194 114 20MB
German Pages 470 [472] Year 1987
de Gruyter Studienbuch
Strafrecht nach logisch-analytischer Methode Systematisch entwickelte Fälle mit Lösungen zum Allgemeinen Teil 2., überarbeitete und ergänzte Auflage von
Joachim Hruschka
W DE C l 1988
Walter de Gruyter · Berlin · New York
D r . jur. Joachim Hruschka o. Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Erlangen
CIP-Kurztitelaufnabme
der Deutschen
Bibliothek
Hruschka, Joachim: Strafrecht nach logisch-analytischer Methode : systemat. entwickelte Fälle mit Lösungen zum Allg. Teil / von Joachim Hruschka. - 2., überarb. u. erg. Aufl. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1988. (De-Gruyter-Studienbuch) ISBN 3-11-010529-2 © Copyright 1987 by Walter de Gruyter & Co., 1000 Berlin 30. Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Ubersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Printed in Germany. Druck: Saladruck, 1000 Berlin 36 Buchbindearbeiten: Dieter Mikolai, 1000 Berlin 10
INHALTSVERZEICHNIS V O R B E M E R K U N G . Zu den Aufgaben dieses Studienbuchs und zur logisch-analytischen Methode
XI
KAPITEL I Fälle zum zeitlichen und sachlichen Verhältnis zwischen den Verbrechensmerkmalen: Das Simultaneitäts- und Referenzprinzip Fall 1: Simultaneitätsprinzip und Vorsatz (zum sog. dolus antecedens)
1
Fall 2: Simultaneitätsprinzip und Vorsatz (zum sog. dolus subsequens)
4
Zwischenbemerkung
4
Fall 3: Referenzprinzip und Vorsatz (ein aberratio-ictus-Fall)
8
Zwischenbemerkung Fall 4: Referenzprinzip und Vorsatz (zur Abweichung des tatsächlichen vom vorgestellten Kausalverlauf)
11
Zwischenbemerkung
14
Fallt:
15
Referenzprinzip und Rechtswidrigkeit
10
Fall 6: Referenzprinzip und Unrechtsbewußtsein (zur sog. Teilbarkeit des Unrechtsbewußtseins)
18
Zwischenbemerkung
21
Fall 7: Nochmals - Simultaneitätsprinzip und Vorsatz
23
Fall 8: Simultaneitätsprinzip und Vorsatz (ein Fall des sog. dolus generalis)
25
Zwischenbemerkung
31
Fall 9: Simultaneitätsprinzip und Vorsatz (eine Umkehrung des Falles 7)
32
Fall 10: Simultaneitätsprinzip und Vorsatz (eine Umkehrung des Falles 8)
33
Zwischenbemerkung
37
Fall 11: Simultaneitätsprinzip und Defektzustand des § 20 StGB (ein actio-libera-in-causa-Fall)
37
Zwischenbemerkung
48
VI
Inhaltsverzeichnis
Fall 12: Simultaneitätsprinzip und Rechtswidrigkeit (ein actio-illicita-in-causa-Fall?) Zwischenbemerkung
50 55
Fall 13: Simultaneitätsprinzip und Handlungsfähigkeit (ein omissiolibera-in-causa-Fall)
57
Schlußbemerkung
64
zu Kapitel I KAPITEL II
Fälle zu den Befugnissen und zu den Pflichten in Notstandssituationen Fallgmppe 1: Zur Aggressivnotstandsbefugnis des §34 StGB Fallgruppe 2: Zur allgemeinen Obhutsduldungspflicht aus § 34 StGB
68
Zwischenbemerkung
81
Fallgruppe 2: Fortsetzung
83
Zwischenbemerkung
87
Fallgruppe 3: Zur allgemeinen Obhutshandlungspflicht (§ 323 c StGB) Zwischenbemerkung Fallgruppe 4: Zur Defensivnotstandsbefugnis des § 228 BGB Fallgruppe 5: Zur Sicherungsduldungspflicht aus § 228 BGB Zwischenbemerkung Fallgruppe 6: Zur Sicherungshandlungspflicht (§§303,13 StGB) . . . Zwischenbemerkung Drei Fälle außer der Reihe zum Unterschied von Defensivnotstandsbefugnis und Notwehrrecht Zwischenbemerkung Fall 7: Zur Aggressivnotstandsbefugnis gegenüber einem speziell Obhutspflichtigen Fall 8: Zur speziellen Obhutsduldungspflicht Zwischenbemerkung Fall 9: Zur speziellen Obhutshandlungspflicht (§§212,13 StGB) . . . Zwischenbemerkung Exkurs: Die Abhängigkeit der Rettungspflichten und der Rettungsbefugnisse von der erklärten oder mutmaßlichen Zustimmung des Gefährdeten
72
91 98 100 103 110 118 124 131 142 144 148 156 156 163
166
Inhaltsverzeichnis
VII
Fall 10: Zur Eingriffsbefugnis kraft mutmaßlicher Einwilligung . . . 169 Schlußbemerkung zu Kapitel II 176 KAPITEL III Die wichtigsten Irrtumsfälle im Zusammenhang Fallgruppe 1: Die Grundfälle der irrigen Annahme und der Verkennung von Umständen, die nach einem Deliktstatbestand relevant sind Zwischenbemerkung Fallgruppe 2: Die Grundfälle der Verkennung und der irrigen Annahme von Umständen, die nach einem Rechtfertigungstatbestand relevant sind Zwischenbemerkung Vier Fälle außer der Reihe: Zum Vollendungs- und zum Vorsatzbegriff Zwischenbemerkung Fallgruppe 3: Varianten einer weder vollendeten noch vorsätzlichen Tat Zwischenbemerkung Fallgruppe 4: Weitere Varianten einer weder vollendeten noch vorsätzlichen Tat Zwischenbemerkung Fallgruppe 5: Zwei Kombinationen der Irrtumsgrundfälle Fallgruppe 6: Nochmals - Varianten einer weder vollendeten noch vorsätzlichen Tat Zwischenbemerkung Fallgruppe 7: Die Fälle der irrigen Annahme und der Verkennung eines Verbots (Wahndelikt und § 17 StGB) Fallgruppe 8: Die Fälle der Verkennung und der irrigen Annahme einer Rechtfertigungsnorm (Wahndelikt und § 17 StGB) Zwischenbemerkung Drei weitere Fälle außer der Reihe: Zu Abgrenzungsproblemen . . . . Zwischenbemerkung Fallgruppe 9: Verkennung und irrige Annahme von Umständen, die nach einem Entschuldigungstatbestand relevant sind Zwischenbemerkung
183 185
195 199 211 218 227 231 234 235 236 239 241 242 246 248 252 258 263 266
VIII
Inhaltsverzeichnis
Fall 10: Zum Putativnotwehrexzeß
269
Schlußbemerkung
272
zu Kapitel III
KAPITEL IV Fälle zur Verantwortlichkeit des Täters für das Fehlen eines Verbrechensmerkmals Fall 1: Verantwortlichkeit des Täters für seine Notstandslage i. S. d. § 3 5 1 1 StGB 277 Zwischenbemerkung 289 Fall 2: Verantwortlichkeit des Täters für seinen Defektzustand i.S.d. §20 StGB 291 Zwischenbemerkung 303 Fall 3: Verantwortlichkeit des Täters für seine Handlungsunfähigkeit 304 Zwischenbemerkung 311 Fall 4: Verantwortlichkeit des Täters für sein fehlendes Unrechtsbewußtsein 315 Fall 5: Verantwortlichkeit des Täters für sein fehlendes Tatbewußtsein 322 Wiederaufnahme der Lösung des Falles 3 Nachbemerkung zu den Fällen 1 bis 5 Exkurs: Simultaneitätsprinzip und außerordentliche Zurechnung . . . Exkurs zum Sinn des Ausdrucks „actio libera in causa"
335 337 341 343
Zwischenbemerkung 350 Fall 6: Verantwortlichkeit des Täters für die Tatbestandslosigkeit seines Verhaltens 351 Zwischenbemerkung 355 Fall 7: Verantwortlichkeit des Täters für seine Notstandslage i. S. d. §34 StGB 356 Zwischenbemerkung 363 Fall 8: Verantwortlichkeit des Täters für seine Notstandslage i. S. d. §228 BGB 368 Fall 9: Verantwortlichkeit des Täters für seine Notwehrlage i. S. d. § 32 StGB (ein Fall zur sog. Notwehrprovokation) 371 Fall 10: Reduktion der Verteidigungsbefugnisse eines für die eigene Notwehrlage Verantwortlichen auf die Defensivnotstandsbefugnis . . 376
Inhaltsverzeichnis
IX
Zwischenbemerkung
379
Exkurs zum Ausdruck „actio illicita in causa"
381
Schlußbemerkung
383
zu Kapitel IV
A N H A N G I. Hinweise zur Lösung von Konkurrenzproblemen . . . 387 A N H A N G II. Erläuterungen zu einigen wichtigen Begriffen
397
Sachregister
439
Dem Buch liegt ein gesonderter Abdruck der auf S. 232 zu findenden Tafel bei.
VORBEMERKUNG
Zu den Aufgaben dieses Studienbuchs und zur logischanalytischen Methode Nach der heute im wesentlichen allgemein anerkannten Definition ist eine Straftat eine (objektiv und subjektiv) deliktstatbestandsmäßige, rechtswidrige und zur Schuld zuzurechnende Vornahme oder Unterlassung einer Handlung. Es ist eine Wirkung dieser Definition, daß sich die Lehr- und Lernbücher zum Allgemeinen Teil des Strafrechts auch in ihrem Aufbau im großen und ganzen an sie anlehnen. Die in der Definition festgelegte Reihenfolge der allgemeinen Verbrechensmerkmale wird zum Gliederungsprinzip. Auf einen einfachen Nenner gebracht, beginnen alle Lehrbücher zum Allgemeinen Teil in ihrem Kernstück mit der Erörterung des Handlungsbegriffs, dann betrachten sie die allgemeinen Probleme der Deliktstatbestände, dann gehen sie zu den Rechtfertigungsgründen und zum Begriff der Rechtswidrigkeit über, um schließlich Schuldbegriff und Entschuldigungsgründe zu behandeln. Diese Orientierung an der Definition des Straftatbegriffs ist für ein Lehrbuch bis zu einem gewissen Grade unvermeidlich, und sie ist keineswegs negativ zu kritisieren. Lehrbücher des Allgemeinen Teils müssen, wenn sie ihre Aufgabe erfüllen wollen, so oder ähnlich vorgehen. Doch ist nicht zu verkennen, daß mit einer solchen Anlehnung an die definitorisch festgelegte Reihenfolge der Verbrechensmerkmale auch Nachteile verbunden sind, und erst recht sind Nachteile mit der regelmäßigen Anlehnung der Lehrbücher des Allgemeinen Teils an den Begriff der vorsätzlichen Begehungstat verbunden, der wesentlich enger ist als der Begriff der Straftat und eine Ausklammerung der Unterlassungsdelikte und der Fahrlässigkeitsdelikte aus der systematischen Gliederung des Kernstücks des Allgemeinen Teils und eine nur mehr anhangweise Bearbeitung dieser Deliktsgruppen zur Folge hat. Wichtige Fragen des Straftatsystems fallen aus einer solchen Gliederung heraus. Damit soll nicht gesagt sein, daß diese Fragen in den Lehrbüchern zum Allgemeinen Teil nicht behandelt würden. Sie werden, jedenfalls teilweise, durchaus behandelt. Aber sie lassen sich bei der vorgegebenen Gliederung der Lehrbücher nicht als solche darstellen, weil sie gewissermaßen „quer" zu der Definition des Straftatbegriffs, „quer" zu der Definition des Begriffs der vorsätzlichen Begehungstat stehen.
XII
Vorbemerkung
U m das einfachste und am meisten geläufige Beispiel zu nehmen: Irrtümer kommen im Hinblick auf jedes Verbrechensmerkmal vor. Sie können Irrtümer über relevante Umstände, Subsumtionsirrtümer, Bewertungsirrtümer sein. Die Irrtümer über relevante Umstände können sich auf Umstände, die nach einem Deliktstatbestand, auf Umstände, die nach einem Rechtfertigungstatbestand, oder auf Umstände beziehen, die nach einem Entschuldigungstatbestand relevant sind. Sie können Irrtümer sein, weil der Täter relevante Umstände nicht erkennt, und sie können Irrtümer sein, weil der Täter relevante Umstände irrig annimmt. Auch bei den Subsumtionsirrtümern sind entsprechende Differenzierungen vorzunehmen. Die Bewertungsirrtümer können die Rechtswidrigkeit der Tat oder die Schuld des Täters betreffen. Auch bei ihnen ist es möglich, daß die Rechtswidrigkeit oder die Schuld verkannt werden, genauso wie es möglich ist, daß Rechtswidrigkeit oder Zurechenbarkeit zur Schuld irrig angenommen werden. Kein Zweifel, daß die Lehrbücher des Allgemeinen Teils diese Probleme behandeln müssen und auch tatsächlich behandeln. Aber die Behandlung erfolgt wegen des vorausgesetzten Gliederungsprinzips notgedrungen an verschiedenen Stellen. Die Irrtumsproblematik als Ganze läßt sich dabei nicht besprechen; sie steht „quer" zu dem vorausgesetzten Gliederungsprinzip. D i e Orientierung am abstrakten Straftatbegriff - oder gar an d e m n o c h engeren abstrakten Begriff der vorsätzlichen Begehungstat - hat aber nicht nur zur Folge, daß Fälle und Probleme, die unter einem gemeinsamen Gesichtspunkt z u sehen sind und infolgedessen in einen Z u s a m m e n h a n g gehören, auseinandergerissen und an verschiedenen Stellen behandelt werden; sie hat darüber hinaus nicht selten zur Folge, daß überhaupt nur die Falltypen behandelt w e r d e n , die historisch zufällig bekannt sind b z w . daß - vielleicht ebenso häufig - zwar die einschlägigen Falltypen besprochen werden, aber der Gesichtspunkt, unter d e m sie mit den anderen z u s a m m e n g e h ö r e n , nicht erkannt und folglich auch nicht genannt wird. D a m i t wird der Allgemeine Teil an vielen Stellen zu einer bloßen A n sammlung zufällig aufgegriffener und damit isolierter Einzelfälle, und s c h o n das verstellt häufig den Blick auf die übergreifenden Gesichtspunkte und Zusammenhänge. Man sieht gewissermaßen vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr. V o n Wittgenstein 1 stammt der Ausspruch: „Eine Hauptursache philosophischer Krankheiten - einseitige Diät: man nährt sein D e n k e n nur mit einer Art v o n Beispielen". D a s gilt für das Strafrecht nicht minder. Solange man sein D e n k e n nur mit zufällig aufgegriffenen Fällen füttert, solange wird auch das o u t p u t nur ein einseitiges sein. Die Isolierung der Fälle und Falltypen hat zur Folge, daß viele der sog. Theorien zum Allgemeinen Teil nichts weiter sind als bloße Vorschläge zur Lösung von £i«2e/problemen: Merkwürdigerweise werden ja heute in der Jurisprudenz nicht nur umfassende Übersichten, sondern schon beliebige Meinungen zu einem Einzelfalltyp eine „Theorie" genannt. „Theorien" dieser Art führen ihren Namen zu
1
Philosophische Untersuchungen, Nr. 593.
Aufgaben und Methode
XIII
Unrecht, weil sie das nicht leisten, was eine Theorie sonst in den Wissenschaften zu leisten hat. Sie verschaffen keinen Durchblick, sondern sie verstellen im Gegenteil sogar den Blick; sie stellen keine Ordnung her, sondern bilden selbst zusammen nichts weiter als einen ungeordneten „Theorien"berg.
Die einzige Möglichkeit, der Gefahr einer einseitigen Diät zu entgehen, ist die, die Fälle möglichst systematisch zu entwickeln - und zwar bereits die Fälle selbst, nicht etwa nur ihre Lösungen. Der Versuch einer solchen systematischen Entwicklung der Fälle ist in diesem Studienbuch gemacht worden. Deshalb ist das Buch im Kern zwar eine Fall-Sammlung. Aber es sind die Fälle hier nicht einfach angehäuft worden - auch nicht, um eine oberflächliche „Vollständigkeit" zu erzielen - , vielmehr ist die Sammlung so angelegt, daß die übergreifenden Gesichtspunkte und die Zusammenhänge zwischen den Problemen möglichst klar erfaßt werden können. Das einzelne Problem, der einzelne Fall und die einzelne Lösung als solche haben dabei nur einen untergeordneten Wert. Es kommt im Gegenteil in erster Linie darauf an, das System oder jedenfalls die Teilsysteme zu durchschauen, die hinter den strafrechtlichen Einzelproblemen stecken. Hat man das System oder die Teilsysteme erst einmal durchschaut', dann folgen die Lösungen der Einzelprobleme - und die Fähigkeit zur Lösung dieser Einzelprobleme! - wie von selbst. So wendet sich dieses Studienbuch an jeden, dem es daran liegt, die rationalen Strukturen des Allgemeinen Teils zu durchschauen; es wendet sich an jeden, der angesichts der Uberfülle von Fällen - und von „Theorien" dazu - gewissermaßen den Kopf über Wasser halten möchte. Der angedeutete Verzicht darauf, eine oberflächliche „Vollständigkeit" zum Prinzip der Zusammenstellung der Fälle zu machen, ändert nichts daran, daß die folgenden vier Kapitel den Kernbereich des Allgemeinen Teils - die (vollendeten) vorsätzlichen und fahrlässigen Begehungs- und Unterlassungsdelikte des Alleintäters - im wesentlichen abdecken. Doch ist der Uberblick über den Kernbereich des Allgemeinen Teils, der damit gewonnen wird, eben nicht auf ein Prinzip der Fall-Zusammenstellung zurückzuführen, sondern ergibt sich als eine Konsequenz der systematischen Erfassung übergreifender Prinzipien und Zusammenhänge. Vier Problemkreise werden hier behandelt, und es kommt jeweils schon in den Kapitelüberschriften zum Ausdruck, daß es sich dabei um Problemkreise handelt, die jeweils mehrere Elemente oder Teilelemente des Straftatbegriffs betrachten. Wenn es im ersten Kapitel um das zeitliche und sachliche Verhältnis zwischen den Verbrechensmerkmalen geht, so ist damit der die einzelnen Merkmale übergreifende Gesichtspunkt deutlich gemacht. Wenn im zweiten Kapitel die Befugnisse und die Pflichten in TVoistaraJssituationen besprochen werden, so hat der Leser heute wohl allein die Bestimmungen im Auge, die wie § 34 StGB oder § 228 BGB Eingriffsbefugnisse eines Berechtigten festlegen. Aber es wird ihm beim
XIV
Vorbemerkung
zweiten Blick schnell einleuchten, daß es in Notstandsfällen auch Duldungspflichten des jeweils Betroffenen gibt, die den Eingriffsbefugnissen korrespondieren und die strafrechtlich nicht weniger relevant sind als die Eingriffsbefugnisse des Berechtigten. Und beim dritten Blick wird ihm auch klarwerden, daß es in Notstandslagen auch Handlungspflichten geben kann und gibt und daß folglich ein Zusammenhang besteht zwischen den Bestimmungen der §§ 323c, 138 StGB, aber auch des § 13 StGB auf der einen Seite und den Bestimmungen des § 34 StGB und der §§ 228, 904 BGB auf der anderen Seite. Zu der im dritten Kapitel behandelten Irrtumsproblematik gilt das bereits oben Gesagte; und wenn das vierte Kapitel die Verantwortlichkeit des Täters für das Fehlen eines verbrechenskonstitutiven Merkmals bespricht, so ist auch hier offenkundig, daß sich die Frage, um die es dabei geht, auf jedes Verbrechensmerkmal bezieht und damit ebenfalls einen die einzelnen Verbrechenselemente übergreifenden Gesichtspunkt liefert. Es ist eine Aufgabe dieses Buches, die übergreifenden Zusammenhänge, die innerhalb der einzelnen Kapitel erkennbar werden, herauszuarbeiten, aber auch die relevanten Unterschiede zwischen verschiedenen Fällen und Fallgruppen hervorzuheben. Dabei werden sich allgemeine Prinzipien herausstellen; so in Kapitel I das Prinzip, das ich „Simultaneitätsund Referenzprinzip" genannt habe. Oder es werden sich Systeme von Wechselbeziehungen zwischen verschiedenen Fällen und Lösungen zeigen, so in Kapitel II und in Kapitel III. Oder es wird die Parallelität paralleler Problemstellungen deutlich werden, bzw. anders herum, die Nicht-Parallelität scheinbar paralleler Problemstellungen; das letztere teilweise - in Kapitel III und in Kapitel IV. Die Prinzipien und die übergreifenden Zusammenhänge, die in diesem Buch herausgearbeitet werden, habe ich nicht erfunden, sondern vorgefunden. Manchmal stammen freilich die Namen von mir, die ich den Prinzipien gegeben habe, weil ich sie für plausibel halte; so der Name „Simultaneitäts- und Referenzprinzip". Es ist offenkundig oder sollte jedenfalls offenkundig sein, daß es nicht dasselbe ist, ein Prinzip erfinden, und, einen Namen für ein Prinzip erfinden. Der logische Satz vom Widerspruch - „a ist nicht non-a" - bleibt derselbe, gleichgültig, ob man ihn nun „Satz vom Widerspruch" oder „Prinzip der Diversität" oder noch anders nennt, genauso wie ein Kind dasselbe bleibt, gleichgültig, ob es nun auf den Namen „Max" oder auf den Namen „Moritz" getauft wird.
Bei den maßgeblichen Prinzipien kann es sich um logische Prinzipien handeln - wie der eben erwähnte Satz vom Widerspruch. Oder es handelt sich um Prinzipien der richtigen Verwendung von Sprache, die auf logischen Prinzipien aufbauen - wie das Simultaneitäts- und Referenzprinzip. Die Prinzipien können sehr formal sein - wie die beiden genannten Prinzipien. Sie können aber auch inhaltsreicher sein als diese, wenn
Aufgaben und Methode
XV
auch immer noch relativ formal - wie das Prinzip des Zusammenhangs der Pflicht zur Duldung eines Eingriffs und der Pflicht zur Vornahme einer Handlung in sonst prinzipiell gleichen Notstandssituationen 2 . Prinzipien dieser Art sind dem Recht vorgegeben; es kann sich nicht straflos über sie hinwegsetzen. D . h. es kann sich nicht über sie hinwegsetzen, ohne daß die Rede zum bloßen Gerede wird: Die Strafen für die Mißachtung dieser Prinzipien sind die Irrationalität und die Sinnlosigkeit des Geredeten. Teilweise versuche ich, die Prinzipien näher zu erläutern und zu begründen; teilweise würde eine Begründung den Rahmen dieses Buches sprengen: Die Begründung des Satzes vom Widerspruch beispielsweise ist keine spezifisch strafrechtliche Aufgabe 3 .
Teilweise sind die hier behandelten Prinzipien solche, die sich aus der vorgefundenen positiven Rechtsordnung ergeben - so das Prinzip der (eingeschränkten) Interessenverrechnung. Das soll heißen: Die Rechtsordnung braucht das Prinzip nicht zu berücksichtigen; es ist nicht logisch notwendig da, sondern es ist ohne weiteres eine Rechtsordnung denkbar, die das Prinzip der Interessenverrechnung nicht kennt. Aber die Unabhängigkeit der Rechtsordnung von Prinzipien dieser Art bedeutet nicht, daß die Rechtsordnung mit ihnen nach Belieben schalten und walten könnte. Hat eine Rechtsordnung das Prinzip der (eingeschränkten) Interessenverrechnung erst einmal eingeführt, dann muß sie es auch durchführen, d. h. sie kann sich dann nur bei Strafe der Irrationalität und Sinnlosigkeit ihrer eigenen Rede darüber hinwegsetzen. Schon diese wenigen Andeutungen zu den Prinzipien weisen darauf hin, daß dieses Buch ein kritisches ist. Leider ist in unserer heutigen Sprache der Kritikbegriff heruntergekommen. Wir müssen erst wieder zu einem rationalen Kritikbegriff zurückfinden. Eine Zeitlang galt in Deutschland schon jeder als „kritisch", der zu irgendetwas „ N e i n ! " sagte. Auch in der Jurisprudenz ist nicht jeder schon kritisch, der sagt: „ D a bin ich anderer Ansicht!" Kritik hat etwas damit zu tun, daß man Kriterien für etwas h a t und zwar rationale Kriterien - , daß man also einen - rationalen - Maßstab hat, an dem das Kritisierte gemessen wird. Deshalb kann es nicht nur eine negative Kritik geben, es gibt genauso gut auch positive, affirmative Kritik - vorausgesetzt wird eben allein, daß für die Zustimmung (bei positiver Kritik) oder für die Ablehnung (bei negativer Kritik) Kriterien zur Hand sind, die einen rationalen Maßstab abgeben.
Die Kritik nimmt auch das heute geltende Strafgesetzbuch nicht aus. Der in Deutschland seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts mit nur kurzen Unterbrechungen herrschende Gesetzespositivismus hat viele Ju-
2 3
Siehe dazu unten die a-fortiori-Argumente auf S. 96, S. 121 und S. 159. Wichtige Überlegungen zur Grundlegung des Satzes vom Widerspruch finden sich bei Lenk in: Zeitschrift für philosophische Forschung, 24 (1970), 183ff.
XVI
Vorbemerkung
risten gegenüber dem Gesetz hilflos gemacht. Gewiß hat das positive Gesetz angesichts des rechtsstaatlichen Grundsatzes „nullum crimen sine lege" (Art. 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB) gerade auch im Strafrecht eine hervorragende Bedeutung. Trotzdem: Muß an die Banalität erinnert werden, daß auch das Strafgesetzbuch Menschenwerk ist - mit allen Mängeln, die damit verbunden sind? Archaisches Rechtsdenken geht vom Mythos des weisen Gesetzgebers aus. Aber in Wirklichkeit besteht kein Anlaß anzunehmen, daß das Gesetz der Weisheit letzter Schluß sei; es ist in vielen Fällen nicht einmal ihr vorletzter. Das setzt natürlich voraus, daß nicht „das Gesetz" selbst der Gegenstand strairechtswissenscbaftlicher Erörterungen ist. Und das ist in der Tat so! Gegenstand der Lehren vom Allgemeinen Teil des Strafrechts sind nicht die zufälligen positiven Regelungen in irgendeiner Gegend des Erdballs, die gestern andere waren als heute und morgen wieder andere sein werden. Es wäre ja auch eine merkwürdige Wissenschaft, „deren Grenze ein Fluß ist" 4 . Es geht in der Lehre vom Allgemeinen Teil des Strafrechts nicht - oder jedenfalls nicht in erster Linie - um die positivrechtlichen Regelungen, sondern um die Regelungsm^ime. Nicht um die Antworten, die das Gesetz in seinen positiven Rechtssätzen auf bestimmte Fragen gibt, sondern um diese Fragen selbst. Nicht um die Problem/ös«« gen, sondern um die Probleme. In dem Augenblick, da wir uns angewöhnen, eine gesetzliche Regelung als Antwort auf eine Frage zu betrachten, gewinnen wir die notwendige Freiheit von dem Gesetz, die eine eigentlich wissenschaftliche Arbeit erst ermöglicht. Dann können wir an das Gesetz Maßstäbe anlegen, und diese Maßstäbe sind eben die, die in der europäischen Wissenschaftstradition seit eh und je an die Produkte des menschlichen Geistes angelegt worden sind. Das beginnt damit, daß wir das Gesetz beim Wort nehmen. Wir lesen, möglichst unvoreingenommen, was da im Gesetz steht und erlauben keine Verfälschungen und Verbiegungen. Der Gesetzgeber hat im Gesetz deutsch gesprochen, auch wir beherrschen die deutsche Sprache, also sehen wir erst einmal, was der Gesetzgeber, wer immer das sei, gesagt hat. Und dabei gehen wir davon aus, daß der Gesetzgeber auch gemeint hat, was er gesagt hat, und lassen uns nicht vorschnell auf die in vieler, vor allem auch in logischer Hinsicht merkwürdige These ein, daß der Gesetzgeber gesagt habe, was er - angeblich - „gemeint" hat. Wir legen also an das Gesetz einen Maßstab an, den wir an jeden Schulaufsatz anlegen würden. Wenn in einem Schulaufsatz steht „Die Blumen blühen!", dann
4
Pascal (Pensees, ed. von Lafuma, 1951, S. 53): „Plaisante justice qu'une riviere borne! Verite au de$ä des Pyrenees, erreur au delä."
Aufgaben und Methode
XVII
kommen wir normalerweise nicht auf die Idee, der Verfasser habe damit „eigentlich" gemeint, daß es schneit, - jedenfalls so lange nicht, als wir den Verfasser als einen kompetenten Sprecher der deutschen Sprache voraussetzen. Dies ist eine erste Bedingung von Rationalität: Davon ausgehen, daß das Gesetz, das mit dem Anspruch auf Verbindlichkeit auftritt, klar gesagt hat, was sein soll und was nicht sein soll. Wenn, um ein möglichst unverfängliches Beispiel aus der Literatur aufzugreifen 5 , in einer Eisenbahnordnung der Satz stände „Hunde dürfen nicht in die Abteile mitgenommen werden!", dann gehen wir davon aus, daß der Verfasser der Eisenbahnordnung auch gemeint hat, es solle verboten sein, Hunde in die Abteile mitzunehmen; und wir lassen uns nicht, auch nicht „um des Ergebnisses willen", auf die These ein, große Holzkisten seien „Hunde im Sinne der Eisenbahnordnung". G e w i ß : Auch mir wäre es lieber, wenn große Holzkisten nicht in die Abteile mitgenommen werden dürften, weil sie dort sehr lästig sein können. Aber das bringt mich nicht auf den Gedanken, eine Holzkiste sei ein „ H u n d " . D e r Einwand, der gegen diese Betrachtungsweise, die an sich eine Selbstverständlichkeit sein sollte, heute nicht selten vorgetragen wird, ist bekannt: O b eine große Holzkiste „ein Hund im Sinne der Eisenbahnordnung" sei oder nicht, das sei doch ausschließlich eine Frage der „Auslegung" oder eine Frage der „Definition". Warum könne man nicht den Ausdruck „ H u n d " so „auslegen" oder so „definieren", daß auch große Holzkisten darunter subsumiert werden können? Gewiß: „Man" kann das! D e r Verfasser der Eisenbahnordnung könnte das tun. Er könnte an die zitierte Bestimmung einen zweiten Absatz anhängen, in dem steht: „Hunde im Sinne des Absatzes 1 sind auch große Holzkisten"; obwohl auch das insofern keineswegs ungefährlich und negativer Kritik unterworfen wäre, als sich beim Lesen des Absatzes 1 „Hunde dürfen nicht in die Abteile mitgenommen werden!" der umgangssprachlich übliche Sinn des Wortes „ H u n d " nur allzu oft aufdrängen und Irrtümer und Mißverständnisse nahelegen würde 6 . D e r springende Punkt ist jedoch der, daß der Verfasser der Eisenbahnordnung dies in dem Ausgangsbeispiel gerade nicht getan hat. U n d dann kann „man" nicht so ohne weiteres hingehen und behaupten, Kisten seien „Hunde im Sinne der Eisenbahnordnung". Denn es ist nun einmal so, daß in der deutschen Sprache große Holzkisten nicht als „Hunde" tituliert werden. Auch Bären, Kinderwagen und Hotelschirme werden in der deutschen Umgangssprache nicht „Hunde" genannt. Wir als Leser eines Textes - des Gesetzestextes - können über 5
6
Das Beispiel stammt von Klug, Juristische Logik, 4. Aufl. 1982, S. 144 f., der an ihm das Verhältnis von Analogie- und Umkehrschluß demonstriert. Siehe dazu unten im Anhang II das Stichwort „Definition, Definiendum, Definiens".
XVIII
Vorbemerkung
den Sinn der Wörter nicht beliebig verfügen, und daran kann auch keine „Auslegung" etwas ändern, und zwar auch dann nicht, wenn sie mit Attributen wie „teleologisch", „topisch", „dialektisch" oder ähnlich geschmückt wird. Jeder Jurist, der anfängt, „das Gesetz auszulegen", sollte sich dabei stets an das Gespräch zwischen Alice und Goggelmoggel in Carrolls „Alice hinter den Spiegeln" erinnern 7 : «„Ich verstehe nicht, was Sie mit,Glocke' meinen", sagte Alice. Goggelmoggel lächelte verächtlich. „Wie solltest du auch - ich muß es dir doch zuerst sagen. Ich meinte: ,Wenn das kein einmalig schlagender Beweis ist!'" „Aber ,Glocke' heißt doch gar nicht ein ,einmalig schlagender Beweis'", wandte Alice ein. „Wenn ich ein Wort gebrauche", sagte Goggelmoggel in recht hochmütigem Ton, „dann heißt es genau, was ich für richtig halte - nicht mehr und nicht weniger." „Es fragt sich nur", sagte Alice, „ob man Wörter einfach etwas anderes heißen lassen kann." „Es fragt sich nur", sagte Goggelmoggel, „wer der Stärkere ist, weiter nichts."» Die Rationalität unserer Sprache hängt davon ab, daß wir uns an den Bedeutungen der Umgangssprache orientieren, und die Verständigung hört praktisch sofort auf, wenn gegen dieses Postulat verstoßen wird. Daß Juristen auch teilweise eine Kunstsprache benutzen und benutzen müssen und daß hier Definitionen möglich und notwendig sind, ist mir bekannt; die Notwendigkeit einer Kunstsprache ändert an dem Gesagten jedoch nichts. Der Leser möge nicht glauben, das Beispiel mit dem Ausdruck „Hund" und der Holzkiste und das Beispiel mit Goggelmoggels „Glocke" seien an den Haaren herbeigezogen. Vor allem läuft jede „Auslegung" „vom Ergebnis her" - und es ist eine heute weit verbreitete Ansicht, „das Gesetz" sei „vom Ergebnis her" „auszulegen"! - Gefahr, die Kategorien in dieser Weise zu verbiegen und zu verfälschen. Wir machen uns nicht immer klar, daß der „Auslegung" „vom Ergebnis her" stets etwas Merkwürdiges innewohnt und daß solche „Auslegung" nicht selten auf einen fehlerhaften Zirkelschluß hinausläuft. Schon eine Bedeutungsanalyse des Wortes „Ergebnis" sollte das zeigen. Denn jedes Ergebnis ist nur dann ein Ergebnis, d. h. es kann nur dann als „Ergebnis" bezeichnet werden, wenn es sich aus etwas ergibt. Ein Ergebnis, das wirklich ein Ergebnis ist, hat also Voraussetzungen, und aus diesen Voraussetzungen folgt es. Wenn ein sogenanntes Ergebnis aber nicht in dieser Weise eine Folgerung ist, nicht in dieser Weise durch den Schluß bestimmt wird, sondern die Folgerung, den Schluß selbst, (mit)bestimmt, dann ist es kein „Ergebnis" mehr, sondern eine Voraussetzung und darf also ohne Mißbrauch der Sprache auch nicht mehr als „Ergebnis" tituliert werden. Alle „Auslegung" „vom Ergebnis her" hat eine Form, die sich allzu schnell als ein Teufelskreis entpuppt. Wandeln wir unser Beispiel auf das Strafrecht ab, dann sieht die „Auslegung" „vom Ergebnis her" häufig so aus:
7
In der glänzenden Übersetzung von Christian Enzensberger,
S.87f.
Aufgaben und Methode
XIX
(1) Die Mitnahme von Hunden in die Abteile ist nach § X strafbar. (2) Es besteht ein unabweisbares Bedürfnis, die Mitnahme von Holzkisten in die Abteile zu bestrafen. (3) Also sind Holzkisten „Hunde" im Sinne von § X. (4) Also ist die Mitnahme von Holzkisten in die Abteile nach § X strafbar.
Aus dem Gesagten folgt nicht, daß man seinem Unwillen gegenüber einer fragwürdigen Regelung des positiven Gesetzes keinen Ausdruck geben dürfe. Ganz im Gegenteil: Eine Kritik am Gesetz wird dadurch erst ermöglicht. Denn nur dann, wenn eine fragwürdige Regelung auch als fragwürdige herausgestellt und also nicht vorgetäuscht wird, daß sie doch die erwürfSchte Regelung sei, kann das Gesetz kritisiert werden. Es ist viel redlicher, sich mit ausdrücklichen Worten über eine Regelung des Gesetzes hinwegzusetzen, als zu behaupten, man käme mit Hilfe einer großen, mittleren oder kleinen „berichtigenden Auslegung" 8 doch zu dem erwünschten „Ergebnis". Unsere Rede sei semantisch einwandfrei! „Alles was sich aussprechen läßt, läßt sich klar aussprechen!" 9 Aber eben diese einwandfreie Semantik setzen wir - zur Ermöglichung, nicht zur Abweisung von Kritik! - auch beim Gesetz voraus. Zu der Forderung nach einer einwandfreien Semantik gehört nicht nur die Forderung nach einer semantisch einwandfreien Benutzung der einzelnen Wörter der deutschen Sprache, nach einer Einhaltung der Grenzen zwischen den einzelnen Kategorien, sondern es gehört auch die Forderung dazu, daß das Gesetz in sich widerspruchsfrei sei. Und wenn sich ein Selbstwiderspruch herausstellt, dann sollte man das auch sagen, d. h. man sollte den Selbstwiderspruch nicht zu verkleistern suchen. Auch dies gehört zu der kritischen Haltung, die wir dem Gesetz gegenüber einnehmen. Mindestens an einer Stelle wird sich ein solcher Selbstwiderspruch des heutigen StGB herausstellen, und das wird bei der Erörterung dieser Stelle auch gesagt werden 10 . Der Selbstwiderspruch macht das Gesetz an dieser Stelle semantisch sinnlos; das Gesetz sagt dann nur noch scheinbar etwas, in Wirklichkeit aber gar nichts mehr und überläßt den Gesetzesanwender seinem Schicksal.
8
9 10
Von „großer" und „kleiner" „berichtigender Auslegung" wird in der Tat gesprochen, etwa im Zusammenhang mit der „Auslegung" des §246 StGB - vgl. etwa Lackner, StGB, 17. Aufl. 1987, 3 zu §246. Daß der Ausdruck „berichtigende Auslegung" unter der Voraussetzung des herrschenden - freilich vagen und im allgemeinen nicht explizierten - Auslegungsbegriffs eine contradictio in adiecto enthält, wird in der Regel nicht gesehen. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Nr. 4.116. Siehe unten S. 280 ff.
XX
Vorbemerkung
Man kann die oben angedeutete Antwort auf die Frage, was eigentlich Gegenstand der Lehren vom Allgemeinen Teil des Strafrechts sei, wenn es nicht „das Gesetz" ist, auch anders formulieren. Das Studium des Strafrechts ist in weiten Bereichen gleichbedeutend mit dem Erlernen einer neuen Sprache, nämlich einer Sprache, in der die die Strafrechtslehre bedrängenden Fragen formuliert werden, auf die das positive Strafgesetz eine - mehr oder minder passende - Antwort zu geben versucht. Zur Erlernung einer neuen Sprache gehört aber nicht nur die Erlernung eines neuen Vokabulars, vielmehr gehört - mehr als dies - auch die Erfassung der Grammatik dazu, die diese Sprache bestimmt. Der Gegenstand und
die Aufgabe der Lehren vom Allgemeinen Teil ist es, diese Grammatik der Sprache des Strafrechts zu formulieren und die Konsequenzen daraus zu ziehen. Der Leser sollte nicht glauben, die Grammatik der Sprache des Strafrechts sei für den Gesetzgeber verfügbar. Das Gegenteil ist der Fall. Das Gesetz setzt diese Grammatik voraus, genauso wie es die Fragen voraussetzt, auf die es eine Antwort gibt. Auch die Fragen sind für das Gesetz nicht verfügbar. Es kann lediglich eine Antwort auf sie geben.
Was es mit der Rede von der Grammatik des Strafrechts im einzelnen auf sich hat, läßt sich in einer kurzen Vorbemerkung freilich nicht darstellen. Der Leser sei in erster Linie auf das Studium des Buches selbst verwiesen. Zur Grammatik des Strafrechts gehören u. a. (ich greife beliebige Punkte heraus): die Unterscheidung von Vornahme und Unterlassung einer Handlung, die oben bezeichnete Unterscheidung zwischen den verschiedenen möglicherweise relevanten Irrtümern, die Unterscheidung zwischen dem Urteil „Die Tat ist rechtswidrig!" und dem Urteil „Die Tat ist dem Täter zur Schuld zuzurechnen!". Darüber hinaus kann ich an dieser Stelle nur feststellen, daß die Probleme des Allgemeinen Teils - nicht die Sätze des positiven Rechts! - ein System oder mehrere aufeinander bezogene Teilsysteme von Problemen bilden, um deren teilweise - Herausarbeitung es in diesem Buch geht. Auch hier muß ich wieder sagen: Ich habe dieses System oder diese aufeinander bezogenen Teilsysteme nicht erfunden, sondern vorgefunden. Es ging mir darum, etwas zu entdecken, und nicht darum, Produkte meiner Phantasie in die Welt zu setzen. Der am meisten plausible Vergleich ist wohl der mit der Geometrie. Auch die Geometer haben das System der geometrischen Lehrsätze nicht einfach in die Welt gesetzt, sondern entdeckt — und ähnlich wie die geometrischen Lehrsätze bilden auch die Probleme des Allgemeinen Teils des Strafrechts ein System, um dessen Entdeckung es geht. Man sage nicht: In der Geometrie lassen sich Beweise führen, wogegen sich im Allgemeinen Teil des Strafrechts keine Beweise führen ließen, alles sei eine Frage der „Wertung". Auch in der Jurisprudenz lassen sich
Aufgaben und Methode
XXI
Beweise führen - und zwar Beweise, die in ihrem Charakter dieselben sind wie die Beweise in der Geometrie oder die den Beweisen in der Geometrie in ihrem Charakter wenigstens ähneln. Auch in der Lehre vom Allgemeinen Teil müssen logische Grundsätze und überhaupt die Prinzipien rationaler Rede beachtet werden, und es ist die Anwendung dieser Grundsätze und Prinzipien, die eine rationale Beweisführung more geometrico auch hier erlaubt 11 . Gelegentlich wird der Einwand erhoben: „Warum muß man es denn logisch machen, warum kann man es nicht wertend machen?" Die - einfache - Antwort darauf ist die: Weil man es, was immer das „es" sei, nicht unlogisch machen darf! Die Strafe, die jeden trifft, der sich nicht an die Grundsätze der Logik und an die Regeln rationaler Sprache hält, ist die der Irrationalität seiner Rede. Wird sie verhängt - und sie tritt als eine Art natürliche Strafe von selbst ein - , dann ist der letzte denkbare Punkt erreicht. Wir müssen aufhören, weiterzureden. Die unbezweifelbare Tatsache, daß im Recht auch Wertungen vorgenommen werden müssen, verführt viele - insbesondere angehende Juristen dazu zu glauben, mit den Wertungen sei schon alles getan, und da letztlich sowieso alles von einer Wertung abhänge, könne man ja gleich mit der Wertung beginnen und brauche sich nicht weiter mit Logik und rationaler Rede überhaupt abzugeben. Dann wird eben „wertend festgestellt" - es gibt auch noch eine Fülle anderer Ausdrücke dafür daß eine Holzkiste ein „Hund im Sinne der Eisenbahnordnung" sei. Oder es wird „wertend festgestellt", daß die Vornahme einer Handlung in diesem oder jenem konkreten Falle eben eine „Unterlassung im Rechtssinne" sei, weil - angeblich - nur so der Täter bestraft werden beziehungsweise weil angeblich - nur so eine Strafbarkeit des Täters vermieden werden könne je nachdem, wie man es gerade braucht. Bestenfalls werden dann noch einige Topoi angeführt, warum dies so sei. Jedoch können die Wertungen nicht am Anfang stehen, sondern erst am Ende aller Überlegungen, und die Logik und die anderen Regeln rationaler Rede dienen der Kontrolle dieser Überlegungen, die anderenfalls im intellektuell Unverbindlichen bloßen Meinens stecken- und dem Hin und Her allen Meinens unterworfen bleiben (von der Gefahr einer Ideologisierung einmal abgesehen) - gilt doch für Wertungen nicht selten der Satz „Wieviel Köpfe, soviel Sinne!" Freilich sind mit den anzustellenden Überlegungen gewisse intellektuelle Anstrengungen verbunden, die man vermeiden kann, wenn man die breite Straße bloßen „Wertens" einschlägt. „Werten" kann ja so bequem sein! Die erste Anstrengung ist dabei die, es zu unterlassen, vorschnell emotional auf ein Ergebnis zu reagieren, das beim oberflächlichen ersten Blick als unerwünscht erscheint. Auch im übrigen ist es nicht immer ganz 11
Vgl. auch meine Überlegungen in G A 81, 237ff.
