Strafgesetzbuch. Leipziger Kommentar: Band 3 §§ 61 bis 79b [10. völlig neu bearb. Aufl. Reprint 2013] 9783111337340, 9783110105582


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German Pages 1044 [1048] Year 1985

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Table of contents :
Inhaltsübersicht
Dritter Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat
Sechster Titel. Maßregeln der Besserung und Sicherung
Vorbemerkungen zu den §§ 61 ff
§§ 61, 62
§§ 63–67
§§ 67 a–67 g
Vorbemerkungen zu den §§ 68 ff
§§ 68–68 g
§§ 69–69 b
§§ 70–70 b
§§71,72
Siebenter Titel. Verfall und Einziehung
Vorbemerkungen zu den §§ 73 ff
§§ 73–75
§§76, 76 a
Vierter Abschnitt. Strafantrag, Ermächtigung, Strafverlangen
Vorbemerkungen zu den §§ 77 ff
§§ 77–77 e
Fünfter Abschnitt. Verjährung
Erster Titel. Verfolgungsverjährung
Vorbemerkungen zu den §§ 78 ff
§§ 78–78 c
Zweiter Titel. Vollstreckungsverjährung
§§ 79–79 b
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Strafgesetzbuch. Leipziger Kommentar: Band 3 §§ 61 bis 79b [10. völlig neu bearb. Aufl. Reprint 2013]
 9783111337340, 9783110105582

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Großkommentare der Praxis

w DE

G

Strafgesetzbuch Leipziger Kommentar Großkommentar Zehnte, völlig neu bearbeitete Auflage

herausgegeben von

Hans-Heinrich Jescheck Wolfgang Ruß Günther Willms

Dritter Band §§ 61 bis 79 b

W DE 1985

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Zitierweise: ζ. Β. Tröndle LK 10. Aufl. § 3 Rdn. 5

CIP-Kurztitelaufnahme

der Deutschen Bibliothek

Strafgesetzbuch: Leipziger Kommentar; Großkommentar / hrsg. von Hans-Heinrich Jescheck . . . — Berlin; New York: de Gruyter (Großkommentare der Praxis) Früher mit d. Angabe: Begr. von Ludwig Ebermeyer... — Teilw. hrsg. von Paulheinz Baldus u. Günther Willms NE: Ebermayer, Ludwig [Begr.]; Baldus, Paulheinz [Hrsg.]; Jescheck, Hans-Heinrich [Hrsg.] Bd. 3. §§ 61 bis 79 b. - 10., völlig neu bearb. Aufl. - 1985. ISBN 3-11-010558-6

Hinweis U m in der Erscheinungsweise nicht festgelegt zu sein u n d auf diese Weise Bedürfnissen der Praxis besser gerecht werden zu k ö n n e n , wurde darauf verzichtet, die B ä n d e durchgehend zu paginieren. Durch V e r w e n d u n g der Randn u m m e r n sind Seitenzahlen — vor allem für das Zitieren — entbehrlich. D e r Verlag

© Copyright 1978/1979/1980/1983 by Walter de Gruyter & Co., 1000 Berlin 30. Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Printed in Germany. Satz und Druck: H. Heenemann G m b H & Co, Berlin 42 Bindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Buchgewerbe GmbH, Berlin 61

Inhaltsübersicht

Band 1 Erschienen Einleitung

8/1979

Bearbeiter Jescheck

ALLGEMEINER TEIL Erster Abschnitt. Das Strafgesetz Erster Titel. Geltungsbereich §§ l - i o

2/1978

Tröndle

Zweiter Titel. Sprachgebrauch §§11,12

2/1978

Tröndle

Zweiter Abschnitt. Die Tat Erster Titel. Grundlagen der Strafbarkeit Vorbemerkungen zu den §§ 13 ff § 13 § 14 Vorbemerkungen zu den §§ 15 ff §§ 1 5 - 1 8 §§ 1 9 - 2 1 Zweiter Titel. Versuch Vorbemerkungen zu den §§ 22 ff §§ 2 2 - 2 4 Dritter Titel. Täterschaft und Teilnahme Vorbemerkungen zu den §§ 25 ff § 25 Vorbemerkungen zu §§ 26, 27 §§ 2 6 - 2 9 §§30,31

(V)

8/1979 8/1979 8/1979 2/1980 2/1980 9/1978

Jescheck Jescheck Roxin Schroeder Schroeder Lange

10/1983 10/1983

Vogler Vogler

2/1978 2/1978 2/1978 2/1978 8/1979

Roxin Roxin Roxin Roxin Roxin

Band 2 Vierter Titel. Notwehr und Notstand Vorbemerkungen zu den §§ 32 ff §§ 32, 33 §§ 34, 35

12/1984 9/1982 12/1984

H. J. Hirsch Spendel H. J. Hirsch

Fünfter Titel. Straflosigkeit parlamentarischer Äußerungen und Berichte §§ 36,37 2/1978 Tröndle Dritter Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat Erster Titel. Strafen — Freiheitsstrafe — Vorbemerkungen zu den §§ 38 ff §§ 38, 39 — Geldstrafe — Vorbemerkungen zu den §§ 40 ff §§ 4 0 - 4 3 — Nebenstrafe — § 44 — Nebenfolgen — Vorbemerkungen zu den §§ 4 5 - 4 5 b §§ 4 5 - 4 5 b Zweiter Titel. Strafbemessung Vorbemerkung zu den §§ 46 ff §§ 4 6 - 5 0 §51

2/1978 2/1978

Tröndle Tröndle

2/1978 2/1978

Tröndle Tröndle

2/1978

Schäfer

2/1978 2/1978

Tröndle Tröndle

8/1979 8/1979 8/1979

G. Hirsch G.Hirsch Tröndle

Dritter Titel. Strafbemessung bei mehreren Gesetzesverletzungen Vorbemerkungen zu den 52 ff 9/1978 Vogler §§ 5 2 - 5 5 9/1978 Vogler Vierter Titel. Strafaussetzung zur Bewährung Vorbemerkungen zu den ι ι 56 ff 3/1981 §§ 5 6 - 5 6 e 3/1981 § 56 f 3/1985 3/1981 §§ 56 g—57 3/1985 §57 a 3/1981 §58

Ruß Ruß Ruß Ruß Ruß Ruß

Fünfter Titel. Verwarnung mit Strafvorbehalt. Absehen von Strafe Vorbemerkungen zu den §§ 59 ff 3/1981 Ruß §§ 5 9 - 5 9 c 3/1981 Ruß § 60 9/1982 G. Hirsch

(VI)

Band 3 Sechster Titel. Maßregeln der Besserung und Sicherung Vorbemerkungen zu den §§ 61 ff 9/1978 §§ 61, 62 9/1978 — Freiheitsentziehende Maßregeln — §§ 6 3 - 6 7 9/1978 §§ 67 a—67 g 11/1983 — Führungsaufsicht — Vorbemerkungen zu den §§ 68 ff 9/1978 §§ 6 8 - 6 8 g 9/1978 — Entziehung der Fahrerlaubnis — §§ 6 9 - 6 9 b 9/1978 — Berufsverbot — §§ 7 0 - 7 0 b 9/1982 — Gemeinsame Vorschriften — §§71,72 9/1982 Siebenter Titel. Verfall und Einziehung Vorbemerkungen zu den §§ 73 ff §§ 7 3 - 7 5 — Gemeinsame Vorschriften — §§76, 76 a

Hanack Hanack Hanack Horstkotte Hanack Hanack Rüth Hanack Hanack

12/1979 12/1979

Schäfer Schäfer

12/1979

Schäfer

Vierter Abschnitt. Strafantrag, Ermächtigung, Strafverlangen Vorbemerkungen zu den §§ 77 ff §§ 7 7 - 7 7 e

2/1985 2/1985

Jähnke Jähnke

Fünfter Abschnitt. Verjährung Erster Titel. Verfolgungsverjährung Vorbemerkungen zu den §§ 78 ff §§ 7 8 - 7 8 c

2/1985 2/1985

Jähnke Jähnke

Zweiter Titel. Vollstreckungsverjährung §§ 7 9 - 7 9 b

2/1985

Jähnke

(VII)

SECHSTER TITEL Maßregeln der Besserung und Sicherung Vorbemerkungen zu den §§ 61 ff Schrifttum Ancel Die neue Sozial Verteidigung (1970); Baumann Resozialisierungsgedanke und Rechtsgüterschutz im 1. und 2. Strafrechtsreformgesetz, DRiZ 1970 2; Baumann Strafrechtsreform ohne Gesamtparlament3 ZRP1974 77; Bockelmann Studien zum Täterstrafrecht, Teil I (1939), Teil II (1940); Bockelmann Schuld und Sühne (1957); Bruns Sicherungsmaßregeln und Verschlechterungsverbot, JZ1954 730; Bruns Richterliche Überzeugung bei Prognoseentscheidungen über Sicherungsmaßregeln, JZ 1958 647; Bruns Die Maßregeln der Sicherung und Besserung im StGB-Entwurf 1956, ZStW71 [1959] 210; Busch-Krille-Sarstedt Die Kontrolle der Ermessensfreiheit des Richters bei der Festsetzung von Strafen und sichernden Maßnahmen, ZStW 69 [1957] 99 (Sonderheft); Dreher Die Vereinheitlichung von Strafen und sichernden Maßregeln, ZStW 65 [1953] 481 ; Dünnebier Die Durchführung der Zweispurigkeit bei den freiheitsentziehenden Maßregeln im E 1960 eines StGB, ZStW 72 [1960] 32; Ehrhardt Über Behandlungsmöglichkeiten für Delinquenten nach dem deutschen Strafgesetzentwurf 1962, ZStW 76 [1964] 216; Eisenberg Strafe und freiheitsentziehende Maßnahme (1967 = Diss. Mainz 1967); Ellscheid-Hassemer Strafe ohne Vorwurf, Civitas 1970 27 ( = Lüderssen-Sack [Hrsg.], Seminar: Abweichendes Verhalten I I / l , 1975, S. 266); Exner Theorie der Sicherungsmittel (1914); Exner Erfahrungen mit den Maßregeln der Sicherung und Besserung, in: Arbeitsbericht über die Sitzung der Gesellschaft für deutsches Strafrecht, 1939, S. 91 ; Ferri Nouvi orizzonti del diritto e della procedura penale (1881); Ferri Das Verbrechen als soziale Erscheinung (1896); Frey Das Verhältnis von Strafe und Maßnahme, SchwZStr 66 [1951] 295; Frey Ausbau des Strafensystems3 ZStW 65 [1953] 3; Frey Das Verhältnis von Strafe und Maßnahme, SchwZStr 73 [1958] 44; Frey Heilen statt Strafen3 (1962); Gallas Der dogmatische Teil des Alternativ-Entwurfs, ZStW 80 [1968] 1; Geerds Zur kriminellen Prognose, MschrKrim 1960 92; Geppert Totale und teilweise Entziehung der Fahrerlaubnis, NJW 1971 2154; Gramatica Grundlagen der Défense Sociale, 2 Bde. (1965); Grünwald Sicherungsverwahrung, Arbeitshaus, vorbeugende Verwahrung und Sicherungsaufsicht im Entwurf 1962, ZStW 76 [1964] 633; Haddenbrock Die Maßregel der Unterbringung in einer Heil- und Pflegeanstalt oder in einer Bewahrungsanstalt nach § 86 des StGB-Entwurfs in psychiatrischer Sicht, NJW 1959 1565; K.A. Hall Sicherungsverwahrung und Sicherungsstrafe, ZStW 70 [1958] 41 ; Hanack Das juristische Konzept der sozialtherapeutischen Anstalt und der sonstigen Maßregeln im neuen Strafrecht der Bundesrepublik, Krim. Gegenwartsfragen Heft 10,1972, S. 68; Hanack Sozialtherapie und Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB n. F., JR1975 441 ; Händel Der 4. internationale Kongreß für soziale Verteidigung, JR 1956 414; Heinitz Strafzumessung und Persönlichkeit, ZStW 63 [1951] 57; Heinitz Der Entwurf des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches vom kriminalpolitischen Standpunkt aus, ZStW 70 [1958] 1 ; Heinitz Die Individualisierung der Strafen und Maßnahmen in der Reform des Strafrechts und des Strafprozesses (1960); Heinitz Stato di diritto e misure di sicurezza (1962); Heldmann Die Maßnahmen der Sicherung und Besserung ohne Freiheitsentzug, Materialien zur Strafrechtsreform Bd. 2/1, 1954, S. 239; Herrmann Die mit Freiheitsentzug verbundenen Maßnahmen der Sicherung und Besserung, Materialien zur Strafrechtsreform Bd. 2/1, 1954, S. 193; R. v. Hippel Gefahrurteile und Prognoseentscheidungen in der Strafrechtspraxis (1972; zit. Gefahrurteile); R. v. Hippel Reform der Strafrechtsreform. Maßregeln der Besserung und Sicherung (1976; zit. Reform); Horstkotte Die Vorschriften des Ersten Gesetzes zur Reform des Strafrechts über den Rückfall und über die Maßregeln der Sicherung und Besserung, JZ 1970 152; Horstkotte Tendenzen, in der Entwicklung des heutigen Strafrechts: Die Gesetzgebung, in: Horstkotte-Kaiser-Sarstedt, Tendenzen in der Entwicklung des heutigen Strafrechts, 1973, S. 7 (zit. Tendenzen); Jakobs Schuld und Prävention (1976); Jescheek Der V. Internationale Kongreß für soziale Verteidigung in Stockholm, (1)

Vor § 61

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

ZStW70[1958]693; Jescheck Der Einfluß des schweizerischen Strafrechts auf das deutsche, SchwZStr 73 [1958] 184; G. Kaiser Zur kriminalpolitischen Konzeption der Strafrechtsreform, ZStW78[1966] 100; Arth. Kaufmann Dogmatische und kriminalpolitische Aspekte des Schuldgedankens im Strafrecht, JZ 1967 553; Arth. Kaufmann Schuldprinzip und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, Lange-Festschrift, 1976, S. 27; H. Kaufmann Grammaticas System der Difesa Sociale und das deutsche Schuldstrafrecht, v. Weber-Festschrift, 1963, S. 418; Kluge Die Rechtsprechung des RG zu den Maßnahmen der Sicherung und Besserung (1937); Kobler Vom Mailänder „Zentrum für soziale Vorbeugung und Abwehr", JZ 1956 185; Kohlrausch Sicherungshaft. Eine Besinnung auf den Streitstand, ZStW 44 [1924] 21 ; Lang-Hinrichsen Zum System der Strafen und sichernden und bessernden Maßnahmen im englischen Recht, in: Festschrift für Kraft, 1955, S. 138; Lang-Hinrichsen Betrachtungen zur Strafrechtsreform, in: Peters-Lang-Hinrichsen, Grundlagen der Strafrechtsreform, 1959, S. 53; Lang-Hinrichsen Maßregeln der Besserung und Sicherung, in: Staatslexikon *>, 1960, S. 611; Lang-Hinrichsen Die kriminalpolitischen Aufgaben der Strafrechtsreform, Gutachten zum 43. Dt. Juristentag, 1960; Lange Wandlungen in den kriminologischen Grundlagen der Strafrechtsreform, in: Hundert Jahre Deutsches Rechtsleben, Festschrift zum hundertjährigen Bestehen des Dt. Juristentages, 1960, Bd. 1, S. 345; Lange Das Rätsel Kriminalität (1970; zit: Lange); Lenckner Strafe, Schuld und Schuldfähigkeit (Unterabschnitt Maßregeln der Besserung und Sicherung), in: Göppinger-Witter, Handbuch der forensischen Psychiatrie, Bd. I 1972, S. 185; Lombardo Internationaler Kongreß für soziale Verteidigung, JZ 1956 507; Mannheim Deutsche Strafrechtsreform in englischer Sicht (1960); Marquardt Dogmatische und kriminalpolitische Aspekte des Vikariierens von Strafe und Maßregel (1972); Maurach Die kriminalpolitischen Aufgaben der Strafrechtsreform, Gutachten zum 43. Dt. Juristentag, 1960; H. Mayer Strafrechtsreform für heute und morgen (1962); Melzer Die Neue Sozialverteidigung und die deutsche Strafrechtsreformdiskussion (1970); Melzer Die Neue Sozialverteidigung — Ein neuer Begriff in der deutschen Strafrechtsreformdiskussion, JZ 1970 764; Mezger Die Vereinheitlichung der Strafen und der sichernden Maßnahmen, ZStW 66 [1954] 172; Nagler Verbrechensprophylaxe und Strafrecht (1911); Naucke Tendenzen in der Strafrechtsentwicklung (1975); Noll Die ethische Begründung der Strafe (1962); Nowakowski Zur Rechtsstaatlichkeit der vorbeugenden Maßnahmen, v. Weber-Festschrift, 1963, S. 98 (zit. Nowakowski); Nowakowski Vom Schuld- zum Maßnahmerecht, Krim. Gegenwartsfragen Heft 10, 1972, S. 1; Pfander Inwieweit unterscheiden sich Strafen und Maßnahmen 3 SchwZStr 59 [1945] 60; Rebhan Fr. v. Liszt und die moderne défense sociale (1963); Rieg Die modernen Tendenzen des französischen Strafrechts, ZStW81 [1969]411; Sax Grundsätze der Strafrechtspflege, in: Bettermann-Nipperdey-Scheuner, Die Grundrechte, Bd. III/2 2 , 1972, S. 909; Schäfer- WagnerSchafheutle Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung (1934); Schröder Die Vereinheitlichung der Strafen und der sichernden Maßnahmen, ZStW 66 [1954] 180; Schröder Oie „Erforderlichkeit" von Sicherungsmaßregeln, JZ 1970 92; Schultz Das Erbe Franz von Liszts und die gegenwärtige Reformsituation in der Schweiz, ZStW 81 [1969] 787; Sieverts Sichernde Maßnahmen, in: Handwörterbuch der Kriminologie Bd. II, 1938, S. 589; Spendei Die kriminalpolitischen Aufgaben der Strafrechtsreform, NJW 1960 1700; Stooß Der Dualismus im Strafrecht, SchwZStr 41 [1928] 54; Stooß Zur Natur der sichernden Maßnahmen, SchwZStr 44 [1930] 626; Strahl Oie Entschließungen des VII. Internationalen Strafrechtskongresses in Athen, ZStW 70 [1959] 150; Stratenwerth Zur Rechtsstaatlichkeit freiheitsentziehender Maßnahmen im Strafrecht, SchwZStr 82 [1966] 338; Stratenwerth Tatschuld und Strafzumessung (1972); Stree Deliktsfolgen und Grundgesetz (1960); Stree In dubio pro reo (1962); Weihrauch Die Ausnahmen bei der Entziehung der Fahrerlaubnis, NJW 1971 829; Zipf Kriminalpolitik (1973). Weitere Literaturangaben s. Rdn. 100 sowie vor den einzelnen Paragraphen.

Entstehungsgeschichte Die Maßregeln der Besserung und Sicherung sind durch das GewohnheitsverbrecherG v. 24.11. 1933 eingeführt und seitdem vielfach verändert worden. Näher dazu Rdn. 5 ff und § 61 Rdn. 4 ff sowie bei den einzelnen Maßregeln selbst. (2)

Vorbemerkungen (Hanack)

Rdn. 1. Allgemeines 1 1. Entwicklung des Maßregelrechts . . . 1 a) Gründe; monistisches und dualistisches System 1 b) Einführung in Deutschland . . . 5 c) Strafrechtsreform (1. und 2. StrRG) 7 2. Die sog. Krisis der Zweispurigkeit . . 13 a) Gefährdungen des Schuldprinzips 14 b) Vermischung und Nebeneinander von Strafe und Maßregeln . . . . 15 c) „Etikettenschwindel" 17 d) Erforschung der Täterpersönlichkeit; Belastungen des Täters . . . 18 3. Zweck der Maßregeln; Unterscheidung zwischen Zweck und Ziel . . . . 20 a) Genereller Zweck 20 b) Zweck und Ziel; Besserung und Sicherung 21 c) Zukunftsgerichtete Vorbeugung . 26 d) Unterschiede zur Strafe 27 4. Zur Rechtfertigung der Maßregeln . . 28 5. Verfassungsrechtliche Probleme . . . 32 6. Wissenschaftliche Durcharbeitung des Maßregelrechts 36 II. Prinzipien des Maßregelrechts 37 1. Rechtsstaatlichkeit 37 2. Die künftige Gefährlichkeit des Täters 39 a) Freiheitsentziehende Maßregeln . 40 b) Maßregeln ohne Freiheitsentzug . 43 c) Der Gefahrbegriff nach materiellem Recht 44 d) Der Gefahrbegriff in prozessualer Sicht (in dubio pro reo) . . . . 48

Vor § 61

Rdn. Beziehungen zwischen Gefährlichkeit, Anlaßtat und Persönlichkeit . . 52 4. Zeitpunkt der Prognose 53 5. Das sog. Subsidiaritätsprinzip 58 6. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz . 64 7. Kumulationsprinzip, Vikariieren, Maßregelkonkurrenz 65 Personenkreis (Jugendliche, Heranwachsende, Ausländer); Auslieferung 68 Maßgebendes Gesetz; zeitliche Geltung . 71 Verjährung 73 Begnadigung und Amnestie 74 Strafrechtlicher Schutz 76 Verfahrensrechtliches 77 1. Entscheidung über die Anordnung und Folgeentscheidungen 77 2. Entscheidungen im Strafverfahren und Sicherungsverfahren 82 3. Prozeßvoraussetzungen 83 4. Zuziehung von Sachverständigen . . . 85 5. Veränderte rechtliche Gesichtspunkte (§ 265 StPO) 87 6. Rechtsmittel 88 Verbot der reformatio in peius 91 8. Maßregeln und Nebenklage 98 9. Vorläufige Anordnungen im Maßregelrecht 99 Anhang: Bemerkungen zum Prognoseproblem 100 1. Allgemeine Problematik 101 2. Für die Prognose erhebliche Faktoren (Überblick) 108 3. Entwicklung und Methoden der Prognoseforschung 112 4. Methodenstreit und Zuverlässigkeit; Konsequenzen 116 3.

III. IV. V. VI. VII. VIII.

IX.

I. Allgemeines 1. Entwicklung des Maßregelrechts a) Gründe; monistisches und dualistisches System. Sinn und Zweck der Strafe 1 sind bekanntlich seit jeher umstritten. Für das traditionelle Verständnis steht aber jedenfalls fest, daß Strafe Schuld voraussetzt und mindestens nicht ausschließlich nach Gesichtspunkten der Spezialprävention bemessen werden kann; so ist — trotz vielfältiger Auflockerungen des Strafensystems — auch im geltenden Recht Grundlage der Strafe die Schuld des Täters (§ 46). Aus diesem Charakter der Strafe ergibt sich, daß sie den Notwendigkeiten der Vorbeugung gegenüber weiteren Taten des Rechtsbrechers nicht immer gerecht werden kann. Daher verfestigte sich in einem komplizierten Entwicklungsprozeß, insbesondere gegenüber vorbeugenden Sicherungsregelungen mehr polizeirechtlicher Art, im Laufe der Zeit der Gedanke, das System der Strafen durch ein System weiterer strafrechtlicher Reaktionsmittel zu ergänzen (näher z. B. v. Liszt-Schmidt Lehrbuch des dt. Strafrechts 25 , S. 32, 348 ff, 351 m. umfassenden Nachw.; Exner Theorie der Sicherungsmittel, S. 43 ff; Sieverts (3)

Vor § 61

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat 1

Hdw. d. Kriminologie , S. 589; auch H. Mayer AT 1953 S. 36 ff). Besondere Bedeutung hat dabei der Versuch von Carl Stooß erlangt, im vorigen Jahrhundert ein solches System in seinen Entwürfen für ein schweizerisches Strafgesetzbuch zu verwirklichen (vgl. Stooß SchwZStr 41 54; 44 261; näher dazu Schultz ZStW 81 787, 788; Jescheck SchwZStr 73 189). 2

Dieses dualistische oder zweispurige System (Strafen und davon abgehobene Maßregeln als Reaktionsmittel des Strafrechts) fand, wenn auch mit Unterschieden im einzelnen, später nicht nur in das deutsche StGB, sondern auch in die Strafgesetze vieler anderer europäischer und außereuropäischer Länder Eingang (Nachw. ζ. B. bei Jescheck AT § 8 I; Sch.-Schröder15 Rdn. 4 vor § 42 a; Lang-Hinrichsen Das Strafensystem im ausländischen Recht, 1955, S. 23 ff; einige weitere Angaben zur — besonders kritischen — Sicherungsverwahrung: LK § 66 Rdn. 10).

3

Im Gegensatz zum dualistischen System stehen Regelungen und Bemühungen, die den Strafen auch die Aufgaben der Vorbeugung vor weiteren Rechtsbrüchen des Täters zuweisen (jedenfalls soweit es nicht um die Sicherung Schuldunfähiger geht) oder, umgekehrt, die Strafe grundsätzlich durch Maßregeln der Besserung und Sicherung ersetzen wollen, also weniger an die Schuld denn an die Gefährlichkeit des Täters anknüpfen (sog. monistische oder einspurige Systeme). So hat Enrico Ferri (Nuovi orizzonti del diritto e della procedura penale, 1881; Das Verbrechen als soziale Erscheinung, 1896) schon im vorigen Jahrhundert gefordert, an die Stelle des bisherigen Strafrechts ein spezifisches Verhütungsrecht zu setzen. Die Forderung ist, in wechselnder Ausprägung, bis heute lebendig geblieben. Sie wird z. B. in verschiedenen Varianten von Anhängern der „Défense sociale" vertreten (Überblick bei Zipf Kriminalpolitik, S. 39 ff; Rebhan S. 57 ff). Am weitesten geht insoweit wohl Filippo Gramatica (Principi di difesa sociale, 1961; deutsch 1965), der den Begriff des Verbrechens durch den der Antisozialität ersetzen und generell statt an die Schuld des Täters an seine Gefährlichkeit anknüpfen will (näher H. Kaufmann v. Weber-Festschrift S. 418; vgl. auch Zipf aaO). Davon stark abweichend ist hingegen wiederum der Standpunkt der „neuen Sozialverteidigung", wie er etwa von Marc Ancel (La Défense Sociale nouvelle, 1954; deutsch: Die neue Sozialverteidigung, 1970), dem langjährigen Präsidenten der „Société Internationale de Défense Sociale", vertreten wird. Ancel anerkennt die Verantwortlichkeit des Menschen, erstrebt aber eine Umgestaltung der Strafrechtspflege mit dem Hauptziel der Wiedergewinnung des Verurteilten für die Gemeinschaft (dazu eingehend Melzer Die neue Sozialverteidigung, sowie JZ1970 764; vgl. auch Rieg ZStW 81 414). In ähnlicher Richtung bewegen sich die Entschließungen der Internationalen Kongresse für soziale Verteidigung vgl. Berichte ZStW 66 696; 68 332; 79 946; näher dazu auch Händel JR 1956414; Lombardo JZ 1956 507; Strahl ZStW 70 150; Jescheck ZStW 70 693), wobei der VIII. Internationale Kongreß wieder mehr zum Schuldprinzip zurückgekehrt ist (1971; vgl. Jescheck AT § 37 I Fußn. 3 ; Bericht ZStW 79 946). Wie insbesondere die genannte Monographie von Melzer deutlich macht, bestehen mancherlei Verbindungslinien der „Neuen Sozialverteidigung" zu Ansätzen in der deutschen Strafrechtsreform, namentlich zu Ansätzen des Alternativ-Entwurfs (Melzer S. 102). — So gut wie nichts mit diesen Ansätzen haben jedoch radikale Forderungen zu tun, die in sozialutopischer Weise unter dem Einfluß insbesondere tiefenpsychologischer oder/und allgemeiner kulturkritischer Gedankengänge auf eine Überwindung des Strafrechts überhaupt abzielen und dabei u. a. für bestimmte Bereiche ein „reines Maßnahmerecht" nach (4)

Vorbemerkungen (Hanack)

Vor § 61

dem „Prinzip der sozialen Gefährlichkeit" als notwendigen Ersatz propagieren (stellvertretend: Plack Plädoyer für die Abschaffung des Strafrechts, 1974; dazu ζ. B. die Besprechungen von Haffke MschrKrim 197S 311 und K. Peters JR 1977 86); sie sind beim Stand unserer Entwicklung gegenwärtig nur als Ausdruck des Unbehagens am Strafrecht oder allenfalls als Denkanstöße interessant; vgl. auch Naucke Tendenzen, S. 22. Einspurige Systeme, die — ganz oder vornehmlich — an das Reaktionsmittel 4 der Strafe anknüpfen, werden in ausländischen Rechtsordnungen vielfach verwendet (Nachweise wie in Rdn. 2). Sie sind namentlich in den sozialistischen Ländern verbreitet, insbesondere nachdem die Sowjet-Union ein rein an der Sozialgefährlichkeit orientiertes Strafrecht wieder aufgegeben hat (zum letzteren Maurach-Zipf § 5 II 1 m. Nachw.). In Deutschland hat sich in neuerer Zeit vor allem H. Mayer eindringlich dafür eingesetzt, unter Abschichtung eines fürsorgenden Personenrechts primär einspurige Reaktionen mit Hilfe der Strafe zu begründen (insbes. Strafrechtsreform, S. 119 ff; s. auch H.Mayer AT 1953, §7, §§ 62 ff; AT 1967, § 48 f)· Zu weiteren Forderungen dieser Art, die speziell bei der Bekämpfung des Gewohnheitsverbrechertums eine Rolle spielen, s. unten Rdn. 8. b) Einführung in Deutschland. Das StGB von 1870/71, vornehmlich an der ver- 5 geltenden Strafe orientiert, kannte noch keine Maßregeln der Besserung und Sicherung im heutigen Sinne; es enthielt nur wenige Rechtsfolgen, die zielgerichtet der Sicherung dienten (Polizeiaufsicht, §38; Aberkennung der Eidesfahigkeit, § 161; Überweisung gemeinlästiger Täter an die Landespolizeibehörde, § 362). Führender Kopf der Reformbewegung, die sich für die Einführung der Zweispurigkeit einsetzte, war Franz v. Liszt (Marburger Programm, 1882; Gegenentwurf zum Vorentwurf eines deutschen Strafgesetzbuchs [zusammen mit Goldschmidt, Kahl, Lilienthal], 1911; näher zu seiner Lehre und ihren geistesgeschichtlichen Wurzeln z. B. Eb. Schmidt Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege 3 , 1965, S. 362 ff, insbes. 379; Beiträge im Gedächtnisheft ZStW 81 543 — 829). Nach längeren heftigen Auseinandersetzungen, dem sog. Schulenstreit (s. z. B. Eb. Schmidt aaO S. 386 ff; Maurach-Zipf § 6 II D), setzte sich in Deutschland die Meinung durch, daß die Strafe zwar weiterhin an der Schuld orientiert bleiben müsse oder solle, aber dort, wo sie den erforderlichen Präventionszwecken allein nicht genüge, durch Maßregeln zu ergänzen sei. Das System der Zweispurigkeit wurde seitdem, wenn auch in unterschiedlicher Ausgestaltung namentlich hinsichtlich Zahl und Art der einzelnen Maßregeln, von allen deutschen Entwürfen zu einem neuen StGB übernommen (im Ansatz schon im E 1909, vor allem aber in den E 1922, 1925, 1927,1930). Auf diesen Entwürfen fußte dann im Prinzip auch das „Gesetz gegen gefährliche 6 Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung" v. 24. 11. 1933 (RGBl. I S. 995), durch das die Maßregeln der Besserung und Sicherung Eingang in das StGB fanden. — Das GewohnheitsverbrecherG (dazu die Amtl. Begründung, Staatsanzeiger 1933 Nr. 277 sowie der einführende Kommentar von Schäfer- Wagner-Schafheutle, 1934) war freilich nicht unbeeinflußt von nationalsozialistischem Gedankengut, wie namentlich die Einführung der Zwangskastration als Maßregel (§ 42 k StGB; s. dazu LK § 61 Rdn. 5) deutlich macht, die in den früheren Entwürfen selbstverständlich nicht vorgesehen war. Im ganzen jedoch kann das damals eingeführte System der Maßregeln nicht als nationalsozialistisches Unrecht gelten ; es wurde auch von der Rechtsprechung und der weit vorherrschenden Lehre nach dem Zusammenbruch nicht als solches angesehen. (5)

Vor § 61

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

So blieb es mit gewissen Bereinigungen, Modifizierungen und wichtigen Ergänzungen (vgl. LK §61 Rdn. 4 ff und die jeweiligen Hinweise zur „Entstehungsgeschichte") auch nach dem Zweiten Weltkrieg erhalten. 7

c) Strafrechtsreform (1. und 2. StrRG). Erhalten geblieben ist das zweispurige System auch bei der Strafrechtsreform. Die Gründe dafür sind vielschichtig. Eine Rolle hat nicht nur die Ansicht gespielt, daß sich das System insgesamt bewährt habe. Von Einfluß sind, mindestens in der Akzentuierung, ohne Zweifel auch weitere historische Gründe gewesen (näher Hanack Krim. Gegenwartsfragen 1972, S. 69), nämlich die Erinnerung an die Entartungen der nationalsozialistischen Ära, die bis in die Mitte der sechziger Jahre jene eigentümliche Zwiespältigkeit in den Bemühungen zur Strafrechtsreform zeitigte, einerseits den Menschen in seiner spezifisch sittlichen Verantwortung zu sehen und zu achten (Tendenz zum vergeltenden Schuldstrafrecht), andererseits aber diesen Menschen mit Maßregeln gewissermaßen im Zaum zu halten. Insbesondere jedoch dürfte die gesetzgeberische Entscheidung durch zwei, auch im Schrifttum immer wieder erörterte sachliche Einsichten bedingt sein, über die man nicht hinwegzukommen meinte und — beim heutigen Erkenntnisstand — wohl in der Tat auch nicht hinwegkommen kann:

Es sind dies: zum einen die Gefahr, daß die limitierende Funktion des Schuldstrafrechts zum Schaden des Bürgers zerstört werden könnte, wenn die Strafe zu sehr an präventiven Bedürfnissen orientiert wird, weil sie dann beim gefährlichen Täter das Maß seiner Schuld nicht selten und nach ganz bedenklichen Kriterien, etwa dem Gedanken der Lebensführungsschuld (dazu LK § 66 Rdn 4), überschreiten müßte (in diesem Sinn — nur z.B. — Bruns ZStW71210, 214f; Spendel NJW 1960 1700,1702; Begründung ζ. E 1962 S. 207; kritisch aber etwa Kaiser ZStW78 100, 107 ff); und zum anderen die Gefahr, daß ein reines Maßregelrecht, das vor allem an die Gefährlichkeit des Täters anzuknüpfen hätte, den Bürger leicht zu sehr und ohne Rücksicht auf seine Schuld zum Objekt staatlicher Einwirkungen machen könnte oder müßte, was um so bedenklicher wäre, als die Mittel und Methoden einer spezifisch resozialisierenden Einwirkung auf den Rechtsbrecher mindestens noch wenig entwickelt sind und der Stand der Forschung selbst im Bereich der kriminellen Prognose letztlich enttäuschend ist (dazu unten Rdn. 100 ff.). 8 Gegenüber der herrschenden Meinung (stellvertretend Jescheck AT § 8), konnten sich namentlich aus den letzteren Gründen (vgl. Horstkotte Tendenzen, S. 14) mancherlei Bedenken und mancherlei Befürwortungen eines mehr monistischen Systems (z. B. Dreher ZSt^/ 65 489; Dünnebier ZStW 72 32; Frey SchwZStr 66 295; Haddenbrock NJW 1959 1565; Heinitz ZStW 63 80 f und ZStW 70 1 ; Eb. Schmidt Niederschriften Bd. 1, S. 51 ff; Sieverts Materialien zur Strafrechtsreform, Bd. I, S. 109 ff) nicht durchsetzen. Die Frage war vor allem beim kritischen Problem der Sicherungsverwahrung (dazu LK § 66 Rdn. 7 ff) umstritten. 9 Versucht wurde allerdings, der vielbeschworenen „Krisis der Zweispurigkeit" (Rdn. 13) und bedenklichen Folgen des zweispurigen Systems entgegenzuwirken. Auch wurde die zunächst allzu zwiespältige und bedenkliche Hinwendung zu einem sehr weitgehenden Maßregelrecht, wie sie etwa noch den E 1962 kennzeichnet (dazu Hanack Krim. Gegenwartsfragen 1972, S. 69 f). unter dem Einfluß einer verbreiteten Kritik bei den späteren Gesetzesberatungen, insbesondere im Bereich der mehr „lästigen" Kriminalität, nicht unerheblich abgemildert (Einzelheiten bei Erl. der verschiedenen Maßregeln; vgl. auch § 61 Rdn. 7 ff)· (6)

Vorbemerkungen (Hanack)

Vor § 61

So zeigt das zweispurige System aufgrund der gesamten Entwicklung nach dem 10 Zweiten Weltkrieg heute in mehrfacher Hinsicht ein erheblich verändertes Gesicht (näher, auch zum folgenden, HanackaaO S. 68 ff): Einmal ist das Strafensystem selbst sehr viel stärker an der gezielt-präventiven Einwirkung ausgerichtet, und zwar namentlich durch vielfältige gesetzliche Möglichkeiten des Verzichts auf die schuldangemessene Strafe klassischer Prägung („Öffnung nach unten") zugunsten „resozialisierungsfreundlicherer" Beeinflussungen und Reaktionen — so im Rahmen der Strafaussetzung zur Bewährung (§§ 56 ff) und der bedingten Entlassung (§ 57), durch die Einführung der Verwarnung unter Strafvorbehalt (§§ 59 ff) und des Absehens von Strafe (§ 60), aber auch durch den starken Verzicht auf kurzfristige Freiheitsstrafen (§ 38 Abs. 2, § 47) sowie durch eine Erweiterung prozessualer Befugnisse zur Einstellung wegen Geringfügigkeit (§ 153 ff StPO). Zum anderen ist das schroffe Nebeneinander von Strafe und Maßregel im Bereich der freiheitsentziehenden Reaktionen durch das Prinzip des Vikariierens (§ 67), aber auch durch die Möglichkeit der Überweisung vom Vollzug der Freiheitsstrafe in den Vollzug der sozialtherapeutischen Anstalt (§ 9 StVollzG) nicht unerheblich abgemildert. Schließlich ist das Maßregelsystem selbst in mancherlei Weise stärker an dem Bemühen orientiert worden, mit der Anordnung nur wirklich gefahrliche Täter zu treffen, die verschiedenen Einwirkungsformen des Maßregelrechts besser zu koordinieren und die notwendige Durchführung einer Maßregel elastischer und kontrollierbarer zu machen — durch Verschärfung der Eingriffsvoraussetzungen insbesondere bei den freiheitsentziehenden Maßregeln (näher die Erl. zu den §§63—66); durch Möglichkeiten des Maßregelaustauschs zum Zwecke der besseren Resozialisierung (§ 67 a StGB, §§ 9, 130 StVollzG) und durch die Regelung der Maßregelkonkurrenz (§ 72); durch die Befugnis, bestimmte Maßregeln zugleich mit der Anordnung zur Bewährung auszusetzen (§ 67 b); durch großzügigere Vorschriften über die Aussetzung nach begonnenem Vollzug (insbes. § 67 d Abs. 2); durch vielfältige richterliche Kontrollpflichten bei der Vollstreckung (z. B. § 67 e). Insgesamt ist auf diese Weise ein Reaktionssystem entstanden, das, insbesondere 11 in der Abgrenzung von Strafe und Maßregel (s. Rdn. 27), vielleicht nicht immer logisch zwingend ist, ohne Zweifel auch Schwächen und kritische Punkte enthält, im Kern aber durch die Hinwendung zu einem System charakterisiert wird, das — bei Strafen wie Maßregeln — in erster Linie auf die kriminalpolitisch sachgerechte Einwirkung hinzielt (Hanack aaO S. 70 ff). Es mag sein, daß das System nur eine Übergangslösung darstellt und spätere 12 Generationen zu besseren Einsichten kommen. Zu einfach ist es aber jedenfalls, heute seinen Ersatz durch einspurige Lösungen, etwa ein System „Strafe ohne Vorwurf" (Ellscheid-Hassemer S. 27 ff) zu propagieren, bei dem der höchst vage „Grundsatz der Verhältnismäßigkeit" „als Maßprinzip" (so Ellscheid-Hassemer) im Mittelpunkt steht. Nach dem derzeitigen Stand der Erkenntnis läuft das eher auf eine Verschleierung der Sachprobleme oder aber „auf einen neuen Namen für eine alte Sache" hinaus (so Jakobs Schuld und Prävention, S. 6 f ; eingehend Arth. Kaufmann Lange-Festschr. S. 31). Es ist doch wohl bezeichnend für die vorhandenen Sachschwierigkeiten und den Stand unserer Einsichten, daß die Überlegungen zum Ersatz des zweispurigen Systems noch immer in zwei ganz konträre Richtungen weisen (einerseits Ersatz durch Strafe, andererseits durch Maßregeln). (7)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

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2. Die sog. Krisis der Zweispurigkeit. Das Nebeneinander von Strafen und Maßregeln schafft Probleme, die als „Krisis der Zweispurigkeit" seit langem und in verschiedenen Zusammenhängen erörtert werden. Es geht dabei insbesondere um die folgenden — alten und neuen, meist untrennbar miteinander verzahnten — Probleme, die hier nur angedeutet, nicht aber im einzelnen abgehandelt werden können.

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a) Gefährdung des Schuldprinzips. Da die Maßregeln nicht an die spezifischen Begrenzungen des Schuldstrafrechts gebunden sind, besteht die Gefahr, daß die positiven Aspekte des Schuldprinzips unterlaufen werden. Dieser Gefahr wird durch die rechtsstaatliche Festlegung der Maßregel-Voraussetzungen und ihrer Vollstreckung, aber auch durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (vgl. §62: „außer Verhältnis"), nur bedingt gesteuert; es ist kaum zweifelhaft, daß das Sonderopfer, das dem gefährlichen Täter — über seine Schuld hinaus — durch Maßregeln abverlangt wird, auch im neuen Recht vielfach problematisch bleibt. Das „Gegengewicht" des „sparsamen Gebrauchs in der Praxis", das Jescheck (AT § 8 I 4) u. a. nennt, enthält daher ein berechtigtes Anliegen, ist aber, zumal beim zwingenden Charakter der meisten Maßregeln, keine klar faßbare juristische Kategorie.

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b) Vermischung und Nebeneinander von Strafen und Maßregeln. Die Vermischung von Strafen und Maßregeln, die sich gerade aufgrund der Hinwendung zu einem entscheidend an der kriminalpolitisch sachgerechten Einwirkung orientierten Sanktionensystem (Rdn. 11) immer stärker bemerkbar macht, zeigt deutlich, daß beide Sanktionsformen letztlich nur unterschiedliche Mittel zur Erreichung desselben Ziels darstellen (näher dazu ζ. B. Arth. Kaufmann JZ 1967 554; Bruns Strafzum. S. 228; Horn SK §61 Rdn. 7; vgl. auch Maurach-Zipf § 7). So tragen heute Strafen oft maßregelähnliche Züge, wie etwa die Strafaussetzung zur Bewährung, die als Schuldstrafe traditionellen Stils kaum noch gelten kann und oft die Funktion der Maßregel Führungsaufsicht übernehmen könnte (vgl. LK Rdn. 21 f vor § 68 ; § 64 Rdn. 85 ff). Teils zeigen aber auch Maßregeln in gewissem Maße Strafcharakter, so insbesondere vielleicht die Entziehung der Fahrerlaubnis, bei der der Präventionsgedanke letztlich zur Abschreckung verdünnt ist und unzweifelhaft Aspekte auch der echten Tatvergeltung vorhanden sind (Hanack Krim. Gegenwartsfragen 1972, S. 70 m. Nachw.). Hieraus resultieren schon bei Anordnung der einzelnen Strafarten und Maßregeln für sich mancherlei Schwierigkeiten. 16 Berechtigt ist aber vor allem die Forderung, bei gleichzeitiger Verhängung von Strafe und Maßregeln beide Reaktionen „als aufeinander abgestimmte Wirkungseinheit" zu begreifen (Zipf in Roxin u. a., Einführung in das neue Strafrecht, S. 106 m. Nachw.) Der Gesetzgeber ist dieser Forderung nun zwar bei der Strafrechtsreform durchaus entgegengekommen (Rdn. 10). Die Forderung ist aber dennoch auch im neuen Strafrecht in erheblichem Umfang schwer zu verwirklichen, insbesondere weil zweifelhaft geblieben ist, ob oder wie weit bei der Strafzumessung die Wirkung einer gleichzeitig verhängten Maßregel berücksichtigt werden darf. Der BGH hält es, systematisch wohl mindestens im Ansatz zu Recht, bei den unterschiedlichen Funktionen und den unterschiedlichen Anknüpfungspunkten von Strafe und Maßregel nach wie vor für unmöglich, allein im Hinblick auf eine gleichzeitig verhängte Maßregel das Maß der schuldangemessenen Strafe zu unterschreiten (BGHSt. 24 132 m. w. Nachw.). Für seine Ansicht spricht nicht nur, daß unbestrittenermaßen eine Überschreitung der schuldangemessenen Strafe unter Verzicht auf eine an sich gebotene Maßregel unzulässig ist (statt aller: BGHSt. 20 264); vielmehr hat der (8)

Vorbemerkungen (Hanack)

Vor § 61

Gesetzgeber selbst diese Ansicht im Bereich der freiheitsentziehenden Maßregeln im neuen Recht durch das Prinzip des Vikariierens (§ 67) mittelbar bestätigt (Marquardt S. 158), mindestens aber ihre Lockerung erschwert. Vorhandene Bemühungen, der Problematik im Rahmen der Strafzumessungsgrundsätze des § 46 zu begegnen (vgl. insbesondere Bruns Strafzum. S. 228 mit eingehenden Nachw.), stecken noch durchaus in den Anfängen und lassen sich bei der Logik des Systems dogmatisch überzeugend auch schwer realisieren (vgl. dazu und zum Ganzen Marquardt S. 157 ff; Horn SK § 46 Rdn. 18 f; Sch.-Schröder-Stree § 46 Rdn. 71 ; Tröndle LK, Erl. zu § 46). c) „Etikettenschwindel". Ein „Etikettenschwindel" (Kohlrausch ZStW4433) droht jedenfalls bei den freiheitsentziehenden Maßregeln, soweit sie von der Freiheitsstrafe nicht ernstlich unterschieden werden können (s. Jescheck AT § 8 I 4). Ob das vikariierende System, das im 2. StrRG eingeführt wurde (§ 67), insoweit wirklich nur in „engen Grenzen" (so Jescheck aaO) hilft, mag hier offen bleiben. Das System bleibt aber jedenfalls fragwürdig und hebt den „Schwindel" nicht auf, soweit und solange die dem § 67 zugrunde liegende gesetzgeberische Erwartung, daß der Vorwegvollzug der freiheitsentziehenden Maßregel für die Resozialisierung mehr leistet als der Strafvollzug (s. LK § 67 Rdn. 5 f), nach Ausstattung und Kapazität der Unterbringungsanstalten mit der Realität nicht übereinstimmt. Daß eine derartige Diskrepanz derzeit besteht, ist jedoch kaum zu bezweifeln (eingehend Hanack JR 1975 441, 445; s. auch LK §63 Rdn. 11; §64 Rdn. 17; § 65 Rdn. 30 ff, 34). Dies zeigen schlaglichtartig Entscheidungen des OLG Karlsruhe in NJW 1975 1571 und des LG Dortmund in NJW 1975 2251 : Die erstere Entscheidung betrifft einen Fall, wo der Täter im Strafvollzug erkennbar besser aufgehoben war als im psychiatrischen Krankenhaus; und die letztere Entscheidung hatte sich mit einem Antrag der Staatsanwaltschaft zu befassen, entgegen § 67 eine Strafvollstreckung vorab durchzuführen, weil es dem um Aufnahme angegangenen Landeskrankenhaus an Plätzen mangelte (vgl. auch LG Bonn NJW 1977 345 : fehlende Anstalt nach §§ 64 StGB, 93 a JGG).

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d) Erforschung der Täterpersönlichkeit; Belastungen des Täters. Die Erforschung 18 der Täterpersönlichkeit, insbesondere seiner weiteren Gefährlichkeit, ist das zentrale Problem des Maßregelrechts, weil es (s. Rdn. 39 ff) stets um diese Gefährlichkeit bzw. ihre Abwehr geht. Zweifelhaft ist aber ersichtlich schon, ob nach dem Stand der Prognoseforschung (dazu Rdn. 100 ff) im Einzelfall genügend verläßliche Aussagen, zumal angesichts der oft äußerst differenzierten Gesetzesregelungen, insoweit immer möglich sind. Zweifelhaft ist darüber hinaus, ob in der Bundesrepublik heute und auf absehbare Zeit genügend qualifizierte Gutachter zur Verfügung stehen. Der Bericht über die Lage der Psychiatrie (BT-Drucks. 7/4200 S. 421 f) macht das für einen Teilbereich deutlich; mir selbst berichteten Richter, daß sie die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64) jedenfalls bei kleinerer Anlaßkriminalität auch deswegen vermeiden würden, weil sie es nicht für vertretbar hielten, das Verfahren im Hinblick auf die überlasteten Gutachter für ein Jahr oder mehr hinauszuschieben. Problematisch ist schließlich weiter, ob der Strafprozeß, unbeschadet seiner Angleichung an das neue StGB, als „reines Tatermittlungsverfahren" ( Jescheck AT § 8 I 4 zum früheren Recht; vgl. auch Naucke Tendenzen, S. 29, 41) auf die Aufgabe der Persönlichkeitserforschung wirklich ausreichend zugeschnitten ist. Ebenso bedrückend ist aber auch die gewissermaßen umgekehrte Frage, wieweit 19 die vom Gesetz fast naiv vorausgesetzte Persönlichkeitserforschung im Strafprozeß (9)

Vor § 61

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

überhaupt zulässig oder wünschenswert sein kann. v. Hippel (Reform, S. 28 0 hat nicht unrecht, wenn er formuliert, daß „bisher noch kein genereller Skandal um die Maßregeln entstanden" sei, beruhe vor allem auf der „klugen, aber vielfach angegriffenen Selbstbeschränkung" der Praxis, die die Beweisaufnahme über den Täter „in seiner ganzen Personalität" einfach limitiere, ζ. B. durch weitgehende Beschränkung auf die Methoden der klinischen Psychopathologie. Es ist kaum vorstellbar, wie ein Strafverfahren in angemessener Zeit und ohne unerträgliche Belastung für Menschenwürde und Persönlichkeit des Betroffenen ablaufen sollte, wenn das „volle Explorationsprogramm" (v. Hippel), das die moderne Wissenschaft in ihren verschiedenen Zweigen und Verzweigungen heute zur Erforschung der Täterpersönlickeit kennt, wirklich ausgenutzt würde, wie das bei Anwendung der klassischen Grundsätze über die Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) wohl erforderlich wäre (vgl. dazu auch Nowakowski Krim Gegenwartsfragen 1972, S. 13,14). 3. Zweck der Maßregeln; Unterscheidung zwischen Zweck und Ziel a) Genereller Zweck. Die einzelnen Maßregeln knüpfen, früher wie heute, an recht unterschiedliche Voraussetzungen an und verfolgen nach Art, Stoßrichtung und Einwirkungsmitteln punktuell ζ. T. durchaus verschiedenartige kriminalpolitische Belange. So verstanden, kann man mit Lang-Hinrichsen (Voraufl. Rdn. 4 vor § 42 a) schon davon sprechen, daß sich der Zweck der Maßregeln in erster Linie aus dem Gesetz ergibt. Über diese Verschiedenartigkeiten hinweg ist jedoch den Maßregeln, entsprechend auch ihrem historischen Entstehungsgrund, in all ihren Einzelausprägungen ein genereller Zweck gemeinsam: Sie sind, wie die einzelnen Vorschriften zeigen, nur anzuordnen, wenn die Gefahr besteht, daß der Täter weitere Straftaten begeht. Dies gilt auch für § 69, wo freilich die Gefahr weiterer Straftaten schon daraus gefolgert wird, daß sich der Täter durch eine rechtswidrige Tat als „zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet" erwiesen hat (näher Rüth LK, Erl. zu § 69). Genereller Zweck aller Maßregeln ist mithin die Gefahrenabwehr, die Vorbeugung gegenüber künftigen Straftaten. Die Maßregeln schützen damit speziell Interessen der öffentlichen Sicherheit. Sie sind ausschließlich spezialpräventiv-zweckgerichtete, auf den einzelnen gefährlichen Täter bezogene Maßnahmen. 21 b) Zweck und Ziel; Besserung und Sicherung. Von diesem allgemeinen Zweck aller Maßregeln zu unterscheiden sind der Weg und die Mittel, mit deren Hilfe das Gesetz der weiteren Gefährlichkeit des Täters zu begegnen sucht. Es ergibt sich auf diese Weise, wie in Rechtsprechung und Lehre vielfach nicht klar genug erkannt wird, eine Unterscheidung zwischen dem allgemeinen Zweck jeder Maßregel und ihrem konkreten Ziel, die mit der Unterscheidung zwischen Besserung und Sicherung zusammenhängt und bei den freiheitsentziehenden Maßregeln an der Normierung spezifischer Vollzugsziele im StVollzG besonders deutlich wird: 22 Grundsätzlich können die Maßregeln ihren generellen Zweck sowohl durch die bessernde Einwirkung auf den Täter als auch durch seine Sicherung erreichen. Dem Wesen eines rechtsstaatlich-humanen Strafrechts entspricht es, daß der Gedanke der Besserung Vorrang hat, die Sicherung also erst und nur dann in den Vordergrund tritt oder zum alleinigen Maßregelzweck wird, wenn eine Besserung nicht möglich erscheint. Dies ist vor allem deswegen geboten, weil die Maßregeln nicht an die Schuld, sondern an die, eventuell ganz unverschuldete, Gefährlichkeit des Täters anknüpfen und ihm insoweit ein Sonderopfer auferlegen. Der Gesetzgeber selbst hat, in Abkehr vom früheren Recht, diese Vorrangstellung der Besserung bei

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CO)

Vorbemerkungen (Hanack)

Vor § 61

der Strafrechtsreform auch äußerlich durch die Titelüberschrift zum Ausdruck gebracht: „Maßregeln der Besserung und Sicherung", statt, wie früher, der „Sicherung und Besserung" (dazu E 1962 S. 207). Ein Vorrang der Sicherung wäre auch verfassungsrechtlich bedenklich (H. Mayer AT 1967 S. 179; s. auch LK· § 66 Rdn. 19, 22). Der Vorrang des Besserungsgedankens darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, 23 daß eine scharfe Trennung der beiden Ziele nicht immer möglich ist (Maurach AT § 67 II 4), schon weil z. B. jede Besserung (oder jeder Besserungsversuch) durch Unterbringung in einer freiheitsentziehenden Maßregel für die Zeit der Unterbringung auch eine Sicherung bedeutet. Vor allem aber ist zu beachten, daß die Maßregeln im Hinblick auf das Verhält- 24 nis von Besserung und Sicherung durchaus unterschiedlich akzentuiert sind (Einzelheiten bei Erl. der jeweiligen Maßregeln). So steht bei der Unterbringung in der Entziehungsanstalt (§ 64) das Besserungsziel stark im Vordergrund. Die Maßregel wird überhaupt nur zur Verfügung gestellt, wenn das Ziel erreichbar erscheint; sonst muß der Richter auf Anordnung verzichten (§64 Abs. 2; näher LK §64 Rdn. 91 ff). Bei der Sicherungsverwahrung (§ 66) hingegen geht es nach der Art des Täterkreises vornehmlich um die Sicherung, wie auch die Umschreibung des Vollzugsziels in § 129 StVollzG zeigt, während bei der Führungsaufsicht (§68) Besserung und Sicherung geradezu untrennbar verschlungen sind oder sein können. Zu betonen bleibt, daß selbst dort, wo das Gesetz gezielt nur auf das Besserungs- 25 ziel abhebt, dieses Ziel allein die Anordnung einer Maßregel nie rechtfertigt, weil die Besserung immer auf den Zweck bezogen sein muß, der Gefahr weiterer Straftaten vorzubeugen. Daran kann auch der gesetzlich normierte Vorrang des Besserungsgedankens nichts ändern. Denn „eine 'Besserung' des Täters interessiert das Strafrecht nur insoweit, als sich diese im Erlöschen der Gefährlichkeit des Täters auswirkt, sich also auf die Sicherung der Gesellschaft vor künftigen Rechtsbrüchen des Täters bezieht" (Maurach AT § 67 II 4). Alles andere wäre falsch verstandene Humanität, nämlich Inanspruchnahme des Strafrechts zu Einwirkungen, die nicht mehr seine Aufgabe sind (dazu — besonders deutlich — z. B. LK § 64 Rdn. 97), sondern in der gefährlichsten Weise seiner rechtsstaatlichen Funktion und Begrenzung widersprächen. Hier sind, nicht zuletzt im Anschluß an zum Teil etwas euphorische Formulierungen in den Gesetzgebungsmaterialien, mittlerweile einige Mißverständnisse sichtbar geworden (z. B. bei BGH NJW1976 1949; vgl. dazu Anm. Hanack in JR 1977 170). c) Zukunftsgerichtete Vorbeugung. Bei ihrem allgemeinen Zweck, künftige Straf- 26 taten zu verhindern, knüpfen die Maßregeln, wie bemerkt, durchweg an die Gefährlichkeit des Täters an, und zwar im Hinblick auf die Gefahr weiterer Straftaten. Unterschiedlich sind — je nach Art und Schwere der Maßregel — nur die Bezugspunkte und der Grund der Gefährlichkeit (näheres bei den Einzelkommentierungen). So wird z. B. bei der Sicherungsverwahrung (§ 66) ein „Hang zu erheblichen Straftaten" bestimmter Intensität verlangt, während bei der Führungsaufsicht (§ 68) lediglich die „Gefahr weiterer Straftaten" erforderlich ist und bei der Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 69) sogar reicht, daß der Täter aufgrund einer begangenen Tat zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet erscheint. Durch das Abstellen auf die — unterschiedlich strukturierte — Gefährlichkeit sind die Maßregeln auf die Zukunft gerichtet. Sie sollen künftige Rechtsbrüche ohne Rücksicht darauf verhindern, ob die Täterschuld für sich allein so schwere (II)

Vor § 61

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

Eingriffe rechtfertigt. Mit der Strafe haben die Maßregeln dabei zwar die Begehung einer Straftat oder doch einer rechtswidrigen Tat als Ausgangspunkt der Beurteilung gemeinsam. Sie unterscheiden sich jedoch von der Strafe insbesondere durch ihre betonte Vorbeugungsaufgabe als dem sie rechtfertigenden eigentlichen Grund; vgl. auch den folgenden Text. 27

d) Unterschiede zur Strafe. Eine begrifflich scharfe Abgrenzung zur Strafe ist heute kaum noch möglich, weil, wie schon angedeutet (oben Rdn. 10), mittlerweile auch die Strafe stark auf die kriminalpolitisch zweckmäßige Einwirkung ausgerichtet ist. Der Täter selbst wird beide Reaktionen meist in gleicher Weise als Übel empfinden. Die Frage des Unterschieds wird im Schrifttum viel erörtert. Aufgrund ihres spezifischen Zwecks und unbeschadet ihrer Berührungspunkte unterscheiden sich — wiederholend und ergänzend zusammengefaßt — die Maßregeln von der Strafe vor allem in folgender Richtung: (1) durch den genannten, sie rechtfertigenden Grund der betonten Vorbeugungsaufgabe (Rdn. 26); (2) durch den ebenfalls schon genannten spezifischen Zweck der Gefahrenabwehr, bezogen auf die Begehung weiterer Straftaten (Rdn. 20); (3) durch die daraus folgende ausschließliche Stoßrichtung gegen noch unbestimmte künftige Rechtsbrüche; (4) durch besondere Bedeutung der Zweckerreichung, die grundsätzlich zum Verzicht auf die Vollstreckung oder die weitere Vollstreckung zwingt, sobald die Gefährlichkeit des Täters nicht mehr besteht oder nicht mehr zu vermuten ist, und die darum in hervorgehobenem Maße die ständige Überprüfung des Maßregelvollzugs verlangt; (5) durch die — mit dem vorigen zusammenhängende — Bedeutung des sog. Subsidiaritätsprinzips (näher Rdn. 58 ff), d. h. der richterlichen Pflicht, die Anordnung (streitig), Vollstreckung oder weitere Vollstreckung zu unterlassen, wenn oder sobald sich zeigt, daß mildere Mittel geeignet sind, die Gefahr weiterer Straftaten auszuschließen ; (6) durch die — ebenfalls mit der Zweckerreichung zusammenhängende —Tendenz zur unbestimmten Dauer, die nur bei der Entziehung der Fahrerlaubnis in gewissem Sinne durchbrochen wird (§ 69 a; vgl. aber § 69 a Abs. 7), im übrigen jedoch unbeschadet selbst bestimmter Höchstfristen besteht; (7) durch das Vorhandensein bestimmter Persönlichkeitszüge des Betroffenen (ζ. B. seelische Störungen, Süchtigkeit, Hang), die jedenfalls bei den freiheitsentziehenden Maßregeln die spezifische Gefährlichkeit für die Zukunft ergeben ; (8) durch die prinzipielle, vom Gesetzgeber allerdings weithin doch beachtete Nichtgeltung des Rückwirkungsverbots (§ 2 Abs. 6; näher dazu Rdn. 71 f)·

28

4. Zur Rechtfertigung der Maßregeln. Grundsätzlich liegt den Maßregeln, wie dargelegt (Rdn. 20), der Zweckgedanke zugrunde, im Interesse der öffentlichen Sicherheit künftige Straftaten durch spezialpräventive Einwirkungen auf den gefährlichen Täter zu verhindern. Allein von diesem Zweck her erfahren die Maßregeln auch ihre Rechtfertigung. Es erscheint nötig, auf diese „nüchtern festzustellende Tatsache" (Schmidhäuser AT 21/8 Fußn. 4) immer wieder hinzuweisen. Denn nur wenn man sie im Auge behält, läßt sich die kritische rechtsstaatliche Frage nach der zulässigen und vertretbaren Begrenzung der mit den Maßregeln verbundenen, (12)

Vorbemerkungen (Hanack)

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über das Maß der Schuld hinausgreifenden Eingriffe in die Rechtsgüter des Betroffenen für den Gesetzgeber wie für die Anwendung des Gesetzes jeweils in ihrer ganzen Tragweite beurteilen: Maßregeln sind nur zulässig unter dem Gesichtspunkt des Gemeininteresses an der Verbrechensverhütung, und zwar vorausgesetzt, daß das Gemeininteresse im konkreten Fall gewichtiger ist als die aufzuopfernden Interessen des Individuums (Stratenwerth AT1 Rdn. 40; einschränkend im Hinblick auf §67 aber AT2 Rdn. 53; Nowakowski S. 101; Heinitz Stato di diritto, S. 39; a. Α. Lang-Hinrichsen Voraufl. Rdn. 14 vor § 42 a, da bei dieser Begründung der „utilitaristische Gesichtspunkt im Vordergrund stehe" ; dazu im folg. Text). Sax hat insoweit treffend die Zulässigkeit auf den Gedanken des Rechts der 29 Gemeinschaft zur Notwehr bezogen (S. 964 ff ; Bedenken dagegen aber ζ. B. bei Nowakowski S. 108; H. Mayer AT 1953 S. 38). Wiederholt ist versucht worden, die Maßregeln auch ethisch zu begründen, weil 30 Zweckerwägungen allein einen so schweren Eingriff in Persönlichkeitsrechte nicht rechtfertigen könnten ( Welzel Lehrbuch § 32 III ; Bockelmann Schuld und Sühne, S. 21 f und Niederschriften Bd. 1, S. 56, 247 [anders aber möglicherweise AT § 40 I]; Gallas Niederschriften Bd. 4, S. 55; Bruns ZStW 71 210, 211 f; Lang-Hinrichsen aaO sowie in: Betrachtungen zur Strafrechtsreform, S. 120 und in Gutachten zum 43. DJT, S. 43). Danach sollen die Maßregeln auf dem allgemeinen sozialethischen Gedanken beruhen, daß am Gemeinschaftsleben nur der ungeschmälert teilnehmen könne, der imstande sei, sich von den Normen des Gemeinschaftslebens leiten zu lassen: Alle äußere oder soziale Freiheit rechtfertige sich letztlich aus dem Besitz der inneren oder sittlich gebundenen Freiheit. Wer dieser Freiheit überhaupt nicht fähig sei (Geisteskranke), oder wer ihr infolge von schlechten Anlagen, Lastern und Gewohnheiten nicht mehr hinreichend mächtig sei, könne die volle soziale Freiheit nicht beanspruchen. Mit dem letzteren Gesichtspunkt ist insbesondere das Institut der Sicherungsverwahrung gegenüber Zustandsverbrechern gerechtfertigt worden. So anerkennenswert solche Bemühungen sind, und so sehr sie fortgesetzt werden 31 sollten, weil das Strafrecht der ständigen Auseinandersetzung mit der Ethik bedarf, so problematisch, ja gefährlich sind sie jedenfalls in ihrer bisherigen Gestalt. Das zeigen etwa die Einwendungen Stratenwerths (AT1 Rdn. 39; etwas anders AT2 Rdn. 51; vgl. auch Nowakowski S. 101), der sehr zu Recht geltend macht, daß der geschilderte Gedanke nur eingreifen könne, soweit das Unvermögen des Täters, seine Freiheit recht zu gebrauchen, strafrechtlich als Ausschluß oder Verminderung der Schuldfähigkeit anerkannt werde; für Maßnahmen gegen voll verantwortliche Rechtsbrecher versage er hingegen, so zur Begründung der Sicherungsverwahrung gegenüber dem gefährlichen Hangtäter, von dem man nur sagen könne, daß er von seiner Freiheit keinen rechten Gebrauch gemacht hat, nicht aber, daß er dazu unfähig sei. Diesen Bedenken läßt sich auch nicht durch die Überlegungen von Stree (Deliktsfolgen, S. 222 f; zustimmend aber Lang-Hinrichsen Voraufl. Rdn. 14 vor § 42 a) Rechnung tragen, daß derjenige, der seine Freiheitsrechte in gemeinschaftswidriger Weise ausübe, insoweit keinen Schutz verdiene, so daß sein Anspruch auf Freiheit wegen seines Verhaltens vermindert sei. Vielmehr wird gerade an dieser Überlegung der eigentlich kritische Punkt der ethischen Argumentation deutlich: die Gefahr, daß mit Hilfe des Freiheitsgedankens bzw. des Gedankens von der Verwirkung der Freiheit Eingriffe in einer Weise gerechtfertigt werden oder werden können, die über die unerbittliche Beschränkung auf überwiegende Gemeinschaftsinteressen, auf die Notwehr der Gemeinschaft i. S. von Sax (Rdn. 29), hinausgehen. Daß es sich insoweit um durchaus praktische Gefahren handelt, mag das Beispiel (13)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

der Sicherungsverwahrung zeigen, die nach früherem Recht vielfach nur Kleinkriminelle traf (s. LK § 66 Rdn. 6, 25); dem entgegenzuwirken, wäre die geschilderte ethische Begründung im Grunde ganz unfähig. 32

5. Verfassungsrechtliche Probleme. Verfassungsrechtliche Bedenken sind namentlich unter dem Aspekt einer Verletzung der Menschenwürde vor allem gegen die Sicherungsverwahrung in der bis 1969 geltenden Fassung des § 42 e a. F. geltend gemacht worden (näher LK § 66 Rdn. 20 ff)· Die Problematik hängt eng mit der im vorigen behandelten Frage der Rechtfertigung zusammen, wird aber von der dortigen Kritik an den Bemühungen zur ethischen Begründung der Maßregeln nicht berührt. Geht man davon aus, daß die Freiheit, die dem einzelnen durch die Grundrechte garantiert wird, eine gemeinschaftsgebundene Freiheit ist (BVerfGE 7 320, 323; vgl. auch BVerfGE 12 45, 51 ; 28 175, 189), sind vorbeugende Maßnahmen gegen den Störer auch in Form der Freiheitsentziehung mit dem Grundgesetz vereinbar, soweit sie das Übermaßverbot (vgl. § 62) beachten, also insbesondere die in Rdn. 28 genannte Übergewichtigkeit besitzen. Dies entspricht auch der ganz vorherrschenden Meinung (Nachw. LK § 66 Rdn. 20). Anderes müßte gelten, wenn und soweit die Behauptung richtig wäre (so K.A.Hall ZStW70 41,54), daß der Täter in der Sicherungsverwahrung wie unbrauchbares Material behandelt werde, das unschädlich gemacht werden müsse. Denn er würde dann seines Eigenwerts als Mensch beraubt (Widerspruch zu Art. 1 GG). Es besteht die verfassungsrechtliche Pflicht, den Betroffenen als Mitglied der Gemeinschaft zu achten und die Möglichkeiten seiner Resozialisierung auszunutzen. Die Auffassung von BVerfGE 2 188,191 = NJW1953 577, daß bei der Sicherungsverwahrung nur ein Verstoß gegen Art. 104 Abs. 1 Satz 2 GG (Verbot der seelischen und körperlichen Mißhandlung) verfassungswidrig sei, ist insoweit zu eng; sie dürfte auch mit der heutigen Rechtsprechung des BVerfG zum Strafvollzug (BVerfGE 35 205, 235; 36 264, 275; JZ 1976 22, 23) nicht mehr im Einklang stehen. Zu den daraus resultierenden verfassungsrechtlichen Problemen und Konsequenzen vgl. LK § 66 Rdn. 22, auch 182). 33 Gegen die Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus (§ 63) und in einer Entziehungsanstalt (§ 64) lassen sich nach dem Gesagten — und unter den genannten Voraussetzungen eines sachgerechten Vollzugs — Bedenken kaum erheben. Sie folgen insbesondere auch nicht aus der primären Abstellung auf das Vollzugsziel der Besserung (§§ 136, 137 StVollzG), weil dieses Ziel nur eine besondere, ja gebotene Ausrichtung (s. Rdn. 22, 25) der verfassungsrechtlich zulässigen Vorbeugung vor weiteren Straftaten darstellt (näher Stree Deliktsfolgen, S. 224 ff). Verfassungsrechtlich geboten ist es jedoch, daß die mit der Unterbringung verbundeneri Freiheitsbeschränkungen im einzelnen gesetzlich normiert sind, was derzeit ersichtlich nicht der Fall ist (näher LK § 63 Rdn. 128, § 64 Rdn. 134). 34 Ähnliches wie für die Unterbringung im Krankenhaus und in der Entziehungsanstalt dürfte für die sozialtherapeutische Anstalt gelten. Hier spielt allerdings auch die kritische Frage eine Rolle, ob die z. T. höchst vagen Anordnungsvoraussetzungen insbesondere des § 65 Abs. 1 Nr. 1 den Anforderungen des Bestimmtheitsgrundsatzes (Art. 103 Abs. 2 GG) noch genügen: Eine gewisse Elastizität der normativen Merkmale, die der richterlichen Wertung im Einzelfall den nötigen Spielraum gibt, ist bei den Maßregeln vor allem hinsichtlich der materiellen Voraussetzungen zwar unabdingbar. Ob der Gesetzgeber aber bei der sozialtherapeutischen Anstalt — im Gegensatz zu den anderen Maßregeln, selbst zur Sicherungsverwah(14)

Vorbemerkungen (Hanack)

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rung — insoweit nicht zu weit gegangen ist, weil er sich ersichtlich dem Vorschlag angeschlossen hat, „möglichst eine unpräzise Formel (zu) verwenden, da sie am besten zu handhaben sein werde" (Prot. V, 2251), ist offen (näher LK § 65 Rdn. 87 ff) und erscheint selbst dann problematisch, wenn man von den durchaus geringen Anforderungen ausgeht, die die Rechtsprechung des BVerfG an die Bestimmtheit strafrechtlicher Vorschriften bisher gestellt hat (BVerfGE 4 352, 358; 11 234,237; 14 245,215; NJW 1969 1759). Im übrigen sind gegen diese geringen Anforderungen ebenfalls Bedenken anzumelden; kritisch etwa Kohlmann Der Begriff des Staatsgeheimnisses und das verfassungsrechtliche Gebot der Bestimmtheit von Strafvorschriften, 1969, S. 150 ff; Hanack JZ 1970 41 ff, je m. w. Nachw.). Zweifelhaft ist bei § 65 Abs. 1 Nr. 1 weiter, ob der Gesetzgeber verfassungsrechtlich befugt ist, den gewiß höchst belastenden Eingriff der Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt auch dann vorzusehen, wenn ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Persqnlichkeitsstörung und den Straftaten nicht beweisbar ist (näher LK § 65 Rdn. 65 ff). Die Maßregeln ohne Freiheitsentziehung (Führungsaufsicht, Entziehung der 35 Fahrerlaubnis, Berufsverbot) erscheinen unter den genannten Gesichtspunkten nicht verfassungswidrig, so problematisch die Führungsaufsicht in Grenzbereichen sein mag. Verfassungsrechtlich anfechtbar ist bei ihr jedoch die in Teilen gänzlich überzogene und insoweit nicht mehr tolerierbare Strafbewehrung des § 145 a beim Verstoß gegen einzelne Weisungen gemäß § 68 b Abs. 1 (s. dazu näher LK § 68 b Rdn. 13 ff, insbes. 18). Auch ergeben sich gerade bei der Führungsaufsicht Probleme des Übermaßverbots, die nicht nur zu bestimmten verfassungskonformen Auslegungen zwingen (LK § 68 e Rdn. 24 f), sondern in seltenen Einzelfallen dazu führen, daß der Richter an eine zwingende Normierung nicht gebunden ist (aaO Rdn. 18). Beim Berufsverbot, das auch Art. 12 GG einschränkt, bestehen namentlich gegenüber Presseangehörigen besondere Probleme im Hinblick auf die durch Art. 5 GG garantierte Pressefreiheit, im Hinblick auf das sog. Parteienprivileg des Art. 21 Abs. 2 und das Verwirkungsproblem nach Art. 18 GG; s. dazu im einzelnen Horstkotte LK, Erl. zu § 70. 6. Wissenschaftliche Durcharbeitung des Maßregelrechts. Die dogmatische 36 Durcharbeitung des Maßregelrechts entspricht, unbeschadet verdienstlicher Einzelbeträge aus Praxis und Lehre, nicht dem wünschenswerten Stand. Zipf (in Roxin u. a., Einführung in das neue Strafrecht, S. 102) spricht von einem „wissenschaftlichen Entwicklungsgebiet". Schmerzlich ist neben krassen Einzellücken — z. B. der weitgehend fehlenden Beschäftigung mit den §§ 64, 68 ff — insbesondere das Fehlen eines rechtsgrundsätzlichen „Allgemeinen Teils". Wenn Zipf (aaO) die Darstellung der Prinzipien des Maßregelrechts in der — im folgenden fortgeführten — Bearbeitung durch Lang-Hinrichsen (Vorauf!. Rdn. 21 ff vor § 42 a) als „ausbaufähige Grundlegung" hervorhebt, so kennzeichnet dies die Situation. Denn bei aller Verdienstlichkeit der Ausarbeitung von Lang-Hinrichsen: Sie kann, ebenso wie ihre Fortführung, bei den beschränkten Möglichkeiten auch eines Großkommentars eine solche Grundlegung schlechterdings nicht leisten oder ersetzen. Im übrigen darf vermutet werden, daß die ungenügende Durcharbeitung gerade im Grundsätzlichen für die oft „langen und schwer verständlichen" Vorschriften, die ohne Zweifel „ungelöste Spannungen" verraten (Naucke Strafrecht 2 , 1977, (15)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

§ 3 II 2 b) und durch gesetzgeberische Kompromisse immer wieder verdunkelt werden, mitursächlich ist. Fast ebenso problematisch ist das Bild, soweit es um die spezifische Verzahnung des Maßregelrechts mit unserem kriminologischen Wissen — oder Nichtwissen — steht. Dringend erwünscht wäre jedenfalls im Maßregelrecht so etwas wie ein exakter „kriminologischer Kommentar" in Ergänzung der primär auf die eigentlichen Rechtsfragen zugeschnittenen Erläuterungsbücher. II. Prinzipien des Maßregelrechts 37 1. Rechtsstaatlichkeit. Die Maßregeln sind, um schon Gesagtes (Rdn. 20, 28) einmal mit extremer Schärfe zu formulieren, präventivpolizeiliche Maßnahmen, die der Strafrechtspflege anvertraut sind. Dies ist historisch begründet, geschieht aber nicht so sehr im Hinblick auf den Zweck der Gefahrenabwehr (der sich auch im Rechtsstaat mit einer spezifisch polizeirechtlichen Regelung erreichen ließe), sondern geschieht vor allem aus Sicherheitsgründen zum Schutze des Betroffenen selbst, für den die Eingriffe des Maßregelrechts regelmäßig von erheblicher Bedeutung sind, zumal sie grundsätzlich nicht von seiner Schuld abhängen. 38 Auf diese Weise ergeben sich für das Maßregelrecht spezielle rechtsstaatliche Garantien, nämlich insbesondere die folgenden. (1) Maßregeln setzen ohne Ausnahme die Begehung einer mindestens rechtswidrigen Tat („Anlaßtat") voraus, die, unbeschadet der Frage einer Verurteilung auch zu Strafe, in den gesetzlich vorgeschriebenen strengen Formen der Strafprozeßordnung („Strengbeweis") festgestellt werden muß. (2) Maßregeln können nur im strafgerichtlichen Verfahren bzw. dem ihm angenäherten Sicherungsverfahren (§§ 413 ff StPO), also in einem Verfahren angeordnet werden, das in den Händen unabhängiger Richter liegt und im Ermittlungsstadium in den Händen einer der materiellen Wahrheit verpflichteten Justizbehörde, der Staatsanwaltschaft. (3) Es gilt das Prinzip der Gesetzlichkeit, insbesondere das Analogieverbot, d. h. Maßregeln dürfen nur verhängt werden, wenn die jeweils vom Gesetz bestimmten Voraussetzungen vorliegen. Eine analoge Anwendung auf andere Fälle ist unzulässig (vgl. schon BGHSt. 18 136,140). Sie würde dem Rechtsstaatsprinzip widersprechen (Stree Deliktsfolgen, S. 78 ff). (4) Es gilt der Grundsatz in dubio pro reo. Dies ist eindeutig, soweit es um die sog. formellen Voraussetzungen der Maßregelanordnung geht, d. h. um die Anlaßtat und sonstige Umstände, an die die Maßregel anknüpft. Der Grundsatz gilt aber auch für die sog. materiellen Voraussetzungen, d. h. die Frage, ob die künftige Gefährlichkeit des Täters, also die Gefahr weiterer Straftaten, zu bejahen ist. Die zum Teil vertretene gegenteilige Auffassung, nach der die Anordnung der Maßregel auch zulässig ist, wenn sich ein sicheres Urteil über die Gefährlichkeit nicht abgeben läßt, beruht auf einem Fehlverständnis der prozessualen Situation. Schon das RG ist ihr nicht gefolgt (RGSt. 73 303), und auch vom BGH (BGHSt. 5 350,352; GA 1955 149,151 ; 5 StR 525/66 v. 15.11. 1966) sowie von der weit herrschenden Lehre wird sie nicht geteilt (näher unten Rdn. 48 ff m. Nachw.). 39

2. Die künftige Gefährlichkeit des Titers. Der eigentliche Angelpunkt des Maßregelrechts ist, entsprechend seiner kriminalpolitischen Zielsetzung (Rdn. 20), die Frage der künftigen Gefährlichkeit des Täters, und zwar speziell im Hinblick auf (16)

Vorbemerkungen (Hanack)

Vor § 61

die Begehung weiterer Straftaten („Gefährlichkeitsproblem"). Dies war schon im früheren Recht so (näher Lang-Hinrichsen Vorauf! Rdn. 24 vor § 42 a), ist aber vom Gesetzgeber bei der Strafrechtsreform in der Akzentuierung insgesamt noch deutlicher gemacht worden. a) Freiheitsentziehende Maßregeln. Bei den freiheitsentziehenden Maßregeln 40 hebt das Gesetz jetzt durchgängig darauf ab, ob vom Täter weiterhin erhebliche Straftaten zu befürchten sind. Der Begriff der Erheblichkeit ist damit insoweit zu einem Zentralbegriff des Maßregelrechts geworden (Zipf in Roxin u. a., Einführung in das neue Strafrecht, S. 90; JuS 1974 273). Im einzelnen sind die Gesetzesformulierungen allerdings etwas unterschiedlich. So werden ζ. B. die „erheblichen" Straftaten bei § 66 noch durch ein „namentlich" näher charakterisiert und müssen auf einen spezifischen „Hang" zurückgehen, während es bei § 65 Abs. 2 nur darauf ankommt, ob der Täter „sich zum Hangtäter entwickeln wird", und bei den §§ 63, 64, 65 Abs. 1 Nr. 2 Gefährlichkeit „infolge" spezifischer Störungen bzw. „im Zusammenhang" damit bestehen muß. Weiterhin wird zum Teil auf eine Gefährlichkeit „für die Allgemeinheit" abgestellt (§§ 63, 66), zum Teil nicht (§§ 64, 65 Abs. 1, 2). Ferner wird bisweilen eine „Gesamtwürdigung" des Täters und seiner Taten verlangt (§§ 63, 65 Abs. 2,66), bisweilen nicht (§§ 64,65 Abs. 1). Unterschiedlich ist sogar der Grad der Gefahr weiterer Taten : Bei § 63 kommt es darauf an, ob sie „zu erwarten sind", während die §§ 64, 65 Abs. 1 auf die „bestehende Gefahr" abstellen, in § 65 Abs. 2 auf die zu „erkennende Gefahr" abgehoben ist und bei § 66 darauf abgestellt wird, ob der Täter aufgrund der dort genannten Kriterien „gefahrlich" ist. Wie weit die verschiedenen Formulierungen jeweils auch verschiedene Sachan- 41 forderungen enthalten, ist zum Teil schwer zu beurteilen, soweit es nicht um die spezifischen Probleme des „Hangs" im Sinne von § 66 bzw. der Störungen i. S. der §§ 63,64,65 Abs. 1 Nr. 2 geht. Daß jedenfalls bei der Frage der „Gefährlichkeit für die Allgemeinheit" und der Frage der „Gesamtwürdigung" verschiedenartige Anforderungen nicht bestehen, ergibt eine Zweckbetrachtung wohl mit Eindeutigkeit (näher bei den Einzelerläuterungen). Bei anderen Formulierungsunterschieden hingegen bleibt die Frage zweifelhafter. Die Gesetzesmaterialien ergeben insoweit durchweg wenig Aufschluß, deuten aber vielfach darauf hin, daß es sich nur um sprachliche Verschiedenheiten handelt, die sich vor allem aus den verschiedenen „Schichten" der Reformbemühungen ergeben. Zu beachten bleibt jedoch, daß die Formulierungen jeweils auf etwas unterschiedliche Tätergruppen bezogen sind. Aus diesem Grunde erscheint es angebracht, bei der Interpretation zunächst von der einzelnen Maßregel selbst auszugehen, nicht also von vornherein abstrakt einen „Allgemeinen Teil" zu entwickeln. Ob oder wie weit die Interpretationsergebnisse dann zu Übereinstimmungen führen, muß der weiteren Entwicklung überlassen bleiben. Dies gilt auch für die besonders wichtige Frage der „erheblichen" weiteren Taten 42 (Preisendanz § 63 Anm. 3 a; Hanack Anm. in JR 1977 170). Was hier „erheblich" ist, läßt sich, wie für § 66 schon die dort verwendete zusätzliche „namentlich"-Klausel nahelegt, in den Einzelheiten jeweils nur im Hinblick auf die von der jeweiligen Maßregel betroffene Tätergruppe sagen, schon weil dabei stets auch die Frage des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (§ 62) eine Rolle spielt, die aufgrund der verschiedenen, der Gefährlichkeit zugrunde liegenden Störungen bei jeder Maßregel etwas anders liegt oder liegen kann. (17)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

43

b) Maßregeln ohne Freiheitsentzug. Bei den nicht freiheitsentziehenden Maßregeln finden sich, entsprechend ihrer besonders unterschiedlichen Zielrichtung, ebenfalls verschiedenartige Umschreibungen der künftigen Gefährlichkeit. Bei der Führungsaufsicht kraft Richterspruchs (§ 68 Abs. 1) kommt es auf die bestehende Gefahr weiterer Straftaten (nicht: erheblicher Straftaten) an (dazu näher und einschränkend LK § 68 Rdn. 10). In den Fällen der Führungsaufsicht kraft Gesetzes (§ 68 Abs. 2) hingegen liegen der Maßregel spezifische, aber in sich wiederum unterschiedliche Erwartungen einer weiteren Gefährlichkeit zugrunde, die den Gesetzgeber bewogen haben, den Eintritt der Aufsicht vorzusehen (näher LK Rdn. 9 vor § 68; vgl. auch § 68 e Rdn. 14 f, 19 ff). Bei der Entziehung der Fahrerlaubnis muß sich „aus der Tat" ergeben, daß der Täter zum Führen von Kraftfahrzeugen „ungeeignet" ist, wobei die mangelnde Eignung in den Fällen des § 69 Abs. 2 in der Regel vermutet wird (§ 69 ; vgl. dazu näher Rüth LK, Erl. zu § 69). Für das Berufsverbot dagegen ist entscheidend, ob eine „Gesamtwürdigung" „erkennen läßt", daß der Täter bei weiterer Ausübung des Berufs „erhebliche" rechtswidrige Taten „unter Mißbrauch" des Berufs usw. begehen wird (§ 70).

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c) Der Gefahrbegriff nach materiellem Recht. Materiellrechtlich knüpft der Begriff der Gefahr bzw. der Gefährlichkeit im Maßregelrecht — in seinen verschiedenen Ausprägungen — an den allgemeinen strafrechtlichen Gefahrbegriff an (Bruns JZ1958 647, 652). Er ist jedoch nicht ohne weiteres identisch mit dessen Inhaltsbestimmung an anderen Stellen des Strafgesetzbuchs (z. B. in den §§ 34, 35, bei den §§ 249 Abs. 1, 250 Abs. 1 Nr. 3 oder im 27. Abschnitt), weil er dort jeweils andere Funktionen hat als hier, wo es um die spezifische Gefährlichkeitsprognose im Hinblick auf unbestimmte künftige Straftaten geht. Gemeinsam ist nur der Ausgangspunkt: das Basieren auf dem logischen Gedanken der Möglichkeit (Potentialität), der seinerseits auf der generellen Lebenserfahrung beruht (Bruns aaO).

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Im Maßregelrecht wird man danach unter Gefährlichkeit Wiederholungswahrscheinlichkeit im Sinne eines gesteigerten, überwiegenden Grades der Möglichkeit zu verstehen haben (Bruns aaO). Diese Wahrscheinlichkeit ist ein der Gegenwart angehörender Sachverhalt (Nowakowski S. 116; a. A. Sarstedt Die Revision in Strafsachen 4 , 1962, S. 243 [beiläufig]), wenn auch ein Sachverhalt, der sich regelmäßjig aus der Bewertung vieler Einzeltatsachen zusammensetzt und schon dadurch stark wertende Züge trägt, was sich auch bei kritischen Frage der Revisibilität auswirkt (eingehend zum Ganzen v. Hippel Gefahrurteile); als Sachverhalt ist die Wahrscheinlichkeit aber jedenfalls als solche — „tatsächlich" — festzustellen. 46 Welcher Grad von Wahrscheinlichkeit bei den verschiedenen Maßregeln ausreichend oder erforderlich ist, bleibt jedoch, zumal angesichts der verschiedenen Gesetzesformulierungen (Rdn. 40,43) und der Beziehung zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (§ 62), auch hier entscheidend Sache der Einzelprüfung bei der jeweiligen Maßregel selbst. Generell läßt sich wohl nur sagen, daß die bloße Möglichkeit der Wiederholung zur Bejahung der Gefährlichkeit noch nicht ausreicht; dies entspricht auch der ständigen Rechtsprechung schon des Reichsgerichts und der im Schrifttum ganz herrschenden Meinung (näher z. B. LK § 63 Rdn. 42; eingehend Bruns aaO). 47 Daß sich der Begriff der Gefahr „genauer wissenschaftlicher Umschreibung entzieht" und nicht „allgemeingültig bestimmbar" sowie überdies „überwiegend tatsächlicher, nicht rechtlicher Natur" ist, ist eine traditionelle Auffassung der Rechtsprechung (vgl. statt aller BGHSt. 18 271, 271 m. w. Nachw.), die vermutlich „endgültig" sein dürfte (so v. Hippel Gefahrurteile, S. 108). (18)

Vorbemerkungen (Hanack)

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d) Der Gefahrbegriff in prozessualer Sicht (in dubio pro reo). Für die richterliche 48 Überzeugung von der Gefährlichkeit gelten die allgemeinen prozeßrechtlichen Grundsätze der Überzeugungsbildung (§ 261 StPO). Nach diesen Grundsätzen (dazu Gollwitzer in Löwe-Rosenberg 22 , Erl. zu § 261), muß der Richter vom Vorliegen der die Verurteilung begründenden Tatsachen voll überzeugt sein. Es genügt also nicht, daß das Gericht diese Umstände nur mit einem hohen Grad von Wahrscheinlichkeit zu bejahen vermag. So ist der BGH (BGHSt. 10 208, 209 f) mit Recht der Auffassung des RG (RGSt. 61 202, 206) entgegengetreten, daß sich das Gericht bei der Beweiswürdigung „mit einem so hohen Grad von Wahrscheinlichkeit begnügen" müsse, wie er bei möglichst erschöpfender und gewissenhafter Anwendung der vorhandenen Erkenntnismittel entstehe. Die bloße Wahrscheinlichkeit stellt vielmehr, auch wenn sie einen hohen Grad erreicht, die erforderliche Überzeugung noch nicht her. Das Fürwahrscheinlicherachten steht eben dem Fürwahrerachten nicht gleich (Gollwitzer aaO Anm. 2 a m. Nachw.; s. jüngst auch OLG Celle NJW 1976 1320). Wendet man diese Grundsätze auf den Gefahrbegriff des Maßregelrechts an, 49 zeigt sich, wie namentlich Bruns (JZ 1958 647) herausgearbeitet hat, daß der Begriff der Wahrscheinlichkeit auf der materiellrechtlichen Ebene eine ganz andere Rolle spielt als auf der prozessualen Ebene. Während die Wahrscheinlichkeit dort als Eingriffsvoraussetzung ausreicht, ist das hier, also bei den Grundsätzen der richterlichen Überzeugungsbildung, gerade nicht der Fall. Dies bedeutet im einzelnen: Gelangt der Richter zur vollen Überzeugung der Gefährlichkeit, hat er — bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen — die Maßregel anzuordnen. Gelangt er zur Überzeugung, daß eine Wiederholung nur möglich, aber nicht wahrscheinlich ist, oder hält er sie gar für ausgeschlossen, hat er die Anordnung der Maßregel abzulehnen. Bestehen für den Richter nicht überwindliche Zweifel an der Gefährlichkeit, ist der Grundsatz in dubio pro reo anzuwenden, die Maßregelanordnung also ebenfalls abzulehnen. Die Geltung des Grundsatzes in dubio pro reo entspricht, wie schon bemerkt, 50 auch dem Standpunkt des RG und des BGH (oben Rdn. 38) sowie der herrschenden Lehre (z. B. Horn SK Rdn. 13 vor § 61 ; Lackner § 63 Anm. 2 c ee; Preisendanz Anm. 6 vor §61; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 9 vor §61; eingehend Bruns aaO und Stree In dubio pro reo, S.91ff, 100; Geppert NJW 1971 2154,2156; Kohlhaas Anm. zu LM §42 a Nr. 5; Nowakowski S. 116; Gollwitzer aaO §261 Anm. 6 b; Kleinknecht StPO, § 261 Rdn. 29 [unklar aber Rdn. 28]; Sarstedt aaO S. 243). Die Geltung ergibt sich eindeutig aus der notwendigen Differenzierung zwischen dem materiellrechtlichen Inhalt des Gefahrbegriffs und der, ganz anders strukturierten, Frage seiner prozessualen Feststellung. Auch Maßregeln können eben nur angewendet werden, wenn ihre Voraussetzungen nach den für die richterliche Überzeugungsbildung geltenden allgemeinen Grundsätzen festgestellt sind. Dies verkennt, vermutlich wegen der in der Tat diffizilen Unterscheidung, in merkwürdiger Mißachtung anerkannter Maximen prozessualen Denkens immer wieder eine gegenteilige Ansicht (ζ. B. OLG Hamm NJW 1971 1618,1620 und 1956 560; OLG Schleswig DAR 1954 139, 140; Dreher Rdn. 3 vor §61, der sich dabei zu Unrecht auch auf SK, § 61 Rdn. 13 beruft; Geerds MschrKrim 1960 94; Weihrauch NJW 1971 829; 890). Etwas anderes gilt nur für die sog. Entlassungsprognose (z. B. § 67 d Abs. 2) 51 sowie in ähnlichen Fällen der Aussetzung oder Beendigung einer angeordneten (19)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

Maßregel (§§ 67 c, 68 e, 69 a Abs. 7, 70 a Abs. 1), bei denen es darum geht, ob der Richter eine genügende Überzeugung davon hat, daß die — rechtskräftig bejahte — Gefährlichkeit weggefallen oder entscheidend gemindert ist. Denn hier handelt es sich um die durchaus anders gelagerte Frage, ob eine ursprünglich bestehende Gefährlichkeit nicht mehr oder nicht mehr in der vom Gesetz verlangten Schärfe besteht. Solange dies nicht feststeht, ist die Entlassung usw. im Gesetz nicht vorgesehen. Der Grundsatz in dubio pro reo gilt daher, anders als bei der Anordnungsprognose, insoweit nach Wortlaut und Zweck nicht; vielmehr geht das non liquet zu Lasten des Verurteilten. Dies liegt am Charakter der Entscheidung und entspricht ebenfalls der ganz herrschenden Meinung; vgl. statt aller OLG Köln NJW 1955 682; Bruns JZ 1958 647, 651 und im übrigen die Erl. im LK zu den genannten Bestimmungen. Die gegenteilige Auffassung von Nowakowski (S. 117), der sich Lang-Hinrichsen (Voraufl. § 42 f Rdn. 4, § 42 g Rdn. 5) angeschlossen hat, übersieht diese Eigenart der gesetzlichen Regelungen. 52

3. Beziehungen zwischen Gefährlichkeit, Anlaßtat und Persönlichkeit. Die typischerweise vorhandene Schwierigkeit, die künftige Gefährlichkeit des Täters zu prognostizieren, wird bei den einzelnen Maßregeln regelmäßig, wenn auch nicht in gleichem Umfang, durch die Verknüpfung verschiedenartiger Faktoren abgemildert, deren integrierende Würdigung bei Beurteilung der künftigen Gefährlichkeit erforderlich ist. So muß die vorausgesetzte Anlaßtat nach allgemeiner Meinung symptomatisch sein, d. h. für die Gefährlichkeit des Täters Indizwert besitzen: näheres bei den einzelnen Vorschriften, z. B. § 66 Rdn. 45. Darüber hinaus entsteht bei allen freiheitsentziehenden Maßregeln, die durchweg an eine spezifische Störung oder einen gefährlichen Hang des Täters anknüpfen, das „Kausalitätsproblem", d. h. die Frage, ob die betreffende Störung als Ursache oder doch als Faktor der Gefahr anzusehen ist. Eine problematische Ausnahme besteht — jedenfalls nach dem Wortlaut und der gesetzgeberischen Intention — nur in den Fällen des § 65 Abs. 1 Nr. 1, wo zwischen der Persönlichkeitsstörung und den zu erwartenden Taten, ja sogar den früheren Taten und der Anlaßtat, ein beweisbarer Zusammenhang nicht vorausgesetzt wird (dazu LK § 65 Rdn. 65 ff). Des weiteren setzen die §§ 63, 65 Abs. 2, 66, 70 ausdrücklich eine „Gesamtwürdigung des Täters" und seiner Taten voraus. Darin kommt ein Sachprinzip zum Ausdruck, das über die gesetzliche Normierung hinaus bei allen Maßregeln mit und ohne Freiheitsentzug zu beachten ist, und zwar selbst bei der Entziehung der Fahrerlaubnis, wo der Gesetzeswortlaut des § 69 auf etwas anderes hindeutet (näher Rüth LK, Erl. zu § 69). Es ist das Prinzip, daß für die Feststellung der weiteren Gefährlichkeit die Beurteilung auch der Persönlichkeit des Täters erforderlich, oft sogar entscheidend wichtig ist. Diese Beurteilung umfaßt dabei selbstverständlich auch das frühere kriminelle Verhalten, wie einige insoweit ungeschickte Gesetzesformulierungen (Würdigung des Täters „und seiner Tat") eher verdunkeln. Beschränkungen bestehen insoweit nur aufgrund des BZRG (dazu LK § 66 Rdn. 41 f)· Ferner verlangt das Gesetz in einigen Fällen (§§65 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2, 66 Abs. 1) für die Maßregelanordnung bestimmte Vorverurteilungen und Vorverbüßungen. Es markiert auf diese Weise, entsprechend dem Gewicht der betreffenden Maßregeln, eine besondere Schwelle, um nur schwerer vorbelastete Täter zu treffen, wobei die Vorbelastung zugleich wiederum Bedeutung auch für die Einschätzung der Gefährlichkeit besitzt. (20)

Vorbemerkungen (Hanack)

Vor § 61

4. Zeitpunkt der Prognose. Für die Beurteilung der Gefährlichkeit ist seit der 53 Strafrechtsreform durchweg auf die Gegebenheiten im Zeitpunkt des (letzten tatrichterlichen) Urteils abzustellen. Dies entspricht der allgemeinen Meinung (Nachweise bei den Einzelerörterungen) und ist nur bei der Führungsaufsicht kraft Richterspruchs etwas umstritten (dazu näher LK § 68 Rdn. 14 ff). Auf den Urteilszeitpunkt war schon im früheren Recht bei all denjenigen Maß- 54 regeln abzustellen, bei denen die Wirkung der Anordnung unmittelbar mit der Rechtskraft des Urteils eintritt. Es war nach herrschender Meinung — jedenfalls bis zum l . S t r R G — aber anders bei den freiheitsentziehenden Maßregeln, soweit ihrem Vollzug die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe vorausging. Hier mußte die Prognose auf den Zeitpunkt der Entlassung aus der Strafhaft bezogen werden, weil die Unterbringung nur angeordnet werden durfte, wenn die öffentliche Sicherheit es erforderte (Nachweise bei Lang-Hinrichsen Voraufl. Rdn. 28 ff vor § 42 a). Das Gericht war also gezwungen, die voraussichtlichen Wirkungen des Strafvollzugs bis zum — u. U. sehr fernliegenden — Entlassungstermin abzuschätzen. Dies war oft mit großen Unsicherheiten verbunden ; es wird angenommen, daß die Gerichte von einer möglicherweise erforderlichen Sicherungsverwahrung gerade deswegen nicht selten abgesehen hätten (Lang-Hinrichsen aaO Rdn. 29). Auch der Gesetzgeber hat die geschilderte Situation als mißlich angesehen und 55 ihre Beseitigung angestrebt. Er hat darum — zunächst im 1. StrRG für die Sicherungsverwahrung, dann im 2. StrRG für die übrigen freiheitsentziehenden Maßregeln — den bisherigen Bezugspunkt der Gefährlichkeit (Erfordernisse der öffentlichen Sicherheit) beseitigt und die Vorschrift des § 67 c Abs. 1 (im 1. StrRG: § 42 g) eingefügt, nach welcher das Gericht im Falle des Vorwegvollzugs der Strafe vor dem Ende dieses Vollzugs zu prüfen hat, ob der Zweck der Maßregel die Unterbringung noch erfordert. Seitdem ist anerkannt, daß die Erforderlichkeit auch bei den freiheitsentziehenden Maßregeln stets auf den Zeitpunkt der Urteilsfällung bezogen ist (ζ. B. Dreher Rdn. 2 vor § 61 ; Horn SK § 61 Rdn. 14; Lackner § 63 Anm. 2 c d d ; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 10 vor § 61 ; vgl. auch BGH bei Dallinger M D R 1976 15; BGH NJW 1976 300). Die zwischen dem Inkrafttreten des l . u n d des 2. StrRG umstrittene Frage, ob die Neuregelung nur für die Sicherungsverwahrung oder auch für die anderen freiheitsentziehenden Maßregeln gilt (vgl. BGH NJW 1973 654 und Lang-Hinrichsen aaO Rdn. 31), ist mittlerweise gegenstandslos geworden. Im übrigen hat das Problem für die anderen Maßregeln durch die Einführung des vikariierenden Prinzips (§ 67) an Bedeutung verloren, weil danach ein Vorwegvollzug der Strafe nur noch ausnahmsweise in Betracht kommt. Daß freilich auch die geschilderte Neuregelung nicht voll befriedigt, hat vor 56 allem Schröder dargelegt (JZ 1970 92, 93; vgl. auch Anm. in JR 1973 160 und Sch.Schröder-Stree Rdn. 10 vor § 61 ; Maurach AT § 68 I D 4). Ernst wiegt insbesondere der Einwand, daß bei der Sicherungsverwahrung (und entsprechendes gilt in den Ausnahmefällen des § 67 Abs. 2 auch für die anderen freiheitsentziehenden Maßregeln) über den entscheidenden Punkt, nämlich die erforderliche Vollstreckung nach der Strafverbüßung, nicht vom erkennenden Gericht unter den Kautelen des Strengbeweisverfahrens, sondern in dem sehr viel formloseren Beschlußverfahren der Strafvollstreckungskammer (§ 463 i. V. mit § 454 StPO) befunden wird. Auch ist die Anordnung der Sicherungsverwahrung durch das erkennende Gericht durchaus nicht „rein platonisch" (so aber Schröder JZ 1970 93), schon weil diese Entscheidung zwingend selbst dann Führungsaufsicht kraft Gesetzes auslöst, wenn die Vollstreckungskammer vor dem Ende des Strafvollzugs feststellt, daß die Maßregel(21)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

Unterbringung nicht erforderlich ist (§ 67 c Abs. 1). Des weiteren zeigt die Entwicklung, daß die neue Regelung selbst in den traditionell skeptisch beurteilten Fällen der Sicherungsverwahrung gegen jüngere Täter deren Anordnung in nicht unbedenklicher Weise erleichtert (BGH N J W 1 9 7 6 300 und 301 ; s. dazu näher LK § 66 Rdn. 46 ff, insbes. 48). 57

Im übrigen schließt die Neuregelung, worauf insbesondere Lackner mit Recht hinweist (§ 66 Anm. 5 a cc), nur die Berücksichtigung der ungewissen Entwicklung des Täters bis zur Entlassung aus dem Strafvollzug aus (vgl. auch BGHSt. 25 59, 63 und NJW 1972 347). Sie enthebt das Gericht also weder der Prüfung, ob eine im Zeitpunkt der Anlaßtat vorhandene Gefährlichkeit nicht vielleicht zum Urteilszeitpunkt entfallen ist, noch von der weiteren Prüfung, ob die unter den bisherigen Lebensverhältnissen an sich gegebene Gefährlichkeit möglicherweise durch schonendere Maßnahmen beseitigt werden kann. Die letztere Frage betrifft die umstrittene Problematik des Subsidiaritätsprinzips, auf die im folgenden einzugehen ist.

5. Das sog. Subsidiaritätsprinzip 58

a) Allgemeines; verfassungsrechtliche Ableitung. Im Maßregelrecht gilt das Subsidiaritätsprinzip. Danach kommt eine Maßregel dann nicht in Betracht, wenn weniger einschneidende Maßnahmen (ζ. B. die Überwachung durch Angehörige anstelle der Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus) einen ausreichenden und ausreichend zuverlässigen Schutz vor der Gefährlichkeit des Täters bieten. Das Prinzip ist im bisherigen Recht allgemein anerkannt worden. Es wurde — schon in der Rechtsprechung des RG — meist aus dem Prinzip der Erforderlichkeit abgeleitet (Nachweise z. B. LK § 63 Rdn. 82 ff). Es folgt aber auch aus dem verfassungsrechtlichen Gesichtspunkt des Übermaßverbots, das beim Charakter der Maßregeln (Rdn. 28) die Beschränkung auf das zur Zweckerreichung Unerläßliche erfordert (übereinstimmend Lackner-Maassen StGB 8 § 42 a Anm. 4; Lang-Hinrichsen Vora u f ! Rdn. 32 vor § 42 a; vgl. auch BGHSt. 20 232; Sch.-Schröder^ § 42 a Rdn. 7). Dies ist bedeutsam für den heutigen Streit um die Bedeutung des Prinzips bei den freiheitsentziehenden Maßregeln (Rdn. 60 ff)·

59

b) Bedeutung bei Maßregeln ohne Freiheitsentzug. Bei den nicht-freiheitsentziehenden Maßregeln hat das Subsidiaritätsprinzip bisher (und abgesehen von der früheren Maßregel der Entmannung nach § 42 k; dazu ζ. B. RGSt. 68 230; 68 292; RG JW 1937 1784) praktisch keine Rolle gespielt. Es wird in Rechtsprechung und Lehre insoweit regelmäßig so gut wie gar nicht erörtert. Vermutlich hängt dies vor allem damit zusammen, daß die traditionellen Maßregeln ohne Freiheitsentzug (Entziehung der Fahrerlaubnis, Berufsverbot) nach ihrer Zielrichtung von vornherein eine mehr partielle Gefährlichkeit des Täters betreffen, der gerade und nur durch die spezifische Maßregelfolge begegnet wird. Doch ist, wenn man die verfassungsrechtliche Ableitung des Subsidiaritätsprinzips ernst nimmt, das Problem damit noch nicht wirklich gelöst; es bedarf ohne Zweifel der weiteren Diskussion. Dabei ist freilich zu beachten, daß die Anordnung des Berufsverbots und ebenso der Führungsaufsicht kraft Richterspruchs in das Ermessen des Gerichts gestellt sind, so daß der Richter die Gesichtspunkte des Subsidiaritätsprinzips auf diese Weise berücksichtigen kann, was gerade bei der neuen, ζ. B. gegenüber Jugendlichen oft durchaus problematischen Maßregel der Führungsaufsicht wichtig sein dürfte (dazu LK §68 Rdn. 16, 21). (22)

Vorbemerkungen (Hanack)

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b) Bedeutung bei freiheitsentziehenden Maßregeln. Die freiheitsentziehenden 60 Maßregeln waren im bisherigen Recht die eigentliche Domäne des Subsidiaritätsprinzips. Hier ist nun heute folgendes zweifelhaft. Bis zum 2. StrRG galt das Prinzip nach einhelliger Meinung bereits bei Anordnung der Maßregel. Das Gericht hatte also stets zu prüfen, ob der Zweck der Maßregel durch andere, weniger einschneidende Vorkehrungen erreicht werden konnte und in diesen Fällen die Maßregel nicht anzuordnen. Begründet wurde dies, wie bemerkt (Rdn. 58), zunächst vor allem damit, daß die Anordnung nach dem damaligen Recht nur statthaft war, wenn die öffentliche Sicherheit es „erforderte". Der E 1962 wollte nun eine Berücksichtigung des Subsidiaritätsprinzips bei Anordnung der Maßregel nicht mehr gelten lassen, sondern das Prinzip nur bei der Entscheidung über die Vollstreckung der Maßregel beachtet wissen (Begründung S. 210, 211 ; vgl. auch Schwalm Prot. IV, 827). Dem lag der Gedanke zugrunde, daß die Anwendung des Prinzips schon im Rahmen der Anordnung zu Schwierigkeiten und Zweifeln führen kann, und daß es kriminalpolitisch besser sei, gegebenenfalls unter dem Druck einer zwar unbedingt angeordneten, aber zur Bewährung ausgesetzten Unterbringung mit Widerrufsvorbehalt zu erproben, ob andere Vorkehrungen genügen, um auf den Täter einzuwirken und der Gefahr weiterer Straftaten zu steuern. Der E 1962 — und mit ihm der Gesetzgeber — versuchte dieses Ziel zu erreichen, indem er nicht mehr darauf abstellte, ob die öffentliche Sicherheit die Unterbringung erfordert, und indem er die Möglichkeit einer sofortigen Aussetzung der Maßregel (jetzt § 67 b) bzw. der Aussetzung nach Verbüßung einer vorab vollzogenen Freiheitsstrafe (jetzt § 67 c Abs. 1) vorsah, die den Täter dann jeweils unter Führungsaufsicht stellt. Seit der entsprechenden Fassung des Gesetzes durch das 2. StrRG (zur Übergangszeit zwischen dem 1. und dem 2. StrRG s. Lang-Hinrichsen Vorauf!. Rdn. 34 vor § 42 a) nimmt die herrschende Meinung dementsprechend an, daß das Subsidiaritätsprinzip bei den freiheitsentziehenden Maßregeln nur noch für die Frage der Vollstreckung, hingegen nicht mehr für die Anordnung gelte (z. B. Dreher Rdn. 2 vor § 63; Horn SK § 63 Rdn. 17; Sch.-Schröder-Stree § 67 b Rdn. 1 ; Baumann AT § 44 II 1 c; Maurach AT § 68 I A 2 a; Lenckner S. 192). Dem ist zu widersprechen (so im Ergebnis auch Schmidhäuser AT 21/32; 61 Bockelmann AT § 41 A II 4 d [anders aber § 43 IV]; Lackner § 66 Anm. 5 a cc; vgl. weiter LK § 66 Rdn. 154): Nach der — insoweit entscheidenden — Ableitung des Subsidiaritätsprinzips aus dem verfassungsrechtlichen Übermaßverbot (Rdn. 58) hat es der Strafgesetzgeber gar nicht in der Hand, das Subsidiaritätsprinzip bei Anordnung einer Maßregel zwingend auszuschließen; dies gilt zumal, weil die Anordnung, selbst wenn sie zugleich zur Bewährung ausgesetzt wird, stets und zwingend Führungsaufsicht auslöst, also eine den Betroffenen erheblich belastende Folge-Maßregel. Der Gesetzgeber kann die Anordnung insbesondere auch nicht „gewissermaßen sicherheitshalber" vorsehen und „dafür" (so Baumann aaO) die Bewährungsaussetzung zur Verfügung stellen, da sich ein verfassungsrechtlich verankertes Prinzip nun einmal nicht „gewissermaßen sicherheitshalber" aus den Angeln heben läßt. Die gegenteilige Ansicht des Gesetzgebers beruht ersichtlich darauf, daß er seinerzeit nicht oder nicht klar erkannt hat, daß die eigentliche Begründung des Subsidiaritätsprinzips keine bloße kriminalpolitische Zweckmäßigkeitsfrage betrifft, sondern tiefer reicht und nicht zu seiner Disposition steht, so daß seine Ansicht auch den Richter nicht zu binden vermag. (23)

Vor § 61

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

62

Aufgrund dieser Fehlleistung hat der Richter nunmehr eine doppelte Subsidiaritätsprüfung vorzunehmen: Er muß zunächst prüfen, ob schon die Anordnung der Maßregel entfallen kann, weil mildere Maßnahmen die Gefährlichkeit des Täters paralysieren; und er muß, falls er dies verneint, weiter prüfen, ob wegen solcher milderer Möglichkeiten die Aussetzung gemäß § 67 b bzw. § 67 c Abs. 1 in Betracht kommt.

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Zuzugeben ist der gegenteiligen Auffassung freilich, daß die Berücksichtigung des Subsidiaritätsprinzips (schon) bei der Maßregel-Anordnung selten zum Verzicht auf die Anordnung führen wird, weil ein solcher Verzicht im Hinblick auf fehlende Kontroll- und Druckmöglichkeiten bei dem hier in Frage stehenden Täterkreis regelmäßig problematisch ist. Auch die Rechtsprechung zum früheren Recht ist insoweit im Ergebnis äußerst zurückhaltend gewesen. Der tatsächliche Anwendungsbereich des Subsidiaritätsprinzips wird daher weit überwiegend im Bereich der Aussetzung liegen, wo angesichts der Druckmöglichkeit des Aussetzungswiderrufs (§ 67 g) sowie der Einwirkungen mit Hilfe der Führungsaufsicht heute großzügiger verfahren werden kann als im alten Recht. So hat der BGH schon sehr früh in einem Fall des § 63 ausgesprochen, daß als besondere Umstände i. S. des § 67 b „insbesondere die Möglichkeiten einer ambulanten Behandlung durch einen Facharzt für Geistes- und Nervenkrankheiten, der Ruhigstellung des Kranken durch Medikamente, der Überwachung in der Familie, der Entmündigung und des freiwilligen Eintritts in eine Anstalt" in Betracht kommen, wenn dadurch die vom Täter „ausgehende Gefahr so herabgemindert werden kann, daß es angebracht erscheint, den Verzicht auf den Vollzug . . . zu wagen" (BGH 1 StR 143/75 v. 6. 5.1975). Zu beachten ist weiter, daß das Subsidiaritätsprinzip nicht im Verhältnis zur Strafe gilt, auf die Maßregel also nicht verzichtet werden darf, weil eine Einwirkung durch — gleichzeitig ausgesprochene — Strafe reicht. Das ergibt sich im neuen Recht namentlich aus dem grundsätzlichen Vorrang des Maßregelvollzugs (§ 67 ; vikariierendes System) sowie aus dem Umstand, daß der im Sinne des Maßregelrechts gefährliche Täter stets der Führungsaufsicht unterliegen soll; vgl. dazu näher insbesondere LK § 64 Rdn. 85 ff. Diese Regelung gilt auch für die Sicherungsverwahrung (näher LK § 66 Rdn. 169 ff).

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6. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Über den spezifischen Bereich des Subsidiaritätsprinzips hinaus gilt im Maßregelrecht der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als weitere Ausprägung des verfassungsrechtlichen Übermaßverbots. Er ist seit dem 1. StrRG ausdrücklich im Strafgesetz verankert: vgl. (jetzt) § 62 und näher die dort. Erl. Wichtig ist, daß der Grundsatz, entgegen dem Wortlaut des § 62, nicht nur für die Anordnung von Maßregeln gilt, sondern auch für ihre Vollstreckung oder weitere Vollstreckung. — Zur problematischen Ausnahme des § 69 Abs. 1 Satz 2 bei Entziehung der Fahrerlaubnis s. im einzelnen Rüth LK, Erl. zu § 69.

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7. Kumulationsprinzip, Vikariieren, Maßregelkonkurrenz a) Kumulationsprinzip. Auch nach der Strafrechtsreform gilt, wie im früheren Recht, entsprechend der unterschiedlichen Eigenart von Strafe und Maßregel, im Grundsatz das sog. Kumulationsprinzip: die Maßregel tritt neben die Strafe für die Anlaßtat. Bedeutsame Ausnahmen bestehen freilich bei der Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus (§ 63) bzw. der stellvertretenden Unterbringung in der sozial(24)

Vorbemerkungen (Hanack)

Vor § 61

therapeutischen Anstalt (§§ 63 Abs. 2, 65 Abs. 3), bei der Unterbringung in der Entziehungsanstalt (§ 64) sowie bei Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 69) und beim Berufsverbot (§ 70), also bei mehr als der Hälfte aller Maßregeln. Hier kann die Maßregel-Anordnung auch erfolgen, wenn der Täter wegen Schuldunfähigkeit oder wegen nicht auszuschließender Schuldunfähigkeit zu Strafe nicht verurteilt werden darf. In diesen Fällen ist die Maßregel dann das einzige strafrechtliche Reaktionsmittel. Gleiches gilt in den Sonderfällen, in denen aufgrund des prozeßrechtlichen Verbots der reformatio in peius eine Strafe wegen Schuldunfähigkeit nicht mehr verhängt werden kann (näher Rdn. 93). b) Vikariieren. Die problematischen Folgen der Zweispurigkeit beim Nebenein- 66 ander von Strafen und Maßregeln mit Freiheitsentzug werden durch das Prinzip des sog. Vikariierens abgemildert (§ 67). Danach ist die Maßregel regelmäßig vor der Strafe zu vollziehen; ihr Vollzug muß auf die Strafe angerechnet werden; ein überschießender Strafrest kann unter großzügigen Voraussetzungen zur Bewährung ausgesetzt werden. S. dazu ausführlich die Erl. zu § 67. Soweit das Prinzip nicht gilt (Sicherungsverwahrung) oder im Einzelfall nach richterlicher Entscheidung nicht angewendet wird (§ 67 Abs. 2), es also zum Vorwegvollzug der Freiheitsstrafe kommt, ist nach § 67 c Abs. 1 vor dem Ende des Strafvollzugs darüber zu entscheiden, ob der Zweck der Maßregel die Unterbringung noch erfordert (dazu näher Horstkotte LK, Erl. zu § 67 c). c) Maßregelkonkurrenz. Liegen die Voraussetzungen für die Anordnung mehre- 67 rer Maßregeln vor, werden sie nach der Vorschrift des § 72, der die Ergebnisse der bisherigen Praxis gesetzlich fixiert, nur insoweit nebeneinander angeordnet, wie das zur Erreichung des erstrebten Zwecks erforderlich ist, wobei unter mehreren geeigneten Maßregeln denen der Vorzug zu geben ist, die den Täter am wenigsten beschweren. Die Regelung entspricht der Eigenart der Maßregeln (Rdn. 28). Zu den Einzelheiten näher LK, Erl. zu § 72. Sind in verschiedenen Verfahren Maßregeln — sei es der gleichen, sei es verschiedener Art — angeordnet worden, richtet sich ihre Behandlung bei der nachträglichen Gesamtstrafenbildung nach § 55 Abs. 2; näher Vogler LK, Erl. zu § 55. Kommt es zur mehrfachen Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt oder in einer sozialtherapeutischen Anstalt nach § 65 Abs. 1, 2, ist eine frühere Anordnung durch die spätere kraft Gesetzes „erledigt", vgl. § 67 f und dazu näher Horstkotte LK, Erl. zu § 67 f. III. Personenkreis (Jugendliche, Heranwachsende, Ausländer); Auslieferung 1. Jugendliche und Heranwachsende. Gegen Jugendliche (§ 1 Abs. 2 JGG) und 68 ihnen gleichgestellte Heranwachsende (§ 105 Abs. 1 JGG) kann nach § 7 JGG nur die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer Entziehungsanstalt, die Führungsaufsicht oder die Entziehung der Fahrerlaubnis angeordnet werden. Dabei gelten die speziellen Regelungen des JGG; bei der Unterbringung im Krankenhaus und der Entziehungsanstalt ist insbesondere § 5 Abs. 3 JGG zu beachten. Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt wird in besonderen Einrichtungen vollzogen (§ 93 a JGG). — Zu den bisweilen schwierigen Einzelfragen bei Anwendung von Maßregeln gegen Jugendliche und gleichgestellte Heranwachsende ist auf die Erläuterungswerke zum JGG sowie auf einige spezielle Hinweise in diesem Kommentar (z. B. § 63 Rdn. 15 ff; § 64 Rdn. 20 ff) zu verweisen. (25)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

Gegen Heranwachsende, auf die das allgemeine Strafrecht angewendet wird, darf Sicherungsverwahrung nicht angeordnet werden (§ 66 Abs. 1 bzw. — während der Übergangsfassung des § 66 (s. dort) - § 106 Abs. 2 S. 1 JGG, Art. 326 Abs. 5 Nr. 5 EGStGB). 69

2. Ausländer. Soweit Ausländer nach § 3 ff dem Strafgesetz der Bundesrepublik unterliegen, ist das Maßregelrecht grundsätzlich auch ihnen gegenüber anwendbar (vgl. schon RG HRR 1934 Nr. 1718; 1940 Nr. 179; RG JW 1939 87; allgemeine Meinung, ζ. B. Dreher Rdn. 4 vor § 61 ; Lackner Anm. 4 vor § 61 ; Sch.-SchröderStree Rdn. 7 vor § 61).

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3. Auslieferungsrecht. Das AuslG von 1929 betrifft, da das StGB damals Maßregeln noch nicht kannte, seinem Wortlaut nach nur die Auslieferung zum Zwecke der „Strafverfolgung" und der „Strafvollstreckung" (§ 1). Trotz dieses, insoweit bis heute nicht geänderten Wortlauts ist nach herrschender Meinung und Praxis eine Auslieferung — unter den sonstigen Voraussetzungen — auch zulässig, wenn im Ausland neben der Strafe eine Maßregel verhängt oder vollstreckt werden soll oder wenn die Auslieferung überhaupt nur im Hinblick auf eine Maßregel, ζ. B. die Unterbringung eines Schuldunfähigen, in Betracht kommt. Die Frage ist allerdings etwas umstritten (näher Mettgenberg-Doerner Deutsches Auslieferungsgesetz 2 , 1953, S. 139 f; vgl. auch im folg. Text). Die herrschende Auffassung argumentiert, daß die Begriffe „Strafverfolgung" und „Strafvollstreckung" angesichts der zwischenzeitlich erfolgten Entwicklung des Kriminalrechts auch die Maßregeln umfassen. Eine andere Betrachtung würde in der Tat dem internationalen Stand der kriminalrechtlichen Reaktionsmittel nicht gerecht. Sie würde auch zu ganz willkürlichen Ergebnissen führen, weil die spezifischen Aufgaben der Kriminalrechtspflege teils mit Hilfe von Maßregeln, teils aber auch durch entsprechend ausgestaltete Strafen wahrgenommen werden (Rdn. 2, 4). Sachlich berechtigt ist die Gleichsetzung vor allem, weil die Maßregeln stets Handlungen voraussetzen, die unter das Strafgesetz fallen und von Strafgerichten festgestellt werden; vgl. zum Ganzen näher Altavista Die Auslieferung im Verhältnis zu den Maßregeln der Sicherung und Besserung, in: Aktuelle Probleme des internationalen Strafrechts, 1970, S. 1 ; Jescheck Die internationale Rechtshilfe in Strafsachen in Europa, ZStW 66 [1954] 518, 532 m. w. Nachw.; Vogler Aktuelle Probleme der Auslieferung, Z S t W 8 1 [1969] 163, 172 (einschränkend); a. A. Reissner Auslieferung und Maßregeln der Sicherung und Besserung, GS 109 272; differenzierend H. Schultz Das schweizerische Auslieferungsrecht, 1953, S. 355 mit näherer Begründung; dagegen wiederum Jescheck aaO Fußn. 42. Die herrschende Auffassung findet im übrigen eine Bestätigung einmal im Europäischen Auslieferungsabkommen von 1957 (vgl. BGBl. 1964 II S. 1369; dazu Vogler ZStW 80 480), das allerdings — als Folge eines Kompromisses — die persönlichen, nicht mit Freiheitsentziehung verbundenen Maßregeln ausnimmt und einen Hinweis auf die Höchstdauer der Maßregeln kennt (Art. 2 ; näher Vogler und Altavista, jeweils aaO). Sie spiegelt sich zum anderen in den verschiedenen Auslieferungsverträgen wieder, die oft nähere, wenn auch unterschiedlich weit gehende Regelungen über die Einbeziehung der Maßregeln enthalten.

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IV. Maßgebendes Gesetz; zeitliche Geltung. Nach § 2 Abs. 6 ist, anders als bei der Strafe, über Maßregeln nach dem Gesetz zu entscheiden, das zur Zeit der Ent(26)

Vorbemerkungen (Hanack)

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scheidung (nicht: zur Zeit der Tat) gilt, falls das Gesetz selbst nichts anderes bestimmt. Etwas anderes ist bei der Strafrechtsreform insbesondere in den Art. 301, 303,305 EGStGB für die Unterbringung in der sozialtherapeutischen Anstalt (§ 65), die Führungsaufsicht (§ 68) und die Neuregelung des Berufsverbots (§ 70) bestimmt worden (vgl. auch Art. 306 EGStGB; weiteres bei Erl. der einzelnen Maßregeln sowie bei § 67 c); der Gesetzgeber hat auf diese Weise verbreiteten Bedenken gegen die rückwirkende Einführung bzw. die rückwirkende Schärfung von Maßregeln (vgl. im folg. Text) insoweit praktisch Rechnung getragen. Mit der Regelung des § 2 Abs. 6 geht das Gesetz von dem Grundsatz aus, daß in 72 einem neuen Gesetz jeweils bessere Erkenntnisse über die Möglichkeiten der Verbrechensbekämpfung zum Ausdruck kommen und diese im Interesse des Gesellschaftsschutzes bei den Maßregeln im Zweifel sogleich Anwendung finden sollen, etwas anderes also besonders normiert werden müsse. Ein Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 G G soll in dieser Konzeption nach herrschender Meinung nicht liegen, weil Art. 103 Abs. 2 nur für die Strafe, nicht aber für die Maßregeln gelte (vgl. statt aller BGHSt. 24 103 m. Anm. Schroeder JR 1971 379). Die noch im 2. StrRG vorgesehene Regelung, besonders belastende Maßnahmen dem Rückwirkungsverbot zu unterwerfen (§ 2 Abs. 6 S. 2), ist durch Art. 18 II Nr. 1 b EGStGB zugunsten der heutigen Regelung wieder beseitigt worden. Im einzelnen ist die Berechtigung, die Maßregeln vom Rückwirkungsverbot auszunehmen, unter verfassungsrechtlichen wie unter kriminalpolitischen Aspekten lebhaft umstritten (anders ζ. Β. § 1 AE-AT). Eingewandt wird insbesondere, daß die Regelung mit der internationalen Entwicklung im Widerspruch stehe (Baumann Z R P 1974 77, 78; Maurach-Zipf AT § 6 III B) und das Verbot für alle der Strafe an Schwere gleichstehenden Reaktionen gelten müsse, die sich als Folge einer Straftat ergeben können (so ζ. B. Schreiber SK § 2 Rdn. 13 und Schroeder JR 1971 379 je m. Nachw.); sicher dürfte aber jedenfalls sein, daß sich bei der rückwirkenden Einführung von Maßregeln Schranken aus dem Rechtsstaatsgedanken ergeben können (Schroeder aaO; zust. ζ. B. Lackner § 1 Anm. 2 unter Hinweis auf 2. Bericht S. 4; vgl. auch Gallas ZStW80 10). Zum Ganzen Tröndle LK, Erl. zu § 2. V. Verjährung. Für Maßregeln gelten die allgemeinen Vorschriften der §§ 78 ff 73 über die Verfolgungsverjährung (vgl. § 78 Abs. 1) und im Grundsatz auch die Vorschriften der §§ 79 ff über die Vollstreckungsverjährung (vgl. § 79 Abs. 1); im letzteren Bereich bestehen einige Sonderregelungen (§ 79 Abs. 4, 5). Zum Ganzen näher Schäfer LK, Erl. zu §§ 78 ff und 79 ff. VI. Begnadigung und Amnestie 1. Eine Begnadigung ist bei Maßregeln rechtlich nicht ausgeschlossen. Jedoch 74 wird sie im Interesse des Schutzes der Allgemeinheit vor gefährlichen Personen nur selten in Betracht kommen (Sch.-Schröder^ Rdn. 10 vor § 42 a; Dreher Rdn. 6 vor § 61). Zu denken ist insbesondere an Fälle, in denen einem nachträglichen Wegfall des Sicherungsbedürfnisses durch richterliche Entscheidung nicht schnell genug Rechnung getragen werden kann, wie das infolge der Mindestfrist des § 68 c im Einzelfall namentlich bei der Führungsaufsicht denkbar ist. Verfehlt ist die Ansicht von Jescheck (AT § 85 II 3), daß ein Gnadenerlaß bei Maßregeln „im allgemeinen nur" in Betracht kommt, wenn ein Fehlurteil vorliegt; in dieser Form sagen das auch die, meist restriktiv formulierten Gnadenordnungen (dazu Schätzler Handbuch des Gnadenrechts, 1976) nicht. (27)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

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2. Die Amnestiegesetze nehmen die Maßregeln meist ausdrücklich von der Straffreiheit aus (so ζ. B. die Straffreiheitsgesetze vom 17. 7. 1954, vom 9.7.1968 und vom 20. 5.1970). Sofern aber eine derartige Regelung nicht getroffen ist, erfaßt die Amnestie in denjenigen Fällen, in denen die Maßregel nur neben der Verurteilung zu Strafe ausgesprochen werden darf, gegebenenfalls auch die Maßregelanordnung, eben weil insoweit die Maßregel nur zusammen mit der Strafe verhängt werden kann (so überzeugend RGSt. 69 262 im Fall eines vermindert Schuldfähigen, der neben der Strafe zur Unterbringung gemäß § 42 b [jetzt: § 63] verurteilt worden war; zustimmend wohl Lang-Hinrichsen Vorauf!. § 42 b Rdn. 56).

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VII. Strafrechtlicher Schutz. Die Durchführung und Durchsetzung von Maßregeln wird durch eine Reihe von Strafvorschriften gestützt: § 120 (Befreiung von Gefangenen bzw. Verwahrten), § 121 (Gefangenenmeuterei durch Sicherungsverwahrte oder in der sozialtherapeutischen Anstalt Untergebrachte, vgl. § 121 Abs. 4 mit Übergangsregelung gemäß Art. 326 Abs. 5 Nr. 1 EG StGB), § 145 a (Verstoß gegen Weisungen bei der Führungsaufsicht), § 145 c (Verstoß gegen das Berufsverbot), § 258 (Straf- bzw. Maßregelvereitelung), § 258 a (Straf- bzw. Maßregelvereitelung im Amt), § 330 b (Gefährdung einer Entziehungskur). VIII. Verfahrensrechtliches

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1. Entscheidung über die Anordnung und Folgeentscheidungen. Verfahrensrechtlich ist zu unterscheiden zwischen der Anordnung der Maßregel und den dabei oder dadurch nötigen Folgeentscheidungen, wobei vor allem diese Folgeentscheidungen, entsprechend ihrer unterschiedlichen Art und Bedeutung, prozessual in sehr differenzierter Weise geregelt sind. Im einzelnen ergibt sich nach der Strafrechtsreform — im Überlick — insoweit das folgende Bild.

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a) Anordnung von Maßregeln. Maßregeln können, wie bisher, immer nur vom erkennenden Gericht angeordnet werden (näher Rdn. 82).

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b) Entscheidungen zugleich mit der Anordnung. In einer Reihe von Fällen muß oder kann das erkennende Gericht zugleich mit der Maßregelanordnung weitere Entscheidungen treffen. Dies geschieht teils im Urteil, teils durch besonderen Beschluß. Zu nennen sind vor allem folgende Entscheidungen. Bei allen freiheitsentziehenden Maßregeln außer der Sicherungsverwahrung kann das erkennende Gericht unter den Voraussetzungen des § 67 b im Urteil (§ 260 Abs. 4 S. 4 StPO) die sofortige Aussetzung der Maßregel-Vollstreckung zur Bewährung anordnen. Eine solche Anordnung löst — nach Rechtskraft — Führungsaufsicht kraft Gesetzes aus (§ 67 b Abs. 2). Das erkennende Gericht kann schon zugleich mit dem Urteil durch besonderen Beschluß (§ 268 a Abs. 2 StPO) Entscheidungen über die Gestaltung der Führungsaufsicht treffen; es kann derartige Entscheidungen — ganz oder teilweise — aber auch dem Vollstreckungsverfahren überlassen, wie sich das vielfach empfiehlt (näher LK Rdn. 12 vor § 68 i. V. mit § 68 Rdn. 28). Verhängt das Gericht nach den Regeln des § 72 mehrere freiheitsentziehende Maßregeln, bestimmt es die Reihenfolge der Vollstreckung (§ 72 Abs. 3 S. 1) ebenfalls im Urteil, während die spätere Prüfung, ob die jeweils folgende Maßregel auch zu vollziehen ist (§ 72 Abs. 3 S. 2), im Vollstreckungsverfahren erfolgt. Entscheidungen, durch die ausnahmsweise ein Vorwegvollzug der Freiheitsstrafe vor der Maßregelvollstreckung angeordnet wird (§ 67 Abs. 2), kann schon das erkennende (28)

Vorbemerkungen (Hanack)

Vor § 61

Gericht treffen, und zwar im Urteil (streitig; näher LK § 67 Rdn. 33); sie können aber auch im Vollstreckungsverfahren erfolgen oder abgeändert werden (§ 67 Abs. 3). Bei den Maßregeln ohne Freiheitsentzug muß das erkennende Gericht 80 bestimmte Entscheidungen, die eigentlich Folgeentscheidungen sind, stets im Urteil treffen: so insbesondere die Entscheidung über die Sperrdauer für die Erteilung einer Fahrerlaubnis (§ 69 a) sowie über die Dauer einer verbotenen Berufsausübung (§ 70). Bei der Führungsaufsicht kraft Richterspruchs (§ 68 Abs. 1), wo eine Bestimmung der Aufsichts-Dauer nicht erfolgt, kann das erkennende Gericht nach den gleichen Grundsätzen wie bei der Führungsaufsicht kraft Gesetzes (s. Rdn. 79) zugleich mit dem Urteil durch besonderen Beschluß (§ 268 a Abs. 2 StPO) Entscheidungen über die Ausgestaltung der Aufsicht treffen, aber auch dem Vollstreckungsverfahren überlassen. c) Sonstige Folgeentscheidungen. Für alle Folgeentscheidungen, die nicht das 81 erkennende Gericht zugleich mit der Anordnung der Maßregel trifft, gelten nach Maßgabe der Verweisungsvorschrift des § 463 StPO die Bestimmungen über das strafprozessuale Vollstreckungsverfahren. Danach ist bei den freiheitsentziehenden Maßregeln meist die Strafvollstrekkungskammer (§§ 78 a, 78 b GVG) zuständig, soweit es sich nicht um Maßregeln gegen Jugendliche und Heranwachsende handelt. Bei ihnen entscheidet gemäß § 82 J G G anstelle der Vollstreckungskammer der Jugendrichter als Vollstreckungsleiter (BGHSt. 26 162; OLG Celle NJW 1975 2253 mit Kritik am Gesetzgeber). Bei den Maßregeln ohne Freiheitsentzug befindet, außer im Jugendstrafrecht, entweder die Strafvollstreckungskammer oder das Gericht des 1. Rechtszugs mit Abgabemöglichkeit an das Gericht des Wohnsitzes über alle Folgeentscheidungen. Im einzelnen muß für die zum Teil äußerst verfilzten und gesetzestechnisch sehr unglücklich konzipierten Regelungen im Vollstreckungsverfahren vornehmlich auf die einschlägigen Erläuterungswerke zur StPO verwiesen werden.

2. Entscheidungen im Strafverfahren und Sicherungsverfahren. Maßregeln können 82 nur durch Richterspruch angeordnet werden. Erforderlich ist regelmäßig eine Hauptverhandlung und damit Entscheidung durch Urteil (§ 260 StPO). Lediglich die Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 69) kann auch im Strafbefehlsverfahren erfolgen, wenn die Sperre nicht mehr als zwei Jahre beträgt (§ 407 Abs. 2 Nr. 2 StPO). Im Privatklageverfahren dürfen Maßregeln nicht angeordnet werden (§ 384 Abs. 1 S. 2 StPO). Die Entscheidung erfolgt grundsätzlich in dem gleichen Verfahren, in dem über die Bestrafung wegen der Anlaßtat entschieden wird („angeschlossenes Verfahren"), also im normalen Strafverfahren. Sie hat im Urteilstenor zu erfolgen (§ 260 Abs. 4 StPO) und darf nicht einer späteren Entscheidung, etwa einem Beschluß, vorbehalten bleiben; sie kann auch nicht unter Vorbehalt ergehen (RGSt. 68 383; BGHSt. 5 350; BGH JR 1954 267). Über Entscheidungen, die zugleich mit der Anordnung getroffen werden können oder müssen, s. Rdn. 79 f. Eine selbständige Anordnung der Maßregel, also eine Anordnung ohne gleichzeitige Bestrafung wegen der Anlaßtat, ist in den Fällen des § 71 zulässig, wenn der Täter schuldunfähig oder verhandlungsunfähig ist. Die Anordnung kann dann auch in einem besonderen Verfahren erfolgen, dem Sicherungsverfahren der §§ 413 ff (29)

Vor § 61

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

StPO, das dem „angeschlossenen Verfahren" zwar angenähert ist, aber doch Besonderheiten aufweist. Einzelheiten s. bei den Erl. zu § 71. 83

3. Prozeßvoraussetzungen. Verfahrenshindernisse (Prozeßhindernisse; vgl. näher z.B. Kleinknecht StPO, Einl. Rdn. 183 ff; Schäfer in Löwe-Rosenberg, Einl. Kap. 11) sind auch bei Anordnung der Maßregeln zu beachten. Dies ist eindeutig, soweit die Maßregeln zugleich mit der Strafe im (angeschlossenen) Strafverfahren angeordnet werden. Daher kann ζ. B. bei Fehlen eines erforderlichen Strafantrags oder Verjährung hinsichtlich der Anlaßtat eine Maßregel nicht angeordnet werden.

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Streitig war vor Inkrafttreten des 2. StrRG jedoch, ob das Antragserfordernis auch für das selbständige Sicherungsverfahren gemäß § 429 a a. F. (jetzt: § 413) StPO galt. Im Gegensatz zum RG (RGSt. 71 219; 73 155) und zur überwiegenden Lehre (Nachw. bei Lang-Hinrichsen Vorauf! Rdn. 50 vor § 42 a) hat der BGH dies verneint, weil der Schutz der Allgemeinheit vor künftigen Gefahren nicht vom Willen einer Privatperson abhängen dürfe (BGHSt.5 140; zustimmend z.B. Bruns JZ 1954 730, 731; Dallinger M D R 1954 334; Eb. Schmidt Nachträge I, §429 a Rdn. 17; Welzel Lehrbuch § 35 I 1 a). So einleuchtend diese Überlegung auf den ersten Blick sein mag, so wenig konnte sie doch befriedigen. Denn sie führt zu ganz unstimmigen Ergebnissen, auf die bereits das RG (aaO) hingewiesen hat. Insbesondere ist nicht einzusehen, warum die Bedeutung des Strafantrags — trotz gleicher Gefährlichkeit des Täters — so ganz unterschiedliche Bedeutung haben soll, je nachdem, ob der Täter schuldfähig oder vermindert schuldfähig ist (angeschlossenes Verfahren) oder ob seine Schuldunfähigkeit erwiesen bzw. nicht auszuschließen ist (Sicherungsverfahren). Mittlerweile hat nun auch der Gesetzgeber, in bewußter Abkehr von weitergehenden Vorschlägen des § 103 E 1962 und des § 81 AE-AT in § 71 eindeutig zum Ausdruck gebracht, daß die selbständige Anordnung einer Maßregel nur bei Schuld- oder Verhandlungsunfähigkeit erfolgen darf, nicht aber auch bei anderen Hindernissen, die der Durchführung eines Strafverfahrens entgegenstehen (s. LK § 71 Rdn. 5 f)· Damit ist der Rechtsprechung des BGH kraft Gesetzes der Boden entzogen. Das entspricht heute auch der ganz herrschenden Meinung (Nachweise § 71 Rdn. 6). Der Versuch Schäfers (Löwe-Rosenberg, § 413 Rdn. 22 i. V. mit Rdn. 16), dennoch wiederum die gegenteilige Auffassung zu begründen, überzeugt nicht. — Im übrigen ist zu beachten, daß seit der Strafrechtsreform die Gefährlichkeit regelmäßig auf „erhebliche" Taten bezogen ist und die Strafverfolgung auch bei Antragsdelikten in vielen Fällen trotz fehlenden Antrags zulässig ist, wenn die Staatsanwaltschaft im öffentlichen Interesse ein Einschreiten für geboten hält.

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4. Zuziehung von Sachverständigen a) Bei freiheitsentziehenden Maßregeln. Ist mit der Anordnung einer freiheitsentziehenden Maßregel zu rechnen, muß das erkennende Gericht in der Hauptverhandlung stets einen Sachverständigen zuziehen (§ 246 a StPO ; dazu eingehend Gollwitzer in Löwe-Rosenberg, Erl. zu § 246 a). Sachverständiger soll nach BGH bei Dallinger M D R 1976 17 regelmäßig ein Arzt mit einschlägigem Fachwissen sein, soweit nicht im Einzelfall, insbesondere bei der Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt, nur nicht-medizinische Fragen zu beurteilen sind. Diese Auffassung zeigt, entsprechend den Gegebenheiten der Praxis, die starke Präferenz der klinischen Psychopathologie (vgl. schon oben Rdn. 19). (30)

Vorbemerkungen (Hanack)

Vor § 61

Im übrigen „solt' ein Sachverständiger schon im Ermittlungsverfahren zugezogen werden (§ 80 a StPO; dazu näher Meyer in Löwe-Rosenberg, Erl. zu § 80 a). Unter den Voraussetzungen des § 81 kann eine stationäre Begutachtung im psychiatrischen Krankenhaus oder in der sozialtherapeutischen Anstalt für die Dauer von höchstens sechs Wochen erfolgen (näher Meyer aaO, Erl. zu § 81). b) Bei nicht-freiheitsentziehenden Maßregeln. Hier richtet sich die Pflicht des 86 erkennenden Gerichts zur Zuziehung von Sachverständigen nach den allgemeinen Regeln (Aufklärungspflicht des § 244 Abs. 2 StPO; Beweisantragsrecht der §§ 244 ff StPO). Mindestens bei der Führungsaufsicht (§ 68 Abs. 1) wird die Zuziehung eines Sachverständigen in vielen Fällen geboten sein. Denn die Entscheidung, ob vom Täter weitere Taten zu erwarten sind, verlangt ihrer Natur nach eine Gesamtwürdigung seiner Person und die Erstellung einer genauen Prognose (LK § 68 Rdn. 13). Dies aber erfordert zumal beim Gewicht und der Zwiespältigkeit der Maßregel die Beurteilung mit Hilfe eines spezifischen Fachwissens jedenfalls dann, wenn sich die weitere Gefährlichkeit des Täters nicht durch eine gehäufte Fülle spezifischer Vortaten (etwa: als gefährlicher „Wirtshausschläger") unmittelbar aufdrängt. 5. Veränderte rechtliche Gesichtspunkte (§ 265 StPO). Ist in der zugelassenen 87 Anklage (§207 StPO) bzw. Antragsschrift (§414 StPO) eine Maßregel nicht genannt, die gegen den Angeklagten verhängt werden soll, so muß ihn das Gericht gemäß § 265 Abs. 1, 2 StPO auf die Möglichkeit der Anordnung hinweisen. Das gilt auch, wenn in der Anklage Maßregeln zwar angeführt wurden, statt ihrer oder neben ihnen aber andere Maßregeln verhängt werden sollen (RG HRR 1939 Nr. 733 ; Gollwitzer in Löwe-Rosenberg 2 2 , § 265 Anm. 4 b), da die Möglichkeiten der Verteidigung gegen die einzelnen Maßregeln unterschiedlich sind. Es macht dabei keinen Unterschied, ob erst in der Hauptverhandlung neue Tatsachen hinzutreten, die die Anordnung der Maßregel nahelegen, oder ob das Gericht allein aufgrund einer anderen rechtlichen Beurteilung die Maßregel in Erwägung zieht; so ζ. B. BGHSt. 2 85 (für das Berufsverbot); BGHSt. 18 288 (für die Entziehung der Fahrerlaubnis); BGHSt. 22 29 und BGH NJW 1964 459 (für die Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus [Heil- oder Pflegeanstalt]); BGH G A 1966 180 (für die Sicherungsverwahrung). 6. Rechtsmittel. Entscheidungen des erkennenden Gerichts, durch die eine Maß- 88 regel angeordnet oder auch nicht angeordnet wird, sind nach den allgemeinen Regeln über Rechtsmittel (Berufung bzw. Revision gegen Urteile; Einspruch gegen Strafbefehl) anfechtbar; das gilt auch für Urteile im Sicherungsverfahren (§ 414 Abs. 1 StPO). Streitig ist, ob oder wieweit in denjenigen Fällen, in denen im Urteil zugleich 89 über Schuld und Strafe hinsichtlich der Anlaßtat entschieden ist, eine Beschränkung der Berufung oder der Revision allein auf die Anordnung oder Nichtanordnung einer Maßregel statthaft ist (Problem der Rechtsmittelbeschränkung; s. §§318, 327; 344, 352, 353 StPO). Die Rechtsprechung geht — im Ergebnis — heute im allgemeinen davon aus, daß die isolierte Anfechtung im Grundsatz zulässig ist, daß aber anderes gilt, soweit sich die Entscheidung über die Maßregel von der Entscheidung über die Schuld- und Straffrage nicht trennen läßt (so ζ. B. BGHSt. 5 267 ; 7 101; 10 397; BGH NJW 1963 1414); im letzteren Fall hält sie die Beschränkung für unwirksam mit der Folge, daß, soweit der Zusammenhang besteht, auch der Schuld- oder Strafausspruch von der Anfechtung erfaßt wird. Im einzelnen ist die (31)

Vor § 61

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

Rechtsprechung dabei nicht immer gradlining und einheitlich, so daß man in gewissem Umfang sogar darüber streiten kann, was sie als Grundsatz und was als Ausnahme ansieht. Die Folge ist, daß die Handhabung bei den verschiedenen Maßregeln nicht unerheblich divergiert, ohne daß dies stets zwingend durch Eigenarten der jeweiligen Maßregeln bedingt wäre. Die Folge ist weiter, daß für den Beschwerdeführer oft schwer vorauszusehen ist, ob oder inwieweit das Rechtsmittelgericht die Beschränkung der Anfechtung akzeptiert. Im Schrifttum wird die Rechtsprechung zum Teil kritisiert und in stärkerem Maße Untrennbarkeit angenommen (so insbesondere Grünwald Die Teilrechtskraft im Strafverfahren, 1964, S. 194 ff; Eb. Schmidt Lehrkommentar Teil II, § 318 Rdn. 34 ff). Im einzelnen muß — über die Hinweise bei Kommentierung der verschiedenen Maßregeln im LK hinaus — auf das strafprozessuale Schrifttum verwiesen werden (namentlich Grünwald aaO; Eb. Schmidt aaO ; Gollwitzer in Löwe-Rosenberg, § 318 Rdn. 23 ff). 90

Soweit das erkennende Gericht zugleich mit der Anordnung einer Maßregel in einem besonderen Beschluß Folgeentscheidungen über deren Ausgestaltung trifft (§ 268 a Abs. 2 StPO; oben Rdn. 79 0» richtet sich die Anfechtbarkeit eines solchen Beschlusses nach der Bestimmung des § 305 a StPO. Für die Anfechtung von Entscheidungen im Rahmen des Vollstreckungsverfahrens ergeben sich die Einzelheiten aus der Verweisungsvorschrift des § 463 StPO. 7. Verbot der reformatio in peius

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a) Grundsatz. Im Strafprozeß gilt das sogenannte Verbot der reformatio in peius (Verschlechterungsverbot). Danach darf bei der Berufung (§331), der Revision (§ 358 Abs. 2) und der Wiederaufnahme (§ 373 Abs. 2 StPO) ein Urteil in Art und Höhe der Rechtsfolgen nicht zum Nachteil des Angeklagten (Verurteilten) abgeändert werden, wenn lediglich er selbst, zu seinen Gunsten die Staatsanwaltschaft oder sein gesetzlicher Vertreter das Rechtsmittel einlegt. Das Verbot gilt für alle Rechtsfolgen, grundsätzlich also auch für Maßregeln der Besserung und Sicherung.

92

b) Ausnahmen. Doch sehen die genannten Bestimmungen ausdrücklich Ausnahmen vor, und zwar für die Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus (§ 63), der Entziehungsanstalt (§ 64) und der sozialtherapeutischen Anstalt (§ 65). Danach dürfen diese Maßregeln noch im Berufungs- und im Revisionsverfahren bzw. in der Neuverhandlung vor dem Tatrichter nach Aufhebung eines angefochtenen Urteils durch das Rechtsmittelgericht sowie im Wiederaufnahmeverfahren angeordnet werden ; Grund dafür ist der Gedanke, diese ärztlich geleiteten Einwirkungen insbesondere im wohlverstandenen Interesse des Betroffenen tunlich auszunutzen. Aus der Regelung folgt, daß die drei Maßregeln im Rechtsmittel verfahren insoweit auch ohne Verstoß gegen das Verschlechterungsverbot untereinander ausgetauscht werden können (Kleinknecht StPO §331 Rdn. 14). Hingegen ist ein Austausch mit der Sicherungsverwahrung regelmäßig unzulässig (BGHSt. 25 38 m. Anm. Maurach JR 1973 162; streitig); näheres, auch zur kritischen Frage einer möglichen Ausnahme, LK § 72 Rdn. 37.

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Die geschilderte Regelung kann zu folgender Situation führen: In einer ersten Hauptverhandlung wird der Täter für schuldunfähig befunden und eine der genannten Maßregeln angeordnet. Auf sein Rechtsmittel hin kommt es zu einer neuen Hauptverhandlung, in der das Gericht feststellt, daß der Täter lediglich vermindert schuldfähig war. Zu Strafe kann er wegen des Verschlechterungsverbots jetzt nicht mehr verurteilt werden. Zweifelhaft bleibt, ob — unter den sonstigen (32)

Vorbemerkungen (Hanack)

Vor § 61

gesetzlichen Voraussetzungen — eine Unterbringung gemäß §§ 63, 64 oder 65 angeordnet werden darf, weil nach der Struktur des Gesetzes eine solche Unterbringung im Falle der Schuldfähigkeit grundsätzlich die gleichzeitige Verurteilung zu Strafe voraussetzt, wie jedenfalls bei den §§ 64 und 65 schon der Wortlaut deutlich macht („verurteilt", „neben der Strafe"). Der BGH (BGHSt. 11 319, 323) hat unter Billigung der ganz herrschenden Lehre schon früher und trotz des auch damals entgegenstehenden Wortlauts von § 42 b Abs. 2 a. F. zu Recht angenommen, daß die Unterbringung hier auch ohne gleichzeitige Bestrafung erfolgen dürfe: Der Angeklagte habe Strafe an sich verwirkt; sie entfalle nur aus einem verfahrensrechtlichen Grund, der ihm einen weiteren und durchaus zweckwidrigen Vorteil nicht bringen könne. Anders liegt es selbstverständlich im Bereich der §§ 63 und 64 (für § 65 entsteht 94 das Problem nicht), wenn in der neuen Hauptverhandlung festgestellt wird, daß der Täter nicht einmal vermindert, sondern voll schuldfähig war. Denn dann fehlt es insoweit an einer gesetzlichen Voraussetzung der Unterbringung (mindestens verminderte Schuldfähigkeit), so daß der Täter im Ergebnis weder bestraft noch untergebracht werden darf (RGSt. 69 12; Gollwitzer in Löwe-Rosenberg, § 331 Rdn. 86). c) Einzelfragen. Im einzelnen wirft das Verschlechterungsverbot auch im Bereich 95 der Maßregeln mancherlei Probleme auf, die sich vor allem aus der generellen Schwierigkeit ergeben, bei der Fülle abgestufter Reaktionen im heutigen Strafgesetz zu bestimmen, was „nach Art (und Höhe) der Rechtsfolgen" „ein Nachteil" im Sinne der oben Rdn. 91 zitierten Gesetzesbestimmungen darstellt. Auch insoweit muß in diesem Kommentar vornehmlich auf die einschlägigen Darstellungen des Strafprozeßrechts verwiesen werden. Hervorgehoben werden mag folgendes. Probleme entstehen in der Praxis vor allem bei der Entziehung der Fahrerlaubnis (näher Rüth LK, Erl. zu § 69 m. w. Nachw.). Da das Verschlechterungsverbot auch hier gilt, ist die nachträgliche Entziehung ζ. B. selbst dann unzulässig, wenn dafür eine im ersten Verfahren ausgeworfene Geld- oder Freiheitsstrafe herabgesetzt wird. Auch kann es durch das Verschlechterungsverbot bei Entziehung der Fahrerlaubnis im Einzelfall zur Unterschreitung der vorgesehenen Mindestsperre oder zur Entziehung ohne Sperrfrist kommen (streitig; näher Rüth LK, Erl. zu § 69 a; Dreher § 69 a Rdn. 13; Kleinknecht StPO § 331 Rdn. 14). d) Verschlechterungsverbot auch für Einwirkungen bei der Aussetzung zur Bewäh- 96 rung? Das OLG Koblenz (JZ 1977 33) vertritt neuerdings die Auffassung, aufgrund einer Änderung der Gesetzesbestimmungen durch das EGStGB, wonach sich das Verschlechterungsverbot jetzt nicht nur auf die „Strafe", sondern auf die „Rechtsfolgen der Tat" bezieht, müsse das Verbot nunmehr auch für Auflagen nach § 56 b gelten, soweit ihre Verschärfung aufgrund einer bloßen Änderung der Bewertungsmaßstäbe erwogen werde. Diese Ansicht, die im Gegensatz zur ganz herrschenden Meinung im alten und neuen Verfahrensrecht steht (Nachweise bei OLG Koblenz aaO), hätte weitreichende Konsequenzen auch im Maßregelrecht, weil sie ihrer Natur und Begründung nach nicht nur für Auflagen, sondern ebenso für alle Anordnungen im Rahmen der (Straf- oder) Maßregelaussetzung zur Bewährung sowie der Führungsaufsicht gelten müßte, die das erkennende Gericht durch Beschluß nach § 268 a Abs. 2 StPO trifft. Ob sich die Auffassung des OLG Koblenz durchsetzt, ist noch nicht zu übersehen (ablehnend mittlerweile Gollwitzer Anm. in JR 1977 346). Bedenken bestehen vor allem, weil das Gesetz im Bereich der Auflagen, Weisungen und sonstigen Anordnungen durchweg die Möglichkeit der nachträglichen Änderung auch zu Ungunsten des Betroffenen kennt (§§ 56 e, 58 d) und (33)

Vor § 61

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

bei der Maßregelaussetzung sowie der Führungsaufsicht sogar das Aufschieben der gestaltenden Weisungen voraussetzt (LK Rdn. 12 vor §68; §68 Rdn. 27 f)· Dies zeigt — trotz der vom OLG Koblenz zitierten Gesetzgebungsmaterialien —, daß eine so weitgehende Einengung des Entscheidungsspielraums mit allen daraus resultierenden Schwierigkeiten mit der Neufassung kaum beabsichtigt gewesen sein dürfte und wenig sinnvoll ist. 97

Auf einem anderen Blatt steht im übrigen die auch vom OLG Koblenz gewürdigte Einsicht, daß einmal getroffene Auflagen, Weisungen und sonstige Anordnungen außerhalb des Rechtsmittelverfahrens nur bei neuen oder veränderten Tatsachengrundlagen, nicht aber bei einer reinen Änderung der Bewertungsgrundlage, verändert werden dürfen (s. z. B. LK, § 68 d Rdn. 4).

98

8. Maßregeln und Nebenklage. Im Sicherungsverfahren (§§ 413 ff StPO) ist, solange es nicht zum Übergang ins Strafverfahren kommt (§ 416 StPO), der Anschluß als Nebenkläger unzulässig (BGH NJW 1974 2244; Kleinknecht StPO § 395 Rdn. 8). Bedenklich ist die Auffassung des OLG Karlsruhe (VRS 33 27), weil die Maßregeln ausschließlich im öffentlichen Interesse angeordnet würden, könne der Nebenkläger auch im Normalverfahren ihre Anordnung durch die Nebenklage nicht erreichen, so daß seine auf dieses Ziel beschränkte Revision unzulässig sei (ebenso aber Wendisch in Löwe-Rosenberg, § 395 Rdn. 42). Denn dem Nebenkläger stehen in Bezug auf das Nebenklagedelikt die Rechtsmittel zu, soweit die angefochtene Entscheidung ihn in seiner Funktion beschwert; dazu aber gehört grundsätzlich auch der Rechtsfolgenausspruch (vgl. Kleinknecht § 401 Rdn. 2). Im übrigen schützen die Maßregeln nicht nur das abstrakte öffentliche Interesse; bisweilen betreffen sie sogar ganz gezielt die Abwehr der Gefährdung konkreter Einzelpersonen (s. LK § 63 Rdn. 58 ff; § 66 Rdn. 148 0· Nicht überzeugend ist auch die weitere Argumentation des OLG Karlsruhe, daß der Nebenkläger nach § 397 Abs. 1 StPO „nur" die Rechte des Privatklägers habe, im Privatklageverfahren aber Maßregeln nicht angeordnet werden dürfen ; denn § 397 Abs. 1 gibt ihm nicht „nur" sondern „auch" die Rechte des Privatklägers und bezieht sich, wie § 401 StPO zeigt, nicht auf die Rechtsmittelbefugnis.

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9. Vorläufige Anordnungen im Maßregelrecht. Gegen Täter, deren Unterbringung in einer freiheitsentziehenden Maßregel nach den §§ 63—65 zu erwarten ist, kann unter den Voraussetzungen des § 126 a StPO eine einstweilige Unterbringung angeordnet werden, wenn die öffentliche Sicherheit dies erfordert; näher dazu Dünnebier in Löwe-Rosenberg, Erl. zu § 126 a. Des weiteren gibt das Gesetz die Möglichkeit, eine vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 111 a StPO) sowie die vorläufige Anordnung eines Berufsverbots (§ 132 a StPO) vorzunehmen. Näher zu den, oft komplizierten Voraussetzungen Meyer in Löwe-Rosenberg, Erl. zu § 111 a und § 132 a.

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IX. Anhang: Bemerkungen zum Prognoseproblem Schrifttum Abels Kriminologische und psychodiagnostische Prognosemöglichkeiten bei jugendlichen Kriminellen, Bewährungshilfe 1966 88 ; Brückner Untersuchungen über die Rückfallprognose bei chronischen Vermögensverbrechern, MschrKrim 1958 93 ; Chilian Die individuelle Frühprognose bei günstig beurteilten Tätern, MschrKrim 1974 349; Eisenberg Zum Prognosever(34)

Vorbemerkungen (Hanack)

Vor § 61

fahren in der Kriminologie, Med. Sachverst. 1971 10; Eisenberg Einführung in die Probleme der Kriminologie, 1972, S. 173; Eisenberg Über Sozialtherapeutische Behandlung von Gefangenen, ZStW 86 [1974] 1042; Eimering Die kriminologische Frühprognose. Überprüfung der Glueck'schen fünfpunktigen sozialen Prognosetafel an Hand von hundert mit Jugendstrafe bestraften Jugendlichen (1969); Exner Kriminologie 3 , 1949, S. 306 ff (m. w. Nachw. aus älterer Zeit); Frey Der frühkriminelle RückfallVerbrecher (1951); Geerds Zur kriminellen Prognose, MschrKrim 1960 92; S. u. E. Glueck Predicting Delinquence and Crime (1959); S. u. E. Glueck Delinquents and Nondelinquents in persective (1968); S. u. E. Glueck A brief summation of a new fellow-up study, in Aktuelle Kriminologie, 1969, S. 133; Göppinger Kriminologie 3 1976, S. 248 ff; Grassberger Die Lösung kriminalpolitischer Probleme durch die mechanische Statistik (1946); Haag Rationale Strafzumessung (1970); Hartmann-Eberhard Legalprognosetest für dissoziale Jugendliche (1972); Hinket Zur Methode deutscher Rückfallprognosetafeln (1975); R. v. Hippel Gefahrurteile und Prognoseentscheidungen in der Strafrechtspraxis (1972); Höbbel Bewährung des statistischen Prognoseverfahrens im Jugendstrafrecht (1968); Holzbach-Venzlaff Die Rückfallprognose bei heranwachsenden Straftätern, MschrKrim 1966 66; Kaiser Kriminologie. Eine Einführung in die Grundlagen 3 , 1976, S. 121 ff; Hilde Kaufmann Kriminologie Bd. I, Entstehungszusammenhänge des Verbrechens (1971); Kiiling Rückfalluntersuchungen an jungen Rechtsbrechern, MschrKrim 1965 269; R. Lange Das Rätsel Kriminalität (1970); Langelüddecke-BresserGerichtliche Psychiatrie 4 , 1973, S. 314 ff; Laudan Psychiatrisch-kriminologische Prognosen. Eine katamnestische Untersuchung, Jur. Diss. Heidelberg 1969; Leferenz Zur Problematik der kriminellen Prognose, ZStW 68[1956] 233; Leferenz Probleme der kriminalbiologischen Prognose, Krim. Gegenwartsfragen Heft 3, 1958, S. 35 ; Leferenz Über die Möglichkeiten und Grenzen der Sozialprognose, Jahrbuch f. Jugendpsychiatrie Band III, 1962, S. 165; Leferenz Aufgaben einer modernen Kriminologie (1967); Leferenz Die Kriminalprognose, in Göppinger-Witter, Handbuch der forensischen Psychiatrie Band II, 1972, S. 1347; Lose-Dillig-Wüstendorfer-Linz Über Zusammenhänge zwischen Merkmalen der sozialen Umwelt und der Kriminalitätsbelastung jugendlicher Straftä-. ter, MschrKrim 1974 198; Mannheim Rückfall und Prognose, In Handwörterbuch der Kriminologie 2 , 3. Band 1969/75, S. 38; Mannheim-Wilkins Perdiction methodes in relation to Borstal Training (1955, Neudruck 1969); Mergen Die Kriminologie (1967); Mey Die Voraussage des Rückfalls in intuitiven und statistischen Prognoseverfahren, MschrKrim 1965 1 ; Mey Möglichkeiten und Grenzen der statistischen Prognoseverfahren, Bewährungshilfe 1966 118; Mey Prognostische Beurteilung des Rechtsbrechers: Die Deutsche Forschung, in Handbuch der Psychologie (Hrsg. von Undeutsch) Band 11, 1967, S. 511 ; F. Meyer Rückfallprognose bei unbestimmt verurteilten Jugendlichen (1956); F. Meyer Der kriminologische Wert von Prognosetafeln, MschrKrim 1959191; F.Meyer Gedanken zu den Prognoseverfahren, G A 1961 257; F.Meyer Der gegenwärtige Stand der Prognoseforschung in Deutschland, MschrKrim 1965 225; F. Meyer Der Wert objektiver Prognoseverfahren in der Bewährungshilfe, Bewährungshilfe 196695; Meywerk Ein Beitrag zur Bestimmung der sozialen Prognose an Rückfallverbrechern, MschrKrim 1938 422; Middendorf?Die kriminologische Prognose in Theorie und Praxis (1967); MiddendorffbemeiViingcn zur sozialen Prognose, insbes. in bezug auf Jugendliche, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 1957 (Soziologie und Jugendkriminalität) S. 65; Middendorf Die soziale Prognose und der Strafrichter, in Blau-Müller-Luckmann, Gerichtliche Psychologie, 1962, S. 328; Middendorf Die Prognose im Strafrecht und in der Kriminologie, ZStW 72 [1960] 108; Miiller-Dietz, Probleme der Sozialprognose, NJW 1973 1065; Munkwitz Die Prognose der Frühkriminalität (1967); Nass Psychologische Fehlerquellen bei Prognosetafeln und ihre Eliminierung, Krim. Gegenwartsfragen Heft 3, 1958, S. 47; Piecha Die Lebensbewährung der als „unerziehbar" entlassenen Fürsorgezöglinge (1959); Schaffstein Erfolg, Mißerfolg und Rückfallprognose bei jungen Straffälligen, ZStW 69 [1967] 209; Schaffstein Rückfall und Rückfallprognose bei jungen Straffälligen, Krim. Gegenwartsfragen Heft 8, 1968, S. 66; Schiedt Ein Beitrag zum Problem der Rückfallprognose (1936); K. Schmid Ergebnisse psychiatrisch-kriminologischer Prognosen, Jur. Diss. Heidelberg 1964; H. J. Schneider Prognostische Beurteilung des Rechtsbrechers: Die ausländische Forschung, in: Handbuch der Psychologie (Hrsg. von Undeutsch), Band 11, 1967, S. 397; H. J. Schneider Die ausländische Forschung über die prognostische

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

Beurteilung des Rechtsbrechers, MschrKrim 1969 154; H. J. Schneider Prognose, in: Lexikon der Psychologie (Hrsg. v. Arnold u. a.) 2. Band, 1971, Sp. 836; H. J. Schneider Kriminalitätsentstehung und -behandlung als Sozialprozesse, JZ 1972 191; H. J. Schneider Kriminologie, 1974, S. 174 ff; Sonnen Die Bedeutung sozialtherapeutischer Maßnahmen für die Sozialprognose - KG, NJW 1973, 1420 und KG NJW 1972, 2228, JuS 1976 364; Suttinger Die Urteilsund Entlassungsprognose aus psychologischer Sicht, in: Blau-Müller-Luckmann, Gerichtliche Psychologie, 1962, S. 304; Sydow Erfolg und Mißerfolg der Strafaussetzung zur Bewährung (1963); Weihrauch Die Prognosetafeln nach Brückner, MschrKrim 1965 225; K. Weis Zur Kontrolle und Bewährung Glueck'scher Prognosetafeln ZStW82 [1970] 804; Welsch Persönlichkeitsforschung und Prognose des sozialen Verhaltens von Rechtsbrechern in Deutschland (1962); Wimmer Psychiatrisch-kriminologische Prognosen. Eine katamnestische Untersuchung, Jur. Diss. Heidelberg 1967; Witter Die Beurteilung Erwachsener im Strafrecht, in Göppinger-Witter, Handbuch der forensischen Psychiatrie, Band II, 1972, S. 966; J. Wolf Die Prognose in der Kriminologie (1971).

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Prognosen über das künftige Verhalten des Täters erlangen im modernen Strafrecht immer größere Bedeutung. Sie spielen unter den verschiedensten Gesichtspunkten schon im Bereich der Strafe eine Rolle, so insbesondere — aber nicht nur — bei der Strafzumessung (§ 46 Abs. 1 S. 2), bei der Strafaussetzung zur Bewährung und ihrer Ausgestaltung (§§ 56 ff), bei der Prüfung, ob oder unter welchen Kautelen eine Aussetzung des Strafrests erfolgen kann (§ 57), bei der Anordnung einer kurzfristigen Freiheitsstrafe (§ 47). Bei den Maßregeln ist die Prognose, wie schon angedeutet, regelmäßig das geradezu zentrale Problem, weil es hier stets um die Frage geht, ob vom Täter auch in Zukunft mit Wahrscheinlichkeit Straftaten oder doch Taten bestimmter Art zu erwarten sind (oben Rdn. 39 ff). Soweit die Voraussetzungen für die Anordnung mehrerer Maßregeln vorliegen, ist die Prognose auch für die Entscheidung wichtig, welche Maßregeln verhängt werden müssen (§ 72). Ferner ist die Prognose für vielfältige Folgeentscheidungen nach Anordnung einer Maßregel bedeutsam, so bei der Entscheidung über die Aussetzung der Vollstreckung (§ 67 b, § 67 c) oder der weiteren Vollstreckung einer Maßregel (§ 67 d Abs. 2, § 68 g Abs. 2, § 70 a), bei der Entscheidung über den Widerruf einer Aussetzung (§ 67 g, § 70 b), der Überweisung in den Vollzug einer anderen freiheitsentziehenden Maßregel (§ 67 a), der Ausgestaltung der Führungsaufsicht kraft Richterspruchs und kraft Gesetzes (§§ 68 ff).

1. Allgemeine Problematik. „Eine Prognose zu stellen, gehört zu den schwierigsten Aufgaben der kriminalrechtlichen Tätigkeit, da die Frage der Berechenbarkeit künftigen menschlichen Verhaltens wie allgemein so auch hier äußerst problematisch ist" (Lang-Hinrichsen Vorauf!. Rdn. 58 vor § 42 a). 102 a) Gesetzgebung und Wirklichkeit. Der Sonderausschuß für die Strafrechtsreform hat sich zwar durchaus mit der Frage beschäftigt, wie weit sichere Prognosen, insbesondere im System der Maßregeln, in Theorie und Praxis möglich sind (vgl. insbes. die eingehende Erörterung in Prot. IV, 881 ff). Dennoch spricht einiges dafür, daß der Gesetzgeber den Stand und die weitere Entwicklung der Prognoseforschung überschätzt hat und damit zugleich auch die Möglichkeit, eine solche Prognose, namentlich im Hinblick auf die oft äußerst subtilen Unterscheidungen des Gesetzes, im Einzelfall mit hinreichender Sicherheit zu erstellen. Jedenfalls steht das Bild, das sich insoweit aus dem Fachschrifttum über die Problematik ergibt, bis heute in auffälliger Diskrepanz zu den gesetzgeberischen Erwartungen und Normierungen (vgl. dazu auch die höchst kritischen Ausführungen des KG in (36)

Vorbemerkungen (Hanack)

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NJW 1972 2228 und 19731420; dazu wiederum kritisch Müller-Dietz 1973 1065; Sonnen JuS 1976 364; vgl. auch Eisenberg ZStW 86 1042).

NJW

Zudem herrscht in der Praxis ersichtlich eine beträchtliche Unsicherheit, wenn nicht Unklarheit, über die Voraussetzungen und Grenzen einer exakten Kriminalprognose, über die sich der Jurist zuverlässig auch nicht leicht orientieren kann. Kaum zu bezweifeln ist ferner, daß in der Praxis ein erheblicher, durch staatliche Maßnahmen bisher kaum angegangener und wohl auch kaum behebbarer Mangel an Sachverständigen, mindestens an umfassend geschulten Sachverständigen, besteht (vgl. schon oben Rdn. 18). Die vielbeklagte Folge ist unter anderem, daß in der Praxis, jedenfalls soweit es sich nicht um spezifisch psychiatrische Gutachten handelt (§§ 20, 21, 63), sog. „Haussachverständige" eine erkennbar nicht selten problematische Rolle spielen und sich bei Betrachtung von Gerichtsentscheidungen immer wieder der Eindruck „intuitiver" Prognosen (dazu Rdn. 112) oder gar der Berücksichtigung von Bewertungsmomenten aufdrängt, die weniger an der Gefährlichkeit als an der Schuld des Täters orientiert sind. Das erhebliche Defizit, das zwischen dem Gesetzesanspruch und der Praxis besteht, gehört ohne Zweifel zu den drängenden Problemen des Strafrechts im allgemeinen und des Maßregelrechts im besonderen. b) Wissenschaftliche Erschwernisse. Für jeden Außenstehenden ist das Bemühen, 103 die vorhandenen wissenschaftlichen Einsichten über das künftige kriminelle Verhalten eines Menschen nutzbar zu machen, heute zum einen dadurch erschwert, daß die hier vor allem zuständige Kriminologie vielfach nicht nur oder nicht so sehr an der individuellen Prognose interessiert ist, sondern auch an der Herausarbeitung bestimmter Gesetzlichkeiten, so daß sich in ihren Aussagen beide Gesichtspunkte oft bedenklich vermischen. Erschwert oder gar verdunkelt wird das Bemühen zum anderen durch Schulen- und Richtungskämpfe innerhalb der beteiligten Disziplinen oder zwischen ihnen, wobei zum Teil sogar ideologisch bestimmte Grundpositionen eine kritische Rolle spielen. So finden sich, insbesondere vielleicht in der ausländischen Forschung, Richtungen, die mehr oder weniger ausgeprägt zu einem gleichsam „mechanistischen" Menschenbild tendieren, nämlich zu dem Versuch, durch Faktorenanalysen die menschlichen Seelenkräfte zu „messen, wägen, zueinander in Verhältnis (zu) bringen, (zu) quantifizieren" (so Lange Das Rätsel Kriminalität, S. 284 mit höchst kritischer, ζ. T. streitschriftartiger Auseinandersetzung). Solche Richtungen schätzen die Möglichkeiten der Prognose durchweg hoch ein. Dem stehen andere Auffasssungen, etwa das Menschenbild der modernen Anthropologie, gegenüber, die dem Menschen einen weiten „Persönlichkeitsspielraum" zuerkennen und darum auch das Anlage-Umwelt-Problem anders sehen (vgl. statt aller näher ζ. B. Lange passim) und die Möglichkeiten zur exakten Prognose insgesamt für sehr viel fragwürdiger halten. Es ist hier nicht der Ort, diese Grundsatzfragen abzuhandeln. Hinzuweisen ist aber jedenfalls auf folgendes. (1) Über allen Meinungsstreit hinweg besteht in der Kriminologie, insbesondere 104 aufgrund empirischer Erfahrungen, eine gewisse praktische Verständigung über typische Faktoren, die für die Prognose künftigen kriminellen Verhaltens Bedeutung besitzen (dazu Rdn. 108). Der Richter wird daher vor allem auf diese Faktoren bzw. auf ihre Würdigung durch den Sachverständigen achten müssen. (37)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

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(2) Hingegen darf er sich nicht auf einen der sog. eindimensionalen Ansätze zurückziehen oder dem Sachverständigen einen solchen Rückzug gestatten, also auf Ansätze, die Kriminalität lediglich von einer wissenschaftstheoretischen Warte aus (sie sei biologisch, anthropologisch, soziologisch oder wie auch immer) zu erfassen sucht und von daher dann auch künftiges kriminelles Verhalten prognostiziert (vgl. auch LK § 66 Rdn. 95). Denn keiner dieser Ansätze hat bisher eine Anerkennung oder Überzeugungskraft erlangt, die den Richter dazu berechtigen könnte, die mit jedem derartigen Ansatz verbundene Verkürzung der Beurteilungsfaktoren hinzunehmen ; der Richter kann nur „multifaktorell" verfahren.

106

(3) Zu beachten hat der Richter jedoch, daß nach dem Menschenbild des Grundgesetzes die menschliche Person als eine freie, der Entfaltung zugängliche Persönlichkeit verstanden wird, nicht aber ein für alle Zeit Gegebenes darstellt. Der Hinweis Mannheims (S. 69), daß in der modernen Psychologie die „dynamische Interpretation der Gesamtpersönlichkeit", die Auffassung von der „Person als Prozeß", die „situativ-dynamische Sicht der Persönlichkeit", vorherrschend sei, und daß daher die Reaktionen des Betroffenen auf möglicherweise kriminogene Umwelteinflüsse zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Situationen nicht die gleichen zu sein brauchen, entspricht insoweit der Wertung auch der Rechtsordnung (vgl. auch Schmidhäuser AT 19/17).

107

(4) Im Zusammenhang hiermit ist weiter zu berücksichtigen, daß die Faktoren, die zum Rückfall führen, mit den Faktoren, die für die Straftat von Einfluß gewesen sind, nicht identisch zu sein brauchen. Die ursprünglichen Ursachen einer Straftat können nicht nur wegen einer Wandlung der Umwelt, sondern auch wegen der Persönlichkeit des Täters ihre treibende Kraft ganz oder zum Teil einbüßen, und an ihre Stelle können neue Triebkräfte treten (Mannheim aaO).

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2. Für die Prognose erhebliche Faktoren (Überblick). Als für die Prognose wichtige Gesichtspunkte (dazu näher statt aller Göppinger S. 193 ff m. Nachw.) gelten im allgemeinen insbesondere: Sozialisation, Struktur und Erziehungsverhältnisse in der Herkunftsfamilie; erbliche und soziale Belastungen der Herkunftsfamilie; psychopathologische Störungen und Abartigkeiten im weitesten Sinne; Schul-, Ausbildungs- und Erziehungsschwierigkeiten; Frühkriminalität; Zahl und Art der Rückfälle; allgemeine Verwahrlosung und Freizeitverhalten; Wertorientierung; Einstellung zur Tat; Verhalten im Freiheitsentzug (sehr umstritten; s. näher Rdn. 109); soziale und familiäre Verhältnisse, insbesondere nach der Entlassung. Im einzelnen ist die Bedeutung der genannten Faktoren freilich jeweils sehr kompliziert und in vielen Einzelheiten umstritten. So sind ζ. B. nicht nur Zahl und Art der Rückfälle von Bedeutung, sondern auch ihr Rhythmus, insbesondere die Rückfallgeschwindigkeit sowie das Alter, in dem die erstmalige oder erstmalige massive Straffälligkeit eintritt. Insoweit spielt für die Bedeutung der Frühkriminalität ζ. B. ersichtlich auch eine Rolle, daß das Rückfallrisiko abnimmt und sein Tempo sich verlangsamt, je älter der Täter bei der ersten Verurteilung war (näher Mannheim S. 62); auch scheinen Frühkriminelle nicht nur häufiger, sondern vielfach auch erheblich schwerer rückfällig zu werden {Frey S. 77 ff, 254 ff), wobei aber umstritten ist, ob die Kürze der Intervalle ein gewisses Indiz für eine anlagemäßige Disposition zur Kriminalität bildet (dafür ζ. B. Frey S. 83, 86; dagegen ζ. B. Moser Gesellschaftsstruktur und Jugendkriminalität, 1970, S. 348; vgl. auch LK §66 Rdn. 101). (38)

Vorbemerkungen ( H a n a c k )

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Exemplarisch deutlich wird die Zwiespältigkeit mancher scheinbar einleuchten- 109 der Prognose-Faktoren, aber auch die differenzierte Wechselwirkung zwischen Persönlichkeit und Umwelt, beim leidigen Problem des Verhaltens im Vollzug. So stehen der insbesondere in der Praxis oft hohen Einschätzung dieses Faktors viele kritische Stimmen gegenüber (Überblick bei Müller-Dietz NJW 1973 1067). Eine „Binsenweisheit" dürfte sein, „daß das .Verhalten im Vollzug' im Kontext zu Vorleben, Persönlichkeitsbild sowie signifikanter Lebensbereiche des Gefangenen (Arbeits-, Freizeitverhalten, Art und Umfang der Kontakte) gewürdigt werden muß" (MüllerDietz aaO S. 1068); unbestreitbar ist weiter, daß die Bedeutung des Verhaltens im Freiheitsentzug auch von den Lebensbedingungen im Vollzug und nicht zuletzt von der Chance des Gefangenen abhängt, Test- und Bewährungssituationen überhaupt ausgesetzt zu werden (vgl. Müller-Dietz aaO mit berechtigtem Hinweis auf den „Teufelskreis", dem hier gerade der schlecht prognostizierte Täter nur zu leicht ausgesetzt ist). Daß sozialtherapeutische Maßnahmen bei erheblich vorbestraften Tätern noch 110 nicht die Erwartung begründen, der Verurteilte werde in Zukunft nicht mehr straffällig, hat das KG unter allzu schroffer Kritik der „weitgehend vorwissenschaftlich bestimmten Situation" im Ergebnis zu Recht angenommen (NJW 1972 2228 ; 1973 1420; dazu eingehend Müller-Dietz NJW 1973 1065; Sonnen JuS 1976 364). Die Beurteilung der Prognose psychisch kranker Rechtsbrecher (§§ 20, 21, 63) ist 111 von den spezifisch psychiatrischen Einsichten über Bedeutung, Ursache und Behandlungsmöglichkeit der Störungen abhängig; dazu zusammenfassend und weiterführend z.B. Göppinger S. 138 ff; Langelüddeke-Bresser S. 95 ff; Witter in Göppinger-Witter, S. 966; Böker-Häfner Gewalttaten Geistesgestörter, 1973 mit umfassender Übersicht der Daten zu diesem Komplex. 3. Entwicklung und Methoden der Prognoseforschung a) „Intuitive Prognose"; weitere Entwicklung. Ursprünglich stützten sich die im 112 Bereich der Kriminalrechtspflege erforderlichen Prognosen im wesentlichen auf die Lebenserfahrung, die Menschenkenntnis und die persönlichen Vermutungen der jeweils gutachtenden oder entscheidenden Personen, sog. intuitive Methode. „Intuitiv" ist die Methode, weil oder soweit bei ihr die subjektive Erfahrung des Beurteilers die entscheidende Rolle spielt, nicht aber eine wissenschaftlich abgeleitete Prüfungsmethodik. Vorhandene Nachuntersuchungen zeigen, daß die Ergebnisse dieses Verfahrens sehr unterschiedlich waren und sind, im ganzen aber ein höchst bedenkliches Bild ergeben ; das gilt vor allem für die Zeit vor dem Kriege, in Maßen aber auch für die Zeit danach (näher ζ. B. Meyer Rückfallprognose S. 136 und Prot. IV, 881; Leferenz in Göppinger-Witter, S. 1353; Schmid S. 39 f)· So wird im Schrifttum vor dieser Art der Prüfung fast allgemein gewarnt; der Hinweis des KG (NJW 1972 2228, 2229), daß nach den bisherigen Erfahrungen andere Methoden nicht überlegen seien, erscheint fragwürdig (vgl. dazu auch Sonnen JuS 1976 366). Später versuchte man, durch systematische Forschungen zu sichereren empiri- 113 sehen Grundlagen zu kommen (zur Geschichte der Prognoseforschung s. z. B. Geerds S. 99; Haag S. 161 ; Middendorf/Die kriminologische Prognose S. 1 ; Mannheim S. 78 ; Welsch S. 92). Die Bemühungen begannen in den USA. Hier entwickelte als einer der ersten Burgess (1928) im Zusammenhang mit dem Parole-Verfahren prognostische Tabellen, die nach seiner Meinung jedoch nicht als Ersatz für eingehende Studien im Einzelfall betrachtet werden sollten. 1930 veröffentlichte dann das Ehepaar Glueck die Schrift über „500 criminal careers" und im Anschluß daran (39)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

zahlreiche weitere, weltweit bekannte und diskutierte Untersuchungen. Es kam sodann in Deutschland (nach Exners berühmtem „Kriminalistischen Bericht über eine Reise nach Amerika", ZStW 54 [1935] 345), in England, der Schweiz und Schweden sowie in anderen Ländern zu einer umfangreichen und reichhaltigen Prognoseforschung, die bis heute fortgesetzt wird. Dabei stehen sich vor allem die sog. statistische Mehode und die sog. klinische Methode gegenüber, zu der neuerdings als eine Art Verbindung eine Methode hinzutritt, die man Strukturprognose nennen könnte (Kaiser S. 129; Leferenz in Göppinger-Witter, S. 1366, 1373), die aber noch in den Anfängen steckt. Zu den einzelnen Methoden und ihren Ergebnissen näher ζ. B. Mey Prognostische Bestimmung; Schneider Die ausländische Forschung; Mannheim S. 38; Überblick auch bei Göppinger S.253 ff; Kaiser S. 123 ff; Eisenberg S. 173 ff; Leferenz aaO S. 1353 ff. — Einen eigenen Weg hat neuerdings Haag auf mathematischer Grundlage beschritten (S. 176 ff). 114

b) Die statistische Methode. Sie versucht, regelmäßig mit Hilfe eines Punkteverfahrens, aus der statistischen Häufung bestimmter Merkmale bei Rechtsbrechern eine Prognose zu treffen. Die Methode basiert, jedenfalls im Kern, auf der Überlegung, daß mit der Zunahme ungünstiger Merkmale (Schlechtpunkte), auch die Wahrscheinlichkeit einer ungünstigen Prognose, also weiterer Kriminalität, wächst oder gar mehr oder weniger evident wird bzw. bei Häufung günstiger Merkmale (Gutpunkte) abnimmt oder gar unwahrscheinlich ist. Im einzelnen ist eine große Zahl solcher „Prognosetafeln" entwickelt worden; zu nennen sind neben den Untersuchungen der Gluecks vielleicht vor allem die erste deutsche Untersuchung von Schiedt (1936) sowie die neueren Untersuchungen von Frey( 1951), MannheimWilkins (1955) und von F. Meyer (1956), dessen Methode in der Praxis einige Bedeutung erlangt hat (Übersichten ζ. B. bei Göppinger S. 256; Leferenz aaO S. 1354; zur Entwicklung der Verfahren s. weiter ζ. B. Meyer MschrKrim 1959 214; Haag S. 168). Die von den einzelnen Forschern erstellten Faktorenlisten weisen erhebliche Verschiedenheiten auf (kritisch dazu ζ. B. Meyer aaO S. 220). Wichtig ist im übrigen, daß die meisten Vertreter der Methode zugestehen, daß es kein Universalprognoseverfahren gibt, das in allen Fällen angewendet werden könne; vielmehr müsse der Faktorenkatalog nicht nur bèi Jugendlichen anders aussehen als bei Erwachsenen, sondern sei auch innerhalb dieser Gruppen weiter zu differenzieren (Meyer S. 237).

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c) Die sog. klinische Methode (auch „empirische Individualprognose" genannt). Sie beruht, in mancherlei Spielarten, auf der Erforschung der individuellen Täterpersönlichkeit durch einen Psychiater oder kriminologisch geschulten Psychologen, und zwar in der Regel durch Exploration und Beobachtung, oft unter Zuhilfenahme von Tests und Experimenten (näher z. B. Göppinger S. 254; Leferenz in Göppinger-Witter, S. 1366). Die so gewonnenen Ergebnisse über Persönlichkeit, Lebenslauf, Umwelt und sonstige Gegebenheiten des Probanden werden dann typischerweise mit dem spezifischkriminologischen Bezugswissen verknüpft. In gewissem Sinne — und mit unterschiedlicher Akzentuierung — handelt es sich um eine Fortentwicklung (Verwissenschaftlichung) der früheren „intuitiven" Prognose (Rdn. 112; anders aber Göppinger S. 254), insofern nämlich, als bei dieser Methode der Erfahrungsschatz des Gutachters und sein Entscheidungsspielraum, aber wohl auch die Frage der Kontrollierbarkeit und der Orientierung an Extremgruppen eine beträchtliche Rolle spielt (vgl. z. B. Göppinger S. 255; Kaiser S. 125). (40)

Vorbemerkungen (Hanack)

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4. Methodenstreit und Zuverlässigkeit; Konsequenzen Im wesentlichen — und von zahlreichen Einzelheiten abgesehen — geht der 116 Streit darum, ob der statistischen Methode oder der (klinischen) Individualprognose der Vorrang einzuräumen ist. Die statistische Methode hat häufig Kritik gefunden. Gegen sie wird vor allem eingewendet, daß die aus der Beobachtung von Gruppen abgeleiteten Prüfungskriterien eben nur statistische Ergebnisse liefern könnten, also nur für Gruppen, nicht aber für Individuen in Betracht kämen, daß sie die Gesamtpersönlichkeit zu sehr außer acht lasse und mögliche Veränderungen in der Zukunft nur unvollkommen zu berücksichtigen vermöge. Auch spreche viel dafür, daß die Methode zu überzeugenden Ergebnissen nur — oder allenfalls — bei den Extremgruppen mit klar guter oder klar schlechter Daten-Häufung führe, nicht jedoch beim breiten Mittelfeld der Probanden (dazu auch Prot. IV, 892 ff). Zu den Bedenken gegen die Zuverlässigkeit der Methode und ihre Grundlagen als solche s. ζ. B. Lange S. 284 ff ; Mannheim S. 86; Leferenz ZStW 68 233 und in Göppinger-Witter, S. 1365; Geerds MschrKrim 1960 92; Mey MschrKrim 1965 8; a. Α. ζ. B. Middendorf/(Die kriminologische Prognose, S. 96 f; ZStW 72 117), der solchen Einwendungen entgegentritt. Kritisiert wird aber nicht nur die „ursprüngliche" „intuitive" Methode (Rdn. 112), sondern auch deren verwissenschaftlichte Fortentwicklung in der sog. klinischen Methode, so z.B. selbst von Göppinger (S. 254), von Kaiser (S. 125), Middendorf (aaO), Meyer (MschrKrim 1959 218,241), Mannheim (S. 86), Haag (S. 173). Die Einwendungen kreisen, wie schon angedeutet, insoweit vor allem um die Sorge, daß diese Methode zu stark auf subjektiven Elementen sowie der Erfahrung des einzelnen Gutachters aufbaue und keine genügend sicheren Grundlagen hätte. Die Vertreter beider Richtungen meinen, auf Fälle hinweisen zu können, in wel- 117 chen sich nachträglich die Überlegenheit jeweils ihrer Mehtode ergeben habe (vgl. ζ. B. die Hinweise von Mannheim S. 72, 83). Der Streit über die Methoden dauert fort. Wichtig dürfte sein, daß heute, jedenfalls im deutschsprachigen Raum, die Anhänger der statistischen Methode die Bedeutung auch der spezifischen Untersuchung des Einzelfalles meist anerkennen und eine ergänzende Heranziehung der intuitiven Methode mindestens nicht prinzipiell ausschließen (vgl. ζ. B. Meyer aaO S. 241 und Prot. IV, 887), während umgekehrt im Bereich der „klinischen" Prognose die Verwendung des allgemeinen kriminologischen Befundwissens, wie es den Prognosetafeln der statistischen Methode typischerweise zugrunde liegt, jedenfalls nach dem theoretischen Konzept weithin eine Selbstverständlichkeit geworden sein dürfte. Beim gegenwärtigen Stand der Forschung wird man im Ergebnis noch immer 118 Mannheim (S. 86) recht geben müssen, daß die statistischen Prognosetafeln zwar viele wichtige Erfahrungen fixieren und darum bei der richterlichen Überzeugungsbildung zur Vorbereitung verwendet werden dürfen oder müssen, jedoch niemals als alleinige Quelle. Hinzukommen muß vielmehr stets die individuelle Prüfung, die regelmäßig sogar im Vordergrund stehen sollte. Die Prognosetafeln werden dabei aber auch zur Kontrolle heranzuziehen sein (Mannheim S. 89), eben weil sie zahlreiche wichtige Einsichten enthalten. Offen ist freilich die Frage, wie im Einzelfall zu entscheiden ist, wenn die verschiedenen Methoden zu divergierenden Ergebnissen führen. Es scheint, daß sich gegenwärtig dazu mit Lang-Hinrichsen (Vorauf!. Rdn. 68 vor § 42 a) nicht mehr (41)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

sagen läßt als daß die Diskrepanz jeweils Warnfunktion ausüben und zur erneuten Überprüfung schon gewonnener Resultate Anlaß geben sollte. Daß jedenfalls die Gerichte gerade im Bereich der Prognose allen Anlaß zur kritischen Haltung nicht nur gegenüber „Haussachverständigen" (oben Rdn. 102) haben und daß als Strafrichter nur fungieren kann, wer von der Komplexität der Materie — die hier nur angedeutet werden konnte — eine Vorstellung besitzt, liegt auf der Hand. §61 Übersicht Maßregeln der Besserung und Sicherung sind 1. die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, 2. die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt, 3.1 die Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt, 4. die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung, 5. die Fiihrungsaufsicht, 6. die Entziehung der Fahrerlaubnis, 7. das Berufsverbot. Schrifttum Albrecht Die Bekämpfung der Asozialität, Materialien zur Strafrechtsreform, Bd. 2/1 (1954), S. 229; Preiser Die Nichtigkeitserklärung von § 73 Abs. 2 und 3 BSHG und ihre Folgen, ZStW 80 [1968] 582; Schaffstein Die Behandlung der gemeinlästigen und der kleinkriminellen Rezidivisten als kriminalpolitisches Problem, Engisch-Festschrift, S. 644. Im übrigen s. die Angaben bei Vorb. vor § 61.

Entstehungsgeschichte Eine Übersicht nach Art des §61, die dann den jeweiligen Änderungen des Maßregelrechts angepaßt wurde, enthielt — seit Einführung der Maßregeln durch das Gesetz v. 24. 11. 1933 — schon § 42 a a. F. Die heutige Fassung der Vorschrift beruht auf dem 2. StrRG mit einer redaktionellen Änderung durch Art. 18 II Nr. 20 EGStGB. I. Allgemeines 1 1. Bedeutung. § 61 gibt eine Übersicht über die Maßregeln der Besserung und Sicherung des StGB. Sie ist, streng genommen, insoweit überflüssig, als der Richter ohnedies nur gesetzlich vorgesehene Maßregeln anordnen darf. Zweck der Übersicht, deren Notwendigkeit bei der Strafrechtsreform jedenfalls nach den veröffentlichten Materialien ersichtlich nicht weiter reflektiert worden ist, ist vor allem die leichtere Orientierung. Das Gesetz nimmt an anderen Stellen (ζ. B. in § 7 JGG, in § 35 BZRG) auf die Übersicht wiederholt Bezug. Die Charakterisierung einer strafrechtlichen Sanktion als Maßregel der Besserung und Sicherung hat im Einzelfall praktische Bedeutung, so bei der zeitlichen Geltung (§ 2 Abs. 6).

1

Tritt erst am 1. 1. 1985 in Kraft; s. näher § 65 „Entstehungsgeschichte" (42)

Übersicht (Hanack)

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2. Reichweite. Die Aufzählung des § 61 enthält einen abschließenden Katalog nur für die nach dem StGB zulässigen Maßregeln. Maßregeln im sog. Nebenstrafrecht (Rdn. 11) bleiben unberührt. 3. Terminologie; Abgrenzung. Der Gesetzgeber hat bei der gesetzestechnischen 2 Einordnung der Maßregeln in das Gesamtsystem der strafrechtlichen Reaktionen „keine glückliche Hand bewiesen" (Maurach AT § 67 I S. 880). Die Maßregeln der Besserung und Sicherung fallen unter den Oberbegriff der Maßnahmen i. S. von § 11 Abs. 1 Nr. 8. Zu diesen Maßnahmen gehören auch der Verfall (§§ 73 ff), die Einziehung (§§ 74 ff) und die Unbrauchbarmachung (§ 74 d). Diese Zusammenfassung, die „aus technischen Gründen" erfolgte (Begr. ζ. E 1962, S. 119), erscheint systematisch wenig geschickt, weil es sich bei Verfall, Einziehung und Unbrauchbarmachung um „ausgesprochene Zwitter- oder Zwischenerscheinungen zwischen Strafen und Maßregeln" (Maurach AT § 57 I S. 795) von recht verschiedenartigem Charakter handelt. Sie tragen in einigen Ausprägungen stark maßregelähnliche Züge, und zwar im spezifischen Sinn einer Sicherungsmaßregel : so die Einziehung gemäß § 74 Abs. 2 Nr. 2 und § 74 Abs. 3, die Einziehung und die Unbrauchbarmachung gemäß § 74 d. Maßregeln im technischen Sinne stellen diese Reaktionen aber dennoch nicht dar; sie sind nicht gemeint, wo das Gesetz von Maßregeln der Besserung und Sicherung spricht. Im übrigen kennt das StGB noch eine Reihe weiterer strafrechtlicher Reaktionen, die den Maßregeln inhaltlich nahestehen, als Reaktionen eigener Art aber zu ihnen nicht zählen. Zu nennen sind insbesondere die Auflagen und die Weisungen im Rahmen der Strafaussetzung zur Bewährung (§§ 56 ff), der Aussetzung des Strafrests (§ 57) und der Verwarnung mit Strafvorbehalt (§ 59 a Abs. 2). Es zeigt sich hier die zunehmende Durchdringung von Strafen und Maßregeln im Hinblick auf ein System optimaler Einwirkungen. Vgl. dazu Rdn. 10 f, 15 vor § 61. II. Struktur und Gliederung der Maßregeln 1. Zur Struktur der Maßregeln sowie zu den allgemeinen Grundsätzen über ihre 3 Anwendung s. die Erl. vor § 61. Zur Maßregelkonkurrenz s. § 72 und die dort. Erl. 2. Gliederung der Maßregeln. Die einzelnen Maßregeln verfolgen, unbeschadet ihrer gemeinsamen Struktur, jeweils etwas unterschiedliche spezifische kriminalpolitische Ziele. Sie sind daher nach Ausgestaltung, Einzelzweck und Wirkung recht unterschiedlich. Zum Versuch einer Einteilung nach inhaltlichen Kriterien vgl. Maurach AT § 67 II. Das Gesetz kennt vier Maßregeln mit Freiheitsentzug (Nr. 1—4) und drei Maßregeln ohne Freiheitsentzug (Nr. 5—7). Die Maßregel der Nr. 5 (Führungsaufsicht) nimmt dabei eine gewisse Sonderstellung ein, weil sie auch als automatische Folge der Aussetzung einer freiheitsentziehenden Maßregel eintritt (§§ 67 b, 67 c, 67 d Abs. 2 , 4 ; näher Rdn. 9 vor § 68). Die vier freiheitsentziehenden Maßregeln sind in einem eigenen Untertitel zusammengefaßt (§§ 63—67 g). Das Gesetz legt dabei in den §§ 63—66 die Anordnungsvoraussetzungen für jede der Maßregeln fest und enthält in den anschließenden Bestimmungen gemeinsame Vorschriften über die Folgewirkungen (§§ 67—67 g), zu denen noch die gemeinsamen Vorschriften des § 62 sowie der §§71 und 72 hinzutreten. (43)

§61

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

Die drei Maßregeln ohne Freiheitsentzug sind, weil sie sehr viel partiellere und spezifischere Einwirkungen normieren, gesetzestechnisch etwas anders geordnet. Das Gesetz handelt jede der drei Maßregeln in einem eigenen Untertitel erschöpfend ab (§§68—68 g; §§69—69 b; §§70—70 b). Gemeinsam gelten wiederum die zusätzlichen Bestimmungen des § 62 sowie der §§71 und 72. 4

III. Wandlungen des Maßregelkatalogs Die einzelnen Maßregeln des geltenden Rechts, die überwiegend schon aus der Zeit vor der Strafrechtsreform stammen (vgl. Rdn. 11), sind im Laufe der Jahre fast durchweg inhaltlich geändert und insbesondere fortschreitenden Erkenntnissen auf dem Gebiet der chronischen Kriminalität angepaßt worden; vgl. dazu jeweils die Abschnitte „Entstehungsgeschichte" der einzelnen Maßregeln. Aber auch der Katalog der Maßregeln selbst hat seit der Einführung der Maßregeln im Jahre 1933 erhebliche Änderungen erfahren. Es erscheint angezeigt, das in einem kurzen Überblick festzuhalten; die genauere Erörterung weggefallener Maßnahmen ist freilich nicht Sache eines Kommentars zum geltenden Recht. Über Maßregeln, die in früheren Entwürfen vorgesehen oder von der Wissenschaft diskutiert, aber nicht Gesetz geworden sind, vgl. ζ. B. Schmidhäuser AT 21/4; Krille Niederschriften Bd. 1, S. 282 ff. Der E 1962 hatte — außer dem Arbeitshaus (dazu Rdn. 7) — als Maßregel noch die Bewahrungsanstalt, die vorbeugende Verwahrung und das Verbot der Tierhaltung vorgesehen ; die ersteren beiden Maßregeln sind in der sozialtherapeutischen Anstalt aufgegangen (s. LK § 65 Rdn. 23 ff), über deren weitere Entwicklung in den Erl. zu § 65 berichtet wird ; das Verbot der Tierhaltung ist in das TierschutzG verwiesen worden (unten Rdn. 11).

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1. Die zwangsweise Entmannung bestimmter gefährlicher Sexual Verbrecher sah das Gesetz vom 24. 11.1933 (vgl. Rdn. 6 vor §61) als fakultative Maßregel vor (§42 a Nr. 5, § 4 2 k a. F.). Diese Maßregel ist durch Art. 1 des K R G Nr. 11 v. 30.1.1946 (Amtsblatt S. 55) aufgehoben worden. Heute ist nur eine freiwillige Kastration nach dem „Gesetz über die freiwillige Kastration und andere Behandlungsmethoden" vom 15. 8.1969 (BGBl. I 1143 mit späteren Änderungen) zulässig; sie ist als solche — selbstverständlich — keine Maßregel, kann aber im Maßregelrecht mittelbare Bedeutung haben (vgl. z. B. LK § 66 Rdn. 152). Über Sterilisationen vgl. Hirsch LK 9 § 226 a Rdn. 29 ff. Langelüddeke gibt an, zwischen 1934 und 1944 seien etwa 2800 Sexualverbrecher entmannt worden (Die Nachuntersuchung der Entmannten, Kriminalbiologische Gegenwartsfragen Bd. VII, 1953, S. 48 ff; vgl. auch die Berichte von Finke und Klee DtStr 1935 186 und 373; Schlegel Dt. med. Wschr. 1935 590). An den Betroffenen sind eingehende Nachuntersuchungen durchgeführt worden; nähere Angaben bei Langelüddeke aaO und in Gerichtliche Psychiatrie 3 , 1971, S. 109 f; Xingas Die Kastration als Sicherungsmaßnahme gegen Sittlichkeitsverbrecher, 1937; Jensch Untersuchungen entmannter Sittlichkeitsverbrecher, 1944.

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2. Die Reichsverweisung von Ausländern war nach dem Gesetz vom 24.11.1933 zunächst ebenfalls als Maßregel zulässig (§ 42 a Nr. 7, § 42 m a. F.). Sie wurde aber schon durch das Gesetz über Reichsverweisungen v. 23. 3. 1934 (RGBl. I 213) wieder beseitigt und in diesem Gesetz bzw. später in der AusländerpolizeiVO vom 22. 8. 1938 (RGBl. I 1053), wie früher, als Verwaltungsmaßnahme gestaltet. Heute ist das Aufenthalts verbot gegenüber Ausländern in den §§ 10, 11 des Ausländerge(44)

Übersicht (Hanack)

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setzes vom 28.4. 1965 (BGBl. I 353) geregelt. Es handelt sich auch dabei um eine Verwaltungsmaßnahme; die Wiedereinführung einer strafrechtlichen Maßregel wurde auch nach 1945 nicht für notwendig erachtet (vgl. ζ. B. Krille Niederschriften Bd. 1, S. 282). Über die Anordnung des Verbots als Folge einer strafgerichtlichen Verurteilung vgl. z.B. BVerwG JR 1971 170; BVerwG NJW 1976 490 m. Anm. Schnapp und w. Nachw. 3. Die Unterbringung im Arbeitshaus (§ 42 a Nr. 3 ; § 42 d a. F.), die das Gesetz 7 vom 24. 11. 1933 eingeführt hatte, ist durch das 1. StrRG beseitigt worden. Vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes angeordnete Unterbringungen verloren gemäß Art. 92 des 1. StrRG ihre Wirkung. Die Maßregel, die spezifisch Gemeinlästige traf (Bettler, Landstreicher, Dirnen, Arbeitsscheue; näher Sch.-SchrödeM Erl. zu § 42 d m. Nachw. zum Gesamtproblem), und die der E 1962 letztlich noch erweitern wollte (§ 84 m. Begr. S. 212 f), war seit längerem umstritten (vgl. z. B. Jescheck AT § 70 VI 3 S. 583 m. Nachw.). Sie wurde vom Gesetzgeber wegen einer Fülle rechtsstaatlicher und kriminalpolitischer Bedenken beseitigt; vgl. 1. Bericht S. 17 f; Prot. V, 432 ff, 2313 ff; AE-AT S. 129; Schaffstein Engisch-Festschrift, S. 644 m. Nachw. Nicht gelöst war damit freilich das — durchaus bedrückende — Problem der 8 Behandlung Gemeinlästiger (dazu insbes. Schaffstein aaO S. 655 ff; s. auch Albrecht S. 229). Insoweit ist folgendes wichtig: Der Sonderausschuß (1. Bericht S. 18) meinte, daß „versucht werden (muß), dem bisher vom Arbeitshaus erfaßten Personenkreis mit den Mitteln der Sozialfürsorge beizukommen". Er verkannte dabei nicht, daß dies durch die Entscheidung des BVerfG vom 18. 7. 1967 (BVerfGE 22 180, 218 = NJW 1967 1795, 1800) „erschwert" worden ist: Diese Entscheidung erklärte die Vorschriften des § 73 Abs. 2 und 3 BSHG a. F. für nichtig, nach der das Gericht einen Gefährdeten unter bestimmten Voraussetzungen u. a. anweisen konnte, sich in einer geeigneten Anstalt aufzuhalten (die Bestimmungen sind daraufhin durch das 2. ÄndG zum BSHG v. 14. 8. 1969 aufgehoben worden). Das BVerfG vertrat die Auffassung, der Staat habe „nicht die Aufgabe, seine Bürger zu .bessern' und deshalb auch nicht das Recht, ihnen die Freiheit zu entziehen, nur um sie zu .bessern', ohne daß sie sich selbst oder andere gefährden, wenn sie in Freiheit blieben". Erhardt sieht in der Entscheidung ein „Mißverständnis des zugrundeliegenden Sachverhalts"; er bedauert im übrigen — aus der Sicht des Sozialpsychiaters gewiß nicht ohne Grund —, daß damit der „erste und ganz schüchterne Versuch" eines Bewahrungsgesetzes, das „von Fürsorgefachleuten schon seit Jahrzehnten gefordert wird", gescheitert sei, wobei auch Erhardt einräumt, daß es sich „aus der Sicht der Praxis" um einen „ziemlich verunglückten Versuch" gehandelt habe (Fortschr.Neurol.Psych. 1969 661, 663; vgl. auch Erhardt Handwörterbuch Kriminologie, 2. Aufl. Bd. II, S. 395). Zum ganzen eingehend Preiser ZStW 80 552. An der weiteren Entwicklung ist dann bemerkenswert: Das BSHG kannte in 9 § 26 Abs. 1 S. 1 auch die Möglichkeit der Unterbringung eines Gefährdeten zur Arbeitsleistung in einer Anstalt, wenn er sich trotz wiederholter Aufforderung beharrlich weigerte, zumutbare Arbeit aufzunehmen, so daß laufende Hilfe zum Lebensunterhalt an Unterhaltsberechtigte geleistet werden mußte. Das BVerfG hat diese Vorschrift — in eigenartigem Gegensatz zu der Rdn. 8 genannten Entscheidung — im Prinzip für verfassungskonform erklärt (BVerfGE 30 47 = NJW 1971 419). Dennoch hat der Gesetzgeber § 26 durch das 3. ÄndG zum BSHG vom (45)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

23. 3. 1974 (BGBl. I 777) mit Wirkung vom 1.4. 1974 an ersatzlos aufgehoben. Die Bundesregierung begründete dies u. a. mit dem Hinweis auf die Aufhebung der Maßregel des Arbeitshauses und mit dem Fehlen geeigneter Einrichtungen in den Ländern; solche Einrichtungen zu schaffen würde in Anbetracht einer geringen Zahl von Fällen, die für die Unterbringung in Betracht kommen, dem für die Verwaltung maßgebenden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Mittel nicht entsprechen (zit. nach Schellhom-Jirasek-Seipp Das Bundessozialhilfegesetz, 8. Aufl. 1974 zu § 26). 10

4. Die Entziehung der Fahrerlaubnis ist erst durch Ges. v. 19.12.1952 (BGBl. I 832) eingefügt worden; s. näher Rüth LK, Erl. zu § 69. 5. Die Führungsaufsicht und die sozialtherapeutische Anstalt entstammen den Bemühungen zur Strafrechtsreform (2. StrRG; s. näher Rdn. 16 ff vor § 68 und § 65 Rdn. 23 ff)- Speziell zum Inkrafttreten der Maßregel über die sozialtherapeutische Anstalt vgl. § 65, Entstehungsgeschichte). — Zur Polizeiaufsicht des früheren Rechts (§§ 38, 39 a. F.), die in der Sache eine Maßregel war, s. Rdn. 16, 30 vor § 68. IV. Sonstige Maßregeln und Maßnahmen

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1. Maßregeln außerhalb des StGB. Wie bemerkt (Rdn. 1), erfaßt der Katalog des § 61 nur die Maßregeln des StGB. Unberührt bleiben Maßregeln des Nebenstrafrechts, so das Verbot der Tierhaltung (§ 20 TierschutzG v. 24.7.1972, BGBl. I 1277) oder die Entziehung des Jagdscheins (§ 41 BundesjagdG i. d. F. von Art. 230 Nr. 5 EGStGB). Erforderlichenfalls können hier nach Art. 1 EGStGB die Vorschriften des Allgemeinen Teils ergänzend herangezogen werden (z. B. § 72, §§ 68 ff).

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2. Über „Maßnahmen" und sonstige strafrechtliche Sanktionen maßregelähnlicher Art vgl. Rdn. 2. 3. Maßnahmen außerstrafrechtlichen Charakters, die also von anderen Instanzen angeordnet werden, aber maßregelähnliche Züge tragen, gibt es in mancherlei Formen. Zu nennen ist vor allem die Möglichkeit der Unterbringung Geisteskranker und Süchtiger durch den Richter der freiwilligen Gerichtsbarkeit nach den landesrechtlichen Unterbringungsgesetzen (näher LK § 63 Rdn. 105 ff). Im übrigen enthalten viele verwaltungsrechtliche Vorschriften, die ζ. T. sogar an strafrechtliche Verurteilungen anknüpfen, maßregelähnlichen Charakter, so ζ. B. die Entziehung der Fahrerlaubnis nach den §§ 4 StVG, 15 b StVZO (dazu Rüth LK, § 69 Rdn. 1).

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V. Nebenfolgen von Maßregelverurteilungen 1. Soldaten und Wehrpflichtige. Nach dem SoldatenG kann in das Dienstverhältnis eines Berufssoldaten oder eines Soldaten auf Zeit nicht berufen werden, wer einer Maßregel nach den §§ 64, 65 Abs. 1, 2 oder 66 unterworfen ist, solange diese Maßregel nicht erledigt ist (§ 38 Abs. 1 Nr. 3). Ein Berufssoldat, gegen den eine der genannten Maßregeln angeordnet ist, verliert seine Rechtsstellung (§ 48 Nr. 1); bei einem Soldaten auf Zeit endet das Dienstverhältnis mit der Anordnung (§ 54 Abs. 2 Nr. 2). Für den Wehrpflichtigen gilt aufgrund des WehrpflichtG: Solange der Pflichtige einer nicht erledigten Maßregel nach den §§ 64, 65 Abs. 1, 2 oder 66 unterworfen (46)

Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Hanack)

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ist, ist er vom Wehrdienst (§ 10 Abs. 1 Nr. 3) bzw. vom Dienst in der Bundeswehr (§ 30 Abs. 1) ausgeschlossen. Er verliert seinen Dienstgrad (§ 30 Abs. 1, § 30 Abs. 2 Nr. 2). Z u m Begriff der „Erledigung" bei den genannten Maßregeln vgl. z. B. LK § 64 R d n . 120. Aus der geschilderten Regelung folgt, d a ß bei allen anderen Maßregeln, insbesondere der Unterbringung in einem psychiatrischen K r a n k e n h a u s (§ 63), die genannten Folgen nicht eintreten. Jedoch wird ein Täter, gegen den die Unterbringung im psychiatrischen K r a n k e n h a u s angeordnet ist, im allgemeinen dienstuntauglich sein ( H a h n e n f e l d Soldatengesetz, 1963, S. 30; Hahnenfeld Wehrpflichtgesetz 2 , § 10 R d n . 16). Im übrigen ist ein Wehrpflichtiger nach A n o r d n u n g der Unterbringung in einem psychiatrischen K r a n k e n h a u s g e m ä ß § 12 Abs. 1 Nr. 2 WehrpflichtG vom Wehrdienst zurückzustellen. 2. Zivildienstpflichtige sind nach § 9 Abs. 1 Nr. 3 des ZivildienstG vom Zivil- 14 dienst ausgeschlossen bzw. werden n a c h § 11 Abs. 1 Nr. 2 zurückgestellt, solange gegen sie eine Maßregel nach §§ 64, 65 Abs. 1, 2 oder 66 angeordnet ist. 3. Das Wahlrecht ruht u. a. bei Personen, die nach § 63 in einem psychiatrischen K r a n k e n h a u s untergebracht sind (§ 14 BundeswahlG i. d. F. v. 7. 7. 1972, BGBl. I 1100 m. spät. Änd.).

§62 Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Eine Maßregel der Besserung und Sicherung darf nicht angeordnet werden, wenn sie zur Bedeutung der vom Täter begangenen und zu erwartenden Taten sowie zu dem Grad der von ihm ausgehenden Gefahr außer Verhältnis steht. Schrifttum Blei Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und Maßregeln der Sicherung und Besserung, JA 1971 235; Denzel Übermaßverbot und strafprozessuale Zwangsmaßnahmen, Diss. Heidelberg 1969; Gribbohm Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bei den mit Freiheitsentziehung verbundenen Maßregeln der Sicherung und Besserung, JuS 1967 349; Haag Rationale Strafzumessung (1970); Häberle Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz (1962); Horstkotte Die Vorschriften des Ersten Gesetzes zur Reform des Strafrechts ü b e r . . . die Maßregeln der Sicherung und Besserung, JZ 1970 152; Arth. Kaufmann Schuldprinzip und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, Lange-Festschr., S. 27; von Krauss Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (1955); Lenckner Strafe, Schuld und Schuldfähigkeit, in: Göppinger-Witter, Handbuch der forensischen Psychiatrie, Bd. I 1972, S. 3; Lerche Übermaß und Verfassungsrecht (1961); Maihofer Rechtsstaat und menschliche Würde (1968); Nowakowski Zur Rechtsstaatlichkeit der vorbeugenden Maßnahmen, v. Weber-Festschr., S. 98; Paetzold Die Eingriffsvoraussetzungen bei freiheitsentziehenden Maßregeln unter besonderer Berücksichtigung des Prinzips der Verhältnismäßigkeit, Diss. Tübingen 1975; Peter Schneider Pressefreiheit und Staatssicherheit (1968); Schröder Die „Erforderlichkeit" von Sicherungsmaßregeln, JZ 1970 92; Warda Dogmatische Grundlagen des richterlichen Ermessens im Strafrecht (1962); Witt Verhältnismäßigkeitsgrundsatz — Untersuchungshaft, körperliche Eingriffe und Gutachten über den Geisteszustand —, Diss. Mainz 1968; Wittig Zum Standort des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im System des GG, DÖV 1968 817; Zipf Die Rechtsfolgen der Tat im neuen Strafgesetzbuch, JuS 1974 273. (47)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

Entstehungsgeschichte Die Vorschrift ist — als § 42 a Abs. 2 a. F. — durch das 1. StrRG eingeführt und vom 2. StrRG mit geringen redaktionellen Änderungen unverändert übernommen worden. I. Allgemeines 1

1. Allgemeiner Rechtsgrundsatz; Aufgabe. Neues Recht hat der Gesetzgeber mit der ausdrücklichen Statuierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im StGB nicht geschaffen (Lang-Hinrichsen Voraufl. § 42 a Rdn. 5). Denn der Grundsatz enthält ein allgemeines und allgemein anerkanntes Rechtsprinzip (BVerfGE 16194, 202 = NJW 1963 1597; 19 342, 348 f = NJW 1966 243; 23 127, 134 = NJW 1968 979, 981 m. Anm. Arndt NJW 1968 979; BVerfG NJW 1969 62; BGHSt. 20 232; OLG Schleswig SchlHA 1958 343; Dreher Niederschriften Bd. 12, S.335; Warda S. 142 ff; Nowakowski S. 105 m. w. Nachw.). Er gilt für den gesamten Bereich des Rechts, damit also auch des Strafrechts im allgemeinen und des Maßregelrechts im besonderen (Haag S. 37 f)· Seine Geltung für das Maßregelrecht war schon vor der ausdrücklichen Formulierung im StGB unbestritten. Sie beruht auf dem Gedanken, daß der tief in Grundrechte einschneidende Eingriff, den insbesondere eine freiheitsentziehende Maßregel darstellt, nur gerechtfertigt ist, wenn die Gefahr, die von dem Täter ausgeht, so beschaffen ist, daß ihm, auch wenn er ohne Schuld gehandelt hat, ein derartiger Eingriff im überwiegenden Allgemeininteresse zuzumuten ist (Dreher Rdn. 1). Aufgabe des § 62 ist es mithin, über den Wortlaut der verschiedenen Einzelbestimmungen des Maßregelrechts hinaus, die letztlich an der Spezialprävention orientierte Zweckbestimmung der Maßregeln (Rdn. 20 vor § 61) im Einzelfall auf das rechtsstaatlich erträgliche Maß zu begrenzen ( Z i p f JuS 1974 274, 278 ; vgl. auch Preisendanz Anm. 1 ; Maurach AT § 67 III, S. 882 f) bzw. diese Begrenzung zu verdeutlichen.

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Bedenklich ist jedoch die Ansicht (so aber Zipf und Preisendanz aaO ; vgl. auch Zipf in Roxin u. a., Einführung in das neue Strafrecht, S. 103), § 62 übernehme im Maßregelrecht die Funktionen, die bei Bemessung der Strafe dem Schuldprinzip zukommen : Der Vergleich paßt nicht und täuscht darüber hinweg, daß die auf einer anderen Zweckrichtung beruhenden Maßregeln als „Notwehrmaßnahmen" (Rdn. 29 vor § 61) nicht in der gleichen Weise an der Gerechtigkeit orientiert sind wie die Strafe. So markiert § 62 auch überhaupt nur eine äußerste Grenze („Unverhältnismäßigkeit").

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Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist auch an anderen Stellen des Strafgesetzbuchs (§ 74 b) und der Strafprozeßordnung (§112 Abs. 1 S. 1, § 81 Abs. 1 S. 2) ausdrücklich fixiert. Aber diese — wenig überzeugenden — punktuellen Normierungen besagen nicht, daß er ansonsten bedeutungslos sei. Sie bedeuten vielmehr jeweils nur eine besondere Hervorhebung, die dem Gesetzgeber in den betreffenden speziellen Zusammenhängen wichtig erschien.

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Die ausdrückliche gesetzliche Hervorhebung im Maßregelrecht erschien dem Gesetzgeber, wie die Beratungen des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform ergeben, angebracht, weil der Eindruck entstanden war, daß der Grundsatz in der Vergangenheit gelegentlich nicht genügend beachtet worden sei. So waren nach Meinung des Sonderausschusses ζ. B. Personen gemäß § 42 b a. F. in einer Heiloder Pflegeanstalt untergebracht worden, bei denen Bedenken bestehen konnten, (48)

Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Hanack)

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ob. die Unterbringung zum Schutze wesentlicher Rechtsgüter wirklich erforderlich schien (1. Bericht S. 17; Prot. IV, 786 ff, 814 ff). Auch bei der Sicherungsverwahrung sind — zu Recht — ähnliche Bedenken aufgetaucht. Diese Bedenken haben den Gesetzgeber nicht nur veranlaßt, die gesetzlichen Voraussetzungen für die Anordnung beider Maßregeln wesentlich zu verschärfen (näheres bei den Erl. zu § 63 und zu § 66); sie haben ihn darüber hinaus bewogen, den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als regulatives Prinzip des Maßregelrechts insgesamt besonders zu fixieren. 2. Terminologie und Sachabgrenzungen a) Die Terminologie, deren sich Rechtsprechung und Lehre bei der Behandlung 5 des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bedienen, ist uneinheitlich (eingehend Haag S. 25 m. w. Nachw.). Warda ζ. B. meint, der Grundsatz erfasse einmal die „Notwendigkeit" des Eingriffs, zum anderen aber auch seine „Angemessenheit", und zwar i. S. einer Wertung, d. h. einer Abwägung der auf dem Spiel stehenden Interessen und Güter (S. 143). Andere sprechen statt von „Notwendigkeit" von „Erforderlichkeit" und stellen diese der „Angemessenheit" gegenüber. Wieder andere verstehen das „Übermaßverbot" als Oberbegriff, dem zwei verschiedene Rechtsgrundsätze zu entnehmen seien, nämlich der Grundsatz der Erforderlichkeit sowie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Lerche S. 21 ; Denzel S. 2). In der Sache sind diese und andere Unterscheidungen nicht wesentlich, solange man sich über folgendes klar ist: Der „Grundsatz der Erforderlichkeit" besagt nur und allenfalls, daß lediglich in dem zur Zweckerreichung nötigen, also dem geringsten Maße in Rechtsgüter eingegriffen werden darf, falls er nicht überhaupt, was sich auch denken läßt, lediglich die schlichte Eignung zur Erreichung des Erforderlichen beschreibt. Die Erforderlichkeit (Notwendigkeit) enthält aber für sich noch keine materielle Begrenzung des „an sich" zulässigen (geringsten) Eingriffs. Diese Begrenzung liefert — als Idee eines regulativen Prinzips — vielmehr erst der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Ausprägung eines „Obermaßverbots", d. h. der Gedanke, daß der an sich zulässige Eingriff im Hinblick auf eine Abwägung der verschiedenen Güter und Interessen inhaltlich begrenzt sein kann oder, anders ausgedrückt: daß seine Angemessenheit i. S. Wardas an der Verhältnismäßigkeit im engen, strengeren Sinne kontrolliert wird. In diesem Sinne spricht Schneider (S. 119 ff) richtig davon, daß zunächst auf die Verhältnismäßigkeit des Ob (Notwendigkeit) einer Maßregel abzustellen ist, ehe man die Verhältnismäßigkeit des Wie (Mittel-Zweck-Relation, „Angemessenheit") prüft. — Diese Sachunterscheidungen werden in Rechtsprechung und Lehre vielfach nicht beachtet oder doch verunklart, wenn unkritisch vom „Grundsatz der Verhältnismäßigkeit" gesprochen und dabei nicht deutlich gemacht wird, ob es um die Zweckerreichung oder um die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs geht (Denzel S. 5). Wesentlich ist beim Verhältnismäßigkeitsprinzip i. e. S. jedenfalls die Relation zwischen dem öffentlichen Interesse und dem Individualinteresse, in das mit einer „an sich" erforderlichen (zulässigen) Maßnahme eingegriffen wird. Das BVerfG benutzt unterschiedliche Ausdrücke, anerkennt aber jedenfalls ein aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitetes „Übermaßverbot": Der Richter sei „verfassungsrechtlich gehalten, im einzelnen Fall eine gesetzlich an sich zulässige Maßnahme auch am Übermaßverbot zu messen" (BVerfGE 16, 194, 202). b) Unberührt von § 62 bleibt nach dem Gesagten das Prinzip des geringstmögli- 6 chen Eingriffs, das die Beschränkung auf das zur Zweckerreichung Unerläßliche (49)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

fordert (Lackner § 62 Anm. 2). Unberührt bleibt weiter auch das Subsidiaritätsprinzip (vgl. Rdn. 58 ff vor § 61), das sich als eine weitere Ausprägung des Übermaßverbots darstellt. II. Geltungsbereich 7

1. Geltung bei allen MaOregelentscheidungen. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gilt, entgegen dem bedauerlich unklaren Gesetzeswortlaut des § 62, als Ausprägung eines allgemeinen und verfassungsrechtlich begründeten Rechtsprinzips nicht nur, wenn es um die Frage geht, ob eine Maßregel „angeordnet" werden darf. Er gilt ebenso für alle anderen und weiteren Entscheidungen, die nach einer Maßregelanordnung nötig werden können, insbesondere also für Entscheidungen über das Ob einer Aussetzung zugleich mit der Anordnung und für Entscheidungen über den weiteren Vollzug. Dies entspricht auch dem Willen des Gesetzgebers (1. Bericht S. 17) und ist allgemein anerkannt; vgl. ζ. B. OLG Celle NJW 1970 1199; OLG Hamm NJW 1970 1982; OLG Hamm GA 1971 56; OLG Karlsruhe NJW 1971 204; Lang-Hinrichsen Voraufl. § 42 a Rdn. 5; Dreher Rdn. 4; Horn SK Rdn. 2; Preisendanz Anm. 2 f; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 3. 2. Bei der MaOregelkonkurrenz (§ 72) gilt der Grundsatz ebenfalls. Er findet dort seine besondere Ausprägung durch die Regelung des § 72 Abs. 1 S. 2. — Näheres s. Erl. zu § 72. 3. Entziehung der Fahrerlaubnis. Hier bedarf es nach der „bedenklichen Ausnahme" (Baumann AT § 44 I 3) des § 69 Abs. 1 S. 2 der Prüfung der Verhältnismäßigkeit nicht; sie gilt als stets gewahrt (1. Bericht S. 24; näher Rüth in LK zu § 69). Bei § 69 a (Sperre für die Erteilung einer neuen Erlaubnis) ist dagegen § 62 „wie sonst" zu beachten.

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III. Keine inhaltlichen Aussagen. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz des § 62 enthält als solcher keine inhaltlichen Aussagen darüber, wann ein Mittel verhältnismäßig ist und wann nicht. Es handelt sich um ein regulatives Prinzip, ähnlich wie bei dem Satz, daß Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln ist, und wie bei den Güterabwägungsgedanken (Lang-Hinrichsen Voraufl. §42 a Rdn. 9; vgl. auch Gribbohm S. 354; Witt S. 20; Horn SK Rdn. 8). Ob man von einem „formalen Prinzip" sprechen sollte (so ζ. B. Lang-Hinrichsen und Gribbohm aaO; Arth. Kaufmann Lange-Festschrift S. 33), erscheint dennoch zweifelhaft. Richtiger dürfte es wohl sein, mit Jescheck (AT § 3 II, S. 17) von einer „materiellen Natur" des Grundsatzes jedenfalls bei § 62 auszugehen (skeptisch offenbar Kaufmann aaO). In der Sache haben die Bezeichnungen insoweit freilich keine weiteren Konsequenzen. IV. Kriterien der Verhältnismäßigkeitsprüfung

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1. Integration in die Anordnungsvoraussetzungen. Nach dem Wortlaut des § 62 setzt die Prüfung der Verhältnismäßigkeit voraus, daß eine Maßregel „eigentlich" angeordnet werden könnte, also die formellen und materiellen Anordnungsvoraussetzungen erfüllt sind. In der Tat kommt die Prüfung des § 62 nicht in Betracht, wenn es schon an diesen Voraussetzungen fehlt. Es erscheint daher, insoweit wohl entgegen Horn (SK Rdn. 3), durchaus angezeigt, diese Voraussetzungen weitmöglichst zunächst einmal für sich und „abstrakt" festzustellen. (50)

Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Hanack)

§62

Zu Recht weist aber Horn (aaO) darauf hin, daß die Auslegung etwa des Begriffs der „erheblichen weiteren Straftaten" auch relativ zu sehen, d. h. über den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit mit der jeweils in Rede stehenden Maßregel zu verbinden ist. Zu fragen ist danach ζ. B., ob die Belastung des Täters durch eine Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus zu den von ihm zu erwartenden Taten außer Verhältnis steht, womit zugleich ein Kriterium für die Inhaltsbestimmung auch des Begriffs der „erheblichen weiteren Straftaten" zu gewinnen ist. Ähnliches gilt für Folgeentscheidungen, ζ. B. für die Prüfung, wann „verantwortet werden kann zu erproben", ob der Täter bei Aussetzung des Maßregelvollzugs keine rechtswidrigen Taten mehr begehen wird (§ 67 d Abs. 2). Dieser Zwang zur integrierenden Betrachtungsweise ergibt sich hier — als Besonderheit — im Zusammenhang mit der Verwendung wertausfüllungsbedürftiger Gesetzesbegriffe im Maßregelrecht aus dem Wesen der Verhältnismäßigkeitsprüfung nach § 62, bei der, wie im folgenden zu zeigen ist, verschiedene Bezugspunkte zueinander in Beziehung zu setzen und schließlich in einer Gesamtprüfung miteinander zu verbinden sind. 2. Die einzelnen Bezugspunkte der Prüfung. Das Gesetz nennt als Bezugspunkte 10 der Prüfung drei Kriterien: die Prüfung der vom Täter begangenen Taten, die Bedeutung der von ihm zu erwartenden Taten und den Grad der von ihm ausgehenden Gefahr. a) Systematik. Daß das dritte Kriterium — Grad der Gefahr — gegenüber dem zweiten — Bedeutung der zu erwartenden Taten — keine eigenständige Relevanz habe, wenn man in den Begriff „Bedeutung der Taten" auch die Begehungshäufigkeit aufnimmt, behauptet Horn (SK Rdn. 4). Er meint, die vom Täter ausgehende Gefahr drücke sich in der Prognose aus, daß er rechtswidrige Taten begehen werde. An dieser Ansicht ist richtig, daß bei der „Bedeutung der zu erwartenden Taten" auch die Rückfallhäufigkeit eine Rolle spielt. Der Begriff des „Grades" erfaßt aber auch die Größe der Wahrscheinlichkeit und damit einen weiteren und eigenen Sachgesichtspunkt. Nun ließe sich zwar auch diese Komponente bei der „Bedeutung" fassen. Wenn aber das Gesetz in der geschilderten Weise zwischen „Bedeutung" und „Grad" differenziert, erscheint es richtig, dem auch in der Prüfungssystematik zu folgen. Dann aber ist es notwendig, die Begehungshäufigkeit bei der „Bedeutung der zu erwartenden Taten" und beim „Grad der Gefahr" zu berücksichtigen. Denn sie ist sowohl für Art und Schwere der Taten („Bedeutung") als auch für den Grad der vom Täter ausgehenden Gefahr relevant. Eine Abweichung im sachlichen Umfang der Prüfung ergibt sich daraus gegenüber der Meinung Horns vermutlich nicht, da anzunehmen ist, daß Horn die Begehungshäufigkeit bei der notwendigen Gesamtwürdigung (Rdn. 14) auch im Zusammenhang mit der „Bedeutung der Taten" sehen will. Der 1. Bericht (S. 17) versteht übrigens unter dem „Grad der Gefahr" die Frage, wie groß die Wahrscheinlichkeit weiterer Taten und die vermutliche Rückfallgeschwindigkeit sind. b) Die Bedeutung der begangenen Taten ist nach dem allgemeinen Zweck der 11 Maßregeln (Rdn. 20 vor § 61) immer nur im Hinblick auf ihre indizielle Bedeutung für die künftige Gefährlichkeit des Täters zu sehen. Ihnen kommt also auch bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit nicht etwa dergestalt Relevanz zu, daß man fragen dürfte, ob der Täter wegen der Bedeutung der begangenen Taten die Maßregel „verdient" hat. (51)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

Kriterien für die Bedeutung sind vor allem die Schwere der begangenen Taten, also auch die Abschichtung von Bagatelldelikten, die die Maßregelanordnung grundsätzlich nicht rechtfertigen; vgl. BGHSt. 20 232. Daneben ist die Art der Taten zu berücksichtigen, d. h. ihre Bedeutung für die Allgemeinheit (Dreher Rdn. 2), aber auch ihre Häufigkeit und ihr zeitlicher Abstand (so Sch.-SchröderStree Rdn. 2). Frühere Taten sind danach also grundsätzlich für die Prüfung heranzuziehen (BGH bei Dallinger MDR 1970 729; vgl. auch Dreher aaO), soweit die Heranziehung nicht aus sonstigen Gründen nach dem Gesetz ausgeschlossen ist (§ 49 BZRG; vgl. dazu insbes. LK § 66 Rdn. 41 012

c) Die Bedeutung der zu erwartenden Taten bezieht sich ebenfalls vor allem auf ihre Schwere und ihre Art, also die Gewichtigkeit der bedrohten Rechtsgüter und das Ausmaß, in dem sie vermutlich verletzt werden. Dafür ist (s. Rdn. 10) auch die vermutliche Begehungshäufigkeit durchaus von Belang. 13 d) Der Grad der Gefahr, die vom Täter ausgeht, ist, wie bemerkt (Rdn. 10), auf die Größe der Wahrscheinlichkeit zu beziehen, wobei aber auch die Begehungshäufigkeit wiederum eine Rolle spielen kann. Die Größe der Wahrscheinlichkeit betrifft auch die zeitliche Nähe neuer Taten (Dreher Rdn. 4). Sie hat unbeschadet des Umstandes Bedeutung, daß das Maßregelrecht eine Wahrscheinlichkeit erneuter Straftaten grundsätzlich voraussetzt. Denn auch bei Vorliegen dieser Voraussetzung kann das Maß der Wahrscheinlichkeit unterschiedlich intensiv sein. Bei der zu erwartenden Begehungshäufigkeit hat auch die Rückfallgeschwindigkeit der schon begangenen Taten — als Indiz — Bedeutung (Dreher aaO unter Bezugnahme auf OLG Schleswig SchlHA 1958 343; Gribbohm S. 353; 1. Bericht S. 17). 14

3. Gesamtwürdigung der Bezugspunkte. Die genannten Bezugspunkte sind zunächst für sich zu prüfen und sodann in einer Gesamtwürdigung zur Schwere des mit der Maßregel verbundenen Eingriffs ins Verhältnis zu setzen (BGHSt. 24 134, 135; Dreher aaO; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 2; 1. Bericht aaO). a) Die Prüfung der Relation, des Verhältnisses zwischen der Schwere des Eingriffs und der vom Täter ausgehenden Gefahren, macht das Wesen dieser Gesamtprüfung und zugleich den wesentlichen Kern des § 62 aus (Lang-Hinrichsen Vorauf1. § 42 a Rdn. 8 m. w. Nachw.; Horn SK Rdn. 5; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 2; vgl. auch Schmidhäuser AT 21/19, S. 826; Lackner Anm. 2). Dies folgt schon aus dem Zweck der Maßregeln (Rdn. 20 ff vor § 61), die vor allem an die in Zukunft drohenden Rechtsverletzungen anknüpfen. Nicht die Schwere der begangenen Taten, sondern die vom Täter ausgehende künftige Gefahr muß danach in erster Linie im angenommenen Verhältnis zur Schwere des Eingriffs stehen; vgl. OLG Schleswig SchlHA 1958 343; Haag S. 38; Lang-Hinrichsen aaO; Jescheck AT §75 I 4, S. 608; Sch.-Schröder-Stree aaO; Lackner aaO.

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b) Daß künftige Taten von besonderer Schwere zu erwarten sind, kann daher eine Maßregel auch dann rechtfertigen, wenn die bisherigen Taten für sich betrachtet wenig gewichtig sind (1. Bericht S. 17; BGHSt. 24 134, 135; Lang-Hinrichsen aaO; Jescheck aaO; Maurach AT § 67 III mit berechtigtem Hinweis auf die „nicht recht geglückte" Gesetzesformulierung; LencknerS. 186; Dreher aaO; Horn SK Rdn. 5; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 2). Dies ergibt sich auch aus dem Wortlaut des § 62, der (52)

Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Hanack)

§62

die Maßregelanordnung nur dann verbietet, wenn die UnVerhältnismäßigkeit der Maßregel in bezug auf alle drei Anknüpfungspunkte feststeht (so richtig Horn aaO), also auch hinsichtlich der „Bedeutung der vom Täter zu erwartenden Taten". Die offenbar gegenteilige Auffassung Baumanns (AT § 44 I 3 ; unklar) kann nicht überzeugen. Zuzugeben — und zugleich zu betonen — ist nur, daß der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz selbstverständlich nicht dazu führen darf, eine an sich nicht ausreichende Erheblichkeit der begangenen Tat durch eine Gesamtabwägung nach § 62 gewissermaßen aufzuwerten, also den Mangel an Erheblichkeit durch die zu erwartenden Taten und Gefahren zu kompensieren. Denn § 62 dient der Einschränkung der Anordnungsmöglichkeiten, keinesfalls aber dem Zweck, das vom Gesetzgeber jeweils aus gutem Grund vorausgesetzte Gewicht der Anlaßtaten zu überspielen; insoweit kommt vielmehr eine Maßregel von vornherein nicht in Betracht. c) Hat der Täter schwere Anlaßtaten begangen, sind von ihm aber in Zukunft nur 16 geringe Rechtsbrüche zu erwarten, ist ebenfalls zu beachten, daß § 62 nach seinem Zweck und nach dem Zweck der Maßregeln nicht zu einer „Aufwertung" der Gefährlichkeit führen kann; im Ergebnis ebenso Baumann aaO; Horn SK Rdn. 5 mit verschiedenen formalen Konstruktionsmöglichkeiten. Zur Bedeutung der Anlaßtaten s. auch Koffka JR 1971, 424 f (Anm. zu BGHSt. 24 134). d) Wieweit der spezifische Besserungszweck einer Maßregel bei Prüfung des § 62 17 für ihre Anordnung oder Aufrechterhaltung ins Gewicht fällt, ist streitig. Für eine solche Berücksichtigung haben sich Horstkotte (JZ 1970 152, 156) und Lang-Hinrichsen (Vorauf!. § 42 a Rdn. 12) ausgesprochen, dagegen Horn (SK Rdn. 6 u. 7). Zu folgen ist der Auffassung von Horn: Das Problem kann vor allem bei der Frage praktisch werden, ob der „Zweck der 18 Maßregel" die (weitere) Vollstreckung noch fordert (§§ 67 b Abs. 1, 67 d Abs. 2, 67 g Abs. 1). Kommt der Richter zu der Überzeugung, daß dies im Hinblick auf die künftige Gefährlichkeit nicht (mehr) der Fall ist oder unverhältnismäßig wäre, würde er nun aber im Hinblick auf den Besserungs- oder Heilungszweck den Täter doch mit der Maßregel belasten, würde er sowohl gegen den Grundsatz verstoßen, daß Heilung und Besserung allein strafrechtliche Maßregeln nicht rechtfertigen (Rdn. 25 vor § 61) und daher auch ihren (weiteren) Vollzug nicht zulässig machen können ; und er würde zum anderen gegen § 62 selbst verstoßen, wenn und soweit noch bestehende Aspekte der Gefährlichkeit nach Art und Ausmaß der zu erwartenden Taten zum Vollzug der Maßregel außer Verhältnis stehen. Zu Recht leitet Horn aus diesen Erwägungen die allgemeine Einsicht ab, daß die genannte Formulierung vom „Zweck der Maßregel" nur den Sicherungszweck meinen kann. Ähnlich ist das Verhältnis zwischen Besserung und Sicherung auch bei Anord- 19 nung einer Maßregel. Die Auffassung von Horn, daß der Konflikt hier „weniger relevant" sei, weil „kaum denkbar" erscheine, daß trotz der Gefahr weiterer Straftaten ein Sicherungsbedürfnis fehlen könne (Rdn. 6), ist dabei an sich richtig; der Hinweis darf nur nicht darüber hinwegtäuschen, daß eine außer Verhältnis stehende geringe Gefahr eben auch nicht durch Betonung des Besserungsgedankens überspielt werden kann. e) Gewißheit über die künftige Entwicklung des Täters wird bei § 62 nicht ver- 20 langt ( Jescheck AT § 75 I 4, S. 608; s. auch Schröder JZ 1970 92, 94). Die Prognose seiner Gefährlichkeit setzt bei den einzelnen Maßregeln zwar eine — abgestufte — Wahrscheinlichkeit voraus (Rdn. 40 ff vor § 61). Die Anwendung des § 62 muß jedoch, wie schon das Abstellen auf den „Grad" der Gefahr zeigt, auch das Maß des Risikos mit einbeziehen. (53)

§63

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

21

V. Die unverhältnismäßige Maßregel. Eine unverhältnismäßige Maßregel darf nicht angeordnet bzw. (s. Rdn. 18) nicht weiter vollstreckt werden. Den instruktiven Fall einer unzulässigen Anordnung behandelt die Entscheidung des B G H in N J W 1970 1242. Hier hat der BGH bei der „geringfügigen Bedeutung" der mehr als drei Jahre zurückliegenden, überdies höchst unklaren Tat eines Hirnverletzten, obwohl dieser einschlägig vorbestraft war und unter Alkoholeinfluß zu entsprechenden Taten (sexuellen Zudringlichkeiten gegenüber Kindern) neigte, Unverhältnismäßigkeit bejaht und die tatrichterliche A n o r d n u n g der Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt aufgehoben.

22

Möglicherweise kommt aber statt einer unverhältnismäßigen Maßregel die Anordnung einer schwächeren in Betracht, die nicht unverhältnismäßig ist (Dreher Rdn. 4 unter Bezugnahme auf BGHSt. 20 232; zu dieser Entscheidung s. LK § 63 Rdn. 78). — Freiheitsentziehende Maßregeln — §63 Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (1) Hat jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20) oder der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21) begangen, so ordnet das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn die Gesamtwiirdigung des Täters und seiner Tat ergibt, daß von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist.

(2)* Das Gericht ordnet jedoch die Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstatt an, nenn die Voraussetzungen des § 65 Abs. 3 vorliegen. Schrifttum Aebersold Die Verwahrung und Versorgung vermindert Zurechnungsfähiger in der Schweiz (1972); Baumann Unterbringungsrecht (1966) ; in der Beek Zwangsunterbringung oder § 42 b StGB, NJW 1963 2358; Bergener-Engels-Koester Zur künftigen Versorgung psychisch kranker Rechtsbrecher, Psychiatrische Praxis 1974 231 ; Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland, BT-Drucks. 7/4200 (Bericht der Sachverständigen-Kommission; dazu auch Anhang [Bericht der Arbeitsgruppen, Material, Gutachten u. ä.] BT-Drucks. 7/4201); Böker-Häfner Gewalttaten Geistesgestörter (1973); Böning Die Unterbringung psychisch Kranker und Süchtiger, Erfahrungen und Probleme, SchlHA 1960 130, 159; Bruns Sicherungsmaßregeln und Verschlechterungsverbot, JZ 1954 730; Bruns Zur Problematik rausch-, krankheits- oder jugendbedingter Willensmängel des schuldunfähigen Täters im Straf-, Sicherungs- und Schadensersatzrecht, JZ 1964 473 ; Bruns Die Maßregeln der Besserung und Sicherung im StGB-Entwurf 1956, ZStW 71 [1959] 210; Creutz Psychiatrische Erfahrungen mit §§ 42 b und 42 c des Gesetzes gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher, Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 1939 137; Ehrhardt Zur Reform von Maßregelrecht und Maßregelvollzug, FortschrNeurolPsych 1969 660; Ehrhardt Der Vollzug im psychiatrischen Krankenhaus, Krim. Gegenwartsfragen, Heft 11 1974, S. 152; Eisenberg Strafe und freiheitsentziehende Maßnahme (1967); Geilen Sukzessive Zurechnungsunfähigkeit, Unterbringung und Rücktritt — BGHSt 23, 356, JuS 1972 73; Groß Statistische Untersuchungen an langjährig nach § 42 b StGB untergebrachten Schizophrenen, med. Diss. Göttingen 1969; Gruhle Die Unterbringung psychopathischer Verbrecher, MschrKrim 1953 6; Haddenbrock Einige statistische Bemerkungen zur Sozialtherapeutischen Anstalt aus der Sicht der forensischen und Krankenhaus-Psychiatrie, Krim. Gegenwartsfragen, Heft 9 1971, S. 113; Absatz 2 tritt erst am 1. 1. 1985 in Kraft; s. näher § 65 „Entstehungsgeschichte" (54)

Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Hanack)

§ 63

Haisch § 4 2 b — Erfahrungen aus der Sicht des Krankenhauspsychiaters, NJW 1965 330; Hanack Sozialtherapie und Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB n. F., JR 1975 441 ; Jagemann Krankheiten, Straftaten und soziologische Merkmale der in den nieders. Anstalten Göttingen, Moringen und Osnabrück nach § 42 b StGB untergebrachten Patienten, med. Diss. Göttingen 1966; U. Keller Praxis und Erfolg der Unterbringung seelisch gestörter Delinquenten nach § 42 b und § 42 c StGB, Diss. Freiburg 1969; Koch Wann ist die Unterbringung eines Geisteskranken „erforderlich" 3 M D R 1961 561 ; Kürzel Probleme der Einweisung in eine sozialtherapeutische Anstalt, MschrKrim 1975 358; Last Zur Anwendung des § 42 b StGB, NJW 1969 1558; Langelüddeke-Bresser Gerichtliche Psychiatrie 4 (1976); Lenckner Strafe, Schuld und Schuldfähigkeit (Unterabschnitt: Die Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt bzw. psychiatrischen Krankenanstalt), in Göppinger-Witter, Handbuch der forensischen Psychiatrie, Bd. I 1972, S. 187; Marquardt Dogmatische und kriminologische Aspekte des Vikariierens von Strafe und Maßregel (1972); Miiller-Hadamik Die Unterbringung psychisch abnormer Rechtsbrecher, Nervenarzt 1966 67; Parensen Die Unterbringung Geistes- und Suchtkranker (1972); Ritzel Unterbringung nach § 63 2. StrRG: Besserung oder Sicherung 3 MschrKrim 1975 182; Saage-Göppinger Freiheitsentziehung und Unterbringung2 (1975); Sauer Zurechenbarkeit, Zurechnungsfähigkeit und Verantwortlichkeit im Jugendstrafrecht, NJW 1949 289; Schäfer-Wagner-Schaflieutle Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung (1934); Schlegl Der Rücktritt vom Versuch eines zurechnungsunfahigen Täters und die Unterbringung nach § 42 b StGB, NJW 1968 25; Schlüter Die Problematik des § 42 b StGB in seiner Verbindung mit §51 Abs. 2 StGB aus der Sicht eines Anstaltspsychiaters, NJW 1968 2276; Andreas Schmidt Probleme der Kriminalität geisteskranker Täter, dargestellt am Krankengut des Landes Schleswig-Holstein (1970); Schmidt-Futterer Erübrigt die außerstrafrechtliche Anstaltsunterbringung von Geisteskranken eine Anordnung nach § 42 b StGB? MDR 1967 357; Schmitz Die Unterbringung minderjähriger Rechtsbrecher nach § 42 b StGB, MschrKrim 1964 152; Schottky Psychiatrische und kriminalbiologische Fragen bei der Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt nach § 42 b und c, Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 1941 287; Schröder Die „Erforderlichkeit" von Sicherungsmaßregeln, JZ1970 92; Venzlaff Vorschläge über die Unterbringung in einer psychiatrischen Krankenanstalt, in Tagungsberichte der Strafvollzugskommission, VIII. Bd. 1969, S. 130; Venzlaff Situation und Aspekte der Unterbringung psychisch kranker Rechtsbrecher ab 1. 1. 1975 nach dem 2. Strafrechtsreformgesetz, Psychiatrische Praxis 1969 224; Venzlaff Aktuelle Probleme der forensischen Psychiatrie, in Psychiatrie der Gegenwart··*, Bd. III 1975, S. 883; Venzlaff 2. Strafrechtsreformgesetz und Krankenhauspsychiatrie, Schaffstein-Festschrift, S. 293; Wenz Das Verhältnis der strafrechtlichen Unterbringung geistesgestörter Täter zu außerstrafrechtlichen Maßnahmen der Gefahrenabwehr, Diss. Mainz 1970.

Entstehungsgeschichte Die Vorschrift ist durch das 2. StrRG — mit redaktionellen Änderungen durch Art. 18 II Nr. 20 EGStGB — neu gestaltet worden (zur Strafrechtsreform s. näher unten Rdn. 13 f). Bis dahin galt seit dem GewohnheitsverbrecherG v. 24. 3.1933 (Rdn. 6 vor § 61) der folgende § 42 b, der außer in der Bezugnahme auf § 55 Abs. 1 und Abs. 2 (Taubstumme, ursprünglich § 58 Abs. 1 und Abs. 2) während seiner Geltung unverändert blieb: „(1) Hat jemand eine mit Strafe bedrohte Handlung im Zustand der Zurechnungsunfähigkeit (§ 51 Abs. 1, § 55 Abs. 1) oder der verminderten Zurechnungsfähigkeit (§ 51 Abs. 2, § 55 Abs. 2) begangen, so ordnet das Gericht seine Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt an, wenn die öffentliche Sicherheit es erfordert. Dies gilt nicht bei Übertretungen. (2) Bei vermindert Zurechnungsfähigen tritt die Unterbringung neben die Strafe." (55)

§63

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat Übersicht

I.

II. III.

IV.

Rdn. Allgemeines 1 1. Zweck u n d Ziel 1 2. F u n k t i o n s b e r e i c h ( A b g r e n z u n g z u r sozialth. Anstalt) 3 3. D e f e k t e von längerer D a u e r 8 4. P r o b l e m e der Praxis 9 5. Straf r e c h t s r e f o r m 13 Personenkreis (Jugendliche) 15 Begehung e i n e r rechtswidrigen Tat u n t e r den Voraussetzungen d e r §§ 20, 21 . . . . 19 1. Bei v e r m i n d e r t e r Schuldfähigkeit . . 20 2. Bei ausgeschlossener Schuldfähigkeit 21 a) Vorliegen e i n e r H a n d l u n g . . . . 22 b) A n f o r d e r u n g e n z u m i n n e r e n Tatbestand beim Vorsatzdelikt . . . . 23 c) Fahrlässigkeitsdelikte 30 d) Rechtfertigungs- u n d Schuldausschließungsgründe 31 e) Versuch 33 f) Strafausschließungs- u n d -aufhebungsgründe, insbes. Rücktritt 34 g) Bedeutung des A n t r a g s e r f o r d e r nisses 35 h) V e r j ä h r u n g u n d A m n e s t i e . . . . 36 3. Feststehen d e r M e r k m a l e d e r §§20,21 37 Die k ü n f t i g e G e f ä h r l i c h k e i t des Täters . . 41 1. „ E r w a r t u n g " weiterer Taten 42 2. E r w a r t u n g „rechtswidriger T a t e n " . . 44 3. E r w a r t u n g „erheblicher" rechtswidriger Taten 45 a) Allgemeines 45 b) Lediglich lästige Taten 51 c) M e h r als lästige Taten 53 d) G r u n d s ä t z l i c h u n e r h e b l i c h e Delikte? 55 e) K ü n f t i g e Unterlassungstaten . . . 57 4. G e f ä h r l i c h k e i t „ f ü r die Allgemeinheit" 58

Riln. G e f ä h r l i c h k e i t des Täters „infolge seines Zustandes" 61 a) Kausalität f ü r die G e f ä h r l i c h k e i t 61 b) Zustand als länger d a u e r n d e r Defekt 62 c) K r a n k h a f t i g k e i t des Z u s t a n d s . . 63 d) Alkoholverträglichkeit u n d Rauschmittelsucht 67 6. G e s a m t w ü r d i g u n g des Täters u n d sein e r T a t ; Verhältnismäßigkeit 74 7. Das Subsidiaritätsprinzip 82 K u m u l a t i o n von Strafe u n d U n t e r b r i n gung 90 Z w i n g e n d e r C h a r a k t e r ; Verhältnis z u r Strafzumessung 94 K o n k u r r e n z mit a n d e r e n Maßregeln . . . 97 Die stellvertretende U n t e r b r i n g u n g in d e r sozialth. Anstalt (Absatz 2) 98 Verhältnis zu den Unterbringungsgesetzen der L ä n d e r 105 1. Landesrechtliche Vorschriften . . . . 105 2. Das K o n k u r r e n z v e r h ä l t n i s zu § 63 . . 1 0 6 D a u e r d e r U n t e r b r i n g u n g ; Aussetzung, Erledigung, Kontrolle 119 1. D a u e r d e r U n t e r b r i n g u n g 119 2. Aussetzung d e r Vollstreckung; Führungsaufsicht 120 5.

V. VI. VII. VIII. IX.

X.

3. Erledigung der Maßregel 122 4. Kontrollpflichten 123 XI. Vollstreckung u n d Vollzug 124 1. Reihenfolge d e r Vollstreckung . . . . 1 2 4 2. Überweisung in den Vollzug einer a n d e r e n Maßregel 124 3. Auswahl einer k o n k r e t e n Anstalt ..125 4. G e s t a l t u n g des Vollzugs 126 XII. Verfahrensrechtliches 129 XIII. Übergangsvorschriften 135

I. Allgemeines 1 1. Zweck und Ziel. Die Unterbringung von Schuldunfähigen (§ 20) und vermindert Schuldfähigen (§ 21) nach § 63 dient der öffentlichen Sicherheit, obwohl das, anders als in § 42 b a. F., im Gesetz nicht ausdrücklich formuliert ist (BGH bei Holtz, MDR 1978 110). Denn nur die Belange der öffentlichen Sicherheit können es rechtfertigen, einen Menschen wegen seines abnormen geistig-seelischen Zustands — und ganz unabhängig vom Maß seiner Schuld — auf unbestimmte Zeit einer Freiheitsentziehung zu unterwerfen. 2 Eine ganz andere Frage ist dann freilich die nach dem Ziel der Unterbringung. So eindeutig es ist, daß die Unterbringung allein im Interesse der öffentlichen Sicherheit zulässig ist, so eindeutig ist, gerade bei Anlaß und Gewicht der Maßregel auch, daß es das vorrangige Ziel der notwendigen Unterbringung sein muß, den Täter zu „bessern". Es wäre für ein rechtsstaatliches Strafrecht nicht annehmbar, einen Menschen wegen seines Zustands im Allgemeininteresse zu verwahren, ohne (56)

Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Hanack)

§ 63

alles zu tun, um diesen Zustand möglichst schnell, d. h. auch: durch Einräumung aller denkbaren Heilungschancen, zu beenden. Dies entspricht auch dem Anliegen des Gesetzgebers, der bei der Reform des Maßregelrechts ganz allgemein den Besserungszweck in den Vordergrund gerückt hat (Rdn. 22 vor § 61). Dementsprechend bestimmt jetzt § 136 StVollzG nicht nur, daß sich die Behandlung des Untergebrachten „nach ärztlichen Gesichtspunkten" richtet; er bestimmt vor allem auch als Behandlungsziel, daß der Untergebrachte „soweit möglich" „geheilt" oder doch sein „Zustand soweit gebessert werden (soll), daß er nicht mehr gefährlich ist". Näher dazu Rdn. 126. Die klare Betonung der Besserungsaufgabe bedeutet ohne Zweifel einen Fortschritt gegenüber dem bisherigen Recht, das es hier an der nötigen Deutlichkeit fehlen ließ. Aber es handelt sich um einen papierenen Fortschritt, solange nicht auch die viel beklagte Unterversorgung der psychiatrischen Krankenhäuser bei der Behandlung psychisch kranker Rechtsbrecher (dazu Rdn. 11) behoben wird. 2. Funktionsbereich (Abgrenzung zur sozialth. Anstalt). Von den §§ 20, 21 und 3 demzufolge auch von § 63 werden, stärker noch als vor der Strafrechtsreform, auch Personen erfaßt, die trotz ihrer Störungen und ihrer Gefährlichkeit nicht „im eigentlich medizinisch-psychiatrischen Sinne behandlungs- oder pflegebedürftig" sind. Die Betreuung dieses Personenkreises hat schon während der Geltung des § 42 b a. F. viele Schwierigkeiten aufgeworfen : Die Täter passen ihrer Art nach in die Krankenanstalten ôft wenig, können mit den dort möglichen und üblichen Mitteln vielfach nicht zweckdienlich betreut oder auch gesichert werden, wirken nicht selten als „Störer" und beeinträchtigen dadurch die Behandlung anderer Insassen, ganz abgesehen davon, daß die Umgebung ihrer eigenen Entwicklung unzuträglich sein kann und daß die gemeinsame Unterbringung mit „normalen Kranken" von diesen oder ihren Angehörigen vielfach als diffamierend empfunden wird. So ist insbesondere von ärztlicher Seite immer wieder die Forderung erhoben worden, die psychiatrischen Krankenhäuser von der Betreuung psychisch kranker Rechtsbrecher überhaupt, mindestens aber von der Betreuung solcher Rechtsbrecher zu entlasten, die, insbesondere als sog. Psychopathen, nicht der Behandlung durch eine spezifisch psychiatrische Klinik bedürfen; vgl. zu diesen Forderungen ζ. B. die „Gutachten und Stellungnahmen zu Fragen der Strafrechtsreform mit ärztlichem Einschlag" (BMJ, 1958); Müller-Hadamik Nervenarzt 196667; Ehrhardt FortschrNeurolPsych 1969 668; Horstkotte Prot. V, 2253 f; 2. Bericht S. 26. Der Gesetzgeber hat nun zwar die Forderung abgelehnt, für den Personenkreis 4 des § 63 generell justizeigene Sonderanstalten einzurichten (näher 2. Bericht S. 26; Prot. V, 2253). Der E 1962 wollte aber den Forderungen immerhin entgegenkommen, und zwar insbesondere durch die umstrittene Institution der „Bewahrungsanstalt" für solche schuldunfähige oder vermindert schuldfähige Täter, „die für eine ärztliche Behandlung nach den in psychiatrischen Krankenanstalten möglichen und üblichen Methoden nicht geeignet sind und in derartigen Anstalten erfahrungsgemäß nicht nur selbst als Störer wirken, sondern eine Umgebung finden, die für ihre eigene Entwicklung unzuträglich erscheint" (so der 2. Bericht S. 27). Der Anstalt, die auf eine „Psychopathenanstalt" für „Störer" hinausgelaufen wäre, war dabei eine „Zwischenstellung zwischen den Strafanstalten und den Heilanstalten" zugedacht (näher E 1962, S. 210; vgl. auch LK § 65 Rdn. 24). Diese „Bewahrungsanstalt" ist dann später in Übereinstimmung mit entsprechenden Empfehlungen der Strafvollzugskommission und der Länderreferenten auf Vorschlag des Bundesju(57)

§63

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

stizministeriums nach dem Konzept des AE in der Institution der sozialtherapeutischen Anstalt gemäß §65 aufgegangen (dazu insbes. Prot. V, 2245 ff, 2281 f f ; 2. Bericht S. 27; vgl. auch § 65 Rdn. 26). Das Verhältnis zwischen dem psychiatrischen Krankenhaus und der sozialtherapeutischen Anstalt wurde dabei in den §§ 63 Abs. 2, 65 Abs. 3 besonders geregelt. 5

Das OLG Karlsruhe (NJW 1975 1571 = JZ 1975 579 = M D R 1975 861 = JR 1975 475) entnimmt dieser Entwicklung und den Gesetzesmaterialien, daß die Maßregel der Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus mit Inkrafttreten der Regelung des § 65 (s. dort „Entstehungsgeschichte") nur noch Täter erfasse, die „im eigentlich medizinisch-psychiatrischen Sinne behandlungs- oder pflegebedürftig sind" ; zu den Folgerungen des OLG für die Übergangszeit s. LK § 67 Rdn. 39. Eine ähnliche Tendenz zeigt, wenn auch vorsichtiger formuliert, Lackner (Anm. 1), während sich das übrige juristische Schrifttum bisher selten und sehr zurückhaltend äußert; so Preisendanz (Anm. 4), Jescheck (AT § 75 II 1), Schmidhäuser (21/31) und Zipf (in Roxin u. a., Einführung in das neue Strafrecht, S. 90).

6

Der Auffassung des OLG Karlsruhe ist zu widersprechen (eingehend Hanack JR 1975 441): Es ist zwar richtig, daß ein Teil der Gesetzesmaterialien und der Gedanke der „Bewahrungsanstalt" auf die vom OLG vertretene Auffassung hindeuten. Aber ein anderer Teil der Materialien und insbesondere die Entwicklungsgeschichte sowie der Zweck der sozialtherapeutischen Anstalt sprechen entscheidend dagegen (Einzelheiten bei Hanack aaO). Danach hat diese Anstalt keine spezifische Entlastungsfunktion, sondern einen durchaus eigenständigen Aufgabenbereich namentlich zur Bekämpfung hartnäckiger Rückfallkriminalität für eine „besonders ausgewählte und geeignete Gruppe von Klienten" (Prot. VII, 1864); sie verlangt insbesondere Persönlichkeitsfaktoren, die gerade bei dem vom OLG Karlsruhe angesprochenen Täterkreis überhaupt nur zum Teil vorliegen. So bleiben die Gesetzesberatungen gegenläufig und widersprüchlich, gestatten aber jedenfalls nicht den Schluß des OLG Karlsruhe. Ob der Täter in einer Anstalt nach § 63 oder nach § 65 unterzubringen ist, richtet sich vielmehr, entsprechend auch dem Gesetzeswortlaut (§§ 63 Abs. 2, 65 Abs. 3), allein danach, ob die Unterbringung des Täters in der sozialtherapeutischen Anstalt wegen ihrer „therapeutischen Mittel und sozialen Hilfen" im Einzelfall „zu seiner Resozialisierung besser geeignet" ist; dazu näher unten Rdn. 100 ff. Im übrigen ist das überkommene Sachproblem (Rdn. 3) auch heute ungelöst.

7

Wie sich das Verhältnis zwischen den beiden Anstaltstypen praktisch einpendeln wird, ist derzeit ganz offen, und zwar selbst wenn man die schon für sich unklare Entwicklung der sozialtherapeutischen Anstalten außer acht läßt (dazu Hanack aaO S. 446; vgl. auch Kürzel MschrKrim 1975 358). Die Ansichten der fachkundigen Psychiater gehen auseinander und sind im ganzen zurückhaltend-skeptisch; vgl. dazu im einzelnen Haddenbrock Krim. Gegenwartsfragen, Heft 9, S. 113; Venzlaff Psychiatrische Praxis 1969 229 f u. Psychiatrie der Gegenwart, S. 910, sowie Schaffstein-Festschrift, S. 269; Ehrhardt Krim. Gegenwartsfragen Heft 11, S. 257 ff; Langelüddeke-Bresser S. 282 ; Bericht über die Lage der Psychiatrie, BT-Drucks. 7 / 4200, S. 27, 284 f.

8

3. Defekte von längerer Dauer. Daß nicht in jedem Falle der Schuldunfahigkeit oder der verminderten Schuldfähigkeit eine Unterbringung zulässig ist, ergibt sich, deutlicher noch als in § 42 b a. F., schon aus der Pflicht zur Feststellung, ob der (58)

Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Hanack)

§ 6 3

Täter infolge seines Zustands i. S. des § 63 gefährlich ist. Es muß sich danach stets um Defekte von längerer Dauer handeln, wie die Rechtsprechung schon zum früheren Recht angenommen hat. Daher scheiden ζ. B. Fälle aus, in denen eine sonst gesunde Person im Zustand des schuldausschließenden oder schuldmindernden Affekts gehandelt hat, die durch den Affektstau bedingte Gefährlichkeit jedoch mit der Affekttat ihr Ende findet; doch braucht andererseits der Defektzustand nicht stets „akut" zu sein; vielmehr kann reichen, daß die Gefahr erneuter Taten unter den Voraussetzungen der §§ 20, 21 wegen besonderer Umstände in der Person des Täters (ζ. B. krankhaft gesteigerter Alkoholempfindlichkeit) nahe liegt. Vgl. dazu im einzelnen Rdn. 62 ff. 4. Probleme der Praxis a) Die Zahl der Unterbringungen ist seit 1950 deutlich rückläufig, in den letzten 9 Jahren aber relativ konstant (Ritzel S. 184). So wurden nach der Strafverfolgungsstatistik (Stat. Bundesamt, Bevölkerung und Kultur, Reihe 9 Rechtspflege) im einzelnen untergebracht: 1967: 342 Täter (darunter 23 Heranwachsende und 22 Jugendliche); 7965:338 (darunter 40 Hw und 20 Jgl); 1969:346 (darunter 28 Hw; 18 Jgl); 1970:306 (29 Hw, 20 Jgl); 7 9 77:375 (59 Hw, 22 Jgl); 7972:390 (56 Hw, 31 Jgl); 7975:305 (59 Hw, 28 Jgl); 1974:310 (69 Hw, 20 Jgl). Die Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus ist danach heute die bei weitem häufigste freiheitsentziehende Maßregel. b) Die durchschnittliche Dauer der Unterbringung scheint in den letzten Jahren 10 rund zehn Jahre zu betragen. Jedenfalls darf man das wohl aus der Gesamtzahl der Untergebrachten an bestimmten Stichtagen folgern. Diese Gesamtzahl liegt jeweils knapp unter 4000, so ζ. B. (nach Ritzel S. 184) 7970:3825 ; 7975:3951. Dies entspricht Untersuchungen ζ. B. von Gross für Niedersachsen (10,5 Jahre) und von Barth (zit. nach Ritzel S. 185) für West-Berlin (9,4 Jahre). c) Kritisches Bild3 Die genannte Durchschnittszahl sagt für sich wenig, weil es 11 sich bei den Untergebrachten naturgemäß um Personen mit sehr verschiedenartigen Störungen handelt. Dies zeigen auch eine Fülle von Einzeluntersuchungen und Einzelberichten (so — aus neuerer Zeit und mit w. Nachw. — Haisch NJW 1965 330; Jagemann Krankheiten, Straftaten und soziologische Merkmale; Last NJW 1969 1558; Marquardt Dogmatische und kriminologische Aspekte; Ritzel MschrKrim 1975 182; Schlüter NJW 1968 2276). Diese Berichte und Untersuchungen ergeben noch für die letzten Jahre in mehrfacher Hinsicht ein kritisches Bild. Vor allem wird immer wieder darüber geklagt, daß für die Untergebrachten aus Mangel an personellen und sächlichen Mitteln zu wenig getan werden könne (dazu insb. Ehrhardt [zuletzt] Krim. Gegenwartsfragen Heft 11, S. 157; vgl. auch MiillerDietz Strafvollzugsrecht, 1976, S. 326 f; Kenz/aj^Schaffstein-Festschrift S. 298). Der Bericht über die Lage der Psychiatrie (BT-Drucks. 7/4200) spricht sogar von einer „Schlußlichtposition im Versorgungsbereich" und formuliert: „Hier kommt es weitgehend darauf an, überhaupt erst einmal die dem heutigen Justizvollzug vergleichbaren Mindestbedingungen an menschenwürdiger Unterbringung zu gewährleisten" (S. 281,282). Bei solchen Gegebenheiten erscheint der wiederholt gezogene Schluß, daß die Länge der Hospitalisierung in manchen Fällen umgekehrt proportional zur Behandlungsintensität sei, ebensowenig abwegig wie die wiederholten Behauptungen, daß sich bei vielen Untergebrachten infolge der jähre- oder jahrzehntelangen (59)

§63

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

Verwahrung oft kaum noch unterscheiden lasse, wie weit ihr Verhalten noch von der ursprünglichen psychiatrischen Störung oder aber von typischen Hospitalisierungsschäden bestimmt werde. Problematisch erscheint auch der sich öfter aufdrängende Eindruck, daß bei einem Teil der Untergebrachten ihre Gefährlichkeit kaum in einem angemessenen Verhältnis zur Dauer der Hospitalisierung steht. 12 d) Auf die Gefahren der „Tendenz zur Exkulpierung" hinzuweisen, besteht angesichts dieser Probleme besonderer Anlaß : Viele Verteidiger bemühen sich, für ihren Mandanten § 20 oder § 21 „herauszuholen", und mancher Richter und mancher Sachverständige ist — insbesondere aus Unsicherheit gegenüber der Problematik des Schuldstrafrechts — geneigt, die §§ 20, 21 „großzügig" zu handhaben. Soweit solche Tendenzen mit einer entsprechend erweiterten Anwendung des § 63 einhergehen, stellen sie, auch im Zeichen des § 67, einen Vorteil für den Betroffenen, geschweige denn einen Gewinn an Gerechtigkeit, nur zu oft nicht dar. Dies gilt schon unabhängig von den in Rdn. 11 angedeuteten Schwierigkeiten. Es gilt u. U. sogar unabhängig von der Frage der Unterbringung, weil nämlich die „Bescheinigung" der verminderten oder aufgehobenen Schuldfähigkeit nur zu oft mit schwersten Folgewirkungen für den Lebensbereich des Betroffenen verbunden ist (vgl. Dahs Handbuch des Strafverteidigers 4 , Rdn. 548). — Daß diese Konsequenzen so wenig gesehen werden und daß die Erweiterung des Anwendungsbereichs der ausgeschlossenen oder verminderten Schuldfähigkeit im 2. StrRG immer wieder ganz unreflektiert als rechtsstaatlicher Fortschritt gepriesen wird, gehört zu den merkwürdigen Widersprüchen der strafrechtlichen Diskussion.

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5. Strafrechtsreform. Bei den Beratungen zur Strafrechtsreform ist die Maßregel wiederholt und eingehend erörtert, ihre überkommene Grundstruktur aber nicht angetastet worden. — Aus den Gesetzesmaterialien sind vor allem zu nennen: Niederschriften Bd. 4, S. 180 ff, 191 ff, 203 ff, 304 f; Bd. 12, S. 335 ff; § 82 E 1962 und Begr. S. 209 ff; § 67 AE-AT mit Begr. S. 131; Prot. IV, 286 ff, 379 ff, 779 ff; V, 216 ff, 2022 ff; 2. Bericht S. 26. Schwerpunkte der Reformerörterungen waren: der Versuch, die Voraussetzungen der künftigen Gefährlichkeit des Täters gesetzlich genauer und restriktiver zu umschreiben; das Bemühen, die richterliche Pflicht zur Gesamtwürdigung des Täters und seiner künftigen Gefährlichkeit zu verdeutlichen; die Problematik der Aussetzung des Vollzugs oder des weiteren Vollzugs und der dabei angezeigten Mittel zur stützenden Einwirkung auf den Verurteilten; die Frage, ob man die psychiatrischen Landeskrankenhäuser durch die Einrichtung justizeigener Sonderanstalten von der Betreuung psychisch kranker Rechtsbrecher entlasten solle; die damit zusammenhängende — und besonders lebhaft erörterte — Problematik besonderer „Bewahrungsanstalten" oder sonstiger Spezialanstalten für solche psychisch gestörten Täter, die nach der Art ihrer Störungen in die psychiatrischen Krankenhäuser schlecht passen (Rdn. 3 ff)·

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Bei der Reform wurde der bisherige Begriff der „Heil- oder Pflegeanstalt" (§ 42 b a. F.) zunächst durch den Begriff der „psychiatrischen Krankenanstalt" und dann (Art. 18 II Nr. 20 EGStGB) durch den des „psychiatrischen Krankenhauses" ersetzt. Diese Änderung sollte nur zur Angleichung an die „moderne Nomenklatur" dienen; eine sachliche Änderung enthält sie nicht (näher Hanack JR 1975 441,442 m. Nachw.). (60)

Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Hanack)

§ 63

II. Personenkreis (Jugendliche). Die Anordnung der Maßregel ist auch gegen- 15 über Jugendlichen bzw. ihnen nach § 105 J G G gleichgestellten Heranwachsenden zulässig (§ 7 JGG). Doch gilt dies nicht, wenn die Verantwortlichkeit allein wegen mangelnder Reife gemäß § 3 J G G ausgeschlossen ist (BayObLGSt. 1958 263 f; Dreher Rdn. 4; Brunner JGG, § 3 Anm. 4 a; Dallinger-Lackner JGG, §7 Rdn. 4; Schaffstein JGG, § 7 IV), da § 63 nun einmal an das Vorliegen von Störungen i. S. der §§ 20, 21 anknüpft. Die Unterbringung kommt also nur in Betracht, wenn die Voraussetzungen der §§ 20 oder 21 vorliegen. Dann allerdings ist die Unterbringung im Einzelfall auch dann denkbar, wenn 16 zugleich die Voraussetzungen des § 3 J G G vorliegen (so jetzt auch BGHSt. 26 67 unter Bezugnahme auf Daliinger-Lackner aaO mit zust. Anm. Brunner JR 1976 116 und Kohlhaas LM Nr. 1 n. F.; Dreher aaO; Lackner Anm. 2 b; vgl. auch Brunner JGG, § 3 Anm. 4 a und Schaffstein aaO). Eine verbreitete gegenteilige Auffassung zum bisherigen Recht (§ 42 b a. F.) nahm demgegenüber an, daß bei mangelnder Verantwortungsreife i. S. von § 3 J G G von vornherein kein Zugang zu einer Maßregel nach § 63 bzw. nach § 42 b a. F. bestehe, weil die Unterbringung jedenfalls bei vermindert Schuldfähigen nur neben Strafe zulässig sei und deshalb Schuldfähigkeit voraussetze (BayObLGSt. 1958 263, 265; Grethlein-Brunner J G G 3 , § 3 Anm. 4; Potrykus J G G 4 , § 7 Anm. 2; ßauer NJW 1949 289). Diese Meinung dürfte zwar nicht, wie BGHSt. 26 67 und Brunner aaO meinen, schon deswegen gegenstandslos geworden sein, weil § 63, anders als § 42 b a. F., nicht mehr ausdrücklich davon spricht, daß die Unterbringung bei vermindert Schuldfähigen neben die Strafe tritt; denn dieses Nebeneinander wird auch im neuen Recht als Konsequenz der Zweispurigkeit in der Regel vorausgesetzt (s. Rdn. 90). Gegen die genannte Meinung spricht jedoch, daß die Unterbringung auch mit anderen Maßnahmen des J G G verbunden werden kann (§ 5 Abs. 3 JGG), und daß es sinnwidrig wäre, für die Unterbringung auch strafrechtliche Verantwortlichkeit nach § 3 J G G vorauszusetzen, weil die Maßregel ihre Rechtfertigung im gestörten Zustand und der Gefährlichkeit des Täters findet, diese Rechtfertigung aber durch eine begleitende Entwicklungsstörung gemäß § 3 J G G nicht ausgeschlossen wird (Dallinger-Lackner aaO). Im übrigen wäre es, worauf BGHSt. 26 67, 69 zu Recht hinweist, durchaus sachfremd, in den Fällen des § 20 (wo die gleichzeitige Verurteilung zu Strafe ausgeschlossen ist), die Unterbringung zuzulassen (dazu Schaffstein JGG, § 7 IV), aber in den Fällen des § 21 wegen dessen Bezug zur Strafe die Unterbringung auszuschließen, weil die Unterbringung in beiden Fallgruppen gleichermaßen im Interesse der Allgemeinheit (oder auch des Beschuldigten) liegt. Darauf zu achten ist nur, daß die Unterbringung insbesondere in den zahlrei- 17 chen Zweifelsfällen unsachgemäß sein kann, in denen auch der Sachverständige (§ 246 a StPO) beim Zusammentreffen entwicklungsbedingter und anderer Störungen nicht sicher genug beurteilen kann, ob sich das psychische Zurückbleiben (§ 3 JGG) im weiteren Entwicklungsprozeß noch ausgleicht und die Störungen gemäß §§ 20, 21 nicht im Vordergrund stehen. Man wird für diese Fälle, anders als sonst (s. Rdn. 94), wegen ihres eigentümlichen Zusammentreffens mit den spezifischen Reaktionsmitteln des Jugendrechts die Anordnung der Unterbringung in das pflichtgemäße Ermessen des Gerichts stellen, d. h. ihm unter Beachtung auch des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (§ 62) die Verpflichtung auferlegen müssen, die im konkreten Fall angemessenere Reaktion auszusprechen. — Näher zu den komplizierten medizinisch-kriminologischen Fragen und ihren rechtlichen Konsequenzen Schaffstein Die Jugendzurechnungsunfähigkeit in ihrem Verhältnis zur allgemeinen (61)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

Zurechnungsfähigkeit, ZStW 77 [1965] 191 ; H. Kauf mann-ñrsch Das Verhältnis von § 3 J G G zu § 51 StGB, JZ 1969 358. Vgl. auch Schmitz MschrKrim 1964 152. 18

Kommt es zur Unterbringung eines Jugendlichen nach § 63, ist für die Folgeentscheidungen nach der Unterbringungsanordnung nicht die Vollstreckungskammer, sondern der Jugendrichter als Vollstreckungsleiter zuständig, und zwar selbst dann, wenn der Täter erwachsen geworden ist (BGHSt. 26 162 = JR 1976 343 m. zust. Anm. Brunner; OLG Celle NJW 1975 2253; a. A. offenbar LG Dortmund NJW 1975 2251), es sei denn, daß der Täter als Heranwachsender ausdrücklich nicht nach Jugendstrafrecht beurteilt worden ist (OLG Celle NJW 1975 2254).

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III. Begehung einer rechtswidrigen Tat unter den Voraussetzungen der §§ 20, 21. Die Umschreibung des Begriffs „rechtswidrige Tat" in § 11 Abs. 1 Nr. 5 (dazu Tröndle LK, Erl. zu § 11) besagt für § 63 nicht viel, insbesondere weil sie offen läßt, was im einzelnen zum „Tatbestand" eines Strafgesetzes gehört. So wird durch die Verwendung des Begriffs der traditionelle Streit um die Frage, welche Anforderungen insoweit hier an die Anlaßtat zu stellen sind, kaum berührt; die Frage ist ebenso offen wie beim Begriff der „mit Strafe bedrohten Handlung" des § 42 b a. F. — Eindeutig ist nur — wie schon im früheren Recht — daß eine Ordnungswidrigkeit nicht ausreicht. Im übrigen ist hinsichtlich der Voraussetzungen für die „rechtswidrige Tat", wie früher, zwischen der Situation bei vermindert Schuldfähigen und Schuldunfähigen zu unterscheiden.

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1. Bei verminderter Schuldfähigkeit. Bei vermindert Schuldfähigen ist die Rechtslage im Prinzip klar. Denn hier tritt die Maßregel grundsätzlich neben die Strafe (s. Rdn. 90). Daher wird man verlangen müssen, daß alle Voraussetzungen für eine Bestrafung gegeben sind, und zwar in materiellrechtlicher Hinsicht (Schuld, Nichtvorliegen von Rechtfertigungsgründen, persönlichen Strafausschließungsgründen usw.) als auch in prozessualer Hinsicht (Strafantrag bei Antragsdelikten usw.). Daß der Richter von der Strafmilderung des § 21 Gebrauch macht, ist nicht Voraussetzung der Unterbringung (Maurach AT § 68 I A 1 a). Über Ausnahmefälle, in denen die Unterbringung in Betracht kommt, obwohl gleichzeitig zu Strafe nicht verurteilt werden kann, s. Rdn. 91 f.

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2. Bei ausgeschlossener Schuldfähigkeit. Sehr viel komplizierter ist die Rechtslage bei Schuldunfähigen, weil der Schuldunfähige infolge seines Zustands insbesondere die subjektiven Merkmale einer Straftat vielfach gar nicht „richtig" erfüllen kann. So ergeben sich hier eine Reihe kritischer und umstrittener Fragen. Ihr Kernpunkt ist das Problem, ob für die Unterbringung nach § 63 zu verlangen ist, daß eine Bestrafung wegen der rechtswidrigen Tat allein an der mangelnden Schuldfähigkeit scheitert, oder ob eine Unterbringung auch in Betracht kommt, wenn es wegen der geistig-seelischen Störung des Täters an der Erfüllung sonstiger Voraussetzungen für die Strafbarkeit fehlt. Aus den in den folgenden Erörterungen im einzelnen erkennbaren Gründen ist dem letzteren Standpunkt zu folgen.

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a) Vorliegen einer Handlung. Stets muß eine „Handlung" im Sinne eines gewollten Verhaltens vorliegen ( Horn S Κ Rdn. 4). Dies entsprach schon der herrschenden Meinung zum bisherigen Recht (vgl. ζ. B. BGHSt. 3 287, 289; Schlegl NJW 1968 25; Bruns JZ 1964 475, 477 m. w. Nachw.), die sich insoweit freilich auf den Gesetzes(62)

Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Hanack)

§ 63

Wortlaut des § 42 b a. F. (mit Strafe bedrohte „Handlung") stützen konnte. Abweichend meinte und meint Baumann (AT § 64 II 1 c), daß auch nicht gewillkürte Akte, ζ. B. von Epileptikern, die Maßregel zulassen, da hier oft eine gleiche oder größere Gefährlichkeit im Vergleich zu demjenigen Täter vorliege, der zur Steuerung seiner Körperbewegungen fähig ist. Dem kann nicht beigetreten werden. Denn abgesehen davon, daß zur „rechtswidrigen Tat" jedenfalls eine Handlung mit „natürlichem" Handlungswillen gehört: Die Kompetenz zur Anordnung von Maßregeln ist dem Strafrichter nur insoweit übertragen, als sie an seine spezifische Tätigkeit, die Beurteilung menschlicher Handlungen, anknüpft. Mit dieser Begrenzung aber ist die Ansicht Baumanns nicht vereinbar. Wo Handlungen im strafrechtlichen Sinne nicht vorliegen, kommt daher die Unterbringung nach den landesrechtlichen Unterbringungsgesetzen (Rdn. 105) in Betracht; eine Gesetzeslücke hinsichtlich des Schutzes vor gefährlicher Personen besteht angesichts dieser landesrechtlichen Regelungen nicht. b) Anforderungen zum inneren Tatbestand beim Vorsatzdelikt aa) Allgemeines. Umstritten ist insbesondere, ob eine Unterbringung statthaft ist, 23 wenn der Täter zwar den objektiven Tatbestand eines Delikts verwirklicht, infolge seines Zustands aber die für den inneren Tatbestand erforderlichen Voraussetzungen des betreffenden Delikts nicht erfüllt hat. Viele Autoren fordern für das Merkmal „rechtswidrige Tat" bzw. „mit Strafe bedrohte Handlung" (§ 42 b a. F.) eine volle Verwirklichung auch des subjektiven Tatbestandes. So verlangen insbesondere diejenigen, die beim Vorsatzdelikt den Vorsatz als konstituierend für die Handlung ansehen, meist echten Tatvorsatz (so z.B. Horn SK Rdn. 3 , 4 ; Preisendanz Anm. 2 b; wohl auch Dreher Rdn. 2; Blei AT § 115 11 a; Jescheck AT § 75 II 1 a; Maurach § 68 I A 1 b [dazu auch unten Rdn. 29]; Welzel § 35 11 a; eingehend Bruns JZ 1964 473; Niese JZ 1953 548; ebenso R G J W 1 9 3 5 2368; RGSt. 71 220). Folgerichtig nehmen sie denn auch an, daß in Fällen eines Tatbestandsirrtums, selbst wenn er sich allein durch den krankhaften Zustand des Täters erklärt, die Unterbringung ausgeschlossen sei. Entsprechendes gilt beim Fehlen subjektiver Unrechtselemente; auch in diesen Fällen soll, selbst wenn das Fehlen spezifisch krankheitsbedingt ist, die Unterbringung nicht möglich sein. Das Ergebnis ist unbefriedigend (Lang-Hinrichsen Vorauf!. § 42 b Rdn. 12 ff). 24 Denn gleichgültig, wie man dogmatisch über die Zuordnung des Vorsatzes zum Tatbestand denkt: Die genannte Meinung führt dazu, daß in sachwidriger Weise Sicherheitsvorkehrungen gegen den schuldunfähigen Täter aus dem Aufgabenbereich des Strafrichters herausgenommen werden; sie ist überdies widersprüchlich gegenüber der Behandlung anderer krankheitsbedingter Irrtümer (unten Rdn. 29, 32). Nach ihr könnte ζ. B. ein Geisteskranker, der in gefährlicher Weise häufig fremde Sachen in der Wahnvorstellung an sich nimmt, sie seien ihm von Gott geschenkt, durch den Strafrichter nicht in einer Anstalt untergebracht werden (Beispiel nach Schmidhäuser AT 19/10 S. 748). Richtigerweise wird man darum, im Sinne des Bemühens auch der Rechtsprechung (s. im folg.), zwischen allgemeinen und krankheitsbedingten Fehlvorstellungen zu differenzieren haben, weil sich nur so die besondere Situation des Schuldunfähigen mit dem Zweck des § 63 sachgerecht verbinden läßt (wie Lang-Hinrichsen aaO; ebenso oder doch ähnlich: Lackner Anm. 2 a; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 5 ff; ζ. T. Dreher Rdn. 2; Baumann AT § 44 II 1 c; Bockelmann AT § 41 A II 2; H. Mayer (63)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

StudB § 49 I 1 b; Schmidhäuser aaO; wohl auch Lenckner S. 189). Dies entspricht auch dem Ansatz der herrschenden Rechtsprechung, die auf den sog. „natürlichen Vorsatz" (so ζ. B. BGHSt. 3 287, 288), einen „natürlichen Tatwillen" (so z. B. R G H R R 1940 Nr. 177) abstellt und einen Irrtum, der nur durch den krankhaften Zustand des Täters entstanden ist, nicht zu seinen Gunsten berücksichtigt (RGSt. 71 315; BGHSt. 3 287, 289; 10, 355; s. auch im weiteren Text). 25

bb) Trennung zwischen krankheitsbedingten und anderen Fehlvorstellungen. Allgemeine Fehlvorstellungen, d. h. Fehlvorstellungen, die in der gegebenen Situation auch einem Schuldfähigen zugute gehalten werden, dürfen dem Schuldunfähigen nicht zum Nachteil gereichen und daher auch nicht zur Unterbringung führen. Hier fehlt es an einer ausreichenden Anlaßtat, da diese nicht zum bloßen „Aufhänger" für die Maßregel werden darf. So liegen nach RGSt 71 218, 220 die Voraussetzungen der Unterbringung nicht vor, wenn der Täter im Fall der Erpressung geglaubt hat, auf die Forderung einen Rechtsanspruch zu haben (das R G erwähnt allerdings nicht ausdrücklich, daß die Vorstellung des Täters nicht krankheitsbedingt war).

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Krankheitsbedingte Fehlvorstellungen, d. h. Vorstellungen, die nur durch den abnormen geistigen oder seelischen Zustand des Täters bedingt sind, schließen die Unterbringung hingegen nicht aus. Hat der Täter also Umstände, die ein Gesunder richtig erkannt hätte, allein infolge seines Zustands verkannt, kommt ihm dies nicht zugute. BGHSt. 3 287, 289 erklärt mit Recht, daß wenn krankheitsbedingte Irrtümer zur Verneinung der Anwendbarkeit des § 63 (§ 42 b a. F.) führen sollten, der Schutzgedanke der Vorschrift versagen und der mit ihr verfolgte Zweck gerade in den Fällen vereitelt würde, in denen sich der abnorme Zustand des Täters als besonders gefährlich erweist, weil er ihm die Erkenntnis der Gemeinschädlichkeit seines Tuns verwehrt. Im Falle des BGH hatte der Beschuldigte in einem Betrugsfall seine Unfähigkeit zur Bezahlung selbst kleiner Summen erkannt, jedoch gehofft, in einer gewissen Zeit Geld zur Bezahlung seiner Schulden zu erlangen, weil er infolge einer Geisteskrankheit jeden Maßstab für seine Leistungsfähigkeit verloren hatte. Voraussetzung für die Annahme eines krankheitsbedingten Irrtums ist dabei freilich stets, daß der Richter den Vorstellungen und Regungen des Täters so sorgfältig wie möglich nachgeht (Sch.-Schröder-Stree Rdn. 5; s. auch unten Rdn. 33). Lassen sich sichere Feststellungen nicht treffen, ist von der dem Täter günstigeren Deutung auszugehen (Sch.-Schröder-Stree aaO).

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Der geschilderten Differenzierung kann nicht entgegenstehen, daß nach der Rechtsprechung des BGH (BGHSt. 18 235) das Fehlen besonderer Willensmerkmale infolge eines rauschbedingten Irrtums die Strafbarkeit nach § 330 a aus-

schließt (a. Α. ζ. B. Dreher Rdn. 2 ; Preisendanz Anm. 2 d ; Bruns JZ 1964 473, 481 f)·

Im Falle des BGH hatte der Täter infolge seines Trunkenheitszustandes geglaubt, daß er hinreichend Geld habe, um die Zeche zu bezahlen, er war auch bereit, seine vermeintliche Barschaft zur Bezahlung zu verwenden ; der Rauschzustand hatte ihn aber außerstande gesetzt, den Wert und den Umfang seiner Bestellungen zu übersehen. Der BGH meint, der Täuschungswille fehle auch demjenigen, der seine unrichtigen Behauptungen irrtümlich für wahr halte, so daß durch diesen Irrtum der Täuschungswille ausgeschlossen sei und ein Betrug (als „mit Strafe bedrohte Handlung") nach § 330 a a. F. nicht vorliege. Der BGH hat daher eine Verurteilung abgelehnt. Ob das zwingend ist, mag hier dahingestellt bleiben (eingehend Lay L K 9 § 330 a Rdn. 56 ff. m. Nachw.). Denn auch wenn man der Entscheidung folgt, ergibt sich daraus noch nicht, daß in dem Fall eine „rechtswidrige Tat" i. S. des § 63 zu verneinen wäre. Der BGH selbst hat dies (für § 42 b a. F.) ausdrücklich offen gelas-

(64)

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sen, aber betont, daß eine solche Konsequenz nicht selbstverständlich sei, da § 63 (§ 42 b) und § 330 a verschiedenen Zwecken dienten (insoweit zustimmend Blei AT §115 1 l a ) . Tatsächlich wird man wegen der Verschiedenheit der Zwecke die Begriffe „rechtswidrige Tat" bei § 330 a und bei § 63 abweichend interpretieren müssen (so auch Lang-Hinrichsett Vorauf!. § 42 b Rdn. 15). Das Delikt der Volltrunkenheit setzt keinen Dauerzustand voraus und hat nicht primär die Aufgabe, Gefahren für die Zukunft abzuwenden. Gerade dies aber ist der Zweck des § 63. Von ihm aus muß das Merkmal der rechtswidrigen Tat ausgelegt werden, damit die Vorschrift ihrer Aufgabe gerecht wird. Gibt also ein Schuldunfähiger in einer Gastwirtschaft in der irrigen Vorstellung Bestellungen auf, er habe genügend Geld, um seinen Verzehr zu bezahlen, und beruht diese Vorstellung darauf, daß er infolge seines krankheitsbedingten Zustands den Umfang seiner Mittel und der von ihm eingegangenen Verpflichtungen nicht übersieht, so muß nach dem Normzweck des § 63 trotz zustandsbedingten Fehlens eines Täuschungswillens und (infolgedessen) auch der fehlenden Absicht, sich einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen, die „rechtswidrige Tat" bejaht werden. cc) Ergebnis. Mithin ergibt sich: Der Täter muß zwar stets den objektiven Tatbe- 28 stand eines Strafgesetzes erfüllt haben (zu den Besonderheiten des Versuchs s. Rdn. 33). Soweit es dabei aber um spezifische Willensmerkmale geht, wird die Erfüllung eines Tatbestandsmerkmals nicht dadurch ausgeschlossen, daß dem Täter diese Willensrichtung aufgrund krankheitsbedingten Irrtums fehlt (Beispiel : „Täuschungswille" bei § 263). In ähnlicher Weise werden bei subjektiven Unrechtselementen (Beispiel: Vorteils- oder Zueignungsabsicht bei den §§ 263, 242) Momente außer acht gelassen, die auf krankheitsbedingten Fehlvorstellungen beruhen (der Täter glaubt aufgrund von Wahnvorstellungen, Gott habe ihm die Sachen geschenkt). Für den Vorsatz reicht ein „natürlicher Tatwillen", ein „natürlicher Vorsatz". Ein Tatbestandsirrtum, der nur durch krankheitsbedingte Fehlvorstellungen entstanden ist, darf nicht zugunsten des Täters berücksichtigt werden. dd) Zur Kritik. Die hier im Anschluß an Lang-Hinrichsen (Voraufl. § 42 b 29 Rdn. 13 ff) vertretene Differenzierung zwischen allgemeinen und krankheitsbedingten Fehlvorstellungen ist, wie bemerkt (Rdn. 23 f)> lebhaft umstritten. Gegen sie wird insbesondere eingewendet, sie sei praktisch kaum durchführbar und rechtlich bedeutungslos, schon weil der Verbrechensbegriff auf den Vorsatz als Träger der tatbestandsmäßigen Handlung nicht verzichten könne (so insbes. Bruns JZ 1964 473, 478; Horn SK Rdn. 4; Jescheck § 75 II 2 a). Daß die Differenzierung zu praktischen Schwierigkeiten führt, ist zuzugeben, obwohl diese Schwierigkeiten nicht zu überschätzen sind, wenn man (s. Rdn. 26) den Regungen und Vorstellungen des Täters nachzugehen sich ernstlich bemüht. Nicht anzuerkennen ist hingegen die Argumentation, daß die Differenzierung rechtlich bedeutungslos sei und dem Verbrechensbegriff widerspreche. Sie ergibt sich vielmehr, wie dargelegt, aus der notwendigen Zweckbetrachtung des § 63, auf die Engisch (für § 42 b) schon 1944 zu Recht hingewiesen hat (Der finale Handlungsbegriff, Kohlrausch-Festschrift 1944, S. 172 f)· Gegenüber dieser Zweckbetrachtung verfängt auch der Hinweis nicht, daß nicht einzusehen sei, warum hier der Strafrichter tätig werden solle: Unser Recht kennt nun einmal den Dualismus zwischen der strafrechtlichen und der außerstrafrechtlichen Unterbringung; solange dieser Dualismus besteht, ist es teleologisch nicht zu begründen, sondern führt im Gegenteil zu ganz sinnwidrigen Ergebnissen, ausgerechnet die krankheitsbedingten Motivationen, die zu der rechtswidrigen Tat geführt haben, der Kompetenz des Strafrichters zu entziehen; § 63 würde auf diese (65)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

Weise in seinem Schwerpunkt sinnwidrig unterlaufen. Die hier abgelehnte Meinung argumentiert, wie insbesondere die grundsätzlichen Ausführungen von Bruns (aaO) zeigen, zu sehr mit Überlegungen aus dem Bereich des § 330 a, wo die Probleme anders liegen mögen. Im übrigen bleiben die Vertreter der hier abgelehnten gegenteiligen Auffassung selbst merkwürdig inkonsequent, weil auch sie bei Rechtfertigungs- und Schuldausschließungsgründen die Unterscheidung zwischen krankheitsbedingten und sonstigen Fehlvorstellungen anerkennen (s. Rdn. 32); sie überschätzten damit insbesondere die dogmatische Bedeutung des Vorsatzes als konstitutives Moment der Handlung für § 63. Das zeigt sich auch an der Ansicht Maurachs (AT § 68 I A l b ) , der bei zustandsbedingtem Tatbestandsirrtum gegebenenfalls eine Haftung aus fahrlässiger Begehung „einrücken" will, insoweit dann also in wenig überzeugender Weise auf einem Umweg doch zur Anwendung des § 63 kommt. 30

c) Fahrlässigkeitsdelikte. Zwar kann gegen den Schuldunfähigen ein Fahrlässigkeitsvorwurf grundsätzlich nicht erhoben werden (näher Jescheck AT § 57 I ; Maurach AT § 44 III). Nach Sinn und Zweck des § 63 (Rdn. 1, 2) ist jedoch auch hier eine Unterbringung möglich, sofern fahrlässiges Verhalten unter Strafe gestellt ist (Lang-Hinrichsen Vorauf!. § 42 b Rdn. 17). In diesem Fall kann es nach dem heutigen Verständnis von der Struktur des fahrlässigen Delikts für die „rechtswidrige Tat" i. S. , bezogen auf die Gesamtbevölkerung", eingeschätzt. Diese Schätzung (147)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

entspricht weitgehend auch ausländischen Berechnungen und Erfahrungen (Stiirup, zit. nach dem Unterausschuß: für etwa 2 Millionen Einwohner eine Anstalt). Bezogen auf die Bundesrepublik ergäbe sich danach ein Bedarf von 20—30 Anstalten mit je 200 Plätzen (so der Unterausschuß) bzw. von 20—25 Anstalten (so Holl Prot. V, 3181 anhand von Berechnungen für Nordrhein-Westfalen). Eine Zahl von 25 Anstalten erschien dem Sonderausschuß nicht tragbar (2. Bericht S. 28), obwohl er damit nach den Beratungen (Holl aaO) durchaus rechnen mußte. Im übrigen sind alle diese Schätzungen, wie bemerkt, ganz unsicher (Unterausschuß: „exakte Ermittlung des Bedarfs nicht möglich"); so gibt es erheblich abweichende Einschätzungen. Die Bedarfsplanung liegt überdies auch in der praktisch wichtigen Abstimmung zum psychiatrischen Krankenhaus (Rdn. 157) erkennbar im argen. Näher zum ganzen insbesondere Kürzel MschrKrim. 1975 358 mit w. Nachw.; HanackS. 55 f u n d JR 1975 446. Zur bisherigen praktischen Entwicklung s. Rdn. 30 ff. 21

6. „Behandlungsideologie" oder „-utopie"? Der Gedanke der Sozialtherapie wird insbesondere in zweierlei Richtungen angegriffen. Gerügt wird einmal, daß es sich nur um einen Scheinfortschritt handele, der Gedanke aber in Wahrheit inhuman sei, weil er in der Anwendung der Begriffe „Krankheit" und „Behandlung" auf Rechtsbrecher ebenfalls nur Sozialkontrolle „der Herrschenden" bewirke (so z. B. D. u. H. Peters KrimJournal 1970 114). Es handelt sich insoweit um eine sozialkritische Sicht des Wesens der Kriminalität („Stigmatisierung" durch Normen), die nur von dieser Sicht aus diskutierbar ist. Näher dazu und dagegen H. Kaufmann S. 153 ff m. Nachw.; Eisenberg ZStW 86 1042. Behauptet wird zum anderen — in oft unterschwelliger Weise —, daß die modernen Behandlungskonzepte nichts erbrächten oder gar schon als gescheitert angesehen werden müßten, wobei gern auf Ernüchterungen im Ausland hingewiesen wird (so z.B. H. J. Schneider JZ 1973 581; H. J. Schneider Kriminologie, Jugendstrafrecht, Strafvollzug, 1976, S. 438). Eine gewisse Ernüchterung im Ausland ist in der Tat unverkennbar (näher z. B. Krüger MschrKrim. 1977 218; KuryFenn MschrKrim. 1977 227 je m. Nachw. ; vgl. auch Lipton-Martinson- Wilks The Effectiveness of Correctional Treatment, 1975). Diese Ernüchterung hat viele Gründe und zeigt insbesondere, wie schwierig und mühsam sozialtherapeutische Behandlungsformen sind, welches Engagement sie voraussetzen und wie wenig eine verbreitete „Behandlungseuphorie" am Platze ist. Daß der Grundgedanke falsch ist, macht die Ernüchterung jedoch nicht deutlich. So sprechen nicht nur vielfältige humanitäre Gründe für den sozialtherapeutischen Gedanken, der — in welcher rechtlichen Ausgestaltung auch immer — das Schuldstrafrecht mit all seinen Aprorien und Fragwürdigkeiten angesichts der heutigen Erkenntnisse vom Menschen erst erträglich macht. Überhaupt nicht zu bestreiten ist vielmehr auch, daß den entsprechenden Bemühungen schon heute wesentliche, ja unverzichtbare Impulse zu verdanken sind, wie sich eindrucksvoll z. B. in den Arbeitsergebnissen der Modellanstalten (unten Rdn. 34 f) zeigt. Es mag sein, daß die bisherigen Bemühungen über das „Stadium der Bastelei kaum hinausgekommen" sind (so Eisenberg ZStW 86 1059); aber schon diese „Bastelei" ist für die Strafrechtspflege bedeutsam.

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Eine andere Frage ist freilich, wie schon angedeutet, ob die heutige Ausgestaltung des Gedankens in § 65 und in § 9 StVollzG praktikabel und realisierbar ist. (148)

U n t e r b r i n g u n g in einer sozialtherapeutischen Anstalt ( H a n a c k )

§ 6 5

Der folgende Versuch einer juristischen Auslegung des § 65 (Rdn. 40 ff) wird einiges von der Zweifelhaftigkeit der Frage und der Fülle der bestehenden Schwierigkeiten deutlich machen ; er bestätigt damit Einwendungen und Bedenken, die — bei grundsätzlicher Anerkennung des Prinzips — in einer großen Zahl von Äußerungen vorgebracht werden.

II. Entwicklung, Vorbilder, heutiger Stand 1. Entwicklung bis zum 2. StrRG. Das Institut der sozialtherapeutischen Anstalt 23 ist in seiner heutigen Ausprägung erst in einem sehr späten Stadium der Strafrechtsreform entwickelt worden. Zum näheren Verständnis ist darauf — auch im Hinblick auf die umstrittene Gesamtproblematik und die noch offene weitere Entwicklung — wenigstens in Umrissen einzugehen. a) Bewahrungsanstalt und vorbeugende Verwahrung (E 1962). Der Ë 1962 hatte 24 nach eingehenden Vorberatungen und in Anknüpfung an ausländische Vorbilder zwei Einrichtungen vorgeschlagen, die in gewissem Sinne und Umfang Vorläufer der heutigen Regelung darstellen: die Bewahrungsanstalt und die vorbeugende Verwahrung. Die Bewahrungsanstalt (§ 82 E 1962) war gedacht als Sonderanstalt zur Unterbringung solcher schuldunfähiger oder vermindert schuldfähiger Täter, „die für eine ärztliche Behandlung nach den in psychiatrischen Krankenanstalten möglichen und üblichen Methoden nicht geeignet sind und in derartigen Anstalten erfahrungsgemäß nicht nur selbst als Störer wirken, sondern eine Umgebung finden, die für ihre eigene Entwicklung unzuträglich erscheint" (so der 2. Bericht S. 27). Der Anstalt, die in erheblichem Maße auf eine „Psychopathenanstalt" für „Störer" hinausgelaufen wäre, war dabei eine „Zwischenstellung zwischen den Strafanstalten und den Heilanstalten" zugedacht, in der „auch eine heilpädagogische Einwirkung" stattfinden sollte, die „in der Hand von Psychiatern, Psychologen und sonstigem Fachpersonal liegt und das Ziel haben soll, dem psychisch belasteten Täter zu helfen, seine seelische Störung zu beherrschen und seine gefährlichen Neigungen zu überwinden" (E 1962 S. 210). Ihre Einrichtung entsprach einer alten psychiatrischen Forderung (Ehrhardt Hdw. Kriminologie S. 399; FortschrNeurolPsych. 1969 669). Das Institut wurde lebhaft diskutiert und überwiegend, insbesondere von Psychiatern, begrüßt, wobei sich auch mancherlei Initiativen zur Verbesserung und zur praktischen Realisierung entwickelten. Doch kam es trotz vielfacher Forderungen, die als dringend empfundene Aufgabe praktisch anzugehen, zu keiner nennenswerten Förderung entsprechender Vorhaben (Ehrhardt aaO). Zu den damaligen Erörterungen und Initiativen s. namentlich (Auswahl) Ehrhardt MschrKrim. 1963 272; Ehrhardt ZStW 76 216; Flitner MschrKrim. 1966 201 ; Haddenbrock NJW 1959 1565; Mauch MschrKrim. 1964 108; Rasch MschrKrim. 1967 339; Rotthaus MschrKrim. 1967 344. Die vorbeugende Verwahrung (§ 86 E 1962) war demgegenüber als spezielle 25 Maßregel gegen werdende Hangtäter konzipiert. Sie sollte angehende Gewohnheitsverbrecher vor dem 27. Lebensjahr treffen und eine Verwahrungsmöglichkeit unterhalb der Sicherungsverwahrung schaffen; sie war dabei als „letzter Erziehungsversuch" gedacht, der „auch bei demjenigen versucht werden (solle), von dem zu befürchten sei, daß nichts mehr erreicht werden" könne (Lackner Prot. IV, 309). Das Institut, das stark an neuere kriminologische Einsichten anknüpfte, wurde ebenfalls lebhaft diskutiert und überwiegend begrüßt. Näher dazu die zusammen(149)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

fassenden Darstellungen von Gummel, Hilbig und Spieler m. zahlr. Nachw.; vgl. näher unten Rdn. 115 ff. 26 b) Der Durchbrach zur sozialtherapeutischen Anstalt. Der Sonderausschuß blieb zunächst beim Konzept des E 1962, orientierte freilich schon 1964/65 (4. LegPer.) die Bewahrungsanstalt stärker am Erziehungszweck (Bericht des Ausschusses, BT-Drucks. IV/650, S. 13 f, 23 f; S. 14 f, 25 f) und nannte die Anstalten darum auch „psychiatrische Fürsorgeanstalt" bzw. „Erziehungsverwahrung". Im Jahre 1968 (5. LegPer.) schwenkte der Sonderausschuß dann in Übereinstimmung mit entsprechenden Empfehlungen der Strafvollzugskommission und Empfehlungen der Strafrechtsreferenten der Länder (vgl. 2. Bericht S. 27; Prot. V, 2245, 2281) auf Vorschlag des Bundesjustizministeriums (Prot. V, 2245, 2268) auf das Konzept des zwischenzeitlich (Ende 1966) veröffentlichten AE-AT ein. Er ersetzte zunächst die „Bewahrungsanstalt" (psychiatrische Fürsorgeanstalt) durch die sozialtherapeutische Anstalt und bezog danach, wie der AE, auch die „vorbeugende Verwahrung" (Erziehungsverwahrung) in diese Anstalt ein (näher Prot. V, 2245 ff, 2731 ff, 3181 ff). 27

Der damit vollzogene Durchbruch zum Konzept des heutigen § 65 bedeutete gegenüber den bisherigen Vorschlägen vor allem eine erhebliche Ausdehnung des der Maßregel unterworfenen Personenkreises und eine weit stärkere Ausrichtung am Gedanken der Resozialisierung. Dieser Durchbruch geschah, trotz skeptischer Stimmen insbesondere zur praktischen Realisierbarkeit der Vorschläge des AE (Giide in Rollmann, Strafvollzug in Deutschland, 1967, S. 62; Lackner JZ 1967 521 ; Jescheck ZStW 80 78 ; Grünwald ebenda S. 115), auf einer breiten Woge öffentlicher Zustimmung, die sich auch in der fast einstimmigen Entscheidung des Bundestages zum 2. StrRG (Sten. Berichte, 5. Wahlperiode, S. 12 848) widerspiegelt. Bedingt gewesen ist dieser Durchbruch, wie die Prot, zeigen, durch ein bemerkenswertes Maß an Erwartung, Hoffnung und humanem Engagement, aufgrund der allgemeinen Entwicklung der Behandlungswissenschaften auch im Straf- und Maßregelvollzug moderne, wissenschaftlich fundierte Methoden zur erfolgreichen Behandlung gestörter, kranker oder dissozialer Personen nutzbar machen und fortentwickeln zu können (vgl. insbes. Prot. V, 2245 ff)· 28 Der Sonderausschuß zog dabei — unbeschadet auch einiger Erweiterungen — den Kreis der erfaßten Täter insgesamt enger als der AE (näher und allzu kritisch Baumann AT § 44 II 3; vgl. auch AE-AT S. 214) und schuf damit erhebliche Auslegungsprobleme, insbesondere bei der Gruppe der Rückfalltäter mit schwerer Persönlichkeitsstörung nach § 65 Abs. 1 Nr. 1. Die Umgrenzung des Täterkreises erklärt sich, wie bemerkt (Rdn. 1), insbesondere aus der Sorge vor den Kosten des Projekts und den sonstigen Schwierigkeiten seiner Realisierung. Daß der Ausschuß — und mit ihm der Bundestag sowie der Bundesrat und die Länderregierungen — annähernd wußte, was mit dem Institut an Problemen und Belastungen verbunden sein würde, ist nicht zu bezweifeln; Vorwürfe, der AE habe ihm ein irreales Konzept aufgedrängt, sind schon deswegen unberechtigt und übersehen überdies, daß der AE die spezifisch politische Frage nach den zeitlichen und sachlichen Möglichkeiten der praktischen Realisierung seiner Vorschläge absichtlich nirgends angesprochen hat (was in der kriminalpolitischen Diskussion wiederholt zu Mißverständnissen und zum Vorwurf der „Utopie" geführt hat). 29

2. Entwicklung im Ausland. Vorbilder. Die Institution der sozialtherapeutischen Anstalt reiht sich ein in eine Kette internationaler Bestrebungen zur spezifisch the(150)

Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt ( H a n a c k )

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rapeutischen Einwirkung auf persönlichkeitsgestörte gefährliche Rechtsbrecher. Diese Bestrebungen bedeuten die zeitgemäße Fortsetzung der Humanisierung des Strafrechts, wie sie etwa im Bereich der schuldunfahigen Rechtsbrecher schon längst erfolgt ist. Im einzelnen sind die entsprechenden Bestrebungen sehr unterschiedlich, sehr tastend und überwiegend auf kleinere Probandengruppen bezogen. Rückschläge, zum Teil sogar rückläufige Entwicklungen (vgl. Rdn. 21) sind häufig, Erfolge schwer meßbar, aber unzweifelhaft vorhanden. — Näher zum Ausland s. außer bei Rdn. 21 insbesondere Ehrhardt (Hrsg.), Perspektiven der heutigen Psychiatrie, S. 238 ff (Referate auf der Tagung der Dt. Gesellschaft für Psychiatrie u n d Nervenheilkunde); Eisenberg N J W 1969 1553; Eisenberg Krim. Gegenwartsfragen 1971, S. 92; Göppinger Kriminologie, S. 296 ff, 309 f f ; H. Kaufmann S. 160; Kürzing ZStW 85 235; vgl. auch Jäger MschrKrim. 1977 205 u n d De Boor S. 402 zur Mesdag-Klinik. Zur neuen österreichischen Zentralanstalt f ü r geistig abnorme Rechtsbrecher (§ 21 öStGB 1975) und zur dortigen Sonderanstalt Mittersteig s. neuestens zusammenfassend Sluga Geisteskranke Rechtsbrecher, S. 134 ff, 142 ff. Eine besondere Rolle in der Entwicklung spielen die dänische Anstalt in Herstedvester unter ihrem Leiter Stürup sowie die holländische Van-der-HoevenKlinik (Leitung Frau Roosenburg; dazu zuletzt Rotthaus MschrKrim. 1975 83), die auch die deutsche Diskussion wesentlich beeinflußt haben (2. Bericht S. 27 ; Prot. V, 2270). 3. Entwicklung seit dem 2. StrRG ; insbesondere Modellanstalten a) Allgemeines. Die Konferenz der Justizminister und -Senatoren hat schon im 30 Jahre 1969 ( D R i Z 1969 392) ihre Auffassung bekundet, daß die Errichtung der sozialtherapeutischen Anstalten „beschleunigt in Angriff genommen werden m u ß " und d a ß „im Rahmen des nach der gegenwärtigen Rechtslage Möglichen schon jetzt Einrichtungen geschaffen werden sollten, in denen Erfahrungen für die Behandlung" des in Betracht k o m m e n d e n Personenkreises „gesammelt werden können". Auch setzte der Strafvollzugsausschuß der Länder einen Unterausschuß ein, der ein „Modell zur Errichtung sozialtherapeutischer Anstalten" erarbeitete (Az. 4423 a—5.—25/70 des federführenden Justizministeriums Rheinland-Pfalz; unveröffentlicht), das im Oktober 1970 von der Justizministerkonferenz gebilligt wurde ( D R i Z 1970 383) u n d den Planungen der Länder zugrunde liegt (Horstkotte Prot. VII, 1866). Zu den Bedarfsschätzungen des Ausschusses siehe oben Rdn. 20. In der Folgezeit kam es in den Bundesländern, die für die Errichtung der erfor- 31 derlichen Anstalten zuständig sind (Rdn. 185), nicht in dem nötigen Maße zur Erstellung der Anstalten. Die G r ü n d e d a f ü r sind im einzelnen schwer zu durchschauen (einiges in Prot. VII, 156). Sicher ist jedoch, daß es außerordentliche Schwierigkeiten gemacht hat u n d noch macht, geeignetes Personal zu gewinnen u n d zu halten. Sicher ist weiter, daß die Planung und Durchführung eines sozialtherapeutischen Programms in den sich entwickelnden Modellanstalten zum Teil ganz erhebliche Probleme aufgeworfen hat. Hinzugekommen sind aber ersichtlich weitere Erschwernisse, und zwar vermutlich insbesondere: Schwierigkeiten bei der Bereitstellung der erforderlichen finanziellen Mittel ; bürokratische Probleme bei der Planung, Durchführung und Standortbestimmung der Anstalten ; Zweifel gegenüber den Auswahlkriterien des § 65 (dazu Prot. VII, 164, 1782, 1867); Vorstellungen, daß das Projekt wegen seiner G r ö ß e rechtzeitig doch nicht realisiert werde, der Gesetzgeber also weitere Übergangslösungen entwickeln müsse; unterschwellig-skeptische Tendenzen gegenüber (151)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

„der Sozialtherapie" insgesamt, vor allem angesichts einer zunehmend überlasteten Justiz sowie angesichts neuer, in der Bekämpfung sehr aufwendiger Formen der Kriminalität (Wirtschaftskriminalität, Terrorismus). 32 Eindeutig ist im übrigen, daß Probleme um die Modellanstalt Düren, wo es im Rahmen von Anlaufschwierigkeiten zu Vorkommnissen kam, die es im normalen Strafvollzug ebenso gibt, dem Gedanken der sozialtherapeutischen Anstalt schweren Schaden zugefügt haben, und zwar vor allem im Hinblick auf das Engagement geeigneten Personals. Die Art und Weise, wie ein Teil der Presse auf die Vorkommnisse reagierte, war ebenso deprimierend wie die von parteipolitischen Querelen beeinflußte Erörterung im Landtag (näher LT-Prot. NRW 7/1447 ff, 1638 ff; vgl. auch LT-Drucks. 7/1528; Rasch Forensische Sozialtherapie, S. 4 ff; Leppert ebenda S. 183 ff). 33 Bezeichnend für die veränderte Einschätzung dürfte sein, daß der Bundesrat, der der Regelung des § 65 noch in der 6. LegPer. zugestimmt hatte (Stellungnahme zum EGStGB, BT-Drucks. 6/3250, Anlage 2), in der 7. LegPer. die Streichung des § 65 zugunsten einer sog. reinen Vollzugslösung nach dem Muster des § 9 StVollzG empfahl (BT-Drucks. 7/550 S. 468). Er machte dabei zwar nur geltend, daß das StVollzG früher in Kraft treten werde und daß die Streichung eine erhebliche Verkürzung der Verfahren zur Folge hätte. Seine wirklichen Gründe dürften jedoch, wie spätere Äußerungen zeigen (Heinsen Prot. VII, 171; Weinert Prot. VII, 1782) und bekannt war, insbesondere im Unbehagen über die Auswahlkriterien des § 65 und in Bedenken gegen das Funktionieren der Regelung gelegen haben. Gegen die Empfehlung des Bundesrats hat sich nicht nur die Bundesregierung „mit Nachdruck" ausgesprochen (BT-Drucks. 7/550 S. 493). Auch der Sonderausschuß folgte ihr nach erneuter, zweimaliger und eingehender Diskussion bei einstimmigem Abstimmungsergebnis und in Kenntnis der Situation nicht (Prot. VII, 171 ff, 1781 ff; Sitzungen vom 23. 8.1973 und vom 16. 10. 1974). 34

b) Modellanstalten. Soweit sich erkennen läßt (der Überblick macht Schwierigkeiten), bestanden in der Bundesrepublik Ende 1974 zehn sog. Modellanstalten mit einer Belegungszahl von insgesamt etwa 350 Gefangenen (vgl. im einzelnen Horstkotte Prot. VII, 1865 ff)· Im Planungsstadium befanden sich damals (nach Horstkotte aaO) eine Reihe weiterer Anstalten mit einem Gesamtvolumen von 2040—2370 Plätzen. Bei den in den derzeitigen Modellanstalten Behandelten handelt es sich in der Mehrzahl um Strafgefangene, die „in loser Anlehnung" {Horstkotte aaO) an die Kriterien des § 65 ausgewählt werden ; einige Anstalten distanzieren sich jedoch von diesen Kriterien bewußt (so insbesondere Berlin-Tegel und Hamburg-Bergedorf; vgl. Horstkotte aaO). Die Behandlungsformen sowie die Besetzung mit Fachpersonal sind etwas unterschiedlich. Während in Ludwigshafen die Verhaltenstherapie im Vordergrund steht (dazu Schmitt oben Rdn. 16), dominieren in den anderen Anstalten ersichtlich Formen der Psychotherapie, insbesondere der Gesprächs- und der Gruppentherapie. In Hamburg-Bergedorf werden besonders auch Sexualdelinquenten behandelt. Die Modellanstalten sind zum Teil selbständige Anstalten, zum Teil Außenstellen oder Abteilungen anderer Vollzugsanstalten. 35 Im einzelnen handelt es sich um folgende Anstalten (beigefügte Namen beziehen sich auf Berichte über die Anstalten oder aus ihnen hervorgegangene wichtigere Arbeiten, die im Schrifttumsverzeichnis zitiert sind): — Bad Gandersheim (Gschwind) 1152)

Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt ( H a n a c k )

§ 6 5

— — — — — — — — —

Berlin-Tegel ( Uhlitz) Düren (Bechtel, Rasch, Rasch-Kühl, Romkopf, Sagebiel, Kretz) Erlangen (Egg, Egg-Frey) Gelsenkirchen (Quack, Romkopf, Rotthaus) Hamburg-Bergedorf (Ackermann, Holzapfel) Hohenasperg (die älteste Anstalt; Bechtel, Engell, Mauch, Mauch-Mauch) Kassel-Wehlheiden (vgl. Pietsch) Lübeck-Lauerhof (nur f ü r Frauen) Ludwigshafen (Schmitt). Ein sehr instruktiver Überblick über Arbeit und Methode in den einzelnen Modellanstalten findet sich in Bundeszusammenschluß S. 76 ff (Stand Februar 1973); vgl. auch die eingehende Darstellung bei H. Kaufmann S. 170 ff sowie die Übersichten von Schmitt in Müller-Dietz, Kriminaltherapie heute, S. 1 ff u n d von Blau ZStW 89 543. Konstituiert hat sich mittlerweile eine „Arbeitsgemeinschaft Sozialtherapeutische Anstalten im Justizvollzug"; dazu die Berichte von Rehn MschrKrim. 1976 148; 1977 50. Wichtige Vorarbeit hat ein interdisziplinärer Fachausschuß des Bundeszusammenschlusses f ü r Straffälligenhilfe geleistet (Bundeszusammenschluß S. 1 ff).

4. Weitere Entwicklung; Zukunftsperspektiven. D a sich abzeichnete, daß die 3 6 erforderlichen Anstalten u n d Plätze zu dem vorgesehenen Termin kaum im Ansatz zur Verfügung stehen würden (Rdn. 34), mußte der Gesetzgeber eingreifen. Einer Empfehlung der Justizminister und -Senatoren folgend (vgl. BT-Drucks. 8/792), entschloß er sich, den Zeitpunkt f ü r das Inkrafttreten der Regelung noch einmal (vgl. schon „Entstehungsgeschichte") hinauszuschieben. Er verwarf damit — zunächst u n d [s. Rdn. 33] wiederum — die Forderung, § 65 überhaupt aufzuheben und durch die sog. reine Vollzugslösung des § 9 StVollzG zu ersetzen. Bis zu welchem Zeitpunkt das Inkrafttreten verschoben werden solle, war im Gesetzgebungsverfahren umstritten. Der RegE (BT-Drucks. 8/792) sah den 1.1.1983 vor, der Bundesrat empfahl den 1.1.1988, weil bis 1983 „die Voraussetzungen für ein Inkrafttreten der Vorschriften . . . nicht in allen Ländern geschaffen werden" könnten (vgl. BT-Drucks. 8/792 mit ablehnender Gegenäußerung der Bundesregierung). Ob es an dem durch das Gesetz vom 22.12.1977 bestimmten Termin, also am 37 1.1. 1985, wirklich zum Inkrafttreten der Regelung kommt, ist aber nicht nur wegen der geschilderten Terminprobleme durchaus offen. Beabsichtigt ist nämlich auch (BT-Drucks. aaO), in der Zwischenzeit die „Erfahrungen auszutauschen", die mit der Behandlung von Gefangenen gemacht werden, die nach § 9 StVollzG in eine sozialtherapeutische Anstalt überwiesen sind, und eine von den Justizministern und -Senatoren beauftragte Kommission einzusetzen, die „die rechtlichen Regelungen der Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt unter Berücksichtigung der gewonnenen Erfahrungen insgesamt ü b e r p r ü f e n " soll. Zu denkbaren Alternativen u n d Teillösungen sowie zu entsprechenden Vor- 38 schlagen s. eingehend Kürzel MschrKrim. 1975 358. Die „Arbeitsgemeinschaft Sozialtherapeutische Anstalten im Justizvollzug" sieht in einer Resolution vom Oktober 1976 „Zukunft und Weiterentwicklung" der Anstalten „bedroht", fordert die Weiterführung des Projekts, hielt aber die Anwendung des § 6 5 ab 1.1. 1978 ebenfalls f ü r nicht „realisierbar" (vgl. Rehn MschrKrim. 1977 55). Zu der Resolu(153)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

tion haben sich die Justizsenatoren Baumann und Klug sehr temperamentvoll und kritisch geäußert (MschrKrim. 1977 123). 39

III· Personenkreis (Jugendliche, Heranwachsende, Jungtäter). § 65 ist nicht auf Täter anwendbar, die zur Zeit der Tat Jugendliche waren (arg. § 7 JGG). Heranwachsende unterliegen der Regelung nur, soweit sie als Erwachsene behandelt werden (§ 105 JGG). Das gilt auch für § 65 Abs. 2 ; zu Überlegungen, diese Vorschrift auf jüngere Täter auszudehnen, s. Rdn. 120. Es gilt aber auch für die stellvertretende Unterbringung nach 65 Abs. 3, obwohl Jugendliche und Heranwachsende der Unterbringung nach § 63 durchaus unterliegen. §65 Abs. 2 erfaßt, entsprechend seiner speziellen Zielsetzung (Rdn. 115, 118), ferner nur solche Erwachsene oder ihnen gleichgestellte Heranwachsende, die die Anlaßtat vor der Vollendung des 27. Lebensjahres begangen haben ; für Täter, die zur Tatzeit älter gewesen sind, kommt die Bestimmung mithin nicht in Betracht. Näher dazu und zur Überschneidung mit der Sicherungsverwahrung des § 66 bei Tätern, die die auslösende Tat zwischen dem 25. und dem 27. Lebensjahr begangen haben, s. Rdn. 149.

