Zum Status fremdkultureller Wertvorstellungen bei der Strafzumessung: Sozialwissenschaftliche, kriminologische und strafzumessungsrechtliche Perspektiven [1 ed.] 9783428548736, 9783428148738

Strafrichter stehen immer häufiger vor der schwierigen Aufgabe, deutsches Strafrecht gegenüber Tätern anzuwenden, die au

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German Pages 324 Year 2016

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Zum Status fremdkultureller Wertvorstellungen bei der Strafzumessung: Sozialwissenschaftliche, kriminologische und strafzumessungsrechtliche Perspektiven [1 ed.]
 9783428548736, 9783428148738

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Schriften zum Strafrecht Band 294

Zum Status fremdkultureller Wertvorstellungen bei der Strafzumessung Sozialwissenschaftliche, kriminologische und strafzumessungsrechtliche Perspektiven

Von

Kai Werner

Duncker & Humblot · Berlin

KAI WERNER

Zum Status fremdkultureller Wertvorstellungen bei der Strafzumessung

Schriften zum Strafrecht Band 294

Zum Status fremdkultureller Wertvorstellungen bei der Strafzumessung Sozialwissenschaftliche, kriminologische und strafzumessungsrechtliche Perspektiven

Von

Kai Werner

Duncker & Humblot · Berlin

Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena hat diese Arbeit im Jahre 2015 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2016 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0558-9126 ISBN 978-3-428-14873-8 (Print) ISBN 978-3-428-54873-6 (E-Book) ISBN 978-3-428-84873-7 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Meiner Familie

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Oktober des Wintersemesters 2015 / 2016 von der Hohen Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena als Dissertation angenommen. Rechtsprechung und Literatur sind bis zu diesem Zeitpunkt im Wesentlichen berücksichtigt worden, soweit es mit der Konzeption der Arbeit zu vereinbaren war. Der Text wurde darüber hinaus an einigen Stellen für die Veröffentlichung überarbeitet. Die Auseinandersetzung mit dem Thema der Dissertationsschrift stellte eine ganz besondere Aufgabe für mich dar, welche ohne die Unterstützung und den Rückhalt meines privaten und kollegialen Umfeldes – die Grenzen sind zuweilen unscharf geworden – wohl kaum realisierbar gewesen wäre. Es ist ein willkommener Anlass, dass der Abschluss dieses langjährigen Projekts nun auch in diesem Rahmen die Möglichkeit eröffnet, sich bei all jenen zu bedanken, die gleichsam ihren Teil zum Gelingen beigetragen haben. Ich bitte um Nachsicht, sollte sich jemand vergessen fühlen. Ich möchte zunächst meinem Doktorvater Prof. Dr. Dr. Dr. h. c. Günther Jerouschek M. A. danken. Die Beschäftigung an seinem Lehrstuhl hat das Promotionsvorhaben in tatsächlicher und wirtschaftlicher Hinsicht überhaupt erst möglich gemacht. Das entgegengebrachte Vertrauen innerhalb der letzten Jahre war eine unbezahlbare Unterstützung. Tiefer Dank gebührt meinem Doktorvater auch deshalb, weil er mir stets hinreichend Raum und Zeit zur Anfertigung der vorliegenden Arbeit zur Verfügung gestellt hat. In herzlicher Dankbarkeit verbunden bin ich auch meinem Zweitgutachter Prof. Dr. Günter Kräupl, der den Entstehungsprozess der Arbeit überobligatorisch interessiert und engagiert begleitet hat. Sein steter Zuspruch, ebenso wie die vielen anregenden Gespräche, waren mir stets Stütze und Ansporn. Ohne ihn wäre die Arbeit sicher eine andere geworden. Ihm gebührt daher ebenfalls meine immerwährende Dankbarkeit. Besonderer Dank gilt selbstverständlich auch meiner Familie, die meinen gesamten Werdegang stets liebevoll begleitet und unterstützt hat. Es ist mir ein herzliches Anliegen, mit meiner Widmung meinen Eltern, meinen Großeltern und meinem lieben Bruder Björn tiefen Dank aussprechen zu dürfen. Wegen ihrer Unterstützung bei der Anfertigung der Dissertationsschrift keinesfalls unerwähnt bleiben dürfen ferner Frau Jana Thierbach für ihr unermüdliches und gründliches Korrekturlesen des Manuskripts, Frau Katja

8 Vorwort

Dahl für das Überprüfen des Fußnotenapparats sowie das gesamte übrige Lehrstuhlteam der letzten Jahre. Zu guter Letzt möchte ich mich von ganzem Herzen bei Frau Melanie Höhn, nicht nur für das Gegenlesen des Manuskripts und die zahlreichen anregenden Gespräche, bedanken, sondern auch dafür, dass sie mich bewundernswert aufopfernd und mit viel Geduld in all den anstrengenden Phasen des Erstellungsprozesses begleitet hat. Jena, im Januar 2016

Kai Werner

Inhaltsverzeichnis Teil 1 Einleitung 19 A. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 B. Untersuchungsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 C. Untersuchungsmethode und -verlauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 Teil 2

Interdisziplinäre Grundlagen 28

A. Interdisziplinäre Begriffsbestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 I. Fremdkulturelle Wertvorstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 1. Der Kulturbegriff in den Geistes- und Sozialwissenschaften . . . . . 32 2. Das Fremdkulturelle und der Fremde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 3. Werte und Wertvorstellungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 a) Allgemeines  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 b) Das objektive Kriterium – Kollektivwerte im kulturellen System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 c) Das subjektive Kriterium – individuelle Werte in der Persönlichkeitsstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 II. Zusammenfassung aus dem interdisziplinären Diskurs  . . . . . . . . . . . . 56 B. Grundbegriffe im personellen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 I. Allgemeines  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 II. Personen mit anderem (bzw. fremdem) kulturellen Hintergrund . . . . . 59 III. Deutsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 IV. Ausländer und Nichtdeutsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 C. Einführung in die Grundlagen der Strafzumessung . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Begriffliche Grundorientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Strafzumessung und Strafbemessung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Strafzumessung im engeren und im weiteren Sinne . . . . . . . . . . . . III. Wichtige systematische und begriffliche Grundlagen der Strafzumessung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die gesetzlichen Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

61 61 61 61 62 63 63

10 Inhaltsverzeichnis

2. Zur Notwendigkeit von Strafzumessungstheorien . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Strafzumessungsschuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Strafzumessungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zusammenfassung und Problemakzentuierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

64 65 67 70

Teil 3

Kriminologische Grundlagen

72

A. Die kriminologischen Hintergründe der Kriminalität von Personen mit fremdkulturellem Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 I. Allgemeines  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 1. Der personale Zuschnitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 2. Der sachliche Zuschnitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 II. Zur Kriminalität von Personengruppen mit fremdkulturellem Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 2. Zur Kriminalität der (Spät-)Aussiedler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 3. Kriminalität der Gastarbeiter und deren Nachkommen . . . . . . . . . . 81 4. Kriminalität von Nichtdeutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 a) Allgemeines  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 b) Der extensive Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 c) Der restriktive Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 d) Kritische Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 aa) Das Problem der Verzerrung durch Geschlechts-, Altersund Sozialstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 bb) Zur Verzerrung durch selektive Prozesse . . . . . . . . . . . . . . . 93 cc) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 e) Deliktspezifika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 III. Erklärungsversuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 2. Theorie des Kulturkonflikts – Sellin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 3. Anomietheorie – Durkheim und Merton  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 4. Labeling Approach (Etikettierungsansatz) – Tannenbaum, Lemert et al. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 5. Stellungnahme zu den Erklärungsansätzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 IV. Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 B. Zu den Möglichkeiten der Angewandten Kriminologie bei der Strafzumessung unter besonderer Berücksichtigung fremdkultureller Fallkonstellationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 I. Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 II. Die Methode der idealtypisch-vergleichenden E ­ inzelfallanalyse . . . . . 116 1. Die Grundstruktur MIVEA   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116

Inhaltsverzeichnis11

2. Zur Anwendbarkeit der MIVEA bei Tätern mit fremdkulturellem Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 III. Der methodische Anknüpfungspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 1. Die gemeinsamen Aufgaben von Kriminalprognose (MIVEA) und Strafzumessung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 2. Zu den gesetzlich bedingten Problemlagen beider Verfahren . . . . . 120 a) Allgemeines  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 b) Die gesetzliche Ausgangslage bei der Kriminalprognose . . . . . . 121 c) Die gesetzliche Ausgangslage bei der Strafzumessung . . . . . . . 121 3. Möglichkeiten eines übergeordneten integrativen Lösungsweges der gesetzlich bedingten Problemlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 IV. Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 Teil 4

Zur Entwicklung der Rechtsprechung bei Taten mit Bezug zu fremdkulturellen Wertvorstellungen

126

A. Entwicklungsgeschichtlicher Rückblick auf die Rechtsprechungsgenese bei Taten mit fremdkulturellem Bezug bis zum Inkrafttreten des § 13 StGB a. F. zum 1. Januar 1970 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 I. Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 II. BGH, Beschluss vom 23.12.1952 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 III. OLG Celle, Urteil vom 13.05.1953 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 IV. OLG Hamm, Entscheidung vom 31.01.1958 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 V. BayObLG, Urteil vom 23.10.1963 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 VI. BGH, Urteil vom 26.04.1966 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 VII. BGH, Urteil vom 22.10.1969 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 VIII. Zwischenbilanz der Rechtsprechungsgenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 B. Entwicklungsgeschichtlicher Rückblick auf die Rechtsprechungsgenese bei Taten mit fremdkulturellem Bezug nach dem Inkrafttreten des § 13 StGB a. F. zum 1. Januar 1970 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 I. Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 II. Entscheidungen zur Berücksichtigung der Ausländereigenschaft unter besonderer Berücksichtigung des Missbrauchs des Gastrechts . . . . . . 143 1. BGH, Beschluss vom 28.07.1972  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 2. BGH, Urteil vom 24.01.1973 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 3. BGH, Urteil vom 12.05.1976 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 4. BGH, Beschluss vom 30.06.1976 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 5. BGH, Beschluss vom 13.11.1991 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 6. BGH, Beschluss vom 16.03.1993 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 7. BGH, Beschluss vom 17.01.2006 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 8. Zwischenergebnis und Tendenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154

12 Inhaltsverzeichnis

III. Entscheidungen zur Strafschärfung aufgrund generalpräventiver Erfordernisse bei Taten mit fremdkulturellem Bezug . . . . . . . . . . . . . . 158 1. BGH, Urteil vom 15.05.1973 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 2. BGH, Urteil vom 30.10.1974 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 3. BGH, Urteil vom 16.09.1981 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 4. BGH, Beschluss vom 29.11.1990 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 5. BGH, Beschluss vom 15.11.1995 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 6. OLG Hamburg, Beschluss vom 04.02.2000 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 7. Zwischenergebnis und Tendenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 IV. Entscheidungen zur Berücksichtigung ausländerrechtlicher Folgen . . . 171 1. Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 2. BGH, Urteil vom 12.05.1976 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 3. BGH, Beschluss vom 12.07.1996 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 4. BGH, Beschluss vom 11.09.1996 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 5. BGH, Urteil vom 16.06.1998 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 6. BGH, Beschluss vom 27.11.1998 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 7. BGH, Urteil vom 23.03.1999 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 8. BGH, Urteil vom 05.12.2001 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 9. BGH, Beschluss vom 22.09.2003 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 10. Zwischenergebnis und Tendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 V. Entscheidungen zur Berücksichtigung besonderer Strafempfindlichkeit bei fremdkulturellen Tätern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 1. Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 2. BGH, Beschluss vom 15.11.1991 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 3. BGH, Beschluss vom 20.08.1996 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 4. BGH, Beschluss vom 11.09.1996 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 5. BGH, Urteil vom 09.09.1997 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 6. BGH, Beschluss vom 20.09.2000 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 7. BGH, Urteil vom 23.08.2005 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 8. BGH, Urteil vom 08.07.2010 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 9. Zwischenergebnis und Tendenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 VI. Entscheidungen zur erschwerten Normbefolgung aufgrund kultureller Wertvorstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 1. Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 2. LG Osnabrück, Urteil vom 01.02.1994 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 3. BGH, Urteil vom 12.09.1995 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 4. BGH, Urteil vom 22.08.1996 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 5. BGH, Urteil vom 24.06.1998 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 6. BGH, Beschluss vom 22.12.1998  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 7. BGH, Urteil vom 07.11.2006 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 8. BGH, Beschluss vom 18.08.2009 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 9. Zwischenergebnis und Tendenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209

Inhaltsverzeichnis13

VII. Entscheidungen zur Überwindung einer geringeren Hemmschwelle zur Tat aufgrund kultureller Wertvorstellungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 1. Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 2. BGH, Urteil vom 29.08.2001 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 3. BGH, Urteil vom 01.02.2007 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 4. LG Lüneburg, Urteil vom 07.04.2008 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 5. Zwischenergebnis und Tendenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 VIII. Zusammenfassung der Analyse der Rechtsprechungsgenese . . . . . . . . 223 Teil 5

Perspektiven einer systematisch-dogmatischen Behandlung fremdkulturell bedingter Tatsachen und Umstände bei der Strafzumessung 228

A. Zur interkulturellen Beweglichkeit und Geltungskraft des Strafzumessungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 I. Grundlage – zur interkulturellen Geltung des deutschen Strafrechts . . 230 II. Problemstellung in Hinblick auf das Recht der Strafzumessung . . . . . 232 1. Zu den Elementen von Unrecht und Schuld in der Strafzumessungsschuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 a) Zu den Grundlagen des Schuldbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 b) Die Elemente der Strafzumessungsschuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 aa) Die Erfolgskomponente – zum Erfolgsunrecht . . . . . . . . . . . 237 bb) Die Handlungskomponente – zum Handlungsunrecht . . . . . 239 c) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 2. Exkurs: Zur interkulturellen Geltungskraft von Strafzumessungsentscheidungen durch Konsens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 3. Konsequenzen für die Berücksichtigung fremdkultureller Wert­ vorstellungen bei der Strafzumessung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 B. Zur systematischen Behandlung fremdkultureller Wertvorstellungen in der Strafzumessung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 I. Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 II. Zur Ausländereigenschaft unter besonderer Berücksichtigung des Missbrauchs des Gastrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 1. Die Ansicht der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 2. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 3. Zu den Fallgruppen im Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 a) 1. Fallgruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 b) 2. Fallgruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 c) 3. Fallgruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 d) 4. Fallgruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 e) Zusammenfassung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260

14 Inhaltsverzeichnis

III. Zur Strafschärfung aufgrund generalpräventiver Erfordernisse  . . . . . 262 1. Die Ansicht der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 2. Ausgewählte Problemfragen bei der Heranziehung general­ präventiver Gesichtspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 a) Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 b) Anforderungen an eine tatsächliche und rechtliche Würdigung von generalpräventiven Erwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 c) Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit von empirisch abgestützten Begründungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 d) Zur negativen Generalprävention bei fremdkulturell geprägten Tätern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 e) Die Problemlagen bei der positiven Generalprävention . . . . . . . 266 f) Das selektive Abzielen auf bestimmte ausländische ­Tätergruppen als unzulässiges Anknüpfen an die Ausländer­ eigenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 g) Die Berücksichtigung ausländischer Strafrahmen . . . . . . . . . . . . 269 3. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 IV. Zur Berücksichtigung ausländerrechtlicher Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . 271 1. Die Ansicht der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 2. Ausgewählte Problemfragen der Berücksichtigung ausländerrechtlicher Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 a) Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 b) Systematische Verortung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 c) Rechtsprechungsvereinheitlichung mit beamten- und soldatenrechtlichen Folgen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 3. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 V. Zur besonderen Strafempfindlichkeit fremdkulturell geprägter Täter   . 280 1. Die Ansicht der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 2. Ausgewählte Problemfragen der Berücksichtigung einer besonderen Strafempfindlichkeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 a) Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 b) Systematische Verortung und mögliche Ansatzpunkte einer rechtlichen Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 c) Probleme der Bestimmung des Ausmaßes der besonderen Strafempfindlichkeit bei Ausländern und fremdkulturell ­geprägten Tätern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 3. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 VI. Zur erschwerten Normbefolgung aufgrund kultureller Wertvorstel­ lungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 1. Die Ansicht der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 2. Ausgewählte Problemfragen bei der Berücksichtigung einer erschwerten Normbefolgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 a) Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 b) Systematische Verortung und mögliche Ansatzpunkte einer rechtlichen Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288

Inhaltsverzeichnis15

c) Zur Notwendigkeit normativer Korrekturen bei der Bewertung des Normbefolgungskonflikts in Hinblick auf die Schuld des Täters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 d) Besondere Anforderungen an die zu ermittelnden Strafzumessungstatsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 e) Exkurs: Abwandlung bei Irrtümern über das Unrechtsausmaß  . 294 3. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 VII. Zur Überwindung einer geringeren Hemmschwelle zur Tat aufgrund fremdkultureller Wertvorstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 1. Die Ansicht der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 2. Ausgewählte Problemfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 a) Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 b) Systematische Verortung und Möglichkeiten einer rechtlichen Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 c) Keine Beschränkung auf fremdkulturelle Wertvorstellungen . . . 301 d) Zum Einwand der Ubiquität relevanter Verhaltenseinflüsse . . . . 301 3. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Teil 6

Rück- und Ausblick 304

Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 Stichwortverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321

Abkürzungsverzeichnis aaO.

am angegebenen Ort

a. F.

alte Fassung

Akz. Aktenzeichen Anm. Anmerkung(en) AT

Allgemeiner Teil

AufenthG

Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz)

AuslG

Gesetz über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern im Bundesgebiet (Ausländergesetz)

BayObLG

Bayerisches Oberstes Landesgericht

BewHi

Zeitschrift Bewährungshilfe

BGBl. Bundesgesetzblatt BGH Bundesgerichtshof BGHR(St)

Systematische Sammlung der Entscheidungen des Bundesgerichtshofes

BGHSt

Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen

bspw. beispielsweise BT

Besonderer Teil

BT-Drs. Bundestagsdrucksache(n) BtmG Betäubungsmittelgesetz BVerfG Bundesverfassungsgericht BVerGE

Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts

BVFG Bundesvertriebenengesetz DAR

Zeitschrift „Deutsches Autorecht“

et al.

und andere

f. / ff.

folgende

FGM

female genital mutilation (weibliche Genitalverstümmelung)

FS Festschrift GA

Goldtdammer’s Archiv für Strafrecht

GG

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland

grds. grundsätzlich GSSt

Großer Senat in Strafsachen

GUS

asiatische Republiken der Gemeinschaft unabhängiger Staaten

Abkürzungsverzeichnis

17

Hrsg. Herausgeber Hz Häufigkeitszahl i. d. S.

in diesem Sinn(e)

i. e. S.

im engeren Sinn(e)

i. R. d.

im Rahmen der / des

i. S. e.

im Sinne einer / eines

i. w. S.

im weiteren Sinn(e)

JA

Juristische Arbeitsblätter

JuS

Juristische Schulung – Zeitschrift für Studium und Referendariat

JZ Juristenzeitung KFN

Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachen e. V.

KrimJ

Kriminologisches Journal

LG Landgericht LK

Leipziger Kommentar

MDR

Monatsschrift für deutsches Recht

m. E.

meines Erachtens

MSchKrim

Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform

MüKo

Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch

m. w. N.

mit weiteren Nachweisen

NJW

Neue Juristische Wochenschrift

NK

Nomos Kommentar – Strafgesetzbuch

NStZ

Neue Zeitschrift für Strafrecht

OLG Oberlandesgericht PKS

Polizeiliche Kriminalstatistik

PKS IMK-Bericht Polizeiliche Kriminalstatistik im Kurzbericht PSB

Periodischer Sicherheitsbericht der Bundesregierung

RiStBV

Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren

Rn. Randnummer S. Seite SED

Sozialistische Einheitspartei Deutschlands

StGB

(deutsches) Strafgesetzbuch

StPO

(deutsche) Strafprozessordnung

StR

Strafsenat des Bundesgerichtshofs

StrRG Strafrechtsreformgesetz StrZ Strafzumessung StV

Zeitschrift Strafverteidiger

u. a.

unter anderem / und andere

18 Abkürzungsverzeichnis

UA. Urteilsabsatz UN United Nations v. von / vom vgl. vergleiche ZJJ Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe ZStW Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft z. T. zum Teil

Teil 1

Einleitung A. Einführung Strafrichter stehen immer häufiger vor der schwierigen Aufgabe, deutsches Strafrecht gegenüber Tätern anzuwenden, die aus einem fremden „Kulturkreis“ stammen oder dem hiesigen jedenfalls fremd geblieben sind.1 Angesichts der zunehmenden globalen Migrationsströme sowie binnenkultureller Veränderungen in der Gesellschaft2 – insbes. durch die Abnahme kirchlicher Bindung und die damit einhergehende Individualisierung religiö­ ser und weltanschaulicher Einstellungen bedingt3 – hat sich der Umgang mit fremdkulturell geprägten Tätern zu einer immer wichtigeren Aufgabe für die deutsche Strafrechtspflege entwickelt. Ein Blick in die einschlägigen Entscheidungen der letzten Dekaden belegt einen signifikanten Anstieg von Fällen mit fremd- bzw. multikulturellem Hintergrund.4 Diese Tatsachen sowie die daraus resultierenden Probleme wurden lange Zeit von der deutschen Kriminalpolitik und der Strafrechtswissenschaft vernachlässigt.5 In den letzten Jahren lassen sich jedoch immer intensivere Auseinandersetzungen mit der Thematik sowohl in der Politik als auch in der Rechtswissenschaft beobachten. Besonders öffentlichkeitswirksam diskutiert wurde 1  Vgl. zur Phänomenologie des Fremden ausführlich unten in Teil 2 dieser Arbeit. Neuerdings wird man auch solche Täter in die Betrachtung einbeziehen müssen, die dem hiesigen Kulturkreis einmal verbunden waren und ihm erst im Verlauf ihres Lebens „fremd“ geworden sind. Das betrifft ganz aktuell solche Personen, die religiös (häufig islamistisch) radikalisiert wurden, im Ausland terroristischen Organisationen (IS bzw. ISIS usw.) beigetreten und danach bzw. nach längerer Odyssee im Ausland wieder zurückgekehrt sind (um hier Straftaten zu begehen). 2  Vgl. zur Veränderung der Gesellschaftsstruktur unter kriminologischen Aspekten ausführlich unten in Teil 3 dieser Arbeit. 3  Vgl. Renzikowski, in: NJW 2014, S. 2539 ff. (2539). 4  Vgl. zu dieser Genese ausführlich Teil 4 dieser Arbeit; siehe auch Hilgendorf, in: StV 2014, S. 555 ff. (556 f.); Valerius, Kultur und Strafrecht, S. 38 ff. mit zahlreichen Fallbeispielen aus Straf-, Zivil- und Öffentlichem Recht. 5  Dazu jüngst wieder Hilgendorf, in: StV 2014, S. 555 ff. (555); in diesem Zusammenhang ist etwa auch ein Zitat aus Helmut Kohls Regierungserklärung vom 30.01.1991 bezeichnend: „Die Bundesrepublik Deutschland ist kein Einwanderungsland“. Vgl. dazu auch unten Teil 3 der Arbeit.

20

Teil 1: Einleitung

etwa neben der strafrechtlichen Behandlung der Knabenbeschneidung6 auch die weibliche Genitalverstümmelung7. Im Anschluss an die z. T. hitzig geführten Debatten wurden in „Schnellschussverfahren“8 neue Bestimmungen eingeführt, die beide Fälle in Hinblick auf die interkulturellen Bedürfnisse adäquat regeln sollten.9 Dabei besteht sowohl zu § 1631  d BGB (der „die Beschneidung“ von Knaben strafrechtlich rechtfertigen soll) als auch zu § 226  a StGB (der „die Genitalverstümmelung“ bei Mädchen und Frauen als Verbrechen einstuft) beachtlicher Diskussionsbedarf.10 Daneben werden zahlreiche weitere Änderungsvorschläge im materiellen (Straf-)Recht in Hinblick auf eine interkulturelle Beweglichkeit diskutiert.11 Zu benennen wären etwa die Abschaffung des Straftatbestands der Bekenntnisbeschimpfung (§ 166 StGB)12 oder eine mögliche Novellierung des erst 2011 eingeführten Tatbestands der Zwangsverheiratung (§ 237 StGB).13 Im September 2014 befasste sich nunmehr die Fachabteilung Strafrecht des 70. Deutschen Juristentages explizit mit der Thematik „Kultur, Religion, Strafrecht – Neue Herausforderungen in einer pluralistischen Gesellschaft“.14 Hörnle stellt in ihrem „Gutachten C“ zum 70. DJT einleitend die Frage, „ob infolge der kulturellen und religiösen Pluralisierung der in Deutschland lebenden Bevölkerung Änderungen im Strafrecht zu empfehlen sind“.15 Dabei 6  Vgl. LG Köln, in: NJW 2012, S. 2128; dazu etwa Jerouschek, in: NStZ 2008, S.  313 ff.; Exner, Sozialadäquanz im Strafrecht – Zur Knabenbeschneidung; Putzke, in: NJW 2008, S. 1568 ff. 7  Siehe dazu etwa Schramm, in: FS für Kühl, S. 603 ff. 8  Vgl. Hörnle, Kultur, Religion, Strafrecht – Neue Herausforderungen in einer pluralistischen Gesellschaft. Gutachten  C zum 70.  Deutschen Juristentag, C.  45, spricht diplomatisch von „großer Eile“, mit welcher § 1631 d geschaffen und verabschiedet wurde. 9  Dieses Vorhaben ist dem Gesetzgeber im Übrigen nicht gelungen. Siehe dazu auch Hilgendorf, in: StV 2014, S. 555 ff. (560 ff.); Hörnle, in: NJW-Beil. 2014, S. 34 ff. (35); a. A. Schramm, in: FS für Kühl, S. 603 ff. (624 f.). 10  Vgl. dazu etwa Hörnle, Kultur, Religion, Strafrecht – Neue Herausforderungen in einer pluralistischen Gesellschaft. Gutachten  C zum 70.  Deutschen Juristentag, C  53 ff. 11  Vgl. Hörnle, Kultur, Religion, Strafrecht – Neue Herausforderungen in einer pluralistischen Gesellschaft. Gutachten  C zum 70.  Deutschen Juristentag, C.  37 ff. 12  Der 70. DJT hat sich jüngst gegen die Abolition ausgesprochen, vgl. 70. Deutscher Juristentag Hannover 2014 – Beschlüsse, S. 8. 13  Vgl. dazu Hörnle, in: NJW-Beil. 2014, S. 34  ff. (34 f.); Hilgendorf, in: StV 2014, S. 555 ff. (562). 14  Vgl. Hörnle, in: NJW-Beil. 2014, 34 ff.; dies., Kultur, Religion, Strafrecht – Neue Herausforderungen in einer pluralistischen Gesellschaft. Gutachten C zum 70.  Deutschen Juristentag. 15  Vgl. Hörnle, Kultur, Religion, Strafrecht – Neue Herausforderungen in einer pluralistischen Gesellschaft. Gutachten  C zum 70.  Deutschen Juristentag, C  7.



B. Untersuchungsgegenstand21

beschäftigten den Juristentag nicht nur potentielle Änderungsempfehlungen am Gesetzestext selbst, sondern auch Fragen der Auslegung geltenden Rechts.16 Es geht damit pointiert um nichts Geringeres als die Frage nach der interkulturellen Geltungskraft und Beweglichkeit des nationalen Strafrechts.17 Einem besonderen Spannungsfeld in diesem Bereich widmet sich die vorliegende Arbeit.18 Sie wird versuchen, eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Thema „Zum Status fremdkultureller Wertvorstellungen bei der Strafzumessung“ zu bieten. Soweit ersichtlich, besteht in diesem Bereich eine beachtliche Forschungslücke.19 Diese jedenfalls partiell zu füllen, ist das Anliegen der vorliegenden Untersuchung. Dazu sind zunächst der Untersuchungsgegenstand sowie der Gang der Bearbeitung näher zu vertiefen.

B. Untersuchungsgegenstand Begeht eine erwachsene Person eine Straftat, wird sie nach den in §§ 38 ff. StGB festgelegten Grundsätzen bestraft.20 Für Jugendliche und Heranwachsende gelten die Vorschriften der §§ 3 ff., 105 JGG.21 Diese grundlegende Frage nach der Strafbarkeit sollte durch einen fremdkulturellen Hintergrund des Täters unberührt bleiben.22 Andernfalls würde man den Geltungsanspruch des deutschen Strafrechts in einer Art und Weise relativieren, die gegenüber den Gerechtigkeitserwartungen der Bevölkerung kaum zu rechtfertigen wäre.23 Nur innerhalb der engen Grenzen des § 17  S. 1  StGB kann sich etwas anderes ergeben. Diesbezüglich besteht weit weniger Uneinigkeit 16  Vgl. Hörnle, Kultur, Religion, Strafrecht – Neue Herausforderungen in einer pluralistischen Gesellschaft. Gutachten  C zum 70.  Deutschen Juristentag, ebenda. 17  Vgl. dazu schon 1993 Hassemer, in: Höffe, Gibt es ein interkulturelles Strafrecht?, S. 157 ff. 18  Vgl. etwa Hilgendorf, in: JZ 2009, S. 139 ff. (144), der die Strafzumessung in diesem Kontext als „großes Problemfeld“ ausweist. 19  Zu diesem Befund etwa Hilgendorf, in: JZ 2009, 139 ff. (144). Auch die für das Thema „Kultur und Strafrecht“ als grundlegend zu bezeichnende Arbeit von Valerius aus dem Jahre 2011 ist für den Bereich der Strafzumessung nicht geeignet, diese Lücke auszufüllen. Dasselbe gilt für das notwendigerweise im Umfang begrenzte Gutachten von Hörnle, Kultur, Religion, Strafrecht – Neue Herausforderungen in einer pluralistischen Gesellschaft. Gutachten  C zum 70.  Deutschen Juristentag. 20  Vgl. etwa Meier, in: JuS 2005, S. 769 ff. (769). 21  Vgl. Meier, in: JuS 2005, ebenda. 22  I. d. S. auch die Beschlüsse der Abteilung Strafrecht des 70. DJT zu Ziff. 1 und 2, vgl. 70.  Deutscher Juristentag Hannover 2014  – Beschlüsse, S. 8. 23  Vgl. zu diesem Problem schon Hassemer, in: Höffe, Gibt es ein interkulturelles Strafrecht?, S. 157 ff. (158).

22

Teil 1: Einleitung

als über die Frage, wie ein Täter zu bestrafen ist, der einen Anspruch auf Entlastung in Hinblick auf seine eigene Person, Biographie, Sozialisation oder Enkulturation – der sprichwörtlich „Fremde“ also – bei der Strafmaßbildung geltend macht.24 Die Frage, „wie“ in einem solchen Fall zu strafen ist, bereitet – erwartungsgemäß – mehr Schwierigkeiten, als die Frage nach dem „Ob“ des Strafens. Dafür scheinen im Wesentlichen zwei Grundprobleme verantwortlich zu sein. Das erste betrifft die besondere Phänomenologie fremdkulturell geprägter Fallkonstellationen und ist damit dem Grunde nach nicht juristischer Provenienz. Gleichwohl muss es in das juristische Korsett der Fragestellung integriert werden. Sowohl Tat als auch Täter können besondere, fremdkulturell bedingte „Eigenheiten“ aufweisen, die möglicherweise dazu geeignet sind, Schuld und begangenes Unrecht abweichend (milder oder härter) zu bewerten. Um diese Fragen im Einzelfall zu beantworten sind Wertungskriterien zur Ausfüllung von Schuld und Unrecht erforderlich.25 Dabei können die besonderen fremdkulturellen Eigenheiten aus der Sphäre des Täters eine Rolle spielen. Ähnliches gilt in Hinblick auf die besonderen Problemlagen der Prävention in diesem Kontext. Der wohl am häufigsten gebrauchte (Sammel‑)Begriff in Wissenschaft und Praxis diesbezüglich sind die fremdkulturellen Wertvorstellungen. Sie stehen stellvertretend für eine Vielzahl von Erscheinungen, die sich im Fahrwasser religiöser, weltanschaulicher und kultureller Eigenheiten in verschiedenen Fällen niedergeschlagen haben. Allerdings entziehen sie sich als fachfremder Terminus zunächst einer juristischen bzw. forensischen Fassbarkeit. Auf dieses Grundlagenproblem wird später noch ausführlich zurückzukommen sein.26 Deutlich wird jedoch bereits an dieser Stelle, dass der Umgang mit solchen Bereichen, die dem juristischen Sprach- und Methodengebrauch eher fremd sind, besondere Schwierigkeiten für Juristen bereithält. Es geht dabei vor allem um Materie aus den Verhaltens- und Sozialwissenschaften, der Ethnologie sowie den Kulturwissenschaften. Auch deshalb gilt es zu betonen, dass ohne eine interdisziplinäre Betrachtung der in Rede stehenden Phänomene jegliche solide Grundlage einer sachlichen Auseinandersetzung mit der Problematik fehlen würde. 24  In Anlehnung an Hassemer, in: Höffe, Gibt es ein interkulturelles Strafrecht, ebenda; vgl. auch Hörnle, Kultur, Religion, Strafrecht – Neue Herausforderungen in einer pluralistischen Gesellschaft. Gutachten  C zum 70.  Deutschen Juristentag, C  8; siehe zu besonderen Verteidigungsstrategien von Ausländern vor deutschen Gerichten auch Schmidt, Verteidigung von Ausländern, S. 81 ff. 25  Vgl. auch Hörnle, Kultur, Religion, Strafrecht – Neue Herausforderungen in einer pluralistischen Gesellschaft. Gutachten C zum 70. Deutschen Juristentag, C. 32. 26  Zum Versuch einer methodischen Erfassbarkeit der besonderen Phänomenologie des Fremdkulturellen, vgl. unten Teil 2, A. dieser Arbeit.



B. Untersuchungsgegenstand23

Bevor also zu einer juristischen Betrachtung übergegangen werden kann, stellen sich zunächst interdisziplinär gelagerte Grundlagenfragen, deren Beantwortung zur juristischen Erfassbarkeit und Um- bzw. Verwertbarkeit der relevanten Phänomene beitragen muss. Erst im Anschluss daran können die juristischen Bedürfnisse der Fragestellung adäquat aufgegriffen werden. Sie manifestieren sich dabei in einer Vielzahl von möglichen Fallfragen. Exemplarisch ließe sich etwa das Folgende anführen: Wie ist ein Fall strafzumessungsrechtlich zu beurteilen, bei dem der Täter glaubt, kein oder nur geringes Unrecht begangen zu haben, weil die Tat in seinem Heimatland strafrechtlich irrelevant oder bagatellmäßig ist? Wie könnte es sich auf das Strafmaß auswirken, dass ein Täter der Ansicht ist, bei der Tat einer Tradition oder einem religiösem Gebot gemäß gehandelt zu haben? Darf ein Tatrichter in einem Gerichtsbezirk besonders harte Strafen gegen Personen mit bestimmtem kulturellem Hintergrund verhängen, weil diese überproportional häufig auffällig werden? Wie wirkt es sich auf die Strafzumessung aus, wenn ein Täter nicht nur keinen Zugang zum deutschen Rechtssystem gefunden hat, sondern es kategorisch ablehnt und strafrechtlich relevante Situationen bspw. nach der Scharia oder dem Kanun regelt?27 Welche besonderen Erfordernisse sind in spezialpräventiver Hinsicht an einen Täter zu stellen, der kein Zugehörigkeitsgefühl für die Mehrheitsgesellschaft entwickelt hat? Wie ist ein Täter zu bestrafen, der nach erfolgter Radikalisierung in Deutschland in den Nahen Osten reist, um sich in einem „Terrorcamp“ an der Waffe ausbilden zu lassen, um dann wieder nach Deutschland zurück zu reisen, um hier Straftaten gegen (in seinen Augen) „Ungläubige“ zu verüben? Diese Fragen führen zum zweiten Grundproblem, dem Recht der Strafzumessung als solchem. Das vergleichsweise junge Strafzumessungsrecht leidet nach wie vor an einer gewissen Rückständigkeit, weil der Gesetzgeber hier erst spät tätig geworden ist.28 Strafzumessung galt lange Zeit als eine „primäre Sache tatrichterlichen Ermessens“.29 Eine Loslösung von diesem Dogma scheint auch nach dem Inkrafttreten des 1. StrRG nicht vollkommen gelungen zu sein.30 Dass seither die Ansicht vertreten wird, Strafzumessung sei konkrete Rechtsanwendung, ändert daran praktisch wenig.31 Eine be27  Für Aufsehen sorgte jüngst eine Gruppe von Salafisten in Wuppertal, die mit „Scharia Police“-Westen durch die Stadt patrouilierten und Passanten mit Verweis auf die Ge- und Verbote der Scharia u. a. am Eintritt in Diskotheken zu hindern versuchten. Vgl. etwa http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2014-09/schariapolizei-wuppertal-salafisten (07.09.2014). 28  Vgl. Zipf, in: Maurach/Gössel/Zipf, Strafrecht AT  II, § 62, Rn. 1, 6. 29  Vgl. Bruns, Das Recht der Strafzumessung, S. 1. 30  Siehe ausführlich dazu Zipf, in: Maurach/Gössel/Zipf, Strafrecht AT  II, § 63, Rn. 187 ff. 31  Siehe etwa Bruns, Das Recht der Strafzumessung, ebenda.

24

Teil 1: Einleitung

achtliche Meinung sieht in der Strafzumessung nunmehr einen Akt rechtlich gebundenen Ermessens.32 Der Wechsel in der Deklaration hat an den zahlreichen Grundproblemen jedoch wenig bewegt. Selbst die Befürworter der Strafzumessung als Rechtsanwendung müssen eingestehen, dass die Strafzumessung zahlreiche Besonderheiten aufweist, viele unbestimmte Rechtsbegriffe auszufüllen und allgemeine Wertabwägungen vorzunehmen sind, „bei denen die rechtliche Präzisierung naturgemäß schwächer ausgebildet ist“.33 Diese Argumente könnten freilich auch zur gegenteiligen Begründung herangezogen werden, nämlich, dass Strafzumessung aufgrund der zahlreichen Unwägbarkeiten und Besonderheiten zu weiten Teilen immer noch eine Ermessensfrage darstellt. Empirisch abgestützt lassen sich jedenfalls nach wie vor „erhebliche Strafungleichheiten“ feststellen.34 Das Strafzumessungsrecht leidet an mangelnder Durchnormierung und einer „extrem unterschiedlichen“ Strafzumessungspraxis.35 Den Status einer strukturellen Rechtsanwendung genießt es vornehmlich in der Wissenschaft, die Rechtspraxis bleibt häufig den alten Strukturen verbunden.36 Lokale Justizkulturen haben nicht selten mehr Einfluss auf die Strafmaßbildung als das schmale Regelungswerk des StGB.37 Die Grundlagenformel des § 46 I 1 StGB weist lediglich allgemein „die Schuld“ als Grundlage der Zumessung der Strafe aus. Dabei ist kaum ein Begriff derart umstritten wie die damit gemeinte Strafzumessungsschuld.38 Konkrete gesetzliche Vorgaben zur weiteren Ausgestaltung des Strafzumessungsvorgangs existieren kaum. Der Strafzumessungskatalog des § 46 II StGB ist nach ganz h. M. nicht abschließend, sondern lediglich exemplarisch.39 Das bedeutet, dass neben den normierten Umständen eine theoretisch unbegrenzte Anzahl weiterer Strafzumessungsumstände beim Vorgang der Strafzumessung eine Rolle spielen können. Etwaige Leitlinien zur Eingrenzung existieren nicht.40 Die herrschende Meinung begnügt sich diesbeZipf, in: Maurach/Gössel/Zipf, Strafrecht AT  II, § 63, Rn. 189 m. w. N. Zipf, in: Maurach/Gössel/Zipf, Strafrecht AT  II, § 63, Rn. 190. 34  Vgl. zu aktuellen Befunden etwa Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 502 ff. 35  Vgl. Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 481. 36  Das verwundert freilich insofern wenig, als dass dem Tatrichter derart mehr Freiheiten hinsichtlich der zahlreichen Wertungsfragen des Strafzumessungsvorgangs zustehen. Die Zunahme revisionsgerichtlicher Entscheidungen versucht dem jedoch seit Jahren entgegen zu wirken. 37  Vgl. dazu grundlegend Langer, Staatsanwälte und Richter; siehe auch Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 482. 38  Vgl. dazu ausführlich Teil 5, A. 39  Vgl. etwa Bruns, Das Recht der Strafzumessung, S. 144; Zipf, in: Maurach/ Gössel/Zipf, AT  2, § 63, Rn. 152. 40  Vgl. Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 572 f., auch bei Rn. 1274 ff. „Feststellung der strafzumessungserheblichen Umstände“ wird nicht näher erläutert, wie diese Umstände zu erheben sind. 32  Vgl. 33  Vgl.



B. Untersuchungsgegenstand25

züglich mit schmalen Hinweisen, wie sie etwa die präventive Vereinigungstheorie liefert, wonach alle Gesichtspunkte strafzumessungsrelevant sind, die eine Aussage über die Schuld oder die Präventionsbedürftigkeit zulassen.41 Das Problem verschärft sich deutlich, wenn man für die jeweiligen Umstände die notwendigen realen Strafzumessungstatsachen zu bestimmen sucht.42 Diese Methode der Gewinnung von strafzumessungsrechtlich relevantem Material hat in praxi einerseits dazu geführt, dass Tatrichter immer neue, z. T. abstruse Strafzumessungsumstände bzw. -faktoren entwickelt haben. Andererseits werden wichtige Strafzumessungstatsachen und -umstände nicht immer berücksichtigt, übersehen oder ignoriert. Dass Tatrichter nicht verpflichtet sind, alle für die Strafzumessung relevanten Erwägungen im Urteil anzugeben sowie eine nähere rechtliche Bewertung bestimmter Erwägungen vorzunehmen, führt den gesamten Strafzumessungsvorgang zuweilen ad absurdum.43 Eine Aufzählung aller Problemfelder der Strafzumessung im Einzelnen ist weder möglich noch zweckmäßig. Der Blick sollte bereits hinreichend dafür sensibilisiert sein, dass hier nach wie vor erheblicher Diskussionsbedarf besteht. Ein konkreter Punkt, der in dieser Arbeit interessieren soll, bestimmt den zweiten Teil des Untersuchungsgegenstandes. Es geht damit um ein Kernproblem von Strafzumessungswissenschaft und -praxis, nämlich die Frage nach Ermittlung und Bewertung von Strafzumessungstatsachen sowie deren Einbettung in ein nachvollziehbares System von Strafzumessungsumständen. Die Frage nach einer möglicherweise unzulässigen Individualisierung in der Vorgehensweise wird sich dabei ebenso aufdrängen, wie die Frage nach dem generellen Leistungsvermögen der juristischen Strafzumessungslehre.44 Diese Akzentuierung der strafzumessungsrechtlichen Perspektive ist deshalb hervorzuheben, weil fremdkulturelle Hintergründe im Einzelfall besondere Schwierigkeiten bei der Ermittlung und Bewertung dieser spezifischen Strafzumessungsumstände und -tatsachen aufgewiesen haben, wie die oben angeführten Beispiele schon prima facie nahe legen. Das Gesetz schreibt ihre Berücksichtigung zwar nicht vor, schließt sie jedoch auch nicht aus.45 Trotz aller Regeln scheint immer wieder Regellosigkeit zu herrschen.46 Die 41  Vgl. Meier, Strafrechtliche Sanktionen, S. 163; so auch bei Bruns, Das Recht der Strafzumessung, S. 144; Zipf, in: Maurach/Gössel/Zipf, AT  2, § 63, Rn. 140. 42  Siehe dazu etwa Zipf, in: Maurach/Gössel/Zipf, AT  2, § 63, Rn. 140 ff.; zur notwendigen begrifflichen Differenzierung, Vgl. Teil 2, C., III., 5. 43  Vgl. dazu ausführlich unten in Teil 4 und insbes. Teil 5, B. dieser Arbeit. 44  Zu letzterem, siehe etwa Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 761. 45  Vgl. auch Hörnle, Kultur, Religion, Strafrecht – Neue Herausforderungen in einer pluralistischen Gesellschaft. Gutachten C zum 70. Deutschen Juristentag, C. 80. 46  In Anlehnung an die Formulierung bei Streng, Strafrechtliche Sanktionen, ebenda.

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Teil 1: Einleitung

altbekannten Muster versagen in solchen Fällen, und der Tatrichter steht vor der Aufgabe, aus dem Nichts heraus rational zweckmäßige Erwägungen für einen Fall zu entwickeln, der ihm oder einem Kollegen so noch nicht begegnet ist, der in keinem Kommentar auftaucht und der ihn vor allem mit einer interdisziplinären Thematik konfrontiert, die er kaum noch allein überblicken, geschweige denn durchdringen kann. Es vermag daher nicht verwundern, dass sich in der Rechtsprechung auf den ersten Blick keine einheitliche Linie bei Fällen mit fremdkulturellem Hintergrund ausmachen lässt.47

C. Untersuchungsmethode und -verlauf Um den ersten Teil des Untersuchungsgegenstandes zu betrachten, muss zunächst das juristische Terrain verlassen werden. Fremdkulturelle Wertvorstellungen sind kein Forschungsgegenstand der rechtswissenschaftlichen Disziplin. Andere Wissenschaften, wie die Kulturwissenschaften oder die Verhaltenswissenschaften, – darauf wurde bereits hingewiesen – beschäftigen sich jedoch originär mit diesen Phänomenen.48 Es stellt sich damit die Frage, ob es mit Hilfe von interdisziplinär gewonnenen Erkenntnissen über fremdkulturelle Wertvorstellungen möglich ist, das Phänomen derart zu charakterisieren, dass es rechtswissenschaftlich nutzbar gemacht werden kann. In diesem Kontext wird die Kriminologie zuvörderst für den Bereich der präventiven Aufgaben der Strafzumessung in diesen Fällen Erkenntnisse beisteuern können. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob für die individuelle Fallanalyse in Hinblick auf die Besonderheiten des fremdkulturell geprägten Täters kriminologisches Wissen und Methoden einen Erkenntnisgewinn über Fragen der Prävention hinaus erwarten lassen könnten. Hier wäre vor allem an eine Anreicherung der Ausführungen durch die aus der Angewandten Kriminologie bekannte Methode der idealtypisch-vergleichenden Einzelfallanalyse (MIVEA) zu denken.49 Der zweite Teil des Untersuchungsgegenstandes umfasst zunächst die Darstellung einer Entscheidungsgenese von Fällen mit fremdkulturellem Einschlag. In diesem Rahmen soll untersucht werden, wie die Rechtsprechung derartige Fälle in der Vergangenheit judiziert hat und gegenwärtig noch judiziert. Der entwicklungsgeschichtliche Zusammenhang zwischen bestimmten Entscheidungen soll dabei das Aufzeigen von Rechtsprechungslinien ermöglichen und damit das Zuordnen des Entscheidungsmaterials zu 47  Vgl.

dazu ausführlich unten Teil 4 dieser Arbeit. Notwendigkeit der interdisziplinären Arbeit in diesem Bereich, vgl. jüngst Hilgendorf, in: StV 2014, S. 555 ff. (556). 49  Vgl. zu MIVEA ausführlich, Bock, Kriminologie, Rn. 293 ff. 48  Zur



C. Untersuchungsmethode und -verlauf

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normativen Gesichtspunkten der Strafzumessung erlauben. Als wesentliche Ziele dieses Abschnitts der Arbeit lassen sich demgemäß sowohl die Rezeption als auch die Konkretisierung der jeweiligen Rechtsprechungsansichten ausmachen. Dabei kann es freilich nicht schwerpunktmäßig um das Bedienen quantitativer Belange einer solchen Aufgabenstellung gehen. Das ist in diesem Rahmen weder zu leisten noch zweckmäßig. Vielmehr soll es um normativ-wertende Analysen von solchen Entscheidungen gehen, die sich im Vorfeld durch problemakzentuierende Analysefragen anvisieren ließen. Vor diesem Hintergrund sind die entsprechenden Entscheidungen auch unter juristischen und interdisziplinären Gesichtspunkten auszuwerten. Ein vergleichbarer Ansatz lässt sich auch bei Untersuchungen mit gewissen Schnittmengen zur vorliegenden Arbeit nicht ausmachen.50 Näheres zur Methode sowie zur Akzentuierung der Analysefragen ist den entsprechenden Abschnitten zu entnehmen.51 Im Anschluss daran sind eigene Empfehlungen anzustellen, wie die verschiedenen Aspekte fremdkultureller Fallkonstellationen in der Strafzumessung handhabbar erscheinen. Dabei gilt es mit Hassemer zu beachten, dass das Strafrecht zu den am stärksten kulturell geprägten Rechtsgebieten natio­ naler Rechtsordnungen zählt.52 Vor diesem Hintergrund ist es erforderlich, die gegenwärtige Konzeption des Strafzumessungsrechts auf ihre interkulturelle Beweglichkeit bzw. Geltungskraft hin zu überprüfen. Die Ausleuchtung dieser ganz grundlegenden Problematik dürfte die näheren Möglichkeiten der Behandlung fremdkultureller Wertvorstellungen in der Strafzumessung weitgehend determinieren. Anschließend müssen die aus der Rechtsprechungsgenese gewonnenen Erkenntnisse unter systematisch-dogmatischen Gesichtspunkten analysiert und kritisch diskutiert werden. Soweit es dabei erforderlich ist, werden die Ausführungen dabei durch interdisziplinäre Aspekte angereichert, um abschließend entsprechend konkrete Vorschläge einer Handhabung der jeweiligen Umstände zu entwerfen. Am Ende der Untersuchung wird sich zeigen, ob eine lex ferenda für das Strafzumessungsrecht zu fordern ist53 und ob die Rechtsprechung den Herausforderungen, vor die sie sich angesichts der phänomenologischen Gemengelage fremd- und multikultureller Fallkonstellationen gestellt sieht, gerecht werden kann. 50  Vgl. etwa Valerius, Kultur und Strafrecht, S. 286 ff.; siehe auch Hörnle, Kultur, Religion, Strafrecht – Neue Herausforderungen in einer pluralistischen Gesellschaft. Gutachten  C zum 70.  Deutschen Juristentag, C.  80 ff. 51  Vgl. unten, Teil 2, C., IV., Teil 3, B., IV. sowie Teil 4 zu Beginn. 52  Vgl. schon Hassemer, in: Höffe, Gibt es ein interkulturelles Strafrecht?, S. 157 ff. (157). 53  So etwa bei Erbil, Toleranz für Ehrenmörder?, S. 81.

Teil 2

Interdisziplinäre Grundlagen Dem Zugang zur thematischen Breite des Untersuchungsgegenstandes dient zunächst eine klarstellende Konkretisierung der wichtigsten Grundbegriffe der Arbeit. Im Folgenden sollen diesbezüglich drei Kategorien geschieden werden. Zunächst finden sich im semantischen Kontext zu fremdkulturellen Wertvorstellungen interdisziplinär geprägte Begriffe. Diese ganz grundsätzliche Distinktion ist für das Verständnis wesentlicher Abschnitte der Arbeit unerlässlich. Die Kultur, das bzw. der Fremde und die Wertvorstellungen sollen in diesem Abschnitt die zu untersuchende interdisziplinäre Trias bilden, um den Grundlagenbegriff der fremdkulturellen Wertvorstellungen als solchen auszuleuchten. Das Herausstellungsmerkmal dieser interdisziplinären Begriffe ist ihre Verwendung in mehreren wissenschaftlichen Disziplinen. Explizit seien an dieser Stelle die Verhaltenswissenschaften, insbes. die Soziologie1 und die Psychologie2, erwähnt. Auf sie wird daher ein besonderes und gleichsam auf Eingrenzung bedachtes Augenmerk gerichtet werden müssen, wenn sie für juristische Überlegungen fruchtbar gemacht werden sollen. Dabei erscheint es misslich, dass die hier interessierenden Begrifflichkeiten in den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen – z. T. sogar in ein und derselben Wissenschaft – unterschiedlich verwendet und verstanden werden.3 Aus Sicht der Soziologie etwa hängt diese Unschärfe bei der Begriffsbildung mit den Bedürfnissen verschiedener Theorien zusammen.4 Dass die technische Verwendung dann u. U. noch von der Alltagssprache abweicht, kann zu weiteren Friktionen im Sprachverständnis führen.5 Gleichwohl stellen sie für die vorliegende Arbeit – es wurde 1  Zu den Schnittmengen von Rechtswissenschaft und Soziologie allgemein, vgl. etwa Lautmann, in: Grimm, Rechtswissenschaft und Nachbarwissenschaften I, S. 35 ff. 2  Zu den Schnittmengen von Strafrecht und Psychologie allgemein, vgl. etwa Kaiser, in: Grimm, Rechtswissenschaft und Nachbarwissenschaften I, S. 195 ff. 3  Vgl. für den „Kulturbegriff“ ausführlich unten bei A., I., 1.; siehe auch Hauck, Kultur, S.  1 ff. 4  Vgl. Lautmann, in: Grimm, Rechtswissenschaft und Nachbarwissenschaften I, S.  35 ff. (35). 5  Für den Bereich der Soziologie etwa Lautmann, in: Grimm, Rechtswissenschaft und Nachbarwissenschaften I, ebenda; diese Unschärfen bekommen eine weitere



Teil 2: Interdisziplinäre Grundlagen29

eingangs darauf hingewiesen – einen unverzichtbaren Bestandteil dar. Deshalb soll dieser Abschnitt der Arbeit ihrem Primat verpflichtet sein und stellt somit das sprachliche Fundament für einen rechtlich orientierten Umgang mit der interdisziplinären Phänomenologie dar. Die zweite relevante Kategorie steht in einem engen Kontext mit dieser Phänomenologie, welche sich in Hinblick auf die Bedürfnisse der Arbeit auch durch eine besondere personelle Komponente auszeichnet. Es geht dabei gleichsam um einen Teilaspekt des „Fremdkulturellen“, den es in besonderem Maße auszuleuchten gilt. Bekanntermaßen stehen der Täter und seine Tat im Fokus der Strafzumessung. Man spricht insoweit vom „Täterprinzip“ als Eigenart des Strafzumessungsrechts.6 Das lässt sich schon prima facie dem Wortlaut von § 46  StGB an verschiedenen Stellen entnehmen. Daneben hat die Rechtsprechung in der Vergangenheit immer wieder den Zusammenhang zwischen Tat, Täter und einer fremdkulturellen Herkunft hergestellt.7 Das hat jüngst wieder Hörnle mit einer knappen, aber gleichwohl scharfen Kritik an der Rechtsprechungspraxis bemerkt.8 Geht man damit von einer Interdependenzrelation zwischen den Besonderheiten von Täter und Tat auf der einen und der fremdkulturellen Phänomenologie auf der anderen Seite aus, erscheint es nicht nur zweckmäßig, sondern notwendig, die Täter auch in Hinblick auf die Tatgenese systematisch erfassen zu können. In diesem Abschnitt soll daher auch das Notwendige zur rechtlichen und tatsächlichen Stellung der Person des „Fremden“ näher betrachtet werden. Pointiert ließe sich formulieren, dass die zweite wesentliche Kategorie den formellen wie informellen persönlichen Anwendungsbereich des phänomenologisch Interessierenden beschreiben soll. Schließlich bedarf es als dritter Grundlagenkategorie der Erläuterung der im Kontext der Arbeit wichtigen strafzumessungsrechtlichen Grundzüge. Das betrifft zunächst die wesentlichen Grundbegriffe des Strafzumessungsrechts, denen trotz ihrer originären Zugehörigkeit zum rechtswissenschaft­ lichen Sprachgebrauch z. T. der Makel des unscharfen und uneinheitlichen Gebrauchs anhaftet.9 Sie dabei in den Grundlagenteil aufzunehmen, empfiehlt sich deshalb, weil sie auch außerhalb des eigentlichen strafzumessungsrechtlichen Teils der Arbeit10 immer wieder bemüht werden müssen. Dimension, wenn man darüber hinaus noch die Verzerrungen zu berücksichtigen versucht, die sich aus der Verwendung von Begriffen in unterschiedlichen Sprachen ergeben, vgl. dazu etwa Wierzbicka, Understanding Cultures through Their Key Words, S.  5 ff. 6  Vgl. Bruns, Das Recht der Strafzumessung, S. 144. 7  Vgl. dazu ausführlich unten Teil 4 dieser Arbeit. 8  Vgl. Hörnle, in: NJW-Beil. 2014, 34 ff. (36). 9  Vgl. dazu schon Bruns, Das Recht der Strafzumessung, S. 4 m. w. N. 10  Vgl. dazu unten Teil 4.

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Teil 2: Interdisziplinäre Grundlagen

Daneben müssen die zum Verständnis notwendigen methodischen Grundlagen der Strafzumessung dargestellt werden.

A. Interdisziplinäre Begriffsbestimmungen I. Fremdkulturelle Wertvorstellungen Zu Beginn dieses Abschnitts der Arbeit steht damit zunächst der Versuch, den Begriff der fremdkulturellen Wertvorstellungen mit Rücksicht auf die Bedürfnisse der Arbeit als Grundlagenbegriff zu konturieren. Dazu empfiehlt es sich, den Begriff entsprechend seiner Lesart in seinen einzelnen Bestandteilen zu untersuchen. Es geht damit zunächst um die Kultur, dann um das Fremde und schließlich um Werte und Wertvorstellungen. Der Kulturbegriff befindet sich in einem untrennbaren semantischen Kontext zum Grundlagenbegriff als solchem. Zahlreiche Beiträge aus der Literatur der jüngeren Zeit gehen von dessen herausgestellter Relevanz für verschiedene strafrechtliche Fragestellungen aus.11 Ob sich diese Akzentuierung als opportun erweist, muss sich freilich noch zeigen. Gleichwohl versteht sich dieser Teil der Arbeit nicht als kulturtheoretische Abhandlung auf der Suche nach einem juristisch brauchbaren Kulturbegriff. Vielmehr stellt sich die Frage, welche Bedeutung und Merkmale – gemessen an den Aufgaben der Strafrechtswissenschaft und des Strafrechts, insbesondere des Strafzumessungsrechts – diese in Rede stehenden Begrifflichkeiten aufweisen bzw. aufweisen können. Möllers gibt zwar zu bedenken, dass die kulturwissenschaftliche Diskussion immer mitzuführen sei, wenn es um den „schwierigen Kulturbegriff“ und seine Bedeutung für das Recht geht.12 Sinn und Zweck der Untersuchung des Kulturbegriffs muss es aber sein, maßgebliche Charakteristika von Kultur und damit – so jedenfalls die Erwartung – auch kulturellen Wertvorstellungen herauszuarbeiten, welche für die juristische Praxis der Strafzumessung in den einschlägigen Fällen von Bedeutung sein können. Freilich drängen sich dabei Bedenken auf, wie konturierbar diese vielschichtigen Begriffe überhaupt sein können und ob das ausgegebene Ziel der juristischen Brauchbarmachung erreicht werden kann. Am Ende dieses Abschnittes wird es daher kaum das Ergebnis sein können, abschließende und den Anspruch auf Vollständigkeit erhebende Definitionen 11  Vgl. etwa Valerius, Kultur und Strafrecht; ders., in: JA 2010, 481 ff.; ders., in: Hilgendorf/Weitzel, Der Strafgedanke in seiner historischen Entwicklung, S. 217 ff., der Beitrag lautet i.Ü. „Kulturelle Gegensätze und nationales Strafrecht“; Hilgendorf, in: JZ 2009, S. 139; Hörnle, in: NJW-Beil. 2014, 34 ff. (36). 12  Möllers, in: Dreier/Hilgendorf (Hrsg.), Kulturelle Identität als Grund und Grenze des Rechts, S. 223 ff. (224).



A. Interdisziplinäre Begriffsbestimmungen31

herzuleiten. Ein solcher Versuch wäre in Anbetracht der mannigfachen Interpretationsmöglichkeiten schwerlich zu leisten.13 Jedoch soll aufgrund prägnanter Merkmale ein möglichst umfassendes Verständnis für das Phänomen erarbeitet werden, welches die für die Schnittmenge von (fremd‑) kulturellen Wertvorstellungen und Strafzumessungsrecht erheblichen Gesichtspunkte beinhaltet. Im Anschluss daran wird entsprechend seiner Lesart der Begriff der „fremdkulturellen Wertvorstellungen“ in seinen weiteren Bestandteilen zu untersuchen sein. Es muss mithin eruiert werden, was „fremd“ in diesem Kontext bedeutet und was „Werte“ bzw. „Wertvorstellungen“ sind. Gerade diese beiden Segmente des Grundlagenbegriffs wurden bislang vergleichsweise achtlos in der strafrechtswissenschaftlichen Diskussion um fremdkulturelle Täter und Taten behandelt14, obwohl sie gerade in jüngerer Zeit auffallend häufig expressis verbis von den Gerichten bemüht werden.15 Ob man somit zu Recht von der Präpotenz des Kulturbegriffs in diesem Kontext ausgehen darf, soll sich noch zeigen. Insofern wäre es wünschenswert, wenn in der Diskussion auch der Blick in andere Geistes- und die Sozialwissenschaften erhellend zur Konturierung der phänomenologischen Gemengelage unter Einschluss der juristischen Sichtweisen beitragen könnte.16 Der Grund, warum sich hier nicht ausschließlich auf die Soziologie als Bezugswissenschaft konzentriert werden 13  In diesem Sinne auch Möllers, in: Dreier/Hilgendorf (Hrsg.), Kulturelle Identität als Grund und Grenze des Rechts, S. 223 ff. (223); ders., aaO, S. 228 konstatiert: „Um den Begriff der Kultur hat sich seit den sechziger Jahren eine kaum mehr überschaubare wissenschaftliche Diskussion entwickelt.“; Hauck, Kultur, S. 7, weist sogleich im ersten Satz seiner Monographie darauf hin, dass in den Sozialwissenschaften „sehr Verschiedenes“ unter Kultur verstanden wird. Ebenda räumt Hauck auch die Unmöglichkeit eines präzisen Definitionsversuches ein; für Zimmermann, in: Dreier/Hilgendorf (Hrsg.), Kulturelle Identität als Grund und Grenze des Rechts, S. 29 ff. (29), scheint die nähere Bestimmung des Kulturbegriffs sogar unmöglich zu sein. 14  Vgl. allgemein zu Werte und das Recht, jüngst etwa, Wapler, Werte und das Recht. 15  Vgl. etwa BGH, Beschluss v. 18.08.2009  – 1 StR 351/09, S. 3; dazu auch BGH, in: NStZ 2009, S. 689; LG Stuttgart, Urteil v. 09.03.2009  – 16 KLs 112 Js 69301/08, S. 17; BGH, Urteil v. 0102.2007  – 4 StR 514/06, S. 7; BGH, Urteil v. 29.08.2001  – 2 StR 276/01, S. 6. 16  Exemplarisch für die Soziologie, Hauck, Kultur; Ostendorf, B., in: Moebius/ Quadflieg (Hrsg.), Kultur. Theorien der Gegenwart, S. 115 ff. (113 f.), zu den durch Huntington verursachten Kontroversen um den Kulturbegriff; für die Verbindung der Rechtswissenschaft und dem Sozialwissenschaften in diesem Kontext auch: Möllers, in: Dreier/Hilgendorf (Hrsg.), Kulturelle Identität als Grund und Grenze des Rechts, S. 223 ff. (224), auf S. 226 weist er auf die „in den letzten Jahrzehnten stark intensivierte“ wissenschaftliche Diskussion zum Kulturbegriff hin.

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Teil 2: Interdisziplinäre Grundlagen

kann – thematisch läge es durchaus nahe –, ist letztlich die Tatsache, dass es bei der vorliegenden Thematik um mehr als nur zwei „Sinnsysteme“ geht. Fremdkulturelle Wertvorstellungen sind Forschungsgegenstand verschiedenster wissenschaftlicher Disziplinen, welche sich im Gesamtbild als Kulturtheorien verstehen lassen können. Verständnis und Methode aus verschiedenen Disziplinen sollen einen erhellenden Beitrag zum interdisziplinären Diskurs der Arbeit leisten. 1. Der Kulturbegriff in den Geistes- und Sozialwissenschaften Demgemäß wird im Folgenden dem Kulturbegriff im interdisziplinären Kontext nachzugehen sein. Historische, sprachliche und systematische Aspekte sollen zur Verdichtung dieses vermeintlichen „Schlüsselbegriffs“ beitragen. Ursprünglich verwies „Kultur“ auf einen von Menschen geschaffenen Gegensatz zum Naturzustand.17 Gehlen beschreibt sie als des Menschen „zweite Natur“.18 Etymologisch vom lateinischen „cultura“ stammend, wurden darunter zunächst der Landbau und die Pflege von Ackerbau und Viehzucht gefasst.19 Im 17.  Jh. wurde der Begriff auf das mittellateinische „cultura animi“ übertragen und damit als die „Erziehung zum geselligen Leben, zur Kenntnis der freien Künste und zum ehrbaren Leben“ verstanden.20 Diese Interpretation wird als normativer Kulturbegriff bezeichnet, dessen Ausläufer bis ins erste Drittel des 20. Jhs. hineinreichen.21 Mit ihm wird eine ideale und für jedermann erstrebenswerte Lebensform verbunden.22 Erst mit der Übernahme in die Volkssprache weitete sich die Bedeutung auf die Gesamtheit aller menschlichen Errungenschaften aus. Im 18. Jh. wurde der Kulturbegriff noch synonym mit dem Zivilisationsbegriff im Sinne geistigen und materiellen Fortschritts verwendet, bis sich der Sprachgebrauch in der Folgezeit zu einem Antonym zum französischen „civilisation“ verschoben hat.23 Johann Gottfried Herder war einer der ers17  Vgl. Gehlen, Der Mensch, S. 38; Marschall, in: Hansen (Hrsg.), Kulturbegriff und Methode, S. 17 ff.; Hörnle, in: Dreier/Hilgendorf (Hrsg.), Kulturelle Identität als Grund und Grenze des Rechts, S. 315 ff. (315). 18  Vgl. Gehlen, Der Mensch, ebenda. 19  Vgl. Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Artikel „Kultur“. 20  Vgl. Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, ebenda. 21  Vgl. Reckwitz, Unscharfe Grenzen, S. 20. 22  Vgl. Reckwitz, Unscharfe Grenzen, ebenda. 23  Vgl. Hörnle, in: Dreier/Hilgendorf (Hrsg.), Kulturelle Identität als Grund und Grenze des Rechts, S. 315 ff. (315); zur sprachlich divergierenden Entwicklung des



A. Interdisziplinäre Begriffsbestimmungen33

ten Philosophen seiner Zeit, der mit dem Kulturbegriff im deutschsprachigen Raum in der zweiten Hälfte des 18. Jhs. Begriffe wie „Volk“, „Sprache“ und „Nation“ verknüpfte und ihn so sozialwissenschaftlich nutzbar machte.24 Er gilt damit als Wegbereiter für einen totalitätsorientierten Kulturbegriff, welcher „Kultur“ als kontextualisiertes und historisiertes Konzept versteht, wenn er formuliert: „Die Kultur eines Volkes ist die Blüte seines Daseins, mit welcher es sich zwar angenehm, aber hinfällig offenbaret. Wie der Mensch, der auf die Welt kommt, nichts weiß – er muß, was er wissen will, lernen – so lernt ein rohes Volk durch Übung für sich oder durch Umgang mit anderen. Nun aber hat jede Art der menschlichen Kenntnisse ihren eigenen Kreis, d. i. ihre Natur, Zeit, Stelle und Lebensperiode“.25 Kultur wird damit zu einem normativen Konzept, welches sich zum Vergleichen unterschiedlicher Kulturen eignet.26 Gegen Ende des 19. Jhs. wurde der Kulturbegriff von vielen Historikern und Philosophen als Grundlage zur Charakterisierung einer Gesellschaft geschätzt.27 Diesem Ansatz lag die damalige Vorstellung zu Grunde, dass jedem Kulturraum eine gewisse Homogenität inhärent sei, bezogen auf ein religiöses, philosophisches und ästhetisches Fundament.28 Dieser Zugriff ist freilich als Konzept der geistigen Eliten der westlichen Zivilisationen zu verstehen.29 Er wurde als „Hochkultur“, im Unterschied zu der Kultur in den unteren Schichten der Gesellschaft, begriffen.30 Das gilt es insoweit hervorzuheben, als damit bereits zu jener Zeit dem Kulturbegriff die Annahme einer binnenkulturellen Vielfalt einer Gesellschaft zugrunde lag. Die Pluralität von Gesellschaften ist somit kein originäres Phänomen unserer Zeit. Dessen ungeachtet wurde der Kulturbegriff im ausgehenden 19. Jh. – vor allem in den USA31 – von anthropologischen Strömungen beeinflusst32 und sollte fortan nicht nur einen Ausdruck zur Beschreibung gemeinsamer Werte und Ideen darstellen.33 Hierauf folgend setzte in den 1920er Jahren, Kulturbegriffs außerhalb Deutschlands („culture“ vs. „civilization“), vgl. etwa Huntington, Kampf der Kulturen, S. 50 ff. 24  Nach Hauck, Kultur, S. 20. 25  Herder, zitiert in: Reckwitz, Unscharfe Grenzen, S. 22. 26  Vgl. Reckwitz, Unscharfe Grenzen, ebenda. 27  Vgl. Smelser, in: Münch/Smelser, Theory of Culture, S. 3 ff. (4). 28  Vgl. Smelser, in: Münch/Smelser, Theory of Culture, ebenda. 29  Vgl. Smelser, in: Münch/Smelser, Theory of Culture, ebenda. 30  Vgl. Smelser, in: Münch/Smelser, Theory of Culture, ebenda. 31  Zur amerikanischen Cultural Anthropology, siehe Hauck, Kultur, S. 63 ff.; in Deutschland hingegen war der Kulturbegriff in seiner Weiterentwicklung zu Beginn des 20. Jhs. stark rassistisch geprägt, vgl. Hauck, Kultur, S. 63. 32  Vgl. Reckwitz, Unscharfe Grenzen, S. 22. 33  Vgl. Smelser, in: Münch/Smelser, Theory of Culture, ebenda.

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Teil 2: Interdisziplinäre Grundlagen

insbes. in der amerikanischen Kulturanthropologie, eine „Trendwende“ ein, welche in zahllosen Definitionsversuchen und Begriffskonturierungen gipfelte.34 Exemplarisch für diese Phase der „Definitionsbesessenheit“35 einer ganzen Zunft definierte Taylor Kultur als die Gesamtheit von Wissen, Glaube, Kunst, Moral, Recht und Bräuchen sowie aller anderen Fähigkeiten und Gewohnheiten, die der Mensch als Teil der Gesellschaft erlangt bzw. geschaffen hat.36 Von Relevanz ist diese Entwicklung im Kulturverständnis, welche sich im „Fahrwasser“ des oben bereits erwähnten totalitätsorientierten Kulturbegriffs bewegt, insoweit, dass im Unterschied zum normativen Kulturbegriff in der neuen Distinktion nunmehr ganze Lebensformen von Gemeinschaften erfasst werden.37 Kultur ist nun nicht mehr nur das Elitäre und Bürgerliche, sondern auch ein Konzept der Anerkennung der Verschiedenartigkeit von Kulturen.38 Dieses Element scheint für das Verständnis von „Kultur“ im 21. Jh. in Anbetracht der Diversitäten im kulturellen Bereich unverzichtbar. Es kommt heute – in Anlehnung an das Saul Bellow zugeschriebene Zitat – beispielhaft nicht mehr darauf an, ob die Zulus einen Tolstoi hervorgebracht haben oder nicht.39 Jede Kultur kann als solche anerkannt, beschrieben und somit von anderen kulturellen Lebensformen abgegrenzt werden. Im 20. Jh. hat dieser Aspekt der Differenzierung zwischen andersartigen Kulturen zur Herausbildung eines neuen Zugriffs auf das Kulturkonzept, dem sog. differenztheoretischen Ansatz, geführt.40 Auf dessen Bedeutung für die Renaissance des Kulturbegriffs im 21. Jh. über die kulturwissenschaftlichen Grenzen hinaus wird noch zurückzukommen sein. In der Weimarer Zeit vollzog sich im deutschsprachigen Raum ein Paradigmenwechsel in der kulturwissenschaftlichen Diskussion, welcher zu einer Ablösung theologisch orientierter Werttheorien führte.41 Auf dieses Säkulum ist auch die Entstehung des südwestdeutschen Neukantianismus zurückzuführen, in welchem die Begriffe „Kultur“ und „Werte“ charakteristisch Hauck, Kultur, S. 90 ff. bei Hauck, Kultur, S. 93. 36  Definition von Taylor, bei Smelser, in: Münch/Smelser, Theory of Culture, ebenda. 37  Vgl. Reckwitz, Unscharfe Grenzen, S. 15 ff. (23). 38  Vgl. Reckwitz, Unscharfe Grenzen, ebenda. 39  In Anlehnung an das Saul Bellow zugeschriebene Zitat, bei Taylor, Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, S. 33, 69, welches bis heute  – wenngleich dessen Provenienz nicht sicher geklärt ist – als Ausdruck vergangener europäischer Arroganz im Umgang mit anderen Kulturen gilt. 40  Vgl. Reckwitz, Unscharfe Grenzen, S. 20, 24 ff.; siehe auch Feldmann, in: Alvardo Leyton/Erchinger (Hrsg.), Identität und Unterschied, S. 59 ff. 41  Vgl. Schulz, in: Brackert/Wefelmeyer (Hrsg.), Kultur  – Bestimmung im 20. Jahrhundert, S. 132 ff. (132). 34  Vgl.

35  Begriff



A. Interdisziplinäre Begriffsbestimmungen35

kombiniert wurden.42 Aus dieser Strömung ist es Vertretern wie Gustav Radbruch oder Max Ernst Mayer zu verdanken, dass dem Kulturbegriff „eine prominente Bedeutung in der Strafrechtswissenschaft“ verschafft werden konnte.43 1912 etwa prophezeite Radbruch dem Kulturbegriff „im philosophischen System der kommenden Tage eine zentrale Stellung“.44 Die historische Methodenlehre, die Ethik sowie die Rechtsphilosophie würden sich an ihm orientieren wollen.45 Tatsächlich aber taucht der Kulturbegriff in strafrechtlichen Veröffentlichungen nach dem Zweiten Weltkrieg nur noch selten auf, bis er dann in den siebziger Jahren des 20. Jhs. nahezu ganz aus der strafrechtswissenschaftlichen Diskussion verschwindet.46 Der Blick in die Rechtspraxis der zweiten Hälfte des 20. Jhs. zeigt hingegen, dass der Kulturbegriff insbesondere beim Mordmerkmal der niederen Beweggründe und der Strafzumessung nach wie vor eine gewisse Konjunktur aufwies. Insoweit konnte sich das Reaktionsbedürfnis des praktischen Strafrechts nicht vor den gesellschaftlichen Entwicklungen verschließen.47 Weshalb das von Hörnle konstatierte Verebben der Diskussion um den Kulturbegriff in der Strafrechtswissenschaft dennoch eintrat, lässt sich m. E. auch nicht allein mit dem Aufkommen des Rechtsgüterschutzkonzepts erklären.48 Als schwerwiegender Faktor in dieser Sache sollte der Einfluss des geistigen Erbes der Nachkriegszeit auf den wissenschaftlichen Diskussionsbereich sicher nicht ausgeblendet werden, wie von Hörnle letztlich auch nicht verkannt.49 Die Etablierung einer Nachkriegsideologie hat insoweit auch in der Strafrechtswissenschaft zu einer Entledigung gleichsam vorbelasteter Begriffe geführt. In jüngerer Zeit findet der Kulturbegriff wieder mehr Beachtung in der (strafrechts‑)wissenschaftlichen Diskussion. Dies soll vor allem dem Verfas42  Vgl. Hörnle, in: Dreier/Hilgendorf (Hrsg.), Kulturelle Identität als Grund und Grenze des Rechts, S. 315 ff. (319); Schulz, in: Brackert/Wefelmeyer (Hrsg.), Kultur – Bestimmung im 20. Jahrhundert, ebenda. 43  Vgl. Hörnle, in: Dreier/Hilgendorf (Hrsg.), Kulturelle Identität als Grund und Grenze des Rechts, ebenda. 44  Vgl. Radbruch, in: Logos 1912, S. 200 ff. (200). 45  Vgl. Radbruch, in: Logos 1912, ebenda. 46  Vgl. Hörnle, in: Dreier/Hilgendorf (Hrsg.), Kulturelle Identität als Grund und Grenze des Rechts, S. 315 ff. (320). 47  Vgl. zu den gesellschaftlichen Entwicklungen aus kriminologischer Perspektive, Teil 3, A. dieser Arbeit. 48  So Hörnle, in: Dreier/Hilgendorf (Hrsg.), Kulturelle Identität als Grund und Grenze des Rechts, ebenda. 49  Vgl. Hörnle, in: Dreier/Hilgendorf (Hrsg.), Kulturelle Identität als Grund und Grenze des Rechts, ebenda.

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Teil 2: Interdisziplinäre Grundlagen

sungsrecht geschuldet sein50 und ist im Zusammenhang mit den medialen Spektakeln um Kopftuchstreit oder Kruzifix-Debatte zu einer gleichsam lebhaften wie auch episodenhaften Kulturdiskussion avanciert. In gewissem Maße ist die Renaissance des Kulturbegriffs parallel zu einer Entwicklung in den Geistes- und Sozialwissenschaften verlaufen, den sog. „Cultural Turns“,51 welche sich „im Schlepptau“ eines „übermächtigen“ „linguistic turns“ herausgebildet haben.52 Im Zuge dieser „Cultural Turns“ hat sich das Phänomen des Kulturbegriffs zu einer Superkategorie in den Geistes- und Sozialwissenschaften entwickelt. Das neuerliche Interesse der Rechtswissenschaft vermag auch unter Berücksichtigung dieser Genese nicht überraschen.53 Diese Entwicklung ist nicht losgelöst von einem ganz bestimmten Bedeutungswechsel des Kulturbegriffs seit den sechziger Jahren des 20. Jhs. zu verstehen. Insoweit ist jetzt wieder auf die Konsequenzen, die sich aus ­einem differenztheoretischen Verständnis ergeben, zurück zu kommen. Das Wort „Kultur“ soll sich – einmal mehr – „gleichsam um seine eigene Achse gedreht“ haben.54 Während seine Bedeutung vorher auf die Bejahung von Gemeinsamkeiten hinwies und eine einheitliche Identität oder Lebenswelt55 beschrieb, kehrte sie sich seither teilweise ins Gegenteil.56 Es geht nun nicht mehr nur um die Bejahung einer spezifischen nationalen, sexuellen, ethnischen, regionalen Identität usw. im Gegensatz zu anderen Identitäten; mit dem Kulturbegriff grenzen sich nun Minderheiten ab,57 indem sie u. a. die Forderung nach Anerkennung in ganz unterschiedlichen Konstellationen stellen.58 In Folge dieser Entwicklung beschreibt bspw. Eagleton „Kultur“ als „eine Kampfzone“, die nicht mehr die Lösung des Problems, sondern einen Teil des Problems selbst darstellt.59 Dass diese „Kampfzone“ in pluralistischen Gesellschaften auch einiges an strafrechtlich relevantem Kon50  Vgl. Hörnle, in: Dreier/Hilgendorf (Hrsg.), Kulturelle Identität als Grund und Grenze des Rechts, S. 315 ff. (321). 51  Vgl. Reckwitz, Unscharfe Grenzen, S. 15 ff. (26); zum Phänomen des Cultural Turns, vgl. etwa Bachmann-Medick, Cultural Turns. 52  Vgl. Bachmann-Medick, Cultural Turns, S. 7. 53  Vgl. dazu etwa die Monographie von Valerius, Kultur und Strafrecht. 54  Vgl. Eagleton, Was ist Kultur, S. 56. 55  Der Begriff der Lebenswelt wird hier nicht i. S. Habermas’ verwendet. Vgl. zu Habermas’ Begriff der Lebenswelt, ders., in: Theorie des kommunikativen Handelns, Band 2, S. 182 ff., vielmehr steht er hier in einem alternativen Verhältnis zum Bild der kulturellen Identität; ferner taucht der Begriff auch außerhalb soziologischer Literatur auf, vgl. nur Bock, Kriminologie, § 19, Rn. 892. 56  In diesem Sinne Eagleton, Was ist Kultur, ebenda. 57  Vgl. Eagleton, Was ist Kultur, ebenda; i. d. S. auch Bhabha, Die Verortung der Kultur, S. 4. 58  Vgl. Taylor, Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, S. 13. 59  Vgl. Eagleton, Was ist Kultur?, S. 56.



A. Interdisziplinäre Begriffsbestimmungen

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fliktpotential bereithält, vermag freilich kaum verwundern. Auch der populistische Journalismus in Deutschland greift das damit verbundene Problem des Nachgebens der Mehrheit gegenüber Minderheiten unter dem Deckmantel des Schutzes kultureller Identitäten wieder gerne auf. Der Fachbegriff dafür lautet heute „Appeasement“.60 Der auf die Heterogenität einer Gesellschaft abzielende Begriff des Multikulturalismus ist daher heute vielleicht die entscheidende Spielart eines möglichen Kulturverständnisses in Hinblick auf viele Problemlagen unter Einschluss der strafrechtlichen Perspektive. Es ist jetzt eine Frage von „Kultur“, ob eine Lehrerin ein Kopftuch an einer öffentlichen Schule tragen oder das Kruzifix in bayerischen Schulen hängen darf. Es kann eine Frage von „Kultur“ sein, zu welcher Verteidigungsstrategie ein Strafverteidiger seinem ausländischen Mandanten rät.61 Das Thema „Multikulturalismus“ hat aber auch in der Gesetzgebung, jüngst etwa i. R. d. Gesetzgebungsverfahrens zur weiblichen Genitalverstümmelung,62 an Bedeutung gewonnen. Dabei hatte sich der deutsche Gesetzgeber erstaunlicherweise zur Verbrechenswürdigkeit auch der rituellen weiblichen Beschneidung nun in § 226a StGB  – freilich tituliert als „Verstümmelung“ – bekannt, ganz im Gegensatz zur strafrechtlichen Privilegierung der rituellen bzw. religiösen Zirkumzision beim Knaben – dort wiederum tituliert als „Beschneidung“.63 Wie sich zeigt, geht es beim Thema Kultur nunmehr auch um die Ansprüche sowohl der Mehrheitsgesellschaft wie auch der Minderheiten auf den Schutz kultureller Identitäten.64 Und es geht um den Erhalt und das Verwirkbspw. bei Broder, Hurra wir kapitulieren. etwa Schmidt, Verteidigung von Ausländern, Rn. 242, welcher die ausdrückliche Möglichkeit der strafmildernden Geltendmachung abweichender kultureller Wertvorstellungen als Verteidigungsstrategie hervorhebt. 62  Siehe dazu etwa den Beitrag von Schramm, in: FS für Kühl, S. 603 ff. Dieser Beitrag stellt i.Ü. die erweiterte Fassung einer Stellungnahme dar, die Schramm am 23.04.2013 vor dem Rechtsausschuss des deutschen Bundestages abgegeben hatte, an welcher der Verfasser dieser Arbeit, insbes. den strafzumessungsrechtlichen Teil  betreffend, mitgewirkt hat. Vgl. auch BT-Drs. 17/1217, 17/12374, 17/4759. 63  Diese Schieflage in der rechtlichen Bewertung zweier an sich identischer, nicht medizinisch indizierter Eingriffe – Knabenbeschneidung auf der einen und FGM nach Typ I der WHO-Klassifizierung (nur bei Exzision des Praeputium clitoridis) auf der anderen Seite – irritiert in Hinblick auf die jeweiligen Gesetzgebungsverfahren. Zwar war auch Schramm in seiner Stellungnahme auf diese Schieflage gestoßen, siehe dazu Schramm, in: FS für Kühl, S. 603 ff. (628). Das Problem dann aber über § 223 StGB für die weibliche Beschneidung aufzulösen, überzeugt in Anbetracht der Privilegierung der Knabenbeschneidung freilich nicht. Vgl. zur Knabenbeschneidung auch schon Jerouschek, in: NStZ 2008, S. 313 ff. Das Nähere wäre dann Gegenstand eines eigenständigen Beitrags und soll hier nicht weiter vertieft werden. 64  Vgl. hierzu den Beitrag von Hörnle, in: Dreier/Hilgendorf (Hrsg.), Kulturelle Identität als Grund und Grenze des Rechts, S. 315 ff. 60  So

61  Siehe

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Teil 2: Interdisziplinäre Grundlagen

lichen von kulturinhärenten Werten und um scheinbar in sich geschlossene Gebilde, die in ihrer additiven Gesamtheit eine Gesellschaft bilden.65 „Kultur“ ist in vielen wissenschaftlichen und praktischen Bereichen zu einer „Schlüsselkategorie“ avanciert.66 Die von Radbruch prophezeite „zentrale Stellung“ ist über „das philosophische System“ hinaus eingenommen worden. Das Verständnis von „Kultur“ ist damit aber nicht immer konkreter geworden. Das gilt auch für die relevante Schnittmenge von „Kultur“ und Strafzumessung als Teil des praktischen Strafrechts wie sie hier interessiert. Die Lesarten und Deutungen in den verschiedenen Disziplinen divergieren je nach Bedarf und Untersuchungsgegenstand. Der Begriff ist in seiner Vielschichtigkeit durch die oben angerissene dynamische Entwicklung in den Geistes- und Sozialwissenschaften gekennzeichnet. Für das Anliegen der Arbeit wird aber nicht immer ein Erkenntnisgewinn aus den oft rein theoretischen Streitigkeiten zu erwarten sein.67 Gleichwohl kann die gewählte Darstellung aber dazu beitragen, die Hermeneutik des Kulturbegriffs in seiner Genese nachzuvollziehen. Ferner dient sie dazu, zu verstehen, warum man „Kultur“ heute derart begreifen kann und muss gleichsam sensibel dafür machen, dass der Begriff und das Verständnis hierfür einem dynamischen und steten Wandel unterworfen sind. Schließlich konnte sich daneben auch Wichtiges zum methodischen Umgang mit dem Kulturbegriff erarbeiten lassen. Als eine der wesentlichen Erkenntnisse wird daher auch in der Folge die Methode der Beschreibung von Gemeinsamkeiten und Differenzen anhand kultureller Identitäten und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für eine rechtliche Betrachtung bestimmter Fälle eine wesentliche Rolle spielen müssen. Für die thematische Schnittmenge der Arbeit erscheint in Hinblick auf die deskriptiven Bedürfnisse des Kulturbegriffs, abseits seiner methodische Verwendung, eine Synthese aus Rückbesinnung auf grundlegende und wesentliche Aspekte des Kulturbegriffs und das Filtrieren relevanter kulturtheo­ retischer Aussagen im Lichte der Genese des Begriffs als ein vielversprechender Ansatz. Denn trotz der bestehenden Unterschiede in Perspektive, 65  Zum sozialwissenschaftlichen Begriff eines multikulturellen Gesellschaft etwa Hillmann, Wörterbuch der Soziologie, Artikel Multikulturelle Gesellschaft, S. 596 ff. 66  Für die Rechtspsychologie bspw. Bierbrauer/Klinger, in: Volbert/Steller, Handbuch der Rechtspsychologie, S. 507 ff. (514). 67  Dass gewisse kulturtheoretische Orientierungen – wenngleich sie u. U. wegbereitend für differierende Ansätze waren – oft nur eine „begrenzte Anschlussfähigkeit“ besitzen, ist nicht einmal unüblich; so bspw. der Nachweis bei Reckwitz, Unscharfe Grenzen, S. 15 ff. (42) für mentalistisch orientierte klassische Kulturtheorien für die kulturwissenschaftliche Praxis in der Soziologie, Ethnologie, den Geschichtsund Literaturwissenschaften. Insoweit verwundert es weder, dass die Bedürfnisse strafrechtlicher Begriffsbestimmungen nicht von allen Seiten bedient, noch unterstützt werden können.



A. Interdisziplinäre Begriffsbestimmungen39

Methodik, Akzentsetzung und begrifflichem Verständnis in der einschlägigen Literatur gibt es eine breite Übereinstimmung, was zentrale Aussagen über das Wesen, die Identität und die Dynamik von Kultur und Kulturen anlangt.68 Als das Wesentliche ließe sich z. B. das verstehen, was „Kultur“ für die Menschen eines Volkes, Kollektivs oder einer Gesellschaft seit jeher – vielleicht auch erst seit sie sich interkulturell „begegnen“69 – bedeutet. Huntington besinnt sich dabei auf die alten Athener, die den Spartanern einst versicherten, sie nicht an die Perser zu verraten,70 wenn er sagt: „Die entscheidenden Elemente, die eine Kultur definieren [sind] Blut, Sprache, Religion, [und] Lebensweise […]“.71 Es geht also im Kern um solche Aspekte der Lebensweise eines Kollektivs, die durch implizierte Werte, Normen, Institutionen und Denkweisen, denen aufeinanderfolgende Generationen einer gegebenen Gesellschaft primäre Bedeutung beigemessen haben, gekennzeichnet sind.72 Daneben geht es aber auch um Aspekte der Ethnizität, die jedoch in Anbetracht der Erfordernisse eines modernen Kulturbegriffs einerseits und unter historischen Aspekten andererseits nicht den gleichen Stellenwert einnehmen, wie es z. B. die Religion vermag.73 Aus soziologischer Sicht kann man in diesem Kontext von allgemeinen kollektiven Vorstellungen sprechen, welche den Kern einer Kultur bilden74 und in vergleichbarer Form immer wieder als solche zusammengefasst werden.75 Kultur erfordert in dem hier zugrundgelegten Verständnis auch eine hinreichende Form der Tradierung.76 Es geht damit konstitutionell um solche Huntington, Kampf der Kulturen, S. 50. Beschreibung des Wesens interkultureller Kontakte bei Historikern, siehe Huntington, Kampf der Kulturen, S. 62. 70  Vgl. Huntington, Kampf der Kulturen, S. 52, zitiert: „Vieles und Großes verbietet uns das, selbst wenn wir es tun wollten; ersten und hauptsächlich die niedergebrannten und zerstörten Götterbilder und Tempel, für die wir blutigste Rache üben müssen, ehe wir uns mit dem Manne, der das getan, versöhnen können; ferner die Bluts- und Sprachgemeinschaft mit den anderen Hellenen, die Gemeinsamkeiten der Heiligtümer, der Opferfeste und Lebensweise. Es stünde den Athenern schlecht an, wenn sie an dem allen Verrat üben wollten.“ 71  Vgl. Huntington, Kampf der Kulturen, ebenda. 72  Vgl. Huntington, Kampf der Kulturen, S. 51; ähnliche Kernwerte von „Kultur“ finden sich auch bspw. bei Hillmann, Wörterbuch der Soziologie, Artikel Kultur, S. 471 f. (471): Einheit der Sprache, moralische Anschauungen, Lebensgewohnheiten sowie soziale Gebildeformen dienen demnach als maßgebliche Abgrenzungskriterien unter verschiedenen Kulturen. 73  I. d. S.  auch Huntington, Kampf der Kulturen, S. 52. 74  Vgl. Hillmann, Wörterbuch der Soziologie, Artikel Kultur, S. 471 f. (472). 75  Vgl. u. a. Hillmann, Wörterbuch der Soziologie, Artikel Kultur, ebenda. 76  Vgl. auch Hillmann, Wörterbuch der Soziologie, Artikel Kollektive Identität, S. 431 f. (432), der in diesem Kontext von „kultureller Vererbung“ spricht. 68  Vgl. 69  Zur

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Teil 2: Interdisziplinäre Grundlagen

Elemente, die über Generationen hinweg fester Bestandteil der Ordnung und des Selbstverständnisses eines Kollektivs oder einer Gruppe geworden sind. Das heißt allerdings nicht, dass sich diese Strukturen nicht im Verlauf der Zeit verändern dürften. Es würde keinem modernen Verständnis von „Kultur“ entsprechen, diesbezüglich eine starre Beständigkeit, den gleichsam unveränderlichen Status quo, zu erwarten. Vielmehr muss sich eine als „Kultur“ zu begreifende Struktur im Rahmen einer gewissen Permanenz auch verändern können, ohne den Status quo dabei einzubüßen. Bei Giddens heißt es diesbezüglich, dass Traditionen nicht völlig statisch seien, denn sie müssen „von jeder Generation neu erfunden werden, die das kulturelle Erbe von ihren Vorläufern übernimmt“.77 Hillmann konstatiert, dass sich eine Gesellschaft nur durch Weitervermittlung bzw. Tradierung der soziokulturellen Elemente fortwährend reproduziert und die ihr zugehörige Kultur lebendig bleiben kann.78 Derart bilden Gesellschaft, Kultur und Individuum durch Interpenetration und Interdependenz einen soziokulturellen Lebenszusammenhang.79 Aus sozialwissenschaftlicher Sicht könnte sich zwar die zeitliche Determinante dieses Kulturverständnisses in Anbetracht der „schieren Geschwindigkeit des [kulturellen] Wandels, der von der Moderne in Bewegung gesetzt wird“,80 als weniger wesentliches Element darstellen. Als Argument dafür ließe sich bspw. anführen, dass es immer unüblicher scheint, Traditionen über Generationen hinweg zu pflegen. Heute spricht man gern von vergleichsweise kurzlebigen Phänomenen der Spaß- oder Erlebnisgesellschaft, denen in der modernen, dynamischen (westlichen) Kultur auch Einfluss auf diverse Bereiche der Gesellschaft und damit auch auf gewisse Aspekte von Kultur und Werten zugeschrieben werden.81 Obwohl dieser Einwand nicht völlig von der Hand zu weisen ist, vermag er auf ein strafrechtliches, normatives Verständnis dieses Begriffs m. E. jedenfalls noch nicht durchschlagen. Ein zu weites Verständnis des Kulturbegriffs könnte in praxi dazu führen, nahezu jede beliebige Eigenart als kulturell zu begreifen, entweder, weil sie seit Wochen „im Trend liegt“ oder seit einigen Jahren als subgesellschaftliches Gebaren existiert. Zwar könnten derartige Phänomene durchaus von tatbestimmender Relevanz im Einzelfall sein. Zu denken ist dabei insbesondere an spezifische Tatsituationen und -motivationen. Eine Beeinflussung der Strafzumessung unter dem Aspekt der kulturellen Wertvorstellungen sollte aber hiermit nicht verbunden werden. Insoweit bietet Giddens, Konsequenzen der Moderne, S. 53. Hillmann, Wörterbuch der Soziologie, Artikel Kultur, S. 471 f. (472). 79  Vgl. Hillmann, Wörterbuch der Soziologie, Artikel Kultur, ebenda. 80  Vgl. Giddens, Konsequenzen der Moderne, S. 14 f. 81  Vgl. Rödder, in: Rödder/Elz (Hrsg.), Alte Werte  – Neue Werte, S. 9 ff. (21).

77  Vgl. 78  Vgl.



A. Interdisziplinäre Begriffsbestimmungen41

das Strafzumessungsrecht andere Möglichkeiten, derartige Besonderheiten des Einzelfalles zu berücksichtigen. Gleichwohl bedeutet das aber nicht, dass solche Erscheinungen nicht irgendwann dazu geeignet wären, sich zu einem Element einer Kultur zu entwickeln. Im Ergebnis sprechen die besseren Argumente jedoch noch für ein Festhalten an einem durch Tradierung bedingten Kontinuitätsmerkmal. Als Grundkonsens lässt sich daher aus dem interdisziplinären Diskurs zum Kulturbegriff festhalten: Kultur umfasst sämtliche, die Lebensweise eines Kollektivs bestimmenden Werte, Normen, Institutionen und Denkweisen, soweit sie über einen längeren Zeitraum, dessen Spanne abhängig von der Bedeutung des jeweiligen Kulturelements ist, gepflegt, fortentwickelt und als sozial verbindlich erachtet werden. Die Fähigkeit, Kulturen deskriptiv zu verstehen, ermöglicht in methodischer Hinsicht ein Vergleichen und Abgrenzen untereinander. Dieser Aspekt wird – wie sich weiter zeigen soll – für eine mögliche strafzumessungsrelevante Betrachtung des Phänomens von einigem Interesse sein. 2. Das Fremdkulturelle und der Fremde Als Nächstes soll sich der Fragestellung zugewandt werden, was sich hinter den Phänomenen des „Fremdkulturellen“ einerseits und des „Fremden“ andererseits verbirgt und welche möglichen Bedürfnisse der Arbeit mit ihnen zu verbinden sind. Nach den Ausführungen zum Kulturbegriff erscheint es, insbesondere in Hinblick auf die differenztheoretischen Elemente des Diskurses, denen – wie gezeigt werden konnte – schon in der kulturwissenschaftlichen Diskussion eine beachtliche Konjunktur nachgewiesen werden konnte,82 notwendig, einen Zugriff auf das hier zu Diskutierende zu wählen, welcher die in den Unterschieden von Kulturen bedingten Problemlagen aufzuzeigen vermag. Möllers bemerkt in diesem Kontext: „Wenn Kultur auf die Möglichkeiten von Differenzen verweist, dann erkennt man Kultur eben auch nur an diesen Differenzen.“83 Da kulturspezifische Problemlagen auch aus der Begegnung von Differenzen resultieren, muss die Perspektive im Folgenden auch diese Differenzen beschreiben können. Immerhin stehen die im Begriff „Kultur“ implizierten Unterschiede in einem 82  Vgl.  Möllers, in: Dreier/Hilgendorf (Hrsg.), Kulturelle Identität als Grund und Grenze des Rechts, S. 223 ff. (226); vgl. auch Feldmann, in: Alvarado Leyton/ Erchinger (Hrsg.), Identität und Unterschied, S. 59 ff., die am Ende ihres Beitrags auch auf Strömungen in den Kulturwissenschaften hinweist, welche die Differenz als Kategorie abschaffen wollen (dort S. 68 m. w. N.); siehe auch Reckwitz, in: Farzin/ Jordan (Hrsg.), Lexikon der Soziologie und Sozialtheorie, Artikel Kultur, S. 164. 83  Vgl. Möllers, in: Dreier/Hilgendorf (Hrsg.), Kulturelle Identität als Grund und Grenze des Rechts, ebenda.

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Teil 2: Interdisziplinäre Grundlagen

engen deskriptiven Zusammenhang mit dem „Fremden“. Es bietet sich daher an, diesen Problemkreis unter dem Kernaspekt „fremd“ näher zu beleuchten. Und schließlich erscheint eine nähere Betrachtung „des Fremden“ auch deshalb sinnvoll, weil wir sie bereits aus dem materiellen Strafrecht in verschiedenen Formen gut kennen.84 Huntington schreibt in seinem „Kampf der Kulturen“: „Wir wissen, wer wird sind, wenn wir wissen, wer wir nicht sind […].“85 Er befindet sich mit dieser auf die Differenzen zwischen Kulturen abzielenden Formulierung in bester kulturwissenschaftlicher Gesellschaft. Insofern vermag es durchaus zu irritieren, dass man den Begriff des „Fremden“ zuweilen mit einer gewissen Selbstverständlichkeit aus sich heraus zu verstehen scheint, ihn nur kurz oder blicklichtartig charakterisiert.86 Ebert etwa versuchte in Ansätzen, den „Fremden“ im soziologischen Sinne auf das Strafrecht zu projizieren, den Fremden als Opfer und Täter.87 Als „fremd“ i. d. S. versteht er einen Menschen, den eine Gruppe, die sich als enge Gemeinschaft empfindet, als nicht zugehörig betrachtet.88 Auch Eberts soziologisch inspirierter Ansatz – es vermag nicht mehr zu verwundern – stellt die Differenzen in den Vordergrund der phänomenologischen Betrachtung. Allerdings greift er m. E. auch für den von ihm beleuchteten Bereich zu kurz. Denn unter diese Definition des Fremden ließe sich praktisch jeder subsumieren, der bereits unerheblich regional fremd ist. Der aus einem kleinen bayerischen Dorf Stammende, der in einem norddeutschen Dorf schon des Dialektes wegen auffällig wäre, gelte demnach bereits per definitionem als Fremder. Das ist er zwar in gewissem Maße auch. Jedoch soll und kann hier diese Ebene des Fremdseins nicht interessieren. Die relevante Perspektive ist insofern spezifischer, als dass sie auf eine kulturelle Fremdheit höheren Niveaus abzielen muss. Es geht damit nicht nur um den bisher unbekannten Menschen, der in eine Gemeinschaft tritt, die über seine soziale und individuelle Existenz nicht genug weiß.89 Es geht vor allem um den Fremden, der bereits „mehr oder weniger lange“ bekannt sein kann, „der jedoch Träger von individuellen oder sozialen Merkmalen ist, die nach den kulturellen Mustern und dazu etwa Ebert, in: Der Fremde  – Freund oder Feind?, S. 73 ff. (73). Huntington, Kampf der Kulturen, S. 21. 86  Gerne bezieht man sich dabei auf die alten Griechen und ihre Vorstellungen von den Nichtgriechen, den Barbaren, so etwa Dihle, in: Dummer/Vielberg (Hrsg.), Der Fremde – Freund oder Feind?, S. 21 ff. (21) oder Sessar, in: Graduszewski/ Vettermann (Hrsg.), „Fremder kommst du nach Deutschland …“, S. 11 ff. (11). 87  Vgl. Ebert, in: Dummer/Vielberg (Hrsg.), Der Fremde  – Freund oder Feind?, S. 73 ff. 88  Vgl. Ebert, in: Dummer/Vielberg (Hrsg.), Der Fremde  – Freund oder Feind?, S. 73 ff. (73). 89  Vgl. Hillmann, Wörterbuch der Soziologie, Artikel Fremder, S. 246. 84  Siehe 85  Vgl.



A. Interdisziplinäre Begriffsbestimmungen43

grundlegenden Wertideen der betreffenden Gesellschaft seine völlige Integration oder Gleichbehandlung ‚unmöglich‘ machen.“90 Es geht mithin um den Fremden, der sich von den Angehörigen der Majorität in Teilen des Kernbereiches seiner kulturellen Identität wesentlich unterscheidet. Wie im Abschnitt über die „Kultur“ festgestellt wurde, gehören u. a. die Werte zum Kernbereich einer Kultur, und die Abgrenzung von Kulturen lässt sich am plausibelsten anhand der Differenzen in den Kernbereichen bestimmen. Weichen die grundlegenden Wertideen der gegenüberzustellenden kulturellen Strukturen, Identitäten usw. derart stark voneinander ab, dass ein Nebeneinander im Rahmen der geltenden und als akzeptiert betrachteten Wertvorstellungen in gewissen Bereichen überhaupt nicht oder kaum möglich erscheint, ist vom „Fremden“ im hier interessierenden Sinne zu sprechen. Bei ihm erscheint ein Überschreiten auch rechtlich relevanter Grenzen aufgrund einer Vielzahl von differenzbedingten Umständen denkbar, z. T. sogar wahrscheinlicher. Schon deshalb kann erwartet werden, dass die damit verbundenen strafrechtlichen Reaktionsbedürfnisse der Gesellschaft u. U. besonderen Anforderungen genügen müssen. Dieser methodisch orientierte Umgang mit dem Phänomen des Fremden ist anhand eines Beispiels näher zu erläutern. Will man eine kulturelle Identität, eine fremdkulturelle Wertvorstellung oder ähnliches als „fremd“ erfassen, könnte zunächst dargestellt werden, wie sich eine bestimmte Struktur, Einheit oder Lebensweise dieser zu untersuchenden Kategorie zu einer vergleichbaren Lebenswelt91 in der kulturdivergenten, korrelierenden Kategorie in Beziehung setzen lässt. Wenn es fraglich ist, ob ein bestimmter Habitus fremdkultureller Provenienz ist, muss zunächst danach festgestellt werden, ob er tatsächlich als Teil der Herkunftskultur des Ausübenden existiert. Als praktisches Beispiel ließe sich etwa das Züchtigungsrecht des Mannes aus dem Koran heranziehen, welches im Jahr 2007 von einer Frankfurter Richterin als Entscheidungsgrundlage in einer Familiensache bemüht wurde (bzw. im konkreten Fall das islamisch beeinflusste Familienrecht Marokkos).92 Kommt man nach diesem Schritt zu dem Zwischen­ ergebnis, dass in der Herkunftskultur des Züchtigenden tatsächlich ein derartig tradiertes Verhalten, entsprechend der oben bemühten Diktion von Kulturelementen, existiert, muss im Anschluss daran die gesellschaftliche 90  Vgl. Hillmann, Wörterbuch der Soziologie, ebenda; kursive Hervorhebung durch den Autor. 91  Auch hier soll der Begriff Lebenswelt als Überkategorie für die zuvor genannten Begriffe dienen. 92  Siehe etwa der Artikel bei Welt-Online, abrufbar unter: http://www.welt.de/ politik/article773219/Wie_Richter_falsches_Gutmenschentum_foerdern.html (11.08. 2014), sowie der Artikel unter: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518, 473118,00.html (11.08.2014).

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Teil 2: Interdisziplinäre Grundlagen

und kulturelle Praxis hierzulande – freilich nur soweit es um die BRD als korrelierende Gemeinschaft geht – betrachtet werden. In der Konsequenz stellt sich dann die Frage, ob auch in Deutschland ein Züchtigungsrecht an der Ehefrau praktiziert wird, das ähnlich verfestigt und sozial sowie rechtlich etabliert ist, wie es bspw. in Teilen islamisch geprägter Kulturkreise der Fall ist.93 Bei dem gewählten Beispiel wird man zu der Schlussfolgerung gelangen, dass dies hierzulande nicht der Fall ist. Dass es dabei entgegen der Majoritätsanschauung im subkulturellen Bereich u. U. schon zu Verfestigungen gekommen ist, sollte – je nach Art und Ausmaß dieser Verfestigung – grds. außer Betracht bleiben. Das Ergebnis müsste – unterstellt, das Züchtigungsrecht ist in der Herkunftskultur hinreichend anerkannt – folglich lauten: es liegt eine fremdkulturelle Lebensweise vor. Damit kommt es maßgeblich auf eine vergleichende Betrachtung der Herkunftskultur einerseits und der inländischen Kultur andererseits in Hinblick auf das konkret zu untersuchende Phänomen an. Bezüglich der phänomenologischen Feststellung verbietet sich freilich eine wertende Betrachtung. Das ist auch insofern unschädlich, als dass damit noch keine Form einer rechtlichen Reaktion verbunden ist. Diese Vorgehensweise dürfte indessen auch nicht dazu führen, wesentliche Werte oder intellektuelle Standards unserer Rechtsordnung zur Disposition zu stellen, wie Hilgendorf vor so mancher Verführung im Wege der Pluralisierung warnt.94 Das gilt jedenfalls dann, wenn mit der hier favorisierten Auffassung die Grenzen hinsichtlich der Anerkennung insbes. subkultureller Elemente entsprechend restriktiv gezogen werden. Erst das Nachgeben gegenüber den Forderungen solchen Identitäten, die mit unseren grundlegenden Wertideen unvereinbar sind, dürfte eine solche Gefahr wie sie Hilgendorf beschreibt, gleichsam realistisch erscheinen lassen. Man darf die Tatsache nicht ausblenden, dass es in dieser Sache noch nicht etwa um mehr oder weniger konkrete rechtliche Belange in Hinblick auf andersartige Phänomene usw. geht, sondern lediglich um das Beschreiben und Zuordnen. Die Frage rechtlich zu ziehender Konsequenzen stellt sich erst, wenn man die Phänomenologie des Einzelfalls erfassen und klären kann. Eine Preisgabe der hiesigen Werte ist also durch die Einordnung und Anerkennung gewisser Phänomene als „fremdkulturell“ nicht zu befürchten, wenngleich auch hier vor zu großzügiger Arroganz zu warnen bleibt.95 Der Grat zwischen „Beiordnen“ und „Anerkennen“ i. S. v. akzeptieren und tolerieren mag zuweilen schmal sein. 93  Siehe etwa den Artikel unter: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518, 473118,00.html (11.08.2014). 94  Siehe Hilgendorf, in: JZ 2009, S. 139 ff. (144). 95  In Anlehnung an Taylor, Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, S. 13 ff. (70 f.).



A. Interdisziplinäre Begriffsbestimmungen45

In bestimmten Fällen kann eine solche Betrachtungsweise freilich auch mit gewissen Problemen verbunden sein, insbes. dann, wenn es um weniger bekannte oder transparente Eigenarten fremdkultureller Verhaltensweisen geht. In der Konsequenz könnte sich dann schon eine heikle Frage der Ermittlung des Strafzumessungssachverhaltes stellen, wenn das Tatgericht eine Berücksichtigung solcher Phänomene in der Strafzumessung in Erwägung zieht. Zusammenfassend lässt sich formulieren, dass kulturelle Wertvorstellungen, Identitäten, Phänomene usw. nur dann fremd sind, wenn sie aus der Sichtweise einer anderen Kulturvorstellung heraus betrachtet werden können, in welcher die wesentlichen interferierenden Charakteristika durch unterschiedliche Handhabung geprägt sind und mittels eines von den Grundideen her divergierenden Verständnisses ausgefüllt werden. Der Fremde als Täter ist dann fremd i. d. S., wenn er in der vergleichenden Perspektive zweier Identitäten gleichsam auf „der anderen Seite“ dieses Vergleichsdualismus steht. Der Rekurs auf die kulturtheoretische Diskussion ist damit auch insoweit fruchtbar gewesen, als das Verständnis für eine bestimmte Kultur zuweilen nicht allein aus sich selbst heraus erfolgen kann. Ein fremdkulturelles Phänomen mag demnach nur als solches bezeichnet werden, wenn sich in der Begegnung mit einer anderen Kultur Differenzen in den grundlegenden Charakteristika aufzeigen lassen.96 Von herausragender Bedeutung dürften dabei insbesondere die Kernwerte einer Kultur sein, welcher die allgemeinen und konsentierten kollektiven Vorstellungen be­ inhalten. Diese Differenz kann freilich auch in der völligen Unbekanntheit eines bestimmten Phänomens in der Vergleichskultur bestehen. Insofern bedarf es in solchen Fällen keines expliziten „Pendants“. Implizit dürfte sich ein Vergleichskriterium jedenfalls regelmäßig ausfindig machen lassen. 3. Werte und Wertvorstellungen a) Allgemeines Schließlich soll der Begriff der Wertvorstellungen, bzw. im semantischen Kontext Werte als solche, untersucht werden.97 Dies erweist sich als ebenso schwierige Aufgabenstellung, wie die Konturierungsversuche in Hinblick auf einen rechtlich greifbaren Kulturbegriff, da es sich mit den Werten ähnlich wie mit der Kultur verhält. Es handelt sich um einen Begriff, der in 96  I. d. S.  auch Möllers, in: Dreier/Hilgendorf (Hrsg.), Kulturelle Identität als Grund und Grenze des Rechts, S. 223 ff. (227), m. w. N.; vgl. auch Huntington, Kampf der Kulturen, S. 21. 97  Exemplarisch zum „üblichen Sprachgebrauch“ des Wertbegriffs, vgl. Opielka, Kultur versus Religion?, S. 24.

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vielen Spielarten verwendet wird und um eine Vielzahl von Wortsegmenten ergänzt werden kann, die ihm dann eine individuelle Konnotation verleihen. Im Abschnitt über „Kultur“ wurde bspw. auf die wechselseitige Beziehung zwischen Kultur und (kollektivistischen)98 Werten hingewiesen. Im Abschnitt über „das Fremde“ wurde die Perspektive für die Relevanz von Unterschieden im Bereich der Kernwerte von Kulturen akzentuiert. Die Aufnahme eines Abschnitts zum Verständnis von Werten und Wertvorstellungen in die Arbeit erscheint auch deshalb sinnvoll, weil sie – ebenso wie die Kultur und das Fremde – sehr eng und vielschichtig mit dem Recht verbunden sind. Radbruch etwa bezeichnete die Rechtswissenschaft selbst als wertbeziehende Wissenschaft.99 Sie sei eine Kulturwissenschaft, welche nur diejenigen Tatsachen in sich aufnimmt, „die zu den Kulturwerten, an denen sie orientiert ist, in freundlicher oder auch in feindlicher Beziehung als Wertverwirklichung oder als Wertverfehlung, als Wertförderung oder als Werthemmung stehen“.100 Im philosophischen Sprachgebrauch tauchte der Begriff der „Werte“ im späten 19. Jh. erstmals bei Lotze auf und beschrieb dort eine Alternative zu Kants Begriff des Zwecks.101 Neben der Entwicklung verschiedener Werttheorien wurden „Werte“ später als das intentionale Fundament von Gefühlen beschrieben.102 Sie stehen deshalb in einer privilegierten Beziehung zu Emotionen.103 Brentanos Werttheorie ordnete den Werten als erste theoretische Schule das Sittliche sowie das Unsittliche, das Gute und das Schlechte bei, was u. a. zur Genese des Begriffspaares „Wert“ und „Unwert“ führte.104 Gegenwärtig hat der Begriff in zahlreichen wissenschaftlichen Disziplinen Konjunktur. Neben der Philosophie, der Psychologie und den Sprachwissenschaften, um nur einige zu benennen, vermag auch die Rechtswissenschaft ohne einen Wertbegriff im Sinne einer normativen Leitvorstellung kaum auskommen. Die Genese des Wertbegriffs zeigt in gebotener Kürze seine enge Verbundenheit mit der metaphysischen Ebene des Seinsollens, der im Übrigen auch das Recht beigeordnet werden kann, und erlaubt eine erste Vorstellung davon, wie Werte das Handeln eines Individuums beeinflussen bzw. Rahmenbedingungen für Verhaltensparameter setzen können, wenn man auf ihre Verbundenheit mit dem Emotionalen abstellt. Diese These erscheint insoweit plausibel, als Emotionen mögliche Handlungsmotive dar98  Zur

Distinktion sogleich unter b). Radbruch, Rechtsphilosophie, § 15, S. 116. 100  Vgl. Radbruch, Rechtsphilosophie, ebenda. 101  Vgl. Konrad, Werte versus Normen als Handlungsgründe, 102  Vgl. Konrad, Werte versus Normen als Handlungsgründe, 103  Vgl. Konrad, Werte versus Normen als Handlungsgründe, 104  Vgl. Konrad, Werte versus Normen als Handlungsgründe, 99  Vgl.

S. 21 f. S. 24. S. 47. S. 22 f.



A. Interdisziplinäre Begriffsbestimmungen

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stellen können.105 Das gilt es deshalb herauszustellen, weil sich diese Bezugsebene als ein potentieller Anknüpfungspunkt für eine Berücksichtigungsfähigkeit von Wertvorstellungen darstellen könnte, da die allgemeinen Strafzumessungsregeln des StGBs verschiedenartig an Handlungsmotive anknüpfen, bspw. indem bestimmte Motive de lege lata strafmildernd oder -schärfend zu berücksichtigen sind. Daneben zeichnet sich ein gleichsam dualistisches Verständnis des Wertbegriffs ab, indem sich sowohl individualistische als auch kollektivistische Elemente auf den Wertbegriff projizieren lassen. Vorliegend sollen Werte und Wertvorstellungen einerseits im Sinne Radbruchs als Teil der Kultur und damit auch der Rechtskultur verstanden werden. Alle rechtsstaatlichen Gewalten sollten diesen, aus der kulturellen Identität einer Gemeinschaft entspringenden Grundwerten, wie sie bspw. das deutsche Grundgesetz zu fixieren sucht, verbunden sein. Andererseits lässt sich eine weniger auf die Kulturwerte i. S. v. Kollektivwerten bezogene Perspektive auf Wertvorstellungen erkennen. Bei ihr geht es um die Werte und Wertvorstellung, die ein Individuum, auch abseits der geltenden Vorstellungen seiner oder einer fremden Gemeinschaft, für sich als bindend erachtet. Diese grundsätzlich dichotome Unterscheidung scheint für das Anliegen der Arbeit deshalb fruchtbar zu sein, weil es das Recht selbst ist, welches die Rahmenbedingungen für ein gemeinschaftliches Miteinander aller Individuen in der Gesellschaft konstituiert und zu bewahren sucht. Mit seiner auf Konsens ausgerichteten Natur ist es zwar wertefixiert. Es kann aber auch diametral als Katalysator für Werteveränderung in der Gesellschaft wirken. Ähnlich verhält es sich mit den Werten beim Individuum, den persönlichen Wertorientierungen oder Wertvorstellungen.106 Sie können durch Internalisierung von der Mehrheitsgesellschaft bewusst oder unbewusst gelernt worden sein.107 Umgekehrt vermag eine hinreichende Verbreitung solcher zunächst individuell-subjektiven Werte eine Veränderung in der Werteanschauung der Gesellschaft bewirken. Dieser spezielle Zugriff ist auch deshalb ratsam, weil beide Perspektiven – es wurde insoweit oben schon für die Strafzumessung angerissen – für das Thema relevant werden. Die Werte als Fundament der Rechtskultur und des Rechts selbst interessieren dann, wenn danach gefragt werden muss, welche Perspektiven einer möglichen Berücksichtigung fremdkultureller Wertvorstellungen, Umstände usw. die hiesige Rechtskultur im Bereich der etwa Konrad, Werte versus Normen als Handlungsgründe, S. 89. Hillmann, Wörterbuch der Soziologie, Artikel Wert, S. 962 f. (963). 107  Vgl. Hillmann, Wörterbuch der Soziologie, Artikel Wert, ebenda. 105  Vgl. 106  Vgl.

