden Geraden wurden nachträglich von einem Prüfer der Buß- und Strafgeldsachenstelle (BuStra) hinzugefügt, um die Unterschiede zu einem linearen Zusammenhang ausgehend von dem niedrigsten und höchsten Betrag der Tabelle deutlich zu machen. Die Tabelle enthält über den Hinterziehungsbetrag hinaus keine weiteren Annahmen bzgl. anderen Strafzumessungsumständen. Anders stellt sich dies für die von der Staatsanwaltschaft verwendete Tabelle aus Koblenz dar. Diese gilt nur für Ersttäter und unterscheidet weiter nach Art der Steuer.
275 Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 1894; erstmals veröffentlicht in Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 3. Auflage 2001, Rn. 1046. 276 Bielefeld, Stb 2009, 112 (116); Rolletschke, NZWiSt 2012, 18 (21); Zur der aus seiner Sicht nicht bewahrheiteten Hoffnung, die BGH-Rechtsprechung führe zur Abschaffung der Strafmaßtabellen, Kohlmann/Schauf, § 370 Rn. 1075. 277 Ausführlich unten 4. Teil, 4. Kapitel, B. 278 Siehe Anhang, Anlage C und D.
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bb) Mecklenburg-Vorpommern Aus dem Finanzministerium Mecklenburg-Vorpommern wurde neben der eigenen Strafmaßtabelle,279 die an alle untergeordneten Finanzämter des Landes als Orientierungshilfe herausgegeben wird, auch eine justizielle Tabelle280 übermittelt. Sie ist mit dem Vermerk „Anhang aus der Leitlinie der Staatsanwaltschaft Neubrandenburg zur Rechtsfolgenzumessung in Steuerstrafsachen“ versehen. Diese Tabelle enthält den Hinweis, dass es sich bei den Werten um solche Fälle handelt, in denen noch keine Schadenswiedergutmachung erfolgt ist. Für den Fall der Wiedergutmachung wird regelmäßig eine erhebliche Strafmilderung angenommen, deren Umwertung exemplifiziert ist für einen Hinterziehungsbetrag von 500.000 €. Eine eigenständige Tabelle ist für die, vermutlich an der polnischen Grenze überproportional gehäuft auftretende, Fallgruppe des Zigarettenschmuggels angegeben. Aussagekräftiger ist die Strafmaßtabelle des Finanzministeriums. Hier werden die Tabellenwerte präzisiert um zwei weitere wichtige Strafzumessungsmerkmale. Es wird vom Fall eines geständigen Ersttäters, der den Schaden wiedergutgemacht hat, ausgegangen. Daneben wird die Untergrenze der Strafbarkeit und der Übergang zur Anwendung der §§ 153 f. StPO festgelegt. cc) Sachsen-Anhalt Eine besonders ausführliche Strafmaßtabelle übermittelte die OFD Magdeburg, die sämtlichen BuStras des Landes Sachsen-Anhalt umfassende Vorgaben in Form einer Verwaltungsvorschrift macht.281 Im Anschluss an die dort unter 2.1 aufgeführte Strafmaßtabelle werden unter 3. dezidiert aufgeführt, welche Aspekte strafmildernd und welche strafschärfend berücksichtigt werden können. Dabei wird untergliedert in Vorleben / allgemeine Lebensumstände, Entstehungsgründe der Tat, die Tat selbst, Folgen der Tat für den Täter und das Verhalten nach der Tat. Bemerkenswert ist auch die detaillierte Anweisung für die Rundung auf bestimmte Strafgrößen, weil ein „Ausrechnen von Schuld und damit von punktgenauen Strafen“ nicht möglich sei. Soweit damit auf die tatsächlichen Grenzen der Erkenntnis bei der Findung des richtigen Strafmaßes verwiesen wird, würden die Abstände zwischen den genannten runden Strafgrößen den Spielraum vertretbarer Schuldstrafen angeben, innerhalb derer nach der sogenannten Spielraumtheorie präventive Strafbedürfnisse zu berücksichtigen wären. 279 Siehe
Anhang, Anlage F. Anhang, Anlage E. 281 Siehe Anhang, Anlage G. 280 Siehe
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In seiner Vagheit immerhin zu kritisieren ist der unter 2.1 beschriebene Hinweis auf die Gesamtstrafenzumessung, wonach bei der Bemessung der Einzelstrafe darauf zu achten ist, dass die Regeln für die Bildung von Gesamtstrafen nicht zu einer Abweichung von den dargelegten Grundsätzen führen dürfen. Einer problematischen Rechtsprechung des BGH folgend, ließe sich dies als Aufforderung verstehen, entweder das Asperationsprinzip zu umgehen oder eine unzulässige Strafzumessung von der Gesamtstrafe zur Einzelstrafe hin vorzunehmen.282 Unter 2.2 wird die Rechtsprechung des BGH zu § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 AO aufgegriffen. Unter 2.3 findet sich eine im Ergebnis zutreffende Anleitung für die Bewertung der Fälle einer Steuerhinterziehung auf Zeit.283 Lob verdient im Ansatz auch der Versuch die Erkenntnisse moderner Strafzumessungsdogmatik in Bezug auf die Verschränkungen mit der Straftatlehre für das Delikt der Steuerhinterziehung als einleitende Hinweise unter 1. („Allgemeines zur Strafzumessung“) umzusetzen. Das Unrecht der Tat wird – unterteilt in Erfolgs- und Handlungsunrecht – als für die Strafzumessung maßgebliches Kriterium ausgegeben, wobei die rechtsfeindliche Gesinnung dem Handlungsunrecht zugeschrieben wird. Zu vermissen ist hier lediglich ein Hinweis auf die Vermeidemacht als zwingende Komponente der Schuldwertung.284 Handlungs- und Erfolgsunrecht wird im Verhältnis zueinander etwa dasselbe Gewicht zugeschrieben. Daher sollen in Versuchsfällen Strafen in Höhe von ca. 50 % der angegebenen Tabelle ausgeworfen werden. Auch dies steht im Ergebnis im Einklang mit den hier aus der Rechtsprechung des BGH zu § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 AO hergeleiteten Umwertungsmaßstäben für Fälle einer bloßen Gefährdung des Rechtsguts, zu denen auch die Versuchskonstellation zählt.285 Kritisch müssen indes die Ausführungen zum Verhältnis von Handlungs- und Erfolgsunrecht für die Strafmaßentwicklung bei steigendem Hinterziehungsbetrag bewertet werden. Wenn die Vorgabe die abnehmende Relevanz des Hinterziehungsbetrages damit zu erklären versucht, dass dieser allein für das Erfolgsunrecht relevant wird, und damit etwa bei doppeltem Hinterziehungsbetrag nur zu einer Straferhöhung von ca. 50 % kommt, verkennt sie, dass der Hinterziehungsbetrag auch das Hand282 Siehe
hierzu ausführlich unten 2. Teil, 3. Kapitel, D. 3. Teil, 1. Kapitel, A., V. 284 Natürlich wäre auch eine grundsätzliche Unterscheidung von Schuld- und Präventionswertung im Rahmen der Strafzumessung wünschenswert. Die unter 3. aufgeführten Strafzumessungsmerkmale enthalten eine Reihe von Umständen, die zwar auch im Rahmen der Schuldwertung Relevanz erlangen können, aber bei genauerem Besehen vorwiegend nur unter (spezial-)präventiven Aspekten im Rahmen der Strafzumessung zu berücksichtigen sind. 285 S. o. 2. Teil, 1. Kapitel, A. II., 2., b), bb), (3), 283 Vgl.
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lungsunrecht maßgeblich mitbestimmt. Die im Ergebnis richtige Annahme einer nicht linearen Beziehung zwischen Hinterziehungsbetrag und Ausmaß des Unrechts lässt sich nicht durch die grundsätzlich unterschiedliche Auswirkung des Umstandes auf die Kategorien Handlungs- und Erfolgsunrecht zurückführen, sondern auf eine prinzipielle Bewertung des Umstandes, die sich im Rahmen beider Unrechtsdimensionen gleichermaßen niederschlägt. Zu kritisieren ist auch die Gleichstellung von strafrechtlichem Unrecht und dem Unrecht des § 378 AO als bloßer Ordnungswidrigkeit, wodurch die Tabelle in Höhe von 3 / 5 auch als Ausgangspunkt für die Bemessung von Geldbußen dienen soll. d) Zwischenergebnis Inhaltlich beschränken sich die Strafmaßtabellen meist darauf, neben einer ersten Schwereeinschätzung anhand der Höhe des Hinterziehungsbetrages die weiteren Strafzumessungsumstände zu nennen. Zum Gewicht im Verhältnis zueinander und zum Hinterziehungsbetrag werden keine Angaben gemacht, sodass die wesentlichen Aspekte im Bereich von Abwägung und Umwertung unbeantwortet bleiben. Die Bewertungsrichtung weiterer Strafzumessungsumstände als schärfend oder mildernd fällt von Strafmaßvorgabe zu Strafmaßvorgabe unterschiedlich aus. Der implizierte Vorgang der Strafzumessung ist dennoch in allen Strafmaßvorgaben derselbe: Zunächst wird eine Einstiegsstelle in den Strafrahmen festgelegt, zum Teil in Form eines engen Strafrahmens, regelmäßig jedoch als Angabe einer genauen Strafhöhe. Die Findung dieser Einstiegsstelle erfolgt nicht anhand von Fallgruppen unterschiedlicher Merkmalskombinationen, sondern alleine anhand des Merkmals „Hinterziehungsbetrag“. Die übrigen strafzumessungsrelevanten Umstände werden dann anhand von Zu- und Abschlägen von dieser Einstiegsstelle berücksichtigt, soweit sie nicht bereits stillschweigend bei der Findung der Einstiegsstelle angenommen wurden. Ist letzteres in den Strafmaßvorgaben vorgesehen, kommt dem die sinnvolle Funktion der einheitlichen Handhabung der Festlegung der Bewertungsrichtung dieser Umstände in einem Vorgang komparativer Strafzumessung zu. Auf einen eigenständigen Schritt der Präventionswertung bei der Strafhöhenbestimmung finden sich auch in den ausführlichsten Strafmaßvorgaben keine Hinweise. Es steht zu vermuten, dass präventive Überlegungen gleichwohl eine Rolle in der Strafzumessung spielen, indem sie bereits bei der Abwägung und Umwertung bestimmter Strafzumessungsumstände (Vorstrafen, Reue, Geständnis etc.) berücksichtigt werden.
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3. Exkurs: Die U.S. Sentencing Guidelines Im sachlichen Zusammenhang mit richterlichen Strafrahmen und Strafmaßtabellen lohnt es, einen rechtsvergleichenden Blick in das U.S. amerikanische Steuerstrafrecht zu werfen. Denn auch dort existieren mit den U.S. Sentencing Guidlines detaillierte Strafmaßvorgaben. Dabei stellen die U.S. Sentencing Guidlines nicht bloße Strafmaßtraditionen oder informelle Richtlinien dar, sondern vom Congress erlassene gesetzliche Vorgaben, die die Strafgerichte unmittelbar binden (binding rules).286 Sie enthalten eine Strafzumessungstabelle (Sentencing Table), wonach vor allem zwei Faktoren für das Strafmaß entscheidend sind: die Schwere der vorgeworfene Tat und das Vorleben des Täters. Der erste Faktor, die Tatschwere, wird dabei in 43 mögliche Schweregrade (Base Offense Level) eingeteilt. §§ 2 A–X U.S.S.G weisen den jeweiligen Straftaten unabhängig vom gesetzlichen Strafrahmen einzelne Schweregrade zu. So sieht § 2 A 1.1 U.S.S.G. für Mord (first degree Murder) ein Schweregrad von 43 vor, § 2 A 1.4 U.S.S.G. für fahrlässige Tötung einen Schweregrad von zehn bei grober und 14 bei leichter Fahrlässigkeit. Für Steuerstraftaten soll sich gem. § 2 T 1.1 (a) U.S.S.G. der Schweregrad unabhängig von der verwirklichten Steuerstraftat einzig nach der Höhe des Steuerschadens richten. Dementsprechend steigt der Schweregrad gem. § 2 T 4.1 U.S.S.G. von sechs für den Fall einer Steuerstraftat ohne Steuerschaden kontinuierlich auf einen Schweregrad von bis zu 26 für eine Hinterziehung von 80 Mio. U.S. Dollar oder mehr. Gem. § 2 T 1.1 (b) (2) U.S.S.G. kann der Schweregrad um zwei Punkte erhöht werden, wenn die Steuerstraftat mittels „besonders raffinierter Methoden“ (sophisticated means) begangen wird. Weitere Verschiebungen des Schweregrades sehen die Guidelines etwa bei der Tatbegehung mit mehreren Beteiligten, mehrfache Tatbegehung, Behinderung oder Vereitelung der Straftataufklärung sowie bei Einsicht des Täters vor. Der auf diese Weise gefundene Endschweregrad (Total Offense Level) ergibt je nach Vorleben des Täters einen aus dem Sentencing Table ersichtlichen Strafrahmen (sentencing range). Bei der Erstellung dieser engeren Strafrahmen wurde die sog. 25-percent-rule angewendet, wonach die Obergrenze des Strafrahmens die Untergrenze um nicht mehr als 25 % oder sechs Monate überschreiten darf. Den Gerichten ist es zwar erlaubt, von diesen Strafrahmen abweichende Strafen (departures) zu verhängen. Dies soll jedoch auf wenige Ausnahmekonstellationen beschränkt sein und bedarf im konkreten Fall einer ausführlichen Begründung des Gerichts.287 286 Siehe hierzu und zum Folgenden ausführlich Fischer, U.S. Sentencing Guide lines, S. 119 ff., 199 ff. 287 Siehe hierzu Fischer, U.S. Sentencing Guidelines, S. 143 ff.
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Wie die Strafmaßtabellen stehen natürlich auch die Sentencing Guidlines in der Kritik.288 Bemängelt wird u. a. die faktische Verlagerung des Strafzumessungsermessens vom Gericht auf die Staatsanwaltschaft, die aufgrund eines weitreichenden Opportunitätsprinzips die scheinbare Gleichmäßigkeit in der Strafzumessung der Sentencing Guidlines untergrabe. Der gewichtigste Einwand gilt aber – ebenso wie gegenüber den Strafmaßtabellen in Deutschland – dem technokratischen, mathematisierten Verfahren, das einer menschengerechten, individuellen Strafzumessung entgegenstehe. Vergleicht man die Sentencing Guidlines für Steuerstraftaten in den U.S.A. mit den in Deutschland verbreitet verwendeten Strafmaßtabellen, fällt wenig überraschend auf, dass der Steuerschaden in beiden Systemen der zentrale Ausgangspunkt der Strafzumessung ist. In Zusammenschau mit dem konkreten Vorleben des Täters werden im amerikanischen Recht enge Strafrahmen angegeben. Die Strafmaßtabellen in Deutschland begnügen sich meist damit, nur den Strafrahmen für nicht vorbestrafte Täter zu nennen. Von diesen ausgehend werden in beiden Systemen Zu- und Abschläge für alle weiteren Umstände des Falles gemacht. Die Sentencing Guidlines geben – auch insoweit sind sie konkreter als die in Deutschland verwendeten Strafmaßtabellen – zudem das genaue Gewicht einer Vielzahl von solchen Strafzumessungsumständen an. Können die noch konkreteren bzw. schematischeren Sentencing Guidlines damit als Vorbild zumindest für die Ausgestaltung informeller richterlicher Strafrahmen und Strafmaßtabellen in Steuerstrafsachen dienen? Der Schematisierungskritik ist für das Delikt der Steuerhinterziehung bereits entgegnet worden, dass die Unrechtsstruktur eine gegenüber anderen Delikten gesteigerte Schematisierung in der Strafzumessung zulässt. Auch ist der Versuch, über bestimmte Punktwerte die abstrakte Denkleistung im Rahmen der Abwägung mehrerer Strafzumessungsumstände nachvollziehbar und damit auch gleichmäßig reproduzierbar darzustellen, nicht per se in den Bereich unzulässiger Pönometrie zu schieben und abzutun. Solange die so gefundenen Richtwerte nur als solche verstanden werden und im Übrigen dem Rechtsanwender ermöglichen und ihn verpflichten die Umstände des Einzelfalls individuell zu berücksichtigen, spricht aus meiner Sicht nichts dagegen, die komplexen Vorgänge im Rahmen des schrittweisen Vorgehens bei Abwägung und Umwertung der einzelnen Strafzumessungsumstände beispielhaft zu Papier zu bringen. Nicht zu leugnen ist jedenfalls der für das Ziel der Gleichmäßigkeit in der Strafzumessung ganz erhebliche Umstand, dass die Sentencing Guidlines landesweit gelten. Die in Deutschland verwendeten Strafmaßtabellen und richterlichen Strafrahmen gleichen im Gegensatz dazu einem Flickenteppich. 288 Siehe
hierzu Fischer, U.S. Sentencing Guidelines, S. 155 ff.
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II. Die BGH-Rechtsprechung zur Strafhöhe bei Steuerhinterziehung Die revisionsgerichtliche Kontrolle im Bereich der Abwägung und Umwertung hat sich parallel zum Fortschritt der Strafzumessungslehre in diesem Bereich weiterentwickelt. Gerade für die Strafzumessung bei der Steuerhinterziehung macht der 1. Senat hier präzise Vorgaben. In seiner Grundsatzentscheidung vom 2.12.2008 führt der BGH aus: „Liegt […] eine Hinterziehung von ‚großem Ausmaß‘ vor, so hat dies […] ‚Indizwirkung‘ […] für die zu findende Strafhöhe. Das bedeutet: Jedenfalls bei einem sechsstelligen Hinterziehungsbetrag wird die Verhängung einer Geldstrafe nur bei Vorliegen von gewichtigen Milderungsgründen noch schuldangemessen sein. Bei Hinterziehungsbeträgen in Millionenhöhe kommt eine aussetzungsfähige Freiheitsstrafe nur bei Vorliegen besonders gewichtiger Milderungsgründe noch in Betracht“.289
Dass es dem BGH in erster Linie nicht um die Wahl der Strafart oder die Modifikation der Strafvollstreckung, sondern um die Findung der Strafhöhe geht, wird durch den ersten Satz deutlich. Wenn er also bei sechsstelligen Hinterziehungsbeträgen von der Schuldangemessenheit einer Geldstrafe spricht, verweist er damit auf eine Strafhöhe, die 360 Tagessätze oder weniger beträgt. Gleichsam ist mit einer aussetzungsfähigen Freiheitsstrafe eine Strafhöhe von zwei Jahren oder weniger gemeint. 1. Abwägung und Umwertung Bemerkenswert ist zum einen die vom BGH implizierte Vorgehensweise bei der Strafzumessung in Steuerhinterziehungsfällen. Ausgehend von dem Hinterziehungsbetrag sind alle übrigen Strafzumessungsumstände mildernd und schärfend zu berücksichtigen. Jeder dieser Einzelschritte unterliegt hinsichtlich der Gewichtung der revisionsgerichtlichen Kontrolle: „Das Tatgericht hat zwar bei der Strafzumessung einen Spielraum für die Festsetzung der schuldangemessenen Strafe. Ob es dabei von zutreffenden Maßstäben ausgegangen ist, obliegt aber der uneingeschränkten Rechtsprüfung durch das Revisionsgericht. In Fällen der Steuerhinterziehung in Millionenhöhe, bei denen das Tatgericht – wie hier – gleichwohl keine höhere Freiheitsstrafe als zwei Jahre verhängt hat, prüft das Revisionsgericht daher auch, ob die hierfür vom Tatgericht angeführten schuldmindernden Umstände solche von besonderem Gewicht sind.“290
Der BGH erweitert seine revisionsgerichtliche Kontrolle damit über das Gesamtergebnis der Abwägung und Umwertung hinaus auch auf einzelne 289 BGHSt 290 BGHSt
53, 71 (86). 57, 123 (131 f.).
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Schritte dieses Vorgangs. Konsequenterweise macht er sodann genaue Aussagen bezüglich dem Gewicht einzelner Strafzumessungsumstände. So ist die „Unbestraftheit des Angeklagten“ sowie eine „Gesamtverfahrensdauer von dreieinhalb Jahren bis zum erstinstanzlichen Urteil […] in einer Wirtschaftsstrafsache wie der hier vorliegenden […] regelmäßig kein besonders gewichtiger Milderungsgrund“.291 Und eine „Schadenswiedergutmachung verliert […] dadurch an Gewicht, dass der Angeklagte diese angesichts seiner komfortablen Vermögensverhältnisse ohne erkennbare Einbuße seiner Lebensführung erbringen“ kann.292 Der BGH löst damit die Schwierigkeiten im Bereich der Abwägung und Umwertung erkennbar im Sinne der im Schrifttum bereits seit langem bestehenden Vorschläge eines schrittweisen Vorgehens.293 Als Ausgangspunkt dieses schrittweisen Verfahrens dient der Hinterziehungsbetrag, anhand dessen der 1. Senat die Untergrenze des regelmäßig schuldangemessenen definiert. Dabei bezieht er offensichtlich bereits das Vorliegen bestimmter (nicht gewichtiger bzw. besonders gewichtiger) Milderungsgründe mit ein. Soll bei Beträgen über 100.000 € bzw. 1 Mio. € die definierte Untergrenze des in solchen Fällen regelmäßig Schuldangemessenen unterschritten werden, müssen darüber hinaus auch gewichtige bzw. besonders gewichtige Milderungsgründe vorliegen. Vergleicht man die Rechtsprechung des BGH mit den oben dargestellten Strafmaßtabellen sind dennoch einige Unterschiede zu konstatieren. So beschränkt sich der BGH darauf, den Bereich des nicht mehr Schuldangemessenen und damit die Untergrenze des Schuldangemessenen zu nennen für Fälle, die bereits nicht gewichtige oder besonders gewichtige Milderungsgründe enthalten. Er nimmt damit – wie es scheint – Bezug auf die sog. Spielraumtheorie. Unbeantwortet bleibt damit leider die Frage nach der oberen Grenze des Schuldangemessenen, also der Weite des Spielraums, deren Bedeutung vor allem dann deutlich wird, wenn man sich die unterschiedlichen Ansätze zur Konkretisierung des Spielraums bei fehlenden präventiven Bedürfnissen vor Augen führt.294 Freilich besagen auch die Strafmaßtabellen nichts über die Weite des um den angegebenen Strafwert herum bestehenden Spielraums weiterer vertretbarer Strafen sowie darüber, ob der Strafwert die Mitte eines solchen Spielraumes oder bereits die untere Schwelle des Schuldangemessenen darstellt. Allerdings sind die Strafmaßtabellen konkreter hinsichtlich der Bewertungsrichtung der Strafzumessungsumstände. Indem die Vorbestraftheit, die Eigennützigkeit, die Schadenswiedergutmachung etc. 291 BGHSt
57, 123 (132). 57, 123 (132). 293 S. o. 2. Teil, 2. Kapitel, A., III. 294 Siehe Nachweise in Fn. 160. 292 BGHSt
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bereits klar als im angegebenen Strafwert berücksichtigt gekennzeichnet oder wenigstens deren Bewertungsrichtung als schärfend oder mildernd im Anschluss genannt wird, besteht über diese bedeutende Frage schrittweiser Strafzumessung kein Zweifel. Hingegen lässt die Rechtsprechung des BGH nur vermuten, welche Fallkonstellationen dem 1. Senat vor Augen stehen, in denen lediglich einfache Milderungsgründe vorliegen und welche dies sind. Wenn sich der BGH bei der Formulierung seines Umwertungsergebnisses in diesem Sinne auf den Hinterziehungsbetrag, ergänzt um einige mildernde Umstände, bezieht, erinnert dies an das Vorgehen der Strafrahmenwahl für das Regelbeispiel des § 370 Abs. 3 Nr. 1 AO. Auch hier wird ab einem bestimmten Betrag eine Strafe unter sechs Monaten für in der Regel nicht mehr schuldangemessen erklärt, ungeachtet aller anderen möglichen Strafzumessungsumstände. Soll trotz des Vorliegens der Voraussetzungen des Regelbeispiels eine Strafe unter sechs Monaten verhängt werden, müssen über einfache mildernde Umstände hinaus besondere Gründe vorliegen. Die genannten Schwellenwerte des BGH sowie die dazugehörigen Untergrenzen des Schuldangemessenen sind daher als konsequente Fortschreibung der Strafrahmenrechtsprechung zu § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 AO zu verstehen. Neben der gesetzlichen Strafrahmenverschiebung für Hinterziehungen „großen Ausmaßes“ ab 50.000 € ließe sich die Rechtsprechung des BGH zu Hinterziehungen ab 100.000 € und 1 Mio. € als entsprechende richterrechtliche Strafrahmenverschiebungen für Hinterziehungen „sehr großen Ausmaßes“ und „besonders großen Ausmaßes“ einordnen. Die Rechtsprechung des BGH zu den genannten Schwellenwerten ist indes mehr als eine verkappte rechtsfortbildende Strafrahmenrechtsprechung. Denn eine so engmaschige Durchdeklinierung des gesetzlichen Strafrahmens ist ohne einen Rückgriff auf die Maßstäbe und das Vorgehen dessen, was herkömmlicherweise erst bei der Strafzumessung im engeren Sinne zur Anwendung gelangt, nicht möglich. Die Rechtsprechung ist daher als Lösung der Schwierigkeiten im Bereich der Abwägung und Umwertung bei der Steuerhinterziehung im oben beschriebenen Sinne zu verstehen. Mit dem Regelbeispiel des § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 AO legt der Gesetzgeber bei der Strafrahmenwahl lediglich denselben Umstand zu Grunde, der nach der Rechtsprechung des BGH auch bei der Strafzumessung im engeren Sinne den maßgeblichen Anknüpfungspunkt für die Findung der Einstiegsstelle in den Strafrahmen bildet. Diese Vorgehensweise macht im Rückschluss auch das herausragende Gewicht deutlich, das der BGH dem Strafzumessungsumstand der Höhe des Hinterziehungsbetrages gegenüber allen anderen Strafzumessungsumständen zumisst. Denn eine entsprechende Einordnung der Tat in den Strafrahmen ist nur dann sinnvoll, wenn das gewonnene Ergebnis als „Anker“ taugt. Wenn
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aber die schärfende und mildernde Berücksichtigung der übrigen Umstände regelmäßig noch eine allzu erhebliche Änderung dieser ersten Schwereeinschätzung ergibt, ist dies nicht der Fall. 2. Der Umwertungsmaßstab Neben der Vorgehensweise ist auch der rechtliche Maßstab des BGH für seine Rechtsprechung bemerkenswert. Im Bereich der Abwägung und Umwertung misst der BGH die Instanzrechtsprechung für gewöhnlich nur am „üblichen Strafmaß“.295 Hält sich die Bewertung des Instanzgerichts im Bereich des Üblichen ist sie rechtsfehlerfrei. Die Rechtsprechung des 1. Senats zur Strafhöhe rekurriert gerade nicht auf ein diesen Wertungen entsprechendes „übliches Strafmaß“. Das liegt daran, dass die vom 1. Senat festgestellten Wertungen eine Verschärfung296 gegenüber dem bisherigen „üblichen Strafmaß“ darstellen.
Schaubild „Meine“ inflationsbereinigt297 295 BGHR, StGB § 46 Abs. 1, Strafhöhe 9; ausführlich Maurer, Komparative Strafzumessung, S. 139 ff. m. w. N. 296 Ebenso Flore/Tsambikakis/Rübenstahl, § 46 StGB, Rn. 120. 297 Vgl. Meine, Strafzumessung bei Steuerhinterziehung, S. 79; für die Umrechnung in Euro wurde der gemäß Verordnung (EG) Nr. 2866/98 des Rates vom 31. Dezember 1998, ABl. EG Nr. L 359, S. 1, vom 31. Dezember 1998s festgesetzte Um-
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2. Teil: Grundlagen der Strafzumessungsentscheidung
Dies zeigt sich deutlich bei einem Blick auf die Ergebnisse der Untersuchung Meine II, die gerade die Feststellung des „Üblichen“ zum Gegenstand hat.298 Die mittlere Kurve des Schaubilds gibt die Strafhöhe an, die nach linearer Regressionsrechnung die Wahrscheinlichste bei einer vollendeten eigennützigen Hinterziehung auf Dauer durch einen nicht einschlägig vorbestraften Täter ist. Die beiden äußeren Kurven stecken den Bereich ab, in dem sich 75 % der Fälle der Strafhöhe in Abhängigkeit vom Hinterziehungsbetrag bewegen. Der Wert von 75 % wurde von Meine gerade vor dem Hintergrund gewählt, dass ein Fall, der außerhalb der Streubreite dieser Mehrzahl der Fälle liegt, besondere Strafzumessungsumstände aufweisen muss.299 Die mittlere Kurve und die untere Kurve liegen für die Beträge 50.000 €, 100.000 € und 1 Mio. € erkennbar unter den Strafhöhen der BGH-Rechtsprechung.300 Noch deutlicher wird dies, wenn man das Schaubild inflationsbereinigt und umgerechnet in € betrachtet. Auch der Blick auf die Strafmaßtabellen zeigt, dass in der Praxis für die Werte von 50.000 € und 100.000 € von geringeren üblichen Strafmaßen ausgegangen wurde, wobei wiederum zu berücksichtigen ist, dass die Strafmaßtabellen regelmäßig noch keine mildernden Umstände in die Strafmaßvorgaben miteinbeziehen. Der 1. Senat sieht jedoch gerade in der üblichen Strafpraxis bei höheren Hinterziehungsbeträgen ein Defizit. Als rechtlicher Maßstab, auf den der BGH seine Wertungen stützt, bleibt ihm daher nur der Gesetzgeber selbst: „Der in § 370 III S. 2 Nr. 1 AO zum Ausdruck kommenden gesetzgeberischen Wertung ist bei besonders hohen Hinterziehungsbeträgen dadurch Rechnung zu tragen, dass bei einem sechsstelligen Hinterziehungsbetrag die Verhängung einer Geldstrafe nur bei Vorliegen von gewichtigen Milderungsgründen noch schuldangemessen sein kann.“301
Dass der in § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 AO zum Ausdruck kommenden Wertung genau die vom BGH genannten Schwellenwerte und nicht etwa eine der bisherigen Rechtsprechungspraxis eher entsprechende Umwertung zu entnehmen ist, lässt sich aus der Vorschrift alleine jedoch schwerlich herleiten. Der 1. Senat sieht sich in seinen genannten Schwellenwerten jedoch durch den Gesetzgeber seit seiner Entscheidung vom 2.12.2008 bestätigt.302 „Bei den Beratungen der geplanten Maßnahmen zur Verhinderung der Steuerhinterziehung waren sich alle Fraktionen in der Bewertung einig, dass Steuerhinterzierechngungskurs von 1 € = 1,95583 DM verwendet. Der Berechnung liegen die historischen Inflationsraten von 1989–2015 zugrunde. Berechnung mit: . 298 S. o. 2. Teil, 2. Kapitel, B., I., 1., b). 299 Meine, Strafzumessung bei Steuerhinterziehung, S. 73. 300 Man beachte, dass die Tabelle Meines noch die Währung DM enthält. 301 BGHSt 57, 123 (130). 302 BGHSt 57, 123 (131).
2. Kap.: Strafhöhenbemessung
171
hung kein Kavaliersdelikt sei und entsprechend bekämpft werden müsse. Die Koalitionsfraktionen der CDU / CSU und FDP haben dabei betont, […] eine Aussetzung der Freiheitsstrafe auf Bewährung bei Hinterziehung in Millionenhöhe sei nach einer Entscheidung des BGH nicht mehr möglich.“303
Die vom BGH gegenüber dem „üblichen Strafmaß“ eingeschlagene schärfere Gangart, lässt sich als solche kaum kritisieren.304 Denn zum einen unterliegt die Bewertung von Gefährlichkeit, Schwere und Schuld eines Delikts dem gesellschaftlichen Wandel. Es ist daher gerade Aufgabe der Revisionsinstanz solchem Wandel in der gesellschaftlichen Bewertung eines Delikts Rechnung zu tragen und einer Zementierung der Rechtsprechungspraxis entgegenzuwirken, indem den Instanzgerichten einheitlich eine veränderte Bewertungslinie vorgegeben wird. Die Entscheidung des 1. Senats macht deutlich, dass auch der revisionsgerichtlichen Kontrolle am Maßstab der Üblichkeit keine überobligatorische Bindung an die bisherige Rechtsprechungspraxis zu Grunde liegt, sondern lediglich deshalb erfolgt, weil der richterliche Wertungskonsens in der Regel das Maß des Schuldangemessenen zuverlässig beschreibt. Zum anderen kann es auch angezeigt sein, den richterlichen Wertungskonsens dort zu korrigieren, wo er erkennbar von normativen Vorgaben abweicht. Dem BGH ist auch zuzustimmen, wenn er als Bestätigung dieser Einschätzung die Äußerungen und Bewertungen im Rahmen des Schwarzgeldbekämpfungsgesetzes heranzieht. Den Regelungen der strafbefreienden Selbstanzeige lassen sich aufgrund der inkongruenten Zwecksetzung zwar keine konkreten Wertungen für die Strafzumessung entnehmen.305 Wenn alle Fraktionen im deutschen Bundestag sich aber einig sind, dass „Steuerhinterziehung kein Kavaliersdelikt sei und entsprechend bekämpft werden müsse“, 303 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses des Deutschen Bundestages, BT-Drucks. XVII/5067 S. 18. 304 Überzogen etwa die Kritik von Schwedhelm, in: FS: Streck, S. 561 (566), der meint: „Wenn man sich vor Augen führt, dass die Rechtsprechung des BGH weder für die Instanzgerichte noch für die Staatsanwaltschaften Bindungswirkung hat, geht es offensichtlich alleine darum, den Strafverfolgungsbehörden ein höheres Drohpotenzial an die Hand zu geben, um den potenziellen Steuerhinterzieher einzuschüchtern. Der BGH macht sich zum Knüppel des die Steuern eintreibenden Landvogts.“ Schwedhelm verkennt insoweit, dass die Revisionsgerichte auch ohne unmittelbare Bindungswirkung über den von ihnen entschiedenen Fall hinaus zur Rechtseinheit beitragen. Abwegig auch die Unterstellung, der 1. Senat ziele mit seiner Rechtsprechung darauf ab, den Strafverfolgungsbehörden zusätzliches Drohpotenzial für Verständigungen (womöglich gar im Steuerverfahren; zur Unzulässigkeit einer solchen Verbindung von Steuer- und Steuerstrafverfahren s. u. 3. Teil, 5. Kapitel, C., III., 1., d), bb)) mit an die Hand zu geben. Letzteres ebenfalls bezweifelnd Jung, in: FS Samson, S. 55 (63), der lediglich Bedenken hinsichtlich der Umsetzung des erhöhten Strafniveaus durch die Instanzgerichte hegt. 305 S. o. 1. Teil, 4. Kapitel, C.
172
2. Teil: Grundlagen der Strafzumessungsentscheidung
und dabei insbesondere die Koalitionsfraktionen die konkrete Einschätzung des BGH einer schärferen Ahndung im Rahmen der Strafzumessung zustimmend aufgreifen, kann dies sehr wohl als Bestätigung der vom BGH vorgenommenen veränderten normativen Bewertung des Delikts verstanden werden. Diese Veränderung deckt sich wie gezeigt auch mit der gesamtgesellschaftlich gewandelten Wahrnehmung der Strafwürdigkeit der Steuerhinterziehung. Schließlich bedarf es schon aus Gründen der kontinuierlichen inflationsbedingten Abwertung des Geldes einer gelegentlichen Korrektur der Bezugswerte. 3. Präventionswertung und Antinomieproblem Wie bereits gezeigt, kommt dem Antimonieproblem besondere Bedeutung für die Strafzumessung der Steuerhinterziehung zu. Da der BGH die Spielraumtheorie vertritt, wäre zu erwarten, dass gerade die Phase der Präventionswertung, also der Ausfüllung des Spielraums, Gegenstand der Diskussion ist. Der Senat betont die Bedürfnisse der Rechtsbewährung in der Strafzumessung bei der Steuerhinterziehung jedoch lediglich im Zusammenhang mit der Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bewährung.306 Konsequent wäre auch für die Strafhöhenbemessung etwa eine Anweisung, im Rahmen der Präventionswertung eine Strafe aus dem oberen oder zumindest mittleren Bereich des Schuldrahmens zu entnehmen. Der Senat unterlässt jedoch jedwede Aussage zur Berücksichtigung von Präventionsbedürfnissen im Rahmen der Strafhöhenbemessung. Stattdessen dürfte die Verschärfung in der Bewertung des Schuldangemessenen sowie deren strenge revisionsgerichtliche Kontrolle als indirekte Lösung auch der besonderen generalpräventiven Bedürfnisse zu verstehen sein.307 Dies vermag auch nicht zu verwundern, angesichts der offenbar geringen praktischen Bedeutung einer eigenständigen Präventionswertung im Rahmen der Strafhöhenbemessung.308 Mit der gezielten Relativierung von Strafzumessungsumständen, denen gerade in ihrer spezialpräventiven Wertungsdimension erhebliches Gewicht zukommt (Vorstrafenfreiheit, Wiedergutmachung), reagiert das Revisionsgericht zwar sachgemäß auf die Handhabung der Strafzumessung in der Rechtspraxis. Sie offenbart damit aber zugleich die begrenzte Leitwirkung, die der Spielraumtheorie sowohl für den instanzgerichtlichen Rechtsanwender als auch für die Revisionsrechtsprechung als Maßstab der Rechtskontrolle zukommt.
306 Hierzu
2. Teil, 3. Kapitel, B. Jung, in: FS Samson, S. 55 (63), der gar von einem „generalpräventiven ‚Overflow‘ “ der Entscheidung spricht. 308 S. o. 2. Teil, 2. Kapitel, B., I., 2., d). 307 Ebenso
3. Kap.: Weitere Aspekte der Strafzumessungsentscheidung
173
III. Zwischenergebnis Die Strafzumessungstraditionen für die Phasen der Abwägung und Umwertung bei Steuerhinterziehung offenbaren ein schrittweises Vorgehen. Bei diesem Vorgehen besteht der erste Schritt in einer Einordnung der Tat in den gesetzlichen Strafrahmen anhand des Merkmals „Hinterziehungsbetrag“ teilweise ergänzt um die Annahme einer Reihe weiterer Umstände. Für diesen ersten Schritt haben sich insbesondere im mittleren und unteren Schwerebereich feste Strafzumessungstraditionen herausgebildet, die allerdings regional starken Schwankungen unterliegen. Die Schwankungen beziehen sich dabei sowohl auf die Bewertungsrichtung von Strafzumessungsumständen als auch auf die Ergebnisse der Umwertung. Für den oberen Schwerebereich hat der BGH Richtwerte erlassen, die im Umwertungsergebnis erkennbar der bisherigen Strafzumessungstradition in diesem Bereich entgegenstehen. Die höchstricherliche Rechtsprechung und die Analyse der empirischen Untersuchungen zur Instanzrechtsprechung sowie der Strafmaßtabellen belegen die überragende Bedeutung des Hinterziehungsbetrages als Strafzumessungsmerkmal. Ob es gelingen kann im Einklang mit modernen Strafzumessungstheorien diese Rechtsprechungspraxis, die eine Einrasterung des Falles einzig anhand dieses Merkmals vornimmt, durchzuhalten, wird im dritten Teil der Arbeit zu untersuchen sein. 3. Kapitel
Weitere Aspekte der Strafzumessungsentscheidung Neben der Bestimmung der Strafhöhe innerhalb des gesetzlichen Strafrahmens stehen gegebenenfalls weitere Entscheidungen des Rechtsanwenders in der Strafzumessung an. So ist möglicherweise zwischen Geldstrafe und Freiheitsstrafe zu unterscheiden, die Frage der Aussetzung der Freiheitsstrafe zu Bewährung zu klären, das Doppelverwertungsverbot zu beachten oder eine abschließende Gesamtstrafenzumessung vorzunehmen.
A. Strafartwahl Im Bereich zwischen einem Monat und einem Jahr bzw. 30 bis 360 Tagessätzen hat der Rechtsanwender zwischen Freiheits- und Geldstrafe zu entscheiden. Bei der Zumessung der Gesamtstrafe erweitert sich der Konkurrenzbereich gem. § 54 Abs. 2 StGB bis hin zur zwei Jahresgrenze (entspricht 720 Tagessätze). Es sind hierbei vor allem die präventiven Bedürfnisse des
174
2. Teil: Grundlagen der Strafzumessungsentscheidung
Einzelfalles zu berücksichtigen.309 Ausdruck dessen ist die Präferenzregel des § 47 StGB, wonach eine Freiheitsstrafe im Bereich zwischen einem Monat und sechs Monaten nur dann verhängt werden soll, wenn dies „zur Einwirkung auf den Täter oder zur Verteidigung der Rechtsordnung unerläßlich“ ist. Der Grund hierfür wird in den sozialisierungsschädlichen Wirkungen kurzer Freiheitsstrafen gesehen.310 Für das Delikt der Steuerhinterziehung sind Ausnahmefälle, in denen kurze Freiheitsstrafen zu verhängen sind, durchaus denkbar. So besteht wie gezeigt grundsätzlich ein erhöhtes Bedürfnis positiver Generalprävention. Vor allem aber kann es aus negativ spezialpräventiven Aspekten angezeigt sein, eine kurze Freiheitsstrafe zu verhängen, wenn eine Geldstrafe angesichts der sehr guten wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters als Strafübel nicht ernstgenommen zu werden droht. Die Freiheitsstrafe ist hier, soweit dies erforderlich erscheint, zur Abschreckung des Täters in der Theorie das geeignetere Mittel.311 Dem Einwand der Sozialschädlichkeit kann mit der Möglichkeit der Aussetzung gerade kurzer Freiheitsstrafen zur Bewährung meist hinreichend begegnet werden. Das Gleiche gilt erst recht für den Bereich ab sechs Monaten, in welchem eine gesetzliche Präferenzregel für die Geldstrafe nicht mehr besteht. In der Praxis dominiert hier die Freiheitsstrafe.312 Begründen lässt sich dies nicht per se mit einem Gegenschluss zu § 47 StGB und auch das Argument, die Geldstrafe sei in dieser Größenordnung häufig der empfindlichere Grundrechtseingriff, vermag im Hinblick auf die Möglichkeiten gem. §§ 42 f. StGB nicht zu überzeugen.313 Plausibel erscheint hingegen die Überlegung, dass das Gesetz mit steigender Deliktsschwere die Freiheitsstrafe als schuldangemessene Sanktion vorsieht,314 sodass dementsprechend auch positiv generalpräventive Präventionsbedürfnisse mit steigender Deliktsschwere bei der Strafartwahl zunehmend für die Freiheitsstrafe streiten. Ein Umstand, der sich nach den oben getroffenen Feststellungen zu den Präventionsbedürfnissen315 in besonderem Maße bei der Steuerhinterziehung durchsetzen müsste. 309 Streng,
Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 158. 22, 192 (199); OLG Köln NStZ 2003, 421 m. w. N.; Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 158 m. w. N. 311 Die empirische Forschung zur Rückfallhäufigkeit ergab hingegen eine weitgehende „Austauschbarkeit der Sanktionen“ unter spezialpräventivem Aspekt, vgl. H.-J. Albrecht, Legalbewährung, S. 218 ff.; Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 330 f. m. w. N. 312 Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 164 m. w. N. 313 Siehe hierzu und zum folgenden SK–StGB/Horn, § 47 Rn. 7 ff. 314 Vgl. Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 164. 315 1. Teil, 3. Kapitel, C. 310 BGHSt
3. Kap.: Weitere Aspekte der Strafzumessungsentscheidung
100
92,3
175 91,72
90
82,42
80 70 60 50 40
31,57
30 20 10 0
5,53
1,3 Steuerdelikte
Betrug 6 Monate und weniger
9,1 Untreue
7,73 Straftaten insgesamt
6 bis 12 Monate
Abb. 7: Anteil der Freiheitsstrafen in den jeweiligen Strafhöhenbereichen in Prozent316
Ein Vergleich der Daten zeigt jedoch gerade eine Verschiebung hin zu Geldstrafen. Abb. 7 zeigt den Anteil der Freiheitsstrafen an den Verurteilungen geteilt nach den Schwerebereichen sechs Monate und weniger einerseits und sechs bis zwölf Monate andererseits jeweils für Steuerdelikte, Betrug und Untreue. Zwar bestätigt sich die grundsätzliche Tendenz, dass mit steigender Strafhöhe die Freiheitsstrafe an Bedeutung zunimmt. Jedoch ist die Bedeutung relativ zu anderen Delikten gesehen als gering zu bewerten. Insbesondere bei den vergleichbaren Delikten Betrug und Untreue besteht mit einem Anteil von 92,3 % bzw. 82,42 % Freiheitsstrafen im Bereich von Strafhöhen zwischen sechs und zwölf Monaten eine deutliche abweichende Sanktionspraxis. Auch im Bereich der Strafhöhen von 6 Monaten und weniger werden Steuerdelikte mit nur 1,54 % Freiheitsstrafen erkennbar milder sanktioniert. Bei der Strafartwahl hat die Rechtsprechungspraxis demnach noch einigen Spielraum, was die Verwirklichung der generalpräventiven Strafbedürfnisse anbelangt. In diesem Sinne ist auch die Rechtsprechung des BGH zu verstehen. Wenn der BGH ab einem sechsstelligen Hinterziehungsbetrag die Verhängung einer Geldstrafe nur bei gewichtigen Milderungsgründen für schuldangemessen hält,317 betrifft diese Aussage zwar in erster Linie den Vorgang 316 Quelle: SVS 2014. Eigene Berechnungen. Verurteilungen im Bereich von mehr als einem Jahr Freiheitsstrafe/360 Tagessätzen wurden nicht aufgenommen, da im Gegensatz zu Freiheitsstrafen bei Geldstrafen hier ausschließlich Gesamtstrafen erfasst sind. 317 BGHSt 53, 71 (86).
176
2. Teil: Grundlagen der Strafzumessungsentscheidung
der Strafhöhenentscheidung. Die generalpräventiven Bedürfnisse zumindest an anderer Stelle318 deutlich betonend, dürfte diese Rechtsprechung des 1. Senats allerdings auch auf die Strafartwahl im oberen Konkurrenzbereich von Freiheits- und Geldstrafe zu beziehen sein.
B. Strafaussetzung zur Bewährung Setzt das Gericht eine Freiheitsstrafe fest, die zwei Jahre nicht übersteigt, hat es über die Frage der Aussetzung der Vollstreckung der Strafe zur Bewährung zu entscheiden. Diese Entscheidung ist nach herrschender Meinung zwar bloß eine „Modifikation der Strafvollstreckung“,319 soll jedoch aufgrund ihrer auch vom BGH postulierten „Eigenständigkeit im Sinne einer besonderen ‚ambulanten Behandlungsart‘ “320 hier im Kontext der Strafzumessung erörtert werden. Die Voraussetzungen für eine Aussetzung der Strafe zur Bewährung sind je nach Strafhöhe unterschiedlich. Gem. § 56 Abs. 1 StGB ist eine Aussetzung zwingend, wenn dem Täter eine gute Legalbewährungsprognose gestellt wird.321 Im Bereich von Freiheitsstrafen ab sechs Monaten kommt hinzu, dass Bedürfnisse der Verteidigung der Rechtsordnung nicht entgegenstehen dürfen, § 56 Abs. 3 StGB. Ab einer Strafhöhe von einem Jahr ist die Aussetzung der Freiheitsstrafe dann bei Vorliegen der Voraussetzungen nicht mehr obligatorisch, sondern nur noch fakultativ. Die Vollstreckung von Freiheitsstrafen wird im Allgemeinen unter positiv spezialpräventiven Aspekten als eher abträglich denn förderlich angesehen.322 Das typische Täterbild des Steuerbetrügers weist insoweit eine gesteigerte Gefahr der Entsozialisierung auf.323 Gleichzeitig besteht die Vorstellung, dass die Vollstreckung der Freiheitsstrafe in besonderem Maße geeignet ist, der normbestätigenden Bedeutung der Strafe Geltung zu verschaffen.324 Gerade insoweit bestehen beim Delikt der Steuerhinterziehung ebenfalls beson318 BGHSt
57, 123 (135). Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 168. 320 Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 168. 321 Zur Problematik der (Legalbewährungs)-Prognose Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 174 ff., 770 ff.; s. auch Frisch, Prognoseentscheidungen, S. 133 ff.; ders., in: ders./Vogt, Prognoseentscheidungen in der strafrechtlichen Praxis, S. 55 ff. (109 ff.); Böllinger, in: Frisch/Vogt, Prognoseentscheidungen in der strafrechtlichen Praxis, S. 191 ff. 322 Vgl. Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 172. 323 Zum Täterbild der Steuerhinterziehung oben 1. Teil, 3. Kapitel, A., I. 324 Vgl. Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 173. 319 Streng,
3. Kap.: Weitere Aspekte der Strafzumessungsentscheidung
100
97,64 97,27 96,69
96,2
95 90
98,1 94,02
85,93
85
82,68
80
80,18
79,36 74,82
75 70
177
Steuerdelikte
Betrug 6 und weniger
Untreue 6 bis 12
73,38
Straftaten insgesamt
12 bis 24
Abb. 8: Anteil der Strafaussetzungen zur Bewährung in den jeweiligen Strafhöhenbereichen in Prozent, 2014325
dere Bedürfnisse. Das aufgezeigte Antimonieproblem326 kommt damit vor allem bei der Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bewährung bei hohen Hinterziehungsbeträgen zum Tragen. Abb. 8 zeigt den Anteil der zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafen im Jahr 2014 in den unterschiedlichen Strafhöhenkategorien für die Steuerdelikte, den Betrug, die Untreue sowie alle Straftaten insgesamt. Freiheitsstrafen für Steuerdelikte werden demnach gegenüber dem Durchschnitt aller Straftaten und insbesondere auch gegenüber dem Betrug häufiger zur Bewährung ausgesetzt, was auf die besonderen spezialpräventiven Bedürfnisse zurückzuführen sein könnte, die in gleichem Maße bei der Untreue zu vermuten sind. Auffällig ist des Weiteren der hohe Anteil an zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafen im Strafhöhenbereich zwischen zwölf und 24 Monaten. Dieser sinkt anders als bei Betrug, Untreue und dem Durchschnitt aller Straftaten gegenüber dem Vergleichswert im Höhenbereich von sechs bis zwölf Monaten nur unwesentlich ab. Dass dies keine Momentaufnahme ist, bestätigt eine Längsschnittbetrachtung der Werte für Steuerdelikte der Jahre 2004–2014 (s. Abb. 9). Dieser noch immer milden Sanktionspraxis versucht der BGH unter Betonung der generalpräventiven Bedürfnisse entgegenzutreten: „Der Senat sieht jedoch Anlass, nochmals darauf hinzuwesen, dass es bei Steuerhinterziehungen beträchtlichen Umfangs von Gewicht ist, die Rechtstreue der Be325 Quelle
326 1. Teil,
SVS 2014. Eigene Berechnungen. 3. Kapitel, C.
178
2. Teil: Grundlagen der Strafzumessungsentscheidung
100 97,67
98 96
98,25
94,9
98,75
94,89
97,02 95,67 95,92
94,96 95,46
94
98,44
97,65 96,94
95,54
94,9
98,77
96,9
98,14
97,96
97,64 97,27 96,69
97,67 97,52
96,24
94,97
93,9 93,28
92
93,25
93,39
2007
2008
92,95
92,02 90 89,62 88
2004
2005
2006
6 und weniger
2009
2010
6 bis 12
2011
2012
2013
2014
12 bis 24
Abb. 9: Anteil der Strafaussetzungen zur Bewährung in Prozent, Steuerhinterziehung, 2004–2014327 völkerung auch auf dem Gebiet des Steuerrechts zu erhalten. Die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe kann sich daher zur Verteidigung der Rechtsordnung als notwendig erweisen, wenn die Tat Ausdruck einer verbreiteten Einstellung ist, die eine durch einen erheblichen Unrechtsgehalt gekennzeichnete Norm nicht ernst nimmt und von vornherein auf die Strafaussetzung vertraut“.328
Auch die Rechtsprechung des 1. Senats zur Millionengrenze ist als Hinweis in diese Richtung zu verstehen.329 In erster Linie ist zwar auch hier die Strafhöhe gemeint. So soll die Rechtsprechung zur Millionengrenze ausdrücklich auch Überlegungen der Tatrichter vorbeugen, die eine Verhängung einer (nicht mehr schuldangemessenen) Strafe unter zwei Jahren in der Absicht vorsehen, diese dann zur Bewährung aussetzen zu können.330 Doch ist damit zugleich auch die Aussage verbunden, dass bei Hinterziehungen in Millionenhöhe, soweit die Möglichkeit zur Strafaussetzung ausnahmsweise überhaupt besteht, die Strafe aufgrund der besonderen generalpräventiven Bedürfnisse nicht mehr zur Bewährung ausgesetzt werden kann. 327 Quelle
SVS 2004–2014. Eigene Berechnungen. 57, 123 (135). 329 Vom Bundestag etwa wurde sie ausschließlich als Hinweis zur Strafaussetzungsfrage verstanden und nicht im Sinne einer Bezugnahme auf die Strafhöhe, s. o. Fn. 303. 330 BGHSt 57, 123 (134). 328 BGHSt
3. Kap.: Weitere Aspekte der Strafzumessungsentscheidung
179
C. Doppelverwertungsverbot Nach § 46 Abs. 3 StGB dürfen Umstände, die schon Merkmale des gesetzlichen Tatbestandes sind, nicht berücksichtigt werden. Der Grund für dieses so genannte „Doppelverwertungsverbot“ liegt darin, dass die Erfüllung des Tatbestandes als solche sich bereits in der Festlegung des gesetzlichen Strafrahmens niedergeschlagen hat.331 Daher wäre es beispielsweise unzulässig dem Täter strafschärfend den Verstoß gegen eine steuerliche Erklärungspflicht anzulasten, da dies Teil des Tatbestandes von § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO ist.332 Das Doppelverwertungsverbot erstreckt sich dabei auch auf die Berücksichtigung der gesetzgeberischen Intention eines Straftatbestandes an sich.333 Unzulässig ist deshalb im Rahmen einer Steuerhinterziehung strafschärfend zu berücksichtigen, dass der Täter sich zu Lasten der Bürger sozialschädlich verhalten habe oder die Allgemeinheit schädige,334 waren dies doch gerade die Gründe, die den Gesetzgeber zur Schaffung des Straftatbestandes bewegten.335 Das Doppelverwertungsverbot umfasst auch die tatbestandlichen Voraussetzungen des Versuchs und der Teilnahme. Daher muss etwa unerheblich sein, wenn der Täter vom Versuch nicht zurücktritt336 oder wenn der Anstifter der eigentliche „Initiator und treibende Kraft“ der Tat gewesen ist.337 Neben Tatbestandsmerkmalen sind auch unrechts- und schuldbegründende Merkmale von § 46 Abs. 3 StGB erfasst, weshalb beispielsweise das Unrechtsbewusstsein nicht strafschärfend berücksichtigt werden darf.338 Das Doppelverwertungsverbot gilt auch für die benannten besonders schweren und minder schweren Fälle, insbesondere die Regelbeispiele.339 Das bedeutet aber nicht, dass etwa im Falle einer Steuerhinterziehung in großem Ausmaß (§ 370 Abs. 3 Nr. 1 AO) die Höhe des Hinterziehungsbetrages bereits als Strafzumessungsumstand vollständig „verbraucht“ ist. Denn „ ‚verbraucht‘ ist lediglich das abstrakte 331 Streng,
Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 697; LK/Theune, § 46 StGB, Rn. 263. BeckRS 1986, 31101070. 333 Schönke/Schröder/Stree/Kinzig, § 46 Rn. 46. 334 BGH NStZ-RR 1996, 316; BGH StV 1996, 605. 335 Siehe zum funktionalen Hintergrund des Vermögensschutzes bei der Steuerhinterziehung 1. Teil, 2. Kapitel, A., I., 1., d). 336 BGH NStZ 1983, 217. 337 Ebenso Kohlmann/Schauf, § 370 Rn. 1067; a. A. BGH NStZ-RR 2011, 315. 338 BGH Beschl. vom 11.12.1973 – 4 StR 616/73, zitiert nach Dallinger, MDR 74, 365 (366); Schönke/Schröder/Stree/Kinzig, § 46 Rn. 45b. 339 Schönke/Schröder/Stree/Kinzig, § 46 Rn. 49 m. w. N.; bei den unbenannten besonders schweren oder minder schweren Fällen kann aufgrund der anzustellenden Gesamtbetrachtung eine verbotene Doppelverwertung nur dann vorliegen, wenn der Richter nach der Feststellung, dass ein besonders schwerer Fall vorliegt, die Strafe mit der Begründung erhöht, es liege ein besonders schwerer Fall vor, Wilcken, Doppelverwertung, S. 54. 332 BGH
180
2. Teil: Grundlagen der Strafzumessungsentscheidung
‚Dass‘ der Verwirklichung des fraglichen Tatbestandsmerkmals, soweit dieses für die Eröffnung des Strafrahmens relevant war, nicht aber das ‚Wie‘ im Sinne von ‚wie groß‘, ‚wie schwer‘, ‚wie intensiv‘ oder ‚wie stark‘.“340 Steigerungsfähige Merkmale – wie etwa das „große Ausmaß“ – werden daher nur bis zum Erreichen des für die Annahme des Merkmals erforderlichen Schwellenwertes vom Doppelverwertungsverbot erfasst und können darüber hinaus für die Strafzumessung verwertet werden.341 Differenziert zu bewerten sind besondere Fachkenntnisse eines Steuerberaters.342 In einem Urteil des BayOLG sahen die Richter eine Doppelverwertung deshalb gegeben, weil das Tatgericht die Fachkenntnisse des Täters bereits zur Begründung des Vorsatzes heranzog.343 Bezogen auf den Vorsatz ist der Anwendung des Doppelverwertungsverbots zuzustimmen. Allerdings können besondere Fachkenntnisse eines Steuerberaters Anlass zur Prüfung geben, ob die Tatbegehung eine gesteigerte Gefährlichkeit aufweist. Daneben gilt, dass gerade der Beruf des Steuerberaters besondere Rechtspflichten für diesen begründet, deren Verletzung im Einzelfall eine Strafschärfung begründen kann, ohne gegen das Doppelverwertungsverbot zu verstoßen.344
D. Strafzumessung bei Tatmehrheit Die Strafzumessung im Rahmen der Bildung einer Gesamtstrafe ist streng von der Einzelstrafzumessung zu unterscheiden. Es werden im Folgenden zunächst kurz die geltenden dogmatischen Grundlagen dargestellt, die – soweit sich solche widerspruchsfrei formulieren lassen – bei der Gesamtstrafenbildung zu beachten sind. Anschließend soll die bestehende Rechtsprechung des BGH zur Strafzumessung bei Tatmehrheit anhand dessen einer kritischen Würdigung unterzogen werden.
I. Dogmatische Grundlagen Grundsätzlich gilt für die Strafzumessung bei Tatmehrheit: Zunächst sind die Einzelstrafen zuzumessen.345 Erst anschließend ist durch Erhöhung der 340 Streng,
Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 700. Hettinger, Doppelverwertungsverbot bei strafrahmenbildenden Umständen, S. 91 ff. 342 A. A. Kohlmann/Schauf, § 370 Rn. 1067. 343 BayObLG wistra 1991, 313 (318). 344 Fischer, § 46 StGB, Rn. 42; LK/Theune, § 46 StGB, Rn. 183 ff. jeweils m. w. N.; s. u. 3 Teil, 2. Kapitel, E. 345 BGHSt 4, 345 (346); NK-StGB/Frister, § 54 Rn. 1, 7 ff.; LK/Rissing-van Saan, § 54 Rn. 2, 11. 341 Vgl.
3. Kap.: Weitere Aspekte der Strafzumessungsentscheidung181
Einsatzstrafe eine Gesamtstrafe zu bilden, § 54 Abs. 1 S. 2 StGB. „Dabei werden die Person des Täters und die einzelnen Straftaten zusammenfassend gewürdigt“, § 54 Abs. 1 S. 3 StGB. Es handelt sich also nicht um einen mathematisierten Vorgang,346 sondern um einen zusätzlichen strafzumessungsrechtlichen Wertungsakt. In diesem zusätzlichen Wertungsakt stellt sich dann die Frage, inwieweit auch die Umstände erneut herangezogen werden können, die bereits bei Zumessung der Einzelstrafe berücksichtigt wurden. Diese Problematik von Anwendung und Reichweite des Doppelverwertungsverbots bei Gesamtstrafenbildung muss in der Strafzumessungsdogmatik als noch nicht abschließend geklärt bezeichnet werden.347 Überwiegend wird von einer materiellen Geltung des Doppelverwertungsgebots ausgegangen.348 Um die Gefahren einer inhaltlichen Doppelverwertung von Strafzumessungsumständen zu vermeiden, wird daher vorgeschlagen zunächst die Einzelstrafen möglichst isoliert – also ohne strafschärfende Berücksichtigung der anderen Taten – zuzumessen.349 Von diesem sinnvollen Grundsatz muss aber dann abgewichen werden, wenn der Zusammenhang mehrerer Taten tatbestandsrelevant ist oder wenn die isoliert zugemessenen Einzelstrafen wegen der Festlegung der Strafart (Geldstrafe) eine angemessene Gesamtstrafenbildung verhindern würden.350 Auf Ebene der Gesamtstrafzumessung ist die erneute Verwertung eines Strafzumessungsumstandes nur zulässig, soweit sie einen gegenüber der Ebene der Einzelstrafzumessung eigenen inhaltlichen Aspekt betrifft.351 Da die Gesamtstrafe die Summe der Einzelstrafen nicht erreichen darf, § 54 Abs. 2 S. 1 StGB, ist mit dem sogenannten Asperationsprinzip zwangsläufig ein Strafrabatt verbunden, dessen Begründung ebenfalls umstritten ist.352 Nicht plausibel ist, auf eine progressive Strafwirkung bei zunehmender 346 BGH NStZ 2001, 365; a.A Bohnert, ZStW 105 (1993), 846 ff.; Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 673 weist darauf hin, dass sich in der Praxis die – in den Urteilsgründen nicht offengelegte – Faustformel einer gewissen Beliebtheit erfreut, der zufolge die Einsatzstrafe um die Hälfte der Summe der anderen Einzelstrafen zu erhöhen sei; die Empirie zeigt, dass der Strafrabatt mit zunehmender Größe nicht nur linear, sondern sogar exponentiell ansteigt, vgl. H.-J. Albrecht, in: Frisch/v. Hirsch/ H.-J. Albrecht, Tatproportionalität, S. 215 (231 f.). 347 Grundlegend BGHSt 24, 268; Bruns, Das Recht der Strafzumessung, S. 140, 188; Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 675 m. w. N. 348 Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 675 m. w. N. 349 Montenbruck, Abwägung und Umwertung, S. 108 ff., 116; Schoreit, in: FS Rebmann, S. 443 (457 ff.); Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 674. 350 Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 674. 351 Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 674 f. 352 Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben/Bosch, § 54 Rn. 14.
182
2. Teil: Grundlagen der Strafzumessungsentscheidung
Straflänge abzustellen.353 Am ehesten verständlich zu machen ist der Strafrabatt durch Erhöhung der Einsatzstrafe auf der Grundlage eines Verständnisses des strafrechtlichen Unrechts als Normgeltungsschaden. Die mehrfache Begehung von Straftaten durch denselben Täter hat in dem Kommunikationsprozess über die Geltung von Normen ein geringeres Gewicht als die identische Begehung durch mehrere unterschiedliche Täter.354 Ganz unabhängig davon, dass die wiederholte Tatbegehung durch denselben Täter unter bestimmten Umständen ein vertieftes Tatunrecht bewirken kann,355 ist bei der Gesamtstrafzumessung eine übergreifende Schuldbetrachtung anzustellen, in deren Zentrum mit der schwersten Tat das Überschreiten der Schwelle zur Kriminalität das maßgebliche Momentum bildet.356 Dieses zugleich auch als Ausgangspunkt des Strafzumessungsaktes der Gesamtstrafenzumessung zu nehmen – wie es das Gesetz durch das vorgeschriebene Verfahren der Erhöhung der Einsatzstrafe vorsieht – ist indes nicht zwingend. Es erscheint jedoch als durchaus sinnvolles Vorgehen, um die Komplexität der Bewertung eines mehrere realkonkurrierende Taten umfassenden Tatgeschehens rational zu bewältigen.357 Die Einsatzstrafe übernimmt dabei in etwa die Funktion, die bei der Einzelstrafzumessung zur Findung der Einstiegsstelle in den Strafrahmen dem Vergleichsfall bzw. der komparativen Einordnung der Tat anhand des Unrechtskerns zukommt.358 Es wird überlegt, welche Strafe der Täter verwirkt hätte, wenn er nur die schwerste Tat begangen hätte. Montenbruck geht dabei sogar so weit, die Einzelstrafzumessungen als bloße Fiktionen zu bezeichnen, die allein dem Zweck dienten, die einzig relevante (Gesamt-)Strafzumessung, die insofern in Wahrheit eine Einheitsstrafe sei, über die Bildung gedanklicher Zwischenschritte rational zu bewältigen.359 Diese Sichtweise bietet zwar eine dogmatisch überzeugende Lösung für die Doppelverwertungsproblematik bei Gesamtstrafenzumessung, ist aber mit der geltenden Gesetzeslage, nach der den Einzelstrafen mehr als ein bloßer Fiktionscharakter zukommt, nicht zu vereinbaren.
353 Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 670, der aufgrund des Gewöhnungseffekts eher von einer Abnahme der Strafwirkung pro Straflängeneinheit ausgeht. 354 NK-StGB/Frister, § 54 Rn. 3. 355 Siehe sogleich 2 Teil, 3. Kapitel, D., III., 1., b), 2., a). 356 Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 670 f.; NK-StGB/Frister, § 54 Rn. 3 f. 357 Auch ausländische Rechtsordnungen, die mit dem System der Einheitsstrafe operieren, verfahren zum Teil in dieser Weise, s. die Nachweise bei Montenbruck, JZ 1988, 332 (334 ff.). 358 NK-StGB/Frister, § 54 Rn. 4 f. 359 Montenbruck, JZ 1988, 332 (334 ff.).