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IV. Rückfalltäter mit schwerer Persönlichkeitsstörung (Absatz 1 S. 1 Nr. 1, Satz 2). Die Gruppe der Rückfalltäter mit schwerer Persönlichkeitsstörung dürfte voraussichtlich die stärkste Personengruppe sein, die für die Unterbringung in der sozialtherapeutischen Anstalt in Betracht kommt. Bei ihr bestehen infolge der gesetzgeberischen Tendenz, die Einweisungsvoraussetzungen — jedenfalls zunächst — einengend zu gestalten (Rdn. 1 ; näher Lenckner S. 209), auch die bei weitem größten Probleme. Sie ergeben sich insbesondere aus dem zu diesem Zweck eingefügten „biologischen" Merkmal der „schweren Persönlichkeitsstörung" sowie aus der weiteren Voraussetzung des § 65 Abs. 1 S. 2, daß die sozialtherapeutische Behandlung „nach dem Zustand des Täters . . . angezeigt" sein muß. Im übrigen entsprechen die sog. formellen Voraussetzungen der Einweisung weitgehend denen des § 66.

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1. Vorverurteilungen und Vorverbiißungen. Voraussetzung ist zunächst, daß der Täter vor der auslösenden Tat (Anlaßtat) mindestens zweimal wegen vorsätzlicher Straftaten jeweils zu einer Freiheitsstrafe von wenigstens einem Jahr verurteilt worden ist und sich deswegen mindestens ein Jahr im Strafvollzug oder im Vollzug einer freiheitsentziehenden Maßregel befunden hat. Die Voraussetzungen des § 65 Abs. 1 Nr. 1 entsprechen insoweit genau und wörtlich denen der Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 1 Nr. 1 und 2, nur daß sich der Täter dort mindestens zwei Jahre in Freiheitsentzug befunden haben muß. Es ist nicht ersichtlich, daß ihre Auslegung irgendwie von den Grundsätzen abweichen könnte, die Rechtsprechung und Lehre für § 66 erarbeitet haben. Auf die dortige Kommentierung (Rdn. 29 ff für die Vorverurteilungen; Rdn. 35 ff für die Vorverbüßungen) kann daher verwiesen werden. Die Auffassung von Pätzold (S. 99 f)> daß der vorausgehende Freiheitsentzug von mindestens einem Jahr ohne Unterbrechung erfolgt sein müsse, ist vom Gesetz nicht gedeckt und nicht sachgerecht.

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Identisch mit § 66 sind auch die Regelungen über die Verurteilung zu einer Gesamtstrafe, über die Anrechnung von Untersuchungshaft sowie über die Rück(154)

Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt ( H a n a c k )

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fallverjährung (§ 48 Abs. 3, 4), die hier ebenso gelten (§ 65 Abs. 4 S. 1) wie bei der Sicherungsverwahrung (§ 66 Abs. 3 S. 1). Auf die Erl. in LK § 66 Rdn. 31 ff, Rdn. 37 und Rdn. 38 ff kann daher auch insoweit verwiesen werden. Zur Problematik der Gesamtstrafe näher Pätzold S. 96 f. Für die Berücksichtigung von Taten, die außerhalb des räumlichen Geltungsbereichs des StGB abgeurteilt worden sind, gilt § 65 Abs. 5, der mit § 66 Abs. 3 S. 2 übereinstimmt; vgl. dazu LK § 66 Rdn. 34. Die Vorverbüßungen sind nach Meinung des Gesetzgebers ein Indiz dafür, daß 4 3 der Täter durch Strafe voraussichtlich von der Begehung weiterer Taten nicht mehr abgehalten werden kann ; anders als in § 69 AE-AT ist dieses Indiz jedoch nicht zur förmlichen Einweisungsvoraussetzung erhoben, also keine widerlegliche Vermutung (näher zu den Gründen Prot. V, 2252; 2. Bericht S. 28). Aus der Regelung folgt aber immerhin, daß die Vorverbüßungen, ebenso wie die Vorverurteilungen, symptomatisch für die weitere Gefährlichkeit des Täters sein müssen ; zur Frage, wie weit das auch für die Verbindung mit der „schweren Persönlichkeitsstörung" gilt, s. Rdn. 65 ff. 2. Die auslösende Tat. Voraussetzung der Unterbringung ist weiter, daß die 44 Anlaßtat sich als vorsätzliche Straftat darstellt und der Täter ihretwegen zu einer zeitigen Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt wird. Wie bei § 66 (dort Rdn. 43) kommt die Anordnung also bei Verurteilung zu lebenslanger Freiheitsstrafe nicht in Betracht. Das ist hier im Einzelfall wenig einsichtig, weil auch der zu lebenslanger Strafe verurteilte Täter in den Resozialisierungs-Strafvollzug einbezogen ist und einbezogen sein muß (§ 2 StVollzG; vgl. auch BVerfG NJW 1977 1525; Bundeszusammenschluß S. 11), ein vorweggenommener Vollzug in der sozialtherapeutischen Anstalt aber dem persönlichkeitsgestörten Täter insoweit u. U. wesentlich zu helfen vermag; man wird annehmen müssen, daß darum die Möglichkeit der vollzugsinternen Überweisung nach § 9 StVollzG gegebenenfalls besonderer Beachtung bedarf und als gewisser Ersatz zu verstehen ist. Straftat ist nach dem Sprachgebrauch des StGB nur die tatbestandsmäßig-rechts- 4 5 widrige und schuldhafte Handlung oder Unterlassung. Vorsätzliche Tat ist auch die Vorsatz-Fahrlässigkeits-Kombination des § 11 Abs. 2. Im übrigen kommt es, wie bei § 66 (dort Rdn. 43), auf die Art der Straftat nicht an. So reicht auch hier Strafbarkeit wegen Versuchs, wegen Teilnahme oder wegen strafbarer Vorbereitung. Vorausgesetzt wird jedoch nach dem klaren Gesetzeswortlaut, daß die Anlaßtat 46 zeitlich nach den Taten begangen ist, die den Vorverurteilungen und Vorverbüßungen zugrunde liegen. Daß die Vorverurteilungen vorher rechtskräftig geworden sind, verlangt das Gesetz zwar nicht ganz deutlich oder doch nicht ganz vollständig; mit der herrschenden Meinung zur ähnlichen Regelung des § 66 Abs. 1 Nr. 1, 2 (vgl. dort Rdn. 43), ist vorherige Rechtskraft jedoch insbesondere im Hinblick auf die damit verbundene Warnfunktion grundsätzlich zu verlangen. Die Verurteilung zu einer Gesamtstrafe ist nur ausreichend, wenn wenigstens 47 eine der Einzelstrafen, aus denen die Gesamtstrafe gebildet ist, die Höhe von mindestens zwei Jahren erreicht. Es ergibt sich dies, wiederum wie bei § 66 (dort Rdn. 44 m. Nachw.), aus dem Wortlaut des Gesetzes („einer . . . Straftat") und aus seinem Zweck, die Maßregel nur bei Anlaßtaten von schwerem Gewicht zur Verfügung zu stellen (Lenckner S. 208). (155)

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3. Abschnitt. R e c h t s f o l g e n der Tat

Zur Frage des symptomatischen Charakters der Anlaßtat im Hinblick auf die schwere Persönlichkeitsstörung s. unten Rdn. 65 ff. 48

3. Vorliegen einer schweren Persönlichkeitsstörung. Zentrale Voraussetzung des Absatz 1 Nr. 1 ist, daß der Täter eine „schwere Persönlichkeitsstörung" aufweist. Alle Autoren, die sich bisher unter rechtlichen Gesichtspunkten etwas genauer mit der Interpretation dieses „biologischen Merkmals" (2. Bericht S. 28) beschäftigt haben, heben seine Unbestimmtheit hervor und kommen nur zu vagen Umschreibungen oder gar zur Resignation hinsichtlich der Möglichkeiten einer praktikablen Interpretation. Das gleiche Bild ergibt sich, vielleicht noch krasser, aus den Äußerungen derjenigen Fachleute, die für die behandlungswissenschaftliche Seite der Sozialtherapie als sachverständig gelten können. Vgl. im einzelnen ζ. B. (Auswahl) Hanack S. 50; Lenckner S. 210; Maurach AT § 68 I C 2 a; Pätzold S. 92 ff; Preisendanz Anm. I U I ; Rolinski S. 198; Zipf in Roxin u.a., Einführung in das neue Strafrecht, S. 93 und JuS 1974 274; Bechtel in Bundeszusammenschluß, S. 12; Ehrhardt FortschNeurolPsych. 1969 670; Mauch-Mauch S. 6 ff.; Mergen Kriminalistik 1975 62 und Schmidt-Leichner-Festschrift S. 121 ; Rasch-Kühl MschrKrim. 1973 237 („Niemand kann exakt sagen, was unter einer schweren Persönlichkeitsstörung zu verstehen ist"); Kewz/aj^Psychiatrie der Gegenwart, S. 912. Der folgende Interpretationsversuch läßt die verfassungsrechtliche Seite zunächst außer acht (dazu unten Rdn. 88 ff) und bemüht sich von verschiedenen Ansätzen her um eine nähere Begriffsbestimmung, kann aber noch ausstehende monographische Bemühungen nicht ersetzen.

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a) Vorstellungen des Gesetzgebers. Das Bundesjustizministerium hatte ursprünglich vorgeschlagen, in Anlehnung an die §§ 20 und 21 auf das Vorhandensein einer „seelischen Störung oder Abartigkeit" abzustellen (Prot. V, 2268 ; Horstkotte Prot. V, 2251). Die Formulierung hätte die Anlehnung an ein in sich geschlossenes Begriffssystem bedeutet, bei dem die „krankhaften" seelischen Störungen und die „schweren" seelischen Abartigkeiten der §§ 20, 21 nur als Ausschnitt aus einem umfassenderen, von § 65 Abs. 1 Nr. 1 erfaßten Bereich erschienen wären (Dreher Prot. V, 2263; Lenckner S. 210). Der Sonderausschuß verwarf das Abstellen auf die genannte Formulierung schließlich aus einer Reihe von Gründen (zusammenfassend Lenckner aaO), insbesondere wohl wegen der Gefahr unerwünschter Rückwirkungen bei der Auslegung der einen Gesetzesstelle auf die andere, und zwar u. a. auch wegen der Gefahr einer zu engen Interpretation des § 65 (so vor allem Horstkotte Prot. V, 2251, 2263). Bei den Bemühungen des Ausschusses blieb aber auch ungeklärt und umstritten, ob es überhaupt richtig sei, die §§ 20, 21 und 65 als Stufenverhältnis zu verstehen, oder ob es sich nicht um zwei überschneidende Kreise handele bzw. ob der eine Bereich gegenüber dem anderen gar ein aliud darstelle (Horstkotte Prot. V, 2263). Sichtbar wurde ferner die Sorge, daß der Begriff der „seelischen Störung oder Abartigkeit" das „Mißverständnis" fördern könnte, erfaßt werden sollten nur Psychopathen und Neurotiker, was aber gerade nicht der Fall sei (Mauch Prot. V, 2292).

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Was der Sonderausschuß unter der von ihm gewählten Formulierung der „schweren Persönlichkeitsstörung" verstanden wissen wollte, ist nicht viel klarer. Zum Ausdruck kam nur, daß der Begriff mit der Schuldfähigkeit nichts zu tun haben muß, insbesondere nicht auf eine hirnorganische Ursache hinweist (vgl. Horstkotte und Mauch Prot. V, 2251, 2292). Im übrigen läßt sich den Beratungen lediglich entnehmen, daß es sich um eine „Charakterinsuffizienz" und um „psychi(156)

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sehe Verhaltensauffälligkeiten" handeln soll, für die — doch — eine „schwere seelische Störung und Abartigkeit" sowie der Gedanke entscheidend seien, ob „jemand infolge seines ,Andersseins' Schwierigkeiten bei der sozialen Eingliederung hat" (Zitate aus Prot. V, 2264). Es war sogar davon die Rede, die „Persönlichkeitsstörung fange schon beim Sonderling an" (aaO). Nach dem Bild der Beratungen ist nicht ganz von der Hand zu weisen, daß der 51 Sonderausschuß vom Rat ausländischer Spezialisten (Stürup und Roosenburg; vgl. Horstkotte Prot. V, 2251) beeinflußt worden ist, „möglichst eine unpräzise Formel (zu) verwenden, da sie am besten zu handhaben sein werde". Auch Mauch hatte als Sachverständiger davon gesprochen, daß man sich über „die Kriterien, die maßgebend sind, um einen Straffälligen in Behandlung nehmen zu können", „in Streitgespräche" „nicht einlassen" dürfe (Prot. V, 2290, 2291). b) Systematische und teleologische Auslegung. Eine systematische Auslegung 52 ergibt zunächst eindeutig, daß die „schwere Persönlichkeitsstörung" nicht allein aus dem Umstand gefolgert werden darf, daß der Täter ein gefährlicher Rückfalltäter ist, das Merkmal vielmehr eine zusätzliche Voraussetzung umschreibt, da es sonst überflüssig wäre (Lenckner S. 211). Die systematische Auslegung bestätigt ferner, daß die „schwere Persönlichkeitsstörung" nicht von der verminderten Schuldfähigkeit abhängt. Insbesondere kann insoweit § 65 Abs. 3 nicht als lex specialis für vermindert schuldfähige Täter angesehen werden, da er nur eine Spezialregelung für die dem § 63 unterliegende Tätergruppe darstellt („stellvertretende Unterbringung"), die Unterbringung von Tätern mit schwerer Persönlichkeitsstörung gemäß § 65 Abs. 1 Nr. 1 aber von anderen Voraussetzungen abhängig ist, so daß also beide Vorschriften in ihrem sich überschneidenden Anwendungsbereich nebeneinander stehen (näher dazu und zu den Folgen unten Rdn. 159 ff). Versucht man, den Begriff der „schweren Persönlichkeitsstörung" mit Hilfe 53 einer spezifisch teleologischen Betrachtung zu interpretieren, ergeben sich Schwierigkeiten. Denn einerseits wollte der Gesetzgeber mit der Verwendung des Begriffs den Kreis der unterzubringenden Rückfalltäter einschränkend begrenzen. Andererseits ging es ihm darum, unter den weiteren Voraussetzungen des § 65 Abs. 1 solche gefährlichen Rückfalltäter zu erfassen und der besonderen Behandlung durch die sozialtherapeutische Anstalt zuzuführen, bei denen im Zweifel die Mittel des normalen Strafvollzugs zur Resozialisierung nicht ausreichen. „Schwere Persönlichkeitsstörungen" müssen danach aber jedenfalls solche Störungen sein, deren Behandlung, über die Möglichkeiten des Strafvollzugs hinaus, den Einsatz „besonderer therapeutischer Mittel und sozialer Hilfen" „durch „Fachkräfte" (vgl. § 123 StVollzG), erforderlich macht, sofern der Täter für eine solche Behandlung geeignet ist. Diese Intention des Gesetzes macht den Schluß zwingend, die „schwere Persönlichkeitsstörung" in erster Linie nach der Therapiebedürftigkeit, also danach zu bestimmen, ob es sich um Zustände handelt, die nach ihrer Art oder Hartnäckigkeit die spezielle Behandlung des dafür geeigneten Täters zur Bekämpfung seiner weiteren Rückfälligkeit erfordern. In dieser Richtung bewegen sich auch die meisten bisherigen Auslegungsbemühungen (Hanack S. 50; Hanack Krim. Gegenwartsfragen 1972, S. 232; Lenckner S. 211 ; Pätzold S. 94; Rasch-Kühl S. 210; Zipf in Roxin u. a., Einführung in das neue Strafrecht, S. 93). Mit dem genannten Schluß ist nun freilich noch nicht viel gewonnen. Der Schluß ist sogar problematisch und gefährlich, weil er den Begriff der „schweren (157)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

Persönlichkeitsstörung" stark relativiert und in mindestens bedenklicher Weise mit den Problemen der Eignungsklausel (§ 65 Abs. 1 S. 2) vermischt. Es muß daher versucht werden, ihn näher zu konkretisieren. Dafür lassen sich nur drei, eng miteinander zusammenhängende Ansatzmöglichkeiten erkennen. 54 (1) Der eine Ansatz liegt in dem Versuch, anhand der Intentionen des Gesetzes unter Berücksichtigung der systematischen Auslegung wenigstens Art und Charakter der in Frage stehenden Zustände im allgemeinen zu bestimmen. Das Ergebnis dürfte eindeutig sein und letztlich zu schon Gesagtem zurückführen: Erfaßt werden nach diesem Ansatz alle das Gesamtbild der Persönlichkeit prägenden und gleichsam resistent gewordenen („schweren") Umstände, die zu erheblicheren Einordnungsschwierigkeiten im sozialen Leben führen und für die Straffälligkeit des Täters Bedeutung besitzen. Ob diese Zustände angeboren oder erworben, verschuldet oder unverschuldet sind, ist erkennbar gleichgültig. Gleichgültig ist aber auch, ob die Zustände durch Fachkräfte im engeren Sinn des Wortes „geheilt" werden können, oder ob sie nur mit der Folge „beeinflußbar" sind, daß die weitere Rückfälligkeit ausgeschlossen oder gemindert wird. Und gleichgültig ist ferner, ob sie im traditionellen medizinischen Sinne „Krankheitswert" besitzen oder auch nur — vgl. dazu im folgenden — „krankheitsnah" sind. Erfaßt werden also unter den weiteren Voraussetzungen des § 65 Abs. 1 Nr. 1 praktisch insbesondere schwerere Formen sog. Psychopathie, erhebliche Neurosen, u. U. aber auch hartnäckige Verwahrlosungen (zum letzteren auch unten Rdn. 61), leichtere Formen des Schwachsinns sowie Suchtgefährdungen. Klein (S. 24) spricht von einem „Sammelbecken" „für alle Fehlentwicklungen, bei denen sich das Gericht zur Anwendung der §§ 20, 63 nicht entschließen kann". 55 Daß dieser weite Kreis von Auffälligkeiten gemeint ist, ergibt sich, entsprechend dem sprachlichen Gehalt des Begriffs „schwere Persönlichkeitsstörung" im Zusammenspiel mit den sonstigen formellen und materiellen Voraussetzungen des § 65 Abs. 1 Nr. 1, deutlich auch aus den Beratungen des Sonderausschusses (oben Rdn. 50). Es ergibt sich weiter aus den Vorstellungen des Gesetzgebers über die einzusetzenden „besonderen therapeutischen Mittel und sozialen Hilfen". Die Aufzählung der Mittel und Hilfen im 2. Bericht (oben Rdn. 9) umfaßt sowohl medizinische und psychologische als auch allgemein stabilisierende sowie sonstige persönlichkeitsstützende Einwirkungen und macht damit deutlich, daß Störungen jeder Art und Genese erfaßt werden. Deutlich wird dabei auch, daß es sich nicht um im engeren Sinne „heilbare" Zustände handeln muß, sondern daß auch eine Beeinflußbarkeit reicht, die — wie es § 123 StVollzG ausdrückt — den Täter befähigt, „künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen". Auch dies bestätigt im übrigen noch einmal, daß der geschilderte weite Kreis von Auffälligkeiten erfaßt sein soll. 56 (2) Der zweite, für eine genauere Begriffsbestimmung vielleicht sogar besonders wichtige Ansatz liegt in dem Versuch einer Abschichtung, welche Täter denn nun eigentlich ausreichend im normalen Vollzug betreut werden können und bei welchen Tätern es der sozialtherapeutischen Anstalt bedarf. Daß es darauf ankommt oder ankommen muß, hat bei den Beratungen im Sonderausschuß vor allem Mauch (Prot. V, 2289 ff) betont. Die Abgrenzung im einzelnen blieb aber schon bei diesen Beratungen praktisch offen. Sie kann und muß heute nach der gesetzlichen Gestaltung des Strafvollzugs im StVollzG beurteilt werden. Danach ergibt sich folgendes : Im Strafvollzug werden nach dem Gesetz sehr weitgehende „soziale Hilfen" angeboten (§§ 71 ff StVollzG). Es ist nicht recht ersichtlich, was hier die sozialthera(158)

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peutische Anstalt mehr leisten könnte. Denkbar ist lediglich, daß die Betreuung „durch Fachkräfte" (§ 123 StVollzG) eine etwas intensivere Ausnutzung dieser Hilfen zuläßt und daß im übrigen auch die Möglichkeit der nachgehenden Betreuung (vgl. § 125 StVollzG) zum besseren Einsatz solcher besonderen Hilfen führt, obwohl die nachgehende Betreuung wohl meist mehr für die spezifisch „therapeutische" Behandlung gedacht ist. Hingegen wird im Strafvollzug nach dem Gesetz an „besonderen therapeutischen Mitteln" außer der Gesundheitsfürsorge im engeren Sinne (§§ 56 ff StVollzG) nur „Belastungserprobung und Arbeitstherapie" angeboten, und auch das nur, „soweit die Belange des Vollzugs nicht entgegenstehen" (§ 58 Nr. 5 StVollzG). Ersichtlich wird danach, wie das auch dem Grundgedanken (Rdn. 1, 7 ff) und der bisherigen Entwicklung des Instituts (Rdn. 34 f) entspricht, das eigentliche Schwergewicht der sozialtherapeutischen Einflußnahme auf den „besonderen therapeutischen Mitteln" liegen. Doch ergibt sich auch von daher weder nach der Ausgestaltung im StVollzG noch nach der Aufzählung im 2. Bericht (Rdn. 9) ein weiterführender Hinweis, der es erlauben könnte, den Begriff der „schweren Persönlichkeitsstörung" insoweit von dem erörterten Ansatz her genauer zu umgrenzen. Vielmehr bestätigt sich eher das Ergebnis des ersten Ansatzes (Rdn. 54 0 , daß im Zweifel der gesamte Bereich der geschilderten hartnäckigen Auffälligkeiten als erfaßt angesehen werden muß. (3) Ein dritter Ansatz für eine nähere Begriffsbestimmung könnte sich aus dem 57 Erfordernis ergeben, daß es sich um eine „schwere" Persönlichkeitsstörung handeln muß. Daß darin eine Einschränkung zum Ausdruck kommt (vgl. 2. Bericht S. 29), ist sicher. Aber wie diese Einschränkung zu bestimmen ist, blieb schon bei der kurzen Erörterung des Merkmals im Sonderausschuß (Prot. V, 2296) gänzlich offen ; die Äußerungen dazu verraten im Grunde nur widersprüchliche Unsicherheit. In der Tat ist — zumal angesichts der übrigen Voraussetzungen des § 65 Abs. 1 Nr. 1 — nicht ersichtlich, wie sich mit Hilfe des Adjektivs „schwer" eine substantielle Bestimmung der „Persönlichkeitsstörung" finden ließe, die über das hinausgeht, was sich aus dem allgemeinen Zweck der Vorschrift (oben Rdn. 53, 54 f) ergibt, oder wodurch sich eigentlich die „schwere" von der „nicht-schweren" Persönlichkeitsstörung unterscheiden könnte. Soweit erkennbar, sind solche Bestimmungen und Abgrenzungen auch von den Behandlungswissenschaften und den Fachwissenschaftlern, die sich mit der Sozialtherapie beschäftigen, bisher nicht entwickelt worden. Mauch-Mauch, die das Merkmal wohl am ausführlichsten erörtern (S. 7), sprechen sogar davon, daß die Feststellung der Schwere „am Ende Frage der persönlichen Wertung ist, die beinahe jeder Gutachter auf verschiedene Weise vorzunehmen geneigt ist, und zwar je nachdem, welchen Standpunkt er bezüglich der Ursachen der Kriminalität einnimmt"; und sie meinen ferner, „daß mit den heutigen wissenschaftlichen Mitteln . . . eine leichte Persönlichkeitsstörung von einer schweren nicht abzugrenzen" sei (ähnlich im Ergebnis Mergen Schmidt-Leichner-Festschrift S. 125; Rasch-Kühl MschrKrim. 1973 237). c) Ergebnisse der Behandlungswissenschaften. Auf die Frage, ob der Begriff der 58 Persönlichkeitsstörung in der Psychiatrie „so gesichert sei, daß auch die Rechtsprechung damit etwas anfangen könne", hat Manch im Sonderausschuß geantwortet, daß „man den Begriff wahrscheinlich noch mehr präzisieren und auffüllen" müsse (Prot. V, 2292; vgl. auch Rasch-Kühl S. 204). Von dieser Erwartung ist ohne Zweifel auch der Gesetzgeber ausgegangen. (159)

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Es scheint jedoch, daß die beteiligten Behandlungswissenschaften eine solche Präzisierung bisher nicht oder doch jedenfalls nicht in justiziabler Form entwickelt haben. Soweit das Problem im Rahmen der einschlägigen Veröffentlichungen überhaupt angesprochen wird, wird meist nur auf seine weitere Klärungsbedürftigkeit hingewiesen (zuletzt Kury-Fenn S. 232 m. w. Nachw.). Eine weitergreifende Untersuchung von Mauch-Mauch (S. 3 ff) hält den Begriff letztlich für unbrauchbar und vermag ihn darum auch nicht zu konturieren. Rasch-Kühl (S. 205) betonen, daß Ausgangspunkt der definitorischen Bemühungen — bei allen vier Tätergruppen des § 65 — die Verklammerung durch das Vorliegen „einer psychischen Anomalie oder einer charakterlichen Fehlentwicklung" sein müsse. 59

Ihr Bericht über die eingehende empirische Untersuchung von kritischen, die formellen Unterbringungsvoraussetzungen des § 65 Abs. 1 Nr. 1 weitgehend erfüllenden Gefangenen bei den Vorbereitungen für die Modellanstalt Düren (S. 220 ff ; vgl. auch Rasch-Kühl MschrKrim. 1973 237) bietet insoweit bislang die wohl wichtigsten Anhaltspunkte. Die Untersuchung führte Rasch-Kühl zu dem Ergebnis (S. 257 f), daß bei allen untersuchten Tätern „erhebliche Störungen im emotionalen Bereich" bestanden. Die meisten zeigten dabei „neurotische Symptome in Form von vegetativen Störungen, Depressivität, Gehemmtheit und Erregbarkeit, also Befunde, die bei Nicht-Straffälligen unmittelbar die Einleitung psychotherapeutischer Behandlungsmaßnahmen nahelegen". Rasch-Kühl gelingt dabei auch eine Typendifferenzierung in vier „Cluster", von denen jedes eine besondere Art von Persönlichkeitsstörung repräsentiert. Sie werden von den Autoren (aaO; vgl. auch S. 249 ff) nach den vorgefundenen Leitmerkmalen wie folgt charakterisiert: Resignierende depressiv-asthenische Neurotiker; protestierende aggressiv-dysphorische Neurotiker; quasi-angepaßte selbstzufriedene Konfliktvermeider; hilflos-gutwillige Minderbegabte. Diese Differenzierung ist ersichtlich (vgl. Rasch-Kühl S. 248) vor allem auf „Behandlungsindikation und Therapieziele" gemünzt. Auch spricht der Umstand, daß alle untersuchten Häftlinge, soweit sie nicht aus äußeren Gründen aus der Untersuchung ausschieden, die „erheblichen Störungen" aufwiesen, ja wohl gerade nicht dafür, daß die verdienstliche Dürener Untersuchung ein näheres Kriterium zur Beurteilung der „schweren Persönlichkeitsstörung" aufzeigt. Soweit der Laie die komplizierten medizinisch-psychologischen Testmethoden nachvollziehen kann, deutet das Untersuchungsergebnis im Gegenteil sehr deutlich darauf hin, daß die Störungen der Täter zwar verschieden geartet, letztlich aber gleich gewichtig sind. Dies könnte nicht nur den Schluß nahelegen, daß sich der Begriff der schweren Persönlichkeitsstörung einer differenzierenden Interpretation von genereller Tragfähigkeit durch die spezifischen Methoden der Behandlungswissenschaften überhaupt entzieht; es könnte sogar die naheliegende Vermutung stützen, daß die Voraussetzungen der „schweren Persönlichkeitsstörung" bei Vorliegen der übrigen Erfordernisse des § 65 Abs. 1 Nr. 1 im Zweifel immer gegeben sind, wie das ζ. B. Mauch-Mauch (S. 3 ff) im Ergebnis in der Tat annehmen.

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d) Ergebnis. Einzelheiten. Als Ergebnis ist festzustellen, daß derzeit keine Möglichkeiten erkennbar sind, den Begriff der „schweren Persönlichkeitsstörung" über die gesetzgeberischen Grundvorstellungen (Rdn. 54 f) hinaus einzugrenzen. Es bleibt mithin bei dem oben Rdn. 54 umschriebenen weiten Anwendungsbereich. Diesen Anwendungsbereich für die charakteristischen Fallgruppen im einzelnen darzustellen, sprengt die Aufgaben und Möglichkeiten des Kommentars, weil eine solche Darstellung praktisch alle Grund- und Einzelfragen der kriminologisch rele(160)

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vanten Persönlichkeitsforschung einzubeziehen hätte. Hinzuweisen ist auf die zusammenfassenden Übersichten von Klein (S. 29 ff) und Kühl-Rasch (S. 214 ff). Hervorzuheben bleibt, daß außer den sog. Psychopathen (dazu kritisch aber § 66 61 Rdn. 100) bzw. der differenzierten Erforschung spezifischer Persönlichkeitskomponenten und den — nach den Untersuchungen im Rahmen der Modellanstalt Düren offenbar sogar besonders wichtigen — neurotisch bedingten Störungen im Einzelfall auch der Schwachsinn und insbesondere die verfestigte Verwahrlosung eine „schwere Persönlichkeitsstörung" darstellen können. Wie weit der Schwachsinn freilich ein wichtiger kriminogener Faktor ist, ist heute umstritten und nach neueren Forschungen ersichtlich mindestens dann sehr zurückhaltend zu beurteilen, wenn sich der Schwachsinn nicht mit anderen kritischen Faktoren mischt (vgl. LK § 66 Rdn. 99). Eine andere Frage ist auch, wann bei Schwachsinn die Behandlung in der sozialtherapeutischen Anstalt i. S. des § 65 Abs. 1 S. 2 überhaupt angezeigt ist; vgl. dazu unten Rdn. 80. Verfestigte Verwahrlosungen (dazu näher Klein S. 43 ff m. Nachw.) dürften hingegen als schwere Persönlichkeitsstörung — in oft untrennbarer Überschneidung mit sog. Psychopathie und mit Neurosen — häufig unmittelbar relevant und vielfach auch therapeutisch beeinflußbar sein. Es handelt sich insoweit um eine Palette von Erscheinungsbildern, die sich typischerweise als ausgeprägte unsoziale, asoziale oder antisoziale Einstellung gegenüber Recht und Gesellschaft darstellen und zu Retardierungen in den Objekt- und Umweltbeziehungen der Betroffenen führen, die regelmäßig durch Rückstände in der psychischen Entwicklung oder/und Störungen im Entwicklungsmilieu bedingt sind. Ob vielleicht nicht gerade hier ein wichtiger Ansatzpunkt für eine sinnvolle Entwicklung sozialtherapeutischer Bemühungen gegenüber Rückfalltätern mit schwerer Persönlichkeitsstörung liegt, könnte die Frage sein. 4. Die weitere Gefährlichkeit des Täters. Es muß die Gefahr bestehen, daß der 62 Täter weiterhin erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird. „Gefahr" bedeutet auch hier (vgl. schon LK § 64 Rdn. 69; auch Rdn. 44 vor § 61) überwiegende Wahrscheinlichkeit. Von dieser Wahrscheinlichkeit muß das Gericht überzeugt sein ; kann es zu solcher Überzeugung nicht gelangen, gilt der Grundsatz in dubio pro reo (streitig; näher Rdn. 48 ff vor § 61). Die Gefahr muß sich auf „rechtswidrige Taten" beziehen. Nicht vorausgesetzt wird damit, daß es sich um schuldhaft begangene Taten handelt. Erfaßt wird vielmehr auch die Gefahr, daß der Täter die künftigen Taten im Zustand ausgeschlossener Schuldfähigkeit (§ 20) begeht. Der Begriff der „erheblichen" Tat findet sich seit der Strafrechtsreform zwar als 63 eine Art Zentralbegriff bei allen freiheitsentziehenden Maßregeln, läßt sich aber dennoch bei den einzelnen Maßregeln nicht ohne weiteres einheitlich bestimmen, schon weil diese jeweils an recht verschiedene Störungen und Gefährdungen anknüpfen und auch im übrigen, insbesondere nach ihrem Gewicht, unterschiedlich strukturiert sind (näher Rdn. 40 vor § 61 ; auch § 63 Rdn. 45 ff). Für § 65 Abs. 1 Nr. 1 dürfte entscheidend sein, daß die Unterbringung auf Täter mit schweren Anlaßtaten und beträchtlicher krimineller Vorbelastung gemünzt ist und daß sie — unbeschadet ihres spezifisch resozialisierenden Charakters — in gewissem Sinne vor der Sicherungsverwahrung steht bzw. ihrer Verhütung dient (oben Rdn. 5 und § 66 Rdn. 9). Auch handelt es sich — wiederum unbeschadet des spezifisch resozia(161)

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lisierenden Charakters — trotz der begrenzten Höchstdauer um eine ihrer Natur nach besonders schwerwiegende und belastende Maßregel. Man wird danach die Schwelle der Erheblichkeit zwar insgesamt etwas geringer als bei der Sicherungsverwahrung ansetzen dürfen (Lenckner S. 209; Pätzold S. 105 f)> wofür auch das Fehlen der namentlich-Klausel des § 66 spricht, aber doch wohl annehmen müssen, daß „erheblich" nur Taten sind, die ihrer Art und Gefährlichkeit nach mindestens im oberen Bereich der mittleren Kriminalität liegen. Taten, die ihrem objektiven Unrechtsgehalt nach die für die Vorverurteilungen erforderliche Grenze von einem Jahr Freiheitsstrafe nicht erreichen, scheiden regelmäßig aus (vgl. dazu § 66 Rdn. 109; ebenso Pätzold aaO). Eine Berücksichtigung des drohenden Gesamtschadens ist, ganz ähnlich wie bei der Sicherungsverwahrung (s. LK §66 Rdn. 115 f), bei wirtschaftlichen Schäden in Fällen „an der Grenze" (so BGHSt. 24 153, 155 für § 66) dann zulässig, wenn die Taten für sich in den Bereich der mittleren Kriminalität gehören. Darüber hinaus kommt, wiederum ähnlich wie bei der Sicherungsverwahrung (vgl. näher LK § 66 Rdn. 126 ff), bei einer drohenden Vielzahl von Taten geringeren Schweregrades eine Bewertung als — insgesamt — „erhebliche" Taten nur ausnahmsweise dann in Betracht, wenn die drohenden Taten zielgerichtet auf wirtschaftlich Schwache, ζ. B. Rentner, bezogen sind. 64

Die Prüfung, ob weitere erhebliche Taten zu erwarten sind, verlangt stets eine sorgfältige Gesamtwürdigung des Täters und seiner Taten ; die Regeln, die dafür bei §66 entwickelt worden sind (s. dort Rdn. 156 ff), müssen insoweit sinngemäß gelten. Daß das Gesetz die Gesamtwürdigung hier nicht ausdrücklich verlangt, dürfte vor allem an seiner umstrittenen Auffassung über die Kausalitätsbeziehung der „schweren Persönlichkeitsstörung" liegen (dazu im folg. Text), kann die Pflicht zur Gesamtwürdigung aber selbstverständlich nicht ausschließen.

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5. Keine Kausalität der Persönlichkeitsstörung? Nach dem Wortlaut des Gesetzes braucht zwischen der schweren Persönlichkeitsstörung und den Vortaten, der Anlaßtat und den zu erwartenden Taten kein Zusammenhang zu bestehen; erforderlich ist nach dem Wortlaut nicht einmal, daß bei den früheren Taten oder der Anlaßtat überhaupt eine Persönlichkeitsstörung vorgelegen hat, weil reicht, daß der Täter sie (im Zeitpunkt des Urteils) aufweist. Dies war jedenfalls insoweit Absicht, als es um die Frage des Kausalzusammenhangs geht: Der Gesetzgeber hat vom ausdrücklichen Hinweis auf das Kausalitätserfordernis abgesehen, weil sich ein solcher Zusammenhang in der Praxis vielfach schwer nachweisen lasse, sein Bestehen jedoch vermutet werden könne, wenn die Persönlichkeitsstörung und die Rückfallgefahr vorliegen (Prot. V, 2260 f; 2. Bericht S. 28 f)· 66 Diese Regelung ist problematisch (zu scharf aber wohl Hanack S. 50: „katastrophaler Fehler"), weil die Loslösung vom Zusammenhang mit den begangenen und den zu erwartenden Taten eine genauere Konturierung des Begriffs der „schweren Persönlichkeitsstörung" noch schwieriger und fragwürdiger macht. Die Regelung ist überdies auch verfassungsrechtlich bedenklich (Hanack aaO ; a. A. Pätzold S. 94 f und wohl auch Lenckner S. 213; Bockelmann AT § 42 III 2 a; Preisendanz Anm. III 1 c): Zwar stünde es dem Gesetzgeber frei, eine Maßregel etwa nach dem Vorbild des § 69 Abs. 3 AE-AT allein am Rückfallsyndrom zu orientieren. Dies hat er jedoch nicht oder jedenfalls nicht in eindeutiger Form getan, schon weil auch die weitere Gefährlichkeit nicht notwendig mit den begangenen Taten korrespondieren muß (die Maßregel vielmehr entscheidend an der vermuteten Persönlichkeitsstö(162)

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rung ausgerichtet ist; übersehen von Pätzold aaO). Dadurch aber kann es bei wortgetreuer Anwendung des Gesetzes zur Unterbringung auch dann kommen, wenn nicht feststeht, ob sie durch eine Anlaßtat indiziert ist. Das zeigt ein schon im Sonderausschuß erörtertes Beispiel (Horstkotte Prot. V, 2261 ; vgl. auch Lenckner aaO): Der Täter hat Vorstrafen wegen Diebstahls, die die formellen Voraussetzungen des § 65 Abs. 1 Nr. 1 erfüllen und mit einer fortdauernden Persönlichkeitsstörung im Zusammenhang stehen ; Anlaßtat ist jedoch ein Delikt des Landesverrats, bei dem dieser Zusammenhang fehlt. Würde man den Täter entsprechend dem Gesetzeswortlaut zur Unterbringung in der sozialtherapeutischen Anstalt verurteilen, um ihn von seinem Diebstahlshang zu heilen (so der Beispielsfall), wäre der Landesverrat bloßer Anlaß für eine nach den Voraussetzungen des § 65 Abs. 1 Nr. 1 nicht indizierte Unterbringung (Horstkotte, Lenckner aaO). Gleiches gilt aber auch, wenn die weitere Gefährlichkeit des Täters mit seiner Diebstahlsneigung nichts zu tun hat, sondern auf die Wahrscheinlichkeit weiterer Landesverratsdelikte bezogen ist. In beiden Fällen würde die Einweisung jeweils (und dem Sinn des Gesetzes widersprechend) an unzureichende Anhaltspunkte anknüpfen, was auch verfassungsrechtlich nicht angeht, schon weil die gewissermaßen vorsorgliche Resozialisierung mit Hilfe des Strafrechts dessen Aufgabenbereich sprengt und nach dem Übermaßverbot unzulässig ist. Die Überlegung Horstkottes (aaO), dem lasse sich im Beispielsfall durch die Annahme Rechnung tragen, daß die Unterbringung i. S. des § 65 Abs. 1 S. 2 (Eignungsklausel) „nach dem Zustand des Täters" nicht „angezeigt" sei, weil dies voraussetze, daß sich der Zustand gerade in der abgeurteilten Tat manifestiert habe, ist nicht schlüssig (so auch Lenckner S. 213), schon weil die Eignungsklausel des § 65 Abs. 1 S. 2 sich ihrem ganzen Zweck nach nur auf die Behandlungsfähigkeit des Täters, nicht aber auf seine Behandlungsbedürftigkeit bezieht (näher Rdn. 71). Lenckner (aaO) meint, die Gesetzesregelung müsse als widerlegliche Vermutung 67 ausgelegt und einschränkend dahin interpretiert werden, daß die Anordnung der Maßregel „nach allgemeinen Grundsätzen" unzulässig sei, wenn „mehr oder weniger offenkundig (ist), daß die Taten, auf die es nach Absatz 1 Nr. 1 ankommt, nicht in das Bild der beim Täter festgestellten und in der sozialtherapeutischen Anstalt zu behandelnden Persönlichkeitsstörung passen". Dies erscheint in der Sache annehmbar, bedeutet im Ergebnis freilich eine klare Korrektur des Gesetzeswortlauts. Aber diese Korrektur ist „nach allgemeinen Grundsätzen" einerseits unabweisbar, andererseits jedoch ausreichend zu konkretisieren. 6. Die angezeigte Behandlung (Absatz 1 S. 2, sog. Eignungsklausel). Nach § 65 68 Abs. 1 S. 2 wird die Unterbringung nur angeordnet, wenn „nach dem Zustand des Täters" „die besonderen therapeutischen Mittel und sozialen Hilfen" „einer" sozialtherapeutischen Anstalt zu seiner Behandlung „angezeigt" sind. In dieser Voraussetzung liegt neben — und im Zusammenhang mit — der Frage der „schweren Persönlichkeitsstörung" die weitere zentrale Schwierigkeit bei der Entscheidung über die Einweisung persönlichkeitsgestörter Rückfalltäter nach § 65 Abs. 1 Nr. 1. Eingehend zur Problematik insbesondere de Landecho JZ 1971 672. a) Allgemeines. Der Wortlaut der Bestimmung ist mehrdeutig und ihr Inhalt 69 schon heute im Kernbereich umstritten, was nicht zuletzt daran liegen dürfte, daß dieser Inhalt auch im Sonderausschuß nur flüchtig und wenig klar behandelt wurde (Prot. V, 2250; vgl. auch 2. Bericht S. 28 f). (163)

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Sicher ist zunächst, daß die Vorschrift die Frage betrifft, ob der Täter behandlungs/ä/i/g ist, ob also in diesem Sinne seine sozialtherapeutische Behandlung „angezeigt" erscheint (Lenckner S. 211; Preisendanz Anm. III 1 d). Das ergibt sich klar schon aus dem Gesetzeswortlaut und war beabsichtigt: Der Gesetzgeber ging davon aus, daß sich nicht alle Rückfalltäter mit schwerer Persönlichkeitsstörung für die spezifische Behandlung in der sozialtherapeutischen Anstalt çignen. Er wollte mit der Bestimmung daher nicht nur vermeiden, daß die sozialtherapeutische Anstalt zum Abstellgleis für „Störer" wird, sondern insbesondere auch sicherstellen, daß die Unterbringung nur bei geeigneten Tätern angeordnet wird. 70 Nicht haltbar ist daher die Ansicht von Pätzold (S. 100 ff unter unrichtiger Berufung auf Hanack S. 58) und von Mauch-Mauch (S. 13), daß die Vorschrift nicht die Behandlungs/aAígfce// — sondern nur die Behandlungsbedürftigkeit — betreffen könne, weil sich die Behandlungsfähigkeit als Einweisungsvoraussetzung vor dem Urteil überhaupt nicht klären lasse, bei anderer Interpretation eine Einweisung also unmöglich sei. Zwar bestehen die genannten Klärungsschwierigkeiten in der Tat (näher unten Rdn. 191); aber sie erlauben nicht, Wortlaut und berechtigten Zweck der Bestimmung wegzudiskutieren. 71 Fraglich ist jedoch, ob die Bestimmung über die Frage der Behandlungsfähigkeit hinaus auch die Behandlungsbedürftigkeit betrifft (so ersichtlich Lenckner S. 211 ohne nähere Begründung; Preisendanz Anm. III 1 d). Eine solche Interpretation liegt besonders deswegen nahe, weil der Begriff der schweren Persönlichkeitsstörung sehr weitgehend ist (Rdn. 54, 60) und sich wohl überhaupt nur mit Blick auf die Therapiebedürftigkeit einigermaßen interpretieren läßt (Rdn. 53), und weil eine solche Interpretation es auch erlauben würde, die Schwierigkeiten abzufangen, die sich (s. oben Rdn. 65 f) aus dem beabsichtigten Wortlaut des Gesetzes ergeben, nach dem die Persönlichkeitsstörung nicht notwendig in einem bewiesenen Kausalzusammenhang mit den begangenen und den zu erwartenden Taten stehen muß. Dennoch sprechen überwiegende Gründe gegen eine derartige Interpretation: Wollte man nämlich die Vorschrift auch auf die Behandlungsbedürftigkeit beziehen, würde sie unweigerlich zu einer Art Generalklausel über die Erforderlichkeit, weil sie dann notwendigerweise nicht nur — im Sinne Horstkottes, oben Rdn. 66 — die notwendige Korrektur der Kausalitätsproblematik beträfe. Der Richter hätte vielmehr in jedem Einzelfall zu entscheiden, ob die Unterbringung, trotz aller formellen und materiellen Voraussetzungen des § 65 Abs. 1 Nr. 1, im Hinblick auf den Einsatz der besonderen therapeutischen Mittel und sozialen Hilfen erforderlich ist. Schon die Frage, nach welchen Kriterien er das beurteilen könnte, dürfte kaum lösbar sein, zumal Satz 2 in sich unklar und zwiespältig ist (zum letzteren näher unten Rdn. 85 f). Vor allem aber entspricht es nicht den gesetzgeberischen Zielvorstellungen, die Erforderlichkeit der Unterbringung in dieser Weise der Verantwortung des Richters zu überlassen: Der Gesetzgeber wollte im Maßregelrecht der Strafrechtsreform dem Richter sogar jede spezielle Erforderlichkeits-Prüfung, die über die Beurteilung der jeweiligen formellen und materiellen Maßregelvoraussetzungen hinausgeht, aus der Hand nehmen, was ihm freilich hinsichtlich des Subsidiaritätsprinzips nicht gelingen konnte (näher Rdn. 60 ff vor § 61). Anzunehmen, daß das Gesetz die Notwendigkeit der Unterbringung neben der Strafe generalklauselartig fixieren wollte, wäre grob systemwidrig und angesichts der Folgen viel zu bedenklich. Dem kann auch nicht entgegenstehen, daß, wie dargelegt (Rdn. 53), die Auslegung des Begriffs der „schweren Persönlichkeitsstörung" selbst an der Therapiebedürftigkeit orientiert ist. Denn es ist schon im Ansatz etwas durchaus anderes, ob man 'den (164)

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Begriff in diesem Zweckzusammenhang sieht, oder, darüber hinaus, diesen Zusammenhang durch die hier verworfene Interpretation des Satz 2 verselbständigt. § 65 Abs. 1 S. 2 enthält danach eine (spezifische) „Eignungsklausel", nicht aber 72 eine (umfassendere) „Indikationsklausel". Die übliche Gleichsetzung der beiden Begriffe (z. B. Lenckner S. 209) sollte, weil mißverständlich, vermieden werden. b) „Besondere therapeutische Mittel und soziale Hilfen". Das Gesetz umschreibt 73 die für die sozialtherapeutische Anstalt wesentlichen Behandlungsmethoden nicht im einzelnen. Aus der mageren Regelung des StVollzG, das im wesentlichen nur auf die Vorschriften über den Vollzug der Freiheitsstrafe verweist (§ 124 StVollzG), könnte man sogar den Eindruck gewinnen, daß außer der nachsorgenden Betreuung und dem Erprobungsurlaub (§ 125, 126 StVollzG; dazu näher unten Rdn. 188) gegenüber dem normalen Strafvollzug letztlich nichts Besonderes gelte. Nach Zweck und Entstehungsgeschichte ist jedoch endeutig, daß es darum geht, für die kritischen Probanden der sozialtherapeutischen Anstalt die über den normalen Strafvollzug hinausgehenden Möglichkeiten der modernen Behandlungswissenschaften für die resozialisierende Bemühung fruchtbar zu machen. Dazu näher schon oben Rdn. 7 ff. c) Mittel und Hilfen „der" oder „einer" sozialth. Anstalt? Es liegt nahe, daß die 74 einzelnen sozialtherapeutischen Anstalten jeweils nicht genau das gleiche, anspruchsvolle und umfangreiche Behandlungsprogramm praktizieren und praktizieren können, sondern jeweils nur bestimmte und etwas verschiedene Methoden anwenden bzw. etwas verschiedene Schwerpunkte setzen. Dafür sprechen auch die bisherigen Erfahrungen in den Modellanstalten (Rdn. 34 f), in denen solche Verschiedenartigkeiten durchaus zu registrieren sind. Vermutlich wird sich das beim Charakter der Anstalten auch in Zukunft nicht ändern lassen (de Landecho JZ 1971674; Rasch-Kühl S. 62, die divergierende Konzepte nicht einmal für einen Nachteil halten), schon weil die denkbaren Behandlungsmethoden nicht ohne weiteres nebeneinander durchgeführt oder gar miteinander kombiniert werden können und weil sich Unterschiedlichkeiten in der Besetzung mit Fachpersonal verschiedener wissenschaftlicher Ausrichtung und Ausbildung kaum werden vermeiden lassen. Damit entsteht die Frage, worauf bei der Eignungsklausel rechtlich abzustellen 75 ist: auf die Möglichkeit, daß der Täter in „der" sozialtherapeutischen Anstalt, die für ihn konkret zuständig ist, erfolgreich behandelt werden kann ; auf die Möglichkeit, daß (irgend-)„eine" sozialtherapeutische Anstalt diese Behandlung zu leisten vermag; auf den Durchschnitts- oder Normaltyp einer sozialtherapeutischen Anstalt, also gewissermaßen auf das Leitbild, das für den Betrieb einer solchen Anstalt gilt. Die Frage ist eigenartig, kann aber ohne Zweifel praktisch relevant werden ; sie ergibt sich wiederum aus dem besonderen Charakter des Instituts. Ihre Problematik war im übrigen auch dem Gesetzgeber bewußt; sie ist im Sonderausschuß insbesondere im Zusammenhang mit dem Problem der stationären Begutachtung (dazu unten Rdn. 191) wiederholt angesprochen worden. Klar entschieden hat der Gesetzgeber die Frage jedoch nicht. Es fällt sogar auf, daß in § 65 von den Mitteln und Hilfen „einer" sozialtherapeutischen Anstalt, in § 123 StVollzG hingegen von den Mitteln und Hilfen „der" sozialtherapeutischen Anstalt die Rede ist. Man wird annehmen müssen, daß es darauf ankommt, ob der Täter in einer der 76 Anstalten erfolgreich betreut werden kann, die in dem für ihn zuständigen Bundes(165)

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land zur Verfügung stehen — sei es in eigenen Anstalten dieses Landes, sei es aufgrund von Staatsverträgen über die Mitbenutzung der Anstalten anderer Bundesländer (vgl. 150 StVollzG). Dafür spricht nicht nur, daß es um die optimale Ausnutzung der therapeutischen Mittel und sozialen Hilfen geht, diese Ausnutzung aber möglichst nicht von den Zufälligkeiten in der Ausgestaltung der einzelnen Anstalten abhängen darf. Dafür spricht weiter, daß das Gesetz ganz allgemein die Tendenz erkennen läßt, im Bereich der strafrechtlichen Freiheitsentziehung jeweils die geeignetsten Einwirkungsmöglichkeiten auszunutzen (vgl. insbes. § 67 a, § 67 Abs. 2, 3; § 9 StVollzG). Dafür spricht schließlich vor allem, daß nach § 8 StVollzG, der für die sozialtherapeutische Anstalt entsprechend gilt, Abweichungen im Vollstreckungsplan im Interesse der Resozialisierung möglich sind; denn obwohl es sich insoweit nur um eine vollzugsinterne Regelung handelt, ist der in ihr enthaltene Gedanke auch für die hier erörterte Frage bedeutsam. 77

Nicht hingegen ist es möglich, auf einen abstrakten „Durchschnitts-" oder „Normaltyp" „der" sozialtherapeutischen Anstalt oder gar auf ihr abstraktes „Leitbild" abzustellen, weil es um die konkreten Behandlungschancen und zugleich die Zweckerreichung im Einzelfall geht (anders noch Hanack S. 50 f und wohl auch Lenckner S. 212). Ein Zurückbleiben hinter der „Norm" oder dem „Leitbild" kann der erkennende Richter daher insoweit nicht abfangen (er kann nur darauf aufmerksam machen). Nicht möglich ist es aber auch, auf Gegebenheiten abzustellen, die zwar nicht in dem konkreten Bundesland, wohl aber in einem anderen Bundesland zur Verfügung stehen. Denn der Vollzug ist grundsätzlich Ländersache. Der erkennende Richter hat keine Möglichkeit, diese Grenze zu überspringen. Hier helfen vielmehr nur Staatsverträge zwischen den Ländern, die zur optimalen Ausnutzung bestehender Einwirkungsmöglichkeiten als „Vollzugsgemeinschaften" (§ 150 StVollzG) auch vorgesehen und in gewissem Umfang — ζ. B. für die Unterbringung von Frauen — sogar unentbehrlich sind.

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d) Behandlung „nach dem Zustand" des Täters. Nach dem Zustand des Täters nicht angezeigt ist, wie dargelegt (Rdn. 71), eine Behandlung nur dann, wenn es an seiner Behandlungsfähigkeit fehlt; nicht hingegen betrifft das Merkmal die Frage seiner Behandlungsbedürftigkeit. Die Frage der Behandlungsfähigkeit ist dabei speziell darauf bezogen, ob gerade die „besonderen therapeutischen Mittel und sozialen Hilfen" zur Resozialisierung des Täters angezeigt sind. Die Frage ist also in Relation zu diesen Möglichkeiten zu sehen und beurteilt sich (s. Rdn. 163) nach dem Zustand des Täters im Zeitpunkt der tatrichterlichen Entscheidung; vgl. aber auch Rdn. 82 ff. An der Behandlungsfähigkeit kann es „nach dem Zustand" des Täters aus mancherlei Gründen fehlen. Die Frage hängt naturgemäß in erheblichem Maße von der Art der Störung und der in Betracht kommenden Behandlung ab. So sind (ζ. B.) die intellektuellen Voraussetzungen für eine spezifisch psychotherapeutische (analytische) Behandlung weit höher als eine speziell auf Debile gemünzte Arbeits- oder Verhaltenstherapie. Die Fülle der Einzelfragen über die Behandlungsfähigkeit Rückfälliger und Persönlichkeitsgestörter im Detail abzuhandeln, übersteigt wiederum die Möglichkeiten dieses Kommentars. Sie betrifft als Kernfrage an die Behandlungswissenschaften ein kaum überschaubares, in den Einzelheiten wie den Grundlagen umstrittenes (166)

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und in lebhafter Entwicklung begriffenes Gebiet. Im Überblick hinzuweisen ist insbesondere auf folgendes. Bemühungen, die Behandlungsfähigkeit anhand typisierender Merkmale zu 79 bestimmen, wurden bislang skeptisch beurteilt, ob sie nun an die Art der Straftaten, an allgemeine medizinisch-psychologische oder an kriminologische Gesichtspunkte anknüpfen (Mauch-Mauch S. 14). Als entscheidend galten vielmehr die „individuellen Besonderheiten der Persönlichkeit", wie sie sich namentlich in der Persönlichkeitsstruktur, dem Reifegrad und eventuellen Milieuschäden ausdrücken (MauchMauch aaO). Die empirischen Untersuchungen im Rahmen der Modellanstalt Düren (Rasch-Kühl S. 203 ff ; vgl. oben Rdn. 59) enthalten dafür wertvolle, vielleicht richtungweisende Maßstäbe. Sie enthalten darüber hinaus wohl auch eine für die Praxis nützliche Typisierung im Hinblick auf die Behandlungsindikation und die Therapieziele durch den Versuch einer Typenbildung aufgrund der vorgefundenen Leitmerkmale nach vier „Clustern" (oben Rdn. 59). Die Untersuchungen dürften aber auch zeigen, daß die spezifisch psychologischen Kriterien insoweit doch eng mit den kriminologisch relevanten Daten im Zusammenhang stehen. Für die Behandlungsfähigkeit besonders bedeutsam ist, wie schon angedeutet, 80 die Intelligenz des Probanden, weil „ein Mindestmaß an Einsichtsvermögen und die Fähigkeit, sich selbstkritisch zu beurteilen, das Leben auf abstrakterem Niveau zu betrachten sowie eine Sache unter neuem, ungewohntem Aspekt zu sehen" (Mauch-Mauch S. 15), für die vorausgesetzten Behandlungsmethoden der sozialtherapeutischen Anstalt regelmäßig erforderlich sind. Der Intelligenzquotient gilt dabei als „ungefährer Maßstab" (Mauch-Mauch aaO). Tiefenpsychologisch orientierte Behandlungsweisen setzen danach einen höheren Quotienten voraus als Gruppentherapie, Heilpädagogik und Kontaktpsychotherapie; intellektuelle Minderbegabung schränkt die Therapiechancen stark ein, macht jedoch Bemühungen um eine bessere soziale Anpassung des Täters „mit Ansätzen der Milieu-, Arbeits-, Kontakt- und Verhaltenstherapie" (Mauch-Mauch S. 15) nicht aussichtslos; vgl. näher im einzelnen Rasch-Kühl S. 214; Mauch-Mauch aaO. Bedeutung hat weiter das Lebensalter, weil eine gewisse psychische Beeinfluß- 81 barkeit Voraussetzung für den Erfolg sozialtherapeutischer Maßnahmen ist, im fortgeschrittenen Lebensalter aber die Fähigkeit abnimmt, eingefahrene Verhaltensweisen aufzugeben. Mauch-Mauch (S. 15 f) beurteilen bei Tätern über 40 Jahre diese Fähigkeit skeptisch, betonen jedoch, daß es auf den Einzelfall ankommt und wenden sich gegen einen früheren Erlaß des Justizministeriums Baden-Württemberg (Justiz 1957 166), der auf eine Grenze von 35 Jahren abstellte. Als bedeutsam gelten ferner Willensstärke und Belastungsfähigkeit (Mauch- 82 Mauch S. 21 f). Das erscheint einleuchtend, soweit es um die Fähigkeit geht, die mit der Sozialtherapie typischerweise verbundene besondere Belastung durchzustehen. Bedenklich wäre es hingegen, das Fehlen solcher Faktoren — also Labilität im weitesten Sinne — grundsätzlich als gegen die Behandlungsfähigkeit sprechende Umstände anzusehen (so aber möglicherweise Mauch-Mauch S. 21), weil es sich insoweit um typische Schwächen Persönlichkeitsgestörter handelt, denen die sozialtherapeutische Behandlung gerade begegnen soll. Daher ist zu beachten, daß Willensstärke und Belastungsfahigkeit nicht ohne weiteres nach dem Zustand des Täters zur Zeit des Urteils gemessen werden dürfen, sondern auch im Hinblick auf ihre Entwicklungsfähigkeit durch eine und während einer sozialtherapeutischen Behandlung zu sehen sind. (167)

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Umstritten und schwierig ist die Problematik des sog. Leidensdrucks. Mauch (Prot. V, 2291, 2294 f; vgl. auch Mauch-Mauch S. 17 ff) mißt diesem Faktor große Bedeutung zu. Er ist der Ansicht, der Kriminelle verstehe seine Straftaten meist nicht als Symptom einer Störung und empfinde daher weder Leidensdruck noch Änderungswunsch. Da dies aber für eine erfolgversprechende Behandlung Voraussetzung sei, müsse die „anfängliche Verunsicherung" des Täters durch Ermittlungsverfahren, Prozeß und Freiheitsentzug genutzt werden, um mit milieutherapeutischen Maßnahmen zu Leidensdruck und Änderungswunsch zu gelangen. Der Frage, ob sich dies vor dem Urteil erreichen oder auch nur beurteilen läßt, steht Mauch sehr skeptisch gegenüber; er befürwortet darum auch die Möglichkeit eines teilweisen Vorwegvollzugs der Strafe (dazu näher und kritisch LK § 67 Rdn. 34 ff). Eine solche Sicht ist jedoch mit dem Gesetz kaum zu vereinbaren, schon weil sie die Anwendung des § 65 Abs. 1 Nr. 1 weitgehend und sinnwidrig ausschließen oder doch dazu führen müßte, daß entgegen der Regel des § 67 im Zweifel zuerst Strafe zu vollziehen wäre. So wird in Übereinstimmung mit der heute wohl vorherrschenden Meinung (vgl. Rasch-Kühl S. 218 f und MschrKrim. 1973 244; Rehn MschrKrim. 197752; Steller-Hommers MschrKrim. 1977279 m.zahlr.Nachw.) davon auszugehen sein, daß es bei der sozialtherapeutischen Behandlung darum geht, die „Signale" des Leidens wahrzunehmen und als Antrieb für die Behandlung nutzbar zu machen. Die Bedeutung des Leidensdrucks bei Anwendung der Eignungsklausel des § 65 Abs. 1 S. 2 reduziert sich darum auf die Frage, ob entsprechende „Signale" die Chance einer erfolgreichen Behandlung begründen. Darauf hinzuweisen ist im übrigen, daß die „Arbeitsgemeinschaft Sozialtherapeutische Anstalten im Justizvollzug" (oben Rdn. 35) nach den bisherigen Erfahrungen in den Modellanstalten, entgegen Mauch, einen „Leidensdruck als Behandlungsmotivation" bei den Anstaltsinsassen durchweg annehmen zu können glaubt, freilich auch meint, daß die Wahrnehmung dieses Drucks „sehr viel Verständnis für die Situation des Klienten, sein Selbstverständnis und seine Reaktionsweisen" voraussetze (vgl. Rehn aaO ; ebenso die empirische Untersuchung von Steller-Hommers aaO).

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Nach ähnlichen Gesichtspunkten ist die kritische und schon bei den Gesetzesberatungen umstrittene Frage der Freiwilligkeit zu beurteilen, die mit der Problematik des Leidensdrucks in engstem sachlichen Zusammenhang steht: Die sozialtherapeutische Behandlung setzt regelmäßig die aktive Mitarbeit des Untergebrachten voraus, die als solche nicht erzwungen werden kann, sondern einen „Teil der Behandlungsindikation" (Rasch-Kühl S. 218) darstellt. Aber auch diese Bereitschaft ist nicht selten durch die Persönlichkeitsstörung „verdeckt und verschüttet" (RaschKühl aaO; vgl. auch Mauch-Mauch S. 17 ff). Ob trotz zunächst fehlender Bereitschaft eine sozialtherapeutische Behandlung i. S. des § 65 Abs. 1 S. 2 nach dem Zustand des Täters angezeigt ist, hängt daher auch hier wiederum davon ab, ob eine ausreichende Chance oder Wahrscheinlichkeit besteht, diese Bereitschaft im Rahmen der Behandlung zu wecken.

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e) Angezeigte Behandlung: Regel oder Ausnahme? Die Beurteilung, ob eine sozialtherapeutische Behandlung i. S. des § 65 Abs. 1 S. 2 angezeigt ist, stellt nach dem Gesagten an Sachverständige und Richter äußerst schwierige Anforderungen (und wird überdies durch die problematische Regelung der stationären Begutachtung in § 81 StPO erschwert; s. zum letzteren unten Rdn. 191). Um so bedauerlicher ist, daß das Gesetz nicht wirklich klar zum Ausdruck bringt, nach welchen Maßstäben dabei im Zweifel zu entscheiden ist; der Kompromißcharakter des § 65 macht sich gerade hier störend bemerkbar: Die Formulierung „nur dann" deutet darauf hin, (168)

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daß die Behandlungsfähigkeit erwiesen sein muß; das entspricht auch den gesetzgeberischen Vorstellungen, daß die Regelung eine wünschenswerte „Begrenzung auf einen kleinen, für die Behandlung geeigneten Personenkreis" sicherstellen soll (Prot. V, 2250; vgl. auch 2. Bericht S. 28 f)· Andererseits knüpft die Formulierung von der „nach dem Zustand des Täters" „angezeigten" Behandlung schon nach ihrem sprachlichen Sinn durchaus auch an das Moment der Chance, des Zweckoder Wünschenswerten, also der möglichen Erwartung eines Erfolges an. Gerade dies entspricht im übrigen dem spezifischen, auch durch den Charakter des Experimentellen mitbestimmten Zweck der sozialtherapeutischen Anstalt, die ja in gezielter Weise einen besonders kritischen Täterkreis erfassen soll. Man wird, in Abwägung der durchaus widerstreitenden Gesichtspunkte, nach 86 dem Zweck der Gesetzesregelung wohl annehmen müssen, daß die Behandlung immer dann angezeigt ist, wenn sie eine reale Chance im Hinblick auf das vorausgesetzte Vollzugsziel (§ 123 StVollzG) enthält. Die Formulierung „nur dann" reduziert sich damit — und unbeschadet der gesetzgeberischen Vorstellungen von der wünschenswerten Begrenzung — auf Fälle, in denen diese reale Chance nicht besteht oder nicht erkennbar ist. 7. Gesamtbetrachtung. Verfassungsmäßigkeit. Insgesamt werfen die Einweisungs- 87 Voraussetzungen des § 65 für die Gruppe der Rückfalltäter mit schwerer Persönlichkeitsstörung eine ganz ungewöhnliche Fülle rechtlicher und tatsächlicher Probleme auf. Das gilt vor allem für den Begriff der schweren Persönlichkeitsstörung und die Möglichkeiten seiner Umgrenzung (Rdn. 48 ff), aber auch für die Frage der angezeigten Behandlung i. S. des § 65 Abs. 1 S. 2 (Rdn. 68 ff) und vielleicht sogar für die kritische Problematik des Kausalzusammenhangs dieser Störung mit den begangenen und zu erwartenden Taten (Rdn. 65 ff). Im einzelnen potenzieren sich diese Schwierigkeiten nicht nur durch die wechselseitige Verzahnung der verschiedenen Voraussetzungen des § 65, sondern auch durch die Probleme der stationären Begutachtung (dazu Rdn. 191) sowie durch Meinungsverschiedenheiten innerhalb der beteiligten Behandlungswissenschaften. Die Gefahr, daß die Unterbringung infolge der Unklarheit zentraler Einweisungsvoraussetzungen letztlich allzu sehr von der subjektiven Meinung des Gutachters über Grundfragen der Kriminalität und der Kriminalitätsbehandlung abhängt, wird im Schrifttum in den verschiedensten Zusammenhängen zu Recht immer wieder betont (vgl. z. B. Lenckner S. 210, 211 f; Mauch-Mauch S. 7, 10, 13 ff; Rasch-Kühl S. 207 f; Kury-Fenn S. 232 f; Mergen Schmidt-Leichner-Festschrift, S. 129; Langeliiddeke-Bresser Gerichtliche Psychiatrie4, 1976, S. 284). Im Grunde handelt es sich bei der ganzen Regelung, wie gerade die vielfältigen Interpretationsschwierigkeiten deutlich machen, um ein „Subsystem innerhalb des Gesamtstrafvollzugs", das sich „diagnostisch nicht überzeugend abgrenzen läßt" (so Jäger MschrKrim. 1977 213 für § 65 insgesamt). Es umfaßt einen unklar begrenzten Kreis von Delinquenten, denen die Chance einer intensiven therapeutischen Behandlung gewährt, gleichzeitig aber auch eine besondere Belastung zugemutet wird. Ob die Regelung mit all ihren Einbußen an Rechtssicherheit verfassungsrechtli- 88 chen Anforderungen standhält, bedarf noch der genaueren Klärung. Die Frage wird nicht zuletzt auch von der weiteren Entwicklung der Forschung, insbesondere innerhalb der Behandlungswissenschaften, abhängen. Die folgenden Überlegungen können das schwierige Problem nicht ausschöpfen. (169)

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Sicher dürfte sein, daß das „Subsystem" verfassungsrechtlich nicht unter dem Aspekt des Gleichheitsgrundsatzes zu beanstanden ist, soweit es den erfaßten Tätern eine Chance einräumt, die es anderen Tätern nicht oder nicht ohne weiteres (vgl. § 9 StVollzG) gewährt. Denn daß der Gesetzgeber nicht allen Bedürftigen in gleicher Weise dieselben Möglichkeiten zur Verfügung stellen kann, verpflichtet ihn nicht, jede Auswahl zu unterlassen, solange die Auswahl als solche nicht auf Willkür beruht (vgl. auch Jäger aaO S. 215). Als willkürlich aber wird man, bei allen Schwierigkeiten der Umgrenzung, die Regelung des § 65 Abs. 1 Nr. 1 keinesfalls ansehen können.

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Kritischer ist die Frage, ob die Regelung angesichts ihrer so unbestimmten wesentlichen Anordnungsvoraussetzungen verfassungsrechtlich die besondere Belastung rechtfertigt, die dem Täter mit der Unterbringung auferlegt wird. Diese Frage läßt sich nicht einfach mit dem Hinweis beiseite schieben, daß nach herrschender, wenn auch umstrittener Ansicht (näher Tröndle LK, Erl. zu § 1) der Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 103 Abs. 2 GG für Maßregeln bzw. Tatfolgen nur mit geringerer Strenge gelten soll. Denn auch wenn man der herrschenden Auffassung insoweit folgt, bleibt doch zu beachten, daß dem Täter nach — eben — durchaus unbestimmten Kriterien mit der Maßregelanordnung ein von seiner Schuld unabhängiges Sonderopfer auferlegt wird, das spezifische Folgen mit sich bringt: Die Anordnung unterwirft ihn im Zweifel nicht nur einer als solcher sehr belastenden und anstrengenden Behandlung; sie kann selbst im Zeichen des vikariierenden Systems (§ 67) dazu führen, daß er über die Strafe hinaus Freiheitsentzug erleidet; und sie wird zudem vielfach oder gar meist Führungsaufsicht kraft Gesetzes auslösen (§§ 67 b, 67 d Abs. 2). Anzunehmen, daß diese Belastungen allein deswegen unbeachtlich sind, weil sie ja wesentlich gerade auch im Interesse des Täters erfolgen, ihm also eine besondere Resozialisierungschance eröffnen, wäre wohl eine unzulässige Vereinfachung. Dies gilt vor allem, weil und soweit sich die Chance auch auf dem weniger belastenden Weg des § 9 StVollzG wahrnehmen läßt. Es spricht in der Tat viel dafür, daß es bei den so unbestimmten zentralen Anordnungsvoraussetzungen verfassungsrechtlich angemessen ist, das erkennende Gericht zu verpflichten, die Unterbringung nach § 65 Abs. 1 Nr. 1 nur als besondere Vollzugsform mit der Folge zu handhaben, daß die Unterbringung die Dauer der Freiheitsstrafe nicht überschreiten darf, gerade weil sich — jedenfalls bisher — die speziellen Einweisungsvoraussetzungen überzeugend nicht abgrenzen lassen. Eine gesetzliche Regelung dieser Art könnte im übrigen möglicherweise auch dazu benutzt werden, um verfassungsrechtliche Zweifel auszuräumen oder abzumildern, die neuerdings Calliess/ Müller-Dietz (Strafvollzugsgesetz, 1977, § 9 Rdn. 1) vielleicht nicht ganz ohne Grund gegen die Bestimmung des § 9 StVollzG im Hinblick darauf äußern, daß nach dieser Bestimmung ein auf Freiheitsstrafe lautendes Urteil „durch schlichte Verwaltungsanordnung unterlaufen und nachträglich in eine Maßregel umgewandelt werden kann".

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Die Frage ist, ob das erkennende Gericht angesichts der so unsicheren Einweisungsvoraussetzungen als befugt oder verpflichtet angesehen werden muß, die jetzige Fassung des § 65 entgegen dem System der Gesetzesregelung für die Gruppe der Rückfalltäter mit schwerer Persönlichkeitsstörung in der geschilderten Weise restriktiv zu handhaben, also die Unterbringung nur als besondere Vollzugsform zu verstehen, die die Dauer der Freiheitsstrafe nicht übersteigen darf. Die Frage dürfte zu verneinen sein: Denn § 65 Abs. I Nr. I trifft immerhin kritische Täter, bei denen die Gefahr weiterer erheblicher Straftaten festgestellt ist. Solche Täter auch über die (170)

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Strafe hinaus einer Maßregel zu unterwerfen, liegt in der Freiheit des Gesetzgebers, wenn sich die Einweisungsvoraussetzungen auf die Abwehr der Gefahr konkretisieren lassen, was bei sachgerechter Interpretation auch hinsichtlich des Kausalzusammenhangs zwischen Störung und Gefahr möglich ist (Rdn. 66 f). Auch wird nach dem Gesamtgefüge des Gesetzes ausreichend sichergestellt, daß bei Erlöschen der Gefahr oder bei Aussichtslosigkeit der Behandlung der weitere Vollzug unterbleibt (vgl. insbes. §§ 67 a, 67 d Abs. 2, § 67 Abs. 2, 5). Ferner ist es (s. näher LK § 68 e Rdn. 19 ff) nicht verfassungswidrig, daß die kritischen Täter als Folge der Anordnung vielfach der Führungsaufsicht kraft Gesetzes unterliegen. Der Gesetzgeber bleibt freilich, wie ihm wohl auch bewußt ist (Rdn. 37), aufge- 92 rufen, Berechtigung und Brauchbarkeit der Regelung zu überprüfen, falls Wissenschaft und Praxis keine klareren als die heute erkennbaren Maßstäbe zu entwickeln in der Lage sind. V. Gefährliche Sexualtäter (Absatz 1 S. 1 Nr. 2, Satz 2) 1. Allgemeines. Die spezielle Regelung des Absatz 1 Nr. 2 für Sexualtäter ist 93 — vom Bundesministerium der Justiz (Prot. V, 2245 ff, 2268) — erst in einem relativ späten Stadium der Beratungen zur Strafrechtsreform vorgeschlagen worden, so daß wissenschaftliche Vorarbeiten praktisch fehlen. Die Regelung beruht ersichtlich nicht nur auf dem Gedanken, die zwischenzeitlich verbesserten, aber problematischen Spezialmethoden für die Behandlung dieser Tätergruppe sinnvoll nutzbar zu machen, sondern insbesondere auch auf der Ansicht, daß es Sexualtäter gibt, bei denen die Rückfallvoraussetzungen des § 65 Abs. 1 Nr. 1 „zu eng sind und bei denen man nach ihrem ersten Sexualdelikt prognostizieren kann, daß von ihnen, vielleicht sogar mit einer gewissen Eskalation, weitere Straftaten zu befürchten sind" (Horstkotte Prot. V, 2252). Der Gesetzgeber wollte „besonders gefährliche Triebtäter" möglichst rechtzeitig einer sozialtherapeutischen Behandlung zuführen (2. Bericht S. 28). Es handelt sich also um eine Spezialgruppe gegenüber § 65 Abs. 1 Nr. 1, deren Abgrenzung freilich Schwierigkeiten aufwirft, die vom Gesetzgeber in den Einzelheiten wohl kaum bedacht worden sind. Gekennzeichnet wird die Gruppe vor allem durch die Beziehung der Anlaßtat und der weiteren Gefährlichkeit zum „Geschlechtstrieb" sowie — entsprechend dem gesetzgeberischen Grundanliegen — durch den Verzicht auf Vorstrafen und Vorverbüßungen als Voraussetzung der Unterbringung. Nach dem Bild der Beratungen im Sonderausschuß (Prot. V, 2252 f, 2265 ff, 94 2297 ff) ist unverkennbar, daß der Ausschuß die Möglichkeit und die Notwendigkeit, solche gefährlichen Sexualtäter rechtzeitig zu erfassen und zu behandeln, hoch veranschlagt hat. Ob er dabei die Möglichkeiten der Prognose und die Frage der sachgerechten Abgrenzung richtig eingeschätzt und normiert hat, kann erst die Praxis lehren. Eine gewisse Zurückhaltung in der Anwendung der Vorschrift insbesondere bei Ersttätern und bei der sachlichen Umgrenzung des in Frage stehenden Personenkreises erscheint jedenfalls geboten (dazu im weiteren Text; vgl. auch LencknerS. 214). Nicht zu bezweifeln ist freilich, daß das gesetzgeberische Grundanliegen als solches Anerkennung und Beachtung verdient. Die sachgerechte Handhabung der Vorschrift setzt Kenntnisse auf dem spezifi- 95 sehen Gebiet der Sexualdelinquenz und deren Eigenart voraus. Die entsprechenden Fragen und Probleme, die bei den einzelnen Tätergruppen und Delikten durchaus (171)

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verschieden liegen, können hier nicht im einzelnen erörtert werden. Verwiesen werden muß auf das einschlägige, in den Verästelungen kaum noch zu übersehende Schrifttum. Einen einführenden Überblick mit zahlreichen Nachweisen bietet ζ. B. die Abhandlung von Witter Die forensische Beurteilung der Sexualdelikte, in Göppinger-Witter, Handbuch der forensischen Psychiatrie, Bd. II, 1972, S. 1050 ff. Förderlich sind weiter ζ. B. und insbesondere die Arbeiten von Schorsch Sexualstraftäter, 1971; Keupp Aggressivität und Sexualität, 1971; Steinhilper Sexualtäter und Sicherungsverwahrung, Diss. Heidelberg 1971; Berner-Grünberger-Sluga Untersuchungen zur Sexualdelinquenz, o. J. (1976). Speziell zur Frage der therapeutischen Behandlung des Sexualdelinquenten s. unten Rdn. 110 f. 2. Die auslösende Tat 96

a) Vorsätzliche Straftat. Der Täter muß wegen einer vorsätzlichen Straftat zu einer zeitigen Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt werden. Zum Begriff der vorsätzlichen Straftat und zur Beschränkung auf zeitige Freiheitsstrafen s. die Ausführungen oben Rdn. 45, 44, die hier entsprechend gelten. Die Berechtigung, auf eine Mindeststrafe von nur einem Jahr abzustellen, war bei den Gesetzesberatungen umstritten (Prot. V, 2260, 2265, 2296). Der referierende Vertreter des Bundesjustizministeriums sah sich „außerstande", über die Frage, ob eine mindestens zweijährige oder eine mindestens eineinhalbjährige Freiheitsstrafe vorauszusetzen sei, „rational zu argumentieren" (Horstkotte Prot. V, 2260); und Dreher hielt es für „nicht angebracht", jemanden, der zum ersten Mal wegen eines auf seinen Geschlechtstrieb zurückzuführenden Delikts zu weniger als zwei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt wird, „bis zu fünf Jahren in einer sozialtherapeutischen Anstalt festzuhalten" (Prot. V, 2266). Den Richter werden Strafen, die an der Mindestgrenze liegen, durchaus zur Zurückhaltung veranlassen (vgl. aber auch Rdn. 168).

97

Daß die auslösende Straftat ein Delikt zum Gegenstand hat, das zum Bereich der schweren Sexualdelinquenz gehört, wird nicht verlangt. Es reicht daher die Verurteilung wegen jeder vorsätzlichen Straftat, wenn sie nur die Mindeststrafe von einem Jahr erreicht und auf den Geschlechtstrieb des Täters zurückzuführen ist, also ζ. B. eine entsprechende Bestrafung wegen Exhibitionismus oder Erregung öffentlichen Ärgernisses. Die Art der Straftat ist jedoch bei Prüfung der Verhältnismäßigkeit und der weiteren Gefährlichkeit bedeutsam (näher Rdn. 107, 168). Die Verurteilung zu einer Gesamtstrafe ist auch hier nur ausreichend, wenn mindestens eine der Einzelstrafen die Höhe von einem Jahr erreicht (entsprechend wie bei § 66 und § 65 Abs. 1 Nr. 1, s. oben Rdn. 47; ebenso Pätzold S. 107).

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b) Zuriickführung auf den Geschlechtstrieb. Die vorsätzliche Straftat muß den „Geschlechtstrieb zurückzuführen" sein. Hier liegt — im Zusammenhang der Voraussetzung, daß auch die weitere Gefährlichkeit „im Zusammenhang" diesem „Geschlechtstrieb" steht (dazu Rdn. 108) — die zentrale Schwierigkeit Gesetzesregelung.

auf mit mit der

Im Gegensatz zu den Fällen des Absatz 1 Nr. 1 ist dabei nach dem klaren Gesetzeswortlaut Kausalität zwischen der Tat und dem Störungsfaktor erforderlich (Hanack S. 52; Lenckner S. 214; Preisendanz Anm. III 2 b). Ersichtlich geschieht dies mit Rücksicht darauf, daß Vortaten und Vorverbüßungen nicht verlangt werden. 99

Nach dem Vortrag des damaligen Sachbearbeiters im Bundesjustizministerium (Horstkotte Prot. V, 2252), das die Regelung entworfen hat (Rdn. 93), soll es jedoch (172)

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genügen, daß „der Geschlechtstrieb ein Faktor für die Tat ist" (ebenso Lenckner aaO; Maurach AT § 68 I C 2 b; wohl auch Preisendanz aaO). Es könnten darum auch „Täter, die zu sadistischen Körperverletzungen mit sexueller Komponente neigen", unter die Vorschrift fallen, weil „wohl nicht bestritten" werde, daß bei ihnen „ein sexueller Faktor mitbeteiligt" sei, möge im übrigen auch Streit bestehen, ob dieser Faktor „der alleinige oder auch nur zentrale Grund für die Tat ist". Der Sachverständige Mauch sprach bei den Beratungen unwidersprochen davon (Prot. V, 2290), daß auch sonstige Aggressionstäter und Eigentumsdelinquenten von der Bestimmung erfaßt werden können. Ob eine solche Auslegung mit dem Wortlaut des Gesetzes zu vereinbaren ist, 100 erscheint zweifelhaft. Denn schon dieser Wortlaut („zurückzuführen") deutet eigentlich zwingend darauf hin, daß der Geschlechtstrieb gerade — und mindestens — „zentraler Grund" für die Anlaßtat sein muß. Doch kann die Frage der Wortlautinterpretation letztlich offenbleiben. Denn eine so extensive Auslegung verbietet sich mindestens aus den folgenden Gründen. Nach einer wissenschaftlich feststehenden oder doch jedenfalls nicht widerleglichen Meinung kann im Einzelfall jede Straftat durch eine sexuelle Motivation oder Komponente bedingt sein. Wollte man ausreichen lassen, daß der Geschlechtstrieb nur „ein Faktor für die Tat ist", würde die Fallgruppe des § 65 Abs. 1 Nr. 2 ganz unkontrollierbar ausufern, da dann im Zweifel auch die weiteren Voraussetzungen zu bejahen wären, daß die künftige Gefährlichkeit des Täters im Zusammenhang mit seinem Geschlechtstrieb steht und die sozialtherapeutische Behandlung zu seiner Resozialisierung angezeigt ist. Dies aber würde in durchaus ungereimter Relation zur Fallgruppe des § 65 Abs. 1 Nr. 1 stehen, den Charakter der Nr. 2 als eines Spezialfalls (Rdn. 93) aushöhlen und wäre überdies auch nicht mit dem gesetzlichen Leitbild zu vereinbaren, „besonders gefährliche Triebtäter" (Rdn. 93) zu erfassen. Auch weisen Rasch-Kühl (S. 203) wohl nicht zu Unrecht darauf hin, daß bei einer solchen Anerkennung des Sexualtriebs „als eine Art magischen Generalprinzips" die Rechtsprechung Gefahr laufen würde, „den absurdesten Auffassungen Tür und Tor zu öffnen". Rasch-Kühl, die meinen, daß der Sonderausschuß „hier einer modischen Fascinanz" erlegen zu sein scheine (aaO), empfehlen darum, als Taten, die „auf den Geschlechtstrieb zurückzuführen" sind, „ausschließlich . . . Sexualdelikte im engeren Sinne" zu verstehen, nicht also Delikte, „die als .sexuelle Ersatzhandlung' interpretiert werden könnten, wie zum Beispiel Brandstiftung, Diebstahl oder Handtaschenraub" (S. 257). Sie weisen dabei darauf hin, daß in den nach ihrer Meinung nicht erfaßten Fällen dort, wo sich „eine hochabnorme Verarbeitung der sexuellen Bedürfnisse als Basis des straffälligen Verhaltens zweifelsfrei feststellen" läßt, im Zweifel auch die Einweisung nach § 65 Abs. 3 in Betracht kommt. Diese Interpretation erscheint im Ansatz, nicht jedoch in ihrer Ausschließlich- 101 keit, sachgemäß : Entscheidend muß vielmehr grundsätzlich sein, ob die Tat unmittelbar durch den Geschlechtstrieb motiviert ist und sich darüber hinaus unmittelbar als Mittel zur Erregung oder Befriedigung des Geschlechtstriebs darstellt (ähnlich Klein S. 24). Denn nur das Abstellen auf diese doppelte Unmittelbarkeit erlaubt die notwendige Abgrenzung von der Fallgruppe des § 65 Abs. 1 Nr. 1 und entspricht zugleich dem Gesetzeszweck, gefährliche Triebtäter zu erfassen. Es stimmt im übrigen mit der vorherrschenden kriminologischen Charakterisierung des spezifischen Sexualtäters bzw. Sexualdelikts überein (vgl. Steinhilper [oben Rdn. 95] S. 61 m. Nachw.), um die es auch hier geht. (173)

§65

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

Von dieser Sicht her ist die Unterscheidung zwischen „Sexualdelikten im engeren Sinne" und „sexuellen Ersatzhandlungen" zwar ein richtiger Ausgangspunkt. Zu beachten ist nur, daß eine Tat auch dann unmittelbar der Triebbefriedigung dienen kann, wenn sie nicht spezifisch oder primär gegen die sexuelle Integrität des Opfers gerichtet ist, also ζ. B. seine Vergewaltigung (§ 177), sexuelle Nötigung (§ 178) oder den Mißbrauch seiner Schutzbedürftigkeit (§§ 174, 175, 176) zum Gegenstand hat. So kommen — wie wohl auch Rasch-Kühl anerkennen werden — im Einzelfall nicht nur sexuell motivierte Tötungsdelikte, Leichenschändungen oder auch Beleidigungen (Beobachtung des Geschlechtsteils von Frauen in der Damentoilette; vgl. Steinhilper aaO S. 62) in Betracht. In Betracht kommen vielmehr ζ. B. auch sexuell motivierte Diebstähle, die unmittelbar der Triebbefriedigung dienen (Fetischismus), aber auch Brandstiftungen, wenn sie unmittelbar zum Zwecke der sexuellen Lustlösung vorgenommen werden (Pyromanie). 102

Im allgemeinen wird sich bei Delikten, die nicht speziell gegen die sexuelle Integrität des Opfers gerichtet sind, freilich Zurückhaltung empfehlen. Erfaßt werden sollten nur Taten, bei denen die unmittelbare Motivation zur Erregung oder Befriedigung des Geschlechtstriebs auf der Hand liegt, sich also das charakteristische Bild des „Sexualtäters" aufdrängt. 103 „Sadistische" Handlungen, also insbesondere „sadistische Körperverletzungen mit sexueller Komponente" (oben Rdn. 103), dürften, sofern sie sich nicht als sexuelle Nötigung i. S. des § 178 oder ähnlicher Bestimmungen darstellen, den Anforderungen nur ausnahmsweise genügen, nämlich dann, wenn das unmittelbare Handeln zum Zwecke der Erregung oder Befriedigung des Geschlechtstriebs auch äußerlich erkennbar in Erscheinung tritt. Kritisch gegenüber sadistischen Körperverletzungen äußert sich auch Lenckner (S. 214), der im Hinblick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz des § 62 das Vorliegen besonderer Umstände verlangt. 104

Taten, die nicht in dem genannten Sinne unmittelbar auf den Geschlechtstrieb zurückzuführen sind, scheiden grundsätzlich aus. Das gilt ζ. B. für Schwangerschaftsabbrüche, selbst wenn sie mittelbar (Schwängerung) auf dem Geschlechtstrieb beruhen, oder für Beischlafsdiebstähle. Zu beachten ist dabei, daß nicht alle Delikte des 13. Abschnitts (Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung) „auf den Geschlechtstrieb zurückzuführen" sind. So sind insbesondere Taten gemäß §§ 180—181 a, 184—184 b in der Regel nicht sexuell motiviert, sondern auf Gewinn gerichtet und scheiden daher aus. 105 Aus dem Gesagten folgt im übrigen, daß es für die Beurteilung keine Rolle spielt, ob der Geschlechtstrieb des Täters auf ein „normales" Geschlechtsziel (wie ζ. B. bei der Verführung) oder auf ein „perverses" Ziel gerichtet ist (wie ζ. B. bei der Leichenschändung). Auch dies entspricht der heute vorherrschenden kriminologischen Charakterisierung des Sexualdelikts (Steinhilper aaO S. 61). Ein „perverses" Geschlechtsziel kann freilich im Rahmen der Prognose, ob vom Täter weitere Straftaten zu erwarten sind, besondere Bedeutung erlangen. 106

3. Die weitere Gefährlichkeit des Täters. Es muß die „Gefahr" bestehen, daß der Täter „im Zusammenhang mit seinem Geschlechtstrieb" weiterhin „erhebliche rechtswidrige Taten" begehen wird. a) Gefahr bedeutet auch hier wieder (vgl. schon oben Rdn. 62 mit Verweisungen) überwiegende Wahrscheinlichkeit, von der das Gericht überzeugt sein muß; andernfalls gilt der Grundsatz in dubio pro reo (streitig). (174)

Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt (Hanack)

§

65

b) Erhebliche rechtswidrige Taten. Die Gefahr muß auf „rechtswidrige Taten" bezogen sein. Nicht erforderlich ist danach auch hier (vgl. schon oben Rdn. 62), daß die künftig zu erwartenden Taten schuldhaft begangen werden. Die Gefahr muß sich auf „erhebliche" Taten beziehen. Zur allgemeinen Ausle- 107 gung dieses zentralen Begriffs s. näher Rdn. 20 vor § 61 sowie § 63 Rdn. 45 ff. Was sich der Gesetzgeber im vorliegenden Zusammenhang unter erheblichen Taten vorstellte, läßt sich den Materialien nicht deutlich entnehmen (unklare Ansätze in Prot. V, 2266). Man wird beim Gewicht der Maßregel und entsprechend ihrer allgemeinen gesetzgeberischen Zielrichtung (Rdn. 93), ähnlich wie bei der Nr. 1 (oben Rdn. 63), eine beträchtliche Bedeutung der drohenden Taten verlangen müssen. Bloß „lästige Taten" (s. LK § 63 Rdn. 51 f) scheiden daher grundsätzlich aus. Aber auch Taten im weitgespannten Bereich der mittleren Kriminalität dürften nur unter der Voraussetzung reichen, daß sie nach Art, Häufigkeit und Intensität gravierende Störungen des Rechtsfriedens besorgen lassen. Taten unterhalb dieser Schwelle „additiv" zu „erheblichen" aufzuwerten, wenn sie häufig begangen werden (vgl. dazu LK § 66 Rdn. 115 0» wird sich bei der Art der in Betracht kommenden Delikte regelmäßig verbieten. Ein gewisser Ansatz für die Erheblichkeit dürfte sich auch hier (vgl. schon oben Rdn. 63) aus dem vorausgesetzten Gewicht der Anlaßtat ergeben. Ein weiterer Ansatz ergibt sich aus § 183 Abs. 3 und 4: Wenn das Gesetz für Exhibitionismus und ähnliche Verhaltensweisen sogar auf den Vollzug von Freiheitsstrafen unter recht großzügigen Voraussetzungen zu verzichten gestattet, so wird man daraus — und unbeschadet der besonderen Zielsetzung dieser Regelung — jedenfalls auch den Schluß ziehen dürfen, daß Taten der genannten Art im Zweifel nicht als „erheblich" anzusehen sind. Dies dürfte im übrigen der heutigen Einschätzung dieser Delikte in der Bevölkerung entsprechen; sie gelten als „lästig", nicht aber als „erheblich". Dem kann auch nicht entgegenstehen, daß bei den Gesetzesberatungen Tendenzen deutlich wurden, im Einzelfall auch den Exhibitionisten zu erfassen (Prot. V, 2266); denn diese Tendenzen sind bei Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (§ 62) nur berechtigt, wenn von dem Täter, wie das im Einzelfall möglich ist, künftig schwerere Taten zu erwarten sind; vgl. dazu auch Rdn. 114, 168. Daß im übrigen der Exhibitionismus und die einverständliche Homosexualität grundsätzlich ausscheiden, betont auch Klein (S. 24 f); kritisch gegenüber der Unterbringung von Exhibitionisten im Hinblick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ferner Lenckner S. 214. c) Zusammenhang mit dem Geschlechtstrieb. Warum das Gesetz hinsichtlich der 108 drohenden Taten auf den „Zusammenhang mit dem Geschlechtstrieb" abstellt, hinsichtlich der Anlaßtat aber von der „Zurückführung auf den Geschlechtstrieb" spricht, läßt sich den Gesetzesmaterialien nicht entnehmen. Vermutlich handelt es sich nur um eine Frage der sprachlichen Gestaltung. In der Sache jedenfalls ist nicht anzunehmen, daß der Bezug zum Geschlechtstrieb bei der Anlaßtat und bei den drohenden Taten ein verschiedener sein könnte. Dafür spricht schon, daß auch die Anlaßtat eine formelle Voraussetzung der Unterbringung darstellt, also symptomatischen Charakter haben muß (Rdn. 98). Die Klausel vom „Zusammenhang mit dem Geschlechtstrieb" ist mithin ebenso zu interpretieren wie die Klausel von der „Zurückführung auf den Geschlechtstrieb" (oben Rdn. 98 ff). Erforderlich ist jedoch auch hier (und abweichend vom (175)

§65

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

Wortlaut des § 65 Abs. 1 Nr. 1), daß die Gefahr weiterer Straftaten gerade auch auf deren Zusammenhang mit dem Geschlechtstrieb bezogen ist (Lenckner aaO). Eine andere, davon unabhängige Frage ist freilich, ob — innerhalb des so gezogenen Rahmens — die Anlaßtat und die drohenden Taten gleichwertig oder ähnlich sein müssen. Dies ist nach dem Zweck der Gesetzesregelung zu verneinen (näher Rdn. 114, 168).

109

4. Die angezeigte Behandlung (Absatz 1 S. 2, sog. Indikationsklausel). Das Gesetz verlangt als Einweisungsvoraussetzung auch hier, daß die Behandlung in einer sozialtherapeutischen Anstalt nach dem Zustand des Täters „angezeigt" ist. Zweifelhaft erscheint dabei wie bei der Fallgruppe des § 65 Abs. 1 Nr. 1 wiederum, ob diese Voraussetzung nur die Eignung des Täters oder auch die Notwendigkeit seiner Behandlung betrifft (oben Rdn. 71). Obwohl die Problematik der Sexualtäter, insbesondere angesichts der geringeren strafrechtlichen Vorbelastung, in Einzelheiten möglicherweise etwas anders liegt, ist aus ähnlichen Gründen wie bei den Tätern mit schwerer Persönlichkeitsstörung auch hier davon auszugehen, daß nur die Eignung gemeint ist: Das Gesetz versteht die gefährlichen Sexualtäter als eine besondere Gruppe der Persönlichkeitsgestörten (Rdn. 93). Gehört der Täter zu dieser Gruppe, soll er im Zweifel der speziellen Behandlung zugeführt werden, sofern er dazu geeignet ist.

110

Die Eignung, auf die es mithin allein ankommt, läßt sich bei den Sexualtätern im allgemeinen ersichtlich etwas leichter klären als bei den Tätern mit schwerer Persönlichkeitsstörung (Hanack S. 52; Lenckner S. 214). Denn es geht bei der sozialtherapeutischen Behandlung der Sexualtäter vor allem um bestimmte somatische Einwirkungen, von der medikamentösen Beeinflussung (Antiantrogen- und Oestrogen-Behandlung) über die Kastration bis hin zur (umstrittenen; s. Rdn. 111) stereotaktischen Hirnoperation. Dabei und daneben sind zwar auch psychotherapeutische Einwirkungen indiziert, doch spielen sie ersichtlich hier keine so zentrale Rolle. Bei diesen Gegebenheiten ist die Intelligenz der Probanden darum augenscheinlich von etwas geringerer Bedeutung als bei der Personengruppe des §65 Abs. 1 Nr. 1. Wichtig sind hingegen wiederum der Behandlungswillen und der Leidensdruck (vgl. schon oben Rdn. 82 ff), und wichtig sind daneben offenbar Fragen der Organstruktur und des Alters. Im einzelnen ist die Beurteilung der Eignung eine ärztliche Frage, die der Richter nur mit Hilfe des Sachverständigen (§ 246 a StPO) klären kann. Das einschlägige Schrifttum ist wiederum sehr umfangreich. Eine Übersicht (mit w. Nachw.) enthält das Referat von Wieser Die körperlichen und psychischen Verfahren zur Behandlung von Sexualdelinquenten, in Göppinger-Witter, Handbuch der forensischen Psychiatrie, Bd. I 1972, S. 846. Über Erfahrungen speziell im Rahmen der Sozialtherapie s. Horn in Müller-Dietz, Kriminaltherapie heute, S. 19, sowie Holzapfel in Ehrhardt, Perspektiven der heutigen Psychiatrie, S. 285 (Sonderanstalt HamburgBergedorf) und über Erfahrungen in Herstedvester Stiirup ZfStrVo. 1968 276. Instruktiv sind weiter die folgenden, fast willkürlich ausgewählten Beiträge: Horn Die Antiandrogenbehandlung als spezialpräventive Maßnahme bei Sexualdelinquenten, in Ehrhardt aaO S. 292 ; Mende Somatische Methoden einer Resozialisierungsbehandlung im Strafvollzug, Möglichkeiten und ihre Grenzen, ebenda S. 297 ; Hoffet Neue Wege in der Behandlung von Sexualdelinquenten, Kriminalistik 1969 405, 484. (176)

Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt (Hanack)

§ 6 5

Wie weit somatische Behandlungen in der sozialtherapeutischen Anstalt zulässig 111 sind, richtet sich nach § 63 (i. V. mit § 124) StVollzG und ist hier nicht im einzelnen zu erörtern. Darauf hinzuweisen bleibt, daß für die Kastration die Regelung des KastG maßgebend ist, die jedoch die sog. medikamentöse Kastration nur dann erfaßt, wenn sie die Keimdrüsen dauernd funktionsunfähig macht oder machen kann. Die stereotaktische Hirnoperation ist, weil sie nicht unmittelbar auf den Funktionsausfall der Keimdrüsen gerichtet ist, vom KastG unabhängig; ihre Zulässigkeit ist derzeit lebhaft umstritten (ablehnend OLG Hamm NJW 1976 2311 m. w. Nachw.; s. dazu auch Rieber u. a. Stellungnahme zu stereotaktischen Gehirnoperationen an Menschen mit abweichendem Sozialverhalten, MschrKrim. 1976 216). Zur Phallometrie als umstrittener Untersuchungsmethode vgl. OLG Düsseldorf NJW 1973 2255; LG Hannover NJW 1977 1110 sowie Anm. Jessnitzer NJW 1977 2128 m. w. Nachw.

5. Gesamtwürdigung; Einzelheiten. Unverständlicherweise verlangt das Gesetz 112 auch hier nicht ausdrücklich, daß der Richter die künftige Gefährlichkeit durch eine Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat(en) feststellt. Bei der Schwere der Maßregel und der Schwierigkeit, die gesetzlichen Voraussetzungen der Unterbringung festzustellen, ist eine solche Gesamtwürdigung aber wiederum (vgl. schon Rdn. 64) selbstverständlich erforderlich. Erforderlich ist in aller Regel sogar, daß der Sachverständige, der gemäß § 246 a StPO zuzuziehen ist, gerade auf dem Gebiet der Sexualkriminalität über besondere Kenntnisse verfügt. Die Gesamtwürdigung muß, ganz ähnlich wie bei der Sicherungsverwahrung des § 66 (dort Rdn. 156 ff), die Persönlichkeit des Täters in allen sexualkriminologisch relevanten Bezügen umfassen. Besonders sorgfältig ist wiederum das bisherige kriminelle Verhalten zu würdigen. Daß die Anlaßtat für die künftige Gefährlichkeit symptomatischen Charakter haben muß, ergibt sich schon aus der Beziehung der begangenen Tat und der drohenden Taten zum Geschlechtstrieb. Da ein erheblicher Teil der Sexualtäter nach der Statistik nicht rückfällig wird, 113 sind bei Ersttätern hinsichtlich der Prognose, ob von ihnen mit Wahrscheinlichkeit im Zusammenhang mit dem Geschlechtstrieb weitere und erhebliche Taten zu befürchten sind, strenge Anforderungen zu stellen (Lenckner S. 214). Nicht erforderlich ist jedoch, wie schon angedeutet, daß die Anlaßtat und die 114 drohenden Taten gleichwertig oder gleichartig sind, solange sie nur auf der vorausgesetzten Beziehung zum Geschlechtstrieb beruhen. Denkbar ist also insbesondere, daß der Täter hinsichtlich der drohenden weiteren Taten eine andersartige, namentlich stärkere Gefährlichkeit im Zusammenhang mit seinem Geschlechtstrieb aufweist als die Anlaßtat, isoliert betrachtet, sichtbar macht. Fälle dieser Art rechtzeitig zu erfassen, ist sogar ein besonderes Anliegen des Gesetzes (oben Rdn. 93 ; Prot. V, 2266). Ein Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (§ 62) liegt in diesen Fällen auch dann nicht vor, wenn die Anlaßtat, sofern sie nur die Strafhöhe von einem Jahr erreicht, einen Straftatbestand erfüllt, der als solcher nicht zu den spezifisch gefährlichen Sexualdelikten gehört, also ζ. B. Exhibitionismus (§ 183), Erregung öffentlichen Ärgernisses (§ 183 a) oder auch leichte Formen des sexuellen Mißbrauchs von Kindern (§ 176 Abs. 5). Erforderlich bleibt freilich stets die sorgsame Abwägung der Verhältnismäßigkeit, insbesondere nach dem Grad der drohenden Gefahr schwererer Taten. Vgl. dazu auch unten Rdn. 168. (177)

§65

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

VI. Angehende Hangtäter (Absatz 2) 1. Allgemeines 115

a) Grundgedanke und Entwicklung. §65 Abs. 2 verfolgt den kriminalpolitisch wichtigen Zweck, angehende frühkriminelle Hangtäter rechtzeitig zu erkennen und durch eine spezielle Maßregel mit einem „betont positiven, aufbauenden und erzieherischen Akzent" (Sturm Prot. V, 2281) vor dem endgültigen Abgleiten in die Sicherungsverwahrung tunlich zu bewahren. Die Vorschrift soll damit sogleich auch ein gewisses Bindeglied zwischen den Reaktionsmöglichkeiten des Jugendstrafrechts und des Erwachsenenstrafrechts schaffen, namentlich zwischen der Jugendstrafe von unbestimmter Dauer und der Sicherungsverwahrung (Prot. IV, 285 f; V, 2281). Sie geht auf die kriminologische Einsicht zurück, daß der Anteil der jüngeren Täter an der Gesamtkriminalität, insbesondere der Gewaltkriminalität, beträchtlich ist und die Mehrzahl der Hangtäter aus dem Bereich der rückfälligen Jungtäter stammt, das bisherige Strafrecht dieser Tätergruppe aber wenig gerecht wurde (E 1962, S. 215; zusammenfassend Gummel S. 31 m. zahlr. Nachw.; Schaffstein v. Weber-Festschrift S. 121).

116

Der Gedanke, der hier bestehenden Lücke durch eine spezielle Maßregel gegen jüngere Täter mit schädlichen Neigungen zu begegnen, spielte bei den Beratungen zur Strafrechtsreform von Anfang an eine große Rolle (eingehend insbes. Gummel S. 43 ff). Er konkretisierte sich nach wiederholten Beratungen schließlich im Institut der „vorbeugenden Verwahrung" des § 86 E 1962 (oben Rdn. 25). Es sah für Täter bis zu 27 Jahren eine Verwahrungsmöglichkeit unterhalb der Sicherungsverwahrung vor und war gedacht als „eine Sicherungsmaßregel, bei deren Durchführung aber in erster Linie der Erziehungszweck vérfolgt werden sollte" (Lackner Prot. VI, 310). Schon dabei wurde auf eine besondere Eignungsklausel verzichtet, weil ihre Handhabung den Richter überfordern würde, insbesondere aber, weil bei Tätern der erfaßten Altersgruppe die Erziehbarkeit nie völlig ausgeschlossen werden könne (Prot. IV, 309 ff ; Gummel S. 59); so basierte der Vorschlag, entsprechend den zugrunde gelegten psychologischen Erkenntnissen, auf der „unwiderlegbaren Vermutung", daß den Tätern der Altersgruppe die endgültige Hangtätereigenschaft fehle (Schwalm Stand der Strafrechtsreform, M D R 1959 967). Das Institut der vorbeugenden Verwahrung wurde im Schrifttum lebhaft erörtert; es blieb — vor allem in der Ausrichtung am Sicherungszweck, der Einzelausgestaltung und der Einschätzung ausreichend sicherer Prognosemöglichkeiten — umstritten, wurde aber überwiegend begrüßt und insbesondere im Grundgedanken anerkannt. Zur Diskussion im einzelnen vgl. die zusammenfassenden Darstellungen von Spieler (1960), Gummel (1972) und Hilbig (1974) mit zahlr. Nachw.; aus dem dort genannten Schrifttum sind — im Hinblick auf die spezielle kriminologische Problematik und die Handhabung des § 65 Abs. 2 — besonders hervorzuheben: Becker Vorbeugende Verwahrung oder Erziehungsverwahrung für junge Straftäter 3 MschrKrim. 1967 329; Frey Der frühkriminelle Rückfallverbrecher, 1961; Frey Frühdiagnostik von Gewohnheitsverbrechern, in Frey, Kriminalpolitik, 1975, S. 101; Grünwald Sicherungsverwahrung, Arbeitshaus, vorbeugende Verwahrung und Sicherungsaufsicht im E 1962, ZStW 76 [1964] 633; Hellmer Rückfallverbrechertum und Frühkriminalität, ZStW 72 [1960] 397; Hellmer Schuld und Gefährlichkeit im Jugendstrafrecht, 1962; Schaffstein v. Weber-Festschrift S. 121; Chilian Die Bedeutung der individuellen kriminologischen Prognose für die Unterbringung werdender Hangtäter, Diss. Heidelberg 1972. (I7S)

Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt (Hanack)

§ 6 5

Der Sonderausschuß engte unter dem Einfluß der laut gewordenen Kritik bei 117 seinen Beratungen zunächst die formellen Voraussetzungen der „vorbeugenden Verwahrung" ein und bemühte sich (namentlich auf Anregung von Sieverts Prot. IV, 863 ff) überdies um eine stärkere Ausrichtung am Erziehungsgedanken, die zur Umbenennung des Instituts in „Erziehungsverwahrung" führte (Einzelheiten bei Gummel S. 52 ff). Später bezog der Sonderausschuß dann auch dieses Institut auf Anregung des Bundesjustizministeriums (Prot. V, 2281 ff) nach dem Vorbild des § 69 AE-AT in seine Regelung über die sozialtherapeutische Anstalt ein, ließ sie also in dieser Institution aufgehen. Maßgebend dafür war insbesondere seine Ansicht, daß die notwendigen Behandlungsmethoden im wesentlichen gleich seien und sich die Einbeziehung zur Vereinfachung des Gesamtsystems der freiheitsentziehenden Maßregeln empfehle (kritisch und ablehnend Jescheck ZStW 80 83 f und Lehrbuch 1 S. 509; Gummel S. 55; vgl. auch Sturm Prot. V, 2283). Der Sonderausschuß verzichtete dabei ebenfalls auf eine besondere Eignungsklausel nach dem Muster des § 65 Abs. 1 S. 2, weil „bei einem jungen Menschen, der sich auf dem Weg zum Hangtäter befindet, es nicht der besonderen Feststellung bedarf, daß die spezielle sozialtherapeutische Behandlung bei ihm angezeigt ist" (2. Bericht S. 29; LencknerS. 216 nennt das einen „gewissen Erziehungsoptimismus"). Aus „den gleichen Gründen" (2. Bericht aaO) erschien dem Sonderausschuß „auch die besondere Erwähnung einer Persönlichkeitsstörung entbehrlich". b) Zweck und Problematik. Nach Wortlaut und Entstehungsgeschichte ist ein- 118 deutig, daß § 65 Abs. 2 eine speziell an der Resozialisierung ausgerichtete Maßregel darstellt, die auf dem Gedanken der grundsätzlichen Resozialisierungsfähigkeit des erfaßten Täterkreises aufbaut und das Abgleiten in die Sicherungsverwahrung verhindern soll. Der Grundgedanke einer solchen Maßregel ist mit der vorherrschenden Meinung im Reformschrifttum (oben Rdn. 116) unbedingt zu bejahen. Er sollte nicht verlorengehen, wie immer sich die Institution der sozialtherapeutischen Anstalt für die übrigen Tätergruppen des § 65 entwickelt oder bewährt. Eine andere Frage ist, ob die gesetzliche Ausgestaltung des § 65 Abs. 2 den Rieh- 119 ter nicht überfordert und zu große Gefahren birgt. Das gilt vor allem für das schwierige Problem der Prognose. Die Auffassung, daß die Prognostizierung des frühkriminellen Hangtäters zwar „in gewisser Hinsicht ein neuralgischer Punkt", aber „letztlich doch möglich" sei (vgl. Sturm Prot. V, 2281), erscheint bedenklich optimistisch (skeptisch auch Lenckner S. 216; Pätzold S. 114; Hilbig S. 121); sie stimmt, was die Verläßlichkeit entsprechender Kriterien angeht, bis heute wohl kaum mit dem Stand der Wissenschaft überein (vgl. Rdn. 151 f)· Die sog. formellen Voraussetzungen (Absatz 2 Nr. 1, 2) aber sind, wie die folgende Kommentierung zeigt, nicht so eindeutig, daß sie den Bereich der Maßregel von vornherein auf den wirklich kritischen Täterkreis einengen; so machen die empirischen Untersuchungen von Gummel über formal unterbringungsreife Täter (S. 75 ff) sehr deutlich, wie schnell diese Voraussetzungen erfüllt sein können. Daher kann — jedenfalls auf absehbare Zeit und bei aller Anerkennung der gesetzgeberischen Intentionen — wohl nur eine sehr behutsame Handhabung der Gefahr steuern, daß § 65 Abs. 2 eine unangemessen weite Ausdehnung erlangt und als Maßregel im Vorfeld der Sicherungsverwahrung die Relation zu § 66 sprengt. Das gilt nicht zuletzt bei Anwendung des § 65 Abs. 2 auf Heranwachsende, die gemäß § 105 JGG nach Erwachsenenstrafrecht beurteilt werden. (179)

§65 120

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

Im übrigen dürfte schon angesichts dieser Gegebenheiten die bei den Gesetzesberatungen umstrittene Frage einer gesetzlichen Ausdehnung des Anwendungsbereichs von § 65 Abs. 2 auch auf Jugendliche (näher Gummel S. 62 ff; Hilbig S. 63 ff m. zahlr. Nachw.) jedenfalls bis auf weiteres eindeutig zu verneinen sein (ebenso Hilbig aaO; a. A. und sehr rigoros Gummel aaO).

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2. Vortaten (Absatz 2 Nr. 1). Voraussetzung der Unterbringung ist zunächst, daß der Täter vor der auslösenden Tat, aber nach Vollendung des 16. Lebensjahres, mindestens zwei vorsätzliche erhebliche Taten begangen hat, derentwegen Fürsorgeerziehung angeordnet oder Freiheitsstrafe verhängt worden ist. Zu beachten ist dabei die entsprechende Anwendung der Rückfallverjährung des § 48 Abs. 4 (§ 65 Abs. 4 S. 1). Zu Taten, die außerhalb des räumlichen Geltungsbereichs des StGB abgeurteilt worden sind, vgl. § 65 Abs. 5. 122 Anders als bei § 66 und bei § 65 Abs. 1 Nr. 1 genügt hier, daß die beiden Taten zusammen abgeurteilt worden sind, also ein Verfahren zur Anordnung von Freiheitsstrafe oder Fürsorgeerziehung geführt hat (Lenckner S. 216; Preisendanz Anm. III 3 a). Der Grund dafür liegt in der Ansicht des Gesetzgebers, daß es darauf ankomme, angehende Hangtäter möglichst frühzeitig der Behandlung zuzuführen (Prot. V, 2285 f)· Rechtskraft bzw. Rechtsbeständigkeit der Anordnung wird vom Gesetz zwar nicht ausdrücklich verlangt, ist aber schon im Hinblick auf die vorausgesetzte Warnfunktion der Nr. 1 und ihrer Bedeutung als Anknüpfung für die Gesamtwürdigung selbstverständlich zu verlangen. Die Rechtskraft muß dabei überdies bereits vor der auslösenden Tat eingetreten sein (wie bei § 65 Abs. 1 Nr. 1 ; s. oben Rdn. 46). 123 a) Nach dem 16. Lebensjahr. Taten, die vor dem 16. Lebensjahr oder während dieses Lebensjahres begangen worden sind, bleiben außer Ansatz, weil der Gesetzgeber davon ausgeht, daß vorher eine einigermaßen zuverlässige Frühprognose nicht möglich ist (vgl. dazu schon Dreher Niederschriften Bd. 4, S. 37 f; E 1962, S. 215 0· Dies hindert jedoch selbstverständlich nicht, auch solche Taten bei der erforderlichen Gesamtwürdigung (Absatz 2 Nr. 3) als Indizien für die drohende Entwicklung zum Hangtäter mit heranzuziehen. Vollendung des 16. Lebensjahres liegt mit dem 16. Geburtstag vor, wobei der Geburtstag selbst mitgerechnet wird (§ 187 Abs. 2 BGB). Wann die Tat begangen ist, richtet sich nach § 8 (vgl. dazu LK § 66 Rdn. 47), so daß es also darauf ankommt, wann der Täter gehandelt hat oder hätte handeln müssen, nicht aber, wann der Erfolg eingetreten ist. 124 b) Vorsätzliche Straftaten. Es muß sich um „Straftaten" handeln, d. h. nach dem Sprachgebrauch des neuen StGB um tatbestandsmäßig-rechtswidrige und schuldhaft begangene Verbrechen oder Vergehen. Eine Verurteilung braucht ihretwegen jedoch nicht erfolgt zu sein ( Gummel S. 57), weil es genügt, daß die Vortaten zu Fürsorgeerziehung geführt haben, die nicht nur der Jugendrichter (§§ 9, 12 JGG), sondern auch der Vormundschaftsrichter (s. unten Rdn. 136) anordnen kann. Vorsätzliche Tat ist auch die Vorsatz-Fahrlässigkeits-Kombination nach § 11 Abs. 2. Die Art der vorsätzlichen Tat ist gleichgültig, wenn es sich nur um eine „erhebliche" Straftat handelt (dazu im folg. Text), so daß, wie bei § 66 Abs. 1 Nr. 1 (dort Rdn. 29), auch Vorbereitung, Versuch oder Teilnahme reichen, soweit sie strafbar sind. (180)

Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt ( H a n a c k )

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c) Erhebliche Straftaten. Der Begriff der „erheblichen" Vortaten macht hier 125 besondere Schwierigkeiten, weil das Gesetz mit diesem Erfordernis schon in die Prüfung der „formellen" Voraussetzungen, fast systemwidrig, ein Moment einbaut, das eine spezifische Wertung verlangt und sich deswegen mit den „materiellen" Voraussetzungen berühren kann. Der Begriff der „erheblichen" Tat läßt sich im Maßregelrecht nicht ohne weiteres einheitlich auslegen (s. Rdn. 40 ff vor § 61 ; § 63 Rdn. 45). Er war zur Charakterisierung der Vortaten schon bei der vorbeugenden Verwahrung des § 86 E 1962 (oben Rdn. 116) vorgesehen. Die Begründung zum E 1962 (S. 216 i. V. mit S. 209, 211, 214) deutet darauf hin, daß er dort — als Konkretisierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes — auf Taten von „gewisser Schwere" gemünzt war, also geringfügige bzw. bloß „lästige" Taten ausscheiden, im übrigen freilich Delikte jeder Art treffen sollte, die mit Freiheitsstrafe bedroht sind, nicht nur Delikte gegen lebenswichtige Rechtsgüter (vgl. auch Gummel S. 57). Es entspricht dem Gesetz, von dieser Auslegung auch bei § 65 Abs. 2 auszugehen 126 (ebenso Gummel aaO ohne nähere Erörterung). Denn obwohl die Vorschrift der Entwicklung zum „Hangtäter" i. S. des § 66 begegnen will und an die „erhebliche" kriminelle Intensität dieses Hangtäters sehr viel strengere Anforderungen gestellt werden als noch im E 1962 (vgl. LK § 66 Rdn. 16, 103 ff): Die Frage der „erheblichen" Vortat markiert, unbeschadet ihrer Bedeutung auch für die „Gesamtwürdigung" des Täters und seiner Taten, zunächst einmal eine „formelle" Voraussetzung, eine „Schwelle" der Prüfung. Es besteht daher kein Anlaß, die „Erheblichkeit" der Vortaten sogleich restriktiv dergestalt auszulegen, daß von vornherein nur Taten erfaßt werden, die mit den „erheblichen" Taten des Hangtäterbegriffs korrespondieren. Eine solche Verengung würde vielmehr Charakter und Zweck des § 65 Abs. 2 eher widersprechen. Erheblich i. S. des § 65 Abs. 2 Nr. 1 sind danach alle vorsätzlichen Straftaten, die 127 eine ernsthafte Störung des Rechtsfriedens enthalten und damit mehr als „lästig" sind (zu dieser überkommenen Differenzierung s. LK § 63 Rdn. 51 f; die dort dargelegten Maßstäbe müssen in etwa auch hier gelten). Eine natürliche Schranke ergibt sich nur daraus, daß wegen der Tat Fürsorgeerziehung angeordnet oder Freiheitsstrafe verhängt sein muß. Die „Erheblichkeit" ist dabei nach dem Gesagten weitgehend auch ohne Rück- 128 sieht darauf zu beurteilen, wie die Tat, für sich betrachtet, beim damaligen Status und den damaligen Verhältnissen des Täters unter dem spezifischen Zweck des § 65 Abs. 2 zu würdigen gewesen wäre (ebenso Schaffstein v. Weber-Festschrift S. 133, der nur auf den vom Täter angerichteten Schaden abhebt; zweifelnd und kritisch Hilbig S. 117 i. V. mit S. 65 f). Dies ergibt sich wiederum aus Zweck und Systematik des § 65 Abs. 2, insbesondere daraus, daß im Rahmen der „materiellen Voraussetzungen" (Nr. 3) eine Gesamtwürdigung des Täters und seiner Taten erfolgen muß ; mit dieser Verpflichtung wäre es unvereinbar, die Erheblichkeit von Vortaten in so verengender Weise zu betrachten. Dies bedeutet zwar nicht, daß die Situation zur Zeit der Tatbegehung im Rahmen der formellen Voraussetzungen gänzlich außer Ansatz zu bleiben hat und nur bei der Gesamtwürdigung heranzuziehen ist; sie kann vielmehr im Einzelfall auch schon für die spezielle Erheblichkeitsprüfung der Nr. 1 Bedeutung besitzen. Im Vordergrund steht jedoch eine von diesen Gesichtspunkten losgelöste, primär an der abstrakt-objektiven Schwere orientierte Betrachtung (die dann freilich bei der „Gesamtwürdigung" zu ergänzen ist).. (181)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

In diesem Umfang ist es darum für das jetzt erkennende Gericht auch ohne Bedeutung, ob der frühere Richter die Tat milde ahndete, etwa weil er dem Täter noch eine günstige Prognose stellte, schädliche Neigungen verneinte oder ähnliche spezifisch täterorientierte Gesichtspunkte zu seinen Gunsten herangezogen hat. 129 d) Anordnung von Fürsorgeerziehung oder Freiheitsstrafe. Wegen der Vortaten muß gegen den Täter entweder Fürsorgeerziehung angeordnet oder Freiheitsstrafe verhängt worden sein. Die Anordnung einer anderen Reaktion reicht nicht. Das gilt insbesondere für sonstige jugendrechtliche Erziehungsmaßregeln nach § 9 JGG sowie für die Zuchtmittel des § 13 JGG. Der Gesetzgeber hat die bei der vorbeugenden Verwahrung des E 1962 (oben Rdn. 116) zunächst vorgesehene Einbeziehung dieser Reaktionsmittel bewußt ausgeschlossen, um die Diskrepanz zur Sicherungsverwahrung nicht zu groß werden zu lassen und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Rechnung zu tragen (Prot. IV, 319; für den Dauerarrest Prot. V, 2283; näher Gummel S. 57, 54). Die Frage solcher anderen Reaktionen kann freilich bei der „Gesamtwürdigung" des Täters eine Rolle spielen. 130

Fürsorgeerziehung kann als jugendstrafrechtliche Maßnahme (§§9, 12 JGG) oder durch Beschluß des Vormundschaftsgerichts unter den Voraussetzungen des § 64 JWG (unten Rdn. 136) angeordnet werden; in der Praxis überwiegen die vormundschaftsgerichtlichen Anordnungen bei weitem (näher Böhm Einführung in das Jugendstrafrecht, 1977, S. 113). Ob die Anordnung materiell berechtigt war oder nach dem jetzt geltenden JWG noch verhängt werden könnte, hat der über die Voraussetzungen des § 65 Abs. 2 entscheidende Richter nach dem Gesetz nicht zu prüfen ; die Frage der materiellen Berechtigung kann jedoch in Zweifel- und Grenzfällen wiederum bei der „Gesamtwürdigung" Bedeutung haben. Als „angeordnete" Fürsorgeerziehung ist nach der ratio legis auch die vorläufige Fürsorgeerziehung des § 67 JWG anzusehen, falls sie nur rechtsbeständig angeordnet worden ist. 131 Nach dem Gesetzeswortlaut reicht, daß wegen beider Vortaten Fürsorgeerziehung angeordnet worden ist. Da auch nicht verlangt wird, daß dies durch Spruch des Jugendgerichts geschehen ist, ist es möglich, daß der Täter im Zeitpunkt der Unterbringung strafgerichtlich noch keine Verurteilung aufweist. Dies war beabsichtigt (Prot. V, 327, 324; vgl. auch Gummel S. 57). 132 Freiheitsstrafe ist auch die Jugendstrafe des JGG, um die es oft sogar in besonderem Maße gehen wird (Gummel S. 58). Wie bei §66 (dort Rdn. 29; vgl. auch BGHSt. 27 90 zu § 48) dürfte hingegen Ersatzfreiheitsstrafe nicht reichen, weil sie nur an die Stelle einer Geldstrafe tritt, diese aber nicht das für die Nr. 1 erforderliche Gewicht besitzt. 3. Vorausgegangener Freiheitsentzug (Absatz 2 Nr. 2) 133 a) Allgemeines. Der Täter muß „vor der letzten Tat", d. h. der Anlaßtat, Freiheitsentzug von mindestens einem Jahr durch Fürsorgeerziehung in einem Heim oder durch Strafvollzug erlitten haben. Bei den Gesetzesberatungen wurde der Sinn dieser Voraussetzung darin gesehen, „daß ein länger dauernder stationärer Erziehungsversuch fehlgeschlagen sein" müsse (Prot. V, 325). 134 Doch verlangt das Gesetz nicht, daß der Täter entweder ein Jahr im Strafvollzug oder ein Jahr in Fürsorgeerziehung war. Ausreichend ist vielmehr, daß er insgesamt ein Jahr Freiheitsentzug erlitten hat (vgl. Prot. V, 324). Es reicht also z. B. ein zehn(I82)

Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt (Hanack)

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monatiger Strafvollzug und eine zweimonatige Fürsorgeerziehung oder umgekehrt (Gummel S. 58), obwohl zwei Monate Jugendstrafe oder Fürsorgeerziehung für einen intensiven Erziehungsversuch gewiß wenig Bedeutung besitzen. Auch ist im Fall des Vollzugs von Freiheitsstrafe gemäß § 65 Abs. 4 i. V. mit § 48 Abs. 3 erlittene Untersuchungshaft oder eine andere anrechenbare Freiheitsentziehung zu berücksichtigen, obwohl in der Untersuchungshaft jedenfalls des Erwachsenenvollzugs eine erzieherische Einwirkung nicht stattfindet (anders im Vollzug nach Jugendstrafrecht, § 92 JGG). Der Richter wird diese Abschwächungen im gesetzgeberischen Grundgedanken des „länger dauernden stationären Erziehungsversuchs" (Rdn. 133) bei der Gesamtwürdigung gemäß Nr. 3 zu beachten haben. Im übrigen kann die Durchführung der Fürsorgeerziehung in einem Heim oder 135 der Vollzug von Freiheitsstrafe unabhängig von den Vortaten des Absatz 2 Nr. 1 stattgefunden haben, braucht also nicht notwendig ihretwegen erfolgt zu sein. So ist insbesondere denkbar, daß der Täter zwar wegen der Vortaten der Nr. 1 zu Freiheitsstrafe verurteilt worden ist, diese aber nicht verbüßt hat, sondern sich aus anderen Gründen, namentlich wegen „Verwahrlosung" (§ 64 JWG), aufgrund vormundschaftsgerichtlicher Anordnung mindestens ein Jahr in Fürsorgeerziehung befunden hat (Prot. V, 326; 2. Bericht S. 29; Lenckner S. 216; Gummel S. 58). Ausreichend ist im Einzelfall aber auch, daß am Täter wegen anderer, nicht vorsätzlicher oder nicht erheblicher Straftaten i. S. des Absatz 1 Nr. 1, Freiheitsstrafe vollzogen worden ist. b) Fürsorgeerziehung in einem Heim. Fürsorgeerziehung kann nach § 64 JWG 136 vom Vormundschaftsgericht für einen Minderjährigen, der das 17. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, angeordnet werden, „wenn sie erforderlich ist, weil der Minderjährige zu verwahrlosen droht oder verwahrlost ist" und keine ausreichenden anderen Erziehungsmaßnahmen gewährleistet sind. Die Fürsorgeerziehung wird nach Rechtskraft vom Landesjugendamt unter Beteiligung des Jugendamts ausgeführt (§ 69 Abs. 1, 2 JWG), und zwar in der Regel in einer geeigneten Familie oder in einem Heim, widerruflich auch in der eigenen Familie des Minderjährigen (§ 69 Abs. 3 JWG mit Einzelheiten). Für § 65 Abs. 2 Nr. 2 reicht nach dem klaren Gesetzeswortlaut nur die Fürsorgeerziehung in einem Heim. Ausreichend ist nach der ratio legis aber auch hier (s. schon Rdn. 130) die vorläufige Fürsorgeerziehung nach § 67 JWG, falls sie in einem Heim vollzogen wird. Zweifelhaft ist hingegen, ob die befristete Unterbringung zum Zwecke der Vorbereitung eines Sachverständigengutachtens über die Notwendigkeit der Fürsorgeerziehung nach § 66 Abs. 2 JWG ausreicht bzw. auf die Jahresfrist anrechenbar ist. Man wird die Frage in entsprechender Anwendung des § 65 Abs. 4 S. 1 i. V. mit § 48 Abs. 3 S. 2 bejahen müssen, obwohl eine „Anrechnung" i. e. S. nicht erfolgt. Da es allein darauf ankommt, ob der Täter der Einwirkung tatsächlich ausge- 137 setzt war, hat der Richter auch hier nicht nachzuprüfen, ob die Durchführung von Heimerziehung tatsächlich erforderlich war. Er wird diese Frage und ebenso die Güte und Eindringlichkeit der Heimerziehung als „eines länger dauernden stationären Erziehungsversuchs" (Rdn. 133) aber wiederum bei der Gesamtwürdigung des Absatz 2 Nr. 3 mitberücksichtigen dürfen und müssen (vgl. schon oben Rdn. 130). Über die Verweisungs-Regelung des § 65 Abs. 4 S. 1 hinaus bleibt nach Absatz 4 138 S. 2 eine Fürsorgeerziehung außer Ansatz, wenn zwischen ihrer Aufhebung und der folgenden Tat mehr als zwei Jahre verstrichen sind, wobei in diese Frist die Zeit (183)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

nicht eingerechnet wird, in welcher der Täter aus anderen Gründen in einer Anstalt verwahrt worden ist. Die Zweijahresfrist, die erst in einem späteren Stadium der Beratungen eingefügt worden ist (näher Gummel S. 53), soll Bedenken Rechnung tragen, daß sonst auch Fälle erfaßt werden könnten, in denen Fürsorgeerziehung im Kindesalter oder aus anderen für die künftige Entwicklung nicht indiziellen Gründen durchgeführt worden ist (Prot. V, 327 f)· Das ist in dieser Ausschließlichkeit wenig einleuchtend und kann den Richter jedenfalls nicht hindern, die Tatsache der durchgeführten Fürsorgeerziehung bei der Gesamtwürdigung zu berücksichtigen, wenn die formellen Voraussetzungen des § 65 Abs. 2 aus anderen Gründen vorliegen. 139

c) Vollzogene Freiheitsstrafe. Freiheitsstrafe ist auch hier die Jugendstrafe (Rdn. 132), nicht aber eine sonstige mit Freiheitsentzug verbundene jugendstrafrechtliche Reaktion (Rdn. 129). Ersatzfreiheitsstrafe dürfte, anders als bei Absatz 2 Nr. 1 (Rdn. 132), reichen, weil es bei der Nr. 2 speziell um die erzieherische Einwirkung (Rdn. 133) geht, die bei der Ersatzfreiheitsstrafe in gleichem Maße gegeben ist. Untersuchungshaft oder anderer anrechenbarer Freiheitsentzug gilt gemäß § 65 Abs. 4 S. 1 i. V. mit § 48 Abs. 3 S. 2 als verbüßte Strafe.

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4. Die auslösende Tat. Die Anlaßtat für Absatz 2 muß vor der Vollendung des 27. Lebensjahres begangen sein, eine vorsätzliche Straftat darstellen und dazu führen, daß der Täter zu zeitiger Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt wird. Sie muß überdies (Wortlaut des Absatz 2 Nr. 1 und 2) nach den vorausgesetzten Vortaten (Nr. 1) und dem vorausgesetzten Freiheitsentzug (Nr. 2) begangen sein. Daß die Anordnung der Fürsorgeerziehung oder die verhängte Freiheitsstrafe vor der Anlaßtat in Rechtskraft erwachsen ist, verlangt das Gesetz zwar nicht ausdrücklich ; es ist jedoch, ähnlich wie bei § 66 (dort Rdn. 43), jedenfalls im Hinblick auf die damit verbundene spezifische Warnfunktion auch hier zu fordern. Ob die Tat vor Vollendung des 27. Lebensjahres begangen ist, beurteilt sich auch hier nach § 8, so daß es also darauf ankommt, wann der Täter gehandelt hat oder hätte handeln müssen. Vollendung des 27. Lebensjahres liegt am 27. Geburtstag vor. Die Altersgrenze entspricht nach Meinung des Gesetzgebers im Hinblick auf den Zweck der Maßregel der durchschnittlichen Grenze der menschlichen Reifeentwicklung und der vermuteten Beeinflußbarkeit (vgl. Prot. IV, 310, 311). Wann die Tat abgeurteilt wird, ist, entgegen früheren Entwurfsfassungen, gleichgültig (dazu Niederschriften Bd. 4, S. 60, 61). Zum Begriff der vorsätzlichen Straftat s. die Ausführungen Rdn. 45, die auch hier gelten.

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Die Straftat muß, ganz ähnlich wie bei § 66 (dort Rdn. 45), symptomatischen Charakter haben, also auf die Gefahr hindeuten, daß sich der Täter zum Hangtäter entwickeln wird (vgl. auch Prot. V, 324). Bedenklich erscheint die Auffassung von Gummel (S. 56), aufgrund der gegenüber früheren Vorschlägen vorgenommenen Verengung der formellen Voraussetzungen und deren Zusammenspiel sei die indizielle Bedeutung der Anlaßtat in der Regel zu bejahen, falls nicht besondere Anhaltspunkte dagegen sprächen. Eine derartige Vermutung dürfte im Hinblick auf die sehr differenzierten Umstände der Beurteilung, ob jemand Hangtäter zu werden droht, eine unzulässige Verengung der Betrachtung bedeuten ; daß das Gesetz selbst sich mit den von ihm genannten Voraussetzungen begnügt, steht dem nicht entge< 184)

Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt (Hanack)

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gen, weil es damit nur die Schwelle der Prüfung markiert, nicht aber eine weitergehende Indizwirkung zum Ausdruck bringt. Vgl. näher auch unten Rdn. 145. Freiheitsstrafe ist an sich auch die Jugendstrafe, die jedoch wegen der Begren- 142 zung des § 65 auf Erwachsene und ihnen gleichgestellte Heranwachsende (oben Rdn. 39) insoweit hier nicht praktisch wird. Eine Ersatzfreiheitsstrafe reicht grundsätzlich schon deswegen nicht aus, weil sie — als Einzelstrafe — im Umwandlungsmaßstab ein Jahr Freiheitsstrafe nicht erreichen kann. Ob die mindestens einjährige Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt wird oder durch Anrechnung gemäß §51 — ganz oder teilweise — als verbüßt gilt, spielt keine Rolle. Bei Verurteilungen zu lebenslanger Freiheitsstrafe scheidet die Unterbringung auch hier aus (dazu schon oben Rdn. 44). Im Falle einer Gesamtstrafe ist nicht deren Höhe entscheidend. Vielmehr muß, 143 in der Sache wie bei § 66 (dort Rdn. 44) und bei § 65 Abs. 1 Nr. 1 (oben Rdn. 47), wenigstens eine der Einzelstrafen die Höhe von einem Jahr erreichen (Lenckner S. 215; Gummel S. 57), weil nur dann das vorausgesetzte Gewicht der Anlaßtat gegeben ist. Der Gesetzgeber wollte dies mit der Formulierung „wegen einer Straftat" zum Ausdruck bringen (Prot. V, 290). 5. Gefahr der Entwicklung zum Hangtäter (Absatz 2 Nr. 3) a) Allgemeines. Die formellen Voraussetzungen des § 65 Abs. 2 Nr. 1 und 2 144 engen zwar die Unterbringung auf Täter ein, die im allgemeinen gewiß keine gute Entwicklung und Prognose aufweisen. Ob oder wann jedoch die Gefahr besteht, daß sich solche Täter zu Hangtätern entwickeln, ist eine andere, im Einzelfall äußerst kritische und problematische Frage. Sie zu entscheiden dürfte vielfach noch weit schwieriger sein als die Feststellung, ob jemand als akuter Hangtäter nach § 66 anzusehen ist (Lenckner S. 216; kritisch auch Pätzold S. 117; Hilbig S. 121 ff). Dies gilt zumal, weil von der Prüfung auch Täter erfaßt werden, die sich noch nie im Strafvollzug befunden haben (Rdn. 131) oder bei denen der vom Gesetzgeber vorausgesetzte „länger dauernde stationäre Erziehungsversuch" (Rdn. 133) in so eindeutiger Form gar nicht erfolgt sein muß (Rdn. 134). Unter diesen Umständen kommt der materiellen Prognose gemäß Absatz 2 Nr. 3 145 trotz der gegenüber den ursprünglichen Gesetzesvorschlägen erheblich verengten formellen Voraussetzungen entscheidende und eigenständige Bedeutung zu. Die gegenteilige Auffassung von Gummel (S. 60), daß wegen dieser verengten Voraussetzungen bei deren Vorliegen die Gefahr der Hangtäterentwicklung „in der Regel" erkennbar sei, die Prognose der Nr. 3 daher „in erster Linie den Schutz vor unberechtigten Anforderungen im Einzelfall" diene, ist schlechterdings nicht vertretbar. Sie würde die notwendige Relation zur Sicherungsverwahrung völlig sprengen. Das zeigen gerade Gummels empirische Untersuchungen und Schätzungen, nach denen — angesichts der schnell erreichten formalen Unterbringungsreife — bei Zugrundelegung seines Maßstabs jährlich zunächst etwa 1800—2200 Täter zur Unterbringung nach § 65 Abs. 2 verurteilt werden müßten; zur Zahl der Sicherungsverwahrten vgl. demgegenüber LK § 66 Rdn. 27. Gummels Untersuchungen machen, wie schon angedeutet (Rdn. 119), vielmehr nachdrücklich deutlich, daß § 65 Abs. 2 zurückhaltend gehandhabt werden muß, wenn sich in diesem Bereich nicht die unglückliche frühere Entwicklung der Sicherungsverwahrung (vgl. LK § 66 Rdn. 6, Rdn. 23 ff) in anderem rechtlichen Gewände wiederholen soll. (185)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

Dem kann auch nicht entgegenstehen, daß § 65 Abs. 2 ein kriminalpolitisch wichtiges Ziel verfolgt und daß der „letzte Erziehungsversuch" (oben Rdn. 25) vor der Sicherungsverwahrung durch die Anrechnungsklausel des § 67 Abs. 4 mit der für die Anlaßtat verhängten Freiheitsstrafe „verrechnet" wird. Denn ganz abgesehen davon, daß die „Verrechnung" nicht immer „aufgeht": Die Anordnung bleibt ihrer Art nach in jedem Falle ein schwerer, den Täter erheblich belastender Eingriff, bei dem überdies die Gefahr der späteren „Abstempelung" des Betroffenen in der Praxis wohl kaum zu verkennen ist. 146

b) Erkennbare Gefahr. Gefahr bedeutet auch hier (vgl. schon LK § 64 Rdn. 69; auch Rdn. 44 ff vor § 61) überwiegende Wahrscheinlichkeit. Von dieser Wahrscheinlichkeit muß das Gericht überzeugt sein; kann es zu dieser Überzeugung nicht gelangen, gilt der Grundsatz in dubio pro reo (streitig; vgl. Rdn. 48 ff vor § 61). Daß die Gefahr „erkennbar" sein muß, ist selbstverständlich. Die Gesetzesformulierung verdeutlicht nur besser als die zunächst gewählte Formulierung „zu befürchten ist" (näher Gummel S. 48), daß die Gefahr konkrete Indizien und Feststellungen voraussetzt.

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c) Entwicklung zum Hangtäter; Täter unter 25 sowie zwischen 25 und 27 Jahren. Es muß die Gefahr bestehen, daß sich der Täter zum Hangtäter entwickeln wird. Gemeint ist damit die Hangtätereigenschaft des § 66, d. h. eine fest eingewurzelte Neigung (LK § 66 Rdn. 84 ff), bezogen auf erhebliche Straftaten i. S. des § 66 Abs. 1 Nr. 3 (dazu LK § 66 Rdn. 102 ff). Die erkennbare Gefahr, daß sich der Täter zu einem solchen Hangtäter entwickelt, muß sich dabei auf die Kombination dieser beiden Gesichtspunkte beziehen; die Gefahr, daß der Täter erhebliche Straftaten begehen wird, reicht also für sich ebensowenig wie die Gefahr, daß er immer wieder nicht-erhebliche Straftaten aus einem Hang heraus verwirklicht.

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Das Gesetz geht dabei von der „unwiderlegbaren Vermutung" aus, daß Täter unter 25 Jahren noch keine „fertigen" Hangtäter sind (oben Rdn. 116; Lenckner S. 217; Gummel S. 59). Das ergibt sich aus dem gewollten Zusammenspiel des § 65 Abs. 2 mit der Regelung des § 66, nach der (mit dem Inkrafttreten des § 65) Sicherungsverwahrung nur gegen Täter über 25 Jahren angeordnet werden darf. Doch kann diese unwiderlegliche Vermutung den Richter im Einzelfall selbstverständlich nicht an der Feststellung hindern, daß der Täter unter 25 Jahren in der Sache schon vollentwickelter Hangtäter ist, bei ihm also nicht nur die „erkennbare Gefahr" dieser Entwicklung gegeben ist (Gummel aaO). Die gesetzliche Vermutung verbietet nur, einen solchen Täter in Sicherungsverwahrung zu nehmen, weil nach Meinung des Gesetzgebers die sozialtherapeutische Behandlung im Sinne des „letzten Erziehungsversuchs" bei ihm stets angezeigt ist (oben Rdn. 116, 117). Aus dieser Logik des Gesetzes folgt auch, daß die Unterbringung nach § 65 Abs. 2 sowohl erziehungsfähige als auch erziehungsunfähige Täter unter 25 Jahren trifft oder genauer: daß das Gesetz insoweit eine Differenzierung nicht für möglich hält oder anerkennt (oben aaO).

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Anders und kritischer liegt es, wenn der Täter bei der auslösenden Tat zwischen 25 und 27 Jahre alt war. Denn hier ist nach der Gesetzesfassung sowohl die Anordnung der Sicherungsverwahrung (§ 66) als auch die Unterbringung in der sozialtherapeutischen Anstalt (§ 65 Abs. 2) zulässig, überschneidet sich also der Anwendungsbereich beider Maßregeln. Wollte man auf den Wortlaut des Gesetzes abstellen, käme es insoweit darauf an, ob der Täter schon fertiger Hangtäter ist (§ 66) (186)

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oder sich erst in der Entwicklung zum Hangtäter befindet (§ 65 Abs. 2). Dies ist denn auch die Auffassung von Gummel (S. 62) und Maurach (AT § 68 I C 2 c). Der Lösung nach dem Gesetzeswortlaut ist nicht zu folgen, wie schon Lenckner (S. 217; zustimmend Hilbig S. 126) überzeugend dargelegt hat: Sie müßte zu der Konsequenz führen, daß der „fertige" Hangtäter zwischen 25 und 27 Jahren nach § 65 Abs. 2 nicht verurteilt werden, aber auch nur dann in Sicherungsverwahrung genommen werden könnte, wenn die weiteren formellen Voraussetzungen des § 66 erfüllt sind. Ein solches Ergebnis wäre konsequent, wenn man vom Willen des Gesetzes ausgehen dürfte, den Täter zwischen 25 und 27 Jahren bereits „endgültig abzuschreiben", ihn also in Sicherungsverwahrung zu nehmen, wenn deren Voraussetzungen erfüllt sind, ansonsten aber zuzuwarten, bis diese Voraussetzungen eintreten. Ersichtlich entspricht das jedoch nicht dem Geist des Gesetzes, schon weil es bei der hier anstehenden Tätergruppe jedenfalls im Grundsatz davon ausgeht, daß sie durch eine gezielte sozialtherapeutische Behandlung noch beeinflußbar ist. Daß der Täter bereits Hangtäter ist, kann daher kein Grund sein, ihn von § 65 Abs. 2 stets auszunehmen, zumal die Unterscheidung zwischen angehenden und „fertigen" Hangtätern gerade bei jungen Menschen nur zu oft fragwürdig ist. Vielmehr erscheint es richtig, Absatz 2 in extensiver Auslegung im Einzelfall auch auf solche Täter der Altersgruppe anzuwenden, bei denen die Hangtätereigenschaft bereits gegeben ist. Liegen zugleich die strengeren formellen Voraussetzungen des § 66 vor, kommt es dann darauf an, ob die besonderen Mittel und Hilfen der sozialtherapeutischen Anstalt geeignet sind, ihm zu helfen (so auch Sturm Prot. V, 2283, 2284), da ein völliger Ausschluß der Sicherungsverwahrung für diese Altersgruppe vom Gesetz nicht beabsichtigt war. Im Ergebnis bedeutet das für diesen Personenkreis die Einführung einer Eignungsklausel {Lenckner S. 218; kritisch Pätzold S. 119). 6. Gesamtwürdigung des Täters und seiner Taten (Absatz 2 Nr. 3); Probleme der Prognose a) Allgemeines. Gesamtwiirdigung. Ob die Gefahr besteht, daß sich der Täter zum 150 Hangtäter entwickelt, hat das Gericht anhand einer „GesamtWürdigung des Täters und seiner Taten" festzustellen. Diese Feststellung, das eigentliche und eigenständige Kernstück seiner Entscheidung (vgl. Rdn. 145), verlangt stets die Zuziehung eines Sachverständigen (§ 246 a StPO; näher unten Rdn. 190). Die Gesamtwürdigung hat, genau wie bei der Feststellung der Hangtätereigenschaft nach § 66 (näher dort Rdn. 156 ff), die Persönlichkeit des Täters in allen kriminologisch wichtigen Bezügen zu umfassen. Dazu gehört selbstverständlich auch die bisherige kriminelle Karriere, so daß Vorstrafen und Vortaten stets heranzuziehen sind, soweit dem nicht das BZRG entgegensteht (näher LK §66 Rdn. 158, Rdn. 41 f)· Hinzu tritt dann die Würdigung der Taten, und zwar der Anlaßtaten ebenso wie die Würdigung der Vortaten des Absatz 2 Nr. 1. Gerade diese Taten müssen für die Gefahr der Entwicklung zum Hangtäter symptomatisch sein (vgl. auch LK § 66 Rdn. 160, 162 ff). Die Gesamtwürdigung erfordert dann schließlich die sorgfältige Klärung auch der spezifischen Zusammenhänge zwischen der Persönlichkeit des Täters und seinen Taten (LK § 66 Rdn. 161), das heißt die Prüfung, ob die Gefahr der Hangtäterentwicklung nach diesen Zusammenhängen naheliegt. Zu beachten ist, daß der Richter bei seiner Gesamtwürdigung vielfach nicht gehindert ist, gegenüber gesetzgeberischen Vorstellungen über die Bedeutung der formellen Voraussetzungen des Absatz 2 Nr. 1 und 2 kritisch zu verfahren. So ist er ζ. B. nicht gehindert, Taten mit heranzuziehen, die vor dem 16. Lebensjahr began(187)

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gen wurden (Rdn. 123), bei angeordneter und durchgeführter Fürsorgeerziehung deren Notwendigkeit und Intensität zu wägen (Rdn. 130, 137) oder zu berücksichtigen, daß ein „länger dauernder stationärer Erziehungsversuch" nur in abgeschwächter Form erfolgt ist (Rdn. 134). b) Probleme und Gesichtspunkte der Prognose. Die Feststellung der Gefahr, daß sich jemand zum Hangtäter entwickeln wird, ist, wie schon dargelegt (Rdn. 144 f), außerordentlich problematisch. Sie hat im bisherigen deutschen Recht und in der Kriminologie keine wirklich sichere Tradition. Kriminologisch gesichert dürfte zwar sein, daß sich die Mehrzahl aller Hangverbrecher aus dem Kreis der rückfälligen Jungtäter entwickelt. Auch gibt es eine große Zahl von Untersuchungen über die Merkmale von Personen, die als Hangtäter (Gewohnheitsverbrecher) verurteilt wurden (dazu LK, Erl. zu § 66), und die immer wieder charakteristische Faktoren deutlich machen, die gerade auch für die Entwicklung der Untersuchten zu Hangtätern typischerweise Bedeutung besitzen. Doch ist der Rückschluß von diesen typischen Kriterien des gewordenen Hangtäters auf Kriterien zur Beurteilung des werdenden Hangtäters im Einzelfall aus mehreren Gründen sehr fragwürdig: Zum einen sind die Kriterien vielschichtig oder gar vage und ungeklärt (näher LK § 66 Rdn. 90 ff) und überwiegend meist überhaupt nur Merkmale von statistischer Wahrscheinlichkeit; sie besagen darum oft wenig über die konkreten Ursachen, aus denen jemand Hangtäter geworden ist. Zum anderen sind die retrospektiv festgestellten Kriterien nicht ohne weiteres auch zur Prognose der künftigen Hangtäterschaft geeignet, solange der Täter Hangtäter noch nicht ist, und zwar insbesondere, weil die Bedeutung möglicher Gegenfaktoren in diesem Stadium schwer einzuschätzen ist; über die Frage, wie sich solche Gegenfaktoren gerade bei jungen Tätern für die Prognose ihrer Entwicklung auswirken, besteht, soweit ersichtlich, kriminologisch kein exakt gesichertes Wissen. Ein solches Wissen ergibt sich auch aus den vielen verdienstlichen Untersuchungen zur Jugend- und Frühkriminalität sowie zur späteren Legalbewährung bestrafter oder verwahrter Jungtäter wohl nicht in der Form, auf die es hier ankommt. So läßt sich derzeit generell wohl nur sagen, daß der Richter auch bei der Beurteilung des angehenden Hangtäters entscheidend auf die typischen Faktoren des Hangs zu achten hat, wie sie bei § 66 (Rdn. 90 ff) im Überblick dargestellt sind, daß er diese Faktoren aber im konkreten Fall besonders sorgfältig im Hinblick darauf wägen muß, ob sie in ihrer Gesamtheit eine ausreichend verfestigte Gefahr der Entwicklung zum Hangtäter erkennen lassen, und ob ihnen nicht andere Faktoren gegenüberstehen, die eine solche Entwicklung überwiegend unwahrscheinlich machen. Insgesamt besteht, wie schon betont (Rdn. 119, 145), zur Zurückhaltung derzeit aller Anlaß. In besonderem Maße ist Vorsicht geboten, wenn es um Heranwachsende geht, auf die für die Anlaßtat Erwachsenenstrafrecht anzuwenden ist. Lenckner (S. 216) meint sogar, daß es bei dieser Altersgruppe „kaum jemals möglich sein dürfte, mit einiger Sicherheit zu sagen, ob eine echte Hangtätereigenschaft oder nur eine vorübergehende Entwicklungsstörung vorliegt, die sich von selbst wieder gibt"; die Frage, ob Heranwachsende von §65 Abs. 2 erfaßt werden sollten, war auch im Sonderausschuß umstritten (2. Bericht S. 29 f; eingehend zu diesem Problembereich Hilbig S. 113 ff). VII. Schuldunfähige und vermindert schuldfähige Täter (Absatz 3) 1. Stellvertretende Unterbringung nach Absatz 3. Nach § 65 Abs. 3 i. V. mit § 63 Abs. 2 ordnet das erkennende Gericht bei einem schuldunfahigen oder vermindert (188)

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schuldfähigen Täter, bei dem die Voraussetzungen des § 63 vorliegen, statt der Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus die Unterbringung in der sozialtherapeutischen Anstalt an, wenn die Mittel und Hilfen dieser Anstalt zu seiner Resozialisierung besser geeignet sind (sog. stellvertretende Unterbringung). Die Vorschrift hat, wie nach dem Gesetzeswortlaut nicht zweifelhaft ist, zwingenden Charakter. Sie führt — im Gegensatz zur Unterbringung nach § 65 Abs. 1 und 2, aber entsprechend der Regelung für § 63 — zu einer Unterbringung ohne gesetzliche Höchstdauer (§ 67 d Abs. 1 und dazu näher unten Rdn. 173). a) Allgemeines. Zweck und Problematik. § 65 Abs. 3 enthält für schuldunfähige 155 Täter eine Erweiterung des Anwendungsbereichs der sozialtherapeutischen Anstalt, weil diese Täter für die Anlaßtat zu Strafe nicht verurteilt werden können und darum der Unterbringung nach § 65 Abs. 1 oder 2 nicht unterliegen. Für vermindert schuldfähige Täter enthält § 65 Abs. 3 hingegen nur insoweit eine Erweiterung des Anwendungsbereichs der sozialtherapeutischen Anstalt, wie diese Täter nicht von Absatz 1 oder 2 erfaßt werden, also nicht schon auf diesem Weg in die sozialtherapeutische Anstalt eingewiesen werden können. Dabei überschneidet sich § 65 Abs. 3 bei dieser letzteren Gruppe in der problematischsten Weise insbesondere mit § 65 Abs. 1 und 2 (Rdn. 159 ff); im Umfang der Überschneidung mit § 63 bedeutet § 65 Abs. 3 im übrigen einen gesetzlich geregelten Spezialfall der Maßregelkonkurrenz, also des § 72. Für die beiden genannten Fallgruppen steht § 65 Abs. 3 im übrigen in enger Berührung zum Grundgedanken des Maßregelaustauschs, wie er insbesondere in § 67 a zum Ausdruck kommt. Die Vorschrift betrifft letztlich einen Spezialfall des § 67 a mit der Besonderheit, daß die Entscheidung hier, und zwar im Hinblick auf die sich überschneidenden Einwirkungsmöglichkeiten des psychiatrischen Krankenhauses und der sozialtherapeutischen Anstalt, schon vom erkennenden Gericht getroffen wird. Dessen Entscheidung ist allerdings nicht unabänderlich. Vielmehr entspricht es dem Gesamtzusammenhang und der Logik des Gesetzes, daß auch die nachträgliche Korrektur gemäß § 67 a anwendbar bleibt, ob nun das erkennende Gericht die stellvertretende Unterbringung angeordnet hat oder nicht. § 65 Abs. 3 bezweckt, bei Tätern mit ausgeschlossener oder verminderter Schuld- 156 fähigkeit im Überschneidungsbereich zwischen den Einwirkungsmöglichkeiten des psychiatrischen Krankenhauses und der sozialtherapeutischen Anstalt die Anwendung der im Einzelfall jeweils geeigneteren Einwirkung auf den Täter zu sichern. Die Vorschrift dient mithin, wie schon ihr Wortlaut deutlich macht, der besseren Förderung seiner Resozialisierung. Nicht hingegen ist es ihr Zweck, die psychiatrischen Krankenhäuser von der Betreuung sog. Störer oder solcher Täter zu entlasten, die nicht „im eigentlich medizinisch-psychiatrischen Sinne behandlungs- oder pflegebedürftig" sind, wie insbesondere das OLG Karlsruhe (NJW 1975 1571) angenommen hat. Die Forderung einer solchen Entlastung hat bei den Beratungen zur Strafrechtsreform zwar eine große Rolle gespielt und ist mit den „Bewahrungsanstalten" (oben Rdn. 24) vom Gesetzgeber zunächst auch ins Auge gefaßt worden. Sie liegt jedoch, entsprechend dem Gesetzeswortlaut, der Regelung des § 65 Abs. 3 nach den gesetzgeberischen Zielvorstellungen über die sozialtherapeutische Anstalt und ihren eigenständigen speziellen Aufgabenbereich nicht zugrunde; vielmehr ist das Problem der „Störer" im psychiatrischen Krankenhaus auch heute ungelöst. Vgl. zum ganzen LK § 63 Rdn. 3 ff m. w. Nachw. § 65 Abs. 3 enthält daher auch keine eigentliche Funktionsabgrenzung zwischen 157 den Aufgaben des psychiatrischen Krankenhauses und der sozialtherapeutischen (189)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

Anstalt; er besagt nicht einmal etwas über ihre jeweilige Ausgestaltung und die Schwerpunkte ihrer Behandlungsmethoden. Deutlich wird, auch nach der Entwicklungsgeschichte (insbes. Prot. V, 2245) lediglich, daß die sozialtherapeutischen Anstalten jedenfalls nicht spezifisch an der Betreuung des dem § 63 unterliegenden Täterkreises ausgerichtet sind oder ausgerichtet werden müssen. Eine Funktionsabgrenzung zwischen dem psychiatrischen Krankenhaus und der sozialtherapeutischen Anstalt läßt sich nur mittelbar und dadurch erreichen, daß die für die Einrichtung und Organisation der Anstalten zuständigen Instanzen Absprachen über ihre Ausrichtung im einzelnen treffen, weil sich daraus dann Konsequenzen für die richterliche Entscheidung ergeben müssen, wann die sozialtherapeutische Anstalt nach ihren „therapeutischen Mitteln und sozialen Hilfen" zur Resozialisierung besser geeignet ist als das psychiatrische Krankenhaus. Solche Absprachen sind aus einer Reihe von Gründen sogar dringend erwünscht (näher Hanack JR 1975 446). Wie weit sie in der Praxis schon vorliegen, ist nicht sicher zu erkennen (vgl. aber die deprimierenden Angaben zur Entwicklung bis 1975 bei Hanack aaO). Wie sich danach das Verhältnis beider Anstaltsformen zueinander praktisch einpendelt, ist derzeit wohl nicht vorauszusehen. Zur Ansicht der Fachleute s. LK § 63 Rdn. 7. Die Hoffnung, daß das StVollzG eine genauere Abgrenzung vom Vollzug, d. h. von den spezifischen Behandlungsaufgaben her, bringen würde, hat sich nicht erfüllt, obwohl das Problem und seine Schwierigkeiten seit langem diskutiert werden und auch dem Gesetzgeber bekannt waren (vgl. Hanack Krim. Gegenwartsfragen 1972, S. 284). 158

b) Einzelheiten. Die Frage, wann im Einzelfall die Mittel und Hilfen der sozialtherapeutischen Anstalt zur Resozialisierung des Täters besser geeignet sind, ist im einzelnen schon bei § 63 Rdn. 98 ff behandelt worden.

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2. Verhältnis von § 65 Abs. 3 zu § 65 Abs. 1, 2 bei vermindert Schuldfähigen insbesondere. Wie schon bemerkt, überschneiden sich bei vermindert Schuldfähigen die Einweisungsvoraussetzungen des Absatz 3 mit denen der Absätze 1 und 2: Nach § 65 Abs. 3 (i. V. mit § 63 Abs. 2) ist die Einweisung in die sozialtherapeutische Anstalt bei besserer Eignung für die Resozialisierung des Täters bei jeder unter den Voraussetzungen des § 21 begangenen Anlaßtat zulässig, wenn vom Täter „infolge seines Zustande" (also infolge seiner verminderten Schuldfähigkeit, § 63) erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind, während die Unterbringung nach § 65 Abs. 1 und 2 vorsätzliche Anlaßtaten von erheblichem Gewicht sowie spezifische Störungen oder Gefährdungen verlangt und überdies außer im Falle des Absatz 1 Nr. 2 bestimmte Vortaten und früheren Freiheitsentzug voraussetzt. § 65 Abs. 3 gestattet also die Unterbringung vermindert Schuldfähiger in der sozialtherapeutischen Anstalt unter leichteren Voraussetzungen und überdies ohne die zeitliche Befristung auf höchstens fünf Jahre, die (vgl. § 67 d Abs. 1) nur für § 65 Abs. 1 und 2 gilt.

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Man könnte daraus den Schluß ziehen, daß sich für vermindert schuldfähige Täter entweder § 65 Abs. 3 gegenüber § 65 Abs. 1, 2 als lex specialis darstellt oder umgekehrt. Indes ist ein solches Ausschlußverhältnis in der einen oder anderen Richtung vom Gesetz ersichtlich nicht gemeint (so im Ergebnis auch Lenckner S. 211 und 215 für die Fälle des § 65 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2): Bei den von § 65 Abs. 1, 2 erfaßten Tätergruppen geht es dem Gesetz darum, die Täter gerade und nur anhand der von ihm umschriebenen Kriterien und Voraussetzungen den beson(190)

Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt (Hanack)

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deren Einwirkungsmöglichkeiten der sozialtherapeutischen Anstalt zuzuführen; seine Regelung ist insoweit der erste Versuch, der Spezialtherapie besonders bedürftige Gruppen Krimineller zu erfassen. Dieser Versuch ist nach dem klaren Wortlaut des Gesetzes und dem Willen des Gesetzgebers nicht auf voll schuldfähige Täter beschränkt. § 65 Abs. 3 hingegen verfolgt, wie schon die Einbeziehung Schuldunfähiger zeigt, ganz andere Zwecke. Die Vorschrift soll nicht eine durch ganz spezifische Arten von Störungen oder Gefährdungen gekennzeichnete Zielgruppe treffen, sondern aus dem allgemeinen, gewissermaßen unspezifischen Kreis der den §§ 20, 21 unterfallenden Täter, die an sich nach § 63 unterzubringen wären, solche der „stellvertretenden Unterbringung" in der sozialtherapeutischen Anstalt zuführen, die dort besser behandelt werden können. Aufgrund dieses ganz andersartigen Ansatzes lassen sich die Überschneidungsmöglichkeiten zwischen Absatz 3 einerseits und den Absätzen 1, 2 andererseits nicht im Sinne eines Vorrangs der einen oder der anderen Regelung auflösen. Die Bestimmungen bestehen nebeneinander; der Richter kann nur versuchen, sie im Überschneidungsbereich durch Rückbesinnung auf die unterschiedliche Zielsetzung voneinander zu trennen. Die dargelegte Überschneidung mit Absatz 3 besteht auch bei den Rückfalltätern 161 mit schwerer Persönlichkeitsstörung (Absatz 1 Nr. 1), die in der Praxis vermutlich besonders kritisch werden dürfte. Aber auch hier läßt sich nicht sagen, daß § 65 Abs. 3 lex specialis ist. Wenn Lenckner (S. 211) dies jedoch damit begründet, daß andernfalls die Unterbringung der Rückfalltäter nach § 65 Abs. 1 Nr. 1 erschwert würde, weil die Einweisung über die §§ 65 Abs. 3, 63 Abs. 2 verlangt, daß der Täter „infolge seines Zustandes" „für die Allgemeinheit" gefährlich ist, § 65 Abs. 1 Nr. 1 hingegen einen Zusammenhang mit der „schweren Persönlichkeitsstörung" nicht voraussetze, so trifft das in dieser Form allerdings kaum zu, ganz abgesehen davon, daß man, entgegen den Vorstellungen des Gesetzgebers, Kausalität der „schweren Persönlichkeitsstörung" wohl doch verlangen muß (näher oben Rdn. 65 ff), wie in der Sache gerade auch Lenckner annimmt (oben Rdn. 67). Daß die geschilderten Überschneidungen zwischen § 65 Abs. 3 und § 65 Abs. 1, 2 162 äußerst problematisch sind, bedarf keiner Ausführungen. Sie sind erkennbar Ausdruck gesetzgeberischer Unsicherheit und eines fragwürdigen Kompromißbemühens namentlich im kritischen Bereich der „Störer" (oben Rdn. 156). Aber obwohl dem Gesetzgeber auch diese Problematik vertraut war und sich früh die Gefahr divergierender Handhabungen abzeichnete (vgl. ζ. B. Ehrhardt FortschrNeurol. Psych. 1969 673; Hanack S. 55 und Krim. Gegenwartsfragen 1972, S. 84 f; Zipf in Roxin u. a., Einführung in das neue Strafrecht, S. 94 f), hat er sie hingenommen oder doch nicht ausgeräumt.

VIII. Zeitpunkt und Art der Gefährlichkeit; Subsidiaritätsprinzip und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 1. Zeitpunkt der Gefährlichkeit. Ob vom Täter weitere erhebliche Taten zu 163 erwarten sind bzw. ob im Fall des Absatz 2 die erkennbare Gefahr besteht, daß er sich zum Hangtäter entwickeln wird, ist, wie bei allen freiheitsentziehenden Maßregeln, nach dem Zustand des Täters im Zeitpunkt der letzten Verhandlung vor dem Tatrichter zu beurteilen; vgl. dazu näher Rdn. 53 ff vor § 61 und ζ. B. auch § 66 Rdn. 150. Diese Regelung schließt aber nur die Berücksichtigung der ungewissen Entwicklung des Täters bis zur Entlassung aus dem Vollzug aus; sie hindert nicht die Prü(191)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

fung, ob eine im Zeitpunkt der Anlaßtat vorhandene Gefährlichkeit nicht vielleicht schon im Urteilszeitpunkt entfallen ist (Rdn. 57 vor § 61) und auch nicht die Prüfung, ob eine an sich gegebene Gefährlichkeit durch schonendere Maßnahmen beseitigt werden kann (Subsidiaritätsprinzip; vgl. zu dieser streitigen Frage näher Rdn. 165). Im Zeitpunkt des Urteils entfallen sein kann die früher vorhandene Gefährlichkeit im Einzelfall etwa bei Sexualtätern, die sich zwischenzeitlich einer Kastration unterzogen haben, während die bloße Bereitschaft zur Vornahme des Eingriffs noch nicht reicht (zum letzteren LK § 66 Rdn. 153). 164

2. Gefährlichkeit „für die Allgemeinheit"? § 65 verlangt, anders als § 63 und § 66 nicht ausdrücklich, daß der Täter „für die Allgemeinheit" gefährlich ist. Für die Gruppe der angehenden Hangtäter (Absatz 2) und für die Fälle der stellvertretenden Unterbringung nach Absatz 3 ergibt sich das Erfordernis der Gefährlichkeit „für die Allgemeinheit" freilich mittelbar durch die Beziehung zur Hangtätereigenschaft des § 66 bzw. durch den Verweis auf die Voraussetzungen des § 63 Abs. 1. Praktische Bedeutung hat die ganze Frage jedoch nicht, weil das Merkmal der Gefährlichkeit „für die Allgemeinheit" regelmäßig auch die Fälle erfaßt, in denen sich die Gefährlichkeit nur gegen bestimmte konkrete Personen oder Rechtsgüter richtet; vgl. näher LK § 63 Rdn. 58 ff, § 66 Rdn. 144 ff.

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3. Das sog. Subsidiaritätsprinzip. Nach herrschender Meinung und nach den Vorstellungen des Gesetzgebers soll das sog. Subsidiaritätsprinzip, also die Frage, ob sich der weiteren Gefährlichkeit des Täters durch schonendere Maßnahmen begegnen läßt, nur noch bei der Entscheidung über die Vollstreckung der Maßregel, nicht jedoch auch bei der Entscheidung über ihre Anordnung gelten (näher Rdn. 60 vor § 61). Dem ist jedoch zu widersprechen, weil das Subsidiaritätsprinzip auch eine Ausprägung des verfassungsrechtlichen Übermaßverbots darstellt und darum vom Richter zwingend schon bei der Anordnung einer Maßregel zu beachten ist (s. Rdn. 61 vor § 61). Zuzugeben ist der gegenteiligen Auffassung nur, daß die Fälle höchst selten sein werden, in denen ein völliger Verzicht auf die Maßregel in Betracht kommt und nicht nur eine widerrufliche Aussetzung der Vollstreckung (vgl. Rdn. 63 vor § 61). Das gilt auch hier (a. A. Lenckner S. 218), zumal ein Verzicht auf die Maßregel allein im Hinblick auf eine Einwirkung durch Strafe oder Strafaussetzung nach dem System des Gesetzes nicht möglich ist (dazu näher Rdn. 170). 166 Insbesondere bei den Rückfalltätern mit schwerer Persönlichkeitsstörung (Absatz 1 Nr. 1) und den angehenden Hangtätern (Absatz 2) ist es angesichts der jeweils vorausgesetzten Vorbelastung und Gefährdungsmomente wohl kaum je vorstellbar, daß sich der Gefährlichkeit der Täter durch schonendere Maßnahmen ausreichend begegnen läßt. Kaum anders dürfte sich die Situation bei den gefährlichen Sexualtätern (Absatz 1 Nr. 2) darstellen. Zwar sind hier die Einweisungsvoraussetzungen, insbesondere im Hinblick auf Vorstrafen und Vorbelastungen, insgesamt niedriger angesetzt. Beschränkt man jedoch, wie das von der Sache her geboten erscheint, die Verbindung zum „Geschlechtstrieb" auf die Fälle wirklich gefährlicher Sexualdelinquenz, also auf die Fälle kritischer „Triebtäter" (s. Rdn. 93), wird sich bei der Unberechenbarkeit eines solchen Triebes der Verzicht auf die Anordnung der Maßregel (192)

Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt (Hanack)

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wohl selbst dort nicht rechtfertigen lassen, wo sich der Täter in einem extremen Leidensdruck befindet und darum von sich aus zur Behandlung seiner Störung bereit ist. Bei der Unterbringung von Tätern mit ausgeschlossener oder verminderter Schuldfähigkeit hat die Rechtsprechung hinsichtlich der Anwendung des Subsidiaritätsprinzips schon früher überwiegend strenge Maßstäbe angelegt (näher LK § 63 Rdn. 84 ff). Ihre Grundsätze müssen bei der stellvertretenden Unterbringung in der sozialtherapeutischen Anstalt nach Absatz 3 entsprechend gelten, weil der Umstand, daß im Einzelfall die Resozialisierung des Täters dort besser gefördert wird, mit der Frage des Verzichts auf eine Maßregel noch nichts zu tun hat. 4. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Auch für die Unterbringung in der sozialthera- 167 peutischen Anstalt ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz des § 62 zu beachten; zu seiner Interpretation im allgemeinen s. die Erl. zu § 62. Daß der Grundsatz bei der Entscheidung über die Unterbringung von Rückfalltätern mit schwerer Persönlichkeitsstörung (Absatz 1 Nr. 1) Bedeutung erlangen könnte, ist beim vorausgesetzten Gewicht der begangenen und der drohenden Taten jedenfalls dann kaum denkbar, wenn man, wie dies wohl unabweisbar ist (Rdn. 65 ff), das Merkmal der schweren Persönlichkeitsstörung im Zusammenhang mit diesen Taten sieht. Ähnliches muß für die Gruppe der angehenden Hangtäter (Absatz 2) gelten, wenn die Gefahr der Entwicklung zum Hangtäter im Einzelfall tatsächlich sicher genug festgestellt ist. Die Anordnung der Maßregel kann, schon zur Abwendung der sonst drohenden Sicherungsverwahrung, hier grundsätzlich auch dann nicht als unverhältnismäßig gelten, wenn der Täter (s. Rdn. 131) vorher noch keine Freiheitsstrafe verbüßt hat. Kritischer ist hingegen, wie schon angedeutet (Rdn. 114), die Bedeutung des 168 Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bei den gefährlichen Sexualtätern des Absatz 1 Nr. 2 (dazu auch Lenckner S. 214; Pätzold S. 107 ff). Wollte man bei den Gesetzesberatungen laut gewordenen Vorstellungen folgen, daß die Beziehung zum Geschlechtstrieb bereits dann vorliegt, wenn dieser Trieb „ein Faktor" für die Tat oder die Gefährlichkeit darstellt (oben Rdn. 99), könnte die Regelung leicht auch Täter von geringerer Gefährlichkeit in einer Weise treffen, die beim Gewicht der Maßregel mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz kaum zu vereinbaren wäre. Die oben Rdn. 100 ff und Rdn. 108 befürwortete restriktive Auslegung der Vorschrift ist daher auch durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz geboten. Geht man von dieser Interpretation aus, verliert im übrigen wohl auch das im Einzelfall gewiß schwierige Problem des Verhältnisses zwischen Anlaßtat und weiterer Gefährlichkeit (oben Rdn. 114, 108) an Gewicht: Nach dem Wortlaut des Gesetzes braucht die Anlaßtat an sich ja nicht notwendig besonders schwerwiegend zu sein ; sie kann ζ. B. selbst mehr „lästige" Delikte betreffen, wenn ihretwegen die Höchststrafe verhängt wird (§ 183); sie kann aber auch die Schwelle von einem Jahr Freiheitsstrafe ζ. B. nur dadurch überschreiten, daß der Tat in einem durch Anwendung des § 48 geänderten Strafrahmen ein (vielleicht bedenklich) hoher Stellenwert zugemessen wird. Die Anforderungen an die Anlaßtat, insbesondere als möglicherweise einzige Symptomtat, sind schon bei den Gesetzesberatungen umstritten gewesen (Rdn. 96), insgesamt aber so gering, daß jedenfalls bei Taten an der unteren Schwelle der gesetzlichen Voraussetzung eine Unterbringung nur dann durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gedeckt erscheint, wenn vom Täter in Zukunft Delikte von hoher Gefähr(193)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

lichkeit zu erwarten sind. In diesen Fällen kann dann allerdings auch eine geringfügigere Anlaßtat, etwa eine solche nach § 183, Grundlage der Maßregelanordnung sein, weil der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz die Anordnung gegen Täter von großer Gefährlichkeit auch bei derartigen Anlaßtaten im Zweifelsfall nicht hindert (vgl. LK § 62 Rdn. 15; aber auch § 63 Rdn. 77 f); freilich bedarf dann der Grad der drohenden Gefahr stets besonders sorgfältiger Prüfung. Auch bei der stellvertretenden Unterbringung von Tätern mit ausgeschlossener oder verminderter Schuldfahigkeit (Absatz 3) kann die Frage der Verhältnismäßigkeit Bedeutung haben; vgl. dazu die Ausführungen bei § 63 Rdn. 76 ff, die für die stellvertretende Unterbringung in der sozialtherapeutischen Anstalt ebenso gelten. 169

IX. Zwingende Anordnung; Verhältnis zu Strafe und Strafzumessung. Liegen die gesetzlichen Voraussetzungen vor, ist das erkennende Gericht nach Wortlaut und Zweck des Gesetzes bei allen vier Tätergruppen des § 65 verpflichtet, die Unterbringung anzuordnen (Lenckner S. 218; Maurach AT § 68 C I 3). Die Anordnung steht also nicht in seinem Ermessen. Insbesondere ist das Gericht, ähnlich wie ζ. B. bei § 66 (s. dort Rdn. 171), nicht befugt, von der Anordnung abzusehen, um dem Täter noch eine „Chance" zu geben; vielmehr würde dies gerade hier den gesetzgeberischen Intentionen klar widersprechen. 170 Nicht zulässig ist es danach auch, die Anordnung der Unterbringung im Hinblick auf eine gleichzeitig verhängte Freiheitsstrafe und die damit verbundenen Einwirkungsmöglichkeiten zu unterlassen. Dies ergibt sich wiederum eindeutig aus dem gesetzgeberischen Grundanliegen, die Täter über die Möglichkeiten des normalen Strafvollzugs hinaus einer intensiven Behandlung zuzuführen (oben Rdn. 1), weil nach gesetzgeberischer Vermutung gerade diese besondere Behandlung bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 65 grundsätzlich indiziert ist. Es folgt weiter aus dem Prinzip, daß die Maßregel als die intensivere Form der resozialisierenden Einwirkung grundsätzlich vor der Strafe zu vollstrecken und auf diese anzurechnen ist (§ 67). Es folgt schließlich auch aus dem erkennbaren Willen des Gesetzes, Täter, die die Voraussetzung einer Maßregelanordnung erfüllen, im Falle der Aussetzung der Vollstreckung oder der weiteren Vollstreckung (§ 67 b, § 67 d Abs. 2) nicht den milderen Einwirkungsmöglichkeiten der Strafaussetzung (§§ 56 ff, 57), sondern den schärferen Einwirkungsmöglichkeiten der Führungsaufsicht (§§ 68 ff) zu unterstellen (vgl. näher schon LK § 64 Rdn. 85 ff). 171

Außer im Falle der stellvertretenden Unterbringung Schuldunfähiger tritt die Maßregel grundsätzlich neben die Strafe. Eine Ausnahme aus prozessualen Gründen ist möglich, wenn der Täter in einer ersten Hauptverhandlung als schuldunfähig angesehen wurde, dann aber nach Aufhebung und Zurückverweisung wegen des Verbots der reformatio in peius zu Strafe nicht mehr verurteilt werden darf (näher Rdn. 93 vor § 61). Nach den Grundsätzen der Rechtsprechung (BGHSt. 24 132 m. Nachw.) darf das Gericht die schuldangemessene Strafe nicht im Hinblick auf die gleichzeitig verhängte Maßregel unterschreiten; zur Problematik dieser Frage s. näher Rdn. 16 vor § 61. Wie bei den anderen Maßregeln kann die Unterbringung in der sozialtherapeutischen Anstalt auch angeordnet werden, wenn sie schon früher in einem anderen Verfahren angeordnet worden ist. Doch gilt die frühere Anordnung dann kraft Gesetzes als erledigt (§ 67 f). (194)

Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt ( H a n a c k )

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X. Konkurrenz mit anderen Maßregeln. Sind neben den Voraussetzungen des § 65 172 die Voraussetzungen für die Verhängung anderer Maßregeln erfüllt, entscheidet das Gericht, falls nicht der Spezialfall des § 65 Abs. 3 vorliegt, nach den Grundsätzen des § 72, ob oder wie weit sie nebeneinander angeordnet werden müssen und in welcher Reihenfolge sie gegebenenfalls zu vollstrecken sind. Diese Entscheidung kann erhebliche Schwierigkeiten aufwerfen ; vgl. dazu im einzelnen die Erl. zu § 72, insbesondere Rdn. 21, Rdn. 24 ff. XI. Dauer der Unterbringung; Aussetzung, Erledigung, Kontrolle 1. Dauer und Höchstfrist der Unterbringung. Die stellvertretende Unterbringung 173 nach § 65 Abs. 3 ist, wie sich aus § 67 d Abs. 1 ergibt, entsprechend der Regelung für § 63 an eine Höchstfrist nicht gebunden. Sie kann nur auf dem Weg über eine Aussetzung enden (unten Rdn. 176) und theoretisch lebenslang dauern. Ein allzu langer Aufenthalt in der sozialtherapeutischen Anstalt empfiehlt sich jedoch nicht. Er entspricht auch nicht dem Zweck des Absatz 3. Ergibt sich später, daß die sozialtherapeutische Anstalt die Resozialisierung nicht erreichen kann, ist daher im Zweifel die Überweisung in das psychiatrische Krankenhaus (vgl. § 136 S. 3 StVollzG) geboten und auf dem Weg über § 67 a durchzuführen, mag diese Bestimmung auch ihrem Wortlaut nach nicht ohne weiteres passen; aber es wäre regelmäßig sinnwidrig (vgl. auch § 9 Abs. 1 S. 2 StVollzG) oder sogar unvertretbar und inhuman, eine solche Überweisung zu unterlassen. Die Unterbringung nach § 65 Abs. 1 und Abs. 2 darf regelmäßig höchstens fünf 174 Jahre betragen (§ 67 d Abs. 1). Dennoch handelt es sich, ganz ähnlich wie bei § 64 (dort Rdn. 113), insoweit um eine Maßregel von unbestimmter Dauer, weil die Unterbringung innerhalb der genannten Frist so lange andauert, wie es ihr Zweck erfordert. Die genannte Fünfjahresfrist verlängert sich kraft Gesetzes, wenn der Täter gleichzeitig zu Freiheitsstrafe verurteilt und die Unterbringung vor der Strafe vollzogen wird (§ 67), gemäß § 67 d Abs. 1 S. 3 um die Dauer der Freiheitsstrafe; dazu näher Horstkotte LK, Erl. zu § 67 d. Ob oder wie lange es sich empfiehlt, die dann u. U. sehr erhebliche Zeit des Freiheitsentzugs für die Behandlung in der sozialtherapeutischen Anstalt auszunutzen, ist ersichtlich eine noch offene Frage, dürfte aber entscheidend von der Persönlichkeit des Täters und der Art seiner Störungen sowie von der Art der Behandlung abhängen. Vermutlich spricht viel dafür, daß in diesen Fällen eine allzu lange Behandlung den Täter nicht nur überfordert, sondern auch seine Resozialisierung eher erschwert, weil sie wegen der Eigenheiten des „therapeutischen Milieus" die spätere Einordnung in die Gegebenheiten der Freiheit beeinträchtigt. Da § 65, wie dargelegt, in allen Fallgruppen eine Maßregel von unbestimmter 175 Dauer ist, darf der Richter nur die Maßregel als solche anordnen, nicht also im Urteil zeitlich begrenzen. Bei den Gesetzesberatungen war umstritten, ob dies zweckmäßig ist, weil die — nur durch eine Höchstfrist begrenzte — unbestimmte Dauer nach manchen ausländischen Erfahrungen unter therapeutischen Gesichtspunkten Schwierigkeiten mit sich bringt, insbesondere eine Trotzhaltung fördern oder auch depressive Verstimmungen auslösen und das Vertrauensverhältnis zu dem über die Entlassungsreife sich äußernden Therapeuten gefährden könne (vgl. Prot. V, 2250, 2294). Der Gesetzgeber entschied sich vermutlich aus guten Gründen für die heutige Lösung 095)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

und gegen den Gedanken, daß das Gericht die Dauer der Maßregel von vornherein festlegt; vgl. dazu im einzelnen näher Lenckner S. 219. 2. Aussetzung der Vollstreckung; Führungsaufsicht und Besonderheiten 176 a) Allgemeines. Eine Aussetzung der Vollstreckung oder der weiteren Vollstrekkung kommt, genau wie bei § 63 (dort Rdn. 120) und § 64 (dort Rdn. 115), in mehrfacher Weise in Betracht: als Aussetzung zugleich mit der Anordnung durch das erkennende Gericht gemäß § 67 b; als Aussetzung nach einer ausnahmsweise (vgl. § 67 Abs. 2) vorweg vollzogenen Freiheitsstrafe gemäß § 67 c Abs. 1 ; als Aussetzung im Sonderfall des § 67 c Abs. 2; als Aussetzung zur Bewährung nach begonnenem Vollzug nach § 67 d Abs. 2, d. h. sobald verantwortet werden kann zu erproben, ob der Untergebrachte außerhalb des Maßregelvollzugs keine rechtswidrigen Taten mehr begehen wird. Mit der Aussetzung tritt jeweils kraft Gesetzes Führungsaufsicht ein. 177 b) Entscheidung über die Aussetzung. In der Praxis dürfte insbesondere die Frage wichtig werden, wann i. S. des § 67 d Abs. 2 verantwortet werden kann zu erproben, ob der Täter außerhalb des Maßregelvollzugs keine rechtswidrigen Taten mehr begehen wird. Im einzelnen richtet sich das nach den Regeln des § 67 d (näher Horstkotte LK, Erl. zu § 67 d). Selbstverständlich ist, daß sich die Entscheidung nur nach den Gegebenheiten des Einzelfalles treffen läßt, vermutlich aber bei den einzelnen Tätergruppen schon wegen der unterschiedlichen Art ihrer Störungen und Gefährdungen sowie wegen unterschiedlich wirksamer Behandlungsmethoden jeweils etwas verschieden liegen dürfte. Das KG (NJW 1972 2228; 1973 1420) hat in zwei viel zitierten Entscheidungen zu § 57 (bzw. § 26 a. F.) wohl zu Recht die Auffassung vertreten, daß nach dem Stand der Wissenschaft die Durchführung sozialtherapeutischer Maßnahmen bei erheblich vorbestraften Tätern auch bei entsprechender Befürwortung durch die Anstalt für sich die Vermutung einer günstigen Sozialprognose noch nicht rechtfertige (dazu eingehend und kritisch Müller-Dietz, Sonnen und Eisenberg, zit. Rdn. 102 vor § 61). In der Praxis dürfte sich die Schwierigkeit der Prognose etwas dadurch erleichtern, daß § 126 StVollzG eine Beurlaubungsmöglichkeit zum Zwecke der Vorbereitung der Entlassung bis zur Dauer von sechs Monaten kennt, die speziell zur Erprobung der Entlassungsreife dient (näher unten Rdn. 188). Auch wird im Einzelfall, je nach der Persönlichkeit des Täters, die Möglichkeit einer Aufnahme auf freiwilliger Grundlage nach der Entlassung (§ 125 StVollzG, sog. Krisenintervention, unten Rdn. 187) bei der Entscheidung über die Bewährungsaussetzung Bedeutung erlangen können. Insgesamt ist nicht zu verkennen, daß die bisherigen Erfahrungen im In- und Ausland insbesondere bei der Behandlung von Rückfalltätern mit schwerer Persönlichkeitsstörung keine „Wunderheilungen" deutlich machen und gewiß zur Vorsicht mahnen. Doch wäre es, zumal bei der Verschiedenartigkeit der im einzelnen erfaßten Täter, andererseits unrichtig und verhängnisvoll, die „Sozialtherapierten" bei der Bewährungsaussetzung zurückhaltender zu behandeln als andere kritische Tätergruppen. 178

3. Erledigung der Maßregel. In den Fällen des § 65 Abs. 1 und Abs. 2 wird der Untergebrachte spätestens nach Ablauf der Höchstfrist des § 67 d Abs. 1 endgültig entlassen; die Maßregel ist damit „erledigt", s. § 67 d Abs. 3. In den Fällen des § 65 (196)

Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt (Hanack)

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Abs. 3 hingegen kommt eine Erledigung der Maßregel — von den in der folgenden Rdn. behandelten Sonderfällen abgesehen — nur auf dem Weg über eine Aussetzung der Vollstreckung mit dem Ende der aufgrund dieser Aussetzung eingetretenen Führungsaufsicht in Betracht, vgl. Rdn. 180. Eine vorzeitige Erledigung ist wie bei allen anderen freiheitsentziehenden Maß- 179 regeln möglich, wenn drei Jahre nach Rechtskraft der Anordnung ein Freiheitsentzug noch nicht erfolgt ist (§ 67 c Abs. 2; näher Horstkotte LK, Erl. zu § 67 c). Bei erneuter Anordnung der Maßregel (Rdn. 171) ist eine frühere Anordnung erledigt, § 67 f. Kommt es zu einer Aussetzung der Vollstreckung, entsteht kraft Gesetzes Füh- 180 rungsaufsicht. Die Maßregel endet dann („erledigt sich", § 67 g Abs. 5), sofern das Gericht die Aussetzung nicht nach § 67 g widerruft, mit dem Ablauf der Führungsaufsicht oder (s. LK § 68 e Rdn. 29 ff) mit deren sonstiger Beendigung. 4. Kontrollpflichten. Während der Unterbringung bestehen die besonderen 181 gerichtlichen Kontrollpflichten des § 67 e (näher Horstkotte LK, Erl. zu § 67 e) im Hinblick auf eine mögliche Aussetzung. XII. Vollstreckung und Vollzug 1. Reihenfolge der Vollstreckung. 1st der Täter auch zu Freiheitsstrafe verurteilt, 182 richtet sich die Reihenfolge der Vollstreckung nach § 67. Der gesetzliche Grundsatz, daß dabei in der Regel zunächst die Maßregel vollzogen wird (LK § 67 Rdn. 11), ist bei der sozialtherapeutischen Anstalt insbesondere im Hinblick auf die Bedeutung des sog. Leidensdrucks umstritten (näher LK § 67 Rdn. 34). Doch besteht nach dem Zweck des Vorwegvollzugs (LK §67 Rdn. 11) und angesichts der Einwendungen gegen den Gedanken von der Ausnutzung des Leidensdrucks (§ 67 Rdn. 34 f) auch hier im allgemeinen kein Anlaß, von der Regel abzuweichen; dazu eindrucksvoll speziell aus der Sicht des Therapeuten Rasch-Kühl S. 218. 2. Überweisung in den Vollzug einer anderen Maßregel. Sie ist als nachträgliche 183 Anordnung des Vollstreckungsgerichts unter den in § 67 a Abs. 1 genannten Voraussetzungen möglich, wenn dadurch die Resozialisierung des Täters besser gefördert werden kann. Dies gilt auch für die Fälle der stellvertretenden Unterbringung nach Absatz 3 (Rdn. 155). 3. Auswahl der konkreten Anstalt. Das erkennende Gericht kann, wie bei § 63 184 (dort Rdn. 125) und bei §64 (dort Rdn. 131), nur die Unterbringung als solche anordnen, nicht hingegen die Unterbringung in einer ihm besonders geeignet erscheinenden einzelnen sozialtherapeutischen Anstalt. Dies ist vielmehr Sache der Vollstreckungsbehörde. 4. Gestaltung des Vollzugs. Die Unterbringung in der sozialtherapeutischen 185 Anstalt wird in Einrichtungen der Landesjustizverwaltungen vollzogen (§ 139 StVollzG), die von den sonstigen Vollzugsanstalten getrennt zu halten sind (§ 140 StVollzG). Sonderregelungen sind insoweit — namentlich mit Rücksicht auf die vermutlich geringe Zahl — für Frauen möglich (§§ 140 Abs. 2, 128 StVollzG). Für den Vollzug im einzelnen gelten die §§ 123 — 126 StVollzG, die manche erhoffte Klarstellung und Einzelregelung nicht enthalten; hinzu treten die bun(197)

§65

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

deseinheitlichen Verwaltungsvorschriften (VVStVollzG). Zur rechtlichen Auslegung der Bestimmungen s. näher Calliess/Miiller-Dietz Komm. z. StVollzG, 1977; MüllerDietz Strafvollzugsrecht, 1977, S. 315 ff. Wichtig ist insbesondere folgendes. 186

Das Ziel der Behandlung ist in § 123 umschrieben und ganz an der Resozialisierung ausgerichtet: „Die besonderen therapeutischen Mittel und sozialen Hilfen der sozialtherapeutischen Anstalt sowie die nachgehende Betreuung durch Fachkräfte sollen den Untergebrachten befähigen, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen". Über die therapeutischen Mittel und sozialen Hilfen finden sich jedoch keine konkretisierenden weiteren Angaben; selbst über die Ausstattung mit Fachkräften enhält das Gesetz nur eine ganz allgemein gehaltene Bestimmung ohne Konturen (§ 127 Abs. 1). Näher zum vorausgesetzten Behandlungskonzept oben Rdn. 7 ff. Im übrigen gelten, was sich als problematisch erweisen könnte (vgl. auch MüllerDietz aaO), die Vorschriften über den Vollzug der Freiheitsstrafe entsprechend (§ 124); der Gesetzgeber ging freilich davon aus, daß aufgrund der sozialtherapeutischen Behandlungsmethode „ein Teil" der danach bestehenden Eingriffsrechte „gegenstandslos" werde (BT-Drucks. 7/918 S. 88). Eine Sollvorschrift, daß den Anstalten Heime für Beurlaubte, bedingt entlassene und andere ehemalige Untergebrachte angegliedert werden soll (§ 127 Abs. 2), ist aus Kostengründen zunächst bis zum 1. 1.1986 suspendiert (§ 198 Abs. 1 Nr. 3).

187

Vorgesehen ist jedoch eine widerrufliche Aufnahme auf freiwilliger Grundlage zum Zwecke der sog. Krisenintervention (§ 125 mit Einzelheiten), wenn das Behandlungsziel nach der (bedingten oder endgültigen) Entlassung erneut gefährdet und der Anstaltsaufenthalt aus diesen Gründen gerechtfertigt ist. Die Vorschrift gilt als besonders wichtig; sie beruht auf der Erfahrung, daß nach der Entlassung vielfach Krisen auftreten, die eine weitergehende Betreuung notwendig machen und denen gerade das dem Entlassenen vertraute Fachpersonal („Bezugspersonen") begegnen kann; näher zur Problematik Rasch Forensische Sozialtherapie, S. 86 ff m. w. Nachw.

188

Vorgesehen ist ferner ein Sonderurlaub zur Vorbereitung der Entlassung bis zu sechs Monaten, den der Anstaltsleiter gewähren kann und bei dem besondere Weisungen erteilt werden können (§ 126 mit Einzelheiten). Die Vorschrift bezweckt, den Wechsel von der stationären Behandlung zur Behandlung in Freiheit (Führungsaufsicht) zu erleichtern, bezieht also in gewisser Weise den Übergang in die Freiheit in das Behandlungsprogramm der sozialtherapeutischen Anstalt ein und ermöglicht zugleich, die Entlassungsreife des Insassen zu erproben (vgl. BT-Drucks. 7/918 S. 88). Da die Beurlaubung im Falle der Bewährung stark präjudizierenden Charakter für eine Bewährungsaussetzung gemäß § 67 d Abs. 2 besitzt, ging auch der Gesetzgeber davon aus, daß sie zweckmäßigerweise im Benehmen mit der Strafvollstreckungskammer getroffen werden solle (Bericht z. StVollzG, BT-Drucks. 7/3998 S. 42); eine im Bundesrat angestrebte Formalisierung dieses Benehmens hat der Gesetzgeber jedoch mit der wenig überzeugenden Begründung abgelehnt, daß sie „möglicherweise . . . die notwendige Flexibilität gefährden" würde (Bericht aaO).

189

XIII. Verfahrsrechtliches 1. Die Anordnung der Unterbringung erfolgt stets im Urteil (§ 260 StPO), und zwar ohne Befristung (Rdn. 175). Sie darf nicht vorbehalten werden und ist vom (198)

Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt (Hanack)

§65

Antrag der Staatsanwaltschaft nicht abhängig, sondern gegebenenfalls — und unter Beachtung des § 265 StPO — von Amts wegen vorzunehmen. 2. Ein Sachverständiger „soll" schon im Ermittlungsverfahren und „muß" in der 190 Hauptverhandlung zugezogen werden (§§ 80 a und § 246 a StPO in der mit dem Inkrafttreten des § 65 geltenden Fassung). Nach BGH bei Daliinger MDR 1976 17 braucht der Sachverständige, entsprechend dem Gesetzeswortlaut, nicht notwendig ein Arzt zu sein, falls im Einzelfall nur nichtmedizinische Fragen zu beurteilen sind. Der Sachverständige muß aber jedenfalls in den speziellen Fragen der sozialtherapeutischen Behandlung kundig sein und überdies die bei den einzelnen Tätergruppen zu beachtenden Besonderheiten fachkundig begutachten können, also gegebenenfalls ζ. B. über Fachwissen zur Behandlung von Triebtätern (§ 65 Abs. 1 Nr. 2) verfügen. — Näher zu den §§ 80 a und 246 a StPO s. Meyer und Gollwitzer in LöweRosenberg. Die sachverständige Begutachtung ist insbesondere dort eine schwierige Aufgabe, wo die Eignung des Täters für die Behandlung besonders festgestellt werden muß (§ 65 Abs. 1 S. 2). Vor allem bei den Rückfalltätern mit schwerer Persönlichkeitsstörung sind hier verläßliche Auswahlkriterien in erheblichem Maß noch zu entwickeln bzw. genauer zu erproben (vgl. ζ. B. Kury-Fenn MschrKrim. 1977 232; Rasch-Kühl S.203 ff und dazu oben Rdn.78ff; eingehend deLandecho JZ1971673). Im allgemeinen wird es sich empfehlen, als Sachverständigen den Leiter oder Mitarbeiter einer sozialtherapeutischen Anstalt zu beauftragen (vgl. aber auch den folg. Text), gegebenenfalls neben einem weiteren Spezialisten. 3. Stationäre Beobachtung (§ 81 StPO). Insbesondere die Prüfung, ob der Täter 191 für die Behandlung in einer sozialtherapeutischen Anstalt geeignet ist, läßt sich regelmäßig nicht ohne eine eingehende Beobachtung vornehmen, die im Zweifel stationär erfolgen muß (Mauch Prot. V, 2295; Mauch-Mauch S. 13 f; de Landecho aaO). Das Gesetz gestattet eine solche stationäre Begutachtung unter den Voraussetzungen des § 81 StPO (in der mit Inkrafttreten des § 65 geltenden Fassung). Es möchte sie aber im Hinblick auf befürchtete Engpässe (BT-Drucks. 7/550 S. 289) in erster Linie möglichst im psychiatrischen Krankenhaus und erst in zweiter Linie in der sozialtherapeutischen Anstalt durchgeführt wissen und beschränkt überdies die Einweisung auf die traditionelle Höchstdauer von sechs Wochen (näher zu §81 StPO Meyer in Löwe-Rosenberg, Erl. zu §81, insbes. Rdn. 36). Die Bevorzugung des psychiatrischen Krankenhauses ist wenig sachgemäß, weil sich die Begutachtung nach allgemeiner Ansicht regelmäßig am besten in der dafür zuständigen sozialtherapeutischen Anstalt durchführen läßt (statt aller Mauch-Mauch aaO). Ob im übrigen die Sechswochen-Höchstfrist ausreicht, ist schon bei den Gesetzesberatungen vom Sachverständigen Mauch bezweifelt worden (Prot. V, 2295 f; vgl. auch Mauch-Mauch S. 14: mindestens 10 Wochen; kritisch auch Lenckner S. 212 und de Landecho JZ 1971674); Mauch meinte, in vielen Fällen lasse sich so nur die Behandlungsbedürftigkeit, nicht hingegen die Behandlungsfähigkeit ausreichend beurteilen. Der Gesetzgeber ist diesen Bedenken, insbesondere wohl aus rechtsstaatlichen Gründen, nicht gefolgt. Nicht gefolgt ist er auch dem Vorschlag des AE, den Täter nach dem Schuldspruch gegebenenfalls zur genaueren Klärung einer angezeigten Behandlung bis zur Dauer von drei Monaten in eine Beobachtungsstelle einzuweisen (§§71, 72 AE-AT). (199)

§65

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

Daß seine Regelung insgesamt viele Schwierigkeiten aufwirft und die Probleme, insbesondere bei den Rückfalltätern mit schwerer Persönlichkeitsstörung, erheblich verschärft, ist kaum zu bezweifeln. 192

4. Eine einstweilige Unterbringung nach § 126 a StPO (in der mit Inkrafttreten des § 65 geltenden Fassung) ist unter den näheren Voraussetzungen dieser Bestimmung auch bei wahrscheinlicher Einweisung in die sozialtherapeutische Anstalt zulässig, falls dringende Gründe dafür sprechen, daß die Anlaßtat unter den Voraussetzungen der §§ 20, 21 begangen worden ist. 5. Selbständige Anordnung der Unterbringung. Sie ist nach § 71 i. V. mit §§ 413 ff StPO zulässig, wenn ein Strafverfahren wegen Schuldunfähigkeit oder Verhandlungsunfähigkeit des Täters undurchführbar ist; s. dazu näher LK, Erl. zu § 71.

193

6. Selbständige Anfechtung der Entscheidung Uber die Unterbringung. Zweifelhaft ist, ob oder wann die Anordnung oder Ablehnung der Unterbringung bei gleichzeitiger Verhängung von Strafe selbständig angefochten werden kann (Problem der Rechtsmittelbeschränkung, s. Rdn. 89 vor § 61). Die Rechtsprechung handhabt ihre umstrittenen Grundsätze bei den §§ 63 (dort Rdn. 132 ff), 64 (dort Rdn. 136) und 66 (dort Rdn. 183), insbesondere wohl aus Praktikabilitätsgesichtspunkten, recht großzügig. Ob sich eine entsprechende Handhabung auch bei § 65 vertreten läßt, erscheint in weitem Maße fraglich. Denn jedenfalls bei den Rückfalltätern mit schwerer Persönlichkeitsstörung (Absatz 1 Nr. 1), den gefährlichen Sexualtätern (Absatz 1 Nr. 2) und den angehenden Hangtätern (Absatz 2) hängen die charakteristischen Faktoren der Anlaßtat, der Störung und der weiteren Gefährlichkeit so eng miteinander zusammen, daß sie sich unbeschadet des Unterschiedes von Straf- und Maßregelzweck vielfach isoliert wohl kaum betrachten lassen. Etwas anderes könnte im Einzelfall namentlich für die Anwendung der Eignungsklausel des § 65 Abs. 1 S. 2 gelten, die möglicherweise von solchen Zusammenhängen nicht berührt zu werden braucht. Eine beschränkte Anfechtung dürfte im übrigen auch in den Fällen des Absatz 3 in Betracht kommen, wo es ja nur um die Frage geht, welche Art der Unterbringung für die Resozialisierung des Täters die geeignetere ist. 7. Zu weiteren verfahrensrechtlichen Fragen s. Rdn. 72 ff vor § 61.

194

XIV. Übergangsvorschriften. Für Taten, die vor dem 1.1.1985 begangen worden sind, darf die Unterbringung nach § 65 nicht angeordnet werden (Art. 301 EGStGB i. d. F. des Gesetzes vom 22.12. 1977, vgl. „Entstehungsgeschichte"). Es handelt sich insoweit um eine abweichende Bestimmung i. S. des § 2 Abs. 6, die jedoch die vollzugsinterne Überweisung nach § 9 StVollzG nicht berührt (vgl. „Entstehungsgeschichte"). Eine Übergangsregelung für Täter, die die Voraussetzungen der §§ 65 Abs. 3, 63 Abs. 2 erfüllen, aber schon vor dem Inkrafttreten der Vorschriften verurteilt worden sind, ist im Gesetz nicht vorgesehen. Sie können daher auch nach dem 1.1. 1985 nur auf dem Weg über § 9 (§§ 130, 138) StVollzG in den Vollzug der sozialtherapeutischen Anstalt überwiesen werden, wenn der Leiter der Anstalt zustimmt. Die Überweisung nach § 67 a, die von einer solchen Zustimmung nicht abhängig ist, dürfte sich hingegen nach dem Sinn der Vorschriften über das Inkrafttreten der §§ 65, 63 Abs. 2 verbieten. (200)

Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (Hanack)

§ 66

Zur besonderen Situation der Täter, die wegen einer vor dem 25. Lebensjahr begangenen Anlaßtat zu Sicherungsverwahrung verurteilt worden sind, an sich aber in die Gruppe der angehenden Hangtäter nach § 65 Abs. 2 gehören, s. näher LK §66 Rdn.48, 185 m. Nachw.

§66 Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (1) Wird jemand wegen einer nach Vollendung seines fünfundzwanzigsten Lebensjahres begangenen vorsätzlichen Straftat zu zeitiger Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt, so ordnet das Gericht neben der Strafe die Sicherungsverwahrung an, wenn 1. der Täter wegen vorsätzlicher Straftaten, die er vor der neuen Tat begangen hat, schon zweimal jeweils zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, 2. er wegen einer oder mehrerer dieser Taten vor der neuen Tat für die Zeit von mindestens zwei Jahren Freiheitsstrafe verbüßt oder sich im Vollzug einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung befunden hat und 3. die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Taten ergibt, daß er infolge eines Hanges zu erheblichen Straftaten, namentlich zu solchen, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, für die Allgemeinheit gefährlich ist (Hangtäter). (2) Hat jemand drei vorsätzliche Straftaten, davon wenigstens eine nach Vollendung des fünfundzwanzigsten Lebensjahres, begangen, durch die er jeweils Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verwirkt hat, und wird er wegen einer oder mehrerer dieser Taten zu zeitiger Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt, so kann das Gericht unter der in Absatz 1 Nr. 3 bezeichneten Voraussetzung neben der Strafe die Sicherungsverwahrung auch ohne frühere Verurteilung oder Freiheitsentziehung (Absatz 1 Nr. 1,2) anordnen. (3) § 48 Abs. 3 , 4 gilt sinngemäß. § 65 Abs. 5 ist anzuwenden. Übergangsregelung Die Vorschriften über die Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt treten erst am 1. Januar 1985 in Kraft (s. § 65 „Entstehungsgeschichte"). Aus diesem Grund gilt § 66 gemäß Art. 7 Abs. 3 des 2. StrRG i. d. F. von Art. 18 IV b EGStGB bis zum 31. 12. 1984 in der Fassung, wie sie ohne den kursiv gedruckten Teil des Gesetzestextes zu lesen ist; an die Stelle des § 66 Abs. 3 Satz 2 tritt dabei für die genannte Übergangszeit die folgende Formulierung des § 65 Abs. 5 : „Eine Tat, die außerhalb des räumlichen Geltungsbereichs dieses Gesetzes abgeurteilt worden ist, steht einer innerhalb dieses Bereichs abgeurteilten Tat gleich, wenn sie nach deutschem Strafrecht eine vorsätzliche Tat wäre." Schrifttum Allen Die Behandlung der gefährlichen Gewohnheitsverbrecher im englischen Strafrecht, ZStW80[1968] 163; Beek- Wuttke Zur Neuregelung der Sicherungsverwahrung in medizinischer und strafprozessualer Sicht (§§ 80 a, 246 a StPO n. E.), SchlHA 1971 74; Beyer Die Gesamtstrafe als Vorverurteilung im neuen Recht der Sicherungsverwahrung, NJW 1971 1597; Blau Recht und Unrecht beim Straf- und MalJregelvollzug, GA 1959 141; Blei Wor(201)

§ 6 6

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

aussetzungen der Sicherungsverwahrung, JA 1971 444; Bockelmann Studien zum Täterstrafrecht, Teil I (1939), Teil II (1940); Böker-Häfner Gewalttaten Geistesgestörter (1973); Breithardt Die Behandlung des Riickfalls und des Rückfalltäters in der Strafrechtsreform der sechziger Jahre, Diss. Hamburg 1971 ; Ch. Brückner Der Gewohnheitsverbrecher und die Verwahrung in der Schweiz gemäß Art. 42 StGB (1971); G. Brückner Sicherungsverwahrung, DRiZ 1955 291; Bruns Die Maßregeln der Besserung und Sicherung im StGb-Entwurf 1956, ZStW 71 [1959] 210; Conrad Das Verhalten von 100 Insassen der Verwahrungsanstalt Thorberg nach ihrer Entlassung (Berner Krim. Untersuchungen Bd. 8, 1973), Dreher Liegt die heitlichung von Strafen und sichernden Maßregeln, ZStW 65 [1953] 481; Dreher Liegt die Sicherungsverwahrung im Sterben? DRiZ 1957 51; Dreher Zur Auslegung des §42 e Abs. 1 Nr. 1 StGB - Eine Besprechung der Urteile BGHSt. 24, 243 und M D R 1972, 702 Nr. 52, MDR 1972 826; Dünnebier Die Durchführung der Zweispurigkeit bei den freiheitsentziehenden Maßregeln im Entwurf 1960 eines Strafgesetzbuchs, ZStW 72 [1960] 32; Ehrhardt Über Behandlungsmöglichkeiten für Delinquenten nach dem deutschen Strafgesetzentwurf 1962, ZStW 76 [1964] 216; Engelhardt Die Erfahrungen mit der Durchführung der §§ 20 a, 42 e ff StGB im Bereich des OLG Celle, Diss. Kiel 1963; Engisch Zur Idee der Täterschuld ZStW 61 [1942] 166; Engisch Bietet die Entwicklung der dogmatischen Strafrechtswissenschaft seit 1930 Veranlassung, in der Reform des Allgemeinen Teils des Strafrechts neue Wege zu gehen? ZStW66[1954]339; Engisch Um die Charakterschuld, MschrKrim. 1967 108; Exner Theorie der Sicherungsmittel (1914); Exner Das System der sichernden und bessernden Maßregeln nach dem Gesetz v. 24. 11. 1933, ZStW 53 [1934] 655; Exner Wie erkennt man den gefährlichen Gewohnheitsverbrecher? DJ 1943 377 ; Exner Kriminologie^ (1949); Freister u. a. Dringende Fragen der Sicherungsverwahrung (1939); Frey Der frühkriminelle Rückfallverbrecher (1951 zit. Frey); Frey Das Verhältnis von Strafe und Maßnahme, SchwZStr. 66 [1951] 295; Geerds Die Bekämpfung der Berufs- und Gewohnheitsverbrecher und Behandlung des Rückfalls, in: Materialien Bd. I I / l , 1954, S. 175; Geisler Die Sicherungsverwahrung im englischen und deutschen Strafrecht (Kriminologische Forschungen Bd. 5, 1967); Gerland Die Sicherungsverwahrung, Festschrift für Rudolf Hübner, 1936, S. 19; Götz Das Verwertungsverbot des Bundeszentralregistergesetzes, J Z 1 9 7 3 496; Greiser Die Serientäter und der schwere wirtschaftliche Schaden im neuen Recht der Sicherungsverwahrung, NJW1971 789; Grünwald Sicherungsverwahrung, Arbeitshaus, vorbeugende Verwahrung und Sicherungsaufsicht im Entwurf 1962, ZStW 76 [1964] 633; K.A.Hall Sicherungsverwahrung und Sicherungsstrafe, ZStW 70 [1958] 41 ; Heinitz Strafzumessung und Persönlichkeit, ZStW 63 [1951] 57; Heinitz Der Entwurf des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches vom kriminalpolitischen Aspekt aus, ZStW 70 [1958] 1 ; Hellmer Rückfallverbrechertum und Frühkriminalität, ZStW 72 [1960] 397; Hellmer Der Gewohnheitsverbrecher und die Sicherungsverwahrung 1934—1945 (1961); Hellmer Hangtäterschaft und Berufsverbrechertum, ZStW 73 [1961] 441; Hellmer Verurteilung als gefährlicher Gewohnheitsverbrecher, NJW 1962 2040; Hennke Rechtsmittelbeschränkung bei Anordnung der Sicherungsverwahrung, GA 1956 41 ; Horstkotte Die Vorschriften des Ersten Gesetzes zur Reform des Strafrechts über den Rückfall und die Maßregeln der Sicherung und Besserung, JZ 1970 152; Jescheck Die kriminalpolitische Konzeption des Alternativ-Entwurfs eines Strafgesetzbuchs (Allgemeiner Teil), ZStW 80 [1968] 54; Arth. Kaufmann Das Schuldprinzip (1961; 2. Aufl. 1976); Hilde Kaufmann Kriminologie I (1971); Koffka Anm. zu BGHSt. 24 160 ( = JR 1971 426), JR 1971 427; Köhler Die materiellrechtliche Bedeutung „formeller" Maßregelvoraussetzungen bei der Sicherungsverwahrung, NJW 1975 1150; Krebs Aus der Praxis der Sicherungsverwahrung, Mayer-Festschrift, 1966, S.629; Krebs Zur Durchführung der Maßregel Sicherungsverwahrung nach den Bestimmungen des Entwurfs eines Strafvollzugsgesetzes 1973, in Krim. Gegenwartsfragen Heft 11 1974, S. 121; Krebs Sicherungsverwahrung, in Handwörterbuch der Kriminologie^, Bd. III 1975, S. 168; Lange Das Rätsel Kriminalität (1970; zit. Lange); Lang-Hinrichsen Betrachtungen zur Strafrechtsreform, in Peters-Lang-Hinrichsen, Grundfragen der Strafrechtsreform, 1959, S. 53; Lang-Hinrichsen Die kriminalpolitischen Aufgaben der Strafrechtsreform, Gutachten für den 43. Dt. Juristentag, 1960; Lang-Hinrichsen Probleme der Sicherungsverwahrung. Zum Begriff der erheblichen Straftat, Maurach-Festschrift, 1972, S. 197; Lemberger Die kriminologische Wirklichkeit des Begriffs des Gefährlichen Gewohnheitsverbrechers, Diss. Kiel 1962; Lenckner Strafe, Schuld und Schuldfähigkeit (Unterabschnitt: Die (202)

Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (Hanack)

§ 66

Sicherungsverwahrung), in Göppinger-Witter, Handbuch der forensischen Psychiatrie, Bd. I 1972, S. 199; Lötz Der gefahrliche Gewohnheitsverbrecher (Krim. Abhandlungen Heft 41, 1939); Maetzel Zum Zweck der Maßregel der Sicherungsverwahrung, NJW 1970 1263; Maurach Die kriminalpolitischen Aufgaben der Strafrechtsreform, Gutachten für den 43. Dt. Juristentag, 1960; H. Mayer Strafrechtsreform für heute und morgen (1962); H. Mayer Typologie der Gewohnheitsverbrecher oder Rezidivisten, Krim. Gegenwartsfragen Heft 5 1962, S. 135; H. Mayer Behandlung der Rezidivisten (Gefährliche Gewohnheitsverbrecher) im deutschen Strafrecht, ZStW80[1968] 139; Mergen Die Kriminologie (1967); Mezger Täterstrafrecht, DStR 1934 135, 145; Mezger Die Straftat als Ganzes, ZStW 57 [1938] 675; Mezger Tatstrafe und Täterstrafe, insbesondere Kriegsstrafrecht, ZStW 60 [1941] 370; G. Meyer Die Behandlung des Kampfes gegen die Gewohnheitsverbrecher im Laufe der Deutschen Strafrechtsreform, Diss. Hamburg 1935; Mindt-Kiener Attentäter und Gewalttäter — ein Vergleich, MschrKrim. 1976 2; Möller Die Entwicklung der Lebensverhältnisse von 135 Gewohnheitsverbrechern und über Maßregeln der Sicherung und Besserung, in Pfundtner-Neubert, Das neue Reichsrecht^, 1933 ff, Ile 10; Moser Jugendkriminalität und Gesellschaftsstruktur (1970; zit. Moser); Müller-Dielz Grenzen des Schuldgedankens im Strafrecht (1967); Naucke Methodenfragen zum „Typ" des Gewohnheitsverbrechers, MschrKrim. 1962 84; Neu Die erhebliche Straftat gemäß § 42 e I Nr. 3 StGB bzw. § 66 I Nr. 3 2. StrRG, insbesondere die „singuläre" und „additive" Erheblichkeit, MDR 1972 915; Neu Die Behandlung der Vollstreckung bzw. Weitervollstreckung einer nach früherem Recht (§§ 20 a, 42 e StGB a. F.) angeordneten Sicherungsverwahrung, MDR 1973 551; Neu Sicherungsverwahrung nach der Strafrechtsreform, Diss. Münster 1976 (in dieser Aufl. nicht mehr ausgewertet); Neuwirth Können Verbrechen und Vergehen wider das Leben durch Maßregeln der Sicherung und Besserung verhindert werden? (Kriminologische Untersuchungen an Mördern und Totschlägern . . . ) , Diss. Heidelberg 1974; Noll Diskussionsvotum auf der Strafrechtslehrertagung . . . , ZStW 76 [1964] 707; Rázt Die Einführung der Sicherungsverwahrung im ungarischen Strafrecht, ZStW 87 [1975] 755; Riederer Die Unterbringung in einer Anstalt für gefährliche Rückfalltäter, ÖstJZ 1976 390; Rietsch Die Abwehr des Gewohnheitsverbrechertums, DJ 1938 134, 178; Röhl Fragen und Fragwürdigkeit der Sicherungsverwahrung, JZ1955 145; Rudolph Zum Vollzug und zur bedingten Entlassung aus der Sicherungsverwahrung, DRiZ 1956 176; Sauerlandt Zur Praxis der Sicherungsverwahrung in Rechtsprechung und Vollzug, MschrKrimBiol. 1938 305; Schachert Kriminologische Untersuchungen an entlassenen Sicherungsverwahrten, Diss. Göttingen 1963 ; Schäfer- Wagner-Schaflieutle Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung (1934); Schafheutle-Hauptvogel Sicherungsverwahrung, in Handwörterbuch der Kriminologie 1, Bd. II 1936, S. 597; Schnell Anlage und Umwelt bei fünfhundert Rückfallverbrechern (Krim. Abhandlungen Heft 22, 1935); Schröder Die Vereinheitlichung der Strafe und der sichernden Maßnahmen, ZStW 66 [1954] 180; Schröder Die „Erforderlichkeit" von Sicherungsmaßregeln, JZ 1970 90; Schultz Kriminalpolitische Bemerkungen zum Entwurf eines Strafgesetzbuches, E 1962, JZ 1966 113; Schwaab Die soziale Prognose bei rückfälligen Vermögensverbrechern (Krim. Abhandlungen Heft 42, 1939); Seibert Gewohnheitsverbrecher und Sicherungsverwahrung, DRiZ 1955 137; Steinhilper Sexualtäter und Sicherungsverwahrung. Abhandlungen über Fragen der Sicherungsverwahrung und kriminologische Untersuchungen an rückfälligen Sexualtätern, Diss. Heidelberg 1970; Stree Deliktsfolgen und Grundgesetz (1960; zit. Stree), Sveri Die Behandlung der gefährlichen Gewohnheitsverbrecher in den nordischen Ländern, ZStW 80 [1968] 176; Tröndle Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in Strafsachen, GA1973 289; Wacker Sicherungsverwahrung und Grundgesetz, Diss. Tübingen 1966; Weihrauch Der gefährliche Gewohnheitsverbrecher. Kriminologische Untersuchungen an rückfälligen Vermögenstätern unter dem Gesichtspunkt der §§ 20 a, 42 e StGB . . . , Diss. Heidelberg 1968 (zit. Weihrauch); Weihrauch Die materiellen Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung, NJW 1970 1897.

Entstehungsgeschichte Die Maßregel der Sicherungsverwahrung ist in Anlehnung an langjährige Reformforderungen durch das GewohnheitsverbrecherG v. 24. 11.1933 (s. Rdn. 6 (203)

§66

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

vor § 61) eingeführt worden. Aufgrund dieses Gesetzes galt bis zum 1. StrRG unverändert der folgende § 42 e: „Wird j e m a n d nach § 20 a als ein gefährlicher Gewohnheitsverbrecher verurteilt, so ordnet das Gericht neben der Strafe die Sicherungsverwahrung an, wenn die öffentliche Sicherheit es erfordert".

§ 20 a, der ebenfalls durch das GewohnheitsverbrecherG eingefügt wurde, enthielt eine Strafschärfung gegen „gefährliche Gewohnheitsverbrecher". § 1 des Gesetzes v. 4.9. 1941 (RGBl. I 549), der durch Art. 2 des KontrollratsG Nr. 11 v. 30.1.1946 (Amtsblatt S. 55) wieder aufgehoben wurde, erstreckte diese Strafschärfung auch auf die Möglichkeit der Todesstrafe. Im übrigen galt § 20 a bis zum 1. StrRG unverändert; er lautete in seinen entscheidenden Absätzen 1 und 2 (Absatz 3 und 4 regelten, ähnlich wie heute, Rückfallverjährung und ausländische Verurteilungen) wie folgt: „(1) Hat j e m a n d , der schon zweimal rechtskräftig verurteilt worden ist, durch eine neue vorsätzliche Tat eine Freiheitsstrafe verwirkt und ergibt die Gesamtwürdigung der Taten, daß er ein gefährlicher Gewohnheitsverbrecher ist, so ist, soweit die neue Tat nicht mit schwererer Strafe bedroht ist, auf Zuchthaus bis zu fünf Jahren und, wenn die neue Tat auch ohne diese Strafschärfung ein Verbrechen wäre, auf Zuchthaus bis zu fünfzehn Jahren zu erkennen. Die Strafschärfung setzt voraus, d a ß die beiden früheren Verurteilungen wegen eines Verbrechens oder vorsätzlichen Vergehens ergangen sind u n d in jeder von ihnen auf Todesstrafe, Zuchthaus oder Gefängnis von mindestens sechs Monaten erkannt worden ist. (2) Hat j e m a n d mindestens drei vorsätzliche Taten begangen u n d ergibt die Gesamtwürdigung der Taten, d a ß er ein gefährlicher Gewohnheitsverbrecher ist, so kann das Gericht bei jeder abzuurteilenden Einzeltat die Strafe ebenso verschärfen, auch wenn die übrigen in Abs. 1 genannten Voraussetzungen nicht erfüllt sind".

Durch das 1. StrRG wurde — mit Wirkung vom 1. 4. 1970 — § 20 a aufgehoben und § 42 e grundlegend verändert (zur Strafrechtsreform näher unten Rdn. 11 ff). Der neugefaßte § 42 e wurde mit Inkrafttreten des 2. StrRG (1.1. 1975) unverändert zu § 66 in der oben, im Anschluß an den Gesetzestext dargestellten Übergangsfassung (bloße Umnumerierung); mit dem Inkrafttreten der Vorschrift über die Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt (oben „Übergangsregelung") gilt die abgedruckte endgültige Fassung. Übersicht I. 1!.

III. IV. V. VI.

Rdn. Zweck und Ziel 1 Entwicklung u n d grundsätzliche Problematik 2 1. Entwicklung bis z u m 1. S t r R G . . . . 3 2. G r u n d s ä t z l i c h e E i n w e n d u n g e n . . . . 7 3. Ausland 10 4. S t r a f r e c h t s r e f o r m (1. S t r R G ) 11 a) G r u n d s a t z e n t s c h e i d u n g 12 b) B e m ü h e n u m E i n s c h r ä n k u n g . . 13 Verfassungsrechtliche Problematik . . . . 20 Die S i c h e r u n g s v e r w a h r u n g in d e r bisherigen Praxis 23 A u f b a u und S c h w e r p u n k t e des § 66 . . . . 28 Die formellen Voraussetzungen d e r S i c h e r u n g s v e r w a h r u n g nach Absatz 1 . . 29 1. Vorverurteilungen 29 a) Allgemeines 29 b) G e s a m t s t r a f e 31

Rdn. Z u r B e w ä h r u n g erlassene Strafe . 33 Taten a u ß e r h a l b des r ä u m l i c h e n Geltungsbereichs 34 2. Freiheitsentzug a u f g r u n d der Vorverurteilungen 35 3. Nichtberücksichtigung von Vorverurteilungen u n d Vortaten 38 a) R ü c k f a l l v e r j ä h r u n g 38 b) Tilgung im B Z R G 41 c) Verwertung als Beweisanzeichen? 42 4. Die auslösende Tat 43 a) Allgemeines 43 b) G e s a m t s t r a f e 44 c) Symptomatischer C h a r a k t e r . . . 45 d) Vollendung des 25. Lebensjahres . 46 VII. Die formellen Voraussetzungen der S i c h e r u n g s v e r w a h r u n g n a c h Absatz 2 . . 49 1. Allgemeines zu Absatz 2 49 c) d)

(204)

Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (Hanack) Rdn. Drei vorsätzliche Straftaten 53 Verwirkte Freiheitsstrafen von mindestens einem Jahr 59 4. Mindestens gleichzeitige Aburteilung der Taten 62 5. Verurteilung zu mindestens dreijähriger Freiheitsstrafe 63 VIII. Materielle Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung 64 1. Allgemeines 64 2. Zur generellen Problematik der Hangtäterschaft 65 3. Zur Charakteristik des Hangtäters nach dem gegenwärtigen Stand der Literatur 69 a) Der Hangtäter aus Willensschwäche 70 b) Der aktive chronische Kriminelle 71 c) Konflikts-, Gelegenheits-, Zufalls-oder Augenblickstäter . . 72 d) Sexualtäter 75 e) Politisch oder ideologisch motivierte Kriminalität 76 f) Tötungskriminalität 77 4. Sicherungsverwahrung von aktiven Tätern und Tätern aus Schwäche. Allgemeines 78 a) Die Gruppe der aktiven Hangtäter 78 b) Die Gruppe der Hangtäter aus Willensschwäche 79 5. Begriff und Faktoren des Hanges . . . 84 a) Der Begriff des Hanges 84 b) Allgemeine Faktoren des Hanges 90 c) Bedeutung der Kriminalitätstheorien 95 d) Bedeutung von Schwachsinn, Psychopathie und Frühkriminalität insbesondere 98 6. Hang zu erheblichen Straftaten . . . . 102 a) Allgemeines 102 b) Der Begriff der Erheblichkeit . . 104 2. 3.

IX.

X. XI.

XII.

XIII. XIV.

§66

Rdn. c) Additive oder singuläre Erheblichkeit 110 d) Schwerer wirtschaftlicher Schaden 117 aa) Allgemeines 117 bb) Generell-objektiver Maßstab 123 cc) Speziell-objektiver Maßstab .126 e) Schwere körperliche Schädigung . 130 f) Schwere seelische Schädigung . . 135 g) Bedeutung der „namentlich"Klausel 140 7. Gefährlichkeit für die Allgemeinheit 144 8. Zeitpunkt der Gefährlichkeit 150 9. Das Subsidiaritätsprinzip 154 10. Gesamtwürdigung des Täters und seiner Taten 156 a) Inhalt der Gesamtwürdigung . . . 157 b) Symptomcharakter der Taten insbesondere 162 11. Der Grundsatz in dubio pro reo . . .167 12. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz .168 Obligatorische und fakultative Anordnung; Verhältnis zur Strafe 169 1. Obligatorische Anordnung nach Absatz 1 170 2. Fakultative Anordnung nach Absatz 2 173 3. Verhältnis zur Strafe 174 Konkurrenz mit anderen Maßregeln . . .175 Dauer der Sicherungsverwahrung; Aussetzung, Erledigung, Kontrolle 176 1. Dauer 176 2. Aussetzung der Vollstreckung, Führungsaufsicht 177 3. Erledigung 178 4. Kontrollpflichten 179 Vollstreckung und Vollzug 180 1. Reihenfolge der Vollstreckung . . . .180 2. Überweisung in den Vollzug einer anderen Maßregel 181 3. Gestaltung des Vollzugs 182 Verfahrensrechtliches 183 Übergangsregelungen 184

I. Zweck und Ziel. Zweck der Sicherungsverwahrung ist, als eine Art „letzter 1 Notmaßnahme der Kriminalpolitik" (1. Bericht S. 19; vgl. unten Rdn. 14), der Schutz vor dem aufgrund seines Hangs chronisch kriminellen, für die Allgemeinheit gefährlichen Täter im Bereich der schweren Kriminalität, dem mit anderen strafrechtlichen Mitteln nicht mehr beizukommen ist (vgl. Lackner Anm. 1 ; Preisendanz Anm. I; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 2; Baumann AT § 44 II 4 a; Bockelmann AT § 43 I; Jescheck AT § 75 V 1 ; Maurach AT § 68 I D 1 ; Schmidhäuser AT 21/37). Dem entspricht das Ziel der Unterbringung: Der Täter soll, während der Dauer seiner Gefährlichkeit, in erster Linie sicher verwahrt werden (§ 129 S. 1 StVollzG); daneben soll ihm, entsprechend dem Charakter eines rechtsstaatlich-humanen Strafrechts, freilich auch geholfen werden, sich in das Leben in Freiheit einzugliedern (§ 129 S. 2 StVollzG; vgl. näher unten Rdn. 19, 22). (205)

§66 2

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

II. Entwicklung und grundsätzliche Problematik. Die Sicherungsverwahrung ist die problematischste Maßregel des Strafrechts. Der Gedanke, einen Menschen allein wegen seines Hangs zu Straftaten über das Maß seiner Schuld hinaus auf unbestimmte Zeit, möglicherweise auf Lebenszeit, zu verwahren, läßt Bezüge zu sozialdarwinistischen Gedankengängen erkennen (so Lang-Hinrichsen Vorauf!. § 42 e Rdn. 1). Der Gedanke ist besonders dann bitter, wenn der Zustand des Täters, der die Maßregel auslöst, durch frühzeitige zwischenmenschliche Hilfe („Sozialtherapie") hätte abgefangen werden können oder auf Umständen beruht, an denen vielleicht auch die Gemeinschaft selbst nicht unschuldig ist. Die Problematik der Sicherungsverwahrung spiegelt sich deutlich in ihrer Entwicklungsgeschichte und in ihrer kriminalpolitischen Diskussion wider. Diese sind hier nicht im einzelnen, sondern nur in Umrissen insoweit darzustellen, wie es zum Verständnis des geltenden Rechts und seiner gewachsenen Struktur, aber auch seiner Fragwürdigkeit, unerläßlich ist.

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1. Entwicklung bis zum 1. StrRG. Nach Einführung der Sicherungsverwahrung durch das GewohnheitsverbrecherG vom 24. 11. 1933 bestanden gegen den Gewohnheitsverbrecher Reaktionen zweifacher Art: Er unterlag, wenn seine Eigenschaft als „gefährlicher Gewohnheitsverbrecher" festgestellt war, nach § 20 a a. F. einer erheblichen Strafschärfung. Daneben hatte das Gericht Sicherungsverwahrung anzuordnen, wenn die öffentliche Sicherheit es erforderte (§ 42 e a. F.). Insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg wurde diese Regelung zunehmend angegriffen.

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Geltend gemacht wurde einmal, daß die in § 20 a vorgesehene Strafschärfung nicht dem Schuldprinzip entspreche, weil die erhöhte Strafe in Wahrheit nicht an die Schuld, sondern an die Gefährlichkeit anknüpfe; diese aber sei nicht bei der Strafe zu berücksichtigen, die schuldangemessen bleiben müsse, sondern komme nur als Grundlage einer Maßregel in Betracht (näher z. B. Lang-Hinrichsen Gutachten zum 43. DJT, S. 65 ff; Sch.-Schröder^ § 20 a Rdn. 1 m. Nachw.). Versuche, die Strafschärfung mit dem Schuldprinzip für vereinbar zu erklären, so insbesondere durch die Konstruktion einer sog. Lebensführungsschuld (grundsätzlich: Mezger ZStW 57 675, 688; ZStW 60 370), fanden keine allgemeine Anerkennung, sondern immer stärkere Kritik (Übersicht bei Müller-Dietz S. 20 ff). Der Streit um den Gedanken von der Lebensführungsschuld ist wohl bis heute nicht wirklich ausgetragen, zumal es dabei nicht nur um eine strafrechtlich-dogmatische, sondern auch um eine kriminologische Problematik geht. Für eine — modifizierte oder eingeschränkte — Anerkennung der Lebensführungsschuld sind u . a . z. B. eingetreten: Bockelmann (Studien zum Täterstrafrecht, Teil II S. 36 ff, 153 ff: Lebensentscheidung für eine verbrecherische Laufbahn; kritisch dazu Engisch ZStW 61166); Kohlrausch-Lange ( § 2 0 a Anm. 112); H.Mayer (Strafrechtsreform S. 166: Wille zur Wiederholung; vgl. aber kritisch AT 1967 § 10 IV 4; AT 1953 § 10 III 2); Jescheck (AT § 38 IV 2, 3 m. w. Nachw.); prinzipiell auch Blei (AT § 112 III, der in bestimmten Fällen von einer Lebensführungsschuld ausgeht). Gegen das Prinzip wenden sich u.a. z.B. Arth. Kaufmann (Das Schuldprinzip, S.187 m.zahlr.Nachw.); Engisch (aaO und ZStW 66 339,359 sowie MschrKrim. 1967 108); Heinitz ZStW 63 47,76); Lang-Hinrichsen (Gutachten aaO sowie in Peters-Lang-Hinrichsen S. 118); Sch.-SchrödeM § 20 a Rdn. 4 sowieló Rdn. 86 ff vor § 51m. w. Nachw.); Baumann (AT § 23 III 1 a); Maurach-Zipf (AT § 35 III 3); Schmidhäuser (AT 10/12); E 1962 S. 213; AE-AT § 2 und S. 29; vgl. auch unten Rdn 12. (206)

Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (Hanack)

§ 6 6

Kritisiert wurde an dem bis zum 1. StrRG geltenden Recht weiter, daß das 5 Gesetz den Richter — jedenfalls nach ganz herrschender Meinung — verpflichtete, schon bei Urteilserlaß eine Prognose darüber abzugeben, ob die öffentliche Sicherheit die Unterbringung des Täters, der zunächst die gemäß § 20 a verschärfte Strafe zu verbüßen hatte, nach dem Strafvollzug noch erfordern werde (näher Lang-Hinrichsen Voraufl. § 42 e Rdn. 8 m. Nachw.)· Immer wieder wurde eingewandt, eine solche Prognose müsse die Gerichte überfordern und würde den Tätern kaum gerecht. In der Tat ist nicht zweifelhaft, daß die Regelung vielfältige Schwierigkeiten aufwarf (vgl. auch E 1962 S. 214; 1. Bericht S. 18; Lang-Hinrichsen aaO). Die wohl eindrucksvollste Kritik bestand in dem Vorwurf, daß die Sicherungs- 6 Verwahrung in der Praxis gar nicht den Personenkreis treffe, vor dem die Gesellschaft notwendigerweise geschützt werden müsse. Diese Angriffe haben vor allem durch eine verdienstliche empirische Untersuchung Heilmers (Der Gewohnheitsverbrecher; vgl. auch JZ 1969 197, 198) Nahrung erhalten. Hellmer kam zu dem Ergebnis, daß bis 1945 weit überwiegend kleine Diebstähle und Betrügereien als Rückfalltaten zur Anordnung der Sicherungsverwahrung geführt haben ; es handele sich insoweit um Täter, die der Gesellschaft „lästig geworden" seien, und zwar mehr infolge der Zahl ihrer Taten als durch deren Gewicht. Die eigentlich gefährlichen Täter, also etwa schwere Sexualdelinquenten, Brandstifter oder Hochstapler großen Ausmaßes, ja selbst Bandentäter, Einbrecher und Heiratsbetrüger haben demgegenüber nach Heilmers Feststellungen nur eine Minderheit der sicherungsverwahrten Täter ausgemacht. Ähnliche, wenn auch nicht ganz so bedrückende Ergebnisse sind noch für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg festgestellt worden (unten Rdn. 25). Die Erkenntnis, daß die Sicherungsverwahrung in der Bekämpfung der hartnäckigen Schwerkriminalität wenig oder nichts leistete, sondern meist nur lästige, nicht aber wirklich gefährliche Kriminelle traf, ist in der Folgezeit Allgemeingut geworden und hat bei der Strafrechtsreform eine wesentliche Rolle gespielt (vgl. z. B. E 1962 S. 123; Materialien des Bundesjustizministeriums zur Sicherungsverwahrung, abgedruck Prot.V, 275ff; 1. Bericht S.18f; G/w?waWZStW76640ff; Jescheck ZStW80 81; Dreher Rdn. 2 sowie die verschiedenen Arbeiten von H.Mayer, der sich mit der Frage immer wieder beschäftigt hat). 2. Grundsätzliche Einwendungen. Namentlich im Zusammenhang mit den 7 geschilderten empirischen Feststellungen entwickelte und vertiefte sich eine Kritik an der Sicherungsverwahrung, die über die Kritik an ihrer konkreten Ausgestaltung weit hinausging und mit der Frage nach der inneren Rechtfertigung dieses Instituts dessen Berechtigung überhaupt in Frage stellte. a) H. Mayer und Hellmer. Am grundsätzlichsten sind insoweit die Überlegungen 8 von H. Mayer (z. B. Strafrechtsreform S. VI, 144 ff, 153 ff; Krim. Gegenwartsfragen Heft 5, S. 135; ZStW80 139, 159) und seinem Schüler Hellmer (Der Gewohnheitsverbrecher S. 24 ff, 196 f, passim). Mayer hält jede aus der Gemeinschaft eleminierende Verwahrung mit dem Gedanken der Menschlichkeit schlechthin für unvereinbar. Er fordert daher, die Sicherungsverwahrung überhaupt abzuschaffen. Die kriminologische Literatur zeige (und zeigt in der Tat; dazu Rdn. 69 ff), daß unter den bisher als Gewohnheitsverbrechern zusammengefaßten Tätern zwei wesentlich verschiedene Gruppen zu unterscheiden seien, die auch verschieden behandelt werden müßten. Zur einen Gruppe seien Täter zu rechnen, die „mit dem Willen ständiger Wiederholung" erhebliche Straftaten begehen. Dies seien insbesondere die Berufs(207)

§66

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

Verbrecher. Gegen sie müsse mit erhöhter Strafe vorgegangen werden, da hier eine schwerere Schuld vorliege. Mayer tritt insoweit für die Anerkennung einer Lebensführungsschuld (oben Rdn. 4) ein. Das von einer solchen Lebensführungsschuld getragene Dauerverhalten verdient nach seiner Auffassung eine besondersartige, u. U. verschärfte Strafe. Mit ihrer Hilfe lasse sich allen billigenswerten Sicherheitsinteressen genügen. Nur die angemessene Strafe, niemals aber die als ungerecht empfundene Maßregel, werde auch vom Täter selbst innerlich als berechtigt anerkannt und biete die Möglichkeit erzieherischer Beeinflussung. Ganz anders wollen Mayer und Hellmer die zweite, in der bisherigen Praxis der Sicherungsverwahrung weit größere Tätergruppe behandelt wissen, die der Willenlosen und Haltlosen. Die Täter dieser Gruppe seien nur biologisch schwach und sozial hilflos. Asozial oder antisozial würden sie erst dadurch, daß man ihnen Lebensaufgaben stelle, denen sie nicht gewachsen seien. Hier sei die Sicherungsverwahrung, aber auch eine verschärfte Strafe, entschieden abzulehnen. Vielmehr müsse für diese Täter ein fürsorgendes Personenrecht geschaffen werden, das in erster Linie der Hilfe für den Betroffenen diene. Dieses Personenrecht dürfe aber nur eingreifen, wenn ausreichende Gründe für eine Statusveränderung vorlägen. Solche Gründe könnten immer nur in der besonderen Verfassung der Person liegen und müßten derart dringend sein, daß sie eine so einschneidende Beschränkung rechtfertigen könnten. Sie bedürften zudem einer Umschreibung, die rechtsstaatlichen Bestimmtheits-Erfordernissen genüge. 9

b) Die Forderung nach einer einspurigen Reaktion verstärkte sich, in sachlich enger Berührung zu den Überlegungen Mayers, aber auch im Zusammenhang mit der allgemeinen Problematik der Zweispurigkeit (Rdn. 13 ff vor § 61), gerade im Hinblick auf die Behandlung der Gewohnheitsverbrecher. In vielfältiger und vielfältig nuancierter Weise wurde gefordert, diesen Tätern unter Verzicht auf die Maßregel mit Hilfe einer Sicherungsstrafe oder einer Freiheitsstrafe von unbestimmter Dauer zu begegnen. Maßgebend für solche Forderungen war teils der Gedanke, daß es in Wahrheit eben doch um die Lebensführungsschuld gehe, teils die Ansicht, daß sich eine rechtsstaatlich vertretbare Reaktion nur so begründen lasse, teils aber auch die Auffassung, daß sich der Dualismus mit dem geforderten Prinzip des Vikariierens (jetzt: §67) nicht vertrage. So empfahl die Strafvollzugskommission noch im Dezember 1967 eine relativ unbestimmte Freiheitsstrafe als einzige Reaktion und begründete dies insbesondere damit, daß „maßgebliche Unterscheidungen im Vollzug der Freiheitsstrafe und der Sicherungsverwahrung nicht zu machen sind, wenn der Vollzug als Resozialisierungsvollzug durchgeführt wird", und daß „die Aufeinanderfolge von Freiheitsstrafe und Sicherungsverwahrung dem durchgreifenden Bemühen um Sozialisation des Verurteilten entgegen(steht)" (Tagungsberichte I. Bd. S. 151). Im einzelnen haben sich für solche einspurigen Reaktionen — in verschiedener Ausprägung — u. a. eingesetzt z. B. : Heinitz ZStW 63 80 f; Frey SchwZStr. 66 295 ; Dreher ZStW 65 489 ff; Dünnebier ZStW 72 32; Röhl JZ 1955 145 f; Sieverts Materialien 1. Bd., S. 107 ff; Eb. Schmidt Niederschriften Bd. 1, S. 51 ff; Jescheck, ebenda S. 61 (anders AT § 8 14 Fußn. 15).

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3. Ein Blick auf das Ausland zeigt, daß zur Bekämpfung des gefährlichen Gewohnheitsverbrechers auch dort sehr unterschiedliche Wege beschritten worden sind und die Methoden ζ. T. gewechselt haben. So gibt es die Sicherungsverwahrung im Rahmen eines zweispurigen Systems ebenso wie einspurige Reaktionen; vgl. im einzelnen die Übersichten von Schafheutle-Hauptvogel S. 597, 604; Geerds (208)

Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (Hanack)

§66

S. 175 ff; Lang-Hinrichsen Das Strafensystem im ausländischen Recht, 1955, S. 23 ff ; Hellmer Der Gewohnheitsverbrecher, S. 295 (der darauf hinweist, daß die Voraussetzungen für die Anordnung entsprechender Maßnahmen im Ausland meist strenger seien und in der Praxis bei weitem nicht die Bedeutung gewonnen hätten wie in Deutschland); Bundesjustizministerium, Prot. V, 275; Jescheck AT§ 811. Aus der neueren Entwicklung im Ausland mag hervorgehoben werden : In England wurde die Sicherungsverwahrung 1967 abgeschafft und durch die Möglichkeit einer Strafschärfung ersetzt (näher Allen S. 163 ff; Geisler Die Sicherungsverwahrung). In der Schweiz sind mit der Verwahrung von Gewohnheitsverbrechern nach Art. 42 SchwStGB (die an Stelle der Strafe tritt) nach neueren Untersuchungen ähnliche Erfahrungen gemacht worden wie in der Bundesrepublik; näher Brückner Der Gewohnheitsverbrecher (dazu Besprechung von Müller-Dietz in ZfStrVo. 1972 249) und Conrad Das Verhalten von 100 Insassen (dazu Besprechung von Geerds GA 1975 250). Das neue österreichische StGB kennt die Maßregel unter ähnlichen, wenn auch etwas weniger engen Voraussetzungen als § 66 (§ 23 ; näher Rieder ÖstJZ 1976 390). Im ungarischen Recht ist nach Räcz (ZStW 87 755) die Sicherungsverwahrung interessanterweise neuestens in der Sache eingeführt worden, obwohl die sozialistischen Länder im Prinzip nur einspurige Reaktionen kennen. Auch in der DDR sind nach Sagel-Grande (Bericht in ZStW 87 762,784) vor kurzem Rückfallverschärfungen geschaffen worden, die einer speziellen Gewohnheitsverbrecherbekämpfung nahe kommen. 4. Strafrechtsreform (1. StrRG). Der Gesetzgeber hat sich im Rahmen der Straf- 11 rechtsreform mit der Sicherungsverwahrung sehr eingehend beschäftigt. — Zu nennen sind insbesondere die folgenden Materialien: E 1962, S. 213 ff; Niederschriften Bd. 1, S. 52 ff, 243 ff, 258 ff; Bd. 3, S. 153 ff, 194 ff, 219 ff, 267 ff; Bd. 12, S. 346 ff; Prot. IV, 248 ff, 855 ff, 911 ff; Prot. V, 270 ff, 2298 ff; 1. Bericht S. 18 ff; vgl. auch § 70 AE-AT und Begr. S. 135 f. a) Die Grundsatzentscheidung. Die überwiegende Auffassung ging dahin, daß 12 (jedenfalls bis es gelingen sollte, neue Methoden zur Bekämpfung der Gefährlichkeit zu finden) die Maßregel Sicherungsverwahrung als solche nicht zu entbehren sei. Abgelehnt wurde vom Gesetzgeber daher in Übereinstimmung mit dem AE insbesondere die Forderung, die Sicherungsverwahrung durch eine Sicherungsstrafe oder eine Freiheitsstrafe von unbestimmter Dauer zu ersetzen. Der Gesetzgeber meinte, dem nicht folgen zu können, weil das Schuldstrafrecht verbiete, die Strafe aus Gründen der Sicherung über das Maß der Schuld hinaus auszudehnen. Verworfen wurde auch der Gedanke, eine solche Strafe mit Hilfe des umstrittenen Gedankens von der Lebensführungsschuld (s. Rdn. 4) zu begründen. Maßgebend dafür waren einmal Zweifel, ob eine an die verfehlte Lebensführung angelehnte höhere Strafe den Sicherheitsbedürfnissen stets voll Rechnung tragen könne. Maßgebend waren aber vor allem Bedenken gegen den Gedanken von der Lebensführungsschuld selbst. Es wurden nicht nur praktische Einwendungen geltend gemacht, nämlich die „kaum überwindlichen Schwierigkeiten" (E 1962, S. 213), mit den Mitteln des Strafverfahrensrechts im Gerichtssaal die Lebensgeschichte eines Menschen mit ihren oft verborgenen tiefenseelischen Zusammenhängen aufzuklären oder doch ohne Verstoß gegen die Menschenwürde aufzuhellen (so Jescheck AT, § 38 IV S. 317). Eingewendet wurde insbesondere, daß das Abstellen auf die Lebensführungsschuld mit dem Charakter des auf die Einzelschuld bezogenen, am Tatunrecht orientierten deutschen Strafrechts nicht zu vereinbaren sei und zu unlös(209)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

baren Problemen, ζ. B. bei der Feststellung des spezifischen Unwerts und der Vorwerfbarkeit einer solchen Schuld, führen müsse. — Ob die schließlich geradezu schroffe Ablehnung der Gegenposition, namentlich der Berücksichtigung des Gedankens der Lebensführungsschuld, das letzte Wort bleiben wird, dürfte offen sein und wird nicht zuletzt davon abhängen, ob sich die Neuregelung der Sicherungsverwahrung, wie sie der Gesetzgeber im 1. StrRG vorgenommen hat, bewährt. Denn kaum zu verkennen ist, daß die Regelung des § 66, insbesondere mit der Feststellung der Hangtätereigenschaft (s. Rdn. 68, 69 ff) und der Prognose hinsichtlich der weiteren Gefährlichkeit des Täters und der von ihm drohenden Taten (s. Rdn. 90 ff, 104 ff), mindestens keine geringeren Schwierigkeiten aufwirft. 13

b) Das Bemühen um Einschränkung der Sicherungsverwahrung. Auf dem Boden der dargestellten Grundsatzentscheidung zielten die Reformbemühungen einmal darauf ab, Mittel zu finden, um die Anordnung oder doch die Vollstreckung der Sicherungsverwahrung möglichst überhaupt zu verhindern, also der Gefährlichkeit des Täters auf andere Weise zu begegnen bzw. sie frühzeitig abzufangen. Zum anderen bemühte sich der Gesetzgeber, die formellen und materiellen Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung so einzuengen, daß sie nur Personen trifft, denen gegenüber die Maßregel wirklich unabweisbar ist.

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Die Sicherungsverwahrung sollte so gestaltet werden, daß ihr Charakter „als einer letzten Notmaßnahme der Kriminalpolitik" deutlicher wird (1. Bericht S. 19; vgl. auch BGHSt. 24 153, 154; OLG Nürnberg M D R 1975 779, 780). Vom „ultimaratio-Charakter" der Maßregel war in den Beratungen denn auch oft die Rede; vgl. — nur zum Beispiel — Prot. V, 2298. Im einzelnen spiegelt sich dieses Bemühen in folgender Weise wider.

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aa) Verhütung der Sicherungsverwahrung. Der AE hatte als Mittel zur Verhütung der Anordnung vorgeschlagen, die Einweisung in die Sicherungsverwahrung („Sicherungsanstalt") nur dann vorzusehen, wenn der Täter schon früher ohne seine Einwilligung für mindestens vier Jahre in einer sozialtherapeutischen Anstalt untergebracht war und eine nochmalige Einweisung aussichtslos erscheint (§ 70 Abs. 1 mit Ausnahmen in Abs. 3). Die Unterbringung in der sozialtherapeutischen Anstalt sollte, worauf die Verf. des AE „außerordentlichen Wert" legten (vgl. Horstkotte Prot. V, 2299), der Sicherungsverwahrung als „letzter eindringlicher Resozialisierungsversuch" (Begr. z. AE-AT S. 137; vgl. auch § 173 AE-StVollzG mit Begr. S. 233) stets oder doch regelmäßig obligatorisch vorgeschaltet sein. Der Gesetzgeber hielt diesen Vorschlag zwar für „sympathisch" und „einleuchtend" (so Horstkotte als Vertreter des BMJ aaO), folgte ihm aber dennoch nicht, weil er die Voraussetzungen für die Unterbringung in der sozialtherapeutischen Anstalt so weit nicht ziehen zu können meinte (vgl. Horstkotte aaO und die folgende Diskussion Prot. aaO S. 2302 ff ; ablehnend aus diesem Grunde ζ. B. auch Jescheck ZStW 80 83 und H. Mayer ZStW 80 160; zum Ganzen auch Baumann AT § 44 II 4 b). Der Gesetzgeber ging jedoch von der Erwartung aus, daß durch die neue Institution der sozialtherapeutischen Anstalt im Zusammenhang mit § 72 die Sicherungsverwahrung in vielen Fällen vermieden werden könne (vgl. Prot. V, 2303), da im Konkurrenzfalle der sozialtherapeutischen Anstalt vor der Sicherungsverwahrung der Vorzug zu geben sei. Auch sah er, als gewissen Ausgleich, die Möglichkeit vor, den Täter aus dem Vollzug der Sicherungsverwahrung in den Vollzug der sozialtherapeutischen Anstalt zu überweisen, wenn seine Resozialisierung dadurch besser gefördert wer(210)

Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (Hanack)

§66

den kann (§ 67 a Abs. 2; §§9, 130 StVollzG). Ferner berücksichtigte er, in Anlehnung schon an den E 1962, die Besonderheiten jüngerer Täter, indem er die Sicherungsverwahrung auf Anlaßtaten beschränkte, die nach Vollendung des 25. Lebensjahres begangen sind (näher Rdn. 46 ff), und für vor dem 27. Lebensjahr begangene Anlaßtaten die sich überschneidende Regelung des § 65 Abs. 2 schuf, die für diese Tätergruppe praktisch eine Sonderregelung enthält. bb) Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung. Die bereits im E 1962 geforderte 16 Beseitigung des | 20 a und damit auch dessen Verknüpfung mit der Sicherungsverwahrung wurde im 1. StrRG verwirklicht. Schon der E 1962 bemühte sich auch um Einschränkungen der Sicherungsverwahrung, damit die Maßregel nur Täter erfaßt, für die sie wirklich unabweisbar ist (vgl. Begr. S. 213 f f ) . Auf die Kritik (insbesondere von Grünwald ZStW 76 633), daß dieses Ziel durch die Regelung noch nicht erreicht werde, kam es später zu eingehenden weiteren Bemühungen um eine Einengung (vgl. näher Prot. V, 270 ff, 2298 ff), die zur heutigen Regelung führten. Dabei sind einmal die sog. formellen Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung beträchtlich verschärft worden: durch angehobene Anforderungen an die Vorstrafen (näher Rdn. 29 ff) und durch das Erfordernis von Vorverbüßungen (näher Rdn. 35 ff), die allerdings für § 66 Abs. 2 nicht gelten (dazu Rdn. 49 ff), sowie durch Anhebung des für die Anlaßtat verwirkten Strafmaßes (Rdn. 43 ; Rdn. 63). Eingegrenzt wurden weiter die sog. materiellen Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung; gefordert wird jetzt ausdrücklich die Gefahr „erheblicher" Straftaten, für die der Gesetzgeber mit der „namentlich"-Klausel des Abs. 1 Nr. 3 eine Art Leitlinie gibt (näher Rdn. 103). — Beseitigt wurde im übrigen die problematische frühere Rechtslage, nach der (s. Rdn. 5) der Richter die Prognose auf den Zeitpunkt nach der Entlassung aus dem Strafvollzug zu beziehen hatte, was freilich nicht nur neue Schwierigkeiten aufwirft (näher Rdn. 151 ff), sondern unbeschadet der besonderen Pflicht zur Prüfung, ob nach dem Strafvollzug ein Vollzug der Maßregel noch erforderlich ist (§ 67 c Abs. 1), die Anordnung der Sicherungsverwahrung eher erleichtert (Rdn. 48). cc) Erstmalige Anordnung der Sicherungs-Verwahrung. Im Falle der erstmaligen 17 Anordnung von Sicherungsverwahrung hat der Gesetzgeber — entgegen den Bedenken des Bundesrats (vgl. BT-Drucks. 7/550 S. 469) — die Dauer der Sicherungsverwahrung auf höchstens 10 Jahre begrenzt (§ 67 d Abs. 1 S. 1). Die Regelung betrifft zwar nur ganz wenige Täter (eingehend Horstkotte Prot. VII, 739, 740), zeigt aber eine erhebliche Unsicherheit des Gesetzgebers gegenüber seiner eigenen Konzeption (näher dazu Prot. VII, 739, 1691, 1705; BT-Drucks. 7/1261 S. 8 und 7/2222 S. 2; zum Ganzen Horstkotte LK, Erl. zu § 67 d). dd) Vollzug der Sicherungsverwahrung. Die Frage des Vollzugs betrifft eines der 18 kritischsten Probleme der Sicherungsverwahrung. Der Gesetzgeber hat die Einbeziehung der Sicherungsverwahrung in das vikariierende Prinzip (§ 67) abgelehnt, und zwar insbesondere, weil die Sicherungsverwahrung als ultima ratio keinen gezielten Behandlungszweck verfolgte und weil es ungerecht sei, die „schwersten Verbrechen" von vornherein dem „wesentlich milderen Maßregelvollzug" statt des „strengeren Strafvollzugs" zu unterwerfen (2. Bericht S. 31 m. w. Gründen; vgl. auch Prot. V, 331 ff)· Diese Entscheidung ist auf erhebliche Kritik gestoßen (z. B. Noll ZStW76 713; Schultz JZ 1966 119; Jescheck ZStW 80 83 ; vgl. auch Jescheck Niederschriften Bd. 12, S. 226). Überzeugen könnte sie allenfalls dann, wenn man voraussetzen dürfte, daß im vorhergehen(211)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

den Strafvollzug alles getan würde, um den „Hang" des Täters abzubauen ; aber § 9 i. V. mit § 130 StVollzG enthält für die insoweit besonders wichtige Überweisung in die sozialtherapeutische Anstalt nur eine Kann-Bestimmung und macht die Überweisung überdies völlig von der Zustimmung des Leiters der sozialtherapeutischen Anstalt abhängig (vgl. demgegenüber § 173 AE-StVollzG). Man muß nicht so weit gehen wie Jescheck (aaO), der vom „unsinnigen Ergebnis" spricht, „daß der Verurteilte im Strafvollzug nicht auf die Freiheit, sondern auf die Verwahrung vorbereitet wird". Aber jedenfalls ist die schon vom AE beschworene Gefahr, „daß Täter in die Sicherungsverwahrung gelangen, ohne daß ein letzter eindringlicher Resozialisierungsversuch unternommen wäre" (AT S. 137), nicht gebannt; sie markiert nach wie vor einen höchst wunden Punkt. Das gilt gerade im Zusammenhang mit der Gestaltung des Vollzugs im übrigen. Daß er, obwohl er in erster Linie der Sicherung dient, die sozialisierende Einwirkung auf den Betroffenen nicht außer acht lassen darf, ist vielfach betont worden (ζ. B. Ehrhardt ZStW 76 216, 228; Hellmer Der Gewohnheitsverbrecher S. 294 ff., 386; Lang-Hinrichsen Voraufl. § 42 e Rdn. 15; Dreher Rdn. 21). Auch der 1. Bericht enthält darüber eine Bemerkung (S. 21). Ferner muß der Vollzug, da dem Täter über seine Schuld hinaus ein Sonderopfer zugemutet wird, möglichst großzügig gestaltet werden (Schmidhäuser AT 21/38; Baumann AT § 44 II 4 c; AE-StVollzG § 176 mit Begr. S. 223 ff; vgl. auch Herzog [BMJ], Prot. V, 297 ff; Grünwald ZStW 76 647). In der Praxis war es mit diesen Notwendigkeiten erkennbar jedenfalls früher schlecht bestellt (vgl. z. B. Maurach AT § 68 I 4; H. Mayer ZStW 80 154; Ehrhardt aaO; Hellmer aaO S. 356 ff; Blau GA 1959 141 ; Krebs Mayer-Festschrift S. 629). Gerügt wurde insbesondere, daß pädagogische Bemühungen nur in sehr geringem Umfang erfolgten. Daß aber auch ein auf die gefährlichen Gewohnheitsverbrecher zugeschnittener Resozialisierungsvollzug nötig und wenigstens für einen Teil der Sicherungsverwahrten nicht aussichtslos ist, betonen z. B. Jescheck ZStW 80 83; Sauerland S. 318; Rudolph DRiZ 1956 176. Das StVollzG kommt diesen Forderungen jetzt erheblich entgegen (§§ 129—135). Ob die Gesetzesregelung jedoch ausreicht (erkennbar skeptisch — gegenüber noch dem RegE — Jescheck AT § 75 V 5), kann nur die Praxis zeigen. Zu den dadurch entstehenden Problemen vgl. den folg. Text, insbes. Rdn. 22. 20

III. Verfassungsrechtliche Problematik. Ob das Institut der Sicherungsverwahrung mit dem G G vereinbar ist, war, bezogen freilich vor allem auf die bis zum 1. StrRG geltende Rechtslage, wiederholt Gegenstand der Diskussion (eingehend Stree S. 217 ff u. Wacker Sicherungsverwahrung und Grundgesetz, je m. w. Nachw.). Der wesentliche, insbesondere von H. Mayer (z. B. AT 1953 S. 36, 39, 397; AT 1967 S. 185 u. ö.) erhobene Einwand geht dahin, die Sicherungsverwahrung verstoße gegen die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG), da sie lediglich dem allgemeinen Sicherungsbedürfnis diene und den Verwahrten zum Sicherungsobjekt herabwürdige (ähnlich Hall ZStW 70 41, 54). Die herrschende Meinung ist dem — für das alte wie das neue Recht — nicht gefolgt; vgl. BVerfGE 2 118 = NJW 1953 577; BayVGH JR 1961 395 und aus dem Schrifttum im einzelnen z.B. Stree S. 220; Wacker S. 76 ff; Dreher Rdn. 2; Lackner Anm. 1; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 3 m. w. Nachw. ; Jescheck AT § 75 V 1 ; Bruns ZStW 71 211 ; Sax in Bettermann-Nipperdey-Scheuner Die Grundrechte Bd. III, 2. Halbbd. 1959, S. 964.

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In der Tat ist die Befugnis des Staates verfassungsrechtlich nicht zu bestreiten, gegen den gefährlichen Gewohnheitsverbrecher auch über das Maß seiner Schuld (212)

Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (Hanack)

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hinaus vorzugehen (vgl. schon Rdn. 32 vor § 61): Das Menschenbild des Grundgesetzes ist das des in der Gemeinschaft stehenden und ihr auch verpflichteten Individuums (BVerfGE 12 45, 51; 28 175, 189). Das bedeutet, daß dem einzelnen grundsätzlich dann Verpflichtungen im Interesse der Allgemeinheit auferlegt werden können, wenn eine Güterabwägung überwiegende Interessen der Allgemeinheit deutlich macht. Der Gesetzgeber hat dabei freilich Vorsicht zu üben und darf, jedenfalls bei dem hier anstehenden Problem, ein Überwiegen der Gemeinschaftsinteressen erst annehmen, wenn sich für die Allgemeinheit sehr schwerwiegende Beeinträchtigungen ergeben; entscheidend ist insoweit die Toleranzbreite und die Abstufung der Reaktionen (Lang-Hinrichsen Voraufl. § 42 e Rdn. 11). Mochte es nach der alten gesetzlichen Regelung verfassungsrechtlich problematisch erscheinen, daß eine so große Zahl von Kleinkriminellen von der Sicherungsverwahrung betroffen wurde, so trägt doch jedenfalls die Neufassung des Gesetzes dem Grundsatz Rechnung, daß die Sicherungsverwahrung ultima ratio ist: Sie kommt nur in Fällen von mehrfach wiederholter, schwerer Kriminalität und nur dann in Betracht, wenn die Gefahr weiterer erheblicher Straftaten festgestellt ist; vom Vollzug ist abzusehen, sobald der Zweck eine Unterbringung nicht oder nicht mehr erfordert (§§ 67 c Abs. 1, 67 d Abs. 2). Überdies darf der erstmalige Vollzug nicht länger als 10 Jahre dauern. Es läßt sich auch nicht sagen, daß der Schutz vor dem gefährlichen Gewohnheitsverbrecher nach der Verfassung nur mit Hilfe einer Sicherungsstrafe zulässig sei, wie H. Mayer meint. Ob nicht vielmehr umgekehrt eine solche Sicherungsstrafe sehr viel eher verfassungsrechtlich bedenklich wäre, kann hier offen bleiben. Die kriminalpolitische Entscheidung des Gesetzgebers für den Maßregelcharakter hat — in der heutigen Begrenzung der Maßregel — nach dem derzeitigen Erkenntnisstand so viele gute Gründe für sich, daß sich jedenfalls nicht annehmen läßt, allein die Alternative der Sicherungsstrafe oder auch der unbestimmten Freiheitsstrafe entspreche dem GG. Eine andere Frage ist, ob das geltende Recht die verfassungsrechtliche Pflicht 22 ausschöpft (s. Rdn. 32 vor § 61), den Betroffenen als Mitglied der Gemeinschaft zu achten und die Möglichkeiten seiner Resozialisierung auszunutzen. Daß von einer entsprechenden Ausgestaltung die Verfassungsmäßigkeit abhängt, hat schon LangHinrichsen (Voraufl. Rdn. 18 vor § 42 a; vgl. auch Rdn. 53 vor § 42 a) überzeugend dargetan. Die Frage dürfte derzeit weniger von den — insoweit wohl noch genügenden — Rechtsnormen des StVollzG als von ihrer praktischen Realisierung und ihrer Handhabung im Einzelfall abhängen. Sie versteht sich aber nicht von selbst. Denn die Auffassung von BVerfGE 2 188, 191, daß nur der Verstoß gegen das Verbot der seelischen und körperlichen Mißhandlung (Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG) die Verfassungswidrigkeit begründe, ist, wie schon dargelegt, zu eng und dürfte auch mit der heutigen Rechtsprechung des BVerfG zum Strafvollzug nicht mehr in Einklang zu bringen sein (Rdn. 32 vor § 61). IV. Die Sicherungsverwahrung in der bisherigen Praxis 1. Nach ihrer Einführung im Jahre 1933 erfuhr die Sicherungsverwahrung, entge- 2 3 gen allen vorausgegangenen Schätzungen (näher Weihrauch S. 1 m. Nachw.), in der Praxis einen „riesenhafte" Anwendungsbereich (so Exner ZStW 53 651), an dem auch z. T. schwer erklärbare Schwankungen auffallen. Insgesamt wurden zwischen 1934 und 1945 etwa 15 0 0 0 - 1 6 000 Personen verurteilt (vgl. Hellmer ZStW 73 442 0 davon: 1934:3723; 7955:1464; 1936:946; 1937:765; 1938:964; 1939:1827; (213)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

1940:1916; 7947:1651; 1942(bis 30.9.): 1095 (vgl. Bundesjustizministerium Prot. V, 276; Anm. der Schriftleitung bei Exner DJ 1943 377). Näher zur Handhabung bis 1945 Hellmer Der Gewohnheitsverbrecher. 24

2. Nach 1945 ist die Häufigkeit der Anordnungen erheblich zurückgegangen. In den Jahren zwischen 1958 und 1969 wurde die Maßregel nach der Bundeskriminalstatistik (Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Kultur, Reihe 9 „Rechtspflege") jährlich gegenüber etwas mehr als 200 Personen angeordnet, nämlich 7955:208; 7959:230; 1960:199; 1961:222; 1962:225; 7903:204; 7964:209; 7965:213; 7966:236; 7967:239; 7965:268; 7969:219. Der Anteil der Frauen betrug etwa 5 % (Statistik bei Geisler S. 205). Am 31. 3.1961 betrug die Gesamtzahl der Verwahrten 673, am 31. 3.1966: 899, am 31. 3. 1970: 718. 51 % der am 31. 3.1970 Untergebrachten befanden sich im Alter von 25—45 Jahren, 34,6 % im Alter von 45—65 Jahren, 5,4% waren älter als 65 Jahre. Die durchschnittliche Verwahrungsdauer betrug etwa drei bis vier Jahre (Grünwald ZStW 76 641 m. w. Nachw.; Geisler S. 196).

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Wie gering der Anteil der eigentlich Schwerkriminellen noch nach 1945 war, zeigen vorhandene Untersuchungen. Nach Grünwald (aaO S. 643) betrug in den Jahren zwischen 1958—1961 der Anteil der Diebe unter den Verwahrten 55 % und der der Betrüger 20 %. Nach den Untersuchungen von Schachert (S. 33 ff; referiert bei Grünwald aaO S. 643 ff) an 140 Sicherungsverwahrten, die nach 1945 eingewiesen und bis 1959 entlassen wurden, haben die Betroffenen überwiegend niemals eine schwere Tat begangen. Die Diebe hatten häufig nur Lebens- und Genußmittel, Kleidungsstücke, Fahrräder und Kleinvieh an sich gebracht; im Einzelfall überstieg ihre Beute selten 100.— DM (ähnlich Lemberger S. 70 ff für den Bereich des LG München: 100—300 DM). Während ihrer gesamten kriminellen Betätigung hat die Mehrzahl eine Beute von 1000.— DM nicht erreicht. Ein ähnliches Ergebnis erbringt die Aufschlüsselung nach Deliktsgruppen, die zur Anordnung der Sicherungsverwahrung führten, für die im Jahr 1956 Untergebrachten durch Geisler (S. 209): Während nur 1,8 % der Straftaten Gefahren für Leib und Leben mit sich brachten und 5,3 % Raub, räuberischen Diebstahl, Erpressung sowie schweren Diebstahl betrafen, handelte es sich bei 20,1 % der Straftaten um Hehlerei und Betrug sowie bei 49,1 % um Rückfalldiebstähle. Sexualdelikte fanden sich bei den Verwahrten zwar recht häufig (Geisler S. 209: 23,1 %; Grünwald aaO S. 644: 15 %), doch liegt ihr Anteil bei wesentlich weniger als 5 %, wenn man von der Hauptdeliktsrichtung des Täters ausgeht (Grünwald aaO; vgl. auch Hellmer ZStW73 453 m. w. Nachw.). Göppinger (S. 305) meint im Hinblick auf die Zahlen zwischen 1933 und 1969 nicht zu Unrecht, es ließen sich wohl Gründe für die verschiedenen Größenordnungen anführen, schwerlich zu widerlegen sei jedoch „die Vermutung, daß sowohl die empirische wie auch juristisch-dogmatische Bestimmung eines gefährlichen Gewohnheitsverbrechers als Kandidat für die Sicherungsverwahrung kaum abgesichert" sei.

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3. Die Entwicklung seit dem 1. StrRG zeigt, daß die Erwartung des Gesetzgebers, die Anordnung der Sicherungsverwahrung werde erheblich zurückgehen, bislang nicht getrogen hat. Nach der Bundeskriminalstatistik ergibt sich für die Jahre seit 1972, in denen die Reform voll zum Tragen gekommen sein dürfte, folgendes Bild: (214)

Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (Hanack)

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Insgesamt verwahrt wurden (Stichtag jeweils 31. 3.): 7972:382 Personen, darunter 3 Frauen; 1973:350 Personen, darunter 1 Nichtvorbestrafter (der einzige Fall überhaupt) und zwei Frauen; 1974:376, darunter 4 Frauen; 1975:332, darunter 4 Frauen; 1976:361, darunter 3 Frauen. Die Mehrzahl der Täter wies zwischen 5 und 10 Vorstrafen, ein erheblicher Teil aber auch mehr als 10 Vorstrafen auf (ζ. B. 1972:112; 7973:116; 1974:133). Zur Sicherungsverwahrung verurteilt wurden: 1972:114 Täter (darunter 2 Frauen und 9 wiederholt); 1973: 84 (darunter 2 Frauen und 7 wiederholt); 1974: 69 (darunter 4 wiederholt). Leider enthält die Statistik keine brauchbaren Zahlen über die zugrunde liegen- 27 den Delikte. So sollen ζ. B. 1972 insgesamt 14 Personen wegen einer Anlaßtat nach §316 eingewiesen worden sein (Statistik S. 64, Straftatenverzeichnis Nr. 2051), was schon nach der in § 66 vorausgesetzten Schwere der Anlaßtat nicht stimmen kann ; man wird der Kriminalstatistik allenfalls entnehmen dürfen, daß Delikte im Straßenverkehr bei der Sicherungsverwahrung offenbar — irgendwie — eine beträchtliche Rolle spielen (es wurden insgesamt angegeben für 1972:31, für 1973:23 und für 1974: 21 Fälle). Für Diebstahl und Unterschlagung wurden ausgewiesen 1972: 36 Fälle, 1973:30 und 1974:20. V. Aufbau und Schwerpunkte des § 66. Die Anordnung der Sicherungsverwah- 28 rung ist von bestimmten formellen und materiellen Voraussetzungen abhängig. Die formellen Voraussetzungen enthalten Barrieren, vor deren Überschreitung die Sicherungsverwahrung nach dem Gesetz nicht in Betracht kommt. Diese Voraussetzungen sind in erster Linie in § 66 Abs. 1 i. V. mit Abs. 3 umschrieben (Vorstrafen, Vorverbüßungen, Gewicht und Zeitpunkt der Anlaßtat). An ihre Stelle können jedoch auch die andersartigen Voraussetzungen des Absatz 2 treten (lediglich schwere Anlaßtaten). Dabei ist Absatz 2 gegenüber Absatz 1 subsidiär (näher Rdn. 50 0· Die materiellen Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung in Absatz 1 Nr. 3 sind für die Fälle des Absatz 1 und des Absatz 2 gleich. Sie enthalten den eigentlichen Schwerpunkt und die eigentliche Problematik: die Entscheidung, ob gegen den Täter, der die Barriere der formellen Voraussetzungen überschritten hat, wegen seines Hangs zu weiteren erheblichen Straftaten Sicherungsverwahrung anzuordnen ist. Bejaht das Gericht die materiellen Voraussetzungen, ist es zur Anordnung der Sicherungsverwahrung verpflichtet, wenn die formellen Voraussetzungen des Absatz 1 vorliegen. Die Anordnung unterliegt hingegen — trotz festgestellter Gefährlichkeit — seinem pflichtgemäßen Ermessen, wenn nur die formellen Voraussetzungen des Absatz 2 vorliegen (näher Rdn. 169 ff). Für die Beurteilung der Gefährlichkeit ist der Zustand des Täters im Zeitpunkt der tatrichterlichen Entscheidung maßgebend (näher Rdn. 150 f)- Ob die angeordnete Sicherungsverwahrung auch vollstreckt wird, ist vor Ende des Strafvollzugs — der der Verwahrung zwingend vorausgeht — gemäß § 67 c Abs. 1 in einer besonderen Entscheidung durch die Strafvollstreckungskammer zu prüfen. VI. Die formellen Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung nach Absatz 1 1. Vorverurteilungen a) Allgemeines. § 66 Abs. 1 Nr. 1 setzt voraus, daß der Täter vor der jetzt abzuur- 29 teilenden Tat mindestens zweimal wegen vorsätzlicher Straftaten jeweils zu einer (215)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist. Als Taten kommen auch Vorbereitungshandlungen, Versuch und Teilnahme in Betracht, sofern sie unter Strafe gestellt sind. Eine fortgesetzte Handlung gilt nach allgemeinen Grundsätzen als eine Tat. Freiheitsstrafe ist auch die Jugendstrafe gemäß § 17 ff J G G (BGHSt. 12 129; BayObLGSt. 1960 271, 272; Dreher Rdn. 5; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 12; 1. Bericht S. 19; Prot. V, 2300; zweifelnd BGHSt. 21 11), nicht jedoch die an Stelle einer Geldstrafe tretende Ersatzfreiheitsstrafe (RG DJ 1935 1769; Dreher Rdn. 5; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 12). 30

Die Vorverurteilungen müssen rechtskräftig sein. Sie müssen ferner vor der jetzt abzuurteilenden Anlaßtat begangen und auch vor deren Begehung abgeurteilt worden sein. Die zur zweiten Vorverurteilung führende Tat muß überdies, obwohl dies im Gesetz nicht ausdrücklich gesagt ist, nach Rechtskraft der ersten Vorverurteilung begangen sein (1. Bericht S. 19; Horstkotte JZ 1970 152, 155; Lackner Anm. 3 a b b ; Maurach AT § 68 I D l a ; Preisendanz Anm. II 2; Lang-Hinrichsen Vorauf!. § 42 e Rdn. 20; a. A. Dreher Rdn. 5; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 7; Blei AT § 115 IV 1; Horn SK Rdn. 18). Denn die für eine Anordnung der Sicherungsverwahrung notwendige Feststellung der kriminellen Intensität des Täters verlangt, daß er mindestens zweimal die Warnfunktion eines jeweils rechtskräftigen Strafurteils mißachtet hat; die gegenteilige Interpretation bei § 48 (BGHSt. 26 387) kann insoweit hier nicht gelten. Die Voraussetzungen des § 66 Abs. 1 Nr. 1 sind nicht gegeben, wenn zwar zwei Vorverurteilungen vorliegen, diese aber nachträglich gemäß § 55 oder § 460 StPO auf eine Gesamtstrafe zurückgeführt wurden (allg. M. ; vgl. näher z. B. RGSt. 68 149, 151).

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b) Die Gesamtstrafe insbesondere. Gemäß § 66 Abs. 3 i. V. mit § 48 Abs. 3 S. 1 gilt die Verurteilung zu einer Gesamtstrafe als eine einzige Verurteilung. Aber auch insoweit ist sie, weil die zugrunde liegenden Taten Symptomtaten sein müssen (Rdn. 162), dann nicht ausreichend, wenn sich unter den Einzelstrafen mit Symptomcharakter keine mit Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr befindet (BGHSt. 24 243; 24 345).

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Sehr streitig ist, ob es genügt, daß die Gesamtstrafe ein Jahr erreicht, auch wenn die in ihr enthaltenen — symptomatischen — Einzelstrafen von geringer Höhe sind (so Dreher Rdn. 5 und MDR 1972 826; Tröndle GA 1972 307; offen gelassen in BGHSt. 24 243), oder ob in der Gesamtstrafe mindestens eine Einzelstrafe von einem Jahr enthalten sein muß (so BGH NJW 1972 1869; Prot. V, 292; Horstkotte aaO.; Beyer NJW 1971 1597; Koffka JR 1971 428; Willms LM §66 Nr. 5; Blei JA 1972 310; Lackner Anm. 3 b aa; Horn SK Rdn. 10; Sch. Schröder-Stree Rdn. 10; Lang-Hinrichsen Voraufl. § 42 e Rdn. 21 ; Jescheck AT § 75 V 2 a). Zu folgen ist der letzteren Meinung, die heute wohl als herrschende gelten kann: Aus dem Unterschied des Wortlauts von Absatz 1 und Absatz 2 läßt sich die gegenteilige Ansicht nicht ableiten. Auch der Gebrauch des Wortes „jeweils" in § 66 Abs. 1 Nr. 1 erlaubt keinen eindeutigen Schluß, da es sich auf jede der beiden Vorverurteilungen wie auch auf Vorverurteilungen jeweils wegen einer bestimmten Tat beziehen kann (Lang-Hinrichsen aaO). Entscheidend ist darum, daß es mit dem Sinn der Neuregelung durch das 1. StrRG nicht zu vereinbaren wäre, wenn man über die Gesamtstrafenbildung zur Verwertung leichterer Delikte als Voraussetzung der Sicherungsverwahrung kommen würde. Denn nach dem Sinn der Neuregelung sollen nur schwerwiegende Taten ein ausreichendes symptomatisches Gewicht für die Anord(216)

Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (Hanack)

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nung der Sicherungsverwahrung haben (so Prot. V, 292; vgl. auch BGHSt. 24 243, 245; 24 345, 347). Die Gesamtstrafe selbst aber sagt über die Schwere der ihr zugrunde liegenden Taten häufig nichts. Daß — dem entsprechend — eine einheitliche Jugenstrafe nach §31 JGG nur ausreicht, wenn sie erkennen läßt, daß mindestens hinsichtlich einer Einzeltat eine Strafe von mindestens einem Jahr verwirkt gewesen wäre, legt BGHSt. 26 152 überzeugend dar (zust. Blei JA 1975 660; Lackner Anm. 3 b aa). c) Zur Bewährung erlassene Strafe. Eine zur Bewährung ausgesetzte und nach 33 erfolgreicher Bewährung erlassene Strafe ist als Vorverurteilung zu berücksichtigen, da Tat und Vorverurteilung ihre indizielle Bedeutung trotz der Bewährung behalten (Dreher Rdn. 5; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 11; Lang-Hinrichsen Vorauf!. § 42 e Rdn. 22). Bei Beurteilung der Gefährlichkeit des Täters soll nach dem Gesetz lediglich die Frist von fünf Jahren gemäß §§ 66 Abs. 3, 48 Abs. 4 als Gegenindiz berücksichtigt werden, nicht eine u. U. kürzere Bewährungszeit. d) Taten, die außerhalb des räumlichen Geltungsbereichs des StGB (also der Bun- 34 desrepublik) rechtskräftig abgeurteilt worden sind, stehen nach § 66 Abs. 3 S. 2 einer innerhalb dieses Bereichs abgeurteilten Tat gleich, vorausgesetzt, daß sie nach deutschem Strafrecht vorsätzliche Straftaten wären. Sie können also, abweichend von § 48, die formellen Voraussetzungen des § 66 erfüllen. Allerdings hat das entscheidende Gericht zu prüfen, ob das ausländische Urteil in einem rechtsstaatlichen Grundsätzen genügenden Verfahren zustande gekommen ist. 2. Freiheitsentzug aufgrund der Vorverurteilungen. Während bis zum 1. StrRG 35 eine Verbüßung der Strafen oder ein Vollzug von Maßregeln aufgrund der Vorverurteilungen als formelle Voraussetzung für die Anordnung der Sicherungsverwahrung nicht gefordert wurde, verlangt das Gesetz nunmehr in Absatz 1 Nr. 2, daß der Täter wegen einer oder mehrerer der in § 66 Abs. 1 Nr. 1 bezeichneten Taten vor der neuen Tat für die Zeit von mindestens zwei Jahren Freiheitsstrafe verbüßt oder sich im Vollzug einer freiheitsentziehenden Maßregel befunden hat. Nach Meinung des Gesetzgebers kann — abgesehen vom Ausnahmefall des § 66 Abs. 2 — erst nach einem solchen Vollzug mit der erforderlichen Sicherheit gesagt werden, daß die Sicherungsverwahrung als letztes Mittel der Kriminalpolitik zum Schutze der Allgemeinheit vor dem gefährlichen Täter unumgänglich ist (1. Bericht S. 20). Dabei kommt es nicht darauf an, ob diese zwei Jahre auf eine Strafverbüßung 36 oder auf den Vollzug einer Maßregel entfallen bzw. wie sie sich auf beide verteilen. Es genügt, daß an dem Täter aufgrund der Vorverurteilungen Strafen oder freiheitsentziehende Maßregeln vollzogen worden sind, die in der Summe der Vollzugszeiten zwei Jahre erreichen. Das gilt auch dann, wenn diese Vollzugsdauer auf mehr als zwei Vorverurteilungen zurückgeht. Die Vollzugsdauer kann also durch Addition des Vollzugs auch von mehr als zwei Strafen oder von Strafen und Maßregeln erreicht werden (1. Bericht S. 20; Dreher Rdn. 6; Preisendanz Anm. II 3; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 14; Lang-Hinrichsen Vorauf! § 42 e Rdn. 23; Lenckner S. 202; wohl auch Lackner Anm. 3 c). Als Strafverbüßung ist gemäß § 66 Abs. 3 i. V. mit § 48 Abs. 3 S. 2 auch die 37 Anrechnung der Untersuchungshaft oder einer anderen Freiheitsentziehung (§ 51) auf die Freiheitsstrafe anzusehen. Mit Recht bemerken jedoch Sch.-Schröder-Stree (Rdn. 15 und §48 Rdn. 14; zustimmend Lang-Hinrichsen aaO Rdn. 24), daß dies freilich dann nicht gelten kann, wenn zwar die Untersuchungshaft angerechnet, im (217)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

übrigen aber die Strafe zur Bewährung ausgesetzt und später erlassen worden ist, da dann eine „Verbüßung" trotz des § 51 nicht erfolgt ist und sich andernfalls die dem Täter gewährte Wohltat der Anrechnung trotz Bewährung für ihn nachteilig auswirken würde. Die gegenteilige Auffassung von Koffka zur Rückfallschärfung des § 48 (LK 9 § 17 Rdn. 11), daß dies zu bedenklichen Differenzierungen führe, da bei Aburteilung der neuen Tat die Bewährungsfrist ja noch nicht abgelaufen zu sein braucht, das Gericht also gar nicht wissen könne, ob sich der Täter bewährt hat, ist jedenfalls für die Sicherungsverwahrung nicht überzeugend, weil hier symptomatische Taten (Rdn. 162) verlangt werden; liegt eine solche vor, zeigt dies, daß sich der Täter nicht bewährt hat und somit eine verschiedene Behandlung gegenüber demjenigen, dessen Strafe wegen Bewährung erlassen wurde, gerechtfertigt ist. 3. Nichtberücksichtigung von Vorverurteilungen und Vortaten 38

a) Rückfall Verjährung. Für § 66 Abs. 1 — wie für Absatz 2 — gilt gemäß § 66 Abs. 3 i. V. mit § 48 Abs. 4, daß eine frühere Tat außer Betracht bleibt, wenn zwischen ihr und der folgenden Tat mehr als fünf Jahre verstrichen sind. Es kommt demnach auf die Zeitpunkte der Taten, nicht auf die der Verurteilung an, so daß also insbesondere auch nicht erforderlich ist, daß die jeweilige Verurteilung noch innerhalb der Fünfjahresfrist erfolgt (Sch.-Schröder-Stree Rdn. 60; vgl. BGHSt. 25 106 mit Anm. Kofjka JR 1973 250; h. M.) In die Frist ist der Begehungstag der vorausgehenden Tat nicht einzurechnen (RG JW 1935 521 ; Dreher § 48 Rdn. 7). Zur Fristberechnung im Falle einer nachträglich aus mehreren Vorverurteilungen gebildeten Gesamtstrafe vgl. BGHSt. 25 106. — Zu weiteren Einzelheiten s. G. Hirsch LK, Erl. zu § 48.

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In die Frist nicht eingerechnet wird die Zeit, in welcher der Täter auf behördliche Anordnung in einer Anstalt verwahrt worden ist (§ 48 Abs. 4 S. 2; dazu im einzelnen G. Hirsch aaO). Als Verwahrung in diesem Sinne sind ζ. B. auch die Untersuchungshaft und die Unterbringung in einer Fürsorgeerziehungsanstalt anzusehen (RG JW 1935 523; vgl. auch BT-Drucks. VI/3521 S. 25), da in dieser Zeit eine Bewährungsmöglichkeit nicht bestanden hat (vgl. aber Rdn. 40). Auf die materielle Rechtmäßigkeit der Verwahrung kommt es grundsätzlich nicht an (BGH NJW 1969 1678). Die Unterbringung in einem Konzentrationslager war jedoch keine Verwahrung in dem hier relevanten Sinne (näher BGHSt. 7 160 und BGH LM Nr. 12 zu § 20 a a. F. unter Aufgabe früherer Rspr.). 40 Zweifelhaft ist, ob in die fünfjährige Frist auch diejenige Zeit nicht einzurechnen ist, in der sich der Betroffene in Untersuchungshaft befand, wenn er später freigesprochen bzw. außer Verfolgung gesetzt oder das Verfahren gegen ihn eingestellt wurde. Zwar erfolgte in diesem Falle die Freiheitsentziehung rechtmäßig, jedenfalls wenn die Voraussetzungen der §§ 112 ff StPO eingehalten wurden. Zu beachten ist jedoch, daß der Gesetzgeber, und zwar in umfassenderer Weise als früher, im StrEG unter dem Gesichtspunkt der Aufopferung für erlittene Haft Entschädigung gewährt. Diesem Standpunkt entspricht es, daß dem Betroffenen auch im übrigen aus dem Vollzug der Untersuchungshaft jedenfalls dann kein Nachteil erwächst, wenn ihm eine solche Entschädigung zugesprochen wird. Es sollte ihm mithin nicht angelastet werden dürfen, daß er während des Vollzugs der Untersuchungshaft nicht in gleichem Maße Gelegenheit hatte, sich zu bewähren wie bei einem Leben in Freiheit, da er die Tatsache seiner Freiheitsbeschränkung nicht durch eigenes Verhalten herbeigeführt hat, sondern sie lediglich zur Sicherung eines Strafverfahrens hinnehmen mußte (Lang-Hinrichsen Vorauf!. § 42 e Rdn. 36). (218)

Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (Hanack)

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b) Tilgung im Bundeszentralregister. Eine Vortat kann zur Feststellung der Vor- 41 aussetzungen des § 66 Abs. 1 nicht herangezogen werden, wenn die Eintragung einer ihretwegen erfolgten Verurteilung gemäß §§ 43 ff BZRG getilgt ist und kein Ausnahmefall nach § 50 BZRG vorliegt. Dies ergibt sich aus dem in § 49 Abs. 1 BZRG festgelegten Verwertungsverbot (vgl. auch BGHSt. 25 100). Über Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Tilgung hat der über die Voraussetzungen des § 66 urteilende Strafrichter nicht zu befinden (BGHSt. 20 205, 206 f). Der Tilgung ist die Tilgungsreife ausdrücklich gleichgesetzt (§§43 Abs. 2, 49 Abs. 1 BZRG; dazu schon BGHSt. 7 58, 60). c) Verwertung als Beweisanzeichen? Ob oder wie weit auszuscheidende Vortaten 42 (Rdn. 38 ff) als Beweisanzeichen für die Hangtätereigenschaft herangezogen werden dürfen, ist eine ganz andere Frage. Richtigerweise wird man hier wie folgt zu unterscheiden haben. Soweit es um die Rückfallverjährung geht, ist die Verwertung als Beweisanzeichen nicht ausgeschlossen (Dreher Rdn. 17; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 62; LangHinrichsen Vorauf!. § 42 e Rdn. 38; vgl. auch RGSt. 69 11). Denn der Umstand, daß die rückfallverjährten Taten für die formellen Voraussetzungen des § 66 ausscheiden, bedeutet nicht, daß sie auch für die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Gefährlichkeit außer acht bleiben müßten. Anders hingegen ist die Tilgung bzw. die Tilgungsreife nach dem BZRG zu behandeln, wie immer man darüber rechtspolitisch denken mag (zusammenfassend Götz G A 1973 496, 497): Das Gesetz verbietet in §49 Abs. 1 ganz eindeutig jede Verwertung der Tat und der Verurteilung zum „Nachteil" des Betroffenen, ja jedes Vorhalten, wozu auch ein Vorhalten in der Hauptverhandlung gehört (Götz Bundeszentralregistergesetz 2 , 1977 §49 Rdn. 11 ff). Eine Verwertung zum Nachteil des Betroffenen aber liegt ohne Zweifel auch dann vor, wenn die Tat als Beweisanzeichen für die Notwendigkeit einer Maßregel der Besserung und Sicherung zu seinen Ungunsten herangezogen wird (BGHSt. 25 100,104). Etwas anderes gilt nur in den Ausnahmefällen des § 50 BZRG, insbesondere soweit es um die Beurteilung des Geisteszustandes geht (§ 50 Abs. 1 Nr. 2). Diese Regelung ist durch das Gesetz zur Änderung des BZRG v. 25. 5. 1976 mittelbar bestätigt worden. 4. Die auslösende Tat (Anlaßtat) a) Allgemeines. Wegen der zur Aburteilung stehenden vorsätzlichen Tat muß der 4 3 Täter zu einer zeitigen Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt werden (§ 66 Abs. 1). Auch dies bedeutet eine Verschärfung gegenüber dem früheren Recht, das für die neue Tat lediglich die Verwirkung „einer Freiheitsstrafe" verlangte. — Wird die auslösende Tat mit lebenslänglicher Freiheitsstrafe geahndet, kommt die Sicherungsverwahrung nicht in Betracht, da § 66 Abs. 1 ausdrücklich von zeitiger Freiheitsstrafe spricht. Strafbarkeit wegen Versuchs oder Teilnahme (BGH NJW 1956 1068; RGSt. 68 169; RGSt. 71 15) reicht auch hier ebenso wie strafbare Vorbereitung. Die Anlaßtat muß nach den Taten, die den Vorverurteilungen zugrunde liegen (Absatz 1 Nr. 1), sowie nach den in Absatz 1 Nr. 2 genannten Vorverbüßungen begangen sein. Sie muß ferner, obwohl das im Gesetz nicht ganz deutlich oder doch nicht ganz vollständig gesagt ist, auch nach Rechtskraft der Vorverurteilungen erfolgt sein (Horn SK Rdn. 6; Lackner Anm. 3 a; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 16; Lang-Hinrichsen Vorauf!. § 42 e Rdn. 20; Horstkotte JZ 1970 152, 155; unklar Dre-

am

§66

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

her Rdn. 5). Es folgt dies aus einem Vergleich mit § 48 Abs. 1 („nachdem"), vor allem aber aus der spezifischen Warnfunktion der Vorverurteilungen (Lackner aaO). 44

b) Gesamtstrafe. Im Falle einer Gesamtstrafe gilt für die Anlaßtat der Grundsatz, daß nicht die Höhe der Gesamtstrafe entscheidet, sondern wenigstens eine der Einzelstrafen, aus denen die Gesamtstrafe zu bilden ist, die Höhe von mindestens zwei Jahren Freiheitsstrafe erreichen muß (BGH NJW 1972 834; Dreher Rdn. 4; Lackner Anm. 3 a; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 16; Horstkotte aaO; Beyer NJW 1971 1597, 1598; Lenckner S. 202; Tröndle G A 1973 307). Dies ergibt sich aus den unterschiedlichen Formulierungen in § 66 Abs. 1 und Abs. 2 und war beabsichtigt (1. Bericht S. 20). Eine fortgesetzte Handlung ist wie sonst als eine Tat anzusehen (1. Bericht S. 19).

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c) Symptomatischer Charakter. Die abzuurteilende Tat muß symptomatisch für die verbrecherische Neigung des Täters, also für seinen Hang und die von ihm ausgehende Gefährlichkeit sein (Sch.-Schröder-Stree Rdn. 30; vgl. auch BGH GA 1969 25, 26). Hierzu reicht auch ein vorsätzlich begangenes Vergehen gemäß § 330 a, da derjenige, der im Vollrausch wiederholt strafbare Handlungen begangen hat, im Zeitpunkt des Alkoholgenusses für die Allgemeinheit auch künftig gefährlich sein kann (RGSt. 73 177 m. Anm. v. Weber DR 1939 1152; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 17; vgl. auch BGH GA 1963 146); näher zum ganzen Rdn. 74.

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d) Vollendung des 25. Lebensjahres. Mit Inkrafttreten der Regelung des § 65 über die sozialtherapeutische Anstalt (s. dazu § 65 „Entstehungsgeschichte") ist Voraussetzung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung, daß die auslösende Tat nach Vollendung des 25. Lebensjahres begangen wurde. Für jüngere Erwachsene ist dann nur die Unterbringung in der sozialtherapeutischen Anstalt (§ 65 Abs. 2) möglich. Das Gesetz zieht damit, entsprechend schon dem Vorschlag des § 85 E 1962 (vgl. auch § 70 AE-AT), die Konsequenzen aus der Tatsache, daß die Sicherungsverwahrung für jüngere Erwachsene regelmäßig wenig paßt und von den Gerichten auch selten angeordnet worden ist (näher 1. Bericht S. 19; 2. Bericht S. 30; vgl. aber auch Rdn. 48). Bis zum Inkrafttreten des § 65 ist für die Anwendung des § 66 lediglich vorausgesetzt, daß die auslösende Tat nach dem 21. Lebensjahr begangen ist (§ 106 Abs. 2 J G G ; Art. 326 Abs. 5 Nr. 5 EGStGB).

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Vollendung des 25. Lebensjahres liegt mit dem 25. Geburtstag vor, wobei der Geburtstag selbst mitgerechnet wird (§ 187 Abs. 2 BGB). Begangen ist die Tat nach § 8 zu der Zeit, „zu welcher der Täter oder Teilnehmer gehandelt hat oder im Falle des Unterlassens hätte handeln müssen. Wann der Erfolg eintritt, ist nicht maßgebend". Daß § 8 auch hier gilt, ergibt sich schon daraus, daß er eine allgemeine Begriffsbestimmung der Tatzeit enthält, und entspricht im übrigen der Sache, weil es in derartigen — sachlich stets problematischen — Grenzfällen richtig ist, nicht auf den Erfolgseintritt, sondern auf das deliktische Verhalten selbst abzustellen. — Zu den Einzelheiten näher Tröndle LK, Erl. zu § 8.

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Der BGH hat übrigens trotz der gesetzgeberischen Grundvorstellungen (Rdn. 46) gerade während der Übergangszeit bis zum Inkrafttreten des § 65 seine frühere Zurückhaltung gegenüber der Sicherungsverwahrung bei jüngeren Erwachsenen (vgl. noch BGH NJW 1975 1666) unter dem Einfluß des § 67 c Abs. 1 ersichtlich etwas gelockert (BGH NJW 1976 300 = JR 1976 422 m. Anm. v. Bubnoff; BGH NJW 1976 301; jeweils für Fälle des §66 Abs. 2). Das ist nicht unproblematisch (näher v. Bubnoff aaO), zumal sich, entgegen BGH NJW 1976 300 (m. w. Nachw.) (220)

Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (Hanack)

§66

die Möglichkeiten der Prognose bei Jungtätern wohl kaum verbessert haben (unten Rdn. 101 a. E.). — Man wird verlangen müssen, daß Täter, die aufgrund einer vor dem 25. Lebensjahr begangenen Anlaßtat zur Sicherungsverwahrung verurteilt worden sind, bei entsprechender Eignung wenigstens vollzugsintern (§ 9 StVollzG) durch die Vollzugsbehörde in eine sozialtherapeutische Anstalt verlegt werden (so auch v. Bubnoff aaO S. 424). Mit Inkrafttreten des § 65 hat eine solche Überweisung regelmäßig auf dem Weg über § 67 a Abs. 2 zu erfolgen (vgl. BGH NJW 1976 300, 301; s. auch unten Rdn. 185). VII. Die formellen Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung nach Absatz 2 1. Allgemeines zu Absatz 2. § 66 Abs. 2 setzt, anders als Absatz 1, nicht voraus, 49 daß der Täter schon früher zu Strafe verurteilt worden ist und Freiheitsentzug erlitten hat. Das ist, unbeschadet der strengen Formalvoraussetzungen des Absatz 2, außerordentlich problematisch, zumal die Abgrenzung zwischen selbständigen Taten i. S. des Absatz 2 und nicht-selbständigen oft sehr schmal und zweifelhaft ist. Der Gesetzgeber selbst hat daher bei der Strafrechtsreform den Ausnahme- 50 Charakter der Vorschrift betont (1. Bericht S. 20 f; ebenso BGH bei Holtz MDR 1976 986 und BGH NJW 1976 300). Ihre Anwendung liegt, anders als bei Absatz 1, im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts, das schon im früheren Recht von der Praxis sehr zurückhaltend ausgeübt worden ist (Lang-Hinrichsen Vorauf!. § 42 e Rdn. 87). Dem Ausnahmecharakter entspricht die Subsidiarität des Absatz 2: Das Gericht 51 hat zunächst stets zu prüfen, ob die Voraussetzungen des Absatz 1 vorliegen (RG DR 1940 282; BGH 4 StR 745/52 v. 16. 4. 1953; BGH 1 StR 613/74 v. 2. 7. 1974). Es darf diese Frage auch im Urteil nicht offen lassen, sondern muß angeben, welcher Absatz angewendet wird (Sch.-Schröder-Stree Rdn. 47; Lang-Hinrichsen Vorauf!. § 42 e Rdn. 30; vgl. auch Dreher Rdn. 7; Lackner Anm. 2; Maurach AT § 68 I D 2 b). Gedacht ist bei § 66 Abs. 2 vor allem an gefährliche Serientäter, denen es bisher 52 gelungen ist, sich der Verurteilung (§ 66 Abs. 1 Nr. 1) oder der Verbüßung (§ 66 Abs. 1 Nr. 2) zu entziehen, bei denen aber die Hangtätereigenschaften gegeben sind. Hier kann — jedenfalls in krassen Fällen — für die Allgemeinheit ein echtes Schutzbedürfnis bestehen (1. Bericht S. 21 ; vgl. auch BGH NJW 1976 300; BGH bei Holtz MDR 1976 986; Sch.-Schröder-Stree, Dreher und Maurach, jeweils aaO; Horstkotte JZ 1970 152,155). 2. Drei vorsätzliche Straftaten. (Mindestens) drei vorsätzliche Straftaten muß der 53 Täter begangen haben, wobei die Art der Begehung — Täterschaft, Teilnahme, Versuch, strafbare Vorbereitung — wiederum — gleichgültig ist (RGSt. 68 169; RGSt. 71 15; allgemeine Meinung). Doch darf auch hier die Rückfallverjährung (§ 66 Abs. 3; s. Rdn. 38 ff) bzw. die Tilgung oder Tilgungsreife nach dem BZRG (dazu Rdn. 41 f) noch nicht eingetreten sein. Über die Berücksichtigung von Auslandstaten s. Rdn. 34. Mit dem Inkrafttreten des § 65 (dazu § 65 „Entstehungsgeschichte") muß mindestens eine der Taten nach Vollendung des 25. Lebensjahres begangen sein. Das Gesetz nimmt damit auch hier Rücksicht auf die Besonderheiten jüngerer Hangtäter, für die regelmäßig die Unterbringung in der sozialtherapeutischen Anstalt mit ihren speziellen Behandlungsmöglichkeiten angezeigt erscheint; näher oben (221)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

Rdn. 46 ff. Bis zum Inkrafttreten des § 65 ist mit Rücksicht auf § 106 Abs. 2 JGG zu verlangen, daß mindestens eine der Taten im Erwachsenenalter begangen wurde (BGH NJW 1976 301 ; Lackner Anm. 4 a). 54

Gemeint sind in Absatz 2 drei rechtlich selbständige Taten, d. h. Taten, die einer selbständigen Aburteilung fähig sind (a. Α. Νagier ZAkDR 1939 346 für § 20 a a. F.). Dies ergibt sich aus Wortlaut, Entstehungsgeschichte und kriminalpolitischem Zweck (näher BGHSt. 1 313, 316 m. Nachw.; RGSt. 75 381 m. Nachw.; heute ganz herrschende Meinung, vgl. z.B. Dreher Rdn. 8; Lackner aaO; Sch.Schröder-Stree Rdn. 50).

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Daher reichen Einzelakte einer fortgesetzten Handlung nicht aus; sie sind vielmehr nur als eine Straftat anzusehen. Dies hat BGHSt. 1313 mit zust. Anm. Eb. Schmidt JZ 1951 756 noch einmal überzeugend dargelegt (gegen RGSt. 77 24, 98 und OLG Düsseldorf NJW 1950 614, aber wie RGSt. 68 297, RGSt. 72 164, 169 und OLG Kassel SJZ 1949 570). Es entspricht heute auch der weit überwiegenden Lehrmeinung (ζ. B. Dreher, Sch.-Schröder-Stree und Lackner, jeweils aaO; Horn SK Rdn. 26; Maurach AT § 68 I D 2 b; a. A. Kohlrausch-Lange § 20 a Anm. IV 1 b).

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Hingegen hindert die gewerbsmäßige Begehung nicht die rechtliche Selbständigkeit (BGH NJW 1953 955; RGSt. 72 164, 165; Dreher Rdn. 8; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 50; Lang-Hinrichsen Voraufl. § 42 e Rdn. 31; Maurach aaO). Die früher von der Rechtsprechung vertretene Auffassung, daß mehrere gewerbsmäßig begangene Taten unter bestimmten Voraussetzungen als sog. Sammelstraftat eine rechtliche Einheit bilden, bei der nur einmal Strafe verwirkt ist, ist seit RGSt. 72 164 aufgegeben; sie wird auch vom BGH nicht vertreten (BGHSt. 1 41,42; 18 376, 379) und im Schrifttum kaum noch befürwortet; näher Vogler LK vor § 52. — Freilich ist gerade bei solchen Sammelstraftaten sehr sorgfältig darauf zu achten, ob sie materiell die Anordnung der Sicherungsverwahrung rechtfertigen, weil sie nicht selten auf einer einmaligen kriminellen Entscheidung und dem mit ihr verbundenen Abgleiten in die Kriminalität beruhen und damit die Annahme einer Hangtäterschaft nicht ohne weiteres erlauben.

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Ähnliches gilt für sonstige Grenzfälle zur Idealkonkurrenz, so etwa wenn mehrere Handlungen gegenüber verschiedenen Opfern (BGHSt. 18 376) auf einen einheitlichen Vorsatz zurückgehen.

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Rasch aufeinanderfolgende Taten, die aufgrund eines einheitlichen Entschlusses begangen wurden, können die formalen Voraussetzungen des Absatz 2 ebenfalls erfüllen (BGHSt. 3 169 m. Anm. SchaßeutleiZ 1953 45; Dreher Rdn. 8; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 50). Die tatsächliche Würdigung, ob die Taten auf einem eingewurzelten Hang beruhen, bedarf dann jedoch ganz besonderer Sorgfalt (BGH aaO). Im Falle BGHSt. 3 169 handelte es sich um mehrere unmittelbar zusammenhängende Morde und Mordversuche, begangen im Zustand verminderter Schuldfähigkeit aufgrund von Alkoholgenuß und Affekt. Die Ansicht des BGH, daß sich aus der Art der Taten im Zusammenhang mit sonstigen Vorfällen aus dem bisherigen Leben des Täters seine Eigenschaft als Hangtäter ergäbe, hinterläßt, zumal auch der Gutachter wenig überzeugte, schon nach dem heutigen Wissen über das Wesen der Affekttat erhebliche Zweifel.

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3. Verwirkte Freiheitsstrafen von mindestens einem Jahr. Der Täter muß für jede der drei vorsätzlichen Straftaten jeweils Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verwirkt haben (und außerdem wegen einer oder mehrerer dieser Taten zu mindestens dreijähriger Freiheitsstrafe verurteilt werden). (222)

Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (Hanack)

§66

Vorverurteilung und Vorverbüßung sind dabei im Gegensatz zu § 66 Abs. 1 nicht erforderlich; dies erklärt sich aus dem Zweck der Vorschrift (Rdn. 52). Ihre Anwendbarkeit wird durch Vorverurteilungen freilich nicht ausgeschlossen. So können ζ. B. der jetzigen Verurteilung eine abgeurteilte und eine nichtabgeurteilte Tat oder zwei — oder mehr — abgeurteilte Taten vorausgegangen sein (RGSt. 68 330, 331; BGHSt. 1 313, 317; BGH NJW 1964 115; vgl. auch BGH NJW 1976 300; Dreher Rdn. 10; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 48). Es kann auch für zwei der Taten bereits früher eine Gesamtstrafe gebildet worden sein (RGSt. 68 220, 224), vorausgesetzt, daß die in ihr enthaltenen Einzelstrafen je ein Jahr erreicht haben (Dreher und Sch.-Schröder-Stree aaO), da es sonst an der erforderlichen kriminellen Intensität des Täters fehlt, die sich aus der Schwere der einzelnen Tat bzw. Vortat ergibt. Im Falle der Vorverurteilung genügt eine verwirkte Jugendstrafe von mindestens einem Jahr (BGHSt. 12 129,134 f), nicht aber eine freiheitsentziehende Maßregel (Dreher Rdn. 9). Ob eine Freiheitsstrafe von jeweils mindestens einem Jahr verwirkt ist, hat das 60 erkennende Gericht zu entscheiden, soweit die Taten bei ihm anhängig sind (Sch.Schröder-Stree Rdn. 52; vgl. auch BGHSt. 25 44 und unten Rdn. 62). Liegt eine Vorverurteilung vor, ist die dort erkannte Strafe maßgebend. Zweifelhaft ist jedoch, ob das erkennende Gericht dabei auch an die Feststellungen des früheren Richters über die Begehung der Vortat gebunden ist, da Absatz 2 nicht, wie Absatz 1, auf die Verurteilung — und damit auf deren Warnfunktion —, sondern lediglich auf die „Begehung" der Straftaten abstellt. Sch. -Schröder-Stree (Rdn. 54) halten es aus diesem Grunde für „naheliegend", auch die früher abgeurteilten Taten wieder der freien Beweiswürdigung des jetzt entscheidenden Gerichts zu unterstellen. Aber dagegen sprechen nicht nur die „erheblichen praktischen Schwierigkeiten" (Sch.Schröder-Stree•), zu denen dies führen würde. Dagegen spricht vor allem, daß Absatz 2 nur eine Ergänzung des Absatz 1 bildet und daß, zumal angesichts der Warnfunktion auch einer sachlich nicht oder nicht ganz richtigen Vorverurteilung, nicht angenommen werden kann, daß der Gesetzgeber, der vor allem an die gleichzeitige Aburteilung dachte, mit der abweichenden Formulierung eine so weitgehende Freiheit des Richters gegenüber der früheren Entscheidung konstituieren wollte; auch wäre nicht einzusehen, warum das jetzt entscheidende Gericht (wie auch Sch.-Schröder-Stree Rdn. 53 nicht in Zweifel ziehen) dann an die früher „verwirkte" Strafe gebunden ist. Daß Verfolgbarkeit für die Taten gegeben sein muß, wegen derer der Täter eine 61 Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr verwirkt hat, ist anerkannt und folgt aus der Bedeutung des Absatz 2. Daher scheiden Taten aus, für die der notwendige Strafantrag nicht gestellt oder zurückgenommen ist (BGHSt. 1 385, 386; Dreher Rdn. 9; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 50; Maurach AT § 68 I D 2 b; Lang-Hinrichsen Vorauf!. § 42 e Rdn. 43). Auch Taten, die im Zustand der Schuldunfähigkeit begangen wurden, genügen nicht, selbst wenn ihretwegen andere Maßregeln verhängt werden könnten (RG DR 1943 1033; Dreher, Sch.-Schröder-Stree und Lang-Hinrichsen aaO). Das gleiche gilt nach der Rechtsprechung für diejenigen Taten, die im Zeitpunkt der anstehenden Verurteilung verjährt sind (BGHSt. 1 385, 386; RGSt. 75 381). Daß die gegenteilige Auffassung, der Sch.-Schröder-Stree (Rdn. 51) zuneigen, zu keinen praktischen Konsequenzen führe, da die Verjährungsfristen so bemessen seien, daß Vortaten auch wegen der Fünfjahresfrist (Absatz 3 i. V. mit § 48 Abs. 4) nicht mehr berücksichtigt werden dürfen (Sch.-Schröder-Stree aaO), stimmt nicht immer. (223)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

4. Mindestens gleichzeitige Aburteilung der Taten. Der Wortlaut des Absatz 2 würde es zulassen, Sicherungsverwahrung anzuordnen, wenn der Täter wegen einer der Taten (zu mindestens drei Jahren Freiheitsstrafe) verurteilt wird, die anderen aber weder vorher abgeurteilt wurden noch gleichzeitig mit abgeurteilt werden, etwa weil sie bei einem anderen Gericht anhängig oder noch gar nicht angeklagt sind, sondern erst in der Hauptverhandlung ermittelt werden. Auf diesen Standpunkt hat sich (für § 20 a Abs. 2 a. F.) in der Tat RGSt. 75 381 gestellt. Dem ist BGHSt. 25 44 (für § 42 e i. d. F. des 1. StrRG) mit eindringlichen G r ü n d e n insbesondere unter Hinweis auf die Konsequenzen einer solchen Handhabung f ü r den verfahrensrechtlichen Schutz des Angeklagten überzeugend entgegengetreten (ebenso Lackner Anm. 4 a; Sch. Schröder-Stree Rdn. 52; wohl auch Dreher Rdn. 9). Zu verlangen ist daher, daß eine oder zwei der drei Taten entweder schon abgeurteilt sind (RGSt. 68 330; BGHSt. 1 313, 317; B G H N J W 1964 115), oder d a ß alle Taten vom erkennenden Gericht gleichzeitig abgeurteilt werden und werden können. Sind noch nicht abgeurteilte Taten bei verschiedenen Gerichten anhängig, kann nur der letzte Richter über die Sicherungsverwahrung entscheiden. Dies verlangt im übrigen auch die Subsidiarität des Absatz 2 (Rdn. 51), weil nach Aburteilung der Taten möglicherweise Absatz 1 eingreifen kann.

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5. Verurteilung zu mindestens dreijähriger Freiheitsstrafe. Wegen mindestens einer der drei Taten m u ß der Täter ferner zu einer Freiheitsstrafe von wenigstens drei Jahren verurteilt werden. Damit soll (abweichend vom früheren Recht) sichergestellt werden, daß sich der Gesamtunrechtsgehalt der Taten im Bereich der schweren Kriminalität bewegt {Sch.-Schröder-Stree Rdn. 55; vgl. auch 1. Bericht S. 26: Grundsatz der Verhältnismäßigkeit). Ob die Verurteilung zu mindestens drei Jahren wegen einer oder wegen mehrerer der selbständigen Taten erfolgt, ist nach dem Gesetz gleichgültig. Aus seiner Formulierung ergibt sich, d a ß auch eine Gesamtstrafe von drei Jahren genügt (vgl. auch 1. Bericht aaO); es folgt aus der unterschiedlichen Formulierung des § 66 Abs. 2 („wegen einer oder mehrerer dieser Taten zu zeitiger Freiheitsstrafe") gegenüber § 66 Abs. 1. Dies ist auch der Standpunkt der herrschenden Meinung; vgl. näher B G H N J W 1972 834, 835; Beyer N J W 1971 1597,1598; ebenso Dreher Rdn. 10; Lackner Anm. 4 c; Sch. SchröderStree Rdn. 55). Erforderlich ist dabei freilich stets, daß die zur Gesamtstrafe führenden Einzelstrafen auf Taten zurückgehen, die in ihrer Gesamtheit symptomatisch für einen Hang sind und eine Prognose im Sinne des § 66 Abs. 1 Nr. 3 zulassen (1. Bericht S. 21).

VIII. Materielle Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung 1. Allgemeines. Als materielle Voraussetzungen f ü r die Anordnung der Sicherungsverwahrung verlangt § 66 Abs. 1 Nr. 3 — in gleicher Weise für § 66 Abs. 1 u n d Abs. 2 —, daß die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Taten ergibt, daß er infolge seines Hanges zu erheblichen Straftaten f ü r die Allgemeinheit gefährlich ist. Diese Formel wurde durch das 1. StrRG eingeführt, von der Rechtsprechung in ihrem sachlichen Gehalt aber schon früher verwendet (z. B. BGHSt. 1 94, 100; B G H N J W 1953 673, 674). Im Gegensatz zu den §§ 20 a, 42 e a. F. ist vom „Gewohnheitsverbrecher" (kritisch zu diesem Begriff z. B. Hellmer, u. a. ZStW 73 441) nicht mehr die Rede. Mit der abweichenden Bezeichnung „ H a n g " soll zum Ausdruck gebracht (224)

Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (Hanack)

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werden, daß die Neigung zum Verbrechen nicht durch Gewohnheit erworben zu sein braucht (vgl. E 1962 S. 214; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 33; Maurach AT § 68 I D 3 a), sondern auch auf Anlagefaktoren beruhen kann, wie dies bereits der bisherigen Meinung entsprach. Die Klammer-Bezeichnung „Hangtäter", die in der Übergangsfassung des § 66 mit Rücksicht auf den zunächst suspendierten § 65 Abs. 2 nicht enthalten ist, hat keine eigenständige sachliche Bedeutung (2. Bericht S. 30; Dreher Rdn. 15). Sie bringt insbesondere nicht zum Ausdruck, daß der Täter einen bestimmten kriminologischen Tätertyp verkörpern muß (Dreher aaO; a. A. Maurach aaO); es handelt sich vielmehr um einen Begriff, der, kriminologisch gesehen, sehr verschiedenartige „Tätertypen" erfaßt. Verkannt wird der Begriff bzw. seine vorausgesetzte rechtliche Interpretation von Lange S. 269. Vgl. auch unten Rdn 85. 2. Zur generellen Problematik der Hangtäterschaft. Die Feststellung, wann es 65 sich um einen Hangtäter handelt, ist schwierig. Denn ein objektiv feststellbarer Befund, wie er der Unterbringung nach den §§ 63 und 64 oder auch 65 zugrunde liegt, ist beim Hangtäter regelmäßig nicht in der gleichen Weise gegeben. Bei der Feststellung der Eigenschaft als Hangtäter muß ein häufiger Zirkelschluß vermieden werden. Es wäre irrig, allein aus den Straftaten auf den Hang zu schließen und die zu erwartenden neuen Straftaten dann wieder aus dem Hang herzuleiten (Göppinger S. 334). Im übrigen weist Göppinger (aaO) sehr zu Recht darauf hin, daß es in der krimi- 66 nologischen Literatur zwar eine Vielzahl von Aussagen über chronische Rechtsbrecher, ihr Erscheinungsbild und die Ausprägung ihres strafbaren Verhaltens, ihre Persönlichkeit und soziale Umwelt sowie über ihre typischen Eigenarten im Vergleich zur „Normalbevölkerung" und zu den „Gelegenheitstätern" gibt, daß aber dennoch der Schatz gesicherten Erfahrungswissens in dem ganzen Bereich „noch relativ bescheiden" ist. Den Grund dafür sieht Göppinger (S. 333) insbesondere in der Schwierigkeit und Komplexität des Forschungsgegenstandes. — Die z. T. fast unauflöslichen Probleme, die sich daraus für die Praxis ergeben, werden vor allem bei der Abgrenzung des Hangtäters vom „Gelegenheitstäter" (Rdn. 72 f, 89) und bei der verzweifelt schwierigen Frage deutlich, welches denn eigentlich die Faktoren des Hangs sind (dazu Rdn. 90). In der Kriminologie werden traditionell zwei Gruppen chronischer Rückfalltä- 67 ter unterschieden: die sog. Hang-, Zustands- oder Gewohnheitstäter und die sog. Berufsverbrecher. Göppinger (S. 334) erhebt gegen die praktische Brauchbarkeit dieser Differenzierung einleuchtende Bedenken. Dennoch wird für die Lösung der Probleme des § 66 zur Zeit nichts anderes übrig bleiben, als an die traditionelle Aufteilung wenigstens im Grundsatz und zugeschnitten auf die besonderen rechtlichen Probleme der Sicherungsverwahrung anzuknüpfen. Hervorzuheben ist dabei, daß in der Kriminologie die sog. Berufsverbrecher vielfach nicht unter den Begriff der Hangtäter („Gewohnheitsverbrecher") subsumiert, sondern als eigene Gruppe behandelt werden. Hinsichtlich der Sicherungsverwahrung müssen sie jedoch für die Hangtäterschaft in Betracht kommen, da diese Eigenschaft vom Zweck des § 66 her gerade auf diese Tätergruppe gemünzt ist. Sie zu erfassen, war sogar ein besonderes Anliegen der Reform (E 1962 S. 213; 1. Bericht S. 18). Zu Methodenfragen .um den „Typ" des Gewohnheitsverbrechers vgl. auch Naucke MschrKrim. 1962 84. Eine eindeutige Aussage, worauf die Hangtäterschaft beruht, läßt sich, wie 68 schon angedeutet, auch nach der einschlägigen kriminologischen Literatur gegenwärtig ersichtlich nicht treffen, so daß auf diesem Gebiet Unsicherheit besteht (so (225)

§66

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

auch Lang-Hinrichsen Voraufl. § 42 e Rdn. 43). Ob es in absehbarer Zukunft gelingen wird, die Grundlagen der Hangtätereigenschaft mit größerer Sicherheit festzustellen, mag zweifelhaft sein. Immerhin vermitteln aber die Erscheinungsformen der beiden in Rdn. 69 genannten kriminologischen Gruppen wenigstens gewisse Anhaltspunkte, die für die materiellen Kriterien des § 66 aufschlußreich und wesentlich sind (vgl. im folg. ; s. auch die Darstellung der Merkmale bei Sch.-Schröder-Stree Rdn. 22 ff). Das Gericht wird genötigt sein, auf Gutachten von Sachverständigen zurückzugreifen, deren Zuziehung schon im Vorverfahren erfolgen soll (§ 80 a StPO) und in der Hauptverhandlung erfolgen muß (§ 246 a StPO). 69

3. Zur Charakteristik des Hangtäters nach dem gegenwärtigen Stand der Literatur. Die Einsichten über den chronischen Kriminellen, der auch in den Bannkreis der Sicherungsverwahrung fällt, werden noch immer in der zusammenfassenden, auf eigene empirische Forschungen gestützten Darstellung Hellmers (ZStW73 441 m. w. Nachw.) besonders gut deutlich (vgl. auch Göppinger S. 333 ff ; Mergen Die Kriminologie, S. 383 ff; H. Mayer zuletzt ZStW80 193; aus den sonstigen empirischen Untersuchungen an Sicherungsverwahrten [aufgezählt bei Göppinger S. 305] s. insbesondere die förderlichen Arbeiten von Steinhilper über Sexualtäter und von Weihrauch über Vermögenstäter). Hellmer unterscheidet im Anschluß an eine in der Kriminologie seit langem bekannte Differenzierung zwischen den chronischen Kriminellen aus Willensschwäche, den Haltlosen (die er Hangtäter nennt), und den chronischen Kriminellen aus Willensrichtung, den aktiven chronischen Kriminellen (die er als Berufsverbrecher bezeichnet).