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Teil 2: Interdisziplinäre Grundlagen

Strafzumessung überhaupt bieten und ggf. leisten kann.108 Die Werte als Leitvorstellung für das Handeln eines Individuums hingegen werden dann interessieren, wenn es um die Frage geht, ob sie Einfluss auf die strafrechtliche Bewertung einer Tat haben können. Oder pointiert: Sie können dann interessieren, wenn sie einen Einfluss auf die Steuerungs-, Orientierungsoder Leitfunktion eines Individuums hinsichtlich abweichenden Verhaltens aufweisen können. b) Das objektive Kriterium – Kollektivwerte im kulturellen System Zunächst sollen in gebotener Kürze die kollektivistischen Aspekte des Wertebegriffs in Bezug auf das kulturelle System, unter Einschluss der (straf-)rechtlichen Perspektive, ausgeleuchtet werden. Hillmann definiert (soziokulturelle) Werte aus soziologischer Sicht als grundlegende, zentrale und allgemeine Zielvorstellungen bzw. Orientierungsleitlinien innerhalb einer Kultur, Subkultur oder sogar i. R. d. gesamten Menschheit.109 Sie sind historisch entstanden, kulturell relativ wandelbar und sollen von daher auch bewusst gestaltbar sei.110 Durch ihre Natur weisen sie in diesem soziokulturellen Verständnis ein Ableitungsgefälle zu Normen auf. Die Grenzen zwischen Normen und Werten sind zwar häufig fließend. Ein und derselbe Wert kann in verschiedene Normen einfließen und umgekehrt kann eine Norm mehrere Werte inkorporieren.111 Die damit verbundenen Diffusionswirkungen können eine exakte Scheidung erschweren. Wichtig erscheint es jedoch, sich zu vergegenwärtigen, dass sowohl Wertvorstellungen ursächlich für die Herausbildung von Normen, wie auch vice versa Normen ursächlich für die Herausbildung von Wertvorstellungen sein können. Rödder weist darauf hin, dass die allgemein akzeptierten Werte im öffentlichen Diskurs ausgehandelt werden.112 Dieser Prozess wird durch die soziale Praxis beeinflusst, die wiederum das gültige Werte- und Normensystem bestimmt.113 Das als Normalität Akzeptierte, das normative Gefüge, kann sich demnach oft unmerklich verschieben und soll derart eine kollektiv handlungsleitende Wirkung entfalten können.114 Insofern stellt sich das Verhältnis von Werten und Normen zueinander hier als gleichsam klassische Interdependenzrela­ tion mit einem leichten „Gefälle“ dar. 108  Vgl.

dazu ausführlich unten, Teil 5, A. Hillmann, Wörterbuch der Soziologie, Artikel Wert, S. 962 f. (962). 110  Vgl. Hillmann, Wörterbuch der Soziologie, Artikel Wert, ebenda. 111  Vgl. Peuckert, in: Schäfers (Hrsg.), Grundbegriffe der Soziologie, Artikel Werte, S. 436. 112  Vgl. Rödder, in: Rödder/Elz (Hrsg.), Alte Werte  – Neue Werte, S. 16. 113  Vgl. Rödder, in: Rödder/Elz (Hrsg.), Alte Werte  – Neue Werte, ebenda. 114  Vgl. Rödder, in: Rödder/Elz (Hrsg.), Alte Werte  – Neue Werte, ebenda. 109  Vgl.



A. Interdisziplinäre Begriffsbestimmungen49

Die spezifische Beziehung zwischen kollektivistischen Werten und Normen sowie deren Bedeutung in Hinblick auf das kulturelle (Sub-)System des Rechts lässt sich mit Radbruchs wertbetonter Rechtsphilosophie verstehen. Nach Radbruch ist das Recht selbst ein Kulturbegriff und bestimmte Werte sind als Kulturelemente des Rechts zu verstehen.115 „Rechtssätze sind Imperativ“, und dieser ist die Äußerung des Wollens.116 Radbruch argumentiert weiter, dass der objektive Sinn des Wollens das Seinsollen ist.117 Das mit Blick auf „das große Ganze“ Angestrebte erfordert eine Vorstellung von dem, was sein soll sowie davon, was gleichsam dem öffentlichen Diskurs als das Gewollte zu entnehmen ist. Ohne mehr oder weniger konkrete Wertbeziehungen wäre das jedoch nicht denkbar. Im Sinne der Radbruchschen Argumentation ließe sich formulieren, dass das Strafrecht von einer Rechtsidee beseelt ist, die entsprechend ihrer wertbezogenen Wirklichkeit einem Wert, nämlich der Gerechtigkeit, zu dienen verpflichtet ist.118 Für den Bereich des Strafrechts hat die weit gefächerte, kulturspezifische Werteorientierung in Deutschland ein ausdifferenziertes System des „Seinsollens“ bzw. „Wünschenswerten“ unter dem Primat der Gerechtigkeit hervorgebracht. Von dieser Entwicklung blieb auch das Recht der Strafzumessung, wenngleich lange stiefmütterlich behandelt, nicht unberührt. Nähere Ausführungen dazu sind an anderer Stelle zu entwickeln und zu diskutieren. Dann soll genau untersucht werden, welche Wertgefüge entscheidend für die im Rahmen der Arbeit interessierenden Bereiche der Strafzumessung sein können und welche subjektiven Werte aus welchen normativen Gründen strafzumessungsrechtlich berücksichtigungsfähig erscheinen.119 Für diesen Abschnitt der Arbeit erschien eine kurze Ausleuchtung der Hermeneutik des Wertebegriffs im kulturellen System des Rechts und seiner spezifischen, auf Gerechtigkeit fokussierten Bedeutung für das Strafrecht der Bundesrepublik auch in Hinblick auf eine strafanwendungsrechtliche Perspektive angezeigt. c) Das subjektive Kriterium – individuelle Werte in der Persönlichkeitsstruktur Soweit es um die Steuerungskraft und den Einfluss von Werten auf individuelles Handeln geht, mag man sich u. U. an die Determinismus-vs-Indeterminismus-Debatte aus der Psychologie erinnert fühlen, die auch unlängst die Strafrechtswissenschaft erreicht hat. In Anlehnung daran geht es hinRadbruch, Rechtsphilosophie, § 4, S. 34. Radbruch, Rechtsphilosophie, § 15, S. 115. 117  Vgl. Radbruch, Rechtsphilosophie, ebenda. 118  In Anlehnung an Radbruch, Rechtsphilosophie, § 4, S. 34. 119  Vgl. dazu grundlegend Teil 5, A. dieser Arbeit. 115  Vgl. 116  Vgl.

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Teil 2: Interdisziplinäre Grundlagen

sichtlich der individuellen Werte um die Frage, wie ausgeprägt und unmittelbar ihre potentielle Steuerungskraft im Rahmen der Persönlichkeitsstruktur eines Individuums zu bewerten ist. Dass sich hierin ein potentieller Anknüpfungspunkt für etwaige strafzumessungsrechtliche Begründungen erblicken lässt, wurde bereits erwähnt. Gerade in den Sozialwissenschaften misst man den individuellen Werten eine besondere Bedeutung für die Persönlichkeitsstruktur, als sog. subjektives Kriterium, zu.120 George C. Homans etwa umschreibt „Werte“ in diesem Kontext als „in bestimmten Vorstellungen begründet […], die einer Gesellschaft mehr oder weniger bewußt sind121 und die das Verhalten, vor allem aber das Bewußtsein, in gewissem Ausmaß bestimmen, ohne daß man sich aber immer daran gebunden hielte. Die Abweichung von diesen Werten wird gewissermaßen so lange toleriert, als man ihnen nicht offen zuwiderhandelt; auch wird dies nicht als ‚abweichendes Verhalten‘ wie beim Verletzen einer Norm qualifiziert. Vielmehr spricht daraus nur die Hinfälligkeit der menschlichen Natur, die sich nicht ständig dem Niveau dieser zu erheben vermag, selbst wenn sie sie als Postulate eines höheren moralischen Bewußtseins grundsätzlich anerkennt“.122 Wie sich zeigt, kommt man auch beim Nachgehen der subjektiven „Wirkung“ von Werten auf individuelles Handeln ohne eine Betrachtung der Relation zwischen Werten und Normen nicht aus. Einigkeit besteht im wissenschaftlichen Diskurs insoweit, als Normen im Gegensatz zu den Werten verbindlicher sind und sich vielmehr auf tatsächliches Verhalten beziehen.123 Die Wertebene diene – es wurde bereits für die kollektivistische Perspektive erwähnt – auch hier zur Ableitung von Normen.124 Peuckert beschreibt in Anlehnung an Kluckhohn Werte als grundlegende bewusste oder unbewusste Vorstellungen vom Wünschenswerten, welche die Wahl von Handlungsarten und Handlungszielen beeinflussen.125 Werte sind demnach überwiegend indirekte Handlungsdirektiven, die erst auf dem Weg über situationsbezogene soziale Normen verhaltenswirksam werden.126 In subjektiver Hinsicht konstituieren Werte eher das individuelle moralische Hillmann, Wörterbuch der Soziologie, Artikel Wert, ebenda. spiegelt sich etwa das soeben erläuterte objektive, kollektivistisch geprägte Kriterium. 122  Vgl. Homans bei König, in: Hirsch/Rehbinder (Hrsg.), Studien und Materia­ lien zur Rechtssoziologie, S. 36 ff. (37); kursive Hervorhebung nicht im Original vorhanden. 123  Vgl. Homans bei König, in: Hirsch/Rehbinder (Hrsg.), Studien und Materia­ lien zur Rechtssoziologie, ebenda. 124  Vgl. Rödder, in: Rödder/Elz (Hrsg.), Alte Werte  – Neue Werte, S. 17. 125  Vgl. Peuckert, in: Schäfers (Hrsg.), Grundbegriffe der Soziologie, Artikel „Werte“, S. 435. 126  Vgl. Peuckert, in: Schäfers (Hrsg.), Grundbegriffe der Soziologie, ebenda. 120  Vgl.

121  Hierin



A. Interdisziplinäre Begriffsbestimmungen51

Bewusstsein.127 Sie liefern demnach gleichsam übergeordnete Motive für individuelle Handlungen. Das zeigt sich auch dadurch, dass sich internalisierte Werte während der Sozialisation eines Individuums, gerade im Zusammenhang mit Normen und Rollen, in ganz persönlichen Wertorientierungen und -vorstellungen ausdrücken.128 Werte und Wertvorstellungen unterscheiden sich von Normen auch durch einen geringeren Bewusstseinsgrad.129 Dem Einzelnen ist „gemeinhin“ gar nicht bewusst, wie seine persönlichen Motivationen und Zielvorstellungen durch erlernte Werte geprägt worden sind.130 Insofern spricht man in der Soziologie auch vom Phänomen einer lebensalltäglichen „Wertbewusstlosigkeit“.131 Daraus wird geschlussfolgert, dass die Verbindlichkeit von Wertvorstellungen nicht an jene von Normen heranreichen kann.132 Das Potential einer mehr oder weniger konkreten Handlungsleitung von Werten bzw. Wertvorstellungen lässt sich nach alledem sicher nur schwer abschätzen, insbes. weil sie einerseits kollektiv und weniger individuell auf das Handeln der Menschen wirken sollen133 und andererseits ganz individuelle Motive für Handlungen darstellen können. Ein Beispiel aus dem Bereich des „Fremdkulturellen“ soll an dieser Stelle zur Verdeutlichung der entsprechenden Perspektiven beitragen. In der deutschen Strafrechtsliteratur ist vor allem „das türkische Werte­ system“134 immer wieder mit Blick auf das Phänomen der „Ehrenmorde“ untersucht worden,135 nicht zuletzt, weil die türkischstämmigen Migranten die größte Gruppe der in Deutschland lebenden Ausländer stellen.136 Im Kontext dieses auf „Ehrenmorde“ fixierten Untersuchungsfeldes spielt die Täter-Opfer-Konstellation eine wichtige Rolle.137 Anhand des Beispiels der von türkischen Frauen im Rahmen der türkisch-patriarchalischen Wertvorstellungen erwarteten Verhaltensweisen und den Reaktionen der Familien Hillmann, Wörterbuch der Soziologie, Artikel Wert, S. 963. Hillmann, Wörterbuch der Soziologie, Artikel Wert, ebenda. 129  I. d. S.  Homans bei König, in: Hirsch/Rehbinder (Hrsg.), Studien und Materialien zur Rechtssoziologie, S. 36 ff. (38). 130  Vgl. Hillmann, Wörterbuch der Soziologie, Artikel Wert, S. 963. 131  Vgl. Hillmann, Wörterbuch der Soziologie, Artikel Wert, ebenda. 132  Gleichwohl ist darauf hinzuweisen, dass diese terminologische Trennschärfe von Werten und Normen nicht immer durchhaltbar erscheint. Die Übergänge sind zuweilen fließend. 133  Vgl. Rödder, in: Rödder/Elz (Hrsg.), Alte Werte  – Neue Werte, S. 9 ff. ( 16). 134  Vor allem das Wertesystem der türkischen Migranten in Deutschland. 135  Vgl. u. a. Pohlreich, Ehrenmorde im Wandel des Strafrechts sowie Erbil, Toleranz für Ehrenmörder?; siehe auch die Studie von Oberwittler/Kasselt, Ehrenmorde in Deutschland 1996–2005. 136  Vgl. Pohlreich, Ehrenmorde im Wandel des Strafrechts, S. 25; Schwind, Kriminologie, § 22, Rn. 1. 137  Vgl. Oberwittler/Kasselt, Ehrendmorde in Deutschland 1996–2005, S. 12. 127  Vgl. 128  Vgl.

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Teil 2: Interdisziplinäre Grundlagen

bei einem Fehlverhalten darauf soll die oben angestoßene Frage nach dem Einfluss von Werten auf Persönlichkeitsstruktur und Verhalten näher beleuchtet werden. Darüber hinaus bietet sich die Möglichkeit, fremdkulturell geborene Motivationen durch spezifische Vorgänge individueller Normsinnerfahrungen und ihrer Wertehintergründe exemplarisch begreifbar zu machen. Nach den traditionellen Ehrvorstellungen haben sich türkische Mädchen und Frauen tugendhaft zu verhalten, ihre Jungfräulichkeit für die Ehe zu bewahren, die Würde des Mannes zu achten, Höflichkeitsformen zu beachten sowie religiöse Gebote zu befolgen.138 Diese Angaben basieren auf einer wissenschaftlichen Umfrage der türkischen Frauenrechtsorganisation KAMER in Südostanatolien.139 Umfragen unter Studenten an der Konya Universität sowie der Universität Ankara kamen zu ähnlichen Ergebnissen, was den möglichen Einwand der Bildungsferne der Umfrageteilnehmer nicht durchschlagen lässt.140 Bei den besagten Ehrvorstellungen handelt es sich um Verhaltenserwartungen der Familie gegenüber den Mädchen und Frauen, die ihr Fundament in verschiedenen Wertvorstellungen finden und in weiten Teilen der türkischen Bevölkerung den Status von (informellen) Normen erreicht haben.141 Interessant für ein Werteverständnis in Hinblick auf mögliche Konsequenzen für die Persönlichkeit und die Handlungsmotivation im beschriebenen Kontext wird es dann, wenn nach den Reaktionen der patriarchalisch geführten Familien bei entsprechendem Fehlverhalten der oft jungen Frauen oder Mädchen gefragt wird. Denn nicht immer sind zwingende Sanktionen bzw. Sanktionsformen, wie es bei einer Norm zu erwarten wäre, vorgesehen.142 Die Erwiderungen auf Verstöße gegen die einschlägigen Wertvorstellungen können somit in Qualität und Quantität zum Teil erheblich voneinander abweichen und sind auch regionalen Differenzen unterworfen.143 Es muss also in diesen Fällen nicht zwangsläufig aufgezeigt bei Pohlreich, Ehrenmorde im Wandel des Strafrechts, S. 29 f. Pohlreich, Ehrenmorde im Wandel des Strafrechts, S. 29. 140  Pohlreich, Ehrenmorde im Wandel des Strafrechts, S. 31. 141  Vgl. Pohlreich, Ehrenmorde im Wandel des Strafrechts, S. 28 f. 142  An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass diese Aussagen nur für jene Muslime gelten, die nach der Scharia leben. Die Scharia, als „Summe“ aller islamischen Gesetze, regelt jeden Lebensbereich, also auch das formelle und informelle Strafrecht, vgl. Erbil, Toleranz für Ehrenmörder?, S. 225 ff. Da die Scharia aber keine öffentliche Klage kennt, kommt es auch in diesem Bereich auf die accusatio des Geschädigten an, vgl. Pohlreich, Ehrendmorde im Wandel des Strafrechts, S. 45. Erbil, Toleranz für Ehrenmörder?, S. 229, gibt in diesem Kontext jedoch zu Recht zu beachten, dass die Praxis der Ehrenmorde zwar häufig, aber nicht ausschließlich in Gebieten mit überwiegend muslimischer Bevölkerung als Phänomen anzutreffen ist. 143  Vgl. Pohlreich, Ehrenmorde im Wandel des Strafrechts, S. 26, 33 f. 138  So

139  Vgl.



A. Interdisziplinäre Begriffsbestimmungen53

zum sog. „Ehrenmord“ oder in der Folge zur „Blutrache“ kommen.144 Vor allem aber bestehen sogar erhebliche Zweifel, ob überhaupt Reaktionen auf Fehlverhalten erfolgen müssen, soweit dieses nicht außerhalb des Familienverbandes bekannt geworden ist.145 Insoweit ist es nicht unüblich, einen internen „Normbruch“ schlicht zu verschweigen, denn ein der Öffentlichkeit nicht bekannt gemachter Fehltritt dieser Art zeitige keine negativen Folgen, weil die Ehre, als in Frage stehender Wertbegriff des Mannes bzw. die Würde der Familie innerhalb der Gesellschaft derart nicht verletzt werden konnte.146 Im Übrigen geht diese Praxis auch mit den Grundsätzen der Scharia konform, die keine öffentliche Klage kennt.147 Das Vorherrschen des Akkusationsprozesses mag dabei an die mittelalterliche Praxis in Europa erinnern.148 Jedenfalls kommt es demnach vorwiegend auf ein nachaußen-Gelangen der ehrrührigen und deshalb despektierlichen Tatsachen an. Handlungsleitend ist damit ein Gesamtgefüge von Werten, welches spezifisch auf die Vulnerabilität der männlichen Ehre oder der Familienwürde ausgerichtet ist. Einen Verstoß gegen die geltenden Wertvorstellungen zu sanktionieren oder nicht, hängt damit hauptsächlich von den Konsequenzen des Werte- bzw. Normbruches für die Familien- oder Männerehre ab. Daneben ist es aber auch möglich, dass schon die bloße Vermutung eines despektierlichen „Normbruchs“ Reaktionen der Familienmitglieder auslöst.149 Der Verstoß gegen die patriarchalischen Verhaltensnormen unter den soeben beschrieben Umständen stellt somit häufig „nur“ eine mögliche Motivation und Rechtfertigung für die Täter dar, da sie die verinnerlichten Wertvorstellungen im patriarchalischen System als „absolut bindend“ erachten.150 Ihnen verbleibt jedoch ein Handlungsspielraum, dessen Reichweite maßgeblich von den durch die Gesellschaft zu befürchtenden informellen Repressionen abhängt. Letztlich bedeutet das nichts anderes, als dass den Tätern trotz allem die Wahl bleibt. Sozialpsychologische Untersuchungen konnten nachweisen, dass Menschen „in aller Regel“ das tun, was allgemein bzw. was in ihrer Umgebung 144  Zu den Unterschieden von Ehrenmorden und Blutrache, vgl. etwa Pohlreich, Ehrenmorde im Wandel des Strafrechts, S. 46, m. w. N.; siehe dazu auch Oberwittler/ Kasselt, Ehrenmorde in Deutschland 1995–2006, S. 19 f. 145  Wie im Übrigen auch historisch für den hiesigen Kulturkreis relevant. 146  Pohlreich, Ehrenmorde im Wandel des Strafrechts, S. 34; zur Unterscheidung der türkischen Ehr-, Achtungs- und Würdebegriff, vgl. Pohlreich, Ehrenmorde im Wandel des Strafrechts, S. 26 ff. 147  Vgl. Pohlreich, Ehrenmorde im Wandel des Strafrechts, S. 45. 148  Vgl. dazu Rüping/Jerouschek, Grundriss der Strafrechtsgeschichte, § 2, Rn. 21 et al. 149  Vgl. Pohlreich, Ehrenmorde im Wandel des Strafrechts, S. 53. 150  Vgl. Pohlreich, Ehrenmorde im Wandel des Strafrechts, ebenda.

54

Teil 2: Interdisziplinäre Grundlagen

als richtig empfunden wird, also das, was als Normalität angesehen oder gesetzt wird.151 Auch der semantische Kontext zeigt, dass „die Ebenen der immateriellen Werte“ und „des konkreten Handelns“ (Normalität und Norm) in einem engen Zusammenhang und Wechselverhältnis stehen.152 Die kollektive Normalität prägt den Menschen und erschwert ihm individuelles nonkonformes Handeln;153 und durch die Verbindung (sozialer) Normen mit Sanktionen sind Werte damit zugleich indirekt sanktioniert154, weil sie das Normalitätsgefüge maßgeblich mitbestimmen. Die Verhaltens- und Sozialwissenschaften liefern insofern wertvolle Beiträge zur Beleuchtung bestimmter Phänomene, die auch für strafzumessungsrechtliche Bewertungsfragen, die gerade nicht auf der Höhe von Kultur und Werten stattfinden, relevant werden könnten. Hinsichtlich der Tatmotivation von sog. „Ehrenmördern“ konnte das Beispiel jedenfalls zeigen, auf welche individuellen Normsinnerfahrungen und Wertehintergründe dabei mit Blick auf die Motivationslage abgehoben werden könnte. Um auf die eingangs aufgeworfene Frage nach den Einflüssen von Werten auf individuelles Handeln zurück zu kommen, bleibt Folgendes festzuhalten: Werte bzw. Wertvorstellungen können, vor allem was die Persönlichkeitsstruktur und die Motivationsentwicklung betrifft, mitbestimmend sein. Die Annahme ausschließlicher Handlungsleitung liegt hingegen fern. Nonkonformes Verhalten, also Verhalten gegen kollektive Erwartungen, ist zwar grds. möglich, hängt jedoch von vielen Faktoren ab. Das haben etwa die Milgram-Experimente155 eindrucksvoll belegen können. Dort spielten, je Rödder, in: Rödder/Elz (Hrsg.), Alte Werte  – Neue Werte, S. 9 ff. (14). Rödder, in: Rödder/Elz (Hrsg.), Alte Werte  – Neue Werte, ebenda. 153  Vgl. Rödder, in: Rödder/Elz (Hrsg.), Alter Werte  – Neue Werte, S. 9 ff. (16). 154  Vgl. Hillmann, Wörterbuch der Soziologie, Artikel Wert, S. 962 f. (963). 155  Vgl. insgesamt und ausführlich zu den Milgram-Experimenten, Neubacher, Kriminologie, S. 103 ff.: Bei den Milgram-Experimenten der 1960er Jahre an der Yale Universität in New Haven, Connecticut, wurde den Probanden erklärt, es gehe darum, die Wirkung von Bestrafung auf die Gedächtnisleistung eines sog. „Schülers“ zu untersuchen. Tatsächlich war dies aber nur ein Vorwand, hinter welchem die Probanden im Dunkeln gelassen worden waren, um ein Gehorsamsexperiment durchzuführen. Eine Person – dies waren dank manipulierter Rollenauslosung immer die Versuchsteilnehmer –, die als „Lehrer“ bezeichnet wurde, sollte Begriffspaare vorlesen, welche der „Schüler“ zu rekapitulieren hatte. Für jeden dabei begangenen Fehler, sollte er von der Testperson, dem „Lehrer“, einen Stromschlag erhalten. Jeder weitere Fehler sollte einen intensiveren Stromschlag nach sich ziehen, sukzessive von 15 Volt bis 450 Volt. Der Testperson wurde dabei auch erläutert, wie der „Schüler“ mit den Gerätschaften verbunden sei und Anzeigen auf den Schalttafeln zeigten der Testperson auch den Gefährlichkeitsgrad der Stromschläge an. Der Proband erhielt auch selbst einen 45 Volt Schlag zu Beginn, um sich der Gefährlichkeit der zu verteilenden Schläge auch bewusst zu sein. Nun war der „Schüler“ aber vom Forscherteam dahingehend instruiert, viele Fehler zu machen 151  Vgl. 152  Vgl.



A. Interdisziplinäre Begriffsbestimmungen55

nach Versuchsanordnung, neben dem ganz zentralen Wert der Gehorsamkeit gegenüber Autoritäten, welcher grds. Teil der Sozialisation jedes Individuums einer Gesellschaft ist, auch sog. instrumentelle Werte156 eine Rolle. Die Versuchsreihen „akustische Rückkopplung“, bei welchen immerhin ein akustischer Kontakt zum „Schüler“ bestand, könnten hierfür angeführt werden. Ferner wurden die Handlungen der Versuchsteilnehmer auch maßgeblich von empathischen Werten wie Mitleid beeinflusst. Je nach Ansprechbarund Motivierbarkeit, Tatsituation usw. kann demnach ein ganz spezifisches Wertgefüge, das sich in Wertvorstellungen beim Täter manifestiert hat, mitursächlich für bestimmte, also auch abweichende Verhaltensweisen sein. Dass die Antwort auf die Ausgangsfrage damit nur vergleichsweise grob umrissen werden konnte, schadet dem Anliegen dieses Abschnitts nicht. Ein wichtiger Punkt, den es in dieser Sache sicher zu berücksichtigen gilt, wenn man die rechtliche Perspektive wieder näher in den Blick nimmt, soll an dieser Stelle noch nachgetragen werden. Unabhängig davon, wie plausibel man die Einflüsse von Wertvorstellungen auf individuelles Handeln begründen mag, nennt die lex lata dem Strafrichter hierfür jedenfalls wichtige Anhaltspunkte. Alle in § 46 II StGB genannten Strafzumessungsumstände, welche die subjektiven Befindlichkeiten anlangen, lassen sich in einen Begründungszusammenhang zu motivbildenden Wertvorstellungen setzen, namentlich die persönlichen Verhältnisse des Täters, die Ziele und Beweggründe, die Gesinnung oder auch der bei der Tat aufgewendete Wille. und so hypothetisch Stromschläge zu erhalten. Tatsächlich aber erhielt der „Schüler“ nur scheinbar strafende Stromschläge, er war Schauspieler. Den einzig echten, erhielt der „Lehrer“ als sog. Versuchsschlag i. H. v. 45 Volt. Interessant für die Werteebene werden die Milgram-Experimente, wenn man die Ergebnisse untersucht. In einer Versuchsreihe („akustische Rückkopplung“) lag die Quote der Gehorsamen, d. h. jene Probanden haben dem „Schüler“ alle Stufen bis 450 Volt verabreicht, bei 62,5 %. Das verdeutlicht nicht nur, dass der Wert „Gehorsam gegenüber Autoritäten“ eine erhebliche Rolle bei den „Schülern“, die allesamt aus der „Normalbevölkerung“ rekrutiert wurden, gespielt haben muss. Es verdeutlich auch, dass entsprechend der Persönlichkeit der Versuchsteilnehmer tatsächlich auch ein „ganz normaler Mensch“ ohne charakterliche Defizite dazu gebracht werden kann, geradezu unmenschliche Taten zu begehen. Daneben spielte freilich auch die von den Versuchsleitern geschaffene Normalität eine Rolle, ebenso wie die dadurch beim Probanden geschaffenen Motivlagen. Immerhin wurde den Versuchsteilnehmern suggeriert, dass ihr Verhalten, Stromschläge zu erteilen, von ihnen erwartet wird. Das hätten auch schon diverse Versuchsteilnehmer zuvor genauso getan. Interessant ist, dass Neubacher die Ergebnisse der Experimente hinsichtlich der einzelnen Probandengruppen (Gehorsame, Mitläufer und Verweigerer) in Hinblick auf die daraus zu ziehenden Erkenntnisse des Grades der Vorwerfbarkeit individuellen Handelns mit Erwägungen zur Strafzumessung zumindest in Verbindung bringt (ebenda, S. 109). 156  Zum Begriff der instrumentellen Werte, vgl. die Übersicht bei Hillmann, Wörterbuch der Soziologie, Artikel Wert, S. 963.

56

Teil 2: Interdisziplinäre Grundlagen

Nach alledem wird der Tatrichter in evidenten Fällen kaum umhin kommen, sich strafzumessungsrechtlich auch mit den Wertvorstellungen des Täters zu befassen, soweit sie „tatrelevant“ gewesen sind – und diese Möglichkeit besteht, wie aufgezeigt werden konnte.

II. Zusammenfassung aus dem interdisziplinären Diskurs An dieser Stelle bietet es sich zunächst an, die herausgearbeiteten Erkenntnisse auf eine Begriffsbestimmung zu konzentrieren. Fremdkulturelle Wertvorstellungen können als die grundlegenden und zentralen Orientierungsleitlinien für das soziale Zusammenleben eines Kollektivs sowie als sämtliche, die Persönlichkeitsstruktur und die Handlungsmotive eines Individuums mitbestimmenden Anschauungen über Werte, Normen, Lebens- und Denkweisen betrachtet werden, die sich je nach Grad ihrer Bedeutung im kollektiven bzw. individuellen Wertgefüge über einen bestimmten Zeitraum entwickelt sowie verfestigt haben und in der Begegnung mit anderen kulturellen Entitäten oder Identitäten Differenzen in bestimmten Charakteristika aufweisen. Die Ansätze eines methodischen Umgangs mit dem Begriff wurden in den jeweiligen Abschnitten zur interdisziplinären Trias herausgearbeitet. Einen m. E. wichtigen Punkt gilt es in dieser Schlussbetrachtung des interdisziplinären Teils noch anzureißen, nämlich die Relevanz vom Selbstverständnis der eigenen Kultur und ihrer Grundlagen. Denn diesem Verständnis von der inländischen, also nicht fremden Kultur ist in Anbetracht der differenztheoretischen Elemente der gesamten Diskussion eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für eine Vielzahl von möglichen Einzelfallfragen beizumessen. Das gilt entsprechend für das juristische Korsett der Thematik. Obwohl dieser Hinweis ganz grundlegend zu verstehen ist, soll sich hier explizit auf eines der m. E. herausragenden Elemente eines jeden kulturellen Wertesystems beschränkt werden. Dreier etwa bemerkt diesbzüglich: „Wer von Kultur spricht, kann von Religion nicht schweigen“.157 Bei Huntington heißt es: „Von allen objektiven Elementen, die eine Kultur definieren, ist jedoch das wichtigste für gewöhnlich die Religion […]“.158 Für die Rechtspraxis, aber auch für theoretische Diskurse, wird in Hinblick auf das hiesige kulturelle Wertesystem für diverse Einzelfragen die moralisch-sittliche und damit auch religiös befruchtete Herleitung des 157  Vgl. Dreier, in: Dreier/Hilgendorf (Hrsg.), Kulturelle Identität als Grund und Grenze des Rechts, S. 11 ff. (16). 158  Vgl. Huntington, Kampf der Kulturen, S. 52.



A. Interdisziplinäre Begriffsbestimmungen

57

Rechts eine wichtige Stellung einnehmen. Das haben schon die Ausführungen zur kulturellen Relevanz von Werten und den Wertbeziehungen des Strafrechts nahe gelegt. Grundsätzlich sollte der religiös bedingte Einfluss auf das inländische Werte- und Normensystem, trotz der Säkularisierung im Rechtsstaat, nach wie vor nicht unterschätzt werden. Die historischen Bezüge der Gesellschaft sowie der Rechtsordnung zu religiösen Wurzeln sind auch im westlichen Kulturkreis ubiquitär. Das gilt bspw. auch für die essentiell bedeutsamen Kernwerte des Grundgesetzes. Dieser weltliche Bezug von Religion kann in ganz unterschiedlicher Weise zum Problemfaktor werden, etwa wenn die Außenorientierung seitens einiger Religionsgemeinschaften dazu führt, abseits ihrer Glaubensüberzeugungen sog. Exklusivitäts- oder Überlegenheitsansprüche zu formulieren, die u.  a. zu sozialer Exklusion und politischer Marginalisierung führen können.159 Das kann dann seinerseits die Entwicklung zusätzlicher kriminogener Faktoren bei den Mitgliedern dieser Gruppen fördern sowie die Akzeptanz von strafrechtlichen Entscheidungen gefährden.160 Eine von Brettfeld und Wetzels vorgelegte Studie weist zwar darauf hin, dass der Forschungsstand u. a. „charakteristische Lücken“ dahingehend aufweist, welchen Stellenwert die Religion (dort speziell der Islam) für Zuwanderer hat.161 Jedoch deuten von ihnen ausgewertete Studien darauf hin, dass die Religion bspw. für türkisch stämmige Zuwanderer ein wichtiger Bezugspunkt für rechtliche Funktionssysteme ist.162 Für die Bewertung von interkulturellen Konflikten gilt es insofern zu beachten, dass die hiesige Rechtskultur nach wie vor von einer „christlichen Mehrheitskultur“ und ihren Werten getragen wird.163 Die fortlaufende Abnahme kirchlicher Bindungen und die damit einhergehende Individualisierung ideologischer und weltanschaulicher Einstellungen164 ändert daran derzeit noch ebenso wenig wie die zunehmende Anzahl von nicht-christlichen Einwanderern, wenngleich diese Entwicklung in Zukunft eine andere Bewertung bedingen könnte. Das sollte für die Brettfeld/Wetzels, Muslime in Deutschland, S. 54 f. dazu insgesamt näher unten, Teil 3, A. 161  Vgl. Brettfeld/Wetzels, Muslime in Deutschland, S. 49. 162  Vgl. Brettfeld/Wetzels, Muslime in Deutschland, S. 54. 163  Vgl.  Oberwittler/Kasselt, Ehrenmorde in Deutschland 1996–2005, S. 1; siehe auch Dreier, in: Dreier/Hilgendorf (Hrsg.), Kulturelle Identität als Grund und Grenze des Rechts, ebenda; zur christlich kulturellen Grundlage des deutschen Verfassungsrechts, siehe Möllers, in: Dreier/Hilgendorf (Hrsg.), Kulturelle Identität als Grund und Grenze des Rechts, S. 223 ff. (231) m. w. N. 164  Vgl. etwa Renzikowski, in: NJW 2014, S. 2539 ff. (2539); i. d. S. auch Hilgendorf, in: StV 2014, S. 555 ff. (555); siehe auch Hörnle, Kultur, Religion, Strafrecht – Neue Herausforderungen in einer pluralistischen Gesellschaft. Gutachten C zum 70.  Deutschen Juristentag, C.  10. 159  Vgl. 160  Vgl.

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Teil 2: Interdisziplinäre Grundlagen

normativ-verstehende Analyse von Entscheidungen der deutschen Strafrechtspflege, die einen fremdkulturellen Einschlag aufweisen, nicht unbeleuchtet bleiben.

B. Grundbegriffe im personellen Kontext I. Allgemeines Die Kenntnis der für die Arbeit relevanten Terminologie in Hinblick auf die Person des „Fremden“ sowie seiner rechtlichen Stellung ist nicht nur für das Gesamtverständnis des Themas von großer Bedeutung. Wie sich noch zeigen wird, erreicht dieser Aspekt auch die spezifisch rechtspraktische Ebene etwa dann, wenn die Frage nach der strafzumessungsrechtlichen Berücksichtigung ausländerrechtlicher Folgen für den Angeklagten akut wird.165 Daneben werden sich im Verlauf der Untersuchung eine Vielzahl weiterer Anwendungsspielräume strafzumessungsrechtlicher Regeln zeigen lassen, die zunächst scheinbar an die Ausländereigenschaft anknüpfen, sich jedoch bei genauerer Betrachtung als Probleme weit weniger formeller Umstände herausstellen.166 Derartig pauschales, undifferenziertes und stereotypisiertes Abheben auf den Status, die Staats- oder Volkszugehörigkeit, legt nicht nur den Verdacht einer unzulässigen Vereinfachung komplexer Sachverhalte nahe,167 sondern spiegelt zugleich den manchmal vordergründigen Umgang mit der Problematik durch die Instanzen. Im bewussten Gegensatz zu anderen Abhandlungen mit thematischen Schnittmengen zur vorliegenden Arbeit soll deshalb auf die Bezeichnung dieses Abschnitts als „ausländerrechtliche Grundbegriffe“ o. ä. verzichtet. Einerseits wird das Ausländerrecht von der Arbeit nur in geringem Umfang, nämlich i. R. d. ausländerrechtlichen Folgen beleuchtet. Andererseits konnte deutlich gemacht werden, dass es nicht nur auf die Ausländereigenschaft im formellen Sinne ankommen kann, wenn man über die Möglichkeiten der strafzumessungsrechtlichen Berücksichtigung von fremdkulturellen Wertvorstellungen und sich in deren Fahrwasser befindlichen Umständen spricht. Maßgeblich ist daher die individuelle Phänomenologie des Täters und seiner Tat in ihren besonderen Bezügen. Die Gefahr von Pauschalisierungen und unzulässigen Simplifizierungen lässt sich nur bei einer entsprechend differenzierten Betrachtung der Sachverhalte umgehen. Wir müssen demnach 165  Vgl.

dazu unten Teil 4, B., IV. dazu unten Teil 4, B., insbes. VI., VII. 167  I. d. S.  auch Hörnle, Kultur, Religion, Strafrecht – Neue Herausforderungen in einer pluralistischen Gesellschaft. Gutachten  C zum 70.  Deutschen Juristentag, C. 81. 166  Vgl.



B. Grundbegriffe im personellen Kontext59

grds. davon ausgehen, auch formal als Deutsche zu bezeichnende Täter mit Migrationshintergrund u. ä. für die weiteren Überlegungen mit einzubeziehen, um den phänomenologisch interessierenden Personenkreis adäquater zu fassen. Daher ist sich im Folgenden auch um eine nähere Klärung der personellen Begriffe im Zusammenhang mit dem formal Deutschen wie Nichtdeutschen zu bemühen.

II. Personen mit anderem (bzw. fremdem) kulturellen Hintergrund Die in der Arbeit relevante Terminologie in personeller Hinsicht wird demgemäß von einem dichotomen Verständnis geprägt sein, einem formellen und einem informellen. Einerseits müssen die streng formellen Begriffe des „Deutschen“ und des „Nichtdeutschen“ oder „Ausländers“ klar geschieden werden, weil gesetzliche Vorgaben an sie anknüpfen. Andererseits ist es zwingend notwendig, auch mit solchen für das (Straf‑)Recht nicht positivistisch umgesetzten, jedoch für zahlreiche Einzelfragen, wichtigen Begriffen sicher umzugehen, die im Zusammenhang mit dem formellen „Fremden“ stehen. Hierzu können exemplarisch etwa bestimmte Gruppen von „Migranten“ oder „Deutschen mit Migrationshintergrund“ gezählt werden, soweit sie einen entsprechenden fremdkulturellen Hintergrund aufweisen. Diese Bezugsgruppe kann daher im weiteren Verlauf der Arbeit als „Personen mit anderem (oder fremdem) kulturellen Hintergrund“ beschrieben werden, da sich gezeigt hat, dass es sich hierbei um das Herausstellungsmerkmal dieser besonderen „Gruppe“ handelt, welches sich wiederum individuell abhängig vom jeweiligen spezifischen kulturellen Hintergrund in den einzelnen Charakteristika stark ausdifferenziert darstellen kann. Die im Rahmen der Arbeit primär interessierenden Personen sind folglich nicht immer anhand ihres formellen Status‘ zu erkennen. Die Phänomenologie von Personen mit anderem bzw. fremdem kulturellen Hintergrund wurde bereits oben im interdisziplinären Teil ausgeleuchtet.

III. Deutsche Deutscher i. S. d. Grundgesetzes ist jeder, der die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. Das bezieht sich folglich stets auf den formellen Status gem. Art. 116 I GG. Der Bundesgesetzgeber bestimmt das Nähere in Ausübung seiner Kompetenz nach Art. 73 Nr. 2 GG derzeit nach dem StAG.168 Aber auch Flüchtlinge und Vertriebene deutscher Volkszugehörigkeit bzw. deren 168  Vgl.

Hillgruber, in: BeckOK GG, Art. 116, Rn. 3.

60

Teil 2: Interdisziplinäre Grundlagen

Ehegatten oder Abkömmlinge können unter den Voraussetzungen des Art. 116 I GG „Deutsche“ sein bzw. die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben.169 Daneben hat die Regelung des Art. 116 II GG als Grundlage für zahlreiche Wiedereinbürgerungen von Personen gedient,170 bei denen aufgrund ihrer Biographie nicht zwingend festzustellen war, ob sie an ihrer Herkunftskultur festgehalten haben. Insbesondere (Spät‑)Aussiedler sind demnach formal betrachtet zwar „Deutsche“. Sie können aber in vielerlei Hinsicht ebenso wie „Eingebürgerte“ spezifisch fremdkulturelle Lebensweisen beibehalten haben. Das kann dann einerseits für den Bereich kriminologischer Zusammenhänge und Fragen zu Problemen führen, wenn sich bspw. die spezifisch fremdkulturellen Eigenheiten von Tat und Täter nicht (mehr) anhand des Status’ der Person feststellen lassen.171 Andererseits konfrontiert diese Lage auch die praktische Seite des Strafrechts mit zahlreichen Problemen, etwa weil spezifische Fragen der Ausermittlung des Strafzumessungssachverhalts keinen deutlichen Indikatoren folgen können. Auch deshalb droht die statistische Erfassung der Kriminalitätsbelastung dieser Personengruppen völlig an Plausibilität zu verlieren, weil die spezifischen Kriminalitätsrisiken weniger vom Pass als vom kulturellen Hintergrund abhängig sind.172 Die rein formelle Scheidung in „Deutsche“ und „Nichtdeutsche“, wie sie etwa die PKS aufweist, stellt sich in Anbetracht der Heterogenität beider Gruppen als nicht mehr zeitgemäß dar. Gem. § 3 StAG gibt es darüber hinaus zahlreiche weitere Möglichkeiten, die deutsche Staatsangehörigkeit zu erwerben. Die Einbürgerung i. S. v. § 3 I Nr. 5 StAG stellt dabei das wichtigste Instrument dar. Insofern sollte schon jetzt deutlich geworden sein, dass die als informell zu verstehende fremdkulturelle Prägung spezieller Täter nicht mit einem bestimmten Status zusammenfallen muss.

IV. Ausländer und Nichtdeutsche Im Gegensatz zur Positivbestimmung des „Deutschen“ in Art. 116 I GG ist „Ausländer“ gem. § 2 I AufenthG jeder, der nicht Deutscher i. S. d. Grundgesetzes ist.173 Jedoch sagt auch dieser Status über etwaige fremdkul169  Vgl. dazu etwa Renner/Maaßen, in: Hailbronner/Renner/Maaßen, Staatsangehörigkeitsrecht, Teil  II, Art. 116, Rn. 21; Hillgruber, in: BeckOK GG, Art. 116, Rn.  5 ff. 170  Vgl. Renner/Maaßen, in: Hailbronner/Renner/Maaßen, Staatsangehörigkeitsrecht, Teil  II, Art. 116, Rn. 90 ff. 171  Vgl. dazu auch unten Teil 3, A. 172  Vgl. dazu unten Teil 3, A. 173  Vgl. Schmidt, Verteidigung von Ausländern, Rn. 14; siehe auch Teubner, in: Graduszewski/Vettermann  (Hrsg.), „Fremder kommst du nach Deutschland  …“, S. 49 ff. (56).



C. Einführung in die Grundlagen der Strafzumessung

61

turelle Lebensweisen genauso wenig aus wie der Status eines „Deutschen“ über das Nichtvorliegen eben dieser. Der Begriff des Nichtdeutschen steht zwar schon prima facie in einem engen Kontext zum Ausländerbegriff. Er ist aber grds. weiter gefasst. Auch Personen ohne feststellbare Staatsangehörigkeit und Staatenlose lassen sich hier beiordnen.174 Er wird vor allem in der PKS und in der kriminologischen Literatur verwendet.

C. Einführung in die Grundlagen der Strafzumessung I. Vorbemerkungen Endlich sollen die im Rahmen der Arbeit relevanten Grundbegriffe der Strafzumessung, ihr technischer und allgemeiner Sprachgebrauch sowie einige notwendige Grundzüge der Strafzumessung erläutert werden. Dies erscheint neben den eingangs erwähnten Gründen auch insoweit unabdingbar, als die Etablierung eines spezifisch strafzumessungsrechtlichen Sprachgebrauchs in den letzten Dekaden zu einer Vielzahl von terminologischen Missverständnissen geführt hat und bis heute zuweilen noch führt.175

II. Begriffliche Grundorientierung 1. Strafzumessung und Strafbemessung Der zentrale strafrechtliche Begriff der vorliegenden Arbeit ist die Strafzumessung (kurz StrZ). Sie umfasst sowohl die Auswahl der Strafart als auch die Bestimmung der Strafhöhe.176 Dieser Begriff hat sich entgegen der vom Gesetzgeber für den zweiten und dritten Teil des StGBs verwendeten Terminologie der „Strafbemessung“ im juristischen Sprachgebrauch durchgesetzt.177 Daher unterscheidet man heute weitgehend zwischen gesetzlicher bzw. gesetzgeberischer Strafbemessung einerseits und richterlicher Strafzumessung andererseits.178 Alternativ hat Bruns Mitte der 1980er Jahre zwischen gesetzlichen Strafbestimmungs- und richterlichen StrafzumessungsSchmidt, Verteidigung von Ausländern, ebenda. ist insofern, dass Grundlagenwerke zur Strafzumessung noch heute den sanktionsrechtlichen Sprachgebrauch überdeutlich abklären müssen, vgl. etwa Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 1. 176  Vgl. Streng, Strafrechtliche Sanktionen, ebenda; siehe auch Bruns, Das Recht der Strafzumessung, S. 4. 177  Vgl. Streng, Strafrechtliche Sanktionen, ebenda. 178  So bei Streng, Strafrechtliche Sanktionen, ebenda. 174  Vgl.

175  Bemerkenswert

62

Teil 2: Interdisziplinäre Grundlagen

gründen differenziert.179 Diese Terminologie konnte sich – soweit ersichtlich – jedoch nicht durchsetzen. 2. Strafzumessung im engeren und im weiteren Sinne Wichtig ist ferner die allgemein anerkannte Differenzierung des Begriffs der Strafzumessung im engeren und im weiteren Sinne.180 Die Strafzumessung i. e. S. umfasst dabei allein die Strafhöhenbestimmung.181 Hierher gehören auch solche Entscheidungen wie die sog. Straffreierklärung, die einen Schuldspruch ohne Strafausspruch darstellt.182 Die Strafzumessung i.  w.  S. meint hingegen die nach der eigentlichen Strafmaßfixierung einsetzenden Folgeentscheidungen.183 Hierher gehören insbes. die Fragen der Strafaussetzung zur Bewährung sowie des bedingten Erlasses des Strafrestes (§§ 56, 57 StGB), einschließlich der Erteilung von Auflagen und Weisungen.184 Diese Differenzierung der Strafzumessung wird aus zwei Gründen für die Arbeit von Relevanz sein. Zunächst ist es wichtig festzuhalten, dass zwischen der Strafzumessung i. e. S. und i. w. S. das sog. Antinomieproblem der Strafzwecke unterschiedlich geregelt ist.185 Während für die Strafzumessung i.  e.  S.  das Schuldprinzip vorherrschend ist, steht die Strafzumessung i. w. S. unter dem Primat der präventiven Gesichtspunkte.186 Dies erweist sich als unmittelbar relevant für den zweiten Aspekt. Wesentlicher Schwerpunkt der Arbeit wird die Strafzumessung i. e. S. sein. Der primäre Untersuchungsgegenstand ist hier durch die Berücksichtigung fremdkultureller Wertvorstellungen bei der konkreten Strafmaßbildung gekennzeichnet. Nur sekundär soll die Strafzumessung i. w. S. zum Gegenstand der Betrachtung gemacht werden. Dabei ist bspw. an besondere Aspekte der Berücksichtigung ausländerrechtlicher Folgen in der Strafzumessung zu denken.187 Besondere Fragen der Strafaussetzung zur Bewährung sowie besondere Fragen des Jugendstrafrechts bei fremdkulturellen Fallkonstellationen sollen soweit wie möglich unberührt bleiben. etwa bei Bruns, Das Recht der Strafzumessung, ebenda. Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 479. 181  Vgl. Streng, Strafrechtliche Sanktionen, ebenda. 182  Vgl. Bruns, Das Recht der Strafzumessung, S. 5. 183  Vgl. Bruns, Das Recht der Strafzumessung, ebenda. 184  Vgl. Bruns, Das Recht der Strafzumessung, ebenda. 185  Vgl. Bruns, Das Recht der Strafzumessung, ebenda. 186  Vgl. Bruns, Das Recht der Strafzumessung, ebenda. 187  Vgl. unten, Teil 4, B., IV. 179  So

180  Vgl.



C. Einführung in die Grundlagen der Strafzumessung

63

III. Wichtige systematische und begriffliche Grundlagen der Strafzumessung Notwendig erscheint ferner die Aufnahme gewisser Grundzüge der Strafzumessung in den Grundlagenteil. Das muss vor allem der über die Grundlagenbegriffe hinausgehenden Schärfung der Perspektive in Hinblick auf die strafzumessungsrechtlichen Bedürfnisse der übergeordneten Fragestellung dienen. Dazu sind sowohl das Instrumentarium als auch einige Aspekte der Methode der Strafzumessung in ihren Grundzügen näher zu beleuchten. 1. Die gesetzlichen Grundlagen Das deutsche Strafrecht beinhaltet ein breites Spektrum an formellen und materiellen Normen, welche eine Vielzahl verschiedener Reaktionen auf eine Straftat ermöglichen.188 Das Kernstück des strafzumessungsrechtlichen Instrumentariums de lege lata stellt § 46 StGB dar. Dabei handelt es sich um die einzige allgemeine Strafbemessungsvorschrift, die eine Aussage darüber trifft, wie die tatsächliche Endstrafe aus dem einschlägigen Strafrahmen zu gewinnen ist.189 Nach § 46 I StGB (früher § 13 StGB a. F.)190 ist die Schuld des Täters Grundlage für die Zumessung der Strafe, wobei die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind, Berücksichtigung finden müssen. Gem. § 46 II StGB wägt das Gericht bei der Zumessung der Strafe die Umstände, die für und gegen den Täter sprechen, gegeneinander ab. Wobei namentlich u. a. in Betracht kommen: die Beweggründe und Ziele des Täters, die Gesinnung, das Maß der Pflichtwidrigkeit, das Vorleben und die persönlichen sowie wirtschaftlichen Verhältnisse. Diese Aufzählung ist nach unbestrittener Auffassung nicht abschließend, weshalb sich in diesem Kontext die Frage aufdrängt, ob fremdkulturelle Wertvorstellungen in ihren verschiedenen Ausprägungen neben die exemplifizierten Umstände des Katalogs treten können oder aber, ob die aufgelisteten Umstände bereits dergestalt eine hinreichende Berücksichtigung fremdkulturell bedingter Besonderheiten erlauben. Daher muss i. R. d. folgenden Überlegungen § 46 StGB in den Fokus rücken, weil er über die Aussage der Grundlagenformel hinaus eine Leitlinie für die zulässigen Umstände gibt, denen ein Gewicht bei der Strafmaßbildung beigemessen werden kann. Damit kommt § 46 StGB auch eine herausgehobene Bedeutung für die Behandlung fremdkultureller Fallkonstellationen bei.191 Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 23. Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 521. 190  Vgl. zur Judikatur im Rahmen der nunmehr historischen Gesetzeslage auch unten, Teil 4, A. 191  Vgl. dazu im Einzelnen unten Teil 5, A. 188  Vgl. 189  Vgl.

64

Teil 2: Interdisziplinäre Grundlagen

In prozessualer Hinsicht sind vor allem die §§ 160 III und 267 III StPO von Bedeutung, weil sie die Erhebung von für die Strafzumessung erheblichen Umständen bestimmen.192 Sie regeln damit die Erhebung der tatsächlichen Grundlagen einer späteren Berücksichtigung und Abwägung der relevanten Umstände innerhalb des Strafzumessungsvorgangs. 2. Zur Notwendigkeit von Strafzumessungstheorien Da die Art und Weise der konkreten Strafmaßfindung jedoch auch vom Kernstück der strafzumessungsrechtlichen Normen nicht näher erläutert wird, bedarf es einer Strafzumessungstheorie, welche diese Lücken zu schließen vermag. Die Grundzüge dieser sog. Spielraumtheorie bilden damit ein wesentliches Element strafzumessungsrechtlicher Grundlagen. Im Übrigen dürfte das Nachvollziehen strafzumessungsrechtlicher Entscheidungen ohne die entsprechende Kenntnis der herrschenden Strafzumessungstheorie nur schwerlich möglich sein.193 Nach derzeit herrschender Meinung liegt die im Einzelfall schuldangemessene Strafe nicht an einem bestimmten Punkt i. S. e. Punktstrafe, sondern in einem im Vergleich zum gesetzlichen Strafrahmen wesentlich engeren „Spielraum“.194 Es geht damit zunächst nicht um eine Subsumtionsfrage, sondern um eine Entscheidung, bei der mehrere Größen eine Rolle spielen.195 Die wesentlichen Prämissen der herrschenden Spielraumtheorie lassen sich jedoch dahingehend zusammenfassen, dass innerhalb des Schuldgehalts einer Tat mehrere Strafen schuldangemessen sind und durch das Heranziehen präventiver Gesichtspunkte eine konkrete Endstrafe herauszubilden ist. Hierzu wird noch ausführlich zurückzukommen sein.196 Der Strafzumessungsvorgang kann dann in wenigstens drei Schritten erfolgen.197 So umstritten die Systematisierung des Strafzumessungsvorgangs im Detail auch ist,198 ist allen Modellen jedenfalls eines gemein: Jedes 192  Vgl.

dazu auch unten Teil 3, B. dazu Teil 4. 194  Vgl. Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 461; Detter, Einführung in die Strafzumessungspraxis, Teil  I, Rn. 6, Teil  II, Rn. 151; Meier, Strafrechtliche Sanktionen, S. 146; Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 626; BGHSt 7, 28 (32); BGHSt 20, 264 (266 f.); BGHSt 24, 132 (133 f.); ausführliche Kritik an der Spielraumtheorie übt etwa Hörnle, Tatproportionale Strafzumessung, S.  21 ff. 195  Vgl. Bruns, Das Recht der Strafzumessung, S. 23. 196  Vgl. unten, Teil 5, A. 197  So bei Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 487. 198  Vgl. Meier, Strafrechtliche Sanktionen, S. 141 ff., geht von sieben Phasen des Strafzumessungsvorgangs aus; wieder anders beschreibt Streng, Strafrechtliche 193  Vgl.



C. Einführung in die Grundlagen der Strafzumessung

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Modell muss sich in einer Phase der Strafrahmenwahl widmen. Bruns beschreibt daher schon den Tatbestand als (übergeordneten) Strafzumessungsgrund, weil diesem der Strafrahmen zu entnehmen ist.199 Das dem Tatbestand zugrunde liegende Bewertungsschema läuft im Ergebnis auf einen vorweggenommenen Katalog von Strafzumessungsumständen hinaus, welcher für eine abschließende Beurteilung der Strafhöhe noch der näheren Ergänzung in einem späteren Schritt bedarf.200 Da diese Vorgehensweise bereits präjudiziell für das Ergebnis und den Vorgang der Strafzumessung ist, erscheint es grds. opportun, den Tatbestand als „übergeordneten Strafzumessungsgrund“ zu betrachten.201 Wie sich darüber hinaus noch zeigen soll, besitzt der Tatbestand auch in der thematischen Schnittmenge von Strafzumessung und Taten mit Bezug zu fremdkulturellen Wertvorstellungen eine erhebliche Relevanz. Dies hat bspw. zu einigen konvergenten Entwicklungen in den Begründungs- und Argumentationsstrukturen auf beiden Ebenen geführt.202 Eine vergleichbare präjudizielle Wirkung kann auch anderen Elementen der materiellen Schuldebene zukommen, insbes. der Strafbegründungsschuld, dort im Speziellen etwa dem vermeidbaren Verbotsirrtum gem. § 17 StGB, weshalb es nicht überraschen sollte, dass einige Entscheidungen aus dem Bereich der Strafzumessung auch von solchen zum Verbotsirrtum befruchtet wurden.203 3. Die Strafzumessungsschuld Nach den bisherigen Ausführungen ist es ferner notwendig, den zentralen strafzumessungsrechtlichen Begriff der Schuld näher zu beleuchten, wenngleich darüber später noch mehr zu sagen sein wird.204 Soweit schon die Grundlagenformel in § 46 I 1 StGB die Schuld als Grundlage für die Zumessung der Strafe ausweist, wird deutlich, dass hiermit nicht der materielSanktionen, Rn. 653, sein Modell von den Phasen der Strafzumessungsentscheidung, welches elf Phasen umfasst; Fischer, § 46, Rn. 13, spricht von fünf Schritten des Strafzumessungsvorgangs. MüKo StGB, Band 1, 1. Aufl. – Franke, § 46, Rn. 20 konstatiert neben der legislatorischen Zurückhaltung bei der Bindung der Richter im Vorgang der Strafzumessung, dass die wissenschaftliche Kontroverse über den Differenzierungsgrad beim Strafzumessungsakt in verschiedene Phasen „bis heute Gang gehalten“ hat. 199  Vgl. Bruns, Das Recht der Strafzumessung, S. 43. 200  Vgl. Bruns, Das Recht der Strafzumessung, ebenda. 201  I. d. S.  auch Bruns, Das Recht der Strafzumessung, ebenda; besser erscheint die Formulierung Strafzumessungsumstand zu passen. 202  Vgl. dazu unten, Teil 4, A. 203  Vgl. dazu ausführlich unten, Teil 4, A. 204  Vgl. dazu unten, Teil 5, A.

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Teil 2: Interdisziplinäre Grundlagen

le Schuldbegriff gemeint sein kann. § 46 I 1 StGB meint nach ganz herrschender Ansicht demnach nicht die Strafbegründungs-, sondern die Strafzumessungsschuld.205 Diese baut zwar auf dem materiellen Schuldbegriff auf, erfasst aber gesondert das Maß der Vorwerfbarkeit bei der Verwirklichung eines tatbestandsmäßigen Unrechts.206 Es geht also schwerpunktmäßig um den Grad der persönlichen Vorwerfbarkeit, das individuelle Maß des Vorwurfs, wenn man so will, und somit letztlich um Aspekte der Quantifizierbarkeit.207 Dabei sollen der Strafzumessungsschuld die zwei wesentlichen Komponenten des Handlungs- und Erfolgsunwerts zu Grunde liegen.208 In der Literatur versucht man, dieses Verständnis mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs abzusichern, indem man solche Entscheidungen bemüht, in denen „von der Schwere der Tat, ihrer Bedeutung für die verletzte Rechtsordnung und dem Grad der persönlichen Schuld des Täters als Grundlage der Strafzumessung die Rede ist“.209 Die Strafzumessungsschuld greift damit über die Frage hinaus, ob dem Täter die Tat überhaupt vorgeworfen werden kann, weil er sich hätte anders verhalten können.210 Sie unterscheidet sich damit von der Strafbegründungsschuld auch durch eine weiter ausgreifende Wertungsbasis, wobei neben die unmittelbaren Tatmerkmale auch solche des relevanten Vor- und Nachtatverhaltens treten.211 In der Literatur machen sich daher seit einiger Zeit Bestrebungen bemerkbar, die eine Reduzierung des nach wie vor höchst umstrittenen Schuldbegriffs fordern.212 Bei der Ausfüllung dieser, über die unmittelbaren Tatmerkmale hinausgreifenden Wertungsbasis sind regelmäßig bestimmte Umstände in Betracht zu ziehen, welche teilweise in § 46 II 2 StGB normiert sind.213 Auf sie wird daher sogleich zurückzukommen sein.

205  Vgl. Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 527; Bruns, Das Recht der Strafzumessung, S. 145; Zipf, in: Maurach/Gössel/Zipf, AT  2, § 63, Rn. 19; Schäfer/ Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 574. 206  Vgl. Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 575; zu den daraus resultierenden Problemen der Vermengung von Unrechts- und Vorwerfbarkeitselementen, vgl. unten, Teil 5, A. 207  Vgl. etwa Fischer, StGB, § 46, Rn. 5. 208  Vgl. Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 577. 209  So etwa Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, ebenda. 210  Vgl. Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 575. 211  Vgl. Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 527. 212  So etwa bei Frisch, in: ZStW 99 (1987), S. 349 ff. (388); siehe auch Hörnle, in: JZ 1999, S. 1080 ff. (1087 ff.). 213  Eine Einordnung in solche Umstände der Schuld oder der Prävention hat der Gesetzgeber bedauerlicherweise nicht vorgenommen. Hier muss einmal mehr die Strafzumessungstheorie das gesetzliche Lückenwerk befüllen.



C. Einführung in die Grundlagen der Strafzumessung

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4. Die Strafzumessungsgründe Einen letzten wichtigen Punkt für das Grundverständnis von strafzumessungsrechtlicher Systematik und Terminologie stellt die Unterscheidung zwischen den im strafzumessungsrechtlichen Sprachgebrauch wenig einheitlich genutzten Begriffen der Strafzumessungsgründe, Strafzumessungsumstände, Strafzumessungsfaktoren und Strafzumessungstatsachen – um nur die Wesentlichen zu benennen – dar. Dabei erscheint eine deutliche Scheidung auch gegenwärtig noch Schwierigkeiten zu bereiten.214 Das mag z. T. auch daran liegen, dass es in gewissen Bereichen kaum möglich ist, bestimmte Aspekte hinreichend deutlich abzugrenzen und eine synonyme Verwendung gewisser Kategorien gleichsam üblich geworden ist. Vorwiegend dürfte sich aber die als mangelhaft zu bezeichnende Dogmatik des Strafzumessungsrechts für das terminologische Durcheinander mitverantwortlich zeichnen. Die Unterscheidung der Begriffe ist für das Anliegen der Arbeit deshalb besonders wichtig, weil klärungsbedürftig ist, auf welcher der entsprechenden Bezugsebenen sich fremdkulturelle Wertvorstellungen niederschlagen können. Dieses Grundproblem kann jedoch erst gelöst werden, wenn es auch gelingt, die „Strafzumessungsgründe“ in einer logischen Reihenfolge zu gliedern, dabei herauszuarbeiten, welche gegenseitigen Abhängigkeiten bestehen und welche Aspekte einander gedanklich vor- oder nachgeschaltet sein sollten.215 Eine einheitliche Linie lässt sich dabei auch in dieser Streitfrage – soweit ersichtlich – weder in der Theorie noch in der Praxis ausmachen. Einen ersten Versuch, den Begriff des Strafzumessungsgrundes zu bestimmen, hat Wimmer unternommen, welcher später von Spendel ergänzt wurde.216 Er besteht in der Aufgliederung der Strafzumessungsgründe in die sog. finalen, realen und logischen Strafzumessungsgründe.217 Diese Unterscheidung konnte sich jedoch bei der Einführung allgemeiner Strafzumessungsvorschriften in das StGB nicht durchsetzen. Vereinzelt wird sie noch 214  In zahlreichen Beiträgen zum Strafzumessungsrecht scheint eine stringente Linie in dieser Sache nur schwerlich erkennbar. Vgl. etwa jüngst Hörnle, Kultur, Religion, Strafrecht – Neue Herausforderungen in einer pluralistischen Gesellschaft. Gutachten C zum 70. Deutschen Juristentag, C. 116, These 14: Die Verwendung des Begriffs „Strafzumessungsgrund“ ist dort m. E. irreführend. Gleiches gilt etwa für die Kommentierung von Heintschel-Heinegg, BeckOK StGB, § 46, Rn. 110, dort insbes. die synonyme Verwendung von Strafzumessungsgrund und Strafzumessungsumstand, um nur einige Beispiele von vielen zu nennen. 215  So schon Bruns, Das Recht der Strafzumessung, S. 6. 216  Vgl. Spendel, Zur Lehre vom Strafmass, S. 191 ff. 217  Vgl. Spendel, Zur Lehre vom Strafmass, ebenda; siehe auch Bruns, Das Recht der Strafzumessung, S. 6.

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Teil 2: Interdisziplinäre Grundlagen

in der Literatur aufgegriffen.218 Die Spendelsche Einteilung spielt damit zwar im heutigen Sprachgebrauch des Strafzumessungsrechts sowie in der Praxis keine nennenswerte Rolle mehr. Die mit ihr verbundene Systematisierung weist jedoch auch gegenwärtig noch einiges an Aktualität auf. Das Gesetz gibt in den einschlägigen Vorschriften nur wenige Anhaltspunkte zur näheren Differenzierung. Die §§ 46 II 1, III, 56 II StGB und § 160 III StPO sprechen lediglich von den „Umständen“, die abzuwägen sind bzw. angeführt werden müssen. Bei § 267 III StPO lassen sich daneben noch die „Gründe“ (des Strafurteils) als begrifflicher Anknüpfungspunkt finden. Damit weist das Gesetz jedenfalls mittelbar die Strafzumessungsgründe als eine allgemeine und übergeordnete Kategorie aus, weil sie als Teil der Urteilsgründe die Gesamtheit aller für die konkrete richterliche Strafzumessung erheblichen Umstände und Tatsachen umfassen müssen (vgl. § 267 III StPO). In die gleiche Richtung weist auch Nr. 138 II der RiStBV. Vereinzelt spricht man in Hinblick auf die Strafzumessungsgründe auch von der Strafzumessungsbegründung (des Strafurteils).219 Die Strafzumessungsumstände sind hingegen vor dem Hintergrund der Regelung in § 46 II StGB eine normative Kategorie, die alle rechtlich relevanten bzw. legitimen220 Aspekte der Strafzumessung umfasst. Als Orientierung in dieser Frage sieht der BGH solche Umstände als legitim an, „die das Geschehen orientiert am regelmäßigen Erscheinungsbild des Delikts milder oder schwerer erscheinen lassen“.221 Die einschlägige Literatur verwendet den Begriff häufig synonym mit den Strafzumessungsfaktoren.222 Teilweise umfassen die Strafzumessungsfaktoren aber auch die Strafzumessungsumstände und die Strafzumessungstatsachen.223 Ein sachlicher Grund lässt sich für die zahlreichen Differenzierungen kaum erkennen. Zumindest als unschädlich lässt sich die Zusammenfassung von Umständen und Tatsachen unter dem Begriff der Faktoren bezeichnen, soweit damit keine Deckungsgleichheit zu 218  Vgl. etwa Bruns, Das Recht der Strafzumessung, S. 6; siehe auch Zipf, in: Maurach/Gössel/Zipf, AT  2, § 63, Rn. 140. 219  Vgl. Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 742, was allerdings auch in Hinblick auf die unterschiedlichen Funktionen zu Missverständnissen führen dürfte, wie Streng richtigerweise moniert. 220  So etwa bei Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 557 verwendet. 221  Vgl. Detter, Einführung in die Praxis des Strafzumessungsrechts, Teil II, Rn. 4; tatsächlich wirft diese Formel mehr Fragen auf als sie Antworten gibt, insbes. weil sie die Vorstellung eines Regeltatbildes impliziert. Daneben scheint auch der BGH nicht zwischen Tatsachen und Umständen zu differenzieren. 222  Vgl. etwa bei Hörnle, Tatproportionale Strafzumessung, S. 283; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 572 f. 223  So etwa bei Zipf, in: Maurach/Gössel/Zipf, AT  2, § 63, Rn. 145; vgl. zu den Strafzumessungstatsachen sogleich unten.



C. Einführung in die Grundlagen der Strafzumessung

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den Gründen verbunden wird. Die wichtigsten Strafzumessungsumstände hat der Gesetzgeber in § 46 II 2 StGB beispielhaft aufgeführt. Daneben kann aufgrund der offenen Formulierung eine theoretisch unbegrenzte Anzahl weiterer Umstände strafzumessungsrechtliche Relevanz entfalten.224 Somit lassen sich die Strafzumessungsumstände auch endlich von den Strafzumessungstatsachen abgrenzen. Bei den Strafzumessungstatsachen handelt es sich demnach um die tatsächlichen Gegebenheiten des im Zusammenhang mit der Tat stehenden Geschehens, also um die tatsächlichen Aspekte des Strafzumessungssachverhalts.225 Diese können sodann dazu geeignet sein, einen Strafzumessungsumstand auszufüllen.226 Diese Strafzumessungstatsachen sind nicht nur aus dem eigentlichen Tatgeschehen zu ermitteln.227 Das führt allerdings zum Problem der Eingrenzung des Strafzumessungssachverhalts.228 Man behilft sich insoweit durch die Anwendung des prozessualen Tatbegriffs, der seinerseits immer aus einer Tat- und einer Täterkomponente aufgebaut ist.229 Alternativ wird in gewissen Fällen auf die sog. Indizkonstruktion zurückgegriffen.230 Die Strafzumessungstatsachen bilden damit gleichsam das Fundament aller weiteren strafzumessungsrechtlichen normativen Erwägungen.231 Zur Veranschaulichung der hier vorgestellten Terminologie bietet es sich an, ein Beispiel zu bilden: Ein legitimer Strafzumessungsumstand bei einer Tat nach den §§ 223 ff. StGB wäre etwa „Art und Ausmaß der herbeigeführten Körperverletzung“. Um die Bewertungsrichtung als schärfend oder mildernd zu klären, muss dieser Umstand mit Tatsachen ausgefüllt werden, die eine Aussage darüber erlauben, wie schwer der Erfolgsunwert im konkreten Fall wiegt. So könnte dann etwa die Tatsache eine strafschärfende Relevanz entfalten, dass der Täter durch Schläge gegen den Kopf verschiedene schwere Traumata beim Opfer verursacht hat (was im Übrigen dann auch eine Aussage über ein mögliches Abweichen vom „regelmäßigen Erscheinungsbild der Tat“ erlauben dürfte). An eine strafmildernde Relevanz von Tatsachen in diesem Kontext wäre etwa bei nur leichten Verletzungen (Abschürfungen usw.) zu denken. 224  Vgl. Hörnle, Kultur, Religion, Strafrecht – Neue Herausforderungen in einer pluralistischen Gesellschaft. Gutachten  C zum 70.  Deutschen Juristentag, C.  80. 225  I. d. S.  schon Spendel, Zur Lehre vom Strafmass, ebenda; siehe auch Zipf, in: Maurach/Gössel/Zipf, AT  2, § 63, Rn. 140. 226  I. d. S.  schon Bruns, Das Recht der Strafzumessung, S. 6. 227  Vgl. Zipf, in: Maurach/Gössel/Zipf, AT  2, ebenda. 228  Vgl. Zipf, in: Maurach/Gössel/Zipf, AT  2, ebenda. 229  Vgl. Zipf, in: Maurach/Gössel/Zipf, AT  2, ebenda. 230  Vgl. Bruns, Das Recht der Strafzumessung, S. 220 f. 231  Zu einer alternativen Methode ihrer Erhebung auf Basis kriminologischer Erkenntnisse, vgl. unten Teil 3, B.

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Teil 2: Interdisziplinäre Grundlagen

Grundsätzlich lässt sich die folgende begriffliche Leitlinie aufstellen: Der Richter muss im Rahmen der Erwägungen zu den Strafzumessungsgründen die Frage klären, welche Strafzumessungstatsachen für welche rechtlich legitimen Strafzumessungsumstände relevant werden können.232 Dabei erweist es sich als u. U. schwierig, nach welchen Maßgaben die Ermittlung zu erfolgen hat. Weder können die Ermittlungsbehörden jede möglicherweise relevante Tatsache ermitteln, noch kann vorab eine Art summarische Prüfung in Hinblick auf alle möglichweiser relevanten Umstände durchgeführt werden, um die zu ermittelnden Tatsachen einzugrenzen. Hierzu wird später noch etwas zu sagen sein.233 Wie sich noch zeigen wird, stellt die Frage nach der Verortung fremdkultureller Wertvorstellung innerhalb der Strafzumessungsgründe ein weiteres wichtiges Problemfeld der strafzumessungsrechtlichen Fragen dieser Arbeit dar.234

IV. Zusammenfassung und Problemakzentuierung Die nunmehr erarbeitete Basis strafzumessungsrechtlicher Grundbegriffe und Vorgänge scheint dazu geeignet zu sein, als Fundament der weiteren Ausführungen zu dienen. Denn auch außerhalb der originär strafzumessungsrechtlichen Themenbereiche dieser Arbeit wird es sich nicht vermeiden lassen, strafzumessungsrechtliche Aspekte mit gewisser Regelmäßigkeit zu berühren. Daneben setzt vor allem der zweite Teil des Untersuchungsgegenstandes, etwa bei der Analyse der Rechtsprechungsgenese bei fremdkulturellen Fallkonstellationen, die Kenntnis der entsprechend akzentuierten Grundzüge voraus. Das erarbeitete Fundament schärft darüber hinaus auch den Blick für die wesentlichen Probleme des Themas aus strafzumessungsrechtlicher Sicht und hilft dabei, den zu Beginn beschriebenen Untersuchungsgegenstand zu akzentuieren. Damit ist zunächst die generelle Frage nach der Leistungsfähigkeit bzw. der interkulturellen Beweglichkeit des deutschen Strafzumessungsrechts in Hinblick auf die Berücksichtigung fremdkultureller Wertvorstellungen anzusprechen. Damit verbunden stellt sich die Frage, wieviel Verständnis die Rechtsgemeinschaft für bestimmte, fremdkulturell bedingte Besonderheiten i. R. d. Wertungsvorgänge des Strafzumessungsrechts aufbringen kann bzw. sollte. Vor diesem Hintergrund wird vor allem die gegenwärtige Konzeption des Strafzumessungsrechts nach dogmatischen Anknüpfungspunkten für eine Berücksichtigung fremdkultureller Wertvorstellungen Bruns, Das Recht der Strafzumessung, S. 6. einen möglichen Lösungsvorschlag, vgl. Teil 3, B. 234  Vgl. dazu dann Teil 3 und Teil 4. 232  I. d. S.  schon 233  Für



C. Einführung in die Grundlagen der Strafzumessung

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untersucht werden müssen.235 Dabei muss geklärt werden, ob das deutsche Recht der Strafzumessung in der Lage ist, solche Tatsachen, die zunächst in gewisser Weise „fremd“ sind, weil sie nicht dem hiesigen Werte- und Normensystem entstammen (und deshalb auch besondere Schwierigkeiten bei der forensischen bzw. strafrechtlichen Erfassbarkeit und Umwertbarkeit aufweisen), adäquat zu berücksichtigen. Mit Blick auf das strafzumessungsrechtliche Normenkorsett de lege lata könnte der praktische Anknüpfungspunkt der Berücksichtigungsmöglichkeiten hingegen bei den Strafzumessungstatsachen sowie bei den legitimen Strafzumessungsumständen liegen. Diesbezüglich wird man auch naheliegend an mögliche Schnittstellen für die Einarbeitung der interdisziplinär gewonnenen236 und noch zu gewinnenden Erkenntnisse237 denken können.

235  Vgl.

dazu unten Teil 5. A. betrifft vor allem die in diesem Teil der Arbeit gewonnenen Erkenntnisse. 237  Das betrifft die im folgenden Teil 3 zu erarbeitenden Erkenntnisse. 236  Das

Teil 3

Kriminologische Grundlagen Auf die Chance, mit Hilfe kriminologischer Erkenntnisse zu einer rationalen und einheitlichen Strafzumessungslehre zu gelangen, hat v. Weber bereits 1956 hingewiesen.1 Dennoch war man nur vereinzelt bemüht, diese Perspektive aufzugreifen und die kriminologischen Sachzusammenhänge nicht länger zu vernachlässigen.2 Schöch bemerkte anlässlich des Inkrafttretens des 2. STRG: „Ohne Übertreibung läßt sich feststellen, daß die Chancen, die die Strafrechtsreformgesetze für eine fortschrittliche und effektive Strafrechtspflege geschaffen haben, nur dann wirklich genutzt werden können, wenn es gelingt, kriminologische Erkenntnisse im Rahmen der StrZ sachgerecht zur Geltung zu bringen.“3 Bruns konstatierte 1985 erneut die Persistenz dieser Missstände.4 Die rechtsdogmatische Ausrichtung, insbes. der praxisnahen Literatur, greift nach wie vor nur wenig bis keine kriminologischen Anhaltspunkte auf.5 Das legt den Verdacht nahe, dass die Krimi1  Vgl. Weber, Die richterliche Strafzumessung, S.  21  ff.; siehe auch Schöch, Strafzumessungspraxis und Verkehrsdelinquenz, S. 9. 2  Vgl. Bruns, Das Recht der Strafzumessung, S. 9; vgl. auch Schöch, Strafzumessungspraxis und Verkehrsdelinquenz, S. 2 f., der in seiner Monographie einen Schwerpunkt auf die Darstellung der Sachzusammenhänge von Kriminologie und Strafzumessung setzt. 3  Schöch, Strafzumessungspraxis und Verkehrsdelinquenz, S. 3. 4  Vgl. Bruns, Das Recht der Strafzumessung, S. 9 f. Er moniert, dass „vor allem bei den Folgeentscheidungen über die Strafaussetzung wegen der dafür anzustellenden Sozialprognose“ der kriminologische Sachzusammenhang nicht weiter vernachlässigt werden dürfe. Aber auch die Erörterung fundamentalerer Fragen, wie sie dem Strafrichter auch heute noch de lege lata gleichsam aufgezwungen werden (vgl. § 46 Abs. 2 S. 1), erachtete Bruns ohne Zuhilfenahme kriminologischer Erkenntnisse für wenig ergiebig. 5  So findet sich weder im Sachregister noch an möglichen Einfallsstellen bei Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, ein Verweis auf kriminologische Anhaltspunkte. Auch bei Meier, Strafrechtliche Sanktionen, wird man nur unter dem Aspekt der Gleichheit bzw. Ungleichheit der Strafzumessung fündig. Es ist insoweit bezeichnend, wenn Meier, ebenda, S. 227, beschreibt, dass es seit ­Exners Arbeit aus dem Jahre 1931 mit dem Titel „Studie über die Strafzumessungspraxis der deutschen Gerichte“, kaum aktuelle Anhaltspunkte zum Thema lokaler Strafmaßdifferenzen gibt. Streng, Strafrechtliche Sanktionen, wiederum bemüht zumindest bei der StrZ i. w. S. eine kriminologische Basis und spricht sich bei Rn. 656 für das Absolvieren einer kriminologischen Aus- oder Fortbildung für den Prognoserichter



Teil 3: Kriminologische Grundlagen

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nologie auch in der Praxis noch vorwiegend als sog. „Beratungsinstanz der Kriminalpolitik“ wahrgenommen wird.6 1993 stellte Hassemer fest: „In dieser Situation [einer vorsichtigen Distanzierung beider Lager] läßt sich zum Verhältnis von Kriminologie und Strafrecht wenig Gesichertes sagen“.7 Dabei hat sich die Kriminologie seit ihren Anfängen auch stets als eine angewandte Wissenschaft verstanden und einen beachtlichen Teil ihrer Daseinsberechtigung aus dem Anspruch bezogen, die Strafrechtspraxis mit kriminologischen Erkenntnissen für einen effizienteren Umgang mit dem Straftäter zu unterstützen.8 Im Rahmen dieser Praxisorientierung der Kriminologie ergibt sich eine wesentliche Unterscheidung nach den verschiedenen Aufgabenfeldern.9 Soweit sich die kriminologischen Erkenntnisse auf die Persönlichkeit und das Sozialverhalten eines straffälligen Menschen beziehen, besteht grds. die Möglichkeit, dieses Wissen im Rahmen der straftheoretischen Konzeptionen in der täglichen Entscheidungspraxis der Strafrechtspflege einzusetzen.10 Man spricht in diesem Kontext von der Angewandten Kriminologie.11 Weist das kriminologische Wissen diesen Bezug zum Täter nicht auf, kann es jedoch in Entscheidungsprozessen Bedeutung erlangen, welche die Gestaltung der Strafrechtspflege selbst betreffen.12 Diesen Bereich der kriminologischen Forschung nennt man die kriminal­ politische Kriminologie.13 Für die Bedürfnisse der vorliegenden Arbeit erscheint es zweckmäßig, beide Aspekte in den Blick zu nehmen. Im Rahmen der kriminologischen Erkenntnisse, welche die Persönlichkeit und das Sozialverhalten eines straffälligen Menschen betreffen, soll überprüft werden, wie und in welcher Form sie für den Vorgang der Strafzumessung, sowohl allgemein als auch speziell auf die Bedürfnisse der fremdkulturellen Rahmenthematik bezogen, nutzbar gemacht werden können. Der kriminalpolitische Aspekt wird dagegen zunächst eine Rolle spielen, wenn es um die hier interessierenden Kriminalitätsphänomene als solche geht. Da es jedoch innerhalb der gesamten Diskussion auch immer wieder um Fragen der Auslegung und Anwenaus. In der Gesamtschau ist die Diskussionsbreite aus kriminologischer Sicht sehr überschaubar. 6  Vgl. zum Begriff etwa Bock, in: Göppinger, § 15, Rn. 2. 7  Hassemer, in: Kaiser/Kerner/Sack/Schellhoss (Hrsg.), Kleines Kriminologisches Wörterbuch, S. 313. 8  Vgl. Bock, in: Göppinger, Kriminologie, § 15, Rn. 1. 9  Vgl. Bock, in: Göppinger, Kriminologie, § 15, Rn. 2. 10  Vgl. Bock, in: Göppinger, Kriminologie, ebenda. 11  Vgl. etwa Schwind, Kriminologie, § 1, RN. 16; siehe auch Bock, in: Göppinger, Kriminologie, ebenda. 12  Vgl. Bock, in: Göppinger, Kriminologie, ebenda. 13  Vgl. Bock, in: Göppinger, Kriminologie, ebenda.

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Teil 3: Kriminologische Grundlagen

dung von geltendem Recht geht, bleibt das Thema insgesamt auch kriminalpolitisch orientiert. Dabei stellt sich jedoch in methodischer Hinsicht die Frage nach der Umsetzung dieses Vorhabens. Sie stellt sich vor allem aufgrund der oben konstatierten Vernachlässigung kriminologischer Anhaltspunkte in Strafrechtswissenschaft und -praxis und manifestiert sich in dem Befund, dass die Ergebnisse kriminologischer Forschung in rechtsdogmatisch greifbarer Form in der praxisorientierten Literatur nach wie vor kaum aufgegriffen werden.14 Mitursächlich für derartige methodische Schieflagen scheinen zwei miteinander verbundene Phänomene, an denen sich Strafrecht und Kriminologie langfristig unterscheiden.15 Es geht dabei aus strafrechtlicher Perspektive um die Orientierung der Strafjustiz am Einzelfall sowie um die Individualzurechnung.16 Aus Sicht der Kriminologie hingegen geht es um multifaktorielle und kollektive Zurechnung.17 Es mangelt dann zunächst an einer methodischen Schnittstelle, wenn die Strafjustiz etwa versucht, kriminologische Erkenntnisse auf den konkreten Einzelfall hin zu bündeln, weil sowohl die Operationalisierbarkeit als auch Vereinheitlichung dieser Vorgänge nicht gewährleistet ist.18 Einen Ausweg aus diesem Dilemma kann man jedoch durch die soeben veranschaulichte Unterscheidung in die Belange der kriminalpolitischen und der Angewandten Kriminologie aufzeigen, indem man Methoden aus dem Spektrum der Angewandten Kriminologie für strafrechtspraktische Fragen fruchtbar macht. Einen Erkenntnisgewinn für die praktischen Aufgaben der Strafzumessung könnte demnach das Ausschöpfen der Möglichkeiten der Angewandten Kriminologie erwarten lassen, weil sie originär darum bemüht ist, ihre Erkenntnisse so aufzubereiten, dass sie für Einzelfallentscheidungen nutzbar sind. Sie leistet damit bereits heute einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur interdisziplinären Verständigung zwischen forensischer Psychiatrie, Psychologie und Kriminologie, indem sie die Lücke zwischen einer vorwiegend an der Kriminalpolitik ausgerichteten Kriminologie und den in der Praxis der Strafrechtspflege dominierenden Wissenschaften zu schlie14  I. d. S.  schon Bruns, Das Recht der Strafzumessung, S. 10; siehe auch Krauß, in: Grimm (Hrsg.), Rechtswissenschaft und Nachbarwissenschaften I, S. 233  ff. (247 ff.). 15  Vgl. dazu Hassemer, in: Kaiser/Kerner/Sack/Schellhoss (Hrsg.), Kleines Kriminologisches Wörterbuch, S.  315 f. 16  Vgl. Hassemer, in: Kaiser/Kerner/Sack/Schellhoss (Hrsg.), Kleines Kriminologisches Wörterbuch, ebenda. 17  Vgl. Hassemer, in: Kaiser/Kerner/Sack/Schellhoss (Hrsg.), Kleines Kriminologisches Wörterbuch, ebenda. 18  Vgl. Hassemer, in: Kaiser/Kerner/Sack/Schellhoss (Hrsg.), Kleines Kriminologisches Wörterbuch, ebenda.



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ßen versucht.19 Erste vielsprechende und konkrete Ansätze in Deutschland in jüngerer Zeit sind durch die von Göppinger entwickelte Methode der idealtypisch-vergleichenden Einzelfallanalyse (MIVEA) zu verzeichnen.20 Ihr Hauptanwendungsbereich bei der Strafzumessung erstreckt sich dabei vor allem auf Urteilsprognosen.21 Das bedeutet zunächst eine Begrenzung ihres Anwendungsspektrums auf Belange der Spezialprävention. Gleichwohl erscheint das Instrumentarium von der Konzeption her auch darüber hinaus geeignet zu sein, die praktische Tätigkeit des Strafrichters weitergehend zu unterstützen. In diesem Kontext stellt sich die Frage, ob das Anwendungsspektrum der MIVEA dahingehend auszudehnen ist, oder jedenfalls Denkroutinen bzw. Strukturen auch auf strafzumessungsrechtliche Erwägungen außerhalb der Spezialprävention übertragbar erscheinen. Neben den wichtigen Sozialprognoseentscheidungen (nach §§ 56, 57, 59, 68e StGB) könnte demnach die Berücksichtigung der Persönlichkeit des Täters in seinen sozialen Bezügen über den derzeitigen Anwendungsbereich hinaus Leitlinien für nicht spezialpräventive strafzumessungsrechtliche Fragestellungen im Einzelfall liefern. Zu denken wäre dabei etwa an eines der hier interessierenden Kernprobleme der Strafzumessung, nämlich das Erstellen von Leitlinien zur Ermittlung und Erfassung spezifischer Strafzumessungssachverhalte (aus denen sich dann konsequent die Strafzumessungstatsachen und -umstände entwickeln ließen). Diese Vorgehensweise bietet sich deshalb an, weil das kriminologische Erfahrungswissen geeignet erscheint, diese Leitlinie inhaltlich anzureichern. Der Vorteil einer an der MIVEA orientierten Methode im Gegensatz zur Entwicklung eines völlig eigenständigen Ansatzes ist daneben darin zu sehen, dass auf ein bereits praktisch erprobtes Instrument zugegriffen werden kann, welches wissenschaftlichen Grundsätzen genügt.22 Insofern erscheint dieser Ansatz nicht nur gangbar, sondern auch zweckmäßig. In der thematischen Schnittmenge von Kriminologie und der vorliegenden Arbeit ergeben sich demnach zwei Aufgabenfelder für einen kriminologischen Ansatz. Zunächst soll versucht werden, Täter mit fremdkulturellem Hintergrund systematisch in Hinblick auf die möglichen Bedürfnisse der Arbeit zu beschreiben. Lassen sich besondere, respektive spezifisch fremdkulturelle Erscheinungsformen kriminellen Verhaltens empirisch belegen? Welche Faktoren wirken dabei im Besonderen kriminogen? In diesem Teil werden auch kriminalpolitische Aspekte zu diskutieren sein. Das er19  I. d. S.  Bock, in: Göppinger, Kriminologie, S. VII; zu einer anderen Sicht über den gegenwärtigen Stand der Angewandten Kriminologie neigt etwa Vollbach, in: MschKrim 2014, S. 310 ff. 20  Vgl. Bock, Kriminologie, Rn. 293. 21  Vgl. Bock, in: Göppinger, Kriminologie, § 15, Rn. 12. 22  Vgl. Bock, Kriminologie, Rn. 293.

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scheint schon vor dem Hintergrund der spärlichen gesetzlichen Regelungen des Strafzumessungsrechts angezeigt. Das statistische und empirische Material umfasst dabei einen Zeitraum von den 1950er Jahren bis 2012.23 Aufbauend auf diesem Themenkomplex wird sich dann die Frage stellen, was diese kriminologischen Erkenntnisse für die Strafzumessung im Allgemeinen und bei fremdkulturellen geprägten Tätern im Besonderen leisten können. Dazu wird es sich anbieten, die oben skizzierten Möglichkeiten der Angewandten Kriminologie für die individuelle Strafzumessung, ggf. auch abseits der präventiven Fragestellungen, auszuleuchten.

A. Die kriminologischen Hintergründe der Kriminalität von Personen mit fremdkulturellem Hintergrund I. Allgemeines 1. Der personale Zuschnitt Um die Kriminalität von Personen mit fremdkulturellem Hintergrund zu beschreiben und im Weiteren auch zu erklären, bedarf es zunächst einiger klarstellender Ausführungen zum personalen Zuschnitt dieses Teils der Arbeit. In jüngerer Zeit wird der Themenbereich der Kriminalität von Nichtdeutschen auch immer häufiger im Zusammenhang mit der Berücksichtigung von fremdkulturellen Wertvorstellungen im materiellen Recht diskutiert.24 Sodann werden in der Regel die empirischen Erhebungen der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) zur Analyse bemüht, soweit sie entsprechend der systematischen Aufbereitung dazu dienen können. Für die vorliegende Arbeit wäre eine solche Vorgehensweise in Anbetracht der Darlegungen zum „Fremden“ im Grundlagenteil schon im Ansatz zu restriktiv. Nach dem bisher Gesagten wird sich der Blick über die Kriminalität von Nichtdeutschen hinaus auch auf die Kriminalitätsbelastung von Zuwanderern bzw. Deutschen mit Migrationshintergrund richten müssen, soweit dadurch auch Rückschlüsse auf die Kriminalität von Personen mit fremdkulturellem Hintergrund gezogen werden können.25 Da die PKS somit insgesamt als Bezugsstatistik nicht hinreicht, um ein möglichst abgerundetes und wirklichkeitsnahes Bild der Kriminalitätslage im hier interessierenden Kontext darzustellen, müssen Erhebungen des Statistischen Bundesamtes hinsichtlich der Bevölkerungsstruktur, regionale Untersuchungen sowie Dunkelfeldbe23  Der Zeitraum ist deshalb so zu fassen, weil er mit dem Analysezeitraum der Rechtsprechungsgenese in Teil 4 dieser Arbeit weitestgehend übereinstimmen soll. 24  Siehe u. a. Erbil, Toleranz für Ehrenmörder?, S. 2. 25  In diesem Sinne auch Neubacher, Kriminologie, S. 137.



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fragungen ergänzend einfließen. Es geht demnach nicht nur um Fragen der Kriminalität(-sbelastung) von Nichtdeutschen, sondern um die Kriminalitätsphänomene im Zusammenhang mit fremdkulturell geprägten Tätern. Insofern ist auch der Begriff der Zuwandererkriminalität im hier interessierenden Kontext nicht ganz treffend. Neben den Überlegungen aus dem Grundlagenteil zum „Fremden“ ergibt sich aber auch aus methodischer Sicht einiges an Klärungsbedarf. Denn methodisch ist der Versuch, die spezifische Kriminalitätsbelastung von Personen mit fremdkulturellem Hintergrund zu erfassen, mit einigen Schwierigkeiten behaftet. Das hat vor allem mit der schlechten empirischen Faktenlage zu tun. Es gibt zu wenig verwertbare Daten, die gesicherte Aussagen über die Kriminalität von Personen mit fremdkulturellem Hintergrund zulassen, was freilich auch damit zu tun hat, dass das Phänomen sehr facettenreich ist. Insofern bleibt häufig nur die Möglichkeit, Rückschlüsse über dieses Kriminalitätsphänomen zu ziehen, indem man Aussagen von Gruppen mit (partiell) vergleichbaren kriminospezifischen Dispositionen auswertet. Dabei besteht ein gewisses Ableitungsgefälle zwischen den hier in Frage kommenden Personengruppen. Aussagen über die Nichtdeutschen bringen nur einen begrenzten Erkenntnisgewinn hinsichtlich Zuwanderern oder Migranten. Der durch Rückschlüsse erhaltene Erkenntnisgewinn wird durch die Übertragung also zwangsläufig kleiner, weil die Gruppen nicht deckungsgleich sind. Ähnlich verhält es sich dann auf der nächsten möglichen Ableitungsebene. Aussagen über Zuwanderer und Migranten lassen ebenfalls nur begrenzte Rückschlüsse auf fremdkulturell geprägte Täter zu. Trotz der Bemühungen um eine ausdifferenzierte begriffliche Eingrenzung der Phänomene kann daher auf eine Einbeziehung der Kriminalität von Nichtdeutschen in die Gesamtdarstellung derzeit nicht verzichtet werden. Das ergibt sich im Übrigen auch aus dem häufig von der Rechtsprechung hergestellten Zusammenhang des Fremdkulturellen mit der formalen Ausländereigenschaft. In der Gesamtschau werden daher in personeller Hinsicht neben Zuwanderern und Migranten auch die Nichtdeutschen zur Darstellung bestimmter Kriminalitätsphänomene von fremdkulturell sozialisierten Menschen beitragen müssen, wenngleich die Aussagekraft der Statistiken von Nichtdeutschen für den hier interessierenden „Fremden“ begrenzt sein werden. In Hinblick auf die Bundesrepublik sind in die folgenden Überlegungen demnach die (Spät‑)Aussiedler, die Gastarbeiter und die Nichtdeutschen, einschließlich der jeweiligen Nachkommen, einzubeziehen.26 26  Zur Kriminalität der deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen existieren praktisch keine repräsentativen empirischen Untersuchungen, weshalb sie hier nicht näher untersucht werden (können), vgl. Maschke, in: Göppinger, Kriminologie, § 24, Rn. 89.

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Dieser vergleichsweise extensive Zusammenhang wird mittlerweile auch von einigen Fachpublikationen, insbes. Lehrbüchern zur Kriminologie, hergestellt, bspw. unter dem Aspekt „Kriminalität und kulturelle Ge­ ­ gebenheiten“27 oder „Kriminalität von Personen mit anderem kulturellen Hintergrund“.28 Da die formale Ausländereigenschaft nach übereinstimmender Auffassung keine zuverlässigen Aussagen hinsichtlich etwaiger kriminogener Faktoren ermöglicht, wird in diesem Kontext nun auf den Migrantenstatus29 oder die Zuwanderereigenschaft abgehoben. Die Arbeit wird auch über den interdisziplinären Grundlagenteil hinaus versuchen, diesem Wandel im Begriffsverständnis Rechnung zu tragen. Diese Orientierung an einem vergleichsweise extensiven Begriffsverständnisses findet sich auch in jüngeren politischen Entwicklungen wieder. Dort hat man sich u. a. vom Unterscheidungskriterium der formalen Ausländereigenschaft in immer häufigerem Maße losgesagt, um „der Vielfältigkeit der Verhältnisse“ gerecht zu werden, unter denen Migranten z. T. in Deutschland leben.30 Vor diesem Hintergrund wurde das frühere Amt der „Bundesausländerbeauftragten“ im Jahr 2002 in „Beauftragte für Migration, Flüchtlinge und Integration“ umbenannt.31 2. Der sachliche Zuschnitt In sachlicher Hinsicht ist zu untersuchen, in welchem Ausmaß und in welchen Formen fremdkulturell beeinflusste Kriminalität auftreten kann, welche Spezifika sie aufweist und ob die Erkenntnisse kriminologischer Erklärungsansätze diesbezüglich auch dazu geeignet erscheinen, die strafzumessungsrechtlichen Bedürfnisse der Fragestellung zu bedienen. Bei der Beantwortung der Frage, ob es spezifisch fremdkulturelle Delikte gibt, wird sich darüber hinaus verdeutlichen lassen, welche Bedeutung fremdkulturelle Wertvorstellungen für die Motivationslage eines Täters aufweisen können. Bei diesen Überlegungen wird bereits der eine oder andere Hinweis auf eine strafzumessungsrechtliche Berücksichtigung zweckdienlich sein, denn bereits hier treffen sich Kriminologie und praktisches Strafrecht durch das Aufhellen schuld- und präventionsrelevanter Täter- und Tatmerkmale.

Eisenberg, Kriminologie, S. 805 ff. Bock, Kriminologie, Rn. 876 ff. 29  Vgl. Neubacher, Kriminologie, S. 137. 30  Vgl. Neubacher, Kriminologie, ebenda. 31  Vgl. Neubacher, Kriminologie, ebenda. 27  Vgl. 28  Vgl.



A. Kriminalität von Personen mit fremdkulturellem Hintergrund

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II. Zur Kriminalität von Personengruppen mit fremdkulturellem Hintergrund 1. Allgemeines Die Kriminalität von Personen mit fremdkulturellem Hintergrund ist zum Gegenstand kriminologischer Aufmerksamkeit gemacht worden, weil man davon ausgeht, dass die soziale Position von Menschen als solche schon Dispositionen, Bereitschaften sowie Gelegenheiten mit sich bringt, die kriminologisch bedeutsam sind.32 Dies gilt im Besonderen für Gruppen von Menschen, welche aufgrund sozialer Problemlagen am Rande der Gesellschaft stehen.33 Dort haben Migrationsbewegungen zunehmend zu einem Unterschichtungseffekt hinsichtlich der bereits vorhandenen Sozialstruktur geführt.34 Die Bundesrepublik ist faktisch ein Zuwanderungsland geworden.35 Zuwanderer der verschiedensten Nationalitäten sind z. T. überproportional häufig als Tatverdächtige registriert und sitzen entsprechend häufig im Strafvollzug ein.36 Unter den verschiedensten thematischen Aufbereitungen hat dieser Problembereich in der Vergangenheit Anlass zu diversen Untersuchungen und Erklärungsmodellen gegeben. Im Wesentlichen wurden seit der Nachkriegszeit die drei oben genannten ethnokriminologisch relevanten Gruppen in Deutschland näher untersucht: (Spät‑)Aussiedler, Gastarbeiter und Nichtdeutsche. 2. Zur Kriminalität der (Spät-)Aussiedler Die erste ethnokriminologisch relevante Gruppe von Menschen, welche sich weiträumig in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg niedergelassen hat, sind die Aus- und Übersiedler.37 Innerhalb dieser Gruppe lassen sich formal nach dem BVFG Aussiedler und Spätaussiedler unterscheiden. Gem. Bock, Kriminologie, Rn. 859. Bock, Kriminologie, ebenda. 34  Vgl. Erbil, Toleranz für Ehrenmörder?, S. 1. 35  Maschke, in: Göppinger, Kriminologie, § 24, Rn. 86, spricht insoweit von der BRD als „Einwanderungsland“, was jedoch historisch betrachtet irrführend wirken kann. Denn Einwanderung bezeichnet ausschließlich die Migration mit dem Ziel einer dauerhaften Niederlassung. Da insbes. die angeworbenen Gastarbeiter zunächst nicht dauerhaft in der BRD ansässig werden sollten, erscheint der Begriff Zuwanderungsland genauer. Zuwanderung hingegen bezeichnet sämtliche Formen der Migration, also auch solche, welche nur vorübergehend sind. Vgl. hierzu Schwind, Kriminologie, Vor § 23, Vor Rn. 1. 36  Vgl. Schwind, Kriminologie, ebenda. 37  Vgl. Maschke, in: Göppinger, Kriminologie, § 24, Rn. 86. 32  Vgl. 33  Vgl.

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§ 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG gilt als „Aussiedler“, wer als deutscher Volkzugehöriger unter bestimmten Voraussetzungen vor dem 1. Januar 1993 aus bestimmten Ländern des ehemaligen Ostblocks eingewandert ist. Als „Spätaussiedler“ gilt hingegen gem. § 4 Abs. 1 BVFG, wer mit deutscher Volkszugehörigkeit nach dem 31. Dezember 1992 die Republiken der ehemaligen Sowjetunion, Lettland, Estland oder Litauen verlassen hat und binnen sechs Monaten in Deutschland seinen ständigen Aufenthalt genommen hat. Trotz ihrer deutschen Abstammung sahen sich vor allem die Spätaussiedler dem Misstrauen und der Ablehnung der einheimischen Bevölkerung ausgesetzt.38 Lastenausgleich und Eingliederungshilfen weckten den Neid der Einheimischen und führten dazu, dass man die Einwanderer als „Fremde“ wahrnahm.39 Seit den Vertreibungen der Deutschen aus Ost- und Südosteuropa zum Ende des Zweiten Weltkriegs sind insgesamt 14 Millionen deutschstämmige Aus- und Übersiedler nach Deutschland eingewandert.40 Zwar liegen vielfältige empirische Untersuchungen zu deren Kriminalitätsbelastung vor, jedoch sind diese kaum methodisch verlässlich und mithin weitgehend unbrauchbar.41 Ebenso wenig existieren zuverlässige Daten auf Grundlage der PKS, da diese Einwanderer die deutsche Staatsangehörigkeit führen. Vereinzelt versuchte man über Polizeidaten die registrierte Kriminalität einzuschätzen, wie bspw. die von Pfeiffer / Brettfeld / Delzer angestellte kriminalgeographische Untersuchung für Niedersachsen.42 Letztlich konnten sich auch aus Versuchen wie diesem nur Vermutungen über die Delinquenz von (Spät-)Aussiedlern anstellen lassen.43 Demnach wird ein hoher Aussiedleranteil an der Gesamtpopulation mit einer signifikant höheren Kriminalitätsbelastung in Verbindung gebracht.44 Pfeiffer / Kleimann / Petersen / Schott haben hierzu auf Basis einer Schülerbefragung festgestellt, dass „junge Aussiedler und andere gleichaltrige Migranten“, die seit mehr als fünf Jahren in Deutschland leben, eine signifikante Höherbelastung von Gewaltkriminalität aufweisen.45 Vermutungen zufolge seien junge Migranten gerade in der ersten Zeit nach der Einwanderung bereit, die damit verbundenen sozialen Nachteile und Anpassungsschwierig­ Maschke, in: Göppinger, Kriminologie, ebenda. Maschke, in: Göppinger, Kriminologie, ebenda. 40  Vgl. Maschke, in: Göppinger, Kriminologie, ebenda. 41  Vgl. Eisenberg, Kriminologie, § 50, Rn. 52. 42  Vgl. Bock, Kriminologie, Rn. 880. 43  Vgl. ausführlich auch zu weiteren Untersuchungen auf Basis von Polizeidaten: Maschke, in: Göppinger, Kriminologie, § 24, Rn. 108 ff. 44  Vgl. Bock, Kriminologie, Rn. 880; vgl. auch den Befund bei Pfeiffer/Kleimann/Petersen/Schott, Migration und Kriminalität, S. 49. 45  Vgl. Pfeiffer/Kleimann/Petersen/Schott, Migration und Kriminalität, ebenda. 38  Vgl. 39  Vgl.



A. Kriminalität von Personen mit fremdkulturellem Hintergrund81

keiten hinzunehmen.46 Diese Bereitschaft nehme jedoch mit fortwährender Aufenthaltsdauer ab.47 Neben den Rohheitsdelikten fallen junge (Spät-)Aussiedler vor allem bei Straftaten gegen das BtmG auf.48 Schätzungen zufolge sind sie zwei- bis viermal häufiger als Deutsche von harten Drogen abhängig.49 Neben den enttäuschten Erwartungen spielen verschiedene spezifische Problemlagen bei den Ursachen der Kriminalität von (Spät-)Aussiedlern eine Rolle: soziostruktureller Stress, Erziehungsprobleme, Identifikationsprobleme, Stigmatisierungen, Ghettoisierung sowie Freizeitprobleme, um nur einige zu benennen.50 Während sich somit die Untersuchungen und Daten hinsichtlich der Aussiedler aber insgesamt als wenig ergiebig erwiesen, galt dies – vor allem wegen der methodisch vergleichbaren Problemlage – auch für die Gruppe der Spätaussiedler.51 Zur Erklärung der mit dieser Gruppe in Verbindung gebrachten Kriminalitätsphänomene versucht man daher, nicht auf die Staatsangehörigkeit abzustellen, sondern auf die für Zuwanderer spezifischen Problem- und Gefährdungslagen, wie sie auch z. T. oben schon beschrieben wurden. Die klassischen Erklärungsversuche rekurrieren daher auch für (Spät-) Aussiedler auf die für Migranten allgemein entwickelten Modelle.52 Denn die durch Migration geschaffenen Problem- und Gefährdungslagen, wie sie bei Zuwanderern häufig auftreten, ließen sich „überwiegend zwanglos“ auch auf die deutschstämmigen (Spät-)Aussiedler übertragen.53 3. Kriminalität der Gastarbeiter und deren Nachkommen Die zweite wichtige Zuwanderungsbewegung erfolgte durch die sog. Gastarbeiter, welche seit den 1950er Jahren vor allem aus dem Mittelmeerraum angeworben wurden und dann in die Bundesrepublik kamen.54 Dabei können zwei relevante Phasen dieser Zuwanderungsbewegung unterschieden werden: Die erste Phase sei demnach durch vorübergehende Zuwanderung Pfeiffer/Kleimann/Petersen/Schott, Migration und Kriminalität, ebenda. Pfeiffer/Kleimann/Petersen/Schott, Migration und Kriminalität, ebenda. 48  Vgl. Schwind, Kriminologie, § 25, Rn. 11. 49  Schwind, Kriminologie, ebenda sowie bei Rn. 17a, bemerkt, dass viele Jugendliche schon in den GUS-Staaten süchtig waren, insbesondere die Alkoholabhängigkeit spiele eine übergeordnete Rolle. 50  Vgl. ausführlich dazu Schwind, Kriminologie, § 25, Rn. 17a. 51  Vgl. ausführlich Maschke, in: Göppinger, Kriminologie, § 24, Rn. 107 ff. 52  So bspw. Maschke, in: Göppinger, Kriminologie, § 24, Rn. 117. 53  Vgl. Maschke, in: Göppinger, Kriminologie, ebenda; zu den Erklärungsversuchen insgesamt, vgl. unten in diesem Kapitel, III. 54  Vgl. Schwind, Kriminologie, § 23, Rn. 12; Bock, Kriminologie, Rn. 876. 46  Vgl. 47  Vgl.

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Teil 3: Kriminologische Grundlagen

der Gastarbeiter seit Ende der 1950er Jahre gekennzeichnet, welche hierzulande für einen bestimmten Zeitraum einer Arbeit nachgegangen sind und dann mit dem Erworbenen in ihr Heimatland zurückkehren wollten, um sich dort eine Existenz aufzubauen.55 Trotz der Tatsache, dass diese ersten Gastarbeiter unter teils widrigen Bedingungen in Notunterkünften und Baracken lebten, zeigte sich bei ihnen unter Berücksichtigung des Umstandes, dass sie überwiegend dem jungen, männlichen und damit kriminalitätsbelasteten Geschlecht angehörten, keine besonders hohe Kriminalitätsbelastung.56 Die zweite Phase beginnt 1973, als die Bundesrepublik aufhörte, Gastarbeiter anzuwerben.57 Zum Teil wurden die in Deutschland lebenden Gastarbeiter unter finanziellen Anreizen zur Rückkehr in ihre Heimatländer aufgefordert.58 Dem kamen allerdings nur die Wenigsten nach. So wurden aus den hier lebenden Zuwanderern in zunehmendem Maße Einwanderer, welche ihren Lebensmittelpunkt dauerhaft nach Deutschland verlegen wollten.59 Im Zuge dieser Entwicklung veränderten sich allerdings auch die demographische Struktur und die sozialpsychologische Ausgangslage dieser Gruppe durch den späteren Zuzug gesamter Familien.60 Die sog. „zweite und dritte Generation“ wies hingegen eine z. T. deutlich höhere Kriminalitätsbelastung als deutsche Vergleichsgruppen auf.61 Hierbei handelt es sich um die Nachkommen der Gastarbeiter, welche einen deutschen oder aber den Pass ihres Herkunftslandes besitzen. Eine genaue Bestimmung deren Kriminalitätsbelastung auf Basis von PKS-Daten ist deshalb nicht möglich. Man geht jedoch teilweise davon aus, dass entsprechend der Nichtdeutschenstatistik durchschnittlich eine Höherbelastung bei qualifizierten Körperverletzungsdelikten, schwerem Diebstahl, Raub und Vergewaltigung vorzufinden ist.62 Diese Hypothese soll im folgenden Abschnitt über die Kriminalitätsbelastung von Nichtdeutschen näher betrachtet werden. Bock will in diesem Befund die besondere kriminologische Relevanz des Zusammenlebens von Angehörigen unterschiedlicher Kulturen ausmachen, die auf Dauer ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland suchen, was aber nicht zwingend mit dem Willen zur Integration verbunden ist.63 Maschke, in: Göppinger, Kriminologie, § 24, Rn. 87. Bock, Kriminologie, Rn. 876. 57  Vgl. Bock, Kriminologie, Rn. 877. 58  Vgl. Maschke, in: Göppinger, Kriminologie, § 24, Rn. 87. 59  Vgl. Maschke, in: Göppinger, Kriminologie, ebenda. 60  Vgl. Maschke, in: Göppinger, Kriminologie, ebenda; Bock, Kriminologie, Rn. 878. 61  Vgl. Maschke, in: Göppinger, Kriminologie, § 24, Rn. 91. 62  Vgl. Schwind, Kriminologie, § 23, Rn. 2. 63  Vgl. Bock, Kriminologie, Rn. 876; Schwind, Kriminologie, § 23, Rn. 11, 12 stellt heraus, dass die Integration dieser „deutschen Ausländer“ zum Teil einfach nicht gelungen ist. 55  Vgl. 56  Vgl.



A. Kriminalität von Personen mit fremdkulturellem Hintergrund83

Bei der Kriminalität der Gastarbeiter und deren Nachkommen sind diverse Verzerrungsfaktoren, welche das Gesamtbild der Kriminalitätsbelastung zum Teil deutlich beeinflussen, zu berücksichtigen. Während die Gruppe der Gastarbeiter bis 1973 noch formal überwiegend als nichtdeutsch i. S. d. PKS zu klassifizieren war, gilt das für die zweite und dritte Generation nicht mehr zwingend. Insbesondere die Nachfahren der Gastarbeiter von einst besitzen inzwischen zu nicht unerheblichen Teilen die deutsche Staatsbürgerschaft.64 Somit tauchen sie teilweise in der Statistik bei den deutschen Tatverdächtigen als auch bei den nichtdeutschen Tatverdächtigen auf. Zu Recht weist Bock darauf hin, dass diese formale Differenzierung in Deutsch und Nichtdeutsch geradezu irreführend ist.65 Unabhängig davon, welche Staatsangehörigkeit die Gastarbeiter und ihre Nachkommen besitzen, sagt dieser Umstand nichts darüber aus, ob sie noch an ihrer Herkunftskultur festhalten und somit u. U. bestimmten spezifisch soziostrukturellen Gefährdungslagen ausgesetzt sind.66 Daher weisen auch die Zahlen über den Anstieg oder die Rückläufigkeit der Nichtdeutschenkriminalität nur eine bedingte Aussagekraft in diesem Kontext auf. Das gilt hinsichtlich der Kriminalitätsbelastung sowohl von Nichtdeutschen als auch von Gastarbeitern. Seit der Neuregelung des Ausländerrechts vom 6.  Juli 1990 wurde die Einbürgerung teilweise erheblich erleichtert.67 Im Jahr 2000 wurde dann das neue Staatsangehörigkeitsrecht eingeführt, welches dazu führte, dass sich die Zahl der potentiellen Einbürgerungskandidaten nochmals erhöhte. Ob der Rückgang der Nichtdeutschenkriminalität seit 1993, wie von Neubacher68 konstatiert, auch gerade deshalb rückläufig ist, lässt sich mit dem vorhandenen statistischen Material nicht sicher sagen. Ein weiterer wichtiger Verzerrungsfaktor ist die nicht vorhandene Homogenität der Gruppe der Nichtdeutschen69 als statistische Bezugsgruppe für die Gastarbeiterkriminalität. Während Gastarbeiter nahezu ausschließlich aus dem Mittelmeerraum angeworben wurden, beinhaltet die Gruppe der Nichtdeutschen sämtliche Ausländer ohne deutschen Pass. Nur ein vergleichsweise geringer Teil davon sind noch Gastarbeiter bzw. deren Nachkommen. Insgesamt ist davon auszugehen, dass die Gruppe stetiger Einwanderer insbes. seit dem Anwerbestopp von Gastarbeitern durch die Bundesrepublik sehr inhomogen gewachsen ist. Den Großteil von Menschen mit Migrationshintergrund stellen allerdings nach wie vor die türkischstämmigen Migranten, mit ca. 2,5 Millionen, unter Einschluss von ca. 600.000 auch Bock, Kriminologie, Rn. 877. Bock, Kriminologie, ebenda. 66  Vgl. Bock, Kriminologie, ebenda. 67  Vgl. Schwind, Kriminologie, § 24, Rn. 36 ff. 68  Vgl. Neubacher, Kriminologie, S. 137. 69  Zu den Nichtdeutschen allgemein, vgl. unten in diesem Abschnitt, II., 4. 64  Vgl. 65  Vgl.

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Teil 3: Kriminologische Grundlagen

Eingebürgerten dar.70 Die größte religiöse und kulturelle Minorität sind die Muslime mit ca. 4,3 Millionen.71 Würde man die tatverdächtigen Nichtdeutschen schlicht ins Verhältnis zu deren Wohnbevölkerungsanteil setzen, hätte man keine verlässlichen Erkenntnisse über die Kriminalität von Gastarbeitern und deren Nachkommen gewonnen. Denn die formale Kategorie der Nichtdeutschen umfasst neben einem Teil Gastarbeiter, einschließlich deren Nachkommen, die nicht die deutsche Staatbürgerschaft führen, u. a. auch Asylbewerber, Touristen, Reisende.72 Bock weist bei dieser Diskussion zu Recht darauf hin, dass bei der fortschreitenden Einbürgerungssituation ohne entsprechende, parallel verlaufende kulturelle Integration, die Einteilung in Deutsche und Nichtdeutsche i. S. d. PKS ad absurdum geführt wird.73 Nach den Zahlen des Mikrozensus 2010 ergab sich in Hinblick auf die Zuwanderungssituation, dass insgesamt 15,746 Millionen Menschen in Deutschland einen eigenen oder familiären Migrationshintergrund aufweisen.74 Hierbei handelt es sich um Personen, deren Migrationshintergrund durchweg bestimmbar ist.75 Würde man jene Personen, deren Migrationshintergrund nicht durchweg bestimmbar ist,76 hinzurechnen, würde sich die Zahl leicht erhöhen, auf etwa 16 Millionen.77 Von den rund 15,7 Millionen Menschen mit einem Migrationshintergrund im engeren Sinne haben ca. 8,6 Millionen die deutsche Staatsbürgerschaft, ca. 7,1 Millionen sind dauerhaft in Deutschland lebende Ausländer.78 Soweit man also davon ausgeht, dass gewisse kriminogene Faktoren ausschließlich oder überwiegend bei Nichtdeutschen vorkommen, so spricht einiges dafür, dies auch für einen Teil der eingebürgerten, mittlerweile Deutschen mit Migrationshintergrund anzunehmen, zu denen auch ein erheblicher Teil der Gastarbeiter von einst gehört. Letztlich sind die in der Frage der Gastarbeiter- und auch z. T. (Spät-)Aussiedlerkriminalität auftretenden Probleme der quantitativen Erfassbarkeit ein Erbil, Toleranz für Ehrenmörder?, S. 1. Schwind, Kriminologie, Vor § 23, Rn. 4. 72  Vgl. Bock, Kriminologie, Rn. 883. 73  Vgl. Bock, Kriminologie, Rn. 878. 74  Vgl. Statistisches Bundesamt, Fachserie 1, Reihe 2.2, Migration in Deutschland 2010, S. 32. 75  Hierbei handelt es sich um Personen mit Migrationshintergrund im engeren Sinne. 76  Dies sind Personen mit Migrationshintergrund im weiteren Sinne; vgl. zu dieser Terminologie: Statistisches Bundesamt, Fachserie 1, Reihe 2.2, Migration in Deutschland 2010, S. 388. 77  Vgl. für 2009 Statistisches Bundesamt, Fachserie 1, Reihe 2.2, Migration in Deutschland 2010, S. 388, 389. 78  Vgl. Statistisches Bundesamt, Fachserie 1, Reihe 2.2, Migration in Deutschland 2010, ebenda. 70  Vgl. 71  Vgl.



A. Kriminalität von Personen mit fremdkulturellem Hintergrund85

typischer Ausdruck für kriminologische und statistische Methodenprobleme. Die folgenden Ausführungen zu den Nichtdeutschen können somit auch teilweise auf die Kriminalitätsphänomene der Gastarbeiter und deren Nachkommen übertragen werden. 4. Kriminalität von Nichtdeutschen a) Allgemeines Die ebenfalls bei der Gruppe der Nichtdeutschen zu verzeichnende Heterogenität erschwert auch hier schon prinzipiell die Vergleichbarkeit der Kriminalitätsbelastung mit den Deutschen in vielen Punkten. Es wird vermutet, dass sich die einzelnen Subgruppen der Nichtdeutschen nach strafrechtlich relevantem Verhalten teilweise erheblich unterscheiden.79 Den größten Anteil der auch am häufigsten als Tatverdächtige Registrierten weisen die Asylbewerber auf.80 Zur Gruppe der Nichtdeutschen kommen darüber hinaus noch verschiedene ausländische Arbeitnehmer, Touristen, Reisende, Gewerbetreibende, Stationierungskräfte, Schüler und Studenten sowie sonstige sich illegal im Bundesgebiet Aufhaltende hinzu.81 In diese Gruppe werden auch jene Personen gezählt, die staatenlos sind oder bei denen die Staatsangehörigkeit ungeklärt ist.82 Insofern ist der Hinweis auf die Heterogenität dieser „Gruppe“ zugleich ein bevorzugter methodischer Kritikpunkt geworden. Zutreffend ist dabei, dass diese Einteilung aufgrund der Verschiedenartigkeit der einzelnen Subgruppen in Bezug auf Kriminalität nur bedingt Raum für allgemeine Erklärungsversuche lässt. Eine breite Zustimmung besteht insoweit, dass die Einteilung in Deutsche und Nichtdeutsche auch aus diesem Grunde überholt ist.83 Dennoch sind diese Termini die derzeit einzigen, welche, wenngleich vage Rückschlüsse auf eine Kriminalitätsbelastung im Verhältnis zum Bevölkerungsanteil dieser „Gruppe“ ermöglichen, da sie von der PKS (noch) so geführt werden. Seit 1984 ist der Anteil der nichtdeutschen Tatverdächtigen in der Bundesrepublik von 16,6 % auf 33,6 % im Jahre 1993 angestiegen,84 sank dann Eisenberg, Kriminologie, § 50, Rn. 56. etwa Schwind, Kriminologie, § 24, Rn. 21, für das Jahr 2006. 81  Vgl. Bock, Kriminologie, Rn. 883. 82  Vgl. PKS 2010, S. 21. 83  Vgl. u. a. Maschke, in: Göppinger, Kriminologie, § 24, Rn. 94; Bock, Kriminologie, Rn. 877, 878; Kritik von Eisenberg, Kriminologie, § 50, Rn. 55 ff.; Albrecht, Kriminologie, S. 370, der darauf hinweist, dass die Begriffe „Ausländer“ und „Migrant“ seit geraumer Zeit immer mehr an Deckungsgleichheit verloren haben; vgl. auch Neubacher, Kriminologie, S. 137. 84  Vgl. Bock, Kriminologie, Rn. 883; PKS 2010, S. 94. 79  Vgl. 80  Vgl.