3. Kap.: Weitere Aspekte der Strafzumessungsentscheidung
183
II. Die Rechtsprechung des BGH zur Strafzumessung bei Tatmehrheit bei Steuerhinterziehung Im Jahr 2012 erweiterte der BGH seine bisherige Rechtsprechung zur Strafhöhenbemessung auch auf die Strafzumessung bei Gesamtstrafenbildung. Dies zeichnete sich bereits im Urteil vom 7.2.2012360 ab. In dieser Entscheidung bestätigte der BGH seine Rechtsprechung zur Strafhöhenbemessung bei Hinterziehung in Millionenhöhe, obwohl der Täter mit 892.715 € verkürzter Einkommensteuer im Jahr 2002 und 240.870 € verkürzter Lohnsteuer im Jahr 2006 nur bei Addition der in Tatmehrheit zueinander stehenden Taten die Millionengrenze überschritt. In seiner Entscheidung vom 22.5.2012361 nahm der BGH dann ausdrücklich Stellung zur Strafzumessung bei der Gesamtstrafenbildung: „Demnach kommt eine (aussetzungsfähige) Freiheitsstrafe von nicht mehr als zwei Jahren […] nur bei Vorliegen besonders gewichtiger Milderungsgründen noch in Betracht. Dabei ist es für den Unrechtsgehalt ohne Bedeutung, ob die Millionengrenze durch eine einzelne oder mehrere Taten erreicht worden ist und ob eine Gesamtstrafe zu bilden ist. […] Der in § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO zum Ausdruck kommenden Wertung des Gesetzgebers ist bei hohen Hinterziehungsbeträgen im Rahmen der Strafzumessung Rechnung zu tragen, gleichviel ob dieser Betrag durch eine einzelne Tat hervorgerufen wurde oder durch eine Serie gleichgelagerter Taten, selbst wenn jede für sich genommen die Grenze zum großen Ausmaß nicht überschreitet. Schon bei der Einzelstrafbemessung ist nicht allein der jeweils durch die Einzeltat verursachte Schaden entscheidend, sondern auch die Gesamtserie und der dadurch verursachte Gesamtschaden in den Blick zu nehmen […]. Es ist ferner – zumal bei der Bildung einer Gesamtstrafe aus so gebildeten Einzelstrafen – die Wertung des Gesetzgebers zu beachten, dass bei Überschreiten zur Grenze des ‚großen Ausmaßes‘ eine Freiheitsstrafe von nicht unter sechs Monaten schuldangemessen ist, bei einem sechsstelligen Hinterziehungsbetrag die Verhängung einer Geldstrafe demzufolge nur bei Vorliegen von gewichtigen Milderungsgründen noch schuldangemessen sein kann. Bei Hinterziehungsbeträgen in Millionenhöhe – also bei einem Gesamthinterziehungsumfang, der die Millionengrenze überschreitet – kommt eine aussetzungsfähige, also eine zwei Jahre nicht überschreitende Freiheitsstrafe regelmäßig nur bei Vorliegen besonders gewichtiger Milderungsgründe noch in Betracht.“362
In einer späteren Entscheidung desselben Jahres verhält sich der 1. Senat sodann zu der ebenfalls für die Strafzumessung bei Tatmehrheit relevanten Problematik der Bewertung von Tatserien bei Steuerhinterziehung:363 360 BGHSt
57, 123. NStZ 2012, 637. 362 BGH NStZ 2012, 637 (638 f.). 363 BGH HRRS 2013 Nr. 47 Rn. 46. 361 BGH
184
2. Teil: Grundlagen der Strafzumessungsentscheidung
„Eine strafmildernde Berücksichtigung serienmäßiger Tatbegehung kann vor allem dann zu erwägen sein, wenn die einzelnen Taten räumlich, zeitlich oder sonst besonders eng verschränkt sind. […] Im Übrigen kann sich das Vorliegen einer Vielzahl gleichartiger Taten je nach den Umständen des Falles auf die Strafzumessung unterschiedlich auswirken (BGH, Urteil vom 15. Mai 1991 – 2 StR 130 / 91 mwN). Allein die zunehmende Gewöhnung an die Begehung gleichartiger Straftaten wäre aber nicht strafmildernd (BGH, Urteil vom 18. September 1995 – 1 StR 463 / 95). Der Senat bemerkt, dass der Unwertgehalt von Steuerstraftaten maßgeblich auch durch die Höhe des Steuerschadens bestimmt ist. Da serienmäßige Tatbegehung bei Steuerstraftaten zu höherem Steuerschaden führt, hat sie regelmäßig strafschärfende Bedeutung (vgl. BGH, Beschluss vom 29. November 2011 – 1 StR 459 / 11; Urteil vom 17. März 2009 – 1 StR 627 / 08 jew. mwN).“
III. Kritische Würdigung Für eine kritische Würdigung gilt es die einzelnen Aussagen des 1. Senats zu den verschiedenen Strafzumessungsebenen und Bewertungsaspekten herauszuarbeiten, um sie im richtigen Kontext bewerten zu können. Zu trennen ist grundsätzlich die Ebene der Einzelstrafzumessung von der Ebene der Gesamtstrafzumessung. Auf der jeweiligen Ebene sollte sodann der Strafzumessungsumstand des (Gesamt-)Hinterziehungsbetrages von dem Umstand der wiederholten Tatbegehung an sich unterschieden werden. 1. Die Einzelstrafzumessung bei Tatmehrheit a) Berücksichtigung des Gesamtschadens Grundsätzlich sollte jede Straftat bei der Einzelstrafzumessung möglichst isoliert bewertet werden, ohne das verschuldete Unrecht anderer Taten zu berücksichtigen.364 Das bedeutet, dass der durch eine Tat verursachte Steuerschaden nur bei der jeweiligen Einzelstrafe und nicht erneut bei weiteren Tatbegehungen zu verwerten ist. Von diesem Grundsatz muss jedoch im Einzelfall abgewichen werden – etwa wenn ein tatbestandsrelevanter Zusammenhang besteht oder wenn die Festlegung der Strafart eine angemessene Gesamtstrafenbildung verhindern würde. Der 1. Senat bestimmt: „Schon bei der Einzelstrafbemessung ist nicht allein der jeweils durch die Einzeltat verursachte Schaden entscheidend, sondern auch die Gesamtserie und der dadurch verursachte Gesamtschaden in den Blick zu nehmen“.365 Sofern damit auf die nicht seltenen Fälle der Relevanz des Gesamtschadens für die Straf364 S. o.
2. Teil, 3. Kapitel, D., I. NStZ 2012, 637.
365 BGH
3. Kap.: Weitere Aspekte der Strafzumessungsentscheidung185
artwahl hingewiesen wird, ist dem zuzustimmen. Dass dies und nicht etwa eine grundsätzlich schärfende Bewertung eines höheren Gesamtschadens bei der Strafhöhenentscheidung der Einzelstrafe gemeint ist, ist angesichts der vorsichtigen Formulierung „in den Blick nehmen“ zu vermuten. Im Zusammenhang mit den in direktem Bezug hierzu stehenden und sogleich zu untersuchenden Aussagen des 1. Senats zur Art und Weise der Bewertung des Gesamtschadens bei Gesamtstrafenbildung lässt sich jedoch auch die gegenteilige Bedeutung unterstellen. b) Berücksichtigung wiederholter Tatbegehung Grundsätzlich richtig ist der Hinweis des Senats, dass sich das Vorliegen einer Vielzahl gleichgelagerter Taten je nach den Umständen des Falles auf die Strafzumessung unterschiedlich auswirken kann.366 Problematisch ist jedoch die anschließende allgemeine Feststellung, die zunehmende Gewöhnung an die Begehung gleichartiger Straftaten wäre allein nicht strafmildernd mit dem Hinweis auf das BGH Urteil vom 18.9.1995. In der genannten Entscheidung367 bestätigt der BGH nämlich gerade die grundsätzlich mildernde Wirkung einer sinkenden Hemmschwelle bei mehrfacher Tatbegehung. Er stellt jedoch fest, dass es im Einzelfall nicht zwangsläufig zu einer Senkung der Hemmschwelle durch mehrfache Tatbegehung kommen muss.368 Ob es bei wiederholter Steuerhinterziehung zu einer Senkung der Hemmschwelle des Täters gekommen ist, bleibt daher der Prüfung im Einzelfall vorbehalten. Die kriminologische Struktur der Steuerhinterziehung als heimlich begangenes Delikt dürfte dies jedoch in der Regel eher befördern. Der 1. Senat drückt sich daher an dieser Stelle zumindest missverständlich aus. Ein Hinweis auf die grundsätzlich mildernde Wirkung einer gesunkenen Hemmschwelle wäre in diesem Zusammenhang wünschenswert gewesen. Nicht weniger missverständlich ist auch die Aussage, dass eine serienmäßige Tatbegehung regelmäßig strafschärfende Bedeutung habe, da sie zu höheren Steuerschäden führe.369 Nicht zu kritisieren wäre, wenn damit schlicht auf den trivialen Zusammenhang verwiesen wird, dass bei Gesamtstrafzumessung die Strafe umso höher auszufallen hat, je höher der Steuerschaden ist. Sollte sich diese Aussage jedoch auf die Einzelstrafzumessung beziehen, ist dem aufgrund der Vermeidung einer Doppelverwertung entgegenzutreten. Auf Ebene der Einzelstrafzumessung kann den Ausführungen des BGH ein366 BGH
HRRS 2013 Nr. 47 Rn. 46. 1996, 187. 368 So etwa in dem zugrunde liegenden Fall, in dem das Opfer eines sexuellen Missbrauchs ständig seinen Unwillen über das Verhalten des Täters deutlich macht. 369 BGH HRRS 2013 Nr. 47. 367 NStZ
186
2. Teil: Grundlagen der Strafzumessungsentscheidung
zig dann zugestimmt werden, wenn dabei auf die möglicherweise gesteigerte Gefährlichkeit einer Tatbegehung verwiesen wird, die auf eine Tatserie angelegt ist. Diese erhöht das Handlungsunrecht der Einzeltat und ist aus diesem Grund strafschärfend zu bewerten. 2. Die Gesamtstrafenzumessung bei Tatmehrheit a) Berücksichtigung wiederholter Tatbegehung Schauf kritisiert an der Entscheidung des BGH vom 22.5.2012, dass die strafschärfende Berücksichtigung des Gesamtumfangs der hinterzogenen Steuer der Entscheidung vom 9.12.1998370 widerspräche, wonach die Aufgabe der Rechtsfigur der fortgesetzten Handlung nicht zur Erhöhung des Strafenniveaus führen sollte.371 Aufgrund der spezifischen Besonderheiten der Steuerveranlagungen, wie etwa Verlustvorträge, Einkommensteuervorauszahlungen und nicht erklärte Zinseinkünfte, würden sich die einmal gemachten unrichtigen Angaben naturgemäß auch auf die darauf folgenden Veranlagungszeiträume auswirken, ohne dass es dazu eines weiteren Zutuns des Steuerpflichtigen bedürfte.372 Diese Kritik richtet sich jedoch in Wahrheit nicht gegen die Addition der Hinterziehungsbeträge im Rahmen der Gesamtstrafenbildung. Denn wäre etwa eine fortgesetzte Handlung nach alter Rechtslage im Rahmen der Einzelstrafenbildung zuzumessen, würden die einzelnen Hinterziehungsbeträge erst recht addiert werden. Die Kritik müsste sich richtigerweise gegen die strafschärfende Bewertung einer Tatserie an sich richten. Hierzu stellt der BGH für die Strafzumessung bei Steuerhinterziehung mit Verweis auf seine grundsätzliche Rechtsprechung zur Strafzumessung bei Tatmehrheit jedoch in der Entscheidung vom 25.9.2012 klar, dass eine strafmildernde Berücksichtigung serienmäßiger Tatbegehung vor allem dann zu erwägen sei, wenn die einzelnen Taten „räumlich, zeitlich oder sonst besonders eng verschränkt“ sind.373 Dies ist gerade in den Fällen einer naturgemäßen Auswirkung von Falschangaben auf weitere Veranlagungszeiträume gegeben.
370 BGH
wistra 1999, 99. § 370 Rn. 1029.15. 372 Kohlmann/Schauf, § 370 Rn. 1029.15. 373 BGH HRRS 2013 Nr. 47 Rn. 46. 371 Kohlmann/Schauf,
3. Kap.: Weitere Aspekte der Strafzumessungsentscheidung
187
b) Berücksichtigung des Gesamtschadens Die vom Gesetzgeber verlangte Gesamtschau der Taten muss das Gesamtgewicht des abzuurteilenden Sachverhalts berücksichtigen.374 Dieses bestimmt sich in Fällen der Steuerhinterziehung maßgeblich nach dem Gesamtumfang der hinterzogenen Steuern. Daher ist der Gesamtschaden unstreitig ein zentraler Straf-zumessungsumstand auf Ebene der Gesamtstrafenbildung. Problematisch ist allerdings in wieweit der Gesamtschaden im Hinblick auf ein möglicherweise zu berücksichtigendes Doppelverwertungsverbot ins Gewicht fallen darf. Denn die den Gesamtschaden ausmachenden Teilbeträge wurden bereits bei Einzelstrafzumessung berücksichtigt. Die Summe der Einzelbeträge muss damit auf Ebene der Gesamtstrafzumessung eigene inhaltliche Aspekte betreffen, um eine materielle Geltung des Doppelverwertungsverbots zu gewährleisten.375 Die Notwendigkeit eines solchen eigenständigen Bewertungsmaßstabs auf Ebene der Gesamtstrafenbildung indiziert auch das Asperationsprinzip. Eine schlichte Addition der Einzelgrößen der Tatschuld, die dann anhand derselben Maßstäbe wie bei der Einzelstrafzumessung bewertet würden, müsste nämlich zwangsläufig auch zu demselben Ergebnis führen, nämlich der Summe der Einzelstrafen. Bezogen auf den Strafzumessungsumstand des Hinterziehungsbetrages bedeutet dies: Wenn im Rahmen der Gesamtstrafenbildung zu Recht der verursachte Gesamtschaden – als Ergebnis einer Addition der Einzelschäden – berücksichtigt wird, muss der bei der Strafzumessung an diesen Umstand angelegte Bewertungsmaßstab ein anderer sein als bei der Einzelstrafzumessung. Gegenteiliges scheint jedoch der 1. Senat zu meinen, wenn er sagt, es sei „für den Unrechtsgehalt ohne Bedeutung, ob die Millionengrenze durch eine einzelne oder mehrere Taten erreicht worden ist und ob eine Gesamtstrafe zu bilden ist. […] Der in § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 AO zum Ausdruck kommenden Wertung des Gesetzgebers [sei] bei hohen Hinterziehungsbeträgen im Rahmen der Strafzumessung Rechnung zu tragen, gleichviel ob dieser Betrag durch eine einzelne Tat hervorgerufen wurde oder durch eine Serie gleichgelagerter Taten, selbst wenn jede für sich genommen die Grenze zum großen Ausmaß nicht überschreitet.“376 Sodann weist der 1. Senat auch für die Gesamtstrafenbildung auf die von ihm geschaffenen Schwellenwerte des sechsstelligen Hinterziehungsbetrages und der Millionengrenze hin sowie auf die gesetzliche Wertung des Gesetzgebers in § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 AO. Der 1. Senat will also den Hinterziehungsbetrag auf Ebene der Einzelstrafzumessung und der Gesamtstrafenbildung in gleicher Weise und Gewichtung („gleichviel“) 374 BGHSt
24, 268 (269 f.). Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 674, 675, s. o. 2. Teil, 3. Kapitel, D., I. 376 BGH NStZ 2012, 637 (638 f.) (Hervorhebung durch den Verfasser). 375 Streng,
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2. Teil: Grundlagen der Strafzumessungsentscheidung
bewerten. Mit anderen Worten: Der 1. Senat verlangt als Ergebnis einer (gedachten) Umwertung des Strafzumessungsmerkmals des Hinterziehungsbetrages in Strafquanten dasselbe Strafquantum bei einem bestimmten Betrag, egal ob er durch eine Tat oder durch mehrere Taten erfolgt ist. Der Bewertungsmaßstab für Gesamt- und Einzelstrafzumessung im Hinblick auf den Hinterziehungsbetrag müsste dann der gleiche sein. Damit würde wohl zumindest gegen ein von der herrschenden Lehre als geltend betrachtetes Doppelverwertungsgebot verstoßen. Es stellt sich dann die Frage, ob eine solche Prämisse wenigstens mit dem Asperationsprinzip in Form des zwingend vorgesehenen Strafrabatts (§ 54 Abs. 2 S. 1 StGB) vereinbar ist. Es ließe sich zunächst geltend machen, dass sich die Einzelstrafe wie auch die Gesamtstrafe nicht nur aus dem Strafquantum für das Strafzumessungsmerkmal des Hinterziehungsbetrages ergibt. Zu bewerten sind jeweils noch weitere Strafzumessungsmerkmale. Man könnte sich diese in einem idealtypisch gedachten Vergleichsfall jedoch als konstant gehalten vorstellen, sodass der einzige strafzumessungsrechtliche Unterschied zwischen einer Einzelstrafzumessung und einer Gesamtstrafenbildung darin besteht, dass mehrere Einzeltaten vorliegen. Dann aber ließe sich ein Unterschied im Gesamtstrafmaß nur noch auf zwei Arten herstellen. Erstens: Alle übrigen doppeltrelevanten Strafzumessungsmerkmale außer dem Hinterziehungsbetrag unterliegen einem eigenständigen Bewertungsmaßstab auf Ebene der Gesamtstrafenbildung, sodass im Ergebnis ein gegenüber den aufaddierten Einzelstrafen geringeres Gesamtstrafmaß festgelegt werden kann. Dass einzelne Strafzumessungsmerkmale in der Gesamtstrafenzumessung grundsätzlich unterschiedlich behandelt werden sollen, ließe sich jedoch kaum rechtfertigen. Zweitens: Es wird auch bei den übrigen doppeltrelevanten Strafzumessungsmerkmalen entsprechend verfahren und der Grund für das geringere Gesamtstrafmaß in einem zusätzlich auf Ebene der Gesamtstrafzumessung hinzukommendem Aspekt der wiederholten Tatbegehung bzw. in dem allgemeinen Grund des Strafrabattes bei Gesamtstrafzumessung gesehen. Dann aber käme – wie allen Strafzumessungsmerkmalen – mittelbar auch dem Hinterziehungsbetrag der Einzeltaten ein Rabatt zu, was wohl gerade dem erklärten Ziel des BGH widerspräche. Die Rechtsprechung des BGH begegnet damit auch im Hinblick auf den mit dem Asperationsprinzip zwingend verbundenen Strafrabatt Bedenken.377 Letztlich legt die Entscheidung bei genauerer Betrachtung auch einen Bruch mit dem vom Asperationsprinzip vorgesehenen Vorgang der Gesamtstrafzumessung nahe. Indem anhand des Gesamthinterziehungsbetrages die Untergrenze der schuldangemessenen Gesamtstrafe ermittelt werden soll, 377 Ähnlich
Höll, NJW 2012, 2599 (2601).
3. Kap.: Weitere Aspekte der Strafzumessungsentscheidung189
wäre es nur konsequent auch dessen zentrale Rolle als Ausgangspunkt der Strafzumessungsentscheidung bei der Einzelstrafzumessung auf die Gesamtstrafenzumessung zu übertragen. Damit würde die Einsatzstrafe, die nach dem Asperationsprinzip diese Rolle eigentlich erfüllt, in ihrer Funktion zur Ermittlung der Untergrenze des Schuldangemessenen abgelöst. Es wäre überflüssig zunächst auf die Einsatzstrafe als Ausgangspunkt der Entscheidung abzustellen, wenn anhand des Gesamthinterziehungsbetrages ein Umstand bereit steht, der eine präzisere Einordnung und Bewertung des Gesamtgeschehens erlaubt. Dass in Fällen, in denen ausschließlich Steuerhinterziehungen tatmehrheitlich zusammentreffen, die Gesamtstrafenzumessung letztlich entsprechend dem Vorgehen bei Einzelstrafzumessung rational zu bewältigen ist, ist an sich durchaus denkbar. Es bestünde allerdings die Gefahr die Zumessungen der Einzelstrafen mit der Aufgabe ihrer Funktion als vorbereitender Zwischenschritt zur Gesamtstrafenzumessung auch in ihrer eigenständigen Bedeutung der Bewertung eines bestimmten Tatgeschehens zu unterminieren. Denn dass neben einer umfangreichen Gesamtstrafenzumessung jeweils eine gewissenhafte Einzelstrafzumessung einzig mit Blick auf eine mögliche nachträgliche Gesamtstrafenbildung erfolgt, erscheint doch recht praxisfern. Die Einzelstrafen würden in der Praxis von der Gesamtstrafe her gebildet werden: ein Ergebnis, das den gesetzlichen Vorgaben widerspricht.378 c) Zwischenergebnis Die Anlegung desselben Bewertungsmaßstabes an das Strafzumessungsmerkmal Hinterziehungsbetrag in Einzel- und Gesamtstrafenzumessung ist ungeachtet der Doppelverwertungsproblematik jedenfalls erheblichen Bedenken im Hinblick auf das Asperationsprinzip ausgesetzt. Denn dieses sieht zwingend einen Strafrabatt vor. Die Forderung des 1. Senats bei der Gesamtstrafenbildung denselben Maßstab an die Bewertung des Hinterziehungsbetrages wie bei der Einzelstrafzumessung anzulegen, würde zu einer weitgehenden Nivellierung des mit dem Asperationsprinzip verbundenen Effekts des Strafrabatts führen, was als unerklärtes Ziel dieser Rechtsprechung zu verstehen ist. Der 1. Senat ist ersichtlich bemüht eine Umgehung seiner verschärften Rechtsprechungslinie über eine allzu großzügige Gesamtstrafenzumessung zu verhindern. Zu diesem Zweck scheint der Senat auch nicht vor einer Infragestellung des mit dem Asperationsprinzip verbundenen Vorgangs der Strafzumessung zurückzuschrecken. Der in diesem Zusammenhang erteilte Hinweis des 1. Senats, schon bei der Einzelstrafbemessung den „Ge378 Dazu, dass in der Praxis nicht selten ohnehin so verfahren wird, Montenbruck, JZ 1988, 332 (334).
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2. Teil: Grundlagen der Strafzumessungsentscheidung
samtschaden in den Blick zu nehmen“, könnte als Aufforderung verstanden werden, das regelmäßige Ausnutzen der oberen Grenze des Strafrahmens (i. e. die Summe der Einzelstrafen) durch eine Erhöhung der Einzelstrafen zu kaschieren. Dies würde jedoch nicht lediglich eine sachlich unzutreffende Einzelstrafzumessung bewirken, sondern schon im Ansatz auf eine unzulässige Festlegung der Einzelstrafen nach Maßgabe der Gesamtstrafe hinauslaufen. Dass der 1. Senat eine solche Zumessung der Einzelstrafen nach Maßgabe der Gesamtstrafe contra legem nicht ernstlich propagieren möchte, ist zu unterstellen. Er scheint sie allerdings – womöglich von einer entsprechenden Praxis ausgehend – bewusst in Kauf zu nehmen.
3. Teil
Die strafzumessungsrelevanten Umstände Nachdem im zweiten Kapitel durch Herausarbeitung der Strafzumessungstraditionen für das Delikt der Steuerhinterziehung noch vorwiegend die praktische Handhabung der Strafhöhenbemessung im Fokus stand, soll diese im Folgenden auf einer theoretischen Ebene vor dem Hintergrund moderner Strafzumessungsdogmatik einer weitergehenden Bewertung unterzogen werden und um einige Überlegungen ergänzt werden. Hierfür ließe sich zunächst daran denken, die gesetzlichen Vorgaben gem. § 46 Abs. 2 StGB als Ausgangspunkt für eine entsprechende Aufarbeitung heranzuziehen.1 Doch ist der dort aufgelistete Katalog weder abschließend, noch weist er eine innere Systematik auf. Die einzelnen Begriffsbestimmungen lassen sich zum Teil nur schwer voneinander abgrenzen. Sortieren ließe sich der strafzumessungsrelevante Stoff auch anhand der normativ-systematischen Kategorien der Strafzumessungsdogmatik (Erfolgsunrecht, Handlungsunrecht, Vermeide macht).2 Für eine problemorientierte Aufarbeitung bietet sich diese Darstellung allerdings ebenfalls nicht an, da die zu diskutierenden einzelnen Strafzumessungsumstände phänomenologischer Art sind und als solche regelmäßig in mehrere normative Kategorien zugleich einschlagen. Daher werden im Folgenden die für das Delikt der Steuerhinterziehung wichtigsten Strafzumessungsumstände selbst zum Ausgangspunkt der Untersuchung genommen. 1. Kapitel
Der Hinterziehungsbetrag Der Hinterziehungsbetrag ist in der Praxis der herausragende Strafzumessungsumstand in der Strafzumessung der Steuerhinterziehung. Bereits bei der Strafrahmenwahl hängen Strafrahmenverschiebungen – insbesondere auch in Form der ausnahmsweisen Widerlegung der Regelbeispielswirkung eines besonders schweren Falles bzw. durch die Annahme eines minder schweren Falles nach § 373 Abs. 1 S. 2 AO – maßgeblich von diesem Merkmal ab. Im 1 Vgl. für eine solche Darstellung Kohlmann/Schauf, § 370 Rn. 1029.1 ff.; Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 550 ff. 2 Vgl. für eine solche Darstellung etwa Hörnle, in: Frisch, Grundfragen, S. 113 (114 ff.); Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 1842 ff.
192
3. Teil: Die strafzumessungsrelevanten Umstände
Rahmen der Strafzumessung im engeren Sinne wird allein anhand des Hinterziehungsbetrages die Einstiegsstelle in den Strafrahmen gefunden bzw. die Untergrenze des regelmäßig noch Schuldangemessenen. Alle übrigen Strafzumessungsumstände werden von diesem Ausgangswert schärfend oder mildernd berücksichtigt.3 Dieses Vorgehen kann nur dann gerechtfertigt sein, wenn sich mit dem Hinterziehungsbetrag bereits das wesentliche Gewicht der Strafzumessungsschuld bzw. der „Unrechtskern“ der Steuerhinterziehung erfassen lässt. Um dieser Frage der Bedeutung des Strafzumessungsumstandes Hinterziehungsbetrag im Gefüge der Strafzumessungsumstände nachgehen zu können, muss zunächst Gewissheit über die mit diesem Umstand verbundenen normativen Aspekte der Schuldwertung bestehen. Für alle nicht vom Hinterziehungsbetrag erfassten Aspekte der Schuldwertung wird zu prüfen sein, ob und wenn ja welches Regeltatbild4 bei der Einordnung in den Strafrahmen zu Grunde gelegt werden kann.
A. Inhaltliche Aspekte des „Hinterziehungsbetrages“ als Strafzumessungsmerkmal Der Rechtsanwender muss sich darüber im Klaren sein, welche Umstände des Tatunrechts er mit dem Merkmal des „Hinterziehungsbetrages“ verbindet und in die Abwägung und Umwertung miteinbringt. Betrifft der „Hinterziehungsbetrag“ das Handlungsunrecht der Tat? Wie ist mit dem „Hinterziehungsbetrag“ bei einem Vermögensschaden, wie bei einer bloßen Gefährdung umzugehen? Ist der Zinsschaden vom „Hinterziehungsbetrag“ erfasst oder kann und muss er diesem gar hinzugerechnet werden? Und ist – wie dies in der Literatur durchweg angenommen wird – in Fällen der Hinterziehung „auf Zeit“ nicht der „Hinterziehungsbetrag“, sondern der beabsichtigte Zinsschaden der Strafzumessung zu Grunde zu legen? Auch wenn es zwingende Antworten für nicht all diese Fragen geben mag, so sind doch bestimmte Lösungen mehr und andere weniger überzeugend.
I. Erfolgs- und Handlungsunrecht Der Hinterziehungsbetrag beziffert das Ausmaß einer Rechtsgutsbeeinträchtigung und wird daher in erster Linie als Umstand des Erfolgsunrechts wahrgenommen. Welche Teile der Rechtsgutsbeeinträchtigung sich mit die3 S. o.
2. Teil, 2. Kapitel, B., III. hier zu Grunde gelegten Verständnis des „Regeltatbildes“ s. 2. Teil, 2. Kapitel, A., III. 4 Zum
1. Kap.: Der Hinterziehungsbetrag
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sem Begriff erfassen lassen, wird sogleich näher zu untersuchen sein. Zunächst gilt es aber festzuhalten, dass sich mit dem Maß einer Rechtsgutsbeeinträchtigung auch Aspekte des Handlungsunrechts verbinden lassen. Der konkrete Hinterziehungsbetrag muss vom Vorsatz des Täters umfasst sein. Je höher die beabsichtigte Schadenssumme, desto größer ist zwangsläufig der aufzubringende verbrecherische Wille. Oder um einen weiteren im Kontext des Handlungsunrechts häufig benutzten Strafzumessungsbegriff zu verwenden: Mit steigendem Hinterziehungsbetrag wächst auch das Maß der zur Hinterziehung dieses Betrages erforderlichen „kriminellen Energie“.5 Diese handlungsunrechtliche Kehrseite des Ausmaßes der Rechtsgutsbeeinträchtigung steht mit der erfolgsunrechtlichen Dimension jedoch nicht zwangsläufig im Einklang. Vielmehr lässt sich nicht selten ein gegenüber dem objektiven Taterfolg überschießender subjektiver Unrechtsgehalt mit dem Hinterziehungsbetrag verbinden. So ist in den Fällen, in denen es lediglich zu einer abstrakten oder konkreten Vermögensgefährdung in einer bestimmten Höhe gekommen ist, der Wille nicht nur auf diese Gefährdung, sondern regelmäßig auch auf eine endgültige Rechtsgutsverletzung gerichtet.6 Mit dem Merkmal des Hinterziehungsbetrages lassen sich somit sowohl Aspekte des Erfolgsunrechts als auch mit diesem notwendigerweise einhergehende sowie darüber hinausgehende Aspekte des Handlungsunrechts verbinden. Auf welche dieser Aspekte sinnvollerweise Bezug zu nehmen ist, wird im Folgenden zu erörtern sein.
II. Art der Rechtsgutsbeeinträchtigung Der Hinterziehungsbetrag an sich gibt nur Auskunft über das Maß der Rechtsgutsbeeinträchtigung. Es ist jedoch ganz grundsätzlich bereits nach Art der Rechtsgutsbeeinträchtigung zu unterscheiden. Denn es differiert die Qualität des Unrechts, wenn der Erfolg lediglich in einer Gefahr statt in einem tatsächlichen Verlust besteht.7 Eine quantitative Vergleichbarkeit ist aufgrund der qualitativen Unterschiede dann nicht gegeben. Das Ausmaß der Rechtsgutsbeeinträchtigung ist daher als ein das Unrecht konstituierendes Merkmal untrennbar mit der Art der Rechtsgutsbeeinträchtigung verbunden. 5 Zur Kritik am Begriff der „kriminellen Energie“ s. Hörnle, Tatproportionale Strafzumessung, S. 57 ff. 6 Zu den Ausnahmen der sog. „Hinterziehung auf Zeit“ s. u. Teil 3, 1. Kapitel, A., V. 7 Die unzureichende Berücksichtigung dieses elementaren Unterschieds in der Strafzumessungspraxis der Gerichte bemängelt auch Auer, Steuerschaden, S. 56 ff., 112.
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3. Teil: Die strafzumessungsrelevanten Umstände
Für das Erfolgsunrecht bedeutet dies, dass der Hinterziehungsbetrag als bloße Bezifferung des Ausmaßes einer Rechtsgutsbeeinträchtigung nur im Rahmen der jeweiligen Art der Rechtsgutsbeeinträchtigung (abstrakte Gefahr, konkrete Gefahr, Verletzung) eine den Vergleich ermöglichende Beschreibung des Erfolgsunrechts darstellt.8 Die Umwertung der erfolgsunrechtlichen Komponente des Ausmaßes der Rechtsgutsbeeinträchtigung muss daher je nach Art der Rechtsgutsbeeinträchtigung unterschiedlich ausfallen. Der Begriff des Hinterziehungsbetrages ist für sich nicht in der Lage diese Differenzierung zu erbringen, da er über die Art der Rechtsgutsbeeinträchtigung keine Aussage enthält. Will man die Einstiegsstelle in den Strafrahmen also unter Zugrundelegung des Erfolgsunrechts finden, muss zu dem Hinterziehungsbetrag ein klarstellender Zusatz erfolgen, der die Art der Rechtsgutsbeeinträchtigung kennzeichnet. Für den Regelfall der Rechtsgutsverletzung würde sich hierfür etwa die Begrifflichkeit des Hinterziehungsschadens anbieten. Demgegenüber kann der Begriff des Hinterziehungsbetrags als Oberbegriff für die Fälle eines um die Art der Rechtsgutsbeeinträchtigung konkretisierten Verkürzungsbetrags verwendet werden. Auch wenn man auf die handlungsunrechtliche Komponente des Ausmaßes der Rechtsgutsbeeinträchtigung abstellt, entfällt die Notwendigkeit dieser Klarstellung nicht. Es macht einen Unterschied, ob der Wille auf eine abstrakte Gefährdung, eine konkrete Gefährdung oder eine Rechtsgutsverletzung gerichtet ist. Zwar lässt sich für den Regelfall sagen, dass, selbst wenn es tatsächlich nur zu einer abstrakten oder konkreten Gefährdung gekommen ist, subjektiv der Wille besteht, nach Tatvollendung über den konkreten Erfolg hinaus auch eine Rechtsgutsverletzung herbeizuführen. Die Fälle, in denen der Wille einzig auf eine Rechtsgutsgefährdung gerichtet ist, ohne dass eine Realisierung dieser Gefahr gewollt ist, sind wohl nur hypothetisch denkbar.9 Im Ergebnis würde damit dennoch nicht auf eine Differenzierung nach Art der Rechtsgutsbeeinträchtigung verzichtet, sondern schlicht von dem Regeltatbild einer gewollten Rechtsgutsverletzung ausgegangen werden. 8 Besteht der Erfolg in einer konkreten Gefahr, sind bei genauerer Betrachtung noch unterschiedliche Gefährdungsintensitäten möglich, sodass das Maß der Rechtsgutsbeeinträchtigung das Erfolgsunrecht streng genommen nur für Delikte gleicher Gefährdungsintensität in vergleichbarer Weise beschreibt; hingegen sind die abstrakte Gefährdung und die Verletzung ihrer Intensität nach keine variablen, sondern konstante Rechtsgutsbeeinträchtigungen, so dass sich das Erfolgsrecht für diese einzig anhand des Ausmaßes bestimmen lässt. 9 Auch in den Fällen der Hinterziehung „auf Zeit“ ist zumindest eine vorübergehende Rechtsgutsverletzung beabsichtigt, s. u. 3. Teil, 1. Kapitel, A., V. Der Fall müsste so liegen, dass der Täter eine rechtzeitige Berichtigung der Steuererklärung vor Fälligkeit plant.
1. Kap.: Der Hinterziehungsbetrag195
Faktisch böte das Abstellen auf diese erweiterte handlungsunrechtliche Komponente des Hinterziehungsbetrages den Vorteil, bei der Findung der Einstiegsstelle in den Fällen einer tatsächlich lediglich konkreten oder abstrakten Gefährdung nicht differenzieren zu müssen. Insbesondere wäre in den Fällen der schadensgleichen Vermögensgefährdung eine Bezifferung des Teilbetrages der Hinterziehungssumme, der schadensgleich gefährdet ist, für die erste Einrasterung des Falles entbehrlich. Die Differenzierung müsste dann allerdings spätestens im nächsten Strafzumessungsschritt, bei dem vom Regeltatbild einer tatsächlichen Rechtsgutsverletzung in voller Höhe des Hinterziehungsbetrages ausgehend10 konkrete oder abstrakte Gefährdungen als Strafmilderungen zu bewerten wären, nachgeholt werden. Es zeigt sich also, dass eine Klarstellung, ob und in welcher Höhe eine Rechtsgutsverletzung vorliegt, für die Strafzumessungsentscheidung unerlässlich ist. Dies gilt unabhängig davon, ob man dieser Differenzierung bereits im Rahmen der Findung der Einstiegsstelle in den Strafrahmen Bedeutung zukommen lassen möchte oder nicht. Bei der schadensgleichen Vermögensgefährdung ist daher darauf zu achten, ob in Höhe des vollen Hinterziehungsbetrages eine Schadensgleichheit vorliegt oder ob Abschläge zu machen sind. Nur in Höhe der Schadensgleichheit ist der Gefährdungsschaden dem „echten Vermögensschaden“ qualitativ gleich und damit einer quantitativen Vergleichbarkeit i. S. einer einheitlichen Umwertung zugänglich. Realistisch betrachtet ist freilich mit einem solchen Vorgehen in der Praxis kaum zu rechnen. Bereits für die im Rahmen des Betrugs tatbestandsrelevante Frage des Vorliegens eines Gefährdungsschadens bedurfte es der bereits zuvor erwähnten Entscheidung des BVerfG,11 um die Instanzgerichte zu einer genauen höhenmäßigen Bestimmung des Gefährdungsschadens anzuhalten. Im Rahmen der Steuerhinterziehung ist die Frage, ob ein Gefährdungsschaden vorliegt, hingegen nach herrschender Meinung nicht tatbestandsrelevant. Es steht daher nicht zu vermuten, dass die Gerichte in der Strafzumessung die Qualifizierung als Gefährdungsschaden und darüber hinaus noch die Bestimmung eines vom Hinterziehungsbetrag abweichenden Hinterziehungsschadens bemühen. Nach Ansicht des BGH sind die Tatgerichte hierzu auch weder aufgrund des Verfassungsgebots schuldangemessenen Strafens noch im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG verpflichtet.12 Für den absoluten Regelfall könnte dies allerdings auch dahinstehen, wenn sich die Realisierung des Ge10 Vorausgesetzt die Rechtsgutsverletzung lässt sich als Regeltatbild begreifen. Angesichts der Kontroverse um die Tatbestandsmäßigkeit der Fälle bloßer Gefährdung sowie deren geringen Anwendungsfeldes (s. o. Teil 1, 2. Kapitel, A., I., 2., c)) wäre dies durchaus gerechtfertigt. 11 BVerfGE 126, 170. 12 BGHSt 58, 50 (51 ff.).
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3. Teil: Die strafzumessungsrelevanten Umstände
fährdungsschadens zum Zeitpunkt der Fälligkeit ebenfalls mit dem Begriff des Hinterziehungsbetrags erfassen ließe.
III. Realisierung des Gefährdungsschadens Sofern der Gefährdungsschaden bei Festsetzung nicht in voller Höhe des Hinterziehungsbetrages zu veranschlagen ist, stellt spätestens dessen Realisierung mit Nichteintreibung bei Fälligkeit in voller Höhe eine weitere Schadensvertiefung dar. Diese Schadensvertiefung tritt zeitlich erst nach Abschluss der tatbestandsmäßigen Handlung ein und ist daher als außertatbestandsmäßiger Folgeschaden zu qualifizieren.13 Bei außertatbestandsmäßigen Folgeschäden ist bei einer auf das Unrecht der Tat begrenzten Schuldwertung jedoch genau darauf zu achten, ob der Folgeschaden der Tathandlung zuzurechnen ist.14 Eine Schadensvertiefung kann etwa auch auf einer neu in Gang gesetzten Kausalkette im Nachtatverhalten beruhen, wie dies beim Verschaffen von Vermögenswerten in das Ausland der Fall ist.15 Nur wenn die Schadensvertiefung noch dem Tatgeschehen zuzurechnen ist, kommt eine Berücksichtigung der darin liegenden Rechtsgutsbeeinträchtigung bei der Einordnung des Falles in den Strafrahmen anhand des Unrechtskerns der Tat überhaupt in Betracht. Bei der Realisierung eines Gefährdungsschadens ist die Zurechnung zum Tatgeschehen gegeben. Um den Anteil des außertatbestandsmäßig realisierten Gefährdungsschadens gemeinsam mit dem tatbestandsmäßigen Gefährdungsschaden in einem Bewertungsschritt berücksichtigen zu können und dabei von einer Vergleichbarkeit des Ergebnisses mit dem Fall auszugehen, in dem der Schaden bereits in voller Höhe mit der Tatbestandsverwirklichung eingetreten ist, muss freilich noch ein Weiteres hinzukommen: Das Unrecht der außertatbestandsmäßigen Folge der Gefahrrealisierung und das Unrecht der tatbestandsmäßigen Folge dürfte in der Schuldwertung nicht unterschiedlich zu behandeln sein. Denkbar wäre etwa, dass dem außertatbestandsmäßigen Unrecht eine geringere Bedeutung zugemessen wird – vom Ergebnis einer Umwertung her gedacht, für dieses Unrecht also geringere Strafquanten zu veranschlagen wären. Allein der Umstand, dass eine Gefahrrealisierung zeitlich versetzt zur tatbestandsmäßigen Handlung eintritt, vermag eine geringere Bedeutung dieser Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 598. Anwendbarkeit der Zurechnungslehre im Rechtsfolgenbereich und speziell zur Umsetzung bei außertatbestandsmäßigen Folgen, s. Frisch, ZStW 99 (1987), S. 751 (753 ff.); ders., GA 1972, S. 321 (346 f.). 15 Hierzu unten 3. Teil, 4. Kapitel, C. 13 Ebenso
14 Zur
1. Kap.: Der Hinterziehungsbetrag
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Rechtsgutsbeeinträchtigung im Rahmen der Schuldwertung allerdings nicht zu begründen. Vielmehr zeigt die Tatsache, dass die durch eine Gefahrrealisierung herbeigeführte Tatfolge unter anderen Umständen bereits eine tatbestandsmäßige Tatfolge darstellen kann,16 dass das betroffene Rechtsgutsobjekt gleich schützenswert ist. Man könnte jedoch einwenden, dass die Tatfolge, indem sie ins Außertatbestandsmäßige verlagert ist, nicht mehr zwingend im gleichen Maße dem Täter zugerechnet werden kann – sondern anderen Aspekten wie der Zeit oder den Behörden selbst – und deshalb milder zu bewerten sei. Einer solchen Argumentation muss jedoch entgegengehalten werden, dass sich auch bei den tatbestandsmäßigen Tatfolgen Zurechnungsfragen stellen können,17 die jedoch in einem schrittweisen Verfahren der Strafzumessung in einem weiteren Bewertungsschritt berücksichtigt werden können. Auch im Subjektiven bzw. für den Handlungsunwert der Gefahrrealisierung kann es keinen Unterschied machen, ob das Eintreten einer bestimmten Tatfolge zeitlich bereits mit Durchführung der tatbestandsmäßigen Handlung oder erst später beabsichtigt ist. Eine andere Frage ist, ob die Gefahrrealisierung im Einzelfall auch mit demselben Täterwillen verfolgt wird wie die tatbestandsmäßige Folge. Die Fälle einer Divergenz bewegen sich wohl auch hier nur im Hypothetischen. Dennoch würde jedenfalls dann, wenn bezüglich der außertatbestandsmäßigen Folgen nur Fahrlässigkeit gegeben wäre,18 eine vermengende Betrachtung des Handlungsunrechts aufgrund der erheblichen qualitativen Unterschiede nicht mehr möglich sein.19 Es ist damit festzuhalten: Einer die außertatbestandsmäßige Gefahrrealisierung erfassenden Unrechtsbetrachtung steht im Hinblick auf die erfolgsunrechtlichen Aspekte nichts entgegen. Auch die handlungsunrechtlichen Aspekte lassen sich regelmäßig gemeinsam erfassen. Im Sinne einer möglichst breiten Wertungsbasis der Findung der Einstiegsstelle ist es daher sinnvoll, das zusätzliche außertatbestandsmäßige Unrecht der Gefahrrealisierung mitaufzugreifen. Dies ist auch ohne Schwierigkeiten möglich. Es wird schlicht von einem Hinterziehungsschaden in voller Höhe des Verkürzungsbetrags auszugehen sein. Damit ist zugleich ein für die Strafzumessungspraxis entscheidender Vorteil verbunden: Die Notwendigkeit, einen gegebenenfalls vom Verkürzungsbetrag abweichenden Betrag der schadensgleichen Vermögensgefährdung zu 16 Etwa wenn ein Teil der Umsatzsteuer nicht im Festsetzungsverfahren, sondern erst im Erhebungsverfahren hinterzogen wird. 17 Vgl. zur Mitverantwortlichkeit der Behörde 3. Teil, 2. Kapitel, A. 18 Zur Kontroverse um die Anforderungen an die Vorwerfbarkeit außertatbestandsmäßiger Tatfolgen, s. Hörnle, in: Frisch, Grundfragen, S. 113 (118 f.) m. w. N. 19 Anderes ließe sich womöglich noch für Unterschiede im Bereich der Vorsatzformen vertreten; zur Relevanz der Vorsatzformen 3. Teil, 2. Kapitel, B.
198
3. Teil: Die strafzumessungsrelevanten Umstände
beziffern, beschränkt sich auf die seltenen Ausnahmefälle, in denen die Festsetzung noch rechtzeitig vor Fälligkeit korrigiert werden kann.
IV. Verspätungsschaden Neben dem Wert des Steueranspruchs selbst kommt selbstverständlich auch dessen Nutzung in zeitlicher Perspektive ein vermögensrechtlicher Wert zu. Ein Täter, der Steuern in Höhe von 100.000 € hinterzieht, hat ein Jahr nach Beginn des Zinslaufes (i. d. R. ab Fälligkeit) einen zusätzlichen Betrag in Höhe von 6.000 €, nach vier Jahren 24.000 € und nach neun Jahren einen zusätzlichen Betrag in Höhe von 54.000 € auszugleichen.20 Addiert man Hinterziehungsschaden und Verspätungsschaden, würde letzterer potentiell bei Regelverjährung etwa ein Fünftel, bei verlängerter Verjährungsfrist gem. § 376 AO sogar über ein Drittel des Gesamtschadens ausmachen können. Es stellt sich daher die Frage, wie mit diesen nicht unerheblichen Schadensbeträgen in der Strafzumessung umzugehen ist. Der Verspätungsschaden entsteht dem Fiskus ab dem Zeitpunkt der nicht rechtzeitigen Leistung. Er stellt eine permanente Schadensvertiefung dar bis zu dem Zeitpunkt der Zahlung der Steuerschuld bzw. der Verjährung des Steueranspruchs. Da die tatbestandsmäßige Handlung sowie der Erfolg spätestens mit der Nichtleistung bei Fälligkeit abgeschlossen sind, stellt der Verspätungsschaden eine außertatbestandsmäßige Folge der Tat dar.21 Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass regelmäßig nur ein geringer Anteil der Rechtsgutsbeeinträchtigung des Verspätungsschadens außertatbestandliche Folge ist. Dies wird deutlich, wenn man den Erfolg des Verspätungsschadens zeitlich differenziert betrachtet. Denn zu berücksichtigen ist, dass bereits mit Herbeiführung des tatbestandsmäßigen Erfolges (Steuerverkürzung, Erlangung Steuervorteil) die Gefahr der Verursachung eines bis zur Verjährungsgrenze sich vertiefenden Verspätungsschadens geschaffen wurde. Diese bereits mit der Tatbestandsverwirklichung geschaffene Gefahr eines Verspätungsschadens ist dann freilich auch Teil der tatbestandsmäßigen Folgen der Tat. Einzig die Realisierung dieser Gefahr ist außertatbestandsmäßige Folge der Tat, 20 Gem. §§ 235, 238 AO sind monatlich 0,5 % Zinsen auf den hinterzogenen Betrag zu zahlen. Zinseszinsen werden nicht erhoben, § 233 S. 2 AO. 21 Anders nur dann, wenn man die Steuerhinterziehung als Dauerdelikt begreift. Zu solchen Ansätzen, s. Suhr, Rechtsgut der Steuerhinterziehung, S. 118 ff.; Schmitz, Unrecht und Zeit, S. 92 ff., 119 f.; ob der Verspätungsschaden als tatbestandsmäßige oder außertatbestandsmäßige Folge einzuordnen ist, kann hier dahinstehen, sofern man die darin liegende Rechtsgutsbeeinträchtigung jedenfalls dem tatbestandsmäßigen Verhalten zurechnet und damit dem Tatunrecht zuschreibt.
1. Kap.: Der Hinterziehungsbetrag199
die den Schaden weiter vertieft. Wie gewichtig diese außertatbestandsmäßige Folge dann noch ist, hängt demnach von der Intensität der Gefahr ab. Unabhängig davon, in welchem Maße die im Verspätungsschaden liegende Rechtsgutsbeeinträchtigung bereits zur Tatzeit verwirklicht ist, ist sie grundsätzlich dem tatbestandsmäßigen Verhalten zurechenbar und damit Teil des Tatunrechts. Zudem liegt in ihr auch kein geringer zu bewertendes Unrecht. Der Wert der zeitlichen Nutzung eines Gegenstandes ist vielmehr ein Aspekt dessen Vermögenswertes und ist als solcher vom Vermögensschutz gleichermaßen umfasst. Dies zeigt sich auch darin, dass nach ganz herrschender Meinung § 370 AO auch auf die Hinterziehung von bloßen Zinszahlungen, die gem. § 3 AO gerade keine Steuern sondern steuerliche Nebenleistungen sind, anzuwenden ist.22 Steht damit also fest, dass der Verspätungsschaden ein gegenüber der Rechtsgutsbeeinträchtigung im Übrigen gleichwertiger Teil des Unrechts der Tat ist, ist damit noch nicht über dessen Berücksichtigung im Strafzumessungsvorgang entschieden. Da der Verspätungsschaden ebenfalls ein Vermögensschaden ist, wäre denkbar, ihn zum Hinterziehungsschaden hinzuzuaddieren. Man würde dann den mit der Tat verursachten Gesamtvermögensschaden bei der Findung der Einstiegsstelle zu Grunde legen. Die zweite Variante wäre, es beim Hinterziehungsschaden zur Findung der Einstiegsstelle zu belassen und den Verspätungsschaden je nach Einzelfall schärfend, mildernd oder gar nicht zu berücksichtigen, weil gerade dem Regeltatbild einer Steuerhinterziehung solchen Ausmaßes entsprechend. Lässt sich kein Regeltatbild formulieren und kann oder soll eine exakte Bestimmung des Verspätungsschadens nicht erfolgen, müssten die Umstände des Verspätungsschadens bei der Findung der Einstiegsstelle berücksichtigt werden. Eine exakte Berechnung des Gesamtvermögensschadens ist bei theoretischer Betrachtung zweifellos die vorzugwürdigere Gangart, verspricht sie doch eine präzise Bestimmung des Erfolgsunrechts der Tat. Bei der handlungsunrechtlichen Komponente des Verspätungsschadens gelten jedoch bezüglich dem außertatbestandsmäßigen Anteil die bereits genannten Einschränkungen.23 Entscheidend gegen eine exakte Berechnung könnten allerdings deren praktische Umsetzungsschwierigkeiten sprechen. Denn eine solche Berechnung dürfte sich nicht auf die noch ohne weiteres durchführbare Feststellung des realisierten Verspätungsschadens beschränken. Es müsste 22 BGH wistra 2007, 388 (389) für Zinsen nach § 233a AO; Hübschmann/Hepp/ Spitaler/Hellmann, § 370 AO, Rn. 130; Joecks/Jäger/Randt/Joecks, § 370 Rn. 36 f., allerdings mit Bedenken hinsichtlich der Zinsen auf Steuererstattungen; MünchKomm/Schmitz/Wulf, § 370 AO, Rn. 55. 23 S. o. 3. Teil, 1. Kapitel, IV., wobei hier Anwendungsfälle einer Divergenz im Täterwillen durchaus vorkommen, wie die Fälle der Hinterziehung „auf Zeit“ zeigen.
200
3. Teil: Die strafzumessungsrelevanten Umstände
zusätzlich der darüber hinaus gefährdete Anteil des Verspätungsschadens seiner Gefährdungsintensität nach bestimmt werden. Dafür müsste der Rechtsanwender den zur Tatzeit gegebenenfalls absehbaren Zeitpunkt sowie die Wahrscheinlichkeit der Tatendeckung feststellen, was ihm nur in seltenen Fällen gelingen dürfte. Dies wäre nur dann entbehrlich, wenn bei der Schadensermittlung die Entdeckungswahrscheinlichkeit außer Acht gelassen werden könnte. Es ließe sich insofern geltend machen, dass es inkonsequent sei, die Entdeckungswahrscheinlichkeit für die Bestimmung des Hinterziehungsschadens nicht zu berücksichtigen,24 hingegen bei der Bestimmung des Verspätungsschadens schon. Demnach wäre der Verspätungsschaden stets in voller Höhe des Produkts aus Hinterziehungszinsbetrag und Verjährungsdauer anzusetzen. Damit könnte zugleich auf dessen gesonderte Berücksichtigung verzichtet werden, da er sich ohnehin als fixe Größe aus dem Hinterziehungsschaden ergibt. Ein solcher Ansatz vermag bei genauerer Betrachtung indes nicht zu überzeugen. Denn es treffen die Voraussetzungen, mit denen die Entdeckungswahrscheinlichkeit als berücksichtigungsfähiger Schadensposten abgelehnt wurde, für den Verspätungsschaden nicht mehr zu. So stellt sich etwa die Nachprüfung, was den Verspätungsschaden, der nach dem Zeitpunkt der Nachprüfung anfällt, anbelangt, nicht nur als Instrument der Schadenswiedergutmachung, sondern auch als Instrument der Schadensverhinderung dar. Hält man die normativen Wertungen der Schadensermittlung auch für den Verspätungsschaden konsequent durch, kommt der Entdeckungswahrscheinlichkeit (nur) für den Anteil des Verspätungsschadens Bedeutung zu, der nach voraussichtlicher Tatentdeckung anfällt. Ist etwa eine Betriebsprüfung bereits zur Tatzeit zeitnah absehbar, relativiert dies die Gefährdungsintensität eines deutlich größeren Anteils des Zinsschadens, als wenn eine Betriebsprüfung gerade stattgefunden hat und deshalb erst in einigen Jahren mit einer erneuten Prüfung zu rechnen ist. Von entscheidender Bedeutung ist damit der Zeitpunkt der möglichen Tatentdeckung. Beides – sowohl Zeitpunkt der möglichen Tatentdeckung als auch Entdeckungswahrscheinlichkeit – wird der Richter jedoch kaum je mit einer Sicherheit feststellen, die ihm eine sachgerechte Bewertung des Verspätungsschadens ermöglicht. Eine schätzweise Berücksichtigung bei Findung der Einstiegsstelle oder als Zu- bzw. Abschlag gegenüber einem Regeltatbild wird der Situation des Rechtsanwenders damit eher gerecht als eine Scheinmathematisierung des Unrechts. Es fragt sich daher, ob sich ein Regeltatbild für den Verspätungsschaden formulieren lässt. Was die Entdeckungswahrscheinlichkeit anbelangt, er24 S. o.
1. Teil, 2. Kapitel, A., I., 2., c), bb).
1. Kap.: Der Hinterziehungsbetrag201
scheint plausibel, normativ weder von der sicheren Entdeckung25 jeder Steuerhinterziehung noch von einer Unmöglichkeit26 der Entdeckung, sondern von einer gewissen Entdeckungswahrscheinlichkeit auszugehen. Liegt ein Fall so, dass sich die Entdeckung als außergewöhnlicher Glücksfall bzw. Zufall darstellte, wäre unter dem Aspekt des Verspätungsschadens daher strafschärfend zu werten, dass die Gefahr dieses zusätzlichen Vermögensschadens besonders hoch war. War die Entdeckung hingegen bereits zur Tatzeit besonders wahrscheinlich – was insbesondere in Fällen der vorläufigen Festsetzung oder Festsetzung unter Vorbehalt der Nachprüfung in Betracht kommt –, wäre zu mildern. Schon die Beispiele der vorläufigen Festsetzung und der Festsetzung unter Vorbehalt der Nachprüfung zeigen jedoch, dass von der Typizität einer bestimmten Entdeckungswahrscheinlichkeit keine Rede sein kann. Noch deutlicher wird dies für die möglichen Zeitpunkte der Tatentdeckung. Wann innerhalb des Verjährungszeitraumes etwa eine Nachprüfung erfolgt, ist völlig zufällig, sodass sich kein Zeitpunkt – insbesondere auch nicht die denkbare Mitte des Verjährungszeitraumes – als typisch bezeichnen ließe. Die Formulierung eines Regeltatbildes für den Verspätungsschaden muss daher scheitern. Die Umstände des Verspätungsschadens sind daher ebenso wie der Hinterziehungsbetrag bei der Einrasterung des Falles in die Skala denkbarer Geschehen zu berücksichtigen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass beide Strafzumessungsmerkmale bei der Findung der Einstiegsstelle in einem Bewertungsschritt zu verarbeiten sind. Da der Verspätungsschaden in seinem Ausmaß stets in der Weise abhängig von der Höhe des Hinterziehungsbetrages ist, dass sich aus dem Hinterziehungsbetrag heraus klare Grenzen für das zusätzliche Unrecht des Verspätungsschadens ergeben, ist es möglich, die denkbaren Ausprägungen des Verspätungsschadens bereits bei der Findung der Einstiegsstelle anhand des Hinterziehungsbetrages vorwegzunehmen, gleichsam vor die Klammer zu ziehen, um in einem anschließenden Bewertungsschritt die Einstiegsstelle anhand der gegebenen Umstände des Verspätungsschadens zu konkretisieren. 25 Dies legt insbesondere § 371 AO nahe, wonach der Gesetzgeber die Einsicht umsetzt, dass er auf die Mitwirkung des Täters zur Aufdeckung der Tat häufig angewiesen ist. 26 So sieht der Gesetzgeber allgemein mit der Außenprüfung – vgl. speziell etwa die Lohnsteueraußenprüfung (§ 42 f. EStG), die Umsatzsteuersonderprüfung (§ 193 Abs. 2 Nr. 1 AO) oder die Betriebsprüfung (§ 193 Abs. 1 AO) – die Möglichkeit vor auch nach Steuerfestsetzung und Fälligkeit die Richtigkeit von Steuersachverhalten erneut zu prüfen. Daneben ist gerade durch den technischen Fortschritt der Prüfverfahren des Finanzamts die Chance zu berücksichtigen, über die Steuererklärungen wirtschaftlich verflochtener Dritter verheimlichte Steuersachverhalte aufzudecken.
202
3. Teil: Die strafzumessungsrelevanten Umstände
Praktisch bedeutet dies für die Berücksichtigung des Verspätungsschadens: Der Hinterziehungsbetrag eröffnet einen Raum denkbarer Strafgrößen als Einstiegsstelle in den Strafrahmen. Der Raum ist nach unten durch die denkbaren Strafgrößen eines Gesamtvermögensschadens in Höhe des Hinterziehungsbetrages begrenzt und nach oben durch die denkbaren Strafgrößen eines Gesamtvermögensschadens in Höhe des Hinterziehungsbetrages addiert um die maximale Höhe des Verspätungsschadens (d. h. bei Regelverjährung ca. zusätzliche 20 %, bei Anwendung des § 376 AO ca. zusätzliche 34 % des Hinterziehungsbetrages). Dieser Raum ist in einem weiteren Schritt durch das Ausmaß des Verspätungsschadens zu konkretisieren. Dabei rückt die Strafe umso näher an die Strafhöhen für eine Hinterziehung lediglich in Höhe des Hinterziehungsbetrages, je wahrscheinlicher die Tatentdeckung war und je früher die mögliche Tatentdeckung zeitlich einzuordnen ist. Im Ergebnis läuft diese dogmatisch überzeugende und zugleich praktisch leistbare Vorgehensweise auf eine Verwendung des Gesamtvermögensschadens bei der Findung der Einstiegsstelle hinaus. Da der tatsächliche Gesamtvermögensschaden allerdings nicht exakt zu ermitteln ist, kann nur eine schätzweise Konkretisierung des Rahmens zwischen tatsächlich bekanntem Hinterziehungsbetrag und ebenfalls tatsächlich bekanntem maximalen hypothetischen Gesamtvermögensschaden erfolgen.
V. Die Hinterziehung „auf Zeit“ Eine Besonderheit des Steuerstrafrechts sind die Fälle einer sogenannten Hinterziehung „auf Zeit“. Im Schrifttum und in der Rechtsprechung27 besteht mittlerweile weitestgehend Einigkeit, dass die Abgrenzung von Hinterziehung „auf Zeit“ und Hinterziehung „auf Dauer“ nach dem subjektiven Vorstellungsbild des Täters zu erfolgen hat.28 Dieser Abgrenzung folgend sollen zunächst einführend die relevanten Konstellationen der Hinterziehung auf Zeit beispielhaft dargestellt werden, um die nachfolgende Analyse anschaulich zu gestalten. 27 Hierzu
unten A. V. 3.
28 MünchKomm/Schmitz/Wulf,
§ 370 AO, Rn. 115; Kohlmann/Ransiek, § 370 Rn. 493 ff.; Joecks/Jäger/Randt/Joecks, § 370 Rn. 111; Bilsdorfer, in: Kohlmann, Strafverfolgung und Strafverteidigung im Steuerstrafrecht, S. 171 ff.; die zum Teil noch immer formulierte (so etwa Dörn, Steuerhinterziehung durch Unterlassen?, S. 104; Klein/Jäger, § 370 AO, Rn. 110; Kiel, Die Verjährung bei der vorsätzlichen Steuerverkürzung, S. 103; Koch/Scholtz/Scheuermann-Kettner, § 370 Rn. 32) Abgrenzung nach den Tatbestandsvarianten „nicht rechtzeitig festgesetzt“ (= Hinterziehung auf Zeit) und „nicht festgesetzt“ (= Hinterziehung auf Dauer) trifft nicht den Kern der problematischen Fallkonstellationen.
1. Kap.: Der Hinterziehungsbetrag
203
1. Die einzelnen Konstellationen Fallbeispiel 1: Der Täter beabsichtigt zur Tatzeit die Steuer nachträglich zu entrichten und verwirklicht diese Absicht auch. Er hat es lediglich auf den Zinsgewinn abgesehen (echte Hinterziehung auf Zeit). Dabei kann er: a) beabsichtigen, den Zinsgewinn endgültig zu behalten. Hierfür wird er regelmäßig weitere Falschangaben in der Nacherklärung machen müssen, um eine Erhebung der Zinsen zu verhindern. Beispiel: Bei der Umsatzsteuervoranmeldung für den ersten Abrechnungsmonat werden Umsätze verschwiegen und dadurch Steuern verkürzt. In der Umsatzsteuerjahreserklärung werden die Umsätze dann angegeben, aber fälschlich dem letzten Abrechnungsmonat zugeschrieben. b) beabsichtigen, den Zinsgewinn ebenfalls zu erstatten. Fallbeispiel 2: Der Täter beabsichtigt zur Tatzeit, die Steuer nachträglich zu entrichten, aber verwirklicht diese Absicht nicht (Hinterziehung auf Zeit, die übergeht in eine Hinterziehung auf Dauer): a) weil er sich es anders überlegt b) weil er nicht mehr kann, aa) was sich zur Tatzeit bereits als wahrscheinlich darstellt. bb) was zur Tatzeit äußerst unwahrscheinlich war. 2. Behandlung im Schrifttum Im steuerstrafrechtlichen Schrifttum wird in Fällen der Hinterziehung auf Zeit dem verringerten Unrechtsgehalt auf Ebene der Strafzumessung Rechnung getragen. Für die Konstellationen einer „echten Hinterziehung auf Zeit“ (Fallbeispiel 1) wird die strafzumessungsrechtliche Lösung darin gesehen, bei der komparativen Einordnung des Falles in den Strafrahmen lediglich den Betrag des Hinterziehungszinses zu Grunde zu legen.29 Geht die Hinterziehung „auf Zeit“ in eine solche „auf Dauer“ über (Fallbeispiel 2), soll hingegen wiederum der nominelle Verkürzungsbetrag verwendet werden.30 Ob diese Handhabung der Fälle der Hinterziehung „auf Zeit“ zu überzeugen vermag, lässt sich erst bei genauerer Betrachtung der jeweiligen unrechtsmindernden Umstände für die jeweiligen Konstellationen beantworten.
29 Rolletschke, NZWiSt 2012, 18 (21); Kohlmann/Schauf, § 370 Rn. 1029.11; MünchKomm/Schmitz/Wulf, § 370 AO, Rn. 510; Wulf, Stbg. 2011, 445 (448). 30 Vgl. Kohlmann/Schauf, § 370 Rn. 1029.11.