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a) Der Hangtäter aus Willensschwäche, aus allgemeiner sozialer Schwäche, neigt nach Hellmer (aaO S. 451 f) zum Parasitenleben. Er könne sich nicht durchsetzen, unterliege dem schlechten Einfluß, der von außen kommt, und gelange nicht mehr aus eigener Kraft in geordnete Verhältnisse zurück. Er sei extrem umweltabhängig, lasse sich leicht verführen und stelle meist nur das Spiegelbild seiner Umgebung dar. Zeige er sich bei den ersten Straftaten noch als Gelegenheitstäter, so werde er nach weiteren Straftaten zum Gewohnheitstäter, wenn er nicht während dieser Zeit in Verhältnisse komme, die ihn von außen beschützen und nicht mehr kriminell werden ließen. Eine tiefere Wesensveränderung habe aber auch dann nicht stattgefunden. Gelegenheitstäter und Gewohnheitstäter verkörperten in diesem Falle lediglich verschiedene Stufen der Haltlosenkriminalität (etwas abweichend aber z. B. Mergen S. 384. Ein spezifischer Unterschied zwischen dem Gewohnheits- und dem Gelegenheitstäter bestehe jedenfalls bei dieser Gruppe nicht (Hellmer aaO S. 452): Es sei in beiden Fällen dieselbe Schwäche, die den Täter immer wieder straucheln lasse, wenn die äußeren Gegebenheiten dazu vorlägen. Der Hangtäter aus Schwäche begehe Straftaten sehr verschiedener Art, z. B. Körperverletzungen und Diebstähle; falls er sich auf Vermögensdelikte festgelegt habe, nutze er die verschiedensten sich anbietenden Gelegenheiten aus. Er folge der Augenblicksregung. Er wolle mit seiner Straftat meist nur momentane Bedürfnisse befriedigen, etwa Kleidungsstücke erlangen, sofern er sie gerade benötige oder wünsche, oder Lebensmittel, wenn er ein Verlangen nach ihnen habe, wobei nicht immer Not im objektiven Sinne vorzuliegen brauche, sondern u. U. lediglich ein direkt auf den" Gegenstand gerichtetes Bedürfnis. Es gebe auch Hangtäter aus Schwäche, die vom Ertrag ihrer Straftaten lebten, z. B. Betteldiebe, vagabundierende Betrüger, kleine Darlehnsschwindler, oft auch Zechpreller. Der Hangtäter aus sozialer Schwäche sei (226)

Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (Hanack)

§66

also typischerweise eine haltlose Persönlichkeit, die meist infolge ungünstiger häuslicher Verhältnisse in schlechte Kreise geraten sei. Unter der großen Zahl haltloser Menschen würden allerdings die meisten dank einer sie stützenden Umgebung nicht straffällig. — Fälle solcher Täter finden sich — ζ. B. und in etwa — in RGSt. 72 151 ; RGSt. 72 296; RGSt. 73 44,46; BGH GA 1967 111 ; BGH JR1968 430. b) Der aktive chronische Kriminelle zeigt nach Hellmer (S. 452 f ; vgl. auch Göp- 71 pinger S. 334 f m. w. Nachw.) ein wesentlich anderes Bild. Er habe eine willensmäßige Beziehung zu seinem gesamten kriminellen Leben, die einzelne Tat sei Symptom seines verbrecherischen Willens. Er sei nicht, wie der Hangtäter aus Schwäche, der Verführte, der schlechten Einflüssen, die von außen an ihn herangetragen werden, zum Opfer falle, sondern selbst der Verführer, von dem die schlechten Einflüsse ausgingen, die andere zum Straucheln brächten. In seinem kriminellen Handeln sei er typischerweise Spezialist. Er begehe nicht, wie der Täter aus Schwäche, der die unterschiedlichsten Gelegenheiten ausnutze, verschiedenartige, sondern im wesentlichen gleichartige Delikte in spezialisierter Form. Als Einbrecher sei er oft Mitglied einer Bande, die vor allem das Ansichbringen von Geld und Wertsachen anstrebe. Als Dieb sei er Taschendieb, Ladendieb, Gepäckdieb, Eisenbahn- oder Hoteldieb; als Betrüger betätige er sich als Hochstapler, Kautions- oder Annoncenschwindler, Kurpfuscher, Falschmünzer, Bauernfänger, Grußbesteller oder Heiratsschwindler. Im Gegensatz zum Hangtäter aus Willensschwäche, der der Augenblicksregung folge, werde er durchweg nach einem bestimmten Konzept tätig. Er plane auf lange Sicht und bereite seine Straftaten sorgfältig vor. Hiermit hänge auch die Erheblichkeit dieser Straftaten zusammen. Er handele aus reiner Selbstbzw. Gewinnsucht und greife ein Rechtsgut nur an, wenn es sich seinem Wert nach auch lohne. Der von ihm angerichtete Schaden sei meist unvergleichlich größer als der vom Täter aus Willensschwäche verursachte. Der „Berufsverbrecher" sei auf eine kriminelle Zukunft hin ausgerichtet und unterscheide sich vom normalen, sozialunauffälligen Menschen schon im Prinzip. Alle seine persönlichen Eigenschaften und Merkmale trügen ein von seinem Willen geprägtes Vorzeichen. Hellmer faßt die besonderen Merkmale dieser Täter im wesentlichen wie folgt zusammen: 1. innere, zielgerichtete Beziehungen zur Begehung von Verbrechen auf der Grundlage einer bewußten Willensentscheidung; 2. Gleichartigkeit der Delikte und der Begehungsweise; 3. sorgfältige Planung, insbesondere durch Anknüpfung von persönlichen Beziehungen, die die Ausführung der Tat erleichtern; 4. persönliche Überlegenheit gegenüber etwaigen weiteren am Verbrechen beteiligten Personen; 5. Verwendung von gegenständlichen oder gedanklichen Hilfsmitteln (Werkzeuge bzw. Tricks). c) Konflikts-, Gelegenheits-, Zufalls- oder Augenblickstäter (zur Terminologie: 72 Göppinger S. 332 f) sind demgegenüber typischerweise keine Täter, die aus einem „Hang zu . . . Straftaten" handeln, wie in Rechtsprechung und Lehre seit langem anerkannt ist (ζ. B. BGH 2 StR 554/69 v. 14.1. 1967; BGH GA 1969 25; RGSt. 68 174, 175; RG DR 1939 1979; DJ 1939 1472,1473; Dreher Rdn. 13; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 32; Lang-Hinrichsen Voraufl. § 42 e Rdn. 47). Sie werden meist geradezu als „Gegensatz" (so z. B. Sch.-Schröder-Stree aaO; vgl. auch Dreher aaO) zum Hangtäter verstanden. Die Abgrenzung ist freilich insbesondere für die „Gelegenheits"- und „Augen- 73 blickstäter" im einzelnen so einfach nicht, wie schon die Darlegungen in Rdn. 70 zeigen. Wer bei „jeder Gelegenheit" immer wieder der kriminellen Versuchung (227)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

unterliegt, kann damit im Einzelfall durchaus Hangtäter aus sozialer Schwäche sein. Das Abgrenzungskriterium von Sch.-Schröder-Stree (Rdn. 32), daß der Hangtäter die inneren Hemmungen überwunden habe, die für den Gelegenheitstäter kennzeichnend seien, dürfte schon aus kriminologischer Sicht oft wenig passen, aber auch als juristisches Abgrenzungskriterium fragwürdig sein, weil es für den Schutz der Allgemeinheit gleichgültig ist, ob der Täter von vornherein ohne Hemmung ist oder die Hemmung stets versagt. Man wird kriminologisch wie juristisch (zum letzteren unten Rdn. 84 ff) für die Unterscheidung wohl mehr darauf abstellen müssen, ob der Täter von seinen kriminellen Schwächen so beherrscht wird, daß von ihm immer wieder neue Straftaten drohen. 74

Dies wird auch beim Problem der Rauschtaten nach § 330 a deutlich. Es ist anerkannt, daß dieses Delikt für die Anordnung der Sicherungsverwahrung in Betracht kommt, wenn der Täter, der Alkohol zu sich nimmt, dazu neigt, im Vollrausch für die Allgemeinheit gefährliche Taten (ζ. B. Gewalttätigkeiten) zu begehen (BGH LM Nr. 16 zu §20 a a. F.; BGH bei Dallinger M D R 1956 143; RGSt. 73 177, 179 m. Anm. v. Weber DR 1939 1152; Dreher Rdn. 13; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 17). Hier besteht der „Hang" des Täters in einer Verhaltensweise, die von der Neigung zum — für die Allgemeinheit wegen der Folgewirkungen gefährlichen — Alkoholgenuß geprägt ist (ähnlich Lang-Hinrichsen Vorauf!. § 42 e Rdn. 47).

75

d) Sexualtäter, die bisher relativ selten zu Sicherungsverwahrung verurteilt wurden (s. Rdn. 25), fallen nur zum Teil unter die Täter aus Willensschwäche. Soweit es sich um Triebverbrecher handelt, stehen sie in der Gefährlichkeit regelmäßig eher dem aktiven kriminellen „Berufsverbrecher" gleich {Hellmer ZStW 73 453; eingehende Untersuchungen zu dieser Frage bei Steinhilper S. 59 ff ; vgl. auch BGH NJW 1976 300).

76

e) Politisch oder ideologisch motivierte Kriminalität. Wie weit politisch oder ideologisch begründete Kriminalität, insbesondere Gewaltkriminalität, Ausdruck von Hangtäterschaft sein kann, ist ersichtlich noch nicht untersucht. Das Problem ist juristisch äußerst heikel, weil im Rechtsstaat des G G die politisch-weltanschauliche Gesinnung als solche frei ist und weil man diese Gesinnung grundsätzlich nicht als kriminellen „Hang" wird beurteilen dürfen. Doch unterliegt kaum Zweifeln, daß jedenfalls im Bereich extremer politisch-ideologischer Vorstellungen (Anarchismus, Terrorismus) Fixierungen denkbar sind, die den Täter so beherrschen, daß sie ihn immer wieder zu Straftaten treiben. Das Phänomen scheint bei Einzeltätern (Attentätern) ebenso auftreten zu können wie bei der Verstrickung in Aktionsgruppen oder Verschwörungszirkel der verschiedensten Provenienz, in denen der Kampf um eine „gerechte Sache" zum Lebensinhalt und zur intellektuell oder ethisch motivierten Lebensaufgabe wird. Schon die Untersuchung der Daten von 215 Attentätern aus den letzten beiden Jahrhunderten durch Mindt-Kiener (MschrKrim. 1976 2) ist insoweit für die Einzel- wie für die Gruppentäter aufschlußreich und enthält Ansätze auch für die Beurteilung terroristischer Gewalttäter im übrigen. Besondere Bedeutung dürfte dabei der Frage psychopathologischer Störungen bzw. neurotischer Fehlentwicklungen zukommen (sie werden schon von Mindt-Kiener festgestellt), die in der sog. Anarcho-Szene der neueren Zeit vermutlich eine wesentliche Rolle spielen (und dringend wissenschaftlicher Aufarbeitung bedürfen): Liest man etwa die Flugblätter („Infos") des Sozialistischen Patientenkollektivs Heidelberg (Dokumentation der Basisgruppe Medizin Gießen, Teil 1 o. J., Teil 2 1972), aus dem später u. a. einige Mitglieder wegen des Anschlags auf die deutsche Botschaft in Stockholm vom April 1975 angeklagt wurden, wird in der geradezu folgerichti(228)

Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (Hanack)

§66

gen Entwicklung der Gruppe — in erschütternder Weise — etwas von diesen Problemen sichtbar, denen die (aaO abgedruckten) fachpsychiatrischen Gutachten meist fast hilflos-unsicher gegenüberstanden (ein Urteil über das Kollektiv und seine vielen Mitglieder kann und will ich damit nicht abgeben). Kriminologisch steht der fanatische politische Gewaltverbrecher regelmäßig dem aktiven chronischen Kriminellen gleich. Daß sein Fanatismus als eingeschliffener innerer Zustand ein „Hang" i. S. des § 66 sein kann, läßt sich wohl nicht bezweifeln 1 . 0 Tötungskriminalität beruht selten auf Hangtäterschaft. Immerhin kommt Neu- T7 wirth (S. 122 f; vgl. auch Rdn. 25) anhand der Untersuchung von 638 wegen Tötungsdelikten verurteilter Täter zu dem Ergebnis, daß bei 28 von ihnen die materiellen Voraussetzungen der Einweisung in die Sicherungsverwahrung oder die sozialtherapeutische Anstalt vorlagen und in sieben Fällen auch die formellen Voraussetzungen (die Einweisung erfolgte aber in keinem Falle). Es handelte sich dabei teils um Täter, deren Körperverletzungs-Vorstrafen einen Trend zum Tötungsdelikt aufweisen, aber auch um Täter mit Vorstrafen aus dem Bereich der Eigentumsdelikte, die in Anbetracht des Werts der Beute besondere Sicherungsmaßnahmen überwinden mußten (vgl. auch die Falldarstellungen Neuwerths S. 124 ff). Den problematischen Fall einer Hangtäterschaft aufgrund charakterlicher Veranlagung zu Gewalttätigkeiten bei Handeln im Affekt enthält BGHSt. 3 169; dazu kritisch schon Rdn. 58. 4. Sicherungsverwahrung von aktiven Tätern und Tätern aus Schwäche. Allgemeines a) Die Gruppe der aktiven Hangtäter (s. Rdn. 71) ist im früheren Recht nur zu 78 einem verschwindend geringen Teil in Verwahrung genommen worden (Rdn. 6, 25 ; Hellmer ZStW 73 455 f m. w. Nachw.). Den Grund dafür sieht Hellmer vor allem darin, daß diese Täter es im Gegensatz zu den übrigen chronischen Kriminellen besser verstünden, nicht entdeckt zu werden und oft in einer pseudobürgerlichen Existenz untertauchen. Daneben dürfte hier aber auch die besondere Schwierigkeit eine Rolle gespielt haben, die künftige Gefährlichkeit (nach der Strafverbüßung, s. Rdn. 5) nachzuweisen. Über die Notwendigkeit, dieser Gruppe mit den Mitteln des Strafrechts einschließlich der Sicherungsverwahrung intensiver als früher zu begegnen, besteht allgemeine Übereinstimmung (vgl. z. B. 1. Bericht S. 19 ff; Sch.Schröder-Stree Rdn. 32; Hellmer aaO S. 455). b) Die Gruppe der Hangtäter aus Willensschwäche stellte im früheren Recht die 79 überwiegende Mehrzahl der Sicherungsverwahrten (näher oben Rdn. 6,25 m. Nachw.). Schon im früheren Recht war jedoch umstritten, ob diese Gruppe — oder nur die spezifisch antisozialen Täter, also die „aktiven Hangtäter" — für die Sicherungsverwahrung überhaupt in Betracht kommen (vgl. Hellmer aaO S. 446 m. w. Nachw.). Sowohl das RG (RGSt. 72 151, 152; 259, 260; 295, 296; 73 44, 46) als auch der BGH (z. B. BGH GA 1967 11, 112; JR 1968 430) vertraten den Standpunkt, daß 1 Über neuere Vorschläge der C D U / C S U - F r a k t i o n , im Bereich terroristischer Gewalttaten Sicherungsverwahrung bei erstmaliger Verurteilung vorzusehen, s. BT-Drucks. 8/322, · Art. 1 Nr. 6.

(229)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

auch die Hangtäter aus Willensschwäche in die Sicherungsverwahrung gehörten. So verstand das RG unter einem „Gewohnheitsverbrecher" i. S. der §§ 20 a, 42 e a. F. einen Täter, der infolge eines auf Grund charakterlicher Veranlagung bestehenden oder durch Übung erworbenen inneren Hanges wiederholt Rechtsbrüche begeht und zur Wiederholung von Rechtsbrüchen neigt (RGSt. 68 149, 154; auch BGHSt. 1 94, 100). In diese, eine Begrenzung nicht enthaltende Charakterisierung war nach der Praxis und der wohl überwiegenden Lehre auch der Hangtäter aus Schwäche einbezogen. 80

Nach der Neufassung des § 42 e a. F. im 1. StrRG hat insbesondere Horstkotte (JZ 1970 152, 155) die Auffassung vertreten, die neue Vorschrift beziehe sich nur auf den beharrlichen, zu gefährlicher Aktivität neigenden, nicht aber auf den passiv-antriebsschwachen Straftäter. Horstkotte beruft sich dabei auf Prot. V, 2302 (S. 3202 ist erkennbar Druckversehen), wo sich für seine Auffassung aber kaum ein klarer Beweis ergibt. Für eine Lösung im Sinne Horstkottes hatten sich (s. näher Rdn. 8) der Sache nach insbesondere H. Mayer und Hellmer eingesetzt, die für diese Täter nicht die Trennung von der Gesellschaft, sondern die Integration forderten, weil gerade der Mangel an Integration daran schuld sei, daß sie immer wieder rückfällig werden; so forderte Hellmer mindestens eine Unterbringung in Anstalten nach Art der Verwahrungsanstalten des § 82 E 1962 in entsprechender, auf diesen Personenkreis ausgerichteter Umgestaltung (ZStW 73 458 f)·

81

Der BGH und die herrschende Meinung sind der Auffassung Horstkottes nicht gefolgt (BGHSt. 24 169,161 f; Dreher Rdn. 13; Lackner Anm. 5 a aa; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 33; Horn SK Rdn. 16; Lang-Hinrichsen Voraufl. § 42 e Rdn. 50; Maurach AT § 68 II D 3 a; wohl auch Jescheck AT § 75 V 3 d). Sie nehmen vielmehr auch nach der Neufassung an, daß die Vorschrift entsprechend der bisherigen Rechtsprechung auch Hangtäter aus Willensschwäche erfasse. Der BGH führt aus, die Meinung, die Sicherungsverwahrung sei nur auf willensaktive, energische Straftäter anzuwenden, finde im Gesetzeswortlaut und der Entstehungsgeschichte keine Stütze. Für die Sicherungsverwahrung sei vielmehr auch nach der gesetzgeberischen Vorstellung (Begr. ζ. E 1962 S. 124; Prot. V, 272) lediglich das Vorhandensein eines verbrecherischen Hanges, nicht aber dessen Ursache entscheidend. Wenn sich ein Täter aus Willensschwäche zu Straftaten hinreißen lasse, stehe dies der Annahme eines verbrecherischen Hanges ebensowenig entgegen wie der Annahme, daß dieser Hang gefährlich sei (so BGH 2 StR 557/70 v. 16. 2. 1970). Die Beurteilung habe sich vielmehr an der Erheblichkeit des verbrecherischen Handelns als solchem, nämlich seinem besonderen Gewicht für die möglichen Opfer auszurichten.

82

Dem ist zuzustimmen. Im übrigen sind auch H. Mayer und Hellmer mit der herrschenden Meinung der Ansicht, daß gegenüber dem haltlosen und willensschwachen chronischen Kriminellen ein Schutzbedürfnis bestehe. Da sich der Gesetzgeber ihren Vorschlägen hinsichtlich der Behandlung dieser Tätergruppe nicht angeschlossen hat, kann in der Tat nur angenommen werden, daß die Sicherungsverwahrung auch in Zukunft für diese Fälle anwendbar ist, da sonst die Möglichkeit eines Schutzes nicht bestehen würde. So weist Weihrauch (NJW 1970 1897) zu Recht darauf hin, daß bei der Vorschrift des § 66 der Schutz der Allgemeinheit im Vordergrund steht. Das erhöhte Sicherungsbedürfnis aber werde in erster Linie durch das verbrecherische Handeln selbst begründet, nicht jedoch durch den für Berufsverbrecher charakteristischen Willen; richtiger Anknüpfungspunkt für die (230)

Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (Hanack)

§66

Sicherungsverwahrung könne daher nicht so sehr die innere Einstellung des Täters sein, sondern sein äußeres Verhalten. Doch ist darauf hinzuweisen, daß der Gesetzgeber die Erwartung hegte, mit der 83 Verschärfung der formellen Voraussetzungen und dem Abstellen auf „erhebliche" künftige Straftaten werde das — sicher kritische und gewiß auch nicht optimal gelöste — Problem der „kleinen Täter" an Schärfe verlieren (1. Bericht S. 21; vgl. auch Lang-Hinrichsen aaO). Nach dem bisherigen Bild (Rdn. 26) könnte sich diese Erwartung bestätigen. Sie kann freilich leicht auch zur trügerischen Hoffnung werden. Denn es ist zwar richtig, daß sich die Täter aus Willensschwäche nach dem Ergebnis der kriminologischen Untersuchungen weitgehend nicht im Bereich der schweren Kriminalität bewegen. Aber die formellen Voraussetzungen der Sicherungverwahrung enthalten, wenn § 48 im Sinne der überkommenen Praxis gehandhabt wird, möglicherweise doch nur geringe Barrieren ; und der Begriff der „erheblichen" Straftaten bleibt jedenfalls im Bereich der hier typischen Vermögensdelinquenz, bei der es vielfach um die Problematik additiver Schäden geht (näher Rdn. 110 ff), gerade bei den Willensschwachen ein problematisches Kriterium für die notwendige Abschichtung.

5. Begriff und Faktoren des Hanges a) Der Begriff des Hangs. Hang ist, juristisch gesehen, als fest eingewurzelte Nei- 84 gung zu verstehen. Es muß sich um einen eingeschliffenen inneren Zustand des Täters handeln, der ihn immer wieder neue Straftaten begehen läßt. Ein „Trieb" oder „Drang" zu solchen Taten ist freilich nicht erforderlich. Vielmehr reicht, wie sich schon aus dem vorigen ergibt, auch eine Schwäche, die den Täter immer wieder straffällig werden läßt. Horstkotte hat als damaliger Vertreter des Bundesjustizministeriums schon bei 85 den Beratungen zur Strafrechtsreform zu Recht darauf hingewiesen, daß der Ausdruck „Hangtäter" „ein wenig altmodisch ist" und „nicht mehr dem Stand der heutigen kriminologischen Forschung entspricht" (Prot. V, 2302). Es besteht nicht nur die Gefahr, daß er mehr die Schwächlichen als die Gefährlichen trifft (Horstkotte aaO; höchst kritisch auch H. Mayer ZStW80 145; Lange S. 269 meint sogar, die Reform verlege, „grob gesprochen, den Akzent vom Leitbild des 'Starken', des aktiv Antisozialen auf den Schwachen, den Defekten, dessen Kriterium eher ein Manko an positiven Persönlichkeitskräften" sei). Problematisch ist nach dem derzeitigen Kenntnisstand (s. schon Rdn. 66, 68) vor allem die Frage, wie und wann der Richter einen solchen Hang zuverlässig feststellen kann; vgl. dazu näher Rdn. 90, 89. Für den juristischen Begriff des Hangs nach § 66 ist unerheblich, worauf 86 er beruht (so schon BGH NJW 1968 1484,1485 = BGH JR 1968 430 m. zust. Anm. Eb. Schmidt; RGSt. 68 149,155 m. Anm. Schafîteutle JW 1934 1664; RGSt. 69 129, 131; 70 214 ; 72 295; Dreher Rdn. 13; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 33; LangHinrichsen Vorauf!. § 42 e Rdn. 63). Unerheblich ist also insbesondere auch, ob der Hang auf Anlage oder Umwelt (dazu Rdn. 96) oder Übung zurückzuführen ist, und unerheblich ferner, ob dem Täter aus dem Hang ein Vorwurf gemacht werden kann. Entscheidend ist vielmehr allein das Bestehen des Hangs selbst (BGHSt. 24 160,161). Dies alles ergibt sich daraus, daß es nach dem Zweck des Gesetzes auf die Gefährlichkeit des Täters ankommt. (231)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

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So reicht auch der angeborene Hang, der durch ein unverschuldetes Leiden gesteigert worden ist (BGH 3 StR 1969/53 v. 21. 5. 1953; RGSt. 69 129,130; Dreher und Sch.-Schröder-Stree aaO). Auch bei verminderter Schuldfähigkeit kann Hangtäterschaft vorliegen (BGH NJW 1957 1932; BGH GA 1965 249; BGHSt.24161; Sch.-Schröder-Stree aaO), ebenso bei unreifen Personen, bei denen die Möglichkeit einer Nachreife besteht (RG H R R 1940 Nr. 33; vgl. aber auch RG DR 1943 747; Sch.-Schröder-Stree aaO), oder bei Sexualtätern, deren kriminelle Neigung auf Altersrückbildung beruht (RGSt. 73 276, 277; RG DR 1942 889 mit eindringlicher Betonung, daß hier von der Sicherungsverwahrung „nur ein sehr vorsichtiger Gebrauch nach sorgfältigster Prüfung gemacht werden" dürfe). In den genannten Fällen werden im übrigen vielfach die Voraussetzungen des § 63 gegeben sein, wobei dann nach den Regeln des § 72 zu entscheiden ist, ob es der Anordnung der Sicherungverwahrung wirklich bedarf (näher die dort. Erl., insbes. Rdn. 22 ff). Auch weltanschaulicher Fanatismus kann, insbesondere bei Anarchisten und Terroristen — gleich welcher politischer oder ideologischer Prägung — Hangtätereigenschaft begründen; s. Rdn. 76.

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Gleichgültig ist schließlich auch der äußere Anlaß für die Taten, sofern sie nur auf einem verbrecherischen Hang beruhen (ähnlich Sch.-Schröder-Stree Rdn. 34; RG DJ 1939 1472, 1473). So kann Spielleidenschaft als Grund für ständige Betrügereien (RG DR 1944 213; Dreher Rdn. 13; Sch.-Schröder-Stree aaO) ebenso reichen wie Verleitung, Verführung oder Abhängigkeit (vgl. RG DR 1944 901 ; Sch.-Schröder-Stree aaO) und Alkoholgenuß (RGSt. 74 217, 218 m. Anm. Mezger DR 1940 1277; BGH NJW 1966 894; BGH GA 1974 175, 176; s. im übrigen oben Rdn. 74). Selbst Not schließt den Hang nicht aus (RGSt. 73 44, 46 ; RG DR 1944 901 für „Hunger wegen kriegsbedingter Nahrungsschmälerung"). Entscheidend ist in diesen Fällen vielmehr, ob trotz mitwirkender äußerer Umstände eine eingewurzelte Neigung zu Straftaten gegeben ist, der Täter also aufgrund dieser Neigung dem Anreiz in Situationen nachgibt, in denen andere noch legale Auswege finden oder den Anreiz überwinden (BGH NJW 1955 799, 800; RGSt. 72 295, 296; 73 177, 181 ; RG HRR 1939 Nr. 650; OLG Celle HannRpfl. 1946 120, 121; Dreher Rdn. 13; Sch.Schröder-Stree Rdn. 34; vgl. auch im folg. Text).

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Aus dem letzteren ergibt sich insbesondere für die schwierige Abgrenzung des „Gelegenheitstäters" oder auch des „Konflikttäters" zum „Hangtäter" (vgl. schon Rdn. 73): Der Unterschied ist nicht darin zu suchen, daß Hangtäter nur sein kann, wer gewissermaßen dauernd zu Straftaten entschlossen oder auf sie erpicht ist. Hangtäter ist vielmehr auch derjenige, der aufgrund seiner fest eingeschliffenen Neigung (Rdn. 84) immer wieder strauchelt, wenn sich „die Gelegenheit bietet", selbst wenn er es „an sich" nicht will, wenn er also in diesem Sinne vom Hang beherrscht wird. Das ist jedoch trotz wiederholter Straffälligkeit dann nicht der Fall, wenn die Taten allein durch äußere Umstände verursacht sind, wie das namentlich bei Notzuständen der Fall sein kann (RG JW 1938 2129, 2130; RG H R R 1939 Nr. 387 und 1941 Nr. 726; RG DR 1943 137; vgl. auch Dreherund Sch.Schröder-Stree aaO). Dies folgt daraus, daß das Gesetz nur den „Hang" treffen will, nicht aber die schlichte Rückfälligkeit. Die Unterscheidungen, um die es danach geht (Rdn. 89 und Rdn. 88), sind in der Praxis oft kaum zu treffen. Der Grundsatz in dubio pro reo (Rdn. 167) hat daher hier besondere Bedeutung.

90

b) Allgemeine Faktoren des Hanges. Welche allgemeinen Faktoren und Erkenntnismerkmale für den Hang charakteristisch sind bzw. welches Gewicht sie jeweils haben, ist, wie schon angedeutet (Rdn. 65 f, 68), eine weitgehend ungeklärte Frage (232)

Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (Hanack)

§66

(so auch Lang-Hinrichsen Vorauf!. § 42 e Rdn. 51). Dies ist um so bemerkenswerter als der Begriff des Hangs schon in der Begründung zum Gewohnheitsverbrechergesetz und in der grundlegenden Entscheidung des RG (RGSt. 68 149, 154) als wesentliches Kriterium der Sicherungsverwahrung genannt wird. Der Richter kann, wenn überhaupt, den Hang als eine innere Tatsache im allgemeinen nur wertend ermitteln (vgl. BGHSt. 1 94, 99), indem er die Persönlichkeit des Täters und seine sozialen Bezüge sowie das Bild seiner Taten aufhellt, also all die Kriterien heranzieht, die für die „Gesamtwürdigung" (unten Rdn. 156 ff) maßgebend sind, und sie zu den typischen Charakteristica der verschiedenen Hangtätergruppen (Rdn. 69 ff) in Beziehung setzt. Als Symptome des Hangtäters werden im allgemeinen die folgenden Faktorenbündel für bedeutsam gehalten (Sch.-Schröder-Stree Rdn. 22 ff im Anschluß an Exner DJ 1943 377 und Exner Kriminologie 3. Aufl. 1949, S. 248, 293; Lang-Hinrichsen aaO): Die Herkunft des Täters, also die sozialen und psychologisch bzw. psychopatho- 91 logisch relevanten Verhältnisse der Familie und des Elternhauses, aus dem er stammt, sowie die Erziehungsverhältnisse, unter denen er aufgewachsen ist, das eigene Verhalten in der Jugendzeit (Verhalten in der Schule, der Lehre, bei der sonstigen Berufsausbildung). Daß dabei in der Familie vorkommende Psychopathie, Trunksucht oder Kriminalität „für anlagemäßiges und daher auch dispositionelles Verbrechertum" spricht (so Sch.-Schröder-Stree Rdn. 23), ist nach den heutigen, völlig umstrittenen und divergierenden Ergebnissen der Forschung eine wohl mindestens mit Vorsicht zu wertende Behauptung (vgl. auch Rdn. 100, 96). Hingegen scheinen die wirtschaftlichen Verhältnisse, unter denen der Täter aufgewachsen ist, eine zwar wichtige, aber doch nicht so zentrale Rolle zu spielen (ähnlich Sch.-Schröder-Stree unter Berufung auf Untersuchungsergebnisse von Möller aaO ; vgl. auch unten Rdn. 96). Die allgemeine Persönlichkeitsstruktur des Täters, insbesondere seine Intelligenz 92 und sein Charakter. Daß Verstandesmängel und Mängel im Urteilsvermögen als „Anzeichen für ein Zustandsverbrechertum mit zu werten" seien (so Sch.-SchröderStree Rdn. 29), ist in dieser Allgemeinheit bedenklich (vgl. auch Rdn. 99). Dagegen sind Charaktermängel und abnorme Züge, insbesondere wohl Gefühlsarmut, Gefühlskälte, Willensschwäche und Haltlosigkeit, vielfach wichtige Indizien dafür, daß die vorhandene Straffälligkeit auf einen Hang zurückgeht. Das gleiche gilt für Arbeitsscheu (näher Seelig-Weingler Die Typen der Kriminellen, 1949, S. 180, 186; auch BGHSt. 1 94,100). Das allgemeine soziale Verhalten des Täters, das sich mit seinen Persönlichkeits- 93 merkmalen vielfältig überschneidet (Verhältnis zur Arbeit), so seine Trinkgewohnheiten, sein Umgang, seine ehelichen und familiären Verhältnisse, sein Freizeitverhalten. Die bisherige kriminelle Betätigung, die naturgemäß für die Beurteilung beson- 94 dere Bedeutung besitzt. Die Zahl der Vorstrafen ist dabei zwar wichtig, aber nicht entscheidend (so richtig Sch.-Schröder-Stree Rdn. 24). Wichtig ist vor allem die zeitliche Verteilung der Straftaten, insbesondere die Rückfallgeschwindigkeit (vgl. BGH GA 1969 25, 26) und der Beginn der kriminellen Betätigung; Frühkriminalität ist vielfach ein wichtiges Symptom für Hangtäterschaft (dazu näher Rdn. 101), obwohl natürlich auch Spätkriminalität der Hangtätereigenschaft nicht entgegensteht, so vor allem bei bestimmten Sexualdelikten (eingehend Weihrauch S. 103, (233)

§66

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

232). Ferner ist wichtig die Art der Straftaten, die namentlich Aufschluß darüber zu geben vermag, ob der Täter einer der beiden wesentlichen Tätergruppen (oben Rdn. 69) zugeordnet werden kann. Hervorzuheben bleibt, daß der Rückfall allein noch nicht den Hang beweist (RGSt. 68 174, 175; Sch.-Schröder-Stree aaO; vgl. auch Rdn. 89). 95

c) Bedeutung der Kriminalitätstheorien. Die im vorigen dargestellten Faktoren entsprechen in groben Zügen dem, was die Kriminologie, insbesondere anhand empirischer Untersuchungen, als Faktoren der Rückfallgefahr erarbeitet hat. Es handelt sich freilich „im wesentlichen um Gesichtspunkte sehr allgemeiner Natur" (Lang-Hinrichsen Vorauf!. § 42 e Rdn. 51). So stellen sie für die Erklärung des „Hangs" auch nur — positive oder negative — Indizien dar. In der Kriminologie wird nun seit jeher versucht, die Frage, warum Menschen kriminell werden — und damit zugleich auch die Frage, warum sie rückfällig werden oder gar werden müssen — nicht nur anhand solcher Einzelfaktoren zu ermitteln, sondern grundsätzlicher zu erklären. Es ist eine verwirrende Fülle von Erklärungsversuchen („Theorien"), die dabei angeboten wurde und angeboten wird. Sie hier auszubreiten, ist unmöglich, aber auch aus den folgenden Gründen für die Zwecke dieser Kommentierung nicht nötig. Keiner der vielen Erklärungsversuche ist allgemein anerkannt, jeder aus anderer Sicht Einwendungen ausgesetzt. Mit gewisser Vorsicht läßt sich allenfalls sagen, daß, jedenfalls in der Bundesrepublik, eine „multifaktorielle" Betrachtungsweise vorherrscht, die Kriminalität nicht aus einer Ursache erklärt, sondern sie auf ein Bündel möglicher, im Einzelfall unterschiedlich wirkender oder wirksamer Faktoren zurückführt (wobei freilich die Akzentuierungen im einzelnen sehr unterschiedlich sind). Bei diesen Gegebenheiten wäre es unmöglich, ja rechtlich fehlerhaft, wenn der Richter von einer der vertretenen Theorien dergestalt ausginge, daß er allein auf ihre Grundlage oder ihr Weltbild zurückgriffe. Er kann, so unbefriedigend das ist, nach dem gegenwärtigen Stand der kriminologischen Grundlagenforschung vielmehr nur die relativ gesicherten empirischen Daten, Indizien und Erfahrungskriterien benutzen. Dies ist insbesondere auch im Umgang mit Sachverständigen wichtig, die nicht selten auf bestimmte „Schulen", „Richtungen" oder gar Ideologien festgelegt sind. Der Richter hat daher nicht nur darauf zu dringen, daß die Sachverständigen im Gutachten auch die Grundlagen ihrer Beurteilung angeben; er hat vielmehr ebenso darauf zu drängen, daß die Sachverständigen in dem notwendigen Maße „multifaktoriell" verfahren.

96

Die Zurückhaltung gegenüber für das geradezu klassische und wie vor mit weit divergierenden und Rückfallkriminalität primär sind.

eindimensionalen Erklärungsversuchen gilt auch in verschiedenen modernen Einkleidungen nach Ergebnissen erörterte Problem, ob Kriminalität durch „Anlage" oder durch „Umwelt" bedingt

Darauf hingewiesen sei aber immerhin, daß die vielfach besonders betonte Bedeutung der schichtenspezifischen Kriminalität, insbesondere der sozio-ökonomischen Verhältnisse, denen der Täter entstammt (näher Göppinger S. 213 ff, 236 f), nach den empirischen Untersuchungen jedenfalls beim schweren Rückfallverbrecher doch wohl nicht die Rolle spielt, die ihr oft zugemessen wird. Dies zeigen jedenfalls die empirischen Untersuchungen, z.B. von Göppinger (S. 215 ff), von Eysenckan englischen Gewohnheitsverbrechern (Crime and Personality, 1964, refe(234)

Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (Hanack)

§ 6 6

riert bei Lange S. 239) sowie die neueren Arbeiten von Weihrauch über rückfällige Vermögenstäter (vgl. S. 160) und von Steinhilper über Sexualtäter (vgl. S. 200), die zwar eine starke Prozentzahl von Handwerker- und Arbeiterkindern sowie (besonders gravierend) von Kindern unbekannter Väter ausweisen, aber im Zusammenhang insbesondere mit geringer Auffälligkeit der Geschwister und mit zahlreichen weit signifikanteren Gesichtspunkten auch nicht auf eine zentrale Rolle der Schichtenzugehörigkeit deuten. Im übrigen ist nicht zu bestreiten, daß die in Rdn. 90 ff genannten Indizien des 97 Hangs, die sich schon in der Judikatur des RG widerspiegeln, stark auf den kriminalbiologisch orientierten Forschungsergebnissen der dreißiger Jahre beruhen, und zwar unbeschadet des Umstandes, daß sie auch in späteren Forschungen vielfache Bestätigung gefunden haben. Ob es gelingen wird, über sie in einer Weise hinauszukommen, die der Richter judizieren kann, dürfte eine offene Frage sein. d) Bedeutung von Schwachsinn, Psychopathie und Frühkriminalität insbesondere. 98 Es ist im Rahmen dieses Kommentars nicht möglich, die verschiedenen kriminogenen Faktoren über den gegebenen Überblick hinaus im einzelnen zu untersuchen; der Kommentar würde sonst zu einer kriminologischen Mammut-Monographie. Mit Lang-Hinrichsen (Voraufl. § 42 e Rdn. 54, 58 ff) ist jedoch aus den im folgenden erkennbaren Gründen auf die Bedeutung des Schwachsinns und der Frühkriminalität für die Hangtäterschaft bzw. -entwicklung wenigstens andeutungsweise gesondert einzugehen, und dazu auch auf das Problem der sog. Psychopathie. Hier vor allem haben sich gegenüber der Ausgangssituation der dreißiger Jahre Veränderungen im Blickpunkt ergeben. Die Bedeutung des Schwachsinns hat in der kriminologischen Beurteilung einen 99 beträchtlichen Wandel erfahren (zusammenfassend und mit weiteren Nachweisen H. Kaufmann Kriminologie I, S. 172 ff; vgl. auch GöppingerS. 151 f)· Während früher von zahlreichen Forschern aus verschiedenen Ländern unter den Kriminellen ein hoher Prozentsatz an Schwachsinnigen festgestellt wurde (Kaufmann und Göppinger aaO), sind spätere Untersuchungen zu einem durchaus abweichenden Ergebnis, nämlich zu einer geringen Kriminalitätsbelastung Schwachsinniger gelangt (Einzelheiten bei Kaufmann aaO; vgl. auch Göppinger aaO; Böker-Häfner S. 40 ff, 82). So meint Lang-Hinrichsen (aaO Rdn. 54) zu Recht, daß die Bedeutung des Merkmals fragwürdig geworden sei. H. Kaufmann selbst hält es zur Zeit wegen der methodischen Differenzen für unmöglich, die Frage zu beantworten, welcher Richtung der Untersuchungsergebnisse zuzustimmen sei (so auch Mergen S. 359). Jedenfalls dürfe der Faktor Schwachsinn und seine kriminogene Relevanz nicht losgelöst von den übrigen verbrechenshemmenden oder -fördernden Faktoren betrachtet werden. Weitgehend anerkannt ist allerdings nach wie vor, daß Schwachsinn in Kombination mit anderen kritischen Faktoren, z. B. Stimmungslabilität und Willensschwäche, sich ungünstig auswirkt, ebenso wie die Kombination von Willenlosigkeit mit Stimmungslabilität und Geltungsbedürfnis bei niedriger Intelligenz (so Göppinger S. 152). Nach den Untersuchungen von Frey (S. 102 ff) spielt Schwachsinn auch für die Verursachung der Frühkriminalität offenbar eine weit geringere Rolle als früher angenommen wurde. Für sehr groß hält Frey hingegen die Bedeutung der Psychopathien, insbesondere in den Mischformen von Willensschwäche und Impulsivität, Willensschwäche und Geltungssucht sowie Geltungssucht und Gemütskälte; vgl. dazu den folg. Text. Beim Problem der sog. Psychopathien macht sich, wenn auch aus etwas anderen 100 Gründen, ebenfalls in zunehmendem Maße Skepsis gegenüber dem „wunderlichen (235)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

Bild" (Göppinger S. 153) bemerkbar, das die meist älteren Untersuchungen über die hohe Bedeutung dieses Faktors ergeben. Nach diesen ungemein unterschiedlichen Untersuchungsergebnissen (Darstellung zum Beispiel bei Göppinger aaO ; Kallwass Der Psychopath, 1969, S. 57; H. Kaufmann aaO S. 182 ff) kann kaum zweifelhaft sein, daß verschiedenartige psychiatrische Konzeptionen dieses Begriffs in der Praxis zu bedenklichsten Handhabungen führten, vor allem wohl zu einer Handhabung, bei der aus dem Delikt oder der fehlenden Lebensbewältigung zu schnell auf eine psychopathische Persönlichkeit geschlossen wurde. So hat — z. B. — Hellmer höchstens 10 % seiner 251 Sicherungsverwahrten in die Kategorie der Psychopathen eingereiht, Frey hingegen 100% seiner Probanden. Göppinger (aaO) fand in seinen Tübinger Untersuchungen bei strenger Anlehnung an den Psychopathiebegriff Kurt Schneiders nur wenige Psychopathen. Man wird danach die pauschale Verwendung des Begriffs heute forensisch als unbrauchbar, nichtssagend und gefährlich ansehen müssen ( H . Kaufmann S. 190; Hanack Bespr. v. Kallwass, GA 1971 349; vgl. auch Göppinger S. 154; Weihrauch S. 173 und Steinhilper S. 215 als Ergebnis ihrer eigenen Untersuchungen). Eine differenziertere Persönlichkeitserforschung, die spezifische Persönlichkeitsbezüge (ζ. B. Willenlosigkeit, Stimmungslabilität, Gemütsarmut) ermittelt (dazu statt aller Göppinger S. 154 ff), wird dadurch freilich nicht überflüssig, sondern ist nach wie vor geboten. 101

Die Bedeutung der Frühkriminalität für die chronische Kriminalität ist unbestritten (vgl. z. B. Göppinger S. 234 ff; Hellmer ZStW 73 397). Lebhafte Meinungsverschiedenheiten bestehen aber bei der Frage, welche Faktoren sich hierbei auswirken und welches Gewicht ihnen zukommt (eingehend Lang-Hinrichsen aaO Rdn. 58 ff m. Nachw.). So steht nach Frey (S. 185) die Anlage, also die Persönlichkeitsstruktur, im Vordergrund, während die äußeren Verhältnisse sich nur als Verschärfungs- und eventuell als Auslösungsfaktor auswirkten, also lediglich sekundäre Bedeutung hätten. Demgegenüber hält Moser (S. 348 ff), der sich ausdrücklich gegen die Lehre vom Anlagecharakter kriminogener Charakterstrukturen wendet, aufgrund des vorhandenen empirischen Forschungsmaterials die These für wahrscheinlich, daß Jugendkriminalität in ihren schweren und dauerhaften Formen in der Unterschicht lokalisiert sei, da sozial-struktureller Druck auf die Sozialisationsfähigkeit der Familie die psychische Entwicklung bereits in frühester Jugend beeinflusse, präge oder zerstöre. Der Richter wird angesichts solcher Meinungsverschiedenheiten auch hier (vgl. schon Rdn. 95) nicht umhin können, sich nur an die relativ gesicherten Indizien und Erfahrungskriterien (vgl. ζ. B. bei Göppinger S. 234 ff) zu halten, die im Einzelfall nach dem Gesamtbild vom Täter und seinen Taten Rückschlüsse auf die Bedeutung der Frühkriminalität ermöglichen. Die Meinung von Dreher (Rdn. 18), daß es entscheidend darauf ankomme, den frühkriminellen Rückfalltäter rechtzeitig zu erkennen und die Sicherungsverwahrung nicht erst anzuordnen, wenn er den Gipfel seiner kriminellen Laufbahn überschritten habe, ist zwar kriminalpolitisch durchaus richtig. Doch nötigt das unsichere Wissen über wesentliche Faktoren — und auch über die therapeutische Beeinflußbarkeit — vielfach eben doch zur Zurückhaltung, aus der Frühkriminalität schon beim jüngeren Erwachsenen seine Hangtäterschaft abzuleiten. Die Ansicht Drehers (aaO ; vgl. auch DRiZ 1957 51), daß die gegenüber der Frühprognose skeptische frühere Rechtsprechung des BGH (s. oben Rdn. 46) die modernen Prognosemethoden zu wenig berücksichtige, erscheint daher nach wie vor höchst problematisch und überzeugt auch nicht in dem Hinweis auf Bresser JR 1974 265. Darüber, daß auch der Gesetzgeber selbst hier anders gewertet hat, s. Rdn. 46. (236)

Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (Hanack)

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6. Hang zu erheblichen Straftaten a) Allgemeines. § 66 Abs. 1 Nr. 3 verlangt, daß der Täter „infolge eines Hanges 102 zu erheblichen Straftaten für die Allgemeinheit gefährlich" ist. Im Gesetz werden „namentlich" solche Straftaten genannt, „durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird". Die Anwendung dieser Formulierung führt zu beträchtlichen Schwierigkeiten und Zweifelsfragen. So hat Tröndle (GA 1973 307) die Neufassung nicht ohne Grund gerade in ihrer „überladenen" Fassung kritisiert; es unterliegt keinem Zweifel, daß sie, wie sich bis in den Text des 1. Berichts (S. 20 f) hinein verfolgen läßt, gewisse Widersprüchlichkeiten kompromißhaft verdeckt und den Richter vor oft schwer erträgliche Wertungsprobleme stellt. Aus kriminologischer Sicht weist Göppinger (S. 305; vgl. auch Lang-Hinrichsen Vorauf!. § 42 e Rdn. 64) darauf hin, daß die Begriffe „Hang", „erhebliche Straftaten", „schwere Schädigung" und letztlich auch „Allgemeinheit" nur „recht vage Begriffe" sind; er fragt, wie man z. B. zuverlässig feststellen könne, ob die Opfer seelisch schwer geschädigt werden (dazu Rdn. 135 ff). Die Art und der Grund der künftigen Gefährlichkeit, auf die es nach dem Gesetz ankommt, lassen sich, wenn überhaupt, meist nur durch eine Prognose feststellen, die weitgehend am Bild der bisherigen Taten orientiert ist. Von diesen Taten wird, so problematisch das ist (Rdn. 65 !), daher für die Prognose in erster Linie auszugehen sein, mag sich im übrigen die Gefährlichkeit auch erst aus einer umfassenden Gesamtwürdigung des Täters und seiner Taten ergeben. Das Wort „namentlich" zeigt, daß es sich um Beispiele handelt, bedeutet also 103 nicht, daß auch Taten, die einen geringeren Schweregrad aufweisen, zur Sicherungsverwahrung führen dürfen. Vielmehr ist es im Sinne von „ 'beispielsweise' oder vielleicht noch besser 'vor allem' " zu verstehen (BGHSt. 24 153,154 f)· Der Gesetzgeber wollte nur seine „Grundentscheidung" durch die Beispiele verdeutlichen und im übrigen darauf hinweisen, daß es ebenso schwere Taten gibt, die nicht die körperliche, seelische oder wirtschaftliche Integrität schwer schädigen, aber trotzdem „erheblich" im Sinne der Vorschrift sind (Horstkotte JZ1970 152, 155). Wie der 1. Bericht (S. 20) ergibt, sollen dies Ausnahmen sein. Gedacht wurde zum Beispiel — und in recht unklarer Weise — an sexuelle Handlungen mit Kindern, weil hier schwere körperliche (?) oder seelische Schäden nicht immer nachweisbar seien, aber auch an Straßenräuber, die die Bevölkerung in besonderem Maße in Unruhe versetzen, jedoch nicht notwendig schwere Schädigungen oder große Schäden verursachen (näher dazu unten Rdn. 140 ff). b) Der Begriff der Erheblichkeit. Der Begriff der Erheblichkeit kennzeichnet im 104 Zusammenhang des § 66 Straftaten, die durch einen wesentlich erhöhten Grad von Schädlichkeit charakterisiert sind ( Weihrauch NJW 1970 1897). Wann dies der Fall ist, läßt sich meist nicht allgemein sagen, sondern hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab (BGHSt. 24 153,154 f; OLG Karlsruhe Justiz 1974 22); Einzelheiten ergeben sich aus den folgenden Darlegungen. In den meisten Fällen entscheidet die Schwere der vom Täter konkret zu erwar- 105 tenden Taten, nicht aber der abstrakte Charakter des Straftatbestandes (Sch.-Schröder-Stree Rdn. 39). Nur bei drohenden Verbrechen bedarf die Erheblichkeit regelmäßig keiner besonderen Prüfung (Sch.-Schröder-Stree aaO; vgl. auch BGHSt. 24 153, 154; BGH NJW 1976 300). Bei Vergehen differenzieren Rechtsprechung und Lehre entsprechend dem 106 Zweck der Neufassung (Rdn. 13 f) in Übereinstimmung mit der Entstehungsge(237)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

schichte und der Absicht des Gesetzgebers (BGHSt. 24 153) zwischen Taten im Bereich der mittleren und der unteren Kriminalität und scheiden die letzteren grundsätzlich aus (BGHSt. 24 153; BGH bei Daliinger M DR 1970 560 und 730; OLG Köln NJW 1971 154; OLG Nürnberg NJW 1971 1573; OLG Hamm M D R 1971 155; OLG Schleswig SchlHA 1971 67; Dreher Rdn. 14; Lackner Anm. 5 a bb; Sch.-Schröder-Stree aaO). Bei Taten im „weit gepannten" Bereich (so BGHSt. 24 153, 154) der mittleren Kriminalität gehen die Meinungen — mindestens in der Formulierung, zum Teil unverkennbar aber auch in den sachlichen Anforderungen — auseinander. Teils werden Taten dieser Art schlechthin als ausreichend angesehen (so wohl Sch.-Schröder-Stree aaO), teils weitgehend (so Lackner aaO) oder gar ganz (so, allerdings nur in der Formulierung, nicht der Sache, Dreher aaO) ausgeschlossen. Die mittlerweile wohl herrschende Rechtsprechung des BGH läßt Taten der mittleren Kriminalität „von hohem Schweregad" genügen (BGHSt. 24 153, 154; vgl. auch BGHSt. 24 160, 162; BGH GA 1974 175,176). Sonderlich ergiebig sind solche abstrakten Differenzierungen des mittleren Kriminalitätsbereichs nicht. 107

Wichtiger ist vielmehr die konkrete Wertung, ob sich der Hang des Täters auf Straftaten bezieht, die ihn als für die Allgemeinheit gefährlich erscheinen lassen, ob also die von ihm „infolge seines Hanges zu erwartenden Straftaten ihrem äußeren Erscheinungsbild, ihrer Begehungsweise nach ein solches Unrecht enthalten, so gewichtig sind, daß die Allgemeinheit vor ihnen durch die Maßregel der Sicherungsverwahrung geschützt werden muß" (BGHSt. 24 153, 155).

108

Entscheidend dafür ist das „Maß des Unrechts" und die Frage, ob die Taten „den Rechtsfrieden wirklich empfindlich stören" (BGH aaO S. 155,154; vgl. auch Lackner aaO). Bedenklich erscheint es jedoch, dabei hinsichtlich des friedensstörenden Charakters zu sehr darauf abzustellen, ob die Taten „der Bevölkerung das Gefühl der Rechtssicherheit zu nehmen geeignet sind", wie das Dreher (Rdn. 14) und ihm folgend OLG Celle (NJW 1970 1199, 1200) sowie Lang-Hinrichsen (Vora u f ! § 42 e Rdn. 66) unter Bezugnahme auf frühere Rechtsprechung meinen; denn dieses „Gefühl" ist ein sehr vager Faktor zur Bestimmung objektiv drohenden Unrechts und zur Entscheidung, ob die „letzte Notmaßnahme der Kriminalpolitik" (s. Rdn. 14) erforderlich ist; s. auch Rdn. 142. Bedenklich ist aus denselben Gründen aber auch das Abstellen auf eine „besonders gemeine Begehungsweise", die BGHSt. 24 153, 155 in einem obiter dictum erwähnt.

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Ein gewisses Indiz für die Erheblichkeit ergibt sich aus dem Umstand, daß im Rahmen der formellen Voraussetzungen für die Sicherungsverwahrung Vorverurteilungen von minderstens einem Jahr gefordert werden (so richtig Sch.-SchröderStree Rdn. 39). Der gegenteiligen Auffassung von Lang-Hinrichsen (aaO Rdn. 67) und von Greiser (NJW 1971 789, 790) ist zwar zuzugeben, daß es für die Höhe der Freiheitsstrafe nach geltendem Recht nicht nur auf die Erheblichkeit des Schadens, sondern auf zahlreiche andere Momente, insbesondere das Maß der Schuld ankommt (dazu auch BGHSt. 24 153, 155). Darum läßt sich in der Tat nicht generell annehmen, daß bei Erwartung solcher Verurteilungen notwendigerweise Taten von erheblichem Gewicht vorlägen (so aber Sch.-Schröder-Stree aaO). Doch bietet die Einjahresgrenze jedenfalls umgekehrt eine gewisse Markierung: Drohende Taten, die für sich ihrem objektiven Unrechtsgehalt nach diese Grenze nicht erreichen, scheiden für die Sicherungsverwahrung regelmäßig aus.

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c) Additive oder singulare Erheblichkeit. Umstritten ist, ob der Begriff der „erheblichen Straftat" die Zusammenrechnung mehrerer Einzeltaten zuläßt oder ob (238)

Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (Hanack)

§ 6 6

es auf den Schweregrad jeder einzelnen künftigen Tat ankommt. Das Gesetz selbst erlaubt mehrere Deutungen. Die vorhandenen Ansichten lassen sich in drei Gruppen zusammenfassen. Eine erste Ansicht gestattet als Anknüpfungspunkt nur die einzelne Tat selbst 111 (OLG Frankfurt NJW1971903, 905 ; Horn SK Rdn. 19; Weihrauch S. 83 ff. u. NJW 1970 1897,1898; Steinhilper S. 77 ff; Neu MDR 1972 915). Nur wenn die Einzeltat jeweils so schwerwiegend ist, daß die zukünftige Begehung gleicher oder ähnlicher Taten für sich „erheblich"sei, solle den neuen Taten durch die Sicherungsverwahrung vorgebeugt werden. Begründet wird dies namentlich damit, daß sonst der Schweregrad der einzelnen Tat notwendigerweise vernachlässigt und die Sicherungsverwahrung auch weiterhin auf Kleinkriminelle angewendet würde; hätte das Gesetz nicht auf die Einzeltat abstellen wollen, hätte es auf ganz andere Momente abheben müssen, nämlich vor allem auf Zahl und Häufigkeit der Delikte. Demgegenüber will Horstkotte (JZ 1970 152, 155; vgl. auch Prot. V, 2301) zwar 112 eine Gesamtbetrachtung der Einzelstraftaten zulassen, jedoch nur bei Aktionen, die auf Grund einer einheitlichen Planung eine Vielzahl von Personen um kleinere Werte schädigen (ζ. B. betrügerische Werbe- und Abzahlungskampagnen), während zahlreiche planlos begangene kleinere Schädigungen, die unterhalb des vorausgesetzten Schweregrades liegen, auch durch ihre Summierung einen schweren Schaden i. S. des § 66 nicht ausmachen könnten. In ähnlicher Weise will offenbar Koffka (Anm. in JR1971427,428) bei „planmäßigen Kampagnen" zwar fortgesetzte gewerbsmäßige Handlungen genügen lassen, nicht jedoch bloße Serientaten. Koffka hält es unter Bezugnahme auf Horstkotte auch nicht für zulässig, daß man zwar bei in kurzem Abstand sich häufenden Bagatelldelikten gleicher Art immer nur auf die Einzeltaten abstellt, hingegen „bei schnellem Aufeinanderfolgen von Taten mittlerer Kriminalität gleicher Art, auch ohne daß ein Gesamtvorsatz oder Wiederholungsvorsatz vorliegt, die Schäden" zusammenrechnet. Eine dritte Ansicht sieht demgegenüber vom Erfordernis der einheitlichen Pia- 113 nung ab, berücksichtigt aber auch nicht nur den Schweregrad jeder zu erwartenden Einzeltat, sondern hält eine zusammenfassende Gesamtschau der drohenden Einzeltaten jedenfalls im Prinzip für möglich. Etwas unterschiedlich werden dabei jedoch die Akzente hinsichtlich der Frage gesetzt, welche Anforderungen im Hinblick auf die Forderung nach „erheblichen" Straftaten an die zu erwartenden Einzeltaten gestellt werden müssen, damit aus Quantität Qualität werden kann. So neigen Sch.-Schröder-Stree (Rdn. 40) und wohl auch Dreher (Rdn. 14) unverkennbar zu der Auffassung, daß eine Vielzahl von Delikten der „unteren Kriminalität" (Sch.-Schröder-Stree) ausreichen und nur Taten der „sogenannten Bagatellkriminalität" (Sch.-Schröder-Stree) bzw. der „Kleinkriminalität" (Dreher) in der Addition die Marke der „erheblichen" Straftaten nicht erreichen, selbst wenn der Gesamtschaden erheblich wäre. Auch ein Teil der Rechtsprechung steht auf diesem Standpunkt, so BGH bei Dallinger MDR 1970 730; OLG Celle NJW 1970 1199, 1200 („Gesamtschau"); OLG Hamm NJW 1971 205 u. MDR 1971 155; OLG Karlsruhe Justiz 1971 358. In diesem Sinne hat sich ferner Blei geäußert (JA 1971 235 und AT § 115 IV 2). Demgegenüber fordern Lang-Hinrichsen (Voraufl. § 42 e Rdn. 67), Greiser (NJW 1971 789) und das OLG Hamm (MDR 1971 155; vgl. auch NJW 1971 205), daß die Einzeltaten im Bereich der mittleren Kriminalität (Lang-Hinrichsen) bzw. an der „oberen Grenze der mittleren Kriminalität" (OLG Hamm) liegen. Diese letz(239)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

tere Auffassung vertritt auch der BGH in einer Grundsatzentscheidung vom 18. 5. 1971 (BGHSt. 24 153, 155 m. Anm. Martin LM Nr. 1 zu § 42 e 1969 und krit. Anm. Koffka JR 1971 427). Der BGH hält es in Fällen der zum Bereich der mittleren Kriminalität gehörenden Vermögens- oder Eigentumsdelikte, „in denen es an der Grenze liegt, ob man schon von 'Erheblichkeit' sprechen kann", für zulässig, auf die Häufigkeit der begangenen und der zu erwartenden Taten abzustellen. Er begründet dies damit, daß das Gesetz nicht darauf abhebe, ob „durch die einzelnen Taten das einzelne Opfer wirtschaftlich schwer geschädigt wird; es genügt, daß von den Taten insgesamt ein schwerer wirtschaftlicher Schaden zu erwarten ist und daß daraus sich die Gefährlichkeit des Täters ergibt". Dies sei „eindeutig" auch die Auffassung des Sonderausschusses gewesen, da er die Anordnung der Sicherungsverwahrung für möglich halte, „wenn die Gesamthöhe des bei einer planmäßigen Betrugskampagne angerichteten Schadens sehr groß, die individuelle Einbuße der einzelnen Geschädigten aber verhältnismäßig gering ist" (so in der Tat 1. Bericht S. 20). 114

Im einzelnen sind die zitierten Gerichtsentscheidungen (außer BGHSt. 24 153) meist stark fallbezogen, so daß sich die abstrakte Tragweite der von ihnen benutzten Gesichtspunkte nicht immer klar abschätzen läßt, was es mit erklären mag, daß sie im Schrifttum nicht selten zur Stützung unterschiedlicher Meinungen herangezogen werden. Bezeichnend mag sein, daß Lackner (Anm. 5 a bb) unter Bezugnahme auf eine Reihe von Entscheidungen die Ansicht vertritt, die Häufigkeit der drohenden Taten könne „das Erfordernis der Erheblichkeit jeder einzelnen Tat nur in relativ engen Grenzen kompensieren", während Dreher (Rdn. 14) unter Hinweis auf — meist — dieselben Entscheidungen durchaus andere Grundsätze vertritt. Auch die Entscheidung BGHSt. 24 153 wird etwas unterschiedlich interpretiert, was vermutlich daran liegt, daß sie nicht mit völliger Sicherheit klarstellt (vgl. auch Sch.-Schröder-Stree Rdn. 40), ob die Zugehörigkeit zur „mittleren Kriminalität" in den Fällen „an der Grenze" nun auf die Einzeltaten oder auf ihre Häufung bezogen sein soll. Es spricht aber alles dafür, daß der BGH, dessen Ableitung im Zusammenhang mit Ausführungen zur Gefährlichkeit des Täters steht, eben nur Fälle „an der Grenze" meint und für jede Einzeltat Zugehörigkeit zur „mittleren Kriminalität" voraussetzt; das folgt wohl auch daraus, daß er in der konkreten Würdigung einige Vorstrafen des Angeklagten als „typische Fälle der Kleinkriminalität" für die Würdigung als Symptomtaten ausscheidet (S. 157).

115

Der Meinungsstreit macht die Problematik der Gesetzesregelung (s. schon Rdn. 102) schlagend deutlich. Eine wirklich befriedigende Lösung der Frage ist nach geltendem Recht kaum möglich. Am ehesten zutreffend erscheint jedoch die Auffassung, welche — in Grenzen, vgl. im folg. — eine Gesamtbetrachtung der drohenden Taten auch dann zuläßt, wenn eine einheitliche Planung nicht vorliegt. Allerdings gilt das nur für den Bereich des wirtschaftlichen Schadens. Denn anders als bei den „schweren körperlichen oder seelischen Schädigungen", wo auch die Addition verschiedener Verletzungen ihrer Natur nach aus unerheblichen Straftaten keine „erheblichen" zu machen vermag, kommt es für den Bereich des wirtschaftlichen Schadens nach dem Schutzzweck und nach dem Gesetzeswortlaut auch darauf an, ob durch die — „erheblichen" — Taten „schwerer wirtschaftlicher Schaden" droht. Das Gesetz enthält hier einen unaufgelösten Zwiespalt, indem es einerseits auf die Einzeltaten, andererseits aber auf den Gesamtschaden abstellt. Es spricht nun zwar viel dafür, daß der Gesetzgeber bzw. der Sonderausschuß, entgegen der Interpretation des (240)

Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (Hanack)

§

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BGH (BGHSt. 24 153, 155; oben Rdn. 113), i. S. Horstkottes (Rdn. 112) vor allem an Täter dachte, die irgendwie aufgrund einer einheitlichen Planung handeln, zumal er die Voraussetzungen für die Anordnung der Sicherungsverwahrung anheben und die „kleinen" Diebstähle, Unterschlagungen und Betrügereien bei der Sicherungsverwahrung nicht mehr treffen wollte (1. Bericht S. 18, 21). Aber das subjektive Merkmal der Planung ergibt vom Schutzzweck her keine überzeugende Abgrenzung (und spiegelt sich im Gesetz auch nicht wider), wenn man den Täter aus Willensschwäche mit erfaßt, wie das (s. Rdn. 79 ff) wohl unabdingbar ist. Denn die Planung einer „Betrugskampagne" zeigt zwar vielfach — wenn auch nicht immer — eine erhebliche verbrecherische Energie und Gefährlichkeit, bedeutet aber nach dem Schutzzweck nicht, daß derjenige, der aufgrund eines Hangs immer wieder ohne solche Planung straffällig wird, im Einzelfall für die Allgemeinheit weniger gefährlich ist (vgl. auch Lang-Hinrichsen Vorauf! § 42 e Rdn. 67). Es erscheint daher, im Ergebnis wohl mit BGHSt. 24 153, richtig, zwar zunächst auf das — unverzichtbare — Gewicht der Einzeltaten, also darauf abzustellen, ob sie für sich in den Bereich der „mittleren Kriminalität" mit „hohem Schweregrad" (s. Rdn. 106) gehören, in Fällen „an der Grenze" dann aber auch die Frage des drohenden Gesamtschadens zu berücksichtigen. So verstanden, kann im Sinne Lackners (Anm. 5 a bb), dem BGHSt. 24 153 „zu weit" geht, die Häufigkeit der drohenden Taten das Erfordernis der Erheblichkeit jeder einzelnen Tat auch „nur in relativ engen Grenzen kompensieren". Bedenken sind jedoch gegen die weitere Überlegung Lackners (aaO) anzumelden, daß es darauf ankomme, „ob die Häufigkeit den friedensstörenden Charakter der einzelnen Taten so erhöht, daß sie alle als erheblich angesehen werden können"; eine solche Konsequenz führt zur Ausuferung, ist logisch nicht möglich und auch zu unklar (vielleicht meint Lackner die unten Rdn. 127 f behandelten Sonderfälle). Nachdrücklich darauf hinzuweisen bleibt, daß freilich auch die hier befürwor- 116 tete eng begrenzte Gesamtbetrachtung der drohenden Schäden leicht in eine Sackgasse führen und die Intentionen der Reform verfehlen kann, wenn sie nicht wirklich streng auf Fälle „an der Grenze" beschränkt wird. Sie darf nicht dazu führen, den Umstand zu mißachten, daß die Sicherungsverwahrung als ultima ratio der Kriminalpolitik (Rdn. 14) eine Gefährlichkeit des Täters voraussetzt, die sich jedenfalls nicht aus der bloßen Summierung seiner zu erwartenden Delikte ergibt. Die Überlegung Koffkas (JR 1971427,428), daß nicht einsichtig sei, warum ein zu erwartender Gesamtschaden dann „erheblich" ist, wenn er auf „mittlere", nicht aber wenn er auf „kleine" Kriminalität zurückgeführt werden könne, markiert in der Tat die gefährliche Schwäche der hier vertretenen Position — aber eben doch eine Schwäche, die bei Beachtung der ratio legis zu überwinden ist. d) Schwerer wirtschaftlicher Schaden. Der Begriff des schweren wirtschaftlichen Schadens wirft, wie auch schon die vorausgegangenen Ausführungen (Rdn. 110 ff) zeigen, beträchtliche Schwierigkeiten auf. aa) Allgemeines. Daß Fälle des wirtschaftlichen Schadens in der Praxis einen 117 erheblichen Teil der Fälle ausmachen, in denen Sicherungsverwahrung angeordnet wird, muß nachdenklich stimmen, zumal gerade hier die Problematik der Sicherungsverwahrung (Rdn. 2) groß und fragwürdig ist. Juristisch geht es zunächst um die Frage, ob die Schwere des Schadens mehr individuell nach den wirtschaftlichen Verhältnissen der vermutlichen Opfer zu bestimmen ist oder ob es, unabhängig davon, allein auf eine objektiv zu bestimmende Schadenshöhe ankommt. Der AE hatte in § 70 Abs. 1 (wie bei den körper(241)

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liehen und seelischen Schäden) auch bei den wirtschaftlichen Schäden ausdrücklich auf die Schädigung „der Opfer", d. h. auf einen individualisierenden Maßstab abgestellt. Diese Formulierung ist vom 1. StrRG für den wirtschaftlichen Schaden bewußt nicht übernommen worden. Das Gesetz wollte damit — jedenfalls in erster Linie — wohl einen objektiv generalisierenden Maßstab entscheidend sein lassen. Der Sonderausschuß war der Meinung, daß die Sicherungsverwahrung „auch dann gerechtfertigt sein (kann), wenn die dem Verurteilten eigentümlichen Taten sich vorzugsweise gegen Opfer richten, die aus wirtschaftlichen Gründen weniger schadensempfindlich sind als andere Betroffene" (1. Bericht S. 20). Gedacht war hierbei an Täter, die sich auf Bankeinbrüche oder sonst auf die Schädigung großer Unternehmen spezialisiert haben, aber auch an Delikte gegen den Fiskus. Des weiteren wollte der Sonderausschuß, wie schon erwähnt, auch Fälle etwa einer „planmäßigen Betrugskampagne" erfaßt wissen, bei der „die Gesamthöhe des . . . angerichteten Schadens sehr groß, die individuelle Einbuße der einzelnen Betroffenen aber relativ gering ist" (vgl. dazu auch Prot. V, 2302 f, 2306). 118

Weihrauch (S. 86 ff; auch NJW 1970 1897) und Steinhilper (S. 77 ff) sind demgegenüber der Ansicht, es sei nicht möglich, absolute Schadensgrößen zu finden, so daß es bei einem konkret auf den Einzelfall abstellenden Maßstab bleiben müsse, der der konkreten Lage dieses Einzelfalles Rechnung trage (vgl. auch Grünwald ZStW 76 643). Das ist in dieser Ausschließlichkeit schwer einzusehen. Denn so schwierig es ist, absolute Schadensgrößen zu fixieren (dazu im folg.), die Schwierigkeiten einer am Individualfall orientierten Bemessung sind nicht geringer; so fällt auch auf, daß Weihrauch und Steinhilper wesentlich mit der Würdigung begangener Taten argumentieren, weniger jedoch im Hinblick auf drohende (ein verbreiteter Fehlgriff, s. auch Rdn. 121). Vor allem aber erscheint es nach System und Zweck des Gesetzes in der Tat kaum angängig, die Gefahr selbst sehr hoher Schadenssummen deswegen außer Betracht zu lassen, weil der Verlust etwa für ein Großunternehmen vielleicht kein „schwerer" Schaden wäre.

119

Eine weitere Ansicht will demgegenüber den drohenden Schaden zwar nicht ganz nach der konkreten Opfersituation bestimmen, sondern — in etwas verschieden akzentuierter Weise — generalisierend auch die allgemeinen Lebensverhältnisse der von den drohenden Taten mutmaßlich betroffenen Bevölkerungskreise mitberücksichtigen oder doch neben dem objektiven Maßstab als zusätzlichen Gradmesser heranziehen (Lackner Anm. 5 a bb ; Blei JA 1971 444 u. AT § 115 IV 2 ; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 43; Koffka JR 1971427,428; Lang-Hinrichsen Voraufl. § 42 e Rdn. 70 ff [dazu im folgenden Text]; wohl auch Maurach AT § 68 I D 3 b). Zur Anwendung eines solchen Maßstabs tendiert auch das OLG Hamburg (NJW 1971 1574, 1575), wenn es erwägt, die besondere Schutzbedürftigkeit wirtschaftlich schwacher Bevölkerungskreise besonders zu berücksichtigen (zu diesen Fragen näher Rdn. 126 ff). 120 Eine dritte Ansicht schließlich tritt, wenn auch manchmal in etwas unklarer Ausprägung, für die Abstellung auf einen rein objektiven Maßstab ein (Dreher Rdn. 14; Greiser NJW 1971 789, 790; wohl auch Horstkotte JZ 1970 152, 155). Auch der BGH (BGHSt. 24 160, 163; BGH bei Holtz MDR 1976 986) hat sich auf diesen Standpunkt gestellt. Denn er will dem Grad der Schadensempfindlichkeit und den besonderen Verhältnissen der Opfer überhaupt keine Berücksichtigung zukommen lassen. Für die kritische Frage, wie ein objektiver Wertmaßstab für die Schwere des Schadens bestimmt werden soll, stellt der BGH auf eine Ausrichtung an der materiellen Lebenshaltung des Durchschnittsbürgers ab, auf dessen Schutz die Siche(242)

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rungsverwahrung abziele. Dieses Kriterium dürfte jedoch so pauschal kaum geeignet sein, weil es zu unbestimmt ist (ablehnend auch Koffka aaO; Lackner aaO; Lang-Hinrichsen aaO Rdn. 70; ausdrücklich zustimmend aber Bockelmann AT § 43 III 1 b); Lang-Hinrichsen (aaO) meint, eine endgültige Lösung des Problems sei damit „wohl nicht gefunden". Der Meinungsstreit ist wiederum (vgl. schon Rdn. 102,115) bezeichnend für die 121 Unklarheit des Gesetzes sowie für seinen Kompromißcharakter. Der Meinungsstreit ist freilich auch stark dadurch bedingt, daß bei der Betrachtung viel zu sehr auf den durch die begangenen Taten entstandenen Schaden abgestellt wird, während es doch darauf ankommt, ob durch die künftigen Taten schwerer wirtschaftlicher Schaden zu erwarten ist. Bedenkt man dies, verliert das Problem viel von seiner Gewichtigkeit. Denn dann ist maßgebend, ob der Täter, wenn er in Freiheit bleiben würde, also ständig weiter handeln könnte, durch die Art der von ihm zu erwartenden („erheblichen") Taten einen solchen Schaden verursachen würde. Unter Berücksichtigung dieses Gesichtspunktes erscheint es nach dem Gesetzes- 122 zweck und in Übereinstimmung mit der mittlerweile wohl vorherrschenden Lehrmeinung richtig, die Frage des Schadens je nach dem drohenden Täterverhalten alternativ nach zwei objektiven Kriterien zu bestimmen : der Bedeutung des insgesamt zu erwartenden Schadens unter dem Aspekt seiner Schwere, sowie der Bedeutung des Schadens für die mutmaßlichen Opfer in ihren konkreten Verhältnissen. Das letztere Kriterium ist als ergänzender Gesichtspunkt deswegen notwendig, weil der Relationsbegriff der Schwere, wie Lackner (aaO) richtig formuliert, zwingend auch einen Bezug zur Fühlbarkeit der Einbuße für den Geschädigten voraussetzt. Es ergänzen sich also ein „generell-objektiver" und ein „speziell-objektiver" Maßstab (Lang-Hinrichsen Voraufl. § 42 e Rdn. 71, 73). bb) Generell-objektiver Maßstab. Seine eigentliche Schwierigkeit liegt, wie 123 bemerkt, in der Frage, ob es möglich ist, irgendwie eine absolute Schadensgröße zu fixieren. Lang-Hinrichsen (aaO Rdn. 71 f; vgl. auch Maurach-Festschrift, S. 319) hat gemeint, daß trotz aller Schwierigkeiten versucht werden müsse, eine solche absolute Größe zu finden, um § 66 insoweit praktikabel zu machen und eine gewisse Einheitlichkeit der Handhabung herbeizuführen. Er hat, unter Berücksichtigung des Grundgedankens der Neuregelung, versucht, eine derartige Größe durch den Bezug zum monatlichen Einkommen des Bürgers zu ermitteln, freilich nicht verkannt, daß sich dabei „eine gewisse Willkürlichkeit" der Festsetzung nicht vermeiden lasse, und betont, daß es sich auch nur um eine Richtlinie handeln könne. Sein Gedanke ist, daß es „in einer Zeit, in welcher die Arbeit im Mittelpunkt des sozialen Lebens steht oder stehen soll", naheliege zu fragen, „wie lange der Durchschnittsbürger arbeiten muß, um einen bestimmten Schaden wieder abzugleichen", weil danach „im Leben allgemein die Erheblichkeit des Schadens bemessen" werde. Von diesem Gesichtspunkt aus erachtet Lang-Hinrichsen einen Betrag, der dem dreimonatigen Durchschnittseinkommen eines Bürgers entspricht, stets für einen schweren wirtschaftlichen Schaden, und zwar auch bei juristischen Personen, Verbänden, großen Unternehmen, dem Fiskus, also völlig „losgelöst von den jeweiligen individuellen Umständen, den Einkommens- und Vermögensverhältnissen". Er verwies dabei auf Koffka (JR 1971 427,428), die eine Schadenshöhe — „mehrere tausend DM" — für erforderlich hält, die auch einen „Angehörigen der gehobenen (243)

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Mittelklasse" schwer treffen würde (vgl. jetzt auch BGH bei Holtz MDR 1976 986: 4000 DM)· Lang-Hinrichsen verstand seine Meinung, die mehr ein Vorschlag war, ausdrücklich als eine „ 'Eindruckstheorie' ": „Bei einem Schaden der angegebenen Höhe kann man davon ausgehen, daß sich in der Öffentlichkeit der Eindruck der Erheblichkeit bildet und das Gefühl der Rechtssicherheit und der Rechtsfrieden erheblich gestört sind". 124 Die Überlegung von Lang-Hinrichsen wird ausdrücklich bejaht von Horn (SK Rdn. 18) und ausdrücklich abgelehnt von Sch.-Schröder-Stree (Rdn. 43), während sie im übrigen Schrifttum bisher ohne nähere Auseinandersetzung lediglich referiert worden ist. Sch.-Schröder-Stree halten die Festlegung einer zahlenmäßigen Grenze für unmöglich und sehen in der Meinung von Lang-Hinrichsen eine Bestätigung ihrer These (s. Rdn. 113), daß sich die Schwere des Schadens auch aus einer Addition von kleineren Schädigungen ergeben könne. 125

Folgt man dieser These nicht (oben Rdn. 109, 116) — und ihr wollte an sich auch Lang-Hinrichsen nicht folgen (aaO Rdn. 67) —, sind seine Überlegungen schon insoweit Bedenken ausgesetzt, weil sie in keiner Relation zum Begriff der „erheblichen" Straftaten stehen, sondern rein am Ergebnis eines Gesamtschadens anknüpfen. Im übrigen ist der Maßstab als solcher problematisch, wie Lang-Hinrichsen selbst deutlich macht, wenn er formuliert, daß man „nicht unbedingt" auf der Dreimonatsgrenze bestehen müsse, sondern „etwa auch an das zweimonatliche oder viermonatliche Arbeitseinkommen denken" könne. Immerhin ergeben die Überlegungen von Lang-Hinrichsen aber doch wohl einen gewissen Anhaltspunkt, der für die Frage der generellen Schadenshöhe in Grenzfällen eine plausible Bedeutung besitzt. Allerdings gilt dies nur im "Zusammenhang mit dem unverzichtbaren Rückgriff auf die Klausel von den — für sich — „erheblichen Straftaten" und von der „Gefährlichkeit des Täters für die Allgemeinheit": Das Erfordernis der „erheblichen" Straftaten soll nach dem erkennbaren Willen des Gesetzes und des Gesetzgebers die „kleinen" Diebstähle, Unterschlagungen und Betrügereien" ausschließen (Rdn. 115). Gehen die zu erwartenden Taten über diesen Bereich hinaus, kommt es primär auf ihre vermutliche Art und Häufigkeit, also die spezifische „Gefährlichkeit" des Täters an. Diese Gefährlichkeit ist aber nur dann zu bejahen, wenn ohne die Verwahrung vom Täter wegen seines Hangs immer wieder Straftaten mit sich entsprechend häufenden Schäden zu erwarten wären ; sie hängt also entscheidend von Art und Häufigkeit der zu erwartenden Taten ab. Bei Bestimmung dieser Frage aber kann die Höhe des zu erwartenden Gesamtschadens im Einzelfall durchaus eine Rolle spielen. Und dafür ergeben die Überlegungen von Lang-Hinrichsen einen Ansatz, so scheußlich der Gedanke ist, einen Menschen wegen ein paar tausend DM in Sicherungsverwahrung zu nehmen. 126 cc) Speziell-objektiver Maßstab. Wie schon bemerkt (Rdn. 122), ist bei der Prüfung, ob schwerer wirtschaftlicher Schaden droht, ergänzend auch mit auf die konkreten Verhältnisse der mutmaßlichen Opfer abzustellen, weil der Relationsbegriff der Schwere Bezug zur Fühlbarkeit der Einbuße voraussetzt. Damit entsteht die schwierige und streitige Frage, ob der Begriff der Schwere bei bestimmten Fallgruppen auch „speziell-objektiv" dergestalt verstanden werden darf, daß schon eine geringe Schadensempfindlichkeit der Opfer ausreicht, um einen schweren Schaden zu bejahen. Kritisch ist die Frage, weil auf diese Weise die Intention des Gesetzes, die „kleinen" Diebstähle, Unterschlagungen und Betrügereien auszuschließen (Rdn. 115), (244)

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leicht unterlaufen werden kann, so daß es schließlich doch zur gerade nicht gewollten Addition von Taten aus dem Bereich der Kleinkriminalität kommt. Andererseits ist nicht zu bestreiten, daß unter besonderen Umständen auch relativ geringe Schäden Opfer schwer treffen können, wenn sie zu den wirtschaftlich schwachen Schichten der Bevölkerung gehören. Es muß daher versucht werden, zwischen den widerstreitenden Gesichtspunkten — einerseits der Ausscheidung der sog. kleinen Kriminalität, andererseits der Berücksichtigung des Schutzbedürfnisses gerade auch sozial Schwacher — einen sachgemäßen Ausgleich zu Finden. Dieser Ausgleich kann nur in dem Gedanken liegen, solche Täter mit besonde- 127 ren Maßstäben zu messen, die ihre Opfer zielgerichtet in entsprechenden Kreisen suchen, also ζ. B. durch Diebstähle und Betrügereien gegenüber Rentnern, durch Heiratsschwindeleien gegenüber armen Witwen. In dieser Richtung bewegen sich, wenn auch mit etwas unterschiedlichen Akzenten, Überlegungen des OLG Hamburg (NJW 1971 1574), von Koffka (JR 1971 427, 428), Lang-Hinrichsen (aaO Rdn. 73 0, Blei (JA 1971 444; AT § 115 IV 2) und Sch.-Schröder-Stree (Rdn. 40). Dies dürfte auch den Intentionen des Gesetzgebers entsprechen, der mit der Ablehnung des §70 Abs. 1 AE (oben Rdn. 117) zwar die Berücksichtigung einer geringen Schadensempfindlichkeit wirtschaftlich vermögender Personen oder Unternehmen ausschließen wollte, kaum jedoch die besondere Schadensempfindlichkeit einkommensschwacher Schichten. Der 1. Bericht (S. 20) nennt allerdings nur den Fall der „planmäßigen Betrugskampagne", bei der „die Gesamthöhe des . . . angerichteten Schadens sehr groß, die individuelle Einbuße der einzelnen Geschädigten aber verhältnismäßig gering ist". Dieser Maßstab ist jedoch zu eng und kann den Richter nicht binden. Einmal kommt es, weil die Schadensfrage nicht unabhängig von der Opferseite zu bemessen ist (Rdn. 122), nicht notwendig nur auf die abstrakte Höhe des Gesamtschadens an. Zum anderen trifft die Formulierung von der „planmäßigen Kampagne" nur insofern das Richtige, als es darum geht, ob nach dem Bild vom Täter und seinen Taten zu erwarten ist, daß er sich seine Opfer zielgerichtet in wirtschaftlich schwachen Bevölkerungsschichten aussucht. Planmäßigkeit, etwa in der juristischen Form des Gesamtvorsatzes (Fortsetzungszusammenhang), braucht dabei jedoch nicht notwendig vorzuliegen. Es reicht eine chronische Neigung, weil sie die spezifische Gefährlichkeit des Täters i. S. des § 66 ausmacht, so daß es also auch hier wieder insbesondere auf Art und Häufigkeit der Delikte ankommt. Das Problem der auszuscheidenden „kleinen" Diebstähle, Unterschlagungen und Betrügereien ist nur bei der Frage relevant, ob die dem einzelnen drohenden Schäden für ihn empfindlich sind. Dabei ist jedoch, entgegen Weihrauch und Steinhilper(oben Rdn. 118), auch hier 128 nicht auf die konkrete individuelle Schadensempfindlichkeit der einzelnen Person abzustellen, schon weil das im Hinblick auf die drohenden Taten letztlich gar nicht möglich sein dürfte. Abzustellen ist vielmehr auf die objektiven Verhältnisse der jeweils betroffenen Bevölkerungsschicht (so auch Lang-Hinrichsen aaO Rdn. 73 ; OLG Hamburg NJW 1971 1574, 1575). Als Maßstab der Erheblichkeit hat LangHinrichsen insoweit eine Gefährdung oder Einschränkung der Lebenshaltung für ein bis zwei Monate angesehen, wobei dies auch dann gelten soll, wenn die Opfer um Ersparnisse gebracht werden, die zwar nicht gegenwärtig der Lebenshaltung dienen, wohl aber Rücklagen für besondere Fälle — Krankheit, Heirat, Alter — (245)

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darstellen. Damit steht es im Einklang, wenn das OLG Hamburg (aaO) die Entwendung von 350,— DM, einen Betrag, der der monatlichen Rente des Opfers gleich kam, als schweren wirtschaftlichen Schaden ansah. 129 Darauf hinzuweisen bleibt (auch angesichts der zit. Entscheidung) noch einmal, daß die dargelegte Meinung immer nur gelten kann, wenn festgestellt ist, daß sich die kriminelle Gefährlichkeit des Täters in der genannten Weise zielgerichtet gegen wirtschaftlich Schwache richtet. Das gilt auch für die Frage, ob eine begangene Einzeltat, für sich betrachtet, schweren Schaden angerichtet hat; hier ist dann besonders zu beachten, daß die begangene Tat symptomatischen Charakter für den Hang und die weitere Gefährlichkeit des Täters haben muß (näher Rdn. 156 ff)· 130 e) Schwere körperliche Schädigung. Ähnliche Probleme wie bei der Feststellung des schweren wirtschaftlichen Schadens ergeben sich beim Merkmal der „schweren körperlichen Schädigung". Allerdings reicht hier, wie schon der Gesetzeswortlaut verdeutlicht, die Addition geringer Schäden niemals, weil es stets nur um die drohende Schädigung von Individualpersonen geht, die auch durch eine Fülle geringer Schäden bei verschiedenen Personen nicht größer wird. Zweifelhaft bleibt jedoch, wie beim wirtschaftlichen Schaden, ob ein individueller Maßstab, etwa im Hinblick auf den Beruf der Opfer, oder ein genereller Maßstab zugrunde gelegt werden muß. Das Problem ist noch wenig erörtert. In den meisten Erläuterungswerken wird es überhaupt nicht oder doch jedenfalls nicht in eindeutiger Weise behandelt; auch in der Spezialliteratur finden sich nur wenige Ansätze. 131 Weihrauch (S.91 f; auch NJW 1970 1897,1899) will einen absoluten Maßstab anlegen, weil hinsichtlich der Körperintegrität alle Menschen gleich seien und sich eine unterschiedliche Bewertung daher insoweit verbiete (ähnlich im Ergebnis, wenn auch aus anderen Gründen, Horn SK Rdn. 18). Als erheblich sieht Weihrauch danach einen körperlichen Schaden dann an, wenn er irreparabel ist und der Betroffene durch ihn in seinen körperlichen Fähigkeiten gemindert oder in einer schwer zu ertragenden Weise in seiner äußeren Erscheinung herabgesetzt wird, wie das bei allen Schädigungen i. S. des § 224 der Fall sein soll. Die gegenteilige Auffassung, also einen individuellen Maßstab, befürwortet Steinhilper (S. 87 f)· Er will darauf abstellen, ob das Opfer wegen der Schädigung „nicht mehr oder nur noch erheblich behindert in dem sozialen und beruflichen Wirkungskreis tätig sein kann, in dem es vorher tätig war". Auf die konkrete Ausgestaltung der einzelnen Tat und ihre Wirkungen heben unter Ablehnung eines generellen Maßstabs auch Sch.-Schröder-Stree ab (Rdn. 42). Lang-Hinrichsen (Voraufl. § 42 e Rdn. 75) hat einen differenzierenden Standpunkt eingenommen: zu unterscheiden sei zwischen Schäden, die sich im wesentlichen bei allen Menschen gleich auswirken und darum auch für jedes betroffene Opfer, sowie Schäden, bei denen es auf die Individualität des Verletzten ankomme. Zur ersteren Gruppe rechnet Lang-Hinrichsen im Anschluß an die Normierung des § 224 das Sehvermögen auf einem oder beiden Augen, das Gehör, die Sprache, die Zeugungsfähigkeit sowie das Verfallen in Siechtum, Lähmung oder Geisteskrankheit, aber auch die schwere Schädigung wichtiger innerer Organe, etwa der Leber oder der Niere. Die zweite Gruppe sieht er in den „wertausfüllungsbedürftigen Begriffen" des § 224 (wichtiges Glied, erhebliche dauernde Entstellung), wo es, im Sinne auch einer neueren Betrachtung des § 224, auf die speziellen Folgen für den Verletzten ankomme. Im Ergebnis führt das weitgehend zur Meinung Steinhilpers, wie auch die kritischen Beispiele zeigen (Verlust des Fingers bei einem Geiger, Narbe einer Schauspielerin). (246)

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Die geschilderten Überlegungen sind ζ. T. reichlich akademisch und treffen 132 kaum die eigentliche Problematik, weil sie wiederum (vgl. schon Rdn. 118, 121) zu sehr an der Betrachtung nicht der drohenden, sondern der durch Vortaten angerichteten Schäden orientiert sind. Wer spezialisiert sich schon — wenn er nicht komplett schuldunfähig ist (§§ 20, 63) — hangmäßig auf das Abschlagen von Geigerfingern oder die Verunstaltung von Schauspielerinnen? Es geht doch darum, ob der Hang des Täters die Gefahr „schwerer" körperlicher 133 Schäden erwarten läßt. Dafür aber kommt es typischerweise nicht auf die feinen — und problematischen — Ziselierungen des § 224 bei der Würdigung eingetretener Schäden an. Entscheidend sind vielmehr die Neigungen, die Methoden und die typischen Verhaltensweisen des Täters, also etwa die Frage, ob er, unjuristisch ausgedrückt, als „chronischer Wirtshausschläger" „gefährlich" oder nur „rüde" ist. Nur von daher läßt sich klären, ob vom Täter die Gefahr „schwerer" Körperschäden zu erwarten ist, nicht aber von den mehr oder weniger zufälligen Auswirkungen begangener Einzeltaten (ähnlich Horn SK Rdn. 18). Ist der Hang — nach den geschilderten Kriterien — so, daß er für die potentiellen Opfer die Gefahr erheblicher und unkontrollierbarer Auswirkungen zeitigt, ist der Hang auf „schwere" Schädigungen gerichtet. Daß er speziell auf die Folgen des § 224 ausgerichtet ist, ist hingegen nicht zu verlangen (so im Ergebnis auch BGH bei Daliinger MDR 1972 16; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 42; Dreher Rdn. 14; unklar aber Horn aaO). § 224 enthält allenfalls einen — nicht vollständigen, aber auch nicht nötigen — Anhaltspunkt für die Richtung, ebenso übrigens wie § 223 a nur eine Auswahl der für die Schwere der Schädigungen wesentlichen Angriffsmethoden darstellt. Im übrigen muß es sich beim Begriff der körperlichen Schädigung immer um 134 Delikte handeln, bei denen die Gefahr einer solchen Schädigung im Schutzbereich der Norm liegt; vgl. dazu die Ausführungen im folgenden Text zum Begriff des schweren seelischen Schadens, in dem auch auf die Abgrenzung zwischen „körperlichen" und „seelischen" Schäden eingegangen wird. f) Schwere seelische Schädigung. Besonders schwierig ist die Frage, wann 135 „schwere seelische Schädigungen" für das Opfer zu erwarten sind (vgl. auch GöppingerS. 305; oben Rd. 102). Nicht nur das Maß der „Schwere", sondern selbst der Kausalzusammenhang (dazu eingehend Steinhilper insbes. S. 115 ff) werden sich, streng genommen, schon für die begangenen, vor allem aber für die drohenden Taten vielfach kaum oder gar nicht klären lassen. Gerade bei Sexualdelikten, um die es vor allem geht (vgl. im folg.), ist, entgegen einer wohl noch immer verbreiteten Auffassung, die Problematik seelischer Schäden und ihrer Erheblichkeit höchst komplex und von Delikt zu Delikt, ja sogar von Opfer zu Opfer höchst unterschiedlich. Der Begriff der seelischen Schädigung ist ungewöhnlich. Vorausgesetzt wird 136 zwar immer, daß er durch Straftaten entsteht. Auch ist eine genauere Abgrenzung zu den körperlichen Schäden in der Praxis meist nicht erforderlich, weil beide Schädigungen gleichgestellt werden; ob ζ. B. die durch eine Überdosis von LSD ausgelöste Psychose (vgl. Lang-Hinrichsen Maurach-Festschrift, S. 323) zu den schweren seelischen Schädigungen zählt (so Lang-Hinrichsen) oder zum Körperschaden (wie die traditionelle Auslegung als „Gesundheitsbeschädigung" i. S. des § 223 vielleicht näher legt), kann daher im Ergebnis insoweit offen bleiben. Zweifelhaft und, soweit erkennbar, noch überhaupt nicht bedacht ist folgendes: 137 Schwere seelische Schäden können — abstrakt wie konkret — als Folge jeder Straftat auftreten; sie sind ζ. B. auch bei Diebstählen, ja selbst bei Delikten gegen den (247)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

Staat denkbar. Es fragt sich daher, ob die Gefahr solcher Schäden bei jedem Delikt berücksichtigt werden muß oder nur bei solchen, bei denen die Vermeidung seelischer Schäden irgendwie noch zum spezifischen Schutzzweck der Bestimmung gehört. Die Frage hat eine gewisse — freilich nicht zu überschätzende — praktische Relevanz, weil mit ihrer Entscheidung zugleich einiges auch für die Auslegung des Begriffs „namentlich" präjudiziell wird (dazu Rdn. 140 ff). Richtigerweise wird man annehmen müssen, daß der Begriff der seelischen Schädigungen nur solche Schäden erfaßt, die zu verhindern mindestens noch mittelbar im Schutzbereich der Norm liegt. Denn jede andere Betrachtung würde diesen Schutzzweck in der bedenklichsten Weise ausdehnen und dazu führen oder führen können, in den Bannkreis der Sicherungsverwahrung auch Folgen zu schlagen, die zu treffen der Tatbestand nicht eingerichtet ist. Bei welchen Delikten der seelische Schaden noch im Schutzbereich der Norm liegt, ist für jeden Tatbestand besonders zu ermitteln. Nicht hierher gehören sicher Delikte gegen den Staat, aber auch nicht die „reinen" Eigentums- und Vermögensdelikte. Erfaßt werden dürften hingegen — in zum Teil unauflösbarer Überschneidung mit den „körperlichen" und sogar mit den „wirtschaftlichen" Schädigungen — : Delikte gegen die Selbstbestimmung, also insbesondere die meisten Sexualdelikte, aber auch Abtreibungsdelikte nach §218 Abs. 2 Nr.l; Delikte gegen die persönliche Freiheit im engeren Sinne, soweit bei ihnen, und sei es über den Wortlaut des Gesetzes hinaus (z. B. § 241 a), auch die seelische Gesundheit als geschützt gelten muß ; Gewalt- und Aggressionsdelikte, selbst wenn sie im System des Gesetzes anders eingeordnet sind, sofern sie nur nach ihrem tatsächlichen Erscheinungsbild entscheidend auf Gewalt und Aggression aufbauen (also im Einzelfall ζ. B. Raub, ja selbst Diebstahl nach § 244 Abs. 1 Nr. 2) ; Delikte, die in sonstiger Weise speziell auch die seelische Gesundheit treffen (§ 223 b ; Rauschgiftdelikte). 138 Durch welche Arten von („erheblichen") Straftaten Opfer seelisch schwer geschädigt werden können, ist, wenn man genauer hinsieht, aber trotz der im vorigen genannten Beschränkung eine geradezu verzweifelt schwierige Frage, die sich der Gesetzgeber wohl kaum ausreichend überlegt hat. Denn an sich können selbstverständlich — je nach der Begehungsweise und den konkreten äußeren Umständen — schwere seelische Schädigungen ζ. B. auch durch Exhibitionismus (§ 183) vor Kindern oder in Nonnenklöstern, durch spezielle Formen der sexuellen Ärgerniserregung (§ 183 a), durch Verbreitung pornographischer Schriften (§184 — jedenfalls nach der gesetzlichen Wertung dieses Tuns), ja im konkreten Fall selbst durch jugendgefährdende Ausübung der Prostitution (§ 184 b) und durch bestimmte Methoden der Beleidigung (§§ 185 ff) entstehen. Ersichtlich sind solche Delikte aber nicht gemeint (für Exhibitionismus zweifelnd schon BGH 2 StR 458/70 v. 25.11.1970; ebenso Dreher Rdn. 14; vorsichtiger Horstkotte JZ 1970 152, 155 und Lang-Hinrichsen Vorauf!. § 42 e Rdn. 64: „in der Regel" fehlende Erheblichkeit). Man wird vielmehr nach dem Zusammenhang der schweren Schädigung mit dem Begriff der „erheblichen" Straftaten annehmen müssen, daß der Gesetzgeber, wiewohl er die genannten Delikte als Kriminalunrecht begreift, bei § 66 nur an Straftatbestände dachte, bei denen es typischerweise um mehr geht als um Belästigung und Ärgerniserregung im weitesten Sinne, selbst wenn die Delikte im Einzelfall nach der Art ihrer Begehung und dem Hang des Täters einmal die Gefahr weitergehender Schäden bergen. Danach dürften z. B. Beleidigungsdelikte grundsätzlich ausscheiden, aber auch alle anderen Delikte im Rahmen des 14. Abschnitts, für die Freiheitsstrafe nur bis zu einem Jahr (s. Rdn. 119) vorgesehen (248)

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ist; dafür spricht auch, daß das Gesetz insoweit nicht einmal Führungsaufsicht besonders vorgesehen hat. Schwierigkeiten macht weiter, wie schon angedeutet, die Frage, wann bei 139 „erheblichçn" Straftaten im Einzelfall schwere seelische Schädigungen zu erwarten sind, weil insoweit höchst komplexe und von Fall zu Fall verschiedene Konstellationen von Bedeutung sind. Angesichts dieser Vielschichtigkeit dürfte wie folgt zu differenzieren sein. Der Richter wird stets auf Besonderheiten des Einzelfalles zu achten haben. So ist es ζ. B. denkbar, daß ein hangmäßig fixierter Pädophiler seine Taten nur an einem bestimmten Opfertyp und so vornimmt, daß ein schwerer seelischer Schaden nicht zu erwarten ist. Selbst bei der Vergewaltigung ist es vorstellbar, daß der Hangtäter, etwa weil er nur Frauen Gewalt antut, mit denen er schon in Geschlechtsbeziehungen gestanden hat und die Gewaltanwendung jeweils an der Grenze liegt, im Einzelfall nicht die Gefahr schwerer seelischer Schäden besorgen läßt (mögen solche Fälle in der forensischen Praxis auch so gut wie nie auftauchen). Liegen derartige Besonderheiten nicht vor, wird man hingegen, wenn die Klausel praktikabel sein und ihre Anwendung dem Zweck des Gesetzes genügen soll, beim seelischen Schaden schon die abstrakte Gefahr eines solchen Schadens als ausreichend ansehen müssen (Steinhilper S. 122), soweit für sie sichere Anhaltspunkte vorliegen (Steinhilper S. 263 ; zustimmend Lang-Hinrichsen aaO Rdn. 76), die sich vielfach von selbst ergeben. Dies entspricht auch den Vorstellungen des Gesetzgebers, wie sie im 1. Bericht zum Ausdruck kommen. Denn in ihm wird darauf hingewiesen (S. 20), daß sich ein schwerer seelischer (oder körperlicher) Schaden bei Sexualdelikten an Kindern oft nicht in allen Fallgestaltungen nachweisen lasse, daß hier aber, wie das Wort „namentlich" ergebe, die Anordnung der Sicherungsverwahrung auch dann der Grundentscheidung des Gesetzgebers entsprechen könne, wenn der Richter nicht in der Lage sei, mit der erforderlichen Sicherheit im Einzelfall festzustellen, ob durch die vom Täter zu befürchtenden Taten ein schwerer seelischer Schaden drohe. g) Die Bedeutung der „namentlich"-Klausel. Wie schon dargelegt (Rdn. 102 f), 140 wollte der Gesetzgeber mit dem Wort „namentlich" zum Ausdruck bringen, daß die Umschreibung der Gefährlichkeit in § 66 Abs. 1 Nr. 3 nur seine „Grundentscheidung" verdeutlicht, daß aber „ausnahmsweise" die Sicherungsverwahrung auch in Fällen in Betracht kommt, die nicht unter die ausdrückliche Umschreibung fallen. Die Frage ist, welche Fälle oder Fallgruppen das sind. Der Gesetzgeber selbst hat angedeutet (1. Bericht S. 20), daß es sich — „aus- 141 nahmsweise" — um Fälle handeln könne, in denen der Richter eine drohende schwere körperliche oder seelische Schädigung oder einen drohenden wirtschaftlichen Schaden im Einzelfall nicht mit der erforderlichen Sicherheit feststellen kann. Diese Formulierung ist insofern einigermaßen verwirrend, als es selbstverständlich nicht darum gehen kann, die Feststellung der erforderlichen Gefährlichkeit zu überspielen. Gemeint sind vielmehr, wie auch die Beispiele des 1. Berichts zeigen (s. oben Rdn. 103), in erster Linie Fälle, in denen die vom Täter tatsächlich zu erwartenden Taten zwar typischerweise die Gefahr schwerer Schädigungen oder Schäden enthalten, sich der konkrete Eintritt solcher Schäden aber bei der Prognose im Hinblick auf die Zukünftigkeit der Taten nicht mit der gleichen Exaktheit feststellen läßt wie ζ. B. das Vorliegen einer schweren körperlichen Schädigung bei einer begangenen Tat. Diese Situation ist vor allem bei der Gefahr seelischer Schäden, in (249)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

Grenzen vielleicht auch bei der Gefahr körperlicher Schäden denkbar, während sie bei drohenden wirtschaftlichen Schäden kaum eine Rolle spielen dürfte. 142

Mit dem geschilderten Gesichtspunkt mischt sich ein anderer, der im 1. Bericht ebenfalls zum Ausdruck kommt, nämlich der einer „Beunruhigung der Bevölkerung" (Beispiel vom Straßenraub, s. Rdn. 103). Vor allem Dreher (Rdn. 14), dem sich das OLG Celle (NJW 1970 1199, 1200) angeschlossen hat, betont - im Zusammenhang mit dem Kriterium von der Bedrohung des Rechtsfriedens als Merkmal der „erheblichen Straftaten" (oben Rdn. 108) — ganz generell die Eignung, „der Bevölkerung das Gefühl der Rechtssicherheit zu nehmen". Dreher nennt als Beispielsfälle „sexuelle Nötigung, nächtliche Wohnungseinbrüche, Kraftfahrzeugdiebstähle". Daß es sich insoweit regelmäßig um „erhebliche Straftaten" handelt, selbst wenn schwere Schädigungen oder Schäden im Einzelfall nicht sicher zu prognostizieren sind, ist in der Tat anzunehmen. Bedenklich muß es jedoch erscheinen, das mit dem „Gefühl der Rechtssicherheit" zu begründen. Denn so richtig es ist, daß das Strafrecht Rechtssicherheit auch im „Gefühl" der Bevölkerung garantieren soll, so fragwürdig ist es doch, ein solches Gefühl als indiziellen Faktor für die Frage mit heranzuziehen, ob ein Täter über die Strafe hinaus wegen seiner Gefährlichkeit verwahrt werden muß. Die Gefährlichkeit, um die es bei der Sicherungsverwahrung als letzter Maßnahme der Kriminalpolitik geht, ist grundsätzlich nach der objektiven Bedeutung der vom Täter drohenden Gefahr für tatbestandlich geschützte Rechtsgüter zu bestimmen, nicht aber unter Zuhilfenahme mehr emotionaler Ängste und Besorgnisse (vgl. schon Rdn. 108).

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Straftatbestände, die ihrer Art nach keine schweren Schädigungen oder Schäden i. S. der ausdrücklichen Umschreibung des § 66 Abs. 1 Nr. 3 besorgen lassen, aber dennoch die Sicherungsverwahrung rechtfertigen können, sind selten. Straftaten nach § 248 b kommen nicht nur „vor allem" (so aber Dreher Rdn. 14 unter Hinweis auf RGSt. 73 197; BGHSt. 21 330) im Zusammenhang mit anderen Delikten, sondern allein in solchem Zusammenhang in Betracht, weil der Schutzbereich des § 248 b für sich noch nicht die Höhenmarke der „erheblichen" Straftat erreicht. Dasselbe gilt für den Hausfriedensbruch (so wohl auch OLG Hamburg NJW 1971 1574, 1575). Fahren ohne Fahrerlaubnis scheidet nach BGHSt. 19 98 aus (gegen BGHSt. 17 213; zustimmend Dreher aaO). In Betracht kommen jedoch — entsprechenden Hang vorausgesetzt — Delikte von allgemeiner und abstrakter Gefährlichkeit, so Geldfälschung (§§ 146 ff), aber auch politisch-weltanschaulich motivierte Delikte (dazu Rdn. 76), etwa Volksverhetzung (§ 130) und insbesondere Bildung krimineller Vereinigungen nach §§ 129,129 a, oder Zuhälterei nach § 181 a n. F. (zu § 181a a. F. siehe BGH GA 1974 175), soweit sie als Delikt zum Schutz der Dirne (Absatz 1) nicht schon vom Begriff der „schweren seelischen Schäden" erfaßt wird.

144

7. Gefährlichkeit für die Allgemeinheit. Infolge seines Hangs zu erheblichen Straftaten muß der Täter „gefährlich" sein, und zwar gefährlich „für die Allgemeinheit". Dabei kommt es (näher Rdn. 150 ff) auf die Gefährlichkeit im Zeitpunkt der Urteilsfindung an. a) Allgemeines. Horn (SK Rdn. 20) meint, die Klausel, daß der Täter „für die Allgemeinheit gefährlich" ist, habe gegenüber der Prognose, er werde infolge seines Hangs erhebliche Straftaten begehen, keine eigenständige Funktion; die Klausel solle vielmehr nur deutlich machen, daß die Sicherungsverwahrung allein zur Sicherung der Allgemeinheit vor dem besonders gefährlichen Täter, nicht aber etwa (auch) zu dessen Besserung angeordnet werden dürfe. (250)

Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (Hanack)

§

66

Daran ist richtig, daß die Gefährlichkeit des Täters in der Regel indiziert ist, wenn seine Eigenschaft als Hangtäter, und zwar bezogen auf „erhebliche Straftaten", festgestellt ist (so auch Sch.-Schröder-Stree Rdn. 37). Doch bleibt nicht nur die — im übrigen auch von Horn behandelte — Beziehung der „Gefährlichkeit" zur „Allgemeinheit" sowie die Frage, ob ausnahmsweise besondere Umstände zur Verneinung der künftigen Gefährlichkeit berechtigen (dazu Rdn. 151 f). Nach der üblichen Sicht ist vielmehr im Rahmen der Gefährlichkeit auch die Frage des Grades der Wahrscheinlichkeit weiterer Taten zu prüfen, die mit dem „Hang" zwar im engsten Zusammenhang steht, aber doch jedenfalls ein eigenständiges Prüfungsmerkmal bezeichnet, das besser im Rahmen der Gefährlichkeit als des Hangs erörtert wird, zumal nach der Rechtsprechung dabei auch wieder die Problematik der „Störung des Rechtsfriedens" eine Rolle spielt (vgl. Sch.-Schröder-Stree Rdn. 35; Lang-Hinrichsen Voraufl. § 42 e Rdn. 80 je m. Nachw.). Daher soll auch hier so verfahren werden, wobei darauf hinzuweisen ist, daß die Einordnungsfrage sachliche Bedeutung nicht besitzt, solange man sich der verschiedenen Sachkriterien, um die es geht, bewußt bleibt. Im übrigen zeigen die Einordnungsprobleme nur die Verschlungenheit der einzelnen Gesetzesmerkmale und die Bedeutung der „Gesamtwürdigung". b) Gefährlich ist der Täter, wenn von ihm aufgrund seines Hangs erhebliche 145 Straftaten mit Wahrscheinlichkeit zu erwarten sind. Wie im vorigen bemerkt, ist das bei festgestellter Hangtätereigenschaft in bezug auf erhebliche Taten zwar in der Regel zu vermuten, aber dennoch stets gesondert zu prüfen. Zum Begriff der Gefährlichkeit im allgemeinen s. näher Rdn. 44 ff vor § 61. Die bloße Möglichkeit künftiger Straftaten reicht nach dem dort Gesagten nicht (allg. Meinung). Andererseits ist aber auch nicht erforderlich, daß die künftigen Straftaten mit Sicherheit zu erwarten sind (RG DJ 1938 1794; Dreher Rdn. 15). Es muß genügen, daß sie aufgrund des Hanges ernsthaft zu besorgen sind (BGH NJW 1968 997; Dreher aaO; Lang-Hinrichsen aaO Rdn. 78). Demgegenüber stellen Sch.-Schröder-Stree (Rdn. 35) und Lackner (Anm. 5 a cc) in zwar ähnlicher, aber vielleicht doch etwas weiter gefaßter Weise auf eine „bestimmte Wahrscheinlichkeit" ab, wobei sich Lackner auf BGH GA 1965 28 beruft. Aber dort spricht der BGH im Leitsatz und im Text einmal von „bestimmter Wahrscheinlichkeit", andererseits aber von „hoher Wahrscheinlichkeit", die er der nicht ausreichenden „allgemeinen Gefahr der Wiederholung, die bei Hangtätern . . . begrifflich nahe liegen mag", gegenüberstellt. Die „hohe Wahrscheinlichkeit" lehnen Dreher und Lang-Hinrichsen (aaO) ausdrücklich ab. Die Unterschiede der einzelnen Formulierungen dürften in der Sache unbedeutende Nuancierungen betreffen, die sich abstrakt durch genauere Angaben nicht ausräumen lassen (ebenso Lang-Hinrichsen aaO). Wichtig ist nur, daß die Wahrscheinlichkeit, im Sinne einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit (Abgrenzung zur „Möglichkeit") vorliegt, daß sie im Rahmen der erforderlichen Gesamtabwägung zur Größe der Wahrscheinlichkeit in Bezug gesetzt wird (vgl. § 62) und daß, wie auch BGH GA 1965 28 ausspricht, eben die „allgemeine Gefahr", die aus der Hangtäterschaft folgt, für sich noch nicht notwendig ausreicht. Daß die bloße Möglichkeit einer Besserung zur Verneinung der Gefährlichkeit 146 nicht berechtigt, war, nach einigen Schwankungen, in der Rechtsprechung schon zum früheren Recht anerkannt (RGSt. 74 219; BGHSt. 166; BGH GA 1966 181; vgl. auch BGH NJW 1968997). Streitig war jedoch, unter welchen Voraussetzungen (251)

§66

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

eine Wahrscheinlichkeit der Besserung die Anordnung der Sicherungsverwahrung ausschloß (vgl. BGH NJW 1953 1559 gegen RGSt. 72 295, 358 und RGSt. 73 154, 305; s. auch RGSt. 71 218). Diese Fragen sind mit der Neuregelung der Sicherungsverwahrung im 1. StrRG gegenstandslos geworden, weil es seitdem grundsätzlich auf die Gefährlichkeit allein im Zeitpunkt der Urteilsfindung ankommt (näher dazu Rdn. 150). Wenn Dreher (Ràn. 15) und Lang-Hinrichsen (Vorauf!. § 42 e Rdn. 78) die Wahrscheinlichkeit einer künftigen Besserung noch heute bei der Gefährlichkeit berücksichtigen wollen, so muß dies überraschen, zumal es im Widerspruch zu ihrer Grundauffassung steht, daß es auf die Gefährlichkeit im Urteilszeitpunkt ohne Rücksicht auf die künftige Entwicklung des Täters ankommt (vgl. Dreher aaO und Lang-Hinrichsen Rdn. 84). 147

Die Gefährlichkeit ist jedoch dann nicht gegeben, wenn bereits im Zeitpunkt der Beurteilung, also der Urteilsfindung, Umstände eingetreten sind, die die Wahrscheinlichkeit künftiger Straftaten entfallen lassen (insoweit richtig Dreher aaO). Dies können Umstände in der Person des Täters sein (Gebrechen), aber auch in seinen äußeren Verhältnissen (Heirat, Aufnahme in einer Familie; vgl. RGSt. 72 356, 358). Es muß sich dabei freilich um eine sichere Beseitigung der Gefährlichkeit handeln ; bleiben Zweifel, sind diese auf dem Weg über § 67 c Abs. 1 zu berücksichtigen. Über weitere Ausnahmen bei sicherer Beendigung der Gefährlichkeit noch während des Strafvollzugs s. Rdn. 151 f.

148

c) „Für die Allgemeinheit" gefährlich muß der Täter nach dem Gesetzeswortlaut sein. Damit entsteht die Frage, wie es mit der Gefährlichkeit „für einzelne andere" steht, die § 85 E 1962 noch besonders erfassen wollte (vgl. die ähnliche Problematik bei § 63, dort Rdn. 58 ff): Der Sonderausschuß (1. Bericht S. 20) hat die Klausel des E 1962 für entbehrlich gehalten, weil der einzelne als Teil der Allgemeinheit anzusehen sei, sofern ihm eine schwere Schädigung drohe und diese Gefahr nur durch die Sicherungsverwahrung abgewendet werden könne. So liege es z. B., wenn der Täter immer wieder danach trachtet, seine Ehefrau zu töten. Lasse sich die Gefahr jedoch dadurch abwenden, daß die Beziehungen zwischen dem Verurteilten und seinem Opfer geändert werden, bestehe keine Gefahr für die Allgemeinheit und infolgedessen auch kein Anlaß für die Sicherungsverwahrung; die Gefahr wirtschaftlicher Schädigungen einer Einzelperson werde „deshalb" die Sicherungsverwahrung nicht rechtfertigen. Dem folgt die herrschende Meinung, soweit sie sich mit dem Problem beschäftigt: Dreher Rdn. 15; Preisendanz Anm. IV 2 b; Lang-Hinrichsen aaO Rdn. 77; Lenckner S. 203 Fußn. 146; vgl. auch Horn SK Rdn. 20. Dreher macht die Einschränkung, daß drohender wirtschaftlicher Schaden einer Einzelperson „in aller Regel" nicht ausreiche, während Preisendanz formuliert, daß sie die Sicherungsverwahrung „grundsätzlich" nicht rechtfertige. Man wird in der Tat annehmen müssen, daß die Sicherungsverwahrung den einzelnen als „Teil der Allgemeinheit" auch dann schützt, wenn er diese Allgemeinheit nicht (als unbestimmte Einzelperson) „repräsentiert".

149

Die verwirrende Frage ist nur, wie man sich im Sinne des 1. Berichts die Änderung der Beziehung zwischen Täter und Opfer vorstellen soll und warum eigentlich drohende wirtschaftliche Schäden einer konkreten Einzelperson nicht ausreichen sollen. Der 1. Bericht übertüncht hier die Probleme oder verfälscht sie gar: Der (252)

Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (Hanack)

§66

Strafrichter kann die Täter-Opfer-Beziehung überhaupt nicht ändern, sondern eine solche Änderung — im Urteilszeitpunkt — allenfalls anregen, so daß es sich immer um eine künftige Änderung handelt, die an sich nicht zu beachten ist, weil es (näher Rdn. 150) ja auf den Zeitpunkt der Entscheidung ankommt. Davon abgesehen sind Änderungen — gegenüber dem Hangtäter! — regelmäßig schwer denkbar oder unzumutbar (Flucht des Opfers, Verstecken vor dem Täter?), wenn nicht gar nutzlos (selbst die Scheidung wird der bedrohten Ehefrau oft wenig nützen). In noch stärkerem Maße gilt das für den Schutz vor wirtschaftlichen Schäden (Gebäude, Museen), für die der Strafrichter nicht einmal verbindlich Polizeischutz anordnen kann, ganz abgesehen davon, daß es wohl auch kaum berechtigt wäre, Opfer und Allgemeinheit auf solche, meist aufwendige, langdauernde und unsichere Schutzvorkehrungen zu verweisen. So dürften die Überlegungen des 1. Berichts nach geltendem Recht praktisch leerlaufen. Sie können die Anordnung der Sicherungsverwahrung bei Gefahr nur für konkrete einzelne Opfer derzeit regelmäßig nicht hindern. Eine andere Frage ist lediglich, ob die Fixierung des Täters auf ein bestimmtes Opfer wirklich auf einem „Hang" beruht bzw. ob nicht eine Störung im Sinne der §§ 20, 21 vorliegt, bei der die Einweisung ins psychiatrische Krankenhaus (§ 63) mit seinen spezifischen Einwirkungsmöglichkeiten näherliegt. 8. Zeitpunkt der Gefährlichkeit a) Allgemeines. Bis zum 1. StrRG war, jedenfalls nach ganz herrschender Mei- 150 nung, die Gefährlichkeit des Täters — unter dem Gesichtspunkt der „Erforderlichkeit" der Maßregel — auf die Zeit seiner Entlassung aus dem Strafvollzug zu beziehen, sog. Entlassungsprognose. Da dies zu Schwierigkeiten führte, weil sich die weitere Entwicklung des Täters und die Einwirkungen des Vollzugs häufig nicht absehen lassen, beseitigte das neue Recht das Kriterium der Erforderlichkeit und verpflichtete das (Vollstreckungs-)Gericht vor dem Ende des Strafvollzugs zu der besonderen Prüfung, ob der Zweck der Maßregel die Unterbringung noch erfordert (§ 67 c Abs. 1). Seitdem ist, entsprechend den Intentionen des Gesetzes, jedenfalls im Grundsatz anerkannt, daß das erkennende Gericht lediglich zu prüfen hat, ob der Täter im Zeitpunkt des Urteilserlasses infolge seines Hangs zu erheblichen Straftaten für die Allgemeinheit gefährlich ist (so z. B. BGHSt. 24 160, 164; BGH NJW 1973 564 mit Anm. Schröder JR 1973 160; Dreher Rdn. 15; Horn SK Rdn. 22; Lackner Anm. 5 a cc; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 44). b) Einzelfragen. Daß freilich auch diese Neuregelung nicht ganz befriedigt, ist 151 wiederholt geltend gemacht worden (vgl. Rdn. 56 vor § 61). Dies gilt bei der Sicherungsverwahrung vor allem dann, wenn sich zum Zeitpunkt der Urteilsfindung mit Sicherheit absehen läßt, daß der zu einer hohen Freiheitsstrafe verurteilte Täter nach der Strafverbüßung nicht mehr gefährlich sein kann. Die Anordnung der Sicherungsverwahrung ist, unbeschadet der Möglichkeiten des § 67 c Abs. 1, nach ihren gesamten psychologischen und rechtlichen Folgen ein viel zu ernster Eingriff, als daß man dem Gericht oder dem Betroffenen die Anordnung zumuten dürfte, wenn sie erkennbar „unsinnig" wäre (so Sch.-SchröderStree Rdn. 44; zustimmend Lang-Hinrichsen Vorauf!. § 42 e Rdn. 85). In diesen Fällen kann es dem Gericht daher — mit Sch.-Schröder-Stree und Lang-Hinrichsen — nicht verwehrt sein, von der Sicherungsverwahrung trotz derzeit noch bestehender Gefährlichkeit abzusehen. Was insoweit aus „Vernunftgründen" (Sch.-SchröderStree Rdn. 50) für die fakultative Anordnung nach § 66 Abs. 2 gilt und hier vom (253)

§66

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

1. Bericht (S. 21) auch ausdrücklich ins Auge gefaßt wurde (Rdn. 173), muß ebenso für die Anordnung nach § 66 Abs. 1 gelten. 152

Daß in die klare Gesetzesregelung damit ein Moment der Unsicherheit gebracht wird, ist zuzugeben. Es zeigt sich auch an dem Beispiel, das Sch.-Schröder-Stree (aaO) für eine „unsinnige" Anordnung nennen: den vielleicht durchaus nicht notwendig so eindeutigen Fall des Fassadendiebs, der als 60jähriger zu einer lOjährigen Freiheitsstrafe verurteilt wird. Aber dieses Unsicherheitsmoment ist aus den genannten Gründen hinzunehmen. Es muß sich immer nur um Fälle handeln, in denen sich, und sei es auch mit Hilfe des ohnedies zuzuziehenden Sachverständigen (§ 246 a StPO), der Abbau der Gefährlichkeit mit — menschenmöglicher — Sicherheit schon im Urteilszeitpunkt feststellen läßt. Diese Situation kann etwa auch gegeben sein, wenn sich der Täter hat kastrieren lassen, der Eingriff seine spezifischen Folgen für den Geschlechtstrieb noch nicht gezeitigt hat, aber nach sachverständiger Feststellung zeitigen wird. Nicht reicht hingegen die bloße Wahrscheinlichkeit einer Besserung, wie das die frühere Rechtsprechung angenommen hat und Dreher noch heute annimmt (s. Rdn. 146). Denn es entspricht dem klaren Willen des Gesetzes und des Gesetzgebers, daß die mögliche Entwicklung des Täters, insbesondere die Wirkungen des Strafvollzugs, erst am Ende des Vollzugs nach den Kriterien des § 67 c Abs. 1 geprüft werden; über diese Schranke kann sich der Richter insoweit nicht hinwegsetzen.

153

Allein die Bereitschaft oder der Wunsch, sich kastrieren zu lassen, beseitigt jedoch für sich noch nicht die Gefährlichkeit des Täters, da ungewiß ist, ob es zu dem Eingriff auch tatsächlich kommt (vgl. schon BGHSt. 1 66; Blau MschrKrim. 1960 41,42; ebenso Dreher Rdn. 15; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 44). Dies muß wohl selbst dann gelten, wenn die Voraussetzungen für den Eingriff nach dem KastG zur Zeit der gerichtlichen Entscheidung schon verbindlich festgestellt sind.

154

9. Das Subsidiaritätsprinzip. Das Subsidiaritätsprinzip ist nach der hier vertretenen Ansicht, entgegen den Vorstellungen des Gesetzgebers und der herrschenden Meinung, auch weiterhin nicht erst bei der Vollstreckung, sondern grundsätzlich schon bei der Anordnung einer Maßregel zu beachten (Rdn. 60 ff vor § 61 und § 63 Rdn. 82 ff mit näheren Nachw.). Das gilt, zumal angesichts ihres ultima-ratioCharakters (Rdn. 14), auch bei der Sicherungsverwahrung (so im Ergebnis hier auch Lackner Anm. 5 a cc; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 44; a. Α. ζ. B. Dreher Rdn. 15, der andererseits aber sogar bei „Wahrscheinlichkeit" der Besserung die Gefährlichkeit entfallen lassen will [s. Rdn. 146]; Horn SK Rdn. 22; Baumann AT § 44 II 1 c; Bockelmann AT § 43 IV; wohl auch Maurach AT § 68 I D 4).

155

So hat der Richter, von den in Rdn. 151 behandelten Ausnahmen abgesehen, zwar die ungewisse Entwicklung des Verurteilten bis zur Entlassung aus dem Strafvollzug außer Betracht zu lassen. Er ist aber unbeschadet der §§ 67 c Abs. 1, 67 a Abs. 2 nicht der Prüfung enthoben, ob sich der Gefährlichkeit des Täters nach dem Subsidiaritätsprinzip nicht durch mildere Maßnahmen begegnen läßt. Als mildere Maßnahmen in diesem Sinne kommen nicht nur andere Maßregeln in Betracht, wenn deren Voraussetzungen erfüllt sind (§72; s. näher die dort. Erl., insbes. Rdn. 15, 22). Auch andere mildere Maßnahmen, die nach dem Subsidiaritätsprinzip die Anordnung der Sicherungsverwahrung überflüssig machen können, sind theoretisch nicht ausgeschlossen, aber praktisch selten vorstellbar (Lackner aaO). Zu denken ist unter besonderen Umständen wohl allenfalls an das Anerbieten von (254)

Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (Hanack)

§66

Angehörigen, den Täter aus Willensschwäche (Rdn. 70) nach der Strafverbüßung aufzunehmen, wenn erwartet werden kann, daß sie dazu fähig sind und sich der Täter ihrer überwachenden Betreuung fügen wird (vgl. RG DJ 1939 269 ; zust. Sch.Schröder-Stree Rdn. 37; Lang-Hinrichsen Voraufl. § 42 e Rdn. 81); doch wird auch hier zu bedenken sein, daß sich die Verhältnisse der Angehörigen ändern können (Tod, Krankheit, Arbeitslosigkeit usw.), so daß ihr Anerbieten in aller Regel Beachtung nur im Rahmen des § 67 c Abs. 1 verdienen dürfte. 10. Gesamtwiirdigung des Täters und seiner Taten. Ob der Täter infolge seines 156 Hanges zu erheblichen Straftaten für die Allgemeinheit gefährlich ist, hat das Gericht anhand einer „Gesamtwürdigung des Täters und seiner Taten" festzustellen. Dabei ist stets ein Sachverständiger heranzuziehen (§ 246 a StPO). Die Gesamtwürdigung ist das eigentliche Kernstück der Entscheidung über die materiellen Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung; die Gefährlichkeitsprognose muß das Ergebnis dieser Gesamtwürdigung sein. Eine derartige Gesamtwürdigung hat die Rechtsprechung schon nach früherem Recht für erforderlich gehalten (z. B. BGHSt. 1 94, 99; BGH NJW 1953 673). a) Inhalt der Gesamtwürdigung. Das Gericht hat einmal die Persönlichkeit des 157 Täters in allen kriminologisch wichtigen Bezügen aufzuhellen. Dazu gehört namentlich die Aufklärung der spezifischen Faktoren des Hangs (oben Rdn. 90 ff), und zwar der Entwicklung dieses Hangs („Längsschnittanalyse") wie seiner derzeitigen Ausprägung („Querschnittanalyse"). Dies fordert (s. Rdn. 90 ff) grundsätzlich auch die Klärung spezifischer Persönlichkeitszüge (Charakter, Intelligenz, Triebstruktur), des wesentlichen allgemeinen Sozialverhaltens und die Prüfung eventueller geistig-seelischer Störungen („Psychopathie", Neurosen). Eine besondere Rolle spielt schon dabei selbstverständlich die bisherige kriminelle Karriere. Daher sind Vorstrafen stets heranzuziehen und auf ihren Symptomcharakter 158 (dazu näher unten Rdn. 162 ff) zu untersuchen (vgl. z. B. BGHSt. 1 94, 100; 21 263, 264; BGH NJW 1953 673; BGH M D R 1 9 5 7 562, 563). Das gilt auch, soweit die Vortaten verjährt sind; doch dürfen getilgte oder tilgungsreife Vorstrafen regelmäßig nicht zuungunsten des Täters herangezogen werden (näher zu diesen Fragen oben Rdn. 41 f). Über die Heranziehung noch nicht abgeurteilter Taten bei § 66 Abs. 2 s. Rdn. 62; soweit danach Symptomtaten nicht abzuurteilen sind, ist ihr Sachverhalt dennoch im Urteil kurz darzulegen (BGH bei Herían MDR 1954 528). Zur Frage, wie weit das Gericht an die Feststellungen des früheren Gerichts und seine rechtliche Würdigung gebunden ist, s. Rdn. 60. Bei der Heranziehung von Vorstrafen ist das Gericht jedoch nicht auf das Material beschränkt, das zur Würdigung der Taten von dem zuvor entscheidenden Gericht herangezogen worden war. Vielmehr muß es sich gemäß § 155 Abs. 2 StPO erforderlichenfalls noch weitere Unterlagen für die Gesamtwürdigung beschaffen (RG JW 1935 934; ebenso Sch.Schröder-Stree Rdn. 31 ; Lang-Hinrichsen Voraufl. § 42 e Rdn. 82). So kommen z. B. noch weitere Ermittlungen über äußere Verhältnisse und innere Beweggründe in Betracht, etwa darüber, ob die früheren Taten auf einen verbrecherischen Hang oder auf Not, Gelegenheit usw. zurückzuführen sind (RG JW 1938 165; RG HRR1939 Nr. 1060; RG DR 1944 901; Sch.-Schröder-Stree und Lang-Hinrichsen aaO). Jedoch sind neue Feststellungen insoweit unzulässig, als sie sich auf den Sachverhalt beziehen, der den früheren Urteilen zugrunde liegt; ebenso ist dem Gericht eine andere rechtliche Würdigung versagt (RG JW 1938 165; RG DR 1944 901 ; ebenso Sch.-Schröder-Stree und Lang-Hinrichsen aaO). (255)

§66

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

159

Die Aufhellung der Täterpersönlichkeit in einem gerichtlichen Verfahren gehört zu den schwierigsten, aber auch den kritischsten Aufgaben der Strafrechtspflege. Sie muß, soll sie nicht unerträglich werden, mit großem Takt erfolgen und verlangt sorgfältige Beachtung der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG; vgl. auch Rdn. 19 Vor § 61), zumal sie nicht ohne weiteres unter Ausschluß der Öffentlichkeit erfolgt.

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Zur Würdigung der Täterpersönlichkeit kommt dann die Würdigung seiner Taten hinzu, und zwar der abzuurteilenden Tat oder Taten (BGH GA1969 25, 26) sowie der die formellen Voraussetzungen für die Sicherungsverwahrung begründenden Taten nach § 66 Abs. 1 Nr. 1 bzw. nach Abs. 2 im Hinblick auf ihren spezifischen Symptomcharakter (dazu Rdn. 142 ff). Die Rechtsprechung verlangt aus gutem Grund, daß gerade diese Taten für die Gefährlichkeit des Täters symptomatisch sind, verlangt also ihre besonders genaue Prüfung im Hinblick auf die Gefährlichkeit des Täters (ζ. B. BGHSt. 21 263; 24 153; 24 243, 244; BGH NJW 1971 1322 und 1416; RGSt. 70 214; RG JW 1935 932). Die Taten müssen daher mit ihren „Tatwurzeln" im Urteil mindestens kurz dargestellt werden (BGH bei Herían MDR 1954 528); ihre bloße Aufzählung und die Würdigung der Strafen reicht nicht aus (Dreher Rdn. 17).

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Dies bedarf bei verschiedenartigen Taten besonders sorgfältiger Prüfung (BGHSt. 24 243,244; BGHSt. 16 296,297 [dazu unten Rdn. 164]; RGSt. 68 149,156; RG JW 1934 3130; 1935 932). Es kann zwar durchaus sein, daß auch oder gerade ein Wechsel von der einen Verbrechensart zur anderen auf einem eingewurzelten Hang beruht (RG DJ 1934 1351). Eine solche Annahme ist aber z. B. dann nicht gerechtfertigt, wenn die kriminelle Neigung des Täters deutlich auf auf die Bege-

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b) Symptomcharakter der Taten insbesondere. Sowohl bei den Straftaten, die zur Begründung der formellen Voraussetzungen des § 66 Abs. 1 und 2 erforderlich sind, als auch bei der abzuurteilenden Tat oder den abzuurteilenden Taten muß es sich, wie bemerkt, um sog. Symptomtaten handeln. Gleiches gilt für sonstige Vortaten, die zur Beurteilung des Hangs bzw. der Gefährlichkeit herangezogen werden. Dieses Erfordernis der Eigenschaft als Symptomtaten haben Rechtsprechung und Lehre (wichtig Exner ZStW 53 629, 639) schon zum früheren Recht herausgearbeitet. Es folgt klar auch aus der Gesetzesformulierung. Symptomcharakter zeigen die Taten, wenn sie kennzeichnend für die Gefährlichkeit des Täters sind (BGHSt. 21 263, 264). Zwischen ihnen und der Persönlichkeit des Täters ist also eine innere Beziehung dergestalt erforderlich, daß die Taten als Ausfluß des verbrecherischen Hangs erscheinen (so z.B. BGHSt. 21 263, 265; 24 153; 24 243,244; BGH NJW 1971 1322 und 1416; RGSt. 68 156 m. Anm. Schaßeutle JW 1934 1664; Lackner Anm. 5 b; Dreher Rdn. 17; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 30). Sie müssen, anders ausgedrückt, in einem gleichartigen Verhältnis zur kriminellen Persönlichkeitsstruktur des Täters stehen (vgl. BGH MDR 1957 562, 563; BGH GA 1969 25, 26).

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Dies bedarf bei verschiedenartigen Taten besonders sorgfältiger Prüfung (BGHSt. 24 243, 244; BGHSt. 16, 296, 297 [dazu unten Rdn. 164]; RGSt. 68 149,156; RG JW 1934 3130; 1935 932). Es kann zwar durchaus sein, daß auch oder gerade ein Wechsel von der einen Verbrechensart zur anderen auf einem eingewurzelten Hang beruht (RG DJ 1934 1351). Eine solche Annahme ist aber z. B. dann nicht gerechtfertigt, wenn die kriminelle Neigung des Täters deutlich auf die Begehung von Vermögensdelikten hinzielt und er auch ein Sittlichkeitsdelikt begangen hat (BGHSt. 24 243, 244). Dieses Delikt ist dann vielmehr insoweit symptomatisch, kann also zur Beurteilung des verbrecherischen Hangs und der Gefährlichkeit (256)

Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (Hanack)

§ 66

nicht herangezogen werden. Anders wäre es nur dann, wenn sowohl die Vermögensdelikte als auch das Sexualdelikt als Ausprägung eines spezifischen Hangs zur Gewaltkriminalität erscheinen, es sich also etwa bei den „Vermögensdelikten" um Raubdelikte und bei dem Sexualdelikt um ein solches nach den §§ 177, 178 handelt. Insgesamt läßt sich sagen (Lang-Hinrichsen Voraufl. §42 e Rdn. 83): Je verschiedenartiger die Beweggründe für die einzelnen Taten sind, um so geringer ist die Möglichkeit, sie als Symptomtaten zu bewerten und als kennzeichnend für den verbrecherischen Hang und die Gefährlichkeit einzustufen. Liegen den Taten ganz verschiedene Beweggründe und seelische Einstellungen zugrunde, wird sich die Hangtätereigenschaft nur sehr selten bejahen lassen. Exner (Kriminologie 3 , 1949, S. 291) will sie in derartigen Fällen sogar stets ver- 164 neinen; nach seiner Auffassung läßt sich bei Taten, die gänzlich verschiedenen Triebfedern entstammen, von einem Hang nicht sprechen, weil es den „Hang zu Verbrechen schlechtweg" nicht gebe. Die Rechtsprechung ist dem nicht gefolgt. Sie anerkennt vielmehr auch einen „ganz allgemein gearteten Hang zum Verbrechen", wenn die „ungleich gearteten, gegen ganz verschiedene Rechtsgüter gerichteten strafbaren Handlungen des Täters ergeben, daß ihm jedes Empfinden für die Gebote des Rechts und der Sittlichkeit... fehlt o d e r . . . abhanden gekommen i s t , . . . er sich also bewußt gegen alle ihm nicht zusagenden Normen der Rechtsordnung auflehnt" (so BGHSt. 16 296, 297 f unter Bezugnahme auf RG JW 1935 932 und Schäfer- Wagner-Schaflieutle S. 50). Kriminologisch ist ein solches Faktum wohl nicht zu leugnen (vgl. auch Hellmer NJW 1962 543 in Anm. zu BGHSt. 16 296). Eine ganz andere Frage ist jedoch, ob BGHSt. 16 296 im konkreten Fall (Blutschande und Betrug im Fall eines Täters ohne jede Vorstrafen) einen derartigen Hang annehmen durfte. Die Gründe der Entscheidung erlauben keine genügende Nachprüfung, legen aber Zweifel nahe (näherHellmer aaO; kritisch auch Sch.Schröder-Stree aaO ; es fällt auf, daß die Entscheidung in den Erläuterungsbüchern überhaupt nur selten herangezogen wird — vielleicht ein Zeichen, daß man sie skeptisch beurteilt). Taten, die in einem erheblichen Affekt oder einer sonstigen außergewöhnlichen 165 Situation begangen sind, sind regelmäßig keine Symptomtaten (BGH 2 StR 554/69 v. 14. 1.1970; Lang-Hinrichsen aaO Rdn. 83). Daß nicht jede einzelne Symptomtat für eine endgültige Persönlichkeitsbeurtei- 166 lung auszureichen braucht, ist selbstverständlich (Sch.-Schröder-Stree Rdn. 30; Lang-Hinrichsen aaO). Taten, die keine „erheblichen Straftaten" sind, scheiden als Symptomtaten grundsätzlich aus; sie können nur bei Würdigung der Persönlichkeit des Angeklagten berücksichtigt werden (so richtig BGHSt. 24 153,157). 11. Der Grundsatz in dubio pro reo. Die Wahrscheinlichkeit künftiger Taten 167 spielt nach der hier vertretenen, wenn auch umstrittenen Ansicht (näher Rdn. 44 ff vor § 61) nur im materiellrechtlichen Bereich eine Rolle, bedeutet aber nicht, daß das Gericht im prozessualen Bereich, bei der Überzeugungsbildung, den Grundsatz in dubio pro reo nicht zu beachten braucht. Gelangt also der Richter nicht zur vollen Überzeugung, daß die einzelnen materiellen Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung gegeben sind, kann die Anordnung der Maßregel nicht erfolgen (BGH NJW 1953 1559; NJW 1968 997). Das gilt nicht zuletzt auch für die besonders kritische Frage, ob der Täter unter den Voraussetzungen eines „Hanges" gehandelt hat (vgl. schon Rdn. 89). (257)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

168

12. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (§62) gilt zwar auch bei Anordnung der Sicherungsverwahrung. Er wird jedoch beim Gewicht der Anlaßtat und nach exakter Feststellung der Gefährlichkeit eines auf „erhebliche Straftaten" bezogenen Hangs praktisch kaum eine Rolle mehr spielen können (so auch Dreher Rdn. 19). Bedeutung besitzt er freilich, wenn man der hier vertretenen Ansicht (Rdn. 151) nicht folgen sollte, daß die Anordnung der Sicherungsverwahrung trotz im Urteilszeitpunkt bestehender Gefährlichkeit zu unterbleiben hat, wenn schon in diesem Zeitpunkt mit Sicherheit feststeht, daß der Täter nach der Strafverbüßung nicht mehr gefährlich ist.

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IX. Obligatorische und fakultative Anordnung; Verhältnis zur Strafe. Die Anordnung der Sicherungsverwahrung ist, wie schon bemerkt, in den Fällen des Absatz 1 obligatorisch, in den Fällen des Absatz 2 hingegen fakultativ. Dies ist insofern wenig überzeugend, als in beiden Fällen die weitere Gefährlichkeit des Täters vorausgesetzt wird, und es auch bei Absatz 1 Fälle gibt, in denen ein Ermessensspielraum durchaus wünschenswert wäre (vgl. auch Rdn. 171).

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1. Obligatorische Anordnung nach Absatz 1. Nach dem klaren Gesetzeswortlaut muß die Anordnung der Sicherungsverwahrung erfolgen, wenn die formellen und materiellen Voraussetzungen des § 66 Abs. 1 vorliegen. Etwas anderes gilt nur, wenn ein Fall der Maßregelkonkurrenz vorliegt und die Anordnung sonstiger Maßregeln gemäß § 72 Abs. 1 ausreicht (dazu die Erl. zu § 72, insbes. Rdn. 15, 22 ff). § 72 greift jedoch nicht ein, soweit es um das Verhältnis zu einer schon früher angeordneten Sicherungsverwahrung geht: Nach allgemeiner Meinung ist Sicherungsverwahrung auch dann — nochmals — anzuordnen, wenn sie bereits in einem anderen Verfahren ausgesprochen und rechtskräftig geworden ist, da nicht feststeht, ob das vorgehende Urteil Bestand hat (RGSt. 70 203, 204; RG JW 1937 630; BGH bei Daliinger MDR 1956 525; BGH 1 StR 38/67 v. 14. 2. 1967; vgl. auch OLG Hamm MDR 1966 166; Dreher Rdn. 19; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 65; Lang-Hinrichsen Voraufl. § 42 e Rdn. 86). Für eine Ermessensausübung ist, wenn die Voraussetzungen des § 66 Abs. 1 festgestellt sind, also grundsätzlich kein Raum (std. Rspr.; vgl. schon RGST. 71 216, 218; 73 154; BGH GA 1966181; BGH 4StR479/64 v. 22.1.1965; BGH 1 StR 38/67 v. 14. 2.1967; BGH NJW 1968 997, 998; Dreher Rdn. 19; Lackner Anm. 6; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 46; Lang-Hinrichsen aaO Rdn. 87). 171 Nicht statthaft ist es daher auch, wenn das Gericht, wie das in der Praxis jedenfalls zum früheren Recht immer wieder vorkam (vgl. z. B. Hellmer JZ 1969 197), trotz Bejahung der Voraussetzungen des Absatz 1 von der Anordnung absieht, etwa um dem Angeklagten noch einmal eine Chance zu geben (BGH JR 1962 25 ; BGH NJW 1968 997, 998 m. Anm. Hellmer aaO ; Dreher aaO), ihm die Besserungsmöglichkeit nicht abzuschneiden oder ihm den Rückzug in ein geordnetes Leben nicht zu verbauen (vgl. BGH GA 1966 181; RGSt. 73 155; RG JW 1938 2889; RG HRR 1940 Nr. 634; Sch.-Schröder-Stree und Lang-Hinrichsen aaO). Daß die Gerichte solche Wege immer wieder beschreiten oder doch im früheren Recht beschritten haben, dürfte viele Gründe haben. Es hängt aber vermutlich vor allem damit zusammen, daß die Praxis Skrupel hat, die Sicherungsverwahrung ohne Rücksicht auf die „Schuld" des Täters an seinem Zustand allein von seiner Eigenschaft als gefährlichem Gewohnheitsverbrecher bzw. Hangtäter abhängig zu machen, und ein Bedürfnis sieht, durch eine Art letzter Warnung oder letzter (258)

Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (Hanack)

§66

Chance an die Willenskräfte des Angeklagten zu appellieren und dementsprechend auch dazu neigt, ohne einen solchen vorausgegangenen Appell Sicherungsverwahrung nicht anzuordnen. Das ist — zumal bei den Schwierigkeiten, die Hangtätereigenschaft zuverlässig festzustellen (Rdn. 65 f, 68) — als Ausdruck richterlichen Gerechtigkeitsbemühens verständlich und verdeutlicht schlagend die Problematik der Gesetzesregelung, die insoweit auch im neuen Recht jedenfalls nicht grundsätzlich beseitigt ist. Es entspricht aber eben nicht dem Gesetz, so daß die Revisionsgerichte eine derartige Praxis in der Tat nicht tolerieren können. Denn das Gesetz hat die Sicherungsverwahrung nun einmal als Maßregel konzipiert, bei der es auf das Verschulden des Täters nicht (oder doch allenfalls mittelbar in Form der formellen Voraussetzungen) ankommt, die Anordnung vielmehr allein von seiner tatsächlichen Gefährlichkeit abhängt. Zum guten Teil dürfte es sich bei der geschilderten Praxis freilich auch um die Sachfrage der weiteren Gefährlichkeit, wenn nicht gar um eine Frage der Urteilsbegründung handeln : Ist das Gericht überzeugt oder kann es doch begründete Zweifel nicht ausschließen (in dubio pro reo; s. Rdn. 167), daß der Täter dem Anreiz zu weiteren erheblichen Straftaten künftig widersteht, hat es die materiellen Voraussetzungen des § 66 zu verneinen. Es ist dann eine fehlerhafte Urteilsbegründung, diese Voraussetzungen anzunehmen, die Anordnung aber wegen der Erwartung oder der vorhandenen Zweifel abzulehnen, daß der Täter, und sei es mit unter dem Einfluß des „Verwarnungseffekts", weitere Taten nicht mehr begehen wird. Daß im übrigen der Hinweis eines früheren Urteils, der Täter müsse im Falle 172 erneuter Straffälligkeit mit Sicherungsverwahrung rechnen, die sachliche Prüfung der Voraussetzungen des § 66 in einem neuen Verfahren nicht überflüssig macht, sollte selbstverständlich sein (vgl. dazu Hellmer JZ 1969 197 f)· Daraus oder aus fehlerhaften Handhabungen die Konsequenz zu ziehen, daß die Gerichte solche Hinweise überhaupt unterlassen sollten (so Hellmer aaO), ist unberechtigt. Die Hinweise haben, vernünftig gehandhabt, durchaus einen legitimen Sinn, weil sie Abwehrkräfte des Verurteilten wecken oder stabilisieren können. 2. Fakultative Anordnung nach Absatz 2. In den Fällen des Absatz 2 ist die 173 Anordnung der Sicherungsverwahrung in das pflichtgemäße Ermessen des Gerichts gestellt („kann"; vgl. BGH NJW 1976 300 und 301 ; BGH bei Holtz MDR 1976 986; BGH NJW 1972 834, 835; allgemeine Meinung, z.B. Dreher Rdn. 20; Lackner Anm. 6; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 57). Der Richter soll die Möglichkeit haben, sich auf die Verhängung einer Freiheitsstrafe zu beschränken, sofern erwartet werden kann, daß sich der Täter die Strafe hinreichend zur Warnung dienen läßt (1. Bericht S. 21). Dies entspricht dem Ausnahmecharakter des § 66 Abs. 2 (Rdn. 50), der vor allem gefährliche Serientäter treffen soll, die sich bisher der Strafjustiz entziehen konnten, und nicht voraussetzt, daß der Täter schon früher Strafe erlitten oder verbüßt hat. Das Gericht kann sich also trotz des Vorliegens auch der materiellen Voraussetzungen für die Anordnung der Sicherungsverwahrung auf die Verhängung einer Freiheitsstrafe beschränken (kritisch dazu Sch.-Schröder-Stree aaO). Wie der 1. Bericht (aaO) ausführt, ist dies dann angebracht, wenn die schuldangemessene Strafe so hoch ist, daß erwartet werden kann, der Täter werde sich die Strafverbüßung hinreichend zur Warnung dienen lassen; eine solche Erwartung kann insbesondere dann berechtigt sein, wenn der Verurteilte bisher noch keine oder keine nennenswerten Freiheitsstrafen verbüßt hat (1. Bericht aaO). — Die Auffassung von (259)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

Dreher (Rdn. 20; vgl. auch Sch.-Schröder-Stree aaO und BGHSt. 21 11), die Anordnung werde „in der Regel" am Platze sein, zumal vor dem Ende des Strafvollzugs eine weitere Gefährlichkeitsprüfung stattfindet (§ 67 c Abs. 1), überzeugt nicht, schon weil auch die bloße Anordnung, unbeschadet ihrer späteren Vollstreckung, einen schweren Eingriff in die gesamte soziale Stellung des Angeklagten nach sich zieht und zwingend Führungsaufsicht auslöst (§ 67 c Abs. 1 Satz 2). Sie stimmt auch nicht mit der gesetzgeberischen Wertung überein, die der Anordnung Ausnahmecharakter zuschreibt (Rdn. 50 0, und sie entspricht weiter nicht der überkommenen Praxis, die die Anordnung seit jeher selten anwendet (Lang-Hinrichsen Voraufl. §42 e Rdn. 87; aus den Angaben in Rdn. 26 ergibt sich, daß zwischen 1972 und 1974 nur ein Täter ohne Vorstrafe nach § 66 Abs. 2 verurteilt worden ist). Die Sicherungsverwahrung nach Absatz 2 kann, wie bei Absatz 1, auch verhängt werden, wenn Sicherungsverwahrung bereits in einem früheren Urteil angeordnet worden ist (s. Rdn. 170). Zur — problematischen — Anwendung des § 66 Abs. 2 auf Täter unter 25 Jahren s. oben Rdn. 46 ff. 174

3. Verhältnis zur Strafe. Die Sicherungsverwahrung tritt grundsätzlich neben die Strafe. Aus der strukturellen Trennung von Strafe und Maßregel folgt, daß der Richter nicht befugt ist, an Stelle der Sicherungsverwahrung eine längere Freiheitsstrafe zu verhängen (BGH bei Dallinger MDR 1973 727) und umgekehrt die schuldangemessene Strafe nicht im Hinblick auf die Anordnung der Unterbringung unterschreiten darf (streitig; näher Rdn. 16 vor § 61). Dies gilt auch in den Fällen des Absatz 2, weil die Unterbringung auch insoweit allein an die Gefährlichkeit, nicht aber an die Schuld des Täters anknüpft (Lackner Anm. 6).

175

X. Konkurrenz mit anderen Maßregeln. Bei Konkurrenz mit anderen Maßregeln beurteilt es sich nach den Maßstäben des § 72, ob die Maßregeln nebeneinander anzuordnen sind oder nur einzelne ausgesprochen werden müssen ; s. dazu im einzelnen die Erl. zu § 72, insbesondere Rdn. 15, 22 ff.

XI. Dauer der Sicherungsverwahrung; Aussetzung, Erledigung, Kontrolle 176 1. Dauer. Die Sicherungsverwahrung ist grundsätzlich eine Maßregel von unbestimmter Dauer, wie sich aus § 67 d Abs. 1 mittelbar ergibt und unbestritten ist. Dies gilt auch in den Fällen der erstmaligen Anordnung, wo die Unterbringung zwar zehn Jahre nicht übersteigen darf (§ 67 d Abs. 1 ; dazu oben Rdn. 17), innerhalb dieser Höchstfrist aber ebenfalls eine Maßregel von unbestimmter Zeitdauer bleibt, wie schon aus § 67 d Abs. 2 folgt. 177

2. Aussetzung der Vollstreckung, Führungsaufsicht. Vor dem Ende des Strafvollzugs, der der Sicherungsverwahrung zwingend vorausgeht (Schluß aus § 67 ; vgl. näher LK § 67 Rdn. 12), hat die Strafvollstreckungskammer von Amts wegen zu prüfen, ob der Zweck der Maßregel die Unterbringung noch erfordert (dazu BVerfG NJW 1976 1736); ist dies nicht der Fall, setzt es die Vollstreckung zur Bewährung aus (§ 67 c Abs. 1 ; näher Horstkotte LK, Erl. zu § 67 c). Kommt es zu einer solchen Aussetzung vor Beginn der Vollstreckung nicht, ist nach begonnenem Vollzug die weitere Vollstreckung zur Bewährung auszusetzen, „sobald verantwortet werden kann zu erproben, ob der Untergebrachte außerhalb (260)

Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (Hanack)

§66

des Maßregelvollzugs keine rechtswidrigen Taten mehr begehen wird" (§ 67 d Abs. 2; näher Horstkotte LK, Erl. zu § 67 d). Mit der Aussetzung tritt jeweils Führungsaufsicht ein (§ 67 c Abs. 1 S. 2; § 67 d Abs. 2 S. 2). Gleiches gilt in den Sonderfällen der Aussetzung nach § 67 c Abs. 2, wenn der Vollzug der Unterbringung bzw. der Strafe drei Jahre nach Rechtskraft der Anordnung noch nicht begonnen hat, sowie nach Ablauf der ZehnjahresHöchstfrist bei erstmaliger Anordnung der Sicherungsverwahrung (§ 67 d Abs. 4). Die Aussetzung kann unter den Voraussetzungen des § 67 g widerrufen werden (näher Horstkotte LK zu § 67 g). 3. Erledigung der Maßregel. Zu ihr kommt es, außer in den Sonderfällen des 178 § 67 c Abs. 2, in der Regel nur auf dem Weg über eine erfolgreiche Bewährungsaussetzung: Wenn das Gericht eine solche Aussetzung nicht gemäß §67 g widerruft, führt sie nach dem Ende der Führungsaufsicht (§ 68 c) bzw. nach deren vorzeitiger gerichtlicher Aufhebung (§ 68 e) zur endgültigen Entlassung; dann ist die Maßregel „erledigt", § 67 g Abs. 5. Besonderheiten gelten nur für die erstmalige Anordnung der Sicherungsverwahrung. Sie endet, falls vorher keine Aussetzung zur Bewährung angeordnet wird, mit Ablauf der zehnjährigen Höchstfrist des § 67 d Abs. 1. 4. Kontrollpflichten. Während der Unterbringung bestehen besondere Überwa- 179 chungspflichten des Gerichts im Hinblick auf die Frage, ob die weitere Vollstrekkung noch erforderlich ist (§ 67 e; dazu Horstkotte LK zu § 67 e). XII. Vollstreckung und Vollzug 1. Reihenfolge der Vollstreckung. Aus § 67 Abs. 1 ergibt sich, daß das Prinzip des 180 Vorwegvollzugs der Maßregel für die Sicherungsverwahrung nicht gilt, die Strafe für die Anlaßtat also stets vor der Maßregel zu vollziehen ist (näher dazu LK § 67 Rdn. 12). Doch kann der Täter unter den Voraussetzungen des § 9 StVollzG (vgl. § 130 StVollzG) schon während der Strafverbüßung in eine sozialtherapeutische Anstalt verlegt werden (zur Problematik näher oben Rdn. 15); eine solche Verlegung ist in der Regel geboten, wenn der Täter während der Übergangszeit bis zum Inkrafttreten des § 65 vor der Vollendung des 25. Lebensjahres zur Sicherungsverwahrung verurteilt wurde (vgl. oben Rdn. 46, 48). — Bei gleichzeitiger Anordnung anderer freiheitsentziehender Maßregeln gilt § 72 Abs. 3 (vgl. die dortigen Erl., insbes. Rdn. 31 f). 2. Überweisung in den Vollzug einer anderen Maßregel. Sie ist zum Zwecke der 181 besseren Resozialisierung unter den Voraussetzungen des § 67 a auch beim Vollzug der Sicherungsverwahrung (vgl. § 67 a Abs. 2) als nachträgliche Anordnung zulässig; näher Horstkotte LK, Erl. zu § 67 a. 3. Gestaltung des Vollzugs. Die Sicherungsverwahrung wird in Anstalten der 182 Landesjustizverwaltungen vollzogen (§ 139 StVollzG). Für den Vollzug gelten im einzelnen die §§ 129—135 StVollzG, die durch bundeseinheitliche Verwaltungsvorschriften zum StrafvollzugsG (VVStVollzG) ergänzt werden. Ziel der Unterbringung ist in erster Linie die sichere Verwahrung zum Schutz der Allgemeinheit (§ 129 S. 1 StVollzG); doch „soll" dem Verwahrten „geholfen werden, sich in das Leben in (261)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

Freiheit einzugliedern" (§129 S. 2; näher Müller-Dielz Strafvollzugsrecht, 1977, S. 323). Die Regelung der Unterbringung durch das StVollzG (dazu RegE zum StVollzG, BT-Drucks. 7/981 S. 89 ff und Prot. VII, 1870 ff, 1885 f, 2101; CalliessMüller-Dietz, Strafvollzugsgesetz, 1977, Erl. zu §§ 129 ff), bringt gegenüber dem früheren Rechtszustand (Nr. 245—248 DVollzO) nicht unwesentliche Erleichterungen. Ob sie ausreichen, um den Vollzug im nötigen und möglichen Maße zu verbessern, ist freilich offen und wird in erster Linie auch weiterhin von der praktischen Handhabung des Vollzugs abhängen (vgl. auch Rdn. 19 ; näher zu den Vollzugsproblemen insbes. Krebs zuletzt in Krim. Gegenwartsfragen, 1974, S. 121 m. zahlr. Nachw.; Kaiser-Schöch-Eidt-Kerner Strafvollzug, 1974, S. 113 f; Müller-Dietz aaO; vgl. auch Meyer-Velde Sicherungsverwahrungsanstalten, in Schwind-Blau, Strafvollzug in der Praxis, 1976, S. 65). Die Frage der Ausgestaltung des Vollzugs hat verfassungsrechtliche Bedeutung; s. dazu Rdn. 22.

183

XIII. Verfahrensrechtliches 1. Die Anordnung der Sicherungsverwahrung erfolgt zusammen mit der Strafe im Urteil (§ 260 StPO), und zwar ohne Befristung (RG JW 1936 2993; s. Rdn. 176). Vom Antrag der Staatsanwaltschaft ist die Anordnung nicht abhängig; das Gericht hat die Voraussetzungen des § 66 vielmehr auch ohne Antrag zu prüfen (Sch.-Schröder-Stree Rdn. 42). 2. Ein Sachverständiger „soll" schon im Ermittlungsverfahren (§ 80 a StPO) und „muß" in der Hauptverhandlung (§ 246 a StPO) zugezogen werden. Vgl. dazu näher § 63 Rdn. 129 f sowie Beek-Wuttke SchlHA 1971, 74, 76. 3. Die Revision kann nach herrschender Rechtsprechung darauf beschränkt werden, daß die Anordnung der Sicherungsverwahrung oder ihre Ablehnung zu Unrecht erfolgt sei, wenn zwischen ihr und der verhängten Strafe im Einzelfall ersichtlich kein untrennbarer Zusammenhang besteht (BGHSt. 7 101; BGH NJW 1968 887, 998; BGH GA 1974 175, 177; BayObLG NJW 1955 353), wie das gerade nach Wegfall des §20 a vielfach der Fall ist (BGH 2 StR 322/70 v. 28. 10.1970; Dreher Rdn. 22). Eingehend dazu Henrike GA 1965 41 m. Nachw. 4. Zum Verschlechterungsverbot s. Rdn. 91 ff. Vor § 61 und speziell zum Verschlechterungsverbot durch Maßregelaustausch (Sicherungsverwahrung und psychiatrisches Krankenhaus) § 72 Rdn. 37 ff.) 5. Zu weiteren verfahrensrechlichen Fragen s. Rdn. 77 ff Vor § 61.

XIV. Übergangsregelungen 184 1. Taten vor dem 1.4.1970 und dem 1.1.1975. Für Taten, die vor dem 1. 4. 1970 begangen wurden, ist nach Art. 93 1. StrRG Sicherungsverwahrung nur anzuordnen, wenn ihre Voraussetzungen sowohl nach früherem Recht als auch nach der Neufassung durch das 1. StrRG vorliegen. Das Gericht hat also, entsprechend dem alten § 42 e, auch zu berücksichtigen, ob künftige Veränderungen in den Verhältnissen oder in der Person des Betroffenen die Gefährlichkeit beseitigen können (LangHinrichsen Voraufl. § 42 e Rdn. 92). Diese Regelung hat sich mit der Überleitung (262)

Reihenfolge der Vollstreckung (Hanack)

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des § 42 e η. F. in § 66 n. F. (1.1. 1975) insoweit nicht geändert (vgl. näher KG NJW 1977 1162). Aus der Überleitungsregelung des Art. 93 l.StrRG ergibt sich nicht, ob und unter welchen Voraussetzungen eine nach früherem Recht angeordnete Sicherungsverwahrung über den 1.4.1970 hinaus vollstreckt werden darf. Art. 93 bezieht sich nur auf die Anordnung der Sicherungsverwahrung, nicht aber auf die Vollstreckung einer schon rechtskräftig angeordneten Sicherungsverwahrung. Das Problem der „alten Sicherungsverwahrten" und ihrer eventuellen Entlassung mit oder ohne Auferlegung besonderer Pflichten (§ 42 h Abs. 2 a. F.) hat viele schwierige Fragen aufgeworfen; vgl. dazu im einzelnen Horstkotte LK, Erl. zu § 67 d und zu § 6 7 c ; Sch. -Schröder17 § 42 e Rdn. 65 und neuestens kritisch Köhler NJW 1975 1150. 2. Anlaßtaten vor Vollendung des 25. Lebensjahres. Nach der Übergangsfassung 185 des §66 (Art. 18 IVEGStGB; s. „Entstehungsgeschichte") ist die Anordnung der Sicherungsverwahrung bei solchen Taten bis zum Inkrafttreten der Vorschrift des § 65 über die sozialtherapeutische Anstalt, die in § 65 Abs. 2 den frühkriminellen Hangtäter besonders erfaßt, zulässig. Eine besondere Vorschrift zur Überleitung der Vollstreckung nach diesem Zeitpunkt fehlt. Der BGH verweist auf die Möglichkeit der Überweisung in den Vollzug der sozialtherapeutischen Anstalt gemäß § 67 a Abs. 2 (NJW 1976 300, 301). Bei der besonderen Bedeutung, die das Gesetz der resozialisierenden Einwirkung gerade auf den frühkriminellen Hangtäter unter 25 Jahren aus gutem Grund zumißt (vgl. Rdn. 46), wird man, soweit der Täter nicht schon vorher gemäß § 9 StVollzG in die sozialtherapeutische Anstalt verlegt worden ist (oben Rdn. 48), dabei den Grundgedanken des Art. 314 Abs. 5 EGStGB analog anzuwenden haben. Danach hat also die Strafvollstreckungskammer innerhalb von drei Monaten die Überweisung des Täters aus einem schon begonnenen Strafvollzug in den Vollzug der sozialtherapeutischen Anstalt anzuordnen (§ 67 Abs. 1), falls nicht die Ausnahmevorschrift des § 67 Abs. 2 eingreift. §67 Reihenfolge der Vollstreckung (1) Wird die Unterbringung in einer Anstalt nach den §§ 63 bis 65 neben einer Freiheitsstrafe angeordnet, so wird die Maßregel vor der Strafe vollzogen. (2) Das Gericht bestimmt jedoch, daß die Strafe vor der Maßregel zu vollziehen ist, wenn der Zweck der Maßregel dadurch leichter erreicht wird. (3) Das Gericht kann eine Anordnung nach Absatz 2 nachträglich treffen, ändern oder aufheben, wenn Umstände in der Person des Verurteilten es angezeigt erscheinen lassen. (4) Wird die Maßregel vor der Strafe vollzogen, so wird die Zeit des Vollzuges der Maßregel auf die Strafe angerechnet. (5) Wird die Maßregel vor der Strafe vollzogen, so kann das Gericht die Vollstreckung des Strafrestes auch dann nach § 57 Abs. 1 zur Bewährung aussetzen, wenn noch nicht zwei Drittel der verhängten Strafe durch die Anrechnung erledigt sind. Wird der Strafrest nicht ausgesetzt, so wird der Vollzug der Maßregel fortgesetzt; das Gericht kann jedoch den Vollzug der Strafe anordnen, wenn Umstände in der Person des Verurteilten es angezeigt erscheinen lassen. (263)

§ 67

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

Schrifttum Marquardt Dogmatische und kriminologische Aspekte des Vikariierens von Strafe und Maßregel (1972). Im übrigen s. die Angaben bei den Vorb. Vor § 61.

Entstehungsgeschichte Die Vorschrift ist durch das 2. StrRG — mit redaktionellen Änderungen der Absätze 3 und 5 durch Art. 18 II Nr. 23 EGStGB — eingefügt worden. Sie wurde bei den Beratungen zur Strafrechtsreform nach dem Zweiten Weltkrieg erarbeitet (näher Rdn. 2) und hat einen gewissen Vorläufer in § 456 b S. 2 a. F. StPO (s. Rdn. 1). Die Verweisung des Absatz 1 auf § 65 (sozialtherapeutische Anstalt) wird — nach dem derzeitigen Gesetzesstand — am 1. 1.1985 wirksam; vgl. dazu § 65 „Entstehungsgeschichte". Übersicht I.

il.

Rdn. Allgemeines 1 1. Bedeutung u n d Entwicklung 1 2. Vikariierendes System 4 3. G r u n d g e d a n k e n des § 67 5 4. Problematik 7 D e r grundsätzliche Vorwegvollzug d e r Maßregel und seine Folgen (Absatz 1, 4, 5) 11 1. G r u n d s a t z 11 2. A u s n a h m e f ü r die Sicherungsverwahrung 12 3. A n w e n d u n g s b e r e i c h 13 4. A n r e c h n u n g des Maßregelvollzugs auf die Strafe (Absatz 4) 14 5. Verlängerung der Maßregel-Höchstdauer 15 6. B e h a n d l u n g eines ü b e r s c h i e ß e n d e n Strafrests (Absatz 5) 16

Rdn. Aussetzung des Strafrests 17 Fortsetzung des Maßregelvollzugs 24 c) A n o r d n u n g des Strafvollzugs . . . 27 Der a u s n a h m s w e i s e Vorwegvollzug der Strafe (Absatz 2) 30 1. Allgemeines 30 2. Mögliche A n w e n d u n g s f ä l l e 34 a) A u s n u t z u n g des „Leidensdrucks" 34 b) G e f ä h r d u n g des Maßregelerfolgs 36 c) F e h l e n d e Kapazitäten im Maßregelvollzug 37 d) Überlegenheit der B e h a n d l u n g im Strafvollzug 38 Nachträgliche Ä n d e r u n g e n (Absatz 3) . . 42 Verfahrensrechtliches 46 Übergangsvorschriften 47 a) b)

III.

IV. V. VI.

I. Allgemeines 1 1. Bedeutung und Entwicklung. § 67 lockert die strengen Folgen der traditionellen Zweispurigkeit von Strafe und Maßregel für das Verhältnis zwischen Freiheitsstrafe und freiheitsentziehender Maßregel (außer der Sicherungsverwahrung) durch die Einführung des sog. vikariierenden Systems. Die Vorschrift hat einen gewissen Vorläufer in § 456 b S. 2 a. F. StPO, der (seit dem GewohnheitsverbrecherG v. 24. 11. 1933) die Vollstreckungsbehörde ermächtigte, die Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt (jetzt: § 63) sowie in einer Trinkerheilanstalt oder Entziehungsanstalt (jetzt: § 64) ganz oder teilweise vor der Freiheitsstrafe zu vollziehen. Jene Regelung hatte jedoch nur geringe praktische Bedeutung erlangt (Marquardt S. 148 fand unter 156 möglichen Anwendungsfällen drei), was wohl nicht zuletzt damit zusammenhängt, daß die Bestimmung als Ausnahmevorschrift zu interpretieren war (näher Schäfer, in Löwe-Rosenberg22 § 456 b Anm. 2) und nach § 44 StVollstrO „insbesondere" bei Haftunfähigkeit bzw. bei „dringenden ärztlichen Gründen" Anwendung finden sollte. (264)

Reihenfolge der Vollstreckung (Hanack)

§67

Das neue Recht macht demgegenüber den Vorwegvollzug der Maßregel zum Grundsatz (Rdn. 11) und schreibt überdies zwingend vor, daß der vorweggenommene Maßregelvollzug voll auf die Dauer der Freiheitsstrafe anzurechnen ist (Absatz 4), so daß also insoweit die Strafe in Form der Maßregel verbüßt wird. Die Regelung, die in ähnlicher Weise auch im neuen österreichischen StGB ent- 2 halten ist (§ 24), wurde, wenn auch recht zögernd, bei den Beratungen zur Strafrechtsreform nach dem Zweiten Weltkrieg in eingehenden Auseinandersetzungen erarbeitet. Ihre heutige Ausprägung geht in wesentlichen Punkten auf den Sonderausschuß zurück: Während der E 1962 den Vorwegvollzug der Maßregel — aufgrund besonderer richterlicher Anordnung — nur vorsehen wollte, wenn „der Zustand des Täters es erfordert" oder „dadurch der Zweck der Maßregel leichter erreicht wird" (§ 87 m. w. Einschränkungen), machte der Sonderausschuß in Anlehnung an § 77 AE-AT den Vorwegvollzug zur Regel. Er beseitigte auch die in § 87 E 1962 und in § 77 AE-AT vorgesehenen Bindungen bei der Aussetzung eines überschießenden Strafrests an die zeitlichen Grenzen des (heutigen) § 57. — Vgl. dazu näher 2. Bericht S. 30 ff; Prot. IV, 338 ff, 922 ff; Prot. V, 331 ff, 357 ff, 379, 2025, 2318 ff, 2445, 3247 ff. Zu den früheren Vorschlägen des E 1962 vgl. zusammenfassend dessen Begründung, S. 216 ff. Die Vorschrift bedeutet im Streit der Meinungen um die Berechtigung der Zwei- 3 spurigkeit (Rdn. 1 ff vor § 61) einen gewissen Kompromiß. Als solcher ist sie im Schrifttum, namentlich im Hinblick auf einen Gewinn an Gerechtigkeit und Elastizität, jedenfalls im Grundsatz überwiegend begrüßt worden: vgl. Marquardt S. 36 m. zahlr. Nachw.; weiter z. B. Baumann AT § 44 I 2; Hanack Krim. Gegenwartsfragen, S. 77; Jescheck AT § 70 VI 4; Lenckner S. 231 ; Maurach AT § 68 II A; Schmidhäuser AT 21/27 (S. 836); Zipf, in Roxin u. a. Einführung in das neue Strafrecht, S. 97; AE-AT S. 127. Allerdings wurden — während der Auseinandersetzungen zur Strafrechtsreform — schon gegen die zurückhaltendere Regelung des § 87 E 1962 auch Einwendungen erhoben, die teils die innere Logik der Regelung im System der strafrechtlichen Rechtsfolgen, insbesondere aber die Frage des Gerechtigkeitsgehalts betreffen (näher Rdn. 7 ff). Daneben bestehen mancherlei Bedenken hinsichtlich der Einzelausgestaltung des § 67, dessen Kompromißcharakter in einigen Sachfragen geradezu peinlich zutage tritt (näher insbes. Rdn. 20 f, 36; vgl. auch Rdn. 38 ff). 2. Vikariierendes System. § 67 ist der Hauptanwendungsfall des sog. Vikariie- 4 rens, d. h. des stellvertretenden Austauschs strafrechtlicher Sanktionen. Einen weiteren Anwendungsfall dieses Prinzips im Bereich der freiheitsentziehenden Maßregeln enthält § 67 a, der den stellvertretenden Austausch im Vollzug der Maßregelunterbringung zuläßt; dazu näher Horstkotte LK, Erl. zu § 67 a. Ein beschränktes Vikariieren zwischen Strafvollzug und freiheitsentziehender Maßregel sieht überdies jetzt § 9 StVollzG durch die Möglichkeit vor, unter den dort genannten Voraussetzungen einen Strafgefangenen vollzugsintern vom Strafvollzug in die sozialtherapeutische Anstalt zu überweisen. Über diesen Einzelfall hinaus ist jedoch ein Vikariieren zwischen Freiheitsstrafe und freiheitsentziehender Maßregel nicht vorgesehen. (265)

§67 5

3. Abschnitt. R e c h t s f o l g e n der Tat

3. Grundgedanken des § 67. Die Vorschrift beruht — in ihrer heutigen Ausprägung aufgrund der Beratungen des Sonderausschusses (Rdn. 2) — insbesondere auf zwei miteinander zusammenhängenden kriminalpolitischen Überlegungen. Ihr liegt einmal die folgende Vorstellung zugrunde. Der kumulative Vollzug von Freiheitsstrafe und freiheitsentziehender Maßregel bedeutet in der Sache eine doppelte Übelszufügung, die namentlich vom Betroffenen, aber selbst von der Öffentlichkeit, regelmäßig auch als solche empfunden wird. Diese doppelte Übelszufügung kann jedoch ebenso ungerecht wie unnötig, mindestens aber entbehrlich sein, wenn und soweit sich nämlich schon mit dem Vollzug der Maßregel dem Reaktionsbedürfnis der Gesellschaft gegenüber der Straftat Genüge tun läßt, die Maßregel also in der Realität Funktionen der Strafe mit zu erfassen vermag. § 67 enthält insoweit die Hinwendung zu einem realitätsbezogeneren, primär an der Erforderlichkeit der Einwirkung orientierten Strafrecht; vgl. dazu auch Rdn. 8.

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Zum anderen ist für die Regelung — und zwar insbesondere in der Einzelausgestaltung des § 67 — die Erwägung maßgebend, daß ein Maßregelvollzug vor oder anstelle des Strafvollzugs jedenfalls für die Resozialisierung der hier infrage stehenden gestörten Täter grundsätzlich mehr leistet, weil dabei auf ihre individuellen Gegebenheiten besser eingegangen werden kann. § 67 beruht insoweit, wie bei den Gesetzesberatungen auch immer wieder zum Ausdruck kam, auf dem Vorrang des Resozialisierungsbemühens, aber auch auf dem Gedanken, daß der Maßregelvollzug Besseres leisten kann als der Strafvollzug. Er sollte daher nach den gesetzgeberischen Vorstellungen im Interesse des Täters wie der Gesellschaft mit einem möglichst hohen Maß an Effektivität ausgestattet werden. Diese Effektivität aber verlangt auch, daß negative Auswirkungen des Strafvollzugs auf den Maßregelvollzug möglichst ausgeschaltet werden, und zwar sowohl hinsichtlich der negativen Wirkungen eines vorausgehenden Strafvollzugs (Verstreichenlassen „therapeutisch fruchtbarer Jahre", s. unten Rdn. 11) als auch hinsichtlich eines nachfolgenden Strafvollzugs (Gefährdung des erreichten Maßregelzwecks; s. unten Rdn. 18, 24).

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4. Problematik. Das vikariierende System des heutigen § 67 ist, wie bemerkt, bei den kriminalpolitischen Auseinandersetzungen um die Strafrechtsreform in verschiedener Hinsicht angegriffen worden. Eine eingehende Darstellung und Erörterung dieser Einwendungen enthält die Abhandlung von Marquardt (S. 36 ff m. w. Nachw.). 8 Eingewendet worden ist u. a., das Vikariieren bedeute einen Bruch im System der Zweispurigkeit (so ζ. B. Bruns ZStW 71 222; Lang-Hinrichsen Grundfragen der Strafrechtsreform, S. 127; Maurach Vhdlgn. d. 43. DJT, S. 17). Im Zusammenhang damit wurde auch eine Verletzung des Schuldprinzips behauptet (so ζ. B. Maurach aaO S. 15 f; K. Peters Grundfragen der Strafrechtsreform, S. 43). In der Tat ist kaum zu leugnen, daß die Trennung zwischen Strafe (Reaktion auf Schuld) und Maßregel (Reaktion auf Gefährlichkeit) durch § 67 in gewissem Sinne verwischt wird. Aber abgesehen davon, daß diese Verwischung nur den Vollzug, nicht aber auch die Anordnung der Reaktionen betrifft und schon deswegen nicht ohne weiteres widersprüchlich ist oder das Schuldprinzip verletzt: Die Verwischung ist gerade Ausdruck des gesetzgeberischen Bemühens, die kritisch gewordene oder gebliebene Antithese von Schuld und Gefährlichkeit wenigstens in den Folgen der strafrechtlichen Reaktion aufzuheben oder doch abzumildern; sie stellt sich insoweit als (266)

Reihenfolge der Vollstreckung (Hanack)

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bewußte Abkehr von einer „allzu doktrinären Beurteilung des Verhältnisses von Maßregel und Strafe zugunsten praktischer Überlegungen" dar (so Horstkotte als Vertreter des BMJ, Prot. IV, 922). In diesem Sinne bedeutet die Vorschrift einen weiteren Schritt auf der ohnedies — nicht nur in der Bundesrepublik — überall zu beobachtenden Hinwendung des Strafrechts zu einem durchaus neuen Sanktionensystem, das entscheidend auf die kriminalpolitisch sachgerechte Einwirkung abhebt (Hanack Krim. Gegenwartsfragen, S. 70) und bei dem auch die Strafe nicht mehr um ihrer selbst willen, als „Vergeltung", angewendet wird. Nach modernem Verständnis liegt in dieser Entwicklung und damit auch in ihrer hier in Frage stehenden Ausprägung eine Verletzung des Schuldprinzips nicht (eingehend Marquardt S. 38 ff)· — Im übrigen spricht viel dafür, daß die Auflockerung, die das vikariierende System des § 67 bringt, eine Übergangssituation des Strafrechts markiert, die sich aus der Schwierigkeit oder Unmöglichkeit (s. Rdn. 7, 12 vor § 61) ergibt, mit den heutigen Mitteln und Erkenntnismöglichkeiten einen besseren Ausgleich zu finden; vgl. auch Zipf Kriminalpolitik, 1973, S. 44: „keine endgültig befriedigende Lösung". Der weitere Einwand, daß mit dem Vikariieren eine unzulässige Übertragung 9 von Straffunktionen auf das Maßregelrecht stattfinde (Lang-Hinrichsen Grundfragen aaO S. 123; vgl. auch Maurach aaO S. 16), ist sicher unberechtigt. Denn die Voraussetzungen für die Anordnung der einen und der anderen Sanktion bleiben ja als solche unberührt und nebeneinander bestehen. Der Vollzug der Maßregel aber hat im ganzen keine andere Funktion als der Vollzug der Freiheitsstrafe, wie er heute etwa in § 2 StVollzG umschrieben ist. Wenn hief Widersprüche bestehen, so liegen sie in der Diskrepanz, daß die Freiheitsstrafe einerseits an die Schuld anknüpft (§ 46), andererseits aber in der Durchführung vornehmlich an der Resozialisierung ausgerichtet ist (§2 StVollzG); daß infolge dieser Ausrichtung dann auch Strafe und Maßregel in weitem Umfang „austauschbar" sind, ist eine naheliegende, ja fast logische Konsequenz. Ernster wiegen Einwendungen, die um eine Verletzung des Sozialstaatsprinzips 10 (Art. 20 Abs. 1 GG) und insbesondere des Gleichheitsgrundsatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) kreisen. Die Besorgnis, daß Täter, die zugleich mit einer Maßregel belastet werden, im Ergebnis besser gestellt sind oder gestellt sein können als diejenigen, die lediglich eine Freiheitsstrafe erhalten, hat namentlich bei den Beratungen des Sonderausschusses eine große Rolle gespielt (vgl. ζ. B. Prot. V, 362 f, 2323 ff; s. auch Lang-Hinrichsen aaO S. 122; Schröder ZStW 66 189). In der Tat besteht hier eine unaufgelöste Antinomie, und zwar insbesondere dann, wenn der Täter wegen einer erfolgreichen Maßregelbehandlung und nachfolgender Aussetzung des Strafrests gemäß § 67 Abs. 5 insgesamt eine kürzere Freiheitsentziehung erleidet als der nicht mit einer Maßregel belastete. Diese Antinomie wird auch nicht dadurch aufgehoben, daß der Gesetzgeber keinen Mut fand, sie klar zu lösen, sondern ihre Entscheidung im Einzelfall dem Richter aufbürdet (näher Rdn. 20 ff). Doch bleibt nicht nur zu beachten, daß derartige Friktionen ersichtlich in der Praxis nicht sehr häufig sind; so ermittelte Marquardt in einer Untersuchung von 155 einschlägigen Fällen eine Zahl von höchstens acht Tätern, deren Strafzeit möglicherweise aufgrund des § 67 geringfügiger wäre (S. 142 f; es wären übrigens meist geringfügige Verkürzungen, und zwar bei Trinkern). Zu beachten ist vor allem, daß es sich ja durchweg um psychisch gestörte oder süchtige Täter handelt, deren Taten, unbeschadet der ihnen zugute kommenden Strafmilderung gemäß §§21, 49, durchaus in einem eigenen Licht zu sehen sind. So wird man (im Ergebnis mit der eingehenden Untersuchung (267)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

von Marquardt S. 43 ff) mindestens einen verfassungsrechtlich relevanten Verstoß in der kriminalpolitisch begründeten Regelung des Gesetzes nicht sehen können. II. Der grundsätzliche Vorwegvollzug der Maßregel und seine Folgen (Absatz 1,4,5) 11

1. Grundsatz. Das Gesetz bringt schon durch die Anordnung der Absätze 1 und 2 klar zum Ausdruck, daß der Vorwegvollzug der Maßregel der Grundsatz, der Erstvollzug der Freiheitsstrafe hingegen die Ausnahme ist. Dies entspricht auch der allgemeinen Meinung (OLG Karlsruhe NJW 1975 1571; Dreher Rdn. 3; Lackner Anm. 2; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 1). Es erklärt sich aus der Vorstellung und dem Bemühen des Gesetzgebers, in erster Linie die als intensiver gedachten Einwirkungen des Maßregelvollzugs auszunutzen und ein Verstreichenlassen der „therapeutisch fruchtbaren Jahre" durch Hintenanstellung des Maßregelvollzugs zu vermeiden (2. Bericht S. 30 ΟΙ2 2. Ausnahme für die Sicherungsverwahrung. Das Vikariieren gilt nicht für die Sicherungsverwahrung (§ 66), die in § 67 Abs. 1 nicht aufgeführt ist. Hier bleibt es darum, wie sich mindestens im Wege des Umkehrschlusses ergibt, bei der Regelung des früheren Rechts, daß die Strafe vor der Maßregel vollzogen wird (allgemeine Meinung; z.B. Dreher Rdn. 2; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 11; vgl. auch 2. Bericht S. 31). Der Gesetzgeber hat, im Ergebnis übereinstimmend mit § 87 Abs. 1 E 1962 und § 77 Abs. 1 AE-Allg. Teil, die Nichteinbeziehung der Sicherungsverwahrung in das vikariierende System insbesondere damit begründet, daß die Sicherungsverwahrung als ultima ratio der Kriminalpolitik keinen „gezielten Behandlungszweck" verfolge und daß es ungerecht sei, die „schwersten Verbrecher" von vornherein „dem wesentlich milderen" Maßregelvollzug statt des „strengeren Strafvollzugs" zu unterwerfen; auch findet sich das — einigermaßen überraschende — Argument, daß die angestrebte stärkere Differenzierung zwischen Strafvollzug und Sicherungsverwahrung durch Einführung des Vikariierens gefährdet werden könne (2. Bericht aaO; vgl. auch Prot. V, 331 ff). Die gesetzgeberische Entscheidung war schon im Sonderausschuß umstritten (vgl. Prot. V, 331 ff, 357 ff; ablehnend z.B. Jescheck ZStW 80 83 m. w. Nachw.; Noll ZStW 76 713; Schultz JZ 1966 119), ist aber für den Richter jedenfalls verbindlich. 13

3. Anwendungsbereich. Der Grundsatz des Absatz 1 gilt für jede Form einer „angeordneten" Maßregelunterbringung im psychiatrischen Krankenhaus, der Entziehungsanstalt oder der sozialtherapeutischen Anstalt. „Angeordnet" i. S. des § 67 Abs. 1 ist dabei nicht nur die vom erkennenden Gericht im Urteil angeordnete Unterbringung, sondern auch diejenige Unterbringung, zu der es erst durch Widerruf einer Aussetzung gemäß § 67 g gekommen ist (Horn SK Rdn. 3). Hingegen gilt Absatz 1 nicht, wenn es lediglich zum Widerruf der Strafaussetzung, nicht aber auch zum Widerruf einer Unterbringungsaussetzung kommt, ζ. B. weil der Täter allein gegen Auflagen im Rahmen der Strafaussetzung (§ 56 f Abs. 1 Nr. 3) verstoßen hat. Hier fehlt es an einer „Anordnung" der Unterbringung (Horn aaO) und damit an dem charakteristischen Konflikt des Nebeneinanders von zwei verschiedenen vollziehbaren Freiheitsentziehungen, den § 67 lösen will.

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4. Anrechnung des Maßregelvollzugs auf die Strafe (Absatz 4). Der vorweggenommene Maßregelvollzug wird gemäß Absatz 4 auf die Freiheitsstrafe — voll — angerechnet. Die Anrechnung tritt kraft Gesetzes ein. Die Vorschrift richtet sich (268)

R e i h e n f o l g e der Vollstreckung ( H a n a c k )

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insoweit unmittelbar an die Vollstreckungsbehörde, die sie bei der Strafzeitberechnung von Amts wegen zu berücksichtigen hat (Lackner Anm. 4). Einer besonderen gerichtlichen Entscheidung bedarf es nicht (Horn SK Rdn. 4). Die Anrechnung setzt nach dem Wortlaut des Gesetzes nicht voraus, daß auch die angeordnete Freiheitsstrafe vollstreckt wird. Sie ist auch geboten, wenn die Strafe zur Bewährung ausgesetzt wird, weil sonst der günstiger prognostizierte Täter ohne jeden Grund schlechter gestellt wäre als derjenige, dessen Strafe wegen schlechter Prognose oder aus sonstigen Gründen nicht ausgesetzt werden kann (übereinstimmend Horn Rdn. 5 ; Dreher Rdn. 4). Im Falle des Widerrufs einer Strafaussetzung (§ 56 f) nach einem vorausgegangenen Maßregelvollzug kann die Strafe nur noch für die Spanne vollstreckt werden, die — gegebenenfalls — die Dauer der Unterbringung übersteigt; § 67 Abs. 5 S. 1 findet dann freilich insoweit keine Anwendung (ebenso Horn aaO). Die Anrechnung auf die Strafe tritt auch dann ein, wenn in Aufhebung oder Abänderung einer Entscheidung nach Absatz 2 der Vorwegvollzug der Maßregel erst nachträglich angeordnet wird (Sch.-Schröder-Stree Rdn. 3). 5. Verlängerung der Maßregel-Höchstdauer. Zu beachten ist, daß sich im Falle 15 des Vorwegvollzugs der Maßregel bei den zeitlich begrenzten Unterbringungen in der Entziehungsanstalt und der sozialtherapeutischen Anstalt (§ 67 d Abs. 1 S. 1) die gesetzliche Höchstdauer (zwei bzw. fünf Jahre) gemäß § 67 d Abs. 1 S. 3 um die Dauer der durch die Anrechnung erledigten Freiheitsstrafe verlängert. Ist also ζ. B. der Täter zu drei Jahren Freiheitsstrafe und zur Unterbringung in einer Entziehungsanstalt verurteilt worden und wird zunächst die Unterbringung in der Entziehungsanstalt bis zur „normalen" Höchstfrist vollzogen, so bleibt aufgrund des Absatz 4 noch ein Strafrest von einem Jahr; gleichzeitig verlängert sich aber die mögliche Unterbringungszeit nach § 67 d Abs. 1 S. 3 mindestens bis zur Gesamtdauer von vier Jahren (streitig; s. unten Rdn. 25). Dabei bleibt wegen der Anrechnung die zulässige Höchstdauer des Freiheitsentzugs (im Beispiel: fünf Jahre) im Ergebnis dieselbe. — Darüber, daß es sich praktisch freilich vielfach nicht empfiehlt, diese Höchstfristen auszunutzen, s. im einzelnen unten Rdn. 28 f. 6. Behandlung eines überschießenden Strafrests (Absatz 5). Ist der vorweggenom- 16 mene Maßregelvollzug kürzer als die Dauer der verhängten Freiheitsstrafe, entsteht die kritische Frage, wie der überschießende, durch die Anrechnung gemäß Absatz 4 noch nicht verbrauchte Strafrest zu behandeln ist. Das Gesetz stellt in Absatz 5 dafür drei Möglichkeiten zur Verfügung: Aussetzung unter den Voraussetzungen des Absatz 5 S. 1 (Rdn. 17 ff); Fortsetzung des Maßregelvollzugs (Rdn. 24 ff); Überweisung in den Strafvollzug (Rdn. 27 ff)· a) Die Aussetzung des Strafrests (Absatz S S. 1). Sie kommt vor allem in 17 Betracht, wenn die weitere Vollstreckung der Maßregel nach § 67 d Abs. 2 zur Bewährung ausgesetzt wird. Daß § 67 Abs. 5 S. 1 auch und gerade für diesen Fall gilt, ergibt sich aus den Grundgedanken der Regelung. Bei der Unterbringung in der Entziehungsanstalt und der sozialtherapeutischen Anstalt kann die Aussetzung aber auch mit Ablauf der Höchstfrist für die Dauer des Vollzugs dieser Maßregeln (§ 67 d Abs. 1) erfolgen (für die Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus gibt es eine solche Frist nicht). Bei korrekter Handha(269)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

bung des Gesetzes müßte dieser Fall an sich zwar selten sein, weil der Täter aus dem Maßregelvollzug zu entlassen ist, „sobald verantwortet werden kann zu erproben", ob er außerhalb dieses Vollzugs keine Straftaten mehr begeht (§ 67 d Abs. 2), und diese Situation ja wohl kaum genau gerade am Tag des Ablaufs der Höchstfrist eintritt. Insbesondere durch die Möglichkeit, Fristen für die Prüfung der MaßregelAussetzung festzulegen (§ 67 e), kann es jedoch auch durchaus zum Zusammenfallen der beiden Termine kommen. 18

aa) Voraussetzung der Aussetzung ist aufgrund der Verweisung auf § 57 Abs. 1, daß das Gericht eine günstige Prognose i. S. des § 57 Abs. 1 Nr. 2 bejaht und daß der Verurteilte einwilligt (§ 57 Abs. 1 Nr. 3). Auf die weitere Voraussetzung des § 57 Abs. 1 (Nr. 1), daß der Verurteilte mindestens zwei Drittel der verhängten Freiheitsstrafe verbüßt hat, kommt es hingegen nach der ausdrücklichen Formulierung des § 67 Abs. 5 S. 1 nicht an. Dem liegt die Ansicht des Sonderausschusses zugrunde, daß „nicht einzusehen" sei, „warum der Verurteilte, obwohl der Maßregelzweck erreicht ist, anschließend noch stets im Vollzug zurückgehalten werden soll, bis . . . zwei Drittel der Strafe verbüßt sind" (2. Bericht S. 32). Das Gesetz wollte damit, wie auch die Entstehungsgeschichte deutlich macht (Prot. V, 23 ff, 2445 f, 3248 f; vgl. auch Hostkotte JZ 1970 123), insoweit also Gesichtspunkten der Spezialprävention den Vorrang vor den zeitlichen Begrenzungen des § 57 Abs. 1 geben, insbesondere einen schon erreichten Maßregelzweck nicht wieder gefährden.

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Zweifelhaft könnte sein, ob damit auch die allgemeine zeitliche Voraussetzung des § 57 ausgeschlossen ist, daß der Verurteilte mindestens die Hälfte der Strafe (vgl. § 57 Abs. 2) verbüßt haben muß. Horn (SK Rdn. 7) neigt dazu, dies zu bejahen, weil § 67 Abs. 5 S. 1 nur auf § 57 Abs. 1 verweist und weil der Täter bei einer anderen Handhabung versuchen könne, auf eine Unterbringungsanordnung in der Hoffnung zu drängen, u. U. schon vor der halben Strafzeit die Freiheit wiederzuerlangen. Das erscheint nicht überzeugend. Der Hinweis auf die möglichen Bestrebungen des Täters verfängt schon angesichts des Offizialprinzips wenig. Das Gesetz selbst aber macht die Aussetzung in § 67 Abs. 5 S. 1 lediglich von den materiellen Voraussetzungen des § 57 Abs. 1 abhängig, ohne irgendwie auf die zeitlichen Begrenzungen des § 57, also auch auf die Begrenzung des § 57 Abs. 2, Bezug zu nehmen. Tatsächlich entspricht dies trotz der nicht ganz eindeutigen Formulierung des 2. Berichts (s. Rdn. 18) auch dem Willen des Gesetzgebers, dem es hier auf den Vorrang der Spezialprävention ankam. So hat der Sonderausschuß die auch von ihm zunächst vorgesehene Bindung an die Fristen des § 57 (vgl. noch Prot. V, 2323 ff) schließlich ausdrücklich verworfen (Prot. V, 3248 f) und selbst eine Zwischenlösung des AE-AT (§ 77 Abs. 2, 3) bewußt nicht übernommen. Daß die Frist des § 57 Abs. 2 nicht gilt, ist auch die Meinung des übrigen Schrifttums, soweit es sich zu der Frage bisher geäußert hat: Dreher Rdn. 6; Baumann AT § 44 I 2; Lenckner S. 231 f; Marquardt S. 164. Anders jetzt aber OLG Hamm MDR 1977 334. Eine logisch andere Frage ist freilich, ob oder wie weit der Richter im Rahmen seines pflichtgemäßen Ermessens bei der Entscheidung über die Aussetzung berücksichtigen kann oder muß, daß nur ein mehr oder weniger großer Teil der Strafe durch die Anrechnung gemäß Absatz 4 als verbüßt gilt; dazu im folgenden Text.

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bb) Nach pflichtgemäßem Ermessen („kann") hat das Gericht — bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen — über die Aussetzung zu entscheiden. (270)

Reihenfolge der Vollstreckung (Hanack)

§67

Marquardt (S. 165) meint, für diese Entscheidung dürften ausschließlich spezialpräventive Gesichtspunkte maßgebend sein: Beim Zweck der Vorschrift, der „möglichst kompromißlosen Durchsetzung der spezialpräventiven Erfordernisse des Einzelfalles", hätte der Gesetzgeber, wenn er auch Gesichtspunkte der Schuld (Strafe) bei der Entscheidung über die Aussetzung berücksichtigt wissen wollte, dies „durch eine entsprechende Formulierung zum Ausdruck bringen müssen". Da er das nicht getan habe, dürfe bei der Entscheidung über die Aussetzung die Schwere der begangenen Straftat und das Ausmaß der Schuld keinerlei Rolle spielen. Dem ist nicht zu folgen (ablehnend im Ergebnis auch die herrschende Meinung; so Dreher Rdn. 6; Lackner Anm. 5; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 4; Lenckner S. 231 f) : Die Kann-Vorschrift hätte keinerlei Sinn, wenn das Gericht — wie bei § 57 Abs. 1 — nur die spezialpräventiven Gesichtspunkte zu berücksichtigen hätte, also zur Aussetzung stets verpflichtet wäre, wenn die günstige Prognose gegeben ist. Zu einer anderen Betrachtung berechtigt auch nicht die „merkwürdige Konsequenz" {Lenckner S. 232), daß dann der bei Nichtaussetzung des Strafrests grundsätzlich fortdauernde Maßregelvollzug „in Wahrheit generalpräventive Aufgaben zu erfüllen hat" ; denn diese Konsequenz beruht auf einer in sich sinnvollen Überlegung (s. Rdn. 24) und deutet damit vielleicht sogar mittelbar ebenfalls darauf hin, daß das Gesetz Fälle voraussetzt, in denen es nicht zu einer Aussetzung kommt, obwohl das unter dem Gesichtspunkt der Spezialprävention möglich wäre. Im übrigen ging der Gesetzgeber selbst — wie auch Marquardt nicht übersieht (aaO Fußn. 102) — erkennbar davon aus, daß bei der Entscheidung über die Aussetzung auch Tatschwere und Schuldgröße eine Rolle spielen (vgl. Prot. V, 2348 ; unklar freilich 2. Bericht S. 32). Tatsächlich enthält das Gesetz hier einen nicht ausgetragenen Konflikt zwischen 21 der Spezialprävention und dem Schuldprinzip, den der Richter im Rahmen seines Ermessens tunlich auszugleichen hat. Nicht zu verkennen ist, daß ihm damit eine Abwägung im Einzelfall aufgebürdet wird, für die der Gesetzgeber nähere Richtlinien nicht gibt, obwohl er das leicht hätte tun können und obwohl es sich um eine spezifisch kriminalpolitische Frage handelt, bei der mindestens die Bestimmung der Leitlinien in seine Kompetenz fällt. Der Gesetzgeber ist, wie insbesondere die Protokolle des Sonderausschusses deutlich machen (ζ. B. Prot. V, 2323 ff, 2348 f), der Frage klar ausgewichen. Es erscheint ernstlich zweifelhaft, ob sich das rechtsstaatlich noch vertreten läßt. Die herrschende Meinung hält die erweiterten Aussetzungsmöglichkeiten des 22 § 67 Abs. 5 aus Gründen der Gerechtigkeit und der Gleichheit für fragwürdig (Dreher Rdn. 6; Lackner Anm. 5; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 4; zurückhaltender Lenckner S. 231), soweit sie dazu führt, daß ein Täter, der wegen seiner Gefährlichkeit neben der Strafe mit einer Maßregel belastet wird, infolge der Maßregeleinwirkung u. U. weniger an Strafe verbüßen muß als ein anderer Täter (vgl. § 57 und oben Rdn. 18 f), also eine „Vergünstigung" erhält. Sie befürwortet daher eine Handhabung des pflichtgemäßen Ermessens, die auf diese Problematik Rücksicht nimmt. So meint Dreher (aaO), der Richter solle die Aussetzung „mindestens dann ablehnen, wenn der „(Straf-) Rest von der Zweidrittelgrenze noch deutlich entfernt ist", während Lackner (aaO) empfiehlt, von der vorzeitigen Aussetzung nur Gebrauch zu machen, „wenn andernfalls der bereits erreichte Maßregelzweck ernstlich gefährdet würde". Die Überlegung der herrschenden Meinung ist im Ansatz berechtigt. Insbesondere läßt sich der bestehende Konflikt auch nicht mit dem Hinweis ausräumen, daß (271)

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der Maßregelvollzug an den Betroffenen möglicherweise härtere Anforderungen stellt als der Strafvollzug u n d daß bei Aussetzung der Unterbringung gemäß § 67 d Abs. 2 kraft Gesetzes Führungsaufsicht eintritt (so richtig Dreher aaO). Allerdings darf bei der Lösung des Konflikts nicht schematisch u n d nicht in zu enger Anlehnung an die zeitlichen Grenzen des § 57 verfahren werden. (Im übrigen zeigen die empirischen Untersuchungen von Marquardt, daß der Konflikt bei der Eigenart der Tätergruppen praktisch so häufig gar nicht sein dürfte; vgl. Marquardt S. 123 ff)· 23

So ist zunächst (mit Lackner aaO) anzuerkennen, d a ß eine Aussetzung des Strafrests ohne Rücksicht auf Schuldgesichtspunkte dem pflichtgemäßen Ermessen d a n n entspricht, wenn sonst der schon erreichte Maßregelzweck ernsthaft gefährdet würde. Denn d a ß der erreichte Zweck nicht wieder zerstört werden soll, liegt im Prinzip des vikariierenden Systems notwendig eingeschlossen. Insoweit besteht also zwingend ein Vorrang der Spezialprävention. Im übrigen ist das erkennbar auch die Vorstellung des Gesetzgebers gewesen, der hier die — vom Gedanken der Schuld her ungerechte — Besserstellung des Täters j a bewußt in Kauf genommen hat. Des weiteren ist (entgegen den Tendenzen von Dreher aaO) auch bei Abwägung der Gerechtigkeits- und Gleichheitsprobleme eine zu enge oder schematische Anlehnung an die Zweidrittelgrenze des § 57 Abs. 1 nicht ohne weiteres sachgemäß. Zu bedenken ist vielmehr einmal, d a ß der Maßregelvollzug in der Tat vielfach härtere Anforderungen an den Betroffenen stellt als der Strafvollzug, daß aber vor allem die erfolgreiche Mitwirkung an den Bemühungen dieses Vollzugs häufig eine Leistung darstellt, die — in gewissem Sinne als positives Nachtatverhalten (vgl. § 46 Abs. 2) — Beachtung verdient. Zu bedenken ist zum anderen, daß eine Straftat, die mit auf Störungen der in den §§ 63 bis 65 vorausgesetzten Art beruht, vielfach unter Schuldgesichtspunkten eine mildere Betrachtung verdient. Diese mildere Betrachtung wird zwar regelmäßig schon bei der Strafzumessung Berücksichtigung finden. Ihre nochmalige Berücksichtigung bei der Entscheidung über die Aussetzung erscheint aber jedenfalls dann zulässig u n d angemessen, wenn sie sich mit erfolgreichen Anstrengungen des Täters zur Beseitigung der Störung kombiniert.

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b) Fortsetzung des Maßregelvollzugs (Absatz 5 S. 2, Halbs. 1). Lehnt das Gericht eine Aussetzung nach § 67 Abs. 5 S. 1 ab, ist die gesetzliche Normalfolge, die Regel, daß der Maßregelvollzug fortgesetzt wird. Das Gesetz will auf diese Weise insbesondere vermeiden, d a ß die durch den Maßregelvollzug schon erzielten Erfolge wieder in Frage gestellt werden und „zugleich das allgemeine Vollzugsprinzip" berücksichtigen, d a ß die Anstalten so wenig wie möglich gewechselt werden (2. Bericht S. 32).

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Unklar erscheint, bis zu welcher Höchstdauer in den Fällen der §§ 64 und 65 die Fortsetzung des Maßregel Vollzugs zulässig ist: Geht man von der Formulierung des § 67 d Abs. 1 S. 3 aus, müßte man annehmen, d a ß der weitere Maßregel Vollzug nur statthaft ist, soweit sich die Höchstfrist für die Unterbringung um die Anrechnung des schon erfolgten Vollzugs auf die Freiheitsstrafe verlängert, also höchstens bis zum Doppelten der „normalen" Frist des § 67 d Abs. 1 S. 1 (so offenbar Dreher Rdn. 5). Mit dem Wortlaut des § 67 Abs. 5 S. 2 u n d insbesondere mit seinem Sinn (Rdn. 24) ist dies jedoch nicht zu vereinbaren. So wird man annehmen müssen, daß der Maßregelvollzug hier auch über die doppelte Höchstfrist des § 67 d Abs. 1 S. 3 hinaus fortgesetzt werden kann. Dies entspricht im Ergebnis wohl auch der Meinung von Horn (SK Rdn. 8 i. V. mit § 67 d Rdn. 4), der den Passus des § 67 d Abs. 1 (272)

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S. 3 : „soweit die Zeit des Vollzugs der Maßregel auf die Strafe angerechnet wird", für überflüssig und irreführend hält, also § 67 d dahin auslegt, daß sich die Höchstfrist für den Maßregelvollzug um die ganze Dauer der Freiheitsstrafe erhöht (näher zu dieser Interpretation Horstkotte LK, Erl. zu § 67 d). — In der Praxis wird sich eine derartige Dauer der Unterbringung freilich nicht ohne weiteres empfehlen; s. dazu im einzelnen Rdn. 29. Der Vollzug der Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus, der an eine Höchstfrist nicht gebunden ist, läuft bei Fortsetzung des Maßregelvollzugs bis zum Eintritt der Voraussetzungen des § 67 d Abs. 2. Die Möglichkeit, trotz Fortsetzung des Maßregelvollzugs auch später noch eine 26 Aussetzung nach Absatz 5 S. 1 zu verfügen, bleibt unberührt. Es gelten also auch nach der Fortsetzung nicht etwa die zeitlichen Begrenzungen des § 57 (so überzeugend Marquardt S. 166; zust. Horn SK Rdn. 6; Lackner Anm. 5). c) Anordnung des Strafvollzugs (Absatz 5 S. 2, Halbs. 2). In Abweichung von der 27 Regel, daß nach abgelehnter Aussetzung der Maßregelvollzug fortgesetzt wird (Rdn. 24), gestattet das Gesetz dem Gericht nach pflichtgemäßem Ermessen („kann"), den Vollzug der Freiheitsstrafe anzuordnen, „wenn Umstände in der Person des Verurteilten es angezeigt erscheinen lassen". Die Formulierung „Umstände in der Person" schließt „Gründe der allgemeinen Abschreckung" aus (2. Bericht S. 32), aber auch die Berücksichtigung fiskalischer Belange und sonstiger Umstände, die allein in der Sphäre des Staates liegen. Der Gesetzgeber dachte an Fälle, in denen die Fortsetzung des Maßregelvollzugs „unzweckmäßig" ist, so etwa weil der zur Unterbringung in der Entziehungsanstalt Verurteilte noch eine mehrjährige Freiheitsstrafe zu verbüßen hat, und seine Überweisung in einen gelockerten Strafvollzug (vgl. jetzt §§11, 141 Abs. 2 StVollzG) in Betracht kommt (2. Bericht aaO). „Angezeigt" ist die Anordnung jedoch nur, wenn sie spezialpräventive Belange 28 nicht verletzt. Dies ergibt sich aus dem Ausnahmecharakter der Bestimmung im Gefüge des § 67, dem es entscheidend auf die sachgerechte Einwirkung im Interesse der Resozialisierung des einzelnen Täters ankommt. Zu beachten ist daher insbesondere: ob der weitere Maßregelvollzug, und zwar gegebenenfalls unter Ausnutzung auch der Überweisung in den Vollzug einer anderen Maßregel gemäß § 67 a, noch einen Erfolg verspricht; ob er zur Erhaltung schon eingetretener Behandlungserfolge erforderlich ist (s. Rdn. 24); ob die Anordnung mit den sonstigen Zwecken (Rdn. 24) zu vereinbaren ist, derentwegen das Gesetz vom Grundsatz des weiteren Maßregelvollzugs ausgeht (zu weit darum Lackner Anm. 5). Diese Gesichtspunkte umschreiben zugleich wesentliche Kriterien, nach denen das pflichtgemäße Ermessen hier zu handhaben ist. Im übrigen liegen die Probleme, entsprechend den unterschiedlichen Behänd- 29 lungszielen und -methoden, bei den einzelnen Anstaltstypen etwas verschieden (vgl. auch unten Rdn. 44 zur Anwendung des Absatz 3): Bei der Unterbringung in der Entziehungsanstalt ist wesentlich, daß die Unterbringung in analoger Anwendung des § 64 Abs. 2 regelmäßig abzubrechen ist, wenn sich die nachträgliche Aussichtslosigkeit der Kur herausstellt (§ 64 Rdn. 92 [streitig]; vgl. auch unten Rdn. 44). Des weiteren dürfte es beim Spezialcharakter der Entziehungsanstalten im allgemeinen ganz untunlich sein, einen Täter über viele Jahre in einer solchen Anstalt zu halten (vgl. auch OLG Hamm MDR 1977 334); so wird (273)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

hier, falls nicht die Überweisung in den Vollzug einer anderen Maßregel nach § 67 a in Betracht kommt, die Verlegung in den Strafvollzug jedenfalls bei noch länger dauernder Strafhaft häufig, wenn nicht meist, angezeigt sein. Bei der Unterbringung in der sozialtherapeutischen Anstalt wird man ebenfalls annehmen müssen, daß die Behandlung aufgrund ihrer Eigenart bei Aussichtslosigkeit regelmäßig abzubrechen ist (näher unten Rdn. 44). Auch wird eine allzu lange Fortführung des Vollzugs über die normale Höchstdauer hinaus (fünf Jahre, § 67 d Abs. 1 S. 1) im allgemeinen zur weiteren Stabilisierung des Täters wenig beitragen und wohl auch zur Erhaltung schon eingetretener Behandlungserfolge mindestens nicht ohne weiteres angezeigt sein ; nach den bisherigen Erfahrungen scheint es so, daß die erfolgreiche Behandlung in der sozialtherapeutischen Anstalt gewisse zeitliche Grenzen nicht überschreiten sollte (vgl. auch LK § 65 Rdn. 174). Bei der Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus sieht die Situation hingegen anders aus, weil es hier, wenn die Gefährlichkeit des Täters nicht behoben werden kann, speziell auch um seine „Aufsicht, Betreuung und Pflege" geht (vgl. § 136 StVollzG). So wird, zumal bei der Art des Täterkreises, hier die Überweisung in den Strafvollzug sehr viel seltener in Betracht kommen.

III. Der ausnahmsweise Vorwegvollzug der Strafe (Absatz 2) 30 1. Allgemeines. Absatz 2 enthält eine Ausnahme vom Grundsatz des Vikariierens, die jedenfalls dann schwer wiegt, wenn am Verurteilten im Ergebnis sowohl die Strafe als auch die Maßregel vollzogen wird, weil eine Anrechnung des Strafvollzugs auf die Höchstdauer des Maßregelvollzugs nicht stattfindet. Daß die Vorschrift zurückhaltend anzuwenden ist, ergibt sich schon aus ihrem Ausnahmecharakter und ist auch vom Gesetzgeber vorausgesetzt worden (s. Rdn. 31). Die Bestimmung beruht auf der gesetzgeberischen Überlegung, daß es Fälle gibt oder geben könne, bei denen seine ideale Vorstellung von der größeren Wirksamkeit des Maßregelvollzugs (Rdn. 6) im Einzelfall nicht zutrifft, sondern der „Zweck der Maßregel", d. h. die Beseitigung der Gefährlichkeit des Täters, ausnahmsweise durch einen Vorwegvollzug der Strafe leichter erreicht werde. Die Vorschrift verfolgt also rein spezialpräventive Zwecke. Es geht, wie schon ihr Wortlaut deutlich macht, allein um die Frage, ob die Resozialisierung des Täters „durch" einen vorweggenommenen Strafvollzug besser erreicht wird. Mit Schuldgesichtspunkten oder Gesichtspunkten der Generalprävention hat Absatz 2 nichts zu tun. 31 Die Beispiele, an die der Gesetzgeber bei Einführung der Vorschrift dachte, sind wenig überzeugend oder gar widersprüchlich (s. Rdn. 34—36). So hat die Vorschrift als bedenkliche Ausnahme vom Prinzip wenig Beifall gefunden (OLG Karlsruhe NJW 1975 1571; Marquardt S. 160; Hanack JR 1975 441, 444; wohl auch Lackner Anm. 2; Horn SK Rdn. 10). Gerügt wird auch die „Weite ihrer Formulierung", die die Gefahr des Fehlgriffs gegenüber den gesetzgeberischen Grundvorstellungen begünstige (Marquardt aaO). Daß sie „keine sehr große Bedeutung" haben und allenfalls bei einem „kleinen Prozentsatz" von Tätern zur Anwendung kommen dürfte, war schon die Auffassung des Sonderausschusses (Prot. V, 338 f, 340, 2318) und entspricht der herrschenden Meinung (OLG Karlsruhe aaO; Marquardt aaO; vgl. auch Lackner aaO). Etwas anderes könnte sich nur dann ergeben, wenn die tatsächliche Entwicklung (274)

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dahin führt, daß die Einwirkungsmöglichkeiten des Strafvollzugs in großem Umfang die besseren gegenüber den Einwirkungsmöglichkeiten des Maßregelvollzugs werden oder bleiben, die gesetzgeberische Prämisse (s. Rdn. 6) also mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmt. Hier könnten in der Zukunft die eigentlichen Probleme liegen (unten Rdn. 37 ff). Die Anordnung nach Absatz 2 kann nicht auf einen Teil der Strafe beschränkt 32 werden (Dreher Rdn. 3; Lackner Anm. 6; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 8; Lenckner S. 233). Der Sonderausschuß hat einen gegenteiligen Vorschlag ausdrücklich abgelehnt, weil das erkennende Gericht regelmäßig im voraus kaum übersehen könne, durch welchen Teil-Vorwegvollzug der Strafe sich der Maßregelzweck gegebenenfalls leichter erreichen lasse (2. Bericht S. 31 ; Prot. V, 2319). Ein solcher Teilvollzug ist daher nur auf dem Weg über eine nachträgliche Anordnung gemäß Absatz 3 zu erreichen (vgl. auch Rdn. 42). Der Vorwegvollzug kann nur im Urteil des erkennenden Gerichts angeord- 33 net werden (Lackner aaO; Preisendanz Anm. 1 b; Maurach AT § 68 II A ; a. Α. LG Dortmund NJW 1975 2251). Dies ergibt sich zwar nicht ohne weiteres aus dem Wortlaut des Gesetzes, wohl aber aus der Notwendigkeit, Absatz 2 von den nachträglichen Entscheidungen des Absatz 3 (Entscheidung nach Rechtskraft, s. Rdn. 46) abzugrenzen. Sind die Voraussetzungen des Absatz 2 gegeben, ist das Gericht zur Anordnung des Vorwegvollzugs der Freiheitsstrafe verpflichtet. Es handelt sich also um eine Muß-Vorschrift (Dreher Rdn. 3; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 8). Der Sonderausschuß hat das damit begründet, daß es „sinnwidrig wäre, den Vorwegvollzug der Strafe trotz der Erkenntnis, daß hierdurch der Zweck der Maßregel leichter erreicht wird, noch in das Ermessen des Gerichts zu stellen" (2. Bericht S. 31). 2. Mögliche Anwendungsfälle a) Ausnutzung des „Leidensdrucks". Der Gesetzgeber dachte, beeindruckt insbe- 34 sondere von Ausführungen des Psychiaters Mauch (Prot. V, 2291, 2294; vgl. auch Mauch-Mauch Sozialtherapie und die sozialtherapeutische Anstalt, 1972, S. 17 ff), daran, daß ein Vorwegvollzug der Strafe, der „dem Täter zunächst einmal die Schwere seiner T a t . . . vor Augen" hält, „eine Art,Leidensdruck' erzeugen" kann, der sich im anschließenden Maßregelvollzug „als nützlich erweisen" könne (2. Bericht S. 31, beschränkt freilich auf die Behandlung in der sozialtherapeutischen Anstalt; vgl. auch Prot. V, 332, 337 f, 339 f, 361 ff, 379, 2291 ff, 2318 ff). Die Frage blieb jedoch schon unter den Mitgliedern des Sonderausschusses und auch unter den gehörten Sachverständigen kontrovers (ablehnend der Sachverständige Beyer Prot. IV, 813, jedenfalls für Trinker). Marquardt (S. 162) bemerkt zu Recht, daß „wissenschaftlich abgesicherte und dadurch überzeugende Gründe" für die These bei den Beratungen nicht genannt wurden. Sie finden sich auch nicht in der zit. Abhandlung von Mauch-Mauch, die im Gegenteil sogar darauf hindeutet, daß der Strafvollzug, weil dort „nichts an ihm geändert wird", dem verharschten Täter lieber ist und den spezifischen Leidensdruck, um den es hier geht, typischerweise gar nicht erzeugt (S. 17 mit m. E. kriminologisch anfechtbarer tiefenpsychologischer Argumentation im weiteren Text). Im übrigen wird die Sicht Mauchs im Rahmen der Bemühungen zur sozialtherapeutischen Behandlung nach § 65 immer stärker auch von den Vertretern der Behandlungswissenschaften in Frage gestellt, die das Vorhandensein eines — wenn auch vielfach sehr verdeckten — Leidensdrucks bei (275)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

den behandelten oder untersuchten Tätern überwiegend durchaus bejahen (vgl. näher LK § 65 Rdn. 83). 35

Aber selbst wenn es anders wäre und sich das im Einzelfall auch hinreichend 35 sicher nachweisen ließe, so enthält die ganze Überlegung Mauchs doch eine Verkennung der Aufgaben des modernen Strafvollzugs (vgl. jetzt auch § 2 StVollzG). Insbesondere wegen dieses Widerspruchs wird die Ausnutzung des Leidesdrucks von der wohl überwiegenden Auffassung abgelehnt oder doch höchst skeptisch betrachtet: so OLG Karlsruhe NJW 1975 1571, 1572; Horn SK Rdn. 10; Lackner Anm. 2; Lenckner S. 233, 234; Marquardt S. 161 f; Hanack JR 1975, 444; vgl. auch Horstkotte Prot. V, 2319. Hingegen wird die gesetzgeberische Vorstellung ohne Kritik, also im Zweifel zustimmend, referiert von Sch.-Schröder-Stree Rdn. 7 ; Preisendanz Anm. 1 b; Bockelmann AT § 44 II 2; Maurach AT § 68 II A. Im übrigen ist der Gedanke, den Leidensdruck in der genannten Weise auszunutzen, gar nicht oder doch nur in merkwürdig unbefriedigender Weise in das Gesetz eingearbeitet. Denn es geht, wenn überhaupt, typischerweise lediglich um die teilweise Vorverbüßung der Strafe (so selbst Mauch Prot. V, 2294, 2295). Die teilweise Vorverbüßung aber ist im Gesetz im Grunde gar nicht vorgesehen: Das erkennende Gericht kann sie keinesfalls anordnen (Rdn. 32). Es kann höchstens darauf vertrauen, daß die von ihm als unbeschränkt angeordnete Vorwegvollziehung später vom Vollstreckungsgericht im Wege der nachträglichen Anordnung gemäß § 67 Abs. 3 korrigiert, also zur Teilverbüßung „gemacht" wird. Eine solche Handhabung entspricht den Vorstellungen des Sonderausschusses (2. Bericht S. 31). Sie kommt aber im Gesetz nicht wirklich zum Ausdruck und setzt letztlich eine Verfälschung des Wortlauts von § 67 Abs. 2 voraus, wenn die Beschränkung von vornherein geplant war (Hanack aaO). Nach allem ist die Idee von der Ausnutzung des Leidensdrucks im Gesetzesgefüge ersichtlich ein Fremdkörper. Sie aufzugreifen kann der Praxis, auch im Hinblick auf die bedeutsamen Folgen (oben Rdn. 30), bislang nicht empfohlen werden.

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b) Gefährdung des MaOregelerfolgs. Der Gesetzgeber dachte bei der Bestimmung des Absatz 2 weiter an Fälle, in denen der Vollzug einer längeren Freiheitsstrafe im Anschluß etwa an die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt das Ziel des Maßregelvollzugs wieder gefährdet oder doch ein Interesse daran besteht, den Verurteilten unmittelbar aus dem Maßregelvollzug in die Freiheit zu entlassen (Prot. V, 331 ff, 379, 2319 ff; 2. Bericht S. 31, wo dieser Gedanke sogar als erstes Beispiel für einen Vorwegvollzug genannt wird). Der Gedanke ist wenig schlüssig, weil er nach Wortlaut und Logik des Gesetzes überhaupt kein Grund für die Anwendung des Absatz 2 sein kann ; denn regelmäßig wäre, wenn der Strafvollzug die positiven Ergebnisse eines vorausgegangenen Maßregelvollzugs wieder gefährdet, dieser Maßregelvollzug gemäß § 67 Abs. 5 S. 2 fortzusetzen, u. U. durch Überweisung in den Vollzug einer anderen Maßregel gemäß §67 a (vgl. auch Lenckner S. 233; Horn SK Rdn. 10; gänzlich ablehnend Marquardts. 161). Zu einer anderen Entscheidung kann auch der Umstand nicht berechtigen, daß bei einer Entlassung in die Freiheit direkt aus dem Maßregelvollzug — jedenfalls wenn sie als Aussetzung zur Bewährung gemäß § 67 d Abs. 2 erfolgt — Führungsaufsicht kraft Gesetzes eintritt, während dies bei Entlassungen in die Freiheit direkt aus dem Strafvollzug nicht der Fall ist. Denn einmal läßt sich mit der Reststrafaus(276)

Reihenfolge der Vollstreckung (Hanack)

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Setzung (§ 57) eine ausreichende Kontrolle der Lebensführung des Verurteilten (vgl. insbes. § 453 b StPO) mindestens dann erreichen, wenn es, wie hier, um Täter geht, bei denen ein Erfolg des Maßregelvollzugs vorausgesetzt wird. Zum anderen ist es nicht der Zweck des § 67 Abs. 2, eine nachkontrollierende Einwirkung in Form der Führungsaufsicht dort zu schaffen, wo sie im Gesetz selbst nicht vorgesehen ist; eine solche Erwägung wäre vielmehr im Rahmen des Absatz 2 mißbräuchlich. Die gesetzgeberische Überlegung macht im Grunde erneut den unaufgelösten Widerspruch in der Gesamtkonzeption deutlich, der eben darin liegt, daß der Gesetzgeber die Frage nach dem Vorrang der Spezialprävention bei der Aussetzung eines überschießenden Strafrests nicht wirklich klar entschieden hat (Rdn. 21). Insoweit ist bemerkenswert, daß der Sonderausschuß ursprünglich eine Regelung vorgesehen hatte, nach der die Strafe zuerst vollzogen werden muß, wenn die Voraussetzungen einer Aussetzung des Strafrests gemäß § 67 Abs. 5 nicht gegeben sind, diese Regelung dann aber später aus der Vorschrift herausgenommen hat (Prot. V, 332, 361 ff, 379, 3247 ff). Den gesetzgeberischen Überlegungen folgen trotz dieser Ungereimtheiten Dreher Rdn. 3; Lackner Anm. 2; Preisendanz Anm. 1 b; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 7. c) Fehlende Kapazitäten im Maßregelvollzug. Platzmangel im Maßregelvollzug ist 37 kein Grund, Absatz 2 anzuwenden (LG Dortmund NJW 1975 2251 [für §63]; zustimmend Dreher Rdn. 3). Dies ergibt sich klar aus der ratio legis (s. Rdn. 30) und gilt jedenfalls dann, wenn die bessere Eignung der Maßregelunterbringung für die Einwirkung auf den Täter feststeht. — Die zuständigen Behörden müssen dafür Sorge tragen, daß die Verurteilten aufgenommen werden, so schwierig das im Einzelfall sein mag (vgl. zu solchen Schwierigkeiten z. B. LK § 64 Rdn. 17). Würde man anders entscheiden, käme es zu schwerwiegenden Unzuträglichkeiten und Ungerechtigkeiten (LG Dortmund aaO). Eine andere Frage ist, ob der Richter eine Unterbringung in der Entziehungsanstalt überhaupt anordnet, wenn von vornherein feststeht, daß nach den Gegebenheiten der zuständigen Anstalt eine sachgemäße Behandlung dort nicht erfolgen kann, s. dazu § 64 Rdn. 103. Eine andere Frage ist aber auch, ob Absatz 2 dann anzuwenden ist, wenn sich zeigt, daß die Behandlung im Strafvollzug der Resozialisierung des Täters förderlicher ist, die vom Gesetz vorausgesetzte Idealsituation der intensiveren und geeigneteren Behandlung im Vollzug der Unterbringung (Rdn. 6) also nicht besteht; dazu im folgenden Text. d) Überlegenheit der Behandlung im Strafvollzug. §67 beruht, wie dargelegt 38 (Rdn. 6), auf der Prämisse, daß die Einwirkungen des Maßregelvollzugs zur sachgerechten Einwirkung auf den gestörten Täter grundsätzlich geeigneter sind als die Mittel des Strafvollzugs. Dem entspricht es, daß der Gesetzgeber bei der Ausnahme des Absatz 2 an die in Rdn. 34 f und Rdn. 36 genannten Umstände dachte, nicht aber an die Situation, daß die tatsächlichen Möglichkeiten des Maßregelvollzugs hinter denen des Strafvollzugs zurückbleiben, der Täter also im Vollzug der Freiheitsstrafe besser aufgehoben ist. Eine solche Situation stellt sich von den idealen Vorstellungen des Gesetzgebers aus als Sach- oder Organisationsmangel dar. Daß sie in der Praxis dennoch eintritt, und zwar nicht nur vereinzelt, erscheint nach der Entwicklung in diesem Bereich des Anstaltswesens — auch oder gerade in den letzten Jahren — mindestens mög(277)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

lieh, wenn nicht naheliegend und wahrscheinlich (eingehend Hanack JR 1975 445 ff). Die höchst kritische Frage ist, ob der Richter dann den Vorwegvollzug der Strafe anordnen darf oder muß, obwohl er damit, entgegen Wortlaut und Sinn des § 67, all das beiseiteschiebt, was der Gesetzgeber mit der Regelung bezweckte. 39 aa) Bis zur Errichtung der sozialtherapeutischen Anstalten, also bis zum Inkrafttreten des § 65 (s. dort „Entstehungsgeschichte"), ist diese Frage sicher zu bejahen (ebenso OLG Karlsruhe NJW 1975 1571 ; Dreher Rdn. 3; Lackner Anm. 2; Hanack JR 1975 444 f; Blei JA 1976 30). Denn bis dahin ist das vom Gesetz vorausgesetzte Einwirkungssystem der freiheitsentziehenden Maßregeln noch durchaus unvollständig, wie insbesondere die §§ 63 Abs. 2, 65 Abs. 3 zeigen. Da es aber dem Gesetz bei § 67, wie bei der Struktur des Systems der freiheitsentziehenden Maßregeln insgesamt, um ein Prinzip der optimalen Einwirkung, bezogen auf den einzelnen Verurteilten geht, entspricht es der Sache wie dem wohlverstandenen Willen des Gesetzgebers, dem jedenfalls bis zur Vervollständigung des Einwirkungssystems notfalls durch Vorwegvollzug der Strafe Rechnung zu tragen, wenn dadurch die Resozialisierung des Täters besser gefördert wird oder sich nur dadurch sog. Hospitalisierungsschäden vermeiden lassen, die gerade im (unvollkommenen) Maßregelvollzug auftreten. Die Einsicht, daß bis zur Errichtung der sozialtherapeutischen Anstalten der Strafvollzug zur Resozialisierung des Täters u. U. geeigneter ist als die Unterbringung, war auch im Sonderausschuß vorhanden (Prot. V, 2739; vgl. auch OLG Karlsruhe aaO). Daß der Gesetzgeber dennoch auf die Inkraftsetzung des § 67 nur im 1. StrRG, nicht hingegen auch im 2. StrRG verzichtet hat, kann nicht zu einer anderen Wertung führen, weil diese Entscheidung nicht den Willen erkennen läßt, § 67 Abs. 2 für die erörterten Fälle auszuschließen (Prot. V, 2737 ff ; näher Hanack aaO). 40

bb) Ob auch nach Vervollständigung des Maßregelsystems, also nach Inkrafttreten der Regelung über die sozialtherapeutische Anstalt, im Einzelfall ein Vorwegvollzug der Strafe gemäß § 67 Abs. 2 mit Rücksicht allein auf bessere Einwirkungsmöglichkeiten des Strafvollzugs in Betracht kommt, ist sehr viel zweifelhafter (eingehend Hanack aaO). Es liegt nahe, sich auf den Standpunkt zu stellen, daß der dann sichtbare Sachoder Organisationsmangel im Bereich der Maßregelunterbringung (Rdn. 38) nicht zum partiellen Unterlaufen des vikariierenden Systems und seiner Errungenschaften führen dürfe, zumal bei Anwendung des § 67 Abs. 2 auf solche Fälle dann auch Bemühungen zur tatsächlichen Verbesserung des Systems weiterhin stagnieren oder gar Rückschläge erleiden könnten. Auch der Umstand, daß jedenfalls Platzmangel allein kein Grund sein kann, Absatz 2 anzuwenden (s. Rdn. 37), könnte für eine solche Auslegung sprechen. Richtiger erscheint jedoch die gegenteilige Argumentation (Hanack aaO): Das vikariierende System ist kein Selbstzweck. Es kann und darf nicht dazu führen, daß aus beabsichtigter Wohltat tatsächliche Plage wird. Dahin aber könnte es kommen, wenn man dem Täter die für seine Resozialisierung geeignetere Einwirkung vorenthielte oder ihn gar — wie das im Fall des OLG Karlsruhe (NJW 1975 1571) denkbar erscheint — einem für seine Resozialisierung schädlichen Vollzug nur deswegen unterwirft, weil es dem Gesetzgeber nicht gelungen ist, seine idealen Vorstellungen auch praktisch zu verwirklichen. Dem kann auch nicht entgegenstehen, daß bei einer solchen Handhabung des § 67 Abs. 2 Bemühungen zur Verbesserung des Systems gefährdet werden könnten. Eine solche Argumentation liefe vielmehr, von (278)

Reihenfolge der Vollstreckung (Hanack)

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allen anderen Einwendungen abgesehen, darauf hinaus, die Verbesserungen auf Kosten der Resozialisierungschancen des einzelnen Verurteilten zu erkämpfen; dies aber ist für die an Recht und Gerechtigkeit orientierte Entscheidung des Richters ein illegitimer Gesichtspunkt. Daß freilich der Richter, wenn er genötigt ist, der hier vertretenen Meinung zu folgen, alles tun sollte, um auf eine Abhilfe des Sach- oder Organisationsmangels (oben Rdn. 38) hinzuwirken, versteht sich. Auch wird der Richter im Einzelfall sehr sorgfältig prüfen müssen, ob ein Vorwegvollzug der Strafe wegen der besseren Einwirkungsmöglichkeiten im Strafvollzug wirklich notwendig und angezeigt ist. Er wird dabei vor allem abzuwägen haben, ob er die Entscheidung für die günstigere Resozialisierungschance im Strafvollzug im Hinblick auf die Nachteile vertreten kann, die (s. Rdn. 30) mit einer Anwendung des § 67 Abs. 2 verbunden sind oder sein können. Nicht mehr befriedigend zu lösen ist nach geltendem Strafrecht die auch denk- 41 bare Möglichkeit, daß der Täter nach einem Vorwegvollzug der Strafe wegen fortdauernder Gefährlichkeit in den Maßregelvollzug überwiesen werden muß und nun dadurch die Verschlechterung seiner Betreuung oder gar die Gefährdung bisheriger Resozialisierungserfolge drohen. In dieser extremen Situation können allenfalls noch verfassungsrechtliche Erwägungen helfen (vermeidbarer Verstoß gegen die Menschenwürde oder das Sozialstaatsprinzip? vgl. HanackaaO). IV. Nachträgliche Änderungen (Absatz 3). Da sich die Lage, von der das Gericht 42 bei einer Entscheidung nach Absatz 1 oder 2 ausgeht, während des Vollzugs ändern kann, gestattet das Gesetz in Absatz 3 nachträgliche Änderungen in der Reihenfolge des Vollzugs. Das Gericht kann danach eine Anordnung gemäß Absatz 2 auch später treffen, wieder aufheben oder abändern. Die Auffassung von Horn (SK Rdn. 16), die Befugnis zum „Abändern" habe keine eigene Funktion, da sie nur in der Aufhebung einer früheren Entscheidung bestehen könne, trifft nicht ganz die Sache; denn ersichtlich ist mit der Gesetzesformulierung die Befugnis gemeint, eine nachträglich getroffene Entscheidung wieder zu „ändern", d. h. ihrerseits rückgängig zu machen. Die Normierung erlaubt im Ergebnis, den Maßregelvollzug erst nach einer Teilverbüßung der Freiheitsstrafe beginnen zu lassen. Zu beachten bleibt freilich, daß die Entscheidung darüber regelmäßig in der Hand der Vollstreckungskammer liegt (§462 a StPO; s. unten Rdn. 46), nicht aber des erkennenden Gerichts, wenn es gemäß Absatz 2 den Vorwegvollzug der Strafe anordnet (oben Rdn. 32). Die nachträgliche Entscheidung darf sich nur auf Umstände in der Person des 43 Verurteilten stützen, nicht also auf sonstige Umstände (s. auch Rdn. 27), etwa Aspekte der Generalprävention, Platzkapazitäten (Rdn. 37) oder gar auf fiskalische Erwägungen. Aus der Verbindung mit Absatz 2 ergibt sich, daß die nachträgliche Entscheidung immer nur zulässig ist, wenn „der Zweck der Maßregel dadurch leichter erreicht wird" (so auch Horn SK Rdn. 12), also im spezialpräventiven Interesse liegt. Absatz 3 ist mithin kein Instrument, um die grundsätzliche Regelung des Gesetzes zu umgehen, daß dem Maßregelvollzug im Zweifel der Vorrang gebührt. Das bedeutet im einzelnen folgendes. Der Umstand, daß der Verurteilte im Maßregelvollzug Schwierigkeiten macht, rechtfertigt für sich allein noch nicht die Abschiebung in den Strafvollzug (279)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

(2. Bericht S. 31 ; Dreher Rdn. 4; Horn aaO; Lackner Anm. 3; Preisendanz Anm. 2; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 10; eingehend Marquardt S. 163 f)· Dies gilt, entsprechend der Grundentscheidung des Gesetzgebers, sogar dann, wenn sich der Täter der für ihn im Maßregelvollzug erforderlichen Behandlung widersetzt (Marquardt S. 164). Selbst bei festgestellter Aussichtslosigkeit des Maßregelvollzugs kommt die Überweisung in den Strafvollzug nicht ohne weiteres in Betracht (bedenklich Lackner aaO). Vielmehr ist insoweit zu unterscheiden: Stellt sich nachträglich heraus, daß eine angeordnete Entziehungskur aussichtslos ist, kann der Täter in entsprechender Anwendung des § 64 Abs. 2 in den Strafvollzug überwiesen werden (Marquardt aaO; s. auch §64 Rdn. 92 [streitig]), falls die Resozialisierung des Täters nicht durch die Überweisung in den Vollzug einer anderen Maßregel (§ 67 a Abs. 1) besser gefördert werden kann. Entsprechendes gilt, wenn feststeht, daß der weitere Vollzug der Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt keinen Erfolg verspricht; dies ist in § 9 StVollzG zwar nur für die vollzugsinterne Überweisung zwischen Strafvollzug und sozialtherapeutischer Anstalt normiert, muß aber auch in den Fällen der gerichtlichen Einweisung in die sozialtherapeutische Anstalt richtig sein, weil es in diesen Anstalten um eine Spezialbehandlung geht, die — jedenfalls in den Fällen des § 65 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 — auch von der Eignung des Probanden für diese Behandlung abhängt. Bei Aussichtslosigkeit der Behandlung in einem psychiatrischen Krankenhaus kommt hingegen die Verlegung in den Strafvollzug nur in Frage, wenn der Täter trotz der dort vorgesehenen Behandlung (§ 136 StVollzG) im Strafvollzug besser betreut werden kann; Aussichtslosigkeit der Heilung oder der Besserung allein ist hier also kein Grund zur Überweisung in den Vollzug der Freiheitsstrafe. 45

Die Aufhebung eines ausnahmsweise angeordneten Vorwegvollzugs der Strafe (Absatz 2) ist hingegen schon zulässig, wenn festgestellt ist, daß der Vorwegvollzug keine günstigeren Wirkungen zeitigt, weil das Gesetz den Maßregelzweck grundsätzlich als leichter erreichbar ansieht, wenn die Maßregel vorab vollzogen wird (Horn SK Rdn. 13). Im übrigen muß es sich immer um Umstände handeln, die erst während des Vollzugs neu in Erscheinung getreten sind. Eine lediglich abweichende Auffassung gegenüber der schon früher getroffenen Entscheidung, insbesondere der Entscheidung des erkennenden Gerichts, über die Reihenfolge der Vollstreckung vermag bei gleichbleibender tatsächlicher Beurteilungsgrundlage die Abänderung nicht zu rechtfertigen (E 1962, S. 217; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 10; wohl auch Dreher Rdn. 4). Die Situation ist insoweit ähnlich wie bei den §§ 56 e, 67 a Abs. 3,68 d. Das Gericht hat nach pflichtgemäßem Ermessen („kann") über Anordnungen nach Absatz 3 zu entscheiden. Es wird dabei insbesondere zu berücksichtigen haben, ob der Anstaltswechsel nach dem „allgemeinen Vollzugsprinzip" (s. Rdn. 24), daß die Anstalten so wenig wie möglich gewechselt werden sollten, im konkreten Fall angemessen ist.

V. Verfahrensrechtliches 46 1. Entscheidungen des erkennenden Gerichts über den Vorwegvollzug. Will das erkennende Gericht es bei dem Grundsatz des Absatz 1 (Rdn. 11) belassen, daß die Maßregel vor der Strafe zu vollziehen ist, bedarf seine Entscheidung regelmäßig keiner Begründung; Ausnahmen sind allenfalls denkbar, wenn sich im Einzelfall (280)

Reihenfolge der Vollstreckung (Hanack)

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einer der denkbaren Gründe für einen Vorwegvollzug der Strafe (Rdn. 34 ff) aufdrängen sollte. — Die Anrechnung des vorweggenommenen Maßregelvollzugs tritt kraft Gesetzes ein, bedarf also keiner richterlichen Anordnung (oben Rdn. 14). Einer genauen Begründung bedarf hingegen die Abweichung von der Regel, also die Anordnung des Vorwegvollzugs der Strafe nach Absatz 2. Diese Entscheidung beschwert den Betroffenen (s. Rdn. 30), kann also grundsätzlich im Rechtsmittelverfahren angefochten werden. Eine Beschränkung des Rechtsmittels nur auf die Anordnung nach Absatz 2 ist nach den allgemeinen Grundsätzen der Rechtsprechung (s. Rdn. 89 Vor § 61) zulässig, wenn sie sich isolieren läßt, also nicht von der Entscheidung über die Maßregelanordnung oder die Strafe im übrigen abhängig ist, was in vielen Fällen der Fall sein wird. 2. Entscheidungen über Aussetzung bzw. weiteren Vollzug gemäß Absatz 5. Zuständig ist hier regelmäßig die Strafvollstreckungskammer (§§463 Abs. 1, 5, 462 a Abs. 1 StPO). Für ihr Verfahren gilt § 454 (Aussetzung des Strafrests) bzw. § 462 StPO (Entscheidung über die Art des weiteren Vollzugs). Wird die Entscheidung im Rahmen einer Aussetzung des Maßregelvollzugs nach § 67 d Abs. 2 getroffen, erfolgt sie mit dieser zusammen in einem einheitlichen Beschluß (OLG Hamm M DR 1977 334). 3. Nachträgliche Entscheidungen nach Absatz 3. Zuständig für nachträgliche Entscheidungen ist nach Vollstreckungsbeginn regelmäßig die Strafvollstreckungskammer (§§ 463 Abs. 1 i. V. mit 462 a Abs. 1 StPO). Anordnungen nach Absatz 3 sind erst nach Rechtskraft der Unterbringungsanordnung zulässig (Lackner Anm. 6). Vor Beginn des Vollzugs besteht — nach Rechtskraft — eine Zuständigkeit des erkennenden Gerichts (§§ 463 Abs. 1 i. V. mit 462 Abs. 2 StPO), das sich mit solchen Anordnungen jedoch zweckmäßigerweise zurückhalten wird, weil mit Vollstrekkungsbeginn die Zuständigkeit auf die Strafvollstreckungskammer übergeht (Lackner aaO). — Für das Verfahren bei Anwendung des Absatz 3 gilt § 462 i. V. mit § 463 Abs. 5 StPO. VI. Übergangsvorschriften. Nach Art. 302 EGStGB wird die Unterbringung in 47 einer Heil- oder Pflegeanstalt (§ 42 b a. F.) sowie in einer Trinkerheilanstalt oder Entziehungsanstalt (§ 42 c a. F.), die schon vor dem 1.1.1975 vollzogen worden ist, dann auf den Vollzug der Strafe angerechnet, wenn der Maßregelvollzug gemäß § 456 b S. 2 a. F. StPO (vgl. oben Rdn. 1) vor dem Strafvollzug erfolgt ist. Daraus läßt sich im Wege des Umkehrschlusses entnehmen, daß die Anrechnung sonst nicht in Betracht kommt. Nach Art. 314 Abs. 5 EGStGB ist bei Personen, die vor dem 1. 1. 1975 neben Strafe zu einer Unterbringung nach § 42 b a. F. oder § 42 c a. F. verurteilt worden sind, § 67 Abs. 1—3 entsprechend anzuwenden; die begonnene Vollstreckung einer Freiheitsstrafe konnte nach der genannten Vorschrift noch drei Monate, also bis zum 31.3.1975, fortgesetzt werden.

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§ 67 a Überweisung in den Vollzug einer anderen Maßregel (1) Ist die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, einer Entziehungsanstalt oder einer sozialtherapeutischen Anstalt angeordnet worden, so kann das Gericht nachträglich den Täter in den Vollzug einer der beiden anderen Maßregeln überweisen, wenn die Resozialisierung des Täters dadurch besser gefördert werden kann. (2) Unter den Voraussetzungen des Absatzes 1 kann das Gericht nachträglich auch einen Täter, gegen den Sicherungsverwahrung angeordnet worden ist, in den Vollzug einer der in Absatz 1 genannten Maßregeln überweisen. (3) Das Gericht kann eine Entscheidung nach den Absätzen 1 und 2 ändern oder aufheben, wenn sich nachträglich ergibt, daß die Resozialisierung des Täters dadurch besser gefördert werden kann. Eine Entscheidung nach Absatz 2 kann das Gericht ferner aufheben, wenn sich nachträglich ergibt, daß mit dem Vollzug der in Absatz 1 genannten Maßregeln kein Erfolg erzielt werden kann. (4) Die Fristen für die Dauer der Unterbringung und die Überprüfung richten sich nach den Vorschriften, die für die im Urteil angeordnete Unterbringung gelten. Schrifttum Bischof Die Auswirkungen des neuen Strafrechts auf die Unterbringungsmodalitäten im psychiatrischen Krankenhaus, in: Laux/Reimer (Hrsg.), Klinische Psychiatrie (1982), S. 306; Hanack Das juristische Konzept der sozialtherapeutischen Anstalt und der sonstigen Maßregeln im neuen Strafrecht der Bundesrepublik. Kriminologische Gegenwartsfragen 10 (1972) S. 68; Henze Anm. zu OLG Celle NStZ 1981 196; Schleusener Rechtliche Fragen, in: Sozialtherapeutische Anstalten, Bericht des Fachausschusses V des Bundeszusammenschlusses für Straffälligenhilfe 2 (1977), S. 69; Wendisch Anm. zu OLG Celle NStZ 1981 318. Im übrigen s. die Literaturangaben bei den Vorb. vor § 61 und bei § 67 b.

Entstehungsgeschichte Die Vorschrift ist durch das 2. StrRG neu geschaffen und noch vor ihrem Inkrafttreten durch das EGStGB 1974 geändert worden. Vor dem Inkrafttreten der Vorschrift gab es keine vergleichbare Bestimmung. Auch der E 1962 enthielt sie nicht; sie war bei der Vorbereitung dieses Entwurfs erwogen, aber unter Hinweis auf die Möglichkeit der gleichzeitigen Anordnung verschiedener Maßregeln verworfen worden (Niederschriften Bd. 12, S. 340 f)· Für das engere Gebiet der Unterbringung Schuldunfähiger und beschränkt Schuldfähiger sah der E 1962 jedoch eine Überstellung in eine andere Form des Maßregelvollzuges vor: Dieser Personenkreis sollte, je nach den Behandlungsbedürfnissen, in einer Heil- oder Pflegeanstalt oder in einer Bewahrungsanstalt untergebracht werden (§ 82 Abs. 2 E 1962); eine besondere Vorschrift (§ 82 Abs. 3 E 1962) ermächtigte das Vollstreckungsgericht, die im Urteil getroffene Entscheidung über die Anstaltsart zu ändern, „wenn der Zustand des Untergebrachten es erfordert" (Niederschriften Bd. 4, S. 180 ff, 203 ff, 234 ff, 481 ff, 494 f, 507 ff). Anfänglich war auch erwogen worden, die nachträgliche Entscheidung der Vollzugsbehörde zu überlassen (Niederschriften Bd. 4, S. 205, 481, 490). Die mit § 82 Abs. 2, 3 E 1962 bezweckte „Beweglichkeit der Maßregeln" stellte die Begründung des E 1962 (S. 207) auf eine Stufe mit dem Vikariieren von Strafen und Maßregeln ; die Begründung kündigte an, daß für die Vollzugsgesetzgebung auch eine Überweisung aus dem Strafvollzug und aus (i)

§67 a

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

der Sicherungsverwahrung in die Bewahrungsanstalt und die Heil- oder Pflegeanstalt und umgekehrt erwogen werden würde (S. 211; dazu vgl. Niederschriften Bd. 4, S. 205). Der Alternativ- Entwurf der Strafrechtslehrer (11966) verallgemeinerte den Gedanken der Austauschbarkeit von Maßregeln. § 73 Abs. 2 dieses Entwurfs lautete: „Das Vollstreckungsgericht hat Maßregeln, die sich als nicht geeignet erweisen, aufzuheben oder durch andere zu ersetzen, deren gesetzliche Voraussetzungen erfüllt sind. Die gesetzliche Höchstdauer der vom erkennenden Gericht angeordneten Maßregel darf nicht überschritten werden." Im Vergleich mit § 67 a bezeichnete diese Vorschrift insofern einen engeren Täterkreis, als auf die gesetzlichen Voraussetzungen der neuen Maßregel, also auf die Voraussetzungen für ihre Anordnung im Urteil, abgestellt wurde; daraufkommt es nach § 67 a nicht an (s. Rdn. 19). Andererseits sollten die Rechtsfolgen der Überweisung nach dem Alternativ-Entwurf wohl weiter gehen: Von der ursprünglichen Maßregel sollte nur die Höchstfrist Geltung behalten, während die alte Maßregel sonst völlig durch die neue ersetzt werden sollte. — Grundlage für die Fassung des § 67a war ein Formulierungsvorschlag, den das BMJ während der Beratungen des Sonderausschusses im Jahre 1968 vorlegte (§ 87 a; Prot. V, 2310, 2329 ff). Die Entziehungsanstalt war in diese Formulierung noch nicht einbezogen. Der Abgeordnete Schlee wandte gegen die vorgeschlagene Vorschrift ein, daß die aus Resozialisierungsgründen vorgenommene Überweisung in das psychiatrische Krankenhaus den Betroffenen ungerechtfertigt als Geisteskranken abstempele und dadurch seinen Rechtsstatus angreife (Prot. V, 2329, 2332); diesem Bedenken wurde von den Regierungsvertretern entgegengehalten, daß es sich um eine „reine Vollzugsregelung" handele, die die Rechtskraft der ursprünglichen Unterbringung und mit ihr den rechtlichen Charakter der im Urteil angeordneten Maßregel nicht antaste (Prot. V, 2330, 2331). In einer späteren Sitzung derselben Wahlperiode bezog der Sonderausschuß die Entziehungsanstalt in die Regelung ein (Prot. V, 2355, 3282); auch wurde klargestellt, daß die Vorschriften über die im Urteil angeordnete Maßregel nicht nur bezüglich der Unterbringungsdauer, sondern auch hinsichtlich der Prüfungsfristen nach § 67 e gelten sollen (Prot. aaO). In dieser Fassung wurde § 67 a Bestandteil des 2. StrRG. Der Sonderausschuß empfahl in seinem die Vorschrift erläuternden Bericht (BT-Drucks. V/4095, S. 32) eine zusätzliche vollzugsrechtliche Regelung: Wenn sich während des Straf- oder Maßregelvollzugs der biologische Tatbestand der §§ 20, 21 ergebe, solle der Täter in eine psychiatrische Krankenanstalt oder eine sozialtherapeutische Anstalt überwiesen werden, wo der Aufenthalt durch die Strafdauer bzw. die Höchstfrist der im Urteil angeordneten Maßregel begrenzt sein solle. Eine dem § 67 a Abs. 3 entsprechende Vorschrift enthielt das 2. StrRG nicht. Sie wurde erst durch Artikel 18 II Nr. 24c EGStGB 1974 eingefügt (vgl. dazu den Bericht des Sonderausschusses zum EGStGB 1974 — BT-Drucks. 7/1261 — S. 7, aus den Beratungen des Sonderausschusses ferner Prot. VII, 1069 f). Der Absatz beruht auf einem in die Beratungen des Sonderausschusses eingeführten Vorschlag des BMJ (Prot. VII, 1069f, 1229); im Regierungsentwurf des EGStGB 1974 war er noch nicht vorgesehen. Anlaß für den Vorschlag des BMJ waren die Beratungen zum Strafvollzugsgesetz: Die in § 9 StVollzG vorgesehene Verlegung aus dem Strafvollzug in eine sozialtherapeutische Anstalt kann rückgängig gemacht werden, wenn mit den Mitteln und Hilfen dieser Anstalt kein Resozialisierungserfolg erreicht werden kann (§ 9 Abs. 1 Satz 2 StVollzG). Eine solche Rückverlegung wegen Mißerfolges war nach § 67 a i. d. F. des 2. StrRG nicht möglich. Innerer Grund für die Einfü(2)

Überweisung in den Vollzug einer anderen Maßregel (Horstkotte)

§ 67

3

gung des Abs. 3 waren die deutlicher gewordenen Kapazitätsprobleme der Anstalten und die — durch die Arbeiten an der Psychiatrie-Enquete (BT-Drucks. 7/4200) geförderte — Erkenntnis, daß ein therapeutisch nicht gerechtfertigter Aufenthalt im psychiatrischen Krankenhaus nicht nur für die Anstalt, sondern auch für den Betroffenen eine unzumutbare Belastung darstellen kann (vgl. Prot. VII, 1070; zu den Einwänden des Abgeordneten Dr. Eyrich gegen die Neufassung vgl. Rdn. 7).

Ubersicht Rdn. I. Zweck der Vorschrift 1 1. Allgemeines 1 2. Individualisierung der Resozialisierungsmaßnahme 2 3. Vergleich mit § 9 StVollzG . . . . 3 4. Weitere Vorschriften zur Individualisierung des Maßregelvollzugs 4 5. Fakultative Anordnung 7 6. Anwendungsfälle und Mißbrauchsgefahr 8 II. Formelle Voraussetzungen der Überweisung nach § 67 a Abs. 1,2 11 III. Materielle Voraussetzungen der Überweisung 14 1. Bessere Resozialisierung 14 2. Maßgeblichkeit der tatsächlichen Verhältnisse 18 3. Besondere Problemgruppen bei der Überweisung nach Abs. 1, 2 (Behandlungsunfähigkeit, Sicherheitsfragen usw.) 20 4. Überweisung (§ 67 a) und Anordnung nach § 67 Abs. 2, 3 21

5.

Rdn. Verlegung in eine sozialtherapeutische Modellanstalt 22

IV. Rücküberweisung nach § 67 a Abs. 3 . . . 1. Allgemeines 2. Besonderheiten bei der Sicherungsverwahrung (Abs. 3 Satz 2 ) . 3. Wiederholte Anordnung 4. Ermessensentscheidung 5. Problemgruppen (Behandlungsunfähigkeit, Sicherheitsfragen usw.) V. Rechtsnatur der Überweisung

23 23 24 27 28

29 30

VI. Zusammentreffen mit anderen Entscheidungen 33 VII. Besonderheiten im Jugendstraf recht . . . VIII. Inkrafttreten; Übergangsregelung IX. Zum Verfahren 1. Zuständigkeit 2. Anlaß des Verfahrens 3. Sachverständigengutachten; Anhörung der beteiligten Anstalten . 4. Beschlußverfahren; Rechtsmittel

36 37 38 38 41 42 43

I. Zweck der Vorschrift 1. § 67 a soll dazu beitragen, daß die Zeit, in der der Verurteilte aufgrund des 1 Maßregelausspruchs in Unfreiheit gehalten werden muß, so gut wie möglich für die Resozialisierung (zu diesem Begriff Rdn. 14) genutzt wird. Diesem Zweck dienen die Absätze 1, 2 und 3 Satz 1 unmittelbar; Abs. 3 Satz 2, der eine Rücküberweisung aus anderen Gründen als denen der Resozialisierung zuläßt, soll die Funktionsfähigkeit der Resozialisierungseinrichtungen sichern und zugleich den Betroffenen vor Belastungen schützen, die sich aus dem Vollzug einer ungeeigneten Maßregel für ihn ergeben können. Nach Abs. 4 richten sich die Unterbringungsdauer und die Überprüfungsfristen (§67d Abs. 1, §67e) trotz der Überweisung weiterhin nach den Regeln, die für die im Urteil angeordnete Maßregel gelten : § 67 a betrifft also nur den Vollzug der Maßregel, nicht den Rechtsgrund des Freiheitsentzuges und die Kontrolle seiner Grenzen. Diese „reine Vollzugsregelung" (Prot. V, S. 2330) hätte auch im StVollzG getroffen werden können. Daß sie sich im StGB findet, hängt mit der Gesetzgebungsgeschichte zusammen : Beim Erlaß des 2. StrRG lag das StVollzG noch nicht vor. Die in den Beratungen des Sonderausschusses für den Standpunkt der Regelung im StGB vorgebrachten Gründe (Zusammenhang mit dem materiell(3)

§67 a

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

rechtlichen Charakter der Maßregeln, vgl. Dreher Prot. V, 2332; Ausräumung von Zweifeln, die sich aus der spezifischen Fassung des Maßregelausspruchs im Urteil ergeben, Horstkotte Prot. V, 2330) nötigten nicht zu unterschiedlichem Standort des § 67 a StGB und des § 9 StVollzG. 2

2. In § 67 a kommt die Grundkonzeption des Maßregelrechts nach dem 2. StrRG zum Ausdruck: Bei jedem Verurteilten, gegen den eine freiheitsentziehende Maßregel angeordnet worden ist, soll, soweit dazu die Möglichkeit besteht, der Versuch der Resozialisierung gemacht werden; insofern steht bei den Maßregeln der Gesichtspunkt der Besserung an erster Stelle. Andererseits rechtfertigt das Besserungsziel den Freiheitsentzug nicht für sich allein; die Legitimation dafür, daß die Resozialisierung unter Freiheitsentzug versucht wird, liegt bei allen freiheitsentziehenden Maßregeln allein in der Gefahr, daß der Verurteilte ohne den Maßregelvollzug weitere Straftaten begehen würde 1 . Diese gleichartige Rechtfertigung aller freiheitsentziehenden Maßregeln relativiert das Eigengewicht der Vollzugsformen der verschiedenen Maßregeln. Deswegen kann, ohne daß Bedenken wegen der Rechtskraft des die Maßregel anordnenden Urteiles entgegenständen, im Rahmen der zeitlichen Begrenzung der ursprünglich angeordneten Maßregel (§ 67 a Abs. 4) der Maßregelvollzug flexibel gehandhabt werden.

3

3. Eine Parallele zu § 67 a findet sich in § 9 StVollzG : Verlegung in eine sozialtherapeutische Anstalt (1) Ein Gefangener kann in eine sozialtherapeutische Anstalt verlegt werden, wenn die besonderen therapeutischen Mittel und sozialen Hilfen einer solchen Anstalt zu seiner Resozialisierung angezeigt sind. Er kann wieder zurückverlegt werden, wenn mit diesen Mitteln und Hilfen dort kein Erfolg erzielt werden kann. (2) Zu einer Untersuchung, ob die Voraussetzungen des Abs. 1 Satz 1 vorliegen, kann der Gefangene bis zu drei Monaten in eine sozialtherapeutische Anstalt oder eine sozialtherapeutische Beobachtungsstelle verlegt werden. (3) Die Verlegung bedarf der Zustimmung des Leiters der sozialtherapeutischen Anstalt. § 9 StVollzG2 betrifft die Verlegung der zu Freiheitsstrafe Verurteilten aus dem Strafvollzug in den Vollzug der Maßregel nach § 65. Obwohl es sich bis zum In-

1 BGHSt. 28 327, 332; BGH bei Holtz MDR 1978 110; OLG Hamm MDR 1978 950; Hanack vor § 61, Rdn. 20, 25, § 63 Rdn. 1, § 64 Rdn. 2—7; Hanack Kriminologische Gegenwartsfragen 10 (1972) S. 68, 80f; Bockelmann AT 3 § 43 I 2; Maurach-Zipf AT5 § 67 II 4, §68 I Bl; einschränkend bezüglich §64: Jescheck3 §9 II 1, §77 III 1; Dreher-Tröndle41 § 64 Rdn. 6; Lang-Hinrichsen LK.9 § 42c Rdn. 1 ; Eisenberg Kriminologie (1979) § 40 III 1. 2 Materialien: Regierungsentwurf BT-Drucks. 7/918 (§ 9 mit Begründung), ihm vorausgehend der Kommissionsentwurf der Strafvollzugskommission (1971), § 10; Bericht des Sonderausschusses BT-Drucks. 7/3998 (§ 9 mit Begründung); Alternativ-Entwurf eines Strafvollzugsgesetzes (1973), § 56; Beratung des § 9 im Sonderausschuß: Prot. VII, 1781 ff, 1868. Aus der Literatur zu § 9 StVollzG: Calliess/Müller-Dietz StVollzG3 und Grunau/Tiesler StVollzG2 zu § 9; Müller-Dietz Strafvollzugsrecht2 (1978) § 7 VII 3; Kaiser-Kerner-Schöch Strafvollzug 3 (1982) § 6, Rdn. 38; Sozialtherapeutische Anstalten, Bericht des Fachausschusses V des Bundeszusammenschlusses für Straffälligenhilfe 2 (1977) S. 76 ff. (4)

Überweisung in den Vollzug einer anderen Maßregel (Horstkotte)

§67

a

krafttreten des §65 um Anstalten des Sfra/vollzugs handelt, wird §9 StVollzG schon jetzt für anwendbar gehalten, wenn Gefangene aus dem allgemeinen Strafvollzug in die sozialtherapeutischen Modellanstalten3 überwiesen werdend Wie § 67 a beruht auch § 9 StVollzG auf dem Gedanken der „Reaktionsbeweglichkeit strafrechtlicher Sanktionen" (K. Meyer Prot. VII, 1781). Anders als bei § 67 a (Beschluß der Strafvollstreckungskammer) wird die Verlegung nach § 9 StVollzG von der Vollzugsbehörde angeordnet; dem Angeklagten bleibt das Recht, nach § 109 StVollzG eine gerichtliche Entscheidung zu beantragen (abweichend § 56 des Alternativ-Entwurfs: Einweisung des Strafgefangenen in die sozialtherapeutische Anstalt nur mit Zustimmung des Vollstreckungsgerichtes). Dagegen ist, auch unter Berufung auf Art. 104 Abs. 2 GG, eingewandt worden, daß hier ein auf Freiheitsstrafe lautendes Urteil durch Verwaltungsanordnung in eine Maßregelanordnung umgewandelt wird ( Calliess/Müller-Dietz Strafvollzugsgesetz3 § 9 Rdn. 1). Ein solcher Einwand trifft § 67 a schon deshalb nicht, weil hier eine richterliche Entscheidung vorausgesetzt wird. Außerdem geht der Einwand an dem für § 67 a und für § 9 StVollzG gleichermaßen geltenden Gesichtspunkt vorbei, daß die rechtliche Umgrenzung der im Urteil angeordneten Freiheitsentziehung (Höchstdauer, Entlassungsvoraussetzungen und — bei den Maßregeln — Überprüfungsfristen) durch die Überweisung (und Verlegung) nicht angetastet wird (näher zu § 9 StVollzG: Rdn. 22). 4. Der Reaktionsbeweglichkeit dient ferner § 67 Abs. 3; auch hier geht es, wie 4 bei § 9 StVollzG, um den Übergang aus dem Straf- in den Maßregelvollzug und umgekehrt, während § 67 a den Übergang vom Vollzug einer Maßregel in den Vollzug einer anderen betrifft (näher zu § 67: unten Rdn. 21). Für eine gewisse Austauschbarkeit der Maßregel sorgte früher § 42 ρ a. F., wenn 5 mehrere freiheitsentziehende Maßregeln nebeneinander angeordnet waren; hier konnte die Vollstreckungsbehörde die Reihenfolge der Vollstreckung der verschiedenen Maßregeln bestimmen (vgl. Lang-Hirtrichsen LK 9 §42 ρ Rdn. 43). Schon beim Inkrafttreten des § 42 ρ a. F. war eine kumulative Anordnung von Sicherungsverwahrung und Unterbringung nach § 42 b a. F. mit dem Ziel, den Übergang von einer zur anderen Maßregel offenzuhalten, empfohlen worden (Rietzsch, in: Dringende Fragen der Sicherungsverwahrung [1938] S. 63). Jetzt wird dagegen in Fällen, in denen mehrere freiheitsentziehende Maßregeln nebeneinander angeordnet sind, die Reihenfolge von vornherein im Urteil festgelegt (§ 72 Abs. 3). § 67 a ergänzt diese Regelung insofern, als die im Urteil vorgesehene Reihenfolge durch die Überweisung nachträglich abgeändert werden kann. Daß die Möglichkeit einer Überweisung in den Vollzug einer anderen Maßregel indessen nach § 67 a auch dann besteht, wenn nur eine Maßregel angeordnet worden ist, sollte schon bei der Entscheidung, ob mehrere Maßregeln nebeneinander anzuordnen sind (§ 72 Abs. 2), berücksichtigt werden: Im Blick auf die Möglichkeit der Überweisung nach § 67a genügt es oft, daß von mehreren Maßregeln, deren gesetzliche Voraussetzungen erfüllt sind, nur eine angeordnet wird (§ 72 Abs. 1 Satz 1). Dabei ist § 72 Abs. 1 Satz 2 3 Dazu Prot. VII, 1865 ff; Sozialtherapeutische Anstalten, Bericht des Fachausschusses V des Bundeszusammenschlusses für Straffälligenhilfe 2 (1977); Rasch (Hrsg.) Forensische Sozialtherapie; Erfahrungen in Düren (1977). 4 OLG Celle NStZ 1981 196 m. Anm. Henze; Hanack §65, Abschn. „Entstehungsgeschichte"; Calliess/Müller-Dietz StVollzG3 §9 Rdn. 2; Grunau/Tiesler StVollzG2 §9 Rdn. 2 (gegen Vorauf!. Rdn. 1); Schwind/Böhm/Rotthaus StVollzG § 9 Rdn. 5. (5)

§67 a

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

(Vorzug der am wenigsten beschwerenden Maßregel) zu beachten. Andererseits reicht trotz der Möglichkeit einer Überweisung in das psychiatrische Krankenhaus die Anordnung nach § 64 nicht aus, wenn der Verurteilte die Voraussetzungen des § 63 erfüllt und nach seinem Zustand über die in § 67 d Abs. 1 bezeichnete Zweijahresfrist hinaus gefährlich zu bleiben droht (Dreher-Tröndle41 Rdn. 2). 6

Schließlich kann sich die Verbringung des nach den §§ 64, 65 und 66 Untergebrachten in eine Krankenanstalt durch die Vollstreckungsbehörde (§ 461 i. V. m. § 463 Abs. 1 StPO) ähnlich auswirken wie die Überweisung nach § 67 a. Auch hier ist, wie nach § 67 a Abs. 4, die Dauer des Aufenthalts in der aufnehmenden Anstalt — sofern nicht der in § 461 Abs. 1 StPO genannte Ausnahmefall vorliegt — auf die weiterhin maßgebliche Höchstdauer der im Urteil angeordneten Maßregel anzurechnen. Näheres zum Verhältnis von § 67 a zu § 461 StPO unten Rdn. 34.

7

5. Die Entscheidung nach § 67 a richtet sich, der Bedeutung des Resozialisierungsgedankens entsprechend, danach, ob die Resozialisierung im Vollzug der anderen Maßnahme besser gefördert werden kann; nur in dem Ausnahmefall des Abs. 3 Satz 2 darf die Entscheidung (über die Rücküberweisung) darauf gestützt werden, daß mit dem Vollzug einer Maßregel kein Erfolg erzielt werden kann. Andere Gründe für die Überweisung und Rücküberweisung läßt § 67 a nicht zu. Insofern ist die Vorschrift zwingend. Fakultativ ist § 67 a dagegen in dem Sinne, daß der Richter beim Vorliegen der dort genannten Voraussetzungen die Überweisung anordnen kann. Er darf auch nach pflichtgemäßem Ermessen (Horn Die strafrechtlichen Sanktionen [1975] S. 103, 105) von der Überweisung (auch von der Rücküberweisung nach Abs. 3) absehen. Die praktische Bedeutung dieses Ermessensspielraums ist allerdings bei der Überweisung nach Abs. 1, 2 und bei der Entscheidung nach Abs. 3 Satz 1 nicht groß (ebenso Dreher-Tröndle41 Rdn. 4). Fehlt es der ins Auge gefaßten Aufnahmeanstalt an der Kapazität für die Unterbringung oder Behandlung, so wird es schon an der Voraussetzung mangeln, daß diese Anstalt die Resozialisierung besser fördern kann. Auch der Gedanke, daß die Aufnahme in ein psychiatrisches Krankenhaus den Betroffenen so sehr stigmatisiert oder in seinem Selbstwertgefühl beeinträchtigt, daß dieser Nachteil den Vorteil besserer Behandlungsmöglichkeiten aufwiegt (in diesem Sinne die Bedenken des Abg. Schlee, Prot. V, 2329 ff), ist schon bei der Prüfung, ob die Resozialisierung im psychiatrischen Krankenhaus besser gefördert werden kann, zu berücksichtigen; denn mit „Resozialisierung" ist die Gesamtwirkung des Maßregelvollzugs für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft und nicht der therapeutische Erfolg bestimmter Behandlungsmaßnahmen gemeint. Ebenso stellen nachteilige Folgen eines häufigen Anstaltswechsels (Dreher-Tröndle41 Rdn. 4) die Resozialisierungsmöglichkeit in Frage. Der im Gesetzgebungsverfahren erwähnten Gefahr, daß der Untergebrachte das Gericht und die verschiedenen Anstalten gegeneinander ausspielt und sich solange hin- und herschieben läßt, bis er den angenehmsten Aufenthalt gefunden hat (Abg. Dr. Eyrich Prot. VII, 1070), muß durch genügend kritische Prüfung der Frage, ob die Resozialisierung durch eine Überweisung besser gefördert werden kann, begegnet werden. Rückverlegungen können sich auf alle Beteiligten nachteilig auswirken, indem sie den Verurteilten stigmatisieren und in der Anstalt, die ihn vorübergehend aufgenommen hatte, Störungen und Resignation hervorrufen (AKE. Quensel StVollzG^ § 9 Rdn. 7 a; Schwind/Böhm/Rotthaus StVollzG § 9 Rdn. 7 f ) . Deshalb sollten bei der Überweisung (§ 67 a Abs. 1, 2) wie bei der Rücküberweisung (§ 67 a Abs. 3) keine übereilten Entscheidungen getroffen werden. Der Ermessenste)

Überweisung in den Vollzug einer anderen Maßregel (Horstkotte)

§ 67 Λ

Spielraum, den der Richter bei der Anwendung des § 67 a hat, erlaubt es ihm unter Umständen, auf Sicherheitsgesichtspunkte Rücksicht zu nehmen (vgl. § 2 Satz 2 StVollzG), etwa, wenn zu entscheiden ist, ob ein chronischer Gewalttäter in die Entziehungsanstalt überwiesen werden soll, in der keine ausreichenden Vorkehrungen gegen ein Entweichen oder gegen Angriffe auf andere Patienten getroffen werden können. Näher zur Sicherheitsproblematik Rdn. 20, 29, zur Rücküberweisung Rdn. 25 ff. 6. Die Überweisung nach § 67 a darf nicht dazu benutzt werden, um lästige oder 8 schwierige Untergebrachte in andere Anstalten „abzuschieben" (Dreher-Tröndle41 Rdn. 4; Laçkner^ 5 Anm. 2). Dies ergibt sich in den Fällen der Absätze 1, 2 und 3 Satz 1 schon aus dem Gesetzestext; er verlangt die positive Überzeugung der Vollstreckungskammer, daß die Resozialisierung in der anderen Anstalt besser gefördert werden kann. Auch in den Fällen des Abs. 3 Satz 2 darf die Rücküberweisung nach dem Gesetzeszweck nicht in vorschnellem therapeutischem Pessimismus angeordnet werden (Prot. VII, 1070); doch ist es hier, anders als in den sonstigen Fällen, legitim, auf die Überlastung der Aufenthaltsanstalt Rücksicht zu nehmen (s. Rdn. 25). Das seit langem vorhandene und seit dem Übergang zu offeneren Formen der psychiatrischen Krankenhausbehandlung verstärkt empfundene Bedürfnis, die psychiatrischen Krankenhäuser von Untergebrachten zu entlasten, die hauptsächlich der sichernden Verwahrung und weniger der Therapie oder Pflege bedürfet, wird nach dem Inkrafttreten des § 65 die Aufmerksamkeit verstärkt auf § 67 a richten. So dringlich dieses Bedürfnis zumal im Hinblick auf die nach § 21 Verurteilten auch ist, so darf doch nicht übersehen werden, daß nach § 67 a die Überweisung in eine sozialtherapeutische Anstalt nur dann zulässig ist, wenn der Betroffene dort besser als im psychiatrischen Krankenhaus behandelt werden kann, und daß sich diejenigen, die in den Landeskrankenhäusern — vor allem im Hinblick auf ihre Behandlungsfähigkeit und die Störungen im Zusammenleben der Patienten — die größten Schwierigkeiten bereiten, keineswegs generell für die Sozialtherapie eignen. So werden die hochgradig Schwachsinnigen und die hirnorganisch Geschädigten, die nach einer Mitteilung aus der ärztlichen Praxis besonders oft als Störer auffallen^, regelmäßig nicht in die sozialtherapeutische Anstalt gehören. Auch für die heterogene Gruppe der sogenannten „Psychopathen" ist die sozialtherapeutische Anstalt nicht generell der richtige Ort. Vielmehr wird regelmäßig die Bereitschaft des Untergebrachten zu eigener Mitarbeit an den Resozialisierungsbemühungen eine der wesentlichen Voraussetzungen für die Überweisung in die sozialtherapeutische Anstalt sein. Vgl. zum Ganzen auch Hanack, (1912) S. 84 f. In Ausübung seines pflichtgemäßen Ermessens (Rdn. 7) muß der Richter darauf 9 achten, daß die sozialtherapeutischen Anstalten nicht durch einen übermäßigen Zu5 Prot. V, 2253 ff; BT-Drucks. (Bericht des Sonderausschusses) V/4095 S. 26; Zwischenbericht der Sachverständigenkommission zur Erarbeitung der Enquete über die Lage der Psychiatrie, BT-Drucks. VII/1124 (1973) S. 18; Ehrhardt, Der Vollzug im Psychiatrischen Krankenhaus, in: Kriminologische Gegenwartsfragen 11 (1974) S. 153ff; Heinrich Das Dilemma des psychisch kranken Rechtsbrechers zwischen Einschließung und Therapie, in: Petri und Schwind (Hrsg.), Kriminalität heute — Ursachen und Bekämpfung (1977) S. 62ff; Ritzel Unterbringung nach §63 2. StrRG: Besserung oder Sicherung? MschrKrim. 1975, 182 ff. 6 Müller-Hadamik, Die Unterbringung psychisch abnormer Rechtsbrecher, Nervenarzt 37 (1966) S. 67 ff, 70; vgl. auch Rasch NStZ 1982 180. (7)

§67 a

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

ström aus psychiatrischen Krankenhäusern und Entziehungsanstalten funktionsunfähig werden (Schleusener S. 72). Für die Überweisung aus diesen Anstalten in den Vollzug der Maßregel nach § 65 (zur Überweisung in den Modellvollzug nach § 9 StVollzG siehe Rdn. 22) wird demnach nur ein therapiegeeigneter Teil der Untergebrachten in Betracht kommen. Daneben kann die Überweisung aus der Sicherungsverwahrung in die sozialtherapeutischen Anstalten bedeutsam werden. Vor allem bei Sicherungsverwahrten, die die auslösende Tat im Alter von weniger als 25 Jahren begangen haben, wird eine Überweisung in die sozialtherapeutische Anstalt naheliegen (BGH NJW 1976 300, 301 = JR 1976 422 m. Anm. v. Bubnoff). Denn nach der zugleich mit § 65 in Kraft tretenden Fassung des § 66 soll die Sicherungsverwahrung in solchen Fällen ausgeschlossen werden; bis dahin ist ihre Anordnung ein höchst problematischer Notbehelf. 10

Schon jetzt ist darauf zu achten, daß die psychiatrischen Krankenhäuser nicht durch Überweisungen nach § 67 a mit Personen, für die sie nicht geeignet sind, zusätzlich belastet werden. Der Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland (BT-Drucks. VII/4200, S. 284) äußert die Sorge, die psychiatrischen Krankenhäuser könnten durch Überweisungen aus den Entziehungsanstalten übermäßig in Anspruch genommen werden. Der Mangel an Kapazitäten für die Behandlung Suchtkranker in Entziehungsanstalten (Hanack § 64 Rdn. 17) hat zwar in erster Linie zu Bestrebungen geführt, durch vermehrte Anwendung des § 67 Abs. 27, ferner durch die entsprechende Anwendung des § 64 Abs. 2 im Vollstreckungsverfahrens, der Strafvollstreckung Vorrang zu geben. Daneben gibt es aber in der Tat aus vielerlei Gründen Tendenzen, Suchtkranke im psychiatrischen Krankenhaus statt in der Entziehungsanstalt unterzubringen (vgl. Hanack § 64 Rdn. 16). Solche Tendenzen dürfen nicht unbesehen durch Überweisungen aus der Entziehungsanstalt in das psychiatrische Krankenhaus verstärkt werden. § 67 a dient nicht dazu, Plätze in Entziehungsanstalten freizumachen. Wer in der Entziehungsanstalt nicht gefördert werden kann, darf nur dann ins psychiatrische Krankenhaus überwiesen werden, wenn dort im Hinblick auf seine Sucht bessere Behandlungsmöglichkeiten bestehen. Ob es sich so verhält, hängt von der Organisation und der spezifischen therapeutischen Leistungsfähigkeit des Krankenhauses ab; in dieser Hinsicht bestehen auch zwischen den Landeskrankenhäusern große Unterschiede. Die Diskussion über den Wert längerdauernder stationärer Behandlung von Drogenabhängigen ist

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Kennzeichnend für diese zunächst in der Praxis weit verbreitete Handhabung des § 67 Abs. 2: LG Dortmund NJW 1975 2251 (zu § 63), vgl. auch OLG Hamm MDR 1978 950, MDR 1981 70 (LS) = OLGSt. § 67 S. 15 « JMB1NRW 1980 226. Der BGH ist ihr von Anfang an entgegengetreten (BGH bei Holtz MDR 1978 803,1981 98 = Strafverteidiger 1981 66; BGHSt. 28 327; BGH NStZ 1982 132; BGH NJW 1983 240); ebenso OLG Hamm MDR 1981 952 und LG Hamburg MDR 1981 158. Doch verbarg sich die Rücksichtnahme auf Kapazitätslücken wohl vielfach auch hinter der Erwägung, der Entziehungsbehandlung müsse der Strafvollzug als Vorstufe (etwa zur Erzeugung eines „Leidensdrucks") vorangehen. Diese höchst problematische Begründung für die Anwendung des § 67 Abs. 2 (zur Kritik: Hanack § 67 Rdn. 34 m. w. Nachw.) hat der BGH zunächst hingenommen (bei Holtz MDR 1978 803), neuerdings jedoch in einem Fall beanstandet, in dem der spezielle therapeutische Wert des vorangehenden Strafvollzugs nicht belegt worden war (NJW 1983 240). Zu dieser in Rechtsprechung und Schrifttum höchst streitigen Frage s. §67c Rdn. 10, § 67d Rdn. 51 m. w. Nachw.; vgl. auch § 67a Rdn. 20. (8)

Überweisung in den Vollzug einer anderen Maßregel (Horstkotte)

§ 67 a

noch nicht abgeschlossen^, das Verhältnis stationärer und außerstationärer Therapie in den verschiedenen Ländern sehr unterschiedlich 10. Es gibt jedenfalls keinen allgemeinen Satz des Inhalts, daß das psychiatrische Krankenhaus zur Behandlung Alkohol- und Drogenabhängiger geeignet und deswegen einer unzulänglichen Behandlung in der Entziehungsanstalt überlegen sei. Bevor der Richter eine Überweisung aus der Entziehungsanstalt ins psychiatrische Krankenhaus beschließt, muß er sich darüber unterrichten, welche konkreten therapeutischen Möglichkeiten im Hinblick auf Suchtkranke vorhanden sind (vgl. Rdn. 18 sowie OLG Hamm MDR 1981 70 [LS] = OLGSt. § 67 StGB S. 15 = JMB1NRW 1980 226 mit konkreten Angaben über Behandlungsmöglichkeiten in einem bestimmten Krankenhaus). Die Überweisung in ein psychiatrisches Krankenhaus darf nicht dazu dienen, die Zeit bis zum Freiwerden eines Platzes in der Entziehungsanstalt zu überbrücken (Sch.Schröder-Streek Rdn. 1); die Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus ist keineswegs immer die mildere Maßnahme gegenüber dem nach § 67 Abs. 2 angeordneten Strafvollzug (insoweit bedenklich OLG Hamm aaO). Zur Gefahr der Überlastung psychiatrischer Krankenanstalten vgl. auch Ehrhardt in: Ehrhardt/ Göppinger (Hrsg.), Kriminolog. Gegenwartsfragen 11 (1974) S. 159 und Kaiser/ Kerner/Schöch Strafvollzugs § 9 Rdn. 57.

II. Formelle Voraussetzungen der Überweisung nach Abs. 1, 2 1. Voraussetzung für die Anordnung nach § 67 a Abs. 1 ist, daß die Unterbrin- 11 gung in einem Psychiatrischen Krankenhaus, einer Entziehungsanstalt oder einer sozialtherapeutischen Anstalt angeordnet ist; in den Fällen des Abs. 2 wird die Anordnung der Sicherungsverwahrung vorausgesetzt. Gemeint ist die rechtskräftige Anordnung im Urteil. Das Gesetz setzt nicht voraus, daß sich der Betroffene zur Zeit der Überweisungsanordnung im Vollzug der im Urteil angeordneten Maßregel befindet. Ist er zu Sicherungsverwahrung verurteilt worden, so kann die Überweisung in den Vollzug einer anderen Maßregel schon während des Vollzuges der Freiheitsstrafe angeordnet werden, wenn die Voraussetzungen dafür bereits feststehen; doch kann mit dem Vollzug der anderen Maßregel frühestens zu dem Zeitpunkt begonnen werden, zu dem sonst der Vollzug der Sicherungsverwahrung angefangen hätte, also nach Verbüßung der Freiheitsstrafe (Sch.-Schröder-Stree^i Rdn. 2). Nach § 67 a kann ferner schon entschieden werden, während noch die Strafe nach § 67 Abs. 2 vollzogen wird (Dreher-Tröndle41 Rdn. 3). In allen Fällen, in denen sich der Betroffene noch im Vollzug einer zusammen mit der Maßregel angeordneten Strafe befindet, ist die Entscheidung nach § 67 a allerdings erst sinnvoll, wenn feststeht, daß er nach Ende des Strafvollzugs nicht gemäß § 67c Abs. 1 Satz 2 entlassen wird; über die Überweisung ist hier frühestens gleichzeitig mit dem Beschluß nach § 67 c Abs. 1 zu entscheiden. Abweichend von der hier vertretenen Ansicht nimmt SK9

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Literatur bei Lang-Hinrichsen LK 9 Anhang zu § 42 c, bei Hanack zu § 64 sowie unten bei § 67b Rdn. 48, § 67d Rdn. 4, 50, 68; zusammenfassend zur Therapie bei Alkoholikern: Andritsch bei Bergener (Hrsg.) Psychiatrie und Rechtsstaat (1981) S. 200, 211 ; zur Drogentherapie: Bschor (Hrsg.) Diskussionsberichte Drogen, Heft 1 (1979)2. Kreuzer/Gebhardt/Maassen/Stein-Hilbers Drogenabhängigkeit und Kontrolle (1981), S. 278 ff weisen ζ. B. auf die vollständig unterschiedliche Praxis in Berlin (ambulante Maßnahmen) und Hessen (stationäre Behandlung in größerem Umfang) hin ; vgl. weiter die an den bayerischen Verhältnissen orientierte Darstellung von Adams/Gerhardt NStZ 1981 244 f sowie § 67 d Rdn. 50 f, 68.

§67 a

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

Horn3 (Rdn. 4) an, über die Überweisung könne stets erst dann entschieden werden, wenn die Vollstreckung der im Urteil angeordneten Maßregel begonnen hat oder unmittelbar bevorsteht; diese sei nur dann im Sinne des § 67a Abs. 1, 2 „angeordnet". Dem ist entgegenzuhalten, daß die „Anordnung" der Maßregel auch nach dem sonstigen Sprachgebrauch des Gesetzes nicht notwendig deren Vollstreckung einschließt (vgl. § 67 b Abs. 1, § 67 c Abs. 1, 2) und daß die Überweisungsanordnung noch während des Strafvollzuges erwünscht sein kann, um einen mehrfachen Anstaltswechsel zu vermeiden. Mit der Anordnung, daß die Reihenfolge der Vollstreckung nach § 67 Abs. 1 wiederherzustellen sei, kann die Überweisung in den Vollzug des psychiatrischen Krankenhauses insbesondere dann verbunden werden, wenn während des Strafvollzuges eine psychische Krankheit aufgetreten ist, die im Vollzug der anderen Maßregel behandelt werden kann (Pohlmann/Jabel StrVollstrO 6 § 45 Rdn. 23). Voraussetzung dafür ist, daß die psychische Krankheit mit der Gefährlichkeit des Täters zusammenhängt, deren resozialisierende Behandlung Maßregelzweck ist (ergänzend Rdn. 34). Alternativen zur Überweisung nach § 67 a sind hier die Verlegung in ein vollzugseigenes Krankenhaus (§ 65 Abs. 1 StVollzG; dazu Schwind/Böhm/ Romkopf StVollzG § 65 Rdn. 16 und - kritisch - AK-£. Quensel StVollzG2 § 65 Rdn. 4 a), ferner die Verbringung in ein Krankenhaus außerhalb des Justizvollzugs unter Anrechnung auf die Maßregelhöchstdauer (§ 65 Abs. 2 StVollzG, § 461 i. V. mit § 463 StPO), schließlich auch die Unterbrechung des Vollzugs (dazu Rdn. 34). Nach § 45 Abs. 6 StVollstrO soll die Anordnung nach § 67 Abs. 3, die Voraussetzung einer Überweisung (§ 67 a) ist, nur herbeigeführt werden, wenn der Verurteilte durch seine Erkrankung „überhaupt oder doch auf absehbare Zeit" vollzugsuntauglich erscheint. Daran ist richtig, daß nicht jede vorübergehende Störung der psychischen Gesundheit eine Anordnung nach den §§ 67 Abs. 3, 67 a nahelegt, zumal wenn dadurch langfristige Behandlungsprogramme (vgl. § 9 StVollzG) unterbrochen werden würden. Gleichwohl ist die Fassung der StVollstrO zu eng: Entscheidend sind die Behandlungsmöglichkeiten. Sie können auch bei einer Krankheit von absehbarer Dauer für die Überweisung (§ 67 a) und damit für die Anordnung nach § 67 Abs. 3 sprechen. Die Überweisung kann auch zusammen mit dem Widerruf einer Maßregelaussetzung (§67g) angeordnet werden (Rdn. 16); der Überweisung braucht auch hier nicht die (erneute) Vollstreckung der vom erkennenden Gericht angeordneten Maßregel voranzugehen. 12

2. Das Gesetz spricht in §67a von einer „nachträglichen" Überweisung, sieht also eine Überweisung im Zusammenhang mit dem Urteil (durch das erkennende Gericht) nicht vor. Möglich ist aber eine entsprechende Anwendung des § 67 a durch das erkennende Gericht, wenn es eine Maßregel nach den §§ 63, 64, 65 anordnet und dabei der Ansicht ist, daß zunächst vorübergehend eine andere dieser Maßregeln vollzogen werden sollte. Es wäre Leerlauf, wollte das Gericht, dem bei Anordnung der Maßregel nach § 64 eine anfängliche Aufnahme in das psychiatrische Krankenhaus erforderlich erscheint, die Überweisung aus der Entziehungsanstalt in das psychiatrische Krankenhaus dem Beschlußverfahren überlassen. Die mögliche Anordnung beider Maßregeln (§ 72 Abs. 2) würde den Betroffenen in diesem Fall unnötig belasten, insbesondere wegen des Fehlens einer Höchstfrist für die Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus (OLG Hamm JMB1. NRW 1980 226 = OLGSt. § 67 S. 15). Von der Möglichkeit einer entsprechenden Anwendung des § 67 a ist bis(10)

Überweisung in den Vollzug einer anderen Maßregel (Horstkotte)

§ 6 7 21

her in Fällen Gebrauch gemacht worden, in denen die Vollstreckung der angeordneten Unterbringung in einer Entziehungsanstalt zunächst aus Kapazitätsgründen behindert war, während im psychiatrischen Krankenhaus Behandlungsmöglichkeiten für Suchtkranke vorhanden waren (OLG Hamm MDR 1978 950 und JMB1. NRW 1980 226 = OLGSt. § 67 S. 15). Materiellrechtliche Voraussetzung für die entsprechende Anwendung des § 67 a ist hier allerdings, daß die Unterbringung überhaupt (in welcher Anstalt auch immer) vollstreckt werden muß, also nicht nach § 67 b ausgesetzt werden kann. Die entsprechende Anwendung des § 67 a durch das erkennende Gericht setzt voraus, daß dieses Gericht die Alternativen zum Vollzug der angeordneten Maßregel prüft. Der Grundsatz, daß die Auswahl der Vollzugsanstalt Sache der Vollstreckungsbehörde ist (BGHSt. 28 327, 330), steht einer solchen Sachaufklärung nicht entgegen (vgl. Rdn. 18; wohl nur scheinbar abweichend BGH NStZ 1981 492 [m. Anm. Scholz] = MDR 1981 266 [bei Holtz] mit dem Hinweis, daß das Revisionsgericht § 67 a nicht entsprechend anwenden könne). 3. Maßregeln, in deren Vollzug der Verurteilte nach § 67 Abs. 1, 2 überwiesen 13 werden kann, sind das psychiatrische Krankenhaus, die Entziehungsanstalt und die sozialtherapeutische Anstalt. Wer nicht zu Sicherungsverwahrung verurteilt worden ist, kann auch nicht in den Vollzug der Sicherungsverwahrung überwiesen werden (zur Zurücküberweisung in die Sicherungsverwahrung siehe unten Rdn. 24). Demnach können die nach § 63 Abs. 1 Untergebrachten in den Vollzug der Maßregeln nach den §§ 64, 65, die nach § 64 Untergebrachten in den Vollzug der Maßregeln nach den §§ 63, 65, die nach § 65 Abs. 1, 2 Untergebrachten in den Vollzug der Maßregeln nach den §§ 63, 64 und die Sicherungsverwahrten in den Vollzug jeder anderen freiheitsentziehenden Maßregel überwiesen werden. III. Materielle Voraussetzungen der Überweisung nach Abs. 1, 2 1. Weitere Voraussetzung für die Überweisung nach § 67 a Abs. 1, 2 ist, daß die 14 Resozialisierung durch die Überweisung, d. h. durch den auf sie folgenden Vollzug der anderen Maßregel, besser gefördert werden kann. a) Den Begriff der ResozialisierungH verwendet das StGB nur in § 67 a sowie in § 65 Abs. 1, 3; im StVollzG findet er sich in § 9, wo auf die Formulierung des § 65 StGB Bezug genommen wird. Der Begriff der Resozialisierung ist hier im weitesten, untechnischen Sinn zu verstehen, also nicht etwa nur auf die Behandlungsmethoden und Behandlungsziele der sozialtherapeutischen Anstalt (§65 Abs. 1,3) oder des Strafvollzuges zu beziehen. Im Rahmen des § 67 a sollen auch die Behandlungsmöglichkeiten im psychiatrischen Krankenhaus und in der Entziehungsanstalt an den Kriterien der „Resozialisierung" gemessen werden; dies gilt auch für die ohne gleichzeitige Bestrafung Untergebrachten, also im Zeitpunkt der Tat Schuldunfähigen. Resozialisierung ist hier jede Einwirkung auf den Untergebrachten, die unmit11 Im Liszt'sehen Lehrbuch erscheint der Begriff der Resozialisierung erst in der von Eb. Schmidt besorgten 25. Auflage von 1927 (S. 363); zur Begriffsgeschichte vgl. Gentz ZStrW 46 (1925) 135 unter Hinweis auf Ellger Der Erziehungsgedanke im Strafvollzug (1922) S. 39 ff (erstmalige Verwendung); Schüler-Springorum Strafvollzug im Übergang (1969) S. 154, 157; Kaiser/Kemer/Schöch Strafvollzugs (1982) § 2 Rdn. 75. Zur Einführung des Terminus „Resozialisierung" in das Gesetzgebungsverfahren s. Prot. V, 2239 und Krebs MSchrKrim 53 (1970) 145; zum verfassungsrechtlichen Gebrauch des Begriffs vgl. BVerfGE 35 202, 235 = NJW 1973 1226,1231 („Lebach"). (11)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

telbar oder mittelbar dazu beiträgt, daß er künftig ein Leben ohne Straftaten führen kann (vgl. §§ 2, 123, 136 StVollzG). Dazu gehören u. a. die Einübung des Zusammenlebens in kleineren Gruppen wie in der Gesellschaft, der Erwerb von Fähigkeiten, die die berufliche Eingliederung erleichtern, die Einleitung von Maßnahmen der beruflichen Wiedereingliederung, die Überwindung eigener Schwierigkeiten, die zu strafrechtlich erheblichen Konflikten geführt haben, die Behandlung psychischer Krankheiten, sexueller Deviationen und von Sucht- und Entziehungszuständen. Eine Behandlung, die nur in der Anstaltspflege besteht, aber nicht darauf zielt, ein Leben des Betroffenen in Freiheit vorzubereiten, richtet sich, streng genommen, nicht auf die Resozialisierung: Sollte eine psychische Krankheit eintreten, die nicht nur unheilbar ist, sondern den Betroffenen auch auf unabsehbare Zeit gefährlich und deshalb entlassungsunfähig macht, so ist für eine Überweisung nach § 67 a nach dem Gesetzeswortlaut kein Platz; hier sind die zu Rdn. 34 genannten Alternativen zu prüfen (Verlegung nach § 65 Abs. 1, 2 StVollzG, Unterbrechung des Maßregelvollzugs). Ein solcher Fall wird indessen nicht oft praktisch werden. In der Regel wird heute auch bei Schizophrenen nach mehr oder weniger langer Zeit mit der Möglichkeit einer Entlassung (unter Fortsetzung ambulanter Behandlung) gerechnet werden können ; hier ist die vorangehende ärztliche Behandlung einschließlich der Einstellung auf die notwendigen Medikamente (Psychopharmaka) als Förderung der Resozialisierung im Sinne des § 67 a zu verstehen. Dasselbe gilt, wenn eine die Entlassung ermöglichende Behandlung mit Hormonpräparaten (Antiandrogenen, Androcur der Fa. Schering AG) bei Sexualstraftätern vor der Entlassung in einer dafür besonders geeigneten Klinik vorbereitet werden soll. Operative Eingriffe sind — in den seltenen Fällen, in denen sie bei Maßregelvollzug zu verantworten sind (s. § 67 c Rdn. 66) — ebenfalls Maßnahmen, die die „Resozialisierung" im Sinne des § 67a besser fördern sollen; auch sie können daher eine Überweisung, zumal im Hinblick auf die notwendige Vor- und Nachbehandlung, erforderlich machen. Die Resozialisierung wird im Sinne des § 67 a auch dann gefördert, wenn die Behandlung nur vorübergehender Natur ist, also von vornherein beabsichtigt wird, den Betroffenen später in die ursprünglich angeordnete Unterbringung zurückzuüberweisen, die dann gemäß § 67 a Abs. 3 Satz 1 geeigneter erscheinen wird. Die Überweisung ist demnach nicht auf Fälle beschränkt, in denen der Betroffene aus der anderen Maßregel in die Freiheit entlassen werden soll. 15

b) Die Überweisung nach Abs. 1, 2 und 3 Satz 1 setzt voraus, daß die Resozialisierung im Vollzug der anderen Maßregel besser gefördert werden kann. Hiervon muß der Richter überzeugt sein. Insofern gelten die gleichen Anforderungen wie nach § 67 Abs. 2 („leichter erreicht"). Die Überzeugung des Richters braucht nur zum Gegenstand zu haben, daß die Resozialisierung besser gefördert werden kann; § 67 a setzt nicht etwa die Überzeugung voraus, daß die Resozialisierung im Vollzug der anderen Maßregel tatsächlich erreicht wird. Nach Lage der Dinge kann es sich nur um einen Versuch handeln, ist doch die Prognose selbst im Zeitpunkt der Entlassung (§ 67 d Abs. 2) noch immer unsicher. 16 Daß der Zweck in der neuen Anstalt gleich gut oder gleich schlecht wie in der alten erreicht werden kann, genügt nicht, auch dann nicht, wenn andere Umstände, zumal Belegungsgesichtspunkte oder Schwierigkeiten, die der Verurteilte in der bisherigen Anstalt gemacht hat, für eine Überweisung sprechen. Auf die Gründe für die Erwartung, daß die Resozialisierung in der anderen Anstalt besser gefördert werden kann, kommt es nicht an. § 67 a betrifft sowohl Fälle, in denen sich der Zustand des Untergebrachten nach der Verurteilung geändert hat (Prot. V, 2230; Jescheckl § 77 (12)

Überweisung in den Vollzug einer anderen Maßregel (Horstkotte)

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VI 2b; Sch.-Schröder-Stree^ Rdn. 1), als auch solche, in denen eine im Urteil getroffene Fehlentscheidung korrigiert werden muß. Im letzteren Fall steht die Rechtskraft der ursprünglichen Anordnung der Überweisung nicht entgegen, da die Rechtsnatur der Unterbringung sich nicht ändert (§ 67 a Abs. 4). § 67 a ist auch anwendbar, wenn sich eine Behandlungsmöglichkeit, die zur Zeit des Urteils noch nicht bestanden hat, nachträglich ergibt, etwa, wenn eine neuartige Therapie entwickelt worden ist. Die Überweisung wird nicht dadurch ausgeschlossen, daß der Untergebrachte — im Hinblick auf die Höchstfrist der im Urteil angeordneten Maßregel oder auf die bevorstehende Entlassung nach § 67 d Abs. 2 — nur noch kurze Zeit festzuhalten ist: Für die Überweisung kann hier sprechen, daß die Entlassung in der anderen Anstalt besser vorbereitet werden kann. Doch kann der Entlassungszeitpunkt auch ein Grund gegen die Überweisung sein: Wenn die mit dem Anstaltswechsel verbundenen Nachteile durch die Vorteile der neuen Unterbringungsart nicht aufgewogen werden, wird die Resozialisierung durch die Überweisung im Ergebnis nicht „besser gefördert" (vgl. Dreher-Tröndle41 Rdn. 4). Die Überweisung kann auch im Zusammenhang mit dem Widerruf einer nach § 67 b, § 67 c Abs. 1 oder § 67 d Abs. 2 gewährten Aussetzung der Maßregel sinnvoll sein, wenn sich während der Aussetzung ergeben hat, daß der Täter der Behandlung im Vollzug einer anderen Maßregel bedarf. Auch eine befristete Überweisung ist zulässig (näher Rdn. 29). Die Voraussetzung, daß die Resozialisierung im Vollzug der anderen Maßregel 17 „besser" gefördert werden kann als in der ursprünglich angeordneten, ist relativ zu verstehen: Droht sich der Zustand des Untergebrachten infolge des bisherigen Maßregelvollzugs erheblich zu verschlechtern (Beispiel: Unterbringung eines nach § 21 Verurteilten in einer psychiatrischen Krankenanstalt ohne angemessene Behandlungsmöglichkeit), so kann eine Überweisung, die dieser Entwicklung entgegenwirkt, schon die „bessere" Alternative sein. 2. Bei der Entscheidung nach § 67 a kommt es auf die Möglichkeiten an, die im 18 Hinblick auf die Resozialisierung des Untergebrachten tatsächlich bestehen. Der Richter wird sich deshalb vor seiner Entscheidung regelmäßig darüber unterrichten, in welche Anstalt der Betroffene gelangen wird und welche konkreten Verhältnisse ihn dort erwarten. Er darf sich nicht an den idealen Behandlungsmöglichkeiten, die der Gesetzgeber von den verschiedenen Unterbringungsarten erwartet hat, orientieren. Der Satz, daß das Gericht sich nicht um die Auswahl der Maßregelvollzugsanstalt zu kümmern habe (BGHSt. 28 330; BGH 5 StR 188/81 v. 12. 5.1981 ; vgl. auch BGH bei Daliinger MDR 1972 196), ist schon in den Fällen des § 67 Abs. 2 zweifelhaft, jedenfalls aber bei der Entscheidung nach § 67 a nicht gültig (vgl. auch Rdn. 12). Die tatsächlichen Verhältnisse sind andererseits auch insofern maßgeblich, als es 19 nicht darauf ankommt, ob der Betroffene die gesetzlichen Voraussetzungen, die die Anordnung der anderen Maßregel rechtfertigen würden, zur Zeit seiner Aburteilung erfüllt hat (Prot. V, 2330) oder im Zeitpunkt der Entscheidung nach § 67 a erfüllt (SK-Ho77i3 Rdn. 3). Wer in einem psychiatrischen Krankenhaus besser gefördert werden kann, darf auch dann dorthin überwiesen werden, wenn bei ihm die Voraussetzungen der §§ 20,21 nicht vorliegen und auch zur Tatzeit nicht vorgelegen haben (nach SK-Horn aaO wird es in der Praxis allerdings auf die „in § 20 bezeichneten Gründe" ankommen). Die Überweisung in die Entziehungsanstalt hängt nicht davon ab, daß die behandlungsbedürftige Sucht Ursache für eine abgeurteilte Straf(13)

§67 a

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

tat war (nach Horn aaO ist regelmäßig ein „Hang" im Sinne des § 64 vorauszusetzen); auf die förmlichen Voraussetzungen des § 65 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 kommt es nicht an. Die prognostischen Merkmale des § 64 und die Indikationsklausel des § 65 Abs. 1 Satz 2 werden allerdings in aller Regel gegeben sein müssen, wenn die Resozialisierung durch die Anstaltsbehandlung besser gefördert werden soll. 20

3. Besondere Problemgruppen bei der Überweisung nach Abs. 1,2 (zu der entsprechenden Problematik bei Abs. 3 vgl. Rdn. 29): Der Umstand, daß der Untergebrachte im Vollzug der primär angeordneten Maßregel die Sicherheit innerhalb oder außerhalb der Anstalt gefährdet, reicht für sich allein nicht aus, um die Überweisung nach § 67 a zu rechtfertigen. Denn die sicherere Unterbringung in einer anderen Anstalt (etwa in einem besonders gesicherten Gebäude eines psychiatrischen Krankenhauses) fördert als solche nicht die Resozialisierung. Der Richter kann allerdings insofern Sicherheitsfragen berücksichtigen, als er im Rahmen pflichtmäßigen Ermessens von einer Überweisung absieht, die zwar aus Behandlungsgründen angezeigt ist, aber die Sicherheit der anderen Anstalt gefährdet. In der Praxis bereitet die Überweisung von Sicherungsverwahrten in das psychiatrische Krankenhaus anscheinend keine Schwierigkeiten {Bischof S. 310). Sicherheitsprobleme werden gegenwärtig hauptsächlich in den Entziehungsanstalten auftreten. Hier werden sie selten mit Gewalttaten, oft aber mit dem Rauschgifthandel der Untergebrachten zusammenhängen. In solchen Fällen wird weniger an eine Anordnung nach § 67 a als vielmehr an eine Überstellung in den Strafvollzug (§ 67 Abs. 2, 3) zu denken sein, wenn sie der Vorbereitung späterer erneuter Anstaltstherapie dient (vgl. BGH bei Holtz MDR 1978 803, 1981 98; OLG Koblenz OLGSt. § 67 S. 13), was zu belegen ist (BGH NJW 1983 240, s. Fn 7). Entsprechendes gilt für Fälle, in denen der Täter die Behandlung verweigert oder in grober Weise das Zusammenleben in der Anstalt stört. Bloße disziplinarische Auffälligkeiten (vgl. OLG Celle NStZ 1981 196) reichen keinesfalls für eine Überweisung nach § 67 a aus. Stellt sich bei einem nach § 64 Untergebrachten heraus, daß eine Behandlung seiner Sucht dort aussichtslos ist, so wird in der Regel auch der Vollzug im psychiatrischen Krankenhaus keine besseren therapeutischen Mittel zur Verfügung stellen können. Eine Überweisung in das psychiatrische Krankenhaus kommt daher nur ausnahmsweise in Betracht: Es müssen dort konkrete Möglichkeiten für eine aussichtsreiche Behandlung der Rauschmittelabhängigkeit oder der ihr zugrunde liegenden psychischen Störung vorhanden sein (Rdn. 10, 18; noch enger OLG Celle NStZ 1981 318: nur wenn die Taten überwiegend andere psychische Ursachen hatten als die Sucht; das OLG Düsseldorf hat in einem Fall aussichtsloser Entziehungsbehandlung [ZfStrVo 1978 69] die Frage einer Überweisung in das psychiatrische Krankenhaus trotz vorhandener Geisteskrankheit überhaupt nicht geprüft). Sind die Voraussetzungen für eine Überweisung aus der Entziehungsanstalt in das psychiatrische Krankenhaus erfüllt, so hat die Überweisung Vorrang vor der Erledigung der Maßregel, die nach umstrittener, aber hier vertretener Auffassung (Hanack §64 Rdn. 92; Horstkotte §67c Rdn. 10, § 67 d Rdn. 51) sonst bei Aussichtslosigkeit der Entziehungskur in entsprechender Anwendung des § 64 Abs. 2 angeordnet werden soll; „aussichtslos" ist die Entziehungskur (§ 64 Abs. 2) erst, wenn sie im Maßregelvollzug insgesamt keinen Erfolg verspricht (ebenso wohl auch OLG Celle NStZ 1982 302; ferner Stree JR 1980 508, 511, Reimers Strafverteidiger 1981 187). Wird dagegen die entsprechende Anwendung des § 64 Abs. 2 auf das Vollstreckungsverfahren abgelehnt, so wird das Bedürfnis nach einer Überweisung (§ 67 a) in das psychiatrische Krankenhaus besonders dringlich (vgl. OLG München NJW 1978 552, OLG Stuttgart MDR 1980 (14)

Überweisung in den Vollzug einer anderen Maßregel (Horstkotte)

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685, OLG Schleswig SchlHA 1980 163 und 1981 89, OLG Frankfurt NStZ 1983 187); das rechtfertigt therapeutisch unbegründete Überweisungen nicht (Rdn. 10). Für die Rechtsprechung, die eine entsprechende Anwendung des § 64 Abs. 2 ablehnt (Nachweise § 67 c Rdn. 10, § 67 Rdn. 51), verbleibt in der Mehrzahl der Fälle als Alternative zum fruchtlosen Maßregelvollzug nach § 64 nur die Überstellung in den Strafvollzug (§ 67 Abs. 3: vgl. Rdn. 21). 4. Vielfach wird der Richter eine Anordnung nach § 67 Abs. 2 , 3 als Alternative 21 zur Überweisung nach 67 a auffassen können. Die sachlichen Voraussetzungen beider Entscheidungen stimmen im wesentlichen überein (s. Rdn. 15). So zielt die Anordnung nach § 67 Abs. 2, 3 auf eine bessere Förderung der Resozialisierung, wenn im Strafvollzug ein sozialtherapeutisches Behandlungsprogramm erprobt wird, das im Maßregelvollzug nicht zur Verfügung steht (OLG Hamm NJW 1979 2359). Zur Anordnung nach § 67 Abs. 3 in Fällen aussichtsloser Drogentherapie vgl. — zustimmend - Stree JR 1980 509 und - ablehnend - OLG Düsseldorf NJW 1980 1345 = JR 1980 508 m. Anm. Stree ; OLG Düsseldorf MDR 1980 = GA 1981 264. Zu den Maßstäben der Beurteilung nach § 67 Abs. 2 (Berücksichtigung von Kapazitätsgesichtspunkten?) s. Rdn. 10 mit Fn. 7 sowie Rdn. 20. 5. In eine der bestehenden sozialtherapeutischen Modellanstalten (Rdn. 3) kön- 22 nen die nach den §§ 63, 64 Untergebrachten bis zum Inkrafttreten des § 65 nicht nach § 67 ä überwiesen werden. Denn die sozialtherapeutischen Modellanstalten sind einstweilen für den Vollzug der Freiheitsstrafe bestimmt. Sind allerdings im Urteil Maßregel (§§ 63, 64) und Strafe nebeneinander angeordnet worden und ist die Strafe noch nicht verbüßt, so macht die Verlegung in die Modellanstalt keine rechtlichen Schwierigkeiten: Wer sich im Strafvollzug befindet, kann gemäß §9 Abs. 1 StVollzG verlegt werden; wird eine Maßregel vollzogen, so kann nach § 67 Abs. 2, 3 der Vorwegvollzug der Strafe angeordnet werden, wenn der Strafvollzug in der sozialtherapeutischen Modellanstalt den Zweck der Maßregel leichter zu erreichen verspricht (vgl. OLG Hamm NJW 1979 2359). Problematischer ist der Vollzug in der sozialtherapeutischen Modellanstalt des Strafvollzuges, wenn die Strafzeit abgelaufen oder nach § 67 Abs. 4 erledigt ist oder wenn überhaupt keine Strafe, sondern nur eine Maßregel angeordnet worden ist. Wenn sich hier das dringende Bedürfnis für eine Behandlung in dieser Anstalt ergibt, ist, jedenfalls mit Zustimmung des Untergebrachten, eine vollzugsrechtliche Notlösung in dem Sinne zu verantworten, daß der Betroffene ohne Änderung seines Rechtsstatus als Untergebrachter aus dem Maßregelvollzug in die sozialtherapeutische Modellanstalt verlegt wird bzw. dort nach Strafende, aber vor Ablauf der Höchstdauer der Maßregel verbleibt. Bei Sicherungsverwahrten liegen die Verhältnisse dann nicht wesentlich anders als in Fällen, in denen der Betroffene in das Vollzugskrankenhaus (des Strafvollzuges) verlegt wird; daß die psychiatrischen Krankenhäuser und Entziehungsanstalten nicht zum Verantwortungsbereich der Landesjustizverwaltungen gehören, kann nicht den Ausschlag für die Unzulässigkeit einer Verlegung aus diesen Einrichtungen in die sozialtherapeutische Modellanstalt des Strafvollzuges geben. Bedenken lassen sich deshalb nur auf § 140 Abs. 1 StVollzG — hinsichtlich der Sicherungsverwahrten — stützen. Indessen wird hier § 140 Abs. 3 StVollzG entsprechend anzuwenden sein, wonach von der getrennten Unterbringung der Sicherungsverwahrten abgewichen werden darf, um die Teilnahme an Behandlungsmaßnahmen in einer anderen Anstalt zu ermöglichen (enger die Auslegung der Vorschrift bei Grunau StVollzG [1977] § 140, Rdn. 1 : nur einzelne Behandlungsmaßnahmen). (15)

§ 67 a

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

Auch die bundeseinheitlichen Verwaltungsvorschriften zum StVollzG (abgedruckt bei Calliess/Müller-Dietz StVollzG 3[1983] S. 513 ff; Grunau aaO S. 220) sehen (für die Entlassungsvorbereitung) die Überstellung eines Sicherungsverwahrten in eine allgemeine Justizvollzugsanstalt (Anstalt des offenen Vollzuges) vor ( W zu § 134). Sollte die Maßregelvorschrift des § 65 gestrichen werden, so ist eine § 9 StVollzG ergänzende Vorschrift erwünscht, die in Anlehnung an § 67 a eine Überweisung aus dem Maßregelvollzug (§§ 63, 64, 66) in die sozialtherapeutischen Einrichtungen des Strafvollzuges gestattet (ebenso Engeil in : Sozialtherapie als kriminalpolitische Aufgabe, Bericht des Fachausschusses V des Bundeszusammenschlusses für Straffälligenhilfe, 1981, S. 180); zur Überweisung der nach §63 Untergebrachten in sozialtherapeutische Einrichtungen vgl. auch Müller-Dietz NStZ 1983 150.

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IV. Rückiiberweisung, Weiterüberweisung (§ 67 a Abs. 3) 1. Auch mit Abs. 3 Satz 1 sollen „optimale Resozialisierungsbedingungen" (SKHorn 3 Rdn. 6) erreicht werden. Wer schon nach § 67 a Abs. 1, 2 in den Vollzug einer anderen Maßregel überwiesen worden ist, kann nach dieser Vorschrift erneut überwiesen werden, und zwar entweder in den Vollzug einer dritten freiheitsentziehenden Maßregel außer der Sicherungsverwahrung (Weiterüberweisung) oder in den Vollzug der im Urteil angeordneten Maßregel (RückÜberweisung). Voraussetzung ist hier wie nach Abs. 1, 2, daß die Resozialisierung durch die Überweisung besser gefördert werden kann. Die Weiter- oder Rücküberweisung nach Abs. 3 Satz 1 ist demnach nur ein Unterfall der in Abs. 1, 2 bezeichneten Überweisung. Eine Überweisung, die nicht auf verbesserte Resozialisierungsbedingungen abzielt, ist durch Abs. 3 Satz 1 nicht gedeckt; sie ist daher, soweit das Urteil auf eine Unterbringung nach den §§63—65 gelautet hat, überhaupt nicht möglich (vgl. auch Rdn. 29; zu den Nachteilen des Anstaltswechsels s. Rdn. 7).

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2. Eine weitergehende Rücküberweisungsmöglichkeit gibt es nur bei denjenigen, gegen die im Urteil die Sicherungsverwahrung angeordnet worden ist (Abs. 3 Satz 2). Die Vorschrift des Abs. 3 Satz 2, die erst nachträglich in den § 67 a eingefügt worden ist (vgl. oben zur Entstehungsgeschichte), betrifft die Rücküberweisung aus dem Vollzug einer Maßregel nach den §§ 63—65 in die Sicherungsverwahrung. Eine Rücküberweisung in die Sicherungsverwahrung nach Abs. 3 Satz 1 scheidet zwar nicht prinzipiell (anders: SK-Horn3 Rdn. 6), wohl aber praktisch aus, weil von der Sicherungsverwahrung trotz § 129 Satz 2 StVollzG regelmäßig nicht angenommen werden kann, daß ihr Vollzug die Resozialisierung besser fördert als der Vollzug einer der anderen freiheitsentziehenden Maßregeln (Prot. V, 1069); etwas anderes gilt allerdings, wenn von einer Fortsetzung des Aufenthaltes in dem psychiatrischen Krankenhaus eine Schädigung des Sicherungsverwahrten zu befürchten ist (s. Rdn. 17).

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Abs. 3 Satz 2 erlaubt die Rücküberweisung in den Vollzug der Sicherungsverwahrung auch dann, wenn mit dem Vollzug der anderen Maßregel kein Erfolg erzielt werden kann. Ob der Richter in diesen Fällen eine Rücküberweisung vornimmt oder statt dessen den zu Sicherungsverwahrung Verurteilten nach Abs. 3 Satz 1 in den Vollzug einer dritten Maßregel überweist, steht in seinem pfiichtmäßigen Ermessen; wegen des vorrangigen Resozialisierungszwecks des §67a wird er regelmäßig die Weiterüberweisung, soweit sie möglich ist, der Rücküberweisung in die Sicherungsverwahrung vorziehen. (16)

Überweisung in den Vollzug einer anderen Maßregel (Horstkotte)

§ 67

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Daß mit dem Vollzug der in Abs. 1 genannten Maßregeln „kein Erfolg" erzielt werden kann, ist anzunehmen, wenn die vorhandenen Behandlungsmöglichkeiten sämtlich für den Untergebrachten ungeeignet sind. So kann es sich auch verhalten, wenn der Zustand des Verurteilten bei der vorangegangenen Überweisung falsch beurteilt worden ist: Wer psychisch gesund ist, kann nicht mit den Mitteln des psychiatrischen Krankenhauses behandelt werden (Prot. VII, 1070; Dreher-Tröndle41 Rdn. 4). Sind die Behandlungsmethoden des psychiatrischen Krankenhauses für den zu Sicherungsverwahrung Verurteilten ungeeignet, so wird es auch in seinem eigenen Interesse liegen, in die Justizvollzugsanstalt zurückzukehren (BT-Drucks. 7/1261 S. 7). Daß jemand als Störer aufgefallen ist, begründet die Voraussetzungen des Abs. 3 Satz 2 für sich allein nicht. Doch kann ein mit Obstruktion einhergehendes störendes Verhalten dazu führen, daß mit der Maßregel (§§ 63—65) kein Erfolg erzielt werden kann. In diesen Grenzen dient die Rücküberweisung nach Abs. 3 Satz 2 auch dazu, die Anstalt von Untergebrachten zu entlasten, die die Behandlung anderer Patienten behindern und die Kapazität unnötig in Anspruch nehmen. Dagegen genügt das organisatorische Interesse der Aufenthaltsanstalt, die Zahl der dort Untergebrachten zu verringern und Plätze für Neuaufnahmen zu schaffen, für sich allein nicht für eine Rücküberweisung nach Abs. 3 Satz 2. Doch wird in vielen Fällen, in denen die Kapazität der Aufnahmeanstalt falsch genutzt ist, ein Rücküberweisungsgrund nach Abs. 3 Satz 1 oder 2 vorliegen. Insofern hat der Gesetzgeber bei der Einführung des Abs. 3 Satz 2 auch an die Kapazitätsfrage gedacht (Prot. VII, 1070). Ergänzend vgl. Rdn. 29. Die Voraussetzungen für die Entscheidung nach Abs. 3 Satz 2 sind auch dann erfüllt, wenn die die therapeutische Behandlung in der Anstalt, in die der Sicherungsverwahrte überwiesen worden ist, erfolgreich abgeschlossen ist und deshalb keinen weiteren Erfolg verspricht (Sch.Schröder-Stree21 Rdn. 5). Hier ist aber besonders sorgfältig zu prüfen, ob die Behandlung die Gefahr weiterer erheblicher Taten nicht so weit gemindert hat, daß eine Aussetzung der Sicherungsverwahrung nach § 67 d Abs. 2 verantwortet werden kann; demnach ist der Verurteilte nur bei Fortbestehen einer Gefahr i. S. des § 66 Abs. 1 Nr. 3 in die Sicherungsverwahrung zurückzuüberweisen. Eine entsprechende Anwendung des Abs. 3 Satz 2 auf Fälle, in denen im Urteil 26 eine Unterbringung nach den §§ 63—65 angeordnet worden ist, ist ausgeschlossen. Hier kann eine Korrektur nur unter den Voraussetzungen des Abs. 3 Satz 1 stattfinden (vgl. auch Rdn. 23). Danach ist die Erfolglosigkeit der Behandlung für sich allein kein Grund für die Rücküberweisung. Anders verhält es sich, wenn zusätzlich die Voraussetzungen des Abs. 3 Satz 1 vorliegen, insbesondere, wenn der weitere Aufenthalt im psychiatrischen Krankenhaus oder in der Entziehungsanstalt die Resozialisierung des Betroffenen behindern würde (SK-Horn! Rdn. 7; oben Rdn. 17; zur Bedeutung des § 64 Abs. 2 in diesem Zusammenhang s. Rdn. 20). 3. Die Weiter- und Rücküberweisung nach Abs. 3 Satz 1, 2 darf wiederholt ange- 27 ordnet werden (Beispiel: Im Urteil Anordnung der Sicherungsverwahrung, später Überweisung in das psychiatrische Krankenhaus, sodann Weiterüberweisung in die Entziehungsanstalt und schließlich Rücküberweisung in die Sicherungsverwahrung), sofern nicht der häufige Aufenthaltswechsel dem Resozialisierungszweck des Abs. 3 Satz 1 entgegensteht. Der Sache nach handelt es sich auch dann um eine Weiterüberweisung, wenn der Verurteilte vor der Überweisung nach § 67 Abs. 2, 3 zeitweilig im Strafvollzug gewesen ist: Die Anwendung des § 67 a Abs. 1, 3 Satz 1 ist hier ebensowenig ausgeschlossen wie in dem Fall, daß der Überweisung eine Ausin)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

setzung der Maßregel (§§ 67 b, c, d Abs. 2) und ein Widerruf der Aussetzung vorangegangen sind. 28

4. In allen Fällen des Abs. 3 handelt es sich um Ermessensentscheidungen des Richters („kann"; s. Rdn. 7,9). Zu einer Rücküberweisung nach Abs. 3 Satz 2 ist der Richter also beim Vorliegen der dort genannten Voraussetzungen nicht gezwungen; er kann die Entscheidung zurückstellen, um weitere Erfahrungen mit dem Verurteilten zu sammeln.

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5. Für die Rücküberweisung nach § 67 Abs. 3 gilt im Hinblick auf die Problemgruppen der Behandlungsunfähigen, Behandlungsverweigerer, Störer und Ausbrecher (vgl. auch Rdn. 20) das Folgende: Kann ein zu Sicherungsverwahrung Verurteilter in der anderen Anstalt nicht erfolgversprechend behandelt werden oder verweigert er die Behandlung, so ist die Überweisung fehlgeschlagen; er ist nach Abs. 3 Satz 2 in die Sicherungsverwahrung zurückzuüberweisen. Bei denjenigen, gegen die eine Maßregel nach den §§ 63, 64, 65 angeordnet worden ist, stellt sich im Hinblick auf die Rücküberweisung (Abs. 3 Satz 1) Behandlungsunfähiger und Behandlungsverweigerer die Frage, ob die Resozialisierung durch den Vollzug der ursprünglich angeordneten Unterbringung besser gefördert werden kann. Nach dem Wortlaut des Abs. 3 Satz 1 ist eine Rücküberweisung nicht möglich, wenn sich herausstellt, daß die Resozialisierung des Täters im Rahmen einer Unterbringung nach den §§ 63 bis 65 überhaupt nicht gefördert werden kann. Für den Fall eines Inkrafttretens des § 65 wird eine erweiterte Rücküberweisungsmöglichkeit nach dem Vorbild des § 9 Abs. 1 Satz 2 StVollzG gefordert' 2 und auch zu erwarten sein. Das Problem stellt sich gegenwärtig nur im Verhältnis der Maßregeln nach den §§ 63, 64. Hatte das erkennende Gericht die Unterbringung nach § 64 angeordnet und ist eine Behandlung der Sucht einschließlich der ihr zugrunde liegenden psychischen Störung überhaupt nicht möglich, so ist der Täter mit Rücksicht auf § 64 Abs. 2 zu entlassen (zweifelhaft, vgl. § 67 d Rdn. 51 sowie oben Rdn. 20). In den übrigen Fällen ist (sofern keine Entlassung nach § 67 d Abs. 2 verantwortet werden kann) zu bedenken, daß die Unterbringung in einer Anstalt, in der keine Behandlungsmöglichkeit vorhanden ist, den Betroffenen und seine sozialen Bezüge außerordentlich belastet. Ist die Belastung in der Unterbringung, die ursprünglich angeordnet worden war, geringer, so ist die Rücküberweisung als Wahl des kleineren Übels (s. Rdn. 16) durch § 67 a Abs. 3 Satz 1 gedeckt. Sicherheitsbedenken und disziplinarische Probleme sind keine vom Gesetz vorgesehenen Gründe für die Rücküberweisung nach Abs. 3. Doch können sie im Einzelfall, auch wegen ihrer Rückwirkung auf den Anstaltsbetrieb, die Behandlung unmöglich machen. Dann ist die Zurückverlegung in die Sicherungsverwahrung nach Abs. 3 Satz 2 ohne weiteres möglich; in den übrigen Fäl12

Henze NStZ 1981 197; Schleusener S. 72; in Niedersachsen und Bayern sind die Teilnehmer am sozialtherapeutischen Modellvollzug zu mehr als 50 % in den Normalvollzug zurückverlegt worden, weil sie zur Mitarbeit nicht bereit oder fähig waren oder störten (Schwind NStZ 1981 121, 122). Zu den Verhältnissen in der größten Versuchsanstalt für Sozialtherapie (Berlin-Tegel IV) vgl. Dünkel Legalbewährung nach sozialtherapeutischer Behandlung (1980) und MschrKrim. 1979 322; zu den Anstalten in Düren: Rasch (Hrsg.) Forensische Sozialtherapie (1977), in Erlangen: Egg Sozialtherapie und Strafvollzug (1979), in Ludwigshafen: G. Schmitt Sozialtherapie — Eine Gratwanderung im Strafvollzug (1980), zu Hamburg-Bergedorf: Rehn Behandlung im Strafvollzug (1979); vollzugsinterne Regelungen: AVen der Justizminister in Baden-Württemberg vom 24. 2. 1978 (Die Justiz 1978 130) und in Niedersachsen vom 30. 12. 1976 (NdsRpfl. 1977 10). (18)

Überweisung in den Vollzug einer anderen Maßregel (Horstkotte)

§ 67

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len ist zu prüfen, ob angesichts der Unmöglichkeit sinnvoller Behandlung die Rückkehr in die ursprünglich angeordnete Unterbringung relativ größere Förderungschancen verspricht. Die Einschränkungen, die § 67 a Abs. 3 für die Rücküberweisung bestimmt, gelten nicht, wenn die Überweisung nach Abs. 1, 2 von vornherein befristet, also die Rückkehr in die primär angeordnete Unterbringung vorgesehen wird. Diese Auslegung ist nicht unzweifelhaft, entspricht aber praktischen Bedürfnissen; sie kann auch Bedenken der Anstalt, in die überwiesen werden soll, ausräumen. Ein solches Arrangement schließt nicht aus, daß der Täter aus dem Vollzug der anderen Anstalt nach § 67 d Abs. 2 entlassen wird. V. Rechtsnatur der Überweisung (§ 67 a Abs. 1—3) Die Überweisung ändert nichts an der rechtlichen Natur der im Urteil angeord- 30 neten Unterbringung (vgl. Rdn. 1). Das gilt auch in den Fällen des § 67 a Abs. 3. 1. Die Höchstdauer der Unterbringung (§ 67 d Abs. 1) und die Überprüfungsfristen (§ 67 e Abs. 2) richten sich nach den Vorschriften, die für die im Urteil angeordnete Maßregel gelten, § 67 a Abs. 4. Theoretisch könnte jemand, gegen den im Urteil eine Anordnung nach § 63 oder eine wiederholte Anordnung der Sicherungsverwahrung ergangen ist, unbegrenzt in der Entziehungsanstalt oder der sozialtherapeutischen Anstalt bleiben ; doch wird in aller Regel spätestens nach Ablauf der für die Entziehungsanstalt oder die sozialtherapeutische Anstalt vorgesehenen Höchstfrist eine Rücküberweisung nach Abs. 3 Satz 1, 2 nahe liegen. Wichtiger ist, daß bei einer Überweisung in das psychiatrische Krankenhaus die Höchstfrist der ursprünglich angeordneten Maßregel zu beachten ist. 2. Auch sonst bestimmt sich der materiell-rechtliche Rahmen der Maßregel nach 31 den Grundsätzen, die für die im Urteil angeordnete Maßregel gelten. Das ist für die Aussetzung bedeutsam: Ob die Entlassung durch den Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit (vgl. § 67 d Rdn. 58) geboten ist, muß unter Beachtung des Zwecks und der Schwere der im Urteil angeordneten Maßregel geprüft werden (Prot. V, 2330). Der Grundsatz, daß die Aussichtslosigkeit der Entziehungskur (§ 64 Abs. 2) selbst bei ungünstiger Sozialprognose zur Erledigung der Maßregel des § 64 führt (s. §67d Rdn. 51), gilt nicht, wenn sich der Untergebrachte nur aufgrund einer Überweisung in der Entziehungsanstalt befindet; ob er entlassen werden kann, ist ohne Rücksicht auf § 64 Abs. 2 zu entscheiden. Wird jemand mit dem Ablauf der Höchstfrist der im Urteil angeordneten Maßregel entlassen, so tritt, außer im Falle des § 67 d Abs. 4, keine Führungsaufsicht ein, auch wenn sich der Betroffene zuletzt im psychiatrischen Krankenhaus befunden hat. Sind von dem Verurteilten keine erheblichen rechtswidrigen Taten mehr zu berfürchten, so sind Krankheit und Sucht auch dann kein Grund für die weitere Unterbringung, wenn der Verurteilte zur Behandlung der Krankheit oder Sucht in den Vollzug einer anderen Maßregel überwiesen worden ist und die weitere Behandlung ärztlich angezeigt ist (vgl. auch Rdn. 14, 34 sowie § 67 d Rdn. 42, 53, 66 ff). 3. Bei der Anwendung von Vorschriften des Vollstreckungsrechts, die auf be- 32 stimmte Unterbringungsarten abstellen (§463 Abs. 4 StPO, §§44, 44 a, 45 Abs. 6, § 53 Abs. 2, 4, § 54 Abs. 2, 3 StVollstrO), bleibt die Überweisung ebenfalls außer Betracht; es gelten die Vorschriften, die sich auf die im Urteil angeordnete Maßregel beziehen. Anders verhält es sich bei den Bestimmungen des Vollzugsrechts (§§ 123—138 StVollzG). Hier sind die Vorschriften über die Maßregel anzuwenden, (19)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

in deren Vollzug der Betroffene (zuletzt) überwiesen worden ist (Dreher-Tröndle Rdn. 5). Das gilt auch für die Vorschriften über den Urlaub zur Entlassungsvorbereitung (vgl. §§ 126, 134 StVollzG) und die zur Zeit (1983) noch nicht vollständig vorliegenden landesrechtlichen Bestimmungen über den Vollzug der Maßregeln nach den §§ 63, 64 StGB 13. Doch darf bei der Vollzugsentscheidung über die Beurlaubung berücksichtigt werden, daß gegen den Betroffenen im Urteil eine andere Maßregel, etwa die Sicherungsverwahrung, angeordnet worden ist. VI. Zusammentreffen mit anderen Entscheidungen 33

Für die Möglichkeiten des Zusammentreffens von Entscheidungen nach § 67 a mit anderen Entscheidungen gilt folgendes: 1. Die Entscheidung, mit der das erkennende Gericht nach § 72 Abs. 3 bestimmt, in welcher Reihenfolge mehrere, nebeneinander angeordnete freiheitsentziehende Maßregeln vollstreckt werden sollen, ist als solche nicht abänderbar. Trotzdem kann die Strafvollstreckungskammer auf dem Wege über § 67 a ihre von der Entscheidung nach § 72 Abs. 3 Satz 1 abweichenden Vorstellungen über die wünschenswerte Art des Maßregelvollzuges verwirklichen. Ist ζ. B. im Urteil nebeneinander die Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus und in der Entziehungsanstalt angeordnet und bestimmt worden, daß zunächst die Unterbringung in der Entziehungsanstalt zu vollziehen sei, so muß zwar nach Ablauf der Höchstfrist für diese Maßregel eine Entscheidung nach § 72 Abs. 3 Satz 2 auch dann getroffen werden, wenn der Verurteilte schon vorher nach § 67 a in ein psychiatrisches Krankenhaus überwiesen worden ist; wenn hier die Maßregel nicht ausgesetzt oder für erledigt erklärt werden kann (§ 67 c Abs. 2 Satz 4, 5 i. V. m. § 72 Abs. 3 Satz 2), bewirkt die nach § 72 Abs. 3 Satz 2 zu treffende Anordnung nur, daß der Vollzug im psychiatrischen Krankenhaus fortgesetzt wird, und zwar nunmehr unter durchgehender Geltung der Vorschriften über das psychiatrische Krankenhaus, so daß § 67 a Abs. 4 gegenstandslos wird. Wird der Untergebrachte, gegen den im Urteil eine Maßregel nach § 64 und eine danach zu vollziehende Maßregel nach § 63 angeordnet worden ist, vor Ablauf der Höchstfrist nach §§ 64, 67 d Abs. 1 in die sozialtherapeutische Anstalt überwiesen, so muß die Strafvollstreckungskammer nach Ablauf der genannten Höchstfrist zwar — wenn kein Fall des § 72 Abs. 3 Satz 3 i. V. m. § 67 c Abs. 2 Satz 4, 5 vorliegt — den Vollzug der Maßregel nach § 63 anordnen ; da diese Entscheidung jedoch in der Hand desselben Spruchkörpers liegt wie die Entscheidung nach § 67 a (vgl. § 463 Abs. 3, 5 und § 462 a Abs. 1 StPO), kann die Strafvollstreckungskammer die Anordnung nach § 72 Abs. 3 Satz 2 mit der auf § 67 a gestützten Entscheidung verbinden, daß es bei der Überweisung in die sozialtherapeutische Anstalt verbleibt (vgl. zum Ganzen auch S K-Horn^ § 72 Rdn. 10,12).