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Teil 3: Kriminologische Grundlagen

kontinuierlich bis 2005 auf 22,5 % ab85 und stagnierte einige Jahre etwa bei 22 %. Im Jahr 2010 lag der Anteil bei 21,9 %.86 Seither steigt er wieder langsam an. Für das Jahr 2013 weist die PKS einen Tatverdächtigenanteil der Nichtdeutschen von 22,6 % aus.87 Diese Zahl ist bereits um die ausländerspezifischen Delikte bereinigt. Im Vergleich zu ihrem Anteil an der registrierten Wohnbevölkerung ergibt sich, dass Nichtdeutsche nach wie vor deutlich höher kriminalitätsbelastet sind als Deutsche. Ihr Bevölkerungsanteil ist seit 1984 von ca.  7,1 %88 nahezu kontinuierlich auf rund 8,8 % im Jahr 2010 angewachsen.89 Für das Jahr 2013 weist das Statistische Bundesamt einen ausländischen Bevölkerungsanteil von 9,4 % aus.90 Dass die Tatverdächtigenzahlen der Nichtdeutschen bestimmte Verzerrungsfaktoren aufweisen, ist bekannt. Auf einige wurde bereits im Rahmen der Gruppe der Gastarbeiter hingewiesen, welche insbes. dort zu berücksichtigen waren. Gleichwohl gibt es darüber hinaus weitere Verzerrungsfaktoren, die hier näher zu betrachten sind. In der kriminologischen Literatur herrscht insoweit Einigkeit darüber, dass die Aussagekraft des statistischen Materials weniger begrenzt ist, wenn sie um gewisse statistikimmanente Verzerrungsfaktoren bereinigt wird.91 Diesem Konsens unterfällt zunächst das Herausrechnen ausländerspezifischer Delikte, also Straftaten gegen das Aufenthalts- und Asylverfahrensgesetz.92 Eine Berücksichtigung dieses Verzerrungsfaktors ist deswegen plausibel, weil deutsche Staatsangehörige praktisch keine Begehungschancen hierfür aufweisen.93 Die PKS weist deshalb seit einigen Jahren nur noch die um diesen Faktor bereinigten Zahlen aus. In diesem Kontext weist Schwind allerdings darauf hin, dass aus erfassungstechnischen Gründen (gemeint ist die 2009 eingeführte „echte“ Tatverdächtigenzählung94) dieser bereinigte Prozentsatz zu niedrig angesetzt wäre, da in dieser Zahl die Tatverdächtigen fehlen würden, denen neben ausländerspezifischen Delikten auch andere Delikte vorgeworfen werden.95 85  Vgl.

PKS 2010, ebenda. PKS 2010, ebenda. 87  Vgl. PKS IMK-Bericht, 2013, S. 15. 88  Vgl. Bock, Kriminologie, ebenda. 89  Vgl. Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch 2011, S. 28. 90  Vgl. Statistisches Bundesamt, Fachserie 1, Reihe 2.2, Bevölkerung und Erwerbstätigkeit, 2014, S. 27. 91  I. d. S.  Villmow, in: BewHi 1995, S. 155 ff. (156). 92  Vgl. u. a. Villmow, in: BewHi 1995, ebenda; Schwind, Kriminologie, § 23, Rn. 4; Neubacher, Kriminologie, S. 137; Eisenberg, Kriminologie, § 50, Rn. 61; Maschke, in: Göppinger, Kriminologie, § 24, Rn. 97; Bock, Kriminologie, Rn. 884. 93  Vgl. Bock, Kriminologie, ebenda. 94  Vgl. etwa PKS 2012, S. 15. 95  Vgl. Schwind, Kriminologie, § 23, Rn. 5. 86  Vgl.



A. Kriminalität von Personen mit fremdkulturellem Hintergrund

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Dieser Umstand müsste dann konsequenterweise ebenso mitberücksichtigt werden. Ferner stimmt man darin überein, dass Delikte, welche von Touristen, Stationierungskräften und anderen Personen begangen werden, die gerade nicht zur registrierten Wohnbevölkerung zählen, herauszurechnen sind.96 Das ist deshalb nicht zu beanstanden, weil die Kriminalitätsbelastung bezogen auf die Wohnbevölkerung berechnet wird.97 Für sich genommen rechtfertigt diese Tatsache bereits, dass das Bundeskriminalamt die Tatverdächtigenbelastungszahl nicht länger für Nichtdeutsche ausweist. Zudem muss in diesem Kontext allerdings gegenläufig beachtet werden, dass die Bevölkerungsstatistik auch solche Nichtdeutschen enthält, die Deutschland bereits verlassen haben, ohne sich abzumelden.98 Ansonsten herrscht Uneinigkeit im kriminologischen Diskurs über das weitere Herausrechnen von etwaigen Verzerrungsfaktoren. Eine Ursache dafür ist die Tatsache, dass es sich über das soeben Gesagte hinaus nicht mehr um statistikimmanente Verzerrungen handelt. Einige Autoren votieren für eine weitläufigere Berücksichtigung von Faktoren, welche bei der Klärung der Kriminalitätsbelastung von Nichtdeutschen herangezogen werden müssten, andere wiederum warnen z. T. aus kriminalpolitischen Gründen davor, die Statistik künstlich zu interpretieren.99 Im Folgenden werden die beiden Positionen als extensiver und restriktiver Ansatz dargestellt. b) Der extensive Ansatz Unter den Vertretern eines extensiven Umgangs mit der Frage, ob weitere Verzerrungsfaktoren bei der Statistikinterpretation zu berücksichtigen sind, finden sich bspw. Neubacher, Villmow und Albrecht.100 Nach Auffassung Neubachers ist vor allem die strukturell unterschiedliche Zusammensetzung der jeweiligen Bevölkerungsgruppen zu beachten.101 Nichtdeutsche würden im Vergleich zu Deutschen in ungleich höherem Maße Merkmale auf sich vereinen, die üblicherweise mit Kriminalität korrelieren.102 Das beträfe zunächst die geschlechterspezifische Zusammensetzung. Gerade die etwa Schwind, Kriminologie, § 23, Rn. 7; Bock, Kriminologie, Rn. 884. Bock, Kriminologie, Rn. 884. 98  Vgl. Eisenberg, Kriminologie, § 50, Rn. 56. 99  So warnt Schwind, Kriminologie, § 23, Rn. 40, vor allem aufgrund der erleichterten Einbürgerungssituation davor, dass die Statistik immer unsicherer wird. 100  Siehe dazu u.  a. jeweils Neubacher, Kriminologie, S. 137 ff., Villmow, in: Bew­Hi 1995, S. 155 ff.; ders., in: Cropley et al. (Hrsg.), Probleme der Zuwanderung I, S. 148 ff. (156 ff.); sowie Albrecht, Kriminologie, S. 370 ff., dort insbes. S. 374. 101  Vgl. Neubacher, Kriminologie, S. 138. 102  Vgl. Neubacher, Kriminologie, ebenda. 96  Vgl. 97  Vgl.

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Gruppe junger Männer begehe im für sie charakteristischen Sozialisationsprozess typischerweise häufiger Straftaten als Frauen oder ältere Menschen.103 Auch der Umstand, dass junge Migranten überwiegend in der Anonymität einer Großstadt leben, erhöhe die Gelegenheiten zur Begehung von Straftaten und verringere das Niveau der sozialen Kontrolle.104 Aufgrund von Sprach- und Integrationsproblemen, was im Übrigen häufig zusammenfallen wird, seien darüber hinaus die Chancen auf gesellschaftliche Teilhabe dieser Gruppe erheblich reduziert.105 Insbesondere eröffne das „wenig durchlässige“ Schulsystem „keine Chancen“, sondern schlage Türen zu.106 Albrecht macht diese sozialdemographischen und strukturellen Unterschiede sogar zum „zentralen Einwand gegen einen Vergleich der registrierten Kriminalitäts- und Verurteiltenbelastung“.107 Daneben sollen auch Faktoren wie Kriminalitätswahrnehmung und Anzeigeverhalten der einheimischen Bevölkerung eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen.108 c) Der restriktive Ansatz Im Gegensatz dazu vertreten etwa Maschke und Bock die Auffassung, dass der Versuch, die erhöhte Kriminalitätsbelastung von Nichtdeutschen durch das Herausrechnen weiterer Variablen letztlich als „künstliches Produkt der Statistik“ zu entlarven, kriminologisch wenig ergiebig sei.109 Hierzu werden etwa solche Faktoren wie die Schichtzugehörigkeit, die Schulbildung und die Wohnortgröße gezählt.110 Es sei gerade Teil des sozialen Problems der „Ausländerkriminalität“, dass es häufig Sprachschwierigkeiten und damit verbunden eine geringere gesellschaftliche Teilhabe bei Nichtdeutschen gibt und dass Nichtdeutsche überproportional häufig in Großstädten mit entsprechenden Gelegenheitsstrukturen leben usw.111 Darüber hinaus Neubacher, Kriminologie, ebenda. Neubacher, Kriminologie, ebenda. 105  Vgl. Neubacher, Kriminologie, ebenda. 106  Vgl. Neubacher, Kriminologie, ebenda; was Neubacher damit freilich nicht erklärt, ist, weshalb dies keinesfalls für alle jungendlichen Schüler mit Migrationshintergrund der Fall zu sein scheint. So besuchen bereits gegenwärtig prozentual betrachtet mehr Schüler vietnamesischer Herkunft das Gymnasium, als deutsche Schüler und schneiden im Übrigen auch durchschnittlich besser ab, vgl. Stürzer/ Täubig/Uchronski/Bruhns, Schulische und außerschulische Bildungssituation von Jugendlichen mit Migrationshintergrund, S. 15, 174 ff. 107  Vgl. Albrecht, Kriminologie, S. 374. 108  Vgl. Neubacher, Kriminologie, ebenda. 109  Vgl. Bock, Kriminologie, Rn. 885; Maschke, in: Göppinger, Kriminologie, § 24, Rn. 100. 110  Vgl. Bock, Kriminologie, ebenda. 111  Vgl. Bock, Kriminologie, ebenda. 103  Vgl. 104  Vgl.



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müsse man dann auch konsequenterweise gegenläufige Variablen herausrechnen, welche eine positive Wirkung in Hinblick auf rechtstreues Verhalten haben können, wie etwa eine starke Familienbindung oder aber die Neigung, in einigen subkulturellen Milieus nicht mit den Organen der deutschen Strafrechtspflege zu kooperieren.112 In der Gesamtschau führe das immer weitergehende Herausrechnen solcher Faktoren, die diese spezifische Gesamtlage der Nichtdeutschen konstituieren, kriminalstatistische Vergleiche letztlich ad absurdum.113 Es ist bezeichnend für die gesamte Diskussion, dass sich sowohl Bock als auch Maschke bereits präventiv nach diesen Argumenten gegen den Einwand der „Ausländerdiskriminierung“ zur Wehr setzen.114 d) Kritische Stellungnahme Bemerkenswert ist zunächst, dass die soeben dargestellten Ansichten in typischer Weise exemplarisch für die anhaltende kriminologische Diskussion um die Berücksichtigung etwaiger Verzerrungsfaktoren beim Problemfeld der Interpretation der Nichtdeutschen- bzw. Zuwandererkriminalität stehen. Die vertretenen Positionen sind überwiegend absolut, vermittelnde Positionen werden selten eingenommen.115 Dabei scheinen jedenfalls in der Gesamtschau relative Ansätze vielversprechend zu sein. Es gibt durchaus sachliche Gründe, sowohl Argumente aus den restriktiven wie auch aus den extensiven Meinungen in der Gesamtdiskussion zu berücksichtigen. Dabei muss freilich deutlich gemacht werden, auf welcher Bezugsebene die jeweiligen Argumente durchschlagen sollen. Das wird nicht immer schon bei der Kriminalitätsinterpretation sinnvoll sein, sondern könnte etwa für Fragen der Prävention relevant werden. Das bedeutet für die Debatte selbst, dass die Aspekte der Interpretation einerseits und der Verwertung der Erkenntnisse andererseits schärfer geschieden werden müssten. Im Folgenden sollen einige ausgewählte Streitfragen in diesem Kontext näher ausgeleuchtet werden. Das dürfte für die Gesamtdiskussion erhellend sein.

Bock, Kriminologie, ebenda. Bock, Kriminologie, ebenda. 114  Vgl. Bock, Kriminologie, ebenda; Maschke, in: Göppinger, § 24, Rn. 100. 115  Als eine Ausnahme hierzu könnte allerdings Schwind, Kriminologie, gesehen werden, welcher gerade in neueren Auflagen immer weniger eine absolute Position vertritt. Vergleicht man bspw. noch die 18. Auflage seines Werkes mit der 21. Auflage, fällt auf, dass gerade in den zu diesem Problemfeld einschlägigen Paragraphen vielfältige Änderungen vorgenommen wurden. Dazu kann auch die Debatte um Sarrazin als kriminalpolitisches Thema gezählt werden. 112  Vgl. 113  Vgl.

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aa) Das Problem der Verzerrung durch Geschlechts-, Alters- und Sozialstruktur Als erstes bietet es sich an, den Einwand der möglichen Verzerrung des statistischen Materials durch die spezifische Geschlechts-, Alters- und Sozialstruktur der Nichtdeutschen zu betrachten.116 Hierzu erweisen sich neben den Daten der PKS auch möglicherweise die Zahlen des Statistischen Bundesamtes zur Bevölkerungsstruktur als erhellend. Sie geben Einblick in die konkrete Geschlechts‑, Alters- und Sozialstruktur der relevanten Personengruppen unter Einschluss der Deutschen mit Migrationshintergrund. Bei dieser Gruppe handelt es sich um eine nicht nur statistische Schnittstelle zwischen Deutschen und Nichtdeutschen. Auf die z. T. vergleichbaren Dispositionen wurde oben schon hingewiesen. Ihre Einbeziehung in die Diskussion könnte wichtige Erkenntnisse darüber liefern, wie die Kriminalität von Personen mit fremdkulturellem Hintergrund in Hinblick auf die Geschlechts-, Alters- und Sozialstruktur zu bewerten sein könnte. Vergleicht man die einschlägigen Statistiken, scheint zunächst das Argument, die Zahlen sollten um den Faktor, der durch die unterschiedliche Geschlechterstruktur errechnet werden kann, bereinigt werden, sowohl auf einer fragwürdigen Faktenlage zu beruhen117 als auch in besonderem Maße mit dem Problem des veralteten dichotomen Begriffsverständnisses zu korrelieren. Aufgrund vielfältiger Veränderungen in der Sozialstruktur bei den Deutschen und Nichtdeutschen sollte deshalb nur mit großer Vorsicht darauf abgehoben werden. Das gilt es umso mehr zu betonen, wenn man die Unwägbarkeiten im Zusammenhang mit den gegenwärtigen Flüchtlingsbewegungen in die Betrachtung einbezieht.118 Was jedenfalls die gesicherten 116  An dieser Stelle muss darauf hingewiesen werden, dass die gegenwärtige Flüchtlingskrise zu umfassenden Neubewertungen der Faktenlage u. a. in Hinblick auf die Alters-, Geschlechts- und Sozialstruktur der Nichtdeutschen führen wird. 117  Wenn Neubacher, Kriminologie, S. 138, in diesem Zusammenhang einwendet, man könne nicht „Äpfel mit Birnen“ vergleichen, unterliegt er m. E. wie viele einem Irrtum, wenngleich man einwenden mag, dass es doch bei dieser Floskel eigentlich um etwas ganz anderes gehen soll. Betrachten wir sie dennoch einmal wörtlich: Es ist häufig gerade Sinn und Zweck eines Vergleiches, unterschiedliche Sachverhalte in Beziehung zueinander zu setzen und die ihnen anhaftenden Merkmale gegenüberzustellen, also bspw. die Merkmale von Äpfeln und Birnen! Stellt man einander identische Sachverhalte gegenüber, würde das Ergebnis lauten, es gibt keine Unterschiede. Das Ergebnis wäre eine Nullaussage. Stellt man dagegen unterschiedliche Sachverhalte gegenüber, kann man im Ergebnis Unterschiede feststellen. Es kommt also vielmehr auf die Fragestellung an, ob es Sinn ergibt, Äpfel mit Birnen zu vergleichen. 118  Allein bis September 2015 verzeichnete das BAMF mehr als eine Verdopplung der Asylantragszahlen zum Vergleichszeitraum  2014  (+135,7 %),  https://www.



A. Kriminalität von Personen mit fremdkulturellem Hintergrund91

Zahlen anlangt, sind bei den Nichtdeutschen die Männer mit 3,4 Millionen gegenwärtig nur (noch) leicht höher repräsentiert als die Frauen mit 3,3 Millionen.119 Über die Frage, wie signifikant die Unterschiede zwischen Männern und Frauen damit sind, lässt sich demnach trefflich streiten. Das Statistische Bundesamt weist insgesamt 40,1 Millionen Männer und 41,6 Millionen Frauen für die in Deutschland lebende Gesamtbevölkerung aus.120 Rechnet man die registrierte ausländische Bevölkerung heraus, verbleiben 36,7 Millionen männliche und 38,3 Millionen weibliche Deutsche. Auch die Einbürgerungsraten sind bei beiden Geschlechtern etwa gleich, wobei Frauen leicht häufiger eingebürgert werden als Männer.121 Die damit verbundenen Probleme der Erfassung als deutsch oder nichtdeutsch schlagen demnach auch hier durch und sollten in der Diskussion entsprechend beachtet werden. Der geschlechterspezifische Unterschied zwischen den Nichtdeutschen und Deutschen erscheint nach alledem wohl weniger erheblich, als die einschlägige Literatur Glauben macht.122 Bezüglich des Alters weisen die Zahlen des Statistischen Bundesamtes ein Durchschnittsalter von 38,9 Jahren für die ausländische in Deutschland lebende Bevölkerung aus.123 Exakte Zahlen zur Altersstruktur führt die Statistik zwar nicht an, einem Schaubild lässt sich aber entnehmen, dass bei Ausländern die Gruppe der 25- bis 40-Jährigen am stärksten repräsentiert ist, hier insbes. der Bereich um etwa 35 Jahre.124 Bei den Deutschen lassen sich hingegen verschiedene Altersschwerpunkte erkennen. Die höchste Repräsentation gibt es demnach bei den etwa 35‑ bis 55-Jährigen. Danach folgt die Gruppe der 20- bis 35-Jährigen.125 Allerdings gibt es bei den Deutschen tatsächlich einen geschlechterspezifischen Unterschied. Bei der Gruppe der 15- bis 25-Jährigen gibt es im Gegensatz zu den Nichtdeutschen einen Männerüberschuss.126 Soweit bereits festgestellt wurde, dass zwischen Nichtdeutschen und Deutschen mit Migrationshintergrund sowohl eine gewisse Vergleichbarkeit als auch Überschneidungen in Hinblick auf bestimmte kriminologische Disposibamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Downloads/Infothek/Statistik/Asyl/statistik-anlageteil-4-aktuelle-zahlen-zu-asyl.pdf?__blob=publicationFile (01.11.2015), S. 4. 119  Vgl. Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch 2011, S. 52. 120  Vgl. Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch 2011, S. 29. 121  Vgl. Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch 2011, S. 54. 122  Auf mögliche Neubewertungen dieser Frage für 2015 und darüber hinaus wurde bereits hingewiesen. 123  Vgl. Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch 2011, S. 52. 124  Vgl. Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch 2011, S. 37. 125  Vgl. Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch 2011, S. 37. 126  Vgl. Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch 2011, ebenda.

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Teil 3: Kriminologische Grundlagen

tionen bestehen, bietet es sich in diesem Kontext an, die Zahlen der in Deutschland lebenden Migranten hier in die Betrachtung mit einzubeziehen. Im Bereich der 20- bis 25-Jährigen Deutschen weisen 611.000 männliche Personen einen Migrationshintergrund auf.127 Das entspricht etwas weniger als einem Viertel der Gesamtpopulation dieser Altersgruppe. Bei den Frauen sind es in der Vergleichsgruppe immerhin 571.000.128 Auch hier entspricht ihr Anteil ca. einem Viertel an der Gesamtbevölkerung der entsprechenden Altersgruppe. In der Gruppe der 25- bis 35‑Jährigen finden sich sogar mehr Frauen als Männer. Während demnach 1,315 Millionen Männer zwischen 25 und 35 Jahren einen Migrationshintergrund aufweisen, sind es bei den Frauen immerhin 1,352 Millionen.129 Damit ergibt sich hinsichtliches der Altersstruktur keine signifikante Dominanz des männlichen Geschlechts in der Gruppe der jungen Menschen mit Migrationshintergrund. Interessant ist hierbei sicher auch der Umstand, dass die Deutschen mit Migrationshintergrund eine ähnliche Herkunftsstruktur wie die Nichtdeutschen aufweisen. Auch sie stammen überwiegend aus der Türkei, Polen und Russland.130 In der Gesamtschau lässt sich Folgendes zu den Zahlen in Hinblick auf mögliche Perspektiven einer Interpretation sagen: In den letzten Jahren hat sich das Geschlechter- und Altersverhältnis sowohl bei der ausländischen als auch bei der deutschen Bevölkerung verändert. Viele kriminologische Beiträge, welche den Gedanken der Überrepräsentation der jungen männ­ lichen Bevölkerung bei den Nichtdeutschen aufgrund signifikanter Unterschiede bemühen, beziehen sich ihrerseits auf Quellen, die z. T. deutlich vor dem Jahr 2000 angesetzt sind.131 Aktuellere Zahlen des Mikrozensus legen jedoch nahe, dass sich in diesem Bereich langsam eine Angleichung der Verhältnisse vollzieht.132 Die „Alterspyramide“133 der Nichtdeutschen gleicht sich den deutschen Verhältnissen an. Nach Auffassung des Verfassers gibt es für die sinkende Rate des Frauenanteils bei den Deutschen vor allem eine plausible Erklärung: Für 1989 stellte Villmow noch fest, dass der Frauenanteil der Deutschen 59,5 % beträgt.134 Dieser erhöhte Frauenanteil lässt sich mit dem Nachkriegsüberschuss an Frauen in Deutschland erklären. 127  Vgl.

Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch 2011, S. 48. Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch 2011, ebenda. 129  Vgl. Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch 2011, ebenda. 130  Vgl. Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch 2011, S. 51 für das Jahr 2008. 131  So bspw. Villmow, in: BewHi 1995, S. 155 ff.; ders., in: Cropley et al., Probleme der Zuwanderung I, S. 148 ff. (155). 132  Vgl. Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch 2011, S. 37, Schaubild 1. 133  Vgl. Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch 2011, ebenda. 134  Vgl. Villmow, in: Cropley et al., Probleme der Zuwanderung I, S. 148  ff. (151). 128  Vgl.



A. Kriminalität von Personen mit fremdkulturellem Hintergrund93

Über 20 Jahre nach Villmows Auswertung ist ein Großteil dieser Altersgruppe, in welcher die Frauen quantitativ überrepräsentiert waren, jedoch verstorben. Die Verhältnisse haben sich in der Folge wieder angeglichen. Das war auch bereits 1989 absehbar, wurde aber scheinbar nicht hinreichend berücksichtigt. In der Gruppe der ca. 15- bis 25‑Jährigen wird sogar ein Männerüberschuss bei der deutschen Wohnbevölkerung ohne Migrationshintergrund ausgewiesen.135 Insoweit sind die Ausführungen bei Schwind geradezu bezeichnend, wenn er „vorsichtig“ formuliert, dass Nichtdeutsche „erfahrungsgemäß“ häufiger dem besonders kriminalitätsbelasteten Geschlecht angehören.136 Diese Erfahrungen stammen aus einer Zeit, die in Anbetracht der soziostrukturellen Veränderungen in gewisser Weise als historisch zu bezeichnen ist. Zwar sind Nichtdeutsche immer noch durchschnittlich jünger als Deutsche. Die Dominanz des männlichen Geschlechts flacht dagegen nach gegenwärtigem Zahlenstand langsam ab.137 Im Übrigen ist die Tatsache, dass Nichtdeutsche soziostrukturelle Unterschiede zu den Deutschen aufweisen (können), letztlich ein das Phänomen der Kriminalität von Nichtdeutschen, bzw. Zuwanderern mitbedingender Umstand.138 Es ist daher zwar sinnvoll, darauf aufmerksam zu machen. Keinesfalls sollte man weiterhin in erheblichem Maße versuchen, diese Umstände zu nivellieren, will man die Kriminalitätsphänomene im Zusammenhang mit der Zuwanderung sachgemäß diskutieren. Ein Bereinigen der Zahlen erscheint unter diesem zentralen Einwand weder zweckmäßig noch sinnvoll und ist daher abzulehnen. bb) Zur Verzerrung durch selektive Prozesse Einen weiteren wichtigen Punkt in der Diskussion um eine überzeichnete Kriminalitätsbelastung von Zuwanderern durch die polizeilich registrierte Kriminalität von Ausländern stellt die mögliche Verzerrung durch selek135  Vgl. Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch 2011, ebenda, siehe auch dort, S. 43: Die Gruppen der 6- bis 15- Jährigen sowie der 15- bis 18-, 18- bis 25- und der 25- bis 40-Jährigen weisen demnach alle einen „Männerüberschuss“ auf. Dieser wird aber nicht allein dadurch erklärt, dass die Nichtdeutschen mit etwa 110000 mehr Männern als Frauen repräsentiert sind. Auch bei den Deutschen zeichnet sich ein Männerüberschuss ab. Vergleicht man nun bspw. die von Villmow, in: Cropley et al., Probleme der Zuwanderung I, S. 148 ff. (151), genannten Zahlen, wird diese Vermutung untermauert. Dort heißt es, dass der Frauenanteil bei den Deutschen 1991 noch 59,5 % betrug. Davon kann heute nicht mehr die Rede sein. 136  Vgl. Schwind, Kriminologie, § 23, Rn. 9. 137  Über die Frage, ab welchem Prozentsatz man von einer Signifikanz in diesem Kontext reden kann, lässt sich freilich vortrefflich streiten. 138  Vgl. auch Maschke, in: Göppinger, Kriminologie, § 24, Rn. 100.

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tive Prozesse dar.139 Eine auf Ausschnitte beschränkte Kriminalitätswahrnehmung der (deutschen) Bevölkerung sowie eine gegenüber „fremdländisch aussehenden Personen“ erhöhte Anzeigebereitschaft sollen zu einer vermehrten Aufhellung des Dunkelfeldes der Nichtdeutschenkriminalität führen.140 Dabei können weder die vorgebrachten Argumentationen noch die empirischen Daten die Plausibilität dieses Erklärungsansatzes belegen. Neubacher etwa argumentiert in dieser Frage widersprüchlich.141 Einerseits bemerkt er, würden fremdländisch aussehende Personen eher von der einheimischen Bevölkerung angezeigt als deutsche Täter, andererseits konstatiert er, stammten 30 % der nichtdeutschen Tatverdächtigen aus dem EUAusland.142 Empirisch betrachtet ist zunächst festzuhalten, dass es keine gesicherte Grundlage für die Annahme eines erhöhten Anzeigeverhalts von Deutschen gegenüber Ausländern oder Migranten gibt.143 Die Ergebnisse von Studien zu diesem Thema sind nicht eindeutig. Eine Befragung von Schwind / Fetchenhauer / Ahlborn / Weiß legte nahe, dass die ethnische Zugehörigkeit für die Anzeigemotivation keine Rolle spielt.144 Gegenläufiges soll die Untersuchung von Pfeiffer / Kleimann / Petersen / Schott zu Tage gebracht haben.145 Dabei erscheint schon die Grundannahme, dass Ausländer aufgrund des „fremden“ Aussehens häufiger anzeigt werden, wenig schlüssig und veraltet zu sein. Das hat diverse Gründe. Zunächst dürfte gerade der EU‑Ausländer (also immerhin 30 % der nichtdeutschen Tatverdächtigen) eher selten „fremdländisch“ aussehen. Optisch sollte bspw. ein Pole, der zu der am stärksten kriminalitätsbelasteten EU‑Ausländergruppe zählt,146 kaum mit hinreichender Treffsicherheit von einem Deutschen unterschieden werden können. Ähnliches dürfte für die nächststärkere Gruppe von EU‑Ausländern, die Italiener, gelten.147 Dass alle Italiener dunkelhäutig und -haarig wären, entspricht vielmehr einem Klischee als einer Tatsache. Die weiteren in der PKS gelisteten EU-Ausländer, welche vergleichsweise häufig erfasst werden, sind ferner die Franzosen, Niederländer, 139  Vgl. dazu Maschke, in: Göppinger, Kriminologie, § 24, Rn. 121 ff., siehe dort auch zur Übertragbarkeit des Erklärungsansatzes auf andere Zuwanderergruppen. 140  Vgl. etwa Neubacher, Kriminologie, S. 138; vgl. auch Maschke, in: Göppinger, Kriminologie, § 24, Rn. 121. 141  Vgl. Neubacher, Kriminologie, S. 138 f. 142  Vgl. Neubacher, Kriminologie, S. 138. 143  Vgl. Villmow, in: BewHi 1995, S. 151 ff. (159). 144  Vgl. Schwind/Fetchenhauer/Ahlborn/Weiß, Kriminalitätsphänomene im Langzeitvergleich am Beispiel einer deutschen Großstadt, S. 200 f., 209, 367 f. 145  Vgl. Pfeiffer/Kleimann/Petersen/Schott, Migration und Kriminalität, S. 21 f. 146  Vgl. PKS 2010, S. 124, Die Polen sind insgesamt die am zweitstärksten belastete Gruppe nach den Türken mit 6,7 % aller nichtdeutschen Tatverdächtigen. 147  Vgl. PKS 2010, ebenda.



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­Österreicher und Tschechen.148 Auch hier dürfte sich die Annahme des „Fremdaussehens“ ähnlich häufig wie bei den Polen und Italienern als voreilig herausstellen.149 Daneben führt in diesem Kontext der Umstand der regen Einbürgerung „fremdländisch aussehender Personen“ gerade auch gegenläufig zu selektiven Verzerrungen. Bei über 15 Millionen Deutschen mit Migrationshintergrund wäre eine erhöhte Anzeigemotivation gegenüber „fremdländisch“ aussehenden Personen also keineswegs mit der zwingenden Konsequenz verbunden, es würden auch häufiger Ausländer angezeigt. Denn der „fremdländisch“ Aussehende kann auch einen deutschen Pass besitzen. Ähnliches sollte für andere Formen der informellen wie formellen Kontrolle in diesem Kontext gelten (etwa Polizeikontrollen).150 In der Gesamtschau lässt sich der hierauf bezogene Erklärungsansatz geradezu ad absurdum führen. In einem Zuwanderungsland wie der Bundesrepublik, dessen Gesellschaft multikulturell und pluralistisch durchdrungen ist, wirkt der gesamte Erklärungsversuch ungelenk und muss sich den Vorwurf gefallen lassen, den sozialen Realitäten nicht hinreichend gerecht zu werden. Der Anzeigemotivation sowie anderen selektiven Prozessen sollte nach alledem als Ursache für die erhöhte Kriminalitätsbelastung von Nichtdeutschen aufgrund der durch Wahrnehmung verursachten Verzerrung, den 148  Vgl.

PKS 2010, ebenda. bei Pfeiffer/Kleimann/Petersen/Schott, Migration und Kriminalität, S. 22, wird auf Basis der dort angeführten Schülerbefragung lediglich vermutet, dass die eigene Ethnie zutreffend von den jeweiligen Opfern „mit großer Sicherheit“ erkannt würde. Die im Übrigen konstatierte „deutliche Erhöhung“ der Anzeigequote gegenüber Nichtdeutschen fällt mit 3,3 % mehr gegenüber der Anzeigequote deutscher Täter zwar erhöht aus, die vorgenommene Evaluierung hingegen wirkt unnötig überzogen. Alle Anzeigequoten, also deutsch-deutsch, nichtdeutsch-nichtdeutsch, deutsch-nichtdeutsch und vice versa liegen zwischen rund 20 % und rund 25 %. Im Übrigen leidet auch diese Evaluierung unter den begrifflichen Schwächen der gewählten Kategorien „deutsch“ und „nichtdeutsch“. Gerade die Tatsache, dass die Schülerbefragung in vier Großstädten Niedersachsens durchgeführt wurde, lässt erhebliche Zweifel in der methodischen Verwertbarkeit aufkommen. Zwar mag das Opfer die Ethnie „richtig“ zuordnen, über den Pass bzw. die Staatsbürgerschaft – darauf wurde bereits mehrfach hingewiesen – sagt dies aber nichts aus. Vielmehr dürfte es dabei vordergründig um subjektive Zuschreibungsprozesse gegangen sein, deren Genauigkeit in Hinblick auf den Pass des Täters bezweifelt werden kann. Die Aussagen über die Anzeigemotivation sind in diesem Kontext folgerichtig entsprechend limitiert. 150  A. A. etwa Neubacher, Kriminologie, S. 138 f.; siehe auch Albrecht, Kriminologie, S. 373 f., dort heißt es: „Ferner ist offenbar die Anzeigebereitschaft der Bürger gegenüber Ausländerdelikten höher als bei Deutschen, die mit Straftaten auffallen.“ Welcher empirischen Basis die Aussage entnommen wurde, lässt sich hier nur mutmaßen. 149  Auch

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subjektiven Zuschreibungsprozessen und der ungesicherten empirischen Basis keine signifikante Bedeutung beigemessen werden.151 Eine möglicherweise nicht zu unterschätzende Rolle bei der (Nicht-)Erfassung nichtdeutscher Tatverdächtiger mögen aber gewisse Institutionen im Einwanderermilieu spielen,152 wie bspw. die sog. Friedensrichter,153 bei denen Konflikte informell und intrakulturell erledigt werden. Neben diversen Presseberichten wird die potentielle Relevanz dieses Phänomens auch dadurch gestützt, dass nichtdeutsche Tatverdächtige überproportional häufig bei den Delikten Begünstigung und Strafvereitelung auffallen.154 Gleichsam liegt die Vermutung nahe, dass in diesem Bereich ein erhebliches Dunkelfeld existiert. Konsequenterweise müsste sich hieran die Diskussion anschließen, ob diese Umstände nicht als Verzerrungsfaktoren „nach unten“ mit zu beachten wären. Allerdings wird man hier derzeit nicht über eine Hypothese hinauskommen. Es bleibt nur auf die kaum vorhandene Transparenz in diesem Bereich hinzuweisen, welche eine wissenschaftliche Evaluierung auf empirischer Basis erschwert bzw. verhindert. cc) Ergebnis In der Diskussion um die Berücksichtigung von weiteren Verzerrungsfaktoren bei der Interpretation der Kriminalitätsbelastung von Nichtdeutschen kann nach alledem festgehalten werden, dass es aus kriminologischer Sicht wenig ergiebig erscheint, die Kriminalitätsbelastung der Nichtdeutschen über die statistikimmanente Verzerrung hinaus weiter herunterzurechnen. Insofern wird zu Recht moniert, dass eine solche Verfahrensweise der statistischen Interpretation unnötig künstlich wirkt.155 Dies führt auch zu der Frage nach Sinn und Zielrichtung statistischer Vergleiche, wenn durch Herausrechnen aller, eine Situation kennzeichnender Faktoren „letztlich eine Nullaussage“ herbeigeführt wird.156 Die Berücksichtigung, d. h. aber gerade nicht das Herausrechnen, statistikexterner Faktoren bleibt hingegen für den Bereich der Prävention sinnvoll. Kriminal- und integrationspolitische Fragen müssen diese Erkenntnisse sicher konsequent zur Bewältigung ihrer 151  I. d. S.  Schwind/Fetchenhauer/Ahlborn/Weiß, Kriminalitätsphänomene im Langzeitvergleich am Beispiel einer deutschen Großstadt, S. 200 f., 209, 367 f. 152  Vgl. Eisenberg, Kriminologie, § 50, Rn. 73, geht davon aus, dass ein erheblicher Anteil intrakultureller Konflikte durch eine vergleichsweise geringe Anzeigebereitschaft gar nicht erst von den Strafverfolgungsorganen wahrgenommen wird. 153  Vgl. dazu etwa Spiegel vom 29.08.2011, S. 57 f. 154  Vgl. Maschke, in: Göppinger, Kriminologie, § 24, Rn. 101. 155  Vgl. Maschke, in: Göppinger, Kriminologie, § 24, Rn. 120. 156  Vgl. Maschke, in: Göppinger, Kriminologie, ebenda.



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Aufgabenfelder aufgreifen.157 Der Erklärungsgehalt dieser Faktoren umfasst wesentliche Aspekte des Phänomens der Nichtdeutschenkriminalität, indem auf deren konstituierende Elemente hingewiesen wird. Die Möglichkeit einer Übertragbarkeit der Aussagen des statistischen Materials und seiner Interpretation auf Zuwanderer allgemein oder fremdkulturell geprägter Täter im Besonderen ist begrenzt, in einigen Bereichen – wie dargelegt – jedoch möglich. e) Deliktspezifika Hinsichtlich der Bedeutsamkeit bestimmter Delikte bei fremdkulturell geprägten Tätern bestehen ähnliche methodische Probleme wie bei der Erfassung der Kriminalitätsbelastung dieser Tätergruppen. Auch hier muss vorwiegend auf Zahlen zur Nichtdeutschenkriminalität zurückgegriffen werden. Die möglichen Rückschlüsse auf Zuwanderer bzw. fremdkulturell geprägte Täter sind entsprechend begrenzt. Dennoch bieten sich derzeit nur wenige Alternativen an, um etwa solchen Fragen nachzugehen, ob es „fremdkulturelle Delikte“ bzw. spezifisch-fremdkulturell bedingte Kriminalität gibt. Dazu zählen etwa regionale Befragungen oder Querschnittsanalysen. Der Zweite Periodische Sicherheitsbericht aus dem Jahr 2006 (2. PSB) hat einige dieser Ergebnisse aufgenommen.158 Wie bereits angemerkt, werden Straftaten gegen das Aufenthalts-, Asylverfahrens- sowie Freizügigkeitsgesetz nahezu ausschließlich von Nichtdeutschen begangen.159 Sie stellen daher den wesentlichen Anteil der ausländerspezifischen Delikte dar. Die Nichtdeutschen sind hier mit 98,2 % aller Tatverdächtigen repräsentiert.160 Auch die hohe Kriminalitätsbelastung bei der Urkundenfälschung von 37,9 %, gemessen an allen Tatverdächtigen, hängt plausiblerweise damit zusammen, dass sie häufig im Zusammenhang mit den ausländerspezifischen Delikten begangen wird.161 Wenngleich in diesem Kontext von ausländerspezifischen Delikten gesprochen wird, handelt es sich dabei freilich nicht um spezifisch fremdkulturelle Delikte. Diese Straftaten haben nichts mit einem fremdkulturellen Sozialisationsprozess zu tun und sind ausschließlich durch kriminalisierende Vorschriften der Bundesrepublik bedingt. Praktisch keine Bedeutung hingegen spielt die Belastung von Nichtdeutschen bei Wettbewerbs-, Korruptions- und Amtsdelikten sowie der Un157  Vgl.

2. PSB 2006, 439. 2. PSB 2006, S. 415 ff. 159  Vgl. auch PKS 2013, S. 117. 160  Vgl. PKS 2013, ebenda. 161  Vgl. PKS 2013, ebenda. 158  Vgl.

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Teil 3: Kriminologische Grundlagen

treue.162 Eine Erklärung hierfür ist, dass Nichtdeutschen häufig die Zugangsmöglichkeiten fehlen, eine der genannten Taten begehen zu können. Dies hängt vor allem mit dem durchschnittlich niedrigeren sozialen Status der Nichtdeutschen gegenüber Deutschen zusammen.163 Legt man im Folgenden zugrunde, dass im Jahr 2013 25,7 % aller Straftaten von Nichtdeutschen begangen wurden, ergibt sich aus einer Gesamtschau der verschiedenen Deliktsgruppen eine gewisse Überrepräsentation von Nichtdeutschen bei einigen Delikten. Die Tendenz ist in diesen Deliktsbereichen in etwa gleichbleibend. So wurden 2010 noch 28,6 % aller vorsätzlichen Tötungsdelikte von Nichtdeutschen begangen.164 Im Jahr 2013 lag die Zahl bei 29,3 %.165 Auch bei Vergewaltigung und sexueller Nötigung waren die Nichtdeutschen bereits 2010 mit 28,2 % deutlich überrepräsentiert.166 Im Jahr 2013 liegt der Anteil der Tatverdächtigen bei 28,0 %.167 Daneben finden sich u. a. erhöhte Werte für Raubdelikte (32,3 %), alle registrierten Formen des Diebs (von 30,6 % beim Diebstahl von / aus Automaten bis hin zu 66,0 % beim Taschendiebstahl) sowie beim illegalen Handel mit und Schmuggel von verschiedenen Rauschgiften (für Heroin 29,9 %, für Kokain 51,9 %).168 Dieser erhöhte Ausschlag bei den genannten Deliktsgruppen scheint jedenfalls teilweise spezifisch zu sein. Zwar lässt sich ein fremdkulturelles Delikt per se dabei zunächst nicht ausmachen. Allerdings vermögen gewisse Modalitäten des Einzelfalles dazu beitragen, dass ein Fall fremdkulturelle Muster aufweist, mithin wirklich spezifische Züge annimmt. Neben den häufig bemühten „Ehrenmorden“ oder Blutrachetötungen169 finden sich in Literatur und Praxis zahllose weitere Fälle, die fremdkulturelle Eigenarten aufweisen. Eine abschließende Aufzählung von in Frage kommenden Modalitäten ist auch hier nicht möglich. Maschke etwa führt übereinstimmend 162  Vgl.

PKS 2013, ebenda. der Tatsache, dass Nichtdeutsche überwiegend einen niedrigeren sozialen Status aufweisen und deshalb gewissen kriminogenen Faktoren öfter ausgesetzt sind als Deutsche, müsste man hier, will man konsequent sein, jetzt gegenläufig berücksichtigen, dass Nichtdeutsche überwiegend – wegen des durchschnittlich niedrigeren sozialen Status’ – diese Delikte häufig nicht begehen können. Im Ergebnis würde dies dann zu einer Erhöhung der Kriminalitätsbelastung führen. Hieran zeigt sich die Absurdität dieser Verfahrensweise, wenn man über die oben angesprochenen Konsenspunkte hinausgeht. 164  Vgl. PKS 2010, S. 121. 165  Vgl. PKS 2013, S. 117. 166  Vgl. PKS 2010, ebenda. 167  Vgl. PKS 2013, S. 122. 168  Vgl. PKS 2013, ebenda. 169  Vgl. Maschke, in: Göppinger, § 24, Rn. 102. 163  Ähnlich



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mit dem 2. PSB unter nationalitätenspezifischen Erscheinungsformen der Kriminalität bspw. den Schmuggel von unversteuerten Produkten für Polen und Vietnamesen an, ferner Gewaltdelikte und Drogenhandel für Libanesen oder Verstöße gegen das Arbeitnehmerentsendegesetz und Sozialabgabenhinterziehung bei Subunternehmern aus dem osteuropäischen Raum.170 Das bedeutet zunächst, dass – schon aus erfassungstechnischen Gründen – die begangenen Delikte von Nichtdeutschen (bzw. Zuwanderern und fremdkulturell geprägten Tätern) solche sind, die auch von Deutschen begangen werden können. Erst spezifische Modalitäten bei der Tatbegehung, Tatplanung o. ä., welche insbes. bei der Begehung bestimmter Deliktsgruppen bei bestimmten ethnischen Gruppen zu verzeichnen sind, verleihen einem Delikt den gleichsam als spezifisch zu bezeichnenden Charakter. Bei Höffe findet sich für den Bereich der Sexualdelikte ein anschauliches Beispiel, was hierunter zu verstehen sein kann.171 In besagtem Beispielsfall verabredete ein Senegalese mit den Eltern eines ebenfalls aus dem Senegal stammenden minderjährigen Mädchens, dass dieses mit nach Deutschland genommen und von ihm im Haushalt betreut werden soll.172 Nach einiger Zeit beginnt der Mann mit der damals Sechszehnjährigen Geschlechtsverkehr auszuüben.173 In Betracht kommt damit nach deutschem Recht zunächst eine Strafbarkeit gem. §§ 174 Abs. 1 Nr. 2, 177 Abs. 2, 3, 4 StGB. Höffe konstatiert im Folgenden: „Wären Täter und Opfer Einheimische, so müßte das Urteil eindeutig auf ‚schuldig‘ lauten.“174 Interessant wird der Sachverhalt unter spezifisch kulturellen Aspekten, wenn Höffe den Fortgang des Falles beschreibt: Nach Auskunft des Mädchens gegenüber den zuständigen Richtern gehört es im Senegal zu den herrschenden kollektiven Üblichkeiten, dass sich eine Frau, welche im Haushalt eines Mannes aufgenommen wird, der für sie den Lebensunterhalt bestreitet, ihrem „Versorger“ sexuell hingibt.175 Neben der grundsätzlichen Frage nach der Strafbarkeit im oben genannten Sinne rückt im Beispiel nun auch § 177 Abs. 5 StGB unter kulturellen Prämissen in den Fokus der Fallbeurteilung. Hier könnte es sich u. U. um einen minder schweren Fall handeln. Für die Strafzumessung wäre dies von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Dies legen auch Erhebungen zur Strafintensität bei Vergewaltigung durch Nichtdeutsche nahe. In den letzten Jahren wurde ein gegenüber Deutschen erheblich höherer Anteil an 170  Vgl. Maschke, in: Göppinger, Kriminologie, § 24, Rn. 103; siehe auch 2. PSB 2006, S. 424. 171  Vgl. Höffe, Gibt es ein interkulturelles Strafrecht?, S. 31. 172  Vgl. Höffe, Gibt es ein interkulturelles Strafrecht?, ebenda. 173  Vgl. Höffe, Gibt es ein interkulturelles Strafrecht?, ebenda. 174  Vgl. Höffe, Gibt es ein interkulturelles Strafrecht?, ebenda. 175  Vgl. Höffe, Gibt es ein interkulturelles Strafrecht?, ebenda.

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minder schweren Fällen bei Vergewaltigungen durch Nichtdeutsche festgestellt.176 Unter fremdkulturellen Prämissen könnte sich der sexuelle Verkehr mit minderjährigen Schutzbefohlenen demnach als spezifisch und üblich für Menschen aus gewissen Regionen wie dem Senegal darstellen. Ähnliche kulturelle Gepflogenheiten findet man auch in anderen, überwiegend patriarchalisch geprägten Teilen der ganzen Welt. Daneben ließen sich auch weit weniger bekannte Beispiele aufbringen. Man könnte u. U. an Taten denken, die in einem Zusammenhang mit dem immer noch florierenden Menschenhandel in weiten Teilen Asiens stehen.177 Wie wären Fälle zu beurteilen, in denen ein Chinese von einem Bekannten eine Frau „kauft“? Dieses Beispiel ließe sich unterschiedlich variieren. So könnte der Kauf im Ausland stattfinden und das „Paar“ reist im Anschluss nach Deutschland. Oder der „Kauf“ wird über Fernkommunikationsmittel aus Deutschland „getätigt“. Neben der grundsätzlichen Frage der Strafbarkeit u. a. gem. §§ 232 ff. StGB erhält der Fall in dieser Konstellation durch die, in vor allem ländlichen Teilen Chinas verbreiteten Üblichkeiten, ein fremdkulturelles Muster. In zahlreichen ländlichen Gegenden Chinas ist aufgrund der Einkindpolitik und dem Vorzug männlicher Nachkommen ein akuter Frauenmangel entstanden. Viele „Junggesellen“ (oft über 40) sparen ihr Geld, um sich eine Frau zu kaufen, da sie in ihrer Umgebung keine anderen Möglichkeiten sehen oder der „Brautkauf“ einfach billiger als eine reguläre Heirat ist; in einigen Regionen Chinas sollen nach Angaben der UN 30 % bis 90 % aller Heiraten auf Menschenhandel zurückzuführen sein.178 Für das Strafrecht stellt sich dann die Frage, ob und im Zweifel wie solche kulturell bedingten Spezifika zu berücksichtigen sind. Die Frage der Strafbarkeit per se kann und darf selbstredend nicht berührt sein. Aber könnte vor diesem Hintergrund für das Strafmaß und seine Begründung etwas anderes gelten? Ferner bietet der mittlerweile gleichsam tradierte menschenunwürdige Umgang mit Frauen und Kindern in einigen ländlichen Teilen Chinas Ansatzpunkte für spezifisch zu beurteilende Gewalt- und Freiheitsdelikte. Diese Überlegungen ließen sich in vergleichbarem Maße auch für andere Gewaltdelikte, welche auf ethnischen Konflikten beruhen, fruchtbar machen. Wenn zwei Araber mit der Absicht „durch die Straßen ziehen“, „jetzt Albaner schießen“179 zu wollen, ist die Motivation, bewusst kriminell zu hanVillmow, in: BewHi 1995, S. 155 ff. (166). u. a. http://www.amnesty-maf.de/themen/Frauenhandel.html (13.04.2012; im November 2015 nicht mehr aufrufbar); zur Kinderentführung in China aufgrund des durch die Einkindpolitik verursachten Kindermangels: http://www.welt.de/politik/ article3582329/In-China-werden-Jungen-entfuehrt-und-verkauft.html (03.11.2015). 178  http://www.chinafokus.de/politik/menschenhandel.php (16.04.2012; im November 2015 nicht mehr aufrufbar). 179  Vgl. BGH Urteil vom 29.09.1992  – 5 StR 430/92. 176  Vgl. 177  Vgl.



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deln, eine ebenso spezifische wie bei demjenigen, der seine Schwester aus Gründen der Ehre töten soll. Der 2. PSB bezeichnet solche Delikte als „qualitativ dramatisch den Kulturkonflikt“ signalisierend.180 Was mit den vorstehenden Überlegungen, die sich deutlich im Abseits der bekannten Fallkonstellationen bewegen, letztlich gezeigt werden soll, ist, dass weit mehr als nur die immer wieder bemühten Blutrachetötungen und Ehrenmorde181 als spezifisch fremdkulturelle Kriminalität betrachtet werden können. Neben den verschiedenen, oft kulturell eingefärbten Motivationen geben auch die oben angeführten Daten der PKS zu den entsprechenden Gewalt-, Sexual- und Eigentumsdelikten hierzu Anlass.

III. Erklärungsversuche 1. Allgemeines Für Nichtdeutsche ist nach alledem festzuhalten, dass sie in der Gesamtschau überproportional häufig als Tatverdächtige auffallen. Auch bei Pfeiffer / Kleimann / Petersen / Schott ist nach dem „Herausrechnen“ aller etwaigen Verzerrungsfaktoren – auch jener Faktoren, gegen welche sich oben aus guten Gründen ausgesprochen wurde – aus der anfänglich um 4,9-fach erhöhten Kriminalitätsbelastung immer noch eine um 1,9-fach erhöhte Kriminalitätsbelastung der Nichtdeutschen festgestellt worden.182 Daneben ist der Anteil der sich in Untersuchungshaft und im Strafvollzug befindlichen Nichtdeutschen ebenfalls unbestritten erhöht.183 Eine von Schwind / Fetchenhauer / Ahlborn / Weiß durchgeführte regionale Untersuchung konnte darüber hinaus zeigen, dass die Häufigkeitszahl (Hz) in einem Bezirk umso höher ist, je höher dort der Anteil der nichtdeutschen Bevölkerung ist.184 Die Anführung der Häufigkeitszahl hat in diesem Kontext den Vorteil, dass sich im Zeitraum der Untersuchung veränderte Bezirksgrößen und Bevölkerungsdichten relativieren. Wie sich gezeigt hat, kann man die grundsätzliche Mehrbelastung der Nichtdeutschen aufgrund der vergleichbaren, teilweise identischen Problemlagen auch für Teile anderer Zuwanderergruppen annehmen. Im Folgenden 180  Vgl.

2. PSB 2006, S. 424. in: Göppinger, Kriminologie, § 24, Rn. 102, belässt es dabei, lediglich die Ehrenmorde als „wirklich spezifisch“ zu benennen. 182  Vgl. Pfeiffer/Kleimann/Petersen/Schott, Migration und Kriminalität, S. 19. 183  Vgl. Bock, Kriminologie, Rn. 890; Schwind, Kriminologie, § 23, Rn. 39a f.; Eisenberg, Kriminologie, § 50, Rn. 78. 184  Vgl. Schwind/Fetchenhauer/Ahlborn/Weiß, Kriminalitätsphänomene im Langzeitvergleich am Beispiel einer deutschen Großstadt, S. 90. 181  Maschke,

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muss daher nicht länger der Begriff des Nichtdeutschen für die Erklärungsversuche herhalten, vielmehr sind diese auch und allgemein für Menschen mit fremdkulturellem Hintergrund gültig, soweit sie den spezifischen (kriminogenen) Faktoren und Problemlagen wie die Nichtdeutschen ausgesetzt sind.185 Es wird angenommen, dass diese Gefährdungs- und Problemlagen allgemein mit dem Migrationshintergrund in Verbindung stehen. Der 2. Periodische Sicherheitsbericht führt in diesem Rahmen zuvörderst die durch Integrationsschwierigkeiten hervorgerufenen sozialen Belastungsfaktoren an, welche die Gefahr einer Straffälligkeit erhöhen.186 Dabei konnte für alle hier untersuchten ethnokriminologisch relevanten Gruppen festgestellt werden, dass sie diesen Problemlagen überproportional ausgesetzt sind. Die allgemeinen, für die Kriminalität von Menschen verantwortlichen, Gründe werden demnach bei Personen mit fremdkulturellem Hintergrund häufig durch hinzutretende spezifische Probleme überlagert.187 Zur Erklärung dieser Problemlagen haben sich seit den 60er Jahren des 20.  Jhs. immer neue Theorien in der Kriminologie herausgebildet.188 Dazu zählen etwa die Kulturkonfliktstheorie, die Anomietheorie oder auch der Labeling Approach. Keine der bekannten Theorien ist allerdings dazu in der Lage, alle Spezifika in sich schlüssig zu erklären. Dies ist u. a. dem kriminologischen Methodenproblem geschuldet, dass mit der Weite des Erklärungsversuchs die Schwierigkeiten empirischer Überprüfbarkeit zunehmen.189 Gleichwohl bieten viele Theorien plausible Ansätze, gewisse Problemlagen zu erklären. Auf einige der wichtigsten soll daher im Folgenden kurz eingegangen werden. Es besteht dabei die begründete Hoffnung, aus den Erklärungsversuchen einen Mehrwert für strafrechtliche Fragen zu erhalten, insbes. was den präventiven Umgang mit dem fremdkulturell geprägten Täter anlangt. Zunächst ist festzuhalten, dass auch für Personen mit fremdkulturellem Hintergrund der spezifische Erklärungsgehalt der allgemeinen Kriminalitätstheorien Geltung beanspruchen kann.190 In aller Kürze bedeutet das, dass 185  I. d. S.  Maschke,

in: Göppinger, Kriminologie, § 24, Rn. 117. 2. PSB 2006, S. 439. 187  I. d. S.  auch Bock, Kriminologie, Rn. 892. 188  Bemerkenswert ist an dieser Stelle doch der Umstand, dass Kriminalitätstheorien wie die Kulturkonfliktstheorie, der Etikettierungsansatz und die Theorie der sozialstrukturellen Benachteiligung jedenfalls teilweise ihrer Existenzberechtigung entbehren würden, wenn es nicht spezifische Phänomene von Kriminalität bei Menschen mit fremdkulturellem Hintergrund geben würde. Insofern sorgen gewisse Ansätze, welche diesen Umstand durch „Korrekturen“ von Statistiken zu beseitigen versuchen, in diesem Kontext zu Recht für Irritation. 189  Vgl. Bock, Kriminologie, Rn. 97. 190  Vgl. Maschke, in: Göppinger, Kriminologie, § 24, Rn. 86 f.; Bock, Kriminologie, Rn. 891. Vgl. zu den allgemeinen Kriminalitätstheorien u. a. ausführlich: Göp186  Vgl.



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auch sie aufgrund von Lernprozessen straffällig werden können, sie ebenso wie Deutsche die Risiken bei der Begehung von Straftaten abwägen oder aufgrund von psychischen Problemen oder Frustrationserfahrungen zu Straftätern werden können.191 In der Einzelfallbeurteilung gilt Entsprechendes: Die Delinquenz eines Zuwanderers kann wie bei einem Deutschen ohne Migrationshintergrund im Rahmen der Persönlichkeitsreifung und des So­ zialisationsprozesses erfolgen.192 Diese kriminologischen Erkenntnisse sind deshalb wichtig, weil sie schon prima facie für strafrechtliche Kategorien fruchtbar gemacht werden können. Sie spielen etwa für Prognoseentscheidungen eine wichtige Rolle. Von besonderer Bedeutung für die Delinquenz bestimmter Zuwanderergruppen und ihrer strafrechtlicher Beurteilung könnten ferner die durch soziale Lernprozesse internalisierten spezifisch fremdkulturellen Verhaltensmuster sein. Das wurde bereits durch die Ausführungen im Grundlagenteil deutlich und soll auch in Hinblick auf theoretische Erklärungsversuche abgestützt werden. 2. Theorie des Kulturkonflikts – Sellin Zur Erklärung gewisser spezifischer Problemlagen spielt vor allem die von Sellin vor dem Hintergrund der amerikanischen Einwanderungserfahrungen193 entwickelte Kulturkonfliktstheorie dann eine Rolle, wenn die Kultur des Ursprungslandes und des Einwanderungslandes ein Modernitätsgefälle aufweisen und / oder ganz unterschiedlichen Werteordnungen entsprechen;194 das eine wird dabei mit dem anderen häufig einhergehen. Wenn ein Angehöriger einer bestimmten Kultur in eine ihm fremde Kultur einwandert, kann das ihm bekannte Werte- und Normensystem dem des Einwanderungslandes teilweise oder sogar erheblich widersprechen.195 Aus diesem Kulturkonflikt heraus entwickelt das Individuum anomisches Verhalten, weil seine kulturellen Anschauungen und Verhaltensregeln nicht denen des Gastlandes entsprechen.196 Darüber hinaus führe der Prozess der Konpinger, Kriminologie, §§ 8–14; Bock, Kriminologie, 2. Teil; Schwind, Kriminologie, §§ 5–8; Albrecht, Kriminologie, § 3; Eisenberg, Kriminologie, Erstes Kapitel; Neubacher, Kriminologie, Kapitel 8–10. 191  Vgl. Bock, Kriminologie, Rn. 891; Maschke, in: Göppinger, Kriminologie, § 24, Rn. 119. 192  Vgl. Maschke, in: Göppinger, Kriminologie, ebenda. 193  Vgl. Schwind, Kriminologie, § 7, Rn. 11; in diesem Kontext sei aber darauf hingewiesen, dass die Erfahrungen der Nordamerikaner diesbezüglich auf einer völlig andersartigen kulturellen Begegnung beruhen, als das in Deutschland und Europa der Fall ist. 194  I. d. S.  auch Bock, Kriminologie, Rn. 892. 195  Vgl. Erbil, Toleranz für Ehrenmörder?, S. 5. 196  Vgl. Schwind, Kriminologie, § 7, Rn. 11.

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frontation des Individuums mit zwei sich diametral verhaltenden Systemen zu sozialen Problemen. Je weniger anpassungsfähig der Einzelne als gegenüber der Wirtskultur ist, desto mehr Stress wird er i. R. d. Prozesses aufbauen und empfinden.197 Diese Probleme werden durch Gefühle wie Heimatlosigkeit, Orientierungslosigkeit sowie durch gegenseitige Distanzierung zur Majoritätsgruppe noch verstärkt.198 Zum Teil wird kritisiert, dass die Theorie Sellins zwar eine gewisse Plausibilität für die Erklärung der Kriminalität der sog. „zweiten und dritten Generation“ aufweist, aber bei der Einschätzung der Kriminalität der „ersten Generation“ der Gastarbeiter, deren Delinquenz erwartungswidrig niedrig ausfiel, versagt.199 Diesem Einwand ist nicht zuzustimmen. Die geringe Belastung der ersten Generation lässt sich durchaus im Einklang mit der Theorie insoweit plausibel erklären, als dass gerade die erste Generation weniger vom Konflikt zwischen zwei Kulturen betroffen war als die nachfolgenden Generationen. Viele Gastarbeiter waren i. R. d. Rotationsprinzips zunächst gar nicht um Integration in eine Kultur bemüht, die sie eigentlich wieder verlassen wollten. Gleichzeitig bemühte sich die Bundesrepublik wenig um eine Integration dieser Personen aus besagten Gründen. Die erste Generation spürte schon dadurch einen geringeren Anpassungsdruck als die nachfolgenden Generationen. Diese waren dem Anpassungsdruck und dem damit einhergehenden Zerrissenheitsgefühl weitaus intensiver ausgesetzt, weil sie u. a. ein signifikant erhöhtes Kontaktniveau mit den Einheimischen erfahren mussten (Schulzwang usw.). Daher bleibt der Erklärungsgehalt der Kulturkonfliktstheorie für spezifische Kriminalität vor allem dann, wenn der Kernbereich strafwürdigen Unrechts in den betreffenden Kulturen jedenfalls partiell unterschiedlich ist,200 von diesen Bedenken unberührt. Denn es kommt maßgeblich auf das Erleben der durch den Kulturkonflikt erfahrenen inneren Zerrissenheit an. Bleibt diese Erfahrung weitgehend aus, weil die jeweiligen Gruppen isoliert und von der Kultur des Einwanderungslandes vergleichsweise wenig berührt leben, kommt es auch konsequenterweise seltener zu anomischem Druck oder Stress bei den einzelnen Individuen. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang im Übrigen, dass die Frage, ob sich strafwürdiges Unrecht in Herkunfts- und Einwanderungskultur voneinander unterscheiden, bereits häufig Bestandteil gerichtlicher Ausführungen zur Strafzumessung geworden ist.201 Insofern könnte die Kulturkonflikts­ Schwind, Kriminologie, § 7, Rn. 12. Schwind, Kriminologie, ebenda. 199  Vgl. Trautmann, Migration, Kriminalität und Strafrecht, S. 84 f. 200  I. d. S.  auch Bock, Kriminologie, Rn. 892. 201  So wird mit gewisser Regelmäßigkeit von Gerichten argumentiert, dass eine gewisse ethnisch-kulturell motivierte Handlung des Täters nur strafzumessungsrechtlich (zugunsten des Täters) berücksichtigt werden kann, wenn sie u. a. im 197  Vgl. 198  Vgl.



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theorie auch vor diesem Hintergrund eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für die Strafzumessungspraxis bei Fällen mit fremdkulturellem Bezug zu haben. Fraglich bleibt jedoch zunächst, wie derartige Argumentationsstrukturen systematisch-dogmatisch zu begründen wären. Später wurde die Theorie des Kulturkonflikts um das Modell des „inneren Kulturkonflikts“ erweitert und kann demnach als modifizierter Eltern-KindKonflikt verstanden werden.202 Danach komme es in der fremdkulturellen Gruppe, insbes. dem Familienverband, verstärkt zu Auseinandersetzungen, wenn sich die Kinder mit den an der Herkunftskultur orientierten Erwartungen der Eltern und jenen Erwartungen, welche sie aus Schule, Clique und sonstigem Umfeld kennengelernt haben, konfrontiert sehen.203 Erbil kritisiert, dass die Thesen des inneren Kulturkonflikts zwar zutreffender seien, eine genauere Begründung, warum der Normen- und Wertekonflikt junger Ausländer in delinquentes Verhalten mündet, aber fehle.204 Eine nicht zu unterschätzende Rolle für das Auftreten kriminellen Verhaltens in diesem Kontext dürfte dabei vor allem das aus dem einheimischen Umfeld vorgelebte Konsumverhalten für die häufig sozial wie finanziell benachteiligten Migranten spielen, wie die Untersuchung von Akpinar nahelegt.205 Ferner konnten Wissenschaftler des KFn. feststellen, dass innerfamiliäre Konflikte mit zunehmender Aufenthaltsdauer der Migranten in Deutschland tatsächlich ansteigen; die Begründung entspricht dabei im Wesentlichen den Thesen des inneren Kulturkonflikts.206 In diesem Zusammenhang kritisiert Erbil, dass einige Autoren, wie Egeter,207 die Bedeutung des inneren Kulturkonflikts im Kontext ethnischkulturell motivierter Delikte kaum berücksichtigen.208 Wichtig erscheint auch ihr Hinweis auf die spezifischen Problemlagen in der Sozialisationsphase junger Migranten. Das von ihr angeführte Beispiel wirkt allerdings Einklang mit der Rechtsordnung des Herkunftslandes stehe. Dies kann letztlich als Ausdruck der Frage, ob der Kern strafbaren Unrechts in Herkunfts- und Wirts­ kultur vergleichbar ist, verstanden werden, vgl. bspw. BGH, Beschluss vom 18.08.2009  – 1 StR 351/09; BGH, Urteil vom 12.09.1995  – 1 StR 437/95, siehe auch NStZ 1996, S. 80; BGH, Urteil vom 07.11.2006  – 1 StR 307/06; BGH, Beschluss vom 22.12.1998  – 3 StR 587/98; BGH, in: NStZ 1996, 80; BGH, Urteil vom 12.09.1995  – 1 StR 437/95. 202  Vgl. Trautmann, Migration, Kriminalität und Strafrecht, ebenda. 203  Vgl. Trautmann, Migration, Kriminalität und Strafrecht, ebenda. 204  Vgl. Erbil, Toleranz für Ehrenmörder?, S. 6. 205  Dies legt jedenfalls teilweise die von Akpinar durchgeführte, wenngleich nicht repräsentative Studie nahe, Vgl. Akpinar, in: ZJJ 2003, S. 258 ff. 206  Vgl. Pfeiffer/Kleimann/Petersen/Schott, Migration und Kriminalität, S. 50. 207  Vgl. Egeter, Das ethnisch-kulturell motivierte Delikt, S. 11. 208  Vgl. Erbil, Toleranz für Ehrenmörder?, ebenda.

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verfehlt. Erbil behauptet bei ihrem Vergleich der Werteinternalisierung eines jungen Einheimischen aus zerrütteten Verhältnissen und eines jungen Migranten, dass im Unterschied zum Migranten der junge Einheimische allein die Werte der Majorität internalisiere.209 Diese These erscheint nur bedingt plausibel. Vielmehr legen Untersuchungen nahe, dass bei vergleichbaren sozioökonomischen Verhältnissen, nämlich solchen am Existenzminimum, eine Identifikation mit gesamtgesellschaftlichen Normen und Werten sowohl für Inländer wie auch Migranten mangelhaft ausfällt.210 Die Untersuchung von Akpinar legt plausibel den Einfluss subkultureller Faktoren nahe, deren Wirkung auf die Straffälligkeit junger Menschen nicht zu unterschätzen ist.211 Die entsprechend häufiger bei Migranten auftretende sozioökonomische Benachteiligung erschwert folglich die Identifikation mit dem gesamtgesellschaftlichen System. Dieser Umstand potenziert letztlich die Wirkung der auch darüber hinausgehenden spezifisch kriminogenen Faktoren insgesamt. Allerdings vermag der Ansatz von Akpinar nur bei Eigentums- und Vermögensdelikten durch die Orientierung am Konsumbedürfnis den kulturellen Hintergrund teilweise zu nivellieren. Für spezifische Delinquenz spielt die kulturell bedingte Sozialisation jedoch (nach wie vor) eine nicht zu unterschätzende Rolle, wie bereits häufig angeführt werden musste. Insofern verbleibt dem Erklärungsansatz der Theorie des inneren wie auch des äußeren Kulturkonflikts eine gewisse Plausibilität in Hinblick auf bestimmte Formen abweichenden Verhaltens bei fremdkulturell geprägten Tätern. 3. Anomietheorie – Durkheim und Merton Einen weiteren Erklärungsansatz liefert die Anomietheorie.212 Sie versucht, die Kriminalität durch ein bestehendes Missverhältnis zwischen allgemein gesellschaftlich akzeptierten Zielvorstellungen und den oft begrenzten Mitteln des Einzelnen, diese Ziele zu erreichen, zu erklären.213 Sie beruht auf den Feststellungen Durkheims, der im ausgehenden 19. Jh. „überall“ die Symptome einer tiefen gesellschaftlichen Krise wahrgenommen hat und Anomie als kollektiven Zustand einer mangelnden Werteorientierung in der Erbil, Toleranz für Ehrenmörder?, S. 6 f. bspw. Akpinar, in: ZJJ 2003, S. 258 ff. (263). 211  Vgl. Akpinar, in: ZJJ 2003, ebenda. 212  Im ausgehenden 19. Jh. machte der französische Soziologe Émil Durkheim Anomie als kollektiven Zustand einer mangelnden Werteorientierung in der Gesellschaft aus. Aufbauend darauf war es aber Robert K. Merton, der 1938 die Überlegungen Durkheims in eine allgemeine Theorie fasste und die Thesen Durkheims weiterentwickelte. Vgl. dazu ausführlich Neubacher, Kriminologie, S. 85 f. 213  Siehe etwa Erbil, Toleranz für Ehrenmörder?, S. 7. 209  Vgl. 210  Vgl.



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Gesellschaft diagnostizierte.214 1938 griff Robert K. Merton die Beobachtungen Durkheims auf und formulierte sie zu einer allgemeinen Theorie, der Anomietheorie.215 Er ging davon aus, dass Anomie216 mit dem Auseinanderklaffen der als legitim anerkannten gesellschaftlichen Ziele und den reduzierten Zugangsmöglichkeiten zu den zur Erreichung dieser Ziele erforderlichen Mitteln zu tun hat.217 Auch hierin spiegelt sich ein eher konsumorientierter Ausgangspunkt der Erklärung devianten Verhaltens. Schon Merton selbst konnte den monetären Erfolg als eines der gesellschaftlichen Ziele seiner Zeit ausmachen.218 Da für Merton feststand, dass die Zugangsmöglichkeiten zur Erreichung gesellschaftlicher Ziele schichtspezifisch und damit unterschiedlich ausfallen, seien es vor allem die Angehörigen der unteren sozialen Schichten, welche in die Kriminalität gedrängt würden, indem sie sich „anpassen“ (Innovation).219 Der Ansatz der Anomietheorie ist wichtig, wenn man den Fokus der Betrachtung auf die Reaktionen vorwiegend junger Menschen gegen die von der (vermeintlichen) Mehrheitsgesellschaft vorgelebten gesellschaftlichen Ziele richtet. Vor diesem Hintergrund entfaltet der Ansatz eine gewisse Plausibilität für die Erklärung der Kriminalität der sog. zweiten und z. T. auch dritten Generation, welche vergleichsweise häufig soziostrukturell benachteiligt sind und deutlich intensiver mit der Mehrheitskultur in Kontakt kommen, als noch ihre Eltern.220 Das legt auch die von Pfeiffer / Kleimann / Petersen / Schott bemühte Schülerbefragung nahe.221 Dort wird konstatiert, dass junge Migranten über die Jahre gewissermaßen subjektiv berechtigte „deutsche Ansprüche“ entwickeln, denen häufig keine „deutschen Chancen“ gegenüberstehen.222 Die Folge dieser Gesamtsituation kann dann die Entwicklung kriminellen Verhaltens sein, um besagte Ansprüche und Ziele entgegen den Gegebenheiten doch zu erreichen. Trautmann versucht dem entgegenzuhalten, dass eine Mehrbelastung von Eigentums- und Vermögensdelikten bei „Ausländern“ nicht festzustellen sei; hierzu führt er die etwa Neubacher, Kriminologie, S. 85. Neubacher, Kriminologie, S. 86. 216  Bei Schwind, Kriminologie, § 7, Rn. 6, wird Anomie als gestörte Stabilität sozialer Beziehungen beschrieben. Neubacher, Kriminologie, S. 86, bezieht sich auf Durkheim selbst, wenn er Anomie als kollektiven Zustand einer mangelnden Orientierung an Werten umschreibt. 217  Vgl. Schwind, Kriminologie, § 7, Rn. 6. 218  Vgl. Neubacher, Kriminologie, S. 86. 219  Vgl. Erbil, Toleranz für Ehrenmörder?, S. 7; Schwind, Kriminologie, § 7, Rn. 6 f.; Neubacher, Kriminologie, S. 86. 220  I. d. S.  auch Erbil, Toleranz für Ehrenmörder?, S. 7. 221  Vgl. Pfeiffer/Kleimann/Petersen/Schott, Migration und Kriminalität, S. 49. 222  Vgl. Pfeiffer/Kleimann/Petersen/Schott, Migration und Kriminalität, ebenda. 214  Vgl. 215  Vgl.

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Teil 3: Kriminologische Grundlagen

vergleichsweise geringe Belastung der Nichtdeutschen u. a. bei Untreue und Konkursstraftaten an.223 Dass die von ihm gewählten Beispiele nicht geeignet sind, um eine etwaige Geringbelastung von Nichtdeutschen bei den Eigentums- und Vermögensdelikten festzustellen, sollte nach dem zur Kriminalitätsbelastung der Nichtdeutschen in Hinblick auf die Deliktsspezifika Gesagten deutlich geworden sein. Auch die PKS 1998, auf die sich Trautmann bezieht, weist schon eine signifikante Höherbelastung der Nichtdeutschen bei Eigentums- und Vermögensdelikten aus.224 Daneben soll die Anomietheorie auch zur Erklärung von Gewaltkriminalität und der Flucht in Scheinwelten dienen.225 Sie vermag aber nicht zu erklären, weshalb spezifische Kriminalität auftritt oder aber soziostrukturell Benachteiligte unterschiedlich auf ihre Situation reagieren. Erbil weist insofern sicher zu Recht darauf hin, dass nicht alle „unterlegenen“ Zuwanderer kriminell werden.226 Das gilt allerdings freilich auch für sozial unterlegene Deutsche. Insofern ist der Einwand zwar verständlich, aber wenig zuträglich. Für die Strafzumessung könnte der Ansatz der Anomietheorie durchaus eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen. Die Anomietheorie erklärt abweichendes Verhalten durch soziostrukturelle Benachteiligung der Täter. Dieser Gedanke hat bereits hinreichenden Niederschlag in die Strafzumessungsumstände der lex lata gefunden. Anders als die aus der Kulturkonflikts­ theorie abgeleiteten Gedanken, findet sich der soziostrukturelle Ansatz in § 46 StGB unmittelbar wieder. Dort heißt es in Abs. 2: „Bei der Zumessung wägt das Gericht die Umstände, die für und gegen den Täter sprechen, gegeneinander ab. Dabei kommen namentlich in Betracht: […] das Vorleben des Täters, seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse […]“.227 Wenn der Strafrichter in bestimmten Konstellationen bei der Strafmaßfindung den oben bemühten Umständen eine Bedeutung für die Tat beimessen kann, könnte sich der kriminologische Hintergrund der Anomietheorie demgemäß schon als sachdienliche Argumentationsbasis erweisen, etwa i. R. d. Feststellung zur Person usw. Insofern wäre hier auch an eine Inkorporation der Begründungsstrukturen in die Einzelfallanalyse in Hinblick auf die Fragen des Strafzumessungssachverhalts zu denken. 223  Vgl. Trautmann, Migration, Kriminalität und Strafrecht, S. 88, insbes. Fn. 196; die tatsächlichen Gründe für die geringe Belastung der Nichtdeutschen bei diesen Delikten wurden bereits weiter oben dargestellt. 224  Vgl. PKS 1998, S. 108. So stellt sich die Belastung der Nichtdeutschen u. a. bei den Raubdelikten mit 31,5 %, den Betrugsdelikten mit 24,4 % und den Diebstählen mit erschwerenden Umständen mit 22,1 % dar. Insoweit sind die Schlussfolgerungen von Trautmann wenig nachvollziehbar. 225  Vgl. Schwind, Kriminologie, § 7, Rn. 9. 226  Vgl. Erbil, Toleranz für Ehrenmörder?, S 7 f. 227  Kursive Hervorhebungen sind vom Autor dieser Arbeit hinzugefügt.



A. Kriminalität von Personen mit fremdkulturellem Hintergrund109

4. Labeling Approach (Etikettierungsansatz) – Tannenbaum, Lemert et al. Einen weiteren Erklärungsansatz für gewisse Teilbereiche des hier Interessierenden bieten die Vertreter des sog. Labeling Approaches (Etikettierungsansatzes) an. Sie gingen zu Beginn davon aus, dass die Ursachen für kriminelles Verhalten nicht nur mit dem sozialen Versagen des Individuums zu tun haben, sondern auch und gerade mit Definitions- und Zuschreibungsprozessen der Instanzen der sozialen Kontrolle.228 Im Wege der Rezeption in Deutschland wurde dieser Ansatz durch den Soziologen Sack allerdings vereinseitigt und radikalisiert.229 Danach wäre Kriminalität nämlich ausschließlich durch Selektion der Strafverfolgungsbehörden bedingt.230 Der Straftäter sei demnach schlicht im Unglück, wenn er von den Strafverfolgungsorganen gefasst würde und als kriminell definiert wird.231 Denn Kriminalität sei nicht nur im Jugendalter eine ubiquitäre Erscheinung.232 Wenngleich sich diese radikalen Ideen der Kritischen oder Neuen Kriminologie nicht in generalisierender Form durchsetzen konnten,233 verbleibt ihnen doch das Verdienst, die Kriminologie für neue Perspektiven (man spricht in diesem Kontext von „Geschenke der Soziologie“234) sensibel gemacht zu haben. Der Ansatz spielt sicher eine nicht zu unterschätzende Rolle, wenn es um bestimmte Formen der Mitursächlichkeit von Stigmatisierungs- und Ablehnungsprozessen für die Kriminalität von Zuwanderern geht.235 In diesem Zusammenhang wurde bereits auf die teilweise bewusste Selbstausgrenzung gewisser Gruppen von Zuwanderern hingewiesen, welche sich gleichsam als Reaktion auf das „Labeln“ durch die Gesellschaft darstellen kann. In derartigen Szenarien kann der Etikettierungsansatz durchaus eine plausible Mitursächlichkeit bestimmter Zuschreibungsprozesse begründen und erklären, weshalb sich die Wahrscheinlichkeit sog. sekundärer Devianz, welche durch die Reaktionen auf Primärabweichung ausgelöst wird, erhöht.236 Vor diesem Hintergrund sollten allerdings – vielleicht sogar gegenläufig – gewisse fremdkulturelle Aspekte, etwa solche des Geschlechterrollenver228  Ausführlich hierzu: Schwind, Kriminologie, § 8, Rn. 2 ff.; Neubacher, Kriminologie, S. 98; Bock, in: Göppinger, Kriminologie, § 10, Rn. 50 ff.; Bock, Kriminologie, Rn. 161 ff. 229  Vgl. Schwind, Kriminologie, § 8, Rn. 3. 230  Vgl. Schwind, Kriminologie, ebenda. 231  Vgl. Schwind, in: MschKrim 1975, S. 303 f. (303). 232  Vgl. Schwind, Kriminologie, ebenda. 233  Zur Krise der kritischen Kriminologie, vgl. Peters, in: KrimJ, 1997, S. 267 ff. 234  Vgl. Schwind, in: MschKrim, 1975, S. 303 f. (304). 235  So bei Erbil, Toleranz für Ehrenmörder? S. 9. 236  Vgl. Neubacher, Kriminologie, S. 99.

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Teil 3: Kriminologische Grundlagen

ständnisses, bestimmter Gruppen von Ein- und Zuwanderern bedacht werden. Denn sie konstituieren bestimmte Dispositionen, welche spezifisch kriminogene Faktoren begünstigen. Darauf hatte bereits der 2. PSB von 2006 hingewiesen.237 Ausgeprägtes Ehrverständnis, Rivalitätsempfinden und ähnliches, oft die (bewusste) Abgrenzung förderndes Verhalten im Fahrwasser einer fremdkulturellen Sozialisation, stellen hier nicht zu verachtende spezifisch kriminogene Faktoren dar.238 Gewaltkriminalität diene dabei der Selbststilisierung und verschaffe soziale Anerkennung,239 welche für bestimmte Gruppen von Migranten aufgrund des durchschnittlich niedrigeren sozialen Status häufig schwerer zu erreichen ist.240 Daneben wird angeführt, dass es sich bei Phänomenen wie der „Kultur der Ehre“ nicht nur um einen ethnisch spezifischen kulturellen Faktor handelt, sondern vor allem auch um eine Reaktion der sozial benachteiligten Gruppen auf deren Marginalisierung und Benachteiligung.241 Am Beispiel türkischstämmiger Migranten lege dies etwa der Umstand nahe, dass gerade in gesellschaftlich niedrigen Kreisen, abhängig von Bildung, Herkunft und Stand, die (Kultur der) Ehre einen besonders hohen Stellenwert aufweist.242 Es geht bei dieser Perspektive sozusagen um die Wirkungen spiegelbildlicher Labeling-Prozesse, d. h. das Ettiketieren erfolgt nicht von außen, sondern aus der Gruppe und für die Gruppe. Dennoch spielt der Etikettierungsansatz auch allgemein für Entscheidungen der Kontrollinstanzen eine Rolle, bei denen gerade der Strafzumessungsvorgang für die Betroffenen eine herausgehobene Bedeutung einnehmen dürfte. In diesem Kontext ist das Thema Ausländer vor deutschen 237  Vgl.

2. PSB 2006, S. 425. beachten ist hier, dass eine allgemeine Aufzählung aller in Frage kommenden Aspekte nicht möglich ist. Zu unterschiedlich ausgeprägt sind letztlich die verschiedenen Verhaltensmuster und Sitten in den verschiedenen Kulturen. Insofern verwundert es nicht, wenn sich die meisten Untersuchungen zu diesem Thema in aller Regel auf Angehörige der türkischen Kultur beziehen, da sie den größten Anteil an Ausländern und eingebürgerten Deutschen zählen. 239  Vgl. Nunner-Winkler, in: Cropley et al., Probleme der Zuwanderung II, S. 71 ff. (84). 240  Vgl. 2. PSB 2006, ebenda. Freilich ist bei dieser Aussage aber auch zu berücksichtigen, dass der Migrationshintergrnund per se nicht das ausschließlich entscheidende Kriterium darstellen kann. Nicht jeder Migrationshintergrund bietet die gleichen relevanten Dispostionen. So besuchen bspw. bereits gegenwärtig mehr Schüler vietnamesischer Herkunft das Gymnasium, als deutsche Schüler, vgl. Stürzer/Täubig/Uchronski/Bruhns, Schulische und außerschulische Bildungssituation von Jugendlichen mit Migrationshintergrund, S. 15, 174 ff. 241  Vgl. Grünewald, in: NStZ 2010, S. 1 ff. (8), dort Fn. 88. 242  Vgl. Grünewald, in: NStZ 2010, ebenda; Erbil, Toleranz für Ehrenmörder?, S. 201 bezeichnet das Phänomen als ein solches der Landbevölkerung mit niedrigem Bildungsstand. 238  Zu



A. Kriminalität von Personen mit fremdkulturellem Hintergrund111

Gerichten (bzw. Zuwanderer, Migranten etc.) nun seit längerem durch ein gewisses Problembewusstsein gekennzeichnet, wenngleich die Diskussion auch hier politisch und ideologisch überfrachtet wirkt. Obwohl empirische Befunde objektiv keine unterschiedliche Behandlung von Deutschen und Nichtdeutschen bei der Strafzumessung ausmachen konnten, wird in diesem Zusammenhang nicht selten auf die Betroffenenperspektive verwiesen, die sich subjektiv entsprechend anders darstellen soll.243 Eine häufig erlebte allgemeine Diskriminierung soll dazu führen können, dass rechtliche Maßnahmen und Entscheidungen subjektiv als ausländerfeindlich wahrgenommen werden.244 Gelegentlich finden sich auch Urteile zur Befangenheit von Richtern und Schöffen, welche nicht selten deshalb kritisch zu betrachten sind, weil die Richter gewisse Erfahrungen mit ausländischen Angeklagten gemacht haben, aus denen sie, ob bewusst oder unbewusst, allgemeine Erfahrungssätze im Umgang mit solchen Angeklagten abgeleitet haben.245 In diesem Zusammenhang hat Villmow auch auf die kritische Selbstreflexion von Richtern hingewiesen.246 Puszkajler etwa räumt insoweit ein: „Ich plädiere vielmehr dafür, uns nüchtern einzugestehen, daß wir mit dieser Gruppe Schwierigkeiten haben. Die gewohnte Routine versagt. Sie sollte nicht zur Resignation führen, sondern eher Ansporn sein zum Nachdenken, vielleicht sogar zur Kreativität … Es gehört zu der für den Umgang mit unserem Thema unabdingbaren Ehrlichkeit, daß man zugibt, daß wir nicht immer frei von Vorurteilen sind. Auch ich ärgere mich über Angehörige bestimmter Nationalitäten, die in meiner Wahrnehmung überproportional an Straftaten beteiligt sind. Nur wenn man diese Erkenntnis zuläßt, kann es gelingen, Vorurteile aus richterlichen Entscheidungen zu eliminieren.“247 So zustimmungswürdig diese Aussage dem Grunde nach auch ist, verkennt sie m. E. aber die Tatsache, dass das Beklagen von erlebten Vorurteilen kein „Privileg“ bestimmter Täter fremder Kulturen sein dürfte. Die Vorurteile gegenüber anderen konzentrieren sich nur der Natur der Sache nach eben auch auf andersartige Offensichtlichkeiten, die häufig nicht weniger deutlich die Oberflächlichkeit der Kontrollinstanzen und ihrer menschlichen Akteure spiegeln dürften. Neben einer allgemeinen Bedeutung des Etikettierungsansatzes bei Detailfragen der Strafzumessung, bspw. bei der Berücksichtigung von Vorstrafen für das Strafmaß, könnten sich dessen Thesen auch anderweitig in der Strafzumessung bei Taten von fremdkulturell sozialisierten Menschen Villmow, in: BewHi 1995, S. 155 ff. (163). Villmow, in: BewHi 1995, ebenda. 245  Vgl. Villmow, in: BewHi 1995, S. 155 ff. (163, 164). 246  Vgl. Villmow, in: BewHi 1995, ebenda. 247  Puszkajler bei Villmow, in: BewHi 1995, S. 155 ff. (163). 243  Vgl. 244  Vgl.

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Teil 3: Kriminologische Grundlagen

fruchtbar machen lassen. Etwa dann, wenn die Kriminalität von Zuwanderern gerade durch den Umgang mit den Instanzen und Institutionen des Einwanderungslandes zusammenhängt (ausländerrechtliche Delikte). Wie das Zitat Puszkajlers veranschaulicht, muss der Strafrichter im Urteil etwa sachfremde, teilweise auf subjektiven Eindrücken beruhende Umstände, ausklammern können. Ihn dafür sensibel zu machen, mag unter dem Hinweis auf die Thesen des Labeling Approaches jedenfalls möglich zu sein. Daneben dürfte der Ansatz vor allem für den Bereich der Strafverfolgung nach wie vor interessant sein.248 Abseits dessen vermag das spezifische Erklärungspotential des Labeling Approaches aber eher gering in Hinblick auf mögliche weitere Perspektiven der Strafzumessung erscheinen. 5. Stellungnahme zu den Erklärungsansätzen Die Ansätze der verschiedenen Theorien erklären für sich betrachtet jeweils einen gewissen Ausschnitt der Phänomenologie der Kriminalität von Zuwanderern bzw. von Menschen mit fremdkulturellem Hintergrund. Ein allgemeingültiger Erklärungsanspruch lässt sich hingegen bei keiner Theorie ausmachen. Es kann jedoch erkannt werden, dass gewisse Spezifika fremdkultureller Kriminalität eher mit der Kulturkonfliktstheorie zu erklären sind, während andere Faktoren, die nicht ausschließlich bei fremdkulturellen Tätern vorzufinden sind, durch andere Theorien wie die Anomietheorie und den Etikettierungsansatz erklärbar erscheinen. Daneben konnte durch die Darstellung der ausgewählten Erklärungsansätze auch bereits ein wichtiger Blick auf die strafzumessungsrechtliche Dimension kriminologischer Erklärungsansätze geworfen werden. Interessant ist sicher die Tatsache, dass die ausgewählten Theorien bestimmte Aspekte des Strafzumessungsrechts de lege lata gleichsam empirisch absichern können (so etwa die aus § 46 II 2 StGB bekannten Umstände des Vorlebens und der persönlichen Verhältnisse, wenn man die Relevanz einer Vorverurteilung oder das Gefühl schwerer innerer Zerrissenheit durch einen ausgeprägten Kulturkonflikt249 anführt). Diese empirische Absicherung strafzumessungsrechtlicher Normvorstellungen kann auch die strafrechtspraktische Bedeutung der Erklärungsansätze in gewissen Bereichen begründen und fundieren, indem empirische Erkenntnisse zu spezifischen Begehungsweisen u. ä. innerhalb der Erklärungsansätze verortet werden können. Diese potentielle Bedeutung liegt nach dem soeben Gesagten m. E. vor allem in der Möglichkeit, spezifische Anhaltspunkte für die Ermittlung von Strafzumessungstatsachen und -umständen zu gewinnen, weil sie dazu beitragen kann, 248  Vgl. 249  Vgl.

dazu etwa Schwind, Kriminologie, § 23, Rn. 28. dazu ausführlich unten, Teil V, B., VI.



A. Kriminalität von Personen mit fremdkulturellem Hintergrund113

dem Tatrichter wertvolle Richtlinien zur Ausleuchtung des Strafzumessungssachverhalts zu geben. Dieser Punkt soll später noch im Rahmen der Angewandten Kriminologie ausführlicher beleuchtet werden.

IV. Zusammenfassung und Ausblick Die Diskussion über die Kriminalität von Personen mit fremdkulturellem Hintergrund ist in der Gesamtschau freilich mit gewisser Vorsicht zu führen.250 Wie sich gezeigt hat, weist das Thema zahlreiche kontroverse Facetten auf. Neben den Problemen bei der quantitativen Erfassung und der methodischen Herangehensweise ist das Thema insgesamt, wie von Bock zutreffend moniert, „weltanschaulich-ideologisch“ und damit letztlich auch politisch überfrachtet.251 Sachlich kann zunächst festgehalten werden, dass das Aufzeigen von Zusammenhängen zwischen bestimmten Phänomenen und Kriminalität sowohl für die Kriminalpolitik als auch für die Strafrechtspflege von sicher unschätzbarem Wert ist. Es ist deshalb so wichtig, weil nur ein möglichst aufgehelltes Bild der Kriminalitätslage (eine Annäherung an die reale Kriminalität) das Einleiten und Ausführen adäquater Maßnahmen ermöglicht. Die vorliegenden Daten, Theorien und Erklärungsansätze zeigen einen solchen Zusammenhang zwischen Straftaten und einem Migrationshintergrund bzw. einem fremdkulturellem Hintergrund (soweit eine Übertragbarkeit festgestellt werden konnte).252 Dieser Zusammenhang scheint dann stärker ausgeprägt zu sein, wenn die Biographie eines Täters eine bestimmte Intensität einer fremdkulturellen Prägung, Sozialisation usw. aufweist. Dies ist vor allem dann umso evidenter, je unterschiedlicher der Kern strafbaren Unrechts in Herkunfts- und Einwanderungskultur bewertet wird. Damit kann der fremdkulturelle Hintergrund eines Täters einen u. U. erheblichen Einfluss auf die Begehung einer Tat haben (Blutrachetötungen, spezifische Sexualdelikte usw.). Daneben dominieren soziostrukturelle Faktoren die Gründe für die Kriminalität von Zuwanderern, welche in der Gesamtschau gegenüber den Deutschen signifikant erhöht ist. Wenngleich über das Maß dieser Erhöhung gestritten wird, verbleibt an der grundsätzlichen Kernaussage in diesem Bereich – trotz der erfassungstechnischen Schwierigkeiten – praktisch wenig Zweifel. Entgegen den Vertretern eines extensiven Ansatzes bei der statistischen Bereinigung der Nichtdeutschenkriminalität gilt es allerdings zu beachten, dass diese soziostrukturellen Aspekte de facto (mit‑) ursächlich und somit einen entscheidenden Teil des Phänomens der Krimischon Bock, Kriminologie, Rn. 894. Bock, Kriminologie, ebenda. 252  Zu diesem Ergebnis kam auch der 2. PSB 2006, S. 439. 250  Vgl. 251  Vgl.

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Teil 3: Kriminologische Grundlagen

nalität von Zuwanderern bzw. Personen mit fremdkulturellem Hintergrund darstellen können. Diesen Umstand weiterhin gleichsam generös zu ignorieren, zu beschönigen oder kleinzureden, wäre ein schwerer Fehler, dessen Konsequenzen kaum absehbar erscheinen. Der bereits seit den 1950er Jahren entstandene „Schaden“ durch eine falsche Grundorientierung in Fragen der Zuwanderungspolitik (unter Einschluss der Entscheidungen in Hinblick auf die Strafrechtspflege) erschwert bis heute das Aufzeigen adäquater Lösungen der entsprechenden Grundprobleme. Für die praktischen Aufgaben der Strafzumessung ergeben sich aus den Darlegungen zum kriminologischen Teil bislang folgende Konsequenzen: Kriminologische Erkenntnisse können dabei helfen, gewisse strafrechtlich relevante Besonderheiten von Taten und Tätergruppen zu erkennen, systematisch zu erfassen, sie in gewissem Maße auch zu erklären und zu evaluieren. Diese Erkenntnisse können allerdings nur begrenzt in dieser Form für bestimmte Fragen der Strafzumessung in Hinblick auf die fachspezifischen Bedürfnisse fruchtbar gemacht werden; das dürfte zuvörderst für die Generalprävention gelten. Abseits dessen ist fraglich, ob es gelingen könnte, kriminologische Erkenntnisse in der alltäglichen Entscheidungspraxis der Strafrechtspflege dauerhaft nutzbar zu machen. Das empirische Material sowie das Vorhandensein des dafür notwendigen kriminologischen Handwerkszeugs geben jedenfalls begründete Hoffnung dazu. In diesem Rahmen wurde bereits zu Beginn auf die Möglichkeiten hingewiesen, welche die Angewandte Kriminologie bei Prognoseentscheidungen und Interventionsmöglichkeiten derzeit vorweisen kann. Allerdings besteht dort ein beachtliches Konkurrenzverhältnis zu anderen forensischen Beurteilungsmethoden. Das „Feld der Kriminalprognose“ etwa wird derzeit „beinah ausschließlich“ von Psychiatern bestellt, welche auf klinische Prognosemethoden und eine wenig wissenschaftliche „forensische Kennerschaft“ im Umgang mit Tätern setzen.253 Dieser Zustand ist mit einer gewissen Sorge in Hinblick auf die vielen fachfremden Praktiker in der Strafrechtspflege zu beobachten.254 Einen auch vor diesem Hintergrund vielversprechenden Ansatz würde es darstellen, die kriminologischen Erkenntnisse und Anhaltspunkte auch über das erwähnte Maß hinaus in die alltäglichen Vorgänge der Strafrechtspflege stärker zu integrieren. Gerade für die Strafzumessung scheint dieser Weg gangbar, weil bereits gegenwärtig bestimmte Elemente strafzumessungsrechtlicher Wertungen nicht ohne kriminologische Erkenntnisse auskommen (generalpräventive Erwägungen) und andere Bereiche, wie die spezialpräventiven Fragestellungen, ebenfalls von kriminologischem Erfahrungswissen profitieren könnten. 253  Vgl.

Vollbach, in: MschKrim 2014, S. 310 ff. (314). Vollbach, in: MschKrim 2014, ebenda.

254  I. d. S.  auch



B. Möglichkeiten der Angewandten Kriminologie bei der Strafzumessung115

Das Ergebnis einer solchen Vorgehensweise unter besonderer Berücksichtigung der kriminologischen Anhaltspunkte könnte eine stärker systematisierte, vereinheitlichte und damit auch integrativere Strafzumessung sein, die dem Tatrichter einen verständlicheren Zugang zu vielen für die Strafzumessung relevanten Einzelfragen erlauben würde. Zur Umsetzung dieses Weges soll im Folgenden ein Vorschlag in seinen Grundzügen angeboten werden, dessen konkrete Ausformung aber sicher eine eigene Monographie ausfüllen würde.

B. Zu den Möglichkeiten der Angewandten Kriminologie bei der Strafzumessung unter besonderer Berücksichtigung fremdkultureller Fallkonstellationen I. Vorbemerkungen Eingangs wurde bereits angedeutet, dass Wissen und Methode der Angewandten Kriminologie für gewisse Fragen des Strafzumessungsrechts wissenschaftliche und praktische Vorteile erwarten lassen könnten. Eine bereits schärfere Konturierung dieses Vorschlags konnte zum Ende des ersten kriminologischen Kapitels durch eine entsprechende Weichenstellung erreicht werden. Nunmehr bietet es sich an, die Perspektive weiter zu erhellen, die methodischen Aspekte konkreter in die Betrachtung einzubeziehen sowie dogmatisch abzustützen und einen Vorschlag zur Integration kriminologischer Erkenntnisse bei der Strafzumessung zu geben. Dieser soll sich vornehmlich an der Methode der idealtypisch-vergleichenden Einzelfallanalyse (MIVEA) orientieren. Sie stellt eines der wichtigsten Instrumente der Angewandten Kriminologie dar.255 Dazu muss die Methode zunächst als solche näher vorgestellt werden.256 Der Kern der folgenden Ausführungen soll daher solche Aspekte umfassen, die nach den soeben aufgestellten Maßgaben geeignet erscheinen, die Bedürfnisse der Fragestellung zu bedienen. Dabei scheint ein Hinweis auf die derzeit gleichsam unsichere Gesamtsituation der Angewandten Kriminologie innerhalb der „Gegenwartskriminologie“ angezeigt, vielleicht sogar notwendig zu sein.257 Die von Göppinger bereits 1962 antizipierte Konzeption einer Angewandten Kriminologie mit Bock, in: Göppinger, Kriminologie, § 15, Rn. 4 f. ist zur MIVEA das Studium des „Göppingers“ (§§ 15 ff.) zu empfehlen. Die MIVEA wird dort ausführlich beschrieben und erläutert. Eine Rezeption der gesamten Ausführungen diesbezüglich wäre hier jedoch weder sinnvoll noch zu bewerkstelligen. Insofern soll sich vornehmlich auf das Aufzeigen von Perspektiven und Schnittstellen sowie erläuternden Erklärungen zur Methode beschränkt werden. 257  Vgl. jüngst dazu etwa Vollbach, in: MschKrim 2014, S. 310 ff. 255  Vgl.

256  Insgesamt

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Teil 3: Kriminologische Grundlagen

ihren typologischen Vergleichsuntersuchungen, von denen die nachfolgenden Ausführungen maßgeblich beeinflusst sind, ist nicht unumstritten.258 Zum einen liegt sie quer zum derzeitigen Denkkollektiv vieler Kriminologen, welches auf kriminalpolitische Beratung fokussiert ist.259 Zum anderen befindet sich der disziplinäre Status der Gegenwartskriminologie stark in Bewegung, und es bleibt abzuwarten, wie sich die verschiedenen Forschungsstränge miteinander verbinden werden.260 In einem aktuellen Beitrag aus dem Jahr 2014 fragt Vollbach in diesem Kontext provokant: „Angewandte Kriminologie – quo vadis?“261 Das Fundament der nunmehr anzustellenden Überlegungen – so vielversprechend es zu sein scheint – könnte demnach gewisse Spannungen mit der aktuellen Vorstellung einer „Gegenwartskriminologie“ erzeugen.262

II. Die Methode der idealtypisch-vergleichenden ­Einzelfallanalyse 1. Die Grundstruktur MIVEA Die Methode der idealtypisch-vergleichenden Einzelfallanalyse wurde gezielt für den Einsatz in der täglichen Praxis entwickelt.263 Das Verfahren gibt kriminologische Entscheidungshilfen in allen Phasen des Strafverfahrens, unter Einschluss des für die Strafzumessung besonders relevanten Hauptverfahrens.264 Da es auf dem äußerlich feststellbaren Verhalten und auf Sozialdaten des Täters (bzw. in der Terminologie der MIVEA „Probanden“) aufbaut, welche im Bereich allgemeiner Lebenserfahrung liegen sollen und zu denen auch ohne psychologische oder psychiatrische Fachkenntnisse ein Zugang gefunden werden kann, ist das Verfahren nicht nur für Strafrichter von Interesse, sondern auch für Sozialarbeiter und Polizeibeamte.265 Diese Perspektive stellt im Übrigen auch vor dem Hintergrund der Bedürfnisse der Strafzumessung einen beachtlichen Vorteil gegenüber anderen Methoden dar. Da bereits der Grundstein strafzumessungsrechtlicher Erwägungen i. R. d. Ermittlungsverfahrens von Staatsanwaltschaft und Polizei gelegt wird, ließe sich mit einer vereinheitlichten Methode zur Erfassung von für das Strafverfahren relevandazu auch Vollbach, in: MschKrim 2014, S. 310 ff. (312). Vollbach, in: MschKrim 2014, S. 310 ff. (316). Vollbach, in: MschKrim 2014, S. 310 ff. (316 f.). Vollbach, in: MschKrim 2014, S. 310 ff. (310). dazu Vollbach, in: MschKrim 2014, S. 310 ff. (316 f.). Bock, in: Göppinger, Kriminologie, § 15, Rn. 5. Bock, in: Göppinger, Kriminologie, § 15, Rn. 5, 12. Bock, in: Göppinger, Kriminologie, § 15, Rn. 5.

258  Siehe 259  Vgl. 260  Vgl. 261  Vgl. 262  Vgl. 263  Vgl. 264  Vgl. 265  Vgl.



B. Möglichkeiten der Angewandten Kriminologie bei der Strafzumessung

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ten Tatsachen und Umständen durch alle Ebenen des Strafverfahrens eine bessere Gleichmäßigkeit der produzierten Entscheidungen erreichen, weil die methodische Basis von Beginn an konsistent wäre.266 Die vielleicht wichtigste Aufgabe der MIVEA ist die anlässlich einer konkreten Tat vorzunehmende Erstellung eines kriminologischen Prognosegutachtens und eines darauf beruhenden Interventionsplans.267 Den Ausgangspunkt der kriminologischen Beurteilung bilden dabei die alltäglichen Verhaltens- und Reaktionsweisen des Probanden in der Vergangenheit und in der Gegenwart.268 Als Maßstab, an dem das konkrete Verhalten des Probanden gemessen wird, dienen bestimmte, an kriminologisch relevanten Verhaltensweisen, Sachverhalten und Entwicklungen „in Reinform“ orientierte Idealtypen.269 Diese stellen dabei stets ein Extrem dar und bilden den äußersten vorstellbaren Punkt des konkreten Ausprägungsgrades einer bestimmten realen Erscheinung.270 Dabei liegt zwischen dem realen Geschehen und dem Idealtypus üblicherweise eine mehr oder weniger große Distanz.271 Bei der Prüfung tatsächlich vorliegender Verhältnisse am Idealtyp kann es daher auch stets nur um eine Frage der Annäherung gehen.272 Aufgrund dessen handelt es sich bei den herangezogenen idealtypischen Kriterien auch nicht um eine Anzahl von Merkmalen, deren Vor- oder Nichtvorliegen „abgehakt“ werden kann.273 Vielmehr ist in jedem Einzelfall eine Einschätzung in qualitativer Hinsicht vorzunehmen, ob und in welchem Ausmaß sich das konkrete Verhalten des Probanden dem Idealtypus annähert und aufgrund welcher Fakten diese Zuordnung und Einschätzung vorgenommen wird.274 Es geht bei den als Beurteilungsgrundlage verwendeten Idealtypen nicht um Feststellungen normativer Art, sondern um erfahrungswissenschaftlich gewonnene Sachverhalte.275 Der Bestimmung der jeweiligen, als idealtypisch angesehenen Verhaltensweisen, Verlaufsformen usw. liegen dabei solche Tatsachen zugrunde, die frei von Wertattributionen bestimmt wurden.276 Sie sollen im Falle der MIVEA lediglich dem idealtypischen Verhal266  I. d. S.  auch 267  Vgl. 268  Vgl. 269  Vgl. 270  Vgl. 271  Vgl. 272  Vgl. 273  Vgl. 274  Vgl. 275  Vgl. 276  Vgl.

Bock, Bock, Bock, Bock, Bock, Bock, Bock, Bock, Bock, Bock,

Bock, Kriminologie, Rn. 296. Kriminologie, Rn. 294, 298, 479 ff. in: Göppinger, Kriminologie, § 15, Rn. 20. in: Göppinger, Kriminologie, ebenda. in: Göppinger, Kriminologie, ebenda. in: Göppinger, Kriminologie, ebenda. in: Göppinger, Kriminologie, ebenda. in: Göppinger, Kriminologie, ebenda. in: Göppinger, Kriminologie, ebenda. in: Göppinger, Kriminologie, § 15, Rn. 21. in: Göppinger, Kriminologie, ebenda.

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Teil 3: Kriminologische Grundlagen

ten zweier Extrempole entsprechen.277 Das sind sowohl der strafrechtlich auffällig gewordene als auch der strafrechtlich unauffällige Mensch.278 Die Beurteilung des Probanden anhand der verschiedenen Formen von Idealtypen erfolgt dann in zwei Schritten: In einem ersten Schritt wird der Lebenslängsschnitt des Probanden von seiner Kindheit bis zum Zeitpunkt der Tat mit dem idealtypischen Verhalten von Straffälligen einerseits und dem Verhalten von strafrechtlich unauffälligen Menschen aus der Durchschnittspopulation andererseits verglichen.279 Dann erfolgt eine Querschnittsbetrachtung, bei der das Verhalten des Probanden während eines relativ kurzen Zeitraums vor der Tat in Beziehung zu bestimmten kriminorelevanten Kriterien gesetzt wird.280 Schließlich wird versucht, mit Hilfe der sog. Relevanzbezüge die im alltäglichen Leben bedeutsamen, in der Persönlichkeit des Probanden verwurzelten Intentionen und Interessen sowie die als tatbestimmend einzuschätzende Wertorientierung herauszuarbeiten.281 In einem zweiten Schritt wird dann die Delinquenz zum sonstigen Sozialverhalten in Beziehung gesetzt, um eine Aussage darüber zu gewinnen, in welchem Zusammenhang das konkrete Delikt mit dem sonstigen Sozialverhalten des Täters steht und inwieweit das Delikt aus dem Sozialverhalten und dem Lebenszuschnitt des Täters konkret hervorgegangen ist.282 Für eine bessere Gleichmäßigkeit und Nachvollziehbarkeit der MIVEAFallbearbeitung liefert der MIVEA-Kartensatz die entsprechenden Themen, die behandelt werden müssen. Mit Hilfe dieses Instruments wird die Auswahl der relevanten Gesichtspunkte gesteuert und begrenzt.283 Dieses Vorgehen soll es jedem Dritten, der mit der Methode vertraut ist, ermöglichen, sich selbst ein Bild über den Probanden zu machen und den Gang der Analyse sowie die Argumentation bis hin zur Schlussfolgerung der gutachterlichen Stellungnahme nachvollziehen zu können.284 2. Zur Anwendbarkeit der MIVEA bei Tätern mit fremdkulturellem Hintergrund Von besonderem Interesse ist hier sicher der Umstand, dass die Anwendbarkeit der MIVEA von ihrem Entwickler auch für Probanden bejaht wird, 277  Vgl. 278  Vgl. 279  Vgl. 280  Vgl. 281  Vgl. 282  Vgl. 283  Vgl. 284  Vgl.

Bock, Bock, Bock, Bock, Bock, Bock, Bock, Bock,

Kriminologie, Rn. 396. Kriminologie, ebenda. in: Göppinger, Kriminologie, in: Göppinger, Kriminologie, in: Göppinger, Kriminologie, in: Göppinger, Kriminologie, Kriminologie, Rn. 299. Kriminologie, ebenda.

§ 15, Rn. 22. ebenda. ebenda, sowie § 17, Rn. 77 ff. § 15, Rn. 23.



B. Möglichkeiten der Angewandten Kriminologie bei der Strafzumessung119

die einen Migrationshintergrund aufweisen.285 Aufgrund der Darlegungen zur Kriminalität von Personen mit fremdkulturellem Hintergrund erscheint eine Übertragbarkeit dieser Annahme auf Personen mit fremdkulturellem Hintergrund ohne weiteres möglich. Das haben zahlreiche praktische Begutachtungen dieser Personen auch empirisch belegen können.286 Bei kunstgerechter Anwendung des Verfahrens werden solche Fragen, die mit den besonderen sozialen, kulturellen oder sonstigen relevanten Bezügen des (fremdkulturell geprägten) Täters zusammenhängen, ohnehin berücksichtigt werden müssen.287 Grenzen ergeben sich jedoch dann, wenn sich etwa der kulturelle Hintergrund des Täters überhaupt nicht erschließen lässt oder sprachliche Schwierigkeiten eine kunstgerechte Anwendung des Verfahrens verhindern.288 Für Täter mit fremdkulturellem Hintergrund ergibt sich daher zunächst eine Berücksichtigung der Verhältnisse im Herkunftsland, solange sie dort gelebt haben (Lebenslängsschnitt).289 Soweit sie jedoch in ein anderes Land eingewandert sind, stellen die dortigen Gegebenheiten nunmehr ihre sozialen und damit relevanten Bezüge dar.290 Das bedeutet, dass das Verhalten des Täters dann in Beziehung zu den hier vorherrschenden Ordnungs- und Leistungsanforderungen gesetzt werden muss.291 Dahinter steht die Frage, ob die Person nunmehr hier – also im Einwanderungsland – kriminell gefährdet ist.

III. Der methodische Anknüpfungspunkt 1. Die gemeinsamen Aufgaben von Kriminalprognose (MIVEA) und Strafzumessung Sowohl die MIVEA (bzw. die Kriminalprognose) als auch die Strafzumessung sollen im Ergebnis eine Aussage über einen Täter treffen, die in Zusammenhang mit einem von ihm begangenen Delikt steht. Die informationelle Grundlage für diese Aussage bilden alle aus der Sphäre von Tat und Täter destillierbaren relevanten Umstände. Die MIVEA fokussiert dabei die Frage nach den Interventionsmöglichkeiten. Dabei handelt es sich um eine an spezialpräventiven Bedürfnissen ausgerichtete Frage. Für die Strafzumessung hingegen steht die Frage nach Art und Ausmaß der strafrechtlichen 285  Vgl. 286  Vgl. 287  Vgl. 288  Vgl. 289  Vgl. 290  Vgl. 291  Vgl.

Bock, Bock, Bock, Bock, Bock, Bock, Bock,

in: Göppinger, Kriminologie, § 15, Rn. 30. Kriminologie, Rn. 647; vgl. auch Akpinar, in: ZJJ 2003, S. 258 ff. in: Göppinger, Kriminologie, ebenda. Kriminologie, Rn. 647. Kriminologie, ebenda. Kriminologie, ebenda. Kriminologie, ebenda.

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Teil 3: Kriminologische Grundlagen

Reaktion für die begangene Tat im Mittelpunkt.292 Hierbei handelt es sich gleichsam um eine multifaktorielle Frage, bei der neben dem zentralen Aspekt des Schuldausgleichs eben auch der spezialpräventive Aspekt eine beachtliche Rolle spielt (vgl. § 46 I 2 StGB). Die Aussage, die beide Verfahren treffen müssen, ist folglich partiell deckungsgleich und zwar in der Form, dass bei der Strafzumessung der Aussagegehalt der Kriminalprognose gleichsam inkorporiert wird. Nun erfordern beide Verfahren die Erhebung von für sie relevanten Umständen, die aufgrund der gemeinsamen Schnittmenge ihrer Aussage ebenfalls partiell deckungsgleich sind. Das Kernproblem beider Verfahren in diesem Kontext ist jedoch, dass das Gesetz zur Methode dieser notwendigen Erhebungen nur wenige Anhaltspunkte liefert. Beide Verfahren stehen trotz der zunächst offensichtlichen Parallelen nebeneinander, ohne dass hierfür ein sachlicher Grund ersichtlich wäre. Dieses Problem soll im Folgenden den methodischen Ansatzpunkt für die hier vorgeschlagene integrative Methode liefern. 2. Zu den gesetzlich bedingten Problemlagen beider Verfahren a) Allgemeines Zwar besteht eine Pflicht zur Ermittlung (durch die Staatsanwaltschaft und ihre Hilfsorgane) auch solcher Umstände, die zur Bestimmung der Rechtsfolgen der Tat von Bedeutung sind (vgl. § 160 III StPO). Wie dieser Pflicht bereits im Ermittlungsverfahren allerdings nachgekommen werden soll, bleibt weitgehend nebulös. § 160 III StPO weist lediglich darauf hin, dass die Informationen durch die Staatsanwaltschaft ermittelt werden müssen. Diese gesetzliche Forderung würde allerdings erst dann sinnvoll umgesetzt werden, wenn auch die entsprechende Sachkompetenz bei denjenigen vorliegen würde, die diese Informationen erheben müssen. Die derzeitige Alternative einer Berufung auf fremde Sachkompetenzen erscheint demgegenüber wenig befriedigend, jedenfalls für solche Aspekte, die theoretisch auf einer entsprechenden Basis für die Praktiker der Strafrechtspflege unmittelbar zugänglich gemacht werden könnten. Das hat in praxi damit zu tun, dass die professionellen Methoden innerhalb der jeweiligen Verfahren ohne ein übergeordnetes wissenschaftliches Handlungskonzept koexistieren.293 Konsequenterweise erschließt sich aus dieser Erkenntnis auch die Frage nach der Notwendigkeit eines übergeordneten Handlungskonzepts in Hinblick auf die Be- und Umwertung der relevanten Umstände. Letzteres meint dann die Frage nach der Kausalbeziehung zwischen den ermittelten 292  Vgl.

etwa Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 573. Vollbach, in: MSchKrim 2014, 310 ff. (314).

293  I. d. S.  auch



B. Möglichkeiten der Angewandten Kriminologie bei der Strafzumessung121

Umständen und dem Verfahrensergebnis (Prognose und die strafrechtliche Reaktion294). Beide Verfahren werden zwar vom Gesetz vorgesehen, sind sich aber in gewissem Maße gleichsam selbst überlassen geblieben (man könnte auch von einer Delegation der konkreten Ausgestaltung der gesetzlichen Vorgaben an die Praxis sprechen). b) Die gesetzliche Ausgangslage bei der Kriminalprognose Das gilt zum einen bei der Kriminalprognose für die zur Beurteilung der Täterpersönlichkeit notwendigen Erhebungen (vgl. etwa § 43 JGG) sowie für die dazu erforderlichen Leitlinien, welche Gesichtspunkte bei der Prognosestellung zu berücksichtigen sind (vgl. etwa §§ 56 I 2, 57 I 2 StGB).295 Hieran schließt sich dann die ebenfalls nur grob gesetzlich ausgearbeitete Frage an, in welche Lebensbereiche mit Hilfe von Auflagen, Weisungen usw. eingegriffen werden darf (vgl. §§ 56  b, c, 68  b StGB, §§ 10, 15 JGG).296 Ferner lassen sich keinerlei gesetzliche Hinweise dazu finden, wie die einzelnen Gesichtspunkte zu würdigen und zu gewichten sind (die Umwertung wenn man so will), welche Aussagekraft ihnen im Zusammenhang mit Straffälligkeit im Allgemeinen zukommt und welches Gewicht ihnen im konkreten Einzelfall beigemessen werden kann.297 Darüber hinaus handelt es sich bei den relevanten Gesichtspunkten um überwiegend offene und ausfüllungsbedürftige Begriffe, bei denen eine dogmatisch orientierte Subsumtion ausgeschlossen ist.298 c) Die gesetzliche Ausgangslage bei der Strafzumessung Ganz ähnlich verhält es sich mit den entsprechenden Problemlagen bei der Strafzumessung. Die gesetzlichen Grundlagen sind nach wie vor spärlich ausgestaltet (§ 46 StGB als zentrale Norm).299 Die Schuld soll die Grundlage für die eigentliche Zumessung der Strafe darstellen. Dafür sieht das Gesetz einen Abwägungsvorgang vor, der anhand von Umständen erfolgen soll, die § 46 II 2 StGB nur exemplarisch aufzählt. Wie und nach welchen Maßgaben diese Umstände zu erheben sind, bleibt zuweilen undurchsichtig. Allerdings handelt es sich auch analog zum Problemkreis bei der Kriminalprognose um 294  Vgl. zum Begriff etwa Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 573. 295  Vgl. Bock, in: Göppinger, Kriminologie, § 15, Rn. 18. 296  Vgl. Bock, in: Göppinger, Kriminologie, ebenda. 297  Vgl. Bock, in: Göppinger, Kriminologie, ebenda. 298  Vgl. Bock, in: Göppinger, Kriminologie, ebenda. 299  Vgl. dazu oben, Teil 2, C., III., 1.