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3. Teil: Die strafzumessungsrelevanten Umstände
3. Behandlung in der Rechtsprechung des BGH Der BGH stellte eben diese genaue Betrachtung der jeweiligen unrechtsmindernden Umstände in seiner Leitentscheidung vom 17.03.200931 an. Er rückte daraufhin von seiner bisherigen Rechtsprechung zur Hinterziehung „auf Zeit“ ab. a) Die bisherige Rechtsprechung des BGH Von einer Hinterziehung „auf Zeit“ geht der BGH überhaupt nur bei bestimmten Steuerarten aus, nämlich der Umsatzsteuer sowie in gewissen Konstellationen auch der Lohnsteuer.32 Ob im Einzelfall eine Hinterziehung „auf Zeit“ vorliegt, wurde zunächst anhand objektiver Kriterien unabhängig vom Willen des Täters zur Nachentrichtung bestimmt. So galt etwa die verspätete, unrichtige oder gänzlich unterlassene Abgabe einer Umsatzsteuervoranmeldung stets als Steuerhinterziehung „auf Zeit“, auch wenn die Absicht der dauerhaften Hinterziehung bestand.33 Eine solche war allerdings als „vom Vorsatz umfasstes Handlungsziel bei der Strafzumessung erschwerend zu berücksichtigen“.34 Die Abgabe einer unrichtigen Umsatzsteuerjahreserklärung hingegen stellte stets eine Hinterziehung „auf Dauer“ dar.35 Ziel der Rechtsprechung zur Hinterziehung „auf Zeit“ war es, dem verringerten Tatunrecht in der Strafzumessung Rechnung zu tragen.36 Das verringerte Tatunrecht wurde dabei allerdings zum Teil missverständlich damit begründet, dass die „Steuerverkürzung“37 bzw. der „tatbestandsmäßige Umfang“38 lediglich in Höhe der Hinterziehungszinsen anzusetzen sei: „Die Abgabe falscher monatlicher oder vierteljährlicher Umsatzsteuervoranmeldungen führt zu einer Steuerverkürzung auf Zeit, wobei sich der tatbestandsmäßige Umfang aus den Hinterziehungszinsen errechnet.“39 31 BGHSt
53, 221. Umsatzsteuer, vgl. BGH JurionRS 1978, 12592; BGHSt 38, 165 (171); BGH wistra 1996. 105; BGH wistra 1997 262; BGHSt 43, 270 (276); BGH NStZ-RR 1998, 148. Zur Lohnsteuerhinterziehung „auf Zeit“ BGHSt 38, 285 (289); für eine Anwendung auch bei Einkommensteuervorauszahlungen, Körperschaftssteuervorauszahlungen und Kapitalertragssteuern Simon/Vogelberg, Steuerstrafrecht, S. 95. 33 BGH wistra 1997, 186 (187). 34 BGHSt 43, 270 (276). 35 Vgl. zuletzt BGH wistra 2005, 145. 36 So bereits BGH JurionRS 1978, 12592 Rn. 13. 37 Ebda. 38 BGHSt 43, 270 (276); BGH NStZ-RR 1998, 185; BGH NStZ-RR 1998, 148. 39 BGHSt 43, 270 (276); BGH NStZ-RR 1998, 148; vgl. auch bereits BGH wistra 1996, 105; BGH wistra 1997, 262. 32 Zur
1. Kap.: Der Hinterziehungsbetrag205
Der tatbestandsmäßige Verkürzungserfolg kann jedoch nur dann lediglich in Höhe des Hinterziehungszinses bestehen, wenn als von der Verkürzung betroffenes Rechtsgutsobjekt nicht an die Steuer, sondern an den Zins angeknüpft wird.40 Für das Entstehen von Hinterziehungszinsen (§ 235 AO) ist jedoch die vorherige Hinterziehung einer Steuer notwendige Voraussetzung. In solchen Fällen ist strafrechtlich an die Hinterziehung der Steuer anzuknüpfen. Die Nichtentrichtung des Hinterziehungszinses wird vom Unrecht dieser Tat erfasst.41 Auch der BGH dürfte in den zitierten Entscheidungen wohl so zu verstehen sein, dass an die Verkürzung der Umsatzsteuer angeknüpft wird, wobei mit dem „tatbestandsmäßigen Umfang“ dann freilich nicht der Verkürzungsumfang gemeint sein kann. In anderen Entscheidungen des BGH wird daher ganz richtig auch nicht auf den tatbestandsmäßigen Verkürzungserfolg, sondern den damit verursachten Steuerschaden abgestellt.42 Da die Hinterziehung „auf Zeit“ fest an die Steuerart gekoppelt wurde, war damit im Ergebnis eine Begrenzung der vermögensrechtlichen Bedeutung des Steueranspruchs verbunden. Wenn die unterlassene oder falsche Abgabe von Umsatzsteuervoranmeldungen unabhängig vom Täterwillen in jedem Fall nur zu einem Steuerschaden in Höhe des Zinses führen kann, liegt dem ein bestimmtes Verständnis des vermögensrechtlichen Steuerzwecks der Umsatzsteuervorauszahlungen zu Grunde. Diese dienen dann lediglich der vorzeitigen Verschaffung des Nutzwerts des Steueranspruchs (i. e. der Zins) und noch nicht der Verschaffung des Vermögenswerts des Steueranspruchs an sich. Mit anderen Worten: Die Umsatzsteuer steht dem Fiskus ihrem Gehalt nach noch nicht bei Fälligkeit der Vorauszahlungspflicht gem. § 18 Abs. 1 S. 3 UStG, sondern erst mit Fälligkeit der Jahressteuer gem. § 18 Abs. 3 UStG zu. Diese vermögensrechtliche Bewertung des Tatbestands der Umsatzsteuervorauszahlungspflicht hat der BGH nunmehr aufgeben. b) Rechtsprechung vom 17.03.2009 „Bei der Hinterziehung von Umsatzsteuern bemisst sich der Umfang der verkürzten Steuern oder erlangten Steuervorteile auch dann nach deren Nominalbetrag, wenn die Tathandlung in der pflichtwidrigen Nichtabgabe oder der Abgabe einer unrichtigen Umsatzsteuervoranmeldung im Sinne von § 18 Abs. 1 UStG liegt. Der Umstand, dass in solchen Fällen im Hinblick auf die Verpflichtung zur Abgabe einer Umsatzsteuerjahreserklärung (§ 18 Abs. 3 UStG) zunächst nur eine Steuerhinterzie40 Zur
Tatbestandsmäßigkeit dieser Anknüpfung s. Fn. 22. 3. Teil, 1. Kapitel, A., IV. 42 BGH NStZ 1997, 451: „Steuerverkürzung auf Zeit, bei der sich der Schadensumfang aus den Hinterziehungszinsen errechnet“; BGHSt 38, 165 (171): „der Schaden ist (…) anderer Art“. 41 S. o.
206
3. Teil: Die strafzumessungsrelevanten Umstände
hung ‚auf Zeit‘ gegeben ist, führt nicht dazu, dass der tatbestandsmäßige Erfolg lediglich in der Höhe der Hinterziehungszinsen zu erblicken wäre. […] Dieser Umstand ist zwar für die Strafzumessung von Bedeutung, lässt aber den Umfang des tatbestandsmäßigen Erfolgs unberührt. In beiden Fällen ist das Erfolgsunrecht identisch (vgl. Franzen / Gast / Joecks, Steuerstrafrecht 6. Aufl. § 370 AO Rdn. 77). […] Im Hinblick auf den Charakter der Steuerhinterziehung als Gefährdungsdelikt unterscheiden sich daher bei der Umsatzsteuerhinterziehung die Verkürzung ‚auf Dauer‘ und diejenige ‚auf Zeit‘ nicht im Erfolgs-, sondern – im Hinblick auf das Vorstellungsbild des Täters – nur im Handlungsunrecht (vgl. Franzen / Gast / Joecks aaO).“43
Im Ergebnis läuft dies auf eine inhaltliche Aufwertung des Umsatzsteueranspruchs hinaus. Mit seiner neuen Rechtsprechung macht der BGH klar: Der Vermögenswert der Umsatzsteuer steht dem Fiskus bereits zum Zeitpunkt der Fälligkeit der Umsatzsteuervorauszahlungspflicht vollständig zu und soll den Fiskus nicht lediglich in die Lage versetzen, dessen Früchte bis zur Fälligkeit der Jahressteuer zu ziehen. Indem der Unterschied von Hinterziehung „auf Zeit“ und „auf Dauer“ nur noch auf das Vorstellungsbild des Täters reduziert wird, gibt der BGH seine Abgrenzung nach der Art der Steuer auf und schließt sich der Ansicht der Literatur an. Für die Strafzumessung in Fällen der Steuerhinterziehung „auf Zeit“ konkretisiert der BGH: „(a) Berichtigt der Täter – seinem Tatplan entsprechend – in der Umsatzsteuerjahreserklärung seine unrichtigen Angaben und zahlt er die zunächst hinterzogenen Steuern nach (Fallkonstellation 1, Anmerkung des Verfassers), stellt sich die Frage, wie die Steuerhinterziehung ‚auf Zeit‘ zu ahnden ist, regelmäßig nicht, da in solchen Fällen zumeist die Voraussetzungen einer strafbefreienden Selbstanzeige gemäß § 371 AO vorliegen […]. Tritt ausnahmsweise keine Straffreiheit ein, ist – freilich erst – im Rahmen der Strafzumessung zugunsten des Täters zu berücksichtigen, dass sein Vorsatz nur auf eine Verkürzung ‚auf Zeit‘ gerichtet war und er den Steuerschaden wiedergutgemacht hat. (b) Berichtigt der Täter seine in den Voranmeldungen gemachten unrichtigen Angaben entgegen seinem ursprünglichen Vorhaben in der Umsatzsteuerjahreserklärung nicht (Fallkonstellation 2a, Anmerkung des Verfassers), geht die als Verkürzung ‚auf Zeit‘ geplante Hinterziehung in eine solche ‚auf Dauer‘ über. Das bereits in den unrichtigen Voranmeldungen liegende Erfolgsunrecht der Gefährdung des Steueranspruchs wird dadurch nicht berührt. Es findet lediglich keine Schadenswiedergutmachung statt. Mit der Abgabe einer unrichtigen Umsatzsteuerjahreserklärung begeht der Täter dann eine weitere Tat mit neuem Handlungsunrecht und weiterem Erfolgsunrecht, das in einer neuen und eigenständigen Gefährdung des Steueraufkommens besteht.
43 BGHSt 53, 221 f. (230); auch bei der Lohnsteuer hat der BGH inzwischen seine bisherige Rechtsprechung aufgegeben, s. BGHSt 56, 153 (158).
1. Kap.: Der Hinterziehungsbetrag
207
(c) Scheitert die vom Täter zunächst beabsichtigte Schadenswiedergutmachung daran, dass es ihm nach einer wahrheitsgemäßen Umsatzsteuerjahreserklärung aus finanziellen Gründen nicht mehr möglich ist (Fallkonstellation 2b)aa), Anmerkung des Verfassers), den Unterschiedsbetrag im Sinne von § 18 Abs. 4 Satz 1 UStG nachzuentrichten, kommt es ebenfalls zu einer dauerhaften Verkürzung der Steuer. Im Rahmen der Strafzumessung kann dem Täter dann zwar zugute gehalten werden, dass er bei der Tatbegehung eine spätere Schadenswiedergutmachung vorhatte. Waren allerdings bereits bestehende finanzielle Schwierigkeiten Motiv für die Abgabe falscher Umsatzsteuervoranmeldungen (Fallkonstellation 2b)bb), Anmerkung des Verfassers), relativiert dies die strafmildernde Bedeutung der Wiedergutmachungsabsicht. Denn in solchen Fällen ist die spätere Unmöglichkeit der Entrichtung der vom Unternehmer wie von einem Treuhänder für den Staat verwalteten Umsatzsteuerbeträge regelmäßig vorhersehbar. Die ‚Absicht‘ der Wiedergutmachung erweist sich dann als bloße – oft sogar unrealistische – ‚Hoffnung‘. Eine andere Situation besteht, wenn – was eher selten vorkommen dürfte – die Unmöglichkeit der Schadenswiedergutmachung für den Unternehmer aus einem plötzlichen und unvorhersehbaren Ereignis resultiert. Waren aber von Anfang an ausreichend Zahlungsmittel für die Entrichtung der Steuern vorhanden, ist sorgfältig zu prüfen, ob der Steuerpflichtige bei Abgabe unrichtiger Steuervoranmeldungen tatsächlich nur eine Steuerverkürzung auf Zeit geplant hatte, da in einem solchen Fall die Schaffung von Liquidität als Tatmotiv regelmäßig ausscheidet.“44.
4. Würdigung Die Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung zur Hinterziehung „auf Zeit“ ist zu begrüßen. Dass die Umsatzsteuervoranmeldungen lediglich den Nutzwert des Steueranspruchs bis zur Fälligkeit der Jahressteuer sichern sollen, war nicht recht überzeugend. Zwar ist die Umsatzsteuer als Jahressteuer konzipiert, § 16 Abs. 1 S. 2 UStG. Doch steht dem nicht grundsätzlich entgegen, dass die Steuer für bestimmte Zeitabschnitte bereits teilweise erhoben wird. Genau dies ist die Zweckrichtung der Umsatzsteuervorauszahlungen, die – wie alle Steuervorauszahlungen – als Abschlagszahlungen auf die zu veranlagende Steuer dem Fiskus ein stetiges Steueraufkommen sichern sollen.45 Dies wird nur dann erreicht, wenn dem Fiskus auch der Vermögenswert der Steuerforderung an sich zusteht. Zu begrüßen ist auch, dass der BGH seine Unterscheidung von Hinterziehung „auf Zeit“ und Hinterziehung „auf Dauer“ damit nicht gänzlich abschafft, sondern sich vielmehr der Abgrenzung des Schrifttums anschließt. Ist das einzige Charakteristikum einer Hinterziehung „auf Zeit“ aber nunmehr die Absicht, zur Tatzeit die hinterzogene Steuer nachträglich zu entrichten, 44 BGHSt
53, 221 (231 f.). BFH VII R 42/10 v. 22.3.11; BStBl. II 2011, S. 607 für die Einkommensteuervorauszahlungen. 45 Vgl.
208
3. Teil: Die strafzumessungsrelevanten Umstände
lassen sich die Ausführungen des BGH zur strafzumessungsrechtlichen Behandlung der Hinterziehung „auf Zeit“ unproblematisch auch auf alle anderen Steuerarten übertragen. In seiner Auseinandersetzung mit der strafzumessungsrechtlichen Bewertung der Hinterziehung „auf Zeit“ nimmt der BGH erfreulicherweise immer wieder Bezug auf die Kategorien des Handlungs- und Erfolgsunrechts. Beachtenswert ist hier zunächst die Feststellung, dass den Fällen der Hinterziehung „auf Zeit“ gegenüber einer Hinterziehung „auf Dauer“ kein Unterschied im Erfolgsunrecht zukommt. Denkbar wäre, dass eine zur Tatzeit bestehende Schadenswiedergutmachungsabsicht als objektive Schadenswiedergutmachungsaussicht die Gefährdungsintensität der Rechtsgutsbeeinträchtigung verringert und unter diesem Aspekt eine Minderung des Erfolgsunrechts darstellt. In diese Richtung auch der BGH: „Unterschiedlich ist insoweit lediglich – in Abhängigkeit von den Planungen des Täters – die Intensität der Gefährdung.“46
Allerdings setzt dies voraus, dass die Schadenswiedergutmachungsabsicht bei der vermögensrechtlichen Schadensermittlung überhaupt zu berücksichtigen ist. Die Untersuchung von Suhr hat gezeigt, dass bei Übertragung der aus dem Kernstrafrecht zum Vermögensschaden geltenden Grundsätze die bloße Wiedergutmachungsabsicht an sich keine saldierungsfähige Position ist und selbst bei Berücksichtigung keine nennenswerten bilanziellen Auswirkungen hätte.47 Hierzu verweist er auf einen Vergleich zu den Fällen des Besitzbetrugs, der Stundungserschleichung sowie den Fällen des Bereithaltens flüssiger Mittel bei § 266 StGB, in denen jeweils der Erfolg bereits objektiv lediglich auf den Nutzungsausfall angelegt ist bzw. den Opfern die Existenz ihres Anspruchs grundsätzlich bewusst ist. Demnach kommt Suhr zu dem Ergebnis, dass ein Unterschied zwischen Hinterziehung „auf Zeit“ und Hinterziehung „auf Dauer“ im Erfolgsunrecht nicht besteht.48 Joecks und auf diesen verweisend dann auch der BGH haben sich dieser Ansicht angeschlossen.49 Hierzu ist zu bemerken, dass es sich bei dem Ausschluss bestimmter wirtschaftlicher Aspekte als saldierungsfähige Positionen bei der Schadensermittlung stets um eine normative Entscheidung im Hinblick auf das geschützte Rechtsgut bzw. die Strafwürdigkeit eines bestimmten Verhaltens handelt, deren Richtigkeit einen größeren Diskussionsrahmen erfordert.50 Zweifellos ist die Ansicht des BGH aber kohärent zu den Bewertungs46 BGHSt
53, 221 (230). Rechtsgut der Steuerhinterziehung, S. 114 ff.; ebenso Schmitz, Unrecht und Zeit, S. 103 ff. 48 Suhr, Rechtsgut der Steuerhinterziehung, S. 122 ff. 49 BGHSt 53, 221 (230); Joecks/Jäger/Randt/Joecks, § 370 AO, Rn. 111. 50 S. o. 1. Teil, 2. Kapitel, A., I., 2., c), bb). 47 Suhr,
1. Kap.: Der Hinterziehungsbetrag209
grundsätzen im Übrigen. Denn wenn bereits objektiv der Schadenswiedergutmachung dienende Positionen wie eine Nachprüfung bei der Schadensermittlung außer Betracht zu bleiben haben, erscheint die Nichtberücksichtigung von Schadenswiedergutmachungsabsichten nur konsequent. Zuzustimmen ist dem BGH zweifellos auch in der Feststellung, dass in der Absicht der Schadenswiedergutmachung eine Minderung des Handlungsunrechts gegenüber Fällen der Hinterziehung „auf Dauer“ vorliegt. Der Wille des Täters ist in Höhe des Verkürzungsbetrages zwar auf eine vorübergehende, jedoch nicht auf eine endgültige Rechtsgutsverletzung bezogen. Hinsichtlich des Verspätungsschadens ist der Wille auf eine vorübergehende, allerdings ebenfalls in voller Höhe und Intensität bestehende Gefährdung gerichtet, wobei in den Fällen des Fallbeispiels 1a) der Wille in Höhe eines bestimmten Teilbetrages des gefährdeten Verspätungsschadens auf dessen Realisierung und somit eine endgültige Rechtsgutsverletzung gerichtet ist. Nicht recht zu überzeugen vermag hingegen das Festhalten des BGH an dem konkurrenzrechtlichen Verhältnis der Tatmehrheit zwischen Umsatzsteuervoranmeldung und Umsatzsteuerjahreserklärung. Da in beiden Fällen dasselbe Rechtsgutsobjekt (Umsatzsteueranspruch) betroffen ist, liegt die Einordnung der falschen Umsatzsteuerjahreserklärung als mitbestrafte Nachtat nahe. Die vom BGH postulierte Lösung einer Verfahrensbegrenzung auf eine der beiden Taten gem. § 154a Abs. 2 StPO wäre jedenfalls dahingehend zu konkretisieren, dass zwingend die Steuerverkürzung im Rahmen der Umsatzsteuerjahreserklärung auszuscheiden hat. Denn diese erfasst noch nicht das bis dahin vertiefte Unrecht des Verspätungsschadens. Des Weiteren enthält der BGH keine Hinweise bezüglich der Lösung der Verknüpfungsproblematik. Vor der Rechtsprechungsänderung wurde selbstverständlich im Einklang mit dem auf den Zinsschaden beschränkten Erfolgsunrecht auch in der Strafzumessung lediglich der Verspätungsschaden zur Findung der Einstiegsstelle in den Strafrahmen verwendet. Ob dies nach der inhaltlichen Aufwertung der Umsatzsteuervorauszahlungspflicht noch gelten kann, muss bezweifelt werden. Die Literatur wirbt jedoch – wie gezeigt51 – für eine Beibehaltung der bisherigen Orientierung am Verspätungsschaden in Fällen der „echten Hinterziehung auf Zeit“. Stellt man auf das Erfolgsunrecht der Tat ab, ist dieses Ergebnis jedenfalls nicht zu erreichen. Selbst wenn die Hinterziehungsabsicht bei der Schadensermittlung zu berücksichtigen wäre, hätte dies keine erheblichen bilanziellen Auswirkungen. Die Auffassung der Literatur, den Verspätungsschaden zu Grunde zu legen, lässt sich – soweit man auf das Erfolgsunrecht abstellt – demnach nur dadurch begründen, dass man die Schadenswiedergutmachung 51 Siehe
Fn. 33.
210
3. Teil: Die strafzumessungsrelevanten Umstände
bei der Betrachtung des Erfolgsunrechts miteinbezieht. Hiergegen sprechen jedoch einige Gründe: Zunächst einmal ist die Schadenswiedergutmachung ein Aspekt des Nachtatverhaltens und als solcher jedenfalls nicht konsensfähig dem Unrecht der Tat und damit der Schuldwertung zuzurechnen. Zur Gewährleistung der straflimitierenden Funktion der Schuldwertung ist es aber ratsam, diese streng von außerhalb der Schuldwertung stehenden Strafzumessungsumständen zu trennen, auch wenn solche Umstände im Einzelfall einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Strafhöhenentscheidung haben können.52 Selbst wenn man die Schadenswiedergutmachung ohne weiteres der Schuldwertung zuschreibt, würde das beschriebene Vorgehen doch zu einer Inkonsequenz in der Berücksichtigung der relevanten Einflussfaktoren auf das zur Findung der Einstiegsstelle verwendete Erfolgsunrecht führen. In den Fällen der Hinterziehung „auf Dauer“ soll eine gegebenenfalls erfolgte Schadenswiedergutmachung bei der Findung der Einstiegsstelle nicht berücksichtigt werden. Dem könnte entgegnet werden, dass gerade das kumulative Auftreten verschiedener Strafzumessungsumstände (hier: Schadenswiedergutmachungsabsicht und Schadenswiedergutmachung) Einfluss auf deren Gewicht im Einzelfall haben kann und aufgrund dieser Interferenzwirkung eine getrennte Bewertung nicht möglich sei. Sie könnte zu einer pauschalen Gewichtung und zu einer schematischen Strafzumessung führen. Doch auch das beschriebene Vorgehen der Literatur wäre nicht frei von Schematismus; der Schematismus würde vielmehr auf die Umwertung einer bestimmten Maßzahl verlagert. Denn mit der Loslösung des maßgeblichen Umwertungsbetrags von festen Bewertungsaspekten verkommt die zur Findung der Einstiegsstelle maßgebliche Kennziffer von einem konkreten, einem komparativen Vergleich zugänglichen Merkmal zu einer abstrakten Umwertungs-Maßzahl, wie dies aus manchen Modellen53 mathematisierter Strafzumessung bekannt ist. Damit lässt sich die Auffassung der Literatur unter Zugrundelegung des Erfolgsunrechts nicht plausibel, also ohne Friktionen in der Verknüpfungspraxis, vertreten. Es fragt sich, ob die Ansicht der Literatur, die den Verspätungsschaden zu Grunde legt, bei einer beschränkten Betrachtung des Handlungsunrechts zur Findung der Einstiegsstelle in den Strafrahmen vertretbar ist. 52 Siehe
hierzu auch 3. Teil, 4. Kapitel. etwa Dubs, in: Juristische Fakultät der Universität Basel, Festgabe zum schweizerischen Juristentag 1963, S. 9 ff.; Haag, Rationale Strafzumessung, S. 59 ff., 100 ff., 107 ff.; Hauser, Die Verknüpfungsproblematik in der Strafzumessung, 1985, S. 158 ff., 165 ff.; v. Linstow, Berechenbares Strafmass, S. 11 ff., 61 ff.; frappant Kohlschütter, Die mathematische Modellierung der Strafzumessung, S. 18 ff., 81 ff., 113 ff.; ders., Das Maß des Straftatunwerts und der Maßstab der Strafbemessung, passim. 53 Vgl.
1. Kap.: Der Hinterziehungsbetrag211
Dies wäre allenfalls dann denkbar, wenn man den Willen, der auf die Herbeiführung einer vorübergehenden Rechtsgutsverletzung oder (schadensgleichen) Gefährdung gerichtet ist, zur Findung der Einstiegsstelle als unbeachtlich erachtet und stattdessen als maßgeblichen „Umwertungsbetrag“ ausschließlich denjenigen Betrag ansieht, in dessen Höhe die Absicht einer endgültigen Rechtsgutsverletzung besteht. Auch dann ist die Ansicht jedoch nicht schlüssig. Denn in nicht wenigen Fällen der Hinterziehung „auf Zeit“ (Fallbeispiel 1b) besteht auch hinsichtlich des Teilbetrages des Verspätungsschadens keine endgültige Hinterziehungsabsicht. Warum für diesen Teilbetrag die Schadenswiedergutmachungsabsicht unbeachtlich sein sollte, wäre nicht ersichtlich. Die Literatur müsste hier streng genommen von einem Hinterziehungsbetrag in Höhe von Null ausgehen. Vor allem aber gelänge man auf Grundlage dieser Ansicht nicht in den Fällen der Hinterziehung „auf Zeit“, die in eine solche „auf Dauer“ übergehen, zu einem Umwertungsbetrag in voller Höhe des Verkürzungsbetrages. Die Fälle einer Willensänderung des Täters (Fallbeispiel 2a) wären wiederum zumindest problematisch vor dem Hintergrund, dass der Wille zur endgültigen Hinterziehung in voller Höhe des Verkürzungsbetrages noch nicht zur Tatzeit, sondern erst im Nachtatverhalten gebildet wurde. In den Regelfällen einer Hinterziehung „auf Zeit“ durch Umgehung der Vorauszahlungspflicht könnte das Unrecht des Nachtatverhaltens indes ohne Weiteres berücksichtigt werden, da es erneut strafbarkeitsbegründendes Unrecht darstellt. Dies setzt freilich voraus, dass man die Jahressteuerhinterziehung im Verhältnis zur Vorsteuerhinterziehung als mitbestrafte Nachtat einordnet. Jedenfalls aber in den Konstellationen des Fallbeispiels 2b) wäre es nicht möglich von einem Umwertungsbetrag in voller Höhe des Verkürzungsbetrages auszugehen, da hier niemals der Wille auf endgültige Hinterziehung einer solchen Summe gebildet wurde. Zudem ist die Ansicht der Literatur unter Bezugnahme auf das Handlungsunrecht der Tat auch deswegen nicht schlüssig, weil sie in den Konstellationen des Fallbeispiels 1 den Willen auf endgültige Hinterziehung des Hinterziehungszinses berücksichtigen würde, in den Konstellationen des Fallbeispiels 2 sowie allen Fällen der Hinterziehung „auf Dauer“ bei der Bestimmung des maßgeblichen Umwertungsbetrages allerdings nicht. Der im Schrifttum verbreiteten Forderung nach Heranziehung des Verspätungsschadens zur Einordnung der Tat in den gesetzlichen Strafrahmen ist daher entgegenzutreten. Ein solches Vorgehen ist bei konsequenter Handhabung einer schrittweisen, komparativen Strafzumessung nicht plausibel zu begründen. Auch das Argument, es habe sich insoweit eine feste Strafzumessungstradition gebildet, die es – wenn schon nicht vom Vorgehen dann doch jedenfalls vom Ergebnis der Umwertung her – erforderlich mache, die bisherigen Maßstäbe anzuwenden, kann nicht gelten. Denn die bisherige Strafzumessungstradition beruht auf einer Rechtsprechung zu den Fällen einer Hin-
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3. Teil: Die strafzumessungsrelevanten Umstände
terziehung „auf Zeit“, die der tatbestandlichen Zuwiderhandlung einen geringeren Unrechtsgehalt beigemessen hat. Soweit die herrschende Meinung an der bisherigen Strafzumessungstradition festhält, wird damit verkannt, dass die Hinterziehung „auf Zeit“ in ihrem Unrechtsgehalt aufgewertet wurde.
VI. Zwischenergebnis Zur Findung der Einstiegsstelle kann entweder die handlungsrechtliche Dimension oder die erfolgsunrechtliche Dimension des Merkmals Hinterziehungsbetrag zu Grunde gelegt werden. Der Rechtsanwender muss sich darüber im Klaren sein, welchen Ansatz er verfolgt. Zu vermeiden ist vor allem ein Hin- und Herspringen zwischen den einbezogenen Aspekten bei Findung der Einstiegsstelle. Denn ein komparatives Vorgehen bei Findung der Einstiegsstelle setzt insoweit die Einheitlichkeit der Bezugspunkte voraus. Die handlungsunrechtliche Dimension scheint den Vorteil einheitlicher Betragsgrenzen zu ermöglichen. Allerdings wird dabei bei genauerer Betrachtung bereits ein Regeltatbild zu Grunde gelegt. Jedenfalls lässt sie die Differenzierung im Erfolgsunrecht nach Art der Rechtsgutsbeeinträchtigung nicht entbehrlich werden. Sie müsste im Rahmen eines Abschlags in – dann vom Regeltatbild einer eingetretenen Rechtsgutsverletzung abweichenden – Fällen einer konkreten oder abstrakten Gefährdung nachgeholt werden. Ob dies jedoch dem Stellenwert des Erfolgsunrechts der Tat gerecht zu werden geeignet ist, muss bezweifelt werden. Darüber hinaus bestehen Bedenken, ob ein solches Vorgehen die qualitativen Unterschiede des Unrechtserfolges je nach Art der Rechtsgutsbeeinträchtigung hinreichend zu würdigen vermag. Es spricht daher viel dafür, dem Unterschied im Erfolgsunrecht je nach Qualität der Rechtsgutsbeeinträchtigung bereits bei Findung der Einstiegsstelle in den Strafrahmen Bedeutung zukommen zu lassen. Es ist somit nicht auf den Verkürzungsbetrag, sondern auf den Schadensbetrag (Hinterziehungsschaden) bzw. gefährdeten Betrag abzustellen. Im absoluten Regelfall wird der Rechtsanwender dabei auch nicht gezwungen sein, einen vom Verkürzungsbetrag abweichenden Betrag der schadensgleichen Vermögensgefährdung zu beziffern, da sich die Gefahr realisiert und dieses zusätzliche Unrecht bei der Schuldwertung gleichermaßen zu berücksichtigen ist. Um eine möglichst breite Wertungsbasis bei der Findung der Einstiegsstelle zu Grunde zu legen, erscheint es darüber hinaus sinnvoll auch die Aspekte des Handlungsunrechts – soweit sie mit der erfolgsunrechtlichen Komponente notwendigerweise parallel laufen – miteinzubeziehen. Bei jeder Tat ist zwingend zumindest der Wille zur Herbeiführung einer vorübergehenden Rechtsgutsbeeinträchtigung enthalten. Darüber hinaus ist vom Regeltatbild auszugehen, dass auch eine endgültige Rechtsgutsverlet-
1. Kap.: Der Hinterziehungsbetrag
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zung gewollt ist. In den Fällen einer Hinterziehung „auf Zeit“ ist der abweichende Wille damit strafmildernd zu bewerten. Dies gilt auch bei Änderung dieses Willens nach Tatbeendigung. In den Fällen der Hinterziehung „auf Zeit“ durch Umgehung einer Vorauszahlungspflicht muss der abgeänderte Wille bei der Abgabe der Jahreserklärung jedoch erneut betätigt werden. Ordnet man dieses Verhalten zutreffend als mitbestrafte Nachtat ein, kann das darin liegende hinzukommende Handlungsunrecht unproblematisch bei der Einzelstrafzumessung schärfend berücksichtigt werden. In keinem Fall darf bei der Hinterziehung „auf Zeit“ aber lediglich das Unrecht des Verspätungsschadens für die Einordnung in den Strafrahmen herangezogen werden. Was das Unrecht des Verspätungsschadens anbelangt, ist dieses bei der Findung der Einstiegsstelle zu berücksichtigen. Da eine exakte Berechnung des Verspätungsschadens allerdings in den wenigsten Fällen möglich sein wird, kann dies nicht durch eine Umwertung des um den Verspätungsschaden erhöhten Hinterziehungsbetrag, also dem tatsächlichen Gesamtvermögensschaden, erfolgen. Zu leisten ist lediglich die Bestimmung einer Einstiegsstelle für den tatsächlich bekannten Hinterziehungsbetrag sowie für den maximal denkbaren Gesamtvermögensschaden. Die Findung der konkreten Einstiegstelle zwischen diesen beiden Fixpunkten erfolgt dann durch Berücksichtigung der Umstände des Verspätungsschadens im Einzelfall.
VII. Kompensationsverbot Bei der Errechnung des tatbestandsmäßigen Verkürzungsbetrages gilt die Besonderheit des sog. Vorteilsausgleichs- oder Kompensationsgebots, § 370 Abs. 4 S. 3 AO. Danach soll eine Verkürzung auch dann vorliegen, „wenn die Steuer, auf die sich die Tat bezieht, aus anderen Gründen hätte ermäßigt oder der Steuervorteil aus anderen Gründen hätte beansprucht werden können“. Sinn und Zweck dieser Regelung wird uneinheitlich beurteilt. Ansätze, den Grund der Regelung in der Festschreibung der früher umstrittenen Strafbarkeit des untauglichen Versuchs54 zu verorten oder in der Entlastung des Strafrichters, der sonst „bei verwickelten Veranlagungen allen Einwendungen des Schuldigen nachgehen und die ganze Veranlagung nachprüfen müsste“,55 können nicht überzeugen. Die Strafbarkeit des untauglichen Versuchs ist mit 54 So insbes. Meine, Das Vorteilsausgleichsverbot, S. 54 ff.; Wassmann ZfZ 1987, 162 (168 f.). 55 So bereits E. Becker (Verfasser der RAO 1919), Die Reichsabgabenordnung, § 359 Anm. 7 (S. 692 f.). Ebenso der Gesetzgeber der AO 1977, s. BT-Drucks. VI/1982 S. 195; vgl. auch Bilsdorfer, DStZ 1983, 447 (448); Bublitz, DStR 1985, 653 (655); Klein/Jäger § 370 Rn. 131; Meine, Das Vorteilsausgleichsverbot, S. 67.
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3. Teil: Die strafzumessungsrelevanten Umstände
Einführung der §§ 22, 23 StGB festgeschrieben. Mit der Aufhebung des Kompensationsverbots für die Strafzumessung sowie den damit einhergehenden Anforderungen an die Darlegung im Urteil trägt auch die Annahme einer Verfahrenserleichterung nicht mehr.56 Sinn und Zweck der Regelung kann heute daher nur noch auf den Schutz des staatlichen Vermögens vor abstrakten Schädigungsgefahren57 oder der Schließung bestimmter Strafbarkeitslücken zurückgeführt werden.58 Relevant wird die Diskussion um Sinn und Zweck des Kompensationsverbots für die Frage des Anwendungsbereichs, insbesondere welche „anderen Gründe“ bei der Berechnung des tatbestandsmäßigen Hinterziehungsbetrages außer Acht zu lassen sind. Praktischer Hauptanwendungs- und zugleich Streitfall sind Vorsteuern im Rahmen von Umsatzsteuerhinterziehungen.59 Entgegen einigen Stimmern aus der Lehre60 sind diese nach ständiger Rechtsprechung61 vom Anwendungsbereich des Kompensationsverbotes erfasst. Im Rahmen dieser Untersuchung können Fragen des Anwendungsbereichs des Kompensationsverbotes dahinstehen. Denn in der Strafzumessung gilt das Kompensationsverbot nach einhelliger Auffassung nicht.62 Die Nichtanwendung des Kompensationsverbots in der Strafzumessung sollte rechtsfolgendogmatisch allerdings richtig eingeordnet werden. Schäfer / Sander / van Gemmeren verorten diese Fälle fälschlicherweise bei den außertatbestandsmäßigen Folgen der Tat.63 Tatsächlich ändert sich aber an der schadensrechtlichen Bewertung in der Strafzumessung gegenüber einer hypothetischen64 tatbestandsmäßigen Schadensermittlung nichts. Die abs56 Hübschmann/Hepp/Spitaler/Hellmann § 370 AO, Rn. 185; Menke, wistra 2005, 125 (127); MünchKomm/Schmitz/Wulf, § 370 StGB, Rn. 145. 57 So MünchKomm/Schmitz/Wulf, § 370 AO, Rn. 145. 58 So Joecks/Jäger/Randt/Joecks, § 370 AO, Rn. 104 f. 59 Zu weiteren Fällen s. Franzen/Gast/Joecks/Joecks, § 370 AO, Rn. 96 ff.; MünchKomm/Schmitz/Wulf, § 370 AO, Rn. 151 ff. 60 Joecks/Jäger/Randt/Joecks, § 370 AO, Rn. 100; Meine, wistra 1980, 129 (133 f.); Rolletschke/Kemper/Rolletschke, § 370 AO, Rn. 312; MünchKomm/Schmitz/ Wulf, § 370 AO, Rn. 160. 61 BGHSt 47, 343 (351); BGH NStZ 2004, 579, 580; BGH 2008, 153. 62 BGH, wistra 2008, 153; BGH, wistra 2004, 147 (149); BGHSt 47, 343 (350 f.); BGH, wistra 1990, 59; BGH, wistra 1988, 109; Kohlmann/Schauf § 370, Rn. 1033 ff.; MünchKomm/Schmitz/Wulf, § 370 AO, Rn. 170. 63 Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 1848. 64 Nach herrschender Meinung ist die Steuerhinterziehung kein Verletzungsdelikt, s.o 1. Teil, 2. Kapitel, A., I., 2. Die Ermittlung des Verkürzungsbetrages darf daher nicht mit der Schadensermittlung gleichgesetzt werden. Es wäre daher falsch, von einem tatbestandsmäßigen Schaden in Höhe des Verkürzungsbetrages auszugehen, der erst durch die Nichtanwendung des Kompensationsverbotes auf Strafzumessungsebene als außertatbestandsmäßige Folge reduziert wird.
1. Kap.: Der Hinterziehungsbetrag215
trakte Gefährdung in Höhe des nicht kompensationsfähigen Betrages ist gerade die tatbestandliche Folge, die in der Strafzumessung lediglich als solche und eben nicht als Rechtsgutsverletzung explizit herausgestellt wird.
B. Die Bedeutung des Hinterziehungsbetrages im Gefüge der Strafzumessungsumstände Sind damit die maßgeblichen Wertungsaspekte des Strafzumessungsumstandes „Hinterziehungsbetrag“ umrissen, gilt es nun der Frage nachzugehen, ob diese auch die Funktion zur Findung der Einstiegsstelle in den Strafrahmen rechtfertigen. Voraussetzung hierfür wäre, dass mit dem Merkmal ein wesentlicher Teil des Unrechts der Tat bereits erfasst ist. Der Blick auf die Unrechtsstruktur der Steuerhinterziehung macht deutlich: Der Verkürzungserfolg ist der einzige tatbestandsmäßige Erfolg des Delikts. Die Steuerhinterziehung unterscheidet sich dadurch erheblich von anderen Delikten wie etwa dem Raub oder der Erpressung, bei welchen neben dem Nötigungserfolg auch ein Gewahrsamsbruch bzw. ein Vermögensschaden verlangt wird. Diese Delikte schützen mehrere Rechtsgüter. Die Steuerhinterziehung schützt lediglich das Staatsvermögen und ist damit durch diese Eindimensionalität im Unrecht sehr viel einfacher strukturiert. Es ist nicht auf eine Vielzahl von denkbaren Kombinationen unterschiedlicher Rechtsgutsbeeinträchtigungen Rücksicht zu nehmen. Stattdessen kann einzig das Ausmaß und die Intensität der einen Rechtsgutsbeeinträchtigung als Kern des Unrechts betrachtet werden.65 Das Strafzumessungsmerkmal „Hinterziehungsbetrag“ vermag wie gezeigt das gesamte in der Rechtsgutsbeeinträchtigung liegende Erfolgsunrecht zu erfassen. Lediglich im Hinblick auf den Verspätungsschaden bedarf es gewisser Korrekturen.66 Ein Sonderfall war bislang lediglich bei der sog. Hinterziehung „auf Zeit“ gegeben, der jedoch mittlerweile vom BGH im Erfolgsunrecht der Hinterziehung „auf Dauer“ explizit gleich gestellt wurde.67 Das Merkmal „Hinterziehungsbetrag“ – ergänzt um die Umstände des Verspätungsschadens – erfasst damit stets das gesamte Erfolgsunrecht der Tat. Ge65 Als Vermögensdelikt zeichnet sich der Erfolg der Steuerhinterziehung gegenüber anderen Delikten des Weiteren dahingehend aus, dass er, bezogen auf die Rechtsgutsbeeinträchtigung, keine fixe Größe ist (wie etwa bei den Tötungsdelikten), sondern in seinem Ausmaß abstufbar. Mit der Abstufbarkeit des Ausmaßes der Rechtsgutsbeeinträchtigung korrespondiert zwangsläufig eine Abstufbarkeit im Unrecht, die sich bei Vermögensdelikten besonders gut für ein komparatives Vorgehen in der Strafzumessung eignet. 66 Siehe 3. Teil, 1. Kapitel, A., VI. 67 Siehe 3. Teil, 1. Kapitel, A., V.
216
3. Teil: Die strafzumessungsrelevanten Umstände
genüber dem Handlungsunrecht hat das Erfolgsunrecht bei der Steuerhinterziehung im deliktsystematischen Vergleich tendenziell größeres Gewicht.68 Im Bereich des Handlungsunrechts kommt dem Willen zur Rechtsgutsbeeinträchtigung große Bedeutung zu. Hier kann mit dem Merkmal des Hinterziehungsschadens ein Teil des Willens zur Rechtsgutsbeeinträchtigung erfasst werden, nämlich der vorübergehende Wille. Demgegenüber stellt der Wille zur endgültigen Rechtsgutsbeeinträchtigung allerdings einen erheblichen Anteil am Handlungsunrecht dar. Neben dem Willen zur Rechtsgutsbeeinträchtigung ist für das Handlungsunrecht vor allem auch die Gefährlichkeit des Verhaltens für das Rechtsgut relevant. Auch hier sind im Einzelfall nicht unerhebliche Fallunterschiede denkbar, wie bereits die Regelbeispiele Nr. 2–5 in § 370 Abs. 3 AO zeigen. Zudem ist auch eine Täuschung (des Opfers) keine Voraussetzung, wie dies beim Betrugsdelikt der Fall ist. Darüber hinaus fehlt es auch gänzlich an subjektiven Merkmalen wie etwa einer Bereicherungsabsicht. Wenn trotz dieser und anderer noch immer zahlreichen den Einzelfall individualisierenden Strafzumessungsumstände in der Strafzumessungspraxis dem Hinterziehungsschaden die Funktion zur Findung der Einstiegsstelle zukommt, dürfte dies seinen Grund vor allem in einem haben: Dem Delikt liegt faktisch eine sehr einheitliche Begehungsweise zu Grunde. Die Abgabe steuerlicher Erklärungen ist ihrer Form nach stark standardisiert, das äußere Tatbild dadurch recht einheitlich. Von Abweichungen im äußeren Tatbild bei manchen Zollvergehen abgesehen, ist die Art und Weise der Tatbegehung in der großen Mehrzahl der Fälle gleich. Auch wenn weder Täuschung noch Bereicherungsabsicht tatbestandlich vorausgesetzt sind, werden sie doch in aller Regel ebenso gegeben sein wie der Wille zur endgültigen Rechtsgutsbeeinträchtigung. Die Steuerhinterziehung ist daher als Delikt durch eine hohe Falltypizität geprägt. Sonderfälle sind so selten, dass sich eigenständige Falltypen nicht herausgebildet haben bzw., soweit dies im Falle der Hinterziehung „auf Zeit“ erfolgt ist, jedenfalls keinen Bestand mehr haben.69 Die große Bedeutung des Hinterziehungsbetrags im Rahmen der Strafhöhenbemessung erklärt sich auch aus dessen Relevanz für die Präventionswertung. Für das Delikt der Steuerhinterziehung bestehen aufgrund dessen Zustands als unterbewertetes Delikt70 grundsätzlich gesteigerte (positiv) generalpräventive Strafbedürfnisse. Diese mögen zwar in einem Spannungsverhältnis zu regelmäßig geringen spezialpräventiven Strafbedürfnissen stehen. 68 Siehe
1. Teil, 2. Kapitel, A., II., 1. der bisherigen Behandlung der Fälle der Hinterziehung „auf Zeit“ als eigenständiger Falltypus ist nach der Rechtsprechungsänderung des BGH aus den genannten Gründen nicht festzuhalten, s. Siehe 3. Teil, 1. Kapitel, A., V. 70 Siehe 1. Teil, 2. Kapitel, B., II., 4. 69 An
2. Kap.: Weitere Tatumstände
217
Löst man diese Antinomieproblematik, wie der BGH dies mit seiner verschärften Rechtsprechungslinie andeutet,71 zugunsten der Generalprävention, kommt dem Hinterziehungsbetrag auch im Rahmen der Präventionswertung unter Zurückdrängung anderer, spezialpräventiv relevanter Umstände eine verhältnismäßig gesteigerte Bedeutung zu. Im Modell der Spielraumtheorie gedacht: Der untere Bereich möglicher Schuldstrafen fällt aufgrund der generalpräventiven Strafbedürfnisse weg. In der Folge verkleinert sich der (faktische) Spielraum möglicher Strafhöhen. Damit kommt dem Hinterziehungsbetrag als maßgeblichem Umstand der Schuldwertung mittelbar gesteigerte Potenz für die Konkretisierung der richtigen Strafhöhe zu. Im Ergebnis ist damit festzuhalten: Die herausragende Bedeutung des Hinterziehungsbetrags in der Praxis der Strafzumessung ist aufgrund der Unrechtsstruktur und den besonderen Präventionsbedürfnissen des Delikts grundsätzlich gerechtfertigt. Die hohe Falltypizität lässt es vertretbar erscheinen, auch in besonderen Fallkonstellationen zunächst den Einstieg über das Merkmal des Hinterziehungsbetrags zu wählen, solange der Rechtsanwender dabei die gegebenenfalls weitreichend vorzunehmende Abweichung nicht verkennt. 2. Kapitel
Weitere Tatumstände Ist eine erste Einordnung des Falles anhand des Merkmals „Hinterziehungsbetrag“ erfolgt, interessiert für alle übrigen fallrelevanten Strafzumessungsumstände zum einen ihr relatives Gewicht im Rahmen der Abwägung aller Strafzumessungsumstände und zum anderen ihre Bewertungsrichtung.
A. Staatliche Mitverursachung Grundsätzlich ist vom Regeltatbild auszugehen, dass die Rechtsgutsbeeinträchtigung gänzlich dem Täter zuzurechnen ist. Mildernd kann daher der Umstand bewertet werden, dass das Opfer selbst mitverantwortlich ist.72 Der BGH berück-sichtigt die grobe Nachlässigkeit des Finanzamts strafmildernd.73 Gegen diese Rechtsprechung wurden zum Teil Bedenken erhoben. Soll kein lückenloser „Überwachungsstaat“ geschaffen werden, seien systembedingte Kontrolllücken zwangsläufig die Folge.74 Dies könne aber nicht dem Täter zu Gute kommen. 71 Siehe
2. Teil, 2. Kapitel, B., II., 3. Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 563 m. w. N. 73 BGH StV 1983, 326. 74 Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 1847. 72 Streng,
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3. Teil: Die strafzumessungsrelevanten Umstände
Dieser Kritik liegt ein grundsätzlich beachtlicher Gedankengang zu Grunde. Denn sie verweist darauf, dass es eine deliktsspezifische Besonderheit der Steuerhinterziehung ist, dass der Täter ein Vertrauensverhältnis zum Opfer (dem Staat) missbraucht. Der Staat ist auf vollständige und rechtzeitige Angaben zum Besteuerungssachverhalt angewiesen. In der Strafzumessung ist dieses Vertrauensverhältnis ambivalent zu bewerten.75 Je geringer die staatliche Kontrolle, desto größer der Tatanreiz auf der einen und desto schwerwiegender der Vertrauensbruch auf der anderen Seite. Vor diesem Hintergrund ließe sich die Auffassung vertreten, die Nachlässigkeit der Finanzbehörde könne nie als mildernder Gesichtspunkt dem Täter zu Gute kommen.76 Dem ist jedoch zu entgegnen, dass nicht die steuerlichen Offenbarungspflichten, sondern das Staatsvermögen Rechtsgut der Steuerhinterziehung ist. Zu dessen Schutz kommt auch dem Staat ein Mindestmaß an Mitwirkungspflichten, insbesondere in Form der Unterhaltung eines hinreichenden Kontrollsystems, zu. In einer neueren Entscheidung hat der 1. Senat die bisherige Rechtsprechung einschränkend präzisiert: „Zwar trifft es zu, dass das Verhalten des Steuerfiskus als Verletztem – nicht anders als bei einem sonstigen Geschädigten einer Straftat – strafmildernd berücksichtigt werden kann, wenn es für den Taterfolg mitverantwortlich war. Jedoch ist zu beachten, dass das Besteuerungssystem auf wahrheitsgemäße Angaben des Steuerpflichtigen angewiesen ist; eine umfassende Überprüfung aller steuerrechtlich relevanten Sachverhalte durch die Finanzverwaltung ist ausgeschlossen. Die Kontrollmechanismen der Finanzverwaltung müssen in vielen Bereichen auf Stichproben beschränkt bleiben. Missbraucht ein Täter diese systembedingt nicht sehr intensiven Kontrollmechanismen, kann ihm dies nicht zugutekommen […]. Deswegen ist eine staatliche Mitverantwortung für Steuerverkürzungen regelmäßig nur dann gegeben, wenn das staatlichen Stellen vorwerfbare Verhalten unmittelbar auf das Handeln des Täters Einfluss genommen hat (etwa weil dieser bislang nicht tatgeneigt war oder ihm wenigstens durch das Verhalten der Finanzbehörden die Tat erleichtert wurde) und den staatlichen Stellen die Tatgenese vorgeworfen werden kann […]. Die bloße kausale Mitverursachung eines Taterfolgs durch staatliche Stellen genügt demgegenüber nicht […].“77
Die Entscheidung macht deutlich, dass über die bloße Kausalität staatlichen Verhaltens für das Handeln des Täters hinaus auch eine Zurechenbarkeit erforderlich ist, indem die Tatgenese den staatlichen Entscheidungsträgern vorgeworfen werden kann. Es ist damit notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung, dass das staatliche Verhalten unmittelbar Einfluss auf das Handeln des Täters genommen hat. Hinzukommen muss im Sinne einer ZuStreng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 563. wohl Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 1847. 77 BGH NStZ 2015, 466 (468); ähnlich bereits BGH NStZ 2011, 283. 75 Vgl. 76 So
2. Kap.: Weitere Tatumstände219
rechenbarkeit, dass das Handeln des Täters dem Staat objektiv vorwerfbar ist. Dies ist nur dann der Fall, wenn der Staat dem Mindestmaß an Mitwirkungspflichten zum Schutz des Rechtsguts im konkreten Fall nicht nachkommt. Welches diese Mindestanforderungen sind, ist für jede Steuerart gesondert zu ermitteln. Allgemein lässt sich sagen: Zeitlich ist der Staat nicht in jedem Fall verpflichtet, frühestmöglich gegen eine geplante Steuerhinterziehung einzuschreiten, sobald er hiervon Kenntnis erlangt. Das Nichteinschreiten muss sich allerdings aus Gründen der Gewährleistung einer effektiven Rechtspflege rechtfertigen lassen. Dies ist etwa dann der Fall, wenn ein Einschreiten ermittlungstaktisch unklug wäre, weil es die Aufklärung der Tat oder einer Mehrheit von Taten gefährden würde.78 Nicht ausreichend ist hingegen die bloße Möglichkeit, den Täter bei weiterem Abwarten aus der vollendeten Tat bestrafen zu können.79 Eine zurechenbare Mitursächlichkeit kann staatlicherseits nicht nur von den Behörden, sondern auch vom Gesetzgeber ausgehen. Keine Zustimmung verdient insoweit allerdings der Vorschlag von Flore / Tsambikakis, dem Umsatzsteuersystem aufgrund seiner kriminogenen Ausgestaltung allgemein mildernde Wirkung zukommen zu lassen.80 Es geht zu weit, ein vom parlamentarischen Gesetzgeber vorgesehenes, verfassungsgemäßes Besteuerungsverfahren grundsätzlich als den Bürger zum Bruch desselben verleitend zu bezeichnen. Vielmehr ist es Ausdruck eines zweifellos gesteigerten, aber im gesellschaftlichen Konsens als zumutbar empfundenen Vertrauensverhältnisses81 zwischen Staat und Bürger. Anders ist dies jedoch bei verfassungswidrigen, aber unter Weitergeltungsanordnungen stehenden Steuern zu beurteilen, deren Verfassungswidrigkeit gerade auf der Unvereinbarkeit mit dem Prinzip der gleichmäßigen und gerechten Lastenverteilung nach dem Prinzip der Leistungsfähigkeit beruht und die sich lediglich zum Teil noch auf diesen funktionellen Hintergrund des zu schützenden Rechtsguts berufen können.82 Soweit der Mangel an Gerechtigkeitswert zum Tatentschluss des Täters beigetragen hat, ist dies unter dem Aspekt der staatlichen Mitverursachung mildernd zu bewerten. Für den Grad der Gerechtigkeit einer Steuer per se ohne höchstrichterliche Bewertung 78 So BGH HRRS 2013 Nr. 46; a. A. MünchKomm/Schmitz/Wulf, § 370 AO, Rn. 513. 79 Vgl. BGH NStZ 2005, 519; zum ähnlich gelagerten Fall des polizeilichen Lockspitzeleinsatzes, BGHSt 45, 321. 80 Flore/Tsambikakis/Rübenstahl, § 46 StGB, Rn. 48. 81 Dazu in welcher Hinsicht das Vertrauensverhältnis gesteigert ist, 3. Teil 2. Kapitel, G. 82 Vgl. oben 1. Teil, 2. Kapitel, A., I., 1., d).
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3. Teil: Die strafzumessungsrelevanten Umstände
kann das allerdings nicht gelten.83 Dem Rechtsanwender fehlen insoweit schon die Feststellungsmöglichkeiten. Zudem würde eine ungleiche Handhabung drohen.
B. Vorsatzform und Wille zur Rechtsgutsbeeinträchtigung Der Tatbestand der Steuerhinterziehung erfasst alle Vorsatzformen. Dass die Vorsatzform ein strafzumessungsrelevanter Umstand ist, ist in der Lehre mittlerweile anerkannt, auch wenn die Begründungen hierfür zum Teil auseinander gehen.84 Unter Zugrundelegung eines gegenständlichen Unrechtsverständnisses wird zum Teil darauf abgestellt, dass die Gefährlichkeit der Tatbegehung erhöht sei, wenn der Täter den Erfolg beabsichtigt oder sicher voraussieht.85 Mit dem Grad der Intentionalität der Handlung steige auch dessen Bedrohlichkeit. Dem ist zwar grundsätzlich zuzustimmen. Doch erscheint der Vorsatzform neben anderen Tatumständen eine vergleichsweise geringe Bedeutung für die Gefährlichkeit der Tathandlung insgesamt zuzukommen. Die wahre Bedeutsamkeit der Vorsatzform in der Schuldwertung wird daher erst bei Zugrundelegung eines ideellen Unrechtsverständnisses ersichtlich. Erblickt man in der Tat einen kommunikativen Akt, lässt sich nicht verhehlen, dass die Infragestellung der Norm deutlicher ist, wenn es der Täter auf die Beeinträchtigung des von der Norm geschützten Rechtsguts abgesehen hat, statt es lediglich darauf ankommen lassen zu wollen.86 Betrachtet man in dieser Weise den Willen zur Rechtsgutsbeeinträchtigung, lohnt es sich, für eine präzisere Bewertung des rechtsfeindlichen Willens auch den funktionellen Hintergrund des geschützten Rechtsgutsobjekts heranzuziehen. Beim Delikt der Steuerhinterziehung ist hier vor allem dessen besondere Stellung gegenüber den Vermögensdelikten im Übrigen zu berücksichtigen. Der Vermögensschutz hat einen anderen funktionellen Hintergrund: Die gleichmäßige und gerechte Lastenverteilung nach dem Prinzip der Leistungsfähigkeit.87 Strafzumessungsrelevant ist daher auch, ob und wenn ja mit welchem Willen dieser funktionelle Hintergrund durch die Tat beeinträchtigt werden sollte.88 Dies ist immer dann nicht oder nur bedingt der 83 Zu
65.
einem solchen Ansatz, vgl. Salditt, in: FS Tipke, S. 475; ders., StraFo 1997,
Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 554 m. w. N. Tatproportionale Strafzumessung, S. 263. 86 Vgl. Frisch, ZStW 99 (1987), 751 (768 f.). 87 S. o. 1. Teil, 2. Kapitel, A., I., 1., d). 88 Im Ergebnis ebenso Joecks/Jäger/Randt/Joecks, § 370 Rn. 570 ff., der die subjektive Motivationslage, die nicht auf Habgier sondern einem „Steuerbelastungsgefühl“ beruht, strafmildernd werten will. 84 Vgl.
85 Hörnle,
2. Kap.: Weitere Tatumstände221
Fall, wenn der Täter die Steuer für ungerecht hält und deswegen von einer zu hohen Eigenbelastung ausgeht.89 Er stellt dann nicht die gleichmäßige und gerechte Lastenverteilung in Frage. Freilich stellt die Rechtsgemeinschaft zu Recht die Erwartung auf, dass es der Täter besser wissen könne. Dennoch ist die mangelnde Unrechtseinsicht, auch wenn sie vermeidbar ist, strafmildernd zu bewerten, vgl. § 17 S. 2 StGB. Es wird sich zeigen, dass einige Umstände ihre Strafzumessungsrelevanz vor allem daraus ableiten, ein Indiz für die mangelnde Unrechtseinsicht bezüglich dem funktionellen Hintergrund des Rechtsgüterschutzes darzustellen.90 Die mildernde Bewertungsrichtung ergibt sich daraus, dass im Regeltatbild der Steuerhinterziehung der Täter zumindest mit sicherem Wissen auch die gerechte und gleichmäßige Lastenverteilung beeinträchtigt. Es wäre wenig schlüssig – wenn auch in der Sache nicht fern ab der Realität – dem Gesetzgeber die Annahme zu unterstellen, das von ihm geschaffene Steuersystem lasse seine Gerechtigkeit nicht ohne weiteres für jedermann erkennen. Er muss daher davon ausgehen und dies ebenfalls zur stillschweigenden Bewertungsgrundlage in der Strafzumessung machen, dass auch Steuerhinterziehern der Gerechtigkeitswert der Steuernormen bewusst ist, gegen die verstoßen wird.91 Darüber hinaus erscheint sogar die Annahme von dolus directus 1. Grades im Regeltatbild plausibel. Die Steuerhinterziehung soll „hinsichtlich ihrer Gefährlichkeit und ihrer Strafwürdigkeit nicht geringer zu bewerten“ sein als der Betrug.92 Soweit der Tatbestand des § 370 AO keine die Gefährlichkeit und Strafwürdigkeit konkretisierenden Merkmale enthält, ist daher davon auszugehen, dass dem Gesetzgeber die tatbestandsmäßigen Konkretisierungen des Betrugs auch bei der Bewertung der Steuerhinterziehung im 89 Dass dieses Motiv – wie man sich vorstellen kann – in einer Vielzahl von Fällen gegeben ist, belegt die Untersuchung von Kreß, Motive für die Begehung von Steuerhinterziehung, S. 45 f., die 276 im Jahre 1981 in Köln rechtskräftig abgeschlossene Strafverfahren wegen vorsätzlicher Steuerhinterziehung auswertete. Danach wurden begangen: 17 Fälle aus Gründen der „Abwehr des Staates aus der wirtschaftlichen Privatsphäre, Substanzverteidigung“ oder der „Selbsthilfe im Sinne ausgleichender Gerechtigkeit bei schwierigen Lebensläufen“ sowie in sechs Fällen aus „Anpassung an schlechte Sitten“. Das am häufigsten genannte Motiv war mit 55 Fällen die „wirtschaftliche Krise des Unternehmens“, weitere häufige Motive waren „Überbelastung“ (39 Fälle), „Unkenntnis“ (34 Fälle), „Leichtfertigkeit, Nachlassigkeit, Bequemlichkeit“ (33 Fälle), „Gewinnsucht/Habgier“ (24 Fälle) und „Existenzsicherung“ (neun Fälle). 90 Es kann hier dahinstehen, ob die mangelnde Unrechtseinsicht auf der Ebene der verringerten Vermeidemacht oder – weil „nur“ den funktionellen Hintergrund des Rechtsguts betreffend – als reines Tatmotiv auf Unrechtsebene zu berücksichtigen ist. 91 A. A. wohl Kohlmann, in: ders., Strafverfolgung und Strafverteidigung, S. 5 (21), der insoweit konsequent einen milderen Strafrahmen für die Steuerhinterziehung gegenüber anderen Vermögensdelikten fordert. 92 BR-Drucks. 23/71, S. 194.
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3. Teil: Die strafzumessungsrelevanten Umstände
Ausgangspunkt vor Augen stehen. Die Bereicherungsabsicht gehört damit ebenso wie die Unkenntnis der Behörde vom wahren Sachverhalt und die Täuschung des zuständigen Sachbearbeiters zum Regeltatbild der Steuerhinterziehung. Mit der Bereicherungsabsicht liegt aber auch normativ die Annahme nahe, dass das Gegenstück zur eigenen Bereicherung, die Entreicherung des Opfers, als Zwischenziel beabsichtigt ist.
C. Gefährliche Tatbegehungen Die Gefährlichkeit der Tatbegehung ist ein Aspekt, der sich sowohl bei einem gegenständlichen als auch bei einem ideellen Unrechtsverständnis auf das Handlungsunrecht auswirkt. Die Steuerhinterziehung ist diesbezüglich tatbestandlich weit gefasst. Im Regeltatbild ist wie gezeigt von der Unkenntnis sowie einer Täuschung des zuständigen Sachbearbeiters auszugehen. Hier kann insbesondere der zur Täuschung betriebene Aufwand zu Strafschärfungen unter dem Aspekt der Gefährlichkeit der Tatbegehung führen. Grundsätzlich strafschärfend ist daher „die systematische Verschleierung von Sachverhalten“, der „Aufbau eines aufwändigen Täuschungssystems und die Erstellung oder Verwendung unrichtiger oder verfälschter Belege zu Täuschungszwecken“ zu bewerten.93 Bei der tateinheitlichen Verwirklichung einer Urkundenfälschung ist allerdings materiell das Doppelverwertungsverbot zu beachten.94 Nicht richtig ist es, die Verletzung von Buchführungsund Aufbewahrungspflichten per se strafschärfend zu bewerten.95 Das Steuerrecht sieht mit der Möglichkeit der Schätzung hier ein effektives Mittel zur Wahrung des Rechtsguts vor. Erst wenn die Verletzung der Buchführungsund Aufbewahrungspflichten in Verbund mit den der Steuerbehörde zur Verfügung stehenden und gestellten Schätzungsgrundlagen eine gesteigerte Gefahr für eine verkürzte Steuerfestsetzung bewirkt, ist dieses Vorgehen strafschärfend zu bewerten. Auch die Verstrickung Dritter in die eigene Straftat wirkt nur strafschärfend, wenn dadurch die Tat zusätzlich verschleiert wird. Das kann etwa der Fall sein, wenn der Täter seinen Steuerberater zur „Steuerhinterziehungsberatung“ veranlasst oder Angehörige als Empfänger von Scheinzuwendungen vorschiebt.96 Besonders schwer wiegt daher auch etwa die Einschaltung von Domizilfirmen in Steueroasenländern oder gene93 BGHSt 53, 71 (87); BGHSt 57, 123 (133); BGH NStZ 2012, 162 (163); BGH NStZ 2011, 294. 94 Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 668. 95 So aber Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 1852 mit Verweis auf NStZ 2011, 233. Dort stellt der 1. Senat allerdings lediglich fest: „Fehlende Buchhaltung befreit nicht von strafrechtlicher Verantwortung“. 96 BGHSt 53, 71 (87).
2. Kap.: Weitere Tatumstände
223
rell eine Gewinnverlagerung ins Ausland,97 da häufig Rechtshilfe nicht gewährt wird und die Täuschung daher besonders effektiv ist.98 Die bloße Fachkenntnis des Steuerrechts an sich darf noch nicht strafschärfend gewertet werden, sondern erst dann, wenn diese durch geschickte Gestaltung der Steuererklärung zu einer gefährlichen Tatbegehung führte. Die genannten Tatumstände führen dazu, dass die Tatbegehung eine erhöhte Gefährlichkeit für das Rechtsgut aufweist. Darüber hinaus können sie auch für die Beurteilung spezialpräventiver Strafbedürfnisse relevant sein, sofern von der Gefährlichkeit der Tatbegehung auf die Gefährlichkeit des Täters im Sinne einer erhöhten Wahrscheinlichkeit der Rückfälligkeit geschlossen werden kann. Weitere Unterschiede in der Gefährlichkeit der Tatbegehung sind insbesondere bei der Hinterziehung von Einfuhrabgaben und Zöllen (Schmuggel) denkbar. Im Wesentlichen lassen sich hier drei Fallgruppen bilden. In der ersten, klassischen Variante verbringt der Täter Waren über die Grenze und entzieht sich dabei seiner Gestellungspflicht nach Art. 40 ZK, Art. 95 MZK, Art. 124 UZK in der Weise, dass er die Zollstelle umgeht (sog. Schmuggel über die grüne Grenze). Mangels Kenntnis des Vorgangs ist die Zollbehörde damit von vornherein nicht in der Lage, einen Abgabenbescheid zu erlassen, was regelmäßig zu einer gesteigerten Gefährlichkeit der Tatbegehung führt. Grundsätzlich keine gesteigerte Gefährlichkeit der Tatbegehung liegt hingegen in den gerade für den Reiseverkehr typischen Fallkonstellationen vor, in denen der Täter die Grenze zwar an der Zollstelle überschreitet, dort aber die Frage des Beamten verneint, ob er etwas zu verzollen habe.99 Dasselbe gilt in der dritten häufig im Importhandel anzutreffenden Fallgruppe der Hinterziehung von Einfuhrabgaben und Zöllen, in der der Täter zwar die Ware gestellt, anschließend aber unrichtige Angaben über Menge, Stückzahl, Beschaffenheit oder Zollwert macht. Eine gesteigerte Gefährlichkeit ergibt sich in diesen beiden Fallgruppen im Einzelfall erst dann, wenn durch sorgsame Planung oder spezifische Vorrichtungen die Entdeckung der Tat in besonderer Weise erschwert wird.100
97 Zu Überlegungen des Gesetzgebers im Zuge der Affäre um die sog. „PanamaPapers“ Steuerbetrug über Offshore-Firmen als „besonders schwere Steuerhinterziehung“ einzustufen, s. FD-StrafR 2016, 377739. 98 BGHSt 53, 71 (87); Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 1851. 99 Vgl. für einen solchen Fall BayObLG wistra 1997, 111. 100 Vgl. für einen solchen Fall etwa EuGH wistra 2004, 376; EuGH ZfZ 2005, 192, 194.
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3. Teil: Die strafzumessungsrelevanten Umstände
D. Eigennutz, Fremdnutz und weitere subjektive Tatumstände Bei der Verwertung subjektiver Tatumstände101 ist stets zu bedenken, dass insoweit die Gefahr besteht, allgemein moralisierende Erwägungen anzustellen, die auf eine Aburteilung des Charakters des Täters und nicht seiner Tat hinauslaufen. Besonders effektiv wird dieser Gefahr bei konsequenter Umsetzung eines gegenständlichen Unrechtsverständnisses begegnet. Subjektive Tatumstände sind hier nur strafzumessungsrelevant, soweit sie die Gefährlichkeit der Tatbegehung betreffen oder die Vermeidemacht des Täters herabsetzen.102 Legt man ein ideelles Unrechtsverständnis zu Grunde, sind subjektive Tatumstände darüber hinaus auch insoweit zu berücksichtigen, als durch sie die in der Tat liegende Infragestellung der Norm betroffen ist. Dies ist allerdings nur dann der Fall, wenn der subjektive Tatumstand entweder einen Widerspruch gerade zu dem von der Norm zu schützenden Rechtsgut darstellt – die negative Einstellung gegenüber weiteren Rechtsgütern darf nicht zum Gegenstand der Schuldwertung gemacht werden.103 Zum anderen kann der subjektive Tatumstand auch dann relevant sein, wenn er die Infragestellung der Norm insoweit relativiert, als dass er deutlich macht, dass es dem Täter bei der Tathandlung nicht ausschließlich um die Infragestellung der Norm, sondern zumindest auch um die Erhaltung eines sonstigen rechtlich anerkannten Wertes ging.104 Auf dieser Grundlage ist die in der Strafzumessungstradition so bedeutsame105 Unterscheidung zwischen eigennütziger und fremdnütziger Steuerhinterziehung zu beurteilen. Für die Gefährlichkeit der Tathandlung ist die Frage, zu wessen Vorteil die Tat gereichen soll, nicht unmittelbar ausschlaggebend. Und auch unter ideellen Gesichtspunkten ist die Unterscheidung zwischen egoistischem und altruistischem Handeln eine rein moralisierende Betrachtung. Die Steuerhinterziehung stellt die Normgeltung grundsätzlich nicht weniger in Frage, weil sie zu Gunsten eines Dritten statt zu eigenen Gunsten erfolgt. Dies ist erst dann der Fall, wenn es einen rechtlich anerkennenswerten Grund für das altruistische Handeln gibt. Solche rechtlich anerkennenswerten Gründe sind aber in gleichem Maße auch bei egoistischem 101 Die gesetzliche Untergliederung in Ziele, Beweggründe und auch Gesinnungen bietet in Bezug auf die entscheidenden Kategorien des Handlungsunrechts, Erfolgsunrechts und der Vermeidemacht keinen weiteren Erkenntnisgewinn. Welchen dieser Untergliederungen ein subjektiver Tatumstand zuzuordnen ist, kann zudem je nach Formulierung beliebig ausfallen, vgl. Frisch, ZStW 99 (1987), 751 (767). 102 Vgl. Hörnle, Tatproportionale Strafzumessung, S. 270 ff., 306 ff. 103 Frisch, ZStW 99 (1987), 751 (767 ff.). 104 Vgl. Frisch, ZStW 99 (1987), 751 (767 ff.). 105 S. o. 2. Teil, 2. Kapitel, B., I., 1., b).