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2. Ist eine Unterbringung nach den §§ 64, 65 oder die erste Sicherungsverwahrung angeordnet worden und muß der Betroffene wegen einer seelischen Erkrankung in ein psychiatrisches Krankenhaus gebracht werden, so kommt die Überweisung in den Vollzug des psychiatrischen Krankenhauses in Betracht; dies gilt auch, wenn mit dem Vollzug der im Urteil angeordneten Maßregel noch nicht begonnen worden ist (Rdn. 11). Von der Überweisung kann abgesehen werden, wenn nur mit einem kurzen Krankenhausaufenthalt zu rechnen ist; in diesem Fall wird der Kran13 Vgl. die Zusammenstellung bei § 67b Rdn. 61. (20)

Überweisung in den Vollzug einer anderen Maßregel (Horstkotte)

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kenhausaufenthalt auf die Höchstdauer der Maßregel angerechnet (§§463, 461 StPO). Es ist unzulässig, in solchen Fällen die Vollstreckung der Maßregel zu unterbrechen; denn damit würde der Gesetzeszweck des § 67 a Abs. 4 vereitelt werden, wonach die Zeit des Vollzuges in einer anderen Anstalt auf die gesetzliche Höchstfrist der im Urteil angeordneten Maßregel angerechnet wird. Aus demselben Grund hat, wenn mit dem Vollzug der im Urteil angeordneten Maßregel noch nicht begonnen worden ist, die Überweisung in den Vollzug des psychiatrischen Krankenhauses (§ 67 a) Vorrang vor dem Vollstreckungsaufschub nach § 463 Abs. 4 Satz 2 StPO. Der in § 45 Abs. 2 Satz 1 StVollstrO genannte Gesichtspunkt, daß der Betroffene „überhaupt oder doch auf absehbare Zeit nicht mehr vollzugstauglich werden" wird, kann hier die Unterbrechung nicht rechtfertigen; denn im Hinblick auf den Vollzug der Maßregel nach § 63 ist der psychisch Erkrankte „vollzugstauglich". Erweist sich in solchen Fällen nach Ablauf der in § 67 d Abs. 1 bezeichneten Höchstfrist, daß ein weiterer Verbleib im psychiatrischen Krankenhaus notwendig ist, so ist eine Entscheidung im landesrechtlichen Unterbringungsverfahren herbeizuführen. Eine Überweisung nach § 67 a kommt aber nicht in Betracht, wenn die psychische Erkrankung in keinem Zusammenhang mit der Gefährlichkeit steht (Rdn. 11). Hier ist zunächst zu prüfen, ob die Krankheit den Unterbringungsgrund nicht derart überlagert, daß die Maßregel nach § 67 c Abs. 1 oder § 67 d Abs. 2 ausgesetzt werden kann oder erledigt ist, weil der für die Unterbringung maßgebende Zustand weggefallen (§ 67 c Rdn. 9, § 67 d Rdn. 48) oder eine Suchtbehandlung aussichtslos geworden ist (vgl. § 67c Rdn. 10, § 67d Rdn. 51). Ist das nicht der Fall, besteht also die Gefährlichkeit trotz der nicht mit ihr zusammenhängenden Erkrankung fort, so ist zu unterscheiden: Bei den nach den §§ 65, 66 StVollzG Untergebrachten hat die Vollzugsbehörde zu prüfen, ob die Verlegung in ein vollzugseigenes Krankenhaus (§ 65 Abs. 1 StVollzG; vgl. oben Rdn. 11) in Betracht kommt; in der Regel werden vollzugseigene Krankenhäuser, auch soweit sie psychiatrische Abteilungen haben, nicht auf Langzeitpatienten eingestellt sein. Ist die Dauer des Krankenhausaufenthaltes abzusehen, so kann der Verurteilte unter grundsätzlicher Anrechnung auf die Höchstdauer der Maßregel (§ 461 i. V. mit § 463 Abs. 1 StPO) in eine andere Krankenanstalt verbracht werden. Ist dagegen nach ärztlichem Urteil anzunehmen, daß er überhaupt nicht oder jedenfalls nicht auf absehbare Zeit von seiner psychischen Krankheit geheilt werden kann und deswegen für den Vollzug der Maßregeln nach den §§ 64—66 untauglich bleiben wird, so kann der Straf- oder Maßregelvollzug nach § 45 (§53 Abs. 2) StVollstrO unterbrochen werden. § 461 StPO steht einer solchen Unterbrechung nicht entgegen, obwohl sie die Anrechnung des Krankenhausaufenthalts auf die Maßregelhöchstfrist ausschließt (OLG Köln NJW 1955 234; O L G Frankfurt N J W 1970 1431; Löwe/Rosenberg/Schäfer23

§461 Rdn. 6, 7, 14;

KK-Chios ta § 461 Rdn. 5 f; Pohlmann/Jabel StVollstr06 § 45 Rdn. 2; Calliess/Müller-Dietz StVollzG3 § 9 Rdn. 4). Sollte der Verurteilte in diesem Falle auf Grund der Krankenhausbehandlung wieder vollzugstauglich werden, so ist vor dem Beginn eines erneuten Maßregelvollzugs nach § 67 c Abs. 1 oder nach § 67 d Abs. 2 (dazu vgl. §67c Rdn. 21, §67 e Rdn. 7) zu prüfen, ob die Maßregelvollstreckung ausgesetzt werden kann oder ob die Unterbringung erledigt ist (§67c Rdn. 9, 10; §67d Rdn. 48, 51). 3. Sind Maßregeln nach den §§ 63, 64, 65 in verschiedenen Verfahren angeordnet 35 worden, so erübrigt sich die Überweisung nach § 67 a; hier kann die Vollstreckungsbehörde den Vollzug der einen Maßregel zugunsten des Vollzuges der anderen unan

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

terbrechen, wobei sie dem Maßregelzweck Rechnung zu tragen hat (§ 54 Abs. 2 Satz 4, 6 StVollstrO).

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VII. Besonderheiten im Jugendstrafrecht Für den Anwendungsbereich des Jugendstrafrechts (auch nach § 105 JGG) gelten insofern Besonderheiten, als der erkennende Richter die Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt nicht anordnen darf (vgl. §§ 7, 105, 106 JGG) H Da die Überweisung in den Vollzug einer anderen Maßregel nicht voraussetzt, daß diese Maßregel auch im Urteil hätte angeordnet werden dürfen (Rdn. 19), besteht kein allgemeines rechtliches Hindernis, Jugendliche und Heranwachsende, auf die Jugendstrafrecht angewandt worden ist, in den Vollzug der sozialtherapeutischen Anstalt zu überweisen. Doch wird bei Jugendlichen eine Überweisung in diese Anstalt nur selten der besseren Resozialisierung dienen können, da Jugendliche dort altersmäßig aus dem Rahmen fallen würden. Bei Heranwachsenden gilt dies nicht in gleichem Maße, da sie, sofern allgemeines Strafrecht angewandt wird, ohnehin in der sozialtherapeutischen Anstalt untergebracht werden können^. Für die Überweisung in den Vollzug des psychiatrischen Krankenhauses gelten für Jugendliche keine rechtlichen Besonderheiten ; doch wird hier besonders sorgfältig zu erwägen sein, ob ein solcher Anstaltsaufenthalt nicht eher schaden als nützen kann. Soll jemand, auf den Jugendstrafrecht anzuwenden ist, in den Vollzug einer Entziehungsanstalt überwiesen werden, so ist bei der Ermessensentscheidung darauf zu achten, daß in der Anstalt die Voraussetzungen des § 93 a JGG (besondere Behandlungsmöglichkeiten für junge Suchtkranke) erfüllt sind. VIII. Inkrafttreten; Übergangsregelung: § 67a ist am 1.1. 1975 in Kraft getreten (Art. 7 Abs. 1 des 2. StrRG i. d. F. des Gesetzes vom 30. 7.1973, BGBl. I S. 909; Art. 18 II Nr. 24, Art. 326 Abs. 1 EGStGB 1974). Auf die sozialtherapeutische Anstalt wird sich die Vorschrift erst beziehen, wenn § 65 in Kraft tritt (nach Art. 7 Abs. 2 des 2. StrRG i. d. F. der Gesetze vom 30. 7. 1973, BGBl. I S. 909 und vom 22.12. 1977, BGBl. I S. 3104, am 1. Januar 1985). Eine Überweisung kann auch stattfinden, wenn die Tat vor dem Inkrafttreten des Gesetzes begangen oder das Urteil, mit dem die Maßregel angeordnet worden ist, vorher erlassen worden ist (§ 2 Abs. 6; vgl. Dreher-Tröndle41 Rdn. 1, v. BubnoffJR 1976 423 f)·

IX. Zum Verfahren 38 1. Soweit nicht Jugendstrafrecht angewandt wird, ist für die Überweisung die Strafvollstreckungskammer zuständig (§ 462 a Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 463 Abs. 1, 5 und § 462 StPO). örtlich zuständig ist die Strafvollstreckungskammer, in deren Bezirk der Maßregelvollzug stattfindet, aus dem der Betroffene in den Vollzug einer anderen Maßregel überwiesen werden soll. Findet die Überweisung zu einer Zeit statt, zu der sich der Verurteilte noch im Strafvollzug befindet (s. oben Rdn. 9), so entscheidet die für die Strafanstalt örtlich zuständige Strafvollstreckungskammer; wird dagegen zur Zeit der Überweisung weder Strafe noch Maßregel vollstreckt, so entscheidet das erkennende Gericht (§ 462 a Abs. 2 i. V. m. § 463 Abs. 5 StPO), das hier seine eigene Maßregelentscheidung korrigiert. 14 Zur Begründung s. BT-Drucks. 7/550 (Entwurf EGStGB 1974) S. 327 sowie Prot. V, 2281 f, 2286 f. 15 Vgl. BT-Drucks. V/4095 (Ausschußbericht 2. StrRG) S. 30. (22)

Überweisung in den Vollzug einer anderen Maßregel (Horstkotte)

§ 67 Λ

Für die späteren Entscheidungen, auch für die Weiter- oder Rücküberweisung 39 nach § 67 a Abs. 3, ist die Strafvollstreckungskammer örtlich zuständig, in deren Bezirk die Unterbringung aufgrund der Überweisung vollzogen wird. Der Anstaltswechsel zieht hier wie auch sonst (BGHSt. 26 165 und 278; BT-Drucks. 7/550 S. 313) eine Änderung der örtlichen Zuständigkeit nach sich, wenn über eine Frage zu entscheiden ist, die während des vorangegangenen Anstaltsaufenthaltes noch nicht anhängig war (BGHSt. 26 165, 166). Allerdings tritt nach allgemeinen Regeln kein Zuständigkeitswechsel ein, wenn es sich nur um eine kurzzeitige Verschubung handelt 16 . Bei der Überweisung nach § 67 a handelt es sich jedoch um einen auf längere Frist angelegten Anstaltswechsel. Durch § 67 a Abs. 4 wird also nicht etwa die örtliche Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammer, die für die im Urteil bezeichnete Unterbringungsart zuständig war, festgeschrieben ; es kommt nach § 462 a Abs. 1 i. V. m. § 463 Abs. 1 StPO stets auf den Bezirk der konkreten Anstalt an, und zwar selbst dann, wenn der Betroffene aufgrund der Überweisung in die Anstalt eines anderen Landes gelangt. Wird jemand aus der Anstalt, in die er nach § 67 a überwiesen worden ist, gemäß § 67 d Abs. 2 entlassen, so bleibt es bei der Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammer, die für die letzte Unterbringungsanstalt zuständig war (§ 462a Abs. 1 Satz 2 i. V. m. § 463 Abs. 1 StPO); auch hier bleibt § 67a Abs. 4 ohne Einfluß. Hat das auf Unterbringung erkennende Gericht Jugendstrafrecht angewandt, so 40 tritt der Jugendrichter als Vollstreckungsleiter an die Stelle der Strafvollstreckungskammer (§ 82 Abs. 1, § 110 Abs. 1 JGG; zu seiner örtlichen Zuständigkeit vgl. § 84 JGG sowie BGHSt. 26 162; 27 189). Die Überweisung in eine bezirksfremde Anstalt führt hier nicht ohne weiteres zu einem Wechsel der örtlichen Zuständigkeit, da kein Fall des § 85 Abs. 2 JGG (Aufnahme in eine Jugendstrafanstalt) gegeben ist. Doch ist die Abgabe an den ortsnäheren Jugendrichter nach § 85 Abs. 3 JGG möglich. (BGHSt. 30 78 = JR 1981 481 m. Anm. Brunner). 2. Die Entscheidung nach § 67 a ergeht auf Antrag des Untergebrachten oder der 41 Vollstreckungsbehörde oder auch von Amts wegen. Zu einer Prüfung von Amts wegen hat die Strafvollstreckungskammer Anlaß, wenn sich aus den Berichten der Anstalt, etwa anläßlich der Überprüfung nach § 67 e, ergibt, daß dort die Resozialisierung nicht genügend gefördert werden kann. Die Überweisung setzt ebensowenig wie die Verlegung nach § 9 StVollzG die Zustimmung des Verurteilten voraus (vgl. Calliess/Müller-Dietz StVollzG3 § 9 Rdn. 5). Doch wird es meist an der in § 67 a vorausgesetzten Resozialisierungschance fehlen, wenn der Verurteilte die Überweisung ablehnt (zur entsprechenden Problematik bei § 9 StVollzG vgl. Schwind/ Böhm/Rotthaus StVollzG § 9 Rdn. 10). 3. Vor der Entscheidung nach § 67 a sollte sich die Strafvollstreckungskammer 42 regelmäßig sachverständig beraten lassen (Dreher-Tröndle41 Rdn. 4; Lackner15 Rdn. 3). Es wird stets angebracht sein, sowohl die Anstalt, in der sich der Untergebrachte bisher befunden hat, als auch die Anstalt, die ihn bei einer Überweisung aufnehmen würde, zu hören. Anders als nach § 9 Abs. 3 StVollzG bedarf die Überweisung zwar nicht der Zustimmung des Leiters der aufnehmenden Anstalt; sein Urteil über die Behandlungskapazität seiner Anstalt hat jedoch für die Frage, ob dort die Resozialisierung besser gefördert werden kann, besonderes Gewicht. Unter 16 BGHSt. 26 165, 166; 26 278, 279; LR-Schäfer23 § 462a Rdn. 16; Wetterich/Hamann Strafvollstreckung3 Rdn. 920. (23)

§ 67 b

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

U m s t ä n d e n k a n n es sich auch empfehlen, neben den Stellungnahmen der Anstaltsleiter das Gutachten eines neutralen Sachverständigen beizuziehen. 43

4. Die Entscheidung ergeht o h n e mündliche V e r h a n d l u n g durch Beschluß. Der Betroffene ist vor der Überweisung (nicht notwendig mündlich) zu hören, desgleichen die Staatsanwaltschaft. Der Überweisungsbeschluß ist mit der sofortigen Beschwerde anfechtbar (§ 462 i. V. m. § 463 Abs. 5 StPO).

§ 67 b Aussetzung zugleich mit der Anordnung. (1) Ordnet das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, einer Entziehungsanstalt oder einer sozialtherapeutischen Anstalt an, so setzt es zugleich deren Vollstreckung zur Bewährung aus, wenn besondere Umstände die Erwartung rechtfertigen, daß der Zweck der Maßregel auch dadurch erreicht werden kann. Die Aussetzung unterbleibt, wenn der Täter noch Freiheitsstrafe zu verbüßen hat, die gleichzeitig mit der Maßregel verhängt und nicht zur Bewährung ausgesetzt wird. (2) Mit der Aussetzung tritt Führungsaufsicht ein. Schrifttum Adams/Gerhardt Die Berücksichtigung der Behandlungsbedürftigkeit von Drogenabhängigen im Rahmen des Ermittlungs-, Erkenntnis- und Vollstreckungsverfahrens, NStZ 1981 241; Bauer/Herrmann/Swoboda Übergangserleichterungen durch Wohnheime, in: Trojan/ Waller (Hrsg.), Sozialpsychiatrische Praxis (1980) S. 349; Bauer Sektorisierte Psychiatrie (1977); Baumann Unterbringungsrecht (1966); Bergener Gegenwärtige Situation und zukünftige Perspektive der Behandlung und Rehabilitation psychisch kranker Rechtsbrecher, in: Bergener (Hrsg.), Psychiatrie und Rechtsstaat (1981) S. 172. Bericht der Sachverständigenkommission über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland, BT-Drucks. 7/4200, 4201 ; dazu Zwischenbericht BT-Drucks. 7/1124 und Stellungnahme der Bundesregierung BT-Drucks. 8/2565 ; Binswanger Probleme der Durchführbarkeit ambulanter Maßnahmen nach StGB Art. 43, 44 aus psychiatrischer Sicht, SchwZStr. 95 (1978) 366; Böker/Häfner Gewalttaten Geistesgestörter (1973); Brandstätter Vikariierendes System bei Strafen und Maßregeln aus verschiedenen Erkenntnissen? MDR 1978 453; Bruns Richterliche Überzeugung bei „Prognose-Entscheidungen" über Sicherungsmaßregeln, JZ 1958 647 ; Dörner/Plog Irren ist menschlich, oder Lehrbuch der Psychiatrie/Psychotherapie (1978); Ehrhardt Zur Reform von Maßregelrecht und Maßregelvollzug, Fortschritte der Neurologie-Psychiatrie 37 (1969) 660; Finzen Die Tagesklinik (1977); Frauenfelder Die ambulante Behandlung geistig Abnormer und Süchtiger als strafrechtliche Maßnahme nach Art. 43 und 44 [schweizJStGB (1978); Frisch Prognoseentscheidungen im Strafrecht (1983); Giatzel Angewandte Psychiatrie (1977); Gribbohm Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bei den mit Freiheitsentziehung verbundenen Maßregeln der Sicherung und Besserung, JuS 1967 349 ; Haddenbrock Psychiatrisches Krankheitsparadigma und strafrechtliche Schuldfähigkeit, Festschrift für Sarstedt (1981) S. 35; H.-J. Koch Wann ist die Unterbringung eines Geisteskranken „erforderlich"?, MDR 1961 561; Last Zur Anwendung des § 42b StGB, NJW 1969 1558; Lauter Psychiatrische Überlegungen zum gegenwärtigen Maßregelvollzug, in: Lauter/Schreiber (Hrsg.), Rechtsprobleme in der Psychiatrie (1978) S. 71; Mrozynski Strafrechtliche Maßregeln und private Vormundschaft im Gesamtzusammenhang des Unterbringungsrechts, in: Crefeld (Hrsg.), Recht und Psychiatrie (1983) S. 58; Bernd Müller Anordnung und Aussetzung freiheitsentziehender Maßregeln der Besserung und Sicherung (1981); Christian Müller Psychiatrische Institutionen (1981); Müller-Dietz Die Reihenfolge der Vollstreckung von Strafen und Maßregeln aus ver(24)

Aussetzung zugleich mit der Anordnung (Horstkotte)

§ 67 b

schiedenen Urteilen, NJW 1980 2789; Nowakowski Zur Rechtsstaatlichkeit der vorbeugenden Maßnahmen, v.-Weber-Festschr. (1963) S. 98; Nowakowski Die Maßnahmenkomponente im StGB, Festschrift für Broda (1977) S. 26; Pätzold Die Eingriffsvoraussetzungen bei freiheitsentziehenden Maßregeln unter besonderer Berücksichtigung des Prinzips der Verhältnismäßigkeit, Diss. jur. Tübingen 1975; Pörksen Kommunale Psychiatrie (1974); Reimer Krankenhauspsychiatrie (1977); Saage/Göppinger Freiheitsentziehung und Unterbringung2 (1975); Schlüter Die Problematik des § 42 b StGB in seiner Verbindung mit § 51 Abs. 2 StGB aus der Sicht eines Anstaltspsychiaters, NJW 1968 2276; Schmidt-Futterer Erübrigt die außerstrafrechtliche Anstaltsunterbringung von Geisteskranken eine Anordnung nach §42b StGB?, MDR 1967 357; Schröder Die Erforderlichkeit von Sicherungsmaßregeln, JZ 1970 92; Stree In dubio pro reo (1972); Terhorst Bewährungsprognose und der Grundsatz „in dubio pro reo", MDR 1978 973; Venzlaffl. StrRG und Krankenhauspsychiatrie, Festschrift für Schaffstein (1975) S. 293; Venzlaff Der psychisch Kranke im Spannungsfeld zwischen Behandlungsauftrag und Rechtsnorm, in: Lauter/Schreiber (Hrsg.), Rechtsprobleme in der Psychiatrie (1978), S. 12; Venzlaff/Schreiber Der Maßregelvollzug — Ein Stiefkind der Strafrechtsreform?, in: Bergener (Hrsg.), Psychiatrie und Rechtsstaat (1981) S. 189; Warda Dogmatische Grundlagen des richterlichen Ermessens im Strafrecht (1962); Wenz Das Verhältnis der strafrechtlichen Unterbringung geistesgestörter Täter zu außerstrafrechtlichen Maßnahmen der Gefahrenabwehr, Diss. jur. Mainz 1970; Wiebe Familienrechtliche Unterbringung — eine Alternative zu den Psychisch-Kranken-Gesetzen, in: Bergener (Hrsg.), Psychiatrie und Rechtsstaat (1981), S. 116.

Entstehungsgeschichte § 67b ist durch das 2. StrRG neu eingeführt worden; das vor dem 1.1. 1975 geltende Recht enthielt keine entsprechende Vorschrift. Das EGStGB 1974 (Art. 18 II Nr. 25) hat die Fassung des 2. StrRG redaktionell geändert: Zur Verdeutlichung (BT-Drucks. 7/550 S. 214) wurde die im 2. StrRG vorgesehene Überschrift „Aussetzung durch das erkennende Gericht" durch die jetzige Überschrift ersetzt. Das Ziel, freiheitsentziehende Maßregeln mit therapeutischer Tendenz von vornherein versuchsweise durch Sanktionen ohne Freiheitsentzug zu ersetzen, haben schon die Entwürfe der Weimarer Zeit verfolgt: Nach den Entwürfen von 1919 (§§ 88,99), 1922 (§§ 43, 44) und 1925 (§§ 43,44) sollte statt der Unterbringung in der Heil- oder Pflegeanstalt und der Entziehungsanstalt „Schutzaufsicht" angeordnet werden, wenn diese genügte; nach den Entwürfen von 1927 und 1930 (§ 61) sollte der Richter hier ermächtigt sein, die Unterbringung auf die Dauer von höchstens zwei Jahren auszusetzen, wobei nach Ablauf dieser Frist der Widerruf der Aussetzung ausgeschlossen sein sollte. In den Beratungen der Großen Strafrechtskommission stieß ein entsprechender Vorschlag von Sieverts (Niederschriften III, 361) zunächst auf die Ablehnung des Bundesjustizministeriums (aaO III, 178), das die Aussetzung nur nach Straf- oder Maßregelvollzug vorsehen sollte (aaO III, 370, 376; ebenso der Vorschlag einer Unterkommission aaO S. 375, 378). Später empfahl das Ministerium jedoch die Aussetzung der Maßregeln durch das erkennende Gericht in einem Zusammenhang, in dem die Frage auch heute noch gesehen wird: Die Möglichkeit, Maßregeln zugleich mit ihrer Anordnung auszusetzen, sei das notwendige Korrelat dazu, daß künftig die Anordnung der Maßregel nur noch die Gefährlichkeit des Täters und nicht mehr zusätzlich die Erforderlichkeit der Unterbringung voraussetze (Niederschriften IV, 203, 481, 489). In diesem Sinne sprach sich die Große Strafrechtskommission für die Aussetzung der Maßregeln aus (aaO S. 213 ff, 234f)· Die zunächst bei den einzelnen Maßregeln jeweils besonders vorgesehenen Aussetzungsvorschriften (§ 85 Abs. 4, § 86 Abs. 2, § 89 Abs. 1 Satz 2, § 90 Abs. 3 E 1959 für die Heil- oder Pflegeanstalt, die Entziehungsanstalt, die Siche(25)

§ 67 b

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

rungsverwahrung und die Vorbeugende Verwahrung) wurden in der zweiten Lesung der Kommission in einer allgemeinen Aussetzungsvorschrift zusammengefaßt (§ 105 Abs. 1 E 1959 II; vgl. Niederschriften XII, 366ff, 518). In den Regierungsentwürfen von 1960 und 1962 wurde nach einem Beschluß der Länderkommission (4. Tagung vom 23./28.11.1959, S. 78 des Protokolls) die Sicherungsverwahrung aus der Vorschrift ausgenommen, da bei ihr die Aussetzung nach Strafende (heute § 67 c Abs. 1) ausreichte. § 105 Abs. 1 E 1962 bestimmte demnach, daß das Gericht zugleich mit der Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus, der Bewahrungsanstalt, der Entziehungsanstalt, dem Arbeitshaus und der Vorbeugenden Verwahrung die Vollstreckung der Maßregel zur Bewährung auszusetzen hat, „wenn besondere Umstände die Erwartung rechtfertigen, daß der Zweck der Maßregel auch dadurch erreicht werden kann"; bei wiederholter Anordnung der Vorbeugenden Verwahrung sollte die Aussetzung ausgeschlossen sein (§ 105 Abs. 2 E 1962). Der Sonderausschuß des Bundestages billigte in der 4. Wahlperiode den Grundsatz der Aussetzung von Maßregeln; zu Beginn der 5. Wahlperiode beschloß er eine dem §105 Abs. 1 E 1962 entsprechende Fassung (Prot. IV, 297 ff, 372 f, 507 f; V, 462—467, 470). Dabei wurde wiederum auf den Zusammenhang mit der Erleichterung der Anordnungsvoraussetzungen (Wegfall des Kriteriums der Erforderlichkeit) hingewiesen (Prot. IV, 298 f, 372, 463 f, 467; ebenso später V, 2336), wobei auch die Sorge ausgedrückt wurde, die neue Regelung könne zu einer unangebrachten Zunahme von Maßregelanordnungen führen (Prot. IV, 298, Abgeordn. Renger; dazu die Regierungsvertreter aaO S. 299, 463 f)· Nach der Fassung des E 1962 war unklar geblieben, ob eine Aussetzung im Urteil auch dann zulässig sein sollte, wenn vor der Maßregel zunächst Freiheitsstrafe zu vollstrecken ist (bejahend wohl die Begründung zum E 1962, S. 235). Zweifelhaft war auch, ob die Strafe vollstreckt werden sollte, wenn nach der Regel des § 67 Abs. 1 die Unterbringung dem Strafvollzug voranzugehen hatte, jedoch eine Aussetzung der Maßregel angeordnet wurde. Zur Klärung dieser Zweifelsfragen wurde gegen Ende der 5. Wahlperiode im Sonderausschuß § 67 b Abs. 1 Satz 2 in die Vorschrift aufgenommen (Prot. V, 2311, 2335 ff). In einer weiteren Sitzung derselben Wahlperiode (Prot. V, 2445 f, 2452) wurde mit der Einführung des (jetzigen) § 67 b Abs. 2 die Regelung über die Aufsicht während der Aussetzung wesentlich vereinfacht: Nach dem E 62 (§ 107) hätte der Richter eine besondere Anordnung über die Art der Aufsicht treffen müssen; dabei sollte nach der Maßregelart differenziert werden (Sicherungsaufsicht bei Vorbeugender Verwahrung; Bewährungshilfe bei den übrigen Maßregeln, jedoch bei der Heil- oder Pflegeanstalt und Bewahrungsanstalt wahlweise auch Aufsicht des Gesundheitsamtes oder einer anderen Überwachungsbehörde). Bericht des Sonderausschusses: BT-Drucks. V/4095 S. 32 f. - Der Alternativ-Entwurf (1966; 21969) sah eine Aussetzung durch das erkennende Gericht nur bei der Heil- und Pflegeanstalt und der Entziehungsanstalt vor; bei zugleich verhängter, nicht ausgesetzter Freiheitsstrafe sollte die Aussetzung der Maßregel, ähnlich wie nach § 67 b Abs. 1 Satz 2, unzulässig sein (§ 74). Soweit die Vorschrift des § 67 b auf die Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt nach § 65 verweist, ist sie noch nicht in Kraft getreten; nach dem derzeitigen Stand der Gesetzgebung (1983) ist das Inkrafttreten des § 65 für den 1. 1.1985 vorgesehen (Art. 2 Abs. 2 des 2. StrRG i. d. F. der Gesetze vom 30. 7.1973 [BGBl. I S. 909] und vom 22.12. 1977 [BGBl. I S. 3104]).

(26)

Aussetzung zugleich mit der Anordnung (Horstkotte)

Rdn. I. Zweck und Problematik der Vorschrift . . 1 1. Zielsetzung 1 2. Abkehr vom Subsidiaritätsgrundsatz? 5 a) Praktische Bedenken 7 b) Gefährlichkeit und Umweltfaktoren 8 c) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz . 10 d) Ergebnis: Beibehaltung des Subsidiaritätsgrundsatzes 11 e) Folgerungen 12 3. „Zweck der Maßregel" (§ 67 b Abs. 1 Satz 1 ; vgl. auch Rdn. 40) 14 4. Prognosezeitpunkt (vgl. auch Rdn. 51) 15 5. „Besondere Umstände" (vgl. auch Rdn. 43 ff) 16 6. Maßregelaussetzung in Zweifelsfällen 20 7. Praktische Bedeutung des § 67 b . . . 26 II. Art 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

und Bedingungen der Aussetzung . . Aussetzung der Vollstreckung . . . . Anordnung der Maßregel Aussetzung zugleich mit der Anordnung der Maßregel Betroffene Maßregeln (§§ 63, 64, 65) . Verhältnis zur Bestrafung § 67 b als obligatorische Vorschrift . . Verhältnis der Aussetzung nach § 67 b zu anderen Entscheidungen . . a) Verhältnis zur Gefährlichkeitsprognose b) Verhältnis zu §35 BtMG, zum Aufschub der Vollstreckung und zur Begnadigung

III. Die in § 67 b vorausgesetzte Prognose . . 1. Bezug auf den Zweck der Maßregel (vgl. auch Rdn. 14) 2. Widersprüchliche Prognosen bei Anordnung und Aussetzung? 3. Prognosebasis (vgl. auch Rdn. 16) . . a) Persönlichkeit des Täters b) Kein Ausnahmecharakter der „besonderen Umstände" c) Umstände in der Umgebung des Täters d) Führungsaufsicht 4. Prognosezeitpunkt (vgl. auch Rdn. 15) . 5. Verantwortbarkeit der Aussetzung . . 6. Zusammenfassung IV. Einzelne Fallgruppen 1. Allgemeines zur bisherigen Rechtsprechung 2. Unterbringung nach den Landesunterbringungsgesetzen 3. Unterbringung durch Vormund oder Pfleger 4. Entmündigung 5. Familienpflege (27)

28 28 29 30 31 34 36 37 37

38

6.

§ 67 b

Rdn. Private Unterbringung in einem Krankenhaus und ambulante Behandlung, auch bei Drogenabhängigkeit 74

V. Keine Aussetzung, wenn noch Freiheitsstrafe zu verbüßen ist (§ 67 b Abs. 1 Satz 2) 77 1. Grund und Tragweite des § 67 b Abs. 1 Satz 2 77 2. Nicht ausgesetzte, zu verbüßende Freiheitsstrafen 81 a) § 67 b Abs. 1 Satz 2 gegenstandslos in Fällen des § 20 81 b) Zu verbüßende Strafe 82 c) Aussetzung im Gnadenweg . . . . 84 d) Zurückstellung der Strafvollstrekkung nach § 35 BtMG 85 e) Nicht ausgesetzte Gesamtstrafe . 87 f) In anderen Verfahren verhängte, zu verbüßende Strafe 89 g) In anderen Verfahren verhängte freiheitsentziehende Maßregel . . 95 h) Zusammentreffen mehrerer freiheitsentziehender M a ß r e g e l n . . . 96 i) Widerruf der Strafaussetzung . . 97 3. Abstimmung der Entscheidungen über die Aussetzung von Strafe und Maßregel 98 4. Bedeutung des § 67 b Abs. 1 Satz 2 im Jugendstrafrecht 100 5. Folgen der Anwendung des § 67 b Abs. 1 Satz 2 (Zusammenfassung) . . 101

40

VI. Widerruf der Aussetzung im Sinne des § 67 b 103

40

VII. Maßregelaussetzung und Höchstfrist der Unterbringung 107

42 43 44 45 46 50 51 52 55 57 57 61 68 72 73

VIII. Führungsaufsicht (§ 67 b Abs. 2) 108 1. Allgemeines 108 2. Gestaltungsspielraum des erkennenden Gerichts 110 a) Auswahl des Bewährungshelfers .111 b) Weisungen 112 c) Verhältnis von Führungsaufsicht und Bewährungshilfe (§ 68 g) . . .113 3. Dauer der Führungsaufsicht 114 4. Beginn der Führungsaufsicht 115 5. Ende der Führungsaufsicht 117 6. Nachträgliche Entscheidungen nach §68d 121 IX. Verfahren 124 1. Aussetzung der Maßregel im Urteil . 124 2. Entscheidungen neben dem Urteil . . 130 3. Nachträgliche Entscheidungen nach allgemeinem Strafrecht 131 4. Verfahrensrechtliche Besonderheiten im Jugendstrafrecht 132

§ 67 b 5.

Sicherungsverfahren

6.

Rechtsmittel

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat Rdn.

Rdn.

. 134

b) Revision . 136 c) Verbot der Schlechterstellung . . 139 d) Anfechtung nachträglicher EntScheidungen . . . 140 Vollstreckungsbehörde 141

135

a) Beschränkung des Rechtsmittels auf die Aussetzungsfrage 135

1

7.

I. Zweck und Problematik der Vorschrift 1. Die Vorschrift dient dazu, auch im Maßregelrecht Freiheitsentzug zu vermeiden, soweit er nicht im Hinblick auf den Maßregelzweck unbedingt erforderlich ist ( Sch. -Schröder-Stree 2 1 Rdn. 1). a) Indem sie den Freiheitsentzug als ultima ratio erscheinen läßt, ist die Aussetzung von Maßregeln mit der Strafaussetzung (§§ 56 ff) verwandt. Unter dem verfassungsrechtlich bedeutsamen Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit von Anlaß und Sanktion ist die Zurückdrängung des Freiheitsentzuges im Maßregelrecht besonders dringlich, weil Gründe des Schuldausgleichs und der Generalprävention, die u. U. die Vollstreckung einer spezialpräventiv unnötigen Freiheitsstrafe rechtfertigen mögen, im Maßregelrecht bedeutungslos sind und weil die freiheitsentziehenden Maßregeln länger dauern als Freiheitsstrafen und deswegen sowie wegen ihrer bedrückenden Unbestimmtheit für den Betroffenen ein besonders schweres Übel sind.

2

b) Die Aussetzung der therapeutischen Maßregeln entspricht zugleich der neueren Entwicklung in den Behandlungswissenschaften, zumal in der Psychiatrie: Die Behandlung in einer geschlossenen Anstalt gilt für einen breiten Kreis von Patienten in zunehmendem Maße als Notbehelf, der soweit wie möglich durch ambulante oder gemischt ambulant/stationäre Behandlungsformen (Tages- und Nachtkliniken usw.) zu ersetzen ist 1. Das gilt auch für eine erhebliche Zahl der bisher stationär behandelten S c h i z o p h r e n e n 2 sowie in zahlreichen Fällen für psychisch kranke R e c h t s b r e c h e r 3. Die Gründe für diese Entwicklung zur nichtstationären (gemeindenahen) Behandlung sind nicht allein humanitärer Art. Vielmehr werden von einer Behandlung, die den Patienten nicht mehr von seiner früheren und künftigen Umwelt isoliert, bessere therapeutische Erfolge erwartet. Insofern soll auch die Vorschrift des § 67 b nicht nur vermeidbare Härten vermeiden, sondern dazu dienen, daß der therapeutische Maßregelzweck besser erreicht wird. 1

Vgl. insbesondere den Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland (BT-Drucks. 7 / 4 2 0 0 , 4201 [Anhang]) sowie den Zwischenbericht der Sachverständigenkommission, BT-Drucks. 7 / 1 1 2 4 . Aus der Literatur: Bauer Sektorisierte Psychiatrie 1977; Bleuler, Lehrbuch der P s y c h i a t r i e ^ (1983) S. 1 9 0 f ; Finzen D i e Tagesklinik (1977); Pörksen K o m m u n a l e Psychiatrie (1974); Kunze Psychiatrische Übergangseinrichtungen und H e i m e (1981); A n g a b e n über die — weiter fortgeschrittene — Entwicklung in den angelsächsischen Ländern im Anhang zum Bericht über die Lage der Psychiatrie (BT-Drucks. 7 / 4 2 0 1 ) und bei Brill Strömungen und Gegenströmungen in den psychiatrischen Versorgungssystem der U S A , in: Hippius/Lauter (Hrsg.) Standorte der Psychiatrie (1976) S. 29 ff. 2 Tölle Psychiatrie 6 (1982) S. 213. 3 Böker/Häfner Gewalttaten Geistesgestörter (1973) S. 253 f; Heinrich Das D i l e m m a des psychisch kranken Rechtsbrechers zwischen Einschließung u n d Therapie, in: Petri u. a. (Hrsg.), Kriminalität heute — Ursachen und Bekämpfung (1977) S. 62 ff. (28)

Aussetzung zugleich mit der Anordnung (Horstkotte)

§ 67 b

Die neue Orientierung der Behandlungswissenschaft hat unter den derzeitigen 3 Verhältnissen vor allem für die Anwendung des § 67 d Abs. 2 Bedeutung, indem sie durch Ubergangseinrichtungen eine Vorverlegung des Entlassungszeitpunkts ermöglicht. Doch ist sie auch für § 67 b bedeutsam, soweit eine offenere Behandlungsart unmittelbar nach der Aburteilung beginnen oder fortgesetzt werden kann. Im übrigen sind in der Praxis die Grenzen zwischen der Entlassung nach § 67 d Abs. 2 und der Aussetzung nach § 67 b fließend : Der Anordnung nach § 67 b kann die einstweilige Unterbringung nach § 126a StPO vorausgegangen sein; auch in Fällen, in denen bis zur Anordnung nach § 67 b Untersuchungshaft vollzogen worden ist, handelt es sich um die Notwendigkeit, Einrichtungen für den Übergang aus der Freiheit in die Unfreiheit zu finden. Als Alternativen zum Freiheitsentzug kommen nach § 67 b nicht nur institutiona- 4 lisierte Formen ambulanter medizinischer Behandlung in Betracht, sondern auch vielfältige andere therapeutische und soziale Einwirkungen, etwa durch die Wahl des Aufenthaltsortes, die Fürsorge der Familie usw. (s. unten Rdn. 73). Deswegen ist in den Anwendungsbereich des § 67 b (gegen den Widerstand der Länder, vgl. Prot. V/2039 — zur „Erziehungsverwahrung", die dem jetzigen § 65 Abs. 2 entspricht —) auch die sozialtherapeutische Anstalt einbezogen worden. Doch wird § 67 b auch nach dem Inkrafttreten des § 65 in erster Linie für die Maßregeln nach den §§ 63, 64 bedeutsam sein; denn in den Fällen des § 65 Abs. 1 Nr. 1 wird eine Strafaussetzung, die Voraussetzung für die Anordnung nach § 67 b ist (§ 67 b Abs. 1 Satz 2), wegen der Schranke des § 56 Abs. 2 eine Ausnahme bilden, und die Indikationsklausel des § 65 Abs. 1 Satz 2 wird regelmäßig nur bejaht werden, wenn eine Anstaltsunterbringung auch tatsächlich notwendig ist. 2. Die Aussetzung nach § 67 b wird seit den Gesetzgebungsarbeiten (vgl. die Vor- 5 bemerkung zur Gesetzgebungsgeschichte) in engem Zusammenhang mit der Abkehr vom Prinzip der „Subsidiarität" (Schwalm Niederschriften IV, 203) gesehen. Nach dieser Betrachtungsweise wird die Anordnung der Maßregel erleichtert, weil es nach neuem Recht nicht mehr darauf ankommt, ob die öffentliche Sicherheit (§ 42 b a. F., § 42 e in der bis 1970 geltenden Fassung) oder die Rehabilitation des Alkoholabhängigen (§ 42 c a. F.) die Unterbringung „erfordert" ; dagegen ist die Vollstreckung der Maßregel zusätzlich davon abhängig, daß in den Fällen der §§ 63—65 kein Aussetzungsgrund nach § 67 b vorliegt und nach vorangegangenem Strafvollzug keine Aussetzung nach §67c Abs. 1 stattfindet (Dreher-Tröndle41 Rdn. 2; BGH NJW 1978 599; aus den Beratungen im Sonderausschuß vgl. Lackner und Schwalm Prot. IV, 299, 372; Horstkotte Prot. V, 462 f; Dreher Prot. V, 2336). Diese systematische Interpretation des § 67 b widerspricht zwar nicht der materiellen Deutung der Vorschrift, die auf die Einschränkung des Freiheitsentzugs (s. oben Rdn. 1) abzielt. Ihre Problematik liegt aber darin, daß sie die Schranken für die Anordnung der Maßregel zu niedrig machen kann und daher, auch wenn es nach § 67 b nicht zur Vollstrekkung kommt, einen unangemessen großen Personenkreis den Einschränkungen der Führungsaufsicht (§ 67 b Abs. 2) zu unterwerfen vermag (Bedenken in dieser Richtung schon im Sonderausschuß: Prot. IV, 298). Ein weiteres Bedenken ergibt sich daraus, daß die Gesichtspunkte der Gefährlichkeit, auf die es bei der Anordnung ankommen soll, und der Erforderlichkeit, die allein die Vollstreckung der Maßregel bestimmen soll (Dreher Prot. V, 2336), nicht scharf unterschieden werden können. Diese Unschärfe mag hingenommen werden, soweit der Unterbringung ein längerer Strafvollzug vorausgeht und bei der Anordnung der Maßregel auf die Gefährlichkeit zur Zeit des Urteils abgestellt wird, während die Entscheidung darüber, ob die (29)

§ 67 b

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

Vollstreckung der Maßregel erforderlich ist, dem Verfahren nach § 67 c Abs. 1 überlassen bleibt (für die Sicherungsverwahrung: BGHSt. 24 160, 164 [obiter], BGH NJW 1976 300 = JR 1976 422 m. Anm. v. Bubnoff\ BGH 1 StR 389/82 v. 20. 7. 82; für die Unterbringung nach § 42b a. F.: BGHSt. 25 59, 62 = JR 1973 158 m. Anm. Schröder). Bei dieser sogenannten Verschiebung des Prognosezeitpunkts 4 handelt es sich um eine Arbeitsteilung zwischen zwei Gerichten, die sich an den unterschiedlichen Erkenntnismöglichkeiten während der Hauptverhandlung einerseits und im Verfahren nach § 67 c Abs. 1 andererseits orientiert; die Frage, ob die Entscheidung über die Erforderlichkeit der Unterbringung immer bis zu dem Verfahren nach § 67 c Abs. 1 verschoben werden muß oder ob bei hinreichend sicherer Prognose hierüber auch schon im Urteil entschieden werden kann (im letzteren Sinne Lackner15 § 66 Anm. 5 a cc; Horstkotte JZ 1970 156 Anm. 81 ; Vorbehalte in dieser Richtung auch in den Entscheidungen des BGH GA 1978 307, Strafverteidiger 1981 71 sowie 5 StR 584/76 vom 16. 11. 1976)4 wird durch eine solche pragmatische, auf den Fall der prognostischen Unsicherheit des erkennenden Gerichts zugeschnittene Arbeitsteilung nicht präjudiziell. Anders verhält es sich bei § 67 b : Hier spielt die Verschiebung des Prognosezeitpunkts keine Rolle; denn § 67b betrifft nur Fälle, in denen auf die Aburteilung kein Strafvollzug folgt (§ 67 b Abs. 1 Satz 2), als Prognosezeitpunkt also allein die Zeit der Urteilsfindung in Betracht kommt. Die in BGHSt. 25 59, 61 hervorgehobene Unsicherheit über die tatsächliche Reihenfolge von Strafe und Unterbringung besteht mit Rücksicht auf § 67 b Abs. 1 Satz 2 nicht mehr. 6

In Fällen, in denen der erkennende Richter die mit der Anordnung und Vollstreckung der Maßregel zusammenhängenden Entscheidungen uno acto zu treffen hat, ist die Unterscheidung zwischen der Gefährlichkeit des Täters, die allein die Anordnung der Maßregel rechtfertigen soll, und der Notwendigkeit der Unterbringung grundsätzlich problematisch: Bei der Unterbringung in der sozialtherapeutischen Anstalt nach § 65 Abs. 1, 3 ist sie bedeutungslos, weil die Indikation einer sozialtherapeutischen Behandlung (§ 65 Abs. 1 Satz 2, Abs. 3) Voraussetzung für die Anordnung der Maßregel und nicht nur für ihre Vollstreckung ist; die Gefährlichkeit ist hier für sich allein kein Anordnungsgrund. Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt darf nicht angeordnet werden, wenn die Entziehungskur von vornherein aussichtslos erscheint (§ 64 Abs. 2); auch hier wird schon für die Anordnung der Maßregel nicht allein die Gefährlichkeit des Täters vorausgesetzt, sondern ebenfalls eine Indikation zur Unterbringung, wenn auch in dem abgeschwächten Sinne, daß ein Erfolg der Unterbringung nicht von vornherein ausgeschlossen erscheinen darf. Als Anwendungsbereich des angeblichen „Wegfalls des Subsidiaritätsgrundsatzes" bliebe bei den in § 67 b genannten Maßregeln demnach nur die Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus übrig, zu der nach dem Inkrafttreten des § 65 die Unterbringung nach § 65 Abs. 2 hinzutreten würde. In dem — einst4 Bei der Ermessensentscheidung nach § 66 Abs. 2 prüft das erkennende Gericht auch nach neuem Recht, ob sich die Maßregelanordnung wegen der erwarteten bessernden Wirkung des Strafvollzugs erübrigt (BGH NJW 1976 300 = JR 1976 422 m. Anm. v. Bubnoff; BGH Strafverteidiger 1982 114; BGH 5 StR 666/80 v. 16. 12. 1980; 1 StR 389/82 v. 20. 7. 1982; ebenso schon der Ausschußbericht, BT-Drucks. V/4094 S. 21; Hanack§66 Rdn. 173; a. A. Sch.-Schröder-Stree21 § 66 Rdn. 57). — Zur Problematik des Prognosezeitpunkts und der Erforderlichkeit von Maßregeln zusammenfassend Schröder JZ 1970 92; Hanack, vor § 61 Rdn. 53—63 und neuestens Frisch Prognoseentscheidungen im Strafrecht (1983; dazu Fn. 11 unten bei Rdn. 11). (30)

Aussetzung zugleich mit der Anordnung (Horstkotte)

§ 67 b

weilen allein praktischen — Fall des § 63 bestehen ernste Bedenken, die Anordnung der Maßregel ohne Rücksicht auf die Notwendigkeit einer Unterbringung allein von der „Gefährlichkeit" des Täters abhängig zu machen und diese ohne Rücksicht auf die voraussehbare zukünftige Entwicklung nur nach den Gegebenheiten im Zeitpunkt der Hauptverhandlung zu bestimmen : a) Diese Bedenken sind zunächst praktischer Art: Die Unterbringung im psych- 7 iatrischen Krankenhaus sollte nicht angeordnet werden, wenn sicher vorauszusehen ist, daß sie nicht vollzogen wird. Die stigmatisierende Wirkung auch der bloßen Anordnung einer solchen Maßregel ist groß; sie sollte nicht ohne Not in Kauf genommen werden. Als bloßes Druckmittel ist die Androhung, daß die Maßregel vollstreckt werden kann, unangemessen 5 . b) Der Gesetzestext des § 63 zwingt nicht dazu, die gegenwärtigen und künftigen 8 Lebensverhältnisse des Betroffenen einschließlich der therapeutischen und pflegerischen Bemühungen um ihn bei der Anordnung der Maßregel gänzlich außer Betracht zu lassen und allein für die Frage der Vollstreckung (Aussetzung) zu berücksichtigen: Das Gesetz stellt auf eine Gefährlichkeit ab, die sich aus dem „Zustand" des Betroffenen ergibt. Damit ist der Zustand der Schuldunfähigkeit oder verminderten Schuldfähigkeit gemeint. Jedoch genügt nicht irgendein Zustand dieser Art. Vielmehr müssen die künftigen Taten als Folge eines konkreten Zustandes zu erwarten sein, der bei den Taten, die Anlaß für das Urteil waren, die Schuldunfähigkeit oder Verminderung der Schuldfähigkeit begründet hat (BGHSt. 5 140; 20 232; 24 134; BGH bei Dallinger MDR 1972 196; BGH 3 StR 67/77 v. 23. 3.1977, 3 StR 73/80 v. 25.3.1980; Hanack §63 Rdn.61; Sch.-Schröder-Stree21 §63 Rdn. 17; Lackner 15 § 63 Anm. 2 e b b ; mit Einschränkungen: BGHSt. 27 246 = JR 1978 385 m. Anm. R. v. Hippel; s. auch unten § 67 c Rdn. 49). Dieser konkrete Zustand läßt sich nicht ohne Rücksicht auf die in Betracht kommenden Methoden der Behandlung oder Pflege definieren ; dem entspricht es, daß die Rechtsprechung betont hat, die Unterbringung nach § 42 b a. F. bzw. § 63 diene ausschließlich dazu, erkrankte oder krankhaft veranlagte Menschen von einem dauernden Zustand zu heilen oder sie in ihrem Zustand zu pflegen 6 (zur Anwendung des § 63 bei Aussichtslosigkeit der Therapie vgl. BGH bei Holtz MDR 1978 110; BGH NJW 1983 350). Das gilt auch für die Psychosen und für die eindeutig organisch begründbaren 9 Störungen. Von keinem dieser und anderer, die Schuldfähigkeit ausschließender oder erheblich vermindernder Zustände läßt sich sagen, daß der Grad der Gefährlichkeit unabhängig von den persönlichen Beziehungen und sozialen Zuständen der Betroffenen, auch der Reaktionsweise ihrer Umgebung sowie von den Therapieund Pflegeverhältnissen ist 7 . Es handelt sich hier nicht um die Frage, ob bestimmte Krankheiten ausschließlich auf Erbfaktoren, organische Ursachen oder (auch) auf soziale, ζ. B. familiäre Konstellationen und Psychoreaktive Anlässe zurückzuführen 5 Vgl. Prot. V, 463 mit Hinweis auf eine Äußerung von Enschedé zu einer ähnlichen Problematik im niederländischen Recht. 6 BGHSt. 5 312, 315; BGH LM § 42b StGB a. F. Nr. 3; BGH GA 1976 221; BGH bei Daliinger MDR 1975 724; BGH 2 StR 199/76 v. 30. 4.1976; 5 StR 813/79 v. 12. 2.1980; 5 StR 142/82 v. 20. 4.1982; BGH NStZ 1983 429. 7 Home Office, Department of Health and Social Security (Hrsg.), Report of the Committee on Mentally Abnormal Offenders (London 1975) S. 57 ff; Scott Assessing Dangerousness in Criminals, Brit. Journal of Psychiatry 131 (1977) S. 127 ff; vgl. für die Schizophrenie auch Tolle Psychiatrie 6 (1982) S. 201 f. (31)

§ 67 b

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

sind; insbesondere steht hier nicht das umstrittene Problem der Ätiologie der Schizophrenie zur Diskussion. Vielmehr geht es allein darum, daß der — wie auch immer begründete — krankhafte oder krankheitswertige Zustand bei der Beurteilung der Gefährlichkeit nicht isoliert gesehen werden darf. Zweifellos sind die eine rechtswidrige Handlung auslösenden äußeren Faktoren je nach dem Krankheitsbild von unterschiedlichem Gewicht; ihre Bedeutung kann gering sein, wenn der Kranke ζ. B. die Wahnthematik auch in eine völlig veränderte Umwelt mitnimmt, während Milieueinflüsse, unterstützt etwa durch eine pharmakologische Therapie, selbst bei Schizophrenen von erheblicher stabilisierender Bedeutung sein können (vgl. ζ. B. Tölle Psychiatrie6 [1982] S. 218; Weitbrecht-Glatzel Psychiatrie im Grundriß 4 [1979] S. 328 ff). Möglicherweise läßt sich eine auf die verschiedenen Tatarten bezogene Typik mehr oder weniger bedeutsamer Auslösefaktoren herausarbeiten; nach den Untersuchungen von Böker/Häfner (Gewalttaten Geistesgestörter, 1973, S. 138, 243 f) ist „Streit" bei Anfallskranken, Schwachsinnigen und Hirngeschädigten ein bedeutsames Auslösemoment für Gewalttaten, während „materielle Not, berufliche Schwierigkeiten und Verluste von Beziehungspersonen als Anlässe von Gewalthandlungen Geistesgestörter keine nennenswerte Rolle spielen" (aaO S. 244). Angesichts dieser untrennbaren Verknüpfung von Gefährlichkeit und Umwelt (zu der auch die therapeutischen und pflegerischen Bemühungen gehören) dürfte es ausgeschlossen sein, das Gefährlichkeitsurteil von der Beachtung der sonstigen Umstände zu isolieren und die Gefährlichkeitsprognose „so zu stellen, als ob sich der Täter in Freiheit befinde und keine sonstigen Maßnahmen gegen seine Gefährlichkeit liefen oder zu erwarten wären" (Dreher-Tröndle41 §63 Rdn. 11). Die in § 67 b genannten „besonderen Umstände" wie familiäre Fürsorge, Heimaufenthalt, ambulante Behandlung, landesrechtliche Unterbringung, privater Klinikaufenthalt und dergl. können deswegen schon bei der Anordnung der Maßregel nicht unberücksichtigt bleiben ; sie sind sowohl hier als auch bei der Entscheidung, ob eine angeordnete Maßregel ausgesetzt werden soll, relevant, also doppelrelevant (a. A. Dreher-Tröndle41 § 63 Rdn. 11 ; SK-Horn! § 63 Rdn. 14,16). Zur untrennbaren Verbindung von Persönlichkeitsmerkmalen und Umweltbedingungen bei der Gefährlichkeitsprognose s. § 67 c Rdn. 48 f, § 67 d Rdn. 42. 10

c) In die gleiche Richtung weisen verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Vernachlässigung des Subsidiaritätsgedankens, wie sie schon vor der Verabschiedung des 1. und 2. StrRG von Grünwald (ZStrW 76 [1964] 661) angedeutet und danach von Hanack (Rdn. 58 ff vor § 61, § 63 Rdn. 83, § 64 Rdn. 82, § 65 Rdn. 165), Lackner^S (§ 62 Anm. 2) und Bernd Müller (Anordnung und Aussetzung freiheitsentziehender Maßregeln der Besserung und Sicherung [1981] S. 87 ff) gegen den Wegfall der Subsidiaritätsprüfung bei der Maßregelanordnung geltend gemacht worden sind. Wird der Richter, der Gesetzesgeschichte (Rdn. 5) entsprechend, dazu angehalten, die Maßregel gegen den gefährlichen Täter ohne Prüfung ihrer Erforderlichkeit, „gewissermaßen sicherheitshalber" (Baumann% §44 II), „ohne falsches Zaudern" (Bruns ZStW 71 [1959] 230) anzuordnen, also die Frage außer Betracht zu lassen, ob ein weniger belastendes Mittel zur Abwendung der Gefahr ausreicht, so wird in Kauf genommen, daß die Maßregelanordnung nicht notwendig ist, um der Gefahr zu begegnen. In solchen Fällen ist der verfassungsrechtlich vorgegebene Grundsatz der Verhältnismäßigkeit8 berührt. Die Anordnung der Maßregel kann auch unter der Voraussetzung, daß die Unterbringung nicht vollstreckt wird, ein unverhältnismäßiger (übermäßiger) Eingriff in die Rechte des Betroffenen sein. Denn es gibt keinen Erfahrungssatz in dem Sinne, daß bei einem nach seinem Zu(32)

Aussetzung zugleich mit der Anordnung (Horstkotte)

§ 67 b

stand gefährlichen Täter unter allen Umständen (mindestens) die Führungsaufsicht und die mit ihr verbundenen Rechtsbeeinträchtigungen (Überwachung durch Aufsichtsstelle und Bewährungshelfer; Weisungen; Widerrufsdruck) zur Gefahrenabwehr erforderlich sind: Ebenso wie in den Fällen, in denen die Maßregel erst nach der Strafe vollzogen wird, vor allem bei der Sicherungsverwahrung, die bloße Anordnung der Maßregel schon im Strafvollzug spürbare Beeinträchtigungen (etwa im Hinblick auf Vollzugslockerungen) bewirkt, die nicht allein deswegen unerheblich sind, weil nach § 67 Abs. 1 die Vollstreckung der Maßregel noch besonderer Anordnung bedarf, so schließt auch die Maßregelaussetzung nach § 67 b nicht aus, daß allein die Anordnung der Maßregel, verbunden mit der Führungsaufsicht (§ 67 b Abs. 2), eine Belastung des Betroffenen darstellt, die unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit einer Rechtfertigung bedarf. Erbringt der Maßregelzweck eine solche Rechtfertigung nicht, so ist schon die bloße Anordnung der Maßregel, auch in den Fällen des § 67 b, ein übermäßiger Eingriff. Solche Bedenken gegen die Anordnung einer nicht erforderlichen Maßregel lassen sich nicht mit der Erwägung beruhigen, daß es sich hier um eine gerechte Verlagerung des Risikos von der Allgemeinheit auf den immerhin gefährlichen Täter handele (so aber Bruns ZStrW 71 [1959] 230; Warda Dogmatische Grundlagen des richterlichen Ermessens im Strafrecht [1962] 151). Dieses Argument kann die Anordnung der Maßregel nur bei ernsthaftem Zweifel an der Verfügbarkeit gleichwertiger, milderer Mittel rechtfertigen, nicht jedoch in Fällen, in denen der Richter davon überzeugt ist, daß solche Alternativen zur Abwendung der Gefahr genügen. Der Gedanke, daß sichere Voraussagen über die Entbehrlichkeit einer Maßregel nicht möglich seien und die Maßregel deswegen „auf Vorrat" angeordnet werden müsse, gibt, da er hauptsächlich die Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus betrifft, Anlaß daran zu erinnern, daß „das Gewalttatenrisiko bei Geisteskranken nicht oder kaum größer ist als bei Normalen" (W. Böker/H. Häfner Gewalttaten Geistesgestörter [1973] 271) und daß prognostische Aussagen über das künftige Verhalten psychisch Gestörter mit den gleichen Fehlerquellen verbunden sind wie die Prognose bei Gesunden 9. d) In Abkehr von verschiedenen Äußerungen im Gesetzgebungsverfahren (oben 11 Rdn. 5) ist also entgegen der überwiegenden Meinung in der Literatur 10 anzunehmen, daß eine Maßregel nur dann angeordnet werden darf, wenn dies notwendig ist, wenn also nicht andere, schonendere Vorkehrungen ausreichen, um die Gefahr abzuwenden 11. Das bedeutet, daß die Aussetzung der Maßregel nach § 67 b entgegen 8

Zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Maßregelrecht s. Hanack § 62 Rdn. 1 ff ; G. Warda Dogmatische Grundlagen des richterlichen Ermessens im Strafrecht (1962) S. 142 ff, 150f; Nowakowskiv. Weber-Festschr. 98 ff; Gribbohm JuS 1967 349; Blei JA 1971 235; Pätzold Die Eingriffsvoraussetzungen bei freiheitsentziehenden Maßregeln unter besonderer Berücksichtigung des Prinzips der Verhältnismäßigkeit, Diss. Tübingen 1975 S. 12 f, 53. Näheres bei § 67 d Rdn. 52 ff. 9 Weitere Hinweise zur Prognoseproblematik bei psychisch Gestörten: § 67d Rdn. 39ff. 10 Dreher-Tröndle41 § 63 Rdn. 11, § 64 Rdn. 6; Sch.-Schröder-Stree21 § 63 Rdn. 19, §64 Rdn. 10, § 65 Rdn. 13; SK-Horn! § 63 Rdn. 17, § 64 Rdn. 15; Maurach-Zipfi AT II § 68 I A 2a, I C 2,1 D 4; Baumann8 § 44 II; Bruns ZStW 71 [1959] 226; Warda Dogmatische Grundlagen des richterlichen Ermessens im Strafrecht [1962] 150f und aus der Rechtsprechung BGH NJW 1978 599; BGH 3 StR 67/77 v. 23. 3. 1977. H ebenso Hanack Rdn. 58ff vor § 61; § 63 Rdn. 82ff, § 64 Rdn. 82ff, § 65 Rdn. 165, § 66 Rdn. 154f; Bernd Müller aaO S. 103 ff; wohl auch Jescheck3 § 77 III 2 c und Schmidhäuser S. 830 (Nr. 21/30); nuancierend Lackner15 § 62 Anm. 2, § 63 Anm. 2 c, dd, § 64 Anm. 2 b, (33)

§ 67 b

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

der überwiegenden Meinung nicht überall dort eintritt, wo nach altem Recht die Anordnung der Maßregel wegen des damals allgemein anerkannten Subsidiaritätsgrundsatzes 12 unterblieben ist. Steht fest, daß eine Maßregel nach den § 63 bis 65 wegen Verfügbarkeit anderer Vorkehrungen nicht erforderlich ist (zur Behandlung der Zweifelsfälle s. Rdn. 20 ff), so ist nach dem Subsidiaritätsgrundsatz überhaupt keine Maßregel anzuordnen; die Frage der Aussetzung nach § 67b stellt sich dann nicht mehr. Demgegenüber nimmt die herrschende Meinung an, daß die Frage, ob bei einem als gefährlich erkannten Täter die Unterbringung erforderlich ist, insbesondere, ob andere, weniger belastende Maßnahmen zur Verfügung stehen, keinen Einfluß auf die Anordnung der Maßregel hat, sondern allein bei der Entscheidung über ihre Aussetzung nach § 67b von Bedeutung ist 13. Die Beobachtung der Praxis seit dem Inkrafttreten des § 67 b gibt Anlaß zu bezweifeln, ob die Tatgerichte den von der herrschenden Meinung vorgezeichneten Weg tatsächlich gehen. Zwar ist die Häufigkeit der Aussetzung nach § 67 b in der Verurteilungsstatistik nicht ausgewiesen; auch gibt der Umstand, daß Fragen des § 67 b den wegen § 24 Abs. 2 GVG als Rechtsmittelinstanz hauptsächlich betroffenen BGH selten beschäftigen, keinen sicheren Anhaltspunkt für die tatsächliche Häufigkeit der Aussetzung, weil die Anwendung des § 67 b möglicherweise oft von allen Beteiligten hingenommen wird. Auffallend ist aber, daß die Gesamtzahl der Täter, gegen die Anordnungen nach § 4 2 b a. F. und nach §63 ergangen sind, nach dem Inkrafttreten des § 6 7 b (1.1. 1975) nicht angestiegen ist (7975:392; 1974:399; 7975:336; 7976:382; 7977: 389; 1980:366; 1981:395); in diesen Zahlen sind seit 1975 auch die Fälle enthalten, in denen dàs Gericht von § 67 b Gebrauch gemacht hat. Hätte die Praxis seit 1975 die Unterbringung unabhängig von ihrer Erforderlichkeit in allen Fällen der Gefährlichkeit angeordnet, so hätte sich die Zahl der Anordnungen um diejenigen Fälle vermehren müssen, in denen vor der Rechtsänderung wegen des Subsidiaritätsgrundsatzes keine Maßregel angeordnet worden ist. Insbesondere hätte die Unterbringung vermindert Schuldfähiger erheblich zunehmen müssen; denn bei Anwendung des § 21 liegt — abgesehen von den Fällen der Trunkenheit und der Bagatelldelikte — eine aus seelischer Störung oder Abartigkeit erwachsende Wiederholungsgefahr, die die Merkmale der Gefährlichkeit nach § 63 aufweist, vielfach nahe. Tatsächlich ist die Zahl der Anordnungen nach § 42 b a. F. und nach § 63 n. F. gegen vermindert Schuldfähige vor und nach der Rechtsänderung annähernd gleich geblieben (1973:142; 1975:123; 1977:141 ; 7979:137; 1981:159). Der Bundesgerichtshof hat die These, daß seit dem 1.1. 1975 die Unterbringung nach den §§ 63, 64 auch dann angeordnet werden müsse, wenn die Gefahr durch andere Mittel abgewandt werden kann, nur vereinzelt und obiter ausgesprochen (BGH NJW 1978 599; 3 StR 67/77 v. 27. 3.1977); bei der Entscheidung zwischen den beiden Maßregeln nach § 63 und § 64 (BGH 1 StR 415/78 v. 29. 8. 1978) und der Anwendung des § 67 Abs. 2 (BGH Strafverteidiger 1983 106) hält er es für nötig, § 66 Anm. 5 a, cc). Die für den Fragenkreis sehr bedeutsame Monographie von Frisch Prognoseentscheidungen im Strafrecht (1982) ist während der Drucklegung dieser Kommentierung erschienen ; eine Auseinandersetzung mit ihr ist daher nicht mehr möglich. Zu den Fragen der Geeignetheit und Erforderlichkeit von Maßregeln s. Frisch aaO S. 146 ff, 153 mit Fn. 584, 585, ferner S. 9 4 - 1 0 7 . 12 Nachweise bei Dreher34 (1974) § 42b Anm. 2 A; Lang-Hinrichsen LK 9 Rdn. 32 bis 35 vor § 42a; § 42b Rdn. 39f; § 42c Rdn. 17ff, 31 ff. 13 Dreher-Tröndle41 § 67b Rdn. 2; Sch.-Schröder-Stree21 § 67b Rdn. 1 ; Maurach-Zipfi AT II § 68 I C 2; Bockelmann AT3 § 44 A II 4c. (34)

Aussetzung zugleich mit der Anordnung (Horstkotte)

§ 67 b

die therapeutischen Möglichkeiten des psychiatrischen Krankenhauses, mithin auch ihr Verhältnis zu anderen Behandlungsformen, zu prüfen. e) Den Weg zu einer Behandlung ohne Freiheitsentzug eröffnet hiernach in vie- 12 len Fällen schon die einschränkende Auslegung der §§ 63,64,65. Führt sie dazu, daß die Maßregel wegen des Subsidiaritätsgrundsatzes überhaupt nicht angeordnet wird, so ist § 67 b gegenstandslos. Die Vorschrift kommt nur in Betracht, wenn alle Voraussetzungen für die Anordnung der Maßregel erfüllt sind. Geht man davon aus, daß die Gefährlichkeitsprognose nicht ohne Berücksichtigung der Lebensverhältnisse des Täters getroffen werden kann (oben Rdn. 8) und daß auch bei vorhandener Gefährlichkeit der Subsidiaritätsgrundsatz die Maßregelanordnung ausschließt, wenn andere, den Täter weniger belastende Vorkehrungen ausreichen, um die Gefahr abzuwenden (vorstehend Rdn. 10, 11), so ergibt sich bei den Maßregeln der §§ 63, 64, 65 eine Stufenfolge der rechtlichen Prüfung: aa) Bei der Gefährlichkeitsprognose ist zu prüfen, ob der psychische Zustand des Täters (§ 63), sein Hang zum Rauschmittelmißbrauch (§ 64), seine Persönlichkeitsstörung (§ 65 Abs. 1 Nr. 1), seine sexuelle Devianz (§ 65 Abs. 1 Nr. 2) oder die in § 65 Abs. 2 genannte Entwicklungsproblematik des jungen Täters von der Art ist, daß die Gefährlichkeit schon bei einer bloßen Änderung der Lebensverhältnisse entfällt. Ist das der Fall, so kann die Maßregel nicht angeordnet werden; dasselbe gilt in den hier nicht weiter zu beachtenden Fällen, in denen mit bestimmter Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, daß der Angeklagte nach Verbüßung einer zunächst zu verbüßenden Strafe (§ 67 Abs. 2, § 67 c Abs. 1) keine rechtswidrigen Taten mehr begehen wird. bb) Ist zwar die Gefährlichkeit des Täters, auch unter Berücksichtigung seiner Lebensumstände, zu bejahen, stehen aber zuverlässige Vorkehrungen zur Verfügung, die ihn weniger belasten als die mit Führungsaufsicht verbundene Anordnung und Aussetzung der Maßregel nach den §§ 63, 64, 65, so unterbleibt nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ebenfalls schon die Anordnung der Maßregel, nicht nur ihre Vollstreckung. Vorkehrungen dieser Art sind im Regelfall außerstrafrechtlicher Natur (stationäre Behandlung außerhalb des Maßregelvollzugs; halbstationäre oder ambulante ärztliche Behandlung, Psychotherapie, Aufnahme in ein Heim, eine therapeutische Wohngemeinschaft oder eine Pflegefamilie; Beaufsichtigung durch Familienangehörige, Ortswechsel zur Beseitigung von Konfliktsmöglichkeiten, Bestellung eines Vormunds oder Pflegers; im einzelnen s. unten Rdn. 47ff); sie können aber auch strafrechtlicher Art sein (Berufsverbot, Bewährungshilfe mit Auflagen und Weisungen, Entziehung der Fahrerlaubnis). Je nach Sachlage kann es sich hierbei um Vorkehrungen handeln, die unter veränderten Umständen lediglich eine Aussetzung der Maßregel rechtfertigen würden (s. nachstehend zu cc; vgl. auch Frisch [s. Fn 11 bei Rdn. 11] S. 149 f, Fn 584). cc) Eine Aussetzung der Maßregel kommt erst in Betracht, wenn der Richter die Gefährlichkeit des Täters, auch unter Berücksichtigung seiner Lebensumstände, bejaht und sich nicht davon überzeugen kann, daß der Gefahr weiterer rechtswidriger Taten mit anderen Vorkehrungen als mit der Anordnung einer Maßregel und der damit verbundenen Führungsaufsicht begegnet werden kann. Er kann trotz vergleichsweise ungünstiger prognostischer Voraussetzungen (BGH NJW 1978 599; BGH 5 StR 254/80 v. 20. 5. 1980) die Vollstreckung der Maßregel (§§ 63 bis 65) aussetzen, „wenn besondere Umstände die Erwartung rechtfertigen, daß der Zweck der Maßregel auch dadurch erreicht wird" (§ 67 b Abs. 1 Satz 1). Von den vorstehend zu (35)

§ 67 b

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

bb genannten Fällen unterscheidet sich die in § 67 b geregelte Konstellation dadurch, daß hier die Anordnung der Maßregel und die damit verbundene Führungsaufsicht wie auch die Möglichkeit des Widerrufs der Aussetzung (§ 67 g) notwendig sind, um die gewünschte präventive Wirkung zu entfalten. Bei der Verhütung künftiger rechtswidriger Taten wirken demnach die sonstigen Vorkehrungen (ärztliche Behandlung außerhalb des Maßregelvollzugs, soziale Maßnahmen; vgl. vorstehend zu bb sowie unten zu Rdn. 47 ff) und die mit der Maßregelaussetzung verbundenen Einwirkungsmöglichkeiten (Führungsaufsicht, Weisungen, Widerrufsmöglichkeit) zusammen; die Führungsaufsicht und die damit verbundenen Maßnahmen sind also bei der Prognose mitzuberücksichtigen (BGH 3 StR 316/76 vom 13. 10.1976, Dreher-Tröndle41 § 67b Rdn. 3), mögen sie auch für sich allein keine besonderen Umstände im Sinne des § 67 b sein (BGH aaO). 13 Diese drei verschiedenen Konstellationen (vorstehend aa, bb, cc) sind nicht immer scharf Voneinander abzugrenzen. Dabei ist die Schwierigkeit, zwischen dem Fortfall der Gefährlichkeit auf Grund der Lebensverhältnisse (aa) und dem Wegfall der Erforderlichkeit einer Maßregelanordnung wegen vorhandener Alternativen (Subsidiaritätsgrundsatz, vorstehend zu bb) begrifflich klar zu unterscheiden, von nur theoretischer Bedeutung, weil es in jedem Falle an einer Voraussetzung für die Anordnung der Maßregel fehlt. Praktisch bedeutsam ist dagegen die Entscheidung, ob beim Vorhandensein einer weniger belastenden Alternative wegen des Subsidiaritätsgrundsatzes schon die Anordnung der Maßregel unterbleibt oder ob die Maßregel angeordnet, jedoch ausgesetzt wird: Geschieht letzteres, so trifft den Täter die mit der Führungsaufsicht verbundene Freiheitsbeschränkung; der Strafrichter behält Kontrollinstrumente in der Hand, weil er die Weisungen ändern darf (§ 68 d i. V. m. §§ 68 b, 67 b Abs. 2) und äußerstenfalls die Aussetzung der Unterbringung widerrufen kann (§ 67 g). Wird dagegen mit Rücksicht auf den Subsidiaritätsgrundsatz keine Maßregel angeordnet, so entfällt im Rahmen des strafrechtlichen Maßregelrechts jede Möglichkeit weiterer richterlicher Einwirkung. Dem Sfra/nchter verbleibt eine Sanktionsmöglichkeit nur in Fällen, in denen neben der Maßregel eine Strafe verhängt und zur Bewährung ausgesetzt worden ist (§§ 56 b bis 56 f)· Eine nachträgliche Unterbringung wegen verschlechterter Prognose ist dann nur noch nach dem Unterbringungsrecht der Länder möglich. Es hängt von der Sicherheit der Prognose sowie von der Schwere möglicher neuer Taten und dem Grad ihrer Wahrscheinlichkeit ab, ob die vorstehend zu bb, cc genannten Vorkehrungen (freiwillige Krankenhausunterbringung, ambulante Behandlung, Familienpflege, Entmündigung und dergleichen) nach dem Subsidiaritätsgrundsatz eine Anordnung der Maßregel entbehrlich machen oder ob sie lediglich eine Aussetzung nach §67b rechtfertigen. Wegen der (vergleichsweise engen) Voraussetzungen, unter denen der Subsidiaritätsgrundsatz schon die Anordnung der Maßregel ausschließt, ist vorab auf die Erläuterungen von Hanack zu den Unterbringungsvoraussetzungen zu verweisen (§ 63 Rdn. 84 bis 89; § 64 Rdn. 83 bis 87; § 65 Rdn. 166; zum Verhältnis der landesrechtlichen Unterbringung zu §63: Hanack §63 Rdn. 105 bis 118; unten Rdn. 61 ff)· In der Praxis wird das Subsidiaritätsprinzip den Verzicht auf die Maßregelanordnung vor allem bei Alterstätern sowie bei jungen Menschen nahelegen, bei denen schon die bloße Anordnung der Maßregel schwerwiegende und therapeutisch negative Folgen für ihre weitere berufliche Ausbildung und soziale Einordnung hat (Rdn. 73). Da nach dem in diesem Kommentar vertretenen Subsidiaritätsgesetz (Rdn. 11; Hanack Rdn. 58 ff vor §61) das Maßregelrecht auf Täter, bei denen die Maßregel nicht erforderlich ist, keine Anwendung findet, dürfte entgegen Hanack § 64 Rdn. 86 auch kein Bedenken dagegen bestehen, die Einwirkung im (36)

Aussetzung zugleich mit der Anordnung (Horstkotte)

§ 67 b

Rahmen der Sïra/àussetzung zur Bewährung für ausreichend zu halten, um der Gefährlichkeit zu begegnen; in diesem Sinne kann die mit der Aussetzung einer Strafe verbundene Bewährungsaufsicht insbesondere eine Anordnung nach § 64 erübrigen, was sich aus den genannten therapeutisch-pädagogischen Gründen unter Umständen bei jungen Tätern empfehlen mag. 3. Die Aussetzung der Maßregel nach § 67 b setzt voraus, daß besondere Um- 14 stände die Erwartung rechtfertigen, daß der Zweck der Maßregel auch dadurch erreicht werden kann (§ 67 b Abs. 1 Satz 1). Zweck der in § 67 b genannten Maßregeln (§§ 63 bis 65) ist die Prävention (erg. Rdn. 40 und § 67 d Rdn. 53). Da bei der Aussetzung der Unterbringung auf die spezifischen Mittel und Hilfe der Anstaltsbehandlung nach den §§ 63 bis 65 verzichtet wird, kann es auf sie bei der Bestimmung des Maßregelzwecks nicht ankommen. Was übrigbleibt, ist die Verhütung neuer rechtswidriger Handlungen, gleichviel mit welchen Mitteln. In demselben, vom Behandlungsangebot der Anstalt abgelösten, Sinne verwendet das Gesetz den Begriff „Zweck der Maßregel" in § 67 c Abs. 2 Satz 4, 5. In der Sache handelt es sich trotz negativer Formulierung („Ist das nicht der F a l l . . . " ) bei § 67 c Abs. 1 Satz 2 um die gleiche Entscheidung: Dort ist ebenfalls darauf abzustellen, ob der Sicherungszweck der Maßregel auch ohne ihre Vollstreckung, das heißt durch Aussetzung, erreicht werden kann. Für die Entscheidung nach den §§ 67 b und 67 c Abs. 1 müssen deshalb dieselben Kriterien gelten (abweichend Lackner15 §67b Anm. 2 b). Die praktischen Gesichtspunkte, nach denen entschieden wird, stimmen ebenfalls in den Fällen der § 67b und 67c Abs. 1 weitgehend überein; das gilt insbesondere, wenn der Entscheidung nach § 67 c Abs. 1 nur ein verhältnismäßig kurzer Strafvollzug vorausgegangen ist. Nun sind die Kriterien für die Entscheidung nach § 67 c Abs. 1 ihrerseits dieselben wie diejenigen, die das Gesetz für die Aussetzung einer bereits vollzogenen Unterbringung näher in § 67d Abs. 2 Satz 1 umschreibt: Ausschlaggebend ist auch für die Aussetzung der Maßregel nach § 67 c Abs. 1 Satz 2, daß verantwortet werden kann zu erproben, ob der Täter außerhalb des Maßregelvollzugs keine rechtswidrigen Taten mehr begehen wird (Dreher-Tröndle 41 §67c Rdn. 3 ; Lackner 15 § 67 c Anm. 1 b ; weitere Nachweise, auch über abweichende Ansichten § 67 c Rdn. 46). Demnach sind die Kriterien für die Aussetzungsentscheidung in den Fällen der §§67b, 67 c Abs. 1 und 67 d Abs. 2 die gleichen (a. A. Sch .-Sch rôder-Stree21 § 67 c Rdn. 4 und SK-Horn* § 67 c Rdn. 4, die lediglich die Entscheidungskriterien nach den §§ 67 b und 67 c Abs. 1 gleichsetzen und dabei ersichtlich annehmen, daß die Aussetzung nach diesen Vorschriften an restriktivere Voraussetzungen geknüpft sei als diejenige nach §67d Abs. 2; dazu näher §67c Rdn. 46 O-Vgl. auch unten Rdn. 34, 55. 4. Die Entscheidung, ob eine Aussetzung nach § 67 b verantwortet werden kann, 15 schließt eine Prognose über die künftige Entwicklung des Täters und seiner Umgebung ein. Die Frage, auf welchen Zeitpunkt bei dieser Prognose abzustellen ist (allgemein zum Prognosezeitpunkt: Hanack Rdn. 53 bis 55 vor § 61), ist meist unproblematisch (Rdn. 5, 51): Es kommt auf den Zeitpunkt des letzten tatrichterlichen Urteils an, denn die Aussetzung (und die mit ihr verbundene Führungsaufsicht) tritt alsbald in Wirksamkeit. Fälle, in denen zunächst die neben der Maßregel angeordnete Strafe zu vollziehen ist, sind aus dem Anwendungsbereich des §67b ausgeschlossen (§ 67 b Abs. 1 Satz 2). Nur in dem Ausnahmefall, daß zwar mit der Maßregel keine zu vollstreckende Strafe angeordnet worden ist, indessen eine andere, nicht ausgesetzte Strafe oder Maßregel noch zu vollziehen ist, kann der Strafvollzug (37)

§ 67 b

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

der mit § 67 b bezweckten Erprobung in der Freiheit vorangehen (dazu s. Rdn. 89 ff). Hier hat der Richter die Wirkungen des Strafvollzugs in seine Prognose einzubeziehen. Er hat die Maßregel also auch dann auszusetzen, wenn er davon überzeugt ist, daß die Erprobung des Verurteilten in Freiheit zwar noch nicht im Zeitpunkt des Urteils, wohl aber im Anschluß an den anderweitig angeordneten Freiheitsentzug gewagt werden kann. Denn die in die Zukunft gerichtete Prognose „darf und muß auch Umstände berücksichtigen, die eine positive Wirkung erst erwarten lassen" (BGH NJW 1978 599). Eine besondere Schwierigkeit ergibt sich, wenn der Richter — umgekehrt — eine Aussetzung der Maßregel zwar im Zeitpunkt des Urteils verantworten könnte, aber annehmen muß, daß der bevorstehende oder laufende Strafvollzug in einer anderen Sache die Prognose soweit verschlechtern wird, daß nach dem Strafvollzug die Erprobung in Freiheit nicht mehr gewagt werden kann. Hier fehlt es an den Voraussetzungen für eine Aussetzung nach § 67 b. Ordnet der Richter dementsprechend eine nicht ausgesetzte Maßregel an, so wird diese nach der Regel des § 44 a Abs. 1 Satz 2 StVollstrO alsbald (vor der Freiheitsstrafe) vollstreckt. Eine entsprechende Anwendung des § 67 Abs. 2, die den die Maßregel anordnenden Richter in die Lage versetzen würde, den Vorwegvollzug der Maßregel anzuordnen, ist nicht möglich (näher Rdn. 90 m. w. Nachw.). Aus dem Maßregelvollzug indessen könnte der Täter alsbald nach § 67 d Abs. 2 entlassen werden. In einem solchen Fall wird der Maßregelrichter darauf hinwirken müssen, daß die Vollstreckung der Freiheitsstrafe nach § 57 oder gnadenhalber unterbleibt. Ist dies nicht möglich und kann der Betroffene in der Anstalt (§§ 63, 64) nicht im Hinblick auf den Entlassungszeitpunkt (nach anschließender Strafvollstreckung) gefördert werden, so wird eine Vereinbarung der Vollstreckungsbehörden herbeizuführen sein, die von § 44 a Abs. 1 Satz 2 StVollstrO abweicht (vgl. im einzelnen Rdn. 89 ff)· 16

5. Das Gesetz macht die Aussetzung der Maßregel vom Vorliegen besonderer Umstände abhängig (§ 67 b Abs. 1 Satz 1). Dabei braucht es sich, anders als in § 47 Abs. 1, § 56 Abs. 2, § 57 Abs. 2 und § 59, nicht notwendig um Umstände zu handeln, die mit der Tat oder der Persönlichkeit des Täters zusammenhängen (abweichend die Formulierung des BGH : „Gegebenheiten in der Tat oder in der Person des Täters" bei Dallinger MDR 1975 724 sowie in 3 StR 316/76 v. 13. 10. 1976 und 4 StR 30/81 v. 26. 2.1981). Von Bedeutung sind hier insbesondere Umstände, die die Umgebung des Täters betreffen, ζ. B. die Möglichkeit der Therapie in einer bestimmten Einrichtung (BGH NStZ 1983 167; BGH 5 StR 254/80 v. 20. 5.1980) oder der Beaufsichtigung in der Familie (BGH 3 StR 316/76 v. 13.10.1976; 3 StR 67/77 v. 23. 3.1977). Die systematische Funktion der „Umständeklausel" ist nicht leicht zu bestimmen. Die Auslegung hat davon auszugehen, daß das Gesetz in § 67 c Abs. 1 und § 67 d Abs. 2 nicht auf besondere Umstände abstellt, obwohl in den dort bezeichneten Fällen sonst die gleichen prognostischen Kriterien gelten (vorstehend Rdn. 14). Die für die Auslegung der §§ 56 Abs. 2, 57 Abs. 2, 59 entwickelten Grundsätze können nicht auf § 67 b übertragen werden. Das — nicht unangefochtene — Bestreben der Rechtsprechung, als „besondere Umstände" bei der Sirq/àussetzung nur außergewöhnliche Fälle zu verstehen (Ruß § 56 Rdn. 37 ff, § 57 Rdn. 18) beruht darauf, daß dem Schuldausgleich und der Generalprävention des ausschlaggebende Gewicht beigemessen wird; für die Aussetzung der Maßregel sind diese Gesichtspunkte bedeutungslos. Die Vorschrift des § 67 b dient dazu, die Unterbringung als einschneidende Rechtsbeeinträchtigung zu vermeiden, soweit andere Vorkehrungen (38)

Aussetzung zugleich mit der Anordnung (Horstkotte)

§ 67 b

ausreichen, und der ärztlichen Tendenz zur Enthospitalisierung Rechnung zu tragen (oben Rdn. 1, 2). Durch eine enge Auslegung des Merkmals „besondere Umstände" in §67b wird diese Zielsetzung vereitelt, wenn zuverlässige Alternativen zur Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus und der Entziehungsanstalt unberücksichtigt bleiben. Anders als etwa bei der Strafzumessungsvorschrift des § 56 Abs. 2 ist deshalb bei § 67 b trotz des Merkmals „besondere Umstände" aliein auf Zweckmäßigkeitsgesichtspunkte in dem Sinn abzustellen, daß dem Vollzug der strafrechtlichen Unterbringung jede Alternative vorzuziehen ist, die künftige rechtswidrige Handlungen ebenso wirksam verhütet. Zwar genügt nicht die „allgemeine Annahme, die Aussetzung reiche aus" (Sch.-Schröder-Stree21 § 67 b Rdn. 5; unten Rdn. 19). Andererseits sollten jedoch „durchschnittliche, gewöhnlich vorkommende Fälle" nicht grundsätzlich von der Maßregelaussetzung ausgeschlossen werden (ergänzend Rdn. 19 mit weiteren Nachweisen). Das Merkmal „besondere Umstände" kann auch nicht in dem Sinne verstanden 17 werden, daß die Aussetzung der Maßregel im Zweifelsfall zu unterbleiben habe, der Grundsatz „in dubio pro reo" also nicht gelte (so möglicherweise Sch.-SchröderStree^l §67b Rdn. 6). Diese Funktion wird der Umstände-Klausel auch nicht bei der Auslegung der §§ 56, 57, 59 und 69a beigemessen; freilich weisen diese Vorschriften die Besonderheit auf, daß sie Kannbestimmungen sind, während § 67 b (ebenso wie § 67 c Abs. 2 Satz 4) zur Aussetzung verpflichtet. Die Frage, ob eine Erprobung in Freiheit verantwortet werden kann (vorstehend Rdn. 16), läßt sich ebensowenig wie bei den §§ 67 c, 67 d Abs. 2 (dazu § 67 c Rdn. 92 ff, § 67 d Rdn. 74 ff) mit Hilfe des Satzes „in dubio pro reo" beantworten (siehe nachstehend Rdn. 20). Daß der Richter von der Verantwortbarkeit der Aussetzung überzeugt sein muß, versteht sich hier ebenso wie in den Fällen der §§ 67 c, 67 d Abs. 2 von selbst. Ergänzend s. Rdn. 20 ff. Die Gesetzgebungsmaterialien geben keinen Aufschluß darüber, warum das Ge- 18 setz in § 67 b das Merkmal „besondere Umstände" verwendet, in den vergleichbaren Fällen der §§ 67 c, 67 d Abs. 2 dagegen nicht I 4 . Das Merkmal „besondere Umstände" erscheint schon im ersten Formulierungsvorschlag, den das Ministerium der Großen Strafrechtskommission vorgelegt hat (Niederschriften Band 4, S. 481), ist aber als solches nicht diskutiert worden. Da in den Fällen der §§ 67 c, 67 d Abs. 2 immerhin eine rechtskräftige Unterbringung vorliegt, hätte dort eine Einschränkung nach Art der Umständeklausel nähergelegen als bei § 67 b ; wohl aus diesem Grunde knüpfen Sch.-Schröder-Streek (§67c Rdn. 4, §67d Rdn. 11) und SKHorn 3 (§ 67 c Rdn. 4, § 67 d Rdn. 8) bei der Auslegung der §§ 67 c, 67 d trotz der im Hinblick auf die Umständeklausel unterschiedlichen Gesetzesfassung an die Interpretation des § 67 b an (dazu § 67 c Rdn. 47, § 67 d Rdn. 30, 74). Dem Gesetzeszweck wird nur eine Auslegung gerecht, die dem Merkmal „beson- 19 dere Umstände" die Aufgabe zuweist, den Richter zu konkreten, positiven Feststellungen über Alternativen zum Maßregelvollzug anzuhalten (im gleichen Sinne Dreher-Tröndle41 § 67b Rdn. 3; SK-Horn^ § 67b Rdn. 5; wohl auch Lackner15 § 67b Anm. 2 b): „Ein Verzicht auf den sofortigen Vollzug der Maßregel kann . . . nur verantwortet werden, wenn sich die Annahme des Gerichts, mit der Aussetzung zur Bewährung auszukommen, auf bestimmte besondere Umstände stützt, die aus14

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In den ersten Entwürfen diente das Merkmal „besondere Umstände" möglicherweise dazu, die zunächst vorgesehene Aussetzung der Sicherungsverwahrung (§ 90 E 1956) in engen Grenzen zu halten.

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

drücklich festgestellt werden müssen" (E 1962 S. 235). Stellt der Richter solche konkreten Umstände nicht fest, so ist einerseits zu besorgen, daß er die Frage, ob der Verzicht auf den Maßregelvollzug gewagt werden kann (BGH bei Dallinger M D R 1975 724; BGH 3 StR 316/76 vom 13.10.1976 und 4 StR 30/81 vom 26. 2.1981), nicht ausreichend geprüft, insbesondere die festgestellte Gefährlichkeit des Täters im Zusammenhang mit der Frage der Erforderlichkeit der Unterbringung nicht genügend gewürdigt hat. Andererseits kann eine derartige Lücke in den Urteilsgründen auch darauf hinweisen, daß der Richter die Voraussetzungen für die Anordnung der Maßregel vorschnell bejaht hat, sei es, daß der Täter im Hinblick auf seine Lebensverhältnisse in Wahrheit nicht gefahrlich ist, sei es, daß sich die Anordnung der Maßregel schon erübrigt, weil andere Vorkehrungen die mit der Führungsaufsicht gegebene Kontrolle entbehrlich machen. Insofern trifft es zu, daß die „allgemeine Annahme", die Aussetzung reiche aus, nicht genügt (Sch.-Schröder-Streek § 67b Rdn. 5; SK-Horn3 § 67b Rdn. 5; E 1962 S. 235). Das bedeutet aber nicht, daß die Aussetzung der Maßregel auf Ausnahmefälle beschränkt, ihre Vollstreckung dagegen die Regel ist. Die Gründe des Schuldausgleichs und der Generalprävention, die die Rechtsprechung veranlaßt haben, ein solches Regel/Ausnahmeverhältnis zwischen Vollstreckung und Strafaussetzung anzunehmen (dazu Ruß § 56 Rdn. 39 bis 41), sind auf das Maßregelrecht nicht übertragbar (Rdn. 16). Der Ausdruck „besondere Umstände" verweist auch dem Wortsinne nach nicht zwingend auf eine (statistische) Ausnahme. Es ist möglich, jedenfalls wünschenswert, daß mit der Fortentwicklung der zur Zeit noch unbefriedigenden ambulanten und halbstationären psychiatrischen Versorgung 15, ferner mit der Weiterentwicklung medizinischer Behandlungsmethoden und der Therapie bei Drogenabhängigen, das Bedürfnis nach Unterbringung immer mehr abnehmen und der ambulanten oder halbstationären Behandlung Platz machen wird. Der Bericht der Sachverständigenkommission über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland besagt schon für die Gegenwart, daß die Zahl derjenigen, die wegen ihrer Gefährlichkeit in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht werden müssen, kleiner ist als oft angenommen wird (BT-Drucks. 7/4200 S. 371; Finzen/Schädle-Deininger Die Psychiatrieenquete [1979] 371). Der — trotz gewisser Schwankungen tendenzielle Rückgang der Zahl angeordneter Unterbringungen nach den §§ 42 b a. F., 63 n. F. (1940: 1087; 1955: 602; 1965: 419; 1979:370) weist in dieselbe Richtung. Geht man davon aus, daß in der Bundesrepublik zwei bis drei Prozent der hospitalisierten psychisch Kranken auf Grund strafrichterlicher Anordnung untergebracht sind 16, während der Anteil der nach den Landesunterbringungsgesetzen Eingewiesenen um ein Vielfaches höher ist (nach dem Bericht der Kommission über die Lage der Psychiatrie [aaO S. 369] zwischen sechs und fünfzig Prozent), berücksichtigt man ferner die noch größere Zahl der vom Pfleger oder Vormund Untergebrachten (§§ 1631 b, 1800, 1915 BGB), so ist selbst unter Berücksichtigung des Umstandes, daß ein Teil der nach dem Landesunterbringungsrecht und dem BGB Unterge15 Bericht der Sachverständigenkommission über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland, BT-Drucks. 7/4200, 4201, besonders die Abschnitte A 1, Β 1, Β 2.2, Β 3.2; dazu der Zwischenbericht der Kommission BT-Drucks. 7/1124 und die Stellungnahme der Bundesregierung BT-Drucks. 8/2565 mit Äußerungen der Länder. 16 Am 31. 12. 1978 betrug die Bettenzahl stationärer psychiatrischer Institutionen 112 000 (Statistisches Jahrbuch 1980 für die Bundesrepublik Deutschland S. 372), die Zahl der strafgerichtlich in einem psychiatrischen Krankenhaus Untergebrachten 2874 (Statist. Bundesamt Fachserie 10, Reihe 4 1978 S. 34); Koester (bei Reimer, Krankenhauspsychiatrie [1977] S. 98) schätzt den im Text genannten Prozentsatz auf vier bis fünf Prozent. (40)

Aussetzung zugleich mit der Anordnung (Horstkotte)

§ 67 b

brachten nicht für andere gefährlich ist, zu vermuten, daß schon jetzt die Unterbringung nach § 63 bei den zu rechtswidrigen Taten neigenden Kranken nicht die Regel, die anderweitige Disposition keine statistische Ausnahme ist 1?. Daß der Beurteilungsmaßstab bei der Entscheidung nach §67b strenger sein müsse als bei der Aussetzung nach vorangegangenem Straf- und Maßregelvollzug (Lackner 15 § 67b Anm. 2 b), kann hiernach nicht angenommen werden. Entscheidend ist — hier wie dort — allein, ob unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit zuverlässige Alternativen zum Maßregelvollzug zur Verfügung stehen und ob ihre Verwendung im Hinblick auf die Gefährlichkeit des Täters verantwortet werden kann. 6. MaDregelaussetzung in Zweifelsfällen. Bei der Entscheidung über die Ausset- 20 zung nach § 67b sind Zweifel des Richters in verschiedener Hinsicht denkbar; sie beziehen sich zum Teil auf Fragen, die schon die Anordnung der Maßregel und nicht nur ihre Aussetzung betreffen. a) Um Zweifel an der Gefährlichkeitsprognose handelt es sich, wenn der Richter 21 sich davon nicht überzeugen kann, daß der Täter in seiner konkreten Umwelt (Familie, private Unterbringung in einem Heim oder Krankenhaus, räumliche Entfernung vom Konfliktsherd) mit bestimmter Wahrscheinlichkeit neue Straftaten begehen wird. Der Richter hat bei seiner Prognose auch zu berücksichtigen, ob die derzeitigen, kriminalitätsverhütenden Lebensverhältnisse anzudauern versprechen. Muß damit gerechnet werden, daß sie sich — durch ein Verhalten des Täters oder durch andere Ereignisse — zum Nachteil der Sicherheitslage ändern, so hat er dies in seiner Gefährlichkeitsprognose einzubeziehen; daraus kann sich die Ansicht des Richters ergeben, daß der Täter gefährlich ist. Von dieser Gefährlichkeit muß der Richter, wie auch sonst im Maßregelrecht, überzeugt sein. Zweifel an der Gefährlichkeit stehen der Anordnung einer Maßregel entgegen; der Satz „in dubio pro reo" gilt (heute ganz überwiegende Meinung) 18. b) Die Frage, ob der Satz „in dubio pro reo" gilt, wenn zweifelhaft ist, ob die 22 Unterbringung erforderlich ist oder ob andere Vorkehrungen ausreichen, stellt sich für die h. M. (oben Rdn. 5) erst bei der Entscheidung über die Aussetzung (§ 67b). Für die abweichende, auf dem Subsidiaritätsgrundsatz beruhende Auffassung dieses Kommentars (oben Rdn. 11) geht es hier schon um die Voraussetzungen für die Anordnung der Maßregel. Ebenso wie die sonstigen Eingriffsvoraussetzungen muß danach auch die Erforderlichkeit der Unterbringung feststehen; zweifelt der Richter an ihr, so gilt der Grundsatz „in dubio pro reo" (Stree S. 100; zum früheren Recht aus der Rechtsprechung: BGHSt. 5 350, 352; BGH NJW 1951 450, 1953 1559; BGH JR 1954 267,1959 305). Aus materiellrechtlichen Gründen reicht jedoch nicht jede zur Verfügung stehende Alternative zum Maßregelvollzug aus, um die Erforderlichkeit der Unterbringung zu verneinen ( Warda S. 150). Das Urteil über die Erforderlichkeit der Maßregel schließt die Prognose ein, daß ein milderes Mittel 17

Weitere Hinweise zur „Dunkelziffer" der nicht nach § 63 untergebrachten psychisch kranken Rechtsbrecher bei Venzlaff(1978) S. 26 und Böker/HäfnerS. 57. 18 Hanack Rdn. 38, 48 bis 50 vor §61; Dreher-Tröndle41 Rdn. 3 vor §61, Sch.-SchröderStreek Rdn. 9 vor §61, Lackner15 §61 Anm. 4a; Bruns JZ 1958 647ff [grundlegend]; Stree S. 98; Nowakowski v. Weber-Festschr. S. 98 ff, 116f; Nowakowski Festschr. f. Broda (1977) S. 193ff, 210; Sarstedt Die Revision in Strafsachen4 (1962) S. 243; LR-Schäfer^ Einl. Kap. 13 Rdn. 52; Bruns Strafzum. S. 173f; Bruns Leitfaden des Strafzumessungsrechts (1980) S. 256f; a. A. Bockelmann AT § 44 A II 4 c; Dreher38 Rdn. 3 vor § 61 ; nuancierend SK-Hom* § 61 Rdn. 13.

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§ 67 b

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

als die Anordnung ausreicht. Diese Entscheidung enthält ein wertendes Element: Welche Alternativen ausreichen, hängt nicht nur von der Art der Alternativen ab; an ihre Zuverlässigkeit sind um so höhere Anforderungen zu stellen, je schwerer der bei einer neuen Tat drohende Schaden sein würde und je höher der Grad der Rückfallgefahr ist. Bei der Gefahr sehr schwerer, zumal irreparabler Schäden ist eine Sicherheitsmarge von dem materiellrechtlichen Kriterium der Erforderlichkeit umfaßt (vgl. Hanack § 63 Rdn. 83 bis 89; § 64 Rdn. 82 bis 84; § 65 Rdn. 165 0- Die Geltung des Satzes „in dubio pro reo" ist damit nicht in Frage gestellt: Der Richter muß von der so verstandenen Erforderlichkeit der Maßregelanordnung überzeugt sein; ist er es nicht, so hat die Anordnung der Maßregel (auch einer ausgesetzten Maßregel) zu unterbleiben. Im Ergebnis übereinstimmend, wenn auch in der Begründung zweifelhaft, ist die These, daß bei der Auswahl der präventiven Mittel im Falle des non liquet zuungunsten des Täters zu entscheiden sei (Stree S. 100; KMRPaulusl § 244 Rdn. 327). 23

c) Auch bei der Entscheidung, ob die angeordnete Maßregel ausgesetzt werden kann oder zunächst zu vollstrecken ist, sind prognostische und wertende Momente miteinander verquickt: Um eine Prognose geht es bei der Ermittlung, ob von dem Angeklagten unter den gegebenen besonderen Umständen und Vorkehrungen, auch angesichts der mit der Aussetzung verbundenen Führungsaufsicht, weitere erhebliche rechtswidrige Taten im Sinne seiner Gefährlichkeit zu erwarten sind, wenn die Unterbringung nicht vollzogen wird. Daneben fällt auch hier die Schwere und die Art des bei einem Rückfall zu befürchtenden Schadens und der Grad der Gefahr ins Gewicht. § 62 ist zu beachten: Die Vorschrift legt die Aussetzung der Maßregel nahe, weil sie den Täter weniger belastet als die Unterbringung; § 62 rechtfertigt aber auch eine vorsichtige Beurteilung der Aussetzungsfrage, wenn besonders schwere Straftaten in Rede stehen. Betrifft die festgestellte Gefährlichkeit irreparable Schäden (Tötungsdelikte), so ist eine Sicherheitsmarge zugunsten des Rechtsgüterschutzes verantwortbar. Läßt sich dagegen der Schaden, wie bei Vermögensdelikten, ersetzen, so gewinnen Überlegungen an Gewicht, daß die erfolgreiche Behandlung außerhalb des Maßregelvollzuges die Gefahr des Rückfalls zwar anfänglich etwas erhöht, auf lange Sicht dagegen wirksamer bekämpft. Ähnliche Erwägungen sind zum Beispiel auch bei leichteren Taten nach § 176 und bei Betäubungsmittelvergehen Drogenabhängiger gerechtfertigt. Die Erprobung des Täters in Freiheit ist immer ein Wagnis (vgl. BGH bei Daliinger MDR 1975 724; BGH 3 StR 316/76 vom 13.10.1976 und 4 StR 30/81 vom 26. 2.1981). Verschiedene Beurteiler werden bei gleichen Gegebenheiten unterschiedlich entscheiden: Risikobereitschaft, die auf den größeren Nutzen der außerhalb des Maßregelvollzuges leichter erreichbaren Heilung abhebt, und Vorsicht, die das Gewicht auf die gegenwärtige Kontrollmöglichkeit innerhalb der Anstalt legt, werden dem Gesetzeszweck der Besserung und Sicherung in gleicher Weise gerecht, können aber zu verschiedenen Ergebnissen führen. Der Grundsatz „in dubio pro reo", obwohl auch hier anwendbar, vermag bei solchen materiellrechtlichen Voraussetzungen keine große praktische Bedeutung zu erlangen. 24 Ist der Richter auf Grund einer Gesamtwürdigung und Gesamtwertung davon überzeugt, daß auch eine mit Führungsaufsicht und Vorkehrungen verbundene Aussetzung der Maßregel nicht genügt, um der festgestellten Gefährlichkeit wirksam zu begegnen, so hat er für den Vollzug der Unterbringung zu sorgen, also von einer Aussetzung nach § 67b abzusehen; überzeugt er sich davon, daß die Maßregelaussetzung mit Führungsaufsicht als äußerstes Mittel nichtfreiheitsentziehender (42)

Aussetzung zugleich mit der Anordnung (Horstkotte)

§ 67 b

strafrechtlicher Einwirkung ausreicht, so hat er die Maßregel auszusetzen. Hält er den Erfolg der Aussetzung für möglich, aber nicht gesichert, so kommt es auf das Werturteil an, welches Risiko unter Abwägung der Sicherheits- u n d Behandlungsinteressen im Lichte des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes u n d des damit zusammenhängenden Subsidiaritätsprinzips (das hier unbestritten ist) verantwortet werden kann. Dabei darf der Richter zum Nachteil des Täters nur Tatsachen zugrunde legen, die nach seiner Überzeugung bewiesen sind (insoweit unbestritten). Die Situation des non liquet, in der der Satz „in dubio pro reo" anzuwenden ist, ergibt sich nur, wenn der Richter die f ü r und gegen eine Aussetzung sprechenden Gesichtspunkte in ihrer Gesamtheit f ü r gleichgewichtig hält; hier hat er sich für die Aussetzung zu entscheiden (über abweichende Auffassungen nachstehend bei Rdn. 25). Ist der Richter dagegen lediglich der Ansicht, daß Erfolg u n d Mißerfolg der Aussetzung gleich wahrscheinlich sind, so ist noch keine Situation des non liquet gegeben: Bei einer solchen Konstellation hat er unter Berücksichtigung des Gewichts der in Frage k o m m e n d e n Taten zu entscheiden, ob eine Erprobung außerhalb des Maßregelvollzugs zu verantworten ist. Auch unter den genannten Bedingungen k a n n eine Erprobung außerhalb des Maßregelvollzugs verantwortbar sein ; dann ist die Erwartung „gerechtfertigt" ( § 6 7 b Abs. 1 Satz 1), daß der Maßregelzweck durch die Aussetzung erreicht werden kann. Ergänzend vgl. Rdn. 45 mit Nachweisen. In der Literatur wird zum Teil eine abweichende Ansicht vertreten : Für die Aus- 2 5 setzungsprognose gelte der Grundsatz „in dubio pro reo" nicht, weil die Maßregel nach Wortlaut und Zweck des Gesetzes nur ausgesetzt werden solle, wenn die Entschärfung der Gefährlichkeit durch besondere Umstände feststehe (Lackner15 Anm. 4 b vor § 61 unter Hinweis auf § 67 b); der Richter dürfe die Regel nur aussetzen, wenn er fest damit rechne, daß die Gefährlichkeit auch bei einer Aussetzung gebannt ist (Sch.-Schröder-Stree 2 1 § 67 b Rdn. 6). Diese Abkehr von der Regel „in dubio pro reo" kann zunächst an die überwiegend vertretene Auffassung anknüpfen, d a ß für die Entlassung aus dem Maßregelvollzug (§ 67 d Abs. 2) der Grundsatz „in dubio pro reo" nicht g e l t e t . Für diesen Standpunkt wird geltend gemacht, daß die Gefährlichkeit des Täters, gegebenenfalls auch die Erforderlichkeit des Maßregelvollzugs, schon früher rechtskräftig festgestellt worden sei und daß daran festgehalten werden müsse, bis ein abweichender Sachverhalt feststeht (Hanack Rdn. 51 vor § 6 1 ; B. Müller S. 135; ähnlich S tree S. 107 f)· Ob dieses Argument zutrifft, ist hier nicht näher zu erörtern (vgl. § 67 c Rdn. 92 ff, § 67 d Rdn. 7 5 0 · Jedenfalls paßt es nicht zu § 67 b, weil hier der Aussetzung keine rechtskräftige Feststellung der Gefährlichkeit vorangeht; vielmehr hat der Richter gleichzeitig über die Gefährlichkeit und die Erforderlichkeit des Maßregelvollzuges zu entscheiden u n d dabei auch die wechselseitigen Bezüge beider Gesichtspunkte zu beachten. Darin entspricht die Situation des § 67 b den Fällen der Strafaussetzung nach § 56 StGB. Insoweit wird (bei größter Zurückhaltung des BGH, vgl. B G H bei Daliinger M D R 1973 900; B G H GA 1976 114; B G H 5 StR 470/79 vom 25. 9. 1979) überwiegend angenommen, daß 19 Hanack Rdn. 51 vor §61; Lackner15 Anm. 4b vor §61; Müller-Sax-Paulusl §244 Rdn. 326; Bruns JZ 1958 651; Stree S. 106; B. Müller S. 135; OLG Köln NJW 1955 683; OLG Karlsruhe JZ 1958 669; a. A. Lang-Hinrichsen LK 9 §42f Rdn. 4, §42g Rdn. 4; Nowakowskiv. Weber-Festschr. S. 117f und Festschr. f. Broda (1977) S. 209; Geppert Die Bemessung der Sperrfrist bei der strafgerichtlichen Entziehung der Fahrerlaubnis (1968), S. 122, Terhorst MDR 1978 973. Vgl. jetzt vor allem die Arbeit von Frisch (oben Fn. 11 zu Rdn. 11). (43)

§ 67 b

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

zwar die tatsächlichen Grundlagen der Prognose zweifelsfrei festgestellt werden müßten, dagegen die Prognose selbst nicht der Regel „in dubio pro reo" unterl i e g e 20. Doch gewinnt neuerdings die Auffassung an Boden, d a ß — im Sinne der hier vertretenen Ansicht — ein Wahrscheinlichkeitsurteil Gegenstand voller richterlicher Überzeugung sein k a n n (Sarstedt Die Revision in Strafsachen 4 S. 251) u n d d a ß die Fragen, die bisher unter dem Gesichtspunkt „in dubio contra reum" erörtert worden sind, in Wahrheit die Problematik betreffen, welchen materiellen Inhalt die in § 56 bezeichnete Prognose haben muß21. Im übrigen sind die Grundsätze der Strafzumessung, um die es im Zusammenhang mit § 56 geht, nicht auf das Maßregelrecht zu übertragen. Zum Ganzen s. jetzt Frisch S. 146 ff (vgl. oben Rdn. 11, Fn 11). 26

7. Die praktische Funktion der Aussetzung nach § 6 7 b besteht in erster Linie darin, einen nicht unbedingt notwendigen Freiheitsentzug zu vermeiden. Gleichzeitig soll die Therapie, die vielfach außerhalb des Maßregelvollzugs mehr Erfolg verspricht 22, gefördert werden; zu diesem Zweck k a n n die Aussetzung mit therapeutisch orientierten Weisungen verbunden werden (§ 68 b Abs. 2 i. V. m. § 56 c Abs. 3). Trotzdem ist die Aussetzung nicht als selbständige ambulante Sanktion gegen psychisch Auffällige u n d Süchtige zu verstehen, wie sie z. B. — jeweils in unterschiedlicher Form — in England u n d Wales als „Psychiatric Probation O r d e r " 23( in Schweden als Einweisung in besondere Fürsorge u n d P f l e g e 24 u n d in der Schweiz als „ M a ß n a h m e an geistig A b n o r m e n " sowie an „Trunk- u n d Rauschgiftsüchtigen" 25 vorgesehen ist. Die durch die Aussetzung ermöglichte ambulante, halbstationäre oder stationäre Behandlung ist keine strafrechtliche Maßnahme, auch nicht, wenn der Betroffene — mit seiner Zustimmung (§ 56 c Abs. 3) — vom Strafrichter angewiesen worden ist, sich einer Heilbehandlung oder Entziehungskur zu unterziehen oder in einem Heim oder einer Anstalt Aufenthalt zu nehmen (§ 56 c Abs. 3 i. V. m. § 68 b Abs. 2, § 67 b Abs. 2). Die Kosten f ü r diese Behandlung trägt nicht die Justizverwaltung, sondern je nach Sachlage ζ. B. der Träger der gesetzlichen Krankenversicherung (vgl. Hanack § 64 Rdn. 126), der Rentenversicherung (§ 1236 RVO), der öffentlichen Jugendhilfe (§§ 88 ff J W G ) oder — subsidiär — der Sozialhilfe (vgl. insbesondere §§ 40, 72 B S H G und die VO vom 9. 6.1976, BGBl. I, 1469); bei M a ß n a h m e n der beruflichen Rehabilitation kommt als Kostenträger auch die Bundesanstalt f ü r Arbeit in Betracht (§§ 56, 57 AFG)26. Zu den Kosten f ü r Urin20 OLG Koblenz NJW 1980 2044; OLG Karlsruhe NJW 1980 134; Dreher-Tröndle41 § 56 Rdn. 6 m. Nachw.; Sch.-Schröder-Stree21 § 56 Rdn. 16; Rußl 56 Rdn. 14; a. A. SK-Horn* § 56 Rdn. 12; Terhorst MDR 1978 973. 21 Ruß § 56 Rdn. 14; Jescheck3 § 79 I 3; Bruns Strafzum. S. 173f; Bruns Leitfaden des Strafzumessungsrechts (1980) S. 256 f. 22 Zu den therapie- und rehabilitationsfeindlichen Wirkungen des Maßregelvollzuges vgl. auch Bergener in: Bergener (Hrsg.), Psychiatrie und Rechtsstaat (1981) S. 182 sowie — für die Schweiz — Frauenfelder S. 137,144. 23 Section III des Powers of Criminal Courts Act 1973 ; zur Anwendung dieser Section auch bei Taten von erheblichem Gewicht vgl. Thomas Principles of Sentencing2 (1979) S. 291 ff; im Jahre 1973 wurde die psychiatrische Behandlung vom Strafrichter fast 2000mal angeordnet (CrossThe English Sentencing System2 [1975] S. 63). 24 Kapitel 31 §§ 3, 4 des Kriminalgesetzbuches (übersetzt von Simson [1976]). 25 Artikel 43 Ziffer 2, Artikel 44 Ziffer 1 Satz 2 StGB; dazu Frauenfelder Die ambulante Behandlung geistig Abnormer und Süchtiger nach Artikel 43 und 44 StGB (1978). 26 Übersicht über die Kostenträger bei Quambusch Rechtsfragen bei der Betreuung geistig Behinderter (1981) S. 103 ff, 122 ff; vgl. ferner die Kommentare zum BSHG, besonders zu

Aussetzung zugleich mit der Anordnung (Horstkotte)

§ 67 b

kontrollen bei Drogenabhängigen (Rdn. 76) vgl. Adams/Gerhardt NStZ 1981 245; sie werden von unterschiedlichen Stellen, in Berlin von der Gesundheitsbehörde, getragen. Hängt die Aussetzung der Maßregel davon ab, daß eine Behandlung außerhalb des Maßregelvollzugs finanziell gesichert ist, so kann die gerichtliche Aufklärungspflicht nach § 244 Abs. 2 StPO (die auch die tatsächlichen Voraussetzungen des Rechtsfolgenausspruches betrifft) gebieten, die Kostenfrage durch die Gerichtshilfe (§ 160 Abs. 3 StPO) oder durch Nachfrage bei den in Betracht kommenden Kostenträgern zu klären; die Aussetzung der Maßregel darf nicht mit der Begründung abgelehnt werden, hinsichtlich einer außerstrafrechtlichen Maßnahme der Therapie oder sozialen Eingliederung sei die Kostenfrage ungeklärt. Zur Häufigkeit der Aussetzung nach § 67b s. Jacobsen in: Kury (Hrsg.), Prävention abweichenden Verhaltens (1982), S. 750 ff. Danach betrug in Niedersachsen 1980 der Anteil der nach § 67 b Abs. 2 unter Führungsaufsicht gestellten Probanden an der Gesamtzahl der im Zusammenhang mit der Anordnung einer freiheitsentziehenden Maßregel unter Führungsaufsicht Stehenden 15 % ( = 8,2 % aller unter Führungsaufsicht Stehenden). Zur bisherigen Praxis aus der Sicht eines Anstaltsarztes vgl. Bischof in: Laux/Reimer (Hrsg.), Klinische Psychiatrie (1982), S. 310. Der Umstand, daß es sich bei § 67 b nicht um eine eigenständige ambulante 27 Maßregel handelt, ist auch für die Anordnung der Maßregel bedeutsam: An die Verhältnismäßigkeit von Taten, Maßregel und Gefahr (§ 62) dürfen, wenn die Maßregel ausgesetzt wird, keine geringeren Anforderungen gestellt werden als in Fällen, in denen die Unterbringung zu vollziehen ist. Die ausgesetzte Maßregel ist keine Sanktion von geringerem Gewicht. Mit dem Widerruf der Aussetzung und dem anschließenden Maßregelvollzug muß gerechnet werden; für die Frage der Verhältnismäßigkeit (§ 62) ist die Schwere des Eingriffs demnach an der vollzogenen Unterbringung zu orientieren.

II. Art und Bedingungen der Aussetzung 1. Ausgesetzt wird nur die Vollstreckung der freiheitsentziehenden Maßregeln 28 nach den §§ 63, 64, 65. Die Anordnung der Maßregel hat in den Fällen des § 67 b insofern unmittelbare Folgen, als mit ihr nach § 67 b Abs. 2 stets Führungsaufsicht (§ 68 Abs. 2) eintritt, die ihrerseits immer die Unterstellung unter eine Aufsichtsstelle und die Bestellung eines Bewährungshelfers (§ 68 a Abs. 1) einschließt, ferner mit Weisungen verbunden werden kann (§ 68 b) und mindestens zwei Jahre dauert (§ 68 c Abs. 1, § 68 e Abs. 1 Satz 2). Insofern ist es eine verkürzte Redeweise, wenn üblicherweise von der „Aussetzung der Maßregel" gesprochen wird. 2. Vorausgesetzt ist, daß eine Maßregel tatsächlich angeordnet wird; unterbleibt 29 die Anordnung in den Fällen des § 64 Abs. 2, so kommt auch keine Aussetzung nach § 67 b in Betracht (s. Rdn. 76). 3. § 67 b betrifft die Aussetzung, die das erkennende Gericht zugleich mit der An- 30 Ordnung der Maßregel anordnet. Den Gegensatz bildet die Aussetzung einer bereits vorher rechtskräftig angeordneten Maßregel, sei es, daß diese schon vollzogen worden ist (§ 67 d Abs. 2), sei es, daß der Vollzug einer Freiheitsstrafe vorausgegangen ist (§ 67 c Abs. 1), sei es, daß sich der Täter zwischen der Anordnung der Maßregel und ihrer Aussetzung in Freiheit befunden hat (§ 67 c Abs. 2 Satz 4). Anordnung (45)

§ 67 b

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

und Aussetzung der Maßregel nach § 67 b müssen Gegenstand derselben Entscheidung (Urteil: § 260 StPO, auch i. V. m. § 414 StPO) sein. Das erkennende Gericht kann die Anordnung der Maßregel nicht nachträglich durch eine Entscheidung nach §67b ergänzen. Solche ergänzenden Entscheidungen können nur noch von der Strafvollstreckungskammer oder dem Vollstreckungsleiter nach den §§ 67 c, 67 d Abs. 2 getroffen werden. Wegen des frühestmöglichen Zeitpunkts einer Entscheidung nach § 67 c Abs. 1 vgl. § 67 c Rdn. 33 ff ; wegen der Aussetzung nach § 67 d Abs. 2 vor Beginn des Maßregel- und Strafvollzuges, die einer Ergänzung der Maßregelanordnung nahekommt, vgl. § 67 d Rdn. 82. Zur Anwendung des § 67 b bei nachträglicher Aussetzung der Jugendstrafe s. Rdn. 132. 31

4. Nach § 67 b können gegenwärtig nur die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63) und in einer Entziehungsanstalt (§ 64) ausgesetzt werden. Sofern § 65 in Kraft tritt, kommt die Unterbringung in der sozialtherapeutischen Anstalt hinzu. Die unter § 67 b fallenden Maßregeln haben sämtlich einen therapeutischen Einschlag. Hier macht sich geltend, daß therapeutische und rehabilitierende Maßnahmen in vielen Fällen größeren Erfolg versprechen, wenn sie außerhalb einer geschlossenen Anstalt vorgenommen werden, und daß auch dann, wenn eine stationäre Behandlung unerläßlich ist, das Einschreiten strafrechtlicher Instanzen wegen seiner stigmatisierenden Wirkung den Behandlungserfolg gefährdet. Der ersten dieser beiden Erwägungen entspricht es, daß im Gegensatz zu den älteren Unterbringungsgesetzen der Länder (Saage-Göppinger Freiheitsentziehung und Unterbringung 2 Rdn. III 398) zwei neuere Landesunterbringungsgesetze die Aussetzung der Unterbringung sowie des Verfahrens vorsehen, wobei die Aussetzung mit Behandlungsauflagen verbunden werden kann (§§ 19, 27 des Hamburgischen Gesetzes über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten vom 22. 9.1977, [GVB1. I S. 261]; § 23 des bremischen Gesetzes über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten vom 9.4. 1979 [GBl. S. 123]).

32

Bei der Unterbringung in der sozialtherapeutischen Anstalt (zum Inkrafttreten des § 65 s. „Entstehungsgeschichte") wird eine Aussetzung nach § 67 b nicht häufig in Betracht kommen: In den Fällen des § 65 Abs. 1 Nr. 1 wird die zugleich mit der Maßregel verhängte Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren schon wegen der Vorstrafen selten nach § 56 Abs. 2 ausgesetzt werden; schon deswegen wird in der Mehrzahl der Fälle eine Aussetzung der Maßregel an § 67 b Abs. 1 Satz 2 scheitern (vgl. Pätzold Die Eingriffsvoraussetzungen bei freiheitsentziehenden Maßregeln unter besonderer Berücksichtigung des Prinzips der Verhältnismäßigkeit, Diss. Tübingen 1975 S. 58). Größere Bedeutung könnte § 67 b für die Fälle des § 65 Abs. 1 Nr. 2 (Taten aus sexuellem Antrieb) gewinnen, die nach dem im Gesetz vorausgesetzten Schweregrad (kritisch dazu wegen § 62: Hanack § 65 Rdn. 168) eher für die begleitende Strafaussetzung in Betracht kommen. Doch ist hier, wie auch bei § 65 Abs. 1 Nr. 1, zu berücksichtigen, daß die Anordnung der Unterbringung nach § 65 Abs. 1 eine spezielle Indikation für die besonderen therapeutischen Mittel und sozialen Hilfen der sozialtherapeutischen Anstalt voraussetzt. Wo ein solcher Bedarf nach stationärer Behandlung besteht, werden nur selten besondere Umstände dafür sprechen, daß der Maßregelzweck von vornherein außerhalb der Anstalt erreicht werden kann; vielmehr wird sich hier regelmäßig der Übergang von anfänglicher stationärer zu späterer ambulanter Behandlung empfehlen. Dasselbe gilt für die Fälle des § 65 Abs. 3. Hauptanwendungsfall der Aussetzung einer Unterbringung nach § 65 wird demnach der Fall des § 65 Abs. 2 (gefährdete Jungtäter) sein; als alternative Einwirkung ohne Freiheitsentzug werden hier Maßnahmen der Berufsförde(46)

Aussetzung zugleich mit der Anordnung (Horstkotte)

§ 67 b

rung, unter Umständen auch der Aufenthalt in einem Wohnheim in Betracht kommen. Die Sicherungsverwahrung kann nicht nach § 67 b ausgesetzt werden. Das hängt 33 damit zusammen, daß die Sicherungsverwahrung zusammen mit einer Strafe angeordnet wird, die wegen der schlechten Prognose und der in § 66 vorausgesetzten Mindeststrafe praktisch niemals zur Bewährung ausgesetzt wird und vor der Maßregel zu vollstrecken ist (Prot. V, 464; E 1962 S. 236); auch fehlt es an geeigneten alternativen Sicherheitsmaßnahmen (Prot. V, 468). Die Sicherungsverwahrung kann daher nur nach den §§ 67 c, 67 d Abs. 2 ausgesetzt werden. Zwar ist die Erwägung, daß dem Verurteilten kein Nachteil entsteht, wenn die Prüfung der Aussetzungsfrage bis zum Ende der Strafverbüßung verschoben wird (E 1962 S. 236), nicht ganz zutreffend, weil die Anordnung der Sicherungsverwahrung während des Strafvollzuges Vollzugslockerungen behindert (Verwaltungsvorschriften zum StVollzG: Nr. 5 zu § 11, Nr. 3 zu § 13). Doch ist der Gesetzesbefehl eindeutig. Dem Übermaßverbot kann bei der Sicherungsverwahrung nur dadurch Geltung verschafft werden, daß von einer Anordnung der Maßregel abgesehen wird, wenn feststeht, daß der Angeklagte nach Verbüßung der Strafe nicht mehr gefährlich sein wird (Hanack § 66 Rdn. 151 f, 155; LackneA5 § 66 Anm. 5a, cc; a. A. die überwiegende Auffassung: BGHSt. 24 160, 164; BGH NJW1976 300; einschränkend BGH 5 StR 584/76 vom 16. 11. 1976; 4 StR 7/78 vom 9.3.1978; BGH Strafverteidiger 1981 71; zur Praxis bei § 66 Abs. 2 s. Fn. 4 [bei Rdn. 5]). 5. Aussetzungsfähig sind Maßregeln nach den §§ 63, 64, 65 Abs. 3, die ohne 34 gleichzeitige Bestrafung angeordnet werden (ergänzend Rdn. 81), ferner die zusammen mit der Strafe angeordneten Maßregeln nach den §§ 63 bis 65, sofern keine Freiheitsstrafe zu verbüßen ist (§ 67 b Abs. 1 Satz 2). Aus § 67 b Abs. 1 Satz 2 folgt nicht, daß die in den Fällen des § 21 neben der Maßregel angeordnete Strafe zwei Jahre (§ 56 Abs. 2) oder ein Jahr (§ 56 Abs. 1) nicht überschreiten dürfe; die Aussetzung der Maßregel ist auch dann möglich, wenn eine gleichzeitig verhängte höhere Strafe nach § 51 soweit erledigt ist, daß der Rest zur Bewährung ausgesetzt werden kann (s. Rdn. 83). Befindet sich der Täter zu diesem Zeitpunkt noch in Untersuchungshaft oder einstweiliger Unterbringung, so gleicht die Situation, in der die Maßregel nach § 67 b ausgesetzt wird, weitgehend der in § 67 c Abs. 1 bezeichneten Lage; das zeigt, daß die Voraussetzungen der Aussetzung in beiden Fällen nicht verschieden sein können (oben Rdn. 14). Mit einer Anordnung nach § 67 Abs. 2 ist die Aussetzung nach § 67 b nicht verein- 35 bar; in den Fällen des § 67 Abs. 2 kommt nur eine Aussetzung nach § 67 c Abs. 1 in Betracht (dazu: § 67 c Rdn. 88 f)· 6. Die Aussetzung der Maßregel ist, wenn die Voraussetzungen des § 67 b erfüllt 36 sind, obligatorisch (BGH 3 StR 67/77 vom 23.3.1977; Dreher-Tröndle41 Rdn. 3; PreisendanzW Anm. 4; Sch.-Schröder-Stree21 Rdn. 7). Das Gericht hat, ebenso wie in den Fällen der §§ 67c, 67d Abs. 2, keinen Ermessensspielraum; der Unterschied zu der Kann Vorschrift des § 70 a ist beabsichtigt (Prot. V, 464, 468). „Es ist nicht einzusehen, warum der Verurteilte mit dem einschneidenden Freiheitsentzug belastet werden soll, wenn infolge besonderer Umstände erwartet werden kann, daß seine Gefährlichkeit schon durch die bloße Aussetzung der Vollstreckung in Verbindung mit etwaigen weiteren Maßnahmen . . . behoben werden kann" (E 1962 S. 235). Zur Entscheidung im Zweifelsfalle s. Rdn. 20. Aus der obligatorischen Natur der Vor(47)

§ 67 b

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

schrift folgt, daß die Aussetzungsfrage (§ 67 b) bei jeder Anordnung einer Maßregel i. S. der §§ 63, 64, 65 geprüft werden muß, sofern nicht Abs. 1 Satz 2 der Aussetzung von vornherein entgegensteht. Die Urteilsgründe müssen eine solche Prüfung erkennen lassen (vgl. auch Rdn. 45, 136). 7. Verhältnis der Aussetzung nach § 67b zu anderen Entscheidungen: 37

a) Die Anwendung des § 67 b setzt voraus, daß eine Maßregel angeordnet wird. Unterbleibt die Anordnung der Maßregel, weil der Täter im Hinblick auf seine Lebensumstände nicht gefährlich ist, so ist § 6 7 b gegenstandslos. Dasselbe gilt nach dem hier vertretenen, von der überwiegenden Meinung abweichenden Subsidiaritätsgrundsatz (oben Rdn. 11), wenn andere Vorkehrungen zur Verhütung rechtswidriger Taten ausreichen; nicht hingegen, wenn zwar die Vollstreckung der Maßregel, nicht aber die Führungsaufsicht nach § 67 b Abs. 2 entbehrlich und deshalb die Anordnung der Maßregel (mit Aussetzung) erforderlich ist.

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b) Nach § 35 Abs. 1 BtMG (i. d. F. des Gesetzes vom 28. Juli 1981, BGBl. 1981 I, 681) kann die Vollstreckungsbehörde die Vollstreckung einer Maßregel nach § 64 für längstens zwei Jahre zurückstellen, wenn sich der Drogenabhängige in einer seiner Rehabilitation dienenden Behandlung befindet oder zusagt, sich einer solchen Behandlung zu unterziehen; die Zurückstellung wird nach § 35 Abs. 4 BtMG widerrufen, wenn die Behandlung unterbleibt oder abgebrochen wird. Die Aussetzung der Maßregel nach § 67 b darf nicht mit der Begründung abgelehnt werden, daß die Unterbringung nach § 35 BtMG nicht vollstreckt werden wird. Die Maßregelaussetzung hat (ebenso wie die Strafaussetzung) Vorrang vor der Zurückstellung nach § 35 BtMG 2 7 . Die Gründe, aus denen die Vollstreckungsbehörde die Zurückstellung widerrufen kann (§ 35 Abs. 4, 5 BtMG), berechtigen nicht ohne weiteres zum Widerruf der Maßregelaussetzung nach § 67 g. Ergänzend s. Rdn. 85.

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Nach den §§ 455, 455 a StPO i. V. m. § 463 StPO kann die Vollstreckungsbehörde die Vollstreckung der Maßregeln nach den §§ 64 und 65 aufschieben, wenn der Verurteilte in Geisteskrankheit verfallt; für alle Maßregeln ist der Aufschub der Vollstreckung bei lebensgefährlicher Krankheit vorgeschrieben (§ 455 Abs. 2); bei sonstigen Krankheiten ist er möglich (§455 Abs. 3; vgl. LR-ScAö/er23 §463 Rdn. 8). Auch hier kann das Gericht nicht allein deswegen von einer Aussetzung nach § 67 b absehen, weil es erwartet, daß die Vollstreckungsbehörde die Vollstreckung aufschieben wird. Schließlich kann die Aussetzung der Maßregelvollstreckung Gegenstand der Gnade sein; vgl. §§23, 34 der niedersächsischen Gnadenordnung, NdsRpfl. 1977 304; §§ 41, 44 der nordrh.-westf. Gnadenordnung vom 26.11.1975 (GVNW 1976 S. 17), § 27 der rheinl.-pfälz. Gnadenordnung vom 22. 3.1976 (JB1. S. 117), § 5 Abs. 4, § 26 der bayr. Gnadenordnung vom 2. 7.1974 (GVB1. S. 400).

27 Eberth/Müller Betäubungsmittelrecht (1982), § 35 BtMG, Rdn. 50. Für den Vorrang der S/rayàussetzung vor der Zurückstellung nach § 35 BtMG: Dreher-Tröndle41 § 56 Rdn. 2; Lackner15 § 56 Anm. 7; Eberth/Müller Betäubungsmittelrecht (1982), § 35 BtMG Rdn. 3, 36; Kömer BtMG (1982) §35 Rdn. 6; Joachimski Betäubungsmittelrecht3 (1982) §35 BtMG Anm. 18; Slotty NStZ 1981 327; Tröndle MDR 1982 2; Körner NJW 1982 677; vgl. auch die Materialien zu § 35 BtMG: BT-Drucks. 8/4267, 4283 — dort bes. S. 7 —, BTDrucks. 9/27, 443, 550. (48)

Aussetzung zugleich mit der Anordnung (Horstkotte)

§ 67 b

III. Die in § 67 b vorausgesetzte Prognose 40 Die Vollstreckung der Maßregel ist auszusetzen, „wenn besondere Umstände die Erwartung rechtfertigen, daß der Zweck der Maßregel auch dadurch erreicht werden kann" (§ 67 b Abs. 1 Satz 1). 1. Als „Zweck der Maßregel" ist hier die Verhütung erheblicher rechtswidriger Straftaten zu verstehen (s. Rdn. 14). Nur dieser Zweck rechtfertigt die Unterbringung; mit der Aussetzung wird versucht, ihn auf schonendere Weise zu erreichen. Zwar haben die in § 67b genannten Maßregeln einen therapeutischen Einschlag; aber die Therapie rechtfertigt den Freiheitsentzug und die nach § 67 b an seine Stelle tretenden Freiheitsbeschränkungen nur insoweit, als sie Straftaten zu verhüten verspricht. Die Therapie ist also nicht „Zweck der Maßregel" in dem Sinn, daß nur eine therapeutisch bewirkte Verhütung rechtswidriger Handlungen die Aussetzung zu rechtfertigen vermag. Der Zweck der Maßregel kann auch dadurch erreicht werden, daß dem Verurteilten, etwa durch Ortsveränderung, die Gelegenheit zu rechtswidrigen Handlungen genommen wird. Zweck der Maßregel ist trotz der unglücklichen Fassung des § 67 b Abs. 1 Satz 1, 41 die auf „Bewährung" abstellt (hiergegen: Bockelmann Niedersehr. Bd. XII S. 368), keine ethische Leistung des Täters (Prot. V, 462, 2337). Es genügt, daß er, aus welchen Gründen auch immer, rechtswidrige Handlungen unterläßt. Bei den psychisch schwer Gestörten versteht sich dies von selbst. Der Reduktion des Maßregelzwecks auf die bloße Prävention widerspricht es nicht, daß das Strafvollzugsgesetz weitergehende Behandlungsziele setzt, die sich bei den Maßregeln der §§ 63, 64 auf die Therapie und bei der sozialtherapeutischen Anstalt auf die Fähigkeit zu sozialer Verantwortung richten (§§ 123, 136, 137 StVollzG). Der Maßregelzweck (§§ 67 b, 67 c, 67 g; vgl. auch § 67 Abs. 2) ist formaler als das auf die jeweilige Aufgabe der Sanktion zugeschnittene Vollzugs- oder Behandlungsziel (zu diesen Zielen vgl. Calliess/MüIler-Dietz StVollzG 3[1983] § 2 Rdn. 3 ff, § 4 Rdn. 8). 2. Die Prognose, die für die Aussetzung verlangt wird, hat demnach zum Inhalt, 42 daß weitere erhebliche (§ 62) rechtswidrige Taten (§11 Abs. 1 Nr. 5) des Betroffenen nicht zu befürchten sind. Der Richter macht diese günstige prognostische Aussage gleichzeitig mit der Maßregelanordnung, die die Gefährlichkeit des Täters voraussetzt. Der scheinbare Widerspruch zwischen guter und schlechter Prognose galt in den ersten Beratungen der Großen Strafrechtskommission als Grund gegen eine Maßregelaussetzung durch das erkennende Gericht (Niedersehr. III S. 178); aus demselben Grund sieht das neue österreichische StGB die Aussetzung von Maßregeln — außer bei der Entziehungsanstalt — nicht vor 28. Der Widerspruch löst sich aber ohne weiteres auf, wenn mit der überwiegenden Meinung angenommen wird, daß die Maßregel gegen gefährliche Täter auch dann anzuordnen sei, wenn sie im Hinblick auf andere Vorkehrungen nicht erforderlich ist, so daß die Frage der Erforderlichkeit erst bei der Entscheidung nach § 67 b Gewicht erlange (BGH NJW 1978 599; s. oben Rdn. 5,11). Der genannte Widerspruch ist aber auch dann auflösbar, wenn man mit Rücksicht auf den Subsidiaritätsgrundsatz schon die Anordnung der Maßregel davon abhängig macht, daß sie erforderlich ist (s. oben Rdn. 11). Dann geht die Prognose einerseits dahin, daß zur Abwendung der Gefahr andere Vorkehrungen als die Führungsaufsicht nicht ausreichen ; zum anderen besagt 28

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§45 öStGB; Begründung der Regierungsvorlage (Nr. 30 der Beilagen des Nationalrats XIII. GP, S. 147) und Foregger-Serini StGB § 45 Anm. I. Zu der entsprechenden Problematik des niederländischen Rechts s. Prot. V, 463.

§ 67 b

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

die positive Prognose, daß besondere Umstände zusammen mit der Führungsaufsicht die Gefahr hinreichend herabsetzen. Beide Prognosen sind miteinander vereinbar. 43

3. Die tatsächlichen Gegebenheiten, die der Richter bei der Prognose zu berücksichtigen hat, sind (a) die Persönlichkeit des Täters, (b) rückfallverhütende Vorkehrungen, die als „besondere Umstände" festzustellen sind, und (c) die Wirkungen der Führungsaufsicht.

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a) Die Umstände in der Person des Täters, die hier zu würdigen sind, sind dieselben wie diejenigen, die Grund für die Anordnung der Maßregel sind, also die Krankheit oder sonstige psychische Abnormität (§63), die Neigung zum Mißbrauch berauschender Mittel (§ 64), die Persönlichkeitsstörung oder sexuelle Devianz (§ 65 Abs. 1) und der Entwicklungsstand der in § 65 Abs. 2 bezeichneten Jungtäter. Daß gerade in der Person des Täters besondere Umstände vorliegen müßten, sagt das Gesetz nicht.

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b) Das Merkmal „besondere Umstände" hält den Richter dazu an, in konkreter Weise die Umstände darzulegen, die trotz bestehender Gefährlichkeit erwarten lassen, daß weitere rechtswidrige Taten auch durch die Aussetzung verhütet werden können (oben Rdn. 19). Es zielt nicht darauf ab, die Aussetzung auf außergewöhnliche, vom Durchschnittsfall wesentlich unterschiedene Fälle zu beschränken, ihr also Ausnahmecharakter zu geben (oben Rdn. 16; a. A. Lackner^5 Anm. 1, 2b); es bezweckt auch nicht, für die Entscheidung nach § 67 b die Regel „in dubio pro reo" außer Kraft zu setzen (oben Rdn. 20 ff; a. A. Lackner § 61 Rdn. 4b; Sch.-Schröder-Streelï §67b Rdn. 6). Das Ziel, dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und der Zurückdrängung des Freiheitsentzuges Geltung zu verschaffen, das Stigma der strafrechtlichen Unterbringung nach Möglichkeit zu vermeiden und die Chancen einer Therapie ohne Freiheitsentzug zu nutzen, spricht eher für ein umgekehrtes Regel-Ausnahmeverhältnis: Wenn möglich, sollten auch gefährliche Täter (soweit sie keine Strafe zu verbüßen haben) ohne den Maßregelvollzug behandelt werden ; die Vollstreckung der Maßregel muß, da es hier nicht um Schuldausgleich geht, ultima ratio bleiben. Deshalb hat der Richter in jedem Fall der Anordnung einer Maßregel nach den §§ 63 bis 65 die Frage der Aussetzung eingehend zu prüfen, sofern sie sich nicht durch § 67 b Abs. 1 Satz 2 erledigt (s. auch Rdn. 136). Der formelhafte Hinweis, daß keine besonderen Umstände im Sinne des § 67 b vorlägen, belegt eine solche Prüfung nicht in ausreichendem Maße, legt also einen sachlichrechtlichen Fehler nahe (vgl. zum alten Recht BGH JR 1959 305). Die bloße Mitteilung, dem Täter sei anders als durch die Unterbringung nicht beizukommen, genügt nicht (BGH 5 StR 87/72 vom 28. 3.1972 — zum alten Recht —). Die Entscheidung muß sich auf festgestellte Tatsachen stützen (§ 67 d Rdn. 77 sowie — für die Strafaussetzung — Ruß § 56 Rdn. 14); die Ablehnung der Aussetzung darf nicht auf pauschale Angaben, etwa über Vorstrafen (BGH 3 StR 73/80 vom 25. 3. 1980), oder auf bloße Vermutungen über künftige Ereignisse gestützt werden (5 StR 697/80 vom 16.12.1980). Andererseits können besondere Umstände, die die Aussetzung rechtfertigen, nicht allein darin gesehen werden, daß der Angeklagte den ernsthaften Willen zur Therapie bekundet (BGH NStZ 1983 167); es muß die Möglichkeit einer geeigneten Therapie vorliegen (ergänzend Rdn. 52 f, 67, 74).

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c) Die besonderen Umstände werden selten die Person des Täters (Rdn. 44) und seine Taten betreffen (anders die Definition des BGH bei Dallinger MDR 1975 724: „Gegebenheiten in der Tat oder in der Person des Täters"; ähnlich BGH 3 StR (50)

Aussetzung zugleich mit der Anordnung (Horstkotte)

§ 67 b

316/76 vom 13. 10. 1976 und 4 StR 30/81 vom 26. 2. 1981). Besonderheiten in der Tat werden meist die Gefährlichkeit des Täters oder die Erforderlichkeit der Maßregel in Frage stellen, etwa in Fällen, in denen eine räumliche Trennung des Täters vom Konfliktherd ausreicht (ebenso Dreher-Tröndle41 § 63 Rdn. 10; a. A. Hanack §63 Rdn. 59 m. N. sowie BGHSt. 26 321; BGH NJW 1976 1159; näher unten Rdn. 49). Der Hauptanwendungsfall der besonderen Umstände sind Gegebenheiten, die 47 die gegenwärtige und künftige Umgebung des Täters und die Möglichkeiten einer Einflußnahme auf die Rückfallgefahr betreffen. Hier kommt zunächst die therapeutische (ärztliche, psychotherapeutische, psy- 48 chologische, sozialpädagogische) Behandlung in Betracht (vgl. Hanack § 63 Rdn. 88 f, § 64 Rdn. 83 f; zur Rechtsprechung s. Rdn. 74 ff). Sie kann mit räumlichen Vorkehrungen (Aufnahme in ein Krankenhaus oder in teilstationäre Einrichtungen wie Tages- und Nachtkliniken) verbunden sein oder ambulant erfolgen. Weiter ist an die Aufnahme in psychiatrische Übergangswohnheime, sonstige Heime, therapeutische Wohngruppen, beschützte Wohnungen und Wohngemeinschaften zu denken, wobei im Regelfall ein ausreichendes Maß der Überwachung vorauszusetzen sein wird. In diesem Zusammenhang kommt auch die Arbeit in beschützenden Werkstätten, an beschützten Arbeitsplätzen sowie in Rehabilitations- und Trainingswerkstätten in Betracht 29. Ein Sachverhalt, der als besonderer Umstand im Sinne des § 67 b gewertet werden kann, ist ferner der Anschluß an eine therapeutisch orientierte Gruppe: Dem früher viel zitierten Beispiel des Beitritts zum Enthaltsamkeitsverein (BGH bei Daliinger MDR 1957 140; Schäfer im Nachtrag zu Frank, StGB [1936] S. 85; Sch.-Schröder-Stree^i Rdn. 5) ist jetzt der Anschluß an eine ReleaseGruppe 30 und die Bindung an die Anonymen Alkoholiker 31, in den Fällen des 29

Aus der medizinischen Literatur zu den teilstationären und ambulanten Einrichtungen und Diensten vgl. : Bericht der Sachverständigenkommission über die Lage der Psychiatrie, BT-Drucks. 7/4200 Abschnitt B.3.5.; dazu die Stellungnahme der Bundesregierung BTDnicks. 8/2565 S. 34 ff; M. Bauer Sektorisierte Psychiatrie (1977) S. 64 ff; Dörner-Plog Irren ist menschlich — Lehrbuch der Psychiatrie/Psychotherapie (1978) S. 411 ff ; Finzen Die Tagesklinik (1977); Glatzel Angewandte Psychiatrie (1977) S. lOf; Lorenzen in: Reimer (Hrsg.), Krankenhauspsychiatrie (1977) S. 174 ff; C. Müller Psychiatrische Institutionen (1981) S. 118 ff ; Kunze Psychiatrische Übergangseinrichtungen und Heime (1981); Tölle Psychiatrie 6 (1982) S. 376 ff; PaykTherapie psychischer Erkrankungen (1982). 30 Zur Behandlung der Drogenabhängigkeit ist auf die eingehende Darstellung von LangHinrichsen in der Voraufl. (§ 42 c Rdn. 44 ff) und auf die Literaturangaben bei Hanack § 64 vor Rdn. 64 und bei Rdn. 56 zu verweisen. Zusätzlich sind zu nennen: Bschor (Hrsg.) Langzeitstudium an Drogenabhängigen. Diskussionsberichte Drogen 1/79; Bschor Zur Frage der Wirksamkeit strafrechtlicher Maßnahmen bei Drogenabhängigen vom Opiattyp, Rechtsmedizin 78 (1976) 25; Coignerai-Weber/Hege MSchrKrim. 1981 133; Heckmann u. a., Zur Therapie jugendlicher Drogensüchtiger (1979) S. 11 ff; Heckmann (Hrsg.) Vielleicht kommt es auf uns selber an — Therapeutische Gemeinschaften für Drogenabhängige — (1981); Heckmann [Hrsg.], Praxis der Drogentherapie (1982); Kielholz u. a., Therapie, Katamnese und Prognose der Drogenabhängigkeit, Dtsch. med. Wochenschr. 101 (1976) 521; Kleiner Zur gerichtlichen Behandlung und medizinischen Therapie von Heroinabhängigen ZBIJug 66 (1979) 51 ff; Kreuzer Drogenabhängigkeit und Kontrolle (1981); Middendorf u. a., Drogenkarriere und Entzugsversuche von Opiatabhängigen, Nervenarzt 48 (1977) 170; Pätzold Drogen-Therapie (1974); Roth Modelle der Drogentherapie (1977); T. Schulz Drogentherapie (1974); Sollmann Therapie mit Drogenabhängigen (1974); Wöbcke Rauschmittelmißbrauch — Prävention und Therapie (1977). Vgl. auch die Nachweise bei Eberth/Müller Betäubungsmittelrecht (1982) zu § 35 BtMG. 31 Feuerlein Alkoholismus (1975) 'S. 147 ff. (51)

§ 67 b

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

§ 63 auch der Beitritt zu einem psychiatrischen Patientenclub 32 hinzuzufügen (s. auch Rdn. 73). 49 Als eine Vorkehrung, die die Vollstreckung der Maßregel entbehrlich machen kann, kommt weiter die Überwachung des Täters durch seine eigene Familie oder durch eine P f l e g e f a m i l i e 33 in Betracht (Hanack § 63 Rdn. 86; zur Rechtsprechung unten Rdn. 73). Als weitere Alternativen zur Unterbringung werden die Entmündigung und die Gebrechlichkeitspflegschaft genannt (Hanack §63 Rdn. 84 f; zur Rechtsprechung s. Rdn. 68). Sie beruhen auf gerichtlicher Anordnung und berühren sich mit der ebenfalls als Alternative zu den Maßregeln der §§ 63, 64 verstandenen Unterbringung nach den Unterbringungsgesetzen der Länder (Hanack § 63 Rdn. 105ff; § 64 Rdn. 112ff; siehe unten Rdn. 61 ff). In der Praxis ist die Unterbringung des Mündels durch den Vormund oder Gebrechlichkeitspfleger, die der vormundschaftsgerichtlichen Genehmigung bedarf (§§ 1631b, 1800, 1915 BGB), von besonderer Bedeutung (unten Rdn. 68 ff)· Auch der Strafvollzug in einer anderen Sache kann als Ersatz für die Unterbringung in Betracht kommen und die Aussetzung nach § 67 b rechtfertigen (dazu Rdn. 89). Bei Jugendlichen ist ferner an Maßnahmen nach dem JWG (besonders §§ 62, 64 JWG) zu denken (vgl. Hanack § 64 Rdn. 125). Weitere alternative Sanktionen sind das Berufsverbot (etwa in Fällen des § 174), in Grenzfällen ist auch die Entziehung der Fahrerlaubnis in Betracht zu ziehen. Die besonderen Umstände brauchen nicht in organisierten Maßnahmen der Therapie oder Kontrolle zu bestehen. Unter Umständen kann schon eine Ortsveränderung die Vollstreckung der Maßregel entbehrlich machen (ergänzend Rdn. 73). Das gilt, wenn der Täter vom Konfliktsherd, der ihn zu Taten gegen bestimmte Personen (Gewalttaten gegen einen Angehörigen oder Nachbarn; Sexualdelikte an einem eigenen Kind) oder Sachen (Brandstiftung an bestimmten, zumal eigenen Gebäuden) veranlaßt hat, getrennt wird und im Hinblick auf die räumliche Entfernung und die sonstigen Umstände nicht befürchten läßt, daß er an den alten Tatort zurückkehren w i r d 34. Bei Drogenabhängigen wird die Trennung vom gefährdenden Milieu meist nur in Verbindung mit anderen Vorkehrungen ausreichen (s. Rdn. 76). Auch ein Eingriff in die sozialen und beruflichen Beziehungen kann die Rückfallgefahr soweit mindern, daß sich eine Unterbringung erübrigt; das gilt etwa, wenn der Erzieher, Ausbilder, Betreuer oder Aufseher in den Fällen der §§ 174, 174 a oder der Amtsträger im Sinne des § 174 b aus der bisherigen Funktion entfernt wird (BGH 5 StR 559/56 vom 19. 2.1957: Entfernung des Sexualstraftäters aus der Jugendarbeit). Weiterhin können Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation oder Ausbildung unter Umständen auch die Vollstreckung einer Maßregel überflüssig machen (vgl. BGH 1 StR 146/68 vom 28. 5.1968; BGH bei Pfeiffer-Maul-Schulte § 42 b Anm. 6). In diesem Zusammenhang werden schließlich auch Fälle genannt, in denen eine günstige Entwicklung deswegen erwartet wird, weil der Täter gealtert ist (RGSt. 72 356; BGH NJW 1953 673 und JZ 1964 329; BGH bei Pfeiffer-MaulSchulte § 42 e Anm. 4) oder eine zuverlässige Frau geheiratet hat (RGSt. 68 174; RG 32 c. Müller (vgl Fn. 29) S. 141; Dörner-PIog (vgl. Fn. 29) S. 414; Dohmen/Holm in: Trojan/ Waller (Hrsg.), Sozialpsychiatrische Praxis (1980) S. 355 f. 33 Glatzel (vgl. Fn. 29) S. 28; C. Müller (vgl. Fn. 29) S. 132 ff. 34 BGH NJW 1951 969; K G NJW 1953 195; BGH 1 StR 407/51 vom 18. 12.1951 (Wilderei); 1 StR 524/60 vom 6. 12. 1960 (Brandstiftung); 1 StR 146/68 vom 28. 5.1968; 1 StR 542/70 vom 17.11.1970 (Brandstiftung); 3 StR 67/77 vom 23.3.1977; 5 StR 697/80 vom 16. 12. 1980 (Trennung von der verhaßten Mutter). (52)

Aussetzung zugleich mit der Anordnung (Horstkotte)

§ 67 b

JW 1934 2056, 1935 519); dabei hat es sich aber durchweg um Fälle gehandelt, in denen schon die Gefährlichkeit zweifelhaft geworden war. Dagegen ist die schon erwähnte Trennung vom gefährdeten Partner als „besonderer Umstand" im Sinne des § 67 b von besonderer Bedeutung (vgl. hierzu auch Böker/Häfner S. 239); eine vorübergehende Trennung kommt auch in Betracht, wenn die depressive Mutter Tendenzen zu einem das Kind einschließenden erweiterten Selbstmord gezeigt hat {Böker/Häfner aaO). In den Fällen der „folie à deux" ist auch an eine Trennung von dem am Wahn mitbeteiligten Partner zu denken (Tölle P s y c h i a t r i e 6 [1982] S. 178 f; ergänzend s. Rdn. 73). d) Die Führungsaufsicht und die mit ihr obligatorisch (§ 68 a) und fakultativ 50 (§ 68 b) verbundenen Anordnungen sind für sich allein keine besonderen Umstände im Sinne des §67b (BGH 3 StR 316/76 vom 13.10.1976; Dreher-Tröndle41 Rdn. 3), jedoch im Rahmen der Prognose zu berücksichtigen ; sie haben bei der Prognose eine hervorgehobene Bedeutung, weil das Wagnis der Maßregelaussetzung (BGH bei Dallinger MDR 1975 724) gerade im Hinblick auf die Kontroll- und Hilfsfunktion der Führungsaufsicht eingegangen wird. 4. Maßgebender Zeitpunkt für die Prognose ist die Zeit des letzten tatrichter- 51 liehen Urteils (siehe oben Rdn. 5,15 sowie BGH bei Holtz MDR 1977 459). 5. Die Entscheidung, die der Tatrichter auf Grund der vorstehend zu 3 a), b) und 52 c) bezeichneten Daten zu treffen hat, charakterisiert der BGH als den aus den besonderen Umständen gezogenen Schluß, „daß es angebracht erscheint, den Verzicht auf den Vollzug der Maßregel zu wagen" (BGH bei Dallinger MDR 1975 724; 3 StR 316/76 vom 13.10.1976; 4 StR 30/81 vom 26.2.1981; ebenso DreherTröndle^ § 67 b Rdn. 3; Maurach-Zipf 5 AT II § 68 II C 1). Die Entscheidung setzt eine Gesamtwürdigung voraus (zum folgenden siehe auch oben Rdn. 20 bis 25). Dabei ist auch die Schwere des bei einem Rückfall drohenden Schadens zu berücksichtigen: Je schwerer er ist, um so größer ist das Gewicht, das prognostischen Unsicherheiten beizumessen ist. Wiegt dagegen der befürchtete Schaden nicht derart schwer (obwohl der Täter im Sinne der §§ 63, 64 gefährlich ist), ist er insbesondere reparabel wie bei den meisten Vermögensdelikten (vgl. z. B. den Fall BGHSt. 15 279), so ist ein größeres Wagnis gerechtfertigt; an die prognostische Gewißheit sind dann geringere Anforderungen zu stellen. Ergänzend s. Rdn. 45. Bei der Abwägung ist im Hinblick auf § 62 zu berücksichtigen, daß der Vollzug 53 der Unterbringung besonders schwer in die Freiheit eingreift (BGH NJW 1951 450, 572, 969, 1983 350; BGH LM § 42b Nr. 1 ; BGH JR 1959 305; BGH 1 StR 267/71 vom 13.7.1971 ; 5 StR 87/72 vom 28. 3.1972; 3 StR 73/80 vom 25. 3. 1980). Ferner ist zu beachten, daß die Vollstreckung der Maßregel die Möglichkeiten der Therapie beeinträchtigen und sich deshalb auf lange Sicht auf die Rückfallgefahr eher negativ auswirken kann (vgl. Rdn. 26, 76); der Satz, daß die Frage der Heilungsaussichten bei der Anordnung nach § 63 außer Betracht bleiben müsse (BGH bei Holtz MDR 1978 110), gilt jedenfalls in diesem Zusammenhang nicht. Die Unterbringung, zumal nach § 63, stigmatisiert den Betroffenen ( K o f f k a JR 1971 425 ; Glatzel Angewandte Psychiatrie [1977] 28); das gilt selbst dann, wenn er schon nach dem Landesunterbringungsgesetz oder nach § 1631b BGB untergebracht worden war. Die Zwangsunterbringung ruft in vielen Fällen, auch des § 64, den Widerstand des Betroffenen hervor und untergräbt seine Behandlungsbereitschaft (Hanack § 64 Rdn. 83). Überdies beginnt die Unterbringung nach § 63 zu einem Fremdkörper in (53)

§ 67 b

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

der modernen Krankenhauspsychiatrie zu werden, weil sie in der Regel langfristig ist (zur Dauer der Unterbringung: §67d Rdn. 65 mit Nachweisen), während die Verweildauer bei neuaufgenommenen Patienten sonst erheblich zurückgegangen ist, mag auch der Bestand der Langzeitpatienten in den Fachkrankenhäusern noch immer besorgniserregend groß s e i n 35. Eine größere Zahl von Behandlungsansätzen, zumal psychotherapeutischer Art, gilt als aussichtslos, wenn die Therapie unter den Bedingungen einer geschlossenen Anstalt durchgeführt wird. Selbst bei der Therapie der Drogenabhängigkeit liegt der Schwerpunkt auf der ambulanten Beh a n d l u n g 36. Daß bei der Behandlung Drogenabhängiger das Konzept der therapeutischen Kette eine stationäre Phase von 6 bis 18 Monaten vorsieht, besagt nicht generell etwas gegen die Aussetzung der Maßregel nach § 64: In vielen Fällen hat der Betroffene bereits eine „stationäre Phase" hinter sich, sei es, daß er bis zur Entscheidung nach Landesrecht untergebracht war oder sich in einstweiliger Unterbringung nach § 126 a StPO, in Untersuchungshaft oder in Strafhaft in anderer Sache befunden hat. Befindet sich der Täter zur Zeit der Entscheidung in Unfreiheit, so sind die Erfahrungen während des Freiheitsentzuges zu berücksichtigen. Insbesondere bei Drogenabhängigen ist darauf zu achten, daß nicht eine weitere oder erneute Freiheitsentziehung die eingeleiteten therapeutischen Prozesse stört (s. auch Rdn. 76). Dasselbe gilt, wenn der Täter zur Zeit der Entscheidung in einem Krankenhaus, in das er sich freiwillig begeben hat, erfolgversprechend behandelt wird (BGH 5 StR 254/80 vom 20. 5.1980). 54

Bei der Einschätzung der rückfallverhütenden Wirkung einer Behandlung außerhalb des Maßregelvollzugs hat der Richter auf die jeweils konkret in Betracht kommenden Möglichkeiten abzustellen. Wenn bestimmte therapeutische Chancen nur im Maßregelvollzug bestehen, kann dies gegen eine Aussetzung sprechen. In diesem Sinne ist wohl die Bemerkung von SK-Horn! (Rdn. 5) zu verstehen, daß sich die Frage der Aussetzung bei den verschiedenen Maßregeln unterschiedlich stelle.

55

6. Insgesamt sind bei der Entscheidung über die Aussetzung nach § 67 b dieselben Maßstäbe anzulegen wie bei der Aussetzung nach § 67 d Abs. 2 (siehe oben Rdn. 14; a. A. Lackner^S Anm. 4b: strengere Anforderungen bei §67b). Diese Gleichsetzung der Aussetzungsvoraussetzungen rechtfertigt sich auch deswegen, weil die Aussetzung in den zuletzt (Rdn. 54 a. E.) genannten Konstellationen ebenso wie in den Fällen des § 67 d Abs. 2 praktisch eine Entlassung in die Freiheit darstellt. 35 Zur Verweildauer vgl. Creutz u. a. in: Laux/Reimer (Hrsg.), Klinische Psychiatrie (1982) S. 154; Häfner u. a. in: Siedow (Hrsg.), Standorte der Psychiatrie Bd. 3 (1983), S. 73, 94; Glatzel Angewandte Psychiatrie (1977) S. 6, 12; Saage-Göppinger Freiheitsentziehung und Unterbringung 2 (1975) Rdn. III 651, 908; Bericht der Sachverständigenkommission über die Lage der Psychiatrie, BT-Drucks. 7/4200 S. 118, 120 sowie insgesamt Abschnitt Β 3.9.1. Dömer-Plog Irren ist menschlich — Lehrbuch der Psychiatrie/Psychotherapie (1978) schätzen, daß nach sechs Monaten 80% der neuaufgenommenen Patienten, entlassen sind (S. 439); ähnlich die Angaben von Glatzel aaO (nach hundert Tagen Entlassung von 73% der Aufgenommenen). Insbesondere bei der Schizophrenie hat sich die Verweildauer sehr erheblich verkürzt (Glatzel S. 12; nach Häfner/an der Heiden Arch. f. Psychiatrie und Nervenkr. 232 (1982) 71 bleiben von den erstmals aufgenommenen Schizophrenen nur 5 % länger als ein Jahr im Krankenhaus). 36 Bericht der Sachverständigenkommission (wie Fn. 35) Abschnitt B.3.9.1. (54)

Aussetzung zugleich mit der Anordnung (Horstkotte)

§ 67 b

Wegen der Frage, wie in Zweifelsfallen zu entscheiden ist (Bedeutung des Satzes 56 ,in dubio pro reo"), vgl. Rdn. 20 bis 25.

IV. Einzelne Fallgruppen 57 1. Allgemeines: Die Rechtsprechung, die sich vor dem Inkrafttreten des §67b (1.1.1975) mit dem Erlaß der Unterbringung durch weniger belastende Maßnahmen befaßt hat, betrifft die Frage der Erforderlichkeit und damit der Anordnung einer Maßregel. Sie kann aber auch für die Frage der Aussetzung nach § 67 b herangezogen werden, jedoch mit mehreren Vorbehalten (vgl. auch Hanack § 63 Rdn. 8 4 - 8 9 ) : a) Zahlreiche Entscheidungen, insbesondere des Reichsgerichts, betreffen Fälle, 58 in denen heute schon mit Rücksicht auf das geringe Gewicht der drohenden Taten eine Unterbringung ausscheiden würde. Das gilt etwa für die Alterskriminalität in den Fällen RGSt. 69 12 und RG JW 1938 166, für RG HRR 1938 Nr. 40 (beleidigende Eingaben) und für BGH 1 StR 339/59 vom 8. 8.1959, wohl auch für BGHSt. 15 279. b) Als Problem der Erforderlichkeit der Maßregel sind zum Teil Umstände erör- 59 tert worden, die in Wirklichkeit schon die Gefährlichkeit ausschließen und deshalb auch heute der Maßregelanordnung entgegenstehen. So verhält es sich etwa bei eingetretenem Altersabbau (RGSt. 72 356, 358; BGH NJW 1953 673; BGH JZ 1964 329), Siechtum (BGH 4 StR 841/52 vom 12.11.1952) und den dämpfenden Wirkungen einer durchgeführten freiwilligen Kastration (OLG Düsseldorf NJW 1959 830). c) Die Entscheidung, außerstrafrechtliche Vorkehrungen gegen künftige Taten 60 als unzureichend anzusehen, war häufig davon bestimmt, daß der Richter nach altem Recht nur zwischen der Unterbringung und einem völligen Verzicht auf weitere Einwirkungsmöglichkeiten wählen konnte; eine Korrektur seiner Entscheidung war ihm verwehrt. Auch fehlte es, soweit keine Unterbringung nach dem Landesrecht angeordnet wurde, an staatlicher Aufsicht; Bewährungshilfe konnte nur angeordnet werden, wenn zugleich eine Strafe verhängt und zur Bewährung ausgesetzt wurde. Diese Verhältnisse haben sich wesentlich geändert: Die Aussetzung der Maßregel ist widerruflich und stets mit Führungsaufsicht verbunden; vor Rechtskraft des Widerrufs (§ 67 g) kann unter den Voraussetzungen des § 453 c StPO Sicherungshaftbefehl ergehen (§§ 463, 453c StPO; dazu im einzelnen § 67g Rdn. 46; Rieß NJW 1978 2265, 2272). Deshalb kann in Fällen, in denen die Rechtsprechung früher die Erforderlichkeit der Maßregelanordnung bejaht hatte, nunmehr eine Aussetzung gerechtfertigt sein.

2. Unterbringung nach den Landesunterbringungsgesetzen 61 a) Wegen der Beziehungen zwischen der Unterbringung nach dem Landesrecht und nach den §§ 63, 64 ist vorab auf Hanack § 63 Rdn. 105 bis 118, § 64 Rdn. 112 zu verweisen (vgl. ferner aus der dort genannten Literatur insbesondere Saage-Göppinger Freiheitsentziehung und Unterbringung 2 Rdn. III 191 bis 197). Zu dem Überblick bei Hanack § 63 Rdn. 105 ist nachzutragen, daß inzwischen Bremen (Gesetz (55)

§ 67 b

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

vom 9.4.1979, GBl. S. 123), Hamburg (Gesetz vom 22.9.1977, GVB1. I S. 261), Niedersachsen (Gesetz vom 30. 5.1978, GVB1. S. 443), Schleswig-Holstein (Gesetz vom 26. 3.1979, GVB1. S. 251), Bayern (Gesetz vom 20. 4.1982, GVB1. S. 202) und Baden-Württemberg (Gesetz vom 11.4.1983, GBl. S. 133) neue Unterbringungsgesetze erlassen haben und daß weitere, die Unterbringung in ein größeres System von Schutz- und Hilfsmaßnahmen einfügende Gesetze in Berlin, Hessen, Rheinland-Pfalz und dem Saarland vorbereitet werden (Nachweise in BT-Drucks. 8/2565 S. 19 ff). Die Gesetze von Baden-Württemberg (§ 26), Bayern (Art. 41) und Schleswig-Holstein (§§ 33—35) bestimmen, daß die Regeln für die landesrechtliche Unterbringung grundsätzlich auch auf den Vollzug der strafrechtlichen Maßregeln nach den §§ 63, 64 anzuwenden sind (Kritik bei Rüping NStZ 1983 13); für die Beurlaubung sind einige Abweichungen vorgesehen (dazu Rdn. 64). In drei anderen Ländern (Hessen: Gesetz vom 3.12.1981, GVB1. S. 414; Niedersachsen: Gesetz vom 1. 6.1982, GVB1. S. 131 ; Bremen: Gesetz vom 28. 6. 1983, GBl. S. 407 - in Kraft ab 1.1.1984 —) sind Maßregelvollzugsgesetze erlassen worden, die den Vollzug der strafrechtlichen Maßregeln (§§ 63, 64) eigenständig regeln (vgl. Baur Strafverteidiger 1982 33; Marschner MSchrKrim. 1982 177; Müller-Dietz ZfStrVo 1983 19 und NStZ 1983 145, 203). 62

b) Vor dem Inkrafttreten des § 67 b war die komplizierte Entwicklung der Rechtsprechung mit dem Urteil BGHSt. 24 98 zu einem vorläufigen Abschluß gekommen, der die anfänglich unterschiedliche Praxis der verschiedenen Senate vereinheitlichte. Nach BGHSt. 24 98 steht die Unterbringung nach dem Unterbringungsgesetz nicht der Erforderlichkeit einer Anordnung nach § 42 b StGB a. F. entgegen, weil die landesrechtliche Unterbringung die öffentliche Sicherheit weniger wirksam schützt als das Strafrecht. Dies begründet BGHSt. 24 98 mit den Regelungen des Landesrechts (Nordrhein-Westfalen) über die Entlassung (automatisch, wenn keine rechtzeitige Entscheidung über die Fortdauer der Unterbringung ergeht), die Frist für den Widerruf der Entlassung (maximal zwei Jahre) und die Beurlaubung (bis zu zehn Tagen durch den Anstaltsleiter). Ob die Entscheidung im Rahmen der früher notwendigen Erforderlichkeitsprüfung überzeugte (kritisch Kofflca JR 1971 426, Hanack § 63 Rdn. 108), ist hier nicht zu erörtern. Die in ihr entwickelten Grundsätze sind jedenfalls nicht ohne weiteres auf die Entscheidung nach § 67 b übertragbar (abweichend Wenz S. 251 ff).

63

Gegen eine unbesehene Übernahme von BGHSt. 24 98 spricht, daß die in der Zwischenzeit eingetretenen Änderungen des Straf- und Landesunterbringungsrechts das Sicherheitsgefälle zwischen Maßregel und landesrechtlicher Unterbringung verringert haben : Während der Strafrichter vor dem Inkrafttreten des § 67 b jede Einwirkungsmöglichkeit aus der Hand gab, wenn er auf die Unterbringung verzichtete, kann er jetzt mit dem Widerruf der Aussetzung schnell reagieren, wenn er Anhaltspunkte dafür hat, daß die landesrechtliche Unterbringung Sicherheitsbedürfnisse vernachlässigt. Die Aufsichtsstelle (§ 68 a Abs. 3) kann sich über die Unterbringungsdauer unterrichten, die der Richter nach den Unterbringungsgesetzen aller Länder außer Bayern und Hessen in seiner Entscheidung zu bestimmen hat (Höchstdauer in Bremen, Hamburg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein ein Jahr; in Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen bei schweren psychischen Erkrankungen zwei Jahre, sonst ein Jahr; in Berlin allgemein zwei Jahre; in Rheinland-Pfalz und im Saarland bei schweren psychischen Erkrankungen drei Jahre, sonst ein Jahr), und darauf achten, daß vor ihrem Ablauf über eine Verlängerung (56)

Aussetzung zugleich mit der Anordnung (Horstkotte)

§ 67 b

entschieden wird; sie kann sich mit Auskunftsersuchen und Anregungen an das zuständige Gericht und die Gesundheitsbehörde wenden (§ 463 a StPO). Unproblematisch sind die Verhältnisse insoweit in Bayern und Hessen, wo die Unterbringungsgesetze eine dem § 67 e entsprechende Regelung enthalten, die Versäumung der Prüfungsfristen also nicht notwendig eine Entlassung nach sich zieht. — Die Frist, während deren das Landesrecht den Widerruf der vorläufigen Entlassung erlaubt, kann zwar kürzer sein als die für den Widerruf nach § 67 g zur Verfügung stehende Dauer der Führungsaufsicht (§ 68 c). Indessen ist dieser Unterschied kein Argument gegen die Aussetzung der Maßregel nach §67b; denn der Widerruf nach §67 g bleibt auch nach Ablauf der landesrechtlichen Widerrufsfrist möglich. Schließlich ist die Differenz zwischen den landes- und bundesrechtlichen Ur- 64 laubsregelungen geringer geworden: § 138 StVollzG gestattet es den Ländern, Regeln über den Urlaub aus den in §§ 63, 64 bezeichneten Institutionen zu erlassen. Eine gerichtliche Entscheidung über den Urlaub brauchen die Länder nicht vorzusehen (Hanack § 63 Rdn. 108), wie denn auch die Beurlaubung der Sicherungsverwahrten und der nach § 65 Untergebrachten nicht an eine richterliche Zustimmung gebunden ist (§§ 126, 134 StVollzG). Die früher vertretene Ansicht, der Bundesgesetzgeber habe mit den Vorschriften über die bedingte Aussetzung der Unterbringung die Kompetenz für Urlaubsregelungen ausgeschöpft, so daß das Land keine Urlaubsregelungen treffen dürfe (BGHSt. 19 348 f; OLG Schleswig SchlHA 1955 305; OLG Frankfurt NJW 1957 391; zum Teil abweichend OLG Frankfurt NJW 1957 1684; Lang NJW 1965 1071 ; weitere Nachweise bei Wem S. 102), ist überholt. Demgemäß sieht der 1978 vorgelegte Musterentwurf eines Maßregelvollzugsgesetzes (abgedruckt in BT-Drucks. 8/2565 S. 216) in § 21 vor, daß den nach den §§ 63, 64 Untergebrachten Urlaub bis zu drei Wochen durch den Anstaltsleiter erteilt werden darf. Dementsprechend lassen die neuen Maßregelvollzugsgesetze (Bremen, Hessen, Niedersachsen, vgl. Rdn. 61) sämtlich die Beurlaubung aus dem Vollzug der Maßregel (§§ 63, 64) zu. Die Höchstdauer des Urlaubs ist in den verschiedenen Ländern unterschiedlich geregelt (§ 67 d Rdn. 45). Die Verantwortung für die Beurlaubung liegt, wie schon bisher nach den Unterbringungsgesetzen, nunmehr auch nach den Maßregelvollzugsgesetzen wenigstens zum Teil bei der Anstaltsleitung, und zwar in Bremen (§ 17) unbeschränkt, in Hessen (§ 10) bei einem Urlaub bis zu drei Tagen; in Niedersachsen (§ 15) bedarf es des Einverständnis der — allerdings stets anzuhörenden — Vollstreckungsbehörde nach dem Gesetz nur, wenn „bei einer Unterbringung der Schutz der Allgemeinheit besonders zu beachten" ist. Soweit der Maßregelvollzug in den allgemeinen Unterbringungsgesetzen der Länder geregelt ist (Baden-Württemberg, Bayern, Schleswig-Holstein, vgl. Rdn. 61), ist die Verwandtschaft der Urlaubsregelungen für den Maßregelvollzug und die landesrechtliche Unterbringung besonders augenfällig: In Baden-Württemberg (§§21, 26) und Bayern (Art. 30, 41) stimmen die Regelungen im Hinblick auf die Urlaubsdauer überein; in Schleswig-Holstein (§34) bedarf es bei einer Beurlaubung aus dem Maßregelvollzug nur der Benachrichtigung, also nicht der vorherigen Anhörung der Vollstreckungsbehörde, wenn der Urlaub drei Tage nicht übersteigt (enger die baden-württembergische Regelung: Beurlaubung stets nur mit Zustimmung des zuständigen Gerichts, § 26). Im Rahmen des Maßregelvollzuges sind heute auch Vollzugslockerungen wie Freigang und Ausgang gesetzlich zugelassen (aus den bei Rdn. 61 zitierten Gesetzen vgl. z. B. Bayern Art. 31, 41 — mit Beschränkungen hinsichtlich des Ausganges —, Bremen § 16, Hessen § 8, Niedersachsen § 15; für Baden· Württemberg s. Richter Die Justiz 1983 280 sowie den Erlaß v. 15.11.1965 Die Justiz 1965 350). Im übrigen war schon vor dem Inkrafttreten des § 67 b anerkannt, (57)

§ 67 b

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

daß die Gnadenbehörde die strafrechtlich Untergebrachten beurlauben könne (Pohlmann NJW 1966 387); vgl. die ausdrückliche Erwähnung dieses Urlaubs in § 4 Abs. 1 der baden-württembergischen Gnadenordnung vom 23. 7.1971 (abgedruckt bei Schätzler Handbuch des Gnadenrechts, Textanhang) und Wetterich/Hamann Strafvollstreckung 3 (1978) S. 232 ff. 65

Demnach gibt es heute wieder bessere Argumente für die in BGHSt. 12 50 ff, 17 123 ff vertretene, in BGHSt. 24 98 verworfene These, „daß die Unterbringung nach den Unterbringungsgesetzen keine geringere Sicherheit bietet" als der Vollzug der strafrechtlichen Maßregel (BGHSt. 17 127), und zwar nunmehr im Hinblick auf alle Länder (ebenso Hanack § 63 Rdn. 114f). Angesichts der inhaltlichen, zum Teil (Baden-Württemberg, Bayern, Schleswig-Holstein) auch formalen Annäherung des Vollzugs der strafrechtlichen Maßregeln und der landesrechtlichen Unterbringung kann heute nicht mehr generell gesagt werden, daß der Maßregelvollzug „sicherer" als die landesrechtliche Unterbringung sei. Beide Unterbringungsarten werden sich im Interesse der Behandlung und Rehabilitation in gleichem Sinne öffnen und den flexiblen Übergang aus dem Milieu der geschlossenen Anstalt in die Freiheit ermöglichen müssen (§67d Rdn. 45; Volckart NStZ 1982 496; Müller-Dietz NStZ 1983 203; Bergener S. 172 ff: Mö///i

§ 68 d

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

Anschluß an OLG Stuttgart (NJW1969 1220; s. auch OLG Nürnberg GA 1962 91) wird dies bei der Strafaussetzung zur Bewährung (und zwar nicht nur für Auflagen, sondern auch für Weisungen) von der herrschenden Meinung verneint (näher Ruß aaO). Dem liegt der zutreffende Gedanke zugrunde, daß das für nachträgliche Entscheidungen zuständige Gericht schon getroffene Anordnungen nicht schon deswegen soll ändern können, weil sie ihm mißfallen ; denn dies widerspräche allgemeinen Grundsätzen und wäre insbesondere deswegen unangebracht, weil das erkennende Gericht aufgrund einer Hauptverhandlung, also in genauerer Kenntnis von Tat und Täter entscheidet, während die nachträgliche Anordnung ohne eine solche Hauptverhandlung durch Beschluß ergeht. Die Frage ist nur, ob das, was bei der Strafaussetzung zur Bewährung einleuchtet, auch für die Führungsaufsicht richtig ist, weil der Verurteilte hier insgesamt einer sehr viel intensiveren Aufsicht und Einwirkung, vor allem durch Einschaltung der Aufsichtsstelle, unterliegt. Die Frage dürfte zu bejahen sein. Denn auch diese Besonderheiten können es nicht rechtfertigen, das für nachträgliche Entscheidungen zuständige Gericht als das „klügere" Gericht mit der Folge anzusehen, daß seine Auffassung über geeignete Anordnungen vorgeht, wenn keine neuen Umstände vorliegen. — Die Befugnis, eine schon ergangene Weisung (§ 68 b) klarer zu fassen, wird dadurch freilich nicht ausgeschlossen (Dreher Rdn. 2; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 3). 6

3. Dem pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts („kann") unterliegen nachträgliche Entscheidungen. Das Gericht hat bei der Ausübung dieses Ermessens nicht nur Notwendigkeit und Wirksamkeit der nachträglichen Entscheidung zu prüfen sowie die so zentrale Pflicht zur differenzierten Behandlung der verschiedenen Täter und Fallgruppen der Führungsaufsicht (s. Rdn. 5 vor § 68 ; vgl. auch § 68 b Rdn. 5 0 zu beachten. Es muß vielmehr auch die Relation zu möglichen negativen Auswirkungen auf die Lebensführung und die psychologische Situation des Betroffenen sehen: Häufige, grundsätzliche oder kleinliche Änderungen sind vielfach eher ein Störungsfaktor insbesondere für die — äußere und innere — Resozialisierung; auch der Verurteilte braucht eine gewisse Stetigkeit.

III. Die einzelnen Fälle nachträglicher Entscheidungen 7 1. Nachträgliche Entscheidungen zu § 68 a Abs. 1 (Aufsichtsstelle, Bewährungshelfer) können nicht die Aufsichtsstelle betreffen (Dreher Rdn. 2; Horn SK Rdn. 2). Denn der Aufsichtsstelle untersteht der Verurteilte nach § 68 a Abs. 1 ohnedies kraft Gesetzes. Dabei ist auch die örtliche Zuständigkeit festgelegt (§ 463 a Abs. 2 StPO), so daß für nachträgliche gerichtliche Entscheidungen in der Regel kein Raum ist. 8

So beschränkt sich der Anwendungsbereich des § 68 d insoweit auf die Bestellung des Bewährungshelfers. Sie kann nachgeholt werden, wenn sie versäumt worden ist (Horn aaO) oder wenn sie zulässigerweise zurückgestellt worden ist, weil der Täter zunächst Freiheitsstrafe zu verbüßen hat (ebenso Sch.-Schröder-Stree Rdn. 2; streitig, s. LK § 68 a Rdn. 28). Geändert werden muß die Entscheidung über die Bestellung des Bewährungshelfers, da zum Bewährungshelfer nur eine konkrete Einzelperson bestellt werden kann, immer dann, wenn diese Einzelperson — aus welchen Gründen auch immer — ausfällt, ζ. B. durch Tod, längere Krankheit, Wegzug aus dem örtlichen Bereich. (60)

Nachträgliche Entscheidungen (Hanack)

§ 68 d

Darüber hinaus kommt eine Auswechselung in Betracht, wenn der Verurteilte — zulässigerweise — seinen Wohnsitz verlegt, so daß er nicht mehr im örtlichen Bezirk des bestellten Helfers lebt; wenn das notwendige Vertrauensverhältnis zwischen dem Bewährungshelfer und dem Gericht oder der Aufsichtsstelle (vgl. auch § 68 a Rdn. 4) in der konkreten Betreuung des einzelnen Verurteilten grundsätzlich erschüttert ist; wenn infolge von Spannungen zwischen dem Verurteilten und dem Bewährungshelfer dessen weitere Tätigkeit im Einzelfall keinen Erfolg mehr verspricht (vgl. auch Sch.-Schröder-Stree Rdn. 6: „Versagen" des Bewährungshelfers). Maßgebend ist in all diesen Fällen, ob der Resozialisierungserfolg mit der Auswechselung besser erreicht oder gefördert werden kann (übereinstimmend Horn SK Rdn. 4). Die ersatzlose Aufhebung der Unterstellung unter einen Bewährungshelfer ist unzulässig (Horn SK Rdn. 3), weil die Bestellung des Helfers in § 68 a zwingend vorgeschrieben ist. 2. Nachträgliche Entscheidungen zu § 68 a Abs. 5 (Anweisungen an die Aufsichts- 9 stelle oder den Bewährungshelfer) kommen in Betracht: als nachholende Entscheidungen, wenn sich erst im Laufe der Führungsaufsicht dafür ein Bedürfnis ergibt; als korrigierende Entscheidungen, wenn im Hinblick auf Erfahrungen mit dem Verurteilten durch eine Änderung oder Aufhebung getroffener Anweisungen der Zweck der Führungsaufsicht besser erreicht wird, was auch durch den Abbau unnötig belastender Maßnahmen möglich ist. Einzugreifen hat das Gericht auch, wenn die Aufsichtsstelle ihre Aufgaben vernachlässigt (Sch.-Schröder-Stree Rdn. 6). Das Gericht wird vielfach aufgrund von Anregungen der Aufsichtsstelle (vgl. § 68 a Rdn. 9) oder des Bewährungshelfers (vgl. § 68 a Rdn. 20) selbst tätig werden. 3. Nachträgliche Entscheidungen zu § 68 b (Weisungen) sind in den in Rdn. 5 10 angegebenen Grenzen grundsätzlich zulässig. Daß die Weisungen des § 68 b Abs. 1 strafbewehrt sind (§ 145 a), bedeutet auch hier nicht, daß sie einem irgendwie gearteten „Verbot der Schlechterstellung" unterliegen. Weisungen, die ihren Zweck erfüllt haben, sind ersatzlos aufzuheben (vgl. auch Sch.-Schröder-Stree Rdn. 4, die aber zu Unrecht von „können" sprechen ; richtig jedoch Rdn. 6). Entscheidungen, die dem Verurteilten neue oder verschärfte Weisungen auferlegen, sind vielfach besonders heikel, sei es aus psychologischen Gründen (Rdn. 6), sei es, weil sie eine vielleicht gerade wieder stabilisierte rechtmäßige Lebensführung des Betroffenen berühren. Sie sollten — im Zusammenwirken mit der Aufsichtsstelle und dem Bewährungshelfer (§ 68 a) — jeweils mit aller Sorgfalt bedacht werden. Entscheidungen über Weisungen erst nachträglich zu treffen, empfiehlt sich vielfach, wenn auch nicht „immer" (so aber Horn SK Rdn. 6), falls zunächst die verhängte Strafe vollstreckt werden muß. Denn aufgrund der Einwirkungen des Vollzugs und der Entwicklung des Verurteilten in der Haft läßt sich über Art und Inhalt der Weisungen dann oft besser befinden als im Zeitpunkt der Aburteilung. Die Weisungen sollten in diesen Fällen kurz vor der Entlassung festgelegt werden (Horn aaO; Lackner Anm. 1). 4. Nachträgliche Entscheidungen zu § 68 c Abs. 1 S. 2 (Abkürzungen der Höchst- 11 frist) sind auch dergestalt zulässig, daß eine früher erfolgte Verkürzung der Höchst(61)

§ 68 e

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

frist wieder aufgehoben oder die schon abgekürzte Frist — bis zur Grenze der Höchstfrist — wieder verlängert wird (Dreher Rdn. 2; Horn SK Rdn. 7; vgl. auch Sch.-Schröder-Stree Rdn. 5); selbst wiederholte Friständerungen sind zulässig, freilich nicht wünschenswert. Ist eine richterlich verkürzte Höchstfrist abgelaufen, kommt eine Verlängerung nicht mehr in Betracht, weil die Führungsaufsicht damit beendet ist (Dreher aaO; Preisendanz Anm. 2). 12

Bedenklich ist die Auffassung von Dreher (§ 68 e Rdn. 2), eine abgekürzte Höchstfrist könne noch kurz vor ihrem Ablauf zu dem Zweck verlängert werden, Zeit für Ermittlungen zu gewinnen, ob (bei Führungsaufsicht wegen Aussetzung einer freiheitsentziehenden Maßregel) ein Widerrufsgrund nach § 67 g gegeben ist. Zwar mag es mißlich sein, daß das Gesetz bei § 67 g, anders als bei § 56 g (Abs. 2), verlangt, daß der Widerrufsbeschluß noch innerhalb der Aufsichtszeit ergehen muß. Doch rechtfertigt dies nicht, auf bloßen Verdacht hin die Aufsichtszeit wieder zu verlängern und so die Regelung des § 67 g sachwidrig zu umspielen. Es ist auch nicht einzusehen, warum eine solche Umspielung bei abgekürzter Höchstfrist (also besserer Prognose) zulässig sein soll, nicht aber bei nicht abgekürzter Frist, wo den Schwierigkeiten ohnedies nicht begegnet werden kann. IV. Verfahrensrechtliches

13

1. Zuständig für nachträgliche Entscheidungen ist nach § 463 Abs. 2 u. 6 StPO i. V. mit § 453 StPO gemäß § 462 a StPO regelmäßig die Vollstreckungskammer oder das erkennende Gericht, das die Entscheidung an das Amtsgericht des Wohnorts abgeben kann. 2. Die Entscheidung ergeht ohne mündliche Verhandlung durch Beschluß. Gegen den Beschluß ist Beschwerde zulässig, die gemäß §§ 453 Abs. 2 i. V. mit 463 Abs. 2 StPO nur darauf gestützt werden kann, daß die getroffene Anordnung gesetzeswidrig ist oder die Dauer der Führungsaufsicht nachträglich verlängert.

§68 e Beendigung der Fiihrungsaufsicht (1) Das Gericht hebt die Führungsaufsicht auf, wenn zu erwarten ist, daß der Verurteilte auch ohne sie keine Straftaten mehr begehen wird. Die Aufhebung ist frühestens nach Ablauf der gesetzlichen Mindestdauer zulässig. (2) Das Gericht kann Fristen von höchstens sechs Monaten festsetzen, vor deren Ablauf ein Antrag auf Aufhebung der Führungsaufsicht unzulässig ist. (3) Die Führungsaufsicht endet, wenn die Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt" oder in der Sicherungsverwahrung angeordnet ist und deren Vollzug beginnt. Schrifttum s. die Angaben bei den Vorb. von § 68.

* Die Regelung über die Unterbringung in der sozialtherapeutischen Anstalt tritt erst am 1.1. 1985 in Kraft; s. näher § 65 „Entstehungsgeschichte". (62)

Beendigung der Führungsaufsicht (Hanack)

§ 68 e

Entstehungsgeschichte Die Vorschrift ist durch das 2. StrRG eingefügt worden. Übersicht I. II.

Rdn. 1 Füh2 2 3

Allgemeines Die richterliche A u f h e b u n g der rungsaufsicht (Absatz 1,2) 1. Anwendungsbereich 2. Voraussetzungen 3. Ablauf der gesetzlichen Mindestdauer a) Allgemeines b) Vollverbüßer c) Bei Führungsaufsicht kraft Richterspruchs d) Bei Führungsaufsicht kraft Gesetzes

10 11 14 15

III.

IV.

Rdn. e) Zweifelsfragen und Sonderfälle . 24 4. Prüfungspflichten und -fristen . . . . 26 5. Verfahren 28 Beendigung der Führungsaufsicht bei Unterbringungen (Absatz 3) 29 1. Sinn der Vorschrift 29 2. Korrigierende Auslegung 31 3. Eintritt der Beendigung 32 Sonstige Beendigung der Führungsaufsicht 33 1. Terminologie 33 2. Beendigungsgründe 34

19

I. Allgemeines. Die Vorschrift, die auf § 96 E 1962 zurückgeht, regelt, entgegen 1 der Überschrift, vor allem die (vorzeitige) richterliche Aufhebung der Führungsaufsicht, die nur einen Unterfall der Beendigung darstellt, und erfaßt im übrigen, wie schon in der Begründung zum E 1962 vermerkt wird (S. 223), lediglich einen Teil der Beendigungsmöglichkeiten. II. Die richterliche Aufhebung der Führungsaufsicht (Absatz 1 und Absatz 2) 1. Anwendungsbereich. § 68 e Abs. 1 gilt für die Fälle der Führungsaufsicht kraft 2 Richterspruchs (§ 68 Abs. 1) mit einer im folgenden Text genannten Modifizierung. Er erfaßt ferner alle Fälle der Führungsaufsicht kraft Gesetzes (§ 68 Abs. 2) mit Ausnahme der sog. Vollverbüßer des § 68 f Abs. 1. Für diese ist die Aufhebung der Führungsaufsicht in § 68 f Abs. 2 zwar gleichlautend geregelt, jedoch nicht von dem Ablauf der gesetzlichen Mindestfrist des § 68 e Abs. 1 S. 2 abhängig (dazu näher § 68 f Rdn. 21 ff). Zu beachten bleibt, daß die Bindung an die Mindestdauer des Absatz 1 S. 2 in den Fällen der Führungsaufsicht kraft Richterspruchs dann nicht gilt, wenn der Täter eine mindestens zweijährige Freiheitsstrafe wegen einer vorsätzlichen Straftat voll verbüßt hat, weil er dann nach § 68 f zu behandeln ist, diese Bestimmung insoweit also vorgeht (str. ; näher dazu § 68 f Rdn. 9 f)· § 68 e Abs. 2 ist auf jede Art von Führungsaufsicht anwendbar. 2. Voraussetzung für die Aufhebung. Erforderlich ist nach Absatz 1 die Erwar- 3 tung, daß der Verurteilte auch ohne die Führungsaufsicht keine Straftaten mehr begehen wird. a) Die Aussichtslosigkeit einer weiteren Durchführung ergibt schon nach dem Wortlaut, aber auch nach dem Zweck der Aufsicht keinen Aufhebungsgrund (Horn SK Rdn. 6). Die Auffassung von Horn (aaO), daß in solchen Fällen jedoch § 68 b Abs. 3 „besondere Bedeutung erlangen" könne, ist bedenklich oder doch mißverständlich, schon weil die Führungsaufsicht auch der Überwachung dient und jedenfalls dieser Zweck von der Aussichtslosigkeit der Maßregel nicht ohne weiteres berührt wird. Im übrigen sind die Begrenzungen des § 68 b Abs. 3 an der Zumutbarkeit orientiert, nicht aber am mutmaßlichen Erfolg oder Mißerfolg. (63)

§68 e

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

4

b) Erwartung bedeutet hier richterliche Überzeugung (Horn SK Rdn. 5). „Gewißheit" ist dafür nicht zu verlangen (Sch.-Schröder-Stree Rdn. 3). Es reicht aber auch nicht eine „gewisse Wahrscheinlichkeit", daß der Täter keine Straftaten mehr begehen wird (Horn aaO; vgl. auch LK § 68 Rdn. 9). Schon darum sind auch die auf eine ganz andere Situation gemünzten Voraussetzungen für die Aussetzung des Strafrests gemäß § 57 Abs. 1 Nr. 2 („verantwortet werden kann zu erproben"), nicht ausreichend. 5 Die Erwartung i. S. des § 68 e ist aber auch nicht identisch mit der Erwartung, die nach § 56 die Strafaussetzung zur Bewährung rechtfertigt (a. A. Lackner Anm. 1 ; Dreher Rdn. 8). Die dortigen Grundsätze können vielmehr nur „bedingt herangezogen werden" (Horn aaO), schon weil die günstige Prognose in beiden Fällen unterschiedliche Bezugspunkte und unterschiedliche Konsequenzen hat: Bei § 56 steht der Täter unter Bewährungsfrist, so daß die Erwartung, er werde unter dem Einfluß der Verurteilung usw. keine Straftaten mehr begehen, auch auf dem realen Hintergrund der Widerrufsmöglichkeit zu sehen ist. Bei § 68 e hingegen geht es nicht um die spezifischen Einflüsse des § 56 und fehlt es vor allem auch an der Widerrufsmöglichkeit: Die Aufhebung der Führungsaufsicht ist unwiderruflich, so daß Fehlentscheidungen nicht mehr korrigiert werden können. 6

Bedenklich erscheint die Auffassung Horns (aaO), daß im Interesse einer „optimalen Resozialisierungshilfe" die Erwartung selbst dann zu verneinen sei, wenn „auch nur zu vermuten ist", daß der Verurteilte dem Anreiz zu neuen Taten ohne Führungsaufsicht „vielleicht doch weniger erfolgreich widerstehen" könnte als mit einer solchen Aufsicht. Denn entscheidend ist die Erwartung, daß der Täter ohne die Aufsicht keine Straftaten mehr begehen wird ; diese Erwartung ist aber jedenfalls nicht ohne weiteres identisch mit der Vermutung, daß der Täter bei Fortbestehen der Führungsaufsicht neue Straftaten eher unterläßt.

7

Ob die Erwartung auf einer Änderung der tatsächlichen Verhältnisse oder darauf beruht, daß sich die ursprüngliche Prognose nachträglich als unrichtig erwiesen hat, ist gleichgültig (Preisendanz Anm. 1). Die Erwartung kann sich i. S. des Subsidiaritätsprinzips (Rdn. 58 vor § 61) auch aus der Erwartung ergeben, daß aufgrund besonderer Umstände weniger einschneidende Mittel geeignet sind, die Gefährlichkeit des Täters aufzuheben (übereinstimmend Sch.-Schröder-Stree Rdn. 3). 8 c) Zweifel an der Erwartung gehen zu Lasten des Verurteilten (s. Rdn. 51 vor § 61 ; ebenso Sch.-Schröder-Stree aaO). d) Das Gericht muß bei begründeter Erwartung die Führungsaufsicht aufheben. Für ein Ermessen ist insoweit kein Raum {Sch.-Schröder-Stree aaO). 9 e) Auf fehlende weitere Straftaten ist die Erwartung bezogen. Darauf, ob der Verurteilte im übrigen ein „gesetzmäßiges Leben" führen wird (so noch § 96 E 1962), kommt es nicht an (dazu 2. Bericht S. 35). Daß das Gesetz nicht auf die Erwartung „erheblicher" weiterer Straftaten abstellt, hat insofern Methode, als es dies auch bei den Anordnungsvoraussetzungen des § 68 Abs. 1 nicht verlangt. Wie bei der Anwendung des § 68 Abs. 1 (dort Rdn. 10) ist aber auch hier, insbesondere nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, anzunehmen, daß jedenfalls die Erwartung von Bagatelldelikten oder bloß gemeinlästigen Delikten, für die die Maßregel nicht gedacht ist (2. Bericht aaO), die Aufrechterhaltung der Führungsaufsicht grundsätzlich nicht rechtfertigt (übereinstimmend Sch.-Schröder-Stree Rdn. 3). (64)

Beendigung der Führungsaufsicht (Hanack)

§68 e

Bei Straftaten nach § 145 a ist zu beachten, daß der Verstoß gegen Weisungen nur dann strafbar ist, wenn dadurch der Zweck der Führungsaufsicht gefährdet wird. Besteht die Erwartung, daß der Verurteilte keine (anderen) Straftaten mehr begehen wird, ist dieser Zweck nicht gefährdet, so daß dann auch die fortbestehende Gefahr eines Verstoßes gegen Weisungen die Aufhebung der Führungsaufsicht nicht hindern kann (so richtig Horn SK Rdn. 5). 3. Der Ablauf der gesetzlichen Mindestdauer (Absatz 1 S. 2). Nach Absatz 1 S. 2 10 ist die Aufhebung der Führungsaufsicht (von den in Rdn. 2 genannten Ausnahmen abgesehen) frühestens nach Ablauf der gesetzlichen Mindestfrist zulässig, d. h. also zwei Jahre nach Beginn der Führungsaufsicht (§ 68 c Abs. 1 ; zur Frage des Beginns s. im einzelnen § 68 c Rdn. 12 ff). Die Berechtigung und der Anwendungsbereich der Bestimmung sind umstritten (eingehend Maier NJW1977 731). Es scheint, daß der Gesetzgeber die Probleme, die mit ihr in verschiedener Hinsicht für Grundsatzfragen der Führungsaufsicht verbunden sind, nicht oder mindestens doch nicht voll erkannt hat. a) Allgemeines. Durch die Einschränkung des Absatz 1 S. 2 soll, wie der E 1962 11 formuliert, „verhindert werden, daß die Bewährung des Verurteilten voreilig bejaht wird" (Begründung S. 223; vgl. auch Corves Prot. V, 2214). Ob dieser Zweck mit dem allgemeinen Prinzip übereinstimmt, daß eine Maß- 12 regel nur so lange wie notwendig dauern darf, ist fraglich. Sch.-Schröder-Stree (Rdn. 4) äußern Zweifel, ohne diese jedoch auszuschöpfen; Horn (SK §68 Rdn. 17 f) hingegen interpretiert Absatz 1 S. 2 letztlich aus diesem Grunde, entgegen dem Gesetz, in sehr einengender Weise (dazu Rdn. 17, 19). Die angedeuteten Bedenken ergeben sich aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Denn dieser Grundsatz gilt nicht nur in der besonderen Ausprägung des § 62, also in bezug auf die Anordnung einer Maßregel; er gilt vielmehr als verfassungsrechtlich begründetes Rechtsprinzip anerkanntermaßen auch für die Aufrechterhaltung belastender Maßregeln (LK § 62 Rdn. 7). Über diese Rechtslage kann sich auch der Strafgesetzgeber nicht hinwegsetzen. Absatz 1 S. 2 läßt sich daher allein mit der Sorge vor richterlichen Fehlentscheidungen („voreilig") nicht rechtfertigen. Er läßt sich ferner auch nicht durch den — in seiner Bedeutung etwas unklaren — Hinweis von Sch.Schröder-Stree (aaO) rechtfertigen, daß die Vorschrift das Gericht davon befreit, „schon alsbald die Aufhebungsmöglichkeit prüfen zu müssen", weil auch diese Erwägung keinen ausreichenden Grund für die Aufrechterhaltung einer sachlich nicht nötigen Maßregel abgibt. Gegenüber den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes verfängt schließlich auch der von Sch.-Schröder-Stree (aaO) empfohlene Ausweg nicht, das Gericht „sollte", wenn die Führungsaufsicht schon vor Ablauf der Mindestfrist „unnötig geworden ist" (!), „wenigstens dafür sorgen, daß (sie) so milde wie möglich gehandhabt wird". Die Erwägung hat zwar eine berechtigte Komponente (unten Rdn. 17, 21). Aber wenn eine „unnötig gewordene" Führungsaufsicht nicht aufgehoben werden kann, bedeutet dies auch bei „milder" Handhabung einen Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, zu dem das Gesetz den Richter nicht zwingen kann. Ob oder wie weit die Einschränkung des Absatz 1 S. 2 mit dem Verhältnismäßig- 13 keitsgrundsatz übereinstimmt und den Richter bindet, hängt mithin allein davon ab, ob die Einschränkung unter den Aspekten notwendiger Gefahrenabwehr für die von der Vorschrift erfaßten Fallgruppen in ausreichendem Maße sachlich legitimiert (65)

§ 68 e

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

ist, ob sie also — im Zusammenhang mit den sonstigen Normierungen über die Führungsaufsicht — jeweils Fälle betrifft, in denen der Gesetzgeber von der Notwendigkeit einer mindestens zweijährigen Dauer ausgehen durfte (so in der Sache auch der Prüfungsansatz von Horn aaO). Eine Prüfung der verschiedenen Fallgruppen wird im folgenden — in groben Zügen — vorgenommen. Sie ist wegen der Vielgestaltigkeit der Fallgruppen mühsam, und zwar schon in der für die Prüfung erforderlichen Aufgliederung der einzelnen Gruppen. 14

b) Daß Absatz 1 S. 2 nicht für die Vollverbüßer des § 68 f Abs. 1 gilt, ergibt sich aus Wortlaut und Sinn der Sonderregelung des § 68 f Abs. 2 und ist unbestritten. 15 c) Für die Fälle der Führungsaufsicht kraft Richterspruchs (§ 68 Abs. 1) sind für die Untersuchung drei Fallgruppen zu unterscheiden. aa) Soweit der Täter eine mindestens zweijährige Freiheitsstrafe voll verbüßt, kann Absatz 1 S. 2 nach der hier vertretenen Auffassung ebenfalls nicht gelten, weil der Täter dann nur nach § 68 f behandelt wird, also die gemäß § 68 Abs. 1 angeordnete Führungsaufsicht entfällt bzw. von der Führungsaufsicht des § 68 f verdrängt wird (näher dazu § 68 f Rdn. 9 ΟΙ6 bb) Soweit der Täter Freiheitsstrafe (gleich welcher Höhe) nicht oder nicht voll verbüßt, bestehen gegen die Anwendbarkeit des Absatz 1 S. 2 auch dann keine Bedenken, wenn man (vgl. näher § 68 Rdn. 14 ff) bei Anordnung der Führungsaufsicht nur auf die Gefährlichkeit des Täters zur Zeit der Urteilsfällung abstellt. Denn in diesen Fällen steht der Täter mit der Strafaussetzung zur Bewährung oder der Aussetzung des Strafrests unter der mindestens zweijährigen Bewährungszeit des § 56 a. Da das Gericht für die Dauer der Bewährungsfrist das Ruhen der Führungsaufsicht anordnen kann (§ 68 g Abs. 2) und nach erfolgreichem Ablauf der Bewährungszeit die Führungsaufsicht kraft Gesetzes endet (§ 68 g Abs. 3 ; s. dort Rdn. 26 f), läßt sich das scharfe Instrumentarium der Führungsaufsicht insoweit auf diese Weise überall dort vermeiden, wo es unverhältnismäßig wäre. 17

cc) Es bleiben die Fälle, in denen der Täter eine Freiheitsstrafe von weniger als zwei Jahren voll verbüßt. Horn meint (SK § 68 Rdn. 17), daß die Wartefrist des Absatz 1 S. 2 hier ihre Berechtigung habe, weil eine „länger dauernde .Behandlung' durch den Strafvollzug" nicht vorliege, sich der Täter daher erst einmal zwei Jahre bewähren müsse, bevor an eine Aufhebung der Führungsaufsicht gedacht werden könne. Dies überzeugt schon deswegen nicht, weil dem Gesetz eine derartige Wertung der Freiheitsstrafe unter zwei Jahren ersichtlich fremd ist (vgl. auch Maier NJW 1977 731, 732). Sie dürfte auch aus kriminologischer Sicht kaum haltbar sein (zur kriminologischen Seite s. Schöch Grundlagen und Wirkungen der Strafe, Schaffstein-Festschrift S. 255, 263 m. Nachw.). Hingegen ergibt sich für die erörterte Fallgruppe in der Regel eine ausreichende Rechtfertigung der Mindestfrist aus einem anderen Grunde: Es handelt sich hier immerhin um Täter, bei denen das erkennende Gericht die Gefahr der Begehung weiterer Straftaten bejaht hat (§ 68 Abs. 1) und bei denen später nicht „verantwortet werden kann zu erproben", ob sie außerhalb des Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen (§ 57 Abs. 1 Nr. 2), also um Täter mit vermutlich schlechter oder doch mindestens keiner erkennbar guten Prognose. Wenn aber schon günstiger prognostizierte Täter den Einwirkungen einer Bewährungsaufsicht unterstellt werden dürfen, wird man für die hier in Frage stehende Tätergruppe, zumal bei den Mög(66)

Beendigung der Führungsaufsicht (Hanack)

§68 e

lichkeiten, die Führungsaufsicht den Bedürfnissen des Einzelfalles anzupassen, Bedenken gegen die Mindestdauer der Führungsaufsicht nicht erheben können. Dies kann allerdings dann nicht gelten, wenn eine Aussetzung des Strafrests aus 18 Gründen unmöglich ist, die mit einer vermutlich schlechten Prognose nichts zu tun haben. Dies sind die Gründe des § 57 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 3. Es ist unter den verfassungsrechtlichen Aspekten des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes mit nichts zu begründen, solche Täter ohne Rücksicht auf ihre Entwicklung zwingend mindestens zwei Jahre unter Führungsaufsicht zu halten. Die Bindung an die Mindestdauer widerspricht hier auch der Regelung des § 68 g Abs. 2. Der Richter muß daher unter Heranziehung des in dieser Vorschrift enthaltenen Grundgedankens und in Fortführung der Logik des Gesetzes befugt sein, entgegen dem Wortlaut des § 68 e Abs. 1 S. 2 die Führungsaufsicht schon früher aufzuheben. d) Für die Fälle der Fiihrungsaufsicht kraft Gesetzes im Zusammenhang mit frei- 19 heitsentziehenden Maßregeln (also für alle Fälle des § 68 Abs. 2 mit Ausnahme der schon in Rdn. 14 f erörterten Vollverbüßer gemäß § 68 0 will Horn (SK Rdn. 9 i. V. mit § 68 Rdn. 18) die Zweijahresfrist des § 68 e Abs. 1 S. 2 ebenfalls nicht gelten lassen. Er begründet dies damit, daß hier, anders als in den Fällen der Führungsaufsicht kraft Richterspruchs, eine Prognose, der Täter werde weitere Straftaten begehen, nicht vorausgesetzt werde und der Richter darum „wenigstens die Möglichkeit" haben müsse, die Führungsaufsicht „dann — und zwar mit sofortiger Wirkung — aufzuheben, wenn er zu dem Ergebnis kommt, eine solche Gefahr bestehe (jetzt) nicht (mehr)". Aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (§ 62) ergebe sich danach, daß § 68 e Abs. 1 S. 2 insoweit nicht gelten könne, vielmehr der an sich nur auf Vollverbüßer gemünzte § 68 f Abs. 2 einschlägig sei. Dem ist zu widersprechen (ablehnend auch Maier NJW 1977 731 ; Dreher § 68 c Rdn. 2 ; Lackner Anm. 1 a). Die genauere Betrachtung der verschiedenen Tätergruppen, die der Führungsaufsicht kraft Gesetzes unterliegen, zeigt nämlich, daß die Führungsaufsicht hier stets, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, so stark vom Verdacht einer kritischen Prognose oder doch mindestens einer Gefährdung der Täter abhängt, daß es berechtigt ist, sie der Zweijahres-Mindestfrist zu unterwerfen. aa) Dies wird vielleicht besonders deutlich am Fall des § 67 d Abs. 4 (Entlassung 20 aus dem erstmaligen Vollzug der Sicherungsverwahrung nach Ablauf der Höchstfrist von zehn Jahren): Ein Täter, der sich — nach vorheriger Verbüßung von Freiheitsstrafe — zehn Jahre lang in Sicherungsverwahrung befunden hat, ohne daß das Gericht die Erprobungsklausel des § 67 d Abs. 2 anwenden konnte, hat typischerweise eine so schlechte Prognose, daß es grundsätzlich nicht „voreilig", also nicht unverhältnismäßig ist, ihn nach dem schwierigen Übergang in die Freiheit kraft Gesetzes für mindestens zwei Jahre der Stützung und Überwachung zu unterwerfen. Es besteht hier eine so große Vermutung der weiteren Gefährlichkeit oder/und Gefährdung des Täters, daß die Bindung des Richters an Absatz 1 S. 2 ohne Zweifel sachgemäß ist. bb) Für die Fälle des § 67 b (Aussetzung der Unterbringung zugleich mit der 21 Anordnung) gilt im Ergebnis, wenn auch aus anderen Gründen, gleiches: Es handelt sich hier um psychisch gestörte oder süchtige Täter, die unmittelbar mit dem Urteil, trotz gerade festgestellter Gefährlichkeit, im Vertrauen auf die Erwartung entlassen werden, daß ihrer Gefährlichkeit im Wege einer ambulanten Betreuung begegnet werden kann. Daß der Gesetzgeber diese — kriminalpolitisch neue und (67)

§ 68 e

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

gewiß nicht unproblematische — Möglichkeit zwingend an eine mindestens zweijährige Aufsichtsfrist bindet, ist nicht sachfremd oder „voreilig". Dem steht auch nicht entgegen, daß man sich (mit dem E 1962; s. Rdn. 21 vor § 68) gerade für diese Fallgruppe vielleicht angemessenere Formen der Aufsicht denken könnte, weil immerhin auch die Führungsaufsicht so elastisch gehandhabt werden kann und muß (Rdn. 5 vor § 68), daß sich, verfassungsrechtlich gesehen, von einem Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wohl unter keinen Denkbarkeiten sprechen läßt. 22

cc) In den Fällen des § 67 c Abs. 2 (dreijährige Verzögerung der Unterbringung) ist eine Bindung an die Zweijahresfrist schon deswegen berechtigt, weil hier die Führungsaufsicht überhaupt nur eintritt, wenn das Gericht den Zweck der Unterbringungsanordnung noch nicht als erreicht ansieht (§ 67 c Abs. 2 S. 5), also eine irgendwie fortbestehende Gefährlichkeit bejaht.

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dd) Schließlich ist auch in den Fällen der §§ 67 c Abs. 1, 67 d Abs. 2 (Aussetzung der Unterbringung nach begonnenem Vollzug) die Bindung an die Mindestfrist des § 68 e Abs. 1 S. 2 angemessen. Zwar hat sich der Täter hier im Vollzug einer Freiheitsstrafe (§ 67 c) bzw. einer freiheitsentziehenden Maßregel (§ 67 d) befunden. Aber seine Situation unterscheidet sich von der in Rdn. 21 behandelten Fallgruppe dadurch, daß die Aussetzung, die die Führungsaufsicht auslöst, auf einer gerichtlichen Entscheidung beruht, die jeweils unter großzügigen Voraussetzungen vorzunehmen ist: Nicht nur bei §67 d Abs. 2, sondern auch bei § 67 c Abs. 1 kommt es nach zutreffender Ansicht (Dreher § 67 c Rdn. 3 ; Lackner § 67 c Anm. 1 b ; vgl. auch Lang-Hinrichsen Vorauf!. Rdn. 4 zu § 42 g a. F.) darauf an, daß „verantwortet werden kann zu erproben, ob der Täter außerhalb des Maßregelvollzugs keine Straftaten mehr begehen wird". Bei solchen Voraussetzungen ist es wiederum nicht „voreilig" und unverhältnismäßig, wenn das Gesetz als zwingende Folge der Aussetzung die mindestens zweijährige Führungsaufsicht vorschreibt, zumal sie berechtigtenfalls auch hier entsprechend der grundsätzlichen Pflicht zur elastischen Handhabung (Rdn. 5 vor § 68) unter Zuschnitt auf die Unterstützungsfunktion gehandhabt werden kann und muß.

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e) Zweifelsfragen und Sonderfälle. Nach der hier vertretenen Auffassung (Rdn. 15 ff) ist die Bindung an die Mindestfrist des Absatz 1 S. 2 im Umfang ihres gesetzlich vorgesehenen Geltungsbereichs nur bei einer einzigen, praktisch seltenen Fallgruppe (Rdn. 18) zu beanstanden und unwirksam. Darauf hinzuweisen ist aber, daß für die übrigen untersuchten Fallgruppen der Boden, auf dem die dargelegte Auffassung beruht, recht dünn ist. Das gilt einmal, weil ihr zum Teil Rechtsansichten zugrunde liegen, die umstritten sind. Geht man z. B. entgegen der hier vertretenen Meinung (Rdn. 23) bei Auslegung des § 67 c Abs. 1 davon aus, daß die Aussetzung der Unterbringung erst zulässig ist, wenn die sichere Erwartung besteht, der Täter werde keine Straftaten mehr begehen (so im Ergebnis Sch.-Schröder-Stree § 67 c Rdn. 4 und vielleicht auch Horn SK § 67 c Rdn. 3), bestünde auch kein Grund, ihn noch zwei Jahre unter Führungsaufsicht zu halten, wäre die Belastung also unverhältnismäßig.

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Zum anderen wird es in der Praxis Fälle geben, in denen ein Täter — nach der hier vertretenen Ansicht: immer entgegen dem Gesetz — erst zu einem Zeitpunkt aus der Unterbringung oder dem Strafvollzug zur Bewährung entlassen wird, in dem nicht nur irgendwie „erprobt" werden kann, ob er in Freiheit keine Straftaten mehr begeht, sondern seine Ungefährlichkeit feststeht. In solchen Fällen ist es ver(68)

Beendigung der Führungsaufsicht (Hanack)

§ 68 e

fassungsrechtlich unabdingbar (§ 62 Rdn. 7), daß das Gericht wenigstens die Konsequenz zieht, Absatz 1 S. 2 nicht anzuwenden, wozu ihm der Rechtsgedanke des § 62 die Befugnis gibt. Daß damit eine gewisse, vom Gesetz gerade nicht gewollte Relativierung der Bindung an die Mindestdauer des Absatz 1 S. 2 eintritt, ist nicht zu bestreiten, aber auch nicht zu ändern. Es ist Konsequenz der so komplizierten Gesetzesregelungen und der Schwierigkeit ihrer praktischen Handhabung. 4. Prüfungspflichten und -fristen a) Amtspflicht. Eine Pflicht, von Amts wegen innerhalb bestimmter Fristen zu 26 prüfen, ob eine Aufhebung der Führungsaufsicht in Betracht kommt, hat das Gesetz — anders als bei den freiheitsentziehenden Maßregeln (§ 67 e Abs. 1 S. 2, Abs. 2) — nicht festgelegt. Dies ändert jedoch nichts daran, daß das Gericht, insbesondere nach Ablauf der Zweijahresfrist, aufgrund der Auswirkungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes von Amts wegen „laufend darauf zu achten hat, ob der Zweck der Maßregel erreicht ist" (Begr. ζ. E 1962, S. 223). Diese Pflicht wird auch durch die Festlegung einer Sperrfrist gemäß § 68 e Abs. 2 nicht berührt (Begr. aaO). Die Auffassung von Horn (SK Rdn. 8), das Gericht sei nach Absatz 2 „im Zusammenspiel" mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz innerhalb einer Frist von jeweils sechs Monaten von Amts wegen zur Prüfung der Aufhebungsvoraussetzungen verpflichtet, entspricht nicht dem Gesetz; sie ist bedenklich, weil sie im Einzelfall zu viel oder auch zu wenig fordert. Das Gericht wird seiner Prüfungspflicht vor allem durch entsprechende Anweisungen an die Aufsichtsstelle und den Bewährungshelfer (§ 68 a Abs. 5) zu genügen haben (Dreher Rdn. 9). Im übrigen sind Aufsichtsstelle und Bewährungshelfer aufgrund ihres Aufgabenbereichs nach § 68 a auch von sich aus zur Prüfung und zum Bericht verpflichtet (Dreher aaO). b) Auf Antrag muß das Gericht, wie sich mittelbar auch aus Absatz 2 ergibt und 27 im übrigen aus allgemeinen Grundsätzen folgt, grundsätzlich prüfen, ob die Führungsaufsicht aufzuheben ist. Es kann jedoch Sperrfristen festsetzen (Absatz 2), vor deren Ablauf ein Aufhebungsantrag unzulässig ist. Die Sperrfrist darf nach dem klaren Wortlaut des Gesetzes sechs Monate nicht übersteigen, kann aber kürzer sein. Die Frist hat — unbeschadet der fortbestehenden Prüfungspflicht von Amts wegen (Rdn. 26) — die prozessuale Konsequenz, daß Anträge des Verurteilten innerhalb der Sperrfrist als unzulässig zu verwerfen sind. Für die Sperrfrist kommt es dabei nicht auf die Rechtskraft des sie aussprechenden Beschlusses, sondern auf die tatsächliche Zeitspanne an (vgl. OLG Hamm M D R 1976 159). Zweck der Sperrfrist ist — wie bei § 57 Abs. 5 und § 67 e Abs. 3 S. 2 — nicht nur, das Gericht „davor zu schützen, daß es n i c h t . . . laufend mit unbegründeten Anträgen überhäuft und dadurch in der Erfüllung seiner eigentlichen Aufgabe gehemmt wird" (so aber die Begr. ζ. E 1962, S. 223); die Frist soll vielmehr vor allem auch im Interesse einer gewissen Kontinuität der Einwirkung zwecklosen Anträgen und erkennbar unberechtigten Hoffnungen des Verurteilten vorbeugen. Die Festsetzung setzt die Prognose voraus, daß innerhalb der Sperrfrist keine Erwartung besteht, der Verurteilte werde auch ohne Führungsaufsicht keine Straftaten mehr begehen. Aber auch dann liegt sie im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts. Es wird sich bei der Ausübung dieses Ermessens nicht nur vom Gedanken der Arbeitsersparnis (W)

§68 e

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

leiten lassen, sondern insbesondere von der Frage, wie weit die Fristsetzung aus den geschilderten Sachgründen zur Einwirkung auf den Verurteilten angezeigt ist. 28

5. Verfahren. Für das Verfahren und die Zuständigkeit gelten die §§ 463 Abs. 3, 6 i. V. mit 454 und 462 a StPO.

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III· Die Beendigung der Führungsaufsicht bei Unterbringung (Absatz 3). Nach Absatz 3 endet die Führungsaufsicht, wenn die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (§ 66) oder in einer sozialtherapeutischen Anstalt (§ 65) angeordnet ist und deren Vollzug beginnt. 1. Sinn der Vorschrift. Der Sinn des Absatz 3, über den insoweit substantiiertere Äußerungen in den Gesetzesmaterialien fehlen, ist in seiner Begrenzung nicht einsichtig; es dürfte sich um ein gesetzgeberisches Versehen handeln: Grund für die Regelung ist ersichtlich (vgl. E 1962 S. 223) der Umstand, daß aufgrund des Vollzugs der Unterbringung eine „neue" Führungsaufsicht kraft Gesetzes eintritt, wenn es später zu einer Aussetzung der Vollstreckung kommt. Aber warum das nur in den beiden Fällen des Absatz 3 gelten soll, ist nicht zu verstehen. Denn zu einer „neuen" Führungsaufsicht kraft Gesetzes kommt es ja nicht nur bei der vorläufigen Entlassung aus der Sicherungsverwahrung und der sozialtherapeutischen Anstalt, sondern ebenso bei der vorläufigen Entlassung aus dem psychiatrischen Krankenhaus und der Entziehungsanstalt; es ist kein sachlicher Grund erkennbar, warum im einen Fall die „alte" Führungsaufsicht entfallen soll, im anderen nicht. Auch für die Entlassung nach Ablauf einer Höchstfrist ist unerfindlich, warum in den drei Fällen, die das Gesetz insoweit kennt (§ 67 d Abs. 1), dergestalt differenziert wird, daß bei der erstmaligen Sicherungsverwahrung nach § 67 d Abs. 4 eine „neue" Führungsaufsicht eintritt, bei der Entziehungsanstalt die „alte" weiterläuft und bei der sozialtherapeutischen Anstalt „keine" Führungsaufsicht eintritt.

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Tatsächlich scheint dem Gesetzgeber ein Lapsus unterlaufen zu sein, der sich augenscheinlich wie folgt erklärt: In § 107 Abs. 1 und Abs. 2 E 1962 war für bestimmte Fälle der Aussetzung einer Unterbringung eine andere, von der Führungsaufsicht (Sicherungsaufsicht) verschiedene Form der Überwachung des vorläufig Entlassenen vorgesehen (s. auch Rdn. 21 vor § 68). Dementsprechend schrieb § 96 Abs. 3 E 1962, der Vorläufer des § 68 e Abs. 3, die Beendigung der Führungsaufsicht (Sicherungsaufsicht) bei Beginn des Vollzugs nur für diejenigen Maßregeln vor, bei denen nach § 107 Abs. 3 E 1962 mit der Aussetzung Führungsaufsicht (Sicherungsaufsicht) eintreten sollte. Diese Regelung war in sich geschlossen und logisch. Augenscheinlich hat man nun bei der späteren Überarbeitung des E 1962, bei der das Maßregelsystem anders geordnet wurde und die Sonderregelung des § 107 Abs. 1, 2 wegfiel, die notwendige Anpassung des §96 Abs. 3 E 1962 (vgl. Prot. V, 2220 zu § 96) bzw. des § 68 e Abs. 3 übersehen (vgl. Prot. V, 2332). Diese Anpassung hätte — in Fortführung der Linie des E 1962 — in der Notwendigkeit bestanden, die Beendigung der Führungsaufsicht überall dort vorzusehen, wo der Vollzug einer freiheitsentziehenden Maßregel beginnt.

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2. Korrigierende Auslegung. Dreher (Rdn. 6) und Sch.-Schröder-Stree (Rdn. 9) nehmen ohne nähere Begründung im Wege des Umkehrschlusses an, daß bei den in § 68 e Abs. 3 nicht erfaßten Maßregeln die Führungsaufsicht aufrechterhalten blei(70)

Beendigung der Führungsaufsicht (Hanack)

§ 68 e

be. Dem ist nicht zu folgen. Vielmehr erscheint es zur Vermeidung der ungereimten Ergebnisse jeder anderen Betrachtung angezeigt und erlaubt, das vermutliche gesetzgeberische Versehen im Wege der Auslegung entsprechend zu korrigieren, also anzunehmen, daß mit jedem Vollzug einer freiheitsentziehenden Maßregel schon bestehende Führungsaufsicht endet. Diese Auslegung ist in den Fällen unproblematisch, in denen es später zur Aussetzung der Unterbringung kommt, weil hier ohnedies stets kraft Gesetzes neue Führungsaufsicht eintritt und das Nebeneinander der „alten" und der „neuen" Aufsicht keine Bedeutung hätte. Die korrigierende Auslegung ist insoweit sogar besonders geboten, weil damit die verwirrende und ersichtlich nicht gewollte Konkurrenz von Unterbringungsvollzug und Führungsaufsicht vermieden wird, die hier noch weit mehr als beim Nebeneinander von Strafvollzug und Führungsaufsicht (dazu § 68 c Rdn. 13 f) unpassend wäre. Die korrigierende Auslegung ist aber auch in den Fällen berechtigt, ja zwingend, in denen die Unterbringung bis zur zulässigen Höchstfrist (§ 67 d Abs. 1) vollzogen wird. Zwar entfällt dann bei der Entziehungsanstalt die Fortdauer der Führungsaufsicht, die bei wortgetreuer Anwendung des § 68 e Abs. 3 bzw. der Argumentation mit dem Umkehrschluß fortbestehen würde. Aber gerade dies dürfte auch dem Willen des Gesetzes und des Gesetzgebers entsprechen. Das zeigt einmal die — bei den Gesetzesberatungen erst später eingefügte — Vorschrift des § 67 d Abs. 4, die ersichtlich Sondercharakter besitzt. Es zeigt sich zum anderen daran, daß nicht einzusehen wäre, warum bei erfolgloser Entlassung aus der Entziehungsanstalt eine frühere Führungsaufsicht weiterbestehen sollte, nicht aber bei der erfolglosen Entlassung aus der sozialtherapeutischen Anstalt. Tatsächlich hatte auch der E 1962, um dessen Weiterführung es bei der befürworteten Auslegung ja geht (Rdn. 30), nach erfolglosem Ablauf der Höchstfrist für eine freiheitsentziehende Maßregel irgendeine nachträgliche Aufsicht nirgends vorgesehen. — Im übrigen sind die Konsequenzen für die Entlassung aus der Entziehungsanstalt nach Ablauf der Höchstfrist auch insofern sachgerecht oder doch jedenfalls unschädlich, als die Entlassung hier in aller Regel selbst bei Wiederholungstätern längst vor der Höchstfrist erfolgt und nach den praktischen Erfahrungen sogar erfolgen soll (näher 2. Bericht S. 33), mit der vorzeitigen Entlassung aber neue Führungsaufsicht eintritt. 3. Zum Eintritt der Beendigung kommt es mit dem tatsächlichen Beginn des Voll- 32 zugs. Die bestehende Führungsaufsicht wird damit gegenstandslos (Begr. ζ. E 1962 S. 223), und zwar ohne daß es insoweit einer gerichtlichen Entscheidung bedarf. Erfolgt später eine Aussetzung des Vollzugs der Maßregel, entsteht eine neue Führungsaufsicht (unklar Preisendanz Anm. 3); nicht aber lebt die „alte" Führungsaufsicht wieder auf. Sie ist auch nicht anzurechnen, weil es sich um einen Fall des § 68 c Abs. 2 S. 2 nicht handelt (Horn SK Rdn. 2). Das gleiche gilt für die Führungsaufsicht nach Ablauf der Höchstfrist für die erstmalige Unterbringung in der Sicherungsverwahrung gemäß § 67 d Abs. 4. IV. Die sonstige Beendigung der Führungsaufsicht 1. Terminologisch zu unterscheiden ist die richterliche Aufhebung der Führungs- 3 3 aufsieht (§ 68 e Abs. 1), die Anordnung des Entfallens der Führungsaufsicht (§ 68 f Abs. 2), die in der Sache nur eine besondere Form der Aufhebung darstellt, und die Beendigung der Führungsaufsicht (§ 68 e Abs. 3, § 68 g Abs. 3), die hier ihr Ende (711

§ 68 f

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

kraft Gesetzes bezeichnet. In der Paragraphen-Überschrift des § 68 e wird die Beendigung zugleich als Oberbegriff zur Aufhebung verwendet. 2. Es gibt eine Reihe von Beendigungsgründen (neben der „Aufhebung" bzw. dem 34 „Entfallen" und neben der Beendigung gemäß § 68 e Abs. 3). So kann die Führungsaufsicht weiterhin enden (vgl. auch Dreher Rdn. 2 ff): a) durch Ablauf der gesetzlichen Höchstdauer (§ 68 c Abs. 1 S. 1); b) durch Ablauf der richterlich abgekürzten Höchstdauer (§§ 68 c Abs. 1 S. 2, 68 d; zur Ansicht Drehers über ein zulässiges Hinausschieben dieser Dauer s. LK § 68 d Rdn. 12); c) durch Straferlaß (§ 56 g) nach Strafaussetzung zur Bewährung (§ 56) oder Aussetzung des Strafrests (§ 57) und erfolgreicher Bewährung, wenn die Führungsaufsicht wegen derselben Tat angeordnet war (§ 68 g Abs. 3); d) durch Erledigung eines Berufsverbots (§ 70 b Abs. 5) nach Aussetzung dieses Verbots (§ 70 a), wenn es wegen derselben Tat angeordnet war ( 68 g Abs. 3); e) durch Widerruf der Aussetzung einer Unterbringung (§ 67 g Abs. 1—3), wenn die Führungsaufsicht aufgrund der §§ 67 b, 67 c Abs. 1 und Abs. 2 oder 67 d Abs. 2 eingetreten ist (insoweit übereinstimmend Dreher Rdn. 5). Die Beendigung ergibt sich hier aus dem Grundsatz, daß mit jedem Vollzug einer freiheitsentziehenden Maßregel eine vorher bestehende Führungsaufsicht entfällt (Rdn. 3 1 0 · f) durch Verjährung gemäß § 79 Abs. 4 S. 2.

§ 68 f Führungsaufsicht bei Nichtaussetzung des Strafrestes (1) Ist eine Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren wegen einer vorsätzlichen Straftat vollständig vollstreckt worden, so tritt mit der Entlassung des Verurteilten aus dem Strafvollzug Fiihrungsaufsicht ein. Dies gilt nicht, wenn im Anschluß an die Strafverbüßung eine freiheitsentziehende Maßregel der Besserung und Sicherung vollzogen wird. (2) Ist zu erwarten, daß der Verurteilte auch ohne die Führungsaufsicht keine Straftaten mehr begehen wird, so ordnet das Gericht an, daß die Maßregel entfällt. Schrifttum s. die Angaben bei den Vorb. vor § 68.

Entstehungsgeschichte Die durch das 2. StrRG eingefügte Vorschrift hat ihre geltende Fassung erst durch Art. 18 II Nr. 33 EGStGB erhalten; zu ihrer Entwicklung vgl. näher auch Rdn. 1 - 3 . Übersicht I.

Allgemeines 1. Z u r Vorschrift 2. Gesetzgeberische Konzeption 3. Kriminalpolitische Problematik 4. Rechtsstaatliche Problematik

Rdn. 1 1 2 ... 4 5

II. III.

Rdn. K o n k u r r e n z z u r gerichtlich a n g e o r d n e t e n Führungsaufsicht 9 Voraussetzungen f ü r den Eintritt der F ü h r u n g s a u f s i c h t (Absatz 1) 11 12 1. Vorsätzliche Straftat

Führungsaufsicht bei Nichtaussetzung des Strafrestes (Hanack) Rdn. Mindestens zweijährige Freiheitstrafe 13 3. Vollständige Vollstreckung 15 4. Kein Vollzug einer freiheitsentzieh e n d e n Maßregel 20 G e r i c h t l i c h e A n o r d n u n g des Entfallens (Absatz 2) 21 2.

IV.

V.

§ 68

f

Rdn. . :i 1. Allgemeines . . . . 2. Keine Mindestfrist . 24 3. Voraussetzungen der A u f h e b u n g . . . 25 4. Befugnis z u r A n o r d n u n g 26 5. Verfahrensrechtliches . 27 Übergangsrecht 29

I. Allgemeines 1. Die Vorschrift, die auf § 97 E 1962 zurückgeht, betrifft die sog. Vollverbüßer. 1 Sie ist bei den Beratungen der Großen Strafrechtskommission entwickelt worden und war bei den Gesetzesberatungen lebhaft umstritten (vgl. z. B. Prot. V, 2908). Im Schrifttum hat sie unter kriminalpolitischen und rechtsstaatlichen Aspekten erhebliche Kritik erfahren (Rdn. 5 ff)· — Zur Entstehungsgeschichte s. insbesondere die folgenden Gesetzesmaterialien: Niederschriften Bd. 3, S. 146 ff, 234 ff, 257 ff, 384, 387; Bd. 12, S.432; Begr. zum E 1962, S. 223 f; Prot. IV, 330 ff, 964 f; V, 2038, 2214.f, 2908, 3255; 2. Bericht S. 36 f; RegE z. EGStGB (BT-Drucks. 7/550) S. 214; BT-Drucks. 7/1261 S. 8; Prot. VII, 744. 2. Der gesetzgeberischen Konzeption liegt, ähnlich wie in den Fällen des § 67 d 2 Abs. 4 (Entlassung aus der erstmaligen Sicherungsverwahrung nach Ablauf der Höchstfrist), die Überlegung zugrunde, daß die Prognose der Vollverbüßer typischerweise besonders ungünstig ist, da ihnen andernfalls regelmäßig ein Teil der Strafe nach § 57 ausgesetzt worden wäre. Der Gesetzgeber sah daher ein „kriminalpolitisches Bedürfnis", den Verurteilten nach seiner Entlassung „zum Schutze der Allgemeinheit" der Maßregel zu unterwerfen (2. Bericht S. 36 f ; vgl. weiter z. B. Begründung zum E 1962, S. 223; Schwalm Prot. IV, 330 ff). Die ursprüngliche Empfehlung des Bundesjustizministeriums (Niederschriften Bd. 3, S. 345; dazu Lackner ebenda S. 146) und den Vorschlag des AE (§ 48; dazu Begr. S. 159), die, insbesondere nach englischem und schwedischem Vorbild (zum letzteren 2. Bericht S. 37), eine obligatorische Aussetzung des Strafrests auch im Fall ungünstiger Prognose vorsahen, um den Täter auf diese Weise unter Kontrolle zu halten, lehnte der Gesetzgeber als Verfälschung der bedingten Fntkiwmü (ni'iher z. B. Schwalm Prot. IV, 332; 2. Bericht aaO; Raabe S. 171 f). Der Einbau der Vollverbüßer in die Führungsaufsicht machte dem Gesetzgeber 3 Schwierigkeiten. Die an sich „bestechende" und „sehr wünschenswerte" Lösung (,Schwalm aaO S. 333), die Entscheidung über die Anordnung von der Bewährung des Täters im Vollzug abhängig zu machen und der nachträglichen Entscheidung des Vollstreckungsgerichts (der Vollstreckungskammer) zu überlassen, erachtete der Sonderausschuß für rechtsstaatswidrig. Da er es aber auch als unmöglich ansah, die Anordnung der Führungsaufsicht dem erkennenden Gericht zu überlassen, weil es die Prognose, ob der Täter seine Strafe voll verbüßen werde, schlecht treffen könne, wählte er die heutige Lösung: automatischer Eintritt der Führungsaufsicht im Falle der Vollverbüßung (Absatz 1 S. 1) mit Korrekturmöglichkeit durch die Befugnis der Vollstreckungskammer, die Maßregel entfallen zu lassen, wenn zu erwarten ist, daß der Verurteilte auch ohne die Aufsicht keine Straftaten mehr begehen wird (Absatz 2). 3. Die kriminalpolitische Problematik der Regelung ist umstritten (dazu die 4 Nachweise in Rdn. 5), hier aber nicht im einzelnen zu erörtern. Sie liegt namentlich (73)

§ 68 f

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

in der Frage, ob es nicht doch richtiger gewesen wäre, den Übergang in die Freiheit nach längerer Haft auch bei dieser — unstreitig kritischen — Tätergruppe nach dem Vorbild der Entwürfe aus der Weimarer Zeit (Rdn. 17 vor § 68) stärker oder primär an „resozialisierungsfreundlicheren" Einwirkungsmethoden zu orientieren: Die heutige Normierung birgt möglicherweise nicht nur die Gefahr einer gewissen Stigmatisierung (näher Raabe S. 182 ff) und sonstiger psychologischer Gefahren für die Wiedereingliederung des Täters (Hanack Krim. Gegenwartsfragen H. 10 S. 90). Sie birgt vor allem auch die Gefahr, daß das komplizierte Gebilde der Führungsaufsicht bei einer zu starken Betonung der Sicherungsfunktion mit all ihren Problemen (ζ. B. der Einschaltung der Polizei ; s. § 68 a Rdn. 8) in der Praxis der Resozialisierung des Täters eher hinderlich werden kann oder doch die Chancen der Unterstützungsfunktion sehr überwuchert. 5

4. Die rechtsstaatliche Problematik, die sich mit der kriminalpolitischen ζ. T. überschneidet, ist schon bei den Gesetzesberatungen (Rdn. 1) intensiv angesprochen worden und hat auch das Schrifttum beschäftigt (ζ. B. Grünwald ZStW 76 [1964] 662; Schultz JZ 1966 123; Jescheck ZStW 80 [1968] 76; Preiser ZStW 81 [1969] 253, 813; AE-AT S. 159; eingehend Raabe S. 168 ff m. w. Nachw.). Es handelt sich dabei meist um Äußerungen eines mehr allgemeinen Unbehagens, die sich zum exakten Vorwurf der Verfassungswidrigkeit nicht wirklich verdichten.

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Insbesondere betreffen Bedenken, daß es unberechtigt sei, einen Täter, der seine Strafe voll verbüßt habe, unter Führungsaufsicht (Sicherungsaufsicht) zu stellen (so ζ. B. Grünwald, Schultz, Jescheck, AE, jeweils aaO), ersichtlich durchweg nur die kriminalpolitische Zweckmäßigkeit. In der Tat läßt sich angesichts der Regelung des § 68 f Abs. 2 ein darüber hinausgehender Vorwurf der Verfassungswidrigkeit auch nicht erheben. Denn es kann keinem Zweifel unterliegen, daß Einwirkungen auf den vermutlich gefährlichen oder gefährdeten Täter auch nach der Strafverbüßung verfassungsrechtlich zulässig sind (näher Raabe S. 40 f)·

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Unberechtigt sind aber auch Einwendungen oder Überlegungen, die um eine Verletzung des Art. 103 GG kreisen, nämlich um die Problematik der nachträglichen Festlegung und um den Grundsatz ne bis in idem (näher mit w. Nachw. Prot. IV, 334 ff; V, S. 2214; Raabe S. 177 ff). Denn nach der gesetzlichen Lösung kann keine Rede davon sein, daß der Täter im Fall der Vollverbüßung nachträglich mit einem zusätzlichen Nachteil belastet werde, der nicht kraft Gesetzes aufgrund des Strafurteils eintritt. Vielmehr ist die Folge grundsätzlich durch das Strafurteil bedingt; der Verurteilte kann sie durch sein Verhalten lediglich beseitigen (ähnlich Raabe S. 179 0- Daß der „Trick" (vgl. Güde Prot. IV, 335), dessen sich der Gesetzgeber bedient, kriminalpolitisch unangemessen sein mag, begründet, auch unter dem Aspekt der Verhältnismäßigkeit, noch nicht seine Verfassungswidrigkeit. 8 Unberechtigt ist auch der mit dem vorigen zusammenhängende Einwand von Preiser {S. 913 0 : Da die spätere Führungsaufsicht im Spruch des Strafrichters nicht erwähnt werde und auch nicht erwähnt werden kann, bedeute die Regelung für den Verurteilten eine nachträgliche Überraschung und Schlechterstellung, die eine Mißachtung der Rechtskraft enthalte, weil sie gegen den rechtsstaatlichen Grundsatz verstoße, daß dem Verurteilten über den eindeutig erkennbaren Inhalt des Gesetzes hinaus kein Nachteil zugefügt werden dürfe. Das Moment „der Überraschung" dürfte durch die zwischenzeitlich ergangene Regelung des § 268 a Abs. 3 n. F. StPO (deren Fehlen Preiser noch beklagte) ausgeräumt sein, jedenfalls wenn man die Vorschrift dahin auslegt, daß sie auch eine Belehrungspflicht über den (74)

Führungsaufsicht bei Nichtaussetzung des Strafrestes (Hanack)

§ 68

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möglichen Eintritt von Führungsaufsicht gemäß § 68 f Abs. 1 enthält, wie das in der Tat notwendig ist. Von einer verfassungswidrigen „Schlechterstellung" kann aber gerade dann nicht die Rede sein, zumal die Rechtsfolge eben nicht auf einer „nachträglichen Anordnung" (so aber Preiser aaO) beruht, sondern kraft Gesetzes eintritt, falls sie nicht aufgrund der Erwartung entfällt, der Verurteilte werde keine Straftaten mehr begehen.

II. Konkurrenz zur gerichtlich angeordneten Führungsaufsicht. Sehr umstritten ist 9 das Konkurrenzverhältnis zwischen § 68 f und einer gerichtlich angeordneten Führungsaufsicht gemäß § 68 Abs. 1. In der ursprünglichen Fassung des § 68 f (2. StrRG) war, ebenso wie in § 97 E 1962, ausdrücklich normiert, daß Führungsaufsicht nach § 68 f nicht eintritt, „wenn nach anderen Vorschriften Führungsaufsicht angeordnet ist". Der Gesetzgeber wollte damit das Nebeneinander von zwei Führungsaufsichten ausschließen (Begr. ζ. E 1962, S. 224). Bei den Beratungen zum EGStGB ist der genannte Passus dann aber auf Vorschlag des Bundesjustizministeriums gestrichen worden. Als Begründung wird lediglich angegeben : „Auf den weiteren Ausschließungsgrund, daß zwei Führungsaufsichten nebeneinander laufen, glaubten wir verzichten zu können" (so Horstkotte als Referent des Ministeriums, Prot. VII, 744). „Besondere Probleme tauchen bei einer parallel angeordneten Führungsaufsicht nicht a u f (1. Bericht des Sonderausschusses zum EGStGB, BT-Drucks. 7/1261 S. 8). Diese Äußerungen sind, genau besehen, wohl mehrdeutig, zeigen aber, daß der Gesetzgeber die Probleme ersichtlich nicht erkannt hat. Daraus ergibt sich der heutige Meinungsstreit: Dreher (Rdn. 3) ist unter Bezugnahme auf die frühere Regelung und die zitierte Äußerung von Horstkotte der Auffassung, daß die Führungsaufsicht gemäß § 68 Abs. 1 auch weiterhin vorgehe, § 68 f also subsidiär sei. Horn (SK Rdn. 6 i. V. mit § 68 Rdn. 16) vertritt hingegen umgekehrt die Ansicht, daß bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 68 f Abs. 1 eine vorher gemäß § 68 Abs. 1 angeordnete Führungsaufsicht entfalle und bereits festgelegte Weisungen neu zu bestimmen seien. Lackner (Anm. 1 b) nimmt ein Zusammentreffen mit der Folge an, daß die Maßregel einheitlich nach der längeren Höchstdauer ausgeführt werde. Von einem solchen Zusammentreffen gehen offenbar auch Sch.-Schröder-Stree (Rdn. 7) aus. Sie entnehmen jedoch der Formulierung des § 68 Abs. 2, wonach die Vorschriften über Führungsaufsicht kraft Gesetzes „unberührt" bleiben, daß bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 68 f Abs. 1 dessen Absatz 2 gilt, die richterlich angeordnete Führungsaufsicht also ohne Bindung an die Mindestfrist des § 68 e Abs. 1 S. 2 aufgehoben werden kann (Rdn. 12). Die Ansicht von Sch.-Schröder-Stree entspricht damit im Ergebnis hinsichtlich des eigentlich kritischen Punktes — der Frage, ob § 68 f Abs. 2 der Regelung des § 68 e Abs. 1 S. 2 vorgeht — der Auffassung Horns. Dieser Auffassung ist zu folgen: Daß es, was immer der Gesetzgeber gedacht 10 haben mag, dem wohlverstandenen Willen des Gesetzes entspricht, nach der vollständigen Verbüßung einer mindestens zweijährigen Freiheitsstrafe die Aufhebung einer Führungsaufsicht ohne Bindung an die Mindestfrist des § 68 e Abs. 1 S. 2 zuzulassen, auf welchem Grund die Führungsaufsicht auch immer beruht, haben Sch.-Schröder-Stree (aaO) und Horn (aaO) überzeugend dargelegt. Dann aber ist auch die Konsequenz von Horn nur logisch, daß eine früher gerichtlich angeordnete Führungsaufsicht in dem Moment entfällt, in dem für den Täter gemäß § 68 f Abs. 1 Führungsaufsicht kraft Gesetzes „eintritt". (75)

§ 68 f

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

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III. Voraussetzungen für den Eintritt der Führungsaulsicht (Absatz 1). Die Führungsaufsicht für „Vollverbüßer" tritt unmittelbar kraft Gesetzes ein, wenn der Täter wegen einer vorsätzlichen Straftat eine mindestens zweijährige Freiheitsstrafe vollständig verbüßt hat (Absatz 1 S. 1), ohne daß im Anschluß an die Verbüßung eine freiheitsentziehende Maßregel vollzogen wird (Absatz 1 S. 2). Die Führungsaufsicht entsteht dann (vgl. § 68 c Rdn. 15) mit dem Ende des Strafvollzugs.

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1. Eine vorsätzliche Straftat liegt, wie bei § 48, auch bei Verurteilung nach der Vorsatz-Fahrlässigkeitskombination des § 11 Abs. 2 sowie bei Verurteilung wegen Versuchs, wegen Teilnahme oder wegen versuchter Beteiligung (§ 30) vor. Auch im übrigen kommt es auf die Art der vorsätzlichen Tat nicht an. So genügt auch eine Straftat, deretwegen Führungsaufsicht nach § 68 Abs. 1 nicht angeordnet werden kann (Sch.-Schröder-Stree Rdn. 3).

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2. Ob eine mindestens zweijährige Freiheitsstrafe vorliegt, beurteilt sich nach der im Urteil verhängten Strafe. Die Verurteilung zu Jugendstrafe genügt (§ 7 JGG) und ebenso eine Verurteilung, die nur wegen Rückfallschärfung (§ 48) die Zweijahresgrenze erreicht oder übersteigt. Die Anrechnung von Untersuchungshaft oder sonstigem Freiheitsentzug (§51) bleibt für die Berechnung der Strafhöhe außer Betracht, macht aber die Frage zweifelhaft, ob eine vollständige Vollstreckung vorliegt (näher Rdn. 16 ff).

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Zweifelhaft und streitig ist, ob die Verurteilung zu einer Gesamtstrafe ausreicht, wenn keine der Einzelstrafen die Zweijahresgrenze erreicht. Der Wortlaut des Gesetzes („wegen einer Straftat") und insbesondere das Fehlen einer Normierung nach Art des § 48 Abs. 3 sprechen dagegen. Die Frage ist jedoch, ob dies auch dem Grundgedanken der Gesetzesregelung (Rdn. 3) entspricht: Stellt man darauf ab, daß — im Falle der vollständigen Verbüßung — regelmäßig eine ungünstige Prognose vorliegt und der Täter wegen des langen Freiheitsentzugs gefährdet ist, müßte die Gesamtstrafe genügen. Diesen Standpunkt vertritt Dreher (Rdn. 2). Man wird jedoch auch die Schwere der Maßregel, die spezifisch für Taten mit hohem Unrechts- und Schuldgehalt gedacht ist (Begr. ζ. E 1962, S. 224), berücksichtigen müssen. Dann aber erscheint, zumal angesichts des Gesetzeswortlauts, die gegenteilige Schlußfolgerung richtiger (so auch Horn SK Rdn. 5; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 4). — Zur Frage, wann bei Verurteilung zu einer Gesamtstrafe eine mindestens zweijährige Einzelstrafe „vollständig vollstreckt" ist, s. die folgende Rdn. 15.

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3. Vollständige Vollstreckung liegt vor, wenn der Täter, „aus welchen Gründen auch immer" (Dreher Rdn. 2), die Strafe voll verbüßt hat. Dies ist auch dann der Fall, wenn eine Aussetzung oder ein Straferlaß gemäß § 56 f oder § 56 g Abs. 2 widerrufen wird {Dreher aaO; Horn SK Rdn. 3) oder wenn der Vollzug aus anderem Anlaß lediglich unterbrochen, und sei es auch wiederholt unterbrochen, worden ist (Dreher aaO; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 5). Wird hingegen ein Teil der Strafe durch Gnadenerweis oder Amnestie erlassen, fehlt es an der vollständigen Vollstreckung (Dreher und Sch.-Schröder-Stree aaO; vgl. auch Prot. VII, 744). Keine vollständige Vollstreckung liegt vor, wenn der Täter zwar mehr als zwei Jahre verbüßt, dann aber eine erfolgreiche Aussetzung des Strafrests (§ 57) erfolgt (76)

Führungsaufsicht bei Nichtaussetzung des Strafrestes (Hanack)

§ 68

f

(Horn Rdn. 3; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 5). In diesem Fall, in dem es an der vorausgesetzten ungünstigen Prognose (Rdn. 2) fehlt, unterliegt der Täter vielmehr ausschließlich den Regelungen der Strafaussetzung (§ 57 Abs. 2 bis Abs. 5). Ähnliches gilt, wenn eine Gesamtstrafe nicht vollständig vollstreckt wird: Hier kommt es also nicht darauf an, ob die Strafverbüßung zur vollständigen Verbüßung einer die Zweijahresgrenze erreichenden Einzelstrafe führt. Denn wenn dem Täter überhaupt eine (erfolgreiche) Aussetzung des Strafrests gewährt wird, liegt die schlechte Prognose (Rdn. 2) auch hier nicht vor; dann aber entspricht es wiederum dem Zweck des Gesetzes, die Stützung des Verurteilten auf dem Weg über die mit der Vollstreckungsaussetzung verbundenen Bewährungsmaßnahmen zu verfolgen (übereinstimmend Horn und Sch.-Schröder-Stree aaO). Wird gemäß § 51 Untersuchungshaft oder anderer Freiheitsentzug auf die Strafe 16 angerechnet, entstehen mißliche Probleme, wenn es auf diese Weise zu einer vollständigen Vollstreckung der Strafe kommt. Die herrschende Meinung nimmt an, daß in diesem Falle die Voraussetzung der „vollständigen Vollstreckung" auch i. S. des § 68 f vorliegt (Dreher Rdn. 2; Lackner Anm. 1 a; Horn SK Rdn. 4; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 5). Soweit dabei auf die entsprechende Regelung in § 48 Abs. 3 S. 2 verwiesen wird, überzeugt dies schon deswegen nicht, weil jene Regelung anderen Zwecken dient und im übrigen bei § 68 f eine entsprechende Normierung gerade fehlt. Nicht überzeugend ist aber auch das Argument (Horn aaO), § 51 solle den Betroffenen nicht begünstigen, sondern nur seine Schlechterstellung verhindern. Denn im Rahmen des § 68 f geht es um die Vermutung schlechter Prognose aufgrund fehlender oder erfolgloser Aussetzung der Strafe bzw. des Strafrests (Rdn. 2). Diese Prognose hat jedoch mindestens in den Fällen, in denen die „Vollstreckung" nur in der Anrechnung liegt, gar nicht zur Debatte gestanden. Und auch in den Fällen der Teilanrechnung fehlt es — im Umfang dieser Anrechnung — jedenfalls an der spezifischen Einwirkung des Vollzuges, so daß sich, je nach dem Verhältnis zwischen Untersuchungs- und Strafhaft, die im Gesetz vorausgesetzte Situation oft kaum annehmen läßt. Einen überzeugenden Ausweg aus dem Dilemma, das die insoweit ersichtlich 17 nicht durchdachte Gesetzesregelung mit sich bringt, gibt es nicht: Anzunehmen, daß § 68 f in jedem Fall ausscheidet, in dem auf die Strafe eine Anrechnung nach § 51 erfolgt, verbietet sich nach der ratio legis ohne Zweifel. Lösungen, die je nach der Dauer von Untersuchungs- und Strafhaft differenzieren, sind nach der Struktur des Gesetzes aber ebenfalls unmöglich. Keinen Ausweg bietet auch der Vorschlag Horns (aaO), trotz der Verbüßung Aussetzung der Vollstreckung oder des Strafrests anzuordnen, so daß also der Täter bei Bewährung der Führungsaufsicht entginge, ihr hingegen bei Nichtbewährung (obwohl eine vollstreckbare Strafe nicht mehr vorliegt) unterfallen würde; denn eine solche Lösung läßt sich mit den §§ 56, 57 nicht vereinbaren (vgl. BGH NJW 1961 1220). Sagen läßt sich nach allem mithin nur, daß dort, wo die vollständige Vollstrek- 18 kung allein in der Anrechnung liegt, die vom Gesetz vorausgesetzte Situation so wenig gegeben ist, daß § 68 f Abs. 1 nicht eingreifen kann. Bei allen übrigen Fällen muß das Gericht Unzuträglichkeiten dadurch begegnen, daß es im Rahmen des Absatz 2, über den Wortlaut dieser Vorschrift hinaus, berücksichtigt, wie weit für die dort geforderte „Erwartung, daß der Verurteilte auch ohne die Führungsaufsicht keine Straftaten mehr begehen wird", nach der Dauer des Strafvollzugs überhaupt eine reale Beurteilungsgrundlage besteht. (77)

§ 68 f

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

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Anders als bei Anrechnungen gemäß § 51 liegt es bei Anrechnungen eines vorausgegangenen Maßregelvollzugs gemäß § 67 Abs. 4, wenn also neben einer mindestens zweijährigen Freiheitsstrafe eine Maßregel nach § 63, § 64 oder § 65 angeordnet und — entsprechend der Regel des § 67 Abs. 1 — vor der Strafe vollzogen wird, danach aber eine Aussetzung des Strafrests (§ 67 Abs. 5) nicht erfolgt, sondern der Täter die Strafe, wenn auch u. U. allein in Form des Maßregelvollzugs, im Ergebnis voll verbüßt. Denn hier liegt der typische Fall der schlechten Prognose vor, den § 68 f treffen will. Daß der Täter neben der Strafe zusätzlich einem — erfolglosen — Maßregelvollzug unterworfen war, bedeutet nicht, daß er gewissermaßen „genug bestraft" sei und Führungsaufsicht nicht mehr „verdiene". Entscheidend ist vielmehr, daß er nach der ratio legis ein typischer „Vollverbüßer" ist (übereinstimmend Dreher Rdn. 2).

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4. Beim nachfolgenden Vollzug einer freiheitsentziehenden Maßregel im Anschluß unmittelbar an die Strafverbüßung entsteht keine Führungsaufsicht (Absatz 1 S. 2). Grund dafür ist wohl nicht nur, daß sich der Verurteilte in Freiheit befinden muß, damit die Führungsaufsicht „wirken" kann (so Horn SK Rdn. 6; Begr. ζ. E 1962 S. 224). Der Grund dürfte vielmehr vor allem darin liegen, daß mit Beginn des Maßregelvollzugs die Frage einer späteren Führungsaufsicht regelmäßig besonderen Normierungen unterliegt (z. T. anders Sch.-Schröder-Stree Rdn. 8). Kommt es nicht unmittelbar im Anschluß an die Strafvollstreckung zum Vollzug der Maßregel, gilt Absatz 1 S. 2 nicht, weil die Führungsaufsicht dann schon entstanden ist (Sch.-Schröder-Stree aaO). Mit einem späteren Maßregelvollzug erlischt aber die Führungsaufsicht wieder, und zwar über den Wortlaut des § 68 e Abs. 3 hinaus in allen Fällen des Vollzugs einer freiheitsentziehenden Maßregel (s. LK § 68 e Rdn. 29 ff). Absatz 1 S. 2 gilt nur bei tatsächlichem Vollzug (Dreher Rdn. 3). Hauptanwendungsfall ist die Sicherungsverwahrung (§ 66), bei der die Strafe stets zuerst vollzogen wird und ein Vikariieren gemäß § 67 nicht vorgesehen ist. Bei allen anderen freiheitsentziehenden Maßregeln hingegen ist der Vorwegvollzug der Strafe die Ausnahme (§ 67 Abs. 1, 2; s. dort Rdn. 11 ; irrtümlich Dreher aaO). IV. Gerichtliche Anordnung des Entfallens (Absatz 2)

21

1. Allgemeines. Zweck des Absatz 2 ist, im Einzelfall den Eintritt einer nicht erforderlichen Führungsaufsicht schon vor ihrem Beginn abzuwenden (Lackner Anm. 2). Daß nur dies gemeint sein kann, ergibt sich aus der Grundkonzeption (Rdn. 2, 3), aber auch aus § 68 e Abs. 1, neben dem Absatz 2 in dieser Form sonst überflüssig wäre. Die Anordnung ist daher schon kurz vor der Entlassung aus dem Strafvollzug zu treffen (Lackner aaO; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 10; vgl. auch unten Rdn. 27).

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Ist sie versehentlich unterblieben, obwohl ihre Voraussetzungen im Entlassungszeitpunkt gegeben waren, kann sie nachgeholt werden (Lackner aaO; s. auch Horn SK Rdn. 8; Dreher Rdn. 4), und zwar nach Absatz 2, nicht nach § 68 e, weil der Verurteilte sonst nur infolge des Versehens der Mindestfrist des § 68 e Abs. 1 S. 2 unterworfen wäre, die für § 68 f Abs. 2 nicht gilt.

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Für die Anwendung von § 68 e Abs. 1 ist in den Fällen des § 68 f nur Raum, wenn es sich um Aufhebungsgründe handelt, die nach der Strafverbüßung eingetreten sind. In diesen Fällen ist dann aber auch allein § 68 e Abs. 1 anzuwenden, weil 178)

Führungsaufsicht bei Nichtaussetzung des Strafrestes (Hanack)

§ 68

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es anderenfalls zur Umgehung der Mindestdauer des § 68 e Abs. 1 S. 2 käme (Lackner aaO); entsprechend den zu § 68 e Rdn. 15 ff dargelegten Grundsätzen kann die Bindung an die Mindestdauer insoweit regelmäßig auch nicht als unverhältnismäßig gelten, weil der Täter im Zeitpunkt der Entlassung und trotz der Einwirkungen des Strafvollzugs die günstige Prognose i. S. des Absatz 2 nicht aufgewiesen hat. 2. Die Zweijahres-Mindestfrist des § 68 e Abs. 1 S. 2 gilt für § 68 f Abs. 2, entspre- 24 chend dem Gesetzeswortlaut, unstreitig nicht. Der Grund dafür liegt in der Logik der gesetzgeberischen Konzeption (Rdn. 2, 3): Das Gericht soll aufgrund der Entwicklung des Täters im Vollzug über die Frage entscheiden, ob von ihm noch Straftaten zu erwarten sind, Führungsaufsicht also überhaupt erforderlich erscheint; gedacht hat der Gesetzgeber dabei vor allem an die Fälle, in denen die mit der Vollverbüßung verbundene Vermutung der schlechten Prognose nur deswegen nicht stimmt, weil es zur vollen Verbüßung lediglich infolge einer verweigerten Einwilligung des Verurteilten in die Strafaussetzung (§ 57 Abs. 1 Nr. 3) gekommen ist. Zur streitigen Frage, ob bei gerichtlich angeordneter Führungsaufsicht (§ 68 Abs. 1) gegebenenfalls § 68 f vorgeht, also die Bindung an die Zweijahresfrist entfällt, wenn der Täter eine mindestens zweijährige Strafe voll verbüßt, s. Rdn. 9 f. 3. Die Voraussetzungen der Aufhebung entsprechen denen des § 68 e Abs. 1 S. 2 25 (vgl. dort Rdn. 3 ff; ebenso Lackner Anm. 2; Horn SK Rdn. 7; wohl auch Dreher Rdn. 4). Die Ansicht von Sch.-Schröder-Stree Rdn. 11, daß die Aufhebung schon anzuordnen sei, wenn Zweifel, ob die Gefahr weiterer Straftaten besteht, nicht auszuschließen seien, weil der Täter bei der Führungsaufsicht kraft Gesetzes nicht schlechter gestellt werden dürfe als bei ihrer gerichtlichen Anordnung, entspricht nicht dem Gesetz (vgl. auch LK Rdn. 51 vor § 61 ; ablehnend auch Lackner aaO). „Entfallen" bedeutet in der Sache nichts anderes als „aufheben" i. S. des § 68 e {Horn SK Rdn. 7; vgl. auch LK § 68 e Rdn. 33). Die Erwartung, daß der Verurteilte auch ohne die Führungsaufsicht keine Straftaten mehr begehen wird, ist vor allem begründet, wenn es zu einer Aussetzung gemäß § 57 nur deswegen nicht gekommen ist, weil der Verurteilte seine Einwilligung verweigert hat (Rdn. 24; vgl. auch unten Rdn. 28). Denkbar ist aber immerhin auch, daß im letzten Stadium des Strafvollzugs Umstände eingetreten sind, die die Erwartung begründen, ohne daß eine Aussetzung des Strafrests noch beschlossen werden konnte (Dreher Rdn. 4). Ist die Erwartung begründet, muß das Gericht die Führungsaufsicht aufheben ; für eine Ermessensentscheidung ist kein Raum (Sch.-Schröder-Stree Rdn. 12). 4. Befugt zu Anordnungen nach Absatz 2 ist nur die Vollstreckungskammer bzw. 26 das von ihr beauftragte Gericht (§ 462 a i. V. mit § 463 Abs. 6 StPO). Das erkennende Gericht kann nach der ganzen Konzeption (Rdn. 2, 3) die Anordnung im Zeitpunkt des Urteils selbst dann nicht treffen, wenn es schon zu diesem Zeitpunkt der Überzeugung sein sollte, daß der Täter keine Straftaten mehr begehen wird. Dem steht auch nicht entgegen, daß das EGStGB die noch im 2. StrRG formulierte Zuständigkeit des „Vollstreckungsgerichts" (der Vollstreckungskammer) durch die heute geltende Formulierung („das Gericht") ersetzt hat; denn dies hatte nur gesetzestechnische Gründe (RegE, BT-Drucks. 7/550 S. 214), sollte aber nicht eine Zuständigkeit auch des erkennenden Gerichts begründen. Eine solche Zuständigkeit paßt hier nicht, weil das Gericht damit gerade in den Fällen mit günstigerer (79)

§ 68 g

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

Prognose die Überzeugung zum Ausdruck bringen müßte, daß es zur vollständigen Vollstreckung kommt, was in aller Regel ungereimt wäre. 27

5. Verfahrensrechtlich ist zu beachten: Die Pflicht der Strafvollstreckungskammer bzw. des von ihr beauftragten Gerichts (§ 462 a StPO), unmittelbar vor Vollzugsende zu prüfen, ob Absatz 2 anzuwenden ist (Rdn. 21), besteht, wiewohl das leider gesetzlich nicht ausdrücklich normiert ist, nach der ratio legis von Amts wegen {Lackner Anm. 3 a; Dreher Rdn. 4). Die für § 57 bzw. für § 26 a a. F. zum Teil vertretene gegenteilige Ansicht (z. B. KG JR 1972 430; 1973 120 m. abl. Anm. K. Peters) überzeugt schon dort wenig (OLG Celle NJW 1972 2054), widerspricht aber jedenfalls bei § 68 f, wo es ja auch auf die Einwilligung des Verurteilten nicht ankommt, der Sache. — Verneint das Gericht die Voraussetzungen des Absatz 2, ist es allerdings zu einem förmlichen Beschluß nur dann verpflichtet, wenn ein formeller Antrag vorliegt {Dreher und Lackner aaO; vgl. auch OLG Celle aaO). Lehnt das Gericht die Voraussetzungen des Absatz 2 ab, hat es zugleich auch die notwendigen Entscheidungen über die Gestaltung der Führungsaufsicht zu treffen (§§ 68 a, 68 b, eventuell § 68 c Abs. 1 S. 2). Im übrigen gilt für das Verfahren § 454 i. V. mit § 463 Abs. 3 StPO.

28

Probleme können entstehen, wenn das Gericht den Verurteilten nach seiner Einwilligung im Hinblick auf eine beabsichtigte Entlassung gemäß § 57 befragt (vgl. § 57 Abs. 1 Nr. 3), dieser aber, um Bewährungsmaßnahmen bei Aussetzung des Strafrests zu vermeiden, in der Erwartung ablehnt, im Falle der Vollverbüßung auf dem Weg über § 68 f Abs. 2 auch von der Führungsaufsicht verschont zu werden. Horn (SK Rdn. 10) meint, hier sei dem Verurteilten, der sich wegen der Anfrage für günstig beurteilt hält, vorher auch Aufklärung darüber zu verschaffen, ob er mit einer positiven Entscheidung nach § 68 f Abs. 2 rechnen dürfe, damit er durch die Ablehnung eines entsprechenden Antrags nicht überrascht werde. Dies ist bedenklich, weil und wenn eine derartig intensive Aufklärung auf eine vorweggenommene Entscheidung hinausläuft. Die Aufklärung kann darum — als Ausdruck der Fürsorgepflicht — grundsätzlich nur in dem Hinweis bestehen, daß die Anfrage gemäß § 57 nichts über die Anwendung des § 68 f Abs. 2 aussagt.

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V. Übergangsrecht. Bei einer vor dem 1.1.1975 begangenen Tat tritt Führungsaufsicht nach § 68 f auch dann nicht ein, wenn die Strafvollstreckung erst nach diesem Zeitpunkt endet (Art. 303 Abs. 2 EGStGB).

§ 68 g Führungsaufsicht und Strafaussetzung zur Bewährung (1) Ist die Strafaussetzung oder Aussetzung des Strafrestes angeordnet oder das Berufsverbot zur Bewährung ausgesetzt und steht der Verurteilte wegen derselben oder einer anderen Tat zugleich unter Fiihrungsaufsicht, so gelten für die Aufsicht und die Erteilung von Weisungen nur die §§ 68 a und 68 b. Die Führungsaufsicht endet nicht vor Ablauf der Bewährungszeit. (2) Sind die Aussetzung zur Bewährung und die Führungsaufsicht auf Grund derselben Tat angeordnet, so kann das Gericht jedoch bestimmen, daß die Führungsaufsicht bis zum Ablauf der Bewährungszeit ruht. Die Bewährungszeit wird dann in die Dauer der Führungsaufsicht nicht eingerechnet. (8U)

Führungsaufsicht und Aussetzung zur Bewährung (Hanack)

§ 68 g

(3) Wird nach Ablauf der Bewährungszeit die Strafe oder der Strafrest erlassen oder das Berufsverbot für erledigt erklärt, so endet damit auch eine wegen derselben Tat angeordnete Führungsaufsicht. Schrifttum s. die Angaben bei den Vorb. vor § 68.

Entstehungsgeschichte Die Vorschrift ist durch das 2. StrRG eingefügt worden (vgl. dazu auch Rdn. 1). Übersicht I. II. III.

IV.

Rdn. Allgemeines 1 K o n k u r r e n z m e h r e r e r Führungsaufsichten 2 Fälle der K o n k u r r e n z zwischen Führungsaufsicht und Aussetzung . . . . 3 1. Allgemeines 3 2. K o n k u r r e n z aufgrund verschiedener Taten 5 3. K o n k u r r e n z aufgrund derselben Tat . 9 Die grundsätzliche Konkurrenzregelung (Absatz 1) und ihre Folgen 12 1. Grundsatz 12 2. Aufsicht und Weisungen 13 3. U n b e r ü h r t e Folgen 15

V.

VI.

Rdn. Zeitliche Dauer 16 A u s n a h m e des Absatz 2 ( R u h e n ) . . . 18 Grundgedanke 19 B e r u h e n auf derselben T a t 21 Ruhen 22 Pflichtgemäßes Ermessen 23 Verfahrensmäßiges 24 N i c h t e i n r e c h n u n g der Bewährungszeit 25 Beendigung der Führungsaufsicht nach Bewährung 26 1. Wegen derselben Tat 26 2. Führungsaufsicht wegen einer anderen Tat 29

4. Die 1. 2. 3. 4. 5. 6.

I. Allgemeines. Die Vorschrift regelt die Konkurrenz zwischen der Führungsauf- 1 sieht einerseits und der Strafaussetzung zur Bewährung (§ 56), der Aussetzung des Strafrests (§ 57) und der Aussetzung eines Berufsverbots (§ 70 a) andererseits. Für die Regelung solcher Konkurrenzen besteht, wenn auch nicht in der komplizierten Form des § 68 g (vgl. Preiser ZStW 81 [1969] 271 f, 915), ein sachliches Bedürfnis, damit der Täter nicht einem überflüssigen oder gar gefährlichen und sinnlosen Nebeneinander verschiedener Einwirkungen ausgesetzt wird. — Nicht einbezogen ist die Aussetzung des Vollzugs einer freiheitsentziehenden Maßregel, weil hier stets Führungsaufsicht kraft Gesetzes eintritt (Sch.-Schröder-Stree Rdn. 2). Entwickelt worden ist die Vorschrift während der Beratungen der Großen Strafrechtskommission; ihre Fassung im E 1962 (§ 98) wurde vom Sonderausschuß nur noch wenig verändert. — Zu den Gesetzesmaterialien vgl. im einzelnen vor allem: Niederschriften Bd. 3, S . 2 6 0 f , 266 f, 303 f, 384 f; Bd. 12, S. 528, 586; Begr. ζ. E 1962, S. 224 f; Prot. IV, 982; Prot. V, 16, 2215, 2620, 3255; 2. Bericht S. 37. Die Kompliziertheit der Vorschrift ist von Preiser schon vor der Verabschiedung vergebens gerügt worden (aaO). Auch die schroffe Kritik von Maurach (AT § 69 I D), die gesetzestechnische Regelung der Führungsaufsicht sei „bis zur völligen Verwirrung kompliziert", bezieht sich ersichtlich vor allem auf § 68 g (vgl. auch Preisendanz Anm. 1). II. Konkurrenz mehrerer Führungsaufsichten. Die Konkurrenz mehrerer Füh- 2 rungsaufsichten wird von § 68 g nicht erfaßt. Sie ist im Gesetz überhaupt nicht geregelt. Nach der hier vertretenen Ansicht kann es zum Nebeneinander mehrerer Führungsaufsichten als Folge einer Verurteilung niemals kommen, und zwar auch nicht (8I|

§ 68 g

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

in Form des Nebeneinanders von Führungsaufsicht kraft Richterspruchs und kraft Gesetzes; vgl. zu diesen — umstrittenen — Fragen im einzelnen näher § 68 e Rdn. 29 ff ; § 68 f Rdn. 9 f. Wohl aber kann es aufgrund verschiedener Verurteilungen (wegen verschiedener Taten) dazu kommen, daß gegen den Täter mehrere Führungsaufsichten laufen. Sie bestehen dann grundsätzlich nebeneinander. Doch wird man annehmen müssen, daß die Aufsicht einheitlich zu führen ist, soweit sich die Maßregeln zeitlich überschneiden (Dreher Rdn. 4). So ist das Gericht insbesondere verpflichtet, unterschiedliche Weisungen oder zu viele Weisungen (§ 68 b) zu vermeiden bzw. gemäß § 68 d auszugleichen. III. Fälle der Konkurrenz zwischen Führungsaufsicht und Aussetzung 3

1. Allgemeines. Ein Nebeneinander von Führungsaufsicht und Aussetzung ist in mancherlei Formen denkbar (vgl. auch Dreher Rdn. 2 ; Schwalm Niederschriften Bd. 3, S. 26 f; Begr. ζ. E 1962, S. 224). Es handelt sich dabei auch durchaus nicht nur um besondere Ausnahmefälle, wie Preiser (S. 916) meint. Seine These, daß sich Aussetzung und Führungsaufsicht regelmäßig ausschließen, weil die Aussetzung eine gute, die Führungsaufsicht hingegen eine schlechte Prognose voraussetze, ist zu einfach (ablehnend auch Horn SK Rdn. 14). Das gilt insbesondere für das Nebeneinander von Führungsaufsicht und Aussetzung des Strafrests (Rdn. 7 ; Rdn. 9). Auch die Notwendigkeit einer Gesamtstrafenbildung nach den §§ 55, 58 dürfte, entgegen wohl Dreher (aaO), ein mögliches Nebeneinander selten ausschließen.

4

Eine Bewährungsfrist nach § 59 a fällt nicht unter § 68 g, weil es sich bei der Verwarnung unter Strafvorbehalt nicht um einen Fall der Strafaussetzung handelt und Weisungen nicht erteilt werden dürfen (a. A. Dreher Rdn. 1). Im übrigen ist schon im Hinblick auf § 59 Abs. 1 Nr. 2 die Konkurrenz einer solchen Bewährungsfrist mit Führungsaufsicht kaum vorstellbar (ähnlich Dreher aaO). Wohl aber kann ein Nebeneinander von Führungsaufsicht und Aussetzung auch im Fall des § 67 Abs. 5 S. 1 entstehen (Dreher Rdn. 2; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 2); es handelt sich insoweit wegen der Anrechnungsvorschrift des § 67 Abs. 4 nur um eine besondere Form der Aussetzung des Strafrests. Für die Betrachtung der Konkurrenzfälle ist zweckmäßigerweise das Nebeneinander aufgrund verschiedener Taten und aufgrund derselben Tat zu unterscheiden. 2. Konkurrenz aufgrund verschiedener Taten

5

a) Konkurrenz mit Strafaussetzung. Möglich ist zunächst (Dreher Rdn. 2; Sch.Schröder-Stree Rdn. 2), daß gegen einen Täter wegen einer nicht schwerwiegenden Tat eine Freiheitsstrafe verhängt, aber nach § 56 zur Bewährung ausgesetzt wird, obwohl der Täter wegen einer anderen Tat unter Führungsaufsicht steht (sei es unter Führungsaufsicht kraft Richterspruchs oder kraft Gesetzes). Denn die Voraussetzungen der Strafaussetzung, daß der Täter sich schon die Verurteilung zur Warnung dienen lassen und künftig auch ohne die Einwirkung des Vollzugs ein straffreies Leben führen wird (§ 56), werden für sich noch nicht zwingend dadurch ausgeschlossen, daß der Täter die Tat während der Führungsaufsicht begangen hat. Vielmehr ist dies nur ein Umstand im Rahmen der nach § 56 erforderlichen Gesamtwürdigung. So kann gerade die Gesamtwürdigung ergeben, daß die Vollstreckung deswegen nicht erforderlich ist, weil der Täter unter Führungsaufsicht steht (Horn SK («2)

Führungsaufsicht und Aussetzung zur Bewährung (Hanack)

§ 68 g

§ 68 Rdn. 14). In vielen Fällen freilich wird die Gesamtabwägung — sei es wegen der laufenden Führungsaufsicht, sei es wegen vorhandener Vorstrafen, sei es wegen der Gefahr weiterer Straftaten — zu der Folge zwingen, daß Bewährung zu versagen ist. Ein Nebeneinander von Führungsaufsicht und Aussetzung dürfte daher hier vielfach ein Zeichen dafür sein, daß etwas nicht stimmt: nämlich entweder die günstige Prognose nach § 56 unberechtigt ist oder aber die Führungsaufsicht entgegen den §§ 68 e Abs. 1, 68 f Abs. 2 nicht aufgehoben wurde: im letzteren Fall wird dabei häufig die fatale Mindestfrist des § 68 e Abs. 1 S. 2 (s. dort Rdn. 24 f) der eigentliche Grund der Divergenz sein. — Übrigens nötigt die Begehung einer neuen Straftat auch nicht immer zum Widerruf der Aussetzung einer freiheitsentziehenden Maßregel nach § 67 g Abs. 1 Nr. 1, weil durchaus denkbar ist, daß sich aus der Tat noch nicht „ergibt, daß der Zweck der Maßregel (die) Unterbringung erfordert" (näher Horstkotte LK, Erl. zu § 67 g). Die mit der Aussetzung der Unterbringung kraft Gesetzes entstandene Führungsaufsicht kann daher auch insoweit mit einer Strafaussetzung zur Bewährung konkurrieren. Die umgekehrte Situation, daß der Täter wegen einer Tat unter Strafaussetzung 6 mit Bewährung steht und gegen ihn später wegen einer anderen Tat Führungsaufsicht nach § 68 Abs. 1 gerichtlich angeordnet wird oder gemäß § 68 Abs. 2 kraft Gesetzes eintritt, ist schwer vorstellbar, schon weil das Gericht in diesen Fällen regelmäßig vor der Notwendigkeit steht, die Strafaussetzung gemäß § 56 f Abs. 1 Nr. 1 zu widerrufen. Doch ist es immerhin nicht ausgeschlossen, daß das zuständige Gericht von einem Widerruf absieht, weil es Grund hat anzunehmen, der Täter habe durch die Tat „die Erwartung, die der Strafaussetzung zugrunde lag" (§ 56 f), noch nicht enttäuscht. b) Konkurrenz mit Strafrestaussetzung. Beim Nebeneinander zwischen der Aus- 7 setzung des Strafrests (§ 57) und der Führungsaufsicht liegen die Konkurrenzmöglichkeiten ähnlich, werden aber praktisch sehr viel häufiger sein. Es ist möglich, daß ein Täter, gegen den Führungsaufsicht läuft, wegen einer anderen Tat zu Freiheitsstrafe verurteilt wird und wegen dieser Verurteilung später (oder wegen Anrechnungen gemäß § 51 sogar schon mit der Verurteilung) Strafaussetzung nach § 57 erhält. Denn die Aussetzung des Strafrests ist unter leichteren Voraussetzungen möglich als die Aufhebung der Führungsaufsicht (s. § 68 e Rdn. 4). Die Führungsaufsicht braucht daher der Entlassung im Einzelfall nicht entgegenzustehen (vgl. auch Horn SK Rdn. 1). Sie endet auch nicht durch einen Strafvollzug wegen der anderen Tat (näher § 68 c Rdn. 13 0· Anderes gilt jedoch, und zwar über den Wortlaut des § 68 e Abs. 3 hinaus, beim Vollzug einer jeden freiheitsentziehenden Maßregel, s. § 68 e Rdn. 29 ff. Bei der umgekehrten Situation, daß einem Täter Strafrestaussetzung gemäß § 57 gewährt worden ist und er später wegen einer anderen Tat unter Führungsaufsicht gestellt wird, liegen die Probleme wegen der Anwendung des § 56 f nicht anders als bei der Strafaussetzung zur Bewährung. c) Aussetzung des Berufsverbots (§ 70 a). Hier ist die Möglichkeit einer Konkur- 8 renz mit der Führungsaufsicht vielleicht noch größer, und zwar gleichgültig, ob es erst zur Verhängung des Berufsverbots oder zur Führungsaufsicht kommt. Denn die Aussetzung des Berufsverbots kann nach § 70 a Abs. 1 schon erfolgen, wenn die Gefahr nicht mehr besteht, daß der Täter erhebliche rechtswidrige Taten speziell unter Mißbrauch seines Berufs oder Gewerbes begeht; und ein Widerruf der Aussetzung erfolgt nur, wenn die neue Tat spezifisch mit dem Mißbrauch des Berufs (83)

§ 68 g

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

oder Gewerbes zusammenhängt (§ 70 b Abs. 1 Nr. 1). Sowohl die Voraussetzungen der Aussetzung wie des Widerrufs sind hier also von den Voraussetzungen für die Aufhebung der Führungsaufsicht recht verschieden (vgl. auch Dreher Rdn. 2). 9

3. Konkurrenz aufgrund derselben Tat. Eine Konkurrenz zwischen Führungsaufsicht und Aussetzung wegen derselben Tat ist vor allem dadurch möglich, daß einem Täter, gegen den Führungsaufsicht gerichtlich angeordnet worden ist, gemäß § 57 Aussetzung des Strafrests gewährt wird oder daß noch während des Laufs der Führungsaufsicht ein gleichzeitig angeordnetes Berufsverbot gemäß § 70 a zur Bewährung ausgesetzt wird (Dreher Rdn. 3). Denn wie bemerkt (Rdn. 7 f) sind die Voraussetzungen der Aussetzung nach den §§ 57, 70 a einerseits und die Voraussetzungen für eine Aufhebung der Führungsaufsicht andererseits nicht identisch. Es kann daher durchaus sein, daß das Gericht zwar nicht die Erwartung hegt, der Verurteilte werde „auch ohne die Führungsaufsicht keine Straftaten mehr begehen" (§§ 68 e, 68 f), aber sehr wohl der Auffassung ist, es könne „verantwortet werden . . . zu erproben, ob der Verurteilte außerhalb des Strafvollzugs" solche Taten nicht mehr begeht (§ 57) bzw. daß es der Auffassung ist, er werde weitere Taten nach § 70 Abs. 1 unterlassen.

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Wegen derselben Tat zu einem Nebeneinander von Führungsaufsicht und Strafaussetzung kann es auch in den Fällen der Führungsaufsicht kraft Gesetzes kommen (Dreher aaO). Dies ist etwa der Fall, wenn der Täter, ζ. B. gemäß § 64, zu Strafe und Unterbringung verurteilt wird, das Gericht jedoch im Urteil die Vollstreckung der Unterbringung zugleich mit der Anordnung nach § 67 b aussetzt (womit die Führungsaufsicht kraft Gesetzes eintritt) und weiterhin gleichzeitig die Aussetzung der Strafe zur Bewährung nach § 56 verfügt (vgl. auch OLG Hamm M D R 1974 153). Ferner kann etwa der Fall eintreten, daß der Täter gemäß § 68 f Abs. 1 unter Führungsaufsicht kraft Gesetzes steht und ein Berufsverbot, das ebenfalls wegen der dieser Aufsicht zugrunde liegenden Straftat angeordnet worden ist, nach § 70 a zur Bewährung ausgesetzt wird (Sch.-Schröder-Stree Rdn. 10).

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Daß ein Gericht Führungsaufsicht gemäß § 68 Abs. 1 anordnet, gleichzeitig aber die Strafe zur Bewährung aussetzt, wird seltener vorkommen, ist jedoch nicht ausgeschlossen (a. A. Preiser S. 916) und im Einzelfall sogar sehr zu erwägen, wenn man (im Ergebnis mit Horn SK § 68 Rdn. 14 u. § 56 Rdn. 11) folgendes bedenkt: Es ist im konkreten Fall durchaus möglich, daß bei einem Täter die Gefahr weiterer Straftaten besteht und dieser Gefahr zwar nicht durch die Bewährungsaufsicht, wohl aber durch die intensiveren Einwirkungen der Führungsaufsicht gesteuert werden kann. In einem solchen Fall widerspräche es trotz des engen Wortlauts von § 56 dem Geist des Gesetzes und seinen kriminalpolitischen Zielsetzungen sowie dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, dem Täter die Strafaussetzung zur Bewährung zu versagen; der Richter wird hier regelmäßig sogar verpflichtet sein, die Anordnung der Führungsaufsicht, die in seinem pflichtgemäßen Ermessen liegt, gerade zur Vermeidung eines Vollzugs der Freiheitsstrafe anzuordnen (s. auch LK § 68 Rdn. 23).

IV. Die grundsätzliche Konkurrenzregelung (Absatz 1) und ihre Folgen 12 1. Grundsätzlich geht nach Absatz 1 die Führungsaufsicht mit ihren wesentlichen Wirkungen den Wirkungen der Aussetzung vor, und zwar gleichgültig, ob das Nebeneinander von Aussetzung und Führungsaufsicht auf derselben Tat oder auf verschiedenen Taten beruht. Der Gesetzgeber steht auf dem Standpunkt, daß die (84)

Führungsaufsicht und Aussetzung zur Bewährung (Hanack)

§ 68

g

Führungsaufsicht regelmäßig (Ausnahme: Absatz 2) „als die für den Betroffenen einschneidendere Maßnahme die Aufgabe der Bewährungsaufsicht mit übernehmen kann, während das Umgekehrte im allgemeinen nicht zutrifft" (Begr. ζ. E 1962 S. 224). Im einzelnen wirkt sich die Regelung wie folgt aus. 2. Aufsicht und Weisungen. Hier „gelten nur" die §§ 68 a und 68 b. 13 a) Bei der Aufsicht geht also die strengere Normierung des § 68 a (Aufsichtsstelle, obligatorische Bestellung eines Bewährungshelfers, Betreuung und Überwachung) der etwas milderen Normierung des § 56 d und des § 453 b StPO vor. — Die Aufsicht hat sich jedoch auch auf die Erfüllung von Auflagen oder Anerbieten gemäß § 56 b zu erstrecken, weil die Führungsaufsicht die Aufgaben der Bewährungsaufsicht mit übernehmen soll (ebenso Sch.-Schröder-Stree Rdn. 4). b) Bei Weisungen besteht ein Vorrang des weitergehenden Katalogs von § 68 b gegenüber dem zurückhaltenderen Katalog des § 56 c. Die Weisungen sind also, soweit nötig, auch auf die notwendige Sicherung der Überwachung auszurichten (Sch.-Schröder-Stree Rdn. 5). c) Die Worte „gelten nur" sind beklagenswert undeutlich. 14 Wollte man die Formulierung wörtlich verstehen, müßte man wohl annehmen, der Vorrang der §§ 68 a, 68 b bedeute während der Dauer der Aufsicht mindestens eine Art Suspendierung des § 56 c (Weisungen bei der Aussetzung) und der §§ 56 d StGB, 453 b StPO (Bewährungshelfer und Überwachung während der Aussetzung) mit der Konsequenz, daß Anordnungen nach diesen Vorschriften unzulässig sind und schon getroffene Anordnungen keine Wirksamkeit entfalten, falls sie nicht als Maßnahmen der Führungsaufsicht übernommen werden. Die weitere Konsequenz wäre, daß ein Widerruf der Aussetzung gemäß § 56 f Abs. 1 Nr. 2 bzw. § 70 b Abs. 1 Nr. 2, 3 unmöglich wäre. Denn gegen Anordnungen, die keine Wirksamkeit entfalten oder gar nicht ergangen sind, kann der Täter auch nicht verstoßen. Daß das nicht gewollt ist, liegt auf der Hand. Es spricht nichts dafür, daß es dem Willen des Gesetzes entsprechen könnte, beim Nebeneinander von Führungsaufsicht und Aussetzung den Widerruf der Aussetzung bei Verstößen der genannten Art auszuschließen. Eine solche Regelung wäre vielmehr schon als „Privilegierung" des gleichzeitig mit Führungsaufsicht belasteten Täters sachfremd. Sachfremd wäre sie aber auch, weil dann eine Aussetzung wegen des fehlenden Druckmittels, das mit dem Widerruf verbunden ist, regelmäßig sehr viel schwerer verantwortet werden könnte, was ersichtlich nicht beabsichtigt ist. Dies zeigt auch eine entsprechende Äußerung in der Begründung zum E 1962, wonach „die Voraussetzungen des Widerrufs der Aussetzung . . . durch den Vorrang nicht betroffen" werden (S. 224). Dementsprechend nimmt die herrschende Meinung zu Recht an, daß die Widerrufsmöglichkeit nach §§ 56 f, 70 b vom Vorrang der §§ 68 a, 68 b unberührt bleibt (Dreher Rdn. 5; Lackner Anm. 2; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 7; vgl. auch Horn SK Rdn. 2). Daß der Täter dann eventuell in Gefahr gerät, doppelt zu „büßen", nämlich durch Widerruf der Aussetzung und durch Strafbarkeit gemäß § 145 a, ist zwar mißlich, vom System her aber nicht einmal unlogisch; im übrigen hat die Aufsichtsstelle diese Gefahr bei der Frage des Strafantrags für § 145 a zu berücksichtigen (s. LK § 68 a Rdn. 22; vgl. auch Lackner § 145 Anm. 5), falls man nicht überhaupt mit Sch.-Schröder-Stree (§ 145 a Rdn. 12) eine Bestrafung nach § 145 a neben dem Widerruf für unzulässig hält (dazu ablehnend LK § 145 d Rdn. 41). (85)

§ 68 g

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

Es ist danach, entsprechend auch der gesetzgeberischen Grundvorstellung (Rdn. 12), davon auszugehen, daß Verstöße gegen die Aufsicht nach § 68 a und gegen Weisungen nach § 68 b wie entsprechende Verstöße im Rahmen der Bewährungsaufsicht zu behandeln sind, also — unter den dort genannten weiteren Voraussetzungen — zum Widerruf der Aussetzung gemäß §§ 56 f Abs. 1 Nr. 2, 70 b Abs. 1 Nr. 2, 3 führen. Das gilt auch für solche Weisungen, die zwar im Katalog des § 68 b, nicht aber in § 56 c ausdrücklich genannt sind, weil damit ihre Zulässigkeit nach § 56 c („namentlich") nicht ausgeschlossen ist (im Ergebnis ebenso Horn SK Rdn. 2). Über diese möglichen Wirkungen ist der Betroffene ebenfalls nach §§ 268 a Abs. 3, 453 a, 454 Abs. 3 StPO zu belehren. 15

3. Unberührt vom Vorrang der §§ 68 a, 68 b bleiben Auflagen (§ 56 b), die also auch im Konkurrenzfalle ausgesprochen werden dürfen bzw. erhalten bleiben (Lackner Anm. 2; Dreher Rdn. 5; Horn SK Rdn. 1). Dies folgt klar aus dem Gesetzeswortlaut und erklärt sich aus dem Charakter der Auflagen. Unberührt bleiben nach dem Wortlaut des Gesetzes aber auch die Voraussetzungen der Aussetzung (§§ 56, 57, 70 a), die Dauer der Bewährungszeit (§§ 56 a, 70 a Abs. 3; vgl. auch Rdn. 16) sowie die Voraussetzungen des Widerrufs nach §§ 56 f, 70b (allgemeine Meinung, z.B. Dreher und Lackner aaO; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 7).

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4. Für die zeitliche Dauer der Führungsaufsicht und der Aussetzung zur Bewährung gilt folgendes. Aus Absatz 1 S. 2 ergibt sich mittelbar, daß die zeitlichen Fristen für die Führungsaufsicht und die Bewährungsdauer grundsätzlich nebeneinander laufen (Horn SK Rdn. 5). Der Vorrang der §§ 68 a, 68 b bedeutet also insbesondere nicht, daß die Bewährungszeit während der Führungsaufsicht ruht. Jedoch besteht nach Absatz 1 S. 2 eine Ablaufshemmung für die Führungsaufsicht: Wenn die Bewährungszeit länger dauert als die Führungsaufsicht, endet diese nicht vor Ablauf der Bewährungsfrist. Das Gesetz will damit „die Einheitlichkeit der Aufsicht für die ganze Dauer der Bewährungszeit sicherstellen und . . . Gefahren vermeiden, die eine Veränderung der Rechtsnatur und damit zugleich der Einzelausgestaltung der Aufsicht für den Erfolg der Aussetzung zur Bewährung mit sich bringen kann" (Begr. ζ. E 1962, S. 224). In der Sache bedeutet dies eine im Einzelfall problematische Verlängerung des schwerer wiegenden Eingriffs, die das Gericht bei der Entscheidung über die Anwendung des Absatz 2 mitbedenken muß (s. auch Rdn. 23).

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Eine richterliche Abkürzung der Höchstdauer für die Führungsaufsicht gemäß §§ 68 c Abs. 1 S. 2, 68 d ist mit Rücksicht auf die laufende Bewährungsfrist ausgeschlossen, soweit sie die Dauer der Bewährungszeit unterschreitet (Horn SK Rdn. 6; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 6). Eine schon abgekürzte Höchstfrist verlängert sich kraft Gesetzes bis zum Ablauf der Bewährungsfrist, also ohne daß die Abkürzungsentscheidung ausdrücklich aufgehoben werden müßte (Horn und Sch.-Schröder-Stree aaO). Eine nachträgliche Verlängerung der Bewährungsfrist gemäß § 56 a Abs. 2 S. 2 oder auch gemäß § 56 f Abs. 2 beeinflußt dementsprechend die Dauer der Führungsaufsicht. Dies gilt wiederum auch für eine richterlich abgekürzte Höchstdauer der Führungsaufsicht. (86)

Führungsaufsicht und Aussetzung zur Bewährung (Hanack)

§ 68 g

Die richterliche Aufhebung der Führungsaufsicht (§§ 68 e, 68 f Abs. 2) wird durch die Bestimmung des Absatz 1 S. 2 jedoch nicht berührt. Zur Beendigung der Führungsaufsicht nach erfolgreicher Bewährung s. Rdn. 26 ff.

V. Die Ausnahme des Absatz 2 (Ruhen). Abweichend von der grundsätzlichen 18 Regelung des Absatz 1 kann das Gericht, wenn Aussetzung und Führungsaufsicht aufgrund derselben Tat angeordnet sind, das Ruhen der Führungsaufsicht bis zum Ablauf der Bewährungszeit anordnen (Satz 1), wobei d a n n die Bewährungsaufsicht in die Dauer der Führungsaufsicht nicht eingerechnet wird (Satz 2). Ob der Gesetzgeber befremdliche Konsequenzen dieser Regelung (Rdn. 20; Rdn. 25; Rdn. 27) wirklich erkannt hat, ist auch nach dem Bild der veröffentlichten Gesetzesmaterialien nicht sicher. 1. Grundgedanke des Absatz 2 ist, in geeigneten Fällen statt der strengeren Füh- 19 rungsaufsicht ausschließlich die milderen Mittel der Bewährungsaufsicht Platz greifen zu lassen (vgl. Lackner Niederschriften Bd. 3, S. 267 f). Es kann sich dabei wohl nur um Fälle handeln, in denen ein Strafrest oder ein Berufsverbot zur Bewährung ausgesetzt ist (§§ 57, 70 a) ; denn wenn Strafaussetzung zur Bewährung nach § 56 und Führungsaufsicht zusammentreffen, geht es in aller Regel gerade darum, die intensiveren Einwirkungen der Führungsaufsicht auszunutzen (s. Rdn. 11). Hingegen ist nach dem Zweck der Vorschrift und trotz des Wortlauts von Absatz 2 S. 2 („angeordnet") anzunehmen, daß die Vorschrift auch für die Führungsaufsicht kraft Gesetzes gilt, soweit sie und die Aussetzung auf dieselbe Tat zurückgehen (s. Rdn. 10), so d a ß auch sie im Falle erfolgreicher Bewährung nach den Regeln des Absatz 3 endet (Sch.-Schröder-Stree Rdn. 10, 15; offenbar auch Dreher Rdn. 3). Die kriminalpolitische Logik des Absatz 2 erscheint nicht sonderlich zwingend. 20 Die Vorschrift ist im G r u n d e auf die „Sicherungsaufsicht" des E 1962 (s. Rdn. 20 f vor § 68) gemünzt, weil sich die Führungsaufsicht des geltenden Rechts je nach den Bedürfnissen des Einzelfalles ohnedies wie eine Bewährungsaufsicht handhaben läßt. So widerspricht Absatz 2 in gewissem Sinne sogar der Fortentwicklung der Sicherungsaufsicht zur Führungsaufsicht. Doch darf dies den Richter nicht dazu verleiten, die seinem pflichtgemäßen Ermessen anvertraute Vorschrift zu vernachlässigen, weil mit ihrer Anwendung immerhin besondere, wenn auch in sich zwiespältige Wirkungen verbunden sind (Rdn. 25). 2. Auf derselben Tat beruhen Führungsaufsicht und Aussetzung auch dann, 21 wenn eine Gesamtstrafe gebildet worden ist und die Führungsaufsicht nur auf eine der in die Gesamtstrafe einbezogenen Taten zurückzuführen ist (Sch.-SchröderStree Rdn. 9). 3. Das Ruhen der Führungsaufsicht führt dazu, daß deren gesamtes Einwir- 2 2 kungssystem suspendiert ist. Dies hat Konsequenzen vor allem für bereits erteilte Weisungen nach § 68 b : Auch sie sind „nicht ,in K r a f t ' " (Horn SK Rdn. 9), so d a ß gegen sie selbst d a n n nicht verstoßen werden kann, wenn sie mit Weisungen nach § 56 c inhaltsgleich sein sollten. Der Verstoß kann daher weder zu einer Verurteilung nach § 145 a noch zum Widerruf einer Unterbringungsaussetzung gemäß (87)

§ 68 g

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

§ 67 g Abs. 1 Nr. 2 führen (ebenso Horn aaO); die Rechtslage ist hier also anders als bei den in Rdn. 13 f behandelten Fällen. Das Ruhen der Führungsaufsicht dauert bis zum Ablauf der Bewährungsfrist. Danach setzt sich die Führungsaufsicht automatisch fort (Sch.-Schröder-Stree Rdn. 12), falls es nicht zu ihrer Beendigung wegen Bewährung (dazu Rdn. 26 f) kommt. 23

4. Nach pflichtgemäßem Ermessen („kann") wendet das Gericht Absatz 2 an. Angezeigt ist die Anwendung in der Regel, wenn das Gericht der Überzeugung ist, der Verurteilte lasse auch ohne die einschneidenderen Möglichkeiten der Führungsaufsicht eine günstige Entwicklung in der Freiheit erwarten (Begr. ζ. E 1962, S. 225; Lackner Anm. 3; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 11). Zu eng ist die Ansicht Drehers (Rdn. 6), der darauf abstellt, ob die reine Bewährungshilfe „besseren Erfolg verspricht" und sich dabei zu Unrecht auf den E 1962 beruft. Das Gericht muß bei seiner Entscheidung mitbedenken, daß bei Anwendung des Absatz 2 der Täter wegen der Nichteinrechnung der Bewährungszeit in die Dauer der Führungsaufsicht u. U. extrem lang unter (Bewährungs- bzw. Führungs-) Aufsicht steht (dazu Rdn. 25).

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5. Verfahrenstnäßig empfiehlt es sich meist, die Entscheidung zugleich mit der Aussetzung zu treffen (Lackner und Sch.-Schröder-Stree aaO). Entsprechend dem Zweck des Absatz 2 ist es jedoch auch zulässig, sie noch als nachträgliche Anordnung zu treffen (Lackner und Sch.-Schröder-Stree aaO), wenn das im Einzelfall angezeigt erscheint. Die Auffassung von Sch.-Schröder-Stree (aaO), daß dies wegen der Veränderung in der Aufsicht „zumeist untunlich" sei, erscheint insoweit überzogen.

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6. Die Nichteinrechnung der Bewährungszeit in die Dauer der Führungsaufsicht (Absatz 2 S. 2) kann dazu führen, daß der Täter wegen „derselben Tat" dem Einwirkungssystem der Bewährung bzw. der Führungsaufsicht insgesamt für eine außerordentlich lange Zeit unterliegt. Im ungünstigsten Fall kann diese Dauer fast zehn Jahre betragen, wenn nämlich (Horn SK Rdn. 8) die Aussetzung kurz vor Ablauf einer auf fünf Jahre festgesetzten Bewährungszeit widerrufen wird und der Täter dann nach der Entlassung einer fünfjährigen Führungsaufsicht unterliegt. Dieses Ergebnis ist insbesondere dann bedenklich, wenn die Reststrafverbüßung, die sich zwischen die Bewährungszeit und die Führungsaufsicht schiebt, nur kurz ist. VI. Beendigung der Führungsaufsicht nach Bewährung

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1· Eine wegen derselben Tat bestehende Führungsaufsicht endet gemäß Absatz 3, wenn nach Ablauf der Bewährungsfrist die ausgesetzte Strafe oder der ausgesetzte Strafrest erlassen (§ 56 g) oder das ausgesetzte Berufsverbot für erledigt erklärt wird (§ 70 b Abs. 5). Die Beendigung tritt kraft Gesetzes ein, also ohne daß es einer besonderen Entscheidung darüber bedarf (Dreher Rdn. 6). Voraussetzung ist jedoch, daß das Gericht den Straferlaß gemäß § 56 g Abs. 1 förmlich ausgesprochen bzw. das Berufsverbot gemäß § 70 b Abs. 5 förmlich für erledigt erklärt hat (Horn SK Rdn. 10).

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Diese Voraussetzung führt nach dem Wortlaut des Gesetzes zu der ungereimten Konsequenz, daß in den Fällen des Absatz 2 der Täter im Zeitraum zwischen dem Ablauf der Bewährungszeit und der gerichtlichen Entscheidung über den Straferlaß

Entziehung der Fahrerlaubnis (Rüth)

§69

bzw. über die Erledigung des Berufsverbots wieder unter Führungsaufsicht steht (Sch.-Schröder-Stree Rdn. 13). Da dies ohne Zweifel nicht gewollt ist, wird man, um Unzuträglichkeiten zu vermeiden, annehmen müssen, daß das Ruhen der Führungsaufsicht über den Gesetzeswortlaut hinaus bis zur gerichtlichen Entscheidung über die erfolgreiche Bewährung andauert (Sch.-Schröder-Stree aaO m. w. Lösungsüberlegungen). Dies läßt sich in der Sache damit rechtfertigen, daß die Führungsaufsicht im Einzelfall ohnedies praktisch wie eine Bewährungsaufsicht ausgestaltet und gehandhabt werden kann oder muß. Im Einzelfall kommt auch eine Aufhebung der Führungsaufsicht gemäß § 68 e in Betracht (dazu Sch.-Schröder-Stree aaO). Ein späterer Widerruf des Straferlasses gemäß § 56 g Abs. 2 läßt die Führungs- 28 aufsieht nicht wieder aufleben (Horn SK Rdn. 10; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 16), weil eine solche Folgewirkung vom Gesetz ausdrücklich hätte ausgesprochen werden müssen. Der Verurteilte kann im Falle eines solchen Widerrufs jedoch zum „Vollverbüßer" i. S. des § 68 f werden, da die erfolglose Aussetzung der Anwendung dieser Vorschrift nicht entgegensteht (LK § 68 f Rdn. 15); er unterliegt dann der (neuen) Führungsaufsicht des § 68 f (Horn SK Rdn. 7; vgl. auch L K § 6 8 f Rdn. 9 ΟΙ. Die wegen einer anderen Tat bestehende Führungsaufsicht wird von der erfolg- 29 reichen Bewährung nach dem klaren Wortlaut des Gesetzes nicht berührt. Dies war beabsichtigt. Es wird in der Begründung zum E 1962, wenig überzeugend, damit erklärt, daß sich andernfalls, „namentlich wenn die Aufsicht im Rahmen der Aussetzung zur Bewährung und die Sicherungsaufsicht (jetzt: Führungsaufsicht) nicht in der Hand desselben Richters liegen, Unzuträglichkeiten ergeben" könnten (S. 225; vgl. auch Schwalm und Lackner Niederschriften Bd. 3, S. 261, 267, 304; kritisch Jescheck ebenda S. 267). Die Bewährung in einer anderen Sache begründet jedoch vielfach, wenn auch nicht immer, die Erwartung, daß der Verurteilte keine weiteren Straftaten mehr begehen wird (E 1962, S. 225; weitergehend Lackner Anm. 4: „in der Regel"). Sie ist daher regelmäßig Grund für die besondere Prüfung, ob auch die Führungsaufsicht aufgehoben werden kann (E 1962 aaO; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 14). Eine solche Aufhebung bedarf aber eben einer besonderen richterlichen Entscheidung nach § 68 e oder § 68 f Abs. 2 (Dreher Rdn. 6) neben dem förmlichen Straferlaß gemäß § 56 g bzw. der förmlichen Erledigung des Berufsverbots gemäß § 70 b Abs. 5.

§69 Entziehung der Fahrerlaubnis (1) Wird jemand wegen einer rechtswidrigen Tat, die er bei oder im Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeugs oder unter Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers begangen hat, verurteilt oder nur deshalb nicht verurteilt, weil seine Schuldunfähigkeit erwiesen oder nicht auszuschließen ist, so entzieht ihm das Gericht die Fahrerlaubnis, wenn sich aus der Tat ergibt, daß er zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet ist. Einer weiteren Prüfung nach § 62 bedarf es nicht. (2) Ist die rechtswidrige Tat in den Fällen des Absatzes 1 ein Vergehen 1. der Gefährdung des Straßenverkehrs (§ 315 c), 2. der Trunkenheit im Verkehr (§ 316), (89)

§ 6 9

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

3. des unerlaubten Entfernens vom Unfallort (§ 142), obwohl der Täter weiß oder wissen kann, daß bei dem Unfall ein Mensch getötet oder nicht unerheblich verletzt worden oder an fremden Sachen bedeutender Schaden entstanden ist, oder 4. des Vollrausches (§ 330 a), der sich auf eine der Taten nach den Nummern 1 bis 3 bezieht, so ist der Täter in der Regel als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen anzusehen. (3) D i e Fahrerlaubnis erlischt mit der Rechtskraft des Urteils. Ein von einer deutschen Behörde erteilter Führerschein wird im Urteil eingezogen. Schrifttum Arndt Entziehung der Fahrerlaubnis und Fahrverbot, SchlHA 1969 10; Bruns Die Entziehung der Fahrerlaubnis, GA 1954 161; Cramer Die Austauschbarkeit der Entziehung der Fahrerlaubnis gegen ein Fahrverbot, NJW 1968 1764; Cramer Voraussetzung für eine gerichtliche Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 42 m StGB, MDR 1972 558; Frisch Drei Grundprobleme des Verschlechterungsverbots, MDR 1973 715; Geppert Totale und teilweise Entziehung der Fahrerlaubnis, NJW 1971 1857; Granicky Zum Entzug der Fahrerlaubnis insbesondere bei Trunkenheitstätern, SchlHA 1968 153; Gollner Verschlechterungsverbot bei vorläufiger und entgültiger Entziehung der Fahrerlaubnis GA 1975 120; Guelde Die Entziehung der Fahrerlaubnis, 1956; Händel Richterliche Weisung, eine Fahrerlaubnis zu erwerben, DAR 1977 309; Härtung Der BGH zur Entziehung der Fahrerlaubnis, JZ 1954 137; Härtung Entziehung der Fahrerlaubnis und Strafregister, NJW 1964 81; Härtung Entziehung der Fahrerlaubnis zum Führen von Kraftfahrzeugen als gerichtliche Maßnahme der Sicherung und Besserung, DRiZ 1953 120; Hentschel Entziehung der Fahrerlaubnis bei ausländischen Führerscheinen, NJW 1975 1350; Hentschel Nachträgliche Ausnahmen für bestimmte Arten von Kraftfahrzeugen von der Führerscheinsperre DAR 1975 296; Hentschel Fahrerlaubnisentziehung als Strafe für Prozeßverschleppung DAR 1976 150; Hentschel Schwächen und Unklarheiten der strafgesetzlichen Regelung der Fahrerlaubnisentziehung DAR 1976 289; Hentschel/Himmelreich Fahrverbot und Entziehung der Fahrerlaubnis 1975; Hentschel Entziehung einer nicht vorhandenen Fahrerlaubnis? DAR 1977 212; Himmelreich Reformbedürftigkeit von Fahrerlaubnisentzug und Fahrverbot? DAR 1977 85; Jagusch Der BGH zur Entziehung der Fahrerlaubnis, DAR 1955 97; Janizewski Keine Reformbedürftigkeit von Fahrerlaubnisentziehung und Fahrverbot, DAR 1977 312; Koch Führerschein auf Bewährung DAR 1977 316; Koch Reformbedürftigkeit von Fahrerlaubnisentzug und Fahrverbot? DAR 1977 90; Lackner Der Strafrechtsteil des Gesetzes zur Sicherung des Straßenverkehrs, M D R 1953 73 ; Martens Verweigerung der Fahrerlaubnis nach Ablauf der Sperrfrist, NJW 1963 139; Mollenkott Relative Fahruntüchtigkeit, vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis und der Grundsatz „in dubio pro reo" DAR 1978 68; Rieger Sonderbehandlung bestimmter Fahrzeugarten bei der Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 111 a StPO, §§ 42 m und 42 η StGB, DAR 1967 43; Schendel Doppelkompetenz von Strafgericht und Verwaltungsbehörde, 1974; v. Schlotheim Fragen zur Entziehung der Fahrerlaubnis, Blutalkohol 1973 69; H. W. Schmidt Rückwirkung der Bestimmungen über die Entziehung der Fahrerlaubnis gemäß §§ 42 m, 42 η StGB, SchlHA 1965 223; W. Schmidt Fahrerlaubnisentzug beim Beifahrer, DAR 1965 153; W. H. Schmidt Die Neuerteilung der Fahrerlaubnis nach Ablauf der strafgerichtlichen Sperrfrist, DAR 1968 1 ; Schmidt-Leichner Alkohol und Kraftfahrer, insbesondere die Entziehung der Fahrerlaubnis, NJW 1953 1849; Schöch Verkehrsdelinquenz und allgemeine Kriminalität, NJW 1971 1857; v. Weber Die Rechtsnatur der Entziehung der Fahrerlaubnis, JZ 1960 52; Wimmer Entziehung der Fahrerlaubnis, Strafe und Strafaussetzung zur Bewährung, NJW 1959 1513. Entstehungsgeschichte V o r I n k r a f t t r e t e n d e s 1. V e r k S i c h G v o m 19. 1 2 . 1 9 5 2 ( B G B l . I 832) w a r d i e F a h r e r l a u b n i s e n t z i e h u n g e i n e M a ß n a h m e d e r V e r w a l t u n g s b e h ö r d e . N u n m e h r liegt d i e A n o r d n u n g d e r F a h r e r l a u b n i s e n t z i e h u n g in d e n Hä-nden d e s S t r a f r i c h t e r s , w e n n (90)

E n t z i e h u n g der F a h r e r l a u b n i s ( R ü t h )

§69

der Täter eine mit Strafe bedrohte Handlung bei oder im Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeugs oder unter Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers begangen hat. Nach wie vor ist aber auch die Verwaltungsbehörde nach § 4 StVG, § 15 b StVZO für die Entziehung einer Fahrerlaubnis zuständig. Sie darf jedoch einen Sachverhalt, der Gegenstand eines Strafverfahrens ist und in dem eine Fahrerlaubnisentziehung in Betracht kommt, für die Dauer der Anhängigkeit des Strafverfahrens nicht berücksichtigen ; nach dessen Abschluß ist sie an den festgestellten Sachverhalt gebunden und darf von den Feststellungen des Gerichts über die Eignung des Täter zur Führung von Kraftfahrzeugen nicht abweichen (§ 15 b Abs. 3 StVZO; § 4 Abs. 3 StVG). Das 1. StraßenVSichG 1952 hatte die Vorschriften über die Entziehung der Fahrerlaubnis, die Festsetzung der Sperrfrist und die Behandlung der ausländischen Fahrausweise in § 42 m zusammengefaßt. Das 2. Straßen VSichG 1964 verteilte sie auf die §§ 42 m, 42 η und 42 o (amtl. Begr. VkBl. 1965 20). Das 1. StrRG fügte dem Absatz 1 des § 42 m den S. 2 an. Das 2. StrRG (in Kraft seit 1.1. 1975, EGStGB 1974 Art. 326) ließ die Bestimmungen über die Fahrerlaubnisentziehung ihrem Inhalt nach unberührt, paßte den Gesetzestext redaktionell dem nunmehr üblichen Sprachgebrauch des Allgemeinen Teils des StGB an und gab den Bestimmungen die Paragraphennummern 69, 69 a, 69 b. Übersicht Rdn. I. Maßregel der Sicherung und Besserung . 1 II. Die Voraussetzungen f ü r die Entziehung der Fahrerlaubnis (Abs. 1) 2 1. Rechtswidrige Tat 2 a) Verurteilung 3 b) Form der Verurteilung 5 c) erwiesene oder nicht auszuschließende Schuldunfähigkeit 6 d) andere Entscheidungen 8 e) Sicherungsverfahren 9 2. Bei oder im Z u s a m m e n h a n g mit dem Führen eines Kraftfahrzeugs 10 a) Begriff des Kraftfahrzeugs . . . . 10 b) Z u s a m m e n h a n g mit dem Führen eines Kraftfahrzeugs 12 3. Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers 19 4. Ungeeignetheit zur Kraftfahrzeugführung 21 a) auf G r u n d der Tat 22 b) Würdigung der Gesamtpersönlichkeit 25 c) künftige G e f ä h r d u n g 30 d) Zeitpunkt der Beurteilung . . . . 31 e) Verhältnismäßigkeit 33

III.

IV.

V. VI. VII.

Rdn. f) Urteilsfeststellungen 34 Vermutung der Ungeeignetheit (Abs. 2) . 35 1. Gesetzliche Vermutung der Ungeeignetheit 35 2. Widerlegung der gesetzlichen Vermutung 36 3. die Regelbeispiele des Abs. 2 39 a) Straßenverkehrsgefährdung . . . 40 b) Trunkenheit im Verkehr 41 c) schwere Fälle der unerlaubten Entfernung vom Unfallort . . . . 42 d) Volltrunkenheit 46 Die A n o r d n u n g der Fahrerlaubnisentziehung 47 1. die gerichtliche Entscheidung 47 2. U m f a n g der Entziehung 51 3. Erlöschen der Fahrerlaubnis 53 4. Einziehung des Führerscheins . . . . 54 5. gerichtliche Entziehung bei bereits entzogener Fahrerlaubnis 56 Die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 111 a StPO 57 Anfechtung der Fahrerlaubnisentziehung 59 Strafbarkeit der K r a f t f a h r z e u g f ü h r u n g nach Fahrerlaubnisentzug 63

I. Die Entziehung der Fahrerlaubnis ist Maßregel der Besserung und Sicherung 1 keine Strafe oder Nebenstrafe. Dies ergibt sich aus seiner Stellung im StGB, sowie der amtlichen Begründung zum 1. Straßen VSichG. An dem Charakter als Maßregel haben das 2. Straßen VSichG wie auch das 2. StrRG festgehalten. Maßgebend für die Beurteilung der Ungeeignetheit eines Täters zum Führen eines Kraftfahrzeugs sind deshalb nicht die Schwere des Unrechts und der Schuld, sondern die Größe der vom Täter für den Verkehr ausgehenden Gefahren. Allerdings werden häufig (91)

§69

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

Unrecht und Schuld als Indiz für den Eignungsmangel herangezogen werden müssen. Die Höhe der Schuld kann aber nicht allein Grundlage der Fahrerlaubnisentziehung sein; vielmehr kommt es darauf an, ohne Rücksicht auf Unrecht und Schuld, jeden ungeeigneten Kraftfahrzeugführer so lange aus dem öffentlichen Straßenverkehr auszuschalten, als er voraussichtlich dessen Anforderungen nicht gewachsen sein wird (amtl. Begr. VkBl. 1965 20). Die Maßregel dient somit auch nicht der Sühne für begangenes Unrecht, sondern der Besserung und Sicherung (BGH VRS 11425; KG VRS 8 266); ihr nebenstrafartigen Charakter beizumessen (so wohl OLG Stuttgart NJW 1968 1792; OLG Frankfurt NJW 1968 1793; Bruns NJW 1968 255), erscheint bedenklich (so auch Dreher § 69 Rdn. 1). Der Ansicht von Cramer (NJW 1968 1764), die gerichtliche Fahrerlaubnisentziehung sei nur bei körperlichen oder geistigen Mängeln eine Maßregel, im übrigen aber Strafe, kann schon im Hinblick auf die eindeutige Stellung des § 69 im StGB nicht beigetreten werden.

II. Die Voraussetzungen für die Entziehung der Fahrerlaubnis. 2

1. Täter muß eine rechtswidrige Tat begangen haben und wegen dieser entweder verurteilt oder unter Anwendung des § 20 StGB freigesprochen werden. Begriff der rechtswidrigen Tat: § 11 Abs. 1 Nr. 5 StGB. Die Maßregel der Besserung und Sicherung darf nicht angeordnet werden, wenn die Schuld des Täters aus anderen Gründen verneint wird, ζ. B. wegen Verbotsirrtums, entschuldigendem Notstand (vgl. OLG Hamm VRS 26 279).

3

a) Es genügt, daß eine rechtswidrige Tat begangen wurde. Eine Verurteilung zu Strafe ist nicht erforderlich, Verurteilung zu Zuchtmitteln oder Erziehungsmaßregeln (§ 9, § 13 Abs. 2 JGG) reicht aus (Sch.-Schröder-Stree § 69 StGB Rdn. 19; Cramer § 69 StGB Rdn. 24; Dreher § 69 Rdn. 5; so auch schon zu § 42 m StGB a. F.: BGHSt. 6 394 = VRS 8 47; Bruns GA 1954 250; Lackner NJW 1954 629; Portrykus M D R 1955 72; a. Α.: OLG Celle DAR 1954 284; Göbel NJW 1954 15; Pentz NJW 1954 337). Auch eine bedingte Verurteilung nach § 27 J G G genügt (so auch Cramer und Dreher jeweils aaO). Ein Absehen von Strafe nach § 60 StGB oder ζ. B. nach §§311 b, 315 Abs. 6, 315 b Abs. 6 StGB hindert bei gleichzeitigem Schuldspruch die Entziehung der Fahrerlaubnis nicht (BayObLG M D R 1972 437. OLG Hamm VRS 43 19; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 22; Cramer und Dreher aaO).

4

Strafaussetzung zur Bewährung hindert Entziehung nach übereinstimmender Meinung nicht (vgl. dazu BGHSt. 15 316 = VRS 21 40; BGH VRS 25 426; 28 420; 29 14 u. a. m.). In diesen Fällen muß der Tatrichter sich in der Begründung damit auseinandersetzen, warum trotz bestehender günstiger Prognose der Täter noch ungeeignet zur Kraftfahrzeugführung ist (BGH VRS 19 179; 29 14; OLG Hamm VRS 32 17; 33 22, 343). Die Fahrerlaubnisentziehung kann nicht damit begründet werden, daß ohne sie der Täter bei zur Bewährung ausgesetzter Strafvollstreckung erneut straffällig werden könnte (vgl. OLG Hamm DAR 1957 186; Cramer, Sch.-Schröder-Stree aaO). Andererseits zwingt die Versagung der Vergünstigung einer Strafaussetzung nicht, die Maßregel der Entziehung anzuordnen (so auch schon Celle NJW 1956 1648). Bei Verwarnung mit Strafvorbehalt ist Fahrerlaubnisentziehung kraft Gesetzes ausgeschlossen (§ 59 Abs. 3 StGB).