XXII
Vorbemerkung
leicht, Konsequenzen zu Ende zu denken. Von Euklid wird die Geschichte erzählt 113 , Ptolemaios habe ihn einmal gefragt, ob es nicht einen kürzeren Weg durch die Geometrie gebe als das Euklidische Elementenwerk, worauf Euklid geantwortet habe: „Es gibt keinen königlichen Zugang zu den Wissenschaften!" Die Pointe dieser Geschichte gilt auch hier und heute: Es gibt keinen privilegierten Zugang zum Allgemeinen Teil. Doch zur Beruhigung sei es gesagt: Die in diesem Buch angestellten Überlegungen liegen im Niveau sämtlich unter dem Niveau des Beweises für den Pythagoräischen Lehrsatz, der schon im ersten Buch des Euklid zu finden ist und den bis vor kurzem jeder Abiturient beherrschen mußte. Schon diese wenigen Andeutungen weisen darauf hin, warum die in diesem Buch eingeschlagene Methode als eine „logisch-analytische" bezeichnet werden darf. Im Vordergrund steht die Forderung nach intellektueller Redlichkeit. Intellektuelle Redlichkeit aber bedeutet zunächst einmal: Die Begriffe, in denen geredet wird, müssen klare und distinkte Begriffe sein; die Verwendung von Beschwörungsformeln und von Zauberwörtern, die nichts besagen oder bei denen wir uns nichts denken, ist pedantisch zu vermeiden. Dann heißt intellektuelle Redlichkeit auch: Die einmal festgestellten Wortbedeutungen und die einmal vorausgesetzten Definitionen müssen durchgehalten werden; Kategorienverschiebungen und Kategorienvermischungen sind ebenfalls pedantisch zu vermeiden. Intellektuelle Redlichkeit heißt weiter: Sich um Widerspruchsfreiheit der eigenen Rede, d.h. um die Widerspruchsfreiheit der angebotenen FallLösungen in sich selbst und miteinander, bemühen. Sie bedeutet ganz
generell: Sich an die Regeln der Logik und der rationalen halten.
Argumentation
Die Einhaltung dieser Regeln ist eine notwendige Bedingung von Rationalität. Alles, was sich außerhalb dieser Grenzen bewegt, ist jedenfalls irrational. Freilich mag es sein, daß die Einhaltung jener Regeln nicht auch eine hinreichende Bedingung von Rationalität ist. Das kann hier offen bleiben. Denn auch das kann nichts daran ändern, daß der Jurist sich jedenfalls an den notwendigen Bedingungen von Rationalität zu orientieren hat. Juristen sind heute nicht selten geneigt, den zweiten Schritt vor dem ersten zu tun und die notwendigen Bedingungen von Rationalität zu vernachlässigen. Daß man bei einem solchen Vorgehen stolpert und stürzt, ist dann kein Wunder 12 .
Es gibt eine gute Tradition in der Strafrechtslehre, die zu erheblichen intellektuellen Fortschritten geführt hat - beispielsweise und ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit: die Notstandslehre (besonders durch die Entwicklung des § 34 StGB, der trotz seiner Mängel eine bedeutende Ua
12
Vgl. Thaer in den Anmerkungen zu Euklid, Die Elemente, dt. Ausgabe, 7. Aufl. 1980, S. 415. Zu den Forderungen, die an eine wissenschaftliche Behandlung des Strafrechts zu stellen sind, vgl. auch meinen Beitrag in JZ 1985, 1 ff.
Aufgaben und Methode
XXIII
Leistung ist), die neuere Lehre von den Unterlassungsdelikten (die zur Analyse des Korrespondenzverhältnisses zwischen der Vornahme und der Unterlassung von Handlungen und zur Unterscheidung zwischen den Sicherungs- und den Obhutsgaranten geführt hat), die subtilen Differenzierungen in der Irrtumslehre, die Konkurrenzlehre, auf die in diesem Buch im Anhang I verwiesen werden wird. Dieses Buch versucht, an diese Tradition anzuknüpfen und die dabei angewendeten Methoden explizit zu machen. Versteht sich das Buch so als eine logisch-analytische Alternative zu einer bloßen Wertungsjurisprudenz, so kann ich die Möglichkeit nicht ausschließen, daß ich Fehler gemacht habe. Bei einem selbstgenügsamen „Werten" gibt es keine Fehler (freilich auch nichts Richtiges), beim Versuch rationalen Analysierens sind Fehler denkbar. Zwar hoffe ich natürlich, keine Fehler gemacht zu haben, sonst hätte ich das Buch nicht publiziert. Aber dies kann nur eine mehr oder weniger begründete Hoffnung sein, und ich kann, wie gesagt, nicht ausschließen, Fehler gemacht zu haben. Noch weniger ist es auszuschließen, daß es eines Tages Erkenntnisse geben wird, die die hier vorgetragenen Erkenntnisse, deren rudimentärer Charakter mir bewußt ist, hinter sich lassen. Dieses Buch soll auch eine Anregung sein, über das hier Vorgetragene hinaus weiterzudenken.
Gewidmet ist dieses Buch jedem Juristen, dem die breite Straße bloßen „Wertens" zu bequem ist, der statt dessen weiß, daß auch im Recht gedankliche Strenge allein zu Erkenntnissen verhelfen und zu einem Erkenntnisfortschritt führen kann. Speziell den jungen Juristen, die heute nicht selten glauben, das Studium des Rechts bestehe im wesentlichen aus einer Anhäufung sog. Rechtskenntnisse, sei mit Schopenhauer 13 das Folgende gesagt: „Wie die zahlreichste Bibliothek, wenn ungeordnet, nicht so viel Nutzen schafft als eine sehr mäßige, aber wohlgeordnete; ebenso ist die größte Menge von Kenntnissen, wenn nicht eigenes Denken sie durchgearbeitet hat, viel weniger wert als eine weit geringere, die aber vielfältig durchdacht worden. Denn erst durch das allseitige Kombinieren dessen, was man weiß, durch das Vergleichen jeder Wahrheit mit jeder anderen eignet man sein Wissen sich vollständig an und bekommt es in seine Gewalt. Durchdenken kann man nur, was man weiß; daher man etwas lernen soll: aber man weiß auch nur, was man durchdacht hat". Dem jungen Juristen kann dieses Buch als eine Denkschule dienen, in der er am Beispiel des Strafrechts lernen kann, juristische Gedankengänge logisch und argumentationstheoretisch einwandfrei zu durchdenken 14 . 13
14
Schopenhauer, Parerga und Paralipomena (Werke, ed. Frbr. v. Löhneysen, 2. Aufl. 1968, Bd. V, S.577). Ein Wort ist noch angebracht zu der Auswahl der Fälle selbst. Zwar habe ich
XXIV
Vorbemerkung
Zu dem nachfolgenden Text seien an dieser Stelle nur noch zwei Punkte gesagt. Gelegentlich, besonders am Anfang, wird der in der heutigen Strafrechtsliteratur mehr oder weniger bewanderte Leser auf Ausdrücke und Definitionen stoßen, die ihm noch unvertraut sind. Er sollte sich dadurch nicht von der weiteren Lektüre abhalten lassen; ich hoffe, alles an der richtigen Stelle und im richtigen Maße erläutert zu haben. Auch folgt das Buch, schon zur Vermeidung eines größeren Umfangs, nicht überall dem sog. Gutachtenstil - insofern kann es nicht in jedem Punkte als Muster für Fall-Lösungen dienen, die von Studenten zu schreiben sind. Auch dies sollte natürlich nicht von der Lektüre abhalten. Den Kollegen, Studenten und anderen Lesern, die schriftlich oder mündlich konstruktive Kritik an der ersten Auflage dieses Buches geübt haben, möchte ich an dieser Stelle herzlich danken. Manches, was sie gesagt oder geschrieben haben, ist in die Neuauflage eingegangen. Freilich hat die Kritik nicht immer im vorliegenden Text ihren Niederschlag finden können, auch wenn ich ihre Berechtigung anerkenne. Denn der
mich bemüht, auch Fälle heranzuziehen, die mir aus der Rechtsprechung bekannt sind, aber nicht selten mußte ich typische Schulbeispiele benutzen, und manchen Fall habe ich schlicht konstruiert. Das ist notwendig so, wenn es darum geht, die denkbaren Falltypen systematisch zu erfassen. Manchmal ist es auch zweckmäßig, Abwandlungen nur eines oder zweier Grundfälle zu benutzen, um die Unterschiede möglichst deutlich zu machen und zusätzliche Probleme, die den Gedankengang nur belasten würden, zu umgehen. Zu jedem Fall in diesem Buch läßt sich eine Fülle von Parallelfällen denken (Parallelfälle zu den Fallgruppen 1 bis 6 des Kapitels III finden sich beispielsweise in GA 80, 1 ff.). Vor einigen Jahren - und die Welle ist, wie mir scheint, heute noch nicht ganz abgeebbt - galt es als schick und als Beweis für eine „kritische" Einstellung, die Benutzung sog. Schulbeispiele und die Benutzung konstruierter Fälle lächerlich zu machen. Doch sind die sog. Schulbeispiele von der Strafrechtslehre nicht um ihrer selbst willen ausgeklügelt und die von mir konstruierten Fälle sind von mir nicht um ihrer selbst willen konstruiert worden, sondern sie haben den einen und einzigen Zweck, ein bestimmtes Einzelproblem und vor allem den logischen Ort eines bestimmten Einzelproblems im System der Probleme zu bezeichnen. In den Fällen, die „das Leben" liefert, treffen oft viele höchst verschiedene Komponenten zusammen, und es ist die Aufgabe des analytischen Verstandes, die einzelnen Komponenten als solche zu erkennen und richtig einzuordnen, und nicht, sie mit den anderen Komponenten zu vermengen. Das kann man nur, wenn man die einzelne Komponente als solche auch kennt - und die Schulbeispiele und die konstruierten Fälle haben die Aufgabe, eben dies zu ermöglichen. Die Neigung vieler Juristen, den zweiten Schritt vor dem ersten zu tun, hat seinerzeit die gegen die Schulbeispiele gerichteten Emotionen begünstigt; der rational nicht mehr nachvollziehbare - Gedanke war der, der Jurist, auch der junge Jurist, solle sich ohne jede weitere intellektuelle Vorbereitung sofort auf die komplexen „lebensnahen" Fälle stürzen. Doch ist dies gerade so, als ob man sich mit Differentialrechnung beschäftigen möchte, ohne die Grundrechnungsarten zu beherrschen.
Aufgaben und Methode
XXV
bisherige Charakter des Buches sollte erhalten bleiben. Doch möchte ich auch in diesem Zusammenhang noch einmal betonen, daß das Buch in meinen Augen einen Anfang darstellt - mit allen Mängeln, die einem Anfang eigen sind - und nicht den Abschluß einer „Meinungsbildung, bei dem ich nunmehr eigensinnig zu beharren gedenke. Mein besonderer Dank gilt dieses Mal Frau S.Byrd, J . D . , Herrn Privatdozenten Dr. Jan C. Joerden und Herrn Rechtsreferendar G. Lugert für ihre Mitwirkung an der Neuauflage.
KAPITEL I Fälle zum zeitlichen und sachlichen Verhältnis zwischen den Verbrechensmerkmalen: Das Simultaneitäts- und Referenzprinzip Fall 1: Simultaneitätsprinzip und Vorsatz (zum sog. dolus antecedens) Τ hegt schon seit mehreren Wochen den Plan, den 0 durch einen vorgetäuschten Unfall umzubringen. Bei einem gemeinsamen Jagdausflug schießt er aus Unachtsamkeit auf 0, ohne zu bemerken, daß es sich um 0 handelt. Τ glaubt vielmehr, er ziele und schieße auf ein verstecktes Wild. 0 wird getroffen und stirbt an den Folgen des Schusses. Hinweis zum Aufbau der Lösung: Zuerst ist zu erörtern, ob der objektive Tatbestand des Totschlags nach §212 StGB erfüllt ist. Ist die Frage positiv zu beantworten, dann ist weiter zu fragen, ob der subjektive Tatbestand des Totschlags erfüllt ist; § 212 StGB greift nur ein, wenn die Tat vorsätzlich begangen wurde (vgl. § 15 StGB) 1 . Zur Lösung: Der objektive Tatbestand des Totschlags ist erfüllt. Insbesondere ist der Tod des Ο dem Handeln des Τ - dem Abdrücken des Jagdgewehrs - als Tötungserfolg objektiv zuzurechnen. Dieser objektive Zurechnungszusammenhang besteht nicht schon deswegen, weil das Abdrücken des Gewehrs durch Τ für den Tod des Ο objektiv ursächlich gewesen ist, sondern deswegen, weil über den bloßen Kausalzusammenhang hinaus ein objektiver Finalzusammenhang zwischen dem Handeln des Τ und dem Tod des Ο anzunehmen ist. Das soll heißen: Nach dem Urteil (zwar nicht des Täters, aber) eines objektiven Beobachters ist das 1
Der Täter handelt nur dann „vorsätzlich", wenn der subjektive Tatbestand des § 212 StGB erfüllt ist. Die Erfüllung des subjektiven Deliktstatbestandes ist mithin eine notwendige Bedingung für die Annahme, daß der Täter vorsätzlich gehandelt hat; daß sie nicht auch eine hinreichende Bedingung dafür ist, wird im Kapitel III gezeigt werden. Vgl. zum Vorsatz im übrigen unten in Anhang II das Stichwort „Wille als Element des Deliktstatbestandes und als Rechtfertigungselement".
2
Kapitel I
Abdrücken des Gewehrs in der geschilderten Situation ein taugliches Mittel, um den Tod des Ο - als objektiven Zweck - herbeizuführen2. Der subjektive Tatbestand des Totschlags ist dagegen nicht erfüllt; Τ hat den Ο nicht vorsätzlich getötet. - Es ist unbestritten - und unbestreitbar! - , daß das „Wissen um die Verwirklichung des jeweiligen objektiven Tatbestandes" zumindest ein wesentliches Element des Tatvorsatzes ist. „Wissen um die Tatbestandsverwirklichung" aber bedeutet hier: Kenntnis der nach dem Tatbestand relevanten vergangenen und gegenwärtigen Umstände, die die konkrete Tatsituation ausmachen, und Voraussicht der nach dem Tatbestand relevanten künftigen Ereignisse. Τ hat bei Abgabe des Schusses nicht vorausgesehen, daß er Ο tödlich treffen werde. Das Bewußtsein, daß der Tod des Opfers eine mögliche Wirkung des eigenen Tuns ist, ist jedoch eine notwendige Bedingung für die Annahme eines Tötungsvorsatzes. Fehlt dieses Bewußtsein, dann befindet sich der Täter in Unkenntnis über einen relevanten Umstand im Sinne des § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB. Deshalb hat Τ den Ο nicht vorsätzlich getötet. Daran ändert sich nichts dadurch, daß Τ zuvor den Plan gefaßt hatte, den Q bei einem vorgetäuschten Unfall ums Leben zu bringen. Dieser Plan kann die für die Annahme eines Totschlags notwendige Voraussicht des Erfolgseintritts als Wirkung des eigenen Handelns nicht ersetzen. Der von Τ gehegte Tötungsplan ist bestenfalls ein bloßer „dolus antecedens", ein „vorangehender Vorsatz", wie es traditionell heißt; wobei beachtet werden sollte, daß der „dolus antecedens" seinen Namen, genaugenommen, zu Unrecht führt. Denn er ist gar kein „dolus", er ist gar kein „Vorsatz" im technischen Sinn des Wortes, da im Strafrecht von einem „Vorsatz" nur für die Zeit vom Beginn bis zum Ende der Handlung, die den jeweiligen objektiven Tatbestand verwirklicht, gesprochen werden kann.
2
Vgl. dazu unten in Anhang II das Stichwort „Begehungstaten, insbesondere die erfolgsbezogenen Begehungstaten". - Die sog. kausale Handlungslehre begnügt sich statt dessen mit der Feststellung eines Kausalzusammenhangs. Allerdings verlangt auch die Rechtsprechung immer dann, wenn ihr das bei konsequenter Anwendung der sog. kausalen Handlungslehre erzielte Ergebnis als „unbillig" erscheint, durchaus mehr als den bloßen Kausalzusammenhang. So verlangt etwa der B G H in BGHSt. 23, 356 ff., daß der Täter bereits das Stadium des Versuchs überschritten hat, wenn die Tat den objektiven Tatbestand eines erfolgsbezogenen Delikts erfüllen soll. Denkt man das zu Ende, dann kommt man zum Erfordernis auch eines objektiven Finalzusammenhanges. Daß dieses Erfordernis auch Selbstwidersprüche des Urteilers vermeidet, wird im Verlaufe dieses Kapitels — bei der Erörterung des Falles 8 - deutlich werden.
Fall 1
3
Hinweis zum Aufbau: Da zwar der objektive, nicht aber der subjektive Tatbestand des § 212 StGB erfüllt ist, ist als nächstes zu erörtern, ob Τ eine fahrlässige Tötung nach $ 222 StGB begangen hat. Vgl. auch § 16 Abs. 1 Satz 2 S t G B ! Objektiv setzt die Annahme einer fahrlässigen Tötung voraus, daß der Tod des Ο auf ein Tun des Τ zurückgeführt werden kann, was die objektive Vorhersehbarkeit des Todes des Opfers als Wirkung des Handelns des Täters einschließt. Daß diese objektiven Bedingungen einer fahrlässigen Tötung erfüllt sind, ergibt sich schon aus den oben angestellten Überlegungen, nach denen der objektive Tatbestand des § 212 StGB erfüllt ist; insbesondere ist die oben getroffene Feststellung eines objektiven Finalzusammenhanges zwischen dem Schießen und dem Tod des O , aufgrund dessen der Tod des Ο dem Handeln des Τ als Tötungserfolg zugerechnet werden konnte, gleichbedeutend mit der Feststellung, daß der Tod des Ο objektiv - d. h. von seiten eines objektiven Beobachters als Wirkung der Tat des Τ vorausgesehen werden konnte. Deshalb ist im Rahmen der Erörterung des § 222 StGB nur noch zu fragen, ob Τ den Tod des Ο als Wirkung seines Handelns hätte erkennen müssen und erkennen können (sog. subjektive Vorhersehbarkeit des Erfolgs). Dieses Erkennenmüssen und subjektive Erkennenkönnen des Todes des Opfers als Wirkung des eigenen Handelns tritt bei der fahrlässigen Tötung gewissermaßen als Surrogat - an die Stelle des subjektiven Tatbestandes beim Totschlag 3 . Weiter zur Lösung: Im konkreten Fall trifft den Τ die Obliegenheit, die aus seinem Schießen resultierende Lebensgefahr für Ο zu erkennen 4 . Das folgt aus dem Grundsatz, daß es jedem Verbotsadressaten, der im Begriffe ist zu handeln, obliegt, die aus seinem Handeln resultierenden Möglichkeiten der objektiven Verwirklichung eines Deliktstatbestandes zu erkennen. Dieser Grundsatz ist zwar im geschriebenen Recht nirgends als solcher formuliert, ergibt sich aber bei einer Analyse des Begriffs der Fahrlässigkeit. Zu ihm sind Ausnahmen denkbar, hier jedoch greift keine Ausnahme ein. Τ hätte den Tod des Ο also vorhersehen müssen. O b er ihn auch hätte vorhersehen können, ist Tatfrage. Da im Sachverhalt angegeben ist, daß Τ „aus Unachtsamkeit" auf Ο geschossen hat, ist davon auszugehen, daß er den Tod des Ο auch vorhersehen konnte. Τ hat den Ο deshalb fahrlässig getötet 5 . 3
Einzelheiten unten S. 187 ff.
4
Siehe in Anhang II das Stichwort „Obliegenheit/Pflicht". Zu dem heute verbreiteten Ausdruck „Sorgfaltspflicht" siehe auch unten S. 331 f. D e r Leser, dem das als zu knapp erscheint, m u ß auf die Überlegungen in Kapitel III verwiesen werden.
5
4
Kapitel I
Fall 2: Simultaneitätsprinzip und Vorsatz (zum sog. dolus subsequens) Bei einem gemeinsamen Jagdausflug schießt Τ aus Unachtsamkeit auf 0 - er glaubt, ein Reh vor sich zu haben - und trifft ihn tödlich. Dann erkennt T, daß er den Ο erschossen hat. Er ist erfreut darüber und billigt den Tod des O6. Hinweis erörtern.
zum
Aufbau:
Wie bei Fall 1 ist zunächst § 212 S t G B zu
Zur Lösung: Der objektive Tatbestand des § 212 S t G B ist erfüllt. Gegenüber Fall 1 besteht insoweit kein Unterschied. Darüber hinaus besteht auch hinsichtlich des subjektiven Tatbestandes kein Unterschied zu Fall 1. Τ hat nicht vorsätzlich gehandelt, weil er bei Abgabe des Schusses nicht erkannt hat, daß er den Ο tödlich treffen könnte. Daran ändert sich nichts dadurch, daß Τ nachträglich erkennt, den Ο getötet zu haben, daß er sich über den T o d des Ο freut und ihn „billigt". Das alles kann die für die Annahme eines Totschlags erforderliche Voraussicht des Erfolgseintritts als Wirkung des eigenen Handelns nicht ersetzen. Die nachträgliche „Billigung" ist bestenfalls ein bloßer „dolus subsequens", ein „nachträglicher Vorsatz", der jedoch, genauso wie der „dolus antecedens", kein „Vorsatz" im technischen Sinne des Wortes ist 7 . Weiterer Hinweis zum Aufbau: D a infolgedessen § 16 Abs. 1 S t G B eingreift, ist zur fahrlässigen Tötung (§ 222 S t G B ) überzugehen. In der Lösung ergibt sich kein Unterschied zu Fall 1.
Zwischenbemerkung Die Lösung der Fälle 1 und 2 - in beiden Fällen kein Totschlag! beruht auf der Geltung des Simultaneitätsprinzips. Das Simultaneitätsprinzip setzt die im Gesetz festgelegte Begriffsbestimmung des Totschlags - „Ein Totschlag ist die vorsätzliche Tötung eines Menschen" (vgl. § § 2 1 2 , 15 S t G B ) - voraus und besagt, daß diese Merkmale bei einer konkreten Tat zeitlich zusammenfallen müssen, andernfalls die Tat eben kein Totschlag ist. Erst dann, wenn die Begriffsmerkmale des Totschlags
b
7
Die einzige Rechtfertigung der Verwendung des Ausdruckes „billigen" liegt darin, daß er in derartigen Zusammenhängen oft verwendet wird. Siehe jedoch unten Fn. 7. Im übrigen ist es höchst zweifelhaft, ob das Wort „Billigung" hier zu Recht verwendet wird, weil man wohl kaum etwas „billigen" kann, was ohnehin nicht zu ändern ist. Kann man „billigen", daß es den Mond gibt?
Zwischenbemerkung
5
zugleich erfüllt sind, und nur so lange, als dies der Fall ist, kann semantisch sinnvoll von einem „Totschlag" die Rede sein.
Das Simultaneitätsprinzip ist ein dem Recht vorgegebenes Prinzip, das eine allgemein gültige Bedingung sinnvoller Rede formuliert. So gibt der Sprechende, in Abwandlung des bekannten Beispiels von J . L. Austin 8 , mit der Behauptung „Peter ist schwarzhaarig" zu erkennen, daß er glaubt, daß Peter Haare hat und an einer Stelle seines Körpers schwarze Farbe aufweist - die übliche exoterische 9 Bedeutung der verwendeten Wörter vorausgesetzt. Denn es enthielte einen Selbstwiderspruch zu sagen: „Peter ist schwarzhaarig, aber ich glaube nicht, daß er Haare hat!", genauso wie es einen Selbstwiderspruch enthielte zu sagen: „Peter ist schwarzhaarig, aber ich glaube nicht, daß er irgendwo schwarz ist!" Das gilt auch dann, wenn Peter nach Annahme des Sprechers früher einmal Haare gehabt hat oder künftig Haare haben wird, aber jetzt, d.h. im Zeitpunkt der Behauptung, Peter sei schwarzhaarig, keine Haare hat. Und das gilt auch dann, wenn Peter nach Annahme des Sprechers früher einmal an einer Stelle seines Körpers schwarz war oder künftig an einer Stelle schwarz sein wird, aber jetzt nirgends schwarz ist. Daraus folgt, daß die Behauptung „Peter ist schwarzhaarig" sinnvoll nur dann aufgestellt werden kann, wenn damit gesagt sein soll, daß Peter zugleich Haare hat und an einer Stelle seines Körpers schwarz ist. Ebenso schließt unter der Voraussetzung der Definition „Ein Büro ist ein Raum, in dem geschäftsmäßig Schreibarbeiten erledigt werden" die Behauptung „Dies ist ein Büro!" es ein, daß der Sprecher annimmt, der als „Büro" titulierte Gegenstand sei zugleich erstens ein Raum und zweitens ein Ort, an dem geschäftsmäßig Schreibarbeiten erledigt werden. Ein Raum, der als Kindergarten verwendet wird, kann deshalb sinnvoll nicht als „Büro" bezeichnet werden, es sei denn, man gibt die Definition auf. Soll die Definition dagegen beibehalten werden, dann wäre es ein semantischer Unsinn, einen Kindergarten als „Büro" zu bezeichnen, weil dies auf einen Selbstwiderspruch hinausliefe. Das gilt auch dann, wenn in den Räumen, die jetzt, d. h. im Zeitpunkt der Behauptung, dies sei ein Büro, als Kindergarten benutzt werden, früher einmal ein Büro betrieben worden ist oder künftig ein Büro betrieben werden wird. Genauso wäre es ein Selbstwiderspruch, den „Totschlag" als vorsätzliche Tötung eines Menschen zu definieren und gleichzeitig zu erklären, der objektive und der subjektive Tatbestand des § 212 StGB brauchten im 8
9
H o w to do things with Words. Deutsche Übertragung: Zur Theorie der Sprechakte, 1981, S.66. Wir orientieren uns an der Umgangssprache, und um der Rationalität der eigenen Rede willen sollten wir vermeiden, den Wörtern durch eine heimliche Umdefinition eine esoterische Bedeutung zu geben.
6
Kapitel I
konkreten Fall nicht zugleich erfüllt zu sein. Deshalb ist die Tat des Falles 1 kein Totschlag, und zwar selbst dann nicht, wenn man den vorhergehenden Tötungsplan als „Tötungsvorsatz" bezeichnen sollte, und auch die Tat des Falles 2 ist kein Totschlag, und zwar auch dann nicht, wenn man die nachträgliche „Billigung" als „Tötungsvorsatz" anerkennen könnte, weil die Erfüllung des objektiven Tatbestandes des § 212 StGB und der Tötungsvorsatz in beiden Fällen zeitlich auseinanderfallen. Wie man sieht, gilt das Simultaneitätsprinzip für jede beliebige Behauptung, die dahin geht, daß ein bestimmter Ausdruck, dessen Definiens10 mehrere Elemente enthält - etwa der Ausdruck „schwarzhaarig" oder der Ausdruck „Büro" oder der Ausdruck „Totschlag" einen realen Gegenstand bezeichnet. Stets ist es so, daß alle Elemente des Definiens erfüllt sein und daß sie zugleich erfüllt sein müssen, wenn der Ausdruck auf den realen Gegenstand - auf Peter, auf den konkreten (Büro-)Raum, auf die Vornahme der (Totschlags-)Handlung - richtig angewendet wird. Damit geht das Simultaneitätsprinzip letztlich auf den für die Logik konstitutiven Grundsatz der Identität - „Jeder Gegenstand ist mit sich selbst und nur mit sich selbst identisch!" - zurück11. Deshalb findet das Simultaneitätsprinzip ganz allgemein Anwendung, wenn es um Straftaten geht. Für Straftaten wird die folgende Definition in ihren wesentlichen Zügen allgemein anerkannt: Eine Straftat ist die objektiv und subjektiv deliktstatbestandsmäßige, rechtswidrige und zur Schuld zurechenbare Vornahme oder Unterlassung einer Handlung. Unter der Voraussetzung dieser Definition sagt das Simultaneitätsprinzip, daß von einer Straftat semantisch sinnvoll nur dann die Rede sein kann, wenn ein konkreter Vorgang (eine konkrete Untätigkeit) zugleich als Vornahme (als Unterlassung) einer Handlung, als objektiv und subjektiv deliktstatbestandsmäßig, als rechtswidrig und als zur Schuld zurechenbar angesehen werden kann. Erst dann, wenn diese Begriffsmerkmale der Straftat sämt10
11
Siehe dazu unten in Anhang II das Stichwort „Definition, Definiendum, Definiens". Die übliche Formel für Identität ist „ a = a " . „Identität" ist nicht „Gleichheit". Zwei verschiedene Gegenstände können einander so ähnlich sein, daß wir sagen: „Sie gleichen sich!". „Gleichheit" ist mithin ein Grenzfall von „Ähnlichkeit". „Identität" dagegen bedeutet „Selbigkeit". Verschiedene Gegenstände sind schon kraft ihrer Verschiedenheit nicht derselbe Gegenstand, sie mögen einander so ähneln (gleichen), wie sie wollen. - Die Identität ist ein Grundbegriff der Logik, und jeder Verstoß gegen den Grundsatz der Identität führt geradewegs in die Irrationalität hinein. Deshalb hat Androulakis durchaus recht, wenn er einen bestimmten Verstoß gegen das Simultaneitätsprinzip schlicht als „Unsinn" bezeichnet hat (Studien zur Problematik der unechten Unterlassungsdelikte, 1963, S. 218). Freilich muß man deutlich machen, warum ein Verstoß gegen das Simultaneitätsprinzip zu Unsinn führt. Das ist oben im Text versucht worden.
Zwischenbemerkung
7
lieh erfüllt sind, und nur so lange, als sie sämtlich erfüllt sind, kann ein Vorgang oder eine Untätigkeit eine „Straftat" genannt werden. Das soll nicht heißen, daß eine Straftat aus Gründen der Logik als tatbestandsmäßige, rechtswidrige und zur Schuld zurechenbare Vornahme oder Unterlassung einer Handlung definiert werden müßte. Aber: Wenn eine Straftat so definiert ist, dann muß man sich nach dem Simultaneitätsprinzip richten - oder die eigene Rede wird sinnlos und irrational.
Aus der Anwendung des Simultaneitätsprinzips auf den Begriff einer vorsätzlichen Straftat bzw. auf den Begriff einer Straftat überhaupt läßt sich die folgende Regel ableiten: Zur Annahme einer Straftat muß der
Urteiler die gleichzeitige
Erfüllung sämtlicher für die Annahme
jener
Straftat relevanten Merkmale konstatieren! Andernfalls stellt er eben keine Straftat fest. Es genügt deshalb nicht, daß der Urteiler sich die Erfüllung der verschiedenen Verbrechensmerkmale von verschiedenen Zeitpunkten zusammenklaubt, also etwa - um bei einer rechtswidrigen und zur Schuld zurechenbaren Vorsatztat zu bleiben - vom Zeitpunkt t t die Erfüllung des objektiven Deliktstatbestandes der in Rede stehenden Strafbestimmung, vom Zeitpunkt t 2 die des subjektiven Deliktstatbestandes, vom Zeitpunkt t j die Rechtswidrigkeit und vom Zeitpunkt t 4 die Schuld herholt. Das Simultaneitätsprinzip kehrt in der Formulierung „bei Begehung der Tat" in den §§ 16, 17, 19, 20, 21, 35 Abs. 2 des heutigen StGB wieder. Es ist jedoch nicht so, daß es aus diesen Bestimmungen „abgeleitet" werden könnte. Vielmehr beruhen die Vorschriften selbst auf dem Prinzip, kraft dessen sie überhaupt erst verständlich werden - die Bestimmungen wären nicht etwa nur falsch, sie wären schlechterdings Unsinn, wenn sie das Prinzip nicht berücksichtigten. Das Simultaneitätsprinzip spielt im Strafrecht eine wichtige, freilich nicht selten verkannte Rolle 12 . Die Fälle 7 bis 13 und ihre Lösungen 12
Richtig berücksichtigt der B G H das Simultaneitätsprinzip, wenn er in B G H S t . 33, 172 ff. ausführt, eine Tat könne nur strafbar sein, wenn sie bei ihrer Begehung einen objektiven Deliktstatbestand erfüllt und rechtswidrig ist. Richtig stellt das Gericht dort auch fest, der Tatvorsatz müsse sich „auf die Verwirklichung der äußeren Merkmale der Tat im Zeitpunkt ihrer Begehung beziehen". Nicht selten wird freilich der Versuch gemacht, das Simultaneitätsprinzip mit einer begrifflich nicht mehr faßbaren und also unbegreiflichen und darum irrationalen angeblichen „Sinneinheit" des „Gesamtgeschehens" zu überspielen, wobei Appelle und Topoi, die den „normativ-wertenden Charakter" strafrechtlicher Entscheidungen betonen, dazu dienen, die Unbegreiflichkeit solcher „Sinneinheiten" zu verdecken. Der Herausstellung von Evidenzerlebnissen und Appellen dieser Art gegenüber ist stets Vorsicht geboten. Mit Recht wendet sich der B G H in J Z 83, 864 gegen den Versuch, mit derartigen Topoi „den haftungsbegründenden Sachverhalt" zu ersetzen.
8
Kapitel I
werden das zeigen. Zuvor ist jedoch noch ein weiterer Gesichtspunkt genauer zu formulieren.
Fall 3: Referenzprinzip und Vorsatz (ein aberratio-ictus-Fall) Τ zielt auf 0 , und drückt das Gewehr ab. Er trifft jedoch nicht 0 2 , den er gar nicht gesehen hat.
sondern
Hinweis zum Aufbau der Lösung: Eine methodisch genaue Untersuchung muß zwischen der Tat, die Τ gegenüber Oi, und der Tat, die Τ gegenüber 0 2 begangen hat, unterscheiden. Es empfiehlt sich, mit der Tat zu beginnen, die Τ gegenüber O2 begangen hat, weil der Tötungserfolg bei 0 2 eingetreten ist. Dabei ist wieder zuerst zu erörtern, ob der objektive Tatbestand des § 212 StGB verwirklicht ist, und - im Falle einer positiven Antwort - ist weiter zu erörtern, ob auch der subjektive Tatbestand des § 212 StGB erfüllt ist. Im Verneinungsfalle ist auf § 222 StGB überzugehen. Zur Lösung: Der objektive Tatbestand des Totschlags ist in bezug auf O2 erfüllt, insbesondere ist nicht daran zu zweifeln, daß der Tod des 0 2 dem Handeln des Τ objektiv als Erfolg zugerechnet werden kann13. Der subjektive Tatbestand des Totschlags ist in bezug auf 0 2 jedoch nicht erfüllt. - Zum Vorsatz gehört das „Wissen" des Täters um die Verwirklichung, d. i. um das Wirklichkeitwerden des objektiven Deliktstatbestandes, den der Urteiler bei seiner Fallbeurteilung jeweils als erfüllt ansieht. Das aber bedeutet, daß sich der Vorsatz jeweils auf die konkrete Tat bezieht, soweit sie nach dem objektiven Tatbestand relevant ist, und daß er sich auf alle Teilaspekte der konkreten Tat bezieht, die tatbestandlich relevant sind14. Zu diesen Teilaspekten gehört bei den erfolgsbezogenen Delikten auch der Taterfolg, beim Totschlag also der Tod des Opfers. Nun ist bei der Erörterung der Frage, ob der objektive Tatbestand des Totschlags erfüllt sei, festgestellt worden, daß der Tod gerade des 02 für die Annahme der Tatbestandsverwirklichung konstitutiv gewesen ist (denn sonst ist ja niemand gestorben). Also hätte Τ vorsätzlich nur gehandelt, wenn er den Tod gerade des 0 2 als Wirkung seines Schusses ins Auge gefaßt hätte. Genau das ist jedoch nicht der Fall. Τ hat gerade nicht vorausgesehen, daß er den 0 2 tödlich treffen könnte. Deshalb greift § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB ein. 13 14
Zur Begründung vgl. etwa oben S. 1 f. Der Vorsatz bezieht sich nicht auf „den Tatbestand" als einer gesetzlichen Rechtsfolgevoraussetzung, sondern auf die Vornahme einer Handlung, die den (Delikts-)Tatbestand erfüllt, auf die Tatbestands Verwirklichung.
Fall 3
9
Daran ändert sich nichts dadurch, daß Τ statt dessen den Tod des Oi ins Auge gefaßt hatte. Soweit es um den Totschlagsvorsatz bei einer vollendeten Tat geht, bezieht sich der Vorsatz gerade und nur auf die Umstände des Falles, die für die Feststellung relevant waren, daß der objektive Tatbestand des § 212 StGB erfüllt ist. Bei dieser Feststellung aber spielt ausweislich der obigen Erörterung der O] nicht die geringste Rolle. Also spielen auch die Vorstellungen, die Τ in bezug auf O i hegte, bei der Erörterung des Tatvorsatzes für das vollendete Delikt keine Rolle. Damit ist § 212 StGB in bezug auf 0 2 nicht erfüllt. Möglicherweise handelt es sich jedoch um eine fahrlässige Tötung. Dabei ist zu beachten, daß die Tötung des O2 nicht notwendig eine fahrlässige ist 15 . Der Fall liefert freilich nicht genügend Hinweise, um die Frage zu beantworten, ob die Tötung des O2 eine fahrlässige war oder nicht 16 . Hinweis zum Auföau: Nach der Erörterung der Tat, die Τ gegenüber 0 2 begangen hat, ist seine Tat gegenüber C^ zu betrachten. Hier wird sich herausstellen, daß Τ gegenüber O] einen Totschlagsversuch (§§ 212, 22 StGB) begangen hat. Für die Erörterung eines Deliktsversuchs ist nach wie vor § 43 Abs. 1 StGB a. F. 1 7 hilfreich. Die Vorschrift lautete: „Wer den Entschluß, ein Verbrechen oder Vergehen zu verüben, durch Handlungen, welche einen Anfang der Ausführung dieses Verbrechens oder Vergehens enthalten, betätigt hat, ist, wenn das beabsichtigte Verbrechen oder Vergehen nicht zur Vollendung gekommen ist, wegen Versuches zu bestrafen."
Danach setzt - und das ist auch heute noch richtig - die Erörterung des Versuchs eines Delikts die Feststellung voraus, daß das Delikt nicht vollendet ist. Deshalb ist auch hier wieder mit der Besprechung des objektiven Tatbestandes des §212 StGB zu beginnen; doch darf die Feststellung, daß der objektive Tatbestand der Bestimmung nicht erfüllt ist, angesichts ihrer offensichtlichen Selbstverständlichkeit auf keinen Fall breiten Raum einnehmen. Danach ist zu erörtern, ob Τ einen Deliktsentschluß im Sinne des § 43 StGB a. F. gefaßt hat, d. h. ob er in bezug auf O i den subjektiven Tatbestand des § 212 StGB erfüllt hat. Kann das bejaht werden, dann ist zuletzt der „Anfang der Ausführung" des Delikts zu besprechen, d. h. die Frage zu erörtern, ob Τ „nach seiner Vorstellung von der Tat zur Verwirklichung des Tatbestandes unmittelbar angesetzt" (vgl. § 22 StGB) hat oder nicht. 15
16
17
Der Schluß vom fehlenden Vorsatz auf die Fahrlässigkeit der Tatbestandsverwirklichung ist immer falsch. Die Fahrlässigkeit der Tatbestandsverwirklichung muß vielmehr anhand der ihr eigenen Kriterien festgestellt werden. Zur Fahrlässigkeit vgl. im übrigen unten Kapitel III Fall 1 b und die daran anschließenden Bemerkungen. Die Vorschrift war bis zum 3 1 . 1 2 . 1 9 7 4 in Kraft.
10
Kapitel I
Weiter zur Lösung: Der objektive Tatbestand des § 212 StGB ist in bezug auf Oi nicht erfüllt, weil es an einem Totschlagserfolg fehlt; Oi lebt. Hat Τ in bezug auf O j einen Totschlagsversuch (§§ 212, 22 StGB) begangen? Der subjektive Tatbestand des § 212 StGB ist erfüllt. Τ hatte die Tötung des O] durch seinen Schuß ins Auge gefaßt. Da er darüber hinaus auf Oi auch gezielt und abgedrückt hat, hat er auch zur Verwirklichung des Tatbestandes unmittelbar angesetzt. Τ hat deshalb gegenüber Oi einen Totschlagsvefsuch begangen. Τ hat demnach einen Totschlagsversuch (an O ^ eventuell in Tateinheit (§ 52 StGB) mit einer fahrlässigen Tötung (des 0 2 ) begangen.
Zwischenbemerkung Die Fälle von der Art des Falles 3 werden üblicherweise unter dem Stichwort „aberratio ictus" besprochen. Der Ausdruck - wörtlich: „Fehlgehen des Schlages" - bedeutet, daß es sich bei ihnen um Fälle einer Abweichung des tatsächlich eingetretenen Deliktserfolgs von dem vom Täter vorgestellten Deliktserfolg handelt. Beliebt, wenn auch nur sehr begrenzt ergiebig, ist es, diese Fälle von den Fällen eines sog. error in persona vel in obiecto „abzugrenzen". Gewiß müssen die Fallgruppen unterschieden werden. Bei den mit dem Stichwort „error in persona" gekennzeichneten Fällen - Τ zielt und schießt auf Oi, den er in der Dämmerung fälschlich für O2 hält; Oi stirbt an den Folgen des Schusses - sind der objektive und der subjektive Tatbestand zugleich erfüllt, und außerdem korrespondieren die Erfüllung des objektiven und die Erfüllung des subjektiven Tatbestandes einander genau; also ist ein vollendetes Delikt - ein vollendeter Totschlag gegeben. Daran ändert sich nichts dadurch, daß der Täter die Personen verwechselt. Denn Τ erschießt und tötet genau die Person, die er vor sich sieht und auf die er zielt. Zwar befindet er sich in einem Irrtum, aber der Irrtum bezieht sich nicht auf einen nach dem Totschlagstatbestand relevanten Umstand. Deshalb ist dieser Irrtum - im Gegensatz zu dem Irrtum bei den aberratio-ictus-Fällen - unbeachtlich (ein sog. bloßer Motivirrtum). Weit wichtiger als die „Abgrenzung" der aberratio-ictus-Fälle von den error-in-persona-Fällen ist es jedoch, den entscheidenden einheitlichen Gesichtspunkt zu erkennen, der die Lösung des Falles 3 mit den Lösungen der folgenden Fälle 4 bis 6 verbindet.
Fall 4
11
Fall 4 18 : Referenzprinzip und Vorsatz (zur Abweichung des tatsächlichen vom vorgestellten Kausal verlauf) Τ zielt mit Tötungsvorsatz auf 0 , drückt ab, schießt aber daneben. Der S c h u ß hat jedoch einen Trupp Pferde erschreckt. 0 wird von den wild gewordenen Pferden überrannt und getötet.
Zur Lösung: Der objektive Tatbestand des § 212 StGB ist erfüllt. Am objektiven Kausalzusammenhang zwischen dem Schuß und dem Tod des Ο ist nicht zu zweifeln. Auch ein objektiver Finalzusammenhang besteht. Denn es kann bei objektiver Betrachtung sicherlich als Einsatz eines tauglichen Mittels zum Zwecke der Tötung eines Menschen gelten, wenn der Tod eines Opfers dadurch herbeigeführt werden soll, daß der Täter einen Trupp Pferde erschreckt, die das Opfer dann zu Tode trampeln. Probleme gibt es dagegen bei der Frage, ob der subjektive Tatbestand des Totschlags erfüllt ist. Denn der Täter hat den Kausalverlauf zwischen dem Schuß und dem Tod des O, so wie er sich dann tatsächlich abspielte, nicht vorausgesehen. Wir stehen hier vor einem Fall, der in Rechtsprechung und Schrifttum unter dem Stichwort „Abweichung des tatsächlichen vom vorgestellten Kausalverlauf" diskutiert wird. Die dabei angestellte Überlegung ist die folgende: Der Tatvorsatz bezieht sich auf sämtliche Umstände des Einzelfalles, die den Tatbestand erfüllen, andernfalls ein wichtiges Element des Vorsatzes fehlen und der Täter nicht vorsätzlich handeln würde (vgl. § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB). Nun ist aber bei den erfolgsbezogenen Delikten der Kausalzusammenhang zwischen dem Akt des Täters und dem Eintritt des tatbestandlichen Erfolges ein solcher Umstand, dessen Vorhandensein für die Erfüllung des objektiven Deliktstatbestandes festgestellt sein muß. Folglich muß sich der Vorsatz des Täters u. a. auch auf den Kausalzusammenhang zwischen dem Akt des Täters und dem Deliktserfolg erstrecken - oder der Täter handelt eben nicht vorsätzlich. Nun ist es aber normalerweise nicht möglich, daß jemand den Kausalzusammenhang zwischen einem Akt und einem durch diesen Akt bewirkten Ereignis völlig durchschaut (nur der Fachmann weiß es normalerweise genau zu beschreiben, wie der Kausalzusammenhang zwischen dem Betätigen eines Lichtschalters und dem Aufleuchten einer Glühbirne beschaffen ist). Die daraus zu ziehende Konsequenz geht dahin, daß der Jurist sich für die Annahme des Tatvorsatzes mit der Kenntnis des Täters vom Kausalzusammenhang in groben Zügen begnügen muß. Denn sonst würde kaum je ein Mensch vorsätzlich handeln. Deshalb reicht es für die Annahme des Tatvorsatzes aus, daß der Täter den Ablauf des Kausalzusammenhanges zwischen 18
Dem Fall von Cramer in: Schänke-Schröder, StGB, 22. Aufl. 1985, 55 zu §15, nachgebildet.