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Teil 3: Kriminologische Grundlagen

ausfüllungsbedürftige „Umstände“, die einer dogmatisch orientierten Subsumtion wenig zugänglich sind. Damit ist schon der Grundstein der Einzelfallexploration, die das Gesetz gleichsam in § 160 III StPO einfordert, im Recht der Strafzumessung derart fragmentarisch ausgestaltet, dass es zuweilen vom Zufall abhängen kann, ob ein Tatgericht einen im Einzelfall erheblichen Umstand erkennt oder nicht. Es verbleibt entsprechend viel Raum zur Entfaltung der Individualität des Urteilenden. Eine adäquate Würdigung der einzelnen Gesichtspunkte sowie ein Beimessen an wie auch immer gearteter Aussagekraft fällt auch bei der Strafzumessung trotz allerhand richterrecht­ licher Ergänzungen des Normenkorsetts schwer. In der Gesamtschau stellt die gesetzliche Ausgangslage gleichsam ein Zugeständnis an das freie richterliche Ermessen in Strafzumessungsfragen dar. 3. Möglichkeiten eines übergeordneten integrativen Lösungsweges der gesetzlich bedingten Problemlagen Entgegen der Tatsache, dass beide Verfahren das Ermitteln und Umwerten z. T. identischer Umstände und Tatsachen erfordern, wird – wie sich gezeigt hat – aus vermeintlich praktischen Gründen keine einheitliche Methode zur Bewältigung dieser wichtigen Aufgabe genutzt. Dabei erscheint es grds. denkbar, eine solche übergeordnete Methode einzuführen und anzuwenden, soweit sie gewisse Grundvoraussetzungen erfüllt. Sie müsste idealerweise von allen Beteiligten eines Strafverfahrens beherrscht werden können. Das wäre dann der Fall, wenn die dafür notwendige Sachkompetenz bei allen Beteiligten des Verfahrens vorhanden wäre. Idealerweise sollte auch bereits die eigene Sachkompetenz, die für den allgemeinen Zugang zu den entsprechenden Berufen der Strafrechtspflege erforderlich ist, geeignet sein, diese Methode anzuwenden. Daneben muss die Methode auch für eine größtmögliche Vielzahl von Erhebungsbereichen geeignet sein. Das bedeutet im Idealfall für das Strafverfahren eine Methode zu bemühen, die Fragen der Schuld und der Prävention erheben und entsprechend aufbereiten kann. Hier könnte der Rückgriff auf eine spezifisch kriminologische Sachkompetenz einen möglichen Ansatzpunkt zur Entwicklung einer integrativen Methode liefern. Als Grundlage einer solchen Vorgehensweise scheint das aus der Angewandten Kriminologie bekannte Verfahren der MIVEA geeignet zu sein, die soeben formulierten Kriterien (weitgehend) zu erfüllen. Insbesondere soll die spezifisch kriminologische Methode mit ihren Kriterien den Strafrechts­ praktiker in die Lage versetzen, ohne psychologische oder psychiatrische Fachkenntnisse den Einzelfall aufgrund der eigenen Sachkompetenz entsprechend zu erfassen.300 Dabei könnte es sich um das wohl größte Ver300  Vgl.

Bock, in: Göppinger, Kriminologie, § 15, Rn. 4.



B. Möglichkeiten der Angewandten Kriminologie bei der Strafzumessung123

dienst eines solchen Ansatzes handeln. Die Vorteile einer derart integrativen Methode ließen sich kaum hoch genug bewerten. Die Basis des Konzepts könnte die Methode der Vergleichbarkeit von Einzelfällen anhand von Idealtypen bilden. Durch das kriminologische Erfahrungswissen könnte sich der Praktiker die notwendigen Grundlagen, die für eine sinnvolle und gezielte Erhebung von relevanten Umständen angezeigt wären, in jedem Einzelfall selbst erarbeiten.301 Das dürfte vor allem solche Umstände betreffen, die damit zusammenhängen, wie unter den verschärften gesellschaftlichen Bedingungen der Gegenwart gewisse gleiche innere und äußere Abläufe sowie soziale Regelmäßigkeiten aufgrund unterschiedlicher sinnhafter Bedeutungen im Einzelfall unterschiedliche Wirkungen entfalten können.302 Diese Regelmäßigkeiten, etwa von biosozialen Befunden, sind jedoch empirisch beleg- und erfassbar. Der Vergleich mit anderen Einzelfällen bei einer entsprechenden Indikation würde dann die Frage nach der Notwendigkeit der Erhebung erhellen können. Ein weiterer Vorteil einer auf Vergleichen basierenden Anamnese wäre die Möglichkeit, Differentialdiagnosen in Hinblick auf die relevanten Merkmale anzustellen und so die Revisibilität der späteren Entscheidung zu verbessern. Damit könnte die Leistung eines praxisorientierten kriminologischen Ansatzes aufbauend auf oder orientiert an der MIVEA darin bestehen, schon im Ermittlungsverfahren für alle Beteiligten wissenschaftlich orientierte und gleichsam übergeordnete Leitlinien hinsichtlich der für den Einzelfall notwendigen Erhebungen zu geben. Der systematisch-dogmatische Anknüpfungspunkt für die Strafzumessung wäre die Frage nach der Ermittlung der für den Strafzumessungssachverhalt relevanten Aspekte auf der Basis von Erfahrungswissen einerseits und den individuellen Gegebenheiten des Einzelfalles andererseits. Dabei könnten auf Grundlage des vorhandenen kriminologischen Wissens auf Erfahrung basierende Kriterien produziert werden, anhand derer ein Tatrichter jene Spezifika des Einzelfalles erkennen kann, denen zuvor in den Vergleichsfällen, bspw. durch Gutachten, eine Auswirkung auf Schuld- oder Präventionsfragen nachgewiesen werden konnte. Dabei darf freilich die individuelle Ausleuchtung des Einzelfalles in der Gesamtwertung nicht durch die typologischen Vergleiche ersetzt werden. Es geht hier vielmehr um eine Ergänzung und Handlungsanleitung bei den vorhandenen Verfahren, um die klaffenden gesetzlichen Lücken durch ein übergeordnetes System dort zu schließen, wo ein solches System auch systematisch und dogmatisch ansetzen kann. 301  Vgl. zu den Möglichkeiten schon für spezialpräventive Fragen, Bock, in: Göppinger, Kriminologie, § 15, Rn. 4. 302  Vgl. Vollbach, in: MschKrim 2014, S. 310 ff. (315).

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Teil 3: Kriminologische Grundlagen

Daher kann sich nach alledem für eine Berücksichtigung der Erkenntnisse und Methoden der Angewandten Kriminologie schon im Ermittlungsverfahren ausgesprochen werden. Für die Strafzumessung könnte die Methode innerhalb der Ausgestaltung des Vorgangs der Strafzumessung in Hinblick auf die Ermittlung des Strafzumessungssachverhaltes und der damit verbundenen Entwicklung von relevanten Strafzumessungstatsachen und -umständen im Einzelfall eine Rolle spielen. Ähnlich wie der MIVEA-Kartensatz303 die Exploration steuert, könnte ein vergleichbares Instrument den Tatrichter bei der „Erstellung“ des Strafzumessungssachverhalts, dessen Grundlagen bereits im Ermittlungsverfahren von anderen Beteiligten erarbeitet wurden, anleiten. Für Fallkonstellationen, in denen sich im Rahmen von Ermittlungsoder Hauptverfahren solche Tatsachen zeigen, die noch nicht vergleichend typologisch erfasst worden sind – bspw. durch ein entsprechendes Vorbringen des Angeklagten im Rahmen seiner Verteidigungsstrategie – kann eine ggf. interdisziplinär unterstützte Prüfung durch den Tatrichter auf strafzumessungsrechtliche Relevanz innerhalb der Kategorien des Handlungskonzepts erfolgen. Neben den zahlreichen Vorteilen der Konzeption muss man sich jedoch auch der Grenzen eines solchen Ansatzes vergegenwärtigen. Er wird vor allem in Hinblick auf die Schuldfrage bei der Strafzumessung limitiert sein müssen. Keinesfalls kann und soll die vorgeschlagene Perspektive einer stärkeren Orientierung an kriminologischem Erfahrungswissen eine Auseinandersetzung mit den durch die jeweiligen Umstände des Einzelfalls virulenten Tatsachen- und Rechtsfragen ersetzen. Eine tatrichterliche Prüfung strafzumessungsrechtlicher Umstände im Einzelfall kann und soll nicht obsolet werden. Im Gegenteil soll der Ansatz einer übergeordneten Methode den Tatrichter sicher hierzu anleiten. Dazu kann dort angesetzt werden, wo die Strafzumessung auf Ergebnisse von Tatsachenerhebungen und -forschungen angewiesen ist. Bestimmte Aspekte der Ermittlung des Strafzumessungssachverhalts scheinen hierfür nach alledem den geeigneten Rahmen zu bieten.

IV. Zusammenfassung und Ausblick Die Ausführungen zur Angewandten Kriminologie konnten zeigen, dass eine stärkere Befruchtung der Strafrechtspflege, insbesondere mit Blick auf die Strafzumessung, durch kriminologisches Wissen nicht nur möglich, sondern auch praktisch sowie wissenschaftlich sinnvoll ist. Es geht damit 303  Vgl. zur Anwendung des Hilfsmittels bei der MIVEA etwa Bock, Kriminologie, Rn. 298 f., 323.



B. Möglichkeiten der Angewandten Kriminologie bei der Strafzumessung125

hier um mehr als das Lippenbekenntnis einer irgendwie gearteten Relevanz kriminologischer Erkenntnisse für das Strafrecht, es geht um das Aufzeigen konkreter Anknüpfungspunkte dieses Postulats. Der hier vorgestellte Ansatz eines auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basierenden integrativen Konzepts könnte an anderer Stelle aufgegriffen und ausgearbeitet werden. Dies könnte, wie eingangs erwähnt, Teil einer eigenständigen Monographie sein. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen erscheint es sogar vorstellbar, dass sich eine solche integrative Methode als Grundlage einer eigenen forensischen Wissenschaft (der Forensik im eigentlichen Sinne) verstehen ließe, weil sie im Sinne dieses semantischen Zusammenhangs gleichsam das Forum einer interdisziplinären Verständigung darstellen könnte. Sie wäre eine echte Schnittstelle zwischen den derzeit separierten, forensisch orientierten Disziplinen. Für die vorliegende Arbeit erschien das Aufzeigen von Lösungswegen für einige der nach wie vor virulenten strafzumessungsrechtlichen Probleme aus mehrerlei Hinsicht angezeigt und darüber hinaus sogar notwendig. Fallkonstellationen mit fremdkulturellem Hintergrund stehen exemplarisch für einen Bereich der strafzumessungsrechtlichen Praxismaterie, die in Hinblick auf eine bessere Gleichmäßigkeit und Revisibilität von einer solchen übergeordneten Methode profitieren könnten. Die phänomenologischen Darlegungen im Grundlagenteil dieser Arbeit haben gezeigt, welche Anforderungen spezifische Fallkonstellationen in dieser Hinsicht an einen professionellen, aber auch wissenschaftlich fundierten Umgang mit der Strafzumessung stellen. Sie haben auch gezeigt, dass die herkömmlichen Methoden an ihre Grenzen stoßen, weil etwa der erweiterte Tatbegriff304 oder aber die Indizkonstruktion305 dort nicht hinreichen, wo sich das Schwergewicht der Beurteilung bestimmter Tatsachen und Umstände (vermeintlich) „jenseits der Tat“ befindet.306

304  Vgl. zum Begriff etwa Bruns, Das Recht der Strafzumessung, S. 221; Streng, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, StGB, § 46, Rn. 23; Eser/Bosch, in: Schönke/ Schröder, StGB, § 24, Rn. 21. 305  Vgl. zum Begriff etwa Bruns, Das Recht der Strafzumessung, S. 220. 306  Zu dieser Akzentuierung der Problemlage schon Bruns, Das Recht der Strafzumessung, S.  219 f.

Teil 4

Zur Entwicklung der Rechtsprechung bei Taten mit Bezug zu fremdkulturellen Wertvorstellungen Entsprechend der Akzentuierung des zweiten Teils des Untersuchungsgegenstandes soll in den folgenden Kapiteln der entwicklungsgeschichtliche Zusammenhang zwischen bestimmten Entscheidungslinien mit fremdkulturellem Themenbezug näher ausgeleuchtet werden. Dabei sollen Sichtung, Auswertung und Einordnung der Entscheidungen die konkreten Schwierigkeiten der Gerichtsinstanzen im Umgang mit solchen Umständen, die sich im Kontext fremdkultureller Wertvorstellungen bewegen, aufzeigen.1 Es stellt sich damit zunächst in methodischer Hinsicht die Frage, nach welchen Kriterien die Entscheidungen auszusuchen und zu interpretieren sind, um dieses Vorhaben zu erreichen. Diesbezüglich sind im Verlauf der Recherche über 200 Entscheidungen aus rund 60  Jahren Rechtsprechung aus allen Gerichtsebenen gesichtet worden. Der Untersuchungszeitraum entspricht dabei im Wesentlichen dem der kriminologischen Untersuchung in Teil 3 dieser Arbeit. In Hinblick auf die begriffliche Recherchegrundlage waren zunächst allgemeine Begrifflichkeiten wie die „Ausländereigenschaft“ oder der „fremde Kulturkreis“ von zentraler Bedeutung, ehe sich dann im Speziellen systematische oder respektive schematische Strukturen und Fallgruppen in den verschiedenen Rechtsprechungslinien aufzeigen ließen. Deren Genese konnte sodann individuell weiter verfolgt werden. Hierzu ist das Hauptaugenmerk auf jene Fallgruppen gelegt worden, welche einerseits geeignet erschienen, überhaupt – quantitativ wie qualitativ – eine kasuistische Grundlage zu liefern. Andererseits musste zur Auswahl überprüft werden, in welchen judizierten Bereichen die größte thematische Schnittmenge zu fremdkulturellen Sachverhalten auszumachen war. Solche Fallgruppen, die diese Kriterien nicht hinreichend ausfüllen konnten, denen aber dennoch eine gewisse Relevanz im Gesamtkontext anhaftet, sollen in den Schlussbemerkungen am Ende dieses Abschnitts in gebotener Kürze erwähnt werden. Diese Bearbeitungsvorgänge haben schließlich dazu beitragen können, die inhaltliche Schnittmenge der zu besprechenden Entscheidungen auf 1  Insofern ist die 1981 von Mösl konstatierte Unsicherheit im Umgang mit der Ausländereigenschaft bei der Strafzumessung – wie sich zeigen wird – immer noch von gewisser Aktualität, siehe Mösl, in: NStZ 1981, 131 ff. (133).



Teil 4: Rechtsprechung bei Taten mit fremdkulturellen Wertvorstellungen

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das im Folgenden Darzustellende zu konkretisieren. Von wesentlichem Nutzen für das Unterfangen, insbes. beim Auffinden einschlägiger Judikate seit den 1980er Jahren, waren dabei die Rechtsprechungsübersichten zum Strafzumessungsrecht, welche seit 1981 in der NStZ erscheinen.2 Vereinzelt konnte auch unveröffentlichtes Entscheidungsmaterial in die Betrachtung einbezogen werden. Soweit die Entwicklung bis zum 1. StRG 19703 untersucht wird, kann anhand einer chronologischen Darstellung die Genese der Berücksichtigung fremdkultureller Wertvorstellungen in der Strafzumessung nachgezeichnet werden. Dies ist vor allem dem Umstand geschuldet, dass bis dahin nur vergleichsweise wenige veröffentlichte Entscheidungen mit entsprechenden thematischen Schnittmengen auszumachen sind. Für den Zeitraum nach 1970 verliert diese Form der Darstellung an Zweckmäßigkeit. Das liegt vor allem an der Einführung allgemeiner Strafzumessungsregeln mit dem 1. StRG (§ 13 StGB a. F.) und den damit verbundenen Änderungen in der strafzumessungsrechtlichen Judikatur. Die Kasuistik konzentriert sich seither auf die Entwicklung von Rechtsprechungslinien zu bestimmten Aspekten fremdkultureller Fallkonstellationen, weshalb es sich anbietet, diese auch thematisch geordnet darzustellen. Damit kann es nicht ausbleiben, bereits an dieser Stelle einige notwendige Anmerkungen zur Weite des hier zugrunde gelegten Verständnisses von strafzumessungsrechtlichen Entscheidungen mit fremdkulturellem Bezug anzustellen. Neben den aus dem ersten Teil der Arbeit gewonnen Erkenntnissen über die interdisziplinäre Weite von fremdkulturellen Wertvorstellungen in Hinblick auf ihre phänomenologischen Aspekte, muss sich der Blick im juristischen Distinktionsverständnis freilich darüber hinaus auch auf die normativen und formellen Aspekte der entsprechenden Fallkonstellationen erstrecken. Das bedeutet, dass hier neben den tatsächlichen und phänomenologischen Aspekten auch solche Umstände zu erörtern sein werden, die in einem formaljuristischen Zusammenhang mit fremdkulturellen Wertvorstellungen stehen, weil sie nicht selten untrennbar mit ihnen verbunden sind. Diesbezüglich kann auf die entsprechenden Grundlagen aus Teil 2 dieser Arbeit zurückgegriffen werden, soweit es etwa um den personellen Kontext geht. In diesem Zusammenhang wird sich zeigen, dass sich insbes. das Anknüpfen an die Ausländereigenschaft als ein zentraler Gesichtspunkt der Strafzumessung herausgebildet hat. Denn der Ausländerstatus ist nicht 2  Siehe die Rechtsprechungsübersichten zum Strafzumessungsrecht ab 1981 in der NStZ, zunächst von Mösl begründet, vgl. Mösl, in: NStZ 1981, 131 ff., nachfolgend von Müller, Theune und schließlich Detter übernommen. 3  Vgl. dazu jeweils unten, A. für die Entwicklung bis 1970 sowie B. für die Entwicklung nach 1970.

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Teil 4: Rechtsprechung bei Taten mit fremdkulturellen Wertvorstellungen

zuletzt häufig mit der Frage der ethnisch-kulturellen Herkunft des Täters eng verwoben. Insofern waren und sind die Grenzen der Erfassbarkeit vieler Fälle nach wie vor im Fluss.

A. Entwicklungsgeschichtlicher Rückblick auf die Rechtsprechungsgenese bei Taten mit fremdkulturellem Bezug bis zum Inkrafttreten des § 13 StGB a. F. zum 1. Januar 1970 I. Vorbemerkungen Bis zum Inkrafttreten des § 13 StGB a. F. zum 1.  Januar 1970 waren die Bemühungen um die Entwicklung und Verbesserung des Strafzumessungsrechts seit 1909 einheitlich von der Idee getragen, Vorschriften über die Regeln der Strafzumessung ins Gesetz aufzunehmen.4 Dennoch erfolgte eine solche gesetzliche Fixierung zunächst nur sporadisch und in gleichsam kleinen Schritten.5 Kern der Diskussion war dabei die Frage nach den gesetzlich anzuerkennenden Strafzwecken und ihres Verhältnisses zueinander.6 Das Reichsgericht stellte in der Entscheidung RG 58, 109 die sog. „Vereinigungsformel“ über die zulässigen Strafzwecke auf: „Maßgebend ist also in erster Linie das Sühnebedürfnis, der Vergeltungszweck der Strafe, daneben auch noch der Abschreckungszweck. Die sonstigen Strafzwecke, der Besserungs- und Sicherungszweck treten demgegenüber in den Hintergrund.“7 Die wichtige Entscheidung BGHSt 7, 28, aus welcher sich später die sog. „Spielraumtheorie“8 entwickeln sollte, fachte die Diskussion im Jahre 1954 erneut an und sollte die Vereinigungsformel des Reichsgerichts wesentlich modifizieren.9 Unter Bezugnahme auf diese Entscheidung10 fasste der Bundesgerichtshof in der Entscheidung BGHSt 20, 264 später zusammen: „Grundlagen der Strafzumessung sind die Schwere der Tat in ihrer Bedeutung für die verletzte Rechtsordnung und der Grad der persönlichen Schuld des Täters. Unter Berücksichtigung und gegenseitiger Abwägung dieser Gesichtspunkte soll der Richter die gerechte, d. h. schuld4  Vgl. Bruns, Das Recht der Strafzumessung, S. 31, 38; Zipf, in: Maurach/Gössel/Zipf, AT  2, § 62, Rn. 2. 5  Vgl. Zipf, in: Maurach/Gössel/Zipf, AT  2, ebenda. 6  Vgl. Bruns, Das Recht der Strafzumessung, S. 38. 7  Zu finden bei Zipf, in: Maurach/Gössel/Zipf, AT  2, § 62, Rn. 3. 8  Vgl. Meier, in: JuS 2005, S. 769 ff. (770). 9  Vgl. Bruns, Das Recht der Strafzumessung, S. 39. 10  Vgl. BGHSt 20, 264 (267).



A. Rechtsprechungsgenese bis zum Inkrafttreten des § 13 StGB a. F.129

angemessene Strafe finden. Der Strafrahmen gibt hierzu einen gewissen Spielraum, innerhalb dessen eine Strafe noch als schuldangemessen anzuerkennen ist (BGHSt 3, 179; 7, 28). Der Richter kann dabei auch anderen Strafzwecken, so denen der Abschreckung und der Sicherung, Raum geben. Der Präventionszweck darf aber nicht dazu führen, die gerechte Strafe zu überschreiten.“11 Diesem Grundtenor folgten mehrere Entwürfe zu Regelungen der Strafzumessung bis in die 1960er Jahre. Der § 13 StGB a. F. entsprach sodann bei seiner Einführung im Jahr 1970 im Wesentlichen dem Vorschlag aus dem Entwurf von 1962, dort § 60.12 Demnach sollte die praktische Bedeutung der Vorschrift darin bestehen, dass sie dem Richter „wichtige Hinweise für die Strafzumessung an die Hand gibt.“13 Bis dahin enthielt das StGB keine allgemeinen Grundsätze über die Strafzumessung.14 Die Strafzumessung lag demnach im Ermessen des Richters, welche in Ermangelung gesetzlicher Vorgaben durch eine Strafzumessungslehre strukturiert werden musste.15 Daneben sollten höchstrichterliche Entscheidungen zu einer Entwicklung von richterrechtlichen Strafzumessungsgrundsätzen beitragen. Dieser Gesamtzustand musste freilich auch in Anbetracht der gesellschaftlichen Entwicklungen16 in der einen oder anderen Weise Konsequenzen für den Umgang mit fremdkulturellen Sachverhalten zeitigen.

II. BGH, Beschluss vom 23.12.1952 Die soweit ersichtlich erste veröffentlichte Entscheidung eines Falles mit fremdkulturellem Bezug ist ein Beschluss des BGH aus dem Jahre 1952.17 Das Amtsgericht hatte die Angeklagten wegen Verstoßes gegen die Hamburgische Polizeiverordnung vom 11.05.1951 aufgrund des Verbots der Förderung der Volksbefragung gegen die Remilitarisierung Deutschlands verurteilt, weil sie für das sog. „Friedenskomitee“ in Hamburg am 21.06.1951 eine von der SED betriebene Volksbefragung durchgeführt hatten.18 Das Oberlandesgericht Hamburg legte die Sache dem BGH vor, weil es in einer Rechtsfrage von der Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen vom 11  BGHSt

20, 264 (266 f.). BT-Drs. V/4094, S. 4. 13  Vgl. BT-Drs. V/4094, ebenda. 14  Vgl. Schönke/Schröder, Kommentar zum StGB, 12. Aufl. 1965, Vor § 13, Rn. 46. 15  Vgl. Schönke/Schröder, Kommentar zum StGB, 12. Aufl. 1965, ebenda. 16  Vgl. dazu Teil 3, A. 17  Vgl. BGHSt 4, 1 (1 ff.). 18  Vgl. BGHSt 4, 1 (1). 12  Vgl.

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Teil 4: Rechtsprechung bei Taten mit fremdkulturellen Wertvorstellungen

18.03.1952, GSSt 2 / 51, abweichen wollte.19 Im Kern der Entscheidung ging es um die Frage, ob die Angeklagten in der Lage waren, das Verbotensein ihres Handelns zu erkennen. Dabei kam der Problematik nach der „Anspannung des Gewissens“ eine besondere Bedeutung zu. Der Bundesgerichtshof führte dazu aus: „[…] der Täter habe sich‚ bei allem, was er zu tun im Begriff stehe, bewußt zu machen, ob es mit den Sätzen des rechtlichen Sollens in Einklang stehe; Zweifel habe er durch Nachdenken oder Erkundigen zu beseitigen‘, BGHSt 2, 201.“20 „Naturgemäß darf der Täter nicht solche Wertvorstellungen von Recht und Unrecht zugrunde legen, die einem fremden Kulturkreis angehören (etwa die des kommunistischen Russlands), sondern nur diejenigen, die seine Rechtsgemeinschaft anerkennt, d. h. die Gemeinschaft, in der er lebt […]. Wenn die Gerichte dies beachten, so besteht keine Gefahr, daß bei der Prüfung der Vorstellungen des Täters politische Überzeugungen Beachtung finden, die zu den sittlichen und rechtlichen Grundanschauungen des westeuropäischen Kulturkreises in Widerspruch stehen.“21 Damit stellte der BGH zunächst einmal klar, dass die Begriffe Kultur und fremde Wertvorstellungen rechtlich erheblich sein können; hier im Rahmen der Schuld, insbesondere zur Bestimmung des Unrechtsbewusstseins. Zugleich lässt der BGH keine Zweifel darüber aufkommen, dass für die Frage, ob der Täter unter Anspannung seines Gewissens zur Einsicht des Unrechts gelangen kann, allein die Wertvorstellungen des „westeuropäischen Kulturkreises“ maßgeblich sein können. Für den Fall, dass der Verbotsirrtum aber vermeidbar war, schweigt sich der BGH darüber aus, inwiefern die §§ 51 II, 44 II, III StGB a. F.22 in Erwägung zu ziehen gewesen wären. Wenngleich das damalige Strafgesetzbuch die §§ 17 und 49 StGB in ihrer heutigen Form nicht kannte, war die Anwendung der o. g. Normen alter Fassung allerdings für jene Fälle des vermeidbaren Verbotsirrtums bereits anerkannt.23 Im Übrigen machte der BGH aber deutlich: „Daß [der Täter] die Rechtsordnung der Gemeinschaft, der er angehört, aus politischen oder weltanschaulichen Gründen ablehnt und deshalb die Verbindlichkeit ihrer Normen bestreitet, ist rechtlich bedeutungslos. Wer in einer Gemeinschaft lebt, muß das Recht, das in ihr gilt, auch gegen sich gelten lassen.“24 19  Vgl.

BGHSt 4, ebenda. 4, 1 (5). 21  BGHSt 4, 1 (5 f.); Anm.: kursive Hervorhebung durch den Autor. 22  Dies würde der heutigen Anwendung von § 17 S. 2 i. V. m. § 49 Abs. 1 StGB entsprechen. 23  Vgl. hierzu Schönke/Schröder, Kommentar zum StGB, 12. Aufl. 1965, § 59, Rn. 87 m. w. N. sowie bei Schwarz/Dreher, Kommentar zum StGB, § 59, Ziff. 3. 24  BGHSt 4, 1 (3). 20  BGHSt



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III. OLG Celle, Urteil vom 13.05.1953 Mit einer vorinstanzlichen Strafzumessungserwägung, welche besorgen ließ, dass sie zu Lasten des Angeklagten angebracht wurde, weil er Ausländer war, hatte sich kurz darauf das OLG Celle zu befassen.25 Im Gegensatz zum Beschluss des BGH aus dem Vorjahr war es hier eine Strafzumessungserwägung der Strafkammer, die mit den Worten „Zum anderen“ den strafmildernden Gründen die Erwägung gegenüberstellte, dass „der jähzornige Angekl. […] zudem als Ausländer besondere Veranlassung [habe], den Gesetzen seines Gastlandes zu folgen.“26 Nach Ansicht des OLG Celle lag hier die Annahme nahe, dass die Strafkammer die Ausländereigenschaft des Angeklagten strafschärfend berücksichtigt hatte, was einen Verstoß gegen Art. 3 I, III GG darstelle, „wonach alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind und niemand wegen seiner Heimat, Herkunft usw. benachteiligt oder bevorzugt werden darf.“27 Die wesentliche Bedeutung der Entscheidung des OLG Celle liegt damit zunächst in der für die praktische Strafrechtspflege – soweit ersichtlich – erstmaligen revisionsgerichtlichen Auseinandersetzung mit dem „Strafzumessungsfaktor“ der Ausländereigenschaft. Im Verlauf der folgenden Dekaden entwickelten insbes. die Tatgerichte verschiedene Spielarten einer Berücksichtigung der Ausländereigenschaft in der Strafzumessung, welche nicht selten zu revisionsgerichtlichen Entscheidungen führen sollten.28 Diese Entscheidung gilt damit in gewisser Weise noch heute als grundlegend in Hinblick auf die Ablehnung einer strafschärfenden Berücksichtigung der Ausländereigenschaft unter dem Gesichtspunkt des Gleichbehandlungsgrundsatzes und sollte für einige Zeit ihre Bestätigung in der höchstrichterlichen Rechtsprechung finden.29

IV. OLG Hamm, Entscheidung vom 31.01.1958 Im Jahr 1958 war das OLG Hamm mit einer Revision eines italienischen Angeklagten beschäftigt, welcher im Gegensatz zu den Angeklagten des BGH-Beschlusses von 1952 die Grenzen der deutschen Rechtsordnung nicht bewusst überschritten hatte, sondern der es als Italiener nach den Feststel25  Vgl. 1603 f. 26  Vgl. 27  Vgl. 28  Vgl. 29  Vgl.

OLG Celle, in: MDR 1953, 571; siehe auch OLG Celle, in: NJW 1953, OLG Celle, in: MDR 1953, ebenda. OLG Celle, in: MDR 1953, ebenda. dazu unten, B., I. dazu ausführlich unten in diesem Teil, B., I.

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lungen des OLG Hamm „unwiderlegt“ seit seines mehrmonatigen Aufenthalts in Deutschland nicht besser wusste.30 Der Angeklagte befand sich seit August 1956 in Deutschland, hatte Arbeit, sprach aber schlecht deutsch. Am 4. April 1957 beging er mit einem Landsmann eine Landstraße, um in den Nachbarort zu laufen. Beide gingen nebeneinander auf der rechten Fahrbahnseite in Ermangelung eines Fußweges. In Folge von Unachtsamkeit fuhr ein Mopedfahrer den Angeklagten auf der Landstraße an. Sowohl der Mopedfahrer als auch der Angeklagte wurden dabei z. T. schwer verletzt.31 Das „Linkslaufgebot“ des § 37 I 3 StVO in der Fassung vom 29.03.1956 war den beiden italienischen Fußgängern unbekannt. Der Angeklagte wurde wegen fahrlässiger Körperverletzung vom AG verurteilt.32 Die Revision des Angeklagten, mit welcher er die Verletzung materiellen Rechts rügte, führte zur Berichtigung des Schuldspruches.33 Im hier relevanten Kontext sollen die Ausführungen zum Verbotsirrtum, in dem sich der italienische Angeklagte befunden hat, näher betrachtet werden. Sie zeigen – soweit ersichtlich – erstmals eine Richtlinie dafür auf, unter welchen Umständen ein Verbotsirrtum für einen Ausländer vermeidbar gewesen sein konnte. Das AG war der Auffassung, der Angeklagte hätte sich unmittelbar nach seiner Einreise erkundigen müssen, wie er sich im Verkehr als Fußgänger zu verhalten habe. Er hätte sich bei der Grenzübergangsstelle informieren müssen.34 Dem folgte das OLG Hamm indes nicht. Vielmehr sah es sich zu den folgenden Ausführungen veranlasst: Die bei Grenzübergang geforderte Informierung „stellt eine Übersteigerung der Anforderungen dar, die man in dieser Hinsicht an einen nach Deutschland einreisenden Ausländer stellen kann. Zwar wird sich ein ausländischer Kraftfahrer bei der Einreise nach Deutschland spätestens beim Grenzübergang, mit den für ihn geltenden besonderen, etwa von der Verkehrsregelung in seinem Heimatland abweichenden Regeln vertraut machen müssen. Dieselbe Anforderung kann aber nicht an einen ausländischen Fußgänger gestellt werden.“35 Das OLG Hamm begründete diese Erwägung damit, dass der Fußgängerverkehr bei weitem nicht in solchem Ausmaß geregelt und durchnormiert sei wie der Straßenverkehr.36 Dass der Verbotsirrtum dennoch vermeidbar war, begründete das OLG u. a. mit der Tatsache, dass die Norm bereits acht Monate vor dem Unfall 30  Vgl.

OLG Hamm, in: DAR 1958, 307 f. zum Sachverhalt, OLG Hamm, in: DAR 1958, 307 f. (307). 32  Vgl. OLG Hamm, in: DAR 1958, ebenda. 33  Vgl. OLG Hamm, in: DAR 1958, ebenda. 34  Vgl. OLG Hamm, in: DAR 1958, ebenda. 35  OLG Hamm, in: DAR 1958, ebenda. 36  Vgl. OLG Hamm, in: DAR 1958, ebenda. 31  Ausführlich



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in Kraft getreten war und sich der Angeklagte genauso wenig entschuldigend auf seine Unkenntnisse diesbezüglich berufen könne wie ein Deutscher.37 Weder die Annahme, dass die Norm selbst deutschen Fußgängern nicht hinreichend bekannt sei, noch die Annahme, der Angeklagte wäre aufgrund seines sprachlichen Defizits nicht in gleichem Umfang wie Deutsche dazu in der Lage, die einschlägigen Informationsquellen zu nutzen, würden zur Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums führen können.38 Die Entscheidung des OLG Hamm stellt damit einige wichtige Grundsätze zur Behandlung eines (vermeidbaren) Verbotsirrtums bei Ausländern auf. Demnach müsse zunächst der Grad der Informationspflicht in Hinblick auf die verletzte Norm für den Ausländer festgestellt werden. Hierzu ist es maßgeblich von Bedeutung, in welchem Regelungskontext die fragliche Strafrechtsnorm steht, wobei ihre praktische Relevanz eine entscheidende Rolle spielen soll. Diese dürfte zumindest für jede kernstrafrechtliche Norm hinreichend gegeben sein. Daneben hat das OLG Hamm der Aufenthaltsdauer des Ausländers diesbezüglich eine entscheidende Bedeutung beigemessen. Je länger sich der Angeklagte bereits in der BRD aufhält, desto unwahrscheinlicher ist es, dass er die Gelegenheit, sich mit den hiesigen Verhältnissen vertraut zu machen, ausgelassen haben könnte. Wenn ein Angeklagter hiervon schuldhaft keinen Gebrauch macht, kann ihm dies nicht zugute gehalten werden.39 Das gilt jedenfalls für den materiellen Schuldspruch in Hinblick auf die Strafbegründungsschuld. Welche unmittelbaren Konsequenzen aber für die Strafzumessungsschuld aus der Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums zu ziehen gewesen wären, musste auch das OLG Hamm nicht beantworten. Denn das OLG Hamm hatte in Übereinstimmung mit dem Antrag der StA den ohnehin niedrigsten Strafausspruch von damals 3,- DM für angemessen erachtet.40 Folglich hatte das Gericht keinen Anlass, Stellung zur etwaigen Anwendung der §§ 51 II, 44 II, III StGB a. F. zu beziehen.

V. BayObLG, Urteil vom 23.10.1963 Ein in der Gesamtschau wegweisendes Urteil in Hinblick auf die Berücksichtigung fremdkultureller Wertvorstellungen bei der Strafzumessung hat des BayObLG 1963 judiziert.41 Die Angeklagte, eine Hausfrau, geboren in Lettland, wurde wegen Abtreibung gegen Entgelt in mehreren Fällen in der 37  Vgl.

OLG Hamm, in: DAR 1958, ebenda. Hamm, in: DAR 1958, ebenda. 39  Vgl. insgesamt OLG Hamm, in: DAR 1958, ebenda. 40  Vgl. OLG Hamm, in: DAR 1958, 307 f. (308). 41  Vgl. BayObLG, in: NJW 1964, 364 f. 38  OLG

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Vorinstanz vom LG verurteilt. Ihre Revision richtete sich nur noch gegen den Strafausspruch.42 In den Urteilsgründen heißt es, dass das LG zwar die Herkunft der Angeklagten aus einem fremden Rechtskreis gewürdigt hat, darin aber keinen Strafmilderungsgrund gesehen habe, weil die Angeklagte während ihres bis dahin 20‑jährigen Aufenthalts in Deutschland hinreichend Gelegenheit gehabt hatte, sich mit den im Inland geltenden Rechtsanschauungen und ethischen Vorstellungen vertraut zu machen.43 Diese Pflicht, sich mit den Anschauungen der Rechtsgemeinschaft vertraut zu machen, in der man lebt, treffe auch den aus dem Ausland Gekommenen.44 Zur Begründung dieser Pflicht verweist das BayObLG auf die bereits erwähnte Entscheidung BGHSt 4, 1 ff.45 Dort hatte der BGH herausgestellt, dass nur die Rechtsvorstellungen der Rechtsgemeinschaft von Bedeutung sind, in welcher der Täter aktuell lebt. Diese Argumentation adaptierte das BayObLG auch für die Zumessung der Strafe, da die im konkreten Fall festgestellte „Rechtsfahrlässigkeit“ auch für Vorsatztaten auf der Ebene der Strafzumessung von Bedeutung sein könne.46 Damit entwickelte das BayObLG auch jene Zumessungserwägung, die der BGH 1952 noch unberührt gelassen hatte. Es stellte den strafzumessungsrechtlichen Zusammenhang zwischen dem vermeidbaren Verbotsirrtum und den §§ 51 II, 44 II, III StGB a. F. heraus. Damit konnte ein Umstand, der bereits auf der Ebene des materiellen Schuldspruchs zur Annahme eines vermeidbaren Verbotsirrtums geführt hat, auch strafzumessungsrechtliche Relevanz entfalten. Daneben vermochte das BayObLG aber nicht erkennen, „[…] inwiefern aus dem Ausland mitgebrachte Vorstellungen, insbesondere sowjet-russische Rechtsanschauungen, die Angeklagte dazu veranlaßt haben könnten, die Fremdabtreibung als ein geringfügiges Delikt zu betrachten.“47 Das BayObLG musste schließlich noch der Frage nachgehen, ab wann und in welchem Maße einen Ausländer, der sich u. U. erst eine kurze Zeit in Deutschland aufhält, diese Pflicht zur Rechtsverinnerlichung trifft. Auch hier konnte das BayObLG auf eine zum Verbotsirrtum entwickelte Rechtsprechung zurückgreifen. Es bediente sich der soeben besprochenen Entscheidung des OLG Hamm von 1958 und stellte fest: „Da sich aber auch der aus dem Ausland Gekommene den Anschauungen der Rechtsgemeinschaft anzupassen hat, in der er nunmehr lebt (vgl. BGHSt 4, 1, 5), ist es regelmäßig auch vorwerfbar, wenn er diese Anschauungen deshalb ungeachtet läßt, weil 42  Vgl. 43  Vgl. 44  Vgl. 45  Vgl. 46  Vgl. 47  Vgl.

BayObLG, in: BayObLG, in: BayObLG, in: oben, unter II. BayObLG, in: BayObLG, in:

NJW 1964, 364 f. (364). NJW 1964, 364 f. NJW 1964, 364 f. (365). NJW 1964, ebenda. NJW 1964, ebenda.



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er die ihm zugänglichen und zumutbaren Erkenntnisquellen nicht dazu gebraucht hat, sich über sie zu unterrichten (vgl. OLG Hamm, DAR 58, 307).“48 Während ihres 20‑jährigen Aufenthalts habe die Angeklagte im Übrigen auch hinreichend Gelegenheit gehabt, sich mit den im Inland geltenden Rechtsauffassungen und ethischen Vorstellungen vertraut zu machen.49 Von welcher Relevanz die ethischen Vorstellungen bei strafbarem Verhalten sein sollen, ließ das Gericht jedoch in bedenklicher Weise offen. Damit stellt die Entscheidung des BayObLG einen ersten Beleg für eine konvergente Rechtsprechungsgenese von Taten mit fremdkulturellem Bezug bei der Strafzumessung und auf der Ebene des materiellen Schuldspruchs dar. Ferner zeigt die Entscheidung den engen Zusammenhang zwischen der Strafzumessung bei fremdkulturellen Wertvorstellungen, wenn diese dazu führen, dass hiesige Normen nicht verinnerlicht werden und dem (vermeidbaren) Verbotsirrtum, welcher über die fakultative Strafmilderung nach den §§ 51 II, 44 II, III StGB a. F., respektive heute § 17 S. 2 i. V. m. § 49 I StGB auch schon präjudiziell die möglichen Strafzumessungsumstände mitbestimmt. Bei Ausländern konnte dies demnach dann der Fall sein, wenn im Rahmen einer sog. „Rechtsfahrlässigkeit“50 zwar eine Internalisierung des innerstaatlichen Rechts unterblieb, dieser Umstand aber nicht zur Annahme eines unvermeidbaren Verbotsirrtums hinreichen konnte.

VI. BGH, Urteil vom 26.04.1966 Im Jahr 1966 musste sich der BGH soweit ersichtlich erstmals mit der Frage beschäftigen, wie die fremdkulturelle Prägung eines Täters bei § 211 StGB zu berücksichtigen ist.51 Der BGH monierte in der Entscheidung die Annahme niederer Beweggründe gegen den ausländischen Täter, weil das Tatgericht die fremden Wertvorstellungen („heimatliche Anschauungen“) bei der Prüfung der niederen Beweggründe unberücksichtigt gelassen hatte.52 „Auch die Annahme niedriger Beweggründe ist nach den Feststellungen ungerechtfertigt. Der Angekl. hat die Tötung begangen, weil er irrtümlich geglaubt hatte, seine Vermieterin sei mit dem gewaltsamen Vorgehen gegen seine Ehefrau und dem hierdurch herbeigeführten Ehebruch ‚durchaus einverstanden gewesen‘ und habe außerdem noch verächtlich über ihn gesprochen. Da ein Mörder die Tatsachen kennen muß, die das Verächtliche der 48  BayObLG,

NJW 1964, ebenda. BayObLG, NJW 1964, 364 f. 50  Vgl. BayObLG, NJW 1964, 364 f. (365). 51  Vgl. BGH, in: GA 1967, 244; BGH, Urteil v. 26.04.1966  – 5 StR 122/66. 52  Vgl. BGH, in: GA 1967, ebenda, siehe auch dort den 2. Leitsatz der Redaktion. 49  Vgl.

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Tötung ausmachen, der Angekl. aber nur diese Umstände gekannt hat, stellt sich die Empörung, die die Tat ausgelöst hat, nicht als besonders verwerflich und verächtlich dar, zumal im Hinblick auf Persönlichkeit und Denkweise des Angekl. Der BGH hat wiederholt entschieden, daß Persönlichkeitsmängel bei sittlicher Bewertung einer Tat u. U. zu berücksichtigen sind. Gilt das in gewissem Umfang schon für ‚psychopathische Persönlichkeiten‘ (BGH NJW 1954, 565), so ist dieser Grundsatz erst recht dann anzuwenden, wenn Ausländer in – von den unseren abweichenden – Anschauungen und Vorstellungen ihrer Heimat befangen sind, von denen sie sich zur Tatzeit noch nicht lösen konnten.“53 Diese Lösung wurde von der Rechtsprechung in späteren Entscheidungen weiter ausdifferenziert54 und als sog. „Vorsatzlösung vertreten.55 Das Urteil aus dem Jahr 1966 gilt insoweit als Grundstein für diese Rechtsprechungslinie.56 Demnach ist die Niedrigkeit der Beweggründe zunächst objektiv festzustellen.57 Maßstab dafür sind die Wertvorstellungen der Bundesrepublik.58 Dabei ist es möglich, dass sich jedenfalls Teile des Motivbündels des Täters nicht von den hiesigen Wertvorstellungen unterscheiden.59 In diesem Fall kann die Tat dann schon objektiv nicht aus niederen Beweggründen begangen worden sein.60 Widersprechen die Beweggründe jedoch objektiv den hiesigen Wertanschauungen und fehlt dem Täter die Fähigkeit, sein Verhalten entsprechend zu bewerten, scheidet die Annahme von Mord aus niederen Beweggründen aus.61 Allerdings kann das „objektive Vorliegen des Mordmerkmals“ im Rahmen der Strafzumessung noch verwertet werden.62 Insofern spielt die Entscheidung des BGH auch eine wichtige Rolle für die Berücksichtigung fremdkultureller Wertvorstellungen bei der Strafzumessung. Das gilt insbes. in Hinblick auf die systematischdogmatisch orientierte Begründung der Entscheidung. 53  BGH,

in: GA 1967, 244. etwa BGH, in: NJW 1995, 602 f. 55  Vgl. Pohlreich, Ehrenmorde im Wandel des Strafrechts, S. 225. 56  Vgl. hierzu u. a. Pohlreich, Ehrenmorde im Wandel des Strafrechts, S. 225 ff., insbes. 226 f.; Valerius, Kultur und Strafrecht, S. 72 ff.; siehe auch Ebert, in: Dummer/Vielberg (Hrsg.), Der Fremde – Freund oder Feind?, S. 73 ff. (88 f.); im Übrigen steht die hier angesprochene Entscheidung im Kontext zu späteren Entscheidungen, wie bspw. BGH, Beschluss v. 24.04.2001  – 1 StR 122/01. 57  Vgl. Pohlreich, Ehrenmorde im Wandel des Strafrechts, S. 226. 58  Vgl. BGH, Beschluss v. 24.04.2001  – 1 StR 122/01, S. 2; siehe auch Pohlreich, Ehrenmorde im Wandel des Strafrechts, S. 226 f. 59  Vgl. Pohlreich, Ehrenmorde im Wandel des Strafrechts, S. 229. 60  Vgl. Pohlreich, Ehrenmorde im Wandel des Strafrechts, ebenda. 61  Vgl. Pohlreich, Ehrenmorde im Wandel des Strafrechts, S. 230. 62  BGH, Beschluss v. 24.04.2001  – 1 StR 122/01, S. 3. 54  Vgl.



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Inwieweit die Vorsatzlösung nur für Ausländer als solche in Betracht kommen kann oder ob auch eine im Inland erfolgte fremdkulturelle Enkulturation die entsprechenden Voraussetzungen erfüllt, lässt sich den Ausführungen des BGH allerdings an keiner Stelle entnehmen. Möglicherweise gab es diesbezüglich aufgrund der damaligen gesellschaftlichen Realitäten auch (noch) keinen Anlass, solche Erwägungen anzustellen. Schließlich war Einwanderung – und damit verbunden die weiträumige Entwicklung fremdkultureller Binnenmilieus – als solche im Rahmen der politischen Zielvorstellungen (Rotationsprinzip) per se nicht vorgesehen.63 Zum Entscheidungszeitpunkt ging der BGH, jedenfalls dem Wortlaut seines Urteils nach, nur für Ausländer davon aus, dass diese von fremden Vorstellungen in strafrechtlich relevanter Weise befangen sein können. Gegenwärtig müsste man diese Position angesichts der gegebenen gesellschaftlichen Realitäten konsequenterweise überdenken. Mit Rücksicht auf die Darstellung zum personellen Kontext bei den Grundlagen fremdkultureller Wertvorstellungen liegt die Möglichkeit einer extensiveren Erfassung zumindest nahe.64 Ihr wird noch nachzugehen sein.65 Daneben erscheint die Argumentation des BGH, welche die entwickelten Grundsätze zu Persönlichkeitsmängeln bei psychopathischen Persönlichkeiten auf Ausländer überträgt, äußerst fragwürdig. Dem muss an dieser Stelle jedoch nicht weiter nachgegangen werden, weil sie – soweit ersichtlich – von keiner späteren Entscheidung erneut aufgegriffen wurde. Festzuhalten bleibt insofern, dass die Berücksichtigung fremdkultureller Wertvorstellungen auf der Tatbestandsebene bereits eine präjudizielle Wirkung für Fragen der Strafzumessung zeitigen kann. Die Entscheidung des BGH zeigt damit, wie eng verwoben bestimmte Fragen des Tatbestandes mit solchen der Strafzumessung sein können und welche Ähnlichkeiten in den Begründungsstrukturen des Tatbestands und der Strafzumessung auftreten können. So können gewisse Umstände, die nicht dazu hinreichen, ein Merkmal des Tatbestandes zu erfüllen, u. U. noch in der Strafzumessung Bedeutung erlangen. Neben den hier in Rede stehenden §§ 211, 212 StGB ist dabei insbesondere an § 323c und das Merkmal der Zumutbarkeit zu erinnern.66 Die Entscheidung des BGH zeigt aber auch, dass die Rechtsprechung zu den niederen Beweggründen gleichsam wegweisend für den Umgang mit fremdkulturellen Wertvorstellungen im Strafrecht war. Sie kann 63  Vgl.

dazu oben, Teil 3, A. dazu oben, Teil 2, B. 65  Vgl. u. a. unten, Teil 5, B., VII., 2. c). 66  Vgl. hierzu die erläuterte Entscheidung von Sonnen, in: JA 1990, S. 358 ff. (359); vgl. auch Valerius, Kultur und Strafrecht, S. 59 ff., zu § 323c insbes. S. 106 ff. m. w. N. 64  Vgl.

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insoweit als einer der wenigen Versuche einer dogmatischen Behandlung solcher Anschauungen, die den hiesigen scheinbar diametral widersprechen, angesehen werden.

VII. BGH, Urteil vom 22.10.1969 Schließlich hatte sich der Bundesgerichtshof im Jahr 1969 mit der Revision eines Sizilianers zu beschäftigen, bei dem die Vorinstanz die Zubilligung mildernder Umstände gemäß § 213 StGB a. F. verneint hatte.67 Nach Auffassung des BGH begegnete diese Verfahrensweise des Schwurgerichts am Landgericht Duisburg durchgreifenden Bedenken. Die Entscheidung belegt mit dem Schwerpunkt auf § 213 StGB a. F. eine weitere Einfallsstelle für fremdkulturelle Wertvorstellungen sowohl bei den Tötungsdelikten als auch der Strafzumessung. Zu den Ausführungen des 3. Strafsenats beim Bundesgerichtshof finden sich in den Gründen anfänglich die folgenden Feststellungen: „Das Schwurgericht geht zunächst davon aus, daß G B den Angeklagten einige Tage vor der Tat und auch noch am Tattage selbst durch die Bezeichnung ‚Cornuto‘68 erheblich beleidigt und dadurch auch zum Zorn gereizt und auf der Stelle zur Tat hingerissen habe. Danach wollte es ersichtlich einen Zusammenhang zwischen der Beleidigung einige Tage vor der Tat, den Beleidigungen in der Tatnacht und der auf der Stelle infolge Zorns ausgeführten Tat herstellen und zum Ausdruck bringen, daß diese ihre Ursache auch in der vorangegangenen erheblichen Beleidigung durch G B hatte. Ohne erkennbaren Grund löst es aber dann die Vorfälle in der Tatnacht aus dem Gesamtgeschehen heraus und würdigt sie für sich allein, indem es ausführt, in der Tatnacht habe der Angeklagte seinen Neffen als erster beleidigt, die Auseinandersetzung allein provoziert und diesem genügend Veranlassung gegeben, ihn als ‚Cornuto‘ zu bezeichnen. Es läßt dabei ungeprüft, ob die dem Angeklagten einige Tage vor der Tat durch seinen Neffen zugefügte schwerwiegende Beleidigung ‚Cornuto‘, zu der er ersichtlich keine Veranlassung gegeben hatte, Auswirkungen auf sein Verhalten in der Tatnacht gehabt hat, obwohl sie nach den vorangegangenen Ausführungen 67  BGH, Urteil v. 22.10.1969  – 3 StR 196/69; siehe auch Grundmann, in: NJW 1985, 1251 ff. (1253), welcher die Entscheidung im Sinne der sog. Datumtheorie interpretiert. Hierbei ging es in concreto um die Frage, inwieweit die seinerzeit privilegierende Wirkung des Art. 587 codice penale italiano i. R.v. § 213 StGB a. F. Berücksichtigung finden könnte. 68  Mit der Bezeichnung als „Cornuto“ (ital. für „der Gehörnte“) wurde der Angeklagte in seiner Ehre verletzt, weil ihm damit in schmählicher Art und Weise vorgehalten wurde, dass seine Frau ihm untreu gewesen ist.



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mit dazu beitrug, den Angeklagten zum Zorn zu reizen und ihn auf der Stelle zur Tat hinzureißen.“69 Während das Schwurgericht am LG Duisburg die Tatsachen, die für eine Annahme von § 213 StGB a. F. gesprochen hätten, nach den eigenen Feststellungen als nicht hinreichend erachtete, sah sich der BGH zur folgenden Klarstellung in dieser Sache veranlasst: „Aus diesen Gründen halten die Erörterungen, die zur Verneinung anderer mildernder Umstände nach § 213 (zweiter Alternative) StGB geführt haben, einer Nachprüfung nicht stand. Die Darlegung auf Seite 9 UA ‚Es liegen keine Tatsachen vor, welche die Tat irgendwie verständlich machen … Die Erregung des Angeklagten über die ihm zugefügte Beleidigung ist überhaupt nicht zu verstehen‘ sind mit den vorangegangenen Ausführungen unvereinbar. […] Deshalb hätte das Schwurgericht auch der Frage nachgehen müssen, inwieweit die Erregung des Angeklagten in Anbetracht seiner Herkunft und seines Temperaments als Sizilianer verständlich war.“70 Zum Verständnis der Bedeutung dieser Entscheidung für die Strafzumessung muss der Wortlaut des § 213 StGB in seiner Fassung, die bis zum 1.  September 1969 galt, herangezogen werden. Denn zum Zeitpunkt der hier angeführten BGH-Entscheidung befand sich die große Strafrechtsreform noch in der Vorbereitung. Zwar war § 213 StGB a. F. auch seinerzeit bereits als eine Strafzumessungsregel71 ausgeformt, allerdings nicht in der Gestalt, wie sie heute existiert, als minder schwerer Fall des Totschlags. § 213 a. F. lautete: „War der Totschläger ohne eigene Schuld durch eine ihm oder einem Angehörigen zugefügte Mißhandlung oder schwere Beleidigung von dem Getöteten zum Zorne gereizt und hierdurch auf der Stelle zur Tat hingerissen worden, oder sind andere mildernde Umstände vorhanden, so tritt Gefängnisstrafe nicht unter sechs Monaten ein.“72 Damit ist die Entscheidung des Bundesgerichtshofs zunächst als eine echte Strafzumessungsentscheidung in einem Fall mit fremdkulturellem Bezug zu sehen, weil die Frage der Annahme mildernder Umstände auch nach der historischen Gesetzeslage eine strafzumessungsrechtliche war.73 Sie stellt allerdings genau betrachtet nicht, wie von Grundmann behauptet, die erstmalige Annahme eines minder schweren Falles aufgrund der Berück69  BGH,

Urteil v. 22.10.1969  – 3 StR 196/69, UA.  6. Urteil v. 22.10.1969  – 3 StR 196/69, UA.  7. 71  Vgl. schon BGHSt 4, 228; Lackner/Maassen, Kommentar zum StGB, 5. Aufl. 1969, § 213, Ziff. 1.; Schönke/Schröder, Kommentar zum StGB, 12. Aufl. 1965, § 213, Rn. 1; i. d. S. auch Schwarz/Dreher, Kommentar zum StGB, § 213, Ziff. 3. 72  Kursive Hervorhebung durch den Autor. 73  Vgl. Schönke/Schröder, Kommentar zum StGB, 12. Aufl. 1965, § 213, Rn. 9. 70  BGH,

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sichtigung fremdkultureller Wertvorstellungen auf der Täterseite dar.74 Auch das ergibt sich aus der schon für Grundmanns Beitrag historischen Gesetzeslage. Vielmehr stützt sich die Rüge des BGH schwerpunktmäßig auf die in sich nicht schlüssigen und sich widersprechenden Feststellungen des Schwurgerichts hinsichtlich der die Tat begünstigenden Erregung des Angeklagten. Insofern spielte die fremdkulturelle Prägung des Täters eine eher untergeordnete Rolle bei der Frage nach den mildernden Umständen, nämlich dahingehend, ob die Titulierung als „Cornuto“ als schwere Beleidung i. S. v. § 213 Alt. 2 StGB a. F. zu verstehen war. Sofern also die fremdkulturelle Prägung dazu führt, dass der Täter auf der Bewertungsebene des Unrechts von jenen Vorstellungen geleitet wird, soll nach Ansicht des BGH eine Auseinandersetzung mit dieser Frage im Rahmen der Strafzumessung bei § 213 StGB a. F. erfolgen. Dies stellte der BGH auch dadurch heraus, dass er deutlich machte, dass es sich bei der Beschimpfung als „Cornuto“ für einen Sizilianer um eine schwere Beleidigung handelt. Dass es für das Schwurgericht beim Landgericht Duisburg gerade nicht nachvollziehbar war, dass es sich hier um eine schwere Beleidigung für den sizilianischen Angeklagten handelte, rügte der BGH unter Verweis auf die Pflicht des Schwurgerichts, dem Gehalt der Beleidigung aus Sicht des Angeklagten nachzugehen.75 Insofern bedürfte es in einem solchen Fall (auch gegenwärtig) keines Rückgriffs auf fremde Rechtssätze, in denen sich die entsprechenden Moral- und Sittlichkeitsvorstellungen des ausländischen Täters spiegeln, wie von Grundmann diesbezüglich vorgeschlagen.76 In der Gesamtschau ist diese Entscheidung aus dem Jahre 1969 zu § 213 StGB a. F. aber keinesfalls als lediglich historisch zu verkennen. Immerhin hat sie darauf aufmerksam gemacht, dass es in bestimmten Fällen subjektiv geprägter Tatmerkmale darauf ankommen kann, dass das Tatgericht diese auch aus Sicht des fremdkulturell geprägten Täters und nicht etwa aus Sicht eines deutschen Täters nachzuvollziehen hat. Dies stellt insoweit einen wichtigen Unterschied zur bereits dargestellten Entscheidung aus dem Jahr 1966 dar. Daneben belegt die Entscheidung auch gegenläufig, dass der Umgang mit fremdkulturell geprägten Tätern sowohl dem Tatgericht als auch dem BGH gewisse Schwierigkeiten bereitet hat. Hinsichtlich des Tatgerichts bleibt fraglich, weshalb es den Gehalt der schweren Beleidigung teilweise verkannt hat, obwohl diese erst dazu geführt hat, dass sich der Angeklagte zur Grundmann, in: NJW 1985, S. 1251 ff. (1253). BGH, Urteil v. 22.10.1969  – 3 StR 196/69, UA.  7. 76  Vgl. Grundmann, in: NJW 1985, S 1251 ff. (1253). 74  Vgl. 75  Vgl.



A. Rechtsprechungsgenese bis zum Inkrafttreten des § 13 StGB a. F.141

Tat hingerissen fühlte. Andererseits wirkt der Verweis des BGH auf das Temperament eines Sizilianers sehr behelfsmäßig und wenig sachlich. Hier hätte der Argumentation des BGH eine interdisziplinäre Abstützung sicher gut getan.

VIII. Zwischenbilanz der Rechtsprechungsgenese Die dargestellten Entscheidungen bis Ende des Jahres 1969 konnten zeigen, dass die kulturelle Prägung des Täters auf verschiedene Weise für die Strafbarkeit und die Strafzumessung von Bedeutung gewesen ist. Dabei war die Rechtsprechung zunächst versucht, die „bewährten“ Kategorien strafrechtlicher Erfassbarkeit nicht zu verlassen, was sich u. a. darin spiegelt, dass die frühen Entscheidungen zu fremdkulturellen Sachverhalten schwerpunktmäßig im Bereich des Verbotsirrtums angesiedelt waren. Eine Abkehr von dieser Schwerpunktsetzung ließ sich durch das Urteil des Bayerischen Obersten Landesgerichts von 1963 erkennen, in welchem bereits versucht wurde, den unmittelbaren Zusammenhang zwischen fremdkulturellen Wertvorstellungen und der Strafzumessung als solcher herzustellen. Ferner konnten die späteren Entscheidungen auch erste Belege dafür erbringen, dass sich die forensische Handhabung von fremdkulturellen Wertvorstellungen sowohl bei der Strafbarkeit als auch bei der Rechtsfolgenbestimmung teilweise konvergent entwickelt hat. Diesbezüglich hat die Rechtsprechung des BGH zur Vorsatzlösung einen wesentlichen Beitrag geleistet. Daneben konnten die Entscheidungen aber auch z. T. schwerwiegende Unsicherheiten der Gerichte im Umgang mit fremdkulturell geprägten Sachverhalten erkennen lassen. Das betrifft etwa die Erwartungen, die Gerichte an Ausländer in Hinblick auf ihre Normbefolgungskapazitäten gestellt haben. Das betrifft aber auch die pauschalen Verweise auf die Herkunft bestimmter Täter und die Bezugnahme auf damit zusammenhängende Klischees, wie etwa den temperamentvollen Sizilianer. Vor diesem Hintergrund hätte es den Entscheidungen gut getan, die dahinterstehenden Erwägungen sachlich und ggf. interdisziplinär abzustützen und entsprechend auszuformulieren. Als kaum brauchbar erwiesen sich daneben etwa solche Erwägungen einiger Gerichte, die auf die Gültigkeit der sittlichen und moralischen Wertmaßstäbe der Bundesrepublik – soweit solche überhaupt feststellbar erscheinen – auch für aus dem Ausland Gekommene hingewiesen haben. Ohne eine entsprechende sachliche und normative Anreicherung erscheinen derartige Erwägungen strafrechtlich irrelevant. Der nächste Abschnitt der Arbeit wird untersuchen, inwiefern sich die ausgemachten Tendenzen durch die vor allem strafrechtsreformatorischen Anstrengungen der Folgezeit weiter entwickelt haben.

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B. Entwicklungsgeschichtlicher Rückblick auf die Rechtsprechungsgenese bei Taten mit fremdkulturellem Bezug nach dem Inkrafttreten des § 13 StGB a. F. zum 1. Januar 1970 I. Vorbemerkungen Zu Beginn der 1970er Jahre lässt sich ein deutlicher Anstieg von Strafzumessungsentscheidungen mit fremdkulturellem Bezug beobachten. Das liegt zum einen an der Einführung des § 13 StGB a. F. (= § 46 StGB n. F.)77 als zentrale Strafzumessungsnorm und den damit verbundenen Änderungen hinsichtlich der Begründung von Strafurteilen.78 Zum anderen dürfte der zunehmende Prozess der Pluralisierung der Gesellschaft wesentlich zu dieser Entwicklung beigetragen haben.79 § 13 StGB a. F. gab dem Tatrichter erstmalig eine Norm zur Hand, mit deren Hilfe er eine Zielvorstellung für den Strafzumessungsvorgang bekommen sollte.80 Dabei wurde die Vorschrift in der Literatur eher negativ aufgenommen.81 Stratenwerth bezeichnete § 13 StGB a. F. bereits 1972 als eine „gesetzgeberische Fehlleistung von besonderem Rang.“82 Neben den ebenso knappen wie unbestimmten Grundaussagen,83 dass nunmehr die Schuld des Täters die Zumessungsbasis bilden soll und der Richter beim Strafzumessungsvorgang die zu erwartenden Wirkungen der Strafe für das künftige Leben des Täters zu berücksichtigen hat,84 sollte der neue Absatz 2 „generalklauselartig die generellen Zumessungsgesichtspunkte“ hervor­ heben.85 Sowohl die höchstrichterliche Rechtsprechung als auch die Strafrechtswis77  Durch Gesetz vom 25.  Juni 1969 eingeführt, zum 1.  April 1970 in Kraft getreten. In der Folge am 1.  Januar 1975 außer Kraft gesetzt und durch Gesetz vom 4.  Juli 1969 zum 1.  Januar 1975 als § 46 StGB eingeführt, welcher in dieser Form bis heute beinah unverändert Bestand hat. § 46 StGB wurde insoweit im Jahr 1987 durch einen Annex in Abs. 2 a. E. ergänzt. 78  Vgl. grundlegend etwa Zipf, in: JUS 1974, S. 137 ff. 79  Siehe dazu ausführlich oben, Teil 3, A. 80  Vgl. die Erläuterungen der BT-Drs. V/4094, S. 4, 5. 81  Vgl. etwa Zipf, in: Maurach/Gössel/Zipf, AT  2, § 62, Rn. 7. 82  Stratenwerth zitiert bei Zipf, in: Maurach/Gössel/Zipf, AT  2, ebenda; siehe auch NK-Streng, § 46, Rn. 19. 83  Für Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 525, stellt die Grundlagenformel einen „sehr vage gefaßten Verweis auf einen Schuldbegriff dar, dessen Gehalt und Konturen unklar und umstritten sind, und dessen Anwendung im konkreten Fall unvermeidlich die Individualität des Urteilenden widerspiegelt.“ 84  Vgl. BT-Drs. V/4094, S. 4. 85  Vgl. BT-Drs. V/4094, S. 5.



B. Rechtsprechungsgenese nach dem Inkrafttreten des § 13 StGB a. F.143

senschaft hatten diesen Schritt des Gesetzgebers entscheidend vorbereitet und sollten auch in der Folgezeit die Hauptlast der Konzipierung und Weiterentwicklung des Strafzumessungsrechts tragen.86 Der Bundesgerichtshof führte zu dieser neuen Grundorientierung des Strafzumessungsrechts in seiner Entscheidung BGHSt 24, 40 aus dem Jahr 197087 aus, dass für die Bemessung der Strafe damit eine „bedeutsame Schwerpunktverlagerung auf den spezialpräventiven Gesichtspunkt“ zu erkennen sei und dass dem „Grundsatz der Individualisierung“ der Strafe mehr Raum beigemessen werden müsse.88 Damit ebneten die Maßgaben der Strafrechtsreform den Weg für eine stärkere Fokussierung der Strafzumessung auf die Besonderheiten des Täters sowie die spezifischen Umstände, welche die Tat begleiten und zuweilen (mit-)bestimmen. Insofern begünstigte die Novelle des Strafgesetzbuches in der Folgezeit die Entwicklung neuer Strafzumessungsgesichtspunkte und ließ auch konsequenterweise eine steigende Zahl revisionsgerichtlicher Entscheidungen zur Strafzumessung erwarten.89 Diese Erwartungen sollten auch in Hinblick auf fremdkulturelle Fallkonstellationen nicht enttäuscht werden. Mösl beklagte sich noch 1981 darüber, dass es sich „noch nicht bei allen Tatgerichten herumgesprochen [habe], daß nach ständiger Rechtsprechung des BGH die Ausländereigenschaft eines Angekl. nicht strafschärfend berücksichtigt werden darf, weil dadurch gegen den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 I u. II GG verstoßen würde.“90 Die folgenden Abschnitte der Arbeit beschäftigen sich mit den seit der Strafrechtsreform entwickelten Rechtsprechungslinien im Kontext fremdkultureller Fallkonstellationen.

II. Entscheidungen zur Berücksichtigung der Ausländereigenschaft unter besonderer Berücksichtigung des Missbrauchs des Gastrechts Nach der großen Strafrechtsform lassen sich wieder vermehrt Entscheidungen bei Tatgerichten ausmachen, die in Hinblick auf eine Strafschärfung jedenfalls mittelbar an die Staatsangehörigkeit fremdkulturell geprägter Täter anzuknüpfen scheinen. Mit verschiedenen Argumentationen, wie etwa einer gesteigerten Pflicht von aus dem Ausland Gekommenen, die Gesetze des Gastlandes zu befolgen, wurde zwar nicht mehr ausdrücklich auf die Zipf, in: Maurach/Gössel/Zipf, AT  2, § 62, Rn. 8. BGHSt 24, 40 (42). 88  BGHSt 24, ebenda. 89  Vgl. bspw. Mösl, in: NStZ 1981, 131 ff., der diese Erwartung bestätigt, nämlich, „daß der BGH in zunehmendem Maße die Strafzumessung nachprüft.“ 90  Mösl, in: NStZ 1981, 131 ff. (133). 86  Vgl. 87  Vgl.

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Ausländereigenschaft sowie später auch auf den Status von Asylbewerbern abgehoben. Klärungsbedürftig ist jedoch, unter welchen Voraussetzungen Teile der Rechtsprechung den impliziten Verweis auf die Herkunft der Angeklagten mit dem nunmehr geltenden Recht vereinbaren wollten und wie sich diese Rechtsprechungslinie bis in die Gegenwart weiter entwickelt hat. Das scheint vor dem Hintergrund einer wenig durchsichtigen Interpretation dieser Rechtsprechungslinie in der Literatur auch notwendig.91 1. BGH, Beschluss vom 28.07.1972 1972 verwertete das LG Darmstadt in einem Verfahren gegen mehrere Angeklagte aus dem Nahen Osten wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz den Umstand strafschärfend, dass die Angeklagten das deutsche Gastrecht zur Begehung schwerwiegender Taten missbraucht hätten.92 Der BGH hob die Entscheidung auf und verwies sie zurück, da der Tatrichter mit den genannten Erwägungen der Ausländereigenschaft der Angeklagten eine straferhöhende Bedeutung beigemessen hatte.93 Mit Bezugnahme auf das bereits angesprochene Urteil des OLG Celle von 1953, stellte der BGH damit erneut klar, dass eine solche Würdigung der Sachlage gegen Art. 3 I, III GG verstoße. Er hielt damit auch nach der Einführung des § 13 StGB a. F. an dem vom OLG Celle aufgestellten Grundsatz fest, dass der Ausländereigenschaft keine strafschärfende Wirkung beigemessen werden darf, was in Anbetracht der unveränderten verfassungsrechtlichen Lage letztlich auch konsequent erscheint. 2. BGH, Urteil vom 24.01.1973 Unter ähnlichen Gesichtspunkten musste sich der BGH wenig später erneut mit der Problematik beschäftigen.94 Der Angeklagte hatte Haschisch illegal in die Bundesrepublik eingeführt und geplant, dieses später „in großem Stil“ in Verkehr zu bringen.95 Das Tatgericht rekurrierte auch in diesem Fall 91  Vgl. jüngst Hörnle, Kultur, Religion, Strafrecht – Neue Herausforderungen in einer pluralistischen Gesellschaft. Gutachten  C zum 70.  Deutschen Juristentag, C.  91 f.; Valerius, Kultur und Strafrecht, S. 288 ff., Erbil, Toleranz für Ehrenmörder?, S. 64 ff. 92  Vgl. BGH, in: MDR 1972, 922, mitgeteilt von Holtz; siehe auch BGH, Beschluss v. 28.07.1972  – 3 StR 330/72. 93  Vgl. BGH, in: MDR 1972, ebenda. 94  Vgl. BGH, in: MDR 1973, 369, mitgeteilt von Dallinger; BGH, Urteil v. 24.01.1973  – 2 StR 550/72. 95  Vgl. BGH, Urteil v. 24.01.1973  – 2 StR 550/72 auf https://www.jurion.de/ Urteile/BGH/1973-01-24/2-StR-550_72 (18.12.2014).



B. Rechtsprechungsgenese nach dem Inkrafttreten des § 13 StGB a. F.145

strafschärfend auf den Missbrauch des Gastrechts („Gastfreund­ schaft“).96 Diesbezüglich stellte der BGH fest: „Die bloße Tatsache, daß eine Straftat von einem Ausländer begangen worden ist, darf nicht unter dem Gesichtspunkt des ‚Mißbrauchs der Gastfreundschaft‘ strafschärfend gewertet werden. Auf diese Weise könnte gegen jeden ausländischen Straftäter, der sich legal in der Bundesrepublik aufhält, eine höhere Strafe verhängt werden als gegen einen deutschen Straftäter.“97 Damit verzichtete der 2. Senat des Bundesgerichtshofs in dieser Entscheidung auf einen expliziten Rekurs zu Art. 3 I, III GG und eröffnet für künftige Entscheidungen einen wohl überwiegend als generalpräventiv zu verstehenden Zugang zur Behandlung der Thematik, für den Fall, dass sich der Angeklagte illegal in Deutschland aufhält, wenn er darlegt: „Zulässig wäre andererseits, einen straferschwerenden Umstand darin zu sehen, daß der Ausländer illegal in das Gebiet der Bundesrepublik eingereist ist, um hier Straftaten zu begehen.“98 Diese Erwägung des BGH ist in mehrerlei Hinsicht problematisch. Das gilt zunächst für die mit der Entscheidung verbundene Aufweichung des Grundsatzes, dass bestimmte strafschärfende Erwägungen, die an die Ausländereigenschaft anknüpfen, unzulässig sein sollen. Diese Kursänderung hätte sich nur dann sachlich begründen lassen, wenn der BGH in der jeweiligen Erwägung einen gewissen Bezug zur Schuld des Täters oder dem begangenen Unrecht gefordert hätte. Das wäre jedenfalls für bestimmte Taten, die in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Einreise in die BRD stehen, nicht von vornherein auszuschließen gewesen.99 Dabei wäre etwa an das gewerbsmäßige Einführen von Drogen oder Waffen zu denken. Daneben hätte sich die schon vor der Einreise gefasste Intention, in Deutschland Straftaten zu begehen, als tauglicher Anknüpfungspunkt angeboten.100 Das hätte auch nicht im Widerspruch zu der Erwägung gestanden, dass es für Ausländer im Gegensatz zu Inländern keine gesteigerte Pflicht zu straffreiem Verhalten gibt.101 Diese Möglichkeiten der Absicherung seiner Rechtsprechung hat der BGH jedoch nicht genutzt. Abseits dessen ist die Entscheidung auch vor dem Hintergrund problematisch, dass die Generalprävention im Gegensatz zur Spezialprävention kei96  Vgl. BGH, Urteil v. 24.01.1973  – 2 StR 550/72 auf https://www.jurion.de/ Urteile/BGH/1973-01-24/2-StR-550_72 (18.12.2014). 97  BGH, in: MDR 1973, 369, mitgeteilt von Dallinger. 98  BGH, in: MDR 1973, ebenda. 99  So auch Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 732. 100  So etwa später bei Hörnle, Kultur, Religion, Strafrecht – Neue Herausforderungen in einer pluralistischen Gesellschaft. Gutachten  C zum 70.  Deutschen Juristentag, C. 92. 101  Vgl. Valerius, Kultur und Strafrecht, S. 289 f.

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nen ausdrücklichen gesetzlichen Niederschlag durch das 1. StrRG gefunden hat.102 Entgegen der seit BGHSt 21, 40 vertretenen spezialpräventiven Grundausrichtung der Strafzumessung, eröffnete der BGH damit wieder die Möglichkeit, den generalpräventiven Gesichtspunkten in diesem Kontext mehr Gewicht beizumessen. Diese Rechtsprechungsakzentuierung hat sich in der Folge u. a. darin geäußert, dass einige Tatgerichte auf bestimmte kriminologische Erscheinung hingewiesen haben, um generalpräventive Erwägungen abzustützen.103 Inwiefern der Tatrichter aber an diese „kriminologischen Kenntnisse“, auch in Ermangelung einer kriminologischen Ausbildung sowie tauglichem statistischen Material, gelangt sein mag, untersuchte der BGH in diesen Fällen allerdings nicht näher. Das hätte jedenfalls besorgen lassen müssen, dass hier dem Justizalltag entspringende, nicht empirisch fundierte Theorien Berücksichtigung unter dem Deckmantel eines generalpräventiven Strafzwecks finden könnten.104 In gewisser Weise lässt sich das Urteil des BGH nach alledem als eine teilweise Neuausrichtung der Rechtsprechung im Umgang mit ausländischen Tätern bei der Strafzumessung verstehen. 3. BGH, Urteil vom 12.05.1976 Dass der 2. Senat jedoch weiterhin unmittelbaren Differenzierungserwägungen bei Taten von Ausländern in Hinblick auf Art. 3 I, III GG eine Absage erteilte, zeigt jedenfalls implizit seine Entscheidung vom 12.05.1976.105 Der BGH hob den Strafausspruch wegen Verstoßes gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz auf, weil das Landgericht die Angeklagten wegen „vorsätzlicher Zuwiderhandlung gegen das Opiumgesetz in Tateinheit mit Steuerhehlerei“ verurteilt hatte und dabei straferschwerend wertete, dass die Angeklagten als Ausländer das deutsche Gastrecht zur Begehung schwerwiegender Taten missbraucht hätten.106 Daraufhin wurde die Sache an das LG zurückverwiesen. Die Strafkammer führte in der neuen Entscheidung aus, dass die Angeklagten „dem Ausländergesetz unterliegend, bewußt das ihnen bekannte Risiko der Ausweisung und damit den Verlust einer gesicherten Existenz zum eigenen Nachteil und 102  Vgl. BGHSt 24, 40 (42); so auch bei Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 3. 103  Vgl. BGH, in: MDR 1973, 728, mitgeteilt von Dallinger, m. w. N.; BGH, Urteil v. 15.05.1973  – 1 StR 110/73. 104  Vgl. zu den kriminologischen Alltagstheorien auch in Teil 3, A. und B. 105  BGH, in: MDR 1976, 812, mitgeteilt von Holtz; BGH, Urteil v. 12.05.1976 – 2 StR 793/75. 106  Vgl. BGH, in: MDR 1976, ebenda.



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zum Nachteil ihrer Familien eingegangen seien. (Jeder von ihnen hatte mindestens 4 Kinder.)“107 Der 2. Senat merkte hierzu an: „Die Strafkammer hat nicht mehr der Ausländereigenschaft der A eine straferhöhende Bedeutung beigemessen, sondern hat zu Recht einen erschwerenden Umstand in der Stärke des von ihnen bei der Tat aufgewendeten Willens gesehen (§ 46 Abs. 2 StGB). Die A haben die Taten trotz jenes ihnen bewußten Risikos begangen. Daß dieses Risiko nicht bei einem A deutscher Staatsangehörigkeit besteht, rechtfertigt nicht den Schluß, das Landgericht habe wiederum den Gleichheitsgrundsatz108 verletzt. Denn auch sonst können Umstände, die nur bei Angehörigen einer bestimmten Gruppe vorliegen, straferschwerend berücksichtigt werden, wenn ihnen für die Bemessung der Strafhöhe wirklich Bedeutung zukommt. Davon abgesehen, könnte die Tatsache, daß der Täter die Gefährdung des Unterhalts für seine große Familie durch das Begehen von Straftaten und deren Folgen in Kauf genommen hat, auch bei einem deutschen A straferschwerend gewertet werden […].“109 Ob nun die Erwägung des Bundesgerichtshofs, dass das Risiko der Ausweisung des Angeklagten zu Lasten der Familie strafschärfend in Rechnung gebracht werden könne, noch in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Problematik des Missbrauchs des Gastrechts steht, mag hinreichend zu bezweifeln sein.110 Auffällig wirkt jedenfalls, dass der BGH den Tatgerichten seit seinem Kurswechsel verschiedene Möglichkeiten zur Berücksichtigung solcher Umstände vorgeschlagen hat, die vorwiegend in Konstellationen mit ausländischen Tätern anzutreffen sind. Immerhin vermag der Rekurs auf den Strafzumessungsumstand des § 46 II StGB, soweit das Tatgericht durch seine Feststellungen das erhöhte Maß des für die Tat aufgewendeten Willens erkennen kann, insoweit zu überzeugen, dass damit auf einen ausdrücklich vom Gesetz benannten, schuldgewichtigen Umstand abgehoben wurde. 4. BGH, Beschluss vom 30.06.1976 Auch der 3. Senat des Bundesgerichtshofs schloss sich zunächst der Position des 2. Senats in einem ähnlich gelagerten Fall an, bei dem es zu besorgen galt, dass das LG den Angeklagten unter Verstoß gegen den Gleichheitssatz aus Art. 3 GG deswegen benachteiligte, weil er Ausländer war.111 Vergleichbar mit den Fällen, in denen auf einen Missbrauch des BGH, in: MDR 1976, 812, mitgeteilt von Holtz. Hervorhebung hier durch den Autor. 109  BGH, in: MDR 1976, ebenda. 110  Dafür spricht sich jedenfalls Valerius, Kultur und Strafrecht, S. 290, aus. 111  Vgl. BGH, in: MDR 1976, 986, mitgeteilt von Holtz. 107  Vgl.

108  Kursive

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Gastrechts abgestellt wurde, hatte das LG Wuppertal strafschärfend gewertet, dass „die A ‚die Vorurteilslosigkeit der Familie X gegenüber Ausländern und deren Vertrauen ausgenutzt haben, um die Tat zu begehen‘. Diese Formulierung könne besagen, so meint der BGH, daß Ausländer, denen ausnahmsweise von der Bevölkerung Vertrauen entgegengebracht wird, sich dieses Vertrauens in besonderem Maße würdig zu erweisen hätten. Da in einer solchen Erwägung ein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz läge, wonach niemand wegen seiner Heimat oder Herkunft benachteiligt werden darf, hob der BGH den Strafausspruch auf.“112 In dieser Konstellation gilt analog zum Gesichtspunkt des Missbrauchs des Gastrechts, dass sich ein Ausländer nicht in besonderem Maße gegenüber Inländern für entgegengebrachtes Vertrauen in irgendeiner Weise würdig zu erweisen habe. Insofern existiert auch in diesem Kontext keine gesteigerte Pflicht eines Ausländers gegenüber einem Inländer.113 Weshalb der Bundesgerichtshof allerdings seinerzeit formulierte, dass Ausländern nur „ausnahmsweise“ von der Bevölkerung Vertrauen entgegengebracht würde, mag so manchen Rückschluss über die tatsächliche Übung eines Gleichbehandlungsgebotes erlauben. 5. BGH, Beschluss vom 13.11.1991 Während die Thematik in den 1980er Jahren praktisch keinen neuen Impulsen ausgesetzt war,114 änderte sich dieser Zustand zu Beginn der 1990er Jahre mit einer Reihe von Entscheidungen, die zur Entwicklung unterschiedlicher Rechtsprechungslinien im hier relevanten Kontext führen sollten. Das LG Krefeld verurteilte 1991 einen Ausländer wegen versuchter Vergewaltigung in Tateinheit mit Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren.115 Der BGH hob den Strafausspruch auf, weil das LG dem Angeklagten straferschwerend zulasten legte, dass er „die Tat in einem Gastland begangen [habe], welches ihm angesichts gewisser Schwierigkeiten in seinem Heimatland Zuflucht gewährt hatte.“116 In der Begründung bemühte auch der 3. Senat wieder Art. 3 III GG und bemerkte ferner, dass bei solchen Formulierungen, mit denen ohne weitere Substanz auf einen Missbrauch des Gastrechts abgehoben wird, nicht ausgeschlossen werden 112  BGH,

in: MDR 1976, ebenda. Valerius, Kultur und Strafrecht, S. 290. 114  Vgl. nur Mösl, in: NStZ 1981, 131 ff. (133) m. w. N., insbes. dort Fn. 19. 115  Vgl. BGH, Beschluss v. 13.11.1991  – 3 StR 384/91, UA.  1. 116  Vgl. BGH, Beschluss v. 13.11.1991  – 3 StR 384/91, UA.  2. 113  I. d. S.  auch



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könne, dass „sie sich in einer unzulässigen strafschärfenden Würdigung der Ausländereigenschaft erschöpfen […].“117 Damit zeigt der Wortlaut der Entscheidung, dass der 3. Senat einer Erwägung, die mit Substanz auf einen Missbrauch des Gastrechts abhebt, keine generelle Absage mehr erteilt. Dabei erläutert der 3. Senat in seiner Entscheidung jedoch nicht näher, was er damit meint, wenn „mit Substanz auf einen Missbrauch des Gastrechts“ abgehoben werden soll. Allerdings kann davon ausgegangen werden, dass die jeweilige Erwägung in Zusammenhang mit dem Missbrauch des Gastrechts bzw. der Ausländereigenschaft dann entweder einen Schuld- oder Präventionsbezug aufweisen muss. 6. BGH, Beschluss vom 16.03.1993 Dieser Position schloss sich auch der 4. Senat beim BGH an und ging in Hinblick auf die Begründung seiner Erwägungen noch einen Schritt weiter als der 3. Senat.118 Vorangegangen war die Verurteilung eines Asylbewerbers durch das LG Münster119 im Jahr 1992 wegen Bandendiebstahls in sieben Fällen und wegen versuchten Bandendiebstahls zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und acht Monaten.120 Im Rahmen der Strafzumessung führte das LG aus, dass der Angeklagte und seine Mittäter „das Gastrecht der Bundesrepublik Deutschland, das diese ihnen als Asylbewerbern gewährte, mißbrauchten, indem sie hier schwere gegen das Vermögen gerichtete Straftaten begingen, während sie gleichzeitig erhebliche tatsächliche und finanzielle Unterstützung durch ihr Gastland erhielten.“121 Zwar monierte auch der 4. Senat zunächst, dass das Abheben auf den Missbrauch des Gastrechts eine Berücksichtigung der Ausländereigenschaft zum Nachteil des Angeklagten besorgen ließe, jedoch folge dies nicht aus Art. 3 III GG, „dessen absolutes Gleichbehandlungsgebot für das Verhältnis von Ausländern und Deutschen nicht gilt (BVerfGE 51, 1, 30; Dürig in Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 3 Abs. 3 Rdn. 80). Die Staatsangehörigkeit des Täters ist aber grundsätzlich für die Bewertung seiner Schuld,122 die Grundlage für die Strafzumessung ist (§ 46 Abs. 1 S. 1 StGB), ohne Bedeutung.“123 Das zeigt schon die Abhängigkeit 117  BGH,

Beschluss v. 13.11.1991  – 3 StR 384/91, UA.  3. BGH, Beschluss v. 16.03.1993 – 4 Str 602/92, abgedruckt in NStZ 1993, 337 f.; siehe auch BGHRSt, § 46 Abs. 2, Lebensumstände 13, Asylbewerber. 119  Vgl. LG Münster, Urteil v. 15.05.1992  – 7 KLs 35 Js 285/91. 120  Vgl. BGH, Beschluss v. 16.03.1993  – 4 StR 602/92, UA.  1. 121  Vgl. BGHRSt, ebenda; BGH, Beschluss v. 16.03.1993 – 4 StR 602/92, UA. 2. 122  Kursive Hervorhebung durch den Autor. 123  BGH, Beschluss v. 16.03.1993  – 4 StR 602/92, UA.  4. 118  Vgl.

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der Staatsangehörigkeit vom Verwaltungsrecht.124 Diese Klarstellung im Beschluss des Bundesgerichtshofs bringt damit erstmals die ständige Rechtsprechung zur Untauglichkeit einer strafzumessungsrechtlichen Berücksichtigung der Ausländereigenschaft in Einklang mit der 1970 durch die Strafrechtsnovellierung auf den Weg gebrachten Neuorientierung der Strafzumessung an der Schuld des Täters als grundlegendes Bemessungskriterium. Nach Ansicht des 4. Senats kann demnach der Missbrauch des Gastrechts vor dem Hintergrund der nunmehr allgemeinen Regeln strafzumessungsrechtliche Relevanz entfalten, wenn dadurch die Schuldwertung beeinflusst wird. Daran ändert auch der in § 46 II StGB normierte Verweis auf das Maß der Pflichtwidrigkeit nichts. Einem solchen Vorstoß erteilte der Bundesgerichtshof in diesem Beschluss eine Absage, denn die Ausländereigenschaft als solche beeinflusst nicht das Maß der Pflichtwidrigkeit in Ansehung der Ermangelung einer gesteigerten Pflicht des Ausländers gegenüber Einheimischen, sich straffrei im Gastland zu verhalten.125 Weshalb die präventiven Bedürfnisse der Strafzumessung dabei keine Rollen spielen sollen, bleibt nach dieser Entscheidung allerdings im Dunkeln. Im Weiteren bezieht der BGH zu der 1991 noch impliziten Formulierung des 3. Senats126 nunmehr explizit Stellung, was eine etwaige Strafschärfung unter dem Aspekt des Missbrauchs des Gastrechts anlangt – unter welchen Umständen also in zulässiger Weise „mit Substanz“ auf den Missbrauch des Gastrechts abgehoben werden dürfe: „Danach ist die strafschärfende Berücksichtigung eines ‚Mißbrauchs des Gastrechts‘ allerdings nicht für alle Fallgestaltungen ausgeschlossen. Wird mit dieser Wendung ein Sachverhalt beschrieben, bei dem die Tat durch die Ausländereigenschaft des Täters oder seine Stellung als Asylbewerber in einer für die Schuldgewichtung127 erheblichen Weise geprägt wird, so ist sie rechtlich nicht zu beanstanden.“128 Dies soll nach Auffassung des 4. Senats etwa dann der Fall sein, wenn der ausländische Täter in der Absicht einreist, hier Straftaten i. R.v. Nationalitätenkonflikten zu begehen oder wenn er in strafbarer Weise besondere Vorteile missbraucht oder erschleicht, die ihm gerade aufgrund seiner Ausländereigenschaft oder seines Status‘ als Asylbewerber gewährt werden; ferner dann, wenn die Straftat in unmittelbarem Zusammenhang mit der Inanspruchnahme des Gastrechts stehe oder wenn sie sich gegen die Bundesrepublik Deutschland oder ihre Sicherheit rich124  Vgl. Hörnle, Kultur, Religion, Strafrecht – Neue Herausforderungen in einer pluralistischen Gesellschaft. Gutachten  C zum 70.  Deutschen Juristentag, C.  92. 125  BGH, Beschluss v. 16.03.1993  – 4 StR 602/92, ebenda. 126  Siehe dazu oben B., II., 5.; vgl. auch 3 StR 384/91. 127  Kursive Hervorhebungen in diesem Zitat durch den Autor. 128  BGH, Beschluss v. 16.03.1993  – 4 StR 602/92, UA.  5.



B. Rechtsprechungsgenese nach dem Inkrafttreten des § 13 StGB a. F.151

te.129 Um eine solche Fallkonstellation handelte es sich im vorliegenden Fall jedoch nicht.130 Problematisch erscheint allerdings, dass den vom 4. Senat formulierten Kriterien in dieser Frage eine gewisse Beliebigkeit anhaftet und der Anwendungsbereich der Fallgruppen kaum konkret umrissen wird. Dabei ist zunächst nicht klar ersichtlich, ob nun die Ausländereigenschaft gleichsam durch die Hintertür das eigentliche Strafschärfungskriterium bzw. der Anknüpfungspunkt für eine letztlich darauf abzielende Erwägung darstellen soll oder ob es im Speziellen um den Missbrauch eines etwaigen Gastrechtes gehe oder ob vielmehr implizit generalpräventive Aspekte eine solche Strafzumessungserwägung tragen sollen. Letzteres kommt entgegen der schuldbezogenen Formulierung im Beschluss gerade deshalb in Betracht, weil alle Konstellationen in gewisser Weise auf die Abschreckung bestimmter Tätergruppen abzielen. Daneben wurde der Grundsatz, dass die Ausländereigenschaft per se nicht strafschärfend herangezogen werden dürfe, durch den Beschluss des 4. Senats insofern weiter aufgeweicht, als dass es den Anschein erweckt, tatgerichtliche Erwägungen müssten lediglich einen schuldgewichtigen Bezug der Ausländereigenschaft zur Tat herausstellen. Das hat letztlich zur Folge, dass die Ausländereigenschaft mit einer gewissen Beliebigkeit dann zum Strafschärfungskriterium erhoben werden kann, wenn der Tatrichter die entsprechenden Formulierungen wählt. Das ist insbes. deshalb misslich, weil das Erfordernis des Schuldbezugs, in der vom 4. Senat geforderten Form, wenig aussagekräftig ist. Inwieweit die Strafzumessung hinsichtlich der Problematik beliebig wirkender Formulierungen in den Urteilsgründen generell anfällig ist, muss hier nicht näher untersucht werden. Soweit der 4. Senat auf die Irrelevanz der Ausländereigenschaft bzw. Asylbewerberstellung für die Strafzumessungsschuld im konkreten Fall abstellt, ist seine Auffassung nicht zu beanstanden, sondern vielmehr als richtig einzuordnen, da hinsichtlich der begangenen Taten ein schuldgewichtiger Bezug zur Ausländer- bzw. Asylbewerberstellung nicht ersichtlich ist.131 Die Strafkammer hatte den Missbrauch des Gastrechts darin sehen wollen, dass der Angeklagte Diebstahltaten begangen hatte, obwohl er infolge seines Asylantrages ein Aufenthaltsrecht hatte und somit auch sozial abgesichert war.132 Die Strafkammer stellte also strafschärfend heraus, dass ein sozial abgesicherter Täter ein Vermögensdelikt beging. Der BGH monierte insoweit zu Recht, dass dies im Zweifel dazu führen könnte, dass 129  Vgl.

BGH, BGH, 131  Vgl. BGH, 132  Vgl. BGH, 130  Vgl.

Beschluss Beschluss Beschluss Beschluss

v. v. v. v.

16.03.1993  – 16.03.1993  – 16.03.1993  – 16.03.1993  –

4 4 4 4

StR StR StR StR

602/92, 602/92, 602/92, 602/92,

ebenda. UA.  6. ebenda. ebenda.

152

Teil 4: Rechtsprechung bei Taten mit fremdkulturellen Wertvorstellungen

Empfänger von Sozialleistungen aufgrund ihres Status generell höher bestraft werden müssten, würde man eine solche Erwägung als statthaft erachten.133 Daneben befasste sich der BGH in diesem Beschluss noch mit einer in diesem Kontext stehenden Ausführung des LG Münster, welches dem Angeklagten einen Beitrag zur Diskreditierung der Asylbewerber in Deutschland anlastete.134 Konsequenterweise erteilte der BGH diesen Erwägungen hier eine Absage, da die vom LG angelasteten Diskreditierungsfolgen weder das Gewicht der Tat beeinflussten noch Rückschlüsse auf eine Schuldbewertung zugelassen hätten.135 In der Gesamtschau stellt der Beschluss des 4. Senats eine wichtige Entscheidung für die Rechtsprechungslinie dar, die sich mit der strafschärfenden Berücksichtigung der Ausländereigenschaft befasst. Das gilt zum einen, weil er das vorläufige Ende der Entwicklung dieser Rechtsprechungslinie markiert. Zum anderen liefert die Entscheidung erstmals grobe Kriterien dafür, wann ein Tatgericht in zulässiger Art und Weise auf bestimmte Aspekte von Ausländer- oder Asylbewerberstatus zurückgreifen darf. Allerdings liegt in diesen Kriterien auch eines der wesentlichen Probleme der Entscheidung. Der 4. Senat unterlässt eine deutliche Konturierung der Anwendungsbereiche der Fallgruppen und vermag nicht hinreichend klar zu formulieren, ob die Ausländereigenschaft nun mittelbarer oder in gewissen Konstellationen sogar unmittelbarer Anknüpfungspunkt für Strafzumessungserwägungen sein soll. Das gilt insbes. für die Konstellationen, in denen die Straftat in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Inanspruchnahme des „Gastrechts“ steht sowie für die Konstellationen, in denen der ausländische Täter besondere Leistungen erschleicht. Je nach Sachlage könnten diese Fallgruppen besorgen lassen, dass hier doch unmittelbar an die Ausländereigenschaft angeknüpft werden könnte, weil de facto kein anderer zweckmäßiger Anknüpfungspunkt abseits dessen ersichtlich ist. Darüber hinaus lassen sich gerade diese Fallgruppen kaum mit Erwägungen aus dem Bereich der Strafzumessungsschuld substantiieren. Vielmehr ist zuvörderst an generalpräventive Erwägungen zu denken, die der 4. Senat originär gerade nicht angedacht hatte.

133  BGH, Beschluss v. 16.03.1993  – 4 StR 602/92, ebenda; im Übrigen erinnert diese Problematik auch an die Rechtsprechung zur Strafschärfung für die Fälle, in denen der Täter kein „nachvollziehbares“ wirtschaftliches Motiv für die Begehung einer vermögensrechtlichen Straftat hat, vgl. dazu ausführlich Niemöller, in: GA 2012, 337 ff. (338). 134  BGH, Beschluss v. 16.03.1993  – 4 StR 602/92, UA.  7 ff. 135  BGH, Beschluss v. 16.03.1993  – 4 StR 602/92, UA.  9.



B. Rechtsprechungsgenese nach dem Inkrafttreten des § 13 StGB a. F.153

7. BGH, Beschluss vom 17.01.2006 Nachdem sich für einen längeren Zeitraum keine Entscheidungen mehr zur Sache ausmachen lassen, hatte sich der 4. Senat Anfang 2006 wieder mit einer tatrichterlichen Erwägung zu befassen, bei der auf die Ausländereigenschaft abgehoben wurde.136 Damit bot sich für den 4. Senat beim BGH zwar die Gelegenheit, den Anwendungsbereich der zuvor entwickelten Fallkonstellationen zu konkretisieren. Diese Möglichkeit blieb jedoch ungenutzt. Das LG Bielefeld hatte den Angeklagten wegen schweren Bandendiebstahls, versuchten schweren Bandendiebstahls in zwei Fällen sowie weiteren Taten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und drei Monaten verurteilt.137 Dabei hatte es bei der Bemessung der Strafe die Erwägung angestellt, „der Angeklagte habe das ihm von der Nachbarschaft im Rahmen der erwünschten Integration von ausländischen Mitbürgern entgegengebrachte Vertrauen in gröbster Weise missbraucht‘ (UA 59).“138 Der 4. Senat war der Ansicht, diese Erwägung könne besorgen lassen, dass das Landgericht zum Nachteil des Angeklagten in unzulässiger Weise berücksichtigt hat, dass er Ausländer sei und verwies dazu auf seine Entscheidung vom 16.03.1993.139 Insoweit bringt diese Entscheidung zunächst keine Neuerung. Sie kann aber als Versuch des Landgerichts betrachtet werden, die vier vom BGH aufgestellten Fallgruppen einer zulässigen Strafschärfung im Zusammenhang mit dem Ausländer- bzw. Asylantenstatus um eine weitere Konstellation zu erweitern bzw. den Anwendungsbereich der Fallkonstellationen zu konkretisieren. Dem erteilte der 4. Senat allerdings eine deutliche Absage. Gleichwohl lässt sich erkennen, dass er an seiner bisherigen Rechtsprechung festhält, nach der die Ausländereigenschaft nur i. R. d. von ihm aufgestellten Fallgruppen einen tauglichen Strafschärfungsumstand darstellt. Das ergibt sich schon aus der Betonung des 4. Senats, dass das LG Bielefeld in unzulässiger Weise berücksichtigt haben soll, der Angeklagte sei Ausländer. Insofern setzt die Möglichkeit einer unzulässigen Berücksichtigung im Umkehrschluss auch die Möglichkeit einer zulässigen Berücksichtigung voraus. Dies wird auch durch den Verweis auf seinen Beschluss vom 16.03.1993 deutlich.140 Die vom LG Bielefeld angestellten Erwägungen, welche auf den Missbrauch 136  Vgl. BGH, Beschluss v. 17.01.2006  – 4 StR 423/05; BGH, in: NStZ 2006, 137 (nur Leitsätze der Redaktion). 137  Vgl. LG Bielefeld, Urteil v. 04.03.2005  – 2 KLs 46 Js 304/04; siehe auch BGH, Beschluss v. 17.01.2006  – 4  StR 423/05, UA.  1. 138  BGH, Beschluss v. 17.01.2006  – 4 StR 423/05, UA.  5. 139  BGH, Beschluss v. 17.01.2006  – 4 StR 423/05, ebenda. 140  Vgl. BGH, Beschluss v. 17.01.2006  – 4 StR 423/05, ebenda.

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Teil 4: Rechtsprechung bei Taten mit fremdkulturellen Wertvorstellungen

von entgegengebrachtem Vertrauen abstellen, fügen sich nach Ansicht des 4. Senats folglich nicht in die von ihm anerkannten Fallgruppen ein. Im Übrigen führte die Erwägung des LG Bielefeld aber nicht zur Aufhebung des Urteils, weil der BGH feststellte, dass diese bei der Bemessung der Strafe eine ersichtlich untergeordnete Rolle gespielt hat.141 8. Zwischenergebnis und Tendenz Die angeführten Entscheidungen konnten zeigen, dass im Verlauf der vergangenen Dekaden die Ausländereigenschaft, insbesondere unter dem Gesichtspunkt des Missbrauchs des Gastrechts, von einigem Interesse für tatrichterliche Erwägungen bei der Strafzumessung war. Nach den tendenziell ablehnenden Entscheidungen seit Beginn des Aufkommens dieses Strafzumessungsgesichtspunktes, ließ sich nach konkretisierenden Entscheidungen des 2., 3. und 4. Senats beim BGH schließlich zu Beginn der 1990er Jahre festhalten, dass die praktisch ausschließlich strafschärfende Heranziehung dieses Zumessungsgesichtspunktes nach alledem nicht für alle Fallgestaltungen ausgeschlossen sein sollte. Bis dato lassen sich demnach vier – nicht zwingend als abschließend zu erachtende –142 Fallgestaltungen anführen, bei denen der Tatrichter auf den Missbrauch des Gastrechts durch einen Ausländer oder Asylbewerber abheben darf und für die der BGH einen, die Schuldgewichtung prägenden Bezug zur Ausländereigenschaft bzw. dem Asylbewerberstatus erkannt hat:143 a) Wenn der ausländische Täter in der Absicht in die Bundesrepublik einreist und Asyl beantragt, um hier Straftaten – etwa im Rahmen der organisierten Kriminalität oder auch im Zusammenhang mit Nationalitätenkonflikten – zu begehen. b) Wenn der ausländische Täter in strafbarer Weise besondere Vorteile missbraucht oder erschleicht, die ihm gerade mit Rücksicht auf seine Ausländereigenschaft oder Eigenschaft als Asylbewerber gewährt werden. 141  Vgl.

BGH, Beschluss v. 17.01.2006  – 4 StR 423/05, ebenda. muss sich schon daraus ergeben, dass sich der BGH nicht allen etwaigen, die Schuldschwere und die Prävention beeinflussenden Umständen im Zshg. mit dem Missbrauch des Gastrechts gegenwärtig sein konnte. Insofern könnten aktuelle Entwicklungen, wie etwa die Rückkehr von IS- bzw. ISIS-Terroristen, neue Impulse in dieser Sache setzen. Im Übrigen ist die gewählte Art der Formulierung auch exemplarisch gehalten. Bei Joerden/Weinreich, in: Wolf (Hrsg.), Kriminalität im ­ Grenzgebiet, S. 1 ff. (5), wird zwar auch auf die exemplarische Aufzählung hingewiesen. Weshalb jedoch in der Folge nicht der Schluss gezogen, dass die Fallgruppen schon deshalb nicht abschließend sein können, leuchtet insofern nicht ein. 143  Vgl. BGH, Beschluss v. 16.03.1993  – 4 StR 602/92, UA.  5. 142  Das



B. Rechtsprechungsgenese nach dem Inkrafttreten des § 13 StGB a. F.155

c) Wenn die Straftat in unmittelbarem Zusammenhang mit der Inanspruchnahme des Gastrechts steht; als Beispiel führt der BGH die mittelbare Falschbeurkundung, § 271 StGB an. d) Und schließlich auch dann, wenn sich die Straftat gegen die Bundesrepublik Deutschland oder ihre Sicherheit richtet.144 Undeutlich bleibt jedoch, welche konkrete Rolle die Ausländereigenschaft bzw. der Asylbewerberstatus in einer solchen Strafzumessungserwägung spielen soll. Allein der Verweis auf das Erfordernis eines schuldgewichtigen Bezugs kann diesem Grundproblem nicht abhelfen. Neben den damit aufgeworfenen Sachfragen ist mit der expliziten Bezugnahme auf den Ausländerbegriff schließlich auch eine gewisse Signalwirkung verbunden. In Hinblick auf die Rezeption der Entscheidungen dieser Rechtsprechungslinie herrscht in der Literatur wohl die Ansicht vor, dass die Ausländereigenschaft in diesem Kontext dem Grunde nach keine Rolle spiele kann, weil auch die Fallgruppen letztlich an Handlungsmodalitäten anknüpfen, die vom Status der Person unabhängig sind.145 Eine andere Ansicht geht davon aus, dass sich die Ausländereigenschaft jedenfalls mittelbar strafschärfend auswirkt.146 Die Position des BGH liegt dabei wohl eher bei der letztgenannten Auffassung. Gegenteiliges lässt sich in Anbetracht der ausdrücklichen Bezugnahme auf den Ausländer- bzw. Asylbewerberstatus kaum plausibel erklären. In diesem Zusammenhang von einer mittelbaren Auswirkung auszugehen, liegt auch insofern nahe, als dass der BGH die statusbezogene Erwägung nicht isoliert, sondern im Kontext eines die Schuldgewichtung prägenden Tatbezugs ausformuliert hat:147 In concreto heißt es in der Entscheidung aus dem Jahr 1993: „[…] die strafschärfende Berücksichtigung eines ‚Mißbrauchs des Gastrechts‘ [ist] allerdings nicht für alle Fallgestaltungen ausgeschlossen. Wird mit dieser Wendung ein 144  Vgl. dazu insgesamt BGH, Beschluss v. 16.03.1993  – 4 StR 602/92, UA.  5; BGH, in: NStZ 1993, 337; BGHRSt § 46 Abs. 2, Lebensumstände 13. Gerade vor dem Hintergrund, dass sog. IS- bzw. ISIS-Kämpfer seit 2014 wieder vermehrt nach Europa zurückkehren, erscheinen neue Entscheidungen zu dieser o. ä. Fallgruppe nicht abwegig. 145  Vgl. Hörnle, Kultur, Religion, Strafrecht – Neue Herausforderungen in einer pluralistischen Gesellschaft. Gutachten  C zum 70.  Deutschen Juristentag, C.  91 f.; Joerden/Weinreich, in: Wolf (Hrsg.), Kriminalität im Grenzgebiet, S. 1 ff. (4 ff.). 146  Vgl. Valerius, Kultur und Strafrecht, S. 290 m. w. N. 147  An der Aktualität dieser Rechtsprechung in Hinblick auf den Diskurs in der Literatur hat sich auch bis dato nichts geändert, vgl. bspw. die Kurzübersicht bei Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 629; Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 732; NK-Streng, § 46, Rn. 151; LK-Theune, § 46, Rn.  188 f.; OLG Düsseldorf, in: StV 1995, 526 f.; BGH, in: NStZ 1993, 337; BGHRSt § 46 Abs. 2, Ausländer 4, Rn. 12; in diese Richtung weisend bereits Mösl, in: NStZ 1982, 148 ff. (150).

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Sachverhalt beschrieben, bei dem die Tat durch die Ausländereigenschaft des Täters oder seine Stellung als Asylbewerber in einer für die Schuldgewichtung erheblichen Weise geprägt wird, so ist sie rechtlich nicht zu beanstanden.“148 Fraglich bleibt dabei freilich, wie die Tat konkret durch die Ausländereigenschaft in einer für die Schuldgewichtung erheblichen Art und Weise geprägt werden soll. Auf die Probleme der Konkretisierung des jeweiligen Anwendungsbereiches der Fallgruppen sowie das Problem des generalpräventiven Impetus‘ der Fallkonstellationen wurde bereits i. R. d. Entscheidungsbesprechungen hingewiesen. Die Problemlagen innerhalb dieser Rechtsprechungslinie wären in gewissem Maße zu entschärfen gewesen, wenn der BGH die jeweiligen relevanten Umstände der entsprechenden Fallkonstellationen näher ausgearbeitet hätte. Welche Strafzumessungsrealien dabei regelmäßig in Betracht zu ziehen sein sollen, wäre ebenfalls sachdienlich gewesen. In der Konsequenz dieses Unterlassens sind in der Literatur verschiedene, z. T. wenig durchsichtige Interpretationen von BGH-Entscheidungen auszumachen, die auch abseits dieser Rechtsprechungslinie im Zusammenhang mit der Ausländereigenschaft judiziert wurden. Exemplarisch heißt es diesbezüglich etwa bei Fischer: „Die Ausländereigenschaft als solche kann eine Strafschärfung nicht begründen (NStZ 06, 35; stRspr) etwa mit der Begründung, der Täter habe das ‚Gastrecht missbraucht‘149 (BGHR § 46 II Lebensumstände 12; Düsseldorf NJW 96, 66, StV 95, 526) […].“150 Dabei wirken insbes. die Nachweise und Fundstellen dort befremdlich. In NStZ 06, 35 stand (eben nur vermeintliche) „die Ausländereigenschaft“ lediglich als Strafmilderungsgrund, nicht als strafschärfende Erwägung in Rede.151 Auch die angeführte Entscheidung des OLG Düsseldorf kann nicht zur Unterstreichung der von Fischer angeführten Ansicht herangezogen werden, da es dort um die Frage ging, ob die Ausländereigenschaft eine Rolle für die Strafvollstreckung i. S. v. § 56 Abs. 3 StGB spielen kann.152 Dort stellte das OLG im Übrigen fest, dass die Ausländereigenschaft auch für die Vollstreckungsfrage dann relevant ist, „wenn die abgeurteilte Straftat gerade durch die Ausländereigenschaft des Angeklagten in einer für die Schuldgewichtung erheblichen Weise geprägt wird.“153 Das OLG Düsseldorf hatte sich zwar damit exakt am Wortlaut der Entscheidung des 4. Senats orientiert, unterließ aber auch seinerseits eine nähere Konkretisierung der relevanten Umstände und Tatsachen. 148  BGH,

Beschluss v. 16.03.1993  – 4 StR 602/92, UA.  5. Hervorhebung durch den Autor. 150  Fischer, StGB, § 46, ebenda. 151  Vgl. auch 5 StR 195/05, UA.  4 ff. 152  Vgl. OLG Düsseldorf, in: StV 1995, 526 f. 153  Vgl. OLG Düsseldorf, in: StV, ebenda. 149  Kursive



B. Rechtsprechungsgenese nach dem Inkrafttreten des § 13 StGB a. F.

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In gewisser Weise zeichnet sich die Rechtsprechungslinie verantwortlich dafür, dass um eine etwaige Berücksichtigung des Ausländer- bzw. Asylbewerberstatus bei der Strafzumessung ein gewisses Maß an Konfusion vorherrscht. Damit verbleiben auch nach Sichtung der Ansichten in der Literatur offene Fragen. Dass gewisse Handlungsmodalitäten bei der Tat eines Ausländers letztlich doch eine Rolle spielen müssen, liegt insofern nahe, als dass der BGH die vier Fallgruppen im Zusammenhang mit dem Missbrauch des Gastrechts aufgestellt hat. Problematisch erweist sich die Herstellung dieses Zusammenhangs jedoch u. U. für gewisse Konstellationen der Fallgruppen, bei denen sich die Tat nur durch den Status des Täters unterscheidet. Etwa dann, wenn eine Straftat nach § 271 StGB begangen wird. Es leuchtet nicht ein, weshalb und wie die Stellung des Täters per se als Ausländer dabei für die Schuldwertung von Bedeutung sein soll. Schlüssiger wäre es, an ein gesteigertes Verhaltensunrecht anzuknüpfen, welches sich jedoch in verhaltensspezifischen Besonderheiten beim Täter geäußert haben muss.154 Letztlich scheinen sich die zahlreichen Unklarheiten jedoch auf die jüngere Judikatur insofern auszuwirken, als Entscheidungen mit vergleichbarem Gehalt – soweit ersichtlich – in den letzten Jahren ausgeblieben sind. Als „Ausreißer“ von dieser Tendenz lässt sich allein der Beschluss des 4. Senats vom 17.01.2006 ausmachen.155 Dort bezieht sich der 4. Senat explizit auf seinen Beschluss aus dem Jahre 1993 und stellt klar, dass die vom LG Bielefeld bemühte Konstruktion nicht dazu geeignet ist, die von ihm aufgestellten Fallgruppen einer zulässigen Strafschärfung bei Ausländern zu erweitern.156 Vereinzelt wurde der vermeintlichen Ausländereigenschaft in jüngerer Zeit auch strafmilderndes Gewicht beigemessen.157 Dabei spielten exemplarisch die Zumessungsgesichtspunkte der Strafempfindlichkeit, der Verhaftung in fremden Wertvorstellungen bzw. der ggf. daraus resultierenden erschwerten Normbefolgung eine Rolle, welche in dieser Arbeit gesondert und vom Problembereich der Ausländereigenschaft als solcher, abgegrenzt dargestellt werden müssen. Insofern verbleibt aber hervorzuheben, dass gerade diese Zumessungsgesichtspunkte nur noch peripher mit der Ausländereigenschaft verknüpft sind und es deshalb missverständlich ist, wenn ein Gericht die Stellung als Ausländer strafzumessungsrechtlich berücksichtigen will, 154  I. d. S.  Hörnle, Kultur, Religion, Strafrecht – Neue Herausforderungen in einer pluralistischen Gesellschaft. Gutachten  C zum 70.  Deutschen Juristentag, C.  92. 155  Vgl. BGH, Beschluss v. 17.01.2006 – 4 StR 423/05; NStZ-RR 2006, 137 (nur Leitsätze der Schriftleitung). 156  BGH, Beschluss v. 17.01.2006  – 4 StR 423/05, UA.  5. 157  Vgl. bspw. BGH, in: StV 1997, 183 f.

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aber tatsächlich dann auf einen anderen Umstand, wie den der Strafempfindlichkeit abhebt. Auf dieses Problem soll an den entsprechenden Stellen hingewiesen werden.

III. Entscheidungen zur Strafschärfung aufgrund generalpräventiver Erfordernisse bei Taten mit fremdkulturellem Bezug In einem engen Kontext zu der soeben besprochenen Judikatur zur Ausländereigenschaft als Strafzumessungsgesichtspunkt stehen die Entscheidungen zur Strafschärfung aufgrund generalpräventiver Erfordernisse bei Taten und Tätern mit fremdkulturellem Bezug. Dies ist einerseits deshalb hervorzuheben, weil der Begriff der „Ausländereigenschaft“ in den zu erörternden Entscheidungen häufig explizit auftaucht, andererseits auch deshalb, weil die Heranziehung generalpräventiver Gesichtspunkte in der jüngeren Vergangenheit nicht selten als eine, auf sprachlichen Feinheiten begründete Variation einer Strafschärfung aufgrund der (formalen) Ausländereigenschaft, kritisiert wurde.158 1. BGH, Urteil vom 15.05.1973 Das soweit ersichtlich erste veröffentlichte Judikat, in welchem sich der BGH in dieser Frage positionieren musste, war die Entscheidung 1 StR 110 / 73.159 Die Vorinstanz hatte den Angeklagten wegen Totschlags zu zehn Jahren Haft verurteilt, weil dieser einen Mann vor dessen Wohnung niedergestochen hatte, welcher ihn zuvor „mit gleichgeschlechtlichen Berührungen bedrängt“ hatte.160 Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil hatte keinen Erfolg.161 Das Schwurgericht hatte im konkreten Fall ausgeführt, dass die Strafe „angesichts der besorgniserregenden Zunahme der Totschlagsdelikte durch ausländische Messerstecher“ abschreckend wirken solle.162 Der BGH merkte dazu an: „Der Tatrichter hat damit nicht der Ausländereigenschaft des Angeklagten straferhöhende Bedeutung beigemessen (dazu BGH NJW 1972, 158  Vgl. Valerius, Kultur und Strafrecht, S. 306 f.; i. d. S. auch Joerden/Weinreich, in: Wolf (Hrsg.), Kriminalität im Grenzgebiet, S. 1 ff. (10 f.); Erbil, Toleranz für Ehrenmörder?, S. 67 f.; auch schon Wolfslast, in: NStZ 1982, 112 f. 159  Siehe BGH, in: MDR 1973, S. 728, mitgeteilt von Dallinger; BGH, Urteil vom 15.05.1973  – 1 StR 110/73. 160  Vgl. BGH, Urteil vom 15.05.1973  – 1 StR 110/73, UA.  3. 161  Vgl. BGH, Urteil vom 15.05.1973  – 1 StR 110/73, UA.  1. 162  Vgl. BGH, Urteil vom 15.05.1973  – 1 StR 110/73, UA.  8.



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2191 Nr. 13), sondern allgemein auf eine kriminologische Erscheinung hingewiesen, der er entgegenwirken will.“163 In dieser Erwägung liegt nach Auffassung des BGH auch kein Verstoß gegen den Gleichheitssatz.164 Damit stellte der BGH im Ergebnis fest, dass die Strafzumessungserwägungen des Schwurgerichts keine Rechtsfehler besorgen ließen. Generalpräventive Gesichtspunkte dürfe das Tatgericht demnach im Rahmen des § 13 StGB a. F. berücksichtigen.165 Damit hatte der BGH an seiner Rechtsprechun vor Inkrafttreten des § 13 StGB a. F. festgehalten, nach welcher auch der Abschreckungseffekt einen tauglichen Strafzweck darstelle und dementsprechend in der Strafzumessung Niederschlag finden dürfe.166 Die Entscheidung ist allerdings in gewisser Hinsicht problematisch. Das betrifft zunächst die Tatsache, dass die Erwägung ausschließlich bestimmte ausländische Täter betrifft und somit die grds. Ablehnung einer strafschärfenden Berücksichtigung der Ausländereigenschaft gleichsam umgeht, dabei aber faktisch die gleiche Wirkung erzielt. Für eine spätere Entscheidung des BGH, auf welche noch einzugehen sein wird, formuliert Wolfslast in ihrer Anmerkung treffend, dass der BGH mit dieser Rechtsprechung etwas wolle, was nach eigener Ansicht gar nicht sein dürfe.167 Desweiteren sind die Ausführungen des BGH hinsichtlich der von der Kammer angestellten Erwägung einer besorgniserregenden Zunahme von Taten durch ausländische Messerstecher angreifbar, wenn er formuliert, dass die „Behauptung der Revision, die vom Schwurgericht genannten Delikte hätten nicht zugenommen, […] ein unzulässiger Angriff gegen die Feststellungen […]“ des Gerichts darstelle.168 Weder konnte das Schwurgericht durch empirische Belege die generalpräventive Notwendigkeit substantiieren, noch ließ es den Versuch des Gegenbeweises durch den Beklagten bzw. dessen Verteidigung zu.169 Misslich ist die Erwägung des Schwurgerichts auch deshalb, weil sie in ihrer Ausgestaltung dazu geeignet erscheint, generalpräventive Erwägungen in der Strafzumessung grds. zu diskreditieren, 163  BGH,

Urteil vom 15.05.1973  – 1 StR 110/73, ebenda. Urteil vom 15.05.1973  – 1 StR 110/73, ebenda. 165  Vgl. BGH, Urteil vom 26.01.1971  – 1 StR 437/70, UA.  6 f. 166  Siehe dazu BGHSt 20, 264 ff. (267). 167  Vgl. Wolfslast, in: NStZ 1982, 112 f. (112). 168  BGH, Urteil vom 15.05.1973  – 1 StR 110/73, ebenda. 169  Dieser mag zwar ebenso wenig substantiiert gewesen sein wie die Ausführungen der Kammer, kann aber allein deshalb schlecht abgelehnt werden. Will sich eine Strafkammer in ihrer Argumentation zum Strafmaß – die allgemeine Zulässigkeit von Generalprävention in diesem Kontext einmal unterstellt – auf derartige Aspekte stützen, so muss doch als rechtsstaatlicher Minimalkonsens jedenfalls eine empirische Quelle bemüht werden. 164  BGH,

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soweit sie den Verdacht begründen können, der Tatrichter stütze seine Erwägungen auf Alltagswissen. Ohne empirisch fundierte Grundlage kann eine solche Erwägung kaum anders verstanden werden, als die Berücksichtigung der Ausländereigenschaft in der Strafzumessung in unzulässiger Weise auszudehnen. Diese These wird darüber hinaus bestärkt, wenn man den Kontext der Entscheidung näher betrachtet, insbesondere was die Feststellungen zum Sachverhalt anlangt. Dort wird u. a. das Verhältnis von Beschuldigtem und Opfer vor der Tat beschrieben.170 Gerade diese Sachverhaltsfeststellungen werfen aufgrund der gleichgeschlechtlichen Annährungsversuche des Opfers ein eher untypisches Bild auf die Tat. Insofern überzeugt schon die Einschätzung als „typische“ Tat eines ausländischen Messerstechers – deren besorgniserregender Zunahme man mit diesem Rechtsausspruch begegnen möchte – nicht. 2. BGH, Urteil vom 30.10.1974 Kurze Zeit später lag dem BGH erneut eine Entscheidung vor, in welcher ein Tatgericht aufgrund generalpräventiver Aspekte zu einer Strafschärfung gegenüber einem ausländischen Angeklagten gelangte.171 Der Tatrichter hatte erwogen, „daß gegen den Angeklagten als Türken172 eine empfindliche Strafe zu verhängen ist, weil, wie allgemein bekannt ist, gegen Rauschgiftschmuggler und -händler in der Türkei drakonische Strafen verhängt werden.“173 Weiterhin führte das Gericht aus: „[…] solche Personen wie der Angeklagte [sind] durch Verhängung empfindlicher Strafen“ davon abzuhalten, ihre illegale Tätigkeit mit Betäubungsmitteln in die Bundesrepublik zu verlagern, weil diese dort milder bestraft wird.174 170  Vgl.