5

b) Gleichgültig ist, ob die Verurteilung durch in der mündlichen Verhandlung verkündetes Urteil oder durch Strafbefehl (§ 407 Abs. 2 StPO mit Sperrfrist nicht mehr als 2 Jahre) erfolgt. Auch gegen abwesende Angeklagte ist die Verhängung der (92)

Entziehung der Fahrerlaubnis (Rüth)

§69

Maßregel nach vorherigem Hinweis zulässig (§ 232 Abs. 1 § 233 Abs. 1 StPO), im Privat-Klageverfahren jedoch unzulässig (§ 384 Abs. 1 StPO). c) Bei Freispruch wegen erwiesener oder nicht auszuschließender Schuldunfähig- 6 keit ist Entziehung der Fahrerlaubnis zulässig (so schon die h. M. nach früherem Recht: BGH St. 14 68 = VRS 18 188; OLG Hamm VRS 18 42 = NJW 1959 2318; vgl. Schmitt NJW 1956 1043; DAR 1956 130; Grethlein DAR 1957 253). Freispruch wegen Schuldunfähigkeit nach dem Grundsatz in dubio pro reo genügt (so auch Cramer § 69 StGB Rdn. 26). Einer Freisprechung steht gleich, wenn wegen des die Entziehung rechtfertigenden Tatbestandes aus Gründen mangelnder Schuldfähigkeit keine Verurteilung, jedoch wegen einer mit dieser Tat tateinheitlich zusammentreffenden, im schuldfähigen Zustand begangenen Straftat Verurteilung zu Strafe erfolgt (LG München DAR 55 306). Nicht erforderlich ist ein Freispruch ohne jede Sanktion; die Anordnung freiheitsentziehender Maßnahmen nach dem §63—65 StGB hindern die Fahrerlaubnisentziehung nicht (Sch.-Schröder-Stree Hdn. 24; Cramer Rdn. 27 je zu § 69; Grethlein DAR 1957, 253). d) Andere Entscheidungen als Verurteilung oder Freispruch wegen Schuldunfä- 7 higkeit bieten keine Voraussetzung für eine Entziehung der Fahrerlaubnis. Dies gilt vor allem für Freisprüche wegen Fehlens oder Nichtbeweisbarkeit der objektiven oder subjektiven Tatbestandsmerkmale. Ergibt sich aus der Tat ζ. B., daß der Täter wegen körperlicher Mängel das Fahrzeug technisch nicht beherrschte und deshalb zur sicheren Führung eines Kraftfahrzeugs ungeeignet ist, kann eine Verurteilung nur erfolgen, wenn dem Täter die Unfähigkeit bekannt war oder er sie kennen mußte. Kann ihm seine Unkenntnis nicht angelastet werden, hat Freispruch zu erfolgen, der keine Grundlage für eine Fahrerlaubnisentziehung bietet (OLG Hamm VRS 26 279). Wird das Verfahren eingestellt, gleich aus welchen Gründen, kann die Fahr- 8 erlaubnis nicht entzogen werden. Dies gilt für jede Art der Einstellung nach §§ 153 ff. StPO, für Einstellungen wegen eines Verfahrenshindernisses, wie ζ. B. Verjährung, Exterritorialität (BayObLG DAR 55 44), gleichgültig ob die Einstellung durch Beschluß nach § 206 a oder durch Urteil nach § 260 StPO erfolgt; auch bei Einstellung nach Straffreiheitsgesetzen scheidet eine Fahrerlaubnisentziehung aus, soweit sie nicht in diesen selbst zugelassen ist. Stellt die Staatsanwaltschaft das Verfahren ein, versteht es sich von selbst, daß eine Fahrerlaubnisentziehung in diesem Verfahren nicht möglich ist. e) Ist die Staatsanwaltschaft der Ansicht, daß der Täter eine mit Strafe bedrohte 9 Handlung im Zustand der Zurechnungsunfähigkeit begangen hat, führt sie deshalb das Strafverfahren nicht durch, reicht aber zwecks Durchführung des Sicherungsverfahrens einen Antrag nach § 413 StPO ein, so kann das Gericht in diesem Verfahren die Fahrerlaubnisentziehung sowohl neben der Unterbringung nach §§ 63, 64, als auch dann anordnen, wenn es die Voraussetzungen für eine Unterbringung nach §§ 63, 64 bei gleichzeitiger Bejahung der Schuldunfähigkeit verneint und diesen Antrag ablehnt (§414 Abs. 2 StPO; BGHSt. 13 91 = VRS 16 426 = JZ 1959 606m. zst. Anm. Härtung; a. A. Armbruster NJW 1959 1644), weil das Gericht mit der Ablehnung des Antrags die Schuldunfähigkeit bestätigt und diese Annahme einer Freisprechung mangels Schuldfähigkeit gleichkommt; denn andernfalls müßte es in das Strafverfahren übergehen (§ 416 StPO; im Ergebnis ebenso Härtung JZ 1959 607). Das Sicherungsverfahren kann auch allein zur Prüfung der Frage, ob die Fahrerlaubnis zu entziehen ist, durchgeführt werden (§413 StPO; §71 Abs. 2 StGB). (93)

§69

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

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2. Die mit Strafe bedrohte Handlung muß bei oder im Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeugs begangen worden sein. a) Die in § 1 Abs. 2 StVG enthaltene Definition des Kraftfahrzeugs-Begriffs gilt auch für § 69; Kraftfahrzeuge sind sonach „Landfahrzeuge, die durch Maschinenkraft bewegt werden, ohne an Bahngleise gebunden zu sein". Schienenfahrzeuge, auch soweit sie im Straßenverkehr teilnehmen (vgl. § 315 d), oder Wasserfahrzeuge scheiden als Kraftfahrzeuge i. S. des § 69 aus (ebenso auch Cramer § 69 Rdn. 20). Dies ergibt sich aus der Entstehungsgeschichte des § 42 m (a. F. = § 69 η. F.), der durch das 1. StraßenVerkSichG 1952 in das StGB einfügt wurde und der Tatsache, daß § 42 m a. F. nur die früher allein der Verwaltungsbehörde nach § 4 StVG (§ 15 b StVZUO) zustehende Befugnis der Fahrerlaubnisentziehung mit den in § 42 m a. F. ( = § 69 η. F.) genannten Einschränkungen auf den Strafrichter übertrug.

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Die Entziehung der Fahrerlaubnis setzt nicht voraus, daß die Tat im Zusammenhang mit dem Führen eines fahrerlaubnispflichtigem Kraftfahrzeug (vgl. §§ 4, 5 StVZO) begangen wurde; es genügt die Führung auch eines fahrerlaubnisfreien Kraftfahrzeugs ( O L G Oldenburg NJW 1969199; OLG Düsseldorf VerkMitt. 1970 68). Die Streitfrage, ob Fahrräder mit Hilfsmotor Kraftfahrzeuge sind, hat für das StVG das Gesetz vom 16. 7. 57 (BGBl. I 710) und für den Bereich der StVZO die VO vom 7. 7. 60 (BGBl. I 485) entschieden; sie gelten nunmehr für den gesamten Bereich des Verkehrsrechts als Kraftfahrzeuge. Kraftfahrzeuge i. S. des § 69 sind sonach mit Maschinenkraft, gleich welcher Art, ausgerüstete Fahrzeuge, die zur Fortbewegung von einem Punkt der Erdoberfläche zu einem anderen durch Bewegung auf der Erdoberfläche geeignet und bestimmt sind (Landfahrzeuge), ζ. B. auch maschinell angetriebene Krankenfahrstühle, Motorschlitten, selbstfahrende Arbeitsmaschinen. Ein Fahrzeug verliert seine Eigenschaft als Kraftfahrzeug nicht dadurch, daß es im Einzelfall ohne Benutzung des Motors fortbewegt wird. Wer ein Fahrrad mit Hilfsmotor durch Treten der Pedale fortbewegt, ohne die Motorkraft in Betrieb zu setzen, führt ein Kraftfahrzeug i. S. des §69. (OLG Düsseldorf VerkMitt. 1974 13). Nach dem Ausbau des Motors behält das Fahrzeug zwar seine Eigenschaft als Kraftfahrzeug, wenn ein Motor wieder eingebaut werden soll, wird aber ohne Motor nicht als Kraftfahrzeug betrieben.

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b) Bei oder im Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeugs wird eine mit Strafe bedrohte Handlung begangen, wenn zwischen ihr und der Fahrzeugführung ein tatsächlicher Zusammenhang besteht. Zum Begriff der Führung eines Fahrzeugs vgl. die Erl. zu § 315 c Rdn. 5 und zu § 316 Rdn. 3 bis 7. Die Rechtsprechung, insbesondere auch der BGH hat den Kreis, der im Zusammenhang mit dem Führen von Kraftfahrzeugen begangenen, mit Strafe bedrohten Handlungen, sehr weit gezogen. Aus der amtl. Begr. zum 1. Straßen VerkSichG (1952), in der ein „Zusammenhang" schon dann bejaht wurde, „wenn der Täter" sich mit dem Kraftfahrzeug an den Tatort begibt, oder wenn er es dazuverwendet, um nach der Tat die Beute wegzuschaffen" (abgedruckt bei Müller StVR 2 1 § 42 m StGB S. 174), folgert der BGH, daß § 42 m = § 69 n. F. „über den eigentlichen Verkehrszweck hinaus den Mißbrauch von Kraftfahrzeugen auch dann verhindern will, wenn dieser Mißbrauch nur gegen andere Rechtsgüter nachteilig wirkt" (BGHSt. 5 179). Ein Zusammenhang ist sonach schon dann anzunehmen, wenn das Kraftfahrzeug zur Vorbereitung, Durchführung (Ausnutzung, Ausführung) und Deckung der Straftat benutzt wird (BGHSt. 5 179; 7 165; 10 333; 17 218; BGH VRS 6424; 15 112; 36 265; vgl. auch OLG Celle VerkMitt. 1956 72). (94)

Entziehung der Fahrerlaubnis (Rüth)

§69

Das Gesetz stellt zwar mit der Formulierung „bei oder im Zusammenhang mit 13 dem Führen eines Kraftfahrzeugs" auf den Fortbewegungsvorgang ab (so auch Cramer § 44 StGB Rdn. 27, 29); dies bedeutet aber nicht, daß ein Zusammenhang nur dann zu bejahen ist, wenn die Straftat sich als Verletzung der speziell einem Kraftfahrzeugführer obliegenden Pflicht darstellt; vielmehr genügt hierfür jede Verwendung des Kraftfahrzeugs zum Zweck der Ermöglichung oder Erleichterung der Begehung einer Straftat. Aus diesem Grund ist ein Zusammenhang mit der Kraftfahrzeugführung nicht nur anzunehmen bei Wegschaffen der Diebesbeute als Dieb oder Hehler (BGH VerkMitt. 1967 1 ; OLG Köln VRS 41 356), bei Durchführung von Schmuggelfahrten, sondern schon dann, wenn der Täter das Fahrzeug zur Flucht nach einer Straftat, zu Diebesfahrten, Raubzügen oder überhaupt dazu benutzt, um an verschiedenen Orten Straftaten zu begehen (Betrügereien, Sprengstoffanschläge, Erpressungen, Brandstiftungen) und er gerade unter Ausnutzung der individuellen Fortbewegungsmöglichkeit sich hierbei eines Kraftfahrzeugs zur schnelleren Ortsveränderung bedient; dies muß auch dann noch angenommen werden, wenn ein Hehler nach beendeter Hehlerei Fahrten unternimmt, die der Verwertung oder Aufbewahrung des Hehlergutes dienen (OLG Stuttgart NJW 1973,2213). Kein Zusammenhang besteht, wenn die Hehlerware im Kraftfahrzeug nur abgelegt wird (OLG Köln VRS 41 356). So hat die Rechtsprechung einen Zusammenhang auch erblickt (Einzelfälle): 14 Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte nach § 113 StGB, um die Blutentnahme zu verhindern (OLG Hamm VRS 8 46); Notzucht im Kraftfahrzeug oder Verbringung des Opfers einer Notzucht an den Tatort (BGH NJW 1953 75; VRS 6 424; vgl. auch BVerwG VRS 20 391), nicht aber, wenn sich der Täter zur Notzucht erst nach Beendigung der Fahrt entschließt und das Fahrzeug auch nicht zur Flucht benutzt (BGH NJW 1969 1125); bei Mißhandlung anderer Verkehrsteilnehmer, über deren Verhalten der Kraftfahrzeugführer während der Fahrt sich geärgert hat (BayObLGSt. 1959 232 = JR 1959 470 m. zust. Anm. Härtung; OLG Hamm VRS 25 186), oder weil ihn diese wegen angeblichen verkehrswidrigen Verhaltens zur Rede gestellt haben (OLG Köln VRS 26 23); Nötigung mit dem Ziel, den anderen Kraftfahrzeugführer zum Anhalten zu zwingen (OLG Hamm VRS 25 186); Beleidigung, Bestehlen, Verprügeln des Mitfahrers bei Gelegenheit der Kraftfahrzeugbenutzung (BGHSt. 7 167 = NJW 1955 558). Aber auch Entführung und Verbringung von Geiseln mit einem Kraftfahrzeug von einem Ort zum anderen stehen i. S. des § 69 im Zusammenhang mit der Fahrzeugführung (so auch Dreher § 44 3 A b ; Cramer StVR § 37 StGB Rdn. 29). Ein Zusammenhang wurde auch bejaht, wenn der Täter Betrügereien unter Aus- 15 nutzung des Besitzes des Kraftfahrzeuges begeht (BGHSt. 5 179 = NJW 1954 163 m. abl. Anm. Schmidt-Leichner = LM Nr. 2 zu § 42 m a. F. StGB m. Anm. Busch) insbesondere wenn er sich mit einem von ihm gemieteten Kraftfahrzeug Kreditwürdigkeit verschaffen wollte (BGH aaO; BGHSt. 10 333 = VRS 13 260 = JZ 1958 130 m. abl. Anm. Härtung; BGH VRS 15 112), oder wenn sich der Täter unter Ausnutzung seines Führerscheins durch Betrug in den Besitz eines Kraftfahrzeugs gesetzt hat, um mit diesem Fahrten zu unternehmen (BGHSt. 17 218 = VRS 23 206, erg. auf Vorlegungsbeschluß von OLG Celle NJW 1962 128); auch bei Anmietung eines Kraftwagens unter Vorlage eines gefälschten Führerscheins (Urkundenfälschung) wurde Zusammenhang mit Kraftfahrzeugführung angenommen (OLG Köln VRS 41 356). Mitnahme eines Betrunkenen durch einen Motorradfahrer reicht für die Annahme eines Zusammenhangs aus (OLG Hamm DAR 1963 218). Zusammen(95)

§69

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

hang liegt auch vor, wenn sich der Täter mit seinem Kraftfahrzeug Leistungen von Tankstellen und Autoreparaturwerkstätten erschleicht (BGH VRS 30 275); Mitfahrt als Tatbeteiligter genügt zur Annahme eines Zusammenhangs (BGHSt. 10 333 = JZ 58 130 m. abl. Anm. Härtung; BGH VRS 37 350; OLG Braunschweig VRS 17 342; OLG Oldenburg VRS 21 110; BayObLG bei Rüth DAR 66 259; Schmidt DAR 65 153; a. A. KG VRS 11 357). 16

Auch der Halter, der das Fahrzeug nicht selbst führt, aber dessen Inbetriebnahme angeordnet hat, kann eine Tat im Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeugs begehen, so ζ. B. wenn sich das Fahrzeug in einem unvorschriftsmäßigen Zustand befindet und dieser ursächlich für einen Unfall war (OLG Stuttgart DAR 1961 169; NJW 1961690 m. abl. Anm. Härtung; OLG Oldenburg VRS 21 110; OLG Schleswig SchlHA 1962 148; VerkMitt. 1964 90; 1966 42); oder wenn er mit der Führung eines Kraftfahrzeugs eine Person bestellt, die nicht im Besitz der erforderlichen Fahrerlaubnis ist (BGHSt. 15 316 = VRS 2140; OLG Celle DAR 1957 106; OLG Braunschweig VRS 17 342; OLG Oldenburg VRS 21110; OLG Schleswig SchlHA 62 148), oder die Kraftfahrzeugführung einem ersichtlich unter Alkoholeinfluß Stehenden oder sonst Fahruntüchtigen überläßt, soweit diese Handlung als Straftat (ζ. B. Anstiftung zu § 316 StGB, vgl. dazu dortige Rdn. 80 ff) zu werten ist (vgl. OLG Hamm VRS 12 272; OLG Oldenburg VRS 21 110), oder die Inbetriebnahme eines Kraftfahrzeugs ohne ausreichenden Versicherungsschutz anordnet (vgl. KG VRS 15 196). Erkennt der Halter vor Antritt der Fahrt, daß er infolge Trunkenheit nicht mehr in der Lage ist, ein Fahrzeug sicher zu führen und überläßt er aus diesem Grund die Führung des Kraftfahrzeugs einem anderen (Mitfahrer), der keine Fahrerlaubnis hat oder ebenfalls unter erheblichem Alkoholeinfluß steht, so besteht zwar ein Zusammenhang mit der Führung des Kraftfahrzeugs durch den Dritten; die Handlung beweist aber nicht ohne weiteres ein die Fahrerlaubnisentziehung rechtfertigendes fehlendes Verantwortungsbewußtsein (BGH VRS 27 184; OLG Oldenburg VRS 27 264). Bei Beteiligung mehrer an der mit Strafe bedrohten Handlung kann ein Teilnehmer auch dann im Zusammenhang mit der Führung eines Kraftfahrzeugs handeln, wenn er das Fahrzeug nicht eigenhändig gelenkt hat (BGH VRS 37 350).

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Die sehr weitgehende Interpretation des Begriffs „im Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeugs" durch die Rechtsprechung, stieß vor allem im Schrifttum vielfach auf Ablehnung (so Härtung JZ 1954 137; JR 1954 306; Schmidt-Leichner NJW 1954 163; Guide RdK 1954 115; Müller StVR21 Seite 174; Cramer § 44 StGB Rdn. 29). Die gegen die Rechtsprechung vor allem des BGH vorgebrachten Bedenken sind nicht überzeugend; denn die gerichtliche Fahrerlaubnisentziehung ist schon nach dem Wortlaut des § 69 nicht auf Verkehrsverstöße beschränkt. Auch entspricht es dem der amtlichen Begründung (vgl. Rdn. 1, 2 oben) zu entnehmenden Zweck des Gesetzes, dem Strafrichter die Möglichkeit zu eröffnen, bei allen im Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeugs begangenen Straftaten die Eignung des Täters als Kraftfahrzeugführer zu überprüfen und hierbei die Aufgaben wahrzunehmen, die vor dem 1. Straßenverkehrssicherungsgesetz 1952 allein der Verwaltungsbehörde oblagen, mit der Einschränkung, daß die Eignungsprüfung vom Strafrichter nur innerhalb des Bereichs vorzunehmen ist, den er auch bei Abwägung der sich aus der Tat ergebenden Schuld bei Würdigung aller Umstände in Bezug auf die Strafbemessung zu berücksichtigen hat (BGHSt. 17 218; BGH VRS 16 424 = VerkMitt. 1960 1 Nr. 1 m. Anm. Booß). (96)

Entziehung der Fahrerlaubnis (Rüth)

§69

Kein Zusammenhang besteht, wenn sich der Täter erst nach der Beendigung der 18 Fahrt zur Tat entschließt und das Fahrzeug auch nicht zur Flucht benutzt (BGHSt. 22 328 = VRS 36 348), wenn der Täter seiner Leidenschaft zum Autofahren fröhnt und deshalb seiner Fürsorgepflicht nicht nachkommt (§ 170 d StGB); desgleichen wenn er nach einem Unfall, den ein betrunkener Kraftfahrer verursacht und verschuldet hat, vertäuscht (§ 145 d StGB), er selbst habe das Fahrzeug zur Unfallzeit gesteuert (OLG Hamm VRS 13 452) oder nach einem verschuldeten Verkehrsunfall ohne Fremdschaden wider besseres Wissen Anzeige gegen Unbekannt wegen Diebstahl des Unfallfahrzeugs erstattet, um ein Ermittlungsverfahren gegen sich selbst abzuwenden (OLG Bremen VRS 49 102), oder wenn er sich ohne Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeugs, einem Polizeibeamten gegenüber mit einem gefälschten Führerschein ausweist (OLG Celle M D R 1967 1026) oder sich mit einem gefäschten Führerschein bei einer Bank betrügerisch Geld verschafft. Zusammenhang ist auch zu verneinen, wenn der Täter die mit Strafe bedrohte Handlung nur bei Gelegenheit der Kraftfahrzeugbenutzung begeht, ohne daß die Führung des Kraftfahrzeugs die Tatbegehung ermöglicht oder erleichtert hat (OLG Hamm VRS 25 186; 28 260). 3. Unter Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers kann eine mit Strafe 19 bedrohte Handlung nur von dem begangen werden, der das Kraftfahrzeug selbst führt. Zum Begriff „Führung eines Kraftfahrzeugs vgl. § 315 c Rdn. 7 ff und § 316 Rdn. 3 bis 7 ; zu beachten ist aber, daß § 69 nur die Führer von Kraftfahrzeugen erfaßt. Die einem Kraftfahrzeugführer obliegenden Pflichten ergeben sich grundsätzlich aus den Vorschriften der StVO, StVZO und dem StVG (OLG Hamm VRS 13 450), sowie den Bestimmungen des StGB, aber auch aus Verordnungen des sog. Nebenstrafrechts wie ζ. B. der Arbeitszeitordnung, der BOKraft, der PersVG. Soweit die Zuwiderhandlungen sich in der Erfüllung des Tatbestandes einer Ordnungswidrigkeit erschöpfen, kommt § 69 nicht in Betracht, vielmehr muß die Pflichtverletzung den Tatbestand einer Strafbestimmung verletzen. Eine Pflichtverletzung des Kraftfahrzeugführers wird einmal anzunehmen sein 20 bei Verstößen gegen Fahrvorschriften oder bei einem Fehlverhalten in Bezug auf sonstige von einem Kraftfahrzeugführer zu erfüllende Pflichten, gleichgültig ob er diese durch Tun oder Unterlassen verletzt. Es kommen deshalb als mit Strafe bedrohte Handlungen nicht nur typische Verkehrsdelikte in Frage, wie ζ. B. die Inbetriebnahme eines verkehrsunsicheren Kraftfahrzeugs, nicht ausreichende Kenntlichmachung liegengebliebener Kraftfahrzeuge (§15 StVO; § 315 c Abs. 1 Nr. 2 g StGB), Überschreitung der täglichen Arbeitszeit oder der zulässigen täglichen Lenkungszeit (§ 15 a StVZO, EWGVO Nr. 543/69), Außerachtlassen der Verkehrsvorschriften, Verkehrszeichen, sondern auch andere mit Strafe bedrohte Handlungen, die nicht in erster Linie dem Schutz des Straßenverkehrs dienen, wie ζ. Β Körperverletzung, fahrlässige Tötung, Nötigung, wenn deren Tatbestand durch eine Pflichtverletzung des Täters als Kraftfahrzeugführer erfüllt ist. So u. a., wenn der Täter das von ihm geführte Kraftfahrzeug als Angriffsmittel gegen Menschen oder Güter vorsätzlich einsetzt. Auch die unbefugte Benutzung eines Kraftfahrzeugs i. S. des § 248 b StGB kann ausreichen, ebenso wie auch der Diebstahl eines Kraftfahrzeugs, wenn der Täter hierdurch seine auf Charaktermängel (vgl. Rdn. 26 unten) beruhende mangelnde Eignung als Kraftfahrzeugführer bewiesen hat (BGHSt. 5 179; 17 218; Bruns G A 54 188, vgl. zum Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeugs: Rdn. 12 bis 18 oben). Überläßt der Kraftfahrzeugführer vor Rdn. 9). Dies gilt insbesondere, wenn die Maßregel den Täter wegen seines höheren Alters oder der Unzumutbarkeit eines Berufswechsels besonders treffen würde (Dreher-Tröndle aaO). Das Alter kann auch beim jüngeren Täter bedeutsam sein, insbesondere beim Heranwachsenden, der nach allgemeinem Strafrecht beurteilt wird (oben Rdn. 5). Ihm durch ein Berufsverbot den weiteren Lebensweg zu verbauen, ist sehr problematisch (im Einzelfall kann ein Verbot allerdings auch gerade zur rechtzeitigen Steuerung einer Fehlentwicklung durchaus geboten sein). Zu beachten sind auch die Wirkungen einer gleichzeitig verhängten Freiheitsstrafe, selbst wenn sie (s. oben Rdn. 46) die weitere Gefährlichkeit des Täters im Zeitpunkt der Entscheidung nicht ausschließen. Von einem Berufsverbot kann abgesehen werden, wenn der Täter seinen früheren Beruf aufgegeben oder seinen früheren Betrieb verpachtet hat (näher oben Rdn. 44). (28)

Anordnung des Berufsverbots (Hanack)

§70

Im Rahmen des Ermessens zu prüfen ist auch, ob ehrengerichtliche oder ver- 79 waltungsrechtliche Maßnahmen, die gegen den Täter verhängt worden sind oder mit denen er zu rechnen hat, ein Berufsverbot ersetzen können. Die Zurückhaltung der herrschenden Meinung in dieser Frage (oben Rdn. 47 f) erscheint, wie schon angedeutet, nicht ohne weiteres berechtigt, zumal das Nebeneinander beider Maßnahmen den Täter u. U. besonders oder gar unnötig hart trifft. Zuzugeben ist, daß das Strafgericht häufig nicht sicher weiß oder erkennen kann, ob oder in welcher Weise mit außerstrafrechtlichen Reaktionen gegen den Täter zu rechnen ist. Doch kann das Gericht darüber im Einzelfall Erkundigungen einziehen und auf ein sachgemäßes Reagieren der zuständigen Disziplinar- oder Verwaltungsinstanzen meist auch durchaus vertrauen. Das gilt insbesondere wohl im Bereich des Gewerberechts. Nicht ohne weiteres berechtigt ist auch die verbreitete Argumentation (z. B. BGH NJW 1975 2249, 2250; RG DR 1943 73; Lang-Hinrichsen Vorauf!. §421 Rdn. 17), daß nur die strafgerichtliche Untersagung unter Strafschutz (§ 145 c) stehe; es bestehen vielmehr auch zahlreiche Vorschriften, die den Verstoß gegen verwaltungsrechtliche Untersagungen der Berufs- oder Gewerbeausübung mit Strafe oder doch mit Bußgeld bedrohen (vgl. im einzelnen Horstkotte LK, § 145 c Rdn. 2). Für eine stärkere Beachtung außerstrafrechtlicher Maßnahmen im Rahmen des Ermessens sprechen schließlich auch Tendenzen, Art. 103 Abs. 2 GG („ne bis in idem") über seinen Wortlaut hinaus als verfassungsrechtliche Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips mit der Folge zu verstehen, daß beim Nebeneinander von Strafrecht und Disziplinarrecht besonders zu prüfen ist, ob die eine Maßnahme die andere nicht überflüssig macht (BVerfGE 21 378; 27 180, 186 ff; 28 264, 277 ff; vgl. auch unten Rdn. 92). Zur Bedeutung des pflichtgemäßen Ermessens bei Personen, die berufsmäßig von der Meinungsfreiheit Gebrauch machen (Presseangehörige), s. oben Rdn. 74. IX. Wirksamkeit und Berechnung der Dauer des Berufsverbots 1. Wirksamkeit. Aufschub der Wirksamkeit. Das Berufsverbot wird mit der 80 Rechtskraft des Urteils wirksam (Absatz 4 S. 1). Tritt an die Stelle des Urteils ein Beschluß, z. B. nach § 349 Abs. 2 StPO, bestimmt sich der Rechtskrafteintritt nach § 34 a StPO, während es für Urteile auf die Verkündung bzw. den Beginn des ersten Tages nach Ablauf der Rechtsmittelfrist ankommt (vgl. Kleinknecht StPO 35 § 34 a Rdn. 1). Unter den besonderen Voraussetzungen des § 456 c Abs. 1 StPO kann das Gericht bei Erlaß des Urteils das Wirksamwerden des Berufsverbots, u. U. gegen Sicherheitsleistung oder unter anderen Bedingungen (dazu RG HRR 1937 Nr. 1678), für höchstens sechs Monate aufschieben, wobei diese Zeit dann gemäß § 456 c Abs. 4 auf die Verbotsfrist nicht angerechnet wird; dazu näher Schäfer in LöweRosenberg Erl. zu § 456 c. (Nicht zu verwechseln ist dieser Aufschub der Wirksamkeit durch das erkennende Gericht mit der Befugnis der Vollstreckungsbehörde, unter den Voraussetzungen des § 456 c Abs. 1 ein Berufsverbot für höchstens sechs Monate auszusetzen, § 456 c Abs. 2 ; vgl. auch dazu Schäfer aaO). 2. Nichtanrechnung behördlicher Verwahrung (Abs. 4 S. 3). In die Verbotsdauer 81 wird gemäß § 70 Abs. 4 S. 3 die Zeit nicht eingerechnet, in welcher der Täter auf behördliche Anordnung in einer Anstalt verwahrt worden ist; zur Interpretation dieser Klausel, die insbesondere auch bei der Führungsaufsicht (§ 68 c), nicht aber bei der Entziehung der Fahrerlaubnis gilt, s. näher § 68 c Rdn. 21 ff. (29)

§70

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

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3. Anrechnung eines vorläufigen Berufsverbots (Abs. 4 S. 2). Ist gegen den Täter ein vorläufiges Berufsverbot (§ 132 a StPO) angeordnet worden, ist dieses vorläufige Verbot gemäß Absatz 4 S. 2 bei Berechnung der im Urteil festgesetzten Verbotsfrist auf diese Frist anzurechnen, soweit es die Zeit nach dem letzten tatrichterlichen Urteil betrifft. Die Regelung entspricht §69 a Abs. 5 S. 2; auf die Erläuterungen von Rüth § 69 a Rdn. 15 ff kann verwiesen werden.

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X. Folgen des Berufsverbots, insbesondere nach Absatz 3. Die Folgen des Berufsverbots besteht in der Verwirkung der Befugnis, den Beruf oder das Gewerbe innerhalb der vom Gericht festgesetzten Zeit (Rdn. 59 ff) und innerhalb des festgelegten Umfangs (Rdn. 51 ff) auszuüben. Zur Vermeidung von Umgehungen durch Strohmänner bestimmt § 70 Abs. 3, daß der Täter die verbotene Tätigkeit auch nicht für einen anderen ausüben oder durch eine von seinen Weisungen abhängige Person für sich ausüben lassen darf. „Für eine anderen" bedeutet z. B., daß ein Handwerker oder Händler, dem die Ausübung seines Handwerks oder Handelsgewerbes verboten ist, einen oder seinen Betrieb auch nicht als Vertreter oder Geschäftsführer einer Gesellschaft betreiben darf, deren Unternehmensgegenstand ganz oder teilweise mit dem untersagten Handwerk oder Gewerbe übereinstimmt (DreherTröndle40 Rdn. 11). Das Verbot erstreckt sich bereits auf die Bestellung zum Geschäftsführer, so daß das Registergericht gegebenenfalls die Eintragung der Bestellung ablehnen muß (Dreher-Tröndle aaO, die freilich von „ablehnen kann" sprechen). Nicht verboten ist hingegen, daß ein selbständig Handelnder, also von den „Weisungen" des Betroffenen nicht „abhängiger" Dritter das Gewerbe betreibt und dessen Erträgnisse dem Betroffenen zuwendet (Dreher-Tröndle aaO; Horn SK Rdn. 11; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 24; Lang-Hinrichsen Voraufl. § 421 Rdn. 51; vgl. auch Maurach-Zipf AT 2 § 69 III 1). Ein Verstoß gegen das Berufsverbot ist nach § 145 c strafbar, und zwar auch bei demjenigen, der die verbotene Tätigkeit für den Betroffenen ausübt oder ausüben läßt; dazu im einzelnen Horstkotte Erl. zu § 145 c. Zur Eintragung des Berufsverbots sowie von Straftaten, die im Zusammenhang mit der Ausübung eines Gewerbes oder Betriebs begangen worden sind, s. § 30 Abs. 4 BZRG und zur Eintragung in das Gewerbezentralregister § 149 Abs. 2 Nr. 1 GewO.

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XI. Die Konkurrenz mit anderen Maßregeln beurteilt sich nach den Grundsätzen des § 72 ; s. dort insbesondere Rdn. 6 ff, Rdn. 28 f. XII. Zur Aussetzung s. § 70 a und zur Erledigung des Berufsverbots § 70 b Rdn. 16 ff.

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XIII. Verhältnis des § 70 zu außerstrafrechtlichen Maßnahmen 1. Überblick. Neben dem strafgerichtlichen Berufsverbot des § 70 bestehen zahlreiche bundes- und landesrechtliche Vorschriften, durch die zuständige Behörden die Ausübung von Berufen oder Gewerbebetrieben ganz oder teilweise untersagen, Betriebe schließen oder Approbationen und Befugnisse der verschiedensten Art entziehen können ; die Verstöße gegen entsprechende Anordnungen sind dabei zum guten Teil straf- oder bußgeldbewehrt (zum letzteren Göhler-Buddendiek-Lenzen Lexikon des Nebenstrafrechts, Stichworte „Berufsausübung", „Berufsverbot", (30)

Anordnung des Berufsverbots (Hanack)

§70

„Gewerbebetrieb", sowie den Überblick bei Horstkotte LK, § 145 c Rdn. 2). Bei Berufen, die einer Berufs-, Ehren- oder Disziplinargerichtsbarkeit unterliegen, kommt im übrigen noch die Möglichkeit der ehrengerichtlichen Ausschließung hinzu (Übersicht bei fPo//"-2?acAo/Verwaltungsrecht I I I 4 § 159 V), also insbesondere bei Rechtsanwälten (§§ 92 ff BRAO), bei Wirtschaftsprüfern und Steuerberatern (WirtschaftsprüferO v. 5.11.1975, SteuerberatungsG v. 4.11.1975), bei Ärzten, Zahnärzten, Tierärzten und Apothekern (wo Ausschließungen nach den landesrechtlichen Bestimmungen allerdings nur teilweise vorgesehen sind) sowie bei Architekten (wo nach den landesrechtlichen Architektengesetzen die ehrengerichtliche Ausschließung in Form einer Löschung der Eintragung in die Architektenliste in Betracht kommt). Einschlägige Vorschriften sind in nahezu allen Gesetzen enthalten, die sich mit den Voraussetzungen für die Zulassung und die Ausübung bestimmter Berufe befassen, ζ. B. der HandwerksO, den verschiedenen Gesetzen über die Heilberufe (von der BundesärzteO bis zum HebammenG, dem Gesetz über die Ausübung des Berufs der medizinisch-technischen Assistenten und dem Gesetz über die Ausübung der Berufe des Masseurs und Bademeisters und des Krankengymnasten). Ähnliches gilt für Gesetze im Bereich des Gewerberechts; hier finden sich neben der zentralen Vorschrift des § 35 GewO (dazu Rdn. 88) weitere einschlägige Vorschriften für Sonderfälle teils in der GewO selbst (z. B. §§ 51, 53, 53 a) oder aber in Spezialgesetzen für die einzelnen Gewerbezweige bzw. für bestimmte Tätigkeiten (ζ. B. dem GaststättenG); Hinweise dazu bei Sieg-Leifermann §35 Rdn. 30; Landmann-Rehmer § 35 Rdn. 2. 2. Grundsatz der Unabhängigkeit. Nach herrschender Rechtsprechung und Lehre 86 (oben Rdn. 48; vgl. auch im folg. Text) sind die Kompetenzen der Strafgerichte nach § 70 (bzw. § 42 1 a. F.) und die der Verwaltung sowie der Berufs- und Ehrengerichte grundsätzlich voneinander unabhängig, kann also jede dieser Instanzen ohne Rücksicht auf mögliche oder schon getroffene Maßnahmen der anderen tätig werden. Dieser Grundsatz gilt — vorbehaltlich der Beachtung im Rahmen des pflichtgemäßen Ermessens (Rdn. 79) — uneingeschränkt für das Verhältnis der Strafgerichte zu den verwaltungsrechtlichen und berufs- oder ehrengerichtlichen Eingriffsmöglichkeiten (Rdn. 87), während er im Verhältnis der Verwaltungsbehörden und Ehrengerichte zu strafrichterlichen Entscheidungen erhebliche Ausnahmen erleidet (unten Rdn. 88 0 und ζ. T. umstritten ist (unten Rdn. 90 ff). Begründet wird diese grundsätzliche Unabhängigkeit mit der prinzipiellen Eigenständigkeit des gesetzlichen Aufgabenbereichs der genannten Instanzen, insbesondere aber mit den unterschiedlichen Voraussetzungen, Zielsetzungen und vielfach auch Folgen des strafrechtlichen Berufsverbots gegenüber den verschiedenen verwaltungsrechtlichen Eingriffen und den berufs- oder ehrengerichtlichen Beschränkungen. So geht es beim Berufsverbot des § 70 um den Schutz der Allgemeinheit vor der weiteren strafrechtlichen Gefährlichkeit des Täters, bei den verwaltungsrechtlichen Eingriffsbefugnissen hingegen um die typischerweise doch etwas anders akzentuierte Zuverlässigkeit in Beruf oder Gewerbe bzw. um den Schutz vor gefährlichen oder unkorrekt geführten Betrieben, und bei den berufs- und ehrengerichtlichen Entscheidungen speziell um die „Reinhaltung" eines Berufsstandes. Der herrschenden Meinung ist wohl zuzustimmen. Der Gesetzgeber selbst hat sie bei der Strafrechtsreform noch einmal bestätigt; er hat es ausdrücklich abgelehnt oder doch für unmöglich gehalten, das Nebeneinander strafrechtlicher, verwal(31)

§70

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

tungsrechtlicher und ehrengerichtlicher Maßnahmen aufzulösen, insbesondere bestimmte Personengruppen vom Anwendungsbereich des § 70 auszunehmen (Prot. IV, 832 ff; V, 445; Bericht zum EGStGB, BT-Drucks. VII/1261 S. 8 f; zur Sonderregelung für Beamte vgl. oben Rdn. 32 f)· 87

3. Konsequenzen für das strafrechtliche Berufsverbot im einzelnen. Aus der geschilderten Rechtslage ergibt sich für die Anordnung eines strafrechtlichen Berufsverbots insbesondere: Die Anordnung wird nicht dadurch ausgeschlossen, daß ein berufs- oder gewerberechtliches Untersagungsverfahren möglich ist (BGH NJW 1975 1712 m. w. Nachw.; BGH bei Dallinger MDR 1952 530) oder sogar schon stattgefunden hat (RG HRR 1943 Nr. 73; BGH NJW 1975 2249 beim Ruhen einer Approbation gemäß § 6 Abs. 1 Nr. 1 BundesärzteO). Gleiches gilt für die Möglichkeit eines ehrengerichtlichen Verfahrens (BGH bei Dallinger MDR 1952 530), namentlich die Möglichkeit des Ausschlusses aus der Rechtsanwaltschaft (BGHSt. 28 84, 85 ; eingehend dazu Schmid ZRP 1975 79 in kritischer Auseinandersetzung mit Olischläger AnwaltsBl. 1973 321, 329 und dem Bericht über die Sondersitzung „Ehrengerichtsbarkeit" auf dem 37. Deutschen Anwaltstag, AnwBl. 1973 250). Das Strafgericht kann, wie bemerkt, den im Einzelfall unerfreulichen Konsequenzen der prinzipiellen Unabhängigkeit des strafrechtlichen Berufsverbots von verwaltungsrechtlichen und ehrengerichtlichen Maßnahmen nur im Rahmen seines pflichtgemäßen Ermessens Rechnung tragen (oben Rdn. 79, auch Rdn. 47 f)·

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4. Bindungen der Verwaltungsbehörden und Ehrengerichte an Entscheidungen nach § 70. Die Rechtslage ist hier wenig einheitlich und z. T. auch bestritten. Für wichtige Bereiche bestehen Bindungswirkungen an die Entscheidungen der Strafgerichte, für andere jedoch nicht. a) Bindung gemäß § 35 GewO. Nach § 35 Abs. 3 GewO darf die Verwaltungsbehörde (entsprechend wie in § 4 Abs. 3 StVG und § 15 b Abs. 3 StVZO bei Entziehung der Fahrerlaubnis) in einem Verfahren, das die Gewerbeuntersagung wegen Unzuverlässigkeit gemäß § 35 Abs. 1 GewO zum Gegenstand hat, zum Nachteil des Betroffenen nicht von der Feststellung des Sachverhalts und der Beurteilung der Schuldfrage abweichen, die in einem Strafverfahren einschließlich des gerichtlichen Bußgeldverfahrens getroffen worden sind. Nicht zum Nachteil des Betroffenen darf die Behörde aber auch von der strafgerichtlichen Beurteilung abweichen, ob der Täter bei weiterer Ausübung des Gewerbes erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird und ob zur Abwehr dieser Gefahren die Untersagung des Gewerbes angezeigt ist. Die Vorschrift hindert jedoch nach § 35 Abs. 3 S. 2 i. V. mit § 35 Abs. 1 S. 2 GewO nicht die Untersagung der Ausübung anderer oder gar aller Gewerbe, über deren Untersagung das Strafgericht nicht entschieden hat; und sie gilt nach §35 Abs. 8 GewO auch nicht, soweit für einzelne Gewerbe besondere Untersagungsoder Betriebsschließungsvorschriften bzw. Vorschriften über die Rücknahme oder den Widerruf wegen Unzuverlässigkeit bestehen. Zur näheren Auslegung des § 35 ist auf die einschlägigen Kommentare zur GewO zu verweisen (insbes. Fröhler-Kormann §35 Rdn. 83 ff; Landmann-Rehmer §35 Rdn. 18; Sieg-Leifermann §35 Rdn. 16 ff).

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b) Weitere gesetzliche Bindungen. In ähnlicher Weise sieht § 118 BRAO in der Regel und ganz allgemein eine Bindung der Ehrengerichte an die strafgerichtliche Würdigung von Tatsachen vor, die für die Entscheidung im ehrengerichtlichen Ver(32)

Anordnung des Berufsverbots (Hanack)

§70

fahren von Bedeutung sind (dazu eingehend Isele Bundesrechtsanwaltsordnung, 1976, Erl. zu §118). Vorschriften, die das Nebeneinander von Straf- und Disziplinarmaßnahmen betreffen, enthalten ferner — wenn auch nicht speziell auf Berufsverbote bezogen — z. B. das SteuerberatungsG (§ 92), die WirtschaftsprüferO (§ 83), die landesrechtlichen Regelungen über die Standesgerichtsbarkeit gegen Angehörige von Heilberufen. c) Allgemeine Bindung, insbesondere bei Approbationsentzug? Für andere Berei- 90 che fehlt es an Vorschriften über das Verhältnis des Berufsverbots zu verwaltungsrechtlichen Untersagungen oder Verboten. Das gilt z. B. f ü r die Entziehung der Approbation eines Arztes oder Zahnarztes, auf die § 35 Abs. 3 GewO (Rdn. 88) unstreitig nicht a n w e n d b a r ist, da die Heilberufe kein Gewerbe i. S. der Gewerbeordnung darstellen (BVerwGE 15 282; Eyermann JuS 1964 270). Zur Frage, ob ein strafgerichtliches Berufsverbot für den Widerruf der Approbation nicht dennoch Bedeutung habe, hat das BVerwG (aaO) in einer umstrittenen Entscheidung Stellung genommen. Es ging um den Fall eines Zahnarztes, dem das Strafgericht wegen sexuellen Mißbrauchs von Lehrmädchen gemäß § 42 1 a. F. die Ausbildung von Helferinnen für fünf Jahre untersagt hatte. Obwohl die Strafkammer ein weitergehendes Berufsverbot nicht für erforderlich hielt, n a h m die Verwaltungsbehörde die Bestallung zurück. Das BVerwG hob diesen Verwaltungsakt auf. Es meinte, in der neueren Gesetzgebung zeige sich in zunehmendem M a ß e die Tendenz, Divergenzen zwischen den Feststellungen rechtskräftiger gerichtlicher Entscheidungen u n d Maßnahmen der Verwaltungsbehörden zu vermeiden. Hinter dieser Tendenz stehe ein allgemeines Prinzip, das kraft seiner rechtsstaatlichen Natur auch in anderen geeigneten Fällen zu beachten sei; Art. 103 Abs. 2 G G („ne bis in idem") verkörpere über seinen Kernbereich hinaus das für jeden Rechtsstaat unabdingbare Prinzip der Rechtskraft, so daß der Betroffene nach einer vollständigen Würdigung des Sachverhaltes durch das Strafgericht darauf müsse vertrauen können, dem Interesse der Öffentlichkeit sei auch im Hinblick auf eine berufsrechtliche Maßregelung in vollem U m f a n g Genüge getan. Der Grundsatz „ne bis in idem" hindere zwar nicht die Durchführung eines neuen Verfahrens wegen derselben Handlung mit einem anderen Ziel als dem der Bestrafung, also z. B. die D u r c h f ü h r u n g eines Disziplinarverfahrens. Den Verwaltungsbehörden stehe die Befugnis zur Untersagung eines Berufs deshalb auch d a n n zu, wenn das Strafgericht dazu bereits Stellung genommen habe. Hierbei sei jedoch zu differenzieren : Sofern die nur begrenzt zulässige Maßregel des Berufsverbots den Sachverhalt berufsrechtlich nicht entsprechend den einschlägigen Anforderungen erschöpfe, also ein disziplinar- bzw. berufsrechtlicher „Überhang" verbleibe, bestehe die Handlungsfreiheit der Verwaltungsbehörde weiter. Habe aber, wie im konkreten Fall, das Strafgericht im Rahmen seiner Entscheidung alle Gesichtspunkte geprüft, die für eine standesrechtliche A h n d u n g zu beachten seien, und die maßgebenden berufspolitischen Erwägungen im Kern vorweggenommen, so habe es auch hinsichtlich der berufsrechtlichen Folgen eine Grenze gezogen. Diese müsse aus den genannten G r ü n d e n von der Verwaltungsbehörde respektiert werden und dürfe nur dann überschritten werden, wenn neue tatsächliche oder rechtliche Gesichtspunkte vorgebracht würden. Die Auffassung des BVerwG zeigt ein begrüßenswertes Bemühen, erscheint aber 91 dennoch bedenklich u n d in dieser Form kaum haltbar 1 9 . So hat Ule (DVB1. 1963 19

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Ausdrücklich ablehnend OVG Berlin JR 1965 477; Eyermann JuS 1964 269; Menger VerwArchiv 1964 87; Ule DVB1.1963 674; Lang-Hinrichsen Vorauf! § 42 1 Rdn. 60 u. Heinitz-Festschrift S. 495; abweichend wohl auch BGH NJW 1975 1712.

§70

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

674) die behauptete Tendenz, abweichende Entscheidungen zwischen Strafgerichten und Verwaltungsbehörden zu vermeiden, nicht feststellen können und das OVG Berlin (JR 1965 477) sogar aufgezeigt, daß der Gesetzgeber auf eine solche Tendenz in manchen neueren Gesetzen gerade verzichtet hat. Vor allem aber ist zu bedenken, daß das strafgerichtliche Berufsverbot gegenüber berufsregelnden Entscheidungen durch Verwaltungs- oder Ehrengerichte eben doch wesentliche Unterschiede enthält. Die Strafgerichte sind daher gar nicht berufen, nach § 70 (§ 42 1 a. F.) eine berufsregelnde Maßnahme i. S. der BundesärzteO oder ähnlicher Gesetze zu treffen; stellen sie entsprechende Erwägungen an, überschreiten sie ihre Kompetenzen, so daß ihre Ausführungen insoweit auch keine rechtliche (Bindungs-) Wirkung erzeugen können. Die Verwaltungsbehörde ausgerechnet und nur an die kompetenzüberschreitenden Ausführungen der Strafgerichte zu binden, wäre im übrigen ebenso befremdlich wie fragwürdig. 92

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Schließlich ist auch die Berufung des BVerwG auf den Grundsatz „ne bis in idem" in dieser Form problematisch. Denn auch wenn man mit dem BVerfG davon ausgeht, daß Art. 103 Abs. 2 GG über seinen strafrechtlichen Kern hinaus ein allgemeines verfassungsrechtliches Prinzip der Rechtsstaatlichkeit enthält (vgl. im einzelnen BVerfGE 21 378; 27 180, 189 ff; 28 264, 277 ff), so setzt die Berufung auf dieses Prinzip doch jedenfalls eine „Identität des Streitgegenstandes" voraus, an der es hier angesichts der verschiedenen Voraussetzungen und Zwecke des strafgerichtlichen Berufsverbots und des verwaltungsrechtlichen Approbationsentzugs gerade fehlt (eingehend OVG Berlin JR 1965 477, 478; Lang-Hinrichsen Voraufl. §421 Rdn. 61 und Heinitz-Festschrift S. 500; vgl. auch BVerfGE 27 180). Art. 103 Abs. 2 GG dürfte daher lediglich die verfassungsrechtliche Pflicht der Verwaltungsbehörden und Disziplinargerichte ergeben, nach vorangegangenem Strafverfahren besonders zu prüfen, ob zusätzliche Maßnahmen des Verwaltungs- oder Disziplinarrechts noch notwendig sind (vgl. BVerfG 27 170; 186 ff; 28 264, 277 ff).

XIV. Verfahrensrechtliches 1. Die Anordnung des Berufsverbots erfolgt — gegebenenfalls zugleich mit der Strafe — in der Urteilsformel. Sie hat auch die Dauer des Verbots zu umfassen und muß insbesondere (§ 260 Abs. 2 StPO; dazu näher oben Rdn. 53 ff) die verbotene Tätigkeit genau bezeichnen. Angesichts der Schwere des Eingriffs (Rdn. 3) stellt die höchstrichterliche Rechtsprechung an die Begründung eines Berufsverbots strenge Anforderungen (BGH VRS 15 115; 31188; BGH bei Dallinger MDR 1968 550; vgl. auch oben Rdn. 60, 63). 2. Eine Hinweispflicht gemäß § 265 Abs. 2 StPO besteht, wenn die Möglichkeit der Anordnung in der zugelassenen Anklage nicht genannt ist (BGHSt. 2 85; vgl. auch Rdn. 87 vor § 61). 3. Ein Fall notwendiger Verteidigung ist schon gegeben, wenn das Verfahren zu einem Berufsverbot führen kann (§ 140 Abs. 1 Nr. 3 StPO; dazu RGSt. 68 397).

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4. Ob Rechtsmittel auf die Anordnung oder Ablehnung des Berufsverbots beschränkt werden können, ist sehr umstritten (vgl. auch Rdn. 89 vor § 61). Eine Trennung von der Schuldfrage dürfte im allgemeinen möglich sein (BayObLGSt. 1954 164 = NJW 1955 353; Meyer i η Löwe-Rosenberg23 § 344 Rdn. 62; a. A. Eb. Schmidt Teil II, § 318 Rdn. 40). Die Trennbarkeit von der Straffrage bejahen u. a. (34)

Aussetzung des Berufsverbots (Hanack)

§70 a

BGH NJW 1975 2249; BGH bei Dallinger MDR 1976 15; OLG Hamm NJW 1957 1773 und verneinen u. a. RGSt. 74 54 und BayObLG aaO, während die Meinungen im Schrifttum weit auseinandergehen ; vgl. im einzelnen Meyer aaO m. w. Nachw. Richtig erscheint es, Trennbarkeit insoweit nur ausnahmsweise zu bejahen, wenn sich nämlich jede Verbindung mit der Straffrage (dazu auch Rdn. 16 vor § 61) im Einzelfall ausschließen läßt. 5. Zur selbständigen Anordnung des Berufsverbots bei Schuld- oder Verhandlungsunfähigkeit vgl. § 72 i. V. mit §§ 413 ff StPO. 6. Zur prozessualen Wirksamkeit der Anordnung eines Berufsverbots sowie zu den Möglichkeiten des Aufschubs und der Aussetzung gemäß § 456 c StPO s. oben Rdn. 80. 7. Ein vorläufiges Berufsverbot kann unter den Voraussetzungen des § 132 a StPO schon gegen den Beschuldigten angeordnet werden (dazu BGHSt. 28 84). 8. Mitteilungspflichten über angeordnete Berufsverbote bestehen nach Nr. 13 Abs. 3, Nr. 40 Abs. 1 der bundeseinheitlichen Anordnung über Mitteilungen in Strafsachen. XV. Übergangsrecht. Für Taten, die vor dem 1.1. 1975 begangen worden sind, 95 darf ein Berufsverbot gemäß Art. 305 EGStGB nur neben Strafe und nur dann angeordnet werden, wenn außer den Voraussetzungen des § 70 auch die Voraussetzungen der Untersagung der Berufsausübung oder der Betriebsführung nach bisherigem Recht vorliegen ; ein lebenslanges Berufsverbot ist unzulässig.

§70 a Aussetzung des Berufsverbots (1) Ergibt sich nach Anordnung des Berufsverbots Grund zu der Annahme, daO die Gefahr, der Täter werde erhebliche rechtswidrige Taten der in § 70 Abs. 1 bezeichneten Art begehen, nicht mehr besteht, so kann das Gericht das Verbot zur Bewährung aussetzen. (2) die Anordnung ist frühestens zulässig, wenn das Verbot ein Jahr gedauert hat. In die Frist wird im Rahmen des § 70 Abs. 4 Satz 2 die Zeit eines vorläufigen Berufsverbots eingerechnet. Die Zeit, in welcher der Täter auf behördliche Anordnung in einer Anstalt verwahrt worden ist, wird nicht eingerechnet. (3) Wird das Berufsverbot zur Bewährung ausgesetzt, so gelten die §§ 56 a und 56 c bis 56 e entsprechend. Die Bewährungszeit verlängert sich jedoch um die Zeit, in der eine Freiheitsstrafe oder eine freiheitsentziehende Maßregel vollzogen wird, die gegen den Verurteilten wegen der Tat verhängt oder angeordnet ist. Entstehungsgeschichte Die Vorschrift ist durch das 2. StrRG eingefügt worden. Sie geht im wesentlichen auf die §§ 106, 107 Abs. 1 E 1962 zurück (dazu Begr. S. 237 ff) und ersetzt § 421 Abs. 4, der eine sehr undifferenzierte Regelung der Aussetzung enthielt. Vgl. im übrigen bei § 70 „Entstehungsgeschichte". (35)

§70 a 1

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

I. Voraussetzungen der Aussetzung (Absatz 1,2) 1. Grund zu der Annahme muß bestehen, daß die für die Anordnung des Berufsverbots vorausgesetzte Gefahr erheblicher rechtswidriger Taten nicht mehr besteht (Absatz 1). Das Gesetz verlangt damit hinsichtlich der günstigen Prognose mehr, als es in § 67 d Abs. 2 für die Aussetzung einer freiheitsentziehenden Maßregel fordert (Sch.-Schröder-Stree Rdn. 3). Erforderlich ist, daß sich die im Urteilszeitpunkt negative Prognose (dazu § 70 Rdn. 34 ff) in eine positive verwandelt hat (Drehertröndle40 Rdn. 2). Daß „verantwortet werden kann zu erproben", ob der Täter keine Straftaten gemäß § 70 Abs. 1 mehr begeht (vgl. § 67 d Abs. 2), genügt also nicht. Das Gesetz hat ein solches Risiko erkennbar bewußt nicht zugelassen (Sch.Schröder-Stree aaO). Vorausgesetzt wird vielmehr, daß der Richter auf Grund konkreter Umstände überzeugt ist, der Täter werde in Beruf oder Gewerbe keine erheblichen Rechtsverletzungen mehr begehen (Horn SK Rdn. 4; vgl. auch LK § 68 e Rdn. 4 f m. w. Einzelheiten). Die allgemeine Erwartung, der Täter werde keine Taten nach § 70 Abs. 1 mehr begehen, reicht dafür nicht aus (Sch.-Schröder-Stree aaO im Anschluß an die Begründung zum E 1962 S. 237), falls sie nicht auf konkretem „Grund zu der Annahme" beruht.

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Der Grundsatz in dubio pro reo gilt, anders als bei der sog. Anordnungsprognose, nach Wortlaut und Zweck nicht, so daß ein non liquet zu Lasten des Verurteilten geht (vgl. Rdn. 51 vor § 61 ; ebenso Horn SK Rdn. 4).

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Nicht verlangt wird jedoch, daß eine Rückfallgefahr überhaupt ausgeschlossen ist. Vielmehr kommt es allein auf diejenige Gefahr an, die mit der Anordnung des Berufsverbots bekämpft werden sollte, also die Gefahr berufs- oder gewerbespezifischer Delikte i. S. des § 70 Abs. 1 (dort Rdn. 11 ff) sowie die Gefahr „erheblicher" Delikte (§ 70 Rdn. 38) dieser Art (Horn aaO; vgl. auch Dreher-Tröndle40 Rdn. 2). Drohen vom Täter nur noch nicht-spezifische oder unerheblich-spezifische Delikte, steht das einer Aussetzung nicht entgegen. Dies ergibt sich aus dem Wortlaut des § 70 a Abs. 1 („erhebliche . . . Taten der in § 70 Abs. 1 bezeichneten Art") und entspricht seinem Sinn : Das Berufsverbot des § 70 ist auf die Abwehr spezieller und erheblicher Gefahren bezogen; es darf daher, zumal angesichts der Schwere des Eingriffs (s. § 70 Rdn. 3), nur vollzogen werden, solange diese Gefahren bestehen, schon weil nach den Grundsätzen des § 72 für die Abwehr anderer Gefahren vom erkennenden Gericht gegebenenfalls andere Maßregeln einzusetzen sind.

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Ausgesetzt werden kann auch das für immer angeordnete Berufsverbot des § 70 Abs. 1 S. 2 (Dreher-Tröndle aaO; Prot. V, 2333).

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Die Gründe, die die Annahme nicht mehr bestehender Gefährlichkeit ergeben können, sind vielgestaltig. Eine besondere Rolle spielen das Nachholen beruflicher Ausbildungen oder Fertigkeiten (Dreher-Tröndle 40 Rdn. 2; Lackner13 Anm. 2; E 1962 S. 237; vgl. schon §70 Rdn. 42), eine erwünschte Umschulung (Horn SK Rdn. 4), die Beseitigung spezieller kriminogener Anreize, die resozialisierenden Wirkungen einer verbüßten Freiheitsstrafe (Lackner aaO) oder auch einer zur Bewährung ausgesetzten Strafe. Sehr zu Recht weist Horn (aaO) darauf hin, daß die Gefährlichkeit im Einzelfall auch dann entfallen kann, wenn man dem Verurteilten gemäß Absatz 3 bestimmte Weisungen erteilt oder/und ihn der Aufsicht eines Bewährungshelfers unterstellt. Denn die Möglichkeit, solche Anordnungen zu treffen, hätte keinen rechten Sinn und würde ihre spezifisch stützende Funktion verlieren, wenn es auf sie eigentlich gar nicht mehr ankäme, weil ohnedies schon Grund zu der Annahme besteht, daß der Täter nicht mehr straffällig wird. (36)

Aussetzung des Berufsverbots (Hanack)

§70 a

Zur Frage, ob bei der Beurteilung auch Umstände herangezogen werden dürfen, die schon vor der Anordnung des Berufsverbots vorhanden waren, vgl. im folg. Text. 2. Nur nach Anordnung des Berufsverbots darf die Aussetzung erfolgen. Eine 6 Aussetzung zugleich mit der Anordnung ist also, anders als bei § 67 b, nicht zulässig, wie auch Absatz 2 Satz 1 deutlich macht. Hingegen sagt das Gesetz nicht, daß die Aussetzung nur auf nachträglich entstandene, nicht aber auch auf nachträglich bekannt gewordene Umstände gestützt werden darf. Mit Sch.-Schröder-Stree Rdn. 4 wird man wohl annehmen dürfen, daß auch nachträglich bekannt gewordene Umstände Berücksichtigung finden können, obwohl das in gewissem Sinne eine Beeinträchtigung der Rechtskraft bedeutet. Denn es erscheint im Einzelfall durchaus möglich, daß sich eine Änderung der Prognose gerade aus dem Zusammenwirken neuer Umstände mit solchen ergibt, die schon früher vorhanden waren, damals aber vom erkennenden Gericht nicht herangezogen wurden oder herangezogen zu werden brauchten. Darauf zu achten ist freilich, daß eine andere Beurteilung schon gewürdigter unveränderter Umstände für sich allein die Aussetzung nicht rechtfertigt (Sch.-Schröder-Stree aaO); denn die Aussetzung gehört zum Vollstreckungsverfahren (unten Rdn. 20), in dem das zuständige Gericht grundsätzlich nicht befugt ist, die Ansicht des erkennenden Gerichts zu korrigieren (vgl. auch LK § 68 d Rdn. 5 zur ähnlichen Problematik bei den §§ 56 e, 68 d). 3. Pflichtgemäßes Ermessen. Nach dem Wortlaut des Gesetzes („kann") ist die 7 Aussetzung, wie bei § 42 1 Abs. 4 a. F., in das pflichtgemäße Ermessen des Gerichts gestellt. Es ist jedoch nicht erkennbar (und wird auch in den veröffentlichten Materialien zur Strafrechtsreform nicht deutlich), was das Gericht ermächtigen könnte, von einer Aussetzung abzusehen, wenn Grund zu der Annahme besteht, daß die vorausgesetzte weitere Gefährlichkeit nicht mehr besteht. Insbesondere ist es nicht möglich, bei Ausübung des Ermessens Umstände zu berücksichtigen, die (s. Rdn. 3) eine fortbestehende Gefährlichkeit des Täters bezüglich solcher Taten betreffen, die von § 70 Abs. 1 nicht erfaßt werden ; denn dies ist mit dem spezifischen Zweck und Charakter der Maßregel unvereinbar (Rdn. 3). Mit der ganz herrschenden Meinung zum heutigen und früheren Recht ist darum anzunehmen, daß die Aussetzung grundsätzlich geboten ist, wenn die genannten Voraussetzungen (Rdn. 1) vorliegen (Dreher-Tröndle40 Rdn. 3; Horn SK Rdn. 6; Lackner13 Anm. 3; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 5; Lang-Hinrichsen Voraufl. § 421 Rdn. 5). 4. Zeitliche Voraussetzungen der Aussetzung. Problematisch erscheint, daß das 8 Gesetz, wie schon bei § 421 a. F., die Aussetzung frühestens zuläßt, wenn das Verbot ein Jahr gedauert hat. Die Begründung zum E 1962 (S. 238) rechtfertigt dies damit, daß gegen den Täter häufig nur Geldstrafe oder nur eine kurze bzw. zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe verhängt werde, so daß sich das Verbot, das mit der Rechtskraft des Urteils wirksam wird (§ 70 Rdn. 80), sofort praktisch auswirke, dann aber auch „wenigstens ein Jahr wirksam bleiben (soll), um die von dem Täter ausgehende Gefahr mindestens für eine gewisse Zeit mit Sicherheit abzuwehren". Ganz unbefriedigend ist diese Begründung, weil die Gegebenheiten, insbesondere nach längerem Freiheitsentzug, auch anders liegen können, der Täter also unter Umständen ohne zureichenden Grund oder eventuell sogar in einer seiner Resozialisierung abträglichen Weise vom erlernten Beruf usw. ferngehalten wird (37)

§70 a

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

(Sch.-Schröder-Stree Rdn. 1). Zu Recht nehmen Sch.-Schröder-Stree (aaO) daher an, daß der Gesetzgeber nach dem Wegfall des Subsidiaritätsprinzips bei Anordnung der Maßregel, also dem Wegfall der Pflicht, auf die Gefährlichkeit im Zeitpunkt der Entlassung aus der Haft abzustellen (vgl. § 70 Rdn. 45 sowie Rdn. 58 ff vor § 61), dem Subsidiaritätsprinzip jedenfalls durch die Möglichkeit der Aussetzung ohne Rücksicht auf eine Mindestfrist hätte Rechnung tragen müssen; dies gilt insbesondere, weil (oben Rdn. 5) der weiteren Gefährlichkeit u. U. schon vor Ablauf der Jahresfrist gerade durch Einwirkungen im Rahmen der Aussetzung hinreichend begegnet werden kann. Vgl. auch § 70 Rdn. 46. 9

Zuzugestehen ist der Gesetzesregelung allerdings, daß auch dann, wenn vor Ablauf der Jahresfrist „Grund für die Annahme" eines Wandels in der Prognose besteht, eine entsprechende „Sicherheit" in der Regel noch nicht gegeben ist und nach dem Gesetz auch nicht gegeben zu sein braucht, so daß die vorsorglich eingebaute Mindestfrist, die ja immerhin an eine einmal vorhanden gewesene Gefährlichkeit anknüpft, sicher noch nicht generell als verfassungswidrig gelten kann, falls der „Grund für die Annahme" schon vor Ablauf der Jahresfrist sichtbar wird. Wohl aber enthält die Regelung beim Charakter des Berufsverbots als schuldunabhängiger Maßregel zur Verbrechensverhütung (s. § 70 Rdn. 2 sowie Rdn. 28 f vor § 61) dann eine verfassungswidrige Beschränkung von Grundrechten und einen Verstoß gegen das Übermaßverbot, wenn sich bereits vor Ablauf der Jahresfrist eindeutig ergibt, daß die früher bestehende Gefahr weggefallen ist. Solche Fälle werden selten sein, sind aber immerhin nicht ausgeschlossen.

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Nicht eingerechnet in die Jahresfrist wird nach Absatz 2 Satz 3 auch hier die Zeit, in welcher der Täter auf behördliche Anordnung in einer Anstalt verwahrt worden ist. Zur näheren Auslegung dieser Bestimmung, die sich auch bei § 70 sowie an anderen Stellen des Gesetzes findet (§ 48 Abs. 4, § 65 Abs. 4, § 68 c Abs. 2, § 70 Abs. 4), vgl. z. B. LK § 68 c Rdn. 21 ff. Die Zeit, in der sich der Täter auf Grund einer Strafaussetzung nach § 56 oder § 57 auf freiem Fuß befand, wird hingegen auch dann angerechnet, wenn die Strafaussetzung später widerrufen wird (OLG Hamburg NJW 1966 1183 und NJW 1956 921 zu § 421 a. F.).

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Andererseits ist, wie bei §70 Abs. 4, die Zeit eines vorläufigen Berufsverbots (§ 132 a StPO) nach § 70 a Abs. 2 S. 2 in die Jahresfrist einzurechnen, soweit sie die Zeit nach Verkündung des letzten tatrichterlichen Urteils betrifft und sich der Täter während der Zeit des vorläufigen Verbots auf freiem Fuß befand. Die weitergehende Anrechnung eines vorläufigen Berufsverbots, insbesondere also für die Zeit bis zum letzten tatrichterlichen Urteil, ist danach auch hier ausgeschlossen (Sch.Schröder-Stree Rdn. 6). 12 Ist das Berufsverbot überhaupt nur für die Dauer eines Jahres angeordnet worden, kommt eine Aussetzung (von der Rdn. 8 f behandelten Problematik abgesehen) nicht in Betracht, weil die Maßregel mit Ablauf der Jahresfrist erledigt ist (Horn SK Rdn. 3). II. Folgen der Aussetzung (Absatz 3) 13 1. Allgemeines. Da das Berufsverbot nach der Aussetzung nicht wirksam ist, dürfte die Aussetzung rechtlich als seine bedingte Aufhebung zu verstehen sein (Horn SK Rdn. 2), obwohl der Verurteilte während der Aussetzung „unter Bewährung" steht (anders Begr. ζ. E 1962 S. 238, wo von „Auflockerung in Form der Aussetzung" die Rede ist). Während der Aussetzung ist daher § 145 c nicht anwendbar (38)

Aussetzung des Berufsverbots (Hanack)

§70 a

(Horstkotte LK, § 145 c Rdn. 6; Horn aaO). Zum Widerruf der Aussetzung vgl. § 70 b und zur Erledigung des Berufsverbots nach erfolgreicher Bewährung dort Rdn. 16 ff. 2. Entsprechende Anwendung der §§ 56 a, 56 c bis 56 e. Bei Anordnung der Aus- 14 setzung sind gemäß § 70 a Abs. 3 die Vorschriften über die Ausgestaltung der Strafaussetzung zur Bewährung entsprechend anwendbar; auf ihre Erl. in diesem Kommentar (Ruß) im einzelnen wird verwiesen. Ausdrücklich ausgenommen ist die Vorschrift des § 56 b über Auflagen, die wegen des schuldindifferenten Charakters der Maßregel hier nicht paßt (E 1962 S. 238; Prot. V, 447). Die entsprechende Anwendung bedeutet folgendes. a) Bewährungszeit. Das Gericht muß eine Bewährungszeit festsetzen, die zwi- 15 sehen zwei und fünf Jahren liegt, die es innerhalb dieser Mindest- und Höchstfrist aber auch nachträglich verkürzen oder verlängern darf (§ 56 a). Doch verlängert sich die Dauer der Bewährungszeit gemäß § 70 a Abs. 3 S. 2 um die Zeit, in der gegen den Verurteilten eine Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehende Maßregel vollzogen wird, die gegen ihn „wegen der Tat" (d. h. : der Anlaßtat nach § 70) verhängt bzw. angeordnet worden ist. Da die Zeit eines Freiheitsentzugs schon für die Jahresfrist des Absatz 2 von Bedeutung ist, vor der eine Aussetzung nicht angeordnet werden darf, trifft die Verlängerung praktisch nur solche Fälle, in denen es durch den Widerruf einer Strafaussetzung (§ 56 f), einer Aussetzung des Strafrests (§§ 57 Abs. 3, 56 f) oder einer freiheitsentziehenden Maßregel (§ 67 g) während der Bewährungszeit für das Berufsverbot zu einem Freiheitsentzug kommt. Die genannte Zeit ist dann zwar Bewährungszeit, verkürzt aber nicht die Zeit, die sich der Täter in Freiheit bewähren soll (Dreher-Tröndle 40 Rdn. 5 im Anschluß an die Begr. ζ. E 1962 S. 238), was für die Frage eines Widerrufs bedeutsam sein kann (E 1962 aaO). Durch die Strafverbüßung oder Unterbringung wegen einer anderen Tat wird 16 der Ablauf der Bewährungsfrist als solcher nicht berührt (Sch.-Schröder-Stree Rdn. 7). Freilich kann die andere Tat einen Widerrufsgrund gemäß § 70 b Abs. 1 Nr. 1 darstellen ; ist das, etwa weil der Bezug zu Beruf oder Gewerbe des Täters fehlt, nicht der Fall, wird sich im Hinblick auf die Strafverbüßung oder Unterbringung u. U. eine Verlängerung der Bewährungsfrist für die Aussetzung des Berufsverbots empfehlen (Sch.-Schröder-Stree aaO). Die Bewährungsfrist des § 70 a wird unabhängig von einer Bewährungszeit nach 17 § 56, § 57 oder §§ 67 d Abs. 2 S. 2, 68 c festgesetzt, so daß die verschiedenen Bewährungsfristen auch einem verschiedenen Zeitablauf unterliegen können (Horn SK Rdn. 7). Der Widerruf einer Strafaussetzung oder einer Aussetzung des Strafrests zieht auch nicht automatisch den Widerruf der Aussetzung gemäß § 70 b nach sich (Horn aaO), wie sich mittelbar schon aus Absatz 3 Satz 2 ergibt. b) Weisungen, Bewährungshilfe. Das Gericht kann zugleich mit der Aussetzung 18 Weisungen gemäß § 56 c erteilen, muß dies aber nicht (Horn SK Rdn. 9). Dabei ist auch § 56 c Abs. 4 (Zusagen des Verurteilten für seine künftige Lebensführung) zu beachten. Möglich ist weiter die Unterstellung unter einen Bewährungshelfer (§ 56 d), wobei aber die Regel des § 56 d Abs. 2 hier nicht paßt. Entscheidungen der genannten Art kann das Gericht entsprechend § 56 e auch nachträglich treffen, ändern oder anordnen. (39)

§ 70 b

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

Weisungen und Bewährungshilfe sind aber nur zulässig, soweit sie auf den speziellen Zweck des § 70 bezogen sind (Horn SK Rdn. 9), sei es gegenüber den Anfechtungen, die die Wiederaufnahme des alten Berufs oder Gewerbes mit sich bringt, sei es gegenüber den Gefahren einer Rückkehr in die alte Tätigkeit im Falle eines Wechsels von Beruf oder Gewerbe (Horn aaO). Denn wenn die Anordnung des Berufsverbots nur auf die Abwehr berufs- oder gewerbespezifischer Gefährdungen beschränkt ist (vgl. § 70 Rdn. 11 ff, 37) und die Aussetzung dem zu entsprechen hat (oben Rdn. 3), kann für die Gestaltung der Aussetzung nichts anderes gelten. Steht der Täter zugleich unter Führungsaufsicht, gilt § 68 e. 19

III. Priifungspflichten und -fristen. Das Gesetz hat, anders als bei den freiheitsentziehenden Maßregeln (§ 67 e Abs. 1, 2), eine Pflicht des Gerichts, von Amts wegen innerhalb bestimmter Fristen zu prüfen, ob eine Aussetzung des Berufsverbots in Betracht kommt, nicht festgelegt. Ähnlich wie bei der Führungsaufsicht (vgl. § 68 e Rdn. 26 f) besteht jedoch auch hier auf Grund der Auswirkungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes eine Amtspflicht des Gerichts, laufend darauf zu achten, ob eine Aussetzung angezeigt ist (Horn SK Rdn. 5; wohl auch Dreher-Tröndle40 Rdn. 4). Entgegen Horn (aaO) lassen sich dabei die in § 67e Abs. 2 festgelegten Prüfungsfristen nicht einfach analog anwenden (sechs Monate bei einem befristeten, zwei Jahre bei einem unbefristeten Berufsverbot). Auch die Festlegung einer Frist von höchstens sechs Monaten, vor deren Ablauf ein (erneuter) Antrag auf Aussetzung unzulässig ist (vgl. § 67 e Abs. 3 S. 2, § 68 e Abs. 2), ist beim Berufsverbot nicht vorgesehen. Man wird die Festlegung einer solchen Frist, entgegen Horn (aaO), darum nur als Hinweis des Gerichts auf die Aussichtslosigkeit eines früheren Antrags verstehen dürfen, ihr die strikten Konsequenzen der Unzulässigkeit eines vorher gestellten Antrags aber nicht beimessen können.

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IV. Zuständigkeit und Verfahren. Zuständig für die Aussetzung ist das Gericht erster Instanz, das die Sache aber auch an das Amtsgericht des Wohnorts oder des gewöhnlichen Aufenthaltsortes abgeben kann (§ 463 Abs. 5 i. V. mit §§ 462, 462 a Abs. 2 StPO). Das Verfahren richtet sich gemäß § 463 Abs. 5 nach den Regeln des § 462 StPO.

§ 70 b Widerruf der Aussetzung und Erledigung des Berufsverbots (1) Das Gericht widerruft die Aussetzung eines Berufsverbots, wenn der Verurteilte 1. während der Bewährungszeit unter Mißbrauch seines Berufs oder Gewerbes oder unter grober Verletzung der mit ihnen verbundenen Pflichten eine rechtswidrige Tat begeht, 2. gegen eine Weisung gröblich oder beharrlich verstößt oder 3. sich der Aufsicht und Leitung des Bewährungshelfers beharrlich entzieht und sich daraus ergibt, daß der Zweck des Berufsverbots dessen weitere Anwendung erfordert. (2) Das Gericht widerruft die Aussetzung des Berufsverbots auch dann, wenn Umstände, die ihm während der Bewährungszeit bekannt werden und zur Versagung der Aussetzung geführt hätten, zeigen, daß der Zweck der Maßregel die weitere Anwendung des Berufsverbots erfordert. (40)

Widerruf der Aussetzung und Erledigung des Berufsverbots (Hanack)

§ 70 b

(3) Die Zeit der Aussetzung des Berufsverbots wird in die Verbotsfrist nicht eingerechnet. (4) Leistungen, die der Verurteilte zur Erfüllung von Weisungen oder Zusagen erbracht hat, werden nicht erstattet. (5) Nach Ablauf der Bewährungszeit erklärt das Gericht das Berufsverbot für erledigt. Entstehungsgeschichte Die Vorschrift ist durch das 2. StrRG mit einer Änderung des Absatz 4 durch Art. 18 Nr. 36 EGStGB eingeführt worden. Sie geht, wie § 70 a, wesentlich auf den E 1962 zurück (§ 108, dazu Begr. S. 239), hat die Konkretisierung der Widerrufsgründe nach Absatz 1 aber erst im Sonderausschuß erfahren (Prot. V, 790 ff). Bis zur Strafrechtsreform galt § 42 1 Abs. 4 S. 3, der nur eine ganz pauschale Regelung des Widerrufs enthielt. Vgl. im übrigen bei § 70 „Entstehungsgeschichte".

I. Voraussetzungen des Widerrufs (Absatz 1,2) 1. Allgemeines. Da das Berufsverbot mit der Aussetzung bedingt aufgehoben ist 1 (s. § 70 a Rdn. 13), kann man (mit Horn SK Rdn. 2) den Widerruf der Sache nach als Neuanordnung des Berufsverbots charakterisieren, wenn auch (vgl. im folg. Text) auf der Grundlage der vom erkennenden Gericht getroffenen Entscheidung über Art und Dauer des Verbots. Daher müssen, wie der Gesetzeswortlaut vielleicht nicht deutlich genug erkennen läßt, bei der Schwere des Eingriffs, den das Berufsverbot regelmäßig bedeutet (§ 70 Rdn. 3), die Gründe des Widerrufs auf Grund einer Gesamtwürdigung i. S. des § 70 Abs. 1 eindeutig ergeben, daß vom Täter — doch oder wieder — weitere Straftaten i. S. des § 70 Abs. 1 (dort Rdn. 34 ff) drohen. Die ungünstige Prognose muß also den gleichen Inhalt und des gleiche Gewicht aufweisen wie die Prognose zur Zeit der Anordnung des Verbots (Horn aaO; vgl. auch Dreher-Tröndle40 Rdn. 4; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 3,4, 5). Hingegen folgt, entgegen Horn (aaO und Rdn. 7), weder aus dem geschilderten 2 Charakter des Widerrufs noch aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz des § 62, daß das Gericht bei der „Neuanordnung" gemäß § 70 b ein zunächst für immer angeordnetes Berufsverbot nunmehr als zeitlich befristetes Verbot verhängen darf, wenn die jetzige Prognose ergibt, daß ein befristetes Verbot zur Abwehr der vom Täter drohenden Gefahr nunmehr ausreicht. Denn mag sich der Widerruf in der Sache auch als erneute Anordnung des Berufsverbots darstellen : Er bleibt dennoch auf die Korrektur einer unberechtigten Aussetzung bezogen, und zwar auf dem Hintergrund der nach einer Hauptverhandlung getroffenen Grundentscheidung des erkennenden Gerichts; diese Entscheidung im Vollstreckungsverfahren als solche zu modifizieren, ist, zumal bei der Art dieses Verfahrens (Beschlußverfahren ohne mündliche Verhandlung, vgl. §§ 463 Abs. 5, 462 StPO) nach allgemeinen Grundsätzen nicht zulässig. Härten lassen sich gegebenenfalls durch eine spätere Wiederholung der Aussetzung abfangen. Im übrigen erscheint zweifelhaft, ob die von Horn erörterte Situation überhaupt praktisch werden kann, weil die Anordnung eines dauernden Berufsverbots schwerste oder chronische Kriminalität voraussetzt (§ 70 Rdn. 63), so daß, wenn bei einem solchen Täter der Widerruf einer Aussetzung erforderlich ist, mindestens in der Regel die Vermutung unbestimmt langer weiterer Gefährlichkeit bestehen dürfte. (41)

§ 70 b

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

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2. Zeitliche Voraussetzungen. Zulässig ist ein Widerruf nur, wenn überhaupt ein rechtskräftiger Aussetzungsbeschluß gemäß § 462 StPO vorliegt (Dreher-Tröndle 40 Rdn. 3; Lackner'3 Anm. 2). Bei den Widerrufsgründen des Absatz 1 muß es sich überdies um Gründe handeln, die während der Aussetzung, also wiederum nach ihrer Rechtskraft, eingetreten sind, während Absatz 2 ausnahmsweise (s. unten Rdn. 8) auch Widerrufsgründe erfaßt, die schon vorher entstanden sind. Zum spätesten Zeitpunkt eines zulässigen Widerrufs s. unten Rdn. 21.

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3. Die einzelnen Widerrufsgründe sind in § 70 b Abs. 1 und 2, anders noch als in § 108 E 1962, erschöpfend aufgezählt. Sie sind den Widerrufsgründen bei Aussetzung einer freiheitsentziehenden Maßregel gemäß § 67 g nachgebildet und ähneln in manchem den Bestimmungen über den Widerruf der Strafaussetzung nach § 56 f. Für die generelle Auslegung kann weitgehend auf die Interpretation der Merkmale bei § 67 g zurückgegriffen werden (dazu Horstkotte LK, Erl. zu § 67 g), jedoch unter Beachtung der Besonderheiten des Berufsverbots und seiner Aussetzung gegenüber den Gegebenheiten bei den freiheitsentziehenden Maßregeln. Im Überblick gilt danach für die einzelnen Widerrufsgründe des § 70 b insbesondere folgendes.

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a) Begehung neuer Taten (Abs. 1 Nr. 1). Daß der Täter ihretwegen verurteilt oder nur wegen erwiesener oder nicht auszuschließender Schuldunfähigkeit nicht verurteilt ist, wird, anders als bei § 70, nicht vorausgesetzt; es genügt, wie bei § 67 g und § 56 f, die Tatbegehung, von der das Gericht überzeugt sein muß (Sch.-SchröderStree Rdn. 3). Verlangt wird jedoch, daß die neue Tat „während der Bewährungszeit" begangen worden ist. Damit ist die Bewährungszeit des §70 a gemeint; die u. U. abweichenden längeren Bewährungs- oder Aufsichtszeiten einer Strafaussetzung gemäß §§ 56, 57 oder nach Aussetzung einer freiheitsentziehenden Maßregel gemäß §§ 67 b bis 67 d sind daher ohne Belang. Es muß sich um eine rechtswidrige neue Tat handeln, so daß also eine Ordnungswidrigkeit nicht reicht (§ 11 Abs. 1 Nr. 5). Daß die Tat auch schuldhaft begangen ist, verlangt das Gesetz nicht; da es aber für die Anlaßtat des § 70 schuldhaftes Verhalten fordert, soweit es nicht um die Schuldunfähigkeit nach § 20 geht, wird man auch hier keine geringeren Anforderungen stellen dürfen; denn es wäre widersinnig, beim Widerruf eine Tat ausreichen zu lassen, die zur Anordnung eines Berufsverbots nicht geeignet ist, ganz abgesehen davon, daß das Vorliegen eines Entschuldigungsgrundes in der Regel die weitere Gefährlichkeit des Täters nicht bestätigt. Auch reichen, entsprechend dem speziellen Zweck der Maßregel, nur Taten, die spezifisch berufs- oder gewerbebezogen i. S. des § 70 sind (dort Rdn. 11 ff; Lackner13 Anm. 1 ; vgl. auch Sch.-SchröderStree Rdn. 3; Prot. V, 791). Das Gesetz sagt nicht, daß es sich um eine „erhebliche" neue Tat handeln muß. Ähnlich wie bei der Anlaßtat des § 70 (dort Rdn. 8 f) ist eine solche Erheblichkeit aber auch hier in der Regel zu fordern. Denn die neue Tat muß deutlich machen, daß vom Täter auch weiterhin noch erhebliche Taten drohen; eine geringfügige Tat reicht dafür jedenfalls dann nicht, wenn das Gericht aus anderen Anzeichen die Überzeugung gewinnt, daß die Aussetzung letzten Endes doch zum Erfolg führen wird (Begr. ζ. E 1962 S. 239; vgl. auch unten Rdn. 10), oder wenn die Tat nicht die gewissermaßen typische Gefährlichkeit betrifft, also nicht im Zusammenhang mit derjenigen berufs- oder gewerbespezifischen Gefährlichkeit steht, derentwegen das Berufsverbot angeordnet wurde.

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b) Verstoß gegen Weisungen (Abs. 1 Nr. 2). Verlangt wird ein gröblicher oder beharrlicher Verstoß, und zwar gegen gültige Weisungen (dazu Horstkotte LK, Erl. zu § 67 g). Besonders darauf zu achten ist, ob der Verstoß die weitere Gefährlichkeit (42)

Widerruf der Aussetzung und Erledigung des Berufsverbots (Hanack) § 7 0 b i. S. des § 70 Abs. 1 (dort Rdn. 34 ff) erweist, also (vgl. Horn SK Rdn. 5) für diese Gefährlichkeit symptomatisch ist. Das ist etwa der Fall, wenn der Täter Beruf oder Gewerbe ohne eine ihm aufgegebene Nachschulung (s. § 70 Rdn. 42) betreibt oder weisungswidrig (§ 56 c Abs. 1 Nr. 3 i. V. mit § 70 a Abs. 3 S. 1) Kontakt zu bestimmten Personen unterhält und dadurch deutlich macht, daß er die ursprünglichen Gefahrenquellen auszuschalten nicht willens oder fähig ist. Der Verstoß gegen Zusagen gemäß § 56 c Abs. 4 wird nicht erfaßt (Dreher-Tröndle 40 Rdn. 4). c) Mißachtung der Bewährungshilfe (Abs. 1 Nr. 3). Daß sich der Täter der Auf- 7 sieht und Leitung des Bewährungshelfers beharrlich entzieht, indiziert beim ausgesetzten Berufsverbot seine weitere Gefährlichkeit doch sehr viel weniger als bei § 67 g, wo es in der Regel um Gestörte oder Schwerkriminelle geht und die Aussetzung (s. § 70 a Rdn. 1) überdies unter leichteren Voraussetzungen möglich ist als bei § 70 a. So wird der Widerrufsgrund hier nur selten zum Tragen kommen, nämlich dann, wenn mit der Entziehung vor dem Bewährungshelfer zugleich auch konkret vorgesehene Einwirkungsmöglichkeiten vereitelt werden, die dem Abbau noch vorhandener „Schwachstellen" dienen sollen und der Bewährungshelfer eigens dazu bestellt wurde, um sie auszuschalten. d) Nachträglich bekannt gewordene Versagungsgründe (Absatz 2). Eine Ausset- 8 zung im Hinblick auf Umstände zu widerrufen, die dem Gericht erst nachträglich bekannt werden, ist sehr fragwürdig, weil damit in der Regel ein Vertrauen des Betroffenen enttäuscht wird (AE-AT S. 167) und der Widerruf typischerweise auch von der Umwelt (Geschäftspartner!) als ein gegen seine Zuverlässigkeit sprechendes Indiz gilt. So hat der Regierungsvertreter schon bei den Beratungen zur Strafrechtsreform betont, daß die Fälle „als Ausnahmefälle" bezeichnet werden müßten (Prot. V, 472). Der Widerruf verlangt hier die besondere Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (vgl. LK § 62 Rdn. 7) und setzt in der Regel ein hohes Maß an weiterer Gefährlichkeit des Täters voraus. Diese ist darum mit der äußersten Sorgfalt zu prüfen, und zwar insbesondere unter Beachtung der Frage, ob die damals nicht erkannten Umstände auch jetzt noch gegeben sind, also die Gefahr weiterer Taten i. S. des § 70 Abs. 1 noch immer besteht oder nicht gerade durch eine „Realbewährung" des Täters ausreichend gemindert ist (Dreher-Tröndle 40 Rdn. 5; Horn SK Rdn. 6; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 6; vgl. auch Prot. V, 793, 2340). Auch darf das Gericht nur solche Umstände heranziehen, die ihm — aus welchen Gründen auch immer — bei der Aussetzung noch nicht bekannt waren; nicht zulässig ist die Heranziehung schon bekannt gewesener Zustände lediglich auf Grund einer abweichenden späteren Beurteilung (Sch.-Schröder-Stree aaO; Begr. ζ. E 1962 S. 239). Auch nach Ablauf der Bewährungszeit bekannt gewordene Umstände genügen nicht (Sch.-Schröder-Stree aaO ; vgl. auch unten Rdn. 21). 4. Kein Ermessen? Subsidiaritätsprinzip. Nach ganz herrschender Meinung muß 9 das Gericht den Widerruf aussprechen, wenn seine gesetzlichen Voraussetzungen vorliegen, bleibt also für ein richterliches Ermessen kein Raum (Dreher-Tröndle 40 Rdn. 2; Horn SK Rdn. 2; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 7; unklar Maurach-Zipf AT 2 § 69 III 4). Das entspricht dem Gesetzeswortlaut, ist aber nicht sonderlich einleuchtend, wenn ein solches Ermessen (s. § 70 Rdn. 75 ff) bei Anordnung des Berufsverbots besteht. So wollte auch der E 1962, der freilich die Widerrufsgründe nicht erschöpfend aufzählte, trotz ähnlicher Gesetzesformulierung („wird widerrufen") den (43)

§ 70 b

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

Widerruf, wie § 42 1 Abs. 4 a. F., als Frage des pflichtgemäßen Ermessens verstanden wissen (Begr. zu § 108 S. 239). Ob die Ausformulierung der Widerrufsgründe in § 70 b das pflichtgemäße Ermessen wirklich ausschaltet, erscheint daher insgesamt recht zweifelhaft. Begründen läßt es sich (so wohl Sch.-Schröder-Stree aaO) allenfalls mit der Erwägung, daß dann, wenn das Gericht unter Anwendung des Ermessens die Anordnung eines Berufsverbots für geboten hielt, der Widerruf der Aussetzung nicht anders gehandhabt werden soll, falls sich die Aussetzung wegen der weiteren Gefährlichkeit als unberechtigt erweist. 10 Auch dann bleibt jedoch zu beachten, daß das Gericht auch beim Widerruf hinsichtlich der weiteren Gefährlichkeit eine Gesamtwürdigung i. S. des § 70 vorzunehmen hat (oben Rdn. 1) und daß der Widerruf nur ausgesprochen werden darf, wenn der Maßregelzweck es „erfordert". Damit kommt, wie im Ergebnis auch Sch.-Schröder-Stree meinen (Rdn. 3), das Subsidiaritätsprinzip, das der Gesetzgeber bei der Strafrechtsreform nur für die sog. Anordnungsprognose ausschließen wollte (näher Rdn. 58 ff vor § 61), wieder „voll zum Tragen". Das Gericht darf daher eine Aussetzung dann nicht widerrufen, wenn sich trotz bestehender Widerrufsgründe Umstände abzeichnen, die der vom Täter ausgehenden Gefahr entgegenstehen und Grund zu der Annahme geben, der Täter werde die mit der Aussetzung verknüpften Erwartungen im Ergebnis erfüllen (Sch.-Schröder-Stree aaO). 11

5. Intensivierung und Verlängerung der Bewährung statt Widerruf? Zweifelhaft mag sein, ob aus dem Gesagten folgt, daß von einem Widerruf auch dann abzusehen ist, wenn sich der (wieder) sichtbar gewordenen weiteren Gefährlichkeit durch zusätzliche oder geänderte Maßnahmen im Rahmen der Ausgestaltung einer Bewährung gemäß § 70 a Abs. 3 ausreichend begegnen läßt. Die Frage ist zu bejahen, obwohl im Gesetz eine Regelung nach Art des § 56 f Abs. 2 fehlt. Denn dieses Fehlen kann, selbst wenn der Gesetzgeber anderes beabsichtigt haben sollte, beim Charakter der Maßregel die Beachtung milderer Möglichkeiten der Gefahrenabwehr verfassungsrechtlich nicht ausschließen (vgl. auch Lackner13 Anm. 1 und die Überlegung bei § 70 a Rdn. 5, die hier entsprechend und erst recht gelten muß).

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Eine andere Frage ist allerdings, ob man mit Lackner (aaO) einen Widerruf durch Verlängerung der Bewährungszeit auch zu dem Zweck vermeiden darf, dadurch Zeit für weitere Beobachtung und Prüfung zu gewinnen. Die Frage, die Lackner selbst als zweifelhaft bezeichnet, dürfte zu verneinen sein : Ist das Fortbestehen der Gefahr erwiesen, kann das Bedürfnis nach weiterer Beobachtung und Prüfung allein den Widerruf nicht hindern; ist das Fortbestehen aber nicht klar erwiesen, darf überhaupt nicht widerrufen werden, vgl. im folg. Text.

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6. Der Grundsatz in dubio pro reo gilt auch für die Voraussetzungen des Widerrufs, die zur Überzeugung des Gerichts feststehen müssen (Sch.-Schröder-Stree Rdn. 7; vgl. näher Rdn. 48 ff vor §61). Denn es handelt sich hier nicht um eine „Entlassungsprognose", bei der Zweifel zu Lasten des Täters gehen.

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II. Folgen des Widerrufs. Widerruft das Gericht die Aussetzung, entsteht keine neue Verbotsfrist und ist eine solche auch vom widerrufenden Gericht nicht festzulegen (Dreher-Tröndle™ Rdn. 6; Horn SK Rdn. 7; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 8; Prot. V, 2340); das gilt (s. oben Rdn. 2) entgegen Horn auch für ein lebenslanges Berufsverbot. Vielmehr läuft, wie sich aus Absatz 3 ergibt, die gemäß § 70 im Urteil festgelegte Verbotsfrist weiter, ohne daß allerdings auf die Berechnung ihrer Dauer (44)

Widerruf der Aussetzung und Erledigung des Berufsverbots (Hanack) § 7 0 b die Zeit eingerechnet würde, in der die Aussetzung wirksam war; so dauert ζ. B. bei einer dreijährigen Verbotsfrist, die nach Ablauf der Jahresfrist des § 70 a Abs. 2 S. 1 fünf Monate lang ausgesetzt war, das Verbot noch zwei Jahre. Wirksam ist die Aussetzung in der Zeit zwischen der Rechtskraft des Aussetzungsbeschlusses und der Rechtskraft des Widerrufsbeschlusses, wobei gegebenenfalls § 34 a StPO zu beachten ist. Erfolgt der Widerruf wegen einer neuen Straftat ( § 7 0 b Abs. 1 Nr. 1), ist das 15 erkennende Gericht bei deren späterer Aburteilung nicht gehindert, ein erneutes Berufsverbot, und zwar auch von längerer Dauer, auszusprechen (Sch.-SchröderStree Rdn. 8). Die beiden Verbote stehen dann nebeneinander. III. Erledigung des Berufsverbots 1. Arten der Erledigung. Das Gesetz regelt die Erledigung des Berufsverbots nur 16 unvollkommen und nicht sonderlich überzeugend. § 70 b Abs. 5 enthält ersichtlich nur eine Teilregelung, die Lackner13 Anm. 2 wohl mit Recht für unklar hält (anders Dreher-Tröndle40 Rdn. 7). Folgende Fälle sind zu unterscheiden: a) Ist ein zeitlich befristetes Berufsverbot (§ 70 Abs. 1 S. 1) überhaupt nicht zur 17 Bewährung ausgesetzt worden, ist es mit Ablauf der Verbotsfrist erledigt. Die Erledigung ist nicht von einer ausdrücklichen Erklärung des Gerichts abhängig, da eine solche Erklärung nur für die Erledigung nach Ablauf einer Bewährungsfrist vorgesehen ist (Absatz 5) und kein Grund besteht, diese Ausnahmeregelung entsprechend anzuwènden. b) Ebenso ist die Rechtslage, wenn ein zeitlich befristetes Berufsverbot ausge- 18 setzt war, die Aussetzung aber gemäß § 70 b wirksam widerrufen worden ist. Auch hier ist also eine gerichtliche Erklärung für die Erledigung nicht konstitutiv (bleibt freilich zu beachten, daß in die Verbotsfrist die Zeit der Aussetzung nicht eingerechnet wird, vgl. Rdn. 14). c) Wird ein zeitlich befristetes Berufsverbot ausgesetzt und die Aussetzung nicht 19 widerrufen, endet die Maßregel mit dem Ablauf der gemäß §§ 70 a Abs. 3, 56 a festgesetzten Bewährungszeit, nicht also mit dem (regelmäßig kürzeren) Ablauf der Verbotsfrist des § 70. Jedoch tritt die Erledigung hier, anders als bei § 67 g Abs. 5, nicht automatisch ein ; sie bedarf vielmehr nach § 70 b Abs. 5 einer besonderen Erledigungserklärung durch das Gericht. Diese ist für die Erledigung konstitutiv (Dreher-Tröndle40 Rdn. 7; Horn SK Rdn. 9; Lackner13 Anm. 2; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 10). Der Gesetzgeber hat, ähnlich wie bei § 56 g, die gerichtliche Erledigungserklärung „aus Gründen der Rechtssicherheit" für geboten gehalten (vgl. Prot. V, 2448), sie aber nur auf die Fälle der Maßregelerledigung nach erfolgreicher Bewährung bezogen, wo die Feststellung der Erledigung komplizierter ist oder sein kann als sonst; vgl. näher unten Rdn. 21. d) Ein für immer angeordnetes Berufsverbot (§ 70 Abs. 1 S. 2) kann, ähnlich wie 20 eine unbefristete freiheitsentziehende Maßregel (vgl. z. B. LK § 63 Rdn. 122), immer nur auf dem Weg über eine erfolgreiche Aussetzung (§ 70 a) zur Erledigung kommen : Wenn das Gericht die Aussetzung nicht gemäß § 70 b widerruft, führt sie nach dem Ablauf der festgesetzten Bewährungszeit (§ 70 a Rdn. 15) zur Erledigung, allerdings ebenfalls erst auf Grund der besonderen Erledigungserklärung durch das Gericht gemäß § 70 b Abs. 5. (45)

§71

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

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2. Die gerichtliche Erledigungserklärung (Absatz 5). Soweit die Erklärung nach dem Gesetz erforderlich ist (Rdn. 17 ff), hat das Gericht über sie, wie bei § 56 g, nach Ablauf der Bewährungsfrist alsbald und ohne zeitlichen Aufschub zu entscheiden. Entgegen dem Gesetzeswortlaut und trotz der zitierten Bemerkung von den „Gründen der Rechtssicherheit" (Rdn. 19), wird man allerdings anzunehmen haben, daß das Gericht bei seiner Entscheidung nicht darauf beschränkt ist, nur den für die Erledigung erforderlichen Fristablauf festzustellen, sondern, entsprechend der herrschenden Meinung zu § 56 g, auch jetzt noch die Befugnis haben muß, einen Aussetzungswiderruf zu beschließen (ebenso Horn SK Rdn. 9; Lackner™ Anm. 2; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 7; unklar Dreher-Tröndle40 Rdn. 7). Doch darf dies nur wegen solcher Umstände geschehen, die noch in die Bewährungszeit fallen (Dreher-Tröndle Rdn. 3; vgl. auch Sch.-Schröder-Stree Rdn. 6). Einen Widerruf der Erledigungserklärung sieht das Gesetz, anders als in § 56 g Abs. 2, nicht vor; die Erledigung ist also endgültig (Horn aaO; Lackner aaO). Mit der Erledigungserklärung (nicht aber der sonstigen Erledigung) endet kraft Gesetzes auch eine wegen derselben Tat angeordnete Führungsaufsicht (§ 68 g Abs. 3).

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IV. Erbrachte Leistungen des Verurteilten zur Erfüllung von Weisungen oder von Zusagen (gemäß § 56 c Abs. 4) werden nach Absatz 4 nicht erstattet. Dies gilt ohne Rücksicht auf die Frage, ob die Aussetzung widerrufen wird oder nicht (Horn SK Rdn. 8; Begr. ζ. E 1962 S. 239). Diese Regelung entspricht § 56 f Abs. 3 S. 1 und (unter Einbeziehung der Zusagen) § 67 g Abs. 6. Eine fakultative Anrechnung analog § 56 f Abs. 3 S. 2 ist schon deshalb nicht möglich, weil sie dort nur für Auflagen vorgesehen ist, die (s. § 70 a Rdn. 14) bei Aussetzung des Berufsverbots nicht zulässig sind.

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V. Zuständigkeit und Verfahren. Für Entscheidungen nach den Absätzen 1, 2 und 5 ist, wie bei § 70 a, das Gericht des ersten Rechtszuges zuständig, das die Sache aber auch an das Amtsgericht des Wohnsitzes oder des gewöhnlichen Aufenthaltsorts abgeben kann (§ 463 Abs. 1 i. V. mit § 462 a Abs. 2 StPO). Das Verfahren richtet sich gemäß § 463 Abs. 5 wiederum nach § 462 StPO.

— Gemeinsame Vorschriften* — §71 Selbständige Anordnung (1) Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, in einer Entziehungsanstalt oder in einer sozialtherapeutischen Anstalt1 kann das Gericht auch selbständig anordnen, wenn das Strafverfahren wegen Schuldunfähigkeit oder Verhandlungsunfähigkeit des Täters undurchführbar ist. (2) Dasselbe gilt für die Entziehung der Fahrerlaubnis und das Berufsverbot. • Stand: 1.9.1981 1 Die Regelung über die Unterbringung in der sozialtherapeutischen Anstalt tritt erst am 1.1.1985 in Kraft: s. näher § 65 „Entstehungsgeschichte". (46)

Selbständige Anordnung (Hanack)

§71

Entstehungsgeschichte Die Vorschrift ist durch das 2. StrRG mit einer terminologischen Änderung durch Art. 18 II Nr. 37 EGStGB eingefügt worden; vgl. näher Rdn. 1 ff. I. Allgemeines. Bis zum Inkrafttreten des 2. StrRG konnte nur die Unterbrin- 1 gung in einer Heil- oder Pflegeanstalt (§ 42 b a. F.) selbständig angeordnet werden (§§ 429 a ff a. F. StPO), nach der Rechtsprechung (BGHSt. 13 91) daneben auch die Entziehung der Fahrerlaubnis. § 71 erweitert die Möglichkeiten zur selbständigen Anordnung in Anlehnung an § 103 E 1962 und § 81 Abs. 2 AE-AT auf fast alle Maßregeln des geltenden Rechts, wobei die betreffenden Maßregeln getrennt nach freiheitsentziehenden (Absatz 1) und nicht-freiheitsentziehenden (Absatz 2) aufgezählt werden. Es handelt sich — mit Besonderheiten für die Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus (Rdn. 11) und in der sozialtherapeutischen Anstalt (Rdn. 9) — um all diejenigen Maßregeln, die auch bei Schuldunfähigkeit angeordnet werden können (vgl. Begr. ζ. E 1962, S. 233). Ausgenommen sind daher lediglich die Sicherungsverwahrung und die Führungsaufsicht kraft Richterspruchs, die gegen Schuldunfähige grundsätzlich nicht zulässig sind. Die Regelung ist Konsequenz der gesetzgeberischen Grundentscheidung, eine 2 Anordnung der aufgezählten Maßregeln auch im Falle der Schuldunfähigkeit bzw. dann zuzulassen, wenn Verurteilung zu Strafe wegen nicht auszuschließender Schuldunfähigkeit nicht erfolgen kann (vgl. Schwalm Prot. IV, 985): Die Anordnung einer Maßregel setzt im Prinzip die gleichzeitige Verhängung von Strafe voraus (sog. Kumulationsprinzip, vgl. Rdn. 65 vor § 61). Auf diese Situation sind auch die traditionellen Normierungen des Strafverfahrens zugeschnitten, das darum grundsätzlich nur gegen schuldfähige und verhandlungsfähige Täter durchgeführt werden kann. Wenn nun das Strafgesetz bei den genannten Maßregeln ein Sicherungsbedürfnis auch dann bejaht, wenn der Täter zu Strafe nicht verurteilt werden kann, weil er nicht schuldhaft gehandelt hat bzw. seine Schuldunfähigkeit nicht auszuschließen ist, muß es besonders aussprechen, daß die Maßregel auch selbständig, also ohne gleichzeitige Verurteilung zu Strafe, angeordnet werden darf. Und es muß weiter Regelungen darüber treffen, daß gegen den Täter unbeschadet seiner Schuldunfähigkeit und eventuell auch seiner Verhandlungsunfähigkeit ein Strafverfahren durchgeführt werden kann. § 71 regelt die erstere Frage und nennt damit zugleich auch eine wesentliche Voraussetzung für die verfahrensrechtliche Zulässigkeit der selbständigen Maßregel-Anordnung, das sog. Sicherungsverfahren der §§ 413 ff n. F. StPO, für die es gewissermaßen die materielle Grundlage (Dreher- Tröndle40 Rdn. 1) schafft. In den Vorschriften der §§ 413 ff StPO sind die näheren prozeßrechtlichen Regelungen normiert, unter denen ein Verfahren gegen den schuldunfähigen oder verhandlungsunfähigen Täter zum Zwecke der Anordnung einer Maßregel zulässig ist (näher Rdn. 15). Bei der Strafrechtsreform war die Frage, in welchem Umfang und unter welchen 3 Voraussetzungen die selbständige Anordnung zulässig sein soll, erheblich umstritten. Die sehr viel weitergehenden Voraussetzungen, unter denen § 103 E 1962 (vgl. auch § 81 Abs. 2 AE-AT) die Anordnung zulassen wollte, sind im weiteren Verlauf der Gesetzesberatungen auf die beiden Gründe des § 71 (Schuld- sowie Verhandlungsunfähigkeit) eingeschränkt worden. Vgl. dazu näher 2. Bericht S. 38 und die Erörterungen des Sonderausschusses, insbesondere Prot. IV, 985 ff; V, 16, 447, 2335. (47)

§71 4

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

II. Anwendungsbereich und Folgen 1. Nur bei den in § 71 genannten Maßregeln ist die selbständige Anordnung zulässig, wobei die in Rdn. 9 und 11 behandelten Einschränkungen zu beachten sind. Die analoge Anwendung auf andere Maßregeln (Sicherungsverwahrung, Führungsaufsicht) ist nach dem Wortlaut wie nach der Entstehungsgeschichte eindeutig unzulässig (so ausdrücklich auch Preisendanz Anm. 1). 2. Die selbständige Anordnung mehrerer Maßregeln gemäß § 72 Abs. 2 ist, wenn sie unter § 71 fallen, möglich (Dreher-Tröndle 40 Rdn. 1). 3. Hinsichtlich der Folgen unterliegen selbständig angeordnete Maßregeln den allgemeinen Bestimmungen des Maßregelrechts. So ist z. B. § 62 ebenso anwendbar wie § 67 a, § 67 b, § 67 c Abs. 2 und die Regelung der §§ 67 d bis 67 g (vgl. auch Dreher- Tröndle 4 0 Rdn. 5). Gegenstandslos sind lediglich diejenigen Bestimmungen, die Schuldfähigkeit voraussetzen, insbesondere also § 67.

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III. Voraussetzungen der selbständigen Anordnung. Das normale Strafverfahren muß wegen Schuldunfähigkeit oder Verhandlungsunfähigkeit undurchführbar sein. Selbstverständlich können beide Voraussetzungen im Einzelfall auch zusammentreffen. 1. Sonstige Gründe, die der Durchführung eines Strafverfahrens entgegenstehen, reichen hingegen nicht: § 71 will, wie auch seine Entstehungsgeschichte deutlich macht (Einschränkung von § 103 E 1962, s. Rdn. 3), nach Wortlaut und Sinn die selbständige Anordnung nur in den beiden genannten Gründen zulassen (2. Bericht S. 38), nicht aber auch sonstige Hindernisse für die Durchführung eines normalen Strafverfahrens kompensieren.

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Eine selbständige Anordnung kommt daher z. B. nicht in Betracht, wenn die Anlaßtat verjährt ist oder wenn es am erforderlichen Strafantrag (Ermächtigung, Strafverlangen) fehlt (2. Bericht aaO; ebenso z. B. Dreher-Tröndle40 Rdn. 3; Sch.Schröder-Stree Rdn. 3; Horn SK Rdn. 3; Kleinknecht 35 §413 Rdn. 5; a. A. zu Unrecht Schäfer in Löwe-Rosenberg, § 413 Rdn. 22 f)· Der Gesetzgeber meinte — in Abweichung vom E 1962 und vom AE —, daß hier meist schon der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (§ 62) der Anordnung entgegenstehe, im übrigen aber regelmäßig die verwaltungsrechtlichen Maßnahmen, z. B. aufgrund der Unterbringungsgesetze, des Straßenverkehrsgesetzes oder der Gewerbeordnung, ausreichend seien (2. Bericht aaO). — Die gegenteilige, sehr umstrittene Auffassung von BGHSt. 5 140 zum früheren Recht, wonach ein Sicherungsverfahren auch bei fehlendem Strafantrag zulässig sein sollte, ist damit überholt (vgl. auch Rdn. 84 vor § 61). 7 Nicht statthaft ist die selbständige Anordnung auch, wenn der Täter als Jugendlicher lediglich mangels Reife nach § 3 JGG strafrechtlich nicht verantwortlich ist (Kleinknecht35 § 413 Rdn. 3). Beim Zusammentreffen fehlender Reife mit fehlender Schuldfahigkeit (§ 20) ist sie hingegen, wenn man den Grundsätzen von BGHSt. 26 67 folgt (s. LK § 63 Rdn. 16), wiederum zulässig. 8 Nicht zulässig ist die selbständige Anordnung ferner, wenn die Tat unter eine Amnestie fallt und ein Strafverfahren deswegen undurchführbar ist (2. Bericht aaO; Dreher-Tröndle40 und Sch.-Schröder-Stree aaO; vgl. auch Rdn. 75 vor § 61). Etwas (48)

Selbständige Anordnung (Hanack)

§71

anderes gilt nur, wenn das Amnestiegesetz die selbständige Anordnung ausdrücklich zuläßt, was nach Meinung des Sonderausschusses jeweils von dem betreffenden Gesetz selbst zu entscheiden ist (2. Bericht aaO). 2. a) Wegen Schuldunfähigkeit undurchführbar ist das Strafverfahren, wenn der 9 Täter zur Zeit der Tat (Anlaßtat) schuldunfähig war (§ 20). Ein späterer Eintritt der Voraussetzungen des § 20 hindert hingegen die Durchführung des Strafverfahrens nicht, sofern sich die Voraussetzungen nicht als Fall der Verhandlungsunfähigkeit (Rdn. 13) darstellen. — Die selbständige Anordnung der Unterbringung in der sozialtherapeutischen Anstalt gegen Schuldunfähige kommt nur unter den Voraussetzungen des § 65 Abs. 3 in Betracht (vgl. auch 2. Bericht S. 39 und Rdn. 11). b) Der Schuldunfähigkeit gleichzustellen ist der Fall, daß die Schuldunfähigkeit 10 nicht auszuschließen ist. Dies ergibt sich trotz des vielleicht etwas zweideutigen Gesetzeswortlauts aus dem Sinn der Regelung, dem auch hier bestehenden Sicherungsbedürfnis (Dreher-Tröndle40 Rdn. 2; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 4; Preisetidanz Anm. 1; Maurach-Zipf AT 2 §67 VI; Kleinknecht35 §413 Rdn. 3). Die herrschende Meinung hat dies bereits für das frühere Recht angenommen (BGHSt. 18 167; Sax JZ 1968 533; vgl. auch BGHSt. 22 1). Die gegenteilige Ansicht (Foth JZ 1963 604; K. Peters Der Strafprozeß in der Fortentwicklung [1970] S. 36) konnte schon früher wenig überzeugen; mit der Regelung des heutigen Rechts, wonach die in § 71 genannten Maßregeln stets auch bei nicht auszuschließender Schuldfähigkeit anzuwenden sind, hat sie ihre Berechtigung vollends verloren. Für die Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus (§ 63) ist jedoch die fol- 11 gende Besonderheit zu beachten: Die Unterbringung im Krankenhaus ist zwar zulässig, wenn sich die Schuldunfähigkeit nicht ausschließen läßt; sie setzt dann aber die Feststellung voraus, daß der Täter zumindest vermindert schuldfahig (§ 21) war. Besteht die Möglichkeit, daß er voll schuldfähig ist, ist die Unterbringung unzulässig (s. LK § 63 Rdn. 39). In diesem Fall kann daher auch die selbständige Anordnung der Unterbringung nicht statthaft sein (ebenso Sch.-Schröder-Stree Rdn. 4). Das gilt auch für die Unterbringung in der sozialtherapeutischen Anstalt gemäß § 65 Abs. 3, weil diese Vorschrift auf § 63 aufbaut. Eine andere Frage ist im übrigen, ob in den Fällen nicht auszuschließender 12 Schuldunfähigkeit prozeßrechtlich gesehen ein Strafverfahren undurchführbar ist. Denn die materiellrechtliche Seite (selbständige Anordnung) ist mit der verfahrensrechtlichen (Zulässigkeit des Sicherungsverfahrens) nicht ohne weiteres identisch. Schon im früheren Recht war umstritten, ob ein Sicherungsverfahren bereits zulässig ist, wenn sich die Schuldunfähigkeit des Täters lediglich nicht ausschließen läßt. Der BGH hat die Frage bejaht (BGHSt. 22 1). Gegen seine Auffassung sind jedoch Bedenken geltend gemacht worden (Sax JZ 1968 533; Peters aaO; Hanack JZ 1974 56). Sie kreisen einmal um die — seit dem EGStGB allerdings kaum noch praktische — Garantie der normalerweise zuständigen Instanz, weil im Sicherungsverfahren keine Zuständigkeit der Schwurgerichtskammer und der erstinstanzlichen Strafsenate des Oberlandesgerichts besteht (vgl. Kleinknecht 35 § 414 Rdn. 4). Zum anderen und vor allem kreisen die Bedenken um den Gesichtspunkt der Verfahrenssicherheit und die Gefahr, daß der Beschuldigte bei Durchführung des Sicherungsverfahrens von vornherein zu sehr in den Bannkreis des § 415 StPO (Verhandlung in seiner Abwesenheit) gerät. Die Problematik ist durch § 71 ι nd die Neuregelung (49)

§71

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

des Sicherungsverfahrens im EGStGB (Rdn. 15) nicht geklärt worden; der Wortlaut des Gesetzes (§413 Abs. 1 StPO: „wegen Schuldunfähigkeit") spricht eher für die Richtigkeit der erhobenen Bedenken. Der Rechtsprechung des BGH folgen heute insbesondere Dreher-Tröndle 4 0 Rdn. 2; Kleinknecht § 413 Rdn. 3; Roxiη Strafverfahrensrecht § 65 A I 2; Schäfer in Löwe-Rosenberg, § 413 Rdn. 5 f. 13

3. Die Verhandlungsunfähigkeit betrifft ein spezifisch (straf-)prozeßrechtliches Problem. Eingehend dazu Schäfer in Löwe-Rosenberg, Einl. Kap. 12 Rdn. 97 ff; Kleinknechfò, Einl. Rdn. 94; Eb. Schmidt, Lehrkommentar Teil I, Rdn. 145 ff. Verhandlungsunfähigkeit besteht, wenn der Beschuldigte nicht in der Lage ist, in oder außerhalb der Verhandlung seine Interessen vernünftig wahrzunehmen, die Verteidigung in verständlicher Weise zu führen, Prozeßerklärungen abzugeben und entgegenzunehmen (so Kleinknecht aaO; RGSt. 64 14; BGH bei Dallinger M D R 1958 141; OLG Hamm NJW 1973 1894; vgl. auch Seetzen DRiZ 1974 259). Geschäftsunfähigkeit wird nicht vorausgesetzt. Die Verhandlungsfähigkeit entfällt bei Erwachsenen nicht schon wegen Geisteskrankheit schlechthin. Erforderlich sind vielmehr in der Regel schwere seelische oder körperliche Mängel oder Krankheiten (BGH 4 StR 305/74 v. 5. 9. 74). Bei ihrem Vorhandensein fehlt es an der Verhandlungsfähigkeit aber auch dann, wenn sie die Interessenwahrnehmung zwar nicht hindern, wohl aber mit einer unverhältnismäßig großen Schädigungsgefahr für den Beschuldigten verbunden sind (BVerfGE 51 234, 346; O L G Karlsruhe NJW 1978 601). Die Verhandlungsunfähigkeit darf nicht nur vorübergehender Art sein, weil sie sonst lediglich zur vorläufigen Einstellung des Strafverfahrens führt (§ 205 StPO), nicht aber zu dessen Undurchführbarkeit i. S. des § 71 (Kleinknecht35 § 413 Rdn. 4). Die selbstverschuldete Verhandlungsunfähigkeit gemäß § 231 a StPO ist keine Verhandlungsunfähigkeit gemäß § 71, weil hier das Normal verfahren fortgesetzt wird.

14

Auch im Falle der Verhandlungsunfähigkeit darf selbständig lediglich eine Maßregel angeordnet, nicht aber daneben Strafe verhängt werden, selbst wenn der Täter die Tat nicht im Stadium der Schuldunfähigkeit begangen hat (vgl. RegE z. EGStGB, BT-Drucks. 7/550 S. 307 zu §413 StPO; übereinstimmend DreherTröndle 40 Rdn. 3). Der verhandlungsunfähige Täter soll eben zu Strafe nicht verurteilt werden.

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IV. Verfahrensrechtliches (Sicherungsverfahren). Verfahrensrechtlich gelten, wenn das Normalverfahren wegen Schuld- oder Verhandlungsunfähigkeit undurchführbar ist, die §§ 413 bis 416 StPO (Neuregelung durch Art. 21 Nr. 108 EGStGB) über das Sicherungsverfahren, auch selbständiges Verfahren genannt (Darstellung nach dem neuesten Stand bei Kleinknecht 35 ; Schäfer in Löwe-Rosenberg, §§ 413 ff; vgl. auch Roxin Strafverfahrensrecht § 65). Danach ist die Durchführung des Verfahrens von einem Antrag der Staatsanwaltschaft abhängig (§ 413 StPO), der an die Stelle der Anklageschrift tritt und deren Erfordernissen (§200 StPO) entsprechen muß (§414 Abs. 2 StPO). Die Antragstellung steht im pflichtgemäßen Ermessen der Staatsanwaltschaft. Voraussetzung der Antragstellung ist, daß eine Anordnung nach dem Ergebnis der Ermittlungen zu erwarten steht. Das Verfahren begründet einen Fall notwendiger Verteidigung (§ 140 Abs. 1 Nr. 7 StPO). (50)

Verbindung von Maßregeln (Hanack)

§72

Die Zuziehung eines Sachverständigen „soll" schon im Vorverfahren und „muß" in der Hauptverhandlung erfolgen (§ 414 Abs. 3, §§ 414 Abs. 1, 246 a StPO). Unter den Voraussetzungen des § 415 StPO kann in Abwesenheit des Beschuldigten verhandelt werden, wenn der Beschuldigte durch einen beauftragten Richter unter Zuziehung eines Sachverständigen vernommen worden ist. Eine Überleitung in das Normalverfahren ist nach § 416 StPO zulässig. Die Rechtshängigkeit der Sache im Strafverfahren enthält ein Verfahrenshindernis für die Durchführung eines anderweitigen Sicherungsverfahrens (BGHSt. 22 185, 186; dazu Hanack JZ 1974 57). Zuständig ist regelmäßig die Strafkammer (§§ 24 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2, 74 Abs. 1 S. 2 GVG), bei der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt sowie in den Fällen des § 71 Abs. 2 aber auch das Schöffengericht (§ 28 GVG), falls die Staatsanwaltschaft hier die Antragsschrift nicht wegen besonderer Bedeutung an die Strafkammer richtet (§ 24 Abs. 1 Nr. 3 GVG) oder gemäß § 25 Nr. 3 GVG den Strafrichter (Einzelrichter) anruft. Die rechtskräftige Entscheidung im Sicherungsverfahren führt, ob sie eine Maßregel anordnet oder nicht, zum Verbrauch der Strafklage (BGHSt. 11 319, 322; 16 198, 199; Hanack JZ 1974 57; einschränkend Kleinknecht 35 § 416 Rdn. 8, falls aus prozessualen Gründen von vornherein eine beschränkte Sachentscheidung angestrebt werde). Verbrauch der Strafklage entsteht aber auch durch eine Entscheidung im Normalverfahren, die mithin die spätere Durchführung eines Sicherungsverfahrens ausschließt (BGHSt. 11 319, 322). V. Übergangsregelungen. Nach Art. 306 EGStGB ist § 71 grundsätzlich auch auf 16 Taten anzuwenden, die vor dem 1.1. 1975 begangen worden sind. Ausnahmen gelten nach Art. 306 S. 2 i. V. mit Art. 301 und 305 EGStGB für die sozialtherapeutische Anstalt sowie für das Berufsverbot, wenn dieses nach dem früher geltenden Recht nicht hätte angeordnet werden können; auch ist die Anordnung eines dauernden Berufsverbots (§ 70 Abs. 1 S. 2) nach den genannten Vorschriften unzulässig.

§72 Verbindung von Maßregeln (1) Sind die Voraussetzungen für mehrere Maßregeln erfüllt, ist aber der erstrebte Zweck durch einzelne von ihnen zu erreichen, so werden nur sie angeordnet. Dabei ist unter mehreren geeigneten Maßregeln denen der Vorzug zu geben, die den Täter am wenigsten beschweren. (2) Im übrigen werden die Maßregeln nebeneinander angeordnet, wenn das Gesetz nichts anderes bestimmt. (3) Werden mehrere freiheitsentziehende Maßregeln angeordnet, so bestimmt das Gericht die Reihenfolge der Vollstreckung. Vor dem Ende des Vollzugs einer Maßregel ordnet das Gericht jeweils den Vollzug der nächsten an, wenn deren Zweck die Unterbringung noch erfordert. § 67 c Abs. 2 Satz 4, 5 ist anzuwenden. Schrifttum H. J. Bruns Über die Häufung und Auswahl konkurrierender Sicherungsmaßregeln (§ 42 η StGB), ZStW 60 [1941] 474 (zitiert Bruns); H. J. Bruns Sicherungsmaßregeln und Verschlech(51)

§72

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

terungsverbot, JZ 1954 730; Graf zu Dohna Konkurrenz von Rechtsfolgen strafbaren Unrechts, ZStW 54 [1935] 410; Dreßler Maßregelkonkurrenz im schweizerischen Strafrecht (1947); Frisch Das Verschlechterungsverbot — Grundfragen und neue Entwicklungen, JA 1974 165; Hanack Sozialtherapie und Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB n. F., JR 1975 441 ; Lenckner Strafe, Schuld und Schuldfähigkeit (Unterabschnitt: Das Verhältnis der Maßregeln untereinander), in Göppinger-Witter, Handbuch der forensischen Psychiatrie, Bd. I 1972, S. 235; Oetker Anmerkung zu RG JW 1935 959, ebenda S. 1417. Entstehungsgeschichte Die Vorschrift ist durch das 2. StrRG mit einer redaktionellen Änderung durch Art. 18 II Nr. 38 E G S t G B eingefügt worden; sie ersetzt § 42 ρ a. F. (vgl. auch Rdn. 1). Übersicht Rdn. I. Allgemeines 1. Bedeutung und Entwicklung 2. G r u n d g e d a n k e n u n d A u f b a u 3. Keine generellen Lösungen II. Voraussetzung: Z u s a m m e n t r e f f e n mehrerer Maßregeln III. Auswahl u n d Vorrang einzelner M a ß r e geln 1. Auswahl geeigneter Maßregeln. Allgemeines 2. Vorrang der a m wenigsten beschwerenden Maßregel. Allgemeines . . . . 3. Besonderheiten der Sicherungsverwahrung 4. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz . . . . IV. Fehlende A u s w a h l m ö g l i c h k e i t ; Bedeut u n g eines „non liquet" V. Erörterung einzelner Fallkonstellationen 1. Bedeutung des § 67 a 2. Z u s a m m e n t r e f f e n von psych. Krank e n h a u s bzw. sozialth. Anstalt und Entziehungsanstalt 3. Z u s a m m e n t r e f f e n von Sicherungsverw a h r u n g und Entziehungsanstalt . . .

Rdn.

1 1 2 3

4.

5 6 6 VI. 12 VII. 15 16 17 19 20

21

VIII.

IX.

Z u s a m m e n t r e f f e n von Sicherungsverw a h r u n g und psych. K r a n k e n h a u s bzw. sozialth. Anstalt 5. Z u s a m m e n t r e f f e n von Sicherungsverw a h r u n g mit den §§ 63, 64, 65 . . . . 6. Z u s a m m e n t r e f f e n nicht-freiheitsentz i e h e n d e r Maßregeln 7. Z u s a m m e n t r e f f e n von freiheitsentziehenden und nicht-freiheitsentzieh e n d e n Maßregeln Reihenfolge m e h r e r e r freiheitsentziehender Maßregeln (Absatz 3) Vollstreckung m e h r e r e r nicht-freiheitse n t z i e h e n d e r Maßregeln Vollstreckung beim Z u s a m m e n t r e f f e n freiheitsentziehender und a n d e r e r Maßregeln Verfahrensrechtliches 1. Maßregelaustausch und Verschlechterungsverbot 2. Hinweis auf veränderte rechtliche Gesichtspunkte 3. R e c h t s m i t t e l b e s c h r ä n k u n g e n

24 27 28

29 31 35

36 37 37 40 40

22

I. Allgemeines 1

1. Bedeutung und Entwicklung. Die Vorschrift regelt die Maßregelkonkurrenz, also die Frage, was zu geschehen hat, wenn wegen derselben Anlaßtat die Voraussetzungen für die A n o r d n u n g mehrerer Maßregeln erfüllt sind. Die Frage besitzt bei der zunehmenden Verfeinerung des Maßregelrechts immer größere Bedeutung. Zunächst enthielt das StGB nur die Bestimmung, daß Maßregeln nebeneinander angeordnet werden „ k ö n n e n " ( § 4 2 n ; umbenannt in § 4 2 ρ durch Ges. v. 26.11. 1964, BGBl. I 921). Auf der Grundlage dieser Vorschrift entwickelten die Rechtsprechung — schon des Reichsgerichts — und das Schrifttum genauere Grundsätze, denen die Regelung des § 72 im wesentlichen entspricht. Auf sie kann daher noch heute stark zurückgegriffen werden (vgl. auch Lang-Hinrichsen V o r a u f ! § 42 ρ Rdn. 44; Dreher-Tröndle 40 Rdn. 1; Lenckner S. 235). Gewisse gewandelte Aspekte (52)

Verbindung von Maßregeln (Hanack)

§72

ergeben sich seit der Strafrechtsreform vor allem aus der stärkeren Betonung des Vorranges der Besserung vor der Sicherung. Die Vorschrift des § 72 geht im wesentlichen auf § 104 E 1962 zurück. Aus den Gesetzesmaterialien vgl. vor allem: Begr. ζ. E 1962, S. 233 f.; Niederschriften Bd. 3, S. 164, 178, 365, 371 und Bd. 12, S. 339, 363 ff, 390; Prot. V, 16, 2335, 2448; 2. Bericht S. 39; vgl. auch § 81 Abs. 1 AE-AT. 2. Grundgedanken und Aufbau des § 72. Die Vorschrift ist wenig glücklich formu- 2 liert, so daß man sich z. B. über die Frage streiten kann, was bei ihr „oberster Grundsatz" ist. § 72 Abs. 1 S. 1 verpflichtet das erkennende Gericht zu der besonderen Prüfung, ob im Falle der Maßregelkonkurrenz „der erstrebte Zweck" durch Anordnung nur einzelner Maßregeln zu erreichen ist; das Gericht darf dann nur diese anordnen. Der Begriff des „erstrebten Zwecks" ist mehrdeutig (näher Rdn. 6 0 und macht auch nicht recht deutlich, daß er in der Sache in starkem Maße den von der Rechtsprechung schon vorher entwickelten Gedanken vom Vorrang der geeignetsten und zweckmäßigsten Maßregel enthält. Zeigt sich, daß zur Zweckerreichung mehrere Maßregeln geeignet sind, muß das Gericht nach Absatz 1 S. 2 diejenigen anordnen, die den Täter am wenigsten beschweren; auch diese Formulierung wirft Probleme auf (Rdn. 13). Läßt sich eine Auswahl nach den geschilderten Grundsätzen nicht treffen, werden — was selbstverständlich ist — die Maßregeln nebeneinander angeordnet. Absatz 2 spricht dies ausdrücklich aus, ohne damit noch einen eigenen Regelungsinhalt zu liefern. Anderes gilt — was wiederum selbstverständlich ist —, wenn das Gesetz „anderes bestimmt", also selbst zwischen Maßregeln ein Ausschlußverhältnis kontituiert. Dies ist im neuen Recht nur bei den §§ 63 Abs. 2, 65 Abs. 3 (Unterbringung in der sozialtherapeutischen Anstalt statt im psychiatrischen Krankenhaus) der Fall. Zur Reihenfolge der Vollstreckung mehrerer Maßregeln enthält Absatz 3 eine zusätzliche Bestimmung, die nur für die freiheitsentziehenden Maßregeln gilt (zur Reihenfolge bei Konkurrenz nicht-freiheitsentziehender Maßregeln untereinander und mit freiheitsentziehenden s. Rdn. 35 f). Danach hat das Gericht bei Anordnung mehrerer freiheitsentziehender Maßregeln — im Urteil — zugleich auch die Reihenfolge der Vollstreckung zu bestimmen (Satz 1). Jeweils vor dem Ende des Vollzugs der einen Maßregel ist dann aber, und zwar durch die Vollstreckungskammer, zu prüfen, ob die weitere Unterbringung noch erforderlich ist, wobei die Kammer mehrere Entscheidungsmöglichkeiten hat (Satz 2, 3). 3. Keine generellen Lösungen. Die zentrale Schwierigkeit bei der Maßregelkon- 3 kurrenz ergibt sich aus der anerkannten Einsicht, daß generelle Antworten auf die Frage, ob eine oder mehrere und welche Maßregeln anzuordnen sind, nicht möglich erscheinen. Die Frage läßt sich vielmehr nur in konkreter Betrachtungsweise anhand der Umstände des Einzelfalls, namentlich der Persönlichkeit des Angeklagten sowie der Art seiner, die Gefährlichkeit bedingenden oder mitbedingenden Störungen beantworten (vgl. schon Bruns S. 492). Dies wiederum hängt damit zusammen, daß die Maßregeln, unbeschadet ihres generellen Zwecks, der künftigen Gefährlichkeit des Täters zu begegnen (Rdn. 20 vor § 61), im einzelnen unterschiedlichen Gesichtspunkten und Gefahren Rechnung tragen, damit aber auch an sehr unterschiedliche Bedürfnisse anknüpfen. (53)

§72

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

Dies zeigt sich auch bei den freiheitsentziehenden Maßregeln, denen zwar jeweils die Unterbringung des Täters gemeinsam ist, die dabei aber doch recht verschiedene Stoßrichtungen der Einwirkungen kennen, so daß — unbeschadet der Möglichkeiten des § 67 a (dazu Rdn. 20) — u. U. erst die Häufung der Maßregeln die Möglichkeit gibt, der Gefährlichkeit des Täters zu begegnen. 4 Rechtsprechung und Lehre lehnen es wegen dieser unterschiedlichen Zweckgesichtspunkte und Einzelfälle seit jeher ab, die Maßregeln nach ihrem „typischen Inhalt" und ihren regelmäßigen Wirkungen untereinander in ein bestimmtes Rangverhältnis zu setzen, das allgemein zur Bevorzugung bestimmter Maßregeln führen würde (BGHSt. 5 312; Bruns S. 492 f.; Dreher-Tröndle4° Rdn. 3; Horn SK Rdn. 6; Lang-Hinrichsen Voraufl. § 42 ρ Rdn. 4). Sie betrachten selbst den Versuch einer grundsätzlichen Abstufung nach ihrer „Schwere" als fragwürdig (s. schon RG HRR 1936 Nr. 1545; RG JW 1939 619), eben weil dies „an der Unmöglichkeit scheitern (würde), die Vor- und Nachteile der ihrer Art und ihrem Zweck nach stark voneinander abweichenden Reaktionsmittel mit einem objektiv gesicherten Ergebnis gegeneinander abzuwägen" (so BGHSt. 25 38, 40 f für den Austausch der Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus [Heil- oder Pflegeanstalt] mit der Sicherungsverwahrung im Rechtsmittelverfahren ; s. Rdn. 38). Daß diese Betrachtung auch nach der Reform des Maßregelrechts im 2. StrRG und trotz des in § 72 konstituierten Gedankens vom Vorzug der am wenigsten beschwerenden Maßregel, aber auch trotz des seit dem 2. StrRG betonten Vorrangs der Besserung vor der Sicherung (vgl. Rdn. 22 vor § 61), noch immer wesentliche Bedeutung hat, werden die folgenden Erörterungen zeigen. Daß sich freilich im heutigen System der Maßregeln gewisse objektive Gesichtspunkte für die Frage der geringsten Beschwer aufdrängen, wird ebenfalls deutlich werden (vgl. insbes. Rdn. 14 0· 5

6

II. Voraussetzung: Zusammentreffen mehrerer Maßregeln. § 72 kommt nur in Betracht, wenn die Voraussetzungen für die Anordnung der betreffenden Maßregeln an sich gegeben sind. Das Gericht hat dies also zunächst zu prüfen. Dabei hat es auch für jede einzelne Maßregel die erforderliche Prüfung der Prognose (Gefährlichkeit) vorzunehmen, und zwar, wie sonst (Rdn. 53 ff vor § 61), bezogen auf den Urteilszeitpunkt. Es wäre unzulässig, die Frage der Prognose hinsichtlich der einzelnen Maßnahme schon mit der Frage der Auswahl oder Häufung gemäß § 72 zu verbinden ; dazu eingehend Horn SK Rdn. 8. Ob es sich um mehrere freiheitsentziehende Maßregeln, mehrere nicht-freiheitsentziehende Maßregeln oder um das Zusammentreffen von freiheitsentziehenden mit nicht-freiheitsentziehenden Maßregeln handelt, ist für die Anwendung des § 72 ohne Belang. III. Auswahl und Vorrang einzelner Maßregeln 1. Auswahl geeigneter Maßregeln. Allgemeines. Die Häufung von Maßregeln ist nach §72 nur zulässig, soweit der „erstrebte Zweck" nicht durch einzelne von ihnen, gegebenenfalls also auch eine einzige, zu erreichen ist. — Zur Erörterung typischer Einzelfälle s. Rdn. 19 ff. Der Begriff „erstrebter Zweck" ist mehrdeutig. So ist eine teleologische Auslegung geboten. Sie muß darauf abstellen, daß nach dem Gesetz nur die erforderlichen Maßregeln zulässig sind (Sch.-Schröder-Stree Rdn. 1 ; Bockelmann AT § 40 II 2; vgl. (54)

Verbindung von Maßregeln (Hanack)

§72

auch Preisendanz Anm. 1: Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit); zugleich ist aber auch der Gedanke einzubeziehen, daß denjenigen Maßregeln der Vorzug gebührt, die den Täter am wenigsten beschweren. Daraus ergibt sich folgendes. a) Abzustellen ist in erster Linie auf den spezifischen Maßregelzweck, die 7 Abwehr einer künftigen Gefährlichkeit des Täters (so schon RGSt. 73 101 m. w. Rspr.-Nachw.; BGHSt. 5 312, 314; Dreher-Tröndle40 R d n . 2 ; Maurach-Zipf AT 2, § 67 IV a). Mit gleichem Rang ist dabei zu prüfen, welche Maßregel oder welche Maßregelkombination den Umständen nach die geeignetste und zweckmäßigste ist. Dieser schon von der Rechtsprechung des RG herausgearbeitete Gesichtspunkt (RGSt. 69 129, 134 f.; 72 151 f; 73 44, 47; 73 101, 102; s. auch BGHSt. 5 312, 315) kommt in der gegenwärtigen Gesetzesfassung, die allein auf den erstrebten Zweck und sodann nur auf die den Täter am wenigsten beschwerende Maßregel abstellt, nur scheinbar zu kurz. Er steckt der Sache nach im Gedanken vom erstrebten Zweck, der die Beschränkung auf das Geeignete und Zweckmäßige fordert (sachlich übereinstimmend: Dreher-Tröndle 4 0 Rdn. 3; Lackner Anm. 1 A; Sch.-SchröderStree Rdn. 3). Nur wenn diese Prüfung nicht bereits zu einem abschließenden Ergebnis führt, d. h. aufgrund dieser Erwägung mehrere Maßregeln gleich geeignet sind, entsteht die weitere Frage, welche Maßregel i. S. des § 72 Abs. 1 S. 2 den Täter am wenigsten beschwert. Mehrere Maßregeln kommen danach in Betracht, wenn der Täter in verschiede- 8 ner Hinsicht gefährlich ist und eine Maßregel den mehrfachen Gefahren nicht Rechnung tragen kann, also jeder der Gefahren mit selbständigen Mitteln begegnet werden muß und die eine Maßnahme im konkreten Fall nicht gleichzeitig die Funktion der anderen erfüllt. Fiskalische Erwägungen dürfen für die Auswahl nicht maßgebend sein (Bruns S. 491; bedenklich RG JW 1938 1313; Lang-Hinrichsen Voraufl. § 42 ρ Rdn. 10). Für die Auswahl ist nicht maßgebend, ob eine Maßregel zwingend oder fakulta- 9 tiv vorgesehen ist. Die zwingende Maßregel hat keinen Vorrang vor der fakultativen. Denn die Frage, ob eine Maßregel im einen oder anderen Sinne ausgestaltet ist, beruht auf anderen Erwägungen als die Auswahl im konkreten Fall. Unter Umständen kann gerade die in das Ermessen gestellte Maßnahme die geeignetste und zweckmäßigste sein (RGSt. 69 150, 151; Bruns S. 497 f)· b) Verhältnis von Besserung und Sicherung. Daß es in erster Linie auf die Abwehr 10 der künftigen Gefährlichkeit des Täters ankommt (Rdn. 7), wird nicht dadurch ausgeschlossen, daß die Maßregeln seit dem 2. StrRG primär auf die Besserung, nicht aber auf die Sicherung bezogen sind, weil auch der Besserungszweck nur durch den Gesichtspunkt der Gefahrenabwehr legitimiert ist (Rdn. 25 vor § 61). Der Vorrang des Besserungsgedankens greift vielmehr erst dann ein, wenn bei gleicher Beschwer mehrerer geeigneter Maßregeln die eine Maßregel oder Maßregelkombination zur Besserung mehr leistet als die andere (vgl. schon RGSt. 73 44, 47; BGHSt. 5 312, 315; Lang-Hinrichsen Voraufl. § 42 ρ Rdn. 12; ähnlich Preisendanz Anm. 1 ; Maurach-Zipf AT 2, § 67 IV a). Daß allein eine solche Betrachtung zu sinnvollen Ergebnissen führt, zeigt sich an der Gegenposition Horns (vgl. im folg. Text; anders aber auch Lenckner S. 235, 236 und Sch.-Schröder-Stree Rdn. 3, jedoch ohne die Konsequenzen Horns). Horn stellt auf die mit der jeweiligen Maßregel verfolgten Zwecke ab (SK 11 Rdn. 2 ; unklar aber Rdn. 7). Wie weit er dabei differenzieren will, wird nicht ganz (55)

§72

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

deutlich. Jedenfalls aber differenziert Horn zwischen Maßregeln, die im wesentlichen der Besserung dienen und solchen, bei denen die Sicherung dominiert. Von diesem Standpunkt aus nimmt er an, daß ein Konkurrenzverhältnis im Sinne des § 72 überhaupt nicht besteht, soweit sich die jeweiligen Zwecke nicht überschneiden, so daß also insoweit die verschiedenen Maßregeln nebeneinander anzuordnen seien: es „fehlt an einem — von Abs. 1 vorausgesetzten — einheitlichen Zweck". Dies führt Horn — folgerichtig — ζ. B. zu der Annahme, daß wegen des Vorrangs des Besserungsgedankens der Täter auch dann in einem psychiatrischen Krankenhaus unterzubringen sei, wenn die erstrebte Sicherung der Allgemeinheit schon mit einem Berufsverbot zu erreichen wäre (Rdn. 5). Daß das Ergebnis dem Sinn des Gesetzes nicht entspricht, liegt auf der Hand. Es steht überdies in sonderbarem Gegensatz zu der gerade von Horn selbst sehr richtig entwickelten Auffassung, daß bei der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips (§ 62) die Aufrechterhaltung oder Anordnung einer Maßregel allein zum Zwecke der Besserung nicht statthaft ist (vgl. LK § 62 Rdn. 18). 12

2. Vorrang der am wenigsten beschwerenden Maßregel. Allgemeines. Zeigt sich, daß mehrere Maßregeln gleichermaßen geeignet sind, den erstrebten Zweck zu erreichen, hat das Gericht denen den Vorrang zu geben, „die den Täter am wenigsten beschweren" (Absatz 1 S. 2). Auch dies entspricht schon der bisherigen Rechtsprechung (RG HRR 1936 Nr. 1545; RG JW 1938 1877; RG DJ 1939 1043).

a) Daß danach mehrere Maßregeln statt einer einzigen angeordnet werden können, ergibt sich schon aus dem Wortlaut und ist auch sachgemäß (ζ. B. mehrere nicht-freiheitsentziehende Maßregeln statt einer freiheitsentziehenden; aber auch: Unterbringung in einer Entziehungsanstalt und einem psychiatrischen Krankenhaus statt Sicherungsverwahrung, vgl. Rdn. 24 ΟΙ3 b) Was am wenigsten beschwert, ist jeweils anhand der konkreten Gegebenheiten des Einzelfalls nach der Persönlichkeit des Täters und den gesamten Umständen zu entscheiden (so schon RGSt. 73 101, 103; Bruns S. 490 f)· Die Frage ist dabei jedoch nach objektiven Gesichtspunkten zu beurteilen; es kommt also nicht auf die subjektive Meinung des Betroffenen — der darüber oft gar keine zutreffenden Vorstellungen haben wird —, aber auch nicht auf seine persönlichen Empfindungen an (Bruns S. 496). Nicht ausgeschlossen, sondern u. U. sogar geboten ist es freilich, etwaige Wünsche des Täters zu berücksichtigen, wenn er dafür sachliche Gründe geltend macht (so auch RG HRR 1936 Nr. 1545; LangHinrichsen Vorauf!. § 42 ρ Rdn. 9; vgl. auch unten Rdn. 38). 14

c) Gewisse objektive Gesichtspunkte für die Frage der geringsten Beschwer drängen sich freilich auf (vgl. dazu auch die Erörterung von Einzelfällen unten Rdn. 19 ff). So wird regelmäßig anzunehmen sein, daß nicht-freiheitsentziehende Maßregeln, selbst in ihrer Kombination, weniger beschweren als freiheitsentziehende (vorausgesetzt immer, daß sie zur Gefahrenabwehr ausreichen); vgl. auch DreherTröndle 4 0 Rdn. 3; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 4. Ebenso ist es in der Regel verfehlt, die Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus, in der sozialtherapeutischen Anstalt oder in der Sicherungsverwahrung anzuordnen, wenn die Unterbringung in der Entziehungsanstalt genügt (vgl. schon RGSt. 73 101,103; OGHSt. 1 190,197; ebenso Sch.-Schröder-StreeaaO; BGH 1 StR (56)

Verbindung von Maßregeln (Hanack)

§72

415/78 v. 29. 8.1978). Die Sicherungsverwahrung ist grundsätzlich die Maßregel mit der härtesten Beschwer; s. dazu Rdn. 15. Im Verhältnis zwischen dem psychiatrischen Krankenhaus und der sozialtherapeutischen Anstalt gelten die §§ 63 Abs. 2, 65 Abs. 3. Bei den nicht-freiheitsentziehenden Maßregeln ist, da die Führungsaufsicht für sich allein eine Entziehung der Fahrerlaubnis oder die Erteilung eines Berufsverbots im Wege der Weisung nicht deckt (§ 68 b Rdn. 23 ff, 29 0 , eine generalisierende Betrachtung der geringsten Beschwer kaum möglich. So erscheint auch die Auffassung von Lenckner(S. 236; zustimmend Sch.-Schröder-Stree Rdn. 4) bedenklich, die Führungsaufsicht habe den Vorrang vor dem Berufsverbot (dagegen auch Horn SK Rdn. 6); denn die Führungsaufsicht ist eine sehr belastende Maßregel, dergegenüber das Berufsverbot jedenfalls dann nicht schwerer wiegt, wenn der Täter ohne Mühe — zulässigerweise — in eine gleichwertige berufliche Tätigkeit ausweichen kann. Vgl. im übrigen unten Rdn. 28. 3. Besonderheiten der Sicherungsverwahrung. Der Sicherungsverwahrung kommt, 15 schon weil sie nicht so intensiv unter dem Vorrang des Besserungsgedankens steht (§ 66 Rdn. 1 ; vgl. auch § 67 a und BGHSt. 25 38), in ihrer Konzeption seit dem l . S t r R G in starkem Maße ultima-ratio-Charakter zu (§66 Rdn. 13 f)· Zu Recht weist daher Lang-Hinrichsen (Voraufl. § 42 ρ Rdn. 13) darauf hin, daß dieser Charakter nicht nur bei Prüfung der Voraussetzungen des § 66, sondern darüber hinaus nochmals auch bei der Maßregelkonkurrenz beachtet werden muß. Die Sicherungsverwahrung bleibt auch hier „letztes Mittel der Kriminalpolitik", was ζ. T. eine gewisse Abweichung gegenüber der früheren Rechtsprechung bedeutet; vgl. näher Rdn. 22 ff. 4. Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit (§ 62) gilt — über die Prüfung der Anord- 16 nungsvoraussetzungen bei jeder einzelnen Maßregel hinaus — auch bei der speziellen Frage der Maßregelkonkurrenz, weil es sich um einen allgemeinen Grundsatz handelt. Die Anliegen des Grundsatzes stecken im allgemeinen freilich schon in den im vorigen (Rdn. 12 ff) dargelegten Abwägungskriterien.

IV. Fehlende Auswahlmöglichkeit; Bedeutung eines „non liquet" 1. Nebeneinander anzuordnen (Absatz 2) sind die Maßregeln nach allem, wenn 17 und soweit die Auswahl einiger oder einer einzigen dem notwendigen Schutzbedürfnis nicht entspricht. Dies ist, wie schon bemerkt (Rdn. 8), vor allem dann der Fall, wenn die Häufung zur Bekämpfung verschiedenartiger Gefahren erforderlich ist, also nur durch die verschiedenen Maßregeln bekämpft werden kann (so auch Horn SK Rdn. 3). Absatz 2 ist insoweit im Ergebnis nichts anderes als die Kehrseite der Prüfung nach Absatz 1. — Die Häufung entfällt nach Absatz 2, wenn das Gesetz selbst anderes bestimmt. Es tut dies für die stellvertretende Unterbringung in der sozialtherapeutischen Anstalt statt im psychiatrischen Krankenhaus (§§ 63 Abs. 2, 65 Abs. 3). 2. „non liquet". Besondere Bedeutung gewinnt die Kumulation, wenn zweifelhaft 18 ist, ob sich der erstrebte Zweck bereits durch die eine oder andere Maßregel erreichen läßt. Die Frage entsteht in der Praxis nicht selten, insbesondere weil sich die Entwicklung des Täters vielfach noch nicht abschließend beurteilen läßt. (57)

§72

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

Der Tatrichter ist verpflichtet, Zweifeln unter Ausnutzung aller sich bietender Erkenntnisquellen nachzugehen (vgl. schon RGSt. 69 153, 154; Bruns S. 502). Erst wenn auch dies zu keiner Klarheit führt, fragt sich, welche Bedeutung das „non liquet" hat. Entgegen einer überholten älteren Auffassung (s. bei Bruns S. 502 f) ist das Unaufgeklärtsein hier ein selbständiger Grund für die Maßregelhäufung. Dies entspricht schon der Rechtsprechung des RG (RGSt. 69 129, 135; 73 101, 103), das dabei, entsprechend dem damaligen Rechtszustand, auf die nähere Bestimmung durch die Vollstreckungsbehörde und ihre größere Nähe zur Person des Verurteilten im Vollzug vertraute. Im heutigen Recht ergibt sich die Anwendbarkeit des Absatz 2 zum einen schon aus dem Wortlaut des § 72. Zum anderen folgt sie aus den besonderen Aufgaben des Gerichts bei der Vollstreckung freiheitsentziehender Maßregeln (§§ 67 a, 67 c, 67 d Abs. 2, 67 e), bei der Führungsaufsicht (§§ 68 c bis 68 f), aber auch aus der Regelung des § 69 Abs. 7 und des § 70 a. Im Ergebnis ebenso Dreher- Tröndle40 Rdn. 2; Lenckner S. 235 f ; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 5. Die Annahme freilich, daß es zweckmäßig sei, möglichst alle oder doch viele Maßregeln anzuordnen, um so für den Vollzug einen möglichst weiten Spielraum zu lassen, entspricht, wie bisher (Lang-Hinrichsen Vorauf!. § 42 ρ Rdn. 17), nicht dem Gesetz. 19

V. Erörterung einzelner Fallkonstellationen. Wie bemerkt (Rdn. 3 0 , ist die Frage der Häufung, der Auswahl und des Vorrangs einzelner Maßregeln entscheidend von den jeweiligen Gegebenheiten des Einzelfalls abhängig. Unter Beachtung dieses Vorbehalts lassen sich jedoch immerhin für bestimmte typische Fallgruppen gewisse generalisierende Aussagen machen, die im folgenden zusammengestellt werden.

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1. Bedeutung des § 67 a bei freiheitsentziehenden Maßregeln. Bedenklich erscheint die Auffassung von Dreher- Tröndle40 Rdn. 2, daß die neue Vorschrift des § 67 a die Häufung freiheitsentziehender Maßregeln vielfach entbehrlich mache. Denn diese Vorschrift wendet sich nicht an das erkennende Gericht; sie betrifft Fälle, in denen die Notwendigkeit der Überweisung nachträglich eintritt oder erkannt wird. So wird man zwar annehmen dürfen, daß das erkennende Gericht § 67 a beim Zusammentreffen verschiedener Störungen in gewissem Umfang berücksichtigen darf, soweit es um geringfügige „Nebenstörungen" neben einer „Hauptstörung" geht, wenn die Entwicklung der ersteren noch unsicher ist oder wenn zweifelhaft bleibt, ob sie in einer Anstalt mitbehandelt werden kann. Darüber hinaus ist es jedoch unzulässig, im Vertrauen auf § 67 a die Häufung an sich notwendiger Maßregeln zu unterlassen (so auch Lenckner S. 236, Fußn. 273).

21

2. Zusammentreffen von psychiatrischem Krankenhaus bzw. sozialtherapeutischer Anstalt und Entziehungsanstalt. Beruht der Rauschmittelmißbrauch (§ 64) auf einem Defekt i. S. der §§20, 21, können im Einzelfall sowohl die Voraussetzungen der Unterbringung nach § 64 als auch nach § 63 gegeben sein, wobei zu beachten ist, daß statt der Unterbringung im Krankenhaus auch die Unterbringung in der sozialtherapeutischen Anstalt in Betracht kommen kann (§§ 63 Abs. 2, 65 Abs. 3). Ist positiv festzustellen, daß der Täter in der Entziehungsanstalt innerhalb der Zweijahresfrist des § 67 d Abs. 1 von seiner Sucht geheilt werden kann, hat die Unterbringung im Krankenhaus hinter der Untérbringung in der Entziehungsan(58)

Verbindung von Maßregeln (Hanack)

§72

stalt zurückzutreten, falls damit die Gefährlichkeit des Täters insgesamt behoben werden kann (vgl. Rdn. 10 0 , er also trotz seiner seelischen Störung im übrigen nicht mehr gefährlich ist. Es ist nur die Unterbringung gemäß § 64 anzuordnen, weil sie schon wegen ihrer befristeten Dauer die weniger beschwerende Maßregel darstellt (so auch Lenckner, S. 236; Dreher-Tröndle 4 0 § 64 Rdn. 9). Ist jedoch der Täter wegen seiner seelischen Störungen unabhängig von seiner Rauschmittelsucht gefährlich, wird im Hinblick auf die Unsicherheit der künftigen Entwicklung des Täters eine positive Prognose für den Erfolg der Unterbringung allein in der Entziehungsanstalt oft nicht möglich sein ; dann sind beide Maßregeln anzuordnen (BGH 1 StR 258/56 v. 9. 8.1956; vgl. auch BGH GA 1965 342; Sch.Schröder-Stree § 64 Rdn. 13). Läßt sich keine Auswahl treffen, richtet sich die Reihenfolge der Vollstreckung nach den in Rdn. 32 angegebenen Grundsätzen. Nicht selten — und besonders bitter — sind in der Praxis ersichtlich Fälle, in denen jemand durch Alkohol oder sonstige Rauschmittel so geschädigt ist, daß nur noch seine dauernde Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus in Betracht kommt; s. dazu §64 Rdn. 16 und Langelüddeke-Bresser Gerichtliche Psychiatrie 4 (1976) S. 281. 3. Zusammentreffen von Sicherungsverwahrung und Entziehungsanstalt. Bei einem 22 Hangtäter i. S. des § 66 kann der Hang zum Verbrechen auch mit einer Alkoholoder Rauschgiftsucht (§ 64) zusammenhängen oder gar auf ihr beruhen. So ist es insbesondere möglich, daß es bei einem solchen Täter aufgrund seines Hangs dann zu Straftaten kommt, wenn er erhebliche Mengen Alkohol zu sich genommen hat. Wie schon das Reichsgericht (DJ 1940 1221 ; RGSt. 72 259 f; 73 177, 179) zutreffend ausgeführt hat, stehen der Hang zum Verbrechen und die Sucht als auslösende Faktoren für die Straftaten nicht im Gegensatz, da der Hang zum Verbrechen nicht stets mit einer besonderen Stärke des verbrecherischen Willens und mit besonderer Tatkraft verbunden sein muß; er kann vielmehr auch auf Willensschwäche, insbesondere auf einer Zerrüttung der Willenskraft beruhen, die den fortgesetzten Alkohol· oder Suchtmittelmißbrauch hervorruft. Diese Erwägung trifft auch nach der Neuregelung der Sicherungsverwahrung durch das 1. StrRG zu. Nach der überwiegenden und auch hier vertretenen Auffassung kann die Sicherungsverwahrung auch nach dieser Neuregelung gegenüber Haltlosen und Willensschwachen angeordnet werden (§ 66 Rdn. 79 ff). Dann kommen, wenn die sonstigen Voraussetzungen vorliegen, die Unterbringung in der Sicherheitsverwahrung und die Unterbringung in der Entziehungsanstalt nebeneinander in Betracht (BGH 1 StR 258/56 v. 9. 8. 1956; 4 StR 482/63 v. 10. 1.1964; Dreher-Tröndle 4 0 Rdn. 2). Es bedarf in einem solchen Fall daher der Prüfung, ob der Täter von seiner Sucht und einem auf ihr beruhenden Hang zu Straftaten allein durch die Unterbringung gemäß § 64 geheilt werden kann. Ist dies — und zwar unter Berücksichtigung der Höchstfrist von zwei Jahren — anzunehmen, was nur mit Hilfe eines Sachverständigen beantwortet werden kann (§ 246 a StPO), darf die Sicherungsverwahrung nicht angeordnet werden (RGSt. 73 44, 47; 73 101, 103). Denn niemand soll mit mehr Maßregeln belegt werden als zum Schutz der Allgemeinheit erforderlich, die Besserung soll den Vorrang vor der Sicherung haben und die Sicherungsverwahrung soll ultima ratio (s. Rdn. 15) bleiben. Lassen sich die Erfolgsaussichten einer Unterbringung gemäß § 64 nicht hin- 23 reichend sicher beurteilen, kann es erforderlich sein, auch Sicherungsverwahrung anzuordnen (RGSt. 73 44, 47). (59)

§72

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

Beruht der Hang zum Verbrechen nicht ausschließlich auf der Sucht, ist der Täter also unabhängig hiervon aus anderen Gründen ein gefährlicher Hangtäter, so sind aus diesem Gesichtspunkt ebenfalls beide Maßregeln nebeneinander anzuordnen, weil die Notwendigkeit der Sicherungsverwahrung hier trotz Heilung von der Sucht bestehen bleibt (Bruns S. 526; Lang-Hinrichsen Voraufl. § 4 2 ρ Rdn. 21). Es wäre nicht zutreffend, nur die Sicherungsverwahrung anzuordnen, da in ihr die f ü r die Heilung wichtigen Bemühungen zur Behebung der Sucht nicht gewährleistet sind u n d die bloße Entziehung allein die Heilung im allgemeinen noch nicht verbürgt (s. § 64 Rdn. 98 ff); hier liegt eine Doppelgefahr vor, gegen die mit verschiedenen Maßregeln anzugehen ist. 24

4. Zusammentreffen von Sicherungsverwahrung und psychiatrischem Krankenhaus bzw. sozialtherapeutischer Anstalt. Treffen seelische Störungen (§§ 63, 21) und Hangtäterschaft (§ 66) zusammen, ist zu unterscheiden : Beruht die Hangtäterschaft auf der seelischen Störung, hängt die Frage, ob eine Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus o d e r / u n d in der Sicherungsverwahrung erfolgen muß, wiederum von den Gesamtumständen (BGHSt. 5 312; Lackner § 66 Anm. 5 a cc), insbesondere aber davon ab, ob damit zu rechnen ist, daß die Gefährlichkeit des Täters durch die Behandlung im Krankenhaus behoben werden kann, wobei (ab 1. 1. 1985) auch die Möglichkeiten des Austausche mit der sozialtherapeutischen Anstalt zu beachten sind (vgl. im folg.). Steht dies zu erwarten, darf wegen des Vorrangs der Besserung und des ultima-ratio-Charakters der Sicherungsverwahrung (s. Rdn. 15) lediglich die Unterbringung im Krankenhaus angeordnet werden (Sch.-Schröder-Stree § 66 Rdn. 68). Davon ist für das Verhältnis zwischen der Sicherungsverwahrung u n d der sozialtherapeutischen Anstalt eindeutig auch der Gesetzgeber ausgegangen (Prot. V, 2302).

25

Beim ganzen entstehen allerdings kritische Fragen: Die bisherige Erfahrung hat gezeigt, daß sich gerade unter den Rückfälligen und „chronisch" Kriminellen, die wegen „zugebilligter" Persönlichkeitsstörungen nach § 2 1 (bzw. nach § 5 1 Abs. 2 a. F.) zur Unterbringung nach § 63 (bzw. § 42 b a. F.) kommen, viele befinden, die für die Unterbringung im traditionellen psychiatrischen Krankenhaus kaum geeignet sind, da mit den dort möglichen und üblichen Mitteln auf sie oft nicht zweckdienlich eingewirkt werden kann, ganz abgesehen davon, daß die Täter in diesen Anstalten häufig stören und dadurch auch die Behandlung der anderen Insassen beeinträchtigen (vgl. dazu LK § 63 Rdn. 3). Die Gefahr, d a ß dies auch in Z u k u n f t so bleibt, ist aus vielen G r ü n d e n naheliegend (Hanack J R 1975 441, 445 f). Sie wird — jedenfalls bei den derzeitigen Gegebenheiten — insbesondere auch durch die Möglichkeit, den Täter künftig statt ins Krankenhaus in die sozialtherapeutische Anstalt einzuweisen (§§ 63 Abs. 2, 65 Abs. 3), allenfalls zum Teil abgefangen (vgl. LK § 63 Rdn. 98 ff). So bestehen hier nach wie vor schwer erträgliche praktische Probleme. Sie dürfen aber aus den in Rdn. 15 und in § 66 Rdn. 15, 18 genannten Gründen nicht dazu führen, einen behandlungsbedürftigen u n d behandlungsfähigen Täter ohne den Versuch einer solchen Behandlung im Zweifel nur in die Sicherungsverwahrung einzuweisen (vgl. auch LencknerS. 236; überholt: Bruns S. 526 f; bedenklich wohl auch RGSt. 72 151). Nur wenn sicher ist, d a ß der Täter weder heilbar noch pflegebedürftig ist, kommt gegebenenfalls allein die Sicherungsverwahrung in Betracht (vgl. BGHSt. 5 312, 315 m. w. Nachw., aber zu weitgehender Berücksichtigung des Anstaltszwecks bei § 63 bzw. bei § 42 b a. F.; RGSt. 73 101, 103; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 3 und § 66 Rdn. 68; a. A. O L G Freiburg D R Z 1949 (60)

Verbindung von Maßregeln (Hanack)

§72

117). Die Auffassung des AE, daß niemand in die Sicherungsverwahrung eingewiesen werden solle, bei dem nicht zuvor die Behandlung in der sozialtherapeutischen Anstalt wenigstens versucht worden ist (§70 mit Ausnahmen; vgl. LK §66 Rdn. 15), ist zwar nicht Gesetz geworden, enthält aber selbst nach gesetzgeberischer Erwartung (§ 66 Rdn. 15) dennoch einen beachtenswerten Maßstab, wie mittelbar wohl auch die Zehnjahresfrist des § 67 d Abs. 1 für die erstmalige Anordnung der Sicherungsverwahrung deutlich machen dürfte. Zweifelhaft erscheint, ob die Unterbringung des nicht heilbaren oder pflegebe- 26 dürftigen Täters im psychiatrischen Krankenhaus angesichts dieser Zehnjahresfrist „ausnahmsweise" geboten ist, wenn sich schon im Zeitpunkt des Urteils voraussehen läßt, daß er zeitlebens gefährlich sein wird (so Sch.-Schröder-Stree Rdn. 3): Denn wenn er ohne die Frist nur zu Sicherungsverwahrung verurteilt zu werden brauchte, bedeutet die Einweisung an sich eine Umgehung des Zwecks der Zehnjahres-Höchstgrenze. Man wird jedoch annehmen müssen, daß der Gesetzgeber bei der Zehnjahresfrist nur an voll schuldfähige Täter dachte (vgl. dazu auch die Fallschilderungen Horstkottes vor dem Sonderausschuß, Prot. VII, 740 f) und nicht gewollt haben kann, daß der gestörte Täter, nur weil er auch Hangtäter ist, der Einweisung ins Krankenhaus entzogen wird, die bei fehlender Hangtäterschaft ohne Rücksicht auf seine Heilbarkeit oder Pflegebedürftigkeit zu erfolgen hätte. Im Ergebnis ist daher der Meinung Sch.-Schröder-Strees (aaO) zu folgen. Beruht die Hangtäterschaft nicht nur auf der seelischen Störung, sondern ist der Täter auch unabhängig davon ein gefährlicher Gewohnheitsverbrecher (Doppelgefährlichkeit: Bruns S. 526), ist im Zweifel die Kombination beider Maßregeln geboten. Zur Reihenfolge der Vollstreckung bei Anordnung beider Maßregeln und der Strafe vgl. wiederum Rdn. 31 und § 67. 5. Zusammentreffen von Sicherungsverwahrung mit den §§ 63, 64, 65. Treffen 27 Hangtäterschaft (§ 66), seelische Störungen (§§ 63 oder 65 i. V. mit 21) und Rauschmittelsucht (§ 64) zusammen, gelten für die Frage, welche und wie viele der in Betracht kommenden Maßregeln anzuordnen sind, die oben Rdn. 21 ff angeführten Grundsätze entsprechend. Die spezifisch bessernden Maßregeln haben auch hier den Vorrang, falls durch sie die Gefährlichkeit des Täters behoben werden kann. Sie sind je nach den Umständen insoweit kumulativ anzuordnen, wie es erforderlich ist, um den verschiedenen Störungen des Täters zu begegnen. Danach kommen u. U. sehr weitgehende Häufungen in Betracht (BGH GA 1965 342; RGSt. 73 44, 47; vgl. auch RG H R R 1939 Nr. 386; Sch.-Schröder-Stree Rdn. 5). Auch hier ist dabei von Bedeutung, ob der Hang des Täters ausschließlich auf der seelischen Störung oder der Sucht beruht oder ob der Täter unabhängig hiervon aus anderen Gründen gefährlich ist (vgl. Bruns S. 525 f)· 6. Zusammentreffen nicht-freiheitsentziehender Maßregeln. Beim Zusammentref- 28 fen mehrerer nicht-freiheitsentziehender Maßregeln werden im allgemeinen keine so großen Schwierigkeiten entstehen, weil es bei diesen Maßregeln meist um die Abwehr abgegrenzter Gefahrenquellen geht und es bei ihnen nicht so spezifisch auf die verschiedenen Behandlungsformen wie beim gestörten unterzubringenden Täter ankommt. Wegen der verschiedenen Stoßrichtungen dieser Maßregeln wird vielfach die Kumulation in Betracht kommen. Dies gilt auch für die Führungsaufsicht im Ver(61)

§72

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

hältnis zur Entziehung der Fahrerlaubnis und zur Erteilung eines Berufsverbots, wenn man der hier vertretenen Meinung folgt (näher § 68 b Rdn. 23 ff und Rdn. 29 0» daß bei der Führungsaufsicht eine Entziehung der Fahrerlaubnis oder die Anordnung eines Berufsverbots allein im Wege der Weisung nach § 68 b nicht möglich ist (ebenso wohl Dreher- Tröndle 4 0 Rdn. 2). Doch sind auch hier Ausnahmen von der Kumulation durchaus denkbar. So braucht ζ. B. der Gefährlichkeit eines berufsmäßigen Lkw-Fahrers gegenüber Anhalterinnen nicht notwendig durch Häufung der Maßregeln des § 68 und des § 70 begegnet zu werden, wenn schon die eine oder die andere reicht; und beim betrügerischen Vertreter kann u. U. statt des Berufsverbots die Entziehung der Fahrerlaubnis ausreichen (Preisendanz Anm. 1). 29

7. Zusammentreffen von freiheitsentziehenden und nicht-freiheitsentziehenden Maßregeln. Schwieriger liegen die Probleme wieder beim Zusammentreffen von freiheitsentziehenden und nicht-freiheitsentziehenden Maßregeln. So kann ζ. B. zweifelhaft sein, ob neben einer Unterbringung die Entziehung der Fahrerlaubnis, die Anordnung eines Berufsverbots oder auch beide Maßregeln zugleich erforderlich sind. Der Grundsatz, daß eine Kumulation nicht stattfindet, wenn die eine Maßregel die andere entbehrlich macht, greift hier nicht ohne weiteres ein, da die Unterbringung die Folgen der anderen Maßregeln nicht völlig einschließt. Die nicht-freiheitsentziehenden Maßregeln behalten ζ. B. dann Bedeutung, wenn der Täter aus der Unterbringung zur Bewährung entlassen wird oder die Vollstreckung (in den Fällen des § 67 b) gar schon zugleich mit der Anordnung ausgesetzt wird. Im übrigen laufen die Fristen für die Dauer des Berufsverbots und der Führungsaufsicht überhaupt erst, wenn sich der Täter in Freiheit befindet (§ 70 Abs. 4; § 68 c Abs. 2). Das Verbot der Berufsausübung kann ζ. B. nach der Entlassung aus der Sicherungsverwahrung die Öffentlichkeit vor der mißbräuchlichen Berufsausübung schützen (RG HRR 1935 Nr. 899), wenn der Untergebrachte zwar seinen allgemeinen Hang zu erheblichen Straftaten verloren hat, seine Gefährlichkeit hinsichtlich der Berufsausübung aber fortbesteht (Bruns S. 536). In Fällen dieser Art kann sich die zusätzliche Anordnung des Berufsverbots im Ergebpis sogar zugunsten des Täters auswirken, da die Entlassung aus der Unterbringung im Einzelfall erfolgen kann, bevor die Gefährlichkeit des Täters auch in berufsspezifischer Hinsicht beseitigt ist, während er möglicherweise weiterhin in Verwahrung zu belassen wäre, wenn ein Berufsverbot nicht angeordnet wird. Ähnliche Erwägungen gelten für die Entziehung der Fahrerlaubnis. So hat der BGH (GA 1966 180 f; VRS 30 274; BGHSt. 13 91, 93 f) mit Recht entschieden, daß die Anordnung der Sicherungsverwahrung die Entziehung der Fahrerlaubnis grundsätzlich nicht überflüssig macht, da es sich um zwei in Voraussetzungen und Wirkung durchaus unterschiedliche Maßregeln handelt. Überspitzt erscheint freilich die Auffassung von BGH VRS 30 274, daß die Fahrerlaubnis neben der Sicherungsverwahrung stets entzogen werden „muß".

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Zeigt sich, daß nicht-freiheitsentziehende Maßregeln ausreichen, ist auf eine freiheitsentziehende Maßregel grundsätzlich nicht zu erkennen (Rdn. 14; vgl. auch Lenckner S. 236). So läßt sich die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt u. U. vermeiden, wenn einem trunksüchtigen Verkehrsdelinquenten, der bisher nur im Straßenverkehr, nicht aber auch sonst durch rechtswidrige Taten in Erscheinung (62)

Verbindung von Maßregeln (Hanack)

§72

getreten ist, die Fahrerlaubnis entzogen wird, falls er nicht auch nach Entziehung der Erlaubnis weiterhin schwerwiegende Verkehrsdelikte befürchten läßt (so richtig Preisendanz Anm. 1). Die Anordnung von Führungsaufsicht neben einer freiheitsentziehenden Maßregel ist in der Regel überflüssig, wenn die Maßregel nur auf dem Weg über eine Aussetzung zur Bewährung enden kann, mit der ohnedies Führungsaufsicht kraft Gesetzes eintritt. Die Anordnung kommt daher im allgemeinen nur neben der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt und einer sozialtherapeutischen Anstalt nach § 65 Abs. 1, 2 in Betracht, weil insoweit Höchstfristen für die Dauer der Unterbringung bestehen, nach deren Erledigung Führungsaufsicht kraft Gesetzes nicht eintritt. VI. Reihenfolge mehrerer freiheitsentziehender Maßregeln (Absatz 3) 1. Bestimmung der Reihenfolge. Ordnet das erkennende Gericht mehrere frei- 31 heitsentziehende Maßregeln an, bestimmt es nach Absatz 3 S. 1 zugleich auch die Reihenfolge der Vollstreckung (Abweichung vom früheren Recht). Grund dafür ist der Gedanke, daß das Gericht aufgrund seiner Kenntnis der Umstände auch entscheiden soll, welche Einwirkung auf den Täter ihm am vordringlichsten erscheint. Die Anordnung ist im Urteil zu treffen, nicht also durch gesonderten Beschluß (§ 260 StPO). Maßgebend für die Wahl muß sein, welche Form der Behandlung nach der Per- 32 sönlichkeit des Täters und den Umständen für die optimale Erreichung des Maßregelzwecks am ehesten geeignet ist (Dreher-Tröndle 4 0 Rdn. 4). Regelmäßig wird das diejenige Maßregel sein, die dem Täter am besten hilft (Sch.-Schröder-Stree Rdn. 6; Vorrang des Besserungsgedankens im Vollzug, s. LK Rdn. 22 vor § 61 ; vgl. auch Rdn. 10). Daher ist ζ. B. die Entziehungsanstalt im Zweifel grundsätzlich vor der Sicherungsverwahrung zu vollstrecken, weil nach erfolgreicher Entziehungskur regelmäßig auch die Resozialisierung in der Sicherungsverwahrung (vgl. § 129 S. 2 StVollzG) erfolgversprechender ist (a. A. Dreher-Tröndle aaO: Frage des Einzelfalls). Die Sicherungsverwahrung wird überhaupt regelmäßig die zeitlich letzte Möglichkeit sein. Bei der Wahl zwischen der Entziehungsanstalt, dem psychiatrischen Krankenhaus und der sozialtherapeutischen Anstalt ist entscheidend der Schwerpunkt der Störung des Täters; auch die Frage, in welcher Anstalt er nach den konkret zur Verfügung stehenden Behandlungsmitteln am besten aufgehoben ist (dazu Hanack JR 1975 441), kann bei der Reihenfolge eine Rolle spielen. Gegebenenfalls hat hier der Sachverständige (§ 246 a StPO) die notwendigen Daten zu liefern. Die Möglichkeit, den Täter nachträglich in den Vollzug einer anderen freiheitsentziehenden Maßregel zu überweisen (§ 67 a), bleibt von Absatz 3 S. 1 unberührt. 2. Überprüfung der nächsten Maßregel. Zum Schutze des Täters ist das Gericht 3 3 — über die allgemeine Überprüfungspflicht des § 67 e hinaus — verpflichtet, vor Ende des Vollzugs (zu diesem Begriff Horstkotte LK, Erl. zu 67 c) der einen Maßregel zu prüfen, ob der Vollzug der anderen noch erforderlich ist (Absatz 3 S. 2). Die Vollstreckung der nächsten Maßregel bedarf also jeweils einer besonderen gerichtlichen Anordnung (Sch.-Schröder-Stree Rdn. 7). Dabei kann das Gericht in dreierlei Weise entscheiden: Es kann die nächste Maßregel für erledigt erklären, wenn ihr Zweck schon erreicht ist (Satz 3 i. V. mit (63)

§72

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

§ 67 c Abs. 2 S. 5). Es kann die nächste Maßregel zur Bewährung aussetzen, wenn der Maßregelzweck zwar noch nicht erreicht ist, aber besondere Umstände die Erwartung rechtfertigen, er könne auch durch die Aussetzung erreicht werden; mit der Aussetzung tritt Führungsaufsicht ein (Satz 3 i. V. mit § 67 c Abs. 2 S. 4). Es kann den Vollzug der nächsten Maßregel anordnen (Satz 2), wenn dies nötig ist. 34 Für das Verfahren (Beschluß, u. U. mündliche Anhörung) und für die gerichtliche Zuständigkeit (regelmäßig Strafvollstreckungskammer) gelten die §§ 463 Abs. 3, 1 i. V. mit 454, 462 a StPO. Zur Bedeutung der Prüfung im Hinblick auf die Fristen für die Dauer der Unterbringung (§ 67 d) und die Überprüfung (§ 67 e) vgl. Horn SK Rdn. 12. Auch hier bleibt § 67 a unberührt. 35

VII. Vollstreckung beim Zusammentreffen mehrerer nicht-freiheitsentziehender Maßregeln. Absatz 3 gilt nach Wortlaut und Zweck nur für die freiheitsentziehenden Maßregeln. Bei den nicht-freiheitsentziehenden gibt es keine besondere Anordnung der Vollstreckung (vgl. §§ 68 c Abs. 2 S. 1, 69 Abs. 3 S. 1, 70 Abs. 4 S. 1). Hier treten also auch im Fall der Häufung die Wirkungen jeweils mit der Rechtskraft ein.

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VIII. Vollstreckung beim Zusammentreffen freiheitsentziehender und anderer Maßregeln. Auch hier gilt nicht Absatz 3, sondern folgendes. Alle drei nicht-freiheitsentziehenden Maßregeln beginnen, wie bemerkt (Rdn. 35), kraft Gesetzes mit Rechtskraft des Urteils. Bei der Führungsaufsicht und beim Berufsverbot wird dabei u. a. die Zeit, die der Täter auf behördliche Anordnung in einer Anstalt untergebracht ist, auf die Dauer dieser beiden Maßregeln nicht angerechnet (§§ 68 c Abs. 2 S. 2, 70 Abs. 4 S. 3). Sie entfalten daher, falls nicht der Fall des § 67 b vorliegt, praktische Wirksamkeit erst, wenn der Täter wieder aus dem Vollzug der freiheitsentziehenden Maßregel — aus welchem Grund auch immer — entlassen ist. Bei der Entziehung der Fahrerlaubnis fehlt eine entsprechende Vorschrift, so daß hier ein Nebeneinander des Entzugs und der Unterbringung eintritt.

IX. Verfahrensrechtliches 1. Maßregelaustausch und Verschlechterungsverbot 37 a) Das Verbot der reformatio in peius (§§ 331, 358 Abs. 2, 373 Abs. 2 StPO) gilt kraft Gesetzes nicht für die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt, einem psychiatrischen Krankenhaus sowie in einer sozialtherapeutischen Anstalt. Diese Unterbringungsformen können daher in der Rechtsmittelinstanz, in der ersten Instanz nach Rückverweisung sowie im Wiederaufnahmeverfahren neu angeordnet werden (s. Rdn. 92 vor § 61). 38

b) Ein Austausch mit der Sicherungsverwahrung ist danach unzulässig. Dieses Ergebnis hat BGHSt. 5 312, 316 in einem Fall übersprungen, in dem der Tatrichter die Voraussetzungen sowohl für die Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus (damals: Heil- oder Pflegeanstalt) als auch für die Sicherungsverwahrung bejaht, aber bei der Wahl zwischen beiden Maßregeln nur die Unterbringung im Krankenhaus angeordnet hatte. Der BGH, der die Wahl für rechtlich zweifelhaft hielt, meinte, in einem solchen Fall könne in der erneuten Hauptverhandlung die Sicherungsverwahrung angeordnet werden: Das Verbot der Schlechterstellung (64)

Verbindung von Maßregeln (Hanack)

§72

nehme dem Gericht, wenn es die Voraussetzungen beider Maßregeln bejaht habe, nicht die Möglichkeit, so zu verfahren, da sonst ein vom Angeklagten als Beschwer empfundener und zutreffend gerügter Rechtsfehler nicht beseitigt werden könne. Die Entscheidung hat erhebliche Kritik erfahren (angeführt in BGHSt. 25 38, 40; ablehnend auch Lang-Hinrichsen Voraufl. § 42 ρ Rdn. 36). Sie kann angesichts des klaren Gesetzeswortlauts und dem dahinter stehenden Anliegen in dieser Allgemeinheit in der Tat nicht überzeugen. Der BGH ist mittlerweile selbst von ihr stark abgerückt (BGHSt. 25 38 m. Anm. Maurach JR 1973 162; einschränkend auch schon BGH bei Dallinger MDR 1968 552 m. w. Nachw.). Der BGH sieht den Austausch jetzt zutreffend „in der Regel" als unzulässig an. Er läßt nur offen, ob dies auch dann gilt, wenn — wie im Fall BGHSt. 5 312 — der Austausch dem ausdrücklichen Antrag des Angeklagten entspricht. Mit Frisch (JA 1974 167, 168 f) und der Tendenz von Maurach (aaO) dürfte dies dann — aber auch nur dann — zu bejahen sein, wenn die Unterbringung im Krankenhaus medizinisch nicht indiziert ist, also dem Angeklagten nicht helfen kann, sondern von ihm auch nach seiner Persönlichkeitsstruktur als drückende Last empfunden werden muß. Denn in diesem Fall verkehrt die Betrachtung des Verschlechterungsverbots und seiner gesetzlichen Ausnahmen nach rein generell-objektiven Maßstäben die Ziele des Gesetzes letztlich ins Gegenteil (eingehend Frisch aaO; vgl. auch Gollwitzer in Löwe-Rosenberg, § 331 Rdn. 87 m. w. Nachw.). Dies muß mit Rücksicht auf die Höchstfrist des § 67 d Abs. 1 jedenfalls gelten, wenn es sich um die erstmalige Anordnung der Sicherungsverwahrung handelt. c) Zu weit geht die Ansicht von Bruns (JZ 1954 730), der zwar die Begründung 39 von BGHSt. 5 312 ablehnt, selbst aber wie folgt differenziert: Wenn der Vorderrichter überhaupt keine Maßregel angeordnet habe oder aber zum ersten Urteil eine „andere" (weitere) Maßregel hinzutreten solle, sei der Täter — von den in Rdn. 37 genannten gesetzlichen Ausnahmen abgesehen — gegen Maßregeln geschützt. Anderes gelte hingegen für die „Auswechslungsfälle". Hier sei, wenn sich der Vorderrichter nur in der Auswahl der rechtlich möglichen Maßregeln vergriffen habe, der Gedanke Oetkers (JW 1935 1417) maßgebend, daß die einzelnen Maßregeln grundsätzlich als rechtlich äquivalent anzusehen seien. Von daher will Bruns insoweit in der Auswechslung einer Maßregel durch eine andere grundsätzlich keine Beschwer des Verurteilten erblicken, soweit nicht — wie ζ. B. im Verhältnis Berufsverbot-Sicherungsverwahrung — Ausnahmen von der Äquivalenz der Maßregeln nach dem Wesen des Verschlechterungsverbots (nach der Lebenserfahrung und dem richterlichen Ermessen) die Vergleichbarkeit ausschlössen. Gegen diese Überlegungen spricht, daß den Ausnahmen vom Verschlechterungsverbot eindeutig eine Differenzierung der Maßregeln zugrunde liegt (vgl. auch BGHSt. 25 38), die der Richter nicht überspringen kann. Der Gedanke Oetkers, von Bruns selbst als „recht kühn" bezeichnet, dürfte schon aus diesem Grunde nicht haltbar sein (dagegen auch Sch.-Schröder^ § 42 ρ Rdn. 2; Lang-Hinrichsen Voraufl. § 42 ρ Rdn. 40). d) Zum Austausch zwischen Entziehung der Fahrerlaubnis und Fahrverbot näher 40 Gollwitzer aaO Rdn. 91. 2. Hinweis auf veränderte rechtliche Gesichtspunkte. Die Verpflichtung, den Angeklagten auf die mögliche Anordnung von Maßregeln hinzuweisen, die in der durch den Eröffnungsbeschluß zugelassenen Anklage nicht genannt sind (§ 265 (65)

§72

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

StPO; s. LK Rdn. 87 vor § 61), gilt auch, wenn in der zugelassenen Anklage zwar Maßregeln angeführt sind, statt ihrer oder neben ihnen aber andere Maßregeln verhängt werden sollen. Denn der Täter braucht mit anderen als den angeführten Maßregeln nicht zu rechnen; angesichts ihrer Verschiedenartigkeit sind auch die Möglichkeiten der Verteidigung gegen die einzelnen Maßnahmen unterschiedlich. 3. Rechtsmittelbeschränkungen. Rechtsmittelbeschränkungen (s. Rdn. 89 vor § 61), die nur auf die fehlerhafte Häufung oder Ausschließung von Maßregeln, also auf die Verletzung des § 72, gerichtet sind, sind möglich, werden aber nach den allgemeinen Grundsätzen der Rechtsprechung (Rdn. 89 vor § 61) vielfach wegen Untrennbarkeit der Rechtsfragen wirkungslos sein.

(66)

Verfall und Einziehung (Schäfer)

Vor § 73

SIEBENTER TITEL Verfall und Einziehung

Vorbemerkungen I. Allgemeines. Der Siebente Titel des 3. Abschnitts („Rechtsfolgen der Tat") 1 regelt die Rechtsinstitute des Verfalls (§§ 73 bis 73 d) und der Einziehung einschließlich der mit ihr im Zusammenhang stehenden Unbrauchbarmachung (§§ 74 bis 75). Die §§ 76 und 76 a enthalten für beide Rechtsinstitute gemeinsam geltende Vorschriften über die nachträgliche und selbständige Anordnung. Verfall, Einziehung und Unbrauchbarmachung fallen nach § 11 Abs. 1 Nr. 8 (neben den Maßregeln der Besserung und Sicherung) unter den Begriff der „Maßnahme" im Sinn des Strafgesetzbuchs. Die Entwicklung der beiden Rechtsinstitute hat sich getrennt vollzogen : während die Einziehung von vornherein einen Bestandteil des im Allgemeinen Teil geregelten Rechtsfolgesystems bildete und bereits einen längeren Entwicklungsgang durchlaufen hatte, ist der Verfall erst in einem Spätstadium zu einem allgemein für das gesamte Strafrecht geltenden Rechtsfolgeinstitut im Allgemeinen Teil ausgestaltet worden. II. Die Entwicklung des Einziehungsrechts 1. Durch Art. 1 Nr. 2 bis 5 EGOWiG vom 24. 5.1968 (BGBl. I 503) wurden die 2 bis dahin die Einziehung und Unbrauchbarmachung regelnden §§ 40, 41, 42 durch neue Vorschriften (§§40, 40 a, 40 b, 40 c, 41, 41 a, 41 b, 41 c, 42) ersetzt. Diese neuen Einziehungsvorschriften gelten mit gewissen redaktionellen Abweichungen und mit geänderter Paragraphenbezifferung (§§ 74 bis 76 a) auch jetzt noch (unten Rdn. 8). Die Neuregelung des Jahres 1968 erwies sich als erforderlich, weil das abgelöste Einziehungsrecht nach Form und Inhalt mit rechtsstaatlichen Vorstellungen nicht mehr vereinbar war. 2. Die frühere Regelung im Allgemeinen Teil beschränkte sich nämlich auf einige 3 wenige Sätze, an die sich zahlreiche Zweifelsfragen knüpften. Nach § 40 a. F. konnten Gegenstände, die durch ein Verbrechen oder vorsätzliches Vergehen hervorgebracht waren oder zu dessen Begehung gebraucht oder bestimmt waren (producta et instrumenta sceleris) im Urteil eingezogen werden, vorausgesetzt, daß sie dem Täter oder einem Teilnehmer gehörten. Nach längerem Meinungsstreit hatte sich als herrschend die namentlich in der Rechtsprechung (RGSt. 26 407; 46 132; 53 126; 54 58; BGHSt. 2 337; 10 33; 16 47) vertretene Auffassung herausgebildet, daß die Einziehung des § 40 a. F. eine Nebenstrafe darstelle. Diese Nebenstrafe wies aber die Besonderheit auf, daß sie nicht nur in Verbindung mit einer Hauptstrafe, sondern unter den Voraussetzungen des § 42 a. F. („Ist die Verfolgung oder die Verurteilung einer bestimmten Person nicht a u s f ü h r b a r . . . " ) auch selbständig angeordnet werden konnte. Daraus wurde gefolgert, daß die Nebenstrafe zugleich den Zweck erfülle, die Allgemeinheit durch Wegnahme der Sache vor weiteren Straftaten zu schützen, also neben dem Strafzweck auch Sicherungszwecke verfolge (Lehre von der Doppelnatur). Nach § 41 a. F. war, wenn der Inhalt einer Schrift, Abbildung oder Darstellung „strafbar" ist, (mit den in Abs. 2, 3 vorgesehenen Einschränkungen) die Unbrauchbarmachung aller Exemplare, sowie der zu ihrer Herstellung (1)

Vor § 73

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

bestimmten Platten und Formen durch Urteil anzuordnen. Die Voraussetzung, daß „der Inhalt der Schrift usw. strafbar ist", wurde dahin verstanden, daß es genüge, wenn ohne Rücksicht auf Verschulden der Inhalt den äußeren Tatbestand irgendeiner Straftat erfülle, dergestalt, daß bei Hinzutritt der Schuld der volle objektive und subjektive Tatbestand einer strafbaren Handlung erfüllt wäre. Da es auf ein Verschulden nicht ankam, wurde die Unbrauchbarmachung als polizeilich-präventive Sicherungsmaßregel charakterisiert; auch sie konnte unter den Voraussetzungen des § 42 selbständig angeordnet werden. 4

3. Ausweitung der Einziehungsvoraussetzungen. Diese Grundsatzregelung des Allgemeinen Teils wurde indessen durch zahlreiche Vorschriften, die sich teils im Besonderen Teil des Strafgesetzbuchs, in der Hauptsache aber in zahlreichen strafrechtlichen Nebengesetzen fanden, im Sinne einer Erweiterung der Einziehungsvoraussetzungen durchbrochen. So wurde in Einzelvorschriften die Einziehung auch bei Fahrlässigkeitstaten, ζ. T. auch bei Übertretungen vorgesehen. Während sie nach § 40 a. F. in das richterliche Ermessen gestellt war („kann"), wurde sie zwingend vorgeschrieben. Auf das Erfordernis des § 40, daß der Täter oder Teilnehmer vorsätzlich gehandelt haben müsse, wurde verzichtet, indem die Einziehung zugelassen oder vorgeschrieben wurde, wenn eine „mit Strafe bedrohte Handlung", also nur die rechtswidrige Verwirklichung des äußeren Tatbestandes mit „natürlichem" Vorsatz vorlag. Über die Einziehung der producta et instrumenta sceleris hinaus wurde die Einziehung zugelassen oder vorgeschrieben bei den durch strafbare Handlung erlangten Gegenständen (scelere quaesita) und bei Gegenständen, „auf die sich die strafbare Handlung bezieht" (die sog. Beziehungsgegenstände), wie ζ. B. die Lebensmittel, die derart verpackt, aufbewahrt oder befördert werden, daß ihr Genuß die menschliche Gesundheit zu beschädigen geeignet ist (§§11, 13 des früher geltenden LebensmittelG 1936). Namentlich aber wurde in zeitweise wachsendem Umfang die Voraussetzung des § 40 a. F., daß der Einziehungsgegenstand dem Täter oder einem Teilnehmer gehören müsse, aufgegeben und die Einziehung von producta et instrumenta sceleris, scelere quaesita und Beziehungsgegenständen ohne Rücksicht darauf zugelassen oder vorgeschrieben, in wessen Eigentum sie standen (sog. unterschiedslose Einziehung). Ein Schulbeispiel einer solchen unterschiedslosen Einziehung war § 295 StGB in seiner ursprünglichen Fassung, der zwingend ohne Rücksicht auf das Eigentum die Einziehung der vom Wilderer zur Tat verwendeten Gegenstände vorschrieb, so daß auch die Einziehung des Jagdgewehrs geboten war, das der Wilderer einem Dritten gestohlen hatte. Die Rechtsprechung, die früher solche Vorschriften ohne Bedenken hinnahm, sah in der unterschiedslosen Einziehung eine polizeiliche Sicherungsmaßregel, die auch der Tatunbeteiligte im öffentlichen Interesse hinnehmen müsse (so ζ. B. RGSt. 55 12; 67 215; OLG Freiburg HESt. 2 140), oder sprach von einer Art dinglicher Haftung des tatunbeteiligten Dritteigentümers mit der durch die Verwendung bei einer Straftat bemakelten Sache für fremde strafrechtliche Schuld (so RGSt. 62 49, 52; 69 385). Endlich wichen auch die die selbständige Einziehung zulassenden Vorschriften in unterschiedlicher Weise von § 42 a. F. StGB ab (vgl. dazu im einzelnen LR 23 Schäfer 9 y or § 430 StPO).

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4. Frühere Reformvorschläge. So bot die Gesamtheit der die Einziehung regelnden Vorschriften nicht nur ein sehr unübersichtliches Bild, das den Gedanken einer Reform durch zusammenfassende Herausstellung der die Voraussetzungen und Wirkungen der Einziehung beherrschenden Grundsätze im Allgemeinen Teil des (2)

Verfall u n d Einziehung (Schäfer)

Vor § 73

Strafgesetzbuches nahelegte, sondern wies auch offensichtliche Lücken und greifbare Ungerechtigkeiten auf. Dies galt insbesondere für die unterschiedslose Einziehung, bei der in steigendem Maß die Frage aufgeworfen wurde, wie es sich rechtfertigen lasse, den „unschuldigen" tatunbeteiligtem Dritteigentümer mit seinem Eigentum für die strafrechtliche Schuld eines Dritten haften zu lassen. Die Beseitigung der hier auftauchenden Härten war schon die Sorge der früheren StGB-Entwürfe, die mit unterschiedlichen Methoden des Problems Herr zu werden versuchten: so wollte § 52 Abs. 3 des StGB-Entw. 1930 (Entw. Kahl) zwar nicht die Einziehungsvoraussetzungen gegenüber dem Dritteigentümer beseitigen, ihm aber einen Anspruch auf volle Entschädigung aus der Staatskasse zubilligen. § 77 Abs. 2 des StGB-Entw. 1936 wollte demgegenüber durch eine Härteklausel die Rücksichtnahme auf die Belange des Eigentümers ermöglichen; danach sollte der Richter befugt sein, von der Einziehung abzusehen, wenn die Gegenstände ohne Schuld des Berechtigten zur Tat bestimmt gewesen oder dazu gebraucht worden sind, oder wenn die Einziehung eine unbillige Härte bedeuten würde. 5. Teilreformen. Rechtsfortbildende Rechtsprechung. Beide vorgenannten Prinzi- 6 pien (Rdn. 5) wurden in der Folgezeit bei Teilreformen zugrunde gelegt: so wurde ζ. B. der Einziehungszwang bei der Jagdwilderei durch das Gesetz vom 28. 6.1935 (RGBl. I 839) mittels einer Härteklausel gemildert, und die Rechtsprechung wendete später in Berücksichtigung der Eigentumsgarantie (Art. 14 GG) und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Wege der Auslegung diesen Gedanken in anderen Fällen einer zwingend vorgeschriebenen Einziehung an (vgl. BGHSt. 9 96 betr. § 245 a Abs. 3 a. F. StGB; BayObLG M D R 1957 434 betr. § 11 a. F. SprengstoffG) oder deutete das Einziehungsgebot in eine Ermessungsentscheidung um (vgl. BGHSt. 18 280; BayObLGSt. 1966 180), während der Entschädigungsgedanke durch die Strafrechtsänderungsgesetze v. 20.8. 1951 und 11.6.1957 (BGBl. I 739, 597) in §§ 86, 98 Abs. 2 a. F. (betr. Einziehung bei Hoch-, Verfassungs-, Landesverrat usw.) Eingang fand. Jedenfalls setzte sich in Gesetzgebung, Rechtsprechung (grundlegend BGHSt. 1 353) und Schrifttum allmählich der Gedanke durch, daß eine Einziehung mit Wirkung gegenüber dem tatunbeteiligten Dritten nach rechtsstaatlichen Grundsätzen unter Beachtung der Eigentumsgarantie (Art. 14 GG) nur zulässig sei oder sein dürfe, wenn — über das die Einziehung zulassende Gesetz hinaus — für die Einziehung ein besonderer zureichender oder sie rechtfertigender Grund vorliege (vgl. dazu Rdn. 32 zu § 74), und daß, wenn dieser Grund die öffentliche Sicherheit ist, dem durch die Einziehung enteigneten schuldlosen Dritteigentümer ein Anspruch auf Entschädigung für den Verlust des Eigentums zu gewähren sei. 6. Eine Reform des Einziehungsrechts auf dem Gebiet des Ordnungswidrigkeits- 7 rechts brachten die §§ 17 bis 26 OWiG 1952. Dieses regelte u. a. die Voraussetzungen der Einziehung, wobei es die Einziehung gegen den tatunbeteiligten Eigentümer nur zuließ, wenn er vorwerfbar die Begehung der Tat ermöglicht, erleichtert oder aus ihr Vorteil gezogen hatte, schuf die Möglichkeit der Ersatzeinziehung (Einziehung des Wertes des Gegenstandes, wenn dessen Einziehung nicht ausführbar ist), umschrieb die Wirkung der Einziehung (originärer Rechtserwerb des Staates, Erlöschen dinglicher Rechte am Einziehungsgegenstand), gewährte den Inhabern dinglicher Rechte, die durch die Einziehung des Gegenstandes untergingen, einen Entschädigungsanspruch gegen die Staatskasse, sofern sie nicht vorwerfbar die Begehung der Tat ermöglicht oder erleichtert oder aus ihr einen Vorteil gezogen (3)

Vor § 73

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

hatten, und regelte vor allem die Art und Weise, in der Einziehungsbeteiligte (tatunbeteiligter Eigentümer und Inhaber beschränkter dinglicher Rechte am Einziehungsgegenstand) ihre Rechte geltend machen können, indem ihnen eine Beteiligung am subjektiven Verfahren gegen den Täter zugestanden wurde, kraft deren sie selbständig im Verfahren die Befugnisse des Angeklagten (im Bußgeldverfahren die des Betroffenen) geltend machen konnten. 8

7. Abschluß der Reform des Einziehungsrechts. An die vorstehend geschilderte Rechtsentwicklung knüpften die Arbeiten an der Reform des Strafgesetzbuchs an, die schließlich in den §§ 113 ff StGB-Entw. 1962 ihren Niederschlag fanden. Schon vorher hatten die seit 1953 erlassenen neuen Strafgesetze mit Einziehungsvorschriften die Einziehungsregeln der §§ 17 bis 26 OWiG 1952 für anwendbar erklärt oder übernommen. Seitdem (seit 1956) die bei den strafrechtlichen Reformarbeiten erarbeiteten Vorschläge eine gewisse feste Gestalt angenommen hatten, wurden ihre Grundgedanken den Einziehungsvorschriften neuerer Gesetze zugrunde gelegt. Die bei der Handhabung dieser Gesetze in der Rechtsprechung gewonnenen Erkenntnisse waren bei der Reform des Jahres 1968 (oben Rdn. 2) für den Gesetzgeber Anlaß zu gewissen Abweichungen vom StGB-Entwurf 1962, dem er im übrigen weitgehend folgte. Bei der Neugestaltung des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuchs durch Art. 1 Nr. 1 des 2. StrRG vom 4. 7.1969 (BGBl. 1717) wurden diese im Jahre 1968 geschaffenen Vorschriftén bis auf wenige redaktionelle Anpassungen unverändert als §§ 74 bis 76 a übernommen. Das entsprach dem Vorschlag der Mehrheit des BT-Sonderausschusses für die Strafrechtsreform, der sich gegenüber Änderungsvorschlägen — von sachlichen Bedenken abgesehen — von der Erwägung hatte leiten lassen, „daß diese Bestimmungen, nachdem sie erst kürzlich durch das EG OWiG Gesetzeskraft erlangt haben, nicht schon wieder geändert werden sollten" (Ausschußbericht BTDrucks. V/4095 S. 39). Art. 18 Nr. 40,41 EGStGB 1974 konnte sich demgemäß mit redaktionellen Anpassungen der §§ 74 Abs. 3 und 74 d Abs. 4 an den neuen Sprachgebrauch begnügen.

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8. Grundgedanken der Neuregelung. Das Ziel der Neuregelung des Einziehungsrechts war — nach einer Periode der Einziehungshypertrophie und von Ausweichversuchen der Rechtsprechung (oben Rdn. 4) — vor allem die Schaffung fester, überschaubarer und rechtsstaatlichen Anforderungen entsprechender Grundsätze über die Voraussetzungen einer Einziehung, damit das frühere Bild wildwuchernder Sonderregelungen in Einzelgesetzen der Vergangenheit angehöre; weitere Regelungsgegenstände waren u. a. die Wirkung einer rechtskräftigen Einziehung und die Entschädigung der von einer Einziehung betroffenen tatunbeteiligten Dritten. Das praktische Bedürfnis erlaubte es indessen nicht, eine abschließende Regelung der Einziehungsvoraussetzungen im Allgemeinen Teil zu treffen. Denn nach wie vor kann die Notwendigkeit bestehen, in Einzelvorschriften, sei es des Besonderen Teils, sei es des Nebenstrafrechts, die Einziehung über § 74 Abs. 1 hinaus vorzusehen, ζ. B. sie weitergehend als § 74 Abs. 1 bei fahrlässigen Vergehen oder für die quaesita sceleris und „Beziehungsgegenstände" zuzulassen (dazu § 74, 19 und 61 ff) oder die Einziehung zwingend vorzuschreiben oder sie über § 74 Abs. 2 Nr. 1 hinaus mit Wirkung gegen tatunbeteiligte Eigentümer vorzuschreiben oder zuzulassen. Jedoch sind solche, die Einziehungsvoraussetzungen erweiternden und verschärfenden Einzelvorschriften insofern mit den Vorschriften des Allgemeinen Teils verklammert, als bei Überschreitung der Voraussetzungen des § 74 Abs. 1 gemäß § 74 Abs. 4 die Absätze 2 und 3 des § 74 entsprechend gelten, und als nach der Blankett(4)

Verfall und Einziehung (Schäfer)

Vor § 73

Vorschrift des § 74 a die Einziehung von Gegenständen, die zur Zeit der Entscheidung nicht dem Täter oder Teilnehmer gehören (soweit nicht § 74 Abs. 2 Nr. 2 eingreift), nur unter der Voraussetzung zulässig sein soll, daß das Einzelgesetz auf § 74 a verweist und damit zur Anwendung der Einschränkungen dieser Vorschrift führt. 9. Folgerungen aus der Neuregelung. Gleichzeitig mit der Neuregelung des mate- 10 riellen Einziehungsrechts wurden durch das EGOWiG 1968 die in Einzelvorschriften außerhalb des Allgemeinen Teils enthaltenen, die Einziehung betreffenden Vorschriften dem neuen Recht angepaßt. Neue Einziehungsvorschriften im Besonderen Teil oder im Nebenstrafrecht ergehen grundsätzlich unter Berücksichtigung der neuen Einziehungsvorschriften des Allgemeinen Teils. Sie könnten zwar nach dem Grundsatz lex posterior specialis derogat legi priori generali von den Einziehungsvorschriften des Allgemeinen Teils abweichen. Dies würde aber nur anzunehmen sein und gilt nur, wenn erkennbar eine abschließende, den Rückgriff auf die Vorschriften des Allgemeinen Teils ausschließende Regelung beabsichtigt ist. In der Regel ist dies nicht der Fall. So ist ζ. B. in § 92 b Nr. 2 StGB die Einziehung bestimmter Beziehungsgegenstände fakultativ vorgesehen; das schließt aber nicht aus, daß solche Gegenstände (Schriften usw.) eingezogen werden müssen, wenn die Voraussetzungen des § 74 d StGB erfüllt sind (BGHSt. 23 208 = NJW 1970 437 = JZ 1970 513 m. Anm. Willms und Dreher-Tröndle38 § 92 b Rdn. 3). Ganz allgemein gilt, daß die §§ 74 ff ergänzend anzuwenden sind, soweit die Sondervorschriften über die Einziehung keine abschließende Regelung enthalten (BayObLG OLGSt. § 40 c a. F. S. 1 ; Rdn. 63 zu § 74). Wenn also § 92 b die Einziehung an die Voraussetzung einer „Straftat" ( = schuldhaft rechtswidrige Tatbestandsverwirklichung) nach den §§ 80 a usw. knüpft, so schließt dies eine Einziehung nach § 74 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 3 nicht aus, wenn ein Verschulden des Täters nicht festgestellt werden kann (BGHSt. 23 64, 68).

III. Die Entwicklung des Verfallsrechts. Der Verfall d . h . die Abschöpfung des 11 illegitimen Vermögensvorteils, den der Täter oder Teilnehmer „für eine rechtswidrige Tat oder aus ihr erlangt hat" (§ 73 Abs. 1), ist als ein allgemeines, für das gesamte Strafrecht geltendes Rechtsfolgeninstitut neben der Einziehung erst mit Wirkung vom 1. 1. 1975 durch Art. 1 Nr. 1 des 2. StrRG (Rdn. 2) geschaffen worden. Die gesetzliche Regelung lehnt sich an die §§ 109 bis 112 StGB-Entw. 1962 an, aber mit einer Reihe von Änderungen sachlicher oder redaktioneller Art durch den BT-Sonderausschuß für die Strafrechtsreform, der dabei ζ. T. auch den Vorschlägen in § 83 des Alternativ-Entwurfs (AE) und den als Formulierungshilfe bezeichneten Entwürfen des Bundesjustizministeriums folgte (vgl. Prot. V 556, 1019 und Ausschuß-Bericht BTDrucks. V 4095 S. 39 bis 41). Insbesondere ist hervorzuheben, daß abweichend von § 109 StGB-Entw. 1962 Voraussetzung für die Anordnung des Verfalls nicht eine schuldhaft begangene rechtswidrige Tat ist, sondern es genügt, daß eine schuldlos-rechtswidrige Tat zu dem illegitimen Vermögensvorteil geführt hat. Das bis dahin geltende Recht sah einen Verfall nur in Einzelvorschriften vor (vgl. insbes. §§ 92 b Abs. 2, 109 k Abs. 2, 296 a Abs. 2, 335 a. F. StGB; § 8 WiStG 1954), ohne dabei eine genaue begriffliche Trennung von Einziehung und Verfall vorzusehen (dazu § 73, 1). Darüber hinaus kannte das frühere Recht eine mittelbare Gewinnabschöpfung auf dem Weg über die Bemessung der Geldstrafe (§ 27 b a. F. StGB), ein Weg, der nach der Neuregelung des Rechts der Geldstrafe nach dem (5)

Vor § 73

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

Tagessatz-System wegen seiner Vermischung von Strafzumessung, die bei der Bemessung der Zahl der Tagessätze nach dem Maß des Verschuldens zu erfolgen hat (§ 40, 46), und dem ganz anderen Gedanken der Beseitigung einer illegitimen Bereicherung für den Gesetzgeber nicht mehr gangbar war. Das Hauptanwendungsgebiet des Verfalls liegt bei der Wegnahme des aus der rechtswidrigen Tat erlangten illegitimen Vermögensvorteils (des illegitimen Gewinns). Sie ist nach mehreren Richtungen begrenzt. Eine gesetzliche Begrenzung ergibt sich zunächst aus § 73 c, wonach der Verfall nicht angeordnet werden darf, soweit er für den Betroffenen eine unbillige Härte wäre. Eine weitere gesetzliche Einschränkung folgt aus der Rücksichtnahme auf Ausgleichsansprüche, die dem Verletzten aus der Tat gegen den Täter (Teilnehmer) entstanden sind; der Verfall ist nach § 73 Abs. 1 Satz 2 ausgeschlossen, soweit die Erfüllung dieses Anspruchs den aus der Tat erlangten Vermögensvorteils beseitigen oder mindern würde. Ferner ist aus dem Begriff des erlangten Vermögensvorteils als einer Vermehrung des Vermögens (§ 73,15) abzuleiten, daß ein dem Verfall unterliegender aus der Tat erlangter Vermögensvorteil insoweit nicht vorliegt, als der Täter (Teilnehmer) eigene, vermögensschmälernde Aufwendungen erbracht hat, um den Vermögensvorteil zu erlangen (§ 73,16). Auch steuerrechtliche Ansprüche, die dem Fiskus gegen den Empfänger aus der Erlangung des Vermögensvorteils erwachsen, mindern den dem Verfall unterliegenden Gewinn, wobei es an dieser Stelle offen bleiben kann, ob der Fiskus Verletzter i. S. des § 73 Abs. 1 Satz 2 ist, wenn die Hinterziehung dieser Steuern in Frage steht (dazu § 73, 22). Endlich ist zu berücksichtigen, daß für die Anordnung des Verfalls des aus der Tat erlangten Vermögensvorteils dort kein Raum ist, wo das Gesetz die Wegnahme eines solchen Vorteils unter dem Gesichtspunkt der Einziehung, wenn auch nur fakultativ, voraussieht, wie im Fall des § 296 a bezüglich der Fische, die ein Ausländer unbefugt in deutschen Küstengewässern gefischt hat, und die sich noch an Bord des Fahrzeugs befinden (§ 73, 10). 12

IV. Verfahrensrechtliche Ergänzungen. Die materiell-rechtliche Neuregelung des Rechts der Einziehung und des Verfalls machte auch eine Neugestaltung der verfahrensrechtlichen Vorschriften (§§ 430 bis 432 a. F. StPO) erforderlich. Sie geschah zunächst bzgl. der Einziehung durch Art. 1 Nr. 2 ff EGOWiG 1968 (neue §§ 430 bis 443 StPO). Deren wesentlichsten Punkt bildet in Anknüpfung an die schon vom OWiG 1952 für das Gebiet des Ordnungsunrechts geschaffene Rechtslage die Zulassung der von einer drohenden Einziehung in ihren Rechten Betroffenen als Einziehungsbeteiligten am subjektiven Strafverfahren zur Geltendmachung ihrer Rechte und die Schaffung eines Nachverfahrens nach rechtskräftiger Einziehung zugunsten derjenigen, die ohne ihr Verschulden im vorangegangenen Verfahren die Rechte eines Einziehungsbeteiligten nicht wahrnehmen konnten (§ 439). Eine weitere bedeutsame Neuerung stellte §430 StPO dar, der in Anknüpfung an § 154 a StPO und unbeschadet des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (§ 74 b StGB) die Ausklammerung der Einziehung und gleichstehender Rechtsfolgen (§ 442), gleichviel, ob zwingend vorgeschrieben oder nur zugelassen, als Gegenstand der Untersuchung und Entscheidung (einschl. des speziell damit zusammenhängenden Prozeßstoffs) aus Gründen der Vereinfachung und Beschleunigung des Verfahrens gestattet. Nach Schaffung des Verfalls wurden die §§ 430 ff StPO durch Art. 21 Nr. 117 EGStGB 1974 in der Weise ergänzt, daß grundsätzlich die Vorschriften über das Verfahren bei Einziehungen auch für das Verfahren bei Verfall für anwendbar erklärt wurden (§ 442 Abs. 1 n. F. StPO) und § 442 Abs. 2 n. F. Besonderheiten in der Stellung des Verfallsbeteiligten gegenüber derjenigen des Einziehungsbeteilig(6)

Verfall und Einziehung (Schäfer)

Vor § 73

ten Rechnung trägt. Der strafprozessualen Ergänzung des § 73 Abs. 1 Satz 2 StGB dienen die durch Art. 21 Nr. 29 EGStGB 1974 geschaffenen §§ 111 b ff StPO; sie regeln die strafprozessuale „Zurückgewinnungshilfe" zugunsten des durch die rechtswidrige Tat Verletzten (dazu § 73 Rdn. 24 ff). V. Übergangsregelungen 1. Art. 155 Abs. 1 EGOWiG 1968 regelt die Behandlung der Einziehung in den 13 Fällen, in denen die Tat vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes begangen ist und über die Einziehung erst nach diesem Zeitpunkt entschieden wird. Der Grundgedanke der Übergangsregelung (vgl. dazu die amtl. Begr. zu Art. 145 Entw. EGOWiG) geht dahin, daß unabhängig davon, ob im Einzelfall die Einziehung den Charakter einer Nebenstrafe oder einer Sicherungsmaßregel hat, jeweils das mildeste Gesetz, das für den Betroffenen günstigere Recht, im allgemeinen also die Regelung des neuen Rechts anzuwenden ist. 2. Die den Verfall betreffende Übergangsregelung trifft Art. 307 EGStGB 1974. 14 Danach gelten bei Taten, die vor dem 1. 1.1975 begangen wurden, und über die nach diesem Zeitpunkt entschieden wird, die §§ 73, 73 a, soweit das bisherige Recht den Verfall oder die Einziehung des Entgelts vorschreibt, es sei denn, daß das bisherige Recht für den Betroffenen günstiger ist. Und zwar ist die Anordnung des Verfalls auch insoweit zulässig, als nach § 27 b a. F. StGB eine höhere Geldstrafe als nach neuem Recht hätte verhängt werden können (oben Rdn. 11). An die Stelle der Anordnung des Verfalls eines Gegenstandes tritt der Verfall des Wertersatzes. VI. Ordnungswidrigkeitenrecht. Einziehung von Gegenständen kommt nach §§22 15 bis 29 OWiG auch als Nebenfolge einer Ordnungswidrigkeit in Betracht. Es fehlt aber an einer dem § 74 Abs. 1 StGB entsprechenden Vorschrift, vielmehr ist nach § 22 Abs. 1 OWiG Einziehung nur zulässig, soweit das Einzelgesetz ausdrücklich eine Einziehung zuläßt (oder vorschreibt) und den Einziehungsgegenstand (producta et instrumenta sceleris, scelere quaesita, Beziehungsgegenstände usw.) umschreibt. Im übrigen sind die §§ 22 ff, soweit möglich, mit den §§ 74 ff StGB parallel gestaltet worden. Neben der Einziehung ist in § 123 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 OWiG die Unbrauchbarmachung bestimmter Gegenstände vorgesehen. Verfall als Nebenfolge einer Ordnungswidrigkeit kennt das Gesetz nicht, da nach § 17 Abs. 4 OWiG bei der Bemessung der Geldbuße dem Gedanken der Abschöpfung des illegitimen Gewinns Rechnung getragen werden kann (s. dazu auch § 73 Rdn. 7). VII. Gesetzesmaterialien. Die Entstehungsgeschichte der §§ 73 ff ergibt sich aus 16 den Niederschriften über die Erörterungen der Großen Strafrechtskommission (1954 bis 1959) Bd. 1 212; 3 203, 208, 216, 277, 283; 4 321, 331, 378, 569; 12 207, 252, 504; aus §§ 109 bis 120 StGB-Entw. 1962 und Begründung S. 239 ff (BTDrucks. IV 650); aus dem Entwurf des EGOWiG 1968 nebst Begründung (BTDrucksV 1319); aus den §§ 73 ff des Entwurfs eines zweiten Gesetzes zur Reform des Strafrechts nebst Begründung und dem Bericht des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform (BTDrucks. V 4095 S. 1, 39, 72), aus den Protokollen der 311. Sitzung des Rechtsausschusses des Bundesrats und der Sitzungen des Bundestagssonderausschusses für die Strafrechtsreform, 5. Legislaturperiode S. 539 ff, 992 ff, 1021 ff, 1047 ff 1063 ff, 1079 ff, 1149 ff, 1152 ff, 1803 ff, 3258 sowie der 53. und 63. Sitzung des Bundestagsrechtsausschusses. (7)

§73

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

§73 Voraussetzungen des Verfalls (1) Ist eine rechtswidrige Tat begangen worden und hat der Täter oder Teilnehmer für die Tat oder aus ihr einen Vermögensvorteil erlangt, so ordnet das Gericht dessen Verfall an. Dies gilt nicht, soweit dem Verletzten aus der Tat ein Anspruch erwachsen ist, dessen Erfüllung den aus der Tat erlangten Vermögensvorteil beseitigen oder mindern würde. (2) Die Anordnung des Verfalls erstreckt sich auf die gezogenen Nutzungen. Sie kann sich auch auf die Gegenstände erstrecken, die der Täter oder Teilnehmer durch die Veräußerung eines erlangten Gegenstandes oder als Ersatz für dessen Zerstörung, Beschädigung oder Entziehung oder auf Grund eines erlangten Rechts erworben hat. (3) Hat der Täter oder Teilnehmer für einen anderen gehandelt und hat dadurch dieser den Vermögensvorteil erlangt, so richtet sich die Anordnung des Verfalls nach den Absätzen 1 und 2 und gegen ihn. (4) Der Verfall eines Gegenstandes wird auch angeordnet, wenn er einem Dritten gehört oder zusteht, der den Vermögensvorteil für die Tat oder sonst in Kenntnis der Tatumstände gewährt hat. Schrifttum Brenner Gewinnverfall, eine vernachlässigte Strafvorschrift DRiZ 1977 203.

1

I. Entwicklungsgeschichte und Wesen des Verfalls 1. Früheres Recht. Das bis zum 31. 12.1974 geltende Recht kannte kein allgemeines Rechtsfolgeinstitut des Verfalls (vgl. Rdn. 11 vor § 73). Die wenigen einschlägigen Einzelvorschriften unterschieden zwischen der Entziehung des Gewinns, den der Täter durch eine Straftat erlangte, und der Entziehung des Entgelts, das er für die Straftat erhielt 1 . Diese Entziehungen entbehrten einer einheitlichen Terminologie und einer einheitlichen inhaltlichen Ausgestaltung. Das Gesetz sprach teils von Verfallerklärung (z. B. § 335 a. F. StGB), die als Nebenstrafe verstanden wurde (RGSt.57 232; BGHSt. 10 235; 11 345; 13 328), von Abführung des Mehrerlöses (§ 8 WiStG), deren Rechtsnatur streitig war (nach RGSt. 77 145 Nebenstrafe; nach BGHSt. 15 399 f Sicherungsmaßregel; nach anderer Auffassung öffentlich-rechtliche Abschöpfung des zu Unrecht Erlangten — Nachw. bei Eser Sanktionen 84; Dalcke-Fuhrmann-Schäfer37 1 zu § 8 a. F. WiStG), teils aber auch, weil das damals geltende Recht keine genaue begriffliche Trennung von Verfall und Einziehung vornahm, von Einziehung des Entgelts für die Straftat (§§ 86, 108 b Abs. 3 a. F. StGB), deren Charakter wiederum streitig war (nach BGHSt. 10 235 Nebenstrafe, nach Dalcke-Fuhrmann-Schäfer 6 zu § 86 a. F. öffentlich-rechtliche Wegnahme des zu Unrecht Erlangten). Eine allgemeine mittelbare Entgelts- und Gewinnabnahme — aber beschränkt auf die mit Geldstrafe bedrohten Straftaten — ermöglichte § 27 b Abs. 2 a. F. StGB, wonach die Geldstrafe das Entgelt, das der Täter für die Tat empfangen, und den Gewinn, den er aus ihr gezogen hat, übersteigen sollte.

1

vgl. ζ. B. wegen der Gewinnabschöpfung die früheren §§ 296 a, 335 StGB; § 40 BJG; § 8 WiStG und wegen der Entziehung des Entgelts ζ. B. die früheren §§ 86 Abs. 3, 98, 101, 335 StGB ; § 5 BestechungsVO ; § 12 Abs. 3 UWG. (8)

Voraussetzungen des Verfalls (Schäfer)

§73

2. Grundgedanken des StGB-Entw. 1962. Für die Ausgestaltung des Verfalls als 2 einer allgemeinen Rechtsfolge im StGB-Entw. 1962 waren die Erwägungen maßgebend, das der Weg einer mittelbaren Entgelts- und Gewinnentziehung über die Bemessung der Geldstrafe durch die Neugestaltung des Geldstrafenrechts für die Zukunft versperrt sei (Rdn. 11 vor § 73), daß aber auch dieser Weg in seiner Beschränkung auf die mit Geldstrafe bedrohten Straftaten den kriminalpolitischen Bedürfnissen nicht entsprochen habe. Denn ganz allgemein sei es nicht sinnvoll, den Täter zu bestrafen, ihm aber zugleich das als Entgelt für die Tat Erlangte und den aus der Tat unrechtmäßig zugeflossenen Gewinn zu belassen, weil dies geradezu als Anreiz zur Begehung weiterer Entgelt oder Gewinn einbringender Straftaten wirken könne (vgl. Sonderausschuß Prot. V 542); durch den allgemein vorgesehenen Verfall des Entgelts und des Gewinns finde die Strafe eine sinnvolle und angemessene Ergänzung (Begründung BTDrucks. IV 650 S. 241). Wegen dieser dem Verfall zugedachten strafergänzenden Funktion sollte sich nach § 109 des Entwurfs der Verfall grundsätzlich nur gegen den Täter oder Teilnehmer richten, und Voraussetzung des Verfalls sollte eine Straftat, also eine schuldhaft-rechtswidrige Straftatbestandsverwirklichung sein. „In den Fällen, in denen die Tat rechtswidrig, aber nicht schuldhaft begangen ist, hält der Entwurf den Verfall für unangemessen und überläßt es der Anwendung des Zivilrechts, ob Entgelt oder Gewinn im Vermögen des Täters bleiben" (Begründung aaO S. 241). Tatunbeteiligte Dritte sollten nur ausnahmsweise durch die Anordnung des Verfalls betroffen werden, nämlich einmal nach § 109 Abs. 3 der Empfänger von Gewinn oder Entgelt, dem sie unmittelbar durch die Straftat des Täters (Teilnehmers) zugeflossen sind, der als Vertreter des Empfängers oder sonst für diesen handelte (vgl. jetzt § 73 Abs. 3), und ferner nach § 109 Abs. 7 Entw. derjenige tatunbeteiligte Dritte, der das Entgelt gewährt hat. „Dadurch wird erreicht, daß Bestechungsgelder und Belohnungen, die ein Dritter dem Täter gezahlt hat, auch dann dem Verfall unterliegen, wenn der Dritte nicht strafbar und nach bürgerlichem Recht Eigentümer des hingegebenen Geldes geblieben ist" (Begründung aaO S. 244). 3. Von den Umgestaltungen, die § 109 des Regierungsentwurfs im BT-Sonderaus- 3 schuß erfuhr (Rdn. 11 vor § 73), sind als an dieser Stelle wesentlich (die übrigen Änderungen werden an gegebener Stelle dargestellt) die folgenden zu nennen : Das Erfordernis einer schuldhaft rechtswidrigen Straftatbestandsverwirklichung als Voraussetzung der Verfallsanordnung wurde in Übereinstimmung mit § 83 AE fallen gelassen, da „ein sachlicher Grund, dem Tatbeteiligten, der schuldlos einer Strafvorschrift zuwidergehandelt hat, im Gegensatz zu einem schuldhaft handelnden Täter den erlangten Vermögensvorteil zu belassen, nicht besteht. Kriminalpolitisch ist der Verfall in beiden Fällen geboten. Das gilt umsomehr, als sich die Anordnung des Verfalls nach § 109 Abs. 3 [oben Rdn. 2] unter den dort angegebenen Voraussetzungen sogar gegen einen Dritten richten kann, selbst wenn dieser von der Tat überhaupt keine Kenntnis gehabt hat" (Bericht BTDrucks. V 4095 S. 39). In einschränkendem Sinn klargestellt wurden dagegen die Voraussetzungen des Verfalls von Sachen, die (vom Empfänger i. S. des § 73 Abs. 3 abgesehen) tatunbeteiligten Dritten gehören und von Rechten, die diesen zustehen : war noch nach Wortlaut und Begründung des § 109 Abs. 7 RegEntw. immerhin die Auslegung denkbar, daß Sachen, die im Eigentum des Gebers verblieben waren, und Rechte, die ihm weiter zustanden, schlechthin dem Verfall unterlägen, so ist nunmehr durch den Wortlaut des § 73 Abs. 4 („für die Tat oder sonst in Kenntnis der Tatumstände") klargestellt, daß der Verfall seine Rechtfertigung in einer bestimmten (9)

§ 73

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

„Verwicklung des Dritteigentümers in die Tat" (Sch.-Schröder-Eser Rdn. 40) hat (wegen der Bedeutung des Absatzes 4 s. unten Rdn. 46 ff). Demgegenüber hatte der Alternativ-Entwurf den Zugriff auf diese Gegenstände abgelehnt, weil er dem Sinn der Verfallsvorschriften widerspreche; er sei auch überflüssig, da die Vorteile, die der Empfänger trotz des dem Gebenden verbliebenen Eigentums (Rechts) erlangt habe, durch Anordnung des Wertersatzes erfaßbar seien. 4

4. Rechtsnatur des Verfalls. Nach der Konzeption des StGB-Entw. 1962 wies der Verfall die Züge einer strafähnlichen Maßnahme auf, da er, eine schuldhaft-rechtswidrige Tat voraussetzend, die Strafe „ergänzen" sollte (oben Rdn. 2). Ihn zu einer Nebenstrafe auszugestalten hatte aber schon der StGB-Entw. 1962 abgelehnt, weil dies mit der Zulässigkeit der selbständigen Anordnung (§ 76 a) unverträglich wäre (Begr. S. 240). Nachdem § 73 Abs. 1 den Verfall auch an die Begehung einer schuldlos-rechtswidrigen Tat anknüpft, ist vollends einer Charakterisierung als strafähnliche Maßnahme der Boden entzogen. Der Verfall ist aber andererseits auch als Folge einer rechtswidrigen Tat keine Sicherungsmaßnahme, denti er bietet keine Handhabe, den Täter an der Begehung weiterer rechtswidriger Taten zu hindern. Der Verfall ist danach eine Rechtsfolge eigner Art einer rechtswidrigen Tat. Er stellt sich (auch im Fall des §73 Abs. 4; unten Rdn. 51) als eine öffentlich-rechtliche Abschöpfung des illegitimen Vermögensvorteils dar, der als Entgelt für die Tat oder als Gewinn aus ihr in das Vermögen des Täters (Teilnehmers) oder durch dessen Handeln unmittelbar in das Vermögen eines tatunbeteiligten Dritten (§ 73 Abs. 3 ; dazu unten Rdn. 38 ff) gelangt ist. Dadurch soll dem Täter (Teilnehmer) selbst, vor allem aber der Allgemeinheit (allen künftigen „Interessenten") vor Augen geführt werden — und insofern wirkt der Verfall speziai —, aber vor allem generalpräventiv — , daß sich Verletzungen der Strafrechtsordnung finanziell nicht „auszahlen", und daß es eine Fehlspekulation darstellt, wenn der Täter das Risiko der Entdekkung und Bestrafung in der Erwartung auf sich nehmen sollte, daß ihm oder dem begünstigten Dritten (§ 73 Abs. 3) doch immerhin der für die Tat oder aus ihr erlangte Vermögensvorteil wenigstens in dem Umfang verbleibe, als er ihm nicht durch Gegenansprüche, die dem Verletzten aus der Tat erwachsen (§ 73 Abs. 1 Satz 2), entzogen werden kann. Der Täter soll den Gerichtssaal nicht mit dem triumphierenden Gefühl verlassen dürfen, die Tat habe sich letztlich doch „gelohnt". Der Verfall dient so auch auf vermögensrechtlichem Gebiet der Wiederherstellung der verletzten Rechtsordnung 2 .

5

Abweichende Auffassungen. Nach anderer Meinung kann die Rechtsnatur des Verfalls nicht einheitlich beurteilt werden ; jedoch kommen die Vertreter dieser Auffassung zu unterschiedlichen Ergebnissen. Nach Maurach-Zipf ΑΤ Teil-Bd. 2 5 § 61 II Β 1 a (s. auch ZipfìuS 1974 279 und ihm zustimmend Blei StR I ATl? § 103 II 5) hat, wenn der Täter schuldhaft gehandelt hatte — das wird die Regel sein — und selbst durch die Tat bereichert war, der Verfall überwiegend Strafcharakter. Das gleiche gelte für die Anordnung des Verfalls eines Gegenstandes, der einem Nichttatbeteiligten gehört oder zusteht, da sie nach § 73 Abs. 4 nur erfolgen kann, wenn dieser den Vermögensvorteil für die Tat oder sonst in Kenntnis der Umstände gewährt hat. Hat der Täter dagegen nicht schuldhaft gehandelt oder richtet sich die

2

so oder mit ähnlichen Wendungen auch Dreher-Tröndle

Rdn. 1; Jescheck AT § 7 6 1 1;

Lackner 1; SK Schreiber Rdn. 2; Schmidhäuser AT2 20/20; 21/52 „Verhütung des

Triumphs des Rechtsbruchs". (10)

Voraussetzungen des Verfalls (Schäfer)

§73

Verfallssanordnung gegen den tatunbeteiligten Drittempfänger (§ 73 Abs. 3), so habe der Verfall weder Straf- noch Sicherungscharakter, sondern sei als „Nichttolerierung einer rechtswidrigen Vermögenslage durch den Staat" anzusehen. Nach Sch.-Schröder-Eser Rdn. 19, 20 ist der Verfall in der Regel eine „quasikondiktionelle Ausgleichsmaßnahme", im Einzelfall könne aber der Strafcharakter überwiegen, so namentlich bei Tatentgelten für eine schuldhaft-rechtswidrige Tat, die aus dem Vermögen eines Tatbeteiligten stammen, weil es sich dann weniger um Unrechtsausgleich als vielmehr um eine flankierende Unterstützung der Hauptstrafe handele. Man wird indessen Auffassungen, wonach die Rechtsnatur des Verfalls unter 6 Berücksichtigung von Verschuldensgesichtspunkten wechselt, nicht zustimmen können. Wie bereits ausgeführt, hatte allerdings nach der Konzeption des StGB-Entw. 1962 der Verfall die Aufgabe, die Hauptstrafe zu ergänzen, sie „flankierend" zu unterstützen (oben Rdn. 2), aber gerade von dieser Vorstellung der Funktion des Verfalls hat sich der Gesetzgeber abgewandt, indem er unterschiedslos den Verfall unabhängig davon vorschreibt, ob die Anknüpfungstat volldeliktisch oder nur schuldlos-rechtswidrig begangen ist. Auch wäre es angesichts der — in den Grenzen des § 73 c — zwingend vorgeschriebenen Anordnung des Verfalls nicht angängig, irgendwelche praktischen Folgerungen aus dem behaupteten Umschlag in einen strafähnlichen Charakter des Verfalls zu ziehen. Beim Zusammentreffen von Hauptstrafe und fakultativer strafähnlicher Einziehung (§ 74 Abs. 2 Nr. 1) gilt zwar, daß nicht nur der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (§ 74 b) die Grenze der Einziehbarkeit bildet, sondern daß darüber hinaus § 46 einen an der Schuldangemessenheit der staatlichen Gesamtreaktion orientierten Ausgleich zwischen Hauptstrafe und strafähnlicher Einziehung fordern kann (vgl. § 74 b Rdn. 3). Solche Überlegungen können beim Zusammentreffen von Hauptstrafe und Verfall nicht Platz greifen. Hier kommt nur in Betracht, ob die Voraussetzungen des § 73 c Abs. 1 für eine zwingende oder fakultative Abstandnahme von der Anordnung des Verfalls gegeben sind. Es ist aber insbesondere nicht der Sinn des § 73 c Abs. 1 Satz 1, die Entscheidung, ob eine unbillige Härte vorliegt, davon abhängig zu machen, ob die Tat, für die oder aus der der Betroffene den Vermögensvorteil erlangt hat, schuldhaftrechtswidrig oder nur rechtswidrig war (vgl. Keller JR 1976 123); auch kann § 73 Abs. 4 schwerlich als Argument für die Strafähnlichkeit des Verfalls in den dort geregelten Fällen angeführt werden (dazu unten Rdn. 52). 5. Das Ordnungswidrigkeitsrecht kennt keine Anordnung des Verfalls. Da bei der 7 Zumessung der Geldbuße das Tagessatzsystem des § 40 StGB nicht eingeführt ist, bestand kein Hindernis, die Gewinnabschöpfung auf dem Weg über die Bemessung der Geldbuße durchzuführen. § 17 Abs. 4 OWiG schreibt demgemäß vor, daß die Geldbuße den wirtschaftlichen Vorteil, den der Täter aus der Ordnungswidrigkeit gezogen hat, übersteigen soll, und daß das gesetzliche Höchstmaß der Geldbuße überschritten werden kann, wenn es zur Abschöpfung nicht ausreicht. Eine Ausnahme gilt bei der verfallsähnlichen Abführung des Mehrerlöses an die Staatskasse, die auch bei einem unter Verstoß gegen Ordnungswidrigkeitsvorschriften erzielten überhöhten Preis in Betracht kommt (vgl. § 8 Abs. 1 OWiG). Ist der überhöhte Preis durch eine rechtswidrige Tat erzielt, so tritt nach § 8 Abs. 4 die Mehrerlösabführung an die Stelle des Verfalls. Bei Anordnung der Abführung des durch eine Ordnungswidrigkeit erzielten Überpreises fehlt es an einer entsprechenden Vorschrift; in solchen Fällen tritt aber die Sollvorschrift des § 17 Abs. 4 OWiG zurück (vgl. Göhler 4 D zu § 17). Vgl. dazu auch § 30 Abs. 5 OWiG (unten Rdn. 46). (11)

§73

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

II. Voraussetzungen des Verfalls im allgemeinen (Absatz 1) 8

1. Begehung einer rechtswidrigen Tat. Anders als bei der Einziehung nach § 74 Abs. 1 (vgl. dort Rdn. 9) fordert das Gesetz beim Verfall nicht die Begehung einer Straftat (oder gar einer vorsätzlichen Straftat), also die schuldhaft-rechtswidrige Verwirklichung eines Straftatbestandes, sondern es begnügt sich mit der Begehung einer rechtswidrigen Tat (§11 Abs. 1 Nr. 5), also der objektiv-rechtswidrigen Straftatbestandsverwirklichung unter Verzicht aus das zu einer Bestrafung erforderliche Verschulden, wenn es daran fehlt. Jedoch muß, wenn nur die vorsätzliche Begehung strafbar ist, die rechtswidrige Tat wenigstens mit „natürlichem" Vorsatz begangen sein, so daß zwar nicht ein unvermeidbarer Verbotsirrtum, wohl aber Tatbestandsirrtum den „natürlichen" Vorsatz ausschließt (Dreher-Tröndle Rdn. 2; SKSchreiber Rdn. 3). Verfall ist auch möglich, wenn die Straftat fahrlässig begehbar und begangen ist; dem korrespondiert bei rechtswidrigen Taten ein Handeln mit „natürlicher" Fahrlässigkeit (Sch.-Schröder-Eser Rdn. 4). Persönliche Strafausschließungs- und Strafaufhebungsgründe stehen der Verfallsordnung nicht entgegen. Wegen der Bedeutung von Verfahrenshindernissen vgl. § 76 a Abs. 1, 3. 2. Gegenstand des Verfalls ist der Vermögensvorteil, den der Täter oder Teilnehmer für die Tat oder aus ihr erlangt hat.

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a) Vermögensvorteil für die Tat oder aus der Tat. § 109 StGB Entw. 1962 hatte als Gegenstand des Verfalls bezeichnet das Entgelt (dazu § 11 Abs. 1 Nr. 9 StGB), das der Täter oder Teilnehmer für die Straftat, und den Gewinn, den er aus der Straftat erlangt hat. Diese Unterscheidung zwischen Entgelt und Gewinn wurde aber bei den Beratungen im BT-Sonderausschuß (Prot. V 995, 1001) — insoweit in Übereinstimmung mit § 883 AE — aufgegeben, vor allem, weil sie Abgrenzungsschwierigkeiten mit sich bringt, die dem Richter erspart werden sollen, aber auch, weil der zusammenfassende Begriff des Vermögensvorteils besser zum Ausdruck bringe, daß der Verfall nicht nur bestimmte Gegenstände (körperliche Sachen und Rechte) umfasse, sondern rechnerisch erfaßbare Vermögensvorteile anderer Art, wie etwa die zeitweise Nutzung des dafür zur Verfügung gestellten Leihwagens oder einer eingerichteten Wohnung oder die unentgeltliche Leistung von Diensten, die dem Täter eine notwendige Ausgabe ersparen (vgl. RGSt. 57 232 betr. den Begriff des „Empfangenen" i. S. des § 335 a. F. StGB). Dagegen wurde — insoweit abweichend von dem Vorschlag in § 83 AE („Hat eine rechtswidrige Tat dem Täter oder Teilnehmer einen Vermögensvorteil e i n g e b r a c h t . . . " ) — die Unterscheidung zwischen Vermögensvorteilen für die Tat (dem Entgelt) und aus der Tat (dem Gewinn) aufrechterhalten, um eine Auslegung zu vermeiden, daß auch der mittelbare Gewinn dem Verfall unterliege. Der Ausdruck „aus der Straftat" soll stärker das Erfordernis der Unmittelbarkeit des dem Verfall unterliegenden Vermögensvorteils (dazu unten Rdn. 32) zum Ausdruck bringen (Prot. V S. 1002). Die Unterscheidung zwischen Vermögensvorteil für die Tat und aus der Tat spielt im übrigen auch eine Rolle in § 73 Abs. 1 Satz 2, wonach aus der Tat erwachsene Gegenansprüche des Verletzten nur den Verfall des aus der Tat erlangten Vermögensvorteils ganz oder teilweise ausschließen. Auch ergab sich die Notwendigkeit, Regeln aufzustellen, die sich mit dem Verfall von Gegenständen als solchen befassen (§ 73 Abs. 2 Satz 2, Abs. 4).

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b) Vermögensvorteile aus der Tat sind danach alle Vermögensvorteile, die dem Täter (Teilnehmer) durch die Tatbegehung unmittelbar zufließen, mit Ausnahme derjenigen, die Ausgleichsansprüchen individuell Verletzter ausgesetzt sind (§ 73 Abs. 1 Satz 2), wie ζ. B. die Beute des Diebes oder Wilderers, der durch die Vermö(12)

Voraussetzungen des Verfalls (Schäfer)

§73

gensposition des Getäuschten vom Betrüger erlangte Vermögensvorteil, die von Bewucherten dem Wucherer gewährten Vermögensvorteile. Dagegen unterliegen dem Verfall der Vermögensvorteil aus der entgeltlichen öffentlichen Vorführung pornografischer Filme (§ 184 Abs. 1 Nr. 7), die Einnahmen aus der gewerbsmäßigen Unterhaltung eines Bordellbetriebs unter den in § 180 a Abs. 1 bezeichneten Voraussetzungen oder aus der Ausübung der verbotenen Prostitution (§ 184 a) oder die Einnahmen aus der Betätigung als Heilpraktiker, wenn der Täter die nach § 1 HeilpraktikerG vom 17. 12.1939 erforderliche Erlaubnis für diese Betätigung nicht besitzt (BGH NJW 1978 599). Zu beachten bleibt aber, daß ein Verfall der scelere quaesita dort entfällt, wo der Gesetzgeber zur Wegnahme den Weg der Einziehung als „Beziehungsgegenstand" (Rdn. 62 zu § 74) gewählt hat, wie bei den entgegen § 296 a Abs. 1 verbotswidrig gefangenen herrenlosen Fischen (§ 296 a Abs. 2 und dazu unten Rdn. 54). c) Vermögensvorteile für die Tat sind in erster Linie Lohn und Entgelt (§11 11 Abs. 1 Nr. 9) für die erfolgte oder künftige Begehung rechtswidriger Taten; die rechtswidrige Tat kann aber auch, wie in den Fällen der §§ 331, 332, bereits in der Annahme des Entgelts für ein in der Vergangenheit oder Zukunft liegendes, an sich nicht strafbares Verhalten liegen (streitig; nach anderer Auffassung liegt hier ein Vermögensvorteil aus der Tat vor; so z. B. Dreher-Tröndle Rdn. 3). Bedeutungslos ist, ob die Gewährung des Vermögensvorteils für die Tat ihrerseits eine rechtswidrige Tat darstellt oder nicht. Vermögensvorteile für die Tat sind z. B. der Vorteil, sofern er in einem Vermögensvorteil besteht, den der Amtsträger in den Fällen der §§ 331, 332 als Gegenleistung für eine vorgenommene oder künftig vorzunehmende, wenn auch pflichtgemäße oder pflichtwidrige, aber nicht strafbare Diensthandlung sich hat gewähren lassen, die Zahlungen, die der landesverräterische Agent von seinem ausländischen Auftraggeber erhält, der Lohn des gedungenen Killers, aber auch die Belohnung, sofern sie in einem Vermögensvorteil besteht, die der Täter der in § 140 bezeichneten rechtswidrigen Taten nachträglich von einem Sympathisanten entgegennimmt (ebenso Dreher-Tröndle Rdn. 3). d) Erlangt ist der Vermögensvorteil (zu diesem Begriff auch unten Rdn. 15), wenn 12 der Täter, dem eine Sache zu Eigentum oder ein Recht übertragen werden soll, die dem Übertragungswillen entsprechende tatsächliche Verfügungsgewalt über den Gegenstand erlangt (dazu unten Rdn. 51), und wenn er bei Vermögensvorteilen anderer Art mit ihrer wirtschaftlichen Ausnutzung begonnen hat, z. B. den Leihwagen in Gebrauch genommen, die eingerichtete Wohnung bezogen (oben Rdn. 9) oder den eingeräumten Kredit in Anspruch genommen hat. Die Erlangung des Vermögensvorteils kann aber auch auf dem Weg über die Zuwendung des Vorteils an eine nichttatbeteiligte dritte Person erfolgen, so wenn der Täter von seiner Zahlungsschuld befreit wird, indem der Vorteilsgeber den Gläubiger befriedigt (§ 267 BGB), oder wenn Rechte an einen Dritten als Treuhänder des Täters abgetreten werden und dem Täter ein Anspruch gegen den Treuhänder auf Übertragung der Rechte an ihn zusteht; dann ist Gegenstand des Verfalls der zur Schuldtilgung aufgewendete Betrag oder der Abtretungsanspruch des Täters gegen den Treuhänder (RGSt. 68 113 = JW1934 1499 mit Anm. Klee). e) Ein Vermögensvorteil, der lediglich angeboten oder versprochen, aber noch 13 nicht gewährt ist, ist naturgemäß noch nicht erlangt. Erlangt ist auch nicht ohne weiteres der Vermögensvorteil, den der Bestecher einem Amtsträger ohne sein Wissen und seinen Willen zugesteckt oder mit der Post zugesandt hat. Er wird erst im Sinn des § 73 Abs. 1 erlangt, wenn dieser ihn als Gegenleistung dafür behält (13)

§73

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

(„annimmt"), daß er eine Dienstleistung vorgenommen hat oder künftig vornehme. Gibt er aber die Zuwendung alsbald dem Bestecher zurück oder liefert er sie seiner Behörde ab, so kann Einziehung als Tatwerkzeug des Bestechungsversuchs (§ 334 Abs. 2, 3) in Betracht kommen, aber keine Verfallserklärung, da es d a n n an der Begehung einer rechtswidrigen Tat fehlt, f ü r die oder aus der der Täter einen Vermögensvorteil erlangt hat; die von Sch.-Schröder-Eser Rdn. 12 angeführte abweichende Entscheidung RGSt. 58 157 ist überholt, da dort auf der Grundlage des § 335 a. F. die Verfallerklärung gegenüber dem Bestechenden ausgesprochen wurde, während weder § 73 Abs. 1 Satz 1 noch Abs. 4 (vgl. dazu unten Rdn. 47 ff) für eine solche M a ß n a h m e eine Rechtsgrundlage ergibt. III. Umfang des dem Verfall unterliegenden Vermögensvorteils im einzelnen 14

1. Behandlung der Gewährung von Darlehen nach früherem Recht. Aus der Charakterisierung des Verfalls als einer Nebenstrafe und gestützt auf den Wortlaut des § 335 a. F. StGB, wonach „das E m p f a n g e n e " (oder dessen Wert) als verfallen zu erklären war, hatte die Rechtsprechung (vgl. BGHSt. 13 328) gefolgert, daß bei Gewährung eines Darlehens als Bestechungsmittel bei einfacher Bestechlichkeit (§ 331 a. F.) der Darlehensbetrag und, soweit er verbraucht war, dessen Wert ohne Rücksicht auf etwaige RückZahlungsverpflichtungen für verfallen zu erklären sei und zwar auch dann, wenn die empfangenen Gelder ganz oder teilweise inzwischen zurückgezahlt waren. D a ß das gewährte Darlehen als „echtes" Darlehen gefordert und empfangen sei, sei bedeutungslos. D e n n nach der oberstgerichtlichen Rechtsprechung verfalle das in die tatsächliche Verfügungsgewalt des Amtsträgers gebrachte Bestechungsmittel schlechthin dem Staat, gleichgültig welcher wirtschaftliche Wert dem Bestochenen im Ergebnis zugeflossen sei, und was er seinerseits f ü r das Empfangene zu leisten habe. In dem Fall O L G H a m m G A 1 9 5 8 118 betr. Darlehensempfang als schwere passive Bestechung (§ 332 a. F.) hatte der Tatrichter von der Verfallerklärung des gewährten Darlehens absehen wollen, weil bei einem ernstlich vereinbarten Darlehen der erlangte Vorteil wegen der bestehenden Rückzahlungsverpflichtung nicht in der Darlehenssumme zu erblicken sei, so daß als „empfangen" nur der wirtschaftliche Wert in Betracht komme, den die Überlassung des Darlehens f ü r die vorgesehene Zeit gehabt habe. Dem hielt O L G H a m m aaO als Revisionsgericht entgegen, daß sich die Gewährung des Darlehens auf Seiten des Gebers (§ 333 a. F.) wie des Nehmers (§ 332 a. F.) als strafbare Handlung darstelle, der beiderseitige Verstoß gegen ein gesetzliches Verbot zur Nichtigkeit des Darlehensgeschäfts führe (§ 134 BGB), und da bei beiderseitigem Verstoß gegen ein gesetzliches Verbot ein Rückforderungsanspruch nicht in Betracht komme (§817 Satz 2 BGB), sei der Darlehensnehmer nicht mit RückZahlungsverpflichtungen belastet, der Darlehensbetrag ihm daher rechtlich wie wirtschaftlich voll zugute gekommen, und daher der Wert des Darlehensbetrages für verfallen zu erklären (dazu jetzt Rdn. 15, 18).

15

2. Wechsel der Betrachtungsweise. Soweit die Rdn. 14 (beispielshalber) angeführten Entscheidungen Von der Rechtsnatur des Verfalls als einer Nebenstrafe und von dem damaligen Gesetzeswortlaut („das Empfangene oder dessen Wert") ausgehen, haben sie durch die Neuregelung des Verfallsrechts ihre Bedeutung verloren. Der Verfall hat — läßt man § 73 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 bis 4 zunächst beiseite — nur den tatsächlich erlangten unmittelbaren Vermögensvorteil zum Gegenstand, nur die Abschöpfung dieses illegitim erlangten Vorteils ist das Ziel des Verfalls. Vermögensvorteil aber ist — der Begriff k a n n hier kein anderer sein als etwa in § 263 — jede (14)

Voraussetzungen des Verfalls (Schäfer)

§73

günstigere Gestaltung der Vermögenslage des Täters (Teilnehmers) gegenüber dem Zustand vor der Erlangung des Vermögensvorteils (Brenner DRiZ 1977 203). Besteht dieser in der Erlangung eines bestimmten Gegenstandes (des Eigentums einer Sache oder der Inhaberschaft eines Rechts), so unterliegt im allgemeinen dieser Gegenstand dem Verfall; bei Vermögensvorteilen anderer Art (oben Rdn. 9) kommt Wertersatzverfall (§ 73 a) in Betracht. 3. Beschränkungen des Gewinns. Aus dem Begriff des Vermögensvorteils 16 (Rdn. 15) ergibt sich zunächst, daß eigene Aufwendungen und Gegenleistungen des Täters, die unmittelbar und rechnerisch abgrenzbar mit der Erlangung des Vorteils zusammenhängen, den dem Verfall unterworfenen Vermögensvorteil mindern. Besteht ζ. B. der Vermögensvorteil, der dem Täter zufließt, in unentgeltlichen Dienstleistungen, während er die Kosten der Verpflegung des Dienstleistenden zu tragen hat, so sind bei Anordnung des Verfalls die Verpflegungskosten vom Wert der Dienstleistungen abzusetzen. Vertreibt ein Händler Wein, der unter Verletzung der Vorschriften über den Verschnitt von Weinsorten hergestellt ist (Vergehen nach § 67 Abs. 1 Nr. 1 Buchst, b, Abs. 2 Nr. 12 WeinG), so besteht sein aus der Tat erlangter Vermögensvorteil in dem erzielten Kaufpreis abzüglich des Betrages, den er selbst dem Hersteller als Kaufpreis gezahlt hat, während die Generalunkosten seines Betriebes, da sie nicht unmittelbar mit den speziellen Gesetzesverstößen zusammenhängen, außer Betracht bleiben. Entsprechendes gilt, wenn der Waffenhändler Schußwaffen an Personen verkauft, die nicht im Besitz einer Waffenbesitzkarte sind (Vergehen nach § 53 Abs. 3 Nr. 2 WaffenG). Ebenso mindert sich der Gewinn dessen, der unerlaubt mit Betäubungsmitteln Handel treibt (§ 11 Abs. 1 Nr. 1 BetMG), um den Preis, den er selbst seinem Lieferanten gezahlt hat (BGHSt. 28 369 = M D R 1979 685). Vgl. dazu noch unten Rdn. 19. Zur Konkurrenz von Verfall und Einziehung nach § 7 4 Abs. 4 in Verbindung mit 17 § 74 c. Die Feststellung des Nettogewinns wegen Saldierung mit eigenen Aufwendungen des Täters (Rdn. 16) kann dem Tatrichter auch bei Anwendung des § 73 b erhebliche Schwierigkeiten bereiten. In der Praxis ist im Zusammenhang mit Vergehen nach § 11 BetMG, dessen Absatz 6 die Einziehung der Beziehungsgegenstände vorsieht, die Frage aufgetaucht, ob diesen Schwierigkeiten nicht durch Anwendung des § 11 Abs. 6 BetMG in Verbindung mit § 74 c (Wertersatzeinziehung) entgangen werden kann. Zu denken wäre etwa an den Fall, daß bei dem Täter der Preis, den er bei dem Verkauf von Heroin erhalten hatte, sichergestellt ist, die Abnehmer nicht mehr festzustellen sind und die Feststellung des Nettoerlöses auch bei Anwendung des § 73 b wesentliche Schwierigkeiten bereitet. Dagegen wäre, so wurde erwogen, bei einer Wertersatzeinziehung nach § 11 Abs. 6 BetMG in Verbindung mit §§74 Abs. 4, 74 c ohne Bedeutung, welche Aufwendungen dem Täter gegenüber seinem Lieferanten entstanden sind, wenn der Wert des vertriebenen Heroins festgestellt oder geschätzt werden kann. Daran ist richtig, daß § 74 c auch anwendbar ist, wenn ein Sondergesetz i. S. des § 74 Abs. 4 (hier § 11 Abs. 6 BetMG) die Einziehung von Beziehungsgegenständen vorsieht (§ 74 Rdn. 63). Im übrigen ist aber die Rechtslage nicht eindeutig. Voraussetzung einer Wertersatzeinziehung nach § 74 c ist zunächst, daß der Täter den Gegenstand (das Heroin), das ihm zur Zeit der Tat gehörte und auf dessen Einziehung hätte erkannt werden können, vor der Entscheidung über die Einziehung veräußerte. Die „Tat" i. S. des § 74 c Abs. 1 wäre hier die Veräußerung; Tat und Veräußerung fallen also zusammen, und es erhebt sich das Bedenken, ob der Täter zur Zeit der Veräußerung Eigentümer des Heroins war, da er sein Eigentum ja gerade in diesem Zeitpunkt aufgab (das „Gehören" selbst soll unter (15)

§73

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

Verzicht auf Ausführungen über die Gültigkeit des Erwerbs des Täters von seinem Lieferanten unterstellt werden; vgl. dazu die wohl auch hier sinngemäß anwendbaren Ausführungen § 73 Rdn. 47 ff, 51) Diesem Bedenken wäre immerhin damit zu begegnen, daß der Begriff der „Tat" insofern weiter gefaßt werden könnte, als der Täter sich schon durch den Erwerb und die Erlangung des Besitzes am Heroin strafbar gemacht hat (§ 11 Abs. 1 Nr. 1 BetMG) und — vergleichbar dem Fall des Fälschens einer Urkunde und ihrem anschließenden Gebrauch zur Täuschung im Rechtsverkehr (§ 267) — nur eine Tat vorliegt, wenn der Täter Heroin erwirbt und es dem schon beim Erwerb bestehenden Vorsatz entsprechend veräußert. Es bleibt aber jedenfalls das weitere Bedenken, daß es ein Grundsatz des Verfahrensrechts ist, den Täter davor zu bewahren, daß er „zweimal zahlen muß" (unten Rdn. 25). Eine doppelte Zahlung könnte aber in Betracht kommen, wenn dem Täter gemäß § 74 c die Verpflichtung zum Ersatz des Wertes des veräußerten Heroins auferlegt werden könnte und gleichzeitig ohne Rücksicht darauf gemäß § 73 Abs. 1 der Verfall des aus der Veräußerung erlangten Vermögensvorteils angeordnet werden müßte. Bejaht man also die Anwendbarkeit des § 7 4 c Abs. 1, so muß mindestens der zwingend vorgeschriebene Verfall des Gewinns bei der nur fakultativen Wertersatzeinziehung berücksichtigt werden, d. h. es darf nicht als Wertersatz eingezogen werden, was bereits im Wege der Gewinnabschöpfung durch den Verfall erfaßt wirdla Daher können Schwierigkeiten bei der Feststellung des allein dem Verfall unterliegenden „Nettogewinns" — Schwierigkeiten, die der Gesetzgeber in Kauf genommen hat — nicht auf dem Wege über § 74 c unterlaufen werden. Im übrigen erscheint auch die Tragweite des § 11 Abs. 6 BetMG weiter klärungsbedürftig. Streng genommen wäre es ζ. B. möglich, demjenigen, der Heroin zum Eigengebrauch erwirbt und es verbraucht, in Anwendung des § 74 c Wertersatzeinziehung aufzuerlegen ; das Absehen von Strafe gemäß § 11 Abs. 5 BetMG würde einer selbständigen Anordnung der Wertersatzeinziehung nicht entgegenstehen (§ 76 a Abs. 1,3); jedoch sind Wertersatzeinziehungsfälle dieser Art, soweit übersehbar, bisher nicht bekanntgeworden. 18

4. Bedeutung des § 817 Satz 2 BGB. Wenn der erlangte Vermögensvorteil in der Gewährung eines „echten" Darlehens besteht (oben Rdn. 14), so ergibt sich aus dem Begriff des Vermögensvorteils, daß der Darlehensbetrag nicht dem Verfall unterliegt, falls der Empfänger mit der Verpflichtung zur Rückzahlung belastet ist. In diesem Zusammenhang erhebt sich die Frage nach der Bedeutung des § 817 Satz 2 BGB. Besteht ζ. B. das einem Amtsträger für die Vornahme einer Ermessensentscheidung oder einer die Dienstpflicht verletzenden Diensthandlung gewährte Bestechungsentgelt in der Erlangung eines „echten" Darlehens, so verstößt sowohl die Vorteilsgewährung (§§333, 334) wie die Vorteilsannahme (§§ 331, 332) gegen ein gesetzliches Verbot und zwar ein gesetzliches Verbot, das im Interesse der Allgemeinheit dem Schutz des Vertrauens in die Unkäuflichkeit von Trägern staatlicher Funktionen und damit in die Sachlichkeit staatlicher Entscheidungen dient (LKBaldus9 Rdn. 18,19 vor § 331 a. F.; Lackner § 331 Anm. 1). Der beiderseitige Gesetzesverstoß führt nach § 134 BGB zur Nichtigkeit des Darlehensgeschäfts. Einem la

S. dazu BGHSt. 28 369 = M DR 1979 685: Wird gemäß § 74 c gegen den Heroinverkäufer auf Einziehung des dem Wert des Heroins entsprechenden Geldbetrages erkannt, so kommt zusätzliche Verfallerklärung nur insoweit in Betracht, als der Täter aus besonderen Gründen einen den Wert des Betäubungsmittels übersteigenden höheren Erlös erzielt hat (dazu Rdn. 14 zu § 74 c). (16)

Voraussetzungen des Verfalls (Schäfer)

§73

Rückforderungsanspruch des Darlehensgebers aus ungerechtfertigter Bereicherung steht der Wortlaut des §817 Satz 2 BGB entgegen. Findet die Vorschrift Anwendung, so besteht allerdings der erlangte und für verfallen zu erklärende Vermögensvorteil des Betroffenen in der erlangten Darlehenssumme. Indessen ist die Bedeutung des § 817 Satz 2 umstritten. Ausgehend von der Auffassung, daß die Vorschrift (trotz ihres Wortlauts: „gleichfalls") auch gelte, wenn nur dem Leistenden, nicht auch dem Empfänger ein Gesetzes- oder Sittenverstoß zur Last fällt, wurde zunächst für den Fall einseitigen Gesetzes- oder Sittenverstoßes des Leistenden §817 Satz 2 einengend dahin ausgelegt, daß der Ausschluß des Bereicherungsanspruchs nur solche Vermögensvorteile betrifft, die endgültig in das Vermögen des Leistungsempfängers übergehen sollten. In RGZ161 52 (GrZivSen ; in der Folgezeit ständige Rechtsprechung, vgl. z. B. BGH WPM 1962 606; 1963 834; KG WPM 1975 128) ist ausgesprochen, daß bei einem wegen Wuchers (§ 138 Abs. 2 BGB) nichtigen Darlehen dem Darlehensgeber durch §817 Satz 2 die Rückforderung der Darlehenssumme (zu dem bei Gültigkeit des Rechtsgeschäfts maßgeblichen Fälligkeitszeitpunkt) nicht verwehrt sei, weil der Sinn der Darlehenshingabe nicht der sei, das Vermögen des Empfängers dauernd um das Kapital zu vermehren, sondern ihm nur dessen vorübergehende Nutzung zuzuwenden. Deshalb schließe §817 Satz 2 (bei Erfüllung der weiteren subjektiven Voraussetzungen) nur aus, daß der Darlehenswucherer dem Bewucherten die zeitweilige Ausnutzung des Kapitals (bis zu dem bei Gültigkeit der Vereinbarungen maßgeblichen Fälligkeitszeitpunkt) entziehe, während der Bewucherte einen „in nichts begründeten" Vermögensvorteil erlangen würde, wenn der Anspruch des Wucherers auf Rückzahlung des Kapitals, das von vornherein mit der Pflicht zur Rückgewähr belastet war, durch § 817 Satz 2 auf Dauer ausgeschlossen wäre. Allerdings betonte RGZ 161 57 damals, daß die Entscheidung nur das wucherische Darlehen (bei dem nur der Wucherer, nicht der Bewucherte sitten- und gesetzwidrig handelt) zum Gegenstand habe, nicht auch die Rechtslage bei Hingabe von Darlehen zu sittenwidriger Verwendung. Und mit der Frage nach der Bedeutung des § 817 Satz 2, wenn sowohl der Darlehensgeber durch die Gewährung wie der Darlehensnehmer durch den Empfang des Darlehens rechtswidrig handelt, befaßt sich die Entscheidung überhaupt nicht. Jedoch wird heute weitgehend die Auffassung vertreten, daß auch bei beiderseitigem Gesetzesoder Sittenverstoß der Rückforderungsausschluß sich auf solche Leistungen beschränkt, die endgültig in das Vermögen des Leistungsempfängers übergehen sollten 3 . Dies muß dann folgerichtig auch gelten, wenn sowohl der Leistende wie der Leistungsempfänger durch die Annahme dem Strafgesetz zuwiderhandeln (vgl. dazu auch BGHZ 28 258). Folgt man dieser Auffassung, so ist, wenn der Vermögensvorteil des Täters (Teilnehmers und Drittempfängers i. S. des § 73 Abs. 3) in einem ihm gewährten Darlehen besteht, nur die daraus gezogene Nutzung (Ersparung der Zinsen bei einer sonst erforderlichen Kapitalsaufnahme usw.), nicht aber das Kapital selbst für verfallen zu erklären. Und noch weniger könnte eine Verfallserklärung die bereits zurückgezahlten Raten erfassen. Von einer weiteren Vertiefung der an § 817 Satz 2 anknüpfenden Streit- und Zweifelsfragen über seinen Anwendungsbereich (dazu etwa Erman-Westermann § 817,1) muß im Rahmen dieses Kommentars abgesehen werden. 5. Berücksichtigung von Steuern, die auf den Vermögensvorteil entfallen. Aus 19 dem Rechtscharakter des Verfalls nach § 335 a. F. als einer Nebenstrafe und aus dem Wortlaut der Vorschrift, wonach das „Empfangene" für verfallen erklärt wer3

(Π)

vgl. dazu etwa BGHZ 28 257; Palandt-Thomai38 14; Sch.-Schröder-Eser Rdn. 17.

§ 817 3 a, cc; Erman-Westermann6

§ 817,

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

den müsse, hatte BayObLGSt. 1950/51 486 auch abgeleitet, daß Zahlungen an Einkommen· und Umsatzsteuer, die der Bestochene für das Bestechungsgeld als Teil seines Einkommens und Umsatzes an die Steuerkasse entrichtet hatte, bei der Anordnung des Verfalls nicht mindernd zu berücksichtigen seien. Nach Sch.-Schröder-Eser Rdn. 17 gilt dies auch heute noch. Dem kann aber nicht zugestimmt werden ; auch die Entscheidung BayObLGSt. aaO hat mit der Neugestaltung des Verfalls ihre Bedeutung verloren. Zu den der Einkommensteuer nach § 2 EStG unterliegenden Einkünften gehören auch solche aus unsittlicher oder verbotener Tätigkeit (Bliimich/Falk, Kommentar zum Einkommensteuergesetz 1 1 8 zu §2), insbes. auch Bestechungsgelder und Einnahmen aus Ausübung der verbotenen und der jugendgefährdenden Prostitution (§§ 184 a, 184b StGB; BFH BStBl. 1964 III 500). Mit der Entstehung der Einkommensteuer (§ 36 EStG) ist die Einkunft belastet mit der Pflicht zur Entrichtung des auf sie entfallenden Steuerbetrags, und um diesen mindert sich der dem Täter verbleibende Vermögensvorteil. Entsprechendes gilt auch für die auf den illegitimen Gewinn entfallende Umsatzsteuer (ebenso BGHSt. 28 369 und vom 16. 8.1978 - 3 StR 288/78). Vgl. dazu auch unten Rdn. 23. 20

IV. Verfallsbetroffene. Täter oder Teilnehmer. Waren an der Tat mehrere beteiligt (wegen der Begriffe Täter und Teilnehmer vgl. § 74 Rdn. 9), so war nach der Rechtsprechung zu § 335 a. F. die Verfallerklärung gegen denjenigen zu richten, der (im Zeitpunkt der Aburteilung) das Bestechungsmittel besitzt oder, falls es sich nicht mehr im Kreis der Täter befindet, der es zuletzt in Händen gehabt hat (vgl. BGHSt. 13 329 mit Nachw.). Gegen Mittäter war auf Verfallerklärung bezüglich des gemeinschaftlich erlangten Bestechungsmittels in Gesamthaftung (nicht gegen den einzelnen auf Verfallerklärung des bei einer Verteilung ihm zugeflossenen Anteils) zu erkennen (BGHSt. 10 237). Aus § 73 Abs. 1 Satz 1 ergibt sich, daß die Verfallerklärung grundsätzlich gegen denjenigen Täter oder Teilnehmer wegen des Vermögensvorteils zu richten ist, den er jeweils selbständig erlangt hat, also ζ. B. nur gegen den Gehilfen, wenn er für die Leistung der Beihilfe, sei es vom Haupttäter, sei es von einem Dritten, einen Vermögensvorteil erlangt hat. Ist aber ein Vermögensvorteil für die Tat den Tatbeteiligten gemeinsam zugewendet worden, sei es auch in der Form, daß die Zuwendung an einen von ihnen erfolgte und ihm die Verteilung überlassen wurde, oder haben die Tatbeteiligten durch ihre Zusammenarbeit einen Vermögensvorteil aus der Tat erlangt, so ist die Verfallerklärung (des Gegenstandes oder des Wertersatzes, § 73 a) gegen sie als Gesamtschuldner anzuordnen (vgl. dazu auch § 830 BGB und § 73 a Rdn. 8), auch wenn später der Vermögensvorteil unter sie aufgeteilt und die Anteile verschiedene rechtliche Schicksale erfahren haben. Dies ergibt sich aus dem Grundsatz, daß die Verfallerklärung (unbeschadet des § 73 c) sich auf das ursprünglich Erlangte richtet, auch wenn es sich im Zeitpunkt der Entscheidung nicht mehr im Vermögen der ursprünglichen Empfänger befindet (arg. § 73 c Abs. 1 Satz 2). Unter diesem Gesichtspunkt kann schwerlich der Auffassung von Preisendanz 2 d zu § 73 gefolgt werden, daß, wenn der für das Sprengstoffattentat gedungene X 10.000 DM „Prämie" empfangen und davon 5000 DM als „Spesen für die Bezahlung seiner Mitarbeiter" aufwenden muß, gegen X nur der Verfall von 5000 DM angeordnet werden kann ; die Zuwendung an X erfolgte vielmehr sinngemäß für alle Beteiligten (s. dazu auch § 73 b, 8). V. Ausschluß oder Beschränkung des Verfalls durch Drittrechte (Absatz 1 Satz 2)

21

1. Grundgedanke. Daß nach Absatz 1 Satz 2, der sich als Ergebnis eines Kompromisses darstellt (unten Rdn. 25 f)> die Anordnung des Verfalls entfällt, soweit (18)

Voraussetzungen des Verfalls (Schäfer)

§73

dem Verletzten durch die Tat ein Anspruch erwachsen ist, dessen Erfüllung den aus der Tat erlangten Vermögensvorteil beseitigen oder mindern würde, ist eine Folgerung aus dem Wesen des Verfalls. Der aus der Tat erlangte Vermögensvorteil ist gewissermaßen belastet mit den aus der Tat dem Verletzten erwachsenen vermögensrechtlichen Ausgleichsansprüchen, die (im Falle ihrer Realisierung) den erlangten Vorteil mindern oder beseitigen. Diese Individualansprüche aber haben den Vorrang vor einer Abschöpfung des illegitim Erlangten zugunsten der Staatskasse. Die Aussparung des Verfalls dieser Vermögensvorteile soll verhindern, daß dem Täter die Mittel entzogen werden, die er zur Befriedigung der Ansprüche des Verletzten benötigt. Hätte der Gesetzgeber nur solche Gewinnminderungen berücksichtigen wollen, die im Zeitpunkt der Entscheidung über den Verfall bereits durch Befriedigung der Ansprüche des Verletzten entstanden waren, so hätte er, da es ja nicht angeht, daß der Täter „zweimal zahlt", zugleich eine dem § 9 WiStG entsprechende Regelung über die Rückerstattung der bereits der Staatskasse zugeflossenen Vermögensvorteile treffen müssen, wenn der Verletzte nachträglich mit begründeten Ausgleichsansprüchen gegen den Täter hervortrat. Eine so komplizierte und den Rechtsgang erschwerende Regelung sollte vermieden werden. 2. Der Anwendungsbereich der Vorschrift beschränkt sich zunächst auf den aus 22 der Tat erlangten Vermögensvorteil, d. h. (oben Rdn. 9) auf den Gewinn. § 109 Abs. 2 StGB-Entw. 1962 hatte dies schon durch die Fassung deutlich zum Ausdruck bringen wollen: „Hat der Täter oder Teilnehmer aus der Straftat einen Gewinn erlangt, so ordnet das G e r i c h t . . . dessen Verfall an, soweit nicht dem Verletzten aus der Straftat ein Anspruch erwachsen i s t . . . " . Unanwendbar ist Satz 2 in den Fällen des Vermögensvorteils für die Tat (des Entgelts, der Belohnung für die Ausführung der Tat); er soll dem Täter nicht belassen werden (Prot. V 995), soweit nicht §§ 73 Abs. 2 Satz 2, 73 c eingreifen. Der Begriff der Tat wird im Sinn des § 264 StPO als einheitlicher geschichtlicher Vorgang zu verstehen sein. Wird also ein Bankraub in der Weise begangen, daß der Täter zunächst das Fluchtauto stiehlt, mit dem er vor dem Bankgebäude vorfährt, um es nach Verübung des Überfalls zur Flucht zu benutzen, schießt er dann einen Bankangestellten nieder, und erbeutet er schließlich Geld, so sind sowohl die Ersatzansprüche des bestohlenen Autobesitzers wie die des verletzten Bankangestellten und die der beraubten Bank selbst aus der Tat erwachsene Ansprüche, die den Gewinn aus der Tat — den erlangten Geldbetrag — mindern oder ausschließen. 3. Es muß weiterhin ein individueller Verletzter vorhanden sein, dem aus der Tat 23 ein Ausgleichsanspruch gegen den Täter (Teilnehmer) erwachsen ist, dessen Erfüllung den aus der Tat erlangten Gewinn wieder beseitigen oder wenigstens mindern würde. Gewinne aus einer rechtswidrigen Tat, die nur im Interesse des Schutzes der Allgemeinheit verboten ist, ohne daß zugleich auch der Schutz von Individualinteressen bezweckt ist, fallen nicht unter § 73 Abs. 1 Satz 2 (Beispiele oben Rdn. 10). Ohne Bedeutung ist die Art des Ausgleichsanspruchs. Dieser kann ein bürgerlichrechtlicher Anspruch sein, ζ. B. ein Schadensersatzanspruch aus § 823 Abs. 1, 2 BGB, ein Bereicherungsanspruch, ein Anspruch aus § 985 BGB, und er kann sich auf Naturalrestitution oder auf Ausgleich in Geld richten. Aber auch öffentlichrechtliche Ansprüche gehören hierher, da § 73 Abs. 1 Satz 2 keine Beschränkungen hinsichtlich der Art und Rechtsgrundlage des Anspruchs enthält. Es kann danach auch der Staat Verletzter sein, wenn der Vermögensvorteil in hinterzogenen Steuern (19)

§73

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat 4

besteht . Im Schrifttum wird dies zwar von einzelnen Autoren verneint 5 . Die dafür angeführte Begründung, § 73 Abs. 1 Satz 2 solle dem Strafrichter nur die oft schwierige Entscheidung über den Vorrang zivilrechtlicher Ansprüche des vom Täter geschädigten Privatmannes gegenüber dem Verfallsanspruch des Staates ersparen (so Brenner aaO), schlägt indessen nicht durch. Denn durch § 73 Abs. 1 Satz 2 soll auch der Täter davor geschützt werden, daß er nicht „zweimal zahlen muß" (oben Rdn. 21; unten Rdn. 25); eine solche zweimalige Zahlung würde aber stattfinden, wenn der hinterzogene Betrag für der Staatskasse verfallen erklärt wird, gleichzeitig aber auch der Staat berechtigt ist, die hinterzogenen Steuern nachzufordern (so auch LG Aachen aaO). Weiterhin spielt es auch keine Rolle, ob der Verletzte namentlich bekannt ist, oder ob — ζ. B. bei einem fortgesetzten Betrug gegenüber einer Mehrzahl von Personen — lediglich feststeht, daß einzelne bestimmte Personen, daneben aber auch eine Zahl von nicht näher bekannter Personen geschädigt worden ist (dazu unten Rdn. 25), und es ist endlich (dazu oben Rdn. 21) auch ohne Bedeutung, ob die Geschädigten bereits Ersatzansprüche gestellt haben oder ob die Geltendmachung von Ausgleichsansprüchen Verletzter wahrscheinlich oder überhaupt zu erwarten ist. Entscheidend ist, daß überhaupt Ersatzansprüche bestehen, die, wenn sie geltend gemacht und befriedigt würden, den aus der Tat erlangten Vermögensvorteil beseitigen oder mindern würden. Den hierbei auftretenden Beweisschwierigkeiten trägt § 73 b Rechnung (dazu dort Rdn. 4). Vgl. ferner auch § 73 c Satz 2, sowie § 76 a in Verbindung mit §§ 430, 442 Abs. 1 StPO. 24

4. Im einzelnen besteht indessen Streit über die Bedeutung und Tragweite des § 73 Abs. 1 Satz 2, der zum Teil auch aus den Meinungsverschiedenheiten über Auslegung der strafprozessualen Vorschriften herrührt, die die Durchführung des § 73 Abs. 1 Satz 2 betreffen. Eine Stellungnahme zu diesen Streitfragen macht zunächst eine Darstellung der Überlegungen erforderlich, die im BT-Sonderausschuß zur Schaffung des § 73 Abs. 1 Satz 2 geführt haben.

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5. Die in § 73 Abs. 1 Satz 2 getroffene Regelung beruht, wie bereits oben Rdn. 21 angedeutet, auf einem Kompromiß zwischen verschiedenen im Entstehungsstadium der Vorschrift zutage getretenen Gestaltungsvorstellungen. Ausgangspunkt war: Aus dem Gedanken, durch Anordnung des Verfalls den illegitimen Vermögensvorteil aus der Tat zu entziehen, ergebe sich, daß ein dem Verfall unterliegender Vermögensvorteil nicht mehr vorliegt, wenn und soweit der Vermögensvorteil dem Täter vom Verletzten auf Grund unmittelbar aus der Tat erwachsener Ausgleichsansprüche wieder entzogen wird. In reinster Form durchgeführt würde das dazu führen, daß der Richter in der Hauptverhandlung bei der Entscheidung, ob und in welchem Umfang der Gewinn für verfallen zu erklären ist, nur solche Gegenansprüche des Verletzten berücksichtigt, die bereits erfüllt oder wenigstens geltend gemacht worden sind. Indessen konnte so nicht verfahren werden, denn — von weiteren (prozeßökonomischen) Bedenken abgesehen — sollte dem Fall Rechnung getragen werden, daß ein Verletzter, etwa weil er von dem Verfahren keine Kenntnis erlangt hat, erst später mit seinen Ansprüchen hervortritt. Dann liegt es in seinem Interesse, daß nicht durch rechtskräftig gewordene Anordnung des Verfalls dem Täter die

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ebenso BGH vom 16. 8. 1978 — 3 StR 288/78 — betr. hinterzogene Umsatzsteuer; LG Aachen NJW 1978 385 ; Lackner 2 d ; Dreher- Tröndle Rdn. 7 ; Bäckermann ZfZ 366). 5 so Brenner DRiZ 1977 203 ; Bender ZfZ 1976 141 ; Herold ZfZ 1975 302. (20)

Voraussetzungen des Verfalls (Schäfer)

§73

Mittel entzogen sind, an die er sich halten könnte. Auf der anderen Seite sollte aber auch sichergestellt werden, daß der Täter „in keinem Fall zweimal zahlen müsse", nämlich durch den Verfall und außerdem noch durch die Erfüllung des Ausgleichsanspruchs (Prot. V 995). Dem Vorschlag, aus solchen Gründen nur auf das Bestehen von Gegenansprüchen abzustellen, wurde das Bedenken entgegengehalten, daß dann dem Täter der Tatgewinn insoweit verbleibe, als der Verletzte, gleichviel aus welchen Gründen, seine Ansprüche später nicht geltend macht. Um diesem Dilemma, daß entweder der Täter „zweimal zahlt" oder ihm das illegitim Erlangte ganz oder teilweise verbleibt, zu entgehen, wurden verschiedene Auswege erwogen, wie etwa, die Verfallsanordnung nur insoweit entfallen zu lassen, als Dritte voraussichtlich Gegenansprüche geltend machen würden, oder zwar den Gewinn ohne Rücksicht auf Gegenansprüche für verfallen zu erklären, das Verfallene aber zur Verfügung zu halten, um daraus — und insoweit unter Aufhebung des Verfalls (Vorbild: §9 WiStG) — Ansprüche der Verletzten aus Titeln zu befriedigen, die diese gegen den Täter im Wege des Zivilprozesses erstritten, während der nach Ablauf einer bestimmten Frist unverbrauchte Rest der Staatskasse verbleibe. Diese und ähnliche Vorschläge wurden aber schließlich fallen gelassen. Die für die in § 73 Abs. 1 Satz 2 Gesetz gewordene Lösung vorgetragenen prozeßökonomischen Argumente gingen dahin, es könne nicht Aufgabe des Strafverfahrens sein, daß der Richter in jedem einzelnen Fall die Höhe des erlangten Vermögensvorteils und den Bestand und die Höhe eines Gegenanspruchs des Verletzten feststelle, der Strafrichter sei auch überfordert, wenn er eine Prognose treffen müsse, ob mit der (späteren) Geltendmachung von Ersatzansprüchen zu rechnen sei (Prot. V. 995); es gehe auch nicht an, zunächst einen Gewinnverfall ohne Rücksicht auf künftige Geltendmachung von Ersatzansprüchen anzuordnen, um später das Verfallurteil im Hinblick auf zivilrechtliche Urteile jeweils abzuändern, zumal dann offen bleibe, wie zu verfahren sei, wenn die geltend gemachten Ausgleichsansprüche den Wert oder Betrag des für verfallen Erklärten überschritten. Man einigte sich auf den Vorschlag der Regierungsvertreter, die Verfallerklärung solle — eine schon in § 109 Abs. 2 StGBEntw. 1962 (dazu Begründung S. 241) vorgesehene Lösung verdeutlichend — stattfinden „nur in solchen Fällen, wo von vornherein überhaupt keine Ansprüche vorhanden seien, und zwar in der Erwägung, daß die Verfallerklärung nur in diesen Fällen notwendig sei, weil sonst ein zivilrechtlich Berechtigter da sei, der sich um die Geltendmachung der Ansprüche kümmern könne. Dabei werde in Kauf genommen, daß es Fälle gebe, in denen sich die Verletzten nicht um die Geltendmachung der Ansprüche kümmern würden" (Prot. V 1004). 6. Als Ersatz dafür, den Strafrichter in der Hauptverhandlung grundsätzlich von 26 der detaillierten Beschäftigung mit zivilrechtlichen Ersatzansprüchen frei zu halten, sprach sich aber der Sonderausschuß zur Sicherung der Ansprüche der Verletzten für die schon in der Begründung (S. 241) zu § 109 Abs. 2 StGB-Entw. 1962 angedeutete sog. Beschlagnahmelösung aus (Prot. V 1022; Bericht des Sonderausschusses BTDrucks. V 4095 S. 39). Danach sollte in die Strafprozeßordnung eine Vorschrift aufgenommen werden, wonach Vermögensvorteile, die Täter oder Teilnehmer aus einer Straftat erlangt haben, sicherzustellen, gegebenenfalls zu beschlagnahmen sind, wenn dringender Tatverdacht besteht. Soweit diese Vermögensvorteile nur deshalb nicht nach § 73 Abs. 1 Satz 2 für verfallen erklärt werden, weil Ersatzansprüche Dritter bestehen, sollte eine Regelung folgender Art vorgesehen werden : „ D e n Geschädigten ist, soweit sie b e k a n n t sind, von der Sicherstellung Mitteilung zu machen. Im übrigen sind sie öffentlich auf die Sicherstellung hinzuweisen. I h n e n ist eine Frist (von vielleicht drei (21)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

J a h r e n ) e i n z u r ä u m e n , i n n e r h a l b d e r e n sie ihre A n s p r ü c h e gegen den T ä t e r oder T e i l n e h m e r geltend m a c h e n k ö n n e n . Z u r Befriedigung dieser A n s p r ü c h e stehen die sichergestellten Vermögensvorteile z u r Verfügung. Sind nach Ablauf der Frist noch Vermögensvorteile v o r h a n d e n , so gehen sie auf den Staat über. Vorher ist f ü r den Verurteilten noch e i n m a l die Möglichkeit e i n e r rechtlichen U b e r p r ü f u n g der H ö h e d e r aus d e r Straftat erlangten Vermögensvorteile zu e r ö f f n e n " .

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7. Im geltenden Recht ist die Beschlagnahme-Lösung durchgeführt worden, aber mit wesentlichen Abstrichen gegenüber den Vorstellungen des Sonderausschusses; auch sind Streitfragen entstanden, die sich auf die Bedeutung des § 73 Abs. 1 Satz 2 auswirken. a) Sicherungsmöglichkeiten. Die durch Art. 21 Nr. 29 EGStGB 1974 geschaffenen §§ 111 b ff StPO regeln die strafprozessuale „Zurückgewinnungshilfe" zugunsten des durch die rechtswidrige Tat Verletzten. Nach § 111 b Abs. 1 können Gegenstände und andere Vermögensvorteile sichergestellt werden, wenn dringende Gründe für die Annahme vorhanden sind, daß die Voraussetzungen für ihren Verfall vorliegen. Besteht der Vermögensvorteil in einem bestimmten Gegenstand, so wird die Sicherstellung durch Beschlagnahme nach § 111 c bewirkt (§ 111 b Abs. 2). Zur Sicherung des Verfalls anderer Vermögensvorteile (des Wertersatzverfalls, § 73 a StGB) kann nach § 111 d der dingliche Arrest angeordnet werden. Nach § 111 b Abs. 3 StPO gelten die Absätze 1 und 2 des § 111 b entsprechend auch für Vermögensvorteile, die nach § 73 Abs. 1 Satz 2 StGB nur deshalb nicht dem Verfall unterliegen, weil sie durch die Erfüllung eines Anspruchs beseitigt oder gemindert würden, der dem Verletzten aus der Tat erwachsen ist. Bereits die Auslegung des § 111 b Abs. 3 ist streitig. Nach KleinknechtM § 111 b Rdn. 13 bis 15 ist zwar „Rückgewinnungshilfe" durch Beschlagnahme möglich, wenn der Vermögensvorteil in einem bestimmten Gegenstand besteht, der dem Verletzten durch die rechtswidrige Tat entzogen wurde; ausgeschlossen sei aber die strafprozessuale Zurückgewinnungshilfe durch dinglichen Arrest bei anderen Vermögensvorteilen, da § 111 b Abs. 3 nur auf § 111 b Abs. 2, nicht auch auf § 111 d Bezug nehme; dies entspreche auch dem Sinn des § 73 Abs. 1 Satz 2 StGB, wonach der Staat das Abschöpfen des kriminellen Gewinns der Eigeninitiative des Verletzten überlasse. Nach LRMeyer23 § 111 d Rdn. 5 kann zwar dieser Auffassung insofern nicht gefolgt werden, als rechtlich der dingliche Arrest auch zur Sicherung der Ansprüche des Verletzten zulässig sei, denn indem § 111 b Abs. 3 auf Absatz 1 des § 111 b verweise, spreche er auch die entsprechende Anwendbarkeit des § 111 d aus, der an § 111 b Abs. 1 anknüpfe. Es werde aber — und deshalb sei Kleinknecht im Ergebnis zuzustimmen — regelmäßig kein Anlaß bestehen, Ansprüche des Verletzten durch Arrest zu sichern, und wenn von vornherein feststehe, daß die Voraussetzungen des § 73 Abs. 1 Satz 2 vorliegen, werde von der Anwendung des § 111 d abzusehen sein.

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b) Dauer der Sicherstellung. Die Vorstellungen des BT-Sonderausschusses, daß, wenn ein Urteil ergeht, das von der Verfallerklärung aus den Gründen des § 73 Abs. 1 Satz 2 absieht, die Sicherstellung der Vermögensvorteile für einen Zeitraum von mehreren Jahren aufrecht zu erhalten sei, innerhalb dessen die Verletzten ihre Ansprüche gegen den Täter (Teilnehmer) geltend machen und sich aus dem sichergestellten Vermögensvorteilen befriedigen könnten, haben in § 111 i StPO nur zu einem sehr geringen Teil einen Niederschlag gefunden. Danach kann, wenn das Urteil lediglich deshalb nicht auf Verfall oder Verfall des Wertersatzes erkennt, weil Ansprüche eines Verletzten i. S. des § 73 Abs. 1 Satz 2 StGB entgegenstehen, die Beschlagnahme aus § 111 c für die Dauer von höchstens drei Monaten aufrechterhalten werden, und auch dies nur, sofern die sofortige Aufhebung gegenüber dem (22)

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Verletzten unbillig wäre. Nach der restriktiven Auslegung, die die Vorschrift im Schrifttum gefunden hat, kommt ein Verlängerungsbeschluß nur in Betracht, wenn der Verletzte bekannt ist, denn die Verlängerung habe nur den Zweck, dem Verletzten die Erlangung eines Titels gegen den Täter zu ermöglichen, den er trotz zumutbarer Anstrengungen bisher nicht erreicht habe; wenn er aber bekannt sei, habe es keinen Zweck, die Beschlagnahme weitere drei Monate aufrechtzuerhalten (LRMeyer § 111 i Rdn. 3). Auch komme nach dem Gesetzeswortlaut eine Verlängerung nur in Betracht, wenn ein Gegenstand nach § 111 c StPO beschlagnahmt sei, nicht auch, wenn der dingliche Arrest (§ 111 d) angeordnet sei ; wenn § 111 i auch von Verfall des Wertersatzes spreche, handele es sich um ein Versehen des Gesetzgebers (so LR- Meyer Rdn. 2; Kleinknechß4 Rdn. 4, zu § 111 i). Der unbekannt gebliebene Verletzte genießt also nach Ergehen eines Urteils, das gemäß § 73 Abs. 1 Satz 2 von der Anordnung des Verfalls absieht, nur insofern einen gewissen Schutz, als, wenn gemäß §§ 111 b Abs. 3, 111c Abs. 1 StPO eine bewegliche Sache beschlagnahmt und sie ihm nachweislich durch die rechtswidrige Tat entzogen war, diese nach § 983 BGB zu behandeln ist (LR-Meyer § 111 i Rdn. 1; Nr. 75 Abs. 5 RiStBV), so daß er vielleicht durch die öffentliche Bekanntmachung nach § 980 BGB von dem Verbleib der Sache erfährt und noch eine gewisse Zeit lang Rechte auf den Versteigerungserlös geltend machen kann (§ 981). c) Im Licht der in Rdn. 24, 25 dargestellten Entstehungsgeschichte des § 73 Abs. 1 29 Satz 2 gesehen, erheben sich Bedenken gegen eine restriktive Auslegung der §§ 111 b, 111 i StPO (oben Rdn. 27, 28). Die „Beschlagnahme-Lösung" sollte einerseits den Weg freimachen für eine aus prozeßökonomischen Gründen erwünschte Handhabung des § 73 Abs. 1 Satz 2 in dem Sinn, daß eine Verfallserklärung nur stattfinden solle, wo von vornherein überhaupt keine Gegenansprüche des Verletzten vorhanden sind; sie sollte andererseits den Verletzten auf eine möglichst lange Zeit die Möglichkeit bieten, sich aus sichergestellten Vermögensvorteilen Befriedigung zu verschaffen. Die strafprozessuale Ausgestaltung dieses letzteren Anliegens durch Art. 21 Nr. 29 EGStGB 1974 fiel dann freilich in eine Zeit, in der bereits die Rücksichtnahme auf die Überlastung der Strafjustizorgane einen zeitlich so weit reichenden Schutz der Belange der Verletzten, wie er dem Sonderausschuß in den Jahren 1967 bis 1969 vorgeschwebt hatte, nicht mehr zuließ. Jedoch gebieten die aus der Entstehungsgeschichte des § 73 Abs. 1 Satz 2 erkennbaren Überlegungen, daß der ohnedies verkürzte Schutz von Gegenansprüchen der Verletzten nicht in noch weiterem Maße durch eine vom Gesetz nicht zwingend gebotene restriktive Auslegung der § 111 b ff StPO eingeengt wird. Daher kann der Auffassung von Kleinknecht, § 111 b Abs. 3 schließe einen dinglichen Arrest zugunsten des Verletzten aus (oben Rdn. 27), nicht zugestimmt werden, aber auch nicht der nicht näher begründeten Auffassung von LR -Meyer, § 111 d sei zwar (theoretisch) anwendbar, praktisch aber bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 73 Abs. 1 Satz 2 ohne Bedeutung. d) Mit den aus der Entstehungsgeschichte des § 73 Abs. 1 Satz 2 erkennbaren 30 gesetzgeberischen Tendenzen unvereinbar sind aber auch Auffassungen, die auf eine Beschränkung des Anwendungsbereichs dieser Vorschrift hinauslaufen. So hat nach Sch.-Schröder-Eser Rdn. 27, 28 der Richter bei seiner Entscheidung über die Anwendbarkeit des § 73 Abs. 1 Satz 2 zu berücksichtigen, ob und wieweit mit der tatsächlichen Erfüllung von Ansprüchen der Verletzten zu rechnen sei; erscheine dies praktisch ausgeschlossen, etwa weil die Vielzahl von potentiell Geschädigten um ihre Ansprüche nicht wisse oder an Wiedergutmachung desinteressiert sei, so fehle es an der vom Gesetz bezweckten Rücksichtnahme auf Ansprüche des Verletz(23)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

ten, und der Verfall des Gewinns sei anzuordnen. Indessen ist gerade der Fall, daß der reisende Betrüger mit dem gleichen Trick eine Vielzahl von Personen schädigt und nur ein Teil der Geschädigten namentlich bekannt ist, sowohl in der Großen Strafrechtskommission (ζ. B. Niederschriften 3 217, 279) wie im BT-Sonderausschuß (vgl. insbes. Prot. V 995) erörtert und, wie bereits oben Rdn. 25, 26 angedeutet, gerade aus ihm die Notwendigkeit der „Beschlagnahme-Lösung" gefolgert worden, weil eine dem Richter obliegende Prognose, ob und in welchem Umfang mit einer (späteren) Geltendmachung von Ersatzansprüchen zu rechnen sei, große Schwierigkeiten bereite und eine Fehlbeurteilung durch zu niedrige Einschätzung künftig hervortretender Ersatzansprüche dazu führen könne, daß der Angeklagte „zweimal zahlen" müsse (nämlich in Gestalt des Verfalls und durch spätere Erfüllung eines Ersatzanspruchs).

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VI. Erstreckung des Verfalls auf Nutzungen und Surrogate (Absatz 2) 1. Allgemeine Bedeutung. Die Fassung des Absatzes 2 ist dem § 818 Abs. 1 BGB nachgebildet, dessen Auslegung auch für die des § 73 Abs. 2 von Bedeutung ist. Indem nach § 73 Abs. 2 Satz 1 die Anordnung des Verfalls sich kraft Gesetzes auf die gezogenen Nutzungen erstreckt und nach Satz 2 die Anordnung, wenn der erlangte Vermögensvorteil in einem Gegenstand besteht, auf dessen Surrogate erstreckt werden kann, macht das Gesetz deutlich, daß der Vermögensvorteil im Sinn des Absatzes 1 nur der unmittelbar erlangte Vermögensvorteil ist und die mittelbar erlangten Vorteile nur insoweit dem Verfall unterliegen, als die abschließend gedachte Aufzählung des Absatzes 2 es zuläßt. Zugleich ergibt sich aus § 73 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit §§ 73 a Satz 1, 73 c Abs. 1 Satz 2, daß ein späterer Wegfall des einmal erlangten Vermögensvorteils, auch wenn er nicht zur Erlangung eines Surrogats führt, die Anordnung des Verfalls in Form des Wertersatzverfalls nicht ausschließt. Denn indem § 73 c Abs. 1 Satz 2 es dem Ermessen des Gerichts überläßt, von der Anordnung des Verfalls abzusehen („kann unterbleiben"), soweit der Wert des Erlangten in dem Zeitpunkt, in dem über den Verfall zu entscheiden ist, nicht mehr im Vermögen des Betroffenen vorhanden ist, spricht er zugleich aus, daß der Wegfall der illegitimen Bereicherung die Zulässigkeit der Anordnung des Wertersatzverfalls (§ 73 a) nicht hindert, außer wenn die Voraussetzungen des § 73 c Abs. 1 Satz 1 gegeben sind. 2. Der Begriff der Nutzungen, auf die nach Absatz 2 Satz 1 die Anordnung des Verfalls des Vermögensvorteils erstreckt werden muß, ergibt sich aus §§ 99, 100 BGB (Sach- und Rechtsfrüchte sowie Gebrauchsvorteile). Für verfallen zu erklären sind nur die tatsächlich gezogenen Nutzungen, nicht auch solche, die der Täter hätte ziehen können, aber zu ziehen unterlassen hat. Zu den gezogenen Nutzungen gehören ζ. B., wenn der Täter als Vermögensvorteil das Eigentum an einem Mietshaus erlangt hat, die aus der Vermietung erzielten Einnahmen unter Berücksichtigung der hierfür vom Täter gemachten Aufwendungen (oben Rdn. 16 und dazu OLG Karlsruhe JR 1976 121 mit Anm. Keller). Besteht der erlangte Vermögensvorteil in Geld, so gehört zu den Nutzungen der Zinsertrag, den der Täter durch Anlegung des Geldes auf Sparkonto, durch Vergabe verzinslicher Darlehen oder — als Surrogatsnutzung — durch den Ankauf verzinslicher Wertpapiere erzielt. Dagegen gehören, wenn der Täter das erlangte Geld zum Auf- oder Ausbau eines Unternehmens verwendet, die in diesem Unternehmen erzielten Gewinne nicht mehr zu den Nutzungen im Sinne des Absatzes 1, vielmehr sind sie durch persönlichen Einsatz (24)

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erlangte legale Gewinne, die wegen fehlender Unmittelbarkeit (oben Rdn. 9) nicht unter dem Gesichtspunkt der Abschöpfung des illegitim Erlangten weggenommen werden können. In § 109 Abs. 5 StGB-Entw. 1962 war vorgesehen, daß, wenn der erlangte Vermögensvorteil in Geld besteht und nicht ein tatsächlich erzielter Zinsgewinn dem Verfall unterliegt, das Gericht den Verfall eines Geldbetrages anordnen könne, der den üblichen Zinsen für eine angemessene Zeit, jedoch nicht über die Anordnung des Verfalls hinaus, entspricht. Damit sollte aus generalpräventiven Gründen der Verfall des mittelbaren Gewinns in begrenztem Umfang ermöglicht werden, weil der Täter sich durch die rechtswidrige Tat — gedacht war vor allem an Steuerhinterziehung — im praktischen Ergebnis ein zinsloses Darlehen verschafft habe (Begr. S. 243). Dieser Vorschlag ist aber nicht Gesetz geworden; eine solche Vorschrift wurde als überflüssig angesehen, nachdem im Steuerrecht die Verzinsung hinterzogener Steuern vom Zeitpunkt der vollendeten Hinterziehung ab eingeführt worden war (Bericht BTDrucks. V 4095 S. 40). 3. Surrogate a) Allgemeines. Außer den gezogenen Nutzungen unterliegen nach Absatz 2 33 Satz 2 dem Verfall auch die Surrogate, die an die Stelle des ursprünglich erlangten Vermögensvorteils getreten sind. Dies gilt jedoch nur mit Einschränkungen. Zunächst setzt Absatz 2 Satz 2 voraus, daß der erlangte Vermögensvorteil in einem bestimmten Gegenstand (Sache oder Recht) besteht, dessen Eigentümer (Rechtsinhaber) der Täter (Teilnehmer) geworden ist, und ferner können als Surrogat nur Gegenstände für verfallen erklärt werden, die durch bestimmte Vorgänge an die Stelle des ursprünglich erlangten Gegenstandes getreten sind. Damit soll erreicht werden, daß auch die Surrogate als mittelbare Vorteile nur in rechtlich bestimmten Grenzen entziehungsfähig sind. Der weitergehende Vorschlag in § 83 Abs. 3 Satz 2 AE („Ist an die Stelle des zunächst Erlangten ein anderer Gegenstand getreten, so kann dessen Verfall angeordnet werden") hätte ζ. B. dazu geführt, daß, wenn ein Bestechungsentgelt in einem kleinen Kraftfahrzeug bestand und der Bestochene, der sich legal zu einem seriösen Geschäftsmann entwickelte, später diesen kleinen Wagen durch ein komfortables Kraftfahrzeug ersetzte, letzteres für verfallen erklärt werden konnte. Dieses Ergebnis erschien dem Sonderausschuß nicht gerechtfertigt (Prot. V 1014). b) Dem Verfall unterliegt der Gegenstand, den der Täter oder Teilnehmer durch 34 Veräußerung des erlangten Originalgegenstandes erworben hat. „Durch die Veräußerung erworben" ist aber bei sinngemäßer Auslegung nicht nur ein Gegenstand, der unmittelbar als Gegenleistung für die Veräußerung an die Stelle des entäußerten Gegenstandes getreten ist (ζ. B. bei einem Tausch der Tauschgegenstand), sondern bei einer Veräußerung gegen eine Geldzahlung sowohl der Geldbetrag selbst wie auch der Gegenstand, den der Täter mit Hilfe des Geldbetrages als Ersatz für den veräußerten Gegenstand angeschafft hat (Dreher-Tröndle Rdn. 10). Besteht der erlangte Vermögensvorteil in Geld, so ist Originalvorteil der Geldbetrag als solcher, nicht etwa die ursprünglich erlangten Münzen oder Geldscheine, an deren Stelle längst andere Zahlungsmittel getreten sein können. Veräußerungssurrogat ist dann der Kaufgegenstand, den der Täter mit dem Geld gekauft und bezahlt hat, ζ. B. auch die mit dem Geld erworbenen Lotterielose, aber nicht mehr der auf diese Lose entfallene, den Erwerbspreis der Lose übersteigende Lotteriegewinn, der als mittelbarer Vermögensvorteil anzusehen ist (Brenner DRiZ 1977 204). (25)

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c) Dem Verfall unterliegt auch der Gegenstand, den der Täter (Teilnehmer) als Ersatz für die Zerstörung, Beschädigung oder Entziehung des Originalgegenstandes erworben hat, ζ. B. die Schadensersatzforderung gegen den schuldigen Sachbeschädiger oder Dieb, im Fall der Beschädigung oder Zerstörung des als Vermögensvorteil erlangten Kraftfahrzeugs bei einem Verkehrsunfall durch ein drittes Kraftfahrzeug die Ersatzforderung gegen den Kraftfahrzeughalter oder den Führer oder dessen Versicherung, aber auch der Ersatzgegenstand, der nach Begleichung der Ersatzforderung aus dem Erlös angeschafft ist.

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d) Dem Verfall unterliegendes Surrogat ist schließlich der Gegenstand, den der Täter (Teilnehmer) auf Grund eines als Vermögensvorteil erlangten Rechts erworben hat, d. h. der durch Realisierung des Rechts erlangte Gegenstand, ζ. B. bei Abtretung einer Kaufpreisforderung der gezahlte Kaufpreis, bei Abtretung eines Pfandrechts der Pfanderlös, aber nicht der mit Hilfe dieses Geldes angeschaffte Gegenstand.

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e) Kannvorschrift. Während die Erstreckung des Verfalls auf die gezogenen Nutzungen nach Absatz 2 Satz 1 obligatorisch ist, stellt Absatz 2 Satz 2 die Erstreckung auf die Surrogate in das pflichtmäßige Ermessen des Gerichts („kann sich erstrekken"). Diese unterschiedliche Behandlung beruht auf dem prozeßökonomischen Gedanken, dem Gericht in geeigneten Fällen die schwierige Ermittlung zu ersparen, welches Surrogat angefallen ist. Es soll ζ. B., wenn der erlangte Vermögensvorteil in einem Kraftfahrzeug besteht und dieses bei einem Unfall beschädigt oder zerstört worden ist, der Richter nicht genötigt sein, den gegen den schuldigen Fahrer oder den gegen die Haftpflichtversicherung des Halters bestehenden Ersatzansprüchen nachzugehen (Prot. V 1013, 1022; Bericht BTDrucks. V 4095 S. 40). Sieht das Gericht auf Grund der Ermächtigung in § 73 Abs. 2 Satz 2 von einer Verfallerklärung des Surrogats ab, so muß es nach § 73 a Satz 1 den Verfall eines Geldbetrages anordnen, der dem Wert des Erlangten, d. h. im Beispielsfall dem Wert des Kraftfahrzeugs im Zeitpunkt der Erlangung entspricht.

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VII. Handeln für einen anderen (Absatz 3) 1. Grundgedanke. Nach § 73 Abs. 1 richtet sich die Anordnung des Verfalls grundsätzlich gegen den Täter oder Teilnehmer der rechtswidrigen Tat, der für die Tat oder aus ihr einen rechtswidrigen Vermögensvorteil erlangt hat. Von diesem Grundsatz macht Absatz 3 eine Ausnahme: die Anordnung des Verfalls richtet sich gegen den tatunbeteiligten Empfänger des Vermögensvorteils, wenn der Täter oder Teilnehmer für ihn gehandelt hat und er dadurch den Vermögensvorteil erlangt hat; der Empfänger wird also (vgl. : „nach den Absätzen 1 und 2") praktisch wie ein Teilnehmer an der rechtswidrigen Tat behandelt. Problematisch und nicht unstreitig ist aber, wann „ein Handeln für einen anderen" vorliegt. Zur Aufhellung bedarf es des Rückgriffs auf die Entstehungsgeschichte der Vorschrift. 2. Früheres Recht. Nach der Auslegung des § 335 a. F. StGB konnte der Verfall — als Nebenstrafe — nur gegenüber dem Täter oder Teilnehmer angeordnet werden. Gegen den nichttatbeteiligten und deshalb nichtmitverurteilten Dritten, in dessen Vermögen das Bestechungsmittel gelangt war, konnte die Verfallerklärung weder ausgesprochen noch vollstreckt werden; gegen den Täter war deshalb der Wert des Bestechungsmittels für verfallen zu erklären (RGSt. 68 113). War z. B. als Bestechungsmittel die Zuwendung eines Schmuckstücks an die (ahnungslose) Ehe(26)

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frau des bestochenen Amtsträgers vereinbart, so entfiel eine Verfallerklärung des Schmuckstücks, gleichviel ob es unmittelbar vom Bestecher in ihre Hand kam oder zunächst dem Bestochenen ausgehändigt und von ihm der Ehefrau als Geschenk überreicht wurde (die zivilrechtliche Seite — § 822 BGB — ist hier nicht zu erörtern). 3. Änderung der Betrachtungsweise. Mit der Ausgestaltung des Verfalls als eines 39 allgemeinen Instituts zur Abschöpfung des für eine rechtswidrige Tat oder aus ihr erlangten Vermögensvorteils griff stufenweise eine andere Betrachtungsweise Platz § 109 Abs. 3 StGB-Entw. 1962, der noch an der Charakterisierung des Verfalls als nebenstrafähnlicher Maßnahme festhielt, sah folgende Vorschrift vor: „Hat der Täter oder Teilnehmer als Vertreter eines anderen oder sonst für einen anderen gehandelt und hat dieser dadurch das Entgelt oder den Gewinn erworben, so richtet sich die Anordnung des Verfalls gegen den Empfänger". Nach der Begründung (S. 242) sind zwei Fallgruppen zu unterscheiden : Erwirbt der Täter (Teilnehmer) den Vermögensvorteil zunächst für sein Vermögen und läßt er das Erlangte dann einem Dritten zukommen, auch wenn dies von vornherein sein weiteres Ziel war, so bestehe kein kriminalpolitisches Bedürfnis, den Verfall gegen den Drittempfänger anzuordnen; es genüge die Anordnung des Wertersatzverfalls nach § 110 des Entwurfs ( = § 73 a StGB), zumal bei einer Ausdehnung des Verfalls gegen den Drittempfänger notwendigerweise Vorschriften zum Schutz „Unschuldiger" unter Berücksichtigung der zwischen dem Täter und dem Drittempfänger bestehenden zivilrechtlichen Beziehungen getroffen werden müßten, die die praktische Handhabung des Gesetzes erschweren würden. Anders liege es, wenn der Täter (Teilnehmer) als Vertreter eines anderen oder sonst für einen anderen gehandelt habe und der Vermögensvorteil unmittelbar in das Vermögen eines anderen geflossen ist. Ein „sonstiges Handeln für einen anderen" liege vor, wenn der Täter (Teilnehmer) nach außen erkennbar Angelegenheiten eines anderen wahrgenommen habe, ohne Vertreter zu sein, ζ. B. als Buchhalter in einem Geschäftsbetrieb. „In solchen Fällen steht die Handlung des Täters oder Teilnehmers in einer so engen und nach außen erkennbaren Beziehung zu den Vermögensangelegenheiten des anderen, daß es nicht gerechtfertigt wäre, bei der Anordnung des Verfalls zwischen dem Vermögen des Handelnden und dem Vermögen des Empfängers zu trennen". 4. Bei den Beratungen im BT-Sonderausschuß wurden die Worte „als Vertreter 40 eines anderen oder sonst" gestrichen. Damit sollte klargestellt werden, daß es nach Auffassung des Sonderausschusses nicht darauf ankomme, ob der Täter (Teilnehmer) nach außen hin erkennbar für den tatunbeteiligten Dritten gehandelt hat; für die Anordnung des Verfalls gegen diesen sollte vielmehr genügen, daß in seinem Vermögen unmittelbar durch die rechtswidrige Tat ein Vermögensvorteil entstanden ist (Prot. V 1014, 1016; Bericht BT-Drucks. V 4095 S. 40). Als Beispiel eines nach außen hin nicht erkennbaren Handelns für einen anderen wurde es angesehen, wenn die Chemiker eines pharmazeutischen Unternehmens diesem ein neues, erst später als gesundheitsschädlich erkanntes Präparat („Contergan") zur Verfügung stellen und das Unternehmen durch den optima mente erfolgten Vertrieb Gewinne erzielt (Prot. V 1015). Ob das Beispiel glücklich gewählt ist, ist eine andere, hier nicht weiter zu erörternde Frage. Jedenfalls sollte mit der geschilderten Änderung des § 109 Abs. 3 StGB-Entw. 1962 die Folgerung daraus gezogen werden, daß, anders als nach § 109 Abs. 1 StGB-Entw. 1962, der Verfall nicht mehr eine an eine Straftat anknüpfende nebenstrafähnliche Maßnahme darstellt, die sich nur (27)

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ausnahmsweise gegen einen tatunbeteiligten Dritten richtet, sondern die Rückgängigmachung der an eine rechtswidrige Tat anknüpfenden illegitimen Vermögensverschiebung zum Ziel hat, die sich dann folgerichtig nicht nur gegen den Täter oder Teilnehmer, sondern auch gegen einen tatunbeteiligten Dritten richtet, wenn durch das Handeln des Täters (Teilnehmers) diesem der Vermögensvorteil unmittelbar („und dadurch") zugeflossen ist. Die Begründung zu § 109 Abs. 3 StGB-Entw. 1962, die Rechtfertigung für die Verfallsanordnung gegen den tatunbeteiligten Vorteilsempfänger sei in einer so engen und nach außen erkennbaren Beziehung der Täterhandlung zu den Vermögensangelegenheiten des Empfängers zu sehen, daß eine Trennung zwischen dem Vermögen des Handelnden und dem Vermögen des Empfängers nicht gerechtfertigt wäre (oben Rdn. 39), hat damit ihre Bedeutung verloren. 40 a

Problematisch ist in diesem Zusammenhang die Bedeutung des § 73 Absatz 1 Satz 2. Nach Absatz 3 richtet sich die Anordnung des Verfalls gegen den Drittempfänger „nach den Absätzen 1 und 2", implicite also auch nach Absatz 1 Satz 2. Dabei kann es nicht darauf ankommen, ob dem Verletzten gegenüber dem Täter (Teilnehmer) ein Ausgleichsanspruch „aus der Tat" erwachsen ist. Denn die Verfallsanordnung gegenüber dem Täter (Teilnehmer) entfällt schon deshalb, weil der Vermögensvorteil von vornherein nicht ihm, sondern unmittelbar dem Drittempfänger zugeflossen ist. Es kann sich also nur darum handeln, daß nicht durch die Anordnung des Verfalls gegenüber dem Drittempfänger diesem Vermögensvorteile entzogen werden, an die sich der Verletzte zur Befriedigung des ihm „aus der Tat" erwachsenen Ausgleichsansprüche halten könnte. Eine solche Beeinträchtigung steht aber nur in Frage, soweit dem Verletzten Ausgleichsansprüche „aus der Tat" — z. B. aus ungerechtfertigter Bereicherung — auch gegen den Drittempfänger zustehen. Ist dies richtig, so müssen hinsichtlich der Nachprüfung solcher Ansprüche die gleichen Grundsätze Anwendung finden, wie bei der Nachprüfung von Ausgleichsansprüchen gegenüber dem Täter (Teilnehmer). Dort gilt, daß — auch um dem Richter die Nachprüfung schwieriger zivilrechtlicher Fragen zu ersparen — die Anwendbarkeit des § 73 Abs. 1 Satz 2 (nur) entfällt, wenn von vornherein überhaupt keine Ansprüche gegen den Täter (Teilnehmer) vorhanden sind (oben Rdn. 25). Der gleiche Gesichtspunkt muß dazu führen, daß die Anordnung des Verfalls gegenüber dem Drittempfänger nur zulässig ist, wenn von vornherein gegen ihn keine Ausgleichsansprüche des Verletzten in Betracht kommen, während, wo solche Ansprüche denkbar sind, es dem Verletzten überlassen ist, sie gegenüber dem Drittempfänger geltend zu machen, denn auch er soll „in keinem Falle zweimal zahlen müssen" (oben Rdn. 25). Dagegen geht OLG Düsseldorf NJW 1979 992 offenbar davon aus, daß gegenüber dem Drittempfänger ein Anordnungshindernis aus § 73 Abs. 1 Satz 2 nicht bestehe.

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5. Folgerungen. Ein Handeln für einen anderen setzt danach weder das Bestehen rechtlicher Beziehungen zwischen dem Empfänger und dem Täter voraus, die letzteren zu seiner Tat veranlaßt haben, noch wird ein auf die Zuwendung des Vermögensvorteils an den Drittempfänger gezieltes Handeln des Täters (Teilnehmers) gefordert (ebenso SK-Schreiber Rdn. 12). Es genügt ein tatsächliches Handeln des Täters mit der Wirkung, daß unmittelbar dadurch — und nicht durch irgendwelche zwischengeschaltete Geschäfte — der andere den Vermögensvorteil erlangt. Es genügt zur Anwendung des § 73 Abs. 3 auch (vgl. das von dem Abg. Dr. Giide gebildete und von dem Sonderausschuß gebilligte Beispiel Prot. V S. 1016), wenn der Täter die Tat nur im eigenen Interesse begehen will, diese aber, nachdem unbeab(28)

Voraussetzungen des Verfalls (Schäfer)

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sichtigt der Vermögensvorteil bei dem anderen eingetreten ist, aus irgendwelchen G r ü n d e n nicht beenden kann (vorausgesetzt natürlich, daß dabei mindestens der äußere Tatbestand eines Versuchs erfüllt ist). 6. Abweichende Auffassungen. Im Schrifttum, das im übrigen darin überein- 4 2 stimmt, d a ß ein Handeln des Täters als Vertreter des anderen (Empfängers) oder in einer nach außen erkennbaren vertreterähnlichen Position nicht erforderlich ist, wird der Begriff des Handelns f ü r einen anderen ζ. T. einschränkend interpretiert. So wird verlangt, daß der Täter im Interesse des Vorteilsempfängers handele 6 . Darüber hinaus ist nach Sch.-Schröder-Eser Rdn. 34, 37, der sich auf seine Ausführungen in Sanktionen S. 289 f bezieht, erforderlich, d a ß die verfallbegründende Tat von einem im Einflußbereich des Empfängers stehenden Täter begangen sei; nach allgemeinen Zurechnungsgrundsätzen müsse der Verfall gegenüber dem Empfänger entfallen, wo der erlangte Vorteil aus einer Tat herrühre, die völlig außerhalb seines Einflußbereichs liege. Denn die Gewinnabschöpfung müsse im Interesse der Rechtssicherheit dort ihre Grenzen haben, wo ihre Auswirkungen von dem potentiell Betroffenen nicht mehr zu überschauen, also praktisch nicht mehr einkalkulierbar wären ; eine Vorteilsentziehung gegenüber einem völlig überraschten E m p f ä n ger wäre regelmäßig eine Härte. Solchen einschränkenden Interpretationen kann aber nicht beigepflichtet werden. 4 3 Die Fassung „Handeln für einen a n d e r e n " ist allerdings aus sich heraus nicht eindeutig; sie kann sprachlich ebenso gut bedeuten: „Handeln im Interesse eines anderen". N a c h d e m der Gesetzgeber jedoch nach Ausweis der Entstehungsgeschichte (oben Rdn. 41) auf eine weitgehende Abschöpfbarkeit illegitimer und unmittelbar auf eine rechtswidrige Tat sich gründender Vermögensverschiebungen bedacht war, die sogar vom Täter ungewollt dem Drittempfänger zufließende Vermögensvorteile umfassen soll, muß die Auslegung des Gesetzes sich dem anpassen. Noch weniger Zustimmung verdient die Lehre, der Täter (Teilnehmer) müsse im Einflußbereich des Empfängers stehen (wie hier auch Lackner 3 a). Der „völlig überraschte" Empfänger wird es wohl im allgemeinen in der H a n d haben, einen gegen ihn gerichteten Verfall dadurch abzuwenden, d a ß er den Vermögensvorteil garnicht erst „erlangt", indem er ihn auf der Stelle an den ihm bekannten Täter gelangen läßt. Davon abgesehen ist aber auch bei den gesetzgeberischen Beratungen sehr wohl die Frage des Ausmaßes der Verfallhaftung des Drittempfängers erörtert worden, insbesondere ob es etwa in Anpassung an die Bereicherungsvorschriften der §§ 819, 822 BGB zusätzlicher Vorschriften über den Wegfall oder die Beschränkung der Verfallshaftung zum Schutz des hinsichtlich der rechtswidrigen Tat gutgläubigen Drittempfängers bedürfe. Ein Anlaß zur Schaffung besonderer Vorschriften wurde aber schließlich verneint, weil eine an das zivilrechtliche Bereicherungsrecht a n k n ü p f e n d e Regelung zu kompliziert sei, im übrigen aber auch die Härtevorschrift des § 73 c Abs. 1 die Grundlage f ü r eine den Umständen des Einzelfalles Rechnung tragende Entscheidung bilde (vgl. Prot. V 1015, 1016, 1026). Damit verbietet es sich, generelle Gesichtspunkte zur Einschränkung des Anwendungsbereichs des § 73 Abs. 3 künstlich in das Gesetz hineinzuinterpretieren. 7. Der andere, für den gehandelt wird, kann eine natürliche oder juristische Per- 4 4 son oder eine Personengesellschaft oder -Vereinigung sein (dazu aber unten 6

(29)

so Dreher-Tröndle 205.

R d n . 13; Sch.-Schröder-Eser

R d n . 37; Lackner 3 a ; Brenner D R i Z 1977

§73

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

Rdn. 46) ; auf die Gut- oder Bösgläubigkeit des Empfängers hinsichtlich der rechtswidrigen Tat, die ihn begünstigt, kommt es nicht an (oben Rdn. 43). Als Täter (Teilnehmer), die für den anderen handeln, kommen etwa in Betracht Personen als Organe einer juristischen Person oder als Mitglied eines solchen Organs, gesetzliche oder gewillkürte Vertreter eines anderen, Beauftragte und Geschäftsführer ohne Auftrag, Angestellte oder Betriebsangehörige, ζ. B. der Buchhalter, der durch Bilanzfälschungen seinem Unternehmen zu Krediten verhilft, der Hausverwalter, der gegenüber den besichtigenden Kaufinteressenten die Mängel des Grundstückes verdeckt (dazu Brenner DRiZ 1977 205). Die Motive, die den Täter zum Handeln „für den anderen" veranlassen, sind irrelevant; sie brauchen jedenfalls nicht altruistischer Natur zu sein, so ζ. B. wenn der Täter dem Drittempfänger nur seine „Tüchtigkeit" beweisen will (Göhler Prot. V. 1015), wie es ja sogar auch genügt, daß er die Tat nur im eigenen Interesse begeht und die Erlangung des Vermögensvorteils durch den Drittempfänger das unbeabsichtigte Zwischenstadium einer nicht zu Ende geführten Tat ist (oben Rdn. 41). 44 a

8. Das Erfordernis, daß der Vermögensvorteil dem Drittempfänger unmittelbar durch die rechtswidrige Tat des Täters (Teilnehmers) zugeflossen sein muß (oben Rdn. 41), harrt noch weiterer Präzisierung; es wird wohl nicht zu eng auszulegen sein. Nach Brenner DRiZ 1977 205 (der allerdings bei seinen Beispielen davon ausgeht, daß bei Steuerverkürzungen der Staat nicht Verletzter i. S. des § 73 Abs. 1 Satz 2 ist; dazu oben Rdn. 23), hat der Drittempfänger den Vermögensvorteil auch dann unmittelbar erlangt, wenn die rechtswidrige Tat und der Vermögensvorteil „bei natürlicher Betrachtungsweise eine sinnvolle Einheit bilden". Eine solche „sinnvolle Einheit" liegt nach OLG Düsseldorf NJW 1979 992 vor, wenn der Täter durch gefälschte Urkunden eine Bank zur Bereitstellung eines Darlehens veranlaßte und in Teilbeträgen abgehobene Darlehenssummen (in Höhe von 500 000 DM) auf das Konto seiner Ehefrau (oder „Lebensgefährtin") einzahlte, um ihr die Vorteile der Tat zuzuwenden und zugleich zu verhindern, daß die Tatbeute an die geschädigte Bank zurückgelange. Daß die Frage, ob § 73 Abs. 3 im Hinblick auf § 73 Abs. 1 Satz 2 anwendbar sei (oben Rdn. 40 a), unberücksichtigt blieb, ist insofern ohne Bedeutung, als OLG Düsseldorf aaO sich nur mit der Beschwerde der Drittempfängerin gegen eine Beschlagnahme ihres Kontos zu befassen hatte und eine solche Beschlagnahme als „Zurückgewinnungshilfe" zugunsten des Verletzten nach §§ 111 b Abs. 3, 111c Abs. 3 StPO (dazu oben Rdn. 27) auch zulässig ist, wenn der Drittempfänger unter den Voraussetzungen des § 73 Abs. 3 den Vermögensvorteil erlangt hat und § 73 Abs. 1 Satz 2 anwendbar ist. Die auch in diesem Fall auftauchende Frage, ob die Drittempfängerin den Vermögensvorteil unmittelbar durch das Handeln des Täters erlangt hat, hat OLG Düsseldorf bejaht. Die Unmittelbarkeit läßt sich aber bezweifeln, zumal nach den Umständen des Falles der geschädigten Bank wohl andere rechtliche Möglichkeiten des Zugriffs auf das Bankkonto zur Verfügung gestanden hätten.

45

9. Rechtsstellung des Drittempfängers. Wenn sich auch im Fall des § 73 Abs. 3 die Anordnung des Verfalls (eines Gegenstandes oder des Wertersatzes nach § 73 a) unmittelbar gegen den tatunbeteiligten Drittempfänger richtet, so erfolgt diese Anordnung doch grundsätzlich nur in dem gegen den Täter (Teilnehmer) gerichteten Strafverfahren. Nach § 442 Abs. 2 Satz 1 StPO hat das Gericht die Beteiligung des Drittempfängers an dem Verfahren gegen den Täter oder Teilnehmer anzuordnen ; nur dadurch, daß in dem gegen den Täter (Teilnehmer) ergangenen Urteil der (30)

Voraussetzungen des Verfalls (Schäfer)

§ 7 3

Drittempfänger als Verfallsbeteiligter, gegen den die Verfallanordnung sich richtet, aufgeführt wird, kann ein Vollstreckungsmittel gegen den Drittempfänger geschaffen werden. Die Pflicht zur Zuziehung als Verfallsbeteiligter bedeutet, daß die Vorschriften in § 431 Abs. 1 Satz 2, 3 StPO, wonach unter den dort bestimmten Voraussetzungen von der Anordnung der Zuziehung eines Drittbetroffenen als Einziehungsbeteiligter abgesehen werden kann, für den verfallsbedrohten Drittempfänger nicht gelten (vgl. LR-Schäfer2^ § 442 Rdn. 3 StPO). Ist also die Verfallsbeteiligung nicht ausführbar, so kann gegen den Drittempfänger Verfall nicht angeordnet werden. Ist aber die Verfallsbeteiligung ausführbar, so kann auch in Abwesenheit des Verfallsbeteiligten verhandelt und über die Anordnung des Verfalls entschieden werden. War der verfallsbeteiligte Drittempfänger ohne sein Verschulden weder im Verfahren des ersten Rechtszuges noch im Berufungsverfahren imstande, seine Rechte wahrzunehmen, so kann er nach § 442 Abs. 2 Satz 2 StPO seine Einwendungen gegen die gegen ihn gerichtete Verfallsanordnung im Nachverfahren (§ 439) geltend machen.