2. Kap.: Weitere Tatumstände225
Handeln denkbar. Ein Beispiel sind etwa Strafmilderungen, wenn der Täter die Tat in einer wirtschaftlich schwierigen Lage beging, um seinem Betrieb Liquidität zu erhalten (sog. Handeln „für die Firma“).106 Die Tat kommt in solchen Fällen in der Regel sowohl dem Täter selbst wie auch Angestellten oder sonstigen Dritten, deren wirtschaftliche Existenz vom Bestand der Firma abhängt, zu Gute. Die geringere Infragestellung des Rechts ergibt sich jedoch nicht aus der (teilweise) altruistischen Wirkrichtung, sondern aus dem rechtlich anerkennenswerten Motiv der Sicherung und Erhaltung einer wirtschaftlichen Existenz, gleich ob es die eigene oder die eines beliebigen Dritten ist. Es ist allenfalls moralisch, in keinem Fall aber rechtlich anerkennenswerter, die wirtschaftliche Existenz eines anderen zu sichern. Auf die Dichotomisierung Eigennutz – Fremdnutz sollte daher in der Strafzumessung bei der Steuerhinterziehung verzichtet werden. Die Abschaffung des „groben Eigennutzes“ als Merkmal des Regelbeispiels in § 370 Abs. 3 Nr. 1 AO ist auch unter diesem Gesichtspunkt zu begrüßen. Grob eigennützig sollte handeln, wer sich bei seinem Verhalten von dem Streben nach eigenem Vorteil in besonders anstößigem Maße hat leiten lassen oder eine ausgeprägte Gewinnsucht an den Tag legte.107 Damit wurden – trotz der kritikwürdigen Begrenzung auf den persönlichen Nutzen – doch immerhin ansatzweise auch die strafzumessungsrelevanten Gesichtspunkte entsprechender Tätermotive umschrieben: nämlich die Verständlichkeit der Tatbegehung im Hinblick auf die persönlichen wirtschaftlichen Verhältnisse. Steht der Täter wirtschaftlich ohnehin sehr gut da, stellt sich eine rechtswidrige Bereicherung deshalb als „ausgeprägte Gewinnsucht“ oder „besonders anstößig“ dar, weil es für sie einen rechtlich weniger anerkennenswerten Grund gibt. Rechtlich anerkennenswert ist nicht nur die Sicherung der wirtschaftlichen Existenz im Sinne des notwendigsten Lebensunterhalts, sondern auch ein darüber hinaus gehendes Interesse am wirtschaftlichen Fortkommen.108 Ob diese rechtliche Anerkennung ab einem bestimmten Punkt des Wohlstandes gänzlich wegfällt, kann hier dahinstehen. Sie nimmt jedenfalls mit steigendem Wohlstand sukzessive ab, was sowohl in der Verfassung109 als auch in deren einfachgesetzlichen Ausgestaltung110 deutlich wird. Vergegenwärtigt man sich diesen rechtlichen Hintergrund des Motivs, 106 Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 1850 f.; vgl. auch BGH wistra 1987, S. 21; dieses Motiv spielt in der Praxis nicht selten eine Rolle, vgl. Kohlmann/Schauf, § 370 Rn. 1030. 107 BGH wistra 1991, 106; BGH wistra 1987, 71. 108 Vgl. den Fall BGH wistra 1988, 145, in dem daher noch immer die Strafe zu mildern war. 109 Art. 14 Abs. 2 GG: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ 110 Vgl. etwa § 32a EStG.
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3. Teil: Die strafzumessungsrelevanten Umstände
wird zugleich dessen besondere Strafzumessungsrelevanz beim Delikt der Steuerhinterziehung ersichtlich. Der Grund für die geringere Anerkennung des Motivs – nämlich die steigende Sozialbindung des Vermögens – deckt sich mit dem geschützten Rechtsgut der Steuerhinterziehung und ist daher eine zusätzliche Absage an dessen Geltung. Die Bereicherungsabsicht eines reichen Steuerhinterziehers ist daher nicht nur in besonders geringem Maße verständlich, sondern stellt darüber hinaus sogar einen stärkeren Normwiderspruch dar. Es bleibt festzuhalten: Nicht die Eigen- oder Fremdnützigkeit, sondern die Bewertung des Bereicherungsmotivs im Hinblick auf die persönlichen wirtschaftlichen Verhältnisse des Begünstigten sind für die Strafzumessung relevant. Im Regeltatbild ist von ordentlichen Vermögensverhältnissen auszugehen, so dass im Einklang mit der Rechtsprechung und der herrschenden Lehre bei schlecht situierten Tätern und Notlagen die Strafe zu mildern, bei wohlhabenden Tätern hingegen unter dem Gesichtspunkt des Normwiderspruchs eine Strafschärfung vorzunehmen ist.111 Die persönlichen wirtschaftlichen Verhältnisse können zudem ein Indiz für die subjektive Haltung des Täters zum funktionellen Hintergrund des Rechtsgüterschutzes sein. Bei wirtschaftlich schlecht situierten Tätern erscheint die Behauptung, die Tat deswegen begangen zu haben, weil die Steuerlast als ungerecht empfunden wurde, eher glaubhaft.
E. Besondere Pflichtenstellung Wie bereits im Zusammenhang mit dem Regelbeispiel des § 370 Abs. 3 Nr. 2 AO gesehen, kann eine besondere Pflichtenstellungen des Täters zu einer Strafschärfung führen. Unter dem Aspekt des Normwiderspruchs kann dies allerdings nicht für jede Rechtspflicht gelten, sondern nur für solche, die ebenfalls dem Schutz des Rechtsguts des § 370 AO dienen. Dies ist bei den Amtspflichten von (Finanz-)Beamten ersichtlich der Fall. Auch die gesteigerte Sozialbindung großer Vermögen kann auf den Rechtsinhaber bezogen als eine solche Pflichtenstellung eingeordnet werden. Als weiterer wichtiger Anwendungsfall sind die Rechtspflichten eines Steuerberaters zu nennen. Der Steuerberater ist gem. § 1 BOStB „ein unabhängiges Organ der Steuerrechtspflege.“ Damit wird ihm in besonderem Maße die Wahrung des Steuerrechts auferlegt. Ein Normwiderspruch durch solche Personen negiert nicht nur die Geltung der einzelnen Steuernorm, sondern darüber hinaus auch die zu ihrer und der Verwirklichung aller Steuernormen vorgesehenen Rechts111 Zur Bewertungsrichtung beim Merkmal der „ordentlichen Vermögensverhältnisse“ ausführlich Frisch, GA 1989, S. 338 (366).
2. Kap.: Weitere Tatumstände
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pflichten. Die Steuernorm selbst wird daher durch die zusätzliche Verletzung von deren Schutz dienenden Rechtspflichten stärker negiert.
F. Das Rechtsgutsobjekt: „Griff in die Kasse“ oder „Prellen der Zeche“ Wie gesehen besteht bei Steuerdelikten gegenüber anderen Vermögensdelikten die Besonderheit, dass der Täter regelmäßig zur Entstehung des von ihm konkret angegriffenen Rechtsgutsobjekts beim Opfer im Vorfeld der Tat in nicht unerheblichem Maße selbst beigetragen hat. Fallkonstellationen in denen dies nicht gegeben ist, lassen sich mit dem vom BGH geprägten Begriffsbild des „Griffs in die Kasse“ treffend beschreiben.112 Es fragt sich, wie sich die jeweiligen Konstellationen auf die Kategorien des Handlungs- und Erfolgsunrechts auswirken. Betrachtet man den Vermögensschaden als zentralen Aspekt des Erfolgsunrechts, ergeben sich – eine nominell identische Beeinträchtigung vorausgesetzt – keine Unterschiede. Auch der funktionelle Hintergrund des Rechtsguts, die gleichmäßige und gerechte Lastenverteilung nach dem Prinzip der Leistungsfähigkeit, ist im gleichen Maße betroffen. Der nicht erbrachte eigene Anteil der Lastenverteilung bzw. der ungerechtfertigt erworbene Vorteil ist in gleichem Maße auf die Mitbürger zu verteilen. Es ließe sich jedoch daran denken, dass beim „Griff in die Kasse“ die gleichmäßige Lastenverteilung deshalb stärker beeinträchtigt sei, weil über die Verweigerung der Erbringung eines eigenen Beitrags zum Funktionieren der Rechtsgemeinschaft hinaus auch der Beitrag anderer desavouiert wird. Allerdings würde dabei übersehen werden, dass beim „Griff in die Kasse“ neben dem Angriff auf den Beitrag anderer nicht zugleich auch ein Verweigern des eigenen Beitrags vorliegt. Der Täter kann vielmehr alle gegen ihn gerichteten Steueransprüche erfüllen. Einen Anspruch gegen den Täter, dass er darüber hinaus seine Energie statt zu kriminellen Zwecken zur Erhöhung seiner steuerlichen Leistungsfähigkeit verwendet, hat die Rechtsgemeinschaft nicht. Die ungerechtfertigte Mehrbelastung der Mitbürger ist somit in beiden Fallkonstellationen dieselbe. Denkt man diesen Ansatz weiter, wird zugleich ersichtlich, dass in Bezug auf den funktionellen Hintergrund des Rechtsguts, die Verwirklichung eines Steuertatbestandes nicht einmal als „rechtsgutsförderndes“ Vortatverhalten zu bezeichnen ist. Denn sie führt nicht dazu, dass die Verteilung der Lasten nach dem Prinzip der Leistungsfähigkeit gleichmäßiger oder gerechter wird. Es wird dem Staat lediglich ermöglicht, in größerem Ausmaß Aufwendungen zu tätigen und die damit verbundenen höheren Lasten zu verteilen. Dies 112 S. o.
2. Teil, 1. Kapitel, A., II., 2., b), bb), (4).
228
3. Teil: Die strafzumessungsrelevanten Umstände
muss jedenfalls solange gelten, wie das Prinzip der Leistungsfähigkeit auf den Zustand einer Person nach Betätigung ihres Leistungswillens und nicht etwa ex ante auf ihre naturgegebene potenzielle Leistungsfähigkeit bezogen ist.113 Ob und in welchem Maß eine Person ihre potenzielle Leistungsfähigkeit (auch zum Wohle anderer) ausschöpft ist eine moralisierende Erwägung, die nicht zu einer Honorierung oder Verschlechterung unter Strafzumessungsgesichtspunkten führen kann. Erst wenn der Täter seinen insoweit freien (Leistungs-)Willen betätigt hat, wird er rechtlich in die Pflicht genommen. Ein Steuerhinterzieher mit hoher Abgabenlast begeht daher nicht deshalb geringeres Unrecht, weil er gegenüber „faulen“ Mitbürgern oder kompletten Leistungsverweigerern zugleich bereits vergleichsweise viel zum Staatsvermögen beiträgt.114 Unter dem Aspekt des Erfolgsunrechts ist daher auch der „Griff in die Kasse“ nicht strafzumessungsrelevant. Im Hinblick auf das Handlungsunrecht ergibt sich aufgrund der Gefährlichkeit der Begehungsweise ebenfalls keine Verschärfung. Möglicherweise findet sich jedoch im Regelfall („Prellen der Zeche“)115 in der Motivation des Täters ein rechtlich anzuerkennender Wert, der beim „Griff in die Kasse“ nicht gegeben ist. Das Handlungsunrecht wäre dann bei einem ideellen Unrechtsverständnis geringer. Kennzeichnend für den Regelfall einer Steuerhinterziehung ist, dass der Täter das eigene Vermögen zugunsten des Fiskus schmälert. Zwar verringert bei bilanzieller Betrachtung der Steueranspruch das Vermögen des Täters bereits ab Entstehung. Gleichwohl knüpft er an dessen Bestand an. Der Steueranspruch wird aus dem Vermögen des Steuerpflichtigen heraus erfüllt. Über das eigene Vermögen disponieren zu können, ist grundsätzlich ein rechtlich anerkennenswertes Interesse. Beim „Griff in die Kasse“ kommt dieses Motiv nicht in Betracht, da der Vermögensvorteil nicht auf der Vermeidung eines eigenen Nachteils, sondern ausschließlich auf der unrechtmäßigen Erlangung eines fremden Vermögenswertes beruht. In allen anderen Fällen einer Steuerhinterziehung wird die Tat hingegen regelmäßig auch zur Wahrung der Dispositionsfreiheit über das eigene Vermögen begangen. Die Annahme einer entsprechenden Motivationslage liegt vor allem dann nahe, wenn man die deliktsspezifische Situation eines Steuerhinterziehers mit der eines Betrügers vergleicht. So kann etwa auch beim Erfüllungsbetrug der Täter zur Wahrung der Dispositionsfreiheit über das eigene Vermögen handeln. Allerdings hat der Betrüger bereits bei Vertragsschluss in erheblichem Maße Einfluss auf die künftige Belastung seines Vermögens. Er hat im Rahmen der Vertragsfreiheit grundsätzlich Einfluss darauf ob, für wen
114 Vgl.
Prinzip der Leistungsfähigkeit vgl. Tipke/Lang, Steuerrecht, S. 72 ff. allerdings unter dem Aspekt des Handlungsmotivs unten 3. Teil, 2. Kapi-
115 S. o.
2. Teil, 1. Kapitel, A., II., 2., b), bb), (2).
113 Zum
tel, H.
2. Kap.: Weitere Tatumstände229
und mit welchem Inhalt ein Anspruch gegen ihn begründet wird. Der Steuerhinterzieher kann hingegen lediglich über das „Ob“ der gegen ihn gerichteten Forderung entscheiden, indem er sich zur Begehung oder Unterlassung des Steuertatbestandes entschließt. Die Annahme liegt daher nahe, dass es dem Steuerhinterzieher bei seiner Tat nicht selten auch darum geht, seine mangelnde Möglichkeit der Einflussnahme – insbesondere auf die Höhe der Steuerforderung – eigenmächtig nachzuholen. Freilich kann diese Dispositionsfreiheit als rechtlich anerkanntes Interesse nur in begrenztem Maße eine Rolle spielen, da in Bezug auf den Steueranspruch dem Täter ja gerade keine Dispositionsbefugnis zukommen soll. Jedoch wird nicht selten ein weiterer subjektiver Tatumstand der eigenmächtigen Nachholung der Einflussnahme auf die Höhe des Steueranspruchs vorausgehen: die Negierung der Gerechtigkeit des Steueranspruchs in der bestehenden Höhe. Dieser Umstand ist in der Strafzumessung von einigem Gewicht.116 Im Regelfall einer Steuerhinterziehung besteht daher Anlass zur Prüfung, ob eine entsprechende Vorstellung des Täters bei Tatbegehung vorlag. Hingegen ist in den Fällen des „Griffs in die Kasse“ eine Relativierung der Infragestellung des Rechts unter diesem Gesichtspunkt nicht denkbar. Dass eine unmittelbare Bereicherung aus den Steuerabgaben anderer nicht der gerechten Lastenverteilung dienen kann, wird auch dem „optimistischsten“ Täter einleuchten. Der „Griff in die Kasse“ weist somit ein schwerwiegenderes Handlungsunrecht auf, da die Begehung zugunsten bestimmter rechtlich anerkannter Werte nicht in Betracht kommt. Dabei fällt weniger der mangelnde Wille zur Disposition über eigenes Vermögen als vielmehr das sichere Wissen um die Gerechtigkeit der Steuer bzw. die Ungerechtigkeit der Steuerhinterziehung im funktionellen Sinne ins Gewicht. Im Regeltatbild dürfte das Gesetz wohl vom „Prellen der Zeche“ ausgehen. Dies liegt schon deshalb nahe, weil der „Griff in die Kasse“ lange Zeit nicht nach § 370 AO strafbar war, sondern nur von § 263 StGB erfasst wurde.117 Der „Griff in die Kasse“ ist daher im Hinblick auf den mangelnden Willen zur Disposition über eigene Vermögenswerte zu handeln als mäßige Strafschärfung zu werten. Demgegenüber kann beim „Prellen der Zeche“ eine gewichtige Milderung vorzunehmen sein, wenn der Täter den funktionellen Hintergrund des Rechtsgüterschutzes nicht absichtlich angreift.
116 S. o.
117 Vgl.
397.
3. Teil, 2. Kapitel, B. noch BGH NJW 1972, 1287; anders BGHSt 36, 100; BGH NStZ 1994,
230
3. Teil: Die strafzumessungsrelevanten Umstände
G. Art der Steuer Auch die Art der hinterzogenen Steuer ist nach einhelliger Auffassung in Schrifttum und Rechtsprechung für die Strafzumessung relevant.118 Soweit eine Begründung hierfür geliefert wird, wird meist darauf abgestellt, dass für die Abgabe bestimmter Steuern den Steuerpflichtigen besondere Rechtspflichten treffen, ähnlich denen eines Treuhänders, deren Missachtung schwerer wiegt.119 Dies betrifft konkret insbesondere die Umsatzsteuer, die von einem anderen angefordert wird, und die Lohnsteuer, die für einen anderen aus dessen Mitteln zu entrichten ist.120 Warum der Verstoß gegen diese Rechtspflichten schwerer wiegen soll, wird jedoch nicht gesagt. Der Vergleich mit den Rechtspflichten eines Treuhänders ist zwar geeignet phänomenologisch die relevanten Fälle zu beschreiben. Warum die Fälle in der Sache schwerer wiegen, erklärt sich damit jedoch noch nicht ohne Weiteres. Es ist jedenfalls kein gefährlicheres Vorgehen mit der Hinterziehung dieser Steuern verbunden. Der Fiskus ist vielmehr grundsätzlich in gleichem Maße auf die Mitwirkung des Steuergläubigers angewiesen, gleich ob dieser eine eigene Steuerschuld zu begleichen hat oder quasi treuhänderisch die Steuerschuld eines anderen begleicht. In beiden Fällen wird der Steuerschuldner in derselben Weise zur Mitwirkung verpflichtet. Ein aufgrund tatsächlicher Schwierigkeiten basierendes intensiveres Vertrauensverhältnis des Staates zum Steuerschuldner, das einen Pflichtverstoß als besonders gefährlich und damit schwerwiegender kennzeichnen würde,121 besteht jedenfalls nicht. Ein Vertrauensverhältnis gegenüber dem Mitbürger, für den quasi treuhänderisch die Steuer abgeführt wird, ist de facto auch nicht gegeben. Der entscheidende Grund für die Strafschärfung ist damit nicht in der Ausgestaltung des Pflichtenverhältnisses zu suchen, sondern in dessen Gegenstand. Anders formuliert: Der Pflichtenverstoß unterscheidet sich nicht im Hinblick auf die Gefährlichkeit für das Rechtsgutsobjekt aufgrund besonderer Möglichkeiten dieses zu verletzen, sondern im Hinblick auf das geschützte Rechtsgutsobjekt selbst. Die Fälle des Verstoßes gegen quasi treuhänderische Pflichten zeichnen sich dadurch aus, dass die geschützten Steueransprüche 118 Vgl. nur BGHSt 53, 221 (232); Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 1018. 119 Siehe ebda. 120 Das Prinzip gilt grundsätzlich für alle indirekten Steuern, insbesondere folgende Verbrauchssteuern: Energiesteuer, Tabaksteuer, Stromsteuer, Biersteuer, Kaffeesteuer, Alkopopsteuer, Branntweinsteuer, Schaumweinsteuer und Zwischenerzeugnissteuer, Rennwett- und Lotteriesteuer, Einfuhrumsatzsteuer. 121 So ist bei der Strafzumessung bei Untreue maßgeblich auf die Intensität des Vertrauensverhältnisses abzustellen, s. Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 1701 m. w. N.
2. Kap.: Weitere Tatumstände
231
originär nicht beim Täter, sondern bei einem Dritten entstanden sind. Dem Täter werden lediglich aus Gründen der Praktikabilität die Einbehaltung und Abgabe der Steueransprüche auferlegt (sog. indirekte Steuern). Damit ist die Entstehung des geschützten Rechtsgutsobjekts nicht bzw. nicht vorwiegend dem Täter zuzurechnen, sondern einem Dritten. Differenziert man in dieser Weise, wird der sachliche Grund für die Strafschärfung bei Hinterziehung solcher Steuern deutlich. Er ist – ganz ähnlich den Fällen des „Griffs in die Kasse“ des Staates – im „rechtsgutsbezogenen“ Vortatverhalten bzw. in der daran anschließenden besonderen Motivlage bei Tatbegehung zu verorten. Während der Täter bei der Hinterziehung direkter Steuern dem angegriffenen Rechtsgutsobjekt selbst erst zur Entstehung verholfen und sich damit in gewisser Weise um dieses verdienstlich gemacht hat, trifft dies bei indirekten Steuern nicht oder nur in geringem Maße zu. Zwar hat auch der Arbeitgeber einen kausalen Beitrag zur Entstehung der Lohnsteuer geleistet, ebenso der Unternehmer für die Entstehung der Umsatzsteuer. Jedoch kann der Staat für die Besteuerung immer nur an den Erwerb, den Verbrauch oder den Bestand von Vermögen anknüpfen.122 Bei der Lohnsteuer knüpft der Staat dementsprechend an den Erwerb von Vermögen durch den Lohnempfänger an, welcher damit in erster Linie für die Entstehung des Steueranspruchs verantwortlich ist. Bei der Umsatzsteuer knüpft der Staat an den Verbrauch des Vermögens bzw. den Konsum von Gütern an,123 wofür in erster Linie der Verbraucher verantwortlich ist. Nimmt man das Interesse des Täters, über sein Vermögen disponieren zu können, in den Blick, ließe sich dennoch in Frage stellen, ob hierfür die Vorgeschichte des Vermögenserwerbes bzw. die eines Teils des Vermögenserwerbs von Belang sein kann. Zu beachten ist allerdings, dass es sich bei der Beurteilung der Motive insoweit um rechtliche Werte handelt, die aufgrund bestimmter Umstände mehr oder weniger schützenswert sein können. Der Gedanke sei verdeutlicht an dem in der Literatur häufig bemühten Vergleich zum Treuhänder: Diesem steht kein persönliches Dispositionsinteresse zu, wenn das verwaltete Vermögen rechtlich fremd ist. Aber auch wenn der Treugeber Vermögenswerte auf den Treuhänder überträgt, wird dessen rechtliches Interesse, über dieses Vermögen verfügen zu können, durch das Treueverhältnis zum Treugeber relativiert – es ist mithin rechtlich weniger anerkennenswert. Ganz ähnlich ist auch das Interesse des Hinterziehers indirekter Steuern, über diese Vermögenswerte disponieren zu können, rechtlich weniger aner122 Birk/Desens/Tappe,
Steuerrecht, S. 21; Stadie, Allgemeines Steuerrecht, S. 4. Name Umsatzsteuer suggeriert freilich das Gegenteil. Neutraler ist insofern der Begriff der Mehrwertsteuer. 123 Der
232
3. Teil: Die strafzumessungsrelevanten Umstände
kennenswert. Und auch das Motiv, an die Gerechtigkeit seiner Handlung bezogen auf den funktionalen Hintergrund des Rechtsgüterschutzes bei der Steuerhinterziehung geglaubt zu haben, wird der Täter bei der Hinterziehung indirekter Steuern kaum je glaubhaft machen können. Denn sofern er sich der indirekten Natur der Steuer bewusst war, wird er schwerlich plausible Gründe anführen können, auf Grund derer er die Einbehaltung der Abgabenschuld anderer zugunsten seiner persönlichen Vermögensmehrung für gerecht hielt.124
H. Verhältnis zwischen gezahlten und hinterzogenen Steuern „Ein die Indizwirkung des Hinterziehungsbetrages beseitigender Milderungsgrund ist etwa gegeben, wenn sich der Täter im Tatzeitraum im Wesentlichen steuerehrlich verhalten hat und die Tat nur einen verhältnismäßig geringen Teil seiner steuerlich relevanten Betätigungen betrifft. Bedeutsam ist daher das Verhältnis der verkürzten zu den gezahlten Steuern. Hat sich der Täter vor der Tat über einen längeren Zeitraum steuerehrlich verhalten, ist auch dies in den Blick zu nehmen.“125
Der 1. Senat ordnet damit das Verhältnis von gezahlten und hinterzogenen Steuern als schuldrelevanten Faktor ein. Klärungsbedürftig ist allerdings der normative Hintergrund der Schuldrelevanz.126 Das Erfolgsunrecht der Tat ist hiervon jedenfalls nicht betroffen. Ob der Täter neben einem bestimmten hinterzogenen Betrag viel oder wenig Steuern zahlt, beeinflusst weder das Ausmaß der Vermögensbeeinträchtigung noch die damit verbundene Beeinträch tigung der gleichmäßigen und gerechten Lastenverteilung nach dem Prinzip der Leistungsfähigkeit. Da die Leistungsfähigkeit nach Betätigung des Leistungswillens der maßgebliche Anknüpfungspunkt ist, kann dem Täter seine gegenüber anderen Mitbürgern erhöhte Leistung nicht zu Gute kommen.127 Sie führt nicht zu einer Verringerung des Erfolgsunrechts der Tat.128 Auch ist 124 Vertretbar erscheint allerdings bei Zöllen und allgemein allen Steuern, die (auch) einen Lenkungszweck verfolgen, insoweit großzügiger zu verfahren, da sich deren Bedeutung für die gerechte und gleichmäßige Lastenverteilung (s. 1. Teil, 2. Kapitel, A., I., 1., d)) nicht ohne Weiteres erschließt. 125 BGHSt 53, 71. 126 Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 1852 diskutiert dies in der gesetzlichen Systematik unter dem „Maß der Pflichtwidrigkeit“; Kohlmann/Schauf, § 370 Rn. 1056 diskutiert dies unter dem Merkmal der besonderen persönlichen Verhältnisse. 127 S. o. 3. Teil, 2. Kapitel, D. 128 Siehe auch BGHSt 57, 123 (128): „Bei der Bemessung der Strafe, der das Landgericht zutreffend nur den tatsächlich angerichteten Steuerschaden zugrunde gelegt hat, kann nicht strafmildernd berücksichtigt werden, dass nicht mit noch höherer krimineller Energie ein noch höherer Schaden angerichtet wurde.“
2. Kap.: Weitere Tatumstände
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damit nicht zwangsläufig eine mehr oder weniger gefährliche Tatbegehung verbunden. In Betracht kommt allerdings eine Schuldrelevanz unter dem Aspekt des Handlungsunrechts. Es lässt sich insoweit die recht einleuchtende These aufstellen, dass mit sinkendem Anteil des Hinterziehungsbetrages an der Gesamtsteuerschuld auch die Infragestellung des Rechts abnimmt. Doch ist darauf zu achten, damit nicht Elemente einer Gesinnungsschuld und spezialpräventive Aspekte in die Schuldwertung miteinfließen zu lassen. Die abnehmende Infragestellung des Rechts muss daher auf einen subjektiven Umstand des Täters zurückgeführt werden. In Betracht kommt hier vor allem eines: Ein weitestgehend normkonformes Verhalten kann ein Indiz dafür sein, dass der Täter den funktionellen Hintergrund, also die gleichmäßige und gerechte Lastenverteilung, nicht wissentlich zu beeinträchtigen sucht, sondern lediglich geringfügige Abweichungen vom starren Steuerrecht vornimmt, um die aus seiner Sicht bestehende Einzelfallgerechtigkeit zu erreichen. Hingegen muss dem Täter mit steigendem Anteil der Hinterziehungssumme am Steuerbetrag der Verstoß gegen den funktionellen Hintergrund umso stärker in das Bewusstsein getreten sein. Der Täter, der lediglich 5 % seiner Einkommenssteuerschuld hinterzieht, mag sich noch eingeredet haben, damit womöglich nur die Ungerechtigkeit des Steuerrechts auszugleichen, wohingegen dem Täter, der seine gesamte Steuerschuld hinterzieht, dies kaum gelingen wird. Hiervon ausgehend ist auch dem 1. Senat zuzustimmen, wenn er die Bewertungsrichtung als strafmildernd angibt.129 Daneben ist auch die Indizwirkung des Verhältnisses von gezahlten zu hinterzogenen Steuern für das Vorliegen spezialpräventiver Strafbedürfnisse zu berücksichtigen. Wer gezeigt hat, dass er das Steuerrecht zu weiten Teilen anerkennt, mag zu einem Normbruch weniger bereit und für eine erneute Wiederholungstat damit weniger anfällig erscheinen. Für die Schuldwertung besteht die größte Gefahr einer schleichenden Unterwanderung durch spezialpräventive Aspekte darin, den Anwendungsbereich dessen, was als „gezahlte Steuern“ den hinterzogenen Steuern gegenüberzustellen ist, zu überdehnen. Der Kreis zu berücksichtigender Steuern lässt sich unterschiedlich weit ziehen. Der strengste Ansatz würde dabei 129 A. A. Brauns, in: FS Samson, S. 515 (528), der meint, dass die Vorgabe einer Bewertungsrichtung durch den BGH hier zu weit gehe, da sich ein Regeltatbild für das Verhältnis von gezahlten zu hinterzogenen Steuern nicht finden lasse. Es lässt sich – insoweit ist Brauns zuzustimmen – ein Normalfall als Vergleichsgröße für den Anteil der hinterzogenen an den zu zahlenden Steuern in der Tat nicht benennen. Ein normativer Ausgangspunkt für die subjektive Haltung des Täters zum funktionellen Hintergrund des § 370 AO ist hingegen gegeben, s. o. 3. Teil, 2. Kapitel, B.
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3. Teil: Die strafzumessungsrelevanten Umstände
lediglich die einzelne Steuerart im jeweiligen Zahlungszeitraum erfassen. Denkbar wäre darüber hinaus, auch alle Steuerarten zu erfassen, die mit der hinterzogenen Steuer in Tateinheit zu hinterziehen wären. Des Weiteren könnten auch schlicht alle gezahlten Steuern im Tatzeitraum erfasst werden. Schließlich ließe sich der Kreis auch auf die vor der Tatbegehung gezahlten Steuern ausdehnen. Dem Verhalten vor der Tat sollte allerdings bei konsequenter Umsetzung einer Konzeption des Tatunrechts allenfalls indizielle Bedeutung für das Vorliegen bestimmter subjektiver Umstände des Täters bei Tatbegehung beigemessen werden.130 Das Vorleben des Täters lässt in erster Linie Schlüsse auf seine Persönlichkeit zu und hat daher vornehmlich bei der Bewertung spezialpräventiver Strafbedürfnisse eine Rolle zu spielen. Was zurückliegende Veranlagungszeiträume und ordnungsgemäß beglichene Steuerschulden in der Vergangenheit betrifft, formuliert der 1. Senat daher zu Recht zurückhaltend. Diese seien lediglich „in den Blick zu nehmen“. Im Übrigen spricht der 1. Senat wenig präzise von den „steuerlich relevanten Betätigungen“ und dem Verhalten „im Tatzeitraum“, was eine gleichmäßige Berücksichtigung aller im Tatzeitraum geschuldeter Steuern vermuten lässt. Meines Erachtens kommt den Steuerbeträgen in der konkret hinterzogenen Steuerart aber gegenüber den sonstigen steuerlichen Betätigungen ein stärkeres Gewicht zu. Denn die insoweit betätigte Normanerkennung steht in einem engeren Bezug zur Negation. Sie betrifft die konkret angegriffene Steuernorm und nicht lediglich das Steuerrecht in einem umfassenderen Sinne bzw. das damit geschützte Rechtsgut. Je weiter das normanerkennende Parallelverhalten sich inhaltlich von der negierten Steuernorm entfernt – die hypothetische Tateinheit kann hier der Grenzziehung dienen –, desto geringer wird dessen Relationswirkung. Die Berücksichtigung unter spezialpräventiven Aspekten hingegen bleibt bestehen. In keinem Bezug zur Norm stehen hingegen sonstige soziale (Lebens-)Leistungen, Spenden etc. Von solchen lässt sich allenfalls auf ein grundsätzlich vorhandenes Pflichtbewusstsein für das Erbringen auch des eigenen Steuerbeitrags und damit ein gegebenenfalls geringeres spezialpräventives Strafbedürfnis schließen. 3. Kapitel
Vorleben Das Vorleben des Täters betrifft Umstände, die vor der Tat liegen und daher nicht unmittelbar die Tatschuld beeinflussen. Sie können allerdings Indizien für das Vorliegen bestimmter subjektiver Umstände bei Tatbegehung 130 Siehe
hierzu 3. Teil, 3. Kapitel.
3. Kap.: Vorleben
235
oder einer gegebenenfalls verringerten Vermeidemacht sein.131 Daneben kommt dem Vorleben vor allem für die Beurteilung präventiver Strafbedürfnisse Bedeutung zu. Relevant ist vor allem das deliktsbezogene Vorleben des Täters, also eine gegebenenfalls wiederholte Tatbegehung oder gar einschlägige Vorbestrafung. Die strafzumessungsrechtliche Bewertung kann, weil lediglich Indizwirkung für die eigentliche Infragestellung des Rechts durch die Tat begründend, im Einzelfall sehr unterschiedlich ausfallen. So ist denkbar, dass bei Mehrfachtätern mit eingeschliffenen Fehlhaltungen die Vermeidemacht im Zeitpunkt der Tat herabgesetzt ist.132 Gleichzeitig kann und wird die wiederholte Tatbegehung auch Ausdruck einer verschärften Auflehnung des Täters gegen die Geltungskraft der Norm sein. Bei Steuerstraftätern ist jedoch wie gezeigt auch die Auflehnung gegen den besonderen funktionellen Hintergrund der Norm in die Bewertung miteinfließen zu lassen. Hier kann eine Vielzahl gleichgelagerter Taten, die noch nicht zu einer Verurteilung geführt haben, gerade auch Indiz dafür sein, dass der Gerechtigkeitswert der Steuernorm vom Täter nicht wahrgenommen wurde. Wurde dem Täter der Gerechtigkeitswert hingegen durch eine Verurteilung zuvor bereits nachdrücklich verdeutlicht, scheidet dieser strafmildernde Gesichtspunkt regelmäßig aus. Auf der anderen Seite gibt bei Ersttätern der einmalige Normbruch üblicherweise Anlass, das Vorliegen verständlicher Beweggründe oder Ziele zu prüfen. Bei Steuerstraftätern kommt hier vor allem die Verbesserung einer wirtschaftlich schwierigen Lage in Betracht. Bei der Berücksichtigung von Vorstrafen ist die Grenze des § 51 Abs. 1 BZRG zu beachten, wonach getilgte oder tilgungsreife Vorstrafen nicht zu Lasten des Angeklagten verwertet werden dürfen. Neben Vorstrafen können auch verjährte Taten und Verfahrenseinstellungen sowohl in die Präventionswertung als auch in die Schuldwertung miteinfließen. Dies setzt allerdings zum einen die prozessordnungsgemäße Feststellung der Taten133 voraus, sowie einen vorherigen Hinweis an den Angeklagten, damit dieser sich für seine Verteidigung darauf einstellen kann.134 In Hinterziehungsfällen kann es vorkommen, dass mit der Entdeckung einer Tatserie zugleich eine Vielzahl von weiteren Taten entdeckt wird, die bereits verjährt sind. In kei131 Vgl. hierzu und zum Folgenden Frisch, in: Canaris/Heldrich/Hopt et al., 50 Jahre BGH, S. 269 (291 ff.); kritisch zur Strafzumessungsrelevanz der Vorstrafenbelastung Erhard, Strafzumessung bei Vorbestraften, S. 259 ff., 302 f.; Hörnle, Tatproportionale Strafzumessung, S. 159 ff. 132 BGHR StGB § 46 Abs. 2 Tatumstände Nr. 8; Detter, NStZ 1991, 475 (477); Frisch, GA 1989, 338 (359). 133 BGH NStZ 2000, 594; BGH NStZ 1995, 439; BGH NStZ 1991, 182. 134 BGHSt 31, 302.
236
3. Teil: Die strafzumessungsrelevanten Umstände
nem Fall dürfen diese verjährten Einzeltaten dann aber auf diese Weise in der Strafzumessung mittelbar geahndet werden.135 Zum einen gilt hier bereits die hinter der Verjährung stehende Wertung, die mit der Zeit abnehmenden Strafbedürfnisse zu beachten.136 Vor allem aber sind auch verjährte Taten nur insofern für die Strafzumessung einer neuen Tat von Relevanz, als sie die Tatschuld im oben beschriebenen Sinne beeinflusst haben oder aus präventiven Gesichtspunkten Bedeutung erlangen. 4. Kapitel
Schadenswiedergutmachung durch Nachzahlung Die Schadenswiedergutmachung durch Nachzahlung der geschuldeten Steuer ist ein Strafzumessungsumstand von besonderer Bedeutung.137 Dies ergibt sich jedoch nicht etwa aus der Regelung der strafbefreienden Selbstanzeige.138 Dieser liegt wie gezeigt eine abweichende Zwecksetzung zu Grunde.139 Der Grund für die (potenzielle) Gewichtigkeit dieses Umstandes ist vielmehr in der Natur des Delikts der Steuerhinterziehung selbst zu suchen und zu finden. Als Vermögensdelikt zeichnet sich diese dadurch aus, dass das verletzte Rechtsgut vollständig reparabel ist. Das Potenzial der Schadenswiedergutmachung ist daher gegenüber anderen Deliktsbereichen hier grundsätzlich erhöht. Gegenüber anderen Vermögensdelikten zeichnet sich die Steuerhinterziehung des Weiteren durch ihre tendenziell stärkere Gewichtung des Erfolgsunrechts aus.140 Dem muss spiegelbildlich auch eine gesteigerte Bedeutung eines auf Verringerung oder Beseitigung der Tatfolgen gerichteten Nachtatverhaltens entsprechen.141 Bei genauerer Betrachtung wird jedoch deutlich, dass die Verringerung oder Beseitigung der Tatfolgen, also des Vermögensschadens, regelmäßig nicht auf der Schadenswiedergutmachung im herkömmlichen Sinne durch Nachzahlung beruht, sondern auf einem mit diesem oftmals einhergehenden Nachtatverhalten: dem Geständnis. Nach dem hiesigen Konzept einer Begrenzung auf die Tatschuld kommt der Schadenswiedergutmachung als Nachtatverhalten zwar keine unmittelbare Relevanz im Rahmen der Strafzumessungsschuld zu, sie ist jedoch aufgrund ihrer Bedeutung für die Zurückweisungsbedürftigkeit der Infrage135 Kohlmann/Schauf,
§ 370 Rn. 1050. auch 3. Teil, 6. Kapitel, A. 137 Vgl. BGHSt 53, 71 (86); Kohlmann/Schauf, § 370 Rn. 1058. 138 So aber BGHSt 53, 71 (86). 139 S. o. 1. Teil, 4. Kapitel, C. 140 1. Teil, 2. Kapitel, A., II., 1. 141 Ebenso Kohlmann/Schauf, § 370 Rn. 1058. 136 Vgl.
4. Kap.: Schadenswiedergutmachung durch Nachzahlung
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stellung der Norm durch Strafe gleichermaßen zu berücksichtigen, wie in einem Konzept, das dies bereits im Rahmen der Schuldwertung leistet. Die in solchen Konzepten häufig verwendete Terminologie vom Erfolgs- und Handlungswert142 der Schadenswiedergutmachung kann insoweit übernommen werden. Der „Erfolgswert“ der Schadenswiedergutmachung hängt damit, ebenso wie das Erfolgsunrecht der Tat, maßgeblich von der Einwirkung auf das Rechtsgut ab. Diese ist – wie zum Teil vertreten wird sogar ganz unabhängig von der zu Grunde liegenden Motivation143 – geeignet die Zurückweisungsbedürftigkeit der Infragestellung der Norm zu reduzieren. Ob man dies der in der Wiedergutmachung liegenden „Verantwortungsübernahme“ oder einem „Akt der Unterwerfung“ zuschreibt, kann dahinstehen.144 Beruht die Schadenswiedergutmachung zudem auf Reue und Schuldeinsicht, gilt dies in gesteigertem Maße, was sich dem Handlungswert der Schadenswiedergutmachung zuschreiben lässt.145
A. Erfolgswert der Schadenswiedergutmachung durch Nachzahlung Der Nachzahlung der geschuldeten Steuer selbst kommt im Hinblick auf das strafzumessungsrechtliche Erfolgsunrecht in der Regel keine gewichtige Bedeutung zu. Denn die Erfüllung eines bekannten, vollwertigen und durchsetzungsfähigen Anspruchs durch einen liquiden Schuldner stellt bei bilanzieller Betrachtung keine erhebliche Mehrung des Gläubigervermögens dar. Die entscheidende Schadenswiedergutmachung erfolgt im Gros der Fälle durch die Aufklärung des wahren Besteuerungssachverhalts, der die Behörden in die Lage versetzt, ihren fälligen Anspruch durchzusetzen. Sofern der Schuldner liquide ist, ist diese Forderung auch werthaltig. Erlangt die Behörde erst durch ein Geständnis des Täters Kenntnis vom Besteuerungssachverhalt, ist diese Schadenswiedergutmachung dem Täter zurechenbar. Die (anschließende) bloße Erfüllung einer werthaltigen, weil bekannten und durchsetzbaren Steuerforderung stellt darüber hinaus keine wesentliche Scha142 Brauns, Die Wiedergutmachung der Folgen der Straftat durch den Täter, S. 176 ff., 204 ff.; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 593. 143 Hauer, Geständnis und Absprache, S. 165. 144 Siehe hierzu Hauer, Geständnis und Absprache, S. 88 f. m. w. N.; wobei man freilich darüber streiten kann, ob der objektive Schein einer „Verantwortungsübernahme“ bzw. eines „Unterwerfungsaktes“ bei fehlender Entsprechung in der Motivationslage des Täters tatsächlich geeignet ist der Wiederherstellung des Rechts zu dienen. 145 Daneben gilt natürlich, dass bei Reue und Schuldeinsicht regelmäßig spezialpräventive Strafbedürfnisse verringert sind, da die Gefährlichkeit des Täters als gering einzuschätzen sein wird, Hauer, Geständnis und Absprache, S. 82 f.
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3. Teil: Die strafzumessungsrelevanten Umstände
denswiedergutmachung mehr dar.146 Anders ist dies zu beurteilen, wenn die Zwangsvollstreckung in das Vermögen des Schuldners aussichtslos und die Forderung daher nicht werthaltig ist. Begleicht der Schuldner hier dennoch die Steuerschuld, kommt dieser Nachzahlung ein erheblicher Erfolgswert zu. Wenn nach alledem in empirischen Untersuchungen der Schadenswiedergutmachung als Strafzumessungsumstand keine erhebliche Bedeutung nachgewiesen werden konnte,147 so vermag dies vor dem Hintergrund, dass die Täter bei Tatentdeckung regelmäßig finanziell dazu in der Lage gewesen sein werden, die Steuerschuld zu begleichen, nicht zu verwundern.
B. Handlungswert der Schadenswiedergutmachung durch Nachzahlung Das zur Abgrenzung von Schadenswiedergutmachung durch bloße Nachzahlung der Steuerschuld einerseits und durch Geständnis andererseits Gesagte gilt gleichermaßen für die Dimension des Handlungsunrechts. Auch hier ist ein erheblicher Handlungswert erst dann gegeben, wenn die Nachzahlung aufgrund der anderweitigen Unmöglichkeit der Eintreibung der Forderung eine gewichtige Leistung darstellt. Entscheidend für den Handlungswert ist, ob das Verhalten als Akt der Reue und Schuldeinsicht gewertet werden kann. Der freiwilligen Erfüllung eines ohne weiteres auch im Wege der Zwangsvollstreckung durchsetzbaren Steueranspruchs kommt – soweit Sie auf Reue und Schuldeinsicht beruht – gegenüber dem Abwarten der Zwangsvollstreckung zwar ein Handlungswert zu. Ein erheblicher Handlungswert kann jedoch erst in der Erfüllung eines nicht oder nur schwer durchsetzbaren Steueranspruchs bzw. der Ermöglichung der Durchsetzung des Steueranspruchs durch Offenbarung des wahren Besteuerungssachverhalts gesehen werden. Denn hier hat Reue und Schuldeinsicht nicht nur zur nachträglichen Erfüllung der gesetzlichen Pflichten, sondern darüber hinaus auch zu einem persönlichen Verzicht auf faktische Rechtspositionen geführt. Dieser, von Reue und Schuldeinsicht getragene, persönliche Verzicht des Täters ist es, der einen erheblichen Handlungswert darstellt. Differenziert man in dieser Weise nach Erfolgs- und Handlungswert der Schadenswiedergutmachung durch Nachzahlung auf der einen Seite und Schadenswiedergutmachung durch Geständnis auf der anderen Seite, wird auch die Rechtsprechung des BGH zur Bewertung der Schadenswiedergutmachung sowie die Fehlannahme der hieran geübten Kritik der Literatur klar. 146 Dennoch kommt sie sowohl dem Täter zu Gute, der zahlt, als auch demjenigen, der erst nach Zwangsvollstreckung erfüllt. 147 S. o. 2. Teil, 2. Kapitel, B., I., 1., b).
4. Kap.: Schadenswiedergutmachung durch Nachzahlung
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Unter Hinweis auf die bestehende Beweislage im zugrundeliegenden Fall kommt der BGH in seinem Urteil vom 7.2.2012 zu dem Ergebnis, dass Geständnis und Nachzahlung der Steuerschuld zwar grundsätzlich „bestimmende Strafmilderungsgründe“ seien. „Allerdings sind diese Umstände hier keine besonders gewichtigen Milderungsgründe. Dies gilt auch für die Nachzahlung der geschuldeten und hinterzogenen Steuern. Durch die Nachentrichtung hat der Angeklagte diejenigen Steuern abgeführt, die von ihm nach dem Gesetz geschuldet waren und zu deren Zahlung er auch als ehrlicher Steuerpflichtiger ohnehin verpflichtet gewesen wäre. Das Gewicht dieser Schadenswiedergutmachung verliert hier dadurch an Gewicht, dass der Angeklagte diese angesichts seiner komfortablen Vermögensverhältnisse ohne erkennbare Einbuße seiner Lebensführung erbringen konnte. Hinzu kommt, dass sie – unbeschadet der naheliegenden Vollstreckungsmöglichkeiten der Finanzbehörden – offensichtlich keinen besonderen persönlichen Verzicht darstellte.“148
In der Literatur rief diese Entscheidung, soweit kommentiert, weitgehend Widerspruch hervor.149 Die Ausführungen seien nicht vereinbar mit § 46 Abs. 2 S. 2 StGB, wonach die Bemühungen den Schaden wiedergutzumachen unabhängig von einem persönlichen Verzicht des Täters zu beurteilen seien.150 Die Nachentrichtung der hinterzogenen Steuern sei selbst dann als Strafmilderungsgrund anerkannt, wenn diese durch Dritte erfolgt, weshalb es auf einen persönlichen Verzicht des Täters nicht ankommen könne.151 Außerdem laufe die Entscheidung auf eine Benachteiligung wohlhabender Täter hinaus. Dass der Steuerhinterzieher die Nachentrichtung ohne Einbuße seiner Lebensführung zu erbringen imstande war, könne ihm nicht zum Nachteil gereichen.152 Es sei schließlich nicht mehr nachzuvollziehen, welche Milderungsgründe nach Ansicht des ΒGH überhaupt noch als besonders gewichtige einzustufen sind, wenn selbst der Schadenswiedergutmachung, die neben dem Geständnis in der Praxis der wichtigste Strafmilderungsgrund sei, diese Eignung abgesprochen werde.153 Die Kritik sieht zwar durchaus den Einzelfallbezug der Entscheidung. Sie verkennt jedoch das Ausmaß der Fallabhängigkeit für den strafzumessungsrechtlichen Wert einer Schadenswiedergutmachung. So stellt nicht jede Schadenswiedergutmachung einen gewichtigen Milderungsgrund dar. Insbesondere dann, wenn die Beweislage eindeutig und der Besteuerungssachverhalt vollends aufgeklärt ist und die Befriedigung im Zweifel im Wege der 148 BGHSt
57, 123 (132). Hervorhebungen durch den Verfasser. § 370 Rn. 1058.1; ebenso Adick, PStR 2012, 121 (123 ff.); Höll, PStR 2012, 251 (254); Peters, NZWiSt 2012, 201 (203). 150 Kohlmann/Schauf, § 370 Rn. 1058.1. 151 Kohlmann/Schauf, § 370 Rn. 1058.1. 152 Kohlmann/Schauf, § 370 Rn. 1058.1. 153 Kohlmann/Schauf, § 370 Rn. 1058.1. 149 Kohlmann/Schauf,
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3. Teil: Die strafzumessungsrelevanten Umstände
Zwangsvollstreckung auf Grund der guten Vermögensverhältnisse des Täters aussichtsreich ist, ist der Erfolgswert der Nachzahlung gering. Beruht die Nachzahlung zudem nicht auf Einsicht und Reue, sondern liegt dem ein prozesstaktisches Kalkül oder die Absicht der Abwendung einer auch selbst als unangenehm empfundenen Zwangsvollstreckung in das eigene Vermögen zu Grunde, ist auch der Handlungswert der Nachzahlung gering. Eine solche Wiedergutmachung kann nicht als gewichtiger Milderungsgrund anerkannt werden. Auch kann die Tatsache, dass der ohnehin lückenhafte § 46 Abs. 2 S. 2 StGB – im Gegensatz zu § 46a Abs. 1 Nr. 2 StGB – nicht den persönlichen Verzicht im Rahmen der Schadenswiedergutmachungsbemühungen erwähnt, nicht für dessen Unbeachtlichkeit im Rahmen der Strafzumessung im engeren Sinne geltend gemacht werden. Im Gegenteil ist eine Schadenswiedergutmachung, die einen persönlichen Verzicht erfordert, auch in der Strafzumessung im engeren Sinne von gesteigertem milderndem Gewicht. Das bedeutet freilich nicht, dass einer Schadenswiedergutmachung ohne persönlichen Verzicht nicht ebenfalls strafmildernde Wirkung zukommen kann. Auch das Argument der Benachteiligung wohlhabender Täter verfängt bei richtiger Anwendung der Voraussetzung eines persönlichen Verzichts nicht. Der 1. Senat nimmt mit der Begrifflichkeit ersichtlich Bezug auf das wortgleiche Merkmal des persönlichen Verzichts im Rahmen des kontextnahen § 46a Abs. 1 Nr. 2 StGB. Hierfür ist eine, über die rein rechnerische Kompensation hinausgehende, Eigenbelastung des Täters erforderlich, die Ausdruck einer Übernahme von Verantwortung ist und somit friedensstiftende Wirkung hat.154 Richtigerweise sollte eine solche Eigenbelastung nicht nur freiwillig erfolgen, sondern auch eine Leistung sein, die dem Täter nicht auch zwangsweise auferlegt werden kann. Nur dann kann die Eigenbelastung objektiv als Ausdruck von Verantwortung gewertet werden. Das bedeutet, dass nicht jeder Täter, dem die Nachzahlung der geschuldeten Steuer schwer fällt, auch einen persönlichen Verzicht erbringt. Erst wenn die Nachzahlung mit Mitteln bewirkt wird, auf die der Steuergläubiger auch mit Zwangsmitteln nicht hätte zugreifen können, liegt ein persönlicher Verzicht des Täters vor, der eine erhebliche Strafmilderung rechtfertigt.155 Dennoch ist auch die freiwillige Nachzahlung der Steuer, die keinen persönlichen Verzicht darstellt, vom Handlungswert umso höher einzustufen, je schwerer sie dem Täter angesichts der eigenen Einbuße an Lebensqualität zu erbringen fällt, so154 BT-Drucks. XII/6853, S. 22; SK-StGB/Horn, § 46a Rn. 8; Kilchling, NStZ 1996, 309 (312). 155 Auch der 1. Senat differenziert wohl in diesem Sinne, wenn er den Aspekt der Einbuße der Lebensführung von dem persönlichen Verzicht trennt, BGHSt 57, 123 (132): „Hinzu kommt […]“.
4. Kap.: Schadenswiedergutmachung durch Nachzahlung241
weit sie auf Einsicht und Reue beruht. Eine erhebliche Milderung gegenüber dem Täter, der die Steuer ebenfalls aus Einsicht und Reue nachzahlt, dem diese Nachzahlung aber aufgrund guter Vermögensverhältnisse leicht fällt, kann sie jedoch nicht bewirken. Solange demnach das Maß der Milderung verhältnismäßig bewertet wird, kann auch von einer Benachteiligung wohlhabender Täter keine Rede sein. Denn würde man den größeren Handlungswert einer dem Täter schwer fallenden Nachentrichtung nicht berücksichtigen, wäre vielmehr dieser gegenüber einem wohlhabendem Täter benachteiligt. Was die entscheidende, erhebliche Strafmilderung aufgrund persönlichen Verzichts anbelangt, kann ohnehin nicht ohne weiteres von einer Benachteiligung wohlhabender Täter gesprochen werden. Denn auch der wohlhabende Täter hat die Möglichkeit, einen persönlichen Verzicht, nämlich die freiwillige Hingabe seiner faktischen Vermögensposition, durch Offenbarung des wahren Steuersachverhalts zu erbringen. Er leistet dann Schadenswiedergutmachung maßgeblich durch sein Geständnis und nicht erst durch Nachentrichtung der Steuern. Dem wohlhabenden156 Täter bleibt lediglich die Möglichkeit verwehrt, durch Nachentrichtung der Steuern einen persönlichen Verzicht zu leisten. Wie sogleich zu zeigen sein wird, ist es dem nicht solventen Schuldner gleichsam nicht möglich im Wege der Schadenswiedergutmachung durch Geständnis einen persönlichen Verzicht zu erbringen. Der Einwand der Ungleichbehandlung greift daher auch insoweit nicht durch.
C. Nichtwiedergutmachung und Verhinderung der Wiedergutmachung Entrichtet der Täter nachträglich die Steuerschuld, kommt er damit lediglich seinen gesetzlichen Verpflichtungen nach. Es fragt sich deshalb, ob dies überhaupt als Milderungsgrund bewertet werden kann. Auch fragt sich, ob die Nichtentrichtung der Steuerschuld trotz Möglichkeit strafschärfend zu bewerten ist157 oder ob dies vielmehr das bloße Fehlen eines Strafmilderungsgrunds darstellt. Anerkannt ist, dass dem leugnenden Täter die Nichtwiedergutmachung nicht zum Nachteil gereichen darf.158 Streng schlägt vor, diese Situation als neutrale Kategorie zwischen be- und entlastend zu betrachten.159 Dieses plausible Ergebnis lässt sich auch als normatives Regel156 „Wohlhabend“ kann in diesem Zusammenhang nur auf das einer potenziellen Zwangsvollstreckung aussetzbare Vermögen des Täters Bezug nehmen. Freilich kann ein Täter auch vermögend sein, ohne dass der Staat die Möglichkeit hat auf dieses Vermögen zuzugreifen. 157 So Meine, Strafzumessung bei Steuerhinterziehung, S. 24 f. 158 BGHR AO § 370 Abs. 1 Strafzumessung 5. 159 Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 708.
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3. Teil: Die strafzumessungsrelevanten Umstände
tatbild formulieren: Der Gesetzgeber geht von dem leugnendem Täter aus, der, um seine Verteidigungsposition nicht zu gefährden, die Steuerschuld nicht begleicht. Tut er dies doch, ist dies strafmildernd zu bewerten. Für den nicht leugnenden Täter stellt die Nichtzahlung hingegen einen Strafschärfungsgrund dar. Begrenzt man allerdings die Strafzumessungsschuld nach dem hier vertretenen Konzept auf das Unrecht der Tat und hält gleichzeitig an ihrer Limitierungsfunktion fest, kann das Nachtatverhalten konsequenterweise keine unmittelbaren Strafschärfungen begründen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass der Nichtzahlung im Rahmen der Strafhöhenbemessung überhaupt nicht Rechnung getragen werden kann. So führt entsprechendes Verhalten zu erhöhten spezial- und generalpräventiven Strafbedürfnissen die im Rahmen der vertretbaren Strafhöhen berücksichtigt werden können. Auch kann die beharrliche Weigerung der Nachzahlung Indiz für das Vorliegen bzw. Nichtvorliegen bestimmter subjektiver Tatumstände zum Zeitpunkt der Tat sein.160 Die Geltendmachung einer lediglich auf Zeit geplanten Hinterziehung etwa wäre wenig glaubwürdig. Ferner liegt die Annahme einer Bereicherungsabsicht nahe. Allerdings kann die Verweigerung der Nachzahlung auch Indiz dafür sein, dass der Täter (noch immer) nicht den Gerechtigkeitswert der Steuerforderung erkennt und sich deshalb in Bezug auf den funktionellen Hintergrund weniger stark gegen die Normgeltung auflehnte. Nicht mit der unterlassenen Schadenswiedergutmachung zu vermengen ist ein Nachtatverhalten, das auf die Verhinderung der Schadenswiedergutmachung ausgerichtet ist, wie etwa das Verbringen der Beute ins Ausland. Ein solches Verhalten führt nach Auffassung der Rechtsprechung auch beim leugnenden Täter zur Strafschärfung.161 Bei einem das Nachtatverhalten bereits im Rahmen der Strafzumessungsschuld berücksichtigenden Schuldkonzept ist dies auch nur folgerichtig: Ist etwa die Verhinderung der Schadenswiedergutmachung erfolgreich, indem die erfolgreiche Durchsetzung des nach Aufdeckung der Tat werthaltigen Steueranspruchs gegen einen solventen Täter vereitelt wird, fällt erneut ein Vermögensschaden beim Fiskus an. Das Erfolgsunrecht dieser Schadensvertiefung lässt sich damit nach dem Ausmaß des dadurch verursachten Vermögensschadens bemessen.162 Analog 160 Zur Indizkonstruktion s. Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 528, 572; kritisch in Bezug auf deren praktische Umsetzbarkeit Frisch, ZStW 99 (1987), 751 (780). 161 BGH NStZ 1981, 343. 162 Ebenso wenig wie die Schadenswiedergutmachung von vornherein zum Abzug des für die Strafzumessung bei der Findung der Einstiegsstelle in den Strafrahmen maßgeblichen Steuerschadens gebracht werden kann, könnte auch die Schadensvertiefung – im Gegensatz zu Zinsschäden – nicht dem Steuerschaden hinzugerechnet werden; dies schon deshalb, weil der Vermögensschaden nicht im Sinne einer weite-
5. Kap.: Geständnis
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zum Handlungsunrecht der Tatausführung steigt das Handlungsunrecht je größer die Verhinderungsbemühungen sind.163 Auch wenn die Verhinderung daher letztlich erfolglos bleibt, kann der Versuch strafschärfend berücksichtigt werden. Mit dem hier vertretenen Ansatz einer Beschränkung der Strafzumessungsschuld auf das Unrecht der Tat können Verhinderungsbemühungen lediglich im Rahmen der Präventionswertung Rechnung getragen werden. So dürften in solchen Fällen regelmäßig gegebene erhöhte spezial- und generalpräventive Strafbedürfnisse zu einer Festlegung der Strafe am oberen Ende des Rahmens vertretbarer Strafhöhen führen. Anders aber, wenn die Verhinderungsbemühungen, wie im Falle der dolosen Selbstanzeige,164 erneut strafrechtlich relevantes Unrecht darstellen und von dem Unrecht der Tat als mitbestrafte Nachtat erfasst werden. In diesem Fall führt das (mitbestrafte) Nachtatverhalten bereits zu einer im Rahmen der Strafzumessungsschuld berücksichtigungsfähigen Strafschärfung. 5. Kapitel
Geständnis Nicht selten wird es der Rechtsanwender in der Strafzumessung in Steuerhinterziehungsfällen mit einem geständigen Täter zu tun haben. Auch hier ist entscheidend, diesen Umstand nicht pauschalierend mit einem bestimmten Strafabschlag zu versehen,165 sondern die subjektiven Hintergründe und objektiven Auswirkungen dieses Umstandes im Einzelfall genau zu untersuchen. Für das Delikt der Steuerhinterziehung sind es vor allem zwei Sonderkonstellationen eines Geständnisses, die einer besonderen Betrachtung bedürfen. Dies ist zum einen der Fall einer unwirksamen Selbstanzeige, zum anderen der Fall eines Geständnisses im Rahmen einer Verfahrensabsprache. Hierfür sollen zunächst einige Grundannahmen der strafzumessungsrechtlichen Bewertung eines Geständnisses beim Delikt der Steuerhinterziehung erarbeitet werden. Sodann ist zu klären, welche Konsequenzen diese Grundannahmen in den praktisch relevantesten Konstellationen der unwirksamen Selbstanzeige oder des Geständnisses im Rahmen einer Absprache haben.
ren verletzten Vermögensposition vertieft, sondern schlicht dieselbe Vermögensposition erneut angegriffen wird. 163 Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 671. 164 Siehe hierzu 3. Teil, 5. Kapitel, B. 165 So aber Hauer, Geständnis und Absprache, S. 165, 173.
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3. Teil: Die strafzumessungsrelevanten Umstände
A. Grundsätzliche strafzumessungsrechtliche Bedeutung Das Geständnis ist ein Verhalten des Täters nach der Tat und kann daher nach hier zugrunde gelegtem Schuldverständnis ebenso wenig wie die nachträgliche Begleichung der Steuerschuld unmittelbar Einfluss auf die Strafzumessungsschuld haben. Es kann allerdings dazu führen, dass es zur Erfüllung des tragenden Strafzwecks einer Zurückweisung der Infragestellung des Rechts durch Verhängung der verwirkten Schuldstrafe nicht mehr bedarf. Daneben ist wiederum auch an die Herabsetzung präventiver, insbesondere spezialpräventiver Strafbedürfnisse zu denken.
I. Schadenswiedergutmachung durch Geständnis Strafzumessungsrelevanz kommt einem Geständnis immer dann zu, wenn es unmittelbar eine Schadenswiedergutmachung zur Folge hat. So kann etwa bei der Steuerhinterziehung in der geständigen Offenbarung des wahren Sachverhalts unmittelbar eine Schadenswiedergutmachung liegen, da hiermit der noch immer existente Steueranspruch wieder werthaltig wird. Da der Täter in den meisten Fällen hinreichend solvent ist, ist die Schadenswiedergutmachung bei einem Geständnis, das zur Aufklärung der Tat führt, der Regelfall.166 Durch dieses Nachtatverhalten werden die Auswirkungen der Tat auf das gegenständliche Rechtsgut rückgängig gemacht. Darin liegt zum einen ein Erfolgswert. Zum anderen liegt darin auch ein Handlungswert. Der Handlungswert ist umso größer je mehr dem Geständnis Reue und Einsicht zugrunde liegen. Dennoch kann die Werthaltigkeit des Steueranspruchs aufgrund mangelnder Liquidität des Täters gering sein. Damit ist auch der Erfolgswert einer solchen Schadenswiedergutmachung durch Geständnis geringer. Eine Besserstellung des wohlhabenden Täters ist darin allerdings nicht zu sehen. Auch der illiquide Täter kann durch Nachzahlung den Erfolgswert der Schadenswiedergutmachung herbeiführen, sofern ihm solche überobligatorischen Anstrengungen gelingen.167 Seine gegenüber dem liquiden Täter größeren Anstrengungen sind im Handlungswert dieser Schadenswiedergutmachung zu berücksichtigen. Es kann insoweit auf die Ausführungen zur Schadenswiedergutmachung durch Nachzahlung verwiesen werden.168 Die 166 Zu beachten ist allerdings, dass Feststellungen im Steuerstrafverfahren für das Steuerverfahren nicht bindend sind, vgl. BFH/NV 2005, 1485. Deshalb wird eine Gesamtbereinigung sicher häufig nur im Rahmen sogenannter „Gesamtbereinigungen“ von Steuerverfahren und Steuerstrafverfahren erfolgen können, vgl. hierzu Pflaum, Kooperative Gesamtbereinigung, passim. 167 Siehe 3. Teil, 4. Kapitel, A. 168 Siehe 3. Teil, 4. Kapitel.
5. Kap.: Geständnis245
strafzumessungsrechtliche Bewertung des Geständnisses kann daher schon unter diesem Gesichtspunkt sehr unterschiedlich ausfallen. Neben der Wiedergutmachung kommt als rechtsgutsbezogene Wirkung eines Geständnisses auch die Verhinderung von Schadensvertiefungen in Betracht, so etwa bei sekundären Viktimisierungen durch Vernehmung im Prozess.169 Solche sind in Steuerhinterziehungsfällen nicht denkbar. In Betracht kommt allerdings, einen weiteren, in der allgemeinen Diskussion hoch umstrittenen, mildernden Aspekt des Geständnisses unter dem Gesichtspunkt der Verhinderung von Schadensvertiefungen bei Steuerhinterziehungsfällen in die Bewertung miteinfließen zu lassen: die Verfahrenserleichterung.