12
Kapitel I
seinem Akt und dem Eintritt des Deliktserfolgs in seinen wesentlichen Zügen voraussieht. Bezogen auf einen Irrtum über den Kausalverlauf bedeutet das: Ist die Abweichung des tatsächlichen Kausalverlaufs von der Vorstellung des Täters eine nur unwesentliche, dann hat der Täter den Kausalverlauf in seinen wesentlichen Zügen vorausgesehen. Der Irrtum berührt den Vorsatz nicht, § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB greift nicht ein. Ist die Abweichung des tatsächlichen vom vorgestellten Kausalverlauf dagegen eine wesentliche, dann hat der Täter den Kausalverlauf nicht in seinen wesentlichen Zügen überblickt. Damit ist der Tatvorsatz betroffen. Der Irrtum ist relevant, § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB greift ein. Damit stellt sich die Frage, wann eine Abweichung des tatsächlichen vom vorgestellten Kausalverlauf als wesentlich zu gelten hat und wann nicht. Die Formeln, die hierzu bisher aufgestellt worden sind - etwa von Welzel 19 : „Diejenige Abweichung des Kausalverlaufs, die noch im Rahmen der allgemeinen Lebenserfahrung, also der adäquaten Verursachung, liegt, ist unwesentlich" - , bergen die Gefahr einer Vermischung von objektiver und subjektiver Tatseite in sich; denn stets dann, wenn ein Kausalverlauf nach Meinung des objektiven Beobachters außerhalb des Rahmens der allgemeinen Lebenserfahrung liegt, fehlt es bereits am objektiven Finalzusammenhang zwischen dem Akt des Täters und dem Ereignis, das „Erfolg" der Handlung sein soll, und damit fehlt es schon an der Erfüllung des objektiven Tatbestandes. Es heißt jedoch, vor diesen Schwierigkeiten kapitulieren, wenn man statt dessen als „wesentlich" allein noch solche Abweichungen bezeichnen möchte, die „ausnahmsweise eine andere rechtlich-sittliche Bewertung der Tat" erfordern oder rechtfertigen20. Denn Bewertungsevidenzen liefern überhaupt keine nachvollziehbaren Kriterien mehr; das Urteil, ob eine Abweichung wesentlich ist oder nicht, wird der freien Willkür anheimgegeben. Der gegenwärtige Stand der Lehre von der Wesentlichkeit oder Unwesentlichkeit einer Abweichung des tatsächlichen vom vorgestellten Kausalverlauf ist mithin durch Unsicherheit gekennzeichnet. Auch an dieser Stelle kann keine Formel angeboten werden, die die Schwierigkeiten behebt. Es ist auch besser, der Unsicherheit ins Auge zu schauen, als sie durch nichtssagende Worte zu verdecken. Hier und heute läßt sich bestenfalls die Richtung angeben, in der eine Lösung zu suchen sein wird: Wesentlich ist eine Abweichung dann, wenn sie, vom Standpunkt des Täters aus gesehen, nicht wahrscheinlich war; unwesentlich ist sie, wenn die Abweichung, vom Standpunkt des Täters aus gesehen, wahrscheinlich war.
19 20
Das deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, S.73. So aber etwa Jescheck, Strafrecht A.T., 3. Aufl. 1978, S.251.
Fall 4
13
Denn immer dann, wenn die Abweichung des Kausalverlaufs, vom Standpunkt des Urteilers aus, nicht zu erwarten war, ist schon der objektive Tatbestand nicht erfüllt. An dieser Stelle ist einer verbreiteten Tendenz entgegenzutreten, die die Abweichungen des tatsächlichen vom vorgestellten Kausalverlauf in der Regel - oder gar: stets (?) - als „unwesentlich" qualifizieren möchte. Es muß vielmehr Fälle geben, bei denen die Abweichung eine wesentliche ist. Gäbe es nämlich solche Fälle nicht, d. h. wäre die Abweichung stets unwesentlich und der Irrtum des Täters über den Kausalverlauf also stets irrelevant, dann hätte das die Konsequenz, daß der Täter den Kausalzusammenhang zwischen seinem Akt und dem Erfolg überhaupt nicht vorherzusehen braucht. Denn unter der Voraussetzung, alle Abweichungsfälle seien Fälle einer ««wesentlichen Abweichung, würde ein Täter, wenn die sonstigen Bedingungen erfüllt sind, nicht nur dann vorsätzlich handeln, wenn er den Kausalverlauf vorhersieht, sondern darüber hinaus auch stets dann, wenn er den Kausalverlauf nicht vorhersieht, weil ja nach der Voraussetzung eine jede Abweichung des tatsächlichen Verlaufs von seinem Vorstellungsbild als eine unwesentliche zu qualifizieren wäre. Deshalb könnte man sich jede Überlegung zu den Abweichungsfällen sparen; die Annahme, daß der Vorsatz sich auch auf den Kausalzusammenhang zwischen Akt und Erfolg zu erstrecken hat, wäre bestenfalls eine Fiktion, die die faktische Abschaffung dieses Erfordernisses nur mühsam verdeckt. Nimmt man das Erfordernis der Voraussicht des Kausalverlaufs also ernst, dann muß es Fälle einer wesentlichen Abweichung geben. Angesichts dieser Überlegung könnte man freilich auf den Gedanken verfallen, das Erfordernis der Voraussicht des Kausalverlaufs zwischen dem Akt des Täters und dem Eintritt des Taterfolgs als ein Element des Tatvorsatzes ganz offen abzuschaffen. Das hätte jedoch Konsequenzen auch für den objektiven Tatbestand der Erfolgsdelikte. Denn wenn sich der Tatvorsatz einerseits auf sämtliche Umstände zu erstrecken hat, die nach dem jeweiligen objektiven Tatbestand relevant sind, er sich aber andererseits auf den Kausalverlauf nicht mehr zu erstrecken brauchte, dann könnte der Kausalzusammenhang zwischen Akt und Erfolg auch nicht mehr als ein Element des objektiven Tatbestandes betrachtet werden. Das aber kann nicht richtig sein. Auch daraus folgt, daß es Fälle einer wesentlichen Abweichung des tatsächlichen vom vorgestellten Kausalverlauf geben muß. Damit wird auch der nicht selten behauptete i4«sn^mecharakter der Fälle wesentlicher Abweichung des tatsächlichen vom vorgestellten Kausalverlauf21 zweifelhaft. Wenn man das Erfordernis der Voraussicht des Kausalverlaufs ernst nimmt - und man muß es ernst nehmen, wie sich aus Obigem ergibt - , dann kann man nicht sagen, daß einschlägige Irrtümer nur selten relevant seien. Man muß vielmehr in jedem konkreten Fall offen für die Lösung sein, daß eine festgestellte Abweichung eine wesentliche war. Deshalb bedarf es prinzipiell stets der Begründung, wenn man eine Abweichung als unwesentlich annehmen möchte - und mag die Begründung angesichts des Fehlens plausibler Kriterien auch noch so schwer sein!
21
Siehe das Zitat von Jescheck,
oben bei Fn. 20.
14
Kapitel I
Der hier besprochene Fall gilt als Beispielsfall für eine wesentliche Abweichung des tatsächlichen vom vorgestellten Kausalverlauf22. In der Tat wird man sagen müssen, daß die geschilderte Entwicklung der Dinge für einen Durchschnittsbürger wohl nicht wahrscheinlich war. Das bedeutet, daß § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB eingreift, Τ also den objektiven Tatbestand des §212 StGB nicht vorsätzlich verwirklicht hat23. Hinweis zum Aufbau der Lösung: Bei diesem Ergebnis bleiben ähnlich wie im Fall 3 - die Möglichkeit eines Totschlagsversuchs und die Möglichkeit einer fahrlässigen Tötung bestehen, die nunmehr zu erörtern sind. Zur Lösung: Ein Totschlagsversuch (§§ 212, 22 StGB) ist anzunehmen, weil Τ einerseits den Tod des Ο durch Erschießen ins Auge gefaßt und er andererseits durch die Abgabe des Schusses zur Tatbestandsverwirklichung auch unmittelbar angesetzt hat. Was die fahrlässige Tötung (§ 222 StGB) angeht, so gilt im Grundsatz das zu Fall 1 Gesagte. Es ist vor allem, wie bei Fall 3, nicht notwendig so, daß eine fahrlässige Tötung angenommen werden müßte 24 .
Zwis chenbemerkung Ein erster Vergleich der Lösungen der Fälle 3 und 4 zeigt, daß in beiden Fällen ein vollendeter Totschlag nicht angenommen werden konnte, obwohl einerseits sowohl der objektive Tatbestand des § 212 StGB als auch der subjektive Tatbestand des § 212 StGB erfüllt waren25 und andererseits an der Gleichzeitigkeit der Erfüllung des objektiven und des subjektiven Tatbestandes nicht gezweifelt werden kann 26 . Die Annahme 22
Vgl. Cramer in: Schönke-Schröder a. a. O. 55 zu § 15.
23
Ein Beispiel für eine unwesentliche Abweichung des tatsächlichen vom vorgestellten Kausalverlauf findet sich bei Welzel a . a . O . , S . 7 3 : Wenn Τ den Ο von einer Brücke stürzt, Ο am Brückenpfeiler aufprallt und sich das Genick bricht, dann ist der objektive Tatbestand des Totschlags erfüllt. Hatte Τ dabei jedoch allein die Tötung des Ο durch Ertränken ins Auge gefaßt, dann weicht der tatsächliche Kausalverlauf von der Vorstellung des Täters ab. Die Abweichung ist jedoch eine unwesentliche, weil der tatsächliche Kausalverlauf auch vom Standpunkt des Τ im Bereich des Möglichen, ja Wahrscheinlichen gelegen hat. Vgl. oben Fn. 15. Das letztere, die Erfüllung des subjektiven Tatbestandes des Totschlags, hatte sich in beiden Fällen darin gezeigt, daß ein Totschlags versuch angenommen werden mußte, eine Annahme, die die Annahme einschließt, daß der subjektive Tatbestand des Totschlags erfüllt ist. Der im Endeffekt tödlich wirkende Schuß war in beiden Fällen mit gleichzeitigem Tötungsvorsatz abgegeben worden.
24 25
26
Fall 5
15
eines vollendeten Totschlags hätte also das Simultaneitätsprinzip nicht verletzt. Das zeigt, daß bei der Lösung der beiden Fälle noch ein weiteres Prinzip, das Referenzprinzip, wirksam war, das die Annahme eines vollendeten Totschlags verhindert hat. Die volle Bedeutung des Referenzprinzips wird in der Zwischenbemerkung nach Fall 6 erläutert werden. An dieser Stelle muß der folgende Hinweis genügen: Im Fall 3 war der subjektive Tatbestand des § 212 S t G B zwar erfüllt, aber der Vorsatz des Täters bezog sich auf den Tod des O i und nicht auf den Tod des 0 2 und also auf einen anderen als den tatsächlich eingetretenen Erfolg. Ebenfalls war es im Fall 4 zwar so, daß der subjektive Tatbestand des § 212 S t G B erfüllt war, aber der Vorsatz des Täters bezog sich auf den Tod des Ο durch Erschießen und nicht auf den Tod des Ο durch die Hufe der Pferde
und also auf einen wesentlich anderen als den tatsächlich
abgelaufenen
Kausalzusammenhang, Es war also in beiden Fällen so, daß der Täter bei der Vornahme der Tathandlung (der Abgabe des Schusses) jeweils U m stände im Auge gehabt hatte, die (wesentlich) anders waren als die Umstände, die für die Erfüllung des objektiven Tatbestandes des T o t schlags maßgeblich waren. In eben diesem Anders-Sein, in dieser Abweichung der Vorstellung des Täters von den wirklichen Umständen der Tat liegt das bei allem Unterschied Gemeinsame der Fälle 3 und 4. Diese Gemeinsamkeit ist zunächst einmal ein Grund dafür, daß die Fälle nach denselben Prinzipien gelöst werden müssen; was der Abweichung des wirklich eingetretenen Taterfolgs von der Vorstellung des Täters vom Erfolg recht ist, das muß der (wesentlichen) Abweichung des wirklich abgelaufenen Kausalzusammenhanges von der Vorstellung des Täters vom Kausalverlauf billig sein, weil es sich bei Taterfolg und Kausalzusammenhang zwischen Akt und Erfolg gleichermaßen um Umstände handelt, die nach dem gesetzlichen Tatbestand relevante Umstände sind. In der bezeichneten Gemeinsamkeit liegt darüber hinaus aber auch der Grund dafür, daß die beiden Fälle so gelöst werden müssen, wie sie gelöst worden sind; die Abweichung des für die Erfüllung des objektiven Tatbestandes maßgeblichen Umstands von der entsprechenden Vorstellung des Täters ist in beiden Fällen der Grund für die Annahme eines relevanten Irrtums nach § 16 Abs. 1 Satz 1 S t G B und damit für die Annahme gewesen, daß der Totschlag jeweils nicht als vollendet gelten kann.
Fall 5: Referenzprinzip und Rechtswidrigkeit Der schmächtige Τ wird in der Wohnung des 0 2 von dem ihm kräftemäßig weit überlegenen C^ grundlos angegriffen. Τ könnte sich der ihm drohenden Verletzung durch ein schnelles Verlassen des Zimmers und der Wohnung seines Gastgebers (des 0 2 ) entziehen. Er ergreift jedoch eine in der Ecke
16
Kapitel I
des Raumes stehende gefüllte Blumenvase und schleudert sie Oi entgegen. Die Vase trifft O, an der Brust, die Blumen klatschen ihm ins Gesicht. Oi stolpert und stürzt. Er trägt im Endeffekt einige Schrammen und blaue Flecke davon. Die Vase fällt zu Boden und zerspringt. Τ hat beides vorausgesehen. Hinweis zum Aufbau der Lösung: Genauso wie bei Fall 3 muß zwischen der Tat, die Τ gegenüber O i , und der Tat, die Τ gegenüber O2 begangen hat, unterschieden werden. Es empfiehlt sich, mit der gegenüber Oi begangenen Tat zu beginnen, weil hier das schwerere Delikt, eine Körperverletzung nach § 223 StGB, zu suchen ist. Dabei ist es zweckmäßig, mit dem Grundtatbestand des § 223 StGB zu beginnen und die mögliche Qualifizierung der Tat nach § 223 a StGB erst zu erörtern, wenn feststeht, daß der Grundtatbestand rechtswidrig erfüllt ist und die Tat zur Schuld zugerechnet werden kann. Da die Körperverletzung im Ergebnis gerechtfertigt ist, wird § 223 a StGB im konkreten Fall deshalb gar nicht zur Sprache kommen. Zur Lösung: Der objektive Tatbestand der Körperverletzung (§ 223 StGB) ist erfüllt, insbesondere ist nicht daran zu zweifeln, daß die Schrammen und blauen Flecke, die Oi davongetragen hat, dem Τ als Körperverletzung zugerechnet werden können. Ebenso ist der subjektive Tatbestand erfüllt. Τ hat den Eintritt des Körperverletzungserfolges als Wirkung seines Tuns vorausgesehen. Es könnte jedoch sein, daß die Tat gerechtfertigt ist. Eine Rechtfertigung der Körperverletzung des Oi ist nicht deswegen ausgeschlossen, weil die dem 0 2 gegenüber begangene Sachbeschädigung, wie sich sogleich herausstellen wird, nicht gerechtfertigt werden kann. Aus der Rechtswidrigkeit der gegenüber 02 begangenen Tat folgt nichts für die Beantwortung der Frage, ob auch die gegenüber O; begangene Tat rechtswidrig war oder nicht. Denn von einer rechtswidrigen Tat kann nur dann die Rede sein, wenn Tatbestandserfüllung und Rechtswidrigkeit aufeinander bezogen sind. Das ist eine so selbstverständliche Regel, daß in Rechtsprechung und Schrifttum kaum darüber geredet wird; die Regel wird einfach praktiziert. Die Körperverletzung des O j könnte insbesondere durch Notwehr (§ 32 StGB) gerechtfertigt sein. Von dem ihm - dem O ] - zurechenbaren Handeln des O i ging eine Gefahr für die körperliche Unversehrtheit des Τ aus. O ] hat Τ also im Sinne des § 32 StGB angegriffen. Der Angriff war auch gegenwärtig, weil die drohende Körperverletzung des Τ unmittelbar bevorstand, und er war rechtswidrig - Oi hatte kein Recht, gegen Τ Gewalt anzuwenden. Τ befand sich mithin in einer Notwehrlage. In dieser Lage war das Schleudern der Blumenvase eine Verteidigungshand-
Fall 5
17
lung, die zur Abwehr des Angriffs prinzipiell geeignet war. Nach Lage der Dinge war dies auch das mildeste Mittel, um den Angriff abzuwehren; O j war dem Τ an Körperkraft weit überlegen, und Τ hat sich darauf beschränkt, dem O j die Vase an die Brust - und nicht etwa an den K o p f zu schleudern. Die von Τ gewählte Verteidigung war deshalb im Sinne des § 32 Abs. 2 StGB erforderlich. Die objektiven Voraussetzungen des Rechtfertigungstatbestandes der Notwehr sind deshalb erfüllt. Dagegen kann nicht eingewendet werden, daß Τ hätte flüchten können. In einer Notwehrlage ist die Verteidigung - wenn man von den heute diskutierten „sozialethischen" Einschränkungen des Notwehrrechts einmal absieht, die hier von vornherein nicht zum Tragen kommen - dem Grunde nach immer erlaubt. Sie braucht nicht das einzige Mittel zu sein, sich der drohenden Verletzung zu entziehen. Lediglich dem Maße nach ist die Verteidigung beschränkt. Der Verteidiger darf zur Verteidigung nur ein geeignetes Mittel und unter den geeigneten Mitteln nur das relativ mildeste Mittel wählen, das freilich so stark sein darf, daß es die sofortige Beendigung des Angriffs erwarten läßt. Zu stärkeren Mitteln darf der Verteidiger aber nicht greifen 27 . An diese Grenzen hat Τ sich hier gehalten.
Darüber hinaus sind auch die subjektiven Bedingungen einer Rechtfertigung der Tat durch Notwehr erfüllt. Τ kannte die Notwehrsituation, und er kannte auch die Art und das Ausmaß der von ihm gewählten Verteidigung. Im Schrifttum wird zwar nicht selten darüber hinaus noch ein sog. Verteidigungswille gefordert. Doch folgt dieser Verteidigungswille aus der Kenntnis der Situation und dem bewußten Einsatz eines die Grenzen der Erforderlichkeit nicht überschreitenden Verteidigungsmittels; der „Verteidigungswille" kann deshalb kein über das festgestellte Wissen des Τ und die Tatsache der Verteidigung hinausgehendes besonderes „subjektives Rechtfertigungselement" sein 28 . Die Körperverletzung des O j ist folglich durch Notwehr gerechtfertigt. Τ hat sich einer Körperverletzung des C^ nicht schuldig gemacht. Hinweis zum Aufbau: Ahnlich wie bei Fall 3 ist nunmehr das Verhalten des Τ gegenüber O2 zu besprechen. O2 ist Verletzter, soweit eine von Τ begangene Sachbeschädigung in Rede steht. Zur Lösung: Der objektive Tatbestand des § 303 StGB ist erfüllt. Die Vase ist zerstört, und das ist auf das Tun des Τ zurückzuführen. Auch am objektiven Finalzusammenhang ist nicht zu zweifeln; das Werfen mit einer zerbrechlichen Vase ist objektiv ex ante gesehen durchaus ein geeignetes Mittel, die Vase zu zertrümmern. Auch der subjektive Tatbe-
27 28
Näher zur Notwehr unten S. 131 ff. und S.371 ff. Siehe auch unten in Anhang II das Stichwort „Wille als Element des Deliktstatbestandes und als Rechtfertigungselement".
18
Kapitel I
stand der Sachbeschädigung ist erfüllt. Τ hat die Vernichtung der Vase als Wirkung seines Tuns vorausgesehen. Deshalb sind nunmehr mögliche Rechtfertigungsgründe zu erörtern. Das ist keineswegs überflüssig. Die Rechtfertigung der Körperverletzung des Oi erstreckt sich nicht auf die Sachbeschädigung der Vase, obwohl das Schleudern der Vase Ursache sowohl für die Körperverletzung des O, als auch für die Vernichtung der Vase gewesen ist, obwohl es m. a. W. bei Körperverletzung und Sachbeschädigung um ein und dieselbe Handlung (im Sinne des $ 52 StGB) geht. Eine Rechtfertigung der Sachbeschädigung könnte sich hier allein aus § 34 StGB bzw. aus § 904 BGB ergeben („rechtfertigender Notstand"). Notwehr scheidet als Rechtfertigungsgrund jedenfalls schon deswegen aus, weil von 0 2 , dem die Vase gehört, kein Angriff ausgeht. Daß Τ in einer Gefahr für seine körperliche Unversehrtheit handelte und daß die Gefahr im Sinne des § 34 Satz 1 StGB „gegenwärtig" war, kann nicht zweifelhaft sein. Darüber hinaus verlangt § 34 Satz 1 StGB aber auch, daß die Gefahr „anders nicht abwendbar" war. Dieses Erfordernis ist hier nicht erfüllt. Τ hätte sich der ihm drohenden Körperverletzung durch ein schnelles Verlassen des Zimmers und der Wohnung des O2 entziehen können. Die Tat ist mithin nicht aus § 34 StGB gerechtfertigt. Aus demselben Grunde ist sie auch nicht aus § 904 BGB gerechtfertigt 29 . Die Zerstörung der Blumenvase war nicht im Sinne des § 904 BGB „zur Abwendung der Gefahr notwendig". Hier wird der Unterschied zwischen der Rechtfertigung einer Tat durch N o t wehr einerseits und der Rechtfertigung aufgrund rechtfertigenden Notstands andererseits deutlich. Beim rechtfertigenden Notstand ist der Notstandseingriff - hier: die Zerstörung der Blumenvase - nur dann gerechtfertigt, wenn der Eingriff zur Gefahrabwendung schon dem Grunde nach notwendig ist. Der Unterschied erklärt sich daraus, daß bei der Notwehr die Gefahrlage auf das voll zurechenbare Handeln eines Menschen zurückzuführen ist, der mit dem rechtswidrigen Angriff eine Pflichtverletzung begeht, während beim rechtfertigenden Notstand allein die Gefahren\z%e selbst den Grund der Rechtfertigung abgibt30.
Τ hat sich mithin einer Sachbeschädigung nach § 303 StGB schuldig gemacht.
Fall 6: Referenzprinzip und Unrechtsbewußtsein (zur sog. Teilbarkeit des Unrechtsbewußtseins) Der 22 Jahre alte Τ hatte sich damit vergnügt, an einem Sonntagnachmittag gegen 1 5 . 0 0 Uhr in einem sonst relativ ruhigen Wohnviertel einer 29 30
Zu §904 BGB siehe unten S. 116. Siehe auch unten S. 131 ff. zum Verhältnis von Notwehr und Defensivnotstandsbefugnis.
Fall 6
19
deutschen Großstadt mit einem Motorrad, das ein Freund ihm geliehen hatte, etwa eine Stunde lang durch die Straßen zu kreisen. Einen Führerschein für Motorräder besaß er nicht. Von der Polizei gestellt, gab er zu, er wisse, daß man zum Führen eines Motorrads einen Führerschein brauche. Im übrigen aber könne er mit seinem Motorrad fahren, wann und wo er wolle, solange er nur auf der rechten Fahrbahnseite fahre und die Geschwindigkeitsbegrenzungen beachte. Es geht hier um die Strafbarkeit, aber auch um eine mögliche Ahndung der Tat des Τ als Ordnungswidrigkeit.
Vorbemerkung In § 21 Abs. 1 S t V G heißt es u. a.: „Mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer 1. ein Kraftfahrzeug führt, obwohl er die dazu erforderliche Fahrerlaubnis nicht h a t . . . " In § 24 Abs. 1 S t V G heißt es u. a.: „Ordnungswidrig handelt, wer vorsätzlich oder fahrlässig einer Vorschrift einer auf Grund des § 6 Abs. 1 erlassenen Rechtsverordnung . . . zuwiderhandelt, soweit die Rechtsverordnung für einen bestimmten Tatbestand auf diese Bußgeldvorschrift v e r w e i s t . . . " § 1 Abs. 2 S t V O lautet: „Jeder Verkehrsteilnehmer hat sich so zu verhalten, daß kein Anderer geschädigt, gefährdet oder mehr, als nach den Umständen unvermeidbar, behindert oder belästigt wird." In § 49 Abs. 1 S t V O heißt es u. a.: „Ordnungswidrig im Sinne des § 24 des Straßenverkehrsgesetzes handelt, wer vorsätzlich oder fahrlässig gegen eine Vorschrift über 1. das allgemeine Verhalten im Straßenverkehr nach § 1 Abs. 2 . . . verstößt."
Zur Lösung: Τ könnte sich eines Vergehens des Fahrens ohne Fahrerlaubnis schuldig gemacht haben. Der objektive Tatbestand des § 21 Abs. 1 Nr. 1 StVG ist erfüllt. Τ hat das Motorrad - ein Kraftfahrzeug im Sinne dieser Bestimmung - geführt, obwohl er die dazu erforderliche Fahrerlaubnis nicht besaß. Auch der subjektive Deliktstatbestand ist erfüllt, da sich Τ darüber im klaren war, ein Motorrad ohne die dazu erforderliche Fahrerlaubnis zu führen. Die Tat ist auch rechtswidrig. Sie ist dem Τ auch zur Schuld zuzurechnen. Insbesondere ist nicht daran zu zweifeln, daß Τ mit aktuellem Unrechtsbewußtsein gehandelt hat. E r wußte, daß das Führen eines Motorrades ohne die entsprechende Fahrerlaubnis verboten ist. Τ könnte sich darüber hinaus einer Ordnungswidrigkeit nach § 24 StVG, § § 4 9 ; 1 Abs. 2 StVO (vgl. auch § 117 O W i G ) schuldig gemacht
20
Kapitel I
haben31. Der objektive Tatbestand des § 24 StVG in Verbindung mit §§49; 1 Abs. 2 StVO ist erfüllt. Τ hat mit dem Motorrad einen Lärm erregt, der insbesondere wegen seiner Dauer geeignet war, die Nachbarschaft - „Andere" im Sinne des § 1 Abs. 2 StVO - erheblich zu belästigen. Dies geschah auch ohne berechtigten Anlaß, zumal Τ das Motorrad nicht benutzte, um damit an ein Ziel zu gelangen. Die Belästigung war mithin durchaus vermeidbar. Auch der subjektive Tatbestand der Ordnungswidrigkeit ist erfüllt. Τ wußte, daß er mit seinem Motorrad Lärm erregte. Er wußte, daß dies geeignet war, die Nachbarschaft, insbesondere am Sonntagnachmittag, erheblich zu belästigen. Er wußte auch, daß er dazu keinerlei berechtigten Anlaß hatte, weil er ziellos durch das Stadtviertel kreiste; er wußte mithin, daß die Belästigung vermeidbar war. An der Unerlaubtheit der Tat ist nicht zu zweifeln. Fraglich ist, ob Τ das entsprechende Unrechtsbewußtsein hatte. Nach dem hier maßgeblichen § 11 Abs. 2 OWiG, der dem § 17 StGB jedoch in allen wesentlichen Punkten entspricht, wäre die Tat nicht vorwerfbar, wenn Τ die Tat in unvermeidbarer Unkenntnis ihrer Unerlaubtheit begangen hätte. Für die Annahme einer solchen Verbotsunkenntnis spricht die Aussage des Τ vor der Polizei, er könne mit dem Motorrad fahren, wann und wo er wolle, solange er nur auf der rechten Fahrbahnseite fahre und die Geschwindigkeitsbegrenzungen beachte. Die Annahme einer Verbotsunkenntnis des Τ ist nicht etwa deswegen von vornherein ausgeschlossen, weil Τ auf jeden Fall, nämlich wegen des Fahrens ohne Fahrerlaubnis, mit aktuellem Unrechtsbewußtsein gehandelt hat. Das Unrechtsbewußtsein in bezug auf die Erfüllung des Tatbestandes des §21 Abs. 1 Nr. 1 StVG impliziert nicht das Unrechtsbewußtsein in bezug auf die Erfüllung des Tatbestandes einer Ordnungswidrigkeit nach § 24 StVG in Verbindung mit 49; 1 Abs. 2 StVO. Denn von einer mit Unrechtsbewußtsein vorgenommenen Tat kann nur dann die Rede sein, wenn Tatbestandserfüllung und Unrechtsbewußtsein aufeinander bezogen sind. Diese Regel, die ganz allgemein gilt, wird heute - seit BGHSt. 10, 35 - durchweg anerkannt, wenn sie auch oft etwas merkwürdig formuliert wird, da es üblicherweise heißt, das Unrechtsbewußtsein sei beim Zusammentreffen mehrerer Gesetzesverletzungen „teilbar". Eine Formulierung, die deswegen merkwürdig ist, weil es hier nichts zu „teilen" gibt. 31
Der Sache nach ist jede ordnungswidrige Tat wie eine Straftat zu behandeln. Ein materialer Unterschied besteht nicht; es handelt sich bei den „Ordnungswidrigkeiten" lediglich um ein neues Etikett für die alten „Übertretungen", die vor der Strafrechtsreform neben den Verbrechen und Vergehen auch formal als Straftaten angesehen wurden.
Zwischenbemerkung
21
Deshalb ist das Unrechtsbewußtsein des Τ in bezug auf die festgestellte Ordnungswidrigkeit gesondert zu erörtern, wobei man angesichts seiner Aussage davon ausgehen kann, daß dem Τ ein aktuelles Unrechtsbewußtsein jedenfalls abging. Damit kommt es auf die Vermeidbarkeit der Verbotsunkenntnis an, wozu der Sachverhalt freilich kein Material liefert. Bei dem abgestumpften Dauerbesucher einer Diskothek, der auch sonst Rücksichtnahme auf seine Mitmenschen nicht gelernt hat, mag die Verbotsunkenntnis unvermeidbar sein. Dann wäre die Ordnungswidrigkeit nicht zur Schuld zuzurechnen. Τ hat sich deshalb eines Vergehens des § 21 Abs. 1 Nr. 1 StVG schuldig gemacht, das eventuell - je nach Entscheidung der Vermeidbarkeitsfrage mit einer Ordnungswidrigkeit nach § 24 StVG in Verbindung mit §§ 49; 1 Abs. 2 StVO zusammentrifft32.
Ζ wis chenbemerkun g Ein Uberblick über die Fälle 3 bis 6 zeigt folgendes: In den Fällen 3 und 4 waren der objektive und der subjektive Tatbestand des § 212 StGB zugleich erfüllt. Trotzdem durfte ein vollendeter vorsätzlicher Totschlag nicht angenommen werden. Im Fall 5 lagen die Dinge so, daß das Schleudern der Vase eine objektiv und subjektiv tatbestandsmäßige Körperverletzung und zugleich eine nicht gerechtfertigte Tat war. Trotzdem war die Tat als Körperverletzung gerechtfertigt. Im Fall 6 hatte der Täter eine Ordnungswidrigkeit nach § 24 StVG begangen, und zugleich hatte er mit Unrechtsbewußtsein gehandelt. Trotzdem ist es möglich, in bezug auf die Ordnungswidrigkeit eine unvermeidbare Verbotsunkenntnis und damit ein nicht vorwerfbares, ein nicht zur Schuld zurechenbares Handeln anzunehmen. Das Simultaneitätsprinzip wäre nicht verletzt, wenn jeweils das Gegenteil angenommen worden wäre - in den Fällen 3 und 4 ein vollendeter vorsätzlicher Totschlag, im Fall 5 eine nicht gerechtfertigte Körperverletzung des O], im Fall 6 eine zur Schuld zurechenbare Ordnungswidrigkeit. Doch wird das Simultaneitätsprinzip durch das Referenzprinzip ergänzt, das besagt, daß die für eine Straftat konstitutiven Momente nicht nur zeitlich koinzidieren, sondern aufeinander bezogen sein müssen, andernfalls die Tat eben keine Straftat ist. Deswegen genügt es nicht, wenn der objektive Tatbestand einer Vorschrift, ihr subjektiver Tatbestand, das allgemeine Verbrechensmerkmal der Rechtswidrigkeit und das der Zurechenbarkeit zur Schuld zugleich erfüllt sind. Es muß
32
Die mit dem Vergehen in Tateinheit stehende Ordnungswidrigkeit wird nach § 4 0 O W i G zusammen mit dem Vergehen verfolgt. Siehe auch § 2 1 O W i G .
22
Kapitel I
auch ein integrierender Zusammenhang zwischen der Erfüllung des einen Merkmals und der Erfüllung aller anderen Merkmale bestehen. Auch das Referenzprinzip ist - genauso wie das Simultaneitätsprinzip ein allgemeines Prinzip, das eine notwendige Bedingung sinnvoller Rede formuliert. Auch das Referenzprinzip gilt daher keineswegs nur im Strafrecht, sondern - wiederum wie das Simultaneitätsprinzip - stets dann, wenn es um beliebige Behauptungen geht. So ist die Behauptung „Peter ist schwarzhaarig!" semantisch sinnvoll nur dann, wenn sie besagen soll, daß Peter Haare hat, an einer Stelle seines Körpers schwarz ist und es gerade die Haare sind, die schwarz sind. Und die Behauptung „Das ist ein Baum!" ist semantisch sinnvoll nur dann, wenn sie besagen soll, daß Stamm, Rinde, Wurzeln, Aste und Blätter einen integrierenden Zusammenhang bilden. Deshalb kann ein Monteur, von dem der Sprecher erklärtermaßen annimmt, daß er Haare hat und daß seine haarlosen Hände schwarz verschmiert sind, noch lange nicht semantisch sinnvoll als „schwarzhaarig" bezeichnet werden - der Mann kann immer noch blond sein! - , und ein bloßer Haufen von Produkten der Forstwirtschaft, bestehend aus einem Stamm, aus Rinde, Wurzeln, Asten und Blättern kann in unverstellter Rede nicht semantisch sinnvoll ein „Baum" genannt werden 33 . Auch das Referenzprinzip beruht auf dem für die Logik konstitutiven Prinzip der Identität. Es ist - wie das Simultaneitätsprinzip - in seiner umfassenden Bedeutung für das Strafrecht bisher noch kaum erkannt worden. Zwar ist nicht zu leugnen, daß die mit Hilfe des Referenzprinzips entwickelten Lösungen der Fälle 3 bis 6 heute zumindest von der herrschenden Meinung in Rechtsprechung und Schrifttum (so in den Fällen 3 und 4), wenn nicht von der allgemeinen Meinung (so im Fall 6) anerkannt werden. Aber der hinter diesen Lösungen stehende einheitliche Gesichtspunkt vorrechtlichen Charakters wird dabei nicht gesehen. Teilweise geschieht die richtige Lösung sogar kraft bloßer Intuition - denn die Regel, daß ein Rechtfertigungstatbestand sich nur auf eine von zwei zugleich begangenen Taten zu beziehen braucht (vgl. Fall 5), wird zwar praktiziert, aber im allgemeinen nicht reflektiert. Soweit die Lösungen der Fälle 3 und 4 von einigen Autoren nicht anerkannt werden 34 , steht eine Verletzung des Referenzprinzips im Raum. Es dürfte schwer, wenn nicht unmöglich sein, Lösungen dieser Fälle zu entwickeln, die von den hier vorgetragenen im entscheidenden Punkt abweichen, und trotzdem das Referenzprinzip zu beachten.
33 34
Anders natürlich in einer lingua obliqua, also etwa in ironischer Rede. Nachweise bei Lackner, StGB, 17. Aufl. 1987, II 2 a zu §15.
Fall 7
23
Beziehen wir auch die Fälle 1 und 2 in den R ü c k b l i c k ein, so kann zusammenfassend gesagt werden, daß die vorgetragenen Lösungen der Fälle 1 bis 6 in den hier interessierenden Punkten heute von einem breiten Konsens getragen werden. Das Simultaneitäts- und Referenzprinzip ist dabei, wenn auch als Prinzip unerkannt, wirksam geworden. D o c h sind die Fälle 1 bis 6 sehr einfach strukturiert und deshalb leicht zu durchschauen. Das wird bei den folgenden Fällen anders werden. A b e r auch bei ihnen gilt es, das Simultaneitäts- und Referenzprinzip - in erster Linie das Simultaneitätsprinzip - durchzuhalten. Das erfordert ein peinlich genaues Arbeiten und intellektuelle Redlichkeit. V o r allem muß man sich davor hüten, scheinbaren Evidenzerlebnissen nachzugeben. Auch die Berufung darauf, daß diese oder jene Lösung trotz genauer Analyse zu einer „falschen B e w e r t u n g " oder zu „falschen Ergebnissen" führe, ist unzulässig. Einwände der letzteren A r t beruhen stets darauf, daß der O p p o n e n t seine eigenen „Einsichten" als „richtige B e w e r t u n g " oder als „richtiges E r g e b n i s " ausgibt, aber anderes als solche „Einsichten" nicht anzubieten hat. W o r a n sich nichts ändert (es ist vielmehr eine Art Bestätigung), wenn dabei Ausdrücke von stark emotionaler Anziehungskraft gebraucht werden. In dieser Hinsicht ist sogar besondere Vorsicht geboten, denn selbst strafrechtliche termini technici können emotional aufgeladen werden und als Vehikel zur Einbringung von Evidenzerlebnissen dienen, um gefühlsmäßig unerwünschte Ergebnisse zu vermeiden. Ein Beispiel dafür wird bei Fall 10 - die Kategorie „unwesentliche Abweichung des tatsächlichen v o m vorgestellten Kausalverlauf" sein. W o h l n o c h unumstritten ist freilich die Lösung des folgenden Falles.
Fall 7: Nochmals - Simultaneitätsprinzip und Vorsatz Τ zielt und schießt auf 0 , den er für seinen Feind F hält, trifft jedoch nicht. Dann erkennt er, daß Ο nicht F ist, drückt aber beim Absetzen des G e w e h r s versehentlich ein zweites Mal ab, wobei er 0 tödlich trifft. Hinweis zum Auföau der Lösung: W i e ausgeführt, besagt das Simultaneitätsprinzip u. a., daß die Erfüllung des objektiven Tatbestandes des § 212 S t G B und die des subjektiven Tatbestandes zeitlich zusammentreffen müssen, wenn von einer vollendeten vorsätzlichen T ö t u n g - einem „Totschlag" - die Rede sein soll. N u n hat aber Τ beim zweiten Schuß die T ö t u n g des Ο als W i r k u n g des eigenen T u n s nicht mehr ins Auge gefaßt. D a m i t ist es für den zweiten Schuß ausgeschlossen zu sagen, daß Τ den Ο vorsätzlich getötet habe. Bei Abgabe des ersten Schusses hat Τ dagegen fraglos mit Tötungsvorsatz gehandelt, der freilich unmittelbar nach Abgabe des ersten Schusses aufhörte. Diesen Aspekt des Falles m u ß der Bearbeiter im Vorgriff auf die Lösung erkennen. D e n n aus ihm ergibt sich
24
Kapitel I
die Notwendigkeit, zwischen dem ersten Teil des Geschehens und dem zweiten Teil auch im Aufbau der Lösung zu unterscheiden (und das bei der Lösung durch entsprechende Überschriften möglichst genau kenntlich zu machen!). Die Aufteilung ist eine Konsequenz des Simultaneitätsprinzips für die Methode der Fall-Lösung. Dabei ist es zweckmäßig, mit dem zweiten Teil des Gesamtgeschehens zu beginnen, weil der Tod des Opfers schließlich gerade durch den zweiten Schuß herbeigeführt worden ist 35 . Zur Lösung: Hat Τ durch Abgabe des zweiten Schusses einen Totschlag (§ 212 StGB) begangen? Der objektive Tatbestand ist erfüllt. Ο ist tot. Am Kausalzusammenhang und am objektiven Finalzusammenhang zwischen der Abgabe des Schusses und dem Tod des Ο ist nicht zu zweifeln. Der subjektive Tatbestand ist dagegen nicht erfüllt. Τ war im Begriff, das Gewehr abzusetzen, als sich der tödliche Schuß löste. Er hatte den Tod des Ο als Wirkung seines Tuns nicht mehr ins Auge gefaßt, sondern den Schuß, wie es im Sachverhalt heißt, „versehentlich" abgegeben. Das bedeutet, daß sich Τ der Verwirklichung des objektiven Tatbestandes des § 212 StGB nicht bewußt war. Τ hat deshalb keinen vorsätzlichen Totschlag begangen. Hinweis zum Aufbau: Wenn der objektive Tatbestand einer Vorsatztat erfüllt ist, der subjektive Tatbestand dagegen nicht, dann gilt die Regel des § 1 6 Abs. 1 Satz 2 S t G B : Es ist, soweit unter Strafe gestellt, auf das entsprechende Fahrlässigkeitsdelikt überzugehen. Diese Regel gilt auch hier. Zur Lösung: Hat Τ durch die Abgabe des zweiten Schusses eine fahrlässige Tötung (§ 222 StGB) begangen? Die objektiven Voraussetzungen des Deliktstatbestandes sind erfüllt. Darüber hinaus hätte Τ erkennen müssen und erkennen können, daß er einen lebensgefährlichen Schuß abgibt. Es gilt mutatis mutandis das zu Fall 1 Gesagte 36 . Τ hat den Ο also fahrlässig getötet.
35
Die Empfehlung für Fall 7, mit dem zweiten Abschnitt als dem erfolgsnächsten Teil des Geschehens zu beginnen, entspricht der oben S. 8 zu Fall 3 gegebenen Empfehlung, mit der T a t gerade dem Opfer gegenüber zu beginnen, bei dem der Tötungserfolg eingetreten ist. Beides sind Faustregeln, die im Einzelfall aus Zweckmäßigkeitsgründen auch einmal außer acht gelassen werden können. Sie auch im Regelfall nicht zu beachten, ist allerdings oft eine Ungeschicklichkeit, die den Bearbeiter in Schwierigkeiten bringen kann.
36
Siehe oben S. 3.
Fall 8
25
Hinweis zum Aufbau: Erst jetzt ist auf den ersten Schuß einzugehen. Zur Lösung: Hat Τ durch die Abgabe des ersten Schusses einen Totschlag (§ 212 StGB) begangen? Der objektive Tatbestand ist nicht erfüllt. Ο ist zwar tot, aber das ist keine Wirkung des ersten Schusses. Damit stellt sich die Frage, ob Τ einen Totschlagsversuch (§§ 212, 22 StGB) begangen hat. Der subjektive Tatbestand des Totschlags ist erfüllt. Τ hat bei Abgabe des ersten Schusses den Tod des Ο als Wirkung des Schusses ins Auge gefaßt. Zwar hat er angenommen, Ο sei F. Aber das ist ein bloßer error in persona, der nichts daran ändert, daß Τ die Tötung gerade des Menschen ins Auge gefaßt hatte, den er vor sich sah37. Ein solcher Irrtum ist kein nach § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB relevanter Irrtum. Da Τ auf Ο gezielt und abgedrückt hat, hat er auch unmittelbar zur Tatbestandsverwirklichung angesetzt (§ 22 StGB). Er hat also einen Totschlagsversuch begangen38. Τ hat sich mithin eines Totschlagsversuchs in Tatmehrheit (§ 53 StGB) - es geht um zwei verschiedene Akte des Täters - mit einer fahrlässigen Tötung schuldig gemacht.
Fall 8 39 : Simultaneitätsprinzip und Vorsatz (ein Fall des sog. dolus generalis) Die Täterin hatte ihre Nachbarin Frau Β gewürgt und ihr, um sie am Schreien zu hindern, zwei Hände voll Sand in den Mund gestopft. Das geschah - wie der B G H in B G H S t . 14, 193 ausführt - „mit bedingtem Tötungsvorsatz". Frau Β lag schließlich regungslos und bewußtlos da, war aber nicht tot. Die Täterin hielt sie jedoch für tot und warf die vermeintliche Leiche in eine Jauchegrube. Frau Β ertrank.
Hinweis zum Aufbau der Lösung: Auch hier ist, genauso wie bei Fall 7, zwischen zwei aufeinanderfolgenden Abschnitten des Gesamtgeschehens zu unterscheiden. Die Täterin hielt zu dem Zeitpunkt, da sie die vermeintliche Leiche in die Jauchegrube warf, Frau Β bereits für tot. Damit ist es ausgeschlossen zu sagen, die Täterin habe zu diesem Zeitpunkt erkannt, daß sie Frau Β tötete. Das aber heißt im Endeffekt (auf Gegenansichten ist erst bei der Lösung selbst einzugehen), daß es ausgeschlossen ist zu sagen, die Täterin 37
Z u m error in persona siehe oben S. 10.
38
A u f die Rücktrittsproblematik ist deswegen hier nicht weiter einzugehen, weil die Erörterung der Anwendbarkeit des § 2 4 S t G B den Rahmen dieses Kapitels sprengen würde.
39
Vgl. B G H S t . 14, 193 f.