10. Verhältnis des § 73 Abs. 3 StGB zu § 30 OWiG. Hat jemand als vertretungs- 46 berechtigtes Organ einer juristischen Person oder als Mitglied eines solchen Organs, als Vorstand eines nicht rechtsfähigen Vereins oder als Mitglied eines solchen Vorstandes oder als vertretungsberechtigter Gesellschafter einer Personenhandelsgesellschaft eine Straftat [oder eine Ordnungswidrigkeit] begangen, durch die die juristische Person oder die Personenvereinigung bereichert worden ist, so kann nach § 30 Abs. 1 Nr. 2 OWiG gegen letztere als Nebenfolge der Straftat [oder Ordnungswidrigkeit] eine Geldbuße festgesetzt werden, die nach § 30 Abs. 3 in Verbindung mit § 17 Abs. 4 OWiG den wirtschaftlichen Vorteil, den die juristische Person (Personenvereinigung) aus der Straftat gezogen hat, übersteigen soll. Daneben gilt aber auch § 73 Abs. 3, wenn dessen Voraussetzungen gegeben sind. Das Gesetz bestimmt an sich nicht, welche dieser beiden Maßnahmen (Geldbuße oder Verfall), die gleichmäßig ermöglichen, der juristischen Person oder Personenvereinigung die ihr durch das Verhalten des Täters unrechtmäßig zugeflossenen Gewinne abzunehmen, den Vorrang hat, falls gleichzeitig ihre gesetzlichen Voraussetzungen gegeben sind, wenn sich auch ein faktischer Vorrang einer die Vorteilsentziehung umfassenden Geldbuße aus deren weiterreichender Zweckbestimmung ergibt (vgl. Rdn. 1,2 zu § 75; Göhler § 30, 6 OWiG). § 30 Abs. 5 OWiG bestimmt lediglich, daß die Festsetzung einer Geldbuße es ausschließt, gegen die juristische Person (Personenvereinigung) wegen derselben Tat den Verfall nach §§ 73, 73 a StGB anzuordnen, während umgekehrt ein zunächst angeordneter Verfall die Festsetzung einer Geldbuße nicht ausschließt, bei deren Bemessung aber der angeordnete Verfall zu berücksichtigen ist (Göhler § 30 Rdn. 6 OWiG). Dagegen ist die Abführung des Mehrerlöses die speziellere Form der Gewinnabschöpfung; sie tritt gemäß § 8 Abs. 4 OWiG an die Stelle des Verfalls (oben Rdn. 7). VIII. Verfall des einem Tatunbeteiligten gehörenden oder zustehenden Gegenstandes (Absatz 4) 1. Zur Entstehungsgeschichte der Vorschrift. Aus dem Wesen des Verfalls als 47 einer Entziehung des illegitim erlangten Vermögensvorteils ohne nebenstrafähnlichem Charakter ergibt sich, daß Sachen, die nicht in das Eigentum des Täters, Teilnehmers oder Drittempfängers (Absatz 3) gelangt und Rechte, die nicht auf ihn (31)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

übergegangen sind, nicht für verfallen erklärt werden können mit der Wirkung, daß das Eigentum an der Sache oder das verfallene Recht mit der Rechtskraft der Entscheidung auf den Staat übergeht (§ 73 d Abs. 1). Denn die Vorteilsabschöpfung kann nicht über den erlangten Vorteil hinausgehen; haben Täter, Teilnehmer und Drittempfänger kein Sacheigentum und keine Rechtsinhaberschaft erlangt, so würde eine gleichwohl erfolgende Verfallerklärung, die über die gezogene Nutzungen (§ 73 Abs. 2 Satz 1) hinausgeht, sich nebenstrafähnlich oder enteignungsgleich und damit dem Sinn und Zweck des Verfalls zuwider gegen die tatunbeteiligten Dritten richten, die Eigentümer oder Rechtsinhaber sind. § 109 Abs. 7 StGB-Entw. 1962 hatte das — freilich in eingeschränkter Form — förmlich zum Ausdruck bringen wollen: „Soweit die Anordnung nach den Absätzen 1 bis 4 [= jetzt § 73 Abs. 1 bis 3] zulässig wäre, unterbleibt sie bei Sachen und Rechten, die zur Zeit der Anordnung jemandem gehören oder zustehen, der weder Täter, Teilnehmer oder im Sinne des Absatzes 3 Empfänger ist, noch das Entgelt gewährt hat". Die Begründung (S. 244) bemerkt dazu: „Fremdes Eigentum und fremde Rechte für verfallen zu erklären, würde dem Grundgedanken des Verfalls widersprechen. Jedoch muß die Maßnahme denjenigen treffen können, der das Entgelt im Sinne des Absatzes 1 [das vom Täter oder Teilnehmer für die Straftat erlangte Entgelt] hingegeben hat. Damit wird erreicht, daß Bestechungsgelder und Belohnungen, die ein Dritter dem Täter gezahlt hat, auch dann dem Verfall unterliegen, wenn der Dritte nicht strafbar und nach bürgerlichem Recht Eigentümer des hingegebenen Geldes geblieben ist". 48

Bei den Beratungen im BT-Sonderausschuß (vgl. Prot. V 1017 f und 3258) bestand Einverständnis, daß § 109 Abs. 7 StGB-Entw. 1962 — bis auf die Schlußworte „noch das Entgelt gewährt hat" — überflüssig sei, weil sich bereits aus dem Begriff des Vermögensvorteils ergebe, daß nur etwas für verfallen erklärt werden könne, was in das Vermögen des Täters gelangt sei. Wohl aber müsse, wie dies der dem § 73 Abs. 4 zugrundeliegende § 109 Abs. 4 StGB-Entw. in der Fassung der Formulierungshilfe des Bundesjustizministeriums vorsah, zum Ausdruck gebracht werden, daß der Verfall eines Gegenstandes auch angeordnet werde, wenn er einem Dritten gehöre, der ihn für die Tat, ζ. B. als Bestechungsentgelt oder sonst in Kenntnis der Tatumstände gewährt habe. Denn wenn jemand ein Entgelt für die Tat (in Form der Sachübereignung und Rechtsübertragung) gewährt habe, so sei es sehr streitig, ob nur das zugrundeliegende schuldrechtliche oder zugleich auch das abstrakte dingliche Erfüllungsgeschäft nichtig sei. Mit der Entscheidung so schwieriger zivilrechtlicher Fragen dürfe der Strafrichter nicht belastet werden; kriminalpolitisch sinnvoll und angemessen sei die Lösung, daß der die Belohnung oder das Entgelt Gewährende sich nicht solle darauf berufen können, er sei noch Eigentümer. Hier habe die Vorschrift „in erster Linie die Funktion, die Fälle aufzufangen, in denen hinsichtlich der dinglichen Wirkung eines sittenwidrigen Geschäfts Zweifel bestünden" (Abg. Dr. Güde Prot. V 1018). Ein Bedürfnis für eine solche Vorschrift entfalle allerdings, soweit der in Kenntnis des Sachverhalts handelnde Vorteilsgewährende Anstifter oder Gehilfe, also Teilnehmer der Tat sei. Doch sei dieser Fall nicht immer gegeben, z. B. nicht, wenn dem Täter erst nach beendeter Tat eine Belohnung gewährt werde. Dann handele es sich nicht um Beihilfe, sondern um eine straflose Nachtat. Ein weiterer Fall sei die einfache aktive Bestechung, bei der der Bestechende sich nicht strafbar mache (in diesem Zusammenhang wäre auch noch der Fall zu erwähnen, daß der Vorteilsgeber deshalb nicht tatbeteiligt ist, weil er das Tatentgelt einem bereits zur Tat Entschlossenen, einem omnímodo facturus, zuwendet und deshalb Anstiftung ausscheidet; vgl. Sch.-Schröder-Eser Rdn. 41). Es sei (32)

Voraussetzungen des Verfalls (Schäfer)

§73

aber unangemessen, wenn das Bestechungsentgelt deshalb nicht für verfallen erklärt werden könnte, weil die betreffende Sache noch dem Bestechenden gehöre. In einem späteren Stadium der Beratungen des BT-Sonderausschusses (146. Sit- 49 zung vom 23. 4. 1969, Prot. V 3258) fand eine nochmalige Beratung des § 73 Abs. 4 statt, nachdem die Verfasser des Alternativ-Entwurfs gegen diese Vorschrift geltend gemacht hatten, sie widerspreche dem Sinn des Verfalls, den vom Täter, Teilnehmer oder Drittempfänger (§ 73 Abs. 3) durch die Tat erlangten Vermögensvorteil abzuschöpfen, da sie in Wirklichkeit gegenüber dem betroffenen Drittgewährenden eine Einziehung darstelle. Der Sonderausschuß sah aber keinen Anlaß zu einer Änderung des § 73 Abs. 4, nachdem der Regierungsvertreter nochmals ausgeführt hatte, daß bei einer Streichung der Vorschrift für den Strafrichter die schwierigsten zivilrechtlichen Fragen entstünden, ζ. B. ob bei der Bestechung nur das schuldrechtliche Geschäft oder das dingliche Übereignungsgeschäft sittenwidrig sei, oder ob sowohl das schuldrechtliche wie das dingliche Geschäft unwirksam seien, wenn von der Entscheidung dieser Fragen die Zulässigkeit der Verfallsanordnung abhänge. Hier bringe § 73 Abs. 4 eine praktische Lösung. 2. Aus dieser Entstehungsgeschichte ergibt sich die Bedeutung des Absatzes 4, die 50 ihr der Gesetzgeber beilegen wollte, mit hinreichender Deutlichkeit, wenn auch der wenig geglückte Wortlaut der Vorschrift ihren eigentlichen Sinn verdunkelt. Es sollte nämlich klargestellt werden, daß die Gewährung eines Vermögensvorteils für die Tat einschließlich eines Bestechungsmittels an Täter, Teilnehmer oder Drittempfänger (§ 73 Abs. 3) in der gewollten Form der Übereignung einer Sache oder der Abtretung eines Rechts die Verfallerklärung des Gegenstandes gegen den als Eigentümer (Rechtsinhaber) zu behandelnden Empfänger nach sich ziehe. Die zivilrechtlichen Zweifelsfragen, ob das zugrundeliegende obligatorische Rechtsgeschäft oder das abstrakte dingliche Erfüllungsgeschäft oder beide Geschäfte wegen Verstoßes gegen ein gesetzliches Verbot (§ 134 BGB) oder gegen die guten Sitten (§ 138 Abs. 1) nichtig seien 7 , sollten — im Interesse der Entlastung des Strafrichters und der Effektivität der Strafrechtspflege — durch eine strafrechtliche Regelung des Inhalts ausgeschaltet werden, daß verfallsrechtlich die vom Vorteilsgeber gewollte Rechtswirkung als eingetreten anzusehen ist. 3. Das mag an einigen Beispielen verdeutlicht werden. Die nachträgliche Gewäh- 51 rung eines Vermögensvorteils für die Tat kann für den Gewährenden strafbar sein, ohne daß der Annehmende sich strafbar macht, so im Fall des § 140 StGB, wenn jemand den Täter einer der dort bezeichneten rechtswidrigen Taten nach ihrer Begehung belohnt und dieser die Belohnung annimmt. Zivilrechtlich handelt es sich dann um eine sofort vollzogene Schenkung (§516 BGB). Nach § 134 BGB ist ein Rechtsgeschäft nichtig, das gegen ein gesetzliches Verbot verstößt, wenn sich nicht aus dem Gesetz ein anderes ergibt. Besteht also die Belohnung in der Übertragung des Eigentums an einer Sache, zu der nach § 929 BGB die Übergabe der Sache durch den Eigentümer an den Erwerber und die Einigung beider über den Eigentumsübergang gehört, so wäre nach dem Wortlaut des § 134 BGB in Verbindung mit § 929 BGB die Einigungserklärung des Belohnenden nichtig und damit eine wirksame Einigung beider Teile nicht zustandegekommen. Indessen sind nach der 7

vgl. dazu etwa Paland-Heinrichs § 134, 2 c; § 138,1 e; Erman-Westermann § 134, 28; § 138, 21.

(33)

§73

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

Auslegung, die § 134 BGB in der Rechtsprechung gefunden hat (dazu PalandtHeinrichs 2 a; Erman- Westermann 7, je zu § 134 BGB) grundsätzlich nur Strafgesetze, die das Handeln beider an einem Rechtsgeschäft Beteiligten unter Strafe stellen, Verbotsgesetze im Sinn des § 134 BGB, während das Rechtsgeschäft gültig ist, wenn sich das strafgesetzliche Verbot nur gegen einen der am Rechtsgeschäft Beteiligten richtet, es sei denn, daß nach Sinn und Zweck des Gesetzes Nichtigkeit des ganzen Rechtsgeschäfts schon bei strafgesetzwidrigem Verhalten eines Beteiligten eintreten soll. Hier will § 73 Abs. 4 StGB dem Strafrichter eine weitere Nachprüfung der zivilrechtlichen Auswirkungen des in § 140 StGB aufgestellten Schenkungs- und Übereignungsverbots ersparen, indem er bestimmt, daß für die Verfallsanordnung die Übereignung des Belohnungsgegenstandes durch den Belohnenden als bisherigen Eigentümer seinen Absichten gemäß als gültig anzusehen ist. Umgekehrt kann die Annahme („Erlangung") eines Vermögensvorteils für die Tat nur für den Empfänger, nicht auch für den Gewährenden mit Strafe bedroht sein. Nach § 331 Abs. 1 StGB macht sich der Amtsträger strafbar, der nachträglich einen Vorteil als Gegenleistung dafür annimmt, daß er eine Diensthandlung, die keine Verletzung seiner Dienstpflichten enthält, vorgenommen hat, während eine Strafdrohung gegen den Vorteilsgeber fehlt. Für den Amtsträger ist die Annahme eine rechtswidrige Tat, der angenommene Vermögensvorteil i. S. des § 73 Abs. 1 Satz 1 aus einer rechtswidrigen Tat (der Annahme) erlangt (Dreher-Tröndle Rdn. 3). Der Vorteilsgeber hat den Vermögensvorteil zwar nicht für eine vorangegangene rechtswidrige Tat, aber er hat ihn „in Kenntnis der Tatumstände" gewährt, wenn er wußte oder billigend in Kauf nahm, daß es sich um die Gegenleistung für eine Diensthandlung handelt, und deshalb ist unabhängig davon, welche Folgerungen sich zivilrechtlich gemäß § 134 BGB aus der verbotenen Annahme ergeben, gemäß § 73 Abs. 4 der Verfall des Vermögensvorteils möglich, der nach dem Willen des Gewährenden dem Amtsträger zufließen sollte. Entsprechendes gilt, wenn jemand einem Amtsträger nachträglich einen Vermögensvorteil als Gegenleistung für eine Diensthandlung zuwendet, die eine Verletzung der Dienstpflichten, aber keine rechtswidrige Tat darstellt. Dann verstößt der Amtsträger durch die Annahme (§ 332), der andere durch die Gewährung (§ 334) gegen ein strafgesetzliches Verbot. Auch hier unterliegt unabhängig davon, welche zivilrechtlichen Folgen sich aus dem beiderseitigen Gesetzesverstoß für die Wirksamkeit einer Sachübereignung ergeben, der von dem Amtsträger aus der rechtswidrigen Tat der Annahme erlangte Vermögensvorteil dem Verfall, wenn er vom Geber in Kenntnis der Tatumstände — wissend oder billigend in Kauf nehmend, daß es sich um die Gegenleistung für eine dienstpflichtverletzende Tätigkeit handelte — gewährt wurde. 52

4. Trotz seines Wortlauts: „wenn er einem Dritten gehört oder zusteht" bedeutet also § 73 Abs. 4 nach der hier vertretenen, durch die Entstehungsgeschichte belegten und am Begriff des Verfalls ausgerichteten Auslegung nicht eine dem § 74 a in etwa vergleichbare Regelung des Inhalts, daß er den Verfall von Gegenständen vorschreibe, die im Zeitpunkt der Anordnung noch tatunbeteiligten Dritten gehören oder zustehen. Die Vorschrift ist vielmehr so zu verstehen, als wenn sie etwa lautete: „ . . . auch wenn er nach den Vorschriften des bürgerlichen Rechts (oder: im Hinblick auf die §§ 134, 138 BGB) noch einem Dritten gehören oder zustehen sollte, d e r . . . " . § 73 Abs. 4 will lediglich besagen, daß der nach § 73 Abs. 1 gegen den Täter (Teilnehmer) oder nach § 73 Abs. 3 gegen den Empfänger gerichtete Verfall eines Gegenstandes auch auszusprechen ist, wenn der dem Willen des Gewährenden entsprechende Rechtsübergang bei zivilrechtlicher Betrachtungsweise im Hin(34)

Voraussetzungen des Verfalls (Schäfer)

§73

blick auf §§ 134, 138 Abs. 1 BGB nicht wirksam zustandegekommen sein sollte. Der Strafrichter soll angesichts der Zweifelhaftigkeit der zivilrechtlichen Rechtslage von der Wirksamkeit des Rechtsübergangs ausgehen dürfen. Dem Dritten geschieht kein Unrecht, wenn er entsprechend seiner Absicht, Rechte aufzugeben, behandelt wird; hier gilt: „volenti non fit iniuria". Im übrigen wäre auch schon zivilrechtlich ein etwa dem Vorteilsgeber verbliebenes Eigentum in gewissem Umfang praktisch ohne Bedeutung, wenn man der Auffassung folgt, daß § 817 Satz 2 auch einem Vindikationsanspruch des Leistenden entgegengesetzt werden kann (dazu Palandt-Thomas § 817,1 b). 5. Absatz 4 ist unanwendbar, wenn der tatunbeteiligte Dritte die Sache dem Emp- 53 fänger nicht übereignete, sondern sie ihm lediglich auf Zeit zu Besitz und Nutzung überließ, ζ. B. wenn er ein Kraftfahrzeug nur als Leihwagen zur Verfügung stellte. Gegenstand einer Verfallsanordnung sind dann nur die gezogenen Nutzungen in Form des Wertersatzverfalls (§ 73 a), während das Eigentum des Vorteilsgebers unberührt bleibt (ebenso Dreher-Tröndle Rdn. 14). Die abweichende Auffassung von Sch.-Schröder-Eser Rdn. 40; Maurach-Zipf AT 5 § 61 II Β 1 b, wonach der Verfall des nur leihweise überlassenen Kraftfahrzeugs gegen den Dritten wegen seiner „zumindest quasi-schuldhaften Verwicklung in die Tat" anzuordnen sei, ist mit dem Grundgedanken des Verfalls als der Abschöpfung nur des tatsächlich illegitim erlangten Vorteils nicht vereinbar. Ebenso ist Absatz 4 unanwendbar, wenn der tatunbeteiligte Dritte dem Täter die Sache zu Eigentum übertrug, dieser sie aber (die noch nicht beschlagnahmt war) dem Dritten noch vor Anordnung des Verfalls zurückübereignete. Dann ist zwar, sei es nach § 73 Abs. 2 Satz 2, sei es nach § 73 a, eine Verfallsanordnung gegen den Täter zulässig, der sich des einmal (im verfallsrechtlichen Sinn) erlangten Eigentums entäußerte, aber gegen den Rückerwerber nur, wenn sich die Wiedererlangung des Eigentums als Vermögensvorteil für oder aus einer Strafvereitelung (§ 258 StGB) darstellt, während im übrigen Absatz 4 unanwendbar ist (a. M. Sch.-Schröder-Eser Rdn. 40, wonach Absatz 4 neben oder anstelle des Wertersatzverfalls gegenüber dem tatunbeteiligten Vorteilsempfänger auch den Verfall des Originalobjekts gegenüber dem Geber ermöglicht).

IX. Sondervorschriften 1. Fang aus unbefugter Küstenfischerei durch Ausländer (§ 296 a Abs. 2 StGB). 54 Durch die Fassung des § 109 Abs. 7 StGB-Entw. 1962 (oben Rdn. 47) sollte sichergestellt werden, daß aus einer rechtswidrigen Tat erlangte herrenlose Gegenstände, an denen kein fremdes Aneignungsrecht besteht, dem Verfall unterliegen. Gedacht war dabei an die Fischbeute, die Ausländer bei unbefugtem Fischen in deutschen Küstengewässern (§ 296 a Abs. 1 StGB) erlangt haben. Bei der Umgestaltung der Vorschrift im BT-Sonderausschuß wurde zunächst erwogen, diesen Fall in der Weise zu berücksichtigen, daß dem neu beschlossenen Absatz 4 nach „gewährt hat" die Worte angefügt werden sollten : „oder wenn das Erlangte in einer Sache besteht, die herrenlos ist". Im weiteren Verlauf der Erörterungen wurde aber auf die Anfügung der lediglich einen Einzelfall berücksichtigenden Worte verzichtet, da die Praxis voraussichtlich auch ohne sie auskommen werde, wenn auch zuzugeben sei, daß bei streng zivilrechtlicher Betrachtungsweise eine gewisse, aber geringfügige Lücke entstehe (Prot. V 1023). Inzwischen hat sich das Problem dadurch erledigt, daß bei den Änderungen des § 296 a StGB durch das EGOWiG 1968 und EGStGB 1974 die (35)

§73 a

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

Wegnahme der unbefugt gefangenen Fische nicht auf dem Weg über den Verfall, sondern über die Einziehung erfolgt (§ 296 a Abs. 2). 55

2. Abführung des Mehrerlöses (§§ 8 bis 10 WiStG) Die Voraussetzungen des Verfalls nach § 73 wären an sich gegeben, wenn der Täter durch eine rechtswidrige Tat nach § 1 WiStG einen höheren als den zulässigen Preis erzielt; der Mehrpreis ist dann ein Vermögensvorteil aus einer rechtswidrigen Tat i. S. des § 73 StGB. Bei Schaffung der §§ 73 bis 73 d fand aber der Gesetzgeber in den §§ 8 ff WiStG bereits eine ausführliche Regelung der Gewinnabschöpfung des so illegitim erlangten Vermögensvorteils vor, die ζ. T. auch als Vorbild für die Ausgestaltung der Vorschriften über den Verfall gedient hat. Diese Spezialregelung wurde aufrecht erhalten; das Verhältnis der Mehrerlösabführung zu der Verfallsregelung der §§ 73 ff ist in § 8 Abs. 4 WiStG dahin bestimmt, daß die Abführung des Mehrerlöses an die Stelle des im Strafgesetzbuch geregelten Verfalls tritt (dazu oben Rdn. 7).

§ 73 a Verfall des Wertersatzes Soweit der Verfall eines bestimmten Gegenstandes wegen der Beschaffenheit des Erlangten oder aus einem anderen Grunde nicht möglich ist oder von dem Verfall eines Ersatzgegenstandes nach § 73 Abs. 2 Satz 2 abgesehen wird, ordnet das Gericht den Verfall eines Geldbetrages an, der dem Wert des Erlangten entspricht. Eine solche Anordnung trifft das Gericht auch neben dem Verfall eines Gegenstandes, soweit dessen Wert hinter dem Wert des zunächst Erlangten zurückbleibt.

1

I. Allgemeine Bedeutung. Nach dem Grundsatz des § 73 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 sollen dem Täter, Teilnehmer oder Drittempfänger (§ 73 Abs. 3) alle Vermögensvorteile entzogen werden, die er für eine rechtswidrige Tat des Täters (Teilnehmers) oder aus ihr erlangt hat, und zwar unabhängig davon, ob der Vermögensvorteil in der Erlangung des Eigentums an einer Sache oder in der Erlangung eines Rechts oder in anderen Vermögensvorteilen (§ 73 Rdn. 9) besteht, und, wie sich aus § 73 c Abs. 1 Satz 2 ergibt, auch unabhängig davon, ob der Wert des Erlangten zur Zeit der Verfallsanordnung noch im Vermögen des Betroffenen (des Empfängers) vorhanden ist. Besteht das Erlangte von vornherein nicht im (festgestellten oder nach § 73 Abs. 4 zu unterstellenden) Eigentum an einer Sache (dazu § 74 Rdn. 25 ff) oder in einem Recht, sondern ζ. B. in der Nutzung einer Sache wie bei Überlassung eines Kraftfahrzeugs als Leihwagen, so muß — dies gegen SK-Schreiber Rdn. 2, der § 73 a insoweit für entbehrlich erklärt — zwangsläufig konkret bestimmt werden, in welcher Form das Erlangte entzogen wird. Denn ein der Vollstreckung fähiges Urteil könnte ja nicht etwa dahin lauten, es werde für verfallen erklärt der Vermögensvorteil, den der Täter dadurch erlangt habe, daß er den ihm unentgeltlich zur Verfügung gestellten Leihwagen in der Zeit von . . . b i s . . . benutzt habe. § 73 a, der an § 110 Abs. 1 StGB-Entw. 1962 anknüpft, bestimmt demgemäß, daß die Vorteilsentziehung in Form des Verfalls eines bestimmten Geldbetrages erfolgt. Eine gleiche Regelung war für den Fall zu treffen, daß das Erlangte in Sacheigentum oder Rechtsinhaberschaft bestand, der Gegenstand aber — von den Fällen des § 73 (36)

Verfall des Wertersatzes (Schäfer)

§73 a

Abs. 2 Satz 2 abgesehen — zur Zeit der Anordnung des Verfalls nicht mehr dem Empfänger gehört oder zusteht (arg. § 73 d Abs. 1) oder (arg. § 73 c Abs. 1 Satz 2) mit oder ohne Verschulden des Empfängers untergegangen ist. Als eine Form der Verfallanordnung dient der Wertersatzverfall den gleichen speziai- und generalpräventiven Zwecken wie der Verfall überhaupt (vgl. § 73, 4); spezialpräventiv wirkt er namentlich insofern, als er, wenn das Erlangte in Sacheigentum oder Rechtsinhaberschaft besteht, dem Betroffenen den Anreiz nehmen soll, das Erlangte zur Verhinderung des Verfalls an Dritte weiterzugeben. Der Beseitigung oder Milderung von Härten, die sich daraus ergeben, daß die Höhe des Wertersatzverfalls grundsätzlich an die Höhe des zunächst Erlangten ohne Rücksicht auf dessen Schicksal anknüpft (dazu § 73 a Satz 2), dient § 73 c.

II. Voraussetzung des Wertersatzverfalls (Satz 1) 1. Unmöglichkeit des Verfalls eines bestimmten Gegenstandes wegen der Beschaf- 2 fenheit des Erlangten. Diese Voraussetzung ist gegeben, wenn der erlangte Vermögensvorteil nicht in der Übereignung einer Sache oder der Begründung oder Übertragung eines Rechts, sondern in geldwerten Leistungen anderer Art besteht, durch die der Empfänger eigene Aufwendungen erspart oder Gebrauchsvorteile erlangt, z. B. in der unentgeltlichen Gewährung von Dienstleistungen oder in der Überlassung eines Kraftfahrzeugs als Leihwagen. Dann erfolgt die Anordnung des Verfalls dieses Vermögensvorteils (§ 73 Abs. 1 Satz 1) nach § 73 a Satz 1 durch Anordnung des Verfalls eines Geldbetrages, der dem Wert des Erlangten entspricht. 2. Unmöglichkeit des Verfalls eines bestimmten Gegenstandes „aus einem anderen 3 Grunde". Diese Voraussetzung ist gegeben, wenn der vom Täter, Teilnehmer oder Drittleistungsempfänger (§ 73 Abs. 3) erlangte Vermögensvorteil in der Erlangung eines Gegenstandes (des Eigentums an einer Sache oder der Inhaberschaft eines Rechts) besteht, der Gegenstand sich aber (von den Fällen des § 73 b Satz 2 zunächst abgesehen) im Zeitpunkt der Entscheidung über die Anordnung des Verfalls nicht mehr im Vermögen des Empfängers befindet, so daß die Schaffung eines Vollstreckungstitels zur Wegnahme der nicht bereits in staatlichem Gewahrsam befindlichen Sache und zum Übergang des Sacheigentums oder Rechts auf den Staat (§ 73 d, § 459 g StPO, § 61 StVollstrO) gegenstandslos ist. Dies ist z. B. der Fall, wenn der Täter eine erlangte Sache verbrauchte, zerstörte, durch Absehen von Erhaltungsmaßnahmen zugrunde gehen ließ, sie unauffindbar beiseite schaffte, an einen Tatunbeteiligten verschenkte oder durch Vermischung oder Verarbeitung (§§ 948, 950 BGB) eine andere Sache herstellte, aber auch dann, wenn ohne Zutun und Verschulden des Täters die Sache von einem Dritten zerstört oder gestohlen wurde, oder wenn sie durch Zufall unterging. Denn anders als bei der Wertersatzeinziehung nach § 74 c kommt es bei dem Wertersatzverfall des § 73 a auf eine Vereitelungsabsicht des Verfallsbetroffenen nicht an. Diese Strenge erklärt sich aus der der Regelung des Verfallsrecht zugrunde liegenden Erwägung, bei der Abschöpfung des Gewinns (Entgelts) zunächst — auch im Interesse der Entlastung der Gerichte — an den erlangten Vermögensvorteil anzuknüpfen, um schwierige Erörterungen, welches rechtliche Schicksal die einzelnen Gegenstände ohne die illegitime Erlangung erlitten hätten, auszuschließen und Härtefällen durch die Regelung des § 73 c Rechnung zu tragen. (37)

§73 a

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

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3. Abstandnahme von der Erstreckung des Verfalls auf Surrogate. Nach § 73 Abs. 2 Satz 2 steht es — aus prozeßökonomischen Gründen (§ 73 Rdn. 37) — im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts, den Verfall auf die Gegenstände zu erstrekken, die der Täter, Teilnehmer oder Drittempfanger (§ 73 Abs. 3, der § 73 Abs. 2 für anwendbar erklärt) durch die Veräußerung eines erlangten Gegenstandes oder als Ersatz für dessen Zerstörung, Beschädigung oder Entziehung oder auf Grund eines erlangten Rechts erworben hat. Sieht das Gericht von einer solchen Erstreckung ab, so hat es nach § 73 a Satz 1 den Verfall eines Geldbetrages anzuordnen, der dem Wert des Erlangten entspricht. Das „Erlangte" im Sinn dieser Vorschrift ist dabei der veräußerte, zerstörte, beschädigte oder entzogene Gegenstand und der für verfallen erklärte Geldbetrag bemißt sich nach dem Wert des Gegenstandes in dem Zeitpunkt, in dem der Täter (Teilnehmer, Drittempfänger) ihn erlangte, ohne Rücksicht auf spätere Wertminderung oder auf den Gegenwert aus der Veräußerung oder die Höhe des Ersatzes bei Beschädigung, Zerstörung oder Entziehung.

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4. Erstreckung des Verfalls auf Surrogate. Wertersatzverfall neben Surrogatverfall. Macht das Gericht von der Erstreckungsbefugnis des § 73 Abs. 2 Satz 2 Gebrauch, so ordnet es den Verfall der Gegenstände (einschl. der Geldbeträge) an, die der Täter (Teilnehmer, Drittempfänger) „durch die Veräußerung", d. h. als Gegenleistung für die Veräußerung oder als Ersatz für die Zerstörung, Beschädigung, Entziehung des Originalgegenstandes erworben hat. Nach § 73 a Satz 2 ist aber neben dem Surrogatsverfall auch noch auf Wertersatzverfall zu erkennen, wenn der Wert des Surrogats hinter dem Wert des Originalgegenstandes zurückbleibt. Auf diesen Fall wollte § 110 Abs. 1 Satz 2 StGB-Entw. 1962, der im übrigen dem § 73 a Satz 2 entspricht, die Geltung der Vorschrift ausdrücklich beschränken („Eine solche Anordnung trifft das Gericht auch neben dem Verfall der in § 109 Abs. 4 Satz 2 [= § 73 Abs. 2 Satz 2 StGB] bezeichneten Gegenstände, soweit deren Wert hinter dem Wert des zunächst Erlangten zurückbleibt").

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Durch die Umgestaltung des § 109 Abs. 4 Satz 2 und des § 110 Abs. 1 Satz 2 StGB-Entw. 1962 im BT-Sonderausschuß hat sich indessen die Bedeutung des § 73 a Satz 2 gewandelt; aus einer Ausnahmevorschrift für einen Sonderfall ist eine Vorschrift von allgemeiner Bedeutung geworden. § 109 Abs. 4 Satz 2 StGB-Entw. 1962 lautete: „Gegenstände, die der Täter oder Teilnehmer... durch die Veräußerung des . . . Erlangten oder als Ersatz für dessen Zerstörung, Beschädigung oder Entziehung erworben hat, treten an die Stelle des zunächst Erlangten". Nach dieser dem § 818 BGB nachgebildeten Vorschrift sollte sich also die Gewinnabschöpfung grundsätzlich auf die Surrogate beschränken, und § 110 Abs. 1 Satz 2 stellte sich als eine Ausnahme von dieser Regel für Extremfälle dar. Die Begründung zu § 110 StGB-Entwurf (S. 245) führt als Beispiele für die Anwendung der Vorschrift an, daß der Täter den Gegenstand zu einem Schleuderpreis verkauft oder Bestandteile des zunächst erlangten Gegenstandes teils verkauft, teils verschenkt hat. Dagegen sieht § 73 Abs. 2 Satz 2, wenn das Gericht von der Befugnis zur Erstreckung des Verfalls auf die Surrogate Gebrauch macht, nicht mehr die grundsätzliche Beschränkung des Verfalls auf die Surrogate vor, und in § 73 a Satz 2 ist die Beschränkung des Anwendungsbereichs dieser Vorschrift auf den Fall einer Erstreckung des Verfalls auf die Surrogate, wie sie § 110 Abs. 1 Satz 2 StGB-Entw. 1962 vorsah, weggefallen. Das war zwangsläufig. Denn wenn § 73 a Satz 1 bestimmt, daß bei Abstandnahme von der Erstreckung des Verfalls auf die Surrogate der Verfall eines Geldbetrages anzuordnen ist, der dem Wert des (ursprünglich) Erlangten entspricht, mußte not(38)

Verfall des Wertersatzes (Schäfer)

§73 a

wendigerweise dafür gesorgt werden, daß bei Erstreckung des Verfalls auf die Surrogate eine weitere Verfallsanordnung bis zum Wert des ursprünglich Erlangten erfolgt, wenn der Surrogatswert hinter diesem Wert zurückbleibt. Das leistet § 73 a Satz 2. Diese Vorschrift umfaßt nunmehr aber auch den Fall, daß die erlangte Sache im Eigentum des Empfängers verblieben ist und — gleichviel aus welchen Gründen — nach der Erlangung eine Wertminderung erfahren hat. Hat also ζ. B. der Täter als Entgelt für die Begehung der rechtswidrigen Tat ein Kraftfahrzeug im Wert von 10.000 DM erhalten und es längere Zeit hindurch gefahren, so daß es im Zeitpunkt der Entscheidung über den Verfall nur noch 6000 DM wert ist, so ist auf Verfall des Kraftfahrzeugs und auf Verfall von 4000 DM Wertersatz zu erkennen (vgl. Prot. V 1023 bis 1025). Das kann dann zu unbilligen Ergebnissen führen, wenn neben dem Verfall des Kraftfahrzeugs gemäß § 73 Abs. 2 Satz 1 zugleich auf Verfall der gezogenen Nutzungen — hier: der Vorteile, die der Gebrauch des Kraftfahrzeugs zum Fahren gewährt (§ 100 BGB) — zu erkennen ist. Da (im Beispielsfall) die Ziehung der Nutzungen zugleich weitgehend der Grund für die Wertminderung ist, würde die Anordnung eines die gezogenen Nutzungen und zugleich die Wertminderung umfassenden Wertersatzverfalls eine über das „Erlangte" hinausgehende Gewinnabschöpfung bedeuten. Die Frage des Verhältnisses von § 73 Abs. 2 Satz 1 zu § 73 a Satz 2, wenn die Wertminderung des Verfallsgegenstandes die Folge der Nutzungsziehung ist, ist bei den Erörterungen im BT-Sonderausschuß lediglich angeklungen (vgl. Prot. V 1024, 1025). Bemühungen um Lösungen, ob — und welche — der beiden Vorschriften bei einem Zusammentreffen subsidiär ist, erscheinen unfruchtbar, da jedenfalls § 73 c die Grundlage für eine flexible Lösung bietet.

III. Vollstreckungsrechtliches. Die Maßnahme (§ 11 Abs. 1 Nr. 8) der Anordnung 7 des Wertersatzverfalls begründet, darin der Verhängung einer Geldstrafe vergleichbar, die Auferlegung eines Zahlungsanspruchs der Staatskasse gegenüber dem Betroffenen. Wertersatzverfall ist aber keine Geldstrafe, sondern, da nur eine Form der Gewinnabschöpfung, in gleicher Weise wie der Verfall eines Gegenstandes eine Nebenfolge einer rechtswidrigen Tat eigner Art mit der Besonderheit, daß sie sich nicht nur gegen den Täter oder Teilnehmer der rechtswidrigen Tat, sondern auch gegen einen tatunbeteiligten Dritten richten kann (§ 73 Abs. 3), dem durch das Handeln des Täters (Teilnehmers) der Vermögensvorteil für die Tat oder aus ihr unmittelbar zufließt. Das Fehlen eines Straf- oder strafähnlichen Charakters führt dazu, daß bei Uneinbringlichkeit des Wertersatzes eine Ersatzfreiheitsentziehung entfällt und Untersuchungshaft oder eine andere Freiheitsentziehung nicht auf den Wertersatz angerechnet wird (§51 Abs. 1 StGB). Jedoch wird materiellrechtlich nach § 73 c Abs. 2 der Wertersatzverfall hinsichtlich der Bewilligung von Zahlungserleichterungen wie eine Geldstrafe behandelt, und vollstreckungsrechtlich gehört er zu den „Nebenfolgen, die zu einer Geldzahlung verpflichten", die nach § 459 g Abs. 2, § 459 StPO in Verbindung mit § 1 Abs. 1 Nr. 1 JBeitrO, § 1 Abs. 1 Nr. 1 EBAO, § 57 StVollstrO wie Geldstrafen behandelt werden. Vgl. noch § 76 betr. nachträgliche Anordnung des Wertersatzverfalls. Es ist rechtlich möglich, daß Wertersatzverfall gegen mehrere an der Tat Betei- 8 ligte zugleich angeordnet wird, ζ. B. wenn zwei Mittätern gemeinsam als Entgelt für die Tat ein Kraftfahrzeug zugewendet wird, das sie gemeinsam benutzen, wodurch der ursprüngliche Wert des erlangten Kraftfahrzeugs wesentlich gemindert wird. Die Begründung zu § 110 StGB-Entw. 1962 (S. 245) bemerkt dazu, daß der Entwurf (39)

§ 73 b

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

von einer Regelung dieses Falles abgesehen habe, weil er davon ausgehe, „daß die Gerichte auch ohne ausdrückliche Vorschrift die gesamtschuldnerische Haftung der Beteiligten aussprechen werden". Dem ist zuzustimmen (dazu auch § 73 Rdn. 19).

§ 73 b Schätzung Der Umfang des Erlangten und dessen Wert sowie die Höhe des Anspruchs, dessen Erfüllung den Vermögensvorteil beseitigen oder mindern würde, können geschätzt werden. 1

I. Bedeutung und Grenzen der Schätzung. Die Vorschrift, die in verselbständigter Form die Vorschriften in §§ 109 Abs. 6,110 Abs. 3 StGB-Entw. 1962 zusammenfaßt, hat ein zivilprozessuales Gegenstück in § 287 ZPO (s. auch § 813 ZPO) sowie strafrechtliche Vorbilder und Parallelen in §§ 40 Abs. 3, 74 c Abs. 3 StGB, § 8 Abs. 3 WiStG. Sie „ist geboten, um dem Gericht bis ins einzelne gehende Feststellungen . . . zu ersparen". Die Vorschrift bezieht sich nicht auf die Entscheidung der Frage, ob überhaupt ein Vermögensvorteil für die Tat oder aus ihr erlangt worden ist (vgl. Begr. S. 244 zu § 109 Abs. 6 StGB-Entw. 1962). Indem § 73 a es dem Gericht gestattet, sich unter Verzicht auf „bis ins einzelne gehende Feststellungen" mit einer Schätzung der in der Vorschrift bezeichneten Umstände zu begnügen, dient er der Vereinfachung und Beschleunigung des Verfahrens.

2

Im Schrifttum umstritten ist die Frage, welche Bedeutung der Zulassung der Schätzung im Verhältnis zu § 244 Abs. 2 StPO (Amtsaufklärungspflicht des Gerichts) zukommt. Nach richtiger Auffassung (vgl. hierzu und zum Folgenden LR- Gollwitzefil §244 Rdn. 18 ff StPO) wird durch Zulassung der Schätzung die Anwendbarkeit des § 244 Abs. 2 nicht aufgehoben, sondern lediglich modifiziert. Jedoch hat die Frage mehr dogmatische als praktische Bedeutung. Denn in der Sache selbst, nämlich wann das Gericht sich mit einer Schätzung begnügen darf, besteht — auch angesichts der Grundsätze, die zu § 287 ZPO entwickelt wurden — im wesentlichen Einverständnis (vgl. z.B. SK-Schreiber Rdn. 3; Dreher-Tröndle Rdn. 6; Sch.-Schröder-Eser Rdn. 6). Schätzung, wo sie zugelassen ist, bedeutet, daß das Gericht, statt alle für die genaue Berechnung der Rechtsfolgen notwendigen Einzelheiten zu klären, sich mit der Ermittlung von Anhaltspunkten begnügen darf, die ihm nach der Lebenserfahrung eine hinreichend sichere Annahme erlauben. Über den Gebrauch der Befugnis zur Schätzung entscheidet das Gericht nach pflichtgemäßem Ermessen. Es orientiert sich dabei an den Umständen des Einzelfalles, insbesondere auch daran, ob eine weitere Aufklärung der als Anhaltspunkte erforderlichen Tatsachen in der Hauptverhandlung ohne weiteres möglich ist, oder ob es dazu einer das Verfahren über Gebühr verzögernden Beweisaufnahme bedürfte, die in keinem Verhältnis zur Bedeutung der Sache und der in Frage stehenden Rechtsfolgen stünde. Andererseits verstieße es sowohl gegen die jedes gerichtliche Prozedieren beherrschende Wahrheitserforschungspflicht wie gegen das Willkürverbot, wenn das Gericht eine Schätzung ohne ein Mindestmaß an zureichenden Anhaltspunkten vornähme, die es sich unschwer und ohne ins Gewicht fallende Verfahrensverzögerung durch Ausschöpfung der zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen verschaffen könnte. Die Schätzungsgrundlagen und (40)

Schätzung (Schäfer)

§ 73

b

ihre Bewertung müssen in den Entscheidungsgründen dargelegt werden (BGHZ 6 62). In § 85 AE war vorgeschlagen worden, die Schätzungsermächtigung durch den Zusatz einzuschränken: „soweit genaue Feststellungen unverhältnismäßig große Schwierigkeiten bereiten". Davon wurde abgesehen, weil sich eine entsprechende Beschränkung bereits aus den vorstehend dargelegten Grundsätzen über die Ausübung des pflichtmäßigen Ermessens ergebe (vgl. Prot. V 1025; Bericht BTDrucks. V 4095 S. 40). II. Gegenstand einer Schätzung sind 1. der Umfang des Erlangten und dessen Wert. Geschätzt werden können Umfang 3 und Wert des Erlangten jeweils dort, wo dies für die Entscheidung über den Verfall eine Rolle spielt, also Umfang und Wert des Vermögensvorteils, den der Täter, Teilnehmer oder Drittempfänger (§ 73 Abs. 3) aus der Tat oder für sie erlangt hat (§ 73 Abs. 1 Satz 1), insbesondere wenn der Vermögensvorteil nicht in einem bestimmten Gegenstand, sondern in Vermögensvorteilen anderer Art besteht (§ 73 Rdn. 9); der Umfang und Wert der gezogenen Nutzungen (§ 73 Abs. 2 Satz 1); bei Erstreckung des Verfalls auf die Surrogate (§ 73 Abs. 2 Satz 2) deren Umfang und Wert als Grundlage für die Anordnung des ergänzenden Wertersatzverfalls nach § 73 a Satz 2; auch bei Anwendung des § 73 c Abs. 1 Satz 2 kommen Schätzungen in Betracht. Was den Zeitpunkt des zu schätzenden Wertes anlangt, so ist er verschieden : im Fall des § 73 Abs. 1 Satz 1 kommt es, wenn das Erlangte in dem Eigentum an einer körperlichen Sache oder in dem Erwerb eines Rechts besteht, die im Zeitpunkt der Entscheidung nicht mehr im Vermögen des Empfängers vorhanden sind, für die Bemessung des Wertersatzes (§ 73 a Satz 1) auf den Wert im Zeitpunkt der Erlangung an; bei Vermögensvorteilen anderer Art und bei Nutzungen ist deren Wert in dem Zeitpunkt maßgebend, in dem sie dem Empfänger jeweils zufließen; bei Anordnung des Verfalls der Surrogate (§ 73 Abs. 2 Satz 2) ist der Zeitpunkt ihres Erwerbs entscheidend; für die Ergänzungsverfallsanordnung wegen Wertminderung eines erlangten bestimmten Gegenstandes (§ 73 a Satz 2; dort Rdn. 6) sind ursprünglicher Wert und Zeitwert zu vergleichen. Wegen der Grundsätze für die Wertbemessung vgl. §§ 73, 1 (Berücksichtigung eigener Aufwendungen und Gegenleistungen, die ebenfalls Gegenstand der Schätzung sind) und § 74 c, 15. 2. im Fall des § 73 Abs. 1 Satz 2 die Höhe des Anspruchs, dessen Erfüllung den 4 Vermögensvorteil beseitigen oder mindern würde. Die praktische Bedeutung des § 73 b ist insoweit gering. § 73 Abs. 1 Satz 2 bestimmt allerdings, daß die grundsätzlich bestehende Pflicht des Gerichts zur Anordnung des Verfalls (§ 73 Abs. 1 Satz 1) nur entfällt, soweit dem Verletzten aus der Tat ein Anspruch erwachsen ist, dessen Erfüllung den aus der Tat erlangten Vorteil beseitigen oder mindern würde. Streng genommen müßte danach festgestellt oder wenigstens geschätzt werden, in welcher Höhe dem Verletzten (im Regelfall: der Mehrzahl von Verletzten) aus der Tat Gegenansprüche erwachsen sind, deren potentielle Erfüllung den erlangten Vermögensvorteil beseitigen oder mindern würde. Wie in Rdn. 25 zu § 73 dargestellt, setzte sich aber bei der Suche nach Gestaltungsmöglichkeiten, die durch Beschränkung der Anordnung des Verfalls einerseits eine Beeinträchtigung von Gegenansprüchen Verletzter, andererseits eine „zweimalige Zahlung" des Täters ausschließen sollten, schließlich im BT-Sonderausschuß die Auffassung durch, der Verfall aus der Tat erlangter Vermögensvorteile solle nur angeordnet werden, wo von vornherein überhaupt keine aus der Tat erwachsene Gegenansprüche Verletzter vorhan(41)

§ 73 c

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

den seien. Handelt es sich also um rechtswidrige Taten, die wie bei Diebstahl, Betrug, Erpressung usw. aus der Tat erwachsene Gegenansprüche Verletzter auslösen, so besteht in aller Regel kein Anlaß, zum Zweck der Entscheidung über den Verfall die Höhe dieser Gegenansprüche zu schätzen; insbesondere kommt es — dies gegen Sch.-Schröder-Eser Rdn. 5 — nicht darauf an, in welchem Ausmaß eine Realisierung dieser Ansprüche zu erwarten ist (dazu § 73 Rdn. 30). Eine Schätzung der Höhe des Gegenanspruchs kann etwa in dem von Dreher-Tröndle § 73 Rdn. 5 gebildeten Beispiel in Betracht kommen: der Täter verkauft eine einzige Sendung gepanschten Weines gemeinsam an A und B; Ansprüche aus Betrug hat aber nur der gutgläubige A, während Ansprüche des Β entfallen, weil er bösgläubig war.

§ 73 c Härtevorschrift (1) Der Verfall wird nicht angeordnet, soweit er für den Betroffenen eine unbillige Härte wäre. Die Anordnung kann unterbleiben, soweit der Wert des Erlangten zur Zeit der Anordnung in dem Vermögen des Betroffenen nicht mehr vorhanden ist oder wenn das Erlangte nur einen geringen Wert hat. (2) Für die Bewilligung von Zahlungserleichterungen gilt § 42 entsprechend. 1

1. Zur Entstehungsgeschichte. § 73 c Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 entsprechen dem § 111 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 StGB-Entw. 1962. Die Erweiterung des § 73 Abs. 1 Satz 2 gegenüber dem § 111 Abs. 1 Satz 2 StGB-Entw. 1962 („Die Anordnung kann unterbleiben, wenn der Wert des Erlangten gering ist") beruht ebenso wie die Streichung des § 111 Abs. 2 StGB-Entw. 1962 (betr. entsprechende Anwendung des heutigen § 51 StGB auf den Verfall) auf den Beschlüssen des BT-Sonderausschusses (Prot. V 1026).

2

2. Allgemeine Bedeutung. Die Anordnung von Verfall des Vermögensvorteils und des Wertersatzes ist — bei Surrogaten in der besonderen Ausgestaltung nach § 73 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 73 a Satz 2 — zwingend vorgeschrieben aus der Überlegung, daß es (aus den in § 73 Rdn. 4 dargestellten Gründen) nicht angängig sei, dem Täter, Teilnehmer oder Drittempfänger des § 73 Abs. 3 den für die rechtswidrige Tat oder aus ihr erlangten Vermögensvorteil zu belassen. Ferner hat, wie sich aus § 73 a Satz 2, § 73 c Abs. 1 Satz 2 ergibt, die Anordnung des Verfalls grundsätzlich den ursprünglich erlangten Vermögensvorteil oder dessen Wert ohne Rücksicht darauf zum Gegenstand, ob im Zeitpunkt der Anordnung der Wert des Erlangten überhaupt noch oder nur noch in gemindertem Umfang in dem Vermögen des Betroffenen vorhanden ist. Diese Schärfe des Verfalls kann aber im Einzel : fall zu Härten führen, die durch den Zweck der Gewinnabschöpfung des illegitim Erlangten nicht geboten sind. Abhilfe für Härten zu schaffen wäre schon durch den für staatliche Reaktionen jeder Art geltenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatz geboten. An Stelle einer dem § 74 b entsprechenden Vorschrift sieht § 73 c Abs. 1 in Variation eines Vorbildes in § 8 Abs. 2 WiStG zwei Formen der Härtemilderung vor: nach Satz 1 ist die Anordnung des Verfalls ausgeschlossen, wenn und soweit er für den Betroffenen eine unbillige Härte wäre, während es nach Satz 2 im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts steht, vom Verfall abzusehen, (42)

Härtevorschrift (Schäfer)

§ 73 c

a) soweit der Wert des Erlangten zur Zeit der Entscheidung über die Anordnung im Vermögen des Betroffenen nicht mehr vorhanden ist, oder b) wenn das Erlangte nur einen geringen Wert hat. Die Abgrenzung des zwingenden (Satz 1) von dem fakultativen Verfallsausschluß 3 (Satz 2) bereitet gewisse Schwierigkeiten. An sich ergibt sich aus der Rechtslogik, daß Umstände, die (nur) ein Absehen von Verfallsanordnung nach pflichtgemäßem Ermessen zulassen, nicht zugleich einen zwingenden Ausschlußgrund bilden. Das Verhältnis des Satzes 1 zu Satz 2 war in § 111 Abs. 1 StGB-Entw. 1962 eindeutig, wo der fakultative Ausschluß auf den Fall des geringen Wertes des Erlangten beschränkt war. Die Begründung zu § 111 StGB-Entw. 1962 (S. 245) konnte daher als Beispiel einer unbilligen Härte den Fall anführen, daß der Täter den als Vermögensvorteil erlangten Gegenstand „ohne Gegenleistung und ohne zuvor aus seinem Besitz Vorteil gezogen zu haben, einem Dritten übertragen hat und dabei auch nicht die Absicht hatte, den Gegenstand dem Verfall zu entziehen". Dieser Fall wird ζ. T. auch heute noch als Beispielsfall einer unbilligen Härte angeführt (vgl. ζ. B. Dreher-Tröndle Rdn. 2). Die Behandlung dieses Beispielfalles (Rdn. 3) ist indessen problematisch gewor- 4 den, nachdem der BT-Sonderausschuß den Bereich der fakultativen Nichtanordnung des Verfalls förmlich auf den Fall ausdehnte, daß zur Zeit der Entscheidung der Wert des Erlangten nicht mehr im Vermögen des Betroffenen vorhanden ist (oben Rdn. 1). Dafür waren mehrere Erwägungen maßgebend: einmal sollte klargestellt werden, daß der Richter nicht in jedem Fall unter dem Gesichtspunkt einer unbilligen Härte von der Anordnung des Verfalls absehen dürfe, wenn der Täter keinen Gewinn mehr habe, „denn sonst würde der Täter dazu gereizt, den Gewinn alsbald nach der Erlangung auszugeben" (Prot. V 545). Im übrigen aber sollte der Richter in der Berücksichtigung eines Wegfalls des Wertes des Erlangten durch Erweiterung seines Ermessensbereiches „freier gestellt" werden. Wenn ζ. B. der Täter schuldlos gehandelt habe oder Empfänger ein tatunbeteiligter Dritter sei (§ 73 Abs. 3), so müsse der Richter, wenn er das Vorliegen eines Falles unbilliger Härte bejahen wolle, eine nähere Prüfung vornehmen; durch eine Ermessensvorschrift werde er in dieser Beziehung freier gestellt (Prot. V 1026). In anderen Fällen sei zweifelhaft, ob eine unbillige Härte in Betracht komme; es könne aber, wenn der Wert des Erlangten nicht mehr vorhanden sei, das Bedürfnis bestehen, dem Richter zu ermöglichen, unter Berücksichtigung des Verhaltens des Täters und seiner wirtschaftlichen Verhältnisse von der Anordnung des Verfalls abzusehen. Das gelte, ζ. B., wenn ein Agent für seine staatsgefährdende Tätigkeit jahrelang ein Entgelt zur Bestreitung seiner Lebenshaltungskosten erlangt und auch verbraucht habe; werde er zu Freiheitsstrafe verurteilt und gleichzeitig der Verfall des Wertersatzes für den verbrauchten Agentenlohn von Tausenden von DM angeordnet, so könne sich dies geradezu resozialisierungswidrig auswirken, indem der Täter zu erneuter Straffälligkeit angereizt werde, um den Wertersatz bezahlen zu können (Prot. V 1026). Ob es sich hier um ein besonders signifikantes Beispiel einer Anwendbarkeit des § 73 c Abs. 1 Satz 2 handelt, ist freilich eine andere Frage, nachdem inzwischen der durch Art. 21 Nr. 130 EGStGB 1974 geschaffene § 459 g Abs. 2 StPO in Verbindung mit § 459 d Abs. 1 Nr. 1 die Möglichkeit eröffnet hat, daß das Gericht im Vollstrekkungsstadium das Unterbleiben der Vollstreckung des Wertersatzverfalls anzuordnen berechtigt ist, wenn diese Vollstreckung die Wiedereingliederung des Verurteilten erschweren kann (dazu LR -Schäfer^ § 459 d, Rdn. 3,6,7). Nach dieser Entstehungsgeschichte des § 73 c Abs. 1 wird davon auszugehen sein, daß grundsätzlich (43)

§ 73 d

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

das Nichtmehrvorhandensein des Wertes des Erlangten im Vermögen des Betroffenen nicht eine unbillige Härte darstellt, sondern in den Anwendungsbereich des § 73 c Abs. 1 Satz 2 fällt. 5

3. Eine unbillige Härte — dieser unbestimmte Rechtsbegriff ist der Gesetzessprache auch sonst geläufig (vgl. § 74 f Abs. 3 StGB; § 459 f StPO; §§ 319 Abs. 1, 556 a Abs. 1 BGB ; § 765 a ZPO) — sollte nach den im Entstehungsstadium des § 111 StGB-Entw. 1962 bestehenden Vorstellungen vor allem auch solche Fälle umfassen, in denen der Täter eine des Entgelts werte Leistung erbrachte, aber unter Verletzung mehr formaler, die Ausübung der Tätigkeit regelnder Strafvorschriften, ζ. B. den Fall des Verkaufs einer Ware zum normalen Preis an den dieser Ware dringend bedürftigen Käufer, aber unter Verletzung der Vorschriften über den Ladenschluß. Da die damals insoweit bestehenden leichteren Vergehens- und Übertretungstatbestände inzwischen grundsätzlich durch Ordnungswidrigkeitstatbestände ersetzt sind, also ein Vermögensvorteil aus einer rechtswidrigen Tat nicht mehr in Betracht kommt, bieten sich — entgegen der weitherzigeren Auslegung des § 73 c Abs. 1 Satz 1 bei Dreher-Tröndle Rdn. 2 — Beispiele einer unbilligen Härte nicht eben zahlreich an. Unbillige Härte liegt vor, wenn die Anordnung des Verfalls dem Rechtsempfinden widerspricht. Das ist ζ. B. der Fall, wenn der Täter freiwillig den erlangten Vermögensvorteil einer gemeinnützigen Einrichtung zugewendet hat (vgl. OLG Hamm NJW 1973 719), oder wenn rechtswidrige Gewinne reinvestiert wurden, bei deren rückwirkender Entziehung das Unternehmen in seiner Existenz — und damit auch der Bestand der vorhandenen Arbeitsplätze — gefährdet würde (Sch.-Schröder-Eser3). Im Zusammenhang mit der Streichung des §111 Abs. 2 StGB-Entw. 1962 („Für die Anrechnung von Freiheitsentziehung und Strafe auf den Verfall gilt §66 [= § 51 StGB] entsprechend") durch den BT-Sonderausschuß (vgl. oben Rdn. 1) bestand Einverständnis, daß, wenn eine Untersuchungshaft länger gedauert hat als die verhängte Strafe, ein Ausgleich über § 73 c Abs. 1 Satz 1 möglich sei (Prot. V 1027, 1028).

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4. Die Abstandnahme vom Verfall, wenn das (ursprünglich) Erlangte nur einen geringen Wert hat, beruht auf prozeßökonomischen Gründen (vgl. dazu auch §§ 430, 442 Abs. 1 StPO). Die Geringwertigkeit wird nach den Maßstäben zu beurteilen sein, die für den Begriff der Sachen von geringem Wert (vgl. §§ 243 Abs. 2, 248 a StGB) gelten.

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5. Wegen der Bewilligung von Zahlungserleichterungen (Absatz 2) vgl. die Anmerkungen zu § 74 c Abs. 4.

§ 73 d Wirkung des Verfalls (1) Wird der Verfall eines Gegenstandes angeordnet, so geht das Eigentum an der Sache oder das verfallene Recht mit der Rechtskraft der Entscheidung auf den Staat über, wenn es dem von der Anordnung Betroffenen zu dieser Zeit zusteht. Rechte Dritter an dem Gegenstand bleiben bestehen. (2) Vor der Rechtskraft wirkt die Anordnung als Veräußerungsverbot im Sinne des § 136 des Bürgerlichen Gesetzbuches; das Verbot umfaßt auch andere Verfügungen als Veräußerungen. (44)

Wirkung des Verfalls (Schäfer)

§ 73 d

Entstehungsgeschichte In Absatz 2 wurde der Halbsatz 2 („das V e r b o t . . . " ) durch Art. 18 Nr. 39 EGStGB 1974 angefügt.

1. Wirkung rechtskräftiger Anordnung des Verfalls eines Gegenstandes (Absatz 1). 1 § 73 d Abs. 1, der dem § 112 Abs. 1 StGB-Entw. 1962 und dem § 87 AE entspricht, regelt nur die Wirkung der Rechtskraft einer Entscheidung, die auf Verfall eines Gegenstandes (Sache oder Recht) lautet. Für die Anordnung von Wertersatzverfall (§ 73 a) ist § 73 d ohne Bedeutung; wegen der Rechtsnatur der Anordnung von Wertersatzverfall und seiner Vollstreckung vgl. § 73 a, 7. Die Rechtskraftwirkung regelt § 73 d Abs. 1 grundsätzlich in Übereinstimmung mit § 74 c Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 ; wegen der Realisierung des Rechtserwerbs des Staates vgl. § 76 Rdn. 2. Eine wesentliche Abweichung der Rechtskraftwirkung der auf Verfall eines Gegenstandes lautenden Entscheidung gegenüber der Rechtskraftwirkung der die Einziehung eines Gegenstandes anordnenden Entscheidung ergibt sich aber aus der dem Wesen des Verfalls als einer Entziehung des illegitim Erlangten entsprechenden Besonderheit, daß das Eigentum an der für verfallen erklärten Sache oder das Recht, dessen Verfall angeordnet ist, nur dann kraft Gesetzes mit Rechtskraft der den Verfall anordnenden Entscheidung auf den Staat übergeht, wenn der von der Anordnung Betroffene im Zeitpunkt der Rechtskraft des Urteils Eigentümer der Sache und Inhaber des Rechts ist, deren Verfall angeordnet wurde. Von der Anordnung Betroffener ist der Täter, Teilnehmer oder Drittempfänger (§ 73 Abs. 3), gegen den die Anordnung sich richtete; im Fall des § 73 Abs. 4 ist mittelbar Betroffener der Dritte, der Sacheigentum und Recht übertragen wollte und mit dem Einwand nicht gehört wird, daß der Rechtsübergang aus den Gründen der §§ 134, 138 BGB nichtig und er Eigentümer (Rechtsinhaber) geblieben sei (vgl. § 73 Rdn. 47 ff). Anders als im Fall des § 74 e Abs. 1 (dort Rdn. 3) findet also ein originärer Rechtserwerb des Staates von einem Nichtanordnungsbetroffenen nicht statt. Nimmt das den Verfall einer Sache anordnende Gericht irrtümlich an, sie gehöre dem Verurteilten A, während sie tatsächlich dem völlig tatunbeteiligten Β gehört, so bleibt Β trotz der Rechtskraft des Urteils Eigentümer und kann sein Recht frei gegenüber dem Justizfiskus geltend machen. Dies gilt auch dann, wenn A im Zeitpunkt des Ergehens des den Verfall anordnenden Urteils Eigentümer war, Β aber gutgläubig vor Eintritt der Rechtskraft des Urteils das Eigentum an der (nicht beschlagnahmten) Sache erwarb (unten Rdn. 3 und § 74 e, 14). Verweigert in einem solchen Fall der im Gewahrsam der Sache befindliche Β deren Herausgabe unter Berufung auf das ihm von früher her zustehende oder nachträglich erworbene Eigentum, so entfällt eine Vollstrekkung gegen Β aus dem Urteil; der Justizfiskus muß, wenn er glaubt, Eigentümer geworden zu sein, seine Ansprüche gegen Β im Wege der Klage geltend machen (§ 61 Abs. 4 StVollstrO). Umgekehrt könnte aber auch Β zur Zerstörung des Rechtsscheins des Urteils aktiv vorgehen, ζ. B. durch Erhebung einer Feststellungsklage gegen den Fiskus (§ 256 ZPO) oder durch Einwendungen gegen die Zulässigkeit der Vollstreckung (§ 458 Abs. 1 StPO; dazu LR-Schäfer2^ §458 Rdn. 11). Dagegen kommt für den Dritteigentümer das Nachtragsverfahren des § 439 StPO nicht in Betracht, da die dort vorgesehenen inhaltlichen und zeitlichen Beschränkungen angesichts der in § 73 d Abs. 1 Satz 1 statuierten Wirkungslosigkeit des Verfallsurteils gegenüber dem völlig tatunbeteiligten Dritteigentümer nicht gelten können (ebenso Dreher-Tröndle Rdn. 4; Sch.-Schröder-Eser Rdn. 3). Nicht ausgeschlossen ist, daß B, wenn er von der irrtümlichen Einbeziehung seines Eigentums in das Ver(45)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

fahren vor dem rechtskräftigen Abschluß Kenntnis erhält, innerhalb der zeitlichen Grenzen (§ 431 Abs. 4 StPO) am Verfahren beteiligt wird, um spätere Auseinandersetzungen über die Eigentumsfrage zu vermeiden (LR-ScAä/er23 §431 Rdn. 10 StPO).

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2. Rechte Dritter an dem für verfallen erklärten Gegenstand bleiben nach Absatz 1 Satz 2 bestehen. Diese Vorschrift entspricht dem § 74 e Abs. 2 Satz 1, so daß wegen der Bedeutung der Vorschrift und insbesondere des Begriffs der bestehenbleibenden Rechte auf § 74 e, 7, 8 verwiesen werden kann. Sicherungs- und Vorbehaltseigentum gehören nicht zu diesen Rechten (vgl. § 74, 8). Überträgt also z. B. A, der von Β ein Kraftfahrzeug unter Eigentumsvorbehalt (§ 455 BGB) erworben und erst einen Teil des Kaufpreises bezahlt hat, dem C nachträglich als Belohnung für dessen rechtswidrige Tat unter Offenbarung des Sachverhalts das Kraftfahrzeug, so kann im Verfahren gegen C nicht das dem Β gehörige Kraftfahrzeug für verfallen erklärt werden, und eine gleichwohl auf Verfall des Kraftfahrzeugs lautende Entscheidung wäre nach § 73 d Abs. 1 Satz 1 dem Β gegenüber unwirksam. Für verfallen erklärt könnte vielmehr nur das dem C übertragene Anwartschaftsrecht werden (vgl. dazu § 74, 51). Eine dem § 74 e Abs. 2 Satz 2 entsprechende Vorschrift über die Anordnung des Erlöschens von Rechten Dritter kam beim Verfall nicht in Betracht, da sie mit der Zweckbestimmung des Verfalls nicht vereinbar wäre (Begründung zu § 112 StGB-Entw. 1962 S. 246). Vgl. aber unten Rdn. 3.

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3. Anordnung des Verfalls als Veräußerungs- und Verfügungsverbot (Absatz 2). § 73 d Abs. 2 ist in § 74 e Abs. 3 für entsprechend anwendbar erklärt worden (vgl. dazu § 74 e, 12 ff). Da nach § 73 d Abs. 1 Satz 1 der im letzten tatrichterlichen Urteil angeordnete Verfall einer Sache oder eines Rechts nur dann zum Übergang des Eigentums an der Sache und zum Übergang des Rechts auf den Staat führt, wenn der von der Anordnung Betroffene im Zeitpunkt der Rechtskraft noch Sacheigentümer oder Rechtsinhaber ist, soll § 73 d Abs. 2 nach Möglichkeit ausschließen, daß der Anordnungsbetroffene durch Veräußerung des Gegenstandes an einen Dritten vor Eintritt der Rechtskraft den Eigentumsübergang auf den Staat verhindert; in gleicher Weise soll verhindert werden, daß der Anordnungsbetroffene durch andere Verfügungen, ζ. B. Begründung von Rechten Dritter an dem Gegenstand, die gemäß § 73 d Abs. 1 bestehen bleiben, den Wert des verfallenen Gegenstandes mindert. Solche Verhinderungsmaßnahmen sind schon vor Erlaß der den Verfall anordnenden Entscheidung möglich. Nach §§ 111 b Abs. 1, 2, 111c StPO können Gegenstände beschlagnahmt werden, wenn dringende Gründe für die Annahme vorhanden sind, daß die Voraussetzungen für den Verfall vorliegen. Nach § 111 c Abs. 5 StPO hat die Beschlagnahme die Wirkung eines Veräußerungsverbots im Sinn des § 136 BGB; das Verbot umfaßt auch hier andere Verfügungen als Veräußerungen. Die Beschlagnahme hat, da sie nur zugunsten des Fiskus den möglichst ungeschmälerten Rechtsübergang für den Fall des Ergehens einer auf Verfall lautenden Entscheidung bezweckt, die Bedeutung eines relativen Veräußerungs- und Verfügungsverbots, das gemäß § 135 Abs. 2 BGB einen gutgläubigen Erwerb nicht ausschließt (dazu § 74 e Rdn. 14). § 73 d Abs. 2 trifft eine ergänzende Regelung, die praktische Bedeutung hat, wenn es nicht zu einer vollzogenen Beschlagnahme gekommen ist. (46)

Voraussetzungen der Einziehung (Schäfer)

§ 7 4

4. Wegen der Sicherung eines künftigen Wertersatzverfalls (§ 73 a) durch Anord- 4 nung des dinglichen Arrests vgl. § 111 d StPO. Wegen der „Zurückgewinnungshilfe" zugunsten des Verletzten in den Fällen des § 73 Abs. 1 Satz 2 vgl. § 73 Rdn. 29, 30.

§ 7 4

Voraussetzungen der Einziehung (1) Ist eine vorsätzliche Straftat begangen worden, so können Gegenstände, die durch sie hervorgebracht oder zu ihrer Begehung oder Vorbereitung gebraucht worden oder bestimmt gewesen sind, eingezogen werden. (2) Die Einziehung ist nur zulässig, wenn 1. die Gegenstände zur Zeit der Entscheidung dem Täter oder Teilnehmer gehören oder zustehen oder 2. die Gegenstände nach ihrer Art und den Umständen die Allgemeinheit gefährden oder die Gefahr besteht, daO sie der Begehung rechtswidriger Taten dienen werden. (3) Unter den Voraussetzungen des Absatzes 2 Nr. 2 ist die Einziehung der Gegenstände auch zulässig, wenn der Täter ohne Schuld gehandelt hat. (4) Wird die Einziehung durch eine besondere Vorschrift über Absatz 1 hinaus vorgeschrieben oder zugelassen, so gelten die Absätze 2 und 3 entsprechend. Schrifttum Eser Die strafrechtlichen Sanktionen gegen das Eigentum. Dogmatische und rechtspolitische Untersuchungen zu Einziehung, Unbrauchbarmachung und Gewinnverfall, 1969; Eser Informationsfreiheit und Einziehung, NJW 1970 784; Eser Zum Eigentumsbegriff im Einziehungsrecht, JZ 1972 146 sowie Urteilsanmerkung JZ 1973 171; Schäfer Zum Eigentumsbegriff im Einziehungsrecht, in Festschrift für Dreher (1977) 283.

Entstehungsgeschichte Wegen der Entstehungsgeschichte des § 74 (frühere Bezifferung: § 40) im allgemeinen vgl. Rdn. 1,2 vor §73. Durch Art. 18 Nr. 40 EGStGB 1974 wurden in Absatz 3 die Worte „eine nur rechtswidrige Tat begangen hat" durch „ohne Schuld gehandelt hat" ersetzt (lediglich redaktionelle Textanpassung).

I. Rechtsnatur der Einziehung 1. Versuche einer gesetzlichen Fixierung. Die Rechtsnatur der Einziehung ist 1 nicht einheitlich; sie wechselt, wie im folgenden darzustellen ist, je nach dem Zweck der Maßnahme. Die StGB-Entwürfe 1925, 1927 und 1930 waren bemüht, die Rechtsnatur der Einziehung formal klarzustellen, ohne daß es gelungen wäre, bei der materiellen Ausgestaltung der Einziehungsregeln die „Doppelnatur" (Rdn. 3 vor § 73) in vollem Umfang zu beseitigen. So rechnete ζ. B. der Entwurf 1927 die Einziehung zu den Nebenstrafen und Nebenfolgen, hob jedoch in der Begründung zu den §§ 52 bis 54 hervor, daß die Einziehung neben ihrem Strafcharakter auch einem Sicherungszweck zu dienen habe. Umgekehrt gestaltete der Entwurf 1936 (§§ 77 bis 79) die Einziehung als Maßregel der Sicherung aus, hielt diesen Grundge(47)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

danken aber nicht durch, indem er bestimmte, daß der Richter von der Einziehung absehen könne, wenn die Gegenstände ohne Schuld des Berechtigten zu der Tat bestimmt gewesen oder dazu gebracht worden sind, oder wenn die Einziehung eine unbillige Härte wäre. 2

2. Verzicht auf gesetzliche Festlegung. Angesichts der praktischen Schwierigkeiten sah der Gesetzgeber des Jahres 1968 bei der Neuregelung des Einziehungsrechts im Anschluß an den StGB-Entwurf 1962 bewußt davon ab, die Einziehung einseitig entweder als Nebenstrafe oder als Sicherungsmaßregel auszugestalten. In der Begründung des Entw. EGOWiG 1968 (S. 50) wird dazu ausgeführt, daß eine einseitige Festlegung in diesem oder jenem Sinn „aus praktischen Gründen auf Schwierigkeiten stößt. Würde die Einziehung nur als Nebenstrafe behandelt, so wäre es bei folgerichtiger Durchführung kaum angängig, die selbständige Anordnung der Maßnahme ohne ein subjektives Strafverfahren zuzulassen. Eine derartige Folge wäre sowohl bei der Einziehung der producta et instrumenta sceleris als auch von sog. Beziehungsgegenständen (ζ. B. von geschmuggelter Ware) kriminalpolitisch bedenklich. Andererseits wäre bei einer Regelung, die den Zweck der Einziehung allein in der Sicherung der Allgemeinheit sieht, der Anwendungsbereich der Maßnahme unangemessen eingeschränkt. Sie könnte immer nur angeordnet werden, wenn im einzelnen Falle nachgewiesen ist, daß der Gegenstand gefährlich ist oder der Begehung rechtswidriger Taten dienen wird. Auch dann dürfte es kaum zulässig sein, die Einziehung in das Ermessen des Richters zu stellen. Eine für alle Fälle zwingend vorgeschriebene Einziehung aber müßte zu unbilligen Ergebnissen führen. Der Entwurf sieht deshalb davon ab, die Rechtsnatur der Einziehung festzulegen, und trifft eine undogmatische und bewegliche Regelung, die allein den kriminalpolitischen Bedürfnissen entspricht".

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3. Diese Auffassung (Rdn. 2) wurde auch bei der Beratung des zweiten Strafrechtsreformgesetzes vom 4. 7. 1969 aufrechterhalten. Die Vorschläge des Alternativ-Entwurfs (§ 88 Abs. 1 mit Begr. S. 161), die Einziehung zu einer reinen Sicherungsmaßregel auszugestalten, wurden (vgl. 2. Bericht des BT-Sonderausschusses, BT-Drucks. V 4095 S. 41) nach eingehender Erörterung des Wesens der Einziehung, vor allem unter dem Gesichtspunkt ihrer Verfassungsmäßigkeit, gemessen an der Eigentumsgarantie des Art. 14 G G und dem Umfang der Sozialbindung des Eigentums in der 54. Sitzung des Sonderausschusses v. 9. 3. 1967 (Prot. S. 1029 ff) abgelehnt, vor allem, weil sie den im Nebenstrafrecht sich ergebenden Bedürfnissen nicht genügend Rechnung trügen. Denn es müsse ζ. B. möglich sein, das Schmuggelgut und die zum Schmuggeln verwendeten Fahrzeuge oder den unter einer falschen Lagebezeichnung in den Handel gebrachten Wein einzuziehen, ohne daß es auf die Gefährlichkeit des geschmuggelten Kaffees, des falsch bezeichneten Weins oder des zum Schmuggeln verwendeten Fahrzeugs ankomme, zumal ungerechte Ergebnisse bei einer unabhängig von Sicherungszwecken zugelassenen Einziehung durch die Vorschrift des § 74 b vermieden würden. Das Bestreben, eine „undogmatische und bewegliche Regelung" zu treffen, kommt denn auch insbes. darin zum Ausdruck, daß § 74 Abs. 1 die Einziehung nicht zwingend vorschreibt, sondern nur zuläßt („kann") und es den Sondervorschriften (§ 74 Abs. 4) überläßt, die Einziehung zwingend vorzuschreiben, wo dies — ausnahmsweise — geboten erscheint. Jedoch hat auch dieses „kann" verschiedene Bedeutung (dazu näheres Rdn. 2 zu § 74 b). Es liegt aber angesichts der Einstellung des Gesetzgebers in der Natur der (48)

Voraussetzungen der Einziehung (Schäfer)

§74

Sache, daß auch auf dem Boden des neuen Rechts die Auffassungen über die Natur der Einziehung auseinandergehen. II. Bei der dogmatischen Einordnung der Einziehung sind folgende Gruppen von Fällen zu unterscheiden: 1. In den Fällen des § 74 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 hat die Einziehung primär Strafcha- 4 rakter, da sie sich nur gegen den Täter oder Teilnehmer richtet und ihre Anordnung nicht zwingend („kann") vorgeschrieben ist. Sie soll zusätzlich neben der Hauptstrafe als Übel den Täter oder Teilnehmer am Vermögen treffen 1 . Der Gedanke ist, aus Gründen des Unrechtsausgleichs (der Vergeltung), der Speziai- wie der Generalprävention, dem Täter die Folgen der Tat fühlbar zu machen. Sie soll z. B. dem Wilderer vor Augen führen, daß er sein Jagdgewehr, dem Schmuggler, daß er sein Kraftfahrzeug (instrumenta sceleris) aufs Spiel setzt, wenn er es zum Wildern (Schmuggeln) mißbraucht. In gewissem Umfang spielt auch der Gedanke der durch sozialwidrigen Gebrauch des Eigentums „bemakelten" Sache eine Rolle: wer sein Eigentum zur Begehung einer vorsätzlichen Straftat gebraucht, kann es durch Mißbrauch „verwirken". Und zwar hat hier die Maßnahme der Einziehung (§11 Abs. 11 Nr. 8) Nebenstrafcharakter nur in dem Sinn, daß sie zusätzlich neben einer Hauptstrafe angedroht ist und verwirkt wird, während sie sich von einer Nebenstrafe im technischen Sinn dadurch unterscheidet, daß sie nicht nur in Verbindung mit einer Hauptstrafe, sondern unter den Voraussetzungen des § 76 a Abs. 1 auch selbständig angeordnet werden kann. Der Strafcharakter der Maßnahme wird aber dadurch nicht berührt. Wegen der Wechselbeziehung zwischen Hauptstrafe und Einziehung mit Strafcharakter vgl. § 74 b, 3. Nach anderer Ansicht (Lackner 12 1 a; ähnlich Göhler5 2 Β vor § 22 OWiG) hat 5 zwar — was für die Ermessensausübung („kann") in Betracht kommt — die Einziehung nach § 74 Abs. 2 Nr. 1 strafähnlichen Charakter, der kriminalpolitische Schwerpunkt des „schillernden" Rechtsinstituts liegt jedoch nicht auf dem Schuldausgleich, sondern auf dem Gesichtspunkt der Sicherung der Allgemeinheit, so daß der Richter im allgemeinen den Gedanken der Vorbeugung in den Vordergrund rücken werde (Lackner aaO), und wenn die Einziehung unter dem Gesichtspunkt der Vorbeugung nicht angebracht sei, werde ihre Anordnung meist auch nicht zweckmäßig sein (Göhler aaO). Diese den Gesichtspunkt der Sicherung in den Vordergrund schiebende Betrachtungsweise, die bereits den Gegenstand der oben (Rdn. 2, 3) dargestellten parlamentarischen Erörterungen bildete, verläßt aber den Leitgedanken, auf dem die Gesetz gewordene Fassung des § 74 beruht. 2. In den Fällen des § 74 Abs. 3 hat die Einziehung eindeutig Sicherungscharak- 6 ter, da ein Verschulden des Täters nicht erforderlich ist, sondern die rechtswidrige Verwirklichung des Straftatbestandes mit „natürlichem" Vorsatz genügt. Die Einziehung gehört aber auch dann nicht zu den Maßregeln der Sicherung im technischen Sinn (§61), sondern ist eine Sicherungsmaßregel eigener Art, weil sie in ihrer 1

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RGSt. 57 334; BGH St. 6 62; 8 214; 10 29; 16 47; 25 12; NJW 1952 191; OLG Düsseldorf NJW 1972 1382; OLG Stuttgart NJW 1974 709; OLG Saarbrücken NJW 1975 66; OLG Hamm NJW 1975 67; 1976 2223; Dreher-Tröndle38 Rdn. 2; Sch.-Schröder-Eser Rdn. 15 vor § 73 ; 1, 18 zu § 74; SK-Horn Rdn. 11 ; Preisendanz I 1 ; Welzel 256; Blei AT § 103 II 4; § 117 III; Maurach-Zipf AT 5 § 61 II Β 2 a.

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

Auswirkung auch den tatunbeteiligten Eigentümer des Gegenstandes treffen kann. Diesem gegenüber wirkt die Einziehung mit der Folge des Eigentumsüberganges auf den Staat (§ 74 e) entweder als Enteignung, die die Verpflichtung der Staatskasse zu angemessener Entschädigung nach sich zieht (§ 74 f Abs. 1), oder es wird dem Betroffenen wegen seines den Grundsatz der Sozialbindung des Eigentums verletzenden Mitverschuldens am Eigentumsverlust ( § 7 4 f Abs. 2 Nr. 1,2), oder weil er diesen ohnedies nach anderen Vorschriften hätte hinnehmen müssen (§ 74 f Abs. 2 Nr. 3), eine Entschädigung versagt oder nur ausnahmsweise nach Billigkeitsgrundsätzen gewährt (§ 74 f Abs. 3). 7

3. In den Fällen des § 74 Abs. 2 Nr. 2 steht der Sicherungszweck im Vordergrund (OLG Saarbrücken NJW 1975 66). Denn die Einziehung dient hier der Abwendung von Gefahren, sei es, daß sie der Allgemeinheit von der Art des Einziehungsgegenstandes drohen, sei es, daß die künftige Verwendung des Gegenstandes zur Begehung rechtswidriger Taten zu besorgen ist. Der Sicherungszweck rechtfertigt es, die Einziehung auch mit Wirkung gegen den tatunbeteiligten Dritteigentümer und gegen diesen auch dann zuzulassen, wenn ihn hinsichtlich der Verwendung des Gegenstands zur Tat oder hinsichtlich seines Erwerbs kein Vorwurf trifft. Jedoch ist der Charakter als Sicherungsmaßnahme insofern nicht streng durchgeführt, und es bleibt ein Rest von Strafähnlichkeit, als hier die Einziehung nicht zwingend vorgeschrieben, sondern in das richterliche Ermessen gestellt ist. Bei der Ausübung seines Ermessens aber muß sich der Richter von der Erwägung leiten lassen, inwieweit daß Maß des Sicherungsbedürfnisses eine Abstandnahme von der Maßnahme zuläßt.

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4. In den Fällen des § 74 a hat die Einziehung dem Täter (Teilnehmer) gegenüber Strafcharakter, gegenüber dem Eigentümer strafähnlichen Charakter. Denn die Zulässigkeit der Einziehung mit Wirkung gegenüber dem Eigentümer beruht hier auf dem Gedanken, daß diesen der Vorwurf einer schuldhaften („wenigstens leichtfertig") Quasibeihilfe (§ 74 a Nr. 1) oder einer schuldhaften („in verwerflicher Weise") Quasihehlerei oder Quasibegünstigung (§ 74 a Nr. 2) durch Vereitelung der Einziehung mit Wirkung gegen den Täter (Teilnehmer) treffe. Nach beiden Richtungen ist hier die Behandlung der Einziehung unter dem Gesichtspunkt der Strafe gerechtfertigt.

III. Die Einziehungsvoraussetzungen im allgemeinen (§ 74 Abs. 1) 1. Begehung einer vorsätzlichen Straftat 9 a) Begriff. Erforderlich ist die Erfüllung des gesamten objektiven wie des subjektiven Tatbestandes (BGHSt. 23 64, 68). Auf die Begehungsform der Straftat (unmittelbare oder mittelbare Täterschaft, Mittäterschaft, Anstiftung, Beihilfe) kommt es nicht an. Es genügt auch der strafbare Versuch und ein nach § 30 strafbarer Versuch der Beteiligung (BGHSt. 13 311 = NJW 1960 107). Ausgeschlossen ist die Einziehung bei fahrlässigen Vergehen, soweit sie nicht (vgl. § 74 Abs. 4) durch besondere Vorschriften vorgeschrieben oder zugelassen ist. Ausgeschlossen ist eine Einziehung auch, wenn ein Schuldausschließungsgrund, wie Schuldunfähigkeit, Notstand — § 3 5 — , unvermeidbarer Verbotsirrtum oder vorsatzausschließender Sachverhaltsirrtum (§§ 16, 17) vorliegt (vorbehaltlich des § 74 Abs. 3). Das gleiche gilt, wenn ein Rechtfertigungsgrund (einschl. des Falles der Wahrnehmung berechtigter Interessen, § 193 StGB), ein persönlicher Strafausschließungsgrund (§ 258 (50)

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Abs. 6) oder Strafaufhebungsgrund (z. B. § 24, § 139 Abs. 3, 4 StGB) gegeben ist; dann fehlt es an der Begehung einer vorsätzlichen Straftat (RGSt. 29 130; 53 81; BGH MDR 1952 530). Ebenso ist die Einziehung ausgeschlossen, wenn nur der straflose Versuch eines Vergehens vorliegt; der gegenteiligen Auffassung älterer Entscheidungen (RGSt. 36 145; 49 210), die, an den damals geltenden Wortlaut des § 40 a. F. („welche zur Begehung eines vorsätzlichen Vergehens bestimmt sind") anknüpfend, die Einziehung für zulässig erklärten, wenn es nur zu dem straflosen Versuch eines vorsätzlichen Vergehens gekommen war, ist schon durch die Fassung des jetzigen § 74 („Ist eine vorsätzliche Straftat begangen") der Boden entzogen. b) Über die Bedeutung von Verfahrenshindernissen, die einer Bestrafung entge- 10 genstehen, für die Einziehung vgl. § 76 a. c) Begangen ist die Tat i. S. des § 74 Abs. 1 (vgl.: „zur Begehung gebraucht wor- 11 den oder bestimmt gewesen sind") mit der Tatbestandsverwirklichung. Der Begriff der Begehung geht aber über die Tatbestandsverwirklichung, also über das zum Versuch oder zur Vollendung rechtlich Erforderliche (RGSt. 69 193) hinaus und umfaßt den ganzen Geschehensablauf, den nach natürlicher Auffassung im Dienst der Durchführung des Verbrechensentschlusses stehenden Hergang, also auch die unmittelbar in den Grenzen der „frischen Tat" sich anschließenden Nachakte bis zum völligen tatsächlichen Abschluß (Wegbringen der Beute, ihre Bergung und Sicherung, Entkommen vom Tatort; s. unten Rdn. 17). d) Bei Fortsetzungszusammenhang genügt die Bestimmung für spätere, unselb- 12 ständige Akte, mögen diese auch unterblieben sein, sofern im Fortsetzungszusammenhang stehende Vorakte begangen worden sind. Durch den Umstand, daß der Gegenstand bisher zur Begehung der fortgesetzten Handlung noch nicht verwendet wurde, wird die Bestimmung zur Begehung der an sich begonnenen Tat nicht aufgehoben (RGSt. 40 362; 42 316; 52 322; vgl. dazu auch OLG Hamm NJW 1975 67, 68).

2. Einziehungsobjekte a) Sachen und Rechte. Die — allerdings umstrittene — Rechtsprechung zu § 40 13 a. F. verstand unter Gegenständen nur körperliche (bewegliche oder unbewegliche) Sachen i. S. des § 90 BGB (RGSt. 52 201 ; 57 127; 67 341 ; BGHSt. 9 184; 19 358). Im Sinn des § 74 sind aber unter Gegenständen auch Rechte zu verstehen; das ergibt sich aus § 74 Abs. 2 Nr. 1, § 74 a („gehören oder zustehen") und ganz unmißverständlich aus §§ 74 a Nr. 1, 74 e Abs. 1, 74 f Abs. 1 („die Sache oder das Recht"). Gegenstände i. S. des § 74 sind z. B. auch Forderungen wie Darlehns- oder Provisionsforderungen, Bankguthaben, Anwartschaften und beschränkt dingliche Rechte wie Hypotheken sowie ideelles Miteigentum. Stets aber muß es sich um einen bestimmten, von einem Gesamtvermögen abtrennbaren Gegenstand handeln. Keine Gegenstände sind daher Gesamteigentum (vgl. RGSt. 74 333; JW 1933 174), soweit nicht alle Miteigentümer Täter oder Teilnehmer der Tat sind oder nicht dem Täter oder Teilnehmer ein Anspruch auf Übertragung des Gesamtvermögens zusteht. Keine „Gegenstände" sind ferner unteilbare Sachen (BayObLGSt. 1961 277), das Vermögen in seiner Gesamtheit oder in einer Sonderform (Firmenvermögen) oder ziffernmäßig begrenzte Vermögensteile, soweit sie nicht unter dem Gesichtspunkt des Wertersatzes (§ 74 c) oder nach Sondervorschriften (§ 74 Abs. 4) einziehbar sind. (51)

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b) Durch die Tat hervorgebrachte Gegenstände (producta sceleris) sind solche, die unmittelbar durch die Tat entstanden oder erzeugt sind (RGSt. 39 79). Das ist auch der Fall, wenn ein schon vorhandener Gegenstand in strafbarer Weise inhaltlich verändert wird. Producta sceleris sind ζ. B. die zur Täuschung im Rechtsverkehr hergestellte unechte oder verfälschte Urkunde oder technische Aufzeichnung (§ 268), das nachgemachte oder verfälschte Geld, verfälschte, nachgemachte oder verbotswidrig hergestellte Lebensmittel. Vielfach ist die Einziehung solcher Gegenstände unter dem Gesichtspunkt von „Beziehungsgegenständen" durch Sondervorschriften (§ 74 Abs. 4) geregelt (vgl. z. B. §§ 150, 282).

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Keine producta sceleris sind die Früchte des Verbrechens (die scelere quaesita), d. h. für die Tat oder aus ihr erlangte Vermögensvorteile — Entgelt und Gewinn —, wie z. B. das gestohlene oder gehehlte Gut, das durch Betrug oder Erpressung Erlangte, das gewilderte Tier, das beim verbotenen Glücksspiel gewonnene Geld, der mittels Bestechung erlangte Vermögensvorteil und der Bestechungslohn. Sie unterliegen nach Maßgabe der §§ 73 bis 73 d dem Verfall, aber grundsätzlich nicht der Einziehung, soweit diese nicht in Sondervorschriften zugelassen oder vorgeschrieben ist (vgl. z. B. § 296 a Abs. 2 StGB betr. unbefugt gefangene Fische, § 40 BJG betr. das vom Jagdausübungsberechtigten verbotswidrig erlegte Wild). c) Gegenstände, die zur Begehung der Tat oder ihrer Vorbereitung gebraucht worden oder bestimmt gewesen sind (instrumenta sceleris)

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aa) Begriff. Instrumenta sceleris sind Gegenstände, die nach der Absicht des Täters als Mittel zur Verwirklichung eines verbrecherischen Plans eingesetzt oder dazu bestimmt worden sind (BGHSt. 10 28). Dazu ist erforderlich, aber auch genügend, daß der Gegenstand bei der Begehung der Tat oder einer (auch einer als solche straflosen) Vorbereitung verwendet wurde oder verwendet werden sollte und daß diese Verwendung die Tat gefördert hat oder fördern sollte 2 . Die Förderung kann auch darin bestehen, daß durch die Verwendung des Gegenstandes der Tatentschluß des Täters erleichtert wird, weil das Risiko seiner späteren Entdeckung vermindert wird, so daß Gegenstand der Einziehung z. B. bei einem Banküberfall die vom Täter zur Unkenntlichmachung getragene Gesichtsmaske, beim Fahren ohne Fahrerlaubnis der vom Täter mitgeführte kraftlos gewordene Führerschein sein kann, durch dessen Vorweisung bei einer Kontrolle er sich der Entdeckung entziehen will (BayObLG aaO). Danach sind — unter der Voraussetzung, daß es zur Begehung einer vorsätzlichen Straftat gekommen ist (oben Rdn. 11) — einziehbar nicht nur die Gegenstände, die zur Begehung der Tat oder ihrer Vorbereitung unmittelbar verwendet wurden, z. B. das zum Auskundschaften des Tatorts verwendete Kraftfahrzeug (BGHSt. 8 205, 212 = NJW1956 149), sondern auch solche, die nur zur Begehung oder Vorbereitung der Tat bestimmt waren, ohne bei der Ausführung der Tat gebraucht zu werden, z. B. die Feile zur Anfertigung eines Dietrichs oder der Dietrich selbst, mit dem ein Raum eröffnet werden sollte, auch wenn später bei dem Einbruch oder Einbruchsversuch dieser Dietrich nicht verwendet wurde oder der verwendete Dietrich nicht mit der dafür bestimmt gewesenen Feile hergestellt wurde (BGHSt. 8 212; 13 111 ; OLG Köln NJW 1951 613). Zur Begehung oder Vorbereitung bestimmt gewesen ist ein Gegenstand aber nur, wenn er zur Tat — wenn auch nur für den Bedarfsfall — bereit gestellt oder in Aussicht genommen

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BGHSt. 8 213; 22 11; BayObLGSt. 1976 39 = VRS 51 26; Sch.-Schröder-Eser Rdn. 11,. SK-Horn 9; a. M. — soweit es sich um die Förderung handelt — Dreher-Tröndle38 Rdn. 7. (52)

Voraussetzungen der Einziehung (Schäfer)

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war, der Entschluß zu einer bestimmten Tat in dieser Weise im wesentlichen also feststand; eine bloße Anfertigung auf Vorrat ohne Beziehung zu einer konkreten Tat genügt nicht (BGHSt. 8 212; MDR 1955 395). Kein Tatwerkzeug ist aber auch, da der Kreis der zur Vorbereitung gebrauchten oder bestimmten Gegenstände einer sinnvollen Einschränkung bedarf, der Schraubstock, in den der mit der Feile bearbeitete Dietrich eingespannt war (vgl. Eser Sanktionen 326), und noch weniger sind es ordnungsmäßig erstellte Bilanzen, deren Zahlenmaterial der Kreditbetrüger zur Erstellung einer falschen Bilanz auswertete (§ 265 b Abs. 1 Nr. 1 a), oder der echte Schlüssel, der als Vorbild bei der Anfertigung des falschen Schlüssels (§ 243 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1) diente (vgl. Gehre NJW 1977 711 gegen Freund NJW 1976 2004). bb) Einzelbeispiele: Als instrumenta sceleris einziehbar sind ζ. B.: das Kraftfahr- 17 zeug, mit dem Entfernung vom Unfallort (§ 142 Abs. 1) begangen wurde (BGHSt. 10 337), mit dem der Wilderer dem Wild nachstellte, um es zu blenden und zu überfahren, und aus dem er auf Wild schoß (BGHSt. 19 123) oder das zur gewaltsamen Entführung des Opfers an einen zur VerÜbung eines Sexualverbrechens geeigneten Ort benutzt wurde (BGH LM Nr. 4 zu § 40 a. F.); die Waffe, wenn das bewußte Beisichführen der Waffe ein die Strafbarkeit erhöhender Umstand ist, wie ζ. B. nach § 244 Abs. 1 Nr. 1 (BGHSt. 10 33); Gelder, die ein Buchmacher auf den Rennplatz in der Absicht mitbringt, mit ihnen die Gewinne auszuzahlen (RGSt. 35 391; ein Bankguthaben, das zur Durchführung wucherischer Geschäfte bestimmt war (vgl. RGSt. 52 201). Da die Tatbegehung bis zu ihrer tatsächlichen Beendigung — über das zur rechtlichen Verwirklichung des Tatbestands Erforderliche hinaus — andauert (oben Rdn. 11), ist ein Kraftfahrzeug nicht nur einziehbar, wenn es zum Anfahren des Täters zum Tatort und zum Antransport der Diebeswerkzeuge dient, sondern auch, wenn es planmäßig zur raschen Flucht vom Tatort und ungehinderten Bergung der Beute gebraucht oder bestimmt war (RGSt. 12 305 ; 73 106; BGHSt. 3 355, 357; NJW 1952 892; BayObLG NJW 1963 600). Vor Beendigung der Tat ist ein Kfz. gebraucht, das der Täter benutzt, um an verschiedenen Orten jeweils eine einzige der von ihm nachgemachten Banknoten in Verkehr zu bringen (BGH bei Dallinger MDR 1970 559). Dagegen ist ein nach rechtlicher Vollendung und tatsächlicher Beendigung der Tat zur Flucht oder zum Abtransport der Beute verwendetes Transportmittel nicht mehr „zur Begehung" der Tat gebraucht (RG DRiZ 24 260; BayObLG NJW 1963 600). Die Einziehbarkeit entfällt auch, wenn der mit einem Kraftfahrzeug angekommene Täter erst nach dessen Verlassen den Entschluß zur Tat faßt und dabei durch die Vorstellung bestärkt wird, notfalls mit Hilfe des Kraftfahrzeugs leichter entfliehen zu können, da es dann am planmäßigen Einsatz des Kraftfahrzeugs als eines Mittels zur Begehung der Tat fehlt (BayObLG NJW 1963 600; ObLGSt. 1976 41). Keine instrumenta sceleris sind Bank- oder Depositenbücher, wenn nicht sie, 18 sondern nur das Bankguthaben zur Durchführung wucherischer Geschäfte oder eines unerlaubten Geschäftsbetriebs diente; sie sind dann lediglich Beweismittel (RGSt. 52 201). Nicht einziehbar sind auch die bei einer Rauschtat verwendeten Gegenstände, da sie nicht Werkzeug der Versetzung in den Vollrausch waren (BGH bei Holtz MDR 1976 812; NJW 1979 1370; OLG Braunschweig NJW 1954 1052); anders aber, wenn die Voraussetzungen des § 74 Abs. 3 gegeben sind. 3. Beziehungsgegenstände. Die Voraussetzungen des § 74 Abs. 1 sind nicht erfüllt 19 bei den Gegenständen, auf die sich die Tat nur bezieht, die den Gegenstand der Tat bilden, ohne daß sie als Mittel zur Verwirklichung des verbrecherischen Plans ein(53)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

gesetzt oder dazu bestimmt worden sind. Hierzu rechnen vor allem die Gegenstände, deren Verwendung begrifflich zur Erfüllung des Tatbestands gehört (also nicht nur ein „zufälliger", wenn auch erschwerender Umstand ist), wie ζ. B.: das Fahrzeug, das von einem Führer ohne Fahrerlaubnis oder entgegen einem Fahrverbot (§ 40 StGB, § 25 StVG) geführt wird (BGHSt. 10 28; BayObLG VRS 46 [1974] 270), die Schußwaffe, die ohne die nach dem Waffengesetz erforderliche Erlaubnis (Waffenbesitzkarte oder Waffenschein) erworben oder geführt wird (OLG Hamm NJW 1955 274), die Uniformen, die unbefugt getragen werden (§ 132 a Abs. 1 Nr. 4), die Betäubungsmittel, die ohne die erforderliche Erlaubnis hergestellt, erworben oder in den Verkehr gebracht werden (§11 BetäubungsmittelG) usw. Jedoch sehen weithin Sondervorschriften (vgl. § 74 Abs. 4 StGB und unten Rdn. 61) die Einziehung solcher Gegenstände vor (vgl. z. B. §§ 92 b Nr. 2; 132 a Abs. 4; 219 c Abs. 3; 264 Abs. 5 Satz 2; 285 b; 325 a Nr. 2 StGB; § 21 Abs. 3 StVG; § 56 WaffenG; §40 Abs. 1 Nr. 2 BJG; §20 Abs. 2 GeschlechtskrankheitenG ; § 29 a VersammlG; § 20 FAG; § 18 a AbfallbeseitigungsG; § 20 Abs. 3 VereinsG; § 7 WiStG; §49 AtomG; §11 Abs. 6 BetäubungsmittelG; §98 ArzneimittelG; §19 TierschutzG). Das gilt aber ζ. B. nicht für das Führen eines nicht zum Verkehr zugelassenen Kraftfahrzeugs, da diese Tat keine Straftat, sondern eine Ordnungswidrigkeit darstellt und es an einer die Einziehung ausdrücklich zulassenden Vorschrift fehlt (vgl. § 18, 69 a StVZO, § 22 Abs. 1 OWiG). Dagegen ist das Kraftfahrzeug, mit dem der Täter unerlaubte Entfernung vom Unfallort (§ 142 StGB) beging, nicht Beziehungsgegenstand, sondern unter den Voraussetzungen des § 74 StGB einziehbares Mittel zur Begehung der Tat, da die Entfernung auch ohne das Fahrzeug hätte ausgeführt werden können.

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4. Identität des Einziehungsgegenstandes. Eine Einziehung setzt voraus, daß der konkrete Gegenstand, über dessen Einziehung zu entscheiden ist, identisch (sachgleich) ist mit einem productum oder instrumentum sceleris, daß also in der Zeit bis zur Entscheidung über die Einziehung keine die Identität aufhebenden Veränderungen an dem Gegenstand eingetreten sind. Soweit der Täter oder Teilnehmer selbst auf den Gegenstand identitätsverändernd eingewirkt hat, ergeben sich kaum Probleme, da nach § 74 c weithin, wenn nicht auf Einziehung eines Gegenstandes selbst, dann auf Einziehung eines dem Wert entsprechenden Geldbetrages erkannt werden kann. Im Fall der Notveräußerung tritt nach § 1111 Abs. 1 Satz 2 StPO der Erlös an die Stelle des Einziehungsgegenstandes.

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Im übrigen beurteilt sich die Frage der Identität zunächst nach der Verkehrsanschauung (Eser Sanktionen 304; SK-Horn Rdn. 10); sie entscheidet z. B. darüber, ob eine Sache durch Vermischung oder Verarbeitung (§§ 948, 950 BGB) untergegangen ist, oder ob nur eine „Bearbeitung" der in ihrem Wesen unverändert bleibenden Sache vorliegt (RGSt. 63 26; 65 175, 177; BGHSt. 8 102; BayObLGSt. 1963 107, 109; 1965 15, 20). So liegt eine neue selbständige Sache vor beim Verschnitt von Weinen im Verhältnis 1:2 (RGSt.42 125), nur eine „Bearbeitung" aber bei Zusatz geringer Mengen (RGSt. 65 178) oder bei bloßer Verdünnung einzuziehenden Sprits mit Wasser (BGHSt. 8 102). Ferner entscheiden wirtschaftliche Erwägungen darüber, ob der zur Tatbegehung verwendete oder bestimmte Gegenstand noch der nämliche ist, wenn er Teil einer zusammengesetzten, einheitlichen Sache oder wesentlicher Bestandteil einer anderen Sache geworden ist; die Identität ist dann zu bejahen, wenn der körperliche Zusammenhang ohne Wertzerstörung aufgehoben und der Gegenstand ausgeschieden werden kann (vgl. RGSt. 12 202; s. dazu auch (54)

Voraussetzungen der Einziehung (Schäfer)

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BayObLGSt. 1961 277, 281). Zubehörsachen teilen entgegen §97 BGB nicht notwendig das Schicksal der Hauptsache; sie können bei der Einziehung von dieser getrennt werden. Identität besteht nach der Verkehrsauffassung, wenn vertretbare Sachen durch gleiche oder gleichwertige andere ersetzt werden, ζ. B. an die Stelle einer Banknote durch Umwechseln ein Geldbetrag tritt. Im übrigen treten Ersatzsachen oder -werte nur an die Stelle eines körperlichen Gegenstandes, wo das Gesetz (vgl. dazu § 74 c) es vorsieht (RGSt. 66 86). 5. Teileinziehung. Ist die Einziehung nicht vorgeschrieben (§ 74 Abs. 4), sondern 22 — so im Bereich des § 74 Abs. 1 bis 3 — nur zugelassen („können"), so kann die Einziehung auf einen Teil des Einziehungsgegenstandes beschränkt werden (vgl. dazu Rdn. 15 zu § 74 b Abs. 3). III. Die zusätzlichen besonderen Einziehungsvoraussetzungen des § 40 Abs. 2 Nr. 1 1. Der Einziehungsgegenstand muß dem Täter oder Teilnehmer zur Zeit der Entscheidung (als Eigentümer) gehören oder (als Rechtsinhaber) zustehen. a) Die Begriffe Täter oder Teilnehmer sind im technischen Sinn der §§ 25 ff zu 23 verstehen (Alleintäter, mittelbarer Täter, Mittäter, Anstifter, Gehilfe). Begünstiger und Hehler gehören daher nicht hierher (allg. M.; vgl. z. B. RGSt. 67 32; BGHSt. 19 27); diesen gegenüber kommt eine Einziehung nur in Frage, wenn der Gegenstand auch zur Begehung der Begünstigung oder Hehlerei verwendet wurde oder bestimmt gewesen war (OLG Hamm JZ 1952 39). Nach dem Gesetzeswortlaut scheint es zur Einziehung eines zur Tat verwendeten Gegenstandes stets zu genügen, wenn er im Eigentum eines von mehreren Tatbeteiligten steht, so daß ζ. B. bei Beteiligung von Alleintäter A und Anstifter Β das von A zur Ausführung der Tat benutzte Kraftfahrzeug des Β auch dann der Einziehung unterläge, wenn A ohne Wissen des Β dessen Kraftfahrzeug verwendete (so in der Tat Dreher-Tröndle Rdn. 12 gegen RG GA 69 177). Ein strafähnliches Einstehen des Β mit seinem Vermögen für das strafrechtliche Verhalten des A erscheint indessen — insbesondere nach der Beseitigung der sog. unterschiedslosen Einziehung, bei der die Rechtfertigung der Einziehbarkeit in der dinglichen Haftung auch des Tatunbeteiligten mit der durch die Verwendung bei einer Straftat bemakelten Sache für fremde strafrechtliche Schuld gefunden wurde (vor § 73 Rdn. 4) — entsprechend dem Schuldgrundsatz nur gerechtfertigt, wenn über die Tatsache hinaus, daß Β durch die Anstiftung eine Ursache für die Begehung der Tat durch A gesetzt hat, es dem Β zum Verschulden gereicht, daß sein Kraftfahrzeug von Β zur Tatbegehung verwendet wurde. Ein solches Verschulden liegt ohne weiteres vor, wenn die Zurverfügungstellung des Fahrzeugs das Mittel war, durch das Β den A zur Tatbegehung bestimmte, oder wenn sonst die Verwendung mit Billigung des Β erfolgte (h. M.; vgl. die Nachweise bei Sch.-Schröder-Eser Rdn. 21). Weitergehend ist ein die Einziehung rechtfertigendes Verschulden aber auch anzunehmen, wenn B, ohne die Verwendung zu billigen, wenigstens leichtfertig dazu beigetragen hat, daß sein Kraftfahrzeug Mittel der Tat oder ihrer Vorbereitung gewesen ist (wobei in der bloßen Bestimmung zur Tat eine solche Leichtfertigkeit noch nicht zu finden wäre). Unter diesen Voraussetzungen ist gemäß § 74 a eine Einziehung sogar mit Wirkung gegen einen tatunbeteiligten Dritten zulässig, allerdings nur, wenn das die Einziehung zulassende oder vorschreibende Gesetz auf §74 a verweist; gegenüber dem Tatbeteiligten aber muß es nach dem Zusammenhang der §§ 74 Abs. 2 Nr. 1, 74 a Nr. 1 anstelle einer förmlichen Verweisung genügen, daß das Gesetz in § 74 Abs. 2 (55)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

Nr. 1 die Einziehung zuläßt, wenn der Eigentümer des zur Tat verwendeten oder bestimmten Gegenstandes Täter oder Teilnehmer ist. Trifft den Β aber kein Vorwurf hinsichtlich der Verwendung seines Kraftfahrzeugs durch A, so liegt insoweit ein Exzeß vor, für den Β nicht haftet. Eigentum des Anstifters oder Gehilfen kann nicht eingezogen werden, wenn es nur zum Gebrauch bei einem Abschnitt der Haupttat bestimmt war, zu dessen Ausführung es nicht, auch nicht auf der Stufe des Versuchs, gekommen ist (RGSt. 49 212). Bei einem Exzeß des Täters kommt die Einziehung mit Wirkung gegen den Teilnehmer nur in Betracht, wenn ihn der vorgenannte Vorwurf leichtfertiger Ermöglichung der Verwendung seines Eigentums zur Tatbegehung trifft. Ist der Teilnehmer schuldunfähig, so ist die Einziehung seines Eigentums nur unter den Voraussetzungen des § 74 Abs. 3 möglich. 24

Verfahrensrechtliches. Aus dem § 40 Abs. 2 a. F. („Die Einziehung ist im Urteil auszusprechen") folgerte die Rechtsprechung (RGSt. 57 335) früher, daß im subjektiven Strafverfahren eine Einziehung nur in einem Urteil möglich sei, durch das der Eigentümer des einzuziehenden Gegenstandes zugleich zu einer Hauptstrafe verurteilt wird. Nach der heutigen Rechtslage entfällt eine solche Folgerung. § 431 StPO ermöglicht die Beteiligung des tatbeteiligten Eigentümers (als Einziehungsbeteiligten) am subjektiven Verfahren auch dann, wenn dieses sich nur gegen einen Täter oder Teilnehmer richtet, der nicht Eigentümer ist, während ein subjektives Verfahren gegen den Eigentümer des Einziehungsgegenstandes, ζ. B. wegen Krankheit nicht betrieben wird (LR-Schäfer § 431, 35 StPO). Es ist demgemäß auch ζ. B. möglich, die Einziehung in einem Verfahren auszusprechen, in dem nur der Mittäter angeklagt ist, der den Gegenstand verwendete, ohne dessen Eigentümer zu sein (vgl. auch § 76 a).

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2. Begriff des Gehörens. Ist Einziehungsgegenstand eine Sache, so muß sie nach § 74 Abs. 2 Nr. 1 dem Täter oder Teilnehmer gehören. Das bedeutet: er muß Alleineigentümer sein. Über die Eigentumsverhältnisse entscheidet grundsätzlich das Sachenrecht. Auf den Besitz der Sache oder die tatsächliche Möglichkeit der Verfügung über den Gegenstand kommt es nicht an (BGH MDR 1969 722); der Besitz kann aber Eigentumsvermutungen begründen (vgl. § 1006 BGB; dazu OLG Dresden LZ 1932 911). Für das Eigentum an einem Kraftfahrzeug ist der Kraftfahrzeugbrief von hohem Beweiswert (OLG Bremen VRS 50 [1976] 37, 38). Den Fall, daß der Täter als Organ einer juristischen Person oder Vertreter einer Personenvereinigung handelte, regelt § 75.

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3. Vorbehalts- und Sicherungseigentum. Im Schrifttum ist umstritten, ob für den Begriff des Eigentums die formale Rechtsposition oder die wirtschaftliche Vermögenszugehörigkeit maßgeblich ist, ob also bei einer unter Eigentumsvorbehalt verkauften Sache (§ 455 BGB) der Verkäufer Eigentümer ist, auch wenn der Kaufpreis weitgehend beglichen ist, und ob bei Sicherungsübereignung unter der auflösenden Bedingung des Eigentumsrückfalls an den Sicherungsgeber nach vollständiger Begleichung der gesicherten Forderung der im Besitz des Gegenstandes verbliebene Sicherungsgeber oder der Sicherungsnehmer Eigentümer i. S. des § 74 ist.

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a) Maßgeblichkeit des formalen Eigentums. Nach der heute in der Rechtsprechung ausschließlich und im Schrifttum wohl überwiegend vertretenen Auffassung gehört eine Sache dem Täter oder Teilnehmer, wenn sie in seinem Eigentum i. S. des § 903 BGB steht, so daß die Rechtspositionen des Sicherungsgebers und des (56)

Voraussetzungen der Einziehung (Schäfer)

§74

Vorbehaltskäufers ausscheiden, weil sie, solange die Bedingung für den Erwerb oder Rückfall des Eigentums noch nicht eingetreten ist, kein Eigentum i. S. des § 903 BGB haben 3 . Nach dieser Auffassung ist der Begriff des „Gehörens" i. S. des § 74 Abs. 2 Nr. 1 längst vorgeprägt durch den entsprechenden Begriff in dem ursprünglich geltenden § 40 StGB, der stets als „im Eigentum stehen" i. S. des § 903 BGB verstanden wurde. Da diese Vorschrift insoweit unverändert in § 74 übernommen wurde und dessen Entstehungsgeschichte keinen Anlaß für die Annahme eines Begriffswandels bietet, muß — auch aus Gründen der Rechtssicherheit, die auf dem Prinzip der Einheit der Rechtsordnung, d. h. der im Regelfall gleichmäßigen Bedeutung bürgerlich-rechtlicher Begriffe auch für das Strafrecht fußt — davon ausgegangen werden, daß der Begriff des Gehörens in § 74 die gleiche Bedeutung hat wie in anderen Vorschriften, die diesen Begriff verwenden. Dagegen kann das Anwartschaftsrecht des Täters (Sicherungsgebers, Vorbehaltskäufers) als ein ihm zustehendes Recht gemäß § 74 Abs. 2 Nr. 1 eingezogen werden (BGHSt. 25 10; weitere Zitate wie oben; a. M. nur Meyer JR 1973 338). b) Maßgeblichkeit des wirtschaftlichen Eigentums. Nach dieser Auffassung ist, 28 wenn der Täter der besitzende Vorbehaltskäufer oder der besitzende Sicherungsgeber ist, nicht entscheidend, daß er nicht „formaler" Eigentümer ist, sondern maßgeblich, daß ihm die Sache „wirtschaftlich gehört". Vertreter dieser Lehre sind Eser Sanktionen 309 ff; JZ 1972 146; 1973 171 und Eser in Sch.-Schröder^ § 74 Rdn. 24; § 74 e, 7; SK-Horn §74 Rdn. 16; §74e, 6; Lackner12 2 c, aa; Dreher-Tröndle38 (unter Äußerung von Bedenken); Blei JA 1973 31 (in Blei AT 1 6 § 117 wird ohne eigene Stellungnahme nur kurz der Streitstand dargestellt) und — zu § 22 OWiG — GöA/er5 5 Ab) 4 . Das wird mit daogmatischen, kriminalpolitischen und Praktikabilitätserwägungen begründet: Das Sicherungseigentum wie das Vorbehaltseigentum sei nach seiner Zweckbestimmung („funktional") ein aliud gegenüber dem echten Volleigentum (§ 903 BGB), weil es nur der Sicherung einer Forderung diene. Die Achtung vor dem formalen Eigentum des tatunbeteiligten Sicherungsnehmers (Vorbehaltskäufers) brauche demgemäß nicht weiter zu gehen, als ihre materielle Interessensphäre tatsächlich reiche. Es genüge daher, daß diese einziehungsrechtlich wie Faustpfandgläubiger behandelt würden; mit anderen Worten: Wenn Täter der besitzende Vorbehaltskäufer oder der besitzende Sicherungsgeber ist, so hindert das „formale" Eigentumsrecht des tatunbeteiligten Vorbehaltsverkäufers oder Sicherungsnehmers nicht die Einziehung, doch bleiben deren Rechte nach § 74 e Abs. 2 Satz 1 bestehen, oder sie erhalten jedenfalls eine Entschädigung aus der Staatskasse nach § 74 f, falls nicht die Voraussetzungen eines entschädigungslosen Verlusts ihrer Rechte (§ 74 f Abs. 2 Nr. 1, 2) vorliegen. 3

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(57)

So BGHSt. 24 222 = NJW 1971 2235; BGHSt. 25 10 = NJW 1972 2053; BayObLGSt. 1973 178 = V R S 4 6 [1974] 270; OLG Karlsruhe N J W 1974 709; OLG Hamm VRS 50 [1976] 420; Jescheck AT 3 § 76 II 2; Preisendanz30 II 2; Bockelmann AT 285; Baumann AT 8 § 39 II 3 b Fußn. 16; Meyer JR 1972 385; Hübner LM § 40 Nr. 1; Börtzler LM § 40 Nr. 2; Letzgus JR 1971 437; K. Schäfer Festschr. für Dreher [1977] 284 (in dem dortigen Beitrag: Zum Eigentumsbegriff im Einziehungsrecht hat sich der Verfasser ausführlich mit der Lehre vom wirtschaftlichen Eigentum auseinandergesetzt. Diese Ausführungen können aus Raumgründen hier nur verkürzt wiedergegeben werden); Lässig JuS 1977 249; Gössel GA 1978 319 und - zu § 22 Abs. 2 Nr. 1 OWiG - RotbergS 6; Rebmann-Roth-Herrmann 18. Dagegen kann Reich N J W 1973 105 nicht — wie dies vielfach geschieht — zu den Vertretern dieser Auffassung gerechnet werden; seine Kritik an BGHSt. 25 10 aus der Sicht des Zivilrechtlers geht nach anderer Richtung (dazu Schäfer Festschrift für Dreher 288).

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

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Diese Lösung entspreche aber nicht nur der „realen Machtverteilung" zwischen dem „formalen" Eigentum des Sicherungsnehmers (Vorbehaltsverkäufers) und der höhergewichtigen „realen Herrschaftsmacht" des Sicherungsgebers (Vorbehaltskäufers), die sich aus dem Recht zu Besitz und Nutzung in Verbindung mit dem Anwartschaftsrecht auf Eigentumserwerb ergebe, sondern trage auch kriminalpolitischen Bedürfnissen Rechnung. Denn es sei unerträglich, daß die Einziehung des Tatwerkzeugs womöglich allein daran scheitere, daß vom Schuldner die letzte Darlehens· oder Kaufpreisrate noch nicht bezahlt sei, deren Begleichung ihm das (einziehungsfähige) Volleigentum verschafft hätte. Der Ausweg, das Anwartschaftsrecht einzuziehen, sei nicht gangbar, denn dieses Recht könne begrifflich nicht zur Begehung der Tat gebraucht werden, es könne kein tatverstricktes Tatwerkzeug gewesen sein. Die Einziehung des Anwartschaftsrechts sei auch nicht möglich, weil das Gesetz eine Einziehung von Rechten am Einziehungsgegenstand nicht erlaube (so Göhler aaO), und eine analoge Anwendung des § 74 Abs. 1 auf das Anwartschaftsrecht wäre eine verbotene Analogie. Weiterhin sei eine Einziehung des Anwartschaftsrechts auch gar nicht praktikabel und könne sogar dazu führen, daß der Fiskus finanzielle Einbußen erleide, so etwa — Beispiel nach Blei JA 1973 31 —, wenn der Täter, der das bei der Tat verwendete Kraftfahrzeug einer Bank zur Sicherung ihrer Darlehensforderung übereignet hatte, neben der Einziehung des Anwartschaftsrechts zu längerer Freiheitsstrafe verurteilt, erst nach Beendigung der Strafvollstreckung die letzte Rate auf die Darlehensforderung zahle und der Fiskus von der Einziehung nichts weiter habe, als daß er die Kosten für die Beseitigung des inzwischen schrottreif gewordenen Fahrzeugs tragen müsse. Schließlich sei der Begriff des „Gehörens" auch nicht zwingend festgelegt. Denn einmal führe das Sicherungseigentum im Konkurs des Sicherungsgebers nicht zu einem Aussonderungs-, sondern nur zu einem Absonderungsrecht, und ferner lasse sich das Ergebnis der rechtsschöpferischen Fortentwicklung des Eigentumsbegriffs im Einziehungsrecht durch die Rechtsprechung in der Zeit vor der Reform des Jahres 1968 (wie sie in Rdn. 6 vor § 73 kurz skizziert und in § 40 a. F. Rdn. 31, 32 der Vorauflage näher dargestellt ist) als eine Übernahme der wirtschaftlichen Betrachtungsweise werten, weil sie lediglich darauf abgestellt habe, daß der Kreditgeber (Sicherungsnehmer, Vorbehaltsverkäufer) gesichert sein müsse und entschädigt werde.

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c) Eigene Meinung. Der vorliegende Kommentar bekennt sich, wie schon in der Vorauflage (§ 40, 29 ff) zu der oben unter Rdn. 27 dargestellten Auffassung.

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aa) Folgerungen aus Auslegungsgrundsätzen. Wie in Rdn. 7 ff vor § 73 dargestellt, war es, beginnend mit der Einziehungsregelung des OWiG 1952, allgemein fortgesetzt im StGB-Entwurf 1962 bis zur Neuregelung des Einziehungsrechts durch das EGOWiG 1968, das Ziel aller gesetzgeberischen Bemühungen, für die Voraussetzungen der Einziehung feste, eindeutige und überschaubare, verfassungsmäßigen und rechtsstaatlichen Anforderungen entsprechende Grundsätze aufzustellen. Dazu gehörte aber auch eine Terminologie, die es im Interesse der Rechtsklarheit und entsprechend dem Prinzip der Einheit der Rechtsordnung ausschließt, daß den verwendeten Begriffen eine andere Bedeutung beigemessen wird als in entsprechenden Vorschriften anderer Rechtsgebiete. Wenn also der von diesem Bestreben geleitete Gesetzgeber, um in den Fällen der §§ 74 Abs. 2 Satz 1 und 74 a den einziehungsbedrohten Täter und Quasitäter von tatunbeteiligten Dritteigentümern abzugrenzen, die erforderliche Rechtsposition mit dem hergebrachten Wort „Gehören" kennzeichnet, so kann nicht zweifelhaft sein, daß er den Begriff des Gehörens so verstanden wissen wollte, wie er bei der Auslegung des § 40 a. F. StGB vom Jahre 1871 (58)

Voraussetzungen der Einziehung (Schäfer)

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ab immer ausgelegt worden war, wie denn auch der Begriff des Eigentums in §§ 74 e, 74 f nicht anders verstanden werden kann als im bürgerrechtlichen Sinn (§ 903 BGB). bb) Demgegenüber kann nicht geltend gemacht werden, es bestehe kein Ausle- 32 gungszwang in dem vorgedachten Sinn (Rdn. 31), nachdem die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in der Nachkriegszeit — verwiesen wird auf BGHSt. 2 311; 4 345; 8 71 ; 19 123 — im Ergebnis auf die wirtschaftliche Betrachtungsweise hinauslaufe oder ihr doch jedenfalls nicht entgegenstehe. Diese Rechtsprechung war aber auf der Grundlage einer Gesetzgebung erwachsen, die „unterschiedslos" die Einziehung auch gegenüber dem tatunbeteiligten Eigentümer zuließ, und die in der Rechtsprechung entwickelten Beschränkungen der unterschiedslosen Einziehung waren von dem Bestreben getragen, praeter legem Voraussetzungen aufzustellen, aus denen sich ein besonderer zureichender oder sie rechtfertigender Grund für die Einziehung mit Wirkung gegen den Dritteigentümer ergebe. In BGH 2 311 (der Täter beging mit dem ihm unter Eigentumsvorbehalt überlassenen Kraftfahrzeug Schmuggel) war Ausgangspunkt, daß „im Einziehungsverfahren nur der Eigentumsbegriff des bürgerlichen Rechts maßgebend sein kann" (S. 312). Jedoch wurde, wenn den tatunbeteiligten Vorbehaltsverkäufer kein Verschulden an der Benutzung des Fahrzeugs zur Tat traf, ein „zureichender" Grund für die Einziehung nach § 414 a. F. RAbgO in der Erklärung des Staates gesehen, den Vorbehaltsverkäufer („Eigentümer") wegen seines noch ausstehenden Kaufpreisrestes befriedigen zu wollen, weil bei Abgabe einer solchen Erklärung der Eigentümer durch eine Einziehung keinen Schaden erleide, aber auch der Staat durch die Nichtabgabe einer solchen Erklärung eine Einziehung verhindern könne, die ihn belaste, wenn die Restforderung des Vorbehaltsverkäufers den bei einer Verwertung nach Einziehung erzielten Erlös überschreite. In BGHSt. 4 345 (der Täter hatte Schmuggel mit Hilfe eines Kraftfahrzeugs betrieben, das er einem Dritten zur Sicherung eines von ihm erhaltenen Darlehns übereignet hatte) wurde ein zureichender Grund für die Einziehung mit Wirkung gegen den tatunbeteiligten Sicherungsnehmer darin gesehen, daß dieser durch die Einziehung keinen Schaden erleide, weil ihm noch weitere Werte zur Sicherung übereignet seien, deren Wert die Höhe der noch bestehenden Forderung mindestens erreiche. In BGHSt. 8 70 (Schmuggel mit Hilfe des unter Eigentumsvorbehalt erworbenen Kraftfahrzeugs) wurde wiederum betont, daß die Einziehung gegen den unschuldigen „Eigentümer" (den Vorbehaltsverkäufer) nur zulässig sei, wenn seine Rechte der Einziehung nicht mehr entgegenstehen ; die Verpflichtungserklärung des Staates (BGHSt. 2 391) gebe deshalb einen zureichenden Grund für die Einziehung nur ab, wenn sie sämtliche Rückstände des Vorbehaltskäufers (auch Verzugszinsen, sonstige Verzugsschäden, Vertragsstrafe) umfaßt, von deren Erfüllung der Eigentumsübergang abhängt. In BGH St. 19 123 (Wilderei, begangen mit dem Kraftfahrzeug, an dem Sicherungseigentum einer Kreditgesellschaft bestand) schließlich wird zunächst ausgesprochen daß ein Verschulden des „Eigentümers" (der Kreditgesellschaft) i. S. des § 295 Abs. 2 a. F. StGB nicht schon darin bestehe, daß er bei der Vergabe des Darlehens zum Erwerb des Kraftfahrzeugs die Zuverlässigkeit des Kreditnehmers nicht geprüft habe. Ferner enthält — nach Aufhebung des Urteils — die Entscheidung zwei Hinweise an den Tatrichter für seine neue Entscheidung: 1) er werde die Grundsätze entsprechend zu berücksichtigen haben, die (in den vorstehend angeführten Entscheidungen) zu § 414 a. F. RAbgO entwickelt seien „und die in der jetzt [1963] geltenden Fassung dieser Vorschrift mitberücksichtigt sind"; 2) wird unter Hinweis auf § 113 StGB-Entw. 1962 (59)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

ausgeführt, daß „angesichts der Verfassungsgarantie des Eigentums (Art. 14 GG) die Einziehung im Eigentum Dritter stehender Gegenstände nur dann zulässig sein kann, wenn ein besonderer rechtfertigender Grund gegeben ist, insbesondere den tatunbeteiligten Dritteigentümer ein Verschulden daran trifft, daß die ihm gehörende Sache der Begehung einer Straftat diente". 32 a

cc) Bei einer Zusammenfassung der Ergebnisse dieser Rechtsprechung ist der Ausgangspunkt stets, daß nur der Vorbehaltsverkäufer und der Sicherungsnehmer Eigentümer im Sinn der Einziehungsvorschriften sei. Bei den im Wege rechtsschöpferischer richterlicher Rechtsauslegung aufgestellten Beschränkungen der in früherer Zeit vorgesehenen, nunmehr aber aus rechtsstaatlichen und verfassungsrechtlichen Gründen als uferlos empfundenen „unterschiedslosen" Einziehung handelt es sich um die fallweise Ausgestaltung von „zureichenden Gründen" für eine Einziehung mit Wirkung gegen den tatunbeteiligten „unschuldigen" Dritteigentümer. Der Sinn der Neuregelung des Rechts der Einziehung ist es aber gerade, die damals im Einzelfall entwickelten Grundsätze über den zureichenden Grund oder den besonderen die Einziehung rechtfertigenden Grund durch feste abschließende Regelung abzulösen. Damit hat die vorgeschilderte Rechtsprechung — unbeschadet ihres rechtshistorischen Verdienstes um die Fortentwicklung des Einziehungsrechts — ihre Bedeutung verloren; nach der lex lata wäre es unvorstellbar, auf der Grundlage einer „wirtschaftlichen" Betrachtungsweise eine Einziehung mit Wirkung gegen den Sicherungsnehmer zuzulassen, weil er ja — durch andere Objekte ausreichend gesichert (vgl. BGHSt. 4 435) — keinen Schaden erleide und keiner Entschädigung bedürfe; § 74 a verlöre dann seinen Sinn.

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dd) Zum Rücktritt des „formalen" Eigentums nach anderen Vorschriften. Auch der weitere Einwand, aus dem Prinzip der Einheit der Rechtsordnung könne eine Notwendigkeit, den Begriff des Gehörens im Sinne des formalen Eigentums zu verstehen, nicht hergeleitet werden, da der Eigentumsbegriff in den verschiedenen Rechtsordnungen verschiedene Bedeutungen habe, schlägt nicht durch. Der Eigentumsbegriff des Art. 14 GG ist allerdings ein weiterer als der des § 903 BGB, aber mit dem programmatischen Ausspruch, daß „das Eigentum und das Erbrecht gewährleistet werden", geht Art. 14 GG erkennbar von einem anderen Eigentumsbegriff als dem des § 903 BGB aus. Weiterhin ist es zwar richtig, daß dem Sicherungseigentümer (Sicherungsnehmer) im Konkurs des Sicherungsgebers nicht ein Aussonderungs-, sondern nur ein Absonderungsrecht zusteht. Das ist aber keine Folgerung aus einer Natur des Sicherungseigentums als eines Rechts von minderer Qualität — im Sinne eines bloßen Pfandrechts- gegenüber dem „Volleigentum" des §903 BGB —, sondern die dem Konkursrecht gemäße Folge, daß die Konkurseröffnung neben dem sachenrechtlichen auch das der Sicherungsübereignung zugrundeliegende persönliche Verhältnis löst und der Sicherungsnehmer nicht gleichzeitig aussondern und wegen seiner gesamten Forderung Befriedigung aus der Masse verlangen kann (allg. Meinung: vgl. RGZ 124 73, 75; BGHSt. 24 227; BGH JZ 1978 723, 724; Soergel-Mühl^ [1978] § 930 Rdn. 94; dazu - de lege ferenda - JZ 1976 795). Mit Recht verneint daher BGHSt. 24 227, daß diese einer besonderen Lage Rechnung tragende konkursrechtliche Behandlung des Sicherungseigentums Ausstrahlung auf den Begriff des „Gehörens" in § 74 Abs. 2 Nr. 1 habe. Und was schließlich die Bedeutung des Sicherungseigentums anlangt, wenn ein Gläubiger des Sicherungsgebers in das im Besitz des Sicherungsnehmers befindliche Sicherungsgut vollstrecken will, so steht nach ganz überwiegend vertretener Meinung dem Sicherungsnehmer aus Eigentum die Widerspruchsklage nach § 771 ZPO zu (60)

Voraussetzungen der Einziehung (Schäfer)

§74

(Nachw. bei Soergel-Mühl § 930 Rdn. 92); die Gegenmeinung, die ihn auf vorzugsweise Befriedigung aus dem Erlös (§ 805 ZPO) verweisen will, hat sich nicht durchzusetzen vermocht (Palandt-Bassenge 37 Einführung 7 Β c, bb vor §929 BGB; s. dazu auch BGH JR 1979 158 mit Anm. Olzen zur Frage, ob und wie lange dem Sicherungsgeber ein Widerspruchsrecht aus § 771 ZPO zusteht, wenn Gläubiger des Sicherungsnehmers die Vollstreckung in das Sicherungsgut betreiben). ee) Zur Tatverstrickung des Anwartschaftsrechts. Es bleibt noch der Einwand, es 34 sei kriminalpolitisch untragbar, wenn die Einziehung der bei der Tat benutzten Sache, ζ. B. des sicherungshalber vom Täter der Kreditbank übereigneten Kraftfahrzeugs, nach der Lehre vom formalen Eigentum daran scheitere, daß die letzte und womöglich geringe Darlehensrestrate noch nicht beglichen sei und so der Rechtsbrecher, der seine Tatwerkzeuge auf Kredit beschafft, besser daran wäre als derjenige, der mit voll bezahlten Tatwerkzeugen arbeite, sowie der anschließende weitere Einwand, die Nichteinziehbarkeit des Kraftfahrzeugs könne auch nicht durch Einziehung des Anwartschaftsrechts des Sicherungsgebers ausgeglichen werden, da dieses Recht nicht im Sinne des § 74 Abs. 1 tatverstrickt gewesen sei (oben Rdn. 29). Wenn BGHSt. 25 12 die Einziehbarkeit des Anwartschaftsrechts damit begründet, der zu Besitz und Nutzung der Sache berechtigte Anwartschaftsinhaber bekleide eine der des Volleigentümers nahekommende Stellung, so bedeutet das nach Eser JZ 1973 171 im Grunde, daß das Anwartschaftsrecht als Surrogat der nicht einziehbaren Sache der Einziehung unterliege. Das aber laufe auf die wirtschaftliche Betrachtungsweise hinaus, die BGHSt. 24 222 abgelehnt habe. Vereinbar seien diese Widersprüche allenfalls, wenn die Einziehung der Anwartschaft als analoge Anwendung des § 74 Abs. 1 gedeutet werde; eine solche Analogie sei aber verboten. Auch dieser Argumentation kann nicht gefolgt werden, da sie von einem an dem 35 Wortlaut des § 74 Abs. 1 („zur Begehung gebraucht") haftenden Verständnis der Vorschrift ausgeht, das deren gewandelter Bedeutung nicht Rechnung trägt. Wie bereits ausgeführt (oben Rdn. 13) wurden unter „Gegenständen" im Sinn der ursprünglichen Fassung des § 40 StGB nur körperliche Sachen verstanden, die als mechanisch oder chemisch wirkende Mittel zur Förderung der Tat „gebraucht" wurden. Dies wurde als zu eng empfunden, und die generelle Einziehbarkeit auch von Rechten, ihre allgemeine einziehungsrechtliche Gleichstellung mit Sachen, war seit langem ein Reformanliegen. So hatte BGH JZ 1964 561 die Einziehung des Bankguthabens einer verfassungsfeindlichen Vereinigung nach § 90 a a. F. (jetzt: als Tatwerkzeug nach § 92 b Nr. 1) ablehnen müssen, weil „Gegenstände" im Sinn dieser Vorschrift nur körperliche Sachen (nicht auch Rechte) seien. Zwar stehe ein Bankguthaben nach der Art seiner Verwendbarkeit dem Bargeld gleich, und ähnliches möge auch für andere Rechte zutreffen. Es sei auch klar, daß durch Beschränkung der Einziehbarkeit auf körperliche Sachen eine empfindliche Lücke entstehe, und es dürfe auch bei neu auftauchenden Fragen die vom Gesetz gewollte Lösung nicht an einer zu engen Gesetzesfassung scheitern. „Kein Gesetz verträgt eine starre Begrenzung seiner Anwendbarkeit auf solche Fälle, die der vom Gesetz ins Auge gefaßten Ausgangslage entsprechen, denn es ist nicht toter Buchstabe, sondern lebendig sich entwickelnder Geist, der mit den Lebensverhältnissen fortschreiten und ihnen sinnvoll angepaßt weiter gelten will, solange dies nicht die Form sprengt, in die er gegossen ist (BGHSt. 10 159)". Jedoch sei Abhilfe hier nur vom Gesetzgeber durch die einziehungsrechtliche Gleichsetzung von Sachen und Rechten möglich. (61)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

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In § 74 hat der Gesetzgeber diesen Reformwünschen entsprochen und einziehungsrechtlich Sachen und Rechte gleichgestellt. Er tat dies freilich, indem er bei der Neufassung der Vorschrift gewissermaßen neuen Wein in alte Schläuche füllte, nämlich dadurch, daß er den alten, auf körperliche Tatwerkzeuge zugeschnittenen Wortlaut des § 40 a. F. („Gegenstände, die . . . zur Begehung gebraucht worden . . . " ) unverändert übernahm und nur aus den Worten „oder zustehen" in § 74 Abs. 2 Nr. 1 erkennbar wird, daß der Begriff des „Gegenstandes" nunmehr auch Rechte umfaßt; erst §§ 74 a Nr. 1, § 74 f Abs. 2 Nr. 1 besagen ausdrücklich, daß auch ein Recht einziehungsfähiges Tatwerkzeug („Mittel der Tat") sein kann. Rechte aber sind der Vorstellungswelt angehörige Gebilde. Dem muß die Auslegung Rechnung tragen. Das erfordert, daß bei Rechten die Voraussetzungen des § 74 Abs. 1 („zur Begehung gebraucht") in einem „vergeistigten Sinn" verstanden und nicht buchstäblich an dem bisherigen Verständnis des Tatwerkzeugs als eines mechanisch oder chemisch wirkenden Mittels zur Förderung der Tat gemessen werden. So gesehen ist es eine legale Interpretation des § 74 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1, wenn man den Einsatz des Anwartschaftsrechts als Mittel zur Begehung der Tat darin erblickt, daß der Sicherungsgeber (Vorbehaltskäufer) die ihm kraft des Anwartschaftsrechts in Verbindung mit dem Recht zu Besitz und Nutzung zustehende „Herrschaft" über die Sache zu deren Verwendung bei der Tat mißbraucht. Es trifft danach den Kern der Sache, wenn OLG Karlsruhe NJW 1974 709 - den Gedankengang von BGH St. 25 12 anders wendend — die Verwendung des Anwartschaftsrechts als Tatwerkzeug darin sieht, die Verbindung von Anwartschaftsrecht mit Verfügungsgewalt über die Sache in der Person des Täters sei so eng, daß der Mißbrauch der Sache auf das Anwartschaftsrecht zurückwirkt, oder wenn es die auf Tatverstrickung beruhende Verwirkung des Anwartschatsrechts damit begründet, Anwartschaftsrecht und tatverstrickte Sache seien in einer so engen inneren Einheit miteinander verbunden, daß der Täter beim Mißbrauch der Sache zugleich sein Anwartschaftsrecht mißbrauche.

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ff) Schließlich erscheinen auch die Bedenken unbegründet, die gegen die Praktikabilität der Lehre vom formalen Eigentum im Vollstreckungsstadium ins Feld geführt werden (oben Rdn. 29). Dies mag in aller Kürze (ausführlicher Schäfer in Dreher-Festschr. 304 ff) an dem in Rdn. 29 erwähnten Beispiel illustriert werden, wonach A sein Kraftfahrzeug einer Bank zur Sicherung einer Darlehensforderung übereignet hat; im Besitz des Fahrzeugs verblieben gebraucht er es zur Begehung einer Straftat. Bei Rechtskraft der Einziehung seines Anwartschaftsrechts ist die Darlehensschuld erst zum Teil getilgt; den Rest kann der gleichzeitig zu längerer Freiheitsstrafe verurteilte A in absehbarer Zeit nicht begleichen. Die Einziehung des Anwartschaftsrechts hat dann nur zur Folge, daß der Fiskus in die sachenrechtliche Position des A eintritt, während sich an dessen schuldrechtlichen Verhältnissen zur Bank nichts ändert. Eigentümer des Fahrzeugs kann der Fiskus nur werden, wenn er an Stelle des A gemäß §267 BGB die Bank befriedigt (Soergel-Mühl n §930 Rdn. 78). Das wird er nur tun, wenn das Fahrzeug einen den Restbetrag weit übersteigenden Wert hat und für Zwecke der Justizverwaltung, ζ. B. zur Ausrüstung eines Gerichts- oder Bewährungshelfers (§§ 66 Abs. 1, 2; 73 StVollstrO) verwertbar ist. Andernfalls muß er es der Bank als der Eigentümerin überlassen, sich wegen ihrer Forderung an A Befriedigung durch öffentliche Versteigerung oder freihändigen Verkauf des Kraftfahrzeugs zu verschaffen (dazu Soergel-Mühl § 930 Rdn. 59); mit der Veräußerung an einen Dritten verwandelt sich das auf den Fiskus übergegangene Anwartschaftsrecht in einen Anspruch auf Auskehrung des etwaigen Mehrerlöses. Um sich eine im Regelfall nicht lohnende bürokratische Überwa(62)

Voraussetzungen der Einziehung (Schäfer)

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chungstätigkeit zu ersparen, wird der Fiskus auf das Anwartschaftsrecht verzichten, wozu er, wenn nicht schon nach kassenrechtlichen Vorschriften, jedenfalls kraft des Gnadenrechts befugt ist. Sicherlich kommt es nicht (vgl. das von Blei angeführte Beispiel oben Rdn. 29) dazu, daß die Vollstreckungsbehörde jahrelang zuwartet, ob A die Restschuld abträgt, um zum Schluß nur die Kosten des Abtransports und der Verschrottung des wertlos gewordenen Wagens zu tragen. Würde dagegen unter Zugrundelegung der wirtschaftlichen Betrachtungsweise das 38 Kraftfahrzeug eingezogen, so würde der Fiskus Eigentümer; wegen des Bestehens eines pfandähnlichen Rechts (§ 74 e Abs. 2 Satz 1) erhielte die Bank die Rechtsstellung eines Pfandgläubigers, der nicht im Alleinbesitz der Sache ist. Das durch die Einziehung erworbene Eigentum kann der Fiskus nur verwerten, wenn er die Restforderung der Bank begleicht und dadurch das Kraftfahrzeug lastenfrei macht (§ 1249 BGB). Ist er dazu nicht bereit, so kann die Bank die Herausgabe des Fahrzeugs verlangen (§ 1231 BGB) und sich Befriedigung durch öffentliche Versteigerung verschaffen (§ 1235 Abs. 1 BGB). Damit geht das fiskalische Eigentum unter; dem Fiskus verbleibt allenfalls ein Anspruch auf Auskehrung des die Forderung der Bank übersteigenden Restbetrages des Versteigerungserlöses (§ 1247 BGB). Insgesamt ergeben sich keine praktischen Unterschiede von solchem Gewicht, daß dies bei der Entscheidung für die eine oder die andere Theorie in die Waagschale fallen könnte. 4. Miteigentum. Gesamteigentum. Miteigentum nach Bruchteilen (§§ 1008 ff 39 BGB) und Beteiligung am Gesamteigentum sind Rechte, die dem Täter als Inhaber „zustehen" können ; s. darüber unten Rdn. 48 ff. 5. Der Gegenstand muß, um nach § 74 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 einziehbar zu sein, dem Täter zur Zeit der Entscheidung (Urteilsfällung) gehören. a) Maßgebend sind die Eigentumsverhältnisse zur Zeit der letzten tatrichterli- 40 chen Entscheidung (BGHSt. 8 205, 212; OLG Hamm VRS 45 [1973] 422), da ein Erwerb oder Verlust des Eigentums nach diesem Zeitpunkt — auch in der Revisionsinstanz, soweit nicht § 354 Abs. 1 eingreift (vgl. BGHSt. 16 57) — verfahrensrechtlich nicht mehr berücksichtigt werden kann (ebenso Sch.-Schröder-Eser Rdn. 26). Ein Übergang des Eigentums an dem Gegenstand, dessen Einziehung angeordnet ist, nach diesem Zeitpunkt vom Täter (Teilnehmer) auf einen Dritten hätte gemäß § 74 f nur zur Folge, daß demjenigen, dem zur Zeit der Rechtskraft das Eigentum zustand und der es mit der Rechtskraft des Urteils verliert (§ 74 e), gegebenenfalls ein Anspruch auf Entschädigung zusteht. Darauf, wem das Eigentum zur Zeit der Tat zustand, kommt es nicht an, so daß auch ein nachträglicher Eigentumserwerb des Täters in der Zeit bis zur letzten tatrichterlichen Entscheidung die Einziehung ermöglicht. b) Gegen eine Vereitelung der Einziehung dadurch, daß der Täter das Eigentum 41 nach der Tat einem anderen überträgt, richten sich — von der Beschlagnahme nach §§ 111 b Abs. 2, 111c Abs. 1 StPO mit der in § 111 c Abs. 5 bestimmten Wirkung (dazu § 74 e, 12) abgesehen — die Vorschriften über die Einziehung des Wertersatzes (§ 74 c), über die Wirkung der noch nicht rechtskräftigen Anordnung der Einziehung (§ 74 e Abs. 3), über die Einziehbarkeit gegenüber dem bösgläubigen Erwerber (§ 74 a) und über den Ausschluß der Entschädigung bei verwerflichem Erwerb (§ 74 f Abs. 2 Nr. 2). (63)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

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c) Der Untergang des Gegenstandes vor dem Urteil schließt die Einziehung aus (wegen der Einziehung des Wertersatzes vgl. § 74 c). 43 d) Stirbt der Täter (Teilnehmer) vor dem Urteil, so ist eine (selbständige, § 76 a) Einziehung ausgeschlossen, da der Gegenstand im Zeitpunkt der Entscheidung nicht dem Täter, sondern den Erben gehört. Allerdings sah die frühere Rechtsprechung (z.B. RGSt.53 182; 72 42; OLG Bremen NJW 1955 843), z.T. auch das Schrifttum (Nachw. bei Schänke-Schröder^5 Rdn. 28) eine den Erben treffende selbständige Einziehung nach § 42 a. F. (jetzt § 76 a) als zulässig an, indem man den Tod als einen tatsächlichen Grund für die NichtVerfolgbarkeit des Täters wertete. Darin klang offenbar eine frühere Betrachtungsweise nach, das Vermögen des Täters sei seit der Tat zugunsten des Staates mit der Einziehungslast beschwert, darum gehe auch diese Verpflichtung auf den Erben über. Indessen widerspricht eine solche Haftung, soweit die Einziehung strafähnlichen Charakter hat, dem Wesen der Strafe, die höchst persönlich wirken soll (ebenso Sch.-Schröder-Eser 28 aaO; Dreher- Tröndle Rdn. 12; Eser Sanktionen 219 ff; Göhler 5 A d zu § 22 OWiG). Unter diesem Gesichtspunkt ist sogar § 30 a. F. StGB, der eine zu Lebzeiten des Verurteilten rechtskräftig erkannte Geldstrafe zur Nachlaßverbindlichkeit erklärte, aufgehoben worden.

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6. Einziehung von Rechten a) Wie oben Rdn. 13, 35 ausgeführt, sind unter „Gegenständen" im Sinn des § 74 nicht nur körperliche Sachen, sondern auch Rechte jeder Art zu verstehen, wie Forderungsrechte, beschränkt dingliche Rechte (ζ. B. eine Hypothek), aber nicht beschränkt dingliche Rechte am körperlichen Einziehungsgegenstand. Sie unterliegen der Einziehung, wenn sie dem Täter (Teilnehmer) zur Zeit der Entscheidung „zustehen", d. h. wenn er Rechtsinhaber ist. Die vereinfachende Ausdrucksweise „gehören oder zustehen" darf nicht dahin mißverstanden werden, zur Einziehung einer körperlichen Sache genüge es, wenn dem Täter oder Teilnehmer ein obligatorisches Recht (ζ. B. aus Kaufvertrag) auf Übereignung der zur Tat verwendeten Sache „zustehe"; der Verkäufer, der noch Eigentümer ist, ist in einem solchen Fall tatunbeteiligter Dritteigentümer. b) Zweifel hinsichtlich der Einziehbarkeit von Rechten als Tatwerkzeug ergeben sich, wenn es sich um dingliche Rechte des Täters mit Bezug auf eine Sache handelt, die als Tatwerkzeug gebraucht wurde, weil das Recht als solches zur Begehung einer Straftat gebraucht worden oder bestimmt gewesen sein muß und die Vorstellung des Gebrauchs eines Rechts als Tatmittel Schwierigkeiten bereitet. Die hier auftauchenden Zweifel sind bereits oben Rdn. 35 bzgl. der Anwartschaftsrechte auf Erwerb des Eigentums an der zur Tat verwendeten körperlichen Sache im Zusammenhang mit dem Erfordernis des „Gehörens" erörtert worden. Weitere Zweifel betreffen vor allem die Fälle, in denen eine körperliche Sache instrumentum sceleris war, und an dieser dem Täter (Teilnehmer) nur Miteigentum nach Bruchteilen (§§ 1008 ff BGB) zusteht, oder in denen die Sache im Gesamteigentum steht und der Täter (Teilnehmer) nur einer von mehreren Gesamthandsberechtigten ist. Entsprechend der unter der Herrschaft des § 40 a. F. bestehenden herrschenden Meinung kam eine auf die Eigentumsbeteiligung des Täters beschränkte Einziehung schon deshalb nicht in Betracht, weil diese Beteiligung als bloßes Recht nicht Gegenstand einer Einziehung sein konnte (vgl. die Nachweise in LK 8 § 40 Anm. II 3). Dieser Auffassung ist jetzt der Boden entzogen. (64)

Voraussetzungen der Einziehung (Schäfer)

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c) Miteigentum. Daß die körperliche Sache als Tatwerkzeug nicht schon deshalb 46 eingezogen werden kann, weil der Täter (Teilnehmer) Miteigentümer ist, versteht sich von selbst, da dann in das Miteigentumsrecht der tatunbeteiligten Miteigentümer eingegriffen würde; die Einziehung der körperlichen Sache setzt voraus, daß entweder alle Miteigentümer tatbeteiligt waren, oder daß hinsichtlich der tatunbeteiligten Miteigentümer die Voraussetzungen des §74 a Nr. 1,2 gegeben sind (OLG Karlsruhe NJW 1974 710), oder daß die Einziehung gemäß § 74 Abs. 2 Nr. 2 auch mit Wirkung gegen die tatunbeteiligten Miteigentümer zulässig ist, weil die Gefahr besteht, die Sache werde dem Täter zur Begehung rechtswidriger Taten dienen (OLG Koblenz VRS 49 [1975] 134). Infrage steht nur die Einziehbarkeit des Miteigentumsa/ite/Vs als solchen, der dem tatbeteiligten Miteigentümer „zusteht", so daß die Anteilsrechte der übrigen tatunbeteiligten Miteigentümer, soweit sie nicht die Merkmale des § 74 a erfüllen, nicht berührt werden, sie also Miteigentümer bleiben. Daß ideelles Miteigentum an sich ein Recht im Sinn des § 74 Abs. 1 ist, kann nicht zweifelhaft sein. Die Auffassungen über die Einziehbarkeit des Miteigentumsanteils gehen aber auseinander. Bejaht wurde die Einziehbarkeit schon nach früherem Recht von OLG Köln 47 NJW 1951 613, das das Gegenargument der damals herrschenden Meinung, bei Einziehung eines ideellen Miteigentumsanteils bereite die Verwirklichung des staatlichen Einziehungsausspruchs größere Schwierigkeiten als in den normalen Fällen der Einziehung einer allein dem Täter gehörigen Sache, nicht als ausschlaggebend bezeichnete. Auf dem Boden des jetzt geltenden Rechts hat OLG Karlsruhe NJW 1974 710 im Anschluß an Eser JZ 1973 173 die Tatverstrickung des Miteigentumsanteils, der im Regelfall die Verwendung der Sache bei der Tat überhaupt ermöglicht, mit der Begründung bejaht, Miteigentumsrecht und tatverstrickte Sache stünden in einer so engen inneren Einheit miteinander, daß beim Mißbrauch der Sache der Täter zugleich auch sein Miteigentumsrecht mißbrauche. Die Einziehbarkeit wird ferner bejaht von Sch.-Schröder-Eser Rdn. 6 und 23 zu § 74 StGB; MaurachZipf AT5 § 61 II Β 2 c, aa und - zu § 22 OWiG - von Rebmann-Roth-Hermann 16; Rotberg 1. Verneint wird die Einziehbarkeit des Miteigentumsanteils von Göhler5 5 A a zu 48 dem dem § 74 Abs. 2 Nr. 1 entsprechenden § 22 Abs. 2 Nr. 1 OWiG, weil durch eine so beschränkte Maßnahme der Zweck der Einziehung, den körperlichen Gegenstand selbst aus dem Verkehr zu ziehen, nicht erreicht werden könne. Dem tatbeteiligten Miteigentümer für seine Handlung ein Übel zuzufügen, sei aber nicht der Zweck der Einziehung; das ergebe sich daraus, daß die Einziehung eines dem Täter zustehenden Rechts (ζ. B. eines Pfandrechts) an dem Tatwerkzeug nicht zulässig sei ; das Gesetz beschränke sich auf die Einziehung von Gegenständen und Teilen von Gegenständen; die Einziehung eines Miteigentumsanteils sei danach nur zulässig, wenn gerade der Miteigentumsanteil Gegenstand der Einziehung sei, was jedoch kaum in Betracht komme. Nach Lackner § 74, 2 c, aa ergibt sich die Nichteinziehbarkeit daraus, daß eine Einziehung des Miteigentumsanteils an Stelle der Sache im Gesetz nicht vorgesehen und aus dem Grundgedanken der Einziehungsregelung, tatverstrickte Sachen aus Gründen der Verwirkung oder Sicherung aus dem Verkehr zu ziehen, kaum abzuleiten sei. Auch nach Dreher-Tröndle Rdn. 3 und 12 ist zwar (theoretisch) ein Miteigentumsanteil ein Recht i. S. des § 74 Abs. 1, seine Einziehung aber „kaum praktisch", da das Recht am Tatwerkzeug nicht selbst Werkzeug sei. (65)

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Eigene Meinung. Der unter R d n . 47 dargestellten Auffassung ist zuzustimmen ; die Gegenargumente greifen nicht durch. Die Auffassung von Göhler, die Nebenfolge der Einziehung im Fall des § 22 Abs. 2 Nr. 1 O W i G habe nur den Zweck, den körperlichen Gegenstand aus dem Verkehr zu ziehen, läßt sich (jedenfalls bei den instrumenta sceleris) nicht begründen; die Einziehung hat dann ebensogut Ahndungs- ( = zur Warnung ein Übel zufügenden) Charakter, wie die Einziehung nach § 7 4 Abs. 2 Nr. 1 StGB Strafcharakter hat (BGHSt. 25 12; O L G Karlsruhe N J W 1974 711 ; oben Rdn. 4). D a ß beschränkte dingliche Rechte Dritter an einem Einziehungsgegenstand nach § 74 e Abs. 2 StGB, § 26 Abs. 2 O W i G grundsätzlich bestehen bleiben, hat mit der Frage der Einziehbarkeit eines Miteigentumsanteils nichts zu tun ; Miteigentum gehört so wenig wie Volleigentum zu den „Rechten Dritter" ; im übrigen kann aber sogar das Erlöschen der Rechte Dritter angeordnet werden (§ 74 e Abs. 2 Satz 3 StGB; § 26 Abs. 2 Satz 3 OWiG). Gegenüber dem Einwand, das Recht müsse als solches Tatwerkzeug gewesen sein, Tatwerkzeug sei aber nicht dieses Recht, sondern der körperliche Gegenstand gewesen, gelten die gleichen Erwägungen, die f ü r die Einziehung eines Anwartschaftsrechts auf Erwerb oder Rückfall des Eigentums sprechen (oben Rdn. 35), und die dem Willen des Gesetzgebers, die Einziehung von Rechten zuzulassen, gerecht werden. Wenn dem Alleineigentümer die Sache im Weg der Einziehung weggenommen werden kann, weil er sein Volleigentum durch dessen Mißbrauch verwirkt hat, so ist eben nicht einzusehen, warum es unzulässig sein soll, dem Bruchteilseigentümer, der dieses Recht, das ihm (im Regelfall) die Verwendung des Gegenstands bei der Tat ermöglichte, mißbraucht, den Eigentumsanteil zu entziehen. D a n n wird kraft Gesetzes (§ 74 e Abs. 1) der Anteil auf den Staat übergehen ; die Anteilrechte der tatunbeteiligten Miteigentümer werden dadurch nicht berührt; schon im Verfahren hatten sie Gelegenheit, ihre Rechte geltend zu machen, denn „anderer" i. S. des § 431 Abs. 1 Nr. 1 StPO ist auch der andere Miteigentümer, wenn der Angeschuldigte lediglich Miteigentümer ist. D a ß die Verwertung dieses Anteils Schwierigkeiten bereitet — praktisch kommt, wenn sich die tatunbeteiligten Miteigentümer nicht mit dem Fiskus über eine Geldabfindung bzgl. ihres Rechts einigen, eine Aufhebung der Gemeinschaft nach § 749 BGB und Verwertung des Gegenstandes nach §§ 752 ff in Betracht — steht auf einem anderen Blatt und mag f ü r den Richter, wenn die Einziehung nur zugelassen („kann"), nicht vorgeschrieben (Absatz 4) ist, Veranlassung sein, von einer Einziehung abzusehen ; an der rechtlichen Zulässigkeit der Einziehung des Miteigentumsanteils ändert sich dadurch nichts.

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d) Bei Gesamthandseigentum der Miterbengemeinschaft (§ 2032 BGB), der Gesellschaft (§ 719) u n d der ehelichen Gütergemeinschaft (§ 1419) wurde (vgl. R G J W 1933 174; RGSt. 74 333; O L G Köln G A 64 328) und wird auch jetzt - mit Recht — für einziehbar das körperliche Tatwerkzeug erklärt, wenn entweder alle Gesamthandsberechtigten tatbeteiligt waren oder die Tatunbeteiligten die Voraussetzungen des § 74 a Nr. 1 erfüllen (vgl. Sch.-Schröder-Eser Rdn. 23; Dreher-Tröndle Rdn. 3 ; Göhler 5 A a zu § 22 OWiG). Unproblematisch ist auch nach § 75 die Rechtslage, wenn das Tatwerkzeug im Gesamthandseigentum einer Personenhandelsgesellschaft steht und der gesamthandsberechtigte Täter zugleich als vertretungsberechtigter Gesellschafter handelte (dazu B G H N J W 1976 578). Die Frage, ob eine auf die Eigentumsbeteiligung des Täters beschränkte Einziehung möglich sei, konnte früher von dem Standpunkt aus, d a ß nur körperliche Sachen einziehungsfähig seien, nicht auftauchen. Sie läßt sich auch nach heutigem Recht wohl nicht allgemein beantworten. Denkbar wäre, wenn bei einer Erbengemeinschaft der (66)

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gesamte Nachlaß in Spieleinrichtungen (§ 285 b) bestünde und sie einem Miterben als instrumentum sceleris dienten, eine auf den Miterbenanteil beschränkte Einziehung, weil der Miterbe über seinen Erbanteil verfügen (§ 2033 Abs. 1 BGB), jederzeit die Auseinandersetzung verlangen (§ 2042) und der Anteil nach § 859 Abs. 2 ZPO Gegenstand der Zwangsvollstreckung sein kann. Dem Bedenken, daß der Erbanteil als solcher nicht Tatwerkzeug gewesen sei, ließe sich mit den oben (Rdn. 47, 49) bzgl. der Einziehbarkeit des Miteigentumsanteils aufgestellten Überlegungen begegnen. Dagegen entfällt eine Einziehung der Gesamthandsberechtigung eines Miterben an den einzelnen zum Nachlaß gehörigen Gegenständen, weil ein Miterbe darüber nicht verfügen kann (§ 2033 Abs. 1); so wenig ein Anteil an den einzelnen Nachlaßgegenständen pfändbar ist, so wenig kann er Gegenstand des staatlichen Zugriffs im Strafverfahren sein. In den übrigen Fällen eines Gesamthandsvermögens besteht nicht einmal die Möglichkeit der Verfügung über den Anteil am Gesamtvermögen. c) Anwartschaftsrechte. Inwieweit Anwartschaftsrechte im allgemeinen als 51 Rechte i. S. des § 74 Abs. 1 anzusehen und einziehbar sind, muß angesichts des Streits um das Wesen des Anwartschaftsrechts (vgl. dazu etwa Soergel-MühlH [1978] Rdn. 25 ff, 46 Einleitung vor § 854 BGB) hier unerörtert bleiben. Als Anwartschaftsrechte von praktischer Bedeutung sind bisher im Rahmen des Einziehungsrechts nur die sog. qualifizierten dinglichen Anwartschaften hervorgetreten und von ihnen auch nur beim Kauf unter Eigentumsvorbehalt das durch Zahlung des Kaufpreises aufschiebend bedingte Recht des Käufers auf Erlangung des Eigentums an der Kaufsache und bei der Sicherungsübereignung das durch Tilgung der gesicherten Forderung auflösend bedingte Recht des Sicherungsgebers auf Rückfall des Eigentums am sicherungshalber übereigneten Gut (dazu Soergel-Mühl11 § 929 Rdn. 37; § 930 Rdn. 78). Angesichts der oben Rdn. 34 ff dargestellten Möglichkeit, diese Anwartschaftsrechte einzuziehen, wenn der Vorbehaltskäufer oder der im Besitz der Sache verbliebene Sicherungsgeber den Gegenstand als Mittel zur Begehung einer Straftat verwendete, entfällt das Bedürfnis für die sog. wirtschaftliche Betrachtungsweise des „Gehörens" i. S. des § 74 Abs. 2 Nr. 1. Wegen der Verwertbarkeit des auf den Staat übergegangenen Anwartschaftsrechts s. oben Rdn. 37.

IV. Die besonderen Einziehungsvoraussetzungen des § 74 Abs. 2 Nr. 2 1. Bedeutung der Vorschrift. Unter der Voraussetzung, daß eine vorsätzliche 52 Straftat begangen worden ist, läßt § 74 Abs. 2 Nr. 2 die Einziehung der producta et instrumenta sceleris auch bei Gegenständen zu, die nicht zur Zeit der Entscheidung dem Täter oder Teilnehmer gehören, sofern sie a) nach ihrer Art und den Umständen die Allgemeinheit gefährden, oder b) die Gefahr besteht, daß sie der Begehung rechtswidriger Taten (§ 11 Abs. 1 Nr. 5) dienen werden. Die Einziehung ist hier also auch zulässig mit Wirkung gegenüber dem tatunbeteiligten Dritteigentümer und zwar ohne Rücksicht darauf, ob den Dritteigentümer ein Schuldvorwurf der in § 74 a Nr. 1 und 2 bezeichneten Art trifft (§ 74 a erweitert nur die Einziehungsvoraussetzungen des § 74 Abs. 2 Nr. 1); kann ein solcher Schuldvorwurf erhoben werden, so ist dies insofern von Bedeutung, als dem Dritteigentümer nach § 74 f Abs. 2, 3 die Entschädigung für den Verlust des Eigentums (Rechts) durch die rechtskräftige Einziehung versagt werden muß oder nur ausnahmsweise gewährt werden darf. Ob Gefährdung und Gefahr i. S. der Nr. 2 besteht, ist nach den Umständen im Zeitpunkt der Entscheidung zu beurteilen (Göhler MOR 1969 1026). (67)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

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2. Bei den Gegenständen, die nach ihrer Art und den Umständen die Allgemeinheit gefährden, ist, soweit es sich u m die „Art" handelt, an eine generelle (abstrakte) Gefährlichkeit des Gegenstandes für die Allgemeinheit gedacht, die sich aus den physikalischen und chemischen Eigenschaften des Gegenstandes oder seinen Verwendungsmöglichkeiten ergibt, die f ü r die Allgemeinheit Gefahren in sich bergen, wenn der Gegenstand nicht aus dem Verkehr gezogen wird. In Betracht kommen ζ. B. Falschgeld, Sprengstoffe, Kernbrennstoffe, radioaktives Material, Gifte jeder Art einschl. Rauschgifte u n d Bakterienkulturen, durch Verderb oder die Art der Zusammensetzung gefährliche Lebensmittel, Waffen wie Maschinenpistolen und Munition, Gegenstände, die praktisch nur zur Verwendung bei Straftaten dienen (dazu hergestellt oder zugerichtet sind), wie Propagandaschriften für eine verbotene Partei (BGHSt. 26 266) usw. Indessen gibt es keine absolut gefährlichen Gegenstände. So bietet Falschgeld keine Gefahren mehr für die Allgemeinheit, wenn es in einem Kriminalmuseum oder in der Sammlung eines redlichen und zuverlässigen Münzsammlers verwahrt wird; Gifte können für die Industrie, giftige Pflanzenschutzmittel für die Landwirtschaft unentbehrlich und für die Allgemeinheit ungefährlich sein, wenn die gesetzlichen Bestimmungen über ihre Kennzeichnung, Lagerung, Abgabe usw. beachtet werden. Entsprechendes gilt für Rauschgifte wie Morphium in der H a n d des Arztes oder Apothekers, für Waffen im Besitz von Bundeswehr, Bundesgrenzschutz oder Polizei, für Sprengstoffe bei der legalen Verwendung im Steinbergwerk usw. Deshalb bindet das Gesetz die Einziehungsfähigkeit der nach ihrer Art gesteigert (generell, abstrakt) gefährlichen Gegenstände an die weitere Voraussetzung, daß sie „nach den Umständen" für die Allgemeinheit gefährlich sind (vgl. dazu über den Begriff der Gefahr unten Rdn. 56). Das ist etwa der Fall, wenn sich der Gegenstand in der H a n d von Personen befindet, die die von dem Gegenstand drohenden Gefahren nicht kennen oder keine oder nicht die gesetzlich vorgeschriebenen M a ß n a h m e n zur Abwendung der Gefahren treffen, die unzuverlässig sind oder gar zu Rechtsbrüchen neigen, während unter anderen Umständen (sorgfältige Verwahrung, bestimmungsgemäße Behandlung, Beaufsichtigung und Verwendung) ein „an sich" gefährlicher Gegenstand für die Allgemeinheit ungefährlich sein kann. Im Fall der Gesamtauflage einer Schrift verfassungsfeindlichen Inhalts kann bei den einzelnen Stücken die Gefährlichkeit nach den Umständen unterschiedlich zu beurteilen sein; der U m f a n g der Einziehung, falls die Gegenstände sich nicht in der H a n d des Täters befinden oder nach § 74 d Abs. 1 eingezogen werden müssen, hängt dann davon ab, wie groß die konkrete Gefahr ist, die von ihnen ausgeht (BGHSt. 23 64,69).

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D a ß der Gegenstand die Allgemeinheit gefährden muß, bedeutet nicht, daß aus seiner gesetzwidrigen Behandlung und Verwendung eine Gemeingefahr im technischen Sinn (Gefahr f ü r Leib u n d Leben einer unbestimmten Zahl von Personen oder auch nur eines einzelnen Menschen oder für fremde Sachen von bedeutendem Wert) entstehen müsse. Vielmehr kann — vgl. als Gegenstück zu der Gefahr für die Allgemeinheit den Begriff des Wohles der Allgemeinheit, Art. 14 Abs. 3 G G — die Einziehung zum Schutz jedes rechtlich geschützten Interesses angeordnet werden (Sch.-Schröder-Eser Rdn. 32).

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3. Bei der 2. Alternative der Nr. 2 kommt es nicht auf die Beschaffenheit und die besondere Verwendungsmöglichkeit des productum oder instrumentum sceleris, sondern nur darauf an, ob nach den konkreten Umständen die Gefahr besteht, daß er zur Begehung rechtswidriger Taten dienen werde (individuelle Gefährlichkeit). (68)

Voraussetzungen der Einziehung (Schäfer)

§74

Unter dieser Voraussetzung ist jeder Gegenstand einziehungsfähig, ζ. B. auch das bei der Körperverletzung verwendete Messer, die Aktentasche, die zum Antransport des Diebeswerkzeugs benutzt wurde, usw. Der mit der Einziehung verfolgte Zweck wird nicht dadurch gegenstandslos, daß für den Täter die Möglichkeit besteht, sich Ersatz zu beschaffen; das gilt insbesondere dann, wenn eine Ersatzbeschaffung mit besonderer Mühewaltung oder mit verhältnismäßig hohen Kosten verbunden ist (BayObLGSt. 1973 181 ; Eser Sanktionen 276). a) „Gefahr" ist hier — wie auch sonst — die begründete Besorgnis, die nahe lie- 56 gende Möglichkeit (Wahrscheinlichkeit), während eine bloße Möglichkeit oder eine nur entfernte Möglichkeit nicht genügt (vgl. etwa BGHSt. 18 271; BGH VRS50 [1976] 38 und die Erläuterungen zum Begriff der Gefahr i. S. des § 34 StGB). Die Gefahr des Dienens zur Begehung rechtswidriger Taten muß nach den besonderen konkreten Umständen begründet sein. Das ist insbesondere der Fall bei Tatprodukten, die praktisch garnicht anders als unter Mißachtung der Rechtsordnung gebraucht werden können (ζ. B. gefälschte oder verfälschte Urkunden, § 282 Satz 1) — anders, wenn der Täter die Verfälschung nachträglich wieder rückgängig gemacht hat (OLG Hamm NJW 1976 2223) —, und bei Tatwerkzeugen, die gerade zu kriminellen Zwecken hergerichtet sind, wie ζ. B. spezifische Wildererwaffen (vgl. § 37 Abs. 1 Nr. 1 a WaffenG), der doppelbödige Koffer für Schmuggelzwecke usw. (Sch.-Schröder-Eser Rdn. 33). Die Gefahr kann sich auch daraus ergeben, daß der Gegenstand schon in der Vergangenheit wiederholt der Begehung rechtswidriger Taten diente, insbesondere wenn hartnäckiges Verharren des Täters im Gesetzesungehorsam die Annahme rechtfertigt, er werde ohne die Einziehung bei jeder sich bietenden Gelegenheit in gleicher Weise wieder straffällig werden (OLG Koblenz VRS49 [1975] 134). Dagegen reicht — bei Berücksichtigung der Belange des tatunbeteiligten Eigentümers, in dessen Rechte eingegriffen wird — eine erstmalige Verurteilung des bisher unbestraften Täters, wenn auch wegen einer nicht unerheblichen Straftat, für sich allein noch nicht zur Begründung einer konkreten Gefahr aus, falls es sich um die Einziehung eines dem Täter nicht gehörenden Gegenstand handelt. So rechtfertigt ζ. B. die Verurteilung zu Freiheitsstrafe wegen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr in Tateinheit mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und gefährlicher Körperverletzung bei gleichzeitiger Entziehung der Fahrerlaubnis mit längerer Sperrfrist allein noch nicht die Einziehung des zur Tatbegehung gebrauchten, dem Täter nicht gehörigen Fahrzeugs, denn „andernfalls könnte nach jeder derartigen Tat das dazu benutzte Kraftfahrzeug eingezogen werden. § 74 Abs. 2 Nr. 2 knüpft aber die Einziehung eines nicht dem Täter gehörenden Kraftfahrzeugs an zusätzliche Voraussetzungen" (BGH VRS 50 [1976] 38). Zu weit geht es, wenn verlangt wird, es müsse sich um die Gefahr von Straftaten oder rechtswidrigen Taten handeln, die zumindest in ihren Umrissen bereits einigermaßen klar bestimmbar sind (so aber Sch.-Schröder-Eser Rdn. 34; wie hier dagegen Jescheck AT 600). Die Verwendungsgefahr entfällt, wenn das Produkt oder Werkzeug der Tat durch Vermischung oder Verarbeitung untergegangen ist, also keine Identität (oben Rdn. 20) mehr besteht (BayObLGSt. 1963 107, 110). b) Bedeutungslos ist die Art der zu besorgenden rechtswidrigen Tat; eine Ein- 57 schränkung (etwa: „der Begehung weiterer gleichartiger...") kennt das Gesetz nicht. Es kann also ζ. B. das zur Begehung eines Diebstahls verwendete Kraftfahrzeug eingezogen werden, wenn seine künftige Verwendung zur Begehung von Schmuggelfahrten zu besorgen ist. Wesentlich ist nur das Bestehen der Gefahr, daß die Sache der Begehung rechtswidriger Taten dienen, d. h. als Tatwerkzeug verwen(69)

§74

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

det werde. § 74 Abs. 2 Nr. 2 betrifft nicht den Fall, daß der Gegenstand nicht Mittel, sondern nur Gegenstand („Beziehungsgegenstand") einer künftigen rechtswidrigen Tat sein kann (BayObLGSt. 1963 106, 110; SK-Horn Rdn. 22; a. M. DreherTröndle Rdn. 16; Lackneri c, bb; dazu unten Rdn. 61). 58

c) Es kommt auch nicht darauf an, von wem die Gefahr einer rechtswidrigen Tat droht, ob vom Täter, vom Dritteigentümer oder von einer anderen Person ; die Einziehung ist auch dann zulässig, wenn die konkrete Gefahr besteht, daß der Gegenstand, falls er nicht eingezogen wird, durch Überlassung des Besitzes, Übereignung, mangelhafte Verwahrung usw. in die Hand von irgendwelchen Personen gerät, denen er zur Begehung rechtswidriger Taten dient.

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4. Zusammentreffen von § 74 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2. Gegenüber der Einziehung nach § 74 Abs. 2 Nr. 1 weist die Einziehung nach § 74 Abs. 2 Nr. 2 Besonderheiten auf, die sich aus dem im Vordergrund stehenden Sicherungszweck (oben Rdn. 7) ergeben: l.sie ist unabhängig von den Voraussetzungen des § 7 4 a mit Wirkung gegen den tatunbeteiligten Dritteigentümer zulässig; 2. bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Einziehung gelten Besonderheiten (vgl. § 74 b, 5); 3. es wird das Erlöschen beschränkter dinglicher Dritter am Einziehungsgegenstand angeordnet (§ 74 e Abs. 2 Satz 2); 4. die selbständige Einziehung ist in weiterem Umfang zulässig (§ 76 a Abs. 2). Wegen dieser weiterreichenden Folgen ist zunächst zu prüfen, ob die Einziehung auf § 74 Abs. 2 Nr. 2 gestützt werden kann (Göhler § 22, 6 OWiG). Aber auch wenn die Voraussetzungen dieser Vorschrift festgestellt sind, ist es nicht nur zulässig, sondern geboten, als Einziehungsgrund nicht nur die Nr. 2, sondern auch die Nr. 1 anzuführen, wenn auch deren Voraussetzungen festgestellt sind und der Gesichtspunkt des Unrechtsausgleichs (der Bestrafung) die Wegnahme des Gegenstands rechtfertigt und fordert. Damit wird ermöglicht, eine Einziehung auch dann auszusprechen, wenn der Sicherungszweck gemäß § 74 b Abs. 2 durch eine weniger einschneidende Maßnahme erreichbar wäre, und es bleibt die Möglichkeit erhalten, nachträglich gemäß § 76 die Einziehung von Wertersatz anzuordnen. Demgemäß muß sich den Gründen der die Einziehung anordnenden Entscheidung entnehmen lassen, auf welchen der nach § 74 in Betracht kommenden Rechtsgrundlagen sie beruht (OLG Saarbrücken NJW 1975 66). Mit der Stützung der Einziehung auf eine der beiden Nummern begnügt sich der Richter, wenn deren Voraussetzungen feststehen, die Voraussetzungen der anderen (Eigentum zur Zeit der Entscheidung bei Nummer 1, die Gefährdung der Allgemeinheit oder die Gefahr weiterer Verwendung des Gegenstandes zur Begehung rechtswidriger Taten bei Nummer 2) sich nicht sicher feststellen lassen oder (vgl. den Rechtsgedanken des § 430 Abs. 1 StPO) Feststellungen nach dieser Richtung einen unangemessenen Aufwand erfordern würden und Nachteile für den Betroffenen nicht zu erwarten sind (vgl. Dreher-Tröndle Rdn. 18). Ist eine Einziehung im angefochtenen Urteil in der rechtsirrtümlichen Annahme, die Sache gehöre dem Täter, nur aus § 74 Abs. 2 Nr. 1 ausgesprochen, so ist dies unschädlich, wenn nach den tatsächlichen Feststellungen die Einziehung auf Grund des § 74 Abs. 2 Nr. 2 gerechtfertigt und das Revisionsgericht davon überzeugt ist, daß der Tatrichter bei richtiger rechtlicher Würdigung die Einziehung auf Grund dieser Vorschrift angeordnet hätte (OLG Koblenz VRS 49 [1975] 134).

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V. Die besonderen Einziehungsvoraussetzungen nach § 74 Abs. 3. Absatz 3 erweitert die Einziehungsvoraussetzungen des § 74 Abs. 2 Nr. 2. Während in § 74 Abs. 2 (70)

Voraussetzungen der Einziehung (Schäfer)

§74

Nr. 2 zwar auf das Erfordernis des Eigentums zur Zeit der Entscheidung verzichtet wird, die Voraussetzung aber bestehen bleibt, daß eine vorsätzliche Straftat begangen ist, läßt Absatz 3 die Einziehung gefährlicher producta et instrumenta sceleris i. S. des § 74 Abs. 2 Nr. 2 auch zu, wenn der Täter nur (mit „natürlichem" Vorsatz) den äußeren Tatbestand einer vorsätzlichen Straftat rechtswidrig verwirklicht hat, die Schuld also entfällt oder nicht eindeutig festgestellt werden kann. Hier ist die Einziehung eindeutig als Sicherungsmaßnahme gekennzeichnet. Abweichend vom Sprachgebrauch in § 74 Abs. 2 Nr. 1 („Täter oder Teilnehmer") spricht § 74 Abs. 3 nur von der „vom Täter" begangenen Handlung; Täter in diesem Sinn ist aber auch der Teilnehmer, so daß bei dessen Schuldunfähigkeit die ihm gehörigen gefährlichen Gegenstände eingezogen werden können, die er allein (ohne Wissen des Haupttäters) zu seiner Mitwirkung gebraucht hat. VI. Die Einziehung nach Sondervorschriften (§ 74 Abs. 4) 1. Absatz 4 enthält eine gemeinsame Rahmenvorschrift für die Einziehung, die in 61 Vorschriften des Besonderen Teils des Strafgesetzbuchs oder des Nebenstrafrechts über § 74 Abs. 1 hinaus vorgeschrieben oder zugelassen wird. Das „Hinausgehen" über § 74 Abs. 1 kann darin bestehen, daß die Einziehung nicht nur zugelassen („kann"), sondern — ausnahmsweise, vgl. §§ 150, 285 b Satz 1 StGB — zwingend vorgeschrieben ist, daß sie auch bei fahrlässigen Vergehen zulässig ist (OLG Hamm OLGSt. § 74 S. 5 ; durchaus herrschende Meinung) und sich auch auf andere Gegenstände als Tatprodukte und Tatwerkzeuge, nämlich auf „Beziehungsgegenstände" einschl. der scelere quaesita erstreckt. Zur Entlastung dieser Sondervorschriften auf der einen Seite und zur Erhaltung der Grundregeln des Einziehungsrechts auf der anderen Seite ist bestimmt, daß in diesen Fällen § 74 Abs. 2 und 3 entsprechend (sinngemäß) gilt, d. h. die Einziehbarkeit auf Eigentum (Rechtsinhaberschaft) der Tatbeteiligten (§ 74 Abs. 2 Nr. 1) und auf gefährliche Gegenstände (§ 74 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 3) begrenzt ist. Die Gefährlichkeit eines Beziehungsgegenstandes kann aber — dies ergibt sich aus der nur entsprechenden Anwendbarkeit des § 74 Abs. 2 Nr. 2 — auch darin bestehen, daß die Gefahr künftiger rechtswidriger Taten gegeben ist, bei denen der Gegenstand wiederum Beziehungsgegenstand ist; es kann z. B. bei Fahren ohne Fahrerlaubnis das Kraftfahrzeug gemäß § 21 Abs. 3 StVG eingezogen werden, wenn die Gefahr eines weiteren Fahrens ohne Fahrerlaubnis in diesem Fahrzeug besteht^. Die Voraussetzungen einer Einziehung unter Eingriff in die Rechte tatunbeteiligter Dritter über § 74 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 3 hinaus regelt die Blankettvorschrift des § 74 a, die verlangt, daß das solche Erweiterungen vorsehende Gesetz auf § 74 a verweist. § 74 Abs. 4 richtet sich an den Richter; er darf, wenn in der Sondervorschrift keine abweichende Regelung getroffen ist, im Einzelfall eine Einziehung nur anordnen, wenn eine der Voraussetzungen des § 74 Abs. 2, 3 vorliegt. Absatz 4 ist zugleich auch als Richtlinie für den künftigen Gesetzgeber über die Gestaltung neuer „besonderer" Einziehungsvorschriften gedacht. Jedoch ist der Gesetzgeber der lex posterior nicht gehindert, bei seinen Sondervorschriften auch von den Regeln des § 74 Abs. 2, 3 abzuweichen, wenn es die Besonderheit der Materie rechtfertigt. Im Interesse der Übersichtlichkeit und Rechtsklar-

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(71)

BayObLGSt. 1973 180; auch OLG Oldenburg NJW 1971 770 will offenbar nur das besagen; unbegründet daher die Polemik gegen diese Entscheidung bei SK-Horn Rdn. 22 und Sch.-Schröder-Eser Rdn. 33.

§74

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

heit ist in einzelnen Vorschriften die Abweichung deutlich zum Ausdruck gebracht, ζ. B. in §§ 101 a Abs. 1 Satz 3, 109 k Abs. 1 Satz 3 StGB, die bei Landesverrat und Gefährdung der äußeren Sicherheit sowie bei Straftaten gegen die Landesverteidigung die Einziehung bestimmter Gegenstände „auch ohne die Voraussetzungen des § 74 Abs. 2" unter anderen bestimmt bezeichneten Voraussetzungen zulassen. 62

2. Zum Wesen der Beziehungsgegenstände. Ein begriffliches Merkmal, einen „gemeinsamen Nenner" zur Kennzeichnung des Wesens des Beziehungsgegenstandes schlechthin, der nach Sch.-Schröder-Eser Rdn. 12 a darin zu sehen ist, daß er lediglich das passive Objekt der Tat bildet (s. dazu aber auch Eser Sanktionen 329), gibt es nicht. Das Gemeinsame besteht nur darin, daß es sich um Gegenstände handelt, deren Wegnahme das Gesetz zuläßt oder vorschreibt, die aber nicht nach § 74 Abs. 1 bis 3 als Tatprodukte und Tatwerkzeuge einziehbar sind oder nicht nach § 73 dem Verfall unterliegen oder nicht unterliegen sollen. Nur innerhalb der Beziehungsgegenstände lassen sich gewisse Gruppen unterscheiden. So fallen etwa unter die Beziehungsgegenstände die Gegenstände, die nach dem Wortlaut des § 74 Abs. 1 („zu ihrer Begehung gebraucht") als Tatwerkzeuge einziehbar wären — wie das Fahrzeug, das der Täter zum Fahren ohne Fahrerlaubnis (und damit zur Gefährdung des Verkehrs) „gebraucht", oder die Uniform, die er zum unbefugten Uniformtragen „gebraucht" hat —, wenn nicht die Rechtsentwicklung dazu geführt hätte, aus dem Bereich des § 74 Abs. 1 diejenigen Gegenstände auszuscheiden, deren Gebrauch begrifflich zur Tatbestandsverwirklichung gehört. In anderen Fällen handelt es sich um scelere quaesita (vgl. z. B. die Fische im Fall des § 296 a StGB, das vom Jagdausübungsberechtigten schonzeitwidrig erlegte Wild, § 40 Abs. 1 Nr. 1 BJG), bei denen aus den verschiedensten Gründen die Verfallsvorschriften nicht für anwendbar erklärt wurden.

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3. Verhältnis der Sondervorschriften zu den allgemeinen Einziehungsvorschriften. Die Sondervorschriften sollen in der Regel die Voraussetzungen der Einziehung nicht abschließend regeln, sondern lediglich die allgemeinen Voraussetzungen der Einziehung erweitern. Daher bleibt neben der Einziehung nach den Sondervorschriften der Rückgriff auf die allgemeinen Einziehungsvorschriften offen, wenn deren Voraussetzungen vorliegen (vgl. Rdn. 10 vor § 73). Wenn also z. B. § 11 Abs. 6 BetMG bestimmt: „Gegenstände, auf die sich die Straftat bezieht, können eingezogen werden. § 74 a StGB ist anzuwenden", so schließt die Vorschrift nicht aus, daß gegenüber dem Täter, der unbefugt Betäubungsmittel in den Verkehr bringt (§ 11 Abs. 1 Nr. 1 BetMG), neben der Einziehung der Betäubungsmittel (§11 Abs. 6) gemäß § 74 Abs. 1 bis 3 StGB auch auf Einziehung des Kraftfahrzeugs erkannt wird, dessen er sich zum Transport der Ware zu den Abnehmern bedient (oben Rdn. 17). Im übrigen gelten, wo die Einziehung der Beziehungsgegenstände durch eine Vorschrift wie die des § 11 Abs. 6 BetMG in allgemeiner Form zugelassen ist, (BGHSt. 28 369 = M D R 1979 685; Sch.-Schröder-Eser Rdn. 12 vor § 73). Wegen der Bedeutung dieser Vorschrift, wenn zugleich Verfall des aus der Tat erlangten Vermögensvorteils in Frage steht, vgl. § 73 Rdn. 17.

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VII. Ermessensausübung. Im Anwendungsbereich des § 74 Abs. 1 bis 3 ist die Anordnung der Einziehung dem pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts überlassen („kann"). Dem Urteil muß sich entnehmen lassen, daß das Gericht die Einziehung (72)

Erweiterte Voraussetzungen der Einziehung (Schäfer)

§74

a

als eine Frage des Ermessens erkannt und dieses Ermessen auch ausgeübt hat (BGHSt. 19 256 = NJW 1964 1144; OLG Saarbrücken NJW 1975 66). Wegen der bei der Ermessenausübung zu berücksichtigenden Grundsätze vgl. § 74 b, 3. VIII. Verfahrensrechtliches. Im subjektiven Verfahren wird die Einziehung nur 65 gegen den Täter (Teilnehmer) ausgesprochen, auch wenn der Gegenstand einem tatunbeteiligten Dritten gehört oder zusteht; der Dritte ist aber an diesem Verfahren, soweit es die Einziehung betrifft, nach §§431 ff StPO auf Anordnung des Gerichts zu beteiligen, um seine Rechte geltend zu machen („Einziehungsbeteiligter"). Er hat dabei die Befugnisse, die einem Angeklagten zustehen (§ 433). Er kann seine Rechte auch in der Weise geltend machen, daß er sich gegen die Schuld des Angeklagten wendet, es sei denn, daß das Gericht die Nichtbeteiligung nach dieser Richtung anordnet, weil die Einziehung nur in Betracht kommt, wenn der Gegenstand dem Angeschuldigten gehört (zusteht) und deshalb für den Einziehungsinteressenten nur die Eigentumsfrage von Bedeutung ist (§ 431 Abs. 2 Nr. 1 StPO). Die einzuziehenden Gegenstände sind in der Entscheidung genau zu bezeichnen (BGHSt. 8 211) und zwar grundsätzlich im Urteilssatz (im Strafbefehl) oder in einer Anlage dazu, mindestens aber in den Urteilsgründen. Nur bei besonders umfangreichem Material (Druckschriften), dessen genaue Bezeichnung im Urteil erhebliche Schwierigkeiten bereiten würde, kann eine Sammelbezeichnung genügen (BGHSt. 9 88 = NJW 1956 799; NJW 1962 2019). Bezugnahmen auf die Anklageschrift reichen nicht aus, weil das Urteil als Vollstreckungstitel aus sich heraus verständlich sein muß. Ist die Einziehung ohne genügende Bezeichnung ausgesprochen worden, so ist eine Nachholung der Bezeichnung durch ergänzenden Beschluß nicht möglich. Schweigt das Urteil über die Einziehung, so ist auch bei versehentlich unterlassener Einziehung der Strafanspruch insoweit mit der Rechtskraft des Urteils verbraucht (RGSt. 66 243; Sch.-Schröder-Eser Rdn. 45); eine nachträgliche Einziehung ist nur in §§ 74 b Abs. 2 Satz 3, 76 in Verbindung mit § 462 Abs. 1 Satz 2 StPO vorgesehen. Ein einmal rechtskräftig eingezogener Gegenstand kann im Hinblick auf § 74 e Abs. 1 nicht nochmals (z. B. gegen einen anderen Tatbeteiligten) eingezogen werden.

§74 a Erweiterte Voraussetzungen der Einziehung Verweist das Gesetz auf diese Vorschrift, so dürfen die Gegenstände abweichend von § 74 Abs. 2 Nr. 1 auch dann eingezogen werden, wenn derjenige, dem sie zur Zeit der Entscheidung gehören oder zustehen, 1. wenigstens leichtfertig dazu beigetragen hat, daß die Sache oder das Recht Mittel oder Gegenstand der Tat oder ihrer Vorbereitung gewesen ist, oder 2. die Gegenstände in Kenntnis der Umstände, welche die Einziehung zugelassen hätten, in verwerflicher Weise erworben hat.

I. Grundgedanke und Entstehungsgeschichte der Vorschrift 1. Nach § 74 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 3 ist eine Einziehung mit Wirkung gegenüber 1 einem tatunbeteiligten Eigentümer (Rechtsinhaber) nur bei den im Sinne dieser (73)

§74 a

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

Vorschriften „gefährlichen" Gegenständen zulässig. § 74 a (vorangegangene Bezifferung: 40 a) bildet eine weitere Grundlage für die Einziehung von Gegenständen, die tatunbeteiligten Dritten gehören oder zustehen, indem er abweichend von § 74 Abs. 2 Nr. 1 die Einziehung von Gegenständen zuläßt, die zur Zeit der Entscheidung einem solchen Dritten zustehen oder gehören (erweiterte Einziehung). Die Eigentumsgarantie (Art. 14 GG) läßt indessen die mit der Einziehung verbundene Eigentumsentziehung (§ 74 e Abs. 1) nur zu, wenn dafür ein rechtfertigender Grund vorliegt. Im Fall des § 74 Abs. 2 Nr. 1 liegt der Rechtfertigungsgrund darin, daß der Täter oder Teilnehmer sein Eigentum in einer sozialbindungswidrigen Weise mißbraucht und damit, soweit nicht § 74 b eingreift, die Eigentumsgarantie verwirkt hat. Im Fall des § 74 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 3 bildet der Schutz der Allgemeinheit vor Gefahren, die nach den Umständen von dem Gegenstand drohen, den Rechtfertigungsgrund. Die Rechtfertigung der erweiterten Einziehbarkeit ist darin begründet, daß der Eigentümer (Rechtsinhaber) entweder, ohne Tatbeteiligter zu sein, doch in vorwerfbarer Weise („wenigstens leichtfertig") die Tat unterstützt („Quasibeihilfe") oder nach einer Vortat das Eigentum an Gegenständen, die zwar nicht durch die Vortat erlangt wurden, aber doch bei dieser eine die Einziehung gegen den Täter zulassende Rolle spielten, in Kenntnis dieser Umstände und in verwerflicher Weise erworben hat („Quasihehlerei"). 2

Über die in § 74 a Nr. 1 und 2 genannten einschränkenden Voraussetzungen hinaus ist die erweiterte Einziehung auf die Fälle beschränkt, in denen ein Gesetz (eine Vorschrift im Besonderen Teil des Strafgesetzbuchs oder im Nebenstrafrecht) auf § 74 a verweist. § 74 a ist also ein Blankettgesetz. Das Verweisungserfordernis bezweckt, den Gesetzgeber jeweils zur Prüfung zu veranlassen, ob gerade bei der in diesem Gesetz geregelten Materie ein kriminalpolitisches Bedürfnis für die erweiterte Einziehbarkeit unabweisbar erscheint. Der Begriff des verweisenden Gesetzes ist im materiellen Sinn zu verstehen; „Gesetz" ist also auch eine RechtsVO, die im Rahmen einer dem Art. 80 Abs. 1 GG entsprechenden Ermächtigung ergangen ist - vgl. dazu BVerfG NJW 1962 1339, 1563 - (ebenso zu §23 OWiG Göhler 1; a. M. Rebmann-Roth-Herrmann 2). Die Erklärung des Regierungsvertreters bei den parlamentarischen Erörterungen (54. Sitzung des Sonderausschusses v. 8. 3.1967 — Prot. S. 1037 —), der Ausdruck „Gesetz", im Strafgesetzbuch verwendet, bedeute immer irgendeine konkrete Rechtsnorm in einem formellen Gesetz, will schwerlich etwas anderes besagen. Solche Verweisungen („§ 74 a ist anzuwenden") finden sich in §§ 92 b, 101 a Satz 2, 109 k Satz 2, 201 Abs. 5 Satz 2, 264 Abs. 5 Satz 2, 285 b Satz 2, 295 Satz 2, 296 a Abs. 2 Satz 2 StGB; im Nebenrecht z. B. in § 56 Abs. 3 WaffG, §11 Abs. 2 BetäubungsmittelG; §39 Abs. 2 AußenwirtschaftsG; §375 Abs. 2 Satz 2 AO; § 40 Abs. 2 BJG; § 24 KriegswaffG; § 43 SprengG; § 55 LMBG; § 18 a AbfallG; § 36 Abs. 2 EichG.

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2. Für die Einziehung als Nebenfolge von Ordnungswidrigkeiten enthält § 23 OWiG dem § 74 a entsprechende Vorschriften.

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3. Kritische Einwendungen. Indem § 74 a die Einziehungsvoraussetzungen des § 74 Abs. 2 Nr. 1 — dort hat die Einziehung Strafcharakter — erweitert, und zwar in der Weise, daß er an Stelle der strafrechtlichen Schuld eine deren Merkmalen ähnliche Vorwerfbarkeit fordert, hat auch die Einziehung nach § 74 a strafähnlichen Charakter — „strafähnliche Dritteleinziehung" — (so die durchaus herrschende Meinung; Nachweise bei Sch.-Schröder-Eser Rdn. 17 vor § 73; a. M. Mau(74)

Erweiterte Voraussetzungen der Einziehung (Schäfer)

§ 74

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rach-Zipf AT Teilbd. 2 5 § 61 II Β 2 a: „quasi-kondictionelle Ausgleichsmaßnahme"). Im Schrifttum (vgl. Sch.-Schröder-Eser Rdn. 2) wird dieser Verzicht auf ein spezifisch strafrechtliches Verschulden als „schwerlich mit dem Schuldprinzip vereinbar" bezeichnet. Solche Bedenken müssen aber zurücktreten, nachdem der Gesetzgeber alle denkbaren Bemühungen darauf gerichtet tat, die erweiterte Einziehung nur zuzulassen, wo sie kriminalpolitisch unentbehrlich ist (ebenso DreherTröndle Rdn. 1 ; Jescheck AT 599). a) Entwicklungsgeschichte. Die früheren in Rechtsprechung und Schrifttum ent- 5 falteten Bemühungen, den Bereich der in älteren Vorschriften vorgesehenen unterschiedslosen Einziehung rechtsstaatlichen Grundsätzen entsprechend einzuengen (vgl. Rdn. 4 vor § 73), fanden in allgemeiner Form ihren gesetzlichen Niederschlag zunächst — im Anschluß an § 40 WiStG 1949 - in § 19 OWiG 1952, der die Einziehung nicht dem Täter gehörigen Eigentums nur zuließ, wenn „der Eigentümer die Zuwiderhandlung kannte oder kennen mußte oder von ihr einen Vorteil gehabt hat, dessen Zusammenhang mit der Zuwiderhandlung ihm erkennbar war". Schon der StGB-Entw. 1962 (§ 114 Nr. 2 i. Verb. m. § 113 Abs. 2 Nr. 2) sah wesentliche Einengungen dieser noch verhältnismäßig weiten Einziehungsvoraussetzungen vor. Der Entw. EGOWiG 1968 ging in der Einengung noch weiter, indem er die Vorschrift zu einer Blankettvorschrift umgestaltete, deren Anwendbarkeit erst durch die Verweisung in einem besonderen Gesetz ausgelöst wird. Und schließlich weicht auch die Gesetz gewordene Fassung noch in einengendem Sinn von den Vorschlägen des Entwurfs ab (vgl. unten Rdn. 20). In diesem Rahmen und angesichts der dem Gesetzgeber vorschwebenden 6 Begrenzung der Gesetze, die auf § 74 a verweisen, besteht zweifellos ein kriminalpolitisches Bedürfnis für die erweiterte Einziehung. Ein Anlaß, in einem Gesetz auf § 74 a zu verweisen, ist nämlich nach der Begr. des Entw. EGOWiG (S. 54; s. dazu auch die Erörterungen in der 54. Sitzung des Sonderausschusses v. 9. 3. 1967 — Prot. S. 1036 — ) nur bei einem sehr eng begrenzten Kreis von Fällen zu bejahen, und zwar „im wesentlichen bei solchen Arten von Delikten, an deren Verwirklichung außer den unmittelbar an der Tat beiteiligten Personen typischerweise andere mitwirken oder teilhaben, ohne daß es zu einer strafbaren Handlung kommt, sei es, daß ihnen als Hintermänner die Vorteile der Tat zufließen, oder sei es, daß sie durch ihr leichtfertiges Verhalten die Tat erst ermöglichen oder dazu beitragen, anderen die Vorteile der Tat zu sichern. Zu diesen Typen von Delikten rechnen namentlich die des Staatsschutzes, in die sehr häufig Hinter- oder Mittelsmänner verstrickt sind, ohne daß ein bereits strafbares Verhalten festgestellt werden kann. Zu denken ist weiterhin an die Delikte im Außenwirtschaftsverkehr, da hier vielfach mehrere Personen in undurchsichtiger Weise beteiligt sind, oder der Geschäftsherr, für den das Außenwirtschaftsgeschäft getätigt wird, nicht selbst handelt. Ähnlich ist die Lage bei der Abgabenhinterziehung, vor allem bei den Schmuggeldelikten, aber auch beim unerlaubten Glücksspiel. Hier werden oft andere Personen vorgeschoben, deren Gegenstände benutzt, oder für deren Rechnung Handlungen vorgenommen werden, um das Risiko strafrechtlicher Rechtsfolgen für die eigentlichen Hintermänner zu verringern. Die Bekämpfung derartiger Delikte wäre unvollkommen, wenn die Einziehung der Tatgegenstände schon daran scheitern würde, daß sie einem anderen als dem Täter oder Teilnehmer gehören, obwohl gerade diese anderen im Zusammenhang mit der Tat ein Schuldvorwurf trifft. Die erweiterte Einziehungsmöglichkeit gegenüber Dritten kommt schließlich auch bei solchen Delikten in Betracht, deren Verwirklichung in der unerlaubten Verwendung (75)

§74 a

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

einer Sache besteht. Denn diese Delikte werden vielfach überhaupt erst dadurch ermöglicht, daß sich der Eigentümer der Sache, deren Gebrauch Beschränkungen unterliegt, leichtfertig verhalten hat. Das gilt ζ. B. für den unbefugten Gebrauch von Jagd- und Fischereigeräten. Auch hier erscheint eine erweiterte Einziehungsmöglichkeit schon aus generalpräventiven Gesichtspunkten geboten. 7

b) Mit den vorgenannten Ausführungen sollten dem künftigen Gesetzgeber Richtlinien für die künftige Praxis der Verweisung auf § 74 a an die Hand gegeben werden, denn „der Entw. geht davon aus, daß die erweiterte Einziehungsmöglichkeit gegenüber Dritten, also die Verweisung auf § 40 a [ = § 74 a] im Besonderen Teil und im Nebenstrafrecht nur bei den genannten Deliktsgruppen vorgesehen und damit in ganz engen Grenzen gehalten wird", und „daß der Gesetzgeber in künftigen Gesetzen die Rahmenvorschriften des § 40 [ = § 74] Abs. 2 bis 4 und des § 40 a berücksichtigen und nur in besonderen Ausnahmefällen abweichende Regelungen treffen wird, welche die Voraussetzungen der Einziehung im Vergleich zu den Rahmenvorschriften entweder abschwächen oder verschärfen" (Begr. S. 55 f). Von der Erfüllung dieser Erwartungen, an die sich der Gesetzgeber bisher gehalten hat, hängt es dann freilich ab, ob auch in Zukunft den oben erwähnten Bedenken des Schrifttums gegen § 74 a die Berechtigung abgesprochen werden kann.

II. Die erweiterte Einziehung nach § 74 a Nr. 1 1. Objektive Einziehungsvoraussetzungen 8

a) Der Gegenstand (Sache oder Recht) muß Mittel der Tat oder ihrer Vorbereitung gewesen sein. Das bedeutet, daß er die Voraussetzungen des § 74 Abs. 1 erfüllen muß, die seine Einziehung als instrumentum sceleris rechtfertigen würden, wenn der Täter (Teilnehmer) Eigentümer oder Rechtsinhaber im Zeitpunkt der Entscheidung wäre, denn § 74 a entbindet von den in § 74 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 aufgestellten Einziehungsvoraussetzungen nur insoweit, als es nicht darauf ankommt, daß dem Täter (Teilnehmer) der Gegenstand gehört oder zusteht. Beispiel: Kraft des § 295 Satz 2 kann das dem Wilderer nicht gehörige Jagdgerät eingezogen werden, wenn dessen Eigentümer leichtfertig dazu beigetragen hat, daß der Wilderer es bei der Wilderei verwendete.

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b) Es genügt aber auch, daß die Sache oder das Recht Gegenstand der Tat („Beziehungsgegenstand" ; § 74, 61) oder ihrer Vorbereitung gewesen ist. Nach § 74 Abs. 4 gilt Kraft der entsprechenden Anwendbarkeit des § 74 Abs. 2 auch für Beziehungsgegenstände, daß sie grundsätzlich nur einziehbar sind, wenn sie zur Zeit der Entscheidung dem Täter oder Teilnehmer gehören. Die durch § 74 a zugelassene Abweichung von § 74 Abs. 2 Nr. 1 besteht also auch bei den Beziehungsgegenständen nur darin, daß auf das Erfordernis des Eigentums (der Rechtsinhaberschaft) des Täters oder Teilnehmers am Beziehungsgegenstand zur Zeit der Entscheidung verzichtet wird; im übrigen müssen alle Voraussetzungen der Einziehung nach § 74 Abs. 4 in Verbindung mit der Sondervorschrift erfüllt sein. Beispiel: Führt jemand, der keinen Waffenschein besitzt, eine ihm nicht gehörige Schußwaffe (§§ 35, 53 Abs. 3 Nr. 1 Buchst, b WaffG), so kann sie (als „Beziehungsgegenstand") kraft des § 56 Abs. 3 WaffG eingezogen werden, wenn der Eigentümer der Waffe leichtfertig dazu beigetragen hat, daß der Täter sie ohne Waffenschein führte. (76)

Erweiterte Voraussetzungen der E i n z i e h u n g (Schäfer)

§74 a

2. Subjektive Einziehungsvoraussetzungen a) Leichtfertiger Beitrag. Der tatunbeteiligte Eigentümer (Rechtsinhaber) muß 10 dazu beigetragen, d. h. durch sein Verhalten (Tun oder Unterlassen) ermöglicht haben, daß sein Eigentum Mittel oder Gegenstand der Tat des Täters oder Teilnehmers oder ihrer Vorbereitung gewesen ist. Die Einziehbarkeit begründet diese Ermöglichung aber nur, wenn sie wenigstens leichtfertig ( = grob fahrlässig; OLG Karlsruhe NJW 1974 710) ist. Und zwar beschränkt sich die hier geforderte gesteigerte Vorwerfbarkeit nicht nur auf den Vorgang (etwa die Überlassung des Besitzes des Gegenstandes an den Täter, ohne sich um die beabsichtigte Verwendung zu kümmern, oder dessen mangelhafte Verwahrung, die es dem Täter ermöglicht, sich seiner zu bemächtigen), der den Täter in die Lage versetzt, die Sache oder das Recht zum Mittel oder Gegenstand der Tat oder ihrer Vorbereitung zu machen ; die Leichtfertigkeit muß sich vielmehr auch darauf erstrecken, wie der Täter von dem Gegenstand Gebrauch machen könnte. Dazu gehört, daß der Dritte die Begehung einer Tat von der Art, wie sie vom Täter (Teilnehmer) begangen wurde, im allgemeinen, in groben Umrissen, hätte voraussehen können (OLG Karlsruhe NJW 1974 710; Dreher-Tröndle Rdn. 4; Göhler §23, 2 OWiG; s. auch die gleichlautenden Erörterungen in der 54. Sitzung des Sonderausschusses v. 9.3.1967 — Prot. S. 1040 — ). Es handelt sich also, wenn Leichtfertigkeit vorliegt, praktisch um den Fall einer grob fahrlässigen Beihilfe (einer Quasi-Beihilfe), wie etwa die Überlassung eines Kraftfahrzeugs an den Täter, obwohl sich dem Eigentümer der Gedanke hätte aufdrängen müssen, daß dieser es zum Abtransport der Beute des geplanten Diebstahls benutzen wolle. b) Der Gesetzeswortlaut deckt auch den Fall, daß der dritte Eigentümer vorsätz- 11 lieh („wenigstens leichtfertig") dazu beigetragen hat, daß sein Eigentum Mittel der Tat wurde, ohne daß er dadurch zum Tatbeteiligten (Gehilfen) wurde. Im Schrifttum (vgl. Dreher-Tröndle Rdn. 4; Dreher M D R 1972 557) wird als Beispiel der Fall angeführt, daß der Dritte bewußt eine (als solche straflose) Vorbereitungshandlung des Täters unterstützt, ohne daß sein „Beitrag" für die spätere Tat mit kausal wurde. Nach dieser Auffassung wollte das Gesetz einen von den Voraussetzungen des § 74 unabhängigen und selbständigen Einziehungsgrund schaffen, der auch diesen Fall umfaßt; bei anderer Auffassung verlöre das Wort „wenigstens" seinen Sinn. Demgegenüber ist aber zu erwägen : wenn es richtig ist, daß gegenüber einem Täter, der im Zeitpunkt der Entscheidung Eigentümer der Tatwerkzeuge (§ 74 Abs. 2 Nr. 1) ist, eine Einziehung hinsichtlich solcher Gegenstände entfällt, die zu Vorbereitungshandlungen gebraucht wurden oder bestimmt waren, falls die Vorbereitungshandlungen die spätere Tat nicht irgendwie gefördert haben (vgl. § 74, 16), so kann auch unter diesen Voraussetzungen eine Einziehung mit Wirkung gegen den tatunbeteiligten Dritten nicht gut in Betracht kommen; was beim Täter oder Gehilfen nicht einziehbar ist, wenn er Eigentümer ist, kann, so sollte man meinen, auch gegenüber dem Quasi-Gehilfen nicht einziehbar sein. Im übrigen aber hat die Streitfrage über das Wesen der Beihilfe (ζ. B. LK-Roxin § 27 Rdn. 14; Sch.-Schröder-Cramer § 27 Rdn. 4) auch hier Bedeutung: Gehört zur Beihilfe, daß sie die Durchführung der Tat erleichtert hat, und liegt Beihilfe nicht vor, wenn der Haupttäter das ihm gelieferte Werkzeug nicht benutzt, so kann auch der Quasi-Gehilfe des § 74 a Nr. 1 hinsichtlich der Einziehung seines Eigentums nicht anders behandelt werden als der Eigentümer, dessen gewollter Tatbeitrag unbeachtlich bleibt, weil er nicht in die Gehilfenstellung hineingelangte. Genügt es aber zur Beihilfe, daß die Handlung des Haupttäters gefördert wird, auch wenn der Erfolg der Haupttat nicht durch die (77)

§74 a

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

Gehilfentätigkeit ursächlich mitbewirkt, gefördert oder erleichtert wurde, und ist er deshalb hinsichtlich seines in die Tat verstrickten Eigentums der Einziehung nach § 74 Abs. 2 Nr. 1 unterworfen, so muß sich der Quasi-Gehilfe in gleichem Umfang die Wegnahme seines Eigentums gefallen lassen, das er leichtfertig in die Tat verstricken ließ. Es kann danach einer Auffassung, die die Einziehung gegenüber dem Quasi-Gehilfen unabhängig von den für die Strafbarkeit des echten Gehilfen geltenden Grundsätzen zulassen will, nicht zugestimmt werden. Sie kann nicht damit begründet werden, daß es hier nur darum gehe, ob das Verhalten des Tatunbeteiligten die Einziehung aus dem Gesichtspunkt der Verwirkung des Eigentums wegen sozialbindungswidrigen Verstrickenlassens in Straftaten rechtfertige; diese „Verwirkung" kann nicht weiter reichen, als sie einem Tatbeteiligten droht (so auch Göhler § 23, 2 OWiG; Sch.-Schröder-Eser Rdn. 5). 12

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d) Fehlende Beitragsschuld. Auch wenn der Dritte von der bevorstehenden Straftat und der beabsichtigten Verwendung seines Eigentums Kenntnis hatte (oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht hatte), kann § 74 a Abs. 1 Nr. 1 unanwendbar sein. „Wenn auch in der Regel dieser Umstand für die Beurteilung maßgebend sein wird, ob den Berechtigten der Vorwurf der Leichtfertigkeit trifft, so sind doch Fälle denkbar, in denen der Betroffene die Verwendung des Gegenstandes zur Straftat trotz seiner Kenntnis oder fahrlässigen Unkenntnis von der Tat nicht hätte verhindern können. In Fällen dieser Art trifft ihn kein Vorwurf, und die Einziehung ist nicht gerechtfertigt" (Begr. S. 54). Der Vorwurf der Leichtfertigkeit entfällt auch, wenn der Dritte schuldunfähig war oder in unverschuldetem Verbotsirrtum handelte; dann kommt eine ihn treffende Einziehung nur unter den Voraussetzungen des § 74 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 3, 4 in Betracht.

III. Die erweiterte Einziehung nach § 74 a Nr. 2 1. Grundgedanke. Die Vorschrift hat in erster Linie den Fall im Auge, daß der Täter oder Teilnehmer zur Tatzeit Eigentümer der producta et instrumenta sceleris oder des Beziehungsgegenstandes war oder es nach der Tat wurde, die Einziehung nach § 74 Abs. 2 Nr. 1 aber daran scheitert, daß ein Dritter, der zur Zeit der Entscheidung Eigentümer oder Rechtsinhaber ist, sie (nach der Tat) erworben hat. § 74 a Nr. 2 deckt aber auch den Fall, daß Eigentum eines Nichttatbeteiligten i. S. des § 74 a Nr. 1 oder 2 tatverstrickt war und diesem gegenüber eine Einziehung nach § 74 a nicht möglich ist, weil er zur Zeit der Entscheidung nicht mehr Eigentümer (Rechtsinhaber) ist, sondern diese Rechtsstellung nach der Tat auf einen anderen übergegangen ist, der sie im Zeitpunkt der Entscheidung noch innehat (so auch Dreher-Tröndle Rdn. 7 und — zu § 23 OWiG - Göhler Rdn. 3; Rotberg Rdn. 10). Veräußert der Täter vor Ausführung der geplanten Tat die in seinem Besitz verbleibende Sache, um sie der Einziehung zu entziehen, so ist § 74 a Nr. 2 unanwendbar. Aber auch unter § 74 a Nr. 1 fällt der Erwerber, der weiß, was der Veräußerer vorhat, nicht, denn man wird kaum sagen können, daß der Erwerber zur Verwendung der Sache als Tatmittel beigetragen hat, indem er sich auf den Erwerb mittels Besitzkonstituts einließ; eine andere Frage ist, ob § 258 anwendbar ist (ebenso SKHorn Rdn. 7; a. M. anscheinend Sch.-Schröder-Eser Rdn. 8). 2. Die Einziehung setzt voraus a) einen Erwerb nach der Tat, der erfolgt ist b) in Kenntnis der Umstände, die die Einziehung zugelassen hätten (nämlich wenn der Erwerb nicht dazwischen getreten wäre) und c) in verwerflicher Weise. (78)

Erweiterte Voraussetzungen der Einziehung (Schäfer)

§ 74

a

a) Erwerb bedeutet Erlangung des Eigentums an der Sache oder der Inhaber- 14 schaft an dem Recht; auf den Erwerbsgrund (Kauf, Schenkung usw.) kommt es nicht an. Bloße Besitzerlangung oder Erlangung eines Anspruchs auf Übertragung des Eigentums genügen nicht. Aus dem Erfordernis des Erwerbs „in verwerflicher Weise" ergibt sich aber, daß zum Erwerb eine auf Erlangung des Eigentums gerichtete Mitwirkung des Dritten gehört; daran fehlt es, wenn sich der Rechtserwerb kraft Gesetzes ohne Zutun des Dritten vollzieht, so wenn der Erbe kraft Universalsukzession am Nachlaß, oder wenn der Jagdausübungsberechtigte an dem Wild, das der Jagdgast unter Verletzung der Schonzeitvorschriften erlegt hat (vgl. § 40 BJG), Eigentum erwirbt. b) Zur Kenntnis der Umstände, welche die Einziehung zugelassen hätten, gehört 15 aa) die Kenntnis der Straftat (§ 74 Abs. 1,4), und zwar etwa in der Weise, wie sie bei der Begünstigung (§ 257) hinsichtlich der Vortat erforderlich ist; bb) die Kenntnis, daß die Sache oder das Recht Mittel oder Gegenstand der Tat gewesen ist; cc) die Kenntnis, daß der Voreigentümer Täter (Teilnehmer) der Straftat oder ein i. S. des § 74 a vorwerfbar handelnder Dritter ist. Dagegen gehört nicht zur „Kenntnis der Umstände" deren richtige rechtliche Würdigung; auch braucht der Dritte nicht zu wissen, daß die ihm bekannten Umstände rechtlich die Möglichkeit begründen, den Gegenstand einzuziehen. Streitig ist, ob Kenntnis positive Kenntnis bedeutet (so Sch.-Schröder-Eser 16 Rdn. 9, aber ohne weitere Begründung), oder ob ein dem bedingten Vorsatz entsprechendes Verhalten des Dritten genügt (so Dreher-Tröndle Rdn. 7; LackneA2 Rdn. 3 ; SK-Horn Rdn. 8; Preisendanz 2 b; Göhler § 23, 3 A OWiG). Bei der strafähnlichen Dritteinziehung ersetzt in subjektiver Beziehung die vorbezeichnete Kenntnis der Umstände (in Verbindung mit der Verwerflichkeit des Erwerbs) den bei der Einziehung als Nebenstrafe geforderten Vorsatz des Täters. Vorsatz i. S. des § 74 Abs. 1 umfaßt aber auch den bedingten Vorsatz. Demgemäß ist es folgerichtig, im Fall des § 74 a Nr. 2 ein dem bedingten Vorsatz entsprechendes Handeln des Dritten genügen zu lassen; das erscheint auch deshalb gerechtfertigt, weil bei der Hehlerei (§ 259) bedingter Vorsatz ausreicht und kein Grund erkennbar ist, es bei der QuasiHehlerei der Nr. 2 anders zu halten. c) Neben der Kenntnis der Umstände, die die Einziehung zugelassen hätten, for- 17 dert das Gesetz — im Anschluß an § 113 Abs. 2 c des StGB-Entw. 1962 — weiterhin, daß der Erwerb in verwerflicher Weise erfolgt ist. Was unter diesem vagen Merkmal zu verstehen ist, ist streitig; es wird (mit Varianten) teils in einem weiteren, teils in einem engeren Sinn ausgelegt. Die weitere Auslegung. Die Begründung zum Entw. EGOWiG 1968 (S. 55) führt, 18 die Ausführungen in der Begründung (S. 247) des StGB-Entw. 1962 übernehmend, aus, die Vorschrift wolle die Fälle treffen, „in denen der Täter durch Zusammenwirken mit einem Dritten, an den er den Gegenstand nach der Tat veräußert hat, die Anordnung der Einziehung zu verhindern sucht. Dabei bleibt zu beachten, daß nicht jeder Erwerb eines nicht gutgläubigen Dritten die Einziehung rechtfertigt. Es sind die Fälle zu berücksichtigen, in denen den Erwerber kein Vorwurf trifft, obwohl er die Umstände, welche die Einziehung gegenüber dem Täter ermöglicht hätten, gekannt hat. Das gilt insbesondere bei einem Erwerb im Wege der Notveräußerung etwa nach den Polizeigesetzen, da hierbei nicht die notveräußerte Sache, sondern der Wertersatz nach § 40 c [ = jetzt § 74 c] der Einziehung unterliegt. Deshalb setzt die Einziehung nach dieser Vorschrift weiter voraus, daß der Erwerb in verwerflicher Weise erfolgt ist". In gleichem Sinn erläuterte der Regierungsvertreter (79)

§74 a

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

in der 54. Sitzung des Sonderausschusses v. 9.3. 1967 — Prot. S. 1044—, ohne Widerspruch zu finden, die Bedeutung der Verwerflichkeitsklausel dahin, sie sei geschaffen, um ζ. B. den Fall auszuscheiden, daß jemand die Sache im Wege der Versteigerung erwerbe. Danach hat die etwas pathetisch klingende Floskel „in verwerflicher Weise" nur eine verhältnismäßig bescheidene negative Funktion: sie soll die Fälle von der Einziehung ausnehmen, in denen den Erwerber trotz Kenntnis der Umstände, die ohne den Erwerb die Einziehung gegenüber dem Täter ermöglicht hätten, „kein Vorwurf trifft". Das bedeutet aber nichts anderes, als daß — über den Fall kollusiven Zusammenwirkens zur Vereitelung der Einziehung hinaus — im Regelfall schon der Erwerber, der in Kenntnis der genannten Umstände erwirbt, verwerflich handelt, sofern nicht besondere Gründe vorliegen, die eine andere Beurteilung rechtfertigen. Diese Auffassung wird denn auch im Schrifttum vertreten. So fordert zwar Dreher-Tröndle Rdn. 8 — im Anschluß an die Auslegung des Begriffs „verwerflich" in § 240 Abs. 2 — ein Handeln, das in erhöhtem Grad sittliche Mißbilligung verdient, sieht ein solches Handeln aber in der Regel als gegeben an, wenn der Erwerber Kenntnis von den die Einziehungsmöglichkeit eröffnenden Umständen hat, und führt als Beispielsfälle für Ausnahmen (abgesehen von dem in der oben zitierten Begründung genannten Fall des Erwerbs nach Notveräußerung) an, daß der Erwerber schon vor der Tat ein Recht auf Erwerb des Gegenstandes hatte oder wenigstens eine Forderung an den Tatbeteiligten, die er anders nicht befriedigen konnte. Ebenso kommt es nach Göhler § 23, 3 C OWiG nur ausnahmsweise in Betracht, daß der Erwerber nicht „in verwerflicher Weise" handelt, wenn er trotz Kenntnis der Umstände, namentlich der drohenden Einziehungsmöglichkeit erwirbt. 19

Eine — wenigstens im Grundsatz — engere Auslegung vertritt Eser Sanktionen 226 und in Sch.-Schröder Rdn. 10 (ihm folgend Maurach-Zipf AT Teilbd. 2 5 S. 404; SK-Horn Rdn. 9), wonach ein die Einziehung ermöglichender Erwerb in verwerflicher Weise nur gegeben ist, wenn er in begünstigender, hehlerischer oder sonstwie ausbeuterischer Absicht erfolgt. Diese engere Betrachtungsweise vertritt wohl auch Lackner12 Rdn. 3, wenn dort als Beispielsfälle eines in verwerflicher Weise Erwerbenden derjenige genannt wird, dem es auf Vereitelung der Einziehung ankommt, oder der aus dem Erwerb einen erkennbar ungerechtfertigten Vorteil zieht. Demgegenüber kann sich die Regel — Ausnahme — Lehre (Rdn. 18) mit gutem Grund auf die Entstehungsgeschichte der Vorschrift und die aus der Begründung des Entwurfs erkennbaren gesetzgeberischen Vorstellungen berufen.

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3. Ablehnung weiterer Einziehungsgriinde. In § 113 Abs. 2 Nr. 2 b StGB-Entw. 1962 und ebenso in § 40 a Nr. 2 i. d. F. des Entw. EGOWiG 1968 war als weiterer Grund für eine strafähnliche Dritteinziehung vorgesehen, daß derjenige, dem der Gegenstand im Zeitpunkt der Entscheidung gehört oder zusteht, aus der Tat in verwerflicher Weise einen Vermögensvorteil gezogen hat. Dieser Vorschlag sollte in erster Linie die Fälle erfassen, in denen der Dritte Hehler oder an der durch die Tat erlangten Beute beteiligt ist oder den Täter um des eigenen Vorteils willen begünstigt hat. Dieser Vorschlag ist nicht Gesetz geworden, nachdem sich bei den parlamentarischen Erörterungen der Gedanke durchgesetzt hatte, daß die bloße Vorteilsziehung, ohne einen die Einziehung rechtfertigenden Strafbestand zu erfüllen, eine Entziehung des Eigentums nicht rechtfertige (vgl. Prot. S. 1040 ff der 54. Sitzung des Sonderausschusses v. 9. 3. 1967). Aus gleichen Gründen wurden auch die Vorschläge in § 113 Abs. 2 Nr. 2 a StGB-Entw. 1962, § 40 a Nr. 1 Entw. EGOWiG 1968 (Hü)

Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Schäfer)

§ 74 b

abgelehnt, die Einziehung wegen Quasi-Beihilfe auch dann zuzulassen, wenn die dem Dritten gehörige Sache nicht Mittel oder Gegenstand der Tat oder ihrer Vorbereitung, sondern einer mit ihr zusammenhängenden anderen rechtswidrigen Tat gewesen ist. IV. Zusammentreffen von § 74 mit § 74 a 1. Ist eine Dritteinziehung nach § 74 Abs. 2 Nr. 2 und zugleich nach § 74 a mög- 21 lieh, so ist § 74 Abs. 2 Nr. 2 die primäre Einziehungsgrundlage (ebenso DreherTröndle Rdn. 1 und 11; Sch.-Schröder-Eser Rdn. 14; a. M. SK-Horn Rdn. 11: Anwendung des § 74 Abs. 2 Nr. 2 „empfehlenswert, wenn auch nicht geboten"). 2. Wahlweise Begründung. Sind die Einziehungsvoraussetzungen des § 74 Abs. 2 22 Nr. 1 gegeben, falls der Täter (Teilnehmer) Eigentümer des Gegenstandes zur Zeit der Entscheidung ist, die des § 74 a aber, falls er zu diesem Zeitpunkt einem Dritten gehört oder zusteht, und läßt sich nicht eindeutig feststellen, wem von den in Betracht kommenden Personen der tatverstrickte Gegenstand zur Zeit der Entscheidung gehört oder zusteht, so ist eine der Wahlfeststellung entsprechende wahlweise Begründung der Einziehung mit § 74 Abs. 2 Nr. 1 und § 74 a möglich (ebenso Dreher-Tröndle Rdn. 11; SK-Horn Rdn. 12; Göhler §23,7 OWiG). Es müssen dann aber der Tatbeteiligte wie der Dritte so behandelt werden, als wäre jeder von ihnen von der Einziehung betroffen; es muß also z.B. bei beiden gleichmäßig § 7 4 b beachtet werden, und die danach bei einem jeweils günstigste Beurteilung kommt auch dem anderen zugute. V. Ermessensentscheidung. Nach § 74 a dürfen die Gegenstände eingezogen wer- 23 den. Das bedeutet nicht, daß die Einziehung — wie bei einer „kann"-Vorschrift — stets in das Ermessen des Gerichts gestellt ist, vielmehr würde, wenn in einer Sondervorschrift (§ 74 Abs. 4) die Einziehung zwingend vorgeschrieben und § 74 a für anwendbar erklärt ist, auch bzgl. der strafähnlichen Dritteinziehung eine Einziehungspflicht bestehen. Wegen der Ermessensausübung bei „kann"-Vorschriften vgl. § 74 b Rdn. 3.

§ 74 b Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (1) Ist die Einziehung nicht vorgeschrieben, so darf sie in den Fällen des § 74 Abs. 2 Nr. 1 und des § 74 a nicht angeordnet werden, wenn sie zur Bedeutung der begangenen Tat und zum Vorwurf, der den von der Einziehung betroffenen Täter oder Teilnehmer oder in den Fällen des § 74 a den Dritten trifft, außer Verhältnis steht. (2) Das Gericht ordnet in den Fällen der §§ 74 und 74 a an, daß die Einziehung vorbehalten bleibt, und trifft eine weniger einschneidende Maßnahme, wenn der Zweck der Einziehung auch dadurch erreicht werden kann. In Betracht kommt namentlich die Anweisung, 1. die Gegenstände unbrauchbar zu machen, 2. an den Gegenständen bestimmte Einrichtungen oder Kennzeichen zu beseitigen oder die Gegenstände sonst zu ändern oder 3. über die Gegenstände in bestimmter Weise zu verfügen. (81)

§ 74 b

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

Wird die Anweisung befolgt, so wird der Vorbehalt der Einziehung aufgehoben; andernfalls ordnet das Gericht die Einziehung nachträglich an. (3) Ist die Einziehung nicht vorgeschrieben, so kann sie auf einen Teil der Gegenstände beschränkt werden. I. Grundgedanke der Vorschrift 1

1. Entwicklungsgeschichte. Der StGB-Entwurf 1962 enthielt — von der nur für den Verfall geltenden Härtevorschrift des § 111 Abs. 1 [ = jetzt § 73 c] abgesehen — noch keine dem § 74 b [ = 40 b a. F.] entsprechende Vorschrift, weil eine allgemeine, das richterliche Ermessen beschränkende Regel die praktische Anwendung der Einziehungsvorschriften erschweren würde. Erst die Beratungen im Sonderausschuß führten zu einer entsprechenden Ergänzung. Sie trägt der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Rechnung, wonach jeder Eingriff in den grundrechtlich geschützten Bereich — hier: das grundrechtlich geschützte Eigentum — unter dem rechtsstaatlichen Gebot der Verhältnismäßigkeit von Mittel und Zweck steht (ζ. B. BVerfGE 24 404). Auch die Strafzumessung durch die Strafgerichte unterliegt den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und des Übermaßverbotes, die sich als übergreifende Leitregeln zwingend aus dem Rechtsstaatprinzip ergeben und deshalb Verfassungsrang haben (BVerfGE 23 127, 133). Teilreformen, vor allem aber die Rechtsprechung, die ältere zwingende Einziehungsvorschriften einengend auslegte und deutete, hatten bereits dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Eingang auf dem Gebiet der Einziehung verschafft (vgl. Rdn. 5 vor § 73; BGHSt. 18 282; 19 257; 20 192, 256). Nachdem in allgemeiner Form der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz durch das Strafprozeßänderungsgesetz v. 19. 12. 1964 als Leitgedanke für Eingriffe in die persönliche Freiheit im Zuge der Strafverfolgung förmlich niedergelegt war (§ 112 Abs. 1, § 116 StPO), umschreibt § 74 b auch für Eingriffe in das Eigentum durch Einziehung die Auswirkungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes allgemein gesetzlich. Die entsprechende Vorschrift für Ordnungswidrigkeiten enthält § 24 OWiG.

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2. Bedeutung für die zwingend vorgeschriebene Einziehung. Die Absätze 1, 3 des § 74 b enthalten zwar Regeln lediglich für den Fall, daß die Einziehung nicht vorgeschrieben, sondern nur durch eine „kann"-Vorschrift zugelassen, also in das richterliche Ermessen gestellt ist. Da aber der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz eine allgemein für staatliche Eingriffe jeder Art, gleichviel, ob nur zugelassen oder zwingend vorgeschrieben, geltende Regelung darstellt, ist auch in den Fällen einer zwingend vorgeschriebenen Einziehung im Einzelfall die Maßnahme am Übermaßverbot zu messen (BGHSt. 23 269 = NJW 1970 1694; OLG Braunschweig M D R 1974 594). Dabei hat freilich der Richter zu prüfen, ob nicht die gesetzliche Regelung bereits eine dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung tragende abschließende Regelung darstellt (dazu unten Rdn. 6, 7). § 74 b Abs. 2 trifft Bestimmung für die Fälle der §§ 74 und 74 a. Da § 74 Abs. 4 auch die Fälle einer zwingend vorgeschriebenen Einziehung umfaßt — und das gleiche gilt für § 74 a (vgl. dort Rdn. 23) —, gilt § 74 b Abs. 2 insoweit auch in den Fällen vorgeschriebener Einziehung. II. Allgemeine Auswirkungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (Absatz 1)

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1. Allgemeines. Für die Fälle des § 74 Abs. 2 Nr. 1 und des § 74 a, in denen die fakultative Einziehung den Täter, Teilnehmer oder den Dritteigentümer als straf(82)

Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Schäfer)

§ 74 b

ähnliche Maßnahme trifft und vorwiegend generalpräventiven Charakter hat, enthält § 74 b Abs. 1 als äußerste Schranke der Ermessensausübung ein Verbot der Einziehung, falls diese nach ihrer wirtschaftlichen Wirkung, insbesondere nach dem Wert des Einziehungsgegenstandes, zur Bedeutung der Tat und zu dem Vorwurf, der Täter, Teilnehmer oder Dritteigentümer trifft, außer Verhältnis, d. h. in einem offensichtlichen Mißverhältnis steht. Das Gericht muß danach zunächst prüfen, ob die Einziehung als solche mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vereinbar ist, und die Urteilsgründe müssen jedenfalls bei Einziehungsobjekten von einigem Belang erkennen lassen, daß die Abwägung stattgefunden hat; das Schweigen der Urteilsgründe ist aber unschädlich, wenn das Revisionsgericht aus dem abgeurteilten Sachverhalt ohne weiteres die Gründe entnehmen kann, die den Tatrichter zur Einziehung veranlaßten (OLG Hamm NJW 1973 1143). Wegen der Strafähnlichkeit der Maßnahme sind aber zugleich die allgemeinen Strafzumessungsregeln des § 46 zu beachten 1 . Der Richter hat danach in einer Gesamtbetrachtung sowohl die Bedeutung der Tat wie auch den persönlichen Schuldvorwurf zu würdigen und mit der Schwere des Eingriffs zu vergleichen, zugleich aber auch (im Fall des § 74 Abs. 2 Nr. 1) die Hauptstrafe (Freiheits- oder Geldstrafe) gegenüber der Einziehung abzuwägen und Strafe sowie Einziehung hinsichtlich ihrer Gesamtwirkung auf den Angeklagten abzustimmen, dergestalt, daß Strafe und Einziehung in ihrer Kumulierung schuldangemessen sein müssen (§ 46 Abs. 1 Satz 1). Die Gesamtwürdigung kann dazu führen, daß die Einziehung trotz erheblichen Vorwurfs wegen geringerer Bedeutung der Tat unverhältnismäßig ist und entfallen muß. Sie kann aber auch ergeben, daß die Einziehung bei einer Tat, die für die Allgemeinheit oder den einzelnen besonders schädlich ist, nach der Überzeugung des Gerichts selbst dann erforderlich ist, wenn den Täter, Teilnehmer oder Dritteigentümer nur ein verhältnismäßig geringer Schuldvorwurf trifft (Begr. S. 56); in einem solchen Fall wird dem durch die Ermäßigung der sonst — ohne die Einziehung — schuldangemessenen Strafe Rechnung zu tragen sein 2 . Verfahrensrechtlich ergibt sich aus dieser Wechselwirkung zwischen Hauptstrafe und nebenstrafähnlicher Einziehung, daß eine Beschränkung des Rechtsmittels innerhalb des Rechtsfolgenausspruchs, ζ. B. auf die Einziehung, unwirksam ist, wenn erkennbar bei Bemessung der Hauptstrafe eine über das Maß der Schuld hinausgehende Steigerung des Strafübels durch die Einziehung unberücksichtigt geblieben ist (OLG Hamm und OLG Düsseldorf aaO). Das bedeutet aber nicht, daß die Zulässigkeit der Rechtsmittelbeschränkung stets verneint werden müßte, wenn deutlich ist, daß die Hauptstrafe unabhängig von der daneben ausgesprochenen Einziehung bemessen worden ist (OLG Hamm OLGSt. § 74 S. 4; NJW 1978 1018; a. M. Dreher-Tröndle§ 74 Rdn. 21). 2. Kasuistik. Als unverhältnismäßig wurden in der Rechtsprechung ζ. B. angese- 4 hen die Einziehung einer ungenehmigt errichteten Funkanlage, die nur gelegentlich zu Ausstrahlungen von Musiksendungen mit launigen Ansagen benutzt wurde (BayObLG NJW 1967 586), oder die Einziehung eines wertvollen Beförderungsmittels wegen eines geringfügigen Vergehens (BGHSt. 16 285), ζ. B. des zum Schmuggeln von Zigaretten verwendeten PKW, dessen Wert 2 500 DM betrug, während die

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BGH vom 14.10. 1970 - 3 StR 180/70 - ; OLG Saarbrücken NJW 1975 66; OLG Hamm NJW 1975 67; OLG Düsseldorf VRS 51 [1976] 439 = GA 1977 21 ; Dreher-Tröndle Rdn. 2. BGHSt. 10 338 = NJW 1957 1446; BGHSt. 16 288 = NJW 1962 212; BayObLG NJW 1974 2060; OLG Saarbrücken NJW 1975 66; OLG Hamm NJW 1975 67; OLG Düsseldorf VRS 51 [1976] 439.

§ 74 b

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

Zollabgabe für die Schmuggelware sich auf 120 DM belief (OLG Hamm NJW 1962 828), oder des zur Begehung von fortgesetztem Betrug verwendeten PKW im Wert von einigen tausend DM, während der Gesamtvorsatz des Täters auf eine Beute von 600 DM ging und der tatsächlich angerichtete Schaden nur 350 DM betrug (OLG Hamm NJW 1975 68). Als nicht unverhältnismäßig wurde angesehen die Einziehung eines zur Vergewaltigung gebrauchten Motorboots (BGH NJW 1970 1332). Wegen weiterer Beispiele vgl. BGHSt. 26 258, 267 betr. Verhältnismäßigkeit der Einziehung von Druckschriften mit dem Programm einer für verfassungswidrig erklärten politischen Partei und OLG Hamm NJW 1973 1143 betr. Übergewicht des öffentlichen Interesses an der Verhinderung weiterer Fahrten ohne Fahrerlaubnis (§21 StVG) gegenüber dem Interesse des Angeklagten an der Erhaltung seines Eigentums am Kraftfahrzeug. Bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit können auch Umstände berücksichtigt werden, die außerhalb der unmittelbaren Einwirkungen liegen (vgl. KG NJW 1953 678). 5

3. Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes für die Sicherungseinziehung. Da der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz schlechthin für alle Eingriffe in den grundrechtlich geschützten Bereich gilt (oben Rdn. 2), macht er auch vor der Sicherungseinziehung (§ 74 Abs. 2 Nr. 2, 3) nicht halt, wie ja auch für die Maßregeln der Besserung und Sicherung im technischen Sinn § 62 bestimmt, daß sie nicht angeordnet werden dürfen, wenn sie zur Bedeutung der vom Täter begangenen und zu erwartenden Taten sowie zum Grad der von ihnen ausgehenden Gefahr außer Verhältnis stehen. Daher ist auch bei der fakultativen Sicherungseinziehung zu prüfen, ob diese außer Verhältnis zur Bedeutung der Tat, sowie zu Art und Bedeutung der Gefahr und des Grades der Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts steht; das wird bei einer nur individuellen Gefährlichkeit (§ 74 Rdn. 55) eher zu bejahen sein als bei der generellen Gefährlichkeit (Rdn. 53).

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4. Zwingend vorgeschriebene Einziehung. Nach den Eingangsworten des § 74 b Abs. 1 entfällt die richterliche Prüfung unter dem Gesichtspunkt des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, wenn die Einziehung zwingend vorgeschrieben ist, wie in §§ 150, 282 Satz 2, 285 b Satz 1 StGB. Da indessen auch eine zwingend vorgeschriebene Einziehung dem rechtsstaatlichen Gebot der Verhältnismäßigkeit untersteht (oben Rdn. 2), erhebt sich die Frage, ob § 74 b Abs. 1, soweit er die richterliche Prüfung ausschließt, nicht verfassungswidrig ist, wie dies im Schrifttum (vgl. Sch.Schröder-Eser 74 Rdn. 2) für möglich erklärt wird. Indessen taucht diese Frage bei richtiger Auslegung der Vorschrift praktisch nicht auf. Die Fassung des § 74 b Abs. 1 in den Eingangsworten (vgl. dazu die Erörterungen in der 54. Sitzung des Sonderausschusses v. 9. 3.1967 — Prot. S. 1045 f —, die die Frage der Grundgesetzmäßigkeit der gewählten Fassung zum Gegenstand hatten) beruht auf der Erwägung, daß dem Gesetzgeber, um dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auch bei zwingend vorgeschriebenen Eingriffen Rechnung zu tragen, zwei Wege zur Verfügung stehen. Er kann einmal generell die Anwendbarkeit des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes für einen Bereich von Maßnahmen aussprechen und ihn bei einer einzelnen Maßnahme ausschließen: so ist der Gesetzgeber bei den Maßregeln der Besserung und Sicherung verfahren, wo er in § 62 generell deren Unterstellung unter den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz aussprach, aber in § 69 Abs. 1 Satz 2 (betr. Entziehung der Fahrerlaubnis) bestimmte, daß es „einer weiteren Prüfung nach § 62 nicht bedürfe", weil das Gesetz davon ausgeht, daß bei festgestellter Ungeeignetheit zum Führen von Kraftfahrzeugen die Entziehung der Fahrerlaubnis stets verhält(84)

Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Schäfer)

§ 74 b

nismäßig ist. Der Gesetzgeber kann umgekehrt generell die Anwendbarkeit des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes für bestimmte Maßnahmen ausschließen, wenn er solche nur für Fälle anordnet, in denen nach seiner Auffassung keine Fallgestaltung denkbar ist, bei der der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz praktisch zur Anwendung kommen könnte. So ist der Gesetzgeber in § 74 b Abs. 1 verfahren; er ging davon aus, „daß die zwingende Einziehung die ganz seltene Ausnahme sein müsse und nur dann vom Gesetzgeber vorgeschrieben werden könne, wenn er im vorhinein unter Berücksichtigung aller möglichen Fallgestaltungen sagen könne, daß die Einziehung bei diesem Straftatbestand niemals außer Verhältnis stehen werde" (so der Reg Vertreter in der vorgenannten 54. Sitzung — Prot. S. 1045 — ). Folgerungen. Bei beiden Methoden (Rdn. 6) bedeutet also die im Gesetz ausge- 7 sprochene Beschränkung der richterlichen Nachprüfung nicht, daß der einfache Gesetzgeber — gegen den unbeschränkt anwendbaren Verfassungssatz verstoßend — den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz für unanwendbar erkläre, sondern lediglich, daß er selbst bereits diese Prüfung unter Berücksichtigung aller denkbaren Fallgestaltungen vorgenommen habe, so daß ein Anlaß und ein Bedürfnis für eine weitere richterliche Prüfung im Einzelfall sich regelmäßig erübrige. An diese gesetzgeberische Abwägung ist der Richter grundsätzlich gebunden, nachdem auch die Einziehungsvorschriften des Nebenstrafrechts dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit angepaßt worden sind. Erst bei einer abnormen Fallgestaltung, die erkennbar nicht im Überlegungsbereich des Gesetzgebers gelegen haben kann, kommt zur Vermeidung einer groben Ungerechtigkeit die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in Betracht; notfalls wäre der Weg des Art. 100 GG zu beschreiten (vgl. auch § 74 d Rdn. 27). III. Vorbehalt der Einziehung (Absatz 2) 1. Allgemeines. Auch wenn die Einziehung nicht unverhältnismäßig ist, wird 8 nach Absatz 2 eine weniger einschneidende Maßnahme angeordnet, wenn der Zweck der Einziehung auch durch sie erreicht werden kann. Grundsätzlich muß sich aus den Urteilsgründen ergeben, ob das Gericht diese Regel bedacht hat (BayObLG NJW 1974 2060), doch erübrigen sich Ausführungen im Urteil, wenn nach Lage des Falles erkennbar weniger einschneidende Maßnahmen nicht in Betracht kommen (OLG Köln OLGSt. § 74 S. 1). Nach ihrem Wortlaut bezieht sich die Vorschrift auf alle von §§ 74, 74 a umfaßten Einzelfälle. Da aber maßgeblich ist, welchen Zweck die Einziehung nach den Umständen des Einzelfalles haben soll, ergeben sich Unterschiede, je nachdem ob die Einziehung vorzugsweise Straf- oder Sicherungscharakter hat. 2. Das primäre Anwendungsgebiet der Vorschrift liegt bei der Sicberungseinzie- 9 hung (§ 74 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 3), da hier der Zweck der Einziehung (die Abwendung von Gefahren für die Allgemeinheit und die Abwendung der Gefahr, daß der Gegenstand der Begehung mit Strafe bedrohter Handlungen dient), vielfach durch weniger einschneidende Maßnahmen erreichbar ist, die die Gefahr beseitigen und dem Täter nach Möglichkeit den wirtschaftlichen Wert der Sache erhalten. Sind dagegen die Voraussetzungen der Einziehung nach § 74 Abs. 2 Nr. 1 oder nach § 74 a gegeben, und macht der Richter unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes von der „Kann"-Vorschrift Gebrauch, so erfolgt die Einziehung grundsätzlich als Erwiderung auf vorwerfbares Verhalten ; der Straf- oder strafähnliche Charakter aber schließt regelmäßig die Anwendung des § 74 b Abs. 2 aus, (85)

§ 74 b

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

denn wenn die Einziehung als Strafübel (Verlust des Eigentums) aus Gründen der Speziai- und Generalprävention in Betracht kommt, so kann ihr Zweck durch eine weniger einschneidende Maßnahme nicht erreicht werden (ebenso OLG Köln OLGSt. § 74 S. 1 ; Sch.-Schröder-Eser Rdn. 6; Preisendanz 2 a; Lackner 2 a; Göhler 3 A b zu § 24 OWiG; a. M. SK-Horn Rdn. 5). Das gilt auch dann, wenn gleichzeitig die Voraussetzungen des § 74 Abs. 2 Nr. 1 und die des § 74 Abs. 2 Nr. 2 vorliegen (vgl. Rdn. 59 zu § 74). Jedoch kann bei einer Ermessensausübung im Fall des § 74 Abs. 2 Nr. 1 auch der Sicherungszweck eine Rolle spielen, so etwa, wenn der Gegenstand nach seiner Art gefährlich ist, aber zweifelhaft bleibt, ob auch nach den Umständen eine Gefahr für die Allgemeinheit besteht. In solchen Fällen kann § 74 b Abs. 2 mit Rücksicht auf den zugleich verfolgten Sicherungszweck anwendbar sein. 10

3. Als Beispiele („namentlich") weniger einschneidender Maßnahmen nennt Absatz 2 Satz 2 eine Reihe von Anweisungen. Sie betreffen a) die Unbrauchbarmachung, die dem Gegenstand die Gefährlichkeit entzieht, dem Einziehungsbetroffenen aber das Eigentum an der Substanz beläßt, b) die Beseitigung bestimmter Einrichtungen am Einziehungsgegenstand, z. B. die Beseitigung besonderer Scheinwerfereinrichtungen, die der Täter am Kraftfahrzeug anbrachte, um mit ihrer Hilfe vom Kraftfahrzeug aus zu wildern, die Entfernung von Spezialeinrichtungen, mit denen das zu Schmuggelfahrten verwendete Kraftfahrzeug ausgestattet war, c) die Beseitigung von Kennzeichen, z. B. die Ablösung der falschen Etikettierung auf Weinflaschen, wenn der darin enthaltene Wein bei richtiger Etikettierung in den Verkehr gebracht werden darf, die Unkenntlichmachung von Kennzeichen auf Umhüllungen, die die Voraussetzungen der §§ 86 a, 92 b erfüllen, durch Schwärzen des Kennzeichens (BGHSt. 23 65, 79), d) die Gegenstände sonst zu ändern, z. B. verkehrsunfähigen Wein der Essigbereitung zuzuführen oder teilweise pornographische Filme entsprechend zu schneiden (Seetzen NJW 1976 500). e) über die Gegenstände in bestimmter Weise zu verfügen, z. B. Gegenstände, die befugterweise sich nur in der Hand bestimmter Personen befinden oder von diesen verwendet werden dürfen, an sie zu veräußern, etwa verschreibungspflichtige Arzneimittel an einen Apotheker (BayObLG NJW 1974 2060). Oder es wird, wenn neben einer Verurteilung wegen Führens eines Kraftfahrzeugs ohne Fahrerlaubnis (§21 StVG) die Wegnahme des Kraftfahrzeugs geboten erscheint, weil die Gefahr besteht, daß der Täter wiederum das Kraftfahrzeug führen wird, falls es in seinem Besitz verbleibt, die Einziehung nach § 21 Abs. 3 StVG, § 74 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 4 StGB vorbehalten und dem Verurteilten die Anweisung erteilt, das Fahrzeug freihändig zu veräußern (OLG Braunschweig M D R 1974 594). Erfolgt eine solche Veräußerung in Befolgung einer Anweisung (unten Rdn. 11), so steht § 74 e Abs. 3 dem nicht entgegen ; das gesetzliche Veräußerungsverbot wird durch die spezielle Veräußerungsanweisung außer Kraft gesetzt. f) Eine weitere Maßnahme regelt § 56 Abs. 4 WaffG i. d. F. des Gesetzes vom 31.5. 1978 (BGBl. I 641) betr. Erwerb bzw. Besitz von Schußwaffen und Munition ohne die erforderliche behördliche Erlaubnis; danach kommt als Maßnahme i. S. des § 74 b Abs. 2 Satz 2 StGB auch die Anweisung in Betracht, binnen einer angemessenen Frist die Entscheidung der zuständigen Behörde über die Erteilung der Erlaubnis vorzulegen oder die Gegenstände einem Berechtigten zu überlassen. (86)

Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Schäfer)

§ 74 b

4. Durchführung von Anweisungen. Wäre die Durchführung weniger einschnei- 11 dender Maßnahmen nur dem Vollstreckungsverfahren überlassen, so müßte nach § 459 g StPO verfahren, die Sache dem Verurteilten oder Einziehungsbeteiligten weggenommen und die Maßnahme an oder mit der Sache vorgenommen werden. Daraus könnten sich beträchtliche Verzögerungen und Schwierigkeiten und Belastungen der Staatskasse ergeben. § 74 b Abs. 2 sieht deshalb vor, daß das Gericht im Urteil die Einziehung vorbehält und bestimmte Maßnahmen anordnet, die dem Gegenstand die Gefährlichkeit entziehen. Als Regelfall solcher Maßnahmen sieht der Gesetzgeber bestimmte Anweisungen über die Behandlung des Gegenstandes an. Sie richten sich auch im subjektiven Strafverfahren nur dann an den angeklagten Täter oder Teilnehmer, wenn er Eigentümer oder Rechtsinhaber ist, sonst an den (im Protokoll nach § 272 Nr. 4 StPO als Nebenbeteiligten aufzuführenden) Eigentümer oder Rechtsinhaber, da nur der Eigentümer (Rechtsinhaber) über den Gegenstand verfügen kann und bei Nichtbefolgung der Anweisung sein Eigentum durch nachträgliche Einziehung verliert (ebenso Göhler 3 C zu § 24 OWiG). Dem Angewiesenen bleibt es überlassen, innerhalb der ihm im Urteil gesetzten Frist die Maßnahmen selbst durchzuführen oder (auf seine Kosten) durchführen zu lassen. Soweit erforderlich können dem Betroffenen über die allgemeine Anweisung im Sinn der Nummern 1 bis 3 des § 74 b Abs. 2 Satz 2 hinaus nähere Weisungen über deren Durchführung erteilt werden, ζ. B. kann dem zur Veräußerung seines Kraftfahrzeugs angewiesenen Täter (oben Rdn. 10 zu e), um seinem Einwand zu begegnen, daß er während der ihm gesetzten Frist keinen zur Zahlung eines angemessenen Kaufpreises bereiten Käufer gefunden habe, aufgegeben werden, daß er es jedenfalls zu dem Schätzpreis zu veräußern habe, den ein von ihm zu beauftragender und zu honorierender amtlich anerkannter Sachverständiger bestimmt (OLG Braunschweig M D R 1974 594). Kommt der Angewiesene der Anweisung nach, so wird der Vorbehalt der Einziehung aufgehoben. Bleibt die Anweisung — wenn auch ohne Verschulden des Angewiesenen {Lackner4; Göhler'i E; Rotberg 14 zu §24 OWiG; a. M. SK-Horn Rdn. 11 bezgl. der strafähnlichen Einziehung) — unbefolgt, so wird nachträglich die Einziehung des Gegenstandes angeordnet, da dann feststeht, daß der Zweck der Einziehung durch weniger einschneidende Maßnahmen nicht zu erreichen ist. Diese Entscheidungen werden gemäß § 462 Abs. 1 Satz 2 StPO durch Beschluß getroffen. Durch einen solchen Beschluß kann auch die im Urteil bestimmte Frist auf Antrag verlängert werden, wenn sie sich als zur Durchführung der Anweisung nicht ausreichend erweist (Göhler 3 E zu § 24 OWiG). Vgl. ergänzend unten Rdn. 14. 5. Durchführung von Maßnahmen von Amts wegen. § 74 b Abs. 2 besagt nicht, daß 12 die Ergreifung weniger einschneidender Maßnahmen nur im Wege der Anweisung an den Einziehungsbetroffenen möglich sei. Zulässig ist es auch, in Verbindung mit dem Einziehungsvorbehalt andere Maßnahmen anzuordnen, z. B. die Unbrauchbarmachung des Gegenstandes von Amts wegen; dann erfolgt die Aufhebung des Vorbehalts von Amts wegen nach Durchführung der Maßnahme (Göhler 3 C zu § 24). Die Kosten solcher Maßnahmen trägt dann der Eigentümer als Angeklagter nach § 465 oder als Nebenbeteiligter nach § 472 b StPO. 6. Keine weniger einschneidende Maßnahme i. S. des § 74 b Abs. 2 wäre — gegen 13 OLG Karlsruhe NJW 1970 394, 396 — die Entgegennahme einer schriftlichen ehrenwörtlichen Versicherung des Täters, in Zukunft nicht mehr den Gegenstand zu strafbaren Handlungen (in dem entschiedenen Fall: ein Rundfunkgerät nicht (87)

§ 74 b

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

mehr entgegen § 15 Abs. 2 a FernmeldeanlG zum Abhören nicht für die Allgemeinheit bestimmter Sendungen) zu verwenden, da dann der Erfüllungszwang entfällt; es läge auch keine Anweisung i. S. des § 74 b Abs. 2 Nr. 3 vor, wenn das Gericht dem Täter die Abgabe einer solchen Erklärung aufgäbe, da in der bloßen Abstandnahme von einem bestimmten Gebrauch des Gegenstandes keine „Verfügung" liegt, die dem Gegenstand die Gefährlichkeit in der Hand des Täters entzieht (ebenso Dreher-Tröndle Rdn. 3 ; Sch.-Schröder-Eser Rdn. 9; Göhler 3 C zu § 24 OWiG). 14 7. Der Einziehungsvorbehalt hat gemäß § 74 e Abs. 3 die Wirkung eines Veräußerungsverbots nach § 136 BGB. Sind die Gegenstände beschlagnahmt, so ist das Gericht nicht gehalten, die Beschlagnahme zur Durchführung der Anweisungen aufzuheben, wohl aber muß es die Durchführung der Maßnahmen zulassen und kann zu diesem Zweck den Gegenstand unter Aufrechterhaltung der Beschlagnahme vorübergehend dem Betroffenen überlassen (vgl. § 111 c Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 und Abs. 3 StPO sowie dazu L R - M e y e f ö § 111 c Rdn. 19 ff). Es ist auch zulässig, trotz Rechtskraft des den Einziehungsvorbehalt aussprechenden Urteils einen noch nicht beschlagnahmten Gegenstand zu beschlagnahmen, z. B. weil eine Vereitelung der Einziehung unter Mißachtung der Anweisung zu besorgen ist, denn solange über den Wegfall des Vorbehalts der Einziehung noch nicht entschieden ist, liegt ein der Einziehung unterliegender Gegenstand i. S. des § 111 b StPO vor (ebenso Göhler 3 Β zu § 24 OWiG); dabei kann der Vollzug der Beschlagnahme auch durch eine weniger einschneidende Maßnahme, wie bestimmte Auflagen, ersetzt werden. Im übrigen fehlt es an Vorschriften über die Durchführung des Verfahrens im Anweisungsstadium ; es bleibt ζ. B. offen, welcher Stelle — Gericht oder Vollstrekkungsbehörde — es obliegt, zu überwachen, ob der Einziehungsbetroffene der Anweisung nachkommt oder nachgekommen ist. Die Rechtslage im Stadium zwischen Erlaß der Anweisung unter Vorbehalt der Einziehung und der Entscheidung über Aufhebung des Vorbehalts oder nachträglicher Einziehung hat eine gewisse Ähnlichkeit mit der bei Stellung unter Bewährungsfrist, da in beiden Fällen nur ein mittelbarer Zwang zur Erfüllung gerichtlicher Weisungen durch ein drohendes Übel (Widerruf der Aussetzung, nachträgliche Einziehung) besteht; es liegt deshalb nahe, den Gedanken des § 453 b StPO anzuwenden und das Gericht als die Stelle anzusehen, die — ggf. unter Inanspruchnahme der Rechts- oder Amtshilfe anderer Stellen — nachzuprüfen hat, ob der Angewiesene der Anweisung nachgekommen ist.

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IV. Teileinziehung (Absatz 3). 1. Zulässigkeit. Die Teileinziehung, als eine dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechende mildere Maßnahme ist nach dem Gesetzeswortlaut nur bei fakultativer Einziehung vorgesehen, und zwar von der Erwägung ausgehend, daß in den seltenen Fällen einer zwingend vorgeschriebenen Einziehung bereits der Gesetzgeber den Gegenstand und Umfang der Einziehung in einer dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung tragenden Weise bestimmt habe oder bestimmen werde. Dadurch wird aber nicht ausgeschlossen, daß auch bei atypischen Fällen einer zwingend vorgeschriebenen Einziehung eine durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebotene Beschränkung auf eine Teileinziehung erfolgt (Sch.-Schröder-Eser Rdn. 11 ; oben Rdn. 6, 7). 2. Anwendungsbereich. Teileinziehung ist sowohl die auf einen Teil einer Mehrheit von Gegenständen beschränkte Einziehung wie auch die Einziehung eines Teils (88)

Einziehung des Wertersatzes (Schäfer)

§ 74 c

eines teilbaren Gegenstandes, der sich ohne Verminderung seines Wertes in gleichartige Teile zerlegen läßt (ζ. B. einer bestimmten Menge aus einem Faß Wein oder aus der in einem Eisenbahnwagen befindlichen Getreidemenge oder eines Teils einer Forderung). Keine teilbaren Sachen sind im allgemeinen zusammengesetzte einheitliche Sachen, wie ζ. B. ein Kraftfahrzeug; ausgeschlossen wäre ζ. B. eine auf die Räder eines Kfz. beschränkte Einziehung (BayObLGSt. 1961 277, 281); zulässig ist es dagegen, die Einziehung eines schonzeitwidrig erlegten Tieres auf Teile (Decke, Trophäe usw.) zu beschränken, wie dies § 40 a. F. BJG ausdrücklich vorsah. Unberührt bleibt die Möglichkeit, gemäß § 74 b Abs. 2 auch bei zusammengesetzten einheitlichen Sachen die Beseitigung eines Teils („bestimmter Einrichtungen") anzuordnen (oben Rdn. 10). Keine zulässige Teileinziehung wäre die Begründung eines anders gearteten Rechts am Einziehungsgegenstand, ζ. B. die Begründung von Miteigentum an einer unteilbaren Sache (BayObLGSt. 1961 277, 278); dagegen ist ideelles Miteigentum an einem Gegenstand ein selbständig einziehbares Recht (Rdn. 46 ff zu § 74). V. Ausscheidung der Einziehung aus verfahrensrechtlichen Gründen. Unabhängig 17 von den Voraussetzungen des § 74 b Abs. 1, also ohne Rücksicht darauf, ob die Einziehung straf- oder strafähnlichen oder Sicherungscharakter hat und ob sie nur zugelassen („kann") oder zwingend vorgeschrieben ist, läßt § 430 StPO die Ausscheidung der Einziehung aus dem Verfahren zu, wenn sie neben der zu erwartenden Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung nicht ins Gewicht fällt, oder wenn das Verfahren, soweit es die Einziehung betrifft, einen unangemessenen Aufwand erfordern oder die Herbeiführung der Entscheidung über die anderen Rechtsfolgen der Tat unangemessen erschweren würde.

§ 74 C Einziehung des Wertersatzes (1) Hat der Täter oder Teilnehmer den Gegenstand, der ihm zur Zeit der Tat gehörte oder zustand und auf dessen Einziehung hätte erkannt werden können, vor der Entscheidung über die Einziehung verwertet, namentlich veräußert oder verbraucht, oder hat er die Einziehung des Gegenstandes sonst vereitelt, so kann das Gericht die Einziehung eines Geldbetrages gegen den Täter oder Teilnehmer bis zu der Höhe anordnen, die dem Wert des Gegenstandes entspricht. (2) Eine solche Anordnung kann das Gericht auch neben der Einziehung eines Gegenstandes oder an deren Stelle treffen, wenn ihn der Täter oder Teilnehmer vor der Entscheidung über die Einziehung mit dem Recht eines Dritten belastet hat, dessen Erlöschen ohne Entschädigung nicht angeordnet werden kann oder im Falle der Einziehung nicht angeordnet werden könnte (§ 74 e Abs. 2, § 74 f); trifft das Gericht die Anordnung neben der Einziehung, so bemißt sich die Höhe des Wertersatzes nach dem Wert der Belastung des Gegenstandes. (3) Der Wert des Gegenstandes und der Belastung kann geschätzt werden. (4) Für die Bewilligung von Zahlungserleichterungen gilt § 42. Schrifttum Bender Fragen der Wertersatzeinziehung, NJW 1969 1056. (89)

§ 74 c

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

Entstehungsgeschichte In seiner ursprünglichen auf dem EGOWiG 1968 beruhenden Fassung enthielt der dem § 74 c entsprechende § 40 c einen Absatz 4, der durch Art. 1 des 2. StrRG vom 4. 7. 1969 — unter Ausdehnung auf den Verfall — als § 76 eingestellt wurde. Der bisherige Absatz 5 wurde dadurch Absatz 4.

I. Grundgedanke und Entwicklungsgeschichte 1

1. § 74 c ergänzt die §§ 74 und 74 a. Die Vorschrift soll zunächst eine Lücke schließen, die sich sonst bei der Einziehungsregel des § 74 Abs. 2 Nr. 1 ergeben würde. Diese Bestimmung setzt voraus, daß der Täter oder Teilnehmer im Zeitpunkt der Entscheidung Eigentümer der Sache oder Inhaber des Rechts ist. War er zur Tatzeit Eigentümer (Rechtsinhaber), so kann er die Einziehung dadurch umgehen, daß er vor der Entscheidung über die Einziehung den Gegenstand verwertet, namentlich veräußert (ohne daß die Einziehungsvoraussetzungen nach § 74 a Nr. 2 gegeben sind) oder verbraucht, oder daß er die Einziehung sonst vereitelt. Dem begegnet § 74 c, indem er an Stelle der nicht mehr möglichen Einziehung des Gegenstandes die Einziehung von Wertersatz ermöglicht (§ 74 c Abs. 1). § 74 c will weiterhin unangemessene Ergebnisse ausschließen, die sich ergeben könnten, wenn zwar die Substanz des Gegenstandes dem Täter nach der Tat verbleibt, er aber diesem bis zur Entscheidung den wirtschaftlichen Wert entzieht oder ihn verringert, indem er ihn mit Rechten Dritter belastet (§ 74 c Abs. 2). § 74 c wird ergänzt durch §76.

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2. Entwicklungsgeschichte. Das Strafgesetzbuch enthielt früher keine dem § 74 c entsprechende allgemeine Vorschrift. Nur in Einzelvorschriften (z. B. § 335 a. F. StGB) und im Zoll- und Verbrauchssteuerstrafrecht der Reichsabgabenordnung war eine Ersatzeinziehung in Form der Auferlegung einer Vermögensstrafe vorgesehen, die dem Wert des Gegenstandes entsprach, dessen Einziehung oder Verfallserklärung nicht mehr möglich war. Eine allgemeine Vorschrift über die Ersatzeinziehung brachte — beschränkt auf das Gebiet der Ordnungswidrigkeiten — § 20 OWiG 1952, der seine Vorbilder in dem früheren § 401 RAO und in § 41 WiStG 1949 hatte. Bei den Beratungen der Großen Strafrechtskommission wurde auch für das Strafrecht eine allgemeine Vorschrift über die Einziehung des Wertersatzes konzipiert (später § 115 StGB-Entw. 1962), die in die abgabenrechtlichen (§ 414 a. F.) und in die Einziehungsvorschriften des Außenwirtschaftsgesetzes (§ 40) übernommen wurde. An die Grundgedanken des § 115 StGB-Entw. schloß sich der in Art. 1 Entw.-EGOWiG 1968 (BT-Drucks. V/1319) vorgeschlagene §40 an, der aber im Lauf der parlamentarischen Erörterungen Fassungsänderungen erfuhr und um den jetzigen Absatz 2 des § 74 c ergänzt wurde.

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3. Eine dem § 74 c entsprechende Vorschrift enthält für das Gebiet der Ordnungswidrigkeiten § 25 OWiG. II. Voraussetzungen der Wertersatzeinziehung (Absatz 1) 1. Die Einziehung des Wertersatzes nach § 74 c Abs. 1 setzt voraus:

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a) daß der Täter oder Teilnehmer zur Zeit der Tat Eigentümer (Rechtsinhaber) des Einziehungsgegenstandes war. Gegenüber einem tatunbeteiligten Dritteigentü(90)

Einziehung des Wertersatzes (Schäfer)

§ 74 c

mer ist also eine Wertersatzeinziehung stets ausgeschlossen, auch wenn er eine nach § 74 a oder § 74 Abs. 2 Nr. 2 mit Wirkung gegen ihn mögliche Einziehung des Gegenstandes vereitelte. Ebenso ist § 74 c unanwendbar, wenn der Täter erst nach der Tat Eigentümer (Rechtsinhaber) wurde und eine Einziehung nach § 74 Abs. 2 Nr. 1 möglich gewesen wäre, falls er diese Rechtsstellung bis zur Entscheidung behalten und sie nicht auf die in § 74 c Abs. 1 bezeichnete Weise in der Zeit zwischen Erwerb und Entscheidung verloren hätte, b) daß auf die Einziehung des Gegenstandes hätte erkannt werden können, aber 5 nicht mehr erkannt werden kann, weil das Eigentum oder Recht in der in Absatz 1 beschriebenen Art unter- oder auf einen anderen übergegangen ist. Die Einziehung des Wertersatzes entfällt danach, wenn eine Einziehung des Gegenstandes selbst gemäß § 74 b Abs. 1 wegen UnVerhältnismäßigkeit nicht hätte angeordnet werden dürfen (allg. M.), c) daß eine Einziehung, die zulässig gewesen wäre, im Zeitpunkt der Entschei- 6 dung aus bestimmten Gründen nicht mehr möglich ist. Diese Voraussetzung entfällt, wenn der Gegenstand zwar nicht mehr im Zeitpunkt der Entscheidung dem Täter (Teilnehmer) gehört oder zusteht, die Einziehung aber ausführbar ist, da der Gegenstand einem tatunbeteiligten Dritten gehört, dem gegenüber eine Einziehung zulässig ist, weil die Voraussetzungen des § 74 a Nr. 2 oder des § 74 Abs. 2 Nr. 2 gegeben sind. Solange eine solche Dritteinziehung, wenn auch außerhalb des gegen den Täter anhängigen Verfahrens, noch zu erwarten ist, sind die Voraussetzungen der Wertersatzeinziehung nicht gegeben (BGHSt. 8 98). 2. Verhältnis von „Verwerten" und „Vereiteln". Bei den Gründen, die eine Einzie- 7 hung des Gegenstandes ausschließen und nur eine Wertersatzeinziehung ermöglichen, unterscheidet das Gesetz zwei Gruppen von Fällen, nämlich a) der Täter (Teilnehmer) hat den Gegenstand vor der Entscheidung verwertet, b) er hat die Einziehung sonst vereitelt. „Vereiteln" ist aber — trotz des „sonst" — nicht schlechthin der Oberbegriff für die Handlungen des Täters (Teilnehmers), die eine Einziehung des Gegenstandes selbst unmöglich gemacht haben, so daß unter den Begriff des Vereiteins auch alle Fälle des Verwertens fielen (a. M. Bender NJW 1969 1057), vielmehr können Verwertungsfälle zugleich Vereitelungsfälle sein, müssen es aber nicht sein. Das ergibt sich schon aus der Fassung des Gesetzes, die den Fall der Vereitelung von der bloßen Verwertung abhebt („oder hat e r . . . " ) , und ergab sich noch deutlicher aus §115 StGB-Entw. 1962, wo der Fall des Vereiteins gesondert in Absatz 2 behandelt war (s. auch § 92 b Abs. 2 a. F. „ . . . oder der Betroffene das Empfangene vor der Entscheidung über die Einziehung verbraucht und dabei nicht zur Vereitelung der Einziehung gehandelt h a t . . . " ) . 3. Begriff des Vereiteins. Nach § 115 Abs. 2 StGB-Entw. 1962 und ihm folgend 8 § 414 a Abs. 2 a. F. RAbgO sollte die Wertersatzeinziehung zulässig sein, wenn der Täter „die Ausführung der Einziehung vereitelt und ihm dies vorzuwerfen ist". Im Anschluß daran lautete § 40 c im Entw. EGOWiG 1968: „oder hat er die Einziehung des Gegenstandes vorwerfbar vereitelt". In der 55. Sitzung des Sonderausschusses (Prot. S. 1048) beantragte ein Ausschußmitglied, das Wort vorwerfbar als entbehrlich zu streichen, „da es praktisch in dem Vereiteln enthalten sei". Zum Vereiteln gehöre, „daß etwas im Hinblick auf die drohende Einziehung geschehe". Der Ausschuß beschloß demgemäß die Streichung des Wortes „vorwerfbar" mit Stimmenmehrheit. Nach dieser Entstehungsgeschichte der Vorschrift gehört also zum (91)

§ 74 c

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

Vereiteln objektiv eine rechtliche oder tatsächliche Einwirkung des Täters auf den Gegenstand, die dessen Einziehung unmöglich macht, und subjektiv („im Hinblick auf die drohende Einziehung"), daß der Täter dabei weiß oder wenigstens (dem bedingten Vorsatz entsprechend) billigend in Kauf nimmt, daß dadurch die Einziehung verhindert wird, während ein nur fahrlässiges, auch ein grobfahrlässiges (leichtfertiges) Verhalten, das die Einziehung unmöglich macht, nicht eine „Vereitelung" darstellt 1 . Es liegt danach ζ. B. kein Vereiteln vor, wenn der Täter den einziehbaren Gegenstand unsachgemäß aufbewahrt und er dadurch verdirbt, oder wenn er ihn nur infolge einer Verwechslung mit einem anderen Gegenstand zerstört. Diese Auslegung entspricht aber auch der ratio legis: es kann zwar nicht Sinn des Gesetzes sein, dem Täter eine umfassende Sorgfaltspflicht aufzuerlegen, den Gegenstand einziehungsfähig zu erhalten, aber es läßt sich rechtfertigen, dem Täter ein Strafübel anzudrohen, wenn er „vorsätzlich" den Einziehungsgegenstand der drohenden Einziehung entzieht. Es kommt hier in abgeschwächter Form der Gedanke einer gewissen Verstrickung des Gegenstandes durch die Beziehung zur Straftat zum Ausdruck, der auch dem § 74 a Nr. 2 zugrunde liegt: wie sich der Erwerber der strafähnlichen Dritteinziehung aussetzt, wenn er den tatverstrickten Gegenstand in Kenntnis der Umstände, die die Einziehung zugelassen hätten, erwirbt, so setzt sich auch der Täter einem Strafübel aus, wenn er „vorsätzlich" die Einziehung des Gegenstandes unmöglich macht. Zum Vorsatz der Vereitelung gehört nicht die richtige rechtliche Würdigung des Vorgangs; der Täter braucht nicht zu wissen, daß der Gegenstand einziehbar ist, und daß sein Verhalten die Einziehung verhindert. Eine Vereitelungsafos/cAf ist nicht erforderlich. 9

Von einem anderen Verständnis der Vorschrift geht SK-Horn 7, 8 aus: den Täter wegen der vorsätzlichen Vereitelung des Zugriffs auf den Einziehungsgegenstand zu „bestrafen" sei nicht Aufgabe des § 74 c, sondern des § 258. Grundgedanke des § 74 c sei nur die Erfassung des an die Stelle des Einziehungsgegenstandes (bei Verwertung) getretenen Surrogats. Wenn aber der Einziehungsgegenstand — gleichviel ob mit oder ohne Verschulden des Beteiligten — bereits aus seinem Vermögen gefallen sei, ohne ein Surrogat zu hinterlassen, so habe er „per saldo die gleiche Vermögensminderung zu verzeichnen, die ihm eigentlich von Rechts wegen zugedacht gewesen ist". Darauf ist zu erwidern : die Verweisung auf § 258 geht ins Leere, denn § 258 Abs. 2 bedroht nur die Vereitelung der Vollstreckung der gegen einen anderen verhängten Maßnahme; im übrigen ist die abgelehnte Auffassung (was übrigens Horn aaO nicht verkennt) weder mit der Entstehungsgeschichte noch mit dem eindeutigen Gesetzeswortlaut vereinbar. Dem Gesetz muß sich aber auch fügen, wer mit seiner Konstruktion nicht einverstanden ist oder sogar (wie Baumann AT 8 S. 651) die Wertersatzeinziehung für „absolut unsinnig" hält.

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4. Rechtsnatur. Die Einziehung des Wertersatzes hat in der Regel Strafcharakter, da sie eine Reaktion auf schuldhafte (vorsätzliche) Pflichtverletzung darstellt (ebenso Sch.-Schröder-Eser Rdn. 2; Dreher-Tröndle Rdn. 1; Maurach-Zipf AT Teilbd. 2 5 S. 407), wie dies auch schon für das frühere Recht angenommen wurde (ζ. B. RGSt. 49 408; 72 239; 74 183; BGHSt. 3 164; 4 407; 5 163). Doch stellt sie

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Ebenso oder ähnlich Lackner]2 2; Bender NJW 1969 1056; Dreher-Tröndle38 Rdn. 3; Göhler 2 Β zu §25 OWiG; Maurach-Zipf AT Teilbd. 25 S.407; a. M. Sch.-Schröder-Eser Rdn. 6, wonach Fahrlässigkeit, ζ. B. Verkommenlassen aus Nachlässigkeit, und — zu § 25 OWiG — Rotberg 5, wonach sogar eine nur objektive Einziehungsvereitelung genügt. (92)

Einziehung des Wertersatzes (Schäfer)

§ 74 c

weder eine Nebenstrafe im technischen Sinn dar, da sie nach § 76 a selbständig angeordnet werden kann, noch liegt eine Geldstrafe im technischen Sinn vor (unten Rdn. 21). 5. Beispielsfälle einer tatsächlichen Vereitelung sind die Zerstörung oder Beseiti- 11 gung des Gegenstandes (Wegwerfen usw.) und die Gestattung, die „vorsätzliche" Nichtverhinderung der entsprechenden Einwirkung eines Dritten; Beispielsfälle einer rechtlichen Vereitelung die entgeltliche Veräußerung des Gegenstandes an einen Dritten, ohne daß eine Einziehung mit Wirkung diesem gegenüber möglich ist, so bei Veräußerung an einen gutgläubigen Dritten oder an einen Dritten, der zwar bösgläubig (§ 74 a Nr. 2) ist, dem aber der Gegenstand zur Zeit der Entscheidung nicht mehr gehört, weil er ihn zerstört, verbraucht oder an einen gutgläubigen Vierten weiterveräußert hat. Bei Veräußerung an einen unbekannten Dritten liegt Vereitelung vor, weil nicht feststellbar ist, daß eine Einziehung noch möglich ist (BGHSt. 28 369 = MDR 1979 685; Bender NJW 1969 1057). 5. Begriff des Verwertens a) Verwerten bedeutet, wie die angeführten Beispiele (Rdn. 11) ergeben, eine die 12 Einziehung verhindernde rechtliche oder tatsächliche Einwirkung auf den Gegenstand, dergestalt, daß der Täter daraus einen Vorteil (Nutzen) zieht, ζ. B. durch Verzehr der Sache, Gebrauch bis zum Verschleiß, Vermischung oder Verarbeitung, die zur Aufhebung der Identität führt (§ 74 Rdn. 20), Einziehung einer Forderung, Verfügung über ein Bankguthaben, entgeltliche Veräußerung des Gegenstandes, aber auch unentgeltliche Veräußerung, die ihm Vorteile anderer Art (Hebung des Absehens, Anknüpfung vorteilhafter Beziehungen usw.) verschaffen kann. Dieser Vorteil rechtfertigt es nach der Auffassung des Gesetzgebers, ihm als Ersatz für die unmöglich gewordene Einziehung in Form der Wertersatzeinziehung einen den Nutzen entziehenden Nachteil zuzufügen (vgl. Begr. zu § 40 c S. 57 im Anschluß an BGHSt. 16 294), der sich aber nicht notwendig auf die Höhe des in Geld meßbaren Vorteils beschränkt oder erstreckt. In diesem Fall braucht das Verhalten des Täters nicht vorwerfbar zu sein, da es nicht „im Hinblick auf die drohende Einziehung" seinen Grund zu haben braucht (ebenso Sch.-Schröder-Eser Rdn. 5). Die Wertersatzeinziehung hat zwar auch hier Strafcharakter; er ergibt sich aber nicht aus einem vorwerfbaren Verhalten des Täters, sondern daraus, daß der Strafcharakter der Einziehung sich auf das Übel überträgt, das dem Täter zugefügt wird, nachdem durch die mit Vorteilen verbundene Verwendung des verstrickten Gegenstandes die Einziehung selbst nicht mehr möglich ist. b) Folgerungen. Danach kommt Wertersatzeinziehung nicht in Betracht bei 13 unfreiwilligem Verlust oder Untergang der Sache, etwa durch Verlieren, Diebstahl, Brand, denn hier entgeht dem Täter die Nutzung (Bender NJW 1969 1057). Dies gilt auch, wenn der Täter bei gehöriger Aufmerksamkeit Verlust oder Untergang hätte vermeiden können (ähnlich Wuttke SchlHA 1968 250; anders noch BGHSt. 16 282, 293, wonach es dem Grundgedanken des § 414 a. F. RAbgO entsprach, daß der Täter „vom Wertersatz nur dann verschont bleiben soll, wenn er die Sache schuldlos einbüßt, somit ohnehin die Vorteile verliert, die ihm sonst die Einziehung, und wenn er sie hintertreibt, die Wertersatzhaft entwinden sollte"). In diesen Fällen liegt ein die Wertersatzeinziehung rechtfertigender Vorteil durch „Verwertung" auch dann nicht vor, wenn der Täter auf Grund einer Brand- oder Diebstahlsversicherung voll für den Verlust der Sache entschädigt wird (Bender NJW 1969 1057). Daß (93)

§ 74 c

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

Wertersatzeinziehung entfällt, wenn der beschlagnahmte Gegenstand im Gewahrsam der Behörde untergeht, ist selbstverständlich, da dann weder ein Vereiteln noch ein Verwerten durch den Täter in Betracht kommt (vgl. auch BGHSt. 4 62 = NJW 1953 754 zu § 401 Abs. 2 a. F. RAbgO). Kein unfreiwilliger Verlust in diesem Sinn liegt dagegen wohl vor, wenn das Eigentum durch Zwangsvollstreckung verlorengeht, denn der Täter zieht daraus einen Nutzen, indem er von einer Verbindlichkeit befreit wird, nicht anders, als wenn er freiwillig den Gegenstand zur Befriedigung des Gläubigers verwendet hätte (ebenso SK-Horn Rdn. 7; a. M. DreherTröndle 3). III. Der Wertersatz 14

1. Höhe. Die Wertersatzeinziehung besteht in der gegen den Täter oder Teilnehmer auszusprechenden Einziehung eines Geldbetrages bis zu der Höhe, die dem Wert des Gegenstandes entspricht. Der Wert des Gegenstandes bildet also die Höchstgrenze der Wertersatzeinziehung, auch wenn der Täter aus besonderen Gründen einen den Wert des Gegenstandes übersteigenden Vorteil durch die Verwertung erlangt hat (BGHSt. 28 369).

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2. Maßgebend ist der gemeine Wert, den der Gegenstand in der Beschaffenheit, die er zur Zeit der Verwertung oder Vereitelung aufwies, zur Zeit der letzten tatrichterlichen Entscheidung haben würde (RGSt. 67 257; BGHSt. 4 305; 28 369). Gemeiner Wert ist der im Inland erzielbare gewöhnliche, der verkehrsübliche Verkaufspreis für Waren gleicher Art und Güte; Ausnahmeerscheinungen bleiben außer Betracht (RGSt. 75 103; BGHSt. 4 13). Es kommt nicht darauf an, welchen Preis im Falle einer Einziehung der Fiskus durch die Verwertung erzielen würde (OLG Neustadt NJW 1957 554). Der vom Täter bei einer Veräußerung erzielte Preis ist nur insofern bedeutsam, als er ein Indiz für den erzielbaren Preis bilden kann. Vgl. dazu Rdn. 17 zu § 73.

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3. ErmessensausUbung. Die Wertersatzeinziehung steht stets im pflichtmäßigen Ermessen des Gerichts („kann"). Das gilt auch dann, wenn der Gegenstand, wäre er noch vorhanden, eingezogen werden müßte, weil die Einziehung — ausnahmsweise — zwingend vorgeschrieben ist. Die Wertersatzeinziehung kann daher — insoweit im Gegensatz zu § 74 b Abs. 3 (dort Rdn. 15) — stets auf einen Teil des Wertes mehrerer Gegenstände oder eines teilbaren Gegenstandes (Rdn. 16 zu § 74 b), darüber hinaus aber auch auf den Teil des Wertes eines unteilbaren Gegenstandes beschränkt werden. Ist eine Einziehung nur teilweise vereitelt worden, so beschränkt sich auch der Wertersatz auf den nicht mehr einziehbaren Teil. Im übrigen kann das Gericht bei der Frage, ob Wertersatzeinziehung anzuordnen ist, und bei der Bemessung des Wertersatzes innerhalb des Wertrahmens, dem Strafcharakter der Wertersatzeinziehung entsprechend, alle Erwägungen anstellen, die bei einer fakultativen Einziehung in Betracht kommen, ζ. B. die wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters berücksichtigen, auch darauf Bedacht nehmen, daß u. U. die Wertersatzeinziehung den Täter härter trifft, als ihn die Einziehung des Gegenstandes getroffen hätte. Mit dem strafähnlichen Charakter der Wertersatzeinziehung verträgt sich im allgemeinen deren Anordnung dann nicht, wenn sie nur auf § 74 Abs. 2 Nr. 2 in Verbindung mit Absatz 3 hätte gestützt werden können {Lackner 5). Sicherungserwägungen scheiden für die Ermessensausübung grundsätzlich aus, wenn mit Zerstörung oder Unbrauchbarwerden des Einziehungsgegenstandes das Sicherungsbedürfnis entfallen ist (Sch.-Schröder-Eser Rdn. 10). (94)

Einziehung des Wertersatzes (Schäfer)

§ 74 c

4. Tatbeteiligte Nichteigentümer. Da die Wertersatzeinziehung nur gegenüber 17 dem Täter oder Teilnehmer in Betracht kommt, dem der Einziehungsgegenstand zur Tatzeit gehörte oder zustand und der die Einziehung unmöglich machte, ist eine gesamtschuldnerische Mithaftung tatbeteiligter Nichteigentümer für den Wertersatz auch dann ausgeschlossen, wenn sie an der Vereitelung der Einziehung mitwirkten (Sch.-Schröder-Eser 2; Göhler 5 zu § 25 OWiG; wegen des abweichenden früheren Rechts - § 414 a. F. RAbgO - vgl. BGHSt. 5 352; 6 4; 8 100). Stand der Gegenstand zur Tatzeit im ideellen Miteigentum mehrerer Tatbeteiligter und waren nicht alle an der Vereitelung beteiligt, so ist Wertersatzeinziehung nur gegenüber dem vereitelnden Tatbeteiligten und beschränkt auf seinen Anteil zulässig. 5. Schätzung. Im Interesse der Beschleunigung des Verfahrens läßt Absatz 3 zu, 18 daß der Wert geschätzt wird (vgl. dazu §§ 287, 813 ZPO). Gedacht ist dabei an die Fälle, daß es an genügenden Anhaltspunkten für den Wert des Gegenstandes fehlt, oder daß der genaue Wert nur durch eine zeitraubende Beweisaufnahme ermittelt werden könnte. Vgl. dazu auch die Anmerkungen zu § 73 b. IV. Dingliche Belastung (Absatz 2) 1. Bedeutung der Vorschrift. Die Belastung des Gegenstandes mit dem Recht 19 eines Dritten (d. h. mit einem beschränkten dinglichen Recht wie Hypothek, Pfandrecht, Nießbrauch), die den wirtschaftlichen Wert des Gegenstandes verringert oder aufhebt, stellt das Gesetz einer teilweisen „Verwertung" gleich, so daß es auf die Vorwerfbarkeit des Verhaltens (oben Rdn. 12) nicht ankommt (ebenso DreherTröndle Rdn. 4; Göhler3 zu §25 OWiG; a. M. Sch.-Schröder-Eser Rdn. 7). Der Belastung durch den Täter entspricht auch die Veranlassung der Belastung im Wege der Zwangsvollstreckung (oben Rdn. 13), sowie die Herbeiführung einer Lage, die ein gesetzliches Pfandrecht auslöst (vgl. die Erörterungen in der 57. Sitzung des Sonderausschusses v. 13.4. 1967 — Prot. S. 1107 —). Voraussetzung einer Anordnung nach Absatz 2 ist aber eine tatsächliche Verringerung des wirtschaftlichen Wertes des Gegenstandes; sie liegt nicht vor, wenn das Erlöschen der Belastung angeordnet werden kann und dem Dritten eine Entschädigung nicht gewährt werden muß (§ 74 e Abs. 2 Satz 2, 3 ; § 74 f Abs. 2). 2. Absatz 2 räumt dem Gericht eine Wahlmöglichkeit ein. Es kann entweder auf 20 Einziehung des Gegenstandes und daneben auf Wertersatz entsprechend dem — ggf. geschätzten, Absatz 3 — Wert der Belastung erkennen oder sich auf die Anordnung von Wertersatzeinziehung beschränken. Die erstere Maßnahme kommt namentlich in Betracht, wenn die Einziehung als Sicherungsmaßnahme geboten ist (§ 74 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 3), die letztere, wenn die Einziehung Strafcharakter hat und der wirtschaftliche Wert durch die Belastung im wesentlichen oder vollständig verlorengegangen ist. V. Zahlungserleichterungen. Absatz 4 beruht auf dem Gedanken, daß die Werter- 21 satzeinziehung zwar Strafcharakter hat, aber — abweichend von Gestaltungen des früheren Nebenstrafrechts (vgl. RGSt. 65 81; BGHSt. 6 259, 308; 7 79 zu §401 Abs. 2 a. F. RAbgO) - keine Geldstrafe im technischen Sinn (§§ 40 ff StGB) darstellt (BayObLG OLGSt. § 40 c a. F. S. 1). § 42 StGB ist daher ausdrücklich für (entsprechend) anwendbar erklärt worden. Im übrigen sind die für die Geldstrafe geltenden Vorschriften unanwendbar, insbesondere gibt es keine Ersatzfreiheitsstrafe bei Uneinbringlichkeit des Wertersatzes, keine Bildung einer Gesamtstrafe bei W)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

mehrfachem Anfall von Wertersatz usw. Vgl. im übrigen §§ 52 Abs. 4, 53 Abs. 3, 55 Abs. 2 StGB. 22

VI. Vollstreckung. Mit Rechtskraft der Wertersatzeinziehung erlangt der Staat eine auf Zahlung einer Geldsumme gerichtete Forderung gegen den Täter (Teilnehmer). Die Vollstreckung erfolgt nach § 459 g Abs. 2 StPO (BGHSt. 28 359). Wegen der Sicherstellung der künftigen Forderung des Fiskus vor rechtskräftiger Entscheidung durch Anordnung des dinglichen Arrests vgl. § 111 d StPO. Vgl. ergänzend § 73 a, 7.

§ 74 d Einziehung von Schriften und Unbrauchbarmachung (1) Schriften (§11 Abs. 3), die einen solchen Inhalt haben, daß jede vorsätzliche Verbreitung in Kenntnis ihres Inhalts den Tatbestand eines Strafgesetzes verwirklichen würde, werden eingezogen, wenn mindestens ein Stück durch eine rechtswidrige Tat verbreitet oder zur Verbreitung bestimmt worden ist. Zugleich wird angeordnet, daß die zur Herstellung der Schriften gebrauchten oder bestimmten Vorrichtungen, wie Platten, Formen, Drucksätze, Druckstöcke, Negative oder Matrizen, unbrauchbar gemacht werden. (2) Die Einziehung erstreckt sich nur auf die Stücke, die sich im Besitz der bei ihrer Verbreitung oder deren Vorbereitung mitwirkenden Personen befinden oder öffentlich ausgelegt oder beim Verbreiten durch Versenden noch nicht dem Empfänger ausgehändigt worden sind. (3) Absatz 1 gilt entsprechend bei Schriften, die einen solchen Inhalt haben, daß die vorsätzliche Verbreitung in Kenntnis ihres Inhalts nur bei Hinzutreten weiterer Tatumstände den Tatbestand eines Strafgesetzes verwirklichen würde. Die Einziehung und Unbrauchbarmachung werden jedoch nur angeordnet, soweit 1. die Stücke und die in Absatz 1 Satz 2 bezeichneten Gegenstände sich im Besitz des Täters, Teilnehmers oder eines anderen befinden, für den der Täter oder Teilnehmer gehandelt hat, oder von diesen Personen zur Verbreitung bestimmt sind und 2. die Maßnahmen erforderlich sind, um ein gesetzwidriges Verbreiten durch diese Personen zu verhindern. (4) Dem Verbreiten im Sinne der Absätze 1 bis 3 steht es gleich, wenn mindestens ein Stück durch Ausstellen, Anschlagen, Vorführen oder in anderer Weise öffentlich zugänglich gemacht wird. (5) § 74 b Abs. 2 , 3 gilt entsprechend. Schrifttum Faller Güterabwägung bei Einziehung von Schriften. Zur Konkretisierung der Grundrechte des Art. 5 GG, M D R 1971 1.

Entstehungsgeschichte Durch Art 18 Nr. 41 EGStGB 1974 wurde in Absatz 4 das Wort „allgemein" (vor „zugänglich gemacht wird") durch „öffentlich" ersetzt. (96)

Einziehung von Schriften und Unbrauchbarmachung (Schäfer)

§ 74

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I. Grundgedanke. § 74 d (vorangegangene Bezifferung: § 41) ersetzt den § 41 a. F. 1 StGB und knüpft an § 116 StGB-Entw. 1962 an. Er enthält für Schriften (§ 11 Abs. 3) eine von §§ 74, 74 a abweichende Sonderregelung, die dazu dient, durch ihre Einziehung Gefahren für strafrechtlich geschützte Rechtsgüter abzuwenden, die sich bei einer Verbreitung oder eine dem Verbreiten gleichgestellte Handlung (Absatz 4) aus dem gefährlichen Inhalt der Schrift ergeben. Dieser Inhalt ist in Absatz 1 dahin gekennzeichnet, daß jede vorsätzliche Verbreitung in Kenntnis des Inhalts den Tatbestand eines Strafgesetzes erfüllen würde. Unter der Voraussetzung, daß auch nur ein einziges („mindestens ein") Stück einer solchen Schrift durch irgendeine den äußeren Tatbestand eines Strafgesetzes rechtswidrig, aber nicht notwendig schuldhaft erfüllende Handlung verbreitet oder zur Verbreitung bestimmt worden ist, ist in Absatz 1 die Einziehung auch der „tatunbeteiligten" Schriften in dem in Absatz 2 bestimmten Umfang nicht nur zugelassen, sondern zwingend vorgeschrieben; außerdem ist mit der Einziehung die Anordnung der Unbrauchbarmachung der Herstellungsvorrichtungen zu verbinden. Absatz 3 enthält Einschränkungen für solche Schriften, deren Inhalt so beschaffen ist, daß die vorsätzliche Verbreitung in Kenntnis ihres Inhalts nur bei Hinzutreten weiterer Tatumstände den Tatbestand eines Strafgesetzes verwirklichen würde (vgl. unten Rdn. 19); die Beschränkung bezieht sich auf den Umfang der einzuziehenden Stücke und unbrauchbar zu machenden Herstellungsvorrichtungen (Absatz 3 Nr. 1) und besteht ferner (Absatz 3 Nr. 2) darin, daß Einziehung und Unbrauchbarmachung nur so weit anzuordnen sind, als es zur Verhinderung eines gesetzwidrigen Verbreitens durch den in Absatz 3 Nr. 1 bezeichneten Personenkreis erforderlich ist. Übergangsvorschrift: Art. 155 Abs. 1 EGOWiG 1968. Im Ordnungswidrigkeitenrecht fehlt es — als Folgerung aus § 22 Abs. 1 OWiG — 1 a an einer dem § 74 d entsprechenden allgemeinen Vorschrift über die Einziehung von Schriften, die einen solchen Inhalt haben, daß jede vorsätzliche Verbreitung in Kenntnis ihres Inhalts den Tatbestand einer Ordnungswidrigkeit erfüllen würde. Für bestimmte Ordnungswidrigkeiten, die durch das Verbreiten von Schriften begangen werden (§§ 119, 120 Abs. 1 Nr. 2 OWiG) enthält § 123 OWiG eine Vorschrift über die Einziehung der Schriften und die Unbrauchbarmachung der Herstellungsmittel, die sich an § 74 d anlehnt.

II. Rechtscharakter. Einziehung und Unbrauchbarmachung nach § 74 d sind 2 dadurch als sichernde Maßnahmen gekennzeichnet, daß sie künftigen Straftaten vorbeugen sollen, keine vorangegangene Straftat voraussetzen und vom Eigentum eines Täters oder Teilnehmers unabhängig sind (vgl. OLG Hamm M D R 1970 943). Diese Charakterisierung entspricht dem bisherigen Recht (vgl. RG St. 14 161; 67 218; BGHSt. 5 178; 16 56; 19 63, 75); sie kommt in der Erweiterung der Voraussetzungen der selbständigen Einziehung (§ 76 a Abs. 2) zum Ausdruck. Während aber die Einziehbarkeit bei einer Gesetzesänderung sich nach dem zur Zeit der Entscheidung geltenden Recht bestimmte, da zu den Maßregeln der Besserung und Sicherung im Sinn des § 2 Abs. 4 a. F. StGB nicht nur die in § 42 a a. F. aufgeführten Maßregeln, sondern auch die Einziehung als Sicherungsmaßnahme gerechnet wurden (BGHSt. 16 49, 56; 19 63, 69; 23 65, 67), stellt § 2 Abs. 5 klar, daß insoweit die Einziehung — unabhängig von ihrer Funktion — und die Unbrauchbarmachung wie Strafen behandelt werden. (97)

§ 74 d 3

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

III. Die Einziehungsvoraussetzungen im allgemeinen 1. § 74 d kennt zwei Gruppen von Einziehungsfällen, die sich dadurch unterscheiden, daß bei der ersten (Absätze 1, 2) jede vorsätzliche Verbreitung einer Schrift in Kenntnis ihres Inhalts den Tatbestand eines Strafgesetzes erfüllen würde, während bei der zweiten Gruppe (Absatz 3) zur Tatbestandsverwirklichung neben der vorsätzlichen Verbreitung in Kenntnis des Inhalts das Hinzutreten weiterer Tatumstände erforderlich ist.

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2. Bei beiden Fallgruppen sind Gegenstand der Einziehung Schriften im Sinn des § 11 Abs. 3, also neben den Schriften im engeren Sinn (Sachen, die eine Gedankenäußerung durch Zeichen verkörpern, welche für Auge oder Tastsinn wahrnehmbar sind) auch Ton- und Bildträger, Abbildungen und andere Darstellungen. Diese Begriffe sind bereits in diesem Kommentar in Rdn. 101 ff zu § 11 erläutert. Ergänzend ist hinzuzufügen: Die Bestimmung zur Verbreitung gehört an sich nicht zum Begriff der Schrift; praktisch hat § 74 d aber nach seinem Zweck, die „tatunbeteiligten" Stücke einer Schrift durch Einziehung aus dem Verkehr zu ziehen (oben Rdn. 1), vervielfältigte Schriften zum Gegenstand, deren Inhalt einem größeren Personenkreis zugänglich gemacht werden soll.

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3. Bei beiden Fallgruppen setzt die Einziehung der Schriften zunächst voraus, daß sie einen bestimmten Inhalt haben. Diesen Inhalt umschrieb § 41 a. F. dahin, daß er „strafbar" sein müsse. Diese Fassung wurde dahin ausgelegt, daß die Schrift inhaltlich den äußeren Tatbestand einer strafbaren Handlung verkörpern müsse, dergestalt, daß eine strafbare Handlung vorläge, wenn lediglich ein schuldhafter, aber an sich neutraler Akt, wie ζ. B. ein Verbreiten, hinzuträte; ob er wirklich hinzutritt, spielte keine Rolle und konnte nur dann bedeutsam sein, „wenn der Kern der Strafwürdigkeit statt im Inhalt in dem Akt des Herstellens, Verbreitens" lag (BGHSt. 19 63, 75). Das Abstellen auf die Strafbarkeit des Inhalts stößt aber schon auf das sprachlogische Bedenken, daß der Inhalt einer Schrift als solcher niemals „strafbar" sein kann, vielmehr nur das Verhalten eines Menschen mit Bezug auf eine Schrift bestimmten Inhalts. Um dem Rechnung zu tragen, bezeichnete § 116 StGB-Entw. 1962 als einziehungsfähig „Schriften, die Mittel oder Gegenstand einer rechtswidrigen Tat gewesen sind, und die einen solchen Inhalt haben, daß jede Verbreitung den äußeren Tatbestand eines Strafgesetzes verwirklichen würde". Demgegenüber beschränkt § 74 d in dem Bestreben, die Einziehungsvoraussetzungen unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten enger zu umreißen und schärfer zu präzisieren, den Anknüpfungstatbestand auf die Verbreitung oder Bestimmung zur Verbreitung (mindestens eines Stückes) durch eine rechtswidrige Tat und bestimmt die „Strafbarkeit" des Inhalts der Schrift in der Weise, daß entweder jede vorsätzliche Verbreitung in Kenntnis des Inhalts den Tatbestand eines Strafgesetzes verwirklichen würde (Absätze 1, 2) oder daß zu einer solchen Verbreitung weitere Tatumstände hinzutreten müssen (Absatz 3). Im Vordergrund stehen dabei im Bereich der Absätze 1, 2 gewaltverherrlichende und „harte" pornographische Filme (§§ 131, 184 Abs. 3; dazu Seetzen NJW 1976 497, 499; s. auch ergänzend §§ 119, 120 Abs. 1 Nr. 2, 123 OWiG) sowie staatsgefährdende und beleidigende Schriften. Zur Entstehungsgeschichte dieser Fassung vgl. die Erörterungen in der 56. Sitzung des Sonderausschusses v. 16. 3. 1967, Prot. S. 1064 ff. (98)

Einziehung von Schriften und Unbrauchbarmachung (Schäfer)

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IV. Die Einziehungsvoraussetzungen nach § 74 d Abs. 1 1. Die Schriften müssen einen solchen Inhalt haben, daß jede vorsätzliche Ver- 6 breitung in Kenntnis ihres Inhalts den Tatbestand eines Strafgesetzes verwirklichen würde. Die Strafbarkeit des (hypothetischen) vorsätzlichen Verbreitens der Schrift muß danach ihren Grund allein in dem Inhalt der Schrift haben (BGH NJW 1969 1818); sie muß sich aus ihrem Inhalt selbst ergeben (BGH NJW 1970 818, 819). Damit werden alle Fälle ausgeschlossen, in denen das Verbreiten der Schrift nicht mit Rücksicht auf ihren Inhalt, sondern mit Rücksicht auf andere Tatsachen, z. B. auf ihre äußere Gestalt oder auf Zeit, Ort oder die besondere Art der Verbreitung unter Strafe gestellt ist (RGSt. 66 145; BGH aaO), z. B. wegen Fehlens des Impressums (RGSt. 16 118). Dagegen brauchen nicht alle Tatsachen, von denen die Strafbarkeit des vorsätzlichen Verbreitens der Schrift in Kenntnis ihres Inhalts abhängt, unmittelbar aus der Schrift selbst ersichtlich zu sein, da sonst der Zweck der Einziehung — zu verhindern, daß immer neue Personen von ihrem Inhalt Kenntnis erhalten und so der Tatbestand der bei vorsätzlicher Verbreitung in Frage kommender Straftat immer wieder verwirklicht wird — nicht erreichbar wäre (RGSt. 66 145, 148). Das gilt z. B. im Fall des § 186 StGB für die Nichterweislichkeit der in einer Schrift enthaltenen herabwürdigenden Erklärungen. Umgekehrt bleiben aber auch Rechtfertigungsgründe — z. B. aus § 193 StGB —, die im Einzelfall die Rechtswidrigkeit einer vorsätzlichen Verbreitung ausschließen könnten, die sich aber nicht aus dem Inhalt ergeben, unberücksichtigt, denn auch hier steht im Vordergrund, daß die Verhinderung weiterer Rechtsgutverletzungen, die bei ungehinderter Verbreitung von Schriften ehrverletzenden Inhalts droht, unabhängig davon möglich sein muß, daß im Einzelfall ein vorsätzlich Verbreitender den Rechtfertigungsgrund für sich in Anspruch nehmen kann (ebenso Dreher-Tröndle Rdn. 7); jedoch wird die Einziehbarkeit nicht ausgelöst, solange nicht mindestens ein Stück durch eine rechtswidrige Tat verbreitet oder — in Fällen in denen schon die Bestimmung zur Verbreitung strafbestandswidrig ist — zur Verbreitung bestimmt worden ist. 2. Verwirklichung eines Strafgesetzes durch jede vorsätzliche Verbreitung in 7 Kenntnis ihres Inhalts. Maßgeblich ist danach nur, daß durch vorsätzliche Verbreitung der Tatbestand in subjektiver und objektiver Beziehung erfüllt würde; daß die Verfolgbarkeit von zusätzlichen Verfahrensvoraussetzungen (z. B. Strafantrag) abhängt, ist ohne Bedeutung. Zur „Kenntnis des Inhalts" gehört die Kenntnis der Bedeutung des Inhalts. Die Einschränkung „in Kenntnis des Inhalts" wurde gewählt, weil es nicht genügen soll, daß der Vorsatz des hypothetischen Verbreitens sich lediglich auf den Akt des Verbreitens der Schrift bezieht, etwa wenn die Verbreitung in der Weitergabe einer Schrift in einem geschlossenen Umschlag durch ahnungslose Menschen geschähe. Aber auch die bloße Kenntnis des Inhalts genügt nicht, wenn sie nicht mit einer Erkennbarkeit der Bedeutung des Inhalts verbunden ist (Prot. S. 1068); es genügt nicht, wenn ein vorsätzlich in Kenntnis des Inhalts Verbreitender die Bedeutung einer solchen Schrift nicht zu übersehen vermag. Im allgemeinen ist dabei maßgebend, wie ein „verständiger Durchschnittsleser" den Inhalt der Schrift verstehen muß; werden die Ziele, die etwa der Verfasser der Schrift verfolgt, nur verdeckt zum Ausdruck gebracht, so genügt es, daß der Wortinhalt die Zielrichtung in Ansatzpunkten erkennen läßt, die der ergänzenden Auslegung durch das, was der verständige Durchschnittsleser zwischen den Zeilen lesen kann, und durch allgemeinkundige Tatsachen zugänglich sind (BGHSt. 23 65, 73). Mit dem Wort „jede" (vorsätzliche Verbreitung) ist bezweckt, die Abgrenzung der Fälle (99)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

des Absatzes 1 gegenüber denjenigen des Absatzes 3 zu kennzeichnen, in denen die hypothetische vorsätzliche Verbreitung nur bei Hinzutreten weiterer Tatumstände den Tatbestand verwirklichen würde (vgl. Prot. S. 1068). „Jede" ist also nicht im Sinn von „ausnahmslos jede" zu verstehen; die Voraussetzungen des Absatzes 1 entfallen also nicht schon dann, wenn Fälle denkbar sind, in denen der Täter trotz vorsätzlicher Verbreitung im Einzelfall straffrei bleibt, ζ. B. weil er in Wahrnehmung berechtigter Interessen (§ 193 StGB) handelt. 3. Die Einziehung der Schriften des so durch hypothetische Voraussetzungen gekennzeichneten Inhalts setzt weiter voraus, daß mindestens ein Stück durch eine rechtswidrige Tat verbreitet oder zur Verbreitung bestimmt worden ist. 8

a) Verbreiten — der Begriff ist der gleiche wie auch sonst, wenn das Gesetz sich dieses Ausdruckes bedient, z.B. in § § 8 0 a , 86 Abs. 1, 184 Abs. 2, 186 S t G B bedeutet jede Tätigkeit, durch die die Schrift einem größeren (nicht notwendig unbestimmten) Personenkreis zugänglich gemacht wird (BGHSt. 13 257; 19 71). Dazu genügt nach ständiger Rechtsprechung die Aushändigung an eine Person, wenn sie den Gegenstand nicht vertraulich behandeln soll, vielmehr gewollt ist oder auch billigend damit gerechnet wird, daß sie ihn ihrerseits weiteren Personen mitteilen werde (RGSt.7 113; 15 118, 119; 16 245; 55 276, 277; BGHSt. 19 63, 71). Es reicht also ζ. B. aus, wenn der Verkäufer eines Films damit rechnet, daß ihn der Käufer selbst oder durch Weitergabe an einen anderen einer größeren unbestimmten Zahl von Personen zugänglich machen werde (BGHSt. 19 71). Ein vollendetes Verbreiten ist bereits der Akt der Versendung zum Empfänger; das ergibt sich aus § 74 d Abs. 2 („beim Verbreiten durch Versenden . . . " ) und war auch für das frühere Recht anerkannt (RGSt. 16 245; BGH NJW 1965 1973). Jedoch gehört zum Verbreiten, daß die Schrift selbst anderen zugänglich gemacht wird; eine Weitergabe lediglich ihres Inhalts, ζ. B. durch Vorlesen usw. genügt nicht (RGSt. 15 118; 47 226; BGHSt. 18 63), soweit nicht die Voraussetzungen des § 74 d Abs. 4 vorliegen, der dem Verbreiten einer Schrift gleichstellt, wenn sie allgemein zugänglich gemacht wird (vgl. unten Rdn. 24).

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b) Die Bestimmung zur Verbreitung, d. h. die gedankliche Bereitstellung zur Verbreitung oder die Inaussichtnahme der Verbreitung (BGHSt. 19 63, 67), ohne daß es bereits zu einem Verbreiten gekommen ist, genügt nur da, wo die rechtswidrige Tat (unten Rdn. 10) auch Vorbereitungshandlungen wie das Herstellen, Einführen, Vorrätighalten zum Zweck der Verbreitung umfaßt, wie ζ. B. in §§ 86 Abs. 1, 184 Abs. 1 Nr. 8 StGB).

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c) Verbreitung durch eine rechtswidrige Tat. Die Verbreitung oder die Bestimmung zur Verbreitung muß danach rechtswidrig, wenn auch nicht schuldhaft, den äußeren Tatbestand einer strafbaren Handlung erfüllen ; es genügt ein Handeln mit „natürlichem Vorsatz". An der Rechtswidrigkeit fehlt es ζ. B., wenn Schriften öffentlichen Bibliotheken zugänglich gemacht werden, deren Aufgabe auch in der Sammlung des gesamten Schrifttums ohne Rücksicht auf die von seinem Inhalt ausgehende Gefährlichkeit besteht (Prot. S. 1069). Prozeßhindernisse spielen dagegen im Bereich des § 74 d keine Rolle, sind aber bedeutungsvoll für das selbständige Einziehungsverfahren (§ 76 a Abs. 2). V. Erstreckung der Einziehung (Absatz 2)

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1. Wird die Einziehung angeordnet, so erstreckt sie sich — und darin besteht die (100)

Einziehung von Schriften und Unbrauchbarmachung (Schäfer)

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Bedeutung des § 74 d — nicht nur auf die Stücke der Schrift, die den Gegenstand der rechtswidrigen Verbreitungshandlung bildeten, und die ggf. schon nach den allgemeinen Vorschriften (§§ 74, 74 a) hätten eingezogen werden können, sondern auf sämtliche Stücke, bei denen die konkrete Gefahr (nicht nur die abstrakte Möglichkeit) der Weiterverarbeitung besteht (BGHSt. 19 76). Eine solche Gefahr sieht das Gesetz als vorliegend an, solange die Stücke sich im Zeitpunkt der Entscheidung im Besitz der bei ihrer Verbreitung oder deren Vorbereitung mitwirkenden Personen befinden, und unabhängig von den Besitzverhältnissen, wenn sie öffentlich ausgelegt oder noch im Versand begriffen sind. Da § 74 d nur auf den Besitz abstellt, sind die Eigentumsverhältnisse gleichgültig. 2. Den Kreis der von der Einziehung betroffenen Besitzer umschrieb § 41 a. F. mit 12 „Verfasser, Drucker, Herausgeber, Verleger oder Buchhändler". Die Aufzählung des als „gefährlich" bewerteten Besitzerkreises, die an bestimmte typische Berufsgruppen anknüpfte, wurde als abschließend angesehen. Sie erwies sich aber als zu eng, so daß Abhilfe im Wege erweiternder Auslegung gesucht und ζ. B. als „Buchhändler" auch Filmhändler, Hausierer, Straßenverkäufer, Verteiler und dergl. angesehen wurden (vgl. BGHSt. 19 76). § 116 StGB-Entw. 1962 wollte die beispielsweise Aufzählung bestimmter Gruppen von Besitzern erweitern und mit einer Generalklausel verbinden („Verfasser, Verleger, Herausgeber, Redakteur, Drucker, Händler oder andere bei der Herstellung, Veröffentlichung, Vorführung oder Verbreitung mitwirkende Personen"). § 74 d Abs. 2 verzichtet auf eine, wenn auch nur beispielsweise Aufzählung einzelner Besitzergruppen, die zu einer einschränkenden Auslegung der Generalklausel führen könnte, und sieht die Einziehung mit Wirkung gegen Dritte allgemein gegen alle Besitzer vor, die bei der Verbreitung der Stücke oder deren Vorbereitung mitgewirkt haben. In erster Linie kommen auch jetzt noch als solche Mitwirkende die in § 41 a. F. abschließend und in § 116 StGBEntw. 1962 beispielsweise bezeichneten Personengruppen in Betracht, also der Verfasser, der die Schrift geistig hervorgebracht hat, der Verleger, der sie erscheinen läßt, der Herausgeber, der die Schrift zur Vervielfältigung bereitstellte einschl. der Redakteure von Zeitschriften, der Drucker, der Photographen, der Galvanoplastiker usw. 3. Besitz i. S. des § 74 d Abs. 2 umfaßt auch den mittelbaren Besitz i. S. des § 868 13 BGB (BGHSt. 19 77 f; h. M.), und den von Besitzdienern (§ 855 BGB) vermittelten Besitz (BGH MDR 1953, 721), so daß ζ. B. Ansichtssendungen beim Kunden, solange er sich nicht zum Behalten entschlossen hat, erfaßt werden können. Nach Sinn und Zweck des § 74 d genügt auch, wenn eine an der Verbreitung mitwirkende Person nur Mitbesitz hat, ζ. B. ein Vermittler zugleich mit dem Käufer, da § 74 d ohne Rücksicht auf Eigentum und Schuld gerade verhindern will, daß die Schrift an dem noch nicht zur Ruhe gekommenen Verbreitungsvorgang teilnimmt (BGHSt. 19 78). Die Einziehungsmöglichkeit entfällt, wenn die Schrift in den Besitz des Letztempfängers gelangt ist; unter diesem Gesichtspunkt ist auch bei den typischen Verbreitungspersonen eine Schrift der Einziehung entzogen, die sie in „Privatgebrauch" genommen, etwa in ihre Privatbibliothek eingereiht haben (vgl. Ebermayer SeuffBl. 73, 280). 4. Unabhängig vom Besitz einer Mitwirkungsperson unterliegen der Einziehung a) öffentlich ausgelegte Stücke. Das sind Stücke, die einem unbestimmt großen 14 (ιοί)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

Personenkreis so offengelegt werden, daß er sich von dem Inhalt Kenntnis verschaffen kann, ζ. B. in Läden, Schaufenstern, Gaststätten, Eingangshallen zu Versammlungen usw. An der Öffentlichkeit der Auslegung fehlt es bei geschlossenen Gesellschaften. Ob die öffentlich ausgelegten Stücke auch öffentlich angeboten werden (zum Verkauf usw.), ist ohne Bedeutung. 15 b) durch Versendung verbreitete Stücke vor Aushändigung an den Empfänger. Diese zweite Ausnahme von dem Grundsatz, daß die Einziehung sich nur auf Stücke erstreckt, die sich im Besitz der bei ihrer Verbreitung oder deren Vorbereitung mitwirkenden Personen befinden, will die Lösung schwieriger zivilrechtlicher Fragen erübrigen, die sich namentlich im Auslandsverkehr ergeben könnten, wenn auf den Besitz von Mitwirkungspersonen abgestellt würde. Sie trägt insbesondere Erfahrungen über das Verhalten von Schmugglerorganisationen Rechnung (vgl. Prot. S. 1070), die entweder bei der Einfuhr in Personenzügen die Schmuggelware als „herrenloses Gut" die Grenze passieren oder zwar die Ware von Trägern begleiten lassen, die sich aber bei Zollkontrollen nicht als Besitzer ausgegeben. Rechtliche Schwierigkeiten hinsichtlich der Besitzverhältnisse können sich auch aus Vorschriften des ausländischen Rechts ergeben, nach denen beim Versendungskauf Eigentum und Besitz sofort auf den Empfänger übergehen, obwohl er die Ware noch nicht in Händen hat (vgl. dazu OLG Hamm MDR 1970 943). Im Interesse der Rechtsklarheit wurde deshalb, wenn die Verbreitung von einem Versendungsort aus erfolgt, die Möglichkeit der Beschlagnahme und Einziehung eröffnet, die unabhängig davon, ob sich die Besitzverhältnisse im Einzelfall genau ermitteln lassen, besteht, solange der Versendungsakt noch nicht abgeschlossen ist. Die Voraussetzungen sind auch gegeben, wenn die Verbreitung im Inland durch die Post erfolgt; als „ausgehändigt" sind aber solche Postsendungen anzusehen, die dem unmittelbaren Zugriff des Adressaten offenstehen, ζ. B. in einem Postfach (Sch.-Schröder-Eser Rdn. 14). Die Frage der Einziehbarkeit pornographischer Schriften, die vom Ausland mit der Post eingeführt und von der Zollbehörde an die Strafverfolgungsbehörde weitergeleitet werden (vgl. dazu BGHSt. 23 329 = NJW 1970 2071), ist an dieser Stelle nicht weiter zu erörtern.

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VI. Unbrauchbarmachung der Herstellungsvorrichtungen (Absatz 1 Satz 2) 1. Mit der Anordnung der Einziehung der Schriften ist die Anordnung der Unbrauchbarmachung der Herstellungsvorrichtungen zu verbinden. Bei diesen bedarf es keiner Einziehung, weil es zur Verhinderung weiterer Verbreitung der Schriften genügt, wenn sie zur Vervielfältigung untauglich gemacht werden, wie ζ. B. durch Einschmelzen der Drucksätze, Abschleifen der Platten, Zerstörung der Formen für die Herstellung von Plastiken. 2. Herstellungsvorrichtungen sind alle zur Herstellung der Schriften gebrauchten ( = verwendeten) oder bestimmten Vorrichtungen. Aus den im Anschluß an §98 Abs. 2 UrheberrechtsG 1965 in § 74 d Abs. 1 Satz 2 StGB genannten Beispielen für die in Betracht kommenden Herstellungsmittel ergibt sich, daß dabei nicht an solche Gegenstände gedacht ist, die allgemein bei einer Vervielfältigung benutzt werden, wie ζ. B. die Druck- und Setzmaschinen oder Fotokopiergeräte zur Herstellung von Schriften beleidigenden oder pornographischen Inhalts — ihre Einziehung kann nach §§ 74, 74 a in Betracht kommen —, sondern an solche Mittel, die speziell zur Herstellung der Stücke strafbaren Inhalts verwendet wurden oder dazu bestimmt waren, wie die Platten und Druckstöcke ( = Klischees) zur Vervielfälti(102)

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gung pornographischer Abbildungen, der Drucksatz zur Vervielfältigung der beleidigenden Schrift, die Fotonegative, die Matrizen zur Herstellung von Galvanos, die Formen zur Herstellung von Plastiken. 3. § 74 d Abs. 2 ist, da er nur für die Einziehung (§ 74 d Abs. 1 Satz 1) gilt, unan- 18 wendbar; die Unbrauchbarmachung erstreckt sich daher auf alle Vorrichtungen, ohne Rücksicht darauf, wo und bei wem sie sich befinden. Die Herstellungsmittel (z. B. das Fotonegativ) können danach in weiterem Umfang zur Unbrauchbarmachung erfaßt, als die mit ihrer Hilfe hergestellten Stücke (z. B. das Foto) eingezogen werden können. Das findet seinen Grund darin, daß der bestimmungsgemäße Gebrauch solcher Herstellungsmittel allein darin besteht, Schriften gefährlichen Inhalts herzustellen, während bei den Schriften selbst nicht jeder Gebrauch eine rechtswidrige Tat darstellt, eine die Einziehung rechtfertigende Verbreitungsgefahr aber vom Gesetzgeber nur vermutet wird, wenn die Voraussetzungen des Absatzes 2 erfüllt sind.

VII. Die einschränkenden Einziehungsvoraussetzungen nach Absatz 3 1. Hinzutreten weiterer Tatumstände. § 74 d Abs. 1 sieht die Einziehung solcher 19 Schriften vor, bei denen wegen ihres Inhalts jede vorsätzliche Verbreitung in Kenntnis ihres Inhalts den Tatbestand eines Strafgesetzes erfüllen würde. Absatz 3 sieht Einziehung und Unbrauchbarmachung (§ 74 d Abs. 1 Satz 2) nur mit Einschränkung in solchen Fällen vor, in denen die vorsätzliche Verbreitung in Kenntnis ihres Inhalts nur bei Hinzutreten weiterer Tatumstände, gleichviel, ob sie dem inneren oder äußeren Tatbestand angehören, den Tatbestand eines Strafgesetzes verwirklichen würde. Ob das Verbreiten bereits ein in der Strafvorschrift genannter Tatumstand sein muß, ist streitig (bejahend der RegVertreter in der 56. Sitzung des Strafrechtssonderausschusses Prot. S. 1071, verneinend Dreher-Tröndle Rdn. 10); praktisch kommen jedenfalls nur Tatbestände in Betracht, in denen dies der Fall ist, wie z. B. §§ 88 a Abs. 1 Nr. 1; 130 a Abs. 1 Nr. 1 („sowie nach den Umständen geeignet ist, die Bereitschaft anderer zu fördern . . . " ; streitig; s. dazu Dreher-Tröndle § 88 a Rdn. 15); §§ 90 b Abs. 1; 109 d Abs. 1 (Erfordernis einer bestimmten Absicht), § 219 b („seines Vermögensvorteils wegen"). Ferner gehören hierher Tatbestände, die das Verbreiten und die ihm gleichstehenden Formen öffentlichen Zugänglichmachens (§ 74 d Abs. 4) von Schriften nicht schlechthin verbieten, sondern nur, wenn es an bestimmten Orten oder gegenüber bestimmten Personen geschieht, wie bei „einfach" pornographischen Schriften (z. B. § 184 Abs. 1 Nr. 5 StGB). Aus dem Nebenstrafrecht sind z. B. zu nennen § 21 GjS, der das Vertreiben jugendgefährdender Schriften (§§ 1 Abs. 1, 6) nur unter den in § 21 Abs. 1 bezeichneten Voraussetzungen mit Strafe bedroht, sowie § 4 UWG, wonach bei vorsätzlicher Verbreitung von unwahren und zur Irreführung geeigneten Mitteilungen über geschäftliche Verhältnisse die Absicht hinzutreten muß, den Anschein eines besonders günstigen Angebots zu erwecken. 2. In diesen Fällen (Rdn. 19) gilt Absatz 2 entsprechend, d. h. es muß mindestens 20 ein Stück durch eine rechtswidrige Tat verbreitet oder zur Verbreitung bestimmt worden sein, und mit der Einziehung wird die Anordnung der Unbrauchbarmachung der Herstellungsmittel verbunden. Die Einziehung ist jedoch — abweichend von Absatz 2 — nach zwei Richtungen beschränkt: (103)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

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a) Nach Absatz 3 Satz 2 Nr. 1 ist die Einziehung nur einem engeren Personenkreis gegenüber zulässig, und auch die Unbrauchbarmachung kommt — abweichend von § 74 d Abs. 1 Satz 2 (oben Rdn. 18) — nur diesem Kreis gegenüber in Betracht. Die Schriften usw. und Herstellungsmittel müssen sich nämlich befinden im Besitz a a ) d e s Täters ( = dessen, der verbreitet hat), bb)des Teilnehmers, cc) eines anderen, für den der Täter oder Teilnehmer gehandelt hat, ζ. B. des Geschäftsherrn, für den der Angestellte als Besitzdiener, der juristischen Person, für die ihr Organ vertrieb. Sind sie von dem vorgenannten Personenkreis zur künftigen Verbreitung bestimmt, so können sie sich auch im Besitz anderer Personen, ζ. B. einer Versandperson (Spediteurs) befinden, aber nur, da Absatz 3 den Absatz 2 einschränken, aber nicht über ihn hinausgehen will, wenn sie sich noch im Verbreitungsprozeß befinden und noch nicht zu einem daran unbeteiligten Empfänger gelangt sind (ebenso Dreher-Tröndle Rdn. 12; SK-Horn Rdn. 17; a. M. Sch.-Schröder-Eser Rdn. 17).

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b) Die Maßnahmen müssen ferner nach Absatz 3 Satz 2 Nr. 2 erforderlich sein, um ein gesetzwidriges Verbreiten durch diese Personen zu verhindern; es wird also eine konkrete Verbreitungsgefahr gefordert. Dabei ist unter einer gesetzwidrigen Verbreitung nur eine Verbreitung durch eine rechtswidrige Tat (§ 11 Abs. 1 Nr. 5) zu verstehen (ebenso SK-Horn Rdn. 18), sodaß ein nur gegen einen Ordnungswidrigkeitstatbestand verstoßendes Verhalten nicht ausreicht (a. M. Dreher-Tröndle Rdn. 13; Sch.-Schröder-Eser Rdn. 18) und noch weniger ein bloßes polizeiwidriges Verhalten; die Kontroverse hat wohl kaum praktische Bedeutung (vgl. dazu auch LR-MeyerH Rdn. 4 zu § 111 m StPO).