II. Verfahrenserleichterung durch Geständnis Vor allem bei Absprachen im Strafprozess ist die Verfahrenserleichterung170 nach verbreiteter Auffassung regelmäßig der in Wahrheit maßgebliche Grund für die strafmildernde Wirkung eines Geständnisses und damit auch Ausgangspunkt für den Vorwurf eines „schuldunabhängigen Straf rabatts“.171 Einen Versuch die bloße Verfahrenserleichterung als Milderungsgrund zu legitimieren unternahm Schmidt-Hieber, der sie als Begrenzung der „Auswirkungen der Tat“ i. S. v. § 46 Abs. 2 StGB einordnete.172 Die überwiegende Auffassung hält dem jedoch entgegen, dass verschuldete Tatauswirkungen rechtsgutsbezogen sein müssen und daher der Strafverfolgungsaufwand nicht umfasst sei.173 Für das Delikt der Steuerhinterziehung könnte jedoch argumentiert werden, dass Verfahrenskosten und Aufwand für die Verurteilung eines Täters eine weitere Belastung des Staatsvermögens und damit eine rechtsgutsbezogene Schadensvertiefung darstellen. Zusätzliche Verfahrenskosten können zunächst entstehen bei der für den Sachverhalt zuständigen Besteuerungsbehörde, sodann bei der Ermittlungsbehörde – soweit diese nicht mit der Be169 Streng,
Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 575 m. w. N. zu unterscheiden ist der Aspekt des Beitrags zur Sachaufklärung, s. hierzu Niemöller, GA 2009, 172 (178) sowie sogleich 3. Teil, 5. Kapitel, A., III. 171 Altenhain et al., Absprachen in Wirtschaftsstrafverfahren, S. 158 f.; Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 609; Weigend, NStZ 99, 57 (60 f.). 172 Schmidt-Hieber, in: FS Wassermann, S. 995 (998); Schmidt-Hieber, StV 86, 355 (356). 173 Dencker, ZStW 102 (1990), 51 (60); Grünwald, StV 87, 453 (454); Murmann, in: FS Roxin II, 1385 (1393); ders., in: FS Frisch, S. 1131 (1148); Schönke/Schröder/ Stree/Kinzig, § 46 Rn. 41e; Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 609; vgl. auch Schünemann, Gutachten zum 58. DJT, B 112 f.: „Rückfall in die finsteren Zeiten des Inquisitionsprozesses“. 170 Hiervon
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3. Teil: Die strafzumessungsrelevanten Umstände
steuerungsbehörde zusammenfällt – und schließlich auch beim Gericht. Am ehesten plausibel erscheint noch die Einordnung der zusätzlichen Verfahrenskosten der Besteuerungsbehörde als Schaden. Jedoch können diese nicht im Wege des Schadensersatzes geltend gemacht werden.174 Überhaupt ist das Staatsvermögen als solches nicht Rechtsgut des § 370 AO. Lediglich das Staatsvermögen, soweit es sich aus dem Steueraufkommen generiert, wird geschützt.175 Das bedeutet, dass die Schonung von Justiz- und Verwaltungsressourcen – auch wenn diese sich überwiegend aus Steuereinnahmen finanzieren – keine Verhinderung einer (tatbestandsrelevanten) Schadensvertiefung ist. Damit kommt der Verfahrenserleichterung durch Geständnis auch im Bereich der Steuerhinterziehung keine mildernde Wirkung unter dem Aspekt eines rechtsgutsbezogenen Nachtatverhaltens zu. Was die mildernde Wirkung von Verfahrenserleichterungen im Übrigen anbelangt, ließe sich noch daran denken, dass durch die Einsparung von Justizressourcen zur Strafrechtspflege insgesamt und damit sowohl zur Wiederherstellung der Rechtsordnung als auch zur Prävention beigetragen wird.176 Allerdings ist der Bezug insoweit nicht zur eigenen Straftat, sondern nur zu den Taten weiterer Dritter gegeben und fällt sogar insgesamt weg, wenn die Justizressourcen ohnehin nicht ausgelastet wären. Insgesamt ist hier unter dem Aspekt der positiven Generalprävention auch allenfalls für eine geringfügige Milderung Raum, da es der Anerkennung der Norm gerade nicht dienlich ist, wenn sich ein Täter durch Gewährung einer Verfahrenserleichterung eine mildere Strafe erwirken kann.177 Eine andere Frage ist, ob die Ressourcenauslastung dem Schuldprinzip nicht grundsätzlich eine Grenze aufweist.178 Ist dies der Fall, kann ein Geständnis wiederum unter dem Aspekt eines Beitrags zur Tataufklärung mildernd wirken, wenn die Justiz aufgrund mangelnder Ressourcen sonst nicht in der Lage gewesen wäre, den konkreten Sachverhalt hinreichend aufzuklären.
III. Beitrag zur Tataufklärung Ebenso wie in der Schadenswiedergutmachung kann auch in jedem Geständnis objektiv ein „Akt der Unterwerfung“ bzw. eine „Verantwortungsübernahme“ gesehen werden, die geeignet ist zur Wiederherstellung des Rechts beizutragen. Der Wert eines Geständnisses ist dabei umso höher, je 174 Vgl.
BGHZ 66, 1256. 1. Teil, 2. Kapitel, A., I., 1., c). 176 Siehe hierzu Hauer, Geständnis und Absprache, S. 89 ff., 166. 177 Schünemann, FS Jürgen Baumann, S. 361 (380). 178 Hierzu 3. Teil, 5. Kapitel, C., II., 3. 175 S. o.
5. Kap.: Geständnis
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größer der darin liegende Beitrag zur Tataufklärung ist. Denn ein Beitrag zur Tataufklärung ist stets auch ein Beitrag zur gerechten Bestrafung und damit zu Sinn und Zweck der Strafe. Der Täter, der die Wiederherstellung des Rechts durch Strafe mittels Geständnis überhaupt erst ermöglicht, trägt damit zugleich zur Erfüllung dieser Strafzwecke bei.179 Beim Delikt der Steuerhinterziehung ist zudem zu beachten, dass ein Beitrag zur Tataufklärung vorliegen kann, ohne dass dies zwingend auch mit einer zur Schadenswiedergutmachung führenden Aufklärung des Besteuerungssachverhalts verbunden sein muss. Dies liegt daran, dass Besteuerungsbehörden und Gericht bei der Beurteilung eines unklaren Sachverhalts unterschiedlichen Grundsätzen unterliegen. Das Gericht ist in dubio pro reo angehalten restriktiver zu schätzen als die Finanzbehörden.180 Daher kann ein Geständnis dazu führen, dass der Täter für einen bestimmten Sachverhalt verurteilt werden kann, der ohne das Geständnis in dubio pro reo nicht hätte angenommen werden dürfen, und gleichzeitig damit keine Schadenswiedergutmachung verbunden ist, weil die Finanzbehörde diesen Mehrbetrag wiederum schätzen durfte. In diesen Fällen trägt der Täter dazu bei, dass Strafbedürfnisse für die Tat in vollem Umfang überhaupt erst befriedigt werden können, was ihm als sittliche Leistung zu Gute zu halten ist.
B. Unwirksame Selbstanzeige Eine unwirksame Selbstanzeige ist strafmildernd zu berücksichtigen. Wichtig ist dabei, dass die Strafmilderung nicht schlicht aus der Tatsache hergeleitet wird, dass eine Selbstanzeige vorliegt, die im Falle ihrer Wirksamkeit die Strafbefreiung zur Folge gehabt hätte. Überhaupt ist der Vorschrift der Selbstanzeige keine Wertung für die Strafzumessung zu entnehmen.181 Die strafmildernde Wirkung ergibt sich vielmehr aus der hiervon unabhängigen Bewertung des spezifischen Nachtatverhaltens, insbesondere dem Geständnis. Die vollkommene Lösung der strafzumessungsrechtlichen Bewertung einer unwirksamen Selbstanzeige von der Vorschrift des § 371 AO hat zudem den positiven Effekt, dass das Verhalten differenziert gewürdigt wird. Ebenso wenig wie das klassische Geständnis ist eine unwirksame Selbstanzeige mit einer pauschalen Strafmilderung zu bewerten. Im Einzelfall können ganz erhebliche Unterschiede in Bezug auf das Ausmaß der Strafmilderung vorliegen. Es ist deshalb genau zu untersuchen, welche Faktoren zur Selbstanzeige und deren Unwirksamkeit geführt haben. Ansatz bei Hauer, Geständnis und Absprache, S. 166 m. w. N. hierzu 3. Teil, 5. Kapitel, C., III., 1., b), bb), (1). 181 1. Teil, 4. Kapitel, C. 179 Ähnlicher
180 Ausführlich
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3. Teil: Die strafzumessungsrelevanten Umstände
Ist die Selbstanzeige unwirksam, weil der Täter nicht die Steuer (in voller Höhe) nachgezahlt hat, kann ihr erhebliche mildernde Wirkung zukommen. Denn wie gezeigt kann die für eine erhebliche Strafmilderung entscheidende Schadenswiedergutmachung bereits mit dem Geständnis erfolgen. Ist die Selbstanzeige unwirksam, weil die Tat bereits entdeckt ist (§ 371 Abs. 2 Nr. 2 AO), gilt zu erklären inwieweit durch die Tatentdeckung bereits der zuvor wertlose Steueranspruch werthaltig geworden ist. Hier sind durchaus Fälle denkbar, in denen die Tat zwar entdeckt, aber erst die Selbstanzeige den wahren Besteuerungssachverhalt maßgeblich aufgeklärt hat. Auch in diesen Fällen kann daher das Geständnis durch Selbstanzeige noch zur Schadenswiedergutmachung beigetragen haben. Selbstanzeigen, die aus Furcht vor Entdeckung oder sonstigem Kalkül abgegeben wurden, haben weniger milderndes Gewicht als solche, die aus Reue und Schuldeinsicht erfolgten. Vor diesem Hintergrund sind dementsprechend auch die problematischen Fälle der Teilselbstanzeige zu lösen. Undolose Teilselbstanzeigen, soweit diese nicht ohnehin zur Straffreiheit nach § 371 AO führen,182 sind nach einhelliger Auffassung uneingeschränkt strafmildernd zu bewerten.183 Strittig ist die strafzumessungsrechtliche Behandlung doloser Teilselbstanzeigen. Rolletschke weist diesen keine strafmildernde, sondern vielmehr strafschärfende Wirkung zu.184 Richtigerweise kann auch hier keine pauschale Bewertung stattfinden. Es sind die mit der dolosen Teilselbstanzeige verbundenen Einzelaspekte differenziert zu bewerten. So kann auch eine dolose Teilselbstanzeige in der Höhe ihrer Erklärung den Steuerschaden wiedergutmachen und einen Beitrag zur Tataufklärung leisten. Dieser Aspekt ist unabhängig von den Motiven mildernd zu bewerten. Hinsichtlich des nicht erklärten Teils kann der Fall entweder so liegen, dass durch die Teilselbstanzeige die Aufklärung gefördert oder gar erst ermöglicht wurde. Oder – und dies dürfte wohl eher den Ausnahmefall aufgedeckter doloser Teilselbstanzeigen bilden – die Teilselbstanzeige hat die Aufdeckung des nicht erklärten Teils erschwert. In jedem Fall ist Reue und Schuldeinsicht hinsichtlich des nicht erklärten Teils der Tat nicht vorhanden, was den Rückschluss nahe legt, dass auch bezüglich dem erklärten Teil Reue und Schuldeinsicht fehlen. Hinzu kommt, dass in Bezug auf den nicht erklärten Teil nicht nur keine Reue und Schuldeinsicht gegeben ist, sondern sogar eine mitbestrafte Nachtat gegeben ist.185 Auch wenn das Fehlen von Reue und Schuldeinsicht im Prozess hinsichtlich dieses Teils dem leugnenden Tähierzu Weigell/Görlich, DStR 2016, 197 (201 f.). nur Kohlmann/Schauf, § 370 Rn. 1058.4. 184 Rolletschke, NZWiSt 2012, 18 (23); a. A. Kohlmann/Schauf, § 370 Rn. 1058.4, der eine Strafmilderung auch bei dolosen Selbstanzeigen annimmt. 185 Vgl. Müller, AO-StB 2012, 87 ff. 182 Siehe 183 Vgl.
5. Kap.: Geständnis249
ter nicht entgegengehalten werden kann, kann und muss die erneute Auflehnung gegenüber der Rechtsordnung durch die mitbestrafte Nachtat negativ ins Gewicht fallen. Ob nach Berücksichtigung all dieser Umstände die dolose Teilselbstanzeige insgesamt strafmildernd oder strafschärfend wirkt, hängt demnach ganz von der Ausgestaltung des Einzelfalls ab. Hierbei wird insbesondere das quantitative Verhältnis von erklärtem und erneut nicht erklärtem Steuersachverhalt sowie die Intention der Nacherklärung (gezielte Verschleierung des nicht erklärten Steuersachverhalts oder lediglich ein Daraufankommenlassen) eine Rolle spielen.
C. Absprachen Im Folgenden soll herausgearbeitet werden, worauf aus strafzumessungsrechtlicher Perspektive bei Absprachen in Fällen der Steuerhinterziehung zu achten ist. Hierfür werden nach einer kurzen Einordnung der Thematik die rechtlichen Probleme bei Absprachen aus strafzumessungsrechtlicher Perspektive dargestellt. Anschließend werden die Ursachen für Absprachen in Fällen der Steuerhinterziehung herausgearbeitet, um so aufzeigen zu können, worin die Gefahren für den Rechtsanwender bestehen.
I. Gegenstand und Entwicklung der Diskussion Die Thematik der Absprachen im Strafprozess beschäftigt die Strafrechtswissenschaft nun bereits seit geraumer Zeit und hat mit der Einführung der §§ 160b, 202a, 212, 257b, 257c StPO sowie der Entscheidung186 des BVerfG zuletzt neuen Auftrieb erfahren. Folge der jahrelangen Absenz einer gesetzlichen Regelung war zunächst bereits die terminologische Uneinheitlichkeit in der Sache selbst.187 Seit Einführung der §§ 160b, 202a, 212, 257b, 257c StPO bietet es sich an, zwischen den gesetzlich geregelten „formellen“ Absprachen (Verständigungen) und den außerhalb dieser gesetzlichen Regeln erfolgenden – und seit der Entscheidung des BVerfG eindeutig unzulässigen – „informellen“ Absprachen zu unterscheiden.188 Absprachen sind dabei solche Gespräche zwischen den Beteiligten eines Strafverfahrens, die auf die konsensuale Erledigung dieses Strafverfahrens durch ein Urteil gerichtet sind.189 186 BVerfGE
133, 168. gute Übersicht über die Terminologie gibt Altenhain/Hagemeier/Haimerl et al., Absprachen in Wirtschaftsstrafverfahren, S. 17 ff. So wurden häufig Begrifflichkeiten wie „deal“, „Verständigung“, „Sondierung“, Abstimmung“, „Abrede“ oder „Vereinbarung“ in der Diskussion verwendet. 188 Altenhain/Dietmeier/May, Absprachen in Strafverfahren, S. 1 f. 189 Altenhain/Dietmeier/May, Absprachen in Strafverfahren, S. 1 f. 187 Eine
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3. Teil: Die strafzumessungsrelevanten Umstände
Daneben gibt es Gespräche, die auf eine Einstellung des Verfahrens insbesondere nach § 153a StPO gerichtet sind. Sie sind zwar gerade bei der Steuerhinterziehung sehr relevant.190 Da hierbei jedoch gerade keine Strafzumessung mehr erfolgt, fallen Geständnisse, die innerhalb solcher Gespräche abgegeben werden, aus dem vorliegenden Untersuchungsgegenstand heraus. Die Entwicklung der Diskussion um die Zulässigkeit und die Voraussetzungen von Absprachen ist bekannt und kann daher hier kursorisch zusammengefasst werden.191 Nachdem Anfang der 80er Jahre der öffentliche Diskurs in Gang geraten war, erkannte das BVerfG 1987 mit Beschluss vom 27.1.1987 Absprachen als grundsätzlich verfassungsgemäß an, sofern der rechtsstaatliche Mindeststandard gewahrt sei und das Strafverfahrensrecht unter Beachtung des Fairnessgrundsatzes und des Willkürverbots ausgelegt werde.192 Ein „Handel mit der Gerechtigkeit“ bleibe unzulässig.193 Auf der Grundlage eines Gutachtens von Schünemann194 befasste sich 1990 der Deutsche Juristentag mit dem Thema „Absprachen im Strafverfahren? Grundlagen, Gegenstände und Grenzen“. Die moderaten Beschlüsse empfahlen lediglich die gesetzgeberische Eindämmung einzelner Auswüchse und Beseitigung von Unklarheiten.195 Der BGH formulierte mit Urteil vom 28.8.1997 erstmals allgemeine Grundsätze zu den Voraussetzungen wirksamer Absprachen.196 Infolge dieser grundsätzlich positiven Signale der höchstrichterlichen Rechtsprechung verlagerte sich im Anschluss der Schwerpunkt der Diskussion auch deshalb von der Frage der prinzipiellen Zulässigkeit von Absprachen hin zur Auseinandersetzung mit den einzuhaltenden Leitlinien, weil die Etablierung der Absprachepraxis zunehmend als unumkehrbarer Prozess empfunden wurde, der für die Zukunft als „strafprozessuales Faktum“197 190 Leibold,
Der Deal im Steuerstrafrecht, S. 144 ff. hierzu Altenhain/Dietmeier/May, Absprachen in Strafverfahren, S. 2 ff.; Sauer/Münkel, Absprachen im Strafprozess, S. 85 ff.; Weichbrodt, Das Konsensprinzip strafprozessualer Absprachen, S. 174 ff. 192 BVerfG NJW 1987, 2662 (2663). Insbesondere seien Gericht und Staatsanwaltschaft gleichermaßen zur Ermittlung des wahren Sachverhalts verpflichtet, da nur auf dessen Grundlage eine Entscheidung getroffen werden könne, die dem materiellen Schuldprinzip Rechnung trage. Daher könne die rechtliche Subsumtion und die Grundsätze der Strafbemessung nicht ins Belieben oder zur freien Disposition der Verfahrensbeteiligten gestellt werden. 193 BVerfG NJW 1987, 2662, 2663; angelehnt an den Titel der Monographie von Karl F. Schumann „Handel mit Gerechtigkeit“ zum amerikanischen „pleabargaining“. 194 Schünemann, Gutachten zum 58. DJT. 195 Ständige Deputation des Deutschen Juristentages, Verhandlungen des 58. DJT, L 213 f. 196 BGHSt 43, 195; zur Rechtsprechungsentwicklung des BGH bis dahin auch Weigend, in: 50 Jahre BGH, S. 1011 (1017 ff.). 197 Meyer-Goßner/Schmitt/Meyer-Goßner, Einl. Rn. 119b. 191 Siehe
5. Kap.: Geständnis251
hingenommen werden müsse.198 Nachdem die Senate des BGH diese Grundsätze in der Folgezeit präzisiert und punktuell weiterentwickelten,199 befasste sich schließlich der Große Senat mit Beschluss vom 3.3.2005 mit den Absprachen. Anlass war die Uneinigkeit zwischen den verschiedenen Strafsenaten über die Behandlung eines auf ein abgesprochenes Urteil hin erfolgten Rechtsmittelverzichts.200 Neben einigen Präzisierungen zu den bisherigen Grundsätzen des 4. Strafsenats machte der Große Senat vor allem Ausführungen zur Legitimation201 und Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung. Die Entscheidung schließt mit dem dringenden Appell an den Gesetzgeber „die Zulässigkeit und, bejahendenfalls, die wesentlichen rechtlichen Voraussetzungen und Begrenzungen von Urteilsabsprachen gesetzlich zu regeln.“202 Diesem Apell kam der Gesetzgeber mit dem Gesetz zur Verständigung im Strafverfahren vom 29.7.2009 nach.203 Das Gesetz positiviert im Wesentlichen die vom BGH formulierten Grundsätze bezüglich der Wirksamkeitsvoraussetzungen einer Verständigung. In der Rechtspraxis ist die Umsetzung des Verständigungsgesetzes jedoch in beschämender Weise fehlgeschlagen. Dies offenbarte die von Altenhain im Zuge des Verfahrens vor dem BVerfG204 erstellte empirische Studie über die Praxis der Verständigung im Strafverfahren. Dem zufolge haben etwa 30 % der in Nordrhein-Westfalen anonym befragten Richter angegeben, ausschließlich an den Regelungen über das Verständigungsverfahren „vorbei“ zu ver198 Vgl. hierzu die Nachweise bei Altenhain/Hagemeier/Haimerl et al., Absprachen in Wirtschaftsstrafverfahren, S. 27 Fn. 54. 199 Überblick bei Weichbrodt, Das Konsensprinzip strafprozessualer Absprachen, S. 174 ff. 200 Vgl. den Vorlagebeschluss des 3. Strafsenats, BGH NJW 2004, 2536. Der Große Senat hielt hinsichtlich dieser Vorlegungsfrage die Vereinbarung eines Rechtsmittelverzichts und jedes Mitwirken des Gerichts an einem solchen für unzulässig. 201 Diese folge aus der Pflicht zur Sicherstellung einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege, die von den Organen der Strafjustiz unter den gegebenen rechtlichen wie tatsächlichen Bedingungen ohne die Zulassung von Urteilsabsprache – vor allem mit Blick auf die knappen Ressourcen der Justiz (m.V.a. den Beschluss der Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister vom 17./18. Juni 2004: „Die Justizministerinnen und Justizminister weisen erneut darauf hin, daß die Strafjustiz am Rande ihrer Belastbarkeit arbeitet.“) – nicht erfüllt werden könne, BGHSt 50, 40 (53 f.); kritisch hierzu Fischer, NStZ 2007, 433 (434). 202 BGHSt 50, 40 (64); s. auch zu weiteren Stimmen aus Politik, Praxis und Wissenschaft, die eine gesetzliche Regelung forderten die Nachweise bei Murmann, ZIS 2009, 526 (529). 203 BGBl. Teil I 2009, S. 2353; vgl. zu verschiedenen Gesetzesvorschlägen der Generalstaatsanwält/Innen, des Landes Niedersachsen, der Bundesrechtsanwaltskammer, des Referentenentwurfs des Bundesjustizministeriums sowie des Gesetzesentwurfs des Bundesrates die Nachweise bei Murmann, ZIS 2013, 526 (529). 204 Vgl. BVerfGE 133, 168.
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3. Teil: Die strafzumessungsrelevanten Umstände
handeln und in der Strafrechtspraxis mehr als die Hälfte aller Verfahren im Wege „informeller“ Absprachen zu erledigen.205 Gegen die Regelungen des Verständigungsgesetzes selbst hegt das BVerfG in seinem einstimmig gefassten Urteil vom 19.3.2013 durchgreifende verfassungsrechtliche Bedenken „derzeit“ nicht.206 Es erkannte zwar, dass Verständigungen die verfassungsrechtlichen Anforderungen an das Strafverfahren „berühren“. Der Gesetzgeber sei indes nicht gehindert, Verständigungen mit den zur Sicherung der Verfassungsmäßigkeit gebotenen Vorkehrungen zu gewährleisten.207 Die Wirksamkeit der gesetzlich vorgesehenen Schutzmechanismen sei allerdings „fortwährend zu prüfen“, ggf. „nachzubessern“ und „erforderlichenfalls“ die gesetzgeberische Entscheidung zugunsten der Verständigungspraxis zu „korrigieren“.208 Ob es zu einer solchen Korrektur durch eine weitere Entscheidung des BVerfG – wie Stuckenberg formuliert: „Derzeit II“ – kommen wird, bleibt abzuwarten.
II. Strafzumessungsrechtliche Probleme bei Absprachen Absprachen im Strafprozess sind aus einer Vielzahl von Gründen der Kritik ausgesetzt. Es kann hier nicht darum gehen, die bekannten und bereits vielfach erörterten verfassungsrechtlichen, strafprozessualen und materiellrechtlichen Probleme der Absprachepraxis erneut aufzuarbeiten.209 Im Folgenden sollen diese aus strafzumessungsrechtlicher Perspektive erörtert werden. Es wird zu klären sein, inwiefern sich die rechtlichen Probleme der Absprachen als solche des Strafzumessungsrechts darstellen. 1. Schuldprinzip a) Problemaufriss Verallgemeinert gesprochen bergen Absprachen die Gefahr in sich, dass der Rechtsanwender das materielle Recht nicht richtig anwendet. Denn über 205 Altenhain/Dietmeier/May,
Absprachen in Strafverfahren, S. 36. 133, 168; hierzu krit. Beulke/Stoffer, JZ 2013, 662; Fezer HRRS, 2013, 117; v. Heintschel-Heinegg, JA 2013, 474; Meyer, NJW 2013, 1850; Niemöller, StV 2013, 420; Weigend, StV 2013, 424; Mosbacher, NZWiSt 2013, 201; Stuckenberg, ZIS 2013, 212. 207 BVerfGE 133, 168 f. 208 Siehe ebda. 209 Vgl. hierzu grundlegend Schünemann, Gutachten zum 58. DJT, passim; Tscherwinka, Absprachen im Strafprozess, passim. 206 BVerfGE
5. Kap.: Geständnis
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die richtige Anwendung des Gesetzes kann der Rechtsanwender nicht disponieren, soweit er gebunden ist. Dies beginnt bei Urteilsabsprachen bereits bei der dem Strafzumessungsrecht vorgelagerten Rechtsanwendung bei Schuldspruch. Der Schuldspruch darf daher nicht Gegenstand einer Absprache sein. Dieser Grundsatz wird auch seit jeher in Literatur und Rechtsprechung klar formuliert210 und ist nunmehr in § 257c Abs. 2 S. 3 StPO gesetzlich normiert. In der Praxis droht jedoch eine Umgehung in Fällen des sogenannten „fact bargaining“. Hierbei wird nicht der Schuldspruch selbst, sondern der zu Grunde liegende Sachverhalt ausgehandelt, wobei dann das materielle Recht auf den ausgehandelten Sachverhalt zwar korrekt angewendet wird. Wenn das Recht jedoch unzulässigerweise sehenden Auges auf einen unwahren Sachverhalt angewendet wird, wird es zugleich unrichtig angewendet, so dass das sogenannte „fact bargaining“ immer auch mittelbar eine Verabredung über den Schuldspruch darstellt.211 Es wird zu zeigen sein, dass das Delikt der Steuerhinterziehung für diese Art der Rechtswidrigkeit von Absprachen besonders anfällig ist. Ein falscher Schuldspruch wirkt sich auch insoweit auf die richtige Anwendung des Strafzumessungsrechts aus, als der Schuldspruch die richtige Anwendung des Strafzumessungsrechts bedingt. Führt ein falscher Schuldspruch etwa dazu, dass ein unrichtiger gesetzlicher Strafrahmen anzuwenden ist, ist die Strafzumessung bereits im Ansatz unrichtig. In den Fällen des „fact bargaining“ betrifft die Aushandlung darüber hinaus nicht lediglich den Schuldspruch. Denn mit der Aushandlung des Sachverhalts wird immer auch der Strafzumessungssachverhalt ausgehandelt. Das Verständigungsgesetz formuliert insoweit missverständlich, wenn es in § 257c Abs. 2 S. 1 StPO besagt: „Gegenstand der Verständigung dürfen nur die Rechtsfolgen sein […]“. Denn ebenso wie der Schuldspruch können auch die Rechtsfolgen nicht (im Sinne einer disponiblen Verhandlungsmasse) Gegenstand der Verständigung sein, soweit sie aus der Rechtsanwendung (des Strafzumessungsrechts) folgen. Im Übrigen gilt dies nicht nur für die Rechtsanwendung bei gebundenen Entscheidungen, sondern auch für das Ausfüllen von Bewertungs- und Beurteilungsspielräumen. Denn auch hierfür gelten Rechtsregeln, die nicht zur Disposition gestellt werden können. Allerdings ist bei der Rechtsanwendung im Strafzumessungsrecht, also bei der Bestimmung der Rechtsfolgen, der zugrundeliegende Sachverhalt, anders als für die Rechtsandwendung des Schuldspruchs, noch nicht abgeschlossen. Das Prozessverhalten, insbesondere ein noch abzugebendes Geständnis, ist Teil des Strafzumessungssachverhalts. Der Rechtsanwender kann also Ge210 Vgl.
nur NK-StGB/Streng, § 46 Rn. 84 m. w. N. in: FS Rissing-van Saan, S. 1 (5).
211 Altvater,
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3. Teil: Die strafzumessungsrelevanten Umstände
spräche über die noch nicht abgeschlossene Sachlage bezüglich des Strafzumessungssachverhalts führen, wobei er auf die Möglichkeiten der Einflussnahme durch den Beschuldigten durch hypothetisches Prozessverhalten sowie deren anschließende hypothetische rechtliche Bewertung durch das Gericht eingehen darf. Bei der rechtlichen Bewertung ist er an Recht und Gesetz gebunden. Verstößt der Rechtsanwender gegen diese hypothetische Bindung, indem er Strafmilderungen in Aussicht stellt, die sich mit dem hypothetischen Nachtatverhalten nicht rechtfertigen lassen, verletzt er damit zunächst Rechte des Beschuldigten (§ 136a StPO). Kommt es zu dem Nachtatverhalten und gewährt er einen nicht rechtfertigbaren Strafnachlass, wendet er sodann das Recht nicht richtig an. Eine Bindung sich später an die in Aussicht gestellte weitere Rechtsverletzung zu halten, kann jedoch nicht begründet werden, denn dann wäre die Rechtsanwendung ja gerade disponibel. Verfahrensrechtlich abgesichert wird dies durch § 261 StPO (Inbegriff der Hauptverhandlung). Aus strafzumessungsrechtlicher Perspektive besteht somit – neben dem Aushandeln eines falschen Strafzumessungssachverhalts – vor allem die Gefahr, dass die rechtlichen Vorgaben des Strafzumessungsrechts bezüglich der Bewertung des Nachtatverhaltens (insbesondere des Geständnisses) nicht richtig angewendet werden. b) Die rechtliche Bewertung von Geständnissen bei Absprache Strafzumessungstheorieübergreifend lässt sich formulieren, dass unvertretbare Milderungen für ein Geständnis nicht gewährt werden dürfen, gleich ob die Aspekte im Rahmen der Schuldwertung, einer daran anschließenden weiteren Bewertungsebene der Zurückweisungsbedürftigkeit oder der Präventionswertung in Anschlag gebracht werden.212 Dies betrifft beim Geständnis vor allem die Fälle, in denen dem Geständnis erhebliche Milderungen zugesprochen werden, obwohl weder ein Erfolgswert noch ein wesentlicher Handlungswert aufgrund fehlender Schadenswiedergutmachung oder Reue und Schuldeinsicht gegeben ist. Hier sind insbesondere ungerechtfertigte Milderungen aus dem Aspekt der Verfahrenserleichterung heraus zu kritisieren.213 Was das Vorliegen von Reue und 212 Zu Recht weist Greco, GA 2016, S. 1 (9), in diesem Kontext darauf hin, dass die herrschende Spielraumtheorie in Verbindung mit einem unzutreffenden Verständnis der Strafzumessungsschuld, das nicht auf die Tatschuld begrenzt ist, ein materiellrechtlicher Fehler ist, der die Absprachepraxis begünstigt. 213 Ganz abgesehen von der hochproblematischen strafzumessungsrechtlichen Bewertung von Verfahrenserleichterungen ist zu konstatieren, dass echte Einsparungen durch Verständigungen wohl nur unter Aufgabe des materiellen Wahrheitsbegriffs im
5. Kap.: Geständnis255
Schuldeinsicht angeht, behilft sich der BGH mit der oft kritisierten214 Anwendung des Zweifelssatzes.215 Es ist jedoch auch dem positiv geschriebenen Strafzumessungsrecht nicht fremd und auch mit dem materiellen Schuldprinzip vereinbar, die nach Schuld- und Präventionswertung erforderliche Strafe zur Verwirklichung anderer wichtiger Ziele zu unterschreiten. Beispiele sind etwa die Vorschriften in §§ 153 ff. StPO sowie die sog. Kronzeugenregelung in § 46b StGB. Es wäre daher zumindest im Grundsatz nicht undenkbar die Verfahrenserleichterung als Ausdruck des Staatsziels „Funktionsfähigkeit der Rechtspflege“ strafzumessungsrechtlich durch eine Klausel mit zusätzlichen Strafmilderungen zu versehen. Solche Ausnahmen bedürfen jedoch einer expliziten gesetzlichen Regelung. Für die Steuerhinterziehung stellt sich hier vor allem die Frage, ob der Regelung des § 371 AO nicht eine solche gesetzliche Ausnahmeregelung entnommen werden kann. Diese stellt – wie gezeigt216 – die Verhängung der erforderlichen Strafe zurück, um dem Fiskalzweck im Wege eines Anreizeffektes zu dienen. Ein ähnlicher Anreizeffekt ließe sich gerade in den Situationen der Absprache nutzbar machen (und ist auch gerade Hintergrund der klassischen Absprachesituationen). Es liegt daher nahe zu fragen, ob nicht der Rechtsgedanke nutzbar gemacht werden kann um Strafmilderungen unterhalb des schuldangemessenen nach Absprache zu rechtfertigen. Im Unterschied zu § 371 AO zielt der Anreizeffekt bei Absprachen jedoch nicht auf Rechtsgüterschutz durch Schadenswiedergutmachung, sondern in aller Regel lediglich auf Ressourcenersparnis.217 Eine Wiedergutmachung wird häufig gar nicht mehr möglich sein. Denn wenn ein Anfangsverdacht bzw. ein hinreichender Tatverdacht bezüglich eines bestimmten Sachverhaltes bejaht wurde, wird die Besteuerungsbehörde Anlass zur Prüfung eines Besteuerungssachverhalts haben und aufgrund ihrer gegenüber den strafrechtlich durch den Zweifelssatz begrenzten Möglichkeiten des Gerichts weiteren Möglichkeiten den Steuerschaden im Wege der Schätzung regelmäßig begleichen können. Übertragen ließe sich der Rechtsgedanke des § 371 AO daher allenfalls für die Fälle, in denen auch ein Geständnis im Strafprozess noch zur Schadenswiedergutmachung führen kann (Bsp.: Der Täter deckt Sachverhalte in deutlich größerem Umfang auf; Unklarheit, ob der Täter selbst SteuRahmen des Amtsermittlungsgrundsatzes möglich sind, Muhrmann, ZIS 2009, 526 (532 f.); kritisch zur Vereinbarkeit eines prozessualen Wahrheitsverständnisses mit dem materiellen Schuldprinzip Landau, NStZ 2011, 537 (540). 214 SK-StPO/Velten, § 257c StPO, Rn. 16; s. bereits Grünwald, StV 87, 453 (454). 215 BGHSt 43, 195 (209). 216 1. Teil, 4. Kapitel, B., II. 217 Siehe hierzu ausführlich 3. Teil, 5. Kapitel, C., III., b).
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3. Teil: Die strafzumessungsrelevanten Umstände
erschuldner ist) oder in denen zumindest eine Schadenswiedergutmachung noch möglich ist (Bsp.: illiquider Schuldner). In diesen Fällen dürfte allerdings die erhebliche strafmildernde Wirkung, die dem Geständnis bzw. der Schadenswiedergutmachung bereits unter Schuld- und Präventionsaspekten zukäme, genügen, um einen hinreichenden Anreizeffekt auszuüben. Daneben steht mit § 46a Abs. 1 Nr. 2 StGB in diesen Fällen eine Vorschrift zur Verfügung die eine Milderung nach § 49 Abs. 1 StGB und ggf. sogar ein Absehen von Strafe erlaubt. Darüber hinausgehende (schuldunterschreitende) Milderungen nach dem Rechtsgedanken des § 371 AO sind jedoch letztlich im Hinblick auf die Selbstbelastungsfreiheit des Beschuldigten unzulässig. Eine lose Analogie zu § 371 AO verbietet sich daher nach § 136a StPO, der eine explizite gesetzliche Regelung erforderlich macht. Im Ergebnis lässt sich für die rechtliche Bewertung von Geständnissen bei Absprachen unter Strafzumessungsaspekten auch im Bereich der Steuerhinterziehung das oft beklagte Dilemma festhalten, dass sich unter Schuld- und Präventionsaspekten für den Regelfall der Absprachegeständnisse keine erheblichen Strafmilderungen rechtfertigen lassen. Ohne deutliche Milderung wird sich der Täter jedoch nicht auf ein Geständnis einlassen. Das Problem ist, dass aufgrund der Weite der gesetzlichen Strafrahmen bzw. dem Fehlen anderer fixer Zuordnungsregeln sich das Gewähren schuldfremder Strafrabatte leicht kaschieren lässt.218 Die strenge Rechtsprechung des 1. Senats zur Untergrenze des noch Schuldangemessenen – auch in Fällen einer Verständigung nach § 257c StPO – bei der Steuerhinterziehung ist auch als Antwort hierauf zu verstehen.219 2. Nemo tenetur und § 136a StPO Der Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit wird in § 136a StPO als lex specialis konkretisiert.220 Gegen die Willensentschließungsfreiheit wird immer dann verstoßen, wenn dem Täter ein gesetzlich nicht vorgesehener Vorteil versprochen wird oder ihm gedroht wird. Daraus ergibt sich aus strafzumessungsrechtlicher Perspektive zunächst nur die Folge, dass sich an die Grundsätze der Strafzumessung zu halten ist (insbesondere der schuldangemessenen Bestrafung). Werden bei Gesprächen über das mögliche Strafmaß solche Strafen in Aussicht gestellt, die mit den Regeln der Strafzumessung nicht in Einklang stehen, dann wird nicht nur gegen diese Regeln der Strafzumessung, sondern darüber hinaus auch gegen § 136a StPO verstoßen. Altenhain/Haimerl, JZ 2010, 327 (336). BGH NStZ 2011, 643. 220 Schünemann, Gutachten zum 58. DJT, B 98 f. 218 Ähnlich 219 Vgl.
5. Kap.: Geständnis
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Soweit ersichtlich kaum diskutiert ist, inwiefern der Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit das Strafzumessungsrecht selbst beeinflusst.221 Das Inaussichtstellen von Strafmilderungen für Geständnisse stellt stets einen Eingriff in das grundrechtsgleiche Recht der Selbstbelastungsfreiheit des Beschuldigten dar, welches bei einem Konflikt mit anderen Verfassungsprinzipien im Wege der praktischen Konkordanz aufzulösen ist, jedenfalls aber in seinem unantastbaren Kern nicht eingeschränkt werden kann.222 Strafmilderungen für Geständnisse dürfen daher – auch wenn sie in ihrer Höhe mit dem Schuldprinzip zu vereinbaren wären – nicht zu einem Aussagezwang des Beschuldigten führen. Die Selbstbelastungsfreiheit beeinflusst daher das Strafzumessungsrecht und setzt den Milderungen für Geständnisse insoweit Grenzen. Bedenkt man, dass diese Grenzen Geständnissen vorbehalten bleiben müssen, denen aufgrund ihrer rechtsgutsbezogenen Auswirkungen sowie wegen Reue und Einsicht erhebliche Strafmilderungswirkung zukommen kann, relativiert sich die Bedeutung von sonstigen Geständnissen zudem. 3. Legalitätsprinzip und Untersuchungsgrundsatz Neben den Gefahren für die gesetzesmäßige Anwendung des Strafzumessungsrechts, insbesondere des Schuldprinzips, steht auch die Wahrung einer Reihe von Prozessmaximen in der Kritik. Soweit diese Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips sind und damit der Verwirklichung des materiellen Rechts, insbesondere des Strafzumessungsrechts, dienen, stehen sie zumindest in einem mittelbaren Zusammenhang mit diesem. Hervorzuheben sind insoweit das Legalitätsprinzip und der Amtsermittlungsgrundsatz.223 Legalitätsprinzip bedeutet Verfolgungs- und Anklagezwang der Staatsanwaltschaft. Das heißt, wenn und soweit zureichende tatsächliche Anhaltspunkte bestehen, muss die Staatsanwaltschaft ermitteln und, wenn nach Abschluss der Ermittlungen ein hinreichender Tatverdacht bestehen bleibt, Anklage erheben, vgl. §§ 152 Abs. 2, 160, 170 Abs. 1 StPO. Das Legalitätsprinzip wurzelt im Rechtsstaatsprinzip, insbesondere auch im Gleichheitsgrundsatz.224 Gleiches gilt für den Untersuchungsgrundsatz, § 244 Abs. 2 hierzu Hauer, Geständnis und Absprache, S. 281 ff. Geständnis und Absprache, S. 283. 223 Weiterer Ausfluss des im Rechtsstaatsprinzip wurzelnden Ziels der Verwirklichung des materiellen Rechts sind die Prozessmaxime des Unmittelbarkeits-, Öffentlichkeits- und Mündlichkeitsprinzips sowie der in § 261 StPO Vorgabe an das Gericht seine Entscheidung aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung zu schöpfen. Zur Vereinbarkeit von Urteilsabsprachen mit diesen Grundsätzen, s. Schünemann, Gutachten zum 58. DJT, B 80 ff. 224 Tscherwinka, Absprachen im Strafprozeß, S. 123 ff. 221 Siehe
222 Hauer,
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3. Teil: Die strafzumessungsrelevanten Umstände
StPO, der dem Gericht die Erforschung des Sachverhalts von Amts wegen auferlegt. Das darin liegende Gebot bestmöglicher Sachverhaltsaufklärung und Erforschung der materiellen Wahrheit ist im Hinblick auf das materielle Schuldprinzip das zentrale Anliegen des Strafprozesses.225 Wird eine Ausnahme vom Legalitätsprinzip oder Untersuchungsgrundsatz gemacht, dann wird gegebenenfalls auch auf die Verhängung einer schuldangemessenen Strafe verzichtet. Dies stellt noch nicht zwangsläufig auch einen Bruch mit dem Schuldprinzip dar, denn dieses besagt nicht, dass in jedem Fall die schuldangemessene Strafe verhängt werden muss. Allerdings besagt das Schuldprinzip, dass eine verhängte Strafe auch schuldangemessen sein muss, soweit gesetzlich nichts anderes geregelt ist. Damit zieht jeder gesetzlich nicht zugelassene Verstoß gegen das Legalitätsprinzip oder den Untersuchungsgrundsatz bei für schuldig befundenen Tätern auch einen Verstoß gegen das Schuldprinzip nach sich: Die Nichtstrafe ist nicht die gebotene (schuldangemessene) Strafe. Das Gesetz verlangt die Verwirklichung des Legalitätsprinzips und des Untersuchungsgrundsatzes jedoch nicht um jeden Preis. Es sieht vielmehr in bestimmten Fällen Ausnahmen vor. So etwa in den §§ 153 ff. StPO,226 die der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege (ebenso Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips) dienen, und damit zugleich dem Legalitätsprinzip und dem Untersuchungsgrundsatz in deren Aufgabe der Durchsetzung des materiellen Rechts (auch des Strafzumessungsrechts) Grenzen setzen.227 Vor diesem Hintergrund hat Schünemann die Auffassung vertreten, die Ressourcenknappheit der Justizorgane begründe eine Ausnahme vom Legalitätsprinzip analog § 154 Abs. 1 Nr. 2 StPO.228 Unabhängig davon, ob dieser Herleitung dogmatisch gefolgt wird, ist jedenfalls die faktische Grenze, die die endlichen Ressourcen der Justiz der Verwirklichung des Legalitätsprinzips setzen, 225 BVerfGE 133, 168 (200 ff., 225 ff.); s. ferner BVerfGE 57, 250 (275); BVerfGE 86, 288 (317); 107, 104 (118 f.); 115, 166 (192); 118, 212 (230 ff.); 122, 248 (270); BVerfG NJW 2012, 907 (909). 226 Weitere Ausnahmen finden sich etwa in § 376 StPO, § 45 JGG oder in § 31 BtMG, § 46b StGB. Im Strafbefehlsverfahren gilt zwar auch der Untersuchungsgrundsatz. Die Anforderungen an die Aufklärung der Tat sind allerdings geringer, weil nach überwiegender Auffassung hinreichender Tatverdacht und damit die Wahrscheinlichkeit der Schuld genügt. Einem Ausweichen konsensualer Verfahrenserledigungen ins Strafbefehlsverfahren bei Steuerhinterziehungsfällen versucht der BGH allerdings explizit vorzubeugen, indem er in seiner Rechtsprechungslinie zur Strafzumessung bei Millionenbeträgen die Ungeeignetheit des Strafbefehlverfahrens zur Erledigung betont, vgl. BGHSt 53, 71. 227 SK-StPO/Weßlau, Vor §§ 151 ff., Rn. 8 ff. 228 Vgl. Schünemann, Gutachten zum 58. DJT, B 90 ff.; SK-StPO/Weßlau, Vor §§ 151 ff., Rn. 25, 27.
5. Kap.: Geständnis259
anzuerkennen. Die Justiz muss deshalb faktisch über das Legalitätsprinzip disponieren, indem sie bestimmte Sachverhalte ermittelt und bestimmte Sachverhalte nicht mehr ermittelt. Dabei kann sie in ihrer Entscheidung nicht völlig frei sein, sondern muss versuchen, das Rechtsstaatsprinzip so gut wie möglich zu verwirklichen.229 Eine andere Frage ist jedoch, ob die Verwendung der Justizressourcen Gegenstand von Absprachen sein darf. Die Absprache würde dann lauten: Wegen Ressourcenmangels gerechtfertigte Nichtermittlung gegen Geständnis. Gegen die Zulässigkeit einer solchen Absprache bestehen jedoch erhebliche Bedenken. Zwar werden die Möglichkeiten einer Verfahrenseinstellung nach §§ 153 ff. StPO überwiegend als „sonstige verfahrensbezogene Maßnahmen im zugrundeliegenden Erkenntnisverfahren“ gem. § 257c Abs. 2 S. 1 StPO eingeordnet und daher als tauglicher Gegenstand der Verständigung angesehen.230 Doch kann dies allenfalls für gegenüber einem weiteren strafrechtlichen Vorwurf gering ins Gewicht fallenden Sachverhalten gelten. Es darf nicht zu einer camouflierten Absprache über Sachverhalt und Schuldspruch kommen.231 Denn mit der Entscheidung, einen bestimmten Sachverhalt nicht zu erforschen, wird zugleich auf die Verwirklichung des Schuldprinzips verzichtet. Dies kann aber nicht oder allenfalls in sehr geringem (vgl. §§ 153 ff. StPO) Maße zur Disposition der Parteien stehen.
III. Absprachen in Fällen der Steuerhinterziehung Sind damit die typischen Probleme von Absprachen aus strafzumessungsrechtlicher Perspektive erörtert, gilt es nun, deren Relevanz für das Delikt der Steuerhinterziehung aufzuzeigen. Wie viele andere Wirtschaftsdelikte auch sind Steuerdelikte besonders anfällig für Absprachen.232 Worauf der Rechtsanwender bei der Strafzumessung in Absprachefällen zu achten hat, wird deutlich, vergegenwärtigt man sich die deliktsspezifischen Ursachen für diese Anfälligkeit.
229 So auch BGHSt 50, 40 (53 ff.), wonach das Gewicht der Strafsache sowie die Bedeutung und der Beweiswert weiterer Beweismittel gegenüber den Nachteilen von Verfahrensverzögerung und einem prozesswirtschaftlichen vertretbaren Aufwand abzuwägen sind. 230 BeckOK-StPO/Eschelbach, § 257c StPO, Rn. 16; Meyer-Goßner/Schmitt/ Meyer-Goßner, § 257c StPO, Rn. 13; KK/Moldenhauer/Wenske, § 257c Rn. 15. 231 KK/Moldenhauer/Wenske, § 257c Rn. 14. 232 Vgl. zum Gesamtkomplex ausführlich Leibold, Der Deal im Steuerstrafrecht, passim.
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3. Teil: Die strafzumessungsrelevanten Umstände
1. Die Abspracheanfälligkeit der Steuerhinterziehung Der Strafprozess ist für Absprachen deshalb so anfällig, weil alle Beteiligten in der Regel hiervon profitieren können.233 Wie sogleich zu zeigen ist, stellt sich dies bei Steuerstrafverfahren für die herkömmlichen Profiteure Richter, Staatsanwalt und Angeklagter in gesteigerter Form dar. Darüber hinaus besteht die Besonderheit, dass auch das „Opfer“ ein starkes Interesse an kooperativem Verhalten seitens des Täters hat. Hauptverantwortlich für diese absprachenfördernde Gesamtinteressenlage ist der Anknüpfungssachverhalt der Strafnorm selbst: das Steuerrecht. a) Ursache: Steuerrecht – rechtliche Schwierigkeiten Mit der Steuerverkürzung bzw. dem nicht gerechtfertigten Steuervorteil als tatbestandlichem Erfolg der Steuerhinterziehung, § 370 AO, knüpft das Delikt an die jeweils einschlägigen Vorschriften des Steuerrechts an.234 Dadurch wird die Auseinandersetzung mit außerstrafrechtlichen, steuerrechtlichen Vorfragen erforderlich, die häufig rechtliche Schwierigkeiten enthalten.235 Solche rechtliche Schwierigkeiten – wie sie etwa häufig noch in Wirtschaftsstrafsachen mit ihren aktien- und gesellschaftsrechtlichen Fragestellungen und Umweltstrafsachen, in denen verwaltungsrechtliche Vorgaben von Bedeutung sind, anzutreffen sind – bilden eines der hauptsächlichen Anwendungsgebiete für strafprozessuale Verständigungen.236 Die Strafgerichte sind gemäß Art. 20 Abs. 3, Art. 97 Abs. 2 GG, § 1 GVG und § 25 DRiG unabhängig, nur dem Gesetz unterworfen und haben gem. § 17 Abs. 2 GVG „uneingeschränkte Vorfragenkompetenz“. Sie sind damit weder an bestandskräftige Steuerbescheide noch an im Besteuerungsverfahren ergangene Entscheidungen des Bundesfinanzhofs gebunden.237 Mit der 233 Hauer, Geständnis und Absprache, S. 51 ff.; Tscherwinka, Absprachen im Strafprozeß, S. 21 ff. 234 Ob § 370 AO dabei mit der wohl herrschenden Meinung (BGHSt 23, 319; Eich, Die tatsächliche Verständigung, S. 52; Joecks/Jäger/Randt/Joecks, § 370 AO, Rn. 199; Seer, FS Kohlmann, S. 535: „blankettartig“) als Blanketttatbestand anzusehen ist oder lediglich normative Tatbestandsmerkmale enthält, die unter Heranziehung des Steuerrechts auszulegen sind (so Hübschmann/Hepp/Spitaler/Hellmann, § 370 AO, Rn. 47; Kohlmann/Ransiek, § 370 Rn. 27.1), kann hier dahinstehen. 235 Vgl. Harms, in: GS Schlüchter, S. 451 (453); Seer, FS Kohlmann, S. 535; zu Schwierigkeiten im Bereich des Irrtums s. Joecks/Jäger/Randt/Joecks, § 369 Rn. 100 ff.; Lang, StuW 2003, 289 (293). 236 Kuckein/Pfister, in: FS BGH, S. 641 (643); Wehnert, StV 2002, 219. 237 Anders noch Kirchhof, NJW 1985, 2977 ff.; überzeugend dagegen Eich, Die tatsächliche Verständigung, S. 59 ff.; ebenso Burkhard, Der Strafbefehl im Steuer-
5. Kap.: Geständnis261
Kompetenz geht auch die Verpflichtung einher, diese Rechtsanwendung im Einzelfall selbst vorzunehmen und nicht etwa dem als Zeugen gehörten Ermittlungsbeamten oder Beamten der Finanzverwaltung zu überlassen. Gleichwohl gilt das Abgabenrecht auch im Hinblick auf seine europarechtlichen Bezüge als eine der schwierigsten und umfangreichsten Rechtsmaterien des deutschen Rechtssystems.238 Die steuerrechtlichen Vorfragen erfordern daher eine besondere Sach- und Rechtskunde, so dass nur entsprechend versierte Gerichte und Staatsanwaltschaften noch in der Lage sind, dem Anspruch des iura novit curia zu entsprechen. Wo dies nicht oder nicht hinreichend der Fall ist, ist die Versuchung zur Verständigung unter Einbußen für das Legalitätsprinzip und den Untersuchungsgrundsatz groß.239 Der Gesetzgeber jedenfalls hat dem für das Steuerstrafverfahren durch die besonderen gerichtlichen Zuständigkeiten nach § 391 AO, § 74c GVG und die Möglichkeit der Einrichtung von Schwerpunktstaatsanwaltschaften nach § 143 Abs. 4 GVG Rechnung getragen. Dennoch werden der Justiz in der Realität überwiegend Defizite unterstellt.240 So gilt das Gericht, was die steuerrechtliche Sachkunde angeht, als „das schwächste Glied“.241 Die Kritik betrifft sowohl Steueramtsrichter „die weder die nötige Rechtskunde noch den erforderlichen Willen noch das praktische Verständnis für das Steuerstrafrecht aufweisen und daher tat- und schuldunangemessen niedrige Strafen verhängen“,242 wie auch Wirtschaftsstrafkammern und gilt entsprechend auch für Schwerpunktstaatsanwaltschaften, die mangels steuerstrafrechtlicher Kenntnisse ihren Aufgaben im Ermittlungsverfahren nicht gerecht werden können.243 Hauptursächlich hierfür soll die unzureichende Personalplanung bzw. eine zu hohe Personalfluktuation sein, die die beabsichtigte Spezialisierung nicht zulasse.244
strafrecht, S. 173; Kohlmann/Hilgers-Klautzsch, § 385 Rn. 562; Joecks/Jäger/Randt/ Joecks, § 370 AO, Rn. 73. 238 Harms, in: GS Schlüchter, S. 451 (456). 239 Burkhard, Der Strafbefehl im Steuerstrafrecht, S. 174; Eich, Die tatsächliche Verständigung, S. 76; Harms, in: GS Schlüchter, S. 451 (464 f.). 240 Joecks, FS Fachanwalt Steuerrecht, S. 661 (662); Pflaum, Kooperative Gesamtbereinigung, S. 27; vgl. auch BGHSt 50, 299 (308 f.). 241 Rammert, Die besondere Stellung der Verfahrensbeteiligten im Steuerstrafprozeß, S. 85, 126 der daher spezielle Wirtschaftsschöffen nach Vorbild der Handelsrichter vorschlägt. 242 Wabnitz/Janovsky/Kummer, Handbuch des Wirtschaftsstrafrechts, 18. Kapitel, Rn. 233; vgl. auch Harms, in: GS Schlüchter, S. 451 (467). 243 Joecks, Praxis des Steuerstrafrechts, S. 104; Wabnitz/Janovsky/Kummer, Handbuch des Wirtschaftsstrafrechts, 18. Kapitel, Rn. 211; Pflaum, Kooperative Gesamtbereinigung, S. 28; Quedenfeld/Füllsack, Verteidigung in Steuerstrafsachen, Rn. 132; Schwedhelm, in: FS Streck, S. 561 (569).
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3. Teil: Die strafzumessungsrelevanten Umstände
b) Ursache Steuerrecht – tatsächliche / faktische Schwierigkeiten Es greift jedoch zu kurz und wird der Justiz auch nicht gerecht, wenn man die Kooperationsneigung der Beteiligten in Steuerverfahren einzig auf mangelnde Rechtskunde der Justizbeamten zurückführt. Das Steuerrecht ist vielmehr seiner Natur nach auf Dialog angelegt. Der Steuergläubiger ist auf die Mitwirkung des Steuerschuldners faktisch angewiesen, der hierzu gesetzlich verpflichtet wird, § 90 ff. AO. Dies hat seinen Grund schlicht darin, dass es für den Staat schwierig ist, die tatsächlichen Umstände offen zu legen. Pointiert formuliert dies der renommierte Steuerstrafverteidiger Streck, der meint: „Schweigen ist das am schwersten zu widerlegende Argument“.245 aa) Kooperationsmaxime im Steuerrecht? Seer geht dabei sogar so weit, zwischen Finanzbehörde und Steuerpflichtigem eine „kooperative Verantwortungsgemeinschaft“ gleichrangiger Partner für die Sachverhaltsermittlung zu sehen. Die §§ 88 ff. AO seien Ausdruck einer im Abgabenrecht bestehenden „Kooperationsmaxime“.246 Insbesondere aus den Mitwirkungspflichten nach §§ 90 ff. AO leitet Seer ab, das Besteuerungsverfahren sei „auf eine kooperative Arbeitsteilung und Dialog ange legt“.247 Überwiegend wird eine solch weitreichende Verlagerung der Verantwortlichkeit für die Sachverhaltsaufklärung auf den Steuerpflichtigen jedoch abgelehnt.248 Die faktische Angewiesenheit der Finanzbehörden auf die Mitwirkung des Steuerpflichtigen begründet selbst noch keine rechtliche Mitverantwortung desselben.249 Die rechtlichen Mitwirkungspflichten des Steuerpflichtigen, insbesondere § 90 AO, seien nicht im Sinne von „Mitge 244 Harms, in: GS Schlüchter, S. 451 (471); Wabnitz/Janovsky/Kummer, Handbuch des Wirtschaftsstrafrechts, 18. Kapitel, Rn. 211; Schmitdt, StuW 1998, 278 (282). 245 Streck/Spatscheck, Steuerfahndung, Rn. 65 ff.; wohl in Anlehnung an Henry Wheeler Shaw alias Josh Billings, dem das Zitat zugeschrieben wird: „Silence is one oft the hardest arguments to refute“, [Stand: 31.07.2016]. 246 Seer, Verständigungen im Steuerstrafverfahren, S. 178 ff., 487 ff.; Tipke/Lang/ Seer, § 21 Rn. 4; Tipke/Kruse/Seer, § 90 AO, Rn. 11, Vor § 118 Rn. 9; Seer, BB 1999, 78 (79); Seer, StuW 1995, 213 (215); ebenso Birk, Steuerrecht, Rn. 66–79; Englisch, Verständigungen, S. 15. 247 Tipke/Kruse/Seer, Vor § 118 AO, Rn. 9. 248 Müller-Franken, Maßvolles Verwalten, S. 155 f., 236; Hübschmann/Hepp/Spitaler/Söhn, § 78 AO, Rn. 120; Söhn, FS Selmer, S. 911 (915 f.); Reiß, FS Grünwald, S. 495 (507); Pflaum, Kooperative Gesamtbereinigung, S. 120. 249 Müller-Franken, Maßvolles Verwalten, S. 207; Hübschmann/Hepp/Spitaler/ Söhn, § 88 AO, Rn. 94.
5. Kap.: Geständnis
263
staltungsbefugnissen“250 ausgestaltet, sondern vielmehr als einseitige Erklärungspflichten im Besteuerungsverfahren,251 an dessen Abschluss mit dem Steuerbescheid gem. § 155 AO als Verwaltungsakt eine einseitig-hoheitliche Entscheidung steht.252 Die Mitwirkungspflichten des Steuerpflichtigen seien daher der Amtsermittlungspflicht systematisch nicht gleich-, sondern untergeordnet. Sie schränken den Amtsermittlungsgrundsatz daher nicht ein, sondern sind vielmehr auf dessen Verwirklichung gerichtet.253 Der Steuerpflichtige ist Aufklärungs- und Beweismittel in eigener Sache.254 Soweit die Rechtsprechung des BFH255 daher von der „Mitverantwortung“ des Steuerpflichtigen spricht, reiche diese nicht weiter als dessen Erklärungspflichten, weshalb eine Verletzung der Mitwirkungspflichten nur dann die Amtsaufklärungspflicht mindert, wenn der Finanzbehörde die Beschaffung sonstiger Beweismittel nicht möglich ist und daher weitere Aufklärungsmaßnahmen unverhältnismäßig oder unzumutbar sind.256 Ob man mit Seer von einer „Kooperationsmaxime“ bzw. „kooperativen Verantwortungsgemeinschaft“ gleichrangiger Partner für die Sachverhaltsaufklärung im Besteuerungsverfahren ausgehen kann, muss hier nicht entschieden werden, wird jedoch mit guten Gründen zu bezweifeln sein.257 Denn jedenfalls für das Steuerstrafverfahren bleibt es bei der uneingeschränkten Geltung des Amtsermittlungsgrundsatzes bzw. der Inquisitionsmaxime. Die Diskussion um eine „Kooperationsmaxime“ im Steuerrecht offenbart jedoch die stark dialogische Struktur der Sachverhaltsaufklärung in Steuerverfahren.258 Da Seer, StuW 1995, 213, 215. Maßvolles Verwalten, S. 166, Hübschmann/Hepp/Spitaler/ Söhn, § 78 AO, Rn. 120. 252 Nichts anderes sei auch aus der Fürsorgepflicht der Finanzbehörde nach § 89 AO und dem Anspruch auf rechtliches Gehör nach § 91 AO abzuleiten, s. Hübschmann/Hepp/Spitaler/Söhn, § 89 AO, Rn. 3, § 91 AO, Rn. 10. 253 Reiß, Besteuerungsverfahren und Steuerstrafverfahren, S. 17; Hübschmann/ Hepp/Spitaler/Söhn, § 88 AO, Rn. 94; ebenso Puhl, DStR 1991, 1141 (1142). 254 BFHE 96, 129 (135); Müller-Franken, Maßvolles Verwalten, S. 166; Puhl, DStR 1991, 1141 (1142). 255 BFHE 156, 38 (41 f.). 256 Hübschmann/Hepp/Spitaler/Söhn, § 88 AO, Rn. 100; Hübschmann/Hepp/Spitaler/Trzaskalik, § 162 AO, Rn. 22; Puhl, DStR 1991, 1141, 1142; Pflaum, Kooperative Gesamtbereinigung, S. 119 f. 257 Letztlich spricht auch Seer von der „Letztverantwortlichkeit“ der Finanzbehörde, die damit doch nur Ausdruck, der sich aus § 88 AO ergebenden „Alleinverantwortlichkeit“ ist. Insoweit kritisch Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, S. 249 f., 252 f.; Müller-Franken, Maßvolles Verwalten, S. 167; Reiß, FS Grünwald, S. 495 (507); Pflaum, Kooperative Gesamtbereinigung, S. 117 ff. 258 Vgl. auch BVerfGE 110, 94 (121): „Das faktische und rechtliche Gewicht, das der Mitwirkung des Steuerpflichtigen zukommt, kann vielmehr als Konsequenz einer fairen, zumutbaren und effektiven Ausgestaltung des Verfahrens der Amtsermittlung 250 So
251 Müller-Franken,
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3. Teil: Die strafzumessungsrelevanten Umstände
deren Wurzel im Faktischen liegt, kann sich auch das Steuerstrafverfahren – unabhängig von dessen rechtlicher Ausgestaltung – dieser dialogischen Struktur nicht entziehen. bb) Die Aufklärungspflicht im Steuerstrafverfahren In Hinterziehungsfällen sind die tatsächlichen Schwierigkeiten naturgemäß groß, da die Verletzung der Mitwirkungspflicht den Behörden die Aufklärung des Sachverhalts gerade erschweren sollte. Zwar entfällt die gesetzliche Mitwirkungspflicht nicht aufgrund des nemo-tenetur-Grundsatzes. Gem. § 393 Abs. 1 AO bleibt der Steuerpflichtige auch nach Einleitung eines Strafverfahrens gegen diesen zur Mitwirkung verpflichtet. Die Pflicht kann lediglich nicht mehr mit Zwangsmitteln durchgesetzt werden, § 393 Abs. 1 S. 2 AO. Jedoch verliert eine Pflicht, die von den Behörden nicht mehr durchgesetzt werden kann und daher faktisch suspendiert ist,259 ihren Charakter als solche.260 Der Steuerpflichtige wird hiervon regelmäßig Gebrauch machen und seine Mitwirkung sowohl im Steuerstrafverfahren als auch im Besteuerungsverfahren verweigern.261 Zur Bewältigung von Sachverhaltsaufklärungsschwierigkeiten aufgrund einer Verletzung der Mitwirkungspflicht des Steuerpflichtigen gibt das Gesetz den Behörden das Instrument der Schätzung an die Hand, § 162 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 AO. Die Anforderungen an den Umgang mit diesem Instrument sind jedoch abhängig von der Verfahrensart. (1) Auswirkungen des Zweifelgrundsatzes Im Besteuerungsverfahren ist es das Ziel der Schätzung, denjenigen Betrag zu bestimmen, welcher der Wirklichkeit am nächsten kommt.262 Bei groben Verstößen des Steuerpflichtigen gegen seine steuerrechtlichen Mitwirkungspflichten kann das Finanzamt innerhalb des Spielraums, den die gegebenen Anhaltspunkte bieten, an die oberste Grenze gehen.263 Bei der steuerlichen beschrieben werden, das auf den Dialog mit den Mitwirkungspflichtigen angewiesen und deshalb dialogisch strukturiert ist.“ 259 Hellmann, Neben-Strafverfahrensrecht, S. 99 f.; Joecks, in: FS Kohlmann, S. 451 (452); Joecks/Jäger/Randt/Joecks, § 393 Rn. 5; Reiß, Besteuerungsverfahren und Strafverfahren, S. 263; Reiter, nemo tenetur und Steuererklärungspflicht, S. 171; Beermann/Gosch/Seipl, § 393 AO, Rn. 31. 260 Kohlmann, in: FS Tipke, S. 487 (503). 261 Randt, DStJG 31, 263, 267; ebenso Grezesch, DStR 1997, 1273, Salditt, StuW 1998, 283. 262 BFHE 89, 472. 263 BFHE 88, 212.
5. Kap.: Geständnis265
Schätzung wird daher ein „Unsicherheitszuschlag“ für zulässig gehalten, der – aufgrund reduzierter Beweismaßanforderungen264 – zulasten des Steuerpflichtigen ausfallen kann.265 Bietet der Besteuerungssachverhalt der Behörde etwa nur wenige Anhaltspunkte, ist es daher nicht ausgeschlossen, dass der Steuerpflichtige trotz der stets gebotenen sorgfältigen Abwägung aller Umstände durch das Ergebnis stärker belastet wird, als es den verwirklichten Besteuerungsgrundlagen entspricht.266 Unzulässig sind allerdings Schätzungen bzw. „Unsicherheitszuschläge“, die so hoch ausfallen, dass ihnen „Strafcharakter“ zukommt (sog. „Mondschätzungen“).267 Anders als die Schätzung im Besteuerungsverfahren, die denjenigen Betrag bestimmen soll, der die größte Wahrscheinlichkeit für sich hat, kommt es im Strafverfahren auf die Feststellung der Beträge an, die nach der vollen Überzeugung des Strafrichters als erwiesen anzusehen sind.268 Es würde jedoch der Gerechtigkeit widersprechen, wenn der Steuerhinterzieher nur deshalb unbestraft oder nicht angemessen bestraft bliebe, weil dem Gericht die genaue Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen nicht en Detail möglich ist, obwohl der Täter diesen Umstand durch pflichtwidriges Unterlassen oder durch Vernichten von Aufzeichnungen selbst herbeigeführt hat.269 Die Einführung etwa einer actio illicita in causa im Steuerstrafverfahren ist allerdings gleichfalls keine denkbare Lösung.270 Es bleibt dabei, dass der Grundsatz „in dubio pro reo“ durch ein Vorverhalten des Beschuldigten nicht eingeschränkt wird.271 Der Zweifelssatz lässt daher „Unsicherheitszuschläge“ zulasten des Beschuldigten nicht zu, so dass die Schätzung im 264 Siehe dazu Dörn, wistra 1993, 50 (54 ff.); MünchKomm/Schmitz/Wulf, § 370 AO, Rn. 187. Einschränkend BFH wistra 2002, 350 (352); BFHE 215, 66. 265 BFHE 154, 465 (471 f.); BFH NV 1999, S. 741; MünchKomm/Schmitz/Wulf, § 370 AO, Rn. 187 m. w. N. 266 Vgl. BFH HFR 1962, 235; Joecks/Jäger/Randt/Joecks, § 370 Rn. 80. 267 Tipke/Kruse/Seer, § 162 AO, Rn. 13, 44 f. m. w. N.; Wannemacher/Kürzinger, S. 136 Rn. 253; Kohlmann/Ransiek, § 370 AO, Rn. 480; MünchKomm/Schmitz/Wulf, § 370 AO, Rn. 187. 268 BGHSt 3, 377, 383; Hübschmann/Hepp/Spitaler/Hellmann, § 370 AO, Rn. 167; Joecks/Jäger/Randt/Joecks, § 370 Rn. 81; Kohlmann/Schauf, § 370 AO, Rn. 497. 269 BGH NJW 1819; BGH wistra 1999, 106; Joecks/Jäger/Randt/Joecks, § 370 Rn. 81. 270 Joecks, wistra 1990, 52 (55). 271 Joecks/Jäger/Randt/Joecks, § 370 Rn. 81; Hübschmann/Hepp/Spitaler/Hellmann, § 370 AO, Rn. 165; bei Sachverhalten mit Auslandsbezug ist der BGH allerdings der Auffassung, dass der Beschuldigte „Unsicherheiten zu seinem Nachteil im Rahmen des Schätzungsspielraums gegen sich gelten lassen“ müsse, wenn sie gerade aus einer Verletzung der erhöhten Mitwirkungspflicht der Beteiligten nach § 90 Abs. 2, 3 resultieren, vgl. BGH wistra 1995, 67 (69); BGH wistra 1999, 103 (106).