BGH, Urteil vom 15.05.1973  – 1 StR 110/73, UA.  7. nur BGH, in: MDR 1975, 195, mitgeteilt von Dallinger; insofern mag es durchaus zu Verwunderung führen, weshalb an sich einschlägige Monographien und Beiträge, welche sich mit der Thematik generalpräventiver Erwägungen unter Bezugnahme auf ausländische Strafrahmen befassen, nicht selten spätere Entscheidungen aufgreifen, die z. T. mehr als zehn Jahre nach der womöglich originären Entscheidung ergangen sind. Vgl. bspw. Valerius, Kultur und Strafrecht, S. 305; so auch Joerden/Weinreich, in: Wolf (Hrsg.), Kriminalität im Grenzgebiet, S. 1 ff. (11); Wolfslast, in: NStZ 1982, 112 f.; allein Erbil, Toleranz für Ehrenmörder, S. 67, hat diese Entscheidung aufgenommen. Allerdings verzichtet sie an dieser Stelle auf eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Entscheidungsgehalt; zur Problematik der Berücksichtigung ausländischen Strafniveaus in deutschen Strafurteilen unter dem Primat der „Datumtheorie“, siehe auch Grundmann, in: NJW 1985, S. 1251 ff. 172  Kursive Hervorhebung durch den Autor. 173  BGH, in: MDR 1975, ebenda. 174  BGH, in: MDR 1975, ebenda. 171  Vgl.



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Der BGH hielt die Argumentation des Tatrichters für unbedenklich, weil dem Angeklagten nicht, was nach Ausführungen des 2. Senats Anlass zu Bedenken gegeben hätte, die Ausländereigenschaft straferschwerend zu Lasten gelegt wurde, sondern vielmehr hier der Gefahr durch ausländische Rauschgifthändler vorgebeugt würde.175 Da die Bundesrepublik aus Sicht der Rauschgifthändler ein risikoärmeres Betätigungsfeld darstelle, als bspw. das Herkunftsland, sei auch unter dieser Prämisse gegen einen solchen Strafschärfungsgrund nichts einzuwenden.176 Bemerkenswert an dieser Entscheidung ist zunächst der Rekurs auf den im Ausland zu erwartenden Strafrahmen, jene wie vom Tatrichter formuliert „drakonischen Strafen.“177 Hierbei dürfte es sich in der Genese der Rechtsprechung zu Taten mit fremdkulturellem Bezug um eine Neuerung handeln. Ob es aber in dieser, dem BGH-Urteil zugrunde liegenden Entscheidung tatsächlich eine strafzumessungserhebliche Rolle gespielt haben soll, dass auf hohe Strafrahmen im Herkunftsland verwiesen wurde, muss aus mehrerlei Gründen bezweifelt werden. Zunächst sind diese Zweifel im Wortlaut der Entscheidung und den Kausalverknüpfungen der Argumentation des Tatrichters zu finden. Denn weder wird der etwaige drakonische Strafrahmen konkretisiert oder in ein Verhältnis zum hiesigen gesetzt noch schien es dem Tatrichter wirklich darauf anzukommen. Denn verräterisch in Hinblick auf die Intention des Gerichts ist vielmehr die Wendung, dass „gegen den Angeklagten als Türken eine empfindliche Strafe“ zu verhängen sei.178 Was sich in der Entscheidung aus dem Jahre 1973 bereits angedeutet hat, wird mit dieser vom BGH ebenso gebilligten Entscheidung letztlich verdeutlicht. „Gegen den Angeklagten als Türken“ meint, und das kann auch in Ansehung der weiteren Formulierungen kaum bezweifelt werden, nämlich eine Strafschärfung gegen Ausländer, spezifischer hier ausländische Drogenhändler und ‑schmuggler unter dem Deckmantel generalpräventiver Gesichtspunkte. Im Übrigen lässt die Formulierung des Tatrichters, wonach ihm „allgemein bekannt“179 sei, dass gegen Rauschgifthändler in der Türkei besonders harte Strafen verhängt würden, in Hinblick auf eine revisionsgerichtliche Überprüfung ähnliche Bedenken zu, wie der Hinweis des Tatrichters auf etwaige kriminologische Erscheinungen aus der oben besprochenen Entscheidung aus dem Jahr 1973. 175  Vgl. BGH, in: MDR 1975, ebenda mit Verweis auf BGH, Urteil vom 30.10.1974  – 2 StR 402/74. 176  Vgl. BGH, in: MDR 1975, ebenda. 177  Vgl. BGH, in: MDR 1975, ebenda. 178  Vgl. BGH, in: MDR 1975, ebenda. 179  Vgl. BGH, in: MDR 1975, ebenda.

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3. BGH, Urteil vom 16.09.1981 Eine weitere wichtige Entscheidung in dieser Rechtsprechungslinie ist das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 16.09.1981, dem eine Entscheidung des LG Frankfurt vorausgegangen war.180 Die Strafkammer beim LG hatte den Standpunkt vertreten, dem Heroinhandel entgegen wirken zu müssen, weshalb bei nicht abhängigen, „insbesondere“ ausländischen Drogenhändlern, der gesetzliche Strafrahmen weitestgehend ausgeschöpft werden müsse, um auf jene Täter, welche in ihrer ausländischen Heimat „drakonische Strafen“ zu erwarten hätten, in ausreichendem Maße einzuwirken.181 Im Vergleich zum Urteil vom 30.10.1974 sorgte diese Entscheidung für viel Aufhebens, obwohl sie – wie sich zeigen wird – praktisch keine Änderung der Judikatur beinhaltete. Daher erscheint es für die Interpretation des Entscheidungsgehalts zweckmäßig, die Positionen der korrespondierenden Beiträge aus dem Schrifttum einzubeziehen. Vornehmlich ursächlich für die durch die Entscheidung ausgelöste „Welle der Kritik“182 schien dabei die Auslegung des Wortlauts durch den BGH gewesen zu sein.183 Wolfslast etwa warf dem BGH vor, den Wortlaut der Entscheidung des LG „über die Grenze des Zulässigen hinaus strapaziert“ zu haben.184 Vor allem sei die Verwendung des Wortes „insbesondere“ in Bezug auf die ausländischen Drogenhändler nicht, wie aber vom BGH verstanden, als „nicht allein“ auf die ausländischen Drogendealer abzielend, sondern vielmehr ausschließlich diese Tätergruppe betreffend, zu verstehen.185 Dabei zeigt ein Blick auf die soeben besprochene Entscheidung des 2. Senats vom 30.10.1974, dass dieser Streit um die Interpretation des Wortes „insbesondere“ eher nebensächlich gewesen ist.186 Denn schon die ältere Entschei180  Vgl. BGH, in: NStZ 1982, 112  f. mit Verweis auf BGH, Urteil vom 16.09.1981  – 2 StR 237/81. 181  Vgl. BGH, in: NStZ 1982, 112 f. (112). 182  Vgl. Wolfslast, in: NStZ 1982, 112 f. 183  Vgl. Wolfslast, in: NStZ 1982, 112 f. Anmerkung zum selbigen Urteil; auch kritisch aufgenommen bei Joerden/Weinreich, in: Wolf (Hrsg.), Kriminalität im Grenzgebiet, S. 1 ff. (11); ebenso bei Valerius, Kultur und Strafrecht, S. 305 f.; siehe auch Erbil, Toleranz für Ehrenmörder?, S. 67, welche zwar auf die Entscheidung von 1974 rekurriert, diese aber nur kommentarlos wiedergibt und ebenso den Kritikschwerpunkt auf die Entscheidung von 1981 legt; siehe auch die Anmerkung von Köhler, in: JZ 1982, 772, er bezeichnet es sogar als die Grundaussage der Entscheidung, dass der generalpräventive Zweck zu drakonisch harter Bestrafung des Täters berechtige, was seiner Auffassung nach zu Widerspruch herausfordere; sowie die kritische Anmerkung von Hilger, in: JZ  1982, 773. 184  Vgl. Wolfslast, in: NStZ 1982, 112 f. (112). 185  Vgl. Wolfslast, in: NStZ 1982, ebenda. 186  Vgl. nochmals BGH, in: MDR 1975, 195, mitgeteilt von Dallinger.



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dung legte den Grundstein für die Verknüpfung einer strafschärfenden Erwägung aus generalpräventiven Gründen und der Zugehörigkeit des Täters zu einer bestimmbaren, auch ethnisch abgrenzbaren Tätergruppe; in diesem Falle türkische Drogendealer. Das vordringliche Problem ist somit doch eher im Rahmen der Zulässigkeit generalpräventiver Erwägungen in der Strafzumessung zu suchen, wenn sie auf bestimmte Tätergruppen abzielen, die sich durch Merkmale, wie etwa ihrer Staatsangehörigkeit, abgrenzen lassen. Der BGH jedenfalls setzte mit dieser Entscheidung seine Rechtsprechung konsequent um, mit der Folge, dass die Ausländereigenschaft durch generalpräventive Erwägungen de facto zur Strafschärfung herangezogen werden konnte. Bei Wolfslast heißt es dazu: „Was der BGH aber will [Strafschärfung für ausländische Drogendealer],187 darf – seiner eigenen Rechtsauffassung nach – nicht sein: nach ständiger Rspr. darf die Ausländereigenschaft eines Angekl. nicht strafschärfend berücksichtigt werden, da dies einen Verstoß gegen Art. 3 I und III GG bedeuten würde […]. Mit der ausweichenden, widersprüchlichen Erklärung des erstinstanzlichen Urteils ist dieses Postulat inhaltlich ausgehöhlt worden.“188 An der Zulässigkeit generalpräventiver Erwägungen im Zusammenhang mit Taten von Ausländern hat die Entscheidung demnach keine Neuerungen mit sich gebracht. Das gilt freilich auch für die durchaus berechtigte Kritik von Wolfslast, dass den generalpräventiven Erwägungen, im Vergleich zu den primären Strafzwecken des Schuldausgleichs und der Spezialpräven­ tion, im Urteil zu viel Gewicht beigemessen wurde.189 Bei Mösl heißt es zu dieser Problematik kurze Zeit später: „Entgegen der Meinung vieler Revi­ sionsführer ist die Generalprävention nach wie vor ein anerkannter Strafzweck; allerdings darf nach st. Rspr. dieser Strafzweck der Abschreckung anderer nur innerhalb des Spielraums der schuldangemessenen Strafe berücksichtigt werden.“190 Daneben müsse auch der Umstand, welcher aus Gründen der Abschreckung als straferschwerend gewertet wird, dem Angeklagten bei seiner Tat bekannt gewesen sein; andernfalls läge ein Verstoß gegen den Grundsatz vor, dass die Strafe der persönlichen Schuld des Täters angemessen sein muss.191 Bemerkenswert an der Entscheidung vom 16.09.1981 ist allerdings, neben der Kritik, die sie hervorgerufen hat, dass der BGH die Formulierungen vorinstanzlicher Urteile in diesem Kontext nun sprachlich „sensibler“ beur187  Anmerkung

des Autors. in: NStZ 1982, ebenda. 189  Vgl. Wolfslast, in: NStZ 1982, 112 f. (113). 190  Mösl, in: NStZ 1982, 148 ff. (149). 191  Mösl, in: NStZ, ebenda; vgl. auch BGH, Beschluss v. 04.12.1981 – 2 StR 786/80. 188  Wolfslast,

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teilte als noch in der Entscheidung sieben Jahre zuvor. Das hatte insoweit Konsequenzen für die Voraussetzungen zukünftiger Entscheidungen zur Generalprävention. Ein Urteil sollte seither deutlicher erkennen lassen, dass generalpräventive Erwägungen nicht mehr nur und ausschließlich auf Ausländer abzielen dürfen, sondern auf eine bestimmte Tätergruppe, die gerade nicht bloße Ausländer ansprechen darf, konkretisiert werden müssen.192 Dass dies bspw. und / oder im Zweifel durch das Einfügen des Wortes „insbesondere“ i. S. v. „auch“ erfolgen kann, hinterlässt dennoch den faden Beigeschmack der Beliebigkeit.193 4. BGH, Beschluss vom 29.11.1990 In seiner Entscheidung vom 07.06.1990 hatte das LG Traunstein194 einen Asylanten wegen versuchten Totschlags aufgrund eines Messerangriffs auf einen anderen Asylanten zu einer Freiheitsstrafe verurteilt.195 Im Rahmen der Strafzumessung führte das LG aus: „Sowohl die Schuld als auch der Gedanke der Generalprävention erfordern eine empfindliche Bestrafung. Es kann nicht hingenommen werden, daß Ausländer,196 die das Gastrecht der Bundesrepublik Deutschland wegen politischer Verfolgung in Anspruch nehmen, hier ihre Nationalitätenkonflikte mit gewalttätigen Mitteln austragen.“197 Die Formulierung dieser Strafzumessungserwägung ließ den BGH an einer eindeutigen Interpretation bzw. Auslegung zweifeln. Zwar wäre die Erwägung nicht von vornherein unzulässig, dass wegen der großen Anzahl von Gewalttätigkeiten im Zusammenhang mit Nationalitätenkonflikten generalpräventive Gesichtspunkte in der Strafzumessung berücksichtigt werden müssten.198 Die Formulierung des LG war vom BGH jedoch so nicht verstanden worden.199 Die Verknüpfung von Schuld und Generalprävention sowie der Hinweis auf das Gastrecht gaben dem BGH 192  BGH, in: NStZ 1982, 112, dort heißt es, dass der von der Kammer gewählte Wortlaut nicht ausländische Drogenhändler allein meint, sondern an „alle“ Drogenhändler der gleiche strenge Maßstab angelegt wird. 193  Dass es bei Strafzumessungsentscheidungen häufig um sprachliche Plausibilität geht, zeigen auch die Rechtsprechungsübersichten zur Strafzumessung, bspw. Mösl, in: NStZ 1982, 148 ff. 194  Vgl. LG Traunstein, Urteil v. 07.06.1990  – 5 Ks 200 Js 26432/89. 195  Vgl. BGH, Beschluss v. 29.11.1990  – 1 StR 618/90. 196  Kursive Hervorhebung durch den Autor; unklar bleibt indes, ob die Entscheidung des BGH eine andere gewesen wäre, wenn das LG Traunstein das Wort „insbesondere“ in unmittelbarer Nähe zu dieser Stelle platziert hätte. 197  BGH, Beschluss v. 29.11.1990  – 1 StR 618/90, UA.  2. 198  Vgl. BGH, Beschluss v. 29.11.1990  – 1 StR 618/90, UA.  3. 199  Vgl. BGH, Beschluss v. 29.11.1990  – 1 StR 618/90, ebenda.



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scheinbar Anlass zur Sorge, dass das LG Traunstein hier die Ausländereigenschaft in unzulässiger Weise straferschwerend berücksichtigt hatte.200 Damit erhärtet sich allerdings auch der Eindruck, dass es bei der Revisionsfestigkeit derartiger Strafzumessungserwägungen mehr auf die Wortwahl als auf die Argumentation in der Sache anzukommen scheint. In der Folge wurde der Rechtsprechung seitens der Literatur in dieser Sache Irrationalität vorgeworfen.201 Das erscheint auch vor dem Hintergrund, dass der BGH in späteren Entscheidungen vergleichbare generalpräventive Erwägungen für zulässig erachtete, als durchaus berechtigte Kritik.202 Der BGH hätte gut daran getan, seine Entscheidungen sachlich und nicht sprachlich zu begründen, ganz unabhängig davon, dass das Differenzierungskriterium des Verlagerns von Nationalitätenkonflikten in die Bundesrepublik ohnehin nur auf Ausländer abzielt. 5. BGH, Beschluss vom 15.11.1995 Eine ebenfalls vom BGH als unzulässig gewertete Strafzumessungserwägung stellte das LG Duisburg in seiner Entscheidung vom 16.06.1995 an.203 Es verurteilte die Angeklagten wegen unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit unerlaubtem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu jeweils drei Jahren Freiheitsstrafe.204 Der Beschluss des 3. Senats beim BGH, der zur Verwerfung der Entscheidung des LG Duisburg führte, ist dabei aus mehrerlei Gründen einer Aufnahme in die hier darzustellenden Urteile wert. Das LG hatte erwogen, dass die Angeklagten, hätten sie die Tat in ihrem Heimatland begangen, mit einer deutlich höheren Strafe hätten rechnen müssen.205 Die verhängte Strafe solle eine abschreckende Wirkung auch in der Hinsicht haben, dass ausländische Staatsangehörige es unterlassen, in der Bundesrepublik Straftaten gegen das Betäubungsmittelgesetz zu begehen, in der Hoffnung, dass sie hier deutlich milder bestraft würden als in ihrem Heimatland.206 200  Vgl.

BGH, Beschluss v. 29.11.1990  – 1 StR 618/90, ebenda. Wolfslast, in: NStZ 1982, 112 f. (112). 202  Vgl. bspw. BGH, in: NStZ 1993, 337; BGHR, § 46 II, Lebensumstände 13. 203  Vgl. LG Duisburg, Urteil v. 16.06.1995, 52 KLs 50 Js 104/95  – 19/95. 204  Vgl. BGH, Beschluss v. 15.11.1995  – 3 StrR 484/95; siehe auch BGH, in: StV 1996, 205; BGHR, § 46 Abs. 2, Wertungsfehler 28, Ausländereigenschaft. 205  Vgl. BGH, Beschluss v. 15.11.1995  – 3 StR 484/95, UA.  4. 206  Vgl. BGH, Beschluss v. 15.11.1995  – 3 StR 484/95, ebenda; kursive Hervorhebung durch den Autor. 201  So

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Auch dieser Wortwahl in der Begründung zur Strafzumessung des Landgerichts sah der BGH „durchgreifende rechtliche Bedenken“ entgegenstehen.207 Nun ist zunächst bemerkenswert, dass der Senat damit, entgegen der vom 2. Senat vertretenen Position, der Argumentation des Generalbundesanwalts aus seiner Zuleitungsschrift ausdrücklich beigetreten ist. Dieser führte aus, dass eine solche generalpräventive Erwägung eine strafschärfende Berücksichtigung der Ausländereigenschaft besorgen ließe; eine nach deutschem Recht verhängte Strafe könne nicht deshalb höher ausfallen, weil die gleiche Tat nach dem Heimatland des Täters mit einer „besonders scharfen Sanktion“ belegt wird.208 Das ist deshalb bemerkenswert, weil die Begründung des LG Duisburg verdächtig an die Ausführungen der BGHEntscheidung vom 30.10.1974 erinnert. Dort hatte es der 2. Senat als unschädlich angesehen, die Generalprävention mit der Tätergruppe ausländischer Drogenhändler in Verbindung zu bringen. Geht man davon aus, dass sich beide Entscheidungen hinsichtlich der zu beurteilenden Strafzumessungserwägung derart ähneln, bleibt fraglich, weshalb der 3. Senat die Erwägung des LG Duisburg, welche augenscheinlich in der Entscheidung des 2. Senats vom 30.10.1974 wurzelt, hier als unzulässig erachtet hatte. Der 2. Senat hätte womöglich anders entschieden. Jedenfalls liegt dieser Gedanke nicht fern. Der zweite wichtige Punkt in der vorliegenden Entscheidung ist die ausdrückliche Bezugnahme des 3. Senats auf BGH, NStZ 1982, 112.209 Der 3. Senat stellte damit vermeintlich klar, dass seine Entscheidung nicht im Widerspruch zur Entscheidung des 2. Senats von 1981 stehen solle, was sich nach dem zuvor aufgezeigten Widerspruch kaum der Sache nach begründen lässt: „Die Entscheidung des Bundesgerichtshofes in NStZ 1982, 112 steht der Auffassung des Senats nicht entgegen. In dem dort entschiedenen Fall konnten die Erwägungen des Landgerichts dahin verstanden werden, daß allen Drogenhändlern der Anreiz genommen werden müsse, wegen in anderen Ländern drohenden besonders harten Strafen den Heroinhandel aus solchen Ländern in die – aus Sicht der der Händler – weniger gefährliche Bundesrepublik zu verlagern. Eine solche Interpretation ist hier nicht möglich.“210 Der Beschluss des 3. Senats wurde daher teilweise als eine Distanzierung, nicht jedoch als Abkehr, von der bisherigen, „angreifbaren“ Rechtsprechung des 2. Senats betrachtet.211 Dabei bleiben die Ausführungen des BGH zu 207  Vgl.

BGH, Beschluss v. 15.11.1995  – 3 StR 484/95, UA.  5. BGH, Beschluss v. 15.11.1995  – 3 StR 484/95, ebenda. 209  Vgl. BGH, Beschluss v. 15.11.1995  – 3 StR 484/95, UA.  7. 210  BGH, Beschluss v. 15.11.1995  – 3 StR 484/95, ebenda. 211  Vgl. nur NK-Streng,  § 46, Rn. 152. 208  Vgl.



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den „rechtlichen Bedenken“ in der Sache deutlich an der Oberfläche. Der Verweis auf die Unmöglichkeit einer entsprechenden Interpretation kann nicht hinreichen. Im Übrigen wäre es interessant gewesen, der Frage nachzugehen, ob die ausländischen Drogenhändler nicht gerade wegen den erwarteten Gewinnen im Drogenhandel ihre Tätigkeiten nach Deutschland verlagern und die niedrigeren Strafen u. U. kaum eine Rolle in Hinblick auf die Motivationslage gespielt haben könnten. 6. OLG Hamburg, Beschluss vom 04.02.2000 Bislang konnten bei der Rechtsprechungslinie zu generalpräventiven Erwägungen bei fremdkulturell geprägten Taten zwei wesentliche Problempunkte aufgezeigt werden: Zunächst betrifft dies die auf sprachliche Feinheiten fokussierte Revisionskontrolle der tatgerichtlichen Erwägungen, die einer fundierten sachlichen Begründung ermangeln. Daneben hat sich die Bezugnahme auf etwaige kriminologische Entwicklungen ohne statistisches Bezugsmaterial als möglicher Kritikpunkt herausgestellt. Unter Bezugnahme auf einige Urteile des BayObLG aus den Vorjahren,212 hatte sich das OLG Hamburg im Februar 2000 u. a. mit der Frage zu beschäftigen, ob eine generalpräventive Strafzumessungserwägung damit begründet werden kann, dass „Delikte der vorliegenden Art in jüngerer Zeit in einem erschreckenden Maße überhand genommen haben.“213 Der Angeklagte wurde vom AG wegen illegalen Aufenthalts gem. § 92 I Nr. 1 AuslG a. F. zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde.214 Die Verhängung der Freiheitsstrafe unter sechs Monaten gem. § 47 I StGB begründete das AG u. a. mit der obigen Erwägung, weil es dies zur Verteidigung der Rechtsordnung für unerlässlich hielt.215 Das OLG Hamburg gab dem Rechtsmittel des Angeklagten statt, weil der Tatrichter am AG der Verurteilung Tatsachen zugrunde gelegt hatte, von denen er nicht überzeugt war, und weil die Feststellungen Lücken enthalten hätten, aufgrund derer der Schuldumfang nicht hinreichend bestimmt werden könne.216 Wird eine kurze Freiheitsstrafe mit dem Aspekt der Generalprävention begründet, weil das Gericht eine erschreckende Zunahme vergleichbarer Taten festgestellt hat, so ist es in der Regel 212  Vgl.

BayObLG, in: StV 1988, 434 ff. sowie BayObLG, in: StV 1989, 155. OLG Hamburg, in: StV 2000, 353 f. (353). 214  Vgl. OLG Hamburg, in: StV 2000, ebenda. 215  Vgl. OLG Hamburg, in: StV 2000, ebenda. 216  Vgl. OLG Hamburg, in: StV 2000, ebenda. 213  Vgl.

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unerlässlich, dass das Tatgericht anhand statistischen Materials den früheren und den jetzigen Zustand gegenüberstellt und so dem Revisionsgericht eine Überprüfung dieser Erwägung ermöglicht.217 Zwar ging es im konkreten Fall um eine Strafzumessungsfrage i. w. S., nämlich welche Anforderungen an die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe gem. § 47 I StGB unter generalpräventiven Aspekten zu stellen sind. Die vom BayObLG und dem OLG Hamburg aufgestellten Voraussetzungen lassen sich aber schon aus logischen Gründen in Hinblick auf Revisionsfestigkeit und Revisibilität – ceteris paribus – auch auf Fragen der Strafzumessung i. e. S. übertragen. Es ist kein Grund ersichtlich, weshalb ein Tatgericht bei der Bemessung der Strafe, soweit generalpräventive Aspekte herangezogen werden, nicht in gleichem Maße einem, auf nachprüfbaren Tatsachen basierenden Begründungserfordernis, unterliegen sollte. Die Entscheidung ist wegen dieses Erfordernisses auch besonders begrüßenswert und weicht auffallend von den Entscheidungen des BGH ab, die solche Erfordernisse nicht verlangt hatten. 7. Zwischenergebnis und Tendenz Die besprochenen Entscheidungen zeigen eine zuweilen undurchsichtige Entwicklung der Rechtsprechung hinsichtlich des Umgangs mit generalpräventiven Strafzumessungserwägungen im Kontext fremdkulturell geprägter Fallkonstellationen. Während man zu Beginn der 1970er Jahre auch in den Rechtsmittelinstanzen bestimmte generalpräventive Erwägungen, die auf ausländische Tätergruppen abzielten, für unbedenklich erachtete, änderte sich dies in den 1980er Jahren mit dem Aufkommen kritischer Beiträge seitens der Literatur zu dieser Judikatur des BGH. Während der 2. Senat beim BGH mit der Entscheidung aus dem Jahr 1981 noch darum bemüht war, durch Ausmachen sprachlicher Feinheiten im Rahmen einer de facto ausschließlich an Ausländer adressierten generalpräventiven Erwägung, die Entscheidung des LG Frankfurt gleichsam zu „retten“, beschritten sowohl der 3. als auch der 4. Senat mit ihren Entscheidungen restriktivere Wege im Umgang mit der Problematik. Die mangelnde sachliche Abstützung der entsprechenden Entscheidungen seitens der Rechtsmittelgerichte lässt die Kriterien hinsichtlich der Anforderungen an generalpräventive Erwägungen bei Fallkonstellationen mit ausländischen Tätern weitgehend im Dunkeln.218 217  Vgl.

OLG Hamburg, in: StV 2000, 353 f. (354). absurd sich diese Entwicklung z. T. darstellt, soll an einem Beispiel möglicher Strafzumessungsbegründungen dargelegt werden: Problematisch wäre die Begründung eines Gerichts wohl, wenn es formuliert, „dass mit der Strafe ausländischen Drogenhändlern, die ihren Tätigkeitsschwerpunkt aus dem Ausland in das risikoärme218  Wie



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Entscheidungen aus jüngerer Zeit zur Sache sind daher auch – soweit ersichtlich – ausgeblieben.219 Ein Grund hierfür lässt sich in den kaum noch durchsichtigen und wenig nachvollziehbaren Anforderungen an die Urteilsbegründungen ausmachen. Die Untersuchung der Entscheidungen konnte hierbei zwei wesentliche Probleme aufzeigen: Die auf sprachliche Feinheiten fokussierte Revisionskontrolle generalpräventiver Erwägungen in Bezug auf ausländische Täter sowie die Bezugnahme auf bestimmte Kriminalitätsentwicklungen in diesem Kontext. In beiden Punkten lässt sich hinsichtlich der notwendigen Anforderungen keine einheitliche Linie in der Rechtsprechung ausmachen. Ein anderer Grund für das Ausbleiben von Entscheidungen in jüngerer Zeit liegt möglicherweise auch darin, dass der 4. Senat beim BGH einen Kernbereich üblicher Fallgestaltungen aus dem generalpräventiven Spektrum ausgegliedert hat.220 In der BGH-Entscheidung vom 16.03.1993 wurden die sog. „Nationalitätenkonflikte“, welche – wie die besprochenen Entscheidungen gezeigt haben – neben den Betäubungsmitteldelikten, originär die „klassischen Felder“ generalpräventiver Erwägungen im hier zu besprechenden Kontext darstellten, in den unmittelbareren Zusammenhang zur Ausländereigenschaft als Strafschärfungsgrund und dem „Missbrauch des Gastrechts“ versetzt.221 Ähnlich verhält es sich auch mit der zweiten wichtigen Fallgruppe, den Betäubungsmitteldelikten. Fallgestaltungen dieser Art lassen re Deutschland verlagern, abschreckend entgegengetreten werden soll“. Etwas anderes wäre es aber im Distinktionsverständnis der Rechtsmittelgerichte, wenn das Tatgericht formulieren würde: „dass mit der Strafe insbesondere ausländischen Drogenhändlern, die ihren Tätigkeitsschwerpunkt aus dem Ausland in das risikoärmere Deutschland verlagern, abschreckend entgegengetreten werden soll“. Noch latenter wäre die Formulierung: „dass mit der Strafe solchen Drogenhändlern, die ihren Tätigkeitsschwerpunkt aus dem Ausland in das risikoärmere Deutschland verlagern, abschreckend entgegengetreten werden soll“. Jedoch muss trotz allem sprachlichen „Feingefühl“ klar sein, dass, egal für welche Formulierung man sich in der Strafzumessungserwägung entscheiden würde, es sich jedenfalls de facto um eine (nahezu) ausschließlich auf Ausländer „zugeschnittene“ Strafschärfungserwägung handeln würde. Nur höchst selten dürfte der Fall eintreten, dass ein Deutscher sein Tätigkeitsfeld erst ins Ausland verlagert, dann aber wieder zurück nach Deutschland ginge und gleichsam ebenfalls von derartigen generalpräventiven Erwägungen erfasst wäre. 219  Diese Annahme legen neben den Recherchen des Verfassers auch die von Detter geführten Rechtsprechungsübersichten zum Strafzumessungs- und Maßregelrecht der Jahre 2000 bis 2012, jeweils in der NStZ, ab 2003 in der NStZ-RR, nahe; siehe auch die Bestandsaufnahme der Urteile zur Generalprävention in der thematischen Schnittmenge bei Valerius, Kultur und Strafrecht, S. 305 f., dessen aufgeführte Urteile ebenfalls für die Annahme der vom Verfasser ausgemachten Tendenz sprechen. 220  Vgl. BGH, Beschluss v. 16.13.1993  – 4 StR 602/92. 221  BGH, Beschluss v. 16.13.1993  – 4 StR 602/92, UA.  5.

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sich seit der Entscheidung des 4. Senats von 16.03.1993 auch unter dem Aspekt besprechen, dass ein Täter das Gastrecht missbrauche, indem er zur Begehung von (BtM-)Straftaten in die BRD einreist. Daneben lässt sich freilich nicht ausblenden, dass auch eine solche Strafzumessungserwägung, welche u. a. ausländerspezifische Kriminalitätsphänomene mit generalpräventiven Erfordernissen verknüpft, um eine Strafschärfung zu begründen, an dem Makel mangelnder politischer Opportunität leidet. In der Gesamtschau lässt sich bzgl. der durch generalpräventive Erwägungen geprägten Rechtsprechungslinie bei Taten mit fremdkulturellem Bezug festhalten, dass es wahrscheinlich ist, dass ein Rückgriff auf diese Judikatur nur noch in bestimmten Ausnahme- bzw. Extremfällen notwendig sein dürfte. Dabei könnte es sich um solche Fälle handeln, welche bestimmte Straftaten von Tätern betreffen, die aus Kriegsgebieten nach Deutschland zurückkehren oder einwandern, nachdem sie dort im Namen terroristischer Gruppierungen agiert haben. Diese Entwicklung ist aufmerksam zu verfolgen. Damit lassen sich an dieser Stelle auch keine einheitlichen Linien bzw. Voraussetzungen zur Anwendbarkeit generalpräventiver Erwägungen in der Strafzumessung bei fremdkulturell geprägten Taten seitens der Rechtsprechung ausmachen. Neben den grundsätzlichen Zweifeln an einer auf Abschreckung (negative Generalprävention)222 begründeten Strafzumessungserwägung ist dies vor allem der sich immer mehr zurückziehenden und gleichsam distanzierenden Rechtsprechung der Rechtsmittelgerichte seit Beginn der 1990er Jahre geschuldet.223 Teile der praxisnahen Literatur sprechen sich sogar für die generelle Aufgabe generalpräventiver Strafzumessungserwägungen in ihrer negativen Variante aus.224 Es bleibt allerdings zu postulieren, dass in Fällen, bei denen generalpräventive Erwägungen aufgrund kriminologischer oder sonst empirisch belegbarer Umstände angestellt werden, der Tatrichter dazu angehalten sein muss, seine Erwägungen auch entsprechend empirisch abzustützen. Allein das Abheben auf die Alibifloskel, dass die Zunahme gemeinschaftsgefährlicher Taten wie solcher der Abzuurteilenden festgestellt wurde, kann indes nicht genügen.225 Die vom 222  Vgl. bspw. Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn.  808, 839 ff. 223  Als eine solche Distanzierung kann der Beschluss des BGH vom 15.11.1995 – 3 StR 484/95 gesehen werden. 224  Siehe bspw. Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 841 a. E. m. w. N.; in Ansätzen auch Zipf, in: Maurach/Gössel/Zipf, AT  2, § 63, Rn.  90 ff. 225  Bei der Übersicht von Detter zum Strafzumessungs- und Maßregelrecht in NStZ 1990, S. 483 ff. (486) heißt es dazu: „Eine schwere Strafe darf aus generalprä-



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BayObLG226 und dem OLG Hamburg227 in dieser Frage geforderten Voraussetzungen an eine empirische Abstützung generalpräventiv begründeter Erwägungen, haben – ohne dass dies begründet worden wäre – in der Rechtsprechung leider keine hinreichende Beachtung gefunden.228 Einen möglichen Ansatz zur Umsetzung dieser Forderung ließe sich etwa den oben in Teil 3 dieser Arbeit entwickelten Grundsätzen einer, an der Praktischen Kriminologie orientierten, forensischen Methode entnehmen.229

IV. Entscheidungen zur Berücksichtigung ausländerrechtlicher Folgen 1. Vorbemerkungen Eine, soweit ersichtlich, ebenfalls aus den 1970er Jahren stammende Strafzumessungsrechtsprechung in Zusammenhang mit fremdkulturellen Taten und Tätern bilden die Fälle, in denen die Berücksichtigung ausländerrechtlicher Folgen in der Strafzumessung diskutiert wurde. Dabei sind sowohl das Ausweisungsrisiko, dem sich ein Ausländer durch das Begehen bestimmter Straftaten aussetzten konnte, als auch der damit verbundene Wille zur Tatbegehung die maßgebenden Anknüpfungspunkte für tatrichterliche Erwägungen gewesen, welche die ausländerrechtlichen Folgen für die Strafzumessung fruchtbar machen wollten. Das ist insbesondere deshalb bemerkenswert, weil diese Folgen einem Inländer bei Begehung der gleichen Tat nicht drohen können. Damit stellt sich im Folgenden die Frage, inwieweit die ausländerspezifischen außerstrafrechtlichen Folgen, zuvörderst die Ausweisung, die richterliche Beurteilung von Taten mit fremdkulturellem Einschlag i. R. d. strafzumessungsrechtlichen Erwägungen beeinflusst haben. Dass Ausländer besonderen Vorschriften unterliegen, die im Falle einer Verurteilung Nachteile für sie begründen können, ist in der Bundesrepublik ventiven Gesichtspunkten nur verhängt werden, wenn bereits eine gemeinschaftsgefährliche Zunahme solcher oder ähnlicher Taten, wie sie der Angekl. begangen hat, festgestellt worden ist. Darüber müssen die Urteilsgründe eingehend Angaben enthalten.“ 226  Siehe dazu BayObLG, in: StV 1988, 434 ff. (435); BayObLG, in: StV 1989, 155. 227  Vgl. OLG Hamburg, in: StV 2000, 353 f. (354). 228  Vgl. bspw. BGH, in: NStZ-RR 2007, 137, In den Urteilsgründen der vorinstanzlichen Entscheidung des LG Saarbrücken findet sich u. a. die Erwägung zulasten des Angeklagten, dass „auch generalpräventive Gesichtspunkte nicht außer Betracht bleiben dürften.“ – eine in dieser Form dem Gehalt nach inakzeptable und gehaltlose Erwägung. 229  Vgl. oben, Teil 3, B.

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zunächst auf das Ausländergesetz von 1965 (AuslG)230 zurückzuführen.231 Dieses enthielt auch Regelungen über den Aufenthalt, wie bspw. § 1 Abs. 1 Satz 2 AuslG a. F., der die Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung regelte.232 Das AuslG wurde dann 1990 grundlegend novelliert, insbesondere unter der Prämisse, in Deutschland lebenden Ausländern den Weg zur Integration zu ebnen.233 Am 01.01.2005 ist schließlich das Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz – AufenthG) in Kraft getreten, welches sich über weite Strecken an Vorschriften des AuslG orientiert.234 Dort finden sich heute in den §§ 53 ff. die für diesen Abschnitt der Arbeit relevanten Regelungen über die Ausweisung von Ausländern. 2. BGH, Urteil vom 12.05.1976 Das soweit ersichtlich erste veröffentlichte Urteil, in welchem sich der BGH mit Strafzumessungserwägungen eines Tatgerichts im Zusammenhang mit ausländerrechtlichen Konsequenzen auseinandersetzen musste, war die Entscheidung des 2. Senats vom 12.05.1976.235 Zuvor hatte die Strafkammer beim zuständigen Landgericht die Angeklagten wegen „vorsätzlicher Zuwiderhandlung gegen das Opiumgesetz in Tateinheit mit Steuerhehlerei zu Freiheits- und Geldstrafen verurteilt.“236 Das Tatgericht führte in der Strafzumessung aus, „daß die A[ngeklagten]‚ dem Ausländergesetz unterliegend, bewußt das ihnen bekannte Risiko der Ausweisung und damit den Verlust einer gesicherten Existenz zum eigenen Nachteil und zum Nachteil ihrer Familien eingegangen seien (Jeder von ihnen hatte mindestens 4 Kinder.).“237 Diese Erwägung sah der BGH als mit dem Grundgesetz und den rechtlichen Anforderungen an eine Strafzumessungserwägung vereinbar an.238 Dabei stellte der 2. Senat deutlich heraus, dass die Strafkammer mit dieser 230  Siehe

BGBl. I 290. Erbs/Kohlhass-Senge, Strafrechtliche Nebengesetze, A 215, Rn. 5. 232  Kluth/Hund/Maaßen-Reinhardt, Zuwanderungsrecht, § 2, Rn. 18. 233  Erbs/Kohlhass-Senge, Strafrechtliche Nebengesetze, ebenda. 234  Erbs/Kohlhass-Senge, Strafrechtliche Nebengesetze, A 215, Rn. 6; Huber, AufenthG, § 1, Rn. 1. 235  Vgl. BGH, Urteil vom 12.05.1976, 2 StR – 793/75; vgl. auch BGH, in: MDR 1976, S. 812, mitgeteilt von Holtz; dieses Urteil musste aufgrund der inhaltlichen Schnittmengen schon im thematischen Abschnitt zur Ausländereigenschaft angeführt werden, soll hier aber unter einem differenzierten Blickwinkel betrachtet werden. 236  BGH, in: MDR 1976, ebenda. 237  BGH, in: MDR 1976, ebenda. 238  Vgl. BGH, in: MDR 1976, ebenda. 231  Vgl.



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Erwägung nicht die Ausländereigenschaft der Angeklagten, sondern deren Stärke des bei der Tat aufgewendeten Willens strafschärfend berücksichtigt habe.239 Ferner heißt es: „Die A haben die Taten trotz jenes ihnen bewußten Risikos begangen. Daß dieses Risiko nicht bei einem A deutscher Staatsangehörigkeit besteht, rechtfertigt nicht den Schluß, das Landgericht habe wiederum den Gleichheitsgrundsatz verletzt. Denn auch sonst können Umstände, die nur bei den Angehörigen einer bestimmten Gruppe vorliegen, straferschwerend berücksichtigt werden, wenn ihnen für die Bemessung der Strafhöhe wirklich Bedeutung zukommt.“240 Dabei wäre es durchaus von Interesse gewesen, wann nach Ansicht des BGH ein Umstand „wirklich“ bedeutsam in diesem Sinne ist. Ob diese Bedeutung im konkreten Fall nun tatsächlich gegeben war, kann aufgrund des nachfolgenden Satzes der Urteilsbegründung durchaus bezweifelt werden. Der BGH führte anschließend aus: „Davon abgesehen könnte die Tatsache, daß der Täter die Gefährdung des Unterhalts für seine große Familie durch das Begehen von Straftaten und deren Folgen in Kauf genommen hat, auch bei einem deutschen A straferschwerend gewertet werden.“241 Wollte der BGH damit lediglich seine eigene Rechtsprechung gleichsam absichern oder impliziert der Nachsatz die eigentliche Obsoleszenz der vorangegangenen ausländerspezifischen Erwägung? Der Entscheidung selbst lässt sich das nicht sicher entnehmen. In der Gesamtschau stellte das Urteil des Bundesgerichtshofs jedenfalls erste Grundsätze für die Handhabung ausländerrechtlicher Folgen in der Strafzumessung auf. Zunächst ist herauszustellen, dass eine strafschärfende Berücksichtigung dieser Umstände nicht gleichzusetzen ist mit der strafschärfenden Berücksichtigung der Ausländereigenschaft. Vielmehr gliederte der BGH in seiner Entscheidung diesen Punkt aus dem Problemfeld der Ausländereigenschaft per se aus. Des Weiteren lässt sich am Wortlaut der Entscheidung (bei Holtz kursiv hervorgehoben)242 erkennen, dass der BGH die angestellten Erwägungen in unmittelbarem Kontext zur Strafzumessungsschuld stellt, wenn er betont, dass den Angeklagten das Risiko der Ausweisung bewusst war und sie die Taten trotzdem begangen haben. Der Rekurs auf § 46  II  StGB („der bei der Tat aufgewendete Wille“) ist demnach folgerichtig und in Hinblick auf eine am Gesetz orientierte Lösung zu begrüßen. Eine vergleichbare Absicherung hat der BGH in Hinblick auf die das Ausweisungsrisiko betreffende Erwägung jedoch versäumt. 239  Vgl.

BGH, in: MDR 1976, ebenda. in: MDR 1976, ebenda, kursive Hervorhebungen im Originaltext vor-

240  BGH,

handen. 241  BGH, in: MDR 1976, ebenda. 242  Vgl. letzter Absatz von BGH, in: MDR 1976, S. 812, mitgeteilt von Holtz.

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3. BGH, Beschluss vom 12.07.1996 In den 1980er Jahren lassen sich praktisch keine Entscheidungen zur Problematik ausmachen.243 Ein Grund hierfür mag die unmittelbar bevorstehende Novellierung des Ausländerrechts244 gewesen sein, welche die Tatgerichte gleichsam davon abgehalten haben könnte, in diesem Zeitraum Strafzumessungserwägungen mit ausländerrechtlichem Bezug anzustellen. Dieser Schluss liegt jedenfalls insoweit nahe, als dass nach 1990 wieder vermehrt Entscheidungen die Rechtsmittelgerichte erreichten, die sich z. T. auch schwerpunktmäßig mit ausländerrechtlichen Konsequenzen befassten. Eine solche Entscheidung ist der Beschluss des BGH vom 12.07.1996.245 Der dem Ausländergesetz unterliegende Angeklagte hatte wiederholt und unerlaubt sog. „Hartdrogen“ in nicht geringer Menge nach Deutschland eingeführt, um diese an minderjährige Konsumenten zu verkaufen.246 Das Landgericht Aurich247 hatte den Angeklagten daher verurteilt und dabei, weder bei der Strafrahmenwahl noch bei der Strafzumessung i. e. S., die ausländerrechtlichen Folgen diskutiert.248 Das darauf gestützte Rechtsmittel des Beschwerdeführers hatte keinen Erfolg. Der BGH führte aus, dass es den Bestand des Urteils nicht gefährde, „daß das Landgericht weder bei der Strafrahmenwahl noch bei der Strafzumessung die ausländerrechtlichen Folgen – die ohnehin nicht als bestimmender Strafzumessungsgrund anzusehen sind  – ausdrücklich erwähnt hat (§ 47 Abs. 1 Nr. 1 AuslG: Ausweisung bei mindestens fünf Jahren Freiheitsstrafe nach § 47 Abs. 1 Nr. 3 AuslG: Ausweisung bei einer nicht zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe wegen einer vorsätzlichen Betäubungsmittel­ straf­tat).“249 243  Vgl. auch für die unveröffentlichten Entscheidungen jeweils die Rechtsprechungsübersichten von Mösl, in: NStZ 1981, S. 131 ff., auf S. 132 heißt es lediglich dazu, dass die Argumentation, der ausländische Angeklagte habe bewusst das Risiko der nach einer Verurteilung drohenden Ausweisung auf sich genommen und damit eine erhöhte kriminelle Energie bewiesen, rechtlich unbedenklich ist. Jedoch gibt Mösl dafür keine Entscheidung an; ders., in: NStZ 1982, S. 148 ff., dort findet sich bereits keine Anmerkung mehr zur Problematik ausländerrechtlicher Konsequenzen in den Strafzumessungsgründen; ders., in: NStZ 1983, S. 160 ff.; ders., in: NStZ 1984, S. 158 ff., letztere auch ohne Urteile, die eine solche Erwägung zum Gegenstand gehabt haben könnten. 244  Vgl. die Vorbemerkungen soeben. 245  Vgl. BGH, Beschluss v. 12.07.1996  – 3 StR 265/96; siehe auch BGHR, § 46 II, Lebensumstände 16, Ausländerausweisung. 246  Vgl. BGH, Beschluss v. 12.07.1996  – 3 StR 265/96. 247  Vgl. LG Aurich, Urteil v. 14.03.1996  – 11 KLs 9 Js 1364/94  – I 26/94. 248  Vgl. BGHR, § 46 II, Lebensumstände 16, Ausländerausweisung. 249  Vgl. BGHR, ebenda.



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Bemerkenswert ist zunächst, dass die Entscheidung des BGH von 1996 damit kaum Gemeinsamkeiten zur Entscheidung aus dem Jahre 1976 aufweist. Auch in den Urteilsgründen findet sich kein Hinweis auf die ältere Entscheidung, obwohl thematische Schnittmengen bestehen. Ganz im Gegenteil postuliert der 3. Senat gleichsam die Irrelevanz von ausländerrechtlichen Folgen für die Strafzumessung, wenn er feststellt, dass „ausländerrechtliche Folgen […] ohnehin nicht als bestimmender Strafzumessungsgrund anzusehen sind.“250 Bestimmender Strafzumessungsgrund i. d. S. bedeutet gem. § 267 III StPO, dass solche Strafzumessungsgründe, die für das Urteil bestimmend gewesen sind, auch in den Urteilsgründen aufzuführen sind.251 Eine abschließende und vollumfängliche Aufzählung aller Strafzumessungsgründe sei weder vorgeschrieben noch möglich.252 Das wiederum bedeutet allerdings auch, dass die ausländerrechtlichen Folgen als nicht bestimmender Strafzumessungsumstand gleichwohl vom Richter bedacht werden können, es aber nicht müssen.253 4. BGH, Beschluss vom 11.09.1996 Knapp zwei Monate nach dem soeben besprochenen Urteil musste sich der 3. Senat abermals mit der Frage befassen, ob ausländerrechtliche Folgen in der Strafzumessung zu diskutieren sind.254 Das LG Osnabrück hatte den Angeklagten wegen Betäubungsmitteldelikten verurteilt und dabei u. a. die ausländerrechtlichen Folgen in der Strafzumessung diskutiert.255 Hatte der 3. Senat beim BGH noch vor kurzem deutlich gemacht, dass ausländerrechtliche Folgen „ohnehin nicht“ als bestimmende Strafzumessungsgründe anzusehen seien, änderte er seine Rechtsprechung mit dieser Entscheidung. In den Beschlussgründen relativiert der 3. Senat seine zwei Monate ältere Entscheidung zur Problematik ausländerrechtlicher Folgen in der Strafzumessung z. T. bereits mit dem ersten Satz im relevanten Absatz, wenn er formuliert: „Auch die drohende Ausweisung eines Ausländers ist nicht ohne weiteres256 als bestimmender Strafzumessungsgrund anzusehen.“257 Zur in250  Vgl. 251  Vgl.

Rn. 1.

BGHR, ebenda. Detter, Einführung in die Praxis des Strafzumessungsrechts, Teil V,

Detter, Einführung in die Praxis des Strafzumessungsrechts, ebenda. Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 1352. 254  BGH, Beschluss v. 11.09.1996, 3 StR 351/96; vgl. auch BGHR, § 46 II, Lebensumstände 17, Ausländer; BGH, in: NJW 1997, 403. 255  Vgl. BGH, in: NJW 1997, ebenda. 256  Kursive Hervorhebung durch den Autor. 257  Vgl. BGHR, § 46 II, Lebensumstände 17, Ausländerausweisung. 252  Vgl. 253  Vgl.

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haltlichen Abstützung zitiert er dabei seine eigene Entscheidung vom 12.07. desselben Jahres, in der es hieß, dass ausländerrechtliche Folgen „ohnehin nicht“ als bestimmende Strafzumessungsgründe anzusehen wären.258 Weiter heißt es: „Ob ein Verurteilter, der sein Bleiberecht durch erhebliche Straffälligkeit verwirkt hat, durch eine Ausweisung so hart getroffen wird, daß dies ausdrücklich strafmildernd zu erwägen ist, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab (vgl. BGH, Urteil vom 22. August 1996 – 4 StR 280 / 96).“259 Der zuletzt zitierte Satz ist deshalb erwähnenswert, weil insbesondere der Verweis auf das Urteil des 4. Senats vom 22.08.1996 sachlich nicht nachzuvollziehen ist. Dort wird in keinem Abschnitt der Urteilsgründe die strafmildernde Berücksichtigung einer drohenden Ausweisung erwähnt, auf die sich der 3. Senat nunmehr in seiner Entscheidungsbegründung stützte.260 Begrüßenswert an der Entscheidung ist jedoch der Hinweis des BGH, dass für den Fall einer nicht zwingenden Ausweisung die besondere Härte ohnehin im Ausweisungsverfahren Berücksichtigung finden würde,261 was einer zu großzügigen Einbeziehung mittelbarer Strafwirkungen in die Strafzumessung eine Absage erteilt. Denn mittelbare strafrechtliche Folgen beeinflussen nicht das Maß der Strafzumessungsschuld.262 Insoweit sind die teilweise in der Literatur formulierten Bedenken durchaus angebracht, wenn moniert wird, dass sich die Strafzumessung in diesen Fällen immer mehr an den Folgen und immer weniger an der Tat selbst orientiere.263 Für den Fall einer zwingenden Ausweisung stellt der BGH andererseits fest, dass nach dem Gesetzeszweck der Ausweisungsvorschrift eine Erörterung nur dann vorzunehmen ist, „wenn die gesetzlichen Grenzwerte der zwingend zu einer Ausweisung führenden Freiheitsstrafe nicht erheblich überschritten werden.“264 Insoweit lassen die bislang dargestellten Entscheidungen bereits einen Wandel in der Rechtsprechungslinie hinsichtlich der Berücksichtigung von ausländerrechtlichen Folgen in den Strafzumessungsgründen erkennen. Das ist insbesondere dem Umstand geschuldet, dass der 3. Senat die Entscheidung des 2. Senats von 1976, welche den Fokus noch auf die Schulddimen258  Vgl. BGH, Beschluss v. 11.09.1996, 3 StR 351/96; vgl. auch BGHR, § 46 II, Lebensumstände 17, Ausländer. 259  Vgl. BGH, Beschluss v. 11.09.1996, 3 StR 351/96; vgl. auch BGHR, § 46 II, Lebensumstände 17, Ausländer. 260  Vgl. Wortlaut der Entscheidung: BGH, Urteil v. 22.08.1996  – 4 StR 280/96; teilweise abgedruckt, BGH, in: NStZ-RR 1997, 1; BGH, in: StV 1997, 183. 261  BGHR, § 46 II, Lebensumstände 17, Ausländer. 262  Umstritten, so aber Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 718; vgl. zu diesen Problemkreis unten, Teil 5, B., IV. 263  Vgl. etwa Streng, Strafrechtliche Sanktionen, ebenda. 264  Vgl. BGHR, § 46 II, ebenda.



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sion des Angeklagten legte, ignorierte und eine eigene Linie in dieser Frage entwickelt hat, die sich von der schuldorientierten Lösung des 2. Senats abhebt. Dieser Umschwung in der Rechtsprechung ist seitens der Literatur auch wenig diskutiert worden.265 5. BGH, Urteil vom 16.06.1998 Der 1. Senat beim BGH befasste sich in der Folgezeit ebenfalls mit der hier in Rede stehenden Problematik.266 In der Vorinstanz hatte das LG Hechingen den Angeklagten wegen versuchten Totschlags zu vier Jahren Haft verurteilt.267 Da der Angeklagte im Jahre 1998 als „EG-Ausländer“ galt, hatte das Gericht auch die besonderen Vorschriften, eine etwaige Ausweisung betreffend, zu beachten, vgl. § 2 II AuslG a. F. i. V. m. § 12 IV AufenthG / EWG a. F.268 Denn trotz der verwirkten Haftstrafe von vier Jahren lagen damit die Voraussetzungen für eine zwingenden Ausweisung nicht vor. Obwohl der 1. Senat durch die Revision nicht dazu angehalten war, erteilte er für die neue Verhandlung einige Hinweise in der Sache.269 Der 1. Senat führt diesbezüglich aus: „Ausländerrechtliche Folgen einer Tat sind in der Regel keine bestimmenden Strafzumessungsgründe (BGHR StGB § 46 Abs. 2 Lebensumstände 16, 17). Nur besondere Umstände können im Einzelfall eine andere Beurteilung rechtfertigen. Im Übrigen können dann, wenn, wie hier, eine Ausweisung nicht zwingend vorgeschrieben ist […], besondere Härten im Ausweisungsverfahren berücksichtigt werden (BGHR, aaO 17 m. w. Nachw.).“270 Weshalb auch der 1. Senat den unterschiedlichen, strafzumessungsrelevanten Gehalt der beiden bereits besprochenen Entscheidungen des 3. Senats (vgl. BGHR StGB § 46 Abs. 2 Lebensumstände 16, 17) z. T. verkennt, bleibt fraglich. Begrüßenswert ist immerhin, dass sich der 1. Senat hier der Position anschließt, dass mittelbare Strafwirkungen nur zurückhaltend i. R. d. Strafzumessung zu berücksichtigen sind. Dennoch legte der BGH hier der zur neuen Entscheidung berufenen Strafkammer nahe, sich mit einer etwaigen strafmildernden Berücksichtigung dieses Umstandes auseinander zu setzen, wenn er darauf hinweist, dass sich „Zu alledem […] die Strafkammer bei der mildernden Berücksich265  So sind die bislang erfolgten Darstellungen und Aufarbeitungen in diesem Bereich häufig an der Oberfläche geblieben, vgl. etwa Valerius, Kultur und Strafrecht, S.  302 ff. 266  Vgl. BGH, Urteil v. 16.06.1998  – 1 StR 162/98. 267  Vgl. BGH, Urteil v. 16.06.1998  – 1 StR 162/98, UA.  8. 268  Vgl. BGH, Urteil v. 16.06.1998  – 1 StR 162/98, UA.  38. 269  Vgl. BGH, Urteil v. 16.06.1998  – 1 StR 162/98, UA.  36. 270  BGH, Urteil v. 16.06.1998  – 1 StR 162/98, UA.  38.

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tigung der voraussichtlich drohenden Ausweisung nicht geäußert [hat].“271 Inwieweit dies mit der Position zu vereinbaren ist, dass ausländerrechtliche Folgen keine bestimmenden Strafzumessungsgründe darstellen, wenn die Ausweisung nicht zwingend zu erfolgen hat, wird nicht ausgeführt. 6. BGH, Beschluss vom 27.11.1998 In diesem Zusammenhang ist auch der Beschluss des BGH vom 27.11.1998 erwähnenswert.272 Zuvor hatte das LG Kiel273 den Angeklagten u. a. wegen versuchten Totschlags zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten verurteilt.274 Bei der Nachprüfung des Urteils hatte sich der 3. Senat ausführlich mit den Strafzumessungserwägungen des LG auseinander gesetzt und stellte heraus, dass er an seiner bisherigen Rechtsprechung zur Behandlung ausländerrechtlicher Folgen festhalte.275 In den Beschlussgründen heißt es: „Bei der Strafzumessung hat das Landgericht ‚ganz erheblich strafmildernd‘ berücksichtigt, daß der Angeklagte, der in Deutschland aufgewachsen ist und hier mit seiner deutschen Ehefrau und seinen Kindern zusammenlebt und seinen Lebensmittelpunkt gefunden hat, aufgrund dieses Urteils nach § 47 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 Satz 1, § 48 Abs. 1 AuslG ‚in der Regel ausgewiesen‘ und von ‚dieser möglichen Folgewirkung seiner Taten besonders hart‘ getroffen sein wird.“276 Dieser erheblichen Berücksichtigung ausländerrechtlicher Folgen erteilte der 3. Senat entgegen der Auffassung des Tatgerichts eine klare Absage. Darüber hinaus wäre es ohnehin nicht notwendig gewesen, sich mit den ausländerrechtlichen Konsequenzen im Urteil auseinander zu setzen, da dem Angeklagten die Ausweisung aufgrund der Verurteilung nur der Regel nach, nicht aber zwingend, gedroht hätte.277 Dass die Revision des Angeklagten letztlich nicht zur Verwerfung des Urteils führte, lag freilich daran, dass das Tatgericht die ausländerrechtlichen Konsequenzen nicht zum Nachteil des Angeklagten berücksichtigt hatte.278 Damit liefert die Entscheidung des BGH erstmals nähere Kriterien dafür, wann ein Angeklagter besonders hart von einer Ausweisung getroffen würde und wie damit i. R. d. Strafzumessung umzugehen ist. Sie liefert aber auch 271  Vgl.

BGH, Urteil v. 16.06.1998  – 1 StR 162/98, ebenda. BGH, Beschluss v. 27.11.1998  – 3 StR 436/98. 273  Vgl. LG Kiel, Urteil v. 26.02.1998, 591 Js 29159/93  – I KLs (10/96). 274  Vgl. BGH, Beschluss v. 27.11.1998  – 3 StR 436/98, UA.  1. 275  Vgl. BGH, Beschluss v. 27.11.1998  – 3 StR 436/98, UA.  4. 276  BGH, Beschluss v. 27.11.1998  – 3 StR 436/98, UA.  2. 277  Vgl. BGH, Beschluss v. 27.11.1998  – 3 StR 436/98, UA.  3 f. 278  Vgl. BGH, Beschluss v. 27.11.1998  – 3 StR 436/98, UA.  3. 272  Vgl.



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Verdachtsmomente dafür, dass sich bei den Gerichten der unteren Ebene eine eigene Praxis im Umgang mit der Problematik entwickelt haben könnte. 7. BGH, Urteil vom 23.03.1999 Daneben steht die kurze Zeit später folgende Entscheidung des 1. Senats beim BGH vom 23.03.1999.279 Der Angeklagte war in der Vorinstanz vom LG Stuttgart wegen mehrfachen Betrugs zu drei Jahren Haft verurteilt worden.280 Der Verteidiger des Angeklagten rügte, dass das LG bei der Strafzumessung den Umstand nicht gewürdigt hatte, dass „schon ein Tag“ weniger lediglich zur Regelausweisung des § 47 II AuslG a. F. geführt hätte, was wiederum der Ausländerbehörde ein Ermessen im Ausweisungsverfahren eröffnete hätte und so letztlich dem Angeklagten als mildere mittelbare Strafwirkung zugute gekommen wäre.281 Dem entgegnete der 1. Senat beim BGH mit einer deutlichen Absage: „Gleichwohl bedurfte dieser Umstand keiner ausdrücklichen Erwähnung durch den Tatrichter im Rahmen der Strafzumessung. Ausländerrechtliche Folgen einer Tat sind in der Regel keine bestimmenden Strafzumessungsgründe. Nur besondere Umstände können im Einzelfall eine andere Beurteilung rechtfertigen (BGH, Urt. vom 16.  Juni 1998  – 1 StR 162 / 98  – m. w. Nachw., vgl. bei Detter NStZ 1999, 122). Derartige Umstände liegen hier – wie sich aus den Urteilsfeststellungen ergibt – ersichtlich nicht vor […].“282 Der BGH ergänzt, dass der Angeklagte nigerianischer Staatsangehöriger ist, sein Asylantrag abgelehnt wurde, seine Frau, die britische Staatsangehörige ist, in England lebt und sein Kind sich in Nigeria aufhält.283 Ferner unterhielte der Angeklagte weder persönliche noch geschäftliche Beziehungen im Inland, deren etwaige Beendigung sich als persönliche Härte darstellen könnte.284 Bemerkenswert ist, dass es sich dabei um die gleichen Erwägungen handelt, die auch das LG Kiel in der gerade besprochenen Entscheidung angeführt hatte. Allerdings konnten die Feststellungen hinsichtlich der Person des Angeklagten hier nicht zu einer Berücksichtigung der Umstände zu seinen Gunsten führen. Ferner ist dem BGH darin zuzustimmen, dass eine Erörterung in den Strafzumessungsgründen auch dann entbehrlich erscheint, wenn der Angeklagte nach der Haftentlassung ohnehin das Bundesgebiet wegen des abge279  BGH,

Urteil v. 23.03.1999  – 1 StR 19/99. LG Stuttgart, Urteil v. 06.06.1998  – 13 KLs 131 Js 23181/98. 281  Vgl. BGHR, § 46 II, Ausländer 5, Ausweisung. 282  BGHR, § 46 II, Ausländer 5, Ausweisung. 283  Vgl. BGHR, § 46 II, ebenda. 284  Vgl. BGHR, § 46 II, ebenda. 280  Vgl.

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lehnten Asylantrags hätte verlassen müssen.285 Dabei hätte es u. U. von Interesse sein können, ob es sich bei dem abgelehnten Asylantrag um eine unanfechtbare Entscheidung gehandelt hat.286 Das lässt sich weder dem Urteil des LG Stuttgart, noch dem des BGH sicher entnehmen. In Anbetracht der Regelung von § 56 IV AufenthG hätte sich das Gericht allerdings damit befassen müssen, da nur eine unanfechtbare, ablehnende Entscheidung im Asylverfahren den besonderen Ausweisungsschutz entfallen lässt. In der Gesamtschau bestätigt die Entscheidung den Trend einer eher restriktiven Handhabung ausländerrechtlicher Folgen in der Strafzumessung bei den Rechtsmittelgerichten. Nur für den Fall, dass neben der zwingenden Ausweisung aufgrund der Verurteilung auch solche Umstände hinzutreten, die in einer Gesamtbetrachtung eine besondere Härte für den Angeklagten darstellen würden, müsste sich ein Tatgericht obligatorisch zu ausländerrechtlichen Folgen in der Strafzumessung äußern. 8. BGH, Urteil vom 05.12.2001 Auch der 2. Senat befasste sich im Jahre 2001 wieder mit der Problematik. Das LG Köln hatte den Angeklagten im vorinstanzlichen Urteil zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten sowie wegen weiteren Taten zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt.287 Doch anstatt seine aus dem Jahre 1976 stammende, schuldorientierte Rechtsprechungslinie fortzusetzen, schloss sich der 2. Senat in der Grundtendenz den Entscheidungen des 1. und des 3. Senats beim BGH zur Problematik ausländerrechtlicher Folgen in der Strafzumessung an. Er stellte klar, dass ausländerrechtliche Folgen einer Tat in der Regel keine bestimmenden Strafzumessungsgründe sind und nur besondere Umstände im Einzelfall eine andere Beurteilung rechtfertigen würden.288 Ebenso schloss sich der 2. Senat der Position an, dass dies auch dann gilt, wenn die Ausweisung nach § 47 I AuslG a. F. zwingend geboten ist.289 Daneben können eventuelle Härten im Rahmen des der Ausländerbehörde eingeräumten Ermessens berücksichtigt werden.290 285  Vgl.

insoweit dazu BGHR, § 46 II, Lebensumstände 17, Ausländer. dazu bspw. Bergmann/Dienelt/Röseler-Renner, Ausländerrecht, AsylVfG, § 71, Rn. 6 f. 287  Vgl. LG Köln, Urteil v. 13.02.2001  – 41 Js 405/00  – B 113  – 41/00; siehe auch BGH, Urteil v. 05.12.2001  – 2 StR 273/01, UA.  1; vgl. auch BGHR, § 46 II, Ausländer 6, Ausweisung; BGH, in: NStZ 2002, 196 f. 288  BGH, Urteil v. 05.12.2001  – 2 StR 273/01, UA.  6. 289  BGH, Urteil v. 05.12.2001  – 2 StR 273/01, ebenda. 290  BGH, Urteil v. 05.12.2001  – 2 StR 273/01, ebenda. 286  Vgl.



B. Rechtsprechungsgenese nach dem Inkrafttreten des § 13 StGB a. F.181

Damit lässt sich festhalten, dass mit dieser Entscheidung die ersten vier Senate beim BGH eine weitgehend einheitliche Position hinsichtlich der Berücksichtigung ausländerrechtlicher Folgen bei der Strafzumessung bezogen haben. 9. BGH, Beschluss vom 22.09.2003 Auch der 5. Senat schloss sich dieser Position im Jahre 2003 an.291 In einer Jugendstrafsache vor dem LG Berlin wurde der Angeklagte zu einer Jugendstrafe von 4 Jahren und 10 Monaten verurteilt, ohne dass sich das LG in der Strafzumessung mit etwaigen ausländerrechtlichen Konsequenzen auseinander setzte.292 Der 5. Senat beim BGH stellte dazu fest: „Etwaige den Angekl. treffende ausländerrechtliche Folgen waren keine Umstände, die der Tatrichter bei der Strafzumessung hätte erörtern müssen. Nur besondere Umstände können im Einzelfall eine andere Beurteilung rechtfertigen […]. Dies gilt selbst dann, wenn ein zwingender Ausweisungsgrund […] in Betracht kommt.“293 Eine besondere Härte vermochte der BGH im vorliegenden Fall nicht auszumachen, da der Angeklagte als in Deutschland Geborener ohnehin dem besonderen Ausweisungsschutz des § 48 I Nr. 2 AuslG a. F. unterlag und etwaige Härten im Rahmen des behördlichen Ermessens beim Ausweisungsverfahren berücksichtigt werden konnten.294 Auch anhand dieser Entscheidung wird deutlich, dass die einzelnen Senate beim BGH bemüht waren, eine einheitliche Linie hinsichtlich der Behandlung ausländerrechtlicher Konsequenzen in der Strafzumessung zu entwickeln.

291  Vgl. BGH, Beschluss v. 22.09.2003 – 5 StR 389/03; BGH, in: NStZ-RR 2004, 11 f., Anmerkung des Autors zum Abdruck der Entscheidung in der NStZ-RR 2004: Der Abdruck der Entscheidung ist teilweise fehlerbehaftet. Einerseits wird der Beschluss dort mit dem 11.09.2003 datiert und andererseits wird der von der Schriftleitung verfasste Leitsatz nicht von den Urteilsgründen getragen. Dies gilt für den im Folgenden kursiv hervorgehobenen Teil des Leitsatzes der Schriftleitung: „Ausländerrechtliche Folgen einer Tat sind in der Regel keine bestimmenden Strafzumessungsgründe, nur besondere Umstände können im Einzelfall eine Erörterung in den Urteilsgründen erforderlich machen. Dies gilt namentlich, wenn die Anordnung der ausländerrechtlichen Maßnahme im Ermessen der Behörde steht.“, vgl. NStZ-RR 2004, 11. Dieser Leitsatz, würde er von den Urteilsgründen getragen, hätte eine höchst relevante Änderung der Rechtsprechung bedeutet. 292  Vgl. LG Berlin, Urteil v. 16.05.2003  – (507) 11 Js Gs 2621/02/KLs (3/03). 293  BGH, Beschluss v. 22.09.2003  – 5 StR 389/03. 294  Vgl. BGH, Beschluss v. 22.09.2003  – 5 StR 389/03.

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10. Zwischenergebnis und Tendenzen In der Gesamtschau lässt sich im Zusammenhang mit der hier diskutierten Problematik festhalten, dass bei den Senaten des Bundesgerichtshofs mittlerweile Einigkeit darüber herrscht, wie ausländerrechtliche Folgen in der Strafzumessung zu handhaben sind. Eine Aufnahme dieser Voraussetzungen ist allerdings auch nicht vom neueren Schrifttum zu verzeichnen.295 Nach derzeitiger Auffassung des BGH sind ausländerrechtliche Folgen grds. keine bestimmenden Umstände für die Zumessung der Strafe i. S. v. § 267 III StPO. Etwas anderes gilt aber dann, wenn: (a) Die Ausweisung aufgrund der Verurteilung zwingend zu erfolgen hat. Dies ist i. d. R. dann der Fall, wenn dem Ausländer gem. § 53 Nr. 1 AufenthG wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten die Verurteilung zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens drei Jahren droht. (b) Dabei darf die drohende Freiheitsstrafe den Grenzwert, der zwingend zu einer Ausweisung führenden Freiheitsstrafe, nicht erheblich überschreiten. Dies dürfte bei Freiheitsstrafen über vier Jahren regelmäßig der Fall sein. (c) Der Ausländer darf nicht den besonderen Ausweisungsschutz des § 56 AufenthG genießen. Denn danach führt auch das Vorliegen der Gründe einer zwingenden Ausweisung nur zur Regelausweisung bzw. zur Ausweisung nach Ermessen, gem.  § 56  I  4,  5 AufenthG. (d) Daneben muss zusätzlich aber auch die Ausweisung eine besondere Härte für den Angeklagten darstellen. Bei der Ausfüllung dieses Kriteriums hat sich die Rechtsprechung bislang nur zurückhaltend geäußert.296 Wie sich gezeigt hat, wird nur in wenigen Urteilen Bezug zu konkreten Anhaltspunkten hergestellt, welche als besondere Härte in diesem Sinne gelten. Jedenfalls ist dann von einer zusätzlich gegebenen besonderen Härte für den Ausländer auszugehen, wenn der Angeklagte in Deutschland aufgewachsen ist und hier sozialisiert wurde, er seinen Lebensmittelpunkt in Deutschland genommen hat und demnach besondere persönliche und / oder geschäftliche Beziehungen im Inland pflegt, deren Beendigung sich als einschneidende Folgen für seine Existenz 295  So ist bspw. die Darstellung bei Valerius, Kultur und Strafrecht, S. 303 zu undifferenziert, wenn er formuliert, dass bereits die drohende Folge einer zwingenden Ausweisung zur strafmildernden Berücksichtigung der ausländerrechtlichen Folgen in den Urteilsgründen führen müsse. 296  Vgl. zuletzt bspw. BGH, Beschluss v. 29.07.2010  – 1 StR 349/10, wo es heißt: „Besonderheiten, die vorliegend ausnahmsweise eine andere Beurteilung nahe legen könnten, sind nicht ersichtlich (vgl. BGH NStZ 2002, 196 m. w. N.).



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darstellen würden. Im Übrigen ist davon auszugehen, dass diese Aufzählung nicht abschließend sein kann. Es muss insofern Raum für Einzelfallentscheidungen verbleiben, die solche Kriterien erfassen, die den Angeklagten vergleichbar hart träfen. (e) Schließlich ist darauf zu achten, ob der Ausländer nach der Haft nicht ohnehin das Bundesgebiet zu verlassen hat, weil er bspw. über keinen gültigen Aufenthaltstitel mehr verfügt. In solchen Fällen wäre eine Auseinandersetzung mit ausländerrechtlichen Folgen in der Strafzumessung ebenfalls obsolet. Diese Kriterien werden mittlerweile – wie sich gezeigt hat – einheitlich, wenn auch z. T. nur implizit, von der Rechtsprechung des BGH vertreten. Nur bei deren kumulativem Vorliegen sind ausländerrechtliche Folgen als bestimmende Strafzumessungsumstände i. S. v. § 267  III StPO anzusehen, was dann aber auch konsequenterweise dazu führen müsste, dass sie i. R.v. strafzumessungsrechtlichen Gesamtbetrachtungsvorgängen (etwa bei der Frage, ob ein minderschwerer Fall vorliegt) einbezogen werden.297 Dass die ausländerrechtlichen Konsequenzen der Tat an sich lediglich nachfolgen, führt nach Auffassung des Bundesgerichtshofs nicht dazu, sie aus dem Kreis der für solche Betrachtungen in Frage kommenden Umstände auszuscheidenden.298 Auch für die Fälle, bei denen das Tatgericht in den ausländerrechtlichen Folgen keinen bestimmenden Strafzumessungsgrund erkennt, kann es zu einer strafmildernden Anrechnung dieses Umstandes kommen.299 Im Übrigen wäre hier die Bezeichnung als Strafzumessungsumstand vor dem Hintergrund der Regelung in § 267 III 1 StPO und dem zu Beginn der Arbeit Gesagten systematisch exakt. Auch das Bundesverfassungsgericht hat die Praxis des Bundesgerichtshofs im Umgang mit ausländerrechtlichen Folgen in der Strafzumessung gebilligt.300 In seinem Nichtannahmebeschluss vom 29.03.2007 stellt das BVerfG klar: „Insbesondere der vom Beschwerdeführer anlässlich der Gegenvorstellung zum Oberlandesgericht genannten Entscheidung des Bundes297  So hat der BGH in der jüngeren Vergangenheit entschieden, auch disziplinarrechtliche Folgen können für die Annahme eines minderschweren Falles entscheidend sein, vgl. hierzu Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 718. Aufgrund der Tatsache, dass sowohl disziplinarrechtliche wie ausländerrechtliche Konsequenzen mittelbare Strafwirkungen darstellen, liegt somit die Annahme nicht unbedingt fern, dass nach der Rechtsprechung des BGH auch ausländerrechtliche Folgen insoweit für die Annahme eines minderschweren Falles in Betracht gezogen werden können. 298  Vgl. Detter, Einführung in die Praxis des Strafzumessungsrechts, Teil II, Rn. 31 m. w. N.; ablehnend dagegen Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 718. 299  Vgl. Schmidt, Verteidigung von Ausländern, Rn. 246. 300  Vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss v. 29.03.2007  – 2 BvR 617/07.

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gerichtshofs (Beschluss des 5. Strafsenats des Bundesgerichtshofs vom 22.  September 2003  – 5 StR 389 / 03  –, NStR-RR 2004, S. 11) lässt sich nicht entnehmen, dass ausländerrechtliche Folgen einer Verurteilung durch den Tatrichter bei der Strafzumessung in jedem Fall erörtert werden müssten. Nur unter besonderen Umständen sei dies – so der Bundesgerichtshof – erforderlich. Die bloße Tatsache, dass das Urteil – wie hier – einen zwingenden Ausweisungsgrund bedinge, stelle keine derartigen besonderen Umstände dar. Dagegen ist von Verfassungswegen nichts zu erinnern.“301 Daneben haben sich aber gerade im untergerichtlichen Bereich Hinweise auf eine gewisse Praxis sui generis im Umgang mit ausländerrechtlichen Folgen in der Strafzumessung verdichtet. So schwierig es zuweilen ist, gerade diese i. d. R. unveröffentlichten Urteile der Amts- und Landgerichte sichten zu können, sollen doch an dieser Stelle einige Belege für diese These nachgestellt werden. Im Jahre 2008 etwa hatte sich das LG Lüneburg u. a. mit einem jungen Türken zu befassen, der mit Angehörigen seiner Familie eine verfeindete arabische Familie überfallen hatte – es kam dabei zu erheblichen Personenschäden – weshalb er zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt wurde.302 In der Strafzumessung führte das LG aus: „Zugunsten des Angeklagten hat die Kammer schließlich berücksichtigt, dass ihm nach dem Wegfall des Heranwachsendenprivilegs im neuen AufenthaltsG die Abschiebung droht, eine gravierende Folge angesichts seiner Sozialisation in Deutschland.“303 Das LG hatte demnach die ausländerrechtlichen Folgen zugunsten des Angeklagten in der Strafzumessung diskutiert, obwohl es nach Auffassung des BGH hierzu von Rechts wegen nicht verpflichtet gewesen wäre. Denn zunächst bedingt die verwirkte Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 9 Monaten schon keine zwingende Ausweisung gem. § 53 AufenthG – gleichsam die „Minimalvoraussatzung“, um in der Strafzumessung ausländerrechtliche Folgen in Erwägung zu ziehen. Daneben sieht auch das „neue Aufenthaltsgesetz“ in einem solchen Fall bspw. gem. § 56 I Nr. 2 Alt. 2 AufenthG den besonderen Ausweisungsschutz vor, was die Feststellungen zur Person des Angeklagten jedenfalls nahelegen (der Angeklagte reiste als Minderjähriger ein und befand sich bereits rund sieben Jahre, gemessen von der Einreise bis zum Tattag – in Deutschland).304 Im 301  BVerfG,

Nichtannahmebeschluss v. 29.03.2007  – 2 BvR 617/07, UA.  4. LG Lüneburg, Urteil v. 01.10.2008 – 20 KLs/1301 Js 10482/07 (36/07) – unveröffentlicht. 303  LG Lüneburg, Urteil v. 01.10.2008  – 20 KLs/1301 Js 10482/07 (36/07), S. 106, V., 2. 304  Vgl. LG Lüneburg, Urteil v. 01.10.2008  – 20 KLs/1301 Js 10482/07 (36/07), S.  8 f. 302  Vgl.



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Übrigen ist die insgesamt zu oberflächliche und nur floskelhafte Auseinandersetzung mit der Problematik im Urteil zu kritisieren.305 Auch das LG Stuttgart scheint eine Praxis sui generis im Umgang mit ausländerrechtlichen Folgen in der Strafzumessung zu üben.306 Im Urteil der Großen Strafkammer vom 19.08.2009 wurden drei kosovarische Angeklagte, u. a. wegen Geiselnahme, zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Die Einzelstrafen für die Geiselnahme gem. § 239b I StGB betrugen bei dem Angeklagten U. G. acht Jahre und vier Monate, bei der Angeklagten A. G. sieben Jahre und sechs Monate und bei dem Angeklagten T. G. ebenfalls sieben Jahre und sechs Monate.307 Ohne zwingenden Grund erörterte das LG Stuttgart nur bei dem Angeklagten U. G. den Gesichtspunkt ausländerrechtlicher Maßnahmen.308 Dabei stellte es fest, dass zugunsten des Angeklagten der Umstand gewürdigt wurde, dass er aufgrund der Verurteilung mit „ausländerrechtlichen Maßnahmen zu rechnen hat.“309 Auch hierbei handelt es sich grds. um eine nicht notwendige Darstellung der ausländerrechtlichen Folgen in der Strafzumessung vor dem Hintergrund der revi­ sionsgerichtlichen Judikatur. Insbesondere ist bei einer verwirkten Gesamtstrafe von acht Jahren und sechs Monaten der Grenzwert der zu einer zwingenden Ausweisung führenden Strafe so deutlich überschritten, dass sich eine Behandlung dieser Frage hier erübrigt hätte. Aus systematisch-dogmatischer Sicht ist die Aufgabe des schuldorientierten Ansatzes des 2. Senats von 1976 kritisch zu betrachten, wenngleich klarzustellen ist, dass das Kriterium des bei der Tat aufgewendeten Willens nicht für alle Fallkonstellationen in diesem Kontext in Frage kommen kann. Kritisch ist auch die Tatsache zu beleuchten, dass die vom BGH aufgestellten Voraussetzungen in der Sache den Bezug zum primären strafzumessungsrechtlichen Instrumentarium vermissen lassen. Will man ausländerrechtliche Folgen als mittelbare Strafwirkungen in der Strafzumessung berücksichtigen, sollten die Gerichte, insbesondere der BGH, bei ihren Ausführungen zur Sache nicht den Bezug zu § 46 StGB vermissen lassen. § 46 II StGB bietet dabei durchaus Raum, ausländerrechtliche Folgen jedenfalls mittelbar zu würdigen. Dies mag bspw. durch Bezugnahme auf den bei der Tat aufgewendeten Willen, die verschuldeten Auswirkungen der Tat, die 305  Vgl. LG Lüneburg, Urteil v. 01.10.2008  – 20 KLs/1301 Js 10482/07 (36/07), S. 106 a. E. 306  Vgl. LG Stuttgart, Urteil v. 19.08.2009 – 16 KLs 112 Js 69301/08  – unveröffentlicht. 307  Vgl. LG Stuttgart, Urteil v. 19.08.2009  – 16 KLs 112 Js 69301/08, S. 2 f., 17 ff. 308  Vgl. LG Stuttgart, Urteil v. 19.08.2009  – 16 KLs 112 Js 69301/08, S. 18. 309  Vgl. LG Stuttgart, Urteil v. 19.08.2009  – 16 KLs 112 Js 69301/08, ebenda.

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persönlichen Verhältnisse usw. erreicht werden. Daneben ergibt sich aus § 46 I 2 StGB die Berücksichtigungspflicht der Wirkung, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind. Insofern ist das Gesamtstrafübel bei der Festsetzung der Strafe unter diesem Aspekt diskutierbar.310 Das würde nicht nur den Grad der Revisibilität der jeweiligen Urteile verbessen, sondern könnte darüber hinaus einer Herausbildung lokaler Urteilskulturen entgegenwirken.

V. Entscheidungen zur Berücksichtigung besonderer Strafempfindlichkeit bei fremdkulturellen Tätern 1. Vorbemerkungen Auf einer vergleichsweise jungen Entwicklung im Rahmen der Strafzumessungsrechtsprechung beruhen die Entscheidungen zur Berücksichtigung der Strafempfindlichkeit bei fremdkulturellen Tätern. Soweit ersichtlich findet dieser Strafzumessungsgesichtspunkt seinen Ursprung in einigen Entscheidungen aus den 1990er Jahren. Ein Grund hierfür ist die, wie z. T. bereits aufgezeigt werden konnte, restriktive Entwicklung der anderen Rechtsprechungslinien hinsichtlich ausländischer Täter. Die Rechtsprechung zu Ausländereigenschaft, Missbrauch des Gastrechts und Generalprävention haben in diesem Zeitraum immer mehr an vor allem praktischer Bedeutung verloren. Es liegt dabei in der Natur der Sache, dass unter dem Aspekt der (besonderen) Strafempfindlichkeit von Ausländern solche Erwägungen bei der Strafzumessung in Rede stehen, die sich strafmildernd auf das Maß der zu verhängenden Strafe auswirken sollen. Da eine Freiheitsstrafe einen Täter in Abhängigkeit seiner persönlichen Verhältnisse und Eigenschaften unterschiedlich hart treffen kann, soll demnach die Höhe der schuldangemessenen Strafe insoweit täterspezifisch variieren können, als dass ein gerechter Schuldausgleich auch das individuelle Strafleiden des jeweiligen Täters berücksichtigen müsse.311 Dem stehen Meinungen gegenüber, die die Aufgabe des Strafrechts freilich nicht darin sehen, eine Strafe derart zu bemessen, dass sich für vergleichbare Taten auch subjektiv gleiche Strafleiden ergeben.312 310  So

auch jüngst BGH, in: NJW 2010, 2677 ff. (2678). Valerius, Kultur und Strafrecht, S. 300; Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 726, beschreibt diesen Ansatz als den der h. M. für eine nach Nationalitäten differenzierende Sanktionierungspraxis; Detter, Einführung in die Praxis des Strafzumessungsrechts, S. 168; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 719. 312  Vgl. etwa Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 726. 311  Vgl.



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2. BGH, Beschluss vom 15.11.1991 Eine der – soweit ersichtlich – ersten revisionsgerichtlichen Entscheidungen, die sich mit dem Terminus der Strafempfindlichkeit im Zusammenhang mit ausländischen Tätern befasst hat, ist ein Beschluss des 2. Senats beim BGH vom 15.11.1991.313 Zuvor hatte das LG Aachen den ausländischen Angeklagten wegen schweren Raubes zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt.314 Die hiergegen eingelegte Revision des Angeklagten führte zur Aufhebung des Strafausspruches.315 Der 2. Senat war der Ansicht, dass die Kammer beim LG Aachen bei der Strafrahmenwahl ersichtlich nur auf tatbezogene Umstände abgestellt und die in der Sache gebotene Gesamtwürdigung nicht vorgenommen hatte.316 „Insbesondere hätte das Landgericht bei der Strafrahmenbestimmung zugunsten des Angeklagten berücksichtigen müssen: das relativ geringe Maß an Gewalt (keine scharfe Waffe), die geringe Beute, die schlechte wirtschaftliche Lage des Angeklagten und die besondere Strafempfindlichkeit als Ausländer.“317 Dabei wird aufgrund der knappen Ausführungen des 2. Senats nicht deutlich, ob er der Ansicht gewesen ist, dass ein Ausländer womöglich generell besonders strafempfindlich sei. Daneben ist hervorzuheben, dass der BGH die Strafempfindlichkeit im konkreten Fall schon bei der Strafrahmenwahl des § 250 StGB i. R. d. hierfür erforderlichen Gesamtbetrachtung berücksichtigt sehen wollte. 3. BGH, Beschluss vom 20.08.1996 Auch der 1. Senat beim BGH befasste sich in seinem Beschluss vom 20.08.1996 mit der Problematik der Strafempfindlichkeit von Ausländern.318 Vorangegangen war die Verurteilung eines niederländischen Angeklagten durch das LG Passau wegen unerlaubter Einfuhr von Schusswaffen.319 Dabei berücksichtigte das LG zugunsten des Angeklagten, dass dieser als „wenig deutsch sprechender Ausländer eine besondere Strafempfindlichkeit“ aufweise.320 Wenngleich sich der BGH hierzu nicht hätte äußern müssen – 313  Vgl.

BGH, Beschluss v. 15.11.1991  – 2 StR 497/91. LG Aachen, Urteil v. 15.07.1991  – 92 Js 83/91  – 62 KLs. 315  Vgl. BGH, Beschluss v. 15.11.1991  – 2 StR 497/91, UA.  2. 316  Vgl. BGH, Beschluss v. 15.11.1991  – 2 StR 497/91, UA.  3. 317  BGH, Beschluss v. 15.11.1991  – 2 StR 497/91, UA.  4 f. 318  Vgl. BGH, Beschluss v. 20.08.1996  – 1 StR 463/96. 319  Vgl. LG Passau, Urteil v. 14.05.1996  – 2 KLs 302 Js 1931/96. 320  Vgl. BGH, Beschluss v. 20.08.1996  – 1 StR 463/96, UA.  5. 314  Vgl.

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immerhin war der Angeklagte durch diese Erwägung des LG Passau nicht beschwert – bemerkte der Senat „ergänzend“, dass es der vom LG herangezogenen Erwägung nicht bedurft hätte,321 weil der Angeklagte die verhängte Haftstrafe in den Niederlanden hätte verbüßen können und eine besondere Beschwernis bei den Haftumständen dadurch grds. nicht erkennbar sei.322 Insofern gibt das Urteil praktisch kaum eine inhaltliche Vorgabe zum Strafzumessungsumstand der besonderen Strafempfindlichkeit von Ausländern. Der 1. Senat ging jedenfalls davon aus, dass schlechte Deutschkenntnisse eine besondere Strafempfindlichkeit in Hinblick auf die Vollzugssituation bedingen könnten. Allerdings ist zu konstatieren, dass ein etwaiger Aspekt der Strafempfindlichkeit freilich kaum bei der Strafzumessung durchschlagen kann, wenn die Vollstreckung der Strafe im Heimatland möglich ist und dort gerade jene Umstände, welche eine Strafempfindlichkeit bei Vollstreckung in der BRD begründen würden, wie hier etwa die Sprache, wegfallen würden. 4. BGH, Beschluss vom 11.09.1996 Kurze Zeit später befasste sich auch der 3. Senat beim BGH mit den Strafzumessungserwägungen einer vorinstanzlichen Entscheidung hinsichtlich der Strafempfindlichkeit ausländischer Täter.323 Vorangegangen war die Verurteilung mehrerer Angeklagter durch das LG Osnabrück, welches i. R. d. Strafbemessung die besondere Strafempfindlichkeit der Angeklagten als Ausländer mildernd veranschlagt hatte.324 Doch entgegen der Auffassung des 1. und 2. Senats beim BGH teilte der 3. Senat die Auffassung, dass ein Ausländer grundsätzlich besonders strafempfindlich sei, nicht. Er bemerkte hierzu: „Die Ausländereigenschaft eines Angeklagten rechtfertigt für sich allein nicht die Annahme strafmildernder besonderer Strafempfindlichkeit. Ob der Vollzug einer Freiheitsstrafe außergewöhnliche Wirkungen auf einen Täter hat, hängt von seinen gesamten persönlichen Verhältnissen ab, zu denen auch Verständigungsprobleme, die bei zunehmender Haftdauer ohnehin an Bedeutung verlieren, abweichende Lebensgewohnheiten und erschwerte familiäre Kontakte gehören können […]. Indes dürften solche Probleme bei Ausländern, die ihren Lebensmittel321  Vgl.

BGH, Beschluss v. 20.08.1996  – 1 StR 463/96, ebenda. BGH, Beschluss v. 20.08.1996  – 1 StR 463/96, ebenda. 323  Vgl. BGH, Beschluss v. 11.09.1996  – 3 StR 351/96; siehe auch BGHRSt, § 46 Abs. 2, Lebensumstände 17; BGH, in: NStZ 1997, 77; sowie BGH, in: NJW 1997, 403. 324  Vgl. LG Osnabrück, Urteil v. 01.04.1996  – 22 KLs 2 Js 8633/95 (X 66/95). 322  Vgl.



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punkt nach Deutschland verlegt haben und die – wie die Angeklagten – seit vielen Jahren hier leben, kaum erheblich sein.“325 Damit stellte der 3. Senat – soweit ersichtlich – erstmals vergleichsweise klare Anforderungen hinsichtlich der Annahme einer strafmildernd zu berücksichtigenden besonderen Strafempfindlichkeit von Ausländern. Zunächst machte der Senat deutlich, dass es nicht auf die formelle Ausländereigenschaft per se ankommen soll. Er erteilt damit einem allein auf der Herkunft des Täters beruhenden Differenzierungskriterium in dieser Sache eine Absage und entzieht dabei auch gleichsam präventiv einem auf Art. 3 I, III GG gestützten Gegenargument jedwede Basis. Vielmehr seien für die Beurteilung der besonderen Strafempfindlichkeit die tatsächlichen persönlichen Umstände des Täters maßbeglich. Ebenso plausibel wirkt die Erwägung, dass eine besondere Strafempfindlichkeit dann fern liegt, wenn die Angeklagten bereits seit vielen Jahren in Deutschland leben, die Umstände, die eine besondere Strafempfindlichkeit bei einem fremdkulturellen Täter begründen könnten, damit regelmäßig obsolet oder jedenfalls merklich abgeschwächt worden sind. Damit käme der Ausländereigenschaft in Hinblick auf die Prüfung einer besonderen Strafempfindlichkeit des Täters eine Indizfunktion dahingehend zu, auch solche persönlichen Umstände in die Erwägungen einzubeziehen, die bei inländischen Tätern üblicherweise keine Rolle spielen können. 5. BGH, Urteil vom 09.09.1997 Dieser Rechtsprechungslinie schloss sich auch der 1. Senat mit seinem Urteil vom 09.09.1997 an.326 Vorgehend hatte die Jugendkammer beim LG Schweinfurt den Angeklagten sowie den Mitangeklagten u. a. wegen mehrfachen schweren Bandendiebstahls zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten bzw. zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt.327 Die gegen das Urteil von der Staatsanwaltschaft eingelegte Revision hatte Erfolg, weil das LG nicht für alle Fälle eine Einzelstrafe festgesetzt hatte.328 Daneben monierte die Staatsanwaltschaft, dass das LG Schweinfurt den Angeklagten zugute gehalten hatte, dass sie als Ausländer besonders strafempfindlich seien.329 325  BGH,

Beschluss v. 11.09.1996  – 3 StR 351/96, UA.  5. BGHSt 43, 233 ff.; vgl. auch BGHR, § 46 II, Ausländer 3, besondere Strafempfindlichkeit; sowie BGH, Urteil v. 09.09.1997  – 1 StR 408/97. 327  Vgl. LG Schweinfurt, Urteil v. 29.01.1997  – 1 KLs 7 Js 4955/96 jug. 328  Vgl. den Tenor von BGH, Urteil v. 09.09.1997  – 1 StR 408/97. 329  Vgl. BGH, Urteil v. 09.09.1997  – 1 StR 408/97, UA.  2. 326  Vgl.

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Der 1. Senat formulierte im Einklang mit der Entscheidung des 3. Senats vom 11.09.1996: „Aus der Ausländereigenschaft für sich alleine genommen folgt noch kein Grund für die Annahme, es liege eine strafmildernd zu berücksichtigende besondere Haftempfindlichkeit330 vor (BGH NStZ 1997, 77). Art. 3 Abs. 3 GG verbietet  – auch für die Strafzumessung (Stree in Schönke / Schröder, StGB 25. Aufl. § 46 Rdn. 36)  – eine Benachteiligung oder Bevorzugung bereits aufgrund der Herkunft. Besondere Umstände können aber im Einzelfall ausnahmsweise eine andere Beurteilung rechtfertigen. Ob der Vollzug einer Freiheitsstrafe voraussichtlich außergewöhnliche Wirkungen auf einen Verurteilten haben wird, hängt von der Beurteilung seiner gesamten persönlichen Verhältnisse ab, zu denen Verständigungsprobleme, die bei zunehmender Haftdauer aber wieder an Bedeutung verlieren, wesentlich abweichende Lebensgewohnheiten und erschwerte familiäre Kontakte gehören können (BGH aaO).“331 Das LG Schweinfurt hatte nach Auffassung des BGH die Gründe für eine besondere Strafempfindlichkeit beim Angeklagten nicht hinreichend festgestellt, so dass aus rechtlichen Gesichtspunkten im konkreten Fall die Erörterung der Strafempfindlichkeit kein bestimmender Strafzumessungsumstand war.332 Daneben stellte auch der 1. Senat in dieser Entscheidung klar, dass für den Fall einer möglichen Strafvollstreckung im Heimatland, eine besonders harte Wirkung der Strafe kaum anzunehmen ist, da der Angeklagte dann regelmäßig in sein Heimatland überstellt werden kann.333 Die Strafempfindlichkeit ist deshalb bei zu erwartender Vollstreckung der Strafe im Heimatland des Täters kein bestimmender Strafzumessungsumstand, der einer Erörterung i. R. d. Umstände bedarf, die sich zugunsten des Angeklagten auswirken.334 Ob dies aufgrund einiger Unwägbarkeiten sowohl im Überstellungs- als auch Strafverfahren aber stets zwingend ist, darf bezweifelt werden. Jedenfalls für den Fall, dass aus Sicht der Justizorgane unbedenkliche Überstellungen aber an außenpolitischen Belangen scheitern könnten, muss die Möglichkeit erhalten bleiben, dass die Strafempfindlichkeit als bestimmender Strafzumessungsumstand nicht ausgeschlossen werden darf.335 330  Da der BGH in diesem Kontext auf BGH, in: NStZ 1997, 77 verweist, kann – auch in Übereinstimmung mit der Literatur, vgl. bspw. Fischer, StGB, § 46, Rn. 43, 43 b – davon ausgegangen werden, dass die Begriffe der Haft- und Strafempfindlichkeit überwiegend synonym verwendet werden, bzw. dass jedenfalls die Haftempfindlichkeit ein Element der Strafempfindlichkeit darstellt. 331  BGH, Urteil v. 09.09.1997  – 1 StR 408/97, UA.  3. 332  Vgl. BGH, Urteil v. 09.09.1997  – 1 StR 408/97, ebenda. 333  Vgl. BGH, Urteil v. 09.09.1997  – 1 StR 408/97, UA.  5 ff. 334  Vgl. BGH, Urteil v. 09.09.1997  – 1 StR 408/97, UA.  7. 335  Siehe dazu auch BGH, Urteil v. 09.09.1997 – 1 StR 408/97, UA. 5 ff., insbes. 8.



B. Rechtsprechungsgenese nach dem Inkrafttreten des § 13 StGB a. F.191

6. BGH, Beschluss vom 20.09.2000 Dass der 3. Senat in der Folgezeit an seiner Rechtsprechung festhielt, zeigt die Entscheidung vom 20.09.2000, welche die bis hierhin nachgezeichnete Rechtsprechungslinie bestätigt.336 Vorgehend hatte das LG Itzehoe den Angeklagten wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten verurteilt.337 Im Ergebnis stellte der BGH fest, dass der zur neuen Entscheidung berufene Tatrichter zu berücksichtigen haben wird, „daß ein Ausländer, der im Alter von fünfzehn Jahren nach Deutschland kam, hier bereits zwölf Jahre – zunächst mit seiner Familie, später mit seiner Verlobten und der gemeinsamen Tochter – lebt, sowie vier Jahre die Hauptschule besucht und danach verschiedene Berufe ausgeübt hat, wohl kaum mehr wegen seiner Ausländereigenschaft besonders haftempfindlich sein dürfte (vgl. BGH NJW 1997, 403).“338 An der Entscheidung des 3. Senats irritiert jedoch am Ende des Abschnitts die Formulierung, dass ein Angeklagter „wegen seiner Ausländereigenschaft“ haftempfindlich sein könne. Das lässt besorgen, der 3. Senat könnte sich wieder stärker dem Kriterium der Ausländereigenschaft zugewendet haben, obwohl gerade in den vorangegangenen Entscheidungen versucht wurde, sich von diesem Kriterium zu lösen, indem man bemüht war, auf die besonderen persönlichen Verhältnisse des Angeklagten zu rekurrieren, nicht hingegen auf den formellen Status. Die Ausländereigenschaft war insoweit nur als Indikator für ggf. neben die üblichen Umstände tretenden, besonderen Gegebenheiten bei ausländischen Tätern zu verstehen. Es kann nicht angehen, dass ein Angeklagter wegen seiner Ausländereigenschaft besonders haftempfindlich sein soll, denn diese sagt darüber praktisch noch gar nichts aus. Der Täter ist nur dann besonders straf- bzw. haftempfindlich, wenn die besonderen persönlichen Verhältnisse es nach erfolgter Einzelfallprüfung nahe legen. Der Rekurs auf die Ausländereigenschaft wirkt deshalb in diesem Kontext missverständlich, auch und insbes. wenn man sich die Urteilsbegründung der Entscheidung des 3. Senats vom 11.09.1996 nochmals ins Gedächtnis ruft.339

336  Vgl.

BGH, Beschluss v. 20.09.2000  – 3 StR 376/00. BGH, Beschluss v. 20.09.2000  – 3 StR 376/00, UA.  1. 338  BGH, Beschluss v. 20.09.2000  – 3 StR 376/00, UA.  7. 339  Vgl. Teil 4, B., V., 4. 337  Vgl.

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Teil 4: Rechtsprechung bei Taten mit fremdkulturellen Wertvorstellungen

7. BGH, Urteil vom 23.08.2005 Diese missverständliche Handhabung spiegelt sich auch ansatzweise in der Entscheidung des 5. Senats vom 23.08.2005 wider.340 Vorangegangen war die Verurteilung eines Angeklagten durch das LG Leipzig wegen gewerbsmäßiger Hehlerei in sechs Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten.341 Dabei hatte das LG Leipzig den Ausländerstatus des Angeklagten unter dem Gesichtspunkt der besonderen Strafempfindlichkeit strafmildernd berücksichtigt.342 Dass es nicht zur Aufhebung des Strafausspruchs kam, lag daran, dass der 5. Senat in Übereinstimmung mit dem GBA die Feststellungen des LG hierzu als nur „beiläufig“ und somit als die Urteilsgründe nicht tragend erachtete.343 Fragwürdig erscheinen die Formulierungen des 5. Senats, wenn er bei seinen Ausführungen zur Strafempfindlichkeit zunächst an die Ausländereigenschaft anknüpft: „Die strafmildernde Berücksichtigung der Ausländereigenschaft des Angekl. ist indes nicht frei von Bedenken. Der Ausländerstatus rechtfertigt nur bei Vorliegen besonderer Umstände eine Strafmilderung. Solche Umstände kommen nach der Rechtsprechung des BGH ausnahmsweise dann in Betracht, wenn der Angekl. bei Vollzug einer Freiheitsstrafe innerhalb der Haftanstalt erhebliche sprachliche Verständigungsschwierigkeiten zu gewärtigen hat oder der Kontakt zu seiner Familie erheblich erschwert ist (BGHSt 43, 233, 234; BGHR StGB § 46 II Ausländer 2).“344 Dabei machte der 5. Senat nicht deutlich, weshalb nun zunächst an den Ausländerstatus angeknüpft wurde, obwohl ein unmittelbares Rekurrieren auf solche Umstände, die eine besondere Strafempfindlichkeit bedingen können, ohne Weiteres möglich gewesen wäre. Vielmehr wäre die Bezugnahme auf diese besonderen Umstände, ohne dass es der expliziten Bemühung der Ausländereigenschaft bedurft hätte, hinreichend gewesen. Es kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass es sich dabei um einen sprachlichen Fehltritt handeln könnte. Das legen etwa spätere Entscheidungen des 3. Senats nahe, bei denen die Formulierungen wieder darauf hindeuten, dass die Ausländereigenschaft eben nicht das Differenzierungskriterium darstellt, an welchem die Erwägungen unmittelbar anknüpfen sollen.345 Denn jene 340  Vgl.

BGH, Urteil v. 23.08.2005  – 5 StR 195/05; BGH, in: NStZ 2006, 35 f. BGH, in: NStZ 2006, 35 f. (35). 342  Vgl. BGH, in: NStZ 2006, ebenda. 343  Vgl. BGH, in: NStZ 2006, ebenda. 344  BGH, in: NStZ 2006, ebenda. 345  Vgl. dazu bspw. BGH, Urteil v. 09.11.2006 3 StR 360/06, UA. 7, bei welcher der 3. Senat wieder formuliert: „Die Ausländereigenschaft als solche führt nicht bereits zu einer strafmildernd zu berücksichtigenden besonderen Strafempfindlichkeit.“ 341  Vgl.



B. Rechtsprechungsgenese nach dem Inkrafttreten des § 13 StGB a. F.193

besonderen Umstände dürften zwar häufig mit der Ausländereigenschaft zusammenfallen, zwingend erscheint dies aber aus mehrerlei Gründen freilich nicht. Kulturell- und sozialisationsbedingte Abweichungen bei der Sprache und den Lebensgewohnheiten sowie die erschwerten familiären Kontakte können indes auch bei Angeklagten mit deutscher Staatsbürgerschaft mit Migrationshintergrund auftauchen.346 Es leuchtet insofern nicht ein, weshalb die hier angesprochenen Problemfragen nur bei Angeklagten mit Ausländerstatus zu behandeln sein sollten. 8. BGH, Urteil vom 08.07.2010 Dass der BGH weiterhin an seiner Rechtsprechung im Grundsatz festgehalten hat, zeigt das Urteil des 3. Senats vom 08.07.2010.347 In der Vorinstanz hatte das LG Hannover den Angeklagten wegen Vergewaltigung und Diebstahl zu einer Gesamtfreiheitstrafe von fünf Jahren und einem Monat verurteilt.348 Die vom Angeklagten eingelegte Revision blieb ohne Erfolg. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft hingegen wurde das Urteil aufgrund von Rechtsfehlern bei der Bemessung der Einzelstrafe wegen Vergewaltigung und der Gesamtstrafenbildung aufgehoben.349 Einer der besagten Rechtsfehler rührte aus der strafmildernd veranschlagten und vom LG Hannover festgestellten besonderen Strafempfindlichkeit des Angeklagten als Ausländer her: „Nicht frei von Rechtsfehlern ist auch die Erwägung des Landgerichts, der Angeklagte sei als Ausländer besonders strafempfindlich. Die Ausländereigenschaft begründet für sich alleine keine besondere Strafempfindlichkeit; nur besondere Umstände wie Verständigungsprobleme, abweichende Lebensbedingungen und erschwerte familiäre Kontakte können ausnahmsweise zu einer anderen Beurteilung führen […].350 Allerdings bleibt auch bezüglich dieser Formulierung des BGH darauf hinzuweisen, dass sie implizieren könnte, der Ausländereigenschaft käme im Zusammenhang mit den besonderen Umständen immer noch ein gewisses Gewicht in der Frage einer erhöhten Strafempfindlichkeit zu.

346  Vgl.

auch Teil 3, A. BGH, Urteil v. 08.07.2010  – 2011, 330 ff. (334). 348  Vgl. BGH, Urteil v. 08.07.2010  – 349  Vgl. BGH, Urteil v. 08.07.2010  – 350  Vgl. BGH, Urteil v. 08.07.2010  – 347  Vgl.

3 StR 151/10; siehe auch Detter, in: NStZ 3 StR 151/10, UA.  1. 3 StR 151/10, UA.  4 ff. 3 StR 151/10, UA.  7.

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Teil 4: Rechtsprechung bei Taten mit fremdkulturellen Wertvorstellungen

9. Zwischenergebnis und Tendenz Die Strafempfindlichkeit kann nach alledem einen gewichtigen Strafzumessungsumstand auch bei fremdkulturellen Tätern darstellen. Soweit die Voraussetzungen vorliegen, dürfte es sich auch regelmäßig um einen bestimmenden Umstand i. S. v. § 267 III StPO handeln. Hierauf weist schon der Wortlaut von § 46 I 2 StGB hin. Die Rekonstruktion der Rechtsprechungslinie konnte darüber hinaus eine restriktive Genese dieses Strafzumessungsumstands nachweisen. Während die ersten Entscheidungen noch von einer undifferenzierten und generellen Unterstellung einer besonderen Strafempfindlichkeit bei Ausländern ausgingen, wurden in späteren Entscheidungen der Revisionsgerichte Voraussetzungen etabliert, die eine strafzumessungsrelevante Annahme besonderer Strafempfindlichkeit bei fremdkulturell geprägten Tätern nur noch in vergleichsweise engen Grenzen erlaubt. Vor dem Hintergrund der eigenen Argumentation kann allerdings auch die Revisionsrechtsprechung nicht überzeugend darlegen, weshalb diese besonderen Umstände nur bei Ausländern in Erwägung zu ziehen sind. Das hat vor allem tatsächliche Gründe in Hinblick auf die Sozialisation von fremdkulturell geprägten Personen, wie sie etwa im Grundlagenteil dieser Arbeit dargestellt wurden.351 Nach derzeit herrschender Auffassung in der Rechtsprechung gilt es bei der Prüfung der Voraussetzungen einer besonderen Strafempfindlichkeit das Folgende zu beachten: a) Die Ausländereigenschaft ist auch in Ansehung der zuweilen im Detail doch unterschiedlich nuancierten Formulierungen der Senate beim BGH zwar nicht der maßgebliche Bezugspunkt für die Frage der Berücksichtigung einer besonderen Strafempfindlichkeit in den Strafzumessungsgründen. Sie ist aber regelmäßig der Indikator, der das Tatgericht dazu anhalten soll, die weiteren Voraussetzungen zu prüfen. Vor dem Hintergrund der Argumentationen des BGH leuchtet es nicht ein – darauf soll nochmals hingewiesen sein –, weshalb der persönliche Anwendungsbereich auf Ausländer beschränkt bleiben soll. Ebenso könnte aufgrund eines hinreichenden fremdkulturellen Einschlags auch ein bestimmter Migrationshintergrund als Indikator dafür dienen, dass eine Auseinandersetzung mit der besonderen Strafempfindlichkeit angezeigt sein könnte. Zu denken wäre dabei insbes. an die Situation jugendlicher Aussiedler, welche u. U. schwerwiegendere Verständigungsprobleme aufweisen als ein in Deutschland geborener Ausländer.352 351  Vgl. 352  So

dazu nochmals Teil 2 dieser Arbeit, insbes. A. Siehe auch Teil 3, A. auch Ventzke, in: StV 1997, 184 ff. (184).



B. Rechtsprechungsgenese nach dem Inkrafttreten des § 13 StGB a. F.195

b) Weiterhin müssen die persönlichen Verhältnisse des Täters solche Umstände nahe legen, die den Vollzug der Freiheitsstrafe als besonders erschwert erscheinen lassen. Hierbei ergeben sich regelmäßig Probleme, ab wann das Gericht eine solche Beschwer für gegeben erachten kann. Bei diesem Merkmal fehlt insofern die Vergleichbarkeit bspw. mit der Situation, dass ein Erstverbüßer gegenüber einem hafterprobten Straf­ täter grds. härter vom Vollzug einer Freiheitsstrafe getroffen wird.353 Jedenfalls will der BGH einschlägige Umstände einer besonderen Beschwernis darin erkennen, wenn der Angeklagte Verständigungsprobleme aufgrund mangelnder Deutschkenntnisse aufweist, unter erschwerten familiären Kontakten leiden würde sowie unter anderen Lebensgewohnheiten Schwierigkeiten im Vollzug zu erwarten hat. Auch diese Merkmale bergen eine Reihe von Unklarheiten in sich. Insbesondere ist fraglich, was unter „anderen Lebensgewohnheiten“ zu verstehen sein kann, und ab welchem „Ausmaß“ sie dazu geeignet erscheinen, den Vollzug einer Freiheitsstrafe als besonders erschwert zu bewerten. Insoweit könnte sich zur Klärung dieser Frage eine differenztheoretische Betrachtung kulturell bedingter Lebensgewohnheiten anbieten.354 c) Diese aus den persönlichen Verhältnissen des Angeklagten herrührenden Umstände sollen allerdings an Bedeutung verlieren, wenn der Angeklagte seinen Lebensmittelpunkt dauerhaft nach Deutschland verlegt hat. Damit wird sich auch ein Angeklagter kaum auf eine besondere Strafempfindlichkeit berufen können, der zwar seinen Lebensmittelpunkt in Deutschland gefunden hat, es aber selbstverschuldet unterlassen hat, bspw. die deutsche Sprache zu erlernen. Dieser Punkt könnte daher auch und gerade für Angeklagte mit Migrationshintergrund und deutscher Staatsbürgerschaft relevant sein. d) Schließlich soll nach Ansicht des BGH eine besondere Strafempfindlichkeit für solche Fälle entfallen, bei denen der Angeklagte die Möglichkeit hat, die Freiheitsstrafe in seinem Heimatland zu verbüßen. Die Probleme, die sich aus den Unwägbarkeiten u. a. des Überstellungsverfahrens ergeben, werden dabei weitreichend von der Rechtsprechung ignoriert. Insofern lässt sich in der Gesamtschau zur Genese dieser Rechtsprechungslinie zwar auch eine überwiegend einheitliche Position bei den Senaten des BGH ausmachen. Die Plausibilität der einzelnen Punkte, unter denen die besondere Strafempfindlichkeit diskutiert wird, lässt sich hingegen nicht immer zwingend nachvollziehen. Allerdings ist nicht davon auszugehen, 353  Vgl. hierzu Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 719. 354  Vgl. zu dieser Methode oben, Teil 2. A.

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dass sich diesbezüglich von Seiten der Rechtsprechung konkrete Änderungen alsbald erwarten lassen. Jüngste Entscheidungen haben gezeigt, dass die Rechtsprechung dazu neigt, den von ihr beschrittenen Weg in dieser Strafzumessungsfrage fortzusetzen. Das legt jedenfalls die seit dem 11.09.1996 vom 3. Senat aufgestellte Rechtsprechung, die seither im Wesentlichen unverändert geblieben ist, nahe.

VI. Entscheidungen zur erschwerten Normbefolgung aufgrund kultureller Wertvorstellungen 1. Vorbemerkungen Im Rahmen der Darstellung der Rechtsprechung zur Strafzumessung bei fremdkulturellen Tätern und Taten wurde bereits darauf hingewiesen, dass sich Kriterien mit normativem Schwerpunkt einer immer größeren Beliebtheit bei den Gerichten zu erfreuen scheinen. Ob sich die These von einem Trend, welcher formelle Kriterien in diesem Zusammenhang zurückdrängt, bekräftigt, wird sich womöglich am Ende dieses Kapitels zeigen. So verwundert es zunächst nicht, dass auch die Verhaftung bzw. Verwurzelung des Täters in seiner Herkunftskultur für die Strafzumessung auf vielfältige Art und Weise fruchtbar gemacht wurde.355 Dabei können die kulturellen Wertvorstellungen des Täters, welche sein Handeln nicht nur unerheblich geleitet haben können,356 eine wichtige Rolle spielen. Der Bundesgerichtshof hat dabei in einigen Fällen auf den Umstand der erschwerten Normbefolgung bzw. der Überwindung geringerer Hemmschwellen zur Tat abgestellt. In beiden Fällen handelt es sich regelmäßig um einen aufgrund der Lebensgeschichte des Angeklagten biographisch vermittelten Konflikt zwischen den Normenwelten seines Herkunftslandes und der Bundesrepublik.357 Bei Valerius358 werden die Fallgruppen „erschwerte Normbefolgung“ und „geringere Hemmschwelle“ gemeinsam in einer Kategorie besprochen. Betrachtet man allerdings die Entscheidungen des BGH hierzu, erscheint es aufgrund unterschiedlicher Voraussetzungen und Umstände zweckmäßig, eher von zwei Kategorien auszugehen, die gewisse Gemeinsamkeiten aufweisen – insbe355  So wird bspw. in der systematischen Entscheidungssammlung des Bundesgerichtshofs in Strafsachen unter den Stichworten „Kulturkreis, fremder 1 und 2“ bei § 46 II auf solche Fälle abgehoben, bei denen die Verhaftung in einem fremden Kulturkreis den Rahmen des Schuldumfangs beeinflusst haben soll, vgl. BGHR, § 46 II, Kulturkreis, fremder 1 bzw. 2. 356  Vgl. zur möglichen Greifbarmachung von Wertvorstellungen nochmals Teil 2, A. 357  So etwa bei Ventzke, in: StV 1997, 184 ff. (185). 358  Vgl. Valerius, Kultur und Strafrecht, S. 294 f.



B. Rechtsprechungsgenese nach dem Inkrafttreten des § 13 StGB a. F.

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sondere aufgrund der strukturellen Nähe zum materiellen Schuldbegriff –, aber vom BGH unterschiedlich behandelt und judiziert werden. Diese unterschiedliche Handhabung soll in den folgenden Abschnitten dargestellt werden. Dabei soll auch der vergleichende Blick in die Ebene des materiellen Schuldspruchs und dort bei den Problemen des mangelnden bzw. fehlenden Unrechtsbewusstseins und der verminderten Steuerungsfähigkeit nicht ausgeschieden werden. Es geht dabei jeweils um die Frage nach der Schuld in Folge des Umstandes, dass der Täter von einem Ge- oder Verbot einer Norm gleichsam nicht in vorgesehenem Maße erreicht wird.359 Ähnliche Begründungsstrukturen werden sich bei den nachstehend zu besprechenden Entscheidungen mit strafzumessungsspezifischem Gehalt finden. 2. LG Osnabrück, Urteil vom 01.02.1994 Bevor allerdings der BGH – soweit ersichtlich – erstmals in jüngerer Zeit mit der Problematik beschäftigt war,360 hatte das LG Osnabrück über die Strafzumessungsrelevanz der kulturellen Verhaftung des Täters in einem Fall zu entscheiden, bei dem der aus Albanien stammende Angeklagte maßgeblich bei der Tat von den Vorstellungen seines Heimatlandes geleitet wurde.361 In diesem Fall geriet der Angeklagte mit einem Landsmann in einer Diskothek in Streit. Bei dem Streitgespräch beleidigte das spätere Opfer den Angeklagten, „er werde ‚seine Mutter bumsen und ihm 9 Kugeln aus seiner Pistole verpassen‘.“362 Dies kränkte den späteren Angeklagten in seiner Ehre derart, dass er meinte, sich dies nicht gefallen lassen zu können. Durch die noch am selben Abend folgende körperliche Auseinandersetzung zwischen den beiden wurde er dabei insoweit in seinem Vorhaben bestärkt, als der Angeklagte dem späteren Opfer hierbei auch noch unterlag, was zur Vertiefung seines Schamgefühls beitrug. Als sich beide am nächsten Abend wieder in einer Diskothek trafen, stach der Angeklagte mit einem Messer auf das Opfer ein und verletzte es dabei schwer.363 Die Schwurgerichtskammer beim LG Osnabrück würdigte den kulturellen Hintergrund von Tat und Täter i. R.e. Gesamtwürdigung, bei der es schließValerius, Kultur und Strafrecht, S. 294. dazu sogleich unter 3. 361  Vgl. LG Osnabrück, Urteil v. 01.02.1994 – VI 19/93, abgedruckt in StV 1994, 430 f. 362  Siehe LG Osnabrück, in: StV 1994, S. 430. 363  Siehe LG Osnabrück, in: StV 1994, ebenda. 359  I. d. S.  auch 360  Vgl.