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3. Die Tragweite dieser Vorschriften mag an Hand einiger Beispiele aus dem Bereich des Gesetzes über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften erläutert werden. Danach können ζ. B., wenn ein Kioskhändler einem Jugendlichen eine in die Liste aufgenommene jugendgefährdende Schrift verkauft hat (§21 Abs. 1 Nr. 4, § 4 Abs. 1 Nr. 2), die in seinem Besitz befindlichen weiteren Stücke dieser Schrift eingezogen werden, wenn der Händler nicht die Gewähr bietet, daß er sich künftig an die gesetzlichen Vorschriften halten wird. Die Einziehung kann insbesondere erforderlich sein, wenn die mangelnde Gesetzestreue aus einer Mehrzahl einschlägiger Fälle hervorgeht; sie ist ausgeschlossen, wenn die Einlassung des Beschuldigten, es handele sich um ein einmaliges Versehen, nicht widerlegt werden kann. Hat ein Angestellter des Händlers gegen dessen Willen gehandelt, so ist im allgemeinen die Einziehung nach Absatz 3 Nr. 2 nicht erforderlich. Wäre sie erforderlich, weil die Gefahr besteht, daß trotz entsprechender Aufsichtsmaßnahmen ein Angestellter weiterhin jugendgefährdende Schriften an Jugendliche abgibt, so wäre der Händler nach § 74 f Abs. 1 zu entschädigen, falls nicht § 74 f Abs. 2 Nr. 1 eingreift. Auch die Herstellungsmittel unbrauchbar zu machen, kann in Betracht kommen, wenn ein Verleger jugendgefährdende Schriften zur Belieferung von Kiosken und Leihbüchereien herstellen läßt, damit sie dort verbreitet oder zur Verbreitung vorrätig gehalten werden (§ 4 Abs. 2 GjS), vorausgesetzt, daß bereits mindestens ein Stück gesetzwidrig verbreitet ist. Werden jugendgefährdende Schriften in einer Buchhandlung unzulässigerweise ausgestellt (§ 3 Nr. 2 GjS; § 74 d Abs. 4; unten Rdn. 24), so verfallen alle Stücke, die der Buchhändler sonst noch in seinem Besitz hat, der Einziehung, falls dies zur Verhinderung gesetzwidrigen Verbreitens erforderlich ist, während die noch beim Verleger befindlichen Stücke sowie die Platten usw. beim Drukker von Einziehung und Unbrauchbarmachung ausgenommen sind. Stellt ein Verle(104)

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ger jugendgefährdende Schriften außer zur legalen Verbreitung speziell auch für gewerbliche Leihbüchereien (§ 4 Abs. 1 Nr. 4 GjS) her, so sind Einziehungsgegenstand die in seinem Besitz befindlichen Stücke, die praktisch nur für solche Leihbüchereien bestimmt sind, so etwa, wenn sich unter seinen Beständen an jugendgefährdenden Schriften ein Stapel befindet, der an eine Leihbücherei adressiert ist. Trifft aber den Verleger kein Vorwurf, daran, daß die jugendgefährdenden Schriften in einen Kiosk oder eine Leihbücherei gelangt sind, so ist eine Einziehung der in seinem Besitz befindlichen Stücke nicht möglich. Ist eine jugendgefährdende Schrift nur für den gewerblichen Verleihbetrieb bestimmt, so sind auch die Drucksätze usw. nur für einen gesetzwidrigen Vertrieb bestimmt, und es ihre Unbrauchbarmachung anzuordnen. Bestellt ein Kioskhändler, nachdem schon mindestens ein Stück durch eine den äußeren Tatbestand des § 21 Abs. 1 GjS erfüllende Handlung verbreitet worden ist, beim Verleger eine bestimmte Anzahl von Exemplaren, und befinden sie sich auf dem Versandweg, so sind diese Stücke vom Händler zur Verbreitung bestimmt und einziehungsfähig, auch wenn der Händler den Besitz noch nicht erlangt hat. Befinden sich im Beispielsfall die Schriften noch in einem an den Händler adressierten Paket beim Verleger und erklärt dieser glaubhaft, er werde unter den gegebenen Umständen das Paket nicht mehr absenden, so entfällt die Einziehung, weil sie jetzt zur Verhinderung eines gesetzwidrigen Verbreitens nicht mehr erforderlich ist. Hat der Verleger den Händler bisher noch nicht beliefert und auf dessen Bestellung lediglich ein Paket mit jugendgefährdenden Schriften versandfähig gemacht, so hat er noch nicht den Tatbestand des § 21 Abs. 1 in Verbindung mit § 4 Abs. 2 GjS erfüllt; es liegt lediglich eine straflose Vorbereitung vor; eine Einziehung ist ausgeschlossen. VIII. Der Verbreitung gleichstehende Handlungen (Absatz 4). Absatz 4 enthält 24 nicht etwa eine Legaldefinition des Begriffs des Verbreitens. Vielmehr erstreckt er die Vorschriften über die Einziehung von Schriften solchen Inhalts, daß jede vorsätzliche Verbreitung in Inhaltskenntnis den Tatbestand eines Strafgesetzes erfüllen würde, auf Schriften solchen Inhalts, daß die vorsätzliche mit Inhaltskenntnis verbundene Ausstellung usw. den Tatbestand eines Strafgesetzes verwirklichen würde; die Anknüpfungstat besteht dann darin, daß mindestens ein Stück durch eine rechtswidrige (aber nicht notwendig schuldhafte) mit Strafe bedrohte Handlung ausgestellt usw. oder zur Ausstellung bestimmt worden ist. Die Einziehung nach Absatz 4 setzt also Strafvorschriften voraus, die über das Verbreiten hinaus das in Absatz 4 mit Beispielen beschriebene öffentliche Zugänglichmachen des Inhalts einer Schrift bzw. die Bestimmung zur Zugänglichmachung mit Strafe bedrohen, wie z. B. §§ 130 a Abs. 1 Nr. 2, 131 Abs. 1 Nr. 2; 184 Abs. 3 Nr. 2. Die Merkmale des Ausstellens, Anschlagens, Vorführens oder in anderer Weise öffentlich Zugänglichmachens sind bei diesen Vorschriften erläutert; darauf kann hier verwiesen werden. Allgemein ist lediglich zu bemerken, daß zum Zugänglichmachen eine bestimmte Zielrichtung gehört, die ζ. B. bei einem gedankenlosen Liegenlassen einer Schrift in einer Gaststätte oder einem Eisenbahnabteil nicht vorliegt. IX. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Absatz 5). Absatz 5 erklärt zwar nur 25 § 74 b Abs. 2, 3, nicht auch § 74 b Abs. 1 für entsprechend anwendbar. Indessen gilt der rechtsstaatliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit von Mittel und Zweck für staatliche Eingriffe jeder Art und daher auch im Bereich des § 74 d (BGH St. 23 269 = NJW 1970 1693, 1694). Die Verweisung auf § 74 b Abs. 2 bedarf keiner Erläuterung. § 74 b Abs. 3 ist für entsprechend anwendbar erklärt, weil § 74 b Abs. 3 sich (105)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

nur auf die fakultative Einziehung bezieht, während die Einziehung sowie die Unbrauchbarmachung nach § 74 d obligatorisch ist. Gedacht ist dabei, wie sich aus der Entstehungsgeschichte der Vorschrift (vgl. Prot, der 56. Sitzung des BT-Sonderausschusses S. 1075) ergibt, an den Fall, daß nur ein ausscheidbarer Teil der Gegenstände die Einziehung oder Unbrauchbarmachung begründet und im übrigen keine konkrete Gefahr droht. So ist, wenn eine umfangreiche Schrift nur eine oder wenige „strafbare" Stellen aufweist, nur die Unbrauchbarmachung dieser Stellen anzuordnen, falls es möglich ist, sie unlesbar zu machen oder zu entfernen (BGHst. 19 245, 257). Da dies bzgl. der Fälle des Absatzes 3 schon durch dessen Nr. 2 zum Ausdruck kommt, hat Absatz 5, soweit er § 74 b Abs. 3 für entsprechend anwendbar erklärt, praktisch nur für die Fälle des § 74 d Abs. 1, 2 Bedeutung und wäre wohl auch insoweit angesichts der Verweisung auf § 74 b Abs. 2 entbehrlich, so daß die Verweisung auf § 74 b Abs. 3 wohl mehr der Vermeidung von Zweifeln dient und die umfassende Geltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zum Ausdruck bringt, wie er auch in der Beschränkung der Beschlagnahmevoraussetzungen in § 111 m StPO seinen Niederschlag gefunden hat (dazu ausführlich die Erläuterungen in L R - M e y e f i l zu § 111 m StPO). X. Bedeutung des Art. 5 GG für § 74 d 26 1. Nach den in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen sind Vorschriften, die die Einziehung nach Ermessen des Gerichts zulassen, zwar allgemeine Gesetze i. S. des Art. 5 Abs. 2 GG, die das Grundrecht der freien Meinungsäußerung und das Grundrecht auf Information aus allgemein zugänglichen Quellen beschränken. Indessen müssen solche beschränkenden Vorschriften im Licht der Bedeutung dieser Grundrechte gesehen und so ausgelegt werden, daß der besondere Wertgehalt des Grundrechts auf jeden Fall gewahrt bleibt (Grundsatz der „Wechselwirkung"). Das Gericht muß deshalb bei Ausübung seines Ermessens eine Güterabwägung zwischen den grundrechtlich geschützten Interessen und den durch die Strafvorschriften geschützten Rechtsgütern vornehmen 1. Bei dieser Abwägung handelt es sich nicht um eine allgemeine Abwägung abstrakter Rechtsgüter, sondern um die vergleichsweise Gegenüberstellung des Gewichts, das den beiden in einem Spannungsverhältnis zueinander stehenden Rechtsgütern oder Interessen im Einzelfall bei objektiver Betrachtung zukommt — konkrete Abwägung — (BGHSt. 23 208, 211). Kann bei der Abwägung gegenüber dem Grundrecht der Informationsfreiheit das Gericht einen Vorrang der jedem Bürger zustehenden Informationsfreiheit nicht feststellen, so ist grundsätzlich zu prüfen, ob nicht ein spezielles, berechtigtes Informationsinteresse einzelner gebietet, zu ihren Gunsten die sich auf alle Exemplare der Druckschrift beziehende Einziehung zu beschränken (vgl. BVerfG NJW1970 235, 238; BGHSt. 19 245, 256 = NJW 1964 1144). 27

2. Das Gericht ist aber zu einer solchen Abwägung unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten auch verpflichtet, wenn die Einziehung unter Ausschluß eines Ermessensspielraums nach § 74 d Abs. 1 zwingend vorgeschrieben ist (BGHSt. 23 269). Diese Lage ist auch gegeben, wenn § 74 d mit einer Vorschrift — ζ. B. mit § 92 b StGB — zusammentrifft, die die Einziehung nach Ermessen zuläßt, ohne daß die letztere Vorschrift eine abschließende, die Anwendung der allgemeinen Einzie1

Vgl. ζ. B. BVerfGE 7 198, 208 = NJW 1958 257; BVerfGE 20 162, 176; 21 239, 243; 25 44, 55 = NJW 1969 738; BVerfGE 27 71 = NJW 1970 235; BGHSt. 23 64, 71, 208, 211 ; NJW 1970 818. (106)

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hungsvorschriften (§§ 74 ff) in diesem Bereich ausschließende Sonderregelung darstellt (BGHSt. 23 208 = NJW 1970 437 = JZ 1970 513 m. Anm. Willms). Die Auffassung, daß verfassungsrechtlich eine Abwägung auch gegenüber einem zwingenden Einziehungsgebot in Betracht kommt (so BGHSt. 23 208, 269; Eser NJW 1970 784; Faller MDR 1971 3; dagegen kritisch Willms JZ 1970 514) findet ihre Rechtfertigung in der Überlegung, daß es sich bei der Abwägung um die Frage der Zulässigkeit der Einziehung unter dem Gesichtspunkt eines etwaigen Verfassungsvorrangs der in Art. 5 GG garantierten Freiheiten handelt und daß die Zulässigkeitsfrage folgerichtig nicht auf den Bereich der Ermessensausübung beschränkt ist, sondern daß schon vorher zu prüfen ist, ob nach den Grundsätzen der „Wechselwirkung" ein etwaiger Vorrang des Grundrechts überhaupt Raum für eine Einziehung läßt (Eser NJW 1970 786). Dogmatisch bedeutet das, daß die Einwirkung von Grundrechten auf strafrechtliche Meinungsäußerungs- und Verbreitungstatbestände nicht nur darin bestehen kann, daß auf dem Weg über die Zurückdrängung der Tatbestandsanwendung die Einziehbarkeit entfällt, sondern daß der Grundrechtsvorrang, die Tatbestandsanwendung im übrigen unberührt lassend, nur die Einziehungsvorschrift außer Kraft setzen oder einschränken kann (vgl. dazu LG Lüneburg NJW 1978 117 betr. Bedeutung des Informationsinteresses der Öffentlichkeit bei einer Schrift, deren Verbreitung den Tatbestand des § 353 d Nr. 3 erfüllen würde). Zu beachten bleibt aber, daß in Fällen zwingend vorgeschriebener Einziehung der Gesetzgeber seine Entscheidung in Abwägung nach den Grundsätzen der „Wechselwirkung" getroffen und dabei ihre Auswirkung auf die erfahrungsgemäß in Betracht kommenden Fälle, die „Normalfälle", bedacht hat; dann beschränkt sich die Güterabwägung auf nicht in das gesetzgeberische Blickfeld getretene atypische Fälle, denen zudem „einige Evidenz" zukommen muß, denn „übertriebene Individualisierung gefährdet die Rechtssicherheit, die auch ein elementares Prinzip des Rechtsstaates ist" (Faller MDR 1971 4). Und ist gar davon auszugehen, daß nach dem Willen des einfachen Gesetzgebers keine Ausnahmen vom Einziehungszwang stattfinden sollen, so bleibt dem Richter, der darin einen Widerspruch des Einzelgesetzes mit dem Grundgesetz sieht, nur der Weg der Vorlage nach Art. 100 GG (vgl. Rdn. 5 ff zu § 74 b). 3. Zur Frage der Bedeutung der Kunstfreiheitsgarantie (Art. 5 Abs. 3) vgl. 28 BGHSt. 20 192, wonach § 41 a. F. StGB bei verfassungskonformer Auslegung im Hinblick auf Art. 5 Abs. 3 GG trotz eines u. U. nach § 184 Abs. 1 Nr. 1 a. F. StGB strafbaren Gebrauchs nicht ohne weiteres auf ein Gemälde, das ein Kunstwerk ist angewendet werden kann; s. dazu auch Knies NJW 1970 15; Seetzen NJW 1976 498. XII. Verfahrensrechtliches. In der Entscheidung muß der Inhalt der Schrift 29 genau, mindestens in seinem Kern, bezeichnet werden (BGHSt. 23 65, 78; 26 266; NJW 1970 818, 820). Eigene ergänzende Feststellungen über den Inhalt zu treffen, etwa über den Inhalt einer Schallplatte durch deren Abhören, ist dem Revisionsgericht grundsätzlich verwehrt (BGH aaO). Ferner sind die Beschränkungen nach Absatz 2, 3 auszusprechen. Die Urteilsgründe müssen auch erkennen lassen, daß § 74 d Abs. 5 nicht übersehen ist (OLG Düsseldorf NJW 1967 1143). Der Eigentumsübergang nach § 74 e Abs. 1 erstreckt sich auf alle Stücke mit dem in der Einziehungsentscheidung bezeichneten Inhalt ohne Rücksicht darauf, ob sie beschlagnahmt waren, und ob dem Gericht ihr Vorhandensein bekannt war. Wegen der Beschränkung der Beschlagnahme und der Zuständigkeit zur Beschlagnahme vgl. § 111 m, 111 nStPO. (107)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

§74 e Wirkung der Einziehung (1) Wird ein Gegenstand eingezogen, so geht das Eigentum an der Sache oder das eingezogene Recht mit der Rechtskraft der Entscheidung auf den Staat über. (2) Rechte Dritter an dem Gegenstand bleiben bestehen. Das Gericht ordnet jedoch das Erlöschen dieser Rechte an, wenn es die Einziehung darauf stützt, daO die Voraussetzungen des § 74 Abs. 2 Nr. 2 vorliegen. Es kann das Erlöschen des Rechts eines Dritten auch dann anordnen, wenn diesem eine Entschädigung nach § 74 f Abs. 2 Nr. 1 oder 2 nicht zu gewähren ist. (3) § 73 d Abs. 2 gilt entsprechend für die Anordnung der Einziehung und die Anordnung des Vorbehalts der Einziehung, auch wenn sie noch nicht rechtskräftig ist.

1

I. Entwicklungsgeschichte. §74 e (vorangegangene Bezifferung: § 41 a) entspricht, abgesehen von einer lediglich redaktionellen Änderung des Absatzes 3, dem bisherigen Recht. Das Strafgesetzbuch enthielt früher keine allgemeine Vorschrift über die Wirkung der rechtskräftigen Einziehungsanordnung. Nur die Steuergesetze (vgl. § 415 a. F. RAbgO und §123 Abs. 5 Branntweinmonopole v. 8. 4. 1922) sahen den Rechtsübergang des Eigentums am Einziehungsgegenstand auf den Staat vor. Jedoch entsprach es der herrschenden Meinung, daß in diesen Vorschriften ein allgemeiner Rechtsgedanke zum Ausdruck komme (RGSt. 66 85, 87 ; § 60 StrVollstrO). Eine entsprechende allgemeine Regelung traf § 22 Satz 1 OWiG 1952 für das Gebiet der Ordnungswidrigkeiten; Satz 2 bestimmte, daß sonstige Rechte am Einziehungsgegenstand (beschränkt dingliche Rechte) mit der Rechtskraft der Entscheidung erlöschen. Eine entsprechende allgemeine Vorschrift auch für das Gebiet des Strafrechts, ergänzt durch die Bestimmung, daß vor der Rechtskraft die Einziehungsanordnung als Veräußerungsverbot (§ 136 BGB) wirke, schlug § 117 StGB-Entw. 1962 vor. § 74 e ist diesem Vorschlag nur insoweit gefolgt, als es sich um den Übergang des Eigentums und die Wirkung der Einziehungsanordnung vor ihrer Rechtskraft handelt, während er für das Schicksal der beschränkt dinglichen Rechte am Einziehungsgegenstand eine von den Vorschlägen des StGBEntw. 1962 abweichende Regelung trifft. Die dem § 74 e entsprechende Vorschrift für das Gebiet des Ordnungswidrigkeitenrechts enthält § 26 OWiG. II. Eigentumsübergang auf den Staat (Absatz 1)

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1. Begriff des Staates. Nach Absatz 1 geht mit der formellen Rechtskraft der die Einziehung von vornherein oder nachträglich (§ 74 b Abs. 2 Satz 3) anordnenden Entscheidung das Eigentum an einer körperlichen Sache und das eingezogene Recht kraft Gesetzes auf den Staat über. „Staat" ist grundsätzlich der Justizfiskus des Landes, dessen Gericht im ersten Rechtszug entschieden hat. Ein Eigentumsübergang auf den Bund findet nur statt, wenn Sondervorschriften eine Einziehung zugunsten des Bundes vorsehen (so § 24 des Gesetzes über die Kontrolle von Kriegswaffen vom 20.4.1961. BGBl. I 444 in der jetzt geltenden Fassung — BGBl. III 190 — 1). In Staatsschutzstrafsachen gibt es einen Eigentumsübergang auf den Bund nicht mehr, nachdem die erstinstanzliche Zuständigkeit des Bundesgerichtshofs in Staatsschutzstrafsachen durch Gesetz vom 8. 9. 1969 beseitigt worden ist. Allerdings üben die erstinstanzlichen zuständigen Gerichte, soweit nach § 142 a GVG für die Verfolgung von Strafsachen die Zuständigkeit des Bundes (108)

Wirkung der Einziehung (Schäfer)

§74 e

begründet ist, Gerichtsbarkeit des Bundes aus (Art. 96 Abs. 5 G G ; § 120 Abs. 6 GVG) mit der Folge, daß in diesen Sachen das Begnadigungsrecht dem Bund zusteht (§ 452 StPO). Für den Eigentumserwerb an eingezogenen Gegenständen ist aber auch hier lediglich maßgebend, welchem Land das im ersten Rechtszug entscheidende Gericht angehört; das ist in § 60 Satz 2 StrVollstrO ausdrücklich ausgesprochen. Hat aber das Gericht nach Sondervorschriften (s. oben) die Einziehung zugunsten des Bundes angeordnet, so wird die Bundesrepublik (Justizfiskus) unmittelbar Eigentümer (so ausdrücklich § 60 Satz 3 StrVollstrO). 2. Der Eigentumserwerb des Staates ist originär; der Justizfiskus wird auch — 3 anders als beim Verfall (§ 73 d Abs. 1) — Eigentümer, wenn das Urteil unrichtig ist, z. B. weil das Gericht zu Unrecht angenommen hat, daß die Sache zur Zeit der Entscheidung dem Täter oder Teilnehmer (§ 74 Abs. 2 Nr. 1) oder demjenigen Tatunbeteiligten gehört habe, der leichtfertig dazu beigetragen hat, daß die Sache Mittel oder Gegenstand der Tat oder ihrer Vorbereitung wurde (§ 74 a Nr. 1). Das die Einziehung anordnende Urteil wirkt in diesem Sinn inter omnes. S. dazu unten Rdn. 5 und § 74 f. Ist ein beschlagnahmter Gegenstand gemäß § 1111 StPO schon vor der Entscheidung veräußert worden, so ist, da der Erlös an die Stelle des Gegenstandes tritt (§1111 Abs. 1 Satz 2), auf Einziehung des Erlöses zu erkennen (BGHSt. 8 46, 53); RGSt. 66 85 hat durch die Veränderung der Rechtslage seine Bedeutung verloren. Mit der Notveräußerung hat der bisherige Eigentümer das Eigentum zugunsten des Erwerbers verloren, ist aber nicht Eigentümer des Erlöses geworden, sondern hat nur gegen den Fiskus einen Anspruch auf Auszahlung des Erlöses für den Fall erworben, daß die Beschlagnahmevoraussetzungen wegfallen ( L R - M e y e f i ^ 8 zu § 111 1). Die Einziehung des Erlöses hat zur Folge, daß der Auszahlungsanspruch infolge Ausfalls der aufschiebenden Bedingung entfällt. 3. Da der Eigentumsübergang auf den Staat kraft Gesetzes erfolgt, erübrigen sich 4 weitere Rechtsgeschäfte und Rechtshandlungen, von denen nach bürgerlichem Recht ein rechtsgeschäftlicher Eigentumserwerb abhängt. Ist z. B. Einziehungsgegenstand ein Grundstück so kommt lediglich die äußere Kenntlichmachung durch Berichtigung des Grundbuchs, bei körperlichen beweglichen Sachen lediglich eine auf die Erlangung des Besitzes gerichtete Vollstreckung in Betracht (vgl. dazu Rdn. 2 zu §76). 4. Der Rechtserwerb des Staates und der damit verbundene Rechtsverlust des bisherigen Eigentümers verliert seine Wirkung, wenn die rechtskräftige Einziehungsanordnung ihre Wirksamkeit verliert. a) Der die Wiederaufnahme des Verfahrens und die Erneuerung der Hauptver- 5 handlung anordnende Beschluß (§ 370 Abs. 2 StPO) hat nach herrschender Meinung die Wirkung, daß er das frühere Urteil beseitigt und das Verfahren wieder anhängig macht (vgl. BGHSt. 14 64). Erstreckt sich der Beschluß auf die Einziehungsanordnung, so lebt das Eigentumsrecht des Verurteilten wieder auf; in der erneuten Hauptverhandlung (§ 373 StPO) ist unabhängig von dem früheren Urteil darüber zu entscheiden, ob im Zeitpunkt der neuen Entscheidung die Einziehungsvoraussetzungen der §§ 74 ff StGB gegeben sind. Entfällt eine erneute Einziehung und ist der Einziehungsgegenstand nicht mehr vorhanden, so kommt Entschädigung nach den Vorschriften des Entschädigungsgesetzes in Betracht. (109)

§74 e 6

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

b) Die rechtskräftige Einziehungsanordnung kann gemäß § 439 StPO in einem Nachtragsverfahren zugunsten tatunbeteiligter Drittberechtigter aufgehoben werden; eine Wiederaufnahme des Verfahrens nach § 359 Nr. 5 StPO ist mit Rücksicht auf die Möglichkeit, den Weg des § 439 zu beschreiten, ausgeschlossen (§ 439 Abs. 6). S. dazu Rdn. 3 zu § 74 f. III. Rechte Dritter am Einziehungsgegenstand (Absatz 2)

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1. Grundsatz. Abweichend von früheren Vorschriften (§ 415 Satz 2 a. F. RAbgO, § 22 Satz 2 OWiG 1952) stellt § 74 e Abs. 2 den Grundsatz auf, daß Rechte Dritter am Einziehungsgegenstand nicht erlöschen. Der Grund dafür liegt einmal in der Berücksichtigung des Art. 14 GG, der einen rechtfertigenden Grund für den Eingriff in Vermögenswerte Rechte verlangt. Die Vorschrift ermöglicht ferner, die Beteiligung Drittberechtigter am Strafverfahren auf die Fälle zu beschränken, in denen in Durchbrechung des Grundsatzes gemäßt § 74 e Abs. 2 Satz 2 , 3 eine Anordnung des Erlöschens des Rechts in Betracht kommt (vgl. § 431 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StPO); dadurch wird verhindert, daß beschränkt dinglich Berechtigte, ohne daß ihre Belange berührt werden, sich am Strafverfahren beteiligen und Ausführungen zur Frage der Einziehung und gar der Schuld machen.

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b) Bestehenbleibende Rechte sind nur die beschränkt dinglichen Teilrechte wie Pfandrecht (§§ 1204 ff, 1279) oder Nießbrauch (§§ 1030 ff BGB), nicht aber obligatorische Rechte, z. B. aus Kaufvertrag, Miete oder Leihe, deren Erfüllung durch die Einziehung unmöglich wird, auch nicht der bloße Besitz (BayObLGSt. 1973 181 = VRS 46 274, 275). Sicherungs- und Vorbehaltseigentum gehören ebensowenig wie Anwartschaftsrechte hierher (Rdn. 26 ff zu § 74).

3. Von dem Grundsatz des Bestehenbleibens der Rechte sehen Absatz 2 Satz 2, 3 Ausnahmen vor. 9 a) Das Gericht muß das Erlöschen anordnen, wenn es die Einziehung auf § 74 Abs. 2 Nr. 2 (einschl. der Fälle des § 74 Abs. 3, 4) stützt. Denn wenn der Gegenstand wegen Gefährdung der Allgemeinheit oder der Gefahr der Verwendung zur Begehung künftiger rechtswidriger Taten aus dem Verkehr gezogen werden muß, darf dies nicht daran scheitern, daß auf Rechte Dritter an diesem Gegenstand Rücksicht genommen werden muß. Dieser Gesichtspunkt greift aber auch durch, wenn eine Einziehung nach § 74 d ausgesprochen wird, denn auch hier handelt es sich um eine Sicherungsmaßnahme, die eine weitere Verbreitung usw. generell gefährlicher Gegenstände ausschließen soll; § 74 e Abs. 2 Satz 2 ist daher in sinngemäßer Ergänzung des unvollkommenen Wortlauts anwendbar (ebenso DreherTröndle 4). Wegen der Entschädigung für den Rechtsverlust vgl. § 74 f. Liegen die Voraussetzungen sowohl des § 74 Abs. 2 Nr. 1 oder § 74 a wie die des § 74 Abs. 2 Nr. 2 vor, so ist die Einziehung wegen der Wirkung für die Drittrechte auf § 74 Abs. 2 Nr. 2 zu stützen (vgl. Rdn. 59 zu § 74). 10

b) Das Gericht kann das Erlöschen eines Drittrechts auch anordnen, wenn die Einziehung nicht (auch) auf § 74 Abs. 2 Nr. 2, sondern lediglich auf §§ 74 Abs. 2 Nr. 1, 74 a gestützt wird und der Drittberechtigte, weil er vorwerfbar i. S. des § 74 f Abs. 2 Nr. 1, 2 gehandelt hat, keinen Anspruch auf Entschädigung für den Rechtsverlust hat, mag ihm auch gemäß § 74 f Abs. 3 aus Billigkeitsgründen eine Entschädigung gewährt werden. Der Drittberechtigte wird also hier in gleicher Weise behandelt wie der tatunbeteiligte Dritteigentümer. Die Prüfung der Entschädi(110)

Wirkung der Einziehung (Schäfer)

§74 e

gungsfrage ist hier — ausnahmsweise; vgl. Rdn. 10 zu §74 f — im Strafverfahren vorzunehmen; das ist notwendig, weil sonst der Drittberechtigte das Recht behalten würde und die Frage der Entschädigung dann später nicht mehr auftauchen könnte. c) In beiden Fällen sind die Drittberechtigten gemäß § 431 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 11 StPO am Strafverfahren zu beteiligen.

IV. Veräußerungsverbot (Absatz 3) 1. Allgemeines. Eine vollzogene Beschlagnahme (§§ 111b Abs. 2, 111 c Abs. 2 12 StPO) von Einziehungsgegenständen begründet nach herrschender Meinung ein absolutes Veräußerungsverbot (§ 134 BGB), wenn die Einziehung Sicherungsmaßnahme ist (Nachweise bei LR-Meyer 2 ! § 111 c StPO Rdn. 16); nach § 111 c Abs. 5 StPO hat die Beschlagnahme die Bedeutung eines relativen Veräußerungsverbots (§ 136 BGB), das zugleich auch andere Verfügungen als Veräußerungen umfaßt, wenn sie nebenstraf- oder strafähnlichen Charakter hat. Eine bloße Sicherstellung i. S. des § 111 b Abs. 1 StPO hat diese Wirkung nicht. § 74 e Abs. 3 trifft eine ergänzende Regelung, die praktische Bedeutung hat, wenn es nicht zu einer vollzogenen Beschlagnahme gekommen ist, für a) die Anordnung der Einziehung vor der Rechtskraft, b) den Vorbehalt der Einziehung (§ 74 b Abs. 2) vor und nach der Rechtskraft der Entscheidung bis zur Entscheidung über die Einziehung selbst. 2. Absatz 3 legt den beiden vorgenannten Entscheidungen die Wirkungen eines 13 (auch andere Verfügungen umfassenden ; dazu Rdn. 3 zu § 73) Veräußerungsverbots i. S. des § 136 BGB bei. § 136 betrifft aber nur die behördlichen Veräußerungsverbote, die den Schutz bestimmter Personen bezwecken, während Veräußerungsverbote im Interesse der Allgemeinheit absolut wirken und die Rechtsfolgen des § 134 BGB auslösen (vgl. Palandt-Heinrichs^ 1 zu § 136). Demgemäß haben auch — in gleicher Weise wie bei der Beschlagnahme; Rdn. 12 — die vorbezeichneten Entscheidungen die Wirkungen eines lediglich relativen Veräußerungsverbots nur, soweit die Sicherung des künftigen Rechtserwerbs des Fiskus in Frage steht, während ein absolutes Veräußerungsverbot mit den Wirkungen des § 134 BGB anzunehmen ist, wenn die (noch nicht rechtskräftige) Einziehung bezweckt, gefährliche Sachen zum Schutz der Allgemeinheit aus dem Verkehr zu ziehen. 3. Gutgläubiger Erwerb. Kommt der Entscheidung nur die Wirkung eines relati- 14 ven Veräußerungsverbots zu, so finden nach § 136 in Verbindung mit § 135 Abs. 2 BGB die Vorschriften zugunsten derjenigen, die Rechte von einem Nichtberechtigten herleiten, entsprechende Anwendung, d. h. der gute Glaube eines Erwerbers muß sich auf das Nichtbestehen eines Veräußerungsverbots beziehen. Den gutgläubigen Erwerb regeln bei beweglichen Sachen bzgl. des Eigentums §§ 932 ff, bzgl. des Erwerbs beschränkt dinglicher Rechte § 1207 (Pfandrecht), § 1058 (Nießbrauch), bzgl. des Eigentums und beschränkter dinglicher Rechte an unbeweglichen Sachen §§ 892, 1138, 1155. Bei Forderungsrechten gibt es keinen gutgläubigen Erwerb. Soweit grobfahrlässige Unkenntnis des Veräußerungsverbots den guten Glauben ausschließt (§ 932 Abs. 2 BGB), ist sie in der Regel als vorliegend schon anzusehen, wenn der Täter weiß, daß wegen der Tat, bei der der Einziehungsgegenstand eine Rolle gespielt hat, ein Strafverfahren schwebt (Dreher-Tröndle Rdn. 3; Göhler 6 zu § 26 OWiG). (111)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

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4. Danach ergibt sich folgendes Bild über die Bedeutung des Erwerbs durch einen Nichttatbeteiligten: Ist der strafähnlicher Einziehung unterliegende Gegenstand nicht beschlagnahmt und eine Einziehung noch nicht angeordnet, so kann ein Dritter Eigentum und beschränkt dingliche Rechte am Eigentum erwerben. Wird die Veräußerung dem Gericht vor der Entscheidung prozeßordnungsgemäß bekannt, so sind die Einziehungsvoraussetzungen nach § 74 Abs. 2 Nr. 1 nicht mehr gegeben. Dem Erwerber gegenüber ist aber unter den Voraussetzungen des § 74 a Nr. 2 die Einziehung möglich, und es kann unter den Voraussetzungen des § 74 e Abs. 2 Satz 3 das Erlöschen des Rechts angeordnet werden ; liegen diese Voraussetzungen nicht vor, so kommt gegenüber dem Täter (Teilnehmer), der den Gegenstand veräußert oder belastet hat, Wertersatzeinziehung nach § 74 c Abs. 1 bis 3 in Betracht. Sobald die Einziehung oder der Vorbehalt der Einziehung angeordnet ist, schließt nur gutgläubiger Erwerb, der prozeßordnungsgemäß eingeführt ist (§§431 Abs. 4, 433 StPO) und festgestellt wird, eine Einziehung aus; wird gutgläubiger Erwerb nicht festgestellt, so geht das Berufungsgericht vom Fortbestand des Eigentums des Täters (Teilnehmers) aus (§ 74 Abs. 2 Nr. 1). Ein gutgläubiger Erwerb nach der letzten tatrichterlichen Entscheidung vor Eintritt der Rechtskraft hindert nicht, daß das Eigentum mit der Rechtskraft der Entscheidung auf den Staat übergeht (§ 74 e Abs. 1). Der Dritteigentümer, dessen Recht mit der Entscheidung erlischt, sei es, daß es bei der Einziehungsentscheidung unberücksichtigt blieb, sei es — bei gutgläubigem Erwerb in der Zeit nach der letzten Tatsachenverhandlung und vor Rechtskrafteintritt —, daß es nicht mehr berücksichtigt werden konnte, kann das Nachverfahren nach Maßgabe des § 439 StPO betreiben oder statt dessen nach § 74 f Abs. 1 Entschädigung verlangen, soweit nicht die Versagungsgründe nach § 74 f Abs. 2 vorliegen. Mit der Rechtskraft der Entscheidung, die den Staat zum Eigentümer des Einziehungsgegenstandes macht, verliert das Veräußerungsverbot seine Bedeutung; es greifen nunmehr bei einer Veräußerung des eingezogenen Gegenstandes durch einen anderen als den Fiskus unmittelbar die allgemeinen bürgerlichrechtlichen Vorschriften über den Rechtserwerb von Nichtberechtigten Platz; gegen den Täter oder Teilnehmer kommt nachträgliche Anordnung der Wertersatzeinziehung nach § 76 in Betracht.

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5. Wird die Einziehungsanordnung oder der Vorbehalt der Einziehung auf Rechtsmittel aufgehoben, so verliert das Veräußerungsverbot rückwirkend seine Bedeutung, soweit nicht eine fortdauernde Beschlagnahme die Wirkung des Veräußerungsverbots übernimmt; die Rückwirkung hat zur Folge, daß ein zwischenzeitlicher Dritterwerb ohne Rücksicht auf Gut- oder Bösgläubigkeit wirksam wird. V. Übergangsvorschrift: Art. 155 Abs. 2 Nr. 2 EGOWiG.

§ 74 f Entschädigung (1) Stand das Eigentum an der Sache oder das eingezogene Recht zur Zeit der Rechtskraft der Entscheidung Uber die Einziehung oder Unbrauchbarmachung einem Dritten zu, oder war der Gegenstand mit dem Recht eines Dritten belastet, das durch die Entscheidung erloschen oder beeinträchtigt ist, so wird der Dritte aus der Staatskasse unter Berücksichtigung des Verkehrswertes angemessen in Geld entschädigt. (112)

Entschädigung (Schäfer)

§ 74 f

(2) Eine Entschädigung wird nicht gewährt, wenn 1. der Dritte wenigstens leichtfertig dazu beigetragen hat, daß die Sache oder das Recht Mittel oder Gegenstand der Tat oder ihrer Vorbereitung gewesen ist, 2. der Dritte den Gegenstand oder das Recht an dem Gegenstand in Kenntnis der Umstände, welche die Einziehung oder Unbrauchbarmachung zulassen, in verwerflicher Weise erworben hat, oder 3. es nach den Umständen, welche die Einziehung oder Unbrauchbarmachung begründet haben, auf Grund von Rechtsvorschriften außerhalb des Strafrechts zulässig wäre, den Gegenstand dem Dritten ohne Entschädigung dauernd zu entziehen. (3) In den Fällen des Absatzes 2 kann eine Entschädigung gewährt werden, soweit es eine unbillige Härte wäre, sie zu versagen.

I. Entstehungsgeschichte und Grundgedanke der Vorschrift. Das frühere Straf- 1 recht kannte keine dem § 74 f (bisherige Bezifferung: § 41 c) entsprechende allgemeine Vorschrift über die Entschädigung tatunbeteiligter Dritter, die durch die Einziehung eines Gegenstandes ihr Eigentumsrecht oder ein Recht am Einziehungsgegenstand einbüßten. Sondervorschriften enthielten dagegen die auf dem 1. Strafrechtsänderungsgesetz v. 30. 8. 1951 beruhenden §§ 86 Abs. 2, 98 Abs. 2, 101 Abs. 2 a. F. StGB, wonach bei Einziehung (Unbrauchbarmachung) in Fällen von Hochund Landesverrat und Staatsgefährdung dem tatunbeteiligten Eigentümer aus der Staatskasse eine angemessene Entschädigung zu zahlen war, sofern er sich nicht im Zusammenhang mit der Tat auf andere Weise strafbar gemacht hatte. Dieser Vorschrift, die auf das Vorbild des StGB-Entw. 1930 zurückging, lag der Gedanke zugrunde, daß eine Einziehung, die als Sicherungsmaßregel auch der an der Tat völlig unbeteiligte Eigentümer mit der Folge des Eigentumsverlusts hinnehmen muß, sich ihm gegenüber als eine Eigentumsentziehung zum Wohl der Allgemeinheit darstelle, die nach dem — mindestens sinngemäß anwendbaren — Art. 14 Abs. 3 GG nur gegen Entschädigung zulässig sei. Der diesen Vorschriften zugrundeliegende Gedanke führte, wie in Rdn. 6 ff vor § 73 summarisch dargestellt, allmählich teils in der Rechtsprechung, teils in der Gesetzgebung auf dem Gebiet des Nebenstrafrechts, in Rücksichtnahme auf die verfassungsrechtliche Eigentumsgarantie zu einer Zurückdrängung der bis dahin in weitem Umfang vorgesehenen sog. unterschiedslosen Einziehung und in den Fällen, in denen die Einziehung als Sicherungsmaßregel ohne Rücksicht auf das Eigentum tatunbeteiligter und völlig „unschuldiger" Eigentümer oder sonstiger Inhaber von Rechten am Einziehungsgegenstand unentbehrlich erschien, zu der Forderung, daß der in seinen Rechten Beeinträchtigte für den Rechtsverlust zu entschädigen sei. Dem entsprach in allgemeiner Form für das Recht der Ordnungswidrigkeiten das OWiG 1952, indem es einerseits in § 19 eine Einziehung mit Wirkung gegenüber dem tatunbeteiligten „unschuldigen" Eigentümer ausschloß, andererseits in § 23 den Inhabern beschränkt dinglicher Rechte am Einziehungsgegenstand, die nach § 22 mit Rechtskraft der Einziehungsentscheidung erloschen, einen Entschädigungsanspruch gewährte, sofern der Betroffene nicht die die Einziehung rechtfertigende Zuwiderhandlung kannte oder kennen mußte oder von ihr einen Vorteil hatte, dessen Zusammenhang mit der Zuwiderhandlung ihm erkennbar war. Eine allgemeine Regelung der Entschädigungsfrage für das Gebiet des Straf- und Nebenstrafrechts sah demnächst § 119 StGB-Entw. 1962 vor. Sie diente von nun ab als Vorbild für die Regelung der Entschädigung in den neu erlassenen oder geänderten Einzie(113)

§ 74 f

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

hungsvorschriften und ist im wesentlichen von § 74 f StGB übernommen worden. Absatz 1 spricht den Grundsatz aus, daß der tatunbeteiligte Dritteigentümer für die Einbuße durch Einziehung oder Unbrauchbarmachung aus der Staatskasse zu entschädigen ist; das gleiche gilt für die Inhaber beschränkt dinglicher Rechte am Gegenstand der Einziehung oder Unbrauchbarmachung, sofern ihr Recht durch die Entscheidung erloschen oder beeinträchtigt ist. Absatz 2 regelt die Voraussetzungen, unter denen die Entschädigungspflicht entfällt, sofern nicht die Härteklausel des Absatzes 3 zu einer Milderung führt. Die dem § 74 f entsprechende Vorschrift für das Ordnungswidrigkeitsrecht findet sich in § 28 OWiG. II. Die Entschädigungsberechtigten (Absatz 1) 1. Entschädigungsberechtigt sind zunächst Dritte, denen das Eigentum an der Sache oder das eingezogene Recht zur Zeit der Rechtskraft der Entscheidung über die Einziehung oder Unbrauchbarmachung zustand. 2

a) Dritte i. S. der Vorschrift sind diejenigen Personen, gegen die sich die Maßnahme nicht unmittelbar richtet, sondern die von ihr nur mittelbar durch die Einziehungswirkung nach § 74 e betroffen werden. Keine Dritte sind danach einmal Täter und Teilnehmer (LG Hamburg NJW 1974 374) und zwar ohne Rücksicht darauf, ob sie ein Schuldvorwurf trifft (§§ 74 Abs. 3, 74 d), denn eine entschädigungspflichtige Enteignung liegt auch dann nicht vor, wenn Sicherungsmaßnahmen gegen die von einem Gegenstand ausgehenden Gefährdungen der Allgemeinheit getroffen werden, die sich aus der Person des Eigentümers oder der Beschaffenheit des Gegenstandes ergeben, und die Verwirklichung des Straftatbestandes nicht schuldhaft erfolgt (BGHZ 27 382, 389; BGHSt. 15 399, 403). Dritter ist ferner nicht der tatunbeteiligte Eigentümer, den § 74 a dem Täter oder Teilnehmer gleichgestellt, weil ihm vorwerfbare Quasi-Hehlerei oder Quasi-Begünstigung zur Last fällt. Eine entsprechende Anwendung des § 74 f Abs. 1 auf andere Fälle eines Eigentumsverlusts im Laufe eines Strafverfahrens ist nicht möglich (vgl. den Fall LG Hamburg NJW 1974 373: es ergeht ein Strafbefehl, der auf Einziehung des beschlagnahmten Kraftfahrzeugs lautet; in der Annahme der eingetretenen Rechtskraft wird das Fahrzeug zugunsten der Staatskasse versteigert; der Beschuldigte begehrt Entschädigung, weil entgegen der Annahme des Amtsgerichts der Strafbefehl nicht wirksam zugestellt worden ist). b) Als entschädigungsberechtigter tatunbeteiligter Dritteigentümer (Drittrechtsinhaber), dem Eigentum oder Recht im Zeitpunkt der Rechtskraft zustand, kommt danach in Betracht, wer α) in der Zeit zwischen der letzten tatrichterlichen Verhandlung und der Rechtskraft des Urteils gutgläubig Eigentum erwarb (vgl. Rdn. 15 zu § 74 e und unten γ), β) von einer Einziehung (Unbrauchbarmachung) nach § 74 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 3, 4 oder § 74 d betroffen wurde, γ) wirklich Eigentümer ist, ohne sein Verschulden aber nicht in den Tatsacheninstanzen des Strafverfahrens die Rechte eines Einziehungsbeteiligten wahrnehmen konnte, mit der Folge, daß das Gericht zu Unrecht die Einziehungsvoraussetzungen nach §§ 74 Abs. 2 Nr. 1, 74 a (Eigentum des Täters oder Teilnehmers oder des Dritten i. S. des § 74 a zur Zeit der Entscheidung) als gegeben ansah. In solchen Fällen sieht § 439 StPO die Möglichkeit eines Nachverfahrens mit dem Ziel einer Entscheidung vor, daß die Einziehung dem wirklichen Eigentümer gegenüber nicht gerechtem)

Entschädigung (Schäfer)

§ 74 f

fertigt sei (vgl. auch § 439 Abs. 5). Jedoch kann unabhängig von dieser Möglichkeit der wirkliche Eigentümer — auch während und erst recht nach Ablauf der einmonatlichen Antragsfrist für das Nachverfahren (§ 439 Abs. 2) — Entschädigung nach § 74 f verlangen und seinen Anspruch im Wege des Zivilprozesses durchsetzen (allgemeine Meinung; vgl. Dreher-Tröndle Rdn. 3; Sch.-Schröder-Eser Rdn. 3; LRSchäfer^ Rdn. 36 zu § 439 StPO; Lässig JuS 1977 250; Göhler 3 A b zu § 28 OWiG). c) Die einen Entschädigungsanspruch begründende Einbuße kann in dem Verlust 4 des Eigentums (Rechts) durch den Übergang auf den Staat (§ 74 e), aber auch darin bestehen, daß bei Einziehungsvorbehalt Maßnahmen i. S. des § 74 b Abs. 2 angeordnet und durchgeführt sind, die mit Verlust oder wirtschaftlicher Beeinträchtigung des Eigentums verbunden waren (Dreher-Tröndle Rdn. 3 ; Göhler5 3 A zu § 28). Dagegen kann ein Entschädigungsanspruch nicht darauf gestützt werden, daß der Rechtsverlust durch die Einziehung nicht notwendig gewesen sei und weniger einschneidende Maßnahmen ausgereicht hätten, denn solche Einwendungen konnten nur gegen die Einziehungsentscheidung selbst geltend gemacht werden. — Wegen des bei der Entschädigung zu berücksichtigenden Verkehrswertes des Einziehungsgegenstandes vgl. Rdn. 15 zu § 74 e. 2. Inhaber beschränkt dinglicher Rechte am Gegenstand der Einziehung oder 5 Unbrauchbarmachung (vgl. § 74 e, 8) sind, da diese Rechte grundsätzlich von einer Einziehung nicht berührt werden (§ 74 e Abs. 2 Satz 1) nur beschränkt entschädigungsberechtigt, nämlich wenn das Erlöschen dieser Rechte gemäß § 74 e Abs. 2 Satz 2 angeordnet wurde, oder wenn das bestehengebliebene Recht durch eine Maßnahme nach § 74 b Abs. 2 beeinträchtigt wurde, indem sie seinen wirtschaftlichen Wert verringerte. Im übrigen ist ein Rechtsverlust durch Anordnung des Erlöschens nach § 74 e Abs. 2 Satz 3 nur in Fällen zulässig, in denen eine Entschädigung nicht zu gewähren ist.

III. Ausschluß der Entschädigungspflicht (Absatz 2) 1. Die Nummern 1 und 2 enthalten Ausschließungsgründe, die den Einziehungs- 6 Voraussetzungen in § 74 a Nr. 1, 2 entsprechen. Da schon nach § 74 f Abs. 1 die Voraussetzungen einer Entschädigungspflicht entfallen, wenn die Einziehung auf § 74 a gestützt ist, kommen für eine Anwendung des § 74 f Abs. 2 Nr. 1, 2 nur die oben in Rdn. 3 beschriebenen Fälle in Betracht. Eine Entschädigungspflicht entfällt danach z. B., wenn bei einer Sicherungseinziehung (§ 74 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 3) der von der Einziehung betroffene tatunbeteiligte Eigentümer, oder wenn bei einer anderen Einziehung (§§ 74 Abs. 2 Nr. 1, 74 a) der nachträglich hervortretende wirkliche Eigentümer die Voraussetzungen der Nummern 1, 2 erfüllt hat. Die Erläuterungen zu § 74 a Nr. 1, 2 gelten — mutatis mutandis — auch hier. Die Voraussetzungen des § 74 f Abs. 2 Nr. 1 sind z. B. erfüllt, wenn der Besteller (und Eigentümer) einer aus dem Ausland eingeführten pornographischen Schrift (§ 184 Abs. 3 Nr. 2 StGB) um den pornographischen Inhalt wußte (OLG Hamm M D R 1970 943). 2. Die Nummer 3 schließt die Entschädigung aus, wenn die Einziehung oder 7 Unbrauchbarmachung keine Enteignung (Art. 14 GG) ist, weil es im konkreten Fall auch auf Grund anderer als strafrechtlicher Vorschriften zulässig gewesen wäre, den Gegenstand dem Dritten ohne Entschädigung dauernd zu entziehen. Mit dieser Anknüpfung an außerstrafrechtliche Vorschriften beschreibt die Vorschrift die Fälle, in denen das Gesetz die Grenzen des Eigentums festsetzt. Gedacht ist hierbei (115)

§ 74 f

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

vorzugsweise an die Polizeigesetze der Länder, die unter gewissen Voraussetzungen aus Präventivgründen, d. h. zum Schutz der Allgemeinheit vor Gefahr und zur Vermeidung der mißbräuchlichen Benutzung eines Gegenstandes, auch die dauernde Entziehung des Eigentums oder die Vernichtung oder Unbrauchbarmachung zulassen. So darf ζ. B. nach § 18 des Hess. Ges. über die öffentliche Sicherheit und Ordnung v. 17.12. 1964 (GVB1.1 209) die Polizei vorübergehend — bis zur Beseitigung der Gefahr — Gegenstände sicherstellen bei hinreichendem Verdacht, daß sie zur Begehung einer rechtswidrigen Tat gebraucht oder verwertet werden sollen, oder daß ein Gebrauch oder eine Verwertung beabsichtigt ist, die das Leben, die Gesundheit oder das Vermögen schädigen kann; die sichergestellten Gegenstände dürfen nach § 21 Abs. 2 unbrauchbar gemacht oder vernichtet werden, wenn bei einer Verwertung die Gefahr fortbestehen oder erneut eintreten würde. Die dauernde polizeiliche Einziehung kann auch darin bestehen, daß ein sichergestellter Gegenstand, der nach längerer Verwahrung nicht an einen zum Empfang Berechtigten herausgegeben werden kann, ohne daß die Voraussetzungen der Sicherstellung erneut eintreten würden, verwertet wird; dann tritt zwar der Erlös an die Stelle des sichergestellten Gegenstandes (§21 Abs. 1, 5 des Hess. Gesetzes); die Ausfolgung des Erlöses stellt aber keine „Entschädigung" im technischen Sinn dar, so daß auch in diesen Fällen eine dauernde Entziehung ohne Entschädigung vorliegt. Entsprechende Vorschriften enthalten die Polizeigesetze der übrigen Länder (vgl. dazu VGH Mannheim NJW 1972 971 betr. Berechtigung der Polizei, gemäß §27 BadWürtt.PolG in einem Laden angebotene Mikro-Abhörgeräte wegen drohender Verletzung von Recht und Ordnung zu beschlagnahmen und entschädigungslos einzuziehen). Die Versagung einer Entschädigung gemäß Nummer 3 steht indessen nicht entgegen, daß dem Berechtigten im Falle einer Verwertung der Erlös- abzüglich der Verwertungskosten auszufolgen ist (Göhler 4 Β zu §28); auch könnte, wenn die Höhe des Verwertungserlöses absehbar ist, eine entsprechende Zubilligung nach § 74 f Abs. 3 erfolgen. 8

3. Keine weitergehende Ausschließung der Entschädigung. Der Entw. EGOWiG 1968 hatte als weiteren eine Entschädigung ausschließenden Grund vorgesehen, daß der Dritte aus der Tat in verwerflicher Weise einen Vermögensvorteil gezogen hat, obwohl ihm dabei die Beziehung zwischen Tat und Gegenstand bekannt war; dieser Vorschlag ist nicht Gesetz geworden.

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IV. Härteklausel (Absatz 3). Die Härteklausel dient (vgl. die Begr. zu § 41, BTDrucks. V/1319 S. 60) der Vermeidung von Ungerechtigkeiten, die sich bei uneingeschränkter Versagung einer Entschädigung im Vergleich mit § 74 a ergeben könnten. Während nämlich bei der strafähnlichen Einziehung nach § 74 a der Richter über die Einziehung nach Ermessensgrundsätzen entscheidet, müßte bei der Einziehung als Sicherungsmaßnahme der tatunbeteiligte Dritteigentümer, den ein entsprechender Schuldvorwurf trifft, nicht nur die Einziehung hinnehmen, sondern er wäre auch, wenn Absatz 3 nicht bestünde, von jeglicher Entschädigung ausgeschlossen, obwohl der Verlust der Entschädigung, wirtschaftlich betrachtet, der Einziehung etwa gleichsteht. Eine ähnliche Lage kann sich ergeben, wenn in dem Strafverfahren gegen A auf Einziehung des nach der Feststellung des Gerichts dem tatunbeteiligten Β gehörenden Tatwerkzeugs nach § 74 a erkannt wurde und sich später ergibt, daß der Eigentümer in Wirklichkeit zur Zeit der Entscheidung wie zur Zeit der Rechtskraft C war. Ihm wäre, wenn Absatz 3 nicht bestünde, eine Entschädigung stets zu versagen, falls bei ihm die Voraussetzungen des § 74 f Abs. 2 Nr. 1 (116)

Entschädigung (Schäfer)

§ 74 f

vorliegen, auch wenn das Gericht, wäre nicht B, sondern C schon an dem Strafverfahren gegen A beteiligt gewesen, mit Rücksicht auf die Verhältnisse in der Person des C in Ausübung seines Ermessens von einer Einziehung nach § 74 a abgesehen hätte. Eine Entschädigung, die bis zur Höhe der Entschädigung nach Absatz 1 gehen kann, wird aber nur gewährt, soweit die Versagung der Entschädigung eine unbillige Härte wäre, etwa wenn bei einer Sicherungseinziehung — entsprechend dem Grundgedanken des § 74 b, der nur für Personen gilt, gegen die sich die Einziehung unmittelbar richtet — der Rechtsverlust durch die Einziehung außer Verhältnis zur Bedeutung der Tat oder der Schwere des Vorwurfs nach Absatz 2 Nr. 1, 2 steht, oder wenn der Dritte im Fall des Absatzes 2 Nr. 3 bei einem Verlust nach außerstrafrechtlichen Vorschriften wenigstens Anspruch auf Herausgabe des Erlöses hätte. Eine unbillige Härte liegt aber ζ. B. nicht schon darin, daß, wenn vom Ausland eingeführte pornographische Schriften (§ 184 Abs. 3 Nr. 2) an der Grenze erfaßt, beschlagnahmt und im selbständigen Verfahren eingezogen werden, der ausländische Lieferant aus tatsächlichen Gründen unverfolgt bleibt, während der inländische Besteller, der Eigentümer geworden ist und um den pornographischen Charakter wußte, den Verlust des Eigentums entschädigungslos hinnehmen muß, denn „andernfalls würde § 74 f Abs. 3 in weitem Umfang dazu führen, daß die Staatskasse die aus dem Ausland in die Bundesrepublik gesandten pornographischen Schriften... letzten Endes bezahlt, was sicher nicht der Sinn dieser Bestimmung ist" (OLG Hamm NJW1970 1757, 1758). V. Verfahrensrechtliches. Entschädigungspflichtig nach § 74 f Abs. 1 ist der Bund 10 oder das Land, das mit der Rechtskraft Eigentum am Einziehungsgegenstand erlangte (vgl. dazu § 74 e Rdn. 2). Über Entschädigungsansprüche an die Staatskasse entscheidet, wenn eine Einigung mit der Justizverwaltung dem Grund wie der Höhe nach nicht zustande kommt, das ordentliche Gericht (Art. 14 Abs. 3 GG), und zwar grundsätzlich der Zivilrichter, da es sich um Ansprüche aus Eingriffen handelt, die eine bürgerlichrechtliche Wirkung haben. Der Strafrichter kann im Zusammenhang mit der Einziehung über solche Ansprüche nur entscheiden, wenn ihm die Befugnis hierzu gesetzlich besonders eingeräumt ist. Eine solche Ausnahme ist in § 436 Abs. 3 StPO vorgesehen, der auch im selbständigen Einziehungsverfahren Anwendung findet (§440 Abs. 3 StPO). Nach §436 Abs. 3 Satz 1 spricht das Gericht, wenn es die Einziehung auf Grund von Umständen anordnet, die einer Entschädigung eines Einziehungsbeteiligten i. S. des § 431 StPO entgegenstehen, zugleich aus, daß dem Einziehungsbeteiligten eine Entschädigung nicht zusteht; es trifft also, wenn es die Ausschlußvoraussetzungen des § 74 f Abs. 2 StGB feststellt, insoweit eine Entscheidung über einen Entschädigungsanspruch dem Grunde nach. Diese Vorschrift soll widersprechende Entscheidungen zwischen Zivil- und Strafgericht ausschließen. Sie legt dem Strafrichter die Pflicht auf, über die Versagungsvoraussetzungen Feststellungen zu treffen; er kann diese Entscheidung nicht einem Nachverfahren gemäß § 439 StPO überlassen (BGH NJW 1970 818, 820; LG Bayreuth NJW 1970 574, 577). Ist einem Einziehungsbeteiligten der Entschädigungsanspruch rechtskräftig abgesprochen, so bindet dies den Zivilrichter, wenn der Betroffene Ansprüche aus § 74 f vor dem Zivilrichter geltend machen würde. Die Regelung des Satzes 1 wird ergänzt durch den Satz 2 des § 436 Abs. 3 StPO, wonach aus prozeßökonomischen Gründen der Strafrichter, wenn er eine Entschädigung nach § 74 f Abs. 3 für geboten hält, nicht nur über den Grund, sondern zugleich über die Höhe der Entschädigung entscheidet. VI. Übergangsvorschrift: Art. 155 Abs. 1 Nr. 3 EGOWiG 1968. (117)

§75

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

§75 Sondervorschrift für Organe und Vertreter Hat jemand 1. als vertretungsberechtigtes Organ einer juristischen Person oder als Mitglied eines solchen Organs, 2. als Vorstand eines nicht rechtsfähigen Vereins oder als Mitglied eines solchen Vorstandes oder 3. als vertretungsberechtigter Gesellschafter einer Personenhandelsgesellschaft eine Handlung vorgenommen, die ihm gegenüber unter den übrigen Voraussetzungen der §§ 74 bis 74 c und 74 f die Einziehung eines Gegenstandes oder des Wertersatzes zulassen oder den Ausschluß der Entschädigung begründen würde, so wird seine Handlung bei Anwendung dieser Vorschriften dem Vertretenen zugerechnet. § 14 Abs. 3 gilt entsprechend.

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I. Grundgedanke des § 75 (frühere Bezifferung: § 42) 1. Die Problematik. Ob juristische Personen bestraft werden können, ist bekanntlich dogmatisch und kriminalpolitisch lebhaft umstritten (vgl. LK-Heimann-Trosierß Einleitung Rdn. 30; Sch.-Schröder-Cramer Rdn. 89 vor § 25). Dogmatisch wird geltend gemacht, daß der Schuldgrundsatz („keine Strafe ohne Schuld") den Rang eines Verfassungsrechtssatzes habe (vgl. BVerfGE 20 333 = NJW 1967 195), den juristischen Personen aber die Handlungsfähigkeit und damit die strafrechtliche Verantwortlichkeit für das fehle, was ihre Organe, die allein für sie handeln können, in ihrer Vertretung tun. Auch sei eine Freiheitsentziehung schon begrifflich ausgeschlossen, damit aber auch die Geldstrafe, weil eine Ersatzfreiheitsentziehung nicht hinter ihr stehe. Demgegenüber wird geltend gemacht, es bestehe ein unabweisbares Bedürfnis, wenigstens strafähnliche Sanktionen anderer Art mit Wirkung gegen juristische Personen zu verhängen, wenn ihre Organe bei deren Vertretung gegen sanktionsbewehrte Vorschriften verstoßen. Denn es sei, von weiteren Gründen abgesehen, nicht vertretbar, der juristischen Person eine dem Gleichbehandlungsgrundsatz zuwiderlaufende Vorzugsstellung gegenüber dem Einzelunternehmer bei vergleichbaren Gesetzesverstößen einzuräumen. Der Einzelunternehmer, der die ihm in dieser Eigenschaft obliegenden Pflichten verletze und gegen Gesetze verstoße, die eine vermögensrechtliche Sanktion (Geldstrafe, Geldbuße, Einziehung, Verfall) androhen, werde mit einer Sanktion unter Berücksichtigung des Wertes seines Unternehmens belegt, während bei einer juristischen Person wegen eines entsprechenden Gesetzesverstoßes, wenn nur das Organ in Anspruch genommen werden könne, die Höhe der Sanktion sich an dessen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen orientieren müsse und sogar mildernd oder sanktionsausschließend zu berücksichtigen sei, wenn er aus „altruistischen Gründen" den Gesetzesverstoß im Interesse der juristischen Person auf sich genommen habe. Die Zulassung strafähnlicher Sanktionen gegen die juristische Person sei auch unter dem Gesichtspunkt berechtigt und notwendig, präventiv zu wirken und die Verbandsmitglieder zu veranlassen, ihre Organe auch unter dem Gesichtspunkt ihrer Rechtstreue auszuwählen. Eine entsprechende Lage besteht bei nichtrechtsfähigen Vereinen und Personenhandelsgesellschaften, wenn deren „Organe" (Vorstand, vertretungsberechtigter Gesellschafter) Gesetzesverstöße in dieser Eigenschaft begehen. (118)

Sondervorschrift für Organe und Vertreter (Schäfer)

§75

2. Gesetzgeberische Lösungen. Auf den Meinungsstreit im einzelnen ist hier nicht 2 einzugehen. Hier ist lediglich der gegenwärtige Stand der Gesetzgebung zu dem Problem in grundsätzlicher Beziehung kurz zu skizzieren. Danach werden Kriminalgeldstrafen gegen juristische Personen oder deren Haftung für Strafen gegen ihre Organe in neuen Strafvorschriften nicht mehr vorgesehen; frühere Strafdrohungen dieser Art, die sich in einzelnen Sondergesetzen fanden, sind inzwischen beseitigt worden (z. B. §§ 393, 416 RAbgO a. F.). Dagegen waren „strafähnliche" Sanktionen in Form einer Geldbuße gegen die juristische Person als Folge des schuldhaft gesetzwidrigen Verhaltens ihrer Organe (Straftat oder Ordnungswidrigkeit) seit langem in Nebengesetzen vorgesehen. Angesichts der wachsenden Bedeutung der Verbände im Wirtschaftsleben und gedeckt durch die Entscheidung BVerfG NJW 1967 195, die das für nicht verfassungswidrig erklärte, fügte § 26 OWiG 1968 ( = jetzt § 30) eine allgemeine Vorschrift ein (vgl. dazu § 444 StPO). Danach kann gegen die juristische Person oder eine Personenvereinigung (nicht rechtsfähiger Verein, Personenhandelsgesellschaft), wenn jemand als Organ (Organmitglied) einer juristischen Person, als Vorstand (Vorstandsmitglied) eines nicht rechtsfähigen Vereins oder als vertretungsberechtigter Gesellschafter einer Personenhandelsgesellschaft eine Straftat oder Ordnungswidrigkeit begangen hat, durch die Pflichten verletzt wurden, die die juristische Person (Personenvereinigung) treffen, oder durch die die juristische Person (Personenvereinigung) bereichert worden ist oder werden sollte, als Nebenfolge der Straftat oder Ordnungswidrigkeit des Organs (Vorstands, Vertreter) gegen die juristische Person (Personenvereinigung) selbst eine Geldbuße (ggf. auch selbständig) festgesetzt werden. „Als Nebenfolge" des Handelns der natürlichen Person: damit sollte, dogmatischen Bedenken Rechnung tragend, zum Ausdruck gebracht werden, daß die jurisitsche Person (Personenvereinigung) zwar nicht als „Handelnder" im Sinne sanktionsbewehrter Vorschriften anzusehen, aber strafähnlichen Nachteilen ausgesetzt sei. 3. Bedeutung des § 75. Auf dem Gedanken, daß es grundgesetzlich zulässig sei, 3 strafähnliche Nachteile als Nebenfolge der Straftat des Organs einer juristischen Person oder des Vertretungsberechtigten einer Personenvereinigung mit Wirkung gegen die juristische Person (Personenvereinigung) zuzulassen, beruht auch § 75, der dem § 120 Abs. 1 StGB-Entw. 1962 entspricht. Soweit die Einziehung als Sicherungsmaßnahme ohne Rücksicht auf Dritteigentum zulässig ist, versteht es sich von selbst, daß auch Eigentum der juristischen Person (Personenvereinigung) der Einziehung unterliegt, wenn ihr Organ (Vertreter) eine Straftat oder rechtswidrige Tat (§ 11 Abs. 1 Nr. 5 StGB) begangen hat, die die Einziehung von Dritteigentum zuläßt. § 75 erweitert darüber hinaus den Zugriff auf Dritteigentum (der juristischen Person, des nicht rechtsfähigen Vereins, der Personenhandelsgesellschaft) in den Fällen der §§ 74 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 4, 74 a, ferner die Heranziehung von Drittvermögen zum Wertersatz (§ 74 c) und den Ausschluß der Entschädigung wegen Entziehung oder Beeinträchtigung von Drittrechten (§ 74 f Abs. 2) auf die Fälle, in denen dem Organ (Vertreter) gegenüber, wäre er Eigentümer (Rechtsinhaber), die Einziehung des Gegenstandes oder des Wertersatzes oder die Versagung der Entschädigung zulässig wäre, indem er bestimmt, daß seine Handlung dem Vertretenen zugerechnet wird. Die Konstruktion der Zurechnung trägt dem dogmatischen Bedenken Rechnung, daß der Vertretene selbst nicht handeln und daher die Tatfolge nicht unmittelbar gegen ihn festgesetzt werden, sondern ihn nur als Nebenfolge der Tat des Organs (Vertreter) treffen kann. Die Zurechnung bedeutet, daß der durch sein Organ (Vertreter) handelnde Vertretene sich so behandeln lassen muß, als hätte er (119)

§75

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

selbst als natürliche Person die Handlung begangen. Der „zureichende Grund" für diesen Eingriff in die Rechte beruht darin, daß die juristische Person oder Personenvereinigung bei gesetzwidrigem Handeln ihrer Organe (Vertreter) nicht in vermeidbarer Weise gegenüber dem Einzelunternehmer begünstigt werden soll (oben Rdn. 1). Ergänzt wird diese Regelung durch die Verweisung in § 75 Satz 2 auf § 14 Abs. 3, so daß die „Zurechnung" auch dann erfolgt, wenn die Bestellung zum Organ (Vertreter) unwirksam ist. Die verfahrensrechtliche Stellung des Vertretenen regelt § 431 StPO, insbes. § 431 Abs. 3. Die dem § 75 entsprechende Vorschrift für das Gebiet des Ordnungsrechts enthält § 29 OWiG. II. Das Handeln ihres Organs (Vertreters) müssen sich zurechnen lassen 4 1. inländische oder ausländische juristische Personen des bürgerlichen oder öffentlichen Rechts, ζ. B. rechtsfähige Vereine (§§ 21 ff BGB), Stiftungen (§§ 80 ff BGB), die Aktiengesellschaft und Kommanditgesellschaft auf Aktien, die Gesellschaft mit beschränkter Haftung, die eingetragene Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaft, alle Körperschaften, Stiftungen und Anstalten des öffentlichen Rechts. 5

2. nicht rechtsfähige Vereine (§ 54 BGB). Sie sind juristischen Personen gleichgestellt, weil bei ihnen häufig ein zweckgebundenes Vermögen vorhanden ist, an dem der Vorstand (das Vorstandsmitglied) oft nicht oder nur in ganz geringem Maße beteiligt ist.

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3. Personenhandelsgesellschaften, d. h. die offene Handelsgesellschaft (§§ 105 ff HGB) und die Kommanditgesellschaft (§§ 161 ff HGB). Ihre Gleichsetzung mit den juristischen Personen rechtfertigt sich aus der Erwägung, daß sie zwar nicht juristische Personen im technischen Sinn sind, faktisch aber nach ihrer Organisation und der Art ihrer Bestätigung im Wirtschaftsleben juristischen Personen gleichkommen.

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4. Die vorstehende Aufzählung der in Betracht kommenden „Vertretenen" ist abschließend. Der Gesetzgeber hat der juristischen Person nur solche Personenvereinigungen gleichgestellt, die rechtlich weitgehend verselbständigt und damit der juristischen Person angenähert sind (Göhler 2 zu § 29). § 42 ist daher unanwendbar bei sonstigen Personengemeinschaften, wie bei der Gesellschaft des bürgerlichen Rechts (§§ 705 ff BGB), bei Gesamthandgemeinschaften (Miterbengemeinschaft usw.), bei denen es an einem Sondervermögen fehlt, das dem des nichtrechtsfähigen Vereins vergleichbar wäre, und — im Gegensatz zu § 14 Abs. 1 Nr. 3 — erst recht bei vertretenen natürlichen Einzelpersonen. Der Bereich des § 75 ist bewußt eng begrenzt, weil eine Ausdehnung „zu einem Eingriff in das rechtmäßig bestehende Vermögen unbeteiligter Dritter führen und damit Unschuldige treffen würde. Es ist ζ. B. nicht sinnvoll, die Einziehung gegen ein minderjähriges Kind zuzulassen, wenn dessen Vater oder Vormund Täter i. S. des § 74 Abs. 2 Nr. 1 ist und der zur Begehung der Tat benutzte Gegenstand dem Kind gehört. Nur bei juristischen Personen und bei Personenvereinigungen, die diesen gleichgesetzt werden können, ist es gerechtfertigt, deren Vermögen so zu behandeln, als sei es das des tätig gewordenen Organs oder vertretungsberechtigten Mitglieds" (Begr. BTDrucks. V/1319 S. 61). III. Vertreter, deren Handeln der Vertretene sich nach § 75 zurechnen lassen muß, sind (120)

Sondervorschrift für Organe und Vertreter (Schäfer)

§

75

1. das vertretungsberechtigte Organ einer juristischen Person oder das Mitglied eines solchen Organs a) Das Merkmal „vertretungsberechtigt" soll dabei bei Organen nur die Organ- 8 Stellung — in Abgrenzung gegen andere Organe, wie Mitgliederversammlung und Aufsichtsrat — dahin kennzeichnen, daß es sich um Organe handeln muß, denen die Geschäftsführung nach innen oder außen obliegt (Göhler 2 A zu § 30). Dagegen bedeutet „vertretungsberechtigt" nicht, daß das Organ zur alleinigen rechtsgeschäftlichen Vertretung befugt sein müsse und im konkreten Fall in Wahrnehmung seiner Aufgabenbereiche gehandelt habe. Auf den Rahmen der rechtsgeschäftlichen Vertretungsbefugnis kann es nicht ankommen, weil die „Handlung" des Organs (ζ. B. der leichtfertige Beitrag i. S. des § 74 a Nr. 1) nicht rechtsgeschäftlicher Art zu sein braucht, sondern auch tatsächlicher Art sein kann, und weil im übrigen ein die Einziehung rechtfertigendes Verhalten auch regelmäßig außerhalb des Bereichs einer zulässigen Vertretung liegt. Bedeutungslos wäre ζ. B., wenn der Vorstand nur mit Zustimmung oder auf Grund eines Beschlusses der Mitgliederversammlung tätig werden darf und diese fehlen, oder wenn der aus einer Person bestehende Vorstand einer Aktiengesellschaft nicht mit einer gemäß § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG vorgesehenen Zustimmung des Aufsichtsrats gehandelt hätte. b) Besteht das vertretungsberechtigte Organ aus mehr als einer Person, so genügt 9 schon die Handlung eines Mitglieds des Organs, auch wenn zur Geschäftsführung oder zur Vertretung der juristischen Person nach außen gesetzlich oder satzungsgemäß gemeinschaftliches Handeln oder ein Handeln zusammen mit einer anderen Person (ζ. B. des Vorstandsmitglieds mit einem Prokuristen, § 78 Abs. 3 AktG) vorgeschrieben ist. 2. der Vorstand eines nichtrechtsfähigen Vereins oder das Mitglied eines solchen 10 Vorstands. Auch hier gilt das in Rdn. 8,9 Ausgeführte entsprechend; 3. der vertretungsberechtigte Gesellschafter einer Personenhandelsgesellschaft. 11 Auch hier kommt es nach dem Sinn der Vorschrift nur darauf an, ob in abstracto eine Vertretungsberechtigung gegeben ist (vgl. §§ 125, 161 Abs. 2, 170 HGB), während Beschränkungen der Vertretungsmacht durch das Erfordernis der Gesamtvertretung oder des Handelns gemeinsam mit einem Prokuristen (vgl. §§ 125 Abs. 2, 3, 161 Abs. 2 HGB) bedeutungslos sind. Im Liquidationsstadium sind als vertretungsberechtigte Gesellschafter die Liquidatoren anzusehen (§§ 149, 161 Abs. 2 HGB). 4. Nicht genügend ist die Tat eines sonstigen Vertreters der juristischen Person 12 oder Personenvereinigung; dies gilt auch für den Handlungsbevollmächtigten und den Prokuristen (§§ 48 ff HGB) und für den besonderen Vertreter (§ 30 BGB) beim rechtsfähigen Verein (letzteres nicht unzweifelhaft; vgl. Göhlerl A zu § 30 OWiG). Die Einbeziehung auch dieser Personen in den Kreis derer, deren gesetzwidriges Tun sich der Vertretene, soweit es mit den Nebenfolgen der Einziehung usw. verbunden ist, zurechnen lassen muß, widerspräche dem Grundgedanken des § 75, juristische Personen und die ihnen gleichstehenden Personenvereinigungen nicht besser zu behandeln als natürliche Personen; denn dieser Grundgedanke verlangt nur, die Handlungen von Organen der juristischen Person und den ihnen entsprechenden Funktionären der Personenvereinigungen mit der Folge der „Zurechnung" auszustatten (vgl. dazu die Erörterungen im Sonderausschuß 57. Sitzung v. 13. 4. 1967, Prot. V/1085 ff). (121)

§75 13

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

5. Handeln „als Organ". § 75 setzt voraus, daß die natürliche Person (Organ, Organmitglied usw.) „als Organ" usw., also in dieser Eigenschaft gehandelt habe, da nur dann die innere Rechtfertigung für die Zurechnung gegeben ist. Zwar braucht das Organ nicht im Rahmen seiner Vertretungsbefugnis zu bleiben (oben Rdn. 8), doch muß die Handlung in innerem Zusammenhang mit der Stellung als Organ oder Vertreter stehen, der Täter muß noch in Wahrnehmung seines allgemeinen Aufgabenbereichs gehandelt haben (Göhler5 2 E a zu § 30 OWiG). Das kann auch der Fall sein, wenn er ein Handeln für die juristische Person mit der Wahrnehmung eigener Interessen verknüpfte (so insbes. bei der ,,Ein-Mann"-GmbH), während es im allgemeinen an einem Handeln als Organ usw. fehlt, wenn er in formaler Ausnutzung der Organstellung nur im eigenen Interesse oder sogar die Organstellung gegenüber dem Vertretenen mißbrauchend gegen die Interessen des Vertretenen tätig ist (enger Sch.-Schröder-Eser Rdn. 12, wonach begrifflich eine Tätigkeit im Interesse des Verbandes erforderlich ist; noch enger Eser Sanktionen S. 244 ff). Ein Handeln als Organ entfällt weiterhin, wenn der innere Zusammenhang mit der Organstellung völlig gelöst ist und die Tat sich nur als ein Handeln bei Gelegenheit der Ausübung der Organstellung darstellt. Es kommen hier ähnliche Unterscheidungen in Betracht, wie sie etwa bei § 831 BGB („in Ausführung der Verrichtung") oder bei § 839 BGB in Verbindung mit Art. 34 G G („in Ausübung eines ihm anvertrauten öffentlichen Amtes") gemacht werden, um die Haftung des Geschäfts- oder Dienstherrn in solchen Fällen auszuschließen, in denen die Handlung des Verrichtungsgehilfen oder Amtsträgers des inneren Zusammenhangs mit der ihm obliegenden Aufgabe völlig entbehrt (vgl. hierzu z.B. Staudinger-Schäfer11 Rdn. 87 zu § 839). IV. Die Zurechnung

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1. Die Zurechnung setzt voraus, daß in der Person des Organs (Vertreters) alle Voraussetzungen („unter den übrigen Voraussetzungen") erfüllt sind, die nach §§ 74 bis 74 c und 74 f die Einziehung des Gegenstandes oder des Wertersatzes zulassen oder den Ausschluß der Entschädigung begründen, mit der Ausnahme, daß Eigentümer des Gegenstandes oder Rechtsinhabers der „Vertretene" ist. Die Einziehung ist also zulässig oder (§ 74 Abs. 4) vorgeschrieben, wenn das Organ (Vertreter) die Voraussetzungen der §§ 74 Abs. 1, 74 a erfüllt und der Gegenstand zur Zeit der Entscheidung dem Vertretenen gehört oder zusteht; Wertersatz nach § 7 4 c kommt gegen den Vertretenen in Betracht, wenn der Gegenstand zur Tatzeit ihm gehörte oder zustand und das Organ Verwertungs- und Vereitelungsmaßnahmen traf; im Fall des § 74 f Abs. 2 Nr. 1,2 ist „Dritter" das Organ. Bei Prüfung der Verhältnismäßigkeit (§ 74 b Abs. 1) ist die Bedeutung der Tat des Organs und des ihn treffenden Vorwurfs maßgebend.

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2. Abweichungen von dem unbeschränkten Zurechnungsgrundsatz ergeben sich daraus, daß bei der Billigkeitsprüfung nach § 74 f Abs. 3 auch die Verhältnisse des Vertretenen einbezogen werden können (ebenso Dreher-Tröndle Rdn. 4; Sch.-Schröder-Eser Rdn. 13).

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3. § 74 d ist in § 75 Abs. 1 nicht erwähnt, weil die Einziehung (Unbrauchbarmachung) eine Sicherungsmaßregel darstellt, bei der es auf das Eigentum am Einziehungsgegenstand nicht ankommt; bei der Begrenzung des Zugriffs durch § 7 4 d Abs. 3 Nr. 1 ist dort dem Zurechnungsgedanken in weiterem Umfang dadurch (122)

Nachträgliche Anordnung von Verfall oder Wertersatzeinziehung (Schäfer)

§

76

Rechnung getragen, daß Einziehung und Unbrauchbarmachung auch angeordnet werden, wenn sich die Stücke und Gegenstände im Besitz eines Tatunbeteiligten befinden, für den der Täter oder Teilnehmer gehandelt hat. Die §§ 74 e und 76 a sind in § 75 nicht genannt, weil sich kein besonderes Zurechnungsproblem erhebt; sie sind ohne weiteres anwendbar. V. Zu § 75 Satz 2 wird auf die Ausführungen zu § 14 Abs. 3 verwiesen.

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VI. Übergangsrecht: §75 ist unanwendbar bei Taten, die vor dem 1. 10. 1968 18 begangen wurden (BGH bei Daltinger M D R 1969 722).

— Gemeinsame Vorschriften —

§76 Nachträgliche Anordnung von Verfall oder Einziehung des Wertersatzes Ist die Anordnung des Verfalls oder der Einziehung eines Gegenstandes nicht ausführbar oder unzureichend, weil nach der Anordnung eine der in den §§ 73 a oder 74 c bezeichneten Voraussetzungen eingetreten oder bekannt geworden ist, so kann das Gericht den Verfall oder die Einziehung des Wertersatzes nachträglich anordnen. Entstehungsgeschichte Der frühere Absatz 4 des § 40 c (jetzt § 74 c) ist unter Ausdehnung auf den Verfall durch Art. 1 des 2. StrRG vom 4. 7. 1969 als § 76 eingestellt worden.

1. § 76 läßt in Durchbrechung der Rechtskraft einer den Verfall oder die Einzie- 1 hung eines Gegenstandes anordnenden Entscheidung eine nachträgliche Anordnung des Verfalls oder der Einziehung des Wertersatzes (§§ 73 a, 74 c) zu (durch Beschluß des Gerichts des ersten Rechtszuges, § 462 Abs. 1 Satz 2 StPO), wenn die Entscheidung nicht ausführbar oder unzureichend ist, weil nach der Anordnung eine der in § 73 a oder § 74 c bezeichneten Voraussetzungen eingetreten oder bekannt geworden ist. 2. Nichtausführbarkeit und Unzureichendheit der Anordnung a) Zur Abgrenzung der Nichtausführbarkeit ist zunächst vorauszuschicken, wie 2 die Anordnung des Verfalls oder der Einziehung eines Gegenstandes ausgeführt ( = vollstreckt) wird. Bei Anordnung des Verfalls geht nach § 73 d kraft Gesetzes das Eigentum an der Sache oder das Recht mit der Rechtskraft der Entscheidung auf den Staat über, vorausgesetzt, daß es dem von der Anordnung Betroffenen zu diesem Zeitpunkt zusteht. Dagegen geht bei Anordnung der Einziehung nach § 74 e das Eigentum an der Sache oder das eingezogene Recht kraft Gesetzes mit der Rechtskraft auf den Staat über, ohne daß es darauf ankommt, wer in diesem Zeitpunkt Eigentümer oder Rechtsinhaber ist. Besonderer Maßnahmen (Vollstrekkungshandlungen) zur Ausführung der Entscheidung bedarf es bei Sachen nur, wenn der Gegenstand zur Zeit der Rechtskraft sich nicht in amtlicher Verwahrung (123)

§76

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

(infolge Beschlagnahme, § 111 b StPO, oder freiwilliger Herausgabe) befindet. Ist er in den Händen des Verurteilten, gegen den auf Verfall oder Einziehung erkannt ist, oder des Verfalls- oder Einziehungsbeteiligten (§431 Abs. 1 Satz 1, §442 Abs. 2 StPO), der nach der Entscheidung zur Herausgabe verpflichtet ist, ζ. B. weil er im Spruch als Einziehungsbeteiligter bezeichnet und die Einziehung des ihm gehörigen oder von ihm in Anspruch genommenen Gegenstandes angeordnet ist, und gibt dieser ihn trotz Aufforderung nicht freiwillig heraus, oder läßt eine Aufforderung den Vollstreckungserfolg gefährdet erscheinen, so erfolgt die Vollstreckung nach § 459 g StPO, § 883 ZPO, indem der Vollziehungsbeamte auf Grund eines schriftlichen Vollstreckungsauftrags (§61 Abs. 2 StVollstrO) dem Herausgabepflichtigen den Gegenstand wegnimmt. Wird dieser dort nicht vorgefunden, so kann der Herausgabepflichtige zur eidesstattlichen Versicherung über den Verbleib angehalten werden (§ 883 Abs. 2 ZPO); davon ist aber nach § 62 Abs. 1 StVollstrO in der Regel abzusehen, sofern die Versicherung wesentlichen Feststellungen der Entscheidung widersprechen würde. Ist der Gegenstand im Gewahrsam des Verfalls- oder Einziehungsbeteiligten, und verweigert dieser die Herausgabe mit der Begründung, daß er an dem Gegenstand ein Recht zum Besitz habe, so kann gegen ihn auf Grund der Entscheidung nur vollstreckt werden, wenn in ihr das Erlöschen des Rechts festgestellt ist; ob der Anspruch auf Herausgabe (§ 985 BGB) gegen ihn im Wege der Klage geltend gemacht werden soll, entscheidet die oberste Justizbehörde (§61 Abs. 4 StVollstrO). Befindet sich die Sache in den Händen eines Dritten (eines anderen als des Verurteilten oder des Verfalls- oder Einziehungsbeteiligten), so kann gegen ihn nicht unmittelbar aus dem den Verfall oder die Einziehung anordnenden Urteil mit Vollstreckungsmaßnahmen vorgegangen werden, denn einen Vollstreckungstitel bildet das Urteil nur gegen denjenigen, den das Strafurteil als Verurteilten oder Verfalls- oder Einziehungsbeteiligten, der die Maßnahmen zu dulden hat, nennt; der Fiskus kann gegen den dritten Gewahrsamsinhaber, der einer Aufforderung zur Herausgabe nicht nachkommt, auf Grund des mit der Rechtskraft erworbenen Eigentums nur mit einer Klage auf Herausgabe (§ 985 BGB) vorgehen. Ob das geschehen soll, entscheidet auch hier die oberste Justizbehörde (§ 61 Abs. 4 Satz 2 StVollstrO). Sind Rechte für verfallen erklärt oder eingezogen, so gilt nach § 61 Abs. 5 StVollstrO der § 61 Abs. 4 StVollstrO „entsprechend". Das muß dahin verstanden werden, daß, wenn ein am Strafverfahren unbeteiligter Dritter geltend macht, Rechtsinhaber zu sein, und der Ausübung des Rechts durch den Staat als Rechtsinhaber widerspricht, es zunächst einer zivilprozessualen Klärung der Rechtslage bedarf und die oberste Justizbehörde entscheidet, ob dies geschehen soll. 3

b) Anwendungsbereich des § 76 bei Einziehung § 76 hat zunächst den Fall im Auge, daß das Gericht die Einziehung eines Gegenstandes, der dem Täter oder Teilnehmer zur Tatzeit gehörte oder zustand, in der Annahme anordnete, er habe ihm auch zur Zeit der Entscheidung noch gehört oder zugestanden, und nach der Entscheidung bekannt wird, daß der Gegenstand tatsächlich infolge Verwertung, Beiseiteschaffens usw. in der Zeit zwischen Tat und Entscheidung nicht mehr vorhanden war oder der Täter (Teilnehmer) ihn durch Veräußerung an einen gutgläubigen Dritten oder an einen Unbekannten der Einziehung entzogen hatte. Dem ist der Fall gleichgestellt, daß der Täter (Teilnehmer) erst nach der Einziehungsanordnung den Gegenstand verwertete oder dessen Einziehung sonst vereitelte. Solange es noch möglich ist, die Einziehungsanordnung mittels Einlegung von Rechtsmitteln durch eine Wertersatzeinziehung zu ersetzen, ist naturgemäß dieser Weg zu (124)

Nachträgliche Anordnung von Verfall oder Wertersatzeinziehung (Schäfer)

§ 76

beschreiten. Im allgemeinen werden aber, wo eine Sicherstellung oder Beschlagnahme unterblieben ist, die die „Ausführung" der Einziehung, d. h. den Übergang des Eigentums am Einziehungsgegenstand oder des Rechtes auf den Staat bzw. die die Besitzerlangung hindernden Umstände erst nach Rechtskraft und im Zuge von Vollstreckungshandlungen zutage treten. Für solche Fälle sind die Vollstreckungsbehörden angewiesen, die Prüfung zu veranlassen, ob die Einziehung des Wertersatzes nachträglich angeordnet werden soll (§ 62 Abs. 2 StVollstrO), d. h. sie haben dem Gericht von dem Sachverhalt Mitteilung zu machen. Dieses hat dann zu prüfen, ob die Einziehung noch ausführbar ist, und kann Wertersatzeinziehung erst anordnen, wenn es die Nichtausführbarkeit festgestellt hat. Hat der Täter den Gegenstand vor der Einziehung an einen gutgläubigen Dritten veräußert, und hat das erkennende Gericht in Unkenntnis dieser Veräußerung und in der Annahme, der Täter sei zur Zeit der Entscheidung noch Eigentümer, auf Einziehung erkannt, so ist zwar mit der Rechtskraft der Entscheidung das Eigentum auf den Staat übergegangen, und die Einziehung wäre durch Erhebung einer Klage des Fiskus gegen den Gewahrsamsinhaber auf Herausgabe (§ 985 BGB) ausführbar. Erreicht aber der am Verfahren gegen den Täter unverschuldet bisher nicht beteiligte Gewahrsamsinhaber im Nachverfahren nach § 439 StPO eine gerichtliche Entscheidung, daß die Einziehung ihm gegenüber nicht gerechtfertigt sei, so beseitigt diese Entscheidung mit dem Eintritt ihrer Rechtskraft rückwirkend den Übergang des Eigentums auf den Staat; die Einziehung ist unausführbar geworden, und die Voraussetzungen einer nachträglichen Anordnung der Wertersatzeinziehung nach § 76 liegen nunmehr vor.

c) Entsprechendes gilt, wenn das Gericht im Nachverfahren gemäß § 439 Abs. 5 4 StPO mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft die Anordnung der Einziehung aufhebt, weil das Nachverfahren einen unangemessenen Aufwand erfordern würde. Diese Vorschrift soll die Folgerungen aus dem Grundgedanken des § 430 Abs. 1 StPO (vgl. Rdn. 17 zu § 74 b) ziehen: ergibt erst die Prüfung der Einziehungsfrage im Nachverfahren, daß ein gegenüber der Bedeutung der Einziehung unangemessener Aufwand erforderlich wird, so erscheint es sachgerecht, daß das Gericht mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft die in § 430 vorgesehene Beschränkung nachträglich vornimmt, indem es die Entscheidung über die Einziehung aufhebt (Begr. S. 81). Angesichts dieser Regelung kann die Frage aufgeworfen werden, ob Unausführbarkeit der Einziehung nicht schon dann anzunehmen ist, wenn die oberste Justizbehörde nach § 61 Abs. 4, 5 StVollstrO (oben Rdn. 2) davon Abstand nimmt, den Anspruch auf Herausgabe des mit der Rechtskraft der Einziehungsanordnung auf den Staat übergegangenen Eigentums (§ 985 BGB) gegen den Gewahrsamsinhaber (Einziehungsbeteiligten oder Dritten) im Wege der Klage geltend machen zu lassen, weil ein solches Prozedieren einen unangemessenen Aufwand erfordern würde. Die Frage ist aber zu verneinen. Denn es ist ein Unterschied, ob das Gesetz es gestattet, eine rechtskräftige Entscheidung mit rückwirkender Kraft teilweise aufzuheben, oder ob der Fiskus aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung davon Abstand nimmt, seine Eigentumsrechte im Wege des Zivilprozesses zu verfolgen, nachdem die Strafvollstreckung im technischen Sinn sich kraft Gesetzes mit dem Eigentumsübergang vollzogen hatte. Eine solche freiwillige Beschränkung fiskalischer Rechte macht die Einziehung nicht „unausführbar" i. S. des § 76 (ebenso Dreher-Tröndle 2). (125)

§76 a

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

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d) Die Anordnung der Einziehung ist i. S. des § 76 unzureichend, wenn nach der Anordnung die in § 74 c Abs. 2 bezeichneten Voraussetzungen eingetreten oder bekannt geworden sind.

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e) Anwendungsbereich des § 76 bei Verfall. Hier kann nachträglich auf Wertersatzverfall erkannt werden, wenn rechtskräftig der Verfall eines Gegenstandes (Sache oder Recht) angeordnet war und nachträglich bekannt wird, daß der Verfall schon vor dem Urteil „aus einem anderen Grunde" i. S. des § 73 a Satz 1 nicht „möglich war" (dazu Rdn. 3 zu § 73 a) oder diese Unmöglichkeit erst nach der Entscheidung eintritt. Unzureichend ist die Anordnung des Verfalls, wenn erst nachträglich bekannt wird, daß die Voraussetzungen einer Anordnung nach § 73 a Satz 2 vorlagen oder diese Voraussetzungen erst nach der Entscheidung eingetreten sind; jedoch würde eine fehlerhaft zu niedrige Feststellung oder Schätzung des Wertes des zunächst Erlangten eine Korrektur durch eine Nachtragsentscheidung nicht rechtfertigen. Die Ausführungen oben Rdn. 4 betr. die Bedeutung freiwilliger Beschränkungen des Fiskus bei der Geltendmachung der Rechte aus § 74 e Abs. 1 gelten sinngemäß auch hier.

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3. Die nachträgliche Wertersatzentscheidung stellt keine mit Art. 103 Abs. 3 GG unvereinbare nochmalige Inanspruchnahme dar; der Wertersatz ist in der ursprünglichen Verfalls- und Einziehungsanordnung bereits immanent vorbehaltener Ersatz des primär erfaßten Vermögenswertes. Von diesem Standpunkt aus sahen §§110 Abs. 2, 115 Abs. 2 Satz 2 StGB-Entw. 1962 vor, daß mit Verfall und Einziehung die Anordnung der Wertersatzeinziehung für den Fall verbunden werden könne, daß deren Voraussetzungen sich erst später ergeben. Der Gesetzgeber hat es aber abgelehnt, diesem Vorschlag folgend von vornherein eine bedingte Wertersatzeinziehung zuzulassen, da sie dem Vollstreckungsbeamten bei der Vollstreckung die Prüfung überlasse, ob der Täter die Einziehung vereitelt habe; diese Frage müsse vom Gericht geprüft werden, bevor es die nachträgliche Wertersatzeinziehung anordne (Begr. S. 58). Dies ist in § 76 mit genügender Deutlichkeit zum Ausdruck gekommen.

§ 76 a Selbständige Anordnung (1) Kann wegen der Straftat aus tatsächlichen Gründen keine bestimmte Person verfolgt oder verurteilt werden, so muß oder kann auf Verfall oder Einziehung des Gegenstandes oder des Wertersatzes oder auf Unbrauchbarmachung selbständig erkannt werden, wenn die Voraussetzungen, unter denen die Maßnahme vorgeschrieben oder zugelassen ist, im übrigen vorliegen. (2) In den Fällen des § 74 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 3 und des § 74 d ist Absatz 1 auch dann anzuwenden, wenn aus rechtlichen Gründen keine bestimmte Person verfolgt werden kann und das Gesetz nichts anderes bestimmt. Einziehung oder Unbrauchbarmachung dürfen jedoch nicht angeordnet werden, wenn Antrag, Ermächtigung oder Strafverlangen fehlen. (3) Absatz 1 ist auch anzuwenden, wenn das Gericht von Strafe absieht oder wenn das Verfahren nach einer Vorschrift eingestellt wird, die dies nach dem Ermessen der Staatsanwaltschaft oder des Gerichts oder im Einverständnis beider zuläßt. (126)

Selbständige Anordnung (Schäfer)

§ 76 a

Entstehungsgeschichte § 76 a entspricht dem durch das EGOWiG 1968 geschaffenen § 41 b mit folgenden durch Art. 1 des 2. StrRG vom 4. 7. 1969 getroffenen Änderungen: in Absatz 1 wurden vor „Einziehung" die Worte „Verfall oder" eingefügt; in Absatz 2 Satz 2 erhielt der Relativsatz (bisher: . . . „wenn Antrag, Ermächtigung, Strafverlangen, Anordnung der Strafverfolgung oder die Zustimmung zu ihr fehlen") seine jetzige Fassung.

I. Entwicklungsgeschichte. § 76 a ist, soweit er die Einziehung betrifft, an die 1 Stelle des ursprünglichen § 42 a. F. StGB getreten, der lautete: „Ist in den Fällen der §§ 40 [betr. Einziehung] und 41 [betr. Unbrauchbarmachung] die Verfolgung oder die Verurteilung einer bestimmten Person nicht ausführbar, so können die daselbst vorgeschriebenen Maßnahmen selbständig erkannt werden". Daneben gab es im Strafgesetzbuch, vor allem aber im Nebenrecht zahlreiche Vorschriften, die die materiellen Einziehungsvoraussetzungen abweichend von § 40 a. F. StGB regelten und dabei jeweils auch über die Voraussetzungen einer selbständigen Einziehung Bestimmung trafen. Im allgemeinen erklärten die neueren dieser Vorschriften die selbständige Einziehung für zulässig, wenn „keine bestimmte Person verfolgt oder verurteilt werden kann". Die Auslegung des § 42 a. F. StGB und der nebenrechtlichen Vorschriften war in mancher Hinsicht streitig. § 118 StGB-Entw. 1962 sah folgende Neuregelung vor: „(1) Kann wegen der Tat keine bestimmte Person verfolgt oder verurteilt werden, so muß oder kann auf Verfall, Einziehung oder Unbrauchbarmachung selbständig erkannt werden, wenn die Voraussetzungen, unter denen die Maßnahme vorgeschrieben oder zugelassen ist, im übrigen vorliegen. (2) Dasselbe gilt, wenn das Gericht von Strafe absieht, oder wenn das Verfahren nach einer Vorschrift eingestellt wird, die dies nach dem Ermessen des Staatsanwalts oder des Gerichts oder im Einvernehmen beider zuläßt". § 118 bezweckte die Schaffung einer einheitlich im Strafgesetzbuch und im Nebenstrafrecht geltenden Vorschrift über die Voraussetzungen der selbständigen Einziehung. Durch die Fassung sollten wesentliche Streitfragen bereinigt, insbesondere klargestellt werden, daß außer tatsächlichen auch rechtliche Hindernisse, die der Verfolgung oder Verurteilung einer bestimmten Person entgegenstehen, die Zulässigkeit des selbständigen Verfahrens begründeten (Begr. S. 250); eine Ausnahme sollte nur insoweit gelten, als die Verfolgungsverjährung nach § 127 Abs. 1 des Entw. auch die Anordnung von Verfall, Einziehung und Unbrauchbarmachung ausschließen sollte. Eine Neuerung stellte Absatz 2 dar, der, Forderungen der Praxis entsprechend, die Zulässigkeit des selbständigen Verfahrens auch dann vorsah, wenn eine bestimmte Person zwar verfolgt oder verurteilt werden kennte, der Ausschluß der Verfolgung oder Verurteilung aber darauf beruht, daß das Gericht nach gesetzlicher Vorschrift von Strafe absieht oder das Verfahren nach Vorschriften, die den Verfolgungszwang durch Zulassung des Opportunitätsprinzips ausschließen, eingestellt wird; in diesen Fällen sollte die Freiheit der Entscheidung nicht durch die Besorgnis beeinträchtigt werden, daß die Freistellung von einer Hauptstrafe auch dann zur Unzulässigkeit von Verfallerklärung und Anordnung der Einziehung und Unbrauchbarmachung führe, wenn diese Folge im Einzelfall unangemessen ist. II. Grundgedanke. Die Fassung des § 76 a beruht auf den Erörterungen des Son- 2 derausschusses, die von dem Bestreben nach einer genaueren Umschreibung der materiellen Voraussetzungen des selbständigen Verfahrens getragen waren (55. Sit(127)

§76 a

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

zung vom 15. 3.1967, Prot. S. 1054 ff und 57. Sitzung vom 13. 4.1967, Prot. S. 1091 ff). Es wurde nunmehr unterschieden zwischen dem Verfall und der Einziehung und bei der Einziehung zwischen dieser Maßnahme als nebenstrafähnlicher Maßnahme, die im selbständigen Verfahren angeordnet werden kann, auch wenn tatsächliche Hindernisse der Verfolgung oder Verurteilung entgegenstehen (§ 76 a Abs. 1), und der Einziehung (Unbrauchbarmachung) als Sicherungsmaßnahme, bei der auch rechtliche Gründe, die eine subjektive Verfolgung hindern, die selbständige Einziehung nicht ausschließen, es sei denn, daß a) ein besonderes Gesetz Abweichendes bestimmt, oder daß b) ein Strafverlangen oder eine gleichgestellte Erklärung fehlt, von der das Gesetz die subjektive Verfolgung abhängig macht (§ 76 a Abs. 2). Der Vorschlag, die selbständige Anordnung von Verfall und Einziehung bei Straftaten auch im Falle des Absehens von Strafe oder der Verfahrenseinstellung im Rahmen des Opportunitätsprinzips zuzulassen, wurde beibehalten (§ 76 a Abs. 3). 3

§ 27 OWiG enthält die dem § 76 a StGB für die Einziehung bei Ordnungswidrigkeiten entsprechende Vorschrift (s. auch § 30 Abs. 4 OWiG und hierzu Peltzer NJW 1978 2131).

III. Rechtsnatur der selbständigen Anordnung 4 1. Die Bedeutung des § 76 a besteht darin, daß er die Verbindung von Verfall und Einziehung mit einem subjektiven Verfahren löst. Darüber hinaus enthält er keine Erweiterung der in §§ 73 ff und den besonderen Vorschriften (§ 74 Abs. 4) aufgestellten Anordnungsvoraussetzungen; er bietet lediglich einen — ggf. selbständigen — prozessualen Weg (dazu unten Rdn. 17), der die Durchsetzung der Rechtsfolgen nach §§ 73 ff StGB eröffnet, ohne dessen Voraussetzungen einzuschränken (RGSt. 53 126; 66 423; BGHSt. 13 311, 313). Das ist mit den Worten in Absatz 1, daß „die Voraussetzungen, unter denen die Maßnahme vorgeschrieben oder zugelassen ist, im übrigen vorliegen" müssen, und mit der Verweisung auf Absatz 1 in Absatz 2 deutlich zum Ausdruck gebracht. Demgemäß bleibt die Rechtsnatur von Verfall, Einziehung, Wertersatzverfall oder -einziehung (§§ 73 a, 74 c) und der Unbrauchbarmachung (§ 74 b Abs. 2 Nr. 1, § 74 d Abs. 1 Satz 2) auch bei ihrer selbständigen Anordnung grundsätzlich unverändert (RGSt. 53 126; Sch.-Schröder-Eser Rdn. 1,2). Dementsprechend setzt ζ. B. im Fall des Absatzes 1 eine selbständige Einziehung nach §§ 74 Abs. 2 Nr. 1 oder 74 a, wenn der Täter unbekannt ist, die Feststellung voraus, daß der Unbekannte in vollem Umfang die objektiven und subjektiven Voraussetzungen der Einziehung nach diesen Vorschriften erfüllt habe und alle übrigen Voraussetzungen einer Verurteilung — Verfahrensvoraussetzungen wie Strafantrag, Nichtverjährung und Fehlen von persönlichen Strafausschließungs- und Strafaufhebungsgründen (unten Rdn. 7) — gegeben seien. 5

2. Im früheren Schrifttum zu § 42 a. F. fanden sich vereinzelt Stimmen (Nachw. in § 42, 2 der 8. Auflage), denen zufolge die Einziehung nach § 42 a. F. sich stets in eine Vorbeugungsmaßnahme verwandelte. Einen Nachklang dieser Auffassung bedeutet es, wenn gelehrt wird (so Eser Sanktionen 134, 210, 211 und Sch.-Schröder-Eser Rdn. 2), ein ohne Rücksicht auf die Verfolgbarkeit des Betroffenen durchgeführtes Verfahren sei regelmäßig nur dann sinnvoll, wenn überwiegend präventive oder quasikondiktionelle Gründe den Verfall oder die Einziehung erheischten ; deshalb sei in Fällen, in denen die Einziehung nur repressiv zu begründen wäre, v o n einem objektiven Verfahren grundsätzlich Abstand zu nehmen. D e m kann (128)

Selbständige Anordnung (Schäfer)

§ 76 a

nicht zugestimmt werden. Flüchtet ζ. B. der Dieb mit reicher Beute unerreichbar für die deutsche Rechtspflege im Ausland, so kann es durchaus sinnvoll sein, ihn wenigstens repressiv mit der Einziehung seines zur Tatbegehung verwendeten und zurückgelassenen wertvollen Kraftfahrzeugs zu belangen, auch wenn bzgl. dieses Fahrzeugs die Voraussetzungen des § 74 Abs. 2 Nr. 2 nicht vorliegen. Auf diesem Gedanken beruht auch § 76 a Abs. 3, der es ζ. B. ermöglicht, auch bei Einstellung des Verfahrens nach § 153 Abs. 2 StPO dem Jäger wenigstens die Trophäe des schonzeitwidrig erlegten Hirsches abzunehmen (§§ 38, 40 BJG), mag auch kein präventiver Grund die Einziehung erfordern.

IV. Selbständige Anordnung nach Absatz 1 1. Absatz 1 setzt voraus, daß eine Straftat begangen ist. Dieser Begriff umfaßt 6 nach dem Sachzusammenhang sowohl die rechtswidrige Tat (§11 Abs. 1 Nr. 5), also die rechtswidrige Tatbestandsverwirklichung ohne Verschulden, als auch die schuldhaft-rechtswidrige Tatbestandsverwirklichung. Ob eine nur rechtswidrige Tat genügt, oder ob Verschulden erforderlich ist, richtet sich (vgl.: „wenn die Voraussetzungen, unter denen die Maßnahme vorgeschrieben oder zugelassen ist, im übrigen vorliegen") nach den materiellen Voraussetzungen für die Anordnung der Maßnahme; danach genügt beim Verfall eine nur rechtswidrige Tat (§ 73), während die Einziehung mit nebenstrafähnlichem Charakter (§ 74 Abs. 2 Nr. 1, § 74 a) Verschulden erfordert. 2. Indem Absatz 1 eine Straftat voraussetzt, ist zwar eine selbständige Anord- 7 nung bei solchen Vorbereitungshandlungen möglich, die, wie z. B. § 30 StGB, selbständig mit Strafe bedroht sind (BGHSt. 13 311), mag auch bei der fakultativen Einziehung im allgemeinen „pflichtmäßiges richterliches Ermessen von der Möglichkeit der Einziehung nur zurückhaltend Gebrauch machen, wenn es sich statt um Vollendung oder Versuch nur um strafbare Vorbereitung handelt" (BGHSt. 13 311, 315). Ausgeschlossen ist aber die selbständige Anordnung, wenn es nur zum straflosen Versuch eines Vergehens gekommen ist (so schon das frühere Recht BGHSt. 8 212; 13 311 im Gegensatz zu RGSt. 27 243; 36 145; 49 208), oder wenn die Rechtswidrigkeit durch Rechtfertigungsgründe (RGSt. 29 401 betr. § 193 StGB), die Schuld (bei der tätergerichteten Einziehung) durch Schuldausschließungsgründe, ζ. B. Schuldunfähigkeit (RGSt. 29 130), Irrtum über Tatumstände (§ 16), unvermeidbaren Verbotsirrtum (§ 16; anders früher RGSt. 53 81) oder entschuldigenden Notstand (§ 35) ausgeschlossen ist, oder wenn dem Täter persönliche Strafausschließungs- oder Strafaufhebungsgründe (ζ. B. Rücktritt vom Versuch) zur Seite stehen. 3. Weitere Voraussetzung ist, daß aus tatsächlichen Gründen keine bestimmte 8 Person verfolgt oder verurteilt werden kann. Das ist der Fall, wenn der Täter (Teilnehmer) nicht festzustellen ist, ζ. B. unbekannt bleibt (vgl. Oppe MDR 1973 183) oder unter mehreren Tatverdächtigen der wirkliche Täter nicht zu ermitteln ist, oder wenn er für die inländische Gerichtsbarkeit nicht erreichbar ist, ζ. B. wegen ausländischen Wohnsitzes (LG Bayreuth NJW 1970 574), oder weil er sich der Verfolgung und Verurteilung durch Abwesenheit, Flucht oder Verbergen entzieht (dazu unten Rdn. 9). (129)

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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

4. Die selbständige Anordnung entfällt, wenn einer subjektiven Verfolgung rechtliche Gründe, d. h. Verfahrenshindernisse entgegenstehen, ζ. B. Verjährung (OLG Hamm NJW 1976 2223), fehlender Strafantrag, dauernde Verhandlungsunfähigkeit. Das Verbot der Doppelbestrafung („ne bis in idem", Art. 103 Abs. 3 GG) steht bei einer Verurteilung, mit der die Anordnung hätte verbunden werden können, einer selbständigen Anordnung auch dann entgegen, wenn sie versehentlich im Urteil nicht ausgesprochen wurde, mag sie auch in den Urteilsgründen erwähnt worden sein (RGSt. 8 349; 44 315; 65 176; 66 423); anders liegt es, wenn die Voraussetzungen der selbständigen Anordnung noch in der Person eines anderen gegeben sind (RGSt. 65 176). Hat nur der Angeklagte gegen ein Urteil, in dem eine Einziehung nicht ausgesprochen war, Berufung eingelegt, so war nach früherem Recht (§ 331 Abs. 2 a. F. StPO) streitig, ob das Berufungsgericht die Einziehung unter dem Gesichtspunkt einer reinen Sicherungsmaßnahme anordnen könne (vgl. Frisch M D R 1973 715 mit Nachw.). Durch § 331 Abs. 2 n. F. StPO ist klargestellt, daß jetzt das Verschlechterungsverbot auch einer Einziehung als Sicherungsmaßnahme entgegensteht (LR- Gollwitzefil Rdn. 104 zu §331); damit ist auch eine selbständige Einziehung ausgeschlossen (ebenso Kleinknechß4 Rdn. 3 zu § 331 StPO). Eine Ausnahme von dem Grundsatz, daß Verfahrenshindernisse der selbständigen Anordnung entgegenstehen, bildet die Abwesenheit des Beschuldigten. Diese ist zwar grundsätzlich ein Verfahrenshindernis für ein auf Verurteilung (i. S. des § 465 Abs. 1) gerichtetes Verfahren; aus dem Sinn des § 76 a ergibt sich aber, daß dieses Verfahrenshindernis die Anordnung der in § 76 a Abs. 1 bezeichneten Maßnahmen nicht hindert, sondern insoweit als ein tatsächlicher Grund für die Nichtverfolgbarkeit anzusehen ist. Über Verfahrenshindernisse („rechtliche Gründe") im übrigen s. unten Rdn. 11). Der Tod des Täters ist zwar kein Verfahrenshindernis, sondern schließt begrifflich ein subjektives Verfahren mit dem Ziel der Feststellung, ob Unrechtsfolgen aus Anlaß der Begehung einer Straftat auszusprechen sind, aus, da solche Folgen gegen den Toten nicht angeordnet werden können. Er ist andererseits aber auch kein tatsächlicher Grund i. S. des § 76 a Abs. 1, da die Verfallsvoraussetzungen des § 73 d (Eigentum des Betroffenen zur Zeit der Rechtskraft der Entscheidung) und die Einziehungsvoraussetzungen des § 74 Abs. 2 Nr. 1 und des § 74 a (Eigentum zur Zeit der Entscheidung) nicht vorliegen (vgl. § 74, 43). Ist aber Verfall und Einziehung des Gegenstandes selbst nicht möglich, so ist folgerichtig nach dem Tod des Täters auch das Surrogat der Einziehung, die Anordnung von Wertersatz ausgeschlossen. Die Gewährung von Straffreiheit für bestimmte Straftaten ist zwar auch ein Verfahrenshindernis für die Verfolgung einer bestimmten Person, hat aber für die Einziehung und Unbrauchbarmachung keine praktische Bedeutung, da in den neueren Straffreiheitsgesetzen (vgl. zuletzt § 4 Abs. 2 Straffreiheitsgesetz v. 20. 5. 1970 [BGBl. I S. 509]) regelmäßig von der Niederschlagung (Einstellung) der erfaßten Strafverfahren die Einziehung und Unbrauchbarmachung ausgenommen ist, gleichviel ob die Einziehung Straf- oder Sicherungscharakter hat.

V. Selbständige Anordnung nach Absatz 2 1. Grundsatz. Absatz 2 erweitert bei der Einziehung die Voraussetzungen der selbständigen Anordnung für die Fälle, in denen die Maßnahme, weil ohne Rücksicht auf die Eigentumsverhältnisse wegen der von dem Gegenstand drohenden Gefahr zulässig, Sicherungscharakter hat. Auf den Verfall ist Absatz 2 unanwendbar, da diese Maßnahme keinen Sicherungscharakter hat. Die Verweisung auf § 74 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 3, § 74 d umfaßt auch die Fälle des § 74 Abs. 4, soweit danach (130)

Selbständige Anordnung (Schäfer)

§76 a

§ 74 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 3 entsprechend anwendbar ist. Hier genügt zur Einziehung, daß der Täter ohne Schuld gehandelt hat, also eine rechtswidrige Tat (§ 11 Abs. 1 Nr. 5); daran fehlt es auch hier, wenn nur der straflose Versuch eines Vergehens (§ 23 Abs. 1) vorliegt. Das Verschulden kann durch fehlende Schuldfähigkeit, entschuldigenden Notstand oder Fehlen des inneren Tatbestandes (Irrtum über Tatumstände, unvermeidbarer Verbotsirrtum) ausgeschlossen sein (RGSt. 38 100, 346), doch muß ein Handeln mit „natürlicher" Schuld vorliegen. Die Erweiterung besteht hier darin, daß nicht nur tatsächliche Gründe (Absatz 1), sondern auch rechtliche Gründe, die der Verfolgung oder Verurteilung einer bestimmten Person entgegenstehen würden, die selbständige Anordnung nicht hindern. 2. Rechtliche Hindernisse. Kein Hindernis für die selbständige Anordnung bil- 11 den danach persönliche Strafaufhebungsgründe (z. B. § 98 Abs. 2 Satz 2) und Strafausschließungsgründe (RGSt. 11 121; 57 3), auch nicht der Tod des Tatbeteiligten, da mit ihm das gegenstandsbezogene Sicherungsbedürfnis nicht entfällt. Insbesondere gehören zu den rechtlichen Gründen Verfahrenshindernisse, wie etwa die Niederschlagung durch ein Straffreiheitsgesetz (BGHSt. 23 64), die dauernde Verhandlungsunfähigkeit, die Zugehörigkeit zu einem Gesetzgebungsorgan (Immunität, Art. 46 Abs. 2 GG, § 152 a StPO). Die Rechtskraft eines freisprechenden oder einstellenden Urteils, das über die Einziehung oder Unbrauchbarmachung nicht entschieden hat, steht, wenn die Maßnahme Sicherungscharakter hat, einer späteren selbständigen Anordnung im Verfahren nach § 440 StPO nicht entgegen (RGSt. 14 169; 27 355; BGHSt. 6 62, 64). Zu den „rechtlichen Gründen" gehört auch die Verjährung. Dies war in der Zeit vor dem 1.1.1975 in der (allerdings umstrittenen) Rechtsprechung anerkannt (BGHSt. 6 62; 21 370; 23 67; 25 354; NJW 1974 2142; OLG Hamm NJW 1970 1755). Dagegen wird geltend gemacht, daß der Einbeziehung in die nicht hindernden rechtlichen Gründe jetzt deutlich § 78 Abs. 1 entgegenstehe (so Sch.-Schröder-Eser Rdn. 8 a; SK-Horn Rdn. 6; Lackner 8). Diese Auffassung ist aber weder in der Sache begründet, da das gegenstandsbedingte Sicherungsbedürfnis fortbestehen kann, auch wenn das Strafbedürfnis gegenüber dem Täter durch Zeitablauf entfällt, noch ist sie durch den Gesetzeswortlaut des § 78 zwingend geboten. Denn § 76 a Abs. 2 Satz 1 schaltet — von den unten Rdn. 12 zu erörternden weiteren Ausnahmen abgesehen — bei der selbständigen Einziehung alle rechtlichen Hinderungsgründe aus, die einer subjektiven Verfolgung entgegenstehen, „sofern das Gesetz nichts anderes bestimmt". Die Frage ist mithin, ob § 78 Abs. 1 i. S. des § 76 a Abs. 2 Satz 1 „etwas anderes bestimmt", ob also § 78 Abs. 1 dem § 76 a Abs. 2 oder diese Vorschrift dem § 78 Abs. 1 vorgeht. Diese Frage ist entsprechend dem sachlichen Bedürfnis im Sinne der zweiten Alternative zu beantworten!. 3. Ausnahmen. Der Grundsatz, daß rechtliche Gründe, die die Verfolgung einer bestimmten Person ausschließen, die selbständige Einziehung nach Absatz 2 nicht hindern, ist nach zwei Richtungen durchbrochen : a) wenn das Gesetz etwas anderes bestimmt. Eine solche Ausnahme kann sich aus 12 dem Sinn des Gesetzes oder aus einer besonderen Vorschrift ergeben. Aus dem Sinn 1

(131)

Ebenso OLG Stuttgart Die Justiz 1975 315; MDR 1975 681; Dreher-Tröndle Rdn. 8; Preisendanz 3 ; Baumann AT 8 S. 652 und — zu § 440 StPO — Kleinknecht34 9; LR-Schäfer23 Rdn. 13 sowie — zu § 27 OWiG — Göhler 4; Rotberg 3, 7.

§76 a

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

des Gesetzes ergibt sich ohne weiteres, daß Exemptionen von der deutschen Gerichtsbarkeit (§§ 18 bis 20 GVG, Art. VII des Nato-Truppenstatuts) jede Ausübung von deutscher Gerichtsbarkeit aus Anlaß der von Eximierten begangenen Straftaten und damit auch eine selbständige Einziehung ausschließen. Eine Sondervorschrift (vgl. § 74 Abs. 4 StGB) findet sich in § 80 ZollG i. d. F. von Art. 33 Nr. 18 EGAO 1977). Danach werden grundsätzlich Zollstraftaten (§ 369 AO), die im Reiseverkehr über die Grenze im Zusammenhang mit der Zollbehandlung begangen werden, nicht verfolgt, wenn sich die Tat auf Waren bezieht, die weder zum Handel noch zur gewerblichen Verwendung bestimmt und insgesamt nicht mehr als 240 DM wert sind. Eine Prüfung, inwieweit § 74 Abs. 2 Nr. 2 eine selbständige Einziehung von Schmuggelwerkzeug und -gut ermöglicht, entfällt aber hier, weil schon nach materiellem Recht (§ 80 Abs. 2 ZollG) das Verfolgungshindernis entfällt, wenn der Täter die Waren durch besondere Vorrichtungen verheimlicht oder an schwer zugänglichen Stellen versteckt hält, oder wenn er Wiederholungstäter ist. 13

b) wenn Antrag, Ermächtigung oder Strafverlangen fehlen. Nach Absatz 2 Satz 2, der frühere Zweifelsfragen (vgl. OLG Düsseldorf NJW 1967 1142) bereinigt, ist die selbständige Anordnung stets ausgeschlossen, wenn zu einer subjektiven Verfolgung als Verfahrensvoraussetzung ein Verfolgungsverlangen oder eine Verfolgungszustimmung einer dritten Stelle gehört und diese fehlt. Der Grund für diese Regelung liegt darin, daß die Interessen desjenigen, dem die Entschließung darüber eingeräumt ist, ob die Sache verfolgt und in einer Hauptverhandlung erörtert werden soll, beeinträchtigt werden, wenn er zwar durch Nichtgebrauch seines Antrags- usw. -Rechts die subjektive Verfolgung verhindern könnte, aber ein selbständiges Anordnungsverfahren hinnehmen müßte, in dem notwendigerweise zu prüfen ist, ob eine Straftat vorliegt. Bei den in Absatz 2 Satz 2 aufgezählten Verfahrensvoraussetzungen handelt es sich um den Strafantrag (§ 77 StGB), die Ermächtigung (§ 77 e in Verbindung mit §§ 90 Abs. 4, 90 b Abs. 2, 97 Abs. 3, 104 a, 194 Abs. 4, 353 a Abs. 2, 353 b Abs. 3, 353 c Abs. 4) und das Strafverlangen (§ 104 a). Der Antrag usw. fehlt nicht nur dann, wenn er überhaupt nicht gestellt oder wirksam zurückgenommen ist, sondern auch dann, wenn er nicht wirksam gestellt ist, z. B. von einer nicht legitimierten Person oder nicht innerhalb einer gesetzlich vorgeschriebenen Frist (vgl. die Erörterungen im Sonderausschuß 57. Sitzung Prot. S. 1093). Das Fehlen eines Antrags des Berechtigten hindert aber die selbständige Anordnung nicht, wenn nach gesetzlicher Vorschrift der grundsätzlich erforderliche Strafantrag entbehrlich ist, weil die Strafverfolgungsbehörde wegen des besonderen öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung ein Einschreiten von Amts wegen für geboten hält (vgl. §§183 Abs. 2, 232 Abs. 1, 248 a, 257 Abs. 4 Satz 2, 259 Abs. 2, 263 Abs. 4, 265 Abs. 3, 266 Abs. 3).

VI. Absehen von Strafe, Einstellung bei Lockerung des Verfolgungszwangs (Absatz 3) 14 1. Anwendungsfälle. In Absatz 3 wird aus Gründen des praktischen Bedürfnisses (über die ratio legis s. oben Rdn. 1) und in Verallgemeinerung der schon in § 49 Abs. 4 Satz 2 a. F. AtomG enthaltenen Vorschrift der Grundsatz der Absätze 1, 2 aufgegeben, daß eine selbständige Einziehung usw. nur zulässig ist, wenn keine bestimmte Person verfolgt oder verurteilt werden kann. Die selbständige Anordnung der Maßnahme ist danach auch zulässig 1. wenn das Gericht nach einer Vorschrift des materiellen Rechts von Strafe absieht, z. B. gemäß §§ 23 Abs. 3, 60, 83 a, 84 Abs. 4, 5, 85 Abs. 3, 86 Abs. 4, 86 a (132)

Selbständige Anordnung (Schäfer)

§76 a

Abs. 3, 87 Abs. 3, 89 Abs. 3, 98 Abs. 2, 113 Abs. 4, 129 Abs. 5, 6, 129 a Abs. 5, 139 Abs. 1, 157, 158 Abs. 1, 174 Abs. 4, 175 Abs. 2, 311 c Abs. 2, 316 a Abs. 2 StGB oder §§ 199, 233 StGB; ein Absehen von Strafe ist auch die Verwarnung mit Strafvorbehalt (vgl. § 59 Abs. 3). 2. wenn das Verfahren nach Ermessen („kann") in Durchbrechung des Verfolgungszwanges eingestellt wird a) durch die Staatsanwaltschaft allein (§§ 153 Abs. 1 Satz 2, 153 c, 153 d, 154 Abs. 1, 154 a Abs. 1, 154 b Abs. 1 bis 3, 154 c StPO; § 45 Abs. 2 JGG; b) durch das Gericht allein (ζ. B. gemäß § 383 Abs. 2 StPO); c) durch Gericht oder Staatsanwaltschaft im Einvernehmen beider Stellen, sei es, daß die Einstellung durch die eine Stelle die Zustimmung der anderen (§§ 153 Abs. 1,2, 153 a, 153 b, 153 e, 154 a Abs. 2 StPO, § 47 Abs. 2 JGG), deren Antrag (§§ 154 Abs. 2, 154 b Abs. 4 StPO) oder deren Anregung (§ 45 Abs. 1 JGG) voraussetzt. Eine Einstellung i. S. des Absatzes 2 liegt auch vor, wenn die Staatsanwaltschaft 15 „von der Verfolgung der Tat" (z. B. § 153 d StPO) oder „von der Erhebung der öffentlichen Klage" (z. B. §§ 153 a Abs. 1, 153 b) „absieht". „Einstellung" ist auch die ausdrücklich nur als „vorläufige" bezeichnete Einstellung (z. B. §§ 153 a, 154 Abs. 2). Eine Einstellung „im Einvernehmen beider" ist auch gegeben, wenn es der Zustimmung weiterer Verfahrensbeteiligter (im Fall der §§ 153 Abs. 2, 153 a, 153 b Abs. 2 StPO der des Angeschuldigten) bedarf und diese erteilt wird. 2. Unanwendbar ist Absatz 3 im Fall des § 154 d StPO, denn der Grund für die 16 dort zugelassene Einstellung des Verfahrens, der Staatsanwaltschaft die Prüfung komplizierter Vorgänge zu ersparen, wenn es dem Anzeigenden darauf ankommt, das Ermittlungsverfahren als Vorspann eines anderen Verfahrens zu benutzen, greift auch durch, wenn die selbständige Anordnung der Einziehung usw. in Frage steht und die Klärung ihrer Voraussetzungen mit dem gleichen Aufwand verbunden ist wie die Sachverhaltsaufklärung im Interesse der subjektiven Verfolgung. VII. Verfahrensrechtliches 1. Objektives Verfahren. Nach §§ 440, 442 StPO können Staatsanwaltschaft und 17 Privatkläger die selbständige Anordnung des Verfalls und der Einziehung von Gegenständen und Wertersatz und der Unbrauchbarmachung in dem in § 441 StPO geregelten Verfahren beantragen. Die Einleitung eines solchen Verfahrens ist aber nicht der einzige prozessuale Weg zur selbständigen Anordnung; diese ist vielmehr in gewissem Umfang bereits im Zusammenhang mit einem subjektiven (gegen einen bestimmten Angeklagten gerichteten) Verfahren zulässig. 2. Im subjektiven Verfahren kann die selbständige Anordnung, wenn deren 18 materiellrechtliche Voraussetzungen vorliegen, auch ausgesprochen werden in Verbindung a) bei Verfall und Einziehung mit einem wegen fehlender Schuld (infolge Schuldunfähigkeit, vorsatzausschließendem Sachverhaltsirrtum, unvermeidbarem Verbotsirrtums) freisprechendem Urteil, sofern der Täter wenigstens rechtswidrig den Tatbestand der den Anknüpfungspunkt für den Verfall bildenden Tat (§ 73) oder des die Einziehung als Sicherungsmaßnahme vorsehenden Straftatbestandes erfüllt hat (so schon RGSt. 34 388; 44 315; 66 420; BGHSt. 6 62, 64; 18 136, 138), (133)

§76 a

3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat

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b) bei der Einziehung mit einem wegen eines Verfahrenshindernisses („aus rechtlichen Gründen") einstellenden Urteil, sofern es sich nicht um die in § 76 a Abs. 2 Satz 2 bezeichneten Hindernisse handelt. Das war für die Verjährung schon nach dem alten Recht in BGHSt. 6 62 und ist für die Niederschlagung durch Straffreiheitsgesetz in BGHSt. 23 64 = NJW 1969 1970 nach dem neuen Recht anerkannt; es gilt aber jetzt allgemein bei Verfahrenshindernissen, die eine selbständige Anordnung nicht hindern,

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c) bei Verfall und Einziehung mit einem Urteil, das gemäß § 76 a Abs. 3 von Strafe absieht oder das Verfahren einstellt.

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3. Rechtscharakter des Verfahrens, soweit es sich nach der in Aussicht genommenen Entscheidung zur Hauptsache mit der selbständigen Anordnung der Maßnahme befaßt. Nach BGHSt. 6 62, 64 (betr. Verjährung) wurde das „Strafverfahren insoweit weitergeführt" (auch in der Revisionsinstanz), weil die vom subjektiven Verfahren grundsätzlich abweichenden Voraussetzungen und die Gestaltung des selbständigen Verfahrens nach § 430 ff a. F. StPO einen Übergang vom subjektiven zum objektiven Verfahren ausschlössen. Das die selbständige Einziehung betreffende weitergeführte Verfahren war danach ein Teil der Hauptverhandlung des Strafverfahrens und unterlag den Regeln über die Hauptverhandlung. Nach BGHSt. 23 64, 67 = NJW 1969 1970 (betr. Niederschlagung) dagegen darf das anhängige Verfahren mit dem beschränkten Ziel einer Entscheidung „fortgeführt" werden, aber als selbständiges Verfahren i. S. des § 440 StPO, weil die früheren Bedenken gegen die Überleitung eines subjektiven in ein objektives Verfahren angesichts der Angleichung beider Verfahrensarten durch das EGOWiG 1968 nicht mehr bestünden. Von diesem Standpunkt aus unterliegt das die selbständige Anordnung betreffende Verfahren, auch wenn es im Zusammenhang mit dem subjektiven Verfahren, so doch als selbständiges Verfahren i. S. der §§ 440, 441 „fortgeführt" wird, den besonderem Vorschriften des § 441 Abs. 2 bis 4 StPO betr. Entscheidung durch Beschluß ohne mündliche Verhandlung, oder durch Urteil auf Grund mündlicher Verhandlung mit den entsprechend verschiedenen Rechtsmitteln. Für diese Lösung spricht der bereits auf der Neuregelung des Einziehungsrechts basierende § 4 Abs. 2, 3 des Straffreiheitsges. v. 20. 5.1970 (BGBl. I 509). Danach können Einziehung und Unbrauchbarmachung — nach Einstellung des Verfahrens im übrigen — im selbständigen Verfahren (§§ 430 ff) angeordnet werden (Absatz 2). Es kann aber auch das subjektive Verfahren „weitergeführt" werden, und das Gericht kann durch Beschluß entscheiden, wenn dies in einem selbständigen Verfahren zulässig wäre (Absatz 3). Mit dem § 4 Abs. 3 aber verweist das StraffreiheitsG 1970 auf § 441 Abs. 2, 3 StPO. Die Lösung dieses Gesetzes enthält allgemein gültige Grundsätze, da der innere Grund für die „Fortführung" des anhängigen Verfahrens mit beschränktem Ziel — aus prozeßökonomischen Gründen zu vermeiden, daß die für die Zwecke des subjektiven Verfahrens erbrachten Beweisaufnahmen in einem selbständigen Verfahren wiederholt werden müßten — bei allen „rechtlichen Gründen" zutrifft (ebenso Hanack JZ 1974 58; Sch.-Schröder-Eser Rdn. 12; Kleinknechß4 19 zu §440 StPO; a. M. Dreher-Tröndle Rdn. 3). Folgerichtig muß dann auch in den Fällen des § 76 a Abs. 2 eine solche „Fortführung" des subjektiven Verfahrens mit dem beschränkten Ziel der selbständigen Einziehung wegen gegenstandsbedingten Sicherheitsbedürfnisses möglich sein, wenn das subjektive Verfahren mit dem Tod des Angeklagten sein Ende findet (oben Rdn. 11). Denn der prozeßökonomische Grund für die Zulässigkeit der Weiterführung mit beschränktem (134)

Selbständige Anordnung (Schäfer)

§ 76 a

Ziel trifft auch dann zu; eine unterschiedliche Behandlung des Todes (vgl. oben Rdn. 9) gegenüber den Verfahrenshindernissen im engeren Sinn würde der inneren Rechtfertigung entbehren ( L R - S c h ä f e r ^ Rdn. 74 zu § 440 StPO; zustimmend Sch.Schröder-Eser Rdn. 12). Ob der Weg des selbständigen (objektiven) Verfahrens oder der der Fortführung des anhängigen Verfahrens beschritten wird, hängt davon ab, ob die Staatsanwaltschaft im subjektiven Verfahren eine dem Antrag nach § 440 Abs. 1 entsprechende Erklärung dem Gericht gegenüber abgibt, da auch im Fall der Fortführung des Verfahrens die nach § 440 Abs. 1 gegebene Entschließungsfreiheit des Staatsanwalts (s. unten Rdn. 22) bestehenbleibt (BGHSt. 7 356 und LR-Schäfer& Rdn. 73 zu § 441 StPO). Das Gericht muß einem Fortführungsantrag stattgeben, wenn die selbständige Einziehung, wie insbesondere im Fall des § 74 d zwingend vorgeschrieben ist (BGHSt. 23 208, 210). 4. Durchführung des objektiven Verfahrens. Kann wegen einer Straftat aus tat- 22 sächlichen Gründen keine bestimmte Person verfolgt oder verurteilt werden, so steht zur selbständigen Anordnung der zwingend vorgeschriebenen oder zugelassenen (fakultativen) Einziehung usw. nur der Weg des objektiven Strafverfahrens (§ 440 StPO) zur Verfügung. Die Darstellung der Voraussetzungen und des Verfahrensganges im einzelnen ist Sache der strafprozessualen Erläuterungsbücher. Hier mag lediglich hervorgehoben werden, daß das Erfordernis, es könne keine bestimmte Person verfolgt oder verurteilt werden, nicht eine vollkommene Unmöglichkeit voraussetzt, sondern schon vorliegt, wenn nach der Überzeugung des Gerichts mit der Möglichkeit einer Verurteilung nicht oder nicht mehr zu rechnen ist (RG D R Z 1932 Nr. 48). Die Entscheidung darüber, ob eine bestimmte Person nicht verfolgt oder verurteilt werden kann, gebührt in erster Linie der Staatsanwaltschaft, unterliegt aber der Nachprüfung des Gerichts, über deren Umfang im einzelnen Streit besteht (vgl. LR-Schäfer23 Rdn. 36 ff zu § 440). Im übrigen unterliegt die Entscheidung, ob ein Antrag aus § 440 StPO zu stellen ist, auch dann dem pflichtmäßigen Ermessen des Staatsanwalts (also Opportunitäts-, nicht Legalitätsprinzip), wenn die selbständige Anordnung — wie beim Verfall oder bei der Einziehung im Fall des § 74 d — zwingend vorgeschrieben ist (vgl. § 440 Abs. 1 : „können"); das ist herrschende Meinung (vgl. BGHSt. 2 23; 7 357; 23 210; MDR 1966 779; OLG Celle NJW 1966 1135; RiStBV Nr. 180 Abs. 1). Dagegen muß das Gericht, wenn der Antrag gestellt ist, die Einziehung aussprechen, wenn sie zwingend vorgeschrieben ist und die Einziehungsvoraussetzungen im übrigen vorliegen (BGHSt. 23 208, 210 = NJW 1970 437). Daß keine bestimmte Person verfolgt oder verurteilt werden kann, ist eine Verfahrensvoraussetzung, deren Vorliegen das Gericht in jeder Lage des Verfahrens, auch noch in der Revisionsinstanz, von Amts wegen nachzuprüfen hat (BGHSt. 21 55). VIII. Übergangsvorschriften: Art. 155 Abs. 1 Nr. 3 EGOWiG 1968; Art. 307 EGStGB 1974.

(135)

VIERTER ABSCHNITT Strafantrag, Ermächtigung, Strafverlangen Vorbemerkungen Schrifttum BamstorfUnwirksamkeit des Strafantrags, NStZ 1985 67; Bindokat Freispruch bei fehlendem Strafantrag? NJW 1955 1863; Boeckmann Zur gesetzlichen Vertretung des Kindes im Strafprozeß, NJW 1960 1938; Bloy Die dogmatische Bedeutung der Strafausschließungs- und Strafaufhebungsgründe (1976); Coenders Über den Strafantrag und die Privatklage der Nichtverletzten, GS 83 286; Deeg Inhalt und Ausübung des Strafantragsrechts (1933); Dubs Zur Problematik der relativen Antragsdelikte, Schweiz. Zeitschr. f. Strafrecht 71 (1956) 70; Geerds Festnahme und Untersuchungshaft bei Antrags- und Privatklagedelikten, GA 1982 237; Härtung Recht zur Stellung des Strafantrages und zur Privatklage bei Tod des Antrags- und Klageberechtigten, NJW 1950 670; Henkel Die Beteiligung des Verletzten am künftigen Strafverfahren, ZStW 56 (1937) 227 ; Jung Die Stellung des Verletzten im Strafverfahren, ZStW 93 (1981) 1147; Kaiser Die Rechtsstellung geisteskranker und wegen Geistesschwäche entmündigter Antragsteller im staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren, NJW 1960 373; H. Kaufmann Strafanspruch Strafklagrecht (1968); Koch Zum Antragsrecht beim „Familiendiebstahl", G A 1962 304; Köhler Die Lehre vom Strafantrag (1899); Kohlhaas Antragsdelikte bei Wegfall eines Offizialdelikts, NJW 1954 1792; Kohlhaas Die Auswirkungen der Gleichberechtigung der Geschlechter auf Strafrecht und Strafverfahrensrecht, NJW 1960 1 ; Kohlhaas Die negativen Auswirkungen der Gleichberechtigung auf die Verfolgbarkeit von Antragsdelikten, JR 1972 326; H. Lange Die Lücke im Kindschaftsrecht, NJW 1961 1889; Lichtner Die historische Begründung des Strafantragsrechtes und seine Berechtigung heute, Diss. Heidelberg 1981; Maiwald Die Beteiligung des Verletzten am Strafverfahren, GA 1970 33; M. K. Meyer Zur Rechtsnatur und Funktion des Strafantrags (1984); Naucke „Mißbrauch" des Strafantrags? H. Mayer-Festschr. S. 565; Ott Der „vorsorglich" gestellte Strafantrag, StrV 1982 45; Pieroth Der rückwirkende Wegfall des Strafantragserfordernisses, JuS 1977 394; Rehberg Der Strafantrag, Schweiz. Zeitschr. f. Strafrecht 85 (1969) 247; Reiss Der Strafantrag in unserem Strafrecht, Rpfleger 1967 375; Riegel Zum Problem der Schriftlichkeit i. S. des §158 Abs. 2 StPO, NJW 1973 495; Rieß Die Rechtsstellung des Verletzten im Strafverfahren, Gutachten für den 55. Deutschen Juristentag (1984), zit.: D JT-Gutachten ; Schroth Der „vorsorgliche" Strafantrag bei Hausbesetzungen, NStZ 1982 1 ; Schulz Können Strafanträge fristwahrend bei ausländischen Behörden gestellt werden? NJW 1977 480; S tree Zur Vertretung beim Strafantrag, NJW 1956 454; Stree Strafantragsrecht der Eltern eines Minderjährigen vor und nach der Ehescheidung, FamRZ 1956 365; Stree Zum Strafantrag durch Strafanzeige, MDR 1956 723; Stree Strafantrag und Gleichheitssatz, DÖV 1958 172; Stree In dubio pro reo (1962); Tegtmeyer Der Strafantrag nach den Strafvorschriften der Datenschutzgesetze, Öffentl. Verwaltung u. Datenverarbeitung (ÖVD) 1981 H. 5 S. 12; Tiedemann Gleichheit und Sozialstaatlichkeit im Strafrecht, G A 1964 353; Töwe Der Strafantrag, GS 112 22; Weber Der strafrechtliche Schutz des Urheberrechts (1976); Volk Prozeßvoraussetzungen im Strafrecht (1978); Zip/Strafantrag, Privatklage und staatlicher Strafanspruch, GA 1969 234. Entstehungsgeschichte

Das Strafantragsrecht war im Reichsstrafgesetzbuch von 1871 in den §§ 61 bis 65 geregelt. Allgemeine Vorschriften über Ermächtigung und Strafverlangen gab es bisher nicht; sie hat das 2. StrRG eingefügt. (i)

Vor § 77

4. Abschnitt. Strafantrag, Ermächtigung, Strafverlangen

Das Recht des Strafantrags ist in seinen Grundzügen seit 1871 erhalten geblieben. Größere Änderungen hat der Gesetzgeber in den Fragen der Beschränkbarkeit des Strafantrags auf bestimmte Personen, des Übergangs des Antragsrechts nach dem Tode des Verletzten und der Antragsrücknahme vorgenommen. Nach § 63 a. F. konnte der Strafantrag nicht geteilt werden. War er gegen einen Täter, Teilnehmer oder Begünstiger gestellt, wirkte er gegen alle. Ebenso zog eine zulässige Antragsrücknahme die Unverfolgbarkeit der Gesetzesverletzung gegenüber allen Beteiligten nach sich (§ 63 Abs. 2 a. F.). Art. 3 der Strafrechtsangleichungsverordnung vom 29. 5.1943 (RGBl. I S. 339) hat diese Regelung ersatzlos gestrichen. Den bisher nicht gesetzlich vorgesehenen Übergang des Antragrechts auf Angehörige (§ 77 Abs. 2) schuf das 2. StrRG im Anschluß an Vorschläge des E 1962 (§121; Begründung S. 252 ff). Das EGStGB schließlich regelte die Rücknehmbarkeit des Strafantrags neu. Während eine Rücknahme bisher nur in den gesetzlich besonders vorgesehenen Fällen und nur bis zur Verkündung eines auf Strafe lautenden Urteils zulässig war (§ 64 a. F.), besteht diese Möglichkeit nunmehr stets und bis zur Rechtskraft des Urteils (§ 77 d). Übersicht I. Die Problematik des Strafantrags . . . .

Rdn. 1

1.

Rechtspolitische Problematik . . . .

1

2.

Rechtstheoretische Problematik . .

2

3.

Rechtfertigung des Instituts

II. Gruppen von Antragsdelikten

3 4

1.

Einteilung nach dem Zweck des Antragserfordernisses

4

2.

Einteilung nach der Reichweite des Antragserfordernisses

6

III. Die Rechtsnatur des Strafantrages . . . 1. Allgemein 2. Strafanträge von Behörden IV. Verfahrensrechtliches 1. Feststellung des Vorliegens des Antrags 2. Verfahren bei fehlendem Antrag . . V. Sachlich-rechtliche Folgen der Rechtsnatur des Strafantrags VI. Ermächtigung und Strafverlangen . . . VII. Landesrecht

Rdn. 7 7 8 9 9 11 14 15 16

I. Die Problematik des Strafantrags 1 1. Rechtspolitische Problematik. Die meisten Tatbestände des Strafrechts enthalten Offizialdelikte; die Strafverfolgung des Täters setzt von Amts wegen ein. In bestimmten Fällen verlangt das Gesetz jedoch für den Beginn und die Fortdauer der Strafverfolgung das dahingehende, formalisierte Verlangen eines Dritten, einen Strafantrag. Dieser ist regelmäßig vom verletzten privaten Rechtsgutträger zu stellen. Die Mitwirkung Privater bei der Begründung des Rechts und der Pflicht der staatlichen Strafverfolgungsbehörden zum Einschreiten gehört zu den jüngeren Erscheinungen der Rechtsgeschichte 1. Sie vereinigt in sich Elemente der Privatklage und des staatlichen Strafverfolgungsmonopols; auch die Nähe des Strafantrags zu den objektiven Bedingungen der Strafbarkeit wird immer wieder hervorgehoben 2. Rechtspolitisch ist das Institut des Strafantrags vor allem nach 1871 umstritten ge-

1 Zur geschichtlichen Entwicklung v. Gönner Neues Archiv des Criminalrechts 7 (1825) 459; Köhler^. 5; LichtnerS. 55 ff; TöweGS 112 22; ZipfGK 1969 234. 2 Bemmann Zur Frage der objektiven Bedingungen der Strafbarkeit (1957) S. 22; SK-Rudolphi Rdn. 8; Stratenwerth Objektive Strafbarkeitsbedingungen im Entwurf eines StGB 1959, ZStW 71 (1959) 565, 575; Töwe GS 122 22, 27; Volk S. 29 ff, 255 Fn. 302; anders Schmidhäuser Objektive Strafbarkeitsbedingungen, ZStW 71 (1959) 545, 552 ff. (2)

Vorbemerkungen (Jähnke)

Vor § 77

wesen. Binding hat drastische Worte gefunden 3 u n d es als ein „fundamental schlechtes u n d gänzlich zu beseitigen" bezeichnet, weil es u. a. „die gemeine Gesinnung des Antragsberechtigten, der mit seinem Recht schnöden Handel treibt" begünstige. Das war verständlich auf dem Hintergrund der Tatsache, daß seinerzeit selbst Verbrechen als Antragsdelikte ausgestaltet waren (Übersicht bei Köhler S. 34), so bis zum Änderungsgesetz vom 26. 2. 1876 (RGBl. S. 25) auch die Vergewaltigung. Aber unberechtigt sind Bedenken auch heute nicht. Den Inhaber eines Video-Verleihgeschäfts, der Raubkopien führt, wird zwar nicht die Strafdrohung, wohl aber eine im Ermittlungsverfahren zu erwartende Beschlagnahme der Vorräte und die Störung des Geschäftsbetriebs schrecken. Damit bieten der Strafantrag und die allgemeine Möglichkeit seiner Rücknahme Geschäftspartnern und Konkurrenten H a n d h a b e n zur Durchsetzung strafrechtsfremder Zwecke 4. 2. Rechtstheoretische Problematik. Die Begründung des Antragserfordernisses 2 bereitet auch rechtstheoretische Schwierigkeiten. Wenn — nach klassischer Ansicht — allein der Umstand, d a ß Unrecht geschehen ist, Strafe fordert und rechtfertigt, ist für eine Berücksichtigung des Willens des Verletzten kein Raum (Maiwald G A 1970 33, 35). Ist Strafgrund die Sozialschädlichkeit der Tat, sind Antragsdelikte ebenfalls ein Fremdkörper im System, weil die Gefahrenabwehr nicht von den Interessen Einzelner abhängen kann ( Z i p f G A 1969 234, 240). Der Vorschlag, den Strafantrag allgemein mit dem öffentlichen Interesse an der Strafverfolgung zu verknüpfen und ihn bei dessen Fehlen als unbeachtlich, bei dessen Vorliegen als nicht erforderlich zu bezeichnen ( N a u c k e H. Mayer-Festschr. S. 565, 581), ist allerdings zu Recht nicht aufgegriffen worden, weil er mit dem Gesetz unvereinbar ist ( R i e ß DJT-Gutachten Rdn. 95 Fn. 286; BGHSt. 7 256, 258; RGSt. 77 359). Aber auch der Gedanke, den Strafantrag auf ein einheitliches materielles Prinzip der Verzeihung durch den Rechtsgutträger zurückzuführen (Bloy S. 114; Geerds G A 1982 237, 242; Maiwald G A 1970 33, 36, 38; ähnlich SK-Rudolphi Rdn. 2 ff; Rudolphi J R 1982 27, 28; u n a n n e h m b a r Barnstorf NStZ 1985 67), ist nach der Gesetzeslage nicht tragfähig. Das Tatopfer, das vom Strafantrag absieht, weil es sich nicht einer öffentlichen Gerichtsverhandlung aussetzen will, braucht dem Täter keineswegs verziehen zu haben ( R G Rspr. 3 181, 183). Der Gastwirt, dessen Mobiliar von einer „Schutzgebüh3 Binding Handbuch des Strafrechts Bd. I (1885) S. 603 Fn. 5; s. auch Köhler S. 6 Fn. 3; Rieß DJT-Gutachten Rdn. 95; Töwe GS 122 22, 24. 4 Daher för das Antragserfordernis im UWG Kragler Das Strafverfahren wegen privater Wirtschaftsspionage, wistra 1983 1, 7; weitere rechtspolitische Stellungnahmen: Alternativ-Entwurf BT Straftaten gegen die Wirtschaft (1977) S. 119; Disse Die Privilegierung der Sachbeschädigung (§ 303 StGB) gegenüber Diebstahl (§ 242 StGB) und Unterschlagung (§ 246 StGB), 1982, S. 373; Flechsig Urheberrechtskriminalität und Urheberstrafrecht, ZRP 1980 313; Flechsig (Hrsg.) Rechtspolitische Überlegungen zum Urheberstrafrecht (1982); Geerds Zur Rechtsstellung des Verletzten im Strafprozeß, JZ 1984 786; Jung Zur Rechtsstellung des Verletzten im Strafverfahren, JR 1984 309, 311; Kragler Wirtschaftsspionage Bd. 2 (1982) Rdn. 67; H. U. Krüger Der strafrechtliche Schutz des Geschäfts- und Betriebsgeheimnisses (1984) S. 177; H. Mayer Strafrechtsreform für heute und morgen (1962) S. 62; Nordemann Umwandlung der Straftaten gegen das Urheberrecht in Offizialdelikte? NStZ 1982 372; Oehler (Hrsg.) Der strafrechtliche Schutz des Geschäfts- und Betriebsgeheimnisses in den Ländern der Europäischen Gemeinschaft sowie in Österreich und der Schweiz, Bd. 2 (1978) S. 405; Rieß DJT-Gutachten Rdn. 14, 93; Weber S. 438; Weber Zur strafrechtlichen Erfassung des Musikdiebstahls, Sarstedt-Festschr. S. 379, 385 ; Wersdörfer Unbefugter Kraftfahrzeuggebrauch und Strafantrag, NJW 1958 1031. (3)

Vor

§ 77

4. Abschnitt. Strafantrag, Ermächtigung, Strafverlangen

ren" verlangenden Bande zerschlagen wurde, wird den Strafantrag nicht um der Versöhnung mit den Tätern willen unterlassen und zahlen. Daran scheitert zugleich die prozessuale Auffassung von M. K. Meyer (S. 44 ff), die wie Volk (S. 204, 233) im — gestellten — Strafantrag den Ausdruck einer Störung des allgemeinen Rechtsfriedens erblickt, welche das Einschreiten gegen den Täter rechtfertigt. Träfe diese Deutung zu, müßte umgekehrt der unterbliebene Strafantrag ein Zeichen bewahrten Rechtsfriedens sein. Die Vielgestaltigkeit der denkbaren Gründe des Opfers für sein Verhalten schließt es aber aus, in der Anbringung oder Unterlassung des Strafantrags ein Indiz für die Bedeutung der Tat zu sehen. 3

4

3. Rechtfertigung des Instituts. Die Rechtfertigung des Strafantrags ergibt sich aus pragmatischen Erwägungen und hängt damit entscheidend von dem Ausmaß ab, in dem die Gesetzgebung sich seiner bedient. Der Verletzte kann ein unabweisbares, von Außenstehenden nicht zuverlässig abschätzbares Interesse daran haben, bestimmte Fragen aus gerichtlichen Verfahren fernzuhalten. Selbst das Bestreben, dieses Interesse nicht näher erläutern und begründen zu müssen, kann schützenswert sein. Die Rechtsfigur der Ermächtigung ist Ausdruck dieses Gedankens (§ 77 e Rdn. 1). Die Rechtsprechung des Reichsgerichts zur sachlichen Teilbarkeit des Strafantrags beruht ebenfalls auf ihm. So kann die Entscheidung, ob Vorgänge der Außenpolitik Gegenstand eines Beleidigungsverfahrens sein dürfen, nur der Minister treffen. Darüber, ob das Verhalten eines Priesters im Beichtstuhl im Prozeß erörtert werden soll, muß der Priester befinden (RGSt. 62 83, 85, 90; OLG Frankfurt/M. NJW 1952 1388; zum Geheimnisschutz Kragler Wirtschaftsspionage Bd. 2 [1982] Rdn. 67). In solchen Fällen sowie in Fällen persönlicher Betroffenheit durch die Tat erscheint es notwendig, den Anstoß zur Strafverfolgung in die Hand des Verletzten zu legen (Jescheck AT § 85 11 ; Rieß DJT-Gutachten Rdn. 96). Bei geringerem Gewicht der Tat kann dies immerhin angemessen sein (weitergehend M. K. Meyer S. 7). Nicht dem materiellen Verbrechensbegriff oder dem Prozeßziel zuzuordnende Leitgedanken rechtfertigen deshalb den Strafantrag, sondern die pragmatisch zu treffende Entscheidung, ob und in welchen Fällen die Strafverfolgung über den Kopf des Verletzten hinweg erfolgen soll {Jung ZStW 93 [1981] 1147, 1163; Volk S. 233; weitergehend Lichtner S. 199). Die Beurteilung dieser Frage kann sich infolge einer Änderung der einschlägigen Kriminalitätsformen durchaus auch wandeln 5. Kein beachtlicher Gesichtspunkt ist das Interesse des Täters, von Strafverfolgung verschont zu bleiben und hierüber alsbald Klarheit zu gewinnen (RGSt. 24 427, 428; 27 366, 367; § 77 b Rdn. 1). II. Gruppen von Antragsdelikten 1. Einteilung nach dem Grund des Antragserfordernisses. Nach dem gesetzgeberischen Motiv zur Einführung des Antragserfordernisses werden die Antragsdelikte üblicherweise in drei Gruppen eingeteilt. Mit der ersten Gruppe nimmt der Gesetzgeber Rücksicht auf die Empfindungen des in seiner Intimsphäre oder an persönlichen Rechtsgütern verletzten Opfers. Hierzu zählen die §§ 182, 194, 205, 238. In anderen Fällen, die mitunter mit der ersten Gruppe zusammengefaßt werden (Geerds

5 Vgl. Gesetzentwurf des Bundesrates zur Änderung des § 303 nach dem Vorbild des § 232 Abs. 1 Satz 1, BTDrucks. 10/308; Flechsig NStZ 1983 562 und die Fn. 4. (4)

Vorbemerkungen (Jähnke)

Vor § 77

GA 1982 237, 243; Sch.-Schröder-StreeIX §77 Rdn.4), ist das Antragserfordernis Ausdruck einer Rücksichtnahme auf eine besondere persönliche Beziehung zwischen Täter und Opfer. So will das Strafrecht nicht ohne Not in den Familienfrieden eingreifen, wenn es lediglich um die Verletzung vermögenswerter Rechte geht (§§ 247, 259, 263, 265 a, 266). Für eine dritte Gruppe von Antragsdelikten schließlich, die überwiegend private Rechtsgüter schützen, ist das geringere Strafbedürfnis maßgebend (§§ 123,248 a, 289,294, 303)6. Zu diesen drei Gruppen tritt eine vierte, heute nur noch rudimentär anzutref- 5 fende Kategorie. Sie umfaßt Tatbestände, in denen Fachbehörden ein eigenständiges Strafantragsrecht zugewiesen ist, weil diese den erforderlichen Überblick über die maßgebenden Verhältnisse und die Notwendigkeit der Strafverfolgung haben. Derartige Antragsdelikte fanden sich früher vor allem im Wirtschaftsverwaltungsrecht. Für sie galten die allgemeinen Regeln über den Strafantrag, insbesondere über die Antragsfrist, nicht 7. Heute enthält § 86 JWG eine Strafantragsbefugnis des Landesjugendamts bei Beeinträchtigung bestimmter Maßnahmen der öffentlichen Jugendfürsorge. Ferner findet sich in § 15 Abs. 3 Satz 2 des Fernmeldeanlagengesetzes ein Strafantragsrecht der Bundespost bei fahrlässigen Verstößen gegen das Gesetz. Schließlich sieht § 145 a Satz 2 StGB einen Strafantrag der Aufsichtsstelle (§ 68 a) bei strafbaren Verstößen des Verurteilten vor, die dieser gegen Weisungen während der Führungsaufsicht begeht. Sonderregelungen gelten dafür nach zutreffender Ansicht (Rdn. 8) nicht 8. 2. Einteilung nach der Reichweite des Antragserfordernisses. Nicht nach dem ge- 6 setzgeberischen Grund, sondern nach der Reichweite des Antragserfordernisses bestimmt sich die Einteilung in absolute und relative Antragsdelikte. Während bei absoluten Antragsdelikten ein Strafantrag stets Voraussetzung der Strafverfolgung ist, knüpfen relative Antragsdelikte deren Zulässigkeit nur in bestimmten Fällen an einen Antrag. Meist handelt es sich um gegen Angehörige gerichtete Taten (§ 247) oder um Taten mit geringer Beute (§ 248 a; noch anders § 294). Als relative Offizialdelikte sollten die Antragsdelikte bezeichnet werden, die der Strafverfolgungsbehörde ein Einschreiten von Amts wegen gestatten, sofern dies im öffentlichen Interesse liegt (§ 183 Abs. 2; § 232; § 248a; nach dem Gesetzentwurf BTDrucks. 10/308 künftig auch § 303 ; s. ferner Rieß DJT-Gutachten Rdn. 15, Fn. 46; Rdn. 98).

6 Zur Gruppeneinteilung Blei AT 18 §11011; Henkel Strafverfahrensrecht 2. Aufl. (1968) S. 188; Jescheck AT § 85 I 1 ; LacknerK § 77 Anm. 1 a; Maurach-Gössel-Zipf AT 2 § 74 II Rdn. 7; Peters Strafprozeß 3. Aufl. (1981) § 27 II; Rieß DJT-Gutachten Rdn. 16; Weber JZ 1971 490, 493 f; anders Maiwald G A 1970 33, 34; SK-Rudolphi Rdn. 2. 7 BGH bei Dallinger M D R 1953 401; RGSt. 75 306, 311; 75 361, 365; 76 55; BayObLGSt. 1953 190; s. ferner BGHSt. 11 182, 188; Rechtspolitisch für weitgehende Wiedereinführung H. Mayer Strafrechtsreform für heute und morgen (1962) S. 63. Zum Ordnungswidrigkeitsrecht Göhlerl § 131 Rdn. 5. 8 Zum J W G : OLG Koblenz GA 1976 282; Potrykus JWG 2. Aufl. (1972) § 86 Anm. 9; Riedel JWG 4. Aufl. (1965) § 86 Anm. 10; Steindorf in Erbs-Kohlhaas JWG § 86 Anm. 9; s. auch BGH NJW 1981 2015; ». A. Stree DÖV 1958 172,174; Zum FAG: Aubert Fernmelderecht 3. Aufl. Bd. II (1976) S. 6; Kümmerer-Eidenmüller Postund Fernmeldewesen FAG § 15 Anm. 14; Meyer in Erbs-Kohlhaas FAG § 15 Anm. 9; Zu § 145a: Dreher/TröndleM- § 145a Rdn. 7; Sch.-Schröder-StreeK § 145a Rdn. 11; abw. Hanack LK § 145 a Rdn. 30; SK-Horn § 145 a Rdn. 18. (5)

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7

4. Abschnitt. Strafantrag, Ermächtigung, Strafverlangen

III. Rechtsnatur des Strafantrags 1. Allgemein. Das Gesetz nimmt nicht ausdrücklich dazu Stellung, ob der Strafantrag dem materiellen oder dem Verfahrensrecht angehört. Während der Arbeiten zur Strafrechtsreform hat aber kein Zweifel an seiner prozeßrechtlichen Natur bestanden (E 1962 S. 252; Prot. 5/484). Die Aufnahme der §§ 77 ff in das StGB soll lediglich den Regelungszusammenhang mit den einzelnen Antragsdelikten wahren, dient also der Übersichtlichkeit (Prot. 5/488). Diese Auffassung fußt auf der Rechtsprechung, die den Strafantrag durchgehend dem förmlichen Recht zuordnet und als Verfahrensvoraussetzung betrachtet 9. Sie ist zutreffend. Der Strafantrag ist die Willenserklärung des Verletzten oder eines tatunbeteiligten Dritten, der seine Entscheidung willkürlich treffen und abändern darf. Eine derartige Erklärung kann nicht Unrechts- oder strafbegründend, ihre Unterlassung oder Rücknahme nicht Unrechts- oder strafausschließend wirken. Zu solchen Folgerungen nötigt auch nicht der Umstand, daß die Revisionsgerichte den Strafantrag bereits auf die Sachrüge hin prüfen 10; denn das Vorliegen der Verfahrensvoraussetzungen ist Bedingung der Entscheidung des Revisionsgerichts. Auch das Schrifttum hält den Strafantrag ganz überwiegend für eine Verfahrensvoraussetzungll. Nur vereinzelte Stimmen vertreten heute die Ansicht, der Strafantrag gehöre dem sachlichen Strafrecht an 12, er habe eine materiell-rechtliche und eine verfahrensrechtliche Seite 13, oder er stehe als Drittes neben Beidem (Grünwald Zur verfassungsrechtlichen Problematik der rückwirkenden Änderung von Verjährungsvorschriften, MDR 1965 521, 522; Grünwald Die Teilrechtskraft im Strafverfahren [1964] S. 373). Eine weitere Auffassung erklärt die Einordnung für irrelevant, weil sie als solche keine Folgen nach sich ziehe (genauer: ziehen dürfe); diese seien vielmehr aus der Natur des jeweili-

9 BGH St. 6 155, 156; 7 245, 246; 17 157, 158; 18 123, 125; 19 320, 321; 22 90, 91; 29 224, 228; 31 132, 133; 32 1, 10; BGH NJW 1952 1422; 1957 470; BGH bei Dallinger MDR 1955 143; BGH GA 1957 17, 18; BGH MDR 1963 231; RGSt. 1 43; 2 221; 4 264, 265; 6 161, 163; 45 128; 59 197, 200; 67 53, 55; 68 120, 124; 71 218; 73 113, 114; 75 257; 75 306, 311; 76 327; 77 106, 107; 77 157, 160; 77 181, 183; RG Rspr. 1 614, 616; RG GA 1909 78; RG HRR 1934 Nr. 440; 1939 Nr. 1484; RG DR 1940 1671; OGHSt. 2 291, 309; OLG Bamberg HESt. 2 215, 216; BayObLGSt. 1957 52; 1980 64; BayObLG NJW 1961 1222, 1223; OLG Düsseldorf NStZ 1981 103; OLG Frankfurt/M NJW 1983 1208, 1209; OLG Hamm NJW 1970 578; OLG Koblenz NJW 1958 2027, 2028; OLG Schleswig SchlHA 1957 209; OLG Stuttgart NStZ 1981 184. 10 BGHSt. 21 242, 243; Sarstedt/Hamm Die Revision in Strafsachen Rdn. 159; dazu allgemein Grünwald Die Teilrechtskraft im Strafverfahren (1964) S. 368 ff; Volk S. 60 ff. 11 Baumann AT» § 12 I 2 b ; Bindokat NJW 1955 1863; Blei AT18 § 110 II; Dreher/Tröndle^ Rdn. 2; Haft AT S. 218; Henkel Strafverfahrensrecht 2. Aufl. (1968) S. 189; Jakobs AT 10/ 12; Jescheck AT § 85 I 1; KK-Müller § 158 Rdn. 33; Kohlhaas NJW 1954 1792, 1793; Kohlrausch-Lange ξ 61 Anm. II; Κrey i A 1983 233, 235; Lackner15 § 77 Anm. l b ; Löwe-Rosenberg/Meyer-Goßner § 158 Rdn. 15; Maurach-Gössel-Zipf A T 2 § 74 Rdn. 2; Μ. K. Meyer S. 48 ; Preisendanz Anm. 1 ; Rieß DJT-Gutachten Rdn. 14 ; Sarstedt/Hamm Die Revision in Strafsachen Rdn. 159; Schmidhäuser StudB9/10; Sch.-Schröder-Stree21 §77 Rdn. 8; Schroth NStZ 1982 1, 3; WelzelS. 59; Wessels AT14 § 12 II 2; ZipfGA 1969 234, 237. 12 Bloy S. 117 ff; GA 1980 161, 167; Geerds GA 1982 237, 242 (abw. JZ 1984 786, 787); H. Kaufmann S. 152 ff; Maiwald GA 1970 33, 38 f; Nachweise zu früheren Auffassungen bei KöhlerS. 14 ff; Μ. K. Meyer S. 9, 29. 13 H. Mayer StudB S. 167; Peters Strafprozeß 3. Aufl. (1981) § 2 IV; Schreiber NJW 1949 497, 498; SK-Rudolphi Rdn. 8; früher auch das Bayerische Oberste Landesgericht (HRR 1925 Nr. 1394; LZ 1933 57; HRR 1934 Nr. 1084). (6)

Vorbemerkungen (Jähnke)

Vor § 77

gen Sachproblems abzuleiten 14. Alle diese Ansichten stehen jedoch im Gegensatz zur gewohnheitsrechtlich verfestigten Rechtspraxis (zur ähnlichen Problematik bei der Verjährung s. vor § 78 Rdn. 7). 2. Strafanträge von Behörden sind keine Verwaltungsakte. Gleichgültig ist dabei, 8 ob der Behörde das Antragsrecht als Verletzter, Dienstvorgesetzter (§ 77 a) oder als sonstiger Berechtigter (vgl. Rdn. 5) zusteht. Die Behörde tritt dem Täter durch die Antragstellung nicht in einem Überordnungsverhältnis entgegen und nimmt dabei auch keine Aufgaben der vollziehenden Gewalt wahr. Vielmehr schöpft sie eine strafrechtliche Befugnis aus, die ihr wie jedem privaten Verletzten verliehen ist oder als „sonstigem Berechtigten" verliehen werden k a n n (BayObLGSt. 1955 225, 228). Sie ist deshalb auch nicht an den Gleichheitssatz (Art. 3 G G ) gebunden. Strafanträge, mit denen die Behörde aus mehreren Tatbeteiligten einen oder einige herausgreift, können somit nicht wegen Verstoßes gegen das Willkürverbot unwirksam sein (a. A. LacknerlS § 7 7 A n m . 6 ; Stree DÖV 1958 172, 175; SK-Rudolphi § 77 Rdn. 20; Tiedemann G A 1964 353, 358; JZ 1969 725, 726; zweifelnd Dreher/ Tröndle42 § 77 a Rdn. 1; s. ferner Ostendorf JuS 1981 640, 642). Die Gegenauffassung vermag nicht zu erklären, warum eine M a ß n a h m e gegen einzelne unzulässig sein soll, die bedenkenfrei gegen alle gerichtet werden darf. Eine solche Verknüpfung der Gültigkeit des Strafantrags mit anderweitigen Befugnissen der Behörde ließe zudem seine Wirksamkeit in der Schwebe, bis feststeht, ob gegen alle — auch gegen später noch zu ermittelnde Tatbeteiligte — Strafantrag gestellt wird. Das wäre f ü r die Ermittlungsorgane, deren Eingriffsbefugnisse gesichert sein müssen, nicht tragbar. Unerklärt bleibt ferner, warum in einem solchen Falle die Stellung des Strafantrages, nicht seine Unterlassung rechtswidrig sein soll. Alle Strafanträge unterliegen deshalb denselben, im StGB normierten Wirksamkeitsvoraussetzungen (Schäfer LK § 123 Rdn. 83). IV. Verfahrensrechtliches 1. Feststellung des Vorliegens des Antrags. Die Z u o r d n u n g des Strafantrags zu 9 den Verfahrensvoraussetzungen hat wichtige Folgen. Ob ein Strafantrag nach dem zu beurteilenden Sachverhalt erforderlich ist, ist in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfen 15; ebenso, ob er wirksam gestellt 16 oder zurückgenommen (RGSt. 55 23; O L G H a m m JMB1NRW 1955 44, 45) ist. Im Rechtsmittelverfahren ist das Gericht an dieser Prüfung nicht durch eine Beschränkung des Rechtsmittels auf die Rechtsfolgen gehindert 17. Bei vertikaler Teilrechtskraft genügt es, daß wegen der in demselben Verfahren rechtskräftig abgeurteilten Einzeltaten noch eine Gesamtstrafe zu bilden ist (BGHSt. 8 269). 14 Volk S. 255; ähnlich RGSt. 46 269, 272; dagegen RGSt. 77 181, 183; Κrey Keine Strafe ohne Gesetz (1983) S. 116 f; Μ. K. Meyer S. 25. 15 BGHSt. 19 320, 321 ; 29 54, 55; BGH bei Dallinger MDR 1955 143; RGSt. 1 43; 67 53, 55; 73 113, 114; 75 257; 77 106, 107; RG GA 1909 78; RG HRR 1934 Nr. 440; 1939 Nr. 1484; OLG Koblenz NJW 1958 2027; OLG Stuttgart NStZ 1981 184. 16 BGH bei Pfeiffer-Maul-Schulte § 61 Anm. 1 ; RGSt. 14 182, 183; 45 128; 57 143; 62 262; 65 150; BayObLGSt. 1980 64. 17 BGHSt. 6 304, 306; RGSt. 62 262; 65 150; KK-Pikart §352 Rdn. 2. Zur Frage, ob das Rechtsmittel im übrigen zulässig sein muß s. Löwe-Rosenberg/Schäfer Einl. Kap. 11 Rdn. 18 ff mit Fn. 6. (7)

Vor § 77 10

4. Abschnitt. Strafantrag, Ermächtigung, Strafverlangen

Die Prüfung geschieht nach den Regeln des Freibeweises 18. An Feststellungen des Tatrichters ist das Revisionsgericht dabei grundsätzlich nicht gebunden (RGSt. 45 128; 48 274, 276; 55 23; 62 262, 263; R G H R R 1 9 3 4 Nr. 440). Es kann bei Zweifeln den Sachverhalt selbst aufklären ( R G H R R 1939 Nr. 1064), die Sache aber auch an den Tatrichter zurückverweisen 19. Anders liegt es bei den doppelrelevanten — auch den Schuldspruch tragenden — Feststellungen wie denjenigen zum Tatzeitpunkt oder über den Verletzten (OLG Köln JMB1NRW 1984 47). Sie sind f ü r das Revisionsgericht verbindlich, es sei denn, sie wären f ü r den Schuldspruch ohne Bedeutung (BGHSt. 22 90 m. Anm. Eb. Schmidt J Z 1968 434; Willms Wesen u n d Grenzen des Freibeweises, Ehrengabe f ü r Heusinger S. 393, 408; enger B G H bei Dallinger M D R 1955 143). Bleibt ungewiß, ob der Strafantrag ordnungsgemäß, insbesondere rechtzeitig gestellt ist, gilt der Satz in dubio pro reo 20. Er gilt ebenso, wenn die Notwendigkeit eines Strafantrags (ζ. B. die Angehörigeneigenschaft nach § 247) nicht zu klären ist (BayObLGSt. 1961 66; Stree In dubio pro reo S. 61). Zur R ü c k n a h m e s. § 77 d Rdn. 2. Zur vergleichbaren Rechtslage bei der Verjährung s. vor § 7 8 Rdn. 12 ff. Über die Prozeßvoraussetzungen entscheidet das Gericht mit einfacher Mehrheit, § 263 StPO gilt nicht (RGSt. 2 221; SK-Rudolphi Rdn. 9; a. A. Volk S.97 Fn. 295). Im Urteil braucht, da das Rechtsmittelgericht den Strafantrag selbständig prüft, über ihn grundsätzlich nichts zu verlauten ( R G G A 1914 339). Anders liegt es, wenn der Tatrichter dazu Beweise erhoben hat, die das Revisionsgericht nicht selbst zu erheben pflegt (BGH b. Pfeiffer-Maul-Schulte § 61 Anm. 1). Hier empfiehlt sich eine für das Revisionsgericht nachprüfbare Darstellung der Urteilsgrundlagen, um eine Zurückverweisung der Sache zu vermeiden.

11

2. Verfahren bei fehlendem Antrag. Der Strafantrag ist nicht ersetzbar. Die in den §§ 183 Abs. 2, 232, 248 a vorgesehene Erklärung der Staatsanwaltschaft, d a ß ein Einschreiten von Amts wegen erforderlich sei, ist eine selbständige Verfahrensvoraussetzung und auf andere Tatbestände nicht übertragbar (BGHSt. 7 256, 258; RGSt. 77 359; anders f ü r Sonderfälle RGSt. 77 56, 59; 77 72, 73). Fehlt der Strafantrag, so gestattet das Gesetz einstweilige Ermittlungen (BGH N J W 1957 470; a. A. RGSt. 6 37, 41; 33 426, 428) und vorläufige Sicherungsmaßn a h m e n 21. Ansonsten ist ein Strafverfahren aber unzulässig; es ist einzustellen. Nach Rechtshängigkeit der Sache geschieht dies durch Beschluß nach § 206 a StPO

18 BGH bei Dallinger MDR 1955 143; RGSt. 1 43; 4 264, 265; RG HRR 1934 Nr. 440; BayObLGSt. 1980 64; OLG Frankfurt/M. NJW 1983 1208, 1209; a. A. Volk S. 73, 83, 249; zum Freibeweis bei doppelrelevanten Tatsachen Többens Der Freibeweis und die Prozeßvoraussetzungen im Strafrecht, NStZ 1982 184, 186. 19 BGH bei Pfeiffer-Maul-Schulte § 61 Anm. 1 ; RG HRR 1939 Nr. 1484; Grünwald Die Teilrechtskraft im Strafverfahren (1964) S. 375. 20 BGHSt. 22 90, 93; BGH StrV 1984 509; RGSt. 47 238, 239; OLG Hamm VRS 14 33; LöweRosenberg/RießlA §206a Rdn. 29, 45; Stree In dubio pro reo S. 60; Dreher/TröndleWRdn. 2; LackneriS §77b Anm. 3b; SK-Rudolphi Rdn. 9; Sulanke Die Entscheidung bei Zweifeln über das Vorhandensein von Prozeßvoraussetzungen und Prozeßhindernissen im Strafverfahren (1974) S. 109. 21 § 127 Abs. 3, § 130 StPO; zu Beschlagnahme und Durchsuchung RGSt. 33 380, 381 ; KKLaufliütte §94 Rdn. 10; s. ferner Geerds GA 1982 237; Schlüchter Das Strafverfahren 2. Aufl. (1983) Rdn. 252. (8)

Vorbemerkungen (Jähnke)

Vor § 77

oder durch Urteil gemäß § 260 Abs. 3 StPO, wenn der Antrag nicht nachholbar ist 22. § 357 StPO — Erstreckung auf Mitverurteilte — findet Anwendung (BGHSt. 19 320, 321). Ist der Antrag nachholbar, kommt eine vorläufige Einstellung (§ 205 StPO) in Betracht. Haben alle Antragsteller den Strafantrag zurückgenommen, hat gleichfalls Einstellung zu erfolgen (BGHSt. 9 149,157). Auf Freispruch ist dagegen zu erkennen, sofern die Schuldlosigkeit des Angeklagten schon erwiesen (KG NStZ 1983 561 ; KK-Hürxthal § 260 Rdn. 50) oder der Vorwurf eines schwerwiegenderen Offizialdelikts nicht nachgewiesen, das damit zusammentreffende leichtere Delikt aber mangels Strafantrags endgültig nicht verfolgbar ist23. Ist der Antrag nachholbar, muß auch hier das Verfahren eingestellt werden, um die Strafklage nicht zu verbrauchen (BGHSt. 32 1, 10; BGH GA 1959 17). Sofern bei tateinheitlichem Zusammentreffen das Offizialdelikt nachgewiesen und das Antragsdelikt endgültig nicht verfolgbar ist, bleibt das Antragsdelikt im Urteilsspruch unerwähnt 24. im Revisionsrechtszug beseitigt das Gericht eine insoweit fehlerhafte Verurteilung von sich aus (RGSt. 74 167, 168 m. Anm. Mezger DR 1940 1098). Das Sicherungsverfahren (§ 413 StPO) und die selbständige Anordnung einer 12 Maßregel der Besserung und Sicherung (§71 StGB) sind unzulässig, wenn Anlaßtat ein Antragsdelikt ist, der Strafantrag aber fehlt 25. Ebenfalls unzulässig ist beim Fehlen des erforderlichen Strafantrags die Sicherungseinziehung und die Unbrauchbarmachung (§ 76 a Abs. 2 Satz 2, dazu Schäfer LK § 76 a Rdn. 13; überholt BGHSt. 8 299; OLG Düsseldorf NJW 1967 1142). Der Ausschluß eines Verteidigers nach § 138 a StPO scheitert hingegen nicht daran, daß wegen des zu beanstandenden Verhaltens ein Strafantrag nicht gestellt ist (BGH NJW 1984 316; OLG Hamburg NStZ 1983 426). Ein fehlender Strafantrag kann jedoch in jeder Lage des Verfahrens, auch noch 13 im Revisionsrechtszug, nachgeholt werden 26. Gesetzesänderungen, die das Antragserfordernis beseitigen oder modifizieren, erfassen auch in der Vergangenheit liegende Taten 27; ein Rückwirkungsverbot besteht mangels schutzwürdiger Be-

22 BGHSt. 7 245, 246; 10 400, 403 ; 22 103, 105; OLG Düsseldorf NStZ 1981 103; KKHürxthal § 260 Rdn. 46; Löwe-Rosenberg/Schäfer Einl. Kap. 11 Rdn. 52; zum Verfahren vor Rechtshängigkeit BGHSt. 7 64; zum Zusammentreffen mit den Voraussetzungen eines Straffreiheitsgesetzes OLG Bamberg HESt. 2 215, 216. Zur Vereinbarkeit des Einstellungsurteils mit der Unschuldsvermutung Kühl Unschuldsvermutung, Freispruch und Einstellung (1983) S. 100 ff. 23 BGHSt. 1 231, 235; 7 256, 261; RGSt. 72 296, 300; KK-Hürxthal ξ 260 Rdn. 51 ; näher Volk S. 89 ff; a. A. Bindokat NJW 1955 1863, 1865. 24 BGH bei Pfeiffer-Maul-Schulte §61 Anm. 4; RGSt. 18 286; 33 339, 341; 46 45, 47; vgl. auch BGHSt. 7 305. 25 BGHSt. 31 132 m. Anm. Blau JR 1984 27; RGSt. 71 218; 71 321; 73 155; aufgegeben BGHSt. 5 140; BGH NJW 1958 1643; vgl. auch BGHSt. 1 384. 26 BGHSt. 3 73, 74; 6 155, 157; 29 224, 228; RGSt. 38 39, 41; 68 120, 124; 73 113, 114; RG HRR 1940 Nr. 39; R G DR 1940 1671; OLG Hamm NZWehrR 1977 70; KK-Müller § 158 Rdn. 39; a. A. RGSt. 46 45, 48; RG H R R 1926 Nr. 100. 27 Vorbehaltlich anderweitiger gesetzlicher Regelung, wie zum 1.1.1975 durch Art. 308 EGStGB.

W

Vor § 77

4. Abschnitt. Strafantrag, Ermächtigung, Strafverlangen

lange des Täters (Rdn. 3, 4) nicht28. Doch verstößt die rückwirkende Beseitigung des Antragserfordernisses gegen Verfassungsrecht, wenn die Antragsfrist bereits verstrichen war (vgl. BVerfGE 25 269; Jescheck AT § 15 IV 4; M. K. Meyer S. 13; a. A. RGSt. 76 3, 8; 76 327; RG HRR 1942 Nr. 457 a). Wird das Antragserfordernis neu eingeführt, ergreift die Neuregelung ebenfalls die schon begangenen Taten ; die Antragsfrist beginnt mit dem Inkrafttreten der neuen Vorschriften (§ 77 b Rdn. 3). V. Sachlich-rechtliche Folgen der Rechtsnatur des Strafantrags 14 Da der Strafantrag eine Prozeßvoraussetzung ist, ist die Tat unabhängig von seinem Vorliegen rechtswidrig nach § 11 Abs. 1 Nr. 5. Strafbare Teilnahme, Begünstigung und Hehlerei sind möglich, auch wenn der Antrag nicht gestellt oder zurückgenommen ist. Der Verletzte darf Notwehr üben ohne Rücksicht darauf, ob er gegen den Angreifer Strafverfolgung wünscht. Der Irrtum des Täters über die Notwendigkeit eines Strafantrags und über die das Antragserfordernis begründenden tatsächlichen Umstände ist bedeutungslos (BGHSt. 18 123, 125; BGH MDR 1963 231 ; RGSt. 73 151,153 ; Bockelmann BT 12 § 5 I 3 ; Jescheck AT § 29 V 7 f ; Stree Der Irrtum des Täters über die Angehörigeneigenschaft seines Opfers, FamRZ 1962 55, 58; Wessels AT 14 § 12 III 2; a. A. Kohlhaas ZStW 70 (1958) 217, 223 ff). Bei mehrfacher Verurteilung scheitert die Bildung einer Gesamtstrafe nicht daran, daß im Zeitpunkt des früheren Urteils der wegen der davor begangenen (aber später abgeurteilten) Tat erforderliche Strafantrag noch fehlte (RGSt. 7 298, 300; Vogler LK § 55 Rdn. 1). Zu sachlich-rechtlichen Sperrwirkungen eines fehlenden Strafantrags bei Gesetzeskonkurrenz (§ 237 im Verhältnis zu § 239) s. einerseits BGHSt. 19 320; RGSt. 47 385, 388, andererseits BGHSt. 28 18, 19 (dagegen Jakobs AT 31/47). Zur Frage sachlich-rechtlicher Sperrwirkungen des fehlenden Strafantrags im Falle von Taten, die zueinander im Verhältnis der Vor- und Nachtat stehen s. BGH NJW 1968 2115; Baumann AT8 § 41 II 3 c, III 3 c; Jescheck AT § 69 II 3 a; Vogler LK vor § 52 Rdn. 146. VI. Ermächtigung und Strafverlangen 15 Ermächtigung und Strafverlangen sind nach einhelliger Ansicht Verfahrensvoraussetzungen (Maurach-Gössel-Zipf AT 2 § 74 I Rdn. 2; Volk S. 234). Sie betreffen Straftatbestände, die regelmäßig einen politischen Einschlag haben oder im Bereich des zwischenstaatlichen Verkehrs angesiedelt sind. Erstmals wurden sie im 2. StrRG näher geregelt. Sie dienen außerstrafrechtlichen Zielen. S. hierzu die Erläuterungen bei § 77 e. VII. Landesrecht 16 Straftaten des Landesrechts können ebenfalls Antragsdelikte sein. Für die an sich im StGB abschließend geregelten Materien des Hausfriedensbruchs, der Sach28 RGSt. 75 306, 311; 77 106, 107; 77 157, 160; 77 181, 183; RG DR 1940 1671; OLG Hamm NJW 1961 2030; Krey Keine Strafe ohne Gesetz (1983) S. 117; Maurach-Gössel-Zipf AT 2 § 74 I Rdn. 2; Schmidhäuser AT 2. Aufl. (1975) 5/21; SK-Rudolphi Rdn. 10; Tröndle LK § 2 Rdn. 9; WelzeliZ 1952 617; Wessels AT14 § 2 I 2; vgl. ferner BGHSt. 20 20, 27; a. A. Baumann AT8 § 12 I 2b; Jakobs AT 4/9; Jescheck AT § 15 IV 4; H. Mayer JZ 1953 105; Stud Β S. 167; Pieroth JuS 1977 394; Sch.-Schröder-Eser^ § 2 Rdn. 8 (anders Sch.-Schröder-Stree2\ § 77 Rdn. 8); Schreiber ZStW 80 (1968) 348, 366; Volk S. 54; s. ferner OLG Hamm FamRZ 1958 377. (10)

Antragsberechtigte (Jähnke)

§77

beschädigung und der Urkundenfälschung gestattet Art. 4 Abs. 5 Nr. 2 EGStGB Sondervorschriften, die die Strafverfolgung bei geringfügigen Feld- und Forststraftaten von einem Strafantrag abhängig machen. In Materien, die der Bundesgesetzgeber nicht abschließend geregelt hat, sind die Länder ohnehin frei, auch das Antragserfordernis vorzusehen (Art. 4 Abs. 2 EGStGB). Nutzen sie diese Möglichkeit, gelten für den Strafantrag grundsätzlich die bundesrechtlichen Vorschriften des Allgemeinen Teils, also die §§ 77 ff. (Art. 1 Abs. 2 EGStGB). Daher ist auch der im Landesrecht verankerte Strafantrag stets rücknehmbar; entgegenstehendes Landesrecht ist aufgehoben (Art. 291 EGStGB). Die Länder haben die Feld- und Forstrügesachen durchweg in Ordnungswidrigkeiten umgewandelt, so daß der Antragsvorbehalt des Bundesrechts gegenstandslos ist. Das Antragserfordernis ist aber in den Datenschutzgesetzen der Länder vorgesehen (Nachweise bei Ambs in Erbs-Kohlhaas Strafrechtliche Nebengesetze, Anhang z. Bundesdatenschutzgesetz). Darin ist vielfach auch dem Landesbeauftragten für den Datenschutz ein Antragsrecht verliehen. Mit Art. 1 Abs. 2 EGStGB dürfte dies vereinbar sein, da die in § 77 Abs. 1 vorgesehene Möglichkeit, durch Gesetz eine Antragsbefugnis anderen Personen als dem Verletzten zuzubilligen, nach ihrem Wortlaut auch landesgesetzliche Regelungen einschließt (Rechtspolitische Bedenken bei Tegtmeyer ÖVD 1981 H. 5 S. 12,13). Zu Bußgeldtatbeständen des Landesrechts, welche einen Antrag des von der Ordnungswidrigkeit Betroffenen oder einer Behörde voraussetzen s. Göhlerl § 131 Rdn. 5.

§77 Antragsberechtigte (1) Ist die Tat nur auf Antrag verfolgbar, so kann, soweit das Gesetz nichts anderes bestimmt, der Verletzte den Antrag stellen. (2) Stirbt der Verletzte, so geht sein Antragsrecht in den Fällen, die das Gesetz bestimmt, auf den Ehegatten und die Kinder über. Hat der Verletzte weder einen Ehegatten noch Kinder hinterlassen oder sind sie vor Ablauf der Antragsfrist gestorben, so geht das Antragsrecht auf die Eltern und, wenn auch sie vor Ablauf der Antragsfrist gestorben sind, auf die Geschwister und die Enkel über. Ist ein Angehöriger an der Tat beteiligt oder ist seine Verwandtschaft erloschen, so scheidet er bei dem Übergang des Antragsrechts aus. Das Antragsrecht geht nicht über, wenn die Verfolgung dem erklärten Willen des Verletzten widerspricht. (3) Ist der Antragsberechtigte geschäftsunfähig oder beschränkt geschäftsfähig, so können der gesetzliche Vertreter in den persönlichen Angelegenheiten und derjenige, dem die Sorge für die Person des Antragsberechtigten zusteht, den Antrag stellen. Ein beschränkt Geschäftsfähiger, der das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat, kann den Antrag auch selbständig stellen. (4) Sind mehrere antragsberechtigt, so kann jeder den Antrag selbständig stellen. Schrifttum S. die Angaben zu den Vorbemerkungen. (11)

§77

4. Abschnitt. Strafantrag, Ermächtigung, Strafverlangen

Entstehungsgeschichte S. vor § 77. Fassung durch Art. 1 Nr. 1 2. StrRG; Absatz 2 Satz 3 geändert durch Art. 6 Nr. 2 AdoptionsG vom 2.6. 1976 (BGBl. I S. 1749). Übersicht Rdn. I. Umfang des Antragserfordernisses; Wirkung der Antragstellung 1. Gesetzestechnische Regelung . . . . 2. Mehrheit von Tatbeteiligten und Opfern 3. Relative Antragsdelikte 4. Verfahren nach Antragstellung . . . II. Der Strafantrag 1. Zur Entgegennahme zuständige Organe a) Polizei b) Staatsanwaltschaft c) Gericht 2. Förmlichkeiten a) Schriftform b) Erklärung zu Protokoll 3. Inhaltliche Anforderungen a) Äußerung des Verfolgungswillens b) Freiheit von Bedingungen . . . c) Freiheit von Willensmängeln . 4. Gegenstand des Verfolgungswillens a) Person des Täters b) Tat aa) Allgemein bb) Beschränkbarkeit cc) Die fortgesetzte Tat III. Zeitpunkt der Entstehung des Antragsrechts IV. Antragsberechtigte 1. Der Verletzte

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2

1 1 2 3 5 6 6 7 9 10 11 11 12 13 13 14 15 16 16 18 18 19 20 22 23 23

a) Begriff des Verletzten b) Verletzter bei einzelnen Delikten c) Beginn und Ende der Verletzteneigenschaft 2. Andere Antragsberechtigte V. Ausübung des Strafantragsrechts . . . . 1. Selbstausübung a) Juristische Personen b) Behörden c) Parteien, Gewerkschaften . . . d) Vermögensverwalter 2. Stellvertretung a) Gesetzliche Vertretung (Absatz 3) aa) Nicht voll geschäftsfähige Volljährige bb) Minderjährige cc) Wechsel des Vertreters . . . dd) Pfleger b) Gewillkürte Stellvertretung . . aa) Formen bb) Zulässigkeit cc) Vollmacht dd) Vollmachtloses Handeln . . ee) Erlöschen der Vollmacht. . VI. Mißbrauch des Strafantrags VII. Übergang des Antragsrechts (Absatz 2) VIII. Mehrheit von Antragsberechtigten (Absatz 4) IX. Untergang des Antragsrechts

Rdn. 23 25 36 37 38 38 39 40 41 42 43 43 44 46 49 50 51 51 52 53 54 55 56 57 59 60

I. Umfang des Antragserfordernisses; Wirkung der Antragstellung 1. Gesetzestechnische Regelung. § 77 bestimmt die Person des Antragsberechtigten und regelt den Übergang des Antragsrechts sowie seine Ausübung bei nicht voll geschäftsfähigen Berechtigten. In welchen Fällen ein Strafantrag erforderlich ist, ergibt sich daraus jedoch nicht. Insoweit verweist die Vorschrift vielmehr auf die einzelnen Tatbestände. Dort muß das Antragserfordernis jeweils im Gesetzestext ausdrücklich normiert sein. Ist das nicht geschehen, ist die Tat von Amts wegen zu verfolgen. Sieht der Gesetzestext das Erfordernis des Strafantrags vor, so ist Antragsdelikt aber nicht nur die vollendete, sondern auch die bloß versuchte Tat (KohlrauschLange § 61 Anm. II). Das Antragserfordernis wird auch nicht davon berührt, daß der Tatbestand für besonders schwere Fälle erhöhte Strafe androht (Lackner LK § 263 Rdn. 338; Hübner LK § 266 Rdn. 117). 2. Mehrheit von Tatbeteiligten und Opfern. Sind an einer Tat mehrere beteiligt, so bedarf es eines Strafantrags gegen jeden von ihnen (BGH bei Pfeiffer-Maul-Schulte (12)

Antragsberechtigte (Jähnke)

§77

§ 61 Anm. 4, 14). Das gilt nicht nur bei Mittätern, sondern auch für Anstifter und Gehilfen (BGHSt. 17 157; zu den relativen Antragsdelikten s. Rdn. 3) und bei VerÜbung mehrerer Taten in gleicher oder unterschiedlicher Beteiligung (RGSt. 38 430). Eine strafbare Begünstigung ist zwar auch gegeben, wenn für die Vortat der etwa erforderliche Strafantrag fehlt, da die Vortat nur rechtswidrig sein muß (E 1962 S. 461; Dreher/TröndleU.

§ 257 R d n . 14; Sch.-Schröder-Stree21

§ 257 R d n . 37;

RGSt. 75 234). Jedoch ist die Begünstigung nach § 257 Abs. 4 in dem Umfang selbst Antragsdelikt, indem die Vortat einen Strafantrag als Verfolgungsvoraussetzung verlangt. Gegen den Begünstiger muß also ein Strafantrag gestellt werden, wenn er als Angehöriger des Bestohlenen den Dieb (§ 247) unterstützt. Für die Fälle der Strafvereitelung und der Hehlerei s. die Sondervorschriften in § 258 Abs. 6, § 259 Abs. 2, ferner Ruß LK § 258 Rdn. 4, § 259 Rdn. 4. Richtet sich die Tat gegen mehrere Opfer, so ersetzt der Strafantrag des einen Verletzten nicht die Anträge der anderen (BGHSt. 17 157; RGSt. 59 197, 200; 72 44, RG GA 1895 231; Lackner 15 Anm. le). Nur die verfolgbare Rechtsverletzung darf Grundlage für die Bestimmung des Schuldumfangs bei der Verurteilung werden. 3. Relative Antragsdelikte. Begründet bei den relativen Antragsdelikten eine per- 3 sönliche Beziehung des Täters zum Verletzten das Antragserfordernis (z. B. § 247), so ist dieses für jeden Beteiligten gesondert zu bestimmen. Es kann mithin für den Teilnehmer zu bejahen, für den Täter oder einen Mittäter zu verneinen sein und umgekehrt 1. Die hier vorausgesetzte persönliche Beziehung muß aber zur Zeit der Tat vorliegen; ob sie vorher oder danach bestanden hat, ist gleichgültig2. Unerheblich ist auch, ob sie während der gesamten einheitlichen Tat aufrechterhalten blieb (zum Fortsetzungszusammenhang s. Rdn. 21). Nur muß die Beziehung rechtlich wirksam und, wo es auf die Willensrichtung der Beteiligten ankommt, ernsthaft gewollt sein (SK-Rudolphi vor § 77 Rdn. 1). Das Eheversprechen eines Heiratsschwindlers begründet deshalb kein Verlöbnis 3, das strafbaren Zwecken dienende Zusammenwohnen des Täters mit dem Opfer keine häusliche Gemeinschaft (BGHSt. 29 54, 57). Die erforderlichen Feststellungen sind von Amts wegen zu treffen, so auch, wenn der nichteheliche Vater seine Vaterschaft und damit das Antragserfordernis leugnet (BGHSt. 7 245 ; RGSt. 72 324, 325). Richtet sich die Tat gegen Angehörige und Nichtangehörige zugleich (die ge- 4 stohlene Sache gehört einem Angehörigen und einem Fremden), so ist sie grundsätzlich ohne Antrag verfolgbar. Ist der Schaden teilbar, darf dem Schuldspruch

1 RGSt. 25 176; Dreher/Tröndle*l §247 Rdn. 7; Hübner LK §266 Rdn. 117; MaurachSchroeder BT 1 § 34 V 1 d; Sch.-Schröder-Eser2\ § 247 Rdn. 15. 2 BGHSt. 29 54, 56; RGSt. 72 324, 325; OLG Koblenz NJW 1958 2027, 2028; Dreher/ Tröndle^ vor § 77 Rdn. 2; Jescheck AT § 85 I 2; Stree FamRZ 1962 55, 57; a. A. Dubs Schweiz. Zeitschr. f. Strafrecht 71 (1956) 70, 74. 3 BGHSt. 3 215, 216; 29 54, 57; BGH NJW 1952 1422; 1972 1334; RGSt. 10 117; 35 49; 75 290; bei einseitiger Abkehr vom Partner OLG Koblenz NJW 1958 2027, 2028; zur Frage des Verlöbnisses bei bestehender Ehe Tröndle LK § 11 Rdn. 8; BayObLG JR 1984 125 m. Anm. Strätz; zur nichtehelichen Lebensgemeinschaft Tröndle LK § 11 Rdn. 9 ; Strätz Rechtsfragen des Konkubinats im Überblick, FamRZ 1980 301, 308. (13)

§ 7 7

4. Abschnitt. Strafantrag, Ermächtigung, Strafverlangen

aber nur der Schadensumfang zugrunde gelegt werden, der vom Strafantrag gedeckt ist (RGSt. 75 242; 4 346; 26 43; 50 46; 72 44). Für die Beweiswürdigung gilt diese Beschränkung selbstverständlich nicht (RGSt. 62 83, 90). Anders liegt es jedoch, sofern der Täter mit der Tat in ungleichwertige Güter der Verletzten eingreift. Ist der Angehörige Eigentümer, der Fremde nur Gewahrsamsinhaber, besteht das Antragserfordernis für die Tat insgesamt (BGHSt. 10 400; Bockelmann BT 12 § 5 I 2b); es besteht nicht im umgekehrten Fall (RGSt. 2 73; 54 280, 282; 73 151, 153 ; abw. Blei BT 12 § 53 X; Maurach-Schroeder BT 1 § 34 V 1 b). Zum Irrtum über das Erfordernis des Strafantrags vor § 77 Rdn. 14. 5

4. Verfahren nach Antragstellung. Stellt der Berechtigte den erforderlichen Strafantrag, so ist damit der Weg zum gewöhnlichen Ermittlungs- und Strafverfahren frei. Wird das Verfahren bereits wegen des Verdachts eines Offizialdelikts betrieben, erfährt es lediglich eine Erweiterung um den Tatbestand des Antragsdelikts. Die Staatsanwaltschaft ist auch hinsichtlich des Antragsdelikts dem Legalitätsprinzip unterworfen, das Gericht zur umfassenden Kognition verpflichtet. Einschränkungen ergeben sich aus den §§ 153 ff StPO, bei den Privatklagedelikten auch aus § 376 StPO. Ist der Strafantrag rechtswirksam gestellt, kann er außer durch Rücknahme (§ 77 d) nicht mehr beseitigt werden. Er verliert seine Wirksamkeit weder durch den Tod des Antragstellers noch durch die Auflösung der antragstellenden Körperschaft (RGSt. 70 140, 141). Auch ein Wechsel der einer Personenmehrheit oder einer Behörde angehörenden Mitglieder ist unerheblich (RG HRR 1925 Nr. 1393).

II. Der Strafantrag 1. Zur Entgegennahme zuständige Organe. Der Strafantrag ist das an ein Strafverfolgungsorgan gerichtete förmliche Verlangen, eine bestimmte Straftat zu verfolgen. Er unterscheidet sich damit begrifflich von der Strafanzeige (§ 158 Abs. 1 StPO), die die bloße Mitteilung eines Tatverdachts enthalten kann und nicht notwendig einen Verfolgungswillen zum Ausdruck bringt (KK-Müller § 158 Rdn. 2; Maurach-Gössel-Zipf AT 2 § 74 II Rdn. 5). Die Zuständigkeit zur Entgegennahme des Strafantrags ist in § 158 StPO geregelt. Taugliche Adressaten sind danach Polizeibehörden, die Staatsanwaltschaft und Gerichte. Bei anderen Behörden ist trotz des mißverständlichen Wortlauts des Gesetzes eine Antragstellung nicht möglich. Ein bei einer unzuständigen Behörde angebrachter Antrag wird erst wirksam, wenn er einer zuständigen Stelle — fristgerecht - zugeht (§ 77 b Rdn. 4). 7 a) Polizeibehörden sind diejenigen Behörden, die nach den Polizeigesetzen der Länder mit allgemeinen und sicherheitspolizeilichen Aufgaben betraut sind 4. Dies ist nicht der einzelne Polizist (RGSt. 39 358, 359; vgl. den Wortlaut der §§ 158 Abs. 1 StPO, 78b Abs. 2 Nr. 1 StGB), auch nicht als Hilfsbeamter der Staatsanwaltschaft, und ebensowenig der Schiedsmann, selbst wenn die Erhebung einer Privatklage beabsichtigt ist (RG Rspr. 10 90; Sch.-Schröder-Stree2\ Rdn. 38). Sonderund Oberbehörden wie Landeskriminalämter, Verfassungsschutzämter 6

4 RGSt. 48 274, 275; 67 125, 128; KK-Müller § 158 Rdn. 41 ; § 158 Rdn. 25; KMR-Müller § 158 Rdn. 15.

Löwe-Rosenberg/Meyer-Goßner (14)

Antragsberechtigte (Jähnke)

§77

(BayObLGSt. 1957 52), Ministerien (BayObLGSt. 1957 52; Schulz N J W 1977 480) scheiden ebenfalls aus. Auch bei einer deutschen Auslandsvertretung kann ein Strafantrag nicht gestellt werden. Ausländische Behörden können einen Antrag auf Strafverfolgung durch die 8 deutsche Justiz nicht entgegennehmen (vgl. RGSt. 27 161); wer in Deutschland Strafverfolgung wünscht, ist deshalb gehalten, sich an die hiesigen Strafverfolgungsorgane zu wenden 5. Nachteile entstehen dem Antragsteller dadurch nicht, da die Antragsfrist bei Auslandstaten f ü r ihn nicht ohne weiteres zu laufen beginnt (§ 77 b Rdn. 13). Anders verhält es sich aber bei im Ausland begangenen Taten, deren Verfolgung durch einen dort erforderlichen und gestellten Strafantrag eingeleitet und d a n n hierher abgegeben wurde. Die Abgabe an die deutschen Behörden macht den wirksam gestellten Antrag nicht hinfällig (RGSt. 44 433, 434; O L G Breslau H R R 1929 Nr. 172; wohl auch O L G Stuttgart Justiz 1966 16 m. Anm. A. Mayer). Polizeiorgane der Stationierungsstreitkräfte in der Bundesrepublik gehören ebenfalls nicht zu den Polizeibehörden nach § 158 StPO (OLG Koblenz OLGSt. StPO § 158 S. 1; Löwe-Rosenberg/Meyer-Goßner § 158 Rdn. 25). b) Staatsanwaltschaft ist jede Staatsanwaltschaft beim Landgericht und jede Ge- 9 neralstaatsanwaltschaft (BayObLGSt. 1957 52) ohne Rücksicht auf die örtliche Zuständigkeit. Auch der Generalbundesanwalt ist, da er Ermittlungsaufgaben hat, geeigneter Empfänger eines Strafantrags (vgl. § 142 a Abs. 1 GVG). Ist die Staatsanwaltschaft oder ein einzelner Staatsanwalt der Verletzte, kann der Staatsanwalt den Antrag bei sich selbst durch Niederlegung in den Akten anbringen (RGSt. 4 264, 266). D a ß das Verfahren bereits bei Gericht anhängig ist, beseitigt die Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft nicht (RGSt. 68 120, 124; anders bei der Rücknahme, vgl. § 77 d Rdn. 3). c) Zuständiges Gericht ist stets das Amtsgericht, das hier wie in § 165 StPO die 10 Funktion des Notstaatsanwalts hat. Ist das Verfahren bereits bei Gericht anhängig, so ist auch das mit der Sache befaßte Gericht zuständig (vor § 77 Rdn. 13). 2. Förmlichkeiten. Die notwendige Form des Strafantrags ergibt ebenfalls 11 §158 StPO. Bei Polizeibehörden ist er schriftlich zu stellen, sonst schriftlich oder zu Protokoll. Zum Zugang bei schriftlicher Antragstellung § 77 b Rdn. 4. a) Schriftlichkeit erfordert an sich die Einreichung eines handschriftlich unterzeichneten Schriftstücks. Die Rechtsprechung hat sich davon indessen entfernt; es genügt, daß der Antragsteller erkennbar ist (RGSt. 3 442; 62 53, 54). So entspricht dem Formerfordernis zwar stets die Unterzeichnung eines von Dritten gefertigten Schreibens (BGH N J W 1951 368; RGSt. 2 253, 255; 48 274, 275), doch ist die eigenhändige Vollziehung der Unterschrift nicht wesentlich. Ein Vertreter kann mit dem N a m e n des Vertretenen unterschreiben (RGSt. 6 69; 62 53, 54; R G Rspr. 2 625, 626). Die A u f n a h m e des Antrags auf T o n b a n d genügt, sofern der a u f n e h m e n d e Polizeibeamte die Übertragung für den Antragsteller unterzeichnet (KK-Müller § 158 Rdn. 45; Riegel N J W 1973 495). Ebenfalls formgerecht ist ein Faksimile-Stempel

5 BayObLGSt. 1972 78; OLG Breslau HRR 1929 Nr. 172; LG Stuttgart Justiz 1964 236; Dreher/TröndleV Rdn. 23; Κ MR-Müller § 158 Rdn. 15; Löwe-Rosenberg/Meyer-Goßner § 158 Rdn. 25; Maurach-Gössel-Zipf AT 2 §7411 Rdn. 18; Sch.-Schröder-Stree21 Rdn. 34; SKRudolphi Rdn. 14; a. A. Schulz NJW 1977 480. (15)

§77

4. Abschnitt. Strafantrag, Ermächtigung, Strafverlangen

(RGSt. 62 53, 54), ein den Urheber bezeichnendes Telegramm (RG GA 1917 116; vgl. auch BGHSt. 30 64, 69; 31 7, 8), ein Fernschreiben (vgl. BGHSt. 31 7, 9) sowie der Telebrief (vgl. BGHZ 87 83; OLG Koblenz NStZ 1984 236). Ein Kaufmann darf wie die OHG zwar mit der Firma zeichnen (RGSt. 15 293, 295; 43 335), doch genügt es nicht, wenn er ohne zu unterschreiben nur den Firmenstempel beidrückt (OLG Celle GA 1971 378). Unwirksam ist die telefonische Antragstellung (BGH NJW 1971 903), auch wenn der Beamte darüber einen Aktenvermerk aufnimmt. Ebensowenig reicht ein Aktenvermerk über die mündliche Antragstellung, weil er nur einen Bericht enthält, nicht aber die Willensäußerung verkörpert (a. A. OLG Düsseldorf MDR 1982 954; Kleinknecht/Meyer § 158 Rdn. 11). Ein polizeiliches Protokoll entbehrt bereits nach dem Gesetzeswortlaut der Form. Ist es aber vom Antragsteller unterzeichnet, liegt ein ordnungsgemäßer schriftlicher Antrag vor (BGH NJW 1951 368; RGSt. 48 274, 275). Strafanträge von Behörden sollten zwar von dem dazu Befugten unterschrieben werden. Zu ihrer Wirksamkeit genügt aber auch die Einhaltung des behördenüblichen Beglaubigungsverfahrens. Danach zeichnet der Beamte den bei den Behördenakten verbleibenden Entwurf ab, der sodann von der Kanzlei ausgefertigt (beglaubigt) wird. Ein Anlaß, diese verbreitete Form der Teilnahme von Behörden am Rechtsverkehr gerade für das Gebiet des Strafantrags zu beanstanden, ist nicht erkennbar 6. Nicht ausreichend ist dagegen die Weitergabe einer Abschrift oder Ablichtung des — an sich formgerechten — Strafantrags durch eine Behörde, welche die Urschrift bei sich behält (RGSt. 48 274, 276; a. A. RGSt. 71 358, 359; BayObLGSt. 1957 52). Wenn die Behörde zu einem bestimmten Vorgang vollständige Unterlagen benötigt, kann sie die Ablichtung für ihre Akten fertigen; ein Anlaß, die Urschrift einzubehalten, besteht nicht. 12 b) Zu Protokoll kann der Berechtigte den Strafantrag bei der Geschäftsstelle des Gerichts oder der Staatsanwaltschaft erklären. Auch der Richter oder Staatsanwalt darf die Erklärung beurkunden. In der Hauptverhandlung wird die Form durch Aufnahme des Antrags in die Sitzungsniederschrift gewahrt (RGSt. 38 39, 41 f)· Das Protokoll braucht nicht verlesen (RGSt. 12 173, 175) und vom Antragsteller nicht unterzeichnet (RGSt. 2 253, 254; 12 173, 175) zu werden. Ein bloßer Aktenvermerk darüber, daß Strafantrag gestellt wurde, ist aber kein Protokoll (KK-Müller § 158 Rdn. 46).

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3. Inhaltliche Anforderungen a) Äußerung des Verfolgungswillens. Inhaltlich muß der Strafantrag das Verlangen nach Strafverfolgung enthalten (BGHSt. 13 363). Daß der Verletzte nur die Unterbringung des Täters (§ 63) erreichen möchte, nimmt der Erklärung nicht die Eigenschaft als Strafantrag (RGSt. 71 321). Der Verfolgungswille braucht nicht ausdrücklich erklärt zu sein; insbesondere bedarf es nicht des Gebrauchs des Wortes Strafantrag. Vielmehr genügt es, daß der Verfolgungswille sich der Urkunde durch Auslegung entnehmen läßt; dazu dürfen

6 RGSt. 72 387, 388; KG GA 1953 123; BayObLG H RR 1926 Nr. 884; s. auch RGSt. 62 53, 55; Löwe-Rosenberg/Meyer-Goßner § 158 Rdn. 28; a. A. RG JW 1933 2914 m. Anm. Oetker; RG HRR 1934 Nr. 77; K G H R R 1930 Nr. 261 ; s. auch RGSt. 57 280. (16)

Antragsberechtigte (Jähnke)

§77

auch außerhalb der Erklärung liegende Umstände verwertet werden 7. Unzulässig ist jedoch die Berücksichtigung eines „hypothetischen Parteiwillens" (BGH NJW 1953 1152; BGH bei Holtz M D R 1977 637); beachtlich ist allein der wirklich geäußerte Wille. So wird namentlich in der Strafanzeige regelmäßig zugleich ein Strafantrag liegen (RGSt. 76 335; RG Rspr. 1 614, 617; Stree M D R 1956 723), anders aber ζ. B. bei nur beiläufiger Erwähnung des Antragsdelikts in einer wegen anderer Vorfälle erstatteten Anzeige (BGH GA 1957 17, 18). Ein umfassender Verfolgungswille wird mangels gegenteiliger Anhaltspunkte auch anzunehmen sein, wenn der Verletzte ein Offizialdelikt anzeigt, das mit einem Antragsdelikt im Verhältnis der Tateinheit steht 8. Ebenso liegt in der Abgabe eines Vorgangs an die Staatsanwaltschaft durch eine Behörde regelmäßig ein Strafantrag (RGSt. 19 378, 380). Im Anschluß als Nebenkläger (RGSt. 38 39, 41 ; RG Rspr. 10 606; OLG Stuttgart DR 1939 1148, 1150), im Plädoyer des Nebenklägers in der Hauptverhandlung (RGSt. 38 39, 41 ; RG Rspr. 1 614, 617), in der Erhebung der Privatklage (RGSt. 8 207, 208) und der Widerklage (RGSt. 29 116, 117) ist der Strafantrag wesensmäßig eingeschlossen. Dagegen liegt in der Vernehmung des Opfers als Zeuge allein kein Strafantrag (OLG Braunschweig OLGSt. n. F. § 158 StPO Nr. 1); ebensowenig genügt die Einreichung des Entwurfs einer Privatklage (LG Bonn M D R 1965 766) oder eines Gesuchs um Prozeßkostenhilfe. Kein Strafantrag ist auch die Bitte um Prüfung, „ob" sich eine bestimmte Person strafbar gemacht habe (OLG Stuttgart NStZ 1981 184), die Anregung an den Dienstvorgesetzten, Strafantrag zu stellen (BayObLGSt. 1964 154, 155; s. auch RGSt. 67 125, 127) und die Anzeige mit dem erklärten Vorbehalt, den Strafantrag noch stellen zu wollen (anders RGSt. 12 173,174). b) Freiheit von Bedingungen. Der erklärte Verfolgungswille muß unbedingt sein 14 (RGSt. 14 96, 97; RG H R R 1939 Nr. 1064). Das Gebot der Bedingungsfreiheit ist eingehalten, wenn der Antragsteller sein Begehren lediglich mit Ereignissen verknüpft, die sich schon zugetragen haben, aber vielleicht noch nicht festgestellt sind. So verhält es sich mit der Erklärung, es werde Strafantrag gestellt, sofern der Beschuldigte sich strafbar gemacht hat (RGSt. 14 96, 99) oder die Bestrafung wegen eines Offizialdelikts nicht möglich ist (Bergmann M D R 1954 660; KK-Müller § 158 Rdn. 52; unrichtig OLG Oldenburg M D R 1954 55). Ebenso unschädlich sind Zusätze wie „falls erforderlich", „für alle Fälle", meist auch „vorsorglich" (BGH NJW 1951 531; 1961 1412; BGH bei Pfeiffer-Maul-Schulte §61 Anm. 9). Keine Bedingung ist ferner die Ankündigung, den Strafantrag unter gewissen Voraussetzungen zurücknehmen zu wollen (RGSt. 3 89, 91). Macht der Antragsteller das Wirksamwerden seines Antrags hingegen von einem künftigen ungewissen Ereignis abhängig, so stellt er ihn unter eine aufschiebende Bedingung. Ein derartiger Strafantrag ist unzulässig 9, auch wenn die Bedingung in der Antragsfrist eintritt. Soll das Wirksambleiben des Antrags von einem solchen 7 BGH bei Pfeiffer-Maul-Schulte § 61 Anm. 10; RGSt. 64 106, 107; 75 257, 259; KG JR 1956 351 ; OLG Braunschweig OLGSt. n. F. § 158 StPO Nr. 1. 8 BGH NJW 1951 368; BGH GA 1957 17; BGH bei Pfeiffer-Maul-Schulte §61 Anm. 10; RG Rspr. 3 130; anders im Einzelfall BGHSt. 19 377, 378; OLG Köln NJW 1965 408; OLG Stuttgart NStZ 1981 184. 9 RGSt. 14 96, 97; Dreher/Tröndle42 Rdn. 26; Kohlrausch-Lange § 61 Anm. VIII; Lackner 15 Anm. 1 d; Maurach-Gössel-Zipf AT 2 § 74 II Rdn. 23; Sch.-Schröder-Stree2\ Rdn. 41 ; SKRudolphi Rdn. 19; vgl. auch RGSt. 54 288, 74 185, 188. Wohl ebenso Schmid Bedingte Prozeßhandlungen im Strafprozeß? G A 1982 95,102. (17)

§ 7 7

4. Abschnitt. Strafantrag, Ermächtigung, Strafverlangen

Ereignis abhängen, ist diese dem Antrag hinzugefügte auflösende Bedingung als solche unbeachtlich; der Strafantrag ist also wirksam 10, sofern nicht Zweifel an der Ernsthaftigkeit des Verfolgungswillens begründet sind. Daß der Eintritt der Bedingung wie eine Rücknahme des Strafantrags wirken würde, vermag deren Beachtlichkeit nicht zu begründen. Denn die Rücknahme muß dem mit der Sache befaßten Strafverfolgungsorgan erklärt werden (§ 77 d Rdn. 3) und schafft deshalb unmittelbar Klarheit über die Zulässigkeit des weiteren Verfahrens. Bei Ereignissen, die außerhalb des Verfahrens liegen, vielleicht sogar schwer zu ermitteln sind, ist das nicht der Fall. Ihre Berücksichtigung liefe deshalb dem Gebot der Verfahrensklarheit zuwider. 15

c) Freiheit von Willensmängeln. Willensmängel des Antragstellers sind, soweit die Natur des Strafantrags als Verfahrenshandlung dies zuläßt, beachtlich. Ein Irrtum in der Erklärung macht den Strafantrag daher unwirksam (RGSt. 23 273), nicht hingegen ein Motivirrtum (Stree NJW 1956 454). Eine Anfechtung ist ausgeschlossen.

4. Gegenstand des Verfolgungswillens 16 a) Person des Täters. Der Gegenstand des Strafantrags braucht in persönlicher Hinsicht nicht näher bezeichnet zu sein; solange der Täter unbekannt ist, ist das auch gar nicht möglich. Mangels dahingehender Einschränkungen richtet sich der Antrag deshalb gegen jedermann, der als Täter oder Teilnehmer in Betracht kommt 11. Hierzu gehören auch alle Beteiligten, die zu der Tat erst nach der Antragstellung hinzutreten (OLG Düsseldorf NJW 1982 2680; Blei AT 18 § 110 II 2; Lackner Anm. l d ; SK-Rudolphi Rdn. 18; mit überholter Begründung RGSt. 17 227, 230; s. auch Rdn. 18), sowie alle Nebentäter, die denselben Erfolg vorsätzlich oder fahrlässig herbeigeführt haben (RGSt. 49 432,433; 74 185, 188; a. A. Fincke Der Täter neben dem Täter, GA 1975 161, 174). Den Begünstiger oder Hehler erfaßt der gegen den Vortäter gerichtete Strafantrag dagegen nicht ohne weiteres, weil insoweit eine selbständige rechtsgutverletzende Handlung (RGSt. 74 185, 188) vorliegt (Rdn. 18). 17 Der Antragsteller kann den Strafantrag aber auf bestimmte Täter oder Teilnehmer beschränken (BGHSt. 17 157; 19 320; RGSt. 77 181, 183); alsdann ist die Strafverfolgung nur gegen denjenigen zulässig, gegen den der Antrag sich richtet. Ob das geschehen ist, ist im Einzelfall durch Auslegung zu ermitteln, die jedoch auch hier nicht zu Unterstellungen greifen, sondern nur den wirklich geäußerten Willen würdigen darf (BGH bei Holtz MDR 1977 637). Bezeichnet der Berechtigte im Antrag einen von mehreren Tatverdächtigen, so wird er im Zweifel nur dessen Verfolgung wünschen (BGH bei Pfeiffer-Maul-Schulte § 61 Anm. 14). Keine Beschränkung liegt darin, daß er irrtümlich einen Falschen als Täter bezeichnet, wenn das Strafbe10 RGSt. 14 96, 97; Dreher/Tröndle42 Rdn. 26; Kohlrausch-Lange § 61 Anm. VIII; Lackner15 Anm. 1 d; Maurach-Gössel-Zipf AT 2 § 74 II Rdn. 23 ; Sch.-Schröder-Streek Rdn. 41 ; a. A. — Wirksamkeit der Bedingung — ΚK-Müller § 158 Rdn. 52; Löwe-Rosenberg/Meyer-Goßner § 158 Rdn. 36; Mösl Voraufl. § 61 Rdn. 31 ; SK-Rudolphi Rdn. 19; noch anders (Unwirksamkeit des Antrags) Schmid Bedingte Prozeßhandlungen im Strafprozeß? G A 1982 95, 102, 105. Π RGSt. 6 212, 213; Jescheck AT § 85 I 4; KK-Müller § 158 Rdn. 49; Sch.-Schröder-Stree21 Rdn. 40; a. A. (Konkretisierung nach Ermittlung des Täters nötig) Peters Strafprozeß 3. Aufl. (1981) §27 II. (18)

Antragsberechtigte (Jähnke)

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gehren sonst eindeutig ist (RGSt. 7 35, 36). Hält er infolge seiner rechtlichen Wertung aber allein eine bestimmte Person für schuldig, die er deshalb verfolgt wissen will, ist Strafantrag nur gegen diese Person gestellt (OLG Saarbrücken VRS 30 40, 42). Kommen als Tatbeteiligte nahe Angehörige in Betracht, so soll nach verbreiteter Meinung anzunehmen sein, daß sich der Verfolgungswille des Verletzten im Zweifel nicht auf sie erstrecke^. Dies ist indessen eine unberechtigte Unterstellung. Weiß der Antragsteller nicht, daß Angehörige von seinem Antrag betroffen sind, fehlt es an einem Willen zur Beschränkung des Antrags. Ist ihm dieser Umstand hingegen bekannt, liegt in der unbeschränkten Antragstellung regelmäßig die Erstreckung des Antrags auf die Angehörigen. Vorsicht ist lediglich in der Auslegung von Strafanträgen geboten, die die Bestrafung Fremder zum Ziele haben, aber ungewollt Angehörige belasten können (BGH bei Daliinger MDR 1974 13). b)Tat aa) Allgemein. Sachlich muß sich der Verfolgungswille grundsätzlich auf eine be- 18 stimmte Tat i. S. der §§ 155, 264StPO beziehen 13, also auf einen geschichtlichen Vorgang, in dem die Erfüllung eines bestimmten Tatbestandes zu erblicken ist. Doch ist der Tatbegriff des § 77 darauf nicht beschränkt. Der Verletzte kann rechtswirksam Strafantrag gegen „Unbekannt" stellen. Die Person des Täters und die seiner Handlung innewohnenden subjektiven Momente brauchen mithin nicht bekannt zu sein. Das Antragsrecht kann deshalb schon entstehen, bevor ein konkretes Antragsdelikt verwirklicht ist (Rdn. 22). Entscheidend ist aus diesem Grund der äußere Befund, der ohne Rücksicht auf die Willensrichtung des Täters den Verdacht einer rechtsgutverletzenden Handlung (RGSt. 74 185, 188; Schroth NStZ 1982 1, 4 Fn. 34), eines Eingriffs in die Rechtssphäre des Antragstellers (Rdn. 23) begründet. Ob der Antragsteller eine in diesem Sinne konkret bezeichnete Tat zum Gegenstand seines Verfolgungsbegehrens gemacht hat, ist auch unter Heranziehung außerhalb des Antrags liegender Umstände festzustellen (Rdn. 13). Daß der Antragsteller nur einen Verdacht hegt, sich die Tat nur in Umrissen oder nur teilweise richtig vorstellt, ist dabei unerheblich (BGHSt. 13 363, 364; RGSt. 38 434,435; 51 63). Hat der Antragsteller einen bestimmten Vorgang so zum Gegenstand des Strafantrags gemacht, ist es gleichgültig, wie er ihn rechtlich einordnet. Die Tat ist dann unter allen rechtlichen Gesichtspunkten verfolgbar 14. Ebenso ist unerheblich, wen er als verletzt betrachtet 15 und ob die Tat in der Hauptverhandlung eine andere Gestaltgewinnt 16. bb) Beschränkbarkeit. Der Antragsteller kann den Strafantrag aber auch sachlich 19 beschränken. Das ist ohne weiteres möglich bei — innerhalb derselben prozes12 RGSt. 7 35, 36; 31 168, 169, 171; 75 257, 258; Dreher/Tröndle42 Rdn. 25; KK-Müller§ 158 Rdn. 50; SK-Rudolphi Rdn. 18; Stree MDR 1956 723; Stree In dubio pro reo S. 61; a. A. Löwe-Rosenberg/Meyer-Goßner § 158 Rdn. 35. 13 BGH VRS 34 423; RGSt. 5 97, 99; 31 168, 169; 49 432, 433; 62 83, 89; RG JW 1936 2555; KG JR 1956 351; Dreher/Tröndle42 Rdn. 27; Lackner Anm. l d ; Maurach-Gössel-Zipf AT 2 § 74 II Rdn. 23; Sch.-Schröder-Streek Rdn. 38; SK-Rudolphi Rdn. 17. 14 BGHSt. 6 155, 156; BGH NJW 1951 368; BGH GA 1964 377; BGH VRS 34 423; RGSt. 6 212, 213; 65 354, 357; RG Rspr. 3 130; RG HRR 1939 Nr. 1436; RG DJ 1936 774; KG JW 1933 1902; OLG Stuttgart NStZ 1981 184. 15 BGH NJW 1951 531 ; RG HRR 1939 Nr. 1436; KG GA 1953 123. 16 BGH VRS 34 423; RGSt. 5 97, 100; 42 238; RG HRR 1939 Nr. 1436. (19)

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4. Abschnitt. Strafantrag, Ermächtigung, Strafverlangen

sualen Tat — in Tatmehrheit verwirklichten Delikten. Es gilt in gleicher Weise jedoch auch für einzelne Gesetzesverletzungen bei Tateinheit, für die gleichartige Idealkonkurrenz 17 und für die natürliche Handlungseinheit 18. Bis zur Grenze der nicht mehr weiter auflösbaren Beurteilungseinheit kann der Antragsteller daher bestimmte Rechtsverletzungen aus einem komplexen Vorgang herausgreifen und isoliert der strafrechtlichen Ahndung zuführen, so einzelne von mehreren in demselben Schriftstück enthaltene Beleidigungen (BGH bei Pfeiffer-Maul-Schulte § 61 Anm. 9; RGSt. 24 12, 14; a. A. OLG Koblenz NJW 1956 1729). Möglich ist es dem Antragsteller ferner, den Antrag nur wegen vorsätzlich begangener Tat zu stellen und die fahrlässige Begehung auszunehmen (BGH VRS 34 423). Eine Beschränkung braucht zwar nicht ausdrücklich erklärt zu sein, sie muß sich dem Antrag aber zweifelsfrei entnehmen lassen. Anderenfalls umfaßt er die ganze Tat im prozessualen Sinne (BGH VRS 34 423; K G JR 1956 351; Lackner15 Anm. l d ; Löwe-Rosenberg/Meyer-Goßner §158 Rdn. 35; SK-Rudolphi Rdn. 20; a. A. Sch.-Schröder-Stree21 Rdn. 43). Die bloße Hervorhebung einzelner tatsächlicher oder rechtlicher Gesichtspunkte stellt noch keine Antragsbeschränkung dar (BGH bei Pfeiffer-Maul-Schulte § 61 Anm. 9). 20

cc) Die fortgesetzte Tat. Keine grundsätzlich von der sonstigen rechtlichen Einordnung abweichende Beurteilung erfährt die fortgesetzte Handlung. Ihre Einzelakte haben ihre rechtliche Selbständigkeit eingebüßt, so daß nur eine Tat vorliegt. Der Strafantrag des Verletzten ergreift daher mangels einer — auch hier zulässigen 19 — Beschränkung das Gesamtgeschehen, also alle vor und nach der Antragstellung verübten, den Antragsteller treffenden Einzelakte bis zum tatrichterlichen Urteil 20, seien sie bekannt oder nicht (RGSt. 38 434, 435). Er richtet sich gegen alle Beteiligten, auch soweit sie sich erst später der Tat angeschlossen haben (OLG Düsseldorf NJW 1982 2680; Rdn. 16). Ist der Antragsteller eine juristische Person, deckt der Antrag auch die nach ihrer Entstehung (RGSt. 46 324), aber vor Erlangung der Rechtsfähigkeit gegen sie verübten Einzelakte (RGSt. 49 66, 67).

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Besonderheiten ergeben sich aber dort, wo die Regeln über die Fortsetzungstat und die Grundsätze des Strafantragsrechts der Harmonisierung bedürfen. Da der Strafantrag des einen Verletzten nicht den anderer Verletzter ersetzt (Rdn. 2), ist bei gegen mehrere Opfer gerichteten Fortsetzungstaten ein Strafantrag eines jeden von ihnen nötig (BGHSt. 17 157). Die Möglichkeit der Beschränkung des Antrags (Rdn. 19) fordert, daß jeder Einzelakt vom Strafverfolgungswillen der Berechtigten gedeckt ist. Ferner ist denkbar, daß die das Antragserfordernis begründenden Umstände (ζ. B. Heirat) während der fortgesetzten Tatbegehung eintreten oder fortfallen. Der sachlichrechtliche Gesamtvorsatz liefert hier keine Rechtfertigung dafür, eine spätere Veränderung der die Verfolgbarkeit betreffenden Umstände außer Betracht zu lassen und die gesamte Tat als Offizialdelikt zu behandeln 17 RGSt. 62 83, 88; 74 203, 205; R G H R R 1939 Nr. 1436; O L G Stuttgart NStZ 1981 184; Dreher/Tröndle42 Rdn. 29; SK-Rudolphi Rdn. 20; a. A. Bloy S. 118. 18 R G DStR 1936 101 ; O L G F r a n k f u r t / M N J W 1952 1388; Lackner15 Anm. 1 d ; SK-Rudolphi Rdn. 20. 19 RGSt. 74 203, 205; Dreher/Tröndle^ Rdn. 28; Sch.-Schröder-Stree2i vor § 5 2 Rdn. 33; Vogler LK vor § 52 Rdn. 80. 20 BGHSt. 13 363, 365; RGSt. 17 227, 228; 38 39, 40; 40 319, 320; 49 432, 433; O L G Hamburg N J W 1956 522, 523; Dreher/Tröndle42 Rdn. 28; Uckner 15 Anm. l d ; Sch.-SchröderStree2\ Rdn. 46; SK-Rudolphi Rdn. 17. (20)

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(BGHSt. 17 157, 158; a. A. RGSt. 71 286, 287). Vielmehr sind nur die Einzelakte verfolgbar, für die ein Strafantrag vorliegt. Nicht anders verhält es sich bei einer fortgesetzten Handlung, die sich aus Antragsdelikten und Offizialdelikten wie etwa einfachen und gefährlichen Körperverletzungen zusammensetzt. Auch hier kann der Gesamtvorsatz nicht in das objektive Verfahrensrecht hineinwirken, so daß beim Fehlen des erforderlichen Strafantrags nur die von Amts wegen verfolgbaren Handlungen abzuurteilen sind (Dreher/TröndleV Rdn. 28; a. A. RGSt. 31 150, 57 81 ; Kohlrausch-Lange § 61 Anm. III). Zur Antragsfrist s. § 77 b Rdn. 6. III. Zeitpunkt der Entstehung des Antragsrechts Das Recht zum Strafantrag entsteht frühestens mit dem Beginn der rechtswidri- 22 gen Handlung (RGSt. 38 39, 40); die Tat muß mindestens „in der VerÜbung begriffen" sein (RGSt. 40 319, 320; 45 128, 129; 58 203, 204). In diesem Zeitpunkt entsteht das Recht aber umfassend. Ist die Rechtsverletzung verübt, kann der Berechtigte fordern, daß auch gegen denjenigen vorgegangen werde, der sie intensiviert oder erweitert. So sind bei der Fortsetzungstat (Rdn. 20) und bei sukzessiver Mittäterschaft oder Teilnahme (Rdn. 16) — unbeschränkte Antragstellung vorausgesetzt — auch die Tatbeiträge der später hinzutretenden Beteiligten verfolgbar. Vor dem Beginn der Rechtsverletzung (dazu Rdn. 18) ist ein Strafantrag dagegen nicht möglich. Der dennoch angebrachte Strafantrag wäre aufschiebend durch die künftige ungewisse Tatbegehung bedingt (Ott StrV 1982 45). Derartige Anträge sind unwirksam (Rdn. 14). Sie sind auch rechtssystematisch nicht zu rechtfertigen, weil sie die Grenze zwischen präventiver Gefahrenabwehr und Strafverfolgung verwischen. Im Falle polizeilichen Einschreitens nach „vorsorglich" gestelltem Strafantrag bleibt im Dunkeln, ob Rechtsgrundlage das Polizeirecht oder die Vorschriften der StPO sein sollen und ob die Verantwortung dem Innenressort oder den Justizbehörden zufällt (Schroth NStZ 1982 1, 4). Die Rechtsprechung hat diese Grenze nur scheinbar nicht eingehalten. Nach ihr kann der Strafantrag zwar rechtswirksam auch vor Begehung der Tat gestellt werden, wenn ihr Eintritt alsbald zu erwarten ist und wenn sie nach Wesen und Gestaltung genau bezeichnet werden kann 21. Anknüpfungspunkt ist für die Rechtsprechung aber nicht der Eingriff in die Rechtssphäre des Verletzten, sondern die einzelne schuldhäfte Handlung des jeweiligen Täters. Dieses Abstellen auf die volle objektive und subjektive Tatbestandsverwirklichung läßt oft — schon aus Beweisschwierigkeiten — eine zeitliche Lücke zwischen dem für den Verletzten maßgebenden Anlaß zur Antragstellung und dem Tatbeginn klaffen. Die Lücke schließt die Rechtsprechung, indem sie die Antragsbefugnis vorverlegt. Damit gelangte sie bisher sachlich zu denselben Ergebnissen wie die hier vertretene Auffassung (ebenso Schroth NStZ 1982 1): In RG GA 1913 438 verletzte der Täter vor Stellung des Strafantrags ein gewerbliches Schutzrecht; danach kam ihm die Rechtswidrigkeit seines Tuns zum Bewußtsein. In BGHSt. 13 363 schloß sich die Angeklagte nach Antragstellung verleumderischen Äußerungen ihrer Mutter an. In BayObLG NJW 1966 942 stellte der Verletzte wegen Entwendung seines Wagens Strafantrag, dem 21 BGHSt. 13 363; R G GA 1913 438; BayObLG NJW 1966 942; OLG Schleswig bei Ernesti/ Lorenzen SchlHA 1980 171 ; ebenso Dreher/Tröndle42 § 77b Rdn. 2; Lackner 15 Anm. 1 d; Sch.-Schröder-Stree21 Rdn. 45; SK-Rudolphi Rdn. 17; wohl auch Blei AT 18 § 110 II 2; a. A. Geerds GA 1982 237, 242 Fn. 20; Maurach-Gössel-Zipf AT 2 § 74 II Rdn. 19; Ott StrV 1982 45; Roxin Strafverfahrensrecht 18 § 12 Β II 1 ; Schroth NStZ 1982 1. (21)

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4. Abschnitt. Strafantrag, Ermächtigung, Strafverlangen

Angeklagten konnte nur eine unbefugte Fahrzeugbenutzung (§ 248 b) nach diesem Zeitpunkt nachgewiesen werden 22. In allen diesen Fällen lag eine zum Strafantrag berechtigende objektive Rechtsverletzung, ein Eingriff in die Rechtssphäre des Berechtigten, im Zeitpunkt der Antragstellung vor. Die Formel der Rechtsprechung gewährleistet somit zwar sachgerechte Ergebnisse. Sie ist aber zu weit und erfaßt auch Taten, die bloß konkret angekündigt sind. Damit birgt sie die Gefahr einer Ausuferung des Antragsrechts in sich. IV. Antragsberechtigte 1. Der Verletzte 23 a) Begriff des Verletzten. Zum Strafantrag berechtigt ist zunächst der Verletzte (Absatz 1), bei mehreren Verletzten jeder von ihnen (Absatz 4). Wer dies im einzelnen ist, richtet sich nach der Natur des jeweiligen Straftatbestandes. Der in der StPO unterschiedlich verwandte Verletztenbegriff ist nicht maßgebend (vgl. §§ 22, 61, 172 StPO, Jung ZStW 93 [1981] 1147, 1148 ff; Löwe-Rosenberg/Meyer-Goßner § 172 Rdn. 44 ff). Auszugehen ist von dem geschützten Rechtsgut. Der Rechtsträger ist von der Tat stets betroffen (BGHSt. 7 245, 246; RGSt. 38 6, 7; vgl. auch RGSt. 10 210, 212; 19 250). Steht das Recht mehreren nach Bruchteilen oder zur gesamten Hand zu, so ist jeder von ihnen verletzt und selbständig antragsberechtigt (RGSt. 10 210, 212; 41 103; 41 377, 378). Doch genügt diese Zuordnung nicht. Sie versagt, wo es an einem individuellen Rechtsträger fehlt wie in § 107 Nr. 2 UrhG, der die Allgemeinheit vor Kunstfälschungen schützt ( Weber S. 254, 371 f). In anderen Fällen ist sie unzureichend. Verkehrsfähige Sachen gelangen oftmals weit aus dem Gesichtskreis des Rechtsträgers hinaus, und die formale Inhaberstellung spiegelt nicht stets die zugrunde liegenden wirtschaftlichen Verhältnisse wieder. So stehen in Fällen des Versendungskaufs, des einfachen und des verlängerten Eigentumsvorbehalts sowie der Sicherungsübereignung die wesentlichen Eigentümerbefugnisse häufig nicht dem Inhaber des formalen Rechts zu. Ähnlich verhält es sich bei Sicherungszession und Factoring. In Fällen der Nutzungsüberlassung zu obligatorischem Recht kann die Entziehung der Sache den Nutzungsberechtigten empfindlicher treffen als den vielleicht nur kapitalmäßig interessierten Eigentümer. In allen diesen Fällen ist deshalb auch derjenige verletzt, in dessen Rechtskreis die Tat unmittelbar eingreift23, sowie derjenige, dem eine besondere Verantwortung für die Erhaltung des Gegenstandes obliegt (RGSt. 65 354, 355). Im einzelnen s. dazu Rdn. 25 ff. 24

Am unmittelbaren Eingriff fehlt es bei der Versicherungsgesellschaft, welche Ersatz für den Verlust oder die Zerstörung einer versicherten Sache zu leisten hat (RG GA 1903 287) sowie bei dem, der nur durch eine Pflicht zur Wiederherstellung des

22 S. ferner OLG Düsseldorf NJW 1982 2680; der vom OLG Schleswig entschiedene Fall SchlHA 1980 171 entzieht sich mangels näherer Einzelheiten des mitgeteilten Sachverhalts einer Beurteilung. 23 BGHSt. 31 207, 210; RGSt. 1 370, 371; 11 53, 54; 19 378, 379; 63 76, 77; 68 305; 76 335, 336; BayObLG NJW 1981 1053; OLG Karlsruhe NJW 1979 2056; Blei AT 18 § 110 II 3; Henkel Strafverfahrensrecht 2. Aufl. (1968) S. 188; Lackner 15 Anm. 2a; Preisendanz Anm. 2; der Sache nach enger Sch.-Schröder-Streek Rdn. 10; a. A. Rudolphi JR 1983 27; SK-Rudolphi Rdn. 1. (22)

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Zustands vor der Tat betroffen ist (RGSt. 4 326). Kein Verletzter ist auch der Ehemann der Bestohlenen als Haupt der häuslichen Gemeinschaft (überholt RGSt. 40 187). Beim Versuch ist Verletzter, wem der Angriff galt (BGHSt. 7 245, 246), bei einem Gefährdungsdelikt der Gefährdete (BGH VRS 13 362). b) Verletzter bei einzelnen Delikten Beleidigung (§ 194). Verletzt ist der Beleidigte. Dessen Bestimmung kann 25 Schwierigkeiten bereiten, wenn Personengesamtheiten angegriffen werden (vgl. OLG Köln JMB1NRW1984 47). Sind sie als solche beleidigungsfähig und beleidigt, müssen sie selbst durch ihre Organe Strafantrag stellen (BGHSt. 6 186, 187). Sind die einzelnen Mitglieder in ihrer Ehre gekränkt, bedarf es eines Strafantrags der Einzelperson (BGHSt. 14 48, 50; RGSt. 40 184; 71 321, 323; OLG Hamburg MDR 1981 71); weder eine öffentlich-rechtliche Körperschaft (RGSt. 37 37) noch ein privater Verein ist zur Antragstellung für sie befugt. In diesem Fall genügt auch nicht ein Mehrheitsbeschluß des Gremiums als Grundlage der Antragstellung durch einen Bevollmächtigten, weil ungewiß bleibt, welcher Verletzte Strafverfolgung begehrt (RGSt. 40 184). Hat ein Mitglied der Personengesamtheit für diese Strafantrag gestellt, so ist darin aber auch ein persönlicher Strafantrag des Mitglieds zu sehen (RG GA 1912 318, Rdn. 18). Die wegen Beleidigung eines Gesetzgebungsorgans oder einer politischen Körperschaft erforderliche Ermächtigung (§ 194 Abs. 4) ersetzt nicht den Strafantrag wegen Beleidigung einzelner Mitglieder (KG JR 1980 290). Die Bundesregierung ist als solche beleidigungsfähig. Ihre Willensbildung geschieht durch Beschlußfassung, deren Ausführung dem Bundeskanzler unabhängig vom Wechsel der Minister obliegt (BGH bei Pfeiffer-Maul-Schulte § 61 Anm. 5; für die Reichsregierung RG HRR 1925 Nr. 1393; Schlichter GA 1966 353, 359). Die Bundeswehr ist ebenfalls beleidigungsfähig; das Antragsrecht hat der Bundesminister der Verteidigung (OLG Hamm NZWehrR 1977 70; AG Regensburg NZWehrR 1982 111). Zum Antragsrecht von Behörden § 194 Abs. 2 Satz 2. Betrug (§ 263 Abs. 4, §§ 247, 248 a). Verletzt ist der Geschädigte, nicht der Getäuschte (BGHSt. 7 245, 246; RGSt. 72 324, 325; 74 167,169). Diebstahl (§§247, 248 a). Beim Diebstahl ist neben dem Eigentümer auch der 26 Gewahrsamsinhaber verletzt 24; ferner der Käufer nach Gefahrübergang (BayObLG NJW 1963 1464). Die Gegenauffassung, die nur den Eigentümer als antragsberechtigt betrachtet 25, setzt zu Unrecht die Antragsbefugnis mit der Rechtsträgerschaft gleich (Rdn. 23). Entführungsdelikte (§ 238). Die Entführung gegen den Willen der Entführten 27 (§ 237) schützt die sexuelle Selbstbestimmung der Frau; daher muß sie den Strafantrag stellen; bei Minderjährigkeit gilt Absatz 3 (BGH NStZ 1981 479; BayObLGSt. 1961 40; s. Rdn. 46). Die Kindesentziehung (§ 235) und die Entführung mit Willen (§ 236) richten sich gegen die Muntgewalt des Sorgeberechtigten. Daher ist verletzt, wem die Personensorge zusteht. Das sind zunächst die Eltern, und zwar jeder El24 BGHSt. 10 400, 401 ; BGH bei Dallinger MDR 1955 143; RGSt. 4 346, 348; 10 210, 211; 19 378, 379; RG Rspr. 8 703; RG DR 1943 513; Blei AT18 § 110 II 3; BT 12 § 53 II; Bockelmann BT 12 § 5 I 2b; Jescheck AT § 85 I 3 ; Maurach-Gössel-Zipf AT 2 § 74 II Rdn. 9; Preisendanz Anm. 2. 25 Arzt LH 3 S. 23; Sch.-Schröder-Eserli §242 Rdn. 1; §247 Rdn. 9 ff; S K-Samson §247 Rdn. 5; ähnlich auch Dreher/Tröndle42 Rdn. 2, § 247 Rdn. 5. (23)

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ternteil für sich allein 26, so daß auch ein Elternteil gegen den anderen Strafantrag stellen kann (OLG Hamm JR 1983 513 m. Anm. Oehler). Die Anordnung der Fürsorgeerziehung nimmt den Eltern das Antragsrecht gegen Dritte nicht (BGH NJW 1981 2015); freiwillige Erziehungshilfe schränkt es auch gegenüber dem Träger der Jugendhilfe nicht ein (BGH NJW 1963 1412). Hat ein Elternteil nur das Recht zum persönlichen Umgang mit dem Kind (§ 1634 BGB), so ist er antragsberechtigt, sofern dieses Recht durch den anderen Elternteil oder Dritte vereitelt wird (BGHSt. 10 376; RGSt. 66 254, 255). Haben die Eltern das Sorgerecht nicht, so ist antragsberechtigt derjenige, auf den es übertragen wurde; er kann es auch gegen die leiblichen Eltern ausüben, wenn diese das Kind etwa aus der Pflegefamilie herausholen (OLG Düsseldorf NStZ 1981 103 m. Anm. Bottke JR 1981 387; überholt OLG Stuttgart NJW 1956 1001). Ist den Eltern das Aufenthaltsbestimmungsrecht entzogen und einem Pfleger übertragen, so kann dieser Strafantrag stellen (OLG Bremen JR 1961 107); kraft des ihnen verbliebenen Restes des Sorgerechts können die Eltern aber noch gegen Dritte vorgehen. Ist das Kind bei Pflegeeltern untergebracht, ohne daß ihnen vom Vormundschaftsgericht ein familienrechtlicher Titel verliehen ist (§ 1630 Abs. 3, § 1632 Abs. 4 BGB), verbleibt das Antragsrecht in vollem Umfang beim Sorgeberechtigten (OLG Düsseldorf NStZ 1981 103; Bottke JR 1981 389; s. auch RGSt. 37 1 ; 48 198). Exhibitionistische Handlungen (§ 183). Verletzt ist der Belästigte. Ein Strafantrag wegen „Beleidigung auf sittlicher Grundlage" umfaßt das Delikt des § 183 (BGH bei Dallinger MDR 1974 546). 28 Geheimnisbruch (§§205, 355; §41 BundesdatenschutzG ; §120 BetriebsverfG ; § 404 AktG; § 85 GmbHG ; § 151 GenG; § 19 Gesetz über die Rechnungslegung von bestimmten Unternehmen und Konzernen; § 66 Schwerbehindertengesetz). Die Verletzung des privaten Geheimbereichs ist nicht einheitlich zu beurteilen. Der Schutz der Vertraulichkeit des Wortes (§ 201) dient jedem, dessen Wort aufgenommen oder abgehört wird; im Falle eines Gesprächs ist daher jeder Gesprächsteilnehmer antragsberechtigt, aber auch niemand sonst 27. Die Verletzung des Briefgeheimnisses (§ 202) betrifft den zur Tatzeit Verfügungsberechtigten 28. Verschlossene Personalakten unterliegen der Verfügung der aktenführenden Stelle, nicht der des Bediensteten. Ebenso verletzt die Öffnung eines Arztberichts nicht den Patienten, sondern den Arzt oder den Empfänger des Berichts. Postalisch beförderte Briefe gehören bis zum Zugang dem Absender, danach auch bei unrichtiger Auslieferung an Dritte dem Empfänger (RG GA 1914 339, 340; RG LZ 1916 Sp. 1269; RGZ 94 1, 3; a. A. SK-Samson § 205 Rdn. 4). Die Post als Beförderungsunternehmen ist nicht antragsberechtigt; die ihren inneren Betrieb betreffenden Taten sind in § 354 als Offizialdelikte erfaßt. Die Offenbarung und Verwertung von Privatgeheimnissen (§§ 203, 204) verletzt den, dessen Sphäre das Geheimnis entstammt, den Träger des Geheimnisses 29. Streitig ist, ob daneben antragsberechtigt auch derjenige ist, der einem 26 BayObLGSt. 1961 40; OLG Hamm NJW 1970 578; Dreher/Tröndle42 § 238 Rdn. 2; H. Lange NJW 1961 1889, 1894; Sch.-Schröder-Eser2\ § 238 Rdn. 3; SK-Horn § 238 Rdn. 3; Vogler LK § 238 Rdn. 1. 27 Dreher/Tröndle*·! § 205 Rdn. 2; Sch.-Schröder-Lenckner21 § 205 Rdn. 3; SK-Samson § 205 Rdn. 3. 28 Dreher/Tröndle*! § 205 Rdn. 3; Sch.-Schröder-Lenckner21 § 205 Rdn. 4. 29 BGH NJW 1953 1878; Arians in Oehler Der strafrechtliche Schutz des Geschäfts- und Betriebsgeheimnisses in den Ländern der Europäischen Gemeinschaft sowie in Österreich und der Schweiz, Bd. 2 (1978) S. 397; Dreher/Tröndle42 § 205 Rdn. 4; Maurach-Schroeder BT 1 § 29 III 7. (24)

Antragsberechtigte (Jähnke)

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Schweigepflichtigen ein Drittgeheimnis anvertraut hat, sei es auch nur im Rahmen einer der in den §§ 203, 204 vorausgesetzten Vertrauensbeziehungen30. Das Merkmal des „Anvertrauens" ist indessen zur Abgrenzung des Kreises der Antragsberechtigten ungeeignet, weil der Schweigepflichtige nicht nur anvertraute, sondern auch sonst ihm beruflich bekanntgewordene Tatsachen geheimhalten muß. Hiervon ausgehend, wäre auch dem Arbeitgeber ein Strafantragsrecht einzuräumen, der dem plaudernden Arzt die f ü r die Untersuchung eines Bediensteten erforderlichen Angaben gemacht hat. Ebenso müßte dem Arzt ein Strafantragsrecht gegenüber seiner Gehilfin zustehen, welche die Krankengeschichte eines prominenten Patienten verkauft. Eine derart weite Zielrichtung hat § 205 aber nicht. Maßgebend ist vielmehr, daß es um Geheimnisse intimster Art gehen kann, über deren Erörterung in einer Gerichtsverhandlung allein der Betroffene befinden darf. Unbeschadet des Streits um das geschützte Rechtsgut (und die Einwilligungsberechtigung) ist das Antragsrecht deshalb auf den Geheimnisträger zu begrenzen. Ebenso liegt es bei dem Steuergeheimnis (§ 355). Im Bereich des Datenschutzes (§ 41 Abs. 3 Bundesdatenschutzgesetz) steht das Strafantragsrecht demjenigen zu, mit dessen Daten unbefugt umgegangen wird, nicht auch dem „Herrn der Daten", der_ Datenbank 31. Ebenso ist der Träger des Geheimnisses antragsberechtigt bei strafbarer Geheimnisverletzung nach § 120 des Betriebsverfassungsgesetzes vom 15.1. 1972 (BGBl. I S. 13). Verletzt ist bei der Preisgabe von Geschäftsgeheimnissen der Unternehmer, bei der Preisgabe von Geheimnissen eines Beschäftigten dieser 32. In den gesellschaftsrechtlichen Strafvorschriften ist im Gesetz jeweils die Gesellschaft ausdrücklich als antragsberechtigt bezeichnet und zusätzlich bestimmt, wer f ü r sie handelt. Gesellschaften sind ohne Rücksicht auf ihre etwaige Löschung im Handelsregister bis zur endgültigen Auflösung handlungsfähig. Solange können sie auch einen Strafantrag stellen (Tiedemann in ScAo/zGmbHG § 85 Rdn. 36). Gewerbliche Schutzrechte (§ 142 Abs. 2 Patentgesetz; § 16 Abs. 2 Gebrauchsmustergesetz; § 49 Abs. 2 Sortenschutzgesetz). Die Wahrnehmung gewerblicher Schutzrechte 33 obliegt in erster Linie dem Rechtsinhaber (RGSt. 12 327, 328; 42 238). Daneben ist der Ausübungsberechtigte (RGSt. 11 266, 267; R G Rspr. 6 144) u n d der sog. Monopolist, dem der Vertrieb der Ware für ein bestimmtes Gebiet übertragen ist (RGSt. 38 39, 42) zum Strafantrag befugt 34. Die Antragsbefugnis setzt jetzt mit der Entstehung des Rechts ein, das ist beim Patent die Veröffentlichung über die Erteilung des Schutzrechts (§ 58 Abs. 1 PatG); auf die nur deklaratorisch wirkende Eintragung in der Patentrolle (§ 30 PatG) kommt es nicht an (a. A. Benkard PatG 7. Aufl. [1981] § 142 Rdn. 7). 30 So Sch.-Schröder-Lenckner2\ §205 Rdn. 5; s. ferner Hackel Drittgeheimnisse innerhalb der ärztlichen Schweigepflicht, NJW 1969 2257; weitergehend S K-Samson § 205 Rdn. 5. 31 Ambs in Erbs-Kohlhaas Strafrechtliche Nebengesetze, Bundesdatenschutzgesetz § 41 Anm. 8; Tegtmeyer ÖVD 1981 H. 5 S. 12 m. w. N.; zum Streitstand auch Auernhammer Bundesdatenschutzgesetz 2. Aufl. (1981) § 41 Rdn. 10 mit Fn. 20; zum geschützten Rechtsgut Tiedemann Datenübermittlung als Straftatbestand, NJW 1981 945, 947; s. ferner vor § 77 Rdn. 16. 32 Galperin/Löwisch Betriebsverfassungsgesetz 6. Aufl. (1982) §120 Rdn. 21; Gnade/Kehrmann/Schneider/Blanke Betriebsverfassungsgesetz 2. Aufl. (1983) § 120 Rdn. 9. 33 Das Antragsrecht in dem früheren § 14 Warenzeichengesetz ist beseitigt. Die dazu ergangene Rechtsprechung bleibt jedoch im vorliegenden Zusammenhang verwertbar. 34 Dazu Benkard PatG 7. Aufl. (1981) § 142 Rdn. 6; Schulte PatG 3. Aufl. (1981) § 142 Rdn. 5. (25)

§77

4. Abschnitt. Strafantrag, Ermächtigung, Strafverlangen

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Hausfriedensbruch (§ 123). Verletzt ist der Inhaber des Hausrechts. Das kann der Eigentümer sein, auch wenn er einen Raum zu vorübergehendem Gebrauch anderen überlassen hat (RGSt. 61 33, 35). Ferner kommt dafür namentlich der Mieter und der sonst Gebrauchs- oder Nutzungsberechtigte in Betracht (RGSt. 1 306). Maßgebend ist insoweit der rechtsgeschäftliche Besitztitel (RGSt. 11 53, 55). Eine Wohnung wird, sofern es sich nicht um eine Dienst- oder Werkswohnung handelt, dem Ehemann und der Ehefrau gemeinsam überlassen, so daß beide antragsberechtigt sind (Dreher/TröndleV § 123 Rdn. 22; Schäfer LK § 123 Rdn. 84). Andere Angehörige dürfen zwar kraft ihrer Zugehörigkeit zur Familiengemeinschaft Fremde aus der Wohnung weisen (BGHSt. 21 224; RGSt. 11 53, 54); sie werden dadurch aber nicht Inhaber des Hausrechts (Maurach-Gössel-Zipf AT 2 § 74 II Rdn. 9). Für eine Behörde (s. dazu vor § 77 Rdn. 8) nimmt der Behördenvorstand das Hausrecht wahr. Durch Gesetz oder Organisationsakt kann es aber anderen Personen übertragen sein (OLG Köln NStZ 1982 333). So liegt es in einer Universität beim Rektor, je nach landesrechtlicher Regelung auch bei dem Dozenten (BGH NStZ 1982 158, 159). In einem Gericht steht es dem Präsidenten oder Direktor zu (BGHSt. 30 350, 353; dort und in BGHSt. 24 329, 330 ferner zum Verhältnis Hausrecht-Sitzungspolizei). Ein nicht rechtsfähiger Verein kann Inhaber des Hausrechts sein (OLG Düsseldorf MDR 1979 692 betr. Partei). Zum Hausrecht in Bahnhöfen RGSt. 41 416. 30 Körperverletzung (§ 232). Antragsberechtigt ist der Mißhandelte (RGSt. 1 370, 371; 24 427, 428). Kraftfahrzeuggebrauch (§ 248 b). Der unbefugte Kraftfahrzeuggebrauch verletzt den Eigentümer sowie den auf Grund persönlichen oder dinglichen Rechts zur Nutzung Berechtigten (dazu BGH VRS 39 199; a. A. Jagusch/Hentschel Straßenverk e h r s r e c h t 27 § 248b StGB Rdn. 15; SK-Samson §248b Rdn. 14). Kein Antragsrecht hat der bloße Besitzdiener (AG Nienburg NdsRpfl. 1965 21). Ein wegen Sachbeschädigung gestellter Strafantrag kann genügen (BGH VRS 34 423). 31 Pfandkehr (§ 289). Die Pfandkehr richtet sich gegen das Recht des Gläubigers oder Nutznießers, mag dieser die Forderung auch durch stille Zession abgetreten haben (Rdn. 23). Bei der Verletzung gesetzlicher Pfandrechte ist der Sicherungsberechtigte antragsbefugt (dazu Schäfer LK § 289 Rdn. 3). Im Falle des Konkurses des Gläubigers kann der Konkursverwalter Strafantrag stellen (RGSt. 23 221; 33 433; 35 149), aber nicht gegen den Gemeinschuldner (RG JW 1911 509). Ebenso ist der Zwangsverwalter zum Strafantrag befugt, wenn der Mieter das gesetzliche Vermieterpfandrecht beeinträchtigt (RGSt. 23 344). Der Gerichtsvollzieher hat kein Antragsrecht (RG JW 1929 2429). 32 Sachbeschädigung (§ 303). Die Sachbeschädigung verletzt den Eigentümer (BGH NStZ 1982 508; OLG Stuttgart Justiz 1976 437), den Käufer nach Gefahrübergang (BayObLG NJW 1963 1464; Reichel DJZ 1922 175), den Unternehmer eines Werkvertrages vor Gefahrübergang (RGSt. 63 76, 77) sowie denjenigen, der unmittelbar die Gebrauchsvorteile der Sache zu ziehen berechtigt ist 35, wie Mieter, Entleiher

35 RGSt. 1 306; 4 326, 327; 8 399, 402; 71 137; R G GA 1903 287; K G H R R 1925 Nr. 1595; Dreher/Tröndle42 § 303 Rdn. 13; Maurach-Schroeder BT 1 § 33 III 5; Preisendanz Anm. 2; Wolff LK § 303 Rdn. 14; a. A. Rudolphi JR 1982 27; Sch.-Schröder-Stree 21 § 303 Rdn. 15; SK-Samson § 303 Rdn. 12. (26)

Antragsberechtigte (Jähnke)

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(Rdn. 23). Ein nur ideelles Interesse genügt aber nicht. Eine politische Partei, die auf Grund des bürgerlichen Rechts mit der Anbringung eines Wahlplakats alle ihre Rechte daran verliert, ist nicht antragsbefugt (BayObLG NJW 1981 1053 m. Anm. Rudolphi JR 1982 27; OLG Karlsruhe NJW 1979 2056). Wegen der Beschädigung von Staatseigentum ist der Leiter der Behörde antragsberechtigt, welcher die Verwaltung der Sache obliegt (RGSt.65 354, 357; RG GA 1910 201); Organisationsnormen — die allerdings oft nicht näher zwischen Inhaberschaft des Antragsrechts und Ausübungsermächtigung unterscheiden, vgl. RGSt. 51 83 ; 68 305 — können abweichende Bestimmungen treffen. Daher kann der Leiter einer Straßenmeisterei bei Beschädigung eines Verkehrsschildes zuständig sein (OLG Celle NStZ 1981 223). Unterorganisationen einer Partei kann das Recht ebenfalls zustehen (BGH NStZ 1982 508). Unterschlagung (§ 247). Verletzt ist der Eigentümer (RGSt. 49 194, 198; Dreher/ 33 Tröndle42 § 247 Rdn. 5). Untreue (§ 266 Abs. 3, §§ 247, 248 a). Die Untreue richtet sich gegen den Inhaber des zu betreuenden Vermögens, der daher Verletzter und antragsberechtigt ist. Urheberrecht (§ 109UrhG; §33 Abs. 2 KunsturhG; §14 GeschmacksmusterG). Antragsberechtigt nach dem Urheberrecht 36 ist stets der Urheber des Werkes, daneben auch der Nutzungsberechtigte ( Weber S. 374) unabhängig davon, ob er lediglich ein einfaches oder ein ausschließliches Nutzungsrecht hat (Rdn. 23 ; abw. Weber S. 374). Zugelassene Wahrnehmungsgesellschaften wie die GEMA sind antragsberechtigt, sofern ihnen die Nutzungsrechte übertragen worden sind 37. Zur Kunstfälschung durch den Urheber s. Rdn. 56. In gleicher Weise ist das Antragsrecht nach dem Geschmacksmustergesetz zu beurteilen. Das Antragsrecht des Kunsturhebergesetzes hingegen dient dem Schutz des Abgebildeten, der damit allein den Strafantrag stellen darf. Vereiteln der Zwangsvollstreckung (§ 288). Die Straftat verletzt den Gläubiger, 34 von dem eine konkrete Zwangsvollstreckung droht. Die bloße Eigenschaft als Grundpfandgläubiger verschafft daher noch kein Antragsrecht (RGSt. 17 42, 45 ; RG JW 1911 509). Der titulierte Anspruch muß auch sachlich begründet, also nicht etwa bereits erfüllt sein (RG JW 1937 1336; RG LZ 1926 Sp. 491). Einwendungen, die nicht im Wege der Vollstreckungsgegenklage (§ 767 ZPO) geltend gemacht werden können, stehen aber auch der Geltendmachung des Strafantragsrechts nicht entgegen. Zum Strafantragsrecht des Konkursverwalters und Sequesters s. bei Pfandkehr, zum Antragsrecht des Finanzamts RG JW 1929 2429; OLG Celle HRR 1927 Nr. 1080; OLG Schleswig SchlHA 1956 212. Verführung (§ 182). Der Tatbestand schützt die sexuelle Selbstbestimmung der Frau, die daher — bei Minderjährigkeit durch den gesetzlichen Vertreter — den Strafantrag zu stellen hat. Wettbewerbsrecht (§ 22 UWG). Durch die sog. Angestelltenbestechung 35 (§ 12 UWG) kann der Geschäftsherr des Bestochenen verletzt sein, wenn die Tat ihm gegenüber unlauter ist (BGHSt. 31 207; RGSt. 76 335, 336; a. A. RG JW 1935

36 Dazu RGSt. 38 6; Möhring-Nicolini Urheberrechtsgesetz, 1970 (Nachtrag 1979) §109

Anm. 3b; Weber S. 372 ff. 37 Vgl. § 1 Abs. 3 Satz 2 des Gesetzes über die Wahrnehmung von Urheberrechten und verwandten Schutzrechten v. 9. 9.1965, BGBl. I S. 1294; WeberS. 374; KG NStZ 1983 561. (27)

§77

4. Abschnitt. Strafantrag, Ermächtigung, Strafverlangen

363), im übrigen jeder Mitbewerber, nie aber der Kunde 38. Beim Verrat eines Betriebs· oder Geschäftsgeheimnisses (§17 UWG) durch den Bediensteten einer Vertriebsfirma kann auch die Produktionsfirma verletzt sein (RG JW 1936 3471). Zum Antragsrecht von Verbänden Rdn. 37. Wegen Betriebsspionage s. im übrigen auch unter „ Geheimnisbruch ". Wilderei (§ 294). Jagd- und Fischwilderei verletzen das Aneignungsrecht des Jagd- und des Jagdausübungsberechtigten sowie der Fischereiberechtigten. Diese Personen sind antragsbefugt (RG JW 1932 1589; OLG Oldenburg NdsRpfl. 1961 37), nicht dagegen der Grundstückseigentümer in dieser Eigenschaft (RGSt. 4 158) oder der Jagdgast. § 294 ist wegen seiner ins einzelne gehenden Bestimmungen nicht analogiefähig; §248a findet daher keine Anwendung (Schäfer LK §294 R d n . 1 ; a. A. Sch.-Schröder-Eser2\

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§ 2 9 2 R d n . 19; SK-Samson

§ 2 9 4 R d n . 2.

c) Beginn und Ende der Verletzteneigenschaft. Die die Eigenschaft als Verletzter begründenden Umstände (ζ. B. die Eigentümerstellung bei § 247) müssen im Tatzeitpunkt vorliegen (RGSt. 41 377, 380). Verlangt das Antragserfordernis zugleich eine besondere persönliche Beziehung des Täters zum Opfer (Rdn. 3), bedarf es mithin des Vorliegens beider Voraussetzungen zur Tatzeit. Ein Verein, der sich als verletzt betrachtet, muß demgemäß bestanden haben (RGSt. 46 324; weitergehend Mösl Voraufl. § 61 Rdn. 14). Je nach Rechtsnatur des Delikts muß er auch spätestens während der Tatausführung die Rechtsfähigkeit erlangt haben (RGSt. 49 66). Der Inhaber eines Schutzrechts kann Strafantrag nur wegen der Verletzungshandlungen stellen, die nach dem Erwerb des Rechts liegen (RGSt. 43 335, 336). Der Konkursverwalter wahrt hingegen Rechte der Masse und damit des Gemeinschuldners, er braucht deshalb im Tatzeitpunkt noch nicht bestellt gewesen zu sein (RGSt. 35 149). Gesellschaften bestehen bis zur endgültigen Auflösung (Rdn. 28). Durch einen Wegfall der die Verletzteneigenschaft begründenden Umstände nach der Tat ändert sich an der Antragsberechtigung nichts (Preisendanz Anm. 2 c). Der Eigentümer einer beschädigten Sache, der Inhaber eines Schutzrechts können nach der Veräußerung des beschädigten oder verletzten Gegenstands Strafantrag stellen. Dasselbe Recht hat der Mieter nach dem Auszug aus der Wohnung wegen der während der Mietzeit begangenen Taten (RGSt. 71 137). Der neue Rechtsinhaber ist zum Strafantrag wegen der nach seinem Rechtserwerb verübten Verletzungshandlungen befugt (RGSt. 29 363, 367; 41 422, 425; 43 335, 336), sofern der Übertragungsakt wirksam ist (RGSt. 12 327, 328; 39 15, 17). So steht auch dem Erben das Antragsrecht wegen der nach dem Erbfall begangenen Taten zu ( Weber S. 373). Dagegen ist das Strafantragsrecht selbst nicht übertragbar oder vererblich (RGSt. 43 335, 336; Härtung NJW 1950 670); es geht lediglich in bestimmten Fällen auf andere Personen über (Rdn. 57). 2. Andere Antragsberechtigte Soweit das Gesetz es bestimmt, sind auch andere als der Verletzte zum Strafantrag berechtigt. Derartige Bestimmungen finden sich im StGB in § 194 Abs. 2, 3, § 232 Abs. 2, § 355 Abs. 3. Für das Strafantragsrecht des Dienstvorgesetzten trifft § 77 a die allgemeinen Regelungen (s. dort). § 86 JWG, § 15 FAG und § 145 a Satz 38 Baumbach/Hefermehl Wettbewerbsrecht 14. Aufl. (1983) § 2 2 Rdn. 2; v. Godin Wettbewerbsrecht 2. Aufl. (1974) § 22 UWG Anm. 2; eingehend, auch rechtspolitisch, Kragler Wirtschaftsspionage Bd. 2 (1982) Rdn. 67 ff. (28)

Antragsberechtigte (Jähnke)

§77

2 StGB enthalten Strafantragsrechte von Behörden (hierzu vor § 77 Rdn. 5, 8). In den gesellschaftsrechtlichen Strafvorschriften (z. B. § 404 AktG) ist jeweils die Gesellschaft als allein antragsberechtigt bestimmt und zusätzlich festgelegt, wer für sie handelt. Im Wettbewerbsrecht ist nach § 22 i. V. mit § 13 Abs. 1 UWG bestimmten Verbänden ein Antragsrecht beigelegt. Dazu gehören Handwerkskammern (BGHSt. 2 396, 400; RGSt. 43 44, 46), Ärztekammern (RGSt. 35 267, 268; 44 348), Landwirtschaftskammern (RG GA 1913 73) und die sonstigen öffentlich-rechtlichen Berufskammern mit Zwangsmitgliedschaft (RGSt. 43 47; BGHZ 79 392). Ebenso zählen hierzu Vereine, deren satzungsmäßiger Zweck die Förderung des lauteren Wettbewerbs ist und die daher nach § 13 Abs. 1 UWG das Klagerecht haben 39, nicht aber Verbraucherverbände (§13 Abs. l a UWG) oder Mischverbände (dazu BGH GRUR 1983 129). Im Betriebsverfassungsgesetz vom 15.1.1972 (BGBl. I S. 13) ist ein Antragsrecht bei strafbarer Störung und Behinderung von Organen der Betriebsverfassung dem Betriebsrat, dem Unternehmer, den Gewerkschaften und bei Wahlbehinderungen dem Wahlvorstand eingeräumt (§ 119 Abs. 2). Die Kollegialorgane haben den Antrag als solche auf Grund entsprechender Beschlußfassung zu stellen 40. Nach Landesrecht ist den Datenschutzbeauftragten der Länder vielfach ein Strafantragsrecht zugebilligt (s. vor § 77 Rdn. 16). V. Ausübung des Antragsrechts 1. Selbstausübung. Der Antragsberechtigte muß bei der Stellung des Strafantrags 38 selbst oder durch Boten oder Bevollmächtigte in Erscheinung treten. Unbeachtlich ist, ob er im Innenverhältnis zu einem Dritten an dessen Zustimmung gebunden ist (RGSt. 71 34, 39). Davon zu unterscheiden ist namentlich bei juristischen Personen und Behörden die Frage, durch wen sie handeln. a) Juristische Personen handeln durch ihre nach Gesetz oder Satzung berufenen 39 Organe unabhängig vom Wechsel der Mitglieder (RGSt. 58 202). Bei dem rechtsfähigen Verein ist dies der Vorstand (RGSt. 42 216; 58 202), bei der werbenden GmbH der Geschäftsführer (BGHSt. 6 186, 187; OLG Koblenz OLGSt. § 77 StGB S. 1), nach Konkurseröffnung nur der Konkursverwalter (KG HRR 1935 Nr. 773). Die AG handelt ebenfalls durch den Vorstand (RGSt. 47 338, 339), eine öffentlichrechtliche Körperschaft durch den nach der Satzung dazu Bestellten (RGSt. 35 267 ; 43 44, 46; 70 140, 141), eine Gemeinde entsprechend den Vorschriften der jeweiligen Gemeindeordnung (RGSt. 24 179 ; 68 305; BayObLGSt. 1953 185). Nach den jeweiligen Vorschriften beurteilt es sich auch, ob Einzel- oder Gesamtvertretung stattfindet. Da Gesamthandsgemeinschaften und Bruchteilsgemeinschaften keine juristischen Personen sind, handelt hier der einzelne Gemeinschafter als Rechtsträger (RGSt. 10 210, 212; 41 103; s. aber zur Beleidigung Rdn. 25), so auch bei einer in Liquidation befindlichen OHG (RGSt. 41 377 gegen RGSt. 28 275, 277). 39 RGSt. 42 216; 44 143, 148; 46 324; 49 66; RG GA 1905 82; Baumbach/Hefermehl Wettbewerbsrecht 14. Aufl. (1983) § 22 Rdn. 3; § 13 Rdn. 15, 15a. 40 BayObLGSt. 1980 64, 65; Fitting/Auffarth/Kaiser BetrVG 13. Aufl. (1981) § 119 Rdn. 11; Galperin/Löwisch BetrVG 6. Aufl. (1982) § 119 Rdn. 24, 25; Gnade/Kehrmann/Schneider/ Blanke BetrVG 2. Aufl. (1983) § 119 Rdn. 20. (29)

§77 40

4. Abschnitt. Strafantrag, Ermächtigung, Strafverlangen

b) Die Handlungsmacht für Behörden ist häufig rechtssatzmäßig festgelegt; anderenfalls ist im Rahmen der Behördenzuständigkeit — auch der örtlichen (RGSt. 19 378, 381) - der Leiter zur Antragstellung berufen (RG GA 1917 116; OLG Celle NStZ 1981 223; für Beleidigungen s. § 194 Abs. 3 Satz 2). Mitunter wird auch kein Unterschied zwischen eigenem Antragsrecht der Behörde und Ermächtigung durch den Rechtsträger gemacht (RGSt. 51 83 ; 68 305). Bei Gesamtvertretung können die Gesamtvertreter einen von ihnen zur Antragstellung bevollmächtigen (BayObLGSt. 1955 225, 229; BayObLG JW 1925 2796). Der Behördenleiter kann intern an die Beschlußfassung eines Kollegialorgans gebunden sein; rechtlich beachtlich ist auch hier aber nur seine Willensäußerung (RGSt. 24 179 ; 41 195; 57 143). Läßt er sich vertreten, so ist der Vertretungsgrund nicht nachzuprüfen (RGSt. 57 143, 144; RG HRR 1926 Nr. 100). Handelt ein Staatsorgan wie die Bundesregierung hingegen durch Beschlußfassung, muß ein entsprechender Beschluß vorliegen; der Kanzler führt ihn lediglich aus (BGH bei Pfeiffer-Maul-Schulte §61 Anm. 5; für die Reichsregierung RG HRR 1925 Nr. 1393). Zeichnet ein Beamter den Strafantrag „Im Auftrag", so handelt er für die Behörde, nicht für den Leiter persönlich (RGSt. 21 231, 233; RG HRR 1926 Nr. 100).

41

c) Parteien. Gewerkschaften. Für die Unterorganisation einer Partei handelt im Rahmen der Satzung der Vorsitzende (BGH NStZ 1982 508; OLG Stuttgart Justiz 1976 437). Eine Gewerkschaft wird ebenfalls durch ihre satzungsgemäßen Organe, nicht durch bloße Verwaltungs- oder Außenstellen repräsentiert (BayObLGSt. 1980 64, 65).

42

d) Je nach Aufgabenkreis und verletztem Rechtsgut können auch bestellte Vermögensverwalter kraft ihres Amtes ein eigenes Strafantragsrecht haben. Dies gilt etwa für den Konkursverwalter (RGSt. 23 221; 33 433; 35 149; KG HRR 1935 Nr. 773), den Zwangsverwalter eines Grundstücks (RGSt. 23 344), den Pfleger für unbekannte Erben (RGSt. 8 112; abw. — Vertretung — RGZ 106 46, 47), den Testamentsvollstrecker (SK-Rudolphi Rdn. 4).

43

2. Stellvertretung a) Gesetzliche Vertretung (Absatz 3). Nicht voll geschäftsfähige Personen können zwar Verletzte und darum antragsberechtigt sein. Sie sind aber — vom Fall des über 18 Jahre alten beschränkt Geschäftsfähigen (Absatz 3 Satz 2) abgesehen — rechtlich außerstande, das Antragsrecht selbst auszuüben (BGH NStZ 1981 479). Dazu ist vielmehr ihr gesetzlicher Vertreter berufen (Absatz 3 Satz 1), der nicht aus eigenem Recht tätig wird, sondern allein Befugnisse des Verletzten wahrnimmt und in seinem Namen handelt 41. Mit dem Tode des Verletzten endet deshalb die Möglichkeit, einen gesetzlichen Vertreter zu bestellen (RGSt. 1 370, 373). Zu demselben Zeitpunkt, aber auch mit jedem sonstigen Aufhören der gesetzlichen Vertretung erlischt ferner die Handlungs-

41 RGSt. 22 256; 24 427, 429; 57 240, 241 ; RG GA 1909 78; OLG Breslau HRR 1932 Nr. 809; OLG Oldenburg NJW 1956 682; Dreher/TröndleV Rdn. 17; Jescheck AT § 85 I 3; LacknéTl5 Anm. 4b; Sch.-Schröder-Streek Rdn. 23; SK-Rudolphi Rdn. 12; a. A. Coenders GS 83 286, 336 ff. (30)

Antragsberechtigte (Jähnke)

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macht eines vorhandenen Vertreters. Er kann einen unterlassenen Strafantrag nicht mehr nachholen 42. Die gesetzliche Vertretung des Verletzten endet auch dann mit dessen Tod, wenn nach Absatz 2 ein Übergang des Antragsrechts stattfindet. Ob der neue Berechtigte selbst handeln kann, beurteilt sich nach den in seiner Person gegebenen Verhältnissen. Zur Antragsfrist, wenn die gesetzliche Vertretung durch Eintritt der Volljährigkeit endet, s. § 77 b Rdn. 15). Wer gesetzlicher Vertreter ist, bestimmt sich nach bürgerlichem Recht. Dieses ist auch maßgebend für die Frage der Geschäftsfähigkeit (RGSt. 34 98, 99). Kein Fall der gesetzlichen Vertretung i. S. d. § 77 ist die Schlüsselgewalt der Ehefrau nach § 1357 BGB (BGH bei Dallinger MDR 1955 143). aa) für Volljährige, die wegen Geisteskrankheit entmündigt oder sonst geschäfts- 44 unfähig sind (§ 104 Nr. 2, 3 BGB), handelt der Vormund, im Rahmen seines Wirkungskreises ein etwa bestellter Ergänzungs- oder Gebrechlichkeitspfleger (§§ 1909, 1910 Abs. 2 BGB) und in dringenden Fällen das Vormundschaftsgericht selbst43. Der Wirkungskreis eines Pflegers ergibt sich aus seiner Bestellung; er muß nach Absatz 3 Angelegenheiten der Sorge für die Person des Antragsberechtigten umfassen (näher Rdn. 50). Wegen der Wirkungen eines Wechsels des Vertreters s. Rdn. 49. Unter vorläufige Vormundschaft gestellte Personen und wegen Geistesschwäche, 45 Verschwendung, Trunksucht oder Rauschgiftsucht Entmündigte sind beschränkt geschäftsfähig (§114 BGB). Sie werden gesetzlich wie die Geschäftsunfähigen vertreten. Daneben können sie ihr Antragsrecht aber auch selbst ausüben (Absatz 3 Satz 2). Diese gesetzliche Sonderregelung (dazu RGSt. 24 427, 429; OLG Oldenburg NJW 1956 682) verleiht dem beschränkt Geschäftsfähigen zwar eine besondere Antragsmündigkeit. Sie schafft aber kein doppeltes Antragsrecht; der gesetzliche Vertreter bleibt rechtlich Willensorgan des Vertretenen (RGSt. 22 256, 257; OLG Oldenburg NJW 1956 682). Daraus ergeben sich praktische Auswirkungen, wenn die beschränkte Geschäftsfähigkeit während des Laufs der Antragsfrist eintritt oder endigt (§ 77 b Rdn. 15). Ansonsten können der Vertreter und der Vertretene völlig unabhängig voneinander handeln. Die in der Person des einen gegebenen Umstände (Fristbeginn, Antragstellung, Rücknahme, Verzicht, Fristversäumnis) berühren nicht die Befugnisse des anderen und umgekehrt 44. Das Recht zur selbständigen Ausübung des Antragsrechts nach Absatz 3 Satz 2 entsteht mit der Vollendung des 18. Lebensjahres, das ist nach § 187 Abs. 2 BGB der Beginn des 18. Geburtstages (RGSt. 35 37; 69 378). Gleichgültig ist, wann die Tat begangen wurde (RGSt. 69 378, 379). bb) Minderjährige werden durch denjenigen vertreten, dem die Personensorge 46 zusteht; diese schließt nach dem bürgerlichen Recht die Vertretung in den persönlichen Angelegenheiten ein (§ 1626 Abs. 1, § 1629 BGB). Liegt die Obhut für die Person kraft einer Entscheidung des Vormundschaftsgerichts nicht bei dem gesetzlichen Vertreter, sondern bei einem Dritten, so ist auch dieser antragsberechtigt. Derartige Fälle sind nach § 1630 Abs. 3, § 1632 Abs. 4 BGB (Übertragung von Sor42 RGSt. 4 145, 147; 57 240, 241 ; RG JW 1930 1003, 1005 m. Anm. Alsberg; Härtung NJW 1950 670; nicht einschlägig und überholt RGSt. 1 29; 13 115; 35 131, 133; 38 34, 37; RG H R R 1937 Nr. 531 ; a. A. OLG Celle H R R 1926 Nr. 997. 43 RGSt. 75 146; OLG Schleswig SchlHA 1955 226; Palandt-Diederichsen BGB 42. Aufl. (1983) § 1846 Anm. 2; Soergel-Damrau BGB 11. Aufl. (1981) § 1846 Rdn. 4. 44 RGSt. 24 427, 431 ; 73 113, 115 ; OLG Oldenburg NJW 1956 682. (31)

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4. Abschnitt. Strafantrag, Ermächtigung, Strafverlangen

gebefugnissen bei Familienpflege) und allgemein auf G r u n d des § 1666 BGB möglich (OLG Bremen J R 1961 107). D a ß der Minderjährige nur tatsächlich von Dritten — etwa den Großeltern — betreut wird, verleiht diesen noch kein Strafantragsrecht. 47

Gesetzliche Vertreter eines Minderjährigen sind die Eltern (§ 1629 Abs. 1 BGB), eines nichtehelichen Kindes die Mutter (§ 1705 BGB); sind die Eltern ausgefallen, ist ein Vormund, f ü r einzelne Angelegenheiten ein Pfleger zu bestellen (§§ 1773, 1909 BGB). Notfalls handelt auch das Vormundschaftsgericht selbst (Rdn. 44). Adoption schließt die Befugnisse der leiblichen Eltern aus (§§ 1754, 1755 BGB); f ü r die Zeit des Adoptionsverfahrens vgl. § 1751 BGB. Die Eltern sind nach bürgerlichem Recht nur zur Gesamtvertretung befugt. Sie müssen nach dieser für das Strafrecht verbindlichen Regelung auch bei der Strafantragstellung gemeinschaftlich handeln 45. Aber sie können sich gegenseitig bevollmächtigen (Rdn. 52). Diese Rechtslage ändert sich durch Getrenntleben oder Scheidung nicht. Erst wenn die Personensorge einem Elternteil übertragen wird (§§ 1671, 1672 BGB), verliert sie mit Wirkung f ü r das Vertretungsrecht beim Strafantrag der andere 46. Wem die Vermögenssorge übertragen wird, ist nach dem Gesetz unerheblich (a. A. zum früheren Recht Stree F a m R Z 1956 365, 366). Zur anderen Lage bei Entführungsdelikten s. Rdn. 27. Ein Elternteil ist ferner alleiniger gesetzlicher Vertreter, wenn das Sorgerecht dem anderen Teil entzogen wird oder wenn es ruht. Ist ein Elternteil aus tatsächlichen G r ü n d e n an der Ausübung der elterlichen Sorge verhindert, so kann der andere Teil das Strafantragsrecht ebenfalls allein ausüben (§ 1678 BGB). Das kann zutreffen bei unbekanntem Aufenthalt (BGH N J W 1967 941, 942), bei längerer Krankenhausbehandlung (BGH bei Daliinger M D R 1972 923) oder Strafverbüßung ( R G G A 1908 334).

48

Ist ein zur Gesamtvertretung berufener Elternteil Täter, so ist er rechtlich verhindert, für sein durch die Tat verletztes Kind Strafantrag zu stellen 47; er müßte gegen sich selbst als Vertreter des Kindes vorgehen. § 181 BGB, der einen allgemeinen Rechtsgedanken ausdrückt, schließt das aus (s. ferner § 4 0 4 AktG, § 85 G m b H G ; § 151 GenG). Der Elternteil, der Täter ist, kann Strafantrag aber auch nicht gegen Mitbeteiligte stellen. Dies verdeutlichen § 77 Abs. 2 Satz 3 u n d § 77 d Abs. 2 Satz 3. Danach scheiden Tatbeteiligte beim Übergang des Antragsrechts u n d als Rücknahmeberechtigte nach dem Tod des Antragstellers aus. Diese zunächst perfektionistisch anmutenden Vorschriften wären kaum begründbar, wenn sie nicht Ausdruck eines dem Strafantragsrecht allgemein zugrundeliegenden Rechtsprinzips wären. Es versagt dem Tatbeteiligten die Antragsbefugnis schlechthin und bei jeder Art von Beteiligung. Daraus ergibt sich zugleich, d a ß der rechtliche Verhinderungsgrund nicht nur bei Täterschaft oder Mittäterschaft vorliegt, sondern auch bei Teilnahme (.Bindokat N J W 1955 1863, 1864; Sch.-Schröder-Streek Rdn. 21), ferner bei Begün45 BGH FamRZ 1960 197; BayObLGSt. 1956 8; 1960 266; Boeckmann NJW 1960 1938; Dreher/Tröndle^l Rdn. 11; Jescheck AT § 85 I 3; Lackner 15 Anm. 4a; H. Lange NJW 1961 1889; 1893; Maurach-Gössel-Zipf AT 2 §7411 Rdn. 13; Sch.-Schröder-Streek Rdn. 16; SK-Rudolphi Rdn. 9 ; krit. Kohlhaas NJW 1960 1 ; JR 1972 326. 46 BGH St. 6 155, 156; BGH MDR 1953 596; BGH FamRZ 1960 197; RG DR 1944 767. 47 BGHSt. 6 155, 157; RGSt. 73 113, 115; RG Rspr. 3 771; BayObLGSt. 1956 158, 160; Bindokat WW 1955 1863; Dreher/Tröndle42 Rdn. 11; Lackner15 Anm. 4c; Maurach-GösselZipf AT 2 §7411 Rdn. 13; Preisendanz Anm. 4a; Sch.-Schröder-Streek Rdn. 21; SK-Rudolph! Rdn. 11. (32)

Antragsberechtigte (Jähnke)

§77

stigung, Hehlerei (a. Α. E 1962 S. 253; Lackner 15 Anm. 3 a ; Preisendanz Anm. 4 a ) und Strafvereitelung. Die Begünstigung wird im Recht des Strafantrags der Beteiligung weithin gleichgestellt (Rdn. 2). Eine sachgerechte H a n d h a b u n g des Strafantragsrechts durch den gesetzlichen Vertreter, der gegen das Kind gefehlt hat, ist auch in allen anderen Fällen nicht zu erwarten. Das Antragsrecht übt bei Verhinderung des einen Elternteils der andere Elternteil aus48. Der Einwand, nach dem Sinn der §§ 1795 Nr. 3, 1629 Abs. 2 Satz 1 BGB sei auch er rechtlich an der Ausübung verhindert, weil er gegen den Ehegatten vorgehen müsse 49, greift letztlich nicht durch. Ist die Tat noch im Familienkreis verborgen, hat die Regelung des Strafantragsrechts keinen Einfluß darauf, ob es zur Strafverfolgung kommt. Ist die Tat bekannt, weigert sich der tatunbeteiligte Elternteil aber, Strafantrag zu stellen, kann das Vormundschaftsgericht ebenso tätig werden, wie wenn diesem Elternteil die Vertretungsmacht von vornherein fehlte (vgl. B G H S t . 6 155, 158; 7 256, 261; R G S t . 5 0 156; BayObLGSt. 1956 158, 161). Sind beide Eltern an der Tat beteiligt, bedarf es zur Antragstellung eines Pflegers (Boeckmann N J W 1960 1938, 1939). cc) Wechsel des Vertreters. Wechselt die Person des gesetzlichen Vertreters, so ist 4 9 das auf die Rechtslage ohne Einfluß. Der Nachfolger m u ß alle Handlungen und Unterlassungen seines Vorgängers gegen sich gelten lassen. So tritt der neue Vertreter in die f ü r den früheren laufende Antragsfrist ein ; ist sie verstrichen, vermag die Bestellung eines Pflegers daran nichts mehr zu ändern 50. Ebenso wirken Rücknahme u n d Verzicht endgültig (RGSt. 36 64,65). dd) Pfleger. Ist ein Pfleger bestellt, so hat der Strafrichter zwar die Rechtswirk- 50 samkeit des Bestellungsakts zu prüfen (RGSt. 11 196, 201), nicht dagegen die sachlichen Voraussetzungen der Bestellung (RGSt. 35 47, 48; 49 225, 229; 50 156, 157; R G G A 1912 452). Ebensowenig unterliegt seiner Beurteilung, ob die Handlungsweise des Pflegers im Innenverhältnis zum Pflegling pflichtgemäß ist (RGSt. 5 190, 192; 36 64, 65; 75 146). Die Ordnungsmäßigkeit des Strafantrags selbst ist hingegen wie stets nachzuprüfen und hängt sachlich vom Wirkungskreis des Pflegers ab. Da Absatz 3 die Antragstellung allgemein in den Bereich der Personensorge verweist, m u ß der Wirkungskreis des Pflegers Angelegenheiten der Personensorge umfassen ; Vermögenspfleger sind zur Vertretung bei der Antragstellung nicht berechtigt (OLG H a m m N J W 1960 834). Pfleger f ü r die Person müssen zusätzlich gerade zum Strafantrag ermächtigt sein (vgl. RGSt. 35 47, 48; 50 156); bei einem f ü r das Fürsorgeerziehungsverfahren bestellten Pfleger ist das nicht ohne weiteres der Fall ( R G H R R 1 9 3 9 Nr. 341). b) Gewillkürte Stellvertretung aa) Formen. Das Recht zum Strafantrag ist zwar höchstpersönlicher Natur u n d 51 daher weder übertragbar noch vererblich. N u r kraft ausdrücklicher gesetzlicher Vorschrift k a n n es mit dem Tode des Verletzten auf andere Personen übergehen (Absatz 2). Der Antragsberechtigte m u ß es aber nicht persönlich wahrnehmen, son48 BGHSt. 6 I55, 158; RGSt. 5 190, 192; RG Rspr. 3 771 ; BayObLGSt. 1956 158, 161 ; Boeckmann N.I W 1960 1938, 1939; Dreher/Tröndle*2 Rdn. 11 ; Lackner\S Anm. 4a; Peters Strafprozeß 3. Aufl. (1981) § 27 II; SK-Rudolphi Rdn. 11. 49 Bindokat NJW 1955 1863; H. Lange NJW 1961 1889, 1894; Schwoerer NJW 1956 1688; Stree FamRZ 1956 365, 367; Sch.-Schröder-Stree21 Rdn. 21.

50 BGHSt. 6 155, 157, 159; RGSt. 5 190, 192; 24 427, 431 ; 36 64, 65; RG GA 1909 78. (33)

§ 77

4. Abschnitt. Strafantrag, Ermächtigung, Strafverlangen

dern kann sich dazu der Hilfe Dritter bedienen. Zu unterscheiden ist hierbei die Antragstellung mittels Boten, durch einen Vertreter in der Erklärung und durch einen Vertreter im Willen (dazu BGHSt. 9 149, 151 f; Stree NJW 1956 454). Der Bote überbringt eine fremde Erklärung, ohne daß ihm ein eigener Entscheidungsspielraum eingeräumt ist. Der Vertreter in der Erklärung hat einen bestimmten Auftrag zur Stellung des Strafantrags, doch ist ihm die Art der Ausführung selbst überlassen. Beispiel hierfür ist der Rechtsanwalt, der ein Mandat zur Strafanzeige, Privatklage oder Nebenklage hat (Stree NJW 1956 454, 455). Der Vertreter im Willen ist dagegen frei auch in der Entscheidung, ob überhaupt Strafantrag gestellt werden soll. 52

bb) Zulässigkeit. Die Antragstellung durch Boten ist unbeschränkt zulässig (RG Rspr. 10 90). Da der Bote eine fremde Erklärung überbringt, muß diese der Form des § 158 Abs. 2 StPO genügen; Antragstellung zu Protokoll scheidet damit aus (Stree NJW 1956 454). Auch die Vertretung in der Erklärung ist nach allgemeiner Ansicht ohne weiteres statthaft 51. Daher können Gesamtvertreter dergestalt handeln, daß einer von ihnen den Strafantrag formgerecht stellt, nachdem der andere ihn formlos dazu ermächtigt hat. Praktisch wird dies vor allem für Eltern Minderjähriger 52, aber auch in Fällen organschaftlichen Handelns für Gesellschaften und Körperschaften des öffentlichen Rechts 53. Nicht eindeutig geklärt ist bislang die Zulässigkeit der Vertretung im Willen. Übereinstimmung herrscht zwar darüber, daß eine solche bei Strafanträgen wegen Verletzung vermögenswerter Rechte unbedenklich ist 54. Anders liegt es nach verbreiteter Meinung aber bei Strafanträgen, welche die Verfolgung von Verletzungen höchstpersönlicher Rechtsgüter zum Ziele haben 55 oder sich gegen Angehörige richten 56. Dem ist jedoch nur mit Einschränkungen beizutreten. Zwar ist die Verletzung eines höchstpersönlichen Rechtsguts oder des Familienfriedens ein Ereignis, zu dessen Beurteilung Dritte zunächst nicht aufgerufen sind. Aber das schließt nicht aus, daß der Verletzte seine Entscheidung für bestimmte Fallgruppen anderen überläßt. Überantwortet der jüdische Verfolgte die Antragstellung wegen Beleidigungen, die im Zusammenhang mit seinem Schicksal stehen, einer jüdischen Organisation, so ist kein Grund ersichtlich, dieser erweiterten Spezialvollmacht die Anerkennung 51 BGH LM StGB § 61 a. F. Nr. 2; BGH NStZ 1982 508; RGSt. 1 387, 388; 2 145, 148; 58 202; OLG Hamburg JR 1983 298; OLG Koblenz OLGSt. § 77 StGB S. 1 ; OLG Stuttgart Justiz 1976 437; Blei AT18 §110113; Dreher/Tröndle42 Rdn.21; Lackner \5 Anm. 2b; Preisendanz Anm. 2d; Sch.-Schröder-Streek Rdn. 26; SK-Rudolphi Rdn. 7; Stree NJW 1956 454, 455. 52 BGH JZ 1957 67; BayObLG NJW 1956 521; BayObLGSt. 1960 266; OLG Hamm FamRZ 1958 377; Blei AT18 §110113; Boeckmann NJW 1960 1938, 1939; Dreher/Tröndle42 Rdn. 11; Jescheck AT § 85 I 3; KK-Müller § 158 Rdn. 35; LacknerK Anm. 4a; H. Lange NJW 1961 1889, 1894; Maurach-Gössel-Zipf AT2 §7411 Rdn. 13; Sch.-Schröder-Streek Rdn. 16; SK-Rudolphi Rdn. 9. 53 RG HRR 1930 Nr. 566; BayObLGSt. 1955 225, 229. 54 RGSt. 35 267, 269; 44 348; 58 202; 68 263, 265; OLG Stuttgart Justiz 1976 437; Blei AT18 § 110 113; Dreher/Tröndle42 Rdn. 22; Lackner 15 Anm. 2b; Preisendanz Anm. 2d; Sch.Schröder-Stree21 Rdn. 27; SK-Rudolphi Rdn. 13. 55 RGSt. 21 231, 233; RG JW 1911 847, 848; RG GA 1912 318; OLG Bremen NJW 1961 1489; Dreher/Tröndle^· Rdn. 22; Jescheck AT § 85 I 3; Lackner 15 Anm. 2b; SK-Rudolphi Rdn. 13 ; Stree NJW 1956 454, 455. 56 RGSt. 2 145, 149 ; SK-Rudolphi Rdn. 13 ; Stree NJW 1956 454, 455. (34)

Antragsberechtigte (Jähnke)

§77

zu versagen (vgl. OLG Hamburg M D R 1981 71). Auch sonst kann der Verletzte ein Interesse daran haben, die Entscheidung über den Strafantrag Dritten zu überlassen, die die Zweckmäßigkeit strafrechtlichen Vorgehens besser als er zu beurteilen vermögen und ihn von den entsprechenden Überlegungen entlasten (so für Urheberrechtsverletzungen zu Recht Weber S. 371). Daher ist eine ausdrücklich oder nach den Umständen erklärte Bevollmächtigung zur Vertretung im Willen, soweit sie sich auf konkret bestimmbare Fallgruppen bezieht, als rechtswirksam anzusehen (im Ergebnis auch Dreher/TröndleV Rdn. 22; Sch,-Schröder-Streek Rdn. 27; SKRudolphi Rdn. 13). cc) Vollmacht. Gewillkürte Stellvertretung setzt eine Vollmacht voraus. Sie muß 53 wirklich erteilt sein, eine Anscheinsvollmacht gibt es nicht (RGSt. 7 4, 7 ; 12 327, 329; 60 281, 282). Sie bedarf aber keiner besonderen Form. Es genügt, wenn die Vollmacht mündlich oder stillschweigend erteilt ist 57. Doch muß sie vor der Antragstellung vorliegen (str., s. Rdn. 54) und von dem dazu Befugten (RGSt. 43 44; 58 202; s. ferner RGSt. 42 216; 47 338) erteilt sein. Der Bevollmächtigte muß nicht bestimmt, aber bestimmbar sein (RGSt. 44 348, 349). Der Nachweis der Bevollmächtigung ist nicht fristgebunden; er kann noch nach Ablauf der Antragsfrist und im gerichtlichen Verfahren erbracht werden 58. Der Vertreter braucht das Vertretungsverhältnis deshalb bei der Antragstellung auch nicht offenzulegen; der Mangel des Willens, im eigenen Namen zu handeln, ist unschädlich 59. Eine Reihe zivilrechtlicher Handlungsbefugnisse schließt die Vollmacht zur Stellung des Strafantrags ohne weiteres mit ein, sofern dieser nicht gegen Angehörige des Geschäftsherrn gerichtet ist oder dessen Willen widerspricht 60. Wer Vermögenswerte zu betreuen hat, darf Strafantrag wegen Straftaten stellen, welche gegen die betreuten Gegenstände verübt werden 61. Die einem Gutsverwalter erteilte Generalvollmacht berechtigt deshalb zum Strafantrag wegen Entwendung zum Gut gehöriger Sachen (RG Rspr. 6 734), die Vollmacht des Hausverwalters zum Strafantrag wegen Verletzung des Vermieterpfandrechts (RG Rspr. 3 770). Der Prokurist darf Strafantrag wegen Beeinträchtigung der Gegenstände des Handelsbetriebs stellen (RGSt. 15 144; RG GA 1905 82, 83; RG H R R 1933 Nr. 899), nicht jedoch der Handlungsbevollmächtigte (RGSt. 12 327, 329). Doch kann in der Übertragung einer Einzelaufgabe, etwa der Durchsetzung eines Anspruchs, gleichzeitig die Einzelvollmacht zur Stellung eines Strafantrags wegen Vereiteins der Zwangsvollstrekkung liegen (RG H R R 1930 Nr. 566). Man wird diese Grundsätze auf alle zur selbständigen Führung eines Betriebs oder Geschäfts bestellten Personen ohne Rücksicht darauf anwenden dürfen, ob es sich um ein kaufmännisches Gewerbe handelt (Blei AT 18 § 110 II 3). dd) Vollmachtloses Handeln. Vollmachtloses Handeln ist unwirksam (BGHSt. 9 54 149, 152; RGSt. 58 202, 204). Das ist auch der Fall, wenn ein Vertreter in der Erklärung seine Vollmacht überschreitet oder sich über ihren Inhalt irrt (Stree NJW 1956 57 BGH LM StGB § 61 a. F. Nr. 2; RGSt. 3 425; 6 69; 19 7, 9; 44 348, 349; 60 281, 282; 61 357; 62 262, 263; 68 263, 265; 68 305; R G Rspr. 2 625. 58 BGH NStZ 1982 508; RGSt. 60 281, 282; 61 45, 47; 61 357, 358; 62 262, 263; 68 263, 265; OLG Bremen NJW 1961 1489; a. A. KG HöchstRR 3 88, 89. 59 BGH LM StGB § 61 a. F. Nr. 2; BGH NStZ 1982 508; RGSt. 6 69; 61 45, 47; 61 357; RG Rspr. 2 625, 626; R G H R R 1931 Nr. 1006; OLG Hamm VRS 13 212. 60 RGSt. 2 145, 149; 15 144, 145; RG Rspr. 3 770; RG GA 1905 82, 83; RG H R R 1933 Nr. 899. 61 RGSt. 1 387, 389; 2 145, 149; 19 7, 9; 21 231, 232; RG H R R 1933 Nr. 899. (35)

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4. Abschnitt. Strafantrag, Ermächtigung, Strafverlangen

454, 455). Der ohne Vollmacht gestellte Strafantrag ist nicht genehmigungsfähig. Zwar hat die Rechtsprechung verschiedentlich angenommen, der Strafantrag des Vertreters ohne Vertretungsmacht werde wirksam, wenn der Verletzte ihn innerhalb der Antragsfrist g e n e h m i g e 62. Der BGH hat die nachträgliche Genehmigung für wirksam erachtet, sofern der Vertreter mit der vollmachtlosen Antragstellung zugleich eine eigene Angelegenheit besorgte. Nach seiner Ansicht war dies bei der Mutter anzunehmen, die im Namen des Kindes statt des allein sorgeberechtigten Ehemanns (BGH LM StGB § 61 a. F. Nr. 2) oder statt des Vormundes (BGH bei Pfeiffer-Maul-Schulte § 61 Anm. 8) handelte; ferner bei der Ehefrau, die wegen des Diebstahls von Hausratsgegenständen ihren antragsberechtigten Ehemann vertrat (BGH bei Daliinger MDR 1955 143). Indessen ist eine nachträgliche Genehmigung mit der Rechtsnatur des Strafantrags als Prozeßhandlung unvereinbar (RGSt. 61 357; 68 263, 265; s. auch RGSt. 36 413, 417). So wie eine beigefügte Bedingung (Rdn. 14) führt der Mangel der Vollmacht zu einem Zustand der Ungewißheit (vgl. LG Heilbronn Justiz 1980 480: schwebende Unwirksamkeit), der den Strafverfolgungsbehörden keine verläßliche Grundlage für ihr Handeln bietet. Einer solchen bedürfen sie jedoch. Daher vermag auch die Auffassung des BGH nicht zu befriedigen. Ob der Vertreter mit der Antragstellung zugleich eine eigene Angelegenheit besorgt hat, trägt vielmehr ein zusätzliches Moment der Ungewißheit in die Beurteilung der Rechtslage. 55

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ee) Erlöschen der Vollmacht. Die Vollmacht erlischt mit dem jederzeit formlos möglichen Widerruf und mit der Beendigung der sie einschließenden Verwaltungstätigkeit (Rdn. 53). Sie dauert auf Grund der höchstpersönlichen Natur des Antragsrechts auch nicht über den Tod des Vollmachtgebers hinaus fort (Härtung NJW 1950 670), vielmehr entstehen in diesem Zeitpunkt, sofern das Gesetz dies anordnet, neue Antragsrechte von Angehörigen oder Erben nach Absatz 2 (Rdn. 57). Ferner erlischt die Vollmacht mit dem Eintritt der Geschäftsunfähigkeit des Vollmachtgebers (RGSt. 2 145, 150), weil der Vertreter sich nicht in Widerspruch zu dem Willen des Vollmachtgebers setzen darf (Rdn. 53); dies setzt dessen Willensfähigkeit voraus. VI. Mißbrauch des Strafantrags Nach dem Gesetz findet eine Erforschung der Motive des Antragstellers für sein Handeln nicht statt (RG Rspr. 1 614, 615; Lichtner S. 202 ff; SK-Rudolphi vor § 77 Rdn. 5). Die Entscheidung des Verletzten ist deshalb in aller Regel hinzunehmen. Es gibt indessen auch Fälle des Rechtsmißbrauchs. Bereits das Reichsgericht hatte sich mit einem Fall zu befassen, in dem der Ehemann dem Ehebruch seiner Frau zustimmte und alsdann Strafantrag nach dem damals geltenden § 172 stellte (RGSt. 14 202). Das Reichsgericht hat eine Handhabe, ihm das Strafantragsrecht zu versagen, nicht gefunden. Die Problematik stellt sich heute unter dem Gesichtspunkt einer Beleidigung des Ehemannes. Sie greift aber darüber hinaus. Stellt der Geschäftsherr Strafantrag wegen Bestechung seines Angestellten (§§ 12, 22 UWG), obwohl er dessen Verhalten geduldet hat, oder verlangt der Künstler Strafverfolgung wegen Kunstfälschung nach § 107 Nr. 2 UrhG, obwohl er die falsche Signatur 62 RGSt. 12 327, 329; RG JW 1912 928; BayObLGSt. 1980 64, 65; OLG Darmstadt H RR 1933 Nr. 1712; OLG Hamm VRS 13 212; OLG Stuttgart Justiz 1976 437; ebenso Boeckmann NJW 1960 1938, 1939; Dreher/TröndleV- Rdn. 21 ; Jescheck AT § 85 I 3; Kohlhaas NJW 1954 1792, 1794; Preisendanz Anm. 2d; Sch.-Schröder-Streek Rdn. 30; a. A. Blei AT 18 § 110 II 3; Lackner 15 Anm. 2b; Löwe-Rosenberg/Meyer-Goßner§ 158 Rdn. 31. (36)

Antragsberechtigte (Jähnke)

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selbst veranlaßt oder zugelassen hat, so kann die Rechtsordnung derart anstößiges Vorverhalten nicht übergehen. Der Versuch freilich, die Wirksamkeit des Strafantrags vom öffentlichen Interesse an der Strafverfolgung abhängig zu machen (Naucke H. Mayer-Festschr. S. 565, 582), ist mit dem Gesetz unvereinbar (Rieß DJT-Gutachten Rdn. 95 Fn. 286; SK-Rudolphi\ox § 77 Rdn. 5; BGHSt. 7 256, 258; RGSt. 77 359). Auch die Heranziehung des Schikaneverbots des § 226 BGB (H. Mayer GS 104 302, 317) führt nicht weiter, da jeder Strafantrag den Zweck hat, dem Täter Schaden — durch Strafe — zuzufügen (zurückhaltend auch Dreher/Tröndle42 Rdn. 30; Henkel Strafverfahrensrecht 2. Aufl. [1968] S. 242 Fn. 18). Der BGH hat deshalb einen anderen Weg beschritten und für § 22 UWG ausgesprochen, daß der Geschäftsherr, der die Bestechung duldete, nicht durch eine ihm gegenüber begangene Pflichtwidrigkeit betroffen, also nicht Verletzter sei (BGHSt. 31 207, 212). Das ist überzeugend und hat für alle Fälle einer Verletzung disponibler Rechtsgüter zu gelten, auch für Angriffe gegen die Ehre, wenn der Betroffene sie zuvor preisgegeben hat. Wo Rechtsgüter der Allgemeinheit geschützt sind wie in § 107 Nr. 2 UrhG ( Weber S. 371 f), versagt dieser Weg allerdings, weil derartige Güter nicht der privaten Verfügung unterliegen. In solchen Fällen wird jedoch der Gedanke fruchtbar zu machen sein, daß der Tatbeteiligte rechtlich verhindert ist, Strafantrag zu stellen (Rdn. 48). Diese Erwägungen schließen es aber zugleich aus, das Strafantragsrecht bereits bei bewußter Selbstgefährdung zu versagen 63. VII. Übergang des Antragsrechts (Absatz 2) Da das Strafantragsrecht höchstpersönlich und unvererblich ist (RGSt. 11 53, 57 55 ; Härtung NJW 1950 670), erlischt es grundsätzlich mit dem Tode des Verletzten. In den Fällen des § 194 Abs. 1, § 205 Abs. 2 Satz 1, § 232 Abs. 1 Satz 2 StGB, § 120 Abs. 5 BetriebsverfG ordnet das Gesetz jedoch einen Übergang des noch nicht ausgeübten Antragsrechts auf Angehörige an 64. Für diese Fälle trifft Absatz 2 die allgemeinen Regelungen. Durch Verweisung ist Absatz 2 ferner anwendbar in den Fällen des § 165 Abs. 1 Satz 2 und des § 194 Abs. 2 Satz 1. Die Vorschrift hat Ausnahmecharakter und ist daher nicht analogiefähig; für das Klageerzwingungsverfahren des § 172 Abs. 2 StPO gilt sie nicht (OLG Hamm NJW 1977 64). Sie ist auch nicht umfassend. Neben dem Übergang des Antragsrechts auf Angehörige ist nach § 205 Abs. 2 Satz 2 StGB, § 120 Abs. 5 BetriebsverfG auch ein Übergang auf den Erben möglich. Dafür fehlt es an allgemeinen Regeln. Zur Antragsfrist s. §77b Rdn. 17, zur Zurücknahme § 77 d Rdn. 6. Voraussetzung des Übergangs ist, daß der Verletzte sich des Antragsrechts nicht begeben hatte und daß er dies auch nicht zu tun beabsichtigte. Hatte er das Recht durch Verstreichenlassen der Frist, Verzicht oder Rücknahme verloren, so entsteht es nach seinem Tode nicht neu. Hatte er im Bewußtsein der Tragweite seiner Äußerung (Lackner 15 Anm. 3 a) erklärt, Strafantrag nicht stellen zu wollen, so schließt dies den Rechtsübergang aus (Absatz 2 Satz 4). Die Erklärung braucht nicht förmlich festgehalten zu sein ; eine mündliche oder stillschweigende Willensäußerung genügt 65. 63 Befürwortend aber wohl Geppert ZStW 83 (1971) 947, 988 f; Kohlhaas DAR 1960 348, 350; Z/p/Einwilligung und Risikoübernahme im Strafrecht (1970) S. 69; weitergehend und unannehmbar Barnstorf NStZ 1985 67. 64 Zum Streitstand vor dem 2. StrRG Eb. Schmidt NJW 1962 1748. 65 Dreher/Tröndle42 Rdn. 7; Lackner15 Anm. 3 a; Maurach-Gössel-Zipf AT 2 § 74 II Rdn. 12; Sch.-Schröder-Stree21 Rdn. 12; SK-Rudolphi Rdn. 6. (37)

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4. Abschnitt. Strafantrag, Ermächtigung, Strafverlangen

Der Übergang des Antragsrechts geschieht — ähnlich wie bei der gesetzlichen Erbfolge, § 1924 ff BGB — nach Ordnungen. Das Gesetz sieht drei Gruppen Angehöriger vor, denen das Antragsrecht zufallen kann ; hinterläßt der Verletzte keinen Angehörigen aus einer dieser Gruppen, so findet ein Übergang nicht statt. Unter den drei Ordnungen besteht eine Rangfolge. Solange ein Mitglied einer vorangehenden Gruppe vorhanden ist, sind alle zur nächstfolgenden Gruppe gehörenden Angehörigen von der Antragsberechtigung ausgeschlossen. Innerhalb jeder einzelnen Ordnung dagegen hat jedes Mitglied ein selbständiges Antragsrecht, das es unabhängig von den anderen Berechtigten ausüben kann (Absatz 4). Sterben alle Mitglieder einer Ordnung nach dem Tod des Verletzten, findet ein neuerlicher Übergang des noch nicht erloschenen Antragsrechts statt. Dasselbe gilt, wenn ein Verwandtschaftsverhältnis nach dem Tode des Verletzten infolge Adoption oder Aufhebung der Adoption erlischt. Zur ersten Ordnung gehören der Ehegatte und die Kinder. Ehegatte ist die Person, die bis zum Tode des Verletzten mit diesem in formell gültiger Ehe lebte, also nicht der rechtskräftig geschiedene frühere Gatte ( Tröndle LK § 11 Rdn. 7). Dagegen ist unerheblich, ob die Lebensgemeinschaft aufgehoben oder ein Scheidungsverfahren eingeleitet war. Kinder sind alle leiblichen Abkömmlinge des Verletzten einschließlich der nichtehelichen Kinder, ferner Adoptivkinder. Zur zweiten Ordnung zählen die Eltern, das sind die ehelichen oder nichtehelichen Eltern und die Adoptiveltern. Die dritte Ordnung bilden die Geschwister und die Enkel des Verletzten. Auch hier ist gleichgültig, ob die Verwandtschaft auf ehelicher oder nichtehelicher Geburt beruht oder durch Adoption zustande gekommen ist. Halbbürtige Geschwister sind ebenfalls antragsberechtigt ( Tröndle LK § 11 Rdn. 10). Ausgeschlossen von dem Übergang des Antragsrechts ist jeder Tatbeteiligte (Täter, Teilnehmer, Begünstiger, Hehler, Täter einer Strafvereitelung, vgl. Rdn. 48). Er gilt als nicht vorhanden. Das Antragsrecht beschränkt sich auf die übrigen Mitglieder derselben Ordnung; wo solche fehlen, ist die nachfolgende Ordnung berufen. Dasselbe gilt, wenn ein Verwandtschaftsverhältnis infolge Adoption oder Aufhebung der Adoption im Zeitpunkt des Todes des Verletzten erloschen war. Das Erlöschen des Verwandtschaftsverhältnisses steht dem Tode der betreffenden Person gleich, geht aber insoweit darüber hinaus, als es sich auf die Abkömmlinge des Adoptierten erstreckt (§§ 1755, 1764 Abs. 2 BGB). VIII. Mehrheit von Antragsberechtigten (Absatz 4) In Übereinstimmung mit dem früheren Recht (§ 62 a. F.) bestimmt Absatz 4 die Selbständigkeit des Antragsrechts mehrerer Berechtigter. Wodurch die einzelnen Antragsberechtigungen entstanden sind, ist gleich. Ihre Vervielfachung ist denkbar bei mehreren Verletzten derselben Tat, infolge Übergangs des Antragsrechts, durch seine Aufspaltung bei gesetzlicher Vertretung nach Absatz 3 Satz 2 und durch die Zubilligung der Antragsbefugnis an andere Personen als den Verletzten (Rdn. 37 ; ferner § 77 a). In allen diesen Fällen läuft die Antragsfrist für jeden Antragsberechtigten gesondert. Erlöschensgründe (Rücknahme, Verzicht) wirken nur in der Person des Betroffenen. IX. Untergang des Antragsrechts Das Recht zum Strafantrag erlischt, wenn es nicht fristgerecht ausgeübt wird (§ 77 b Rdn. 2), wenn ein gestellter Antrag zurückgenommen oder auf ihn verzichtet (38)

Antrag des Dienstvorgesetzten (Jähnke)

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wird (§ 77 d Rdn. 7, 8). Schließlich geht das Recht, soweit nicht ein Übergang stattfindet, mit dem Tod des Verletzten (RGSt. 11 53, 56) oder der Auflösung der verletzten Körperschaft unter.

§ 77 a Antrag des Dienstvorgesetzten (1) Ist die Tat von einem Amtsträger, einem für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteten oder einem Soldaten der Bundeswehr oder gegen ihn begangen und auf Antrag des Dienstvorgesetzten verfolgbar, so ist derjenige Dienstvorgesetzte antragsberechtigt, dem der Betreffende zur Zeit der Tat unterstellt war. (2) Bei Berufsrichtern ist an Stelle des Dienstvorgesetzten antragsberechtigt, wer die Dienstaufsicht über den Richter führt. Bei Soldaten ist Dienstvorgesetzter der Disziplinarvorgesetzte. (3) Bei einem Amtsträger oder einem für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteten, der keinen Dienstvorgesetzten hat oder gehabt hat, kann die Dienststelle, für die er tätig war, den Antrag stellen. Leitet der Amtsträger oder der Verpflichtete selbst diese Dienststelle, so ist die staatliche Aufsichtsbehörde antragsberechtigt. (4) Bei Mitgliedern der Bundesregierung ist die Bundesregierung, bei Mitgliedern einer Landesregierung die Landesregierung antragsberechtigt. Schrifttum S. vor § 77. Spezialliteratur zu dieser Vorschrift ist nicht vorhanden.

Entstehungsgeschichte S. vor § 77. Die Vorschrift ist, ohne Vorbild im früheren Recht, eingefügt durch Art. 1 Nr. 1 2. StrRG. Änderung durch Art. 18 Nr. 42 EGStGB. I. Allgemeines 1. Bedeutung. In den §§ 194, 232 und 355 sieht das Gesetz neben der Antragsbe- 1 rechtigung des Verletzten eine gleichartige Befugnis des Dienstvorgesetzten vor, wenn die Tat gegen oder durch einen Amtsträger oder eine gleichgestellte Person begangen ist. § 77 a enthält Rahmenregelungen darüber, wer in diesen Fällen als Dienstvorgesetzter den Strafantrag stellen kann (kritisch Rieß DJT-Gutachten Rdn. 99). 2. Geltungsbereich. Geregelt ist die Antragsberechtigung des Dienstvorgesetzten 2 für Amtsträger und für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichtete im Sinne des § 11 Abs. 1 Nr. 2, 4, für Soldaten der Bundeswehr und ferner für Regierungsmitglieder. § 355 Abs. 3 Satz 2 enthält darüber hinaus eine nicht verallgemeinerungsfähige Sonderregelung für amtlich zugezogene Sachverständige. Nach Art. 7 Abs. 2 Nr. 9 des 4. StRÄndG gilt § 194 Abs. 3 und damit § 77 a auch bei Beleidigungen von Dienststellen, Soldaten oder Beamten der Stationierungsstreitkräfte. Im Gegenschluß folgt daraus, daß Strafanträge von Vorgesetzten ausländischer Beamter im übrigen unbeachtlich sind, weil das deutsche Strafrecht nicht allgemein dem Schutz fremder Staatsapparate dient (a. A. RGSt. 4 40). (39)

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4. Abschnitt. Strafantrag, Ermächtigung, Strafverlangen

3. Sachlich-rechtliche Vorschriften über die Erwägungen, von denen sich der Dienstvorgesetzte bei der Entscheidung über die Antragstellung leiten lassen soll, finden sich im StGB nicht. Aus dem Zweck der ihm verliehenen Befugnis ergeben sich jedoch die Grundsätze, an denen er sich ausrichten kann. Das Antragsrecht des Vorgesetzten ist Ausfluß des Fürsorge-, Aufsichts- und Überwachungsrechts, dem der Verletzte oder der Täter durch seine öffentlich-rechtliche Stellung unterworfen ist. Es beruht ferner darauf, daß durch die Tat regelmäßig auch die Anstellungsbehörde mittelbar betroffen ist (BGHSt. 7 256,260; 9 265, 266; RGSt. 4 220, 222; 7 79, 81; 19 23, 24; BayObLGSt. 1956 227). Der Dienstvorgesetzte wird daher zu prüfen haben, ob nach den Umständen, nach der Persönlichkeit und dem Verhalten des Amtsträgers im allgemeinen und im gegebenen Falle sowie im Interesse der Behörde und des Amtsträgers die Strafverfolgung angezeigt ist (RGSt. 67 47, 49). Zur Frage, ob er dabei an den Gleichheitssatz des Art. 3 GG gebunden ist, s. vor § 77 Rdn. 8. Strafgerichtlicher Nachprüfung unterliegen die Gründe der Antragstellung des Dienstvorgesetzten nicht (unklar OstendorfJuS 1981 640, 642). II. Begriff des Dienstvorgesetzten 1. Maßgeblichkeit des Beamtenrechts. Mit der Zuordnung des Antragsrechts zum Dienstvorgesetzten knüpft § 77 a an einen festen beamtenrechtlichen Begriff an (E 1962 S. 254). Nach § 3 Abs. 2 BBG und den entsprechenden Vorschriften der Landesbeamtengesetze ist „Dienstvorgesetzter", wer für beamtenrechtliche Entscheidungen über die persönlichen Angelegenheiten der ihm nachgeordneten Beamten zuständig ist. Persönlich sind Angelegenheiten, welche die Rechtsstellung des Beamten selbst und sein Verhältnis zum Dienstherrn betreffen, insbesondere die Veränderung und Beendigung des Beamtenverhältnisses (Übersicht bei Ule Beamtenrecht [1970] S. 500). Im Gegensatz dazu ist „Vorgesetzter", wer dem Beamten für seine dienstliche Tätigkeit Anweisungen erteilen kann. Auf dieses dienstliche Weisungsrecht hatte die Rechtsprechung vor dem 2. StrRG bei der Auslegung des in §§ 196, 232 damals verwandten Begriffs des „amtlichen Vorgesetzten" abgehoben (RGSt. 4 220, 222; 30 171; 41 439, 440; 59 133, 134; RG G A 1912 447; RG HRR 1926 Nr. 2087). Jene Rechtsprechung ist damit weithin überholt (s. aber Rdn. 8). Zum Vorgesetztenverhältnis bei katholischen Pfarrern RG G A 1932 213. Da jeder Beamte einer Stelle bedarf, die seine persönlichen Angelegenheiten erledigt, gibt es nur wenige Amtsträger ohne Dienstvorgesetzten. Die Landesgesetzgebung legt die Funktion in weitem Umfang rechtssatzmäßig fest (Übersicht bei Schütz Beamtenrecht des Bundes und der Länder Teil C Rdn. 21 ff). Daran ist der Strafrichter gebunden, selbst wenn als Dienstvorgesetzter des ersten Beamten einer Behörde dessen allgemeiner Vertreter bezeichnet wird. 2. Mittelbare Dienstvorgesetzte. Dienstvorgesetzter ist aber nicht nur der unmittelbar mit der Entscheidungsgewalt über persönliche Angelegenheiten Befaßte. Im mehrstufigen Behördenaufbau der unmittelbaren Staatsverwaltung ist dies — sofern Rechtsvorschriften nicht entgegenstehen — vielmehr auch der entferntere Dienstvorgesetzte (Schütz aaO Rdn. 21). Jeder von ihnen hat ein eigenes Strafantragsrecht, das er unabhängig von dem der anderen Dienstvorgesetzten ausüben kann (E 1962 S. 254; RGSt. 46 203, 204; BayObLG JZ 1965 371; Lackner 15 Anm. 2; SK-Rudolphi Rdn. 1). Demgemäß läuft auch für jeden von ihnen eine besondere Antragsfrist. (40)

Antrag des Dienstvorgesetzten (Jähnke)

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3. Nebentätigkeiten. Dagegen fehlt es an einem Dienstvorgesetzten, soweit der 6 Amtsträger eine Nebentätigkeit ausübt, die nicht zu seinem dienstlichen Aufgabenbereich gehört. Das gilt auch, wenn die Nebentätigkeit einen engen sachlichen Zusammenhang mit dem Amt aufweist. Der als Sachverständiger vor Gericht gehörte Hochschullehrer, der wegen seines Gutachtens beleidigt wird, m u ß den Strafantrag daher selbst, als Verletzter, stellen (RGSt. 32 273, 276; BayObLGSt. 1978 31). III. Antragsberechtigung bei mehreren Vorgesetzten § 77 a hat eine Reihe von Zweifelsfragen bei mehrfachen Weisungsrechten besei- 7 tigt. Für einen Polizeibeamten, der am Einsatzort beleidigt oder angegriffen wird, sind nur die polizeilichen Dienstvorgesetzten antragsberechtigt, auch wenn es sich bei der Aktion um eine unter der Leitung eines Staatsanwalts stehende Strafverfolgungsmaßnahme handelt. Ebenso ist Dienstvorgesetzter eines Forstbeamten, der zugleich Hilfsbeamter der Staatsanwaltschaft ist, nur die Forstbehörde (s. schon RGSt. 23 357, 360). Dieses Prinzip berücksichtigt indessen nicht alle Eigentümlichkeiten des Beam- 8 tenrechts u n d der Staatsorganisation. Wird ein Beamter zu einem anderen Dienstherrn abgeordnet, so spaltet sich die Zuständigkeit f ü r die persönlichen beamtenrechtlichen Entscheidungen auf. Urlaub gewährt der neue Dienstherr, die Entlassung hat der alte vorzunehmen (s. Schütz Beamtenrecht des Bundes und der Länder Teil C § 29 Rdn. 9). Der Präsident der Oberfinanzdirektion ist in der Regel zugleich Bundes- u n d Landesbeamter, in seiner Behörde sind sowohl Bundes- wie auch Landesbedienstete tätig (§§ 8, 9 des Gesetzes über die Finanzverwaltung i. d. F. v. 30. 8.1971, BGBl. I S. 1426). Landratsämter können untere staatliche Verwaltungsbehörde u n d Organ des Landkreises als Gebietskörperschaft sein. Mitglieder von Verwaltungsausschüssen, von Leitungsgremien der mittelbaren Staatsverwaltung, des R u n d f u n k s , der Sparkassen oder ehrenamtliche Richter üben ihre Funktion meist im Nebenamt aus. Sind sie Angehörige des öffentlichen Dienstes, steht ihr Hauptamt oft in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit der Nebentätigkeit. In diesen vom Gesetzgeber nicht bedachten Fällen wäre es nicht sachgerecht, das Strafantragsrecht dem Dienstvorgesetzten des Hauptamts zu überantworten oder — etwa im Falle der Abordnung — mehreren Dienstherrn zuzubilligen. Dem Zweck des Strafantragsrechts vermag vielmehr am besten der Vorgesetzte zu genügen, dessen Funktionen der Amtsträger wahrnimmt. Hat der Amtsträger mehrere selbständige Ämter oder Dienstbereiche oder mehrere gleichgeordnete Dienstvorgesetzte, m u ß das Recht zum Strafantrag deshalb dem Dienstherrn zustehen, dessen Funktionen der Amtsträger im Tatzeitpunkt wahrnimmt 1. In diesem Bereich ist es mangels anderer Anhaltspunkte auch erforderlich, den Inhaber des Antragsrechts nach der Vorgesetzteneigenschaft, also wie unter der Geltung des früheren Rechts an H a n d der dienstlichen Weisungsbefugnis, zu bestimmen 2. Fehlt eine solche Weisungsbefugnis, greift Absatz 3 ein (Rdn. 13).

1 Dreher/TröndleV Rdn. 2; Sch.-Schröder-Stree21 Rdn. 2. 2 Vgl. dazu die Nachweise in Rdn. 4; zu Einzelfällen s. RGSt. 7 79, 84; 14 182; 19 23; 21 430 ; 24 340; 25 205; 29 211, 212; 29 273; 57 420; 74 268; RG Rspr. 2 686; 9 307; RG GA 1932 213; RG LZ 1917 Sp. 194; 1924 Sp. 826; BayObLGSt. 1956 227; OLG Köln MDR 1958 706. (41)

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4. Abschnitt. Strafantrag, Ermächtigung, Strafverlangen

IV. Entstehung, Ausübung des Antragsrechts 9 1. Entstehung. Maßgebend für die Entstehung des Antragsrechts ist der Tatzeitpunkt. In diesem Augenblick muß das Dienstvorgesetztenverhältnis bestehen (so schon RGSt. 13 95 ; 19 23). Ein Ruhestandsbeamter hat keinen Dienstvorgesetzten mehr (RGSt. 27 193). Auch für einen verstorbenen Beamten kann der frühere Vorgesetzte keinen Strafantrag mehr stellen (RGSt. 13 95). Dagegen bleibt der Dienstvorgesetzte antragsberechtigt, wenn sich die Tat gegen einen aktiven Amtsträger richtet, der erst danach aus dem Amt ausgeschieden ist (RG G A 1895 127). Das gilt nach der ausdrücklichen Vorschrift des Absatzes 1 auch für den Fall, daß der Amtsträger nicht aus dem Dienst ausscheidet, sondern in ein anderes Amt versetzt wird. Ein Wechsel in der Person des Dienstvorgesetzten ist stets unbeachtlich; es entscheidet der Nachfolger im Amt (E 1962 S. 254). Voraussetzung des Strafantragsrechts nach § 77 a ist aber stets das Vorhandensein eines Verletzten, der selbst Strafantrag stellen könnte. Läßt sich bei einer Beleidigung keine bestimmte Person als verletzt ermitteln, so erwächst dem Behördenleiter kein Strafantragsrecht daraus, daß der Angriff jedenfalls Behördenangehörigen galt (RG JW 1932 3267). Unerheblich für das Strafantragsrecht des Dienstvorgesetzten ist, ob das Beamtenverhältnis des Verletzten anfechtbar zustande gekommen ist (RGSt. 2 82). 10

2. Ausübung. Über die Ausübung des Strafantragsrechts muß der Dienstvorgesetzte selbst entscheiden. Er kann diese Befugnis nicht durch allgemeinen Organisationsakt auf nachgeordnete Beamte übertragen, weil nur von ihm die erforderliche Übersicht und umfassende Prüfung erwartet werden kann (RGSt. 30 171, 176; 67 47, 49; OLG Köln MDR 1958 706). Das bedeutet nicht, daß stets nur eine bestimmte Person tätig werden dürfte. So kann die Funktion des Dienstvorgesetzten als solche auf ein anderes Amt übergehen; für einen ausgeschiedenen Behördenleiter entscheidet sein Nachfolger im Amt; anstelle des Dienstvorgesetzten kann jederzeit sein allgemeiner Vertreter handeln (RG Rspr. 4 207), ohne daß das Vorliegen des Vertretungsfalls gerichtlich nachzuprüfen wäre. Schließlich ist es dem Dienstvorgesetzten auch unbenommen, im Einzelfall oder für eine bestimmte Gruppe von Taten einem Untergebenen die Weisung zu erteilen, Strafantrag zu stellen.