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3. Teil: Die strafzumessungsrelevanten Umstände
Steuerstrafverfahren regelmäßig niedriger ausfallen wird als im Besteuerungsverfahren.272 (2) Eigene Sachverhaltsermittlung des Gerichts und Darstellung in den Urteilsgründen Eine – in der Praxis aufgrund der rechtlichen und tatsächlichen Schwierigkeiten nicht selten missachtete – rechtliche Selbstverständlichkeit ist, dass der Sachverhalt im Steuerstrafverfahren durch das Gericht selbstständig ermittelt werden muss. Dem Gericht ist auch bei Unklarheiten über die Besteuerungsgrundlage eine freie Schätzung ohne zureichende Anhaltspunkte nicht gestattet.273 Es muss sich auf Hilfstatsachen stützen.274 Daher ist eine dem Beweisrecht der StPO entsprechende Aufklärung des Besteuerungssachverhalts auch im Wege der Schätzung sehr aufwendig.275 Es genügt keinesfalls schlicht auf Betriebsprüfungsberichte zu verweisen, die Ermittlungsergebnisse der Steuerfahndung in das Urteil zu übernehmen oder Aussagen wiederzugeben, die Finanzbeamte als Zeugen in der Hauptverhandlung zur Behandlung steuerlicher Fragen gemacht haben.276 Eine Schätzung der Finanzbehörden kann nur dann übernommen werden, wenn der Tatrichter diese eigenverantwortlich nachgeprüft hat und von ihrer Richtigkeit überzeugt ist.277 Unter diesem Gesichtspunkt zu kritisieren ist auch die – wie zum Teil behauptet wird278 – verbreitete Praxis mancher Gerichte die Schätzung aus dem Besteuerungsverfahren um „Sicherheitsabschläge“ zu vermindern, weil auf diesem Weg letztendlich doch eine steuerverfahrensrechtliche Schätzung einfach übernommen wird.279 272 MünchKomm/Schmitz/Wulf, § 370 AO, Rn. 187; Joecks, wistra 1990, 52 (55); Hübschmann/Hepp/Spitaler/Hellmann, § 370 AO, Rn. 165; a. A. Volk, in: FS Kohlmann, S. 579 (586 ff.); Hild, DB 1996, 2300 (2301). 273 OLG Celle BB 1957, 24; s. auch BGH wistra 470. 274 Beispiele bei Joecks/Jäger/Randt/Joecks, § 370 Rn. 82 f. m. w. N.: etwa der Rückschluss aus dem Verbrauch des Angeklagten und einem Vermögensvergleich oder die Einholung der Erfahrungssätze bei vergleichbaren Vertrieben. 275 Burkhard, Der Strafbefehl im Steuerstrafrecht, S. 187: „häufig 3 Jahre und länger“; Gaede, wistra 2004, 166 (169); Keller/Schmid, wistra 1984, 201; Rönnau, Die Absprache im Strafprozeß, S. 48. 276 BGH wistra 2001, 22 (23). Zum gegenteiligen Verfahren in der Praxis Quedenfeld/Füllsack, Verteidigung in Steuerstrafsachen, Rn. 132, 143. 277 BGH wistra 2005, 341; BGH wistra 1984, 182; BGH wistra 1992, 147 (148); BGH wistra 2001, 308 (309); BGH wistra 2007, 470; Burkhard, Der Strafbefehl im Steuerstrafrecht, S. 86; Reiter, nemo tenetur und Steuererklärungspflicht, S. 185; Wenzel, Das Verhältnis von Steuerstraf- und Besteuerungsverfahren, S. 89 f. 278 Randt, Steuerfahndungsfall, Rn. E 178; Schützeberg, StBp 2009, 33 (38). 279 Pflaum, Kooperative Gesamtbereinigung, S. 30.
5. Kap.: Geständnis
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Unverzichtbar ist auch die für das Revisionsgericht nachvollziehbare Darlegung der Schätzungsergebnisse in den Urteilsgründen.280 Die Berechnungsdarstellung in den Urteilsgründen muss dabei so gewählt werden, dass dem Revisionsgericht die Überprüfung der gerichtlichen Subsumtion möglich ist. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs müssen daher die Urteilsgründe bei einer Verurteilung wegen Steuerhinterziehung nicht nur die Summe der jeweils verkürzten Steuern, sondern für jede Steuerart und jeden Steuerabschnitt gesondert die Berechnung der verkürzten Steuern im Einzelnen angeben.281 Verstoßen Wirtschaftsstrafkammern gegen diese Grundsätze, wird dies vom BGH regelmäßig beanstandet.282 Die Darstellung der Berechnung der hinterzogenen Steuern kann allerdings als Teil der Rechtsanwendung dann verkürzt und ergebnisbezogen erfolgen, wenn der Angeklagte ein Geständnis abgelegt hat und ferner hinreichend sachkundig ist, um die steuerlichen Auswirkungen seines Verhaltens zu erkennen.283 Es lässt sich somit festhalten, dass Ermittlungen in Steuerstrafsachen nicht nur hohe Anforderungen an die rechtliche Sachkunde der Justizbeamten stellen, sondern auch, was die Sachverhaltserforschung angeht, äußerst aufwendig sind. Es verwundert daher nicht, dass die Strafverteidiger den Finger auch in eben diese „Wunde“ legen und die Verteidigung in Steuerstrafsachen vornehmlich über den objektiven Tatbestand erfolgt.284 Werden die Ermittlungsergebnisse der Finanzbehörden in der Hauptverhandlung widerlegt, taugen diese (zu Recht) auch nicht als Vorlage für eigene Berechnungen.285 Großes Potenzial zur Arbeitserleichterung bieten daher umfassende Geständnisse, die im Einklang mit den Ergebnissen des Besteuerungsverfahrens stehen und eine streitige Hauptverhandlung mit umfassenden Beweiserhebungen entbehrlich machen. (3) Die tatsächliche Verständigung Als Konsequenz der dialogischen Struktur wird im Besteuerungsverfahren der Konsens mit dem Steuerpflichtigen schon seit geraumer Zeit als probates Mittel zur Verfahrenserleichterung und gleichzeitig auch zur Überwindung der besonderen Ermittlungsschwierigkeiten angesehen. Während Absprachen im Strafverfahren erst 1987 Gegenstand höchstrichterlicher Rechtsprechung 280 BGH
wistra 2007, 345 (346). AO § 370 Abs. 1 Berechnungsdarstellung 2, 3, 4 und 6. 282 Harms, NStZ-RR 1998, 97 (100); Harms/Jäger, NStZ 2001, 181 (186); Harms/Jäger, NStZ 2002, 244 (251). 283 BGHR AO § 370 Abs. 1 Berechnungsdarstellung 2, 3, 5 und 8. 284 Streck, DStJG 18, S. 173, 185. 285 Joecks, in: FS Fachanwalt Steuerrecht, S. 661 (663 f.). 281 BGHR
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3. Teil: Die strafzumessungsrelevanten Umstände
waren,286 sind die „tatsächlichen Verständigungen“ bereits 1925 vom Reichsfinanzhof287 beschrieben und in den Folgejahren – ab 1955 auch in der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs – als Rechtsinstitut fortentwickelt worden.288 Seit der Grundsatzentscheidung vom 11.12.1984 stellt der BFH an die Wirksamkeit einer tatsächlichen Verständigung in ständiger Rechtsprechung folgende drei Anforderungen: Die tatsächliche Verständigung ist nur im Bereich der Sachverhaltsermittlung zulässig, nicht hingegen über Rechtsfragen, sie setzt eine erschwerte Sachverhaltsermittlung voraus und darf nicht zu offensichtlich unzutreffenden Ergebnissen führen.289 Die Bindungswirkung einer wirksamen tatsächlichen Verständigung für die Beteiligten wird seit BFH 7.7.2004 eindeutig aus dem Grundsatz von Treu und Glauben hergeleitet.290 Den Versuchen die Rechtsnatur der tatsächlichen Verständigung auf einen öffentlich-rechtlichen Vertrag zurückzuführen291 wird damit eine Absage erteilt. Dies überzeugt vor dem Hintergrund der uneingeschränkten Geltung eines auch im Besteuerungsverfahren an dem wahren Sachverhalt orientierten Amtsermittlungsgrundsatzes. Denn der „zutreffende Besteuerungssachverhalt“ kann bei Unaufklärbarkeit allenfalls schätzungsweise beschrieben, nicht aber im eigentlichen Sinn „vereinbart“ werden.292 Die tatsächliche Verständigung ist damit richtigerweise nicht als Ergebnis zweier übereinstimmender Willens-, sondern Wissenserklärungen zu sehen.293 Die Finanzbehörde nimmt innerhalb der ihr durch § 162 AO eröffneten Bandbreite eine „konsensfähige“ Schätzung vor, der sich der Steuerpflichtige dann anschließt.294 286 S. o. 3. Teil, 5. Kapitel, C., I.; zum Teil wird die tatsächliche Verständigung auch als Vorläufer der Höchststrafenabrede im Strafverfahren angesehen, vgl. Reiß, in: FS Grünwald, S. 495 f.; ähnlich Eich, Die tatsächliche Verständigung, S. 79 ff.; Meyding/Bühler, DStR 1991, 488 (492). 287 RFHE 18, 92 (94 f.). 288 RFHE 50, 347; BFHE 60, 235 (238); BFHE 62, 230 (231); BFHE 78, 225 (229); BFHE 142, 549 (556); zuletzt etwa BFHE 223, 194 (196); weitere Nachweise bei Pflaum, Kooperative Gesamtbereinigung, S. 110 ff., 117. 289 BFHE 142, 549 (556). 290 BFHE 206, 292 (296, 301); zur Diskussion bis dahin vgl. Eich, Die tatsächliche Verständigung, S. 13 ff. 291 So weite Teile der Literatur, vgl. etwa Birk, Steuerrecht, Rn. 416; Eich, Die tatsächliche Verständigung, S. 23; Englisch, Verständigungen, S. 34; Offerhaus, DStR 2001, 2093 (2095, 2097); Raupach, DStJG 21, 175; Seer, Verständigungen in Steuerverfahren, S. 80 ff., 98 ff. 292 Mösbauer, BB 2003, 1037 (1039); Sommerfeld, Sachverhaltsermittlung im Besteuerungsverfahren, S. 32. 293 Pflaum, Kooperative Gesamtbereinigung, S. 133; anders Beermann/Gosch/ Sauer, § 201 AO, Rn. 41: Willens- und Wissenserklärung. 294 FG Münster, Beschl. vom 29.01.1996 – 8 V 5581/95 E, U und 8 V 188/96 U, EFG 1996, 464, 465; Kirchhof, DStJG 18, S. 17, 26 f.; Kruse, in: FS Vogel, S. 517
5. Kap.: Geständnis269
Der Amtsermittlungsgrundsatz wird daher nach dem Verständnis des Bundesfinanzhofs durch das Institut der tatsächlichen Verständigung in keiner Weise eingeschränkt. Vielmehr soll eine tatsächliche Verständigung gerade bezwecken, den Besteuerungssachverhalt möglichst zutreffend zu ermitteln, also den Sachverhalt zu bestimmen, für den die größtmögliche Wahrscheinlichkeit spricht.295 Ganz entscheidend ist es daher die vom BFH genannte Voraussetzung der „erschwerten Sachverhaltsermittlung“ entsprechend eng auszulegen,296 um eine zu weitreichende Anwendung der tatsächlichen Verständigung und damit auch ein Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz oder das Legalitätsprinzip zu vermeiden. Raum für eine tatsächliche Verständigung ist daher erst dort gegeben, wo die Aufklärungspflicht der Finanzbehörde gemäß § 88 AO endet, weil eine weitere Sachverhaltsaufklärung unmöglich, unverhältnismäßig oder unzumutbar ist, und nur dann, wenn nicht nach den Grundsätzen der objektiven Beweislastverteilung entschieden werden muss.297 Ob die Finanzbehörde einen Sachverhalt ermittelt, steht auch im Besteuerungsverfahren nicht in ihrem Belieben und darf nicht der Initiative oder dem Gutdünken der Beteiligten überlassen bleiben.298 Die tatsächliche Verständigung stellt damit eine zusätzliche Erkenntnisquelle im Rahmen der Schätzungssituation der Finanzbehörde dar. Freilich ist nicht auszuschließen, dass in der Praxis tatsächliche Verständigungen auch ihrer verfahrenserleichternden Wirkung zuliebe abgeschlossen werden, wobei die Ermittlung des wahren Sachverhalts auf der Strecke bleiben kann. Im Besteuerungsverfahren wird somit die sogenannte tatsächliche Verständigung als geeignetes Hilfsmittel zur Ermittlung des wahren Sachverhalts im Rahmen der Schätzungsmöglichkeiten angesehen. Ob dies auch auf Gespräche mit dem Angeklagten299 bei der Ermittlung im Steuerstrafverfahren übertragbar ist, muss jedoch bezweifelt werden. Denn hier ist in dubio pro reo vorsichtig zu schätzen. Der Steuerpflichtige läuft nicht Gefahr, dass die (523); Pflaum, Kooperative Gesamtbereinigung, S. 133; Hübschmann/Hepp/Spitaler/ Trzakalik, § 162 AO, Rn. 46. 295 BFHE 181, 103 (105); BFH NV 2000, 537. 296 A. A. Seer, Verständigungen in Steuerstrafverfahren, S. 382 ff., der lediglich eine „objektivierte Ungewissheit“ fordert; Seer, FS Kohlmann, S. 535 (539); ähnlich Schick, Vereinbarungen im Steuerrecht, S. 34, der von einer „objektiv zweifelhaften Lage“ spricht. 297 Englisch, Verständigungen, S. 19; Pflaum, Kooperative Gesamtbereinigung, S. 148; Sommerfeld, Sachverhaltsermittlung im Besteuerungsverfahren, S. 35 f.; Joecks/Jäger/Randt/Randt, § 404 Rn. 152; Hübschmann/Hepp/Spitaler/Söhn, § 78 AO, Rn. 129. 298 BFHE 206, 292 (300). 299 Soweit sich hier und im Folgenden lediglich auf den Angeklagten bezogen wird, dient dies der Vereinfachung. Die Aussagen treffen gleichermaßen auf Verdächtige in vorgelagerten Verfahrensstadien zu.
270
3. Teil: Die strafzumessungsrelevanten Umstände
Besteuerungsgrundlagen zu seinen Ungunsten geschätzt werden. Allein die umgekehrte Ausgangslage im Besteuerungsverfahren dürfte jedoch die Annahme rechtfertigen, dass Schätzungen des Steuerpflichtigen neben Schätzungen der Behörde selbst den wahren Sachverhalt mit höherer Wahrscheinlichkeit zu Tage fördern. Schätzungen des Angeklagten im Steuerstrafverfahren, die die vorsichtigen Schätzungen der Ermittlungsbehörden noch unterschreiten, haben keinen Aufklärungswert. Will der Steuerpflichtige zu seinen Ungunsten eine höhere Schätzung abgeben, wird er – soweit ihm dies möglich ist – ohnehin seiner gesetzlichen Mitwirkungspflicht nachkommen wollen und ein Geständnis ablegen. Die Schätzungssituation entfällt dann gerade. Im Gegensatz zum Besteuerungsverfahren sind im Steuerstrafverfahren Verständigungsgespräche für die Sachverhaltsaufklärung somit erst dann förderlich, wenn der Täter seiner gesetzlichen Mitwirkungspflicht nachkommt. c) Täterkreis Es wurde bereits gezeigt, dass der Täterkreis der Steuerstraftaten sich verhältnismäßig häufiger aus der sozialen Mittel- und Oberschicht zusammensetzt als bei anderen Straftaten.300 Auch hierin liegt eine Ursache für die vergleichsweise starke Tendenz zum kooperativen und kommunikativen Verhalten der Beteiligten im Strafverfahren. Dabei dürften unsachgemäße Erwägungen, die aus der „Sympathie“301 des Gerichts oder der Staatsanwaltschaft für einen „sozial gleichstufigen“302 Angeklagten hervorgehen, in der Praxis eine eher untergeordnete Rolle spielen.303 Ausschlaggebend dürfte vielmehr sein, dass solche Täter dazu in der Lage sind, ihre eigene Verteidigungsposition auch prozessual effektiver zu nutzen. So haben Kaiser / Meinberg für die Einstellung von Wirtschaftsstrafsachen nach § 153a StPO nachgewiesen, dass sich der (gehobene) Sozialstatus des Beschuldigten für diesen grundsätzlich begünstigend auswirkt. Dies sei allerdings nur in geringem Maße unmittelbar auf die soziale Stellung, sondern in erster Linie auf die regelmäßig effektivere Verteidigung intelligenter, sozialkompetenter und finanzkräftiger Angeklagter zurückzuführen.304 Das effektive Ausnutzen der eigenen Verteidigungsposition, das für Absprachen im Strafbefehls- und Hauptverfahren ebenso gelten dürfte, stellt freilich nur einen Reflex der rechtlichen und tatsächlichen Schwierigkeiten der Justiz im Umgang mit Steuerstrafverfahren dar. 300 1. Teil,
3. Kapitel, A., I. StV 1982, 545 (549); Nestler-Tremel, DRiZ 1988, 288 (290). 302 Kaiser/Meinberg, NStZ 1984, 343 (346). 303 Vgl. Hamm, in: FS Meyer-Goßner, S. 33; Küpper/Bode, Jura 1999, 351 (356). 304 Kaiser/Meinberg, NStZ 1984, 343 (349). 301 Deal,
5. Kap.: Geständnis
271
Daneben ist jedoch auch zu konstatieren, dass sozial privilegierte und vor allem exponierte Beschuldigte aufgrund der negativen Öffentlichkeitswirkung sowie sonstigen Eigenbelastungen häufig ein gesteigertes Eigeninteresse an einer schnellen und diskreten Erledigung des Strafverfahrens haben.305 d) Fiskalische Ausrichtung des Steuerstrafrechts Der Fiskus ist „Opfer“ der Steuerhinterziehung. Er hat ein starkes Interesse an der außerstrafrechtlichen Aufarbeitung der Tat, der Schadenswiedergutmachung. Ein kooperativer Steuerpflichtiger kann zur Schadenswiedergutmachung zum einen im Erhebungsverfahren beitragen, indem er Besteuerungsgrundlagen offenbart, die zu einem Mehrergebnis in der Steuerfestsetzung gegenüber der ohne die Mitwirkung zu erfolgenden Schätzung führen. Zum anderen kann eine Schadenswiedergutmachung durch kooperatives Verhalten auch im Vollstreckungsverfahren erfolgen, wenn der Finanzbehörde die Zwangsvollstreckung nicht möglich ist. Daneben besteht ein großes Interesse der Finanzbehörden an einem kooperativen Verhalten des Steuerpflichtigen freilich auch in dessen verfahrenserleichternder Wirkung. In dem Maße wie das Steuerstrafverfahren auf die Verwirklichung fiskalischer Interessen ausgerichtet ist, wird es daher auch den Rahmen für eine solche Kooperation in Form von Verständigungsgesprächen bereitstellen. aa) Behördenorganisation Die Verwirklichung fiskalischer Interessen im Steuerstrafverfahren wird rein faktisch durch die weitreichende Beteiligung von Finanzbehörden im Ermittlungsverfahren begünstigt. Dies trifft vor allem auf diejenigen Verfahren zu, in denen die Finanzbehörde doppelfunktional sowohl für die Erledigung des Besteuerungsverfahrens als auch für das steuerstrafrechtliche Ermittlungsverfahren selbständig (§ 386 Abs. 2 AO) zuständig ist. Zwar wird je nach Bundesland durch Zuständigkeitskonzentrationen und behördeninterne Aufgabenverteilungen die inhaltliche Trennung der beiden Verfahren mehr oder weniger gefördert.306 Dennoch bleibt mit der Buß- und Strafgeldsachenstelle (BuStra) in der Sache am Ende stets eine Finanzbehörde zuständig, deren Behördenmitarbeiter in ihrem Denken immer auch von fiskalischen Motiven geprägt sind.307 305 Hamm, in: FS Meyer-Goßner, S. 33, 42; Küpper/Bode, Jura 1999, 351 (353, 355); Landau/Eschelbach, NJW 1999, 321 (324); Rönnau, Die Absprache im Strafprozeß, S. 53, 138; Seer, in: FS Kohlmann, S. 535, 543 f. 306 Zur Behördenorganisation im Einzelnen 4. Teil, 1. Kapitel. 307 Harms, in: GS Schlüchter, S. 451 (467); Schmidt-Hieber, Verständigung im Strafverfahren, Rn. 226; ferner Füllsack, Informelles Verwaltungshandeln im Steuer-
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3. Teil: Die strafzumessungsrelevanten Umstände
Auch in den Fällen, in denen die Staatsanwaltschaft das Verfahren führt, wird sie sich für die Ermittlungen der ihr gegenüber weisungsgebundenen Mitarbeiter der Finanzbehörden bedienen (§§ 386 Abs. 1, 402 AO). Eine Schlüsselstellung kommt hierbei der Steuerfahndung zu. Sie wird gem. § 208 Abs. 1 AO doppelfunktional sowohl für die Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen im Steuerverfahren als auch im Steuerstrafverfahren tätig. Hat die Steuerfahndung ihre Ermittlungen abgeschlossen, sind die Fahndungsbzw. Ermittlungsberichte regelmäßig Grundlage für den Abschluss sowohl des Besteuerungs- als auch des Steuerstrafverfahrens.308 Zwar ist die Steuerfahndung selbst weder zum Abschluss des Besteuerungs- noch des Steuerstrafverfahrens befugt. Sie kann jedoch entsprechende Maßnahmen anregen.309 Teilweise wird hierbei die faktische Rolle der Steuerfahndung in der Praxis als derart dominant beschrieben, dass die BuStra erst auf Anregung der Steuerfahndung und „gleichsam nur als Briefträger“ zur Beantragung richterlicher Beschlüsse und bei sonstigen Entscheidungen formeller Art tätig wird.310 Auch wenn solche Auswüchse eindeutig verfahrenswidrige Kompetenzüberschreitungen darstellen, die wenn überhaupt wohl hauptsächlich im Bereich der Verfahrenseinstellungen und weniger bei Strafbefehlsanträgen anzutreffen sind, ist der Einfluss der Fahndungsprüfer auf das Ergebnis des Ermittlungsverfahrens nicht zu unterschätzen.311 Erhebt die Staatsanwaltschaft Anklage, so hat die Finanzbehörde zwar nicht die Stellung eines Nebenklägers. Allerdings hat ihr das Gericht Gelegenheit zu geben, die Gesichtspunkte vorzutragen, die von ihrem Standpunkt für die Entscheidung von Bedeutung sind, § 407 AO. Daneben hat die Finanzbehörde auch das Recht zur Teilnahme an den Ermittlungshandlungen der Staatsanwaltschaft oder der Polizei, §§ 402, 403 AO. recht, S. 91; Wabnitz/Janovsky/Kummer, Handbuch des Wirtschaft- und Steuerstrafrechts, 18. Kapitel, Rn. 154, 164; Schmidt, StuW 1998, 278 (280); Streck/Spatscheck, Steuerfahndung, Rn. 902, 909, 911. 308 Wannemacher/Grötsch, Rn. 4495 ff.; Wabnitz/Janovsky/Kummer, Handbuch des Wirtschaft- und Steuerstrafrechts, 18. Kapitel, Rn. 178; Pflaum, Kooperative Gesamtbereinigung, S. 102; Quedenfeld/Füllsack, Verteidigung in Steuerstrafsachen, Rn. 132. 309 Kohlmann/Matthes, § 404 Rn. 106; Wabnitz/Janovsky/Kummer, Handbuch des Wirtschaft- und Steuerstrafrechts, 18. Kapitel, Rn. 178. 310 v. Briel/Ehlscheid, Steuerstrafrecht, Rn. 327; Dörn, BB 1992, 2407; Hentschel, NJW 2006, 2300 (2301); vgl. auch Alvermann/Franke, Stbg 2009, 554 (558); Kaligin, Stbg 2001, 360; Klos/Weyand, DStZ 1988, 615 (618): Steuerfahndung „dominiert“ faktisch das Ermittlungsverfahren; Wabnitz/Janovsky/Kummer, Handbuch des Wirtschaft- und Steuerstrafrechts, 18. Kapitel, Rn. 178; Schwedhelm, in: FS Streck, S. 561 (568). 311 Jedenfalls im gerichtlichen Hauptverfahren wird dem als Zeugen vernommenen Fahndungsprüfer eine zentrale Bedeutung zukommen, s. Harms, GS Schlüchter, S. 451 (452, 457 f.).
5. Kap.: Geständnis
273
Es zeigt sich also, dass der teilweise strukturell, teilweise faktisch bedingte große Einfluss von Finanzbeamten auf die steuerstrafrechtlichen Ermittlungen die Verwirklichung fiskalischer Interessen im Steuerstrafverfahren begünstigt. Dies gilt vor allem dann, wenn die Finanzbehörde an Verständigungsgesprächen im Ermittlungsverfahren beteiligt ist oder diese gar eigenständig führt.312 bb) Grenzen der fiskalischen Ausrichtung des Steuerstrafverfahrens Der Berücksichtigung von Opferinteressen sowie dem Gedanken der Schadenswiedergutmachung kommt zunehmend Bedeutung für das Straf- und Strafverfahrensrecht zu. Im Steuerstrafrecht ist mit § 371 AO seit geraumer Zeit eine besondere Vorschrift enthalten, die dem Ausdruck verleiht. Die Selbstanzeigeregelung stellt in ganz bestimmten Fällen den staatlichen Strafanspruch zugunsten der Schadenswiedergutmachung zurück und belegt damit in besonderem Maße die fiskalische Ausrichtung des Steuerstrafrechts. Eine solche Durchbrechung des Schuldprinzips ist jedoch auf die gesetzlich geregelten Ausnahmefälle beschränkt. Das Steuerstrafrecht bleibt im Grundsatz zur Erfüllung seiner präventiven Aufgabenbestimmung im Wege der Androhung, Verhängung und Vollstreckung schuldangemessener Strafen verpflichtet. Die Schadenswiedergutmachung kann hierzu zwar in nicht unerheblichem Maße beitragen. Dennoch stellt das Schuldprinzip eine Grenze für die Verwirklichung restitutiver Ziele mit Mitteln des Strafrechts dar, die nur in gesetzlich bestimmten Ausnahmefällen überschritten werden kann.313 Für das Steuerstrafverfahren bedeutet dies, dass im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten der fiskalischen Ausrichtung des Steuerstrafrechts durch die Förderung kooperativen Verhaltens Rechnung getragen werden kann. Hierzu können vor allem Verständigungsgespräche beitragen, die sowohl das Strafverfahren als auch das Steuerverfahren im Blick haben (sog. Ge samtbereinigung)314. Da die jeweiligen Verfahrenszwecke divergieren,315 besteht in solchen Verständigungsgesprächen stets die besondere Gefahr, dass ein Verfahrenszweck auf Kosten des anderen verwirklicht bzw. ein Verfahren zweckwidrig für die Verwirklichung des anderen ausgenutzt wird.316 Aus Sicht des Steuerstrafverfahrens wäre dies etwa dann der Fall, wenn eine schuldunterschreitende Strafe vereinbart wird, um ein steuerliches MehrerLeibold, Der Deal im Steuerstrafrecht, S. 41 ff. 3. Teil 5. Kapitel, C., II., 1. 314 Zur Gesamtbereinigung Pflaum, Kooperative Gesamtbereinigung, passim. 315 Pflaum, Kooperative Gesamtbereinigung, S. 270 ff. 316 Pflaum, Kooperative Gesamtbereinigung, S. 190 ff. 312 S. hierzu 313 S. o.
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3. Teil: Die strafzumessungsrelevanten Umstände
gebnis zu erreichen. Das Schuldprinzip setzt daher der Verwirklichung fiskalischer Interessen im Steuerstrafverfahren eine Grenze. Aus Sicht des Steuerverfahrens ist die Grenze zur Verwirklichung fiskalischer Zwecke dann überschritten, wenn das Strafverfahren zweckwidrig hierfür verwendet wird. Dies ist nicht bereits durch den Hinweis auf zulässige Verknüpfungen, etwa die strafmildernde Wirkung einer Wiedergutmachungsleistung, gegeben,317 wohl aber dann, wenn hierdurch „unhaltbare Steueransprüche“ durchgesetzt werden sollen.318 Daneben stellen die Fälle, in denen dem Täter zur Durchsetzung von gerechtfertigten Steueransprüchen nicht gerechtfertigte Vorteile im Steuerstrafverfahren, etwa eine schuldunterschreitende Strafe, in Aussicht gestellt werden, auch einen Verstoß gegen das verwaltungsrechtliche „Koppelungsverbot“ dar.319 2. Leitlinien für den Rechtsanwender in der Strafzumessung Nachdem damit die grundsätzlichen Probleme der Verfahrensabsprachen aus strafzumessungsrechtlicher Perspektive sowie die Ursachen für das Zustandekommen einer Absprache in Fällen der Steuerhinterziehung herausgearbeitet sind, sollen nun die besonderen Schwierigkeiten und Gefahren von Absprachen in Steuerstrafverfahren für den Rechtsanwender in der Strafzumessung zusammenfassend dargestellt werden. Sie können im Wesentlichen auf drei Problemkreise reduziert werden, die sich gleichsam als Leitlinien für den Rechtsanwender formulieren lassen. a) Keine Schuldunterschreitung für Verfahrenserleichterungen Eine pauschale Strafmilderung für die Ablegung eines Geständnisses verbietet sich. Unter Schuld- und Präventionsaspekten kommt einem Geständnis in Fällen der Steuerhinterziehung vor allem dann ein besonderes Gewicht zu, wenn es der Schadenswiedergutmachung dient. Verfahrenserleichterungen können de lege lata nicht oder allenfalls in sehr geringem Umfang mildernd bewertet werden. Das Bedürfnis nach einer Vereinfachung des Verfahrens, 317 Pflaum,
Kooperative Gesamtbereinigung, S. 196. NV 1997, 765 (766); BFH NV 1999, 937 (938); im Rahmen von tatsächlichen Verständigung wird dem durch die Voraussetzung der „nicht offensichtlich unzutreffenden Ergebnisse“ besonders Rechnung getragen. 319 So Seer, Verständigungen in Steuerverfahren, S. 281; Seer, in: FS Kohlmann, S. 535 (547); anders Pflaum, Kooperative Gesamtbereinigung, S. 197 f., der das „Koppelungsverbot“ im Steuerrecht nur auf den praktisch irrelevanten Fall beschränkt, dass die Behörde weniger Steuern in Kauf nimmt, um Nachteile des Täters in anderen Steuerverfahren oder eben im Strafverfahren zu erreichen. 318 BFH
5. Kap.: Geständnis
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vor allem des Hauptverfahrens, in Steuerstrafsachen ist groß und der Angeklagte kann hierzu durch kooperatives Verhalten wesentlich beitragen. Die Versuchung ist daher hoch, einen Anreiz hierfür in Form einer erheblichen Strafmilderung zu schaffen. Damit wird jedoch nicht nur gegen das Schuldprinzip, sondern zugleich auch gegen § 136a StPO verstoßen, indem ein gesetzlich nicht vorgesehener Vorteil – nämlich die schuldunterschreitende Strafe – versprochen wird. Ausdrücklich verbietet das BVerfG im Rahmen von Verständigungsgesprächen eine Absprache über den anzuwendenden Strafrahmen zu treffen.320 Strafrahmenverschiebungen wie diejenigen nach § 370 Abs. 3 AO betreffen die „rechtliche Würdigung“, die nicht der Disposition der Parteien unterworfen werden kann. Nichts anderes gilt für die strafzumessungsrechtliche Bewertung des im Rahmen einer Verständigung abgelegten Geständnisses, die daher ebenso wenig Gegenstand von Gesprächen sein dürfen. Der Rechtsanwender hat sich an die rechtlichen Bindungen für die Bewertung eines Geständnisses im Hinblick auf dessen verfahrenserleichternde Wirkungen und sonstige Aspekte zu halten. b) Keine Schuldunterschreitung aus Fiskalinteressen Ebenso wie die Justizbehörden im Steuerstrafverfahren haben auch die Finanzbehörden ein Interesse an einer schnellen und einfachen Erledigung des Steuerverfahrens. Hinzu kommt das Interesse an einer möglichst vollständigen Wiedergutmachung. Den Finanzbehörden kommt ein erheblicher Einfluss vor allem in solchen Steuerstrafverfahren zu, die im Strafbefehlsverfahren abgeschlossen werden. Verständigungsgespräche im Ermittlungsverfahren können hier von den Finanzbehörden in eigener Regie geführt werden, wenn die Ermittlungen eigenständig geführt werden. Hierbei besteht die Gefahr, dass Fiskalinteressen zweckwidrig im Steuerstrafverfahren geltend gemacht werden. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn schuldunterschreitende Strafen im Gegenzug für eine Schadenswiedergutmachung versprochen und verhängt werden. Allerdings gilt zu beachten, dass bei Geständnissen, die zur Schadenswiedergutmachung führen, eine erhebliche Strafmilderung aus Schuld- und Präventionsaspekten auch durchaus gerechtfertigt sein kann. Der Hinweis auf solche gesetzlich vorgesehene Strafmilderungen stellt weder ein Verstoß gegen § 136a StPO im Steuerstrafverfahren dar, noch eine zweckwidrige Verknüpfung des Besteuerungsverfahrens mit diesem. Vielmehr entspricht dies der fiskalischen Ausrichtung des Steuerstrafrechts. Eine darüber hinaus gehende schuldunterschreitende Strafmilde320 BVerfGE
133, 168 (226 ff.).
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3. Teil: Die strafzumessungsrelevanten Umstände
rung aufgrund einer Schadenswiedergutmachung ist jedoch auch im Steuerstrafrecht nicht zulässig. Sie lässt sich auch nicht aus dem Rechtsgedanken des § 371 AO herleiten, denn für die Verhängung schuldunterschreitender Strafen bedarf es einer gesetzlichen Regelung. In den Fällen, in denen eine Schadenswiedergutmachung durch den Täter durch Geständnis möglich ist, kann die gesetzlich zulässige Strafmilderung einen hinreichenden Anreiz setzen. Die praktisch relevantere Gefahr für die Verhängung schuldunterschreitender Strafen geht daher von den Fiskalinteressen aus, die auf die Verfahrenserleichterung im Besteuerungsverfahren zielen. Werden hierfür Strafmilderungen gewährt, wird wiederum nicht nur gegen das Schuldprinzip verstoßen, sondern auch gegen das Verbot der zweckwidrigen Verfahrensnutzung (sog. „Koppelungsverbot“). c) Keine Schuldunterschreitung durch Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes Eine mittelbare Verletzung des Schuldprinzips kann durch eine Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes hervorgerufen werden. Relevant ist dies im Rahmen von Absprachen vor allem in den Konstellationen des sog. „fact bargaining“. Durch die bewusst sachwidrige Sachverhaltsermittlung kommt es zur Verhängung von (im Hinblick auf den wahren Sachverhalt) schuldunterschreitenden Strafen. Dies ist sowohl als „Gegenleistung“ für ein verfahrenserleichterndes Prozessverhalten (im Besteuerungs- und / oder Steuerstrafverfahren) als auch für die Erbringung einer Schadenswiedergutmachung denkbar. Das Steuerstrafverfahren ist für das „fact bargaining“ besonders anfällig. Dies ist auf die strukturellen rechtlichen und tatsächlichen Schwierigkeiten des Steuerrechts zurückzuführen. Im Steuerverfahren ist mit dem Institut der sog. tatsächlichen Verständigung die konsensuale Ermittlung des Besteuerungssachverhalts in bestimmten Fällen anerkannt. Darin liegt nach richtigem Verständnis jedoch keine partielle Aufgabe des Untersuchungsgrundsatzes, sondern gerade die bestmögliche Methode zu dessen Verwirklichung. Im Steuerstrafverfahren ist diese Methode der Sachverhaltsaufklärung aufgrund des Zweifelsatzes weitgehend ungeeignet. Dem Täter fehlt hier der Anreiz, eine Sachverhaltsermittlung zu seinen Lasten zu verhindern. Die Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes im Rahmen eines „fact bargaining“ kann auch nicht mit der Ressourcenknappheit und damit der notgedrungen Begrenzung der Ermittlungsmöglichkeiten gerechtfertigt werden. Denn beim „fact bargaining“ würde dann die Ressourcenverwendung zum Verhandlungsgegenstand gemacht werden, was nicht zulässig ist.
6. Kap.: Überlange Verfahrensdauer
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6. Kapitel
Überlange Verfahrensdauer Die überlange Verfahrensdauer ist ein Umstand, der in Fällen der Steuerhinterziehung aufgrund der soeben beschriebenen besonderen rechtlichen und tatsächlichen Schwierigkeiten nicht selten in der Strafzumessung zum Tragen kommt. Hierbei gilt es zunächst zwei Aspekte einer überlangen Verfahrensdauer voneinander zu trennen: zum einen die Wirkungen des langen Abstandes zwischen Begehung der Tat und dem Zeitpunkt der Aburteilung und zum anderen die Belastung, die ein überlanges Verfahren für den Täter bedeutet. Beide Aspekte haben keinen Einfluss auf das verschuldete Unrecht der Tat und können auch nicht über eine Indizkonstruktion mit diesem in Zusammenhang gebracht werden.321 Eine strafmildernde Wirkung kann ihnen daher allenfalls unter präventiven bzw. die Zurückweisungsbedürftigkeit der Tat allgemein betreffenden Gesichtspunkten zukommen.
A. Der Zeitfaktor Ein langer zeitlicher Abstand zwischen Tatbegehung und Aburteilung muss nicht zwingend Folge einer langen Verfahrensdauer sein. In Steuerstrafsachen geht gerade in Fällen der Hinterziehung periodischer Steuern mit der Entdeckung einer bestimmten Tat häufig die Entdeckung mehrerer zurückliegender Taten bis zur Verjährungsgrenze einher, die seit 2009322 in besonders schweren Fällen bis zu zehn Jahre zurück reicht, § 376 Abs. 1 AO. Dass der bloße Zeitfaktor die Notwendigkeit der Strafverhängung beeinflusst, zeigt bereits die gesetzliche Regelung der Verjährung.323 Auch Normbestätigungsbedürfnisse der Mitbürger werden mit der Zeit eher abnehmen.324 Daneben können im Einzelfall auch spezialpräventive Strafbedürfnisse abnehmen, da eine zwischenzeitliche Straffreiheit und / oder eine soziale Eingliederung gem. § 46 Abs. 1 S. 2 StGB positiv zu bewerten ist.325 Vor allem die Annahme verringerter Zurückweisungsbedürftigkeit der Strafe in Fällen einer langen Zeitspanne zwischen Tatbegehung und Aburteilung führt zu Spannungen mit den bei der Steuerhinterziehung grundsätzlich 321 Frisch,
in: 50 Jahre BGH, S. 269 (298). 2009 vom 19.12.2008, BGBl. 2008 Teil I, S. 2794. 323 Mit dem Wiederherstellungsgedanken lässt sich dies damit begründen, dass zur Wiederherstellung des Rechts mit der Zeit ein geringeres Strafmaß genügt, da auch der Rechtsbruch die fortbestehenden Rechtsverhältnisse weniger belastet, Frisch, in: 50 Jahre BGH, S. 269 (299). 324 Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 613. 325 Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 613. 322 Jahressteuergesetz
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3. Teil: Die strafzumessungsrelevanten Umstände
starken positiv generalpräventiven Bedürfnissen nach schuldangemessener Strafe. Ausdrücklich beklagt dies der BGH: „Die seit der Tat vergangene Zeit und auch die Dauer des Ermittlungs- und Strafverfahrens (vgl. Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK) werden in vergleichbaren Verfahren häufig zu derart bestimmenden Strafzumessungsfaktoren, dass die Verhängung mehrjähriger Freiheitsstrafen oder – wie hier – die Versagung einer Strafaussetzung zur Bewährung nach § 56 Abs. 3 StGB namentlich wegen des Zeitfaktors ausscheidet. Dem in § 56 Abs. 3 StGB zum Ausdruck gekommenen Anliegen des Gesetzgebers, das Vertrauen der Bevölkerung in die Unverbrüchlichkeit des Rechts vor einer Erschütterung durch unangemessen milde Sanktionen zu bewahren, kann im Bereich des überwiegend tatsächlich und rechtlich schwierigen Wirtschafts- und Steuerstrafrechts nach Eindruck des Senats nur durch eine spürbare Stärkung der Justiz in diesem Bereich Rechnung getragen werden.“326
Die Gesetzesverschärfung der Verjährungsvorschriften (§ 376 AO) kann damit auch als Antwort auf die faktischen Schwierigkeiten der Rechtsverfolgung im Bereich der Steuerdelikte verstanden werden. Mit der Verlängerung der Verjährungszeit bewirkte der Gesetzgeber unter anderem, dass dem Zeitfaktor für die Zurückweisungsbedürftigkeit der Tat durch Strafe eine geringere Rolle zukommt. Darüber hinaus besteht eine Spannungslage innerhalb der positiven Generalprävention nicht. Denn wenn die Strafmilderung mit geringeren positiv generalpräventiven Strafbedürfnissen begründet wird, kann sie nicht gleichzeitig dieselben enttäuschen. Sofern also der BGH davon ausgeht, dass auch bei erheblicher Zeitspanne zwischen Tatbegehung und Aburteilung die positiv generalpräventiven Bedürfnisse noch eine stark an der Tatschuld orientierte Strafe erforderlich machen, ist zu folgern, dass dem Zeitfaktor in Fällen der Steuerhinterziehung keine oder allenfalls eine geringe Herabsetzung positiv generalpräventiver Strafbedürfnisse zukommt. In diese Richtung geht auch der Hinweis des BGH in einem späteren Urteil: „Ohnehin widerstreitet eine erhebliche strafmildernde Wirkung des Zeitfaktors als Folge justizieller Mängel generell den Zielen effektiver Verteidigung der Rechtsordnung; dies gilt namentlich im Bereich schwerer, zudem sozialschädlicher Wirtschaftskriminalität (vgl. BGHSt. 50, 299, 308 f.).“327
B. Belastungen des Verfahrens für den Täter Besondere Belastungen des Täters durch das Verfahren werden strafmildernd berücksichtigt.328 Zur Begründung der Strafmilderung werden solcher326 BGHSt.
50, 299 (308). wistra 2006, 428 (429). 328 Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 613. 327 BGH
6. Kap.: Überlange Verfahrensdauer
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lei täterbelastende Tatfolgen, die wie Verfahrensbelastungen keinen formellen Sanktionscharakter besitzen, als sogenannter Strafersatz bzw. poena naturalis eingeordnet.329 Hierbei gilt die eigentlich verwirkte Strafe durch die belastenden Tatfolgen als partiell abgegolten, sodass eine insoweit geminderte Strafe zugemessen wird. Als Vorbild dient die Vorschrift des § 60 StGB.330 Zu überzeugen vermag eine solche Begründung von Strafmilderungen im Falle einer poena naturalis vor dem Hintergrund des hiesigen Strafkonzepts allerdings nur, soweit die poena naturalis auch zur Verringerung präventiver Strafbedürfnisse oder der Zurückweisungsbedürftigkeit der Tat durch Strafe überhaupt führt, was regelmäßig nur in sehr begrenztem Ausmaß der Fall ist.331 Der BGH weicht bei bestimmten Verfahrensbelastungen von dieser Berücksichtigung im Rahmen der Strafzumessung zugunsten der sogenannten Vollstreckungslösung ab. Diejenigen Belastungen des Verfahrens, die sich aus einer dem Beschleunigungsgrundsatz widersprechender, überlangen Verfahrensdauer ergeben, indem gegen Rechte des Beschuldigten aus Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. dem Rechtsstaatsprinzip sowie gegen Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK verstoßen wird, sollen in entsprechender Anwendung von § 51 StGB dadurch kompensiert werden, dass ein bezifferter Teil der verhängten Strafe für bereits vollstreckt erklärt wird.332 Die „normalen“, nicht auf die Rechtsstaatswidrigkeit zurückzuführenden Belastungen hingegen bleiben im Rahmen der Strafzumessung zu berücksichtigen.333 Bei der Frage, wann eine überlange Verfahrensdauer334 zu rechtsstaatswidrigen Belastungen führt, berücksichtigt die höchstrichterliche Rechtsprechung die Komplexität des Einzelfalls, die in Steuerstrafsachen häufig hoch ist.335 In einem siebeneinhalbjährigen Verfahren gegen einen österreichischen Staatsbürger wegen Steuerhinterziehung stellte der EGMR eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 S. 1 MRK fest und begründete: „Auch eine gewisse Komplexität des Falls reicht für sich genommen nicht hin, um die beträchtliche 329 Streng,
Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 534 m. w. N. Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 534. 331 Vgl. hierzu ausführlich Sprotte, Die poena naturalis im Straf- und Strafzumessungsrecht, S. 22 ff., 86 ff., 114. 332 BGHSt 52, 124 (135 ff.). 333 Zur Kritik an dieser „fragwürdigen Aufspaltung“ nur schwer trennbarer Belastungen, s. Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 617 m. w. N. 334 Relevant sind nicht selten Verfahrensverlängerungen, die auf einer fehlenden frühzeitigen Abstimmung zwischen der Finanzverwaltung und der Staatsanwaltschaft beruhen, vgl. BGH NStZ 2009, 514. 335 Kritisch zur zu großzügigen Annahme einer Verfahrensverzögerung im Hinblick auf die naturgemäße erhöhte Komplexität in Steuerhinterziehungsfällen, Wabnitz/Janovsky/Kummer, Handbuch des Wirtschaft- und Steuerstrafrechts, 18. Kapitel, Rn. 83. 330 Streng,
280
3. Teil: Die strafzumessungsrelevanten Umstände
Dauer eines Strafverfahrens zu rechtfertigen.“336 Auch der BGH bejahte in einem siebeneinhalbjährigen Verfahren wegen Steuerhinterziehung eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung, die sich weder durch die hohe Komplexität des Sachverhalts, den ungewöhnlich hohen Schwierigkeitsgrad der Tatvorwürfe, hinsichtlich derer es nicht zu einer Verurteilung kam, noch durch die weiteren vom Landgericht genannten Besonderheiten des Verfahrensablaufs rechtfertigen ließ.337 Auffällig in der betreffenden Entscheidung ist ferner der geringe Anteil derjenigen Belastungen, die auf die Rechtsstaatswidrigkeit der Verfahrensverzögerung zurückgeführt wird und damit einhergehend, die weitreichende Berücksichtigung der Verfahrensbelastungen im Rahmen der Strafzumessung: „Vorliegend reicht es aber zur Kompensation der mit der Verfahrensverzögerung verbundenen Belastung der Angeklagten aus, die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung ausdrücklich festzustellen. Das Landgericht hat die Dauer des Verfahrens schon bei der Strafzumessung in besonderem Maße ausdrücklich zugunsten der Angeklagten berücksichtigt und eine angesichts des verwirklichten Unrechts äußerst milde Gesamtgeldstrafe verhängt. Einer weitergehenden Kompensation bedarf es daher […] nicht, weil eine besondere Belastung der nicht inhaftierten Angeklagten gerade durch die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung nicht ersichtlich ist.“338
In einer anderen Entscheidung ist der Senat hingegen ersichtlich bemüht, das Ausmaß der aufgrund von Verfahrensbelastungen erteilten Strafmilderungen in Grenzen zu halten. So entschied der 1. Senat, dass eine dreieinhalbjährige Verfahrensdauer bis zum erstinstanzlichen Urteil keinen besonders gewichtigen Milderungsgrund darstelle, der im Fall einer Steuerhinterziehung in Millionenhöhe ausnahmsweise noch eine aussetzungsfähige Freiheitsstrafe zulasse.339 Dies stellt – ebenso wie die Verjährungsvorschrift bezüglich des Zeitfaktors – eine eindeutige Zuordnungsregel bezüglich der Bewertung eines Strafzumessungsumstandes für die Strafhöhenbemessung dar. Gleichzeitig dürfte die Rechtsprechung auch als Hinweis für die Präventionswertung in dem Sinne verstanden werden, dass Verfahrensbelastungen die grundsätzlich starken generalpräventiven Bedürfnisse nach einer der Tatschuld entsprechenden Strafe im Bereich der Steuerhinterziehung nur geringfügig mildern. 336 EGMR wistra 2004, 177; einen Verstoß gegen Art. 6 MRK hat der EGMR auch gerügt in einem fast neuneinhalbjährigen Verfahren gegen einen Beamten wegen Betrugs, Untreue und Steuerhinterziehung, dem „kein komplexer Sachverhalt“ zugrunde lag, vgl. EGMR StV 2005, 475. 337 BGH NZWiSt 2012, 157. 338 BGH NZWiSt 2012, 157; eine Tendenz zur großzügigen Berücksichtigung der Belastungen des Strafverfahrens in der Strafzumessung findet sich auch in anderen Urteilen, vgl. BGH NStZ 2009, S. 287; BGH NStZ-RR 2009, S. 339; BGH NStZ-RR 2009, S. 248. 339 BGHSt 57, 123 (132).
7. Kap.: Sonstige täterbelastende Tatfolgen281
Freilich ließe sich dem Anliegen des Senats auch auf andere Weise Rechnung tragen, etwa durch eine großzügigere Zuordnung zur Rechtsstaatswidrigkeit der Verfahrensbelastungen im Verhältnis zu den „normalen“ Verfahrensbelastungen oder – noch überzeugender – durch eine Aufhebung der Begrenzung der so genannten „Vollstreckungslösung“ auf rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerungen.340 7. Kapitel
Sonstige täterbelastende Tatfolgen und allgemeine Strafempfindlichkeit Neben den Verfahrensbelastungen können in Steuerstrafsachen auch weitere täterbelastende Tatfolgen vorliegen, die zwar auf das verschuldete Unrecht keinen Einfluss haben, aber dennoch die Notwendigkeit der Strafe betreffen und damit im Rahmen der Strafzumessung zu berücksichtigen sind. In Betracht kommen hier vor allem berufliche Folgen. Für Beamte kann die Straftat und das Strafurteil mit Disziplinarmaßnahmen341 (§§ 5 ff. BDG) bis hin zur Entfernung aus dem Beamtenverhältnis (§§ 30 Nr. 3 BBG i. V. m. §§ 10, 34, 45 ff. BDG) oder dem Verlust der Beamtenrechte einhergehen (§§ 30 Nr. 2, 41 BBG). Gewerbetreibenden ist bei „Unzuverlässigkeit“ die Gewerbeausübung zu versagen, § 35 GewO. Steuerstraftaten begründen bereits für sich genommen eine gewerbliche Unzuverlässigkeit.342 Daneben drohen in Steuerhinterziehungsfällen nicht selten auch Rechtsanwälten, Steuerberatern oder Mitarbeitern von Finanzdienstleistungsinstitutionen i. S. d. KWG (§ 33 Abs. 1 Nr. 2, Nr. 3, Abs. 2 Nr. 3 KWG) berufliche Folgen, die bei der Strafzumessung zu berücksichtigen sind: „Auch eine mit der Strafe verbundene Nebenfolge kann die Sanktion empfindlicher machen, wie etwa zwingend vorgeschriebene beamtenrechtliche Konsequenzen […] oder die Ausschließung aus der Rechtsanwaltschaft […]. Nichts anderes gilt 340 Hierzu Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 617 m. w. N.; für eine Ausweitung auch auf andere strafzumessungsrelevante Umstände, die nicht die Tatschuld betreffen, Frisch, in: ders., Grundfragen, S. 3 (25). 341 Disziplinarmaßnahmen drohen auch dann, wenn die Steuerstraftat keinen dienstlichen Bezug hat oder eine wirksame Selbstanzeige erfolgt ist. Gericht und Staatsanwaltschaft sind gem. Nr. 15 MiStra zu Mitteilungen an die Disziplinarbehörde verpflichtet, auch soweit sie Daten betreffen, die dem Steuergeheimnis (§ 30 AO) unterliegen. Zum Ganzen Flore/Tsambikakis/Rübenstahl, § 46 StGB, Rn. 168. 342 BVerwG, DVBl. 1961, 133. Ähnlich für die „Zuverlässigkeit“ nach §§ 4, 45 Abs. 2 WaffG, BVerwG, DVBl. 1990, 1043 (zu § 5 WaffG a. F.). Anders im Jagdrecht, wo Steuerstraftaten keinen Rückschluss auf die „Zuverlässigkeit i. S. v. § 17 BJagdG zulassen sollen, vgl. Flore/Tsambikakis/Rübenstahl, § 46, Rn. 157 ff.
282
3. Teil: Die strafzumessungsrelevanten Umstände
für die drohende Untersagung des Berufs als Steuerberater durch die Berufsgerichts barkeit.“343
Dabei ist zu beachten, dass etwaige strafschärfende Wirkungen der Berufspflichten unter Tatschuldaspekten (vgl. insbesondere § 370 Abs. 3 Nr. 2 AO) nicht unsachgemäß mit den allein außerhalb der Tatschuld relevanten beruflichen Folgen vermengt werden. Insbesondere lässt sich eine allgemeine Regel nicht aufstellen, wonach sich aus der Beamtenstellung in der Strafzumessung insgesamt kein Vorteil ergeben dürfe.344 Auch außergewöhnlich hohe Verfahrenskosten oder eine erhebliche Belastung durch eine extensive mediale Berichterstattung können als poena naturalis zu berücksichtigen sein.345 Hingegen sind übliche Folgen der Tat nicht einzubeziehen. Dies gilt etwa für den mit einer Verurteilung wegen einer Straftat einhergehenden Ansehensverlust des Täters.346 Vor allem aber können den Steuerhinterzieher treffende hohe Nachzahlungspflichten für Hinterziehungssumme und Zinsen daher nicht als täterbelastende Tatfolgen zu seinen Gunsten angerechnet werden.347 Dies darf auch nicht durch die Hintertür in der Weise erfolgen, dass der von der Tat oder Tatentdeckung unabhängige spätere Verlust der Tatbeute strafmildernd berücksichtigt wird. Denn welchen weiteren Nutzen der Täter aus der Tatbeute zieht ist als Tatfolge irrelevant.348 Problematisch ist daher die Feststellung des OLG München im Fall gegen Ulrich Hoeneß, wonach strafmildernd zu bewerten sei, dass die jeweiligen Erträge, die zur Steuerpflicht führten, durch nachfolgende Verluste aufgezehrt wurden, ohne dass dies steuerlich zu einer Kompensation führen konnte.349 Selbst wenn man das Bewusstsein möglicher Nachteile 343 BGH StV 2006, 522; BGH StV 1990, 348; BGH NStZ 1983, 19; zum Steuerberater ferner BGH StV 1995, 520; BGH NStZ 1995, 227; anwaltsrechtliche Sank tionen generell jedenfalls dann, wenn dadurch die berufliche und wirtschaftliche Basis verloren geht, BGH NStZ-RR 2010, 202. Bei Rechtsanwälten und vereidigten Buchprüfern ist daneben auch ein Berufsverbot als strafrechtliche Nebenfolge gem. § 70 StGB möglich, wenn die Steuerstraftaten in Ausübung des Berufs begangen werden, BGH wistra 2001, 220. 344 So aber Meine, Strafzumessung bei Steuerhinterziehung, S. 26, der dies für die Steuerhinter-ziehung mit der Wertung des § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 AO begründet. 345 Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 534 m. w. N. 346 BGH NStZ 1982, 285 (286). 347 Zur Schadensersatzpflicht in einem Fall schwerer Untreue, BGH JR 2006, 256. 348 So rechtfertigt auch der Umstand, dass ein Täter „aus Angst vor Entdeckung das veruntreute Geld nicht tatsächlich hat genießen können“, keine Strafmilderung, BGH JR 2006, 256. 349 LG München II, 13.03.2014 – W5 KLs 68 Js 3284/13, S. 46, abrufbar unter: .
7. Kap.: Sonstige täterbelastende Tatfolgen
283
entgegen der Ansicht des BGH350 nicht per se als Ausschlussgrund für deren Berücksichtigung ansieht,351 sind jedenfalls mit der Tat zwingend verbundene Nachteile für den Täter nicht berücksichtigungsfähig.352 Scheitert die Kompensationsfähigkeit bestimmter Rechnungsposten nicht lediglich an strafrechtlichen Sondervorschriften für die Berechnung wie dem Kompensationsverbot (§ 370 Abs. 4 S. 3), sondern bereits an den steuerrechtlichen Vorschriften selbst, ist dies eine vom verschuldeten Tatunrecht unabhängige und dennoch mit diesem untrennbar verbundene Tatfolge, welche Teil des deliktischen Kalküls ist. Die Gefahr, erzielte (Hinterziehungs-)Gewinne nicht mit anschließenden Verlusten ausgleichen zu können, kann dem Täter daher nicht zugutegehalten werden, zumal er deren Realisierung selbst in der Hand hat und, in der Regel um weitere Hinterziehungstaten vorzubereiten, billigend in Kauf nimmt. Der Umstand, dass ein Steuerstraftäter zur Rückzahlung seiner Steuerschuld sowie anfallenden Hinterziehungszinsen verpflichtet ist, obwohl die erzielten Hinterziehungsgewinne verpflichtet ist, obwohl diese in seinem Vermögen nicht mehr vorhanden sind, kann daher allenfalls unter dem Gesichtspunkt seiner allgemeinen Vermögensverhältnisse für die Strafzumessung relevant werden, nicht aber als poena naturalis. Damit eröffnet sich zugleich ein Problemkreis der unter dem Stichwort der sogenannten „Strafempfindlichkeit“ diskutiert wird. Demnach soll nach zum Teil vertretener Auffassung die Schuldstrafe in ihrem Maß abhängig sein vom individuellen Strafleiden des Täters.353 So treffe den mittellosen Täter eine Geldstrafe empfindlicher als den Vermögenden, den Täter mit einer geringen Lebenserwartung eine Freiheitsstrafe empfindlicher als den noch jungen Täter.354 Richtigerweise sind Aspekte der Strafempfindlichkeit jedoch ebenso wie die Folgen der Tat für den Täter ganz grundsätzlich von der Schuldwertung zu trennen und stattdessen im Rahmen der Präventionswertung (dann unter dem Topos der „Strafempfänglichkeit“) bzw. als sonstige Korrektur der Schuldstrafe (mangelnde Notwendigkeit der Strafverhängung) zu berücksichtigen.355 Insoweit – insbesondere in Bezug auf das Spannungsverhältnis zu positiv generalpräventiven Strafbedürfnissen – kann auf die Ausführungen zur überlangen Verfahrensdauer verwiesen werden.356
350 BGH
JR 2006, 256 f. Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 535. 352 Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 535 m. w. N. 353 Nachweise bei Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 720. 354 Letzteres bereits tatsächlich bezweifelnd Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 721. 355 Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 721, 723. 356 3. Teil, 6. Kapitel. 351 So
4. Teil
Die Finanzbehörden als Rechtsanwender Beim Delikt der Steuerhinterziehung sind zur Rechtsanwendung in der Strafzumessung nicht nur Richter und Staatsanwälte berufen. Aufgrund der Verlagerung staatsanwaltschaftlicher Befugnisse müssen im Strafbefehlsverfahren auch Mitarbeiter der Finanzbehörden Strafzumessungsentscheidungen vornehmen. Für diesen Rechtsanwender stellt sich die schwierige Frage, ob und, wenn ja, wessen sachlichen Weisungen er Folge zu leisten hat. Von der Beantwortung dieser Frage hängt die Anwendbarkeit einiger Verwaltungsanweisungen ab, wie die RiStBV, die AStBV (St) sowie die Strafmaßtabellen der vorgesetzten Finanzbehörden. 1. Kapitel
Die Verlagerung staatsanwaltschaftlicher Befugnisse auf die Finanzverwaltung Gem. § 386 Abs. 1 S. 1 AO wird die Finanzbehörde grundsätzlich als Hilfsorgan der Staatsanwaltschaft im Steuerstrafverfahren tätig. Ausnahmsweise – in der Praxis freilich die Regel – führt die Finanzbehörde in den Grenzen der §§ 399 Abs. 1, 400, 401 AO das Ermittlungsverfahren selbständig durch, § 386 Abs. 2 AO, soweit keine Haftsache (§ 386 Abs. 3 AO) oder eine fakultative Zuständigkeitsüberleitung auf die Staatsanwaltschaft (§ 386 Abs. 4 AO) vorliegt. Was die rechtliche Einordnung dieser Kompetenzübertragung anbelangt, wird ganz überwiegend von einer „Ableitung“ der finanzbehördlichen von der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsbefugnis ausgegangen.1 Wichtig ist diese Erkenntnis nicht zuletzt für Fragen des Rechtsschutzes und der Weisungsbefugnis. Da zum Ermittlungsverfahren auch dessen Abschluss gehört, ermächtigt § 399 Abs. 1 AO zu sämtlichen Arten des Verfahrensabschlusses, also insbesondere auch zur informellen Sanktionierung gem. § 153a StPO. § 400 AO beschränkt diese umfassende Ermäch1 Kohlmann/Hilgers-Klautzsch, § 386 Rn. 23; Rolletschke/Kemper/Kemper, § 386 AO, Rn. 32; präziser Hübschmann/Hepp/Spitaler/Rüping, § 386 AO, Rn. 8, der von einem „Mandatsverhältnis des öffentlichen Rechts“ spricht; a. A. Rittmann, wistra 1984, 52, der von einer originären Zuständigkeit der Finanzbehörden ausgeht.
1. Kap.: Die Verlagerung staatsanwaltlicher Befugnisse285
tigung, indem er klarstellt, dass die Erhebung der öffentlichen Klage der Finanzbehörde nur im Wege des Strafbefehlsverfahrens möglich ist.2 § 386 Abs. 1 AO zählt die für die Verfolgung von Steuerstraftaten funktional zuständigen Behörden abschließend auf, nämlich: die Hauptzollämter, die Finanzämter, das Bundeszentralamt für Steuern und die Familienkassen. Gem. § 387 Abs. 1 AO ist die Behörde sachlich zuständig, welche die betroffene Steuer verwaltet. § 388 Abs. 1 regelt sodann die örtliche Zuständigkeit. Nach der gesetzlichen Ausgestaltung wäre folglich grundsätzlich davon auszugehen, dass die für die Besteuerung zuständige Behörde auch das Strafverfahren erledigt. Tatsächlich ist dies nur noch selten der Fall. Denn der Bund und die einzelnen Länder haben durchweg von der Möglichkeit der Konzentration der sachlichen Zuständigkeit der Ermittlung von Steuerstraftaten bei einzelnen Finanzbehörden gem. § 387 Abs. 2 AO3 Gebrauch gemacht.4 Hinzu kommt die innerbehördliche Trennung des Besteuerungsverfahrens von dem Strafverfahren. Dabei entwickelten sich bei den Finanzämtern zwei unterschiedliche Organisationsmodelle. In den meisten Bundesländern wurden innerhalb des Finanzamtes eigenständige Dienststellen zur Verfolgung von Steuerstraftaten und Steuerordnungswidrigkeiten errichtet (die sogenannte Bußgeld- und Strafsachenstelle; abgekürzt „BuStra“ oder „StraBu“). In Berlin, Hamburg, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen hingegen wurden eigenständige Finanzämter, die einzig die Erledigung von Strafund Bußgeldsachen sowie die Steuerfahndung zur Aufgabe haben, errichtet. Beim Bundeszentralamt für Steuern wurde ebenfalls eine eigenständige Strafsachenstelle eingerichtet (Referat St I 4), ebenso bei den Familienkassen.5
A. Nutzen der Befugnisverlagerung Herkömmlicherweise werden die Verfahrensökonomie und die Nutzbarmachung der besonderen Steuerrechtskenntnisse der Finanzbehörden,6 der 2 Zur nicht unmissverständlichen Formulierung des § 400 HS 2 AO App, wistra 1990, 261. 3 Zu trennen ist die Zuständigkeitsübertragung gem. § 387 Abs. 2 AO von derjenigen nach §§ 12 Abs. 3, 17 Abs. 2 S. 3 FVG; zu den Konsequenzen, Kohlmann/ Hilgers-Klautzsch, § 387 Rn. 44 ff. 4 S. die Übersicht über die Verordnungen der einzelnen Länder bei Joecks/Jäger/Randt/Randt, § 387 Rn. 6; für den Bund s. Kohlmann/Hilgers-Klautzsch, § 387 Rn. 51 ff. 5 S. Nr. 9 S. 1 DA-FamBustra. 6 Vgl. den Regierungsentwurf des AOStrafÄndG, BT-Drucks. V/1812, S. 21; Kohlmann/Hilgers-Klautzsch, § 386 Rn. 16; Joecks/Jäger/Randt/Randt, § 386 Rn. 11; Koch/Scholtz/Scheurmann-Kettner, § 386 Rn. 3; Kühn/v. Wedelstädt/Blesinger, § 386 AO, Rn. 3.