26
Kapitel I
habe zu diesem Zeitpunkt mit Tötungsvorsatz gehandelt. Zuvor freilich, während des Würgens und während des Zeitraumes, als sie dem Opfer Sand in den Mund stopfte, hat die Täterin die Tötung von Frau Β als Wirkung ihres Tuns ins Auge gefaßt. Das bedeutet: Für den ersten Teil des Geschehens - also für das Würgen usw. - wird man im Ergebnis sagen müssen, daß die Täterin mit Tötungsvorsatz gehandelt hat, während man für den zweiten Teil des Geschehens - also für den Akt, der objektiv als ein „Ertränken des Opfers in der Jauchegrube" zu beschreiben ist - nicht mehr von einem Tötungsvorsatz reden kann. Um diesen Aspekt des Falles 8 keinesfalls aus dem Auge zu verlieren, ist es notwendig, genau zu dem Zeitpunkt eine Zäsur zu machen, da die Täterin annahm, Frau Β sei tot. Das ist - wie bei Fall 7 - erforderlich, um eine Verletzung des Simultaneitätsprinzips unter allen Umständen zu vermeiden. Dem Ergebnis wird damit nicht vorgegriffen. Wer dagegen die Unterscheidung zwischen dem ersten und dem zweiten Teil des Geschehens nicht vornimmt, hat die Möglichkeit einer analytisch genauen Erörterung des Falles unter Beachtung des Simultaneitätsprinzips, das, es sei noch einmal gesagt, eine Bedingung rationaler Rede des Bearbeiters selbst formuliert, bereits verspielt. Daran ändert sich auch dann nichts, wenn sich der Bearbeiter auf eine vermeintliche „Sinneinheit" des Geschehens beruft, das nicht „unnatürlich auseinandergerissen" werden dürfe, oder wenn er andere Ausdrücke ähnlichen Charakters verwendet. Denn das hieße, bloße Evidenzerlebnisse an den Fall herantragen, die eine rationale Betrachtung des Falles nicht mehr ermöglichen, sondern vielmehr von vornherein erübrigen. Zur Lösung: Hat die Täterin dadurch einen Totschlag (§ 212 StGB) begangen, daß sie Frau Β in die Jauchegrube warf, wo Frau Β ertrank? Der objektive Tatbestand des Totschlags ist erfüllt. Das Opfer ist tot. Es besteht auch ein Kausalzusammenhang zwischen dem hier in Rede stehenden Akt der Täterin und dem Tod des Opfers. Denn Frau Β ist ertrunken. Ebenso ist ein objektiver Finalzusammenhang anzunehmen; es ist ein objektiv zweckmäßiges Mittel, das Opfer in eine Jauchegrube zu werfen, um seinen Tod durch Ertrinken herbeizuführen; vor allem dann, wenn das Opfer, wie hier, bereits bewußtlos ist. Der subjektive Tatbestand ist allerdings nicht erfüllt. Die Täterin hat nicht erkannt, daß sie einen lebenden Menschen in die Jauchegrube warf und damit tötete. Sie hielt Frau Β für tot. Es ist jedoch Voraussetzung für den Tötungsvorsatz, daß der Täter annimmt, einen lebenden Menschen vor sich zu haben. Es gibt freilich eine Lehre, die Lehre vom „dolus generalis", die behauptet, der während des ersten Geschehensteils zweifelsfrei gegebene Tötungsvorsatz sei auf das Gesamtgeschehen zu erstrecken und wirke
Fall 8
27
auch während des zweiten Geschehensteils noch fort 40 . Diese Lehre verkennt, daß von einem Tatvorsatz nur dann und nur solange die Rede sein kann, als der Täter die Verwirklichung des objektiven Tatbestands ernstlich für möglich hält. Der Tötungsvorsatz der Täterin aber endete mit dem Zeitpunkt, an dem sie annahm, Frau Β sei tot. Denn von diesem Zeitpunkt an hielt sie die Tatbestandsverwirklichung nicht mehr für möglich. Für den zweiten Teil des Geschehens ist der während des ersten Teils gegebene Tatvorsatz deshalb ein bloßer „dolus" antecedens und damit kein Vorsatz mehr. Die Lehre vom „dolus generalis" nimmt einen bloßen „dolus" antecedens als Tatvorsatz. Sie verletzt damit das Simultaneitätsprinzip. Hinweis zum Aufbau: Genauso wie bei Fall 7 ist nunmehr auf § 222 StGB überzugehen (§ 16 Abs. 1 Satz 2 StGB). Das ist hier sogar besonders wichtig, weil die Probleme des Falles nur dann angemessen erörtert werden können, wenn die Tat auch unter diesem Aspekt gesehen wird. Zur Lösung: H a t die Täterin dadurch eine fahrlässige Tötung (§ 222 StGB) begangen, daß sie die bewußtlose Frau Β in die Jauchegrube warf? Die objektiven Bedingungen einer fahrlässigen Tötung sind erfüllt; denn es ist bereits festgestellt worden, daß der objektive Tatbestand des § 212 StGB erfüllt ist. Die Täterin hätte darüber hinaus auch erkennen müssen, daß sie Frau Β durch die hier in Rede stehende Handlung töten würde. Denn es obliegt jedermann, der im Begriffe ist zu handeln, die aus seinem Handeln resultierenden Möglichkeiten der Erfüllung eines Verbotstatbestandes - hier die Erfüllung des Tatbestands des Tötungsverbots - zu erkennen. Davon gibt es auch für denjenigen keine Ausnahme, der sein O p f e r bereits vorher mit Tötungsvorsatz traktiert hat. O b es die Täterin hätte erkennen können, daß sie Frau Β durch den fraglichen Akt tötete, ist eine Tatfrage, für deren Beantwortung der Fall nicht genügend Hinweise liefert. Die Situation schließt es jedoch keinesfalls aus, daß die Täterin die Qualität des zweiten Akts, objektiv eine Tötungshandlung zu sein, hätte erkennen können. M u ß die Frage deshalb im konkreten Fall offen bleiben, so liegt die Annahme einer fahrlässigen Tötung doch durchaus im Bereich des Möglichen, ja vielleicht sogar im Bereich des Wahrscheinlichen. Hinweis zum Aufbau: Erst nach vollständiger Erörterung des zweiten Teils des Geschehens ist auf den ersten Teil überzugehen. Dabei ist es
40
Diese Lehre stammt von v. Weber, Neues Archiv des Criminalrechts, 1825, S. 565, 576 ff.
28
Kapitel I
besonders wichtig, sich pedantisch an die Regel zu halten, vor der Besprechung der Frage eines eventuellen Totschlagsversuchs zu erörtern, ob der objektive Tatbestand des § 212 StGB erfüllt ist oder nicht41. Denn für den Fall 8 nimmt eine verbreitete Meinung die Erfüllung des objektiven Tatbestands des § 212 StGB durch den ersten Teil des Geschehens an! Diese Frage muß besprochen und darf nicht übergangen werden. Sie würde aber übergangen, wenn der Bearbeiter angesichts der offenkundigen Tatsache, daß die Täterin Frau Β durch die ersten Akte nicht getötet hat, unmittelbar mit der Erörterung des subjektiven Tatbestandes des §212 StGB begänne. Zur Lösung: Hat die Täterin dadurch, daß sie Frau Β würgte und ihr Sand in den Mund stopfte, einen Totschlag (§212 StGB) begangen? Ist der objektive Tatbestand des § 212 StGB erfüllt? Frau Β ist gestorben. Also ist ein Ereignis eingetreten, das prinzipiell als Erfolg einer Tötungshandlung in Betracht kommt. Die Frage ist freilich, ob ein objektiver Kausalzusammenhang zwischen den hier in Rede stehenden Akten der Täterin und dem Tod von Frau Β angenommen werden kann. Bereits das ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Die Frage könnte jedoch nur dann endgültig beantwortet werden, wenn dem eine genaue Analyse des Kausalitätsbegriffs der Aquivalenztheorie vorausginge. Diese Aufgabe ist hier nicht zu leisten. Deshalb sei mit BGHSt. 14, 193 davon ausgegangen, daß zwischen den ersten Akten der Täterin und dem Tod des Opfers ein Kausalzusammenhang besteht, der durch den Irrtum der Täterin über den Todeseintritt vermittelt wird42. Es fehlt jedoch an einem objektiven Finalzusammenhang zwischen dem Würgen und den Erstickungsversuchen mit dem Sand einerseits und dem Tod des Opfers, so wie er tatsächlich eingetreten ist, andererseits. Gesetzt, der Tod des Opfers durch Ertrinken sei der objektive Zweck des Handelns, dann ist ein Würgen des Opfers und ein Ersticken mit Sand nicht der Einsatz eines tauglichen Mittels zur Erreichung dieses Zwecks. Anders ausgedrückt: Mit dem Würgen usw. wird objektiv nicht die Gefahr des Todes durch Ertrinken geschaffen. Daraus folgt, daß der objektive Tatbestand des § 212 StGB nicht erfüllt ist. Nun ist es freilich denkbar, daß angesichts dieses Ergebnisses vorgetragen würde, das Erfordernis eines objektiven Finalzusammenhanges sei nichts als ein Trick, der dazu diene, die von der möglicherweise überwiegenden Meinung und jedenfalls vom B G H angenommene Vollendung des Totschlags einfach zu überspielen. Das ist jedoch nicht der Fall. Denn der 41 42
Siehe oben S. 9. Der Irrtum ist nach Meinung des B G H ein Zwischenglied in der Kausalkette zwischen dem Würgen usw. einerseits und dem Tod des Opfers andererseits.
Fall 8
29
Verzicht auf dieses Erfordernis und die daraus resultierende Annahme einer Erfüllung des objektiven Tatbestandes des Totschlags durch die in Rede stehenden ersten Akte der Täterin führen entweder in eine Absurdität oder aber zu einer Verletzung des Simultaneitätsprinzips und damit in einen Selbstwiderspruch. Das zeigt die folgende Überlegung: Gesetzt, der objektive Tatbestand des § 212 StGB sei durch das Würgen und durch die Erstickungsversuche mit dem Sand erfüllt, dann heißt das, daß die Täterin ihr Opfer sowohl durch das Würgen usw. als auch dadurch getötet hat, daß sie die vermeintliche Leiche in die Jauchegrube warf. Denn daß die Täterin ihr Opfer durch die Handlung während des zweiten Geschehensteils getötet hat, ist oben bereits festgestellt worden; es ist zudem nicht ausgeschlossen, ja wahrscheinlich, daß die Vornahme gerade dieser Handlung als eine fahrlässige Tötung qualifiziert werden muß. Das alles wird man nicht gut leugnen können; denn das zu leugnen hieße, den Fall von der Tatsachenseite her völlig verdrehen. Also impliziert die Annahme, der objektive Tatbestand des § 212 StGB sei bereits durch die Akte der Täterin während des ersten Teils des Gesamtgeschehens erfüllt, die weitere Annahme einer Tötung des Opfers durch die Täterin sowohl durch die ersten Akte als auch durch das spätere (objektive) Ertränken. Ein derartiges Sowohl-als-auch ist in zwei und nur in zwei Weisen denkbar. Es kann einmal bedeuten, daß die Täterin ihr Opfer exklusiv durch jeden der beiden in Rede stehenden Akte getötet hat, daß sie ihr Opfer m. a. W. zweimal getötet hat. Diese Annahme ist aber absurd; niemand kann einen Menschen zweimal töten. Scheidet die erste Möglichkeit deshalb aus der weiteren Betrachtung aus, dann bleibt allein die folgende weitere Möglichkeit, das Sowohl-alsauch so zu verstehen, daß die Täterin den Tod ihres Opfers durch das Würgen usw. und durch das Ertränken kumulativ bewirkt hat. Unter der Geltung dieser Annahme aber müssen das Würgen usw. einerseits und das Ertränken andererseits zusammen betrachtet werden, sie müssen als eine einheitliche Tat genommen werden. Nun ist diese „einheitliche Tötungshandlung", die „das Gesamtgeschehen durchzieht", aber nur dann ein „einheitlicher" Totschlag, wenn auch der Tötungsvorsatz während der ganzen angeblich „einheitlichen" Tötungshandlung gegeben ist. Das aber ist, wie längst festgestellt, nicht der Fall; während des objektiven Ertränkens handelt die Täterin gerade nicht mehr mit Tötungsvorsatz. Von einem „Totschlag" kann für das Ertränken keine Rede sein, und daran ändert sich auch dann nichts, wenn das Ertränken mit dem Würgen usw. zu einer „Sinneinheit" zusammengezogen wird. Die beiden Geschehensteile in dieser Weise zusammenzuziehen, läuft deshalb auf eine Verletzung des Simultaneitätsprinzips hinaus und endet in einem Selbstwiderspruch, weil dabei immer noch die Defini-
30
Kapitel I
tion vorausgesetzt wird, daß eine Totschlagshandlung nur dann und nur so lange eine Totschlagshandlung ist, als sie vorsätzlich begangen wird. Von den Vertretern der Gegenmeinung wird nicht selten die Parallelität des Falles 8 und verwandter Fälle mit solchen Fällen unterstellt, bei denen der Täter eine Zeitzünderbombe montiert, die erst Stunden oder Tage danach explodiert und einen Menschen tötet 43 . Im Fall der Zeitzünderbombe besteht freilich kein Zweifel, daß der Täter einen vollendeten vorsätzlichen Totschlag begangen hat, und das gilt selbst dann, wenn er während der Explosion - etwa wegen anderweitiger Aktivitäten oder weil er selbst bewußtlos ist - an die Möglichkeit des Erfolgseintritts gar nicht mehr denkt. Der Vergleich suggeriert, daß auch im Fall 8 das spätere - jedenfalls objektive und möglicherweise fahrlässige - Ertränken des Opfers zu einer bloß mechanischen Wirkung der ersten Akte (des Würgens usw.) reduziert werden kann - dann wäre das erwünschte Ergebnis allerdings erzielt. Aber genau das kann sich die kumulative Betrachtung beider Geschehensteile nicht leisten, die vielmehr vom Handlungsch.ara.kter auch des Ertränkens ausgeht und die Handlung des Ertränkens mit den ersten Akten zu einer Einheit zusammenzieht und die das auch tun muß, weil sie andernfalls mit der entscheidenden Voraussetzung des Sowohl-als-auch (das Opfer wird durch beide Teil*ikte getötet) nicht fertig würde. Denn nähme sie das Ertränken nicht als Teil der Tötungshandlung, dann liefe das auf die Annahme des exklusiven Sowohl-alsauch und damit auf die Absurdität eines zweimaligen Tötens hinaus (weil am Handlungscharakter des objektiven Ertränkens eben nicht zu zweifeln ist). Betrachtet man aber das objektive Ertränken als Teil der Tötungshandlung, dann ist es eben keine vorsätzliche Tötungshandlung. Es gibt keinen Weg, der zwischen der Absurdität der Annahme eines zweimaligen Tötens desselben Opfers durch denselben Täter und der - in einem Selbstwiderspruch endenden - Verletzung des Simultaneitätsprinzips hindurchführt. Ist deshalb der objektive Tatbestand des § 212 StGB nicht erfüllt 44 , dann ist weiter zu fragen, ob die Täterin einen versuchten Totschlag (§§ 212, 22 StGB) begangen hat.
43 44
So u. a. Roxin in: Festschrift für Würtenberger, 1977, S. 115. Der B G H , der im Fall 8 eine Erfüllung des objektiven Tatbestandes des § 212 StGB angenommen hat, stand bei der Erörterung des subjektiven Tatbestandes vor der weiteren Schwierigkeit, daß sich die Vorstellungen der Täterin vom Kausalzusammenhang zwischen dem Würgen usw. einerseits und dem Tod der Frau Β andererseits mit dem (hier vorausgesetzten) objektiven Kausalzusammenhang nicht deckten; das Gericht stand damit vor dem bei Fall 4 erörterten Irrtumsproblem. Nun ist es aber schlechterdings unvorhersehbar, daß ein Würgen des Opfers und Erstickungsversuche mit Sand zum Tode gerade durch
Zwischenbemerkung
31
Der subjektive Tatbestand des § 212 StGB ist erfüllt; im Sachverhalt wird der „bedingte Tötungsvorsatz" während des Würgens usw. ausdrücklich festgestellt. Darüber hinaus hat die Täterin mit dem Würgeakt und damit, daß sie dem Opfer Sand in den Mund stopfte, auch unmittelbar zur Verwirklichung des objektiven Tatbestandes des § 212 StGB angesetzt. Die Täterin hat folglich während des ersten Geschehensteils einen versuchten Totschlag (§§ 212, 22 StGB) und - eventuell - während des zweiten Geschehensteils eine fahrlässige Tötung (§ 222 StGB) begangen. Die beiden Taten stehen in Tatmehrheit zueinander (§ 53 StGB).
Zwischenbemerkung Die Erörterung des Falles 8 hat gezeigt, daß es keineswegs immer ganz leicht ist, das Simultaneitätsprinzip durchzuhalten und damit die eigene Rede von Selbstwidersprüchen freizuhalten. Wertungserlebnisse, aufgrund deren die vom Simultaneitätsprinzip geforderte Lösung als „unbefriedigend" empfunden wird, haben zu Thesen geführt, die diese Lösung vermeiden sollen. Die „dolus generalis "-These ist der Versuch, den während des ersten Geschehensteils gegebenen Tatvorsatz auch auf den zweiten Teil zu erstrecken. Als ihre Unhaltbarkeit weitestgehend erkannt wurde, als m. a. W. erkannt wurde, daß der „dolus generalis" nichts anderes als ein „dolus" antecedens in neuem Gewände ist, kam statt dessen der Gedanke auf, man könne die Annahme, daß der objektive Tatbestand des § 212 StGB erfüllt sei, vom zweiten Geschehensteil (in bezug auf den die Annahme zweifellos richtig ist) auf den ersten Geschehensteil zurückprojizieren. Doch führt auch dieses Verfahren, das auf eine subtile Art und Weise die „dolus generalis"-Doktrin nachahmt, in denselben Fehler wie jene ältere Lehre: Erfüllung des objektiven Deliktstatbestandes und Vorsatz decken sich schon zeitlich nicht, und es bleibt deshalb bei der Verletzung des Simultaneitätsprinzips. Die folgenden beiden Fälle 9 und 10 sind hinsichtlich der zeitlichen Einreihung des Tatvorsatzes im Gesamtgeschehen gewissermaßen „Umkehrungen" der Fälle 7 und 8. Ertrinken führen werden (das war ja der Grund dafür, bereits das Bestehen eines objektiven Finalzusammenhanges zu verneinen). Deshalb wird man sagen müssen, daß die Abweichung auch vom Standpunkt des Täters aus gesehen nicht zu erwarten war. Das aber heißt: Die Annahme einer Erfüllung des objektiven Tatbestandes des § 212 StGB vorausgesetzt, fehlt es doch in bezug auf eben diese Erfüllung des objektiven Tatbestandes am Vorsatz, weil die Abweichung des tatsächlichen Kausalverlaufs von den Vorstellungen der Täterin eine wesentliche war. Der B G H hat freilich statt dessen angenommen, die Abweichung sei „nur gering und rechtlich ohne Bedeutung".
32
Kapitel I
Fall 9: Simultaneitätsprinzip und Vorsatz (eine Umkehrung des Falles 7) Τ hat 0 versehentlich erschossen. Als er zu dem zusammengebrochenen Ο eilt, glaubt er jedoch, daß Ο noch lebt. Er beabsichtigt, den Unfall zu vertuschen. Zu diesem Zweck will er Ο töten und die Leiche verbergen. Deshalb gibt er, nunmehr mit Tötungsvorsatz, einen weiteren Schuß auf den vermeintlich noch lebenden Ο ab. Hinweis zum Aufbau der Lösung: Τ hat erst bei Abgabe des zweiten, noch nicht bei Abgabe des ersten Schusses mit Tötungsvorsatz gehandelt. Deshalb besteht - wie bei Fall 7 - als Konsequenz aus dem Simultaneitätsprinzip für die Methode der Fall-Lösung die Notwendigkeit, zwischen den beiden Schüssen zu unterscheiden. Dabei ist mit der Erörterung des ersten Schusses als dem erfolgsnächsten Geschehensteil zu beginnen 45 . Zur Lösung: Hat Τ durch Abgabe des ersten Schusses einen Totschlag ( § 2 1 2 S t G B ) begangen? Die Lösung ist sehr einfach; sie braucht hier nicht im einzelnen angeführt zu werden. Jedenfalls ist der objektive Tatbestand des § 212 S t G B erfüllt, während der subjektive Tatbestand nicht erfüllt ist, weil § 16 Abs. 1 Satz 1 S t G B eingreift. Doch kommt eine fahrlässige Tötung in Betracht. Hat Τ durch die Abgabe des ersten Schusses eine fahrlässige Tötung (§ 222 S t G B ) begangen? Die Lösung ist im Grundsätzlichen dieselbe wie die zur Abgabe des zweiten Schusses in Fall 7; vgl. auch Fall 1. Τ hat den Ο also fahrlässig getötet. Hinweis zum Aufbau einzugehen.
der Lösung:
Erst jetzt ist auf den zweiten Schuß
Zur Lösung: Hat Τ durch die Abgabe des zweiten Schusses einen Totschlag (§ 212 S t G B ) begangen? Der objektive Tatbestand des § 212 S t G B ist nicht erfüllt, weil Ο bereits durch den ersten Schuß getötet worden ist. Doch kommt ein Totschlagsversuch in Frage. Hat Τ durch die Abgabe des zweiten Schusses einen Totschlagsversuch (SS 212, 22 S t G B ) begangen? Der subjektive Tatbestand des Totschlags ist erfüllt. Τ hat den T o d des O , den er noch lebend glaubte, als Wirkung des zweiten Schusses ins Auge gefaßt. D a er auf den vermeintlich noch lebenden Ο einen Schuß abgegeben hat, hat er zur Verwirklichung des Tatbestandes auch unmittelbar angesetzt 46 . 45 44
Vgl. auch oben Fn. 35. Das hier an sich zu erörternde Problem des sog. Versuchs am untauglichen Objekt wird als gelöst vorausgesetzt, weil seine Besprechung den Rahmen dieses Buches sprengen würde.
Fall 10
33
Τ hat mithin einen Totschlagsversuch begangen. Dieser Totschlagsversuch steht in Tatmehrheit (§ 53 StGB) - es geht um zwei verschiedene Akte des Täters - mit der durch den ersten Akt begangenen fahrlässigen Tötung.
Fall 1047: Simultaneitätsprinzip und Vorsatz (eine Umkehrung des Falles 8) Τ plant, seine Ehefrau Ο dadurch umzubringen, daß er sie aus dem Fenster eines fahrenden Zuges auf die Bahngeleise stürzt. Zur Vorbereitung der Tat plant er, Ο bewußtlos zu schlagen. In Ausführung dieses letzteren Planes schlägt er Ο mit einem Schraubenschlüssel auf den Kopf. Ο stirbt an den Folgen des Schlages, was Τ jedoch nicht erkennt. Dann stößt Τ die vermeintlich noch lebende Ο aus dem Fenster des Zuges.
Hinweis zum Aufbau der Lösung: Auch hier verlangt das Simultaneitätsprinzip die Aufteilung des Sachverhalts in zwei Abschnitte. Denn ein erster Vorausblick auf die Lösung läßt bereits erkennen, daß Τ mit dem Stürzen des Opfers aus dem Zugfenster den objektiven Tatbestand des § 212 StGB nicht erfüllt hat. Wenn Τ einen vollendeten Totschlag begangen haben sollte, dann kann dieser vollendete Totschlag allein in dem Schlag mit dem Schraubenschlüssel liegen. Deshalb ist zwischen dem Schlag und dem Fenstersturz zu unterscheiden. Dabei ist mit dem ersten Akt als dem erfolgsnächsten anzufangen. Zur Lösung: Hat Τ durch den Schlag mit dem Schraubenschlüssel einen Totschlag (§212 StGB) begangen? Der objektive Tatbestand des § 212 StGB ist erfüllt. Das Opfer ist gestorben, und der Tod ist auf den Schlag als Ursache zurückzuführen. Auch besteht ein objektiver Finalzusammenhang, weil ein Schlag mit einem Schraubenschlüssel auf den Kopf des Opfers ein objektiv taugliches Mittel zur Herbeiführung des Todes ist. Der subjektive Tatbestand des § 212 StGB ist für den in Rede stehenden Akt jedoch nicht erfüllt. Denn Τ erkannte nicht, daß er Ο schon mit dem Schraubenschlüssel tötete. Es steht im Sachverhalt nichts davon, daß er diese Möglichkeit auch nur gesehen hat. Damit fehlt es an dem entscheidenden - Wissenselement des Tatvorsatzes. Daran ändert sich nichts dadurch, daß Τ während des Schlages mit dem Schraubenschlüssel bereits den längst vorher gefaßten Plan hatte, Ο umzubringen. Dieser Plan ist kein „Tötungsvorsatz" im strengen Sinne des Wortes. Denn zum Tötungsvorsatz gehört nicht bloß der Tötungsplan, sondern auch das „Wissen" um die Tatbestandsverwirklichung, 47
Dem Fall von RG DStR 1939, 177 f. nachgebildet.
34
Kapitel I
d. h. die Voraussicht des Täters, daß der Tod des Opfers als Wirkung des tatbestandsrelevanten Handelns eintreten könnte. Diese Voraussicht hat Τ während des Schlages nicht gehabt; kraft des Simultaneitätsprinzips muß der Täter die Voraussicht aber während der Tatbestandsverwirklichung haben. Der Fall unterscheidet sich insoweit in nichts von Fall 1; der Tötungsplan ist hier nicht anders als dort ein bloßer „dolus" antecedens, der eben kein „Vorsatz" ist 48 . Nun wird freilich nicht selten vorgetragen, in Fällen von der Art des Falles 10 sei ein Tötungsvorsatz deswegen anzunehmen, weil es sich dabei um Fälle einer bloß unwesentlichen Abweichung des tatsächlichen vom vorgestellten Kausalverlauf handele. Aber das kann von vornherein nicht richtig sein. Denn schon die Kategorie „Abweichung des tatsächlichen
vom vorgestellten Kausalverlauf" paßt hier nicht.
Zwar könnte man - in einer freilich nur lockeren Redeweise - davon sprechen, daß das tatsächliche Geschehen von dem Plan des Täters abgewichen sei. Aber dieser Tötungsplan ist eben nicht der hier allein interessierende Tötungsvorsatz, und also ist es für unsere Frage völlig gleichgültig, ob das wirkliche Geschehen vom Tötungsplan abgewichen ist oder nicht. Relevant könnte deshalb allein die Frage sein, ob die Kategorie der „Abweichung des tatsächlichen vom vorgestellten Kausalverlauf" ein Mittel liefern kann, die während des Schlags mit dem Schraubenschlüssel laut Sachverhalt nicht gegebene Voraussicht des Täters, der Tod des Opfers könne als Wirkung des Schlages eintreten, zu ersetzen. Aber diese Frage ist eindeutig zu verneinen. Solange man an der allgemein anerkannten Definition festhält, die zum Vorsatz ein „Wissen" des Täters um die Tatbestandsverwirklichung fordert, kann von einem „Tötungsvorsatz" nur dann sinnvoll gesprochen werden, wenn der Täter den Tod des Opfers als eine (wenigstens mögliche) Wirkung des objektiven Tötungsakts positiv voraussieht, und das schließt eine positive Voraussicht des Kausalzusammenhanges zwischen dem Akt und dem Tod des Opfers ein. Weicht dabei die Vorstellung des Täters von dem Kausalverlauf zwischen seinem Akt und dem Tod des Opfers von dem objektiv festgestellten Kausalverlauf zwischen dem Akt und dem Tötungserfolg ab, dann gilt das oben zu Fall 4 Ausgeführte: Es fehlt am Vorsatz, wenn die Abweichung vom Urteiler als „wesentlich" angesehen wird, weil „wesentliche Abwei48
Auch mit dem Fall 2 hat Fall 10 einen Aspekt gemeinsam. Denn nach der Erfüllung des objektiven Tatbestandes des § 212 StGB ist das Handeln des Täters - das Stürzen des Opfers aus dem Zugfenster - ein von einem Tötungsvorsatz getragenes Handeln. Aber in bezug auf den Schlag mit dem Schraubenschlüssel ist dieser Tötungsvorsatz ein bloßer „dolus" subsequens; er ist m.a. W. in bezug auf den Schlag kein Tötungsvorsatz.
Fall 10
35
chung" bedeutet, daß der Täter ein entscheidendes Element der objektiven Tatbestandsverwirklichung verkennt; eine nur „unwesentliche" Abweichung berührt den bestehenden Vorsatz dagegen nicht. Das bedeutet m. a. W . : Der in einer Abweichung liegende Irrtum wirkt vorsatzausschließend, wenn die Abweichung eine „wesentliche" ist. Aber das Ganze setzt voraus, daß der Täter bei der Vornahme des Tötungsakts überhaupt positiv annimmt, der T o d des Opfers könne die Wirkung seines Handelns sein. Geht er - wie bei dem Schlag mit dem Schraubenschlüssel in Fall 10 -
nicht von dieser Annahme aus, dann fehlt es von vornherein am Vorsatz,
und die Kategorie der Abweichung des tatsächlichen Kausalverlaufs zwischen dem Tötungsakt und dem Tötungserfolg von den Vorstellungen des Täters hiervon wird unanwendbar, weil es unter solchen Umständen um die Frage eines Norszizausschlusses gar nicht mehr geht und nicht mehr gehen kann. Die Kategorie „Abweichung des tatsächlichen vom vorgestellten Kausalverlauf" bei Fall 10 und ähnlichen Fällen anwenden, heißt, aus einer Kategorie, die gegebenenfalls eine Begründung dafür liefern kann, daß ein Tatvorsatz auszuschließen sei, ein Instrument machen, mit dessen Hilfe ein Vorsatz, der nach der eigenen Voraussetzung des Urteilers nicht besteht, plötzlich erzeugt wird. Es heißt, eine Überlegung, die nur vorsatzdestitutiv wirken kann, so umdrehen, daß sie auf einmal vorsatzkonstitutiv wirkt - ein unter logisch-analytischen Gesichtspunkten schlechterdings unzulässiges Verfahren 4 9 . Es ist also nicht daran zu rütteln, daß der subjektive Tatbestand des Totschlags nicht erfüllt ist. Hinweis zum Aufbau: An sich wäre es jetzt geboten, auf § 222 S t G B überzugehen (§ 16 Abs. 1 Satz 2 StGB). Doch hat Τ mit dem Schlag eine vorsätzliche Körperverletzung begangen, was im Ergebnis zur Anwendung des § 226 S t G B führt, der - auf § 18 S t G B ist zu achten! - eine 49
Ein Vergleich mit der für Fall 8 vertretenen These vom „dolus generalis" liegt nahe. Dort wird der Versuch gemacht, aus einem beim ersten Akt gegebenen Vorsatz, der aber für den zweiten Akt ein bloßer „dolus" antecedens ist, auch für diesen zweiten Akt einen Tatvorsatz hervorzuzaubern, der nicht mehr da ist. Hier wird der Versuch gemacht, einen bloßen Tötungsplan zusammen mit dem später beim zweiten Akt gegebenen Vorsatz, der aber für den ersten Akt ein bloßer „dolus" subsequens ist, zu einem Tatvorsatz hochzustilisieren, der noch nicht da ist. - Vgl. jetzt auch B G H J Z 83, 864 (mit einer anschließenden Anmerkung von mir), wo sich das Gericht zu einem parallelen Fall mit Recht u. a. gegen die formelhafte Benutzung strafrechtlicher Kategorien (wie der der wesentlichen Abweichung des tatsächlichen vom vorgestellten Kausalverlauf) und gegen die Ersetzung einer Begründung durch ad hoc gebildete Schlagwörter (im Falle des B G H war dies der von der Vorinstanz erfundene Ausdruck „Gesamtgeschehen") wendet.
36
Kapitel I
fahrlässige Tötung einschließt 50 . Allerdings darf der Bearbeiter nicht unmittelbar auf § 226 StGB zu sprechen kommen, weil die Anwendung des § 226 StGB eine vorsätzliche Körperverletzung voraussetzt. Diese ist daher zuerst zu erörtern. Erst zum Schluß ist eine Bemerkung zu § 222 StGB zu machen. Zur Lösung: Hat Τ durch den Schlag mit dem Schraubenschlüssel eine Körperverletzung (§ 223 StGB) begangen? Der objektive Tatbestand des § 223 StGB ist zweifelsfrei erfüllt; die Tatbestandserfüllung ist vor allem nicht etwa deswegen ausgeschlossen, weil das Opfer gestorben ist. Auch der subjektive Tatbestand des § 223 StGB (vgl. § 15 StGB) ist erfüllt. Τ hat vorausgesehen, daß der Schlag auf den Kopf des Opfers Verletzungen hervorrufen würde. Hat Τ durch den Schlag auf den Kopf des Opfers eine Körperverletzung mit Todesfolge (§§ 226, 18 StGB) begangen? Hier stellt sich allein noch die Frage, ob Τ mit der vorsätzlichen Körperverletzung den Tod seiner Ehefrau fahrlässig bewirkt hat. Τ mußte erkennen, daß der Schlag mit dem Schraubenschlüssel nicht nur zu einer Verletzung, sondern sogar zum Tode führen konnte; an der entsprechenden Obliegenheit ist nicht zu zweifeln. Es ist auch davon auszugehen, daß Τ dies auch erkennen konnte, daß der Tod als Wirkung des Schlages für ihn auch (subjektiv) vorhersehbar war 51 . Hat Τ durch den Schlag eine fahrlässige Tötung (§ 222 StGB) begangen? An der Erfüllung des Tatbestandes kann schon aus Gründen der Folgerichtigkeit der Lösung nicht mehr gezweifelt werden! Die Fahrlässigkeit der Erfolgsherbeiführung ist bei § 226 StGB angenommen worden und darf daher nicht mehr verneint werden. Hinweis zum Aufbau: Wieder ist erst nach vollständiger Erörterung des erfolgsnächsten Akts auf den anderen Akt einzugehen. Zur Lösung: Hat Τ dadurch einen vollendeten Totschlag (§ 212 StGB) begangen, daß er das Opfer aus dem Zugfenster warf? Der objektive Tatbestand des § 212 StGB ist nicht erfüllt. Denn das Opfer war bereits tot. Doch kommt ein Totschlagsversuch (§§ 212, 22 StGB) in Betracht. Der subjektive Tatbestand des § 212 StGB ist erfüllt; Τ hat die Tötung des Opfers durch den Sturz auf die Bahngeleise ins Auge gefaßt. Auch hat Τ mit dem Sturz zur Verwirklichung des Totschlagstatbestandes unmittelbar angesetzt52. 50
Das Delikt des § 2 2 6 StGB ist ein „echtes" erfolgsqualifiziertes Delikt. Siehe dazu unten Fn. 53.
51
Das gilt jedenfalls dann, wenn man annimmt, daß Τ intellektuell nicht allzu stumpf ist. Zum sog. Versuch am untauglichen Objekt gilt das oben Fn. 46 Gesagte.
52
Fall 11
37
Τ hat mithin einen Totschlagsversuch begangen, der mit der Körperverletzung mit Todesfolge in Tatmehrheit steht (§ 53 StGB). Zwischen der Körperverletzung mit Todesfolge und der fahrlässigen Tötung besteht jedoch eine Gesetzeskonkurrenz in der Form der Spezialität; §§ 226, 18 StGB verdrängen § 222 StGB 53 .
Zwischenbemerkung Die Fälle 7 bis 10 betrafen Probleme der zeitlichen Koinzidenz oder Nicht-Koinzidenz der Erfüllung eines objektiven Tatbestandes mit dem entsprechenden Tatvorsatz, und die Aufgabe bestand u.a. darin, sich durch den emotionalen Stress, den diese - keineswegs bloß auf dem Papier stehenden - Fälle auslösen, nicht zu dem Aufschrei verleiten zu lassen: „Es ist doch ganz klar, daß der Täter einen vollendeten Totschlag begangen hat. Er hat das Opfer getötet, und er wollte das auch!" Das Simultaneitätsprinzip hat aber Konsequenzen nicht nur für das Verhältnis von Tatbestandserfüllung und Vorsatz. Es betrifft, wie bereits oben 54 dargelegt, das Verhältnis sämtlicher Verbrechensmerkmale zueinander. Die folgenden Fälle 11 bis 13 bringen Beispiele dafür. Dabei wird der Akzent in diesem Kapitel auf die Durchführung des Simultaneitätsprinzips - und damit auch auf Aufbauprobleme - gelegt. Soweit die Lösung teilweise offen bleibt, wird die Problematik, von einer anderen Seite her, im Kapitel IV wieder aufgegriffen werden 55 .
Fall II 56 : Simultaneitätsprinzip und Defektzustand des §20 StGB (ein actio-libera-in-causa-Fall) Der in Frankfurt a. M. wohnende Α plant den Einbruch in das Juweliergeschäft des J in Düsseldorf. Auf der zum Zweck des Einbruchs unternommenen Reise von Frankfurt nach Düsseldorf nimmt Α immer wieder Schlucke aus einer mitgebrachten Schnapsflasche zu sich. Dabei ist ihm klar, daß er davon einen Rausch bekommen könnte. Er tut das, weil er sich auf der Reise langweilt. In Düsseldorf angekommen, bricht er in das Geschäft des J ein und entwendet mehrere kostbare Juwelen. Dabei hält er sich „ganz im Rahmen der Planung" 5 7 . - Bei der Lösung des Falles ist davon auszugehen, 53 54 55
56 57
Zur Begründung siehe meinen Beitrag in: G A 1967, 42 ff. S.6f. Eine endgültige Lösung der Fälle 11 bis 13 setzt die Kenntnis des gesamten Kapitels IV voraus. Die Lösungen der Fälle selbst werden unten auf S. 383 ff. gebracht. BGHSt. 21, 381 nachgebildet. So der BGH in seiner Sachverhaltsschilderung.
38
Kapitel I
daß sich Α wegen des Alkoholgenusses in einem Defektzustand des § 20 S t G B befunden hat.
Hinweis zum Aufbau der Lösung: Genauso wie bei den vorangegangenen Fällen ist auch hier zwischen zwei Abschnitten des Gesamtgeschehens zu unterscheiden. Auch hier ist die Unterscheidung eine Konsequenz aus dem Simultaneitätsprinzip für die Methode der Fall-Lösung. Allerdings geht es diesmal nicht um die Frage, ob sich Erfüllung des objektiven Tatbestandes und Tatvorsatz zeitlich decken, sondern um die Frage, ob objektiv und subjektiv tatbestandsmäßige Handlung und Schuld des Täters koinzidieren. Die Zäsur ist daher zum Zeitpunkt des Eintritts des nach § 20 StGB relevanten Defektzustandes zu machen. Dabei ist es zweckmäßig, mit dem Teil zu beginnen, bei dem es am aussichtsreichsten erscheint, daß der objektive Tatbestand des § 242 StGB erfüllt ist: Das ist hier der zweite Teil des Geschehens, die Entwendung der Juwelen aus den Geschäftsräumen des J. Die Empfehlung entspricht der Empfehlung, mit dem erfolgsnächsten Akt zu beginnen, die für die Fälle 7 bis 10 befolgt worden ist. Zur Lösung: Hat sich Α dadurch eines Diebstahls (§ 242 StGB) schuldig gemacht, daß er in D die Juwelen aus dem Geschäft des J entwendete? Der objektive Tatbestand des § 242 StGB ist erfüllt. Α hat die Juwelen - also fremde bewegliche Sachen - dem Gewahrsam des J entzogen und eigenen Gewahrsam daran begründet. Er hat die Juwelen also weggenommen. Ebenso ist der subjektive Tatbestand erfüllt. Vor allem wußte A, daß er die Juwelen aus den Geschäftsräumen des J entfernte und daß er sie selbst in Besitz nahm. Darüber hinaus handelte er in der Absicht, sich die Juwelen zuzueignen, worauf er weder ein Recht hatte noch ein Recht zu haben glaubte58. 58
Wegnahmevorsatz und Zueignungsabsicht sind nicht etwa dadurch ausgeschlossen, daß Α sich in einem Defektzustand des § 20 StGB befand. „Defektzustand des § 20 StGB" meint, daß der Täter bei Begehung der Tat wegen einer der in § 20 StGB genannten Ursachen „unfähig" war, „das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln". Die Unfähigkeit zur Einsicht in das Unrecht der Tat bzw. die Unfähigkeit, nach der Unrechtseinsicht zu handeln, aber schließen Wegnahmevorsatz und Zueignungsabsicht nicht aus. Die Möglichkeit, den subjektiven Tatbestand des § 242 StGB zu erfüllen, wird durch eine krankhafte seelische Störung oder eine Bewußtseinsstörung vielmehr nur dann ausgeschlossen, wenn der Täter im buchstäblichen Sinne des Ausdrucks „nicht mehr weiß, was er tut", d. h. nur dann, wenn die Störung so weit geht, daß der Täter seine eigenen Bewegungen nicht mehr als solche erkennt, bzw. nur dann, wenn er seine Motorik nicht mehr beherrschen kann. In Fällen dieser letzteren Art geht es dann allerdings gar nicht mehr um eine Anwendung des § 20 StGB, weil es schon an der Tatbestandsmäßigkeit der Handlung fehlt.
Fall 11
39
Rechtfertigungsgründe sind nicht ersichtlich. Ebensowenig geht A fälschlich von Umständen aus, die ihn rechtfertigen würden. Die Tat ist rechtswidrig. Problematisch ist jedoch die Frage der Schuld. Der Alkoholgenuß hat bei Α eine krankhafte seelische Störung im Sinne des § 20 StGB bewirkt, die ihn unfähig machte, gemäß seiner Unrechtseinsicht zu handeln. Für Fälle dieser Art bestimmt § 20 StGB, daß der Täter „ohne Schuld handelt".
Hinweis zur Methode: Damit greift - zunächst einmal! - das Simultaneitätsprinzip ein: Α hat während des Defektzustandes zwar objektiv und subjektiv tatbestandsmäßig und rechtswidrig gehandelt, aber der Diebstahl kann ihm nicht zur Schuld zugerechnet werden. Das könnte nur dann anders sein, wenn für einen Fall wie den vorliegenden eine Ausnahme von der Regel des $ 20 StGB zu machen wäre. Die Möglichkeit einer Ausnahme von der Regel des § 20 StGB wird weiter unten angesprochen werden. Zuvor sind jedoch die Straftaten des Α vor dem Eintritt des Defektzustandes zu erörtern, insbesondere ist - ganz entsprechend dem Aufbau der Lösung des Falles 8 - zu fragen, ob sich Α nicht schon vor dem Eintritt des Defektzustandes eines Diebstahls der Juwelen schuldig gemacht hat. Die Frage mag dem unbefangenen Leser als merkwürdig erscheinen, und sie ist bei unbefangenem Urteil in der Tat auch merkwürdig. Trotzdem muß sie beim gegenwärtigen Stand der Diskussion in Rechtsprechung und Lehre gestellt und beantwortet werden, weil heute nicht selten - meistens freilich mehr implizite als explizite - die These vertreten wird, daß der Defekttäter den Tatbestand, den er während des Defektzustandes erfüllt, auch schon durch die Herbeiführung des Defektzustandes verwirklicht hat. Es ist, wie im Vorgriff gesagt werden kann, auch nicht völlig unverständlich, wenn der Versuch gemacht wird, die Tatbestandserfüllung schon auf den Zeitpunkt der Herbeiführung des Defektzustandes vorzuverlegen. Das Simultaneitätsprinzip oder besser: die intuitive Anerkennung des Simultaneitätsprinzips spielt dabei eine Rolle. Denn während der Herbeiführung des Defektzustandes handelt der Täter per definitionem noch defektfrei, d. h. er handelt noch nicht in dem Zustand, der dann nach § 20 StGB die Schuld ausschließt. Der Versuch, bereits die Herbeiführung des Defektzustandes als tatbestandsmäßig zu erweisen, ist deshalb gleichbedeutend mit dem Versuch, die Gleichzeitigkeit von Tatbestandserfüllung und Defektfreiheit, also die Gleichzeitigkeit von Tatbestandserfüllung und Schuld, auch bei Fällen wie dem vorliegenden mehr oder weniger guten Gewissens behaupten zu können.
40
Kapitel I
Zur Lösung: Hat sich Α dadurch eines Diebstahls der Juwelen schuldig gemacht, daß er sich in den Zug nach Düsseldorf setzte und sich auf der Reise bis zum Eintritt eines Defektzustandes nach § 20 StGB betrank? Die Frage ist eindeutig verneinend zu beantworten. Schon der objektive Tatbestand des § 242 StGB ist nicht erfüllt. Angesichts des heutigen Standes der Diskussion ist es jedoch erforderlich, diese Feststellung im einzelnen zu begründen, obwohl dies wenigstens teilweise bedeutet, daß auch Selbstverständlichkeiten ausgesprochen werden müssen. Zu unterscheiden ist dabei - man vergleiche die Lösung des Falles 8 - die Frage, was zu dem Handeln vor dem Eintritt des Defektzustandes für sich allein genommen zu sagen ist, von der Frage, wie es mit einer Zusammenziehung des Handelns des Α vor und nach dem Eintritt des Defektzustandes steht. Ist der objektive Tatbestand des Diebstahls durch das Reisen und das Sich-Betrinken erfüllt, wenn dieses Handeln vor dem Eintritt des Defektzustandes für sich allein genommen wird? Wenn vorausgesetzt wird, daß die Wörter der deutschen Sprache, die das Gesetz in § 242 S t G B verwendet, überhaupt einen semantischen Sinn haben, dann ist das nicht der Fall. Denn das Besteigen eines Zuges und das Trinken von Schnaps kann in unverstellter Sprache nicht redlicherweise als „Wegnahme von Juwelen" bezeichnet werden. Es wird dadurch weder der Gewahrsam an den Juwelen gebrochen noch neuer Gewahrsam an ihnen begründet. Darüber sollte es eigentlich keine Diskussion geben. Ahnliches gilt für parallele Fälle. Betrinkt sich jemand in der Absicht, nachher im Defektzustand des § 20 StGB eine Tat des § 316 StGB zu begehen, dann läßt sich das Sitzen im Lehnstuhl und das Trinken von Schnaps nicht ernstlich als „Führen eines Fahrzeugs im fahruntüchtigen Zustand" titulieren. Nimmt jemand ein Psychopharmakon, um in einem Defektzustand des § 20 StGB vor Gericht einen Meineid anzubringen 59 , dann kann die Einnahme des Psychopharmakons nicht ein „falsches Schwören" (siehe § 154 StGB) genannt werden. Auch darüber sollte es eigentlich keinen Streit geben.
Man müßte sich schon zu der These versteigen, in § 242 StGB (in § 316 und § 154 StGB) sei nicht nur die Wegnahme fremder Sachen (das Fahren im fahruntüchtigen Zustand, das falsche Schwören) unter Strafe gestellt, sondern darüber hinaus auch schon die „Verursachung" der Wegnahme (des Fahrens im fahruntüchtigen Zustand, des falschen Schwörens). Das ist ausweislich des Gesetzestextes jedoch nicht der Fall, denn wie der Text zeigt, redet § 242 StGB allein von der Wegnahme und nicht auch von der Verursachung der Wegnahme (wie auch § 316 StGB allein vom Fahren im fahruntüchtigen Zustand spricht und § 154 StGB vom falschen Schwören 59
Dieser letztere Fall wird unten in Kapitel IV (auf S.291 ff.) ausführlich besprochen werden. § 3 1 6 StGB spielt bei Fall 7 des Kapitels IV (auf S. 356 ff.) eine Rolle.