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lich zu dem Ergebnis kam, dass sich die Tat als minderschwerer Fall des Totschlags darstelle und der Angeklagte zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren zu verurteilen sei.364 Die hierzu vom LG angestellten Erwägungen sind auch aufgrund ihrer Ausführlichkeit zum kulturellen Hintergrund von Tat und Täter einer jedenfalls auszugsweisen Wiedergabe wert: „Zugunsten des Angeklagten […] war besonders zu berücksichtigen, daß er aus einem albanischen Dorf in der Region Kosovo stammt, in dem bis heute die traditionellen Sitten und Gebräuche der Albaner lebendig sind. Danach verliert der Mann seine Ehre, wenn er bedroht, gestoßen, geschlagen oder aber auch in schwerem Maße beleidigt wird. Er kann seine Ehre nur zurückgewinnen, wenn er den Verletzer tötet oder ihm die Ehrverletzung verzeiht. Die in seiner Heimat herrschenden Wertvorstellungen haben auch das Wertgefüge des Angekl. als einfachen Bauern und Maurer geprägt. Er war diesen besonderen Anforderungen wegen seiner Erziehung und der Bindung an die Kultur seiner Heimat fest verhaftet und hatte sich in der kurzen Zeit seines Aufenthaltes in der Bundesrepublik noch nicht davon lösen können. […] Nach dem massiven Angriff auf seine Ehre mußte er sich nach den gewohnheitsrechtlichen Anschauungen seiner Heimat für berechtigt halten, zur Wiederherstellung seiner Ehre selbst die Angelegenheit in die Hand zu nehmen und den Zeugen A. zu töten.“365 Dass sich der Angeklagte allerdings auch nach den Gesetzen seines Heimatlandes strafbar gemacht hätte – was das LG auch dargelegt hatte –, lässt den Rekurs auf die „gewohnheitsrechtlichen Anschauungen“ des Angeklagten, nach denen er sich zur Tat berechtigt gefühlt haben soll, höchst problematisch erscheinen. Insbesondere wäre es interessant zu erfahren gewesen, was „gewohnheitsrechtliche Anschauungen“, die in offensichtlichem Widerspruch zum geltenden Recht des Heimatlandes stehen, überhaupt nach Vorstellung des LG Osnabrück darstellen sollen. Jedenfalls liegt die Vermutung nahe, dass das LG hier vielmehr auf einen tradierten, keinen Rückhalt in der Rechtsordnung findenden, kulturellen Habitus abgestellt haben wollte. Schließlich war es auch der Ansicht, dass das Verhalten des Angeklagten „unter den gegebenen Umständen menschlich nicht unverständlich“ gewesen war.366 Damit hatte das LG Osnabrück der kulturellen Verhaftung des Täters deutliches Gewicht schon bei der Strafrahmenbestimmung und somit der Strafzumessung per se beigemessen. Dabei ist die Argumentation, mit welcher der kulturelle Hintergrund Einzug in die Strafzumessungsgründe gefunden hat, durchaus mit der zum Unrechtsbewusstsein entwickelten Rechtsprechung vergleichbar und fügt sich demnach auch aus dogmatischer Sicht 364  Siehe

LG Osnabrück, in: StV 1994, S. 430 f. (431). Osnabrück, in: StV 1994, ebenda. 366  Vgl. LG Osnabrück, in: StV 1994, ebenda. 365  LG



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zunächst in das Strafzumessungsgefüge ein.367 Bedenklich wirkt allerdings die großzügig anmutende Berücksichtigung informeller sozialer Normen, die schon im Heimatland des Angeklagten auf Widerspruch stoßen, insbes. in Hinblick auf das Unrechtsbewusstsein des Angeklagten. Dies dürfte es zuweilen deutlich erschweren, einen Maßstab dafür zu finden, welche Normen und damit häufig auch Wertvorstellungen in diesem Kontext berücksichtigungsfähig sein können und sollen. Mit Blick auf eine für die Strafzumessung erforderliche Tatsachenfeststellung birgt diese Kasuistik diverse Unwägbarkeiten. Diesem Vorwurf versuchte das LG wohl durch das Einholen eines albanologischen Gutachtens entgegenzuwirken.368 Problematisch erscheint die Berücksichtigung informeller Normbestände allerdings auch dann, wenn sie regional spezifisch und wenig verbreitet oder bekannt sind.369 Vor diesem Hintergrund drängt sich einmal mehr eine Sensibilisierung für einen interdisziplinären Zugriff auf derartige Sachverhalte auf. 3. BGH, Urteil vom 12.09.1995 Entsprechend der soeben aufgeworfenen Problematik hatte auch der BGH hierzu alsbald Möglichkeit zur Stellungnahme. In seinem Urteil vom 03.03.1995 hatte das LG Landshut370 die aus China stammenden Angeklagten wegen schwerer räuberischer Erpressung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, Freiheitsberaubung und hinsichtlich eines Angeklagten wegen Bedrohung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt.371 Gegen den Strafausspruch legte die Staatsanwaltschaft Revision ein, weil sie die Ansicht vertrat, dass das LG einige Umstände zu unrecht strafmildernd verwertet hatte.372 Insbesondere hatte die Staatsanwaltschaft Bedenken geäußert, „das LG habe die Herkunft der Angeklagten aus einem ‚völlig fremden Kulturkreis, welchem ein anderes Rechtssystem sowie andere Verhaltensmuster zugrundeliegen‘ (UA. S. 55, ähnlich S. 56, 57, 58, 59 / 60; die Angeklagten stammen aus der Volksrepublik China), überbewertet.“373 dazu etwa auch Valerius, Kultur und Strafrecht, S. 294. die Bemerkung der Redaktion am Ende von LG Osnabrück, in: StV 1994, S. 430 f. (431). 369  Vgl. zum Erfordernis quantitativer und qualitativer Verbreitung von Wertvorstellungen nochmals Teil 2, A. 370  Vgl. LG Landshut, Urteil v. 03.03.1995  – 3 KLs 21 Js 26004/93. 371  Vgl. BGH, Urteil v. 12.09.1995  – 1 StR 437/95, UA.  1; siehe auch BGHR, § 46 II, Kulturkreis, fremder 1; sowie auch (teilweise) abgedruckt in StV 1996, 25 f. und NStZ 1996, 80. 372  Vgl. BGH, Urteil v. 12.09.1995  – 1 StR 437/95, UA.  1 f. 373  BGH, Urteil v. 12.09.1995  – 1 StR 437/95, UA.  8. 367  Vgl. 368  Vgl.

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Zwar äußerte auch der 1. Senat beim BGH seine Bedenken gegen eine solche Wendung bei der Strafzumessung, gab aber dann zu bedenken, dass die Verwurzelung in einem fremden Kulturkreis bei der Frage des Schuldumfangs je nach Lage des Einzelfalls durchaus eine Rolle spielen kann.374 Dies könne insbesondere dann gelten, wenn es dem Angeklagten aufgrund seiner Verhaftung im fremden Kulturkreis erschwert ist, eine Norm zu befolgen.375 Einschränkend ergänzt der 1. Senat: „Nicht unbedenklich ist freilich, das ‚fremde Rechtssystem‘ und die fremden ‚anderen Verhaltensmuster, Vorstellungen und Anschauungen‘ unbesehen gleich zu behandeln. Fremde Verhaltensmuster und Vorstellungen können in der Regel nur dann strafmildernd berücksichtigt werden, wenn sie im Einklang mit der fremden Rechtsordnung stehen.“376 Wann ein Fall außerhalb dieser Regel zu einer strafmildernden Beachtung führen kann, führt der BGH an dieser Stelle nicht aus. Jedenfalls schließt der BGH als obiter dictum nicht von vorn­ herein aus, dass es im Einzelfall durchaus möglich sein kann, auch bei Verhaltensweisen, die gegen die fremde Rechtsordnung verstoßen, „zurückhaltend“ Strafmilderung zu gewähren.377 Im konkreten Fall ließen die angebrachten Besorgnisse jedoch noch keinen Rechtsfehler erkennen. Dass das LG Landshut neben der Verwurzelung im fremden Kulturkreis auch noch eine besondere Strafempfindlichkeit der Angeklagten strafmildernd berücksichtigte, lässt allerdings besorgen, dass der Umstand der fremdkulturellen Verhaftung, der eine erschwerte Normbefolgung und Strafempfindlichkeit begründen kann, womöglich tatsächlich über Gebühr in Anschlag gebracht wurde. Anders als noch das LG Osnabrück378 schied der BGH aber solche Normen, die ihre Legitimation nicht in der Rechtsordnung des Heimatlandes des Täters finden, grds. aus der Berücksichtigungsfähigkeit bei erschwerter Normbefolgung aus. Einerseits, weil er davor warnt, fremde Verhaltensmuster, Anschauungen usw. unbesehen gleich zu behandeln und andererseits, weil er die grds. Vereinbarkeit der fremden Verhaltensmuster mit der entsprechenden Rechtsordnung verlangt. 4. BGH, Urteil vom 22.08.1996 Nur wenig später hatte sich auch der 4. Senat mit einer ähnlichen, auf die erschwerte Normbefolgungskapazität eines Ausländers gestützten Strafzumessungserwägung auseinander zu setzen. Vorgehend hatte das LG Pader374  Vgl.

BGH, Urteil v. 12.09.1995  – BGH, Urteil v. 12.09.1995  – 376  Vgl. BGH, Urteil v. 12.09.1995  – 377  Vgl. BGH, Urteil v. 12.09.1995  – 378  Vgl. soeben unter 2. 375  Vgl.

1 1 1 1

StR StR StR StR

437/95, 437/95, 437/95, 437/95,

UA.  9. ebenda. UA.  10. UA.  10 f.



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born379 den Angeklagten wegen Diebstahls, unerlaubten Erwerbs und der Ausübung der tatsächlichen Gewalt über Kriegswaffen in zwei Fällen, wegen unerlaubten Handeltreibens mit Kokain, wegen unerlaubter Ausübung der tatsächlichen Gewalt über eine Schusswaffe und wegen unerlaubten Besitzes von Heroin in nicht geringer Menge zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt.380 Im hier relevanten Kontext ist die Revision der Staatsanwaltschaft von Interesse, welche sich gegen die Strafbemessung i. e. S. wendete.381 Dabei vertrat die Staatsanwaltschaft die Auffassung, das LG habe dem Angeklagten zu unrecht zugute gehalten, „dass er sich infolge der Verpflanzung von einem Kulturkreis in einen gänzlich anderen keinem von beiden zugehörig und innerlich zerrissen gefühlt und die Werte und Normen der deutschen Gesellschaftsordnung so wenig verinnerlich hat, daß er sie nicht in sozial adäquater Weise als verbindlich akzeptiert.“382 Der 4. Senat hingegen war der Auffassung, dass von Rechts wegen nichts gegen die vom LG vorgenommene Strafzumessung einzuwenden sei.383 Die Begründung seiner Entscheidung, welche auch auf das soeben besprochene Urteil des 1. Senats vom 12.09.1995384 ausdrücklich Bezug nimmt, erscheint jedoch in mehrerlei Hinsicht als fragwürdig. Die Ursachen dafür liegen – wie so häufig in der Strafzumessung – einerseits im Semantischen, andererseits auch im Systematischen. Der 4. Senat führte in der Sache aus: „Gegen die Erwägung könnten Bedenken bestehen, wenn ihr die Auffassung zugrunde läge, Straftaten eines aus einem fremden Kulturkreis stammenden Ausländers seien grundsätzlich milder zu beurteilen (BGH NStZ 1996, 80). Es ist indes nicht von vornherein ausgeschlossen, die Ausländereigenschaft im Einzelfall auch strafmildernd zu bewerten (vgl. Bruns, Strafzumessungsrecht, 2. Aufl., 1974, S. 510, dort Fn. 21). Dem mögen enge Grenzen gesetzt sein, zumal dann, wenn der Täter – wie hier der Angeklagte – schon seit vielen Jahren in Deutschland lebt. Doch war es dem Tatrichter nicht verwehrt zu berücksichtigen, daß der Angeklagte sich immer noch zwischen dem kurdischen Kulturkreis, aus dem er stammt, und dem hiesigen „zerrissen fühlt“ und es ihm deshalb schwerer als anderen fallen mag, sich normgerecht zu verhalten.“385 379  Vgl.

LG Paderborn, Urteil v. 26.01.1996  – 31 Js 180/95. BGH, Urteil v. 22.08.1996  – 4 StR 280/96, UA.  1; siehe auch teilweise abgedruckt in StV 1997, 183 f. 381  Vgl. BGH, Urteil v. 22.08.1996  – 4 StR 280/96, UA.  9. 382  BGH, Urteil v. 22.08.1996  – 4 StR 280/96, UA.  10. 383  Vgl. BGH, Urteil v. 22.08.1996  – 4 StR 280/96, UA. ebenda. 384  Vgl. soeben unter 3. 385  Vgl. BGH, Urteil v. 22.08.1996  – 4 StR 280/96, UA. ebenda. 380  Vgl.

202

Teil 4: Rechtsprechung bei Taten mit fremdkulturellen Wertvorstellungen

Auf den ersten Blick scheint sich der 4. Senat der Rechtsprechung des 1. Senats über die Auswirkungen der kulturellen Verhaftung in einem fremden Kulturkreis in Hinblick auf die erschwerte Normbefolgung zwar anzuschließen, kehrt sich aber von dieser ab, indem er auf die strafmildernd zu bewertende Ausländereigenschaft abhebt. Der 1. Senat hatte in der vom 4. Senat zitierten Entscheidung nicht auf die Ausländereigenschaft, sondern allein auf die kulturelle Verfangenheit abgestellt. Weshalb der 4. Senat nun die Ausländereigenschaft bemüht, bleibt dunkel, da sie mit der Sache unmittelbar nichts zu tun hat. Es geht hier schließlich allein um die Frage, ob die kulturelle Prägung zu einer erschwerten Normbefolgung führen kann – ein, wie eingangs erwähnt, biographisch vermittelter Konflikt. Dies allein für Ausländer zu postulieren, sieht sich abermals dem Einwand ausgesetzt, dass es bei der kulturellen Prägung gerade nicht primär auf die formale Staats­ angehörigkeit ankommen kann, sondern grds. auf die kulturelle Sozialisation, welche – wie bereits erwähnt werden musste – „passunabhängig“ ist. Letztlich führt der vom 4. Senat bemühte Rückgriff auf die formale Ausländereigenschaft nur zu einer Konfusion dahingehend, dass die Ausländereigenschaft womöglich das maßgebliche Kriterium darstellen könnte, um hier eine Strafmilderung in Erwägung zu ziehen. Dem ist entgegenzuhalten, dass dieser Ansatz schon in Hinblick auf die Rechtsprechung zu einer Strafschärfung nicht tragen konnte, weil die Ausländereigenschaft lediglich einen Indikator und kein substanzielles Kriterium darstellen kann. Nichts anderes kann diesbezüglich im umgekehrten Fall einer Strafmilderung gelten. Unter dem Aspekt der erschwerten Normbefolgung kommt es allein – und das muss dem 4. Senat in Ansehung der Bezugnahme auf das Urteil des 1. Senats per se klar gewesen sein – auf einen durch etwaige kulturelle Divergenzen explizit beim Angeklagten festzustellenden Normbefolgungskonflikt an. Schließlich gibt es an der Bewertung des Tatgerichts sowie der revisionsrechtlichen Würdigung weitere Zweifel hinsichtlich deren Plausibilität. Denn anders als der 1. Senat setzte sich der 4. Senat nicht mit der Frage auseinander, ob im konkreten Fall vor dem Hintergrund der Rechtsordnung des Heimatlandes des Angeklagten überhaupt Raum für eine strafmildernde Berücksichtigung eines erschwerten Normbefolgungskonflikts besteht. Denn nach der Entscheidung des 1. Senats sollten Strafmilderungen wegen der Verhaftung in einem fremden Kulturkreis einerseits nur dann in Betracht kommen, wenn die den Konflikt hervorrufenden Verhaltensmuster, Denkweisen und Wertvorstellungen mit der fremden Rechtsordnung in Einklang stehen. Das kann in Ansehung der verwirklichten Delikte auch für „den kurdischen Kulturkreis“386 nur 386  Im Übrigen ist schon fraglich, was der Senat mit dem Rekurs auf einen kurdischen Kulturkreis meint. Ein solcher existiert nach allen bedeutenden Wissenschaftlern nicht, vgl. Huntington, Der Kampf der Kulturen, S. 58.



B. Rechtsprechungsgenese nach dem Inkrafttreten des § 13 StGB a. F.203

bezweifelt werden. Ebenso hätte ein Berufen auf etwaige Traditionen oder Gebräuche der Kurden hier neben der Sache gelegen. Darüber hinaus lebte der Angeklagte schon viele Jahre – wie auch nochmals vom Revisionsgericht hervorgehoben – in Deutschland.387 Auch dies hätte gegen die Annahme einer erschwerten Normbefolgung gesprochen. Diese Differenzen stellen in der Gesamtschau jedenfalls Indizien dafür dar, dass der 4. Senat womöglich eine andere Linie in der Frage der Berücksichtigung der erschwerten Normbefolgung vertreten haben könnte als der 1. Senat. 5. BGH, Urteil vom 24.06.1998 Auch der 5. Senat beim BGH musste sich mit einer in diesem Kontext stehenden Strafzumessungserwägung auseinander setzen.388 Das LG Chemnitz389 hatte den Angeklagten wegen Vergewaltigung in einem minder schweren Fall i. S. d. § 177 II StGB zu einem Jahr Freiheitsstrafe verurteilt und die Vollstreckung der Strafe zur Bewährung ausgesetzt.390 Nach der Auffassung des 5. Senats hielten die Erwägungen des Landgerichts, mit denen der minder schwere Fall i. S. v. § 177 II StGB begründet wurde, rechtlicher Überprüfung nicht stand.391 Das LG hatte zugunsten des Angeklagten bei der vorgenommenen Gesamtwürdigung strafmildernd berücksichtigt, dass dieser aus einem anderen Kulturkreis stamme, in dem hinsichtlich des Sexuallebens vom europäischen Verhalten abweichende Verhaltensweisen praktiziert werden.392 Die Argumentation des LG erinnert dabei in ihrem Wortlaut sehr deutlich an die Strafzumessungsbegründungen bei erschwerter Normbefolgung, ohne dass es dies expressis verbis hervorhebt. Dies hat der 5. Senat erkannt, wenn er formuliert: „So bestehen bereits erhebliche Bedenken, die Herkunft des Angeklagten aus einem anderen Kulturkreis als einen zu Gunsten des Angeklagten sprechenden Umstand zu werten. Zwar können bei der Frage des Schuldumfangs im Rahmen der Strafzumessung eingewurzelte Vorstellungen des Täters nach Lage des Falles Berücksichtigung finden. Dies gilt jedoch nur dann, wenn diese im Einklang mit der fremden Rechtsordnung stehen (BGHR StGB § 46 Abs. 2 Kulturkreis, fremder 1). Allein der Umstand, daß der Angeklagte aus einem anderen Kulturkreis stammt, rechtfer387  Vgl. 388  Vgl.

298 ff.

389  Vgl.

BGH, Urteil v. 22.08.1996  – 4 StR 280/96, ebenda. BGH, Urteil v. 24.06.1998  – 5 StR 258/98; BGH, in: NStZ-RR 1998,

LG Chemnitz, Urteil v. 25.09.1997  – 430 Js 19161/97. BGH, Urteil v. 24.06.1998  – 5 StR 258/98, UA.  1. 391  Vgl. BGH, Urteil v. 24.06.1998  – 5 StR 258/98, UA.  4. 392  Vgl. BGH, Urteil v. 24.06.1998  – 5 StR 258/98, UA.  6. 390  Vgl.

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Teil 4: Rechtsprechung bei Taten mit fremdkulturellen Wertvorstellungen

tigt die Berücksichtigung als Strafmilderungsgrund bei einer Vergewaltigung, die generell unter Strafe gestellt ist, noch nicht.“393 Damit schloss sich der 5. Senat der strengeren Variante einer Berücksichtigung der fremdkulturellen Herkunft i. S. d. Entscheidung des 1. Senats vom 12.09.1995 an, indem er nicht nur auf jene Entscheidung verwies, sondern auch alle relevanten Kriterien in der Sache übernahm. Misslich ist – und deshalb hob der BGH hier den Strafausspruch zu Recht auf –, dass das LG nicht hinreichend dargelegt hatte, wie die Verhaftung in der Herkunftskultur dazu geführt haben soll, dass die Tat derart milde zu beurteilen gewesen ist. Allein der Hinweis auf abweichende Verhaltensweisen hinsichtlich des Sexuallebens kann dabei nicht genügen, wenn sie nicht deutlich machen, weshalb dadurch das konkrete Maß der Schuld des Täters beeinträchtigt wurde.394 Zwar wirkt der Hinweis des BGH, dass die Vergewaltigung „generell unter Strafe stehe“ etwas unglücklich. Er kann indes aber nur so zu verstehen sein, dass auch im Heimatland des Angeklagten eine Vergewaltigung grds. unter Strafe stehe, also nicht im Einklang mit der fremden Rechtsordnung sei. Die Verhaftung in einem fremden Kulturkreis konnte folglich in Ermangelung eines Normbewältigungskonfliktes in Hinblick auf die jeweiligen Vorschriften zur Vergewaltigung beim Angeklagten nicht dazu führen, dass das Maß der Schuld im konkreten Fall beeinträchtigt werden konnte. 6. BGH, Beschluss vom 22.12.1998 Auch der 3. Senat äußerte sich in einem ähnlich gelagerten Fall zur hier in Rede stehenden Strafzumessungserwägung.395 Vorgehend hatte das LG Oldenburg den Angeklagten wegen Vergewaltigung verurteilt.396 Die Revision des Angeklagten wurde als unbegründet verworfen, da die Nachprüfung des Urteils keinen Rechtsfehler zu seinen Lasten ergeben hatte.397 393  BGH,

Urteil v. 24.06.1998  – 5 StR 258/98, UA.  7. könnte der Passus im Urteil des 5. Senats missverständlich wirken, wenn er formuliert, dass eingewurzelte Vorstellungen bei der Frage des Schuldumfangs eine Rolle spielen können, aber bei der Frage, ob der Umstand, dass der Angeklagte aus einem fremden Kulturkreis stamme, bei der Gesamtbetrachtung – also der Strafrahmenbildung – „erhebliche Bedenken“ gegen eine solche Wertung bestehen. Vgl. BGH, Urteil v. 24.06.1998  – 5 StR 258/98, UA.  7. Vgl. zu der Problematik der Gesamtabwägung bei der Strafrahmenbildung zur Einbeziehung aller für die Strafzumessungsschuld relevanten Umstände etwa Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 884 f. 395  Vgl. BGH, Beschluss v. 22.12.1998  – 3 StR 587/98. 396  Vgl. LG Oldenburg, Urteil v. 28.04.1998  – 2 KLs 34/97  – 103 Js 44655/97. 397  Vgl. BGH, Beschluss v. 22.12.1998  – 3 StR 587/98. 394  Insoweit



B. Rechtsprechungsgenese nach dem Inkrafttreten des § 13 StGB a. F.205

Obgleich sich der 3. Senat nicht hätte dazu äußern müssen – immerhin war der Angeklagte durch die vom LG angestellten Erwägungen nicht beschwert –, kritisierte er die Erwägungen des LG mit den folgenden Ausführungen: „Die durch die Tatsachen nicht belegten Strafzumessungserwägungen der Strafkammer, dem Angeklagten sei ‚wahrscheinlich‘ in Kasachstan ein Frauenbild vermittelt worden, bei dem in einer Frau eher ein Sexualobjekt zu sehen sei, sind rechtlich bedenklich. Abgesehen davon, daß in Deutschland deutsches Strafrecht gilt und diesem auch Nichtdeutsche unterliegen, können Vorstellungen aus einem fremden Kulturkreis allenfalls dann strafmildernde Bedeutung zukommen, wenn diese im Einklang mit der fremden Rechtsordnung stehen (BGH NStZ 1996, 80). Den Feststellungen ist kein Hinweis zu entnehmen, daß in Kasachstan Vergewaltigungen milder als in Deutschland bestraft werden. Der Angeklagte ist hierdurch jedoch nicht beschwert.“398 Damit schloss sich auch der 3. Senat beim BGH der Linie des 1. Senats an und stellte auch an die Tatsachen, welche für die Strafzumessungserwägung durchschlagen sollten, konkrete Anforderungen. Zu Recht kann es nicht genügen, dass das LG davon ausging, dem Angeklagten sei „wahrscheinlich“ ein wie auch immer geartetes Frauenbild in Kasachstan vermittelt worden. Will das Tatgericht einen strafzumessungsrelevanten Umstand in der fremdkulturellen Enkulturation des Täters erkennen, kann es in einem solchen Fall auch einen Sachverständigen befragen, um die notwendigen Tatsachen zu erheben.399 7. BGH, Urteil vom 07.11.2006 Geht man von den veröffentlichten Entscheidungen aus, hatte sich der BGH einige Zeit lang nicht mit Revisionen zur Sache zu beschäftigen. Erst im Jahr 2006 findet sich wieder eine Entscheidung zur Problematik. Vorgehend hatte das LG Stuttgart den Angeklagten wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung zum Nachteil der Nebenklägerin, seiner geschiedenen Ehefrau, zu einer Freiheitstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt.400 Auf die Revision der Nebenklägerin hob der 1. Senat beim BGH das Urteil samt Feststellungen auf und verwies es an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurück.401 398  BGH,

Beschluss v. 22.12.1998  – 3 StR 587/98. hat das LG Osnabrück bspw. in einem Fall das Gutachten eines Albanologen eingeholt, um Tat und Täter unter dem besonderen kulturellen Hintergrund besser verstehen und würdigen zu können, vgl. hierzu LG Osnabrück, in: StV 1994, 430 f. (431). 400  Vgl. LG Stuttgart, Urteil v. 23.01.2006  – 1 Ks 112 Js 18081/05. 401  Vgl. BGH, Urteil v. 07.11.2006  – 1 StR 307/06. 399  So

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Teil 4: Rechtsprechung bei Taten mit fremdkulturellen Wertvorstellungen

Der Angeklagte, der seit 1981 ununterbrochen in Deutschland lebte und seit „mehreren Jahren“ deutscher Staatsangehöriger war, hatte mit einem zwölf Zentimeter langen Küchenmesser auf seine Ex-Frau eingestochen, nachdem sie ihm mitteilte, dass sie keinen weiteren Kontakt mehr mit ihm wolle; er hingegen hatte versucht, eine erneute Eheschließung mit ihr herbeizuführen.402 Zuvörderst hob der BGH das Urteil deswegen auf, weil das LG Stuttgart i. R. d. Beweiswürdigung rechtsfehlerhaft die Tötungsabsicht des Angeklagten verkannt hatte.403 Daneben sah sich der 1. Senat aber ergänzend zu folgender Bemerkung für die neu zur Verhandlung berufene Schwurgerichtskammer veranlasst: „Für die neue Verhandlung bemerkt der Senat jedoch, dass rechtliche Bedenken gegen die Annahme der Strafkammer bestehen, es wirke sich hier – sogar in erheblichem Maße – strafmildernd aus, dass der Angeklagte ‚einer an seinem ursprünglichen Kulturkreis orientierten Einstellung und Wertehaltung über die Rolle des Mannes in der Familie verhaftet‘ sei. Abgesehen davon, dass der Angeklagte seit 1981 ununterbrochen in Deutschland lebt und seit mehreren Jahren deutscher Staatsangehöriger ist, könnten ohnehin in einer fremden Rechtsordnung wurzelnde Verhaltensmuster, Vorstellungen und Anschauungen regelmäßig nur dann strafmildernd berücksichtigt werden, wenn sie im Einklang mit der fremden Rechtsordnung stehen (Tröndle / Fischer, StGB 53. Aufl. § 46 Rdn. 43a m. w. N.). Dies ist vorliegend nicht der Fall.“404 Damit verbleibt der 1. Senat bei seiner auf die Entscheidung von 1995 zurückgehenden405 Rechtsprechung und konkretisiert hierbei noch den personellen Anwendungsbereich dieser Strafzumessungserwägung. Demnach kann ein Angeklagter nur in den Genuss einer strafmildernden Berücksichtigung seiner kulturellen Verhaftung unter dem Aspekt der erschwerten Normbefolgung gelangen, wenn die biographische Betrachtung seiner Person ergibt, dass er nicht in hinreichendem Maße Gelegenheit gehabt hatte, sich mit den hiesigen Rechts- und Wertvorstellungen vertraut zu machen. Daneben insistiert der 1. Senat auch auf dem Erfordernis der Akzeptanz der fremden Verhaltensmuster in der Rechtsordnung des Täters. Welche Bedeutung die Staatsangehörigkeit in diesem Kontext für den BGH tatsächlich gehabt hätte, wenn es darauf angekommen wäre, lässt sich indes nicht sicher feststellen. Jedenfalls scheint es unschädlich für das Abheben auf die er402  Vgl.

BGH, Urteil v. 07.11.2006  – 1 StR 307/06, UA.  4. BGH, Urteil v. 07.11.2006  – 1 StR 307/06, UA.  6 ff. 404  BGH, Urteil v. 07.11.2006  – 1 StR 307/06, UA.  15; bei der vom BGH angegebenen Fundstelle bei Fischer, wird das Urteil fälschlicherweise mit „Tötung der Ehefrau wegen Trennungsabsichten“ bezeichnet. 405  Vgl. oben in diesem Abschnitt bei 3. 403  Vgl.



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schwerte Normbefolgung zu sein, dass der Täter im formellen Sinne Deutscher ist, soweit die Feststellungen zur Person einen hinreichenden fremdkulturellen Einschlag ergeben. Wie jedoch auch bereits bei anderen Fallgruppen festgestellt, wird der Ausländereigenschaft in dieser Sache allenfalls der Wert eines Indikators beigemessen werden können. Sie kann es dem Tatgericht gleichsam nahe legen, soweit Tat und Täter Anlass dazu geben, den Strafzumessungssachverhalt auf die kulturellen Aspekte auszudehnen. Zwingend – und das legt die hier besprochene Entscheidung nahe – erscheint dies allerdings nicht. 8. BGH, Beschluss vom 18.08.2009 Im Jahr 2009 hatte sich der 1. Senat beim BGH erneut mit einer Entscheidung zu befassen, bei der die Vorinstanz dem kulturellen Hintergrund von Tat, Tätern und Opfer eine erhebliche Bedeutung beigemessen hatte.406 Vorgehend hatte das LG Stuttgart407 die drei Angeklagten u. a. wegen Geiselnahme zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Bei der Strafrahmenbildung zu § 239b Abs. 1 StGB diskutierte die Große Strafkammer beim LG Stuttgart, ob aufgrund der Modalitäten des Falles ein minderschwerer Fall gegeben sein könnte. Das Landgericht führte dazu bei der Strafrahmenbestimmung aus: „Für die Annahme eines minderschweren Falles spricht zwar, dass es sich vorliegend um eine Tat im familiären Nahbereich handelt und die Nebenklägerin sich ursprünglich freiwillig in den Familienverband der Angeklagten begeben hat. Auch die Verwurzelung der Angeklagten in einem archaischen Wertsystem, welches eine tragende Rolle in der gesamten Beziehung zwischen der Nebenklägerin und der Familie G. spielte, spräche für die Annahme eines minderschweren Falles. Gegen eine solche Annahme spricht jedoch, dass die Angeklagten bereits seit 1992 in der Bundesrepublik Deutschland leben und genug Zeit gehabt haben, sich mit dem in der Bundesrepublik Deutschland geltenden Werte- und Rechtssystem, welches jeglichen Zwang und Gewalt gegenüber Frauen innerhalb einer Beziehung ausdrücklich ablehnt, vertraut zu machen und dies zu akzeptieren.“408 Diese Erwägungen des LG Stuttgart zeigen einmal mehr, wie tatprägend kulturelle Umstände zuweilen von Tatgerichten wahrgenommen werden und welche Bedeutung sie damit für eine Entscheidung aufweisen können. Das LG Stuttgart hatte vorliegend das Gesamtgeschehen zu würdigen und dis406  Vgl.

BGH, Beschluss v. 18.08.2009  – 1 StR 351/09. LG Stuttgart, Urteil v. 09.03.2009  – 16 KLs 112 Js 69301/08. 408  LG Stuttgart, Urteil v. 09.03.2009  – 16 KLs 112 Js 69301/08, S. 17. 407  Vgl.

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Teil 4: Rechtsprechung bei Taten mit fremdkulturellen Wertvorstellungen

kutierte die kulturellen Besonderheiten i. R. d. für die Strafrahmenbildung notwendigen Gesamtbetrachtung. Dabei fällt allerdings auf, dass es – wenngleich die Argumentationsstruktur auf die Fallgruppe der erschwerten Normbefolgung hindeutet – nicht explizit den Terminus der erschwerten Normbefolgung erwähnte. Insofern mangelt es dem Urteil an systematischer Präzision, was sowohl den GBA als auch den BGH dazu veranlasst haben i. R. d. Revisionsverfahrens ergänzend zu dieser Erwägung des LG Stellung zu beziehen. „Der Generalbundesanwalt hat hierzu in seiner Antragsschrift vom 29. Juni 2009 (hinsichtlich des Angeklagten U. G.) unter Hinweis auf das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 7.  November 2006  – 1 StR 307 / 06409 […] bemerkt, dass die Annahme, die Verwurzelung in einem archaischen Wertesystem spräche grundsätzlich für einen minderschweren Fall, rechtsfehlerhaft – zu Gunsten des Angeklagten – ist.“410 Dem schloss sich der 1. Senat an und bemerkte ergänzend: „Die Angeklagten kommen aus dem früheren Jugoslawien. Auch dort war es verboten und strafbar, den Kopf eines anderen Menschen mit voller Wucht gegen die Wand zu schleudern, ihn, um ihn gefügig zu machen, zusammen mit seinem Kind auf offener Straße zu überfallen, ins Auto zu zerren, zu verschleppen, tagelang einzusperren und während dieser Zeit körperlich zu misshandeln, wegen eines Fluchtversuchs brutal mit einem Aluminiumbesenstiel zusammenzuschlagen, so dass dieser zerbricht, und damit auch noch zuzustechen. Darauf, dass die Angeklagten bereits seit 1992 in Deutschland lebten, kommt es daher gar nicht an. Ebenso kann dahinstehen, ob der menschenunwürdige Umgang der Angeklagten mit der Geschädigten den Vorstellungen der ethnischen Gruppe, der die Angeklagten angehören, über das Zusammenleben in einer Familie entspricht, was allerdings abwegig wäre. Die Angeklagten wussten nämlich sehr genau, dass ihr Vorgehen mit der Rechtsordnung unvereinbar und strafbar ist. Wenn sie sich gleichwohl […], unter Verletzung der elementarsten Prinzipien des deutschen und europäischen Wertesystems selbstherrlich über das Recht hinwegsetzen, ist dies nicht strafmildernd, wie das Landgericht letztlich auch nicht verkannt hat.“411 Mit diesen Ausführungen machte der 1. Senat deutlich, dass es sich bei der Erwägung des LG Stuttgarts um eine Strafzumessungserwägung im Bereich der erschwerten Normbefolgung handelt, wenn er hervorhebt, dass es auch nach der fremden Rechtsordnung keinen Rückhalt für die Handlungen der Angeklagten geben würde. Bemerkenswert ist ferner, dass der 1. Senat auch der Berücksichtigungsfähigkeit von kulturellen Vorstellungen einer ethni409  Vgl.

oben in diesem Abschnitt unter 7. BGH, Beschluss v. 18.08.2009  – 1 StR 351/09. 411  BGH, Beschluss v. 18.08.2009  – 1 StR 351/09. 410  Vgl.



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schen Gruppe hier eine klare Absage erteilt. Weiterhin zeigt das Urteil, dass der BGH, vornehmlich durch den 1. Senat vertreten, zu einer weitgehend konsistenten Linie im Umgang mit dem Strafzumessungsumstand der erschwerten Normbefolgung gefunden hat. Insofern verbleibt der 1. Senat bei seinen, zu dieser Strafzumessungsfrage aufgestellten, Grundsätzen. 9. Zwischenergebnis und Tendenz Die Entscheidungsgenese zum Strafzumessungsumstand der erschwerten Normbefolgung bei fremdkulturellen Tätern konnte eine nunmehr überwiegend einheitliche Position der höchstrichterlichen Rechtsprechung aufzeigen, was zuvörderst den Entscheidungen des 1. Senats beim BGH zu verdanken ist. Wie auch bei anderen, in diesem Teil besprochenen Umständen der Strafzumessung bei fremdkulturellen Taten und Tätern, wurzeln die Entscheidungen des BGH zur erschwerten Normbefolgung in den immer ausführlicheren Strafzumessungssachverhalten der Vorinstanzen. Dabei zeichnet sich mit einer gewissen Regelmäßigkeit ab, dass die Tatgerichte zunächst geneigt sind, dem entsprechenden Umstand eine tragende Bedeutung in den Gründen beizumessen. Der BGH hingegen drängt in der Folge mit gleicher Regelmäßigkeit auf eine restriktive Handhabung. Auch dies konnte die Entscheidungsgenese hier erneut belegen. Bemerkenswert ist ferner, dass die fremdkulturelle Verhaftung unter dem Aspekt der erschwerten Normbefolgung nicht selten von den Gerichten als ein Umstand gewürdigt wurde, der das Tatgeschehen derart massiv beeinflusst haben soll, dass ihm bei Gesamtbetrachtungsentscheidungen (so etwa bei der Strafrahmenbildung) erhebliches Gewicht beigemessen wurde. Auch deshalb lassen sich bei diesem stark normativ geprägten Strafzumessungsumstand z. T. erhebliche Schwierigkeiten hinsichtlich der notwendigen Tatsachenfeststellungen bzw. der Ermittlung des Strafzumessungssachverhalts ausmachen. Diese Unsicherheiten werden dadurch bestärkt, dass die Rechtsprechung sich darüber ausschweigt, ob die erschwerte Normbefolgung grds. als bestimmender Strafzumessungsumstand i. S. v. § 267 III StPO anzusehen ist. Es mangelt insofern an klaren Richtlinien, ob Tatgerichte auch unabhängig von einem etwaigen Verteidigungsverhalten des Angeklagten diesbezüglich angehalten sein müssen, den Strafzumessungssachverhalt entsprechend zu gestalten. Hier könnte ein Blick in die materielle Schuldebene ggf. Abhilfe leisten, wie im Grundlagenteil bereits angedeutet wurde.412 Soweit schon der Tatbestand für die Strafzumessung eine präjudizielle Wirkung entfalten kann, 412  Vgl.

oben Teil 2, C., III., 3.

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Teil 4: Rechtsprechung bei Taten mit fremdkulturellen Wertvorstellungen

erscheint dies auch hinsichtlich des materiellen Schuldbegriffs für die Strafzumessungsschuld möglich und zweckmäßig. Erblickt demnach das Tatgericht, etwa zur Bestimmung des materiellen Unrechtsbewusstseins, Tatsachen oder Umstände, durch die der Täter bspw. seinem Verhalten einen geringeren Unrechtsgehalt beimisst, die persönliche Vorwerfbarkeit der Tat aber nicht entfällt, kann das zwar nicht auf der materiellen Schuldebene durchschlagen. Anderes mag jedoch u. U. für die Ebene der Strafzumessungsschuld gelten.413 Dann liegt es allerdings auch nahe, einen bestimmenden Umstand i. S. v. § 267 III StPO anzunehmen, mit dem sich das Tatgericht folglich auseinander zu setzen hat, wenn der konkrete Sachverhalt entsprechenden Anlass gibt. Plausibel erscheinen deshalb zunächst solche Ansätze in der Judikatur, die danach fragen, wie nahe der konkrete Umstand, der die erschwerte Normbefolgung begründen soll, dem fehlenden Unrechtsbewusstsein auf der materiellen Schuldebene stand. Es versteht sich im Übrigen von selbst, dass der hier diskutierte Strafzumessungsumstand stets eine Frage strafmildernder Anrechnung fremdkultureller Tatsachen und Umstände bei der Strafzumessungsschuld darstellt. Demnach lassen sich folgende Punkte aus den zuvörderst höchstrichterlichen Entscheidungen destillieren, welche i. R. d. erschwerten Normbefolgung bei der Strafzumessung nach Ansicht der Rechtsprechung zu berücksichtigen sind. a) Zunächst muss die Aufnahme des Sachverhalts eine Verhaftung bzw. Verwurzelung des Täters in einem fremden, die Handlungen im konkreten Fall leitenden, Werte- und Rechtssystem ergeben. Vor diesem Hintergrund muss es dem Täter aufgrund der fremden Wertvorstellungen schwerer gefallen sein, sich entsprechend den hiesigen Normvorstellungen zu verhalten. Der daraus resultierende Normbefolgungskonflikt stellt wiederum den eigentlichen Anknüpfungspunkt einer möglichen Schuldmilderung dar,414 weil sich der Täter zwischen den kollidierenden Normsystemen hin und hergerissen gefühlt hat. Die Rechtsprechung fordert insofern keine näheren Ausführungen hinsichtlich der Intensität der Auswirkungen des Normbefolgungskonflikts auf die psychische Situa­ tion des Täters. Sie korrigiert ihre Ergebnisse mit anderen Kriterien. Die notwendigen Feststellungen diesbezüglich dürften in praxi bereits mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden sein. Zuweilen wird es sich als unablässig herausstellen, im Wege eines interdisziplinären Zugriffs die 413  Vgl. dazu bspw. Schmidt, Strafrecht Allgemeiner Teil, Rn.  554 ff.; i. d. S.  auch Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil I, § 19, Rn. 55. 414  Vgl. dazu schon Hörnle, Kultur, Religion, Strafrecht – Neue Herausforderungen in einer pluralistischen Gesellschaft. Gutachten  C zum 70.  Deutschen Juristentag, C  86.



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fremdkulturellen Eigenheiten von Tat und Täter genau zu untersuchen. Hat das Gericht Zweifel über solche Umstände, kann die Einholung eines entsprechenden ethnologischen, soziologischen oder ggf. psychiatrischen Gutachtens angezeigt sein. Einfacher in ihrer Erfassbarkeit sind hingegen solche Fälle, die offensichtlich dem deutschen und europäischen Werte- und Rechtssystem zuwider laufen.415 Die biographische Analyse des Täters ist bei diesem Schritt von zentraler Bedeutung für die Tatgerichte. Der (ggf. vormaligen) Ausländereigenschaft kann hier eine Indikatorwirkung zukommen. Deutlich hervorzuheben ist aber, dass es in dieser Sache nicht um eine strafmildernde Berücksichtigung der Ausländereigenschaft geht, wie im Kern auch vom BGH zumeist richtig erkannt. b) Das erste Korrektiv betrifft einen formalen Aspekt. Die fremden Verhaltensregeln müssen im Einklang mit der Rechtsordnung des Herkunftslandes stehen. Das bedeutet in der Konsequenz dann freilich, dass sich das Tatgericht substantiiert mit der fremden Rechtsordnung bei der Feststellung des Schuldumfangs auseinandersetzen muss.416 Wie sich diese Frage auf den Schuldumfang auswirken soll, hat dabei noch keine Entscheidung auch nur ansatzweise begründet. Für die Tatgerichte gilt, dass auch an dieser Stelle das Einholen eines entsprechenden Gutachtens bzw. einer Rechtsauskunft – z. B. beim Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht417 – angezeigt sein kann. Tendenzen einzelner Entscheidungen auch auf die Vereinbarkeit des Täterhandelns mit der informellen Werteordnung der Herkunftskultur abzustellen, konnten sich i. R. d. Fallgruppe der erschwerten Normbefolgung indes nicht durchsetzen. Gleichwohl soll es vor dem Hintergrund einiger Judikate aber nicht gänzlich ausgeschlossen sein, in solchen Konstellationen Strafmilderung zu gewähren, in denen ein Delikt zwar auch in der Herkunftskultur strafbar ist, dort aber bspw. lediglich Bagatellcharakter aufweist.418 c) Auch das zweite Korrektiv weist einen formalen Charakter, dessen Schuldrelevanz nur schwer ersichtlich ist, auf. Das Tatgericht soll beachten, wie lange sich der Angeklagte bereits in Deutschland aufhält und somit Gelegenheit gehabt hat, sich von den entsprechenden fremden 415  So

bei BGH, Beschluss v. 18.08.2009  – 1 StR 351/09. nochmals BGH, Beschluss v. 22.12.1998 – 3 StR 587/98, bei dem i. R. d. Tatsachenfeststellung der Vorinstanz gerügt wurde, dass dieser nicht zu entnehmen war, dass Vergewaltigung in Kasachstan milder bestraft würde als in Deutschland. 417  Vgl. Schmidt, Verteidigung von Ausländern, Rn. 138. 418  Dies erscheint letztlich deshalb geboten, weil der vergleichende Blick zum Unrechtsbewusstsein keine andere Wertung nahe legt, so bspw. bei Schmidt, Strafrecht AT, Rn. 555. 416  Vgl.

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Teil 4: Rechtsprechung bei Taten mit fremdkulturellen Wertvorstellungen

Normen und Werten zu lösen.419 In diesem Zusammenhang werden dann solche Fragen relevant, ob der Angeklagte dauerhaft seinen Lebensmittelpunkt in Deutschland gefunden hat, oder ob er immer noch regelmäßig vertiefte Aufenthalte im fremden Kulturkreis wahrnimmt, die eine Entwurzelung ausschließen bzw. bislang erschwert haben. d) Zu beachten ist ferner, ob es der Angeklagte trotz längeren Aufenthalts in Deutschland unterlassen hat (vergleichbar einem Fahrlässigkeitsvorwurf), sich mit den hiesigen Normen vertraut zu machen oder sich bewusst über das hiesige Recht hinweggesetzt hat (vergleichbar einem Vorsatzvorwurf). Gerade in diesem Bereich kann sich dann entsprechend dem festzustellenden Grad der Vorwerfbarkeit des Unterlassens bzw. Hinwegsetzens eine Schuldabstufung ergeben, welche bis hin zur völligen Versagung von Strafmilderung führen kann. Nach alledem ist festzustellen, dass auch dieser Strafzumessungsumstand gegenwärtig eine gewisse Konjunktur aufweist. Allerdings bereitet er den Tatgerichten in der praktischen Handhabung noch große Schwierigkeiten. Einerseits ist es für die Gerichte problematisch, dass sie häufig darauf angewiesen sind, spezifische Gutachten und / oder Rechtsauskünfte einzuholen, was allerdings vor dem Hintergrund der Praxis im Justizalltag nicht selten auch aus Unkenntnis über deren Entscheidungserheblichkeit oder Unachtsamkeit übersehen werden dürfte.420 Andererseits haben die Bemühungen des Bundesgerichtshofs um eine systematische Darstellung der strafzumessungsrelevanten kulturträchtigen Tatsachen unter dem Aspekt der erschwerten Normbefolgung nur bedingt Früchte getragen. Sie gehören nach wie vor – auch dafür liefert die Urteilssammlung hier Belege – nicht zum „Standardwissen“ bei Strafgerichten. Immerhin lassen sich konvergente Entwicklungen in den Argumentationsstrukturen hinsichtlich mehrerer anderer Fallgruppen ausmachen. So ist es bspw. bei der erschwerten Normbefolgung ebenso wie bei der Strafempfindlichkeit von Relevanz, wie lange sich der Täter bereits in der Bundesrepublik aufgehalten hat und inwieweit er in der Lage war, sich mit den hiesigen Normen und Werten vertraut zu machen. Will man eine Tendenz in der Sache formulieren, legt die Entwicklung der Rechtsprechung in diesem Bereich den Schluss nahe, dass Entscheidungen zur erschwerten Normbefolgung auch in Zukunft von einiger praktischer Relevanz sein könnten. Das erscheint auch vor dem Hintergrund der binnenkulturellen Entwicklung der Gesellschaft plausibel. auch Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 730, diese Richtung weist auch die Kritik von Schmidt. So bemängelt er u. a., dass aus Unachtsamkeit oder Unkenntnis der Tatrichter bspw. eine Erörterung der ausländerrechtlichen Folgen in der Strafzumessung „oftmals“ ausbleibt. Vgl. Schmidt, Verteidigung von Ausländern, Rn. 246. 419  Vgl. 420  In



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VII. Entscheidungen zur Überwindung einer geringeren Hemmschwelle zur Tat aufgrund kultureller Wertvorstellungen 1. Vorbemerkungen Als nächstes sollen die Entscheidungen näher betrachtet werden, bei denen es in der Sache darum geht, dass ein Täter aufgrund seiner kulturellen Verwurzelung eine geringere Hemmschwelle zur Tat zu überwinden hatte. Bereits hier wird klar, dass die Ausgangslage, nämlich die Verwurzelung des Täters in einer fremden Kultur, der soeben besprochenen Fallgruppe der erschwerten Normbefolgung auf den ersten Blick ähnelt. Es soll sich aber anhand der Entscheidungsgenese zeigen, dass der Bundesgerichtshof hierbei unterschiedlich zu beurteilende Strafzumessungsumstände erkennt. Dabei ist der Begriff der Genese in diesem Kontext freilich mit einiger Sorgfalt zu verwenden. Denn soweit ersichtlich handelt es sich bei der strafzumessungsrechtlichen Berücksichtigung fremdkultureller Verhaltensmuster unter dem Aspekt der Überwindung einer geringeren Hemmschwelle zur Tat um eine vergleichsweise junge Linie in der Rechtsprechung.421 Erste Entscheidungen lassen sich erst nach der Wende zum 21. Jh. ausmachen. Erwartungen an eine reiche Kasuistik werden auch hier enttäuscht. 2. BGH, Urteil vom 29.08.2001 Der 2. Senat hatte sich im Jahr 2001 mit einer Entscheidung zu befassen, bei der die Vorinstanz den kulturellen Hintergründen von Tat, Täter sowie Opfer abermals i. R.e. Gesamtbetrachtung erhebliches Gewicht beigemessen hatte.422 Das LG Wiesbaden423 hatte den Angeklagten u. a. wegen Vergewaltigung unter Verwendung eines gefährlichen Werkzeugs zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt.424 Das vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel gegen das Urteil hatte keinen Erfolg.425 Die Revision der Staatsanwaltschaft richtete sich vor allem gegen die Annahme eines minderschweren Falles gem. § 177 V StGB durch das Landgericht. 421  Welche Konsequenzen sich aus der jüngsten Kritik an der Hemmschwellentheorie in Hinblick auf den Tötungsvorsatz für die strafzumessungsrechtlichen Perspektiven ergeben, bleibt abzuwarten. 422  BGH, Urteil v. 29.08.2001  – 2 StR 276/01; vgl. auch BGH, in: StV 2002, 20 f. 423  Siehe LG Wiesbaden, Urteil v. 09.01.2001  – 8 Js 42227/00. 424  Vgl. BGH, Urteil v. 29.08.2001  – 2 StR 276/01, UA.  1. 425  Vgl. BGH, Urteil v. 29.08.2001  – 2 StR 276/01, UA.  2.

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Die Kammer beim LG Wiesbaden hatte bei der erforderlichen Gesamtbetrachtung zur Strafrahmenbildung u. a. strafmildernd berücksichtigt, „dass der Angeklagte zur Begehung dieser Tat eine geringere Hemmschwelle zu überwinden hatte.“426 „Sowohl der Angeklagte als auch die Nebenklägerin stammen aus einem anderen Kulturkreis mit auf dem Islam basierenden Wertvorstellungen und waren trotz ihres langen Aufenthalts in Deutschland dem traditionellen Rollenverständnis verhaftet, bei dem von der Ehefrau Unterordnung und Gehorsam erwartet wird.“427 An der strafmildernden Berücksichtigung dieses Umstandes hatte der 2. Senat nichts zu beanstanden, insbesondere hob er hervor, dass es das LG mit dieser Wägung auch nicht in Frage gestellt hatte, dass für den Angeklagten deutsches Strafrecht verbindlich sei.428 Indes ermöglicht das Urteil bereits erste Unterschiede zur Fallgruppe der erschwerten Normbefolgung zu erkennen. Zunächst, und das wurde bereits betont, ist die Ausgangslage vergleichbar, nämlich die Verwurzelung des Angeklagten in einem fremden Wertesystem. Dass das LG hier im Gegensatz zur Fallgruppe der erschwerten Normbefolgung nicht auf das fremde Rechts-, sondern nur Wertesystem abstellt, verdeutlich bereits die Distanzierung von solchen Umständen, die § 17 StGB und damit Fragen von formellen Verbotsnormen i. S. d. Rechtsordnung nahe stehen.429 Vielmehr kommen hier solche Überlegungen zum Ausdruck, die ihr Äquivalent auf der materiellen Schuldebene bei § 21 StGB finden könnten, insbes. unter dem Aspekt der Verminderung der Steuerungs- bzw. Hemmfähigkeit.430 Das geht insofern konform mit sonstigen allgemeinen Überlegungen zur Überwindung der Hemmschwelle zur Tat als Strafzumessungserwägung, als dass es vor allem soziale und damit informelle Normen sind, welche die Hemmschwelle zur Tat jedenfalls erheblich mitbestimmen sollen.431 Damit ist die erste wichtige Erkenntnis aus dieser Entscheidung jene, dass es bei der Fallgruppe der Überwindung einer geringeren Hemmschwelle zur Tat vornehmlich um prägende Momente informeller Normen geht. Damit erlangt der Umstand der Überwindung einer gerin426  BGH, Urteil v. 29.08.2001  – 2 StR 276/01, UA.  9; vgl. auch BGH, in: StV 2002, 20 f. (20). 427  BGH, Urteil v. 29.08.2001  – 2 StR 276/01, ebenda. 428  Vgl. BGH, Urteil v. 29.08.2001  – 2 StR 276/01, ebenda. 429  So reicht es für die Anwendbarkeit von § 17 StGB nach st.Rspr. nicht aus, dass der Täter im Bewusstsein moralischer Verwerflichkeit oder sozialwidrig handelt. Es bedarf hingegen des Bewusstseins des Täters, gegen die Rechtsordnung als solche zu verstoßen. Vgl. dazu Fischer, StGB, § 17, Rn. 3. 430  Vgl. Fischer, StGB, § 21, Rn. 5. 431  I. d. S.  auch Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 880; zu aktuellen Verwerfungen bei der Hemmschwellentheorie, vgl. BGH, in: NStZ 2014, 35 f.; siehe auch Artkämper/Dannhorn, in: NStZ 2015, 241 ff. (242).



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geren Hemmschwelle zur Tat aufgrund kultureller Wertvorstellungen auch einen deliktsspezifischen Impetus und dürfte bei Taten im familiären Nahbereich sowie generell dort, wo das Zusammenleben von informellen Normen besonders stark geprägt ist, von einiger Relevanz sein. Die Tatsache, dass der Angeklagte als türkischer Staatsangehöriger bereits 30 Jahre in Deutschland gelebt hat und damit jedenfalls hinreichend Zeit hatte, sich von den originär eingewurzelten Wertvorstellungen zu lösen, blieb sowohl vom LG als auch vom BGH ungeachtet. Immerhin könnte dies die Vermutung nahe legen, dass die Gerichte bei der Frage nach der Entwurzelung von informellen Werten weniger strenge Anforderungen an den Täter dahingehend stellen, sich mit den hiesigen Werten vertraut zu machen, als das bei formellen Gebots- und Verbotsnormen der Fall ist. Insoweit gilt es, diesen Umstand bei der Betrachtung weiterer Entscheidungen näher zu beleuchten. 3. BGH, Urteil vom 01.02.2007 Im Jahr 2007 hatte sich auch der 4. Senat beim BGH mit einem Fall zu beschäftigen, bei dem das gesamte Tatgeschehen von informellen, auf religiösen Vorstellungen basierenden Umständen, geprägt war.432 Vorgehend hatte das LG Saarbrücken433 den Angeklagten wegen Geiselnahme in Tateinheit mit Vergewaltigung zu einer „Gesamtfreiheitsstrafe“434 von zwei Jahren verurteilt.435 Die hiergegen eingelegte Revision der Staatsanwaltschaft hatte keinen Erfolg. Sie beanstandete die vom Landgericht zugrunde gelegten Strafrahmen und auch die Strafzumessung im Übrigen.436 Schon bei den Feststellungen hatte das LG Saarbrücken ausführlich die besonderen Gesamtumstände des Tatgeschehens beschrieben, wenn es zunächst hervorhob, dass alle Tatbeteiligten unter Einschluss der Nebenklägerin der „archaischen Religionsgemeinschaft der Jesiden“ angehören.437 Entsprechend dem Ansinnen der Eltern des Angeklagten und der späteren Nebenklägerin verlobten sich die beiden im Juli 2005, obwohl die Nebenklägerin heimlich einen anderen Freund hatte und innerlich nicht bereit war, 432  Vgl.

BGH, Urteil v. 01.02.2007  – 4 StR 514/06. LG Saarbrücken, Urteil v. 13.06.2006  – 14 Js 129/05  – Ss 46/06. 434  Die Urteilsformel wurde vom BGH in diesem Verfahren dahingehend berichtigt, als dass der Angeklagte zu einer „Freiheitsstrafe“ von zwei Jahren mit Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt ist. 435  Vgl. BGH, Urteil v. 01.02.2007  – 4 StR 514/06, UA.  1. 436  Vgl. BGH, Urteil v. 01.02.2007  – 4 StR 514/06, ebenda. 437  Vgl. BGH, Urteil v. 01.02.2007  – 4 StR 514/06, UA.  3. 433  Vgl.

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die arrangierte Ehe einzugehen.438 Um Zeit zu gewinnen, fand auf Drängen ihrerseits eine aufwändige Verlobungsfeier auf Kosten des Vaters des Angeklagten statt, bei der das spätere Tatopfer einen Streit mit ihrem Verlobten provozierte, um so einen Vorwand zu schaffen, ihn doch nicht heiraten zu müssen.439 Das vorläufige Zerwürfnis hielt indes nicht lange vor. Kurze Zeit später verbrachten der Angeklagte sowie sein Bruder und ein Cousin die Nebenklägerin gewaltsam nach Belgien, um eine Aussprache mit dem Ziel der Rettung der Eheschließung herbeizuführen.440 Hiergegen leistet das Opfer jedoch entschiedenen Widerstand. Erst als auch ihre eigenen Angehörigen, welche mit dem Vater des Angeklagten ebenfalls nach Bel­ gien gekommen waren, auf sie einredeten, entschloss sich das Opfer zur Aufgabe ihres Widerstandes.441 Doch das genügte ihren Angehörigen nicht, die in der Folge der Geschehnisse einen Beweis ihrer Heiratswilligkeit forderten.442 Daraufhin verkehrte der Angeklagte geschlechtlich mit dem Opfer bis sich das untergelegte Tuch – einem religiösen Ritus der Beteiligten entsprechend – zum Beweis „rot“ färbte. Ohne zum Samenerguss gekommen zu sein, beendete der Angeklagte den Verkehr auf Drängen des Opfers.443 Beide Familien gratulierten den Verlobten und begaben sich dann nach Deutschland zurück.444 Bei der Strafzumessung ging das LG Saarbrücken hinsichtlich der Geiselnahme von einem minder schweren Fall aus, gem. § 239 b II i. V. m. § 239 a II StGB und hatte bei der Vergewaltigung trotz Verwirklichung eines Regelbeispiels (§ 177 II Nr. 1 StGB) den Regelstrafrahmen des § 177 I StGB zugrunde gelegt.445 Die Ausführungen des LG, soweit sie sich im Urteil des 4. Senats wiederfinden, sind indes einer näheren Betrachtung wert. Bei der für die Strafrahmenbildung erforderlichen Gesamtbetrachtung berücksichtigte das LG insbesondere, dass der Angeklagte „dem auf das quasi verpflichtende Eheversprechen der Nebenklägerin und das im großen Stil gefeierte Verlobungsfest gegründeten Erwartungsdruck der Familie habe genügen wollen, er nicht selber, sondern die Familie der ‚eigentliche geistige Urheber‘ der Vergewaltigung war und die sexuelle Befriedigung für den Angeklagten nicht im Vordergrund stand.“446 Der auf den Strafausspruch be438  Vgl.

BGH, Urteil v. 01.02.2007  – 4 StR 514/06, UA.  4. BGH, Urteil v. 01.02.2007  – 4 StR 514/06, ebenda. 440  Vgl. BGH, Urteil v. 01.02.2007  – 4 StR 514/06, ebenda. 441  Vgl. BGH, Urteil v. 01.02.2007  – 4 StR 514/06, UA.  5. 442  Vgl. BGH, Urteil v. 01.02.2007  – 4 StR 514/06, UA.  6. 443  Vgl. BGH, Urteil v. 01.02.2007  – 4 StR 514/06, UA. ebenda. 444  Vgl. BGH, Urteil v. 01.02.2007  – 4 StR 514/06, UA. ebenda. 445  Vgl. BGH, Urteil v. 01.02.2007  – 4 StR 514/06, UA.  8. 446  BGH, Urteil v. 01.02.2007  – 4 StR 514/06, UA.  9. 439  Vgl.



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schränkten Revision der Staatsanwaltschaft entgegnete der 4. Senat, dass nach ständiger Rspr. des Bundesgerichtshofs die Strafzumessung grds. Sache des Tatrichters sei, der auf der Grundlage des umfassenden Eindrucks, den er in der Hauptverhandlung von Tat und Täter gewonnen hat, die für und gegen den Angeklagten sprechenden Umstände festzustellen und gegeneinander abzuwägen hat.447 Dies hat die Kammer beim LG nach Ansicht des 4. Senats hier in nicht zu beanstandender Weise getan. „Sie hat auch nicht in Frage gestellt, dass für den Angeklagten im Hinblick auf die begangene Tat das deutsche Strafrecht mit seinen Wertvorstellungen verbindlich ist. Sie durfte aber – entgegen der Auffassung der Staatsanwaltschaft – unter den festgestellten Umständen strafmildernd berücksichtigen, dass der – wie auch die Nebenklägerin – aus einem anderen Kulturkreis stammende Angeklagte unter dem ‚Erwartungsdruck‘ seiner Familie stand und daher zur Begehung der Tat insgesamt eine geringere Hemmschwelle zu überwinden hatte […].“448 Bemerkenswert ist zunächst, dass das LG Saarbrücken nicht explizit in seiner strafzumessungsrechtlichen Bewertung angeführt hatte, der Angeklagte hätte aufgrund der Gesamtumstände eine geringere Hemmschwelle zur Tat zu überwinden gehabt. Erst der 4. Senat hebt darauf entsprechend deutlich ab. Insofern liegt die Vermutung nahe, der BGH habe einmal mehr der unstrukturierten, im Kern jedoch nach seiner Auffassung zutreffenden Strafzumessungserwägung einer Vorinstanz Ausdruck verliehen. Es spricht insofern vieles dafür, dass sich der BGH gerade in jüngerer Zeit bemüht zeigt, die Berücksichtigung einer fremdkulturellen Prägung von Tätern in den strafzumessungsrechtlichen Erwägungen der Tatgerichte inhaltlich und sprachlich abzustützen. Neben der Fallgruppe der erschwerten Normbefolgung, lässt sich dieser Trend auch für die in diesem Abschnitt einschlägige Fallgruppe der geringeren Hemmschwelle konstatieren. 4. LG Lüneburg, Urteil vom 07.04.2008 Dass die Bemühungen um inhaltliche Abstützung und Konkretisierung nur langsam bei den Tatsacheninstanzen rezipiert wurden, zeigt das Urteil des LG Lüneburg vom 07.04.2008, bei dem die kulturelle Verwurzelung der Angeklagten ebenfalls einen erheblichen Teil der Urteilsfeststellungen und Gründe ausgemacht hat.449 Insofern ist die Kritik Mösls an der mangelhaften Umsetzung obergerichtlicher Leitentscheidungen bei den Tatgerichten 447  Vgl.

BGH, Urteil v. 01.02.2007  – 4 StR 514/06, UA.  11. Urteil v. 01.02.2007  – 4 StR 514/06, UA.  13. 449  Siehe LG Lüneburg, Urteil v. 07.04.2008 – 20 KLs/1301 Js 10482/07 (36/07), unveröffentlicht, rechtskräftig seit 01.10.2008 nach ebenfalls unveröffentlichtem Beschluss des BGH v. 30.09.2008  – 3 StR 323/08. 448  BGH,

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zur Strafzumessung bei Ausländern aus dem Jahr 1981 noch immer ak­ tuell – wenngleich die Spielart nunmehr eine andere ist.450 Das LG Lüneburg hat die vier türkischen Angeklagten jeweils wegen tateinheitlich begangener dreifacher gefährlicher Körperverletzung für schuldig befunden und dabei gegen die Angeklagten A. A. und I. K. Freiheitsstrafen von vier Jahren und sechs Monaten und gegen die Angeklagten E. A. und Ö. A. Jugendstrafen von zwei Jahren und neun Monaten bzw. einem Jahr und neun Monaten verhängt.451 Dem Tatgeschehen war ein längerer Konflikt zwischen den Angeklagten, Mitgliedern einer türkischen Großfamilie und den Nebenklägern, Mitgliedern einer arabischen Großfamilie, vorausgegangen. Über weite Teile der Feststellungen im Urteil finden sich daher auch Sachverständigenaussagen, deren interdisziplinärer Zuschnitt gleichsam häufig für verschiedene Fragen eine Rolle gespielt hat. So war etwa ein Sachverständiger (Psychiater Dr. W.)452 u. a. darum bemüht, Vorsatz- und Schuldfragen mit Hinweis auf die in Ostanatolien geltenden Sitten zu klären.453 Um es vorwegzunehmen sind es hier insbes. die Äußerungen zu den §§ 20, 21 StGB, welche sodann für die Strafzumessung im hier zu besprechenden Kontext von Relevanz sind. Zunächst sind noch einige Angaben zum Sachverhalt von Interesse. Nachdem es zwischen den verfeindeten Parteien Ende 2006 / Anfang 2007 zu mehreren körperlichen Auseinandersetzungen kam,454 entschlossen sich die Familienväter zu einer Aussprache unter Anwesenheit eines sog. Friedensrichters455 am späteren Tatort, der Lokalität „Eckstübchen“.456 Man handelte ein für beide Parteien als verbindlich anzusehendes „Friedensabkommen“ aus.457 Entgegen diesem allen späteren Tatbeteiligten bekannten Frie450  Dieser hatte sich in der von ihm geführten Strafzumessungsübersicht dahingehend geäußert, dass es sich bei den Tatgerichten noch immer nicht herumgesprochen habe, dass die Ausländereigenschaft nach st. Rspr. des BGH nicht strafschärfend bewertet werden dürfe, vgl. Mösl, in: NStZ 1981, 131 ff. (133). 451  Siehe LG Lüneburg, Urteil v. 07.04.2008 – 20 KLs/1301 Js 10482/07 (36/07), S.  2 f. 452  Vgl. LG Lüneburg, Urteil v. 07.04.2008  – 20 KLs/1301 Js 10482/07 (36/07), S.  91, 92 f. 453  Vgl. LG Lüneburg, Urteil v. 07.04.2008  – 20 KLs/1301 Js 10482/07 (36/07), ebenda. 454  Vgl. LG Lüneburg, Urteil v. 07.04.2008  – 20 KLs/1301 Js 10482/07 (36/07), S. 10. 455  Zu Begriff und Tätigkeitsbereichen des Friedensrichters in Teilen der islamischen Welt, siehe bspw. Der Spiegel vom 29.08.2011, S. 57 ff. 456  Vgl. LG Lüneburg, Urteil v. 07.04.2008  – 20 KLs/1301 Js 10482/07 (36/07), S. 11. 457  Vgl. LG Lüneburg, Urteil v. 07.04.2008  – 20 KLs/1301 Js 10482/07 (36/07), S. 12.



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densabkommen kam es am Vortag des Tatgeschehens zu einer Auseinandersetzung zwischen dem späteren Angeklagten E. A. und den Brüdern El R., den späteren Nebenklägern, denen E. A. dabei körperlich unterlag. In der Folge der Niederlage des E. A. und unter dem Eindruck des Bruchs der Friedensvereinbarung sah sich die Familie A. dazu berechtigt, den El R. einen „Denkzettel“ zu verpassen.458 Gemäß „den Gepflogenheiten der ostanatolischen Heimat der Familie“ entschloss man sich „nicht auf die Polizei zu vertrauen, sondern die El R.s sofort zur Rede zu stellen und diesen, den eigenen Ehrvorstellungen entsprechend, mit körperlicher Gewalt und den mitgeführten Tatwerkzeugen einen Denkzettel zu verpassen.“459 So geschah es dann auch. Die vier Angeklagten stürmten das „Eckstübchen“ in der Absicht, ihren Plan auszuführen. Den El R.s wurden dabei z. T. lebensgefährliche Verletzungen durch die Angeklagten zugefügt, wenngleich das Gericht nicht mehr in der Lage war, das Geschehen im Einzelnen vollständig zu rekonstruieren.460 Seinen Abschluss fand das Tatgeschehen, als der Angeklagte I. K. an der Tür zum „Eckstübchen“ lauthals „Ich ficke alle Araber!“ rief und in den PKW des A. A. zu den restlichen Angeklagten stieg und diese dann davonfuhren.461 Trotz der umfassenden Feststellungen unter Einbeziehung der interdisziplinären Gutachten fiel es dem LG Lüneburg hier ersichtlich schwer, die kulturellen Besonderheiten des Falles in der Strafzumessung adäquat auszudrücken und entsprechend zu bewerten. Dies lässt schon der im Vergleich zu den Feststellungen geringe Umfang der Strafzumessungsbegründung besorgen.462 Hinsichtlich der Angeklagten A. A. und I. K. wertete das LG zu ihren Gunsten, dass beide Angeklagten glaubten, ihre Familie, zu deren Verteidigung sie sich nach ihren ethnischen Wurzeln in besonderem Maße verpflichtet gefühlt haben, werde durch die Geschädigten El R.s angegriffen.463 „Deshalb erregt entschlossen sie sich relativ spontan zur Tat.“464 Insofern hatte das Gericht bei der Prüfung der materiellen Schuld „die Eingangskri458  Vgl. ebenda. 459  Vgl. S. 14. 460  Vgl. S. 17 f. 461  Vgl. S. 18. 462  Vgl. S.  103 ff. 463  Vgl. S. 103. 464  Vgl. S. 104.

LG Lüneburg, Urteil v. 07.04.2008  – 20 KLs/1301 Js 10482/07 (36/07), LG Lüneburg, Urteil v. 07.04.2008  – 20 KLs/1301 Js 10482/07 (36/07), LG Lüneburg, Urteil v. 07.04.2008  – 20 KLs/1301 Js 10482/07 (36/07), LG Lüneburg, Urteil v. 07.04.2008  – 20 KLs/1301 Js 10482/07 (36/07), LG Lüneburg, Urteil v. 07.04.2008  – 20 KLs/1301 Js 10482/07 (36/07), LG Lüneburg, Urteil v. 07.04.2008  – 20 KLs/1301 Js 10482/07 (36/07), LG Lüneburg, Urteil v. 07.04.2008  – 20 KLs/1301 Js 10482/07 (36/07),

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Teil 4: Rechtsprechung bei Taten mit fremdkulturellen Wertvorstellungen

terien der §§ 20, 21 StGB“ noch – auf Grundlage der psychiatrischen Gutachten – verneint, bei der Strafzumessung aber zu ihren Gunsten Umstände gewertet, welche aufgrund der kulturellen Verwurzelung der Täter eine geringere Hemmschwelle zur Tat bedingt hatten, ohne dabei ausdrücklich auf die geringere Hemmschwelle einzugehen („[…] deshalb erregt […]“).465 Hinsichtlich des Angeklagten E. A. wertete das Gericht zu dessen Gunsten, dass aus seiner Sicht der Bruch der Friedensvereinbarung durch den tätlichen Übergriff der El R.s zugleich einen Angriff auf die Familienehre darstellte und dies unmittelbar vor der Tat geschah.466 Hinsichtlich des Angeklagten Ö. A. stellte die Kammer zunächst fest, dass an der strafrechtlichen Verantwortlichkeit keine Zweifel bestehen, da der Erhalt der körperlichen Integrität als schutzwürdiges Interesse einfach erkennbar und kulturunabhängig geschützt ist.467 Daneben stellte sie fest, dass auch Ö. A. unter dem „frischen Eindruck eines ‚ehrlosen‘ Übergriffs auf die eigene Familie“ handelte.468 Damit zeigen alle strafzumessungsrechtlichen Erwägungen der Kammer, die einen Bezug zur kulturellen Verhaftung der Angeklagten aufweisen, einen Schwerpunkt darin, dass sich die Angeklagten aufgrund der verinnerlichten Wertvorstellungen, die vom ostanatolischen Ehrbegriff durchdrungen waren, zur Tat berechtigt und gleichsam auf der Stelle hingerissen gefühlt haben. Bedauerlich ist freilich, dass es der Kammer beim LG Lüneburg nicht gelungen ist, diese Umstände systematisch in der Strafzumessung aufzubereiten. Es hätte vor dem Hintergrund der bereits besprochenen Entscheidungen für die Angeklagten die Annahme einer strafmildernden Berücksichtigung aufgrund einer geringen Hemmschwellenüberwindung zur Tat nahe gelegen. Die umfangreichen Feststellungen, auch und insbes. zum kulturellen Hintergrund der Tat, hätten jedenfalls hinreichend Raum für eine solche, deutlich ausformulierte, Erwägung geboten. Dass die strafzumessungsrechtlichen Wertungen des LG Lüneburg der Sache nach letzlich auch nicht von Seiten der Revisionsinstanz zu beanstanden waren, zeigt der unveröffentlichte Beschluss des BGH auf das Rechtsmittel der Angeklagten hin, der zur Rechtskraft des Urteils führte.469 465  Vgl. LG Lüneburg, Urteil v. 07.04.2008  – 20 KLs/1301 Js 10482/07 (36/07), S.  103 ff. 466  Vgl. LG Lüneburg, Urteil v. 07.04.2008  – 20 KLs/1301 Js 10482/07 (36/07), S. 106. 467  Vgl. LG Lüneburg, Urteil v. 07.04.2008  – 20 KLs/1301 Js 10482/07 (36/07), S. 108. 468  Vgl. LG Lüneburg, Urteil v. 07.04.2008  – 20 KLs/1301 Js 10482/07 (36/07), S. 109. 469  Vgl. BGH, Beschluss v. 30.09.2009  – 3 StR 323/08 (unveröffentlicht), zitiert in VG Bremen, Urteil v.  14.10.2010  – 2 K 1123/09.A, 2 K 1123/09, S. 2.



B. Rechtsprechungsgenese nach dem Inkrafttreten des § 13 StGB a. F.221

5. Zwischenergebnis und Tendenz Die soeben besprochenen Entscheidungen zur Fallgruppe der Überwindung einer geringeren Hemmschwelle zur Tat aufgrund kulturell eingewurzelter Wertvorstellungen konnten einen vorsichtigen, wenn nicht unsicheren Umgang mit den entsprechenden Kriterien in der Rechtsprechung aufzeigen. Auch dieser Strafzumessungsumstand steht der Natur der Sache nach im Lichte strafmildernder Anrechnungsmöglichkeiten für fremdkulturell geprägte Täter. Das veröffentlichte Entscheidungsmaterial ist freilich noch wenig ausgereift und daher nur unter Vorbehalt als aussagekräftig zu bezeichnen. Insofern ist die Bezeichnung als Rechtsprechungslinie in diesem Kontext u. U. eher vorläufig. Gleichwohl lassen sich einige charakteristische Eckpunkte ausmachen, welche von der Rechtsprechung in ihren Entscheidungen hervorgehoben wurden. Daneben bietet es sich bei aller Vorsicht an, wenigstens mit Negativkriterien zu einer Konturierung dieses Umstandes zu gelangen. Eine wichtige Vergleichsgruppe bietet die Konstellation der erschwerten Normbefolgung, aufgrund der ähnlichen tatsächlichen Ausgangslage beim Täter, der Verwurzelung in einem fremden Wertesystem. a) Zunächst bedingt eine Auseinandersetzung mit dem Umstand, dass der Täter eine geringere Hemmschwelle zur Tat aufgrund eingewurzelter Wertvorstellungen zu überwinden hatte, dass das Tatgeschehen maßgeblich durch die Verhaftung des Täters und / oder der weiteren Tatbeteiligten in den Wertvorstellungen einer fremden Kultur beeinflusst wurde. Es scheint damit vor allem um Fragen der Verhaltensprägung aufgrund der Internalisierung fremdkultureller, insbes. religiöser und traditioneller, sowie sonstiger weltanschaulicher Wertvorstellungen zu gehen. Im Gegensatz zur Fallgruppe der erschwerten Normbefolgung finden sich in Hinblick auf die dadurch beim Täter festzustellenden Tatumstände bzw. Tatsachen wesentliche Unterschiede. b) Das gilt zum einen hinsichtlich der für die Tat maßgeblichen Wertvorstellungen und deren Auswirkungen auf den Täter. Die Judikate legen den Schluss nahe, dass es bei der Überwindung einer geringeren Hemmschwelle weniger um die Auswirkungen formeller Gebots- bzw. Verbotsnormen geht (die Umständen des § 17 StGB nahe stünden470), sondern zuvörderst um die Auswirkungen informeller Normen des sozialen Miteinanders auf das Tatgeschehen, die dann wiederum zu affektiven, emotionsgeladenen Verhaltenszuständen bzw. Sondersituationen geführt haben müssen (Umstände, die demnach § 21 StGB nahe stehen471). Es kommt hier also nicht darauf an, dass der Täter eine formelle fremdkulturelle 470  Vgl. 471  Vgl.

dazu näher unten, Teil 5, B., VI., 2. dazu näher unten, Teil 5, B., VII., 2.

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Teil 4: Rechtsprechung bei Taten mit fremdkulturellen Wertvorstellungen

Gegennorm zu seiner Entlastung anführen kann, sondern vielmehr auf den durch vornehmlich informelle Normen vermittelten Druck, der zu einer vorübergehenden psychischen bzw. affektiven Ausnahmesituation geführt hat. Ein Gewissenskonflikt, wie bei der erschwerten Normbefolgung, ist damit hier keine typische Begleiterscheinung, weil es nicht zu einer Gewissensanspannung auf Seiten des Täters kommt. Insoweit muss ein enger sachlicher, situativer, zeitlicher und innerer Zusammenhang zwischen dem Tatgeschehen und jenen Tatsachen und Begleitumständen bestehen, die durch die kulturellen Wertvorstellungen beeinflusst wurden. Dabei wird es regelmäßig um kulturell bedingte Eigenheiten gehen, die der eigentlichen Tat vorgelagert sind, die also u. U. erst zur Tat „führen“ und den Täter ggf. auf der Motivationsebene beeinflusst haben. c) Als Faustregel könnte in Hinblick auf die Abgrenzung beider Fallgruppen Folgendes angeführt werden: Befindet sich der Täter schwerpunktmäßig in einem Gewissenskonflikt wegen einer formellen fremdkulturellen Gegennorm, könnte die Fallgruppe der erschwerten Normbefolgung einschlägig sein. Befand sich der Täter hingegen während der Tat in einer psychischen Ausnahmesituation aufgrund von informell vermitteltem sozialen Druck, der seine Verhaltenssteuerung emotions- bzw. affektbedingt472 beeinträchtigte und handelte er deshalb ungehemmter, kommt die Fallgruppe der geringeren Hemmschwelle in Betracht. d) Im Gegensatz zur Fallgruppe der erschwerten Normbefolgung haben die Gerichte ferner bei den Tätern in diesem Kontext keinen, die Schuldmilderung versagenden, Umstand darin gesehen, dass es der Täter trotz längerem Aufenthalts in Deutschland unterlassen hat, sich von den fraglichen Vorstellungen der fremden Rechtsgemeinschaft zu lösen. Wie bereits erwähnt, verdichtet sich durch diese Feststellung die Bedeutung informeller Normgeflechte für diese Fallgruppe. Konsequenterweise fordert der BGH daher auch nicht, dass die Vorstellungen des Täters hier im Einklang mit der fremden Rechtsordnung stehen müssen! Das ist vor dem Hintergrund, dass der Täter in seiner Heimat unter den gleichen, die Psyche beeinflussenden Umständen genauso gehandelt hätte, auch konsequent. e) Der Ausländereigenschaft des Täters ist auch bei dieser Fallgruppe höchstens eine Indizwirkung beizumessen. f) Nach den bisher in Augenschein genommenen Entscheidungen dürfte die Fallgruppe vornehmlich bei solchen Taten einschlägig sein, die im familiären oder sonstigen sozialen Nahbereich stattgefunden haben oder bei denen dieser eine tragende Rolle für das Tatgeschehen eingenommen hatte. 472  BGH,

Urteil v. 22.03.2012, 4 StR 558/11.



B. Rechtsprechungsgenese nach dem Inkrafttreten des § 13 StGB a. F.223

Auch bei dem Strafzumessungsumstand der Überwindung einer geringeren Hemmschwelle zur Tat aufgrund der kulturellen Verwurzelung handelt es sich nach alledem um ein normatives Strafzumessungskriterium, welches im Lichte möglicher schuldmindernder Umstände steht. Was die Anforderungen an die Ermittlung des Strafzumessungssachverhalts anlangt, gelten die Ausführungen zur Fallgruppe der erschwerten Normbefolgung entsprechend, insbes. auch und gerade die interdisziplinären Erfordernisse. Schließlich sei darauf hingewiesen, dass es bei den Fällen dieser Fallgruppe nicht, wie gelegentlich in der Literatur verkannt,473 um eine strafmildernde Anrechnung der Herkunft aus einem fremden Kulturkreis per se geht. Die geographische und biographische Provenienz des Täters stellt lediglich die Ausgangslage für eine hierauf aufbauende Strafzumessungserwägung dar, die in ihrer Breite emotionsgeladene, affektive und gruppendynamische Momente berücksichtigt wissen will, weil diese beim Täter zu einem Zustand geführt haben, der zwar nicht die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit in Hinblick auf die §§ 20, 21 StGB in hinreichendem Maße beeinträchtigt hat, dabei jedoch bereits gewisse Eingangskriterien erfüllt, sodass eine Milderung der Strafzumessungsschuld unter diesem Gesichtspunkt noch plausibel erscheint.

VIII. Zusammenfassung der Analyse der Rechtsprechungsgenese Die vorangegangene Darstellung der Rechtsprechungsgenese zur Strafzumessung bei interkulturellen Sachverhalten scheint geeignet einen Beitrag dazu zu leisten, wichtige Fragen der umstrittenen Judikatur in diesen Bereichen aufzuhellen. Dabei konnte es nicht ausbleiben und war vielmehr zu erwarten, dass sich aus den erarbeiteten Erkenntnissen Ansätze für weitergehende Fragen ergeben. Insofern kann auch eine solche Darstellung nicht das Ende in einem fließenden Prozess aufzeigen, sondern soll vielmehr dazu auffordern, sich auch in Zukunft eingehend mit der Thematik zu beschäftigen. Jedenfalls darf die weitere Entwicklung der Kasuistik in den besprochenen Bereichen mit einiger Achtsamkeit erwartet werden. Dabei konnte dieser Abschnitt der Arbeit einerseits die einzelnen Rechtsprechungslinien und ihre Besonderheiten aufzeigen und andererseits auch 473  So bspw. bei Hörnle, Strafzumessungsrelevante Umstände der Tat, S. 113 ff. (124); unklar später Hörnle, Kultur, Religion, Strafrecht – Neue Herausforderungen in einer pluralistischen Gesellschaft. Gutachten  C zum 70.  Deutschen Juristentag, C. 85 f.; indifferent auch Joerden/Weinreich, in: Wolf (Hrsg.), Kriminalität im Grenzgebiet, S.  1 ff. (19 f.).

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Teil 4: Rechtsprechung bei Taten mit fremdkulturellen Wertvorstellungen

wichtige Erkenntnisse für eine zukünftige Betrachtung der Problematik liefern. So ließen bereits die ersten Urteile in der Schnittmenge von Strafzumessung und fremdkulturellen Sachverhalten keine Zweifel daran aufkommen, dass auch für „den Fremden“ das deutsche Strafrecht verbindlich sein soll. Nichts anderes lässt sich für zukünftige Entscheidungen postulieren. Weniger klar und in ihrer Logik stringent waren dagegen z. T. die verschiedenen Aspekte, unter denen die Rechtsprechung die kulturellen Besonderheiten von Tat und Täter im Verlaufe der letzten Dekaden versuchte zu berücksichtigen. Dass man jedoch einerseits überhaupt bemüht war, die fremdkulturellen Besonderheiten zu bedenken und andererseits diese jedenfalls in den Grundzügen einer gewissen Systematik beizuordnen, ist ein kaum quantifizierbares Verdienst der Rechtsprechung. Wichtig erscheint es an dieser Stelle, nochmals einige generelle Tendenzen hervorzuheben sowie gewisse offen gelassene Punkte anzusprechen, die sich auf Grundlage der Rechtsprechungsgenese im Umgang mit fremdkulturellen Sachverhalten ausmachen lassen. Eine besondere Erwähnung verdient zunächst der Problembereich des Verbotsirrtums, der in der Entscheidungsgenese nach 1970 de facto nicht mehr auftaucht. Während in dem Zeitraum bis 1970 einige Entscheidungen zum Verbotsirrtum judiziert wurden, werden Erwartungen an eine vergleichsweise reiche Kasuistik nach dieser Zeit enttäuscht. Tatsächlich lässt sich konstatieren, dass der Verbotsirrtum in Ansehung der veröffentlichten Fälle praktisch keine besondere Relevanz bei Ausländern und sonstigen fremdkulturellen Tätern (mehr) aufweist.474 Die Rechtsprechung ist insoweit auch nicht solchen Ansichten gefolgt, die für Täter aus fremden Kulturkreisen einen Grundlagenirrtum i. S. v. § 17 StGB fruchtbar machen wollten.475 Vielmehr sind Umstände, die sich gedanklich in Reichweite zu § 17 StGB befinden, in jüngerer Zeit – wie die besprochenen Entscheidungen aufzeigen konnten – unter der Fallgruppe der erschwerten Normbefolgung von der Rechtsprechung berücksichtigt worden. Bei Laubenthal / Baier wird diesbezüglich in einem Beitrag angemerkt, dass sich hinter der geringen Relevanz des Verbotsirrtums bei Ausländern einerseits die Vermeidung kriminalpolitisch 474  Übereinstimmend auch der Befund bei Laubenthal/Baier, in: GA 2000, S. 205 ff. (214); vgl. auch Schmidt, Verteidigung von Ausländern, Rn. 135. 475  So aber Lesch, in: JA 1996, 607 ff. (608), der ebenda zu großzügig auf den Grundlagenirrtum bei fremdkulturellen Sachverhalten zugreifen will. So kann es schlecht angehen, dass bereits die Sozialisation in einem (nicht näher spezifizierten) fremden Kulturkreis dazu führen müsse, dass ein Grundlagenirrtum „prinzipiell unvermeidbar“ sein soll. Wie weite Teile der Arbeit aufgezeigt haben, verbietet sich im Bereich der Erfassbarkeit fremder Normen- und Wertedimensionen jede schematische Betrachtung. Sachdienliche Abhilfe – darauf bleibt zu insistieren – vermag nur ein interdisziplinärer Zugriff auf den Einzelfall bringen.



B. Rechtsprechungsgenese nach dem Inkrafttreten des § 13 StGB a. F.225

unerwünschter Ergebnisse und andererseits „unausgesprochen“ generalpräventive Belange verbergen würden.476 Dem mag man eine gewisse Plausibilität auf den ersten Blick nicht absprechen. Allerdings kann bezweifelt werden, dass mit der Verlagerung der Problematik in den Bereich der Strafzumessung dem Umstand tatsächlich entgegen gewirkt wird, dass sich die Strafverfolgungsorgane nicht auf ein von der gesetzlichen Normierung abweichendes Rechtsbewusstsein bei fremdkulturellen Tätern477 einlassen sollten, wenn die gedanklich bei § 17 StGB in Frage stehenden fremden Rechts- und Wertvorstellungen nunmehr an anderer Stelle – etwa i. R. d. Fallgruppe der erschwerten Normbefolgung – bei der Strafzumessung dann doch berücksichtigt werden. Diesen Werte- und Normenkonflikt unter Gleichbehandlungsaspekten und dem Grundsatz der Unverbrüchlichkeit der Rechtsordnung (auch und gerade für und gegenüber jedermann) zu lösen, könnte vor dem Hintergrund der jüngeren Judikatur, die auf das fremde Rechtsbewusstsein rekurriert, zu einer der großen Aufgaben der Rechtsprechung im Bereich der Strafzumessung bei fremdkulturellen Sachverhalten werden. Ebenso wird sich die Rechtsprechung auch mit anderen Fragen, zu deren Aufhellung die Entscheidungsgenese beitragen konnte, beschäftigen müssen. Es kann durchaus zu erwarten sein, dass sich neben der Konkretisierung der Fallgruppe der erschwerten Normbefolgung auch eine stärkere Trennschärfe zur Fallgruppe der Überwindung einer geringeren Hemmschwelle zur Tat aufgrund kultureller Wertvorstellungen herausbilden könnte. Will die Rechtsprechung an diesen Fallgruppen festhalten, muss ihr das an dieser Stelle nahe gelegt werden. Dazu wird später noch zurückzukommen sein.478 Daneben wären auch in Hinblick auf die anderen Fallgruppen noch zu klärende Fragen offen. Wird die restriktive Berücksichtigung ausländerrechtlicherer Folgen im Vergleich zur extensiv strafmildernden Veranschlagung beamtenrechtlicher Folgen zu Recht kritisiert?479 Aber auch unter generalpräventiven Aspekten verbleiben – dafür konnte die Entscheidungsgenese ebenfalls Belege liefern – im Besonderen auf den unteren Ebenen des Rechtsprechungsapparats nach wie vor Unzulänglichkeiten in der Handhabung fremdkulturell spezifischer Sachverhalte. Auch diesbezüglich wird später noch einiges zu sagen sein.480 Laubenthal/Baier, in: GA 2000, S. 205 ff. (216). Laubenthal/Baier, in: GA 2000, ebenda. 478  Vgl. unten, Teil 5, B. 479  So auch jüngst Valerius, Kultur und Strafrecht, S. 313; vgl. auch Schmidt, Verteidigung von Ausländern, Rn. 246. 480  Vgl. unten Teil 5, B. 476  Vgl. 477  Vgl.

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Teil 4: Rechtsprechung bei Taten mit fremdkulturellen Wertvorstellungen

Schließlich soll an dieser Stelle noch darauf hingewiesen werden, was in der Entscheidungsgenese aus Opportunitätsgründen bewusst ausgeklammert wurde, aber nicht gänzlich unerwähnt bleiben muss. Man könnte demnach einwenden, dass sich im Kontext fremdkultureller Sachverhalte und Strafzumessung noch ausländische Vorstrafen und die Anrechnung ausländischer (Freiheits-)Strafen diskutieren ließen.481 Allerdings ist dabei klarzustellen, dass es dem Aussagegehalt der Rechtsprechungsgenese unter dem spezifischen thematischen Zuschnitt der Arbeit nicht schadet, hierauf verzichtet zu haben. Die Gründe dafür sind vielfältig, einige sollen kurz hervorgehoben werden. Zunächst sind ausländische Vorstrafen sowie die Anrechnung einer ausländischen Freiheitsentziehung nicht spezifisch fremdkulturell. Auch bei inländischen Tätern könnten sie in Betracht zu ziehen sein, soweit diese im Ausland ein Strafverfahren durchlaufen mussten. Die Probleme, die sich ferner aus den Themenbereichen ergeben, sind schwerpunktmäßig prozessrechtlicher und zuvörderst strafvollstreckungsrechtlicher Natur. Dabei handelt es sich um Themenkomplexe, die nicht originär in die Schnittmenge der Arbeit einbezogen werden sollten. Entscheidend erscheint jedoch, dass vor allem die ausländischen Vorstrafen in praxi keine Relevanz aufweisen.482 Eine Verwertung ausländischer Vorstrafen scheidet demnach aus prozessrechtlichen Gründen meistens aus.483 Selbst wenn das Tatgericht einen Registerauszug oder eine Strafakte beizieht, wird es diese aus tatsächlichen Gründen (andere Sprache, Schrift usw.) häufig kaum verwerten können.484 Was hingegen die Anrechnung ausländischer Freiheitsentziehung anlangt, handelt es sich regelmäßig um eine Anrechnungsfrage auf Basis mathematisch (fest) bestimmter Quotelungen485 – die Beiordnung zum Problemkreis der Strafzumessung überhaupt, ist schon umstritten486 –, die daher konsequenterweise nicht im Rahmen des in dieser Entscheidungsgenese Darzustellenden anzusiedeln war.487

etwa bei Schmidt, Verteidigung von Ausländern, Rn. 250. dazu Schmidt, Verteidigung von Ausländern, Rn. 247 ff. 483  Vgl. Schmidt, Verteidigung von Ausländern, Rn. 247. 484  Vgl. Schmidt, Verteidigung von Ausländern, ebenda. 485  I. d. S.  Bruns, Das Recht der Strafzumessung, S. 5. 486  Ebenso wie es streitbar ist, die Frage der Anrechnung von Untersuchungshaft als Frage der Strafzumessung zu verstehen, ist es naheliegend, die Frage einer Anrechnung einer Freiheitsentziehung im Ausland als Problem der Strafzumessung anzusehen. Vgl. dazu Bruns, Das Recht der Strafzumessung, S. 5, insbes. dort Fn. 21 a. E.; bei Schmidt, Verteidigung von Ausländern, Rn. 250 wird es hingegen i. R. d. Erläuterungen zur Strafzumessung behandelt. 487  Vgl. dazu Schmidt, Verteidigung von Ausländern, Rn. 250, der die Arbeit der Auswertung und Zusammenstellung der Entscheidungen für die Praxis bereits übernommen hat. 481  So

482  Vgl.



B. Rechtsprechungsgenese nach dem Inkrafttreten des § 13 StGB a. F.

227

Der folgende Teil der Arbeit wird nach alledem untersuchen müssen, ob und wie sich die in diesem Abschnitt gewonnenen Erkenntnisse über die Berücksichtigung fremdkultureller Besonderheiten von Tat und Täter in der Strafzumessung durch die Rechtsprechung einer systematisch-dogmatisch orientierten Betrachtung488 unterziehen lassen.

488  Dabei ist sich der Autor dem Umstand bewusst, dass es höchst streitbar ist, im Kontext der Strafzumessung überhaupt von Dogmatik zu sprechen. Doch sind in jüngerer Zeit viele Bemühungen zu verzeichnen, Wege zu einer Verrechtlichung der Strafzumessung zu ebenen, vgl. bspw. Jäger, in: FS für Müller, 297 ff.

Teil 5

Perspektiven einer systematisch-dogmatischen Behandlung fremdkulturell bedingter Tatsachen und Umstände bei der Strafzumessung Endlich soll sich den im Grundlagenteil aufgeworfenen und in der Analyse der Rechtsprechungsgenese verdeutlichten Problemlagen bei fremdkulturellen Fallkonstellationen unter systematisch-dogmatischen Aspekten näher zugewandt werden. Zu diesem Zweck ist zunächst die Frage nach den Grundlagen der interkulturellen Beweglichkeit bzw. Geltungskraft des deutschen Strafzumessungsrechts zu stellen, weil diese schon die konkreten Möglichkeiten einer Berücksichtigungsfähigkeit fremdkultureller Wertvorstellungen näher determinieren dürfte. Die bislang aufgezeigten Unzulänglichkeiten innerhalb der einzelnen Rechtsprechungslinien bei Fällen mit fremdkulturellem Hintergrund sind, neben den aus dem Strafzumessungsrecht per se herrührenden Schieflagen, eben auch auf die Frage zurückzuführen, welche Möglichkeiten dem Strafzumessungsrecht gegenwärtig überhaupt zur Verfügung stehen, um solche Fälle zu bewältigen, in denen der Normbehauptungsanspruch des Strafrechts durch den fremdkulturell geprägten Täter objektiv oder subjektiv relativiert wird. Auf die bereits konkreter umrissenen Bedürfnisse des Strafzumessungsrechts umgedeutet, muss die Frage gestellt werden: Wie viel Verständnis kann die deutsche Rechtsordnung bei der Beurteilung einer Straftat für solche Tatsachen und Umstände aufbringen, die der Rechtsgemeinschaft, gegenüber der sie geltend gemacht werden, kulturell bedingt (und damit auch aus rechtlicher sowie forensischer Perspektive) fremd sind? Nachdem diese Frage näher betrachtet wurde, können im Anschluss die aus der Analyse der Rechtsprechungsgenese gewonnenen Umstände dahingehend untersucht werden, ob und wie sie konkret dazu geeignet erscheinen, die Strafe unter den Prämissen der gegenwärtigen Strafzumessungskonzeption – ob interkulturell flexibel oder nicht – (mit‑)bestimmen zu können. Ein wesentliches Element dieses Abschnittes muss auch die Antwort auf die Frage darstellen, wie sich die zuvor ausgemachten Besonderheiten der fremdkulturell geprägten Fallkonstellationen systematisch und begrifflich einordnen lassen. Spätestens hier dürfte die Frage virulent werden, ob fremdkulturelle Eigenheiten eines Falles, aufgrund ihrer möglichen strafzu-



Teil 5: Perspektiven einer systematisch-dogmatischen Behandlung229

messungsrechtlichen Relevanz, auch als eigener Strafzumessungsumstand verstanden werden können oder ob es in der Diskussion nicht vielmehr um die Frage der „Öffnung“ bereits bestehender und anerkannter Strafzumessungsumstände auch für fremdkulturelle Perspektiven gehen muss. Die Betrachtung soll aber insgesamt auf den Rahmen der durch die Analyse der Rechtsprechungsgenese herausgearbeiteten Rechtsprechungslinien beschränkt bleiben. Ein besonderes Augenmerk wird bei einigen Rechtsprechungslinien auch auf der Frage liegen müssen, wie sensibel der Strafzumessungssachverhalt in Hinblick auf die verschiedenen Facetten fremdkultureller Wertvorstellungen vom Tatgericht zu erforschen und dann in den Strafzumessungsgründen wiederzugeben ist. Dieses Bedürfnis haben sowohl die Erkenntnisse des Grundlagenteils, des kriminologischen Teils aber auch die Analyse der Rechtsprechungsgenese nahe gelegt. Dabei wird in prozessualer Hinsicht die Vorschrift des § 267 III StPO eine entscheidende Rolle spielen, weil sie die Frage tragen wird, ob fremdkulturell eingefärbte Umstände bei der Strafzumessung als bestimmende Umstände angesehen werden können und damit auch in den Urteilsgründen zwingend anzugeben sind. Am Ende dieses Teils stünde sodann das wünschenswerte Ergebnis einer Methode zur verbesserten Gleichmäßigkeit und höheren Verallgemeinerung der Strafzumessung allgemein, aber auch bei gleichsam besonderen, fremdkulturell geprägten Einzelfallgestaltungen. Diesbezüglich ist – soweit ersichtlich – noch keine vergleichbare Arbeit in der Literatur erschienen.1 Der nach wie vor unsichere und z. T. wenig transparente Umgang mit fremdkulturellen Besonderheiten in der Strafzumessung durch alle Gerichtsebenen hindurch sollte damit bereits die Zweckmäßigkeit des Vorhabens deutlich machen. Dabei darf die Einigkeit der Senate des BGH bzgl. einiger Rechtsprechungslinien indessen nicht zu dem Trugschluss führen, dass sich die Probleme im Umgang mit fremdkulturell eingefärbten Umständen entschärft hätten. Vielmehr besteht Grund zu der Annahme, dass die Judikatur zahlreiche Problemlagen nicht adäquat aufgegriffen hat.

1  Dabei wurden die Bemühungen des von Hörnle geleisteten Beitrags im Gutachten C zum 70. DJT  – Kultur, Religion, Strafrecht  – Neue Herausforderungen in einer pluralistischen Gesellschaft – freilich nicht verkannt. Vgl. dort C 80 ff.

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Teil 5: Perspektiven einer systematisch-dogmatischen Behandlung

A. Zur interkulturellen Beweglichkeit und Geltungskraft des Strafzumessungsrechts I. Grundlage – zur interkulturellen Geltung des deutschen Strafrechts Bevor sich der – noch etwas nebulösen – Frage nach der interkulturellen Beweglichkeit des Strafzumessungsrechts zugewendet werden kann, erscheint es zunächst notwendig, die Aspekte der interkulturellen Geltungskraft des deutschen Strafrechts selbst in den Blick zu nehmen, weil beide Komponenten letztlich untrennbar miteinander verbunden sind. Die Debatte darüber scheint im wissenschaftlichen Diskurs immer dann akut zu werden, wenn es um die strafrechtliche Behandlung „des Fremden“ geht und man darüber reflektiert, ob ein derart stark an den Normen und Wertvorstellungen einer Kultur orientiertes Gebiet des Rechts, wie es das Strafrecht ist, in Zeiten des kulturellen und gesellschaftlichen Wandels, Rücksicht auf die Entwicklungseinflüsse aus anderen Kulturkreisen nehmen müsse.2 Dabei erscheinen schon die Begriffe der interkulturellen Beweglichkeit wie auch der interkulturellen Geltungskraft unterschiedlichen Perspektiven zugänglich. Das wurde bereits bei Höffe im Rahmen der Beiträge von Hassemer3 und Rössner4 hinreichend deutlich.5 Von besonderem Interesse sollen hier die von Hassemer behandelten Aspekte einer Interkulturalität des Strafrechts schon deshalb sein, weil sie über rechtstheoretische Überlegungen hinausgehend einen stringenten Bezug zu den wichtigen Basiskategorien des Strafrechts – Unrecht und Schuld – herstellen und die Frage selbst damit in Hinblick auf die Bedürfnisse der Problemstellung dieser Arbeit adäquat einfassen.6 Dabei richtet Hassemer die Frage nach der interkulturellen Beweglichkeit an der interkulturellen Geltungskraft des Strafrechts aus.7 Die Antwort auf die Frage, ob sich ein Strafrecht als interkulturell beweglich geriert, bestimme sich danach, welche interkulturelle Bestandskraft es seinen Normen beimisst und welche Rahmenbedingungen hinsichtlich einer kulturabhängigen Relativierung eröffnet 2  Vgl. (157). 3  Vgl. 4  Vgl. (125 ff.). 5  Vgl. 6  Vgl. 7  Vgl. (158 f.).

Hassemer, in: Höffe, Gibt es ein interkulturelles Strafrecht?, S. 157 ff. Hassemer, in: Höffe, Gibt es ein interkulturelles Strafrecht?, S. 157 ff. Rössner, in: Höffe, Gibt es ein interkulturelles Strafrecht?, S. 121  ff. Höffe, Gibt es ein interkulturelles Strafrecht? Hassemer, in: Höffe, Gibt es ein interkulturelles Strafrecht?, ebenda. Hassemer, in: Höffe, Gibt es ein interkulturelles Strafrecht?, S. 157 ff.



A. Interkulturelle Beweglichkeit und Geltungskraft des Strafzumessungsrechts231

werden.8 Eine klare Antwort in Bezug auf das deutsche Strafrecht findet auch Hassemer nicht. Allerdings zeigt er eindrucksvoll auf, dass es auf der Suche nach einem Ausweg aus diesem Dilemma doch letztlich von zentraler Bedeutung sein muss, ob auch der Fremde „in unserem Strafrecht auf gerechte Behandlung rechnen darf“.9 Vielleicht ist das auch letztlich die viel entscheidendere Frage, als die, nach der interkulturellen Beweglichkeit selbst. Diesbezüglich ist im Falle des deutschen Strafrechts festzustellen, dass die Grundsätze der in den §§ 38 ff. StGB festgelegten Vorschriften für jedermann Geltung beanspruchen und zwar auch dann, wenn er aus einem fremden Kulturkreis stammt, in dem andere Gesetze herrschen. Dies betrifft ganz grundlegend die Frage, ob der Täter Unrecht begeht. Sie beansprucht im deutschen Strafrecht eine kulturunabhängige Geltung. Sie ist, wenn man so will, interkulturell gültig und unbeweglich. Insoweit herrscht auch in der Literatur weitgehend Einigkeit darüber, dass es für die Bewertung des Unrechts und seines Ausmaßes keine Rolle spielen kann, ob kulturelle, religiöse oder sonstige weltanschauliche Prägungen des Täters ihm normgemäßes Verhalten erschwert haben.10 Die Perspektive hat jedoch auch eine subjektive Fassung. Diese beschäftigt sich mit der Überlegung, ob, vorausgesetzt die objektive Fassung der Frage wurde bejaht, im Falle „des Fremden“ ausnahmsweise die strafrechtliche Verantwortlichkeit deshalb ausgeschlossen ist, weil er die Norm nicht kannte oder sich aus anderen Gründen nicht nach ihr richten konnte.11 Dieser Aspekt betrifft die Problematik, ob dem Täter das begangene Unrecht auch subjektiv vorgeworfen werden kann; dies ist die Frage nach der individuellen Schuld.12 Hassemer macht dabei klar, dass die Rechtsgemeinschaft zwar gegenüber demjenigen, der „normativ fremd“ ist, kein Verständnis in Hinblick auf die Verletzung der Rechtsordnung dergestalt aufbringen kann, dass sie es nicht für Unrecht hielte.13 Die Rechtsgemeinschaft markiert den Rechtsverstoß insoweit objektiv, kann aber u. U. den subjektiven Vorwurf mit Blick auf die Besonderheiten der Person des Täters fallen lassen.14 Pointiert ließe sich formulieren, dass 8  Vgl. 9  Vgl.

Hassemer, in: Höffe, Gibt es ein interkulturelles Strafrecht?, ebenda. Hassemer, in: Höffe, Gibt es ein interkulturelles Strafrecht?, S. 157 ff.

(164). 10  Vgl. Hörnle, Kultur, Religion, Strafrecht – Neue Herausforderungen in einer pluralistischen Gesellschaft. Gutachten  C zum 70.  Deutschen Juristentag, C.  32 m. w. N.; Valerius, Kultur und Strafrecht, S. 170 f. 11  Vgl. Hassemer, in: Höffe, Gibt es ein interkulturelles Strafrecht?, ebenda. 12  Vgl. Hassemer, in: Höffe, Gibt es ein interkulturelles Strafrecht?, S. 157 ff. (158). 13  Vgl. Hassemer, in: Höffe, Gibt es ein interkulturelles Strafrecht?, ebenda. 14  Vgl. Hassemer, in: Höffe, Gibt es ein interkulturelles Strafrecht?, ebenda.

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Teil 5: Perspektiven einer systematisch-dogmatischen Behandlung

sich die Frage des Unrechts aus Sicht der Rechtsgemeinschaft statisch und unbeweglich geriert, die Problematik der individuellen Verantwortlichkeit, der Schuld, dagegen flexibel ausgestaltet ist. Sich Klarheit darüber zu verschaffen, wie die Strafrechtsordnung diesbezüglich aufgestellt ist, eröffnet auch die notwendigen Perspektiven der Handhabung des Problems auf der Subebene des Strafzumessungsrechts, weil auch diese auf den essentiellen Kategorien von Unrecht und Schuld aufbaut. Darüber hinaus scheint die Bedeutung der interkulturellen Beweglichkeit insoweit relativiert, als dass sie letztlich „nur“ eine normative Vorstellung darüber spiegelt, wie das Strafrecht reagieren kann. Wichtiger erscheint demnach die Frage nach der interkulturellen Geltungskraft. Das deutsche Strafrecht erweist sich diesbezüglich jedenfalls flexibel, weil es die „rechtskulturelle Errungenschaft“ der Unterscheidung zwischen Unrecht und Schuld kennt.15 Die Rechtsgemeinschaft kann demnach in bestimmten Ausnahmefällen ein besonderes Maß an Verständnis bei der Beurteilung der subjektiven Seite der Tat „eines Fremden“ aufbringen. Die Bedeutung der interkulturellen Beweglichkeit als Eigenschaft des Rechts scheint in Hinblick auf das Strafrecht jedenfalls überschätzt zu werden.

II. Problemstellung in Hinblick auf das Recht der Strafzumessung Soweit es nunmehr um das Verständnis der Rechtsgemeinschaft gegenüber fremdkulturellen Eigenheiten i. R. d. Strafzumessung geht, muss sich auch dieser Aspekt an den normativen Kriterien des Strafzumessungsrechts selbst ausrichten lassen. Der Schuldgedanke stellt insofern auch das zentrale normative Fundament des Strafzumessungsrechts dar.16 Aufgrund dessen erscheint es zweckmäßig, die Fragestellung der interkulturellen Beweglichkeit bzw. Geltungskraft im Strafzumessungsrecht auf die Strafzumessungsschuld zu konzentrieren. Vor diesem Hintergrund lässt sich folgende These formulieren: Wenn schon die Basiskategorie der Schuld – wie auch auf der Ebene des materiellen Schuldspruchs – eine hinreichende interkulturelle Geltung beanspruchen kann, ohne dabei die für gerechte Ergebnisse im Einzelfall notwendige Flexibilität einzubüßen, dann gilt dies auch für das gesamte Strafzumessungsrecht. Wenn dem so ist, erscheint das Strafzumessungsrecht ebenfalls den Herausforderungen gewachsen zu sein sowohl für Fremde als auch für solche, die es nicht sind, gerechte Ergebnisse zu erzielen. 15  Vgl. Hassemer, in: Höffe, Gibt es ein interkulturelles Strafrecht?, S. 157 ff. (163). 16  Daran zweifelnd, Eschelbach, in: Satzger/Schmitt/Widmaier, § 46, Rn. 27.



A. Interkulturelle Beweglichkeit und Geltungskraft des Strafzumessungsrechts233

Um diese These zu verifizieren, müssen die Grundpfeiler des Strafzumessungsrechts näher in den Blick genommen und untersucht werden. Das ist für die Strafzumessung deshalb gesondert zu betrachten, weil die Unterscheidung von Unrecht und Schuld bei der Strafzumessung – jedenfalls gegenwärtig – weniger scharf ist, als auf der Ebene des materiellen Schuldspruchs. Darauf wird gleich zurückzukommen sein. 1. Zu den Elementen von Unrecht und Schuld in der Strafzumessungsschuld a) Zu den Grundlagen des Schuldbegriffs Um die Perspektive diesbezüglich zu schärfen, ist es zunächst notwendig, den grundlegenden Leitbegriff der Schuld näher in den Blick zu nehmen. Veranschaulicht kann man den Schuldgedanken in einem 3-Stufen-Modell betrachten. Auf der obersten Stufe steht die in der Verfassung verankerte „Schuldidee“.17 Sie stellt das Leitprinzip für die Ausgestaltung des gesamten Strafrechts dar und schöpft aus dem Grundsatz „nulla poena sine culpa“ den Rang eines Verfassungsrechtssatzes.18 Die von staatlichen Organen verhängte Strafe setzt also stets voraus, dass das vom Täter begangene Unrecht ihm auch vorgehalten und zum Vorwurf gemacht werden kann.19 Die Schuldidee als Leitbegriff stellt in dieser Ausprägung Grundlage, Grenze und innere Rechtfertigung des staatlichen Strafens dar.20 Es ist offensichtlich, dass einem derart verstandenen Schuldkonzept eine erhebliche Bedeutung für die darauf aufbauenden Schuldebenen beizumessen ist. Diese Schuldidee wird auf der zweiten Ebene durch die Strafbegründungs- und auf der dritten Ebene durch die Strafzumessungsschuld zur konkreten Rechtsanwendung erhoben.21 Der gemeinsame Maßstab von Strafbegründungs- und Strafzumessungsschuld hinsichtlich des vom Täter verwirklichten Unrechts wird dabei als der Vorwurf beschrieben, rechtswidrig gehandelt zu haben, obwohl sich der Täter auch rechtmäßig hätte verhalten können.22 Meier, Strafrechtliche Sanktionen, S. 163. BVerfGE, 20, 323 ff.; siehe auch BVerfG, Beschluss v. 25.10.1966  – 2  BvR 506/63; vgl. auch Schreiber/Rosenau, in: Foerster/Dreßing (Hrsg.), Psychiatrische Begutachtung, S. 78. 19  Vgl. Meier, Strafrechtliche Sanktionen, ebenda. 20  Vgl. Meier, Strafrechtliche Sanktionen, ebenda. 21  Vgl. Meier, Strafrechtliche Sanktionen, S. 164. 22  Vgl. Frisch, in: FS für Müller-Dietz, S. 237 ff. (240); ders., in: 50 Jahre Bundesgerichtshof, S. 269 ff. (288); Meier, Strafrechtliche Sanktionen, S. 168; Theune, in: LK, § 46, Rn. 5; Hassemer, in: Höffe, Gibt es ein interkulturelles Strafrecht?, S. 157 ff. (163). Das setzt freilich voraus, dass hier  – in Übereinstimmung mit wei17  Vgl. 18  Vgl.

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Teil 5: Perspektiven einer systematisch-dogmatischen Behandlung

Die Strafbegründungsschuld stellt den Inbegriff der Voraussetzungen dar, von deren Vorliegen die individuelle Zurechnung der rechtswidrigen Tat abhängig ist.23 Dabei handelt es sich regelmäßig um die Voraussetzungen der Schuldfähigkeit (§§ 19, 20 StGB), des Unrechtsbewusstseins (§ 17 StGB) sowie des Fehlens von Entschuldigungsgründen (bspw. § 35 StGB).24 Es geht also allein um subjektive Faktoren, welche die Frage der Verantwortlichkeit berühren. Davon unterscheidet sich die Strafzumessungsschuld nach derzeitiger Diktion jedoch nicht unerheblich. Sie umfasst nämlich das Maß des gegen den Täter erhobenen Vorwurfs insgesamt.25 Dieses besteht allerdings – im Unterschied zur Strafbegründungsschuld – aus wenigstens zwei Komponenten. Die Erste ist unmittelbar unrechtbezogen, weil das Maß des verursachten Unrechts hier zum Gegenstand gemacht wird. Sie wird als Erfolgsunwert bezeichnet.26 Die andere Komponente versucht das Maß der individuellen Vorwerfbarkeit zu erfassen.27 Sie wird als Handlungsunwert bezeichnet.28 Dem Grunde nach versteht sich damit allein die Frage nach dem Handlungsunwert als die eigentliche Fortführung dessen, was i. R. d. Strafbegründungsschuld in Hinblick auf das Vor- oder Nichtvorliegen untersucht wird. Demnach greift die Strafzumessungsschuld schon aufgrund der Tatsache, dass sie eine konstitutive unrechtsbezogene Komponente aufweist, deutlich weiter als die Strafbegründungsschuld. Vor diesem Hintergrund erscheint ten Teilen der juristischen wie psychiatrischen Literatur – von einem durch den ethischen Indeterminismus geprägten Schuldverständnis die Rede sein muss, dem Menschen also Willensfreiheit – unabhängig von dessen grds. Beweisbarkeit – zu unterstellen ist, vgl. Schreiber/Rosenau, in: Foerster/Dreßing (Hrsg.), Psychiatrische Begutachtung, S. 79 f.; die Probleme, welche sich aus dieser empirisch nicht beweisbaren Grundannahme ergeben, hat Frisch eindrucksvoll dargelegt, vgl. Frisch, in: 50 Jahre Bundesgerichtshof, S. 269 ff. Auf sie sei zwar hingewiesen, eine Auseinandersetzung damit kann jedoch nicht Teil dieser Arbeit sein. 23  Vgl. Meier, Strafrechtliche Sanktionen, ebenda. 24  Vgl. Meier, Strafrechtliche Sanktionen, ebenda. 25  Vgl. Meier, Strafrechtliche Sanktionen, ebenda. 26  Vgl. Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 577; Meier, Strafrechtliche Sanktionen, S. 165 f.; Hörnle, in: Frisch (Hrsg.), Grundfragen des Strafzumessungsrechts aus deutscher und japanischer Perspektive, S. 113  ff. (114); Eschelbach, in: Satzger/Schmitt/Widmaier, § 46, Rn. 75 ff. 27  Strittig ist jedoch, ob auch die Vorwerfbarkeit als solche schon vom Handlungsunwert umfasst wird; so aber bei Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 577; a. A. wohl Hörnle, Tatproportionale Strafzumessung, S.  213 ff. 28  Vgl. Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, ebenda; Meier, Strafrechtliche Sanktionen, ebenda.



A. Interkulturelle Beweglichkeit und Geltungskraft des Strafzumessungsrechts235

die Ansicht, die in der Strafzumessungsschuld eine konsequente Fortführung des Schuldbegriffs der Verbrechenslehre sieht, nicht haltbar.29 Zwar stellt das Unrecht den gemeinsamen Bezugspunkt beider Schuldstufen dar. Allerdings ist die Frage des Unrechtsausmaßes allein bei der Strafzumessungsschuld unmittelbar konstitutiv. Zu Recht herrscht insoweit Uneinigkeit in der Literatur darüber, welche Elemente der Strafzumessungsschuld beizuordnen sind bzw. darüber, welche Kategorien dazu geeignet erscheinen, den systematisch schwierig zu handhabenden Begriff der Strafzumessungsschuld zu ersetzen.30 Die praxisnahe Literatur neigt nach wie vor dazu, die Elemente der Vorwerfbarkeit und des Unrechtsausmaßes in der Strafzumessungsschuld zu vermengen.31 Die in diesem Zusammenhang angeführten Entscheidungen erscheinen im Übrigen eher ungeeignet zu sein, diese Position zu unterfüttern.32 Wenn der BGH etwa „von der Schwere der Tat, ihrer Bedeutung für die verletzte Rechtsordnung und dem Grad der persönlichen Schuld des Täters als Grundlage für die Strafzumessung“ spricht, ist damit keinesfalls deutlich geworden, wie er sich in dieser Sache systematisch positioniert. Andere Teile der Literatur gliedern diese Aspekte mit beachtenswerten Gründen aus dem Bereich der bekannten Strukturen aus. Hörnle bspw. unterscheidet vier Kategorien zur Bestimmung dessen, was gegenwärtig in praxi als Strafzumessungsschuld verstanden wird: Erfolgsunrecht, Handlungsunrecht, unrechtsmindernde Umstände und schuldmildernde Umstände.33 Diese Art der Konzeption hat den Vorteil, dass sie Fragen des Unrechts deutlicher von solchen der individuellen Vorwerfbarkeit trennt.34 Allerdings hat sich diese Ansicht (noch) nicht durchsetzen können. Verantwortlich dafür zeichnet sich neben der Gesetzeslage (§ 46 I 1 StGB) auch die Praxis, die in Strafurteilen schon keine nähere Anbindung ihrer Erwägungen an die Kategorien von Unrecht und Schuld vornimmt. Denn selbst wenn man die Strafzumessungsschuld als dualen Begriff verstehen will, erscheint es nicht weniger notwendig, die Strafzumessungserwägungen in Hinblick auf die Fragen der Vor29  Vgl. Frisch, in: FS für Müller-Dietz, S. 237 ff. (237); siehe zum früheren Diskussionsstand auch Hörnle, in: JZ 1999, 1080 ff. (1083). 30  Siehe dazu etwa Hörnle, in: Frisch (Hrsg.), Grundfragen des Strafzumessungsrechts aus deutscher und japanischer Perspektive, S. 113 ff. (114). 31  So z. B. Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 577 ff.; Fischer, § 46, Rn. 6. 32  So etwa bei Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 577. 33  Vgl. Hörnle, in: Frisch (Hrsg.), Grundfragen des Strafzumessungsrechts aus deutscher und japanischer Perspektive, S. 113 ff. (114). 34  Vgl. Hörnle, in: Frisch (Hrsg.), Grundfragen des Strafzumessungsrechts aus deutscher und japanischer Perspektive, ebenda.