286
4. Teil: Die Finanzbehörden als Rechtsanwender
Schutz des Steuergeheimnisses,7 sowie die Schwierigkeit der Abgrenzung von Steuerstraftat- und Ordnungswidrigkeit beim ersten Tatverdacht8 als Argumente für die Befugnisverlagerung geltend gemacht. Bei genauerer Betrachtung erweisen sich diese Argumente jedoch – wie Hellmann überzeugend dargelegt hat – als nicht (mehr) tragfähig. Durch die organisatorische Verselbständigung innerhalb der Finanzverwaltung finden Besteuerungs- und Strafverfahren in der Regel ohnehin bei verschiedenen Behörden statt. Einem „doppelten Verwaltungsaufwand“ wirkt ferner § 30 Abs. 4 Nr. 1 AO entgegen, der die Verwendung der Erkenntnisse des Besteuerungsverfahrens im Steuerstrafverfahren und umgekehrt ermöglicht.9 Hinreichende steuerrechtliche Kenntnisse sind bei den Staatsanwaltschaften ohnehin vorauszusetzen, da diese für die Ermittlung bei gewichtigeren Straftaten zuständig bleiben.10 Durch Einrichtung der Schwerpunktstaatsanwaltschaften zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität wurde die Herausbildung entsprechender Sachkenntnis auch gefördert.11 Darüber hinaus bleibt es der Staatsanwaltschaft unbenommen, sich der Sachkenntnis der Steuerund Zollfahndung bei der Strafverfolgung zu bedienen, ebenso wie sie sich nicht selten bei allgemeinen Strafverfahren die besseren kriminalistischen Kenntnisse und Mittel der Polizei nutzbar macht.12 Was das Steuergeheimnis betrifft, so sind gem. § 30 Abs. 1 AO alle Amtsträger – also auch die Beamten der Staatsanwaltschaft – zu dessen Wahrung verpflichtet.13 Das Steuergeheimnis muss nicht vor der Staatsanwaltschaft geschützt werden, sondern wird vielmehr auch durch diese geschützt. Auch in Einzelfällen auftretende Zweifel, ob eine Steuerstraftat oder eine Steuerordnungswidrigkeit vorliegt, vermag die Befugnisverlagerung nicht zwingend zu begründen. Denn der „erste Zugriff“ im Rahmen des Ermittlungsverfahrens erfolgt ohnehin meist durch die für beide Verfahren zuständigen Fahndungsstellen.14 7 Gramich, wistra 1988, 251 (252); Joecks/Jäger/Randt/Randt, § 386 Rn. 11; Theile, ZIS 2009, 446 (447). 8 Kühn/v. Wedelstädt/Blesinger, § 386 AO, Rn. 4; Kohlmann/Hilgers-Klautzsch, § 386 Rn. 19; Joecks/Jäger/Randt/Randt, § 386 Rn. 11. 9 Hübschmann/Hepp/Spitaler/Hellmann, § 399 AO, Rn. 6. 10 Hübschmann/Hepp/Spitaler/Hellmann, § 399 AO, Rn. 8. 11 Siehe § 143 Abs. 4 GVG, eingefügt durch das StVÄG 1979. 12 Hübschmann/Hepp/Spitaler/Hellmann, § 399 AO, Rn. 8. 13 Hübschmann/Hepp/Spitaler/Hellmann, § 399 AO, Rn. 9; krit. auch Kohlmann/ Hilgers-Klautzsch, § 386 Rn. 21. 14 Hübschmann/Hepp/Spitaler/Hellmann, § 399 AO, Rn. 10.
1. Kap.: Die Verlagerung staatsanwaltlicher Befugnisse
287
Nach alledem muss die Aufrechterhaltung der Befugnisverlagerung im Steuerstrafverfahren kritisch bewertet werden. Sie stellt ein (letztes) Relikt aus Zeiten dar, in denen die Übertragung staatsanwaltschaftlicher (und auch richterlicher) Befugnisse auf Verwaltungsbehörden kein Einzelfall15 war.16 Ihre Abschaffung hätte zwar zweifellos eine Mehrbelastung der Staatsanwaltschaften zur Folge. Diese ließe sich jedoch durch eine Eingliederung des Personals der Strafsachenstellen in die Staatsanwaltschaften kompensieren.17 Hierdurch würden zugleich die steuerrechtliche Sachkenntnis der Staatsanwaltschaften gestärkt, rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerungen, die bei nicht rechtzeitiger Zusammenwirkung von Finanzbehörde und Staatsanwaltschaft auftreten können,18 vermieden und einige weitere Probleme, die die Befugnisverlagerung auch mit Wirkung für die Strafzumessung mit sich bringt, behoben.
B. Probleme der Befugnisverlagerung Als problematisch wird die Verlagerung staatsanwaltschaftlicher Befugnisse auf eine Verwaltungsbehörde zunächst im Hinblick auf das Gewaltenteilungsprinzip gesehen.19 Hierfür wird häufig schlagwortartig das Bild bemüht, der Vorsteher der betroffenen Finanzbehörden sei „Polizeipräsident“ und „leitender Oberstaatsanwalt“ in Personalunion.20 Einen verfassungswidrigen Zustand begründet die Befugnisverlagerung in ihrer derzeitigen Ausgestaltung jedoch nach einhelliger Auffassung nicht.21 Zur Entkräftung der 15 Beispiele finden sich bei Hellmann, Neben-Strafverfahrensrecht, S. 15: So konnten gem. §§ 34 ff. des Gesetzes über das Postwesen des Deutschen Reiches vom 28. Oktober 1871 (RGBl. 1871, 347) Postbehörden Strafverfahren wegen Post- und Portodefraudation durch Strafbescheid erledigen; in § 6 Nr. 3 des Einführungsgesetzes zur StPO vom 1. Februar 1877 (RGBl. 1877, 346) wurden landesgesetzliche Regelungen über die Ahndung von Übertretungen per polizeilicher Strafverfügung gestattet; weitere Beispiele s. Hellmann, Neben-Strafverfahrensrecht, S. 15. 16 Die RAO von 1919 (§§ 386 ff.) sowie die RAO 1931 enthielten im Vergleich zur AO 1977 noch weitergehende Befugnisse, die erst durch das AOStrafÄndG 1967 beseitigt wurden, vgl. auch BVerfGE 22, 49, welches die Übertragung der Strafgewalt auf die Finanzämter durch die §§ 421 Abs. 2, 445, 447 Abs. 1 RAO 1931 wegen Verstoßes gegen Art. 92, 1. HS GG für verfassungswidrig erklärt hatte. 17 Hübschmann/Hepp/Spitaler/Hellmann, § 399 AO, Rn. 11. 18 BGH NJW 2009, 2319 f. 19 Teske, Zuständigkeiten, S. 335 ff. 20 Simon/Vogelberg, Steuerstrafrecht, S. 209. 21 Hellmann, Neben-Strafverfahrensrecht, S. 409 ff.; vgl. Kohlmann/HilgersKlautzsch, § 386 Rn. 20; vgl. auch BVerfG wistra 1994, 263, das den Normenkontrollantrag zu §§ 386 Abs. 2, 399 Abs. 1, 400 AO des AG Braunschweig wistra 1992, 234, verwarf.
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4. Teil: Die Finanzbehörden als Rechtsanwender
Bedenken trägt nicht zuletzt auch die starke innerbehördliche Trennung von Besteuerungs- und Strafverfahren bei. Problematischer und auch praxisrelevanter ist hingegen die Frage nach den zeichnungsberechtigten Personen bei der Wahrnehmung staatsanwaltschaftlicher Befugnisse durch Finanzbehörden. Die Ausübung solcher Befugnisse verlangt unweigerlich nach einer hinreichenden Ausbildung und Qualifikation der betreffenden Personen. Dies zeigt sich gerade auch bei der schwierigen Rechtsfrage der Strafzumessung, die bei einem Strafbefehlsantrag zu beantworten ist. Daher bestimmt § 142 Abs. 1 Nr. 3 GVG, dass bei den Amtsgerichten das Amt der Staatsanwaltschaft nur durch einen oder mehrere Staatsanwälte, die gem. § 122 Abs. 1 DRiG die Befähigung zum Richteramt besitzen müssen, oder Amtsanwälte, die eine Ausbildung zum Rechtspfleger gem. § 2 Abs. 1 RPflG sowie eine zusätzliche Ausbildung durchlaufen haben,22 ausgeübt werden kann. Bei den Dienststellen der Finanzbehörden üben jedoch offenbar zum Teil auch Personen staatsanwaltschaftliche Befugnisse aus, die keine entsprechende Ausbildung genossen haben.23 Das AG Braunschweig zog daraus den Schluss, dass die §§ 386 Abs. 2, 399 Abs. 1, 400 HS 2 AO mit dem Rechtsstaatsprinzip unvereinbar und daher verfassungswidrig seien.24 Das BVerfG erachtete den Vorlagebeschluss zwar bereits für unzulässig, deutete jedoch an, dass die Regelungslücke durch eine analoge Anwendung der §§ 142 Abs. 1 Nr. 3 GVG i. V. m. § 122 Abs. 1 DRiG beseitigt werden könnte.25 Dies hätte zur Folge, dass nur Beamte mit entsprechender juristischer Ausbildung die Strafbefehlsanträge unterzeichnen dürften.26 Die drängendste und zugleich strittigste Frage, die durch die Verlagerung staatsanwaltschaftlicher Befugnisse auf Finanzbehörden aufgeworfen wird, ist diejenige der Weisungsbefugnis. Lange Zeit war es allgemeine Auffassung, dass auf die mit staatsanwaltschaftlichen Befugnissen versehenen Finanzbeamte das allgemeine finanzbehördliche Weisungsrecht anzuwenden ist, §§ 17 Abs. 2 S. 2 i. V. m. §§ 3, 8 Abs. 1, 4–6, 9 Abs. 1, 22 S. 1, 1. HS, 2. HS Nr. 3, 4, 5 S. 2 FVG.27 Mittlerweile hat sich jedoch die Erkenntnis durchgesetzt, dass sich eine sachliche Weisungsbefugnis der vorgesetzten Finanzbehörden, so22 KK/Mayer,
§ 142 GVG, Rn. 13. die Schilderung der Praxis des HZA Braunschweig in AG Braunschweig wistra 1992, 234 (235). 24 AG Braunschweig wistra 1992, 234 (235). 25 BVerfG wistra 1994, 263 ff. 26 So auch der Vorschlag von Hübschmann/Hepp/Spitaler/Hellmann, § 400 AO, Rn. 7; zur Problematik der innerbehördlichen Zuständigkeit s. Hübschmann/Hepp/ Spitaler/Hellmann, § 399 AO, Rn. 19 ff. 27 Hellmann, Neben-Strafverfahrensrecht, S. 158 f. m. w. N.; heute auch noch in Joecks/Jäger/Randt/Jäger, § 397 Rn. 22, anders hingegen Joecks/Jäger/Randt/Joecks, § 399 Rn. 6. 23 Vgl.
1. Kap.: Die Verlagerung staatsanwaltlicher Befugnisse289
wohl in Form von generellen Weisungen als auch in Form von Einzelanweisungen, de lege lata nicht herleiten lässt.28 Zu trennen sind solche Weisungen, die in der Sachaufsicht begründet sind, von solchen der Dienstaufsicht im engeren Sinne, also die Aufsicht über das persönliche Verhalten des Beamten bei der Diensthandlung.29 Eine solche Trennung scheint auch Hilgers-Klautzsch30 ebenso wie Randt31 vorzunehmen, wenn er nunmehr trotz Bestreitens der Sachleitungsbefugnis noch von „beschränkte(n) Weisungsbefugnisse(n)“ der Finanzbehörden im Wege der Dienstaufsicht spricht. Bereits bei Weyand32, Schick33 und Blumers34 finden sich Bedenken gegen die Zuständigkeit der Finanzverwaltung zum Erlass von allgemeinen Verwaltungsvorschriften und auch von Einzelanweisungen im Steuerstrafverfahren. Hellmann legte schließlich überzeugend dar, dass eine Herleitung von Sachleitungsbefugnissen aus dem allgemeinen Organisationsrecht des FVG bereits an der mangelnden Anwendbarkeit des FVG im Steuerstrafverfahren scheitert. Denn weder lässt sich das FVG zu den „allgemeinen Gesetzen über das Strafverfahren“ gem. § 385 AO zählen, noch lässt sich eine Verknüpfung von Steuerstrafverfahren und FVG über § 17 Abs. 2 S. 2 FVG herstellen, da in §§ 386 ff. AO die Zuständigkeit der Finanzbehörden in Steuerstrafverfahren abschließend geregelt ist.35 Dies belege gerade auch § 390 Abs. 2 S. 2 AO, welcher bei Geltung des allgemeinen Dienst- und Organisationsrechts der Finanzverwaltung überflüssig wäre.36 Ferner verweist Hellmann auf die „merkwürdige(n) Konsequenz“, dass ein Finanzbeamter, der in einem selbständigen Ermittlungsverfahren gem. § 386 Abs. 2 AO ermittelt, bei Anwendung des allgemeinen Organisationsrechts des FVG unabhängiger ist, als es ein Staatsanwalt wäre.37 Denn im Gegensatz zum leitenden Oberstaatsanwalt, dem in § 145 GVG das Recht zur Devolution gewährt wird, haben die vorgesetzten Finanzbehörden keine Möglichkeit, ihre Auffassungen im Einzelfall durchzusetzen.38 Eine Sachleitungsbefugnis der vorgesetzten Finanzbe28 Kohlmann/Hilgers-Klautzsch, Vor §§ 385 ff. Rn. 4; Joecks/Jäger/Randt/Randt, § 385 Rn. 17; auch Rolletschke/Kemper/Kemper, § 385 Rn. 37b, der die Einwendungen für „durchaus berechtigt“ hält. 29 Hellmann, Neben-Strafverfahrensrecht, S. 168. 30 Kohlmann/Hilgers-Klautzsch, § 386 Rn. 36; Kohlmann/Matthes, § 399 Rn. 12. 31 Joecks/Jäger/Randt/Randt, § 385 Rn. 17. 32 Klos/Weyand, DStZ 1988, 615 (619 f.); Weyand, DStZ 1990, 166 (169). 33 Hübschmann/Hepp/Spitaler/Schick, § 208 AO, Rn. 39. 34 Blumers, wistra 1987, 1 (4). 35 Hellmann, Neben-Strafverfahrensrecht, S. 163. 36 Hellmann, Neben-Strafverfahrensrecht, S. 163. 37 Hellmann, Neben-Strafverfahrensrecht, S. 164. 38 Vgl. Rolletschke/Kemper/Kemper, § 386 Rn. 19 ff., der auch über § 8 FVG lediglich die Befugnis der vorgesetzten Finanzbehörden herleitet, den Leiter des be-
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4. Teil: Die Finanzbehörden als Rechtsanwender
hörden in Steuerstrafverfahren besteht somit nach heute fast einhelliger Auffassung nicht. Will man den Finanzbeamten in Steuerstrafverfahren daher nicht eine völlige (Sach‑)Weisungsfreiheit zukommen lassen,39 liegt der Schluss nahe, das staatsanwaltschaftliche Dienst- und Organisationsrecht der §§ 141 ff. GVG anzuwenden.40 Der überwiegende Teil der Literatur zieht diesen Schluss (noch) nicht, ohne dies weiter zu begründen.41 Berechtigte Einwände sind bei genauerer Betrachtung jedenfalls nicht ersichtlich.42 Die Staatsanwaltschaft kann durch das Evokationsrecht gem. § 386 Abs. 4 AO ohnehin das Verfahren jederzeit an sich ziehen. Vor allem vor dem Hintergrund des allgemein anerkannten Verständnisses der Finanzbehörden, die gem. §§ 386 Abs. 2, 399 Abs. 1 AO staatsanwaltschaftliche Rechte und Pflichten wahrnehmen, als nur organisatorisch der Finanzverwaltung und funktionell der Justizverwaltung zugehörig,43 wäre eine Anwendung der §§ 141 ff. GVG nur konsequent.
C. Bedeutung der Befugnisverlagerung für die Strafzumessung Die Bedeutung der Befugnisverlagerung für die Strafzumessung ergibt sich aus der grundsätzlichen Einwirkung der Staatsanwaltschaft auf die Strafzumessungsentscheidung des Richters. So ergab eine Untersuchung von Albrecht, dass mehr als 70 % der Richter der staatsanwaltschaftlichen Strafantragspraxis einen großen Einfluss auf die Strafzumessung beimessen, wähtroffenen Finanzamtes anzuweisen, einen konkreten Fall selbständig zu bearbeiten oder einen bestimmten Beamten seines Finanzamtes mit der Sachbearbeitung zu betrauen; ebenso Kohlmann/Hilgers-Klautzsch, § 386 Rn. 36. 39 Selbst in der Diskussion um die Weisungsgebundenheit der Staatsanwaltschaft werden meist nur Beschränkungen, insbesondere des ministeriellen oder auch „externen“ Weisungsrechts, gefordert, vgl. KK/Mayer, § 146 GVG, Rn. 1 f. m. w. N.; s. auch Krey, NStZ 1985, 145 (152). 40 Vgl. Hellmann, Neben-Strafverfahrensrecht, S. 166. 41 Joecks/Jäger/Randt/Randt, § 386 Rn. 8; Kohlmann/Matthes, § 399 Rn. 10; auch der BGH verneint jedenfalls ein Weisungsrecht der Staatsanwaltschaft gem. § 152 Abs. 1 GVG bei eigenständigen Ermittlungsverfahren der Finanzbehörde, BGHSt 54, 9 (11). 42 Vgl. Hellmann, Neben-Strafverfahrensrecht, S. 167 ff. 43 So ist in Rechtsprechung und Literatur mittlerweile anerkannt, dass gegen Maßnahmen, die die Finanzbehörden im Steuerstrafverfahren ergreifen, als Justizverwaltungsakte der Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten gem. §§ 23 ff. EGGVG gegeben ist, BFH/NV 1991, 142; OLG Stuttgart NJW 1972, 2146 f.; OLG Karlsruhe NJW 1978, 1338; OLG Celle NJW 1990, 1802; Hellmann, Neben-Strafverfahrensrecht, S. 167.
1. Kap.: Die Verlagerung staatsanwaltlicher Befugnisse291
rend dem Antrag des Verteidigers nach eigenem Bekunden praktisch keine Orientierungswirkung zukommt.44 Zwar ergab eine weitere Untersuchung von Albrecht, dass Staatsanwaltschaft und Gericht im Wesentlichen denselben Überlegungen folgen.45 Daraus wird man allerdings nicht den Schluss einer bloßen Kovariation ziehen können, sondern eher, dass das Wissen des Richters um dieselbe Normanbindung des Staatsanwaltes bei dessen Strafzumessungsvorschlag zu einer Beeinflussung führt.46 Als Beleg für einen direkten Einfluss wird nicht zuletzt die gerade für die Steuerhinterziehung zutreffende Herausbildung lokaler Justizkulturen geltend gemacht.47 Da die Staatsanwaltschaft im Gegensatz zur Richterschaft als hierarchisch strukturierte Organisation die Möglichkeit hat, eine bestimmte Strafzumessungsleitlinie für die ganze Behörde verbindlich festzulegen, findet ein kontinuierlicher Einfluss statt. Lokale Strafmaßunterschiede wären dann Folge unterschiedlicher Strafzumessungsleitlinien der Staatsanwaltschaften. Eine besondere Zuspitzung des staatsanwaltschaftlichen Einflusses auf die Strafzumessungsentscheidung des Richters ergibt sich verfahrenstechnisch im Strafbefehlsverfahren.48 Hier stellt der Staatsanwalt einen Antrag, dem der Richter zu entsprechen hat, wenn keine Bedenken entgegenstehen (§ 408 Abs. 3 S. 1 StPO), was nur selten geschieht. Vor diesem Hintergrund wird die Bedeutung der Befugnisverlagerung in Fällen der Steuerhinterziehung für die Strafzumessung augenscheinlich: Die Verlagerung auf einen eigenen Behördenzweig ermöglicht die Verfolgung unterschiedlicher Strafzumessungsleitlinien. So wird in der Literatur die These aufgestellt, in Steuerstrafsachen würden letztlich die Oberfinanzdirektionen die Maßstäbe der Strafzumessung setzen.49 Über den Erlass sogenannter Strafmaßtabellen für ihren Zuständigkeitsbereich prägen sie die örtliche Strafzumessungstradition im unteren und mittleren Schwerebereich und bilden damit zugleich auch einen Vergleichswert für die selteneren Fälle50 schwerer Tatbegehungen, die nicht mehr in ihren Zuständigkeitsbereich fallen. 44 Vgl. H.-J. Albrecht, in: Kerner/Kury/Sessar, Deutsche Forschungen zur Kriminalitäts-entstehung und Kriminalitätskontrolle, S. 1297 (1322 f.). 45 H.-J. Albrecht, Strafzumessung bei schwerer Kriminalität, S. 366 f. 46 Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 496. 47 Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 497. 48 Ebenso Burkhard, Der Strafbefehl im Steuerstrafrecht, S. 163. 49 Blumers, wistra 1987, 1 (5); Blumers/Kullen, Praktiken der Steuerfahndung, S. 223, 224. 50 Das genaue Verhältnis von Urteilen nach streitiger Verhandlung und Strafbefehlsverfahren in Steuerstrafsachen, sowie der Anteil der von den Finanzbehörden erledigten Strafbefehle werden weder aus der SVS noch aus der Steuerstrafsachenstatistik ersichtlich. Die empirische Erhebung von Meine bestätigt jedoch die Vermutung, dass das Gros der Fälle von den Finanzbehörden im Strafbefehlsverfahren abgeschlossen wird, vgl. Meine, MSchrKrim 1980, 131 ff.; 1982, 344 ff.; 1985, 239 ff.
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4. Teil: Die Finanzbehörden als Rechtsanwender
Es fragt sich allerdings, ob die geschaffene Möglichkeit einer Einflussnahme der Finanzverwaltung auf die Strafzumessungstradition per se als problematisch zu betrachten ist. Denn die mit staatsanwaltschaftlichen Befugnissen versehenen Finanzbeamten sind nicht weniger an das gesetzliche Normprogramm der Strafzumessung gebunden wie die Staatsanwaltschaft. Geht man mit dem Gesetz davon aus, dass die Finanzbeamten zu deren Umsetzung auch in der Lage sind, wäre grundsätzlich nicht einzusehen, warum eine durch die Finanzbehörde vorgegebene einheitliche Leitlinie eine schlechtere sein sollte. Vielmehr würde der Umstand, dass die Finanzbehörden noch zentraler organisiert sind als die Staatsanwaltschaften, Strafzumessungsungleichheiten durch lokale Strafzumessungstraditionen besser entgegenwirken können. Allerdings steht die Weisungsbefugnis gegenüber den Finanzbeamten nach richtiger Auffassung der Staatsanwaltschaft zu. Jedenfalls besteht nach einhelliger Auffassung keine Weisungsbefugnis der vorgesetzten Finanzbehörden.51 Eine einheitliche Leitlinie könnte demnach allenfalls innerhalb einer BuStra selbst festgelegt werden. Darüber hinaus erscheint jedoch die Staatsanwaltschaft auch der Sache nach geeigneter die Strafzumessungsleitlinien vorzugeben. Denn sie hat den Überblick über die ganze Bandbreite der Tatschwere möglicher Fälle, während die Finanzverwaltung aus eigener Erfahrung ausschließlich mit leichten und mittelschweren Fällen in Kontakt kommt. Schließlich besteht für die Finanzverwaltung die Gefahr einer zweckwidrigen Orientierung bei der Formulierung der Leitlinien, denn in erster Linie denkt die Finanzverwaltung fiskalisch.52 Mit der Befugnisverlagerung und der damit einhergehenden Unklarheit der Weisungsbefugnis wird auch der faktische Einfluss auf die Strafzumessungstradition verlagert. Es stellt sich dann die Frage, inwieweit die Finanzverwaltung diesen faktischen Einfluss durch die eigenständige Formulierung von Strafzumessungsleitlinien ausübt. Hierauf wird im 4. Kapitel zurückzukommen sein.
51 S. o. 52 S. o.
4. Teil, 1. Kapitel, B. 3. Teil, 5. Kapitel, C., III., 1., d).
2. Kap.: Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren
293
2. Kapitel
Die Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren Die RiStBV sind vom Bundesjustizministerium zusammen mit den Länderjustizministerien erlassene, bundeseinheitlich geltende Richtlinien.53 Sie richten sich laut Einleitung vornehmlich an den einzelnen Staatsanwalt. Soweit Vorschriften auch den Richter betreffen, sind sie von diesem nur zu berücksichtigen, sofern sie die Art der Ausübung eines Amtsgeschäfts regeln. Fraglich ist, ob die RiStBV auch für die Beamten der Finanzbehörden gelten. Da es sich bei den RiStBV um Verwaltungsanweisungen handelt, wäre hierfür die Weisungsbefugnis der Justizbehörden vorauszusetzen. Die herrschende Meinung, eine solche Weisungsbefugnis ablehnend, umgeht insofern einen Widerspruch zur eigenen Auffassung, indem sie die RiStBV von der Verweisung des § 385 Abs. 2 AO umfasst ansieht.54 Überzeugen kann dies nicht, da die RiStBV als Verwaltungsanweisungen gerade keine Gesetze sind.55 Für das Strafzumessungsrecht relevant sind vor allem die Bestimmungen in Nr. 175 Abs. 3 S. 1 und Nr. 267 Abs. 2 RiStBV. Nach Nr. 175 Abs. 3 S. 1 RiStBV soll vom Antrag auf Erlass eines Strafbefehls abgesehen werden, wenn Gründe der Spezial- oder Generalprävention die Durchführung einer Hauptverhandlung geboten erscheinen lassen. Ob das Verfahren selbst gezielt in dem Sinne in den Dienst präventiver Strafzwecke gestellt werden kann, dass die Strafwirkungen bereits im und durch das Verfahren realisiert werden (frei nach der Devise Feeleys56: The Process is the Punishment), ist jedoch umstritten.57 Dass sich durch die Durchführung einer Hauptverhandlung die präventiven Strafbedürfnisse ändern können, ist allgemein anerkannt. Uneinheitlich beantwortet wird lediglich die Frage, in wieweit der Staatsanwalt dies in seine Entscheidung über die Beantragung eines Strafbefehls miteinfließen lassen darf. Kann er prä53 Richtlinie vom 1.1.1977 in der Fassung von 1997, zuletzt geändert durch ÄndBek. vom 21.7.2015; zur Entstehung der RiStBV 1977 s. Schaefer, NJW 1977, 21; es sind Verwaltungsanordnungen ohne Gesetzeskraft, vgl. OLG Koblenz NJW 1986, 3093. 54 Vgl. Joecks/Jäger/Randt/Randt, § 385 Rn. 13. 55 Differenzierend Rolletschke/Kemper/Kemper, § 385 AO, Rn. 38, der eine Geltung über § 399 Abs. 1 AO herleitet und damit eine Weisungsbefugnis – freilich ohne dies auszusprechen – indirekt anerkennt. 56 Feeley, The Process is the Punishment: Handling Cases in a Lower Criminal Court. 57 Eine solche „dienende Funktion“ des Prozessrechts ablehnend: SK-StPO/Weßlau, § 407 Rn. 6 m. w. N.; a. A.: KMR-StPO/Metzger, § 408 Rn. 30 ff.; vgl. auch BTDrucks. X/1313, S. 34.
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4. Teil: Die Finanzbehörden als Rechtsanwender
ventiven Strafzwecken nur im Rahmen der Sanktion und nicht durch die Verfahrensgestaltung Rechnung tragen,58 hätte dies Auswirkung auf das im Strafbefehl beantragte Strafmaß. § 175 Abs. 3 S. 1 RiStBV eröffnet dem Staatsanwalt hingegen die Möglichkeit, präventive Strafzwecke auch durch die Verfahrensgestaltung zu verfolgen und stellt damit klar, dass er nicht darauf beschränkt ist, solchen durch gegebenenfalls erhöhte Strafmaße Rechnung zu tragen. Nr. 267 Abs. 2 RiStBV: „Im Interesse einer einheitlichen Strafzumessungspraxis unterrichtet sich der Staatsanwalt über die den Strafbefehlsanträgen des Finanzamtes / Hauptzollamtes zugrunde liegenden allgemeinen Erwägungen.“ Die Auswirkungen der richtigen Auslegung und Anwendung dieser Vorschrift sind für die Strafzumessung in Steuerstrafsachen nicht zu unterschätzen. Zunächst ist festzustellen, dass die Staatsanwaltschaft dem Gesetz selbst (insb. § 46 StGB) bzw. den hierzu entwickelten Rechtsprechungsgrundsätzen zu entnehmen hat, welche Strafzumessungserwägungen anzustellen sind. Die „allgemeinen Erwägungen“ i. S. v. Nr. 267 Abs. 2 RiStGB können daher nur das Ausfüllen verbleibender Beurteilungs- und Ermessenspielräume betreffen. In der Strafzumessung ist hier vor allem an Spielräume (aufgrund unzureichender Erkenntnismöglichkeiten) im Rahmen der Umwertung bestimmter Strafzumessungsumstände zu denken. Hier ist es nicht nur zur Verringerung eigener Wertungsunsicherheiten sinnvoll, sondern auch im Sinn einer einheitlichen Strafzumessungspraxis unerlässlich, auf den vorhandenen Wertungskonsens bereits abgeurteilter Taten zurückzugreifen.59 Daher ist es richtig, beim Erlass eigener Strafbefehlsanträge die Wertungen anderer, vergleichbarer Strafbefehle zu berücksichtigen. Damit ist auch klar, dass sinnvollerweise nicht die Strafbefehlsanträge, sondern die Strafbefehle zu betrachten sind. Denn Strafbefehlsanträgen kann entsprochen werden oder nicht (z. B. dann nicht, wenn die Rechtsfolgenbestimmung als unzutreffend erachtet wird). Freilich wird den Anträgen in der Regel entsprochen, so dass sich die Rechtsfolgenbestimmung des Antragstellers als in der Regel ebenfalls richtig bezeichnen lässt. Dennoch ist es der richterliche Wertungskonsens, der zur Verringerung von Wertungsschwierigkeiten herangezogen werden sollte und nicht der staatsanwaltschaftliche oder gar der finanzbehördliche. Bedenklich erscheint auch, dass Nr. 267 Abs. 2 RiStBV im Gegensatz etwa zu Nr. 140 Abs. 1 AStBV (St) nicht von einem gegenseitigen Austausch von Finanzbehörden und Staatsanwaltschaft spricht, sondern grundsätzlich nur einen einseitigen Informationsfluss vorsieht. Die Staatsanwaltschaft soll über die Straf-zumessungserwägungen der Finanzbehörde unterrichtet werden, nicht umgekehrt. Wenn Nr. 267 Abs. 2 RiStBV damit impliziert, dass 58 Vgl.
SK-StPO/Weßlau, § 408 Rn. 17. Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 645 m. w. N.
59 Streng,
3. Kap.: Anweisungen für Strafverfahren und Bußgeldverfahren (Steuer)295
sich die Staatsanwälte zum Zwecke einer einheitlichen Strafzumessungspraxis einseitig an den Wertungen der Finanzbehörde zu orientieren haben, birgt dies die in der Literatur oft gerügte Gefahr einer Bestimmung der Strafmaße durch die Finanzverwaltung mittels sogenannter Strafmaßtabellen. Richtigerweise ist Nr. 267 Abs. 2 RiStBV daher als Anregung für einen gegenseitigen Austausch von Strafmaßvorstellungen der Staatsanwaltschaft und der Finanzbehörden zu verstehen. Die Staatsanwaltschaft bleibt zur Anstellung eigener grundsätzlicher Wertungen verpflichtet. Die Herausbildung eines Wertungskonsenses darf deshalb nicht einseitig auf die Strafmaßvorstellungen der Finanzbehörden verlagert werden, sondern sollte sich stets sowohl an dem auf Strafbefehlsanträgen der Staatsanwaltschaft als auch der Finanzbehörden beruhenden richterlichen Wertungskonsens ausrichten. 3. Kapitel
Die Anweisungen für das Strafverfahren und Bußgeldverfahren (Steuer) Die AStBV (St)60 sind bundeseinheitliche Richtlinien in Form von Verwaltungsanweisungen. Sie werden von den obersten Finanzbehörden der Länder erlassen, um eine einheitliche Handhabung der Gesetze und eine reibungslose Zusammenarbeit der Finanzbehörden untereinander sowie mit Gericht und Staatsanwaltschaft zu gewährleisten.61 Eine einheitliche Gesetzesanwendung im Strafverfahren insbesondere im Bereich der Strafzumessung ist zweifellos wünschenswert. Fraglich ist nur ob die Finanzverwaltung hierzu auch berufen ist.62 Da der Finanzverwaltung eine Sachleitungsbefugnis im Steuerstrafverfahren nach zutreffender Ansicht nicht zukommt, werden die AStBV (St) überwiegend als unwirksam angesehen, soweit sie das Strafverfahren betreffen.63 Die Verwaltung selbst scheint ungeachtet der Kritik von ihrer Wirksamkeit auszugehen, was sich nicht zuletzt in der fast jährlichen 60 AStBV (St) 2014 i.d. Fassung vom 1.11.2013, BStBl. Teil I 2013, S. 1395. Erstmals wurden die AStBV (St) 1984 veröffentlicht. Seitdem wurden sie mehrfach – zuletzt bis 2014 jährlich – geändert. Vgl. auch Kohlmann/Hilgers-Klautzsch, Vor §§ 385 ff., Rn. 3 ff.; Hübschmann/Hepp/Spitaler/Rüping, § 385 Rn. 35 ff. 61 Vgl. Einführung AStBV (St) 2014. Das BFM hat die AStBV (St) bislang allerdings nicht erlassen. 62 Bejahend Koch/Scholtz/Bearbeiter, Vor § 385 Rn. 7. 63 Klein/Gast-de Haan, § 385 AO, Rn. 1; Hellmann, Neben-Strafverfahrensrecht, S. 165; Kohlmann/Hilgers-Klautzsch, Vor §§ 385 ff., Rn. 5; Franzen/Gast/Joecks/ Randt, § 385 Rn. 17; Hellmann, wistra 1994, 13 (14); Klos/Weyand, DStZ 1988, 619 f.; Hübschmann/Hepp/Spitaler/Schick, § 208 AO, Rn. 39; Weyand, DStZ 1990, 166 (169); a. A.: BFH DStR 1998, 1791 (1792 f.); Koch/Scholz/Scheurmann-Kettner, Vor § 385 Rn. 7; Rolletschke/Kemper/Kemper, § 385 Rn. 37b.
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4. Teil: Die Finanzbehörden als Rechtsanwender
Erneuerung der AStBV (St) zeigt. Daher sollen die wichtigsten Vorschriften kurz genannt werden. Nr. 17 Abs. 4 AStBV (St) regelt die behördeninterne Zuständigkeit der BuStra und Zeichnungsrechte als lex specialis zum sonst anzuwendenden FAGO.64 Abschnitt 11 der AStBV (St) befasst sich mit den Strafzumessungskriterien. Hier wird zum Teil nur der Gesetzeswortlaut wiederholt, teilweise werden Rechtsprechungsgrundsätze wiedergegeben und teilweise werden wiederum eigene Vorgaben gemacht. So geht etwa Nr. 75 Abs. 1 S. 3 AStBV (St) über den Gesetzeswortlaut hinaus, indem bestimmt wird, dass die Strafe „dem Unrechtsgehalt der Tat entsprechen und den Täter wegen des begangenen Unrechts fühlbar treffen“ muss. In Nr. 76 werden dann im Wesentlichen die Rechtssprechungsgrundsätze des BGH zum Hinterziehungsbetrag aufgegriffen. In Nr. 77 werden einzelne strafschärfende und strafmildernde Strafzumessungsumstände – etwa eine „verunglückte Selbstanzeige“ – genannt. In Nr. 22 AStBV wird die Abgabe der Strafsache an die Staatsanwaltschaft gem. § 386 Abs. 4 S. 1 AO geregelt, wobei insbesondere auch die Anregungen des BGH65 berücksichtigt werden. Nr. 84 Abs. 3 AStBV bestimmt, dass eine Erledigung im Strafbefehlsverfahren „nicht geboten oder nicht zulässig“ ist, wenn ein besonders schwerer Fall der Steuerhinterziehung gem. § 370 Abs. 3 AO vorliegt. Diese Vorschrift ist besonders geeignet, eine Umgehung der strengen Regelungen über die Verfahrensabsprache im Hauptverfahren durch eine Erledigung im Strafbefehlsverfahren zu verhindern. Der BGH hat bislang das Strafbefehlsverfahren lediglich bei Millionenbeträgen für ungeeignet bezeichnet.66 Nach Nr. 75 Abs. 3 AStBV sollen die Finanzbehörden bei Abgabe der Sache an die Staatsanwaltschaft gem. § 386 Abs. AO zur Strafzumessung Stellung nehmen. In Nr. 140 Abs. 1 AStBV werden ferner „regelmäßige Kontaktgespräche“ zur „Unterrichtung der Staatsanwaltschaft über an sie abzugebende oder von ihr zu übernehmende Strafsachen“ gem. § 386 Abs. 4 AO und „Erörterung allgemeiner Fragen der Strafzumessung“ vorgeschlagen. Weitere die Strafzumessung betreffende Regelungen finden sich in Nr. 41, 78, 82 f., 85 ff. AStBV (St). 64 Hübschmann/Hepp/Spitaler/Hellmann, § 399 AO, Rn. 21; da die AStBV (St) für die Zollver-waltung nicht gilt, kommt bei den Hauptzollämtern die GO-ÖB zur Anwendung. 65 BGHSt 54, 9. 66 BGHSt 53, 71 (86).
4. Kap.: Strafmaßvorgaben der Finanzbehörden für Strafhöhenbemessung 297
Im Ergebnis stellen sich einige Regelungen im Sinne einer einheitlichen Strafzumessungspraxis als durchaus nützlich dar, so etwa der Überblick und die verbindliche Anordnung67 über die recht detaillierte BGH-Rechtsprechung zum Hinterziehungsbetrag sowie die Vorschriften, die die Absprache zwischen Finanzbehörde und Staatsanwaltschaft über die Abgabe oder Übernahme einer Strafsache gem. § 386 Abs. 4 AO betreffen. Sofern sie von justizbehördlicher Seite erlassen würde – etwa in Ergänzung zu den RiStBV – stünde ihrer Wirksamkeit auch nichts entgegen. 4. Kapitel
Strafmaßvorgaben der Finanzbehörden für die Strafhöhenbemessung Von der AStBV (St) weitgehend ungeregelt – abgesehen von der Aufnahme der BGH-Rechtsprechung – bleibt damit der Bereich der Strafzumessung, den es sich zum Zwecke einer einheitlichen Strafzumessungspraxis bundesweit gerade einheitlich zu regeln lohnen würde: die Findung des richtigen Einstiegs in den Strafrahmen. Auch die Beamten der Finanzverwaltung verwenden hier seit je her68 die bereits besprochenen sog. Strafmaßtabellen. Dabei wird gerade bei den Finanzbehörden eine besonders stark ausgeprägte enge Handhabung dieser Tabellen vermutet, was freilich auch der naturgemäß schematischeren Strafzumessung im unteren Schwerebereich geschuldet sein mag.69 Vom Inhalt dieser Strafmaßtabellen geht, wie bereits erwähnt, eine nicht unerhebliche Wirkung auf die lokale Strafzumessungstradition aus.70 Entscheidend ist damit, wer die Strafmaßtabellen erstellt und welche Erwägungen und Überlegungen bei der Erstellung zu Grunde gelegt werden. Trifft die in der steuerstrafrechtlichen Literatur gelegentlich formulierte These71 zu, dass die Oberfinanzdirektionen „die Linie der Bestrafung bestimmen“?
A. Bisheriger Kenntnisstand Bereits bei der Frage, ob die Finanzbehörden überhaupt entsprechende Strafmaßtabellen herausgeben, besteht Unklarheit. In der Literatur wird hier 67 Die Rechtsprechungslinie des BGH zur Strafzumessung bei Steuerhinterziehung ist in weiten Teilen als obiter dictum ausgestaltet. 68 S. o. 2. Teil Fn. 262, S. 158. 69 S. o. 2. Teil, 2. Kapitel, B., I., 2., a). 70 S. o. 4. Teil, 1., Kapitel, C. 71 Vgl. die Nachweise in Fn. 49.
298
4. Teil: Die Finanzbehörden als Rechtsanwender
zum Teil mit eigentümlicher Selbstverständlichkeit von der flächendeckend verbreiteten Praxis ausgegangen, die Oberfinanzdirektionen würden Strafmaßtabellen für ihre Bezirke erlassen.72 Hierbei wird häufig auf einen Artikel der PStR73 verwiesen, der eine Übersicht der verwendeten Tabellen nach Oberfinanzdirektionen auflistet, wobei lediglich für die Oberfinanzdirektionen Kiel, Koblenz und Saarbrücken Tabellen nicht bekannt seien oder nicht verwendet würden. Der Artikel lässt jedoch weder die Quelle für die dort genannten Werte erkennen, noch lässt sich diesem überhaupt die Behauptung entnehmen, die Tabellen würden von Seiten der Oberfinanzdirektionen erlassen. Vielmehr lässt die Einleitung74 vermuten dass es sich nicht nur um Tabellen der Finanzverwaltung handelt. Nur selten erfährt man, in welcher rechtlichen Form die Strafmaßvorgaben erfolgen. Teilweise wird behauptet, sie wären unverbindlich, wobei offen bleibt, ob damit gemeint ist, dass im Einzelfall eine abweichende Entscheidung möglich sein soll, oder ob die Vorgaben an sich keine Verbindlichkeit beanspruchen (also keine Weisung, sondern Information).75 Völlig unklar ist darüber hinaus, wer an der Erstellung dieser Strafmaßvorgaben mitwirkt und wie sie zu den konkreten Strafmaßvorstellungen gelangen. Blumers meint, die Oberfinanzdirektionen würden diese selbständig erarbeiten und hierfür Gerichtsurteile auswerten.76 Teilweise findet sich auch die Behauptung, die Staatsanwaltschaft wäre an der Erstellung der Vorgaben beteiligt.77 Soweit es sich um Vorgaben auf Ebene einzelner BuStras handelt, ist davon auszugehen, dass die örtlich zuständige Staatsanwaltschaft zumindest beteiligt wird.
72 Vgl. Flore/Tsambikakis/Rübenstahl, § 46 StGB, Rn. 118, 125; Kohlmann/ Schauf, § 370 Rn. 1075 f.; differenzierend Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 1894. 73 PStR 2001, 18. Zuvor bereits PStR 1998, 224. 74 PStR 2001, 18: „Anhand dieser Tabellen können sie ermitteln welche Strafe die Staatsanwaltschaft oder die BuStra …“ [Hervorhebungen durch den Verfasser]. 75 Blumers/Göggerle, Handbuch des Verteidigers im Steuerstrafverfahren, S. 413 Rn. 957; Suhr/Naumann/Bilsdorfer, Steuerstrafrecht, S. 142 Rn. 184; Minoggio, PStR 2003, 212 (214); Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 1896 bezeichnet sie als „staatlich aber informell“. 76 Blumers, wistra 1987, S. 1 (5). 77 Blumers/Kullen, Praktiken der Steuerfahndung, S. 223, die nichts desto trotz meinen, dass über die Strafmaßkataloge letztlich die Finanzverwaltung das Strafmaß bestimme, indem auch auf Verfahren, die nicht im Strafbefehlsverfahren erlassen werden können, durch das Setzen einer Praxis im unteren Bereich eingewirkt wird; Peter/ Kramer, Steuer und Studium 2008, 544 (545).
4. Kap.: Strafmaßvorgaben der Finanzbehörden für Strafhöhenbemessung299
B. Ergebnisse eigener Forschung I. Methode Der Forschungsfrage wurde im Wege einer an die betreffenden Finanzbehörden gerichteten Umfrage nachgegangen. Dabei wurde in Zusammenarbeit mit dem Max-Planck Institut für Strafrecht ein standardisierter Fragenkatalog78 erstellt, der mit einem die Forschungsfrage erläuternden Begleitschreiben versendet wurde. Als Adressaten der Umfrage wurden die fünf Bundesfinanzdirektionen79 sowie die finanzbehördlichen Mittelbehörden, Oberbehörden oder oberste Landesbehörden gewählt, die nach dem jeweiligen Landesrecht für die Erteilung von Weisungen an einzelne Finanzämter in Frage kommen.80 Die Finanz- und Hauptzollämter selbst wurden nicht angeschrieben, da mit einem repräsentativen Rücklauf bei der großen Anzahl der Behörden in absehbarer Zeit nicht zu rechnen war. Der Möglichkeit einer selbständigen Entwicklung von Strafmaßvorgaben auf Ebene der unteren Finanzbehörden wurde jedoch versucht, im Rahmen der Umfrage Rechnung zu tragen (vgl. Fragen 9 und 10). Die Schreiben wurden im Oktober 2014 versendet. Die letzten Antwortschreiben gingen im Januar 2015 ein.
78 Siehe Anhang, Anlage G. Zu den methodischen Überlegungen bei der Erstellung eines Fragebogens, s. Kromrey, Empirische Sozialforschung, S. 347 ff. 79 Bis zum 31. Dezember 2007 waren die Oberfinanzdirektionen der Länder auch Mittelbehörden der Bundesfinanzverwaltung und im Wege der sog. Mischverwaltung zuständig für die Hauptzollämter. Mit Gesetz vom 13. Dezember 2007 (BGBl. Teil I 2007, S. 2897) wurden die entsprechenden Bundesabteilungen aufgelöst und fünf Bundesfinanzdirektionen eingerichtet: BFD Mitte, Nord, West, Südost, und Südwest. Die Hauptzollämter wurden diesen Bundesfinanzdirektionen, mit zum Teil geänderter Zuständigkeit, angegliedert. Mit Gesetz vom 3. Dezember 2015 (BGBl. Teil I 2015, S. 2178) wurden die Bundesfinanzdirektionen zum 1. Januar 2016 aufgelöst und durch die Generalzolldirektion als Bundesoberbehörde ersetzt. 80 Die Änderung des Finanzverwaltungsgesetzes vom 26.11.2001 (BGBl. Teil 1 2001, S. 3219) hat zu einer deutlichen Verschlankung der Behördenstruktur geführt. Viele Länder haben seit der Aufgabe der zuvor obligatorischen Dreigliedrigkeit der Finanzverwaltung von der Möglichkeit eines Verzichts auf die Mittelbehörde (Ober finanzdirektion) gem. § 2a FVG Gebrauch gemacht: Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz (Landesamt für Steuern ist Nachfolgerin der Oberfinanzdirektion Koblenz und ist Landesoberbehörde), Saarland, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein. Daneben haben sämtliche übrige Länder, die zuvor zum Teil mehrere Oberfinanzdirektionen unterhielten, den Zuständigkeitsbereich landesweit auf eine Mittelbehörde übertragen: Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Thüringen (Thüringer Landesfinanzdirektion), Sachsen.
300
4. Teil: Die Finanzbehörden als Rechtsanwender
II. Ergebnisse 1. Zur Anwendung derzeit Von den 16 leitenden Landesfinanzbehörden machen sechs den ihnen nachgeordneten Behörden Vorgaben: die OFD Magdeburg, das Finanzministerium Mecklenburg-Vorpommern, die OFD Niedersachsen, das Landesamt für Steuern und Finanzen in Sachsen, das Finanzministerium des Landes Schleswig-Holstein und das Landesamt für Steuern in Thüringen. Deren letzte Überarbeitungen sind vorwiegend älteren Datums. In Niedersachsen geht diese auf das Jahr 2002 zurück, in Mecklenburg-Vorpommern auf das Jahr 2006 und in Thüringen fand diese am 8.10.2007 statt.81 Die Rechtsprechung des BGH aus dem Jahre 2008 wurde hier offensichtlich nicht zum Anlass für eine Überarbeitung genommen. In Sachsen-Anhalt wurden die Vorgaben zuletzt im Jahr 2013 abgeändert. Das Finanzministerium des Landes Schleswig-Holstein und das Landesamt für Steuern und Finanzen in Sachsen machten zum Datum der letzten Überarbeitung keine Angaben. In den übrigen zehn leitenden Landesfinanzbehörden sowie in den fünf Bundesfinanzdirektionen werden keine Vorgaben erteilt. Die OFD Karlsruhe, die Senatorin der Finanzen in Bremen sowie das Landesamt für Steuern in Rheinland-Pfalz gaben explizit an, dass ihnen hierzu die Weisungsbefugnis fehle. Die OFD Nordrhein-Westfalen geht davon aus, dass die Erteilung von Weisungen dem auf die Verwirklichung des Schuldprinzips gerichteten Strafbefehlsverfahren „zuwiderlaufen“ würde. Die betreffenden Finanzbehörden in Bayern, Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen und Rheinland-Pfalz gaben an, dass es Vorgaben irgendwelcher Art von ihrer Seite niemals gegeben habe. Bei der OFD Nordrhein-Westfalen und im Saarland gab es diesbezüglich keine Kenntnis mehr. Die OFD Karlsruhe machte zu Frage 7 keine Angaben. Zu Frage 9 gaben die Finanzbehörden in Bremen, Hamburg und Rheinland-Pfalz an, dass sie Kenntnis von Vorgaben auf Ebene der BuStras haben. Die restlichen sieben Finanzbehörden, die selbst keine Vorgaben erteilen, gaben entweder an, hiervon keine Kenntnis zu haben,82 oder nahmen keine Stellung83 zu der Frage.
81 Die Thüringer Landesfinanzdirektion gab allerdings auch an, dass sich die Vorgaben aktuell in Bearbeitung befinden. 82 Brandenburg, Hessen, OFD NRW. 83 OFD Karlsruhe, Bayern, Berlin, Saarland. Letztere verweist allerdings auf Vorgaben der Staatsanwaltschaft Saarbrücken, ohne jedoch explizit anzugeben, dass diese auch von der BuStra verwendet werden.
4. Kap.: Strafmaßvorgaben der Finanzbehörden für Strafhöhenbemessung 301
Abbildung 10: Strafmaßvorgaben durch Finanzbehörden in Deutschland
302
4. Teil: Die Finanzbehörden als Rechtsanwender
2. Zur rechtlichen Form, Autorenschaft und inhaltlichen Orientierung der Vorgaben Von den sechs leitenden Finanzbehörden, die den ihnen unterstellten Finanzbehörden Vorgaben erteilen, gaben drei an, dies in Form von Verwaltungsanweisungen zu erledigen, während die übrigen drei lediglich unverbindliche Orientierungswerte herausgeben (vgl. Abb. 9). In Hamburg und Bremen stellen die Vorgaben auf Ebene der BuStras ebenfalls unverbindliche Orientierungswerte dar. Was die Autorenschaft der Vorgaben anbelangt, so setzt sich diese in Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen und Sachsen-Anhalt ausschließlich aus Bediensteten der leitenden Finanzbehörde und einzelner Finanzämter zusammen. In Thüringen wirkten bei der inhaltlichen Erstellung der Weisungen auch Vertreter der Staatsanwaltschaft mit. In Schleswig-Holstein ist die Autorenschaft der Orientierungshilfen nicht bekannt. Das Landesamt für Steuern und Finanzen in Sachsen wollte hierzu keine Angaben machen. Eine klare Tendenz hin zur gegenseitigen Absprache zwischen Finanz- und Justizbehörden ist in den Ländern erkennbar, in welchen keine zentralen Vorgaben von finanzbehördlicher Seite erteilt werden. Von den drei Behörden, die von Tabellen berichteten, die auf Ebene der BuStras verwendet werden, gaben alle drei an, dass diese entweder ausschließlich oder unter Mitwirkung der Justiz ausgearbeitet werden.84 Auch die OFD Frankfurt am Main berichtete von einer Abstimmung der Finanzbehörden innerhalb der jeweiligen Landesgerichtsbezirke mit der Justiz, was die Strafmaßvorstellungen anbelangt. Unterschiedlich fallen auch die Antworten auf die Frage nach der inhaltlichen Orientierung bei der Erstellung der Strafmaßvorgaben aus. Das Finanzministerium Mecklenburg-Vorpommern und die Thüringer Landesfinanzdirektion berücksichtigten hierbei neben eigenen Strafmaßvorstellungen auch die regionale und überregionale Rechtsprechung. Die OFD Magdeburg orientierte sich hingegen nur an der überregionalen Rechtsprechung. Die OFD Niedersachsen wiederum richtete sich ausschließlich nach eigenen Strafmaßvorstellungen der Autoren, wobei die „Erfahrungswerte“ anderer Bundesländer miteinbezogen wurden. Die Vertreter aus Sachsen und Schleswig-Holstein wollten bzw. konnten hierzu keine Angaben machen. 84 Ausführlich berichtete dies der Leiter des Referates für Fahndung und Strafsachen vom Landesamt für Steuern in Koblenz. Die einzelnen BuStras arbeiten dort zwei Schwerpunktstaatsanwaltschaften zu, die stark abweichende Strafmaßvorstellungen hätten. Daneben bestünden einzelne Amtsgerichte zudem auf eigene Vorgaben, an die sich die BuStras anzupassen haben. Auch gebe es wohl Strafsachenstellen, die keinerlei Vorgaben aus der Justiz erhielten und deshalb in einem nicht schriftlich fixierten „Strafmaßkorridor“ großer Bandbreite arbeiteten.
4. Kap.: Strafmaßvorgaben der Finanzbehörden für Strafhöhenbemessung 303
3. Würdigung Die Ergebnisse zeigen, dass die Leitlinien der Strafzumessung ganz überwiegend sachgemäß von justizieller Seite vorgegeben werden oder sich jedenfalls an deren Vorgaben orientieren. Nur sechs leitende Finanzbehörden erteilen überhaupt Strafmaßvorgaben. Davon gaben nur drei an, diese ausschließlich selbständig zu erstellen. Zwei der drei Behörden orientieren sich bei der Erstellung der Vorgaben inhaltlich entweder ausschließlich oder auch an den Strafmaßen, die von der regionalen und / oder überregionalen Rechtsprechung verhängt werden. Lediglich die OFD Niedersachsen nimmt nach eigenen Angaben eine problematische Erteilung von Strafmaßvorgaben in Form von Weisungen nach eigenen Maßstäben vor. In den restlichen zehn Bundesländern sowie den Bundesfinanzdirektionen werden keine zentralen Vorgaben an die nachgeordneten Behörden gemacht. Dies schließt zwar nicht aus, dass auf Ebene der einzelnen BuStras und Hauptzollämter von der Behördenleitung Vorgaben an die Sachbearbeiter gemacht werden. Die Umfrage bestätigt jedoch die Vermutung, dass entsprechende Vorgaben auf Ebene der unteren Verwaltungsbehörden stets in Absprache mit den örtlichen Justizbehörden erfolgen. Die These der Bestimmung der Strafzumessungsmaßstäbe durch die Finanzverwaltung trifft damit gegenwärtig allenfalls in geringem Ausmaß zu. Ob dies in der Vergangenheit anders war und ob hier ein Wandel stattgefunden hat, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden. Zwar gaben sieben der zehn Behörden, die die Erteilung von Vorgaben verneinten, an, dass solche Vorgaben auch in der Vergangenheit niemals gemacht wurden. Dabei ist jedoch zum einen zu beachten, dass durch das Fehlen einer neutralen Antwortmöglichkeit „keine Kenntnis“ das Bild verzerrt worden sein könnte. Zum anderen hat die Finanzverwaltung eine erhebliche Umstrukturierung in Form von Konzentration und teilweise Wegfall der Mittelbehörden erfahren, so dass die befragten Behörden zum Teil noch recht jung sind. Die Angaben können daher nur Geltung für die eigene Behörde, nicht für die Vorgängerbehörden beanspruchen. Ferner wird die Angabe wohl lediglich den Erfahrungszeitraum des Bearbeiters erfassen.
Zusammenfassung 1. Da sich in der Strafzumessungsdogmatik eine immer stärkere Verschränkung mit den Kategorien der Straftatlehre durchgesetzt hat, ist zentraler Untersuchungsgegenstand des Besonderen Teils des Strafzumessungsrechts das Unrecht des jeweiligen Delikts. Die Steuerhinterziehung ist insoweit vergleichsweise einfach strukturiert, was der Hauptgrund für die – von regionalen Disparitäten abgesehen – starke Gleichmäßigkeit in der Strafzumessungspraxis sein dürfte. Die Steuer-hinterziehung ist reines Vermögensdelikt und damit in ihrem Unrechtsgehalt leicht abstufbar. Der Vermögensschutz des Staates hat allerdings gegenüber dem Vermögensschutz von natürlichen Personen einen abweichenden Funktionszusammenhang, was sich auf den Inhalt und die Bewertung des Unrechts auswirkt. Das Staatsvermögen dient nicht der Verwirklichung persönlicher Freiheiten, sondern dem gleichmäßigen und gerechten Lastenausgleich nach dem Prinzip der Leistungsfähigkeit.1 2. Nach herrschender Meinung ist die Steuerhinterziehung nicht ausschließlich Verletzungsdelikt, sondern kann auch konkretes und sogar abstraktes Gefährdungsdelikt sein. Dies betrifft allerdings nur seltene Ausnahmefälle der vollendeten Tatbegehung.2 Da besondere subjektive Tatbestandsmerkmale oder Gesinnungsmerkmale nicht gefordert werden, sind zwar grundsätzlich große Unterschiede im Handlungsunrecht denkbar. Praktisch liegt ihr jedoch eine äußerst einheitliche Begehungsweise zu Grunde. Das äußere Tatbild unterliegt nur geringen Schwankungen, der Unterscheidung von Tun und Unterlassen kommt allenfalls eine geringe Bedeutung zu und das „Opfer“ ist stets dasselbe. Vor dem Hintergrund dieser Unrechtsstruktur ist die herausragende Bedeutung, die dem Hinterziehungsbetrag als Strafzumessungsumstand in der Praxis zukommt, durchaus gerechtfertigt.3 Der strafzumessungsrechtlichen Bewertung von Unrecht, also der Übersetzung in bestimmte Strafhöhen, liegt notwendigerweise eine Vorstellung der Strafwürdigkeit des Unrechts zu Grunde. Dabei steht die Strafwürdigkeit des Unrechts einer Tat nicht nur in einem Relationszusammenhang zu anderen Taten derselben Deliktskategorie, sondern auch als Verwirklichung eines 1 1. Teil,
2. Kapitel, A., I., 1., d). 2. Kapitel, A., I., 2., d). 3 3. Teil, 1. Kapitel, B. 2 1. Teil,
Zusammenfassung
305
(delikts-)spezifischen Unrechts in einem Verhältnis zu allen anderen Delikten des Strafensystems. Dem Rechtsanwender ist die Arbeit dieser Einordnung idealerweise vom Gesetzgeber durch die Schaffung abgestufter Strafrahmen und sonstiger normativer Vorgaben abgenommen. Für das Delikt der Steuerhinterziehung galt es, die normativen Vorgaben insoweit genauer zu untersuchen. Anlass hierfür gibt bereits die Einstellung weiter Teile der Bevölkerung, die die Steuerhinterziehung noch immer als Kavaliersdelikt in dem Sinne ansehen, dass das Verhalten nur in geringem Maße moralisch verwerflich sei.4 Die normativen Wertungen widersprechen dieser Einordnung. Die Steuerhinterziehung ist demnach nicht weniger strafwürdig als vergleichbare Delikte des Kernstrafrechts. Hierfür spricht die Analyse der historischen Entwicklung der Strafrahmen der Steuerhinterziehung, insbesondere im Vergleich zum strukturähnlichen Betrug.5 Die Konkretisierungen dieser normativen Wertungen durch Richterrecht und höchstrichterliche Rechtsprechung bestätigen diesen Befund.6 Die Selbstanzeigevorschrift ist nur dann normativer Ausdruck für eine geringere Strafwürdigkeit der Steuerhinterziehung, wenn man zu ihrer Begründung ausschließlich eine Strafzwecktheorie bemüht.7 3. Die Strafzwecktheorie ist jedoch auch nach den jüngsten Verschärfungen des § 371 AO nicht in der Lage, die Straflosigkeit in allen Fällen einer wirksamen Selbstanzeige zu erklären. Die Regelung lässt sich damit de lege lata nicht ausschließlich mit der verringerten Strafbedürftigkeit erklären, sondern ist zumindest auch auf den sogenannten „außerstrafrechtlichen“ Fiskalzweck der Wiedergutmachung des Steuerschadens gerichtet. Eine solche Ausnahme von der Verhängung der straftheoretisch notwendigen Strafe zur Verfolgung anderer Zwecke muss schon aus Legitimationsgründen auf durch Gesetz genau bestimmte Fallkonstellationen beschränkt sein. Eine Wertungsübernahme für den Rechtsanwender in der Strafzumessung – etwa zur Legitimation schuldunterschreitender Strafen in Fällen der Verfahrensabsprache – ist daher unzulässig. Auch für die Relevanz etwaiger präventiver Strafzwecke lässt sich der Vorschrift nichts entnehmen.8 4. Präventive Strafzwecke lassen sich im Einklang mit der Spielraumtheo rie der herrschenden Meinung zur Konkretisierung der Strafhöhe im Rahmen der Bandbreite vertretbarer Strafmaße berücksichtigen, die das Erreichen des maßgeblichen Strafzwecks der Wiederherstellung des Rechts gewährleisten. Daneben sind sie vor allem bei der Strafartwahl sowie der Frage der Straf4 1. Teil,
2. Kapitel, 2. Kapitel, 6 1. Teil, 2. Kapitel, 7 1. Teil, 2. Kapitel, 8 1. Teil, 4. Kapitel, 5 1. Teil,
B., B., B., B., C.
II., 4. I., 1. I., 4. I., 3.