Fall 11
41
und nicht von der Verursachung der Erfüllung dieser Tatbestände). Daran ändert sich auch dann nichts, wenn man behauptete, die Tatbestände seien eben entsprechend „auszulegen", weil mit solcher „Auslegung" kein rational nachprüfbares Verfahren mehr angeboten, sondern allein ein „Ergebnis" postuliert wird, das keine Prämissen hat, aus denen es sich ergeben könnte 60 . Ohne ein sacrificium intellectus gibt es keinen Weg, die Erfüllung des objektiven Tatbestandes durch den Antritt der Reise, die Reise selbst und das Sich-Betrinken anzunehmen. Das ist auch kein Zufall. Denn die Annahme eines Diebstahls der Juwelen schon durch die Reise und das Sich-Betrinken für sich allein genommen (und dies ist, wie erinnerlich, das hier behandelte Thema) würde in die Absurdität führen, daß Α die Juwelen exklusiv sowohl durch das Sich-Betrinken usw. als auch später weggenommen hat, als er das Juweliergeschäft in Düsseldorf tatsächlich ausräumte. Die Annahme hätte m. a. W. die Konsequenz, daß Α die Juwelen, deren Besitz er nie verloren hat und die er am Ende doch nur einmal besitzt, trotzdem zweimal weggenommen hätte. Denn an der bereits festgestellten Erfüllung des Diebstahlstatbestandes während, des Defektzustandes des § 20 StGB ist nicht mehr zu zweifeln. Das leitet über zu der zweiten Frage, welche Konsequenzen sich ergeben, wenn man das Handeln des Täters vor und sein Handeln nach dem Eintritt des Defektzustandes zu einer „Sinneinheit" zusammenzieht. Kann man dann sagen, daß der objektive Tatbestand des Diebstahls schon durch das Handeln vor dem Eintritt des Defektzustandes erfüllt ist? An sich erhebt sich an dieser Stelle schon die Frage, wie im Falle 11 eine derartige „Sinneinheit" überhaupt gedacht werden soll, wenn „Sinneinheit" mehr bedeuten soll als ein bloßes Wort erfinden und benutzen. Doch kann die Frage hier auf sich beruhen bleiben. Denn auch dann, wenn man das Handeln des Täters vor und nach dem Eintritt des Defektzustandes zusammenzieht, kann das gewünschte Ergebnis, Α habe den Diebstahl bereits vor dem Eintritt des Defektzustandes begangen, nicht herauskommen. Die Lösung gerät vielmehr in einen Konflikt mit dem Simultaneitätsprinzip. Das zeigt sich, wenn man Fall 11 mit dem entsprechend abgewandelten Bombenlegerfall61 vergleicht. Im Bombenlegerfall verlangt das Simultaneitätsprinzip nur, daß der Bombenleger zu dem Zeitpunkt in einem defektfreien Zustand handelt, da er die Bombe montiert, und es verlangt nicht, daß er sich auch während der Explosion in einem defektfreien Zustand befindet. Das liegt daran, daß die Explosion mit der Montierung 60
61
Man sollte immer wieder einmal an Goggelmoggels „Glocke" denken und daran, daß man ein Wort „nicht einfach etwas anderes heißen lassen kann". Siehe oben S. 30.
42
Kapitel I
der Bombe lediglich kausal-mechanisch verknüpft ist. Das soll heißen: Die Explosion ist keine für die Erfüllung des Mordtatbestandes relevante Handlung des Täters und auch kein Teil dieser Handlung. Im Fall 11 ist das jedoch anders. Im Fall 11 muß, wenn man schon das Handeln nach dem Eintritt des Defektzustandes mit dem Handeln davor zu einer „Sinneinheit" zusammenzieht, das fragliche Handeln nach dem Eintritt des Defektzustandes zumindest als Teil der Handlung des Täters genommen werden. Während dieses Handlungsteils aber handelt der Täter im Defektzustand des § 20 StGB und damit vorausgesetztermaßen „ohne Schuld" (siehe § 20 StGB), woraus folgt, daß die Annahme, Α sei eines Diebstahls schuldig, das Simultaneitätsprinzip verletzt. Dieser Konsequenz kann man nicht dadurch entgehen, daß man die Vorgänge während des Defektzustandes als bloß kausal-mechanische Wirkung des Handelns vor dem Eintritt des Defektzustandes nimmt, den Täter für die Zeit während des Defektzustandes also gewissermaßen als seinen eigenen Roboter betrachtet. Denn erstens widerspricht das schon der Voraussetzung von der „Sinneinheit" beider Handlungsteile vor und nach dem Eintritt des Defektzustandes. Zweitens führt eine solche Betrachtungsweise auf die - bereits verworfene - Annahme, daß schon die Verursachung einer Wegnahme den Tatbestand des § 242 StGB erfüllt; denn am Wegnahmecharakter des Handelns während des Defektzustandes ist eben nicht zu zweifeln. Und drittens würde aus der Annahme auch sofort wieder die Absurdität einer zweimaligen Wegnahme der Juwelen folgen, wiederum weil am Wegnahmecharakter des Handelns während des Defektzustandes nicht gezweifelt werden kann. Wie man sieht, ist die Überlegung mutatis mutandis dieselbe wie die bei Fall 8 angestellte - mit dem einzigen Unterschied, daß es hier um die Frage der zeitlichen Koinzidenz von Tatbestandserfüllung und Schuld geht, während es dort um die zeitliche Koinzidenz von Verwirklichung des objektiven Tatbestandes und Tatvorsatz ging.
Auch eine Kumulation der Handlungsabschnitte kann also nicht zu dem Ergebnis führen, daß Α sich eines Diebstahls schuldig gemacht hat. Daran ändert sich auch dann nichts, wenn Vergleiche zur mittelbaren Täterschaft angestellt werden oder wenn das Bild vom „Werkzeug" angeführt wird, zu dem sich der Täter durch die Herbeiführung des Defektzustandes selbst mache. Vergleiche und Bilder dieser Art mögen eine gewisse Faszination ausüben. Doch sind sie nichts anderes als andere Formulierungen für eine angebliche „Sinneinheit" der beiden Handlungsabschnitte - und die Annahme einer solchen „Sinneinheit" verletzt, wie gesagt, das Simultaneitätsprinzip613. 6U
Daß Fall 11 kein Fall einer mittelbaren Täterschaft ist, ist schon deswegen klar, weil mittelbare Täterschaft (mit den Worten des §25 StGB) ein Handeln „durch einen anderen" voraussetzt. Es kann also stets nur um eine Parallelisierung der Fälle dieser Art mit den Fällen der mittelbaren Täterschaft gehen. Nun ist es das
Fall 11
43
Zwischenüberlegung: Angesichts dieses Ergebnisses ist es zweckmäßig, noch einmal genauer zu fragen, welche Funktion ein Insistieren auf der Erfüllung des objektiven Tatbestandes des § 2 4 2 StGB - und anderer Tatbestände - durch das Sich-Betrinken usw. überhaupt haben kann. Es kann nämlich allein dazu dienen, eine als unzulässig vorausgesetzte Ausnahme von § 20 StGB zu vermeiden. Eine interessante Parallele aus der jüngsten Rechtsgeschichte zeigt das mit Deutlichkeit. In § 52 Abs. 1 des Reichsstrafgesetzbuchs von 1871 war zum Nötigungsnotstand folgendes festgelegt: „Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn der Täter durch unwiderstehliche Gewalt oder durch eine Drohung, welche mit einer gegenwärtigen, auf andere Weise nicht abwendbaren Gefahr für Leib oder Leben seiner selbst oder eines Angehörigen verbunden war, zu der Handlung genötigt worden ist." Diese Bestimmung war bis zum 31.12.1974 in Kraft. Sie warf das Problem auf, wie ein Täter beurteilt werden muß, der für eine Nötigungsnotstandssituation, in der er eine tatbestandsmäßige Handlung begeht, selbst verantwortlich ist. Denn § 52 StGB a. F. sah keine Ausnahme für diesen Fall vor. Das aber bedeutet: Alle Probleme, die sich heute in bezug auf § 20 StGB stellen, stellten sich bis zum 31.12.1974 auch in bezug auf § 52 StGB a. F. D. h. um unter der Geltung des § 52 StGB a. F. die Verurteilung eines im Nötigungsnotstand handelnden Täters begründen zu können - und die Gerichte haben in solchen Fällen verurteilt!62 - , hätte man entweder die These aufstellen müssen, der später in der Nötigungssituation verwirklichte Tatbestand, welcher auch immer, sei bereits durch die Herbeiführung dieser Situation erfüllt, oder aber man hätte eine vom Gesetz nicht vorgesehene Ausnahme von der Regel des § 52 StGB a. F. machen müssen. Nun steht heute seit 1.1.1975 - an der Stelle des alten § 52 StGB der neue § 35 StGB, der in Abs. 1 Satz 2 eine gesetzliche Ausnahme von der Regel des Abs. 1 Satz 1 vorsieht. Damit
entscheidende Kriterium der mittelbaren Täterschaft, daß der mittelbare Täter den Geschehensablauf irgendwann einmal aus der Hand gibt, den danach der (im Defektzustand des §20 StGB handelnde) Tatmittler in der Hand hat. Ein Vergleich, der überhaupt irgendeine relevante Ähnlichkeit mit den Fällen der mittelbaren Täterschaft zutage fördert, müßte deshalb wenigstens dieses Kriterium beibehalten und folglich in die These einmünden, der Täter des Falles 11 (und aller Parallelfälle) mache „sich zu seinem eigenen unverantwortlichen Werkzeug" und habe damit „den weiteren Ablauf" vom Eintritt des Defektzustandes an „nicht mehr in der Hand" - so, vom Standpunkt des von ihm durchgeführten Vergleichs aus, folgerichtig Roxin, Festschrift für Lackner, 1987, S.307ff., 314. Das aber zeigt die Undurchführbarkeit einer Parallelisierung. Denn es ist ja gerade so, daß der Täter des Falles 11 (und aller ähnlicher Fälle) die Handlungsherrschaft auch nach dem Eintritt des Defektzustandes weiterhin behält (vgl. auch Roxin, a . a . O . S.315) und daß der „weitere Ablauf" (bis zur Tat) deshalb durchgängig in seiner Hand bleibt. 62
Vgl. etwa BayObLG MDR 55, 247.
44
Kapitel I
ist aber das Problem, ob der jeweilige Tatbestand nicht schon durch die Herbeiführung der Nötigungssituation erfüllt ist, als solches nicht aus der Welt geschafft. Denn wenn es unter der Geltung des alten § 52 StGB richtig gewesen wäre, die Erfüllung des jeweiligen Tatbestandes schon in der Herbeiführung der Nötigungssituation zu sehen, dann müßte das auch heute noch richtig sein. Denn damit hat die Gesetzesänderung ja nichts zu tun. Doch wird die These heute von niemandem vertreten. Das kann man nicht nur als Zeichen dafür nehmen, daß es ihr von vornherein an der notwendigen Substanz gefehlt hätte. Es ist vor allem ein Zeichen dafür, daß die These von der Erfüllung des jeweiligen objektiven Tatbestandes durch die Herbeiführung der Nötigungssituation heute keine Funktion mehr hatte: Denn es gibt ja heute die Ausnahmeregelung des § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB!
Wer heute die These vertritt, schon das Sich-Betrinken bis zum Defektzustand des § 20 StGB erfülle bereits den Deliktstatbestand - welchen auch immer der dann während des Defektzustandes verwirklicht wird, wird sich fragen lassen müssen, warum er nicht auch die These vertritt, schon die Herbeiführung einer Notstandssituation des § 35 Abs. 1 Satz 1 StGB erfülle den Tatbestand - welchen auch immer der dann in der Notstandslage verwirklicht wird. Denn was für die Herbeiführung einer entschuldigenden Situation nach § 20 StGB recht ist, müßte für die Herbeiführung einer entschuldigenden Situation nach § 35 Abs. 1 Satz 1 StGB billig sein. Wer darauf antwortet, daß es bei § 35 einer derartigen These nicht bedarf, weil es ja heute den § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB gibt, hat bereits verspielt. Denn er sagt damit, daß er die These zu § 20 StGB nur deswegen vertritt, weil § 20 keine dem § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB entsprechende Ausnahme vorsieht. Er sagt also, daß er die These zu § 20 StGB nur wegen ihrer - angeblichen - Nützlichkeit vertritt. Das aber ist kein logisch-analytisch tragfähiger Grund für ihre Richtigkeit. Wer es für unzulässig hält, eine Ausnahme von $ 20 StGB zu machen und es gibt, wie sich zeigen wird, durchaus gute Gründe für die Unzulässigkeit einer Ausnahme! der muß eben die Konsequenz ziehen, daß sich der Täter des Falles 11 nicht eines Diehstahls schuldig gemacht hat. Α kann dann sogar bestraft werden, gibt es doch § 323 a StGB! Aber er kann bei Unzulässigkeit einer Ausnahme eben nicht wegen Diebstahls bestraft werden. Doch sollte man auch nur den Anschein vermeiden, die These von der Erfüllung des objektiven Tatbestandes des § 242 StGB (oder anderer Vorschriften des StGB) durch das Sich-Betrinken werde durch das folgende abenteuerliche „Argument" mitbestimmt: (1) Es ist unzulässig, eine Ausnahme von § 20 StGB zu machen. (2) Es ist jedoch evident, daß der Täter des Falles 11 bestraft werden muß. (3) Also erfüllt bereits das Sich-Betrinken den Tatbestand des § 242 StGB. Muß gesagt werden, daß das unschlüssig ist? Weiter zur Lösung: Mit der Erörterung des Diebstahls ist die Frage noch nicht endgültig erledigt, ob Α sich durch das Sich-Betrinken strafbar
Fall 11
45
gemacht hat. In Betracht k o m m t noch eine Anwendung des - soeben erwähnten - § 323 a StGB. Der objektive Tatbestand ist erfüllt. Α hat sich in einen Rausch versetzt. Auch der subjektive Tatbestand ist erfüllt, weil Α um die Wirkung des Genusses einer größeren Menge Alkohol wußte. Darüber hinaus sind die Bedingungen des Konditionalsatzes der Vorschrift des § 323 a StGB erfüllt. W i e bereits festgestellt, hat Α im Defektzustand des § 20 StGB eine rechtswidrige Tat - den Diebstahl der Juwelen - begangen, und er kann (nach der bisherigen Lösung) deswegen nicht bestraft werden. Α ist also einer Tat des § 323 a StGB schuldig. Nachtrag zum Aufbau der Lösung: Auf § 323 a StGB darf der Bearbeiter aus Gründen der Logik seines Gedankengangs erst zu sprechen kommen, wenn er zuvor die Rauschtat - hier den Diebstahl - erörtert und dabei festgestellt hat, daß § 2 0 StGB eingreift!
Zwischenüberlegung
und Hinweis zum Aufbau der Lösung: Die bishe-
rigen Überlegungen haben dazu geführt, daß Α wegen Diebstahls nicht bestraft werden kann. Der B G H hat in B G H S t . 21, 381 freilich keine Bedenken getragen, in einem Fall von gleicher Struktur die Täter wegen Diebstahls zu verurteilen 6 3 . Ein solches Urteil läßt sich daher nur dann
zureichend begründen, StGB akzeptiert.
wenn man eine Ausnahme von der Regel des § 20
W i r müssen deshalb zu dem Handeln des Täters während des Defektzustandes zurückkehren, um die Problematik einer Ausnahme von § 20 S t G B im Rahmen der Fall-Lösung erörtern zu können. ^Das wirft für den Bearbeiter einer Klausur- oder Hausarbeit ein schwieriges aufbautechnisches Problem auf. Es ist nämlich einerseits unzulässig, zwischen den beiden Handlungsabschnitten des Falles 11 so hin- und herzuspringen, wie dies in diesem Buch aus Gründen der Klarheit und Übersichtlichkeit getan wird. Andererseits darf der Bearbeiter die Frage, ob der Tatbestand des Diebstahls bereits durch das Handeln vor dem Eintritt des Defektzustandes erfüllt ist, nicht umgehen. Dieses Aufbauproblem ist folgendermaßen zu lösen: Zunächst sollte der Bearbeiter den Diebstahl der Juwelen während des Defektzustandes bis zu der Feststellung hin erörtern, daß § 20 StGB eingreift64. Dann ist die Frage einer möglichen Ausnahme von § 20 StGB anzuschneiden und im Rahmen dieser Fragestellung ist als erstes darauf hinzuweisen, daß die These vertreten wird, der Tatbestand des Diebstahls werde bereits durch das Sich-Betrinken erfüllt. Diese These erweist sich jedoch mit den oben vorgetragenen Gründen als ein nicht gangbarer Weg zur Umgehung des mit dem Stichwort „Ausnahme von § 20 StGB" gestellten Problems. Das sollte der Bearbeiter darlegen, und erst danach sollte er auf die übrigen Fragen eingehen, die eine Ausnahme von der Regel des § 20 StGB aufwirft. 63 64
Es ging dort zwar nicht um §20 StGB, wohl aber um §21 StGB. Siehe oben S. 38 f.
46
Kapitel I
Vorläufiger Abbruch der Lösung: Die Frage, ob eine Ausnahme von der Regel des § 20 für Fall 11 zu machen ist oder nicht, kann in diesem Kapitel jedoch noch nicht abschließend beantwortet werden. Das wird erst unten in Kapitel IV geschehen. An dieser Stelle seien nur noch zwei Punkte angesprochen, die logisch unabhängig voneinander sind und deshalb weder miteinander vermischt noch gar miteinander verwechselt werden sollten. Es handelt sich um die folgenden beiden Fragen: 1. Ist es denkmöglich, eine Ausnahme von § 20 StGB zu machen? 2. Ware es positiv-rechtlich zulässig, eine Ausnahme zu machen?
Zu Frage 1: An der Denkmöglichkeit einer Ausnahme besteht kein Zweifel. Es ist kein Zufall, daß ausländische Strafgesetzbücher, beispielsweise das Schweizer StGB von 1937 eine derartige Ausnahme vorsehen. Art. 12 des Schweizer StGB lautet: „Die Bestimmungen der Art. 10 und 11" - diese Bestimmungen entsprechen § 20 und § 21 des deutschen StGB - „sind nicht anwendbar, wenn die schwere Störung des Bewußtseins vom Täter selbst in der Absicht herbeigeführt wurde, in diesem Zustand die strafbare Handlung zu verüben."
Auch in Deutschland hat es entsprechende Vorschriften gegeben, beispielsweise Art. 97 Abs. 3 des Strafgesetzbuchs für das Königreich Württemberg von 1839. Die Vorschrift lautete: „Die Straflosigkeit fällt weg, wenn sich der Täter in den Zustand der vorübergehenden Sinnenverwirrung durch Trunk oder andere Mittel absichtlich versetzt hatte, um in demselben ein im zurechnungsfähigen Zustande beschlossenes Verbrechen auszuführen, oder wenn er jenen Zustand durch Fahrläßigkeit herbeigeführt, und während desselben eine rechtswidrige Handlung begangen hat, bei welcher nach diesem Gesetzbuche auch die Fahrläßigkeit zu bestrafen ist."
Schließlich enthält auch der bereits erwähnte § 35 Abs. 1 Satz 2 des geltenden StGB eine Ausnahme, die der hier in Rede stehenden Ausnahme entspricht. Denn nach § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB greift die Regel des § 35 Abs. 1 Satz 1 StGB über den entschuldigenden Notstand ausnahmsweise (vgl. die Worte: „Dies gilt nicht, . . . " ) nicht ein, wenn der Täter die Notstandsgefahr „selbst verursacht hat". Dabei ist kein Grund ersichtlich, warum nicht für § 20 StGB mutatis mutandis dasselbe gelten könnte wie für § 35 Abs. 1 Satz 1 StGB, warum es also eine Ausnahme von § 20 StGB nicht geben sollte. Daß das heutige deutsche StGB eine dem Art. 12 SchwStGB und dem Art. 97 Abs. 3 des Württ. StGB von 1839 entsprechende Ausnahmebestimmung nicht enthält, beruht nicht etwa auf höherer Einsicht, sondern auf der merkwürdig falschen Annahme des preußischen Justizministers v. Savigny im Jahre 1847, daß es die Probleme, die Fall 11 in bezug auf § 20 StGB aufwirft,
Fall 11
47
gar nicht geben könne 65 - eine Annahme, die durch Fall 11 und seine Probleme schlagend widerlegt wird. Diese Annahme Savignys hat dazu geführt, daß das preußische StGB von 1851 eine Bestimmung, die dem Art. 12 des heutigen Schweizer StGB oder dem Art. 97 Abs. 3 des Württembergischen StGB von 1839 entspricht, nicht mehr kannte. Deshalb wurde auch in das Reichsstrafgesetzbuch von 1871 keine entsprechende Vorschrift aufgenommen, und das wirkt bis heute nach. Ein schönes Beispiel dafür, welche Folgen ein Irrtum haben kann. 2 » Frage 2: Damit stellt sich die Frage nach der positiv-rechtlichen Zulässigkeit einer Ausnahme von § 20 StGB - und das heißt, es stellt sich ein angesichts des Art. 103 Abs. 2 GG und des § 1 StGB in der Tat heikles Problem. Auch die Existenz des § 323 a StGB spricht gegen eine Ausnahme, weil § 323 a StGB offensichtlich einen Ersatz für die fehlende Ausnahme bieten soll. Der heutige Diskussionsstand ist der folgende: Entweder man geht davon aus, daß angesichts der zitierten gewichtigen Vorschriften eine Ausnahme von § 20 StGB nicht gemacht werden darf. Oder aber man nimmt an, daß eine Ausnahme deswegen gemacht werden darf, weil Art. 103 Abs. 2 GG und § 1 StGB nur für die Tatbestände des Besonderen Teils und des Nebenstrafrechts gelten, also den ohnehin fragmentarischen Allgemeinen Teil nicht berühren, und weil darüber hinaus die Rechtsprechung - schon das RG - seit langer Zeit Täter wie den des Falles 11 in Anwendung des im Defektznstand erfüllten Tatbestandes bestrafen, weshalb von einer gewohnheitsrechtlich geltenden Ausnahme von § 20 StGB auszugehen ist. 65
Savigny sagte in der entscheidenden Ausschußsitzung folgendes: „Nehme man an, daß Jemand ein Verbrechen beabsichtige, und sich durch Trunk in einen völlig bewußtlosen Zustand versetze, um dann das Verbrechen zu begehen, so sei dies ein offenbarer Widerspruch. Habe er völlig das Bewußtsein verloren, sei er völlig unzurechnungsfähig, so könne er auch nicht mehr die früher beabsichtigte Handlung in Folge des früheren Entschlusses vollziehen, welches vorausgesetzt werden müßte. Sei er aber nicht in diesem Zustande völliger Bewußtlosigkeit, sondern nur im Zustande der Aufregung, so werde er der Zurechnung nicht entgehen, und dann sei auch keine besondere Ausnahme nothwendig; dann werde er vom Richter bestraft werden" (vgl. Goltdammer, Die Materialien zum Straf-Gesetzbuche für die Preußischen Staaten, Theil I 1851, S. 353). Savigny hat hier offensichtlich die auf der Ebene der Tatbestandsmäßigkeit der Handlung liegende Schwierigkeit, die eine völlige Bewußtlosigkeit aufwirft, mit der auf der ganz anderen Ebene der Zurechnung zur Schuld liegenden Frage verwechselt, was geschehen soll, wenn sich der Täter nicht in völlige Bewußtlosigkeit versetzt, sondern seine Fähigkeit beseitigt, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln (§ 20 StGB; der Sache nach genauso aber auch schon § 51 StGB in der Fassung von 1933).
48
Kapitel I
Die Entscheidung darüber soll hier offen gelassen werden; an anderer Stelle habe ich für eine gewohnheitsrechtlich geltende Ausnahme von § 20 StGB plädiert 66 . Die Frage von Zulässigkeit oder Unzulässigkeit einer Ausnahme ist, so sehr sie heute praktisch relevant sein mag, durchaus eine zufallsbedingte Nebenfrage, und das rechtfertigt es, sie in einem Buch wie diesem offen zu lassen, dem es in erster Linie um die Genauigkeit des Denkens geht. Sie ist deswegen eine zufallsbedingte bloße Nebenfrage, weil der deutsche Gesetzgeber morgen eine Ausnahme von § 20 StGB auch gesetzlich festlegen könnte, wenn er wollte. Wie schnell sich das ändern kann, was im Gesetz steht, haben wir am Beispiel des Ubergangs von § 52 StGB a. F. zum heutigen § 35 StGB gesehen. Die Überlegungen zu Fall 11 können aber, wenn sie stringent sein sollen, nicht von dem Zufall abhängen, ob § 20 StGB eine gesetzliche Ausnahme vorsieht oder nicht. Deshalb besteht zur Zeit die folgende Alternative: Hält man eine Ausnahme von der Regel des § 20 StGB nicht für zulässig, dann kann A, wie wir gesehen haben, nicht wegen Diebstahls für schuldig gehalten werden. Hält man eine Ausnahme dagegen - wenigstens grundsätzlich für zulässig, dann müssen weitere Überlegungen angestellt werden. Diese weiteren Überlegungen sind nicht solche mehr vordergründigen wie die Überlegungen zur Denkmöglichkeit und zur positiv-rechtlichen Zulässigkeit einer Ausnahme, sondern sie betreffen die viel gewichtigere strukturtheoretische Frage, ob und, wenn ja, in welchen Grenzen eine Ausnahme überhaupt gemacht werden sollte. Diese Frage läßt sich nicht für Fall 11 isoliert beantworten und muß deshalb bis zum Kapitel IV zurückgestellt werden 67 .
Zwischenbemerkung Der in der strafrechtlichen Literatur der Gegenwart bewanderte Leser mag sich darüber gewundert haben, daß bei der bisherigen Besprechung des Falles 11 der Ausdruck „actio libera in causa" nirgends aufgetaucht ist. Das ist mit Bedacht geschehen. Nicht selten besteht nämlich die Meinung, Fälle von der Art des Falles 11 seien einfach damit zu „lösen", daß vorgetragen wird, es liege eine „actio libera in causa" vor (oder: es liege keine „actio libera in causa" vor). Man beschränkt sich darauf, die 66
67
In meinen Beiträgen in JuS 68, 554 ff. und in der Schweizer ZStrR 90 (1974), 48 ff. Vgl. unten die Erörterung des Falles 2 in Kapitel IV (S. 291 ff.) und die Lösung des obigen Falles 11 auf S. 386. - Auf § 123 StGB und auf §243 StGB ist hier nicht einzugehen, weil diese Bestimmungen für den weiteren Gedankengang des Kapitels I uninteressant sind. Der Bearbeiter einer Klausur- oder Hausarbeit muß diese Vorschriften selbstverständlich behandeln.
Zwischenbemerkung
49
Fälle unter den mehr oder weniger genau bestimmten „Begriff der actio libera in causa" zu subsumieren, und nimmt an, damit alles Erforderliche getan zu haben 68 . Aber mit solcher Subsumtion ist nichts geschehen und nichts gewonnen. Denn „actio libera in causa" ist nichts weiter als ein lateinischer Ausdruck, den die Strafrechtler des ausgehenden 18. und beginnenden 19.Jahrhunderts der Praktischen Philosophie ihrer Zeit entlehnt haben, um die Handlungen zu bezeichnen, die, obzwar freie Handlungen (actiones liberae), doch nicht an sich selbst frei (nicht actiones liberae in se) sind, sondern nur in ihrer Ursache freie Handlungen (eben actiones liberae in causa)69. In der Gegenwart wird der Ausdruck zwar gelegentlich zu einer „Rechtsfigur" hochstilisiert, und nicht selten werden die „Grundsätze der actio libera in causa" beschworen 691 . Doch nützt es nichts, von einer „Rechtsfigur" zu sprechen, da es völlig unklar bleibt, was damit eigentlich gesagt sein soll; und die angeblichen „Grundsätze der actio libera in causa" gibt es gar nicht. Denn wenn es sie gäbe, dann müßten sie irgendwo niedergeschrieben sein. Aber nirgends ist eine Liste zu finden, in der stünde, was diese „Grundsätze" eigentlich besagen sollen, geschweige denn, daß irgendwo ihre Geltung dargelegt wäre. Statt dessen hat sich der semantische Sinn des Ausdrucks verflüchtigt, d . h . er wird in der Regel schlicht nicht mehr verstanden. Kein Zufall, daß der Ausdruck nicht selten als Schlagwort oder als Zauberwort gebraucht wird, mit dessen Hilfe eine Lösung der Probleme nicht eigentlich durchgeführt, sondern vorgetäuscht wird. Die „actio libera in causa" ist zu einem strafrechtlichen Mythos geworden, dessen Entmythologisierung schon lange fällig ist. Die Aufgabe, die Fall 11 stellte, bestand u. a. auch darin, sich diesem Mythos von der „actio libera in causa" zu entziehen und die Beschwörungsformel zu vermeiden: „Es ist doch ganz klar, daß der Täter sich eines Diebstahls schuldig gemacht hat. Es handelt sich um eine actio libera in causa!"70 Die Beschwörungsformel, die bei der Lösung des folgenden Falles 12 vermieden werden sollte, sei vorweg mitgeteilt. Sie lautet: „Es ist doch ganz klar, daß der Täter sich eines Hausfriedensbruchs schuldig gemacht hat. Es handelt sich um eine actio illicita in causa!" Der Ausdruck „actio illicita in causa" ist eine Parallelbildung zu dem Ausdruck „actio libera in 68
69
Auch BGHSt. 21, 381 und BayObLG M D R 55, 247 (zu § 5 2 StGB a.F.) begnügen sich damit, ihre jeweiligen Fälle in mehr oder weniger langen Ausführungen dem Begriff der „actio libera in causa" zuzuordnen.
Zur Geschichte und zum semantischen Sinn des Ausdrucks „actio libera in causa" siehe unten S. 343 ff. 69a Vgl. auch BGHSt. 21, 381. 70 Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auf den Beitrag von Otto, Jura 86, 426 ff., der sich dem Mißbrauch der Formel ebenfalls entgegenstellt und die mit ihr verbundenen Probleme ausführlich darstellt.
50
Kapitel I
causa", die erst in diesem Jahrhundert entstanden ist 71 . Auch der Ausdruck „actio illicita in causa" ist nichts weiter als eine Abfolge lateinischer Wörter und keine „Rechtsfigur", und die gelegentlich beschworenen „Grundsätze der actio illicita in causa" sind nirgends aufgelistet. Jede logisch-analytisch saubere Fall-Lösung kann ohne den Ausdruck auskommen, und sie sollte ihn auch vermeiden, um nicht einmal den Anschein zu erwecken, der Ausdruck werde als Zauberwort benutzt.
Fall 12: Simultaneitätsprinzip und Rechtswidrigkeit (ein actio-illicita-in-caus a-Fall ?) Der Klempner Κ war von dem Wohnungsinhaber W beauftragt worden, in einer der oberen Wohnungen eines Mietshauses eine Wasserleitung zu reparieren. Er erfüllte den Auftrag am Montag, jedoch nicht sachgerecht. Deshalb sah er sich später - am Donnerstag - veranlaßt, trotz der Abwesenheit des W, der inzwischen für mehrere Wochen mit unbekanntem Ziel in Urlaub gefahren war, die Wohnung erneut zu betreten, um die Wasserleitung erneut zu reparieren und dadurch die darunterliegenden Wohnungen vor schweren Wasserschäden zu bewahren. Dabei sei vorausgesetzt, daß Κ bereits am Montag während der schlecht durchgeführten Arbeiten an der Wasserleitung erkannt hat, er werde die Wohnung in Abwesenheit des W wieder betreten müssen. Hinweis zum Aufbau der Lösung: Wieder sind zwei Geschehensabschnitte zu unterscheiden, und wieder ist das eine Konsequenz aus dem Simultaneitätsprinzip für die Methode der Fall-Lösung, wobei es diesmal um die Frage der Koinzidenz von Erfüllung des objektiven Tatbestandes und Rechtswidrigkeit des Handelns geht. Die Zäsur ist daher zwischen
den beiden „Besuchen " des Κ in der Wohnung des W zu machen. Wieder
ist es zweckmäßig, mit dem zweiten Abschnitt zu beginnen, weil allein hier der Tatbestand der ersten Alternative des § 1 2 3 Abs. 1 S t G B erfüllt sein kann.
Bei allen Fällen, die mit Hausfriedensbruch zu tun haben, ist darauf zu achten, daß § 1 2 3 Abs. 1 StGB zwei höchst verschiedene Alternativen enthält: 1. das Eindringen in eine fremde Wohnung, 2. das Sich-nicht-Entfernen. Die beiden Alternativen sind stets sorgfältig auseinanderzuhalten. Hier kommt nur die erste Alternative in Betracht.
Zur Lösung: Hat sich Α dadurch des Hausfriedensbruchs (§ 123 Abs. 1 S t G B erste Alternative) schuldig gemacht, daß er am Donnerstag die Wohnung des W betreten hat? 71
Zur Geschichte und zum semantischen Sinn des Ausdrucks „actio illicita in causa" siehe unten S. 381 ff.
Fall 12
51
Der objektive Tatbestand des § 123 Abs. 1 StGB - erste Alternative ist erfüllt. Κ hat die Wohnung des W und also Räume betreten, die von § 1 2 3 StGB geschützt werden. Er ist auch im Sinne des § 123 StGB „eingedrungen". Denn „Eindringen" bedeutet, die Wohnung ohne den Willen des Hausrechtsinhabers betreten 72 , und Κ hat die Wohnung des W betreten, ohne daß dieser seine Zustimmung erteilt hätte73. Auch der subjektive Tatbestand ist erfüllt. Vor allem war es Κ bekannt, daß der abwesende W seine Zustimmung zum Betreten der Wohnung nicht erteilt hatte. Die Tat könnte jedoch aus § 34 StGB gerechtfertigt sein. Es bestand die Gefahr einer Überflutung der unteren Wohnungen und also eine Gefahr für das Eigentum an dem Mietshaus und für das Eigentum und den Besitz der tiefer wohnenden Mieter. Diese Gefahr ist die offensichtliche Gefahr, die freilich auch durch ein Zudrehen des Haupthahns für das ganze Haus hätte abgewendet werden können. Das letztere hätte allerdings zur Folge gehabt, daß die übrigen Mieter für mehrere Wochen - bis zur Rückkehr des W aus dem Urlaub - kein fließendes Wasser in den Wohnungen gehabt hätten. Diese Gefahr des Wassermangels ist die weniger offensichtliche Gefahr. Man wird jedenfalls sagen können, daß die Gefahr einer Alternative bestand: Entweder wären die Wohnungen überflutet oder die Hausbewohner wären für mehrere Wochen von der Wasserversorgung abgeschnitten worden. Diese Gefahrenalternative war auch gegenwärtig, weil entweder die Überflutung oder völliger Wassermangel ohne alsbaldige Abwehrmaßnahmen sehr wahrscheinlich waren; und die Gefahrenalternative konnte auch nicht anders als durch das Betreten der Wohnung des W zum Zwecke der Reparatur der Wasserleitung abgewendet werden. Damit kommt es auf die Interessenabwägung an. Die geschützten Interessen sind die Interessen des Hauseigentümers und der Mieter der unteren Wohnungen an ihrem Eigentum und Besitz beziehungsweise alternativ dazu - die Interessen der Hausbewohner an einer funktionierenden Wasserleitung. Das beeinträchtigte Interesse ist das Interesse des W an der Wahrung seines Hausrechts. Nach den heutigen Wertvorstellungen wird man sagen müssen, daß die geschützten Interessen das beeinträchtigte Interesse wesentlich überwiegen. 72
73
So die - auf Schröder zurückgehende - Definition bei Rudolphi in: Systematischer Kommentar zum StGB, Band II (Lfg. Sept. 1986), 13 zu § 123, die gegenüber der von der h. M. angenommenen Definition den Vorzug größerer Klarheit hat. Auch von einer mutmaßlichen Einwilligung des W kann nicht ohne weiteres die Rede sein. - Zum Rechtfertigungsgrund der mutmaßlichen Einwilligung siehe S. 147 f. und S. 171 ff.
52
Kapitel I
Die Notstandssituation ist allerdings, genau genommen, eine Defensivnotstandssituation. Denn die Notstandsgefahr - Überflutung oder Wassermangel kommt gerade aus der Wohnung des W, also aus der Interessensphäre, in die zur Abwendung der Gefahr eingegriffen werden muß. Das ist nützlich festzustellen, weil in einer Z)e/e«5wnotstandssituation, wenn die sonstigen Voraussetzungen erfüllt sind, die Notstandstat stets gerechtfertigt ist, es sei denn, daß das beeinträchtigte Interesse das geschützte Interesse wesentlich überwiegt. Das wird unten in Kapitel II gezeigt werden und ist hier vor allem dann von Belang, wenn eingewendet wird, es sei nicht der Fall, daß die bedrohten Interessen des Hauseigentümers und der Mitmieter das Interesse des W an der Wahrung seines Hausrechts wesentlich überwiegen.
Κ kannte auch die Notstandslage und die Interessen, die sich gegenüberstanden. Daraus ergibt sich die Konsequenz, daß die Tat als gerechtfertigt angesehen werden muß. Hinweis zur Methode: Wieder einmal greift das Simultaneitätsprinzip ein: Κ hat am Donnerstag zwar einen Hausfriedensbruch begangen, aber die Tat war zu diesem Zeitpunkt nicht rechtswidrig, weil der Rechtfertigungstatbestand des § 34 StGB erfüllt ist. Das könnte nur dann anders sein, wenn eine Ausnahme von der Regel des § 34 StGB zu machen wäre. Doch bevor diese Frage aufgeworfen werden kann, ist die Frage zu stellen, ob Κ am Montag den Tatbestand der ersten Alternative des § 123 Abs. 1 StGB dadurch erfüllt hat, daß er die Wasserleitung unzureichend reparierte. Die Frage ist zwar bei unbefangenem Urteil ähnlich merkwürdig wie die entsprechende Frage zu Fall 11, bei der es darum ging, ob man durch die Konsumierung von Schnaps einen Juwelendiebstahl begehen könne. Es gibt jedoch Stimmen, nach welchen der Tatbestand, den der Täter in der Situation eines rechtfertigenden Notstands verwirklicht, bereits durch die Herbeiführung jener Situation erfüllt sein soll - gleichgültig, um welchen Tatbestand es sich dabei handelt. Deshalb muß die Frage hier besprochen werden. Der Sinn der Frage ist klar. Da der Täter vor dem Eintritt der Notstandssituation eben noch nicht in der Notstandssituation handelt, kann der Rechtfertigungstatbestand des § 34 StGB noch nicht eingreifen. Es ist also das Simultaneitätsprinzip, das hier wirksam wird. Denn nach dem Simultaneitätsprinzip kann von einer Straftat semantisch sinnvoll nur dann gesprochen werden, wenn ein Deliktstatbestand verwirklicht wird, ohne daß gleichzeitig auch ein Rechtfertigungstatbestand erfüllt ist. Zur Lösung: Hat sich Κ dadurch eines Hausfriedensbruchs schuldig gemacht, daß er die Wasserleitung am Montag schlecht reparierte? Die Frage ist mit „nein" zu beantworten; der objektive Tatbestand der ersten Alternative des § 123 Abs. 1 StGB ist nicht erfüllt.
Fall 12
53
Zunächst einmal ist der Tatbestand nicht erfüllt, wenn man die Schlechterfüllung des Reparaturvertrags für sich allein betrachtet. Denn das nicht sachgerechte Flicken einer Wasserleitung ist kein „Eindringen", und gesetzt, es könnte wenigstens als „Verursachung" des späteren Eindringens genommen werden, so ist die „Verursachung" eines Eindringens in § 123 StGB doch nicht unter Strafe gestellt. Darüber hinaus ist der Tatbestand auch dann nicht erfüllt, wenn man die Schlechterfüllung des Reparaturvertrages am Montag und den gerechtfertigten - Hausfriedensbruch am Donnerstag zu einer „Sinneinheit" zusammenzieht. Denn jede Kumulation der beiden Akte des Κ zu einer „Sinneinheit" verlangt, daß diese Akte als Handlungen - oder als Teile einer Handlung - genommen werden, beim zweiten Akt aber handelt Κ vorausgesetztermaßen nicht rechtswidrig. Deshalb verletzt die Kumulation das Simultaneitätsprinzip. Der Unterschied zwischen Fall 12 auf der einen und den Fällen 8 und 11 auf der anderen Seite besteht zunächst einmal darin, daß sich bei Fall 8 die Frage stellte, ob die Täterin ihr Opfer durch das Würgen ertränkt und damit den objektiven Tatbestand des § 212 StGB erfüllt hat, und bei Fall 11 die Frage, ob der Täter durch das Leeren der Schnapsflasche die Juwelen weggenommen und damit den objektiven Tatbestand des § 242 StGB erfüllt hat, während es bei Fall 12 um die Frage geht, ob der Täter
durch die mangelhafte
Reparatur der Wasserleitung in die Wohnung des
W eingedrungen ist und damit den objektiven Tatbestand des § 123 StGB erfüllt hat. Darüber hinaus wird bei Fall 8 das Problem dadurch aufgeworfen, daß das zweifelsfreie Ertränken zu dem späteren Zeitpunkt zweifelsfrei unvorsätzlich geschah, und bei Fall 11 dadurch, daß die zweifelsfreie Wegnahme der Juwelen zu dem späteren Zeitpunkt zweifelsfrei im Defektzustand des § 20 StGB passierte, während bei Fall 12 das Problem dadurch entsteht, daß die zweifelsfreie Erfüllung des objektiven Tatbestandes des § 123 StGB zu dem späteren Zeitpunkt zweifelsfrei in einer Notstandslage des § 34 StGB erfolgt ist. Die sonstigen Unterschiede sind von vornherein irrelevant. Die zu den Fällen 8 und 11 angestellten Überlegungen brauchen deshalb nur entsprechend abgewandelt zu werden, um auf Fall 12 anwendbar zu sein. Für die Einzelheiten wird daher auf die Lösungen der Fälle 8 und 11 verwiesen 74 .
74
Oben S. 28 ff. und S. 40 ff. - Ein besonders grober Fehler wäre es, darauf zu verweisen, daß Κ ja bereits am Montag die Wohnung betreten hat und daß der gesuchte Hausfriedensbruch zu diesem Zeitpunkt begangen worden sei. Denn abgesehen davon, daß W den Κ freiwillig in die Wohnung gelassen, ja, ihn gebeten hatte zu kommen, und schon aus diesem Grunde in dem Verhalten am Montag kein „Eindringen" gesehen werden kann, fehlt es auch an dem notwendigen Sachzusammenhang zwischen dem Betreten der Wohnung am Montag und
54
Kapitel I
Zwischenüberlegung und Hinweis zum Aufbau der Lösung: Nach den bisherigen Überlegungen kann Κ wegen Hausfriedensbruchs nicht bestraft werden. Eine dem § 323 a StGB entsprechende Vorschrift für die Herbeiführung rechtfertigender Notstandssituationen gibt es nicht (sie wäre auch grob verfehlt). Trotzdem haben die Gerichte den Notstandstäter in Fällen von der Art des Falles 12 verurteilt 75 . Ein solches Urteil ließe sich nach dem Vorangegangenen jedoch nur dann zureichend begründen, wenn man eine entsprechende Ausnahme von der Regel des $ 34 StGB akzeptiert. Deshalb ist nunmehr zu dem Handeln des Κ am Donnerstag zurückzukehren. Die Aufbauprobleme sind hier für den Bearbeiter dieselben wie bei Fall 11. Auf die dortige Bemerkung dazu kann deshalb verwiesen werden 76 .
Vorläufiger Abbruch der Lösung: Ähnlich wie bei Fall 11 kann die Frage, ob eine Ausnahme von der Regel des § 34 StGB zu machen ist oder nicht, an dieser Stelle nicht abschließend beantwortet werden. Das kann erst im Zusammenhang des Kapitels IV geschehen. Wieder sind nur zwei Punkte vorweg zu erörtern. 1. An der Denkmöglichkeit einer Ausnahme ist nicht zu zweifeln. Art. 34 Nummer 1 Abs. 1 des Schweizer StGB von 1937, der mit § 34 des deutschen StGB in einer gewissen Hinsicht zusammengestellt werden kann, sieht mit den Worten „... wenn die Gefahr vom Täter nicht verschuldet ist . . . " eine vergleichbare Ausnahme sogar ausdrücklich vor. Die Vorschrift lautet: „Die Tat, die jemand begeht, um sein Gut, namentlich Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Vermögen, aus einer unmittelbaren, nicht anders abwendbaren Gefahr zu erretten, ist straflos, wenn die Gefahr vom Täter nicht verschuldet ist und ihm den Umständen nach nicht zugemutet werden konnte, das gefährdete Gut preiszugeben."
In der deutschen Rechtsgeschichte wird man eine entsprechende Ausnahmeregelung zwar nicht finden. Doch liegt das daran, daß der Notstand als strafrechtlicher Rechtfertigungsgrund überhaupt erst in diesem Jahrhundert entwickelt worden ist. Für die als Rechtfertigungsgrund weit länger bekannte Notwehr hat es in der deutschen Rechtsgeschichte dagegen entsprechende Ausnahmevorschriften gegeben. So lautete beispielsweise Art. 79 des Criminalgesetzbuchs für das Königreich Hannover von 1840, soweit er hier interessiert, wie folgt:
75 76
der Erfüllung des Tatbestandes der ersten Alternative des § 123 Abs. 1 StGB am Donnerstag. Ein solcher Sachzusammenhang könnte bestenfalls zwischen der Schlechtreparatur und der Tat am Donnerstag gesehen werden. Vgl. etwa BayObLG JR 79, 124. Oben S.45.