V. Sondervorschriften 11 1. Berufsrichter. Berufsrichter haben keinen Dienstvorgesetzten. Dessen Funktion hat nach Absatz 2 Satz 1, wer die Dienstaufsicht führt. In der ordentlichen Gerichtsbarkeit ist dies der Gerichtspräsident für die Mitglieder seines Gerichts; der Präsident des Landgerichts übt zugleich die Dienstaufsicht über die Richter an den nicht mit einem Präsidenten besetzten Amtsgerichten seines Bezirks aus. Übergeordnete Inhaber der Dienstaufsicht sind der Präsident des Oberlandesgerichts und der Justizminister. In den anderen Gerichtszweigen ist die Dienstaufsicht teilweise abweichend hiervon geregelt; die Richter des Bundesverfassungsgerichts unterstehen keiner Dienstaufsicht (dazu Schmidt-Räntsch DRiG 3. Aufl. [1983] §26 Rdn. 9 ff). 12

2. Soldaten. Für Soldaten gilt als Dienstvorgesetzter nach Absatz 2 Satz 2 jeder Disziplinarvorgesetzte. Wer dies ist, regeln § 1 Abs. 5 Soldatengesetz, §§ 23, 24 Wehrdisziplinarordnung. Danach reicht die Kette der Antragsberechtigten vom (42)

Antragsfrist (Jähnke)

§ 77 b

Kompaniechef über den Bataillonkommandeur bis zum Bundesminister der Verteidigung. 3. Amtsträger ohne Dienstvorgesetzten zur Zeit der Tat (Absatz 3) werden selten 13 sein (Rdn. 4); die Richter des Bundesverfassungsgerichts und ehrenamtliche Richter gehören dazu (Dreher/Tröndle^l Rdn. 6), auch weisungsfreie Mitglieder von Verwaltungsausschüssen oder Leitungsgremien öffentlicher Körperschaften und Anstalten. Beim Fehlen ausdrücklicher Regelungen kann auch der erste Beamte einer Körperschaft oder Anstalt des öffentlichen Rechts einschließlich der Gebietskörperschaften zu diesem Kreis zählen (vgl. zum früheren Recht BayObLGSt. 1956 227). Häufiger wird Absatz 3 bei für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteten in Betracht kommen, die nicht in einer Behörde arbeiten (§11 Abs. 1 Nr. 4 b). In allen diesen Fällen handelt die Behörde, für die der Verletzte zur Tatzeit tätig war, durch ihre organisationsrechtlich zuständigen Organe; ist der Verletzte der Behördenleiter, tritt an die Stelle der Behörde die staatliche Aufsichtsbehörde. 4. Regierungsmitglieder. Wird nicht eine Bundes- oder Landesregierung als sol- 14 che, sondern das einzelne Regierungsmitglied angegriffen, so kann nach Absatz 4 neben dem Verletzten die Regierung in der Funktion des Dienstvorgesetzten Strafantrag stellen. Die Willensbildung und Vertretung der Regierung regelt sich nach ihrer jeweiligen Geschäftsordnung (zur Bundesregierung § 77 Rdn. 40). Ein zwischen Tat und Antragstellung eingetretener Wechsel in der Zusammensetzung der Regierung ist unbeachtlich, da die Regierung als Staatsorgan handelt, nicht für ihre Mitglieder persönlich {Lackner 15 Anm. 5). Wie bei jedem anderen Dienstvorgesetzten kann daher auch hier der Nachfolger im Amt (Rdn. 9) handeln.

§ 77 b Antragsfrist (1) Eine Tat, die nur auf Antrag verfolgbar ist, wird nicht verfolgt, wenn der Antragsberechtigte es unterläßt, den Antrag bis zum Ablauf einer Frist von drei Monaten zu stellen. Fällt das Ende der Frist auf einen Sonntag, einen allgemeinen Feiertag oder einen Sonnabend, so endet die Frist mit Ablauf des nächsten Werktages. (2) Die Frist beginnt mit Ablauf des Tages, an dem der Berechtigte von der Tat und der Person des Täters Kenntnis erlangt. Hängt die Verfolgbarkeit der Tat auch von einer Entscheidung über die Nichtigkeit oder Auflösung einer Ehe ab, so beginnt die Frist nicht vor Ablauf des Tages, an dem der Berechtigte von der Rechtskraft der Entscheidung Kenntnis erlangt. Für den Antrag des gesetzlichen Vertreters und des Sorgeberechtigten kommt es auf dessen Kenntnis an. (3) Sind mehrere antragsberechtigt oder mehrere an der Tat beteiligt, so läuft die Frist für und gegen jeden gesondert. (4) Ist durch Tod des Verletzten das Antragsrecht auf Angehörige übergegangen, so endet die Frist frühestens drei Monate und spätestens sechs Monate nach dem Tode des Verletzten. Schrifttum 5. vor § 77. Spezialliteratur zur geltenden Vorschrift ist nicht vorhanden. (43)

§ 77 b

4. Abschnitt. Strafantrag, Ermächtigung, Strafverlangen

Entstehungsgeschichte S. vor § 77. Fassung durch Art. 1 Nr. 1 2. StrRG. Absatz 1 Satz 2 eingefügt durch Art. 18 Nr. 43 EGStGB.

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I. Zweck und Wirkung der Antragsfrist 1. Zweck. In Übereinstimmung mit dem früheren Recht (§61 a. F.) ist die Strafantragsbefugnis fristgebunden. Die zeitliche Begrenzung des Antragsrechts dient nicht dem Interesse des Täters (RGSt. 24 427, 428; 27 366, 367). Daß § 77 b keinen Vertrauenstatbestand zu seinen Gunsten schafft, zeigen die Bestimmungen über den Beginn der Antragsfrist (Absätze 2, 3). Der Fristenlauf kann bis zum Eintritt der Verjährung hinausgeschoben (RGSt. 6 37, 38) und für jeden von mehreren Antragsberechtigten unterschiedlich sein. Zweck der Antragsfrist ist es vielmehr, aus Gründen der öffentlichen Rechtsordnung den Zustand der Unentschiedenheit darüber abzukürzen, ob der Staat verpflichtet sei, den Täter zu verfolgen (RGSt. 71 34, 39 ; OLG Hamm VRS 10 134; Sch.-Schröder-Stree2\ Rdn. 1). 2. Wirkung. Die Antragsfrist ist eine Ausschlußfrist. Nutzt der Berechtigte sie nicht, so geht sein Antragsrecht unter. Gänzlich unerheblich ist, aus welchen Gründen er es nicht ausgeübt hat, sofern er dazu nur rechtlich und tatsächlich in der Lage war (RGSt. 26 116; 71 34, 39; OLG Saarbrücken VRS 30 40). Auch die fehlende Kenntnis des Berechtigten von einer neu eingeführten Strafantragsfrist ist auf ihren Ablauf ohne Einfluß (OLG Hamm NJW 1970 578). Daher gibt es gegen ihre Versäumung auch keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (OLG Bremen GA 1956 185; OLG Düsseldorf JMB1NRW 1973 57; Kohlhaas NJW 1954 1792, 1794; KK-Maul§ 44 Rdn. 10; Lackner 15 Anm. 1; Sch.-Schröder-Stree2\ Rdn. 1). Der Antragsberechtigte muß den Strafantrag nicht innerhalb der Antragsfrist stellen. Er kann dies zwar nicht mehr nach ihrem Ende, wohl aber vor ihrem Beginn tun. Kennt er die Tat nur in groben Umrissen oder ist die Person des Täters unbekannt, ist die Antragsfrist noch nicht in Lauf gesetzt (s. ferner Rdn. 6). Der angebrachte Strafantrag ist gleichwohl wirksam (RGSt. 38 434, 435; 45 128, 129; 51 63; 61 299, 302; RG Rspr. 1 614). Zur Antragstellung vor der Tat s. § 77 Rdn. 22. Über die verfahrensrechtlichen Folgen unwirksamer — etwa verspäteter — Strafanträge s. vor § 77 Rdn. 11. II. Dauer der Antragsfrist. Fristwahrung 1. Dauer. Die Antragsfrist beträgt drei Monate, kann im praktischen Ergebnis aber auch kürzer oder länger sein (§ 77 c Rdn. 1). Sie beginnt mit dem Ablauf des Tages, an dem der Berechtigte die erforderliche Kenntnis von Tat und Täter erlangt hat. Der Tag der Kenntniserlangung wird also nicht mitgezählt. Erhält der Verletzte die notwendige Kenntnis am 30. März, muß er Strafantrag bis 30. Juni, 24 Uhr, stellen (Dreher/TröndleW Rdn. 2); die frühere Rechtsprechung (vgl. etwa RGSt. 1 40, 41) ist insoweit gegenstandslos. Fällt das Ende der Antragsfrist auf einen Sonntag, allgemeinen Feiertag oder Sonnabend, so endet die Frist mit Ablauf des nächsten Werktages (Absatz 1 Satz 2) 1. Zum Ruhen des Fristenlaufs Rdn. 18.

1 Die frühere Streitfrage, ob § 43 Abs. 2 StPO Anwendung finde, ist damit erledigt; zu ihr U. Weber Fristverlängerung oder nicht? JZ 1971 490. (44)

Antragsfrist (Jähnke)

§ 77 b

Wird das Strafantragserfordernis für ein bestimmtes Delikt neu eingeführt, beginnt die Antragsfrist, sofern keine Übergangsregelung getroffen ist, auch in anhängigen Sachen mit dem Inkrafttreten der Gesetzesänderung (vgl. O L G H a m m N J W 1970 578; Koßmann, Blumenthal D J Z 1 9 1 2 Sp. 1294; s. auch vor § 77 Rdn. 13). 2. Fristwahrung. Gewahrt ist die Frist, wenn der Strafantrag vor ihrem Ablauf 4 der zuständigen Stelle (§ 77 Rdn. 6 ff) zugeht 2. Zugang ist bei schriftlicher Antragstellung der Einwurf in den Behördenbriefkasten (vgl. B G H F a m R Z 1984 358) oder die Ablieferung an einen zur Entgegennahme befugten Bediensteten innerhalb des Amtes (RGSt. 39 358; Löwe-Rosenberg/Meyer-Goßner § 158 Rdn. 18; a. A. O L G Celle H R R 1927 Nr. 653). Ist der Antrag bei einer unzuständigen Behörde eingereicht, wird er wirksam, wenn er innerhalb der Antragsfrist an eine zuständige Behörde gelangt (BGH bei Pfeiffer-Maul-Schulte § 61 Anm. 2; RGSt. 48 274, 275; R G Rspr. 10 90). Auch die Nachbesserung eines formfehlerhaften Strafantrags m u ß innerhalb der Frist geschehen (RGSt. 3 442, 444).

III. Beginn der Antragsfrist Die Antragsfrist beginnt mit der Kenntnis des Antragsberechtigten von Tat und 5 Täter, sofern er rechtlich und tatsächlich in der Lage ist, den Strafantrag auch zu stellen. Kenntnis bedeutet zuverlässiges, innerer Gewißheit mindestens nahekommendes Wissen ( R G H R R 1933 Nr. 899). 1. Tatbeendigung. Kenntnis der Tat setzt für den Fristbeginn voraus, daß objek- 6 tiv eine abgeschlossene Handlung vorliegt. Vorher kann der Antragsberechtigte ihr schädigendes Ausmaß nicht beurteilen (Blei AT 18 § 110 II 2; vgl. auch BGHSt. 11 119,121). Die Strafantragsfrist beginnt deshalb nicht vor dem Zeitpunkt, in dem die Rechtsgutverletzung aufhört. Solange sie andauert oder intensiviert wird, versäumt der Antragsberechtigte die Antragsfrist nicht, gleichgültig welchen Kenntnisstand er hat. Daher ist der früheste Zeitpunkt des Fristbeginns, abgesehen vom Versuch (dazu LG Konstanz N J W 1984 1767), nicht die Vollendung, sondern die Beendigung der Straftat3. Beim Erfolgsdelikt ist der letzte zutage getretene Erfolg maßgebend (BGHSt. 11 119, 121); im Falle der Körperverletzung können dies auch Spätfolgen der Tat sein (RGSt. 61 299, 303). Im Falle eines Dauerdelikts beginnt die Antragsfrist nicht vor der Beendigung des rechtswidrigen Zustandes, bei Kindesentziehung u n d Entführung mit Willen (§§ 235, 236) folglich frühestens mit der Freigabe oder der Volljährigkeit der betroffenen Person (RGSt. 43 285, 287; Vogler LK § 238 Rdn. 3). Nichts anderes gilt für die fortgesetzte Handlung. Zwar bedarf es hier eines jeden Einzelakt der fortgesetzten Handlung deckenden Strafantrags, weil der Verletzte seinen Verfolgungswillen beschränken k a n n und — wo mehrere Geschädigte vorhanden sind — nur für sich zu handeln vermag (§ 77 Rdn. 21). Daraus folgt aber nicht, d a ß die sachlich-rechtlich einheitliche Fortsetzungstat in ihre Einzelakte aufgelöst werden müßte, so daß für jeden von ihnen eine besondere An-

2 Umfassend zur Frage des Zugangs Schmid Über den Zugang strafprozessualer Willenserklärungen, Dünnebier-Festschr. S. 101. 3 Hau Die Beendigung der Straftat und ihre rechtlichen Wirkungen (1974) S. 145; Jescheck Wesen und rechtliche Bedeutung der Beendigung der Straftat, Welzel-Festschr. S. 683, 699. (45)

§ 77 b

4. Abschnitt. Strafantrag, Ermächtigung, Strafverlangen

tragsfrist liefet Dies wäre auch mit dem Zweck vieler Antragserfordernisse unvereinbar. Der Geschädigte müßte, um sein Antragsrecht nicht einzubüßen, bei unbedeutenden Taten eines Angehörigen jeweils sofort Strafantrag stellen, wenn er nur mit der Möglichkeit rechnet, daß die entdeckte Tat kein Einzelfall ist. Beginnt die Antragsfrist hingegen nicht vor dem Ende des letzten Teilakts, so kann der Verletzte nach diesem Zeitpunkt prüfen, ob er im Hinblick auf Dauer und Umfang der Tat die im Interesse des Familienfriedens hinzunehmende Toleranzgrenze für überschritten hält oder nicht. Zur Teilnahme s. Rdn. 8. 7

2. Kenntnis. Ist die Tat beendet, so hängt der Beginn der Antragsfrist weiter von der nach Absatz 2, 3 erforderlichen Kenntnis des Antragsberechtigten ab. Ob der Antragsberechtigte über diese Kenntnis verfügt, ist keine rein tatsächliche Frage; sie ist vielmehr in wertender Betrachtung zu beantworten. Zwar setzt der Fristbeginn stets einen konkreten Wissensstand des Berechtigten voraus. Der bloße Verdacht, selbst die Überzeugung von der Schuld des Täters allein genügt dazu nicht (RGSt. 10 141; 45 128, 129; 51 71, 73; RG Rspr. 1 614, 617; RG HRR 1933 Nr. 899). Aber das Ausmaß der erforderlichen Tatsachenkenntnis bestimmt sich danach, ob dem Berechtigten vom Standpunkt eines besonnenen Menschen aus der Entschluß zugemutet werden kann, gegen den anderen mit dem Vorwurf einer strafbaren Handlung hervorzutreten und die Strafverfolgung herbeizuführen (BGH bei Pfeiffer-Maul-Schulte §61 Anm. 16; BGH, Beschl. v. 16.8.1984 1 StR 406/84). Dabei ist zu bedenken, daß der Gesetzgeber nicht bezweckt hat, den Antragsberechtigten mittels eines Fristendrucks zu leichtfertigen Strafanträgen zu nötigen (RGSt. 45 128, 129; 75 298, 300; 77 386, 387; OGHSt.2 291, 309; OLG Hamm VRS 14 33; OLG Frankfurt/M NJW 1952 236).

Der Antragsberechtigte muß um die erforderlichen Tatsachen ferner wirklich wissen (LacknerlS Anm. 2). Es genügt nicht, daß er sich die notwendige Kenntnis verschaffen könnte (RGSt. 27 34, 35; RG GA 1898/99 38), dazu ist er auch nicht verpflichtet (RGSt. 45 128, 131). Andererseits steht dem Fristbeginn nicht entgegen, daß er sich trotz zutreffenden Wissensstandes den daraus zu ziehenden Folgerungen absichtlich verschließt. So liegt es etwa, wenn Eltern die an der Tochter verübte Tat nicht wahrhaben wollen (RGSt. 75 298, 300); anders, sofern sie aus guten Gründen an der Wahrheit des erhaltenen Berichts zweifeln (BGH bei Pfeiffer-MaulSchulte § 61 Anm. 16; OLG Frankfurt/M. NJW 1952 236; OLG Schleswig SchlHA 1957 209). Unerheblich ist hingegen, ob der Antragsberechtigte das Antragserfordernis als solches kennt, über die Frist irrt oder infolge unrichtiger rechtlicher Bewertung Strafantrag gegen einen Falschen stellt (OLG Saarbrücken VRS 30 40, 42). 8 Zur Kenntnis der Tat gehört hiernach nicht die Gewißheit über alle Einzelheiten des Handlungsverlaufs. Der Verletzte muß aber diejenigen Tatsachen kennen, die den objektiven und den subjektiven Tatbestand (RGSt. 69 378, 380; OLG Hamm VRS 10 134) der Strafvorschrift als eines Antragsdelikts (RGSt. 10 141) ausmachen und die die Tat als Verletzung seiner Person kennzeichnen (RGSt. 6 47, 49 ; 61 299, 4 RGSt. 35 267, 270; 40 319, 320; 40 329, 331; 49 432, 433; 61 299, 303; RG GA 1909 78; 1913 73; Dreher/Tröndle42 Rdn. 4; a. A. OLG Düsseldorf MDR 1980 952; Hau Die Beendigung der Straftat und ihre rechtlichen Wirkungen (1974) S. 146; Jescheck Wesen und rechtliche Bedeutung der Beendigung der Straftat, Welzel-Festschr. S. 683, 699; Lackner 15 Anm. 3a; Maurach-Gössel-Zipf AT 2 §7411 Rdn. 19; Mösl Voraufl. §61 Rdn. 46; Sch.-Schröder-Stree21 vor § 52 Rdn. 33; SK-Rudolphi Rdn. 9; Vogler LK vor § 52 Rdn. 80. S. auch §78 a Rdn. 10. (46)

Antragsfrist (Jähnke)

§ 77 b

302 ; 75 298, 299). Bei einem Verkehrsunfall, an dem der Antragsteller beteiligt war, ist das in der Regel der Fall (OLG Saarbrücken VRS 30 40, 42; OLG Stuttgart NJW 1955 73), sofern er sich auch ein Bild über die Schwere der eingetretenen Verletzungsfolgen machen kann (RGSt. 61 299, 303). Unfallschilderungen von Kindern begründen dagegen regelmäßig noch keine ausreichende Sachverhaltskenntnis (OLG Hamm JMB1NRW 1960 271; OLG Köln JMB1NRW 1961 145). Von einer Beleidigung erfährt der Gekränkte durch Kenntnisnahme des Inhalts der beleidigenden Äußerung, nicht schon durch die Mitteilung, er sei beleidigt worden (RG GA 1898/99 38). Ergibt sich das Erfordernis des Strafantrags erst in der Hauptverhandlung durch Umgestaltung der Strafklage (etwa von der Anklage nach § 242 zum Vorwurf nach § 248 b), so kann bis dahin die Kenntnis des Verletzten von der Tat als Antragsdelikt fehlen. Religiöse Verblendung kann den Verletzten unfähig machen, den Charakter einer sexuellen Handlung als solche oder als Beleidigung zu erfassen; auch dies hindert den Beginn des Fristenlaufs (RGSt. 69 378, 380). Wesentlich ist ferner die Kenntnis der Tatausführung, falls durch diese der Charakter der Handlung bestimmt wird {Lackner 15 Anm. 2; SK-Rudolphi Rdn. 9). So steht der Irrtum darüber, daß die Ehrenkränkung nicht mittels bloßer sexueller Belästigung, sondern durch Beischlaf geschehen ist, dem Fristenlauf entgegen (RGSt. 75 298, 301 ; zeitbedingt abwegig RGSt. 74 47, 50). Anders liegt es, sofern zur Kenntnis einer durch Verbreiten von Tatsachen begangenen Beleidigung lediglich das Wissen hinzutritt, daß die Tat auch eine Formalbeleidigung einschließt (OLG Frankf u r t / M . NJW 1972 65). Stellt die Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren mangels Tatnachweises ein und hat der Verletzte keinen besseren Wissensstand als sie, so hat die Antragsfrist nicht zu laufen begonnen (RGSt. 45 128, 131 ; s. auch OLG Hamm VRS 10 134; OLG Saarbrücken VRS 30 40, 42). Kennen muß der Berechtigte die Tat, die er verfolgt wissen will. Handelt es sich dabei um ein rechtlich als Teilnahmehandlung zu qualifizierendes Delikt, reicht an sich dessen vollständige Kenntnis, da nach Absatz 3 die Frist gegen jeden Beteiligten gesondert läuft (überholt RGSt. 9 390; 40 329, 331). Voraussetzung ist aber weiter die Kenntnis einer strafbaren Haupttat, denn darin liegt die das Antragsrecht auslösende Rechtsverletzung. Die Antragsfrist für die Haupttat braucht aber noch nicht in Lauf gesetzt zu sein (vgl. RGSt. 25 106, 107; Dreher/Tröndle42 Rdn. 4). Die Person des Täters ist bekannt, sofern der Antragsberechtigte in der Lage ist, 9 ihn so individuell zu bezeichnen, daß er für die Strafverfolgungsbehörde erkennbar ist (RGSt. 27 34, 35; Lackner\S Anm. 2). Nicht erforderlich ist die Kenntnis des Namens (BGH bei Pfeiffer-Maul-Schulte § 61 Anm. 16; RGSt. 27 34, 35), der Lebensumstände (OLG Stuttgart NJW 1955 73) und des Aufenthaltsorts (BGHSt. 2 121, 125). Auch die Kenntnis der besonderen Voraussetzungen, die die Tat zum relativen Antragsdelikt machen — wie die Angehörigeneigenschaft — ist für den Fristbeginn bedeutungslos (a. A. SK-Rudolphi Rdn. 10). Die Antragsfrist beginnt stets, sobald der Berechtigte die Festnahme des Tatverdächtigen erfährt (OLG Braunschweig OLGSt. n. F. § 158 StPO Nr. 1). 3. Kenntnis des Antragsberechtigten. Das für den Beginn der Antragsfrist erfor- 10 derliche Wissen muß der zum Antrag Befugte selbst haben. Auf die etwaige Kenntnis eines rechtsgeschäftlich Bevollmächtigten (RGSt. 6 119, 121; 36 413, 416) oder eines Angestellten (OLG Hamburg M D R 1980 598) kommt es nicht an. Juristische Personen und Behörden handeln durch ihre Organe (§ 77 Rdn. 39, 40), daher ist für den Fristbeginn deren Kenntnis entscheidend. Ist Antragsberechtigter ein Verein, (47)

§ 77 b

4. Abschnitt. Strafantrag, Ermächtigung, Strafverlangen

so ist das Wissen eines bloßen Vereinsmitgliedes auch dann unerheblich, wenn es sich bei diesem seinerseits um einen Verein handelt, der Strafantrag stellen darf (RGSt. 68 263, 266). Für den Antrag des gesetzlichen Vertreters und des Sorgeberechtigten ist dessen Kenntnis maßgebend (Absatz 2 Satz 3). Besteht Gesamtvertretung wie in der Regel bei Minderjährigen (§ 77 Rdn. 47), so genügt es, wenn einer der gesetzlichen Vertreter die erforderlichen Tatsachen erfahren hat 5. Gründe dafür, von diesem allgemeinen Grundsatz hier abzuweichen, bestehen nicht. Im Bereich der gesetzlichen Vertretung Minderjähriger kann vielmehr die möglichst baldige Klärung der Frage, ob es zu einem Gerichtsverfahren kommt, aus Gründen des Kindeswohls geboten sein. Entgegen der Rechtsprechung 6 genügt aber auch bei juristischen Personen die Kenntnis eines Mitglieds des Vertretungsorgans. Warum es hier auf die Kenntnis des „Vorstands als solchen" ankommen soll, ist nicht begründbar. Der Fristbeginn — beweismäßig ohnehin mit genügend Unsicherheiten behaftet — muß tunlichst an festliegende Fakten anknüpfen; er darf nicht davon abhängen, ob und wann das Organ, das die Kenntnis erlangt hat, sein Wissen an den Gesamtvorstand weitergibt. Anderenfalls wäre der Fristenlauf mittels interner, vielleicht willkürlicher, Behandlung des Vorgangs durch einen Einzelnen bestimmbar 7. 11

Sind mehrere Antragsberechtigte vorhanden, so läuft die Frist für jeden von ihnen gesondert (Absatz 3); sie beginnt daher für jeden mit seiner Kenntnis des zum Strafantrag berechtigenden Sachverhalts. Das gilt auch für mehrere zum Strafantrag befugte Dienstvorgesetzte (§ 77 a Rdn. 5), selbst wenn diese ihrerseits in einem Verhältnis der Über- und Unterordnung zueinander stehen (RGSt. 46 203, 204).

12

4. Möglichkeit der Antragstellung. Solange der Berechtigte tatsächlich oder rechtlich verhindert ist, den Strafantrag zu stellen, beginnt die Frist nicht zu laufen ; eine schon in Lauf gesetzte Frist wird durch den Eintritt des Hindernisses gehemmt (LacknerM Anm. 1 ; Maurach-Gössel-Zipf AT 2 § 74 II Rdn. 19). Aus tatsächlichen Gründen verhindert ist der Kriegsgefangene (BGHSt. 2 121, 124), der nach einem Unfall Bewußtlose (RG HRR 1940 Nr. 39), der Kranke (OLG Hamm VRS 14 33; vgl. auch BGH bei Daliinger MDR 1972 923), der Schwachsinnige bis zur Erfassung des Sachverhalts nach gehöriger Aufklärung (OLG Schleswig MDR 1980 247), der Geisteskranke bis zur Bestellung eines gesetzlichen Vertreters (RGSt. 27 366, 367). Aus rechtlichen Gründen verhindert ist, wer selbst an der Tat als Täter, Teilnehmer, Begünstiger, Hehler oder Täter einer Strafvereitelung beteiligt ist (§ 77 Rdn. 48, 56). Im Falle der gesetzlichen Vertretung eines Kindes durch seine Eltern ist aber zu beachten, daß die Tatbeteiligung eines Elternteils dem anderen Teil nicht die Rechtsmacht nimmt, das Kind — allein — zu vertreten (BGHSt. 6 155, 158). Nur wenn das Kind durch den Ausfall des Tatbeteiligten gesetzlich nicht vertreten ist, läuft die Antragsfrist solange nicht, bis ein Pfleger bestellt oder das Kind voll-

5 So für Eltern BGHSt. 22 103; Blei AT18 §110112; Jescheck AT §85 13; Lackner 15 Anm. 3 a; Maurach-Gössel-Zipf AT 2 §7411 Rdn. 18; Preisendanz Anm. 4; SK-Rudolphi §77 Rdn. 10; a. A. Boeckmann NJW 1960 1938, 1939; Dreher/TröndleV §77 Rdn. 11; Sch.-Schröder-Streek Rdn. 4. 6 RGSt. 35 267, 270; 47 338, 339; 68 263, 265; BayObLGSt. 1955 225, 230. 7 Abw. Dreher/TröndleM Rdn. 3 ; a. A. Sch.-Schröder-Stree2\ Rdn. 4; SK-Rudolphi Rdn. 4. (48)

Antragsfrist (Jähnke)

§ 77 b

jährig wird (RGSt. 73 113, 115) und die erforderliche Kenntnis vorhanden ist (RGSt. 24 427, 430). Rechtlich an der Antragstellung verhindert ist der Verletzte auch, sofern es im 13 Inland an einer für die Strafverfolgung zuständigen Behörde fehlt. So liegt es häufig, falls ein Deutscher im Ausland von einem Ausländer verletzt oder beleidigt worden ist. Fehlt es an einem inländischen Gerichtsstand, dann kann bis zur Bestimmung des zuständigen Gerichts nach § 13aStPO auch kein Strafverfolgungsorgan in der Sache tätig werden (§ 143 GVG). Der Verletzte ist somit außerstande, seinem Strafverfolgungswillen unmittelbar rechtliche Wirkung zu verschaffen. Dieses Hemmnis steht dem Beginn der Antragsfrist entgegen, bis es beseitigt ist. Denn der rechtlichen Verhinderung an der Antragstellung gleichzuachten ist die fehlende Möglichkeit, das dem Strafantrag innewohnende Ziel zu erreichen (vgl. RGSt. 2 62, 63). Zur Wirksamkeit im Ausland gestellter Anträge s. § 77 Rdn. 8. 5. Gesetzliche Vertretung und Fristenlauf. Der gesetzliche Vertreter übt das Straf- 14 antragsrecht für sein Mündel aus, eine eigene Befugnis hat er nicht (§ 77 Rdn. 43). Daher wird die Kenntnis des Vertreters und folglich auch der so ausgelöste Fristenlauf dem Vertretenen zugerechnet. Läßt der gesetzliche Vertreter die Antragsfrist verstreichen, oder bringt er das Antragsrecht sonst zum Erlöschen, so ist dies — falls nicht Sondervorschriften wie § 77 Abs. 3 Satz 2 eingreifen (§ 77 Rdn. 45) — für den Mündel bindend (RGSt. 24 427, 431). Wechselt die Person des gesetzlichen Vertreters, verbleibt dem Nachfolger lediglich der etwaige von dem Vorgänger nicht ausgenutzte Rest der Antragsfrist (BGHSt. 6 155, 157, 159; RGSt. 5 190, 192; 24 427, 431 ; 36 64, 65; RG GA 1909 78; RG Rspr. 3 771 ; Lacknerl5 Anm. 4); insoweit kommt es auch nicht darauf an, ob der neue gesetzliche Vertreter dieselbe Kenntnis von Tat und Täter hat wie der alte. Daher läuft die Antragsfrist vom Zeitpunkt der Bestellung des Nachfolgers an weiter. Fraglich ist, ob sich am Fristenlauf etwas ändert, wenn während dieses Zeit- 15 raums die gesetzliche Vertretung beginnt oder endet. In Betracht kommt dies, wo der Verletzte nach dem Beginn der Antragsfrist wegen Trunksucht entmündigt, eine solche Entmündigung aufgehoben oder der Minderjährige volljährig wird. Der Eintritt des nunmehr zum Antrag Befugten in eine bereits laufende Antragsfrist kann ihn zu übereilten Entscheidungen nötigen oder sein Antragsrecht auch hinfällig machen, wenn er vom Fristenlauf nicht unterrichtet wird. Aber die Annahme, daß mit dem „Hineinwachsen" des Minderjährigen in die bisher von den Eltern nicht genutzte Antragsbefugnis eine neue Frist von drei Monaten für den nunmehr Volljährigen beginne 8, ist rechtlich nicht zu begründen. Hat der Vertreter die Frist vor dem Ende der gesetzlichen Stellvertretung verstreichen lassen, ist das dem Vertretenen voll zuzurechnen ; dieser kann den Strafantrag nicht mehr nachholen. Beim nur teilweisen Ablauf der Strafantragsfrist sind aus dem Gesetz keine anderen Zurechnungsmaßstäbe herzuleiten. Der jetzt Volljährige tritt in die Antragsfrist ein, wie er sie mit dem Erreichen der Volljährigkeit vorfindet. Dafür spricht auch, daß der volljährig Gewordene den von seinem gesetzlichen Vertreter gestellten Antrag ohne Bindung an dessen Willen zurücknehmen kann (RGSt. 22 256; 24 427, 431); dies ist nur möglich, weil die Handlung des Vertreters nach dem Recht der Stellvertretung in allen Belangen als Tun des Vertretenen gilt. Daß der beschränkt Geschäftsfähige, 8 Dreher/TröndleV § 7 7 Rdn. 18; Lackner^ Anm. 4; Sch.-Schröder-Stree^ Rudolphi § 77 Rdn. 12; a. A. RGSt. 24 427, 431 ; 69 378, 379. (49)

Rdn. 17; SK-

§ 77 b

4. Abschnitt. Strafantrag, Ermächtigung, Strafverlangen

der das 18. Lebensjahr vollendet hat, auch selbst und unabhängig vom Vormund Strafantrag stellen kann, ändert an dem auch in diesem Fall gegebenen Wesen der Stellvertretung nichts (RGSt. 22 256; abweichende Formulierungen in RGSt. 73 113, 115 f)· Es erfordert jedoch eine Harmonisierung der Fristen. Wird ein Volljähriger wegen Trunksucht entmündigt, erhält der Vormund keine weitergehenden Rechte als der Mündel hat. Seine Antragsfrist endet daher, wenn die des Mündels im Zeitpunkt der Bestellung zum Vormund schon lief, gleichzeitig mit der Antragsfrist des Mündels. Wird die Entmündigung aufgehoben, vereinigen sich die Antragsbefugnisse des gesetzlichen Vertreters und des Mündels in einer Hand. Nach dem Gesetz verändern sich die Fristen dadurch aber nicht. Der wieder voll Geschäftsfähige hat daher die längste bereits in Gang gesetzte Antragsfrist zur Verfügung. IV. Hemmung der Antragsfrist wegen bestehender Ehe

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Hat in den Fällen der §§ 235 bis 237 ein Beteiligter die entzogene oder entführte Person geheiratet, wird die Tat nur verfolgt, sofern die Ehe'für nichtig erklärt oder aufgehoben worden ist und das Antragsrecht nicht vor Eingehung der Ehe erloschen war (§ 238 Abs. 2). Als allgemeine Regel hierzu bestimmt § 77 b Abs. 2 Satz 2, daß die Frist für die Ausübung des — noch bestehenden — Antragsrechts nicht vor dem Ende des Tages beginnt, an dem der Berechtigte von der Rechtskraft der Entscheidung über die Nichtigkeit oder Auflösung der Ehe Kenntnis erlangt. Bis dahin ist der Lauf der Strafantragsfrist gehemmt, sofern die allgemeinen Bedingungen für den Beginn des Fristenlaufs (Kenntnis der beendeten Tat und des Täters, Möglichkeit der Antragstellung, Rdn. 5 ff) gegeben sind. Ist das nicht der Fall, beginnt die Antragsfrist mit dem Eintritt dieser Bedingungen. Der Antragsberechtigte muß hier also ein doppeltes Wissen haben. Kenntnis der Rechtskraft bedeutet nicht bloße Kenntnis der Tatsachen, aus denen der Kundige auf die Unanfechtbarkeit der ergangenen Entscheidung zu schließen vermag. Vielmehr muß dem Antragsberechtigten die eingetretene Rechtsfolge zum Bewußtsein gekommen sein (RGSt. 26 116; 37 372, 374 zum insoweit gleichliegenden § 172 a. F.). Die Möglichkeit der Antragstellung vor Fristbeginn ist damit — wie auch sonst (Rdn. 2) — nicht ausgeschlossen (RGSt. 38 271, 272). V. Fristbeginn beim Übergang des Antragsrechts

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Eine Sonderregelung trifft Absatz 4 für die Fälle, in denen das Antragsrecht auf Angehörige übergegangen ist (§ 77 Abs. 2). Die Fälle des § 205 Abs. 2 Satz 2 StGB und des § 120 Abs. 5 BetriebsverfG, in denen es auf den Erben übergehen kann, sind vom Wortlaut der Bestimmung nicht erfaßt. Insoweit dürfte jedoch ein Redaktionsversehen vorliegen (vgl. die Begründung zum Entwurf des EGStGB, BTDrucks. 7/550 S. 243), das einer Anwendung des Absatzes 4 nicht im Wege steht (s. auch § 77 d Rdn. 6). Ist das Antragsrecht übergegangen, hatte also der Verletzte sich seines Rechts noch nicht begeben und wollte er dies auch nicht tun (§ 77 Rdn. 57), so eröffnet Absatz 4 dem nunmehr Berechtigten eine neue Frist. Unerheblich ist, ob für den Verletzten schon eine Frist lief und welchen Teil von ihr er hatte verstreichen lassen, sofern ihm überhaupt noch ein Rest zur Verfügung stand. Die neue Frist beträgt 3 Monate und beginnt nach den allgemeinen Regeln mit der Kenntnis von Tat und Täter (Rdn. 5 ff), jedoch frühestens mit dem Ende des Todestages des Verletzten, an (50)

Wechselseitig begangene Taten (Jähnke)

§ 77 c

dem das Antragsrecht übergegangen ist. Stirbt während des Laufs der Antragsfrist der neue Berechtigte, so beginnt, sofern sich dadurch ein neuerlicher Übergang des Antragsrechts vollzieht (§ 77 Rdn. 58), abermals eine volle neue Frist (Lackner 15 Anm. 5). Unabhängig vom Lauf jeglicher Antragsfrist erlischt das Antragsrecht jedoch 6 Monate nach dem Tode des Verletzten. VI. Ruhen des Fristenlaufs Im Entwurf eines Strafverfahrensänderungsgesetzes 1984 (BTDrucks. 10/1313) 18 ist vorgesehen, daß der Lauf der Strafantragsfrist während des Sühneverfahrens vor der Vergleichsbehörde nach § 380 StPO ruht. Dazu soll an § 77 b folgender Absatz 5 angefügt werden: „Der Lauf der Frist ruht, wenn ein Antrag auf Durchführung eines Sühneversuchs gemäß § 380 der Strafprozeßordnung bei der Vergleichsbehörde eingeht, bis zur Ausstellung der Bescheinigung nach § 380 Abs. 1 Satz 2 der Strafprozeßordnung."

§ 77 c Wechselseitig begangene Taten Hat bei wechselseitig begangenen Taten, die miteinander zusammenhängen und nur auf Antrag verfolgbar sind, ein Berechtigter die Strafverfolgung des anderen beantragt, so erlischt das Antragsrecht des anderen, wenn er es nicht bis zur Beendigung des letzten Wortes im ersten Rechtszug ausübt. Er kann den Antrag auch dann noch stellen, wenn für ihn die Antragsfrist schon verstrichen ist. Schrifttum Schreiber Widerklage und Strafantragsfristen, NJW 1949 497; s. ferner vor § 77.

Entstehungsgeschichte Vorläufer der Vorschrift sind § 198 a. F., § 232 Abs. 3 a. F. Die Bestimmung ist eingefügt durch Art. 1 Nr. 1 2. StrRG. I. Allgemeines. Die Vorschrift bezweckt die endgültige Bereinigung von Vorfäl- 1 len, bei denen mehrere Beteiligte wechselseitig Rechtsverletzungen begangen haben. Zu diesem Zweck setzt sie einen Endpunkt für die Anbringung der Strafanträge, verlängert oder erneuert aber ferner aus Billigkeitsgründen die Antragsbefugnis des Beteiligten, der seine Frist nicht genutzt hatte (zu den Motiven RGSt. 44 161, 163 ff). Hat einer der Kontrahenten Strafantrag gestellt, so darf der andere dies bis zur Beendigung des letzten Wortes im ersten Rechtszuge tun. Darin kann für den Angeklagten eine Verkürzung seiner Antragsfrist liegen, wenn die Hauptverhandlung entsprechend früh stattfindet (E 1962 S. 255). Findet sie später, nach dem Verstreichen seiner Antragsfrist statt, gibt ihm Satz 2 die Möglichkeit, gleichwohl auf Bestrafung des Gegners anzutragen, so daß die Säumnis nicht schadet. Die Bestimmung steht in engem Zusammenhang mit § 388 StPO, wonach der Beschuldigte eines Privatklageverfahrens bis zur Beendigung des letzten Wortes im ersten Rechtszuge Widerklage erheben kann. (51)

§ 77 C

4. Abschnitt. Strafantrag, Ermächtigung, Strafverlangen

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II. Voraussetzung für die rechtliche Verknüpfung des Strafantragsrechts mit dem gegen den Antragsberechtigten in Gang gesetzten Strafverfahren ist das Vorliegen wechselseitig begangener, zusammenhängender Antragsdelikte und eines Strafantrags der Gegenseite.

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1. Antragsdelikte müssen von beiden Kontrahenten verwirklicht sein. Auf die Art des Antragsdelikts kommt es im Gegensatz zum früheren Recht (§ 198 a. F., § 232 Abs. 3 a. F.) aber nicht an (E 1962 S. 255). § 77 c greift deshalb auch ein, wenn sich etwa Sachbeschädigung und Körperverletzung, Diebstahl nach § 248 a und Jagdwilderei oder die Verletzung verschiedener gewerblicher Schutzrechte gegenüberstehen. Unerheblich ist auch, ob das Strafverfahren gegen den Antragsberechtigten von der Staatsanwaltschaft oder im Wege der Privatklage betrieben wird (BayObLGSt. 1960 27, 29) und ob neben den Antragsdelikten auch Offizialdelikte verwirklicht sind.

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2. Strafantrag. Wegen der Tat, die den Gegenstand des Ermittlungs- oder Strafverfahrens bildet, muß aber ein noch wirksamer Strafantrag vorliegen. Hat der Gegner seinen Antrag zurückgenommen, so fehlt nach dem gesetzgeberischen Grund des § 77 c auch dann ein Anlaß, das Antragsrecht des Beschuldigten gemäß Satz 2 neu zu begründen, wenn die Staatsanwaltschaft das Verfahren nach § 232 Abs. 1 weiter betreibt. Nicht erforderlich ist jedoch, daß der Strafantrag der Gegenseite von dem Verletzten selbst gestellt ist. Es reicht aus, wenn der Dienstvorgesetzte (§ 77 a) oder ein sonstiger weiterer Antragsberechtigter das Verfahren in Gang gebracht hatte. Das Bedürfnis nach endgültiger Bereinigung zusammenhängender Taten besteht auch in einem solchen Fall. Darüber hinaus gebietet der sachliche Zusammenhang der Vorschrift mit den Regeln des Privatklagerechts eine solche Auslegung. Widerklage gegen den Verletzten kann der Beschuldigte bis zur Beendigung seines letzten Wortes im ersten Rechtszuge auch erheben, wenn die Privatklage nicht vom Verletzten erhoben ist (§ 388 Abs. 2, § 374 Abs. 2 StPO). Dann muß ihm das zur Ausübung der Widerklagebefugnis notwendige Strafantragsrecht in demselben Umfang eingeräumt sein 1.

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3. Antragsfrist auf Seiten des Beschuldigten. Nicht ohne jede rechtliche Bedeutung ist der bisherige Lauf der Antragsfrist. Ist diese Frist noch gar nicht in Lauf gesetzt, etwa weil dem gesetzlichen Vertreter die Tat des Gegners unbekannt geblieben war, so erlischt das Strafantragsrecht nicht, wenn der Beschuldigte seine Geltendmachung bis zum letzten Wort im ersten Rechtszug unterläßt2. Denn die Hauptverhandlung vermag hier die gegeneinander stehenden Vorwürfe mangels Kenntnis des einen Teils nicht zu bereinigen. Anders liegt es deshalb bei Rücknahme oder Verzicht; ein so untergegangenes Strafantragsrecht lebt nicht auf Grund des § 7 7 c Satz 2 wieder auf (Lackner 15 Anm. 3; Sch.-Schröder-Stree21 Rdn. 3). Ebenso kann der Beschuldigte keine Erneuerung der Antragsfrist (Satz 2) mehr beanspruchen, wenn die wegen der Tat des Gegners gegebene Antragsfrist verstriDreher/Tröndle42 Rdn. 2; Löwe-Rosenberg/Wendisch § 388 Rdn. 11 ; Schreiber NJW 1949 497; a. A. Diirwanger-Dempewolf Handbuch des Privatklagerechts 3. Aufl. [1971] S. 271. 2 OLG Hamm JMB1NRW 1963 145; Dreher/Tröndle42 Rdn. 3; Lackner 15 Anm. 3; Sch.Schröder-Streen Rdn. 3, SK-Rudolphi Rdn. 1.

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Wechselseitig begangene Taten (Jähnke)

§ 77 c

chen war und er erst nach ihrem Ablauf die Tat begangen hat, welche ihm nunmehr vorgeworfen wird. Anderenfalls hätte er es in der Hand, ein erloschenes Antragsrecht durch die Begehung einer Straftat neu zu begründen 3. 4. Wechselseitige Tatbegehung liegt vor, wenn der Verletzte der Tat, welche den 6 Gegenstand der Anschuldigung bildet, seinerseits in Rechtsgüter des Beschuldigten eingegriffen hat (vgl. RGSt. 2 87). Dafür genügt nicht der bloße Parteivortrag; die Rechtsverletzung muß wirklich begangen, d. h. erwiesen sein. Wechselseitigkeit kann nicht dadurch hergestellt werden, daß sie behauptet wird 4. Dagegen ist es für die Frage der Wechselseitigkeit unerheblich, ob die Tat zur Bestrafung führt. Möglich ist auch mehrfache Wechselseitigkeit (LG Zweibrücken M DR 1958 117). 5. Zusammenhang. Der nach dem Gesetz notwendige Zusammenhang zwischen 7 den wechselseitig begangenen Taten braucht nicht rechtlicher Art zu sein; ein tatsächlicher Zusammenhang genügt (E 1962 S. 255; vgl. für § 388 StPO BGHSt. 17 194, 197). Ein solcher ist typischerweise gegeben, wo die eine Rechtsverletzung aus der anderen erwachsen ist (Prügelei) oder wo sich beide Rechtsverletzungen auf dieselbe Ursache zurückführen lassen (Verkehrsunfall). Die Zweittat muß sich aber nicht als „Erwiderung auf der Stelle" darstellen; auch ein erheblicher Zeitabstand steht der Annahme eines Zusammenhangs — etwa bei Revanchehandlungen — nicht entgegen (s. aber Rdn. 5). Die Anwendung des § 77 c ist ferner nicht auf Vorsatztaten beschränkt (BayObLGSt. 1960 27, 29; OLG Hamm JMB1NRW1963 145). III. Rechtsfolgen. Liegen die Voraussetzungen des § 77 c vor, so erlischt das 8 Strafantragsrecht des Beschuldigten, wenn er es nicht bis zur Beendigung des letzten Wortes im ersten Rechtszuge ausübt, es steht ihm in diesem Fall aber auch noch zu, falls seine Antragsfrist an sich schon verstrichen war. Eine Neuverhandlung der Sache nach Zurückverweisung durch das übergeordnete Gericht gehört in diesem Sinne nicht mehr zum ersten Rechtszug (Dreher/TröndleV- Rdn. 3). Das Erlöschen beschränkt sich auf das Antragsrecht des Beschuldigten, die Rechte sonstiger Berechtigter (ζ. B. nach § 77 a) bleiben erhalten. Das steht zwar in einem gewissen Widerspruch zu dem Gesetzeszweck (Rdn. 1, s. ferner Rdn. 4), folgt aber aus der Selbständigkeit der einzelnen Antragsbefugnisse (§ 77 Abs. 4). Für die Form des Strafantrags gilt § 158 StPO (§ 77 Rdn. 11). Da der Antrag auch vor der Beendigung des letzten Wortes im ersten Rechtszuge, selbst vor gerichtlicher Anhängigkeit des gegen den Beschuldigten gerichteten Verfahrens gestellt werden kann, besteht kein Anlaß, die Anwendbarkeit der allgemeinen Formvorschrift zu bezweifeln. Stellt der Beschuldigte den Strafantrag, sollte das Gericht die gemeinsame Verhandlung der gegenseitigen Tatvorwürfe anstreben. Im Offizialverfahren bietet sich dazu die Übernahme der Verfolgung durch die Staatsanwaltschaft und die Verbindung der Verfahren an; geschieht dies nicht, sind die Verfahren aber selbständig zu Ende zu führen (RGSt. 29 116). Im Privatklageverfahren eröffnet § 388 StPO dem Beschuldigten die Möglichkeit der Widerklage, deren rechtzeitige Erhebung aber ebenfalls nicht erzwingbar ist. 3 RGSt. 44 161, 163; BayObLGSt. 1959 61; Dreher/Tröndle42 Rdn. 4; Lackner^S Anm. 3; Preisendanz Anm. 2; Sch.-Schröder-Stree21 Rdn. 2; S K - R u d o l p h i Rdn. 1. 4 Dreher/Tröndle42 Rdn. 2; Lackner15 Anm. 2; Sch. -Schröder-Streek Rdn. 2; a. A. Bay Ob LG NJW 1959 304; Löwe-Rosenberg/Wendisch § 388 Rdn. 13. (53)

§77d

4. Abschnitt. Strafantrag, Ermächtigung, Strafverlangen

§ 77 d Zurücknahme des Antrags (1) Der Antrag kann zurückgenommen werden. Die Zurücknahme kann bis zum rechtskräftigen Abschluß des Strafverfahrens erklärt werden. Ein zurückgenommener Antrag kann nicht nochmals gestellt werden. (2) Stirbt der Verletzte oder der im Falle seines Todes Berechtigte, nachdem er den Antrag gestellt hat, so können der Ehegatte, die Kinder, die Eltern, die Geschwister und die Enkel des Verletzten in der Rangfolge des § 77 Abs. 2 den Antrag zurücknehmen. Mehrere Angehörige des gleichen Ranges können das Recht nur gemeinsam ausüben. Wer an der Tat beteiligt ist, kann den Antrag nicht zurücknehmen. Schrifttum Härtung Welche Wirkung hat der vor der Vergleichsbehörde (§ 380 StPO) geschlossene Vergleich auf das Strafverfahren? ZStW 63 (1951) 412; Holland Die Wirksamkeit eines im Vergleichsverfahren nach § 380 StPO erklärten Verzichts auf das Strafantragsrecht, Rpfleger 1968 45.

Entstehungsgeschichte S. vor § 77. Fassung durch Art. 1 Nr. 1 2. StrRG; Änderung (allgemeine Einführung der Rücknahmemöglichkeit) durch Art. 18 Nr. 44EGStGB; s. ferner Art. 16, 291 EGStGB. 1

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I. Allgemeines. Neben dem Untergang des Strafantragsrechts durch Fristablauf (§ 77 b) und Tod des Berechtigten stehen die Rücknahme und der im Gesetz nicht geregelte Verzicht (Rdn. 8). Rücknehmbar ist im Gegensatz zum früheren Recht jeder Strafantrag (Art. 16 EGStGB; zum Landesrecht s. vor § 77 Rdn. 16). Dadurch soll der außergerichtliche Ausgleich der durch die Tat beeinträchtigten Interessen erleichtert (Begründung des Entwurfs des EGStGB, BTDrucks. 7/550 S. 215) und die Durchführung des Strafverfahrens über den Kopf des Betroffenen hinweg (vgl. vor § 77 Rdn. 3) vermieden werden. Die Regelung hat ihre Gefahren, weil sie einerseits den Antragsteller einem Druck des Beschuldigten zur Antragsrücknahme aussetzen kann und andererseits den Handel mit dem Strafantragsrecht fördert (Rieß DJTGutachten Rdn. 95). Die Bestrebungen, § 303 nach dem Vorbild des § 232 zu einem relativen Offizialdelikt umzugestalten, beruhen auch auf dieser Gefahr (BTDrucks. 10/308 S. 4; allgemein dafür Rieß DJT-Gutachten Rdn. 98). II. Rücknahmeerklärung 1. Inhalt. Die Rücknahmeerklärung ist das Spiegelbild des Strafantrags. Sie muß deshalb zweifelsfrei zum Ausdruck bringen, daß der Berechtigte die Strafverfolgung nicht mehr wolle. Bleiben Zweifel, fehlt es an einer wirksamen Rücknahme 1. Je1 RGSt.48 195; OLG Hamm JMB1NRW 1955 44, 45; LG Krefeld VRS 31 436; Dreher/ TröndleV Rdn. 3; Schwarz NJW 1950 124, 125; SK-Rudolphi Rdn. 4; a. A. Michael Der Grundsatz in dubio pro reo im Strafverfahrensrecht (1981) S. 24; Sch.-Schröder-Stree21 Rdn. 6; Stree In dubio pro reo S. 61 ff; Sulanke Die Entscheidung bei Zweifeln über das Vorhandensein von Prozeßvoraussetzungen und Prozeßhindernissen im Strafverfahren (1974) S. 110. (54)

Zurücknahme des Antrags (Jähnke)

§77d

doch kommt es auf eine bestimmte Wortwahl auch hier nicht an. Die Äußerung, auf die Strafverfolgung keinen Wert mehr zu legen, genügt (OLG Hamm JMB1NRW 1955 44, 45), nicht jedoch eine neue, allenfalls die Schuld mindernde Beschreibung des Tatvorwurfs (RGSt. 44 400, 403). Die Rücknahme der Privatklage umfaßt nicht notwendig auch eine Rücknahme des zugrunde liegenden Strafantrags (RGSt. 8 207; 19 284; a. A. Dreher/Tröndle42 Rdn. 3); eine lediglich nach § 391 Abs. 2 StPO fingierte Klagerücknahme wirkt sich auf den Bestand des Strafantrags nie aus (OLG Karlsruhe HRR 1925 Nr. 645). Die Rücknahme erstreckt sich im Zweifel auf die ganze vom Strafantrag gedeckte Tat (vgl. RGSt. 28 175, 180; 49 432, 433). Der Berechtigte kann seine Erklärung aber auch auf Tatteile, sofern diese nicht notwendig mit der aufrechterhaltenen Beschuldigung zusammenhängen (RG DStrR 1936 101; Sch.-Schröder-Stree 21 Rdn. 10), auf einzelne von mehreren Gesetzesverletzungen, auf Einzelakte einer Fortsetzungstat (BGH, Beschl. v. 30. 9. 1983 — 2 StR 208/83) oder auf bestimmte Personen beschränken 2. Die Verfolgung von Gesetzesverletzungen, die kein Antragsdelikt sind, wird von der Rücknahme nicht berührt (RGSt. 5 274; 32 280). Eine bedingte Rücknahme ist grundsätzlich unwirksam (RGSt. 48 195, 196). Davon, daß ihn keine Kosten treffen (§ 470 Satz 2 StPO), darf der Antragsteller die Rücknahme seines Antrags aber abhängig machen (BGHSt. 9 149, 154; 16 105, 107; 29 396, 397). Zur Rücknahme eines im Ausland gestellten Strafantrags RGSt. 44 433,435. 2. Form. Adressat. Da eine dem § 158 Abs. 2 StPO entsprechende Vorschrift 3 fehlt, ist die Rücknahme formfrei, also auch mündlich möglich 3. Sie muß aber der mit der Sache befaßten Stelle gegenüber erklärt werden 4. Das ist bis zur Anklageerhebung die ermittelnde Dienststelle der Polizei oder die Staatsanwaltschaft, danach das Gericht, bei dem das Verfahren anhängig ist (BGHSt. 16 105, 108), nach Rücknahme der Anklage wiederum die Staatsanwaltschaft (BGH aaO S. 109). Deshalb wird die einer nicht befaßten Stelle gegenüber abgegebene Rücknahmeerklärung nicht wirksam, wenn die Weiterleitung an den richtigen Empfänger unterbleibt (BGHSt. 16 105, 108; RGSt. 55 23, 25; OLG Koblenz GA 1976 282). So vermögen auch Erklärungen gegenüber dem Täter, einschließlich solcher vor der Vergleichsbehörde nach § 380 StPO, keine Rücknahme des Strafantrags zu bewirken (RGSt. 76 345 ; zur insoweit anderen Lage beim Verzicht s. Rdn. 8). Ein Vergleich, in dem sich der Antragsteller zur Rücknahme verpflichtet, ist für sich genommen bedeutungslos (RGSt. 52 200; Härtung ZStW 63 [1951] 412, 424). Nach der Rechtsprechung der Zivilgerichte kann aber aus einem Prozeßvergleich, in dem eine Antragsrücknahme vereinbart ist, auf Erfüllung geklagt werden 5. Ein unwirksamer

2 E 1962 S. 256; OLG Hamm JMB1NRW 1955 44, 45; Dreher/Tröndle42 Rdn. 3; MaurachGössel-Zipf AT 2 § 74 II Rdn. 28 ; Preisendanz Anm. 2 ; SK-Rudolphi Rdn. 1 ; überholt insoweit RGSt. 49 432, 433. 3 RGSt. 8 79, 80; 55 23, 24; RG GA 1893 28, 29; Dreher/Tröndle^l Rdn. 2; Lackner 15 Anm. 3; Maurach-Gössel-Zipf AT 2 §7411 Rdn. 28; Sch.-Schröder-Stree21 Rdn. 5; a. A. LG Kiel NJW 1964 263. 4 RGSt. 8 79, 80; 52 200; 55 23, 25; 76 345; OLG Koblenz GA 1976 282; Lackner Anm. 3; Maurach-Gössel-Zipf AT 2 § 74 II Rdn. 28; Sch.-Schröder-Stree^ Rdn. 5. 5 BGH NJW 1974 900 m. abl. Anm. D. Meyer NJW 1974 1325; OLG München MDR 1967 223. (55)

§ 77 d

4. Abschnitt. Strafantrag, Ermächtigung, Strafverlangen

Verzicht (Rdn. 8) ist nicht in eine Zurücknahme des Strafantrags umzudeuten, wenn ein Dritter ihn der zuständigen Stelle mitteilt (RGSt. 77 157, 159). III. Rücknahmeberechtigter 4

1. Antragsteller. Da die einzelnen Antragsrechte voneinander unabhängig sind (§ 77 Abs. 4), k a n n ein Berechtigter nicht über den Antrag des anderen verfügen. Jeder Antragsteller k a n n daher nur seinen eigenen Antrag zurücknehmen. Etwas anderes gilt, wo das Strafantragsrecht eines über 18 Jahre alten beschränkt Geschäftsfähigen und das seines gesetzlichen Vertreters (§ 77 Abs. 3 Satz 2) sich nach Aufhebung der Entmündigung wieder in einer Person vereinigt hat (vgl. § 77 b Rdn. 15). Hier k a n n der Verletzte den von seinem gesetzlichen Vertreter gestellten Antrag ohne Bindung an dessen Willen zurücknehmen (RGSt. 22 256; 24 427, 431).

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2. Vertretung. Für die Vertretung gelten im wesentlichen dieselben Grundsätze wie f ü r die Antragstellung (§ 77 Rdn. 43). Für den nicht voll Geschäftsfähigen handelt sein gesetzlicher Vertreter. Wechselt die Person des Vertreters, muß der Nachfolger die von seinem Vorgänger geschaffene Lage so übernehmen, wie er sie vorfindet. An eine von diesem erklärte Rücknahme ist er daher gebunden (RGSt. 36 64, 65; s. ferner § 77 b Rdn. 14). Ob die Rücknahme im Verhältnis zum Mündel pflichtgemäß erscheint, bleibt sich gleich (RGSt. 36 64, 65). Wie Absatz 2 Satz 3 ergibt, gilt auch f ü r die Rücknahme der allgemeine Grundsatz, d a ß der Tatbeteiligte nicht wirksam f ü r den Mündel handeln kann (§ 77 Rdn. 48; § 77 b Rdn. 12). Besteht Gesamtvertretung wie in der Regel bei Minderjährigen (§ 77 Rdn. 47), so gilt dies auch f ü r die R ü c k n a h m e 6. Es findet sich keine rechtliche Handhabe, die Vertretungsmacht des gesetzlichen Vertreters für Anbringung und Rücknahme des Strafantrags unterschiedlich auszugestalten. Doch genügt die Erklärung eines Teils, wenn der andere in sie eingewilligt hat (§ 77 Rdn. 52). Die Möglichkeit einer nachträglichen Genehmigung ist aber f ü r die Rücknahme wie f ü r die Antragstellung auszuschließen (§ 77 Rdn. 54). Das Gericht kann nicht eine Hauptverhandlung durchführen, deren Zulässigkeit in der Schwebe ist. Gewillkürte Stellvertretung ist unbeschränkt zulässig. Bei Strafanträgen, die die Verletzung höchstpersönlicher Rechtsgüter betreffen, ist — sofern sich die Vollmacht darauf erstreckt — eine Vertretung im Willen zulässig (BGHSt. 9 149, 151 f ; LacknerlS Anm. 2a).

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3. Übergang der Rücknahmebefugnis. Während das Recht zur Stellung des Strafantrags nach dem Tode des Verletzten nur in den Fällen auf Angehörige übergeht, die das Gesetz ausdrücklich bestimmt (§ 77 Abs. 2), geht das Recht zur Rücknahme des Strafantrags stets über (Sch.-Schröder-Stree2\ Rdn. 4). Der Tod eines Antragsberechtigten verhindert die Antragsrücknahme deshalb nur, wenn der Verletzte keinen der in § 77 d aufgeführten Angehörigen hinterläßt. Das Rücknahmerecht steht dem Ehegatten u n d den Kindern in erster Ordnung, den Eltern in zweiter O r d n u n g u n d den Geschwistern u n d Enkeln in dritter Ordnung zu (§ 77 Rdn. 57). Solange ein Mitglied einer vorgehenden Ordnung vorhanden ist, kann kein Mitglied einer späteren G r u p p e das Rücknahmerecht ausüben (E 1962 S. 256). Die Angehörigeneigenschaft bestimmt sich immer im Verhältnis zum Verletzten, nicht zu den Personen, auf die das Antragsrecht nach § 77 Abs. 2 übergegangen ist. Das gilt auch in den Fällen des § 205 Abs. 2 Satz 2 StGB und des 6 Boeckmann NJW 1960 1938, 1940; Dreher/Tröndle42 Rdn. 5; Sch.-Schröder-Stree^ Rdn. 3; a. A. Kohlhaas NJW 1960 1, 2; 1960 1940; H. Lange NJW 1961 1889, 1894. (56)

Zurücknahme des Antrags (Jähnke)

§77d

§120 Abs. 5 BetriebsverfG, die einen Übergang des Antragsrechts auf den Erben vorsehen. D a ß hier die Angehörigen des Verletzten einen von dem — möglicherweise familienfremden — Erben gestellten Strafantrag zurücknehmen können, ist zwar eine Unstimmigkeit des Gesetzes (vgl. auch § 77 b Rdn. 17). Eine vom Gesetzeswortlaut abweichende Zuordnung der Rücknahmebefugnis ist jedoch mit den Mitteln der Auslegung nicht erreichbar und daher unzulässig. Mehrere Angehörige gleichen Ranges können die Rücknahme nur gemeinsam erklären. Gemeinsamkeit bedeutet nicht notwendig Gleichzeitigkeit oder Erklärung in einer Urkunde. Wenn der Verletzte einen Strafantrag nicht gestellt hatte u n d einer der Angehörigen ihn noch stellen könnte, erhält das Erfordernis der gemeinsamen Antragsrücknahme eigenes Gewicht. In diesem Fall verzichtet der Angehörige mit der Rücknahmeerklärung auf sein Antragsrecht. Tatbeteiligte scheiden als Rücknahmeberechtigte aus (§ 77 Rdn. 48). IV. Zeitpunkt der Rücknahme. Wirkung 1. Zeitpunkt. Die Rücknahme ist bis zum rechtskräftigen Abschluß des Strafver- 7 fahrens möglich. Maßgebend ist die Rechtskraft des Strafausspruchs ( S K - R u d o l p h i Rdn. 2) gegenüber dem jeweiligen Täter. Zum Zeitpunkt des Eintritts der Rechtskraft KK-Maul § 34 a Rdn. 5, 6. Unerheblich ist, ob das Strafverfahren mit einer Verurteilung gerade wegen des Antragsdelikts endet oder ob dieses Delikt — etwa nach § 154 a StPO — aus dem Verfahren ausgeschieden wurde. Entscheidend ist, d a ß das Strafverfahren die Tat zum Gegenstand hat, die das Antragsdelikt u m f a ß t (OLG Köln M D R 1954 629; O L G Celle NdsRpfl. 1959 235). 2. Wirkung. Die Rücknahme beseitigt den Strafantrag endgültig, er kann nicht neu gestellt werden (Absatz 1 Satz 2). Die Rücknahme selbst ist weder widerruflich (RGSt. 36 64, 65) noch wegen Irrtums oder Drohung anfechtbar ( K G JW 1931 227; Preisendanz Anm. 1 c; Sch.-Schröder-Stree21 Rdn. 8). Ausnahmsweise kann die unter D r o h u n g erzwungene Antragsrücknahme aber rechtlich wirkungslos sein {LöweRosenberg/Schäfer Einl. Kap. 10 Rdn. 18 ff, 28; Preisendanz Anm. 1 c). Ist der Strafantrag zurückgenommen, so ist das Verfahren einzustellen (vor § 77 Rdn. 11); die Prüfung dieser Frage obliegt auch dem Revisionsgericht ohne Bindung an die Feststellungen des Tatrichters (RGSt. 55 23). Hatten mehrere Berechtigte auf Strafverfolgung angetragen, so bedarf es zur Einstellung aber der Rücknahme aller Anträge (BGH bei Pfeiffer-Maul-Schulte § 61 Anm. 3). Trotz der Antragsrücknahme bleibt die Tat verfolgbar, soweit zugleich ein Offizialdelikt vorliegt, oder wenn die Staatsanwaltschaft die in § 232 Abs. 2 vorgesehene Erklärung abgibt. V. Verzicht. Der Antragsberechtigte kann auf sein Strafantragsrecht, bevor er es ausgeübt 8 hat, rechtswirksam verzichten 7. Für den Verzicht gelten im wesentlichen dieselben Grundsätze wie für die Rücknahme. 7 BGH LM StGB § 194 Nr. 5; RGSt. 76 345; 77 157, 159; OLG Oldenburg DAR 1959 298; LG Dortmund DAR 1957 244; LG Krefeld VRS 31 436; LG Heilbronn Justiz 1980 480; Dreher/TröndleAl § 77 Rdn. 30; Härtung ZStW 63 (1951) 412, 422; Jescheck AT § 85 I 5; LacknerÌ5 §77 Anm. 6; Sch.-Schröder-Stree21 §77 Rdn. 31; SK-Rudolphi § IIb Rdn. 2; a. A. (überholt) RGSt. 3 221 ; 14 202, 204; RG Rspr. 3 181, 183. (57)

§ 77 e

4. Abschnitt. Strafantrag, Ermächtigung, Strafverlangen

Die Verzichtserklärung muß zweifelsfrei den Willen zum Ausdruck bringen, sich des Strafantragsrechts endgültig zu begeben. In der Äußerung, keinen Strafantrag stellen zu wollen, liegt eine solche Willenskundgabe regelmäßig noch nicht (OLG Hamm JMB1NRW 1953 35; OLG Oldenburg DAR 1959 298; abw. LG Dortmund DAR 1957 244). Bleiben Zweifel, ist ein Verzicht nicht anzunehmen. Die Verzichtserklärung ist formlos (a. A. LG Kiel NJW 1964 263) gegenüber der mit der Sache befaßten Strafverfolgungsbehörde abzugeben 8. Der Verzicht gegenüber dem Täter oder einer Stelle, die mit der Strafverfolgung nichts zu tun hat, ist unbeachtlich (RGSt. 76 345 ; RG HRR 1938 Nr. 1563). Zuständige Stelle ist aber auch die Vergleichsbehörde nach § 380 StPO, die im Privatklageverfahren einzuschalten ist. Das obligatorische Sühneverfahren dient dazu, die Anrufung des Gerichts zu vermeiden. Mit dieser Zielsetzung wäre es unvereinbar, einem vor der Vergleichsbehörde erklärten Verzicht die rechtliche Anerkennung zu versagen 9. Ein vor dieser Behörde erklärter Verzicht auf die Privatklage enthält allerdings nicht zwingend einen Verzicht auch auf den Strafantrag; ob dies der Fall ist, ist vielmehr Auslegungsfrage (OLG Celle HRR 1926 Nr. 997; Kleinknecht/Meyer § 380 Rdn. 7). Zum Verzicht berechtigt ist, wer antragsmündig ist (LG Dortmund DAR 1957 244; LG Krefeld VRS 31 436). Besteht bei gesetzlicher Vertretung Gesamtvertretung, genügt die Erklärung des einen Teils, wenn der andere darin eingewilligt hat. Fehlt es an der notwendigen Mitwirkung eines Gesamtvertreters, ist der Verzicht unwirksam (Rdn. 5 ; § 77 Rdn. 54; a. A. LG Heilbronn Justiz 1980 480). Der Verzicht beseitigt das Antragsrecht endgültig (BGH LM StGB § 194 Nr. 5 ; OLG Hamm JMB1NRW 1953 35; LG Dortmund DAR 1957 244; Lackner 15 § 77 Anm. 6; SK-Rudolphi §77b Rdn. 2); eine Anfechtung wegen Irrtums ist ausgeschlossen (abw. LG Kiel NJW 1964 263).

§ 77e Ermächtigung und Strafverlangen Ist eine Tat nur mit Ermächtigung oder auf Strafverlangen verfolgbar, so gelten die §§ 77 und 77 d entsprechend. Schrifttum Schlichter Der Strafantrag, die Strafverfolgungsermächtigung und die Anordnung der Strafverfolgung unter besonderer Berücksichtigung der Staatsschutzdelikte, GA 1966 353.

Entstehungsgeschichte Die Vorschrift ist, ohne Vorbild im früheren Recht, eingefügt durch Art. 1 Nr. 1 2. StrRG.

BGH LM StGB § 194 Nr. 5; RGSt. 77 157; LG Krefeld VRS 31 436. überzeugend Härtung ZStW63 (1951) 412, 425; RGSt. 77 157, 159; RG HRR 1938 Nr. 1563; Maurach-Gössel-Zipf AT 2 § 74 II Rdn. 10; Sch.-Schröder-Stree21 § 77 Rdn. 31 ; SK-Rudolphi § 77 b Rdn. 2 ; Holland Rpfleger 1968 45 ; Kleinknecht/Meyer § 380 Rdn. 7. (58)

Ermächtigung und Strafverlangen (Jähnke)

§77e

I. Ermächtigung und Strafverlangen sind Verfahrensvoraussetzungen 1, die sich 1 in ihrer Rechtsnatur nicht wesentlich vom Strafantrag unterscheiden. Ihre Besonderheit hängt mit der Art der Tatbestände zusammen, für die sie gelten. Die Strafverfolgung ist hier gewöhnlich in besonderer Weise mit politischen Fragen u n d staatlichen Geheimhaltungsinteressen verknüpft, deren Erörterung vor Gericht dem Gemeinwohl schaden kann. Es geht daher um die politisch sinnvolle H a n d h a b u n g der Strafrechtspflege (Geerds G A 1982 237, 245). Der Gleichheitssatz (Art. 3 G G ) ist auch hier nicht einschlägig (vor § 77 Rdn. 8). Vorgesehen ist die Ermächtigung in den §§90 Abs. 4, 9 0 b Abs. 2, 104a, 194 Abs. 4, 353 a Abs. 2, 353 b Abs. 4. Nicht hierzu zählen von den Alliierten in Berlin erteilte Ermächtigungen zur Strafverfolgung; bei ihnen handelt es sich um die besatzungsrechtliche Zustimmung zur Ausübung der deutschen Gerichtsbarkeit (OGHSt. 2 171,172). Ein Strafverlangen ist das Ersuchen eines fremden Staates um A h n d u n g einer Tat, die sich gegen ihn richtet und nach deutschem Recht strafbar ist. Fälle dieser Art sind in § 104 a u n d in Art. 7 Abs. 1 Nr. 7 4. S t R Ä n d G aufgeführt. Zu einer nicht als Prozeßvoraussetzung ausgestalteten Mischform eines Strafverlangens im Euratom-Vertrag BGHSt. 17 121,123. II. Im Unterschied zum Strafantrag liegt die Initiative zur Strafverfolgung nicht 2 beim Verletzten („nachhinkender Strafantrag", Maurach-Gössel-Zipf AT 2 § 74 III Rdn. 30). Vielmehr obliegt diese der Staatsanwaltschaft, die von Amts wegen die notwendigen Erklärungen einzuholen hat (RGSt. 33 66, 70 f; RiStBV Nr. 6, 209, 210, 212). Die Ermächtigung braucht dann lediglich zum Ausdruck zu bringen, daß kein Widerspruch gegen die Verfolgung des Täters erhoben werde (RGSt. 33 66, 70, 71; Schlichter G A 1966 353). Bis zu ihrem Eingang ist die Staatsanwaltschaft zwar zu Ermittlungen befugt; Grundrechtseingriffe sind aber nur zu Sicherungszwecken gestattet (für Festnahme u n d Verhaftung s. §§ 127 Abs. 3, 130 Satz 3 StPO, für Beschlagnahme u n d Durchsuchung s. RGSt. 33 380, 381; Willms LK § 104a Rdn. 1; KK-Laufhütte § 94 Rdn. 10). III. Die Ermächtigung u n d das Strafverlangen sind formlos wirksam (RGSt. 18 3 382; 33 66, 70; 70 356, 357; unrichtig KMR-Müller § 158 Rdn. 13). Beide Erklärungen müssen sich auf eine bestimmte Tat beziehen ( Willms LK § 104 a Rdn. 4), sind aber wie der Strafantrag persönlich und sachlich beschränkbar (BGHSt. 16 338, 341; Dreher/TröndleW. R d n . 1; LacknerM Anm. 2; Sch.-Schröder-Stree21 Rdn. 2; SK-Rudolphi Rdn. 1). In der Ermächtigung muß der Wille zum Ausdruck kommen, die mit Ermächtigung verfolgbare Gesetzesverletzung zu ahnden. Daher kann die Verwendung des Wortes Strafantrag nicht stets als unschädliche Falschbezeichnung gelten. Vielmehr ist es Auslegungsfrage, ob in einem als Strafantrag bezeichneten Begehren eine Ermächtigung liegt 2. Bei Zweifeln gilt der Satz In dubio pro reo 3. 1 BGHSt. 11 11, 14; Dreher/Tröndle42 Rdn. 1 ; Jakobs AT 10/12; Lackner15 Anm. 1 ; Maurach-Gössei-Zipf AT 2 §74 I Rdn. 2; Sch.-Schröder-Streek Rdn. 1; vgl. auch BGHSt. 20 22, 27. 2 BGH MDR 1954 754; BGH bei Wagner GA 1961 22; RGSt. 33 66, 71; RG DJZ 1904 Sp. 459; weitergehend OLG Hamm G A 1953 28 m. Anm. Grützner. 3 Sulanke Die Entscheidung bei Zweifeln über das Vorhandensein von Prozeßvoraussetzungen und Prozeßhindernissen im Strafverfahren (1974) S. 111. (59)

§ 77 β

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4. Abschnitt. Strafantrag, Ermächtigung, Strafverlangen

IV. Die §§ 77 und 77 d gelten nach dem Gesetzeswortlaut entsprechend. Die Verweisung auf § 77 ist für das Strafverlangen jedoch völlig unergiebig ( Willms LK § 104 a Rdn. 5) und hat auch für die Ermächtigung kaum praktische Konsequenzen. Wer zur Erteilung der Ermächtigung befugt ist, regeln vielmehr die einzelnen Strafbestimmungen. Aus deren Auslegung ergibt sich auch, ob Vertretung statthaft ist (dazu Schlichter GA 1966 353, 360) und ob bei persönlichen Verunglimpfungen eines Verfassungsorgans dessen Amtsnachfolger die Ermächtigung erteilen kann (dazu BGHSt. 29 282). Soweit ein Kollegialorgan (Bundes- oder Landesregierung, Gemeinderat) durch Beschlußfassung über die Erteilung befindet, sind die durch Gesetz und Geschäftsordnung vorgesehenen Förmlichkeiten zu beachten (BVerfGE 6 309, 323 f; RGSt. 33 66, 67); die Ordnungsmäßigkeit der Willensbildung im übrigen unterliegt nicht der gerichtlichen Nachprüfung. Ein Wechsel der Mitglieder des Kollegialorgans ist in diesem Fall ohne Bedeutung (Schlichter GA 1966 353, 363). Ohne Bedeutung für die Zuständigkeit ist in den Fällen der §§ 353 a, 353 b auch, ob der Täter nach der Tat aus dem Dienst ausgeschieden ist (Träger LK § 353 b Rdn. 41 ; Möhrenschlager Das 17. Strafrechtsänderungsgesetz, JZ 1980 161,166). Bei dem Strafverlangen ist die Ordnungsmäßigkeit der Willensbildung innerhalb des fremden Staates nicht nachzuprüfen (RG GA 1908 334).

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Die Verweisung auf § 7 7 d ändert hingegen die frühere Rechtslage; Ermächtigung und Strafverlangen sind nunmehr rücknehmbar. Anwendbar ist auch § 77 d Abs. 2. Danach kann eine von einem Betroffenen persönlich zu erteilende und erteilte Ermächtigung nach seinem Tode von den Angehörigen zurückgenommen werden (BGHSt. 29 282, 283) ; anders bei einer amtsgebundenen (Jescheck AT § 85 II 2), deren Rücknahme der Amtsnachfolger zu erklären hat. In negativer Hinsicht ist die Verweisung insofern von Bedeutung, als darin § 77 b nicht aufgeführt ist. Ermächtigung und Strafverlangen sind daher nicht fristgebunden.

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F Ü N F T E R ABSCHNITT Verjährung Vorbemerkungen Schrifttum A. Allgemeines. Bloy Die dogmatische Bedeutung der Strafausschließungs- und Strafaufhebungsgründe (1976); Franke Zum Begriff des Presseinhaltsdelikts, GA 1982 404; Gross Zum Begriff des Presseinhaltsdelikts, NJW 1966 638; Gross Zur Gesetzgebungskompetenz für das Presserecht, DVB1. 1966 66; Gross Pressestrafrechtliche Verantwortlichkeit, NJW 1978 918; H. Kaufmann Strafanspruch Strafklagrecht (1968); Kohlmann Schließt die Verjährung der Vortat auch die Bestrafung der Nachtat aus? JZ 1964 492; Krey Grundzüge des Strafverfahrensrechts, JA 1983 233; Lorenz Die Verjährung im Strafrechte (1934); Lorenz Die Verjährung in der deutschen Strafgesetzgebung (1955); Lorenz Über das Wesen der strafrechtlichen Verjährung, GA 1966 371; Meister Reformbedürftigkeit des Rechts der Strafverfolgungsverjährung, DRiZ 1954 217; Moser Zur Frage der rechtlichen Natur der Strafverfolgungsverjährung, G A 1954 301; Rehbinder Grundzüge des Pressestrafrechts, JA 1977 471; G. Schäfer Einige Fragen zur Verjährung in Wirtschaftsstrafsachen, Dünnebier-Festschr. S. 541 ; Schoene Verfolgungsverjährung nach Bundes- und Landesrecht, NJW 1975 1544; Schöneborn Die Behandlung der Verfahrenshindernisse im strafprozessualen Verfahrensgang, MDR 1975 6; H. Schröder Probleme strafrechtlicher Verjährung, Gallas-Festschr. S. 329; Seeber Belohnt das Berliner Pressegesetz den Betrüger? JR 1973 56; Seibert Sinn und Unsinn der strafrechtlichen Verjährung, NJW 1952 1361; von Stackelberg Verjährung und Verwirkung des Rechts auf Strafverfolgung, Bockelmann-Festschr. S. 759; Volk Prozeßvoraussetzungen im Strafrecht (1978). B. Zur nachträglichen Verlängerung von Verjährungsfristen. Arndt Die verfassungsrechtliche Bedeutung der strafrechtlichen Verjährung, NJW 1961 14; Arndt Zum Problem der strafrechtlichen Verjährung, JZ 1965 145; Baumann Der Aufstand des schlechten Gewissens (1965); Baumann Wider eine Verjährung von NS-Verbrechen, ZRP 1979 150; Bemmann Zur Frage der nachträglichen Verlängerung der Strafverfolgungsverjährung, JuS 1965 333 ; Benda Verjährung und Rechtsstaat (1965); Böckenförde Zur verfassungsrechtlichen Beurteilung der Einführung der Unverjährbarkeit des Mordes, ZStW 91 (1979) 888; Calvelli-Adorno Die Verlängerung der Verjährungsfrist für die Strafverfolgung von Verbrechen, die mit lebenslangem Zuchthaus bedroht sind, NJW 1965 273 ; Ebert Zur rechtlichen Problematik der Verjährung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen, Festschrift Universität Bielefeld (1979) S. 145; Erhard Die Verjährung im Strafrecht (1979); Eyrich Auch die Verfolgung von Mord soll verjähren, ZRP 1979 49; Frost Die Verjährung bei NS-Verbrechen, DRiZ 1965 89; Fuhrmann Verjährung von NS-Verbrechen, JR 1965 15; Grünwald Zur verfassungsrechtlichen Problematik der rückwirkenden Änderung von Verjährungsvorschriften, MDR 1965 521; Heimeshoff Zur Diskussion über die Strafverfolgungsverjährung bei Mord, DRiZ 1979 139; Jantsch Das strafrechtliche Verjährungsproblem, DRiZ 1968 196; Kirn Der Hintergrund der Verjährungsfrage, ZRP 1968 3; Klein Keine Veränderung der Verjährungsfrist für Mord, ZRP 1979 145; Klug Die Verpflichtung des Rechtsstaats zur Verjährungsverlängerung, JZ 1965 149; Lewald Aufhebung oder Nichtaufhebung der Mordverjährung — Freiheit der Gewissensentscheidung? ZRP 1979 152; Lorenz Strafrechtliche Verjährung und Rückwirkungsverbot, GA 1968 300; Lüderssen Politische Grenzen des Rechts — rechtliche Grenzen der Politik, JZ 1979 449; Maihofer Nichtverjährung des Völkermordes, ZRP 1979 81; Mischnick Gegen eine Verlängerung der Verjährungsfristen, ZRP 1968 63; Naegele Zur Strafverfolgungsverjährung von vor dem (61)

Vor § 78

5. Abschnitt. Verjährung

8. Mai 1945 begangenen Straftaten, NJW 1960 889; Naucke Rechtspolitische Vorentscheidungen bei der Diskussion einer Verlängerung von Verjährungsfristen für NS-Verbrechen, ZRP 1969 8; Pawlowski Die Verlängerung von Verjährungsfristen für die Strafverfolgung, NJW 1965 287; Pawlowski Der Stand der rechtlichen Diskussion in der Frage der strafrechtlichen Verjährung, NJW 1969 594; Pfeiffer Zur Verjährung der Strafverfolgung bei Mord, DRiZ 1979 11 ; Schmid Nachwort zum Streit um die Verlängerung der Verjährungsfrist für NS-Verbrechen, NJW 1965 1952; P. Schneider NS-Verbrechen und Verjährung, Festschr. f. O. A. Germann (1969) S. 199; Schreiber Zur Zulässigkeit der rückwirkenden Verlängerung von Verjährungsfristen früher begangener Delikte, ZStW 80 (1968) 348; Schünemann 17 Thesen zum Problem der Mordverjährung, JR 1979 177; Vogel Mord sollte nicht verjähren, ZRP 1979 1; Wassermann Der Verjährungsdebatte zweiter Teil, JR 1965 223; Willms Zur Frage rückwirkender Beseitigung der Verjährung, JZ 1969 60; Winters Weiterhin NS-Prozesse? ZRP 1968 47.

Entstehungsgeschichte Vorschriften über die Verfolgungs- und die Vollstreckungsverjährung enthielt das RStGB von 1871 ohne besondere Hervorhebung im 4. Abschnitt des Ersten Teils, der sich mit Gründen, welche die Strafe ausschließen oder mildern, befaßte. Die Verfolgungsverjährung war in den §§ 66 bis 69, die Vollstreckungsverjährung in den §§ 70 bis 72 geregelt. Die Fristen waren nach Art und Schwere des Delikts sowie nach Art und Höhe der Strafe gestaffelt. Jede richterliche Handlung, welche wegen der begangenen Tat gegen den Täter gerichtet war, unterbrach die Verfolgungsverjährung. Die Unterbrechung war beliebig oft wiederholbar. Die Vollstrekkungsverjährung war ohne zeitliche Begrenzung durch die Vollstreckungsbehörde zu unterbrechen. Die Bestimmungen galten im wesentlichen unverändert bis zum 1. 1.1975. Das 2. StrRG brachte den Regeln über die Verjährung den heutigen Standort, wies sie einem eigenen Abschnitt zu und teilte Verfolgungs- und Vollstreckungsverjährung auf zwei Titel auf. Durch das EGStGB ergänzt, legte es einen Katalog auch nichtrichterlicher Unterbrechungshandlungen fest und führte die sog. absolute Verjährung ein, die Unterbrechungen der Verfolgungsverjährung eine zeitliche Grenze setzt. Dafür hemmt der Erlaß eines Urteils des ersten Rechtszuges den Ablauf der Verjährung bis zur rechtskräftigen Erledigung der Sache. Eine Unterbrechung der Vollstreckungsverjährung ist nicht mehr möglich ; vorgesehen ist allein die gerichtliche Verlängerung der Frist bei bestimmten flüchtigen Verurteilten. Übersicht 1. 2. 3. 4. 5. 6.

1

Überblick Verfolgungs- und Vollstreckungsverjährung Verjährung in anderen Gesetzen Landesrecht Rechtsnatur der Verjährung Folgerungen aus der Rechtsnatur als Verfahrensrecht

Rdn. 1 2 3 4 7 10

Rdn.

7. 8. 9.

a)

Räumlicher und zeitlicher Geltungsbereich

10

b)

Prüfungsgrundsätze

12

c)

Entscheidung

Sachlich-rechtliche Folgen Exkurs: Überlange Verfahrensdauer . . . Übergangsrecht

16 17 18 19

1. Überblick. Es entspricht heute allgemeiner Überzeugung, dem Zeitablauf nach der Tat oder dem Urteil Bedeutung für die Verhängung und die Vollstreckung von Strafen und Maßnahmen beizulegen. Strafverfolgung und -Vollstreckung verjähren deshalb. Die Rechtsordnung will damit allerdings nicht dem Täter eine Wohltat er(62)

Vorbemerkungen (Jähnke)

Vor § 78

weisen (RGSt. 24 427, 428); dieser hat mit der Tat keinen Anspruch auf Straffreiheit nach Ablauf bestimmter Fristen erworben (vgl. Roxin Strafverfahrensrecht 18 § 21 Β II 2; P. Schneider Festschr. f. Ο. A. Germann S. 199, 210). Die Verjährung soll vielmehr dem Rechtsfrieden dienen und einer etwaigen Untätigkeit der Behörden vorbeugen (BGHSt. 11 393, 396; 12 335, 337). Dieses Ziel war in der Gesetzgebung nicht stets anerkannt. Im Gegensatz zum römischen Recht kannten die Carolina und das ALR keine Verjährung, der Sachsenspiegel und andere mittelalterliche Rechte jedenfalls nicht bei schweren Delikten; im übrigen gab es (meist sehr kurze) Klagefristen. Durchgesetzt hat sich das Institut im 19. Jahrhundertl. In der Strafrechtsreform war es nicht mehr umstritten. Zu heftigen Auseinandersetzungen führte allerdings seit 1960 die Frage, ob auch Mord (§ 211) der Verjährung unterliegen solle. Hintergrund der Debatten war die seinerzeit drohende Verjährung der Verbrechen, die in der Zeit der NS-Herrschaft begangen worden waren; deren Unverfolgbarkeit erschien unerträglich. Nach einer Reihe halbherziger Anläufe hat der Gesetzgeber nunmehr durch das 16. StRÄndG die Verjährung für Mord aufgehoben (näher § 78 Rdn. 5, 6; § 211 Rdn. 69). Andere Änderungen strebt gegenwärtig der Bundesrat an. Insbesondere in Wirtschaftsstrafsachen hat sich die absolute Verjährung des § 78 c Abs. 3 Satz 2 als zu kurz erwiesen. Sie soll daher für die kürzer verjährenden Taten auf das Dreifache der gesetzlichen Verjährungsfrist erweitert werden, wenn das Hauptverfahren bis zu einem bestimmten Zeitpunkt eröffnet war (Entwurf eines StRÄndG BTDrucks. 10/272). 2. Verfolgungs- und Vollstreckungsverjährung. Das Gesetz kennt die Verfolgungs- 2 und die Vollstreckungsverjährung. Die Forderung, allgemeine Regeln über die Verjährung von Nebenfolgen vorzusehen 2, hat sich nicht durchgesetzt. Mit dem Strafantrag und der für ihn geltenden Antragsfrist (§ 77 b) hat die Verjährung nichts zu tun. Verjährung kann eintreten, bevor die Strafantragsfrist in Lauf gesetzt ist (RGSt. 6 37). Die Verfolgungsverjährung schließt die Verfolgung der Tat — Ermittlungs- und gerichtliches Erkenntnisverfahren — aus. Mit dem Eintritt der Verjährung wird die Verhängung von Strafen und Maßnahmen außer der Sicherungseinziehung nach § 76 a Abs. 2 Satz 1 (BGHSt. 31 226; BGH MDR 1983 590 m. Anm. Lenzen JR 1983 292) unzulässig (§ 78 Rdn. 2). Nach Rechtskraft des verurteilenden Erkenntnisses schließt sich an die Verfolgungsverjährung unmittelbar die Vollstreckungsverjährung an (BGHSt. 20 198, 200; 30 232), so daß es zwischen beiden Arten der Verjährung keinen verjährungsfreien Zwischenraum gibt. Jedoch kann Verfolgungsverjährung auch dann noch in Betracht kommen, wenn die Frist für die Vollstreckungsverjährung bereits in Lauf gesetzt war. Möglich ist dies, sofern das rechtskräftige Urteil nachträglich wieder beseitigt wird (näher § 78 Rdn. 9). 3. Verjährung in anderen Gesetzen. Die §§ 78 ff gelten für alle bundesrechtlichen 3 Strafvorschriften, auch des Nebenstrafrechts, sofern nichts anderes bestimmt ist (Art. 1 Abs. 1 EGStGB). Das System der strafrechtlichen Verjährung ist ferner mit den entsprechenden Vorschriften des OWiG (§§ 31 bis 34) abgestimmt. Rechtsprechung und Literatur zum OWiG sind daher auch für die Verjährung des StGB von Bedeutung. 1 Ebert S. 150; Erhard S. 2; His Das Strafrecht des deutschen Mittelalters Bd. I (1920) S. 403 f; v. Liszt-Schmidt § 75 III; SchreiberZStW 80 (1968) 348, 352. 2 Lorenz Verjährung (1955) S. 66; dazu E 1962 S. 257. (63)

Vor § 78

5. Abschnitt. Verjährung

Daneben kennen auch die Dienstordnungsgesetze und die Verfahrensordnungen für die Berufsgerichte des Bundes und der Länder die Verjährung oder ähnliche Rechtsinstitute (vgl. BGHSt. 24 1 ; 28 259). Meist finden auf sie strafrechtliche Vorschriften entsprechende Anwendung (vgl. etwa § 115 BRAO). Doch ist infolge des im Berufs- und Standesrecht geltenden Grundsatzes der Einheit des Dienstvergehens der Tatbegriff und damit der Fristenlauf besonders zu beurteilen (BGHSt. 22 157, 166; 29 124, 129; Glanzmann Berufsrecht beim Bundesgerichtshof, BGHFestschr. S. 185,187). Für Ordnungsmittel trifft Art. 9 EGStGB eigene Verjährungsregelungen. Im Auslieferungsrecht kann die Verjährung der Tat Bedeutung für die Zulässigkeit der Auslieferung haben (BGH MDR 1984 956; OLG München GA 1983 89 m. Anm. Bartholy; Walter Neue Verjährungsbestimmungen in deutschen Auslieferungsverträgen, GA 1981 250). 4

4. Landesrecht. Für landesrechtliche Verjährungsvorschriften ist nach Art. 1 Abs. 2 EGStGB kein Raum. Eine Ausnahme hiervon machen die Pressegesetze der Länder, die bei Verstößen gegen das Presseordnungsrecht sowie für Straftaten, welche mittels Verbreitens einer Druckschrift begangen werden (Presseinhaltsdelikte), besondere Regelungen über Beginn und Dauer der Verjährungsfrist enthalten (dazu § 78 Rdn. 14). Sie sind nach Auffassung des BVerfG zulässig, weil die presserechtliche Verjährung nicht dem Strafrecht oder Strafverfahren (Art. 74 Nr. 1 GG), sondern dem Presserecht (Art. 75 Nr. 2 GG) zuzuordnen sei und deshalb in die Gesetzgebungskompetenz der Länder falle (BVerfGE 7 29, 38, 45). Das vermag nicht zu überzeugen 3. Wenn der Bundesgesetzgeber Tatbestände typischer Presseinhaltsdelikte schaffen darf — etwa das Verbot des Verbreitens pornographischer Schriften (§ 184 Abs. 3 Nr. 1) — kann es nicht Sache des Landesgesetzgebers sein, die Effektivität der Strafdrohung zu begrenzen. Das geschieht aber, wenn der Landesgesetzgeber kurze, schon an den ersten Verbreitungsakt anknüpfende Verjährungsfristen festsetzt. Das BVerfG hatte daher nicht von ungefähr Mühe, Weiterungen zu vermeiden. Daß gerade die Verjährung, nicht aber das eher berufsspezifische Zeugnisverweigerungsrecht der Pressemitarbeiter (§ 53 Abs. 1 Nr. 5 StPO) in die Gesetzgebungskompetenz der Länder falle, vermochte es nicht überzeugend darzutun (BVerfGE 36 193, 205; 36 314; s. ferner BVerfGE 48 367, 373). Der neuerdings betonte Gesichtspunkt des Sachzusammenhangs (vgl. Entwurf des EGStGB, BTDrucks. 7/550 S. 197f) ist zur Abgrenzung vollends untauglich; derartige Zusammenhänge lassen sich bei vielen Normen nachweisen, deren Zugehörigkeit zu einem bestimmten Sachgebiet zweifelsfrei ist.

5

Die Rechtsprechung hat die Entscheidung des BVerfG denn auch lediglich als verbindliche Zuständigkeitsabgrenzung hingenommen. In der Sache ist sie ihr nicht gefolgt. So erkennen die Strafgerichte bei verjährten Pressestraftaten nicht etwa auf Freispruch, wie dies geboten wäre, wenn die Verjährung dem Presserecht und damit dem sachlichen Recht angehörte; und maßgebend ist nicht das Tatortrecht, sondern die lex fori (BGHSt. 28 53, 56f; Löffler Presserecht 3. Aufl. Bd. I [1983] § 24 LPG Rdn. 27).

3 Schoene NJW 1975 1544, 1545; kritisch auch Maunz-Dürig-Herzog-Scholz GG Art. 75 Rdn. 30 Fn. 2, 3; a. A. Gross DVB1. 1966 66, 68; Löffler Presserecht 3. Aufl. Bd. I (1983) § 24 LPG Rdn. 64. (64)

Vorbemerkungen (Jähnke)

Vor § 78

Auch sachlich greifen die Regelungen der Landespressegesetze weit über eine 6 angemessene Privilegierung der Presse hinaus und bergen manche Ungereimtheit in sich. So ist es wenig einsichtig, daß die heimliche Verbreitung strafbaren Materials den Schutz der freien Presse genießt ( Willms LK § 86 Rdn. 26 0· Der Begriff des Druckwerks ist derart weit gefaßt, daß seine Beziehung zum Grundgedanken der Privilegierung — leichte Erkennbarkeit und Verfolgbarkeit der Tat, Rücksicht auf die besonderen Verhältnisse der Presse (BGHSt. 18 63, 65; RGSt. 66 145, 149; Franke GA 1982 404, 413) — oftmals im Dunkeln bleibt. Auch Autoaufkleber sind Druckwerke (OLG Hamburg NStZ 1983 127). Ungereimt erscheint es schließlich, strafbare Vorbereitungshandlungen wie Herstellung und Vorrätighalten der normalen Verjährung zu unterwerfen, aber die Presseverjährung eingreifen zu lassen, sobald der Täter mit der Verbreitung seine Gefährlichkeit steigert (zur Kritik auch RGSt. 61 19, 30; Seeber JR1973 56). 5. Rechtsnatur der Verjährung. Die Rechtsnatur der Verjährung ist dem Gesetz 7 nicht eindeutig zu entnehmen. § 263 Abs. 3 StPO, wonach sie bei der Abstimmung im Gericht nicht zur Schuldfrage gehört, liefert keinen Hinweis. Die Vorschrift ist durch Art. 21 Nr. 67 EGStGB neu gefaßt worden. Im Zuge derselben Reformgesetzgebung hat der Sonderausschuß für die Strafrechtsreform erklärt, er lasse die rechtliche Einordnung der Verjährung bewußt offen (2. Schriftl. Bericht BTDrucks. V/4095 S. 43). Es wäre deshalb eine Verfälschung des gesetzgeberischen Willens, der Bestimmung des § 263 Abs. 3 StPO mehr als bloß technische Bedeutung für die Abstimmungsmodalitäten beizulegen. Die Vorschriften über die Verjährung selbst enthalten Regelungen, die materiellrechtlich erklärbar sind und ebenso andere, die sich dem Verfahrensrecht zuordnen lassen. So gilt etwa die nach der Deliktsschwere abgestufte Dauer der Verjährungsfristen als Ausdruck sachlichrechtlichen Denkens. Weniger schwere Delikte verjähren früher als schwerwiegende Taten, und für Mord ist die Verjährung aufgehoben. Darin kann der Gedanke liegen, daß Verjährung wegen des durch Zeitablauf schwindenden Strafbedürfnisses eintrete (dazu Hillenkamp JR 1975 133, 138). Demgegenüber sind etwa die Bestimmungen über die Unterbrechung der Verjährung und über ihre Hemmung nach dem erstinstanzlichen Urteil (§§ 78 c, 78 b Abs. 3) mit dem Rechtsgang, insbesondere mit der Sammlung des Tatsachenstoffs und deren Abschluß, verknüpft. Hiernach wäre das Institut der Verjährung rechtstheoretisch aus dem mit der Zeit eintretenden Verlust der Beweismittel und ihrer Zuverlässigkeit herzuleiten und dem Verfahrensrecht zuzuordnen 4. Alle diese Gesichtspunkte spiegeln sich auch in den Auffassungen des Schrift- 8 turns zur Rechtsnatur der Verjährung wieder. Ein Teil betrachtet sie als materiellrechtliches Institut 5, mit dem das Unrecht der Tat aufgehoben 6 oder jedenfalls 4 Nachweise zu den Verjährungstheorien und ihren Begründungen bei Bemmann JuS 1965 333, 334; Lorenz Verjährung (1955); Lourié Die Kriminalverjährung (1914); zu den Auflassungen in der Schweiz Walder Schuldspruch trotz Verfolgungsverjährung? Gedächtnisschr. f. P. Noll (1984) S. 313, 315 ff. 5 Baumann Der Aufstand S. 17 (anders jetzt AT 8 § 12 I 2 b); Bloy S. 180, 190, 251; Jantsch DRiZ 1968 196; H. Kaufmann S. 154; v. Liszt-Schmidt § 75 II; Lorenz Verjährung (1955) S. 56; GA 1966 371; Pawlowski NJW 1965 287, 288; v. Stackelberg Bockelmann-Festschr. S. 759, 765; wohl auch Kühl Die Beendigung des vorsätzlichen Begehungsdelikts (1974) S. 172. 6 Bloy S. 251; Lorenz Verjährung (1955) S. 56; wohl auch v. Stackelberg BockelmannFestschr. S. 759, 765. (65)

Vor § 78

5. Abschnitt. Verjährung

Strafe ausgeschlossen 7 werde. Ein anderer Teil legt der Verjährung eine Doppelnatur mit einer materiellrechtlichen und einer verfahrensrechtlichen Seite 8 bei. Ein weiterer Teil des Schrifttums schließlich hält sie für eine Einrichtung des Prozeßrechts9. Daneben stehen Ansichten, die die Verjährung weder dem materiellen, noch dem Verfahrensrecht zurechnen, sondern neben Beidem ansiedeln 10, sowie ferner die Auffassung, daß die Verjährung zwar Verfahrensrecht darstelle, daß an die Einordnung als solche aber keine Folgen geknüpft werden dürften 11. Das RG hat geschwankt. Während es zunächst der materiellrechtlichen Ansicht zuneigte 12, ging es später zur gemischt materiellrechtlich-verfahrensrechtlichen Theorie 13 über und schwenkte zuletzt auf die rein verfahrensrechtliche Auffassung ein 14. Der BGH und die einheitliche Rechtsprechung der Oberlandesgerichte erblicken in der Verjährung ein Verfahrenshindernis 15. Diese Auffassung ist zutreffend. 9

Keine der beiden rechtstheoretischen Ableitungen (schwindendes Strafbedürfnis, Beweismittelverlust) vermag für sich genommen oder in ihrer Kombination zu überzeugen. So läßt die materiellrechtliche Auffassung offen, wieso Vergiftung, erpresserischer Menschenraub, Geiselnahme und Brandstiftung in ihren erschwerten Formen (§ 229 Abs. 2, § 239 a Abs. 2, § 239 b Abs. 2, § 307) einen Tag vor Ablauf der Verjährung (§ 78 c Abs. 3 Satz 2) — also ggf. nach fast 40 Jahren — noch mit minde7 v. Liszt-Schmidt AT § 75 II 8 E 1962 S. 257; Böckenförde ZStW 91 (1979) 888, 890; Dreher MDR 1963 857; Dreher/ Tröndle*2 Rdn. 4; Frank § 66 Anm. II; Haft AT 11. Teil § 1; Jakobs AT 10/22; Jescheck AT § 86 I 1 ; Löwe-Rosenberg/Schäfer Einl. Kap. 12 Rdn. 89; H. Mayer StudB S. 167; AT S. 350; Moser GA 1954 301; Peters Strafprozeß 3. Aufl. (1981) § 2 IV; Suhr in BM d. Finanzen (Hrsg.) Aktuelle Fragen des materiellen Steuerstrafrechts (1959) S. 225, 227; Welzel S. 262. 9 Bemmann JuS 1965 333 (s. aber Zur Frage der objektiven Bedingungen der Strafbarkeit [1957] S. 27); Blei AT18 § i l l ; Bockelmann AT § 4 C I 4e; Calvelli-Adorno NJW 1965 273, 275; Fuhrmann JR 1965 15, 16; Klug JZ 1965 149, 150; Kohlrausch-Lange § 67 Anm. I; Krey JA 1983 233, 234; Löffler Presserecht 3. Aufl. Bd. I (1983) § 24 LPG Rdn. 27; Maurach-Gössel-Zipf AT 2 § 75 II Rdn. 14; Mösl Vorauf!. § 66 Rdn. 6; Naegele NJW 1960 889; Preisendanz Anm. 1 ; Roxin Strafverfahrensrecht 18 § 21 Β II 2; Sarstedt/Hamm Die Revision in Strafsachen Rdn. 161; Schmidhäuser AT 2. Aufl. (1975) 13/14; Schöneborn MDR 1975 6; Sch.-Schröder-Stree21 Rdn. 3. SK-Rudolphi Rdn. 10 hält die Verjährung für einen als Prozeßhindernis ausgestalteten persönlichen Strafaufhebungsgrund. 10 Grünwald Die Teilrechtskraft im Strafverfahren (1964) S. 373; Grünwald MDR 1965 521, 522. Π Sch.-Schröder-Eserli § 2 Rdn. 8; Volk S. 226, 255; im Zusammenhang mit der Frage der Zulässigkeit rückwirkender Verlängerung der Verjährungsfristen Arndt NJW 1961 14; JZ 1965 145, 147; Benda S. 24; Schreiber ZStW 80 (1968) 348, 365; Schünemann Nulla poena sine lege? (1978) S. 25; Willms JZ 1969 60; dagegen Krey Keine Strafe ohne Gesetz (1983) S. 116; JA 1983 233,234. 12 RGSt. 6 37, 38, 41 ; 12 434, 436; 14 382, 384; 23 407, 408; unklar RGSt. 30 31 ; 40 88, 90; 61 19, 20. 13 RGSt. 32 247, 251 ; 41 167; 46 269, 274; 59 197, 199; 65 82; 66 328; RG H RR 1933 Nr. 73; 1938 Nr. 941; 1942 Nr. 457 a. 14 RGSt. 76 64; 76 159, 160. 15 BGHSt. 2 300, 306; 4 135, 137; 4 379, 385; 8 245; 8 269; 11 393, 395; 13 128; 20 248, 252; 21 25, 26; 23 365, 368; 25 259; 28 53, 56; 29 168; BGH NJW 1952 271; 1952 1386; bei Herían MDR 1955 527; BayObLGSt. 1977 125; 1979 44, 45; OLG Bremen NJW 1956 1248; 1966 743; ebenso BVerfGE 1 418, 423; 25 269, 287, 294. abw. LG Hamburg NStZ 1981 141 m. Anm. Schünemann; s. ferner neuerdings BGH, Urt. v. 28. 11. 84—2 StR 309/84. (66)

Vorbemerkungen (Jähnke)

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stens 10 Jahren Freiheitsstrafe zu ahnden sind, einen Tag später überhaupt nicht mehr. Derartige Sprünge kann ein „schwindendes Strafbedürfnis" nicht vollführen. Ähnliches gilt für alle Tatbestände mit erhöhter Mindeststrafe. Schematische, die Abstufungen von Unrecht und Schuld vernachlässigende Einschnitte wie der Eintritt der Verjährung sind vielmehr charakteristisch für Verfahrenshindernisse. Aber auch der Gedanke der unsicher werdenden Beweisgrundlage erklärt weder die Verfolgungs- noch die Vollstreckungsverjährung befriedigend. Denn danach wäre die Verfolgungsverjährung überflüssig, weil der Grundsatz „in dubio pro reo" ihre Stelle ausfüllte. Zudem wäre die Unverjährbarkeit von Mord und Völkermord (§ 78 Abs. 2) eine Ungereimtheit, da sich die Beweissituation auch bei diesen Taten mit der Zeit verschlechtert. Für die Vollstreckungsverjährung schließlich spielt die Beweislage keine Rolle, da ein rechtskräftiges Urteil vorliegt. Die Verjährung ist deshalb am besten als Verfolgungsverzicht erfaßbar. Die Länge der verflossenen Zeit ist kein Merkmal, das dem begangenen Verbrechen anhaftet. Wesensmäßig betrifft die Verjährung nicht die Strafbarkeit der Tat, sondern ihre Verfolgbarkeit (BVerfGE 25 269, 287, 294). Warum diese nach Ablauf bestimmter Fristen enden soll und wie lang die Fristen zu bemessen sind, mag zwar auch an Hand von Erwägungen zu entscheiden sein, die auf das Strafbedürfnis oder die typische Beweislage Rücksicht nehmen. Der Gesetzgeber ist nicht gehindert, sachlichrechtlichen Vorstellungen mittels prozessualer Regelungen Raum zu geben und umgekehrt ( Blei AT 18 § 111 ; Volk S. 21, 226). Aber entscheidend ist, daß sich mit dem Eintritt der Verjährung nicht etwa die Bewertung der Tat ändert. Diese bleibt rechtswidrig und schuldhaft, sie kann Anknüpfungspunkt für Begünstigung und Hehlerei sein und in späteren Verfahren strafschärfend verwertet werden. Dementsprechend hat auch der Täter keinen Anspruch darauf, daß nach der gewöhnlichen oder der absoluten Verjährungsfrist oder daß überhaupt Verjährung eintrete (RGSt. 24 427, 428; Roxin Strafverfahrensrecht 18 § 21 Β II 2; P. Schneider Festschr. f. Ο. A. Germann S. 199, 210; SK-Rudolphi Rdn. 5). Das Gesetz will vielmehr mit der Verjährung dem Rechtsfrieden dienen ( Volk S. 204, 225) und etwaiger Untätigkeit der Behörden vorbeugen (BGHSt. 11 393, 396; 12 335, 337; abw. BGH, Urt. v. 28.11. 8 4 - 2 StR 309/84). Es berührt dabei auch den Gedanken der Verfahrensökonomie (Bemmann JuS 1965 333, 338; Klug JZ 1965 149, 152), der es gebietet, die Verfolgungsintensität nach der Bedeutung abzustufen, welche die Sache noch hat. Der Rechtsfriede aber hängt nicht von dem an den Strafzwecken ausgerichteten Strafbedürfnis ab (a. A. Dreher M D R 1963 857; SK-Rudolphi Rdn. 10) und ebensowenig von der Beweislage. Er stellt sich als ein Zustand dar, in dem es des Strafverfahrens nicht mehr bedarf, weil das geschehene Verbrechen typischerweise nicht mehr friedensstörend nachwirkt. Bei solcher Sachlage darf der Staat seine Ahndungsbemühungen einstellen 16. Tut er dies, verzichtet er auf die Verfolgung. 6. Folgerungen aus der Rechtsnatur als Verfahrensrecht a) Räumlicher und zeitlicher Geltungsbereich. Auf Grund der Zuordnung der 10 Verjährungsvorschriften zum Verfahrensrecht gelten dessen Regeln über das anwendbare Recht. Unterscheiden sich die Verjährungsbestimmungen am Tatort und am Gerichtsort, so hat das Gericht das an seinem Sitz geltende Recht anzuwenden 16 S. dazu Schmidhäuser Zur Frage nach dem Ziel des Strafprozesses, Eb. Schmidt-Festschr. S. 511, 522, 524; SK-Rudolphi Rdn. 10; Volk S. 200ff, 204, 225. (67)

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5. Abschnitt. Verjährung

(BGHSt. 2 300, 305; 28 53, 56; BGH bei Pfeiffer-Maul-Schulte § 67 Anm. 1). Innerhalb der Bundesrepublik kann das für die landesrechtlich geregelte Presseverjährung (Rdn. 4) Bedeutung erlangen, weil die Verjährungsfristen für Presseinhaltsdelikte nicht einheitlich sind (BGHSt. 28 53, 56; Löffler Presserecht 3. Aufl. Bd. I [1983] § 24 LPG Rdn. 27). Doch gilt der Grundsatz der lex fori nur für die landesrechtlichen Verjährungsvorschriften selbst. Ist die Verjährungsfrist als Fernwirkung der Strafdrohung des sachlichen Landesrechts aus § 78 Abs. 3 zu bestimmen, ist die Strafdrohung des Tatortrechts maßgebend. 11

Die zeitliche Geltung der Verjährungsvorschriften unterliegt ebenfalls den Regeln des Verfahrensrechts. Wird die Verjährungsfrist geändert, gilt das neue Recht mangels einer besonderen Ü b e r g a n g s r e g e l u n g 17 auch für bereits begangene Taten 18. Der Gesetzgeber ist daher nicht gehindert, Verjährungsfristen rückwirkend zu verlängern ; lediglich die Neueröffnung bereits abgelaufener Verjährungsfristen ist ihm aus rechtsstaatlichen Gründen verwehrt 19. Mit dieser Maßgabe war es mithin rechtlich unbedenklich, im 16. StRÄndG die Verjährung für Mordtaten der Vergangenheit gänzlich zu beseitigen (näher § 78 Rdn. 5). Zu unterscheiden ist jedoch zwischen der Änderung der Verjährungsvorschrift selbst und einer Änderung der materiellrechtlichen Strafdrohung, welche als Fernwirkung eine andere Verjährungsfrist nach sich ziehen kann. Bei Änderungen des sachlichen Rechts ergibt sich der zeitliche Anwendungsbereich des Strafgesetzes aus § 2. Das nach § 2 anwendbare Strafgesetz bestimmt dann auch die maßgebende Verjährungsfrist (BGH G A 1954 22; Dreher NJW 1962 2209; SK-Rudolphi § 78 Rdn. 6; unrichtig RGSt. 75 52, 54; OLG Saarbrücken NJW 1974 1009; vgl. auch BGH bei Holtz MDR1978 804). 12 b) Prüfungsgrundsätze. Die verfahrensrechtliche Behandlung der Verjährung gleicht weitgehend der des Strafantrags (vor § 77 Rdn. 9 ff). Ob Verjährung eingetreten ist, haben die Ermittlungsbehörden und das Gericht in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfen 20. Dem Rechtsmittelgericht ist diese Prüfung allerdings nur möglich, wenn es durch ein zulässiges Rechtsmittel ordnungsgemäß darum angegangen wurde 21 und das Rechtsmittel auch nicht durch Rücknahme 17 Wie zum 1.1. 1975 durch Art. 309 Abs. 3 EGStGB ; s. auch die allgemeine Vorschrift in § 78 c Abs. 5. 18 BGHSt. 2 300, 307; 4 379, 385; 21 367; BGH NJW 1952 271; 1952 1386; RGSt. 76 64; 76 159; 76 327; OGHSt. 3 93, 95. 19 BVerfGE 1 418, 423 ; 25 269, 287 ; Bemmann JuS 1965 333, 339; Blei AT 18 § 111 ; Klug JZ 1965 149; Krey Keine Strafe ohne Gesetz (1983) S. 114 Fn. 370; JA 1983 234; Lüderssen JZ 1979 449, 456; Maurach-Gössel-Zipf AT 2 § 75 II Rdn. 16; Naegele NJW 1960 889; Schmidhäuser AT 2. Aufl. (1975) 5/21; Sch.-Schröder-Eserli § 2 Rdn. 8; Wessels AT14 § 2 I 2; a. A. Arndt NJW 1961 14, 15; Baumann Der Aufstand S. 15 (s. aber AT8 § 12 I 2b); Dreher/Tröndle*2 § 1 Rdn. I I b ; Grünwald M D R 1965 521, 522; Jakobs AT 4 / 9 ; Jescheck AT § 86 I 1; Lorenz GA 1968 300; Otto Grundkurs AT 2. Aufl. (1982) § 2 I 2; Schreiber ZStW 80 (1968) 348, 364; Schünemann Nulla poena sine lege? (1978) S. 25; SK-Rudolphi Rdn. 5 ; Willms JZ 1969 60 — je mit unterschiedlicher Begründung. 20 BGHSt. 8 269; 11 393; 13 128; BGH bei Spiegel DAR 1978 146, 160; RGSt. 63 320; 66 328; R G H R R 1938 Nr. 941; 1942 Nr. 457a; BayObLGSt. 1968 84; 1977 125; 1979 44, 45; OLG Bremen NJW 1956 1248. 21 BGHSt. 16 115 (aufgegeben BGHSt. 15 203); BayObLGSt. 1953 82; Schönebom M D R 1975 6. Die Frage, ob nach Urteilserlaß eingetretene Verjährung trotz unzulässigen Rechtsmittels zu beachten ist (BGHSt. 22 213), ist durch § 78 Abs. 3 Satz 2 (Ablaufhemmung) gegenstandslos; dazu Löwe-Rosenberg/Schäfer Einl. Kap. 11 Rdn. 19. (68)

Vorbemerkungen (Jähnke)

Vor § 78

hinfällig ist 22. Liegen diese Voraussetzungen vor, hindert Teilrechtskraft die Nachprüfung aber nicht. Es genügt vielmehr, daß nur der Rechtsfolgenausspruch (BGH bei Spiegel DAR 1978 146, 160) oder ein Teil davon, wie die Frage der Strafaussetzung zur Bewährung (BGHSt. 11 393, 395; RG HRR 1938 Nr. 941) angefochten ist. Die Anfechtung der Kostenentscheidung (§ 464 Abs. 3 StPO) ermöglicht dagegen keinen Eingriff in die Hauptsacheentscheidung mehr. Denn die Kostenentscheidung ist nur noch mit sofortiger Beschwerde angreifbar, über die nicht stets das in der Hauptsache berufene Rechtsmittelgericht zu befinden hat. Ein solches Rechtsmittel gestattet kein „Hinübergreifen" in den Schuldspruch (überholt BGHSt. 13 128; a. A. Sch.-Schröder-Streek §78 Rdn. 5; SK-Rudolphi Rdn. 11; Löwe-Rosenberg/Rieß24 § 206 a Rdn.16; wie hier Preisendanz Anm. 1). Bei vertikaler Teilrechtskraft ist die Verjährungsfrage insoweit zu prüfen, als eine Gesamtstrafe nach § 53 zu bilden ist 23. Die Rechtskraft anderweitig abgeurteilter Taten, deren Strafen lediglich nach § 55 StGB oder § 460 StPO einzubeziehen sind, bleibt unangetastet 24. Auf die Frage der Verjährung kann ein Rechtsmittel nicht beschränkt werden (BGHSt. 2 385; BGH NJW 1984 988; unklar OLG Frankfurt/M. NStZ 1982 35). Im Revisionsrechtszug ist die Verjährung bereits auf die Sachrüge hin zu prüfen (BGHSt. 21 242, 243; RGSt.63 320, 321; dazu Grünwald Die Teilrechtskraft im Strafverfahren [1964] S. 368 ff; Volk S. 60 ff). Prüfungsgrundlage ist die Tat, wie sie sich dem zur Entscheidung berufenen 13 Strafverfolgungsorgan darstellt. Für das Gericht ist beim Urteil das Ergebnis der Hauptverhandlung maßgebend. Ist nach ihm statt eines in der Anklage angenommenen schwerwiegenden Delikts nur ein leichteres bewiesen, beurteilen sich die Länge der Verjährungsfrist und damit die Rechtzeitigkeit etwa vorgenommener Unterbrechungshandlungen allein nach der erwiesenen Tat 25. Das gilt auch, wenn eine Straftat angeklagt war, nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung aber lediglich eine Ordnungswidrigkeit übrig bleibt. Ist der Schuldspruch rechtskräftig, ist die Verjährungsfrage auf seiner Grundlage zu beurteilen (OLG Bremen NJW 1956 1248). Hat das Gericht Einzelakte einer fortgesetzten Tat nach § 154a StPO aus dem Verfahren ausgeschieden, so muß es seine Prüfungsgrundlage durch Wiedereinbeziehung dieser Teile wieder vervollständigen, wenn anders der Verjährungsbeginn (die Beendigung der fortgesetzten Tat, §78a Rdn. 10) nicht geklärt werden kann (BGHSt. 29 315). Die Prüfung der Verjährungsfrage geschieht nach den Regeln des Freibeweises 26. 14 So genügt es, Unterbrechungshandlungen aus den Akten festzustellen. An die Würdigung des Tatrichters ist das Revisionsgericht dabei grundsätzlich nicht gebunden 27. Bei Zweifeln hat es den Sachverhalt selbst aufzuklären, es kann die Sache 22 23 24 25

Schöneborn MDR 1975 6; a. A. BayObLG MDR 1975 72; SK-Rudolphi Rdn. 11. BGHSt. 8 269 m. Anm. Jescheck JZ 1956 418. Anders (nicht einzubeziehen) Jescheck JZ 1956 418; Oppe NJW 1959 1358. BGHSt. 13 128; RGSt. 33 426, 427; 38 426, 427; RG JW 1924 1728; für Übergangsfälle bei Rechtsänderungen (Umwandlung Straftat in Ordnungswidrigkeit) vgl. BGHSt. 25 158, 161.

26 BGHSt. 7 202, 204; 30 215, 218; BGH NStZ 1982 25; RGSt. 63 320, 321 ; 65 82; RG HRR 1938 Nr. 941 ; BayObLGSt. 1979 44, 45; OLG Braunschweig GA 1974 152; dagegen Roxin Strafverfahrensrecht 18 § 21 C; Többens Der Freibeweis und die Prozeßvoraussetzungen im Strafprozeß, NStZ 1982 184; VolkS. 249. 27 BGHSt. 7 202, 204; 30 215, 218; BayObLGSt. 1979 44, 45. (69)

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5. Abschnitt. Verjährung

aber auch an den Tatrichter zurückverweisen 28. Eine Bindung des Revisionsgerichts besteht jedoch bei den sog. doppelrelevanten — auch den Schuldspruch tragenden — Feststellungen wie denjenigen zum Tatzeitpunkt, sofern nicht die datumsmäßige Bestimmtheit der Tat für den Schuldspruch ohne Bedeutung ist 29 oder fehlt (BGH NStZ 1982 25). 15

Bleibt zweifelhaft, ob Verjährung eingetreten ist, gilt der Grundsatz in dubio pro reo 30. Sein Anwendungsbereich ist umfassend. Er greift deshalb ein, wenn sich die Tatzeit nicht feststellen läßt (OLG Hamm NJW 1976 2222), wenn über Sinn oder Zeitpunkt von Unterbrechungshandlungen Ungewißheit bleibt31, wenn die tatsächlichen Voraussetzungen für ein Ruhen der Verjährung nicht aufzuklären sind und schließlich auch im Falle des § 323 a, sofern der Täter möglicherweise noch unter den Voraussetzungen des § 21 gehandelt hat und die Rauschtat wegen der für sie geltenden kürzeren Verjährungsfrist verjährt wäre 32.

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c) Entscheidung. Ist Verjährung eingetreten, so ist das Verfahren unzulässig, es ist einzustellen (BGHSt. 27 76, 79). Nur ein der Einziehung zu Sicherungszwecken dienendes Verfahren bleibt zulässig (BGHSt. 31 226; BGH M D R 1983 590). Die Einstellung geschieht nach Rechtshängigkeit der Sache durch Beschluß gemäß § 206 a StPO oder durch Urteil nach § 260 Abs. 3 StP033. § 357 StPO - Erstreckung auf Mitverurteilte — findet Anwendung (BGHSt. 12 335, 340; 24 208, 210f). Nicht auf Einstellung, sondern auf Freispruch ist dagegen zu erkennen, wenn die Schuldlosigkeit des Angeklagten schon erwiesen oder der Vorwurf eines schwerwiegenderen Delikts nicht nachgewiesen, das damit zusammentreffende leichtere Delikt aber verjährt ist 34. Ist von mehreren tateinheitlich zusammentreffenden Gesetzesverletzungen nur eine verjährt, bleibt diese im Urteilsspruch unerwähnt; anders, wenn der Eröffnungsbeschluß Tatmehrheit angenommen hatte (KK-Hürxthal § 260 Rdn. 21). Die Einstellung wegen Verjährung hat Vorrang vor einer Einstellung auf Grund einer Amnestie 35. Über die Voraussetzungen der Verjährung entscheidet das Gericht mit einfacher Mehrheit (§ 263 Abs. 3 StPO). Im Urteil braucht, da das Rechtsmittelgericht die 28 BGHSt. 11 345, 347 f; Grünwald Die Teilrechtskraft im Strafverfahren (1964) S. 375. 29 BGHSt. 22 90 m. Anm. Eb. Schmidt JZ 1968 434; Willms Wesen und Grenzen des Freibeweises, Ehrengabe für Heusinger S. 393, 408; s. schon RGSt. 15 107, 108; zur Bindung an Feststellungen über den Tatort RGSt. 45 158, 159. 30 BGHSt. 18 274, 278 m. Anm. Eb. Schmidt JZ 1963 606 und Dreher MDR 1963 857; LöweRosenberg/Rieß24 § 206 a Rdn. 47; Michael Der Grundsatz in dubio pro reo im Strafverfahren (1981) S. 27, 149; Stree In dubio pro reo (1962) S. 64; Sulanke Die Entscheidung bei Zweifeln über das Vorhandensein von Prozeßvoraussetzungen und Prozeßhindernissen im Strafverfahren (1974) S. 120; überholt BGH bei Herían M D R 1955 527; BGH GA 1963 126; OLG Düsseldorf NJW 1957 1485. 31 BGH bei Dallinger M D R 1970 897; OLG Hamburg JZ 1965 543; OLG Hamm JMB1NRW 1963 134; OLG Karlsruhe VRS 61 45; G. SchäferDünnebier-Festschr. S. 541, 548. 32 OLG Celle VRS 25 32; KG VRS 20 50; OLG Köln NJW 1958 1984; Dreher/Tröndle42 § 323 a Rdn. 14. 33 Ohne jeden Schuldspruch, BGHSt. 20 225 ; zur Vereinbarkeit der Einstellung mit der Unschuldsvermutung Kühl Unschuldsvermutung, Freispruch und Einstellung (1983) S. 100 ff; Kühl Unschuldsvermutung und Einstellung des Strafverfahrens, NJW 1984 1264. 34 BGH bei Pfeiffer-Maul-Schulte §66 Anm. 4; RGSt. 66 51, 53; OLG Karlsruhe VRS 57 114, 116; OLG Schleswig SchlHA 1959 127; KK-Hürxthal § 260 Rdn. 50, 51; vgl. auch BGHSt. 13 268, 272; 20 333, 335; anders BayObLG VRS 57 40, 41. 35 BGHSt. 20 248, 252; RGSt. 53 276; RG H R R 1939 Nr. 1014. (70)

Vorbemerkungen (Jähnke)

Vor § 78

Verjährung selbständig prüft, hierüber grundsätzlich nichts zu verlauten. Hat der Tatrichter aber Beweise erhoben, die das Revisionsgericht nicht zu erheben pflegt, empfiehlt sich eine nachprüfbare Niederlegung des Ergebnisses der Beweisaufnahme, um eine Zurückverweisung zu vermeiden (vgl. BGHSt. 30 215, 217). 7. Sachlich-rechtliche Folgen. Die Verjährung beseitigt nicht nachträglich die 17 Rechtswidrigkeit der Tat. Sie bleibt tauglicher Anknüpfungspunkt für Begünstigung und Hehlerei 36. Strafvereitelung ist nach Verjährung der Vortat möglich, wenn eine zulässige Sicherungseinziehung vereitelt wird (§ 78 Rdn. 2) 37. Der Irrtum des Täters über den Eintritt der Verjährung ist unerheblich. Verjährte Taten dürfen im Rahmen der Beweiswürdigung als Indiz verwertet und bei der Strafzumessung zum Nachteil des Angeklagten berücksichtigt werden 38. Ist bei mehreren in Gesetzeseinheit stehenden Rechtsverstößen der eine davon verjährt, ist die an sich verdrängte Strafvorschrift anzuwenden. Das gilt bei Subsidiarität (BGH NStZ 1984 309, 310; RGSt. 39 353, 354) ebenso wie im Falle der sonst mitbestraften Nachtat 39. Bei Spezialität kann es je nach dem Gesetzeszusammenhang anders liegen (RGSt. 47 385, 388). 8. Exkurs: Überlange Verfahrensdauer Schrifttum: Baumann Die Bedeutung des Artikels 2 G G für die Freiheitsbeschränkungen im Strafprozeß, Eb. Schmidt-Festschr. S. 525; Hanack Prozeßhindernis der überlangen Verfahrensdauer? JZ 1971 705 ; Hillenkamp Verwirkung des Strafanspruchs durch Verfahrensverzögerung? JR 1975 133; Kloepfer Verfahrensdauer und Verfassungsrecht, JZ 1979 209; Kohlmann Der Anspruch des Beschuldigten auf schnelle Durchführung des Ermittlungsverfahrens, MaurachFestschr. S. 501; Krey Grundzüge des Strafverfahrensrechts, JA 1983 638; Peukert Die überlange Verfahrensdauer in der Rechtsprechung der Straßburger Instanzen, EuGRZ 1979 261; Priebe Die Dauer von Gerichtsverfahren im Lichte der Europäischen Menschenrechtskonvention und des Grundgesetzes, Festschr. f. W. v. Simson (1983) S. 287; Rüping Der Schutz der Menschenrechte im Strafverfahren, ZStW 91 (1979) 351 ; Schwenk Das Recht des Beschuldigten auf alsbaldige Hauptverhandlung, ZStW 79 (1967) 721 ; Schwenk Strafprozessuale Probleme des NATO-Truppenstatuts, JZ 1976 581; v. Stackelberg Verjährung und Verwirkung des Rechts auf Strafverfolgung, Bockelmann-Festschr. S. 759; Ulsamer Art. 6 Menschenrechtskonvention und die Dauer von Strafverfahren, Festschr. für H. J. Faller (1984) S. 373 ; Ulsenheimer Zur Problematik der überlangen Verfahrensdauer und richterlichen Aufklärungspflicht im Strafprozeß sowie zur Frage der Steuerhinterziehung durch Steuerumgehung, wistra 1983 12; Vogler Straf- und strafverfahrensrechtliche Fragen in der Spruchpraxis der Europäischen Kommission und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, ZStW 89 (1977) 761.

Die Beschleunigung des Strafverfahrens ist Wesenselement wirksamer Straf- 18 rechtspflege und ein Gebot rechtsstaatlichen Verfahrens. Es hat in Art. 6 MRK po36 Dreher/TröndleV §257 Rdn. 3; 259 Rdn. 4; Ruß LK §257 Rdn. 8; §259 Rdn. 4; Sch.Schröder-Stree21 § 257 Rdn. 10; § 259 Rdn. 11. 37 Dreher/Tröndle^ § 258 Rdn. 4; Ruß LK § 258 Rdn. 4. 38 BGH bei Holtz M D R 1977 809; Dreher/Tröndle42 §46 Rdn. 24a; Sch.-Schröder-Stree2\ § 46 Rdn. 33 ; zurückhaltend Hirsch LK § 46 Rdn. 80. 39 BGH NJW 1968 2115; BGH bei Daliinger MDR 1955 269; Dreher M D R 1964 168; Kohlmann JZ 1964 492; Vogler LK vor § 52 Rdn. 146; vgl. auch OLG Nürnberg M D R 1951 53 m. Anm. Meister; a. A. OLG Braunschweig JZ 1964 524; Jakobs AT 31/46; Jescheck AT § 69 II 3 a; SK-Rudolphi§ 78a Rdn. 9. (71)

Vor § 78

5. Abschnitt. Verjährung

sitiven Ausdruck gefunden 40 und läßt sich zahlreichen Einzelvorschriften der StPO entnehmen. Welche Folgen eine Verletzung des Beschleunigungsgebots hat, ist aber umstritten. Die Zubilligung von Rechtsbehelfen gegen Untätigkeit der Strafverfolgungsorgane (Kloepfer JZ 1979 209, 215; Kohlmann Maurach-Festschr. S. 501, 514) dürfte keine Lösung sein, der sich der Beschuldigte häufig bedient. Vielfach wird aus überlanger, staatlich zu verantwortender Verfahrensdauer auf ein Verfahrenshindernis infolge Verwirkung der Strafverfolgungsbefugnis geschlossen 41. Diese Auffassung hat Unterstützung durch einen Vorprüfungsausschuß des BVerfG gefunden (NStZ 1984 128), der sich allerdings nicht mit BVerfGE 1 418, 423 auseinandergesetzt hat; in jener Entscheidung hatte das Gericht Strafverfolgung nach langer Zeit für unbedenklich gehalten. Die Rechtsprechung des BGH lehnt es dagegen ab, in derartigen Fällen das Verfahren einzustellen 42 oder andere als die im Gesetz vorgesehenen Rechtsfolgen zu verhängen (BGHSt. 27 274). Sie hält die Überschreitung der angemessenen Verfahrensdauer für eine Strafzumessungstatsache, weil ein Verfahrenshindernis an fest umrissene Tatbestände, nicht aber an ein Werturteil anzuknüpfen hat 43. Dieser zutreffenden Betrachtung ist anzufügen, daß das Gesetz mit den Verjährungsvorschriften bereits den Zweck verfolgt, einer etwaigen Untätigkeit der Behörden vorzubeugen (BGHSt. 11 393, 396; 12 335, 337). Nach der eindeutigen gesetzlichen Entscheidung zieht aber erst § 78 c Abs. 3 Satz 2 mit der absoluten Verjährung die Grenze zulässiger Strafverfolgung. Sie schließt es aus, ein der Verjährung vorgelagertes Verfahrenshindernis zu konstruieren, das im wesentlichen ebenfalls auf den Zeitablauf abstellt (Hanack JZ 1971 705, 712). Auch die Hemmung der Verjährung nach Erlaß des erstinstanzlichen Urteils (§ 78 b Abs. 3) ist eine bewußte Entscheidung des Gesetzgebers, die nicht unterlaufen werden darf. Groben Unbilligkeiten im Einzelfall ist im Wege des § 153 StPO abzuhelfen (LG Flensburg MDR1979 76); notfalls hat die Gnadenbehörde tätig zu werden (BGHSt. 24 239, 243). Für die Zulässigkeit einzelner prozessualer Maßnahmen hingegen kann auch die bisherige Verfahrensdauer ein beachtlicher Gesichtspunkt sein (OLG Stuttgart NJW 1974 284). 19

9. Übergangsrecht. Die §§ 78 ff gelten uneingeschränkt für Taten, die nach dem 1. 1.1975 begangen sind. Für früher verübte Delikte sind die Übergangsregelungen des Art. 309 EGStGB zu beachten. Eine allgemeine Bestimmung über das Wirksambleiben von Unterbrechungshandlungen bei einer Verkürzung der Verjährungsfrist infolge Änderung der Strafdrohung findet sich in § 78 c Abs. 5. 40 Dazu E u G M R in E u G R Z 1983 371 m. Anm. Kühne (Fall Eckle). Darstellung bei Krey JA 1983 638, 640. 41 LG Frankfurt/M. JZ 1971 234; LG Krefeld JZ 1971 733; Baumann Eb. Schmidt-Festschr. S. 525, 541 ; Hillenkamp JR 1975 133; Peters JR 1978 247; Priebe Festschr. f. W. v. Simson S. 287, 309; Schwenk ZStW 79 (1967) 721, 736; JZ 1976 581, 583; v. Stackelberg Bockelmann-Festschr. S. 759, 769; Ulsenheimer wistra 1983 12; s. ferner OLG Koblenz NJW 1972 404; a. A. Dreher/Trôndlé2 Rdn. 4; Hanack JZ 1971 705; KK-Pfeiffer Einl. Rdn. 10; Kleinknecht/Meyer Art. 6 M R K Rdn. 8; Kloepfer JZ 1979 209, 215 Fn. 53; KMR-Sax Einl. IX Rdn. 8; Kühne EuGRZ 1983 383; Löwe-Rosenberg/Schäfer Einl. Kap. 12 Rdn. 92; Roxin Strafverfahrensrecht 18 § 16 C; Rüping ZStW 91 (1979) 351, 361; Schlächter Das Strafverfahren 2. Aufl. (1983) Rdn. 388; Ulsamer Festschr. f. Faller S. 373, 382; Vogler ZStW 89 (1977)761,783; Ko/JfcS.228. 42 BGHSt. 21 81, 84; 24 239; BGH GA 1977 275; BGH NStZ 1982 291; 1983 135; BGH wistra 1982 108; BGH M D R 1984 861, 862; BGH bei Holtz M D R 1984 89; ebenso OLG (72)

Verjährungsfrist (Jähnke)

§ 78

E R S T E R TITEL Verfolgungsverjährung

§78 Verjährungsfrist (1) Die Verjährung schließt die Ahndung der Tat und die Anordnung von Maßnahmen ( § 1 1 Abs. 1 Nr. 8) aus. (2) Verbrechen nach § 220 a (Völkermord) und nach § 211 (Mord) verjähren nicht. (3) Soweit die Verfolgung verjährt, beträgt die Verjährungsfrist 1. dreißig Jahre bei Taten, die mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht sind, 2. zwanzig Jahre bei Taten, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe von mehr als zehn Jahren bedroht sind, 3. zehn Jahre bei Taten, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe von mehr als fünf Jahren bis zu zehn Jahren bedroht sind, 4. fünf Jahre bei Taten, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr bis zu fünf Jahren bedroht sind, 5. drei Jahre bei den übrigen Taten. (4) Die Frist richtet sich nach der Strafdrohung des Gesetzes, dessen Tatbestand die Tat verwirklicht, ohne Rücksicht auf Schärfungen oder Milderungen, die nach den Vorschriften des Allgemeinen Teils oder für besonders schwere oder minder schwere Fälle vorgesehen sind. Schrifttum Sieg Zur Verjährung bei Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, NJW 1975 153 ; Triffterer Können Mord-Gehilfen der Nationalsozialisten heute noch bestraft werden? NJW 1980 2049; s. ferner die Schriftumsangaben zu den Vorbemerkungen. Entstehungsgeschichte S. vor § 78. Fassung durch Art. 1 Nr. 1 2. StrRG, Art. 18 Nr. 45 EGStGB. Änderung des Absatzes 2 u n d redaktionelle Verbesserung durch Art. 1 des 16. StRÄndG. Übersicht Rdn. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

Inhalt Wirkung der Verfolgungsverjährung . . . Tat- und Tatfolgenverjährung Unverjährbare Taten Fristenlauf bei den verjährenden Taten . Bedeutung der Rechtskraft Beseitigung der Rechtskraft

1 2 3 5

Rdn. a)

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand b) Wiederaufnahme des Verfahrens . . c) Sonstige Eingriffe in die Rechtskraft Die Fristen 9. Presseverjährung 10. Ermittlung der anwendbaren Frist

10

11 12 13 14 18

Hamm NJW 1975 702; OLG Karlsruhe NJW 1972 1907; OLG Stuttgart NJW 1967 508, 509. 43 Zu den maßgebenden Abwägungsgesichtspunkten BVerfG NStZ 1984 128; EuGMR EuGRZ 1983 371 m. Anm. Kühne-, Peukert EuGRZ 1979 261, 269; Priebe Festschr. f. W. v. Simson S. 287, 301 ; Ulsamer Festschr. f. Faller S. 373, 376 ff; zum Ausgang des Falles Eckle EuGMR EuGRZ 1983 553 ; Krey JA 1983 638, 642. (73)

§78

5. Abschnitt. Verjährung

1

1. Inhalt. Die Vorschrift regelt die Wirkungen der Verfolgungsverjährung (Absatz 1), sie bestimmt, welche Taten in welchen Fristen verjähren (Absätze 2, 3) und schafft Grundlagen für die Berechnung der Verjährungsfrist (Absatz 4).

2

2. Wirkung der Verfolgungsverjährung. Nach Absatz 1 schließt die Verjährung jegliche Ahndung der Tat durch Strafen, Nebenstrafen und Nebenfolgen sowie die Verhängung von Maßnahmen (§11 Abs. 1 Nr. 8) aus. Unzulässig ist damit insbesondere auch die Anordnung von Maßregeln der Besserung und Sicherung. Hinsichtlich der Einziehung ist allerdings streitig, ob § 76 a Abs. 2 eine dem § 78 vorgehende Sondervorschrift ist, welche Sicherungseinziehungen trotz verjährter Tat gestattet. Der BGH bejaht die Frage. Die Verjährung gilt mithin als rechtlicher Grund, der die Verfolgung einer bestimmten Person hindert und die selbständige Sicherungseinziehung nach § 76 a Abs. 2 ermöglicht 1.

3

3. Tat- und Tatfolgenverjährung. Tat im Sinne des Absatzes 1 ist die einzelne Gesetzesverletzung. Verwirklicht der Täter tateinheitlich mehrere Straftatbestände, ist die Verjährung für jeden davon selbständig zu prüfen 2. Zur anderen Lage bei der Unterbrechung s. § 78 c Rdn. 15. Dies besagt jedoch nicht, daß jede Gesetzesverletzung lediglich einer einheitlichen Verjährung unterläge. Hat der Strafausspruch Rechtskraft erlangt, läuft wegen anhängig gebliebener Nebenfolgen oder Maßregeln die Verjährung weiter (§ 78b Rdn. 13)3. Das hat zwar gegenwärtig keine praktische Bedeutung, weil nach § 78 b Abs. 3 der Erlaß des erstinstanzlichen Urteils den Ablauf der Verjährungsfrist für die gesamte Tat hemmt (§ 78 b Rdn. 13); für die Vollstreckungsverjährung gilt § 79 Abs. 5. Anders läge es bei zulässigem Teil-Einspruch gegen einen Strafbefehl. Wird ein Teil der durch Strafbefehl festgesetzten Rechtsfolgen rechtskräftig, steht dem Lauf der Verjährung im übrigen kein Hindernis im Wege, denn der Erlaß des Strafbefehls entfaltet keine hemmende Wirkung, er unterbricht die Verjährung (§ 78 c Abs. 1 Nr. 9). Bisher ist eine solche Beschränkung des Einspruchs gegen einen Strafbefehl allerdings unzulässig (vgl. KK-Müller § 409 Rdn. 21); die Frage einer gespaltenen Verjährungsfrist stellt sich daher gegenwärtig nicht. Sie wird jedoch auftreten, wenn die mit dem Entwurf eines Strafverfahrensänderungsgesetzes 1984 (BTDrucks. 10/1313) geplante Möglichkeit der TeilEinlegung eines Einspruchs gegen den Strafbefehl Gesetz werden sollte.

4

Tat nach Absatz 1 ist auch die Teilnahme, die mit der Haupttat zunächst eine Einheit bildet (§ 78 a Rdn. 15). Hat der Teilnehmer ein anderes Strafgesetz als der 1 BGHSt. 31 226; BGH MDR 1983 590 m. Anm. Lenzen JR 1983 292; OLG Frankfurt/M. NJW 1983 1208; OLG Hamm NStZ 1982 422 m. Anm. Horn ; JR 1983 295 m. Anm. Bergmann; OLG Karlsruhe JR 1980 248 m. Anm. Horn; OLG Stuttgart MDR 1975 681; Preisendanz Anm. 1; Schäfer LK § 76 a Rdn. 11; zum früheren Recht BGHSt. 6 62; 21 367, 370; 25 347, 354; BGH NJW 1969 1818; a. A. OLG Hamm NStZ 1981 64; OLG München MDR 1982 950; Dreher/Tröndle^· §76a Rdn. 8; Lackner^ Anm. l c ; Sch.-SchröderEserï\ § 76a Rdn. 8a; SK-Rudolphi Rdn. 1. 2 BGH wistra 1982 188; BGH bei Dallinger MDR 1956 526; 1976 15; RGSt. 8 310, 312; 26 261, 263; 39 353, 355; 57 140, 141; 62 83, 88; RG HRR 1942 Nr. 457a; OGHSt. 1 53, 54; 1 203, 205; OLG Köln GA 1953 57; Dreher/Tröndle42 §78a Rdn. 9; Lackner 15 Anm. 5; Maurach-Gössel-Zipf AT 2 § 75 II Rdn. 23; Sch.-Schröder-Stree2\ Rdn. 8; SK-Rudolphi Rdn. 9. 3 OLG Celle NJW 1965 2413; OLG Düsseldorf VRS 32 34; OLG Hamm VRS 33 191 ; OLG Neustadt/W. GA 1956 268; Dreher/Tröndle42 Rdn. 2; Lackner15 Anm. 3. (74)

Verjährungsfrist (Jähnke)

§78

Haupttäter verwirklicht, bestimmt sich die Verjährungsfrist für jeden Beteiligten aber nach dem von ihm verübten Delikt (Dreher/Tröndlell Rdn. 5; SK-Rudolphi Rdn. 5). In Betracht kommt dies etwa bei Verschiedenheit der inneren Tatseite, bei unechten Sonderdelikten oder qualifizierten und privilegierten Tatbeständen im Verhältnis zum Grundtatbestand. Tat im Sinne des Absatzes 1 ist schließlich auch der Versuch; die Verjährung ist an die Strafdrohung für die vollendete Tat geknüpft. 4. Unverjährbare Taten. Völkermord und Mord (§§220a, 211) verjähren nicht 5 (Absatz 2); dies gilt auch für Versuch, Teilnahme und Versuch der Beteiligung (Rdn. 6). Die Unverjährbarkeit des Völkermordes hat das 9. StRÄndG eingeführt. Sie entspricht Bestrebungen der Vereinten Nationen und des Europarats 4, ist aber bisher ohne praktische Bedeutung. Auf NS-Gewalttaten ist § 220 a nicht anwendbar (§ 220 a Rdn. 7). Für Mord hat das 16. StRÄndG die Verjährung ausgeschlossen 5. Der Ausschluß gilt rückwirkend für alle noch nicht verjährten Taten und erfaßt — dies war das Ziel der Regelung — insbesondere die NS-Gewaltverbrechen, deren Verjährung mangels hinreichender Aufklärung noch nicht unterbrochen werden konnte. Der zeitliche Anwendungsbereich (dazu vor § 78 Rdn. 11) beruht auf dem Ineinandergreifen verschiedener Regelungen 6: Seit 1939 galt für Mord eine Verjährungsfrist von 20 Jahren 7. Sie ruhte, solange die von Staats wegen begangenen Morde entsprechend dem Willen der Staatsführung unverfolgt blieben 8. Nach dem Zusammenbruch drohte erstmals am 8. Mai 1965 der Eintritt der Verjährung9. Es erging deshalb das sog. Berechnungsgesetz vom 13.4. 1965 (BGBl. I S. 315); dieses ordnete an, daß bei der Berechnung der Verjährungsfrist die Zeit vom 8. Mai 1945 bis 31. Dezember 1949 außer Ansatz bleibe (dazu BVerfGE 25 269). Die damit an sich am 31.12.1969 endende zwanzigjährige Verjährung verlängerte der Gesetzgeber durch das 9. StRÄndG auf 30 Jahre, also bis Ende 197910. Mit dem 16. StRÄndG hat er sich nunmehr für die gänzliche Aufhebung der Verjährung entschieden. Die Unverjährbarkeit gilt nicht nur für die vollendete Haupttat, sondern auch 6 für den Versuch, die Teilnahme und den Versuch der Beteiligung. Bemühungen, die 4 van Dam Die Unverjährbarkeit des Völkermordes (1969); BTDrucks. 8/2616. 5 Zum Streit um das 16. StRÄndG § 211 Rdn. 69, Fn. 75 sowie Böckenförde ZStW 91 (1979) 888; Dreher/TröndleV § 1 Rdn. I I b ; Eberl in Festschr. Univ. Bielefeld S. 145; Schünemann Nulla poena sine lege? (1978) S. 25. 6 Dokumentation der Gesetzesgeschichte in Deutscher Bundestag, Presse- und Informationszentrum Zur Verjährung nationalsozialistischer Verbrechen, Zur Sache 3/80—5/80. 7 BGH NJW 1962 2209 m. Anm. Dreher; BGH GA 1964 78. 8 BGHSt. 18 367; 23 137; BGH NJW 1962 2308; BVerfGE 1 418, 425; OLG Dresden NJW 1947/48 311 ; OLG Gera NJW 1947/48 31 Nr. 34. 9 Zur Verjährung des Totschlags am 7. 5.1960 Lackner NJW 1960 1046; BGH NJW 1962 2308. 10 Zur damaligen rechtspolitischen Auseinandersetzung Arndt NJW 1961 14; JZ 1965 145; Baumann Aufstand S. 15; Bemmann JuS 1965 333; Benda S. 24; Calvelli-Adorno NJW 1965 273; Frost DRiZ 1965 89; Fuhrmann JR 1965 15; Grünwald MDR 1965 521; Jantsch DRiZ 1968 196; Kirn ZRP 1968 3; Klug JZ 1965 149; Lorenz GA 1968 300; Mischnick ZRP 1968 63; Naegele NJW 1960 889; Naucke ZRP 1969 8; Pawloswki NJW 1965 287; 1969 594; Schmid NJW 1965 1952; P. Schneider Festschr. Germann S. 199; Schreiber ZStW 80 (1968)348; Wassermann JR 1965 223; fVillms JZ 1969 60; Winters ZRP 1968 47. (75)

§78

5. Abschnitt. Verjährung

Beihilfe zum Mord aus dem Anwendungsbereich des Absatzes 2 herauszunehmen (LG Hamburg NStZ 1981 141 m. Anm. Schünemann; Triffierer NJW 1980 2049), widersprechen dem Gesetz (Absatz 4). Der Gesetzgeber hatte mit dem Erlaß des EGOWiG 1968 unbeabsichtigt einen Teil der Beihilfefälle der Verjährung zugeführt (BGHSt. 22 375; vgl. § 211 Rdn. 69 m. Fn. 76). Die Formulierung des Absatzes 4 ist auf dem Hintergrund des unterlaufenen Versehens zu betrachten und ausdrücklich gewählt, um die gleiche Länge der Verjährung für Täterschaft und Teilnahme zu gewährleisten (Prot. 5/3189f, 3211). Dieser Wille hat auch wenn nicht eindeutigen, so jedenfalls hinreichend klaren Ausdruck im Gesetz gefunden. Dem Gesetzgeber kann daher nicht ein neuerlicher Fehler mit der Begründung angelastet werden, Absatz 4 enthalte eine Fristenregelung und betreffe nur verjährende, nicht aber unverjährbare Taten 11. Jedoch bleiben Beihilfetaten, die vor dem Erlaß des 16. StRÄndG bereits verjährt waren, unverfolgbar. Das ergibt sich aus rechtsstaatlichen Grundsätzen (vor § 78 Rdn. 11) und ist in Art. 2 des 16. StÄndG ausdrücklich ausgesprochen. Zu den in Betracht kommenden Fällen vgl. BGHSt. 22 375 und §211 Rdn. 69. 7

5. Fristenlauf bei den verjährenden Taten. Die Strafverfolgung aller Taten außer Völkermord und Mord verjährt binnen bestimmter Fristen (Absatz 3). Das Verstreichen eines der Frist entsprechenden Zeitraums bedeutet allerdings nicht stets den Eintritt der Unverfolgbarkeit. Die Verjährung kann ruhen (§ 78 b), gehemmt sein (§ 78 b Abs. 3) oder unterbrochen werden (§ 78 c). Sie kann auch nach ihrem Ende wieder aufleben (Rdn. 9). Der Lauf der Verjährungsfrist beginnt jeweils mit dem Tag, in den das maßgebende Ereignis fällt. Dies kann die Straftat sein (§ 78 a), aber auch die Unterbrechungshandlung (§ 78 c). Die Frist endet an dem Tag, der nach seiner Bezeichnung dem Anfangstag vorangeht. Beginnt eine dreimonatige Verjährungsfrist am 15. April, tritt Verjährung mithin am 14. Juli, 24 Uhr ein 12. Ob das Fristende auf einen Sonnabend, Sonntag oder Feiertag fällt, bleibt sich gleich.

8

6. Bedeutung der Rechtskraft. Ergeht vor dem Ende der Frist ein Urteil, so endet die Verfolgungsverjährung mit dessen Rechtskraft. In diesem Zeitpunkt beginnt die Vollstreckungsverjährung, so daß es einen verjährungsfreien Zwischenraum zwischen den beiden Verjährungsarten nicht gibt 13. Bei Teilrechtskraft ist die Vollstreckbarkeit der jeweiligen Rechtsfolge maßgebend (s. aber Rdn. 3). Der Strafausspruch ist nicht vollstreckbar, wenn die Frage der Strafaussetzung (BGHSt. 11 393, 395; OLG Bremen NJW 1956 1248; Dreher/Tröndle42 § 78 b Rdn. 11) oder der Reihenfolge der Vollstreckung von Strafe und Maßregel (§ 67 Abs. 2) angefochten ist. Ist nach § 53 eine Gesamtstrafe zu bilden, beginnt die Vollstreckungsverjährung erst 11 Ebenso Dreher/Tröndle^ Rdn. 4; Lackner M Anm. 2 c; Sch.-Schröder-Stree2i Rdn. 1 ; SKRudolphi Rdn. 4. 12 BGHSt. 23 137; 27 76; BGH bei Pfeiffer-Maul-Schulte § 66 Anm. 1; RGSt. 13 57, 58; 41 167; 65 287, 290; RG Rspr. 8 493; BayObLGSt. 1959 14, 15; BayObLG JR 1969 64; OLG Celle NdsRpfl. 1984 239; OLG Karlsruhe VRS 57 114, 115; OLG Schleswig bei Ernesti/ Lorenzen SchlHA 1981 96; OLG Zweibrücken MDR 1981 960; Dreher/Tröndle42 § 78 a Rdn. 12; Lackner15 § 78a Anm. 2; Sch.-Schröder-Stree2\ Rdn. 12. 13 BGHSt. 11 393, 396; 20 198, 200; BGH bei Daliinger MDR 1973 191 ; RGSt. 76 48; OLG Bremen NJW 1956 1248; OLG Celle NJW 1965 2413; OLG Köln VRS 57 296. (76)

Verjährungsfrist (Jähnke)

§78

mit deren Rechtskraft, nicht mit der der Einzelstrafen (BGHSt. 30 232; RGSt. 60 206, 207). Ist hingegen eine nachträgliche Gesamtstrafe nach § 460 StPO oder durch Einbeziehung gemäß § 55 StGB gebildet worden, bietet sich keine Handhabe, die für die rechtskräftig erkannten Strafen laufende Vollstreckungsverjährung wieder in eine Verfolgungsverjährung umzuwandeln. Denn die rechtskräftigen Strafen sind vollstreckbar und gehen erst mit Rechtskraft der Gesamtstrafe in dieser auf. Es kann sich daher hier nur um die Frage handeln, ob die Bildung der Gesamtstrafe zu einer längeren Vollstreckungsverjährung führt und von welchem Tag an die Frist zu laufen beginnt (dazu § 79 Rdn. 4). 7. Beseitigung der Rechtskraft. Der rechtskräftige Abschluß des Verfahrens ist 9 kein unabänderlicher Endpunkt der Verfolgungsverjährung. Mit der Beseitigung der Rechtskraft, etwa durch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand oder Wiederaufnahme des Verfahrens, beginnt die Verfolgungsverjährung erneut. Nicht im Gesetz geregelt ist jedoch, ob alsdann die frühere Frist weiterläuft oder eine neue Frist beginnt, welche Bedeutung die in §78b Abs. 3 vorgesehene Ablaufhemmung hat und ob die absolute Verjährungsfrist des § 78 c Abs. 3 Satz 2 noch eine Rolle spielt. a) Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Hat das Amtsgericht den Einspruch ge- 10 gen einen Strafbefehl durch rechtskräftigen Beschluß als unzulässig verworfen und gewährt es nunmehr Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Einspruchsfrist, beginnt die Verfolgungsverjährung wieder zu laufen. Voraussetzung ist nur, daß die Sache nicht bereits vorher verjährt war (OLG Braunschweig GA 1974 152). Es setzt eine volle neue Frist ein 14, da mit der Rechtskraft des Strafbefehls die Verfolgungsverjährung endgültig, nicht nur auflösend bedingt, endete. Denn in diesem Zeitpunkt durfte die Strafvollstreckung beginnen (s. auch § 44 Abs. 3, § 69 Abs. 3); das schließt jeglichen Lauf einer Verfolgungsverjährung aus. Ein Weiterlaufen der bisherigen Frist läßt sich auch nicht rückwirkend fingieren, weil damit die durchgeführte Strafvollstreckung rückwirkend als rechtswidrig bezeichnet werden müßte. Hiernach ist der mit der Wiedereinsetzung bewirkte Übergang zur Verfolgungsverjährung nur durch Begründung einer neuen Frist, nicht durch die Fortsetzung des Laufs der alten, möglich (s. ferner Rdn. 11). Nach Beseitigung der Rechtskraft durch Wiedereinsetzung erlangt auch die absolute Verjährung nach § 78 c Abs. 3 Satz 2 keine Bedeutung mehr. Dies ergibt ein Blick auf die vergleichbare Rechtslage bei der Wiederaufnahme (Rdn. 11). In beiden Fällen durfte mit Rechtskraft der Entscheidung die Vollstreckung beginnen; das Fahrverbot und die Entziehung der Fahrerlaubnis wurden mit der Rechtskraft des Strafbefehls von selbst wirksam (§ 44 Abs. 3 ; § 69 Abs. 3). Der außerordentliche Rechtsbehelf ist nicht dazu bestimmt, diesen Folgen mittels Verjährung die Grundlage zu entziehen. Demgegenüber erscheint der Ansatz des OLG Köln (VRS 57 296 ; ebenso Göhlerl § 33 Rdn. 49) nicht überzeugend, das die absolute Verjährung von der Tat an berechnet, die Zeitspanne der Rechtskraft aber einem Ruhen der Verjährung gleichachtet und bei der Bestimmung der Höchstfrist analog § 78 c Abs. 3 14 In gleicher Weise im Ordnungswidrigkeitenrecht bei Wiedereinsetzung in die Frist zum Einspruch gegen den Bußgeldbescheid, BayObLG JR 1954 150; OLG Düsseldorf MDR 1979 335; OLG Frankfurt/M. VRS 50 128; OLG Hamm NJW 1972 2097; OLG Köln VRS 57 296; OLG Stuttgart Justiz 1972 363; Göhlerl vor §31 Rdn. 2; dagegen Lackner15 Anm. 3 ; Sieg NJW 1975 153 ; SK-Rudolphi vor § 78 Rdn. 7. (77)

§78

5. Abschnitt. Verjährung

Satz 3 außer Betracht läßt. Die Verjährung konnte nicht ruhen, sie hatte ihr Ende gefunden (RGSt. 76 46, 48). Wird Wiedereinsetzung wegen Versäumung des Rechtsmittels gegen ein rechtskräftiges Urteil gewährt, gelten dieselben Grundsätze. Die Frage, ob etwa trotz Endes der Verfolgungsverjährung die Ablaufhemmung nach §78b Abs. 3 weiterwirken könnte, stellt sich bei dieser Betrachtung nicht. 11

b) Wiederaufnahme des Verfahrens. Die Wiederaufnahme des Verfahrens schafft ebenfalls eine volle neue Verjährungsfrist 15. Zunächst sind dafür dieselben Gründe wie bei der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand maßgebend (Rdn. 10): Die Verfolgungsverjährung hatte endgültig geendet und muß neu begründet werden (unzutreffend Göhlerl § 32 Rdn. 7). Für die Schöpfung einer Teilfrist bietet das Gesetz, das auch bei der Unterbrechung die gesamte Frist neu beginnen läßt (§ 78 c Abs. 3 Satz 1), keine Handhabe. Weitere Erwägungen stützen dieses Ergebnis. § 78 b Abs. 3 Satz 2 sieht für die Zeit nach Erlaß des erstinstanzlichen Urteils eine Ablaufhemmung vor. Dabei steht der Lauf der Verjährung nicht still. Die Frist läuft vielmehr weiter, nur ihr Ende wird, falls es vor dem Eintritt der Rechtskraft läge, bis zu diesem Zeitpunkt hinausgeschoben (§ 78 b Rdn. 13). In vielen Fällen wird deshalb bei Eintritt der Rechtskraft kein unverbrauchter Rest der Verjährungsfrist mehr vorhanden sein. Die Wiederaufnahmeentscheidung entfaltet damit auch unter diesem Gesichtspunkt fristschöpfende Kraft, die nicht unterschiedlich ausgestaltet sein kann je nachdem, ob die frühere Verjährungsfrist ganz verbraucht war oder nicht. Daß sich nicht die alte Verjährung fortsetzen kann, ergibt schließlich ein Blick auf § 78 c Abs. 3 Satz 2. Bei einem Weiterlaufen der alten Verjährung müßte auch deren absoluter Endzeitpunkt gelten. Da besonders in Großverfahren das erstinstanzliche Urteil oftmals erst kurz vor dieser Grenze gefällt werden kann, würde die Wiederaufnahme hier regelmäßig nicht zur erneuten Prüfung des Schuldvorwurfs, sondern zur Einstellung wegen Verjährung führen. Der inzwischen durchgeführten Strafvollstreckung wäre die Grundlage entzogen. Das wäre vom Sinn der Wiederaufnahme nicht gedeckt. Eine abweichende Behandlung der Wiederaufnahme gegen freisprechende Urteile ist, da Billigkeitserwägungen im Recht der Verjährung keinen Platz haben, ausgeschlossen (BGH GA 1974 149; a. A. Dreher/Tröndle42 §78b Rdn. 11; Sch.Schröder-Stree21 §78 a Rdn. 15; noch anders Roxin Strafverfahrensrecht 18 § 55 III 2). Bei dieser Betrachtung ist kein Raum mehr für die Frage, ob und wie die vom erstinstanzlichen Urteil ausgehende Hemmung der Verjährung (§ 78 b Abs. 3) etwa in das Wiederaufnahmeverfahren hineinwirkt. Unterschiedliche Wirkungen könnten sich jedenfalls daraus ergeben, daß nur bei Wiederaufnahme gegen ein erstinstanzliches Urteil eine neue Hauptverhandlung so durchgeführt wird, als hätte es kein früheres (verjährungshemmendes) Erkenntnis gegeben (BGHSt. 19 280, 282; RGSt. 57 317); anders, wenn sich die Wiederaufnahme gegen ein im Rechtsmittelzug erlassenes Urteil richtet.

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c) Sonstige Eingriffe in die Rechtskraft. Sonstige Eingriffe in die Rechtskraft sind auf Grund des § 33 a StPO oder infolge Aufhebung der Entscheidung durch das 15 BGH GA 1974 149; RGSt. 76 46, 48; BayObLG JR 1954 150; OLG Bamberg NJW 1962 2168, 2169; OLG Hamburg VRS 29 359; Göhlerl vor § 31 Rdn. 2; Löwe-Rosenberg/Meyer § 370 Rdn. 27; a. A. LacknerM Anm. 3; Sch.-Schröder-Stree2\ § 78 a Rdn. 15; SK-Rudolphi vor § 78 Rdn. 7; jetzt auch Dreher/Tröndle42 § 78 b Rdn. 11 (anders 41. Aufl.). (78)

Verjährungsfrist (Jähnke)

§78

BVerfG möglich. Auch in diesen Fällen beginnt mit dem Wegfall der Rechtskraft eine neue Verfolgungsverjährung (OLG F r a n k f u r t / M . M D R 1978 513; O L G Celle VRS 25 32). 8. Die Fristen sind in Absatz 3 aufgeführt. Ihre Dauer ist f ü n f f a c h nach der De- 13 liktsschwere gestaffelt u n d reicht von 3 bis zu 30 Jahren. Die Fristen gelten, soweit nicht Sondervorschriften eingreifen, auch für die Tatbestände des Nebenstrafrechts. 9. Presseverjährung. Besonderheiten bestehen in mehrfacher Hinsicht für die 14 Presseverjährung, die seit 1874 im Reichsgesetz über die Presse normiert war (zur Gesetzesgeschichte RGSt. 61 19, 22) und nunmehr in den Pressegesetzen der Länder besonders geregelt ist (zur Problematik vor § 7 8 Rdn. 4 ff; Zusammenstellung bei Löffler Presserecht 3. Aufl. Bd. I [1983]). Sie greift — außer bei Presseordnungsdelikten — ein, sobald die Verbreitung eines Druckwerkes allein wegen seines Inhalts strafbar ist (Presseinhaltsdelikt) 16. Die Verjährungsfrist beträgt 6 Monate, bei Verbrechen meist ein Jahr. Fristbeginn ist nicht die Beendigung der Tat, sondern der erste Verbreitungsakt. Ruhen und Unterbrechung der Frist bestimmen sich nach dem StGB (Gross Presserecht [1982] S. 196; Löffler Presserecht 3. Aufl. Bd. I [1983] § 24 LPG Rdn. 28). Bundesrechtliche Presseinhaltsdelikte sind z. B. §§ 86, 184 Abs. 3 Nr. 1, 2 (BGH N J W 1977 1695). Ansonsten k a n n jedes Allgemeindelikt Presseinhaltsdelikt werden, wenn es mittels Verbreitens einer Druckschrift begangen wird (BGHSt. 18 63; 26 40, 46; O L G Oldenburg N J W 1960 303, 305). Das gilt auch f ü r Bußgeldtatbestände (BGHSt. 28 53). Voraussetzung ist, d a ß die Strafbarkeit der Verbreitung des Druckwerks allein in 15 seinem Inhalt begründet liegt 17. Ist die Verbreitung erlaubt u n d nur beim Hinzutreten besonderer Umstände wie der Gefährdung Jugendlicher strafbar, geht es also in erster Linie um Ort, Zeit oder Art der Verbreitung, liegt ein Presseinhaltsdelikt nicht vor. Daher gilt die gewöhnliche Verjährungsfrist etwa f ü r Tatbestände des GjS (BGHSt. 26 40, 44) u n d f ü r § 89 (BGHSt. 27 353). Sie gilt auch, wenn die Straftat nur teilweise durch Verbreiten eines Druckwerks verübt wird, wie bei der Erpressungszwecken dienenden Zeitungsanzeige (RGSt. 33 230), der Ausspielung (RGSt. 63 322, 325), der Prospektübergabe zu Betrugszwecken (RGSt. 53 194, 196), unzulässiger Etikettierung (RGSt. 42 87, 90) und wenn erst handschriftliche Zusätze den strafbaren Inhalt ausmachen (BGH bei Schmidt M D R 1984 183). Bei Tateinheit kann die eine Gesetzesverletzung ein Presseinhaltsdelikt sein, die andere nicht (BayObLG M D R 1975 419). Andererseits ist es ohne Belang, ob die Strafbarkeit des Verbreitens an ergänzende Merkmale geknüpft ist, welche aus dem Druckwerk selbst nicht hervorgehen können, etwa Absichtsmerkmale 18. Gleichgültig ist ferner, ob Ausnahmen von der allgemeinen Strafbarkeit des Verbreitens bestehen, sofern die Tat nicht unter eine Ausnahme fällt (BayObLGSt. 1979 44, 47). Verbreiten heißt körperliche Übergabe des Druckwerks 19. Das Umherfahren mit 16 einem Autoaufkleber strafbaren Inhalts genügt dazu nicht (OLG Hamburg J R 1983 16 Zum Begriff Franke GA 1982 404; Gross NJW 1966 638; Löffler Presserecht 3. Aufl. Bd. I (1983) § 20 LPG Rdn. 15 ff; Rehbinder JA 1977 471. 17 BGHSt. 26 40; 27 353; RGSt. 9 291, 292; 32 69, 70; 42 87, 89; 66 145; BayObLGSt. 1962 171, 174; 1974 175, 178; 1979 44,46. 18 BGHSt. 26 40, 44f; RGSt. 66 145; BayObLGSt. 1953 168; Gross NJW 1966 638. 19 BGHSt. 18 63; BayObLG NJW 1979 2162; KG JR 1984 249. (79)

§78

5. Abschnitt. Verjährung

298 m. Anm. Bottke; OLG Frankfurt/M. M D R 1984 423; a. A. OLG Schleswig bei Ernesti/Lorenzen SchlHA 1984 86), wohl aber der Verkauf. Ist es zur Verbreitung gekommen, erfaßt die Presseverjährung alle vorbereitenden Akte wie Herstellen und Vorrätighalten, auch wenn diese als selbständige Tatmodalitäten im Straftatbestand aufgeführt sind (RGSt. 24 269, 273; 38 71; 61 19, 21; R G Rspr. 1 373), einschließlich der Beihilfe (BGH NStZ 1982 25). Soweit keine Verbreitung stattfindet — u. U. also auch bei Teilen einer im übrigen verkauften Auflage (BGH bei Holtz M D R 1977 89, bei Schmidt M D R 1981 89; RG H R R 1930 Nr. 1581) - gelten für die Verjährung der selbständig strafbaren Vorbereitungshandlungen die allgemeinen Verjährungsfristen (BGHSt.8 245, 246; RGSt. 61 19, 30; BayObLGSt. 1974 175, 177). 17

Die Verjährung beginnt, anders als nach der früher geltenden strafrechtlichen Verjährung (RGSt. 32 69, 72; BGHSt. 14 258), mit dem Abschluß des ersten Verbreitungsaktes (presserechtliche Verjährung) 20, insofern aber für jeden Beteiligten gesondert entsprechend der Art seiner Verbreitungstätigkeit 21. Fortgesetzte Handlungen und natürliche Handlungseinheiten (OLG Oldenburg NJW 1960 303, 305) bilden keine Ausnahme; auch bei ihnen ist der erste Verbreitungsakt maßgebend (BGHSt. 27 18; OLG München M D R 1974 512). Doch erfährt jedes Druckwerk seine eigene Verbreitung, an die sich der Verjährungsbeginn anschließt (BGHSt. 27 18; abw. BayObLGSt. 1962 171, 177; 1974 175, 177). Daher können verschiedene Ausgaben desselben Werkes oder ein und dieselbe Anzeige in mehreren Tageszeitungen jeweils selbständige Verjährungsfristen auslösen (OLG Schleswig bei Ernesti/Jürgensen SchlHA 1978 191; H. Schröder Gallas-Festschr. S. 329, 337). Manipulationen des Verjährungslaufs durch Scheinverbreitung eines Druckwerks sind rechtlich unbeachtlich (BGHSt. 25 347, 355). Die Presseverjährung gilt in 5 Bundesländern auch für von Rundfunk und Fernsehen begangene Inhaltsdelikte ( L ö f f l e r Presserecht 3. Aufl. Bd. I [1983] § 25 LPG). Unhaltbar ist aber die Auffassung Löfflers (§ 25 LPG Rdn. 197), in den übrigen Bundesländern müsse sie trotz Fehlens einer gesetzlichen Grundlage „analog" gelten.

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10. Ermittlung der anwendbaren Frist. Die Verjährungsfrist berechnet sich nach der Strafdrohung des verwirklichten Tatbestandes ohne Rücksicht auf die im Einzelfall verwirkte Strafe (Absatz 4). Bei wahlweiser Androhung von Geld- und Freiheitsstrafe entscheidet die Freiheitsstrafdrohung (Dreher/Tröndle42 Rdn. 5). Tatbestand ist der Unrechtstypus (vgl. BGHSt. 27 287, 289), den der einzelne Täter oder Teilnehmer verwirklicht hat (Rdn. 4). Ist der Schuldspruch rechtskräftig, ist die darin ausgesprochene rechtliche Qualifikation der Tat maßgebend (OLG Bremen NJW 1956 1248). Regelbeispiele, die keinen neuen Straftatbestand schaffen, sondern nur eine Änderung des Strafrahmens bewirken (z. B. § 243), sind für die Einordnung ohne Bedeutung. Dasselbe gilt für alle anderen zwingenden oder fakultativen Strafänderungsgründe, mögen sie auch Aufnahme in eine besondere Vorschrift gefunden haben und an bestimmte tatsächliche Voraussetzungen geknüpft sein (BGHSt. 32 293, 294), so etwa §§ 113 Abs. 4, 139, 157, 213, 241 a Abs. 4, § 31 20 BGHSt. 25 347; BayObLGSt. 1962 171, 175; OLG Celle N J W 1968 715; NdsRpfl. 1984 239; O L G Karlsruhe Justiz 1972 18; Dreher/Tröndle42 Rdn. 8; H.Schröder GallasFestschr. S. 329, 334. 21 BGHSt. 25 347, 354; RGSt. 32 69, 72; BayObLGSt. 1962 171, 176; 1974 175, 177; 1977 125; a. A. Löffler Presserecht 3. Aufl. Bd. I (1983) § 2 4 LPG Rdn. 50a. Zur Teilnahme BGH NStZ 1982 25. (80)

Beginn (Jähnke)

§ 78a

BtMG. Diese abstrakte Betrachtungsweise (vgl. § 12 Abs. 3) ändert sich ferner nicht bei besonders schweren u n d minder schweren Fällen und ebensowenig dort, wo dem Richter ein Absehen von Strafe gestattet ist 22. Schärfungen und Milderungen des Strafrahmens, die der Allgemeine Teil des StGB vorschreibt oder zuläßt, bleiben ebenfalls außer Betracht. D a ß bei der Teilnahme f ü r die Berechnung der Verjährungsfrist der Strafrahmen der Haupttat zugrunde zu legen ist, ist in Rdn. 6 ausgeführt. Für andere Strafrahmenänderungen (z. B. § 13 Abs. 2 — Unterlassungstat; § 23 Abs. 2 — Versuch; § 35 Abs. 1 , 2 — entschuldigender Notstand) gilt dies in gleicher Weise.

§ 78 a Beginn Die Verjährung beginnt, sobald die Tat beendet ist. Tritt ein zum Tatbestand gehörender Erfolg erst später ein, so beginnt die Verjährung mit diesem Zeitpunkt. Schrifttum Bauer Fortsetzungstat und Strafklageverbrauch im Steuerstrafrecht, DStR 1976 18; Bruns Wann beginnt die Verfolgungsverjährung beim unbewußt fahrlässigen Erfolgsdelikt? NJW 1958 1257; Bundesministerium der Finanzen (Hrsg.) Aktuelle Fragen des materiellen Steuerstrafrechts (1959); Dannecker Die Verfolgungsverjährung bei Submissionsabsprachen und Aufsichtspflichtverletzungen in Betrieben und Unternehmen, NStZ 1985 49; Furtner Rechtliche Vollendung und tatsächliche Beendigung bei einer Straftat, JR 1966 169; Hau Die Beendigung der Straftat und ihre rechtlichen Wirkungen (1974); Hruschka Dogmatik der Dauerstraftaten und das Problem der Tatbeendigung, GA 1968 193; Jescheck Wesen und rechtliche Bedeutung der Beendigung der Straftat, Welzel-Festschr. S. 683 ; Kühl Die Beendigung des vorsätzlichen Begehungsdelikts (1974); Kühl Zum Verjährungsbeginn bei Anstellungs- und Rentenbetrug, JZ 1978 549; Kühl Grundfälle zu Vorbereitung, Versuch, Vollendung und Beendigung, JuS 1982 189; Lohmeyer, Die Bedeutung des Fortsetzungszusammenhangs im Steuerstrafrecht, GA 1974 271; Mezger Vollendung und Beendigung beim Betrug, JW 1938 493; Oppe Verjährung bei Anstellungs- und Rentenbetrug, NJW 1958 1909; Ostendorf Negative Folgen der Fortsetzungstat? DRiZ 1983 426; L. Schmidt Beginn der Verjährung der Strafverfolgung bei unechten Unterlassungsdelikten im Steuerstrafrecht, JR 1966 127; Volk Fortsetzungszusammenhang und Verjährungsbeginn im Steuerstrafrecht, DStR 1983 343 ; s. ferner die Schrifttumsangaben vor § 78. Entstehungsgeschichte Die Vorschrift lautete bis 1974 als § 67 Abs. 4: „Die Verjährung beginnt mit dem Tage, an welchem die Handlung begangen ist, ohne Rücksicht auf den Zeitpunkt des eingetretenen Erfolges. " Jetzige Fassung durch Art. 1 Nr. 1 2. StrRG, Art. 18 Nr. 46 EGStGB. Übersicht Rdn. I. Inhalt der Vorschrift II. Beendigung der Tat III. Einzelne Deliktsarten 1. 2. 3. 4.

Erfolgsdelikte Zuständsdelikte Dauerdelikte Unterlassungsdelikte

1 3 4 4 7 8 9

5. Die fortgesetzte Handlung 6. Gefährdungsdelikte 7. Objektive Strafbarkeitsbedingungen 8. Erfolgsqualifizierte Delikte 9. Versuch 10. Mittäterschaft und Teilnahme . . . 11. Fahrlässigkeitstaten

Rdn. 10 11 12 13 14 15 16

22 So schon nach früherem Recht BGH St. 2 181 ; RGSt. 59 23, 24; BayObLGSt. 1952 83 ; abw. RGSt. 77 187,189. (81)

§ 78a 1

5. Abschnitt. Verjährung

I. Inhalt der Vorschrift. Die Vorschrift regelt den Beginn der Verjährungsfrist. Sie knüpft an die Auslegung an, die die mißglückte Fassung des § 67 Abs. 4 a. F. durch die Rechtsprechung gefunden hatte, geht aber darüber hinaus. Nach der früheren Rechtsprechung begann die Verjährung grundsätzlich mit dem Ende des strafbaren Tuns, aber nicht vor dem Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolges. Es kam in der Regel auf die Vollendung der Tat an, nicht auf deren Beendigung (BGH bei Pfeiffer-Maul-Schulte § 67 Anm. 5; Mösl Voraufl. § 67 Rdn. 3; Welzel S. 262). Diese Abweichung vom Gesetzeswortlaut ergab sich daraus, daß eine Straftat nicht verjähren kann, bevor sie begangen ist (BGHSt. 11 119, 121; RGSt. 42 171, 172). Für den Fristenlauf ohne Bedeutung war der Erfolgseintritt hiernach nur, wenn die Deliktsverwirklichung abgeschlossen war und später eine besondere Folge hinzutrat, wie bei erfolgsqualifizierten Delikten (RGSt. 5 282, 284; 21 228, 230).

Die jetzige Gesetzesfassung ist allerdings ebenfalls nicht gelungen. Der in Satz 2 „geregelte" Fall, daß der tatbestandsmäßige Erfolg nach Beendigung der Tat eintritt, ist nicht denkbar. Satz 2 geht daher ins Leere und ist überflüssig 1. Der Fehler ergibt sich aus der Entstehungsgeschichte. Der Gesetzgeber wollte für den Verjährungsbeginn die gesicherte Rechtsfigur der Beendigung der Tat übernehmen 2, brachte dies im 2. StrRG aber zunächst nur unvollkommen zum Ausdruck. Er stellte auf die Beendigung des „strafbaren Verhaltens" ab (Satz 1) und fügte mit Satz 2 eine Ergänzung an, die die Bedeutung eines später hinzutretenden Erfolges klarstellen sollte. Damit war § 78 a zwar in sich geschlossen. So wie er lautete, spiegelte er im wesentlichen aber nur den früheren Rechtszustand wieder. Art. 18 Nr. 46 EGStGB ersetzte sodann in Satz 1 den Ausdruck „strafbares Verhalten" durch den Begriff „Tat". Die Änderung, die redaktioneller Natur sein sollte (Reg. Entwurf des EGStGB BTDrucks. 7/550 S. 215), verwirklichte nunmehr die ursprünglichen gesetzgeberischen Vorstellungen, indem sie die Rechtsfigur der Beendigung der Tat in den Text aufnahm. Gleichzeitig beraubte sie Satz 2 seines Sinnes. 2 Der mit dem Willen des Gesetzgebers übereinstimmende Wortlaut des Satzes 1 ist maßgebend. Daß damit ein Gesetzgebungsfehler zutage tritt, rechtfertigt es nicht, die Änderung der Bestimmung durch das EGStGB als ungeschehen zu behandeln. Der Versuch, auf solche Weise dem Satz 2 einen Sinn zu geben, würde die Bedeutung des ganzen § 78 a vielmehr auf die Festschreibung der Ergebnisse der früheren Rechtsprechung reduzieren (so jedoch Kühl JZ 1978 549, 551; JuS 1982 189, 193). Dazu besteht aber auch sachlich keine Veranlassung, weil das Abstellen auf die Beendigung der Tat durchaus sinnvoll ist (Blei AT 18 § 111 11 ; Jescheck AT § 86 I 2 ; SK-Rudolphi Rdn. 3) und Spannungen mit § 78 c Abs. 5 vermieden werden müssen. 3

II. Beendigung der Tat. Mit der Tatbeendigung knüpft das Gesetz den Beginn der Verjährung an ein Verbrechensstadium, das nach der förmlichen Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes liegen kann (grundlegend Jescheck WelzelFestschr. S. 683, 685 ff)· Setzt der Täter nach Erfüllung aller Tatbestandsmerkmale seine auf Verwirklichung des Straftatbestandes gerichtete Tätigkeit durch weitere, 1 Blei AT 18 §111 I 1; Dreher/TröndleV Rdn. 2; Jescheck AT §86 I 2; Preisendanz Anm. 3b; Sch.-Schröder-Streek Rdn. 1; abw. (Klarstellung für Fristbeginn bei erfolgsqualifizierten Delikten) SK-Rudolphi Rdn. 4; a. A. (im Sinne des früheren Rechts) Kühl JZ 1978 549, 551; JuS 1982 189, 193; Lackner15 Anm. 1; v. Stackelberg Bockelmann-Festschr. S. 756, 766 vgl. ferner Dannecker NStZ 1985 49, 52 f. 2 E 1962 S. 259 betont dies ausdrücklich; die Vorschrift wurde im Sonderausschuß ohne Diskussion gebilligt (Prot. 5/2079). (82)

Beginn (Jähnke)

§ 78 a

auf demselben Vorsatz beruhende Handlungen fort, so beginnt der Lauf der Verjährungsfrist erst nach Abschluß der Gesamttätigkeit 3. Darüber hinaus ist Beendigung der Zeitpunkt, in dem das Tatunrecht seinen tatsächlichen Abschluß findet ( Vogler LK vor § 22 Rdn. 23)4. Bei Absichtsdelikten kann dies die Erreichung des erstrebten Zieles sein (BGH NStZ 1984 409), bei zeitlich gestreckter oder wiederholter Tatbestandsverwirklichung der letzte Teilakt, im übrigen jede Maßnahme zur Festigung oder Vertiefung des deliktischen Erfolgs. Einwände des Schrifttums gegen diesen Beendigungsbegriff5 betreffen in erster Linie die Möglichkeit der Beihilfe oder der Verwirklichung von Qualifikationstatbeständen im Zeitraum zwischen Vollendung und Beendigung der Tat. Solche meist aus Art. 103 Abs. 2 GG hergeleiteten Bedenken berühren aber nicht die Frage der Verjährung 6. Diese kann sinnvollerweise erst einsetzen, wenn der Täter sein rechtsverneinendes Tun insgesamt abgeschlossen hat. Davor besteht kein Anlaß, durch einen Beginn der Verjährungsfrist einen Verfolgungsverzicht in Aussicht zu stellen. In jedem Fall findet das Tatunrecht aber seinen Abschluß, wenn Weiterhandeln nicht mehr strafbar ist. Bei der Bestechung ist das mit dem Ende der Beamteneigenschaft des Bestochenen der Fall (BGHSt. 11 345, 347), beim Unterlassungsdelikt mit der zulässigen Aufgabe der besonderen Pflichtenstellung (RGSt. 44 424, 428), bei Strafbarkeit auf Grund eines Zeitgesetzes mit dessen Außerkrafttreten (OLG Karlsruhe M DR 1981 519). III. Einzelne Deliktsarten 1. Erfolgsdelikte sind hiernach beendet, sobald der erstrebte Erfolg eingetreten 4 ist und der Täter keine weiteren Schritte zu seiner Vertiefung, Befestigung oder Wiederholung mehr unternimmt. Der Abschluß des Tatunrechts richtet sich damit nach dem Tatplan und ist im übrigen durch Auslegung des einzelnen Tatbestandes zu ermitteln (Jescheck Welzel-Festschr. S. 683, 684; Vogler LK vor § 22 Rdn. 34). Besteht das strafbare Verhalten aus mehreren Teilakten, beginnt die Verjährung mit dem letzten Akt (RGSt. 38 387; OGHSt. 2 291, 311). Auch wenn sich der Erfolg so spät einstellt, daß der Versuch für sich genommen bereits verjährt wäre, setzt der Lauf der Verjährungsfrist für das vollendete Delikt mit dem Erfolgseintritt ein (RGSt. 42 171, 174). Nimmt der Täter nach dem Erreichen des erstrebten Erfolges tatbestandsmäßige Verdeckungshandlungen vor, beginnt die Verjährung mit der letzten dieser Handlungen (BGHSt. 24 218, 221 m. Anm. Schröder JR 1972 118; RGSt. 6 294 zu § 351 a. F.). Verdeckungshandlungen, die nicht die Merkmale des objektiven oder subjektiven Tatbestandes erfüllen, können den Verjährungsbeginn hinausschieben, wenn sie Teil des Tatplans sind und in zeitlichem Zusammenhang mit der Planverwirklichung stehen. Voraussetzung ist nach dem Inhalt des Begriffs der Beendigung aber weiter, daß der Erfolg, etwa die erlangte Beute, gesichert werden soll. Handlungen, die lediglich den Schutz vor Strafverfolgung bezwecken, zählen dazu nicht. 3 BGHSt. 11 345, 346; 16 207, 209; 24 218, 220; 27 342; 28 371, 379; BGH NStZ 1983 559; BGH wistra 1983 70; BGH bei Holtz MDR 1980 105; RGSt. 40 402, 405. 4 Zum Begriff weiter Dreher/Tröndle*l § 22 Rdn. 6; Jescheck AT § 49 III 3 ; Stratenwerth JZ 1961 95; zu weitgehend Dreher MDR 1964 168. 5 etwa Bottke JA 1980 379; Furtner JR 1966 169; Gallas ZAkDR 1937 439; Gössel ZStW 85 (1973) 591, 649; Isenbeck NJW 1965 2326; Roxin LK § 27 Rdn. 22; Schünemann JA 1980 393, 394; Dannecker NStZ 1985 49, 52 f; dagegen Küper Grenzfragen der Unfallflucht, JZ 1981 251. 6 Vgl. Jescheck Welzel-Festschr. S. 683, 690; a. A. Kühl Beendigung S. 165; JZ 1978 549, 552. (83)

§ 78 a

5. Abschnitt. Verjährung

5

So ist Betrug mit der Erreichung des erstrebten Vorteils beendet (Mezger JW 1938 493, 496; a. A. Lackner15 Anm. 2b), Rentenbetrug mit Erhalt der letzten Rentenzahlung 7, sofern der Empfänger nicht vorher in den rechtmäßigen Bezug der Rente hineinwächst (OLG Stuttgart MDR 1970 64). Für den Anstellungsbetrug kann nichts anderes gelten. Die gegenteilige Auffassung der Rechtsprechung, wonach die Verjährung mit der erschlichenen Anstellung beginnt 8, falls der Täter nicht von vornherein weitere Täuschungshandlungen geplant oder in Kauf genommen hat (BGH bei Dallinger MDR 1958 564; RGSt. 64 33, 38), differenziert sachwidrig. Sie verkennt, daß auch hier der Schaden mit jeder Gehaltszahlung planmäßig weiter vertieft wird 9. Bestechungsdelikte sind — sofern nicht noch die Amtshandlung nachfolgt — mit der Gewährung oder Annahme des letzten Vorteils abgeschlossen (BGHSt. 11 345, 347 ; 16 207, 209). Die Ziehung von Früchten aus einem als Bestechungslohn überlassenen Acker verschafft fortlaufend neue Vorteile (RGSt. 64 296, 297), nicht dagegen das bloße Behalten eines einmal gewährten Darlehens (BGHSt. 16 207, 209). In jedem Fall endet die Tat mit dem Ausscheiden des Beamten aus seinem Amt (BGHSt. 11 345, 347). Schwangerschaftsabbruch ist mit dem Tod der Leibesfrucht beendet (RG DR 1943 577). Beim Wucher ist dies mit dem Empfang der letzten Zahlung der Fall (RGSt. 32 143, 146; 38 426, 429), bei der Brandstiftung mit dem Ende des Brandes (RG ZAkDR 1937 437 m. Anm. Gallas; OLG Hamm JZ 1961 94 m. Anm. Stratenwerth). Zur Presseverjährung § 78 Rdn. 14 ff. 6 Die Steuerhinterziehung (§ 370 AO) mittels Erschleichens ungerechtfertigter Steuervorteile, welche für einen längeren Zeitraum gewährt werden, endet mit dem letzten Teilerfolg (RGSt. 72 184, 186). Im übrigen ist nach Steuerarten zu unterscheiden. Die Hinterziehung von Veranlagungssteuern ist mit der Bekanntgabe des Steuerbescheids (BGH bei Holtz MDR 1984 796) beendet 10 oder, bei unterlassener Abgabe der Steuererklärung, mit dem Abschluß der allgemeinen Veranlagungsarbeiten des Finanzamts 11. Bei Publikumsgesellschaften können die letzten Veranlagungsarbeiten maßgebend sein (BGH NStZ 1984 414 m. Anm. Streck). Daß eine zu niedrige Veranlagung mittelbare Wirkungen, etwa auf die Höhe der Vorauszahlungen für das der Veranlagung nachfolgende Jahr hat, rechtfertigt keine Verschiebung des Zeitpunkts der Tatbeendigung (RGSt. 76 334). Bei den Fälligkeitssteuern ist die Hinterziehung von Lohnsteuer durch den Arbeitgeber mit der Versäumung des Fälligkeitstermins beendet (BGH wistra 1983 70; Hübner in Hübschmann-Hepp-Spitaler § 370 AO Rdn. 129; Schmidt JR 1966 127, 128). Für den Arbeitnehmer ist die 7 BGHSt. 27 342; RGSt. 62 418; O L G Köln M D R 1957 371 ; Dreher/TröndleV Rdn. 3; Hau S. 144; Jescheck AT § 86 I 2; Kühl Beendigung S. 166; J Z 1978 549, 553; Sch.-SchröderStree21 Rdn. 4; H. SchröderGallas-Festschr. S. 329, 334. 8 BGHSt. 22 38 m. Anm. Schröder J R 1968 345; RGSt. 64 33, 37; ebenso Oppe N J W 1958 1909; s. aber BGH bei Pfeiffer-Maul-Schulte § 67 Anm. 5. 9 Dreher/Tröndle*2 Rdn. 3; Hau S. 144; Kühl Beendigung S. 167; JZ 1978 549, 553; Lackner 15 Anm. 2 b ; LK §263 Rdn. 293; Sch.-Schröder-Stree21 Rdn. 4; H. Schröder GallasFestschr. S. 329, 334; SK-Rudolphi Rdn. 5. 10 B G H wistra 1982 108; RGSt. 76 334; Hübner in Hübschmann-Hepp-Spitaler § 3 7 0 AO Rdn. 129; Schmidt J R 1966 127, 128; Volk DStR 1983 343, 345. 11 BGH GA 1980 219; Kühl Beendigung S. 166; G. Schäfer Dünnebier-Festschr. S. 541, 543; Schmidt JR 1966 127, 128; kritisch Meine GA 1978 320, 326; a. A. OLG Hamburg M D R 1970 441 ; Suhr in Bundesministerium der Finanzen Aktuelle Probleme S. 225, 231. (84)

Beginn (Jähnke)

§ 78 a

Lohnsteuer dagegen eine besondere Erhebungsform der Einkommensteuer (§ 38 EStG). Er kann die Tat deshalb je nach seinen persönlichen Verhältnissen auch noch bis zum Ende der Veranlagungsarbeiten des Finanzamts begehen und beenden. Der Umsatzsteuerpflichtige hat zusätzlich zu den monatlichen Voranmeldungen noch eine Jahreserklärung abzugeben, in die unrichtige Voranmeldungen zwangsläufig eingehen. Die Tat ist daher regelmäßig frühestens mit Abgabe dieser Jahreserklärung beendet (BGH NStZ 1983 559; BGH wistra 1983 70; OLG Hamburg MDR 1970 441). Die Vermögensteuerhinterziehung ist mit der letzten Zahlung für den Hauptveranlagungszeitraum beendet (RGSt. 71 59, 64; Schmidt JR 1966 127, 128). Schmuggel und sonstige Einfuhrdelikte sind mit der Verletzung der Gestellungspflicht vollendet (BGHSt. 24 178; 25 137); beendet aber erst, wenn die Ware am Bestimmungsort zur Ruhe gekommen ist (BGHSt. 3 40, 44; Hübner in Hiibschmann-Hepp-Spitaler § 370 AO Rdn. 130). Zum Fortsetzungszusammenhang BGHSt. 30 207, 209; BGH wistra 1983 70 und Rdn. 10. Zur Nichtabführung von Sozialversicherungsbeiträgen Rdn. 9. 2. Zuständsdelikte beginnen mit der Herbeiführung oder Vertiefung des rechts- 7 widrigen Zustandes zu verjähren (BGHSt. 32 293, 294), weil dessen bloße Aufrechterhaltung keine Willensentfaltung des Täters mehr voraussetzt und daher nicht mehr strafbar ist. So ist die Personenstandsfälschung (§ 169) mit der unrichtigen Registereintragung beendet, wenn nicht weitere Täuschungshandlungen geplant sind (RGSt. 34 24; 40 402, 405; abw. RGSt. 36 137, 139). Die mittelbare Falschbeurkundung ist mit dem Beurkundungsvorgang abgeschlossen (RGSt. 21 228, 229), ungenehmigtes Bauen mit der Errichtung des Gebäudes (RGSt. 37 78, 79; BayObLGSt. 1951 598; s. ferner RGSt. 3 382; 22 435). 3. Dauerdelikte sind mit dem Ende des schuldhaft geschaffenen und aufrechter- 8 haltenen Zustandes beendet (RGSt. 37 78, 79; 62 212, 214; Hau S. 144; Jescheck AT §86 I 2; Kühl Beendigung S. 165; Lackner 15 Anm. 2d; Sch.-Schröder-Streek Rdn. 11). Bei der Freiheitsberaubung ist dies die Freilassung des Opfers (BGHSt. 20 227; OLG Stuttgart NJW 1962 2311) oder die Verhaftung des Täters, wenn damit sein schuldhaftes Verhalten ein Ende findet (RG HRR 1940 Nr. 1331). Geheimdienstliche Agententätigkeit (§ 99) endet mit dem endgültigen Abbruch der Beziehungen zur fremden Macht (BGHSt. 28 169, 173; BGH NStZ 1984 309). Vgl. auch RG HRR 1940 Nr. 461 (Beiseiteschaffen von Urkunden); RG Rspr. 3 117 (ordnungswidrige Feuerungsanlage); BayObLG wistra 1983 163 (Zweckentfremdung von Wohnraum). 4. Unterlassungsdelikte. Unechte Unterlassungsdelikte sind mit dem Erfolgsein- 9 tritt beendet (OLG Köln VRS 65 73, 74; Dreher/Tröndle42 Rdn. 8; G. Schäfer Dünnebier-Festschr. S. 541, 543; Schröder JZ 1959 30; s. ferner Rdn. 6). Echte Unterlassungsdelikte beginnen mit dem Ende der Strafbarkeit des Täterverhaltens zu verjähren (RGSt. 9 353, 356; 31 370; 75 32, 34). Das Strafbarkeitsende kann auf dem Wegfall der Handlungspflicht beruhen, weil sie erfüllt oder sonst gegenstandslos ist (BGHSt. 28 371, 380; RGSt. 61 42, 45; 62 212, 214; 65 361; 68 45, 60; OLG Hamm GA 1968 376, 377; VRS 30 139, 143). So macht das Ausscheiden des Täters aus seiner Pflichtenstellung (RGSt. 44 424, 428) oder der Ablauf der Geltungsdauer eines Zeitgesetzes (OLG Karlsruhe MDR 1981 519) die Handlungspflicht hinfällig. Fristgebundene Handlungspflichten enden jedoch nicht notwendig mit dem Ende der Frist. Der zum Konkursantrag nach dem GmbHG Verpflichtete muß diesen bei(85)

§ 78a

5. Abschnitt. Verjährung

spielsweise nur dann nicht mehr stellen, wenn die Überschuldung überwunden oder der Antrag anderweitig angebracht ist (BGHSt. 28 371, 380); die Pflicht zur Abführung von Sozialversicherungsbeiträgen endet erst mit der Verjährung des Anspruchs (OLG Düsseldorf JZ 1985 48). Wann die Handlungspflicht wegfällt, ist eine Frage der Auslegung des einzelnen Tatbestands (vgl. RGSt. 59 6, 7 ; RG JW 1939 480; BayObLG NJW 1958 111; OLG Stuttgart VRS 33 273; OLG Zweibrücken MDR 1981 1042). Daneben kann das Ende der Strafbarkeit des Täters im Wegfall seines Verschuldens begründet liegen. Diese Möglichkeit dürfte allerdings auf fahrlässige Taten beschränkt sein. Sie ist gegeben, wenn dem Täter seine Unterlassung — etwa wegen des Zeitablaufs — nicht mehr vorgeworfen werden kann (RGSt. 75 32, 34; 75 296). 10

5. Die fortgesetzte Handlung ist mit dem Abschluß des letzten Teilaktes beendet. Diese Auffassung entspricht allein dem Wesen des Gesamtvorsatzes. Er verbindet die Handlungsteile zu einer Einheit 12. Die rechtlichen Besonderheiten des Gesamtvorsatzes und seine gesetzliche Anerkennung in § 112 a Abs. 1 Nr. 2 StPO verbieten verfassungsrechtliche, auf Art. 103 Abs. 2 GG gestützte Zweifel daran (a. A. Ostendorf ORiZ 1983 426, 430). Das Argument der Gegenauffassung 13, daß die Verjährung für jeden Einzelakt selbständig zu beurteilen sei, weil ein etwa notwendiger Strafantrag für jeden Teilakt der Fortsetzungstat vorliegen müsse und die Verjährung nicht anders als der Strafantrag behandelt werden könne, greift ebenfalls nicht durch. Zwar sind Strafantrag und Verjährung gleichermaßen Verfahrensvoraussetzung und -hindernis. Aber das Erfordernis eines jeden Teilakt der Fortsetzungstat deckenden Strafantrags beruht allein auf Besonderheiten des Strafantragsrechts (§ 77 Rdn. 21). Es ergibt sich daraus, daß jeder Verletzte den Antrag nur für sich selbst stellen und diesen zudem sachlich beschränken kann. Die rechtliche Möglichkeit eines in seiner persönlichen und sachlichen Reichweite begrenzten Strafantrags verlangt im Gegenzuge, daß für jeden der Verurteilung zugrunde liegenden Einzelakt das Vorliegen eines Antrags festgestellt wird. Daraus läßt sich für die Verjährung nichts herleiten (vgl. auch § 77 b Rdn. 6). Wann die Tat im Sinne des § 78 a beendet ist, ist eine völlig andere Frage. Ihre Antwort folgt aus dem Wesen der Verjährung als Verfolgungsverzicht. Solange ein und derselbe Gesamtvorsatz weitere Rechtsverletzungen hervorbringt, besteht für die Rechtsordnung kein Anlaß zur Nachsicht. Die Verjährung kann deshalb nicht vor dem Abschluß der Gesamttätigkeit zu laufen beginnen.

11

6. Gefährdungsdelikte sind nicht einheitlich zu behandeln. Bei ihnen kann es sich um Zuständsdelikte handeln; so die politische Verdächtigung, die mit dem Eintritt 12 BGHSt. 1 84, 91 ; 5 136, 137; 24 218, 221 ; BGH GA 1972 125, 126; BGH NJW 1980 2821 ; BGH wistra 1982 108; 1983 70; BGH bei Holtz M D R 1984 796; RGSt. 10 203; 14 145, 150, 40 402, 406; 46 16, 19; 49 78, 83; 57 140, 141; 59 281, 291; 62 212, 214; 64 33, 40; 64 296; 68 45, 60; OLG Hamm NJW 1976 2222; OLG Stuttgart M D R 1970 64; Bauer DStR 1976 18, 21 ; Bauerle in Bundesministerium der Finanzen Aktuelle Fragen S. 201, 208; Dreher/ Tröndle*2 Rdn. 6 ; Hau S. 145 Fn. 11 ; Jescheck AT § 86 I 2 ; Lackner 15 Anm. 2 c ; Lohmeyer GA 1974 271, 281; Maurach-Gössel-Zipf AT 2 § 75 II Rdn. 22; Preisendanz Anm. 3 b ; G.Schäfer Dünnebier-Festschr. S. 541, 542; Vogler LK vor §52 Rdn. 78; SK-Rudolphi Rdn. 8. 13 LG Hanau M D R 1980 72; Jakobs AT 32/25; Kühl Beendigung S. 200; Noll ZStW 77 (1965) 1, 4; Ostendorf DRiZ 1983 426; Sch.-Schröder-Stree2\ vor § 52 Rdn. 33; H. Schröder Gallas-Festschr. S. 329, 332; v. Stackelberg Bockelmann-Festschr. S. 759, 766; Ulsenheimer wistra 1983 12, 14; Volk DStR 1983 343, 345 f. (86)

Beginn (Jähnke)

§ 78 a

der Gefahr beendet ist (BGHSt. 32 293, 294). Sie können aber auch als Dauerdelikt oder Unterlassungstat ausgestaltet sein und als fortgesetzte Handlung in Erscheinung treten, wie die Verletzung von Aufsichtspflichten (vgl. BGH wistra 1984 187). Es sind alsdann die für die jeweilige Deliktsgruppe geltenden Grundsätze anwendbar. 7. Objektive Strafbarkeitsbedingungen, die nach dem tatbestandsmäßigen Tun 12 des Täters eintreten, verschieben den Verjährungsbeginn, da eine noch straflose Tat nicht verjähren kann (RGSt. 3 350, 351; 7 391, 392; Dreher/Tröndle42 Rdn. 3; Sch.Schröder-Stree21 Rdn. 11). Verwirklicht sich die objektive Strafbarkeitsbedingung ihrerseits in einem länger andauernden Vorgang, kommt es auf sein Ende an (BGH wistra 1984 187; dazu Dannecker NStZ 1985 49, 55 f)· Bei § 186 spielt die Wahrheit der behaupteten Tatsache allerdings für den Verjährungsbeginn keine Rolle, weil diese nicht ein der Tat nachfolgendes strafbegründendes Ereignis ist; vielmehr handelt es sich um Beweisfragen 14. 8. Erfolgsqualifizierte Delikte sind mit dem Eintritt der schweren Folge been- 13 det 15. Daß Fälle denkbar sind, in denen sich die Erfolgsqualifikation erst nach Verjährung des Grunddelikts einstellt, ändert daran nichts, weil die Tat stets so zu beurteilen ist, wie sie sich dem zur Entscheidung berufenen Strafverfolgungsorgan darstellt (vor § 78 Rdn. 13). 9. Beim Versuch ist die Tat mit dem letzten zur Tatbestandsverwirklichung be- 14 stimmten Geschehen beendet (OLG Stuttgart MDR 1970 64). Der versuchte Prozeßbetrug beginnt daher mit dem Ende des Rechtsstreits, in dem die falschen Behauptungen aufgestellt wurden, zu verjähren (RGSt. 72 150). Tritt der erstrebte Erfolg noch ein, nachdem die Versuchstat an sich bereits verjährt wäre, ist der Vollendungszeitpunkt maßgebend (RGSt. 42 171,174). 10. Mittäterschaft und Teilnahme verjähren mit der Haupttat, soweit der Mittäter 15 oder Teilnehmer für sie einzustehen hat (BGH wistra 1984 21; BGH wistra 1982 108; BGH bei Holtz MDR 1978 803). Die Verjährung der Teilnahme beginnt deshalb im allgemeinen mit der Beendigung der Haupttat 16. Beschränkt sich der Teilnahmevorsatz des Gehilfen aber auf bestimmte Einzelakte einer fortgesetzten Tat oder auf einen begrenzten Zeitraum eines Dauerdelikts, so ist sein Tatbeitrag mit dem Ende des Teilakts oder des Zeitraums beendet, auf den der Hilfswille sich erstreckt. In diesem Zeitpunkt beginnt für ihn dann auch die Verjährungsfrist zu laufen 17. S. ferner § 78 Rdn. 4. 11. Für Fahrlässigkeitstaten ist der eingetretene Erfolg strafbegründend. Mit ihm 16 beginnt daher die Verjährung. Unter der Geltung des früheren Rechts unternom14 Stree Objektive Bedingungen der Strafbarkeit, JuS 1965 465, 473. 15 Dreher/Tröndle42 Rdn. 3 ; Sch.-Schröder-Stree^ Rdn. 3 ; SK-Rudolphi Rdn. 4. 16 BGHSt. 20 227, 228; BGH NJW 1951 727; BGH bei Holtz MDR 1978 803; RGSt. 5 282, 286; 30 300, 310; 41 17; RG DJ 1936 1125; OLG Stuttgart NJW 1962 2311; Dreher/ Tröndle42 Rdn. 5; Lackner15 Anm. 2g; Maurach-Gössel-Zipf AT 2 § 75 II Rdn. 23; Sch.Sch rôder-S tree 21 Rdn. 8; SΚ- Rudolphi Rdn. 10. 17 BGHSt. 20 227, 229; BGH bei Holtz MDR 1978 803; RGSt. 65 361, 362; im Ergebnis zweifelhaft OLG Stuttgart NJW 1962 2311. (87)

§ 78b

5. Abschnitt. Verjährung

mene Versuche, bei großem zeitlichem Abstand zwischen pflichtwidrigem Verhalten und Erfolg die Verjährungsfrist anders zu bestimmen, stehen mit § 78 a nicht in Einklang (SK-Rudolphi Rdn. 2). Es kommt daher nicht darauf an, wie lange der Täter sein fahrlässiges Tun im Gedächtnis haben oder wie lange er auf den geschaffenen Zustand noch einwirken konnte 18. Nur bei fahrlässigen Unterlassungsdelikten endet die Tat, wenn den Täter infolge Zeitablaufs kein Verschulden mehr an der Säumnis trifft (RGSt. 75 32, 34; 75 296; Rdn. 9).

§ 78 b Ruhen (1) Die Verjährung ruht, solange nach dem Gesetz die Verfolgung nicht begonnen oder nicht fortgesetzt werden kann. Dies gilt nicht, wenn die Tat nur deshalb nicht verfolgt werden kann, weil Antrag, Ermächtigung oder Strafverlangen fehlen. (2) Steht der Verfolgung entgegen, daß der Täter Mitglied des Bundestages oder eines Gesetzgebungsorgans eines Landes ist, so beginnt die Verjährung erst mit Ablauf des Tages zu ruhen, an dem 1. die Staatsanwaltschaft oder eine Behörde oder ein Beamter des Polizeidienstes von der Tat und der Person des Täters Kenntnis erlangt oder 2. eine Strafanzeige oder ein Strafantrag gegen den Täter angebracht wird (§ 158 der Strafprozeßordnung). (3) Ist vor Ablauf der Verjährungsfrist ein Urteil des ersten Rechtszuges ergangen, so läuft die Verjährungsfrist nicht vor dem Zeitpunkt ab, in dem das Verfahren rechtskräftig abgeschlossen ist. Schrifttum Hans Die Aussetzung des Verfahrens nach Art. 100 GG und die Strafverfolgungsverjährung, M D R 1963 8; Lackner Zur Strafverfolgungsverjährung von vor dem 8. Mai 1945 begangenen Straftaten, NJW 1960 1046; Maier Zur Frage der Verjährung in den Fällen des Art. VII Abs. 3 des NATO-Truppenstatuts, NJW 1974 1935; Maier Das Deutsch-Französische Abkommen vom 2. Februar 1971 — Rechtsentwicklung und Anwendungsbereich —, NJW 1975 465; Reissfelder Bewirkt die Todeserklärung ein Ruhen der Verjährung nach § 69 Abs. 1 StGB? NJW 1964 1891; Schmid Die Aussagegenehmigung für Beamte im Strafprozeß, JR 1978 8; Schwenk Konkurrierende Gerichtsbarkeit in Strafsachen nach dem NATO-Truppenstatut und Zusatzabkommen, NJW 1965 2242; Schwenk Strafprozessuale Probleme des NATO-Truppenstatuts, JZ 1976 581 ; s. ferner die Schrifttumsangaben vor § 78.

Entstehungsgeschichte Bezeichnung bis 1974: § 69. Fassung durch Art. 1 Nr. 1 2. StrRG.

18 So aber seinerzeit RGSt. 9 152, 158; LG Stade NJW 1958 1311; Bruns NJW 1958 1257; Kühl Beendigung S. 171; vgl. auch Welp Vorangegangenes Tun als Grundlage einer Handlungsäquivalenz der Unterlassung (1968) S. 337 ff; a. A. RGSt. 26 261, 263; RG JW 1935 704 m. Anm. Richter; BayObLG NJW 1959 900; H. Schröder Gallas-Festschr. S. 329, 330; s. ferner BGHSt. 11119. (88)

Ruhen (Jähnke)

§ 78 b

I. Wesen des Ruhens. Solange nach dem Gesetz die Strafverfolgung nicht begon- 1 nen oder fortgesetzt werden darf, sind den Strafverfolgungsorganen die Hände gebunden. Liefe in dieser Zeit die Verjährung, bliebe die Tat häufig ungeahndet. Bis 1893 traf dies mangels einer gesetzlichen Regelung für Abgeordnete zu (RGSt. 52 36, 37, vgl. RGSt. 22 379, 385; 23 184, 190). Um einem solchen Ergebnis entgegenzuwirken, läßt § 78 b die Verjährung in derartigen Fällen ruhen. Absatz 3 greift den Gedanken in anderer Form für die Zeit nach Erlaß des erstinstanzlichen Urteils auf, weil im Rechtsmittelverfahren nur wenige Möglichkeiten bestehen würden, den Eintritt der Verjährung abzuwenden (E 1962 S. 259). Das Ruhen der Verjährung bedeutet Stillstand der Frist. Solange die Ruhensvoraussetzungen gegeben sind, beginnt eine Verjährungsfrist nicht zu laufen ; eine bereits in Gang gesetzte Frist hört zu laufen auf. Fällt der Grund des Ruhens weg, setzt sich die Verjährung mit dem noch nicht verbrauchten Teil der Frist fort. Im Gegensatz zur Unterbrechung (§ 78 c Abs. 3 Satz 1) beginnt also nach dem Ende des Ruhens nicht eine neue Verjährungsfrist; das Ruhen tritt ferner kraft Gesetzes ein, während zur Unterbrechung die Handlung eines Strafverfolgungsorgans erforderlich ist. Die Voraussetzungen des Ruhens können für jeden Tatbeteiligten verschieden zu beurteilen sein (RGSt. 59 197, 200) und sind — abgesehen von Absatz 2 — nicht an die Kenntnis der Strafverfolgungsorgane gebunden (SK-Rudolphi Rdn. 3).

II. Gründe des Ruhens. Voraussetzung des Ruhens nach Absatz 1 ist, daß nach 2 deutschem Recht (BGHSt. 1 84, 90; RGSt. 40 402, 403) die Strafverfolgung nicht begonnen oder fortgesetzt werden darf. Dem rechtlichen Stillstand des Verfahrens entspricht der Stillstand der Verjährung. Ausgenommen davon sind nach Absatz 1 Satz 2 die Fälle, in denen Strafantrag, Ermächtigung oder Strafverlangen fehlen. Diese Verfahrensvoraussetzungen sind auf den Lauf der Verjährungsfrist ohne Einfluß, weil sie Ermittlungen nicht verbieten (vor § 77 Rdn. 11). Ruhensgründe sind solche Umstände, die von Rechts wegen jedes Tätigwerden des zuständigen Strafverfolgungsorgans ausschließen (BGHSt. 19 300, 302; RGSt. 52 36, 37 ; 66 376). Vorschriften, die nur bestimmte Maßnahmen unterbinden, sowie tatsächliche Hinderungsgründe bewirken kein Ruhen der Verjährung. Als „Ruhensprobe" kann die Frage gelten, ob die rechtliche Möglichkeit einer Unterbrechung der Verjährung besteht. Nicht unter § 78 b Abs. 1 fallen hiernach die Abwesenheit des Angeklagten, seine Verhandlungsunfähigkeit (RGSt. 52 36, 37) oder die Todeserklärung, die nur eine Vermutung schafft (Reissfelder NJW 1964 1891). Die Abtrennung eines Anklagepunktes bringt die Verjährung der zugrunde liegenden Tat ebensowenig zum Ruhen (RGSt. 40 88, 89) wie jedes andere Innehalten mit dem Verfahren (BGHSt. 24 6, 10; RGSt. 52 54, 56; OLG Köln NJW 1961 2269) oder die Aussetzung nach § 262 Abs. 2 StPO (RG GA 1892 328; Dreher/TröndleV Rdn. 4; Sch.-Schröder-Streell Rdn. 4), weil die Maßnahmen lediglich aus Gründen der Zweckmäßigkeit getroffen werden. Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren, die denselben Sachverhalt wie der Strafprozeß zum Gegenstand haben (etwa Besteuerungsverfahren/Steuerstrafverfahren) äußern allenfalls tatsächlich, nicht aber rechtlich vorgreifliche Wirkungen ; sie sind auf den Lauf der Verjährung daher ohne Einfluß (RGSt. 31 9, 13; 65 287, 291). Ebenso verhält es sich, wenn für einen Zeugen die Aussagegenehmigung eingeklagt wird (a. A. Schmid JR 1978 8, 10), oder bei der Ablehnung eines Richters (OLG Oldenburg bei Göhler NStZ 1982 12). (89)

§ 78 b

5. Abschnitt. Verjährung

3

III. Fallgruppen und Fälle. Die Ruhensgründe knüpfen an Verfolgungshindernisse an, die in der Person des Täters begründet sind (Fehlen der Gerichtsunterworfenheit, Abgeordneteneigenschaft), sowie an Besonderheiten des Verfahrens (§ 153 a Abs. 3, § 154e StPO) und seines Gegenstandes. Zu der zweiten Gruppe gehören Fälle, in denen die Entscheidung des Strafrichters von einer Vorfrage abhängt, über die er nicht befinden darf (Art. 100 GG, § 238 Abs. 2 StGB). Eine dritte Kategorie schließlich bildet der im Gesetz nicht erwähnte, aber anerkannte Fall des Stillstands der Rechtspflege ( Jescheck AT § 86 I 6). Die Hemmung nach Absatz 3 steht außerhalb dieser Einteilung (Rdn. 13).

4

1. Persönliche Ruhensgründe ergeben sich etwa aus der Exterritorialität (§§ 18 bis 20 GVG), dem Spezialitätsgrundsatz im Auslieferungsverkehr, solange er bei beschränkter Auslieferungsbewilligung die Strafverfolgung wegen der nicht von der Bewilligung erfaßten Gesetzesverletzungen verbietet (BGHSt.29 94, 96; RGSt. 32 247, 250; s. aber BayObLGSt. 1956 65), und aus dem sicheren Geleit, das Zeugen und Sachverständigen auf Grund der Abkommen über den zwischenstaatlichen Rechtshilfeverkehr zusteht (vgl. KK-Engelhardt § 295 Rdn. 12). Kein Ruhen bewirkt hingegen das dem Beschuldigten gewährte sichere Geleit, welches die Strafverfolgung gerade ermöglichen soll (vgl. Walter NJW 1977 983, 986 und § 295 StPO).

5

Bei Taten von Abgeordneten des Bundestages (Art. 46, 49 GG) oder eines Landtages (§ 152 a StPO) ruht die Verjährung, sobald ein Strafverfolgungsorgan Kenntnis von Tat und Täter erlangt hat und solange das Verfahrenshindernis der Immunität besteht. § 78 b Abs. 2 kodifiziert — verfassungsrechtlich unbedenklich (BVerfGE 50 42, 47) - die Grundsätze der Entscheidung BGHSt. 20 248, welche in Abkehr von der Rechtsprechung des RG (RGSt. 27 10; 33 410, 412) grobe Unbilligkeiten zum Nachteil der Abgeordneten ausgeräumt hatte. Die Kenntnis des Strafverfolgungsorgans kann von Amts wegen (Absatz 2 Nr. 1) oder durch Strafanzeige oder Strafantrag (Absatz 2 Nr. 2) erlangt sein; es genügt die Kenntnis eines einzelnen Polizeibeamten, der zu Ermittlungen befugt ist oder sein Wissen der zuständigen Stelle weiterzugeben hat. Die Kenntnis ist erlangt, wenn tatsächliche Anhaltspunkte gewonnen sind, die im Falle uneingeschränkter Verfolgungsmöglichkeit zum Einschreiten verpflichten (BVerfGE 50 42, 47). Auch wenn nur ein sachlich beschränkter Strafantrag angebracht ist, ruht die Verjährung hinsichtlich der ganzen Tat im prozessualen Sinne (vgl. Absatz 2 Nr. 1). Keine Immunität besteht, wenn das Gesetzgebungsorgan, dem der Abgeordnete angehört, sie aufgehoben hat (dazu RiStBV Nr. 191, 192; BTDrucks. V/4112; für die Länder: Grundsätze in Immunitätsangelegenheiten DRiZ 1964 163; zum Ganzen Achterberg Parlementsrecht [1984] S. 242 ff). Ebenso verhält es sich im Falle der Festnahme des Abgeordneten bei Begehung der Tat oder im Laufe des folgenden Tages (Art. 46 Abs. 2 GG). An einer Festnahme fehlt es jedoch bei der bloßen Sistierung zum Zwecke der Blutentnahme (Dreher/Tröndle*2 Rdn. 6; Kleinknecht/ Meyer § 81a Rdn. 20; a. A. OLG Bremen NJW 1966 743; OLG Oldenburg NJW 1966 1764) oder zur Feststellung der Personalien (a. A. RGSt. 59 113).

6

Die Verjährung ruht ferner bei Taten von Angehörigen der Stationierungsstreitkräfte oder eines zivilen Gefolges, solange die Bundesrepublik den Täter nicht verfolgen darf. Dieser Zeitraum endet stets mit dem Ausscheiden des Täters aus dem Militärdienst der Stationierungsmacht (BGHSt. 28 96, 99). Im übrigen beurteilt sich die Rechtslage nach den NATO-Abkommen. (90)

Ruhen (Jähnke)

§ 78 b

Begehen Mitglieder des Personenkreises, der von Art. VII NATO-Truppenstatut, Art. 19 Zusatzabkommen zum NATO-Truppenstatut erfaßt ist, hier Straftaten, so kann die Gerichtsbarkeit sowohl dem Entsendestaat wie der Bundesrepublik zustehen. In diesen Fällen konkurrierender Zuständigkeit hat die Bundesrepublik meist ein verzichtbares Vorrecht auf die Ausübung der Gerichtsbarkeit (Art. VII Abs. 3 NTS). Soweit die Bundesrepublik auf ihr Vorrecht verzichtet hat, kann sie den Verzicht zurücknehmen (Art. 19 ZA-NTS; dazu BGHSt. 30 377; BGH NJW 1966 2280). Bis zur Klärung der Zuständigkeit dürfen die deutschen Behörden vorläufige Maßnahmen wie die Entnahme einer Blutprobe durchführen (näher Tröndle LK vor §3 Rdn.79; Sch.-Schröder-Eser2\ vor § 3 - 7 Rdn.39ff). Nach Art. 19 Abs. 5 a ZA-NTS können einzelne Sachen ferner ungeachtet eines Verzichts auf die Ausübung der Gerichtsbarkeit deutschen Behörden übertragen werden. Der nur aus praktischen Gründen gegebenen Zulässigkeit vorläufiger Maßnahmen gebührt kein entscheidendes Gewicht. Insgesamt gesehen ergibt die Regelung deshalb ein Verfolgungshindernis bis zur Rücknahme des Verzichts, ggf. bis zur Abgabe des Verfahrens an die deutschen Justizbehörden. Daran knüpft sich nach § 78 b eine Hemmung der Verjährung. Dem läßt sich nicht entgegnen, die Vorrechte zur Ausübung der Gerichtsbarkeit seien nur interne Regeln, die gerade die Verfolgung des Täters ermöglichen sollen ; maßgebend sei, daß sowohl der Entsendestaat wie der Aufnahmestaat die Gerichtsbarkeit habe (so Maier NJW 1974 1935; Schwenk NJW 1965 2242; JZ 1976 581, 582). Entscheidend ist vielmehr, daß bis zum Übergang der Verfolgungsbefugnis auf die deutsche Justiz diese nicht ohne Rechtsverstoß tätig werden darf (Sch.-Schröder-Streell Rdn. 9). Solange ruht die Verjährung (OLG Celle NJW 1965 1673; OLG Stuttgart MDR 1976 1043; LG Krefeld NJW 1965 310; Preisendanz Anm.2b; wohl auch LG Duisburg NJW 1965 643).

2. Verfahrensgründe bewirken ein Ruhen nach § 153 a StPO während der Frist, 7 die dem Beschuldigten zur Erfüllung der Auflagen und Weisungen gesetzt ist. Kommt es mangels Zustimmung des Beschuldigten nicht zu einer wirksamen Fristsetzung, ist für ein Ruhen der Verjährung kein Raum (BayObLG MDR 1983 955). Ruht die Verjährung, ist damit die ganze prozessuale Tat erfaßt, jedoch nur in ihrer Würdigung als Vergehen. Liegt in Wirklichkeit ein Verbrechen vor, ist das Erledigungsverfahren nach § 153 a StPO gescheitert und entfaltet auch im Hinblick auf die Verjährung keine Rechtswirkungen. Mit einem Verfahren wegen falscher Verdächtigung oder Beleidigung (§ 164, 8 §§ 185 bis 187a) soll oder muß nach § 154e StPO innegehalten werden, solange wegen der angezeigten oder behaupteten Handlung ein Straf- oder Disziplinarverfahren schwebt. Die Staatsanwaltschaft handelt nach ihrem Ermessen, für das Gericht ist die Vorschrift zwingend (KK-Schoreit § 154 e Rdn. 23). Demgemäß ruht die Verjährung nach § 154 e Abs. 3 StPO im Ermittlungsverfahren von der Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft an. Ist die Sache gerichtlich anhängig, tritt die Ruhensfolge dagegen von selbst ein, weil ein von Amts wegen zu beachtendes Verfolgungshindernis (BGH GA 1979 223, zum früheren Recht BGHSt. 8 133, 136; 8 151, 154; RG H RR 1939 Nr. 190) vorliegt, der Gerichtsbeschluß also keine neue Rechtslage schafft (a. A. Kleinknecht/Meyer § 154e Rdn. 14; Löwe-Rosenberg/Meyer-Goßner § 154e Rdn. 29). Zu Beginn und Ende des anderen Verfahrens vgl. BGHSt. 8 151, 152; 10 88; BGH GA 1979 223). (91)

§ 78b

5. Abschnitt. Verjährung

Kraft der ausdrücklichen Vorschrift in § 154 e Abs. 3 StPO erstreckt sich die Hemmungswirkung lediglich auf die einzelne Gesetzesverletzung, nicht auf die Tat im prozessualen Sinn. 9

Ein Prozeßhindernis schafft auch die Verwarnung mit Strafvorbehalt nach § 59 (Ruß LK vor § 59 Rdn. 2). Sie schließt die Strafverfolgung in der Bewährungszeit aus, obwohl eine Ahndung noch nicht erfolgt, sondern vorbehalten ist. Darin liegt ein Fall des Ruhens der Verjährung (Dreher/Tröndle42 Rdn. 5 ; Preisendanz Anm. 2 ΟΙΟ Weil die Entscheidung von einer Vorfrage abhängt, über die der Strafrichter nicht entscheiden darf (RGSt. 66 376), ruht die Verjährung im Falle des § 238 Abs. 2 (Dreher/Tröndle42 Rdn. 4; Sch.-Schröder-Stree21 Rdn. 4) und der Vorlagepflichten nach Art. 100 GG1 sowie nach Art. 126 GG (OLG Hamm GA 1969 63). Die bloße Zurückstellung der Sache mit Rücksicht auf eine beim BVerfG anhängige Vorlage (BGHSt. 24 6, 10; OLG Köln NJW 1961 2269) oder die Verfassungsbeschwerde (OLG Düsseldorf NJW 1968 117) bewirken dagegen kein Ruhen der Verjährung. 11

3. Der Stillstand der Rechtspflege ist, anders als in § 203 BGB, im StGB nicht als Ruhensgrund aufgeführt. Die Rechtsprechung mußte ihn im Zusammenhang mit den Ereignissen während des 2. Weltkrieges und danach aber anerkennen. Sie gelangte dazu, indem sie formal an § 69 a. F. anknüpfte und darauf abstellte, ob der „gesetzesgleich erachtete Führerwille" (BGHSt. 18 367) die Verfolgung verhindert hatte oder ob die Besatzungsmächte die Gerichte rechtsverbindlich geschlossen hatten (BGHSt. 1 84, 89 ; 2 54). In der Sache kam es darauf an, ob entgegen Recht und Gesetz jegliche Verfolgung der Tat unterblieben war. Deshalb ruhte die Verjährung von NS-Gewalttaten bis zum 8. Mai 19452. Die in einzelnen Gebieten der Bundesrepublik erlassenen Ahndungsgesetze trafen dazu auch ausdrückliche Regelungen (BVerfGE 1 418; BGHSt. 4 379). Nach dem Zusammenbruch ruhte jegliche Verjährung bis zur Wiedereröffnung der deutschen Gerichte 3.

Die Einzelheiten haben heute keine Bedeutung mehr. Auf ihre Darstellung kann daher verzichtet werden (näher Lackner NJW 1960 1046; Dreher/Tröndle41 Rdn. 6, 7 ; Mösl Voraufl. § 69 Rdn. 5). Zur gesetzlichen Regelung der Verjährung für Mordtaten s. § 78 Rdn. 5. 12 Eine Besonderheit ergibt sich für in Abwesenheit ergangene Urteile der französischen Besatzungsmacht. Der Überleitungsvertrag hatte sie wie alle anderen Urteile der Drei Mächte anerkannt. Das Deutsch-Französische Abkommen vom 2. Februar 1971 (BGBl. 1975 II S. 431, in Kraft seit 15.4. 1975) hat insoweit jedoch wieder die Verfolgungszuständigkeit der deutschen Justiz eröffnet. Daher stellt sich die Frage, ob die Verjährung wegen des durch den Überleitungsvertrag geschaffenen besonderen Verfolgungshindernisses bis zur Rückübertragung der Verfolgungsbefugnis gehemmt war. Der Gesetzgeber hat die Frage verneint, so daß das Abkommen nur auf

1 BVerfGE 7 29, 36; 23 208, 222; BGHSt. 24 6, 10 m. Anm. Blei JA 1971 245; OLG Schleswig NJW 1962 1580; Hans MDR 1963 8; Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Ulsamer BVerfGG § 80 Rdn. 307; a. A. AG Krefeld MDR 1962 839. 2 BGHSt. 18 367; 23 137; BGH NJW 1962 2308; BVerfGE 1 418, 425; OLG Dresden NJW 1947/48 311 ; OLG Gera NJW 1947/48 31 Nr. 34. 3 BGHSt. 1 84, 89 m. Anm. v. Weber MDR 1951 499; BGHSt. 2 54; a. A. BVerfGE 25 269, 282; Maier NJW 1975 465, 468. (92)

Ruhen (Jähnke)

§ 78 b

Mordtaten und auf Taten anwendbar ist, in denen die Verjährung unterbrochen worden war (Entschließung des Bundesrates DRiZ 1975 156; Maier NJW 1975 465, 470).

IV. Ablaufhemmung nach Erlaß eines erstinstanzlichen Urteils 1. Wesen der Hemmungsregelung. Nach Absatz 3 bewirkt der Erlaß eines Urteils 13 des ersten Rechtszuges, daß die Verjährungsfrist nicht vor dem Zeitpunkt abläuft, in dem das Verfahren rechtskräftig abgeschlossen ist. Darin liegt nicht ein gewöhnliches Ruhen der Verjährung (a. A. Maurach-Gössel-Zipf AT 2 § 75 II Rdn. 35; wohl auch Sch.-Schröder-Streek Rdn. 12). Wie die auffällig von den Absätzen 1 und 2 abweichende Fassung und die Materialien (E 1962 S. 259) ergeben, handelt es sich vielmehr um eine Ablaufhemmung ( Dreher/Tröndle42 Rdn. 11; Jescheck AT § 86 I 6). Der Lauf der Verjährung steht also nicht still. Die Frist läuft weiter, nur ihr Ende wird, falls es vor dem Eintritt der Rechtskraft läge, bis zu diesem Zeitpunkt hinausgeschoben. Die Unterscheidung ist sachlich gerechtfertigt. In den Fällen der Absätze 1 und 2 ist eine Verfahrensförderung nicht möglich, weil das Verfahren aus Rechtsgründen stillsteht. Daher muß der Lauf der Verjährung angehalten werden. Der Erlaß eines Urteils begründet eine solche Lage nicht. Die weitere Verfahrensförderung ist im Gegenteil ein prozessuales Gebot. Es bestände deshalb an sich kein Anlaß, in den Lauf der Verjährung allgemein einzugreifen. Nur weil der Katalog der Unterbrechungsgründe nach § 78 c auf das Rechtsmittelverfahren nicht zugeschnitten ist, also aus Gründen des Regelungszusammenhangs mit jener Vorschrift, bedarf es des Absatzes 3. Seinem Wesen nach ist dies kein Anwendungsfall des Ruhens der Verjährung. Das hat Bedeutung für die Fälle des die Strafklage nicht verbrauchenden Einstellungsurteils und der nachträglichen Beseitigung der Rechtskraft (Rdn. 16; §78 Rdn. 11). 2. Voraussetzung der Ablaufhemmung ist der Erlaß eines Urteils im formellen 14 Sinn. Welchen Inhalt es hat und ob es sachlich richtig ist, ist ohne Bedeutung (BGHSt. 32 209; BayObLG VRS 57 39, 41; OLG Düsseldorf VRS 58 43; OLG Hamm JMB1NRW 1979 179; OLG Köln VRS 54 360). Daher entfalten auch ein auf Einstellung lautendes Urteil und ein Urteil nach § 412 StPO (vgl. OLG Köln VRS 54 360) hemmende Wirkung (BGHSt. 32 209). Keine solche Wirkung haben dagegen der Strafbefehl und der Beschluß, der einen Einspruch gegen den Strafbefehl als unzulässig verwirft (Göhler NStZ 1984 63; unrichtig OLG Frankfurt/M. NStZ 1983 224) ; ebensowenig eine Entscheidung nach § 206 a StPO. Diese Entscheidungen unterbrechen die Verjährung (§ 78 c Abs. 1 Nr. 9). 3. Die Wirkung der Ablaufhemmung besteht darin, daß nach dem Erlaß des erst- 15 instanzlichen Urteils, abgesehen von den Fällen der nachträglichen Beseitigung der Rechtskraft, keine Verjährung mehr eintreten kann. Das gilt auch, wenn das Urteil im Rechtsmittelzug aufgehoben wird. Die Hemmung hat ferner Vorrang vor der absoluten Verjährung (§ 78 c Abs. 3 Satz 3). Vor dem 1.1. 1975 erlassene Urteile machen keine Ausnahme (BGHSt. 26 288, 290). Die Hemmung erfaßt die den Gegenstand des Verfahrens bildende Tat auch dann, wenn das Gericht seiner Entscheidung irrig einen von der Anklage nicht erfaßten Sachverhalt zugrunde gelegt hat (BayObLG VRS 57 40; Göhlerl §32 Rdn. 7). (93)

§ 78 c 16

5. Abschnitt. Verjährung

Obwohl die Regelung dafür nicht paßt, gilt sie auch für Einstellungsurteile, die die Strafklage nicht verbrauchen (OLG Frankfurt/M. NStZ 1983 224; OLG Karlsruhe VRS 52 197). Da hier das Verfahren nach Behebung des Verfahrenshindernisses fortgeführt werden kann, ist aber zweifelhaft, ob und in welcher Weise das einstellende Urteil in das neue Prozeßstadium hineinwirkt. Der Gesetzeswortlaut sieht die Hemmung des Verjährungsablaufs bis zum rechtskräftigen Abschluß des „Verfahrens" vor. Nach dem Zusammenhang des Gesetzes ist darunter die Erledigung der Sache insgesamt, nicht die Rechtskraft des einstellenden Urteils zu verstehen. Den Angeklagten ab Rechtskraft des Einstellungsurteils so zu stellen, als hätte es überhaupt keine Hemmung gegeben (Dreher/Tröndle42 Rdn. 11), widerspricht dem Ausgangspunkt, wonach Absatz 3 auch in diesen Fällen Anwendung findet. Ferner verbietet der Regelungszusammenhang mit § 78 c die Fiktion rückwirkenden Wegfalls der Hemmung. Sie würde zu der Untersuchung nötigen, ob nach Erlaß des Einstellungsurteils Verjährungsunterbrechende Handlungen vorgenommen wurden. Der Katalog des § 78 c ist aber gerade mit Rücksicht auf § 78 b Abs. 3 so gefaßt, daß diese Prüfung regelmäßig ergebnislos bleibt. Die Annahme dagegen, daß mit Rechtskraft des Einstellungsurteils die frühere Verjährung wieder zu laufen beginne (OLG Karlsruhe VRS 52 197), widerspricht dem Wesen der Regelung als Ablaufhemmung. Da Absatz 3 kein Ruhen bewirkt, sondern allenfalls den Endpunkt der weiterlaufenden Verjährung hinausschiebt (Rdn. 13), würde bei kurzen Verjährungsfristen häufig zugleich mit dem Eintritt der Rechtskraft des Einstellungsurteils auch die Verjährungsfrist ablaufen. Ein nur vorläufig wirkendes Verfahrenshindernis würde damit das endgültige Verfahrensende herbeiführen. Ein derartiges Ergebnis ist ungereimt. Daß mit Rechtskraft des Einstellungsurteils eine neue volle Verjährungsfrist beginnen könne (so Göhlerl § 32 Rdn. 10), läßt sich aber aus dem Gesetz ebenfalls nicht herleiten. § 78 c Abs. 1 Nr. 9 ist nicht analogiefähig. Das alles zwingt zu dem Schluß, daß die Hemmung entsprechend dem Gesetzeswortlaut über die Rechtskraft des Einstellungsurteils hinaus bis zum Abschluß des Verfahrens fortdauert. Die Lage ist aber insoweit nicht anders als bei sachlichen Fehlern, die nach Aufhebung des Urteils zu mehrfacher Befassung des Gerichts führen.

§ 78c Unterbrechung (1) Die Verjährung wird unterbrochen durch 1. die erste Vernehmung des Beschuldigten, die Bekanntgabe, daß gegen ihn das Ermittlungsverfahren eingeleitet ist, oder die Anordnung dieser Vernehmung oder Bekanntgabe, 2. jede richterliche Vernehmung des Beschuldigten oder deren Anordnung, 3. jede Beauftragung eines Sachverständigen durch den Richter oder Staatsanwalt, wenn vorher der Beschuldigte vernommen oder ihm die Einleitung des Ermittlungsverfahrens bekanntgegeben worden ist, 4. jede richterliche Beschlagnahme- oder Durchsuchungsanordnung und richterliche Entscheidungen, welche diese aufrechterhalten, 5. den Haftbefehl, den Unterbringungsbefehl, den Vorführungsbefehl und richterliche Entscheidungen, welche diese aufrechterhalten, (94)

Unterbrechung (Jähnke)

§ 78c

6. die Erhebung der öffentlichen Klage oder die Stellung des ihr entsprechenden Antrags im Sicherungsverfahren oder im selbständigen Verfahren, 7. die Eröffnung des Hauptverfahrens, 8. jede Anberaumung einer Hauptverhandlung, 9. den Strafbefehl oder eine andere dem Urteil entsprechende Entscheidung, 10. die vorläufige gerichtliche Einstellung des Verfahrens wegen Abwesenheit des Angeschuldigten sowie jede Anordnung des Richters oder Staatsanwalts, die nach einer solchen Einstellung des Verfahrens oder im Verfahren gegen Abwesende zur Ermittlung des Aufenthalts des Angeschuldigten oder zur Sicherung von Beweisen ergeht, 11. die vorläufige gerichtliche Einstellung des Verfahrens wegen Verhandlungsunfähigkeit des Angeschuldigten sowie jede Anordnung des Richters oder Staatsanwalts, die nach einer solchen Einstellung des Verfahrens zur Überprüfung der Verhandlungsfähigkeit des Angeschuldigten ergeht oder 12. jedes richterliche Ersuchen, eine Untersuchungshandlung im Ausland vorzunehmen. (2) Die Verjährung ist bei einer schriftlichen Anordnung oder Entscheidung in dem Zeitpunkt unterbrochen, in dem die Anordnung oder Entscheidung unterzeichnet wird. Ist das Schriftstück nicht alsbald nach der Unterzeichnung in den Geschäftsgang gelangt, so ist der Zeitpunkt maßgebend, in dem es tatsächlich in den Geschäftsgang gegeben worden ist. (3) Nach jeder Unterbrechung beginnt die Verjährung von neuem. Die Verfolgung ist jedoch spätestens verjährt, wenn seit dem in § 78 a bezeichneten Zeitpunkt das Doppelte der gesetzlichen Verjährungsfrist und, wenn die Verjährungsfrist nach besonderen Gesetzen kürzer ist als drei Jahre, mindestens drei Jahre verstrichen sind. § 78 b bleibt unberührt. (4) Die Unterbrechung wirkt nur gegenüber demjenigen, auf den sich die Handlung bezieht. (5) Wird ein Gesetz, das bei der Beendigung der Tat gilt, vor der Entscheidung geändert und verkürzt sich hierdurch die Frist der Verjährung, so bleiben Unterbrechungshandlungen, die vor dem Inkrafttreten des neuen Rechts vorgenommen worden sind, wirksam, auch wenn im Zeitpunkt der Unterbrechung die Verfolgung nach dem neuen Recht bereits verjährt gewesen wäre. Schrifttum Frenkel Fortbestand der Unterbrechung der Strafverfolgungsverjährung bei Zurücknahme des Strafbescheides, NJW 1961 1295; Kaiser Die Unterbrechung der Strafverfolgungsverjährung und ihre Problematik, NJW 1962 1420; Kaiser Zur Unterbrechung der Verfolgungsverjährung, insbesondere in Bußgeldsachen, NJW 1984 1738; Krekeler Unterbrechung der Strafverfolgungsverjährung und funktionelle Unzuständigkeit, NJW 1967 382; Mittelbach Zur Unterbrechung der Strafverfolgungsverjährung, M D R 1954 138; Preisendanz Eröffnungsbeschluß eines örtlich unzuständigen Amtsgerichts und Strafverfolgungsverjährung, NJW 1961 1805; Schreiber Nochmals Eröffnungsbeschluß eines örtlich unzuständigen Amtsgerichts und Strafverfolgungsverjährung, NJW 1961 2344; Woesner Künstliche Unterbrechung der Verfolgungsverjährung, NJW 1957 1862; s. ferner die Schrifttumsangaben vor § 78.

Entstehungsgeschichte Die Vorschrift lautete bis 1974 als § 68: „(1) Jede Handlung des Richters, welche wegen der begangenen Tat gegen den Täter gerichtet ist, unterbricht die Verjährung. (95)

§ 78c

5. Abschnitt. Verjährung

(2) Die Unterbrechung findet nur rücksichtlich desjenigen statt, auf welchen die Handlung sich bezieht. (3) Nach der Unterbrechung beginnt eine neue Verjährung. " Jetzige Fassung durch Art. 1 Nr. 1 2. StrRG, Art. 18 Nr. 47 EGStGB. Übersicht I. Allgemeines II. A n w e n d u n g s g r u n d s ä t z e III. Allgemeine B e u r t e i l u n g s m e r k m a l e . . . 1.

2.

K o n k r e t i s i e r u n g von T ä t e r u n d Tat a) Täter b) Tat c) E r m i t t l u n g s r i c h t u n g Wirksamkeit, A u f h e b u n g , Erfolg der M a ß n a h m e

Rdn. 1 2 3

IV.

3 4 5 6

V. VI.

9

VII.

3. S c h e i n m a ß n a h m e n 4. V e r l a u t b a r u n g Wirkungen der Unterbrechung 1. Fristenlauf. Absolute V e r j ä h r u n g . 2. Persönliche Reichweite 3. Sachliche Reichweite Zeitpunkt der Unterbrechung Die einzelnen U n t e r b r e c h u n g s h a n d l u n gen Übergangsvorschrift

Rdn. 11 12 13 13 14 15 16 19 37

1

I. Allgemeines. Verjährungsunterbrechung ist die an bestimmte Verfahrensakte geknüpfte Ersetzung einer laufenden durch eine volle neue Verjährungsfrist. Während die Verjährung nach §78b Abs. 1, 2 ruht, wenn das Verfahren stillsteht, ist die Unterbrechung untrennbar mit seinem Fortgang verbunden. Nach altem Recht war der Zweck der Verfahrensförderung Tatbestandsmerkmal. Handlungen, die dieses Zweckes entbehrten, unterbrachen die Verjährung nicht (BGHSt. 26 80, 82; RGSt. 63 320). Die dazu entstandene, unbefriedigende Kasuistik (vgl. BGH bei Pfeiffer-Maul-Schulte § 68 Anm. 8, 9) hat den Gesetzgeber bewogen, einen Katalog bestimmter Verfahrensakte zusammenzustellen, der die zur Unterbrechung geeigneten Maßnahmen nunmehr einzeln und abschließend aufzählt (E 1962 S. 258). Dieser Katalog ist in sich allerdings wenig ausgewogen (Hanack JZ 1971 705, 712: „geradezu ärgerlich") — nicht einmal die Hauptverhandlung unterbricht — und hat zu Änderungsbestrebungen geführt (Gesetzentwurf des Bundesrates BTDrucks. 10/ 272). Der Katalog knüpft die Unterbrechungswirkung nicht mehr nur an richterliche Handlungen, sondern legt sie — verfasssungsrechtlich unbedenklich (BVerfGE 29 148, 153) — auch bestimmten Maßnahmen der Strafverfolgungsbehörden bei. Wichtige Neuerungen sind ferner die gesetzliche Fixierung des Zeitpunktes, in dem die Unterbrechung eintritt (Absatz 2), und die absolute Verjährung nach Absatz 3 Sätze 2, 3. Die absolute Verjährung setzt der bisher beliebig oft wiederholbaren Verjährungsunterbrechung eine zeitliche Grenze. Diese soll allerdings nach dem Gesetzentwurf des Bundesrates (BTDrucks. 10/272) ebenfalls geändert werden, weil sie sich in Großverfahren als unpraktikabel und ungerecht erwiesen habe.

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II. Anwendungsgrundsätze. Die Vorschriften über die Unterbrechung der Verjährung sind Ausnahmeregelungen mit weitreichenden Folgen. Sie sind daher eng auszulegen und loyal zu handhaben (BGHSt. 12 335, 337; 15 234, 238; 16 193, 196; 26 80, 83; 28 381, 382). Eine Analogie ist unzulässig (BGHSt. 22 375, 383; BayObLGSt. 1977 125, 127; LG Kaiserslautern NStZ 1981 438, 439). Nur Maßnahmen eines deutschen Strafverfolgungsorgans können die Verjährung unterbrechen (BGHSt. 1 325; BayObLGSt. 1958 268, 272; Lackner\S Anm. 2). Die Vernehmung des Beschuldigten durch Beamte eines fremden Staates für dessen (96)

Unterbrechung (Jähnke)

§ 78c

Verfahren erfüllt diese Voraussetzung auch dann nicht, wenn eine deutsche Vernehmungsperson zugegen ist. Denn die Handlung muß auf dem Verfolgungswillen einer deutschen Behörde beruhen (BGH, Urteil vom 22. 7.1980 - 1 StR 804/79). Die Maßnahmen müssen in dem Verfahren getroffen sein, in dem über die Straftat zu befinden ist (RGSt. 40 88; 65 287, 290), nicht etwa in einem abgetrennten Verfahren. III. Allgemeine Beurteilungsmerkmale 1. Konkretisierung von Täter und Tat. Zur Unterbrechung bedarf es einer gegen 3 einen individuellen Täter wegen einer bestimmten Tat gerichteten Handlung eines Strafverfolgungsorgans. Maßnahmen gegen Unbekannt oder zur Klärung, ob eine Straftat begangen wurde, sind daher unbeachtlich (BGHSt. 2 54, 55; RGSt. 6 212, 215 ; OLG Hamburg OLGSt. § 78 c S. 1 ; OLG Stuttgart VRS 64 284). a) Der Täter muß aber nicht namentlich bekannt sein. Es reicht aus, wenn sich 4 aus den Akten Merkmale ergeben, die ihn individuell bestimmen und ihn von allen anderen, auf die diese Merkmale nicht zutreffen, unterscheiden (BGHSt. 24 321, 323). Daß der in Betracht kommende Personenkreis begrenzt ist, genügt hingegen noch nicht 1. Die Unterscheidungsmerkmale dürfen auch nicht gerade in der Tat liegen (OLG Schleswig bei Ernesti/Jürgensen SchlHA 1978 191 ; bedenklich OLG Celle JR 1966 470). b) Die Anforderungen an die Bestimmtheit der Tat sind nicht hoch, da ihre Ein- 5 zelheiten durch die Untersuchung erst ermittelt werden sollen. Ein Anfangsverdacht genügt (RGSt. 30 301, 305; OLG Hamm MDR 1981 70), doch muß dieser die Tat so individualisieren, daß sie von denkbaren ähnlichen oder gleichartigen Vorkommnissen zu unterscheiden ist (BGHSt. 22 375, 385). Ein Leichenfund reicht aus (BGH aaO), ferner die Bezeichnung als „bei der Gesellschaftsgründung" begangen (RGSt. 30 301, 306) oder „wegen Nichtbezahlung von Bauhandwerkern beim Bau des Wohnhauses" (BGH bei Holtz MDR 1981 453). Ebenso unterbricht die wegen Verdachts der Mineralölsteuerhinterziehung vorgenommene Untersuchungshandlung zugleich die Verjährung der Umsatzsteuerhinterziehung (BGH NStZ 1983 559). Die Person des Geschädigten braucht nicht bekannt zu sein (BGH bei Pfeiffer-MaulSchulte § 68 Anm. 6). c) Ermittlungsrichtung. Die Maßnahme muß verfahrensmäßig (RGSt. 40 88; 65 6 287, 290) gegen eine bestimmte Person gerichtet sein. Die Zeugenvernehmung erfüllt diese Voraussetzung nicht, auch wenn sich aus ihr ein Tatverdacht gegen den Zeugen ergibt (RGSt. 1 231; 8 362, 363). Hat die Verfolgungsbehörde ihre Maßnahme nicht gegen die richtige Person gerichtet, tritt eine Unterbrechungswirkung auch dann nicht ein, wenn der wahre Täter sie erfährt und reagiert, etwa zur gewünschten Vernehmung erscheint (BGHSt. 24 321, 325; BayObLG JR 1971 299 m. Anm. Göhler; OLG Köln VRS 66 362). Eine offenbare Verwechslung der Tatbeiträge mehrerer Angeklagter ist allerdings unschädlich (OLG Hamm VRS 19 34). Andererseits braucht die Maßnahme aber nicht auf eine Verurteilung abzuzielen. Der Zweck, entlastende Umstände aufzuklären, genügt 2. 1 BGHSt. 24 321, 323; RG HRR 1933 Nr. 73; BayObLG VRS 67 132; OLG Celle JR 1966 470; OLG Hamm DAR 1962 211; OLG Stuttgart VRS 64 284; Dreher/Tröndle*2 Rdn. 4; G. Schäfer Dünnebier-Festschr. S. 541, 549; Sch.-Schröder-Streek Rdn. 24. 2 RGSt. 56 380, 381; KG VRS 17 343; OLG Köln MDR 1955 435; Sch.-Schröder-Slree2\ Rdn. 25. (97)

§ 78c

5. Abschnitt. Verjährung

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Kommen als Täter mehrere Personen in Betracht, muß das Strafverfolgungsorgan gegen jeden vorgehen. Die Richtung mancher Unterbrechungshandlung ergibt sich dabei schon aus deren Natur. So kann über die persönliche Reichweite der Anklage kein Zweifel herrschen. Der Haftbefehl richtet sich in seiner rechtlichen Wirkung immer nur gegen den darin Genannten, auch wenn das Gericht mit seinem Erlaß die gemeinsame Hauptverhandlung gegen mehrere Angeklagte sicherstellen will 3. Breiter wirkende Ermittlungshandlungen (Durchsuchungen, Zuziehung von Sachverständigen) dienen in der Regel der umfassenden Sachaufklärung. Sie richten sich deshalb gegen jeden bekannten Tatverdächtigen, soweit sich nicht aus dem Zweck der Maßnahme oder ihrer ausdrücklichen Begrenzung etwas anderes ergibt (G. Schäfer Dünnebier-Festschr. S. 541, 550; zu eng Dreher/Tröndle42 Rdn. 5). Im Zweifel ergeben der Verfahrensstand im Zeitpunkt der Maßnahme, ihre Begründung oder auch ein etwaiger Antrag der Staatsanwaltschaft an das Gericht dafür wichtige Anhaltspunkte (BGH GA 1961 239; RG Rspr. 6 768). Der Umstand, daß im Rubrum eines Durchsuchungsbeschlusses nur ein bestimmter Beschuldigter aufgeführt ist, besagt für sich genommen nichts (BGH GA 1961 239). Jedoch wäre es unzulässig, mit Hilfe des Merkmals der Ermittlungsrichtung den Katalog der Unterbrechungshandlungen zu erweitern. So ist die Beschuldigtenvernehmung in der Regel dazu bestimmt, auch den Tatbeitrag anderer Beteiligter aufzuklären. Dennoch unterbricht eine solche Vernehmung die Verjährung nicht in bezug auf die weiteren Tatverdächtigen, weil sie sich für diese als Vernehmung eines Mitbeschuldigten darstellt. Weder die Vernehmung eines Mitbeschuldigten noch die eines Zeugen aber sind nach § 78 c Abs. 1 Unterbrechungsgründe 4. 8 Sind mehrere Taten Gegenstand des Verfahrens, erstreckt sich die Unterbrechungshandlung, wenn sie nicht erkennbar sachlich begrenzt ist, auf alle Taten (BGH bei Daliinger MDR 1970 897; G. Schäfer Dünnebier-Festschr. S. 541, 547), die bekannt sind (BGH bei Dallinger MDR 1956 395; bei Holtz MDR 1981 453; RGSt. 38 426,427; Lackner\5 Anm. 6b). 9

2. Wirksamkeit, Aufhebung, Erfolg der Maßnahme. Nur rechtswirksame Akte unterbrechen die Verjährung. Ein Eröffnungsbeschluß oder eine Vernehmung, welche gegen den auslieferungsrechtlichen Grundsatz der Spezialität verstoßen, sind unwirksam (BGHSt. 29 94, 96; RGSt. 32 247, 250). Nach RGSt. 23 184, 194 soll die Nichtbeachtung der Abgeordnetenimmunität dem gleichstehen. Unbeachtlich sind ferner Handlungen eines Gerichts, das mit der Sache zweifelsfrei überhaupt nicht befaßt ist (BayObLG NJW 1953 1482; OLG Hamm DAR 1958 330; NJW 1979 884; zur Abgrenzung s. BayObLG NJW 1967 2218; zweifelhaft OLG Hamm DAR 1958 330).

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Dreher/Tröndle42 Rdn. 5; G.Schäfer Dünnebier-Festschr. S. 541, 550; Sch.-SchröderStree21 Rdn. 25; SK-Rudolphi Rdn. 6; a. A. RGSt. 36 350, 351, RG HRR 1938 Nr. 486. 4 BayObLGSt. 1979 1; Lackner15 Anm. 2b; G.Schäfer Dünnebier-Festschr. S. 541, 550; Sch.-Schröder-Streek Rdn. 25; SK-Rudolphi Rdn. 6; anders zum früheren Recht RGSt. 13 57, 59; RG JW 1938 1584; RG Rspr. 6 768; OLG Hamm VRS 12 43; OLG Koblenz VRS 37 427. (98)

Unterbrechung (Jähnke)

§ 78c

Ist die M a ß n a h m e zwar fehlerhaft, aber wirksam, unterbricht sie die Verjährung (BGHSt. 29 351, 358). Unschädlich sind daher Zuständigkeitsmängel 5, Verfahrensfehler (BGHSt. 29 351; O L G Celle NdsRpfl. 1984 239), Mängel im Zustandekommen eines Rechtshilfeersuchens, wenn die H a n d l u n g des ersuchten Richters ordnungsgemäß u n d zur Unterbrechung geeignet ist (RGSt. 11 364; 14 134; 18 401, 405), ferner das Fehlen einer tatsächlichen Grundlage f ü r die verfügte M a ß n a h m e 6 und sonstige sachliche Mängel der Entscheidung?. Unbeachtlich ist auch das Fehlen eines etwa erforderlichen Strafantrags (BGH N J W 1957 470; überholt RGSt. 6 37,41 ; 33 426,428). Die spätere Aufhebung der M a ß n a h m e ändert an der einmal eingetretenen Un- 10 terbrechung nichts. Gleichgültig bleibt dabei, ob die Aufhebung wegen Fehlerhaftigkeit, wegen nachträglich erkannter Unzweckmäßigkeit oder wegen veränderter Sachlage 8 geschieht u n d ob das handelnde Organ oder das Rechtsmittelgericht sie vornimmt (OLG Oldenburg VRS 55 138). Noch weniger ist von Bedeutung, ob die M a ß n a h m e sachlich den gewünschten Erfolg hat (BGHSt. 7 202, 204; RGSt. 41 17, 19). Ist die Vernehmung des Beschuldigten wegen Abwesenheit nicht möglich, kann die erste A n o r d n u n g ebenso unterbrechen wie der wiederholte Versuch ( R G H R R 1940 Nr. 1420; O L G Hamburg M D R 1977 603; O L G H a m m VRS 52 43, 45). 3. Scheinmaßnahmen. Die im Katalog des Absatzes 1 aufgeführten Handlungen 11 müssen wirksam sein (Rdn. 9); unerheblich ist, ob sie notwendig oder zweckmäßig sind (BGHSt. 7 202, 205; BayObLGSt. 1976 28, 30; O L G Koblenz D A R 1980 250, 251) u n d ob sie gerade deshalb ergriffen werden, um die Unterbrechung der Verjährung herbeizuführen 9. Denn das Gesetz stellt den Maßnahmenkatalog ohne jede Einschränkung als Mittel zur Unterbrechung der Verjährung bereit. Voraussetzung ist jedoch, daß das Strafverfolgungsorgan die M a ß n a h m e wirklich ergreift, an die die Unterbrechungswirkung geknüpft ist. Bei bloßen Scheinmaßnahmen ist das nicht der Fall. Die Abgrenzung der ordnungsgemäßen von den bloß als Vorwand benutzten Verfahrenshandlungen bereitete nach früherem Recht beträchtliche Schwierigkeiten 10. Sie sind gemindert durch den Katalog in Absatz 1; die darin aufgeführten M a ß n a h m e n sind typischerweise sachbezogen. Ausgeschlossen sind Scheinmaßnah5 BayObLG NJW 1967 2218; OLG Düsseldorf NJW 1979 884; OLG Hamburg MDR 1979 1046; OLG Hamm VRS 59 443; OLG Koblenz NJW 1968 2393; OLG Oldenburg DAR 1955 306; OLG Stuttgart NJW 1968 1340; LackneriS Anm. 5; Sch.-Schröder-Stree21 Rdn. 3; Schreiber NJW 1961 2344; SK-Rudolphi Rdn. 9; a. A. Krekeler NJW 1967 382; Preisendanz NJW 1961 1805. 6 BGH MDR 1964 71; OLG Hamm JMB1NRW 1979 273; OLG Köln VRS 51 214; 54 361. 7 BayObLGSt. 1961 124; BayObLG MDR 1977 603; OLG Oldenburg VRS 55 138. 8 BGHSt. 7 202, 205; RGSt. 30 300, 309; 59 6, 8; BayObLG VRS 53 46; OLG Frankfurt/M. MDR 1979 605; OLG Hamm VRS 51 21 ; OLG Koblenz DAR 1980 250, 251 ; OLG Oldenburg VRS 55 138; OLG Stuttgart NJW 1968 1340; Dreher/Tröndle42 Rdn. 7; Frenke! NJW 1961 1295; Lackner 15 Anm. 3; Sch.-Schröder-Stree21 Rdn. 3. 9 BGHSt. 7 202, 205; 9 198, 203; 12 177, 180; RGSt. 30 300, 308; OLG Köln NJW 1963 2284; Dreher/Tröndle42 Rdn. 7; Göhlerl § 33 Rdn. 3; Lackner15 Anm. 3; Mittelbach MDR 1954 138; Sch.-Schröder-Stree2\ Rdn. 3. 10 Vgl. etwa BGHSt. 4 135; 9 198; 11 335; 15 234; 16 193; BayObLGSt. 1956 280 m. Anm. Dünnebier JR 1957 188; KG GA 1930 120; OLG Köln GA 1953 57; Mittelbach MDR 1954 138. (99)

§ 78c

5. Abschnitt. Verjährung

men aber nicht 11. Besteht von vornherein die Absicht, die Maßnahme nicht durchzuführen oder sogleich wieder aufzuheben (BayObLGSt. 1951 524), oder herrscht kein Zweifel über die Unerreichbarkeit des damit verfolgten Zwecks (BayObLGSt. 1976 28, 33; OLG Koblenz M D R 1976 780), so ist die Maßnahme zur Unterbrechung nicht geeignet. In Betracht kommen kann dies etwa bei der Anberaumung einer undurchführbaren Hauptverhandlung (s. aber OLG Celle bei Göhler NStZ 1982 12). Auf derartige Fälle ist der Kreis der unbeachtlichen Maßnahmen aber zu begrenzen. Jede Erweiterung liefe auf eine Zweckmäßigkeitsprüfung hinaus, die durch den Katalog des Absatzes 1 vermieden werden soll und im Interesse der Rechtssicherheit vermieden werden muß. Kein geeignetes Abgrenzungsmerkmal ist insbesondere die allgemeine Kategorie der Willkür (a. A. OLG Frankfurt/M. M D R 1979 605). Abzustellen ist ferner allein auf die Willensrichtung des handelnden Organs. Erläßt der Richter eine Beschlagnahmeanordnung, die die Staatsanwaltschaft in Wahrheit nicht durchführen will, so ist die Maßnahme unzweckmäßig oder auch fehlerhaft, aber wirksam (BayObLGSt. 1962 271). 12

4. Verlautbarung. Die Unterbrechung der Verjährung als wichtiger Verfahrensvorgang muß grundsätzlich aus sich heraus oder wenigstens aus dem Zusammenhang mit der Aktenlage erkennbar und in ihrer Wirkung auf das Verfahren für die Beteiligten abschätzbar sein. Nachforschungen darüber, ob, wann und mit welcher Zielrichtung die Verjährung unterbrochen wurde, sind deshalb im allgemeinen unzulässig 12. Wenn die Akten genügend konkrete Anhaltspunkte für das Vorliegen einer nach § 78 c wirksamen Handlung ergeben, sind aber ergänzende Beweiserhebungen zur Ermittlung ihres genauen Inhalts statthaft (BGHSt. 30 215, 219; LacknerlS Anm. 4; G. Schäfer Dünnebier-Festschr. S. 541, 552 [einschränkend S. 558]; SK-Rudolphi Rdn. 8 a). In Betracht kommen derartige Beweiserhebungen bei formfreien Unterbrechungsmaßnahmen, deren notwendiger Inhalt sich nicht allgemein umreißen läßt, so etwa bei der Bekanntgabe der Einleitung des Ermittlungsverfahrens. Ist eine Verfügung undatiert und läßt sie sich auch sonst nicht zeitlich einordnen, kommt ihr keine Unterbrechungswirkung zu (BayObLGSt. 1968 84). Schriftliche Unterbrechungsakte müssen den Urheber erkennen lassen (OLG Köln VRS 66 362). Doch genügt die Abzeichnung der Verfügung mit dem Handzeichen, einer Unterschrift bedarf es in den Akten nicht (OLG Koblenz JR 1981 42 m. Anm. Göhler; s. aber Rdn. 16). Eine im Wege der Datenverarbeitung vollautomatisch vorgenommene Maßnahme kommt, anders als im Bußgeldverfahren (OLG Düsseldorf VRS 64 455; O L G Schleswig bei Emesti/Lorenzen SchlHA 1984 111), in Strafsachen nicht in Betracht.

IV. Wirkungen der Unterbrechung 13 1. Fristenlauf. Absolute Verjährung. Am Tage der Unterbrechungshandlung beginnt eine volle neue Verjährungsfrist zu laufen (§ 78 Rdn. 7). Die Unterbrechung ist mit derselben Rechtsfolge beliebig oft wiederholbar. Jedoch setzt Absatz 3 Satz 2 Π a. A. OLG Schleswig bei Ernesti/Jürgensen SchlHA 1977 195; im entschiedenen Fall zutreffend BayObLGSt. 1979 91, 92; wie hier OLG Celle NdsRpfl. 1984 239; Göhlerl § 33 Rdn. 3; Sch.-Schroder-Stree21 Rdn. 3; zu weitgehend Jescheck AT § 86 I 5; Lackner Anm. 3 ; SK-Rudolphi Rdn. 7. 12 BGHSt. 4 135, 137; 9 198, 201; 28 381, 382; BGH bei Holtz M D R 1978 986; BGH NStZ 1984 215; BayObLGSt. 1958 268; 1968 84; OLG Bremen NJW 1956 1248; OLG Frankf u r t / M . VRS 59 134; OLG Stuttgart Justiz 1974 23. (100)

Unterbrechung (Jähnke)

§ 78c

ein absolutes Ende der Verjährung fest. Ist seit Beendigung der Tat (§ 78 a) das Doppelte der gesetzlichen Frist, mindestens aber ein Zeitraum von 3 Jahren verstrichen, ist ein weiteres Hinausschieben des Verjährungseintritts nicht möglich. In die Höchstfrist werden nach Satz 3 die Zeitspannen nicht eingerechnet, in denen die Verjährung ruhte. Vorrang vor der absoluten Verjährung hat auch die Ablaufhemmung nach § 78 b Abs. 3 ; ist ein Urteil des ersten Rechtszuges ergangen, hat die Regelung des Absatzes 3 Satz 2 keine Bedeutung. Zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und zur Wiederaufnahme des Verfahrens s. § 78 Rdn. 10, 11. § 78 c Abs. 3 Satz 2 soll nach dem Gesetzesvorschlag des Bundesrats BTDrucks. 10/272 geändert werden. Bei den kürzer verjährenden Taten (§ 78 Abs. 3 Nr. 4, 5) soll die absolute Verjährung künftig das Dreifache der gesetzlichen Frist betragen, sofern das Gericht innerhalb des Doppelten dieser Frist das Hauptverfahren eröffnet hat. Der Änderungsvorschlag soll Schwierigkeiten begegnen, die sich vor allem in Großverfahren der Wirtschaftskriminalität ergeben haben. 2. Persönliche Reichweite. Die Unterbrechung wirkt nur gegenüber demjenigen, 14 auf den sich die Handlung bezieht (Absatz 4). Diese Wirkung entspricht dem für die Unterbrechungshandlung bestehenden Wirksamkeitserfordernis, wonach die Maßnahme gegen eine bestimmte Person gerichtet sein muß (Rdn. 4, 6 0· So wird die Verjährung gegen den Teilnehmer nicht etwa durch gegen den Haupttäter gerichtete Maßnahmen unterbrochen (RGSt. 4 216; 41 17, 18). Die Maßnahme muß in dem Verfahren getroffen worden sein, in dem über die Tat zu befinden ist (RGSt. 40 88 ; 65 287, 290). Offenbare Fehler bei der Kennzeichnung des Täters sind unschädlich (OLG Hamm VRS 19 34; 51 217). 3. Sachliche Reichweite. Die Unterbrechung erstreckt sich sachlich auf die Tat im 15 prozessualen Sinne 13, nicht etwa nur auf die einzelne Gesetzesverletzung. Die Grenze der Unterbrechungswirkung ergibt sich aus dem objektiven Umfang der Tat, wie sie sich dem Gericht letztlich darstellt (RGSt. 38 426, 427). Dagegen ist ohne Bedeutung, wie das die Unterbrechungshandlung vornehmende Strafverfolgungsorgan die Tat beurteilt und ob sich der Sachverhalt oder seine rechtliche Einordnung nachträglich verändern, sofern nur die Identität der Tat gewahrt bleibt 14. Hiernach erfaßt die Unterbrechungshandlung stets sämtliche tateinheitlich begangenen Gesetzesverstöße, alle in Fortsetzungszusammenhang stehenden Einzelakte 15 (dazu s. § 78 a Rdn. 10) sowie die nach § 154 a StPO vorläufig ausgeschiedenen Tatteile (BGHSt. 22 105, 107; 29 315, 316; OLG Celle VRS 36 352; OLG Hamm NJW 1967 1433). Daß wegen derselben Tat zwei Aktenvorgänge bestanden, beeinträchtigt die Unterbrechungswirkung nicht, gleichgültig in welchem Vorgang die Maßnahme erfolgt ist (OLG Hamm JMB1NRW 1979 179). Befaßt sich das Ge13 BGHSt. 22 105, 107; BGH bei Dallinger MDR 1956 395; RGSt. 15 107, 109; 24 77, 79; 29 344; RG HRR 1940 Nr. 118; BayObLG NJW 1964 1813; KG VRS 34 433; OLG Hamm NJW 1972 1061 ; OLG Saarbrücken NJW 1973 2076; Dreher/TröndleV Rdn. 6; Lackner Anm. 6b; G. Schäfer Dünnebier-Festschr. S. 541, 545; Sch.-Schröder-Stree2\ Rdn. 23; SKRudolphi Rdn. 5; die abweichende Auffassung von OLG Schleswig VRS 25 332 ist aufgegeben (SchlHA 1966 140). 14 BGHSt. 22 105, 107; RGSt. 13 57; 24 77, 79; 30 300, 304; RG Rspr. 10 31 ; BayObLG VRS 29 110, 112. 15 BGHSt. 29 315; BGH bei Holtz MDR 1984 796; RGSt. 59 282, 291 ; G. Schäfer DünnebierFestschr. S. 541, 545; SK-Rudolphi Rdn. 5; a. A. Sch.-Schröder-Stree^ Rdn. 23. (101)

§ 78c

5. Abschnitt. Verjährung

rieht nicht mit dem in der Anklage bezeichneten historischen Vorgang, sondern mit einem fälschlich als angeklagt betrachteten Geschehnis, tritt keine Unterbrechung ein (wohl aber die Hemmung nach § 78 b Abs. 3; BayObLG VRS 57 40). Offenbare Unrichtigkeiten, die keine Zweifel am Verfolgungsgegenstand hervorrufen, sind aber auch hier ohne Bedeutung (KG VRS 57 435 — falscher Tatort). Bei mehreren Taten im prozessualen Sinne bestimmt sich die Wirkung der Unterbrechungshandlung nach der Ermittlungsrichtung (Rdn. 8). 16

V. Zeitpunkt der Unterbrechung. Schriftliche Unterbrechungshandlungen entfalten ihre Wirkung nach Absatz 2 regelmäßig im Zeitpunkt der Unterzeichnung. Bei Verfügungen genügt auch ein Handzeichen (OLG Koblenz JR 1981 42 m. Anm. Göhler), sofern nicht vom Verfügenden die volle Unterschrift vorgesehen ist (BayObLG JR 1969 64). Im zuletzt erwähnten Fall liegt bis zur Unterzeichnung nur ein Entwurf oder eine Anweisung an die Kanzlei zur Fertigung der Reinschrift vor. Derartige den internen Dienstbetrieb betreffende oder nur vorbereitende Akte sind rechtlich ohne Bedeutung (BayObLGSt. 1962 284; KG JR 1954 390). Auch der geschäftsmäßige Vollzug einer getroffenen Anordnung beeinflußt den Zeitpunkt der Unterbrechung nicht (BGHSt. 21 25, 26; 25 6, 8; 27 76, 78; OLG Köln GA 1960 251; MDR 1981 166). Anders kann es liegen, wenn damit eine Änderung oder Ergänzung der getroffenen, die Verjährung unterbrechenden Anordnung einhergeht. So ist die Aktenübersendung an einen Sachverständigen kein bloßer Vollzugsakt, wenn dessen Person bisher nicht bestimmt war oder damit eine Erweiterung des Beweisthemas verbunden wird (BGHSt. 27 76, 79 ; BayObLG GA 1976 116). Nur der Ausführung einer Verjährungsunterbrechenden Anordnung dienen hingegen Nachforschungen, die die Polizei auf Ersuchen des Gerichts oder Staatsanwalts zur Aufenthaltsermittlung vornimmt (BayObLG VRS 42 305). Im Wege der Datenverarbeitung vollautomatisch vorgenommene Unterbrechungshandlungen kommen in Strafsachen — anders als im Bußgeldverfahren (OLG Düsseldorf VRS 64 455; OLG Schleswig bei Ernesti/Lorenzen SchlHA 1984 111) — nicht in Betracht.

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Eine praktisch bedeutungslose, aber mißverständliche Regelung bietet Absatz 2 Satz 2. Sie soll Fälle erfassen, in denen das zur Unterbrechung geeignete Schriftstück nach Unterzeichnung „wie ein Entwurf behandelt und als solcher ζ. B. zu den Handakten genommen, zerrissen oder weggeworfen wird" (RegE des EGStGB, BTDrucks. 7/550 S. 216): Sofern sich der Handelnde nicht alsbald des Schriftstücks entäußert, verschiebt sich der Zeitpunkt der Unterbrechung, bis es tatsächlich in den Geschäftsgang gelangt. Unter „alsbald" wird eine Zeitspanne von höchstens einem Arbeitstag zu verstehen sein. Hält der Handelnde das Schriftstück länger zurück, erscheinen Zweifel an der Endgültigkeit seines Willensentschlusses begründet. In den Geschäftsgang gelangt ist das Schriftstück alsdann, sobald es zum Abtrag bereitgelegt und damit auf den Weg gebracht ist (vgl. BGHSt. 29 43, 47; OLG Köln DAR 1980 55 m. Anm. Herzig). Danach kommt es allein darauf an, wann der Handelnde das Schriftstück nach der Unterzeichnung auf den vorbestimmten Weg gelangen läßt. Die Zeiträume der geschäftsmäßigen Behandlung und der Beförderung zum Empfänger sind bedeutungslos (BayObLG bei Rüth DAR 1982 261). Hier aber liegen gewöhnlich die Gründe für einen verzögerten Zugang. Daher ist es nicht gerechtfertigt, aus einer großen Zeitspanne zwischen Unterzeichnung und Zugang des Schriftstücks zu (102)

Unterbrechung (Jähnke)

§ 78c

schließen, der Handelnde habe es nicht sogleich in den Geschäftsgang gegeben 16. Selbst Zweifel, die zugunsten des Angeklagten ausschlagen könnten, sind nicht begründet. Der Gesetzgeber hat deshalb in diesem Bereich die Geltung des Grundsatzes in dubio pro reo ausschließen wollen (Erster Bericht des Sonderausschusses zum Entwurf des EG StGB, BTDrucks. 7/1261 S. 10) und dies durch die vom Regierungsentwurf abweichende Fassung zum Ausdruck gebracht. Im Zweifel ist somit der Zeitpunkt der Unterzeichnung für den Eintritt der Unterbrechungswirkung entscheidend 17. Ist das Schriftstück hingegen überhaupt nicht in den Geschäftsgang gelangt oder 18 kann es sich so verhalten haben, bleibt die Maßnahme wirkungslos. Unterbrechungshandlungen, die nicht schriftlich ergehen müssen, wirken im Zeitpunkt der Vornahme. Zur Erhebung der öffentlichen Klage vgl. Rdn. 30.

VI. Die einzelnen Unterbrechungshandlungen 1. Erste Ermittlungsmaßnahmen (Nummer 1). Die Nummer 1 umfaßt die erste 19 Vernehmung des Beschuldigten, die Bekanntgabe der Einleitung des Ermittlungsverfahrens sowie die jeweilige Anordnung dazu. Die hier aufgeführten Maßnahmen sind insgesamt lediglich zu einer einmaligen Unterbrechung der Verjährung geeignet, sie stehen als Unterbrechungshandlung mithin nur alternativ zur Verfügung 18. Es unterbricht jeweils die erste der vorgenommenen Maßnahmen. Unberührt bleibt die Möglichkeit, zum Zwecke erneuter Verjährungsunterbrechung nach den Nummern 2 ff. vorzugehen. Für Steuerstraftaten gilt ergänzend § 376 AO. Die in Nummer 1 aufgeführten Handlungen können auch Polizei und Staatsanwaltschaft vornehmen (OLG Hamm NJW 1984 1471); sie sind formfrei. Häufig verwirklicht ein Ermittlungsakt mehrere Alternativen, so daß sich deren genaue begriffliche Abgrenzung erübrigt. Die erste Vernehmung ist die in § 163 a Abs. 4 StPO vorgesehene Ermittlungs- 20 handlung; sie schließt notwendig die Bekanntgabe der Einleitung des Ermittlungsverfahrens ein (BGHSt. 25 6, 7). Die Wahrung der vorgeschriebenen Förmlichkeiten (§§ 163 a Abs. 4, 136 StPO) genügt als Vernehmung (OLG Bremen NJW 1970 720); ob der Beschuldigte sich äußert oder von seiner Befugnis zu schweigen Gebrauch macht, bleibt sich gleich. In einfachen Sachen kann die erste Vernehmung auch in der Gelegenheit zur schriftlichen Äußerung bestehen (§ 163 a Abs. 1 Satz 2 StPO), doch geht dem meist eine entsprechende Anordnung der Ermittlungsbehörde voraus (vgl. OLG Oldenburg NJW 1970 719). Keine Vernehmung ist aber die informatorische Befragung durch den zum Tatort gerufenen Polizeibeamten, der sich damit die Grundlage für sein weiteres Vorgehen verschafft (BayObLG VRS 44 62; OLG Hamm VRS 41 384). 16 Vgl. OLG Hamm NJW 1977 690; VRS 63 58; OLG Köln VRS 55 386; 58 145; OLG Stuttgart MDR 1976 1043 Nr. 97. 17 OLG Frankfurt/M. VRS 59 134; OLG Köln VRS 55 386; Dreher/Tröndle42 Rdn. 10; Göhlerl § 33 Rdn. 47; Herzig DAR 1980 55; Lackner 15 Anm. 6a; a. A. Sch.-Schröder-Stree2\ Rdn. 21a; SK-Rudolphi Rdn. 10. 18 BayObLG VRS 39 119; OLG Düsseldorf VRS 40 56; OLG Hamm DAR 1970 193; OLG Hamburg NJW 1978 434; Dreher/Tröndle42 Rdn. 11; Göhlerl §33 Rdn. 6; Lackner Anm. 2a; G. Schäfer Dünnebier-Festschr. S. 541; 555; Sch.-Schröder-Stree^ Rdn. 4; SKRudolphi Rdn. 13. (103)

§ 78 C

5. Abschnitt. Verjährung

Die Vernehmung muß nicht in einem formgerechten Protokoll festgehalten werden (§ 168 b Abs. 2 StPO; Kleinknecht/Meyer § 163 a Rdn. 31); es genügt zur Wirksamkeit, daß sie aktenkundig gemacht ist. 21 Die Bekanntgabe der Einleitung des Ermittlungsverfahrens kann fernmündlich (Bay Ob LG bei Rüth DAR 1983 255) und auch dem bevollmächtigten Verteidiger gegenüber geschehen (G. Schäfer Dünnebier-Festschr. S. 541, 555). Sie muß den Beschuldigten über den bestehenden Tatverdacht ins Bild setzen (BayObLG VRS 39 119); die nähere Konkretisierung kann aber später geschehen (BGHSt. 30 215, 217). Die Bekanntgabe muß den Beschuldigten zwar erreichen (OLG Celle VRS 41 210), doch ist dieses Erfordernis für die Unterbrechung nach Nummer 1 (anders nach Nummer 3, vgl. BGHSt. 30 215) praktisch bedeutungslos. Denn der Bekanntgabe geht regelmäßig eine entsprechende Anordnung voraus, die nicht zuzugehen braucht (Rdn. 22). Nach Erledigung des Ermittlungsverfahrens unterbricht auch die Bekanntgabe der Wiederaufnahme der Ermittlungen (OLG Koblenz OLGSt. n. F. § 84 OWiG Nr. 1). Bei Steuerstraftaten s. ferner § 376 AO. Die Vorladung zu einer Vernehmung genügt als Bekanntgabe, wenn aus ihr hervorgeht, daß der Vorgeladene als Beschuldigter zu einem bestimmten Vorfall gehört werden soll (KG VRS 44 127). Wird der Beschuldigte auf frischer Tat betroffen oder sonst wegen eines Gesetzesverstoßes von der Polizei festgehalten — etwa zur Blutentnahme verbracht (BayObLG bei Rüth DAR 1982 261 ; Göhlerl § 33 Rdn. 16) — , versteht sich die Bedeutung dieser Maßnahme von selbst. Einer zusätzlichen Bekanntmachung bedarf es dann nicht mehr (BayObLG VRS 39 119; OLG Hamm DAR 1970 193; OLG Schleswig bei Ernesti/Jürgensen SchlHA 1977 194). In der Ubersendung eines Anhörungsbogens kann außer einer Vernehmung nach § 163 a Abs. 1 Satz 2 StPO auch die Bekanntgabe der Einleitung des Ermittlungsverfahrens liegen (BayObLG VRS 39 119; OLG Düsseldorf VRS 40 56). Doch tritt die Unterbrechung nur gegenüber dem Adressaten ein, auch wenn dieser den Bogen dem wirklichen Täter weitergibt (BGHSt. 24 321, 325 m. Anm. Kleinknecht JZ 1972 749; BayObLG JR 1971 299 m. Anm. Göhler). Zum Nachweis der Bekanntgabe s. BGHSt. 30 215. 22 Die Anordnung der Vernehmung oder Bekanntgabe richtet sich an ein Ermittlungsorgan; sie braucht daher dem Beschuldigten nicht bekannt zu werden. Die Anordnung der Übersendung eines Anhörungsbogens kann genügen (vgl. BGHSt. 25 6; 25 344; OLG Hamburg MDR1979 1046; OLG Koblenz MDR 1976 780). Ein allgemeiner Ermittlungsauftrag der Staatsanwaltschaft an die Polizei ist hingegen mangels Konkretisierung zur Verjährungsunterbrechung ungeeignet, selbst wenn darin bereits ein möglicher Täter bezeichnet ist (BayObLG VRS 67 132, 133). Jedoch kann in der daraufhin veranlaßten polizeilichen Vorladung des Beschuldigten eine wirksame Unterbrechungshandlung liegen (OLG Hamburg NJW 1978 434; OLGSt. § 78 c StGB S. 1). Keine Anordnung nach Nummer 1 ist die Mitteilung einer Privatklage durch das Gericht gemäß § 382 StPO (BayObLGSt. 1977 125,127). 23

2. Richterliche Vernehmungen oder deren Anordnung (Nummer 2). Jede richterliche Vernehmung des Beschuldigten — nicht eines Zeugen oder Mitbeschuldigten — oder deren Anordnung unterbricht, sofern sie nicht schon unter Nummer 1 fällt. Anordnung und Durchführung der Vernehmung bilden grundsätzlich eine Einheit; es unterbricht daher schon die Anordnung und nur sie (BayObLG MDR 1976 779; 1979 1046). Voraussetzung ist dabei aber, daß die Anordnung zu selbständiger verjährungsunterbrechender Wirkung gelangt. Daran fehlt es, wenn der Richter mit (104)

Unterbrechung (Jähnke)

§ 78c

der Anordnung der Vernehmung zugleich eine Maßnahme trifft, die ihrerseits zur Unterbrechung führt, etwa die Anberaumung der Hauptverhandlung. In diesem Fall verbraucht sich die rechtliche Wirkung der in Nummer 2 aufgeführten Verfahrensakte nicht mit der Ladungsverfügung, sie verlagert sich vielmehr auf die Durchführung der Vernehmung 19. Dies ist häufig die einzige Handhabe, um nach Anberaumung der Hauptverhandlung die Verjährung abzuwenden. Der Hauptverhandlung selbst hat das Gesetz keinen Einfluß auf den Lauf der Verjährung beigelegt. Stattdessen unterbricht dann die Vernehmung des Angeklagten gemäß § 243 Abs. 4 StPO. Ist der Angeklagte in zulässiger Weise in der Hauptverhandlung vertreten, steht die Erklärung des Verteidigers seiner Einlassung gleich (BayObLG VRS 64 134). Gelöst ist die Einheit von Anordnung und Durchführung der Vernehmung fer- 24 ner bei dem Einsatz eines Richterkommissars. Sowohl das Ersuchen um Vernehmung des Beschuldigten wie dessen Ladung durch den ersuchten Richter sind Maßnahmen, die die Verjährung unterbrechen 20. Dasselbe muß für den beauftragten Richter gelten. Im übrigen unterbricht jede richterliche Vernehmung ohne Rücksicht auf ihre Notwendigkeit oder Zweckmäßigkeit. Kann eine Anordnung der Vernehmung nicht ausgeführt werden, unterbricht deren Wiederholung (OLG Hamburg MDR 1977 603; OLG Hamm VRS 52 43, 45). Unerheblich ist auch das Ergebnis der Vernehmung. Die Unterbrechungswirkung tritt ein gleichviel, ob der Beschuldigte sich äußert, nur zur Person aussagt (OLG Hamm MDR 1979 781) oder schweigt (Sch.Schröder-Stree21 Rdn. 9). 3. Beauftragung eines Sachverständigen (Nummer 3). Ist der Beschuldigte bereits 25 vernommen oder ist ihm die Einleitung des Ermittlungsverfahrens ordnungsgemäß bekanntgegeben (Rdn. 21), unterbricht jede Beauftragung eines Sachverständigen durch den Richter oder den Staatsanwalt die Verjährung. Die Unterbrechungswirkung ist beim Verdacht mehrerer Taten aber auf den bekanntgegebenen Umfang des Ermittlungsverfahrens begrenzt (G. Schäfer Dünnebier-Festschr. S. 541, 559); die Bekanntgabe muß den Beschuldigten ferner erreicht haben (BGHSt. 30 215, 217). Notwendigkeit und Ergebnis des Gutachtens sind auch hier ohne Bedeutung. Sachverständiger ist, wer eigenverantwortlich und weisungsfrei ein Gutachten 26 über ein bestimmtes Beweisthema erstatten soll (BGHSt. 28 381, 384). Diese Voraussetzungen erfüllt nicht ein sachkundiger Ermittlungsgehilfe der Polizei oder der Staatsanwaltschaft, der das Material sichten oder Hinweise für förderliche Ermittlungen geben soll (BGHSt. 28 381; BGH NStZ 1984 215). Der in die Behördenorganisation eingegliederte Wirtschaftsreferent einer Staatsanwaltschaft kann Sachverständiger sein (BGHSt. 28 381, 384), nicht jedoch, sofern er wie ein Staatsanwalt den Tatverdacht umfassend aufzuklären hat (G. Schäfer Dünnebier-Festschr. S. 541, 557). Beauftragt ist der Sachverständige mit der Anordnung des Gerichts oder Staatsanwalts, wonach das Gutachten eines bestimmten Sachverständigen zu einem be19 BGHSt. 27 144 m. Anm. Göhler JR 1978 126; OLG Düsseldorf VRS 51 215; OLG Hamm NJW 1977 690; MDR 1979 781. 20 BGHSt. 27 110, 114; OLG Frankfurt/M. NJW 1976 1760; a. A. BayObLG NJW 1976 1760; OLG Frankfurt/M. NJW 1976 1759; OLG Hamm VRS 51128; 52 43, 44. (105)

§ 78 c

5. Abschnitt. Verjährung

stimmten Thema eingeholt werden solle (BGHSt. 27 76, 78). Die Anordnung ist formfrei (BGH NStZ 1984 215), muß aber ausreichend verlautbart sein. Ein nachträglicher Vermerk über die Beauftragung genügt nicht (BGHSt. 28 381, 383), ebensowenig ein informatorisches Gespräch (BGH bei Holtz M D R 1978 986). Ob der Auftrag den Sachverständigen erreicht, angenommen oder widerrufen wird, ist unerheblich (G. Schäfer Dünnebier-Festschr. S. 541, 557). 27

Da bereits die Anordnung der Gutachtenerstattung die Verjährung unterbricht, ist die Übersendung der Akten an den Sachverständigen keine Unterbrechungshandlung mehr (BGHSt. 27 76, 79; BayObLG GA 1976 116; OLG Köln M D R 1981 166), selbst wenn zuvor noch eine Entscheidung hierüber, ζ. B. wegen Ablehnung des Sachverständigen, zu treffen war (OLG Köln bei Göhler NStZ 1983 65). Die Aktenübersendung unterbricht als bloße Ausführungshandlung auch dann nicht, wenn die Staatsanwaltschaft dem von der Polizei — ohne Unterbrechungswirkung — zugezogenen Sachverständigen die Akten zuschickt (BayObLG VRS 60 127). Nicht um bloße geschäftsmäßige Durchführung der getroffenen Maßnahme, sondern um ihre Vervollständigung handelt es sich hingegen, falls die Person des Sachverständigen im Übersendungsschreiben erst bestimmt wird (BGHSt. 27 76, 79). Alsdann unterbricht allein das Übersendungsschreiben. Eine zweite, voll wirksame Unterbrechungshandlung liegt jedoch vor, wenn nachträglich die Person des Sachverständigen ausgewechselt oder ein neues Beweisthema aufgegeben wird (BGHSt. 27 76, 79; BayObLG GA 1976 116; MDR 1977 252). Anders wiederum liegt es bei bloßer Bitte um Erläuterung oder Ergänzung des erstatteten Gutachtens ; sie entfaltet keine eigenen Wirkungen (BayObLG M D R 1977 252). Dasselbe gilt, wenn der Sachverständige im Wege der Rechtshilfe zu dem bereits erstatteten Gutachten gehört wird (BayObLG bei Rüth DAR 1980 271).

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4. Beschlagnahme- und Durchsuchungsanordnungen (Nummer 4). Alle richterlichen Beschlagnahme- und Durchsuchungsanordnungen unterbrechen die Verjährung, ferner Entscheidungen, die Beschlagnahmen oder Durchsuchungen aufrechterhalten oder bestätigen. Dazu zählen auch die Bestätigung polizeilicher oder staatsanwaltschaftlicher Maßnahmen (Dreher/Tröndle42 Rdn. 14), Entscheidungen im Rechtsmittelverfahren und die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 111 a StPO, die als Beschlagnahme des Führerscheins oder deren Bestätigung wirkt (Sch.-Schröder-Stree21 Rdn. 12). Dagegen ist die Auflage, zwecks Abwendung einer Beschlagnahme Einblick in Unterlagen zu gewähren, kein zur Unterbrechung geeigneter Akt (LG Kaiserslautern NStZ 1981 438 m. Anm. Lilie). Anders verhält es sich, wenn die Staatsanwaltschaft die Beschlagnahme der Kontounterlagen des Beschuldigten erwirkt, auf die Durchführung der Maßnahme aber verzichtet, nachdem die Bank Fotokopien gefertigt und übergeben hat. Die Durchsuchungsanordnung braucht den Beschuldigten, gegen den sie sich richtet, nicht namentlich zu erwähnen (BGH GA 1961 239). Beurteilungsfehler machen sie nicht unwirksam (BGH M D R 1964 71).

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5. Haftbefehl und sonstige Freiheitsbeschränkungen (Nummer 5). Die Verjährung wird weiter durch den Haftbefehl (§§ 114, 230 Abs. 2 StPO), den Unterbringungsbefehl (§ 126 a StPO), den Vorführungsbefehl (§§ 134, 230 Abs. 2 StPO) sowie durch jede Entscheidung unterbrochen, welche eine dieser Maßnahmen aufrechterhält. Aufrechterhalten werden kann der Haftbefehl ζ. B. bei der Verkündung gemäß § 115 Abs. 4 StPO, bei jeder Haftprüfung (§§ 117, 122 StPO) und im Beschwerdever(106)

Unterbrechung (Jähnke)

§ 78c

fahren. Die Außervollzugsetzung des Haftbefehls (§116 StPO) fügt sich nicht in den Kreis der auf Freiheitsbeschränkung oder -entzug abzielenden Maßnahmen der Nummer 5 ein und ist daher nicht zur Unterbrechung geeignet (a. A. zum früheren Recht BGH NJW 1975 1523). Anders liegt es beim Widerruf einer Außervollzugsetzung (§ 116 Abs. 4 StPO), der stets die Prüfung der Haftgründe einschließt (Kleinknecht/Meyer § 120 Rdn. 2) und damit eine Entscheidung über die Aufrechterhaltung des Haftbefehls darstellt ( D r e h e r / T r ö n d l e 4 2 Rdn. 15; a. A. Sch.-SchröderStreek Rdn. 13). Zur Zusammenfassung zweier Haftbefehle in demselben Verfahren s. OLG Karlsruhe NJW 1974 510. 6. Anklage (Nummer 6). Die Verjährung wird ferner durch die Erhebung der öf- 30 fentlichen Klage sowie durch die entsprechenden Anträge im Sicherungsverfahren und im selbständigen Verfahren (§§ 413, 440 StPO) unterbrochen. Öffentliche Klage ist auch der Antrag auf Erlaß eines Strafbefehls (BayObLG GA 1984 181; Kleinknecht/Meyer § 170 Rdn. 3; Lackner 15 Anm. 2f), die Nachtragsanklage (§ 266 StPO) und im beschleunigten Verfahren nach § 212 StPO die mündliche oder schriftliche Anklageerhebung gemäß § 212 a Abs. 2 StPO. Der bloße Antrag auf Aburteilung im beschleunigten Verfahren stellt hingegen noch keine Klage dar (OLG Hamburg bei Göhler NStZ 1981 56). Keine öffentliche Klage ist ferner die Privatklage (BayObLGSt. 1977 125, 126). Bei schriftlicher Erhebung der öffentlichen Klage tritt die Unterbrechung im Zeitpunkt ihres Eingangs bei Gericht ein (BayObLG NJW 1971 854; GA 1984 181 ; OLG Karlsruhe VRS 57 114,115). Der Antrag im selbständigen Verfahren (§ 440 StPO) muß sich auf einen bestimmten Täter beziehen, weil er kraft der ausdrücklichen Bestimmung des Absatzes 4 nur dann Unterbrechungswirkung zu entfalten vermag (Dreher/Tröndle^l Rdn. 16; a. A. Göhlerl § 33 Rdn. 56; Sch.-Schröder-Stree2\ Rdn. 26; s. im übrigen § 78 Rdn. 2). 7. Eröffnung des Hauptverfahrens (Nummer 7). Der Eröffnungsbeschluß unter- 31 bricht die Verjährung, sofern er wirksam ist. Unwirksam ist ein Eröffnungsbeschluß, der gegen den auslieferungsrechtlichen Grundsatz der Spezialität verstößt (BGHSt. 29 94, 96); die Mitwirkung eines ausgeschlossenen Richters hat hingegen nicht diese schwerwiegende Folge 21. 8. Anberaumung einer Hauptverhandlung (Nummer 8). Jede Anberaumung einer 32 Hauptverhandlung, nicht aber die eines bloßen Fortsetzungstermins nach § 229 StPO (SK-Rudolphi Rdn. 23; a. A. Dreher/Tröndle42 Rdn. 18; Göhlerl §33 Rdn. 38), führt zur Verjährungsunterbrechung. Verfahrensfehler wie die Nichtbeachtung einer Einstellung nach § 154 StPO sind dabei ohne Bedeutung (OLG Celle NdsRpfl. 1984 239). Daß mit der Anberaumung des Hauptverhandlungstermins schon die zu seiner Durchführung erforderlichen Ladungen angeordnet werden, ist nicht notwendig (OLG Celle bei Göhler NStZ 1982 12). Unzureichend ist aber die bloße Ankündigung „Neuer Termin von Amts wegen" (OLG Koblenz VRS 67 52).

21 BGHSt. 29 351, 357 m. Anm. Meyer-Goßner JR 1981 379; Dreher/TröndleU- Rdn. 17; LacknerlS Anm. 2g; Sch.-Schröder-Streek Rdn. 15; a. A. OLG München MDR 1979 1045; Nelles Zur Revisibilität „fehlerhafter" und „unwirksamer" Eröffnungsbeschlüsse, NStZ 1982 96, 102. (107)

§ 78c

5. Abschnitt. Verjährung

Die Anbringung eines Ablehnungsgesuchs hindert den abgelehnten Richter nicht, wirksam einen neuen Termin anzuberaumen (OLG Köln VRS 59 428; OLG Koblenz VRS 53 45). Die Hauptverhandlung selbst hat keine verjährungsunterbrechende Wirkung, wohl aber die Vernehmung des Angeklagten nach § 243 Abs. 4 StPO, sofern zugleich mit der Terminsanberaumung seine Ladung verfügt wurde (Rdn. 23). 33

9. Strafbefehl und urteilsvertretende Entscheidungen (Nummer 9). Weitere Unterbrechungsakte sind der Erlaß des Strafbefehls (s. auch Rdn. 30) und die sonstigen Entscheidungen, die das Verfahren wie ein Urteil zum Abschluß bringen sollen. Dazu zählen vor allem solche, die auch auf Grund einer Hauptverhandlung in Urteilsform ergehen könnten, so Beschlüsse nach § 206 a StPO (BayObLG MDR 1977 603; OLG Stuttgart NStZ 1981 105) und Beschlüsse, durch die der Einspruch gegen einen Strafbefehl als unzulässig verworfen wird (vgl. OLG Frankfurt/M. NStZ 1983 224; OLG Hamm VRS 56 156; OLG Oldenburg VRS 55 138; a. A. OLG Stuttgart Justiz 1972 363). Ob die Entscheidungen im Rechtsmittelverfahren Bestand haben, ist ohne Bedeutung (OLG Hamm VRS 56 156).

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10. Abwesenheit des Angeschuldigten (Nummer 10). Nach dieser Nummer kann die Verjährung nur unterbrochen werden, nachdem die öffentliche Klage erhoben ist, denn die Vorschrift betrifft den Angeschuldigten (§ 157 StPO). Der Gesetzentwurf des Bundesrats BTDrucks. 10/272 will eine Parallel Vorschrift auch für das Ermittlungsverfahren schaffen. Unterbrechungshandlungen sind die vorläufige Einstellung des Verfahrens durch den Richter wegen Abwesenheit des Angeschuldigten (§ 205 StPO) und danach jede Maßnahme des Richters oder Staatsanwalts zur Aufenthaltsermittlung oder Beweissicherung, ferner die entsprechenden Maßnahmen im Verfahren gegen Abwesende (§§ 276 ff StPO). Die vorläufige Einstellung muß förmlich erklärt sein; die bloße Vertagung auf unbestimmte Zeit genügt nicht (OLG Köln MDR 1979 958). Ist diese Voraussetzung erfüllt, tritt die Unterbrechungswirkung aber ohne Rücksicht auf die sachliche Richtigkeit der Entscheidung ein; die Grenze bildet auch hier die Scheinmaßnahme (BayObLG VRS 42 305; 58 389; OLG Hamm VRS 51 217; OLG Köln VRS 51 214; 54 361). Später sind Unterbrechungshandlungen nach Nummer 10 möglich, wenn die vorläufige Einstellung des Verfahrens förmlich fortdauert (BayObLG VRS 62 288). Verjährungsunterbrechend wirken dann aber lediglich die richterlichen oder staatsanwaltschaftlichen Akte selbst, nicht Maßnahmen von Behörden, welche um Nachforschungen nach dem Angeschuldigten ersucht wurden (BayObLG VRS 42 305). In Betracht kommen etwa Wohnsitzanfragen beim Einwohnermeldeamt (vgl. OLG Köln VRS 54 361), der Antrag auf Ausschreibung im Deutschen Fahndungsbuch und auf deren Verlängerung sowie die Niederlegung einer Suchnachricht zum Bundeszentralregister (vgl. OLG Köln JMB1NRW 1967 247). S. hierzu auch Nr. 40 bis 43 RiStBV.

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11. Verhandlungsunfähigkeit des Angeschuldigten (Nummer 11). Die hier aufgeführten Unterbrechungsgründe entsprechen in ihrer Struktur denen der vorhergehenden Nummer. Als Maßnahmen zur Überprüfung der Verhandlungsfähigkeit kommen die Anordnung einer amtsärztlichen Untersuchung sowie der Antrag auf Begutachtung nach §81 a StPO und die ihm entsprechende Entscheidung in Betracht. (108)

Unterbrechung (Jähnke)

§ 78c

12. Rechtshilfeersuchen in das Ausland (Nummer 12). Schließlich unterbrechen 36 richterliche Ersuchen um Rechtshilfe im Ausland. In welchem Stadium des Verfahrens das Ersuchen ergeht, ist unerheblich; denkbar ist ein solches Ersuchen auch im Ermittlungsverfahren. Gleichgültig ist ferner, an wen es sich richtet und welche Untersuchungshandlung erbeten wird. Es genügt daher ein an eine Behörde eines fremden Staates gerichtete Bitte um Überlassung von Akten oder Urkunden. Ebenso unterbricht die Einschaltung eines deutschen Konsulats im Ausland die Verjährung. Die Vernehmung des Beschuldigten durch einen Konsul steht einer richterlichen Vernehmung nur gleich und ersetzt sie; sie ist aber keine richterliche Handlung (§ 15 Abs. 2, 4 KonsularG vom 11.9.1974 [BGBl. I S. 2317]). Eine Unterbrechung findet dadurch nicht statt. Die Streitfrage, ob sich auch die Abgabe des ganzen Verfahrens in das Ausland zur Verjährungsunterbrechung eigne (Dreher/ Tröndle42 Rdn. 22; Lackner Anm. 2m; Sch.-Schröder-Stree21 Rdn. 20), stellt sich in Strafsachen nicht, da die Abgabe Sache der Verfolgungsbehörde ist. VII. Übergangsvorschrift. Für Übergangsfälle zum 1. 1. 1975 gilt Art. 309 37 EGStGB (dazu OLG Hamburg MDR 1979 602; OLG München MDR 1979 1045; Brause NJW 1978 2104; Reißfelder NJW 1979 990). Demgegenüber hat Absatz 5 Übergangsrecht für alle künftigen Gesetzesänderungen geschaffen. Die Vorschrift erfaßt jede Verkürzung einer Verjährungsfrist in § 78 Abs. 3 oder anderen Verjährungsbestimmungen, aber auch die Änderung einer Strafdrohung, welche erst als Folgewirkung eine Verkürzung der Verjährungsfrist nach sich zieht. Ihre Wirkung besteht darin, daß sie nach altem Recht fristgerechte Unterbrechungshandlungen, die nach neuem Recht infolge der kürzeren Verjährungsfrist zu spät liegen würden, aufrechterhält. Der Sache nach handelt es sich mithin um eine Begrenzung der Rückwirkung verjährungsändernder Gesetze. Zum Begriff der Tatbeendigung s. § 78 a Rdn. 1 bis 3. Zu allgemeinen Grundsätzen in Übergangsfällen BGHSt. 25 158,161 ; BayObLG NJW 1970 620, 622.

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§79

5. Abschnitt. Verjährung ZWEITER TITEL Vollstreckungsverjährung §79 Verjährungsfrist

(1) Eine rechtskräftig verhängte Strafe oder Maßnahme (§ 11 Abs. 1 Nr. 8) darf nach Ablauf der Verjährungsfrist nicht mehr vollstreckt werden. (2) Die Vollstreckung von Strafen wegen Völkermords (§ 220 a) und von lebenslangen Freiheitsstrafen verjährt nicht. (3) Die Verjährungsfrist beträgt 1. 2. 3. 4.

fünfundzwanzig Jahre bei Freiheitsstrafe von mehr als zehn Jahren, zwanzig Jahre bei Freiheitsstrafe von mehr als fünf Jahren bis zu zehn Jahren, zehn Jahre bei Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr bis zu fünf Jahren, fünf Jahre bei Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr und bei Geldstrafe von mehr als dreißig Tagessätzen, 5. drei Jahre bei Geldstrafe bis zu dreißig Tagessätzen. (4) Die Vollstreckung der Sicherungsverwahrung verjährt nicht. Bei den übrigen Maßnahmen beträgt die Verjährungsfrist zehn Jahre. Ist jedoch die Führungsaufsicht oder die erste Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet, so beträgt die Frist fünf Jahre.

(5) Ist auf Freiheitsstrafe und Geldstrafe zugleich oder ist neben einer Strafe auf eine freiheitsentziehende Maßregel, auf Verfall, Einziehung oder Unbrauchbarmachung erkannt, so verjährt die Vollstreckung der einen Strafe oder Maßnahme nicht früher als die der anderen. Jedoch hindert eine zugleich angeordnete Sicherungsverwahrung die Verjährung der Vollstreckung von Strafen oder anderen Maßnahmen nicht. (6) Die Verjährung beginnt mit der Rechtskraft der Entscheidung. Schrifttum Oppe Einige Fragen der Strafvollstreckungsverjährung, NJW 1959 1358; s. ferner vor § 78. Entstehungsgeschichte Bezeichnung bis 1974: §§ 66, 70. Fassung durch Art. 1 Nr. 1 2. StrRG, Art. 18 Nr. 48 EGStGB. 1 I. Rechtsnatur. Verfolgungs- und Vollstreckungsverjährung. Die Vollstreckungsverjährung schließt nach dem Ablauf bestimmter Fristen die Durchsetzung derjenigen rechtskräftig erkannten Strafen und M a ß n a h m e n aus, welche der Verjährung unterliegen (Absatz 1). Wie die Vollstreckung selbst, so gehört auch die Vollstrekkungsverjährung dem Verfahrensrecht an (Maurach-Gössel-Zipf AT 2 § 75 II Rdn. 36; Sch.-Schröder-Stree2\ Rdn. 1 ; a. A. Jescheck AT § 86 II; s. dazu vor § 78 Rdn. 7 ff). 2

Verfolgungs- und Vollstreckungsverjährung schließen sich gegenseitig aus. Die Vollstreckungsverjährung setzt stets unmittelbar nach dem Ende der Verfolgungsverjährung ein, so daß es eine verjährungsfreie Zeitspanne nicht gibt (§ 78 Rdn. 8). (110)

§79

Verjährungsfrist (Jähnke)

Doch kann bei Teilrechtskraft die Vollstreckungsverjährung bereits bezüglich der rechtskräftig verhängten Rechtsfolgen in Gang gesetzt sein, während im übrigen noch die Verfolgungsverjährung läuft (aber im Ablauf evtl. gehemmt ist) ; vgl. § 78 Rdn. 3, 8. Wird die Rechtskraft des verurteilenden Erkenntnisses etwa durch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand oder Wiederaufnahme des Verfahrens beseitigt, endet die Vollstreckungsverjährung; es beginnt alsdann eine neue Verfolgungsverjährung (§ 78 Rdn. 10 ff). II. Keiner Vollstreckungsverjährung unterliegen die wegen Völkermordes ver- 3 hängten Strafen und die lebenslange Freiheitsstrafe (Absatz 2). Trifft mit der lebenslangen eine zeitige Freiheitsstrafe zusammen, so kann die zeitige Strafe selbständig verjähren, falls nicht § 79a Nr. 3 eingreift {Lackner 15 Anm. 4). Nach Absatz 3 Satz 1 verjährt ferner die Sicherungsverwahrung nicht. Rechtsfolgen der Tat, die ihrer Natur nach keiner Vollstreckung bedürfen wie das Berufsverbot, sind ebenfalls von der Verjährung ausgenommen. Für sie sieht das Gesetz häufig die Aufhebung, Abkürzung oder Aussetzung durch eine besondere gerichtliche oder behördliche Entscheidung vor (vgl. etwa §§ 45 b, 70 a StGB). III. Beginn. Die Verjährung beginnt mit der Rechtskraft der Entscheidung (Ab- 4 satz 6). Da es sich um Vollstreckungsverjährung handelt, kommt es auf den Eintritt der Vollstreckbarkeit des Erkenntnisses an. Mithin ist nicht die Rechtskraft des Schuldspruchs, sondern die des Strafausspruchs entscheidend (§ 78 Rdn. 8). Gesamtstrafen nach § 53 StGB beginnen mit Rechtskraft der Gesamtstrafe, nicht der zugrunde liegenden Einzelstrafen, zu verjähren (BGHSt. 30 232; RGSt. 60 206, 207). Ebenso verhält es sich, wenn eine nachträgliche Gesamtstrafe nach § 460 StPO gebildet ist oder wenn rechtskräftig erkannte Strafen gemäß § 55 StGB in einem neuen Urteil einbezogen sind. Auch hier beginnt die Vollstreckungsverjährung mit Rechtskraft der Entscheidung, welche die Gesamtstrafe gebildet hat {Lackner 15 Anm. 3; Sch.-Schröder-Stree21 Rdn. 3; SK-Rudolphi Rdn. 3). Denn die endgültige Ahndung der begangenen Taten steht erst in diesem Zeitpunkt fest. Die für die rechtskräftigen Einzelstrafen verstrichenen Verjährungszeiträume verlieren, wie die Einzelstrafen selbst, damit ihre Bedeutung. Ebenso bestimmt sich die Dauer der nach Absatz 3 maßgebenden Verjährungsfrist allein nach der Höhe der Gesamtstrafe (BGHSt. 30 232, 234; SK-Rudolphi Rdn. 4). Zur Teilrechtskraft s. § 78 Rdn. 8; Dreher/Tröndle*2

Rdn. 3.

IV. Die Frist bemißt sich ausschließlich nach der verhängten Rechtsfolge. Ihre 5 Berechnung geschieht in derselben Weise wie bei der Verfolgungsverjährung. Der Tag der Rechtskraft ist der erste Tag der Vollstreckungsverjährung; die Frist läuft mit dem Ende des Tages ab, dessen Datum dem Tag des Fristbeginns vorhergeht. Die Dauer der Verjährungsfrist ist für die Hauptstrafen fünffach gestaffelt. Anknüpfungspunkt ist allein die verhängte Strafe. Anrechnungsvorschriften (§ 51) und nachträgliche Gnadenerweise bleiben außer Betracht {Dreher/TröndleM Rdn. 4; SK-Rudolphi Rdn. 4). Für verjährende Maßnahmen setzt das Gesetz in Absatz 4 Satz 2 eine einheitliche Verjährungsfrist von 10 Jahren fest, die nur im Falle der ersten Unterbringung in einer Entziehungsanstalt und für die Führungsaufsicht nach § 68 Abs. 1 auf 5 Jahre verkürzt ist. Mangels der vom Gesetz verlangten „Anord(111)

§ 79 a

5. Abschnitt. Verjährung

nung" gilt § 79 Abs. 4 für die kraft Gesetzes eintretende Führungsaufsicht nicht (LacknerlS Anm. 3 ; abw. für § 68 f Dreher/Tröndle42 Rdn. 5). 6

V. Absatz 5 entspricht § 71 StGB a. F. (s. schon KG G A 1909 341) und regelt die Fristenkonkurrenz. Ist auf verschiedenartige Strafen oder auf Strafen und bestimmte Maßnahmen erkannt, läuft die Verjährungsfrist für alle Rechtsfolgen einheitlich im spätesten der in Betracht kommenden Zeitpunkte ab. Dabei sind Ruhen oder Verlängerung der Frist (§§ 79 a, 79 b) sowie ein unterschiedlicher Beginn zu berücksichtigen (Dreher/Tröndle42 Rdn. 6). Sofern in einem Urteil mehrere Freiheitsstrafen oder mehrere Geldstrafen verhängt sind, greift Absatz 5 nach seinem eindeutigen Wortlaut nicht ein; wenn eine der Freiheitsstrafen vollstreckt wird, gilt für die andere aber § 79 a Nr. 3.

§ 79a Ruhen Die Verjährung ruht, 1. solange nach dem Gesetz die Vollstreckung nicht begonnen oder nicht fortgesetzt werden kann, 2. solange dem Verurteilten a) Aufschub oder Unterbrechung der Vollstreckung, b) Aussetzung zur Bewährung durch richterliche Entscheidung oder im Gnadenwege oder c) Zahlungserleichterung bei Geldstrafe, Verfall oder Einziehung bewilligt ist, 3. solange der Verurteilte im In- oder Ausland auf behördliche Anordnung in einer Anstalt verwahrt wird. Schrifttum s. vor § 78 und zu § 78 b

Entstehungsgeschichte Nach altem Recht war ein Ruhen der Vollstreckungsverjährung nur in § 24 Abs. 3, § 26 Abs. 3 StGB a. F. (während der Strafaussetzung zur Bewährung) vorgesehen. Fassung der jetzigen Vorschrift durch Art. 1 Nr. 1 2. StrRG, Art. 18 Nr. 49 EGStGB.

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I. Allgemeines. Die Vollstreckungsverjährung ruhte nach früherem Recht nur während der Strafaussetzung zur Bewährung und nach bedingter Entlassung (§ 24 Abs. 3, § 26 Abs. 3 StGB a. F.). Dies hatte zu Streitfragen über die Möglichkeiten analoger Anwendung der Ruhensvorschriften, insbesondere für den Fall der Vollstreckungsaussetzung im Gnadenwege, geführt (KG JR 1957 113; LG Wuppertal NJW 1958 878; Oppe NJW 1959 1358). Das geltende Recht hat als Ersatz für die weggefallene Möglichkeit der Verjährungsunterbrechung (E 1962 S. 261) die Ruhensgründe wesentlich erweitert, aber auch abschließend aufgezählt. (112)

Ruhen (Jähnke)

§ 79a

Die Wirkung des Ruhens besteht wie bei der Verfolgungsverjährung darin, daß 2 die Verjährungsfrist zu laufen aufhört, bis der Grund des Ruhens wegfällt. Danach setzt sich die alte Frist mit dem noch nicht verbrauchten Rest fort. Die Tage des Eintritts und des Wegfalls des Ruhensgrundes zählen noch zu dem Zeitraum, in dem die Verjährung ruht. Das Ruhen der Verjährung einer Strafe oder Maßnahme kann nach § 79 Abs. 5 zu einer Verschiebung der Fristen für die anderen verhängten Rechtsfolgen führen (§ 79 Rdn. 6). II. Mit dem Ruhensgrund der Nummer 1 knüpft das Gesetz an § 78 b an (E 1962 3 S. 261). Hindernisse, die dem Beginn oder der Fortsetzung der Vollstreckung entgegenstehen, sind die Abgeordnetenimmunität (Dreher/Tröndle42 Rdn. 2) und die fehlende Bewilligung im Auslieferungsverkehr (vgl. BayObLGSt. 1956 65). Die Nummer 2 sieht das Ruhen der Verjährung für die Zeiträume vor, in denen die Vollstreckung auf Grund richterlicher oder behördlicher Entscheidung nicht betrieben wird. Nach Buchstabe a fällt darunter jeder Aufschub und jede Unterbrechung der Vollstreckung (§360 Abs. 2, §§455 bis 456 a, §458 Abs. 3 StPO), auch durch die Anstaltsleitung (Pohlmann-Jabel Strafvollstreckungsordnung 6. Aufl. [1981] §46 a Rdn. 5) oder im Gnadenwege. Ausführungen des Gefangenen, Hafturlaube, die vorzeitige Entlassung vor Wochenenden und Feiertagen und alle sonstigen Vollzugslockerungen, welche die Strafzeitberechnung nicht verändern (vgl. BGH NStZ 1982 396), bringen die Vollstreckungsverjährung hingegen nicht zum Ruhen. Die Verjährung einer Strafe oder Maßnahme ruht nach Buchstabe b ferner in der Zeit, in der die Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt ist. Gleichgültig ist, ob Gericht oder Gnadenbehörde die Aussetzung angeordnet haben. Ebenso ist ohne Bedeutung, ob die Entscheidung zugleich mit dem Urteil ergangen ist (§§ 56, 67 b) oder nachträglich getroffen wurde (§§ 57, 67 c Abs. 1, 67 e). Widerruft das Gericht die Aussetzung zur Bewährung, endet das Ruhen mit Rechtskraft dieser Entscheidung (OLG Hamm NStZ 1984 237). Nach Buchstabe c ruht die Vollstreckungsverjährung schließlich, solange Zahlungserleichterungen bei Geldstrafe, Verfall oder Einziehung bewilligt sind. Auch hier kommt es nicht darauf an, ob die Zahlungserleichterung im Urteil oder später zugestanden wurde und ob das Gericht oder die Vollstreckungsbehörde sie bewilligt hat (vgl. § 42 StGB, § 459 a StPO). Die Anordnung des Gerichts nach § 459 d StPO, daß die Vollstreckung der Geldstrafe unterbleibe, stellt dagegen keine unter § 79 a fallende Maßnahme dar. Sie dient der Wiedereingliederung des Täters und ist endgültig (KK-Chlosta §459d Rdn. 4); für ein Ruhen der Verjährung ist daher kein Raum. Die Nummer 3 ordnet das Ruhen der Vollstreckungsverjährung für die Zeit an, in der der Verurteilte im In- oder Ausland auf behördliche Anordnung in einer Anstalt verwahrt wird. Diese Voraussetzung ist bei jeder Art von Freiheitsentziehung erfüllt, weil in dem betreffenden Zeitraum die Strafvollstreckung nicht möglich ist. Daher genügt ζ. B. auch eine Unterbringung nach den Landesunterbringungsgesetzen (Sch.-Schröder-Stree21 Rdn. 7). Kein Ruhen bewirkt jedoch die Strafvollstreckung selbst (a. A. OLG Hamm NStZ 1984 237). § 79 a läßt die Verjährungsfrist stillstehen, soweit aus Rechtsgründen der Vollzug der Strafe oder Maßnahme nicht möglich ist. Das wird häufig infolge Strafvollstreckung in anderer Sache der Fall sein; hierauf ist die Nummer 3 (113)

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§ 79 b

5. Abschnitt. Verjährung

zugeschnitten (E 1962 S. 261 ; Sch.-Schröder-Stree2\ Rdn. 7). Der Vollzug der Strafe in der anstehenden Sache verwirklicht jedoch gerade die im Straferkenntnis getroffene Anordnung; das ist kein Fall des Ruhens der Verjährung. Der Hinweis des OLG Hamm, daß nach § 79 Nr. 2 die im anstehenden Verfahren getroffenen Maßnahmen zum Ruhen der Verjährung führten und dies bei der Nummer 3 nicht anders sein könne, geht fehl. Er vergleicht Unvergleichbares und verkennt den Inhalt der jeweiligen Maßnahme, die nur im Falle der Nummer 2 dazu führt, von der Vollstreckung Abstand zu nehmen. Daß die Auffassung des OLG Hamm nicht zutreffen kann, zeigt auch ihr ungereimtes Ergebnis. Danach würde sich für den Ausbrecher, der immerhin einen Teil der Strafe verbüßt, die Verjährungsfrist im Ergebnis verlängern. Der Verurteilte, der überhaupt nicht ergriffen werden kann, dürfte auf den ungehinderten Ablauf der Frist zählen. Sind allerdings in einem Urteil mehrere Freiheitsstrafen verhängt (lebenslange und zeitige Freiheitsstrafe oder mehrere Gesamtfreiheitsstrafen), so ruht die Verjährung der einen Strafe während des Zeitraums, in dem die andere vollzogen wird. Da in einem solchen Fall rechtlich nur die Vollstreckung jeweils einer der erkannten Strafen möglich ist, schlägt der Regelungsgedanke der Nummer 3 durch.

§ 79b Verlängerung Das Gericht kann die Verjährungsfrist vor ihrem Ablauf auf Antrag der Vollstrekkungsbehörde einmal um die Hälfte der gesetzlichen Verjährungsfrist verlängern, wenn der Verurteilte sich in einem Gebiet aufhält, aus dem seine Auslieferung oder Überstellung nicht erreicht werden kann. Schrifttum Spezialliteratur zu dieser Vorschrift ist nicht vorhanden.

Entstehungsgeschichte Die Bestimmung ist, ohne Vorbild im früheren Recht, eingefügt durch Art. 1 Nr. 1 2. StrRG. 1

I. Zweck. Die Vorschrift tritt für gewisse Fälle an die Stelle des früheren § 72, der die Unterbrechung der Vollstreckungsverjährung vorsah (dazu OLG Köln JMB1NRW 1967 247). Ihr Zweck besteht darin, flüchtigen Verurteilten die Ausnutzung der Besonderheiten des grenzüberschreitenden Rechtshilfeverkehrs zu erschweren (E 1962 S. 261). Dazu kann die Verjährungsfrist durch Gerichtsentscheidung einmal verlängert werden.

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II. Voraussetzung ist, daß sich der Verurteilte außerhalb des Bundesgebietes aufhält und sein Aufenthaltsort bekannt, eine Auslieferung oder Zulieferung aber nicht erreichbar ist. Die zuletzt bezeichnete Voraussetzung kann vorliegen, wenn mit dem Aufenthaltsstaat kein Rechtshilfeverkehr stattfindet, die Auslieferung nach dem Recht des fremden Staates unzulässig ist oder verweigert wird oder wenn die Regie(114)

Verlängerung (Jähnke)

§ 79 b

rung des anderen Staates bestehenden Verpflichtungen zuwiderhandelt. Ist ein Auslieferungsersuchen nach der bisherigen Regierungspraxis nicht von vornherein aussichtslos, muß es gestellt sein. Befindet sich der Verurteilte auf Grund einer in anderer Sache erteilten beschränkten Auslieferungsbewilligung in der Bundesrepublik, kann die Vollstrekkungsbehörde zwar ohne Verstoß gegen den Spezialitätsgrundsatz die Erweiterung der Bewilligung betreiben (BayObLGSt. 1956 65). Für einen Antrag nach § 79 b fehlt es aber an der räumlichen Abwesenheit des Verurteilten (a. A. Pohlmann-Jabel Strafvollstreckungsordnung 6. Aufl. [1981] § 20 Rdn. 5). III. Entscheidung. Es entscheidet auf Antrag der Vollstreckungsbehörde das Ge- 3 rieht (§ 462 Abs. 1 Satz 2 StPO). Dies ist, sofern nicht die Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammer gegeben ist (s. § 462 a Abs. 1 Satz 2 ; Abs. 4 StPO), das Gericht des ersten Rechtszuges (§ 462 a Abs. 2). Es muß seine Entscheidung vor dem Ablauf der Verjährungsfrist treffen ; der Eintritt der Rechtskraft innerhalb der Frist ist nicht erforderlich. Der Fristablauf ist unter Beachtung des § 79 a zu ermitteln. Daß der Fristenlauf geruht hat oder noch ruht, steht der Entscheidung nicht entgegen. Sie hat auf Verlängerung der Verjährungsfrist um einen bestimmten Zeitraum zu lauten; dieser muß die Hälfte der gesetzlichen Verjährungsfrist im konkreten Fall betragen. Die Verlängerung auf einen bestimmten, datumsmäßig festgelegten Tag zu begrenzen, wäre unrichtig, da auch die verlängerte Frist gemäß § 79 a ruhen, ihr Endpunkt sich mithin verschieben kann. In der Sache hat das Gericht seine Entscheidung nach pflichtgemäßem Ermes- 4 sen zu treffen. Der Gesichtspunkt eines fortdauernden Strafbedürfnisses (Dreher/ Tröndle42 Rdn. 2) ist, abgesehen von seiner Unbestimmtheit, nur auf der Grundlage der materiellrechtlichen oder der gemischten Verjährungstheorie verwertbar (dazu vor § 78 Rdn. 7 ff; § 79 Rdn. 1). Maßgebend sollten die Höhe der zu vollstreckenden Strafe, die Bedeutung der Tat und die seither verstrichene Zeit sein. Ferner wird es angemessen sein zu prüfen, ob das Verhalten des Verurteilten, insbesondere seine Flucht und im Ausland entfaltete Aktivitäten, im Inland friedensstörend wirken. Bei einem verurteilten Erpresser, der die Beute in das Ausland geschafft hat und von dort durch Interviews auf sich aufmerksam macht, ist das der Fall.

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