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Teil 5: Perspektiven einer systematisch-dogmatischen Behandlung

werfbarkeit und des Unrechtsausmaßes separat auszurichten. Dazu wird später noch mehr zu sagen sein.35 Die vorstehenden Überlegungen markieren damit einen wesentlichen Unterschied zwischen der zweiten und der dritten Stufe des Schuldgedankens. Während die Schuld auf der Ebene der Strafbegründung ausschließlich nach der subjektiven Verantwortlichkeit fragt, werden bei der Strafzumessungsschuld gegenwärtig Fragen des objektiven Unrechts, d. h. seines Ausmaßes und der Vorwerfbarkeit innerhalb eines Begriffes zusammengefasst. Zwar wird zwischen Erfolgskomponente und Handlungskomponente geschieden, allerdings ergibt erst die Gesamtschau beider Komponenten das Maß der Strafzumessungsschuld. Das könnte nach dem oben zum materiellen Unrecht Gesagten jedenfalls Probleme in Hinblick auf solche Umstände und Tatsachen zeitigen, welche allein die Frage nach dem Unrechtsvorwurf berühren. Etwas anderes gilt aber u. U. dann, wenn sich beide Komponenten der Strafzumessungsschuld auch in gewisser Weise unabhängig voneinander betrachten lassen.36 Würde man die Gedanken diesbezüglich von der Ebene der Strafbegründungsschuld auf die Ebene der Strafzumessungsschuld übertragen, müsste die Erfolgskomponente als Fortsetzung des objektiv gekennzeichneten Normverstoßes gleichsam unbeweglich bleiben, die Handlungskomponente könnte dagegen die Vorzüge der flexiblen Handhabung auch auf dieser Ebene beibehalten. b) Die Elemente der Strafzumessungsschuld Wie sich gezeigt hat, weist die grundlegende Implementierung des Schuldgedankens im Strafrecht das Unrecht als den gemeinsamen Bezugspunkt von Strafbegründungs- und Strafzumessungsschuld aus. Die soeben herausgestellten Besonderheiten der Strafzumessungsschuld machen es jedoch notwendig, beide Komponenten in gewisser Weise separat zu betrachten, wenn man – wie die Praxis – grds. am Begriff festhalten will. Floskelhafte Verweise, wie sie etwa bei der Analyse der Rechtsprechungsgenese belegt wurden, dass bestimmte Erwägungen – wobei es freilich genauer wäre, davon zu sprechen, dass bestimmte Umstände bzw. Tatsachen innerhalb einer Erwägung – „einen Schuldbezug“ aufweisen, können indessen weder rechtsstaatlichen noch systematischen Bedürfnissen in Hinblick auf die notwendigen Begründungserfordernisse von Strafentscheidungen genügen. Insofern sollte deutlich geworden sein, dass es erforderlich ist, be35  Vgl.

unten in diesem Teil, B. bleibt dabei jedoch, ob es dann überhaupt einer Zusammenfassung objektiver und subjektiver Momente innerhalb eines einheitlichen Begriffes bedarf, wenn man beide Komponenten derart unabhängig voneinander betrachten kann. 36  Fraglich



A. Interkulturelle Beweglichkeit und Geltungskraft des Strafzumessungsrechts 237

stimmte Fragen entweder an der Unrechtskomponente oder an der Vorwerfbarkeitskomponente auszurichten, bevor man eine Aussage darüber treffen kann, wie die strafzumessungsrechtliche Umwertung in concreto erfolgen kann. aa) Die Erfolgskomponente – zum Erfolgsunrecht Das Erfolgsunrecht – oder auch der Erfolgsunwert37 – wird bei der Strafzumessungsschuld wiederum durch zwei Aspekte gekennzeichnet: Das Ausmaß des vom gesetzlichen Tatbestand vorausgesetzten Erfolgs und das Ausmaß der außertatbestandlichen Folgen.38 Diese Konzeption sollte ursprünglich dem Umstand Rechnung tragen, dass eine Schuldwertung ohne Unrechtsbezogenheit kaum vorstellbar erscheint.39 Das ist zwar grds. richtig, allerdings wurde dabei übersehen, dass damit keine Integration in einen subjektiv orientierten Rahmenbegriff verbunden sein muss. Es wäre auch denkbar gewesen, die Strafzumessung dualistisch zu konzipieren und Unrechts- und Schuldelemente, wie auf der Ebene des materiellen Schuldspruchs, klar zu scheiden. Nach derzeitiger Auffassung lässt sich die Erfolgskomponente anhand von Art und Ausmaß des jeweils in Frage kommenden tatbestandlichen Erfolgs überprüfen, d. h. es wird danach gefragt, wie schwer eine Rechtsgutsverletzung im konkreten Fall wiegt. Das gilt jedenfalls für die Betrachtung von Delikten gegen individuelle Rechtsgüter.40 Das hat in der praxisnahen Literatur dazu geführt, für einzelne Tatbestände quantitative und qualitative Abstufungen für die tatbestandsmäßigen Rechtsgutsverletzungen zu beschreiben.41 In der Praxis bedient man sich teilweise sog. Straftaxen für bestimmte Schweregrade von Straftaten. Bei Delikten gegen die Allgemeinheit, die typischerweise Gefährdungsdelikte sind, kommt es für die Bestimmung des Erfolgsunwerts hingegen auf Art und Ausmaß der jeweiligen Gefährdung an.42 Ein vergleichbares Vorgehen wird für den Versuch eines Delikts angeboten. Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 577 ff. Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 587; Zipf, in: Maurach/Gössel/Zipf, AT  2, § 63, Rn. 24. 39  Vgl. Bruns, Das Recht der Strafzumessung, S. 145. 40  Vgl. Hörnle, in: Frisch (Hrsg.), Grundfragen des Strafzumessungsrechts aus deutscher und japanischer Perspektive, S. 113 ff. (115). 41  Vgl. Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 588  ff.; so auch bei Hörnle, in: Frisch (Hrsg.), Grundfragen des Strafzumessungsrechts aus deutscher und japanischer Perspektive, ebenda. 42  Vgl. Hörnle, in: Frisch (Hrsg.), Grundfragen des Strafzumessungsrechts aus deutscher und japanischer Perspektive, ebenda. 37  Vgl. 38  Vgl.

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Was die Einbeziehung des Aspekts des Ausmaßes der außertatbestandlichen Folgen anlangt, herrscht derzeit wohl noch Uneinigkeit bei den Senaten des Bundesgerichtshofs.43 Während der 4. Senat verlangt, dass nur solche Folgen der Tat strafzumessungserheblich sein sollen, die geeignet sind, das Tatbild zu prägen und in den Schutzbereich der Norm fallen, stellen der 1. und 3. Senat nach wie vor auf die Vorhersehbarkeit der Tatfolgen ab.44 Allerdings warnen einige Stimmen in der Literatur in Anbetracht der gesetzlichen Wertung in § 46 II StGB vor einer zu großen Überbewertung des Erfolgsunrechts.45 Es würde nicht den gesetzlichen Vorgaben und der Idee eines Schuldstrafrechts entsprechen, wenn die Schadenshöhe die Strafzumessung ohne Weiteres determinieren würde.46 Ansichten, die den tatbestandlichen Erfolg gänzlich für die Bestimmung des Tatunrechts oder der Tatschuld ausscheiden wollen,47 müssen sich dem Einwand ausgesetzt sehen, dass § 46 II 2  StGB die „Auswirkungen der Tat“ explizit für die Bemessung der Strafzumessungsschuld berücksichtigt wissen will. Dass der Erfolgsunwert in der Gesamtschau gegenüber dem Handlungsunwert jedoch richtigerweise weniger schwer für die Strafzumessungsschuld wiegen muss, wurde schon dadurch deutlich, dass eine zu stark objektivierte Betrachtung mit dem Schuldprinzip i. S. e. Verantwortlichkeitsprinzips kaum vereinbar erscheint. Allerdings lässt sich die Plausibilität dieser Erwägung auch ganz praktisch, etwa anhand der Tötungsdelikte, erläutern.48 Das mögliche Spektrum der Sanktionsmöglichkeiten bei der Rechtsgutsverletzung der Tötung eines Menschen reicht, in Anbetracht der gesetzlichen Regelungen von fahrlässiger Begehung (§ 222 StGB) und vorsätzlicher Tat (§§ 211, 212 StGB), von Geldstrafe bis hin zu lebenslanger Freiheitsstrafe. Maßgeblich für die Einordnung ist dabei das verwirkte Handlungsunrecht, das von einer geringfügigen Sorgfaltspflichtverletzung bis hin zur Vorsätzlichkeit reichen kann.49 Denn in allen Fällen ist die Art des Taterfolgs die gleiche.50 Insofern erscheint es plausibel, das Maß der strafzumessungsrelevanten Schuld in den meisten Fällen von der Schwere des Handlungsunrechts abhängig zu machen.51 Damit besteht zwar nach wie vor die abstrakSchäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 597. Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, ebenda. 45  Vgl. etwa Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 557 m. w. N.; Eschelbach, in: Satzger/Schmitt/Widmaier, StGB, § 46, Rn. 76. 46  Vgl. Streng, Strafrechtliche Sanktionen, ebenda. 47  Vgl. Streng, Strafrechtliche Sanktionen, ebenda, m. w. N. 48  So bspw. bei Eschelbach, in: Satzger/Schmitt/Widmaier, StGB, § 46, ebenda. 49  Vgl. Eschelbach, in: Satzger/Schmitt/Widmaier, StGB, § 46, ebenda. 50  Vgl. Eschelbach, in: Satzger/Schmitt/Widmaier, § 46, ebenda. 51  Vgl. Eschelbach, in: Satzger/Schmitt/Widmaier, ebenda. 43  Vgl. 44  Vgl.



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te und konkrete Gefahr – insbes. durch die Straftaxenpraxis – eines zu stark objektivierten Schuldbegriffes, allerdings stellt die grundsätzliche Dominanz des Handlungsunwerts bei der Bewertung der Strafzumessungsschuld ein Indiz dafür dar, dass die Strafzumessungsschuld in der Gesamtschau ähnlich flexible Wertungen zulassen dürfte, wie es bei der Strafbegründungsschuld möglich ist. bb) Die Handlungskomponente – zum Handlungsunrecht Von entsprechend größerer Relevanz im hier zu besprechenden Kontext erscheint daher die Handlungskomponente der Strafzumessungsschuld, das Handlungsunrecht. Es soll das Maß der Vorwerfbarkeit des Täterverhaltens – in Anlehnung an die Terminologie der Verbrechenslehre – bestimmen.52 Auch hier geht man weitestgehend von einem dichotomen Verständnis des Begriffes aus, wenn man den Handlungsunwert einerseits hinsichtlich des Verhaltens bei der Tat und andererseits hinsichtlich des Vor- und Nachtatverhaltens aufgliedert.53 Neben dem oben bereits Gesagten ist hier auch deswegen von einer gleichsam höheren Relevanz auszugehen, weil der Gesetzgeber bei den für die Strafzumessung relevanten Umständen des § 46 II 2 StGB solche Modalitäten, die aufgrund ihres Wesens dem Handlungsunrecht zuzuordnen sind, de lege lata ein signifikant erheblicheres Gewicht beigemessen hat. Bei Zipf heißt es diesbezüglich: „Hierher [in den Bereich des Handlungsunrechts] gehören: ‚Die Beweggründe und Ziele des Täters, die Gesinnung, die aus der Tat spricht, und der bei der Tat aufgewendete Wille, das Maß der Pflichtwidrigkeit, die Art der Ausführung‘.“54 Es geht damit um solche Umstände, die das Maß der subjektiven Vorwerfbarkeit der Täterhandlung bestimmen. Sie entsprechen daher zum Teil gewissen Elementen, die aus der Ebene der Strafbegründungsschuld bekannt sind, gehen aber freilich darüber hinaus, was in der Sache darin begründet liegt, dass es i. R. d. Strafzumessungsschuld um Fragen des Ausmaßes geht und nicht lediglich darum, ob bestimmte Umstände vorliegen oder nicht. 52  Vgl. etwa Zipf, in: Maurach/Gössel/Zipf, AT  2, § 63, Rn. 22; Schäfer/Sander/ van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 603. 53  Vgl. Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, ebenda; a. A. Hörnle, in: Frisch (Hrsg.), Grundfragen des Strafzumessungsrechts aus deutscher und japanischer Perspektive, S. 113 ff. (122 f.), sie versteht den Begriff des Handlungsunrechts insoweit anders, als dass schon die Umstände des Vor- und Nachtatverhaltes als unrechtsmindernde Umstände berücksichtigt werden sollen. 54  Vgl. Zipf, in: Maurach/Gössel/Zipf, AT  2, ebenda; vgl. auch die Beiordnung bei Eschelbach, in: Satzger/Schmitt/Widmaier, § 46, Rn. 93 ff.; siehe auch Meier, Strafrechtliche Sanktionen, S. 168 ff.; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 603 ff.

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Hinsichtlich der Schuldrelevanz des Vor- und Nachtatverhaltens bedient sich der BGH der sog. Indizkonstruktion.55 Hiernach sind Umstände, die vor oder nach der Tatbestandsverwirklichung liegen, bei der Strafzumessung unter Schuldgesichtspunkten dann zu berücksichtigen, wenn und soweit sie in einem inneren Zusammenhang zum konkreten Schuldvorwurf stehen und deshalb Rückschlüsse auf den Täter und seine Einstellung zur Tat zulassen.56 Dabei wird immer wieder betont, dass sich hieraus keine Vorwerfbarkeit einer allgemeinen Lebensführungsschuld herleiten lassen darf.57 Gleichwohl zeigen die Ausführungen zur Indizkonstruktion des BGH einmal mehr die Unzulänglichkeiten bei der Unterscheidung der Unrechts- und Vorwerfbarkeitskomponenten der Strafzumessungsschuld, wenn lediglich von „Schuldgesichtspunkten“ die Rede ist. c) Stellungnahme Indessen sollte deutlich geworden sein, dass die Analyse der einzelnen Komponenten der Strafzumessungsschuld die Vermengung von Unrecht und Schuld innerhalb des Begriffs als ein wesentliches Grundproblem ausgewiesen hat. Allerdings zeigt die Tatsache, dass dem Handlungsunwert schon theoretisch mehr Gewicht bei der Bestimmung des Ausmaßes der Strafzumessungsschuld beigemessen werden muss als dem Erfolgsunwert, dass sich die Gefahr einer zu starken Objektivierung der Strafzumessungsschuld jedenfalls dann verringert, wenn man einerseits die Komponenten zunächst isoliert betrachtet und andererseits dem Grundsatz folgt, den Erfolgsunwert nicht über das notwendige Maß zu bewerten. Dem Grunde nach trägt diese Feststellung der unterschiedlichen Handhabung von Unrecht und Schuld auf der Ebene der Strafbegründung Rechnung und verdeutlicht die Möglichkeiten einer in gewisser Weise inkonsequenten systematischen Fortwirkung dieses Grundsatzes auf der Ebene der Strafzumessung. Diese Perspektiven sind freilich nur insoweit von Nutzen, als sie einen theoretischen Blickwinkel auf die Problemlagen eröffnen, der in praxi derzeit leider kaum hinreichend Niederschlag findet. Vor diesem Hintergrund ist die Praxis zu kritisieren, wenn sie unter Zuhilfenahme von Straftaxen u. ä. – wenngleich die Praktikabilitätsaspekte sicher verlockend erscheinen – versucht, der Erfolgskomponente eine überzogene Stellung Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 641. Schäfer/Sander/van Gemmeren, ebenda; BGH, in: NJW 1979, 1835; BGH, in: NStZ 1984, 259; BGH, in: NStZ-RR 2002, 364 (nur Leitsatz der Schriftleitung). 57  Vgl. Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 648; Detter, Einführung in die Praxis der Strafzumessung, Teil II, Rn. 3; Frisch, in: FS für Müller-Dietz, S. 269 ff. (293). 55  Vgl. 56  Vgl.



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einzuräumen. Freilich sind es häufig die Fragen des Schadensausmaßes oder der Verletzungsintensität, die zunächst eine vergleichsweise einfache Abgrenzung zu anderen Fällen ermöglichen. Man muss sich dabei jedoch vergegenwärtigen, dass eine solche Vorgehensweise nicht mehr viel damit zu tun hat, „eine Schuldform“ im eigentlichen Sinne zu bestimmen, die originär dem Fragenkreis der individuellen Verantwortlichkeit zugedacht wurde. Insofern muss für zukünftige Perspektiven die Frage gestellt werden, ob man im Strafzumessungsrecht am gleichsam vorbelasteten Begriff der Schuld in dieser Form festhalten will oder ob es nicht sinnvoller wäre, neben der ohnehin notwendigen systematisch-dogmatischen Umorientierung auch einen Wechsel im Begriffsverständnis anzustreben, der dazu geeignet ist, Unrecht und Schuld ebenso deutlich wie auf der Ebene der Strafbegründungsschuld zu scheiden. 2. Exkurs: Zur interkulturellen Geltungskraft von Strafzumessungsentscheidungen durch Konsens Die grundsätzliche Richtigkeit dieser Auffassung, die auch die Möglichkeiten und Grenzen einer Berücksichtigung subjektiv orientierter Elemente – d. h. vornehmlich solcher des Handlungsunrechts – determiniert, lässt sich indessen auch rechtskulturell begründen. Diese Perspektive erscheint im Rahmen einer Gesamtbetrachtung des Problems zwar grds. erhellend, ist jedoch aufgrund ihrer vorwiegend rechtsphilosophischen Natur eben auch als alternativer Erklärungsansatz zu verstehen, der insbes. für die praktischen Fragen des Strafzumessungsrechts nicht zwingend in den Blick zu nehmen ist. Vor dem Hintergrund der Forderung nach einer Neuorientierung des Rechts der Strafzumessung gibt sie freilich einiges zu bedenken auf. Daher bietet sich eine Betrachtung hier im Rahmen eines Exkurses an. Diesbezüglich sollen die Elemente, die zur Verwirklichung einer rechtskulturell legitimierten Gerechtigkeitsvorstellung theoretisch und konkret beitragen, näher ausgeleuchtet werden. Die Schuldstrafe muss schon begriffslogisch dem Schuldausgleich als solchem dienen. Dabei stellt das Schuldprinzip eine spezifisch strafrechtliche, weil auf Normbestätigung konzentrierte, Ausformung des verfassungsrechtlich verankerten Verhältnismäßigkeitsprinzips dar.58 Die Schuldstrafe leistet demnach einen sozialpsychologisch unverzichtbaren Beitrag zur 58  Vgl. Streng, in: FS für Müller-Dietz, S. 875 ff. (895); vgl. dazu auch grds. Frisch, in: NStZ 2013, S. 249 ff.

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Normbekräftigung.59 Aufgrund der Tatsache, dass der beim schuldangemessenen Strafen zu bildende Spielraum bzw. Schuldschwererahmen60 nicht das Endprodukt, d. h. das Endstrafmaß, darstellen kann, bedarf es eines Vorgangs, welcher dem Erforderlichkeitsmaßstab dieses übergeordneten und verfassungsrechtlich bedingten Prinzips gerecht wird.61 Es muss dabei geklärt werden können, welche der theoretisch in Frage kommenden schuldangemessenen Strafen aus dem Spielraum für das eigentliche Strafmaß konkret in Betracht zu ziehen ist.62 Diesen Vorgang nennt man Schuldwertung. Misslich ist in Hinblick auf diese Praxis freilich der Umstand, dass der Richter den Spielraum im Urteil nicht angeben muss.63 Der Richter soll anhand der herrschenden Gerechtigkeitsvorstellungen eine gerechte Strafgröße auffinden.64 Es ist der Versuch, irdische und damit zeit- sowie kulturabhängige Gerechtigkeitsvorstellungen einer Rechtsgemeinschaft schöpferisch zu verwirklichen.65 Die konkrete Schuldstrafe als Produkt dieser Schuldwertung muss sodann geeignet erscheinen, die Normbekräftigungsfunktion der jeweiligen Entscheidung in der Bevölkerung zu sichern,66 indem sie das sog. „Gerechtigkeitsempfinden der Allgemeinheit“ befriedigt.67 Dieses Gerechtigkeitsempfinden der Allgemeinheit jedoch im Ein59  Vgl. NK-Streng, § 46, Rn. 48; ein solches Verständnis von der Schuldstrafe mag freilich eine Grenzziehung zum Strafzweck der Generalprävention in seiner positiven Form erschweren. Für Streng, in: JZ 1993, 109 ff. (111), dort Fn. 17, geht es dabei um „funktionale Erklärungen des Schuldurteils in Hinblick auf generalpräventiv relevante Erwartungshaltungen der Mitbürger […].“ Er verweist auf die gemeinsamen Wurzeln beider Gedanken – also der des gerechten Schuldausgleichs und jener der strafrechtlichen Normbestätigung. Bei beiden ginge es um die Realisierung von Reaktionsbedürfnissen, die im eigenen Rechtsgefühl wurzeln und der Verteidigung der dort verankerten, in der Primär- und Sekundärsozialisation aufgenommenen gesellschaftlichen Werten dienen. 60  Vgl. zu den verschiedenen Bezeichnungen des Spielraums u. a. Schäfer/Sander/ van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 828; für „Schuldschwererahmen“ schon Henkel, Die „richtige“ Strafe, S. 31 ff.; auch bei Dreher, in: FS für Bruns, S. 1141 ff. (163). 61  Vgl. Streng, in: JZ 1993, ebenda. 62  Vgl. Streng, in: JZ 1993, ebenda. 63  Vgl. Dreher, in: FS für Bruns, S. 141 ff. (162 f.); auch in der aktuellen Auflage von Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, aus 2012 findet sich bei der einschlägigen Rn. 833 sowie dort Fn. 698, die Feststellung, dass „Entscheidungen die derartiges [„das Exerzieren der Spielraumtheorie“] verlangten […] nicht feststellbar [sind].“ 64  Vgl. Zipf, in: Maurach/Gössel/Zipf, AT  2, § 63, Rn. 15. 65  Vgl. Zipf, in: Maurach/Gössel/Zipf, AT  2, ebenda. 66  Vgl. etwa Streng, in: FS für Müller-Dietz, S. 875 ff. (896); ders., in: Frisch/ von Hirsch/Albrecht (Hrsg.), Tatproportionalität, S. 129 ff. (131); i. d. S. auch Frisch, in: GA 1989, 338 ff. (348 f.). 67  Vgl. Roxin, in: FS für Bruns, S. 183 ff. (191).



A. Interkulturelle Beweglichkeit und Geltungskraft des Strafzumessungsrechts243

zelfall punktuell und damit gleichsam exakt zu bestimmen ist nicht möglich, weil es „von vornherein nur in der Bandbreite eines bestimmten Spielraums reagiert“.68 Das macht nicht nur den Einsatz von Präventionsaspekten zur Eingrenzung der konkreten Strafe notwendig,69 sondern bedingt in einem vorher durchzuführenden Schritt auch das Ausmachen gemeinsamer Bezugswerte der Gesellschaft, die der Urteilskultur des Judizierenden entstammen hinsichtlich der Frage, welches Schuldstrafmaß sich in einem bestimmten Fall als schuldangemessen und somit gerecht erweist. Frisch formuliert in Hinblick auf das Schuldmaß, dass es sich um eine „Entsprechung“ auf der Grundlage bestimmter Wertmaßstäbe handeln soll.70 Die empirischen Untersuchungen auf diesem Gebiet zeigen jedoch, dass es nahezu unmöglich sein soll, einen Konsens bei den Bürgern darüber auszumachen, wie eine konkrete Strafe für ein bestimmtes Delikt zu bestimmen ist, weil die Bürger vor allem intuitiv und damit höchst individuell urteilen würden.71 Was diese Erhebungen jedoch auch zeigen, ist das Vorhandensein eines bestimmten Potentials zur Konsensbildung hinsichtlich relativer Schulddimensionen in Bezug auf konkrete Einzelfälle.72 Es soll demnach zumindest gemeinsame Ansichten der Menschen einer Gesellschaft zur relativen Schuld verschiedener Sachverhalte geben.73 Würde man diese relative Schulddimension im Einzelfall genauer betrachten, müsste man feststellen, dass es sich in der Gesamtschau um ein für alle als zumindest relativ gerecht zu erachtendes Werturteil handeln müsste, eines, das demnach konsensual gebilligt wird, weil man es zumindest für weder zu hart oder unerträglich milde erachten dürfte und es dadurch auch einer moralisierenden Inhaltsbestimmung entzieht.74 Veranschaulicht könnte man formulieren, dass sich dieses relativ konsentierte Bild der Schuld im Einzelfall als eine Fläche oder als eine Strecke darstellen ließe; einen Konsens über die Frage des noch bzw. schon Schuldangemessenen, wenn man so will. Man könnte sich auch mit Streng auf den Konsens der „großen Mehrheit der Bürger“ beziehen75 und derart die auszugebende Schuldvorstellung noch weiter verengen. Soweit ersichtlich existiert in der einschlägigen Literatur keine herrschende Auffassung darüber, wie man den gesellschaftlichen 68  Vgl. (889). 69  Vgl. 70  Vgl. 71  Vgl. m. w. N. 72  Vgl. 73  Vgl. 74  Vgl. 75  Vgl.

Roxin, ebenda; i. d. S.  auch Streng, in: FS für Müller-Dietz, S. 875 ff. Roxin, ebenda; a. A. Frisch, in: ZStW 99 (1987), 349 ff. (362 f.). Frisch, in: NStZ 2013, S. 249 ff. (253). Cancio Meliá/Ortiz de Urbina Gimeno, in: GA 2013, S. 288 ff. (293), Cancio Meliá/Ortiz de Urbina Gimeno, in: GA 2013, ebenda. Cancio Meliá/Ortiz de Urbina Gimeno, in: GA 2013, ebenda. Hirsch, in: ZStw 106 (1994), S. 746 ff. (747). Streng, in: FS für Müller-Dietz, S. 875 ff. (896).

244

Teil 5: Perspektiven einer systematisch-dogmatischen Behandlung

Konsens diesbezüglich nun näher bestimmen könnte. Das liegt einerseits an der kaum zu bewältigenden empirischen Aufgabe, die damit verbunden wäre, andererseits aber auch daran, dass es hierzu nach wie vor keine verlässliche wissenschaftstheoretische Methode gibt.76 In gewisser Weise ist der Vorwurf eines fiktionalen Konstrukts von einem gesellschaftlichen Konsens über z. T. fraglich dimensionierte Gerechtigkeitsvorstellungen demnach nicht ganz unbegründet, sei es auch nur jener der großen Mehrheit der Bürger. Letztlich verbleibt aber, unabhängig davon, wie klein oder groß die Schnittmenge gemessen wird, kein punktuell konsentiertes, sondern stets nur ein zwischen den Extremen konstruierbares Produkt. Auf die straftheoretische Ebene übertragen, belegt dieser Befund damit auch die begrenzte Limitierungsfunktion der Spielraumtheorie,77 weil auch ein auf den Spielraum übertragener Konsens die gesetzlichen Strafrahmen nur entsprechend der ausgemachten Akzeptanzspielräume konkretisiert. Vor dem Hintergrund der Funktion der Schuldstrafe, wie sie oben bereits angeklungen ist, erscheint es nun möglich, die soeben angestellten Überlegungen auf die rechtskulturellen Perspektiven der Problemlage zu konzentrieren. Eine rechtswidrige und schuldhafte Tat verursacht ein spezifisches Ausmaß einer Rechtsfriedensstörung.78 Das hierauf zu replizierende Urteil muss die Geltungskraft der Norm i. S. d. Normbestätigungsfunktion wieder herstellen, weil eine Erschütterung der Erwartungen an den Täter als Individuum hinsichtlich der verletzten Norm vorliegt. Diese Norm wiederum ist ein Teil der Werteordnung der Bundesrepublik, weil die Majorität der Gesellschaft sie als verbindlich akzeptiert hat und ihr Folge leistet aufgrund von allgemeiner Akzeptanz, praktischer Übung und Internalisierung. Sie muss den in der Norm verkörperten Komplex von Werten als verletzt betrachten, weil sich ein Individuum dessen Geltungsanspruch entzogen hat und somit das Vertrauen darin verletzt wurde, ein jeder hielte sich an diese konsentierten Regeln; nicht mehr, aber auch nicht weniger. Dieser sozial­ ethische Vorwurf, getragen vom Gerechtigkeitsempfinden der Allgemeinheit, ist folglich auch substanziell begrenzt. Das Maß der einzufordernden Verantwortlichkeit bedingt daher zwingend eine Restriktion der für die Schuldwertung fruchtbar zu machenden Werte der Gesamtrechtsordnung, deren Verletzung dem Täter vorgeworfen wird. Wenn man so will, geht es also in gradueller Hinsicht um den Schutzbereich der verletzten Norm, der gleichsam den spiegelbildlichen Ausdruck des missachteten Wertkanons darstellt. Neben das aus dem Tatbestand herrührende Unrecht treten deshalb auch Zipf, in: Maurach/Gössel/Zipf, AT  2, § 63, Rn. 15. etwa Streng, in: FS für Müller-Dietz, S. 875 ff. (882). 78  Vgl. schon Bruns, Neues Strafzumessungsrecht?, S. 46; siehe auch Frisch, in: ZStW 99 (1987), 751 ff. (780). 76  Vgl. 77  Vgl.



A. Interkulturelle Beweglichkeit und Geltungskraft des Strafzumessungsrechts245

alle sonstigen, den Grad der Vorwerfbarkeit des Täterverhaltens bestimmenden Faktoren, wie sie aus dem Allgemeinen Teil des Strafgesetzbuchs bekannt sein dürften.79 Denn sie geben eine Antwort darauf, in welchem Maße der Täter in der Lage war, die durch die Tat entstandene Rechtsfriedensstörung durch Orientierung an den Normen des Rechts zu vermeiden oder zu vermindern.80 Insofern zeichnet sich auch vor diesem Hintergrund die Dominanz der Elemente der Vorwerfbarkeit für die Schuldfrage ab. Damit werden aber auch die Möglichkeiten einer Berücksichtigung fremdkulturell bedingter Umstände für die Schuldwertung weitgehend rechtskulturell determiniert. Im Bereich der konsentierten und rechtserheblichen Vorstellungen der deutschen Rechtsgemeinschaft können sie dann eine Berücksichtigung in der Schuldwertung erfahren, wenn sie in tatsächlicher Art und Weise Eingangskriterien der aus dem materiellen Schuldspruch bekannten Institute oder der sonstigen strafzumessungsrelevanten Umstände aus den entsprechenden Vorschriften bedingen. Daher ist die Berücksichtigung fremder Rechtsinstitute u. ä. sowie die Anwendung, Adaption oder Übertragung fremder Strafrahmen für die Schuldwertung auch aus diesen Gründen ausgeschlossen.81 Die dogmatische Vereinbarkeit eines solchen „Kunstgriffs“ mit hiesigen Rechtsinstituten ist prinzipiell nicht gegeben. Insbesondere würde die Anwendung fremder Strafrahmen – in welcher konkreten Form auch immer – dem Grundsatz „nulla poena sine lege“ aus Art. 103 II GG, der sich auch und gerade auf die Strafandrohung bezieht, zuwider laufen.82 Es kann sich aufgrund fremdkultureller Aspekte auch kein solches, an einer lex fori orientiertes neues Rechtsinstitut entwickeln lassen. Hierbei bestünden erhebliche Bedenken hinsichtlich der erforderlichen Konsenstauglichkeit eines solchen „Fremdkörpers“ im deutschen Strafrecht. Vielmehr könnte der u. U. dadurch evozierte Vorwurf einer Sonderbehandlung fremder Täter unter dem Aspekt der Strafgleichheit zu einer Gefährdung der Normbestätigungsfunk­ tion der Schuldstrafe selbst führen. Grundlegend lässt sich formulieren, dass eine unmittelbare Auswirkung fremdkulturell bedingter Wertvorstellungen im Sinne eines SchuldstrafzuFrisch, in: ZStW 99 (1987), 349 ff. (387). Frisch, in: ZStW 99 (1987), ebenda. 81  So aber wohl Grundmann, in: NJW 1985, 1251 ff.; die von ihm auf S. 1252 aufgeworfene Frage, ob das Strafmaß aus dem Herkunftsland des Täters einen Einfluss darauf haben könne, wie das deutsche Strafmaß im Mindest- und Höchstmaß ausfallen solle, ist – de lege lata – daher mit einem eindeutigen „Nein“ zu beantworten. Etwas anderes könnte sich nur unter speziellen Umständen für solche Fallkonstellationen ergeben, die sich über § 17 StGB lösen lassen. Dann liegt der Schwerpunkt der strafrechtlichen Beurteilung aber auch nicht bei der Strafmaßproblematik im Herkunftsland, sondern bei der Unrechtsbewertung. 82  So auch schon Erbil, Toleranz für Ehrenmörder, S. 74 m. w. N. 79  I. d. S.  auch 80  Vgl.

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Teil 5: Perspektiven einer systematisch-dogmatischen Behandlung

messungsumstandes de lege lata ausgeschlossen ist. Forderungen nach einer speziellen lex ferenda bzw. eines besonderen Strafzumessungsumstands83 mit fremdkulturellem Zuschnitt sind nach alledem abzulehnen. Diese Konsequenz erscheint auch unter dem Aspekt einer konsensfördernden Strafgleichheit unumgänglich.84 Für den Bereich der Prävention ergibt sich in Hinblick auf die Differenzierungsebene nichts anderes.85 Jedoch ist im Rahmen der in der Strafzumessung anerkannten Strafzumessungsumstände eine Berücksichtigung fremder Vorstellungen auf der Tatsachenebene (Strafzumessungstatsachen) nicht nur möglich, sondern im Einzelfall auch geboten. Dies kann vor allem bei Fallkonstellationen evident werden, bei denen die Bewertung der Vorwerfbarkeit des Täterhandelns vom graduellen Vorliegen bestimmter Eingangskriterien diverser Institute des Allgemeinen Teils des StGBs abhängt. In diesem Kontext kann nochmals an § 17 StGB erinnert werden. Der „Fremde“, welcher sich zum Tatzeitpunkt in einem vermeidbaren Verbotsirrtum befand, kann u. U. zumindest das Eingangskriterium der fehlenden Unrechtseinsicht etwa aufgrund seiner fremden Enkulturation erfüllt haben. Dass der Irrtum nach § 17  S. 2 StGB vermeidbar war, lässt die materielle Schuld zwar nicht entfallen. Das Gesetz hält den Richter jedoch dazu an, in einem solchen Fall eine fakultative Strafmilderung zu prüfen. Es liefert also bereits Hinweise, wie mit derartigen Umständen auf der Tatsachenebene und in der Konsequenz auch rechtspraktisch zu verfahren ist. Es kann nicht deutlich genug darauf hingewiesen werden, dass insbes. in diesen Bereichen die Fragen der strafzumessungserheblichen Tatsachen von den sog. Strafzumessungsumständen geschieden werden müssen. Es gibt demnach aus rechtskultureller Perspektive zwar fremdkulturell bedingte strafzumessungserhebliche Tatsachen, aber keine unmittelbar fremdkulturellen Strafzumessungsumstände. Es muss daher auch in solchen Fällen sehr exakt für den Strafzumessungssachverhalt ermittelt werden, weshalb oder besser aufgrund welcher Tatsachen objektiv wie subjektiv dann bspw. ein Einsichtsmangel o. ä. vorgelegen hat. Im Rahmen dieser Perspektive stellt sich dann auch nicht (mehr) die Frage, ob man einen gleichsam exotischen Umstand überhaupt berücksichtigen dürfe oder nicht, weil durch psychologische oder ethnologische bzw. ganz generell aber bspw. bei Erbil, Toleranz für Ehrenmörder, S. 81. etwa Streng, in: Lampe (Hrsg.), Rechtsgleichheit und Rechtspluralismus, S. 279 ff. (287 ff.). 85  In diesem Kontext und darüber hinausgehend erwähnenswerte Beispiele liefert Streng, in: JZ 1993, 109 ff. (113 f.); vor allem die Tätergruppen, die lediglich zur Straftatbegehung einreisen, sind spezialpräventiv, hier insbes. die Integrationsprävention betreffend, gar nicht ansprechbar. Insofern erscheinen daher gewisse Besonderheiten im Umgang mit solchen Tätern abseits der Schuldproblematik durchaus plausibel. 83  So

84  Vgl.



A. Interkulturelle Beweglichkeit und Geltungskraft des Strafzumessungsrechts 247

interdisziplinäre Gutachten Antworten auf diese Fragen gefunden werden können, die wiederum wissenschaftlich-forensische Fakten sind, welche der Richter dann auch entsprechend der geltenden Regeln der StPO (vgl. §§ 72 ff., 244 ff.) behandeln muss. Abschließend bleibt vor dem Hintergrund der hiesigen rechtskulturellen Perspektive zu konstatieren, dass für die Schuldfrage alle tatsächlichen Umstände, unabhängig von ihrer kulturellen Provenienz, von Bedeutung sein können, die sich in solchen konsentierten Rechtsinstituten niederschlagen, welche eine Aussage über die graduell steigerungsfähige Rechtsfriedensstörung zulassen, weil diese dem Täter nach den in der Rechtsordnung immanenten Maßstäben angelastet bzw. vorgeworfen werden kann und er zu ihrer Behebung auch konsequenter- und legitimerweise herangezogen werden muss.86 3. Konsequenzen für die Berücksichtigung fremdkultureller Wertvorstellungen bei der Strafzumessung Für die weiteren Überlegungen ergibt sich in Hinblick auf die Berücksichtigung fremdkultureller Wertvorstellungen unter den Prämissen der gegenwärtigen Konzeption des Strafzumessungsrechts das Folgende: a) Das deutsche Strafzumessungsrecht beansprucht grds. eine interkulturelle Geltungskraft bzw. einen interkulturellen Geltungsanspruch. Das gilt zuvörderst für die objektive Frage nach dem Erfolgsunwert. Der Handlungsunwert ist analog zur Perspektive bei der Strafbegründungsschuld subjektivistisch ausgeformt und damit entsprechend flexibel ausgestaltet. b) Ein unmittelbarer Einfluss fremdkultureller Wertvorstellungen auf die Beurteilung des Unrechtsausmaßes (Erfolgsunwert) ist damit ausgeschlossen. Die Frage des Normverstoßes muss sich auch auf der Ebene der Strafzumessung entsprechend objektiviert (d. h. interkulturell unbeweglich) fortsetzen. Diesbezüglich sind die Vorstellungen der deutschen Rechtsgemeinschaft vom Unrecht maßgeblich. c) Hinsichtlich der Aspekte der individuellen Vorwerfbarkeit (Handlungsunwert) ist wiederum eine Berücksichtigung subjektivistischer Perspektiven angezeigt, weil die hiesigen Rechtsvorstellungen eine solche Möglichkeit schon grds. vorsehen. In diesem Rahmen kann der Vorwurf gegenüber fremdkulturell geprägten Tätern u. U. gemildert werden. d) Eine Orientierung an einem Rechtsinstitut einer lex fori ist für die Bestimmung der Strafzumessungsschuld grds. nicht möglich. 86  I. d. S.  auch

Frisch, in: ZStW 99 (1987), 349 ff. (388).

248

Teil 5: Perspektiven einer systematisch-dogmatischen Behandlung

B. Zur systematischen Behandlung fremdkultureller Wertvorstellungen in der Strafzumessung I. Vorbemerkungen Wie die Analyse der Rechtsprechungsgenese gezeigt hat, ergeben sich hinsichtlich der systematischen Berücksichtigung fremdkultureller Wertvorstellungen und solcher Umstände, die in einem engen Kontext dazu stehen, noch zahlreiche Fragen. Die Untersuchung konnte damit die zu Beginn der Arbeit benannten Grundprobleme im Umgang mit diesen Umständen bei der Strafzumessung verdeutlichen und deren maßgebliche Verantwortlichkeit für zahlreiche Schwierigkeiten in diesem Zusammenhang nachweisen.87 Das betrifft zunächst die terminologischen und systematischen Unsicherheiten bei allen untersuchten Rechtsprechungslinien. Aufgrund der überwiegend schmal strukturierten Ausführungen in den Urteils- bzw. Beschlussgründen wird in keiner Entscheidung hinreichend deutlich, wie die einzelnen strafzumessungsrechtlichen Erwägungen systematisch zu handhaben sind. Daneben sind jedoch auch rechtliche Einwände gegen die Praxis geltend zu machen. Während die Analyse der Rechtsprechungsgenese die Gelegenheit geboten hat, die Ansicht der Judikatur zu untersuchen und darzustellen, ist im folgenden Abschnitt der Arbeit eine eigene systematische, terminologische und rechtliche Bewertung der Rechtsprechungslinien vorzunehmen. In diesem Zusammenhang muss die Praxis der Rechtsprechung kritisch hinterfragt werden, die grundlegend dazu neigt, strafzumessungsrechtliche Erwägungen als lediglich „strafschärfend“ oder „strafmildernd“ im Urteil darzustellen, d. h. ohne nähere rechtliche Würdigung, obwohl eine solche von § 267 III 1 StPO für bestimmende Umstände durchaus eingefordert wird.88 Das führt mit Blick auf die Nachvollziehbarkeit der Strafzumessungsbegründung zu zahlreichen Problemen. Zwar muss beim Vorgang der Strafzumessung die Bewertungsrichtung eines Umstandes als strafschärfend oder -mildernd auch festgelegt werden.89 Das kann aber erst dann sinnvoll begründet werden, wenn die Bedeutung der jeweiligen Umstände in Hinblick auf die Bestimmung der Schuld oder der Präventionsbedürftigkeit des Täters auch grundlegend gewürdigt wurde. Dieser Vorgang der rechtlichen Würdigung – den das Gericht ohnehin anstellen muss90 –, der für die Straf87  Vgl.

schon oben, Teil 1, II. Velten, in: SK-StPO V, § 267, Rn. 46 f. 89  Vgl. etwa Meier, Strafrechtliche Sanktionen, S. 143. 90  Vgl. Velten, in: SK-StPO V, § 267, Rn. 46 ff. 88  Vgl.



B. Behandlung fremdkultureller Wertvorstellungen in der Strafzumessung249

zumessung erheblichen Umstände, sollte auch in den Urteilsgründen entsprechenden Niederschlag finden. Dieses Problem gilt es im Übrigen ganz grds. für die Praxis der Strafzumessung zu monieren. Vor diesem Hintergrund erscheint eine Änderung von § 267 III empfehlenswert, der eine rechtliche Begründung der bestimmenden Umstände über die Frage der Bewertungsrichtung hinaus ausdrücklich festschreibt. Soweit diese Pflicht nur in Hinblick auf die bestimmenden Umstände zu postulieren ist, bestehen auch hinsichtlich der Praktikabilität keine Bedenken.

II. Zur Ausländereigenschaft unter besonderer Berücksichtigung des Missbrauchs des Gastrechts 1. Die Ansicht der Rechtsprechung Die Analyse der Entscheidungen zur Ausländereigenschaft unter besonderer Berücksichtigung des Missbrauchs des Gastrechts haben gezeigt, dass die Revisionsrechtsprechung solchen Erwägungen eine deutliche Absage erteilt hat, bei denen entweder auf die Ausländereigenschaft als solche abgehoben wurde oder das Gericht in unzulässiger und nicht substantiierter Art und Weise auf den Missbrauch eines Gastrechts durch einen ausländischen Angeklagten abgestellt hatte. Beide Erwägungen isoliert oder unreflektiert nebeneinander als strafschärfende Erwägung heranzuziehen, ist nach Ansicht des BGH grds. rechtsfehlerhaft.91 Abseits dessen haben die Senate des BGH jedoch Kriterien entwickelt, bei deren Vorliegen eine strafzumessungsrechtliche Berücksichtigung des Missbrauchs des Gastrechts durch einen Ausländer bzw. Asylbewerber nicht ausgeschlossen sein soll. Wird mit einer solchen Erwägung ein Sachverhalt beschrieben, bei dem die Tat durch die Ausländereigenschaft des Täters oder seine Stellung als Asylbewerber in einer für die Schuldgewichtung erheblichen Weise geprägt wird, soll sie rechtlich nicht zu beanstanden sein. Diesbezüglich herrscht auch – soweit ersichtlich – Einigkeit bei den Senaten des BGH, wenngleich hierzu in jüngerer Zeit keine Entscheidungen mehr aufzufinden sind.92 Nach Ansicht des BGH soll demnach ein schuldgewichtiger Bezug bei jedenfalls vier Fallgruppen in Betracht kommen können: a) Wenn der ausländische Täter in der Absicht in die Bundesrepublik einreist und Asyl beantragt, um hier Straftaten – etwa im Rahmen der or91  Vgl. 92  Vgl.

oben, Teil 4, B., II., 8. dazu schon oben, Teil 4, ebenda.

250

Teil 5: Perspektiven einer systematisch-dogmatischen Behandlung

ganisierten Kriminalität oder auch im Zusammenhang mit Nationalitätenkonflikten – zu begehen (1. Fallgruppe). b) Wenn der ausländische Täter in strafbarer Weise besondere Vorteile missbraucht oder erschleicht, die ihm gerade mit Rücksicht auf seine Ausländereigenschaft oder Eigenschaft als Asylbewerber gewährt werden (2. Fallgruppe). c) Wenn die Straftat in unmittelbarem Zusammenhang mit der Inanspruchnahme des Gastrechts steht (3. Fallgruppe). d) Und schließlich auch dann, wenn sich die Straftat gegen die Bundesrepublik Deutschland oder ihre Sicherheit richtet (4. Fallgruppe).93 2. Allgemeines Als grundsätzlich problematisch erweist sich bereits die Tatsache, dass der BGH in Bezug auf die Erwägung eines Missbrauchs des Gastrechts durch einen Ausländer bzw. Asylbewerber mehrere mögliche Ansatzpunkte einer strafzumessungsrechtlichen Berücksichtigung von Umständen und Tatsachen zu einer Fallgruppe bzw. Rechtsprechungslinie zusammengefasst hat, die seiner Ansicht nach einen schuldgewichtigen Bezug aufweisen soll. Auf der einen Seite findet sich in diesem Kontext die Erwägung des Missbrauchs eines nicht näher bestimmten Gastrechts als möglicher Anknüpfungspunkt.94 Sie steht neben der vom BGH geforderten schuldgewichtigen Prägung der Tat durch die Ausländereigenschaft als zweiten potentiellen Ansatzpunkt. Wie dies mit der Erwägung des BGH aus dem Beschluss vom 16.03.1993 zu vereinbaren ist, dass die Staatsangehörigkeit des Täters für die Bewertung der Schuld grds. ohne Bedeutung sein soll, lässt der BGH unbeantwortet.95 Damit erschwert bereits die grundlegende Konzeption dieses Strafzumessungsumstandes durch den BGH sowohl die terminologische und systematische Einordnung als auch die rechtliche Bewertung. Ein weiteres wesentliches Problem ist die Tatsache, dass die Erwägung vom BGH mit mangelndem Bezug zu den wesentlichen Kategorien der Strafzumessung, d. h. ohne nähere rechtliche Würdigung, formuliert wurde. Außer der Schuld als Bezugsgröße bietet der BGH demnach keinen weite93  Vgl. dazu insgesamt BGH, Beschluss v. 16.03.1993  – 4 StR 602/92, UA.  5; BGH, in: NStZ 1993, 337; BGHRSt § 46 Abs. 2, Lebensumstände 13; oben, Teil  4, B., II. 8. 94  Das ist insofern misslich, als dass der BGH in seiner Entscheidung 5 StR 297/98 klargestellt hat, dass Ausländer keiner gesteigerte Pflicht trifft, sich im Gastland straffrei zu führen; vgl. auch Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 629. 95  Vgl. BGH, Beschluss v. 16.03.1993  – 4 StR 602/92, UA.  4.



B. Behandlung fremdkultureller Wertvorstellungen in der Strafzumessung251

ren relevanten systematischen Ansatzpunkt für die rechtliche Würdigung der Erwägung. Der Teil, der auf einen Missbrauch des Gastrechts abzielt, könnte bspw. darauf hindeuten, dass hier ein Umstand beschrieben werden soll, der im Rahmen des Handlungsunrechts Bedeutung erlangen könnte, weil er an verhaltensspezifische Modalitäten anknüpft. Wenn dies der Fall wäre, könnte es sich bereits bei der Erwägung des Missbrauchs des Gastrechts für sich genommen um einen Strafzumessungsumstand handeln. Auf den Ausländer- oder Asylbewerberstatus müsste man dann grds. nicht abheben, soweit schon das gesteigerte Handlungsunrecht in Hinblick auf den Gastrechtsmissbrauch die Schuld des Täters erhöht. Dem mögen enge Grenzen gesetzt sein. So steht der Erwägung etwa der vom BGH aufgestellte Grundsatz entgegen, wonach einen Ausländer keine gesteigerte Pflicht zur Gesetzestreue trifft.96 Daneben existiert auch keine zusätzliche Pflicht, die aus dem Gaststatus herrührt.97 Es wird argumentiert, dass ansonsten auch Touristen, die etwa während ihres Auslandsurlaubs in Deutschland eine Straftat begehen, aufgrund des Gaststatus‘ härter bestraft werden müssten.98 Schon deshalb müsste bei der Erwägung deutlich gemacht werden, durch welche normativen Gesichtspunkte hier das Maß der Vorwerfbarkeit, also der Handlungsunwert des Täterverhaltens, konkret beeinflusst sein soll.99 Die vier Fallgruppen stellen insoweit eher potentielle tatsächliche Voraussetzungen dar und eignen sich diesbezüglich nur bedingt. Mögliche normative Anhaltspunkte liefert jedoch bereits § 46 II 2 StGB. Er nennt als in Betracht zu ziehende Strafzumessungsumstände des Handlungsunwerts etwa die Beweggründe und Ziele, die Gesinnung die aus der Tat spricht, den bei der Tat aufgewendeten Willen, das Maß der Pflichtwidrigkeit sowie die Art der Ausführung der Tat.100 Das Abheben auf den Ausländer- oder Asylbewerberstatus hingegen bietet in Hinblick auf ein erhöhtes Handlungsunrecht keinen ersichtlichen Ansatzpunkt, da sich mit dieser Erwägung in Ermangelung eines deskriptiven Handlungselements schon kein gesteigertes Handlungsunrecht begründen lässt. Es fehlt folglich am zwingend notwendigen Ansatzpunkt eines besonders vorwerfbaren Täterverhaltens. Ähnliches gilt für ein mögliches Anknüpfen am Erfolgsunwert. Die Ausländereigenschaft bzw. der Asylbewerberstatus haben keinen Einfluss auf das Ausmaß des vom gesetzlichen Tatbestand vorausgesetzten Erfolges oder das Ausmaß der außertatbestand96  Vgl.

BGH, in: NStZ 1993, 337 (337). Valerius, Kultur und Strafrecht, S. 290. 98  Vgl. Valerius, Kultur und Strafrecht, ebenda. 99  Vgl. etwa Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 605 ff. 100  Vgl. zu dieser Einordnung etwa Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, ebenda. 97  Vgl.

252

Teil 5: Perspektiven einer systematisch-dogmatischen Behandlung

lichen Folgen. Das gilt auch für ausländerspezifische Delikte. § 95 AufenthG und § 85 AsylVfg bestimmen lediglich den Täterkreis über den Status.101 Dieser hat folglich auch dort keine Auswirkungen auf das Ausmaß des tatbestandlichen Erfolges. Damit wird schon das Auffinden eines rechtlich fundierten Anknüpfungspunktes erheblich erschwert, der diesen Teil der Erwägung in Hinblick auf eine schuldgewichtige Prägung der Tat durch einen Ausländer oder Asylbewerber plausibel erscheinen ließe. Vielmehr lässt sich damit – wie bereits oben angedeutet102 – lediglich eine generalpräventive Erwägung begründen. Das bedeutet, dass innerhalb dieser Erwägung genau genommen mehrere potentielle Strafzumessungsumstände nebeneinander stehen. Der Teil, der dem Täter den Missbrauch des Gastrechts vorwirft, weist demnach einen Schuldkontext auf, während der auf den Status Bezug nehmende Teil durch das Abzielen auf eine Tätergruppe eher generalpräventiven Charakter aufweist. Daher lässt das Anreichern dieser ohnehin bereits mehrdeutigen Erwägung durch die vier vom BGH aufgestellten Fallgruppen nur weitere Zweifelsfragen befürchten, weil sie dieses Grundproblem nicht beseitigen. Dazu wird sogleich zurückzukommen sein.103 Vor diesem Hintergrund ist es zu empfehlen, die Elemente der Erwägung, die auf eine Steigerung des Handlungsunrechts abzielen, von denen zu trennen, die generalpräventive Elemente enthalten. Das bedeutet, dass der Missbrauch des Gastrechts, welcher wiederum durch spezifische, regelmäßig verwirklichte Modalitäten präzisiert werden muss, den einzigen systematisch wie terminologisch sinnvollen Anknüpfungspunkt für eine schuldgewichtige Prägung – wie vom BGH aber irrig hinsichtlich der Ausländereigenschaft gefordert – darstellt. Etwas anderes gilt für das Abheben auf den formellen Status des Täters. Er ist grds. nicht dazu geeignet, die Tat in einer für die Schuldgewichtung erheblichen Art und Weise zu prägen. Ansonsten würde die Schuldfrage von einem Verwaltungsvorgang (Einbürgerung etc.) abhängen.104 Da mit diesem Teil der Erwägung schon expressis verbis eine bestimmte Tätergruppe angesprochen wird, handelt es sich vom systematischen Standpunkt aus um eine generalpräventive Erwägung gegenüber ausländischen Tätern bzw. Asylbewerbern. Diesbezüglich wurde bereits im Rahmen der Analyse der Rechtsprechungsgenese darauf hingewiesen, dass eine solche Argumentation zwar grds. möglich erscheint, dabei aber engen Voraussetzungen unterliegt, die sich deutlich von solchen Erwägungen zur Schuld Stoppa, in: Huber, AufenthG, Vor § 95, Rn. 17. oben, Teil 4, B., II., 8. 103  Siehe sogleich, 3. 104  Vgl. dazu schon Hörnle, Kultur, Religion, Strafrecht – Neue Herausforderungen in einer pluralistischen Gesellschaft. Gutachten  C zum 70.  Deutschen Juristentag, C 91 f. 101  Vgl. 102  Vgl.



B. Behandlung fremdkultureller Wertvorstellungen in der Strafzumessung253

unterscheiden müssen.105 Diese hängen wiederum davon ab, ob die Wirkung der Strafe einen abschreckenden oder integrativen Effekt haben soll.106 Diesbezüglich sind den Entscheidungen des BGH jedoch keine Angaben zu entnehmen, was freilich in Anbetracht der vom BGH ursprünglich intendierten Zielrichtung der Erwägung (Schuldgewichtung) auch nicht verwundert. Soweit schon bei der Analyse der Rechtsprechungsgenese auf den generalpräventiven Charakter der Fallgruppen hingewiesen wurde, erscheint es zweckmäßig, die näheren Ausführungen zu den präventiven Gesichtspunkten diesbezüglich bei der jeweiligen Fallgruppe zu diskutieren. 3. Zu den Fallgruppen im Einzelnen a) 1. Fallgruppe Bei der ersten vom BGH aufgestellten Fallgruppe107 könnte sich der Zusammenhang zu einem Missbrauch des Gastrechts – und damit einem möglichen Schuldbezug – u. U. noch darin erkennen lassen, dass dabei auf einen Umstand abgestellt wird, bei dem der ausländische Täter unter Vorspiegelung bestimmter Tatsachen einen Asylantrag stellt, um dann, als sein eigentliches Ziel, Straftaten i. R. d. organisierten Kriminalität oder im Zusammenhang mit bestimmten Nationalitätenkonflikten auf dem Gebiet der Bundesrepublik zu begehen. Damit erscheinen auch bei dieser Fallgruppe – wie schon bei der Grunderwägung – wenigstens zwei strafzumessungsrechtliche Ansatzpunkte denkbar. Der erste ließe sich in der erhöhten kriminellen Energie, die der Täter zur Tatverwirklichung aufbringen muss, erkennen.108 Dabei würde die Schuld, wie vom BGH gefordert, in Form des bei der Tat aufgewendeten Willens, als möglicher Anknüpfungspunkt einer Strafschärfung in Frage kommen. Nach Valerius ließe sich dies mit den Delikten vergleichen, bei denen der Täter zunächst das Vertrauen des Opfers erschleicht, um die spätere Tatausführung überhaupt erst zu ermöglichen oder zu erleichtern.109 Gegen diesen Vergleich ist jedoch einzuwenden, dass in der vom BGH 105  Vgl. dazu Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn.  839 ff. 106  Vgl. zu den Voraussetzungen im Einzelnen, Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, ebenda. 107  Vgl. zum Meinungsstand in der Literatur etwa Joerden/Weinreich, in: Wolf (Hrsg.), Kriminalität im Grenzgebiet 3, S. 1 ff. (5 f.); Erbil, Toleranz für Ehrenmörder?, S. 66; Valerius, Kultur und Strafrecht, S. 289 f. 108  Vgl. auch Valerius, Kultur und Strafrecht, S. 290; Joerden/Weinreich, in: Wolf (Hrsg.), Kriminalität im Grenzgebiet 3, S. 1 ff. (6). 109  Vgl. Valerius, Kultur und Strafrecht, S. 290.

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Teil 5: Perspektiven einer systematisch-dogmatischen Behandlung

formulierten Konstellation der Getäuschte gerade nicht mit dem späteren Opfer identisch ist. Sowohl für die Fälle der organisierten Kriminalität als auch hinsichtlich des Austragens von Nationalitätenkonflikten wird das regelmäßig nicht zu erwarten sein. Etwas anders könnte jedoch für die Fälle der vierten Fallgruppe gelten. Wenn der Täter unter Vorspiegelung bestimmter, eventuell sogar unwahrer110 Tatsachen Asyl beantragt, um dann eine Straftat gegen die innere Sicherheit der Bundesrepublik o. ä. zu begehen, wäre das Identitätserfordernis in diesem Sinne wohl zu bejahen. Sofern also die Identität von Getäuschtem und Geschädigtem verlangt wird, können nur solche Fallkonstellationen schulderschwerend in diesem Sinne eine Strafschärfung rechtfertigen, bei denen ein Täter einreist und in der Bundesrepublik Asyl beantragt, um dann Straftaten gegen die innere Sicherheit des Gastlandes zu begehen. Wird die Identität von Getäuschtem und Opfer dagegen nicht gefordert – was m. E. nicht zwingend erscheint – genügt insofern das Anknüpfen an die vom BGH formulierte Fallkonstellation, um eine erheblich erhöhte kriminelle Energie des Täters in Hinblick auf den Handlungsunwert des Täters zu begründen. Das erscheint vor dem Hintergrund angezeigt, dass es bereits von hinreichend erhöhter krimineller Energie zeugt, wenn sich ein Täter nur deswegen einen Aufenthaltstitel verschafft, um gezielt unter dem Deckmantel dieses legitimen Aufenthaltsgrundes Straftaten im Gastland zu verüben. Je nach Grad des räumlich-zeitlichen Zusammenhangs zwischen Beantragung des Aufenthaltstitels und Ausführung der Straftaten ist dann an eine rechtliche Würdigung bei der Schuld i. R. d. Vortatverhaltens oder in Ausnahmefällen schon hinsichtlich des Verhaltens bei der Tatbestandsverwirklichung zu denken.111 Der zweite mögliche Anknüpfungspunkt zielt auf die generalpräventiven Aspekte der Fallgruppe ab. Der BGH hält grds. daran fest, dass der Gedanke der Generalprävention zu einer Strafschärfung im Einzelfall führen kann, soweit die Voraussetzungen an eine zulässige präventive Erwägung erfüllt sind.112 Das gilt vornehmlich für die negative Variante der Generalprävention.113 Für den Fall, dass das Gericht eine gemeinschaftsgefährliche Zunahme von bestimmten Straften von Asylbewerbern festgestellt hat, die im Zusammenhang mit organisierter Kriminalität oder Nationalitätenkonflikten stehen, und die Strafschärfung im konkreten Fall dazu geeignet erscheint, 110  Für diesen Fall müsste allerdings eine fehlerhafte Doppelverwertung von Umständen besorgt werden, vgl. etwa § 95 AufenthG I Nr. 5. Der BGH schweigt sich diesbezüglich jedoch aus. 111  Vgl. Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 603. 112  Vgl. zu den einzelnen Voraussetzungen Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 839 ff. 113  Vgl. Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 843  f., 847.



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eine abschreckende Wirkung gegenüber dieser Tätergruppe zu entfalten114, dürfte dem Grunde nach davon ausgegangen werden können, dass eine solche Erwägung im Einzelfall auch zulässig sein kann, um etwa der Gefahr von Nachahmungstaten usw. entgegen zu wirken.115 Diesbezüglich ergeben sich jedoch zahlreiche Zweifelsfragen. Zunächst müsste das Tatgericht anhand empirischer Erkenntnisse den Anstieg bestimmter Straftaten in diesem Kontext nachweisen.116 Ein solcher Nachweis scheitert in praxi häufig schon an den nicht vorhandenen Daten.117 Insofern musste schon bei der Darstellung der Rechtsprechungslinie zu den generalpräventiven Fallkonstellationen auf die Probleme mit den verfügbaren empirischen Daten hingewiesen werden.118 Ebenso wenig kann etwa die tatrichterliche Beobachtung einer bestimmten Kriminalitätsentwicklung (bspw. im eigenen Landgerichtsbezirk o. ä.) für sich genommen als Begründung für die Zunahme bestimmter Straftaten hinreichen.119 Insofern dürfte eine solche Würdigung der tatsächlichen Gegebenheiten häufig an den vom Tatgericht zu bewerkstelligenden Erhebungen scheitern. Daneben bestehen auch erhebliche Zweifel an der generalpräventiven Ansprechbarkeit großer Teile dieser Tätergruppen. Das wirkt sich auf die Begründungserfordernisse hinsichtlich der Geeignetheit eines Urteils zur Abschreckung aus. Dass nach wie vor nur wenig empirisches Material zur Wirkungsweise der Generalprävention vorliegt, nährt die Zweifel an der grds. Opportunität dieses Strafzwecks.120 Darauf wird später noch zurückzukommen sein.121 In der Gesamtschau gilt es jedoch in Bezug auf alle möglichen Ansatzpunkte einer rechtlichen und tatsächlichen Würdigung der Fallgruppe klarzustellen, dass sie sich weder auf die Ausländer- noch auf die Asylbewerbereigenschaft beziehen. Das konnte soeben durch die Zuordnung der relevanten Umstände zu den Schuld- und Präventionsmerkmalen verdeutlicht werden. Sie knüpfen auch nicht an einen pauschalen Missbrauch eines Gastrechts an, sondern etwa an die besondere kriminelle Energie des Täterverhaltens bei der Tat. Vor diesem Hintergrund erscheint eine Neuordnung Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 841. Effekt ist allerdings höchst umstritten, vgl. schon Bruns, Das Recht der Strafzumessung, S. 100 m. w. N.; Fischer, StGB, § 46, Rn. 12 deutet an, dass die negative Spezialprävention seit den 1980er Jahren wieder stärker von der Rspr. hervorgehoben wird. 116  Dieses Erfordernis ist umstritten, nach hier vertretener Ansicht jedoch indisponibel. Vgl dazu näher unten, Teil 5, B., III., 2. 117  Vgl. zu den erfassungstechnischen Problemen schon oben, Teil 3, A. 118  Vgl. Teil 4, B., III. 119  Vgl. OLG Hamburg, in: StV 2000, 353 f. (353). 120  Vgl. dazu näher Zipf, in: Maurach/Zipf, AT  2, § 63, Rn. 90 ff. 121  Vgl. unten, III., 2. 114  Vgl.

115  Dieser

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dieser Rechtsprechungslinie entsprechend den oben angestellten Vorgaben angezeigt. Das bedeutet eine Aufteilung der Erwägung in eine die Schuldgewichtung betreffende Konstellation und eine solche, die generalpräventive Erfordernisse bedient. b) 2. Fallgruppe Wenig aussagekräftig erscheint auch die zweite vom BGH formulierte Fallgruppe, insbesondere vor dem Hintergrund, dass der Bundesgerichtshof nicht näher ausführt, was er unter die Fälle fassen möchte, bei denen der Ausländer besondere Vorteile missbraucht oder erschleicht, die ihm mit Rücksicht auf seinen Status gewährt werden.122 In der Literatur wird die praktische Relevanz der Fallgruppe für solche Fälle angenommen, bei denen ein Asylbewerber, der vor einer sofortigen Ausweisung in einer Kirche Zuflucht gefunden hat, dann dort einen Diebstahl o. ä. begeht.123 Dieses Beispiel ist allerdings von äußerst marginaler praktischer Relevanz. Für eine rechtliche Würdigung der Fallgruppe bieten sich m. E. zwei grundsätzliche Ansatzpunkte, da die Fallgruppe vom BGH mit einer Missbrauchs- und einer Erschleichungsvariante konzipiert wurden. In Hinblick auf die Missbrauchsvariante müssen zunächst die Fälle ausgeschieden werden, bei denen der Missbrauch von bestimmten Vorteilen bereits eine andere Strafbarkeit begründet oder schärft. Andernfalls würde sich auch hier das Problem der Doppelverwertung von Umständen i. S. v. § 46 III StGB stellen. Für alle anderen Konstellationen kommt wiederum prinzipiell eine Erhöhung des Handlungsunrechts und damit der Schuld in Betracht, etwa in Hinblick auf die Beweggründe und Ziele, die Gesinnung, die aus der Tat spricht, der aufgewendete Wille oder das Maß der Pflichtwidrigkeit, soweit der Asylbewerber bestimmte finanzielle Mittel missbraucht, die zweckgebunden sind (vgl. bspw. § 3 AsylbLG). Entscheidend ist, ob sich durch den Missbrauch der Zuwendungen das Maß der Vorwerfbarkeit des Tatverhaltens bzw. des Vor- oder Nachtatverhaltens erhöht. Damit zeigt sich allerdings bereits an dieser Stelle, dass der Rückgriff auf die Ausländer- bzw. Asylbewerbereigenschaft auch bei dieser Fallkonstellation grds. nicht notwendig ist. Neben dem eher abwegigen Literaturbeispiel könnten bei dieser Fallgruppe solche Konstellationen in Betracht kommen, bei denen der Asylbewerber Zuwendungen (etwa nach dem AsylbLG) in strafbarer Weise missbraucht, um terroristische, verfassungswidrige oder kriminelle Vereinigungen zu unterstützen. 122  I. d. S.  auch schon Joerden/Weinreich, in: Wolf (Hrsg.), Kriminalität im Grenzgebiet 3, S. 1 ff. (6). 123  Vgl. Joerden/Weinreich, in: Wolf (Hrsg.), Kriminalität im Grenzgebiet 3, ebenda.



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Bezüglich der Variante des Erschleichens von besonderen Vorteilen ergeben sich bzgl. der rechtlichen Würdigung die gleichen Ansatzpunkte wie bei der Missbrauchsvariante. Dabei kann eine Erhöhung der Schuld in Betracht kommen. Allerdings dürfte hier ein Verstoß gegen das Doppelverwertungsverbot weitaus häufiger zu besorgen sein als bei der Missbrauchsvariante, soweit schon das Erschleichen der Leistung bspw. nach dem AsylbLG eine Strafbarkeit (etwa nach § 263 I StGB) begründen würde. In der Gesamtschau erscheint die Fallgruppe wegen des Erfordernisses eines strafbaren Missbrauchs oder Erschleichens, der mit gewisser Regelmäßigkeit als ein die Strafe schärfender oder begründender Umstand i. S. v. § 46 III StGB auftreten dürfte, als höchst problematisch. Daneben ist der personelle Anwendungsbereich der Fallgruppe spezifisch auf Asylbewerber zugeschnitten. Aufgrund des Ausländerstatus per se erscheint eine Zuwendung von besonderen Vorteilen in einem formellen Sinne praktisch ausgeschlossen zu sein. Ein Festhalten an dieser Fallgruppe erscheint nach alledem weder sinnvoll noch angezeigt. c) 3. Fallgruppe Erhebliche Bedenken in Hinblick auf eine fehlerhafte Doppelverwertung von Umständen lässt auch die dritte Fallgruppe besorgen.124 Soweit der BGH im Rahmen dieser Fallgruppe einen strafschärfenden Umstand gerade darin sehen will, dass ein Ausländer einem Beamten falsche Angaben bei der Asylantragsstellung macht, würde man einen Umstand, der schon Teil  des tatbestandlich vertypten Unrechts des § 271 StGB ist, erneut in unzulässiger Weise bei der Strafzumessung berücksichtigen.125 Insofern ist das Normbeispiel des BGH für diese Fallgruppe grds. ungeeignet und führt insoweit die Fallgruppe ad absurdum. Eine andere Beurteilung könnte sich unter generalpräventiven Gesichtspunkten ergeben. Sollte eine besorgniserregende Zunahme von bestimmten Straftaten in diesem Kontext kriminologisch abgestützt festgestellt werden, könnten generalpräventive Erwägungen geeignet und erforderlich erscheinen, eine Strafschärfung im Einzelfall zu begründen. Dabei wäre insbes. an die sog. spezielle Generalprävention126 zu denken, soweit gerade der Personenkreis von Tatgeneigten angesprochen werden soll, die typischerweise Straftaten im Zusammenhang mit Asylantragsstellung u. ä. begehen. 124  So auch bei Joerden/Weinreich, in: Wolf (Hrsg.), Kriminalität im Grenzgebiet 3, S. 1 ff. (7). 125  Vgl. auch Joerden/Weinreich, in: Wolf (Hrsg.), Kriminalität im Grenzgebiet 3, ebenda. 126  Vgl. zum Begriff etwa Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 22 ff.

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Dagegen bestehen allerdings erhebliche Bedenken hinsichtlich der präventiven Ansprechbarkeit von Asylbewerbern, die sich erst seit kurzem im Gebiet der Bundesrepublik aufhalten und sich noch nicht mit dem hiesigen Rechtssystem vertraut gemachen haben. Die Möglichkeiten der Verstärkung einer präventiven Ansprechbarkeit sind indessen limitiert. Zu denken wäre jedoch an eine bessere Aufklärung der Asylbewerber in Hinblick auf etwaige rechtliche Konsequenzen bei einem entsprechenden Fehlverhalten durch die zuständigen Behörden. In der Gesamtschau scheint ein Festhalten an der Fallgruppe aufgrund der zahlreichen Bedenken bzgl. der Konzeption dieses Strafzumessungsumstandes nicht angezeigt. Sollte die Rechtsprechung dennoch daran festhalten, ergibt sich der schuldgewichtige Zusammenhang auch hier nicht durch die Ausländereigenschaft oder die Asylbewerberstellung, sondern durch die besonderen Tatmodalitäten, welche im Rahmen des Handlungsunwerts des Täterverhaltens zu berücksichtigen wären. In diesem Fall ist der Rechtsprechung nahezulegen, das Merkmal des unmittelbaren Zusammenhangs mit der Inanspruchnahme des Gastrechts zu konkretisieren. d) 4. Fallgruppe Vor dem Hintergrund der jüngeren welt- und binnenpolitischen Entwicklungen127 dürfte die letzte Fallgruppe von besonderem Interesse sein. Nach Ansicht des BGH ist es zulässig, den Umstand strafschärfend zu berücksichtigen, dass der Täter das Gastrecht missbraucht hat, um eine Straftat zu begehen, die sich gegen die Bundesrepublik Deutschland oder ihre innere Sicherheit richtet. Damit zielen schon die beschriebenen Handlungsmodalitäten der Fallgruppe auf solche Täter ab, die entweder Terroristen oder Personen aus dem Milieu der organisierten Kriminalität sind, weil bei diesen Tätergruppen davon ausgegangen werden kann, dass sie sowohl dazu gewillt als auch in der Lage sein können, eine Straftat in diesem Sinne zu begehen. Im Rahmen dieser Überlegungen rückt die Rechtsprechungslinie allerdings auch in die gedankliche Nähe zum Feindstrafrecht, weil sich die damit angesprochenen Personen als „Feind“ des Rechtsstaats i. S. d. Konzeption des Feindstrafrechts begreifen lassen können.128 127  Das betrifft etwa die Flüchtlingswellen aus dem Nahen Osten (insbes. Syrien) sowie die terroristische Bedrohung Europas durch den IS und seine sog. Rückkehrer. Allein 180 dieser Personen befanden sich im Januar 2015 wieder im Bundesgebiet. Daneben wird die Zahl der sog. „Gefährder“ auf etwa 260 Personen geschätzt, vgl. http://www.welt.de/politik/deutschland/article136493969/Warum-sich-Terroristen-soschwer-ueberwachen-lassen.html (15.01.2015). 128  Vgl. zu den Merkmalen von Feind und Feindstrafrecht im Sinne Jakobs, etwa Scheffler, in: FS für Schwind, S. 123 ff. (124).



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Abseits dessen besteht auch bei dieser Fallgruppe die Gefahr einer fehlerhaften Doppelverwertung von Umständen, die schon in Merkmalen eines gesetzlich vertypten Unrechts enthalten sind.129 Das betrifft zahlreiche Tatbestände der ersten zehn Abschnitte des StGB. Daneben sind jedoch auch Konstellationen denkbar, bei deren Vorliegen eine Strafschärfung unter Schuldgesichtspunkten plausibel erscheinen würde. Das könnte etwa bei Hackerangriffen auf Ministerien u. ä. Einrichtungen der Fall sein, aber auch bei Tötungen von Politikern und anderen Staatsvertretern bzw. bei Angriffen auf Behörden, Ministerien usw. Bei diesen Beispielen dürfte der Umstand, dass sich die Straftat eben auch gegen die Bundesrepublik oder ihre Sicherheit richtet, häufig nicht vom gesetzlich vertypten Unrecht erfasst sein. Insofern könnte der Fallgruppe unter Schuldgesichtspunkten in einem vergleichsweise engen Anwendungsfeld Bedeutung zukommen. Eine rechtliche Würdigung würde i. d. R. etwa darauf abzielen können, dass der Täter höhere Schuld auf sich geladen hat, weil er durch die Verwirklichung einer besonders schwerwiegenden außertatbestandlichen Folge – der Gefährdung der Bundesrepublik – einen höheren Erfolgsunwert verschuldet hat. Probleme können sich dann aber wiederum in Hinblick auf den von der Norm erfassten Schutzbereich bzgl. der noch erfassten Tatfolgen ergeben.130 Das muss im jeweiligen Einzelfall dann vom Tatgericht geprüft werden.131 Denkbar erscheint auch eine rechtliche Würdigung der Fallgruppe unter generalpräventiven Aspekten. Es gelten diesbezüglich die bei den anderen Fallgruppen bereits aufgezeigten Voraussetzungen hinsichtlich der Geeignetheit und Erforderlichkeit. Für diesen Fall kann dann aber kaum ein schuldgewichtiger Bezug hergestellt werden, soweit die herangezogenen Tatsachen schon den Umstand der Generalprävention ausfüllen sollen. Allerdings könnte gerade in diesem Bereich ein in Zukunft wichtiger Ansatzpunkt für generalpräventive Erwägungen liegen, soweit an die eingangs beschriebenen Szenarien zu erinnern ist. Dabei muss allerdings gefragt werden, ob es dem Tatrichter überlassen werden kann und darf, eine Entscheidung zu treffen, die grds. dem Gesetzgeber obliegen sollte, nämlich Personen härter zu bestrafen, die Straftaten mit dem Ziel begehen, den Staat als solchen empfindlich zu schädigen; der „Feind“ im Sinne der Jakobschen Diktion also. Die systematische Analyse der Fallgruppe zeigt auch hier, dass die Ausländer- bzw. Asylbewerbereigenschaft keinen unmittelbaren Einfluss auf die rechtliche Würdigung zeitigen kann. Ihr kommt auch in diesem Rahmen lediglich eine Art Indizfunktion hinsichtlich solcher Täter oder Tätergruppen 129  I. d. S. schon So auch bei Joerden/Weinreich, in: Wolf (Hrsg.), Kriminalität im Grenzgebiet 3, S. 1 ff. (7). 130  Vgl. Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 598. 131  Vgl. Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, ebenda.

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Teil 5: Perspektiven einer systematisch-dogmatischen Behandlung

zu, die aufgrund ihrer Herkunft u. U. eine erhöhte Wahrscheinlichkeit aufweisen, einer bestimmten terroristischen Vereinigung o. ä. zuzugehören oder nahezustehen. Ob das für sich genommen bereits die Tatsache rechtfertigt, den Ausländerbegriff in die Fallgruppe expressis verbis aufzunehmen, darf bezweifelt werden. Sinnvoller erscheint es dagegen, solche Wahrscheinlichkeiten, entsprechend der oben angestellten Vorschläge zur Ermittlung von Strafzumessungstatsachen, vergleichend zu würdigen.132 Das bedeutet, dass es grds. genügt, wenn der Tatrichter bei Tätern einer bestimmten Herkunft – wobei hier nicht nur auf die geographische Herkunft, sondern auch auf die sozialen Bezüge usw. abgestellt werden muss133 – angehalten sein sollte, bestimmte Tatsachen diesbezüglich für den Strafzumessungssachverhalt zu erheben. Eine, wie vom BGH geforderte, schuldgewichtige Prägung der Tat durch die Ausländereigenschaft ist nach alledem jedenfalls kaum mehr als richterrechtliche Makulatur. e) Zusammenfassung In der Gesamtschau ist die Ausländer- bzw. Asylbewerbereigenschaft für die gesamte Rechtsprechungslinie von lediglich marginaler Bedeutung. Daran konnten auch die Konkretisierungsversuche des BGH durch die Entwicklung der Fallgruppen nichts ändern. Das Vorhaben, damit Beispielskonstellationen auszuformen, bei denen die Ausländereigenschaft einen schuldgewichtigen Bezug hinsichtlich eines Missbrauchs des Gastrechts aufweist, ist nach alledem gescheitert. Die Würdigung der Fallgruppen unter rechtlichen Gesichtspunkten konnte dagegen die eigentlichen strafzumessungsrechtlichen Ansatzpunkte offenlegen. Insofern hat sich jedenfalls teilweise der Eindruck aus der Analyse der Rechtsprechungsgenese bestätigt, dass vor allem generalpräventive Gesichtspunkte bei allen Fallgruppen eine gewissermaßen präpotente Rolle spielen. Das gilt insbes. für die Fallgruppen 1 und 4. Die einer schuldorientierten Betrachtung zugänglichen Gesichtspunkte knüpfen dagegen vorwiegend an das Handlungsunrecht bzgl. der Vorwerfbarkeit des Täterverhaltens an. Lediglich bei der letzten Fallgruppe erscheint ein schuldgewichtiger Bezug auch in Hinblick auf das Erfolgsunrecht denkbar. Der Ausländereigenschaft kann damit vor allem eine Indizfunktion hinsichtlich der Ermittlung bestimmter, ggf. spezifischer Tatsachen und Umstände zukommen. Vergleichbares gilt für die Relevanz von fremdkulturellen Wertvorstellungen i. R. d. Rechtsprechungslinie. Analog zu dem zur Ausländereigenschaft 132  Vgl.

oben, Teil 3, B. insofern relevante „Profil“ müsste zunächst anhand von Vergleichsfällen erstellt werden, vgl. dazu unten, Teil 3, B. 133  Das



B. Behandlung fremdkultureller Wertvorstellungen in der Strafzumessung

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Gesagten können bestimmte fremdkulturelle Eigenheiten des Einzelfalles ein Indiz für die Notwendigkeit einer Erhebung von bestimmten Tatsachen und Umständen liefern. Eine weniger marginalisierte Bedeutung können fremdkulturelle Wertvorstellungen u. U. jedoch bei der ersten Fallgruppe aufweisen. Soweit Nationalitätenkonflikte auch Ausdruck bestimmter Wertvorstellungen des Täters bzw. einer Tätergruppe sind, kann es sich als zweckmäßig erweisen, hierauf bei den Strafzumessungsgründen zurückzukommen. Denn dann können fremdkulturelle Wertvorstellungen bei den Erwägungen zur Schuld eine Rolle spielen, etwa bei den Beweggründen und Zielen, der Gesinnung, die aus der Tat spricht oder bei dem bei der Tat aufgewendeten Willen i. S. v. § 46 II 2 StGB. In diesen Fällen erscheint eine Strafschärfung unter Schuldgesichtspunkten dann plausibel, wenn die fremdkulturellen Wertvorstellungen in Hinblick auf die Motivation des Täters zu einer erhöhten Vorwerfbarkeit des Täterhandelns geführt haben. Soweit schon die einzelnen Fallgruppen bereits konkrete Ansatzpunkte hinsichtlich rechtlich zu würdigender Schuldmodalitäten aufweisen, stellt sich die Frage, inwiefern es noch der Konzeption bedarf, die Fallgruppen innerhalb der Erwägung des Missbrauchs eines Gastrechts durch Ausländer bzw. Asylbewerber einzubetten. Eine juristisch plausible Erklärung lässt sich dafür nicht aufbringen. Auch vor dem Hintergrund, dass die strafschärfende Erwägung eines Missbrauchs des Gastrechts auf die Entscheidung des OLG Celle aus dem Jahr 1953134 zurückgeht, empfiehlt es sich, die Rechtsprechungslinie in dieser Form aufzugeben und an den vom BGH entwickelten Fallgruppen neu auszurichten. Im Vergleich zur Rechtslage von 1953 existiert heute eine weitaus breitere Regelungsmaterie bzgl. der Aufenthalts- und Asylrechte von Ausländern. Insofern ist der pauschale Verweis auf ein Gastrecht, der in den 1950er Jahren noch eine gewisse Plausibilität aufwies, in Anbetracht der Rechtsentwicklung heute nur noch historisch. Es kann den Gerichten daher nur die Empfehlung ausgesprochen werden, darauf aus rechtlichen und tatsächlichen Gründen zu verzichten. Im Übrigen konnte gezeigt werden, dass diesbezüglich den Fallgruppen 1 und 4 bei der Neuausrichtung wesentliche Bedeutung zukommen dürfte. Die Fallgruppen 2 und 3 erscheinen dagegen aus den oben genannten Gründen verzichtbar. Abschließend bleibt für den Fall einer Neuausrichtung der Rechtsprechungslinie darauf hinzuweisen, dass die Rechtsprechung angehalten sein sollte, schuldorientierte Gesichtspunkte deutlich von generalpräventiven Gesichtspunkten zu scheiden.

134  Vgl.

dazu oben Teil 3, A., I. 3.

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Teil 5: Perspektiven einer systematisch-dogmatischen Behandlung

III. Zur Strafschärfung aufgrund generalpräventiver Erfordernisse 1. Die Ansicht der Rechtsprechung Auf die Schwierigkeiten, die Position der Rechtsprechung in Hinblick auf die Anwendbarkeit strafschärfender generalpräventiver Erwägungen bei Fällen mit fremdkulturellem Bezug auszumachen, wurde bereits bei der Analyse der Rechtsprechungsgenese hingewiesen.135 Insofern muss auch an dieser Stelle davon abgesehen werden, eine einheitliche Position der Rechtsprechung diesbezüglich darzustellen. 2. Ausgewählte Problemfragen bei der Heranziehung generalpräventiver Gesichtspunkte a) Vorbemerkungen Unabhängig von diesem Befund, dessen vorwiegend tatsächliche Ursachen bereits im Wesentlichen dargelegt wurden,136 sollen an dieser Stelle die rechtlich orientierten Problemlagen generalpräventiver Erwägungen im Kontext zu fremdkulturellen Fallkonstellationen im Fokus stehen. b) Anforderungen an eine tatsächliche und rechtliche Würdigung von generalpräventiven Erwägungen Der erste wichtige Gesichtspunkt hängt auch bei dieser Rechtsprechungslinie mit dem Problem der rechtlichen Würdigung von Strafzumessungserwägungen zusammen. Zwar handelt es sich bei der Generalprävention nach Ansicht der Rechtsprechung grds. um einen zulässigen Strafzweck.137 Um praktische strafzumessungsrechtliche Relevanz zu entfalten, muss sich dieser Strafzweck freilich auch konkret an bestimmten Eigenheiten des Einzelfalls ausrichten lassen. Insofern muss sich die Begründungspflicht des Tatgerichts auch auf Erwägungen zu den Strafzwecken beziehen, soweit das Gericht ihnen bei der Strafmaßfindung Bedeutung beigemessen hat.138 Das 135  Vgl.

oben, Teil  4, B., III., 7. oben, Teil 4, ebenda. 137  Vgl. Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 544. 138  Insoweit ist umstritten, wie weit der Regelungsgehalt des § 267 III StPO reicht. Soweit das Gericht jedoch innerhalb der schuldangemessenen Strafe aus präventiven Gründen eine Strafschärfung erwägt, ist es in praxi üblich, diesbezüglich auch in den Urteilsgründen Ausführungen anzustellen. Insofern lässt es sich gut 136  Vgl.



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bedeutet, dass der Tatrichter etwa bei der Geeignetheit prüfen muss, ob gerade dieser konkret zu entscheidende Fall geeignet erscheint, eine abschreckende Wirkung gegenüber potentiell geneigten Tätern zu entfalten. Diesbezüglich scheint große Unsicherheit sowohl bei den Gerichten als auch in der Literatur zu herrschen. Die tatgerichtlichen Erwägungen bieten dem Revisionsführer daher häufig zahlreiche Möglichkeiten, gegen die generalpräventiven Gesichtspunkte in den Urteilsgründen vorzugehen, weil die rechtlichen und tatsächlichen Voraussetzungen einer solchen Erwägung nicht beachtet werden.139 In keinem einzigen i. R. d. Untersuchung gesichteten Urteil wurde seitens eines Tatgerichts hinreichend deutlich gemacht, ob die angestellte Erwägung überhaupt die Grundvoraussetzungen an eine generalpräventive Erwägung erfüllt. Stattdessen werden Fragen der positiven und negativen Generalprävention vermischt sowie Behauptungen in Hinblick auf generalpräventive Bedürfnisse aufgestellt, die tatsächlich nicht abgestützt werden (etwa die Behauptung einer allgemein bekannten Zunahme bestimmter Delikte). Einer der häufigsten Fehler in diesem Kontext ist der Versuch, eine auf abschreckende Wirkung gerichtete Erwägung (also die negative Generalprävention betreffend) mit Gesichtspunkten der Verteidigung der Rechtsordnung (also die positive Generalprävention betreffend) zu begründen.140 Ein Fehler, der auch in der Literatur zur Sache zu finden ist.141 Es wurde zwar bereits erwähnt, dass das Erfordernis einer Pflicht zur Darstellung der rechtlichen Würdigung von Strafzumessungserwägungen im Urteil umstritten ist.142 Bei generalpräventiven Erwägungen besteht jedoch die Besonderheit, dass sich die tatsächlich notwendigen Begründungserfordernisse selten isoliert von der rechtlichen Würdigung darstellen lassen.143 So weist bspw. die Erwägung, dass „Delikte der vorliegenden Art in jüngerer Zeit in einem erschreckenden Maße überhand genommen haben“,144 sowohl tatsächliche als auch rechtlich relevante Gesichtspunkte einer negativ generalpräventiven Erwägung auf. Das betrifft in diesem Beispiel in vertreten, von den bestimmenden Strafzumessungserwägungen i. S. v. § 267 III StPO zu sprechen, anstatt ausschließlich auf die bestimmenden Umstände abzustellen, vgl. dazu etwa Velten, in: SK-StPO, § 267, Rn. 46. 139  Vgl. grundlegend zu den Verteidigungsmöglichkeiten Schmidt, Verteidigung von Ausländern, Rn.  235 ff. 140  Vgl. zu den Voraussetzungen etwa Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 839 ff., 846. 141  Vgl. etwa bei Joerden/Weinreich, in: Wolf (Hrsg.), Kriminalität im Grenzgebiet 3, S. 1 ff. (9), richtig dagegen bei Valerius, Kultur und Strafrecht, S 306. 142  Vgl. nochmals Velten, in: SK-StPO, § 267, Rn. 46 ff. 143  I. d. S.  etwa Zipf, in: Maurach/Zipf, AT  2, § 63, Rn. 93. 144  Vgl. OLG Hamburg, in: StV 2000, S. 353 f. (353); siehe auch oben, Teil 4, B., III., 6.

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Teil 5: Perspektiven einer systematisch-dogmatischen Behandlung

tatsächlicher Hinsicht zunächst die Darstellung eines bestimmten Kriminalitätsphänomens und in rechtlicher Hinsicht die Frage der Erforderlichkeit. c) Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit von empirisch abgestützten Begründungen Soweit in diesem Rahmen von Tatgerichten auf etwaige kriminologische Sachzusammenhänge oder Phänomene verwiesen wird, muss entsprechend den Vorgaben der Entscheidung des OLG Hamburg145 darauf geachtet werden, diese auch empirisch abzustützen. Wenngleich dieses Erfordernis umstritten ist,146 erscheint es vor dem Hintergrund der Einhaltung rechtsstaatlicher Grundprinzipien im Strafverfahren unerlässlich.147 Auf die methodischen Problemlagen hinsichtlich der Bedürfnisse strafzumessungsrechtlicher Fragestellungen einerseits und den statistischen Erfassungskriterien andererseits, wurde bereits oben ausführlich hingewiesen.148 In diesem Zusammenhang ist vor der Praxis zu warnen, die Erforderlichkeit generalprä­ventiver Erwägungen damit zu begründen, dass bestimmte Taten doch „offenkundig“ zugenommen hätten.149 Unabhängig davon, dass eine solche Begründung ohnehin auf der irrigen Annahme beruht, dass auch eine offenkundige Zunahme nicht bereits durch statistisches Material belegt wurde, ist es nur konsequent, den empirischen Nachweis auch in diesem Zusammenhang vom Tatgericht einzufordern. Dabei können Tatgerichte auch auf regionale Untersuchungen zu bestimmten Kriminalitätsentwicklungen zurückgreifen, soweit Bedarf besteht. Würde sich diese Vorgehensweise in der Praxis durchsetzen, würde auch den Gegnern generalpräventiver Erwägungen bei der Strafzumessung ein wesentlicher Kritikpunkt – die faktisch willkürliche Benachteiligung von bestimmten Personengruppen150 – abhandenkommen, weil man sich bei der Begründung auf eine wissenschaftliche Basis zurückziehen kann.

145  Vgl.

nochmals OLG Hamburg, in: StV 2000, ebenda. Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 844. 147  Das betrifft zuvörderst die in §§ 250 ff. geregelte Prozessmaxime der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme, vgl. etwa Beulke, in: JA 2008, S. 758 ff. (758). 148  Vgl. oben Teil 3, A. 149  So bei Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, ebenda. Die dort angeführten Beispiele von Straftaten, die offenkundig zugenommen hätten, sind auch nur deshalb als solche bekannt, weil deren Zunahme statistisch nachgewiesen ist, etwa durch den Verfassungsschutzbericht, die PKS, den PSB oder lokale Untersuchungen. 150  Vgl. dazu etwa Valerius, Kultur und Strafrecht, S. 307. 146  Vgl.



B. Behandlung fremdkultureller Wertvorstellungen in der Strafzumessung

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d) Zur negativen Generalprävention bei fremdkulturell geprägten Tätern Eine Frage, die auch für die Fallgruppen der Rechtsprechungslinie des Missbrauchs des Gastrechts durch Ausländer bzw. Asylbewerber relevant wird, soweit es um deren generalpräventive Belange geht, betrifft die besonderen Bedingungen und Hindernisgründe einer möglichen generalpräventiven Ansprechbarkeit fremdkulturell geprägter Täter. Die Begründungserfordernisse an eine, auf die Allgemeinabschreckung (negative Generalprävention) gestützte strafschärfende Erwägung sind schon grds. umstritten, und ein beachtlicher Teil der Literaturmeinungen geht sogar von einer allgemeinen Unzulässigkeit negativ generalpräventiv begründeter Strafschärfungen aus.151 Die Problematik verschärft sich deutlich, wenn der Kreis der anzusprechenden potentiell Tatgeneigten aus Personen besteht, die die deutsche Rechtsordnung ohnehin ablehnen und / oder mit ihr nicht vertraut sind. Die Abschreckungswirkung eines Urteils wird jedoch spätestens dann ad absurdum geführt, wenn sie sich gegen potentielle Täter richten soll, die erst noch nach Deutschland einreisen müssen.152 Ihnen dürfte man ohnehin kaum abschreckend beikommen können, weil andere Motivationslagen ein potentielles Risiko in Zusammenhang mit einer Strafverfolgung häufig aufwiegen dürften. In diesem Bereich begegnen generalpräventive Erwägungen darüber hinaus den gleichen Bedenken, wie sie schon oben beim Missbrauch des Gastrechts z. T. moniert werden mussten.153 Es spricht damit einiges dafür, dass die Hoffnung, ein Strafurteil würde diese Personengruppen wirksam abschrecken, unbegründet sein könnte.154 In Extremfällen könnte sogar das Ziel der Normbestätigung des Strafrechts in Gefahr sein, wenn das deutsche Strafrecht bei Fragen der Legitimierung von bestimmten Strafen bei Tätern versagt, die in keiner Weise generalpräventiv (und wohl auch häufig spezialpräventiv) ansprechbar sind und darüber hinaus den

151  Vgl. etwa Zipf, in: Maurach/Gössel/Zipf, AT  2, § 63, Rn. 96; Schäfer/Sander/ van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 808, 845; Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn.  544 m. w. N. 152  Das bedeutet allerdings auch, dass eine pauschale Scheidung in Hinblick auf die generalpräventive Ansprechbarkeit von Tätergruppen in Ausländer, Deutsche usw. fehl geht, weil es auch zahlreiche Ausländer gibt, die ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland genommen haben und durchaus mit dem Rechtssystem vertraut sein können. Die konstatierten Probleme im Zusammenhang mit der Abschreckungswirkung von Urteilen dürften demnach vor allem für den geographisch Fremden, den häufig fremdkulturell geprägten Täter, relevant werden. 153  Vgl. oben, II., 2., a), d). 154  I. d. S.  etwa Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 732.

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deutschen Strafvollzug als wenig belastend empfinden.155 Ob dem durch das Verhängen (sehr) hoher Strafen wirksam entgegnet werden kann, darf wie gesagt bezweifelt werden. In diesem Zusammenhang wird auch zu Recht auf das Problem der zu geringen Aufklärungsquoten hingewiesen.156 Die Erfolgsaussichten negativ generalpräventiv begründeter Strafschärfungen sehen sich nach alledem erheblichen Zweifeln ausgesetzt.157 Diese Zweifel sind – wie sich zeigt – bei bestimmten Tätergruppen fremdkultureller Provenienz darüber hinaus deutlich erhöht. Eine abschließende Bewertung dieser Frage wird jedoch durch den Mangel an empirischen Untersuchungen zur Wirkung der Generalprävention massiv erschwert.158 Es erscheint nach alledem jedenfalls angezeigt, den Tatgerichten zu empfehlen, eine erhebliche Strafschärfung, insbes. in Bezug auf fremdkulturell geprägte Täter, nicht auf eine negativ generalpräventive Erwägung zu stützen. Das gilt erst recht vor dem Hintergrund der Begrenzung des Präventionseinsatzes durch das Schuldprinzip.159 e) Die Problemlagen bei der positiven Generalprävention Etwas anderes könnte sich jedoch in Hinblick auf die positive Generalprävention ergeben. Im Gegensatz zur Allgemeinabschreckung ist das Ziel der positiven Generalprävention die Normbestätigung bzw. -bekräftigung.160 Damit zielt eine hierauf gestützte Erwägung grds. nicht auf das Ansprechen einer bestimmten Tätergruppe ab, sondern ist gleichsam Ausdruck besonderer kollektiver Missachtung einer Straftat, welche eine Gefahr für den Bestand der sozialen Ordnung sowie der Aufrechterhaltung der Rechtstreue der Bevölkerung darstellt.161 Die positive Generalprävention findet auch im Gegensatz zur negativen Variante gesetzlichen Rückhalt in den §§ 47 I, 56 III, 59 I Nr. 3 StGB, wenn der Gesetzgeber dort die Verteidigung der 155  Siehe dazu etwa Streng, Strafrechtliche Sanktionen, ebenda; siehe auch Joerden/Weinreich, in: Wolf (Hrsg.), Kriminalität im Grenzgebiet 3, S. 1 ff. (10). 156  Vgl. Streng, Strafrechtliche Sanktionen, ebenda. 157  Vgl. Streng, Strafrechtliche Sanktionen, ebenda. 158  Vgl. zum Forschungsstand in dieser Sache etwa Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 58 ff. m. w. N., 544. Eine eigenständige Untersuchung zur Abschreckungswirkung von Strafurteilen auf Ausländer existiert – soweit ersichtlich – nicht. 159  Vgl. Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 544. 160  Vgl. Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 545; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 846; Meier, Strafrechtliche Sanktionen, S. 194. 161  Das ist eine mögliche Perspektive. Der Mangel einer empirischen Theorie zur Generalprävention führt hinsichtlich der Funktionen generalpräventiver Erwägungen kaum über Hypothesenbildungen hinaus, vgl. etwa Albrecht, in: Kleines Kriminologisches Wörterbuch, Artikel Generalprävention, S. 157 ff. (158).



B. Behandlung fremdkultureller Wertvorstellungen in der Strafzumessung

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Rechtsordnung berücksichtigt wissen will.162 Allerdings lässt sich das Konzept der positiven Generalprävention durchaus unterschiedlich interpretieren. Eine Deutungsmöglichkeit besteht etwa darin, die Verteidigung der Rechtsordnung als eine Aufforderung zu verstehen, bei Bedarf rationale Korrekturen der Strafzumessung vorzunehmen, um eine allgemein als unterbewertet angesehene Norm mittels Ausschöpfung des Schuldschwererahmens nach oben hin aufzuwerten.163 Die damit verbundenen präventiven Einflüsse auf das Strafbedürfnis dürften allerdings häufig schon bei schuldgewichtigen Erwägungen berücksichtigt werden müssen.164 Insofern treffen sich in diesem Bereich bestimmte Fragen der positiven Generalprävention mit solchen der Schuldfrage. Abseits dessen leidet auch die positive Generalprävention in dieser Spielart unter einem – wenngleich weniger tiefgreifenden165 – Makel der empirischen Beweisbedürftigkeit. Insofern werden seit den 1960er Jahren in der kriminologischen Forschung Stimmen laut, die die Begründung der Notwendigkeit bestimmter Inhalte von Strafen mit der positiven Generalprävention ablehnen.166 Für die Tatgerichte dürfte sich in diesem Zusammenhang jedoch die Tatsache als maßgeblich erweisen, dass die positive Generalprävention im Gegensatz zur negativen Variante gesetzlich anerkannt und fixiert ist, und eine darauf beruhende Erwägung damit dogmatisch abgestützt werden kann. Insofern wird die Ansicht vertreten, dass schon die gesetzlichen Vorgaben die Berücksichtigung positiv generalpräventiver Erwägungen rechtfertigen.167 Denkbar erscheint es allerdings auch, die präventiven Strafbedürfnisse in diesem Zusammenhang nicht nur auf eine unterbewertete Norm zu reflektieren, sondern u. U. auch auf bestimmte Fallkonstellationen zu konzentrieren, die für sich betrachtet eine erhebliche Gefahr für den Bestand der sozialen Ordnung sowie den Erhalt der Rechtstreue der Bevölkerung darstellen könnten. Dabei würde im hier relevanten Kontext an solche Fallgestaltungen zu denken sein, die in Hinblick auf die Bedürfnisse der Verteidigung der Rechtsordnung von einem erheblichen Gewicht erscheinen, weil sie sich gegen die innere Ordnung und / oder Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland richten. Es könnte demnach etwa auf das Bedürfnis der Bevölkerung abgestellt Streng, Strafrechtliche Sanktionen, ebenda. Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 545. 164  I. d. S.  auch Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 546. 165  Würde man in diesem Zusammenhang ähnlich erhebliche Zweifel an der Wirkung spezialpräventiv begründeter Erwägungen gelten machen wie bei der negativen Generalprävention, würde man in finaler Konsequenz Gefahr laufen, die Wirksamkeit des gesamten Strafrechts in Frage zu stellen. 166  Vgl. Albrecht, in: Kleines Kriminologisches Wörterbuch, Artikel Generalprävention, S. 157 ff. (1163 f.). 167  I. d. S.  Streng, Strafrechtliche Sanktionen, ebenda. 162  Vgl. 163  Vgl.

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werden, diese elementaren Werte in besonderem Maße zu verteidigen, weil man mit guten Gründen davon ausgehen kann, dass die Mehrheit der Bevölkerung ein überdurchschnittlich hohes Interesse an der Verfolgung und Ahndung derart gravierender Straftaten hat. In diesem Zusammenhang wäre an solche Taten zu denken, wie sie oben beim Missbrauch des Gastrechts in der Fallgruppe 1 erfasst sind. Unter diesem Aspekt eines positiv generalpräventiven Verständnisses könnten strafschärfende Erwägungen auch widerspruchsfrei im Rahmen der schuldangemessenen Strafe akzentuiert werden. Eine Überschneidung mit schuldgewichtigen Erwägungen wäre derart nicht zu befürchten. Darüber hinaus spricht auch der Gesetzeswortlaut in den entsprechenden Vorschriften grds. nicht gegen eine solche Auslegung. Insgesamt weist die positive Generalprävention gegenüber der negativen Variante den Vorteil auf, dass sie hinreichend Raum für eine deliktsorientierte Betrachtung von strafschärfenden Erwägungen bietet, ohne dabei in fraglicher Art und Weise auf bestimmte Tätergruppen abzuzielen. Ein unzulässiges Abheben auf den Status des Täters als Ausländer oder Asylbewerber ist bei konsequenter Anwendung positiv generalpräventiver Vorgaben daher nicht zu befürchten. f) Das selektive Abzielen auf bestimmte ausländische Tätergruppen als unzulässiges Anknüpfen an die Ausländereigenschaft Eine weitere wichtige Frage in diesem Kontext betrifft den Vorwurf seitens der Literatur, dass die Rechtsprechung durch generalpräventive Erwägungen gegenüber ausländischen Tätern in unzulässiger Art und Weise an die Ausländereigenschaft anknüpft.168 Dass dieses Problem auch in praxi akut geworden ist, konnte durch die Fälle nachgewiesen werden, bei denen der BGH Entscheidungen von Tatgerichten kassierte, deren generalpräventive Erwägungen den Verdacht einer unzulässigen Berücksichtigung eines Missbrauchs des Gastrechts oder der Ausländereigenschaft besorgen ließen.169 Das hat in der Vergangenheit vor allem solche Fallkonstellationen betroffen, bei denen Tatgerichte versucht haben, insbes. gegen ausländische Drogenhändler hohe Strafen zu verhängen, indem sie ihnen – innerhalb einer generalpräventiven Erwägung – einen Missbrauch des Gastrechts170 oder das Verlagern des Drogenhandels in die Bundesrepublik171 vorgewor168  Vgl. etwa Joerden/Weinreich, in: Wolf (Hrsg.), Kriminalität im Grenzgebiet 3, S.  1 ff. (10 f.); Valerius, Kultur und Strafrecht, S. 307. 169  Vgl. dazu im Einzelnen oben in Teil 4, B., III., 2., 3., 5. 170  Vgl. etwa LG Traunstein, Urteil v. 07.06.1990  – 5Ks 200 Js 26432/89, dazu auch oben, Teil 4, B., III., 4. 171  Vgl. etwa BGH, in: MDR 1975, 195, dazu auch oben, Teil  4, B., III., 2.



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fen haben. Hinsichtlich solcher Erwägungen sollte seitens der Tatgerichte wiederum deutlich gemacht werden, ob schuldgewichtige oder generalpräventive Aspekte ausschlaggebend sind. Will man dem florierenden ausländischen Drogenhandel unter Abschreckungsgesichtspunkten entgegen wirken, sollte auf schuldgewichtige Aspekte wie bestimmte Formen des Missbrauchs des Gastrechts in der entsprechenden Erwägung verzichtet werden. Dann gilt aber freilich das bereits zu den Zweifeln hinsichtlich generalpräventiver Erwägungen in ihrer negativen Variante Gesagte. Nach dem bislang Dargelegten hat es sich jedenfalls als unnötig erwiesen, überhaupt auf die Ausländereigenschaft usw. bei generalpräventiven Erwägungen zu rekurrieren. Das gilt selbst für die Deliktsbereiche, die typischerweise von Ausländern oder Asylbewerbern begangen werden. Diesen Phänomenen kann insoweit hinreichend durch den Deliktsbezug der entsprechenden Erwägung begegnet werden. g) Die Berücksichtigung ausländischer Strafrahmen Die Berücksichtigung ausländischer Strafrahmen innerhalb generalpräventiver Erwägungen (wie sonst auch) lässt die interkulturelle Beweglichkeit des deutschen Strafrechts an ihre Grenzen stoßen. Das hat ganz grundsätzlich mit der Gefahr zu tun, dass eine solche Praxis das inländische Wertgefüge, wie es in den Strafandrohungen der Gesetze zum Ausdruck kommt, in Frage stellen würde.172 Daneben lässt eine Orientierung an ausländischen Strafrahmen auch eine Verletzung des Bestimmtheitsgebots aus Art. 103 II GG besorgen, weil sich dieses eben auch auf die in den Tatbeständen angedrohten Strafrahmen bezieht. Damit würde auch der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs widersprochen werden, nach welcher die Rechts- und Wertvorstellungen der Bundesrepublik maßgeblich für die Auslegung von Gesetzen sind.173 Ferner würde man für den Fall einer Berücksichtigung ausländischer Strafrahmen die Regelung des § 3 StGB über den Weg der Strafzumessung umgehen.174 In der Vergangenheit wurde darüber hinaus erwogen, eine erhöhte Straferwartung ausländischer Täter schon auf der Schuldebene zu berücksichtigen.175 Dagegen wurde in der Literatur eingewendet, dass das deutsche Strafrecht Irrtümer des Täters über das Unrecht seiner Tat jedoch ausauch schon Valerius, Kultur und Strafrecht, S. 294. schon Joerden/Weinreich, in: Wolf (Hrsg.), Kriminalität im Grenzgebiet 3, S. 1 ff. (10). 174  I. d. S.  auch Joerden/Weinreich, in: Wolf (Hrsg.), Kriminalität im Grenzgebiet 3, ebenda. 175  Vgl. Grundmann, in: NJW 1985, 1251 ff. (1255). 172  Vgl. 173  Vgl.

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schließlich zu seinen Gunsten und nicht zu seinen Lasten heranzieht.176 Andernfalls würde man den Grundsatz der Straflosigkeit des Wahndelikts auf der Ebene der Strafzumessung aushebeln.177 In der Gesamtschau kann es demnach für die Strafzumessung keine Rolle spielen, ob ein ausländischer Angeklagter in seinem Heimatland für eine vergleichbare Tat eine höhere Strafe zu erwarten hätte. Eine abweichende Strafpraxis im Herkunftsland des Täters kann damit grds. nicht dazu führen, eine andere als die schuldangemessene Strafe zu verhängen.178 In diesem Kontext können fremdkulturelle Wert- bzw. Rechtsvorstellungen, wie sie in fremden Strafvorschriften zum Ausdruck kommen, weder den Schuld- noch den Unrechtsgehalt der Tat erschwerend oder privilegierend beeinflussen. Wie oben schon deutlich gemacht werden musste,179 obliegt die Markierung des objektiven Rechtsverstoßes, unter Einschluss des Strafrahmens, allein dem deutschen Gesetzgeber. Diese Wertung darf nicht durch strafzumessungsrechtliche Erwägungen unterlaufen werden. 3. Zusammenfassung Die Entscheidungen mit fremdkulturellem Hintergrund, bei denen generalpräventive Erwägungen in den Gründen zur Strafschärfung herangezogen wurden, erweisen sich in der Gesamtschau als besonders geeignet, die methodischen und dogmatisch bedingten Schieflagen bei der Strafzumessung im Z ­ usammenhang mit der Generalprävention, insbes. ihrer negativen Variante, aufzuzeigen. Es hat sich darüber hinaus gezeigt, dass bestimmte Fallkonstellationen mit fremdkulturellem Hintergrund diese Problemlagen erheblich intensivieren können, etwa wenn es um die ohnehin schon fragliche Abschreckungswirkung von Urteilen geht, die sich gleichsam über den Normalfall hinausgehend an einen bestimmten Personenkreis von Tatgeneigten (Ausländer, Asylbewerber, fremdkulturell geprägte Täter) richtet, die häufig aus tatsächlichen Gründen überhaupt nicht negativ generalpräventiv ansprechbar sind. Die Ausführungen konnten damit auch eine weitgehende Obsoleszenz des Ausländer- oder Asylbewerberstatus für strafschärfende Erwägungen in diesem Zusammenhang nachweisen. Das ist insoweit auch für fremdkul­ turell geprägte Täter, soweit sie nicht schon begrifflich unter die beiden etwa Valerius, Kultur und Strafrecht, S. 293. Valerius, Kultur und Strafrecht, ebenda. 178  I. d. S.  Hörnle, Kultur, Religion, Strafrecht – Neue Herausforderungen in einer pluralistischen Gesellschaft. Gutachten  C zum 70.  Deutschen Juristentag, C.  93. 179  Vgl. oben in diesem Teil, A., III. 176  Vgl.

177  I. d. S.  bei



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anderen Personengruppen zu fassen sind, zu konstatieren. Ähnlich verhält es sich mit den Fällen der positiven Generalprävention. Da bei dieser Variante kein Personenkreis von potentiell Tatgeneigten direkt angesprochen werden soll, bedürfen entsprechende Erwägungen auch keinen Bezug zu Ausländern, Asylbewerbern oder Tätern aus einem fremden Kulturkreis. Daher sind die Teile der Praxis zu kritisieren, die ihre generalpräventiven Erwägungen in diesem Kontext personenorientiert formulieren. Stattdessen empfiehlt sich in dieser Sache ein deliktsorientierter Ansatz, der auf das selektive Abzielen auf bestimmte Tätergruppen verzichtet, weil es in Hinblick auf die positiv generalpräventive Wirkung eines Urteils – soweit man grds. von einer solchen Annahme ausgeht – praktisch keinen Einfluss haben dürfte. Dabei waren in der Vergangenheit bereits gewisse Tendenzen in der Rechtsprechung des BGH zu beobachten, bei denen eine Abkehr vom personenorientierten Ansatz generalpräventiver Erwägungen zu verzeichnen war.180 Diese konnten sich jedoch in Anbetracht der nachfolgenden Entscheidungen zur Sache nicht hinreichend durchsetzen. Insofern zeigt sich in diesem Bereich eine wesentliche Ursache dafür, dass eine einheitliche Linie zur Handhabung generalpräventiver Erwägungen bei fremdkulturell geprägten Fallkonstellationen nicht auszumachen war. Auch vor dem Hintergrund der erheblichen Schnittmengen zu anderen Rechtsprechungslinien erscheint eine generelle Neuorientierung der unnötig angreifbaren Rechtsprechungslinie angezeigt. Es ist jedoch zu befürchten, dass ein solches Vorhaben erst im Zuge einer allgemeinen Neuorientierung in Sachen generalpräventiver Erwägungen seitens der Rechtsprechung Aussicht auf Erfolg haben dürfte.

IV. Zur Berücksichtigung ausländerrechtlicher Folgen 1. Die Ansicht der Rechtsprechung Wie die Analyse der Rechtsprechungsgenese gezeigt hat, vertreten die Senate beim BGH mittlerweile in der Frage der Berücksichtigung ausländerrechtlicher Folgen in der Strafzumessung eine weitgehend einheitliche Linie.181 Demnach sind ausländerrechtliche Folgen zwar grds. keine bestimmenden Umstände für die Zumessung der Strafe i. S. v. § 267 III StPO. Etwas anderes gilt aber ausnahmsweise dann, wenn die folgenden besonderen Umstände kumulativ vorliegen: 180  Vgl. 181  Vgl.

etwa BGH, in: NStZ 1996, 71. oben, Teil 4, B., IV., 9.

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a) Zunächst muss die Ausweisung aufgrund der zu erwartenden Verurteilung zwingend erfolgen. Dies ist in der Regel dann der Fall, wenn dem Ausländer gem. § 53 Nr. 1 AufenthG wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten die Verurteilung zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens drei Jahren droht. b) Dabei darf die drohende bzw. zu erwartende Freiheitsstrafe den Grenzwert der zwingend zu einer Ausweisung führenden Freiheitsstrafe nicht erheblich überschreiten. Dies dürfte bei einer zu erwartenden Freiheitsstrafe von über vier Jahren regelmäßig der Fall sein. c) Der Ausländer darf nicht den besonderen Ausweisungsschutz des § 56 AufenthG genießen. Denn danach führt auch das Vorliegen der Gründe einer zwingenden Ausweisung nur zur Regelausweisung bzw. zur Ausweisung nach Ermessen, gem.  § 56  I  4,  5 AufenthG. d) Zusätzlich muss aber auch die Ausweisung an sich eine besondere Härte für den Angeklagten darstellen. Bei der Ausfüllung dieses Kriteriums hat sich die Rechtsprechung bislang nur zurückhaltend geäußert.182 Wie sich gezeigt hat, wird nur in wenigen Urteilen Bezug zu konkreten Anhaltspunkten hergestellt, welche als besondere Härte in diesem Sinne gelten. Jedenfalls ist dann von einer zusätzlich gegebenen besonderen Härte für den Ausländer auszugehen, wenn der Angeklagte in Deutschland aufgewachsen ist und hier sozialisiert wurde oder wenn er seinen Lebensmittelpunkt in Deutschland genommen hat und demnach besondere persönliche und / oder geschäftliche Beziehungen im Inland pflegt, deren Beendigung sich als einschneidende Folgen für seine Existenz darstellen würden. Im Übrigen ist davon auszugehen, dass diese Aufzählung nicht abschließend sein kann. Es muss insofern Raum für Einzelfallentscheidungen verbleiben, die solche Kriterien erfassen, die den Angeklagten vergleichbar hart träfen. e) Schließlich ist darauf zu achten, ob der Ausländer nach der Haft nicht ohnehin das Bundesgebiet zu verlassen hat, weil er bspw. über keinen gültigen Aufenthaltstitel mehr verfügt. In solchen Fällen wäre eine Auseinandersetzung mit ausländerrechtlichen Folgen in der Strafzumessung ebenfalls obsolet.

182  Vgl. zuletzt bspw. BGH, Beschluss v. 29.07.2010  – 1 StR 349/10, wo es heißt: „Besonderheiten, die vorliegend ausnahmsweise eine andere Beurteilung nahe legen könnten, sind nicht ersichtlich“ (vgl. BGH, in: NStZ 2002, 196 m. w. N.).



B. Behandlung fremdkultureller Wertvorstellungen in der Strafzumessung

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2. Ausgewählte Problemfragen der Berücksichtigung ausländerrechtlicher Folgen a) Vorbemerkungen Das Erfordernis der zahlreichen zu prüfenden Voraussetzungen hinsichtlich einer möglichen Berücksichtigung ausländerrechtlicher Folgen in der Strafzumessung belegt zunächst eine wohl restriktive Handhabung dieses Strafzumessungsumstandes seitens der Rechtsprechung. Diese Position wird in der Literatur zwar grds. positiv aufgenommen.183 Abseits dessen wird jedoch deutlich, dass zahlreiche Fragen in Hinblick auf die systematische Handhabung außerstrafrechtlicher Folgen in der Strafzumessung im Allgemeinen und hinsichtlich ausländerrechtlicher Konsequenzen im Besonderen noch ungeklärt sind. b) Systematische Verortung Das hat zum einen mit der Tatsache zu tun, dass es den Entscheidungen dieser Rechtsprechungslinie seit der Aufgabe des schuldorientierten Ansatzes am Bezug zu den wesentlichen strafzumessungsrechtlichen Kategorien mangelt. Dieses Vorgehen führt auch hier im Ergebnis zu einer unverhältnismäßig starken Orientierung an kasuistischen Vorgaben, die eine gesetzliche Abstützung einerseits, und damit verbunden eine rechtliche Würdigung der jeweiligen Erwägungen im Urteil andererseits, vermissen lassen. Zum anderen hat der BGH durch bestimmte Urteile, in denen etwa drohende beamtenrechtliche Folgen die Prüfung eines minderschweren Falles zwingend bedingen sollen, die Problemlage erheblich verschärft, weil bestimmte außertatbestand­ liche Folgen der Tat für den Täter nun auch für strafzumessungsrechtliche Gesamtabwägungsvorgänge relevant werden können.184 Er hat damit die alte Rechtsprechungslinie verlassen, nach welcher mögliche Disziplinarmaßnahmen berücksichtigt werden können und zwingende Disziplinarmaßnahmen berücksichtigt werden müssen.185 Seit dieser Rechtsprechungsänderung sind auch neue Ansatzmöglichkeiten bei der Berücksichtigung ausländerrechtlicher Folgen angedacht worden. Das betrifft vor allem die Forderung nach einer Gleichbehandlung von ausländerrechtlichen und disziplinarrechtlichen Folgen in der Strafzumessung.186 Darauf wird noch zurückzukommen sein.187 183  Vgl. Valerius, Kultur und Strafrecht, S. 303; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 720. 184  Vgl. etwa BGHSt 35, 148; BGH, in: JZ 1988, 466. 185  Vgl. Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 717 f. 186  So etwa bei Valerius, Kultur und Strafrecht, S. 304 f.; Schmidt, Verteidigung von Ausländern, Rn. 246.