Zwischenbemerkung
55
„Bei jeder Ausübung der Nothwehr wird jedoch vorausgesetzt, daß der Angegriffene nicht selbst den Angreifenden mit böslichem Vorsatze zum Angriffe gereizt habe, . . . "
Auf das heutige Recht angewendet, sähe die Bestimmung also eine Ausnahme von § 32 StGB vor. Die Beispiele verweisen auf die Denkmöglichkeit einer Ausnahme, und es ist auch sonst kein Grund dafür ersichtlich, warum eine Ausnahme von der Regel des § 34 StGB denkunmöglich sein sollte. 2. Bei der Frage, ob eine Ausnahme zulässig ist, stellen sich ähnliche Probleme wie bei der Frage der Zulässigkeit einer Ausnahme von § 20 StGB. Auch hier geht es um Art. 103 Abs. 2 G G und § 1 StGB, und auch hier wird ähnlich argumentiert werden-müssen wie bei § 20 StGB. Auch hier mag die Entscheidung darüber offen bleiben. Sie mag sich sogar erübrigen, wenn Überlegungen zu der eigentlich entscheidenden Frage angestellt werden, ob und, wenn ja, in welchen Grenzen eine Ausnahme von der Regel des § 34 StGB überhaupt gemacht werden sollte. Da sich diese Frage für Fall 12 aber nicht isoliert beantworten läßt, muß sie bis zum Kapitel IV zurückgestellt werden 77 .
Zwischenbemerkung Es gibt kaum ein Lehrbuch oder einen Kommentar zum Strafrecht, in dem nicht ausdrücklich auf den „dolus" antecedens und den „dolus" subsequens hingewiesen und gesagt wird, daß es sich bei beiden Erscheinungen nicht um einen Tatvorsatz im technischen Sinn des Wortes handele. Dagegen wird im heutigen Schrifttum praktisch nie darauf verwiesen, daß es genauso, wie es einen „dolus" antecedens gibt, auch ein der Tat vorangehendes Vermögen des Täters, seiner Unrechtseinsicht gemäß zu handeln, und eine der Tat vorangehende Rechtswidrigkeit geben kann. Und es wird praktisch nie darauf verwiesen, daß genauso, wie ein „dolus" subsequens denkbar ist, auch ein nachträgliches Vermögen des Täters, seiner Unrechtseinsicht gemäß zu handeln, und eine nachträgliche Rechtswidrigkeit denkbar sind. Infolgedessen wird praktisch nie festgestellt, daß ein vorangehendes oder nachträgliches Vermögen, der Unrechtseinsicht gemäß zu handeln, und eine vorangehende oder nachträgliche Rechtswidrigkeit kein für die Tat relevantes Vermögen und keine für die Tat relevante Rechtswidrigkeit sind, und zwar aus mutatis mutandis denselben Gründen nicht, kraft deren ein „dolus" antecedens
77
Vgl. unten die Erörterung des Falles 7 in Kapitel IV (S. 356 ff.) und die Lösung des obigen Falles 12 auf S. 383 f.
56
Kapitel I
und ein „dolus" subsequens kein Tatvorsatz sind771. Deshalb wird bei den immer wieder vorkommenden Fällen von der Art des Falles 11 und des Falles 12 in der Regel nicht einmal die Möglichkeit erwogen, es könnten dies Fälle eines bloß vorangehenden Vermögens des Täters, seiner Unrechtseinsicht gemäß zu handeln, beziehungsweise Fälle einer bloß vorangehenden Rechtswidrigkeit sein. Die immer wiederkehrenden Versuche, die Tatbestandsmäßigkeit der Handlung auf den Zeitpunkt vor dem Eintritt des Defektzustandes beziehungsweise auf den Zeitpunkt vor dem Eintritt der Rechtfertigungslage vorzuverlegen, muten im Gegenteil eher als Versuche an, ein der Tat vorangehendes Vermögen des Täters, seiner Unrechtseinsicht gemäß zu handeln, und eine vorangehende Rechtswidrigkeit doch als relevantes Vermögen beziehungsweise als relevante Rechtswidrigkeit zu erweisen - Versuche, die dem Versuch ähnelten (wenn er gemacht würde), den „dolus antecedens" allen Bedenken zum Trotz doch als relevanten Tatvorsatz hinzustellen. Demgegenüber ist bei den Fällen 11 und 12 gezeigt worden, daß es entweder bei der Straflosigkeit der Täter wegen Diebstahls beziehungsweise wegen Hausfriedensbruchs bleibt, oder daß, wenn das vermieden werden soll, eine Ausnahme von den Regeln des § 20 beziehungsweise des § 34 StGB gemacht werden muß. N u r solche Ausnahmen wären mit dem Simultaneitätsprinzip vereinbar. Wird nämlich eine Ausnahme von § 20 StGB gemacht, dann ist es - wie man in doppelter Negation sagen müßte - nicht der Fall, daß der Täter, soweit die Ausnahme reicht, „bei Begehung der Tat" „ohne Schuld" (vgl. § 2 0 StGB) handelt. M . a . W . : Gerade das Handeln „bei Begehung der Tat" muß ihm zur Schuld zugerechnet werden. Und wird eine Ausnahme von § 34 StGB gemacht, dann ist es für den Zeitpunkt, an dem der Täter „die Tat begeht" (vgl. § 34 StGB), nicht der Fall, daß er dabei „nicht rechtswidrig handelt" (vgl. wieder § 3 4 StGB). M . a . W . : Gerade das tatbestandsmäßige Handeln ist als rechtswidrig zu betrachten. Schwierigkeiten mit dem Simultaneitätsprinzip und mit der Ausnahmeproblematik ergeben sich aber nicht nur bei den Fällen, die heute mit den Etiketten „actio libera in causa" und „actio illicita in causa" belegt zu werden pflegen, sondern auch bei Fällen anderer Art, die einerseits leicht übersehen werden können, andererseits aber auch nicht selten mit den Fällen von der Art des Falles 11 in einen Topf geworfen werden.
771
Immerhin hat jetzt der BGH in BGHSt. 33, 172, 176 ausgeführt, daß später eintretende Umstände eine zum Zeitpunkt ihrer Begehung rechtmäßige Tat nicht nachträglich zu einer rechtswidrigen Tat machen können. „Anderenfalls würde der Täter für etwas bestraft, was er tun durfte." Dem kann man nur zustimmen! Darüber hinaus ist es freilich auch nötig, die oben im Text (und überhaupt in diesem Kapitel) aufgezeigten Zusammenhänge zu sehen.
Fall 13
57
Fall 13: Simultaneitätsprinzip und Handlungsfähigkeit (ein omissio-libera-in-causa-Fall) Bademeister Β feiert am Sonntag seinen Geburtstag, indem er sich betrinkt. Weil er weiß, daß er am Montag Dienst tun muß, geht er dann zwar zeitig ins Bett, kann aber des genossenen Alkohols wegen nur schlecht schlafen und ist am Montag verkatert und übermüdet. Trotzdem begibt er sich pflichtgemäß in die Badeanstalt und tritt seinen Dienst an; es war ihm nicht gelungen, eine Aushilfskraft herbeizutelefonieren. Schon am Vormittag ereignet sich dann folgendes: Das Kind Κ und der Erwachsene Ε sind gleichzeitig vom Tode des Ertrinkens bedroht. Κ befindet sich in der Nähe des Ufers in relativ seichtem Wasser, Ε weiter draußen an einer tieferen Stelle des Sees. In dieser Situation watet Β zu dem Kind und rettet es, während Ε ertrinkt. Das tut B, weil er erkennt, daß er wegen des konsumierten Alkohols, der seine Bewegungsmöglichkeiten stark herabgesetzt hat, gar nicht in der Lage ist, so schnell zu Ε zu schwimmen, wie das zu seiner Rettung nötig wäre. Ohne den Alkoholgenuß am Sonntag hätte er den Ε dagegen ohne weiteres retten können. Allerdings liegen die Dinge auch so, daß Β sogar bei voller Gesundheit nur entweder Κ oder Ε hätte retten können; und Β ist sowieso der Auffassung, daß in Fällen dieser Art Kinder zuerst gerettet werden müssen.
Hinweis zum Aufbau der Lösung: Fall 13 wirft gewisse Schwierigkeiten auf, die möglicherweise nicht auf den ersten Blick zu durchschauen sind. Wer die Probleme nicht auf den ersten Blick durchschaut, wende sich am besten zunächst den weiteren Kapiteln, insbesondere Kapitel II und Kapitel IV, zu, um dann zu Fall 13 zurückzukehren. - Wieder ist jedenfalls - wie bei den vorangegangenen Fällen - zwischen zwei Geschehensabschnitten zu unterscheiden, und wieder ist das eine Konsequenz aus dem Simultaneitätsprinzip. Freilich geht es diesmal nicht - jedenfalls nicht in erster Linie - um das Prinzip, daß die Verbrechensmerkmale gleichzeitig erfüllt sein müssen, sondern um ein anderes Anwendungsgebiet des Simultaneitätsprinzips. Das wird weiter unten zu formulieren sein. Vorläufig läßt sich jedenfalls sagen, daß die entscheidende Zäsur zwischen dem Verhalten des Β am Sonntag und seinem Verhalten am Montag zu machen ist. Dabei ist das Verhalten des Β am Montag zuerst zu erörtern. Zur Losung: Hat sich Β dadurch, daß er Ε nicht vom Tode des Ertrinkens errettete, eines Totschlags durch Unterlassen (§§ 212, 13 StGB) schuldig gemacht?
58
Kapitel I
Β ist als diensttuender Bademeister Garant - Obhutsgarant - für das Leben des E. Er hat also im Sinne des § 13 „rechtlich dafür einzustehen", daß der T o d des Ε „nicht eintritt". D i e Frage ist allerdings, o b Β es im genauen Sinn des Wortes unterlassen hat, den Ε z u retten. D a s ist indessen nicht der Fall, w i e sich aus der folgenden Ü b e r l e g u n g ergibt: Im Strafrecht gilt der Satz „impossibilium nulla obligatio est" - „ z u m U n m ö g l i c h e n ist niemand verpflichtet" 7 8 . A u s diesem Satz ist abzuleiten, daß von der Unterlassung einer gebotenen H a n d l u n g - hier: der Rettung des Ε - nur dann die Rede sein kann, w e n n der virtuell Pflichtige in der Lage ist, die H a n d l u n g v o r z u n e h m e n . N u r wer die Handlung, um die es geht, vornehmen kann, kann sie auch unterlassen79. Wer sich in Frankfurt am Main aufhält, unterläßt es deshalb nicht, einen Ertrinkenden zu retten, der in die Donau gefallen ist. Ein Automechaniker oder Verwaltungsbeamter unterläßt es nicht, eine „an sich" gebotene lebensrettende Operation vorzunehmen, weil er den Beruf des Chirurgen nicht gelernt hat. Ein Ausländer, der die deutsche Sprache nicht beherrscht, unterläßt es nicht, per Telefon Hilfe herbeizuholen, wenn sich am anderen Ende der Leitung ebenfalls bedauerliche Mängel an Fremdsprachenkenntnissen offenbaren. N u n ist aber Β w e g e n seines Katers und seiner Ü b e r m ü d u n g nach Lage der D i n g e nicht imstande, den Ε z u retten. Daraus folgt - jedenfalls zunächst einmal - , daß Β die Rettung des Ε gar nicht unterlassen hat. D a s aber heißt: Schon der objektive Tatbestand des Totschlags durch U n t e r lassen ist nicht erfüllt. Es ist nützlich, sich bereits an dieser Stelle den Unterschied zwischen Fällen dieser Art und den Fällen klar zu machen, die von § 20 StGB erfaßt werden. Im Fall 13 ist Β schon gar nicht in der Lage, die gebotene Handlung vorzunehmen. Das berührt die Tatbestandsmäßigkeit seines Verhaltens. § 20 StGB regelt dagegen den folgenden Fall: Ein Bademeister X ist trotz genossenen Alkohols durchaus in der Lage, einen Ertrinkenden Ε zu retten. Er tut das bewußt nicht, weil er Ε nicht leiden kann, und begeht deshalb, wenn die übrigen Voraussetzungen erfüllt sind, einen Totschlag durch Unterlassen. Greifen auch keine Rechtfertigungsgründe ein, dann kann es doch sein, daß X zwar das Unrecht seines Verhaltens einsieht, wegen des Alkoholkonsums aber nicht - wie es in § 20 StGB heißt - in der Lage ist, gemäß seiner Unrecbtseinsicht zu handeln. Die Tatbestandsmäßigkeit seines Verhaltens steht hier außer Frage; statt dessen ist die Schuld des Täters tangiert. Die Problematik dieses Unterschieds wird in Kapitel IV wieder aufgegriffen werden 80 .
78
79
80
Der klassische Satz „impossibilium nulla obligatio est" stammt von Celsus D. 50.17.185. - Das heute nicht selten benutzte Rechtssprichwort „ultra posse nemo obligatur" - „über sein Können hinaus ist niemand verpflichtet" enthält eine mehr volkstümliche Wiedergabe des klassischen Gedankens. Uber den Ableitungszusammenhang vgl. meinen Beitrag in: Aus dem Hamburger Rechtsleben (Festschrift für W.Reimers), 1979, S.459ff. Vgl. bereits die Vorbemerkung zu Kapitel IV auf S. 274 ff.
Fall 13
59
Hinweis zur Methode: Von der bisherigen Lösung, nach der Β es schon nicht unterlassen hat, den Ε zu retten, kann man nur dann abweichen, wenn eine Ausnahme von der Regel zu machen wäre, kraft deren die Zurechnung einer Untätigkeit als Unterlassung stets die Möglichkeit und das Vermögen zur Vornahme der gebotenen Handlung voraussetzt. Dieser Gedanke wird unten weiter zu verfolgen sein. Zuvor ist jedoch, ähnlich wie bei den vorangegangenen Fällen, die Frage zu stellen, ob Β den Tatbestand des Totschlags durch Unterlassen nicht etwa schon am Sonntag erfüllt hat. Das ist notwendig, weil entsprechende Lehren in der Literatur vertreten werden. Zur Lösung: Hat Β dadurch einen Totschlag durch Unterlassen begangen, daß er am Sonntag größere Mengen Alkohols konsumierte? Das ist nicht der Fall; denn Β hat am Sonntag schon den objektiven Tatbestand der §§ 212, 13 S t G B nicht erfüllt. Das zeigt die folgende Überlegung: Die Strafgesetze stellen generell die Verletzung von Rechtspflichten unter Strafe. Zwar steht in den Strafvorschriften in der Regel nichts von „Pflichtverletzung", doch setzen alle Vorschriften das Bestehen solcher Pflichten voraus. So setzt der Tatbestand des Totschlags (durch Begehen) - § 212 StGB - die Pflicht voraus, die Tötung anderer Menschen zu unterlassen: „Du sollst nicht töten!"; und der Tatbestand des § 154 StGB setzt die Pflicht voraus, Meineide zu unterlassen: „Du sollst nicht falsch schwören!" 8 1 . Die Tatbestände der Begehungsdelikte setzen mithin Unterlassungspflichten voraus. Die Tatbestände der Unterlassungsdelikte dagegen setzen Pflichten zur Vornahme der jeweils gebotenen Handlung 82 („Handlungspflichten") voraus . Auch der Tatbestand des Totschlags durch Unterlassen setzt eine Handlungspflicht voraus. Das ist im Falle 13 die Pflicht des B, das Leben des Ε zu retten. Nun ist es aber so, daß die Pflicht, das Leben des Ε zu retten, am Sonntag jedenfalls noch nicht
81
Dem kann nicht entgegnet werden, daß es denkbar sei, etwa vom Standpunkt eines Moralsystems her, das Bestehen solcher Pflichten zu leugnen. Denn es geht hier allein um eine system immanente Voraussetzung der Strafvorschriften. Diese Voraussetzung zeigt sich, wenn man von ein und demselben Standpunkt aus (das ist hier der Standpunkt des positiven Rechts) und gewissermaßen im selben Atemzuge sagen würde: „Eine Rechtspflicht, die Tötung anderer zu unterlassen, besteht nicht; aber wer andere tötet, soll wegen einer rechtswidrigen Handlung bestraft werden!" Da das ein Selbstwiderspruch wäre, setzen die Straftatbestände entsprechende Rechtspflichten voraus.
82
Zum Verhältnis „Unterlassungspflicht/Begehungsdelikt" und zum Verhältnis „Handlungspflicht/Unterlassungsdelikt" siehe auch unten S. 91.
60
Kapitel I
bestand83. Denn die Pflicht, das Leben eines Menschen zu retten, kann immer nur dann bestehen, wenn das Leben dieses Menschen in Gefahr ist. Am Sonntag aber war das Leben des Ε noch nicht in Gefahr. Am Sonntag hat Ε auf seinem Sofa gelegen und einen Kriminalroman gelesen, und er hat in noch keiner Weise daran gedacht, daß er am Montag baden gehen werde. Das führt zu dem folgenden Schluß: Wenn die Pflicht, das Leben des Ε zu retten, am Sonntag noch nicht bestanden hat, dann hat Β diese seine Rettungspflicht am Sonntag auch noch nicht verletzen können. Das aber wiederum heißt: Β hat es am Sonntag nicht unterlassen, seiner Rettungspflicht nachzukommen und den Ε zu retten. Diese - entscheidende - Überlegung ist eine Konsequenz aus dem Simultaneitätsprinzip. Eine Pflicht kann immer nur dann verletzt werden, wenn sie besteht. Sie kann nicht verletzt werden, wenn sie noch nicht besteht, genausowenig wie sie verletzt werden kann, wenn sie nicht mehr besteht. Das Bestehen einer Pflicht und die Verletzung dieser Pflicht müssen zeitlich zusammenfallen, andernfalls von „Pflichtverletzung", von „Unterlassen der Pflichterfüllung" semantisch sinnvoll nicht die Rede sein kann. Dem steht nicht entgegen, daß Β am Sonntag fraglos die Obliegenheit verletzt hat, sich nicht zu betrinken. Denn so sehr diese Obliegenheit mit seinen Pflichten als Bademeister auch zusammenhängen mag - und sie hängt in der Tat eng damit zusammen - , so ist sie doch mit der Rettungspflicht nicht identisch, sie ist eben etwas anderes als die Pflicht, den Ε zu retten (nämlich die Obliegenheit, sich nicht mit der Wirkung von Kater und Übermüdung zu betrinken). In §§ 212, 13 StGB aber ist die Verletzung der Pflicht unter Strafe gestellt, den gefährdeten Ε zu retten, und nicht die Verletzung der Obliegenheit, sich nicht zu betrinken84. Darüber hinaus kann man auch nicht damit argumentieren, daß das Tun des Β am Sonntag für den Tod des Ε am Montag „kausal" geworden sei. Dabei können die grundsätzlichen Bedenken gegen die keineswegs unzweifelhafte Verwendung der Kategorie der „Kausalität" in Fällen, bei denen es wie hier um eine Untätigkeit geht, durchaus zurückgestellt werden: Es sei also um der Argumentation willen akzeptiert, daß ein Täter dann für den Tod eines ertrinkenden Ε „kausal" wird, wenn er beispielsweise den rettungswilligen R mit Gewalt von der Rettung des Ε abhält und Ε andernfalls gerettet worden wäre. Denn selbst unter dieser Voraussetzung ist Β am Sonntag für den Tod des Ε am Montag nicht „kausal" geworden. Die Annahme von „Kausalität" würde nämlich min83
84
Vielleicht besteht die Rettungspflicht, wenn man von dem Satz „impossibilium nulla obligatio est" einmal versuchsweise absieht, am Montag vormittag. Am Sonntag besteht diese Pflicht jedenfalls noch nicht. Näher dazu der - parallele - Fall 3 des Kapitels IV (unten S. 304 ff. und S. 335 ff.)
Fall 13
61
destens das eine voraussetzen: Daß Β am Montag willens gewesen wäre, den Ε zu retten85. Nun steht aber keineswegs fest, daß Β selbst dann, wenn er in der Lage gewesen wäre, den Ε zu retten, dazu auch willens gewesen wäre. Das gilt für jeden Fall, besonders aber für Fall 13, bei dem Β auch bei normaler Leistungsfähigkeit in der Entscheidungssituation gestanden hätte, ob er nun Κ oder Ε retten soll. Der Sachverhalt sagt hierzu ausdrücklich, daß Β auch bei voller Gesundheit nur entweder Κ oder Ε hätte retten können und daß Β sowieso der Meinung ist, Kinder müßten zuerst gerettet werden. Damit steht im Fall 13 sogar fest, daß das Trinken am Sonntag für den Tod des Ε nicht „kausal" geworden ist. Abgesehen davon, hätte die Annahme, Β habe den Tatbestand des Totschlags durch Unterlassen schon am Sonntag erfüllt, die merkwürdige Konsequenz, daß der angebliche Totschlag durch Unterlassen durch die Vornahme von Handlungen (nämlich durch das aktuelle Trinken) begangen worden und also als Begehungstat anzusehen wäre. Dagegen läßt sich nicht einwenden, daß es „Unterlassungsdelikte durch Begehen" eben gebe. Denn das wäre nichts anderes als eine der Begründung bedürftige Behauptung, die a priori, d. h. ohne Begründung, aufgestellt würde. Alle diese Einwände sind nicht nur in sich selbst unstimmig, sie würden vor allem zu einem immanenten Wertungswiderspruch im Strafrecht führen. Fall 13 ist nämlich mit dem Fall zu vergleichen, bei dem sich Β bei voller Leistungsfähigkeit vor die Frage gestellt sieht, ob er Κ oder Ε retten soll, und die Situation trotz der guten Gesundheit des Β so beschaffen ist, daß er nur einen von beiden retten kann. Wenn Β hier das Kind rettet, während Ε ertrinkt, dann hat Β zwar den objektiven und den subjektiven Tatbestand der §§ 212, 13 StGB erfüllt86, aber die Unterlassungstat ist nicht rechtswidrig, weil Β in der Situation alles getan hat, was er tun und was von ihm verlangt werden konnte. Das folgt aus dem Rechtfertigungsgrund der Pflichtenkollision, der besagt, daß bei der Kollision zweier gleichwertiger Handlungspflichten (das ist die Situation, in der eine der beiden gleichwertigen Pflichten notwendig verletzt werden muß) eine Unterlassungstat dann nicht rechtswidrig ist, wenn der Unterlassungstäter eine der beiden kollidierenden Pflichten erfüllt, gleichgültig welche von ihnen. Im Fall 13 aber könnte dieser Rechtfertigungsgrund nicht angewendet werden, wenn bereits das Sich-Betrinken am Sonntag die entscheidende Tat wäre. Denn am Sonntag bestand noch gar keine Pflichtenkollisionssituation. Fall 13 aber muß im Ergebnis genauso entschieden werden wie der Vergleichsfall, weil Β in der konkreten Situation, 85
86
Wenn jemand in einer Variante des soeben gebrachten Beispiels den nicht rettungswilligen Ν mit Gewalt festgehalten hätte, dann wäre er nicht für den Tod des Ε „kausal" geworden. Denn die Rettung des Ε wäre ihm möglich gewesen!
62
Kapitel I
als er - leistungsfähig oder nicht - auf jeden Fall nur Κ oder Ε retten konnte, das Kind Κ gerettet und damit alles getan hat, was von ihm verlangt werden konnte. In dieser Lage könnte man noch auf den Gedanken kommen, die Handlung des Sich-Betrinkens am Sonntag und die Untätigkeit am Montag zu einer „Sinneinheit" zusammenzuziehen, um die vermeintliche Tatbestandserfüllung durch das SichBetrinken am Sonntag doch durch die erst am Montag eingetretene Pflichtenkollision rechtfertigen zu können. Doch führt auch eine solche Zusammenziehung nicht weiter. Denn abgesehen davon, daß es hier besonders unklar wäre, wie eine derartige „Sinneinheit" über die bloße Verwendung dieser Vokabel hinaus eigentlich gedacht werden soll, enthielte die Zusammenziehung einen eklatanten Verstoß gegen das Simultaneitätsprinzip. Denn Sich-Betrinken und Kollisionslage fallen nun einmal nicht zeitlich zusammen. Die in diesem Kapitel immer wieder angestellten Überlegungen greifen auch hier ein; auf ihre Wiederholung sei deshalb verzichtet.
Zwischenüberlegung: Der Versuch, die tatbestandsmäßige Handlung auf den Sonntag vorzuverlegen, führt also in eine Sackgasse. Die Annahme, Β habe im Fall 13 den Tatbestand des Totschlags durch Unterlassen erfüllt, läßt sich daher nur dann zureichend begründen, wenn man eine Ausnahme von der Regel akzeptiert, daß der Unterlassungstäter bei der Untätigkeit in der Lage sein muß, die gebotene Handlung vorzunehmen. Es bedarf wohl keiner langen Darlegungen dazu, daß hierin jedenfalls ein Problem steckt, und es wäre sehr kurzsichtig auszurufen: „Es ist doch ganz klar, daß Β wegen der Kollisionslage nicht bestraft werden kann!" Denn es sind viele analoge Fälle denkbar, bei denen ein Rechtfertigungsgrund nicht eingreifen würde, nicht zuletzt Fall 13 selbst, wenn man die Kollisionslage am Montag wegläßt. Ein weiteres Beispiel: Der Schiffschirurg C muß eine lebensrettende Operation vornehmen, die auf 11 Uhr angesetzt ist. Während die Vorbereitungen noch in vollem Gange sind, wirft C um 9 Uhr sein Operationsbesteck ins Meer87. Infolgedessen kann C die Operation um 11 Uhr nicht mehr durchführen. Der Patient stirbt. Deshalb ist auch für Fall 13 zur Untätigkeit am Montag zurückzukehren. Denn es geht nicht darum, daß Β „evidentermaßen" nicht strafbar ist, sondern darum, wie die Straflosigkeit argumentativ einwandfrei zu begründen wäre - und zwar so zu begründen, daß die Begründung angemessene Implikationen auch für die Lösung des Falles mit dem Schiffschirurgen offen läßt. Die Möglichkeit einer Ausnahme wird heute zum Strafrecht so gut wie nicht erörtert. Dabei ist das Problem alt und schon lange bekannt. Man muß nur über die engen Grenzen des Strafrechts hinaussehen. 87
Oder für den, dem das nicht gefällt: C verletzt sich an der Hand (vgl. unten Fall 3 des Kapitels IV auf S.304f.).
Fall 13
63
So ist beispielsweise für die Moraltheologie der Fall denkbar, daß ein Kleriker sein Brevier ins Meer wirft, wodurch er sich der Möglichkeit beraubt, sein tägliches Breviergebet zu verrichten. Dabei ist vorauszusetzen, daß Kleriker zum täglichen Breviergebet verpflichtet sind und eine Verfehlung begehen, wenn sie dies unterlassen. Der Fall, den man nicht bloß deswegen ignorieren sollte, weil er „nicht ins Strafrecht gehört", oder gar, weil er als „überholt" deklariert wird, zeigt dieselbe Struktur wie der Fall des Schiffschirurgen, und es stellen sich genau dieselben Probleme. Es ist interessant, festzustellen, daß er bereits in der Moraltheologie des 17. Jahrhunderts erörtert wurde und daß dabei auch die Möglichkeit einer Ausnahme von der Regel angenommen worden ist, wonach die Annahme einer Unterlassung die Möglichkeit zur Vornahme der gebotenen Handlung voraussetzt 88 .
Vorläufiger Abbruch der Lösung: Allerdings muß die Frage, ob in dem bezeichneten Sinn eine Ausnahme zu machen ist oder nicht, wieder auf das Kapitel IV verschoben werden 89 . Von den hier allein noch anzusprechenden Fragen der Denkmöglichkeit und der positiv-rechtlichen Zulässigkeit einer Ausnahme, wirft die zweite kaum Probleme auf, weil der Unterlassungsbegriff im Gesetz nirgends definiert ist, weshalb Art. 103 Abs. 2 G G und § 1 StGB nicht als tangiert angesehen werden können. Das ist anders bei der Frage nach der Denkmöglichkeit einer Ausnahme. Bei den Fällen 11 und 12 hat die Frage nach der Denkmöglichkeit einer Ausnahme von der Regel des § 20 StGB oder des § 34 StGB im Grunde keine Schwierigkeiten bereitet. Aber hier bestehen Schwierigkeiten deshalb, weil der Satz „impossibilium nulla obligatio est" Geltung auch für die Fälle beansprucht, bei denen die Unmöglichkeit zur Vornahme der gebotenen Handlung von dem virtuell Pflichtigen selbst zu verantworten ist. Das liegt daran, daß der Grundsatz „impossibilium nulla obligatio est" unabdingbar ist. Das heißt: O h n e einen Selbstwiderspruch können wir in keinem Fall das Gegenteil jenes Grundsatzes annehmen 90 . Wird, wie gelegentlich im Zivilrecht - etwa in § 280 BGB trotzdem (scheinbar) das Gegenteil des Grundsatzes angenommen, so haben diese Annahmen den Charakter von Fiktionen, an die nicht der Anspruch auf Leistung, sondern nur der Anspruch auf Schadensersatz angeknüpft werden kann.
88
89
90
Vgl. den um 1650 verfaßten, auch sonst interessanten Tractatus XIII (De Vitiis et Peccatis) des Collegii Salmanticensis Cursus Theologicus (Band 7 der Pariser Ausgabe von 1877, S. 104 ff.). Siehe auch Antoine, Theologia Moralis Universa, Pars I (Ausgabe von 1760), S. 109. Vgl. unten die Erörterung des Falles 3 in Kapitel IV (S. 304 ff. und S. 335 ff.) und die Lösung des obigen Falles auf S. 384 ff. Vgl. dazu meinen in Fn. 79 zitierten Beitrag.
64
Kapitel I
Für die hier betrachtete Problematik hat das die Konsequenz, daß unter keinen Umständen und also auch nicht im Falle einer dem Untätigen zuzurechnenden Unmöglichkeit, die gebotene Handlung vorzunehmen, von einer „Unterlassung" im genauen Sinne des Wortes gesprochen werden kann. Denn der Begriff der „Unterlassung" hängt von der Geltung des Grundsatzes „impossibilium nulla obligatio est" ab 91 . Doch liegt die Auflösung der Schwierigkeit und damit die Denkmöglichkeit einer Ausnahme darin, daß der Untätige die gebotene Handlung zwar auch im Falle selbstverschuldeter Unmöglichkeit nicht unterläßt, daß er aber in
diesem Falle so behandelt werden kann, als ob er die gebotene Handlung unterlassen habe. Das hat zwar den Charakter einer Fiktion, bietet aber eine geeignete und in sich konsistente Anknüpfungsmöglichkeit für die Zurechnung der Untätigkeit. Eine solche Lösung allein würde auch eine konsequente Bearbeitung des Falles 13 ermöglichen, die nicht zu immanenten Wertungswidersprüchen im System des Strafrechts führt. Denn die Annahme eines - sei es auch fingierten - Unterlassens der Rettung des Ε am Montag vormittag gestattet die Anwendung der Regeln über die rechtfertigende Pflichtenkollision auf genau dieses Unterlassen und damit eine Rechtfertigung des B 9 2 . Doch ist das schon ein Vorgriff auf das Thema des Kapitels IV 9 3 .
Schlußbemerkung zu Kapitel I Fassen wir die Überlegungen des Kapitels I noch einmal zusammen: Das Simultaneitätsprinzip ist ein Prinzip rationaler Rede, das auch in der Rechtslehre nur bei Strafe der Irrationalität des Geredeten vernachlässigt werden kann. Es führt im Strafrecht zu im Grunde völlig trivialen Feststellungen: Daß unter der Voraussetzung der Definition „Totschlag ist die vorsätzliche Erfüllung des objektiven Tatbestandes des § 212 S t G B " die Erfüllung des objektiven Tatbestandes des § 212 StGB und der Tötungsvorsatz zeitlich zusammenfallen müssen, andernfalls von einem „Totschlag" semantisch sinnvoll nicht die Rede sein kann. Daß unter der Voraussetzung der Definition, nach der eine Straftat die objektiv und subjektiv deliktstatbestandsmäßige, rechtswidrige und zur Schuld zure91
92
93
Siehe meinen soeben zitierten Beitrag. - Man wende nicht ein, daß man den Ausdruck „Unterlassung" dann eben anders definieren könne und müsse. Denn die Probleme bleiben genau dieselben, auch wenn das Wort „Unterlassung" durch eine Definition dazu ungeeignet gemacht wird, mit seiner Hilfe die Probleme zu artikulieren. Vgl. zu dem Fall auch meinen Beitrag in der Festschrift für Bockelmann, 1979, S. 421 ff. Die Lösung des Falles setzt eine Durcharbeitung des gesamten Kapitels IV voraus.
Schlußbemerkung
65
chenbare Vornahme oder Unterlassung einer Handlung ist, die Erfüllung jedes dieser Merkmale mit der Erfüllung jedes anderen Merkmals zeitlich zusammentreffen muß, andernfalls wir nicht sinnvoll von einer „Straftat" sprechen können. Daß unter der Voraussetzung der Feststellung, wonach im Strafrecht allein die Verletzung von Rechtspflichten unter Strafe gestellt ist, die Annahme einer Straftat und die Annahme der Verletzung einer Rechtspflicht sich auf denselben Vorgang oder dieselbe Untätigkeit zum selben Zeitpunkt beziehen müssen, andernfalls der Vorgang oder die Untätigkeit nicht rationalerweise als eine „Straftat" angesprochen werden können. Auch das Referenzprinzip ist ein Prinzip rationaler Rede, dessen Verletzung in der Rechtslehre genauso wie anderswo zur Irrationalität des Geredeten führt. Wir haben das Referenzprinzip gerade für die Definition der Straftat als einer deliktstatbestandsmäßigen, rechtswidrigen und zur Schuld zurechenbaren Vornahme oder Unterlassung einer Handlung durchgeführt, in bezug auf welche Definition es besagt, daß die Erfüllung jedes der dabei verwendeten Merkmale nicht nur mit der Erfüllung jedes anderen Merkmals zeitlich zusammentreffen muß, sondern daß darüber hinaus die Erfüllung jedes Merkmals auch auf die Erfüllung jedes anderen Merkmals bezogen sein muß, andernfalls von einer „Straftat" nicht die Rede sein kann. Es würde nichts bringen, gegenüber diesen Prinzipien und ihrer Anwendung den „normativ-wertenden Charakter" strafrechtlicher Entscheidungen anzusprechen, um mit Hilfe dieses Topos den - ohnehin meistens nur vermeintlich - „unbilligen" Ergebnissen einer Anwendung jener Prinzipien zu entgehen. Es ist in keiner Wissenschaft und auch sonst in keinem Feld, in dem menschliche Rede mit dem Anspruch auf Rationalität antritt, logisch zulässig oder semantisch einwandfrei möglich, bei gleichzeitigem äußerlichen Festhalten an den gegebenen Definitionen und Voraussetzungen doch das Simultaneitäts- und Referenzprinzip nicht zu berücksichtigen. Denn das bedeutete stets, an der jeweiligen Definition oder Voraussetzung festhalten und sie gleichzeitig aufgeben und also einen offenkundigen Selbstwiderspruch begehen. In der heutigen Strafrechtslehre ist es die Vorverlegungsdoktrin, die unter teilweise höchst verschiedenen Namen und Titeln - den Versuch macht, die Konsequenzen insbesondere des Simultaneitätsprinzips zu umgehen. Wir haben die Vorverlegungsdoktrin vor allem bei der Erörterung der Fälle 11, 12 und 13 kennengelernt. Als „Vorverlegungsdoktrin" wird hier und im folgenden 94 das Unternehmen bezeichnet, bei Fall 11 den Diebstahl auf einen Zeitpunkt vorzuverlegen, bei dem es nicht so ist,
94
Insbesondere in Kapitel IV.
66
Kapitel I
daß § 20 StGB eingreift, bei Fall 12 den Hausfriedensbruch auf einen Zeitpunkt vorzuverlegen, bei dem es nicht so ist, daß § 34 StGB eingreift, und bei Fall 13 den Totschlag durch Unterlassen auf einen Zeitpunkt vorzuverlegen, an dem Β noch gut und schnell schwimmen konnte. Uberhaupt soll im folgenden „Vorverlegungsdoktrin" jeder Versuch heißen, die objektive Erfüllung des jeweils in Rede stehenden Deliktstatbestands für einen früheren Zeitpunkt zu behaupten, weil die zweifelsfreie spätere Erfüllung des Deliktstatbestands wegen des Fehlens eines oder mehrerer anderer verbrechenskonstitutiver Merkmale nicht bestraft werden kann. Auch für Fall 8 läuft die von der Rechtsprechung und einem Teil der Strafrechtslehre aufgestellte Behauptung, der objektive Tatbestand des Totschlags durch Begehen sei bereits durch die ersten Akte der Täterin (das Würgen usw.) erfüllt, auf eine Vorverlegungsthese hinaus, weil die Behauptung die Annahme impliziert, die Täterin habe zu diesem frühen Zeitpunkt ihr Opfer ertränkt - was man allein deswegen so haben möchte, weil das zweifelsfreie Ertränken zu dem späteren Zeitpunkt unvorsätzlich geschehen ist. Die Fälle 11, 12 und 13 sind so gewählt, daß bei ihnen der der Vorverlegungsdoktrin anhaftende Mangel besonders deutlich wird; es ist besonders deutlich, daß das Leeren einer Schnapsflasche keine Wegnahme von Juwelen ist, daß die Schlechtreparatur einer Wasserleitung nicht als „Eindringen in eine Wohnung" bezeichnet werden kann und daß eine exzessive Geburtstagsfeier keine Tötung durch Unterlassen enthält, wenn sich der später zu Rettende noch gar nicht in Lebensgefahr befindet. Freilich werden diese offenkundigen Fälle heute häufig nicht beachtet, sondern statt dessen nicht selten nur solche Beispiele herangezogen, bei denen eine oberflächliche Anwendung der Kausalitätskategorie die Vorverlegungsdoktrin zu begünstigen scheint, etwa der bekannte Schulfall, bei dem sich jemand Mut antrinkt, um dann dem vorgefaßten Plan gemäß seinen Feind im Vollrausch zu erschießen. Da die Vorverlegungsdoktrin bei den Fällen 11, 12 und 13 falsch ist, spricht der erste Anschein ohnehin dafür, daß sie auch für diesen Schulfall falsch ist. In der Tat: Niemand behauptet heute „theoretisch", daß ein Non-Stop-Entlang-Laufen längs der Kausalreihe, die schließlich den Tod des Opfers bewirkt hat, immer wieder zu Akten führt, die den objektiven Tatbestand des Totschlags erfüllen; der Vater des späteren Mörders hat mit der Zeugung den Totschlagstatbestand anerkanntermaßen nicht erfüllt. Aber in praxi wird diese Erkenntnis häufig nur dann verwertet, wenn das sog. Ergebnis dem Wertfühlen des jeweiligen Urteilers als „billig" erscheint. Auch in dem genannten Schulfall beruft man sich in der Regel auf den - wirklichen oder vermeintlichen - Kausalzusammenhang zwischen dem Leeren der Flasche und dem späteren Tod des Opfers - wenn man sich nicht gar bloß mit dem Schlagwort von der „actio libera in causa" begnügt - und glaubt,
Schlußbemerkung
67
damit alles zur Begründung Erforderliche getan zu haben. Doch wenn der Kausalzusammenhang „theoretisch" nicht genügt, dann genügt er eben auch in praxi nicht, und die Beschränkung der Begründung auf den Kausalzusammenhang gerät zu kurz mit der Folge, daß dann die angebliche Begründung, weil unschlüssig, überhaupt keine Begründung mehr ist, die diesen Namen verdient. Statt dessen wird es erforderlich, das zusätzliche Kriterium zu suchen, das dem überstürzten Eilmarsch des Kausalisten zurück ins Unendliche ein Stop-Schild entgegensetzt. Dieses Kriterium ist hier mit dem Ausdruck „objektiver Finalzusammenhang zwischen Akt und Erfolg" bezeichnet worden, das der Totschlagshandlung als solcher erst die notwendigen Konturen gibt, weil es fordert, daß die Handlung objektiv bereits die Richtung auf den herbeizuführenden Erfolg einschlägt, daß sie bereits den Einsati eines objektiv tauglichen Mittels zur Herbeiführung jenes Erfolges enthält, was man von der Herbeiführung des Vollrausches eben nicht sagen kann. Daß dies nicht etwa bloß ein Kunstgriff ist, ergibt sich, wie schon bei Fall 8 und etwa bei Fall 11, daraus, daß die Annahme des Gegenteils in eine Alternative von Sinnlosigkeit führt: Wenn schon das Sich-Betrinken (in Verbindung mit dem späteren Tod des Opfers) den objektiven Tatbestand des Totschlags erfüllen soll, dann impliziert das entweder die Annahme, daß der Täter sein Opfer zweimal getötet hat (nämlich erst durch das Sich-Betrinken und dann durch die Abgabe des Schusses während des Vollrausches), oder aber die Annahme einer „Sinneinheit" des Sich-Betrinkens und des späteren Todesschusses, während welcher „Sinneinheit" der Täter freilich nicht stets defektfrei handelt. Das erstere aber ist absurd, und das zweite führt bei Fortgeltung der Voraussetzung, daß jede Straftat zur Schuld zurechenbar sein muß, zu einer Verletzung des Simultaneitätsprinzips und damit direkt in einen Selbstwiderspruch des Urteilers hinein95. Wie man sieht, läßt sich die Vorverlegungsdoktrin nicht einmal für den Spitzenkandidaten unter den einschlägigen Fällen durchhalten. Es ist schon lange Zeit, sie endlich aufzugeben und durch eine nüchterne Analyse zu ersetzen.
95
Die Begründung entspricht den oben zu Fall 8 (S. 28 ff.) und zu Fall 11 (S. 40 ff.) gegebenen Begründungen und braucht deshalb hier nicht wiederholt zu werden.
KAPITEL II
Fälle zu den Befugnissen und zu den Pflichten in Notstandssituationen Wenn das Wort „Notstand" im strafrechtlichen Schrifttum gebraucht wird, dann denkt der heutige Leser - abgesehen vom entschuldigenden Notstand des § 35 StGB - in der Regel an § 34 StGB und an §§ 228, 904 BGB als an Vorschriften, aus denen sich Recbtfertigungsgründe für die dort jeweils beschriebenen Notstandseingriffe ergeben. Daß diese Vorschriften auch Verpflicbtungsgründe entweder ausdrücklich formulieren (§ 904 BGB: „Der Eigentümer einer Sache ist nicht berechtigt, . . . z u verbieten..."!) oder wenigstens implizieren, wird kaum erkannt oder dringt jedenfalls nicht an die Oberfläche des Bewußtseins. Dabei gibt es wichtige Fälle, bei denen die Strafbarkeit des Täters letztlich daraus resultiert, daß er die aus § 34 StGB, §§ 228, 904 BGB folgenden Pflichten verletzt hat. Darüber hinaus enthält das StGB eine ganze Reihe von Vorschriften, die die Verletzung von Pflichten in Notstandssituationen ausdrücklich mit Strafe bedrohen. Von ihnen ist § 323 c StGB die insoweit deutlichste. Doch sind etwa auch die Pflichten, deren Verletzung nach den Bestimmungen des Besonderen Teils in Verbindung mit § 13 StGB mit Strafe bedroht sind, sehr häufig Pflichten in Notstandssituationen. Es geht bei den folgenden Fällen darum, das System der strafausschließenden Befugnisse und der strafbewehrten Pflichten in Notstandssituationen zu durchschauen; ein System, das einen beachtlichen Teil des deutschen Strafrechts bestimmt. Vorausgesetzt wird freilich, daß es sich dabei überhaupt um ein „System", d.h. um ein logisch und von der Wertung her konsistentes Gebilde von Regeln handelt. Doch ist das eine Voraussetzung, die bei einer rationalen Anwendung des Strafrechts gemacht werden muß. Denn mit einem in sich widersprüchlichen Gebilde von Regeln ließe sich jedes beliebige „Ergebnis" erzielen, d. h. es bliebe dann alles dem bloßen Belieben des Urteilers überlassen.
Fallgruppe 1: Zur Aggressivnotstandsbefugnis des § 34 StGB Fall 1 a : X hat beim Baden in einem S e e einen Wadenkrampf bekommen und ist im Begriff, zu ertrinken. Α eilt zu einem fremden Bootsschuppen und sprengt das Schloß auf. Es gelingt ihm, den X mit dem Boot zu retten.
Fallgruppe 1
69
Fall 1 b : Das Spielzeugschiff des Kindes X ist im Begriff, in der Mitte eines S e e s z u versinken. Wenn es versinkt, wird es völlig vernichtet werden. Α eilt zu einem fremden Bootsschuppen und sprengt das Schloß auf. Es gelingt ihm, das Spielzeug mit dem Boot zu retten. Es geht in beiden Fällen um die Frage, ob Α sich wegen Sachbeschädigung strafbar gemacht hat.