306
Zusammenfassung
aussetzung zur Bewährung zu berücksichtigen. Welche Bedeutung den einzelnen Strafzwecken dabei zuzuschreiben ist, hängt von ihrer Wirksamkeit ab. Für das Delikt der Steuerhinterziehung gilt: Die negative Spezialprävention verspricht in ihrer Ausprägung als Sicherungszweck ebenso wenig ein wirksames Mittel zu sein wie die positive Spezialprävention in ihrer bessernden, therapeutischen Ausprägung.9 Anders ist dies für den Gedanken der Individualabschreckung zu beurteilen. Steuertäter weisen regelmäßig eine erhöhte Strafempfänglichkeit auf, sodass die Wirksamkeit eines Abschreckungseffekts in entsprechenden Fällen wahrscheinlicher ist.10 Im Gegenzug führt die erhöhte Strafempfänglichkeit allerdings auch dazu, die entsozialisierende Wirkung der Strafe zu verschärfen. Vergleichsweise häufig werden in Fällen der Steuerhinterziehung daher spezialpräventive Strafbedürfnisse für eine milde Bestrafung streiten. Was die Effektivität des generalpräventiven Abschreckungsgedankens anbelangt, weisen Studien für das Delikt der Steuerhinterziehung zwar positive Befunde auf. Jedoch geht die Wirksamkeit vornehmlich von der Entdeckungswahrscheinlichkeit und weniger von der Strafhöhe aus.11 Der empirische Nachweis eines Zusammenhangs von Deliktsbereitschaft und Steuermoral ist immerhin als Indiz für die Wirksamkeit positiver Generalprävention zu werten.12 Sowohl negative als auch positive Generalprävention werden in ihrer Effektivität jedoch relativiert durch die Vorstellung eines großen Deliktsdunkelfelds und der Vorschrift des § 371 AO.13 Weitere Relativierungsgründe stellen der schlechte Ruf des Steuerrechts und die Steuerverschwendung dar.14 Die Analyse einer Reihe von Studien der empirischen Sozialforschung hat gezeigt, dass noch immer eine Diskrepanz zwischen der allgemeinen Bewertung der Strafwürdigkeit der Steuerhinterziehung und den normativen Wertungen besteht, auch wenn sich diese in den letzten Jahren deutlich verringert hat.15 Es bestehen daher grundsätzlich gesteigerte positiv-generalpräventive Strafbedürfnisse, insbesondere soweit man von einer sittenbildenden Kraft des Strafrechts ausgeht. 5. Der BGH ist in einer klaren Rechtsprechungslinie seit der Grundsatzentscheidung vom 2.12.2008 erkennbar bemüht dem Aspekt der Rechtsbewährung bei der Lösung dieses Antimonieproblems auf allen Ebenen der Strafzumessungsentscheidung stärkere Bedeutung zukommen zu lassen. Zur Strafartwahl wird die Vorgabe gemacht, dass ab einem sechsstelligen Hinter9 1. Teil,
3. Kapitel, A. 3. Kapitel, A., 11 1. Teil, 3. Kapitel, B., 12 1. Teil, 3. Kapitel, B., 13 1. Teil, 3. Kapitel, B., 14 1. Teil, 3. Kapitel, B., 15 1. Teil, 2. Kapitel, B., 10 1. Teil,
I. I. II. III., 1., 4. III., 2., 3. III., 4.
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ziehungsbetrag die Verhängung einer Geldstrafe nur bei gewichtigen Milderungsgründen noch schuldangemessen ist. Damit wird einer deutlich milden Sanktionspraxis16 bei der Strafartwahl gerade im Grenzbereich zwischen Freiheits- und Geldstrafe entgegengewirkt. Noch deutlicher formuliert der Senat die Bedürfnisse der Rechtsbewährung bei der Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bewährung, in der die Sanktionspraxis bei Steuerdelikten ebenfalls vergleichsweise milde ausfällt.17 Für die Strafhöhenentscheidung setzt der BGH zwar nicht, wie zu erwarten wäre, an der Präventionswertung an (was zugleich die geringe praktische Bedeutung offenbart, die der BGH der Präventionswertung nach der Spielraumtheorie zuschreibt). Stattdessen betont er die Bedeutung des Hinterziehungsbetrages für die Strafhöhenentscheidung mit der strengen Orientierung an Betragsgrenzen, was angesichts der Aufladung der Schuldwertung in der Rechtsprechungspraxis mit Umständen, denen eigentlich vorwiegend nur unter spezialpräventiven Aspekten Bedeutung zukommen dürfte, als durchaus probates Mittel erscheint.18 6. Eine solche Aufladung der Schuldwertung (bzw. Irrelevanz einer eigenständigen Präventionswertung) wird auch durch die Analyse der geltenden Strafzumessungstradition für das Delikt der Steuerhinterziehung indiziert. Hinweise auf einen eigenständigen Bewertungsschritt der Präventionswertung im Vorgang der Strafzumessung fanden sich nicht. Stattdessen steht zu vermuten, dass bei der Bewertung einzelner phänomenologischer Strafzumessungsumstände (Vorstrafen, Reue, Geständnis etc.) nicht nach deren Relevanz unter Schuldaspekten einerseits und Präventionsaspekten andererseits getrennt wird, sondern diese vielmehr in einem einzigen Bewertungsschritt als Zu- und Abschläge von einem Ausgangswert im Rahmen der Strafhöhenentscheidung berücksichtigt werden.19 7. Die Analyse der Strafzumessungstradition legte des Weiteren den formalen Vorgang der Strafhöhenentscheidung sowie die überragende Bedeutung eines einzigen Strafzumessungsumstandes im Rahmen dieses Vorgangs offen. Zunächst wird eine Einstiegsstelle in den Strafrahmen festgelegt, zum Teil in Form eines engen Strafrahmens, regelmäßig jedoch als Angabe einer genauen Strafhöhe. Die Findung dieser Einstiegsstelle erfolgt nicht anhand von Fallgruppen unterschiedlicher Merkmalskombinationen sondern alleine anhand des Merkmals „Hinterziehungsbetrag“. Die übrigen strafzumessungsrelevanten Umstände werden dann anhand von Zu- und Abschlägen von dieser Einstiegsstelle berücksichtigt, soweit sie nicht bereits stillschweigend 16 2. Teil,
3. Kapitel, A. 3. Kapitel, B. 18 2. Teil, 2. Kapitel, B., II., 3. 19 2. Teil, 2. Kapitel, B., I., 2., d). 17 2. Teil,
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bei der Findung der Einstiegsstelle angenommen wurden. Hierbei werden sogenannte Strafmaßtabellen verwendet, die für bestimmte Hinterziehungsbeträge konkrete Strafhöhen angeben. Häufig werden diese ergänzt um die Annahme weiterer Strafzumessungsumstände, was die Funktion der einheitlichen Handhabung der Festlegung der Bewertungsrichtung dieser Umstände in einem Vorgang komparativer Strafzumessung erfüllt.20 8. Die Rechtsprechung des BGH bestätigt diesen Befund bezüglich des Vorgangs der Strafhöhenentscheidung und der Bedeutung des Merkmals „Hinterziehungsbetrag“. Der Senat nennt für bestimmte Hinterziehungsbeträge konkrete Strafmaße, die regelmäßig die Untergrenze des Schuldangemessenen darstellen sollen. Die so definierte Einstiegsstelle weicht zwar von den Angaben der Einstiegsstellen der Strafmaßtabellen insoweit ab, als dass weder ein konkreter (endgültiger) Strafrahmen schuldangemessener Strafen genannt wird, noch eine konkrete Strafhöhe von der aus mildernde Umstände mildernd und schärfende Umstände schärfend zu berücksichtigen sind. Vielmehr gibt der BGH eine konkrete Strafhöhe an, die bereits das Vorliegen von mildernden Umständen, die noch nicht gewichtig bzw. besonders gewichtig sind, beinhaltet. Dennoch fungiert der Hinterziehungsbetrag auch bei diesem Ansatz als Instrument zur Findung der Einstiegsstelle, von der aus durch die Berücksichtigung der übrigen mildernden und schärfenden Umstände des Falles die (Untergrenze der) Schuldstrafe gefunden wird. Der BGH schreibt mit der Formulierung konkreter Umwertungsergebnisse für bestimmte Betragsgrenzen auch seine Rechtsprechung zu § 370 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 AO fort. Im Ergebnis nimmt der BGH damit für das Delikt der Steuerhinterziehung eine beispiellose Konkretisierung des gesetzlichen Strafrahmens vor: Es bestehen so neben der Mindest- und Höchststrafe weitere kardinale Orientierungswerte für die praxisrelevanten Strafhöhen von sechs Monaten, zwölf Monaten und 24 Monaten Freiheitsstrafe. Bei der Festlegung dieser kardinalen Orientierungswerte nimmt der Senat nicht auf das in vergleichbaren Fällen „Übliche“ Bezug. Vielmehr verschärft er die bis dahin geltende Strafzumessungstradition.21 9. Die Würdigung der vielfach kritisierten Rechtsprechung des BGH zu § 370 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 AO fällt ambivalent aus. Grundsätzlich begrüßenswert war der zwischenzeitliche Versuch, durch eine betragsmäßige Differenzierung dem unterschiedlichen Unrechtsgehalt verschiedener Fallkonstellationen innerhalb des Merkmals „großes Ausmaß“ Rechnung zu tragen.22 Ein besonderes Bedürfnis im Steuerstrafrecht besteht hierfür schon aufgrund der 20 2. Teil,
2. Kapitel, B., III. 2. Kapitel, B., II., 2. 22 2. Teil, 1. Kapitel, A., II., 2., c). 21 2. Teil,
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problematischen Verjährungsvorschrift des § 376 AO.23 Diese steigert die Anforderungen an die Bestimmtheit aber auch die Einzelfallgerechtigkeit der in § 370 Abs. 3 AO aufgezählten Regelbeispiele. Positiv ist auch der Ansatz zu bewerten, bei der Auslegung des Merkmals „großes Ausmaß“ auf das wortgleiche Merkmal im entsprechenden Regelbeispiel des Betrugstatbestandes Bezug zu nehmen.24 Damit wird nicht nur der Strukturähnlichkeit der Delikte sondern auch der Angleichung ihrer Strafwürdigkeit konsequent Rechnung getragen. Zu kritisieren war allerdings die mangelnde Präzision bei der Formulierung der sachlichen Anknüpfungskriterien für die betragsmäßige Differenzierung. Der Senat formulierte insoweit widersprüchlich. Überzeugend erschien einzig eine Differenzierung nach Art der Rechtsgutsbeeinträchtigung, sodass bei Rechtsgutsverletzungen (Vorliegen eines Vermögensschadens) die Betragsgrenze von 50.000 € und bei bloßen Rechtsgutsgefährdungen die Betragsgrenze von 100.000 € zur Anwendung kommt.25 Dies trägt einerseits der Tatsache Rechnung, dass qualitativ unterschiedliche Unrechtserfolge sich für einen quantitativen Vergleich nicht mehr eignen. Zum anderen wird damit zugleich die praxisrelevante und mit Blick auf § 376 AO auch folgenreiche Frage entschieden, wann bei einem Versuch die Indizwirkung des Regelbeispiels widerlegt ist bzw. nicht von einem besonders schweren Fall nach § 370 Abs. 3 Nr. 1 AO auszugehen ist. Da in Versuchsfällen stets lediglich eine Gefährdung des Rechtsgutsobjekts vorliegt, wäre dies bei Beträgen unterhalb von 100.000 € anzunehmen. Auch nach Aufgabe der betragsmäßigen Differenzierung durch die jüngste Rechtsprechung des 1. Senats kann die Betragsgrenze von 100.000 € in Versuchsfällen für die Praxis noch immer als Orientierungswert dienen. 10. Die Frage, ob § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 AO auf Amtsträger der Finanzoder sonst mit Steuerangelegenheiten befassten Behörden beschränkt ist, ist entgegen der herrschenden Lehre zu verneinen.26 Einer gegebenenfalls geringeren Gefährlichkeit der Tatbegehung durch Amtsträger sonstiger Behörden kann flexibler durch das Missbrauchsmerkmal begegnet werden, was zugleich den wegen § 376 AO gesteigerten Bedürfnissen nach Einzelfallgerechtigkeit Rechnung trägt. 11. Der Ansicht der herrschenden Lehre, dass ein Täter nach § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 3 AO selbst nicht Amtsträger sein dürfe, sondern Außenstehender sein müsse, ist ebenfalls nicht zu folgen.27 Sie stellt ohne sachliche Begrün23 2. Teil,
1. Kapitel, A., 1. Kapitel, A., 25 2. Teil, 1. Kapitel, A., 26 2. Teil, 1. Kapitel, A., 27 2. Teil, 1. Kapitel, A., 24 2. Teil,
I. II., 2., a). II., 2., b), bb), (4). III. IV.
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Zusammenfassung
dung Amtsträger gegenüber Außenstehenden besser, obwohl doch gerade bei Amtsträgern eine besondere Gefährlichkeit der Tatbegehung vorliegt. 12. Die Frage, ob bei bandenmäßiger Hinterziehung anderer als der in § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 5 AO genannten Steuerarten ein so genannter „unbenannter besonders schwerer Fall“ angenommen werden kann, verneint die herrschende Lehre und geht insoweit ganz einhellig von einer „Gegenschlusswirkung“ des § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 5 AO aus. Dem ist zwar im Ergebnis, nicht jedoch in der Begründung zuzustimmen. Hintergrund der Strafschärfung des § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 5 AO ist keine mit der Art der Steuer verbundene gesteigerte Gefährlichkeit der Tatbegehung, sondern einzig die Erfassung einer bestimmten Fallgruppe, bei der typischerweise ein gesteigertes Unrecht vorliegt: die sog. „Umsatzsteuerkarusselle“.28 13. Die Rechtsprechung des 1. Senats zur Gesamtstrafenbildung wird zu Recht kritisiert, überwiegend jedoch aus den falschen Gründen. Zwar ist dem Schrifttum darin zuzustimmen, dass der 1. Senat die strafmildernde Wirkung einer sinkenden Hemmschwelle bei Tatserien nicht hinreichend betont bzw. gar fälschlich negiert. Die größte Gefahr der Rechtsprechung des 1. Senats besteht jedoch darin, dass die Tatgerichte in Zukunft eine umgekehrte und de lege lata unzulässige Strafzumessung von der Gesamtstrafe zur Einzelstrafe hin vornehmen. Problematisch erscheint die Anlegung derselben Bewertungsmaßstäbe an den Hinterziehungsbetrag auf Ebene der Gesamtstrafenzumessung nicht nur im Hinblick auf das Doppelverwertungsverbot, sondern auch im Hinblick auf den mit dem Asperationsprinzip zwingend verbundenen Strafrabatt. Indem der Senat den Gesamthinterziehungsbetrag als Größe zur Findung der Untergrenze des Schuldangemessenen heranzieht, verkennt er zudem, dass diese spezifische Funktion auf Ebene der Gesamtstrafenzumessung der Einsatzstrafe zukommt.29 14. In einem gesonderten Teil wurden die in der Rechtsprechungspraxis wichtigsten Strafzumessungsumstände für das Delikt der Steuerhinterziehung im Lichte moderner Strafzumessungsdogmatik30 bewertet und eingeordnet. a) Diese Einordnung ergab, dass die herausragende Stellung des Hinterziehungsbetrages im Rahmen der Strafhöhenfindung durch die deliktsspezifische Unrechtsstruktur gerechtfertigt ist und zudem derzeit durch die deliktsspezifischen Präventionsbedürfnisse bestärkt wird.31 Um in einem Vorgang komparativer Strafzumessung gleichmäßige Ergebnisse zu erzielen, ist es allerdings notwendig, bei der Verwendung des Merkmals zur Findung der 28 2. Teil,
1. Kapitel, A., VI. 3. Kapitel, D., c). 30 Vgl. 2. Teil, 2. Kapitel, A., III. 31 3. Teil, 1. Kapitel, B. 29 2. Teil,
Zusammenfassung
311
Einstiegsstelle in den Strafrahmen (bzw. im Falle des § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 AO auch bereits zur Festlegung des Strafrahmens) darauf zu achten, einheitliche Unrechtsaspekte des Umstandes zu Grunde zu legen. Der Hinterziehungsbetrag kann sich als Strafzumessungsumstand dabei sowohl auf Aspekte des Handlungsunrechts- als auch auf Aspekte des Erfolgsunrechts beziehen.32 Im Erfolgsunrecht sowie im Handlungsunrecht lässt sich wiederum danach differenzieren, ob in Höhe eines bestimmten Betrages eine Rechtsgutsverletzung oder Gefährdung gegeben bzw. gewollt ist.33 Dabei kann vertiefend danach unterschieden werden, ob der entsprechende Taterfolg als tatbestandsmäßiger oder – im Falle von späteren Realisierungen einer Gefährdung – als außertatbestandsmäßiger gewollt und eingetreten ist. Da dieser Unterscheidung allerdings keine Relevanz für die Bewertung des Unrechts zukommt, kann auf sie verzichtet werden. Eine Differenzierung nach der Art der (beabsichtigten) Rechtsgutsbeeinträchtigung ist allerdings unerlässlich. Denkbar sind danach vor allem zwei unterschiedliche Operationalisierungsansätze des Merkmals „Hinterziehungsbetrag“: Zum einen kann allein auf das Handlungsunrecht Bezug genommen werden. Da auch in Fällen bloßer Rechtsgutsgefährdungen subjektiv der Wille in aller Regel auf eine (zumindest als außertatbestmäßiger Taterfolg einzutretende) Rechtsgutsverletzung gerichtet ist, kann damit faktisch auf die Ausarbeitung unterschiedlicher Betragsgrenzen verzichtet werden. Vorzugswürdig erscheint jedoch eine Bezugnahme auf das Erfolgsunrecht des Strafzumessungsumstandes, welches zugleich ergänzt werden kann um den Anteil des damit zwangsläufig verbundenen Handlungsunrechts.34 Hierfür spricht die erhebliche Bedeutung, die dem Erfolgsunrecht bei der strafzumessungsrechtlichen Bewertung zukommt. Auch birgt die bei Abstellen auf das Handlungsunrecht zu folgernde Vorgehensweise, die Fälle der Rechtsgutsgefährdung lediglich durch einen Abschlag gegenüber einem Vergleichsfall der Rechtsgutsverletzung zu bewerten, die Gefahr einer Pauschalierung. Das Erfolgsunrecht kann jedoch je nach Intensität der Gefährdung stark differieren. Das in der Rechtsprechung35 des BGH zum „großen Ausmaß“ ehemals indizierte Verhältnis von 1:2 wäre demnach nur auf das Regeltatbild einer Rechtsgutsgefährdung zu beziehen, von dem aus die größere oder mildere Gefährdung im Einzelfall in einem weiteren Bewertungsschritt zu berücksichtigen wäre. b) Ein nicht unerheblicher Anteil des Gesamtvermögensschadens einer Steuerhinterziehung wird durch den Zinsschaden verursacht, der in der Strafzumessung gegenüber dem sonstigen Vermögensschaden nicht minder 32 3. Teil,
1. Kapitel, A., I. 1. Kapitel, A., II. 34 3. Teil, 1. Kapitel, A., VI. 35 Vgl. 2. Teil, 1. Kapitel, A., II., 2., c). 33 3. Teil,
312
Zusammenfassung
schwer zu bewerten ist.36 Denkbar wäre daher, bei der Einordnung der Tat in den gesetzlichen Strafrahmen nicht nur den Hinterziehungsschaden, sondern stattdessen die gesamten wirtschaftlichen Auswirkungen der Tat durch die Umwertung bestimmter Vermögensschadens- und Gefährdungssummen zu berücksichtigen. Auch wenn ein solches Vorgehen aufgrund seiner Präzision in der Bewertung des Unrechtsgehalts der Tat grundsätzlich zu unterstützen wäre, vermag es angesichts seiner praktischen Umsetzungsschwierigkeit im Ergebnis nicht zu überzeugen. Realisierbar erscheint einzig, den Besonderheiten des Einzelfalles in Bezug auf den Zinsschaden durch gefühlsmäßige Einrasterung in die Spannweite denkbarer Fallkonstellationen Rechnung zu tragen. Begrenzt wird die Spannweite dabei nach unten durch einen Gesamtvermögensschaden in Höhe des tatsächlichen Hinterziehungsbetrages und nach oben durch einen entsprechenden Betrag, erhöht um den maximal denkbaren Verspätungsschaden bis zum Verjährungsende (d. h. ca. 20 % des Hinterziehungsbetrages bei Regelverjährung und ca. 34 % des Hinterziehungsbetrages bei Verjährung nach § 376 AO). Je höher die Entdeckungswahrscheinlichkeit und je früher die potenzielle Tatentdeckung zur Tatzeit sind, umso milder wird in diesem Rahmen zu bestrafen sein. Milderungen kommen daher vor allem in Fällen der vorläufigen Festsetzung oder Festsetzung unter Vorbehalt der Nachprüfung in Betracht. Hier ist anders als bei der endgültigen Festsetzung die Wahrscheinlichkeit der Entdeckung der Tat erhöht und somit die Gefahrintensität der Verwirklichung eines Teils des Zinsschadens verringert.37 c) Der in der Literatur noch immer stark vertretenen Auffassung, in Fällen der Hinterziehung „auf Zeit“ lediglich den Zinsschaden der Strafzumessung zu Grunde zu legen, ist nach alledem energisch entgegenzutreten. Sie verkennt, dass mit der Abschaffung der Tatbestandsrelevanz der Hinterziehung „auf Zeit“ durch die Rechtsprechung des BGH vom 17.3.2009 das geschützte Rechtsgutsobjekt der eine Hinterziehung „auf Zeit“ auslösenden Steuertatbestände inhaltlich erweitert wurde.38 Damit geht zugleich eine Steigerung des Unrechts der Tat einher, wenn den entsprechenden Steuertatbeständen zuwidergehandelt wird. Die Rechtsgutsbeeinträchtigung besteht eben nicht mehr lediglich in der Vorenthaltung des Zinsvorteils, sondern in der Vorenthaltung der Steuer selbst. Dem wird die herrschende Lehre auf Strafzumessungsebene nicht gerecht, wenn sie trotz verändertem Unrechtsgehalt die bisherige Strafzumessungstradition (die insofern folgerichtig lediglich den Verspätungsschaden der Strafzumessung zu Grunde legte) beizubehalten vorschlägt. Ein solches Vorgehen lässt sich auch nicht durch andere Ansätze zur Findung der 36 3. Teil,
1. Kapitel, A., IV. 1. Kapitel, A., IV. 38 3. Teil, 1. Kapitel, A., V., 4. 37 3. Teil,
Zusammenfassung
313
Einstiegsstelle in den Strafrahmen plausibel begründen.39 Für die Schaffung einer eigenständigen Fallgruppe bei der Findung der Einstiegsstelle besteht keine Notwendigkeit. Bei allen Konstellationen der Hinterziehung „auf Zeit“ ist daher in einem Vorgang komparativer Strafzumessung derselbe Ausgangswert zur Findung der Einstiegsstelle zu Grunde zu legen wie in allen übrigen Fällen der Steuerhinterziehung. Sodann ist – wie dies auch die Rechtsprechung des BGH impliziert – das (ggf. stark) verminderte Handlungsunrechts sowie eine etwaige Schadenswiedergutmachung mildernd zu berücksichtigen. Die Überlegung, welche Strafhöhe in einem klassischen Fall der Hinterziehung „auf Zeit“ für eine hypothetische Steuerverkürzung in Höhe des Zinsschadens zu verhängen wäre, kann allenfalls hilfsweise angestellt werden, um sich die untere Grenze dessen zu verdeutlichen, zu dem die Strafmilderung führen kann. d) Strafmildernd ist zu berücksichtigen, wenn den Finanzbehörden durch grobe Nachlässigkeit ein Mitverschulden anzulasten ist. Dies kann jedoch nicht bereits durch die vermeintlich kriminogene Ausgestaltung eines Besteuerungsverfahrens – wie dies zum Teil für die Umsatzsteuer geltend gemacht wird – anzunehmen sein, solange das Besteuerungsverfahren selbst verfassungskonform ist. Vielmehr ist ein Mitverschulden erst dann gegeben, wenn der Finanzbehörde die Tatgenese zugerechnet werden kann.40 Denkbar ist dies etwa bei verfassungswidrigen aber unter Weitergeltungsanordnungen stehenden Steuern. e) Im Handlungsunrecht ist vor allem die Vorsatzform des Täters strafzumessungsrelevant. Im Regeltatbild ist hier von Absicht auch in Bezug auf eine Bereicherung auszugehen. Von besonderem Erkenntniswert ist es, bei der Beurteilung der Vorsatzform nicht lediglich bei der Rechtsgutsbeeinträchtigung stehen zu bleiben, sondern auch die subjektive Haltung zum funktionalen Hintergrund des Rechtsguts zu beleuchten.41 So wiegt die Infragestellung der Norm weniger schwer, wenn der Täter – aus welchen Gründen auch immer – den Gerechtigkeitswert der Steuernorm verkannt hat, und seine Tat daher nicht als prinzipielle Missachtung der Norm zu werten ist. Die Milderung könnte auch auf eine in solchen Fällen gegebenenfalls verringerte Vermeidemacht des Normwiderspruchs zurückgeführt werden. Als Indiz dafür, dass der funktionale Hintergrund des Rechtsguts nicht beeinträchtigt werden sollte oder dies lediglich billigend in Kauf genommen wurde, können zunächst eine wirtschaftliche Notlage bzw. schlechte persönliche, wirtschaftliche Verhältnisse gewertet werden. Vor allem aber das Ver39 3. Teil,
1. Kapitel, A., V., 4. 2. Kapitel, A. 41 3. Teil, 2. Kapitel, B. 40 3. Teil,
314
Zusammenfassung
hältnis von hinterzogenen zu gezahlten Steuern42 vermag hierfür sichere Anhaltspunkte zu bieten. Denn je größer der Anteil des Hinterziehungsbetrags am geschuldeten Steuerbetrag ist, umso stärker muss dem Täter die Ungerechtigkeit seiner Tat vor Augen getreten sein. Ausgeschlossen ist eine Milderung unter dem Aspekt der Haltung des Täters zum funktionalen Hintergrund der Rechtsgutsbeeinträchtigung hingegen in den Fällen des „Griffs in die Kasse“.43 Unter einem „Griff in die Kasse“ werden in Anlehnung an die Begriffsverwendung in der Rechtsprechung des BGH solche Fallkonstellationen verstanden, in denen das angegriffene Rechtsgutsobjekt nicht durch ein Verhalten des Täters entstanden ist (Verwirklichung eines Steuertatbestandes). Denn dem Täter muss bei einem Angriff auf Vermögenswerte, die die Allgemeinheit geschaffen hat, die Ungerechtigkeit seiner persönlichen Bereicherung bewusst sein. f) Ein vermindertes Handlungsunrecht ist darüber hinaus gegeben, wenn der Täter nicht ausschließlich den Normwiderspruch, sondern zugleich rechtlich anerkannte Werte im Sinn hatte. Auch hier ist zunächst an die Sicherung der wirtschaftlichen Existenz in Notlagen bzw. allgemein an ein Handeln zugunsten des eigenen wirtschaftlichen Fortkommens zu denken. Hierzu ist die Bereicherung im Verhältnis zu den persönlichen, wirtschaftlichen Verhältnissen des Begünstigten zu betrachten. Das Handlungsmotiv ist umso weniger anerkennenswert, je besser der Begünstigte wirtschaftlich gestellt ist. Unerheblich ist hingegen, ob die Bereicherung eigennützig oder fremdnützig war. In der Lehre wird dieser Unterscheidung nicht unerhebliche Bedeutung beigemessen. Hierin liegt allerdings eine rein moralisierende Erwägung, die in der Schuldwertung auszuklammern ist.44 Relevant kann hingegen sein, wenn der Täter bei der Tat unter anderem die Dispositionsfreiheit über sein eigenes Vermögen wahren wollte. Dieses im Grundsatz anerkennenswerte Handlungsmotiv ist in den Fällen des „Griffs in die Kasse“ ausgeschlossen. Da das Motiv zum Regeltatbild einer Steuerhinterziehung gehört, ist der „Griff in die Kasse“ unter diesem Aspekt strafschärfend zu bewerten. Dasselbe gilt für die Hinterziehung sog. indirekter Steuern wie etwa die Umsatzsteuer oder die Lohnsteuer. In der Literatur werden Strafschärfungen für diese Steuerarten mit besonderen Rechtspflichten gleich einem Treuhänder begründet. Treffender ist jedoch, die Dispositionsfreiheit über die entsprechenden Vermögenswerte schlicht als weniger anerkennenswertes Handlungsmotiv einzuordnen.45 42 3. Teil, 2. Kapitel, H, auch zur Frage, welche gezahlten Steuern in diese Betrachtung miteinzubeziehen sind. 43 3. Teil, 2. Kapitel, F. 44 3. Teil, 2. Kapitel, D. 45 3. Teil, 2. Kapitel, G.
Zusammenfassung
315
g) Auch das Vorleben des Täters kann bei strenger Begrenzung auf das Unrecht der Tat nur insofern Strafzumessungsrelevanz erlangen, wie es auf bestimmte subjektive Umstände des Täters bei Tatbegehung schließen lässt.46 Eine Vielzahl gleichgelagerter Taten, die noch nicht zu einer Verurteilung geführt haben, kann etwa Indiz dafür sein, dass der Gerechtigkeitswert der Steuernorm vom Täter nicht wahrgenommen wurde. Wurde dem Täter der Gerechtigkeitswert hingegen durch eine Verurteilung zuvor bereits nachdrücklich verdeutlicht, scheidet dieser strafmildernde Gesichtspunkt regelmäßig aus. Auf der anderen Seite gibt bei Ersttätern der einmalige Normbruch üblicherweise Anlass, das Vorliegen verständlicher Beweggründe oder Ziele zu prüfen. Bei Steuerstraftätern kommt hier vor allem die Verbesserung einer wirtschaftlich schwierigen Lage in Betracht. h) Der Schadenswiedergutmachung kommt als Strafzumessungsumstand beim Delikt der Steuerhinterziehung deshalb besonderes Gewicht zu, weil das angegriffene Rechtsgutsobjekt hier vollständig reparabel ist. Wichtig ist, im Einzelfall genau zu untersuchen, in wieweit eine Schadenswiedergutmachung (durch den Täter!) gegeben ist. Dies ist in aller Regel nicht schon mit der bloßen Nachzahlung der geschuldeten Steuer der Fall. Denn die relevante Schadenswiedergutmachung erfolgt bereits mit Aufdeckung der Tat, soweit hiermit der Steueranspruch werthaltig wird. Nur wenn die (im Zweifel zwangsweise) Durchsetzung des Steueranspruchs nicht aussichtsreich ist, kann das bloße Nachzahlen der Steuern unter dem Aspekt der Schadenswiedergutmachung zu erheblichen Milderungen führen. Der in der Literatur zum Teil geforderten stärkeren Berücksichtigung des Umstandes der Nachzahlung der Steuern ist daher entgegenzutreten.47 i) Eine Schadenswiedergutmachung gelingt dem Täter bei einer Steuerhinterziehung daher regelmäßig nur durch Ablegung eines Geständnisses. Auch insoweit ist allerdings darauf zu achten, dass nicht jedes Geständnis zu einer Schadenswiedergutmachung führt, sondern eben nur diejenigen, die den Behörden die Durchsetzung zusätzlicher Steuererträge ermöglichen.48 Daneben kann ein Geständnis unter dem Aspekt eines Beitrags zur Tataufklärung mildernd zu bewerten sein.49 Allenfalls marginale Milderungen lassen sich wegen der verfahrenserleichternden Wirkung eines Geständnisses unter Präventionsaspekten rechtfertigen.50 Anhand dieser allgemeinen Bewertungsprinzipien sind auch die Sonderfälle eines Geständnisses im Rahmen einer unwirksamen Selbstanzeige oder einer Absprachesituation zu beurteilen. 46 3. Teil,
3. Kapitel. 4. Kapitel, A. 48 3. Teil, 5. Kapitel, A., I. 49 3. Teil, 5. Kapitel, A., III. 50 3. Teil, 5. Kapitel, A., II. 47 3. Teil,
316
Zusammenfassung
j) Eine unwirksame Selbstanzeige erlangt nicht deshalb besonderes strafmilderndes Gewicht, weil § 371 AO insoweit eine Wertung entnommen werden könnte.51 Es ist darüber hinaus im Einzelfall darauf zu achten, aus welchen Gründen die Selbstanzeige unwirksam ist. In welchem Maße das mit der Selbstanzeige verbundene Verhalten mildernd oder gegebenenfalls sogar schärfend zu bewerten ist, kann von Fall zu Fall sehr unterschiedlich sein.52 k) Steuerhinterziehungsverfahren sind für Verfahrensabsprachen besonders anfällig. Dies ist maßgeblich auf die rechtlichen und faktischen Schwierigkeiten des Steuerrechts zurückzuführen. Das Besteuerungsverfahren unterliegt einer dialogischen Struktur.53 Teilweise wird sogar von einer Kooperationsmaxime ausgegangen. Ausdruck dessen ist die bereits lange Zeit vor der Verfahrensabsprache (im Strafverfahren) als anerkanntes Institut entwickelte sog. tatsächliche Verständigung im Besteuerungsverfahren.54 Die Überlegungen, die im Besteuerungsverfahren die Annahme einer Förderung der Aufklärung des wahren Sachverhalts durch eine tatsächliche Verständigung rechtfertigen, lassen sich jedoch aufgrund des Zweifelgrundsatzes auf das Steuerstrafverfahren nicht übertragen. Auch der Täterkreis und die fiskalische Ausrichtung des Steuerstrafrechts begünstigen das Zustandekommen von Absprachesituationen.55 Absprachen bergen jedoch aus strafzumessungsrechtlicher Perspektive Gefahren.56 In Steuerstrafverfahren ist vor allem darauf zu achten, keine ungerechtfertigten Milderungen aus dem Aspekt der Verfahrenserleichterung oder zur Verfolgung von Fiskalinteressen zu gewähren. Nur in Fällen einer echten Schadenswiedergutmachung können erhebliche Milderungen gerechtfertigt sein. Schließlich darf auch nicht unter Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes der Strafzumessungssachverhalt durch ein sog. „fact bargaining“ ausgehandelt werden. l) Was die Bewertungsrichtung von Geständnis und Nachzahlung der Steuerschuld anbelangt, ist von dem Regeltatbild eines sich auf den nemotenetur-Grundsatz berufenden Täters auszugehen, der die Tat leugnet und infolge dessen auch die Steuerschuld bis zum Abschluss des Verfahrens nicht nachzahlt. Dem geständigen Täter kann die Verweigerung der Nachzahlung selbst bei Annahme der sogenannten Indizkonstruktion für das Nachtatverhalten allenfalls marginal schärfend angelastet werden. Wird die Durchsetzung des nach Tatentdeckung wieder werthaltig gewordenen Steueranspruchs 51 3. Teil,
5. Kapitel, B. s. o. 3. Teil, 5. Kapitel, B. 5. Kapitel, C., III., 1., b), aa). 5. Kapitel, C., III., 1., b), bb), (3). 5. Kapitel, C., III., 1., c), d). 5. Kapitel, C., III., 2.
52 Näheres 53 3. Teil, 54 3. Teil, 55 3. Teil, 56 3. Teil,
Zusammenfassung
317
im Nachtatverhalten durch Verhinderungsbemühungen erneut vereitelt, kann dies nur dann zu einer Strafschärfung im Rahmen der Schuldwertung führen, wenn dadurch erneut strafrechtlich relevantes Unrecht begangen wird, das vom Unrecht der Tat als mitbestrafte Nachtat erfasst ist.57 15. Soweit Finanzbeamte mit der Aufgabe der Strafzumessung in Steuerstrafsachen betraut sind, steht die Sachleitungsbefugnis nicht der Finanzverwaltung sondern der Justizverwaltung zu.58 Die Sachbearbeiter haben daher die RiStBV anzuwenden. Die AStBV (St) sind, sofern sie Vorgaben im Bereich des Strafzumessungsrechts betreffen, unwirksam. Auch entsprechende Weisungen vorgesetzter Finanzbehörden, insbesondere Strafmaßtabellen, sind unwirksam. Solche Weisungen bergen zudem aufgrund des faktischen Einflusses der Staatsanwaltschaft auf die geltenden Strafzumessungstraditionen die Gefahr einer unsachgemäßen Einflussnahme der Finanzbehörden auf das Strafzumessungsrecht.59 Die Ergebnisse der eigenen Forschung zeigen jedoch, dass entgegen mancher Annahmen im Schrifttum Vorgaben von finanzbehördlicher Seite derzeit nur in geringfügigem Umfang gemacht werden.60 Sofern dies geschieht, werden bei der Erstellung häufig Justizorgane miteingebunden.
57 3. Teil,
4. Kapitel, C. 1. Kapitel, B. 59 4. Teil, 1. Kapitel, C. 60 4. Teil, B., II. 58 4. Teil,
Ausblick Das Strafzumessungsrecht im Bereich der Steuerhinterziehung ist auf einem guten Weg. Rechtliche Bindungen und deren Kontrolle nehmen stetig zu. Dies ist in erster Linie der Verdienst des 1. Strafsenats des BGH, der eine ungewohnt intensive Auseinandersetzung mit deliktsspezifischen Fragen des Strafzumessungsrechts angeregt hat. Die weitreichenden Vorgaben des BGH sollten auch Anlass für den Gesetzgeber sein, seinen Beitrag zur Fortentwicklung des Strafzumessungsrechts bei der Steuerhinterziehung zu leisten. Freilich mögen solche Forderungen zum Besonderen Teil angesichts des legislatorischen Nachholbedarfs schon im Bereich der Grundlagen des Strafzumessungsrechts zunächst wie ferne Zukunftsmusik klingen. Auch soll hier nicht von weitreichenden Kodifikationen etwa nach dem Vorbild der U.S. Sentencing Guidlines die Rede sein. Doch erscheinen kleinere Maßnahmen de lege ferenda durchaus denkbar. So bietet es sich meines Erachtens an, konkrete Strafmaßvorgaben nach dem Vorbild bestimmter Strafmaßtabellen im Abschnitt über Steuerstraftaten in den RiStBV (Nr. 266 f.) bzw. als Anhang hierzu in der Form allgemeiner Verwaltungsanweisungen zu normieren. Dies würde dem derzeitigen Flickenteppich an unterschiedlichen Strafmaßtabellen entgegenwirken und erheblich zur Gleichmäßigkeit in der Strafzumessung beitragen. Gerade die untere Schwelle der Strafbarkeit, also die Grenze zur Einstellung gem. § 153a StPO sollte bundesweit einheitlich gehandhabt werden. Auch die Strafgröße von über 90 Tagessätzen ist im Hinblick auf die registerrechtlichen Folgen der Tat von großer Bedeutung. Diese und einige weitere Strafgrößen (neun Monate, 1,5 Jahre) sollten neben den vom 1. Senat genannten Schwellenwerten für sechs Monate, zwölf Monate und zwei Jahre Freiheitsstrafe mit bestimmten Orientierungswerten versehen werden. Eine Regelung im Rahmen der RiStBV dürfte auch kaum dem Vorwurf der Zementierung einer bestimmten Strafzumessungspraxis ausgesetzt sein. Denn zum einen erscheint sie für eine Anpassung an veränderte Strafmaßvorstellungen oder Tatschweren infolge Kaufkraftverlusts nicht weniger geeignet als die höchstrichterliche Rechtsprechung. Zum anderen wäre eine unmittelbare Bindung der Vorgaben für die Gerichte ohnehin nicht gegeben. Den Instanzgerichten stünde allerdings immerhin ein Orientierungswert zur Verfügung, den auch die Revisionsgerichte zum Ausgang für gegebenenfalls abweichende Fort- und Weiterentwicklungen im Bereich des Strafzumessungsrechts bei der Steuerhinterziehung nehmen könnten.
Ausblick
319
Die vorliegende Untersuchung zur Strafzumessung bei der Steuerhinterziehung dürfte deutlich gemacht haben, dass die Rechtsfolgenseite eines Delikts nicht weniger rechtliche Probleme zu bergen vermag als die Tatbestandsseite. Gleichwohl fristen deliktsspezifische Strafzumessungsprobleme in der Strafrechtswissenschaft noch immer ein Schattendasein. Eine gründliche Aufarbeitung des Besonderen Teils des Strafzumessungsrechts erscheint gerade im Hinblick auf die Bedürfnisse der Rechtspraxis wünschenswert. Die Revisionsgerichte sollten hierzu in Zukunft weitere Anstöße geben.
2,07
5,06
72,51
2,5
25,63
65,91
0,13
1,8
8,92
19,87
0,32 0,25
16,62
71,43
0,06
3,23
11,83
0,27
0,07
3,72
9,27
0,45
2,2
12,58
0,23
22,43
3,39
0,05
15,35
0,28
23,94
59,87
0,17 0,05
1,83
19,15
65,36
0,09
1,04
22,89
9,78
0,06
0,83
1,26 0,47
9,6
21,54
68,39
0,07
1,11 0,55
10,72
20,17
68,56
3,37
1,51
0,14
12-24 Monate
2-5 Jahre
mehr als 5 Jahre
20
6-12 Monate
0,14
1,17
4,69
0,14
2,07
5,06
0,15
2,57
6,19
19,81 20,23 23,7
66,4 62,58 62,31 60,25 59,97 61,41 59,87 61,12 60,66 65,36 62,83 64,1 66,24 64,53 66,54 66,69 64,23 68,39 68,57 68,56
0,15
1,87
6,05
0
2,5
5,96
0,13
1,94
7,38
8,92
0,24
2,15
8,27
0,32
2,34
8,54
0,12
2,19
9,63 0,25
2,08
2 0,27
0,2
2,63
6-12 Monate
0,27
3,23 0,07
2,13
9,82 11,83 10,41 10,17 9,57 0,06
2,39 0
2,2 0,23
3,31
12-24 Monate
0,45
2,33
0,22
3,39
0,05
3,38
2-5 Jahre
0,1
3,35
0,28
3,28
0
2,15
0,05
1,72
0,1
1,83
mehr als 5 Jahre
0,17
2,22
0,05
1,68
0
1,19
0,05
1,22
0,09
1,04
0,05
0,95
0,06
0,83
0
1,26
9,27 12,25 12,58 11,45 12,1 14,23 15,35 13,83 14,04 12,9 13,83 13,55 12,2 12,68 11,52 11,44 9,78 10,57 11,84 0,33
3,72
Anlage A: Untreue, Anteil der Strafhöhenkategorien in %
6 Monate und weniger
0,12
1,8
6,89
0
0,47
9,6
0,07
1,11
0
0,55
9,58 10,72
23,3 25,63 20,65 21,46 19,87 20,83 20,88 16,62 20,03 17,61 20,63 17,58 17,94 20,37 19,96 18,81 22,43 21,99 22,07 21,25 21,21 23,94 23,58 23,74 19,15 23,24 22,03 20,97 22,89 22,67 21,86 22,67 21,54 20,65 20,17
65
1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014
0,14
1,51
3,37
20
74,98
6 Monate und weniger 74,98 74,19 72,51 67,4 68,63 65,91 69,9 69,72 68,82 68,24 68,28 71,43 67,7 67,07 66,69 69,43 70,28 66,32
0,01
0,1
1
10
100
Anhang
3
0,11 0,11
0,09 0,08
0,05
0,07 0,07 0,07
3,84 3,6 3,65 3,44 3,78 3,36 3,54 3,52 3,61 3,62 3,93 3,95 3,72 3,11 3,54
0,05 0,05 0,06
0,08 0,04
0,07 0,05 0,04
0,09 0,07 0,06 0,06 0,08 0,06 0,07 0,07
0,12 0,12 0,09 0,09
0,06 0,06 0,05 0,06 0,07 0,06 0,05 0,07 0,06 0,05
6-12 Monate
12-24 Monate
2-5 Jahre
mehr als 5 Jahre
Anlage B: Betrug, Anteil der Strafhöhenkategorien in %1
6 Monate und weniger
1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014
0,05
3
1,15 1,35 1,15 1,08 0,96 1,06 0,91 0,91 0,98 0,94 0,95 0,97 0,94 0,9 0,85 0,99 0,89 0,87 0,87 0,97 0,82 0,89 0,9 0,75 0,69 0,65 0,71 0,69 0,76
2,98 3,2 3,18 2,89 3,04 3,01 2,93 3,02 2,59 2,65 2,54 2,66 2,74 2,58 2,81 2,79 3,03 2,95 2,94
9,84 10,01 9,71 9,01 8,82 8,48 7,65 7,4 6,97 6,78 6,45 6,34 6,28 5,88 6,09 6,14 6,43 6,32 6,52 6,64 7,05 7,01 7,24 6,8 6,13 5,78 6,01 5,57 5,7 5,72 5,76 5,72 6,1 5,85 5,41
1,29 1,19 1,06 1,17 1,13 1,22 1,23 1,05 1,07 1,01
2,94 2,87 3,04
10,16 10,02 10,35 10
85,78 85,83 85,36 85,69 85,86 85,45 85,87 86,98 87 87,45 88,56 88,63 89,46 89,78 90,24 90,3 90,22 90,78 90,28 90,16 89,48 89,74 89,61 89,42 88,8 88,17 87,44 88,36 89,05 89,76 89,08 90,11 89,79 89,72 89,63 89,66 88,92 89,2 89,92
1 Zu Anlage A und B: Quelle SVS Fachserie 10 Reihe 3, 1976–2014. Eigene Berechnungen. Geldstrafen wurden nach ihren Tagessätzen 1:1 umgewandelt und in die Berechnung miteinbezogen. Es wurden Taten nach § 263 Abs. 1, 3 und 5 StGB sowie nach §§ 266 Abs. 1, 2, 263 Abs. 3 StGB erfasst.
0,01
0,1
1
10
100
Anhang 321
322 Anhang
Anlage C: Koblenzer Tabelle Landgericht
Anhang
Anlage D: Koblenzer Tabelle Staatsanwaltschaft
323
302 324 Anhang
Anlage E: Tabelle Staatsanwaltschaft Neubrandenburg Anlage E: Tabelle Staatsanwaltschaft Neubrandenburg
304 Anlage F: Tabelle Finanzministerium Mecklenburg-Vorpommern Anhang
Anlage F: Tabelle Finanzministerium Mecklenburg-Vorpommern
325
326 Anhang FuSt-Kartei ST Haupt-Dokument: Dokument 1 von 1 Dokumenten [Seite 65 von 96 Seiten | lfd.Ausgabeseite: 1] Teil IV
Karte Nr. 3
1
Nur für den Dienstgebrauch! Bemessung von Geldstrafen und Geldbußen 1
Allgemeines zur Strafzumessung Der Strafzumessung kommt die Funktion zu, einen gerechten Ausgleich für die Schuld zu schaffen. Die Grundsätze der Zumessung ergeben sich aus § 46 StGB. Die beiden wesentlichen • Komponenten des Unrechtsgehalts sind • Handlungsunrecht und Erfolgsunrecht. Bei Steuerstraftaten kommt dem Erfolgsunrecht, also der Höhe der verkürzten Steuer bzw. des erlangten steuerlichen Vorteils, eine wesentliche Bedeutung zu. Es verbietet sich jedoch eine nur an die Höhe der Verkürzung anknüpfende schematische Betrachtung. Es muss auch die aus der Tat sprechende rechtsfeindliche Gesinnung, also das Handlungsunrecht, berücksichtigt werden. Beiden Elementen kann in etwa das gleiche Gewicht zugemessen werden. Schematisch dargestellt hieße dies, dass sich der Gesamtunrechtsgehalt der Tat je zur Hälfte aus dem Handlungs- und dem Erfolgsunrechtsgehalt ergibt: Gesamtunrecht = (Handlungsunrecht + Erfolgsunrecht): 2 Dies führt dazu, dass sich bei ansonsten gleichen Tatumständen (also gleichem Handlungsunrecht), aber einem doppelt so hohen Verkürzungsbetrag (also doppeltem Erfolgsunrecht ) der gesamte1 Unrechtsgehalt der Tat nur um etwa die Hälfte erhöht. Da sich die Strafe am Unrechtsgehalt orientiert, würde sie gleichfalls nur ca. 50 % höher zu bemessen sein. Bei Taten, die im Versuchsstadium steckenbleiben, ist das Handlungsunrecht das einzige Kriterium. Daher kann bei einer versuchten Steuerhinterziehung 1 Es
ist natürlich eine vereinfachende Annahme, dass ein doppelter Taterfolg auch ein doppeltes Erfolgsunrecht bedeutet. Es würde aber zu weit führen, den Zusammenhang zwischen beidem mathematisch ausdrücken zu wollen. Der unter Punkt 2.1 dargestellten Tabelle liegt aber die Annahme zu Grunde, dass mit steigendem Taterfolg das dadurch verursachte Unrecht nicht linear weiter steigt.
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von einem Durchschnittswert in Höhe der Hälfte der nachfolgend angegebenen Tagessätze ausgegangen werden. Bei einer leichtfertigen Steuerverkürzung (§ 378 AO) ist das Erfolgsunrecht annähernd so hoch wie bei der vorsätzlichen Hinterziehung in entsprechender Höhe. Es liegt aber keine rechtsfeindliche Gesinnung vor, sondern nur Gleichgültigkeit gegenüber den Anforderungen der Rechtsordnung. Wegen dieses stark verminderten Handlungsunrechts ist bei der Bemessung der Sanktion auch von einem Durchschnittswert in Höhe von 3 / 5 der nachfolgenden Tabellenwerte auszugehen. Die Geldbuße soll aber den wirtschaftlichen Vorteil, den der Täter aus der Ordnungswidrigkeit gezogen hat, übersteigen, vgl. § 17 Abs. 4 OWiG. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass bei aktiver Tatbegehung durch das Machen unrichtiger Angaben das Handlungsunrecht höher ist als bei einem Unterlassen (Nichtabgabe); wegen der weiteren Strafzumessungserwägungen vgl. nachfolgend Tz. 3. Dementsprechend sind bei den nachfolgend genannten Mittelwerten Zu- und Abschläge zu machen. 2
Bedeutung der verkürzten Steuer für die Strafzumessung
2.1
Strafmaßtabelle Bei einer auf Dauer gewollten Steuerhinterziehung von durchschnittlichem Unrechtsgehalt ist von folgenden Mittelwerten auszugehen: Höhe der hinter zogenen Steuer (X)
Je … € Berechnung der Anzahl der TS entsprechen 1 Tagessatz (TS), mind. 5 TS
Höchstzahl der TS
bis zu 10.000 €
125 €
X: 125
80
mehr als 10.000 € bis zu 50.000 €
250 €
X – 10.000 € + 80 250
240
mehr als 50.000 €
500 €
X – 50.000 € + 240 500
360
Im untersten Bereich führt die Anwendung der Tabelle eher zu niedrigen Ergebnissen. So ergeben sich für 1.000 € Verkürzung rechnerisch 8 Tagessätze, es ist hier aber eher angebracht, 10 oder 15 Tagessätze zu wählen. Die gesetzliche Mindeststrafe beträgt 5 Tagessätze (§ 40 Abs. 1 StGB), d. h. sofern nicht die Voraussetzungen der §§ 153 ff. StPO vorliegen, ist auch bei minimalen Hinterziehungsbeträgen allein wegen der in der vorsätzlichen Begehung der Steuerhinterziehung als solcher zum Ausdruck kommenden rechtsfeindlichen Gesinnung eine entsprechende Strafe zu verhängen. Als Einzelstrafe können maximal 360 Tagessätze festgesetzt werden (§ 40 Abs. 1 StGB), als Gesamtstrafe maximal 720 Tagessätze (§ 40 Abs. 1 StGB, § 54 Abs. 2 S. 2 StGB).
328 Anhang Ein Ausrechnen von Schuld und damit von punktgenauen Strafen ist nicht möglich. Daher sollen bei der Bemessung der Tagessatzzahl ‚krumme‘ Beträge vermieden werden. Von 5 bis zu 10 Tagessätzen können Schritte von einem Tagessatz gebildet werden, darüber sollte gerundet werden. Bis zu 30 Tagessätzen sind Fünferschritte angemessen, von da an Zehnerschritte. Ab 120 Tagessätzen sollten in der Regel Schritte von 30 Tagessätzen gewählt werden. Insbesondere ab einem rechnerischen Wert ab 180 Tagessätzen ist zu prüfen, ob statt einer Geldstrafe die Verhängung einer Freiheitsstrafe angezeigt ist, unter 6 Monaten kommt die Verhängung einer Freiheitsstrafe nur ausnahmsweise in Betracht (§ 47 StGB). ‚Jedenfalls bei einem sechsstelligen Hinterziehungsbetrag wird die Verhängung einer Geldstrafe nur bei Vorliegen von gewichtigen Milderungsgründen noch schuldangemessen sein. Bei Hinterziehungsbeträgen in Millionenhöhe kommt eine aussetzungsfähige Freiheitsstrafe nur bei Vorliegen besonders gewichtiger Milderungsgründe noch in Betracht (BGH 1 StR 416 / 08 vom 02.12.2008). Demzufolge kommt bei Millionenbeträgen keine Ahndung im Strafbefehlswege mehr in Betracht (BGH, a. a. O.), sodass derartige Verfahren von den Bußgeld- und Strafsachenstellen zwingend an die Staatsanwaltschaft abzugeben sind. Soweit keine Steuerverkürzung eingetreten ist, sondern ein sonstiger steuerlicher Vorteil (z. B. eine zu hohe Verlustfeststellung) erzielt worden ist, ist im Rahmen der Strafzumessung eine ungefähre Schätzung vorzunehmen, wie hoch der daraus zu erwartende Steuervorteil einmal sein wird, wie wahrscheinlich es ist, dass er überhaupt eintreten wird und wann ggf. damit zu rechnen ist. Je niedriger und je ungewisser die zu erwartende Verkürzung ist, desto geringer wiegt die Schwere der Schuld. Bei der Bemessung der Sanktion ist darauf zu achten, dass die Regeln für die Bildung von Gesamtstrafen (vgl. Tz. 5) nicht zu einer Abweichung von den vorstehenden Grundsätzen führen darf. 2.2
Steuerverkürzung in großem Ausmaß Von den Regelbeispielen für das Vorliegen eines besonders schweren Falls der Steuerhinterziehung mit einer Mindeststrafe von 6 Monaten Freiheitsstrafe kommt der Steuerverkürzung in großem Ausmaß (§ 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO) eine besondere praktische Bedeutung zu. Nach inzwischen gefestigter Rechtsprechung des BGH (1 StR 416 / 08 vom 02.12.2008, fortgeführt in 1 StR 116 / 11 vom 05.05.2011) gilt für das Vorliegen einer Verkürzung in großem Ausmaß: a. Hat der Täter ungerechtfertigte Zahlungen vom Finanzamt erlangt, liegt die Betragsgrenze bei 50.000 €. b. Beschränkt sich des Verhalten des Täters darauf, die Finanzbehörden pflichtwidrig über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis zu lassen und führt dies lediglich zu einer Gefährdung des Steueranspruchs, dann ist das Merkmal bei einer Verkürzung in Höhe von 100.000 € erfüllt.
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Sodann ist zu prüfen, ob andere, für den Beschuldigten sprechende Strafzumessungsfaktoren ausnahmsweise so gewichtig sind, dass sie die indizielle Wirkung des Regelbeispiels aufheben. Hierfür reicht es nicht aus, dass die hinterzogenen Steuern vollständig beglichen werden oder dass der Steueranspruch von vornherein nur gefährdet war. 2.3
Hinterziehung auf Zeit Eine Hinterziehung auf Zeit kommt in Betracht, wenn aufgrund objektiver Anhaltspunkte davon auszugehen ist, dass sich der Täter lediglich vorübergehend einen ‚Kredit‘ beim Finanzamt verschaffen wollte, aber letztlich die Steuer ordnungsgemäß erklären wollte. Dies kommt z. B. bei zu niedrigen Umsatzsteuervoranmeldungen in Betracht, wenn die Geschäftsvorfälle richtig in der Buchführung erfasst sind und nur die Voranmeldungen zu niedrig waren. Werden aber z. B. gefälschte Belege in die Buchführung eingeführt, spricht dies für eine auf Dauer gewollte Hinterziehung. Das zutreffende Strafmaß bei einer Hinterziehung auf Zeit liegt stets deutlich unter demjenigen, das bei der Hinterziehung desselben Betrages auf Dauer zu verhängen wäre. Es wird aber in der Regel oberhalb dessen festzusetzen sein, was sich bei Zugrundelegung des reinen Zinsschadens rechnerisch ergäbe, denn der staatliche Steueranspruch war in Höhe des vollen Betrages zumindest gefährdet. Der Zinsschaden ist unter Zugrundelegung lebensnaher Annahmen zu ermitteln. Es wäre also z. B. verfehlt, bei einer Umsatzsteuerhinterziehung, die sich keiner bestimmten Voranmeldung zuordnen lässt, zu Gunsten des Beschuldigten davon auszugehen, dass er diese im Dezember begangen hat und schon im Januar eine zutreffende Jahreserklärung abgegeben hätte, wenn es hierfür keine konkreten Anhaltspunkte gibt. Scheitert die vom Täter zunächst beabsichtigte Schadenswiedergutmachung daran, dass es ihm nach einer wahrheitsgemäßen Umsatzsteuererklärung aus finanziellen Gründen nicht mehr möglich ist, den durch die Voranmeldungen verkürzten Betrag nach zu entrichten, kommt es ebenfalls zu einer dauerhaften Verkürzung der Steuer. Dem Täter kann dann zwar zugute gehalten werden, dass er bei der Tatbegehung eine spätere Schadenswiedergutmachung beabsichtigte. Waren allerdings bereits bestehende finanzielle Schwierigkeiten Motiv für die Abgabe falscher Umsatzsteuervoranmeldungen, relativiert dies die strafmildernde Bedeutung der Wiedergutmachungsabsicht. Die ‚Absicht‘ der Wiedergutmachung erweist sich dann als bloße – oft sogar unrealistische – ‚Hoffnung‘ (vgl. BGH 1 StR 627 / 08 – Urteil vom 17.03.2009). Der BGH hält im v. g. Urteil zwar an der Differenzierung zwischen der Steuerhinterziehung ‚auf Zeit‘ und einer solchen ‚auf Dauer‘ fest, vertritt allerdings nunmehr entgegen seiner früheren Entscheidungen die Ansicht, dass Hinterziehungsschaden, der Nominalbetrag der verkürzten Steuern und nicht lediglich der aus der unrichtigen Umsatzsteuervoranmeldung resultierende Zinsschaden des Fiskus ist.
3
Besondere Strafzumessungsgründe Werden derartige Strafzumessungsaspekte bekannt, ist darauf zu achten, sie im Fahndungsbericht auch mitzuteilen.
330 Anhang Kein Strafzumessungsgrund ist das einfache Leugnen der Tat und fehlende Mitwirkung bei der Aufklärung. Auch das Einlegen von Rechtsmitteln gegen Durchsuchungsbeschlüsse, Beschlagnahmen usw. ist kein Kriterium für die Strafzumessung. Im Bundeszentralregister getilgte Strafen dürfen nicht mehr vorgehalten werden. Strafmildernd kann berücksichtigt werden: Vorleben / allgemeine Lebensumstände: • der Besch. ist bisher strafrechtlich nicht in Erschei• nung getreten sie / er ist seinen steuerlichen Pflichten bisher • nachgekommen bei jungen Besch.: ungünstige häusliche Verhältnisse, Entwicklungsstörungen, Erziehungsdefizite, soweit dies die Tatentstehung begünstigt hat • hohes Alter, schlechter Gesundheitszustand, soweit dies die Tatentstehung begünstigt hat oder die Sanktionswirkung verschärft Entstehungsgründe der Tat: • nachvollziehbare Beweggründe, z. B. der Versuch, in einer Krisensituation den Betrieb zu retten, Nichtabgabe bei Überlastung durch pflegebedürftige Angehörige, eigene Krankheit, Ehescheidung o. Ä. • unverschuldete finanzielle Zwangs- oder Notlage • Erleichterung der Tatbegehung durch das Finanzamt, wenn dadurch die Hemmschwelle gesunken ist (z. B. jahrelanges Dulden der Nichtabgabe bei gleichzeitiger Schätzung) • Verleitung zur Tat durch andere, Gruppendruck auf Tatentschluss Tat selbst: • Tat wurde nur mit Eventualvorsatz begangen (z. B. Nichtabgeber, dem zwar die daraus resultierende Steuerverkürzung bewusst war, dessen Verhalten aber eher die Folge von Faulheit war) • geringe kriminelle Energie (z. B. keine Verschleierungsversuche) • lange zurückliegende Tat, insbesondere bei anschließender Rückkehr zur Steuerehrlichkeit geringer eigener Tatbeitrag bei Tatbegehung durch meh rere • trotz der Verkürzung war Beschuldigter insgesamt überwiegend steuerlich rechtstreu • Hinterziehung nur auf Zeit Folgen der Tat für den Täter: Verlust des Arbeitsplatzes bzw. der Existenzgrundlage beamten- oder berufsrechtliche Nachteile Verhalten nach der Tat: • ‚missglückte Selbstanzeige‘
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• Nachentrichtung der hinterzogenen Steuern, v. a. wenn dies zügig geschieht, freiwillige Offenbarung von Vermögenswerten, die die Vollstreckungsstelle vermutlich nicht ermittelt hätte, freiwillige Rückführung von Auslandsvermögen zum Zweck der Schuldentilgung • Mitwirkung bei der Aufklärung der Tat nach Bekanntgabe der Einleitung • umfassendes, offenes Geständnis (kaum positiv zu berücksichtigen ist dagegen ein taktisches Geständnis, bei dem nur die ohnehin schon nachgewiesenen Vorwürfe eingeräumt werden) • Unrechtseinsicht. Strafschärfend kann sich auswirken: Vorleben / allgemeine Lebensumstände: • Vorstrafen, insbesondere einschlägige und erhebliche • Tatbegehung kurz nach Verurteilung oder Verbüßung früherer Strafen (hohe Rückfallgeschwindigkeit) • Tatbegehung während Bewährungszeit • Beschuldigter hat sich früher verhängte Geldauflagen nicht als Warnung dienen lassen • Beschuldigter hat keine Anstrengungen unternommen, seinen Lebensunterhalt auf ehrliche Weise zu verdienen, sondern bestreitet diesen durch Begehung von Straftaten • besondere Pflichtstellung gegenüber dem Staat (Beamte). Die Tat selbst: • alle gesetzlich normierten Beispiele für das Vorliegen eines besonders schweren Falls, auch bei nicht vollständiger Erfüllung eines Regelbeispiels kann die Annäherung daran strafschärfend sein (z. B. Verwendung gefälschter Belege, jedoch nicht fortgesetzt i. S. v. § 370 Abs. 3 Nr. 4 AO). • Hinterziehung von Lohnsteuer und Umsatzsteuer (wirtschaftlich fremdes Geld, untreueähnlicher Charakter) • gewerbs- und gewohnheitsmäßiges Handeln, Bestreiten des Lebensunterhalts aus kriminellen Handlungen • unverantwortliches Gewinnstreben, Täter hatte es ‚nicht nötig‘, Steuern zu hinterziehen, Steuerhinterziehung dient der Finanzierung eines verschwenderischen Lebensstils • besondere kriminelle Energie bei Vorbeugung der Entdeckung, z. B. – Aufbau komplexer und aufwändiger Täuschungssysteme, womit die Verschleierung von Sachverhalten über einen längeren Zeitraum bezweckt wird (Verschleierung von Geldflüssen durch Konten von Strohleuten, Aufbau undurchschaubarer Firmengeflechte zur besseren Verschleierung der tatsächlichen Verhältnisse)
332 Anhang – Anpassung an die Prüfungsmethoden der Finanzverwaltung (Doppelverkürzung, um Tatentdeckung durch Nachkalkulation zu verhindern; Besch. benutzt seinerseits statistische Methoden wie Benford und Chi-Quadrat, um Buchführung insoweit zu ‚optimieren‘) • Verstrickung Dritter in die Tat, ggf. unter Missbrauch eines Vertrauensverhältnisses (Familienangehörige, Freunde) oder Abhängigkeitsverhältnisses (Arbeitnehmer); besonders verwerflich ist es, wenn Dritte unter Druck gesetzt werden, bei der Tatbegehung mitzuwirken. • hartnäckiges Handeln, Beschuldigter hat sich auch durch Warnungen Dritter (z. B. Angestellte in der Buchhaltung, Steuerberater) nicht von der Tatbegehung abhalten lassen. • besonderes Maß an Pflichtwidrigkeit (z. B. Nichtabgabe trotz wiederholter Mahnungen; Bruch von Zusicherungen gegenüber dem Finanzamt, Versäumnisse nachzuholen) • erheblicher Umfang der Taten (z. B. hohe Zahl der zum Zwecke des Vorsteuerbetrags gegründeter Firmen) lange Tatdauer • verjährte Straftaten können strafschärfend berücksichtigt werden, jedoch nicht in voller Höhe und nicht mehr ab Tilgungsreife im Bundeszentralregister. (Problem: Hinsichtlich des Nachweises sind die Anforderungen an verjährte Taten genauso hoch wie an nicht verjährte, die Ermittlungsmöglichkeiten sind jedoch begrenzt). • bei Mittäterschaft: besonders gewichtiger eigener Anteil an Tatbegehung • mitbestrafte Vor- und Nachtaten (z. B. Insistieren auf falschen Angaben bei der Betriebsprüfung, im Rechtsbehelfs- und Klageverfahren) • bei Lohnsteuerhinterziehung: Verheimlichen der Nichtabführung gegenüber dem Arbeitnehmer. Verhalten nach der Tat: • keine Nachentrichtung der hinterzogenen Steuer • Vollstreckung wird durch Verlagerung von Vermögenswerten auf Dritte oder Verbringen ins Ausland erschwert • Buchführung und Beweismittel werden vernichtet oder anderweitig dem Zugriff der Strafverfolgungsbehörden entzogen (Veräußerung an Firmenaufkäufer u. Ä.) • fehlende Unrechtseinsicht • Tat wird zu Unrecht anderen angelastet • Einwirken auf Zeugen zur Erschwerung der Aufklärung
Anlage G: Strafmaßvorgabe OFD Magdeburg
Anhang
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Inflationsbereinigt 2016
Verkürzter Betrag
Zahl der Tagessätze
1.247 €
1.000 €
8 bis 15
3.118 €
2.500 €
10 bis 30
6.237 €
5.000 €
25 bis 80
9.355 €
7.500 €
50 bis 90
12.474 €
10.000 €
50 bis 140
18.711 €
15.000 €
75 bis 180
24.948 €
20.000 €
100 bis 240
31.184 €
25.000 €
120 bis 300
37.421 €
30.000 €
150 bis 360
49.895 €
40.000 €
200 bis 360
62.369 €
50.000 €
215 bis 360
93.553 €
75.000 €
280 bis 360
124.737 €
100.000 €
Freiheitsstrafe https://beck-online.beck.de/default.aspx? vpath=bibdata/komm/SchaeferNJWMO_5/ cont/SchaeferNJWMO.glTeil10.glR.glVIII. htm – FNID0EQMZV oder 320 bis 360
155.922 €
125.000 €
Freiheitsstrafe oder 340 bis 360
Anlage H: Tabelle Schäfer / Sander / van Gemmeren, inflationsbereinigt2
2 Eigene Berechnungen. Zu Grunde gelegt wurden die Inflationswerte seit Beginn des Jahres 2001. Hierfür wurde der Inflationsrechner bei: [Stand: 31.07.2016] verwendet. Bei der Interpretation zu berücksichtigen bleibt, dass der erstmalige Erlass der genannten Schwellenwerte zum Teil deutlich vor der Veröffentlichung in PStR 2001, S. 18 erfolgt sein dürfte.
334 Anhang BGH v. 2.12.2008
Inflationsprognose für 2025
Inflationsprognose für 2045
Mind. 6 Monate („großes Ausmaß“)
50.000 €
67.278 €
98.997 €
Mind. 12 Monate
100.000 €
134.557 €
197.993 €
Mind. 24 Monate
1.000.000 €
1.345.568 €
1.979.930 €
Anlage I: Schwellenwerte BGH-Rechtsprechung, inflationsbereinigte Prognose3
3 Der Prognose wurde als jährliche Inflationsrate die Durchschnittsrate der Jahre 1990–2014 in Deutschland (=1,95 %) zu Grunde gelegt. Für die Jahre 2008 bis einschließlich 2014 wurden die historischen Inflationsraten verwendet. Berechnung mit: [Stand: 31.07.2016].
Anhang
Anlage J: Standardisierter Fragenkatalog an die Finanzbehörden
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Sachverzeichnis Abschreckungsgedanke 78, 81 Abwägung 141, 166 Aktenanalysen 146 ALLBUS 72 Amtsträger 124, 128 Anmeldesteuern 46 Anreizeffekt 97, 100 Antinomieproblem 92, 172 Asperationsprinzip 188 AStBV (St) 295 Aufklärungspflicht 264 Bandenmitglied 131 Beamtenrechte 281 Befugnisverlagerung 285, 290 Behördenorganisation 271 Betragsgrenzen 122 Betrug 57, 109 Bewährung 176 Bewertungsrichtung 142, 167 Deliktsdunkelfeld 89 Deliktstypus 53 Diskriminanzanalyse 82, 83 Disziplinarmaßnahmen 281 Doppelverwertungsverbot 179 Dreiteilung der Strafzumessungsgründe 140 Eigennutz 224 Einstiegsstelle in den Strafrahmen 192 Entdeckungswahrscheinlichkeit 200 Erfolgsunrecht 49 European Values Study 69 fact bargaining 253, 276
Fiskalinteressen 275 Fiskaltheorie 96, 100 Forschungsstelle für empirische Sozialökonomik 74, 77, 82, 88 Fremdnutz siehe Eigennutz Gefährdungsdelikt 33, 40 Gefährdungsschaden 42, 114, 118, 195, 196 Generalprävention 81 –– positive 83 Gesamtbereinigung 273 Geständnis 243 Griff in die Kasse 115, 120, 227 großes Ausmaß 108 Handlungsunrecht 49 Hinterziehung auf Zeit 202, 213 Hinterziehungsbetrag 191, 212, 215 Jugendstrafrecht 19 Kavaliersdelikt 54, 69, 76, 112 Kompensationsverbot 48, 213 Kooperationsmaxime 262 Lenkungssteuern 39 Mitwirkungs- und Offenbarungs pflichten 35 Multiplarstrafensystem 58 Nachzahlung 236 nationalsozialistische Gesetzgebung 59 Opferinteressen 101 Prinzip der Leistungsfähigkeit 40
Sachverzeichnis
Proportionalität –– kardinale 111 –– ordinale 111 Punktstrafetheorie 138 Rechtsgut 33 Rechtsgutsobjekt 36, 52, 116 Regelbeispiel –– Versuch 106 Regelbeispielstechnik 105 Regeltatbild 143, 200 Relationszusammenhang 54 Richterliche Strafrahmen siehe Strafmaßtabellen Richterrecht 144 siehe Strafzumessungstraditionen RiStBV 293 Rücktritt 94 Schadenswiedergutmachung 236 Schmuggel 134, 223 Schuldprinzip 24, 252, 273 Schuldunterschreitungen 101, 274 Schwellenwerte 170 Schwereskala 141 Selbstanzeige 62, 85, 92 –– unwirksam 247 Selbstschädigung 51 Spezialprävention 76, 97 –– negative 78 –– positive 80 Spielraumtheorie 76, 85, 140, 167 Stellenwerttheorie 139 Steuerbetrug 108 Steuerliche Mitwirkungspflichten 35 Steuermentalität 74, 87 Steuermoral 74, 83 Steuersystem 87 Steuerverschwendung 88 Steuervorteil 48 Strafartwahl 173 Strafaufhebungsgrund 62 Strafbefehlsverfahren 68
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Strafbegründungsschuld 25 Strafempfindlichkeit 281 Strafhöhenentscheidung 76 Strafmaßtabellen 154, 158, 160, 163, 297 Strafmaßvorgaben siehe Strafmaß tabellen Strafquanten 141 Strafrahmenfindung 104 Strafrahmenmilderungen 135 Straftaxen siehe Strafmaßtabellen Strafverfolgungsstatistik 64, 77 Strafwürdigkeit 53, 69 Strafzumessungsdogmatik 191 Strafzumessungsschuld 25 Strafzumessungstheorien 137 Strafzumessungstraditionen 111, 145, 173 Strafzumessungsumstände 191 Strafzwecke 76 Strafzwecktheorie 93 Tateinheit 123 Täter-Opfer-Ausgleich 136 Tatmehrheit 180, 209 Tatobjekt 36, 116 tatproportionale Strafzumessung 139 tatsächliche Verständigung 267 Umsatzsteuerkarusselle 113, 116, 132 Umwertung 141, 166 Unrechtskonzept 26 Untreue 66 U.S. Sentencing Guidelines 164 Verfahrensabsprachen 102, 249 Verfahrensbelastungen 279 Verfahrensdauer –– überlang 277 Verfahrenserleichterung 245 Verfahrenskosten 282 Verhaltenssteuerung 100 Verjährungsfrist 198 Vermögensdelikt 36
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Sachverzeichnis
Vermögensschaden 40 Vermögensverlust 108, 113 Verspätungsschaden 198, 210, 213 Verständigungen siehe Verfahrems absprachen Vollstreckungsverfahren 47 Vorbehalt der Nachprüfung 44
vorläufiger Festsetzung 44 Vorleben 234 Vorsatzform 220 Weisungsbefugnis 288 Werteordnung 56 World Values Survey 69