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Damit stellt sich allerdings zunächst ganz grundsätzlich die Frage, wie ausländerrechtliche Konsequenzen als außerstrafrechtliche Folgen vor dem Hintergrund der gesetzlichen Regelungen systematisch in den Strafzumessungsgründen zu verorten sind. Gem. § 46 I 2 StGB sind die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind, bei der Strafzumessung zu beachten. Während diese Regelung lange Zeit als positivgesetzlicher Ausdruck bestimmter Aspekte der Spezialprävention verstanden wurde, geht das heutige Verständnis dieser Regelung darüber hinaus.188 Die Vorschrift soll bei der Umsetzung der Strafzumessungsschuld in eine bestimmte schuldangemessene Reaktion von entscheidender Bedeutung sein.189 Diese Ansicht lässt sich freilich nur dann verstehen, wenn man der Strafzumessung einen Schuldbegriff zugrunde legt, der sich in gewissem Maße von Tatunrecht und Tatschuld als seinen Grundlagen entfernt.190 Diesbezüglich hat sich der BGH jedoch – soweit ersichtlich – noch nicht deutlich positioniert.191 Im Gegenteil wirkt sich die Forderung einer Schuldbindung der Strafzumessung seitens des BGH in diesem Zusammenhang irritierend aus.192 Mit der weiten Auslegung von § 46 I 2 StGB ist der Praxis freilich wenig geholfen, weil damit die Systematik des Gesetzes und der herrschenden Strafzumessungstheorie umgangen wird, indem man fordert, dass außerstrafrechtliche Konsequenzen auch abseits spezialpräventiver Erwägungen eine Rolle spielen sollen. Die Konsequenz dessen ist eine erhebliche Rechtsunsicherheit, insbes. im Unter- und Mittelbau des Gerichtswesens, die sich auch – wie gezeigt werden konnte – in einigen Entscheidungen zur Berücksichtigung ausländerrechtlicher Folgen spiegelt.193 187

Dessen ungeachtet kann die systematische Verortung außerstrafrechtlicher Folgen auch weiterhin als spezialpräventiver Aspekt der Strafzumessung verstanden werden.194 Das Gericht könnte demnach in Hinblick auf die spezialpräventiven Aspekte des Einzelfalles etwaige ausländerrechtliche 187  Vgl.

dazu sogleich unter c). Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 717. 189  Vgl. Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, ebenda. 190  I. d. S.  auch Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 718. 191  Zu den Unstimmigkeiten des vom BGH vertretenen Schuldbegriffs, vgl. Detter, Einführung in die Praxis der Strafzumessung, Teil  I., Rn. 6. 192  Vgl. Streng, Strafrechtliche Sanktionen, ebenda. 193  Vgl. insofern nochmals oben, Teil 4, B., IV., 9., zur Praxis sui generis in der Frage der Berücksichtigung ausländerrechtlicher Folgen im untergerichtlichen Bereich. 194  In diese Richtung weisend, Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 717, wenn er in diesem Zusammenhang formuliert, dass die Berücksichtigung außerstrafrechtlicher Folgen seitens der Rechtsprechung auf § 46 I 2 StGB gestützt wurde und wird. 188  Vgl.



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Konsequenzen im Urteil auf § 46 I 2 StGB abstützen. Das bedeutet aber auch eine klare Beschränkung des Gewichts solcher Erwägungen auf das konkrete Strafmaß. Insoweit gilt dann der Grundsatz, dass spezialpräventive Gesichtspunkte nur innerhalb der schuldangemessenen Strafe berücksichtigt werden können. Vor diesem Hintergrund müsste aber im Einklang mit dem BGH angenommen werden, dass eine Auseinandersetzung mit ausländerrechtlichen Konsequenzen in der Strafzumessung bei solchen Tätern obsolet sein muss, die Deutschland nach der Haft verlassen müssen, weil diese Täter ohnehin kein zukünftiges Leben in der hiesigen Gesellschaft erwartet (§ 46 I 2 StGB). Eine andere Möglichkeit der systematischen Behandlung ausländerrechtlicher Konsequenzen in den Urteilsgründen wäre deren Berücksichtigung i. R. d. Rechtsgedankens von § 60 StGB. Insoweit wird in der Literatur die Ansicht vertreten, dass auch für die Fälle, in denen ein Absehen von Strafe, in Ermangelung des Vorliegens der Voraussetzungen von § 60 StGB, nicht in Betracht kommt, dem allgemeinen Rechtsgedanken von § 60 StGB bei der Strafzumessung doch grds. Raum zu geben ist.195 Demnach können mittelbare Strafwirkungen und wirtschaftliche Konsequenzen als Folgen der Tat bei der Strafzumessung berücksichtigt werden.196 Das soll dann der Fall sein, wenn die außerstrafrechtlichen Folgen den Täter schwerer treffen als die Strafe oder Maßregel selbst und somit die Prüfung eines minderschweren Falles bedingen.197 Etwas anderes soll aber dann gelten, wenn dem Täter die weitreichenden und schwerwiegenden Konsequenzen bewusst waren, er also vor der Tat eine höhere Hemmschwelle zu überwinden hatte.198 Dann kann ihm ggf. ein erhöhter Schuldvorwurf angelastet werden.199 In der Literatur wird angenommen, dass die Rechtsprechung i. R. d. Rechtsgedankens von § 60 StGB sowohl beamten- als auch standesrechtliche Folgen strafmildernd berücksichtigt.200 Vor diesem Hintergrund erscheint 195  Vgl. Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 734; problematisch erscheint jedoch die Tatsache, dass die dort in Fn. 446 angegebene BGH Entscheidung (BGH, in: NStZ 2002, 312) kaum zur Fundierung der von den Autoren angegebenen Ansicht beitragen kann. Insofern stellt der BGH dort ausdrücklich fest, dass das LG gerade nicht solche Gesichtspunkte der Findung einer schuldangemessenen Strafe mit denen der Aussetzung der Strafvollstreckung vermengt hat. Daraus wird bereits ersichtlich, dass im besagten Urteil im Wesentlichen Fragen des § 56 StGB diskutiert wurden, vgl. BGH, in: NStZ 2002, 312 f. (312). 196  Vgl. Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 734 f. 197  Vgl. Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 736, 739. 198  Vgl. Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 735; einschränkend, BGHR, § 46 Abs. 1, Schuldausgleich 7, 13, 25. 199  Vgl. Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, ebenda. 200  Vgl. Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 737.

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Teil 5: Perspektiven einer systematisch-dogmatischen Behandlung

auch die Möglichkeit, ausländerrechtliche Konsequenzen entsprechend zu würdigen, zunächst nicht unplausibel. c) Rechtsprechungsvereinheitlichung mit beamtenund soldatenrechtlichen Folgen? Dieser Schluss liegt insofern nahe, als dass es sich bei ausländerrechtlichen Konsequenzen, ebenso wie bei beamten- und standesrechtlichen Folgen, um eine bestimmte Form außerstrafrechtlicher Folgen handelt. Die Rechtsprechung tendiert jedoch – wie sich gezeigt hat – dazu, die unterschiedlichen Formen außerstrafrechtlicher Konsequenzen auch unterschiedlich zu handhaben. Nach derzeitiger Auffassung des BGH sind etwa beamtenrechtliche Folgen zwingend in der Strafzumessung zu berücksichtigen.201 Ausländerrechtliche Konsequenzen sind hingegen nur in engen Grenzen berücksichtigungsfähig. In der Literatur wird daher eine Vereinheitlichung der Rechtsprechung dahingehend gefordert, ausländerrechtliche Konsequenzen sowie beamten- und soldatenrechtlichen Folgen nach den gleichen Maßstäben zu behandeln.202 Das erscheint aus mehrerlei Gründen nicht angezeigt. Zunächst bestehen schon erhebliche Zweifel daran, dass die derzeitige Rechtsprechung zur Berücksichtigung beamtenrechtlicher Folgen in der Strafzumessung langfristig Bestand haben wird.203 Das hat zuvörderst mit den Widersprüchlichkeiten innerhalb dieser Rechtsprechungslinie zu tun. Einerseits sollen beamtenrechtliche Folgen grds. strafmildernd berücksichtigt werden, insbes. in Hinblick auf die Prüfung eines minderschweren Falles.204 Andererseits sollen außerstrafrechtliche Folgen, die der Täter bewusst in Kauf genommen hat, einer strafmildernden Anrechnung entgegenstehen.205 Darüber hinaus kann dem Täter diesbezüglich sogar ein erhöhter Schuldvorwurf angelastet werden.206 Es stellt sich damit die Frage, welcher praktische Anwendungsbereich noch für die schuldmildernde Berücksichtigung beamtenrechtlicher Folgen verbleiben soll, wenn ohnehin jeder Beamte bei Abschluss des Arbeitsvertrages auf etwaige disziplinar201  Vgl. Valerius, Kultur und Strafrecht, S 304; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, ebenda; siehe auch Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 718. 202  Vgl. etwa Valerius, Kultur und Strafrecht, ebenda. 203  In diese Richtung weisend etwa Fischer, StGB, § 46, Rn. 9. 204  Vgl. Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 734 ff. 205  Siehe dazu Fischer, StGB, § 46, ebenda; a. A. wohl Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 735. 206  Vgl. Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, ebenda.



B. Behandlung fremdkultureller Wertvorstellungen in der Strafzumessung

277

rechtliche Maßnahmen hingewiesen wird. Er dürfte sich wohl vornehmlich auf solche Fallkonstellationen beschränken, bei denen der Täter affektiv und unter dem Eindruck des gesamten Tatgeschehens zur Tat hingerissen wurde. Ob ein Rückgriff auf mittelbare Straffolgen dann noch notwendig erscheint, kann mit guten Gründen bezweifelt werden, weil solche Tatsituationen schon regelmäßig bestimmte andere schuldmindernde Umstände aufweisen dürften. Im Gegensatz dazu kann bei solchen Konstellationen, in denen die Tat von langer Hand geplant wurde, kein Raum mehr für eine schuldmildernde Berücksichtigung der strafrechtlichen Nebenwirkung verbleiben, weil sich der Täter über diese Folgen bewusst gewesen sein muss. Vor diesem Hintergrund ist den Stimmen in der Literatur zuzustimmen, die ein „Überdenken“ der gegenwärtigen Rechtsprechung in Bezug auf beamtenund disziplinarrechtliche Maßnahmen fordern.207 Insofern ist eine Angleichung der Rechtsprechungslinien schon aus diesem Grunde nicht angezeigt. Darüber hinaus erscheint die Anwendung eines auf § 60 StGB gestützten allgemeinen Rechtsgedankens – wie er für beamtenrechtliche Maßnahmen etwa bemüht wird208 – bei ausländerrechtlichen Konsequenzen mit einigen spezifischen Schwierigkeiten behaftet. Das hat neben den bereits erwähnten ganz grundsätzlichen Bedenken gegen eine solche extensive Praxis auch mit den unterschiedlichen Strafgrenzen für beamtenrechtliche Maßnahmen einerseits und ausländerrechtliche Folgen andererseits zu tun. Beamte haben bereits ab einer verwirkten Freiheitsstrafe von 6 bzw. 12 Monaten ipso iure mit dem Verlust des Beamtenstatus zu rechnen (vgl. etwa § 24 I 1 Nr. 1, Nr. 2 BeamtStG i. V. m. den Beamtengesetzen der Länder sowie § 41 I Nr. 1, Nr. 2 BBG i. V. m. mit den Spezialgesetzen der Bundesbeamten).209 Bedenkt man ferner, dass die Strafgrenzen, die zum Verlust des Beamtenstatus führen, z. T. unter der Grenze des § 60 StGB von einem Jahr liegen, erscheint eine restriktive Anwendung des Rechtsgedankens auch noch unter Schuldgesichtspunkten (der Täter hat bei einer verwirkten Freiheitsstrafe von einem halben bis einem Jahr vergleichsweise geringe Schuld auf sich gelastet) erträglich. Das ändert zwar nichts an der grundsätzlichen Bedenklichkeit einer solchen Praxis in Hinblick auf die Schuldbindung der Strafe. Wenn aber das Gesetz in § 60 StGB die Möglichkeit einräumt, bei verwirkten Strafen von bis zu einem Jahr, von Strafe abzusehen, dann kann – gleichsam einem „Erst-recht-Schluss“ entsprechend, für die Fälle, bei denen ein Absehen von Strafe nicht in Betracht kommt, die verwirkte Strafe sich jedoch nicht erheblich vom Grenzwert des § 60 StGB entfernt, noch der allgemeine Rechtsgedanke der Vorschrift unter bestimmten Voraussetzungen etwa Fischer, StGB, § 46, ebenda. Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 734 ff. 209  Vgl. Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 737. 207  So

208  Vgl.

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Teil 5: Perspektiven einer systematisch-dogmatischen Behandlung

Wirkung entfalten. Anders dagegen verhält es sich bei ausländerrechtlichen Konsequenzen. Wie bereits oben ausführlich dargestellt,210 hat die zuständige Behörde ein Ermessen in Hinblick auf das Verhängen ausländerrechtlicher Folgen, soweit die verwirkte Strafe drei Jahre nicht überschreitet. Lediglich darüber hinausgehende Freiheitsstrafen führen zur sog. Ist-Ausweisung. Es muss demnach in einem gesonderten Verfahren geprüft werden, ob der Täter seiner Rechte verlustig wird oder nicht. Für die Fälle, in denen eine verwirkte Strafe von drei Jahren und mehr zu erwarten ist, ist die Grenze des § 60 StGB von einem Jahr derart erheblich überschritten, dass die Anwendung seines Rechtsgedankens eine massive Überschreitung des Schuldprinzips darstellt, die nicht mehr als Ausnahme o. ä. gerechtfertigt werden kann, ohne die elementaren Grundprinzipien des Schuldstrafrechts zu umgehen. Von daher scheidet die Anwendung des Rechtsgedankens des § 60 StGB für alle außerstrafrechtlichen Konsequenzen aus, die aus einer verwirkten Strafe zu befürchten sind, die sich erheblich von den Grenzwertvorgaben des § 60 StGB entfernen. Das trifft im Falle der zwingenden Ausweisung zu. Im Ergebnis ist daher der Forderung nach einer Vereinheitlichung der Rechtsprechungslinien auch aus systematisch-dogmatischen Gründen entgegenzutreten. Ausländerrechtliche Folgen sollten in der Strafzumessung nicht nach den gleichen widersprüchlichen Grundsätzen, wie sie die Rechtsprechung für beamtenrechtliche Maßnahmen entwickelt hat, behandelt werden. Vielmehr ist diese Linie aufzugeben. 3. Zusammenfassung Die Berücksichtigung ausländerrechtlicher Folgen in der Strafzumessung außerhalb der spezialpräventiven Bedürfnisse des Einzelfalles lässt – ebenso wie eine zwingende Berücksichtigung beamtenrechtlicher Folgen – erhebliche Zweifel an der Vereinbarkeit mit dem Schuldprinzip besorgen. Das wird bei den Fällen besonders evident, in denen die Durchführung eines Härteausgleichs etwa i. R. d. Rechtsgedankens von § 60 StGB dazu führen würde, die schuldangemessene Strafe über die Grenzen des Zulässigen hinaus zu unterschreiten. Eine solche Verfahrensweise stellt einen kaum zu rechtfertigenden Bruch mit dem Schuldprinzip sowie mit der herrschenden Spielraumtheorie dar, den der BGH mit seinen Entscheidungen zu einer großzügigen Berücksichtigung außerstrafrechtlicher Folgen in der Strafzumessung systemwidrig gleichsam billigend in Kauf genommen hat. Diese Praxis ist daher grds. abzulehnen. Das gilt insbes. auch für die Fälle, in denen der BGH im Rahmen eines sog. „gerechten Schuldausgleichs“ das 210  Vgl.

Teil 4, B., IV.



B. Behandlung fremdkultureller Wertvorstellungen in der Strafzumessung

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Institut des minder schweren Falles unter übergeordnete Rechtsstaatserwägungen ausnahmsweise für schuldunabhängige Begründungen öffnet.211 Auf die sich daraus ergebende Frage nach der Rechtsnatur des minder schweren Falles sei zwar hingewiesen.212 Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Streitstand erscheint aber vor dem Hintergrund der hier vertretenen Position einer unmittelbaren Schuldbindung der Strafe nicht angezeigt. Insofern ist die Ansicht vorzugswürdig, die minder schwere Fälle als minder schwere Fälle der Tatbegehung und nicht der Strafwürdigkeit versteht.213 In diesem Zusammenhang ist einem allgemeinen, aus § 60 StGB abgeleiteten Rechtsgedanken nur ein begrenzter Anwendungsspielraum für solche Fälle eröffnet, bei denen sich die zu erwartende Strafe nicht erheblich vom Grenzwert der Vorschrift entfernt. Eine darüber hinausgehende Ausdehnung des Anwendungsbereichs des Rechtsgedankens von § 60 StGB ist aus den dargestellten Gründen nicht angezeigt. Soweit ausländerrechtliche Konsequenzen wie die Ausweisung im Wesentlichen von Strafgrenzen zwischen zwei und drei Jahren abhängen, kann der Weg über den Rechtsgedanken von § 60 StGB nicht geöffnet werden. In der Gesamtschau ist damit auch die gegenwärtige Rechtsprechungslinie zur Berücksichtigung ausländerrechtlicher Konsequenzen abzulehnen. Ausländerrechtliche Folgen sind – ebenso wie drohende Disziplinarmaßnahmen  – de lege lata allein nach § 46 I 2 StGB zu berücksichtigen. Sie betreffen in tatsächlicher und sachlicher Hinsicht spezielle Fragen der „Re-“ bzw. „Entsozialisierung“.214 Die Wirkungen der Strafe für den Täter bleiben auf der Ebene der Schuld- oder Strafrahmenbildung demnach unbeachtlich und können erst nach der näheren Konkretisierung der so gefundenen Teilstrafrahmen relevant werden.215 Das bedeutet allerdings auch, dass spezialdazu Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 719. zum Problemstand etwa Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn.  1101 ff. 213  Vgl. Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, ebenda. 214  Vgl. schon Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 719; im Übrigen ist insbes. der Begriff der „Entsozialisierung“ nicht nur in diesem Kontext irreführend, weil der Täter auch aufgrund einer zu vollziehenden Freiheitsstrafe nicht seiner, durch die Sozialisation etwa i. R. d. Erziehung erworbenen Fähigkeiten verlustig wird. Der Begriff existiert soweit ersichtlich auch nicht in den entsprechenden Wissenschaften, weil die Sozialisation grds. keine begrenzte Lebensphase darstellt und das ganze Leben andauert. In diesem Kontext sind die Begrifflichkeiten der Re- und Sozialisierung auch in Hinblick auf die Vollzugsziele dahingehend anzupassen, dass es sich nur um einen Teilaspekt der Aufarbeitung einer objektiv betrachtet mangelhaften Sozialisation mit Blick auf die Komponente der Subjektivität handelt (Sprach-, Handlungs- und Selbstbestimmungsfähigkeit), vgl. dazu Peuckert/Scherr, in: Schäfers (Hrsg.), Grundbegriffe der Soziologie, Artikel Sozialisation, S. 319 ff. 215  Vgl. auch Streng, Strafrechtliche Sanktionen, ebenda. 211  Vgl.

212  Vgl.

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Teil 5: Perspektiven einer systematisch-dogmatischen Behandlung

präventive Belange diesbezüglich nur für solche Täter berücksichtigt werden sollten, die nach der Haftverbüßung das Bundesgebiet ohnehin nicht verlassen müssen. Die Rechtsprechung würde im Rahmen einer dringend zu empfehlenden Neuausrichtung dieser Judikatur gut daran tun, auf eine entsprechende Rückkopplung an die gesetzlichen Vorgaben zu achten. Daneben sind ausländerrechtliche Fragen und die damit verbundenen Entscheidungen der Kompetenz der Verwaltung und dem Verwaltungsgerichtsweg zu überlassen.

V. Zur besonderen Strafempfindlichkeit fremdkulturell geprägter Täter 1. Die Ansicht der Rechtsprechung Auf Grundlage der Analyse der Rechtsprechungsgenese lässt sich in der Rechtsprechung bei der Frage der besonderen Strafempfindlichkeit von Ausländern bzw. fremdkulturell geprägten Tätern eine überwiegend einheitliche Linie ausmachen. Demnach ist in der Strafzumessung unter den folgenden Aspekten von einer besonderen Strafempfindlichkeit des Täters auszugehen: a) Zunächst stellt die Ausländereigenschaft einen maßgeblichen Indikator dafür dar, dass das Tatgericht die Annahme einer besonderen Strafempfindlichkeit sowie die Prüfung der weiteren Voraussetzungen in Erwägung ziehen muss. b) Ferner müssen die persönlichen Verhältnisse des Täters solche Umstände nahe legen, die den Vollzug der Freiheitsstrafe als besonders erschwert erscheinen lassen. Hierbei ergeben sich regelmäßig Probleme, ab wann das Gericht eine solche Beschwer für gegeben erachten kann. Bei diesem Merkmal fehlt insofern die Vergleichbarkeit bspw. mit der Situation, dass ein Erstverbüßer gegenüber einem hafterprobten Straftäter grds. härter vom Vollzug einer Freiheitsstrafe getroffen wird.216 Jedenfalls will der BGH einschlägige Umstände einer besonderen Beschwernis darin erkennen, wenn der Angeklagte Verständigungsprobleme aufgrund mangelnder Deutschkenntnisse aufweist, unter erschwerten familiären Kontakten leiden würde sowie unter anderen Lebensgewohnheiten Schwierigkeiten im Vollzug zu erwarten hat. Auch diese Merkmale bergen eine Reihe von Unklarheiten in sich. Insbesondere ist fraglich, was unter „anderen Lebensgewohnheiten“ zu verstehen sein kann, und ab welchem 216  Vgl. hierzu Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 719.



B. Behandlung fremdkultureller Wertvorstellungen in der Strafzumessung281

„Ausmaß“ sie dazu geeignet erscheinen, den Vollzug einer Freiheitsstrafe als besonders erschwert zu bewerten. Insoweit könnte sich zur Klärung dieser Frage eine differenztheoretische Betrachtung kulturell bedingter Lebensgewohnheiten anbieten.217 c) Diese aus den persönlichen Verhältnissen des Angeklagten herrührenden Umstände sollen allerdings an Bedeutung verlieren, wenn der Angeklagte seinen Lebensmittelpunkt dauerhaft nach Deutschland verlegt hat. Damit wird sich auch ein Angeklagter kaum auf eine besondere Strafempfindlichkeit berufen können, der zwar seinen Lebensmittelpunkt in Deutschland gefunden hat, es aber selbstverschuldet unterlassen hat, bspw. die deutsche Sprache zu erlernen. Dieser Punkt könnte daher auch und gerade für Angeklagte mit einem Migrationshintergrund und deutscher Staatsbürgerschaft relevant sein. d) Schließlich soll nach Ansicht des BGH eine besondere Strafempfindlichkeit für solche Fälle entfallen, bei denen der Angeklagte die Möglichkeit hat, die Freiheitsstrafe in seinem Heimatland zu verbüßen. Die Probleme, die sich aus den Unwägbarkeiten u. a. des Überstellungsverfahrens ergeben, werden von der Rechtsprechung dabei weitreichend ignoriert. 2. Ausgewählte Problemfragen der Berücksichtigung einer besonderen Strafempfindlichkeit a) Vorbemerkungen Unter ganz ähnlichen Gesichtspunkten, wie die Berücksichtigung außerstrafrechtlicher Folgen, wird die Problematik der besonderen Strafempfindlichkeit in der Literatur diskutiert. Das hat vor allem damit zu tun, dass analog zum Problemkreis der außerstrafrechtlichen Folgen die Strafempfindlichkeit häufig als eine Art „Zusatzkategorie“ des Strafzumessungsrechts verstanden wird, die aber gleichwohl schon bei der Strafrahmenwahl von Bedeutung sein kann bzw. soll.218 Die Ansicht der Rechtsprechung ist in dieser Frage tendenziell uneinheitlich. Häufig wird die Strafempfindlichkeit jedoch als Rechtsinstitut begriffen, welches im Rahmen eines gerechten Schuldausgleichs in Anschlag gebracht werden kann.219 Dagegen ist die systematische Einordnung des Rechtsinstituts in der Literatur offen umstrit217  Vgl.

zu dieser Methode oben, Teil 2. A. etwa Joerden/Weinreich, in: Wolf (Hrsg.), Kriminalität im Grenzgebiet 3, S.  1 ff. (21) m. w. N. 219  Vgl. Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 716; die systematische Einordnung der Strafempfindlichkeit durch die Rechtsprechung erscheint jedoch insoweit problematisch, als dass es sowohl Entscheidungen des BGH 218  Vgl.

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Teil 5: Perspektiven einer systematisch-dogmatischen Behandlung

ten.220 Neben der vornehmlich vom BGH vertretenen Position wird sowohl eine Einordnung in den Präventionsbereich221 als auch bei der Vollzugsgestaltung vertreten.222 Darüber hinaus lässt sich im Gegensatz zur Position der Rechtsprechung kein Konsens in der Literatur darüber feststellen, ob eine etwaige besondere Strafempfindlichkeit fremdkulturell geprägter Täter und Ausländer überhaupt berücksichtigungswürdig erscheint.223 b) Systematische Verortung und mögliche Ansatzpunkte einer rechtlichen Bewertung Diese ausgemachten Unsicherheiten werden von der Rechtsprechung insoweit begünstigt, als dass sie auch in dieser Frage die systematische Verortung der Problematik in den Entscheidungsgründen in jüngerer Zeit weitgehend unterlässt bzw. nicht einfordert. In den einschlägigen Urteilen und Beschlüssen wird die Frage der Anrechnung einer besonderen Strafempfindlichkeit lediglich hinsichtlich einer nicht näher an den wesentlichen Begrifflichkeiten des Strafzumessungsrechts angelehnten Strafmilderung thematisiert. Ob es sich bei der Strafempfindlichkeit damit um einen Schuldoder Präventionsumstand handeln soll, bleibt unklar. In gewisser Weise erhellend in diesem Kontext ist der Beschluss des BGH vom 15.11.1991, weil dort i. R. d. Revision gerügt wurde, dass das LG die Strafempfindlichkeit des Ausländers bei der Strafrahmenwahl hätte berücksichtigen müssen.224 Das legt den Schluss nahe, der 2. Senat könnte die Strafempfindlichkeit als ein nicht näher bestimmtes Korrektiv für den Schuldausgleich (analog zum Problemkreis bei den außerstrafrechtlichen Folgen) betrachten. Diese Ansicht wird auch von Teilen der praxisnahen Literatur vertreten.225 Insofern gibt, die diese Annahme stützen, sowie solche, die ihr entgegenstehen, vgl. etwa BGH, in: NJW 2006, 2129 f. (2130); BGHSt 44, 125 ff. (126). 220  Dazu sogleich, bei b). 221  So etwa bei Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 723 f. 222  Vgl. etwa Hörnle, Kultur, Religion, Strafrecht – Neue Herausforderungen in einer pluralistischen Gesellschaft. Gutachten  C zum 70.  Deutschen Juristentag, C. 90. 223  Für die Annahme einer strafmildernden Berücksichtigung der Strafempfindlichkeit von Ausländern, vgl. etwa Schmidt, Verteidigung von Ausländern; Joerden/ Weinreich, in: Wolf (Hrsg.), Kriminalität im Grenzgebiet 3, S. 1 ff. (21 f.); differenziert bei Valerius, Kultur und Strafrecht, S. 300 ff.; gegen eine strafmildernde Berücksichtigung, vgl. etwa, Hörnle, Kultur, Religion, Strafrecht – Neue Herausforderungen in einer pluralistischen Gesellschaft. Gutachten  C zum 70.  Deutschen Juristentag, C. 91; Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 726. 224  Vgl. dazu oben, Teil 4, B., V., 2. 225  Vgl. etwa Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 719.



B. Behandlung fremdkultureller Wertvorstellungen in der Strafzumessung283

gelten hier in Hinblick auf eine systematische und dogmatische Abstützung dieser Position die gleichen Ausführungen zur Reichweite von § 46 I 2 StGB wie bei den außerstrafrechtlichen Folgen.226 Demnach ist die Strafempfindlichkeit in dieser Diktion grds. für den „gerechten Schuldausgleich“ von Relevanz. Sie kann folglich – wie vom BGH gefordert – schon bei der Strafrahmenwahl Bedeutung erlangen. Diese Position ist jedoch aus den gleichen Gründen abzulehnen wie die im Übrigen schon zu generöse Berücksichtigung außerstrafrechtlicher Folgen. Es gelten auch hier die zentralen Einwände der Systemwidrigkeit einer solchen Praxis sowie die Notwendigkeit der Schuldbindung der Strafe. In der Literatur wird daher die Ansicht vertreten, dass es nicht die Aufgabe des Schuldstrafrechts sein kann, das Strafleiden individuell zuzufügen.227 Vielmehr besteht die Notwendigkeit, eine allgemein als gerecht anzuerkennende und nachvollziehbare Rechtseinbuße beim Verurteilten mit dem Urteil zu kommunizieren.228 Der Schuldausgleich kann diesem Zweck nur dann hinreichend dienen, wenn ihm dabei eine überindividuelle „Währung“ zugrunde gelegt wird.229 Bei der Frage der Strafempfindlichkeit kann es sich folglich nicht um ein Problem des Schuldausgleichs handeln, sondern lediglich um eine Randkorrektur im präventiven Spektrum.230 Für das Institut der Strafempfindlichkeit verbleibt demnach nur Raum innerhalb des nicht extensiv ausgelegten § 46 I 2 StGB. Daneben kommt eine Anwendung im Rahmen von Vollstreckungs- oder Gnadenentscheidungen in Betracht.231 Insgesamt darf der Strafempfindlichkeit bei der Strafzumessung aber aufgrund der systematisch möglichen Ansatzpunkte keine allzu große Bedeutung beigemessen werden. Je nach Lage der in Anschlag gebrachten Tatsachen, die der Täter für seine Entlastung geltend machen will, sollte insofern zwischen den Möglichkeiten einer systematisch tragbaren Berücksichtigung differenziert werden.

226  Vgl.

oben in diesem Teil, B., IV., 2., b). Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 720. 228  Vgl. etwa Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 721 m. w. N. 229  Vgl. Streng, Strafrechtliche Sanktionen, ebenda. 230  Vgl. etwa Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 723. 231  Vgl. etwa Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 723; so auch bei Hörnle, Kultur, Religion, Strafrecht – Neue Herausforderungen in einer pluralistischen Gesellschaft. Gutachten  C zum 70.  Deutschen Juristentag, C.  90. 227  Vgl.

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Teil 5: Perspektiven einer systematisch-dogmatischen Behandlung

c) Probleme der Bestimmung des Ausmaßes der besonderen Strafempfindlichkeit bei Ausländern und fremdkulturell geprägten Tätern Nachdem die Fragen der rechtlichen Verortung und Bewertung geklärt sind, stellt sich schließlich die Frage, wie das Ausmaß der besonderen Strafempfindlichkeit von Ausländern bzw. fremdkulturell geprägten Tätern zu bestimmen ist. Grds. gilt diesbezüglich die Richtlinie, dass auf die zu erwartenden Härten während des Vollzugs der Freiheitsstrafe abzustellen ist.232 In Rechtsprechung und Literatur wird dabei etwa an die Unmöglichkeit kulturell abweichende Lebensgewohnheiten im Vollzug fortzusetzen, etwaige erschwerte familiäre Kontakte oder Verständigungsprobleme in der Haftanstalt gedacht.233 Diese Merkmale erscheinen vor dem Hintergrund zahlreicher Unwägbarkeiten nur bedingt geeignet zu sein, eine erhöhte Strafempfindlichkeit zu begründen. Wenn etwa Strafverteidigern empfohlen wird, eine erschwerte Partizipationsmöglichkeit ihres ausländischen Mandaten am Alltagsleben im Vollzug damit zu begründen, dass die Mehrzahl der Mitgefangenen sie u. U. von Gemeinschaftsveranstaltungen wie dem Fernsehen ausschließen könnte,234 dann ist das nicht nur höchst spekulativ in Hinblick auf die tatsächlich zu erwartenden Haftzustände, sondern dürfte auch häufig nicht mehr den Kern des Problems treffen. Auf Grundlage kriminologischer Erkenntnisse und aktuellem statistischem Material weiß man, dass es bestimmte Vollzugsbereiche gibt, in denen deutschsprachige Gefangene mittlerweile in der Minderheit sind. Man geht insgesamt von einer etwa zweieinhalbfachen Überbelastung ausländischer Strafgefangener im Vollzug aus.235 In Nordrhein-Westfahlen waren 2014 bspw. 56 % aller Untersuchungsgefangenen Nichtdeutsche, von 16498 Gefangenen insgesamt waren 5086 Nichtdeutsche.236 Damit ist jedoch noch keine quantitative Aussage über solche Gefangenen getroffen, die zwar formal Deutsche sind, jedoch noch weiterhin Sprache und Brauchtum ihrer ggf. fremdkulturellen Heimat pflegen. In Anbetracht dieser Tatsachen und dem Umstand, dass sich in Deutschland eine multikulturelle und pluralistische Gesellschaft 232  Vgl. etwa Hörnle, Kultur, Religion, Strafrecht – Neue Herausforderungen in einer pluralistischen Gesellschaft. Gutachten  C zum 70.  Deutschen Juristentag, ebenda. 233  Vgl. Hörnle, Kultur, Religion, Strafrecht – Neue Herausforderungen in einer pluralistischen Gesellschaft. Gutachten  C zum 70.  Deutschen Juristentag, C.  90; Valerius, Kultur und Strafrecht, S. 301; Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 727. 234  So etwa bei Schmidt, Verteidigung von Ausländern, Rn. 244. 235  Vgl. http://www.bpb.de/apuz/32979/minoritaeten-im-strafvollzug?p=all (10.01. 2015). 236  Vgl. http://www.jm.nrw.de/Gerichte_Behoerden/zahlen_fakten/statistiken/jus tizvollzug/belegungsdaten/index.php (10.01.2015).



B. Behandlung fremdkultureller Wertvorstellungen in der Strafzumessung285

entwickelt hat, verlieren derartige Erwägungen, die auf Partizipationsschwierigkeiten ausländischer Täter abzielen, deutlich an Gewicht. Im Gegenteil dürfte unter den gleichen Erwägungen manchem deutschen Staatsangehörigen eine erhöhte Strafempfindlichkeit zu attestieren sein, der in einer Haftanstalt untergebracht wird, in der er wiederum wegen Sprachschwierigkeiten mit den Mitgefangenen usw. besonderen Härten im Vollzug ausgesetzt ist. Darüber hinaus erscheinen bestimmte Formen subkultureller Vollzugserscheinungen auch geeignet, die Vollzugsziele, inbes. die Legalbewährung in besonderem Maße zu gefährden. Letztlich sind die Antworten auf derartige Fragen immer davon abhängig, in welchem Bundesland der Täter inhaftiert wird (etwa wegen der unterschiedlichen Quoten von Deutschen und Nichtdeutschen im Vollzug), in welcher Anstalt er inhaftiert werden soll und wie der Vollzug in concreto ausgestaltet ist. All diese Fragen müssten beantwortet werden, was aber zum Zeitpunkt der Strafzumessungserwägungen häufig nicht möglich sein dürfte. Pauschale Annahmen über mögliche zu erwartende Umstände können diesbezüglich schlecht hinreichen. Letztlich zeigen die Überlegungen, dass ein auf derartige Erwägungen gestützter Entlastungsanspruch ausländischer Täter wohl häufig nicht begründet sein dürfte. Im Übrigen wird es auch deutschen Tätern im Vollzug erschwert, nach ihren individuellen, ggf. sogar kulturell geprägten Vorstellungen zu leben. Die Beschränkung individueller Lebensperspektiven, unabhängig worauf sie sich gründen, ist dem Strafvollzug letztlich immanent. 3. Zusammenfassung In der Gesamtschau leidet die Rechtsprechungslinie zur Berücksichtigung der besonderen Strafempfindlichkeit von fremdkulturell geprägten Tätern unter den im Wesentlichen gleichen systematischen Einwänden wie die Rechtsprechungslinie zur Berücksichtigung ausländerrechtlicher Folgen bei der Strafzumessung. Darüber hinaus erweisen sich auch die tatsächlichen Grundlagen der gängigen Erwägungen in diesem Kontext als wenig tragfähig. Zwar erscheint eine Behandlung der Frage der Strafempfindlichkeit grds. i. R. d. spezialpräventiven Belange möglich. Sie dürften jedoch häufig an der Unmöglichkeit der Beibringung ihrer tatsächlichen Grundlagen zum Zeitpunkt der Strafzumessungsentscheidung scheitern. Die spezifischen Tatsachen der Haftsituation müssen und können letztlich nur im Strafvollzug selbst adäquat berücksichtigt werden. Vor diesem Hintergrund bleibt der Gedanke der Strafempfindlichkeit jedoch nicht gänzlich für spezialpräventive Belange verschlossen. Er kann für solche Umstände Bedeutung erlangen, die einerseits „universalisierbar“ sind und andererseits nicht unmittelbar mit der Vollzugsgestaltung zusammen-

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Teil 5: Perspektiven einer systematisch-dogmatischen Behandlung

hängen.237 Darunter fallen etwa schwere Krankheiten des Täters oder ein hohes Lebensalter.238 Eine besondere Berücksichtigung fremdkultureller Umstände in Hinblick auf Lebensweisen und besondere persönliche Verhältnisse ist nach alledem nicht angezeigt. Insofern ist der gegenwärtigen Rechtsprechungslinie diesbezüglich eine Neuausrichtung zu empfehlen.

VI. Zur erschwerten Normbefolgung aufgrund kultureller Wertvorstellungen 1. Die Ansicht der Rechtsprechung Auch hinsichtlich der Rechtsprechungslinie zur erschwerten Normbefolgung bei fremdkulturell geprägten Tätern herrscht weitgehend Einigkeit bei den Senaten des BGH. Demnach liegt eine strafmildernd zu berücksichtigende erschwerte Normbefolgung unter den folgenden Aspekten vor: a) Zunächst muss die Aufnahme des Sachverhalts eine Verhaftung bzw. Verwurzelung des Täters in einem fremden, die Handlungen im konkreten Fall leitenden, Werte- und Rechtssystem ergeben. Vor diesem Hintergrund muss es dem Täter aufgrund der fremden Wertvorstellungen schwerer gefallen sein, sich entsprechend den hiesigen Normvorstellungen zu verhalten. Der daraus resultierende Normbefolgungskonflikt stellt wiederum den eigentlichen Anknüpfungspunkt einer möglichen Schuldmilderung dar, weil sich der Täter zwischen den kollidierenden Normsystemen hin und hergerissen gefühlt hat. Die Rechtsprechung fordert insofern keine näheren Ausführungen hinsichtlich der Intensität der Auswirkungen des Normbefolgungskonflikts auf die psychische Situation des Täters. Sie korrigiert ihre Ergebnisse mit anderen Kriterien. Der (ggf. vormaligen) Ausländereigenschaft kann hier eine Indikatorwirkung zukommen. Deutlich hervorzuheben ist aber, dass es in dieser Sache nicht um eine strafmildernde Berücksichtigung der Ausländereigenschaft geht. b) Das erste Korrektiv betrifft einen formalen Aspekt. Die fremden Verhaltensregeln müssen im Einklang mit der Rechtsordnung des Herkunftslandes stehen. Das bedeutet in der Konsequenz dann freilich, dass sich 237  I. d. S.  schon Hörnle, Kultur, Religion, Strafrecht – Neue Herausforderungen in einer pluralistischen Gesellschaft. Gutachten  C zum 70.  Deutschen Juristentag, C. 91. 238  Vgl. Hörnle, Kultur, Religion, Strafrecht – Neue Herausforderungen in einer pluralistischen Gesellschaft. Gutachten  C zum 70.  Deutschen Juristentag, ebenda.



B. Behandlung fremdkultureller Wertvorstellungen in der Strafzumessung

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das Tatgericht substantiiert mit der fremden Rechtsordnung bei der Feststellung des Schuldumfangs auseinandersetzen muss.239 Wie sich diese Frage auf den Schuldumfang auswirken soll, hat dabei noch keine Entscheidung auch nur ansatzweise begründet. Für die Tatgerichte gilt, dass auch an dieser Stelle das Einholen eines entsprechenden Gutachtens bzw. einer Rechtsauskunft – z. B. beim Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht240 – angezeigt sein kann. Tendenzen einzelner Entscheidungen auch auf die Vereinbarkeit des Täterhandelns mit der informellen Werteordnung der Herkunftskultur abzustellen, konnten sich i. R. d. Fallgruppe der erschwerten Normbefolgung indes nicht durchsetzen. Gleichwohl soll es vor dem Hintergrund einiger Judikate aber nicht gänzlich ausgeschlossen sein, in solchen Konstellationen Strafmilderung zu gewähren, in denen ein Delikt zwar auch in der Herkunftskultur strafbar ist, dort aber bspw. lediglich Bagatellcharakter aufweist.241 c) Auch das zweite Korrektiv weist einen formalen Charakter, dessen Schuldrelevanz nur schwer ersichtlich ist, auf. Das Tatgericht soll beachten, wie lange sich der Angeklagte bereits in Deutschland aufhält und somit Gelegenheit gehabt hat, sich von den fremden Normen und Werten zu lösen.242 Hier spielen dann solche Tatsachen eine Rolle, ob der Angeklagte dauerhaft seinen Lebensmittelpunkt in Deutschland gefunden hat oder ob er immer noch regelmäßig vertiefte Aufenthalte im fremden Kulturkreis wahrnimmt, die eine Entwurzelung ausschließen bzw. bislang erschwert haben. d) Zu beachten ist ferner, ob es der Angeklagte trotz längeren Aufenthalts in Deutschland unterlassen hat (vergleichbar einem Fahrlässigkeitsvorwurf), sich mit den hiesigen Normen vertraut zu machen oder sich bewusst über das hiesige Recht hinweggesetzt hat (vergleichbar einem Vorsatzvorwurf). Gerade in diesem Bereich kann sich dann entsprechend dem festzustellenden Grad der Vorwerfbarkeit des Unterlassens bzw. Hinwegsetzens eine Schuldabstufung ergeben, welche bis hin zur völligen Versagung von Strafmilderung führen kann.

239  Vgl. nochmals BGH, Beschluss v. 22.12.1998 – 3 StR 587/98, bei dem i. R. d. Tatsachenfeststellung der Vorinstanz gerügt wurde, dass dieser nicht zu entnehmen war, dass Vergewaltigung in Kasachstan milder bestraft würde als in Deutschland. 240  Vgl. Schmidt, Verteidigung von Ausländern, Rn. 138. 241  Dies erscheint letztlich deshalb geboten, weil der vergleichende Blick zum Unrechtsbewusstsein keine andere Wertung nahe legt, so bspw. bei Schmidt, Strafrecht AT, Rn. 555. 242  Vgl. auch Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 730.

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Teil 5: Perspektiven einer systematisch-dogmatischen Behandlung

2. Ausgewählte Problemfragen bei der Berücksichtigung einer erschwerten Normbefolgung a) Vorbemerkungen Die von der Rechtsprechung vertretene Linie zur Berücksichtigung der erschwerten Normbefolgung bei fremdkulturell geprägten Tätern weist schon auf den ersten Blick ähnliche Schwächen auf wie die anderen Rechtsprechungslinien. Das betrifft zuvörderst die mangelhafte Anbindung der entsprechenden Strafzumessungserwägungen an strafzumessungsrechtlich relevante Grundstrukturen und Komponenten. Darüber hinaus sind die Fallkonstellationen dieser Rechtsprechungslinie in tatsächlicher Hinsicht von einem dichten interkulturellen Einschlag geprägt. Es wurde schon bei der Analyse der Rechtsprechungsgenese darauf hingewiesen, wie umstritten die Behandlung solcher Konstellationen auch in der Literatur ist, ohne dass sich diesbezüglich eine herrschende Ansicht im Schrifttum durchsetzen konnte.243 Abseits dessen leidet die Rechtsprechungslinie unter systematischen Unzulänglichkeiten, weil sie die Eingrenzung von schuldgewichtigen Faktoren (innere Bedrängnis, Zerrissenheitsgefühl usw.) in Ermangelung klar umrissener Konturen durch formelle Kriterien, wie der Aufenthaltsdauer des Täters in Deutschland, zu erzwingen sucht. b) Systematische Verortung und mögliche Ansatzpunkte einer rechtlichen Bewertung Diese besonderen Schwierigkeiten einer systematischen Handhabbarkeit entstehen u. a. auch deshalb, weil die interdisziplinäre Gemengelage der Einzelfälle weder von der Rechtsprechung noch vom Schrifttum adäquat in strafzumessungsrechtliche Kategorien umgewertet wird.244 Zwar ist sich die Rechtsprechung dahingehend einig, dass eine erschwerte Normbefolgung i. R. d. Schuldumfangs eine Rolle spielen und strafmildernd in Anschlag gebracht werden kann. Damit bleiben jedoch die Möglichkeiten der konkreten Bewertung dieses Strafzumessungsumstandes im Einzelnen in Hinblick auf seine Gewichtung bei der Strafmaßfindung noch weitgehend im Dunkeln. 243  Vgl. oben, Teil 4, B., VI., 1.; insofern ist die Darstellung bei Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 726, diesbezüglich irreführend, wenn dort die h. M. mit dem Strafempfindlichkeitsansatz wiedergegeben wird. 244  Derartige Bemühungen finden sich ansatzweise bei Hörnle, Kultur, Religion, Strafrecht – Neue Herausforderungen in einer pluralistischen Gesellschaft. Gutachten  C zum 70.  Deutschen Juristentag, C  86 ff.



B. Behandlung fremdkultureller Wertvorstellungen in der Strafzumessung289

Soweit die Rechtsprechung die Berücksichtigungsfähigkeit der erschwerten Normbefolgung bei der Beurteilung des Schuldumfangs auf einen Normbefolgungskonflikt des Täters zurückführt, ist dagegen grundsätzlich nichts einzuwenden. Das wird allerdings in den Entscheidungsgründen nicht immer hinreichend deutlich. Die unspezifischen Verweise auf ein Zerrissenheitsgefühl zwischen zwei Kulturkreisen u. ä. erweisen sich in Hinblick auf die Schuldgewichtung als zu vage. Insofern sollte der innere Konflikt des Täters deutlicher im Fokus einer entsprechenden Strafzumessungserwägung stehen. Der Natur der Sache nach kann das Ausmaß des Unrechts der Tat (Erfolgsunwert) zwar nicht durch einen Normbefolgungskonflikt des Täters beeinflusst werden. Etwas anderes kann jedoch in Hinblick auf das Maß der Vorwerfbarkeit des begangenen Unrechts (Handlungsunwert) gelten, weil die Rechtsgemeinschaft in bestimmten Fällen psychischer Ausnahmesituationen teilweise auf das Erheben des Schuldvorwurfes verzichten kann.245 Als problematisch erweist sich allerdings die Tatsache, dass die Intensität eines Normbefolgungskonflikts in Abhängigkeit von dem durch den Täter wahrgenommenen Grad der Verbindlichkeit der fremdkulturellen Norm(en) unterschiedlich stark ausgeprägt sein kann. Diese unterschiedlichen Ausprägungen müssen sich auch konsequenterweise bei der Berücksichtigung in der Strafzumessung umwerten lassen und angemessen niederschlagen. Das bedeutet, dass für die systematische Behandlung von fremdkulturell bedingten Normbefolgungskonflikten auch unterschiedliche Möglichkeiten einer rechtlichen Bewertung in der Strafzumessungsschuld denkbar sind. Vor diesem Hintergrund erscheint die Berücksichtigung eines stark ausgeprägten Normbefolgungskonflikts zunächst i.  R.  d. Rechtsgedankens von § 17 StGB denkbar. Nach hier vertretener Auffassung lässt sich der Vorschrift im Wege einer am Schuldprinzip orientierten Auslegug ein allgemeiner Rechtsgedanke dahingehend entnehmen, dass die hiesige Rechtsgemeinschaft ein nicht unerhebliches Verständnis für denjenigen in Hinblick auf den Schuldvorwurf aufbringen kann, dem es aufgrund einer normkonfliktuösem Sondersituation schwerer fällt, sich normgerecht zu verhalten. Darunter sind solche Konstellationen zu fassen, bei denen sich der Täter auf eine ganz konkrete Gegennorm beruft, die aufgrund ihres Ge- oder Verbotsgehalts eine intensive psychische Bedrängnis (schwerer Normbefolgungskonflikt) zum Tatzeitpunkt verursacht hat.246 Da eine unmittelbare Anwendung von § 17 StGB in einem solchen Fall bereits an den grundlegenden Voraus245  Vgl. Hörnle, Kultur, Religion, Strafrecht – Neue Herausforderungen in einer pluralistischen Gesellschaft. Gutachten  C zum 70.  Deutschen Juristentag, C  86. 246  Siehe auch Hörnle, Kultur, Religion, Strafrecht – Neue Herausforderungen in einer pluralistischen Gesellschaft. Gutachten C zum 70. Deutschen Juristentag, ebenda, zu einer alternativen Herleitung.

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Teil 5: Perspektiven einer systematisch-dogmatischen Behandlung

setzungen der Vorschrift scheitert, kann sich eine mögliche Strafmilderung konsequenterweise nicht schon bei der Strafrahmenwahl niederschlagen. Der Täter befindet sich weder in einem Irrtum über eine Ge- oder Verbotsnorm, noch dürfte ihm, selbst bei einem starken psychischen Konflikt, die Fähigkeit Unrecht einzusehen, vollkommen abhandengekommen sein.247 Allerdings könnte der Gewissenskonflikt in besonders schwerwiegenden Fällen eine derart intensive innere Bedrängnis verursachen,248 dass die persönliche Fähigkeit, das Unrecht der Tat zu erkennen, gestört oder eingeschränkt ist.249 Es geht damit um Sondersituationen gleichsam unterhalb der Schwelle von § 17 StGB. Eine solche Situation würde den Handlungsunwert der Tat verringern, weil sie dem Eingangsmerkmal der fehlenden Unrechtseinsicht von § 17 StGB als wesensähnliches Minus nahe stünde. Zwar muss der Wille des Gesetzgebers respektiert werden, die Strafrahmenmilderung nur für die von ihm vorgesehenen Fälle zu gewähren. Die Möglichkeit einer anderweitigen Schuldmilderung bleibt davon indessen unberührt. Allerdings kann dem Strafzumessungsumstand dann in einem solchen Fall aufgrund der systematischen Nähe zu einer Vorschrift, die eine Strafrahmenverschiebung erlaubt, durchaus beachtliches Gewicht bei der Bestimmung des Handlungsunwerts zukommen. In solchen Fällen ist von einem bestimmenden Umstand i. S. v. § 267 III StPO auszugehen. Fraglich ist damit, wie solche Fälle zu behandeln sind, bei denen sich der Täter bei voller und nicht gestörter Unrechtseinsicht auf eine Gegennorm beruft.250 Bei diesen Fallkonstellationen liegt regelmäßig keine innere Bedrängnis i. S. e. Normbefolgungskonflikts vor. Vielmehr sind darunter solche Konstellationen zu fassen, bei denen sich der Täter bewusst über das Recht der Bundesrepublik hinweggesetzt hat. Diese Situationen stehen weder dem Rechtsgedanken von § 17 StGB, noch dem der §§ 20, 21 StGB nahe. Nach herrschender Ansicht gibt auch § 46 StGB keinen objektiven Raum für solche Erwägungen, bei denen der Täter weiß, dass sein Tatmotiv – dem Entsprechen des fremdkulturellen Ge- oder Verbots – keine Billigung i. R. d. Rechtsvorstellungen der Bundesrepublik findet.251 Damit scheidet eine 247  Anderes wäre nur innerhalb der Grenzen der psychischen Ausnahmezustände des § 20 StGB denkbar. Dann liegt aber kein Normbefolgungskonflikt mehr vor, weil dessen Ausbildung durch das Vorliegen der Eingangskriterien des § 20 StGB ausscheidet, vgl. Schreiber/Rosenau, in: Foerster/Dreßing (Hrsg.), Psychiatrische Begutachtung, S.  100 ff. 248  Vgl. Hörnle, Kultur, Religion, Strafrecht – Neue Herausforderungen in einer pluralistischen Gesellschaft. Gutachten  C zum 70.  Deutschen Juristentag, C  87. 249  Zu diesem Problemkreis i.  R. d. Verbotsirrtums, vgl. Fischer, StGB, § 17, Rn. 8a. 250  Vgl. zur Problematik schon Valerius, Kultur und Strafrecht, S. 294. 251  Vgl. Fischer, StGB, § 46, Rn. 43a.



B. Behandlung fremdkultureller Wertvorstellungen in der Strafzumessung291

Schuldmilderung für Fälle ohne intensiven inneren psychischen Konflikt folgerichtig aus. Nichts anderes muss für solche Fälle gelten, in denen Tatgerichte in der Vergangenheit lediglich die innere Verhaftung in einem fremden oder die Zerrissenheit zwischen zwei Kulturkreisen beim Täter festgestellt haben. Diese Umstände entziehen sich einer konkreten Umwertung in Schuldgrößen, weil sie zu allgemein und unspezifisch gefasst sind. Zu keinem anderen Ergebnis dürfte auch der BGH gelangen, wenn er seine Rechtsprechung einer rechtlichen Bewertung unterziehen würde. Allein die Tatsache, dass der BGH schuldfremde Korrektive zur Eingrenzung eines viel zu weit gefassten (vermeintlichen) Schuldumstandes heranziehen muss, belegt die monierten Unzulänglichkeiten seiner Rechtsprechung. Nach alledem kann eine strafmildernde Berücksichtigung eines sog. schweren Normbefolgungskonflikts nur für solche Fälle in Frage kommen, bei denen sich der Täter auf eine konkrete fremdkulturelle Gegennorm beruft, aufgrund derer er sich zum Tatzeitpunkt in einem Zustand schwerer innerer Bedrängnis befunden hat und deshalb seine Fähigkeit zur vollen Ausbildung der Unrechtseinsicht gestört war. Entgegen der Ansicht der Rechtsprechung erscheint dies nicht nur bei solchen Normbefolgungskonflikten möglich, die auf fremdkulturellen Gegennormen beruhen, die im Einklang mit der fremden Rechtsordnung stehen, also formelle Normen des Herkunftslandes des Täters darstellen. Wenn im Heimatland des Täters die Staatsgewalt derart schwach ausgeprägt ist, dass sie, wie es etwa in Albanien der Fall ist, weite Teile ihres Hoheitsgebiets nicht erreicht, wird die Verhaltensprägung häufig durch informelle Normen erfolgt sein (in Albanien etwa durch den Kanun).252 Soweit diese fremdkulturellen Normen im Einzelfall dazu geeignet erscheinen, eine psychische Sondersituation i. S. e. schweren Normbefolgungskonflikts beim Täter aufzubauen, besteht kein Grund, sie anders zu behandeln als solche Formen der inneren Bedrängnis, die aus der Befolgung formeller Normen herrühren. c) Zur Notwendigkeit normativer Korrekturen bei der Bewertung des Normbefolgungskonflikts in Hinblick auf die Schuld des Täters Die systematische Analyse der Rechtsprechungslinie der erschwerten Normbefolgung hat gezeigt, dass diesem Strafzumessungsumstand in Hinblick auf die Verringerung des Handlungsunwerts ein z. T. erhebliches Gewicht zukommen kann. Diese Annahme kann jedoch für bestimmte Kons252  I. d. S.  auch Hörnle, Kultur, Religion, Strafrecht – Neue Herausforderungen in einer pluralistischen Gesellschaft. Gutachten  C zum 70.  Deutschen Juristentag, C 83; vgl. auch oben, Teil 2, A., zum Einfluss informeller Normen auf das Verhalten; vgl. auch Valerius, Kultur und Strafrecht, S. 294.

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tellationen zu unbilligen Ergebnissen führen. Dabei ist insbes. an solche Fälle zu denken, in denen der Täter die Herbeiführung des Normbefolgungskonflikts ganz oder teilweise selbst verschuldet hat.253 Insofern erscheint das grundsätzliche Erfordernis eines Korrektivs bei der Bewertung des Normbefolgungskonflikts i.  R.  d. Handlungsunwerts zwar notwendig. Die vom BGH in seiner Rechtsprechungslinie verankerten Korrektive können diese Funktion aufgrund ihres formalen Charakters jedoch nicht erfüllen, weil sie in Bezug auf die Schuld des Täters keine Aussage zulassen.254 Das erste Korrektiv der Rechtsprechung betrifft die Frage, ob die fremdkulturellen Rechtsvorstellungen auch im Einklang mit der fremden Rechtsordnung des Herkunftslandes stehen. Das zweite Korrektiv betrifft die Frage, wie lange der Angeklagte bereits seinen Aufenthalt in Deutschland genommen hat und damit womöglich Gelegenheit hatte, sich von den fremden Vorstellungen zu lösen. Diese Korrektive sind zwar für sich genommen nicht geeignet, das Schuldmaß zu beeinflussen, beinhalten jedoch u. U. beweisrelevante Tatsachen in Hinblick auf den Handlungsunwert.255 Das hat der BGH auch nicht gänzlich verkannt, wenn er Strafmilderungen für solche Fälle ablehnt, in denen es der Täter unterlassen hat, sich entweder mit dem deutschen Normensystem vertraut zu machen oder bewusst darüber hinweggesetzt hat.256 Auf die Bedürfnisse eines normativen Korrektivs in der Sache übertragen, bedeutet das, dass dem Täter für die Fälle eines schweren inneren Normbefolgungskonflikts keine Strafmilderung zugute kommen kann, wenn er es vorwerfbar unterlassen hat, sich mit dem hiesigen Rechtssystem vertraut zu machen. Der zunächst geminderte Vorwurf des Handlungsunwerts kann durch dieses Unterlassen in schwerwiegenden Fällen konsumiert, d. h. vollkommen aufgewogen werden. Darüber hinaus wird in der Literatur die Ansicht vertreten, solche Vorstellungen aus dem Kreis der schuldmildernden Umstände auszuscheiden, die zur Verfassungs- und Rechtsordnung der Bundesrepublik in fundamentalem 253  Zur Frage selbstverschuldeter psychischer Ausnahmezustände beim Handlungsunwert, vgl. Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 606. 254  I. d. S.  auch Hörnle, Kultur, Religion, Strafrecht – Neue Herausforderungen in einer pluralistischen Gesellschaft. Gutachten  C zum 70.  Deutschen Juristentag, C 83. Hörnle nimmt in diesem Zusammenhang jedoch irrigerweise an, dass es sich bei der Rechtsordnung des Herkunftslandes sowie bei der Dauer des Aufenthalts des Täters in Deutschland um eigene „Strafzumessungsgründe“ handelt. Das ist weder systematisch richtig, noch entspricht es tatsächlich der Ansicht der Rechtsprechung, die diese Kriterien nicht eigenständig, sondern lediglich unselbstständig i. R.v. wenigstens zwei Rechtsprechungslinien anwendet. 255  Im Ansatz auch vgl. Hörnle, Kultur, Religion, Strafrecht – Neue Herausforderungen in einer pluralistischen Gesellschaft. Gutachten  C zum 70.  Deutschen Juristentag, ebenda. 256  Vgl. oben, Teil 4, VI., 9.



B. Behandlung fremdkultureller Wertvorstellungen in der Strafzumessung293

Widerspruch stehen.257 Dabei werden solche Konstellationen angeführt, bei denen sich der Täter auf eine religiöse oder weltanschauliche Norm beruft, um einen anderen Menschen zu verletzen oder sogar zu töten.258 Dem ist schon deshalb zuzustimmen, weil die Rechtsgemeinschaft gegenüber Tätern, die sich auf derartige Vorstellungen berufen, keinerlei Verständnis in Hinblick auf das Maß der Vorwerfbarkeit des Handelns aufbringen kann. In einem solchen Fall kann das u.  U. gemilderte psychische Element des Schuldvorwurfs vom normativen Aspekt überlagert werden.259 d) Besondere Anforderungen an die zu ermittelnden Strafzumessungstatsachen Die Berücksichtigung des Normbefolgungskonflikts beim Täter stellt das Tatgericht hinsichtlich der zu ermittelnden Strafzumessungstatsachen vor eine schwierige Aufgabe. Darauf wurde bereits i. R. d. Analyse der Rechtsprechungsgenese hingewiesen.260 Das betrifft insbesondere die Tatsachen, die zur Bestimmung der Intensität des Normbefolgungskonflikts erhoben werden müssen. Zunächst ist es erforderlich, die fremdkulturelle Gegennorm, auf die sich der Täter berufen haben muss, hinsichtlich ihres Ge- oder Verbotscharakters zu untersuchen.261 Sollte sich der Beschuldigte lediglich darauf berufen, zwischen seinem heimatlichen und dem hiesigen Kulturkreis zerrissen zu fühlen o. ä., genügt das den notwendigen Feststellungen diesbezüglich nicht. Insofern hat es sich auch in der Literatur mittlerweile herumgesprochen, dass die Herkunft aus einem völlig fremden Kulturkreis „keinen strafzumessungsrechtlichen Automatimus“ darstellt.262 Auf die Notwendigkeit, sich an dieser Stelle mit bestimmten Elementen fremdkultureller Normensysteme zu befassen, musste schon an anderer Stelle aufmerksam gemacht werden. 257  Vgl. etwa Vgl. Hörnle, Kultur, Religion, Strafrecht – Neue Herausforderungen in einer pluralistischen Gesellschaft. Gutachten  C zum 70.  Deutschen Juristentag, C 88. 258  Vgl. etwa Vgl. Hörnle, Kultur, Religion, Strafrecht – Neue Herausforderungen in einer pluralistischen Gesellschaft. Gutachten  C zum 70.  Deutschen Juristentag, ebenda. 259  Vgl. zur Unterscheidung der Schuldelemente, insbes. die normative Stufe betreffend, Schreiber/Rosenau, in: Foerster/Dreßing (Hrsg.), Psychiatrische Begutachtung, S. 97 ff. 260  Vgl. oben, Teil 4, VI., 9. 261  I. d. S.  auch Hörnle, Kultur, Religion, Strafrecht – Neue Herausforderungen in einer pluralistischen Gesellschaft. Gutachten  C zum 70.  Deutschen Juristentag, C  86. 262  Siehe Schmidt, Verteidigung von Ausländern, Rn. 242.

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Besonderes Augenmerk ist dabei auf die Frage zu lenken, inwiefern die fremden Vorstellungen dem Grunde nach überhaupt geeignet gewesen sind, einen Normbefolgungskonflikt beim Täter hervorzurufen. Dann muss konsequenterweise danach gefragt werden, ob es im konkreten Fall aber auch zur Entstehung der psychischen Zwangslage aufgrund der entsprechenden Verhaltensnorm gekommen ist.263 Etwaige Schutzbehauptungen des Beschuldigten in Hinblick auf seine Herkunft im Allgemeinen, wie sie eingangs bereits beschrieben wurden, reichen auch diesbezüglich nicht hin. In solchen Fällen bedarf es seitens des Tatgerichts schon keiner näheren Auseinandersetzung mit der Frage eines Normbefolgungskonflikts. Das gilt u. U. aber nicht für die Fälle, bei denen die Mangelhaftigkeit des Vorbringens seitens des Angeklagten auf etwaige Ausdrucks- und / oder Sprachschwierigkeiten (auch eines ggf. herangezogenen Dolmetschers) zurückzuführen ist.264 Je nach Grad der fremdkulturellen Prägung des Täters kann dann ein Fall des § 140 II Alt. 3 StPO vorliegen.265 Die Indizwirkung der Ausländereigenschaft als solcher ist für Fälle der erschwerten Normbefolgung entsprechend zu beachten. e) Exkurs: Abwandlung bei Irrtümern über das Unrechtsausmaß In einem sehr engen Kontext zur Fallgruppe der erschwerten Normbefolgung aufgrund eines Gewissenskonflikts bei fremdkulturell geprägten Tätern stehen die Fälle, in denen sich der Täter über die rechtliche Bewertung des Unrechtsausmaßes irrt.266 Auch aufgrund der gedanklichen Nähe zu § 17 StGB erscheint eine kurze Stellungnahme diesbezüglich hier zweckmäßig. Gleichwohl ist darauf hinzuweisen, dass diese Fälle, soweit ersichtlich, von nur sehr geringer praktischer Relevanz sind. In Fällen eines Irrtums über das Ausmaß des Unrechts kommt es im Vergleich zur Konstellation der erschwerten Normbefolgung allerdings gar nicht erst zu einem inneren psychischen Konflikt, sondern der Täter nimmt irrigerweise eine mildere Bewertung des Unrechtsausmaßes durch die deutsche Rechtsordnung an.267 Allerdings ist die Einschätzung des Täters über das Unrechtsausmaß lediglich von begrenztem Interesse für die Bewertung seiner Strafzumessungs263  So auch bei Hörnle, Kultur, Religion, Strafrecht – Neue Herausforderungen in einer pluralistischen Gesellschaft. Gutachten  C zum 70.  Deutschen Juristentag, C  86. 264  Dabei handelt es sich nicht nur um ein theoretisches Problem, sondern um praxisrelevante Einwände, vgl. Schmidt, Verteidigung von Ausländern, Rn. 320. 265  Vgl. Schmidt, Verteidigung von Ausländern, Rn. 329 ff. 266  Vgl. etwa auch Valerius, Kultur und Strafrecht, S. 292. 267  Vgl. Hörnle, Kultur, Religion, Strafrecht – Neue Herausforderungen in einer pluralistischen Gesellschaft. Gutachten  C zum 70.  Deutschen Juristentag, C  84.



B. Behandlung fremdkultureller Wertvorstellungen in der Strafzumessung295

schuld.268 Denn grds. genügt es den Vorgaben des Schuldprinzips, wenn der Täter die Bedeutung des Normappells in etwa verstanden hat.269 Nur wenn der Täter glaubhaft vorbringen kann, dass er das relative Gewicht der Tatschwere grundlegend falsch eingestuft hat, es gleichsam völlig verkannt hat, weil seine Bewertung der Sachlage auf einer tatsächlich existierenden Norm des Herkunftslandes beruht, kommt eine Schuldmilderung etwa i. R. d. Rechtsgedankens von § 17 StGB in Betracht.270 Dem sind allerdings enge Grenzen gesetzt. In praxi dürfte dem Täter häufig der Vorwurf gemacht werden können, er hätte seine Fehlvorstellung vermeiden können.271 Analog zur Bewertung des Parallelproblems bei der Fallgruppe der erschwerten Normbefolgung kann es je nach Grad des Vorwurfs zur völligen Versagung einer Strafmilderung kommen. 3. Zusammenfassung In der Gesamtschau leidet die Rechtsprechungslinie zur erschwerten Normbefolgung bei fremdkulturell geprägten Tätern an schwerwiegenden Unzulänglichkeiten. Gegen die Praxis der Rechtsprechung sind dabei zwei zentrale Einwände zu erheben. Der erste Punkt betrifft die mangelhafte Anbindung der Strafzumessungserwägungen an die Schuldkategorie. Die Rechtsprechung ist zwar grds. der Ansicht, dass die Möglichkeit einer Strafmilderung für solche Täter bestehen kann, die aus einem fremden Kulturkreis stammen. Sie vermag aber nicht systemkonform zu begründen, weshalb die damit verbundenen Spezifika der Täterbiographie eine Minderung der Schuld nach sich ziehen können. Diesbezüglich ist der Rechtsprechung zu empfehlen, auf die psychische Bedrängnis (schwerer Normbefolgungskonflikt) und die damit u. U. verbundene Verringerung des Handlungsunwerts i. R. d. Rechtsgedankens von § 17 StGB abzustellen. Der zweite Einwand betrifft die systematisch nicht nachvollziehbare Korrektur eines Schuldumstandes durch formale Kriterien, die keinerlei Aussage über eine erhöhte oder verminderte Schuld- oder Unrechtsbewertung zulassen. Eine solche Praxis ist auch über die Grenzen dieser Rechtsprechungslinie hinaus grds. abzulehnen. 268  Vgl. Hörnle, Kultur, Religion, Strafrecht – Neue Herausforderungen in einer pluralistischen Gesellschaft. Gutachten  C zum 70.  Deutschen Juristentag, C  85. 269  Vgl. Hörnle, Kultur, Religion, Strafrecht – Neue Herausforderungen in einer pluralistischen Gesellschaft. Gutachten  C zum 70.  Deutschen Juristentag, ebenda. 270  Vgl. Hörnle, Kultur, Religion, Strafrecht – Neue Herausforderungen in einer pluralistischen Gesellschaft. Gutachten  C zum 70.  Deutschen Juristentag, ebenda. 271  Vgl. Valerius, Kultur und Strafrecht, S. 292; i. d. S. auch bei Hörnle, Kultur, Religion, Strafrecht – Neue Herausforderungen in einer pluralistischen Gesellschaft. Gutachten  C zum 70.  Deutschen Juristentag, ebenda.

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Die Ursachen der zu beklagenden Monita finden sich neben den generellen Unzulänglichkeiten der Strafzumessungspraxis auch in den besonderen Anforderungen an die Beurteilung der Täterpersönlichkeit, die bei entsprechend gelagerten Fällen einen erheblichen interkulturellen Einschlag aufweisen kann. Insofern lässt sich konstatieren, dass fremdkulturelle Wertvorstellungen im Rahmen dieser Rechtsprechungslinie ein erhebliches tatsächliches Gewicht entfalten können. Die Schwierigkeit der Umwertung in strafzumessungsrechtlich verwertbare Kategorien dürfte dabei eine der zentralen Aufgaben schon bei der Ermittlung der strafzumessungsrelevanten Tatsachen darstellen.

VII. Zur Überwindung einer geringeren Hemmschwelle zur Tat aufgrund fremdkultureller Wertvorstellungen 1. Die Ansicht der Rechtsprechung Trotz schmaler Kasuistik konnten i. R. d. Entscheidungsgenese wesentliche Aspekte zur Rechtsprechungslinie der Überwindung einer gerineren Hemmschwelle zur Tat aufgrund fremdkultureller Wertvorstellungen destilliert werden. Auf die partiellen Gemeinsamkeiten zur Rechtsprechungslinie der erschwerten Normbefolgung wurde schon an anderer Stelle hingewiesen. Die systematisch-dogmatische Betrachtung sollte jedoch auch dazu dienen können, die Unterschiede der Fallgruppen noch deutlicher herauszustellen. Folgende Aspekte haben sich als wesentlich herausgestellt: a) Zunächst bedingt eine Auseinandersetzung mit dem Umstand, dass der Täter eine geringere Hemmschwelle zur Tat aufgrund eingewurzelter Wertvorstellungen zu überwinden hatte, dass das Tatgeschehen maßgeblich durch die Verhaftung des Täters und / oder der weiteren Tatbeteiligten in den Wertvorstellungen einer fremden Kultur beeinflusst wurde. Es geht damit vor allem um Fragen der Verhaltensprägung aufgrund der Internalisierung fremdkultureller, insbes. religiöser und traditioneller, sowie sonstiger weltanschaulicher Wertvorstellungen. Im Gegensatz zur Fallgruppe der erschwerten Normbefolgung finden sich in Hinblick auf die dadurch beim Täter festzustellenden Tatumstände wesentliche Unterschiede. b) Das gilt zum einen hinsichtlich der für die Tat maßgeblichen Wertvorstellungen und deren Auswirkungen auf den Täter. Die Judikate legen den Schluss nahe, dass es bei der Überwindung einer geringeren Hemmschwelle weniger um die Auswirkungen formeller Gebots- bzw. Verbotsnormen geht (die Umständen des § 17 StGB nahe stünden), sondern zuvörderst um die Auswirkungen informeller Normen des sozialen



B. Behandlung fremdkultureller Wertvorstellungen in der Strafzumessung

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Miteinanders auf das Tatgeschehen, die dann wiederum zu affektiven, emotionsgeladenen Verhaltenszuständen geführt haben müssen (Umständen, die demnach § 21 StGB nahe stehen). Es kommt hier also nicht darauf an, dass der Täter eine fremdkulturelle Gegennorm zu seiner Entlastung anführen kann, sondern vielmehr auf den durch vornehmlich informelle Normen vermittelten Druck, der zu einer vorübergehenden psychischen bzw. affektartigen Ausnahmesituation geführt hat. Ein Gewissenskonflikt, wie bei der erschwerten Normbefolgung, ist damit hier keine typische Begleiterscheinung, weil es nicht zu einer Gewissens­ anspannung auf Seiten des Täters kommt. Insoweit muss ein enger sach­ licher, situativer, zeitlicher und innerer Zusammenhang zwischen dem Tatgeschehen und jenen Tatsachen und Umständen bestehen, die durch die kulturellen Wertvorstellungen beeinflusst wurden. Dabei wird es regelmäßig um kulturell bedingte Eigenheiten gehen, die der eigentlichen Tat vorgelagert sind, die also u. U. erst zur Tat „führen“ und den Täter ggf. auf der Motivationsebene beeinflusst haben. c) Als Faustregel könnte in Hinblick auf die Abgrenzung beider Fallgruppen Folgendes angeführt werden: Befindet sich der Täter schwerpunktmäßig in einem Gewissenskonflikt wegen einer formellen fremdkulturellen Gegennorm, könnte die Fallgruppe der erschwerten Normbefolgung einschlägig sein. Befand sich der Täter hingegen während der Tat in einer psychischen Ausnahmesituation aufgrund von informell vermitteltem sozialen Druck, der seine Verhaltenssteuerung emotions- bzw. affektbedingt beeinträchtigt und er deshalb ungehemmter handelte, kommt die Fallgruppe der geringeren Hemmschwelle in Betracht. d) Im Gegensatz zur Fallgruppe der erschwerten Normbefolgung haben die Gerichte ferner bei den Tätern in diesem Kontext keinen, die Schuldmilderung versagenden, Umstand darin gesehen, dass es der Täter trotz längerem Aufenthalts in Deutschland unterlassen hat, sich von den fraglichen Vorstellungen der fremden Rechtsgemeinschaft zu lösen. Wie bereits erwähnt, verdichtet sich durch diese Feststellung die Bedeutung informeller Normgeflechte für diese Fallgruppe. Konsequenterweise fordert der BGH daher auch nicht, dass die Vorstellungen des Täters hier im Einklang mit der fremden Rechtsordnung stehen müssen! Das ist vor dem Hintergrund, dass der Täter in seiner Heimat unter den gleichen, die Psyche beeinflussenden, Umständen genauso gehandelt hätte, auch richtig. e) Der Ausländereigenschaft des Täters ist auch bei dieser Fallgruppe höchstens eine Indizwirkung beizumessen. f) Nach den bisher in Augenschein genommenen Entscheidungen dürfte die Fallgruppe vornehmlich bei solchen Taten einschlägig sein, die im

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familiären oder sonstigen sozialen Nahbereich stattgefunden haben oder bei denen dieser eine tragende Rolle für das Tatgeschehen eingenommen hatte. 2. Ausgewählte Problemfragen a) Vorbemerkungen Grundsätzlich wird die Problematik der geringeren Hemmschwelle zur Tat bei der Strafzumessung wie auch auf der Ebene des materiellen Schuldspruchs der Schuldfrage zugeordnet.272 Die Enthemmung zur Tat kann in schweren Fällen aufgrund seelischer Störungen gem. § 20 StGB sogar zum Ausschluss der materiellen Schuld führen. Einen weitergehenden Bewertungsspielraum für Fragen der Strafzumessung eröffnet hingegen § 21 StGB. Demnach kann in bestimmten Fällen die Schuldfähigkeit jedenfalls vermindert sein, wenn der Täter nicht fähig war, das Unrecht seiner Handlungen einzusehen bzw. nach dieser Einsicht zu handeln. Das setzt jedoch erstens voraus, dass sowohl eine der in § 20 StGB beschriebenen Fähigkeiten des Täters, bei der Tatbegehung erheblich vermindert ist als auch zweitens, dass dieser Umstand auf einer, der in § 20 StGB erfassten, psychischen Störungen beruht.273 b) Systematische Verortung und Möglichkeiten einer rechtlichen Bewertung In der Rechtsprechung ging man in einigen Entscheidungen von der Annahme aus, dass aufgrund der fremdkulturellen Sozialisation des Täters bestimmte Verhaltensmuster derart stark internalisiert wurden, dass sie zu einer Enthemmung in Hinblick auf die Tathandlung bzw. zur Überwindung einer geringeren Hemmschwelle zur Tat geführt haben.274 Diese Erwägung ist bezüglich der rechtlichen Verortung und Bewertung schon deshalb undurchsichtig, weil bei den Tätern keines der Eingangsmerkmale von § 20 StGB vorgelegen hatte. In keinem Fall wurde eine seelische Störung i. S. d. Vorschrift festgestellt. Es gibt auch keine Anzeichen dafür, dass sich der Lapsus des BGH aus dem Jahr 1966 (Übertragung der Grundsätze psychopathischer Persönlichkeiten auf Ausländer) in den fraglichen Entscheidungen 272  Vgl. etwa Fischer, StGB, § 21, Rn. 5; Nedopil, in: Häßler/Kinze/Nedopil (Hrsg.), Praxishandbuch Forensische Psychiatrie des Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalters, S. 684. 273  Vgl. Fischer, StGB, § 21, Rn. 2. 274  Vgl. zur Genese ausführlich oben, Teil 4, VII., insbes. BGH, Urteil v. 01.02.2007  – 4 StR 514/06.



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in irgendeiner Form niedergeschlagen hat.275 Damit erscheint eine Einbettung der entsprechenden Strafzumessungserwägungen i. R.v. § 21 StGB jedenfalls weder möglich noch angezeigt zu sein. Allerdings ergab die Analyse der entsprechenden Entscheidungen auch, dass die Gerichte davon ausgegangen sind, dass die Steuerungsfähigkeit in gewisser Weise durch spezifische Drucksituationen unmittelbar vor der Tat jedenfalls insoweit beeinflusst wurde, dass die Täter in besonderem Maße erregt waren und sich zur Tat hingerissen fühlten. Diesbezüglich ließen sich den Entscheidungen verschiedene Bezeichnungen der Täterpsyche entnehmen, die den Schluss nahe legen, dass zwar grds. die gleichen bzw. ähnlichen Phänomene in Hinblick auf die Verhaltenssteuerung beschrieben wurden, den Gerichten jedoch eine greifbare Umschreibung gerade in Ermangelung einer dogmatischen Schnittstelle mit der forensisch-psychiatrischen Problematik erschwert war.276 Es ging also vornehmlich um die Schwierigkeiten der Tatgerichte, die gutachterlich festgestellten Befunde strafzumessungsrechtlich umzuwerten. Wie auch bei anderen Rechtsprechungslinien und Fallgruppen, die i.  R.  d. Arbeit untersucht wurden, entstehen diese Friktionen bei der Umwertung insbes. deshalb, weil in den Urteilsgründen die Rückkopplung an die strafzumessungsrechtlichen Begrifflichkeiten in gewisser Weise aufgegeben wird und an deren Stelle die Frage tritt, ob ein bestimmter Umstand „zugunsten“ oder eben „strafmildernd“ bzw. vice versa zu veranschlagen sein soll. Hierbei handelt es sich freilich um ein ganz generelles Problem der Strafzumessung. Insofern sind, um auf das Problem dieser Rechtsprechungslinie zurückzukommen, mehrere tatsächliche Konstellationen denkbar, die in diesem Zusammenhang die Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit aufgrund einer fremdkulturellen Verhaltensprägung der Tatbeteiligten verursacht haben könnte. Dabei spielen insbes. die Handlungsleitung durch das verinnerlichte Wertegefüge sowie die Impulskontrolle eine Rolle.277 Darüber hinaus ist in Hinblick auf die Bewertung der Steuerungsfähigkeit auch an verschiedene Ausprägungsgrade motivationaler Faktoren und affektiver Ausnahmezustände, wie einer affektiven Erregung278 zu denken.279 Das muss ggf. im Ein275  Vgl.

dazu oben, Teil  4, A., V.; BGH, Urteil v. 26.04.1966  – 5 StR 122/66. schmalen Regelungen der §§ 20, 21 StGB reichen diesbezüglich nicht hin und sind z. T. erheblich antiquiert. Auch hier zeigt sich einmal mehr die Notwendigkeit interdisziplinär-integrativer Methoden im Strafrecht. Die Legislative bleibt davon freilich nicht ausgenommen. 277  Vgl. dazu etwa Nedopil, in: Häßler/Kinze/Nedopil (Hrsg.), Praxishandbuch Forensische Psychiatrie des Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalters, S. 685. 278  So etwa bei BGH, Urteil v. 22.03.2012, 4 StR 558/11, UA.  33 erwähnt. 279  Vgl. Schreiber/Rosenau, in: Foerster/Dreßing (Hrsg.), Psychiatrische Begutachtung, S. 199 ff., insbes. 201. 276  Die

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zelfall gutachterlich abgeklärt werden. Für eine mögliche Dominanz der affektiven Sondersituationen in diesem Zusammenhang könnte die Tatsache sprechen, dass in den einschlägigen Fällen spezifische Täter-Opfer-Beziehungen vorgelegen haben.280 Die Opfer waren demnach stets von gewisser Relevanz für die Täter. Deutlich wird jedoch, dass die Unzulänglichkeiten in den Urteilen eben auch aus dem Umgang mit der forensisch-psychiatrischen Materie herrühren. Dabei ist jedoch insgesamt zu beachten, dass diese Umstände erst dann besonderes Gewicht i. S. e. erheblichen Beeinträchtigung der Steuerungs­ fähigkeit entfalten können, wenn sich der Täter darüber hinaus in einem akuten pathologischen Zustand befindet.281 Allerdings dürfte dann auch regelmäßig ein Eingangsmerkmal von § 20 StGB erfüllt sein. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass außerhalb akuter Krankheitsphasen der Einfluss besagter affektiver Störungen wohl regelmäßig nicht erheblich ist. Damit scheidet auch eine analoge Anwendung von § 21 StGB für die hier interessierenden Fälle aus. Allerdings könnte in solchen Fällen einer nicht erheblichen (aber nicht völlig unerheblichen) Störung der Steuerungsfähigkeit eine Berücksichtigung bei § 46 II 2 StGB in Frage kommen.282 Dort ließe sich etwa eine Veranschlagung bei den Beweggründen oder den persönlichen Verhältnissen des Täters eröffnen. In Fällen, in denen die festgestellte Störung schon nahe an der Erheblichkeitsschwelle des § 21 StGB liegt, erscheint sogar eine Berücksichtigung i. R. d. Rechtsgedankens von § 21 StGB denkbar. In letzterem Falle müsste dann der Einfluss auf die Strafzumessungsschuld schwerer wiegen können, als bei einer Berücksichtigung der weniger schweren Fälle i. R.v. § 46 StGB. Vor diesem Hintergrund dürfte es sich wohl nur dann um einen bestimmenden Umstand i. S. v. § 267 III StPO handeln, wenn die festgestellte Störung von einigem Gewicht ist, d. h. nahe an der Erheblichkeitsschwelle des § 21 StGB. Diese Erwägungen stehen auch nicht der klarstellenden Entscheidung des BGH zur Hemmschwellentheorie als solcher bei Tötungsdelikten entgegen.283 Insofern stellte der BGH dort lediglich heraus, dass die Hemmschwellentheorie nichts anderes als ein Hinweis auf § 261 StPO sei und dass das Gericht in Hinblick auf eine Tötungshemmschwelle in besonderem 280  Vgl. zu diesem Erfordernis in Hinblick auf die Unterscheidung zw. Affektund Impulstat, Marneros, in: Rohde/Marneros (Hrsg.), Geschlechtsspezifische Psychiatrie und Psychotherapie, S. 595. 281  Vgl. Schreiber/Rosenau, in: Foerster/Dreßing (Hrsg.), Psychiatrische Begutachtung, S.  199 f. 282  Vgl. dazu grds. etwa Fischer, StGB, § 46, Rn. 42a. 283  Vgl. BGH, Urteil v. 22.03.2012, 4 StR 558/11.



B. Behandlung fremdkultureller Wertvorstellungen in der Strafzumessung301

Maße zu fundierten Überzeugungen (bzgl. der Annahme eines Tötungsvorsatzes) gelangen muss.284 Ein näherer Einfluss dieser Entscheidung auf die Strafzumessung in Zusammenhang mit Erwägungen zur geringeren Hemmschwelle ist nicht feststellbar. c) Keine Beschränkung auf fremdkulturelle Wertvorstellungen Die vorgestellten Aspekte einer rechtlichen Bewertung der entsprechenden Fallkonstellationen einer geringeren Hemmschwelle zur Tat zeigen – im Einklang mit den interdisziplinären Erkenntnissen über den Einfluss von Wertvorstellungen auf die Handlungsleitung von Individuen285 –, dass die Berücksichtigung affektiver Störungen u. ä. aufgrund internalisierter Wertvorstellungen i.  R.  d. strafzumessungsrechtlichen Instrumentariums grds. möglich erscheint. Allerdings zeigen die Ausführungen auch, dass eine pauschale Beschränkung der berücksichtigungsfähigen Wertvorstellungen auf solche fremdkultureller Provenienz weder zwingend noch angezeigt ist. Soweit verhaltensprägende Wertvorstellungen im konkreten Fall zu einer der möglichen – oben im Ansatz beschriebenen – Zustände führen, muss es allein um die beim Täter zum Tatzeitpunkt u. U. verminderten Kapazitäten der Handlungsteuerung und deren strafzumessungsrechtliche Bewertung gehen. Weshalb dies – soweit ersichtlich – nur für fremdkulturelle Wertvorstellungen angenommen wird, bleibt insofern fraglich. Haben kulturelle, religiöse oder sonstige weltanschauliche Vorstellungen eine Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit i. S. e. affektiven Störung hervorgerufen, ist es allein maßgeblich, ob eine Bewertung der Steuerungsfähigkeit i. R. d. rechtlichen Möglichkeiten Rückschlüsse auf eine verminderte Schuld zulassen. Allerdings ist zu beachten, dass hinsichtlich der phänomenologischen Aspekte bei fremdkulturell geprägten Tätern möglicherweise eine nicht näher bestimmbare Vielzahl solcher verhaltensprägender Momente hinzutreten können, die bei einheimischen Tätern aufgrund der unterschiedlichen Sozialisation typischerweise nicht vorzufinden sein dürften. d) Zum Einwand der Ubiquität relevanter Verhaltenseinflüsse Diese Überlegungen lassen erhebliche Zweifel an der Opportunität der Berücksichtigung bzw. der Reichweite einer Berücksichtigungsfähigkeit solcher Verhaltensstörungen aufkommen, die durch internalisierte Wertvorstellungen bedingt werden, weil die dafür verantwortlichen Prozesse von 284  Vgl. 285  Vgl.

BGH, Urteil v. 22.03.2012, 4 StR 558/11, insbes. UA.  34, 36, 39. dazu oben, Teil 2, A., I., 3.

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Teil 5: Perspektiven einer systematisch-dogmatischen Behandlung

jedem Individuum einer Gesellschaft irgendwann während der Sozialisation durchlaufen werden. In der Literatur wird deshalb der Einwand der Ubiquität dieser Verhaltenseinflüsse gegen deren Berücksichtigung erhoben.286 In der Biographie jedes Menschen finden sich besonders intensive Phasen der Prägung, die später Auswirkungen hinsichtlich der Interaktionen und Entscheidungsfindungen auch in kritischen Situationen zeitigen.287 Demnach sei unbeschränkte Steuerungsfähigkeit ohnehin bei niemandem gegeben, weil erlernte Bewertungs- und Verhaltensmuster bestimmte Verhaltensoptionen blockieren.288 In diesem Zusammenhang erscheint es zwar zunächst konsequent danach zu fragen, weshalb manche persönlichen Vorprägungen letztlich strafmildernd berücksichtigt werden sollen und andere wiederum nicht.289 Allerdings greift die Kritik hier hinsichtlich der eigentlich notwendigen Betrachtung zu kurz. Denn maßgeblich kann zunächst nicht die Frage nach der Strafmilderung sein, weil sie, so gestellt, am Kern des Problems vorbei geht. Die Ausführungen zur rechtlichen Bewertung haben auf einige psychische Ausnahmezustände hingewiesen, bei deren Vorliegen eine u. U. signifikante Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit zum Tatzeitpunkt angenommen werden kann. Richtigerweise muss also zunächst gefragt werden, ob die Verhaltensprägung im konkreten Fall die Schuldfrage berührt hat. Diese Frage ist jedoch vor allem durch psychologische und ggf. psychiatrische Begutachtung im Einzelfall zu klären.290 Sie kann in bestimmten Fällen – unabhängig von der Provenienz der möglicherweise ursächlichen Verhaltensprägung – bestimmte Grenzbereiche überschreiten, die über das ubiquitäre Einengen der Verhaltenssteuerung hinausgehen. Bei solchen Fällen greift der Ubiquitätseinwand – der abseits dessen sicher berechtigterweise erhoben werden kann – nicht. Erst im Anschluss daran darf die Frage der Strafmodifikation gestellt werden, nicht jedoch vice versa.

286  Vgl. Hörnle, Kultur, Religion, Strafrecht – Neue Herausforderungen in einer pluralistischen Gesellschaft. Gutachten  C zum 70.  Deutschen Juristentag, C  85. 287  Vgl. Hörnle, Kultur, Religion, Strafrecht – Neue Herausforderungen in einer pluralistischen Gesellschaft. Gutachten  C zum 70.  Deutschen Juristentag, ebenda. 288  Vgl. Hörnle, Kultur, Religion, Strafrecht – Neue Herausforderungen in einer pluralistischen Gesellschaft. Gutachten  C zum 70.  Deutschen Juristentag, ebenda. 289  Vgl. Hörnle, Kultur, Religion, Strafrecht – Neue Herausforderungen in einer pluralistischen Gesellschaft. Gutachten  C zum 70.  Deutschen Juristentag, C.  86. 290  Insofern gelten auch bei diesen Fällen besondere Anforderungen an die Ermittlung der strafzumessungsrelevanten Tatsachen. Diese sind jedoch in Hinblick auf die Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit stark von forensisch-psychiatrischen Erkenntnissen abhängig. Schon deshalb muss auf nähere Ausführungen diesbezüglich hier verzichtet werden.



B. Behandlung fremdkultureller Wertvorstellungen in der Strafzumessung303

3. Zusammenfassung Nach alledem bleibt zu konstatieren, dass es für die Fälle, in denen eine geringere Hemmschwelle zur Tat aufgrund fremdkultureller Wertvorstellungen angenommen wurde, derzeit noch vornehmlich um Aspekte der Vereinheitlichung der Rechtsprechung gehen muss. Das betrifft einerseits die interdisziplinären Probleme in Hinblick auf die besonderen Spezifika der Täterpsyche und der Vorprägung sowie die damit verbundenen Fragen einer rechtlichen Würdigung im Detail. Dabei sind die Chancen, in diesem Bereich Lösungen zu finden, durchaus positiv zu bewerten, weil entgegen der zahlreichen Probleme bei anderen Rechtsprechungslinien mit dem strafzumessungsrechtlichen Ansatzpunkt einer geringeren Hemmschwelle zur Tat bereits die zentrale Frage geklärt ist, in welchem Rahmen die Berücksichtigung dieses Umstandes strafzumessungsrechtlich de lege lata möglich erscheint. Allerdings muss davor gewarnt werden, aus den Ansätzen dieser Rechtsprechungslinie auf einen strafzumessungsrechtlichen Automatismus für fremdkulturell geprägte Täter zu schließen. Die Ausführungen haben insoweit die Notwendigkeit eines restriktiven Umgangs mit diesem Strafzumessungsumstand nahe gelegt. Ein solcher erscheint schon letztlich wegen der grundsätzlichen Ubiquität der Verhaltensprägung durch internalisierte Wertvorstellungen notwendig. Dieser Ansatz wird auch durch die Erkenntnisse über die Handlungsleitung von Wertvorstellungen zu Beginn der Arbeit substantiiert. Nur in engen Grenzen kann eine Berücksichtigung affektiver Sondersituationen aufgrund internalisierter Wertvorstellungen – dann aber auch unabhängig von ihrer Provenienz – möglich sein. Diesbezüglich müssen Erheblichkeitsschwellen überschritten werden, deren Ausmessung im Einzelfall nur durch gutachterliche Tätigkeiten i. V. m. den normativen Vorgaben des Gesetzes erfolgen kann. Die schwierige Aufgabe des Tatrichters, sich mit den interdisziplinären Gutachten adäquat im Einzelfall auseinander zu setzen und deren Aussagen strafzumessungsrechtlich umzuwerten, stellt gegenwärtig noch eines der großen Probleme in diesem Zusammenhang dar. Neben den forensischpsychiatrischen Expertenvoten können bei fremdkulturell geprägten Tätern gerade im Bereich der Verhaltensprägung zusätzlich ethnologische Gutachten notwendig werden. Tritt darüber hinaus noch bspw. das Bedürfnis einer kriminologischen Expertise im konkreten Fall hinzu, sollte spätestens dann deutlich werden, weshalb die Vorteile eines integrativen Ansatzes mit Blick auf die interdisziplinären Herausforderungen im Strafprozess – wie sie etwa oben angerissen wurden – mit aller Deutlichkeit zu betonen sind. Diesbezüglich wäre freilich das Handeln des Gesetzgebers unerlässlich.

Teil 6

Rück- und Ausblick Die Bundesrepublik Deutschland steht seit dem Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg vor zahlreichen gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen. Mit den 1950er Jahren beginnt die Entwicklung zum Einwanderungsland, befördert durch die für den Wiederaufbau wichtige Gastarbeiterbewegung. Die in diesem Kontext von der Politik gesetzten Rahmenbedingungen können jedoch die damit verbundenen gesellschaftlichen Realitäten nicht immer adäquat lenken, weil man z. T. von fatalen Fehlannahmen ausgegangen ist. Der schwerwiegendste Fehler war sicher der, zu glauben, dass die Gastarbeiter und ihre Nachkommen – wie vom Rotationsprinzip vorgesehen – das Land nach einer gewissen Zeit wieder verlassen würden. Viele sind jedoch geblieben. Aus Gästen wurden Einwanderer und Zuwanderer; aus einigen wurden Deutsche. Dennoch sind nicht wenige derer und jener, die in den folgenden Dekaden aus den unterschiedlichsten Gründen in die Bundesrepublik gekommen sind, der hiesigen Kultur und ihren Werte- und Rechtsvorstellungen fremd geblieben. Diese binnenkulturelle Entwicklung, die mittlerweile durch zahlreiche weitere Faktoren eine kaum noch kontrollierbare Dynamik entwickelt hat, erzeugt dabei bis heute ganz unterschiedlich schwerwiegende gesellschaftliche Friktionen, auch weil das Miteinander in der interkulturellen Begegnung nicht immer harmonisch und friedlich verläuft. Neben den binnenkulturellen Tendenzen werden interkulturelle Begegnungen aber auch in immer stärkerem Maße durch die Globalisierung begünstigt und gefördert. Das Aufeinandertreffen von Personen, deren Verhalten von unterschiedlichen Wert- und Rechtsvorstellungen geprägt ist, gehört in bestimmten Ballungszentren bereits zum Alltag. Dabei können die individuellen Vorstellungen der Menschen darüber, wie bestimmte alltägliche und besondere Situationen zu bewältigen sind, allerdings gravierend auseinanderfallen. Insofern bergen interkulturelle Begegnungen auch einiges an strafrechtlich relevantem Konfliktpotential. Die zentrale Frage im Kontext der vorliegenden Arbeit lautete daher: Wirken sich fremdkulturelle Wert- und Rechtsvorstellungen und solche Tatsachen und Umstände, die eng mit ihnen verbunden sind, auf die strafzumessungsrechtliche Beurteilung von Straftaten aus? Wesentliche Aspekte der Fragestellung wurden dabei im Rahmen des Themas dieser Arbeit auf den Status fremdkultureller Wertvorstellungen bei der Strafzumessung konzentriert.



Teil 6: Rück- und Ausblick305

Dazu war es zunächst notwendig, die Phänomenologie fremdkultureller Wertvorstellungen außerhalb des strafrechtlichen Kontextes näher zu untersuchen. Der interdisziplinäre Diskurs konnte dabei zwar nur fragmentarisch das einfangen, was sich diesbezüglich über Dekaden in den Sozial-, Kulturund Verhaltenswissenschaften herausgebildet hat. Gleichwohl war eine Durchleuchtung der verschiedenen Facetten des Phänomens, für die sich später stellenden Fragen des Strafzumessungsrechts, sicher unerlässlich. Das betrifft nicht nur die Charakterisierung des Phänomens in Hinblick auf die Verschiedenartigkeit von Kulturen und ihren Wertvorstellungen. Vor dem Hintergrund der zentralen Fragestellung war daher auch der Forschungsstand zur Reichweite des Einflusses internalisierter Wertvorstellungen auf die Handlungsleitung von Individuen und Gruppen verschiedener Kulturen – auch, wie gerne übersehen wird, der hiesigen – zu sichten. Dabei hat sich gezeigt, dass die Bedürfnisse strafrechtlicher Fragestellungen weniger von fremdkulturellen Belangen per se tangiert werden, als der Diskussionsstand zu vermitteln scheint. Soweit das Strafrecht nach der individuellen Vorwerfbarkeit fragt, lässt sich dies nicht ohne den Einfluss internalisierter Wertegefüge auf individuelles Handeln beantworten. Insoweit scheint die Bedeutung einer oft abstrakt wirkenden Kulturdebatte in Hinblick auf das Strafrecht insgesamt überbewertet zu werden. Daneben mussten bzgl. der rechtlich-normativen Bedürfnisse der Fragestellung auch Perspektiven einer Operationalisierbarkeit bestimmter Aspekte der phänomenologischen Gemengelage ausgeleuchtet werden. Die Probleme im Umgang mit fremdkulturellen Wertvorstellungen rühren schließlich auch aus dem Umstand her, dass der Strafjurist weder Kulturnoch Verhaltenswissenschaftler ist und die Möglichkeiten der Umwertung spezifischer Erkenntnisse aus anderen Disziplinen in strafrechtlich relevante Kategorien (vor allem Unrecht und Schuld!) in Ermangelung eines integrativen Konzepts sowie systematisch-dogmatischer Schnittstellen mit zahlreichen Unwägbarkeiten behaftet sind. Daran ändern in praxi auch Expertengutachten, die zur Beurteilung bestimmter Tat- und Täteraspekte beitragen sollen, grds. nichts, weil sie die Ursache der „Umwertungsfriktionen“ nicht beseitigen (können). In bestimmten Konstellationen scheint sogar der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme gefährdet zu sein, weil tatrichterliche Entscheidungsprozesse bzgl. der Filtrierung von für die Urteilsfindung relevanten Tatsachen und Umstände aufgrund der interdisziplinären Gemengelage völlig überfrachtet werden. Ganz generell wird dadurch die Frage nach der Notwendigkeit einer interdisziplinären Kompetenz für Strafrichter akut.1 Vor diesem Hintergrund sollten sich Strafjuristen ein1  Neben der Frage der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme wird auch der Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung in derartigen Fällen in Frage zu

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Teil 6: Rück- und Ausblick

gestehen können und dürfen, was sie tatsächlich und sinnvollerweise leisten können und was nicht.2 Diese Perspektive sollte durch das Handeln des Gesetzgebers gestützt und forciert werden. Damit steht eine abschließende Antwort auf die Frage der sachgerechten Einbindung fachfremder Erkenntnisse in strafrechtliche Vorgänge noch aus. Das Phänomen der Täter aus fremden Kulturen hat freilich auch kriminologisch relevante Komponenten, deren Untersuchung zwar schon abstrakt notwendig erschien, jedoch auch in Hinblick auf die Rechtsprechung, die versucht, kriminologische Erscheinungen in den Urteilsgründen nutzbar zu machen, von ganz praktischer Bedeutung gewesen ist. Von einiger Wichtigkeit war es dabei, die z. T. fremdkulturell spezifischen Besonderheiten der Kriminalität bestimmter Gruppen von Nichtdeutschen auszuleuchten, weil sie in der Vergangenheit zum Gegenstand bestimmter Strafzumessungserwägungen gemacht wurden. Dabei wurden Mängel in der wissenschaftlichen Diskussion und Theorienbildung, etwa hinsichtlich der Kriminalitätsbelastung von Nichtdeutschen, deutlich. Es zeigte sich insgesamt, dass die systematische Erfassung der Delinquenz den gesellschaftlichen Realitäten nicht mehr gerecht wird. Die Unterscheidung der gängigen Statistiken in die Kriminalität von Deutschen und Nichtdeutschen ist überholt und kann nur noch einen begrenzten Beitrag zur Aufhellung bestimmter Kriminalitätsphänomene in diesem Zusammenhang leisten. Insofern muss an dieser Stelle deutlich gemacht werden, dass für die Erfassung spezifischer Kriminalitätsphänomene in einer multikulturellen Gesellschaft neue Möglichkeiten durch Wissenschaft und Praxis erarbeitet werden müssen. Um die entsprechenden Erkenntnisse auch für das Strafrecht nutzbar zu machen, wäre es auch hier wünschenswert, einen integrativen Ansatz zu entwickeln. Auf die grundsätzliche Notwendigkeit diesbezüglich musste mit Blick auf die Erfassung und Bewertung von tatrelevanten Charakteristika durch alle Ebenen der am Strafverfahren beteiligten Instanzen hindurch aufmerksam gemacht werden. Die Chancen, das Grundproblem der interdisziplinären Überfrachtung auch außerhalb fremdkultureller Fallkonstellationen besser in den Griff zu bekommen, würden damit deutlich erhöht werden. Das Fehlen systematischer Schnittstellen wurde darüber hinaus auch später für die Bereiche der forensisch-psychiatrischen Materie ersichtlich.

stellen sein. Die interdisziplinäre Dichte bestimmter Fallkonstellationen scheint zuweilen ggeignet zu sein, die (tat-)richterliche Überzeugungskraft delegitimieren. 2  Das betrifft letztlich ganz generell Tatsachenfragen und ihre juristische Umwertung; auch solche, die über das Thema der vorliegenden Arbeit hinausgehen. Je komplexer die entsprechende Thematik der im Einzelfall akuten Frage ist, desto größer dürften die Schwierigkeiten des Juristen sein, die Fakten zu verstehen und adäquat zu bewerten.



Teil 6: Rück- und Ausblick

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Die Untersuchungsergebnisse im praxisorientierten Teil der Arbeit erscheinen ferner geeignet, einen Beitrag dazu zu leisten, den Status fremdkultureller Wertvorstellungen bei der Strafzumessung unter besonderer Berücksichtigung interdisziplinärer Erkenntnisse näher zu bestimmen. Die Einigkeit der Senate des BGH bzgl. einiger Rechtsprechungslinien darf indessen nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Umgang mit fremdkulturell eingefärbten Umständen nach wie vor von gewissen Unsicherheiten und Unzulänglichkeiten geprägt ist. Dabei hat sich insbes. im letzten Teil der Arbeit die Vermutung aufgedrängt, dass das tatsächliche Gewicht dieser fremdkulturell bedingten Phänomene jedenfalls im Bereich der Strafzumessung weniger schwer wiegt, als es die Diskussionen und Debatten in Wissenschaft, Politik und den Medien vermitteln. Die erarbeiteten Perspektiven einer systematisch-dogmatischen Behandlung fremdkultureller Wertvorstellungen haben insofern aufzeigen können, dass die Räume diesbezüglich eher eng ausgestaltet sind. Das stellt jedoch keinen Makel, etwa bzgl. der interkulturellen Beweglichkeit des Strafrechts dar, sondern ist vielmehr eine Notwendigkeit in Hinblick auf die Funktionen von Strafrecht und Strafe. Vor diesem Hintergrund wirkt auch die Debatte um die Interkulturalität des Strafrechts künstlich aufgebläht, weil sie zur Frage der gerechten Behandlung von Straftätern – ob einheimisch oder fremdkulturell – substanziell wenig beiträgt.3 Im Zusammenhang mit der Untersuchung der Strafzumessungspraxis wurde aber auch deutlich, dass das Recht der Strafzumessung nach wie vor an z. T. gravierenden Unzulänglichkeiten leidet und damit sowohl für gewisse praktische als auch theoretische Schieflagen mitursächlich ist. Die Divergenzen zwischen Strafzumessungstheorie und Praxis führen in bestimmten Bereichen zu eklatanten Widersprüchlichkeiten. Auch diesbezüglich konnte die Untersuchung anhand der Fälle mit fremdkulturellem Einschlag zahlreiche Belege liefern. Dabei wurde offensichtlich, dass für einige Problemlagen das Handeln des Gesetzgebers zwingend erforderlich scheint, weil we3  Die Debatte zur Interkulturalität des Strafrechts ist damit aber sicher nicht obsolet. Sie muss lediglich in Bezug auf den richtigen Gegenstand geführt werden. Insofern scheint die Interkulturalität nur schwer mit nationalen Strafrechtsordnungen in Einklang gebracht werden zu können. Forderungen nach einem Institut der „Cultural Defense“ o. ä. sind nicht in Bezug auf eine nationale Strafrechtsordnung aufzustellen, die eine interkulturelle Geltungskraft beansprucht. Etwas anderes gilt jedoch u. U. für Fragen eines internationalen Strafrechts, welches über die Grenzen nationaler Strafrechtsordnungen hinaus interkulturelle Bedürfnisse bedienen muss, sofern dessen Geltungsbereich eine Ausdehnung und Applikation etwa über mehrere Kulturkreise möglich erscheinen lässt. Auf die Schwierigkeiten der Etablierung eines solchen internationalen Strafrechts, das im Falle eines kulturkreisübergreifenden Anwendungsbereichs auch ein interkulturelles Strafrecht sein muss, sei insofern hingewiesen.

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Teil 6: Rück- und Ausblick

der Theorie noch Praxis unter den Bedingungen de lege lata in der Lage sind, adäquate Lösungen anzubieten. Das betrifft vor allem die Schwierigkeiten, die nach wie vor im Umgang mit dem zentralen Leitbegriff der Schuld einhergehen. Dessen marginale Konkretisierung durch § 46 StGB reicht nicht hin. Diese Feststellung ist bereits so alt wie das gegenwärtige Recht der Strafzumessung selbst. Darüber hinaus hat der lebhafte, aber von Uneinigkeit geprägte, wissenschaftliche Diskurs zum Schuldbegriff keine größeren Bewegungen in Praxis und Gesetzgebung in Gang setzen können. Die Vermengung von Unrechts- und Schuldfragen (d. h. Fragen der Vorwerfbarkeit) innerhalb des Leitbegriffs der Strafzumessungsschuld führt nach wie vor zu massiven Begründungsdefiziten bei Strafentscheidungen. Dabei hat sich gezeigt, dass die gesetzlich bedingten, und durch die Praxis tradierten, Unzulänglichkeiten in Hinblick auf die Begründung von Strafaussprüchen sowohl unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten als auch unter Gerechtigkeitsaspekten nicht hinnehmbar sind. Strafurteile müssen in den Gründen deutlich machen, welche Umstände unrechts- und schuldrelevant sind bzw. die Belange der Prävention berühren. Schon diesbezüglich ist die Forderung nach einer lex ferenda bzw. leges ferendi begründet. Dabei erscheint es notwendig, sowohl die §§ 46 ff. StGB als auch § 267 StPO in den Blick zu nehmen. In diesem Zusammenhang sind jene Teile von Wissenschaft und Praxis zu kritisieren, die einen unreflektierten Gebrauch der strafzumessungsrechtlich relevanten Termini pflegen und tradieren. Soweit schon die gesetzlichen Vorschriften de lege lata eine Unterscheidung zwischen Tatsachen, Umständen und Gründen nahe legen, sollte diesbezüglich eine einheitliche Linie entwickelt werden. Die bis hierhin fixierten Vorschläge, sowohl die interdisziplinäre Problematik als auch die Strafzumessungstheorie und -dogmatik betreffend, erscheinen geeignet, einen Beitrag zu einer gleichmäßigeren Strafzumessung über die Grenzen des Untersuchungsgegenstandes dieser Arbeit hinaus zu leisten. Damit ist die Frage nach der Änderungsbedürftigkeit des Strafzumessungsrechts in den Fokus der abschließenden Betrachtung gerückt. Sie stellt sich zum einen ganz grundlegend bedingt durch die spezifische Genese des Rechtsgebiets. Daneben wird sie in der wissenschaftlichen und politischen Diskussion aber auch mit den Folgen der Pluralisierung der Gesellschaft – etwa in Form von „neuen Herausforderungen“, wie von der Fachabteilung Strafrecht des 70. DJT formuliert – verbunden. Diesbezüglich gilt es jedoch zu beachten – und das sollte deutlich geworden sein –, dass die Ursachen der Änderungsbedürftigkeit weniger mit den binnenkulturellen Entwicklungen zu tun haben, als die Schlaglichtdiskussionen Glauben machen. Die Gründe dafür sind vielmehr vielschichtig und sollten durch die Arbeit im Wesentlichen behandelt worden sein. Dass man in dieser Sache zu glauben scheint, es sei gerade das Phänomen einer multikulturellen Gesellschaft,



Teil 6: Rück- und Ausblick309

welches das nationale Strafrecht vor besondere Herausforderungen stellt, ist demnach nur bedingt plausibel, da lediglich bestimmte Teile der Strafrechtspflege hiervon unmittelbar betroffen sein dürften. Das gilt vor allem für die Praxis, die gewisse Schwierigkeiten im Umgang mit fremden bzw. unbekannten Sachverhalten zu haben scheint, weil bestimmte Routinen – etwa die Vergleichspraxis zwischen ähnlichen Fällen – in solchen Konstellationen häufiger versagen. Hinsichtlich der Ausgestaltung des Strafrechts erscheinen die Gründe einer Änderungsbedürftigkeit weniger interkulturell bedingt zu sein, denn die Grundsätze unserer Strafrechtsordnung weisen alle notwendigen Rahmenbedingungen auf, auch „den Fremden“ gerecht zu behandeln; nämlich nach den Maßstäben, die für jedermann, ob fremd oder nicht, gelten. Auch dabei handelt es sich um eine rechtskulturelle Errungenschaft, die durch interkulturelle Einflüsse und Strömungen nicht gefährdet oder in Frage gestellt werden darf. In diesem Zusammenhang also von „neuen ­Herausforderungen“ zu sprechen, geht dabei jedenfalls z. T. am Kern des Problems vorbei. Häufig geht es eben auch um das Ausmerzen alter Versäumnisse, etwa solcher infolge einer mangelhaften Integrations- und Einwanderungspolitik,4 oder aufgrund anderweitiger gesetzgeberischer Fehl­ leistungen in den themennahen Bereichen. Damit kann nicht nur der Ruf nach Änderungen im Strafrecht verbunden werden, weil die Ursachen bestimmter Problemlagen nicht im Strafrecht oder der Strafrechtspflege selbst wurzeln. Der immer häufigere Umgang mit „dem Fremden“ und „seinen Wertvorstellungen“ scheint jedenfalls gegenwärtig dazu geeignet zu sein, alte Probleme neu zu hinterfragen, wenngleich die Grenzen zwischen dem was fremd und jenem das vertraut ist, zuweilen unscharf geworden sein dürften.

4  Wie jedoch auch gegenwärtige Tendenzen innerhalb der deutschen Bevölkerung zeigen, schlagen sich die Versäumnisse der Politik, hier die höchst politische Steuerung betreffend, nicht nur zu Lasten der Ein- und Zuwanderer nieder. Auch die mangelhafte politische Bildung der eigenen Bürger, in einer globalisierten Welt, die viele zu überfordern scheint, spielt in diesem Kontext eine immer schwerwiegendere Rolle. Das zeigen nicht nur die politischen Wirren seit der Flüchtlingskrise. Daneben wird die gegenwärtige politische Debatte in der Öffentlichkeit von einem undurchsichtigen und diffusen Diskurs geprägt. Fragen der Einwanderungs-, Zuwanderungs- und Asylpolitik werden vermengt, verschleiert und teilweise in kaum noch nachvollziehbaren Bahnen diskutiert. Insofern ist die zu Beginn der Arbeit monierte politische Überfrachtung nach wie vor akut. Das Problem selbst offenbart jedoch immer neue Facetten. Eine Lösung der vielschichtigen Problemlagen, die alle Mitglieder der Gesellschaft befriedigt, erscheint indessen immer weniger wahrscheinlich.

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Stichwortverzeichnis Affektive Störung  298 ff. Akkusationsprozess  53 Albaner  100, 198 Angewandte Kriminologie  115 ff. Anomietheorie  102, 106 ff. Antinomie der Strafzwecke  62 Appeasement  37 Araber  100, 209 Ausländer  60 f., 143 ff., 194, 249 ff., 265 Ausländereigenschaft  143 ff., 189 ff., 249 ff., 260, 268 ff. Ausländerkriminalität  85 ff. Ausländerrechtliche Folgen  171 ff., 271 ff., 278 ff. Aussiedler  60, 77, 79 ff., 194 Ausweisung  146 f., 171 ff., 182, 256, 272, 279 Ausweisungsschutz  180 ff., 272 Asylbewerber  84 f., 144, 149 ff., 249 ff., 270 f.

Differenzmethode  34, 36, 41, 56, 195, 281 Differenztheoretisch  siehe Differenz­ methode Dritte Generation  82 f., 107

Beamtenrechtliche Folgen  225, 273, 276 ff. Beschneidung  siehe Knabenbeschneidung Besondere Härte  176 f., 180, 182, 272 Blutrache  53, 98, 101, 113

Gastarbeiter  77, 81 ff., 104, 304 Gastrecht, Missbrauch  143 ff., 154, 169, 186, 249 ff., 260 f. Generalprävention  114, 145, 163, 186, 254, 268 – negative  170, 263 ff.  – positive  263, 266 ff. Genitalverstümmelung, weibliche  20, 37 Gewohnheitsrecht  198 Gleichheitsgrundsatz 143, 147 f., 158, 173 Grundlagenformel  24, 63, 65, 142 Grundlagenirrtum  224

Chinesen  100, 199 Civilisation 32 Datumtheorie  138 Determinismus  49, 234 Deutsche  59 f., 81, 85, 91, 98, 103, 108, 133, 285, 304

Ehre  51 ff., 98, 101, 110, 197 f. Ehrenmord  51 ff., 98, 101 Einbürgerung  61, 83, 91, 95, 252 Erfolgsunwert  66, 234, 237 ff., 247, 251, 259, 289 Etikettierungsansatz  siehe LabelingApproach Flüchtling  59, 77 f., 90, 258, 309 fremd, fremdkulturell 41 ff., 230 ff., 245 f., 247, 248 ff. fremdkulturelle Wertvorstellungen, Begriff  56, 70 Friedenskomitee  129 Friedensrichter  96, 218

322 Stichwortverzeichnis

Haftempfindlichkeit  siehe Straf­ empfindlichkeit Handlungsunwert  234, 238 ff., 247, 251, 254, 258, 289 ff. Hemmschwelle, geringere  196, 213 ff., 221 ff., 296 ff., 303 Hemmschwellentheorie  213, 300

Mildernde Umstände  139, 235 Milgram-Experimente  54 f. Missbrauch, Gastrecht  143 ff., 249 ff. MIVEA  115 ff. Motivation, Motivationen  51 ff., 222, 261, 265, 297 Multikulturalismus  37

Indizkonstruktion  69, 125, 240 Interkulturelle Beweglichkeit  20, 27, 230 ff., 269 Interkulturelle Geltungskraft  230 ff., 247, 307

Nationalitätenkonflikte  150, 154, 164, 169, 250, 253 f., 261 Nichtdeutsche  59 ff., 76 ff., 85 ff., 101 ff., 306 Norm, Normen  39 ff., 48 ff., 196 ff., 221 f., 230, 286 ff. Normalität  48 f., 54 Normbefolgung, erschwerte  196 ff., 213 f., 286 ff. Normbefolgungskonflikt  202, 210, 286, 289 ff.

Jugendstrafrecht  62 Knabenbeschneidung  20, 37 Kollektivwerte  47 ff. Kriminalitätsbelastung  60, 76 f., 87 ff., 97 ff. – Aussiedler und Spätaussiedler  79 ff. – Gastarbeiter und deren Nachkommen  81 ff. – nichtdeutsche  85 ff., 95 ff., 306 Kriminalpolitik  19, 73, 113 Kriminologie  72 ff. – angewandte 74, 115 ff. – kriminalpolitische  73 Koran  43 Kultur, Begriff  32 ff. Kulturkonfliktstheorie  103 ff. Kulturkreis  19, 44, 57, 126, 210, 223 f., 230, 287, 289, 293 Labeling-Approach  102, 109 ff. Libanesen  99 Mehrheitsgesellschaft  37, 47, 107 Mehrheitskultur  57, 107 Menschenhandel  100 Migranten  59, 77 ff. Migrationshintergrund  59, 76, 84, 91 ff., 113, 194, 281

Persönliche Härte, besondere  176, 179 f., 272, 285 Persönliche Verhältnisse  55, 63, 112, 186, 280, 286 Persönlichkeitsstruktur  49 ff. Polen  92, 99 Psychopathische Persönlichkeit  136, 298 Punktstrafe  62 Rechtsfahrlässigkeit  134 f. Rechtsfrieden  244 ff. Religion  39 f., 56 f. Scharia  23, 52 f. Schuldidee  siehe Schuldprinzip Schuldprinzip  62, 238, 241, 266, 278, 289, 295 Schuldwertung  150, 157, 237, 242 ff. SED  129 Senegalesen  99 f. Sozialprognoseentscheidung  72, 75 Spätaussiedler  siehe Aussiedler

Stichwortverzeichnis323

Spezialprävention  75, 274 Spielraumtheorie  64, 128, 244, 278 Staatenlose  61 Steuerungsfähigkeit  197, 223, 299 ff. Steuerungskraft  49 ff. Strafaussetzung  62 Strafbegründungsschuld  65 f., 233 ff. Strafbemessung  61 f. Strafempfindlichkeit 186 ff., 280 ff. Strafverzicht  273 ff. Strafzumessung, Grundlagen der  61 ff. Strafzumessungsfaktor  67 f. Strafzumessungsgründe  67 ff. Strafzumessungssachverhalt  45, 60, 69, 75, 108, 113, 124, 207 Strafzumessungsschuld  65 f., 233 ff. Strafzumessungstatsachen  25, 67 ff., 246, 260, 293 f. Strafzumessungstheorien  64 f. Strafzumessungsumstände  67 ff., 246 Strafzweck  62, 128, 163, 262 Tatbegriff, prozessualer  69, 125 Täter-Opfer-Beziehung  51, 300 Täterprinzip  29 Touristen  85, 251

Tradierung  39 ff. Türken  51 ff., 161, 184 Unrecht  232 ff. Unrechtsbewusstsein  130, 197 f., 210, 234, 287 Urteilsprognose  75 Verbotsirrtum  65, 130 ff., 224, 246 Vereinigungsformel  128 Vertriebene  59, 77 Verzerrungsfaktoren 83 ff., 96 Vietnamesen  99 Vorsatzlösung  136 f., 141 Werte, Wertvorstellungen  45 ff. – fremdkulturelle  29 ff., 56 ff., 301 f. Werteordnung  103, 211, 244, 287 Zirkumzision  siehe Knabenbeschneidung Züchtigungsrecht  44 Zurechnung  74, 234 Zuwanderung  79, 81 ff., 92 Zuwanderungspolitik  114, 309 Zweite Generation  82 f., 104, 107