Erörterung des Falles 1 a Zur Lösung: Der objektive Tatbestand des § 303 StGB ist dadurch erfüllt, daß Α das Schloß des Schuppens aufgesprengt hat. Auch der subjektive Tatbestand ist erfüllt: Α wußte, daß er das Schloß beschädigte. Die Tat könnte jedoch aus § 34 StGB gerechtfertigt sein. Da X im Begriff war, zu ertrinken, befand er sich in einer gegenwärtigen Gefahr für sein Leben. Es ist nach dem geschilderten Sachverhalt auch davon auszugehen, daß diese Lebensgefahr nur so, wie tatsächlich geschehen, abgewendet werden konnte 1 . Α handelte demnach in einer Notstandssituation des § 34 Satz 1 StGB. Zwar geht es bei der Rettung des X nicht um ein eigenes Rechtsgut des A, sondern um ein für Α fremdes Interesse. Doch kann auch das Tätigwerden zugunsten fremder Interessen nach § 34 StGB gerechtfertigt sein (§ 34 Satz 1 StGB: „ . . . u m die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, ..."). Hinweis zum Aufbau der Lösung: In einer solchen Notstandssituation ist der Notstandseingriff - das ist hier vor allem die Beschädigung des Schlosses - nur dann gerechtfertigt, wenn, wie es im Gesetz heißt, „bei Abwägung der widerstreitenden Interessen das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt". Diese Abwägung hat der Urteiler (der Richter) vorzunehmen. Um dies tun zu können, bedarf es zunächst einmal der Feststellung, was im konkreten Fall das geschützte und was das beeinträchtigte Interesse ist. Erst dann, wenn das feststeht, kann die Abwägung vorgenommen werden. Die Abwägung besteht dann in zwei Wertentscheidungen. Der Urteiler hat die Frage zu entscheiden, ob das geschützte Interesse das beeinträchtigte Interesse überwiegt, also diesem gegenüber höherwertig ist. Verneint er das, dann ist die Tat nicht aus Notstandsgesichtspunkten gerechtfertigt. Entscheidet der Urteiler dagegen, daß das geschützte Interesse das höherwertige ist, dann muß er die weitere Frage stellen, ob das geschützte Interesse das beeinträchtigte Interesse nur schlicht überwiegt oder ob das Uberwiegen als ein wesentliches Überwiegen angesehen werden kann. Bei einem nur schlichten 1
Wäre die Gefahr anders abwendbar, dann würde der Sachverhalt Hinweise dafür liefern.
70
Kapitel II
Überwiegen ist die Tat wiederum nicht aus Notstandsgesichtspunkten im Sinne des § 34 StGB gerechtfertigt. Nur dann, wenn der Urteiler sich zur Annahme eines wesentlichen Uberwiegens des geschützten über das beeinträchtigte Interesse entschließen kann, kann die Notstandstat aus § 34 StGB gerechtfertigt sein. Kriterien, die die zu fällenden Wertentscheidungen erleichtern, gibt es allerdings so gut wie keine. Ein Richter wird sich an die ungeschriebenen Regeln der Sozialethik halten müssen, die freilich im allgemeinen auch sehr vage sind. Hier stößt die logisch-analytische Betrachtung an ihre Grenzen 2 . Nach der Feststellung, daß alle objektiven Voraussetzungen einer Rechtfertigung vorliegen, ist weiter zu fragen3, ob auch die subjektiven Bedingungen der Rechtfertigung nach § 34 StGB erfüllt sind. Hat der Notstandstäter die Situation und die Tatsachen gekannt, um die es bei der Interessenabwägung geht? Ist das der Fall, dann ist die Notstandstat gerechtfertigt. Nur bei oberflächlichem Zusehen fordert § 34 Satz 1 StGB mit der Klausel „ . . . u m die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden...,, mehr. Zwar ist nicht zu leugnen, daß der Notstandstäter „mit Rettungswillen" tätig werden muß. Doch ergibt sich dieser Rettungswille bereits aus der Kenntnis der Notstandslage und dem Rettungshandeln: Wer in einer ihm bekannten Gefahrensituation eine Rettungsaktion vornimmt, handelt stets, „um die Gefahr abzuwenden" 4 . Weiter zur Lösung des Falles 1 a: Bei der Rettungsaktion des Α geht es um das Interesse des X an seinem Leben als dem geschützten Interesse einerseits und um das Interesse des Eigentümers des Bootsschuppens an der weiteren Funktionstauglichkeit des Schlosses - und überhaupt an der Unberührtheit seines Besitzes - als dem beeinträchtigten Interesse andererseits. Dabei überwiegt, wenn man heutige Wertvorstellungen zugrunde legt, das Interesse des X an seinem Leben die Interessen des Eigentümers des Bootsschuppens wesentlich. 2
3
4
Im übrigen ist zu beachten, daß auch dann, wenn unter der Voraussetzung einer Notstandssituation die Abwägung ein wesentliches Uberwiegen des geschützten über das beeinträchtigte Interesse ergibt, erst eine notwendige und noch nicht eine hinreichende Bedingung für die Rechtfertigung des Notstandseingriffs erfüllt ist. Auch bei einem wesentlichen Uberwiegen kann die Rechtfertigung des Eingriffs immer noch durch § 34 Satz 2 StGB ausgeschlossen sein. In Kapitel III wird gezeigt werden, daß eine Sachbeschädigung nicht als „vollendet" anzusehen ist, wenn die objektiven Voraussetzungen eines Rechtfertigungstatbestands erfüllt sind, woraus folgt, daß die hier zu stellende Frage mit der Frage gleichbedeutend ist, ob eine versuchte Sachbeschädigung angenommen werden muß. Vgl. unten im Anhang II das Stichwort „Wille als Element des Deliktstatbestandes und als Rechtfertigungselement".
Fallgruppe 1
71
Α kannte die Notstandssituation und die Tatsachen, um die es bei der Interessenabwägung gegangen ist. Die Sachbeschädigung ist deshalb gerechtfertigt, d. h. Α hat sich weder wegen einer vollendeten noch wegen einer versuchten Sachbeschädigung strafbar gemacht5. Erörterung des Falles 1 b 2«r Lösung: Die Lösung entspricht hinsichtlich der Erfüllung des objektiven und des subjektiven Tatbestandes des § 303 StGB der Lösung des Falles 1 a. Dasselbe gilt für die Annahme einer Notstandssituation im Sinne des § 34 Satz 1 StGB. Insbesondere spielt es keine Rolle, daß es sich bei dem Spielzeugschiff des Kindes X, dessen Vernichtung droht, um ein relativ geringweniges Rechtsgut handelt. Wenn die sonstigen Voraussetzungen des rechtfertigenden Notstands erfüllt sind, ist die Rettung jedes beliebigen rechtlich anerkannten Interesses aus einer Gefahr gerechtfertigtEine von der des Falles 1 a abweichende Lösung ergibt sich jedoch bei der Anwendung der Interessenabwägungsklausel des § 34 Satz 1 StGB. Die beiden Interessen, die sich in der Notstandslage gegenüberstehen, sind die folgenden: Das geschützte Interesse ist das Interesse des Kindes X an der Unversehrtheit seines Spielzeugschiffs. Das beeinträchtigte Interesse ist das Interesse des Eigentümers an der Unversehrtheit seines Bootsschuppens (und an der Unberührtheit seines Besitzes). Diese Interessen mögen - auch unter Berücksichtigung des reinen Geldwertes, der jeweils in Rede steht - etwa gleichwertig sein. Das aber bedeutet, daß das geschützte Interesse das beeinträchtigte Interesse nicht wesentlich überwiegt. Deshalb ist die Sachbeschädigung nicht nach § 34 StGB gerechtfertigtSonstige Rechtfertigungsgründe sind nicht ersichtlich6. Auch ist A nicht von einer rechtfertigenden Situation ausgegangen7. Darüber hinaus 5
6
7
Neben einer Rechtfertigung der Tat aus § 34 StGB könnte auch an eine Rechtfertigung aus §904 BGB gedacht werden. D o c h kommt §904 BGB neben § 3 4 StGB praktisch nicht zur Anwendung. Siehe dazu unten S. 116. Bei der Bearbeitung von Fällen von der Art des Falles 1 b, aber auch des Falles 1 a, ist es ein beliebter Fehler, eine rechtfertigende mutmaßliche Einwilligung des Eigentümers anzunehmen. Für eine mutmaßliche Einwilligung geben die Fälle jedoch nicht den geringsten Anhaltspunkt. Eingriffsbefugnisse in die Rechte eines unbeteiligten Dritten bestehen in der Regel nur in den Grenzen, die von § 34 StGB abgesteckt werden, und es wäre falsch, diese Grenzen durch die Behauptung einer mutmaßlichen Einwilligung überspielen zu wollen. - Zur mutmaßlichen Einwilligung vgl. im übrigen unten S. 147 f. und S. 171 f. In Kapitel III wird gezeigt werden, daß eine Tat nur dann vorsätzlich begangen wird, wenn es nicht der Fall ist, daß der Täter die tatsächlichen Voraussetzungen einer Rechtfertigungsnorm annimmt.
72
Kapitel II
greifen auch Entschuldigungsgründe nicht ein - vor allem wäre es falsch, aus der Rücksichtslosigkeit des Α hinsichtlich der Interessen des Eigentümers des Bootes auf einen Verbotsirrtum ( § 1 7 S t G B ) schließen zu wollen! 8 Deshalb hat sich Α einer vorsätzlichen vollendeten Sachbeschädigung schuldig gemacht.
Fallgruppe 2: Zur allgemeinen Obhutsduldungspflicht aus §34 StGB Fall 2 a: X hat beim Baden in einem See einen Wadenkrampf bekommen und ist im Begriff, zu ertrinken. Α eilt zu dem verschlossenen Bootsschuppen des Eigentümers E. Er hat den Plan, das Schloß des Schuppens aufzusprengen, das Boot des Ε aus dem Schuppen zu holen, und den X zu retten. E, der die Situation überblickt und die Absichten des Α erkennt, hält A mit Gewalt - er umklammert den Α mit beiden Armen - davon ab, das Schloß aufzubrechen und das Boot zu benutzen. X ertrinkt; er wäre gerettet worden, wenn Ε den Α an der Beschädigung des Schlosses und an der Benutzung des Bootes nicht gehindert hätte. Fall 2 b: Das Spielzeugschiff des Kindes X ist im Begriff, in der Mitte eines Sees zu versinken. Wenn es versinkt, wird es völlig vernichtet werden. Α eilt zu dem Schuppen des Eigentümers E, dessen Schloß er aufsprengen will, um mittels des in dem Schuppen verwahrten Bootes das Spielzeugschiff zu retten. E, der die Situation überblickt und die Absichten des Α erkennt, hält A mit Gewalt - er hält Α mit beiden Armen fest - davon ab, das Schloß des Schuppens aufzusprengen und das Boot zu benutzen. Das Spielzeugschiff versinkt und wird vernichtet; es wäre vor der Vernichtung bewahrt worden, wenn Ε den Α an der Beschädigung des Schlosses und an der Benutzung des Bootes nicht gehindert hätte. Es geht im gegebenen Zusammenhang in beiden Fällen um die Strafbarkeit allein des E 9 . Dabei sei diesmal mit der Erörterung des Falles 2 b begonnen.
Erörterung des Falles 2 b Zur Lösung: 1. H a t sich Ε dadurch, daß er den Α mit Gewalt daran hinderte, das Schloß aufzusprengen und das Boot zu benutzen, einer Nötigung nach § 240 S t G B schuldig gemacht? 8
9
Wenn der Täter in einem Verbotsirrtum gehandelt hätte, dann würde der Sachverhalt einen besonderen Hinweis darauf geben. Von einer Erörterung der Strafbarkeit des Α sei hier abgesehen, obwohl der Bearbeiter einer Klausur- oder Hausarbeit darauf selbstverständlich einzugehen hat.
Fallgruppe 2
73
Ε hat gegen Α Gewalt angewendet und ihn so gezwungen, die Sprengung des Schlosses und die Benutzung des Bootes zu unterlassen. Der objektive Tatbestand des § 240 Abs. 1 StGB ist deshalb erfüllt. Aber auch der subjektive Tatbestand ist erfüllt, weil Ε um die Gewaltanwendung und die aus ihr resultierende, dem Α abgenötigte Unterlassung wußte. Hinweis zum Aufbau: Zur Rechtswidrigkeit der Nötigung enthält § 240 Abs. 2 StGB eine allgemeine Formel, die auf die „Verwerflichkeit" der Gewaltanwendung oder der Drohung zu dem angestrebten Zweck abstellt. Auf diese - sehr vage - Klausel ist jedoch erst dann einzugehen, wenn die allgemeinen Rechtfertigungsgründe nicht eingreifen 10 . Greift einer der allgemeinen Rechtfertigungsgründe ein, dann ist die Tat gerechtfertigt, ohne daß es einer ausdrücklichen Erörterung des § 240 Abs. 2 StGB bedarf. Weiter zur Lösung: Die Nötigung könnte durch Notwehr (§ 32 StGB) gerechtfertigt sein. Von dem - ihm zurechenbaren - Handeln des Α ging eine Gefahr für das Eigentum des Ε aus; Α hat Ε also im Sinne des § 32 Abs. 2 StGB angegriffen11. Der Angriff war gegenwärtig, weil die Beschädigung des Schlosses - bei objektiver ex-ante-Betrachtung - unmittelbar bevorstand. Er war auch rechtswidrig. Wie oben zu Fall 1 b festgestellt, durfte Α den Schuppen zur Rettung des Spielzeugschiffs nicht aufbrechen. Aus demselben Grunde durfte er auch das Boot nicht benutzen. Insbesondere wären die Beschädigung des Schlosses und die Benutzung des Bootes nicht aus § 34 StGB gerechtfertigt gewesen. In dieser Notwehrlage war es eine geeignete Verteidigungsmaßnahme, wenn Ε den A mit Gewalt an der Durchführung seines Vorhabens hinderte. Daß Ε die Gewalt im Ubermaß, d. h. über die Grenzen des Erforderlichen hinausgehend, angewendet hätte, geht aus dem Sachverhalt nicht hervor. Die objektiven Voraussetzungen des Rechtfertigungstatbestandes sind damit erfüllt 12 . Aber auch die subjektiven Voraussetzungen sind erfüllt; Ε kannte die Notwehrlage, und er verkannte auch seine Verteidigungsmaßnahme nicht 13 .
10
11
12 13
Das entspricht der wohl überwiegenden Meinung in der Strafrechtslehre. Jedenfalls sollte man solch unpräzise Formeln wie die des § 240 Abs. 2 StGB so spät wie nur möglich anwenden. Ein Angriff im Sinne des § 32 Abs. 2 StGB ist jeder Angriff auf ein rechtlich anerkanntes Interesse, also nicht etwa nur ein Angriff auf Leben oder Leib, sondern auch ein Angriff auf die Ehre, das Eigentum oder ein anderes Rechtsgut. Siehe auch oben Fn. 3. Siehe auch oben Fn. 7.
74
Kapitel II
Die Nötigung ist mithin durch N o t w e h r gerechtfertigt, d. h. Ε hat sich weder wegen vollendeter noch versuchter Nötigung strafbar gemacht. 2. H a t sich Ε dadurch, daß er die Rettung des dem X gehörenden Spielzeugschiffs verhinderte, einer Sachbeschädigung - durch aktives Tun - nach § 303 StGB schuldig gemacht? Das Spielzeugschiff - eine fremde Sache - ist zerstört worden. Also ist ein Ereignis eingetreten, das als Erfolg einer Sachbeschädigungshandlung im Sinne des objektiven Tatbestandes des § 303 StGB in Betracht kommt. Darüber hinaus wird man auch - jedenfalls beim gegenwärtigen Stand der Lehre von der Kausalität im Strafrecht - zwischen dem Akt des E , d. h. der Gewaltanwendung des Ε gegen A , einerseits und der Zerstörung des Spielzeugs andererseits einen Kausalzusammenhang annehmen müssen. Denn das Tun des Ε kann nicht hinweggedacht werden, ohne daß die Wirkung entfiele (vgl. die sog. Aquivalenztheorie). Zwar unterscheidet sich das Beispiel von den typischen Fällen eines UrsacheWirkungs-Zusammenhangs dadurch, daß der Täter bei den typischen Fällen eine positive Realbedingung für den tatbestandlich relevanten Erfolg setzt (Beispiel: Τ wirft das Spielzeug des X ins Wasser, wo es zerstört wird), während das hier gerade nicht der Fall ist: Ε setzt keine positive Realbedingung für die Zerstörung des Spielzeugs; denn das Spielzeug ist gänzlich ohne sein Zutun vernichtet worden. Ε bricht vielmehr einen Geschehensverlauf ab, der zur Rettung der gefährdeten Sache geführt hätte, wenn er nicht abgebrochen worden wäre. Das ist durchaus etwas anderes und kann gerade auch hinsichtlich der Kausalität an sich nicht ohne weiteres mit den typischen Fällen der Sachbeschädigung gleichgesetzt werden. Denn - das sei im Vorgriff auf das Folgende gesagt - in den typischen Fallen einer Sachbeschädigung verletzt der Täter, wenn er rechtswidrig handelt, eine durchaus andere Pflicht als der Täter Ε des Falles 2 b, wenn Ε rechtswidrig handeln sollte: In den typischen Fällen verletzt der rechtswidrig handelnde Täter die Pflicht, die Herbeiführung eines Verletzungserfolgs zu unterlassen, während im gegebenen Fall der Täter, wenn er rechtswidrig handeln sollte, die Pflicht verletzen würde, die Verhinderung des Eintritts des Verletzungserfolges zuzulassen. Nach dem gegenwärtigen Stand der Lehre von der Kausalität werden diese Fälle jedoch gleich behandelt, und davon ist auch hier auszugehen. Doch wird man dem Problem künftig eine erhöhte Aufmerksamkeit zuwenden müssen. N i m m t man aber mit der zur Zeit herrschenden Lehre einen Kausalzusammenhang zwischen der Gewaltanwendung des Ε gegen Α und der Zerstörung des Spielzeugs an, dann muß man auch davon ausgehen, daß die Gewaltanwendung objektiv als Einsatz eines tauglichen Mittels anzusehen ist, um die Vernichtung des Spielzeugs herbeizuführen; es ist also auch ein objektiver Finalzusammenhang anzunehmen. Damit ist der objektive Tatbestand des § 303 StGB erfüllt. Auch der subjektive Tatbestand des § 303 StGB ist erfüllt. Ε überblickte die Situation und erkannte also, daß das Spielzeug als Wirkung seines Tuns vernichtet werden würde.
Fallgruppe 2
75
In dieser Lage wäre es überflüssig, ja falsch, darüber hinaus noch zu fragen, ob Ε die Zerstörung des Spielzeugs auch „gewollt" habe. Wer das nach dem objektiven Deliktstatbestand relevante Ergebnis - hier: die Vernichtung des Spielzeugs - als Wirkung seines Tuns voraussieht und trotzdem handelt, „will" auch die Tatbestandsverwirklichung. Das Gegenteil zu behaupten, würde in eine Absurdität führen; denn Tat und Tatbewußtsein sind bereits ein ausreichend schlüssiges Indiz für den „Willen" zur Tat 1 4 .
Damit stellt sich die Frage, ob die Sachbeschädigung gerechtfertigt ist. Notwehr (§ 32 StGB) scheidet als Rechtfertigungsgrund für die Sachbeschädigung schon deswegen aus, weil von dem Kind X , dem Eigentümer des Spielzeugschiffs, kein Angriff auf den Ε ausgeht. Doch könnte man daran denken, daß § 34 StGB einen Rechtfertigungsgrund für die von Ε begangene Sachbeschädigung liefert. In der Tat besteht eine Gefahr für die Interessen des Ε an der Unversehrtheit des Schlosses und an der Nicht-Benutzung des Bootes, eine Gefahr, die zumindest von Α ausgeht 15 . Die Gefahr ist gegenwärtig, und sie ist nach Lage der Dinge auch nicht anders als dadurch abwendbar, daß Ε die Rettung des Spielzeugs verhindert, was seine Vernichtung zur Folge hat. An einer Notstandssituation im Sinne des § 34 StGB ist mithin nicht zu zweifeln.
Indessen führt die Anwendung der Interessenabwägungskausel des 5 34 Satz l StGB nicht zu einer Rechtfertigung der Sachbeschädigung. Die
durch die Tat des Ε geschützten Interessen sind sein Interesse an der weiteren Funktionstauglichkeit des Schlosses und sein Interesse, in dem Besitz des Bootes nicht gestört zu werden. Das durch die von ihm begangene Sachbeschädigung beeinträchtigte Interesse ist das Interesse des Kindes X an der Unversehrtheit seines Eigentums, des Spielzeugschiffes. Nach § 34 StGB gerechtfertigt wäre die Sachbeschädigung jedoch nur dann, wenn die geschützten Interessen das beeinträchtigte Interesse wesentlich überwiegen würden. Nun ist aber oben zu Fall 1 b festgestellt
worden, daß die hier kollidierenden 14
15
Interessen etwa gleichwertig sind, und
Vgl. unten im Anhang II das Stichwort „Wille als Element des Deliktstatbestandes und als Rechtfertigungselement". Eine - mittelbare - Gefahr geht darüber hinaus, wie sich zeigen wird (siehe unten S. 80), auch von dem Spielzeug des Kindes X aus. Daraus wird man nicht schließen dürfen, daß von dem Kind X auch ein - mittelbarer - Angriff auf Ε ausgeht, der entgegen der soeben getroffenen Feststellung doch die Anwendbarkeit des § 32 StGB begründen könnte. Voraussetzung eines Angriffs ist es, wie sich herausstellen wird (siehe unten S. 142), stets, daß eine Gefahr auf das zurechenbare Verhalten eines Menschen zurückgeht, das eine Pflichtverletzung enthält. Deshalb kann zwar bei dem mittelbaren Täter einer Straftat von einem - mittelbaren - Angriff die Rede sein, nicht aber bei den Fällen 1 b und 2 b von einem Angriff des Kindes X .
76
Kapitel II
das bedeutet, daß auch hier die geschützten Interessen das beeinträchtigte Interesse nicht wesentlich überwiegen. Hinweis zum Aufbau der Lösung: Damit läßt sich das folgende Zwischenergebnis feststellen: In Fall l b begeht Α eine Sachbeschädigung an dem Schloß des Bootsschuppens, die nicht, insbesondere nicht aus § 34 StGB, gerechtfertigt ist, weil dazu ein wesentliches Überwiegen des Interesses des Kindes X über die Interessen des Bootseigentümers Ε erforderlich wäre, ein solches wesentliches Uberwiegen aber nicht behauptet werden kann. Verhindert der Bootseigentümer Ε dagegen im Fall 2 b die rechtswidrige Sachbeschädigung seines Schuppens, dann begeht er eine Sachbeschädigung an dem Spielzeug, die ebenfalls nicht aus § 34 StGB gerechtfertigt ist, weil dazu ein wesentliches Überwiegen der Interessen des Ε über das Interesse des Kindes X erforderlich wäre, ein solches wesentliches Überwiegen aber ebenfalls nicht behauptet werden kann. Dieses Zwischenergebnis ist insofern intellektuell nicht zufriedenstellend, als die bisherige Lösung des Falles 2 b der vom Gesetz mit der Interessenabwägungsklausel vorgenommenen Wertung, die sich bei der Lösung des Falles 1 b niedergeschlagen hat, offensichtlich widerspricht. Denn wir stehen in der folgenden Situation: (1) Ein Notstandseingriff des Α in die Interessen des Ε ist nur dann gerechtfertigt, wenn das geschützte Interesse des Kindes X die beeinträchtigten Interessen des Ε wesentlich überwiegt (vgl. § 34 StGB). (2) Bei Fall 1 b ist der Notstandseingriff des Α in die Interessen des Ε nicht gerechtfertigt, weil das geschützte Interesse des X die beeinträchtigten Interessen des Ε nicht wesentlich überwiegt. (3) Bei Fall 2b ist der mit der Verhinderung des rechtswidrigen (!) Notstandseingriffs des Α notwendig verbundene Eingriff in das Interesse des Kindes X - die Sachbeschädigung an dem Spielzeug - bis jetzt noch nicht gerechtfertigt. (4) Es wäre jedoch ein Wertungswiderspruch, wenn bei Fall 2 b der mit der Verhinderung des Notstandseingriffs des Α verbundene Eingriff in das Interesse des Kindes X ebenfalls als eine rechtswidrige Handlung zu qualifizieren wäre - obwohl die Rettung des gefährdeten Interesses des Kindes X durch Α gemäß § 34 StGB rechtswidrig ist! Eine konsistente Lösung des damit aufgegebenen Problems muß alle denkbaren Möglichkeiten in den Blick nehmen und sich deshalb an die folgenden Regeln halten: (1) In jeder Notstandssituation, in der zugunsten des ursprünglich gefährdeten Interesses ein (Notstands-)Eingriff in ein fremdes Interesse nach § 34 StGB gestattet ist, kann der in der Abwehr jenes Notstandseingriffs liegende Eingriff in das ursprünglich gefährdete Interesse zugunsten des durch den Notstandseingriff bedrohten Interesses nicht gestattet sein. (2) In jeder Notstandssituation, in der
77
Fallgruppe 2
zugunsten des ursprünglich gefährdeten Interesses ein (Notstands-)Eingriff in ein fremdes Interesse nach § 34 StGB nicht gestattet ist, muß der in der Abwehr jenes Notstandseingriffs liegende Eingriff in das ursprünglich gefährdete Interesse zugunsten des durch den Notstandseingriff bedrohten Interesses gestattet sein. Die folgende tabellarische Übersicht verdeutlicht diese Lösung - unter vorläufiger Außerachtlassung von Satz 2 des § 34 StGB, dessen Berücksichtigung die Ubersicht wesentlich komplizierter machen würde. In dieser Ubersicht haben die Zeichen die folgende Bedeutung: Auf der linken Seite symbolisiert das Zeichen „I" das in der Notstandssituation ursprünglich gefährdete Interesse 16 und „II" bezeichnet das (fremde) Interesse, das zur Rettung von I aufgeopfert werden müßte 17 . Die Zeichen » > " , „ > " und „ = " bedeuten (in der genannten Reihenfolge) „wesentlich größer als", „größer, wenn auch nicht wesentlich größer als", „gleich". Die Zeichen „ < " und „ < " sind die Umkehrungen von „ > " und „ > " . Man kann sie lesen „kleiner, wenn auch nicht wesentlich kleiner als" und „wesentlich kleiner als". Auf der rechten Seite der Tafel symbolisiert das Zeichen „ + " den Satz „Ein Eingriff in das jeweils andere Interesse ist gestattet", während das Zeichen „ —" bedeutet „Ein Eingriff in das jeweils andere Interesse ist nicht gestattet". Die von Wertungswidersprüchen freie Lösung des aufgegebenen Problems sieht in dieser Symbolik, wie folgt, aus 18 : Die Situation sieht, wie folgt, aus:
I > II I > II I = II K U I « II
16
17
18
Für den Notstandseingriff in das Interesse II zugunsten des ursprünglich gefährdeten Interesses I gilt - gemäß § 34 Satz 1 StGB - die folgende Regelung:
+ —
Für den in der Abwehr des Notstandseingriffs liegenden Eingriff in das Interesse I sollte die folgende Regelung gelten:
—
+ + + +
Das ist bei den Fällen 1 a und 2 a das Interesse des X an der Erhaltung seines Lebens, bei den Fällen 1 b und 2 b das Interesse des Kindes X an der Erhaltung seines Spielzeugschiffs. Das ist bei den Fällen der Fallgruppen 1 und 2 jeweils das Interesse des Ε an der Funktionstauglichkeit des Schlosses und überhaupt an der Unberührtheit seines Besitzes. Die im Text abgedruckte mit Symbolen arbeitende Übersicht sieht mit Worten etwa folgendermaßen aus:
Kapitel II
78
Fall 2 b kehrt hier in der dritten Zeile der Übersicht wieder. Wir sind davon ausgegangen, daß die Interessen des Kindes X und des Eigentümers Ε ungefähr gleichwertig sind. Das bedeutet auf der rechten Seite der Tafel ein Minuszeichen für die erste Spalte und ein Pluszeichen für die zweite Spalte. Die Übersicht zeigt, daß § 34 StGB für die Lösung des Falles 2 b nicht die richtigen Gesichtspunkte bereithält. Die Vorschrift berücksichtigt nicht, daß der Notstandseingriff, den Ε im Falle 2 b vornimmt, gerade in der Verhinderung eines nicht gerechtfertigten Notstandseingriffs des A besteht und daß für solche Fälle eine Regelung gelten muß, die gewissermaßen eine Umkehrung der Interessenabwägungsklausel des § 34 Satz 1 StGB enthält. Man sollte sich in dieser Lage nicht zu Inkonsequenzen bereitfinden. Der bei der obigen Erörterung des § 34 StGB aufgetauchte Wertungswiderspruch läßt sich vor allem nicht durch eine „Auslegung" der Vorschrift beheben, die die Schwierigkeiten einfach beiseite schiebt. Inkonsequenzen mit Inkonsequenzen bekämpfen heißt, sich immer mehr in Irrationalität verstricken. Die Lage ist jedoch durchaus nicht hoffnungslos. Denn es gibt § 228 Satz 1 BGB, der lautet:
In der Notstandssituation ist das Interesse I das (ursprünglich) gefährdete Interesse und
Der Notstandsseingriff in das Interesse II zugunsten des ursprünglich gefährdeten Interesses I ist - gemäß § 34 Satz 1 StGB -
Der in der Abwehr des Notstandseingriffs liegende Eingriff in das Interesse I zugunsten des Interesses II
I überwiegt II wesentlich
gestattet
sollte daher nicht gestattet sein
I überwiegt II, wenn auch nicht wesentlich
nicht gestattet
sollte daher gestattet sein
I und II sind gleichwertig
nicht gestattet
sollte daher gestattet sein
I ist gegenüber II geringerwertig, wenn auch nicht wesentlich
nicht gestattet
sollte daher gestattet sein
I ist gegenüber II wesentlich geringerwertig
nicht gestattet
sollte daher gestattet sein
Fallgruppe 2
79
„Wer eine fremde Sache beschädigt oder zerstört, um eine durch sie drohende Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, handelt nicht widerrechtlich, wenn die Beschädigung oder die Zerstörung zur Abwendung der Gefahr erforderlich ist und der Schaden nicht außer Verhältnis zu der Gefahr steht."
Die Vorschrift regelt einen Sonderfall des Defensivnotstands. In ihrem Subjektsatz entspricht „die Gefahr", um deren Abwendung es geht, der „Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut" im Sinne des § 34 Satz 1 StGB. Diese Gefahr kann dem Defensivnotstandstäter oder einem anderen drohen. Die „Erforderlichkeit" der Gefahrabwendung im ersten Teil des Konditionalsatzes entspricht dem, was bisher mit der Klausel von der „nicht anders abwendbaren" Gefahr umschrieben wurde. Der „Schaden" im zweiten Teil des Konditionalsatzes entspricht dem, was bisher „beeinträchtigtes Interesse" hieß, die „Gefahr" in diesem Teil der Vorschrift dagegen dem, was bisher „geschütztes Interesse" genannt wurde. Die Proportionalitätsklausel schließlich, die den zweiten Teil des Konditionalsatzes ausmacht, ist gleichbedeutend mit einer Interessenabwägungsklausel. Denn auch sie fordert die Vornahme einer Interessenabwägung und besagt, daß, wenn der Defensivnotstandseingriff gerechtfertigt sein soll, das durch den Defensivnotstandseingriff beeinträchtigte Interesse zu dem durch ihn geschützten Interesse „nicht außer Verhältnis" stehen darf. Damit aber wird die Anwendung der Vorschrift auf Fall 2 b nahegelegt. Denn, bringt man die Proportionalitätsklausel des § 228 BGB auf die bisher gebrauchte Sprache, dann besagt sie, daß ein Defensivnotstandseingriff, wenn die sonstigen Voraussetzungen erfüllt sind, in der Regel gerechtfertigt und nur dann nicht gerechtfertigt ist, wenn das durch den Defensivnotstandseingriff beeinträchtigte Interesse das durch ihn geschützte Interesse wesentlich überwiegt - eine Deutung der Proportionalitätsklausel, die jedenfalls dann richtig ist, wenn es dabei um den Aufbau eines in sich widerspruchsfreien Systems der Maßstäbe der Interessenabwägung geht. Weiter zur Lösung des Falles 2 b: Die von Ε begangene Sachbeschädigung könnte durch § 228 Satz 1 BGB gerechtfertigt sein. Wie festgestellt, hat Ε das Spielzeug des Kindes X zerstört. Die Zerstörung des Spielzeugs diente auch - objektiv! - der Abwendung einer Gefahr, die den rechtlich geschützten Interessen des Ε - seinem Interesse an der Unversehrtheit des Schlosses und an der Nicht-Benutzung des Bootes - drohte. Die Zerstörung war zur Abwendung der Gefahr auch „erforderlich"; zumindest ist hier davon auszugehen, daß die Gefahr anders, als geschehen, nicht abgewendet werden konnte. Ein - scheinbares - Problem wirft dagegen das für den Defensivnotstand entscheidende Merkmal auf, nach dem die Zerstörung einer Sache durch § 228 BGB nur dann gerechtfertigt ist, wenn die den Notstandsein-
Kapitel II
80
griff auslösende Gefahr gerade von der zerstörten Sache ausgeht (vgl. § 228 B G B : „ . . . eine durch sie drohende Gefahr..."). Denn unmittelbar geht die Gefahr für die Unversehrtheit des Bootsschuppens und für das Boot ja nicht von dem Spielzeug des Kindes, sondern von dem Tun des A aus, der das gefährdete Spielzeug retten möchte. Trotzdem wird man sagen müssen, daß von dem untergehenden Spielzeug jedenfalls mittelbar eine Gefahr für die Interessen des Ε ausgeht. Jedenfalls wäre das nur folgerichtig. Auch die Gefahr für das Spielzeug des Kindes, die von dem die Aktion des Α abwehrenden Ε ausgeht, ist nicht eine unmittelbare, sondern eine nur durch die begonnene Verhinderung einer Rettungsaktion vermittelte Gefahr. Trotzdem haben wir oben 19 , wenn auch unter Abweisung bestehender Bedenken, die Realisierung der von Ε ausgehenden mittelbaren Gefahr für das Spielzeug als eine objektiv tatbestandsmäßige Sachbeschädigung angesehen. Damit haben wir die von der Abwehr des Ε ausgehende nur mittelbare Gefahr als eine genuine, für das Recht relevante Gefahr für das Spielzeug anerkannt. Deshalb müssen wir auch die von dem untergehenden Spielzeug ausgehende Gefahr, die zwar nicht eine von dem Spielzeug unmittelbar drohende, wohl aber eine durch die versuchte Rettungsaktion des Α vermittelte Gefahr ist, als eine genuine, für das Recht relevante Gefahr für die Interessen des Bootseigentümers anerkennen. Jedenfalls kann man nicht die von Ε ausgehende mittelbare Gefahr für das Spielzeug als relevant und die von dem Spielzeug ausgehende mittelbare Gefahr für die Interessen des Ε als nicht relevant ansehen und gleichzeitig konsequent sein wollen. Schließlich ist auch der Proportionalitätsklaüsel des § 228 BGB Genüge getan. Die durch die Defensivnotstandstat des Ε geschützten Interessen (die „Gefahr" in der Proportionalitätsklausel des § 228 BGB) sind die Interessen des Ε an der Unversehrtheit und Nicht-Benutzung seines Eigentums. Das durch die Defensivnotstandstat des Ε beeinträchtigte Interesse (der „Schaden" in der Proportionalitätsklausel des § 228 BGB) ist das Interesse des Kindes X an seinem Spielzeug. Diese Interessen sind als etwa gleichwertig angesehen worden. Daraus folgt, daß das durch die Defensivnotstandstat beeinträchtigte Interesse das durch sie geschützte Interesse jedenfalls nicht überwiegt. Der von Ε angerichtete Schaden steht also nicht „außer Verhältnis" zu der Gefahr. Deshalb sind die objektiven Bedingungen einer Rechtfertigung der von Ε begangenen Sachbeschädigung durch § 228 B G B erfüllt. Da Ε außerdem die gesamte Situation und auch die Tatsachen kannte, um die es bei der Abwägung gegangen ist, sind auch die subjektiven Bedingungen der Rechtfertigung erfüllt. Die Tat ist deshalb gerechtfertigt. 19
Siehe S. 74.
81
Zwischenbemerkung
Ε hat sich weder einer Nötigung noch einer Sachbeschädigung schuldig gemacht. Entsprechendes gilt für eine eventuell anzunehmende Freiheitsberaubung, für die der Sachverhalt jedoch nicht genügend hergibt. Zwischenbemerkung Die vorstehenden Überlegungen haben ergeben, daß § 34 StGB von vornherein nicht die richtigen Gesichtspunkte für eine gemessen an der Lösung des Falles 1 b folgerichtige Lösung für Fall 2 b bereithält. Das liegt daran, daß § 34 StGB, wie die Abwägungsklausel beweist, die zur Rechtfertigung ein wesentliches Uberwiegen des geschützten über das beeinträchtigte Interesse fordert, nur auf Aggressivnotstandsfälle zugeschnitten ist, bei denen zur Abwendung der Notstandsgefahr in das Interesse eines unbeteiligten Dritten eingegriffen werden müßte. Für Defensivnotstandsfälle erweist sich § 34 StGB, wenn einige Konsequenz im Spiel sein soll, als unbrauchbar. Der Unterschied zwischen den Aggressivnotstandsfällen und den Defensivnotstandsfällen besteht darin, daß in Aggressivnotstandssituationen zur Abwendung der Notstandsgefahr in das Interesse eines unbeteiligten Dritten eingegriffen werden müßte, während in Defensivnotstandssituationen zur Abwendung der N o t standsgefahr gerade in die Sphäre eingegriffen werden müßte, aus der die Gefahr kommt. Symbolisch:
Aggressivnotstandslage
Defensivnotstandslage
Ο
Sphäre des unbeteiligten Dritten Gefahr
Gefahr Notstandseingriff
gefährdetes Interesse
Sphäre, aus der die Gefahr kommt
Ο
Notstandseingriff
gefährdetes Interesse
Im strafrechtlichen Schrifttum wird freilich nicht selten behauptet, § 34 Satz 1 StGB schreibe „eine umfassende Abwägung aller im konkreten Fall für und gegen die Zulassung der Notstandshandlung sprechenden Umstände" vor 20 , und in diese allgemeine Abwägung sei auch der für die 20
Vgl. etwa Lenckner in: Schönke-Schröder, StGB, 22. Aufl. 1985, 46 zu §34.
82
Kapitel II
Defensivnotstandstaten maßgebliche Gesichtspunkt einzubeziehen, daß der Notstandseingriff gerade in das Interesse erfolgen müßte, von dem die Notstandsgefahr ausgeht 21 . Doch enthält die Vorschrift des § 34 Satz 1 StGB nicht nur einen solch ungenauen Hinweis auf ein vermeintliches Interessenabwägungspmzzip, ohne auch einen Maßstab für die Interessenabwägung zu liefern, sondern sie schreibt eine - gemessen an derartig vagen Formeln - relativ genaue Proportion fest: Wenn eine Tat nach § 34 StGB gerechtfertigt sein soll, dann müssen die geschützten Interessen die beeinträchtigten wesentlich überwiegen. Das ist im Gesetz nachzulesen! Dabei ist in § 34 StGB keine Rede davon, daß irgendwelche Interessen deswegen weniger wertvoll sind, weil die Notstandsgefahr gerade von ihnen ausgeht. Einen solchen Rechtssatz gibt es nicht, und es kann ihn auch nicht geben. Gewiß ist es möglich, daß die Interessen, von denen die Notstandsgefahr ausgeht, gegenüber den gefährdeten Interessen zurückstehen müssen, auch wenn die gefährdeten Interessen die Interessen, von denen die Gefahr ausgeht, nicht wesentlich überwiegen. N u r ist dieser Gesichtspunkt dem §34 StGB gerade nicht zu entnehmen. Vielmehr greift hier eine demgegenüber neue, andere Regel ein, eben die für Defensivnotstandsfälle gültige Regelung, die in § 228 BGB ihren gesetzlichen Niederschlag gefunden hat. Gerade ein Vergleich der Fälle 1 b und 2 b zeigt, wie unhaltbar die Meinung ist, daß § 34 Satz 1 StGB eine „umfassende Abwägung" vorschreibt. Wenn Α im Fall 1 b überlegt, ob er das untergehende Spielzeug retten und zu diesem Zweck das Schloß aufsprengen und das Boot des Ε benutzen soll, dann muß er richtigerweise zu dem hier erarbeiteten Ergebnis kommen, daß er das alles nicht tun darf, weil das Interesse des Kindes an seinem Spielzeug und das in Rede stehende Interesse des Bootseigentümers gleichwertig sind, was eine Rechtfertigung des Α nach § 34 StGB ausschließt. Beginnt nun Α trotzdem damit, das Schloß aufzubrechen, und überlegt deshalb E, ob er dem Α ein solches Tun verwehren darf, dann kann Ε richtigerweise jetzt nicht auf einmal zu dem Ergebnis kommen, daß seine Interessen an der Unversehrtheit des Schlosses usw. das Interesse des Kindes an seinem Spielzeugschiff wesentlich überwiegen. Genau diese These aber müßte die hier kritisierte Meinung aufstellen, wenn sie zu einer Rechtfertigung der von Ε ins Auge gefaßten Sachbeschädigung aus § 34 StGB kommen will. Die Annahme, die von Ε in Fall 2 b begangene Sachbeschädigung sei durch § 34 StGB gedeckt, impliziert also die Annahme, daß innerhalb ein und desselben Paares von gegensätzlichen Interessen gleichzeitig verschiedene Wertproportionen bestehen: Gleichzeitig müssen die Interessen gleichwertig sein und muß
21
Vgl. etwa Lenckner in: Schönke-Schröder a. a. O., 30 zu § 34.
Fallgruppe 2 - Fortsetzung
83
das eine Interesse das andere wesentlich überwiegen - ein logisch ausgeschlossenes Ergebnis.
Fallgruppe 2 - Fortsetzung Erörterung des Falles 2 a Zur Lösung: 1. Hat sich Ε dadurch, daß er die Rettung des ertrinkenden X verhinderte, eines Totschlags - durch aktives Tun - nach § 212 StGB schuldig gemacht? Da X ertrunken ist, ist ein Ereignis - der Tod des X - eingetreten, das als ein nach § 212 StGB relevanter Erfolg in Betracht kommt. Dieses Ereignis ist dem Tun des E, der gewaltsamen Verhinderung der Rettungsaktion, auch als Tötungserfolg zuzurechnen, weil ein objektiver Kausalund Finalzusammenhang zwischen diesem Tun des Ε und dem Tod des X besteht. Die Begründung dafür entspricht der oben bei der Lösung des Falles 2 b zur Sachbeschädigung gegebenen Begründung 22 . Der objektive Tatbestand des § 212 StGB ist also erfüllt. Dasselbe gilt für den subjektiven Tatbestand. Wiederum entspricht die Begründung der oben zu Fall 2 b gegebenen. Deshalb ist nunmehr nach Rechtfertigungsgründen zu fragen. Durch Notwehr (§ 32 StGB) kann die Tat nicht gerechtfertigt sein, weil X den Ε nicht angegriffen hat. Ebensowenig ist die Tat nach § 34 StGB gerechtfertigt, was sich schon daraus ergibt, daß das durch die Verhinderung der Rettungsaktion geschützte Interesse, das sind die Interessen des Ε an der Unversehrtheit seines Schuppens und an der Nicht-Benutzung des Bootes, das dadurch beeinträchtigte Interesse, das Leben des X, nicht wesentlich überwiegt. Indessen liefert § 34 StGB von vornherein nicht die richtigen Gesichtspunkte für die Lösung des Rechtfertigungsproblems. Genauso wie bei der Sachbeschädigung des Falles 2 b handelt es sich hier nämlich um einen Defensivnotstand; d. h. mit der gewaltsamen Verhinderung der Rettungsaktion, die zum Tode des X führt, greift Ε gerade in die Interessensphäre ein, aus der für seine Interessen eine Gefahr droht, die er durch einen Notstandseingriff abwenden will. Daß von dem ertrinkenden X den in Rede stehenden Interessen des Ε eine mittelbare Gefahr droht, d. h. eine Gefahr, die durch die begonnene und objektiv aussichtsreiche Rettungsaktion des Α vermittelt ist, kann nach dem oben bei Fall 2 b zu § 228 BGB Gesagten nicht mehr problematisch sein und braucht hier nicht noch einmal ausgeführt zu werden. Die Gefahr war auch nicht anders abwendbar als durch die Verhinderung der Rettungsaktion und den damit erfolgten mittelbaren Eingriff in das Leben 22
Siehe S. 74.
84
Kapitel II
des X. An einer Defensivnotstandssituation ist also nicht zu zweifeln. Allerdings gibt es keine gesetzliche Vorschrift, die eine mit der Wertung des § 34 StGB harmonierende Regelung für sämtliche Defensivnotstandsfälle enthielte. § 228 Satz 1 BGB betrifft ausweislich des Gesetzestextes von vornherein nur den Spezialfall des Defensivnotstandseingriffs in Sachen. In dieser Lage scheinen zwei Möglichkeiten zu bestehen. Die erste (Schein-)Möglichkeit besteht darin, es bei dieser Situation zu belassen. Das würde allerdings bedeuten, die rationale Befassung mit dem Strafrecht jedenfalls an dieser Stelle zu beenden. Deshalb bleibt allein die andere Möglichkeit, den Rechtsgedanken des § 228 Satz 1 BGB auf alle Defensivnotstandsfälle anzuwenden. Damit ergibt sich die Annahme einer allgemeinen Defensivnotstandsbefugnis, die in Anlehnung an § 228 Satz 1 BGB, aber unter ausdrücklicher Einbeziehung der oben bei Fall 2 b gewonnenen Erkenntnisse zu dieser Vorschrift - vorläufig - folgendermaßen zu formulieren ist: Wer ein rechtlich anerkanntes Interesse eines anderen verletzt, um eine aus der Sphäre dieses Interesses drohende, anders nicht abwendbare Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut von sich oder einem anderen abzuwehren, handelt nicht widerrechtlich, es sei denn, daß das durch den Eingriff beeinträchtigte Interesse das durch ihn geschützte Interesse wesentlich überwiegt. Es ist eine der Aufgaben dieses Kapitels, die damit vorläufig skizzierte allgemeine Defensivnotstandsbefugnis zu entwickeln und ihre Geltung darzulegen, wobei die Erörterungen bei den Sonderfällen 1 bis 323 auch zeigen werden, daß die Problematik einer allgemeinen Defensivnotstandsbefugnis keineswegs etwa nur eine exzeptionelle Schwierigkeit des Falles 2 a und ähnlich gelagerter Fälle ist. An dieser Stelle sei von der Geltung des oben formulierten Rechtssatzes ausgegangen, wobei als vorläufige Begründung genügen mag, daß ein solcher Rechtssatz von der Vorschrift des § 34 StGB und der ihr zugrunde liegenden Wertung aus Gründen der Konsistenz des geltenden Normensystems gefordert wird - was ohnehin die eigentlich entscheidende Begründung ist! Erst die allgemeine Defensivnotstandsbefugnis liefert die richtigen Gesichtspunkte für die Frage, ob die von Ε begangene Totschlagshandlung rechtswidrig war oder nicht. Daher ist zu prüfen, ob die Tat nicht etwa kraft rechtfertigenden Defensivnotstands gerechtfertigt war. Das ist jedoch nicht der Fall, weil, wie oben zu Fall 1 a bereits festgestellt, das durch den Notstandseingriff beeinträchtigte Interesse - das Leben des X das durch ihn geschützte Interesse - die in Rede stehenden Interessen des Ε am Schuppen und am Boot - wesentlich überwiegt. Der von Ε im Falle 2 a begangene Totschlag erweist sich damit als rechtswidrig aus genau 23
Unten S. 131 ff.
Fallgruppe 2 - Fortsetzung
85
denselben Gründen, aus denen im Falle 1 α die Rettungsaktion des A gerechtfertigt war. D i e logische H a r m o n i e der beiden Fälle 1 a und 2 a ist hergestellt. D a sonstige Rechtfertigungsgründe nicht ersichtlich sind, Ε auch nicht v o n einer Rechtfertigungslage ausgegangen ist und v o n einer Entschuldigung keine Rede sein kann, hat sich Ε eines vollendeten Totschlags schuldig gemacht 2 4 . 2. H a t sich Ε dadurch, daß er den Α mit Gewalt daran hinderte, das Schloß aufzubrechen und das B o o t zu benutzen, einer N ö t i g u n g nach § 240 StGB schuldig gemacht? Hinsichtlich der Erfüllung des objektiven und subjektiven Tatbestandes ergibt sich kein Unterschied z u Fall 2 b.
24
Es ist zweckmäßig, sich das Zusammenspiel von § 34 StGB und allgemeiner Defensivnotstandsbefugnis noch einmal an zwei Fällen klarzumachen, die zu den Fällen 1 a und 2 a parallel laufen. Das Leben des nierenkranken Κ ist nur durch die alsbaldige Implantation einer biologisch geeigneten Niere zu retten. Der gesunde Y ist der einzige Inhaber einer für die Implantation geeigneten Niere. (a) Darf der Arzt des K, Dr. A, dem Y, der seine Einwilligung verweigert hat, eine Niere wegnehmen? (b) Darf sich Y gegen die Wegnahme unter dem Gesichtspunkt wehren, daß er damit den Κ tötet? Zu (a): Wenn Dr. Α dem Y eine Niere entnimmt, dann erfüllt er objektiv und subjektiv den Tatbestand der Körperverletzung. Die Tat ist auch nicht nach § 34 StGB gerechtfertigt, weil das geschützte Interesse, d. i. das Leben des K, das beeinträchtigte Interesse, d.i. die körperliche Unversehrtheit des Y, nicht wesentlich überwiegt (obwohl vielleicht von einem schlichten Uberwiegen geredet werden könnte). Dr. Α darf dem Y also die Niere nicht gegen seinen Willen wegnehmen. Zu (b): Wenn Y sich gegen die Wegnahme der Niere mit Gewalt erfolgreich wehrt, dann erfüllt er durch den Abbruch eines rettenden Kausalverlaufs objektiv und subjektiv den Tatbestand des § 212 StGB genauso wie Ε im Falle 2 b, wenn, was vorausgesetzt sei, Κ stirbt. Nach § 34 StGB ließe sich die Tat nicht rechtfertigen, weil von einem wesentlichen Uberwiegen der körperlichen Unversehrtheit des Y über das Leben des Κ keine Rede sein kann. Aber § 34 StGB liefert eben von vornherein nicht die mit der Lösung des Falles (a) harmonierenden Gesichtspunkte. Das leistet allein die oben formulierte allgemeine Defensivnotstandsbefugnis, nach der die mittelbare Tötung des K, von dem eine mittelbare Gefahr für die Gesundheit des Y ausgeht, in der Regel gerechtfertigt ist (die Gefahr also abgewehrt werden darf), es sei denn, daß das beeinträchtigte Interesse, d.i. hier das Leben des K, das geschützte Interesse, d.i. hier die Gesundheit des Y, wesentlich überwiegt. Ein derartiges wesentliches Uberwiegen ist aber bei (a) verneint worden. Also darf sich Y gegen die Wegnahme seiner Niere zur Wehr setzen.
86
Kapitel II
Die Nötigung könnte jedoch durch Notwehr (§ 32 StGB) gerechtfertigt sein. Ein gegenwärtiger Angriff des Α gegen den Ε ist anzunehmen, weil auch insoweit ein Unterschied zu Fall 2 b nicht besteht. Der Angriff war jedoch nicht rechtswidrig. Wie oben zu Fall 1 a festgestellt, durfte A das Schloß des Schuppens zur Rettung des X aufbrechen. Aus demselben Grunde durfte er auch das Boot benutzen. Deshalb ist die von Ε begangene Nötigung nicht durch Notwehr gerechtfertigt. Allerdings ist zu überlegen, ob die Nötigung nicht kraft der dem Ε zustehenden allgemeinen Defensivnotstandsbefugnis gerechtfertigt war. Es ist jedenfalls keine Selbstverständlichkeit, daß die Nötigung nicht durch die allgemeine Defensivnotstandsbefugnis gedeckt ist, und zwar ist das deswegen keine Selbstverständlichkeit, weil die allgemeine Defensivnotstandsbefugnis in ihrer bisherigen Formulierung - im Gegensatz zur Notwehr, die nach § 32 Abs. 2 StGB einen „rechtswidrigen Angriff" verlangt - schon schlechthin eine „Gefahr für ein Rechtsgut" für die Rechtfertigung genügen läßt (vorausgesetzt, daß die übrigen Bedingungen der Rechtfertigung erfüllt sind). Das damit aufgeworfene Problem zeigt sich an der Gegenüberstellung der folgenden beiden Beispiele. Die Gegenüberstellung beweist gleichzeitig, daß die Problematik nicht etwa auf der Annahme einer allgemeinen Defensivnotstandsbefugnis beruht, sondern genauso bei § 228 BGB auftritt: (a) Α wirft Steine nach dem gelähmten, in einem Rollstuhl sitzenden Β. Β hat keine andere Möglichkeit, sich des Angriffs zu erwehren, als seinen Hund auf Α zu hetzen. Der Hund springt A an und droht ihn in die Hand zu beißen, die Α bereits wieder zum Wurf erhoben hat. (b) Wieder wirft Α Steine nach dem gelähmten Β. B, der zudem wegen einer Erkältung nicht laut rufen kann, hat nicht die Möglichkeit, seinen Hund auf Α zu hetzen. Doch versucht der Hund von sich aus, seinen Herrn zu verteidigen; er springt A an und droht ihn in die Hand zu beißen. In beiden Fällen schlägt Α mit einem Knüppel, den er in der anderen Hand hält, nach dem Hund. Er verletzt das Tier schwer. In beiden Fällen geht es um die Strafbarkeit des Α nach § 303 StGB wegen der Verletzung des Hundes. In beiden Fällen hat Α objektiv und subjektiv den Tatbestand des § 303 StGB erfüllt, was an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt zu werden braucht. Die Tat des Α im Falle (a) ist nicht durch Notwehr (§ 32 StGB) gerechtfertigt. Denn selbst dann, wenn man das Hetzen des Hundes als „Angriff" bezeichnen könnte, so wäre der Angriff doch nicht rechtswidrig. Das Hetzen des Hundes ist vielmehr seinerseits durch Notwehr gerechtfertigt. Damit stellt sich die Frage, ob die Tat des A - und zwar sowohl bei (a) wie bei (b) nicht vielleicht in Anwendung des § 228 B G B gerechtfertigt ist. Stellt man allein auf den Wortsinn der Vorschrift ab, dann ist an der Rechtfertigung nicht zu zweifeln. Denn es ist ja tatsächlich der Fall, daß dem Α von dem Hund des Β eine Gefahr droht. Das Ergebnis wäre dann freilich dies, daß Β den Hund auf den A hetzen dürfte, aber Α dürfte trotzdem den Hund schlagen. Damit würde ein Wertungswiderspruch zur Regelung der Notwehr aufgerissen. Deshalb ist § 228
Zwischenbemerkung
87
BGB zumindest grundsätzlich (über Ausnahmen wäre zu reden) auf die Fälle zu beschränken, bei denen die Defensivnotstandsgefahr, ginge sie aus dem Tun eines Menschen hervor, rechtswidrig geschaffen worden wäre 25 .
Das muß für die allgemeine Defensivnotstandsbefugnis in gleicher Weise gelten. Soll ein Wertungswiderspruch zur Notwehrregelung vermieden werden, dann ist die Defensivnotstandsbefugnis folgendermaßen einzuschränken: Die Abwehr der Gefahr ist nicht nach dem Recht des Defensivnotstands gerechtfertigt, wenn die Gefahr, ginge sie aus dem Handeln eines Menschen hervor, rechtmäßig geschaffen worden wäre. Da diese Einschränkung der allgemeinen Defensivnotstandsbefugnis auch im Fall 2 a eingreift, ist die von Ε begangene Nötigung auch nicht aufgrund der allgemeinen Defensivnotstandsbefugnis gerechtfertigt. Da sonstige Rechtfertigungsgründe nicht ersichtlich sind, ist nunmehr auf § 240 Abs. 2 StGB einzugehen. Allerdings müssen logisch-analytische Methoden an der Vagheit der dort formulierten Verwerflichkeitsklausel scheitern. Die Gewaltanwendung gilt als ein Indiz für die Verwerflichkeit 26 . Danach ist, mangels irgendwelcher Gegenindizien, eine Verwerflichkeit der tatbestandsmäßigen Nötigungshandlung anzunehmen. Ε nimmt auch nicht an, daß Tatsachen vorliegen, die seine Tat rechtfertigen würden. Auch Entschuldigungsgründe sind nicht ersichtlich. Ε hat sich daher neben dem vollendeten Totschlag auch einer vollendeten Nötigung schuldig gemacht 263 .
Zwischenbemerkung Es ist für das Verständnis des Systems der Normen, die dem Strafrecht zugrunde liegen, oder wenigstens für das Verständnis eines wichtigen Teils dieses Systems erforderlich, ja entscheidend, sich den Zusammenhang der Fälle 1 a, 1 b, 2 a und 2 b vor Augen zu halten und klarzumachen. Die Situationen aller dieser Fälle sind primär Aggressivnotstandssituationen, d. h. solche Situationen, in denen einem Rechtsgut (d. i. jeweils das Rechtsgut des X) eine Gefahr droht, die allein dadurch abgewendet werden kann, daß in die rechtlich anerkannten Interessen eines am Zustandekommen der Situation unbeteiligten Dritten (d. i. jeweils der E) eingegriffen wird. Sie sind darüber hinaus Aggressivnotstandssituationen der allgemeinsten Art, d. h. solche, die sich dadurch auszeichnen, daß dem Dritten (also E) keine speziellen Obhutspflichten dem bedrohten
25
Siehe auch unten S. 106 zu Fall 5 a. Vgl. etwa Dreher/Tröndle, StGB, 43. Aufl. 1986, 9 zu §240. 261 Zur Freiheitsberaubung siehe oben S.81. 26
88
Kapitel II
Rechtsgut (des X) gegenüber auferlegt sind. § 34 StGB ist seinem Regelungsgehalt nach auf genau diese Aggressivnotstandssituationen zugeschnitten. Die Vorschrift regelt die Frage, ob und, wenn ja, wann der Gefährdete oder ein anderer (d.i. jeweils der A) zugunsten des Gefährdeten in die rechtlich anerkannte Interessensphäre des unbeteiligten Dritten (des E) eingreifen darf; und zwar gibt sie, wenn man von § 34 Satz 2 StGB weiterhin zunächst einmal absieht, eine Befugnis zum Eingriff (vgl. § 34 Satz 1 StGB: „...handelt nicht rechtswidrig..."), wenn das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt. Deshalb hatte Α im Falle 1 a eine solche Eingriffsbefugnis, die sein deliktstatbestandsmäßiges Handeln rechtfertigte. Stets dann jedoch, wenn es nicht der Fall ist, daß das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt, besteht eine derartige Eingriffsbefugnis nicht. Tatbestandsmäßiges Handeln, wie im Falle 1 b das Handeln des A, bleibt rechtswidrig. Mit der Abwehr des Aggressivnotstandseingriffs würde der zunächst unbeteiligte Dritte (E) nicht selten eine gegen das ursprünglich gefährdete Rechtsgut gerichtete tatbestandsmäßige - und also indiziell verbotene Handlung begehen (im Fall 2 a einen Totschlag, im Fall 2 b eine Sachbeschädigung 27 ). Doch ist die solchermaßen tatbestandsmäßige Handlung keineswegs immer rechtswidrig. Sie ist manchmal rechtswidrig (wie im Fall 2 a) und manchmal nicht rechtswidrig (wie im Fall 2 b). Dabei besteht zwischen der Frage der Rechtswidrigkeit der gegen das ursprünglich gefährdete Rechtsgut gerichteten Handlung (des E) und der Frage, ob der ursprünglich Gefährdete (X) oder sein Helfer (A) ein Aggressivnotstandsrecht haben oder nicht, ein Korrespondenzverhältnis. Dieses Korrespondenzverhältnis schlägt sich bei der Erörterung der Frage nach der Rechtswidrigkeit jener Handlung (des E) so nieder, daß zu fragen ist, ob auf der Seite des ursprünglich unbeteiligten Dritten (eben des E) eine Defensivnotstandsbefugnis besteht oder nicht. Dabei gilt die Regel: Stets dann, wenn auf der Seite des ursprünglich Gefährdeten oder seines Helfers eine Aggressivnotstandsbefugnis besteht, besteht auf der Seite des zunächst nicht beteiligten Dritten keine Defensivnotstandsbefugnis (so in Fall 2 a). Und stets dann, wenn auf der Seite des ursprünglich Gefährdeten oder seines Helfers keine Aggressivnotstandsbefugnis besteht, besteht auf der Seite des zunächst unbeteiligten Dritten eine Defensivnotstandsbefugnis (so in Fall 2 b).
27
Von der in den Fällen 2 a und 2 b jeweils begangenen Nötigung ist an dieser Stelle abzusehen, weil sich die Nötigung jeweils nicht gegen das ursprünglich bedrohte Rechtsgut, sondern gegen den virtuellen Retter Α richtet.
Zwischenbemerkung
89
Das sieht in einer Übersicht folgendermaßen aus: Auf der Seite des ursprünglich
Deshalb hat der zunächst
Gefährdeten besteht
unbeteiligte Dritte
eine Aggressivnotstandsbefugnis
keine Defensivnotstandsbefugnis
keine Aggressivnotstandsbefugnis
eine Defensivnotstandsbefugnis
Von einer Defensivnotstandsbefugnis darf dabei deshalb gesprochen werden, weil der ursprünglich unbeteiligte Dritte (der E) durch den drohenden Aggressivnotstandseingriff jetzt selbst in seinen Rechtsgütern gefährdet und damit zum sekundär Beteiligten wird und weil die so entstandene Gefahr dem ursprünglich gefährdeten Rechtsgut angelastet, zugeschrieben werden muß. Nun kann aber und muß sogar, wenn das Normensystem durchsichtig gemacht werden soll, die Sprache der Befugnisse, in der bis hierher gesprochen wurde, in eine Sprache übersetzt werden, in der von den Pflichten der primär und sekundär Beteiligten die Rede ist. Es besteht nämlich auch ein Korrespondenzverhältnis zwischen den Befugnissen, die in einer Notstandslage gewährt, und den Pflichten, die in dieser Lage auferlegt sind. Das gilt zunächst für den in der Situation von der Notstandsgefahr ursprünglich Betroffenen. Hat der ursprünglich Gefährdete nämlich nicht die Befugnis, zugunsten seines bedrohten Rechtsguts in die rechtlich geschützte Interessenssphäre eines Dritten einzugreifen, dann kann man sagen, daß er die Pflicht hat, die ihm drohende Gefahr auszuhalten. Hat der ursprünglich Gefährdete dagegen eine derartige Eingriffsbefugnis, dann kann man sagen, daß er nicht die Pflicht hat, die drohende Gefahr auszuhalten. Doch sind diese Überlegungen hier nur der Vollständigkeit halber anzustellen. Denn wichtiger sind an dieser Stelle die Pflichten des zunächst unbeteiligten und erst durch den drohenden (Aggressiv-)Notstandseingriff in die Situation einbezogenen Dritten (des E). Haben der ursprünglich Gefährdete oder sein Helfer eine Befugnis, in die rechtlich geschützten Interessen des Dritten einzugreifen, dann ist dieser auch verpflichtet, den Eingriff und die mit dem Eingriff verbundene Beeinträchtigung seiner Interessen zuzulassen. Haben der ursprünglich Gefährdete oder sein Helfer dagegen keine Eingriffsbefugnis, dann hat der Dritte auch keine Pflicht zur Zulassung des Eingriffs. Die Pflicht, den fraglichen Notstandseingriff zuzulassen, sei als „Duldungspflicht" bezeichnet. Wann sie besteht und wann sie nicht besteht, zeigt die folgende Übersicht:
90
Kapitel II
A u f der Seite des ursprünglich Gefährdeten besteht
Deshalb besteht auf der Seite des
eine Aggressivnotstandsbefugnis
eine Pflicht, den Notstandseingriff zu dulden
keine Aggressivnotstandsbefugnis
keine Pflicht, den Notstandseingriff
zunächst unbeteiligten Dritten
zu dulden
Daraus ergibt sich, daß von der Aggressivnotstandsbefugnis des einen auf die entsprechende Duldungspflicht des anderen geschlossen werden kann und umgekehrt. Die Aggressivnotstandsbefugnis und die entsprechende Duldungspflicht implizieren einander 28 . Es ist an dieser Stelle erforderlich, sich die Notstandssituationen in der Besonderheit ihres Charakters noch einmal deutlich zu vergegenwärtigen. Sie sind dadurch gekennzeichnet, daß eine unausweichliche Gefahr für ein Rechtsgut besteht. Darüber hinaus gibt es einen zunächst unbeteiligten Dritten, um dessen Verpflichtung es geht. Bis jetzt ist jedoch nur davon gesprochen worden, daß dieser Dritte eine Duldungspüicht, d.h. die Pflicht haben oder nicht haben kann, einen zur Rettung des bedrohten Rechtsguts erforderlichen Notstandseingriff zuzulassen. Indessen ist es offensichtlich, daß es bei dem Dritten nicht nur um Duldungspflichten gehen kann. Die Situation braucht keineswegs stets so beschaffen zu sein, daß der Dritte nur etwas zulassen müßte, um das ursprünglich gefährdete Rechtsgut zu retten, sie kann durchaus auch so aussehen (und sieht nicht selten so aus), daß der Dritte zur Rettung selbst etwas aktiv tun müßte. Daraus folgt, daß es bei dem Dritten auch um die Pflicht zur Vornahme einer Handlung gehen kann, daß ihm, wie es gemeinhin heißt, auch eine „Handlungspüicht" auferlegt sein kann. In der Tat gibt es Handlungspflichten in Notstandssituationen, deren Verletzung im geltenden StGB mit Strafe bedroht ist. Von diesen Handlungspflichten und ihrer Verletzung wird bei der Fallgruppe 3 (und auch noch später) die Rede sein. Einleitend dazu sei nur noch auf die Beziehung hingewiesen, die zwischen den Begriffen „Duldungspflicht" und „Handlungspflicht" einerseits und den Begriffen „Begehungsdelikt" und „Unterlassungsdelikt" andererseits besteht:
28
Deshalb ist es auch gleichgültig, ob im Gesetz eine Aggressivnotstandsbefugnis des Gefährdeten oder seines Helfers statuiert wird - wie in § 3 4 Satz 1 S t G B oder ob das Gesetz statt dessen dem Dritten eine Duldungspflicht auferlegt - wie in § 9 0 4 Satz 1 B G B .
Fallgruppe 3
91
Eine Duldungspflicht ist stets eine Unterlassungspflicht 29 . Unterlassungspflichten aber werden dadurch verletzt, daß die verbotene Handlung vorgenommen wird. Also ist die Verletzung einer Unterlassungspflicht stets ein BegehungsdtYvkx.. Folglich ist auch die Verletzung einer DuldungspiWcht stets ein Begehungsdelikt. Dieses Verhältnis hat sich in Fall 2 a gezeigt. Ε hatte dort seine Pflicht, den Notstandseingriff zu dulden, verletzt, und deshalb war sein Verhalten von vornherein als ein Totschlag durch aktives Tun betrachtet worden. Auch im Fall 2 b wäre es eine rechtswidrige Sachbeschädigung durch aktives Tun gewesen, wenn Ε verpflichtet gewesen wäre, den Notstandseingriff zuzulassen. Pflichten zur Vornahme einer Handlung - Handlungspflichten - werden dagegen durch die Unterlassung der gebotenen Handlung verletzt. Also ist die Verletzung einer Handlungspflicht stets ein Unterlassungsdelikt. Da bei der Fallgruppe 3 Handlungspflichten in Notstandssituationen in den Blick kommen werden, ist es deshalb kein Zufall, daß von einem Unterlassungsdelikt die Rede sein wird.
Fallgruppe 3: Zur allgemeinen Obhutshandlungspflicht (§ 323 c StGB) Fall 3a: X hat beim Baden in einem See einen Wadenkrampf bekommen und ist im Begriff, zu ertrinken. Der Spaziergänger E, der die Möglichkeit hätte, in ein bereitstehendes Boot zu springen, zu X hinzurudern und X aus dem Wasser herauszuholen, unterläßt es, dies zu tun. X ertrinkt. Er wäre gerettet worden, wenn Ε ihn auf die beschriebene Weise mit dem Boot aus dem Wasser herausgeholt hätte. Fall 3 b: Das Spielzeugschiff des Kindes X ist im Begriff, in der Mitte eines Sees unterzugehen und dadurch vernichtet zu werden. Der Spaziergänger E, der das Spielzeug mittels eines bereitstehenden Bootes hätte aus dem Wasser herausholen können, unterläßt es, dies zu tun. Das Spielzeug wäre nicht zerstört worden, wenn Ε es aus dem Wasser herausgeholt hätte. Es geht in beiden Fallen um die Strafbarkeit des E.
Aufbereitung des § 323 c StGB zur Vorbereitung der Lösung Mangels zusätzlicher Hinweise auf eine mögliche Garantenstellung des Ε kommt sowohl im Fall 3 a wie im Fall 3 b allein eine Strafbarkeit des Ε aus § 323 c StGB in Betracht. N u n ist aber der Zusammenhang zwischen den Fällen 1 a, 2 a, 3 a einerseits und den Fällen 1 b, 2 b und 3 b andererseits offensichtlich. § 323 c StGB ist deshalb mit § 34 StGB zu vergleichen. Diesen Vergleich wollen wir möglichst sorgfältig durchführen: 29
Womit nicht gesagt ist, daß jede Unterlassungspflicht auch eine Duldungspflicht ist.
92
Kapitel II
Die Situation, in der sich der ertrinkende X befindet, wird in § 323 c StGB als die eines „Unglücksfalls" beschrieben. Als „Unglücksfall" gilt in Anlehnung an eine von der Rechtsprechung gegebene Definition gemeinhin „ein plötzlich eintretendes äußeres Ereignis, das eine erhebliche Gefahr für ein Rechtsgut bringt oder zu bringen droht" 3 0 . Neben der Situation eines „Unglücksfalls" werden in § 323 c StGB auch noch „gemeine Gefahr" und „gemeine N o t " als Situationen genannt, in denen ein Hilfeleistungshandeln geboten ist. Es liegt auf der Hand, daß diese Umschreibungen von Notlagen der „gegenwärtigen Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut" in § 34 Satz 1 StGB entsprechen. Zwar mag es sein, daß der Umfang - der Anwendungsbereich - der Begriffe „Unglücksfall", „gemeine Gefahr", „gemeine Not", auch wenn sie zusammengenommen werden, enger ist als der Umfang des Begriffs „gegenwärtige Gefahr für ein Rechtsgut". Das ist hier nicht weiter zu untersuchen. Aber es ist jedenfalls offensichtlich, daß bei einem „Unglücksfall" und bei „gemeiner Gefahr oder Not" stets eine „gegenwärtige Gefahr für ein Rechtsgut" besteht. Wer es in der Situation eines solchen „Unglücksfalls" usw. unterläßt, Hilfe zu leisten - „wer . . . nicht Hilfe leistet" (§ 323 c StGB) - , wird, wenn bestimmte weitere Voraussetzungen erfüllt sind, bestraft. Das heißt: § 323c StGB geht davon aus, daß bei einem „Unglücksfall", bei „gemeiner Gefahr oder Not" unter bestimmten weiteren Voraussetzungen eine Pflicht besteht, aktiv Hilfe zu leisten; und zwar ist jeder beliebige - unbeteiligte - Dritte (vgl. das „Wer" am Beginn der Vorschrift) zur Hilfeleistung verpflichtet. Diese Handlungspflicht entspricht der Duldungspflicht des unbeteiligten Dritten in § 34 StGB, die aus der dort statuierten Eingriffsbefugnis des Gefährdeten oder seines Helfers („wer . . . eine Tat begeht, handelt nicht rechtswidrig") resultiert. Allerdings genügt nach § 323 c StGB nicht schon ein „Unglücksfall", eine „gemeine Gefahr oder Not", um die Hilfeleistungspflicht entstehen zu lassen, sondern die Hilfeleistung muß darüber hinaus auch „erforderlich" sein. „Erforderlich" ist die Hilfeleistung beispielsweise nicht, wenn sich Dritte bereits wirksam um eine Rettung des gefährdeten Rechtsguts bemühen. Diese „Erforderlichkeit" der Hilfeleistung korrespondiert der Unabwendbarkeit der Notstandsgefahr auf eine andere Weise als durch den Notstandseingriff, also dem Merkmal „nicht anders abwendbar" in § 34 StGB - was freilich wiederum nicht heißen soll, daß die Begriffe exakt dasselbe bedeuten. Damit bleibt als letztes Kriterium des § 323 c StGB die Zumutbarkeitsklausel dieser Bestimmung, nach der die Unterlassung der Hilfeleistung nur dann bestraft werden soll, wenn die Hilfeleistung dem virtuell 30
Vgl. etwa Lackner a.a.O., 2a zu §323c.
Fallgruppe 3
93
Pflichtigen 31 „den Umständen nach zuzumuten, insbesondere ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten möglich ist". Zu dieser Klausel wird nicht selten eine Lehre vertreten, die die „Zumutbarkeit" nicht als Voraussetzung für die Pflicht zum Handeln (oder umgekehrt: nicht als Voraussetzung für die Rechtswidrigkeit einer Unterlassung der Hilfeleistung) nimmt, sondern bei der Erörterung der „Schuld" unterbringen will 32 . Diese Lehre kann indessen von vornherein nicht richtig sein. Denn hätte sie recht, wäre also die Zumutbarkeit der Hilfeleistung in § 323 c S t G B nicht Voraussetzung der Hilfeleistungspflicht, dann hieße das, daß der virtuell Pflichtige die Hilfeleistung schon immer dann rechtswidrig unterläßt (und also den Tatbestand des § 323 c StGB erfüllt), wenn in der Situation eines Unglücksfalls usw. die Hilfe erforderlich und ihm faktisch möglich ist. Dann wäre es ζ. B. eine rechtswidrige Unterlassungstat, wenn jemand die ihm faktisch mögliche Lebensrettung eines Verunglückten unterläßt, obwohl er dabei sein eigenes Leben verlieren würde. Und es wäre ebenfalls eine rechtswidrige Unterlassungstat, wenn jemand bei der Gefahr einer erheblichen Verschlechterung bloß des Gesundheitszustandes eines Verunglückten es unterläßt, sein eigenes Leben in die Schanze zu schlagen.
Man muß sich dazu nur vor Augen halten, daß § 323 c StGB sich an jeden beliebigen Dritten wendet (der die Möglichkeit zur Hilfeleistung hat). Das aber heißt: Es wäre eine Konsequenz dieser Lehre, daß ein beliebiger Dritter - ein Spaziergänger, der zufällig des Weges kommt - bei einem Unglücksfall verpflichtet wäre (und im Unterlassungsfall eine rechtswidrige Unterlassungstat begehen würde), zugunsten der Rettung eines bedrohten Rechtsguts vielleicht sogar viel höherwertige eigene Rechtsgüter zu opfern. Das wird nicht einmal von einer rigorosen Moral gefordert 33 , und kann vom Strafrecht erst recht nicht verlangt werden ganz abgesehen davon, daß eine solche Forderung, wie auszuführen sein wird, in das heute gültige Strafrechtssystem auch gar nicht hineinpassen würde. Ja, eine derartige Forderung würde nicht einmal mit dem Wortsinn der Zumutbarkeitsklausel zusammenpassen, die man freilich in allen ihren Merkmalen betrachten muß 3 4 .
31
32
33
34
Als „virtuell Pflichtiger" wird hier und im folgenden derjenige bezeichnet, im Hinblick auf den untersucht wird, ob ihm eine Pflicht auferlegt ist oder nicht. Nachweise bei Naucke in: Festschrift für Welzel, 1974, S. 761 ff. - Naucke macht gerade dieses Problem zum Gegenstand seines Beitrages. Zu einer derartigen Forderung würde nicht einmal eine krude utilitaristische Moral kommen. - Zum Utilitarismus vgl. unten S. 112 f. Das soll vor allem heißen: Auch die Regelbeispiele des § 3 2 3 c StGB müssen in die Überlegung einbezogen werden, wie dies unten auf S. 95 f. geschehen wird. Denn diese Regelbeispiele ( „ . . . obwohl dies . . . ohne erhebliche eigene Gefahr
94
Kapitel II
Nun könnte man freilich auf den Gedanken verfallen, an dieser Überlegung stimme deshalb etwas nicht, weil es ja den § 34 StGB gebe, der als Rechtfertigungsgrund nicht nur (wie bisher besprochen) für Begehungstaten, sondern auch für Unterlassungstaten in Betracht komme. Aber das wäre ein höchst oberflächlicher Einwand. § 34 StGB ist nämlich auf § 323 c StGB (und generell auf Unterlassungstaten) von vornherein nicht anwendbar. Die Bestimmung müßte vielmehr völlig umgeschrieben werden, wenn sie auf die Fälle des § 323 c StGB passen sollte, und müßte etwa als Absatz 2 des § 323 c StGB folgendermaßen lauten: „Wer bei einem Unglücksfall, bei gemeiner Not oder Gefahr die erforderliche Hilfeleistung unterläßt, handelt nur rechtswidrig, wenn bei Abwägung der widerstreitenden Interessen das zu schützende Interesse das Interesse, das durch die Hilfeleistung beeinträchtigt würde, wesentlich überwiegt (und wenn die erforderliche Hilfeleistungshandlung außerdem ein angemessenes Mittel der Gefahrabwendung darstellt)."
Die Wortfolge in § 34 S t G B „ . . . handelt nicht rechtswidrig, wenn . . . " müßte also, um für § 323 c StGB zu passen, durch die Wortfolge handelt nur rechtswidrig, wenn . . . " ersetzt werden, und diese glatte Umkehrung in sein Gegenteil könnte auch die kühnste „Auslegungs"akrobatik nicht aus § 34 S t G B herauslesen. Deshalb bleibt nichts anderes übrig als anzunehmen, daß der Zumutbarkeitsklausel genau die Funktionen zukommen, die eine Bestimmung wie der soeben - als Umkehrung des § 34 StGB - formulierte Zusatz zu § 3 2 3 c StGB haben würde. Es bleibt m.a. W. nichts anderes übrig als anzunehmen, daß die Zumutbarkeit der Hilfeleistung eine Bedingung für die Pflicht zur Hilfeleistung ist, daß also die Hilfeleistungspflicht nur dann besteht und damit auch die Unterlassung der Hilfe nur dann rechtswidrig ist, wenn die Hilfeleistung dem Pflichtigen im Sinne des § 323 c StGB „zugemutet" werden kann 35 . Denn nur dann läßt sich vermeiden, daß unbeteiligte Dritte zu Leistungen verpflichtet werden, die in ihrem Wert den Wert des Interesses übersteigen, von dem der drohende Schaden abgewendet werden soll. Und nur dann lassen sich die Regelbeispiele für die Unzumutbarkeit in die Vorschrift des § 323 c StGB widerspruchsfrei einbauen. Vor allem aber nur dann läßt sich die Harmonie zwischen § 323 c StGB und § 34 S t G B herstellen, die angenommen werden muß, wenn es sich bei dem dem Strafrecht zugrunde liegenden
35
. . . möglich ist . . e r s t e s Regelbeispiel; „ . . . obwohl dies . . . ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten möglich ist . . z w e i t e s Regelbeispiel) präzisieren die Zumutbarkeitsklausel des § 323 c StGB. Daraus folgt, daß die Zumutbarkeitsklausel des § 323 c StGB kein bloßes „Schuldelement" bezeichnet.
Fallgruppe 3
95
Normensystem um ein konsistentes System und nicht bloß um einen Haufen beliebig zusammengewürfelter Regeln handeln soll. Der Zumutbarkeitsklausel ist jedoch nicht nur die Funktion zuzuweisen, wie sie eine der obigen Umkehrung des § 34 StGB entsprechende Vorschrift haben würde, sie ist darüber hinaus auch inhaltlich so aufzufüllen, daß sie jener Umkehrung des § 34 StGB gleichkommt. Denn wiederum nur dann läßt sich die notwendige Konsistenz innerhalb des § 323 c StGB sowie zwischen § 323 c StGB und § 34 StGB herstellen 36 . Zum ersten ist es so, daß die Umkehrung des § 34 StGB allein es erlaubt, die Regelbeispiele der Zumutbarkeitsklausel in die Vorschrift des § 323 c StGB zu integrieren. Das gilt zunächst für das erste Regelbeispiel: Gesetzt, der virtuell hilfeleistungspflichtige und zur Hilfeleistung fähige Ρ kann den in einem halb zugefrorenen See Ertrinkenden nur dann retten, (a) wenn er (objektiv) Gefahr läuft, selbst unter das Eis zu geraten und zu ertrinken, (b) wenn er (objektiv) Gefahr läuft, sich bei der Rettung ein chronisches Nierenleiden zuzuziehen, (c) wenn er (objektiv) Gefahr läuft, sich bei der Rettung einen Schnupfen zu holen, dann ist Ρ nach der Umkehrung des § 34 StGB in den Fällen (a) und (b) zur Hilfeleistung nicht verpflichtet, weil in diesen Fällen das zu schützende Interesse - das Leben des Ertrinkenden - das durch die Hilfeleistung gefährdete und also ex ante gesehen zu beeinträchtigende Interesse - das Leben oder die Gesundheit des Ρ - nicht wesentlich überwiegt. Dasselbe sagt auch das erste Regelbeispiel, denn in den Fällen (a) und (b) besteht eine „erhebliche eigene Gefahr" für den virtuellen Retter. Folglich paßt das erste Regelbeispiel in die Umkehrung des § 34 StGB genau hinein.
36
Was jetzt folgt, ist keine „Interpretation" des § 3 2 3 c StGB; jedenfalls dann nicht, wenn das Wort „Interpretation" in dem heute üblichen unscharfen Sinn genommen wird. Die „Zumutbarkeitsklausel" läßt sich nicht in der beliebten Manier „auslegen". „Zumuten" heißt „fordern", „verlangen". Was also „zuzumuten" ist, das ist das, was „gefordert", was „verlangt" werden kann. Wenn § 323 c StGB aber davon spricht, daß die Hilfeleistung nur dann (normativ) geboten ist, wenn sie „gefordert", „verlangt" werden kann, dann läuft die Bestimmung insoweit leer, und deshalb kann auch (sieht man von den Regelbeispielen einmal ab) nichts aus ihr herausgeholt werden. Die Zumutbarkeitsklausel enthält daher geradezu die Aufforderung, § 323 c StGB inhaltlich so auszufüllen, daß ein widerspruchsfreies System hergestellt wird. Mehr aber kann man aus der Klausel - wiederum abgesehen von ihren Regelbeispielen (zu diesen oben Fn. 34) - nicht herausholen, ohne sich selbst etwas vorzumachen.
96
Kapitel II
Ähnliches gilt für das zweite Regelbeispiel. Wer sein Kind am Abgrund stehen lassen muß, um bei einem Unglücksfall zu helfen, braucht dies nicht zu tun, weil die Hilfeleistung mit der „Verletzung einer anderen wichtigen Pflicht", nämlich der speziellen Obhutspflicht des virtuell Pflichtigen seinem Kind gegenüber, verbunden wäre. Auch dies paßt in die Umkehrung des § 34 StGB hinein, weil eben auch dies ein Fall ist, bei dem das zu schützende Interesse das durch die Hilfeleistung zu beeinträchtigende Interesse nicht wesentlich überwiegt 37 . Entscheidend aber ist zum zweiten das ganz allgemeine Argument, daß in zwei prinzipiell gleichen Situationen die Handlungspflicht eines unbeteiligten Dritten nicht weiter gehen darf als seine entsprechende Duldungspflicht. Hier gilt der a-fortiori-Satz: Nur dann, wenn, und nur
soweit, als jemand verpflichtet ist, die Verhinderung einer Rettung zu unterlassen, kann er auch verpflichtet sein, die Rettung selbst aktiv
handelnd herbeizuführen. Denn mit der Pflicht zu aktiver Hilfeleistung wird der virtuell Pflichtige ceteris paribus stärker belastet als mit der bloßen Pflicht zur Duldung einer Rettung. Es kann aber nicht sein, daß unter sonst gleichen Umständen die stärkere Belastung eher aufgebürdet wird als die geringere. Daraus folgt, daß die in § 323 c StGB für den unbeteiligten Dritten statuierte Pflicht zu aktiver Hilfeleistung nicht weiter gehen kann als die in § 34 StGB implizierte Duldungspflicht eben dieses unbeteiligten Dritten, und daraus wiederum folgt, daß die Hilfeleistungspflicht des § 323 c StGB nur dann bestehen kann, wenn das zu schützende Interesse das durch die Hilfe zu beeinträchtigende Interesse wesentlich überwiegt (und wenn die Hilfe darüber hinaus ein angemessenes Mittel der Gefahrabwendung ist). Es folgt m. a. W., daß die Hilfeleistungspflicht jedenfalls nicht weiter gehen kann, als in der oben formulierten Umkehrung des § 34 StGB beschrieben ist 38 . Freilich könnte die in § 323 c StGB festgelegte Hilfspflicht an engere Voraussetzungen gebunden sein als die aus § 34 StGB folgende Duldungspflicht. Doch sind Anhaltspunkte dafür nicht vorhanden. Auch deuten die Regelbeispiele des § 323 c StGB darauf hin, daß die Umkehrung des § 34 StGB, die von der Gleichheit der Voraussetzungen für die Duldungspflicht und die Handlungspflicht ausgeht, genau das Richtige trifft. Deshalb ist es am meisten plausibel, die Zumutbarkeitsklausel des § 323 c StGB nach dem Muster der obigen Umkehrung des § 34 StGB aufzufüllen. 37
38
Daß der speziell Obhutspflichtige (der Vater) seine Pflichten gegenüber dem andernfalls gefährdeten - Kind erfüllt, ist danach auch als ein Interesse des Vaters im Sinne des § 34 StGB zu verstehen. Nähere Ausführungen zu diesem Punkt finden sich in meinem Beitrag in JuS 79, 385 ff.
Fallgruppe 3
97
Erörterung des Falles 3 a Z«r Lösung: Da X vom Tode des Ertrinkens bedroht ist, ist von einem „Unglücksfall" im Sinne des § 323 c StGB auszugehen. E, der die Möglichkeit hatte, den X mittels des Bootes zu retten, hat es unterlassen, diese Hilfe zu leisten. Die Hilfeleistung war auch erforderlich; vor allem ist es offensichtlich, daß X sich nicht selbst retten konnte. Sie war auch zumutbar, was sich vor allem daraus ergibt, daß das Leben des X als das durch die Hilfeleistung zu schützende Interesse die Interessen des E, die durch die Hilfeleistung beeinträchtigt worden wären, wesentlich überwiegt. Denn die durch die Hilfeleistung beeinträchtigten Interessen des Ε sind allein das Interesse an der geruhsamen Fortsetzung seines Spaziergangs und das Interesse daran, seine Kleider nicht schmutzig zu machen. Der objektive Tatbestand des § 323 c StGB ist also erfüllt. Dasselbe gilt für den subjektiven Tatbestand. Rechtfertigungsgründe greifen nicht ein; Ε nimmt auch nicht an, daß eine Rechtfertigungslage besteht. Ebenso greifen irgendwelche Entschuldigungsgründe nicht ein. Ε hat sich also einer unterlassenen Hilfeleistung schuldig gemacht. Erörterung des Falles 3 b Zur Lösung: Hier mag es zweifelhaft sein, ob ein „Unglücksfall" gegeben ist. Wer die von der Rechtsprechung gelieferte, oben wiedergegebene Definition akzeptiert und wörtlich nimmt, müßte freilich von einem Unglücksfall sprechen. Denn daß auch im Fall 3 b ein Rechtsgut in erheblicher Gefahr ist, wird nicht gut zu bezweifeln sein. Immerhin mag man sich sträuben, einen „Unglücksfall" anzunehmen. Das liegt daran, daß die Annahme einer strafbewehrten Hilfeleistungspflicht im Fall 3 b höchst unplausibel ist. Nimmt man daher an, es liege kein Unglücksfall vor, dann bedeutet das letztlich, die Interessenabwägung, die im Rahmen der Zumutbarkeitsklausel vorzunehmen ist, teilweise in den Begriff des „Unglücksfalls" zu verlagern. Verschiebungen solcher Art münden freilich allzu leicht in eine Begriffsverwirrung ein. Man sollte sich daher, wenn man die Verlagerung schon vornimmt, wenigstens über die Art und Weise des Vorgehens klar sein. Wird ein Unglücksfall angenommen, dann sind die übrigen Tatbestandsmerkmale des § 323 c StGB erfüllt. Jedoch ist die Hilfeleistung nicht zuzumuten, weil das zu schützende Interesse - das Interesse des Kindes am Besitz und an der Unversehrtheit seines Spielzeugs - das Interesse, das durch die Hilfeleistung beeinträchtigt würde, nicht wesentlich überwiegt; wobei die letzteren Interessen des Ε wieder die an der geruhsamen Fortsetzung des Spazierganges und an der Unversehrtheit seiner Kleidung sein mögen. Bei Fall 3 b ist der Tatbestand des § 323 c StGB jedenfalls aus dem einen oder dem anderen Grunde nicht erfüllt.
98
Kapitel II
Zwischenbemerkung Die Fallgruppen 1, 2 und 3 machen deutlich, wie eng die Befugnisse, in Notstandssituationen in die rechtlich anerkannten Interessen unbeteiligter Dritter einzugreifen, mit den entsprechenden Duldungspflichten der unbeteiligten Dritten zusammenhängen und wie diese Duldungspflichten wiederum den Handlungspflichten korrespondieren, die unbeteiligten Dritten in Notstandssituationen auferlegt sein können. Die Duldungspflichten und die Handlungspflichten unbeteiligter Dritter in Notstandssituationen sollen im folgenden „allgemeine Obhutspflichten" genannt werden. Für die Entstehung einer allgemeinen Obhutspflicht - sei es einer Duldungs-, sei es einer Handlungspflicht - wichtig ist vor allem die Wertproportion, die zwischen dem in der Notstandssituation ursprünglich gefährdeten Interesse und dem Interesse des unbeteiligten Dritten besteht, das zur Rettung des ersten Interesses aufgeopfert werden muß. Hier gilt die folgende Übersicht, die sich an § 34 und § 323 c StGB orientiert:
Wenn das ursprünglich gefährdete im Verhältnis zum Interesse des unbeteiligten Dritten
dann k a n n eine allgemeine Obhutspflicht, d. h. eine Handlungspflicht nach § 323 c StGB oder eine Duldungspflicht nach § 34 StGB
wesentlich höherwertig ist,
entstehen,
höherwertig, wenn auch nicht wesentlich höherwertig ist,
nicht entstehen,
gleichwertig ist,
nicht entstehen,
geringerwertig, wenn auch nicht wesentlich geringerwertig ist,
nicht entstehen,
wesentlich geringerwertig ist,
nicht entstehen.
Oder knapper gefaßt: In der Situation
gilt für die allgemeine Obhutspflicht I I I I I
> =